Originalarbeit
Die Lungenheilkunde und ihre Institutionen im
Nationalsozialismus
Pulmonary Medicine and its Institutions During National
Socialism
Autoren
R. Loddenkemper1, N. Konietzko2, V. Seehausen3
Institute sich uneinsichtig zeigten, als „asoziale Bazillenstreuer“
1 Berlin durch Amtsärzte der staatlichen Gesundheitsämter – meist
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2 Essen Lungenärzte – zwangsweise asyliert werden. Dort fielen un-
3 Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der ter gefängnisähnlichen Bedingungen und bei knapper Ver-
Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin pflegung die meisten Patienten in kurzer Zeit der TB zum
Opfer. Besonders unmenschlich war der Umgang mit Häft-
eingereicht 8.1.2018 lingen in den Konzentrationslagern, wo die Krankheit stark
akzeptiert nach Revision 11.1.2018 gehäuft auftrat. Tausende erlitten dort den vorzeitigen Tod
durch planmäßige Vernachlässigung bis hin zum Verhun-
Bibliografie gern, durch Missbrauch für medizinische Experimente,
DOI https://doi.org/10.1055/s-0044-100315 oder sie wurden schlichtweg ermordet. Im Vergleich zu
Pneumologie 2018; 72: 106–118 den Vorkriegszahlen stieg die TB-Sterblichkeit um 160 –
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York 240 % an. Mit Unterstützung der siegreichen alliierten
ISSN 0934-8387 Mächte wurde das TB-Kontrollsystem umstrukturiert und
die Institutionen wie DGP und DZK neu gegründet. In den
Korrespondenzadresse folgenden Jahren verbesserte sich die TB-Situation lang-
Prof Dr. Robert Loddenkemper, Hertastr. 3, 14169 Berlin sam, in der BRD zunächst etwas rascher als in der DDR.
[email protected] ABSTR AC T
Z US A M M E N FA SS U N G When the National Socialists came to power in 1933, a com-
Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, voll- plete paradigm shift took place in the health policy under
zog sich in der damaligen Gesundheitspolitik ein komplet- the principle “Public interest ahead of self-interest”. In the
ter Paradigmenwechsel unter dem Grundsatz „Gemeinnutz early years there was an intense discussion about whether
geht vor Eigennutz“. In den ersten Jahren gab es eine inten- tuberculosis (TB) is more caused by heredity or by infection.
sive Diskussion darüber, ob die Tuberkulose (TB) mehr Finally, the arguments of leading TB specialists were accep-
durch Erbanlagen oder durch Infektionen verursacht wird. ted that TB is predominantly an infectious disease. In 1939,
Schließlich wurden die Argumente von führenden TB-Spe- the year Germany started World War II, TB mortality was at
zialisten akzeptiert, dass TB überwiegend eine Infektions- its lowest, with only a few countries having lower rates. TB
krankheit ist. Im Jahr 1939, dem Jahr, in dem Deutschland mortality increased in all areas during the war, both in the
den Zweiten Weltkrieg begann, war die TB-Mortalität auf civilian population and in the Wehrmacht, as well as in pris-
dem niedrigsten Stand, nur wenige Länder hatten niedri- oners of war, foreign forced laborers and concentration
gere Raten. Die TB-Mortalität nahm während des Krieges camps. Incapable TB patients were considered biological
in allen Bereichen zu, sowohl in der zivilen Bevölkerung als and social “ballast”. They were worthless for the “national
auch in der Wehrmacht sowie bei Kriegsgefangenen, aus- community” and had to be socially excluded. Thus one
ländischen Zwangsarbeitern und in den Konzentrations- could refuse them the “marriage loan” introduced in the
lagern. Arbeitsunfähige TB-Kranke galten als biologischer summer 1933, forbid starting from 1935 also the marriage.
und sozialer „Ballast“. Sie waren für die „Volksgemein- From 1938 on, TB-patients with open TB, who showed
schaft“ wertlos und mussten sozial ausgegrenzt werden. themselves unreasonable, could be compulsorily isolated
So konnte man ihnen das im Sommer 1933 eingeführte as “asocial” by public health physicians – mostly pulmonary
„Ehestandsdarlehen“ verweigern, ab 1935 auch das Heira- specialists. There, under prison conditions and with limited
ten untersagen. Ab 1938 konnten „Offentuberkulöse“, die food, most patients fell victim to TB in a short time. Espe-
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cially inhuman was the handling of prisoners in the concen- pared to pre-war levels. With the support of the victorious
tration camps, where the disease was very common. Thou- Allied powers, the TB control system was restructured and
sands of people were killed prematurely through deliberate the institutions such as DGP and DZK were re-established.
neglect, starvation, abuse for medical experiments, or sim- In the following years, the TB situation improved slowly, in
ply murdered. TB mortality increased by 160 – 240 % com- the FRG initially slightly faster than in the GDR.
Einleitung
Das Thema „Medizin in der Zeit des Nationalsozialismus (NS)“
fand sich viele Jahrzehnte lang weder auf der Agenda der Politik
noch auf der der Geschichtsschreibung. Zwar hatten Alexander
Mitscherlich und Fred Mielke 1947 noch während des Nürnber-
ger Ärzteprozesses auf der Basis der Akten des Alliierten Ge-
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richtshofes ihre Dokumentation „Medizin ohne Menschlich-
keit“ (▶ Abb. 1), (ursprünglicher Titel: „Diktat der Menschen-
verachtung“) vorgelegt [1]. Doch danach schwand das öffent-
liche Interesse an dem Thema. Auch mangelte es bis in die
1980er Jahre hinein an systematischen, wissenschaftlich fun-
dierten Recherchen.
Verdrängung und Verleugnung wurden zur Maxime im Um-
gang mit der eigenen Geschichte. Um sich reinzuwaschen, rich-
tete man den Blick verklärend in die Vergangenheit, schönte
Biografien und „entbräunte“ Bücherneuauflagen. Ein weiteres
und gängiges Mittel zur eigenen Rehabilitierung war die Ein-
engung des Täterkreises auf einige wenige, am besten bereits
verurteilte Schuldige. Auch die Geschichte der Lungenheil-
kunde und ihre Verflechtungen im Nationalsozialismus blieben
lange Zeit im Dunkeln. Erstmals 2010 – aus Anlass ihres 100-
jährigen Bestehens – ging die Deutsche Gesellschaft für Pneu-
mologie und Beatmungsmedizin (DGP) in ihrer Jubiläumsschrift
auf die Beteiligung der damaligen „Deutschen Tuberkulose Ge-
sellschaft“ (DTG) und anderer pneumologischer Institutionen in
der NS-Zeit ein [2]. Im Vorstand der DGP jedoch war man sich
einig darüber, dass die Auseinandersetzung mit der NS-Thema-
tik vertieft werden müsste. Eine Arbeitsgruppe „Lungenheil-
kunde im Nationalsozialismus“ wurde damit beauftragt, die
wichtigsten Aspekte dieser Jahre im zeitgeschichtlichen Kon-
text zu beleuchten und die Kontinuität von Personen und Insti-
tutionen in der Lungenheilkunde zu klären.
Die Geschichte der Lungenheilkunde war lange Zeit gleich-
bedeutend mit der Geschichte der Tuberkulose (TB), Pneumo-
logie war bis Mitte des 20. Jahrhunderts Phthisiologie. Zahlrei- ▶ Abb. 1 Alexander Mitscherlich; Fred Mielke: Medizin ohne
che Zeitschriften, Bücher und Fachorganisationen führten die Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses,
Tuberkulose in ihrem Namen. So auch die heutige DGP, die Frankfurt a. M. 1985 (zuerst veröffentlicht unter dem Titel
1910 als „Vereinigung der Lungenheilanstaltsärzte“ gegründet, „Das Diktat der Menschenverachtung. Eine Dokumentation“ 1947).
[rerif]
von 1926 bis 1964 „Deutsche Tuberkulose-Gesellschaft“ (DTG)
hieß und bis 1990 die TB namentlich nie ganz ablegte. Die TB
hatte sich im 19. Jahrhundert im Gefolge der expandierenden
Industrialisierung mit all ihren sozialen Verwerfungen zur be- ganz ohne Erfolg. Doch mit der nationalsozialistischen Ideolo-
deutsamsten Volkskrankheit in Westeuropa entwickelt. Dem- gie von einem „gesunden Volkskörper“ und der „Verpflichtung
entsprechend stand der Kampf gegen die Volksseuche TB ganz zur Gesundheit“ wurde die TB mit dem Stempel der Asozialität
oben auf der Agenda der Gesundheitspolitik und der Medizin. versehen. Mit diesem pervertierten Konzept setzte die NS-
Weil es zu dieser Zeit noch kein wirksames Heilmittel gegen TB Gesundheitspolitik ihren Kampf gegen die TB um: Mit einem
gab, versuchte man bis ins 20. Jahrhundert hinein, der Krank- Katalog unmenschlicher Zwangsmaßnahmen, der mit Ehever-
heit mit den Mitteln der Prävention Herr zu werden – nicht bot und Zwangseinweisung begann, Zwangsasylierung und
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Originalarbeit
Zwangsarbeit propagierte, tödliche TB-Experimente an Men-
schen rechtfertigte und in der gezielten Tötung unheilbar kran-
ker TB-Patienten gipfelte ([3], siehe hier S. 7).
