Jürgen Habermas - Ein Neuer Strukturwandel Der Öffentlichkeit Und Die Deliberative Politik - Suhrkamp (2022)
Jürgen Habermas - Ein Neuer Strukturwandel Der Öffentlichkeit Und Die Deliberative Politik - Suhrkamp (2022)
Habermas
Ein neuer
Strukturwandel
der
Öffentlichkeit
und
die deliberative
Suhrkamp
Politik
Jürgen Habermas
Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik
Unkorrigierte Fassung
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1962 erschien Strukturwandel der Öffentlichkeit, Jürgen Habermas' erstes
Buch. In sozialhistorischer und begriffsgeschichtlicher Perspektive profiliert
er darin einen Begriff von Öffentlichkeit, der dieser einen Platz zwischen
Zivilgesellschaft und politischem System zuweist. Der Strukturwandel reihte
sich alsbald ein unter die großen Klassiker der Soziologie des 20.
Jahrhunderts und hat eine breite Forschung in den Geschichts- und
Sozialwissenschaften angeregt. Und auch Habermas selbst hat sich in
späteren Arbeiten immer wieder mit der Rolle der Öffentlichkeit für die
Bestandssicherung des demokratischen Gemeinwesens beschäftigt.
Angesichts einer durch die Digitalisierung veränderten Medienstruktur und
der Krise der Demokratie kehrt er nun erneut zu diesem Thema zurück.
Kernstück des Buches ist ein Essay, in dem er sich ausführlich mit den neuen
Medien und ihrem Plattformcharakter beschäftigt, die traditionelle
Massenmedien – maßgebliche Antreiber des »alten« Strukturwandels –
zunehmend in den Hintergrund drängen. Fluchtpunkt seiner Überlegungen
ist die Vermutung, dass die neuen Formen der Kommunikation die
Selbstwahrnehmung der politischen Öffentlichkeit als solcher beschädigen.
Das wäre ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, mit gravierenden
Konsequenzen für den deliberativen Prozess demokratischer Meinungs- und
Willensbildung.
Suhrkamp
Erste Auflage 2022
Originalausgabe
© Suhrkamp Verlag AG , Berlin, 2022
Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des
Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
Umschlaggestaltung : Hermann Michels und Regina Göllner
Satz : Dörlemann Satz, Lemförde
Druck : C. H. Beck, Nördlingen
Printed in Germany
ISBN 978-3-518-58790-4
www.suhrkamp.de
Inhalt
Vorwort 7
5
Vorwort
7
Bearbeitung meines Vorworts zu einem von Emily Prattico
herausgegebenen Interviewband zum selben Thema.3
8
Überlegungen und Hypothesen zu einem
erneuten Strukturwandel der politischen
Öffentlichkeit
9
sie auch im Hinblick auf ihren funktionalen Beitrag zur
Integration der Gesellschaft und insbesondere im Hinblick
auf die politische Integration der Staatsbürger untersucht
werden.2 Obwohl mir bewusst ist, dass die Öffentlichkeit
ein soziales Phänomen ist, das weit über den funktiona-
len Beitrag zur demokratischen Willensbildung in Verfas-
sungsstaaten hinausreicht,3 habe ich das Thema auch später
aus der Sicht der politischen Theorie behandelt.4 Auch im
vorliegenden Text gehe ich von der Funktion aus, die die
Öffentlichkeit für die Bestandssicherung des demokrati-
schen Gemeinwesens erfüllt.
Ich will zunächst auf das Verhältnis von normativer und
empirischer Theorie eingehen (1), sodann erklären, warum
10
und wie wir den demokratischen Prozess, sobald er unter
Bedingungen einer individualisierten und pluralistischen
Gesellschaft institutionalisiert wird, im Lichte deliberativer
Politik begreifen sollten (2), und schließlich an die unwahr-
scheinlichen Stabilitätsbedingungen einer krisenanfälligen
kapitalistischen Demokratie erinnern (3). In diesem theo-
retischen Rahmen, für den der Strukturwandel von 1962
eine sozialhistorische Vorarbeit gewesen ist, skizziere ich
die digital veränderte Medienstruktur und deren Auswir-
kungen auf den politischen Prozess. Der technologische
Fortschritt der digitalisierten Kommunikation fördert
zunächst Tendenzen zur Entgrenzung, aber auch zur Frag-
mentierung der Öffentlichkeit. Der Plattformcharakter der
neuen Medien erzeugt neben der redaktionellen Öffent-
lichkeit einen Kommunikationsraum, worin Leser, Hörer
und Zuschauer spontan die Rolle von Autoren ergreifen
können (4). Die Reichweite der neuen Medien lässt sich
am Ergebnis einer Längsschnitterhebung zur Nutzung der
erweiterten Medienangebote ablesen. Während sich die
Nutzung des Internets im Laufe der beiden letzten Jahr-
zehnte rasch verbreitet hat und das Fernsehen ebenso wie
das Radio ihre Anteile mehr oder weniger behauptet haben,
bricht der Konsum von gedruckten Zeitungen und Zeit-
schriften drastisch ein (5). Der Aufstieg der neuen Medien
vollzieht sich im Schatten einer kommerziellen Verwertung
der einstweilen kaum regulierten Netzkommunikation.
Diese droht einerseits den traditionellen Zeitungsverlagen
und den Journalisten als der zuständigen Berufsgruppe die
wirtschaftliche Basis zu entziehen ; andererseits scheint sich
bei exklusiven Nutzern sozialer Medien eine Weise der
halböffentlichen, fragmentierten und in sich kreisenden
11
Kommunikation durchzusetzen, die deren Wahrnehmung
von politischer Öffentlichkeit als solcher deformiert. Wenn
diese Vermutung zutrifft, wird bei einem wachsenden Teil
der Staatsbürger eine wichtige subjektive Voraussetzung für
den mehr oder weniger deliberativen Modus der Meinungs-
und Willensbildung gefährdet (6).
12
Das Neue an der historischen Tatsache dieser eigentüm-
lich steilen, weil »ungesättigt« über den Status quo hinaus-
weisenden Normativität grundrechtlich fundierter Verfas-
sungsordnungen lässt sich besser vor dem Hintergrund der
üblichen gesellschaftlichen Normativität verstehen. Soziale
Phänomene haben, ob es sich nun um Handlungen, Kom-
munikationsflüsse oder Artefakte, um Werte oder Normen,
Gewohnheiten oder Institutionen, Verträge oder Orga-
nisationen handelt, einen regelhaften Charakter. Dieser
zeigt sich an der Möglichkeit abweichenden Verhaltens –
Regeln können befolgt oder verletzt werden. Nun gibt es
verschiedene Sorten von Regeln : logische, mathematische,
grammatische Regeln, Spielregeln und sowohl instrumen-
telle als auch soziale Handlungsregeln, die sich wiederum
nach strategischen und normativ regulierten Interaktionen
unterscheiden lassen. Diese zuletzt genannten Normen
sind es, die sich durch den eigentümlichen Geltungsmodus
des Sollens auszeichnen.5 Solche normativen Verhaltenser-
wartungen können, was sich an der Art der Sanktionen für
abweichendes Verhalten zeigt, mehr oder weniger strikte
Forderungen stellen, wobei die Moral die strengsten For-
derungen erhebt. Die mit den achsenzeitlichen Weltbildern
auftretenden universalistischen Moralen zeichnen sich
dadurch aus, dass sie grundsätzlich die Gleichbehandlung
aller Personen verlangen. Im Laufe der europäischen Auf-
klärung hat sich dieses moralkognitive Potential sodann
13
von dem jeweiligen religiösen oder weltanschaulichen Hin-
tergrund gelöst und so ausdifferenziert, dass – gemäß dem
heute immer noch maßgeblichen Kantischen Tenor – jeder
und jede Einzelne in seiner und ihrer unveräußerlichen
Individualität die gleiche Achtung verdient und die gleiche
Behandlung erfahren soll. Nach diesem Verständnis muss
das Verhalten jeder Person in Berücksichtigung ihrer indivi-
duellen Lage nach genau den allgemeinen Normen beurteilt
werden, die – aus der diskursiv geprüften Sicht aller mög-
licherweise Betroffenen – gleichermaßen gut sind für alle.
In unserem Zusammenhang interessiert eine bestimmte
soziologische Konsequenz dieser Entwicklung : Man muss
sich die unerhörte Radikalität der Vernunftmoral in Erin-
nerung rufen, um die Fallhöhe des Sollensanspruchs dieses
egalitär-individualistischen Universalismus zu ermessen
und um dann, mit einem Blickwechsel von der Vernunft-
moral zu dem von dieser Moral inspirierten Vernunftrecht,
zu begreifen, was es historisch bedeutet hat, dass seit den
ersten beiden Verfassungsrevolutionen dieses steile moral-
kognitive Potential den Kern der staatlich sanktionierten
Grundrechte und damit des positiven Rechts überhaupt
bildet. Mit der »Erklärung« der Grund- und Menschen-
rechte ist die Substanz der Vernunftmoral in das Medium
des zwingenden, aus subjektiven Rechten konstruierten
Verfassungsrechts eingewandert ! Mit jenen geschichtlich
vorbildlosen Akten der Gründung demokratischer Verfas-
sungsordnungen hat sich am Ende des 18. Jahrhunderts die
bis dahin unbekannte Spannung eines normativen Gefälles
in das politische Bewusstsein von rechtlich freien und glei-
chen Staatsbürgern eingenistet. Diese Ermutigung zu einem
neuen normativen Selbstverständnis geht Hand in Hand
14
mit einem neuen, von Reinhart Koselleck untersuchten
historischen Bewusstsein, das offensiv der Zukunft zuge-
wandt ist – insgesamt ein komplexer Bewusstseinswandel,
der in die kapitalistische Dynamik eines zugleich durch
technischen Fortschritt beschleunigten Wandels der sozia-
len Lebensverhältnisse eingebettet ist. Inzwischen hat diese
Dynamik in den westlichen Gesellschaften freilich ein eher
defensives Bewusstsein hervorgerufen, das sich von dem
technologisch und ökonomisch vorangetriebenen Wachs-
tum an gesellschaftlicher Komplexität eher überwältigt
fühlt. Aber die bis heute fortgesetzten sozialen Bewegun-
gen, die das Bewusstsein für die unvollständige Inklusion
der unterdrückten, marginalisierten und entwürdigten, der
heimgesuchten, exploitierten und benachteiligten Grup-
pen, sozialen Klassen, Subkulturen, Geschlechter, Ethnien,
Nationen und Erdteile immer wieder aufrütteln, erinnern
an das Gefälle zwischen der Positivität der Geltung und den
noch ungesättigten Gehalten der inzwischen nicht mehr
nur national »erklärten« Menschenrechte.6 Daher gehört
15
es, und darauf will ich mit meinem Exkurs hinaus, zu den
Bestandsvoraussetzungen eines demokratischen Gemein-
wesens, dass sich die Bürger aus der Perspektive von Betei-
ligten in den Prozess einer fortgesetzten Realisierung der
unausgeschöpften, aber schon positiv geltenden Grund-
rechte verwickelt sehen.
Ganz abgesehen von diesen langfristigen Prozessen einer
Grundrechtsverwirklichung, interessiert mich der Normal
fall der selbstverständlich vorgenommenen Idealisierungen,
die in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen mit
dem Status freier und gleicher Staatsbürger verbunden sind ;
denn diese können sich an ihren staatbürgerlichen Prakti-
ken gar nicht anders beteiligen als mit der intuitiven (und
kontrafaktischen) Unterstellung, dass die Bürgerrechte, die
sie praktizieren, im Allgemeinen halten, was sie verspre-
chen. Der normative Kern der demokratischen Verfassung
muss, gerade im Hinblick auf die Stabilität des politischen
Systems, im staatsbürgerlichen Bewusstsein, das heißt in
den impliziten Überzeugungen der Bürger selbst, veran-
kert sein. Nicht die Philosophen, die Bürgerinnen und Bür-
ger müssen in der großen Mehrheit von den Prinzipien der
Verfassung intuitiv überzeugt sein. Andererseits müssen sie
16
auch darauf vertrauen können, dass ihre Stimmen in demo-
kratischen Wahlen gleichmäßig zählen, dass es in Gesetz-
gebung und Rechtsprechung, im Regierungs- und im Ver-
waltungshandeln grosso modo mit rechten Dingen zugeht
und dass in der Regel eine faire Möglichkeit zur Revision
besteht, wenn zweifelhafte Entscheidungen getroffen wer-
den. Auch wenn diese Erwartungen Idealisierungen sind,
die mal mehr, mal weniger über die tatsächliche Praxis
hinausschießen, schaffen sie – indem sie sich in Urteil und
Verhalten der Bürger niederschlagen – soziale Fakten. Pro-
blematisch an solchen Praktiken sind nicht die idealisieren-
den Unterstellungen, die sie ihren Teilnehmern abverlangen,
sondern die Glaubwürdigkeit der Institutionen, die diese
Idealisierungen nicht offensichtlich und auf Dauer demen-
tieren dürfen. Trumps fatale Aufforderung hätte in der Wut
der Bürger, die am 6. Januar 2021 das Kapitol gestürmt
haben, kaum das erwünschte Echo gefunden, wenn nicht
die politischen Eliten seit Jahrzehnten die legitimen, von der
Verfassung gewährleisteten Erwartungen eines erheblichen
Teils ihrer Bürger enttäuscht hätten. Die politische Theo-
rie, die auf diese Art des Verfassungsstaates zugeschnitten
ist, muss mithin so angelegt sein, dass sie beidem gerecht
wird : sowohl dem eigentümlich idealisierenden Überschuss
einer moralisch gehaltvollen Grundrechtsordnung, der den
Bürgern das Bewusstsein gibt, an der Ausübung demokra-
tisch legitimierter Herrschaft beteiligt zu sein, wie auch den
sozialen und institutionellen Voraussetzungen, unter denen
die notwendigen Idealisierungen, die die Bürger mit ihren
Praktiken verbinden, allein glaubwürdig bleiben.
Eine Demokratietheorie braucht sich daher gar nicht erst
der Aufgabe zu unterziehen, die Prinzipien einer gerech-
17
ten politischen Ordnung in eigener Regie zu entwerfen,
das heißt zu konstruieren und zu rechtfertigen, um sie den
Bürgern pädagogisch vor Augen zu halten ; sie braucht
sich, mit anderen Worten, nicht als normativ entworfene
Theorie verstehen. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin,
solche Prinzipien aus dem geltenden Recht und aus den
entsprechenden intuitiven Erwartungen und Legitimitäts-
vorstellungen der Bürger rational zu rekonstruieren. Sie
muss den prinzipiellen Bedeutungsgehalt der historisch
vorgefundenen und bewährten, also hinreichend stabilen
Verfassungsordnungen explizit machen und die rechtferti-
genden Gründe erklären, die der faktisch ausgeübten Herr-
schaft im Bewusstsein ihrer Bürger tatsächlich legitimie-
rende Kraft verschaffen und daher auch deren Beteiligung
sichern können.7 Dass die politische Theorie in dem Maße,
wie sie das implizite Bewusstsein der am politischen Leben
teilnehmenden Masse der Bürger expliziert, ihrerseits wie-
derum deren normatives Selbstverständnis prägen kann,
ist nicht ungewöhnlicher als die Rolle der akademischen
Zeitgeschichte, die ja ihrerseits auf die Fortsetzung des his-
torischen Geschehens, das sie jeweils darstellt, performa-
tiv Einfluss nimmt. Das macht sie nicht von Haus aus zur
politischen Pädagogik. Daher ist deliberative Politik für
mich auch kein weit hergeholtes Ideal, an dem wir die
schnöde Realität messen müssten, sondern in pluralistischen
Gesellschaften eine Existenzvoraussetzung jeder Demo-
18
kratie, die diesen Namen noch verdient.8 Denn je heteroge-
ner die sozialen Lebenslagen, die kulturellen Lebensfor-
men und die individuellen Lebensstile einer Gesellschaft
sind, desto mehr muss das Fehlen eines a fortiori bestehen
den Hintergrundkonsenses durch die Gemeinsamkeit der
öffentlichen Meinungs- und Willensbildung wettgemacht
werden.
Die klassischen Theorien konnten sich, weil ihre Ursprün-
ge hinter die Verfassungsrevolutionen des späten 18. Jahr-
hunderts zurückreichen, als normative Entwürfe für die
Einrichtung von demokratischen Verfassungen verstehen.
Aber eine politische Theorie, die heute einfach zur Kennt-
nis nehmen kann, dass mit der überschießenden demo-
kratischen Verfassungsidee eine Spannung zwischen der
positiven Geltung zwingender Verfassungsnormen und
der Verfassungswirklichkeit in die Wirklichkeit der moder-
nen Gesellschaften selbst eindringt und in Fällen drastisch
sichtbarer Dissonanzen bis heute eine massenhaft mobili-
sierende Dynamik des Protestes auslösen kann, muss sich
ihrer rekonstruktiven Aufgabe bewusst werden. Die repu-
blikanische und die liberale Theorietradition verzerren frei-
lich beide schon diese Idee selbst, indem sie einseitig entwe-
der der Volkssouveränität oder der Herrschaft der Gesetze
Vorrang einräumen und die Pointe der Gleichursprüng-
lichkeit von individuell ausgeübten subjektiven Freiheiten
und intersubjektiv ausgeübter Volkssouveränität verfehlen.
Denn die Idee jener beiden Verfassungsrevolutionen ist
die Gründung einer selbstbestimmten Assoziation freier
Rechtsgenossen, wobei sich diese als demokratische Mit-
19
gesetzgeber ihre Freiheit durch die Gleichverteilung sub
jektiver Rechte nach allgemeinen Gesetzen letztlich selber
gewähren müssen. Gemäß diesem Gedanken einer kollek-
tiven Selbstbestimmung, die den egalitären Universalismus
der Gleichberechtigung aller mit dem Individualismus eines
jeden Einzelnen zusammenführt, stehen Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit auf Augenhöhe. Und diesem Gedanken
kann nur eine Diskurstheorie, die um die Idee einer delibe-
rativen Politik kreist, Genüge tun.9
20
Verfahrens der demokratischen Willensbildung. An die
Stelle der religiösen Legitimationsideen ist nicht eine andere
Idee getreten, sondern das Verfahren der demokratischen
Selbstermächtigung, das, damit es von freien und gleichbe-
rechtigten Bürgern ausgeübt werden kann, in Gestalt gleich
verteilter subjektiver Rechte institutionalisiert wird. Auf
den ersten Blick ist es eine ziemlich mysteriöse Vorstellung,
dass aus dieser rechtlichen Etablierung eines Verfahrens
demokratischer Willensbildung, also aus schierer »Legali-
tät«, gleichwohl die »Legitimität« allgemein überzeugen
der Ergebnisse hervorgehen soll. Einen wesentlichen Teil
der Erklärung liefert die Analyse der Bedeutung, die dieses
Verfahren aus der Sicht der Beteiligten gewinnt ; und zwar
verdankt es seine Überzeugungskraft der unwahrscheinli-
chen Kombination von zwei Bedingungen : Das Verfahren
verlangt zum einen die Inklusion aller von möglichen Ent-
scheidungen Betroffenen als gleichberechtigt an der politi-
schen Willensbildung Beteiligte. Und es macht zum ande-
ren die demokratisch, also von allen Einzelnen gemeinsam
getroffenen Entscheidungen abhängig von einem mehr oder
weniger diskursiven Charakter vorangehender Beratungen.
