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Holm Sundhaússen, Eliten in Südosteuropa

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Südosteuropa - Jahrbuch ∙ Band 29

(eBook - Digi20-Retro)

Wolfgang Höpken, Holm Sundhaussen (Hrsg.)

Eliten in Südosteuropa
Rolle, Kontinuitäten, Brüche
in Geschichte und Gegenwart

Verlag Otto Sagner München ∙ Berlin ∙ Washington D.C.

Digitalisiert im Rahmen der Kooperation mit dem DFG-Projekt „Digi20“


der Bayerischen Staatsbibliothek, München. OCR-Bearbeitung und Erstellung des eBooks durch
den Verlag Otto Sagner:

http://verlag.kubon-sagner.de

© bei Verlag Otto Sagner. Eine Verwertung oder Weitergabe der Texte und Abbildungen,
insbesondere durch Vervielfältigung, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlages
unzulässig.

«Verlag Otto Sagner» ist ein Imprint der Kubon &Wolfgang


Sagner GmbH.
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SUDOSTEUROPA-JAHRBUCH

Im Namen der Südosteuropa-Gesellschaft herausgegeben von


WALTER ALTHAMMER

29. Band

Eliten in Südosteuropa
Rolle, Kontinuitäten, Brüche
in Geschichte und Gegenwart

herausgegeben von
Wolfgang Höpken und Holm Sundhaussen

Südosteuropa-Gesellschaft
München 1998

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Eliten in S ü d o steu ro p a : Rolle, Kontinuitäten, Brüche in Geschichte


und Gegenwart / Südosteuropa-Gesellschaft, München. Hrsg. von
Wolfgang Höpken und Holm Sundhaussen. - München :
Südosteuropa-Ges., 1998
(Südosteuropa-Jahrbuch ; Bd. 29)
ISBN 3-925450-79-3

Redaktion dieses Bandes: Ulrich Büchsenschütz, Berlin

© 1998 by Südosteuropa-Gesellschaft e.V., München


Widenmayerstraße 49, 80538 München,
Telefon: 089/212154-0, Fax: 089/2289469
e-mail: [email protected]

Alle Rechte Vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise,


ist nur mit Genehmigung des Verlages gestattet.
Druck: Schoder Druck GmbH & Co. KG, 86368 Gersthofen

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Staatsbibliothek
Inhalt
Vorwort

Holm Sundhaiissen
Eliten, Bürgertum, politische Klasse?
Anmerkungen zu den Oberschichten in den Balkanländern
des 19. und 20. Jahrhunderts

Anton Sterbling
Elitenwandel in Südosteuropa:
Einige Bemerkungen aus elitentheoretischer Sicht

Fikret Adamr
Nicht-muslimische Eliten im Osmanischen Reich

Wolfgang Höpken
Zwischen Bürokratie und Bürgertum:
‫״‬Bürgerliche Berufe“ in Südosteuropa

Maria Georgieva
Unternehmer, Staat und Politik:
Zur Rolle der Wirtschaftselite in Bulgarien 1878-1941

Dubravka Stojanovic
Party Elites in Serbia 1903-1914:
Their Role, Style of Ruling, Way of Thinking

Anila Habibi
Politische Eliten und Klientelismus:
Albanien in der Zwischenkriegszeit

Fanny Papoulia
Bürgertum in Griechenland:
Bürgerliches Selbstverständnis in der Kontroverse - Die Diskurse
der Zwischenkriegszeit

Mihai Sorin Rädulescu


Die ‫״‬
überlebte“ Elite:
Rumänische Aristokratie in der Zwischenkriegszeit

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Irina Livezeanu
Nationalist Ideology and the Circulation of
Elites in Greater Romania 215

Mile Bjelajac
Militar> Elites - Continuity and Discontinuities:
The Case of Yugoslavia, 1918-1980 229

Rumen Dimitrov
Die bulgarische Elite:
Der brüchige Übergang von Intelligenzija zu Expertentum 243

Juliana Roth
Die Intelligenz als ‫״‬
verlorene Elite“:
Intellektuelle Diskursein Bulgarien 1990-1996 261

Nenad Zakošek
Elitenwandel in Kroatien 1989-1995 279

Anneli Ute Gabanyi


Neue Wirtschaftseliten in Rumänien:
Von der Nomenklatura zur Oligarchie 289

Csilla Machos
Eliten im postsozialistischen Ungarn 321

Verzeichnis der Autoren 351

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Vorwort

Die Geschichte Südosteuropas im 19. und 20. Jh. wurde entscheidend


geprägt durch die Staats- und Nationsbildungsprozesse, die damit ver-
bundene Ablösung der alten multiethnischen Imperien durch junge Na-
tionalstaaten und die völlige Umgestaltung der politischen Landkarte in
mehreren Schüben. Sie wurde ferner geprägt durch die tiefe - konflikt-
reich und widersprüchlich verlaufende -Transformation aller Bereiche
des öffentlichen und privaten Lebens im Anschluß an die jeweilige
Staatsbildung und die großen Erschütterungen, die auch die Geschichte
des übrigen Europa im 20. Jh. aufgewühlt haben: die beiden Weltkriege,
die Gegensätze zwischen den gesellschaftspolitischen Systemen und
Ideologien in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg
sowie der Kollaps der realsozialistischen Regime Ende der 80er Jahre. In
allen diesen Ein- und Umbrüchen haben die Eliten eine Schlüsselrolle
gespielt: im Kampf um die Neuverteilung politischer, ökonomischer und
kultureller Macht, in den Auseinandersetzungen um die Dekonstruktion,
Neukonstruktion oder Rekonstruktion von Tradition, in den Konflikten
über Ziele, Ausmaß und Tempo der Modernisierung, über Import und
Adaption neuer (westlicher) oder Bewahrung bzw. Ausbau überlieferter
(einheimischer) Institutionen und vieles andere mehr.
Je undifferenzierter die südosteuropäischen Gesellschaften zu Beginn
dieser säkularen Umgestaltungsprozesse waren und je schärfer sich das
Spannungsverhältnis zwischen dem Istzustand und den ‫״‬ Verheißungen“
der Zukunft gestalteten, desto größer war der Einfluß der Eliten. Die
Nicht-Eliten (also die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, die
häufig beschworenen und noch häufiger instrumentalisierten ‫״‬ Massen“)
wurden in die Rolle von Zuschauern, Leidtragenden, Objekten gedrängt.
Gesellschaft als nichtstaatliche, von Bürgern getragene Veranstaltung hat
es in Südosteuropa während des 19. und 20. Jh. allenfalls in Ansätzen

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2 Vorwort

gegeben. Der Aufbau einer Zivilgesellschaft ist daher zur großen und
späten Herausforderung der postsozialistischen Periode geworden.
Die Eliten waren lange Zeit die eigentlichen (und nahezu ausschließ-
liehen) Akteure der Umgestaltung in Südosteuropa, sie waren es, die Ge-
schichte auf dem Rücken der Nicht-Eliten machten, die Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft der Nation deuteten, die die Regeln für nationale
und schichtenspezifische Inklusion und Exklusion definierten, die be-
stimmten, wer Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen erhielt, wer
dazugehörte, wer draußenblieb, was richtig oder falsch war usw. Wer
waren diese Leute? Wie waren sie zu Macht und Einfluß gekommen? Wie
setzten sich die Eliten zusammen? Gab es typische Karriereverläufe? Wo-
her bezogen die Eliten ihre Leitbilder? Wie legitimierten sie sich und ihre
Macht? Wie erfüllten sie ihre Funktion und wie nahmen sie ihre Verant-
wortung wahr? Diese und viele andere Fragen gilt es zu klären.
Während zur Geschichte der Eliten in West- und Mitteleuropa bereits
eine umfangreiche Literatur existiert, steckt die Elitenforschung in
Südosteuropa noch in den Kinderschuhen. In den vormals sozialistischen
Ländern war die Eliten- ebenso wie die Modemisierungsforschung ideo-
logisch tabuisiert. Entsprechend groß war der Nachholbedarf nach 1989.
Die Beschäftigung mit den Eliten war (und ist) seither ‫״‬in“, die Geschichte
der Arbeiterbewegung (und ihrer ‫״‬ Avantgarde“) ‫״‬ out“. Das mag ungerecht
sein; gleichwohl ist es mehr als ein modischer Paradigmawechsel. Denn
wenn richtig ist, daß die Geschichte Südosteuropas im 19./20. Jh. nicht in
erster (auch nicht in zweiter) Linie von der Gesellschaft oder ihren Klas-
sen fortbewegt wurde, sondern von einzelnen, hinsichtlich Herkunft und
Habitus definierbaren Akteuren gesteuert wurde, dann ist es Zeit, das
wissenschaftliche Defizit in der Elitenforschung zu schließen. Oder zu-
mindest die Weichen dafür zu stellen.
Diesem Ziel diente die von der Südosteuropa-Gesellschaft in München
gemeinsam mit der Akademie für Politische Bildung in Tutzing ver-
anstaltete 37. Internationale Hochschulwoche, die vom 6. bis 10. Oktober
1997 in Tutzing bei München stattfand. Wissenschaftliche Vorbereitung
und Leitung der Tagung lagen bei den Herausgebern des vorliegenden
Bandes. In einer jahreszeitlich, landschaftlich und räumlich anregenden
Atmosphäre (bei spätsommerlichem Wetter, am Westufer des
Starnberger Sees, in den einladenden Tagungs- und Gasträumen der

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Vorwort 3

Akademie) kam es zu einem ebenso informativen wie anregenden Mei-


nungsaustausch über Geschichte, Funktion und Zuammensetzung der
Eliten im südöstlichen Teil unseres Kontinents: von A bis U, von Albanien
••

bis Ungarn. Altere und jüngere Wissenschaftler aus Deutschland und den
А-bis U-Staaten tauschten ihre Meinungen aus, diskutierten miteinander,
stritten sich und schlossen Freundschaften.
Viele haben zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen - in finan-
zieller, organisatorischer und wissenschaftlicher Hinsicht. Ihnen allen,
inbesondere den Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes, sei
an dieser Stelle - ohne Namensnennung im einzelnen - noch einmal
ausdrücklich gedankt. Herrn Ulrich Büchsenschütz (Berlin), der für die
redaktionelle und technische Überarbeitung der Manuskripte und die
Gestaltung des Layouts verantwortlich war, gilt ein spezieller Dank.