Die DPG-Arbeitsgruppe „Lungenheilkunde im Nationalsozia-
lismus“, die sich aus den oben genannten Autoren zusammen-
setzt, verstand ihren Auftrag nicht allein darin, den inzwischen
schon zahlreichen NS-Aufarbeitungen medizinischer Fachge-
sellschaften noch eine weitere hinzuzufügen. Vielmehr sollten
die teilweise nur graduellen Verschiebungen im „Tuberkulose-
Diskurs“ und dessen inhumane Realisierung durch die NS-Ge-
sundheitspolitik aufgezeigt werden. Denn was in der Weimarer
Republik nur theoretisch diskutiert wurde, setzten die Natio-
nalsozialisten rigoros in die Tat um. Wie aber wollte die NS-
Gesundheitspolitik den Kampf gegen die Tuberkulose gewin-
nen? Und mit welchen Maßnahmen ihre Ziele erreichen? Wie
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positionierten sich die Protagonisten der Lungenheilkunde
und ihrer Institutionen unter den veränderten Rahmenbedin-
gungen? Als Vorkämpfer, als Mitläufer oder „nur“ als schwei-
gende Masse? Und wie eng war die „Zweckbeziehung“ zwi-
▶ Abb. 2 „Salus publica suprema lex“ – Das Wohl des Volkes ist
schen dem NS-Regime und den Wortführern in Klinik und For-
oberstes Gesetz (aus: Rolf Griesbach: Die Tuberkulosebekämpfung,
schung? Auf diese Fragen versuchte die Arbeitsgruppe unter Leipzig 1941, Titelei). [rerif]
Mithilfe medizinhistorischer Experten Antworten zu finden.
Die gewonnenen Erkenntnisse sollen für zukünftige ideologi-
sche und ethische Umbrüche in der Medizin sensibilisieren und
an die Verantwortung der Ärzteschaft gemahnen. Im Diskurs (▶ Abb. 2) – wirkten sich für die TB-Kranken katastrophal aus.
und in enger Zusammenarbeit mit den Medizinhistorikern ist Die Umsetzung der NS-Doktrin in praktische Gesundheitspoli-
ein recht umfängliches Dokument zur Rolle der Lungenheilkun- tik vollzog sich stufenweise und nahm über die Jahre immer ra-
de und ihrer Verflechtung mit der NS-Gesundheitspolitik ent- dikalere Formen an [6]. Das im Sommer 1933 eingeführte „Ehe-
standen. Die Dokumentation wird in Bälde in Buchform [3] standsdarlehen“ konnte man u. a. auch TB-Kranken verweigern,
und als Wanderausstellung der interessierten Öffentlichkeit zu- ab 1935 dann auch das Heiraten untersagen. Ab 1938 konnten
gänglich gemacht. Der folgende Artikel fasst die wesentlichen „Offentuberkulöse“, wenn sie sich uneinsichtig zeigten, als
Erkenntnisse der Recherchen zusammen und soll zu vertiefen- „asoziale Bazillenstreuer“ zwangsweise asyliert werden. Das
dem Lesen anregen. Verfahren lief über die Amtsärzte der staatlichen Gesundheits-
ämter – in nicht wenigen Fällen waren es Lungenärzte. In den
einschlägigen Anstalten, in die diese Patienten verbracht wur-
Paradigmenwechsel in der Gesundheits- den, fielen die Kranken in kurzer Zeit der TB zum Opfer. Beson-
ders unmenschlich war der Umgang mit TB-kranken Häftlingen
politik in den Kriegsgefangenen- und Konzentrationslagern, wo die
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten kam Krankheit stark gehäuft auftrat. Tausende erlitten hier den vor-
es zu einem radikalen Umbruch in der ärztlichen Ethik: Gesund- zeitigen Tod durch planmäßige Vernachlässigung bis zum Ver-
heitsfürsorge sollte nicht mehr – wie seit Hippokratesʼ Zeiten – hungern, durch Missbrauch für medizinische Experimente,
der Behandlung des einzelnen Patienten dienen, sondern der oder sie wurden schlichtweg ermordet [7].
Gesunderhaltung des „deutschen Volkskörpers“. „Gemeinnutz Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts waren eugenische Be-
geht vor Eigennutz“, lautete eine gängige Parole des NS-Re- strebungen in vielen Ländern populär. Mit dem Machtantritt
gimes, die bereits im NSDAP-Programm der 1920er Jahre ent- der Nationalsozialisten gewann die Forschung auf diesem Ge-
halten war. Die Gesundheit des „Volkskörpers“ sei vorrangig, biet stark an Bedeutung. Die Frage nach der Vererbung be-
„Sonderwünsche der Einzelnen“ seien zweitrangig. Vom Ende stimmter Krankheiten geht zurück auf die Darwinʼsche Evolu-
der „Mitleidsmoral“ war die Rede [4]. Diesem Leitmotiv der tionstheorie, wonach jede Entwicklung durch natürliche Selek-
NS-Gesundheitspolitik stimmten auch führende Tuberkulose- tion bestimmt wird. Der englische Philosoph Herbert Spencer
ärzte zu [5]. Mehr noch, arbeitsunfähige TB-Kranke galten – hatte für diese Art der Selektion den Begriff vom „survival of
auch nach Meinung prominenter Vertreter der Lungenheilkun- the fittest“, dem Überleben der Tauglichsten, geprägt. Die Ver-
de – als biologischer und sozialer „Ballast“. Sie waren für die treter der Eugenik wollten die Fortpflanzung gesunder, leis-
„Volksgemeinschaft“ wertlos und mussten sozial ausgegrenzt tungsfähiger Menschen fördern und die vermeintlich minder-
werden. wertiger verhindern. In Deutschland wurde die Eugenik unter
Die Folgen des Paradigmenwechsels – vom Wohl des Kran- dem Begriff der „Rassenhygiene“ diskutiert, frühzeitig erhielt
ken als oberstem Gebot (Salus aegroti suprema lex) hin zum Pri- sie eine antisemitische Färbung. 1921 erschien mit dem sog.
mat des gesunden „Volkskörpers“ (Salus populi suprema lex) „Baur-Fischer-Lenz“, ein mehrbändiges, auch von Hitler rezi-
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Gleichschaltung und Zentralisierung
Nachdem der Reichstag dem Ermächtigungsgesetz vom
24. März 1933 mehrheitlich zugestimmt hatte – nur die SPD
stimmte geschlossen dagegen –, war Adolf Hitler die Macht
nicht mehr zu entreißen, für eine Umkehr war es zu spät. Inner-
halb von wenigen Wochen verwandelten die Nationalsozialisten
die instabile Weimarer Republik in eine Diktatur – mit Terror
gegen Andersgesinnte, Eliminierung politischer Gegner und
Verfolgung von Menschen jüdischer Abstammung. Alle öffent-
lichen und privaten Institutionen wurden in kürzester Zeit
gleichgeschaltet und zentralisiert, Universitäten und Akade-
mien ebenso wie politische, soziale und wirtschaftliche Einrich-
tungen oder Vereinigungen. Die heute gelegentlich kritisierte
föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland, von den
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Vätern des Grundgesetzes in weiser Voraussicht unverrückbar
festgeschrieben, ist eine der Lehren aus dieser unseligen Zeit.
Für die „Gleichschaltung“ der Ärzteschaft benötigten die
Nationalsozialisten nicht einmal ein Vierteljahr. Mit dem Ver-
sprechen, lang gehegte Wünsche der Ärzte zu erfüllen, insbe-
sondere ihnen die Unabhängigkeit gegenüber den Krankenkas-
sen zu verschaffen und die Stellung im Staat zu gewähren, auf
die sie Anspruch zu haben glaubten, war die Ärzteschaft gekö-
dert worden. Widerstand gegen die De facto-Entmachtung
regte sich in der institutionalisierten deutschen Ärzteschaft
nicht. Im Gegenteil: Am 21. März 1933, direkt nach dem „Tag
von Potsdam“, an dem der Reichspräsident Paul von Hinden-
burg Hitler mit dem Amt des Reichskanzlers betraut hatte,
sandte Geheimrat Dr. Alfons Stauder, der Vorsitzende der ärzt-
lichen Spitzenverbände, Hitler das folgende „Ergebenheits-
Telegramm“: „Die ärztlichen Spitzenverbände Deutschlands,
▶ Abb. 3 Das Standardwerk „Grundriß der menschlichen Erblich- Ärztevereinsbund und Verband der Ärzte Deutschlands, begrü-
keitslehre und Rassenhygiene“ von Erwin Baur, Eugen Fischer und ßen freudigst den entschlossenen Willen der Reichsregierung
Fritz Lenz (2. Auflage von 1923). [rerif] der nationalen Erhebung, eine wahre Volksgemeinschaft aller
Stände, Berufe und Klassen aufzubauen, und stellen sich freu-
digst in den Dienst dieser großen vaterländischen Aufgabe mit
piertes, Standardwerk zur Rassenhygiene (▶ Abb. 3) [8]. Vieles dem Gelöbnis treuester Pflichterfüllung als Diener der Volksge-
von dem, was darin theoretisch erörtert wurde, setzten die sundheit.“ [11].