Damit wird die inklusive Willensbildung abhängig gemacht
von der Kraft der Gründe, die während des Prozesses einer
vorangehenden Meinungsbildung mobilisiert werden. Die
Inklusion entspricht der demokratischen Forderung nach
der gleichberechtigten Partizipation aller Betroffenen an
der politischen Willensbildung, während der Filter der De-
liberation der Erwartung kognitiv richtiger und tragfähi-
ger Problemlösungen Rechnung trägt und die Vermutung
rational akzeptabler Ergebnisse begründet. Diese Vermu-
tung lässt sich wiederum mit der falsifizierbaren Unter
21
stellung rechtfertigen, dass in jenen eine Mehrheitsent-
scheidung vorbereitenden Beratungen nach Möglichkeit
alle relevanten Themen, erforderlichen Informationen und
geeigneten Lösungsvorschläge mit Argumenten pro und
contra zur Sprache kommen. Und es ist dieses Erfordernis
der freien Deliberation, das die zentrale Rolle der politi
schen Öffentlichkeit erklärt.10 Diese abstrakte Überlegung
findet übrigens eine historische Bestätigung darin, dass sich
zunächst in England, dann in den USA , in Frankreich und
anderen Ländern Europas gleichzeitig mit der liberalen
Demokratie so etwas wie eine »bürgerliche Öffentlichkeit«
herausgebildet hat.
Allerdings können jene beiden Erfordernisse des demo-
kratischen Verfahrens, die Deliberation und die Einbezie-
hung aller Bürger, selbst in Annäherung erst auf der Ebene
der staatlichen Institutionen, und zwar vor allem in den
repräsentativen Körperschaften der parlamentarischen Ge-
setzgebung realisiert werden. Das erklärt den wesentlichen,
aber begrenzten Beitrag, den die politische Kommunikation
in der Öffentlichkeit zum Ganzen des demokratischen Pro-
zesses leisten kann. Einen wesentlichen Beitrag leistet sie,
weil sie den einzigen Ort einer grundsätzlich inklusiven, alle
erwachsenen und wahlberechtigten Bürger und Bürgerin-
nen in corpore einschließenden politischen Meinungs- und
Willensbildung darstellt. Und sie kann wiederum die Ent-
22
scheidungen motivieren, die die Bürger gemeinsam, aber als
Einzelne und in der Isolierung der Wahlkabine, das heißt
»aus freien Stücken«, treffen sollen. Diese Wahlentschei-
dungen führen insofern zu einem alle Bürger bindenden
Ergebnis, als diese über die parteipolitische Zusammenset-
zung der Parlamente und, sei es direkt oder indirekt, auch
der Regierung bestimmen. Der Beitrag, den die politische
Öffentlichkeit zur demokratischen Meinungs- und Wil-
lensbildung leistet, ist andererseits begrenzt, weil hier in der
Regel keine kollektiv verbindlichen Einzelentscheidungen
getroffen werden (nur in seltenen Fällen erlaubt die über-
sichtliche Struktur von Grundsatzentscheidungen solche
Plebiszite). Die massenmedial gesteuerte Meinungsbildung
generiert im zerstreuten Publikum der Staatsbürger einen
Plural von öffentlichen Meinungen. Diese aus Themen,
Beiträgen und Informationen gebündelten und profilierten
Meinungen konkurrieren jeweils um Wahl und Gewich-
tung der relevanten Themen, der richtigen politischen Ziele
und der besten Problemlösungsstrategien. Von besonderer
Relevanz ist in unserem Zusammenhang ein Umstand : Das
Gewicht, das der Wille der Staatsbürger, also des Souveräns,
auf die Entscheidungen des politischen Systems insgesamt
gewinnt, hängt nicht unwesentlich auch von der aufklä
renden Qualität des Beitrags ab, den die Massenmedien
zu dieser Meinungsbildung leisten. Denn diese zehrt von
der vorgängigen journalistischen Verarbeitung der Themen
und Beiträge, der alternativen Vorschläge, Informationen,
Stellungnahmen pro und contra, kurzum des Inputs, der
unter anderem über die Informationskanäle der politi-
schen Parteien, der Interessenverbände und der PR -Agen-
turen der gesellschaftlichen Funktionssysteme sowie von
23
den Akteuren und Intellektuellen der Zivilgesellschaft in
die Öffentlichkeit eingeschleust wird. Durch diesen vom
Mediensystem gefilterten, mehr oder weniger informierten
Meinungspluralismus erhält jeder Bürger und jede Bürgerin
die Gelegenheit, sich jeweils eine eigene Meinung zu bilden
und eine aus ihrer Sicht möglichst rational motivierte Wahl
entscheidung zu treffen. Allerdings bleibt die Konkurrenz
der Meinungen und Entscheidungen in der Öffentlichkeit
selbst noch offen ; hier ist die Deliberation noch von den
jeweils einzeln getroffenen Entscheidungen getrennt, weil
in der Öffentlichkeit selbst die Wahlen zu Parlamenten nur
vorbereitet werden. Erst deren gewählte Mitglieder können
nach demokratischen Verfahren miteinander beraten und
entscheiden. Erst in den repräsentativ zusammengesetzten
Vertretungskörperschaften und den anderen staatlichen
Institutionen, besonders formell in den Gerichten, sind die
Regeln der Geschäftsordnung auf jenes deliberative Format
der Meinungs- und Willensbildung zugeschnitten, welches
die Vermutung auf mehr oder weniger rational akzeptable
Mehrheitsentscheidungen begründet.
Um den begrenzten Beitrag der politischen Öffentlich-
keit richtig einzuschätzen, müssen wir den Organisations
teil der Verfassung und die Struktur des arbeitsteiligen
politischen Systems als ganze in den Blick nehmen und wie
ein Flussdiagramm lesen. Dann erkennt man, wie sich der
demokratische Strom der Meinungs- und Willensbildung
der Bürger jenseits der Schwelle ihrer Wahlentscheidun-
gen verzweigt und durch die – von der Lobbyarbeit der
Funktionssysteme belagerten – Kanäle von Parteipolitik,
Gesetzgebung, Justiz, Verwaltung und Regierung hindurch
geschleust wird. Er mündet in die Entscheidungen, die im
24
Rahmen der Gesetze aus Kompromissen zwischen funk-
tionalen Notwendigkeiten, gesellschaftlichen Interessen
und Wählerpräferenzen hervorgehen. Die legitimen politi-
schen Ergebnisse werden dann wiederum in der politischen
Öffentlichkeit bewertet und kritisiert und nach dem Ende
einer Wahlperiode zu neuen Wählerpräferenzen verarbei-
tet. Die Annahme, dass sich auch politische Diskurse am
Ziel eines Einverständnisses orientieren, wird oft missver-
standen. Sie impliziert nämlich keineswegs die idealistische
Vorstellung vom demokratischen Prozess als einer friedli-
chen Seminarveranstaltung. Man kann im Gegenteil davon
ausgehen, dass die Orientierung vernünftiger Teilnehmer
an der Wahrheit oder Richtigkeit ihrer räsonierten Über-
zeugungen die politischen Auseinandersetzungen erst recht
anheizt und diesen einen grundsätzlich agonalen Charak
ter verleiht. Wer argumentiert, widerspricht. Nur über das
Recht, ja die Ermutigung zum reziproken Neinsagen ent-
faltet sich das epistemische Potential der widerstreitenden
Meinungen im Diskurs, denn dieser ist auf die Selbstkor-
rektur von Teilnehmern angelegt, die ohne gegenseitige
Kritik nicht voneinander lernen könnten. Darin besteht
ja der Witz deliberativer Politik : dass wir in politischen
Auseinandersetzungen unsere Überzeugungen verbessern
und der richtigen Lösung von Problemen näher kommen
können. Bei der in der Öffentlichkeit entfesselten Kako-
phonie der gegensätzlichen Meinungen wird allein eines
vorausgesetzt : der alle übrigen Auseinandersetzungen legi-
timierende Konsens über die Grundsätze der gemeinsamen
Verfassung. Vor diesem konsentierten Hintergrund besteht
der gesamte demokratische Prozess aus einer Flut von Dis-
sensen, die von der wahrheitsorientierten Suche der Bür-
25
ger nach rational akzeptablen Entscheidungen immer von
neuem aufgewühlt wird.
Der deliberative Charakter der Meinungs- und Willens-
bildung der Wähler bemisst sich in der politischen Öffent
lichkeit am Ergebnis der diskursiven Qualität der Beiträge,
nicht am Ziel eines ohnehin nicht erreichbaren Konsenses ;
vielmehr soll hier die Wahrheitsorientierung der Beteilig-
ten einen offen bleibenden Meinungsstreit anfachen, aus
dem konkurrierende öffentliche Meinungen hervorge-
hen. Diese Dynamik eines fortdauernden Dissenses in der
Öffentlichkeit prägt ebenso die Konkurrenz der Parteien
und das Gegeneinander von Regierung und Opposition,
auch die Meinungsverschiedenheiten von Experten ; der
Argumentationshaushalt, der auf diese Weise mobilisiert
wird, kann dann die bindenden, an den entsprechenden
Orten des politischen Systems verfahrensgerecht zu tref-
fenden Entscheidungen informieren. Die Institutionalisie-
rung der entfesselten anarchischen Kraft des Neinsagens
in öffentlichen Debatten und Wahlkämpfen, im Streit der
Parteien, in den Verhandlungen des Parlaments und sei-
ner Ausschüsse, in den Beratungen der Regierung und der
Gerichte verlangt einzig die vorgängige politische Integra
tion aller Beteiligten im Konsens über die Grundintention
ihrer Verfassung. Diese ist einfach genug : Sie buchstabiert ja
nur den schlichten Willen der Bürger aus, allein den Geset
zen zu gehorchen, die sie sich selber gegeben haben. Ohne
einen solchen Konsens über die Bedeutung einer delibe-
rativ durchgeführten demokratischen Selbstgesetzgebung
würden die jeweiligen Minderheiten keinen Grund haben,
sich majoritären Entscheidungen auf Zeit zu unterwerfen.
Dabei dürfen wir allerdings die Hauptsache, an der sich das
26
Schicksal einer Demokratie letztlich entscheidet, nicht ver-
gessen : Unter diesem normativen Gesichtspunkt beurteilt,
muss die institutionalisierte Willensbildung im Ganzen
auch tatsächlich so funktionieren, dass die Wahlbürger in
ihrem Verfassungskonsens von Zeit zu Zeit durch Erfah
rung bestätigt werden. Die Ergebnisse des Regierungshan-
delns müssen derart in einem erkennbaren Zusammenhang
mit dem Input der Entscheidungen der Wähler stehen, dass
die Bürger darin die rationalisierende Kraft ihrer eigenen
demokratischen Meinungs- und Willensbildung bestätigt
sehen können.11 Die Bürger müssen ihren Meinungsstreit
sowohl als folgenreich wie auch als einen Streit um die bes-
seren Gründe wahrnehmen können.12
Doch die Verhältnisse sind nicht so – nicht einmal
mehr in den ältesten angelsächsischen Demokratien. Das
zustimmende Echo, das der Sturm auf das Kapitol unter
Trump-Wählern gefunden hat, muss man wohl auch als
den expressiven Ausdruck von Wählern verstehen, die
seit Jahrzehnten eine politisch folgenreiche und spürbare
Wahrnehmung ihrer vernachlässigten Interessen nicht mehr
erkennen konnten. Am Nachlassen, in einigen Ländern fast
schon am Versiegen dieser rationalisierenden Kraft der
öffentlichen Auseinandersetzungen bemisst sich die politi-
27
sche Regression, in deren Sog seit dem Ende des vergange-
nen Jahrhunderts fast alle Demokratien des Westens geraten
sind. Diese Abhängigkeit der problemlösenden Kraft einer
Demokratie vom Fluss der deliberativen Politik beleuchtet
die zentrale Rolle der politischen Öffentlichkeit.
Ohne einen geeigneten Kontext finden die für eine demo-
kratische Legitimation der Herrschaft wesentlichen Vor-
aussetzungen deliberativer Politik aber keinen Halt in einer
Bevölkerung, von der doch »alle Gewalt ausgehen« soll.
Regierungshandeln, Grundsatzurteile der Obergerichte,
parlamentarische Gesetzgebung, Parteienkonkurrenz und
freie politische Wahlen müssen auf eine aktive Bürgerge-
sellschaft treffen, weil die politische Öffentlichkeit in einer
Zivilgesellschaft wurzelt, die – als der Resonanzboden für
die reparaturbedürftigen Störungen wichtiger Funktions-
systeme – die kommunikativen Verbindungen zwischen der
Politik und deren gesellschaftlichen »Umwelten« herstellt.
Die Zivilgesellschaft kann aber für die Politik nur dann die
Rolle einer Art von Frühwarnsystem übernehmen, wenn
sie die Akteure hervorbringt, die in der Öffentlichkeit für
die relevanten Themen der Bürger Aufmerksamkeit orga-
nisieren. Das funktional erforderliche Maß an staatsbür-
gerlichem Engagement steht allerdings in den großflächi-
gen Territorialgesellschaften der modernen Demokratien
des Westens von Anbeginn in einem Spannungsverhältnis
zu den privaten und persönlichen Verpflichtungen und
Interessenlagen, denen die Staatsbürger in ihrer Rolle als
Gesellschaftsbürger gleichzeitig nachkommen wollen und
müssen. Dieser strukturelle Konflikt zwischen den öffent-
lichen und privaten Rollen der Bürger bildet sich auch
in der Öffentlichkeit selber ab. In Europa hatte sich die
28
bürgerliche Öffentlichkeit in ihrer literarischen und ihrer
politischen Form erst allmählich aus dem Schatten älterer
Formationen – vor allem der religiösen Öffentlichkeit des
Kirchenregimes sowie der repräsentativen Öffentlichkeit
der in Kaisern, Königen und Fürsten persönlich verkörper-
ten Herrschaft – lösen können, nachdem die sozialstruk-
turellen Voraussetzungen für eine funktionale Trennung
von Staat und Gesellschaft, von öffentlicher und privater
wirtschaftlicher Sphäre erfüllt waren. Aus der lebenswelt-
lichen Perspektive der Beteiligten betrachtet, steht deshalb
die Zivilgesellschaft politisch aktiver Bürger von Haus
aus in diesem Spannungsfeld der privaten und der öffent-
lichen Sphäre. Wir werden sehen, dass die Digitalisierung
der öffentlichen Kommunikation die Wahrnehmung dieser
Grenze zwischen privatem und öffentlichem Lebensbe-
reich verschwimmen lässt, obgleich sich die sozialstruktu-
rellen Voraussetzungen für diese auch rechtssystematisch
folgenreiche Unterscheidung nicht verändert haben. Aus
der Sicht der halb privaten, halb öffentlichen Kommunika-
tionsräume, in denen sich heute die Nutzer sozialer Medien
bewegen, verschwindet der inklusive Charakter einer bis
dahin von der Privatsphäre erkennbar getrennten Öffent-
lichkeit. Darin besteht, wie ich zeigen möchte, auf der sub-
jektiven Seite der Mediennutzer das beunruhigende Phä-
nomen, das gleichzeitig auf die unzureichende politische
Regulierung der neuen Medien aufmerksam macht.
29
3
30
erfordert hat, ist ein Indikator für die Schwierigkeiten, die
allgemein jede Eingewöhnung in eine liberale politische
Kultur überwinden muss. Den moralischen Kern einer
solchen Kultur bildet nämlich die Bereitschaft der Bürger
zur reziproken Anerkennung von Anderen als Mitbürgern
und gleichberechtigten demokratischen Mitgesetzgebern.13
Das beginnt mit der kompromissbereiten Wahrnehmung
des politischen Gegners als eines Gegners, der nicht länger
als Feind begegnet, und setzt sich, über die Grenzen ver-
schiedener ethnischer, sprachlicher und religiöser Lebens-
formen hinweg, mit der reziproken Einbeziehung von
Fremden, die füreinander Fremde bleiben wollen, in eine
gemeinsame politische Kultur fort. Diese muss sich von
der jeweiligen Mehrheitskultur so weit differenziert haben,
dass sich in einer pluralistischen Gesellschaft jeder Bürger
darin wiedererkennen kann. Das soziale Band einer noch so
heterogen zusammengesetzten Gesellschaft wird nur dann
nicht reißen, wenn die politische Integration allgemein eine
staatsbürgerliche Solidarität gewährleistet, die keineswegs
einen bedingungslosen Altruismus verlangt, sondern eine
begrenzte reziproke Hilfsbereitschaft. Diese Art des Fürein-
ander-Einstehens geht zwar über die Bereitschaft zum inte-
ressenabhängigen Kompromissverhalten hinaus, ist aber
unter Genossen desselben politischen Gemeinwesens nur
mit der zeitlich unbestimmten Erwartung eines reziproken,
auf längere Sicht gegebenenfalls erforderlichen Interessen-
ausgleichs verbunden – eben mit der Erwartung, dass sich
der oder die Andere in einer ähnlichen Situation zu einer
31
ähnlichen Hilfestellung verpflichtet fühlen wird.14 Eine
liberale politische Kultur ist kein Wurzelgrund für liber-
täre Einstellungen ; sie verlangt eine – wenn auch in klei-
ner Münze ausgezahlte – Gemeinwohlorientierung. Damit
Mehrheitsentscheidungen von der jeweils unterlegenen
Minderheit akzeptiert werden können, dürfen nicht alle
Bürger ihre Wahlentscheidungen ausschließlich im kurz-
fristigen Eigeninteresse treffen. Ein hinreichender – und
zudem repräsentativer – Anteil von ihnen muss willens
sein, die Rolle des demokratischen Mitgesetzgebers auch
gemeinwohlorientiert wahrzunehmen.
Eine zweite Bedingung, die für eine aktive Bürgergesell-
schaft notwendig ist, ist ein Maß an sozialer Gleichheit, das
eine spontane und hinreichende Beteiligung der Wahlbe-
völkerung am demokratischen Meinungs- und Willensbil-
dungsprozess, die nicht zur Pflicht gemacht werden darf,
ermöglicht. Die Architektonik der Grundrechtsordnung
des Verfassungsstaates, die einerseits mit subjektiven Pri-
vatrechten (und sozialstaatlichen Ansprüchen) die Freihei
ten der Gesellschaftsbürger und die andererseits mit subjek-
tiv-öffentlichen Kommunikations- und Teilnahmerechten
die politische Autonomie der Staatsbürger gewährleistet,
erschließt sich erst vollständig aus dem funktionalen Sinn
der komplementären Rolle, die die private und die öffent
liche Autonomie der Bürger, abgesehen von ihrem jewei-
ligen Eigenwert, auch jeweils füreinander spielen. Die
politischen Rechte ermächtigen einerseits den Staatsbürger
zur Teilnahme an der demokratischen Gesetzgebung, die
32
unter anderem über die Verteilung der privaten Rechte und
Ansprüche und damit über den Spielraum für den Status-
erwerb des Gesellschaftsbürgers entscheidet ; andererseits
schafft dieser gesellschaftliche Status wiederum die sozialen
Voraussetzungen und Motivationen für den Gebrauch, den
die Staatsbürger jeweils faktisch von ihren staatsbürgerli-
chen Rechten machen. Der enge Zusammenhang zwischen
sozialem Status und Wahlbeteiligung ist vielfach belegt.