Berlin/Leipzig, November 1998 Die Herausgeber

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Eliten, Bürgertum, politische Klasse?


Anmerkungen zu den Oberschichten in den
Balkanländern des 19. und 20. Jahrhunderts

Holm Sundhaussen

Die Frage, was Eliten von Nichteliten unterscheidet, wird zwar im Detail
unterschiedlich beantwortet, doch besteht weitgehend Konsens darüber,
daß der Besitz von oder die Verfügungsmacht über gesellschaftliche Res-
sourcen ein wesentliches (wenn nicht das entscheidende) Kriterium für
die Identifizierung von (Positions- und/oder Funktions-)Eliten ist‘. Die
Ressourcen können vielfältiger Art sein: Es kann sich um materielle oder
immaterielle Ressourcen handeln. Wichtig ist, daß sie knapp, erstrebens-
wert und appropriierbar sind. Mittels dieser Eigenschaften - Knappheit,
Attraktivität sowie Aneignungs- oder Akkumulationsfähigkeit - lassen
sich im wesentlichen vier Bereiche der Verfügungsmacht unterscheiden:
die Wirtschaftsmacht, die Ordnungsmacht, die Deutungsmacht und Wis-
sen.
Der Besitz von oder die Verfügung über materielle Ressourcen war
stets ein herausragendes Merkmal von Macht. Die Akkumulation und
Redistribution des gesellschaftlichen Mehrwerts sowie die Kontrolle über
investiertes Kapital garantieren gesellschaftlichen Einfluß. Zur Ord-
nungsmacht gehören politische wie rechtssetzende oder rechtsinterpre-
tierende (exekutive und judikative) Kompetenzen; zur Deutungsmacht

1 Vgl. H offm ann-Iange, U rsula: Eliten, M acht u nd Konflikt in d er


B undesrepublik. O pladen 1992; Schluchter, Wolfgang: Der Elitebegriff als
soziologische Kategorie, in: Kölner Zeitschrift fü r Soziologie und
Sozialpsychologie 15 (1963), S. 2 3 3 -2 5 6 ; Sterbling, Anton: Eliten im
M odem isierungsprozeß: Ein T heoriebeitrag zur vergleichenden S tru k tu ran a-
lyse u n te r b eso n d erer Berücksichtigung grundlagentheoretischer Problem e.
H am burg 1987 (Diss.).

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6 H. Sundhaussen

zählen die frühere priesterliche Gewalt ebenso wie säkularisierte kollek-


tive Sinngebung, die Begründung von Interessen oder die Legitimierung
gesellschaftlicher Ziele. Daß Wissen Macht ist, gilt als Allgemeinplatz.
Gemeint ist hier das institutionalisierte, in Universitäten, Akademien etc.
akkumulierte Wissen (im Unterschied zur Deutungsmacht, die auch ohne
Professionalisierung erworben werden kann). Die Träger von Deutungs-
macht und Wissen, die Intellektuellen bzw. die kulturellen und techni-
sehen Eliten, ‫״‬ sind...Monopolbesitzer eines Wissens, das von der
Gesellschaft als transkontextuell gültig akzeptiert und von ihren Mitglie-
dem zur Orientierung benutzt wird“, wie Konrád und Szelényi fomuliert
haben2.
Allen vier Formen von Ressourcen ist gemeinsam, daß ihr ‫״‬ Kapital“ im
Bourdieuschen Sinn3 knapp ist oder knapp gehalten werden kann, daß es
akkumulierbar ist und daß der Zugang zu ihm verwehrt werden kann. Der
letzte Aspekt wird oft vernachlässigt, ist gleichwohl von grundlegender
Bedeutung. Denn die Etablierung von Verfügungsrechten geht stets Hand
in Hand mit der Durchsetzung von Ausschlußregeln. Besitzrechte und
Ausschlußstrategien gehören untrennbar zusammen, sobald eine
Gesellschaft das Stadium der Gütergemeinschaft überschritten hat.
Freilich gehören nicht alle, die in irgendeiner Form an der Verfü-
gungsgewalt über Ressourcen partizipieren (z.B. als Vollstrecker), zu den
Eliten. Zu letzteren zählen nur jene Personen, ‫״‬ deren Handlungsvollzüge,
Realitätsdeutungen und Entscheidungen auf Grund besonderer, in der
Regel privilegierter Handlungschancen für größere Personenkreise und
Referenzgruppen meinungsbildend, handlungsrelevant oder mittelbar
lebenssituationsverändemd sind“4. Die Grenzen zwischen Eliten und
Nichteliten variieren je nach Gesellschaftstyp bzw. nach dem Grad der
gesellschaftlichen Funktions- und Arbeitsteilung. Wird die Knappheit
eines materiellen oder immateriellen Gutes überwunden oder kann der

2 Konrád, György / Szelényi, Iván: Die Intelligenz au f dem Weg zur Klassen-
m acht. F rankfurt/M . 1978, S. 54.
3 Vgl. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales
Kapital, in: Soziale Ungleichheiten, hg. von R einhard Kreckel. Göttingen 1983
(=Soziale W elt. Sonderband 2), S. 183-198.
* Sterbling, Anton: M odernisierung und soziologisches Denken. Analysen und
B etrachtungen. H am burg 1991,S. 179.

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Eliten, Bürgertum, politische Klasse? 7

Zugang zu diesem Gut nicht mehr wirksam beschränkt werden, verlieren


die bisherigen Träger der Verfügungsgewalt ihren Elite-Status. Um die-
sem Statusverlust vorzubeugen, werden sie versuchen, Gegenstrategien
mittels wirksamerer Formen der Exklusion oder durch Absteckung neuer
Ressourcen zu entwickeln.
Alle vier Kategorien von Verfügungsgewalt weisen spezifische Merk-
male, spezifische Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen auf, die in
allgemeiner Form hier nicht dargestellt werden können und sollen. Die
Frage, wie Verfügungsmacht über Ressourcen erworben wird (z.B. durch
Appropriation bzw. Okkupation, durch Vererbung, durch Charisma,
durch Leistung oder durch Vertrag) und wie Verfügungsgewalt abgesi-
chert wird (durch individuelle Vorsorge, gesellschaftliche Konsens-
bildung, institutionelle bzw. staatliche Garantie etc.) ist Gegenstand
zahlreicher Theorien, die über Jahrhunderte hinaus kontrovers diskutiert
und fachspezifisch ausdifferenziert wurden. Philosophen, Ökonomen,
Soziologen u.a. haben dazu ihre Erklärungen beigesteuert.
Die vergangenen rund zwei Jahrhunderte markieren in Südosteuropa
den Umbruch von der segmentären zur komplexen, von der agrarischen
zur agrarisch-industriellen oder industriellen, von der illiteraten zur
schriftkundigen Gesellschaft und sind unlösbar verbunden mit der Nati-
ons- und Nationalstaatsbildung. Die vielschichtigen politischen, ökono-
mischen, rechtlichen und kulturellen Wandlungsprozesse hatten
einschneidende Konsequenzen für die Elitenbildung. Denn jede soziale
Formation bringt den ihr adäquaten Typ von Elite hervor, ln einer Gesell-
schaft mit weit über 90% Analphabeten gehört schon deijenige, der über
rudimentäre Kenntnisse des Lesens bzw. des Lesens und Schreibens ver-
fügt, zur Elite, denn er besitzt Zugang zu einer knappen kulturellen Res-
source, die der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, den
Nichteliten, verwehrt ist. Auch der Priester - mag er noch so unzulänglich
gebildet sein - verfügt aufgrund seiner religiösen Deutungsmacht über
eine Autorität, die er im Zuge der Säkularisierung, der Alphabtisierung
und angesichts konkurrierender Sinngebungsangebote zu verlieren droht.
Damit ändert sich auch sein Status innerhalb der Gesellschaft. Beispiele
ähnlicher Art ließen sich fast beliebig fortsetzen.
Zunächst ist es notwendig, die unterschiedlichen gesellschaftlichen
Ausgangsbedingungen in Südosteuropa zu Beginn des vorigen Jahrhun-