Nationalsozialisten nach der Machtübernahme in die Tat um: 1935 stellten die Nationalsozialisten die lang ersehnte „Ein-
den Ausschluss „Fremdrassiger“, die Zwangssterilisation, euge- heit der Ärzteschaft“ mit der Reichsärzteordnung her, wenn
nisch motiviertes Eheverbot sowie Abtreibung und Ermordung auch auf ihre Weise und anders als erhofft: Alle Ärzte, bis auf
Behinderter oder unheilbar Kranker ([3], siehe hier S. 46, S. 51). die der Wehrmacht, wurden in der „Reichsärztekammer“ orga-
Vor diesem Hintergrund wuchs auch das Interesse an der nisiert, der Deutsche Ärztevereinsbund und der Hartmannbund
Rolle des Erbfaktors bei der Entstehung der TB. Wichtigste Ver- wurden aufgelöst. Chef der Reichsärztekammer wurde der
treter der These einer genetischen Disposition bei der TB waren „Reichsärzteführer“, von Hitler persönlich berufen – zunächst
der Berliner Tuberkulosearzt Karl Diehl und der Genetiker Ot- 1935 Gerhard Wagner und nach dessen Tod 1939 Leonardo
mar von Verschuer. Aufgrund ihrer Zwillingsforschungen gin- Conti. Der Reichsärzteführer wiederum ernannte die Funktio-
gen sie von der Erblichkeit des Leidens aus, hielten eine „hohe näre der regionalen Ärztekammern. Von Wahlen war keine
Bedeutung des Erbes bei der Entstehung und dem Ablauf der Rede mehr, der „Reichsärztetag“ trat bis 1945 nicht ein einzi-
Tuberkulose“ für „erwiesen“ und plädierten dafür, die freiwilli- ges Mal zusammen. Ärztevereinigungen – gleich ob sie berufs-
ge Sterilisierung von TB-Kranken zu legalisieren [7, 9]. Mit ihrer politische, wirtschaftliche oder wissenschaftliche Ziele verfolg-
These fanden Diehl und von Verschuer viele Befürworter, auch ten – mussten von der Reichsärztekammer genehmigt werden.
bei TB-Experten. Der erste Präsident der DTG nach dem Zwei- Auch das Deutsche Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tu-
ten Weltkrieg und langjährige Generalsekretär des DZK, Franz berkulose (DZK), die große TB-Institution, wurde „gleichge-
Ickert, forderte darüber hinaus sogar die Sterilisation von Kran- schaltet“ und bereits 1933 in den „Reichs-Tuberkulose-Aus-
ken mit fortgeschrittener Tuberkulose und von „asozialen Of- schuß“ (RTA) überführt. Im Rückblick stellte der erste Nach-
fentuberkulösen“, wenn nötig auch zwangsweise [10]. kriegs-Generalsekretär des DZK, Franz Ickert (1883 – 1954), die
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Originalarbeit
Gleichschaltung des DZK als eine Maßnahme dar, die ihm auf-
gezwungen worden sei: „Anfang Mai 1933 musste das gesamte
Präsidium des Deutschen Zentralkomitees zurücktreten“ [12].
Hingegen deutete der erste Geschäftsbericht des RTA von
1933/34 den Rücktritt als ein „Bahnfreimachen“ für den „Neu-
bau der Tuberkulosebekämpfung in Deutschland“. Der RTA war
dem „Reichs-Tuberkulose Rat“ (RTR) unterstellt, der 1938
durch Zusammenschluss „aller obersten, mit der Tuberkulose-
bekämpfung befassten Reichsbehörden“ gebildet worden war.
Er wurde vom Reichsärzteführer Conti geleitet. Zu den Mitglie-
dern des RTR gehörten neben Vertretern des Reichsinnenminis-
teriums u. a. auch solche des „Oberkommandos der Wehr-
macht“ [2].
Die Deutsche Tuberkulose-Gesellschaft (DTG) profitierte
eher vom Prozess der Zentralisierung. Sie wurde zum Sammel-
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becken aller in der TB-Bekämpfung und TB-Forschung aktiven
Organisationen und Personen. Auf der Tuberkulose-Tagung
von 1933 begrüßte Hermann Braeuning in seiner Eröffnungs-
ansprache – für die Vereinigung der Tuberkuloseärzte und die
DTG – die „nationale Erhebung“ und eine „straffere Zusam-
menführung“ der Organisationen in der TB-Bekämpfung [13].
Die dort verabschiedete Satzung der DTG schrieb fest, dass
ihre Mitglieder zugleich Mitglieder im RTA wurden. Die DTG
blieb als alleinige Gesellschaft bestehen, nachdem sich die
„Vereinigung Deutscher Tuberkuloseärzte“, erst 1933 als
Zusammenschluss der Organisationen der Lungenheilstätten-
Ärzte und der Tuberkulosefürsorgeärzte entstanden, 1937 auf-
gelöst hatte ([3], siehe hier S. 216).
Rassenideologie und Judenverfolgung
„Der Jude ist wohl Rasse, aber nicht Mensch. Er kann gar nicht
Mensch im Sinn des Ebenbild[es] Gottes, des Ewigen sein. Der
Jude ist Ebenbild des Teufels. Das Judentum bedeutet Rasse-Tu-
berkulose der Völker“. Bereits 1923 benutzte Adolf Hitler das
Sprachbild vom Judentum als der „Rassetuberkulose der Völ- ▶ Abb. 4 „Noch 46,8 v.H. der Kassen-Ärzte sind Juden. Der jüdische
Anteil an den freien Berufen.“ (aus: Neues Volk 1934 (2) Nr. 12,
ker“ – wie hier in einer Rede bei einer NSDAP-Versammlung in
S. 33). [rerif]
München – und: „Ihn bekämpfen heißt ihn entfernen“ [14]: In
der Metapher von der Rassentuberkulose war die spätere Ju-
denverfolgung bereits angelegt. Schon in der Weimarer Repu-
blik zeigten sich zunehmende antisemitische Tendenzen, auch schaftlern aus den Universitäten und auch der Entlassung jüdi-
an den deutschen Universitäten. Die antijüdische Agitation scher Ärzte aus dem öffentlichen Gesundheitsdienst – war der
ging meist von der Studentenschaft aus, die mehrheitlich ei- erste Schritt getan auf dem Weg der Entrechtung der jüdischen
nem deutschnationalen, völkischen oder auch schon national- Bevölkerung und der jüdischen Ärzte. Der dahinter stehende
sozialistischen Gedankengut anhing. Besonders Medizinstu- Antisemitismus war weniger religiös als vielmehr völkisch-ras-
denten taten sich mit antisemitischen Aktionen hervor, darun- sistisch motiviert: Allein die „arische“ Abstammung und nicht
ter auch der spätere Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti etwa die Konversion zum Christentum bewahrte vor Verfol-
[6]. gung. Getaufte Juden galten diesem Denken nach gar als be-
Während Anfang der 1930er Jahre der Anteil der Deutschen sonders gefährlich, weil sie ihre wahre Abstammung zu ver-
jüdischen Glaubens an der Gesamtbevölkerung bei ca. 1 % lag, schleiern versucht hätten [15]. Ein grundsätzlicher Protest der
war der Anteil jüdischer Ärzte an der gesamten Ärzteschaft Ärzteschaft, der schon aus Gründen der Kollegialität ange-
mit ca. 15 % deutlich höher. Vor einer „Verjudung der Ärzte- bracht gewesen wäre, blieb aus.
schaft“ warnte die NS-Propaganda ( ▶ Abb. 4). Viele „arische“ Nach Umsetzung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des
Ärzte hießen die Ausgrenzung ihrer „nichtarischen“ Kollegen Berufsbeamtentums“ gingen die diskriminierenden Maßnah-
gut und unterstützten diese sogar. Mit dem „Gesetz zur Wie- men Schritt um Schritt weiter: Das Gesetz über die Aberken-
derherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 – nung der deutschen Staatsangehörigkeit vom Juli 1933 ermög-
die rechtliche Basis für den Ausschluss von jüdischen Wissen- lichte es, Deutschen, die sich im Ausland aufhielten, die Staats-
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bürgerschaft zu entziehen, „nichtarische“ Medizinstudenten
wurden von Prüfungen, Approbation und Promotion ausge-
schlossen, und im September 1938 verloren die noch etwa
3.300 in Deutschland verbliebenen jüdischen Ärzte ihre Bestal-
lung und damit ihre Existenzgrundlage. Dem größten Teil von
ihnen gelang es, sich bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs
ins Ausland zu retten. Allen anderen drohten Deportation,
Ghettoisierung und Ermordung in den Vernichtungslagern.
Nicht wenige wählten den Freitod [16].
Die politische Einstellung und der Einfluss wichtiger Vertre-
ter der DTG sowie ihre politischen Verstrickungen im Rahmen
der Judenverfolgung sind schwer zu beurteilen. Im Vorstand
der DTG wurde bereits 1933 in Eisenach, der während der
oben erwähnten Tagung der Vereinigung Deutscher Tuberku-
loseärzte tagte, der „Arierzwang“ als selbstverständlich voraus-
Heruntergeladen von: Deutsche Gesellschaft für Pneumologie. Urheberrechtlich geschützt.
gesetzt: „Die Durchführung des Arierzwanges für die Vor-
standsmitglieder ist in diesen Bestimmungen zwar nicht aus- ▶ Abb. 5 „Ausmerzung des Kranken und Schwachen in der Natur“:
drücklich enthalten, wird aber […] als selbstverständlich vo- NS-Propaganda in Schulbüchern. Das Bild soll darstellen, dass alles
rausgesetzt. Für die Mitglieder gilt der Arierzwang nicht“ [17]. Kranke und Schwache für die „Volksgemeinschaft“ wertlos und
genauso wie in der Natur auszumerzen ist (aus: Alfred Vogel, "Erb-
Auch „normale“ Mitglieder jüdischer Abstammung der DTG
lehre, Abstammungs- und Rassenkunde in bildlicher Darstellung",
wurden, so ist zu vermuten, ausgeschlossen. Genaue Zahlen Stuttgart 1938). [rerif]
lassen sich nicht ermitteln. Bei wenigen DTG-Mitgliedern konn-
ten die Einzelschicksale dokumentiert werden. Einigen gelang
die Flucht in die Emigration, andere begingen Suizid oder wur-
den deportiert und ermordet. Auf eine ungefähre Schätzung man ihm auch die Approbation, 3 Monate später starb er im
der aus der DTG ausgeschlossenen, jüdischen Lungenärzte Alter von 74 Jahren. Sowohl seine wissenschaftlichen Arbeiten
kann man kommen, wenn man die DTG-Mitgliederverzeich- als auch seine Therapieerfolge fanden in der NS-Zeit keine An-
nisse von 1932 und 1939 mit dem Reichs-Medizinal-Kalender erkennung, selbst sein Tod wurde in keiner deutschen Fachzeit-
(RMK) von 1937 abgleicht. Danach „verschwanden“ in diesen 7 schrift erwähnt. Sein wissenschaftliches Gedenken ist heute
Jahren mindestens 56 jüdische Ärzte aus der DTG-Mitglieder- verbunden mit dem Albert-Fraenkel-Preis, der seit 1957 von
liste. Indirekt lässt sich auch aus dem Protokoll der Mitglieder- der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie an deutschspra-
versammlung von 1939 auf einen abrupten Mitgliederschwund chige Wissenschaftler verliehen wird [21].