Aber diese Erwartung einer reziproken Ermöglichung von
demokratischer Beteiligung und Statussicherung funktio
niert nur so lange, wie demokratische Wahlen zur Korrek-
tur von erheblichen und strukturell verfestigten sozialen
Ungleichheiten führen. Empirische Untersuchungen bele-
gen den vitiösen Zirkel, der sich einspielt, wenn sich aus
Resignation über das Ausbleiben wahrnehmbarer Verbes-
serungen der Lebensverhältnisse die Wahlenthaltung in
den unteren Statussegmenten der Bevölkerung ebenfalls
verfestigt. Dann tendieren die einstmals für die Interessen
dieser benachteiligten Schichten »zuständigen« Parteien
zur Vernachlässigung einer Klientel, von der sie aktuell
keine Stimmen zu erwarten haben ; und diese Tendenz ver-
stärkt wiederum die Motive zur Wahlenthaltung.15 Inzwi-
schen beobachten wir nicht etwa eine Umkehrung, sondern
vielmehr eine ironische Verkehrung dieses vitiösen Zirkels
in dem Maße, wie es populistischen Bewegungen gelingt,
das Potential dieser Nichtwähler zu mobilisieren.16 Dann
beteiligen sich freilich diese radikalisierten Nichtwähler-
33
gruppen an Wahlen nicht mehr unter den Voraussetzun
gen einer demokratischen Wahl, sondern in obstruktiver
Absicht als »Systemopposition«.17 Auch wenn sich dieser
Populismus der »Abgehängten« nicht allein mit wachsender
sozialer Ungleichheit erklären lässt, denn »abgehängt« füh-
len sich auch andere, durch die erforderliche Anpassung an
den beschleunigten technologischen und sozialen Wandel
überforderte Schichten, so manifestiert sich darin in jedem
Fall eine kritische gesellschaftliche Desintegration und das
Fehlen einer erfolgreich gegensteuernden Politik.
Das macht schließlich aufmerksam auf das prekäre Ver-
hältnis zwischen dem demokratischen Staat und einer
kapitalistischen Wirtschaft, welche soziale Ungleichheiten
tendenziell verstärkt. Die sozialstaatliche Ausbalancierung
34
der gegensätzlichen funktionalen Imperative ist (auf dieser
Ebene der Abstraktion) die dritte Erfolgsbedingung für ein
demokratisches Regime, das diesen Namen verdient. Von
der politischen Ökonomie her erschließt sich erst der sys-
tematische Zusammenhang von politischem System und
Gesellschaft ; und aus dieser Perspektive habe ich seinerzeit
den Strukturwandel der Öffentlichkeit verfolgt.18 Aller-
dings ist eine liberale politische Kultur für den Staat eher
eine mehr oder weniger erfüllte Randbedingung, als dass
dieser selbst mit administrativen Mitteln Einfluss auf deren
Entwicklung nehmen könnte. Anders verhält es sich mit
der sozialen Schichtung der Gesellschaft und dem beste-
henden Maß an sozialer Ungleichheit. Jedenfalls erzeugt
die selbstläufige kapitalistische Modernisierung einen staat-
lichen Regelungsbedarf, um die Fliehkräfte der sozialen
Desintegration zu bändigen. Die Sozialstaaten, die sich im
Westen während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
im Rahmen nationalstaatlicher demokratischer Verfassun-
gen herausgebildet haben, müssen eine solche politische
Gegensteuerung unter zunehmend anspruchsvollen Legi-
timationsbedingungen vornehmen. Um Krisen der gesell-
schaftlichen Integration zu vermeiden, versuchen sie, wie
Claus Offe gezeigt hat, zwei konträren Ansprüchen zu
genügen : Einerseits müssen sie für ausreichende Verwer-
tungsbedingungen des Kapitals sorgen, um Steuereinnah-
men zu generieren ; andererseits müssen sie unter Gesichts-
punkten der politischen und der sozialen Gerechtigkeit das
35
Interesse breiter Schichten an den rechtlichen und materiel-
len Voraussetzungen für die Ausübung ihrer privaten und
öffentlichen Autonomie befriedigen – sonst wird ihnen die
demokratische Legitimation entzogen. Allerdings können
kapitalistische Demokratien zwischen diesen beiden Impe-
rativen nur einen Pfad der Krisenvermeidung finden, wenn
ihre Steuerungskapazität ausreicht. Mit anderen Worten :
Die Reichweite der intervenierenden Politik muss sich mit
der Ausdehnung der für die nationale Wohlstandssiche-
rung relevanten Wirtschaftskreisläufe decken. Offenbar
war diese Bedingung in den Demokratien des Westens nur
vorübergehend, eben bis zur weltweiten Deregulierung der
Märkte und der Globalisierung der Finanzmärkte, die seit-
dem ihrerseits die Finanzpolitiken der Staaten kontrollie-
ren, hinreichend erfüllt.
Wenn man diese grob umrissenen systematischen Ge-
sichtspunkte einer historischen Beschreibung nationaler
Öffentlichkeiten zugrunde legte, würde man erkennen, wie
schwierig es ist, überhaupt zu haltbaren Generalisierun-
gen über die in verschiedenen historischen Perioden gege-
benen Rahmenbedingungen für die Funktionsfähigkeit
dieser Öffentlichkeiten zu gelangen. Nationale Besonder-
heiten überlagern die allgemeinen Trends zu jenem natio-
nalstaatlich organisierten Kapitalismus, die im Westen die
demokratische Nachkriegsentwicklung bis zur neolibera-
len Wende bestimmt haben. Während in dieser Periode die
Entwicklung des Sozialstaats die Zustimmung der Bevöl-
kerung zur Demokratie gestärkt hat, haben sich im Zuge
der Entfaltung einer Konsumgesellschaft auch schon pri-
vatistische Tendenzen zu einer Entpolitisierung abgezeich-
net (deren Anfänge ich im Strukturwandel seinerzeit – im
36
Klima der als autoritär wahrgenommenen Adenauer-Peri-
ode – wohl überpointiert habe). Seit dem neoliberalen Poli-
tikwechsel sind jedoch die westlichen Demokratien in eine
Phase zunehmender innerer Destabilisierung eingetreten.
Diese wird inzwischen durch die Herausforderungen der
Klimakrise und des wachsenden Migrationsdrucks ebenso
verstärkt wie durch den wahrgenommenen Aufstieg Chinas
und anderer »Schwellenländer« und die dadurch veränderte
weltwirtschaftliche und weltpolitische Lage. Im Inneren hat
die soziale Ungleichheit in dem Maße zugenommen, wie
der Handlungsspielraum der Nationalstaaten von Impera-
tiven weltweit deregulierter Märkte eingeschränkt worden
ist. In den betroffenen Subkulturen sind gleichzeitig die
Ängste vor sozialem Abstieg und vor einer unbewältigten
Komplexität der beschleunigten sozialen Veränderungen
gewachsen.
Ganz abgesehen von der neuen, durch die Pandemie
verursachten weltpolitischen Lage, legen diese Umstände
zwar für die in der EU vereinten Nationalstaaten die Per
spektive einer stärkeren Integration nahe, also den Versuch,
die Kompetenzen, die sie im Zuge dieser Entwicklung
auf nationaler Ebene verloren haben, durch die Schaffung
neuer politischer Handlungsfähigkeiten auf transnationaler
Ebene wiederzugewinnen.19 Die nüchterne Beschreibung
der institutionellen Ansätze zu einer Global Governance,
die die internationalen Machtasymmetrien eher befestigt
als abgebaut haben, weckt aber kaum Hoffnungen.20 Insbe-
37
sondere das Schlingern der Europäischen Union angesichts
ihrer gegenwärtigen Probleme drängt die Frage auf, wie sich
Nationalstaaten auf der transnationalen Ebene zu einem
demokratischen Regime vereinigen können, das, ohne sel-
ber einen staatlichen Charakter anzunehmen, gleichwohl
über globale Handlungsfähigkeiten verfügt. Das würde
auch eine stärkere Öffnung der nationalen Öffentlichkei-
ten füreinander voraussetzen. Aber sowohl die Spaltun-
gen innerhalb der EU wie der zögerliche, aber schließlich
doch vollzogene Brexit sprechen eher für die Auszehrung
der bestehenden demokratischen Regimes – und vielleicht
sogar dafür, dass die Weltpolitik der großen Mächte sich zu
einem Imperialismus neuer Art entwickeln könnte. Einst-
weilen wissen wir nicht, wie die nationalen und die welt-
wirtschaftlichen Folgeprobleme der von einer Pandemie
heimgesuchten Weltgesellschaft von den handlungsfähigen
politischen Eliten in unseren Ländern wahrgenommen und
verarbeitet werden. So spricht im Augenblick nicht viel für
den wünschenswerten Politikwechsel zu einer sozialöko-
logischen Agenda mit Kurs auf eine stärkere Integration
Kerneuropas.
38
der Throughput- und der Output-Seite bestimmten funk-
tionalen Erfordernissen genügen. Relevant sind öffentli-
che Meinungen nur, wenn die Meinungsproduzenten aus
den Reihen der Politik sowie die Interessenvertreter und
PR -Agenturen der gesellschaftlichen Funktionssysteme
und schließlich die verschiedenen Akteure der Zivilgesell-
schaft hinreichend responsiv sind, um die regelungsbedürf-
tigen Probleme zu entdecken und dann für den richtigen
Input zu sorgen. Und effektiv sind öffentliche Meinungen
nur dann, wenn die entsprechenden Themen und Beiträge
der Meinungsproduzenten ins Licht der Öffentlichkeit
gelangen und auf der Output-Seite die Aufmerksamkeit der
breiten – wahlberechtigten – Bevölkerung wecken. Unser
Interesse richtet sich vor allem auf das für den Through-
put zuständige Mediensystem. Obwohl für die zivilge-
sellschaftlichen Akteure die Face-to-face-Begegnungen
im Alltag und in öffentlichen Veranstaltungen jene beiden
Nahbereiche der Öffentlichkeit darstellen, von denen ihre
eigenen Initiativen ausgehen, bildet die von Massenmedien
gelenkte öffentliche Kommunikation allein den Bereich,
worin sich die kommunikativen Geräusche zu relevanten
und effektiven öffentlichen Meinungen verdichten kön-
nen. Unser Thema ist die Frage, wie die Digitalisierung das
Mediensystem verändert hat, das diese Massenkommu-
nikation steuert. Das technisch und organisatorisch hoch
komplexe Mediensystem verlangt ein professionalisiertes
Personal, das für die Kommunikationsflüsse, aus denen die
Bürger öffentliche Meinungen kondensieren, die Rolle von
Gatekeepern (wie es inzwischen heißt) spielt. Das Personal
besteht aus Journalisten, die für die Nachrichtendienste, die
Medien und die Verlage arbeiten, das heißt aus Fachkräf-
39
ten, die im Medien- und Literaturbetrieb Autoren-, Redak-
teur-, Lektoren- und Managerfunktionen ausüben. Dieses
Personal lenkt den Throughput und bildet zusammen mit
den Unternehmen, die die Technik der Herstellung und die
Organisation des Vertriebs organisieren, die Infrastruktur
der Öffentlichkeit, die letztlich über die beiden entschei-
denden Parameter der öffentlichen Kommunikation ent-
scheidet – über Reichweite und deliberative Qualität des
Angebots. Wie inklusiv die Rezeption der veröffentlichten
Meinungen tatsächlich ist, wie intensiv und zeitaufwendig
diese auf der Output-Seite von Lesern und Hörern emp-
fangen und in den beiden erwähnten Nahbereichen der
politischen Öffentlichkeit zu den effektiven öffentlichen
Meinungen weiterverarbeitet und schließlich in der Münze
von Wahlergebnissen dem politischen System ausgezahlt
werden, hängt schließlich von den Mediennutzern ab, und
zwar von ihrer Aufmerksamkeit und ihrem Interesse, ihrem
Zeitbudget, ihrem Bildungshintergrund usw.
Der Einfluss der digitalen Medien auf einen erneuten
Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit lässt sich etwa
seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts an Umfang und Art
der Mediennutzung ablesen. Ob diese Veränderung auch
die deliberative Qualität der öffentlichen Debatte betrifft,
ist eine offene Frage. Wie die einschlägigen kommunika-
tionswissenschaftlichen, politologischen und wahlsoziolo-
gischen Forschungen – vor allem die Untersuchungen zu
Wahlbeteiligung und Public Ignorance – zeigen, waren die
Werte für diese beiden Dimensionen der öffentlichen Kom-
munikation auch vorher schon alles andere als befriedigend ;
aber es waren Werte für demokratische Zustände diesseits
stabilitätsgefährdender Krisenerscheinungen. Heute sind
40
die Zeichen politischer Regression mit bloßem Auge er-
kennbar. Ob und in welchem Maße dazu auch der Zustand
der politischen Öffentlichkeit beiträgt, müsste sich an der
Inklusivität der öffentlichen Meinungsbildung und an der
Rationalität der in der Öffentlichkeit profilierten Meinun-
gen zeigen. Offensichtlich stößt die empirische Erfassung
dieser zweiten Variable auf große Schwierigkeiten. Wäh-
rend für die Mediennutzung Daten vorliegen, lässt sich eine
theoretische Größe wie »deliberative Qualität« schon für
die verfahrensrechtlich geregelte Meinungsbildung in ein-
zelnen Körperschaften wie Ausschüssen, Parlamenten oder
Gerichten schwer operationalisieren,21 noch weniger aber
für die ungeregelten Kommunikationsprozesse in großflä-
chigen nationalen Öffentlichkeiten. Allerdings bieten die
Daten für einen Langzeitvergleich der Mediennutzung auch
eine Grundlage dafür, aus einer unabhängigen Einschät-
zung der Qualität der genutzten Medienangebote auf das
Reflexionsniveau der öffentlichen Meinungen zu schließen.
Bevor ich diese Frage weiterverfolge, müssen wir uns frei-
lich über den revolutionären Charakter der neuen Medien
klar werden. Denn bei ihnen handelt es sich nicht bloß um
eine Erweiterung des bisherigen Medienangebots, sondern
um eine mit der Einführung des Buchdrucks vergleichbare
Zäsur in der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung der
Medien.
Nach dem ersten evolutionären Schub zur Verschriftli-
chung des gesprochenen Wortes hatten sich in der frühen
Neuzeit, mit der Einführung der mechanischen Druck-
41
presse, die alphabetischen Zeichen vom handschriftlichen
Pergament gelöst ; mit der elektronischen Digitalisierung
haben sich seit wenigen Jahrzehnten auf ähnliche Weise die
binär codierten Zeichen vom beschriebenen Papier abge-
löst. Im Zuge dieser weiteren, ebenso folgenreichen Inno-
vation haben sich die Kommunikationsflüsse unserer red-
seligen Spezies mit unerhörter Geschwindigkeit über den
ganzen Erdball und retrospektiv auch über alle Epochen
der Weltgeschichte ausgebreitet, beschleunigt und vernetzt.
Mit dieser globalen Entgrenzung in Raum und Zeit haben
sie sich zugleich verdichtet, nach Funktionen und Inhalten
ausdifferenziert und vervielfältigt und über kultur- und
schichtenspezifische Grenzen hinweg verallgemeinert. Die
innovative Idee, die diese dritte Umwälzung der Kommu-
nikationstechnologien eingeleitet hat, war die weltweite
Vernetzung von Rechnern, über die nun beliebige Personen
von jedem Platz mit beliebigen Personen an jedem anderen
Platz der Erde – zuerst waren es Wissenschaftler, die die
neue Technologie nutzten – kommunizieren konnten. Die
US -amerikanische National Science Foundation traf 1991
die Entscheidung, diese Erfindung für die private und das
hieß auch für eine kommerzielle Nutzung freizugeben. Das
war der entscheidende Schritt zur Einrichtung des World
Wide Web zwei Jahre später. Damit war die technische
Basis für die logische Vollendung einer kommunikations-
technologischen Entwicklung geschaffen, die im Laufe
der Menschheitsgeschichte die ursprüngliche Begrenzung
der sprachlichen Kommunikation auf Gespräche unter
Anwesenden und eine mündliche Verständigung auf Ruf-
weite schrittweise überwunden hat. Für viele Lebens- und
Funktionsbereiche eröffnet diese Innovation unzweideu-
42
tige Fortschritte. Aber für die demokratische Öffentlich-
keit entwickelt die zentrifugale Entgrenzung der zugleich
beschleunigten Kommunikation auf beliebig viele Teilneh-
mer in beliebiger Entfernung eine ambivalente Sprengkraft ;
denn diese ist mit ihrer Ausrichtung auf das Zentrum hand-
lungsfähiger staatlicher Organisationen einstweilen auf
nationalstaatliche Territorien begrenzt.22 Die Entgrenzung
und Beschleunigung der Kommunikationsmöglichkeiten
sowie die Erweiterung der öffentlich thematisierten Ereig-
nisse sind zweifellos auch für den politischen Bürger von
Vorteil. Auch am heimischen Bildschirm ist die Welt kleiner
geworden. An den Inhalten der Presseerzeugnisse sowie der
Radio- und Fernsehprogramme ändert sich nichts, wenn sie
über Smartphones empfangen werden. Und wenn Filme für
Streamingdienste wie Netflix produziert werden, mag das
zu interessanten werkästhetischen Veränderungen führen ;
aber die veränderte Rezeption und die bedauernswerte
Auszehrung des Kinos sind durch die Konkurrenz des
Fernsehens längst angebahnt worden. Neben ihren eviden-
ten Vorzügen hat die neue Technologie andererseits auch
höchst ambivalente und möglicherweise disruptive Aus-
wirkungen auf die politische Öffentlichkeit im nationalen
Rahmen. Das liegt an der Art und Weise, wie die Nutzer
der neuen Medien von der Bereitstellung von grenzenlosen
43
Verknüpfungsmöglichkeiten, das heißt von »Plattformen«
für mögliche Kommunikationen mit beliebigen Adressaten,
Gebrauch machen.
Für die Medienstruktur der Öffentlichkeit ist dieser Platt-
formcharakter das eigentlich Neue an den neuen Medien.
Denn damit entledigen sie sich auf der einen Seite jener
produktiven Rolle der journalistischen Vermittlung und
Gestaltung von Programmen, die die alten Medien wahr-
nehmen ; insofern sind die neuen Medien keine »Medien«
im bisherigen Sinne. Sie verändern auf radikale Weise das
bisher in der Öffentlichkeit vorherrschende Kommunika-
tionsmuster. Denn sie ermächtigen alle potentiellen Nutzer
prinzipiell zu selbständigen und gleichberechtigten Auto-
ren. Die »neuen« unterscheiden sich von den traditionel-
len Medien dadurch, dass sich digitale Unternehmen diese
Technologie zunutze machen, um den potentiellen Nutzern
die unbegrenzten digitalen Vernetzungsmöglichkeiten wie
leere Schrifttafeln für eigene kommunikative Inhalte an-
zubieten. Sie sind nicht wie die klassischen Nachrichten-
dienste oder Verlage, wie Presse, Radio oder Fernsehen für
eigene »Programme« verantwortlich, also für kommunika-
tive Inhalte, die professionell hergestellt und redaktionell
gefiltert sind. Sie produzieren nicht, sie redigieren nicht und
sie selegieren nicht ; aber indem sie als »unverantwortliche«
Vermittler im globalen Netz neue Verbindungen herstellen
und mit der kontingenten Vervielfältigung und Beschleuni-
gung überraschender Kontakte inhaltlich unvorhersehbare
Diskurse anstoßen und intensivieren, verändern sie den
Charakter der öffentlichen Kommunikation tiefgreifend.