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8 H. Sundhaussen

derts in Erinnerung zu rufen und zwischen den sozialen Organisations-


formen nördlich und südlich von Save und Donau zu differenzieren.
Nördlich der Trennungslinie hatten sich feudale oder feudalähnliche,
ständische oder quasi-ständische Schichtungsmodelle bis ins 19. Jahr-
hundert hinein erhalten und lebten auch nach den großen Umbrüchen im
Gefolge der 48er Revolution in modifizierter Form und stellenweise bis
zum Ende des 2. Weltkrieges fort. Südlich von Save und Donau waren die
Ansätze zur ständischen Schichtung infolge der osmanischen Eroberung
und der Inkorporation dieser Gebiete in das Osmanische Reich verloren
gegangen. Den hierarchisierten adelig-bäuerlichen Gesellschaften im
Norden standen die überwiegend akephalen Bauern-, Stammes- und
Hirtengesellschaften im Süden gegenüber (wobei die Schicht der
‫״‬ professionellen Osmanen“ hier außer Betracht bleiben kann, da sie nach
Konstituierung der postosmanischen Nationalstaaten keine Rolle mehr
spielte). Während die Gesellschaften im Norden - ungeachtet aller Spezi-
fika - konstitutive Ähnlichkeiten mit den Adelsgesellschaften in anderen
Teilen Europas aufwiesen, stellten die akephalen Gesellschaften im Süden
eine Besonderheit Europas dar. Im folgenden werde ich mich im wesentli-
chen auf diese Gesellschaften (mit gelegentlichen Ausweitungen auf die
rumänischen Donaufürstentümer) beschränken.
Unter osmanischer Herrschaft war es zu einer vergleichsweise starken
sozialen Nivellierung der altbalkanischen Bevölkerung gekommen, durch
die ihre vormals hierarchische Gliederung beseitigt wurde. Der
vorosmanische Adel war verschwunden. Ein städtischer Genossen-
schaftsverband hatte sich weder vor noch nach osmanischer Eroberung
herausbilden können. Der islamisch-osmanische Überschichtungsstaat
hatte der altbalkanischen Bevölkerung zwar gewisse Selbstregulierungs-
kompetenzen zugestanden, die im Falle der orthodoxen Christen mit dem
ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel/Istanbul verknüpft wor-
den waren, doch konnte (und sollte) damit die Segmentierung der sozia-
len Organisationen und ihre laterale Gliederung nicht aufgehoben
werden. Die Folge war ein niedriges Niveau an gesellschaftlicher Arbeits-
teilung und eine ausgesprochene Armut an indigenen Institutionen und
ausdifferenzierten Schichten. Es gab weder einen Adel noch ein Patriziat
noch ein Bürgertum (von wenigen exklavenhaften Ausnahmen abgese-
hen). Läßt man den osmanischen Verwaltungsapparat beiseite, der die

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Eliten, Bürgertum, politische Klasse? g

sozialen Interaktionen der christlichen Bevölkerung in den europäischen


Provinzen über Jahrhunderte hinaus nur mittelbar reguliert hatte, so
beschränkte sich die Zahl der gesellschaftlich prägenden und für die
Elitenbildung wichtigen Organisationen bei den Balkanvölkem im
wesentlichen auf den Haushalt (zumeist in Form der ‫״‬ erweiterten
Familie“ bzw. der ‫״‬ Hauskommunion“), die Dorf- und die Distriktgemein-
schaft (in den Ebenen) bzw. den Stamm (in den westbalkanischen
Gebirgskammem) sowie auf Einrichtungen der Kirche. Diese wenigen
Institutionen, die über lange Zeit hinaus außerordentliche Stabilität
bewiesen hatten, erfüllten praktisch alle Funktionen, die für die Ge-
staltung des sozialen Alltags erforderlich waren, d.h. sie regelten die
generative Reproduktion, die Vermittlung spezifischer Fertigkeiten und
Kenntnisse, die Nahrungsvorsorge und die Ausstattung mit sonstigen
Gütern, die Schlichtung von Konflikten sowie die Orientierung des Han-
delns im Rahmen von Wertbeziehungen. Die Dorfgemeinschaft - mit der
Dorfversammlung, (einem eventuellen Altenrat) und dem Dorfältesten -
stellte als Selbstverwaltungs- und Gerichtseinheit, als fiskalische Instanz
und Haftungsgemeinschaft sowie als sozioökonomische und religiös-
rituelle Gemeinschaft die wichtigste multifunktionale Institution der
Balkanvölker im osmanischen Überschichtungsstaat dar5.
Gewiß gab es in diesen für das Individuum unmittelbar überschauba-
ren und wenig ausdifferenzierten face-to-face-Gesellschaften Personen,
die sich aufgrund besonderer Eigenschaften (Mut, Weisheit, Gelehrsam-
keit, Reichtum) von den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft abhoben
und gewisse Verfügungsgewalten durch Appropriation oder Delegation
erworben hatten. Zu ihnen gehörten Dorfälteste, Distriktälteste, Stam-
mesführer, Bandenführer, Bajraktare6, Priester, Händler und einige mehr.
Aber eine stabile Oberschicht hatte sich i.d.R. nicht herausbilden können.
Zwar hatten auch die Mitglieder dieser heterogenen Führungsschichten
Anstrengungen zur Vererbung ihrer Verfügungsgewalt unternommen,
gelegentlich mit Erfolg, - doch ohne staatliche Garantie ihrer Verfü­

5 Vgl. S undhaussen, Holm: In stitutionen u n d in stitu tio n eller W andel in den


B alkanländern au s historischer Perspektive, in: In stitu tio n en u nd institutio-
neller W andel in S üdosteuropa, hg. von Jo h a n n e s C. Papalekas. M ünchen
1994, S. 35 ff. (m it w eiterfü h ren d er L iteratur).
6 Vgl. dazu den Beitrag von Anila H abibi im vorliegenden Band.

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10 H. Sundhaussen

gungsrechte war an eine Kontinuität und Stabilisierung von Macht nicht


zu denken. Die Zugehörigkeit zur Oberschicht blieb temporär und perso-
nen- (u.U. auch ‫״‬ familien“-)bezogen. Es existierten keine normierten,
differenzierenden Aneignungsregeln. Und solche waren in einer segmen-
tären Gesellschaft mit einer begrenzten Zahl von Mitgliedern auch gar
nicht notwendig. Notwendig wurden sie erst im Zuge der modernen Ver-
gesellschaftung und der damit verbundenen Vergrößerung der Mitglie-
derzahl und Aufgaben, bis die Gemeinschaft zu groß wurde, um sich
wechselseitig auf gewohnheitsrechtlicher Basis über den Ausschluß von
der Verfügungsgewalt verständigen zu können. Wenn ich von
‫״‬akephalen“ Gesellschaften südlich von Save und Donau gesprochen
habe, so meine ich damit also nicht, daß jegliche Führungsschicht fehlte,
sondern nur, daß es über den Rahmen der segmentären Gesellschaft hin-
aus (und dessen, was sich der osmanische Staat zur Regelung Vorbehalten
hatte) keine institutionalisierten, staatlich garantierten Aneignungs- und
Ausschlußregelungen hinsichtlich knapper Ressourcen gab.

Dies änderte sich grundlegend mit der Etablierung der postosmanischen


Staaten. Die Gründe für diesen Wandel liegen auf der Hand. Politische,
militärische, wirtschaftliche und andere Verfügungsrechte, die bisher bei
der Hohen Pforte und ihren mehr oder minder loyalen bzw. illoyalen
Repräsentanten konzentriert waren, gingen auf die neuen Staaten über.
Der parallel dazu verlaufende Prozeß der Nationsbildung führte zur Ent-
stehung einer größeren, für den Einzelnen nicht mehr überschaubaren
Gemeinschaft mit entsprechendem Regelungsbedarf. Staats- und Nati-
onsbildung, d.h. der Kompetenzzuwachs von außen und der neue Rege-
lungsbedarf im Innern, hatten eine institutionelle Revolution zur Folge.
Binnen kurzem entstand eine Vielzahl von Einrichtungen (oft in Anleh-
nung an ausländische Vorbilder), mit denen das Gewaltmonopol des
Staates und seine Allzuständigkeit im Kampf gegen das ererbte Subsidia-
ritätsprinzip der segmentären Gesellschaften durchgesetzt werden sollte.
Je erfolgreicher die staatsbildenden Eliten bei der ‫״‬
Institutionalisierung
von Macht“ waren, desto mehr Ressourcen (politischer, fiskalischer, mi-
litärischer und kultureller Art) konnten sie akkumulieren. Die Bevölke-
rungsmehrheit folgte dieser Entwicklung mit Unverständnis und

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Eliten, Bürgertum, politische Klasse? 11