schließen, denn dort wurde für eine DTG-Mitgliedschaft auch
unterhalb der Leitungsebenen von Heilstätten und Fürsorge-
stellen geworben. Man wollte „den durch den Umbruch verur-
Eugenik und Euthanasie
sachten Rückgang in der Mitgliederzahl wieder gut […] ma- Was in der Weimarer Republik nur diskutiert wurde, setzten die
chen“ ([18], S. 376). Gründe für den Rückgang gerade zu die- Nationalsozialisten in die Tat um. Zunächst sollte die deutsche
sem Zeitpunkt werden nicht genannt und können nur gemut- Bevölkerung vom „Reichsministerium für Volksaufklärung und
maßt werden: Mit dem Approbationsentzug von 1938 war Propaganda“, das bereits kurz nach der Machtübernahme am
dem Großteil der jüdischen Ärzte die berufliche Betätigung ver- 13. März 1933 eingerichtet und Goebbels unterstellt worden
wehrt, eine Mitgliedschaft in einer Fachgesellschaft damit hin- war, von der Überlegenheit der arischen Rasse gegenüber an-
fällig oder auch explizit untersagt [19]. deren überzeugt werden. Alle Bevölkerungsschichten wurden
Auch prominente jüdische DTG-Mitglieder wurden Opfer der nach dem Konzept der „totalen völkischen Erziehung“ indoktri-
Verfolgung der NS-Rassenideologie, u. a. die Tuberkulosefor- niert und mit den nationalsozialistischen Vorstellungen von
scherin Prof. Dr. Lydia Rabinowitsch-Kempner aus Berlin und Rassenhygiene vertraut gemacht [22]. Alles Kranke und Schwa-
der Chefarzt des Tuberkulose-Krankenhaus Rohrbach, Prof. Dr. che war in den Augen der NS-Eugeniker für die „Volksgemein-
Albert Fraenkel. Lydia Rabinowitsch-Kempner hatte als Abtei- schaft“ nicht nur wertlos, sondern bedeutete „sozialen Ballast“.
lungsdirektorin am Städtischen Krankenhaus Moabit und For- Erbkranke würden zudem den gesunden „Volkskörper“ infizie-
schungsassistentin am Robert Koch-Institut u. a. die Trinkmilch ren und minderwertiges Erbgut weitergeben. Diese Ideologie
der Moabiter Molkereien untersucht und aufgrund des Nach- eines kruden Sozialdarwinismus wollte man im Volk verankern
weises von TB-Bakterien die staatlich verordnete Pasteurisie- und die Menschen auf dessen kommende konsequente Umset-
rung von Milch durchgesetzt (Moabiter Milchkrieg). 1933 zung vorbereiten. Schon die Schulkinder wurden von den NS-
musste sie aus der Redaktion der Zeitschrift für Tuberkulose Propagandisten mit dem Gift der Rassenideologie indoktriniert
ausscheiden. Wegen ihrer jüdischen Herkunft musste sie ihre (s. ▶ Abb. 5).
unbezahlte Nebentätigkeit am Robert Koch-Institut aufgeben
und wurde 1934 zwangspensioniert [20]. Albert Fraenkel
wurde 1933 zur Aufgabe aller Ämter gezwungen. 1938 entzog
Loddenkemper R et al. Die Lungenheilkunde und … Pneumologie 2018; 72: 106–118 111
Originalarbeit
Mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“
vom 14. Juli 1933 ( ▶ Abb. 6) wurde zunächst die zwangsweise
Sterilisation bei Geisteskrankheiten und bei schwerem Alkoho-
lismus verordnet [23]. Die TB zählte nicht dazu, die exogene
Natur der Krankheit war nur allzu offensichtlich. Wohl aber
auch, weil die schiere Dimension von geschätzt bis zu 400 000
Offentuberkulösen selbst fanatische NS-Gesundheitspolitiker
schreckte. An der Umsetzung des Gesetzes waren Ärzte in vie-
lerlei Weise und auf allen Ebenen beteiligt: als Antragsteller, als
Gutachter, als „Erbgesundheitsrichter“ und als Operateure bei
der Unfruchtbarmachung von 400 000 Opfern [24].
Der Übergang von der Zwangssterilisation zur Euthanasie lag
in der Logik der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“. Wäh-
rend erstere „lebensunwertem Leben“ vorbeugen sollte, hatte
letztere die Aufgabe, bereits existierende „Ballastexistenzen“
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zu beseitigen. Neben rassenhygienischen Vorstellungen spiel-
ten auch kriegswirtschaftliche Erwägungen bei der Begrün-
dung der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ eine Rolle.
Die „Euthanasie“-Aktionen sollten möglichst stillschweigend
ablaufen und zeitgleich mit dem Überfall der Wehrmacht auf
Polen beginnen. Hitler selbst erteilte mit einem auf den 1. Sep-
tember 1939, den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatierten
Schreiben den Befehl zum Einsatz: „Reichsleiter Bouhler und
Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Be-
fugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, ▶ Abb. 6 „Wir stehen nicht allein“. Das Gesetz zur Verhütung erb-
kranken Nachwuchses v. 14.7.1933, links: „In diesen Ländern be-
dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kri-
stehen ähnliche Gesetze“, unten: „Folgende Länder erwägen ähnli-
tischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod chen Schutz“ (aus: Neues Volk 1936 (4) Nr. 3, S. 37). [rerif]
gewährt werden kann.“ [25].
Die erste Phase der „Euthanasie“, die sog. „T4-Aktion“, wur-
de Hitlers Befehl gemäß von seinem Kanzleichef Philipp Bouhler
und seinem Leibarzt Karl Brandt planmäßig vorbereitet und Da die Aktion „Kinder-Euthanasie“ relativ geräuschlos ablief
zentral gesteuert. Zunächst wurden im Sommer 1940 alle in- und in der Bevölkerung kaum Protest laut wurde, begann man
frage kommenden Heil- und Pflegeanstalten Deutschlands ver- im Januar 1940 mit der Erwachsenen-„Euthanasie“. Die von den
pflichtet, für ihre Anstaltsinsassen einen Meldebogen auszufül- Gutachtern der Berliner Zentrale in der Tiergartenstraße selek-
len und an die Berliner Zentrale, die in der Tiergartenstraße 4 tierten Insassen der Heil- und Pflegeanstalten wurden zunächst
(„T4“) angesiedelt war, zu senden. Der einseitige Meldebogen in sog. „Zwischenanstalten“ gebracht, bevor sie nach einem
enthielt lediglich eine knappe Schilderung des Krankheitsver- ausgeklügelten Zeitplan in die eigentliche Tötungsanstalt
laufs. 40 Psychiater begutachteten auf der Grundlage dieser transportiert wurden. In den 6 mit Gaskammern ausgestatte-
Meldebögen die Prognose der Patienten und entschieden über ten Tötungsanstalten wurden die Opfer noch am selben Tag
Leben oder Tod, indem sie ein rotes „ + “ oder ein blaues „−“ in umgebracht, meist mit Kohlenmonoxyd. Mehr als 70 000 Men-
ein Kästchen am linken unteren Rand eintrugen: − bedeutete schen starben zwischen Januar 1940 und August 1941 in den
Leben, + bedeutete Tod. Als Gutachter dienten sich willfährige dortigen Gaskammern. Unter den Opfern befanden sich auch
Mediziner an [26]. Patienten mit TB, die in den damaligen „Irrenanstalten“ weit
Begonnen wurde Ende 1939 mit der Ermordung von Kin- verbreitet war. Die TB war jedoch kein Selektionskriterium im
dern. Dazu richtete man zunächst „Kinderfachabteilungen“ in Sinne des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“
Heil- und Pflegeanstalten und in Kinderkrankenhäusern ein. [27].