Programmsendungen stellen eine lineare und einseitige
Verbindung zwischen einem Sender und vielen potentiellen
44
Empfängern her ; beide Seiten begegnen sich in verschie-
denen Rollen, nämlich als öffentlich identifizierbare oder
bekannte, für ihre Veröffentlichungen verantwortliche Pro-
duzenten, Redakteure und Autoren auf der einen, als ano-
nymes Publikum von Lesern, Hörern oder Zuschauern auf
der anderen Seite. Demgegenüber stellen Plattformen eine
vielseitig vernetzungsoffene kommunikative Verbindung
für den spontanen Austausch möglicher Inhalte zwischen
potentiell vielen Nutzern her. Diese unterscheiden sich
nicht schon aufgrund des Mediums in ihren Rollen von-
einander ; sie begegnen sich vielmehr als prinzipiell gleiche
und selbst verantwortliche Teilnehmer am kommunikati-
ven Austausch zu spontan gewählten Themen. Die dezen-
tralisierte Verbindung zwischen diesen Mediennutzern ist
im Unterschied zu der asymmetrischen Beziehung zwi-
schen Programmsendern und Empfängern grundsätzlich
reziprok, aber wegen der fehlenden professionellen Schleu-
sen inhaltlich ungeregelt. Der egalitäre und unregulierte
Charakter der Beziehungen zwischen den Beteiligten und
die gleichmäßige Autorisierung der Nutzer zu eigenen
spontanen Beiträgen bilden das Kommunikationsmuster,
das die neuen Medien ursprünglich auszeichnen sollte. Die-
ses große emanzipatorische Versprechen wird heute zumin-
dest partiell von den wüsten Geräuschen in fragmentierten,
in sich selbst kreisenden Echoräumen übertönt.
Aus dem neuen Kommunikationsmuster haben sich zwei
für die strukturelle Veränderung der Öffentlichkeit bemer-
kenswerte Effekte ergeben. Zunächst schien sich der ega-
litär-universalistische Anspruch der bürgerlichen Öffent-
lichkeit auf gleichberechtigte Inklusion aller Bürger in
Gestalt der neuen Medien endlich zu erfüllen. Diese Medien
45
würden allen Bürgern eine eigene öffentlich wahrnehmbare
Stimme und dieser Stimme sogar mobilisierende Kraft ver-
leihen. Sie würden die Nutzer aus der rezeptiven Rolle von
Adressaten, die zwischen einer begrenzten Anzahl von Pro-
grammen wählen, befreien und jedem Einzelnen die Chance
geben, sich im anarchischen Austausch spontaner Meinun-
gen Gehör zu verschaffen. Aber die Lava dieses zugleich
antiautoritären und egalitären Potentials, die im kaliforni-
schen Gründergeist der frühen Jahre noch zu spüren war,
ist im Silicon Valley alsbald zur libertären Grimasse weltbe-
herrschender Digitalkonzerne erstarrt. Und das weltweite
Organisationspotential, das die neuen Medien bieten, dient
rechtsradikalen Netzwerken ebenso wie den tapferen bela
russischen Frauen in ihrem ausdauernden Protest gegen
Lukaschenko. Die Selbstermächtigung der Mediennutzer
ist der eine Effekt ; der andere ist der Preis, den diese für
die Entlassung aus der redaktionellen Vormundschaft der
alten Medien bezahlen, solange sie den Umgang mit den
neuen Medien noch nicht hinreichend gelernt haben. Wie
der Buchdruck alle zu potentiellen Lesern gemacht hatte, so
macht die Digitalisierung heute alle zu potentiellen Auto-
ren. Aber wie lange hat es gedauert, bis alle lesen gelernt
hatten ?
Die Plattformen liefern ihren emanzipierten Nutzern
keinen Ersatz für die professionelle Auswahl und diskur-
sive Prüfung der Inhalte anhand allgemein anerkannter
kognitiver Maßstäbe. Daher ist heute vom erodierenden
Gatekeeper-Modell der Massenmedien die Rede.23 Die-
46
ses Modell bedeutet keineswegs eine Entmündigung der
Mediennutzer ; es beschreibt nur eine Gestalt der Kommuni-
kation, die die Staatsbürger befähigen kann, die Kenntnisse
und Informationen zu erwerben, die nötig sind, damit sich
jeder und jede über politisch regelungsbedürftige Probleme
ein eigenes Urteil bilden kann. Eine politisch angemessene
Wahrnehmung der Autorenrolle, die nicht dasselbe ist wie
die Rolle von Konsumenten, schärft eher das Bewusstsein
für Defizite des eigenen Kenntnisstandes. Auch die Auto-
renrolle muss gelernt werden ; und solange es beim politi-
schen Austausch in den sozialen Medien daran noch fehlt,
leidet darunter einstweilen die Qualität der enthemmten,
gegen dissonante Meinungen und Kritik abgeschirmten
Diskurse. Erst daraus ergibt sich für die politische Mei-
nungs- und Willensbildung im politischen Gemeinwesen die
Gefahr der Fragmentierung in Verbindung mit einer gleich-
zeitig entgrenzten Öffentlichkeit. Die grenzenlosen Kom-
munikationsnetze, die sich spontan um bestimmte Themen
oder Personen bilden, können sich zentrifugal ausbreiten
und gleichzeitig zu Kommunikationskreisläufen verdich-
ten, die sich dogmatisch voneinander abschotten. Dann
verstärken sich die Tendenzen der Entgrenzung und Frag-
mentierung gegenseitig zu einer Dynamik, die der Integra-
tionskraft des von Presse, Radio und Fernsehen gestifteten
Kommunikationszusammenhangs der nationalstaatlich
zentrierten Öffentlichkeiten entgegenwirkt. Bevor ich auf
diese Dynamik näher eingehe, möchte ich festhalten, wie
sich der Anteil der sozialen Medien am gesamten Medien-
angebot entwickelt hat.
47
5
48
Nutzung des seinerzeit neuen Mediums Fernsehen die der
traditionellen Medien Tageszeitung und Radio überholt.
Aber auch seit der vom Jahre 2000 an deutlich bemerkbaren
Online-Konkurrenz behaupten Fernsehen und Radio nach
wie vor die größte Reichweite. Auch der Buchkonsum ist
zwischen 1980 und 2015 mit Schwankungen einigermaßen
stabil geblieben. In unserem Zusammenhang ist hervorzu-
heben, dass demgegenüber die entsprechende Reichweite
der Tageszeitungen seit Einführung des Fernsehens konti-
nuierlich von 69 Prozent im Jahre 1964 auf 33 Prozent im
Jahre 2015 zurückgegangen ist. Der Einbruch seit Einfüh-
rung der neuen Medien spiegelt sich im dramatischen Rück-
gang der Reichweite gedruckter Zeitungen und Zeitschrif-
ten von 60 Prozent im Jahre 2005 auf 22 Prozent im Jahre
2020. Dieser Trend wird sich beschleunigt fortsetzen, denn
in der Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen lasen 2005 noch
40 Prozent der Personen gedruckte Zeitungen oder Zeit-
schriften, während das in der gleichen Altersgruppe 2020
noch 6 Prozent taten. Gleichzeitig hat sich die Leseintensi-
tät verringert : Während bei den Lesern insgesamt die Lek-
türe von Tageszeitungen im Jahre 1980 noch durchschnitt-
lich 38 Minuten (und 11 Minuten für Zeitschriften) täglich
in Anspruch genommen hatte, nahm die Nutzungsdauer im
Jahr 2015 auf 23 Minuten (beziehungsweise 11 Minuten für
Zeitschriften), im Jahr 2020 auf 15 Minuten (für Zeitungen
und Zeitschriften zusammengenommen) ab. Natürlich hat
sich der Zeitungskonsum auch ins Internet verlagert ; aber
abgesehen davon, dass die Lektüre von gedruckten und
von digitalisierten Texten vermutlich nicht das gleiche Maß
an intensiver Aufmerksamkeit und analytischer Verarbei-
tung verlangt, kann das Angebot der Tageszeitungen durch
49
alternative Online-Informationsangebote (Podcasts zum
Beispiel oder Nachrichtenportale) nicht vollständig kom-
pensiert werden. Dafür ist die tägliche Nutzungsdauer der
digital gelesenen Texte in der Gesamtbevölkerung ein Indi-
kator – 18 Minuten insgesamt, davon 6 Minuten für Zeitun-
gen und Zeitschriften.
Das zuletzt Ende 2019 repräsentativ für die Bevölkerun-
gen der 28 EU -Staaten erhobene Eurobarometer bestätigt
die aktuelle Größenordnung der Angebote und der Nut-
zung der verschiedenen Medien : Täglich benutzen 81 Pro-
zent der Befragten das Fernsehen, 67 Prozent das Internet
allgemein, 47 Prozent die sozialen Medien, 46 Prozent das
Radio und 26 Prozent die Presse – während der Anteil der
täglichen Zeitungsleser 2010 noch bei 38 Prozent gelegen
hatte. Das Eurobarometer erhebt die tägliche Nutzung der
sozialen Medien getrennt von der des Internets im Allge-
meinen, und dieser Anteil ist von 18 Prozent aller Befrag-
ten im Jahre 2010 erstaunlich schnell auf aktuell 48 Prozent
gestiegen. Interessanterweise behaupten Fernsehen und, auf
niedrigerem Niveau, das Radio ihre führende Rolle auch bei
der Nachfrage nach »politischen Informationen über natio-
nale Angelegenheiten«. Dafür benennen von den Befragten
als ihre »hauptsächlichen Informationsquellen« 77 Prozent
das Fernsehen, 40 Prozent das Radio und 36 Prozent die
Printmedien, während 49 Prozent das Internet im Allge-
meinen und 20 Prozent die sozialen Medien angeben. Der
Umstand, dass dieser letzte, in unserem Zusammenhang
interessante Wert gegenüber der Vorjahreserhebung immer-
hin schon um vier weitere Punkte gestiegen ist, bestätigt den
auch anderweitig belegten zunehmenden Trend. Jedenfalls
ist der drastische Rückgang des Konsums an Tageszeitun-
50
gen und Zeitschriften auch ein Indikator dafür, dass seit
der Einführung des Internets die durchschnittliche Auf-
merksamkeit für politische Nachrichten und die analyti-
sche Verarbeitung von politisch relevanten Fragen nachge-
lassen hat. Gleichwohl lässt das relativ stabile Niveau des
Anteils, den Fernsehen und Radio auch allgemein am Medi-
enkonsum behaupten, darauf schließen, dass diese beiden
Medien einstweilen für eine zuverlässige und hinreichend
vielfältige politische Information von mindestens drei
Vierteln der Wahlbevölkerung in den EU -Mitgliedstaaten
sorgen.
Umso bemerkenswerter ist ein anderer Trend. Offensicht-
lich hat die zunehmende Unterwanderung der politischen
Öffentlichkeit durch Fake News, insbesondere die spekta-
kuläre Entwicklung zu einer »post-truth-democracy«, die
in den USA während der Regierungszeit Trumps zu einer
erschreckenden Normalität geworden ist, auch in Europa
das Misstrauen in die Medien verstärkt. 41 Prozent der
vom Eurobarometer Befragten bezweifeln, dass die natio
nalen Medien frei von politischem und wirtschaftlichem
Druck berichten ; 39 Prozent bekräftigen dieses Misstrauen
ausdrücklich im Hinblick auf die öffentlich-rechtlichen
Medien, die heute das Rückgrat einer liberalen Öffentlich-
keit bilden ; und gar 79 Prozent behaupten, dass sie schon
einmal verzerrten oder falschen Nachrichten begegnet
sind.
Diese Daten geben Aufschluss über die quantitativen Ver-
änderungen des Medienangebots und seiner Nutzung ; aber
für die Qualität der öffentlichen Meinungen, die sich auf
dieser Grundlage bilden, und für das Maß der Einbeziehung
der Bürger in den Prozess der Meinungs- und Willensbil-
51
dung liefern sie nur indirekte Anhaltspunkte. Ich muss mich
daher auf informierte Vermutungen beschränken. Einer-
seits scheint der dramatische Bedeutungsverlust der Print-
medien gegenüber den vorherrschenden audiovisuellen
Medien für ein sinkendes Anspruchsniveau des Angebots
zu sprechen, also auch dafür, dass die Aufnahmebereitschaft
der Bürger und die intellektuelle Verarbeitung von politisch
relevanten Nachrichten und Problemen eher abgenommen
haben ; das wird übrigens durch die Anpassung der politisch
führenden Tages- und Wochenzeitungen an das »bunte«
Format von unterhaltsamen Sonntagszeitungen bestätigt.
Andererseits lehrt die tägliche Evidenz dem teilnehmen-
den Beobachter, dass die verbliebenen anspruchsvolle-
ren nationalen Zeitungen und Zeitschriften nach wie vor
die politischen Leitmedien sind, die anderen Medien, vor
allem dem Fernsehen, nach wie vor die reflektierten Bei-
träge und Stellungnahmen zu den inhaltlich maßgebenden
Themenschwerpunkten vorgeben. Allerdings wächst in der
breiten Bevölkerung das Misstrauen gegenüber Wahrheit,
Seriosität und Vollständigkeit der Programme, obwohl die
öffentlich-rechtlich organisierten Medien, wie man unter-
stellen darf, nach wie vor für ein verlässliches Angebot an
Nachrichten und politischen Sendungen sorgen. Der wach-
sende Zweifel an der Qualität der öffentlich-rechtlichen
Medien geht vermutlich mit der zunehmend um sich grei-
fenden Überzeugung vom wahlweise unzuverlässigen oder
korrupten, jedenfalls zweifelhaften Charakter der politi-
schen Klasse einher. Dieses allgemeine Bild spricht dafür,
dass mit der Vielfalt der Medien auf der Angebotsseite und
einem entsprechenden Pluralismus der Meinungen, der
Argumente und Lebensperspektiven auf der Nachfrageseite
52
zwar einerseits wichtige Voraussetzungen für eine auf län-
gere Sicht kritische und vorurteilsimmune Meinungsbil-
dung erfüllt sind ; dass aber andererseits gerade die zuneh-
mende Dissonanz vielfältiger Stimmen und die inhaltliche
Komplexität der herausfordernden Themen und Stellung-
nahmen eine wachsende Minderheit der Medienkonsumen-
ten dazu bewegt, digitale Plattformen für den Rückzug in
abgeschirmte Echoräume von Gleichgesinnten zu nutzen.
Denn die digitalen Plattformen laden nicht nur zur sponta-
nen Erzeugung von intersubjektiv bestätigten Eigenwelten
ein, sie scheinen dem Eigensinn dieser Kommunikations-
inseln zugleich den epistemischen Rang konkurrierender
Öffentlichkeiten zu verleihen. Doch bevor wir diese sub-
jektive Seite der durch die Medienangebote veränderten
Einstellungen der Rezipienten einschätzen können, müs-
sen wir den Blick auf die ökonomische Dynamik richten,
die die subjektive Wahrnehmung der redaktionellen Öffent-
lichkeit zunehmend verzerrt. Denn die idiosynkratischen
Züge dieser von den sozialen Medien beförderten Rezep
tionsweisen dürfen nicht über die ökonomische Veranke-
rung der grob skizzierten und einstweilen politisch weit-
gehend ungesteuerten Transformation der Medienstruktur
hinwegtäuschen.
53
in Gestalt von Facebook, YouTube, Instagram oder Twit-
ter existieren, wenn nicht blauäugig, so doch unvollständig.
Denn diese real existierenden neuen Medien sind Unter-
nehmen, die Imperativen der Kapitalverwertung gehorchen
und gemessen an ihrem Börsenwert zu den »wertvollsten«
Konzernen weltweit gehören. Ihre Gewinne verdanken
sie der Verwertung von Daten, die sie zu Werbezwecken
oder anderweitig als Waren veräußern. Diese Daten beste-
hen aus Informationen, die als Nebenprodukte ihrer nut-
zerorientierten Angebote anfallen ; es sind die persönli-
chen Daten, die ihre Kunden im Netz (inzwischen formal
zustimmungspflichtig) hinterlassen. Auch Zeitungen sind
in der Regel privatwirtschaftliche Unternehmen, die sich
zu einem großen Teil durch Werbeeinnahmen finanzie-
ren. Aber während die alten Medien selbst die Werbeträ-
ger sind, zehrt jene Art von Wertschöpfung, die die Kritik
am »Überwachungskapitalismus«25 hervorgerufen hat, von
kommerziell verwertbaren Informationen, die bei anderen
Dienstleistungen beiläufig »hängenbleiben« und ihrerseits
individualisierte Werbestrategien ermöglichen.26 Auf die-
sem durch Algorithmen gesteuerten Weg befördern die
sozialen Medien auch einen weiteren Schub zur Kommo-
difizierung lebensweltlicher Zusammenhänge.
Mich interessiert jedoch ein anderer Aspekt, nämlich
der Anpassungsdruck, der von der Verwertungslogik der
neuen Medien auf die alten Medien ausgeübt wird. Letz-
54
tere eignen sich als Werbeträger nur in dem Maße, wie sie
mit ihren »Programmen« Erfolg haben, das heißt mit ihren
Inhalten, die ihrerseits jedoch von Haus aus einer ganz
anderen Logik gehorchen – nämlich der Nachfrage nach
Texten und Sendungen, deren Form und Inhalt kognitiven,
normativen oder ästhetischen Maßstäben genügen müs-
sen. Dass Leser journalistische Leistungen nach solchen im
weiten Sinne epistemischen Maßstäben beurteilen, leuchtet
unmittelbar ein, wenn man sich – unter philosophischen
Gesichtspunkten der Lebensweltanalyse – die Bedeutung
der Orientierungsfunktion klarmacht, die Medien in der
unübersichtlicher gewordenen »Mediengesellschaft« erfül-
len. Diese sind nämlich angesichts der gesellschaftlichen
Komplexität diejenige Vermittlungsinstanz, die in der Per-
spektivenvielfalt der sozialen Lebenslagen und kulturellen
Lebensformen zwischen den konkurrierenden Weltdeu-
tungen einen intersubjektiv geteilten Interpretationskern
herausschält und als allgemein rational akzeptiert sichert.
Natürlich ist die Tages- oder Wochenzeitung mit ihrer klas-
sischen Dreiteilung der Inhalte in Politik, Wirtschaft und
Feuilleton niemals die letzte Instanz, wenn es um die Wahr-
heit oder Richtigkeit einzelner Aussagen oder maßgeben-
der Interpretationen von Tatsachenzusammenhängen, um
die Plausibilität allgemeiner Einschätzungen, gar um die
Triftigkeit von Beurteilungsstandards oder Verfahren geht.
Aber mit ihrem Fluss von täglich erneuerten Informatio-
nen und Deutungen bestätigen, korrigieren und ergänzen
die Medien laufend das unscharfe alltägliche Bild einer als
objektiv unterstellten Welt, von dem mehr oder weniger
alle Zeitgenossen annehmen, dass es auch von allen anderen
als »normal« oder gültig akzeptiert wird.
55
Warum der Schub zur »Plattformisierung der Öffent-
lichkeit« die klassischen Medien in Bedrängnis bringt, und
zwar sowohl ökonomisch als auch im Hinblick auf den
schwindenden publizistischen Einfluss und die Anpassung
der professionellen Standards, erklären Otfried Jarren und
Renate Fischer.27 Da Auflagenhöhe und Werbeeinnahmen
korrelieren, gefährdet der Rückgang der Nachfrage nach
gedruckten Zeitungen und Zeitschriften die ökonomische
Grundlage der Presse ; und für einen kommerziellen Absatz
digitaler Formate hat diese bisher kein wirklich erfolgrei-
ches Geschäftsmodell gefunden, da sie im Internet mit
Anbietern in Wettbewerb tritt, die ihren Nutzern entspre-
chende Informationen kostenlos zur Verfügung stellen. Die
Folge sind Einsparungen und prekäre Arbeitsverhältnisse,
die sich auf Qualität und Umfang der redaktionellen Tätig-
keit auswirken. Aber nicht nur die Einbußen auf den Werbe-
und Publikumsmärkten schwächen die Relevanz und Deu-
tungsmacht der Presse. Die Anpassung an die Konkurrenz
im Internet verlangt Veränderungen in der journalistischen
Arbeitsweise. Auch wenn der »audience turn«, also die
stärkere Einbeziehung des Publikums und eine größere
Sensibilität für Leserreaktionen nicht von Nachteil sein
müssen, verstärken sich die Tendenzen zu einer Entpro-
fessionalisierung und zum Verständnis der journalistischen
Arbeit als einer neutralen, entpolitisierten Dienstleistung.