Widerwillen. ‫״‬ Schwer mochte sich anfänglich der serbische Gebirgssohn


und Bauer mit der ihm auch von der nationalen Regierung zugemutheten
weiteren Bezahlung von Steuern befreunden. Mit der Verjagung der Tür-
ken hatte er wohl gehofft, für immer von solchen befreit zu sein. Was
wußte er viel von den Bedürfnissen des Staates, wenig begriff er die
Nothwendigkeit der Gründung von Schulen, Gerichten usw. Sie schienen
ihm ebenso überflüssig, wie der Bau breiter Straßen, kam er doch mit
seinem kleinen Pferdchen überall fort.“7
ln Anlehnung an west- und mitteleuropäische Vorbilder wurden die
rechtlichen Voraussetzungen für die staatliche Garantie von Verfügungs-
und Exklusionsrechten geschaffen: Gemeint sind die Um- bzw. Neustruk-
turierung des Rechtssystems durch die Kodifizierung von Verfassungen8,
die Verabschiedung von Zivil- und Strafgesetzbüchern, die Einführung
des Handelsrechts, die Ausarbeitung eines Gesellschaftsrechts, die
Normierung der Prozeßordnung usw. Es galt zu klären, welche
Institutionen zu welchem Zweck und mit welchen Kompetenzen ge-
schaffen werden sollten. Wer erhielt Zugang zu diesen Institutionen? Wie
sollte die politische Entscheidungsmacht aufgeteilt werden? Wer sollte
über die fiskalischen u.a. staatliche Einnahmequellen verfügen? Wer
definierte das Kulturkapital, wer bestimmte die Partizipations- und Aus-
schlußregeln? Usw.
An die Stelle der primären Okkupation von Verfügungsrechten (währ-
end der Befreiungskriege) trat Schritt für Schritt ein staatlich normiertes
und institutionalisiertes Regelungswerk. Die ‫״‬ sporadische Macht“ wurde
durch die ‫״‬ normierende Macht“ ersetzte Es waren die neuen Eliten, die

7 Kanitz, Felix: Serbien. H istorisch-ethnographische R eisestudien aus den


J a h re n 1 859-1868. I>eipzig 1868, S. 608.
8 Zu den Spannungen zwischen westlichen V orbildern und V erfassungsrealität
in den B alkanstaaten vgl. Stadtm üller, Georg: W estliches Verfassungsm odell
u n d politische W irklichkeit in den balkanischen Staaten, in: Saeculum 9
(1958), S. 4 0 5 -4 2 4 ; Djordjevic, Dimitrije: Foreign Influence on N ineteenth-
C entury Balkan C onstitutionalism , in: Papers for the V. Congress o f Southeast
E uropean S tudies 1984, Colum bus (1984), S. 72-102; Tsapogas, Michael:
S taatsrationalisierung und Verfassungsbewegung in G riechenland 1832-1843.
A then 1992.
9 Vgl. dazu allgem ein Popitz, Heinrich: M acht u nd H errschaft: Stufen d er
Institutionalisierung von M acht, in: Ders.: Phänom ene d e r M acht, Tübingen
1986, S. 38 ff. Popitz versteht u n ter ‫״‬Instutionalisierung“ eine ‫״‬zunehm ende

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12 H. Sundhaussen

dieses Regelwerk zur Sicherung eigener Interessen gegen ihre traditions-


verhafteten Konkurrenten, die beschäftigungslos gewordenen Veteranen
der Befreiungskriege und gegen den vehementen Abscheu der bäuer-
liehen Bevölkerung durchsetzten10. Die Repräsentanten der segmentären
Gesellschaft (die Dorfältesten, Distriktältesten und Stammesführer)
wurden durch zentral ernannte (meist ortsfremde) Bürokraten ersetzt11.
Der zentralisierte und regulierende Nationalstaat als Leitidee der
Führungsschichten und Demiurg der Entwicklung geriet überall in einen
scharfen Gegensatz zum traditionellen Normen- und Wertesystem der
bäuerlichen Nichteliten, das auf Dezentralisierung, lokaler Autonomie,
face-to-face-Demokratie und Gewohnheitsrecht beruhte12.

E ntpersonalisierung“, eine ‫״‬zunehm ende Form alisierung“ sowie eine


‫״‬zunehm ende Integrierung des M achtverhältnisses in eine übergreifende O rd-
nungM.
10 Einzelheiten bei G eorgiadou, Vassiliki: G riechenlands nicht-kapitalistische
Entw icklungsaspekte im 19. J a h rh u n d e rt. F ran k fu rt/M . (u.a.) 1991, S. 116 ff.;
Koliopoulos, Jo h n S.: Brigands w ith a Cause. Brigandage an d Irred entism in
M odern Greece 1821-1912. London 1987.
11 Z ur K onflikttträchtigkeit dieses D urchstaatlichungs-Prozesses vgl. Boest-
fleisch, Hans-M ichael: M odem isierungsproblem e u nd Entw icklungskrisen:
Die A useinandersetzungen um die B ürokratie in Serbien 1839-1858. Frank-
fu rt/M . (u.a.) 1987.
12 Z ur Z urückdrängung d e r kom m unalen Selbstverw altung vgl. G uzina, Ružica:
O pština и Srbiji 1839-1918. Pravno-politička i sociološka studija. Beograd
1976; H öpken, Wolfgang: Z en tralstaat u n d kom m unale Selbstverw altung in
Bulgarien 1880-1910. Zum C h arak ter eines ‫״‬M odem isierungskonflikts“, in:
Ja h rb ü c h e r für G eschichte O steuropas 39 (1991), S. 199-213. Einzelheiten
zum G ew ohnheitsrecht im B alkanraum bei D urham , M ary E.: Some Tribal
origins, la w s, and C ustom s o f the Balkans. London 1928; H asluck, M argaret:
T he U nw ritten la w in A lbania. C am bridge 1954; Georgescu, Vlad: Alte albani-
sehe Rechtsgew ohnheiten, in: Revue des étu des su d -est européennes 2 (1963),
S. 6 9 -1 0 2 ; Godin, Amelie von: Das albanische G ew ohnheitsrecht. Kanun i l>ek
D ukadjinit, in: Zeitschrift fü r vergleichende R echtsw issenschaft 56 (1953), S.
l 0 9 5 4 5 7 ;4 6 ‫ *) ־‬S. 5 -7 3 , 58 (1956), S. 121-196; Boehm, C h risto p hen Blood
Revenge. The E nactm ent an d M anagem ent of Conflict in M ontenegro and
O ther T ribal Societies. Kansas 1984; Krauss, F riedrich S.: Sitte und Brauch d er
Südslaven. Nach heim ischen gedruckten und ungedruckten Quellen. Wien
1885; Djordjevic, T ih om ir R.: Selo kao su d и našem naro d no m običajnom
prāvu, in: Zbornik filozofskog fakulteta 1 (1948), S. 2 6 7 -2 8 7 ; Pantazopoulos,
N.: C om m unity la w s a n d C ustom s of W estern M acedonia u n d e r O ttom an
Rule, in: Balkan Studies 2,1 (1961), S. 1-2 2 sowie d en Sam m elband Običajno
pravo i sam ouprava na Baikanu i и susednim zem ljam a. Beograd 1974.

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Eliten, Bürgertum, politische Klasse? 13

Als der serbische Fürst Alexander Karadjordjevic 1855 dem Staatsrat


eine Systematisierung der bis dahin erlassenen strafrechtlichen Detailge-
setze und Verordnungen vorschlug, lehnte der konservativ orientierte
hohe Rat das Ansinnen mit den Worten ab: ‫״‬ Unser Volk lebt noch in ei-
nem patriarchalen Zustand...Ein guter Mensch braucht keine Gesetze.
Das Gesetz ist ein Produkt des Zwangs zur Verhinderung des Bösen und
es wird für diejenigen geschrieben, die böse sind. (...) Unser Volk ist in
seinen Aufassungen so gut und so gesund wie vielleicht kein anderes in
Europa. Also benötigt es auch keine Heilmittel...“‘3 Doch schnell setzte
sich die Einsicht durch, ‫״‬ dass sich ein Volk nicht gut ohne geschriebene
Gesetze regieren lasse“.^ Die Zurückdrängung des Gewohnheitsrechts
und die Einführung eines nach okzidentalen Normen gestalteten Rechts-
systems hat die Gemüter der Zeitgenossen zutiefst bewegt und ist nicht
nur von einheimischen Populisten konservativen (später auch sozialisti-
sehen) Zuschnitts, sondern auch von ausländischen Beobachtern z.T. mit
Unbehagen verfolgt worden. Selbst ein so nüchterner Kenner des Balkan-
raums wie Felix Kanitz blieb davon nicht unberührt:
‫״‬Dort wo zersetzende Paragraphe unpraktischer Gesetzgeber die
geheiligten Traditionen der Hauskommunion noch nicht gelockert
haben, bietet sich der das Recht der freien Selbstbestimmung gern
einengenden Bureaukratie nur selten Gelegenheit zur
Einmischung, und sie verurtheilt schon deshalb das altslavische
Familienrecht. Theoretiker, deren ganze Gelehrsamkeit in römisch-
germanischen Rechtsanschauungen wurzelt, erklären die
'Hauskommunion' kurzweg für einen Barbarismus.“ Ein Teil ‫״‬ der
jüngeren serbischen Staatsmänner aus der französischen Schule“
strebe danach, ‫״‬ deren zerstörende Theorien: der Ackerbau ist ein
freies Gewerbe, aller Grund und Boden muss theilbar, muss eine
Waare sein, er muss wie Scheidemünze von Hand zu Hand gehen,
- in ihr Vaterland einzuschmuggeln, den festen Boden ihrer Agrar-
und Familienverfassung mit zersetzenden Paragraphen zu durch-
sickern.“^

‘3 Zit. nach S undhaussen, Holm: H istorische Statistik Serbiens 1834-1914. Mit


europäischen V ergleichsdaten. M ünchen 1989, S. 566.
4 Ebda.
*5 Kanitz: R eisestudien, S. 83 f.