Mindestens 5000 geistig und/oder körperlich behinderte Säug- Widerspruch oder Gegenwehr seitens der Ärzte regte sich
linge und Kinder wurden dorthin verbracht und getötet, zu- kaum. Nur vereinzelt gab es mutige Ärzte, die Patienten das Le-
meist nach dem „Luminal-Schema“: Dabei mengte man dem ben retteten oder sich weigerten, „beim Mordgeschäft mitzu-
Essen der Kinder hohe Dosen des Barbiturats bei. Dies führte machen“ [26]. Erst aufgrund des öffentlichen Protestes des Bi-
zwar nicht zum sofortigen Tod, schwächte aber die Abwehr- schofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, der von
kräfte, trübte das Bewusstsein und führte zu Aspiration. Unter- der Kanzel herab gegen die Tötung „lebensunwerten Lebens“
ernährung und pflegerische Vernachlässigung taten ein Übri- predigte und die Bevölkerung aufrüttelte, stoppte Hitler im Au-
ges. Kam dann noch eine Infektion dazu, wie Typhus oder TB, gust 1941 die „Aktion T4“ [28]. Die „Kinder-Euthanasie“ wurde
war der geschwächte Organismus wehrlos. Das Ziel, „lebensun- jedoch bis 1945 fortgesetzt. Die „Euthanasie-Experten“ aus den
wertes Leben“ zu beseitigen, wurde so auf scheinbar natürliche 6 Tötungsanstalten der „Aktion T4“ – ein von SS-Ärzten geleite-
Weise erreicht [27]. tes, „eingespieltes Team“ mit Fahrern, Krankenschwestern und
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Pflegern, „Ofenbauern“ und Technikern – wurden in die okku- über „Ursache, Art, Ansteckungsquelle und Ausbreitung der
pierten Ostgebiete versetzt – zum Aufbau von Vernichtungs- Krankheit“ beginnen. Sah sich der Amtsarzt dabei von „Unein-
lagern, freilich in einem noch viel größeren Umfang [29]. sichtigkeit sowie offenem oder verstecktem Widerstreben der
Auch mit Hitlers Befehl, die „Aktion T4“ offiziell einzustellen, Kranken“ behindert, konnte er die Zwangsasylierung anordnen
hatte das Morden kein Ende. Eine zweite Phase des Kranken- [32].
mordes wurde dezentral, unter der Regie der jeweiligen An- Bereits 1934 hatte das nationalsozialistische Regime in
staltsdirektoren und ohne direkte Anordnung „von oben“ Stadtroda nahe Jena eine Modellanstalt aufgebaut, in der als
durchgeführt („wilde Euthanasie“). Opfer waren Kranke mit asozial stigmatisierte Patienten unter gefängnisähnlichen Be-
körperlicher oder geistiger Behinderung, die von den Ärzten dingungen eingesperrt waren. Die Fenster der Anstalt waren
selektiert worden waren. Darüber hinaus wurde insbesondere vergittert, es gab bewaffnete Wärter und bei Verstößen gegen
in den Konzentrationslagern die „Aktion 14f13“, die „Invaliden- die strikte Hausdisziplin hatten Patienten mit Einzelhaft und
oder Häftlings-Euthanasie“, umgesetzt, benannt nach dem Ak- Nahrungsentzug zu rechnen. Die dort eingesperrten Patienten
tenzeichen „14f13“. Die „13“ stand für die Todesart – „Verga- wurden sehr schnell Opfer einer gezielten Politik der Vernach-
sung“. Dafür wurden die Einrichtungen der T4-Tötungsanstal- lässigung, die den Tod der Patienten zumindest billigend in
ten genutzt ([3], siehe hier S. 164). Kauf nahm [7]. Die Verlegung in die Anstalt Stadtroda wurde
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Eine weit umfassendere Mordaktion ab 1943 war die „Aktion als „endgültig“ angesehen, wie von Wilhelm Roloff, Oberarzt
Brandt“, benannt nach Hitlers Leibarzt [24]. Die Tötung erfolg- im Landeskrankenhaus Treuenbrietzen in Brandenburg, 1936
te durch Giftinjektionen und systematische Vernachlässigung formuliert ([3], siehe hier S. 135). Er deutete damit an, dass die
der Kranken. Auch viele TB-Patienten waren unter den Opfern. Patienten dort zum Sterben bestimmt waren. Als Folge der ab-
Anlass war der steigende Bedarf an Bettenkapazitäten für ver- sichtlichen Unterversorgung verdoppelte sich innerhalb weni-
wundete Soldaten; angesichts der zunehmenden Verknappung ger Jahre die Zahl der Todesfälle in Stadtroda [33].
der Lebensmittel im Verlauf des Krieges war die Beseitigung Die im Dezember 1938 verabschiedete „Verordnung zur Be-
„unnützer Esser“ ein von vielen akzeptiertes Argument. Da die kämpfung übertragbarer Krankheiten“ schaffte dann die recht-
„Aktion Brandt“ dezentral organisiert war, sind Opferzahlen liche Grundlage für den Bau weiterer Sonderanstalten. 18 An-
schwer zu ermitteln. Nachweislich wurden mindestens 260 000 stalten dieser Art wurden bis 1942 nach dem Modell Stadtroda
Menschen getötet. Auch ungezählte TB-Kranke befanden sich errichtet. Damit waren die Forderungen nach Absonderung,
darunter. Als für den „Volkskörper Wertlose“ fanden sie einen wie sie seit Jahren von prominenten Tuberkuloseärzten wie Joa-
langsamen, qualvollen Tod [30]. Aufgrund der Systematik der chim Hein, dem Chefarzt des TB-Krankenhauses Tönsheide und
„Euthanasie“-Aktionen muss davon ausgegangen werden, dass späteren DTG-Präsidenten (1951), und von Julius Kayser-Peter-
Lungenärzte in vielerlei Funktionen beteiligt waren und zu Mit- sen, dem Gründungsmitglied und Generalsekretär der DTG
tätern wurden. (1925 – 1945), erhoben wurden, erfüllt und wurden Teil der
NS-Gesundheitspolitik im Kampf gegen die TB [34]. Damit setz-
te ein Prozess der Zwangsasylierung und Tötung von TB -Kran-
Zwangsasylierung und Tötung TB-Kranker ken ein, dessen Ausmaß bis heute nicht beziffert werden kann.
In der NS-Zeit galten TB-Kranke in erster Linie als Ansteckungs- Die Zahl der Opfer geht sicher in die Tausende. Auf allen Ebe-
quelle und nicht als kranke Individuen. Wenn sie sich der Be- nen wusste man oder ahnte man zumindest, was die kranken
handlung durch die Ärzte und/oder der Kontrolle durch die Menschen in den Sonderanstalten erwartete: vom Lungenarzt,
Gesundheitsämter entzogen, somit nach NS-Lesart durch ihr der die Meldung erstattete, über den Amtsarzt im Gesundheits-
„asoziales“ Verhalten die deutsche Gesellschaft gesundheitlich amt, der die Begutachtung vornahm, bis hin zum Anstaltsarzt,
gefährdeten, mussten sie mit Zwangsmaßnahmen rechnen. der die zwangsasylierten Patienten betreute. Von Stufe zu Stufe
Darüber herrschte bei allen Organisationen, die mit der TB-Be- wuchs die Verantwortung und damit auch die Schuld der Betei-
kämpfung zu tun hatten, Konsens. Auch Vertreter der DTG ligten. Denn für jeden Arzt gab es einen gewissen Ermessens-
stimmten dem zu, teilweise drängten sie geradezu auf rasche und Handlungsspielraum – das wissen wir aus Einzelberichten.
gesetzliche Regelungen. Insbesondere forderten sie eine ge- Aber nur wenige nutzten ihn zugunsten ihrer Patienten.
setzliche Grundlage für die Zwangsasylierung „asozialer Offen- Menschlichkeit und ärztliches Ethos blieben zumeist auf der
tuberkulöser“ [7]. Strecke [7, 34].
Voraussetzung für eine effektive Umsetzung einer solchen Der „Reichs-Tuberkulose-Ausschuß“ hatte im Januar 1943
zwangsweisen Verbringung von TB-Kranken in Anstalten war mit den „Richtlinien für die Absonderung der Offentuberkulö-
deren lückenlose Erfassung und damit die Meldepflicht für TB. sen“ den Ärzten Entscheidungshilfen an die Hand gegeben. Da-
Mit der „Verordnung zur Bekämpfung übertragbarer Krankhei- nach sollten die TB-Kranken nach 2 Kriterien beurteilt und ent-
ten“ hob der Gesetzgeber am 1. Dezember 1938 das ärztliche sprechend behandelt werden: nach ihrer Arbeitsfähigkeit und
Verschwiegenheitsgebot für die Tuberkulose auf [31]. Inner- nach ihrem Verhalten gegenüber der Gesellschaft. Bei „sozial
halb von 24 Stunden hatten nicht nur Ärzte, Pflegepersonal gutartigen, heilfähigen Tuberkulösen ist Heilung anzustreben“,
und Fürsorgestellen, sondern auch das private Umfeld der Er- dagegen seien bei „Gemeinschaftsunfähigen […] „alle Maßnah-
krankten Meldung an das staatliche Gesundheitsamt zu erstat- men zu unterlassen, die den schicksalsmäßigen Ablauf der Tu-
ten. Das staatliche Gesundheitsamt seinerseits musste umge- berkulose aufhalten können“ [35]. So wurden die staatlichen
hend die örtliche Polizei verständigen und mit Ermittlungen Sonderanstalten, deren Aufbau die Landesversicherungsanstal-
Loddenkemper R et al. Die Lungenheilkunde und … Pneumologie 2018; 72: 106–118 113
Originalarbeit
ten finanzierten, auch zu Orten des Patientenmords: Durch ge- 1939 und 1945 wurden hier zehntausende TB-kranker Polen
zielte Vernachlässigung und Unterversorgung mit Nahrungs- getötet oder durch Vernachlässigung und Mangelernährung
mitteln wurde der Tod von arbeitsunfähigen Offentuberkulösen ums Leben gebracht ([40], S. 91f.). Der Reichsstatthalter des
billigend in Kauf genommen. Vereinzelt gingen Anstalten dazu Warthegaus, Arthur Greiser, ergriff sogar eine erste Initiative
über, TB-Kranke durch Überdosierung von Medikamenten wie zur „Ausrottung“ der geschätzten 35 000 offentuberkulösen
Luminal oder Morphium zu töten („aktive Euthanasie“), das all- Polen aus dem Warthegau, der nach NS-Plänen deutsches Sied-
gemein angewandte Verfahren war jedoch die „passive Eutha- lungsgebiet werden sollte. Der Plan wurde aus logistischen
nasie“, die indirekte Tötung von Patienten durch Vernachläs- Gründen fallen gelassen ([3], siehe hier S. 174 – 176).