Wenn Daten- und Aufmerksamkeitsmanagement an die
Stelle gezielter Recherche und genauer Interpretation tre-
56
ten, »wandeln sich Redaktionen, zuvor Orte der politischen
Debatte, mehr zu Koordinationszentren für die Beschaf-
fung, die Steuerung der Produktion wie der Distribution
von Content«.28 In der Veränderung der professionellen
Standards spiegelt sich die Anpassung der Presse, die von
Haus aus zu einem diskursiven Charakter der staatsbürger
lichen Meinungs- und Willensbildung die größte Affinität
hat, an die kommerziellen Dienstleistungen der Plattformen,
die um die Aufmerksamkeit von Konsumenten werben. Mit
der Durchsetzung von Imperativen der Aufmerksamkeits
ökonomie verstärken sich in den neuen Medien freilich
auch die aus der Boulevard- und Massenpresse seit langem
bekannten Tendenzen zu Unterhaltsamkeit, zur affektiven
Aufladung und zur Personalisierung jener Sachthemen, um
die es in der politischen Öffentlichkeit geht.
Mit der Angleichung politischer Programme an Unter-
haltungs- und Konsumangebote, mit denen die Bürger als
Verbraucher angesprochen werden, berühren wir Tenden-
zen der Entpolitisierung, die in der Medienforschung seit
den 1930er Jahren beobachtet worden sind, sich aber nun,
durch die Angebote der sozialen Medien, offenbar deutlich
verstärken. Erst wenn wir den Blick von der objektiven
Seite der erweiterten Medienstruktur und ihrer veränderten
wirtschaftlichen Basis nun auf die Seite der Empfänger und
ihrer veränderten Rezeptionsweisen richten, berühren wir
die zentrale Frage, ob die sozialen Medien die Art und Weise,
wie ihre Nutzer die politische Öffentlichkeit wahrnehmen,
verändern. Natürlich bieten die technischen Vorzüge kom-
merzieller Plattformen – und selbst eines Mediums wie
28 Ebd., 370.
57
Twitter, das zu kurz gefassten Botschaften nötigt – den Nut-
zern unzweifelhafte Vorteile für politische, berufliche und
private Zwecke. Diese Fortschritte sind nicht unser Thema.
Die Frage ist vielmehr, ob diese Plattformen auch zu einer Art
des Austauschs über implizit oder ausdrücklich politische
Ansichten anregen, die über den veränderten Gebrauchs-
modus auch Einfluss auf die Wahrnehmung der politischen
Öffentlichkeit als solcher haben könnte. Philipp Staab und
Thorsten Thiel beziehen sich im Hinblick auf die subjektive
Seite des Gebrauchs der neuen Medien auf Andreas Reck-
witz’ Theorie der »Gesellschaft der Singularitäten«, insbe-
sondere auf die Anreize, die die aktivierenden Plattformen
ihren Nutzern für eine narzisstische Selbstdarstellung und
die »Inszenierung von Einzigartigkeit« bieten.29 Wenn man
»Individualisierung« klar von »Singularisierung«, also die
lebensgeschichtlich erworbene Unverwechselbarkeit einer
Person von der öffentlichen Sichtbarkeit und dem Distink-
tionsgewinn unterscheidet, die diese beispielsweise durch
spontane Auftritte im Netz gewinnen kann, mag das »Sin-
gularisierungsversprechen« der richtige Begriff sein für
Influencer, die um die Zustimmung von Followern für ihr
eigenes Programm und ihre eigene Reputation werben. Wie
dem auch sei, im Hinblick auf den Beitrag, den die sozialen
Medien zur Meinungs- und Willensbildung in der politi-
schen Öffentlichkeit leisten, scheint mir ein anderer Aspekt
der Rezeption wichtiger zu sein. Wie vielfach beobachtet,
entsteht in jenen spontan selbstgesteuerten und fragmen-
tierten Öffentlichkeiten, die sich sowohl von der redaktio-
58
nellen oder offiziellen Öffentlichkeit als auch voneinander
abspalten, ein Sog zur selbstbezüglich reziproken Bestä-
tigung von Interpretationen und Stellungnahmen. Wenn
sich aber in diesen Milieus die Erfahrung und die Wahr-
nehmung der Beteiligten von dem, was bisher Öffentlich-
keit und politische Öffentlichkeit hieß, verändern und die
bisher übliche begriffliche Unterscheidung zwischen priva
ter und öffentlicher Sphäre berühren würde, müsste dieser
Umstand für das Selbstverständnis der Netzkonsumenten
als Staatsbürger erhebliche Folgen haben. Um diese Hypo-
these zu überprüfen, fehlen einstweilen die Daten ; aber die
Anzeichen, die zu einer solchen Hypothese anregen, sind
beunruhigend genug.
An der gesellschaftlichen Basis für die rechtliche und
politische Ausdifferenzierung der Öffentlichkeit von der
privaten Sphäre des wirtschaftlichen, zivilgesellschaftlichen
und familiären Verkehrs hat sich während der Periode, die
wir betrachten, strukturell nichts geändert ; denn die kapi-
talistische Wirtschaftsform selbst beruht auf dieser Tren-
nung. In demokratischen Verfassungsstaaten hat sich diese
Struktur auch im Bewusstsein der Bürger gespiegelt. Und
um deren Wahrnehmung geht es. Von den Staatsbürgern
wird erwartet, dass sie ihre politischen Entscheidungen im
Spannungsfeld zwischen Selbstinteresse und Gemeinwohl-
orientierung treffen. Wie gezeigt, tragen sie diese Spannung
im Kommunikationsraum einer politischen Öffentlichkeit
aus, die grundsätzlich alle Bürgerinnen als Publikum ein-
bezieht. Die öffentlichen Kommunikationsflüsse heben
sich schon dadurch, dass sie redaktionelle Schleusen pas-
sieren, von allen privaten oder geschäftlichen Kontakten
ab. Für das Verfassen von Druckerzeugnissen, die sich an
59
eine anonyme Öffentlichkeit von Lesern richten, gelten
andere Standards als für den privaten – noch für lange Zeit
handschriftlichen – Briefverkehr.30 Nicht das Gefälle zwi-
schen aktiver und passiver Teilnahme am Diskurs ist für
die Öffentlichkeit konstitutiv, wohl aber sind es die The-
men, die ein gemeinsames Interesse verdienen, sowie die
jeweils professionell geprüfte Form und Rationalität der
Beiträge, die eine Verständigung über gemeinsame und
verschiedene Interessen ermöglichen. Die räumliche Meta-
phorik der Unterscheidung des privaten vom öffentlichen
»Raum« darf nicht überspannt werden ; entscheidend ist die
Wahrnehmung der (selbst politisch umkämpften) Schwelle
zwischen privaten und öffentlichen Angelegenheiten, die
in der politischen Öffentlichkeit diskutiert werden. Diese
Wahrnehmung teilen auch die sozialen Bewegungen, die
Gegenöffentlichkeiten schaffen, um Blickverengungen der
medialen Öffentlichkeit zu bekämpfen. Außer dem inhaltli-
chen Bezug auf das politisch handlungsfähige Zentrum sind
es die Form und die Relevanz der ausgewählten redaktio-
nellen Beiträge, die die Blicke des Publikums auf sich zie-
hen ; und diese Erwartung der Zuverlässigkeit, Qualität und
allgemeinen Relevanz öffentlicher Beiträge ist auch für die
Wahrnehmung des inklusiven Charakters einer Öffentlich-
keit konstitutiv, die die Aufmerksamkeit aller Bürger auf
dieselben Themen richten soll, um jeden von ihnen nach
denselben anerkannten Maßstäben zu einem eigenen Urteil
60
über die jeweils politisch entscheidungsrelevanten Fragen
zu stimulieren.31
Zwar hat sich seit der Herausbildung von »Medienge-
sellschaften« an der gesellschaftlichen Basis für eine solche
Trennung der Öffentlichkeit von den privaten Lebenssphä-
ren nichts Wesentliches geändert. Dennoch könnte sich im
Zuge einer mehr oder weniger exklusiven Nutzung sozialer
Medien in Teilen der Bevölkerung die Wahrnehmung der
Öffentlichkeit in der Weise verändert haben, dass die Trenn-
schärfe zwischen »öffentlich« und »privat« und damit der
inklusive Sinn von Öffentlichkeit verblasst. In der kommu-
nikationswissenschaftlichen Literatur finden sich zuneh-
mend Beobachtungen einer Tendenz zur Abkehr von der
traditionellen Wahrnehmung der politischen Öffentlichkeit
und der Politik selbst.32 In bestimmten Subkulturen wird
die Öffentlichkeit nicht länger als inklusiv wahrgenommen
und die politische Öffentlichkeit nicht länger als ein Kom-
munikationsraum für eine alle Bürger umfassende Interes-
senverallgemeinerung. Ich versuche daher, eine Hypothese
zu erklären und als solche zu plausibilisieren.33 Wie erwähnt,
öffnet das Netz virtuelle Räume, in denen sich die Nutzer
auf eine neue Weise zu Autoren ermächtigen können. Mit
61
den sozialen Medien entstehen frei zugängliche öffentli-
che Räume, die alle Nutzer zur spontanen und von keiner
Seite geprüften Intervention einladen – und die übrigens
längst auch die Politiker zur unvermittelt personalisierten
Einflussnahme auf eine plebiszitäre Öffentlichkeit verlo-
cken. Die Infrastruktur dieser zu Gefallens- und Missfal-
lensklicks abgerüsteten plebiszitären »Öffentlichkeit« ist
technischer und ökonomischer Art. Aber grundsätzlich
können sich alle gewissermaßen von den Zulassungsbe-
dingungen der redaktionellen Öffentlichkeit entlasteten,
aus ihrer Sicht von »Zensur« befreiten Nutzer in diesen
medial frei zugänglichen Räumen an ein anonymes Publi-
kum wenden und um dessen Zustimmung werben. Diese
Räume scheinen eine eigentümlich anonyme Intimität zu
gewinnen : Nach bisherigen Maßstäben können sie weder
als öffentlich noch als privat, sondern am ehesten als eine
zur Öffentlichkeit aufgeblähte Sphäre einer bis dahin dem
brieflichen Privatverkehr vorbehaltenen Kommunikation
begriffen werden.
Die zu Autoren ermächtigten Nutzer provozieren mit
ihren Botschaften Aufmerksamkeit, weil die unstruktu-
rierte Öffentlichkeit durch die Kommentare der Leser
und die »Likes« der Follower erst hergestellt wird. Soweit
sich daraus selbsttragende Echoräume bilden, teilen diese
Blasen mit der klassischen Gestalt der Öffentlichkeit den
porösen Charakter der Offenheit für weitere Vernetzun-
gen ; gleichzeitig unterscheiden sie sich jedoch vom grund-
sätzlich inklusiven Charakter der Öffentlichkeit – und dem
Gegensatz zum Privaten – durch die Abwehr dissonanter
und die assimilierende Einbeziehung konsonanter Stim-
men in den eigenen, identitätswahrend begrenzten Hori-
62
zont des vermeintlichen, doch professionell ungefilterten
»Wissens«. Aus einer durch die gegenseitige Bestätigung
ihrer Urteile befestigten Sicht geraten die über den jeweils
eigenen Horizont hinausreichenden Universalitätsansprü-
che grundsätzlich in den Verdacht der Hypokrisie. Aus
der beschränkten Perspektive einer solchen Halböffent
lichkeit kann die politische Öffentlichkeit demokratischer
Verfassungsstaaten nicht mehr als inklusiver Raum für eine
mögliche diskursive Klärung konkurrierender Ansprüche
auf Wahrheitsgeltung und allgemeine Interessenberück-
sichtigung wahrgenommen werden ; gerade diese als in-
klusiv auftretende Öffentlichkeit wird dann zu einer der
auf Augenhöhe konkurrierenden Halböffentlichkeiten
herabgestuft.34 Ein Symptom dafür ist die Doppelstra
tegie des Ausstreuens von Fake News und der gleichzei-
tige Kampf gegen die »Lügenpresse«, die wiederum Ver-
unsicherung in der Öffentlichkeit und in den führenden
Medien selbst hervorrufen.35 Wenn aber der gemeinsame
Raum »des Politischen« zum Kampfplatz konkurrieren-
der Öffentlichkeiten degeneriert, reizen die demokratisch
legitimierten, staatlich durchgesetzten politischen Pro-
gramme – wie im Fall der libertär inszenierten, aber auto-
ritär motivierten Anti-Corona-Demonstrationen – zu ver-
schwörungstheoretischen Erklärungen. Diese Tendenzen
34 Das Milieu dieser »Halböffentlichkeit« lässt sich ebenso gut als eine
halbwegs privatisierte Öffentlichkeit beschreiben ; diesen Charakter
treffen Philipp Staab und Thorsten Thiel mit dem Titel ihres Artikels
»Privatisierung ohne Privatismus« (siehe Fn. 18).
35 R. Jaster, D. Lanius, »Fake News in Politik und Öffentlichkeit«, in :
R. Hohlfeld, M. Harnischmacher, E. Heinke, L. Lehner, M. Sengl
(Hg.), Fake News und Desinformation, Baden-Baden 2020, 245-269.
63
lassen sich in Mitgliedsländern der Europäischen Union
bereits beobachten ; aber sie können sogar das politische
System selbst ergreifen und deformieren, wenn dieses lange
genug durch sozialstrukturelle Konflikte untergraben und
erschüttert worden ist. In den USA ist die Politik in den
Strudel einer anhaltenden Polarisierung der Öffentlich-
keit geraten, nachdem sich die Regierung und große Teile
der Regierungspartei an die Selbstwahrnehmung eines in
den sozialen Medien erfolgreichen Präsidenten, der täglich
über Twitter die plebiszitäre Zustimmung seiner populisti-
schen Gefolgschaft einholte, angepasst hatten.36 Der – wie
man nur hoffen kann : temporäre – Zerfall der politischen
Öffentlichkeit hat sich darin ausgedrückt, dass für fast
die Hälfte der Bevölkerung kommunikative Inhalte nicht
mehr in der Währung kritisierbarer Geltungsansprüche
ausgetauscht werden konnten. Nicht die Häufung von Fake
News ist für eine verbreitete Deformation der Wahrneh
mung der politischen Öffentlichkeit signifikant, sondern
der Umstand, dass aus der Perspektive der Beteiligten
Fake News gar nicht mehr als solche identifiziert werden
können.37
In den Kommunikations- und Sozialwissenschaften ist
es inzwischen üblich, von disrupted public spheres zu spre-
chen, die sich vom Raum der journalistisch institutiona
lisierten Öffentlichkeit entkoppelt haben. Aber für die
36 Zu Trump und Fake News vgl. M. Oswald, »Der Begriff ›Fake News‹
als rhetorisches Mittel des Framings in der politischen Kommunika-
tion«, in : Hohlfeld u. a. (2020), 61-82.
37 Vgl. R. Hohlfeld, »Die Post-Truth-Ära : Kommunikation im Zeitalter
von gefühlten Wahrheiten und Alternativen Fakten«, in : Hohlfeld
u. a. (2020), 43-60.
64
wissenschaftlichen Beobachter wäre es falsch, daraus die
Konsequenz zu ziehen, die Beschreibung dieser symptoma-
tischen Erscheinungen von demokratietheoretischen Fra-
gen überhaupt abzutrennen.38 Denn die Kommunikation in
verselbständigten Halböffentlichkeiten ist ja ihrerseits kei-
neswegs entpolitisiert ; und selbst dort, wo das zutrifft, ist
die prägende Kraft, die diese Kommunikation für die Welt-
sicht der Beteiligten hat, nicht unpolitisch. Ein demokrati-
sches System nimmt im Ganzen Schaden, wenn die Infra-
struktur der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit der Bürger
nicht mehr auf die relevanten und entscheidungsbedürfti-
gen Themen lenken und die Ausbildung konkurrierender
öffentlicher, und das heißt : qualitativ gefilterter Meinun-
gen nicht mehr gewährleisten kann. Gewiss, wenn wir uns
an die komplexen Bestandsvoraussetzungen der von Haus
aus krisenanfälligen kapitalistischen Demokratien erinnern,
liegt es auf der Hand, dass ein Funktionsverlust der poli-
tischen Öffentlichkeit tiefer liegende Gründe haben kann.
Aber das dispensiert uns nicht davon, nach naheliegenden
Gründen zu suchen.
Einen solchen Grund sehe ich in der Koinzidenz der Ent-
stehung des Silicon Valley, also der kommerziellen Nutzung
des digitalen Netzes, auf der einen und der globalen Aus-
breitung des neoliberalen Wirtschaftsprogramms auf der
anderen Seite. Die global erweiterte Zone freier Kommu-
nikationsflüsse, die damals durch die Erfindung der tech-
nischen Struktur des »Netzes« ermöglicht worden ist, hat
65
sich als das Spiegelbild eines idealen Marktes angeboten.
Dieser Markt musste nicht erst dereguliert werden. Dieses
suggestive Bild wird freilich inzwischen durch die algorith-
mische Steuerung der Kommunikationsflüsse gestört, von
der die Konzentration der Marktmacht der großen Inter-
netkonzerne zehrt. Die Abschöpfung und digitale Verarbei-
tung der persönlichen Kundendaten, die mehr oder weni-
ger unauffällig gegen die kostenlos zur Verfügung gestellten
Informationen der Suchmaschinen, der Nachrichtenportale
und anderer Dienstleistungen eingetauscht werden, erklärt,
warum die EU -Wettbewerbskommissarin diesen Markt
regulieren möchte. Aber das Wettbewerbsrecht ist der fal-
sche Hebel, wenn man den Grundfehler korrigieren will,
dass die Plattformen, anders als die klassischen Medien, für
die Verbreitung von wahrheitssensiblen, also täuschungs-
anfälligen kommunikativen Inhalten keine Haftung über-
nehmen wollen. Dass Presse, Rundfunk und Fernsehen
beispielsweise dazu verpflichtet sind, Falschmeldungen zu
korrigieren, macht auf jenen Umstand aufmerksam, der hier
interessiert. Wegen des besonderen Charakters ihrer Waren,
die eben keine bloßen Waren sind, können sich auch die
Plattformen nicht jeder publizistischen Sorgfaltspflicht ent-
ziehen.
Auch sie sind verantwortlich und müssten für News
haften, die sie weder produzieren noch redigieren ; denn
auch diese Informationen haben eine meinungs- und men-
talitätsbildende Kraft. In erster Linie unterliegen sie nicht
den Qualitätsstandards von Waren, sondern den kogniti-
ven Standards von Urteilen, ohne die es für uns weder die
Objektivität der Welt von Tatsachen noch die Identität und
Gemeinsamkeit unserer intersubjektiv geteilten Welt geben
66
kann.39 In einer schwer vorstellbaren »Welt« von Fake
News, die nicht mehr als solche identifiziert, also von wah-
ren Informationen unterschieden werden könnten, würde
kein Kind aufwachsen können, ohne klinische Symptome
zu entwickeln. Es ist deshalb keine politische Richtungs-
entscheidung, sondern ein verfassungsrechtliches Gebot,
eine Medienstruktur aufrechtzuerhalten, die den inklusi-
ven Charakter der Öffentlichkeit und einen deliberativen
Charakter der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung
ermöglicht.