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14 H. Sundhaussen

Die Eigendynamik der in Gang gesetzten staatlichen Reglementierung


fegte solche Bedenken freilich vom Tisch.
Innerhalb weniger Jahrzehnte nach der Staatsgründung multiplizierte
sich die Zahl der neuen Institutionen um ein Vielfaches. Und die wichtig-
ste traditionelle Institution der Balkanvölker: die dörfliche Kommune als
patriarchalisch verfaßter Genossenschaftsverband mit weitgehender
politischer, gewohnheitsrechtlicher und wirtschaftlicher Autonomie
verlor jede sozialprägende Bedeutung und wurde vollständig transfor-
miert. Diese Entwicklung war zwangsläufig: Denn selbst dann, wenn die
politischen Eliten versuchten, die traditionellen Institutionen in den
neuen Staat einzubinden, scheiterten sie und mußten sie scheitern, denn
es handelte sich um gänzlich unterschiedliche ‫״‬ Welten“, die nicht
mischungsfähig waren und nicht miteinander kooperieren konnten, ohne
daß die eine oder andere sich selber aufgab. Die Integration der kleinen,
nach innen gekehrten Systeme in ein größeres und nach neuen Prinzipien
strukturiertes Sozialsystem war nur möglich über den Autonomieverlust
der traditionellen Institutionen und deren Einbindung in eine neue hier-
archische Struktur. Der Prozeß der Anonymisierung, Formalisierung und
Verrechtlichung der Sozialbeziehungen kam einem Todesstoß für die
Unmittelbarkeit und Lebendigkeit der Dorfgemeinschaft gleich. Es
konnte gar nicht anders sein. Der ‫״‬ Demiurg“ Staat und seine Träger-
schichten zogen mehr und mehr Kompetenzen an sich. Und da dies auf
den nachhaltigen Widerstand der Bevölkerung stieß, trat an die Stelle der
Integration schließlich das Streben nach Beseitigung der resistenten
Kleinsysteme, - ein Prozeß, der in Westeuropa über Jahrhunderte hinaus
vorbereitet worden war, in den Balkanländem dagegen innerhalb weniger
Jahrzehnte durchgesetzt wurde.

***

Die Aufteilung der Verfügungsmacht über knappe Ressourcen war be-


gleitet von langanhaltenden, heftigen Verteilungskämpfen und Zielkon-
flikten. Autochthone und heterochthone Führungsschichten rangen um
Positionen und Einfluß: Auf der einen Seite standen die traditionellen
Honoratioren - die Distriktältesten, die Stammeshäuptlinge, die Führer
der antiosmanischen Befreiungskriege und die Geistlichen - , die ihre
Verfügungsrechte nach Vertreibung der ‫״‬ Türken“ durch Okkupation oder

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Eliten, Bürgertum, politische Klasse? 15

im Falle der Geistlichen durch institutionelle Absicherung ihrer über-


kommenen Position (Streben nach kirchlicher Autokephalie) zu sichern
suchten. Auf der anderen Seite standen die Vertreter der aufstrebenden -
aus der ‫״‬ Wiedergeburts-Intelligencija“ hervorgegangenen - ‫״‬ modernen“
Schichten16, die teils aus Überzeugung, teils aus Selbstbehauptungstrieb
die sich anbahnende Machtkonzentration um den jeweiligen Fürsten
mittels unterschiedlicher Modelle der Gewaltenteilung auszuhöhlen
suchten17. Zu ihnen gehörten jene Personen, die über Auslandskontakte
verfügten und häufig aus der Diaspora in die postosmanischen Staaten
übersiedelten. Sie brachten entweder persönlichen Reichtum oder ein
personenbezogenes Kulturkapital oder beides mit, die sie im Kampf um
die Gestaltung der Sozialordnung einsetzten. Namentlich erwähnt seien
die frühen Protagonisten der Nationsbildung: Gelehrte, Schriftsteller,
Geistliche, Lehrer, später auch Studenten und Schüler, die Zugang zu
einer Schriftkultur besaßen, oder jene Kaufleute, die über interregionale
Kontakte verfügten und gleich den Vertretern der ersten Gruppe auf gei-
stige Ressourcen des Auslands (auf die Ideen der französischen Révolu-
tion, der Aufklärung und Romantik, des Risorgimento-Nationalismus
etc.) Zugriff hatten18. Nicht nur bei den Griechen, sondern auch bei den

16 Die frü h e bulgarische Intelligenz w ird von R um en Daskalov wie folgt charakte-
risiert: ‫״‬It was m iddle-class in econom ic a n d social stan d in g relative to its own
society, th a t is, above the p red o m in an tly ag rarian p o p u latio n b u t below th a t of
the trad itio n al village an d tow n notables, big m erchants, an d creditors. Its po-
sition was com parable to th a t o f craftsm en an d the p etty o r m iddle-size tra -
desm en. Its social prestige derived m ainly from education a n d know ledge as
well as from its professional statu s....“ Daskalov, R.: T ran sfo rm atio n s o f the
Hast E u ro p ean Intelligentsia: Reflections on the B ulgarian Case, in: East
E uropean Politics a n d Societies 10 (1996), 1, S. 53. Z ur bulgarischen
‫״‬W iedergeburts-Intelligenz“ vgl. fern er Genčev, Nikołaj: Bãlgarska
vāzroždenska inteligencija. Sofija 1991; M eininger, T hom as: T he F orm ation of
a N ationalist Bulgarian Intelligentsia, 1853-1878. New York 1987.
17 A usführlich dazu H ering, G u n n ar: Die politischen P arteien in G riechenland
1821-1936. M ünchen 1992, Bd. l, S. 53 ff.
18 Zu den A usbildungsw egen d e r E liten in d e r ‫״‬W iedergeburtszeit“ vgl. S iupiur,
Elena: T he T raining o f Intellectuals in S outh-E ast E urope d u rin g the 19th
C entury, in: A nuarul In stitu tu lu i de istorie §i arheologie ‫״‬A.D. X enopol“ 2 3 /2
(1986), S. 4 6 9 - 4 9 0 ; Dies.: B älgarskata em igrantska inteligencija v R um ānija
prez XIX vek. Sofija 1982; B älgarskata vāzroždenska inteligencija, hg. von
Nikołaj G enčev u nd K rasim ira Daskalova. Sofija 1988, S. 5 ff.; Todorova,
Cvetana: M igrationen bu lg arisch er S tu d en ten an eu ro p äisch en U niversitäten
seit d e r Befreiung von den T ü rk en bis zum E rsten W eltkrieg, in: W egenetz des

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16 H. Sundhaussen

anderen sich formierenden Nationen im Balkanraum spielten die


Diaspora-Gemeinden und die zahlreichen, zumeist nach ausländischen
Mustern gegründeten Geheimbünde eine tragende Rolle. Ihre Mitglieder
erlangten eine im Zuge der Nationsbildung wachsende Deutungsmacht,
indem sie die neuen Staaten mit einer Befreiungslegitimation, einer na-
tionalen ‫״‬ Mission“, mit ‫״‬ historischen Rechten“ und einer Modemisie-
rungs-Vision versorgten *9 . Viele Mitglieder der neuen politischen und
kulturellen Eliten hatten ihr kulturelles Kapital an ausländischen Univer-
sitäten erworben. Ein Auslandsstudium (namentlich in Frankreich und
Deutschland) gehörte in allen Balkanstaaten bis weit ins 20. Jahrhundert
hinein ‫״‬ zur Grundausstattung politischer Karrieren und sozialen Auf-
stiegs“20

*#*

Auch wenn sich die Führungsschichten der jungen Balkanstaaten mehr


und mehr in den entosmanisierten Städten, allen voran in der jeweiligen
Hauptstadt, konzentrierten, wird man sie schwerlich als bürgerliche Füh-
rungsschicht bezeichnen können. Zumindest dann nicht, wenn man mit
Bürgertum mehr als Wohnsitz in der Stadt und Übernahme städtisch
geprägter Lebens- und Stilformen verbindet. Im Unterschied zu den
Männern aus der Diaspora stellten die aus den Reihen der wohlhabenden
Bauern sowie aus lokalen Händlern und Handwerkern aufsteigenden
semi-urbanen Führungscliquen mit zumeist starken Bindungen an das
Land auf der einen und dem Gehabe gesellschaftlicher Parvenüs auf der
anderen Seite eine eigene und eigenartige Schicht dar, die sich nur schwer

europäischen Geistes, hg. von R ichard G. Plaschka und Katlheinz Mack, Bd. 2.
M ünchen 1987, S. 6 7 -8 2 .
‘9 Vgl. Seton-W atson, Hugh: ‫״‬Intelligentsia" und N ationalism us in O steuropa
1848-1918, in: H istorische Zeitschrift 195 (1962), S. 331 ff.; Mishkova, Diana:
M odernization and Political Elites in the Balkans before the First W orld W ar,
in: East E uropean Politics an d Societies 9 (1995) 1, S. 6 3 -8 9 .
20 Spiliotis, Susanne-Sophia: T ran ste rrito rialität und Nationale Abgrenzung.
K onstitutionsprozesse d e r ‫״‬griechischen Gesellschaft“ und Ansätze ihrer
faschistoiden T ransform ation, 1922/24-1941. Diss. Berlin 1997, S. 293, Anm.
27. Die A rbeit befindet sich im Druck.