sigung. Das Ausmaß dieser Aktion war beträchtlich: Von den
30 000 Menschen, die in den letzten Kriegsjahren in eine der
18 Sonderanstalten zwangseingewiesen wurden, verstarb bei- TB und Menschenversuche in
nahe jeder Zehnte an den Folgen der Haft ([3], siehe hier
S. 138). nationalsozialistischen Lagern
In das heimtückische System der Zwangsasylierung waren In der Zeit der NS-Diktatur existierten verschiedene Kategorien
nicht nur die Amtsärzte in den Gesundheitsämtern, sondern von Lagern: die KZ-Stammlager wie Dachau oder Buchenwald
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auch die ärztlichen Mitarbeiter der meist LVA-eigenen Heilan- (auf Reichsgebiet errichtet), die meist im besetzten Ausland
stalten eingebunden. Sie nutzten das System teilweise sogar betriebenen Vernichtungslager wie Auschwitz oder Treblinka,
für ihre eigenen Interessen, etwa indem sie missliebige Patien- ferner die KZ-Außenlager (in der Regel Rüstungsbetrieben an-
ten in die Sonderanstalten einwiesen oder ihnen mit der Ver- gegliedert), des Weiteren Arbeitserziehungslager, Jugend-Kon-
bringung in eben diese drohten [36]. Auch in den Führungseta- zentrationslager (zur Internierung widerständiger Kinder und
gen der Rentenversicherung wurde einem solchen Verhalten Jugendlicher), Ghettos, Kriegsgefangenenlager und „zivile“
kein Riegel vorgeschoben, vielmehr bestärkte man Ärzte und Zwangsarbeiterlager. Wenn auch die Lebensbedingungen in
Pflegepersonal teilweise noch in ihrem Handeln. So trugen den verschiedenen Lagern sich unterschiedlich (schlimm) ge-
auch die Landesversicherungsanstalten die Politik der „passiven stalteten, so war doch allen gemein, dass hier Menschen auf
Euthanasie“ mit ([3], siehe hier S. 137). Einige Ärzte und engstem Raum zusammengepfercht leben mussten und man-
Schwestern in LVA-eigenen Anstalten gingen noch einen Schritt gelernährt waren. Auch herrschten miserable hygienische Ver-
weiter und töteten von sich aus TB-Patienten, um Platz zu hältnisse ([3], siehe hier S. 86 – 89). So nimmt es nicht Wunder,
schaffen für vermeintlich „wertvolle“ Kranke. In der Heilstätte dass in allen Lagern Infektionskrankheiten grassierten.
Amsee bei Waren/Müritz tötete der Anstaltsarzt Werner Sick in In den NS-Konzentrationslagern zählte die TB zu den vor-
den letzten Kriegstagen 7 seiner Patientinnen durch die Verab- herrschenden Krankheiten. Von den etwa 6 Millionen Juden,
reichung einer hohen Dosis eines Narkotikums (Evipan) und 500 000 Sinti und Roma sowie anderen Minderheiten und poli-
rechtfertigte seine Handlungsweise vor Gericht damit, dass die tisch Verfolgten, die von den NS ermordet wurden, waren die
Kranken ohnehin bald gestorben wären und er sie nur vor der meist über unterschiedliche Zeiträume dort interniert. Schät-
drohenden Vergewaltigung durch Soldaten der heranrücken- zungsweise jeder zehnte Häftling war von der TB betroffen [7].
den Roten Armee habe bewahren wollen [37]. Der Nachkriegs- Zum Thema TB in Kriegsgefangenenlagern existieren nur weni-
prozess ging für den Arzt straffrei aus. ge Berichte, die Zahl der TB-Opfer muss aber gewaltig gewesen
Im Verlauf des immer länger währenden Krieges drohte das sein: Allein 5 Millionen sowjetische Soldaten gerieten zwischen
Gesundheitswesen zusammenzubrechen. Medizin und Gesund- 1941 und 1945 in Gefangenschaft, von ihnen starben in den La-
heitswesen waren darauf nicht vorbereitet. Durch die vermehr- gern 3,3 Millionen infolge Unterernährung, schwerer Zwangs-
ten alliierten Luftangriffe gestaltete sich die Krankenhausver- arbeit und Infektionskrankheiten wie Typhus, Fleckfieber und
sorgung im Reich immer schwieriger, viele Kliniken fielen dem TB [41].
Bombenkrieg zum Opfer und mussten evakuiert werden. Zahl- Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden in den Konzen-
reiche TB-Heilstätten wurden in Krankenhäuser, aber auch La- trationslagern zahlreiche Versuche an Häftlingen durchgeführt,
zarette umgewidmet. Die Wehrmacht hatte bereits in den ers- meist zur Erprobung neuer Heilmittel. Bei vielen Versuchen
ten beiden Kriegsjahren knapp 20 % aller Krankenhausbetten nahmen die Ärzte einen tödlichen Verlauf in Kauf, bei einigen
beschlagnahmt [30]. Wo immer möglich, versuchte man daher, war der Tod des Probanden sogar geplanter Teil des Experi-
TB-Betten frei zu machen, „Ballast abzuwerfen“ ([3], siehe hier ments [42]. Dokumentiert sind mehrere TB-Versuche: die The-
S. 53). So nahm der nationalsozialistische Kampf gegen die TB rapieversuche mit homöopathischen Präparaten gegen Lun-
zunehmend den Charakter eines Kampfs gegen TB-Kranke an. gen-TB im KZ Dachau, die TB-Experimente des niederländi-
Sog. „Barackenkrankenhäuser“ wurden eingerichtet, in denen schen Mediziners Gualtherus Zahn im KZ Sachsenhausen, die
man die Kranken in „Heilbare“ und „Unheilbare“ trennte. Die Heilversuche mit Kohlenruß des SS-Lagerarztes Waldemar Ho-
„Unheilbaren“ ließ man verhungern. Auch rund 400 TB-kranke ven im KZ Buchenwald und die brutalen Versuche an Kindern
Zwangsarbeiter wurden im Herbst 1944 in der Heil- und Pflege- durch den SS-Arzt Kurt Heißmeyer im KZ Neuengamme [40].
anstalt Hadamar, die im Rahmen der „T4-Aktion“ als Tötungs- Kurt Heißmeyer, Oberarzt an den Heilanstalten in Hohen-
anstalt betrieben worden war, durch Giftinjektionen ermordet lychen und DTG-Mitglied, ging es bei seinen Versuchen um die
[38, 39]. Außerhalb des Reichsterritoriums verlief der Kampf Frage, ob sich der Zustand von TB-Kranken durch gezieltes Set-
gegen die TB besonders radikal im besetzten Polen. Zwischen zen eines weiteren Tuberkuloseherdes auf der Haut günstig be-
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einflussen ließ. Für seine Experimente infizierte er zunächst 100
russische und serbische Kriegsgefangene mit lebenden TB-Bak-
terien, 10 von ihnen starben kurz darauf an TB. In einer zweiten
Versuchsreihe infizierte er im Januar 1945 in ähnlicher Weise 20
jüdische Kinder, die man extra zu diesem Zweck aus dem KZ
Auschwitz geholt hatte. Um die Wirkung seines Therapiever-
fahrens zu prüfen, entnahm Heißmeyer den geimpften Kindern
auch Lymphknoten zur histologischen Untersuchung. Als kurz
darauf die alliierten Truppen vor der Tür standen, vergrub er
die Versuchsunterlagen, um das Material später wissenschaft-
lich auswerten zu können [43]. Die Opfer der Versuche, 10
Mädchen und 10 Jungen im Alter von 5 bis 12 Jahren, die meis-
ten von ihnen aus Polen, wurden am 20. April 1945 im Keller des
KZ-Außenlagers Bullenhuser Damm zur Beseitigung von Spuren
erhängt, ihre Leichen im Krematorium des KZ Neuengamme
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verbrannt. Heißmeyer arbeitete nach dem Krieg bis 1963 unbe-
helligt als Lungenfacharzt in Magdeburg, bis ihm wegen Ver- ▶ Abb. 7 Otmar Freiherr von Verschuer bei der Messung von Lun-
genvolumina bei Zwillingen (Archiv der Max-Planck-Gesellschaft,
brechens gegen die Menschlichkeit der Prozess gemacht und Berlin-Dahlem). [rerif]
er zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt wurde [43].
Auch außerhalb der Konzentrationslager wurden Versuche
mit Impfstoffen durchgeführt. So fanden seit Ende 1941 in
Wien an der Universitäts-Kinderklinik unter Franz Hamburger Die Rolle der institutionalisierten
und Elmar Turk BCG-Impfungen an behinderten Kindern statt.
Ihnen fiel eine nicht bekannte Zahl von Kindern zum Opfer [44].
