Lesen: digital oder auf Papier?
A An Universitäten und zunehmend auch in Schulen werden Texte auf
Bildschirmen gelesen. Studierende ersparen sich den Gang in die Bibliothek und
lesen wissenschaftliche Aufsätze oder sogar ganze Bücher auf ihrem Laptop.
Inwiefern wird die Technik auch die Art und Weise verändern, wie gelesen wird?
Und verarbeitet das Gehirn Texte auf dem Bildschirm anders als solche, die auf
Papier gedruckt sind?
B Lesen, also die Verarbeitung von Sprache, wird oft als etwas Abstraktes
aufgefasst. Tatsächlich werden Texte im Gehirn jedoch auch wie konkrete Objekte
unserer physischen Welt behandelt, die man ertasten kann. Verschiedene
Untersuchungen deuten darauf hin, dass beim Lesen ein geistiges Abbild des
Textes konstruiert wird. Es wird angenommen, dass es den mentalen Karten
ähnelt, die im Gehirn von real existierenden Orten erzeugt werden, beispielsweise
von Straßen, Wohnungen oder ganzen Städten. Mentale Textkarten, so lautet die
Theorie, erleichtern beim Lesen sowohl die Orientierung im Text als auch das
Textverstehen.
C
C Seit einigen Jahren werden regelmäßig Studien über die Vor- und Nachteile des
digitalen und analogen Lesens veröffentlicht. Die erste empirische Untersuchung
dazu wurde im Jahr 2013 von der Literaturprofessorin Anne Mangen von der
Universität Stavanger in Norwegen durchgeführt. Sie stellte Schülern die Aufgabe,
jeweils eine Erzählung und einen Sachtext von je 1500 Wörtern zu lesen. Die eine
Hälfte las die Texte auf Papier, die andere auf einem 15-Zoll-Bildschirm.
Anschließend überprüfte die Forscherin das Leseverständnis. Zu diesem Zweck
wurden den Schülern Multiple-Choice-Tests vorgelegt. Nachdem sie die Aufgaben
gelöst hatten, durften sie innerhalb einer festgelegten Zeit noch einmal im Text
ihre Antworten überprüfen.
D Die Ergebnisse bei dem literarischen Text und dem Sachtext waren
unterschiedlich. Stellten die Prüfer zu dem literarischen Text Fragen zu den
handelnden Personen und ihren Charakteren sowie zu den Orten der Handlung,
gab es nur geringe Unterschiede in der durchschnittlich erreichten Punktzahl.
Auch bei Fragen nach wichtigen Details der Geschichte unterschieden sich die
Leistungen der beiden Gruppen kaum voneinander. Wenn es aber darum ging,
wann und in welcher Reihenfolge bestimmte Ereignisse in der Handlung der
Erzählung passierten, ergaben sich signifikante Unterschiede. Hierbei war die
digitale Gruppe deutlich besser.
E Bei dem Sachtext war das Ergebnis wesentlich eindeutiger. Die Gruppe, die
analoge Texte las, schnitt generell besser ab, und zwar unabhängig vom Alter der
Person, von der Textlange und vom Schwierigkeitsgrad der Lesetexte,
Ausgerechnet also bei den Texten, die im Internet oft anzutreffen sind und auch als
Lerntexte dienen, waren die Defizite des digitalen Lesens deutlich festzustellen.
Sie waren noch stärker ausgeprägt, wenn ein großer Zeitdruck bestand, wie es im
Unterricht oder bei Prüfungen in der Regel der Fall ist. Stopp! Nicht weiterlesen
F Wie können die Ergebnisse der Studien erklärt werden? Ein offensichtlicher
Unterschied zwischen PC-Bildschirmen und Papier besteht darin, dass Papier
tastbares Material ist. Man Kann das Gewicht, die Beschaffenheit und die Dicke
einer Broschüre oder eines Buches spüren. Man kann sehen, wo der Text beginnt
und wo er endet, und man kann schnell mit den Fingern durch die Seiten blättern.
Diese räumliche Orientierung im Text wird in gedruckten Büchern auch durch
charakteristische Merkmale erleichtert. Ein geoffnetes Buch bietet zwei klar
definierte Bereiche. die rechte und die linke Seite und als weitere
Orientierungspunkte noch die acht Ecken der beiden Seiten. Darüber hinaus kann
man an dem Gewicht der rechten und der linken Buchhälfte spüren, wie viel man
bereits gelesen hat und wie viele seiten ungefähr noch zu lesen sind. Genauso wie
man sich auf einem Stadtrundgang merkt, an einem roten Gebäude
vorbeigegangen zu sein, erinnert sich die Leserin eines Krimis, an welcher Stelle
der erste Mord passierte.
zum Beispiel im ersten Drittel des Buches, unten auf der linken Buchseite.
All das trägt dazu bei, dass in gedruckten Texten nicht nur Textpassagen leichter
aufgerunden werden können, sondern auch eine bessere Karte von der
Textlandschaft im Gehirn erzeugt werden kann.
G Mit smartphones, Tablets oder E-Reader ist diese Orientierung schwerer oder
sogar unmöglich. Zwar kann ran im digitalen Text durch Streichen oder Tippen
Seiten schnell umblättern oder die Suchfunktion nutzen, um in mitundenschnelle
einen bestimmten Begriff zu finden, Es ist aber schwierig, eine Textpassiseier
Kontext des ganzen Sekurs wahrzunehmen, denn auf dem Display erscheint nur
eine einzige vituelle Seite, Blattert man weiter, ist sep bueder verschwunden. So
ziehen die Textlandschaften beim Lesen vorbei, ohne räumliche Spuren zu
hinterlassere und ohne dass Lesende erkennen könnte, was noch vor ihnen liegt.
H Neben der fehlenden räumlichen Orientierung im Text führen Forscher auch
noch andere Nachteile des digitalen Lesens von längeren Sachtexten an. Beim
digitalen Lesen werden seltener Lesestrategien angewendet. Es wird darauf
verzichtet, bestimmte Lernziele für sich zu definieren, schwierige Passagen noch
einmal durchzulesen oder zu überprüfen, was bereits verstanden wurde. Ebenso
wird weniger antizipiert, also vorausschauend mit Hilfe von
Vermutungen (»Wie könnte der Text weitergehen?«) gelesen.
Andere Wissenschaftler vermuten, dass insbesondere beim Lesen längerer Texte
am Bildschirm die Konzentration nachlässt und sich Müdigkeit einstellt, weil
energiereiches blaues Licht des Bildschirms direkt auf die Augen trifft und eine so
genannte Blaulicht-Erschöpfung bewirkt: Die Augen beginnen zu brennen, und die
Textzeilen verschwimmen.
Eine weitere Erklärung betrifft die Aufmerksamkeit, die dem Lesen gewidmet
wird. Bei digitaler Lektüre wird der Text häufig nur flüchtig gelesen oder schnell
nach Schlüsselwörtern durchsucht. Darüber hinaus wird der Lesefluss durch
andere Tätigkeiten am digitalen Gerät (E-Mail abrufen, Facebook-Einträge
erkunden usw.) unterbrochen. Die Folge ist eine fragmentierte Aufnahme und
Verarbeitung des Textes, Dies fördern dieitale Medien noch zusätzlich dadurch,
dass oft Hyperlinks in den Text eingebaut werden, die Erklärungen, weitere
Informationen oder gar Videos anbieten.