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Eliten, Bürgertum, politische Klasse? 17

in das mitteleuropäische Begriffsraster von Bürgertum einfügen läßt21.


Der Kern zu einer städtischen Führungsschicht, die sich von den traditio-
nelien Honoratioren ebenso wie von der ‫״‬ rückständigen“ Landbevölke-
rung abgrenzte, war dennoch gelegt. Schon in der zweiten Generation
nach der Befreiung wies diese Schicht ein eigenes Profil auf, wodurch sich
auch die Distanz zwischen urbaner und ländlicher Bevölkerung, zwischen
‫״‬ Herren“ und Bauern wieder vergrößerte22.
Die Formierung der postosmanischen Eliten gestaltete sich zwar von
Land zu Land unterschiedlich, wies aber eine Reihe von Gemeinsamkei-
••

ten auf: Überall kam es zu jahrzehntelangen Verteilungskämpfen zwi-


sehen dem Fürsten auf der einen sowie alten ufid neuen Eliten auf der
anderen Seite, zwischen Vertretern des Zentralismus einerseits und Re-
präsentanten der regionalen und lokalen Selbstverwaltung andererseits,
zwischen Autochthonen und Heterochthonen, zwischen neuer Stadt- und
resistenter Landbevölkerung. Und überall setzten sich schließlich die
Zentralisten dank des Zugriffs auf staatliche Ressourcen durch, indem sie
Teile der traditionellen Honoratioren ausschalteten, andere integrierten,
d.h. mit Amt und Würden versahen, und die neuen staatlichen Institutio-
nen mit ihren eigenen Anhängern füllten.
Die Bedeutung der neuen Institutionen (von der Legislative und Ju-
dikative über die schnell ausufemde Exekutive und das Militär bis hin zu
den Wissenschaftseinrichtungen, den Hochschulen, Universitäten, Aka-
demien) kann für die Geschichte der postosmanischen Eliten nicht hoch
genug eingeschätzt werden. Wer die neuen Institutionen kontrollierte,
hatte nicht nur Zugang zu den Ressourcen, sondern konnte auch seine
Klientel befriedigen. Und dies war für den Machterhalt oder den Macht-
erwerb weitaus wichtiger als irgendein noch so wohl fundiertes Pro-
gramm. Die neue ‫״‬ Herrenschicht“ betrachtete den Staat als 5‫׳‬ ine Art

21 Zum B ürgertum vgl. Kocka, Jürgen(H g-): B ürgertum im 19. J a h rh u n d e rt.


D eutschland im europäischen Vergleich. Bd. 1. G öttingen 1995, Einleitung,
insbes. S. 20 ff.
22 Slobodan J o vano vie bezeichnet die städ tisch e Führungsschicht Serbiens in d e r
M itte des 19. J a h rh u n d e rts treffend als ‫״‬B auern im Stadtanzug“. ‫״‬Keiner w ar
so geeignet, den Bauern im Fellm antel niederzuhalten, wie d e r B auer im
Stadtanzug. Und keiner als dieser w ar w eniger geeignet, (ersteren) zu führen
u nd zu bilden.“ Jovanovic, S.: U stavobranitelji i njihova vlada (1912), in:
S abrana dela S. Jovanovica, Bd. 3. Beograd 1990, S. 62.

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18 H. Sundhaussen

‫״‬oikos“, als privaten Großhaushalt zur ‫״‬


organisierten Bedarfsdeckung“
der ‫״‬Führer“ und ihrer Gefolgschaft.
Schon Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde das junge Fürstentum
Serbien von einigen Zeitgenossen als ‫״‬ Beamtenland“ kritisiert^. Trotz
heftiger Attacken eines Teils der sich formierenden ‫״‬ Intelligencija“2* wu-
cherte die funktionale und institutionelle Differenzierung auch in den
nachfolgenden Jahrzehnten ungebremst fort und ließ eine mehr und
••

mehr verzweigte Amterhierarchie entstehen, die sich gegen Ende des 19.
Jahrhunderts in ihrer äußeren Form kaum noch von den Verwaltungsein-
richtungen anderer europäischer Staaten unterschied.
Zu den Besonderheiten des Umgestaltungsprozesses in den Balkan-
ländern gehörte nicht nur das vergleichsweise atemberaubende Tempo,
mit dem die Institutionenbildung durchgesetzt wurde, sondern auch die
Tatsache, daß dieser Prozeß aufgrund völlig anders gearteter gesellschaft-
lieber, wirtschaftlicher und kultureller Ausgangsbedingungen in viel stär-
kerem Maße von oben induziert wurde als in Westeuropa. Denn je
rückständiger eine Gesellschaft ist, desto größer ist die Rolle der Eliten im
gesellschaftlichen Wandel. Diese geben die Richtung vor, legitimieren das
Ziel und restrukturieren die Verfügungsmacht über die Ressourcen.
In der Regel wurden die Institutionen in Anlehnung an ausländische
Vorbilder geschaffen. Und mit Übernahme der Institutionen glaubten die
Führungsschichten, zugleich auch deren Leistungsfähigkeit übernehmen
zu können. Doch diese Erwartung erfüllte sich nicht. Gleichwohl taucht
sie in Umbruchsituationen immer wieder auf, sowohl bei einem Teil der
veränderungswilligen Eliten wie bei einem Teil der Sozialwissenschaftler.
Ich nenne letztere die ‫״‬Institutionalisten“. Sie verstehen politische, wirt-
schaftliche und rechtliche Institutionen als selbst regulative Systeme, die
- sofern sie konsequent implementiert wurden - die gesamte Gesellschaft
in ihre Regelwerke zwingen und umformen. Die Institutionen geben die
‫״‬Spielregeln“ vor, nach denen sich die ‫״‬ Spieler“ zu richten haben. Ver-

23 Vgl. B oestfleisch: M o d em isieru n g sk risen , S. 81


2•‫ י‬Vgl. d azu Džaja, Srečko M.: In tellig en tsia u n d S ü d o steu ro p äisch er R aum , in:
D ers.: B osnien-H erzegow ina in d e r ö sterreich isch -u n g arisch en Epoche (1 8 7 8 -
1918). Die In tellig en tsia zw ischen T ra d itio n u n d Ideologie. M ünchen 1994, S. 9
ff. U n te r ‫ ״‬In tellig en cija“ w ird im folgenden n u r je n e r T eil d e r Intelligenz
v e rsta n d e n , d e r n ach ein e r g ru n d le g e n d e n V erän d eru n g d e r b esteh en d en
p o litisch en u n d /o d e r gesellschaftlichen V erh ältn isse stre b te .

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Eliten, Bürgertum, politische Klasse? 19

kürzt formuliert: Die Institutionen und ihr Regelwerk prägen die Gesell-
schaft und deren Verhaltensweisen.
Im Unterschied dazu neigt eine zweite Gruppe von Sozial wissen-
schaftlern dazu, die Durchdringungseffekte von Institutionen stark zu
relativieren, sie in Frage oder gar in Abrede zu stellen. Zu dieser Gruppe
gehören v.a. historisch orientierte Sozialwissenschaftler und Repräsen-
tanten der ‫״‬ Kulturwissenschaften“. Sie messen dem, was Ökonomen gern
als ‫״‬ Residualgröße“ oder unerklärbaren ‫״‬ Rest“ aus ihrer Betrachtung
ausklammem und in die ‫״‬ Rahmenbedingungen“ verweisen, entschei-
dende Bedeutung zu. Ihrer Auffassung nach reicht die Etablierung von
Institutionen nicht zum Umbau einer Gesellschaft aus, da Institutionen
nicht über der Gesellschaft stehen, sondern von dieser abhängig sind.
Keine Institution kann bis ins Detail derart geplant werden, daß sie unab-
hängig von ihren Trägerschichten und notfalls gegen die Bevölkerungs-
mehrheit so funktioniert, wie sie konzipiert wurde. Vielmehr ist es die
Gesellschaft, die die ‫״‬ Spielregeln“ festlegt und die Institutionen dement-
sprechend ‫״‬ deformiert“. Abermals verkürzt formuliert: Nicht die Institu-
tionen prägen die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft prägt die
Institutionen.
Vertreter einer dritten Gruppe versuchen, zwischen beiden Positionen
zu vermitteln, indem sie die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen
Institutionen und Gesellschaft in den Vordergrund rücken. Im Verlauf
dieser wechselseitigen Beeinflussungen verändern sich sowohl die
Gesellschaft wie die Institutionen: Die Gesellschaft ist nach einer gewis-
sen Zeit nicht mehr das, was sie zu Beginn des Prozesses war (ohne das zu
werden, was sie gemäß den Postulaten der ‫״‬ Institutionalisten“ hätte wer-
den sollen), und auch die Institutionen haben sich mehr oder minder weit
von ihrem Gründungskonzept entfernt (ohne von der Gesellschaft völlig
‫״‬deformiert“ worden zu sein).
Der dritte Ansatz bringt die Entwicklung in den postosmanischen
Balkanländem auf den Punkt. Die Gefolgschaftsbeziehungen aus der
akephalen Gesellschaft wurden auf den neuen Staat und seine Institutio-
nen transponiert. Damit kam es zu einer Vermengung und wechselseiti-
gen Durchdringung zweier widersprüchlicher Prinzipien: der persön-
liehen Gefolgschaftstreue zwischen Patron und Klienten auf der einen
und einem institutionalisierten, dem Ansprućh nach versachlichten

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20 H. Sundhaussen

Regelwerk von Über- und Unterordnungen auf der anderen Seite.