39
Wer diesen Zusammenhang durchschaut, erkennt den letztlich
autoritären, gegen die Grundlagen einer diskursiven Öffentlichkeit
abzielenden Charakter der heute um sich greifenden Kritik an Aus-
stattung und Programmumfang der öffentlich-rechtlichen Sendean-
stalten. Zusammen mit einer Qualitätspresse, deren wirtschaftliche
Basis wohl bald auch nur noch mit Hilfe öffentlicher Unterstützung
gesichert werden könnte, widerstehen einstweilen die Fernseh- und
Rundfunkanstalten dem Sog einer »Plattformisierung« der Öffent-
lichkeit und einer Kommodifizierung des öffentlichen Bewusstseins.
Vgl. dazu Fuchs (2021).
67
Deliberative Demokratie. Ein Interview
69
von Argumentationsteilnehmern auch dann einen regu-
lierenden Einfluss, wenn ihnen bewusst ist, dass sie diese
pragmatischen Voraussetzungen nur annähernd erfüllen
können. Im Hinblick auf diesen kontrafaktischen Status
kann man vielleicht sagen, dass der idealisierende Gehalt
der pragmatischen Voraussetzungen von Diskursen für die
Beteiligten die Rolle von regulativen Ideen spielt. Aus der
Beobachterperspektive wird man feststellen, dass rationale
Diskurse selten in reiner Form stattfinden. Diese Tatsache
ändert aber nichts daran, dass wir aus der Perspektive der
Beteiligten von solchen für die kooperative Wahrheitssuche
konstitutiven Voraussetzungen ausgehen müssen. Das zeigt
sich unter anderem daran, dass wir einen nur zum Schein
geführten Diskurs oder ein fragwürdig zustande gekom-
menes Einverständnis anhand genau dieser Maßstäbe
kritisieren.
Wenn nun ein Philosoph den Begriff des rationalen Dis-
kurses untersucht, nimmt er die epistemische Einstellung
eines Beteiligten ein und versucht, dessen performatives
»Wissen, wie man eine Argumentation führt«, zu rekons
truieren, also in ein explizites »Wissen, was …« zu über-
führen. Wenn sich hingegen ein Sozialwissenschaftler,
etwa im Zusammenhang demokratietheoretischer Überle-
gungen, mit Diskursen befasst, geht es ihm nicht um den
Diskurs als solchen. Er begegnet diesen Phänomenen aus
der Beobachterperspektive, beschreibt Diskurse in Raum
und Zeit, das heißt in ihren vielfältigen empirischen Gestal-
ten, und verwendet dafür lieber den weniger scharf gefass-
ten Begriff der »Deliberation«. Aber auch für den empiri-
schen Forscher gibt es gute Gründe, sich nicht leichtfertig
70
über das performative Wissen der Beteiligten hinwegzuset-
zen.1
Es gibt viele Praktiken, die nur funktionieren, solange
die Beteiligten bestimmte idealisierende Voraussetzungen
vornehmen. In einem demokratischen Rechtsstaat werden
Bürger zum Beispiel ihre Konflikte nur so lange auf dem
Gerichtsweg austragen, wie sie voraussetzen können, dass
sie ein mehr oder weniger faires Urteil erwarten dürfen
(ganz unbeirrt davon, was die »Realisten« oder die Vertre-
ter der Critical Legal Studies über die interessegeleiteten
Motive von Richtern herausfinden). Ebenso werden Bür-
ger nur so lange an politischen Wahlen teilnehmen, wie sie
implizit voraussetzen können, dass sich ihre Stimme Gehör
verschaffen kann und dass sie »zählt« – sie soll sogar das
gleiche Gewicht haben wie jede andere Stimme. Auch das
sind idealisierende Voraussetzungen. Anders als informell
geführte Diskurse können jedoch diese in staatliche Insti-
tutionen eingebetteten diskursiven Praktiken ihre Glaub-
würdigkeit verlieren. Wähler, die sich »abgehängt« fühlen,
gehen nicht mehr zur Wahl.
Demokratische Wahlen funktionieren nicht mehr, wenn
sich beispielsweise ein vitiöser Zirkel zwischen den unter-
privilegierten Nichtwählern und der Nichtberücksichti-
gung ihrer Interessen einspielt oder wenn die Infrastruk-
turen der öffentlichen Kommunikation zerfallen, sodass
dumpfe Ressentiments statt wohlinformierter öffentlicher
Meinungen das Feld beherrschen. Kurzum, deliberative
71
Politik ist für mich kein abgehobenes Ideal, an dem wir die
schnöde Realität messen müssten, sondern eine Existenz-
voraussetzung jeder Demokratie, die diesen Namen noch
verdient.
Es ist kein historischer Zufall, dass sich zusammen mit
der liberalen Demokratie eine bürgerliche Öffentlichkeit
entwickelt hat. Auch unter den veränderten Bedingungen
der Massendemokratie müssen parlamentarische Gesetzge-
bung, Parteienkonkurrenz und freie politische Wahlen in
einer lebendigen politischen Öffentlichkeit, einer aktiven
Bürgergesellschaft und einer liberalen politischen Kultur
Wurzeln schlagen. Denn ohne diesen gesellschaftlichen
Kontext finden die für eine demokratische Legitimation der
Herrschaft wesentlichen Voraussetzungen der Deliberatio-
nen keinen Halt in der Realität.
72
recht anheizt und ihnen einen Streitcharakter verleiht. Wer
argumentiert, widerspricht. Aber nur über das Recht, ja
die Ermutigung zum reziproken Neinsagen entfaltet sich
das epistemische Potential der Sprache, ohne das wir nicht
voneinander lernen könnten. Und darin besteht ja der
Witz deliberativer Politik : dass wir in politischen Ausein-
andersetzungen unsere Überzeugungen verbessern und der
richtigen Lösung von Problemen näherkommen. Das setzt
freilich voraus, dass der politische Prozess überhaupt eine
epistemische Dimension hat …
73
schen Einigung. Man muss auf die Art der Fragestellung
achten, um zu erkennen, ob man auf dem epistemischen
Wege des Diskurses oder auf dem Verhandlungsweg nach
einer Einigung suchen sollte.
Die entscheidende Frage ist allerdings, welcher Art von
Gründen wir die Kraft zur rational motivierten Änderung
von Präferenzen zutrauen. Die Antwort hängt von philo-
sophischen Hintergrundprämissen ab, über die sich auch
empirisch forschende Politikwissenschaftler, wenn sie sich
mit deliberativer Politik beschäftigen, klar werden müssen.
Empiristen vertreten eine nichtkognitivistische Auffassung
der praktischen Vernunft ; diese soll sich auf das Vermögen
rationaler Wahl und das Treffen strategischer Entscheidun-
gen beschränken. Das bedeutet, dass allein bessere Informa-
tionen über Handlungsspielräume und Risiken sowie die
im Vergleich zuverlässigere Kalkulation der Folgen mögli-
cher Handlungsalternativen Einfluss auf die eigenen Präfe-
renzen haben können, aber nicht die Berücksichtigung der
Präferenzen anderer Teilnehmer. Diese restriktive Auffas-
sung ist kontraintuitiv, weil das epistemische Gewicht der
Gründe, mit denen wir uns über die Richtigkeit bindender
Handlungsnormen oder über Vorzugswürdigkeit von Wer-
ten streiten, bei der rational motivierten Bildung von Präfe-
renzen ebenso in die Waagschale fällt wie die Information
über Tatsachen.
In politischen Diskursen geht es nicht nur um die
Wahrheit von deskriptiven Aussagen, sondern auch um
Geltungsansprüche, die wir mit normativen und evaluati-
ven Aussagen verbinden. Die Gerechtigkeit einer Geset-
zesnorm lässt sich unter dem Gesichtspunkt prüfen, ob sie
im Hinblick auf einen regelungsbedürftigen Sachverhalt
74
»gleichermaßen gut« ist für alle Betroffenen ; dabei kommt
ein Universalisierungsgrundsatz zum Zuge. Eine Entschei-
dung zwischen konkurrierenden Werten können die Ange-
hörigen eines politischen Gemeinwesens mit Bezug auf das
Ethos ihrer geteilten Lebensform unter dem Gesichtspunkt
der Vorzugswürdigkeit prüfen. Demgegenüber bedürfen
Präferenzen als solche keiner Begründung, da solche Ers-
te-Person-Aussagen durch den privilegierten Zugang zu
eigenen Wünschen autorisiert sind. Gerechtigkeitspro-
bleme werden als eine kognitive Aufgabe verstanden, wäh-
rend Entscheidungen über den Vorrang von Werten als die
teils kognitive, teils volitionale Aufgabe einer rational moti-
vierten Willensbildung betrachtet werden können. Dabei
ergibt sich die Konsensorientierung der Beteiligten aus dem
Sinn der jeweiligen Fragestellungen – Normen und Werte
betreffen, anders als Präferenzen, niemals nur eine einzelne
Person.
Andererseits bedeutet diese – mit dem epistemischen Ver-
ständnis der Diskurse vorausgesetzte – Konsensorientie-
rung natürlich nicht, dass die Beteiligten die unrealistische
Erwartung haben dürften, in politischen Fragen tatsäch-
lich einen Konsens zu erzielen. Denn praktische Diskurse
verlangen von ihren Teilnehmern die unwahrscheinliche
Bereitschaft zur gegenseitigen Perspektivenübernahme und
eine Orientierung an gemeinsamen Interessen oder Wert
orientierungen. Aus diesem Grund bindet ja das demo-
kratische Verfahren die zeitlich begrenzten Deliberatio-
nen an Mehrheitsentscheidungen. Die (erforderlichenfalls
qualifizierte) Mehrheitsregel kann selbst wiederum mit
der diskursiven Natur der Meinungsbildung gerechtfertigt
werden. Unter der Voraussetzung, dass die Vermutung auf
75
rational akzeptable Ergebnisse gerechtfertigt ist und die
Entscheidung reversibel bleibt, kann sich die jeweils über-
stimmte Minderheit im Hinblick auf eine Wiederaufnahme
des Diskurses der Mehrheit unterwerfen, ohne ihre eigene
Position aufgeben zu müssen.
76
Emissionszertifikaten Gebrauch macht.2 Zwar wird zwi-
schen den klimapolitischen Zielen der Schadstoffbegren-
zung und den Interessen der betroffenen Unternehmen ein
Kompromiss gefunden ; aber dieser berührt auch Gerech-
tigkeitsfragen, weil er das Ziel einer schon beschlossenen
Politik berücksichtigt : den globalen Klimawandel im allge-
meinen Interesse der Bürger und künftiger Generationen so
bald wie möglich zu stoppen.
77
an die Legitimität der Herrschaft eine Bedingung für die
Stabilität bestehender politischer Ordnungen – allerdings
gleichzeitig auch eine Quelle für Kritik an der Herrschaft.
Nach der Säkularisierung der Staatsgewalt in der Moderne
haben schließlich demokratisch erzeugte Verfassungen die
Religion in dieser Rolle als Legitimationsbeschaffer abge-
löst. Der seitdem in der Bevölkerung verbreitete Hinter-
grundkonsens über Verfassungsgrundsätze unterscheidet
sich von einer religiös begründeten Legitimation in der
Regel dadurch, dass er auf demokratischem Wege, also
auch durch den deliberativen Austausch von Argumenten
zustande gekommen ist. Er muss sich freilich in jeder Gene-
ration erneuern, sonst hätten Demokratien keinen Bestand.
Dieser nichtantagonistische Kern dieses Hintergrund-
konsenses bedeutet aber keineswegs, dass die Verfassung
den demokratischen Prozess als eine durchgängig kon-
sensorientierte Veranstaltung organisiert. Man muss von
den verschiedenen Funktionen ausgehen, die die politische
Kommunikation in verschiedenen Arenen jeweils auf ver-
schiedene Weise mit ihren Beiträgen zu einem im Ganzen
deliberativ gefilterten demokratischen Prozess erfüllen soll.
Dann erkennt man das interessante Gefälle zwischen den
jeweils funktional notwendigen Rationalitätsanforderun-
gen. Diese werden nämlich über verschiedene Kommunika-
tionsstufen immer geringer – angefangen bei der vergleichs-
weise hohen Rationalität der rechtlich institutionalisierten
Diskurse innerhalb der Gerichte und der parlamentarischen
Körperschaften bis hin zu den an ein diffuses Publikum
gerichteten Auseinandersetzungen der politischen Akteure
in der Öffentlichkeit, den Wahlkampagnen, den Stimmen
der Zivilgesellschaft und allgemein der über Medien ver-
78
mittelten politischen Massenkommunikation. Man kann
beispielsweise den agonalen Charakter von Wahlkampa-
gnen, den Kampf der Parteien oder die vielfältigen Protest-
formen sozialer Bewegungen erst richtig einordnen, wenn
man sieht, dass der funktionale Beitrag der politischen Mas-
senkommunikation zu einer insgesamt deliberativen Mei-
nungs- und Willensbildung darin besteht, konkurrierende
öffentliche Meinungen zu entscheidungsrelevanten The-
men zu erzeugen.
Unter funktionalen Gesichtspunkten ist eine Konsens
orientierung der Beteiligten erst in den Beratungen jener
Institutionen erforderlich, in denen rechtsverbindliche
Beschlüsse gefasst werden. Die informelle Kommunika-
tion in der breiten Öffentlichkeit kann auch robuste Mani-
festationen oder wüste Formen des Konflikt aushalten,
denn ihr Beitrag beschränkt sich auf die Mobilisierung der
jeweils relevanten Themen, Informationen und Argumente,
wohingegen Beschlüsse andernorts gefasst werden. Eine
antagonistische Dynamik in der Öffentlichkeit mag allein
schon durch die Konflikt erzeugende Wahrheitsorientie-
rung angefeuert werden, die Bürger mit ihren politischen
Meinungsäußerungen verbinden. Aber auch das ist eher
funktional für die Erzeugung konkurrierender öffentlicher
Meinungen.
79
Dazu muss man wieder das ganze Bild vor Augen haben.
Die Massenkommunikation, aus der die politisch relevan-
ten öffentlichen Meinungen hervorgehen sollen, wird ja
zum größten Teil durch einen Input vonseiten der Regie-
rung, der Parteien und der Interessenorganisationen
gespeist, den sodann die Medien verarbeiten. Gegenüber
den politischen Parteien und den Experten und PR -Agen-
turen der gesellschaftlichen Funktionssysteme haben in der
Regel zivilgesellschaftliche Akteure keinen leichten Stand.
Andererseits ist die Zivilgesellschaft der einzige gesamtge-
sellschaftliche Resonanzboden für die gewissermaßen von
den »Konsumenten« wahrgenommenen Probleme und
Belastungen, die durch Funktionsstörungen in einzelnen
Subsystemen verursacht werden. Das zivilgesellschaftliche
Kommunikationsnetz funktioniert deshalb für die Politik
als eine Art Frühwarnsystem, das kritische Erfahrungen
aus privaten Lebensbereichen aufnimmt, zu Proteststim-
men verarbeitet und in die politische Öffentlichkeit wei-
terleitet. Da soziale Bewegungen, zu denen sich der Protest
verdichten kann, nicht der Normalfall sind, können sich die
unredigierten Stimmen aus dem Off der Zivilgesellschaft
gegen die wohlformulierten Verlautbarungen der ande-
ren politischen Akteure umso eher Gehör verschaffen, je
spontaner sie sich äußern. Narrative haben ebenso wie die
Affekte und Wünsche, die sie zum Ausdruck bringen, einen
verständlichen propositionalen Gehalt ; und eine kraft-
volle Rhetorik gehört auf dem langen Weg, den ein Thema
braucht, um hinreichende mediale Aufmerksamkeit zu
gewinnen und auf die Agenda irgendeiner einflussreichen
Agentur zu gelangen, noch zu den konventionelleren Mit-
teln. Auch spektakuläre, ja regelverletzende Aktionen die-
80
nen Botschaften, die im politischen System »ankommen«
sollen.
81
Vor den Hurra-Vorstellungen eines umstandslosen Demo-
kratieexports – ob friedlich oder mit militärischer Gewalt –
muss man jedenfalls auf der Hut sein. Die liberale Demo-
kratie ist deshalb eine so anspruchsvolle und fragile Staats-
form, weil sie nur durch die Köpfe ihrer Bürger hindurch
realisiert werden kann. Das bedeutet andererseits nicht,
dass »der Westen«, wenn ich so sagen darf, den Universa-
litätsanspruch, den er für Grundsätze des demokratischen
Rechtsstaates erhebt, auf der internationalen Bühne relati-
vieren sollte. In dieser Diskussion geht es um vernünftige
Prinzipien und nicht um anfechtbare Werte. Gerade das
Geschwätz von »unseren Werten«, die angeblich gegen die
Werte anderer Kulturen verteidigt werden müssen, polari-
siert die internationale Gemeinschaft. Als Philosoph ver-
trete ich die Auffassung, dass »wir« gute Gründe haben, in
interkulturellen Diskursen die allgemeine Gültigkeit der
Menschenrechte als moralische Grundlagen des demokra-
tischen Verfassungsstaates zu verteidigen. Allerdings nur
unter der Bedingung, dass »wir« an solchen Diskursen lern
bereit und als eine Partei unter anderen teilnehmen. Lern-
bereitschaft ist schon deshalb angesagt, weil uns die brutale
Gewaltgeschichte des westlichen Imperialismus darüber
belehrt hat, dass wir uns über die blinden Flecken in unserer
Interpretation und Anwendung der Menschenrechte nicht
nur in der Vergangenheit, sondern auch noch in der Gegen-
wart von anderen Kulturen aufklären lassen müssen. Aber
selbst eine präsumtive Allgemeingültigkeit der inzwischen
in der UN -Charta niedergelegten Prinzipien bedeutet nicht,
dass wir zur Verbreitung liberaler Demokratien Kreuzzüge
führen dürften. Aus den Gründen, die Sie mit Ihrer Frage
bereits implizieren, geht hervor, dass sich eine paternalis-
82
tisch auferlegte demokratische Ordnung nicht auf Dauer
stabilisieren kann.
Andererseits halte ich die sogenannte zweitbeste Lösung
einer »Anpassung« von Prinzipien an die Werte und Gege-
benheiten einer fremden Kultur auch für falsch. Auch der
gutgemeinte »politische« Umgang mit Grundsätzen der
politischen Gerechtigkeit, wie ihn beispielsweise John
Rawls in Das Recht der Völker empfiehlt, nötigt ebenfalls
zu einer fragwürdigen paternalistischen Einstellung gegen-
über anderen Zivilisationen.
83
kultur zusammenfallen. Dieser Differenzierungsprozess
wird sogar in Einwanderungsgesellschaften wie den USA
als schmerzhaft empfunden : Er ruft überall populistische
Reaktionen hervor – nicht nur, aber insbesondere unter den
sozial Benachteiligten.