Lungenheilkunde
An der Charité-Kinderklinik in Berlin führte ihr Leiter, Georg TB war für die Lungenheilkunde das beherrschende Thema. Die
Bessau, Experimente mit einem noch unerprobten TB-Impfstoff beiden wichtigsten Institutionen der Lungenheilkunde in
an behinderten Kindern der Heil- und Pflegeanstalt Berlin-Wit- Deutschland waren das DZK und die DTG. Bereits 1933 war das
tenau durch. Die meisten Kinder erlitten schwere Folgeschäden DZK in den „Reichs-Tuberkulose-Ausschuß“ (RTA) überführt
der Impfung, mindestens 10 von ihnen starben [45]. worden, der RTA wiederum wurde seit dessen Gründung 1938
Zu militärmedizinischen Zwecken wurden in den Konzentra- dem „Reichs-Tuberkulose Rat“ (RTR) unterstellt. Als Präsident
tionslagern u. a. auch Untersuchungen an Häftlingen zur Ent- fungierte ab 1938 Otto Walter. Das Amt des Vizepräsidenten
wicklung von Giftgasen und zur Erforschung menschlicher Leis- und ersten Generalsekretärs bekleidete von 1941 bis 1945 Juli-
tungsgrenzen in Extremsituationen vorgenommen [46]. Letzte- us E. Kayser-Petersen (zugleich Geschäftsführer der DTG). Wei-
re wurden vom „Institut der Deutschen Versuchsanstalt für tere Protagonisten, die schon vor 1933 die Diskussion um die
Luftfahrt“ in Berlin koordiniert und im KZ Dachau ausgeführt. TB-Bekämpfung bestimmt hatten, waren u. a. die Lungenärzte
Es sollten Fallschirmabsprünge aus großer Höhe (zwischen 12 Ludolph Brauer und Hermann Braeuning sowie der Pathologe
und 21 km) simuliert werden. Den Experimenten an den Häft- Ludwig Aschoff. Unter den publizistisch wie politisch einfluss-
lingen waren risikoreiche Versuche an Studenten und Soldaten reichen TB-Experten sind der bereits genannte Julius Kayser-Pe-
in Unterdruckkammern an der Universität Gießen unter Leitung tersen, Kurt Klare, Hellmuth Ulrici, Rolf Griesbach, Franz Ickert
von Albert Johann Anthony, Lungenfacharzt und DTG-Mitglied, und Franz Redeker zu nennen. Die personellen Verflechtungen
vorausgegangen. Ab 1940 war Anthony als medizinischer Refe- zwischen dem DZK und der DTG, den beiden „big players“ in
rent der Heeressanitätsinspektion für die Weiterführung dieser der TB-Szene, waren mannigfaltig ([3], siehe hier S. 227). Ähn-
Forschungsvorhaben verantwortlich. Die Menschenversuche lich verhielt es sich mit den Verbindungen zwischen den Vertre-
wurden im Frühjahr 1942 im KZ Dachau von dem SS-Arzt Sig- tern der Lungenheilkunde und den Repräsentanten der NS-Ge-
mund Rascher vorgenommen. In einer mobilen Unterdruck- sundheitspolitik. Trotz Affinität zum Nationalsozialismus – auch
kammer testete er unter Extrembedingungen 180 bis 200 Häft- bei führenden TB-Ärzten – ließen sich doch Unterschiede in der
linge, durchwegs gesunde junge Männer. 70 von ihnen kamen politischen Einstellung wie im ärztlichen Ethos erkennen.
bei den Experimenten ums Leben. Der Erkenntnisgewinn dieser Ein deutlicher Dissens bestand in der Frage des Erbfaktors
grausamen Menschenversuche war gleich null. Rascher wurde bei der Entwicklung der TB. Die seit Anfang des 20. Jahrhun-
3 Tage vor der Befreiung des Lagers Dachau durch die Alliierten derts geführte Diskussion brach nun mit aller Heftigkeit erneut
auf Befehl Himmlers exekutiert [47]. auf. Wichtigste Vertreter der These einer weitgehend geneti-
schen Disposition zur TB waren Karl Diehl und Otmar von Ver-
schuer ( ▶ Abb. 7), die aufgrund ihrer Zwillingsforschungen von
der Heredität des Leidens ausgingen [48]. In einer 1933 veröf-
fentlichten Untersuchung an 106 Zwillingen fanden sie bei ein-
eiigen, also erbgleichen Zwillingen ein signifikant höheres TB-
Risiko als bei zweieiigen. Sie folgerten aus den Ergebnissen ih-
Loddenkemper R et al. Die Lungenheilkunde und … Pneumologie 2018; 72: 106–118 115
Originalarbeit
rer Studie, dass die TB eine Stellung zwischen den Erb- und den mit dem Wegducken aller Fachvertreter bei der sozialen Aus-
Infektionskrankheiten einnehme, und plädierten dafür, die frei- grenzung von TB-Kranken und der Beteiligung von Amtsärzten
willige Sterilisierung von TB-Kranken zu legalisieren [49]. Nicht an ihrer Zwangsasylierung und gipfelte in der aktiven Beteili-
wenige TB-Experten schlossen sich dieser Forderung an. Franz gung von Lungenärzten an der „passiven Euthanasie“ in Lun-
Ickert verlangte sogar, das „Gesetz zur Verhütung erbkranken genheilstätten. Die Frage nach der Schuld wurde nicht gestellt,
Nachwuchses“ auszuweiten: „Das Gesetz zur Verhütung erb- kaum einer der aktiv oder passiv Beteiligten zur Verantwortung
kranken Nachwuchses möchten wir daher ausgedehnt wissen gezogen: „Die meisten wurden nach dem Krieg in ihren Funk-
1. auf Personen mit fortgeschrittener und weiter fortschreiten- tionen bestätigt, einige machten sogar Karriere“ ([3], siehe
den Tuberkulose, 2. auf asoziale und antisoziale Offentuberku- hier S. 298). Franz Ickert, einer der strikten Befürworter der
löse, 3. auf beide Partner derjenigen Ehen, in denen beide Part- Asylierung von TB-Kranken, wurde 1948 Vorsitzender der wie-
ner klinisch tuberkulös sind.“ [10]. der begründeten DTG. Franz Redeker, 1933/34 Vorsitzender
Die Gegenposition vertrat Bruno Lange von der Seuchenab- der DTG, wurde 1953 Präsident des Bundesgesundheitsamtes
teilung des Robert Koch-Instituts. Er zog die Aussagekraft der und Julius Emil Kayser-Petersen, von 1940 bis 1945 General-
Zwillingsstudien von Diehl und von Verschuer aus methodi- sekretär und Vizepräsident des RTA und TB-Referent im Reichs-
schen Gründen in Zweifel [50]. Auch Franz Redeker, Vorsitzen- innenministerium, wurde 1953 von der DDR-Regierung mit
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der der DTG 1933/34, und der DTG-Geschäftsführer Kayser-Pe- dem Titel „Verdienter Arzt des Volkes“ geehrt ([3], siehe hier
tersen zogen mit methodenkritischen Argumenten gegen die S. 234).
Publikationen von Diehl und Verschuer zu Felde. Andere promi- Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am
nente Vertreter des Faches wie Rolf Griesbach waren in ihrem 8. Mai 1945 war der Krieg des verbrecherischen NS-Regimes
Urteil zwiespältiger. Während Griesbach 1933 noch eugenische gegen nahezu den Rest der Welt verloren gegangen. Auch der
Richtlinien einforderte, sprach er 1941 der Eugenik als Methode Kampf gegen die TB, den die NS-Gesundheitspolitiker mit aller
zur TB-Bekämpfung jede praktische Bedeutung ab. Letztlich staatlichen Gewalt und teilweise verbrecherischen Mitteln ge-
gewannen die Kritiker der Erblichkeitsthese im RTA an Gewicht führt hatten, war erfolglos geblieben: Ende des Zweiten Welt-
und die TB wurde in der NS-Gesundheitspolitik als Infektionslei- kriegs hatte sich die geschätzte TB-Sterblichkeit in Deutschland
den mit genetischer Disposition eingestuft. Damit wurde sie mit 100 – 150/100 000 Einwohner gegenüber den Vorkriegs-
von der NS-Gesundheitspolitik nicht rassenhygienisch verein- zahlen verdoppelt [51]. Die Siegermächte verfolgten bei der
nahmt und tauchte nicht auf der ominösen Liste der vererbba- politischen Neuorganisation Deutschlands die in Jalta beschlos-
ren Krankheiten auf wie die meisten psychiatrischen Erkrankun- sene Politik der Entnazifizierung, Demokratisierung, Demilitari-
gen. Demnach stellte die TB keine gesetzlich sanktionierte Indi- sierung und Dezentralisierung des Landes. Dazu zählte auch die
kation für eugenisch begründete Eingriffe wie Schwanger- Auflösung aller nichtstaatlichen Vereinigungen und Organisa-
schaftsabbruch, Sterilisation oder gar „aktive Euthanasie“ dar tionen, so auch der DTG und des RTA. Doch die Entnazifizierung
([3], hier siehe S. 90 f). wurde nur halbherzig umgesetzt, man brauchte angesichts der
Weniger eindeutig war die Position der institutionalisierten erschreckenden Zunahme der TB weiterhin die Expertise auf
wie der praktizierten Lungenheilkunde in einem anderen heiß diesem Gebiet. Alte Strukturen und Personen wurden reakti-
umstrittenen Thema, dem der Zwangsmaßnahmen gegenüber viert. So unternahm man Ende 1947 erste Schritte zur Wieder-
bestimmten TB-Kranken. Für viele Lungenärzte klang die von gründung der DTG, im März 1948 fand die erste Vorstands- und
den Nationalsozialisten angekündigte Disziplinierung von Pa- Beiratssitzung in Hannover statt. Altbekannte Namen aus der
tienten, die sich der Kontrolle, der Therapie oder der Aufnahme NS-Zeit tauchten wieder auf wie die von Ickert, Kayser-Petersen
in Heilstätten entzogen, durchaus attraktiv. Man machte sich und Redeker, aber auch der des Lungenarztes Rolf Griesbach
die Argumente der NS-Politik zu eigen, wonach arbeitsunfähige (seit 1933 Mitglied der NSDAP und von 1934 bis 1937 TB-Refe-
TB-Kranke für die „Volksgemeinschaft“ wertlos seien und als rent der SA) und des Hygienikers Karl-Wilhelm Jötten, an des-
„sozialer Ballast“ ausgegrenzt werden müssten. Man war ein- sen Institut in Münster rassenhygienische Forschungen an
verstanden damit, dass TB-Kranken das „Ehestandsdarlehen“ 4300 Kindern betrieben worden waren und der die Zwangsste-
verweigert und auch das Heiraten untersagt werden konnte. rilisation von „Minderwertigen“ befürwortet hatte ([3], S. 283).