‫״‬Familiäre“, Sippen- und Clan-Bande, die über Jahrhunderte hinaus eine
prägende Rolle bei der Gestaltung der Sozialbeziehungen gespielt hatten,
bewahrten diese Funktion auch nach Einführung der neuen Institutionen
- und im Gegensatz zu deren Erfordernissen^. Das ungebrochene Ver-
trauen in persönliche Netzwerke, die den einfachen Staatsbürger über
wenige Zwischenstufen mit den höchsten Repräsentanten der Staatsge-
wait verknüpfen konnten (ein Bauer wandte sich an den Dorfbürgermei-
ster, der Dorfbürgermeister kannte den Distriktgouvemeur, und dieser
stand in persönlichem Kontakt zum Minister) war nicht nur der jahrhun-
dertealten Tradition personifizierter Sozialbeziehungen, sondern auch
den Defiziten des formalisierten Instanzenweges geschuldet. Und diese
Defizite beruhten nicht zuletzt auf der Persistenz persönlicher Netzwerke:
- ein Teufelskreis, der schwer zu durchbrechen war. Die Akzeptanz des
institutionalisierten und anonymisierten Regelwerks setzte voraus, daß
der Instanzenweg verständlich und nachvollziehbar war, daß die Ergeb-
nisse der Entscheidungsfindung als vorhersehbar und korrekt empfunden
wurden und daß die Aufhebung von Irrtiimem oder Fehlentscheidungen
«

einklagbar war. Von alledem konnte in den ersten Jahrzehnten nach der
postosmanischen Staatsgründung keine Rede sein. Die neuen Institutio-
nen funktionierten mehr schlecht als recht, da entsprechend qualifizierte
Trägerschichten fehlten. Die illiterate Bevölkerung kannte weder die
‫״‬Spielregeln“ der neuen Institutionen noch begriff sie deren innere Logik.
Angesichts permanenter Amtsmißbräuche und der Unverständlichkeit
formalisierter Prozeduren kam die Vertrauensbildung nicht vom Fleck.
Ohne Bekanntschaftsnetze und persönliche Fürsprache war nichts zu
erreichen; dies blieb über Jahrzehnte hinaus eine prägende Alltagser-
fahrung.
Die gesellschaftlichen Ressourcen wurden zu einer Pfründe der je-
weiligen politischen Führungsschicht und ihrer Klientel. Ende des vorigen
Jahrhunderts bemerkte ein zeitgenössischer Beobachter über die Ver-
hältnisse in Serbien: ‫״‬Sobald eine Partei die andere vom Staatsruder ver-
drängt hatte, so wurden viele der vom vorhergehenden Ministerium
eingesetzten Beamten entlassen, wenn sie nicht rechtzeitig ihren Partei-

25 Vgl. die Beiträge im S am m elband: P atro n s a n d C lients in M editerranean


Societies, hg. v. E rn est G ellner и. J o h n W aterbury. I>ondon 1977.

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Eliten, Bürgertum, politische Klasse? 21

standpunkt änderten. - Dem Sieger die Beute, ist der Wahlspruch in den
serbischen Parteikämpfen und deshalb sind sie so heftig und leiden-
schaftlich, weil sie auch wahre Kämpfe um das Brod, um die Beamten-
stellen sind.“26 Daran sollte sich auch in den nachfolgenden Jahrzehnten
grundsätzlich nichts ändern, - weder in Serbien (resp. Jugoslawien) noch
in Griechenland, Bulgarien, Albanien oder Rumänien.
Da nur die Mitgliedschaft in einer staatlich alimentierten Einrichtung
soziale Aufstiegschancen zu bieten schien, setzte ein ständiger brain drain
aus der Gesellschaft in die staatlichen Institutionen ein. Der Gesellschaft
wurden damit weitgehend jene Kräfte entzogen, die eine Institutionenbil-
dung von unten, aus der Gesellschaft heraus ermöglicht oder erleichtert
hätten. So konnten auch keine - zumindest keine stabilen - Institutionen
entstehen, die in Konkurrenz zu dem von der politischen Führungs-
Schicht monopolisierten Apparat hätten treten und diesen kontrollieren
können.

***

Die dem neuzeitlichen Verwaltungsstaat innewohnende Tendenz zur


Professkmalisierung seiner Repräsentanten wurde infolge dieser kliente-
listischen Aneignungsregelungen sowie des ‫״‬Drangs zum Amt“ und des
Verständnisses des Amts als Pfründe nur höchst unzulänglich eingelöst.
Im Verhältnis zum Bevölkerungsstand wiesen die Balkanländer in der
Zwischenkriegszeit die höchste Zahl von Staatsbediensteten auf. Gera-
dezu extrem waren die Verhältnisse in Rumänien, wo es Mitte der 30er
Jahre bei einer Gesamtbevölkerung von 18 Millionen rd. 440 000 Staats-
bedienstete gab (während z.B. in Deutschland der öffentliche Dienst nur
250 000 Beschäftigte zählte). Auch in Jugoslawien war der Verwaltungs-
apparat Mitte der 20er Jahre mit 280 000 Bediensteten bei einer Ge-
Samtbevölkerung von etwa 13 Millionen hoffnungslos überbesetzt27.

26 Zit. nach S undhaussen: H istorische S tatistik, S. 447.


27 H einen, A rm in: Die lé g io n ‫״‬Erzengel M ichael“ in R um änien. Soziale Bewe-
gung u n d politische O rganisation. Ein B eitrag zum P roblem d e s in te r-
n atio n alen Faschism us. M ünchen 1986, S. 48 ; Lam pe, J o h n : B elated
M odernization in C om parison: D evelopm ent in Yugoslavia a n d B ulgaria to
1948, in: Diverse P aths to M odernity‫ ׳‬in S o u th e a ste rn E urope. E ssays in

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22 H. Sundhaussen

Nicht viel anders verhielt es sich in Griechenland28. Und für alle Balkan-
Staaten gilt: Sobald eine politische Gruppierung die Macht erobert hatte,
versuchte sie, den ganzen Staat und seine Institutionen zu usurpieren.
Das ungebremste Anwachsen des Verwaltungsapparats stand daher bald
in negativer Korrelation zu seiner Effizienz und Leistungsfähigkeit.

***

Werfen wir noch einen Blick auf die Formen der Exklusion, mit denen die
Eliten ihre Verfügungsrechte über ökonomische, politische oder kultu-
relie Ressourcen gegen den Zugriff Dritter zu sichern versuchten: Es
lassen sich formalisierte und informelle Ausschlußregelungen unter-
scheiden. So beinhaltete z.B. das staatlich garantierte Eigentum nach
römischrechtlichen Prinzipien ein formalisiertes Ausschlußrecht Dritter.
Im Kampf um die politische Macht gab es vielfältige formalisierte
Ausschlußregelungen: z.B. beim Wahlrecht durch einen Vermögens- und
Bildungszensus, durch den generellen Ausschluß von Frauen, durch eine
Wahlkreiseinteilung oder ein Auszählungsverfahren, das bestimmte
Gruppen der Gesellschaft von der politischen Partizipation ausschloß.
Aber auch dort, wo das allgemeine Wahlrecht für Männer (ohne wesent-
liehe Einschränkungen) bereits vor dem 1. Weltkrieg eingeführt wurde
(wie in den Balkanstaaten), existierten informelle Möglichkeiten zur Ex-
klusion des politischen Gegners: durch Wahlmanipulationen, durch ver-
fassungswidrige oder verfassungsrechtlich bedenkliche Interventionen
des Fürsten, durch Auflösung unbequemer Parlamente u.v.a.m. Mit der
Darstellung der praktizierten Exklusionen in offener oder versteckter
Form ließen sich ganze Bände füllen.
Während sich die postosmanischen Gesellschaften bis zum Beginn des
20. Jahrhunderts als weitgehend vorkapitalistische Gemeinwesen im
Umbruch von der segmentären zur komplexen Gesellschaft dargestellt
hatten, repräsentierten sie sich in der nachfolgenden Zeit bis zum 2.
Weltkrieg als ausgesprochenene Krisengesellschaften29. Zum Teil hatten

N ational D evelopm ent, hg. v. G erasim os A ugustinos. New York (u.a.) 1991, S.
41•
28 Spiliotis: T ra n ste rrito ria litä t, S. 58, A nm . 117
29 E inen noch im m er lesensw erten Ü berblick gibt S eton-W atson, H ugh: O st-
e u ro p a zw ischen d en Kriegen 1918-1941. P ad erb o rn 1948.