Eine besonders große Belastung können jene religiösen
Spaltungen der Gesellschaft sein, die heute beispielsweise
die europäischen Bevölkerungen als Folge der Einwande-
rung aus islamischen Ländern erfahren. Der liberale Staat,
der Religionsfreiheit gewährleistet, kann einerseits den
Minderheiten mit der Gewährung religiöser und kultureller
Rechte weit entgegenkommen. Andererseits darf er keine
fragwürdigen Kompromisse machen ; er muss von den Min-
derheiten verlangen, dass sie ihre kulturelle Lebensform
und ihre Religion nur im Rahmen der für alle geltenden
Grundrechte praktizieren. Angesichts der Tatsache, dass
diese Konflikte mit den rechtlichen und bürokratischen
Mitteln des Staates bestenfalls entschärft, aber nur über
langfristige Akkulturation und Sozialisation gelöst werden
können, fragen Sie nach der vermittelnden Rolle der delibe-
rativen Politik. Natürlich helfen die verständnisvolle The-
matisierung der verschiedenen Integrationskonflikte in der
breiten Öffentlichkeit und vor allem die Entdramatisierung
der Ängste und Unsicherheiten, die von populistischer Seite
geschürt werden. Wie Sie selbst schon andeuten, ist freilich
die bloße politische Tatsache eines deliberativen Umgangs
mit dieser Problematik fast wichtiger als die Argumentation
selber ; zunächst ist es der Stil des Umgangs, der zuerst die
Augen und dann den Respekt der abgeschotteten Gruppen
füreinander öffnet – der Stil ist das Argument.
Es besteht ja allgemein ein enger Zusammenhang zwi-
84
schen der Kommunikationsform der Deliberation und
dem gegenseitigen Respekt der Argumentationsteilneh-
mer füreinander. John Rawls begreift den gegenseitigen Re-
spekt, den der öffentliche Gebrauch der Vernunft verlangt,
als politische Tugend. Dieser Respekt bezieht sich auf die
Person des Anderen, der als gleichberechtigter Bürger aner-
kannt werden soll ; im Zusammenhang mit dem Gebrauch
der öffentlichen Vernunft erstreckt sich der Respekt auf
die Bereitschaft, die eigene politische Auffassung gegen-
über dem Anderen zu rechtfertigen, das heißt, sich mit
ihm auf einen Diskurs einzulassen. Das ist freilich nur eine
notwendige Bedingung für die weiter gehende Erwartung,
im Verlaufe des Diskurses auch die jeweilige Perspektive
der Anderen einzunehmen und sich in deren Situation hin-
einzuversetzen. Diese sozialkognitive Leistung ist für Dis-
kurse über Tatsachenbehauptungen nicht relevant ; denn
darin geht es allein um die Beurteilung der Argumente
selbst. Aber in praktischen Diskursen wird über Interessen
gestritten, deren relatives Gewicht nur aus der Perspektive
der Lebenswelt der jeweils Anderen eingeschätzt werden
kann. Diese gegenseitige Perspektivenübernahme, die
notwendig ist, um einen Konflikt unter Gerechtigkeitsge-
sichtspunkten zu betrachten, hat zwar eine rein kognitive
Funktion, aber die Bereitschaft, sich über große kulturelle
Abstände hinweg auf diese anstrengende Operation über-
haupt einzulassen, ist der eigentlich Engpass. Diese Motiva-
tionsschwelle erklärt die Hartnäckigkeit der Konflikte, die
Sie ansprechen – aber auch allgemein den Umstand, dass
sich empirische und theoretische Fragen häufiger einver-
nehmlich lösen lassen als praktische Konflikte.
85
Provokativ gefragt : Denken Sie, dass Sie sich mit Faktizi-
tät und Geltung von der kritischen Theorie verabschiedet
haben ? In diesem Buch wurde das Gewicht ja stark auf das
Funktionieren des liberal-demokratischen Staates gelegt,
obwohl dieser Staat auch ein liberal-kapitalistischer Staat
ist.
86
immer weiter fortschreitet, seitdem die Politik gegenüber
den Märkten mehr oder weniger abgedankt hat. Aus dieser
Sicht gehören Demokratietheorie und Kapitalismuskritik
zusammen. Ich habe den Begriff »Postdemokratie« nicht
erfunden. Aber darunter lassen sich gut die politischen Aus-
wirkungen der sozialen Folgen einer global durchgesetzten
neoliberalen Politik bündeln.
87
Was heißt »deliberative Demokratie« ?
Einwände und Missverständnisse
89
Meinungsbildung kann nämlich der einzelne Staatsbürger
in seiner individuellen Meinungsbildung und Entschei-
dungsfindung jene Spannung ausgleichen, die zwischen
den jeweils eigenen Interessen des Gesellschaftsbürgers
und dem Gemeinwohlinteresse des Staatsbürgers besteht.
Diese Spannung, die in der Bestimmung des demokrati-
schen Verfassungsstaates selbst angelegt ist, muss schon im
Spielraum der politischen Entscheidungen des einzelnen
Bürgers abgearbeitet werden, weil sich der Staatsbürger
trotz Personalunion nicht nur mit sich als Gesellschafts-
bürger identifizieren darf. Der demokratische Rechtsstaat
gewährleistet jedem Bürger gleichursprünglich sowohl
politische Autonomie als auch die gleichen Freiheiten eines
Privatrechtssubjekts. Die Gesetzesnormen, die solche Frei-
heiten gewährleisten, Kants »Zwangsgesetze der Freiheit«,
können nur dann von allen gleichermaßen gewollt sein,
wenn sie einen solidarischen Ausgleich der jeweils konfli-
gierenden Interessen spiegeln. Und dieser Ausgleich kann
sich wiederum nur in der Öffentlichkeit über die gemeinsa-
men politischen Meinungs- und Willensbildungsprozesse
der Wahlbürger vollziehen.
90
1
91
Die privaten Freiheiten des Rechtsstaates können nur ihren
eigenen Interessen entsprechen, wenn sich die Staatsbür-
ger ihre Rechte selber geben. Eine gemeinwohlorientierte
Gesetzgebung muss die konfligierenden gesellschaftlichen
Interessen ausgleichen und das Ziel verfolgen, die in kapita-
listischen Gesellschaften immer wieder naturwüchsig ent-
stehenden sozialen Ungleichheiten so weit auszugleichen,
dass alle Bürger die gleichen Chancen erhalten, nach Maß-
gabe ihres individuellen Selbstverständnisses ein selbstbe
stimmtes Leben zu führen. Alle Gesellschaftsbürger wollen
eine faire Chance erhalten, ihre subjektiven Rechte für die
Gestaltung ihres Lebens zu nutzen. Nur dann werden sie
motiviert und in der Lage sein, von ihren demokratischen
Rechten überhaupt, und zwar einen nicht ausschließlich
selbstinteressierten Gebrauch zu machen. Auf diese Weise
kann sich ein sich selbst stabilisierender Kreislauf einspielen,
worin einerseits der autonome Gebrauch der Staatsbürger-
rechte diejenigen subjektiven Rechte legislativ erzeugt, die
(wie John Rawls verlangt) den gleichen Wert für alle haben,
sodass der Genuss dieser Rechte wiederum allen Bürgern
jene soziale Unabhängigkeit ermöglicht, die erst zu einem
aktiven Gebrauch der politischen Autonomie befähigt und
anhält. Auf diese Weise müssen sich private und öffentliche
Autonomie gegenseitig ermöglichen und befördern.
Dieser sich selbst stabilisierende Kreislauf hat allerdings
eine Sollbruchstelle, die anzeigt, dass der Gebrauch, den
die Staatsbürger von ihren politischen Teilnahmerechten
machen sollen, andere Ansprüche stellt als der Gebrauch,
den sie von ihren privaten Freiheiten machen können. Beide
werden zwar in der gleichen Form von subjektiven Rech-
ten gewährleistet ; aber während die juristische Form der
92
Berechtigung auf die interessengeleitete Inanspruchnahme
der privaten Freiheitsrechte zugeschnitten ist, passt sie
nicht in derselben Weise auf die politische Verpflichtung zur
Wahrnehmung demokratischer Rechte. Jeder Staatsbürge-
rin wird angesonnen, ihr Wahlrecht, überhaupt ihre Kom-
munikations- und Teilnahmerechte im Sinne der informier-
ten und fairen Auflösung jenes Problems zu gebrauchen,
das die politischen Parteien den Bürgern nicht abnehmen
können : bei ihrer politischen Wahl zwischen berechtig-
ten Privatinteressen und Gemeinwohlbelangen eine faire
Abwägung vorzunehmen. Auch wenn der demokratische
Staat diese Gemeinwohlerwartung im Allgemeinen sparsam
dosiert, sind jedoch jeder und jede Einzelne in ihrer Rolle
als Staatsbürger an der Lösung jenes Problems beteiligt, das
sich jedes demokratische Gemeinwesen mit den Verfas-
sungsprinzipien auf seine Fahnen schreibt : dass alle Bürger
in den tatsächlich implementierten Gesetzen und Freihei-
ten, die aus einer pluralistischen demokratischen Willens-
bildung hervorgehen, im Großen und Ganzen auch ihren
eigenen Willen wiedererkennen können. Wie weit sich die
real existierenden Demokratien – und die ältesten von ihnen
auf skandalöse Weise allen anderen voran – inzwischen von
diesem politischen Ziel auch immer entfernt haben, sie ver-
dienen den Namen einer Demokratie nur so lange, wie die
Masse ihrer Bürger an diesem Ziel glaubwürdig festhält.
Weil die gleichen subjektiven Rechte auf Dauer auch für
jeden Bürger »den gleichen Wert« haben müssen, kann deren
Gewährleistung keinen politischen Bestand haben ohne die
Möglichkeit der Rückversicherung des zwingenden Rechts
in der politischen Solidarität der gesetzgebenden Bürger.
Das zeigt sich immer dann, wenn jener sich selbst stabili-
93
sierende Kreislauf zwischen hinreichend gemeinwohlorien-
tierter Gesetzgebung und ausreichender Befriedigung des
privaten Interessenspektrums ins Stocken gerät. Um die
Ausschläge eines krisenanfälligen Wirtschaftssystems, das
die Tendenz zur Erzeugung sozialer Ungleichheiten för-
dert, in Grenzen zu halten, bedarf es ohnehin kluger staatli-
cher Interventionen. Auf besonders drastische Weise kann
jedoch die politische Selbststabilisierung versagen, wenn
das politische Gemeinwesen in Kriegs- oder Katastrophen-
fällen unter Stress gerät, weil es sich ohne außerordentliche
kollektive Anstrengungen nicht länger in dem gewöhn-
lichen flexiblen Gleichgewicht halten kann.1 In solchen
Fällen – oder wenn es sich wie in einer Pandemie um eine
Herausforderung vonseiten unbeherrschter Naturprozesse
handelt – muss der Staat gegen eine von außen kontingent
einbrechende und das Kollektiv im Ganzen bedrohende
Gefahr außerordentliche und gegebenenfalls überpropor-
tional beanspruchte solidarische Kräfte der Bürgerinnen
und Bürger aufbieten. In der gegenwärtigen pandemischen
Ausnahmesituation kann der Staat solche außerordentli
chen kollektiven Anstrengungen nur mit einem temporä-
ren Rückfall unter das rechtliche Niveau reifer Demokra-
tien erkaufen. Nur weil in solchen Ausnahmesituationen
ein vergleichsweise höheres Maß an Solidarität erforderlich
ist, bringen die staatlichen Auflagen – zugunsten des Prima-
facie-Vorrangs des staatlichen Gesundheitsschutzes – den
94
sonst üblichen, sich selbst stabilisierenden Kreisprozess
zwischen den gemeinwohlorientierten Beiträgen der Staats-
bürger zur politischen Willensbildung und dem intakten
Spielraum für die Nutzung subjektiver Freiheitsrechte aus
der Balance.2
Oft sind in solchen Fällen die außerordentlichen Soli-
darleistungen auch nicht mehr als solche zu erkennen. Die
Belastungen, die den Bürgern zugemutet werden müssen,
sind dann immer noch staatsbürgerliche Beiträge zu einer
demokratisch beschlossenen kollektiven Anstrengung,
aber sie verlieren ihren freiwilligen Charakter, weil der
Staat diese Solidarleistungen, wenn auch mit gesetzlicher
Ermächtigung, schon allein aus funktionalen Gründen mit
Rechtszwang einfordern muss, obwohl sie, rechtlich gese-
hen, nur politisch erwartet, aber nicht vorgeschrieben wer-
den dürften. Wenn ein vom Gesetzgeber legitimierter Wille
darüber entscheidet, welchen Bürgern welche Belastungen
zugemutet werden müssen, besteht zwar an der Legitimität
zwingend vorgeschriebener Solidarleistungen kaum Zwei-
fel, weil der Staat andernfalls Politiken verfolgen müsste,
mit denen er eine an sich vermeidbare Steigerung von
Infektions- und Todesraten in Kauf nehmen würde. Aber
ein solcher Katastrophenfall bringt erst auf drastische Weise
zu Bewusstsein, dass jenes in demokratischen Verfassun-
2 Das ist freilich nicht nur im Fall von Katastrophen, also von außen
kontingent einbrechenden Gefahren der Fall, sondern auf andere
Weise im Fall sozialer Konflikte, wenn sich vernachlässigt fühlende,
unterdrückte oder auch nur verunsicherte soziale Schichten oder kul-
turelle Gruppen von der übrigen Bevölkerung abspalten und als Sys-
temopposition aus der gemeinsamen politischen Kultur »aussteigen«.
An manchen Orten scheinen sich in der Gemengelage zwischen Co-
rona-Leugnern und Rechtsextremisten beide Potentiale zu verbinden.
95
gen strukturell angelegte Problem, zwischen der selbstin-
teressierten Wahrnehmung subjektiver Freiheiten und der
funktional notwendigen Gemeinwohlorientierung einen
Ausgleich zu finden, von den Staatsbürgern selbst gelöst
werden muss – und dass dieses Problem nur im Zuge einer
gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung in der politi-
schen Öffentlichkeit gelöst werden kann.
In solchen Ausnahmesituationen wird in krasser Weise
deutlich, worum es auch im Normalfall geht. Entgegen dem
weit verbreiteten Zerrbild demokratischer Politik darf diese
sich nicht im nackten Interessenausgleich zwischen privat
egoistisch entscheidenden Bürgern und Organisationen,
nicht in ungezügelten Kompromissen erschöpfen. Viel-
mehr geht es um die Ausbalancierung der subjektiven Frei-
heiten, in deren Genuss die Gesellschaftsbürger als Nutz-
nießer formal gleicher Rechte gelangen, mit der Solidarität,
die Staatsbürger in ihrer Rolle als Mitgesetzgeber einander
schulden. Denn der Sinn des demokratischen Rechtsstaates
besteht darin, dass die gleichen subjektiven Freiheitsrechte
auch faktisch für alle den gleichen Wert haben. Für diesen
Prozess der gemeinsamen Abwägung zwischen Eigeninte-
resse und Gemeinwohlorientierung gibt es in den territori-
alstaatlich großräumigen Demokratien keinen anderen Ort
als die inklusive, von Massenmedien beherrschte öffentli-
che Kommunikation. In der Wahlkabine werden nur indi-
viduelle Meinungen registriert, gemeinsam ist der Kontext,
worin diese sich ausbilden – das Stimmengewirr der in der
Öffentlichkeit kursierenden Meinungen, die sich zu kon-
kurrierenden öffentlichen Meinungen verdichten.
Der theoretische Ansatz der deliberativen Demokratie
hat sich seit den frühen 1990er Jahren akademisch zuerst
96
in den USA durchgesetzt.3 Gleichwohl begegnet er immer
wieder einer Reihe von stereotyp wiederholten Einwänden,
auf die ich kurz eingehen möchte.
97
die sich zunehmend individualisieren, haben einheitsstif-
tende Weltbilder ihre Herrschaft legitimierende Kraft ver-
loren, sodass der demokratische Rechtsstaat ohne Rückgriff
auf solche metasozialen Quellen der Legitimation die Aus-
übung von Herrschaftsfunktionen aus sich selbst, nämlich
mithilfe des rechtlich institutionalisierten Verfahrens der
demokratischen (gegebenenfalls qualifizierten) Mehrheits-
entscheidung legitimieren muss.
Mit dem erwähnten soziologischen Machtbegriff lässt
sich jedoch nicht erklären, wie dieses Verfahren funktio-
niert. Wenn in periodisch wiederholten Wahlen allein darü-
ber entschieden würde, dass die Mehrheit ermächtigt wird,
ihren politischen Willen der Minderheit auf bestimmte Zeit
aufzuerlegen, gäbe es für die Akzeptanz des Mehrheitsprin-
zips bestenfalls eine fadenscheinige Erklärung : Nach empi-
ristischer Lesart repräsentiert die Mehrheit der ausgezähl-
ten Wahlstimmen eine vorgestellte physische Überlegenheit
der entsprechenden Mehrzahl der Stimmbürger selbst ;
und diese soll begründen, warum das politische Lager des
jeweils »überwiegenden« Teils der Bürger seinen »Willen
bekommt«, das heißt eine Regierung, deren erklärten Zie-
len eher seine Präferenzen zugrunde liegen als die der einst-
weilen unterworfenen Minderheit. Da dem empiristischen
Machtbegriff der Begriff der Willkür- und Handlungsfrei-
heit entspricht, drückt sich demnach die Herrschaft der
Mehrheit darin aus, dass die Regierung dem überwiegenden
Teil der Bevölkerung für die Verfolgung seiner Präferenzen
einen privilegierten Handlungsspielraum gewährleistet.
Selbst wenn der Rekurs auf das Drohpotential der über-
legenen körperlichen Gewalt einer Mehrheit der Bürger nur
als Deckungsreserve für den Fall des physischen Wider-
98
standes gegen Anordnungen der Machthaber gemeint wäre,
reichte auch diese Version wohl kaum hin, um die Grund-
lagen einer auf Menschenrechten beruhenden politischen
Ordnung zu erklären. Eine sich selbst bestimmende Asso
ziation von freien und gleichen Rechtsgenossen gründet
sich auf die Idee der Selbstermächtigung eines jeden Bürgers,
ausschließlich solchen Gesetzen zu gehorchen, die er sich
auf der Grundlage einer gleichberechtigt mit allen anderen
Bürgern gemeinsam ausgeübten politischen Meinungs- und
Willensbildung selber gegeben hat. Diese anspruchsvolle
Idee kann nicht mithilfe der empiristischen Macht- und
Freiheitsbegriffe in der Weise eingelöst werden, dass Mehr-
heitsentscheidungen mithilfe einer numerischen Aggrega-
tion der »rohen« Präferenzen aller Beteiligten legitimiert
werden. Stattdessen muss die demokratische Wahl als der
letzte Schritt eines problemlösenden Prozesses, das heißt als
das Ergebnis einer gemeinsamen Meinungs- und Willens-
bildung von Bürgern, begriffen werden, die ihre Präferen
zen erst in der Auseinandersetzung mit den politisch rege-
lungsbedürftigen Problemen im Laufe einer öffentlichen,
mehr oder weniger rational geführten Debatte ausbilden.
