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Kurzgeschichte Augenblicke Helmut Fritz Literatur I

Die Kurzgeschichte erzählt von Elsa, die unter der aufdringlichen Fürsorge ihrer Mutter leidet. Als ihre Mutter sie wieder im Badezimmer aufsucht, flieht Elsa aus dem Haus und sucht verzweifelt nach einer eigenen Wohnung. Sie will der ständigen Kontrolle ihrer Mutter entkommen.

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Kurzgeschichte Augenblicke Helmut Fritz Literatur I

Die Kurzgeschichte erzählt von Elsa, die unter der aufdringlichen Fürsorge ihrer Mutter leidet. Als ihre Mutter sie wieder im Badezimmer aufsucht, flieht Elsa aus dem Haus und sucht verzweifelt nach einer eigenen Wohnung. Sie will der ständigen Kontrolle ihrer Mutter entkommen.

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Kurzgeschichte:

Augenblicke (Helmut Fritz, 1964)



Kaum stand sie vor dem Spiegel im Badezimmer, um sich herzurichten1, als ihre Mutter aus
dem Zimmer nebenan zu ihr hereinkam, unter dem Vorwand, sie wolle sich nur die Hände
waschen. Also doch! Wie immer, wie fast immer.
Elsas Mund krampfte sich zusammen2, ihre Finger spannten sich. Ihre Augen wurden schmal.
5 Ruhig bleiben!
Sie hatte darauf gewartet, dass ihre Mutter auch dieses Mal hereinkommen würde, voller
Behutsamkeit3, mit jener scheinbaren Zurückhaltung, die durch ihre Aufdringlichkeit4 die Nerven
freilegt.

Sie hatte - behext5, entsetzt, gepeinigt - darauf gewartet, weil sie sich davor fürchtete.
10 - Komm, ich mach dir Platz, sagte sie zu ihrer Mutter und lächelte ihr zu.
- Nein, bleib nur hier, ich bin gleich soweit, antwortete die Mutter und lächelte.

- Aber es ist doch so eng, sagte Elsa, und ging rasch hinaus, über den Flur, in ihr Zimmer. Sie
behielt einige Augenblicke länger als nötig die Klinke6 in der Hand, wie um die Tür mit Gewalt
zuzuhalten. Sie ging auf und ab, von der Tür zum Fenster, vom Fenster zur Tür. Vorsichtig
15 öffnete ihre Mutter. Ich bin schon fertig, sagte sie.
Elsa tat, als ob ihr inzwischen etwas anderes eingefallen wäre, und machte sich an ihrem
Tisch zu schaffen.
- Du kannst weitermachen, sagte die Mutter.
- Ja, gleich.
20 Die Mutter nahm die Verzweiflung ihrer Tochter nicht einmal als Ungeduld wahr.
Wenig später allerdings verließ Elsa das Haus, ohne ihrer Mutter adieu zu sagen. Mit der
Tram fuhr sie in die Stadt, in die Gegend der Post. Dort sollte es eine Wohnungsvermittlung
geben, hatte sie einmal gehört. Sie hätte zu Hause im Telefonbuch eine Adresse nachsehen
können. Sie hatte nicht daran gedacht, als sie die Treppen hinuntergeeilt war.
25 In einem Geschäft für Haushaltungsgegenstände fragte sie, ob es in der Nähe nicht eine

1 sich herrichten = z.B. Kleidung anziehen, sich schminken, sich für die Arbeit vorbereiten
2 sich zusammenkrampfen = chuột rút
3 behutsam sein = vorsichtig sein
4 aufdringlich sein = jemand möchte immer mit mir reden/kommunizieren (störend, lästig)
5 behext = hier: aufgeregt
6 Klinke, die = Türöffner (tay cầm cửa)

1
Wohnungsvermittlung gebe. Man bedauerte7. Sie fragte in der Apotheke, bekam eine

ungenaue Auskunft. Vielleicht im nächsten Haus. Dort läutete sie. Schilder einer Abendzeitung,
einer Reisegesellschaft, einer Kohlenfirma. Sie läutete umsonst.
Es war später Nachmittag, Samstag, zweiundzwanzigster Dezember.
30 Sie sah in eine Bar hinein. Sie sah den Menschen nach, die vorbeigingen. Sie trieb mit. Sie

betrachtete Kinoreklamen. Sie ging Stunden umher. Sie würde erst spät zurückkehren. Ihre
Mutter würde zu Bett gegangen sein. Sie würde ihr nicht mehr gute Nacht zu sagen brauchen.
Sie würde sich, gleich nach Weihnachten, eine Wohnung nehmen. Sie war zwanzig Jahre alt

und verdiente. Kein einziges Mal würde sie sich mehr beherrschen können, wenn ihre Mutter
35 zu ihr ins Bad kommen würde, wenn sie sich schminkte. Kein einziges Mal.
Ihre Mutter lebte seit dem Tod ihres Mannes allein. Oft empfand sie Langeweile. Sie wollte mit
ihrer Tochter sprechen. Weil sich die Gelegenheit selten ergab (Elsa schützte Arbeit vor),
suchte sie sie auf dem Flur zu erreichen oder wenn sie im Bad zu tun hatte. Sie liebte Elsa.
Sie verwöhnte sie. Aber sie, Elsa, würde kein einziges Mal mehr ruhig bleiben können, wenn
40 sie wieder zu ihr ins Bad käme.
Elsa floh.
Über der Straße künstliche, blau, rot, gelb erleuchtete Sterne. Sie spürte Zuneigung zu den

vielen Leuten, zwischen denen sie ging.


Als sie kurz vor Mitternacht zurückkehrte, war es still in der Wohnung. Sie ging in ihr Zimmer,
45 und es blieb still. Sie dachte daran, dass ihre Mutter alt und oft krank war. Sie kauerte sich in
ihren Sessel, und sie hätte unartikuliert8 schreien mögen, in die Nacht mit ihrer entsetzlichen

Gelassenheit9.
_______________________________________________________________________________________________________________

7 etwas bedauern = etwas verneinen, Nein sagen


8 unartikuliert = hier: nicht deutlich, man kann keine Worte verstehen
9 Gelassenheit, die = Synonym: Sorglosigkeit, keine Sorgen

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