Und man schwieg zum Prozess der Zwangsasylierung von TB- Das DZK wurde erst 1949 in Bad Neuenahr von den Gesund-
Kranken, die den Tod bedeuten konnte. Jeder Arzt wusste oder heitsministern der westdeutschen Länder wiedergegründet.
ahnte zumindest, was die zwangsasylierten Menschen erwarte- Ihr Präsident wurde Franz Redeker, ihr Generalsekretär Franz
te. Aber nur wenige folgten dem ärztlichen Ethos und ihrem Ickert – beide gefragte TB-Experten im „Dritten Reich“ [52].
Gewissen [26]. Die Repräsentanten der institutionalisierten
Lungenheilkunde schwiegen zu dem tausendfachen Mord ([3],
siehe hier S. 298).
Die Lehren aus der Vergangenheit
Mit der Verschärfung diskriminierender Maßnahmen durch Der in den letzten Jahren häufig zu hörenden Forderung, „die
die NS-Politik wuchs auch die Verstrickung von Akteuren der Vergangenheit doch endlich ruhen zu lassen“ und die kollektive
Lungenheilkunde in das System: Sie begann mit der kritiklosen Erinnerungsarbeit zu beenden, lässt sich mit Stefan Austs Wor-
Übernahme von rassenhygienischem Gedankengut durch Ver- ten entgegnen: „Ich glaube, dass es wieder passieren kann. Und
treter des RTA und einer überschwänglichen Begrüßung der ich glaube auch, dass wir uns deswegen so genau mit Hitler und
Hitlerregierung durch den DTG-Vorsitzenden, setzte sich fort dem Dritten Reich beschäftigen müssen, um uns klarzuma-
116 Loddenkemper R et al. Die Lungenheilkunde und … Pneumologie 2018; 72: 106–118
chen, unter welchen Umständen eine so fürchterliche Entwick-
Danksagung
lung möglich ist.“ [53] Die Erinnerung an den NS-Terror, die
millionenfache, systematische Ermordung von Menschen ins- Unser Dank gilt den Koautoren des Buchs „Die Lungenheilkun-
besondere jüdischer Abstammung, sollte uns mahnen, stets de im Nationalsozialismus. Berlin: Deutsche Gesellschaft für
aufmerksam zu sein, auch in unserem scheinbar gefestigten Pneumologie und Beatmungsmedizin e. V.; 2018“: Thomas
demokratischen System, um ethische Grenzüberschreitungen, Beddies, Patrick Bernhard, Florian Bruns, Johannes Donhauser,
auch in der Medizin, in ihren Anfängen rechtzeitig zu erkennen Astrid Ley, Udo Schagen, Sabine Schleiermacher und Peter
und gegenzusteuern. Steinkamp.
Die deutsche Ärzteschaft stellte sich erst spät dem Thema
der Verstrickung medizinischer Organisationen und Personen
Interessenkonflikt
in die Verbrechen des Nationalsozialismus: „Die Scham wird im-
mer bleiben“, bekannte 1987 der Präsident der Bundesärzte-
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
kammer, Karsten Vilmar, im Interview mit dem Deutschen
Ärzteblatt [54]. „Den Ärzten bleibe „vielleicht die Gnade des
Verzeihens, aber niemals das Vergessen“ [55]. Die übergroße Literatur
Heruntergeladen von: Deutsche Gesellschaft für Pneumologie. Urheberrechtlich geschützt.
Mehrheit der Ärzte habe zu zwangsweiser Sterilisierung, zehn-
tausendfachem Mord an Kranken und medizinischen Experi-
[1] Mitscherlich A, Mielke F. Wissenschaft ohne Menschlichkeit: medizi-
menten an Menschen geschwiegen oder sei einverstanden nische und eugenische Irrwege unter Diktatur, Bürokratie und Krieg.
gewesen, musste Jahre später auch Vilmars Nachfolger Jörg- Heidelberg: Schneider; 1949
Dietrich Hoppe gestehen, und das sei eine „unerträgliche Er- [2] Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V.,
kenntnis“ [55]. Es sei nicht nur Opportunismus gewesen, der Hrsg. 100 Jahre DGP – 100 Jahre deutsche Pneumologie. Berlin, Hei-
die Ärzte antrieb, oder Feigheit, die sie vom Widerstand abhielt. delberg: Springer; 2010
Vielfach sei es auch tiefe Überzeugung gewesen, die Ärzte zu [3] Loddenkemper R, Konietzko N, Seehausen V, Hrsg. (unter Mitarbeit
unethischem Handeln getrieben habe und schuldig werden von Bruns F und Ley A). Die Lungenheilkunde im Nationalsozialismus.
Berlin: Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedi-
ließ. Denn rassenhygienisches Gedankengut war in der Ärzte-
zin e.V; 2018
schaft – schon vor der NS-Zeit – tief verwurzelt. Kein Mediziner
[4] Baer G. Vorschläge zur Tuberkulosebekämpfung im neuen Deutsch-
sei jedoch gezwungen worden, sich an Krankentötungen zu be- land. Praktische Tuberkulose-Blätter 1933; 7: 145 – 150
teiligen. Mit diesem Eingeständnis brach die institutionalisierte
[5] Loddenkemper R. Die DGP im Licht der politischen Veränderungen.
Ärzteschaft auch mit dem lange gepflegten Mythos, nur einzel- In: Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin,
ne fanatische NS-Ärzte hätten medizinische Verbrechen began- Hrsg. 100 Jahre DGP – 100 Jahre deutsche Pneumologie. Berlin, Hei-
gen, die Politik habe der Medizin die Krankenmorde sozusagen delberg: Springer; 2010: 115 – 122
aufgezwungen [26]. [6] Bruns F. Medizinethik im Nationalsozialismus. Entwicklungen und
Welche Schlussfolgerungen können wir aus dem geschilder- Protagonisten in Berlin (1939–1945) Stuttgart: Steiner; 2009
ten Verlauf des unmenschlichen Kampfes der Nationalsozialis- [7] Ley A. Zwischen Erbleiden und Infektionskrankheit: Wahrnehmung
ten gegen die TB und der verhängnisvollen Verstrickung der und Umgang mit Tuberkulose im Nationalsozialismus. Pneumologie
2006; 60: 360 – 365 (hier S. 361)
Lungenärzte ziehen? Auf gesetzlicher, institutioneller und per-
[8] Baur E, Fischer E, Lenz F. Grundriß der menschlichen Erblehre und
soneller Ebene bildete sich aus einzelnen Schritten – Veröffent-
Rassenhygiene. München: J. F. Lehmanns; 1921
lichungen, Verordnungen, Maßnahmen – ein System der Aus-
[9] Kelting K. Das Tuberkuloseproblem im Nationalsozialismus (Disserta-
grenzung von TB-Kranken bis hin zu ihrer Ermordung. Dieses
tion). Kiel: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; 1974
System wurde nicht nur von Einzeltätern getragen. In dem Sin-
[10] Ickert F. Rassenhygiene und Tuberkulosebekämpfung. Beiträge zur
ne sind auch diejenigen schuldig geworden, die auf unter- Klinik der Tuberkulose und spezifischen Tuberkuloseforschung 1933;
schiedliche Weise mitgewirkt haben an dem, was den Verbre- 83: 660
chen selbst vorausging. Ein Resümee für nachfolgende Genera- [11] Jachertz N. NS Machtergreifung – Freudigst fügte sich die Ärzte-
tionen ist sicherlich die Mahnung und Aufforderung zugleich, schaft. Dtsch Ärztebl 2008; 105: A 622 – 624 hier A 622
dafür zu sorgen, dass sich die „Verbrechensgeschichte der Me- [12] Ickert F. Die Geschichte der Entwicklung des Deutschen Zentral-
dizin“ nicht wiederholt [56]. Der Historiker Heinrich August komitees zur Bekämpfung der Tuberkulose. In: Tuberkulose-Jahrbuch
Winkler formulierte es so: „Eine Schuld der Nachlebenden gibt 1950/51. Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer; 1952: 4 – 11
(hier S. 9]
es nicht. Aber aus der historischen Schuld ist eine bleibende
[13] Braeuning H. Eröffnungsansprache. Beiträge zur Klinik der Tuberku-
Verantwortung der Deutschen erwachsen: Sie müssen sich ih-
lose und spezifischen Tuberkulose-Forschung 1933; 83: 647 – 650
rer widerspruchsvollen Geschichte stellen und Folgerungen (hier S. 649)
aus dem ziehen, wohin diese Geschichte nach der Machtüber-
[14] Jäckel E, Kuhn A, Hrsg. Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924
tragung an Hitler geführt hat. ‚Die Würde des Menschen ist un- Stuttgart: DVA; 1980 (hier S. 918 [Dok-Nr. 524] und S. 159 [Dok.-Nr.
antastbar‘: So heißt es in Artikel 1 des Grundgesetzes aus dem 116])
Jahr 1949. Das war damals eine Antwort auf die Erfahrungen [15] Gruner W, Hrsg. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen
der NS-Zeit. Es gibt keine bessere Antwort.“ [57] Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945.
Band 1: Deutsches Reich 1933–1937. München: Oldenbourg; 2008:
(hier S. 550–552, S. 613)
Loddenkemper R et al. Die Lungenheilkunde und … Pneumologie 2018; 72: 106–118 117
Originalarbeit
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