Dieses Element der entscheidungsvorbereitenden Bera-
tung ist ein wesentlicher Teil der Erklärung der Tatsache,
dass das demokratische Verfahren Mehrheitsentscheidun-
gen auch in den Augen der unterlegenen Minderheit legi-
timiert. Aus der Teilnehmerperspektive ist es nämlich die
unwahrscheinliche Kombination von zwei Eigenschaften,
die die Überzeugungskraft des Verfahrens erklärt : Dieses
verlangt einerseits die Teilnahme aller Personen, die vom
Ergebnis möglicherweise betroffen werden ; und es macht
andererseits die Entscheidung selbst abhängig vom mehr
99
oder weniger diskursiven Charakter der vorangehenden
Beratung. Die Bedingung der Inklusion entspricht der
demokratischen Forderung nach Teilnahme aller mögli-
cherweise Betroffenen, während der Filter des deliberativen
Austauschs von Vorschlägen, Informationen und Grün-
den die Unterstellung der rationalen Akzeptabilität des
Ergebnisses rechtfertigt. Diese Unterstellung selbst kann
ihrerseits an der deliberativen Qualität der vorangehenden
Beratungen überprüft werden. Von solchen Diskursen wird
erwartet, dass sie auf der Grundlage relevanter Themen,
erforderlicher Informationen und sachdienlicher Stellung-
nahmen pro und contra einen Wettbewerb einschlägiger
öffentlicher Meinungen mobilisieren. Kurzum, die Verkop-
pelung von inklusiver Teilnahme und diskursiver Beratung
erklärt die Erwartung rational akzeptabler Ergebnisse. Weil
jede Entscheidung den Abbruch eines Diskurses bedeutet,
können jedoch die unterlegenen Minderheiten in der Hoff-
nung auf den längerfristigen Erfolg ihrer Argumente auch
Mehrheitsentscheidungen akzeptieren, ohne die eigenen
Überzeugungen aufgeben zu müssen.
100
Überzeugung oder das Gefühl der Beteiligten, mit ihren
Auffassungen und Einschätzungen »recht zu haben«, be-
feuert die politischen Auseinandersetzungen und verleiht
ihnen den strittigen Charakter. In diesem Zusammenhang
sind freilich Differenzierungen nötig, denn während in
der Politik um vieles gestritten wird, können nur asserto-
rische Aussagen im strengen Sinne wahr oder falsch sein.
Freilich können auch die Geltungsansprüche, die wir – hin-
ausgehend über Tatsachenbehauptungen – beispielsweise
mit moralischen oder juristischen Gerechtigkeitsaussagen
verbinden, zutreffen oder falsch sein ; sie können in Dis-
kursen wie Wahrheitsansprüche behandelt werden. Und
selbst Aussagen, die sich nicht mit binär codierten Gel-
tungsansprüchen verbinden, können mit mehr oder weni-
ger einleuchtenden Gründen verteidigt oder kritisiert wer-
den. Selbst ethisch-politische Aussagen, die sich aus der
Sicht einer politischen Gemeinschaft oder einer Subkultur
auf die Vorzugswürdigkeit bestimmter Werte gegenüber
nachrangigen Werten oder allgemein auf die Identifizierung
mit bestimmten Lebensformen beziehen, sind der Plausi-
bilisierung mithilfe von Gründen zugänglich. Anders als
die Äußerung von Vorlieben behaupten auch ethische und
sogar ästhetische Äußerungen einen Geltungsanspruch im
Raum der Gründe. Präferenzen können nur wie Wünsche
subjektiv ausgedrückt oder, als subjektive Ansprüche, nur
im Lichte gültiger Normen begründet werden. Kurzum,
wenn man sich die logische Form praktischer Fragen klar-
macht und sich daran erinnert, dass die Politik wesentlich
solche Fragen berührt, die über selbstbezogene Interessen
hinaus unter moralischen, juristischen und ethisch-politi-
schen Gesichtspunkten verhandelt werden, sieht man auch,
101
dass sich die öffentlichen politischen Auseinandersetzun-
gen auch dann im Raum diskursiv ausgetauschter Gründe
bewegen, wenn sie über strittige Tatsachenfragen hinaus-
gehen. Das ist auch bei Kompromissen, also bei den meis-
ten der strittigen politischen Fragen der Fall, denn Kom-
promisse bewegen sich in einem rechtlichen Rahmen und
unterliegen ihrerseits Gesichtspunkten der Fairness.
Aus dem Hinweis auf den agonalen Zug der Politik lässt
sich nur dann ein Einwand gegen die Konzeption delibe-
rativer Politik ableiten, wenn man die Intention der Betei
ligten, die mit ihren Äußerungen einen epistemischen, das
heißt begründeten und mit Gründen kritisierbaren Beitrag
zur Debatte leisten wollen, mit der naiven Erwartung ver-
wechselt, dass in politischen Diskussionen, die – anders als
das »unendliche Gespräch« der Philosophen – unter Ent-
scheidungszwang stets zeitlich limitiert sind, ein aktuelles
Einverständnis erzielt werden könnte. Gerade das Bewusst-
sein des Entscheidungszwangs verleiht der Einstellung, mit
der die aus praktischer Vernunft begründeten Argumente
vorgetragen und verteidigt werden, einen ungeduldigen
Charakter und den scharfen Ton. Gleichzeitig wissen alle
Beteiligten, dass in der medial gesteuerten Massenkommu-
nikation der Öffentlichkeit bestenfalls vernünftige, aber
einstweilen nur konkurrierende öffentliche Meinungen
erzeugt werden können – und sollen. In deren Licht sollen
nämlich die Bürger auf informierte Weise in der Wahlka-
bine, jede und jeder jeweils für sich, eine informierte Ent-
scheidung treffen können. Erst in Parlamenten und ande-
ren staatlichen Institutionen können rechtlich verbindliche
Entscheidungen nach demokratischen Beratungen face-to-
face getroffen werden. Allerdings müssen die Wahlergeb-
102
nisse auf den weiteren Stufen des politischen Systems so
verarbeitet werden, dass die Wähler im Laufe der Wahlperi-
ode den Eindruck gewinnen können, dass der Output, also
die tatsächlich implementierten Politiken in einem für sie
noch erkennbaren Zusammenhang mit dem Input der Wäh-
ler und deren Orientierung an Wahlversprechen der jeweils
mit der Regierung beauftragten Partei(en) steht.
Befriedigende Leistungen des politischen Systems alleine
genügen nicht zur Legitimation der Regierung, denn ohne
den erkennbaren Bezug des demokratischen Votums zu
dem, was die Wähler tatsächlich »bekommen«, verselb-
ständigt sich die politische Herrschaft zu einem paterna-
listischen Regime. Mit anderen Worten : Sobald die poli-
tische Öffentlichkeit funktionslos verrottet, verliert der
Staat selbst dann seine demokratische Substanz, wenn
die »Herrschaft der Gesetze« unangetastet bleibt und die
Regierung ihre Wähler mehr oder weniger zufriedenstellt.
Diese latente Gefahr kann in den großflächigen politischen
Gemeinwesen der Moderne nur in dem Maße abgewendet
werden, wie die mediale Infrastruktur der Öffentlichkeit
eine halbwegs deliberative Meinungs- und Willensbildung
der Bevölkerung selbst ermöglicht. Die Artikulationskraft
unabhängiger Medien muss stark genug sein, um die Rück-
bindung der politischen Macht an die von den Bürgern
erzeugte kommunikative Macht – die einzige »Gewalt«, die
vom Volke »ausgeht« – nicht abreißen zu lassen.
Andererseits gehört zu einer demokratisch legitimierten
Herrschaft auch eine Regierung, die sich selber politische
Gestaltungsmacht zutraut. Das bloße Erscheinungsbild
einer demokratisch gesteuerten Führung genügt nicht. Jene
demoskopisch gelenkte Politik, die den heute vorherrschen-
103
den Politikstil einer bloß machtopportunistischen Anpas-
sung an systemisch beschränkte Handlungsspielräume aus-
zeichnet, ist undemokratisch, weil sie sowohl die politische
Handlungsfähigkeit des Staates in Frage stellt wie auch die
politische Meinungs- und Willensbildung in Zivilgesell-
schaft und politischer Öffentlichkeit ins Leere laufen lässt.
Wenn in den politischen Eliten ein von der Systemtheorie
genährter Defätismus zur lähmenden politischen Gewalt
wird, muss die Bevölkerung den Glauben an eine Regie-
rung, die die Handlungsfähigkeit und -bereitschaft nur
noch simuliert, verlieren.
104
umgekehrt eine relative Unabhängigkeit von Wählervotum
und öffentlicher Meinung zuschreibt. Beide Alternativen
sehen gleichermaßen von der Relevanz einer aufgeklärten
und inklusiven Meinungs- und Willensbildung der Bürger
in der politischen Öffentlichkeit ab. Derart entlastet von
einer normativ anspruchsvollen Erwartung, können sich
diese Lesarten eines gewissen »Realismus« rühmen ; aber
die politische Regression, die wir heute beobachten, drängt
dann doch die Frage auf, was denn mit Demokratien pas-
siert, in denen die politische Öffentlichkeit zerfällt und das
Zusammenspiel von politischen Parteien und öffentlicher
Meinung erlahmt.
Der »pluralistische« Ansatz gibt sich damit zufrieden,
dass der Anspruch einer demokratischen Verfassung mit
dem Verfahren »freier Wahlen« eingelöst wird, weil mit
den statistisch aggregierten Wählervoten die Stimme jedes
einzelnen Bürgers gleichgewichtig, also auf gerechte Weise
gezählt wird und auf diese formale Weise »zum Zuge«
kommt. Diese minimalistische Lesart sieht von der Frage
ab, wie das demokratische Votum zustande kommt. Bei
allgemeinen nationalen Wahlen entscheidet aber die Sum-
mierung und Verteilung der einzelnen Stimmen darüber,
welche der konkurrierenden Kräfte mit welchen erklärten
Zielsetzungen das Land regieren soll. Das Ergebnis betrifft
also, ungeachtet seiner Zusammensetzung aus vielen auto-
nom abgegebenen Einzelstimmen, alle Bürger gemeinsam ;
es ist »ihre« Regierung, an die sich die Wählerinnen und
Wähler mit ihrem Votum gebunden haben. Da nun jeder
und jede Einzelne schon in der Erwartung eines solchen
institutionellen, also für alle Bürger gleichermaßen folgen-
reichen Ergebnisses seine beziehungsweise ihre Stimme
105
abgibt, wäre es nur konsequent, wenn die individuel-
len Wahlentscheidungen aus einer entsprechenden, eben
gemeinsamen politischen Willensbildung hervorgegangen
wären. Der angebliche Vorzug des pluralistischen Ansatzes,
der aus individualistischer Sicht den Modus der Meinungs-
und Willensbildung als Privatsache des Einzelnen betrach-
tet, blendet daher einen wesentlichen Aspekt aus. Und
zwar ignoriert er die eigentliche Aufgabe demokratischer
Staatsbürger, nämlich ihre individuellen Interessen, die sie
jeweils als Privatleute haben, mit dem zu integrieren, was im
gemeinsamen Interesse aller Bürger liegt.
Auch der »expertokratische« Ansatz ist realistisch inso-
fern, als er das schmale Budget an Zeit, Motivation, Auf-
merksamkeit und kognitivem Aufwand hervorhebt, das
normale, mit ihrem beruflichen und privaten Leben ausge-
füllte Bürger für ihre politische Rolle als Staatsbürger auf-
wenden. Gleichzeitig erinnert er an die wachsende Kom-
plexität der Aufgaben, die Regierung und Verwaltung in
modernen Gesellschaften zu bewältigen haben. Die Kom-
plexität der verschiedenen, sich selbst regelnden gesell-
schaftlichen Teilsysteme hat zwar für eine ihrerseits zu
einem Funktionssystem verselbständigte staatliche Orga-
nisation auch entlastende Effekte. Aber wenn die politi-
schen Experten die Ausfallbürgschaft für die Reparatur
der Störungen fast aller anderen Funktionssysteme über-
nehmen oder gar Ziele einer gestaltenden Politik verfolgen,
müssen sie sich ein vielfältiges und detailliertes Fachwissen
zu eigen machen. Daher überfordere, so lautet das Argu-
ment, die Politik nicht nur zwangsläufig die Aufnahmebe-
reitschaft und das Interesse der Bürger, sondern auch deren
Aufnahmefähigkeit. Schon die angeblich unüberbrückbare
106
Kluft zwischen dem Spezialwissen, das die Bearbeitung
politischer Probleme verlangt, und dem Commonsense
mache es nach technokratischer Auffassung unmöglich,
die Bürger selbst an der Meinungsbildung über politische
Alternativen ernsthaft zu beteiligen. Und das scheint sich
am plebiszitären Charakter der Wahlkämpfe zu bestätigen :
An die Stelle von Parteiprogrammen, die niemand liest, tritt
die professionelle Werbung für Personen. Nun, auch diese
Beschreibung ist nicht unrealistisch. Aber für dieses Defizit
zahlen die Bürger ihren Preis wiederum in der Münze des
Verzichts auf den folgenreichen Gebrauch ihrer politischen
Autonomie.
Der »Realismus« der beiden Ansätze besteht darin, dass
sie an der politischen Willensbildung westlicher Massende-
mokratien Züge stilisieren, für die es hinreichende empi-
rische Belege gibt. Gleichzeitig suggerieren sie, dass diese
Züge, ob man sie nun unter normativen Gesichtspunkten
für Defizite hält oder nicht, unter den Lebensbedingun-
gen moderner Gesellschaften unvermeidlich sind. Aber für
diese weiter gehende Aussage gibt es keineswegs überzeu-
gende Belege. Der wachsende Pluralismus unserer Gesell-
schaften bezieht sich auf eine Vervielfältigung der kulturel-
len Lebensformen und individuellen Lebensstile ; daraus
ergibt sich die eine allgemeine Tendenz, dass sich die Bürde
der sozialen Integration großflächiger Gesellschaften von
der Ebene der einsozialisierten Lebenswelten stärker auf die
Ebene der politischen Staatsbürgerschaft verschiebt, wobei
sich die staatsbürgerliche Integration inzwischen ihrerseits
von nationalen, also vorpolitischen Bindungen löst. Aber
wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt zunehmend auf
der abstrakteren Ebene der Staatsbürgerschaft gesichert
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werden muss, spricht dieser funktionale Imperativ doch
nur umso mehr für eine Mobilisierung der politischen Mei-
nungs- und Willensbildung ; dieser käme auch die digitale
Infrastruktur halbwegs entgegen, allerdings nur unter der
Voraussetzung einer entsprechenden und einstweilen feh-
lenden Regulierung. Ähnlich verhält es sich mit dem Gefälle
zwischen dem Fachwissen der politischen Experten und der
Aufnahmefähigkeit des staatsbürgerlichen Commonsense
der Bürger. Zwar verlangt auch die Arbeit von Regierun-
gen und Verwaltungen ein hohes Maß an Fachwissen. Aber
abgesehen davon, dass sich die Politiker selbst von ihren
Fachleuten informieren lassen müssen, trifft es einfach
nicht zu, dass sich komplexe politische Überlegungen nicht
in die Sprache des Alltagsverstandes interessierter Bürger
(also von uns allen) übersetzen ließen – sonst wären es keine
politischen Überlegungen. Gerade im Hinblick auf die gro-
ßen Linien politischer Programme und hinsichtlich der
Abwägung entsprechender Alternativen ist es eine Frage
der klugen und professionell gekonnten Übersetzung, ob
eine normalsprachliche Erklärung die Substanz der Sache
und deren Begründung trifft. Und die Skepsis gegenüber
der unter normalen Umständen bestehenden Bereitschaft
der Bürger zur politischen Beteiligung müsste im Hinblick
auf das Ausmaß an politischem Engagement überprüft
werden, das uns heute im Zuge eines wachsenden Rechts-
radikalismus überraschend vor Augen geführt wird. Dieser
spricht nicht für die Skepsis gegen die Aufnahmefähigkeit
und Aufnahmebereitschaft für politische Botschaften selbst
in den Schichten, die sich eher durch einen geringeren sozia
len Status und eine vergleichsweise geringere Schulbildung
auszeichnen. In Bevölkerungen, die – gemessen am Niveau
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der allgemeinen Schulbildung – immer intelligenter werden,
muss auch eine entsprechende Erziehung zur politischen
Beteiligung nicht per se am Überwiegen privater Interessen
der Bürger scheitern.
Gerade das beunruhigende Phänomen einer Verbindung
des traditionellen Rechtspopulismus – »Wir sind das Volk« –
mit der libertären Selbstbezogenheit ausgeflippter Ver-
schwörungstheoretiker, die ihre subjektiven Freiheitsrechte
gegen eine imaginäre Unterdrückung durch einen angeb-
lich nur scheindemokratischen Rechtsstaat verteidigen, ist
Grund genug, den Spieß umzudrehen. In den insgesamt
wachsenden kapitalistischen Gesellschaften unserer, wie
sich heute herausstellt, nicht besonders stabilen Demokra-
tien entsteht dieses überraschende Widerstandspotential
und lässt das politische System von innen zerbröseln, wenn
auf der Basis wachsender sozialer Ungleichheiten der Zer-
fall der politischen Öffentlichkeit nur weit genug fortge-
schritten ist.
Face-to-face deliberation in representative bodies is crucial for transforming individual electoral choices into collective, democratically legitimate decisions. This process allows for thorough debate and consideration among elected members, ensuring decisions reflect compromise between functional necessities, societal interests, and voter preferences within a legal framework .
The structure and usage of new media platforms can affect societal cohesion by facilitating the formation of isolated discourse communities or echo chambers. These platforms promote individual expression without the critical oversight found in traditional media, risking political discourse fragmentation and reducing the integration power of public communication. This dynamic can lead to an erosion of the shared public sphere necessary for coherent political consensus and communal identity .
Citizen participation in new media contributes to democratic processes by providing broader inclusivity, potentially enhancing political awareness and activism. However, the lack of structured moderation can hinder this contribution by allowing misinformation and polarization to proliferate, which challenges the quality of deliberative democracy and risks fragmenting the public into isolated, conflicting groups .
The shift in public communication patterns due to new media has expanded citizens' political autonomy by enabling self-expression and direct audience engagement. However, this autonomy can be compromised by the spread of misinformation and the influence of algorithms prioritizing sensational or biased content, which can skew perceptions and reduce the quality of informed decision-making essential for democratic autonomy .
Mass media play a crucial role in shaping individuals' opinions by processing and presenting themes, ideas, and debates from various societal actors. These contributions allow each citizen to develop their own views and make motivated electoral decisions. Mass media serve as a filter for a more informed pluralism of opinions, although true deliberation occurs post-election within representative bodies where democratic decisions are made .
New media challenge the traditional concept of public communication by decentralizing information dissemination and removing editorial oversight. This lack of regulation can lead to fragmented, self-referential public spheres that undermine the integrative power of traditional media, fostering echo chambers and polarizing discourse, which challenges the foundational public-private distinction that supports democratic structures .
The design of new media platforms promotes opportunities for narcissistic self-presentation and fosters selective interpretation confirmation, impacting users' perceptions and engagement with political content. These interfaces can shape how citizens perceive and interact with what was traditionally considered public political discourse, potentially redefining the citizen’s role from a passive recipient to an active participant .
Digital platforms democratize content creation, allowing every user to express public opinions. This contrasts with traditional media, where content was professionally curated. While digital platforms offer inclusivity and the potential for new political expressions, they also provoke challenges like the fragmentation of public discourse and reduced content moderation, resulting in polarizing echo chambers .
Deliberative politics allow participants to refine their beliefs and approach problem-solving rationally. Political arguments are meant to challenge and improve upon ideas through reciprocal disagreement, which is fundamental for epistemic self-correction among participants. This process is anchored in a consensus on the basic principles of the shared constitution, underscoring its importance in achieving reasonable majority decisions .
New media platforms have drastically altered the traditional communication model by enabling users to act as independent authors, stripping away the productive role traditionally held by journalists. This shift leads to more egalitarian and unregulated exchanges, moving away from content produced and filtered by professionals to a self-regulated communicative pattern that originally emphasized empowerment but now risks segmenting public discourse into echo chambers .