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Eliten, Bürgertum, politische Klasse? 23

sie den Umbruch vollzogen, zum Teil waren sie darin steckengeblieben.
Die soziale Differenzierung am schmalen oberen und am breiten unteren
Rand der Gesellschaft schritt unaufhaltsam voran. Das Wirtschafts-
Wachstum reichte nicht annähernd aus, um die rasch zunehmende Bevöl-
kerung mit neuen Arbeitsplätzen zu versorgen. Die Folge war, daß sich
immer mehr ‫״‬ überschüssige“ Arbeitskräfte auf dem Lande stauten, daß
die ländlichen Betriebe im Zuge der Erbteilung immer mehr zersplittert
und verkleinert wurden und die soziale Frage zum drängendsten Problem
der Zwischenkriegszeit avanciertes0. Die Kluft zwischen Eliten und Nicht-
eliten vergrößerte sich. Die gut 2% der Bevölkerung an der Spitze der
sozialen Pyramide - die Besitzelite - verfügte Ende der 30er Jahre z.B. in
Jugoslawien über fast 20% des Volkseinkommens, während die Hälfte der
Bevölkerung aus den unteren Einkommensschichten sich mit einem
Viertel des Volkseinkommens zufriedengeben mußte3‘.
Infolge der ‫״‬ demographischen Revolution“ hatte der Pauperisie-
rungsdruck auf dem Lande dramatisch zugenommen, während die ein-
setzende Industrialisierung zur Entstehung einer zwar schwachen,
gleichwohl nach der russischen Oktoberrevolution bedrohlich erschei-
nenden Arbeiterbewegung führte. Erstmals wurden damit die Umrisse
einer Klassengesellschaft erkennbar.
Die Herausforderung durch den internationalen Wettbewerbsdruck
und die sich öffnende Schere zwischen den westlichen Industrie- und den
zurückbleibenden Balkangesellschaften bzw. die daraus resultierenden
Aufgaben für die Entwicklungspolitik hatten die schon früher zwischen
Populisten und ‫״‬ Westlern“, Konservativen und ‫״‬ Liberalen“ zerstrittenen
Eliten weiter gespalten. Seit der Jahrhundertwende waren verstärkt auch
weltanschauliche Risse hinzugekommen. Die Kluft zwischen der staatsbe-
zogenen Oberschicht und der gesellschaftskritischen Intelligencija ver-
breiterte sich. Die Exklusionsstrategien der Eliten hielten dem Ansturm

3° U m fangreiches M aterial dazu bei M oore, W ilbert E.: Econom ic D em ography o f


E astern a n d S o u th e rn E urope. Geneva 1945. Vgl. au ch S u n d h au ssen , H.: Die
v erp aß te A grarrev o lu tio n . A spekte d e r E ntw icklungsblockade in d en
B alk an län d ern v o r 1945, in: In d u strialisieru n g u n d gesellschaftlicher W andel
in S ü d o steu ro p a, hg. v. Roland Schönfeld. M ünchen 1989, S. 4 5 - 6 0 .
3 * S u n d h au ssen , H.: W irtschaftsgeschichte K roatiens im nationalsozialistischen
G ro ß rau m 1941-1945. Das S cheitern ein er A u sb eu tu n g sstrateg ie. S tu ttg a rt
1983, S. 106.

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24 H. Sundhaussen

der städtischen Schichten auf Gymnasien und Hochschulen nicht mehr


stand, so daß das Heer der hochqualifizierten Arbeitssuchenden in den
20er Jahren ein Ausmaß erreichte, das mit den verfügbaren Ressourcen
nicht mehr befriedigt werden konnte. Hatte es im 19. Jahrhundert noch
einen weit verbreiteten Mangel an qualifiziertem und professionalisier-
tem Personal zur Besetzung der staatlichen Institutionen gegeben, so
kehrte sich die Situation nach dem 1. Weltkrieg um. Jetzt gab es weit
mehr Universitätsabsolventen als untergebracht werden konnten32. Die
Staatsapparate waren hoffnungslos überbesetzt. Und diejenigen, die trotz
einer entsprechenden akademischen Ausbildung nicht mehr adäquat
versorgt werden konnten, verstärkten die Reihen der frustrierten
‫״‬Intelligencija“, die von einem radikalen Umbau der Gesellschaft träumte.
Eine selbstbewußte, vom staatlichen Tropf unabhängige Mittelschicht
war noch immer nicht in Sicht, ebensowenig wie eine leistungsfähige,
nach meritokratischen Prinzipien rekrutierte, politisch neutrale Bürokra-
tie. Zwar gab es eine rechnerische Mittelschicht, d.h. Personen, deren
Einkommen in der statistischen Mitte zwischen den höchsten und nied-
rigsten Einkommensklassen rangierten. Aber diese Gruppe von höheren
Beamten, Freiberuflern, kleineren Unternehmern, Großbauern u.a. war
überaus heterogen und blieb zu einem erheblichen Teil vom Staat abhän-
gig. Dies hinderte sie, ein eigenes Gruppenbewußtsein, eine eigene Iden-
tität auszubilden. Persönliche und regionale Bindungen und die daraus
resultierenden Netzwerke waren nach wie vor wichtiger als programmati-
sehe Bindungen oder das Bekenntnis zu einer bürgerlichen Arbeitsmoral
und Ethik.
Die staatlichen Institutionen blieben weiterhin die wichtigste Res-
source zur Versorgung der Oberschichten und ihrer Klientel. ‫״‬ An der
Regierung zu bleiben und damit die Verfügungsgewalt über Ämter und
Einkünfte zu behalten, war /weitaus/ wichtiger als ein Programm durch-
zusetzen.“33 Die politisch tonangebenden Eliten - auch wenn sie sich als

3a Vgl. Calie, M arie-Janine: Bildung als E ntw icklungsproblem in Jugoslaw ien


(1918-1941), in: A llgem einbildung als M odernisierungsfaktor. Z ur G eschichte
d e r E lem en tarb ild u n g in S ü d o steu ro p a von d e r A ufklärung bis zum zweiten
W eltkrieg, hg. v. N obert R eiter u. H olm S u n d h au ssen . Berlin 1994, S. 116.
33 M aier, Lothar: R um änien a u f d em W eg z u r U nabhängigkeitserklärung 1 8 6 6 -
1877. Schein u n d W irklichkeit lib eraler V erfassung u n d staatlich er
S ouveränität. M ünchen 1989, S. 4 8 0 .

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Eliten, Bürgertum, politische Klasse? 25

‫״‬Liberale“ bezeichneten - strebten nicht nach einer Rückführung des


Staates auf ein Mindestmaß, sondern betrachteten den Staat als wichtig-
stes Instrument des Machterhalts. Nicht weniger, sondern mehr Staat,
lautete ihre Devise. Dementsprechend nahm der Staatsinterventionismus
zu. Damit entstand ein System, das mit Konrad und Szelényi als eine der
Frühformen rationaler Redistribution beschrieben werden kann34: eine
Umverteilung des gesellschaftlichen Mehrwerts nicht durch den selbstre-
gulierenden Markt, sondern durch die politische Elite, die damit nicht nur
sich selbst und die von ihr beherrschten Institutionen, sondern auch die
von ihr gesetzten Modernisierungsziele zu finanzieren suchte.
Und wo die staatlichen Ressourcen beim besten Willen zur Befriedi-
gung der Ansprüche nicht mehr ausreichten, wairden neue Quellen zu
Lasten der Gesellschaft erschlossen, z.B. in Gestalt legalisierter Monopole
oder aber in Form der nichtlegalisierten, gleichwohl akzeptierten Kor-
ruption, die alle Ebenen der institutionalisierten Gesellschaft von unten
nach oben oder von oben nach unten durchdrang.
Der mühsam erkämpfte Parlamentarismus führte die Staaten nach
dem 1. Weltkrieg angesichts zunehmend knapper werdender Ressourcen
und verschärfter Verteilungskämpfe der konkurrierenden Führungs-
schichten immer wieder an den Rand der Unregierbarkeit. Und da die
Attraktivität des Parlamentarismus in vielen Ländern Europas nach der
Euphorie von 1918 schnell wieder verblaßte, sah sich der pragmatische
und konservative Teil der Eliten im Balkanraum unter Führung der Mon-
archen ermutigt, die defizitären Demokratien durch Diktaturen oder
autoritäre Regime zu ersetzen. Ihre Träger - die Hofkamarilla, hohe Mi-
litärs, Wirtschaftsbosse, konservative Ideologen, Opportunisten aller Art,
aber auch Enttäuschte, die der fruchtlosen Streitereien überdrüssig waren
- strebten keine Mobilisierung der Massen nach faschistischem Vorbild
an (dazu fehlten ihnen i.d.R. die technischen Möglichkeiten und die pro-
pagandistischen Kenntnisse, von der Geringschätzung der Massen ganz
zu schweigen), sondern sie versuchten, die Bevölkerung durch patrimo-
niale Bevormundung stillzustellen und gegen radikale Strömungen zu
immunisieren. Ein Teil der regimetreuen Eliten hoffte, die Modemisie-
rung unter dem Schutz der Diktatur fortsetzen zu können, andere zielten

34 K onrád/Szelényi: Intelligenz, S. 75 ff.

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26 H . Sundhaussen

auf die Konservierung des gesellschaftlichen status quo ab. Aber überall
nahm der staatliche Sektor und die Intervention des Staates - nicht zu-
letzt unter dem Druck der desaströsen Weltwirtschaftskrise - rapide zu35.
Das seit der Befreiung von osmanischer Herrschaft erkennbare Defizit an
staatsunabhängiger Gesellschaft verstärkte sich.

***

Nach dem 2. Weltkrieg wurden die Aneignungs- und Exklusionsregeln in


den sozialistischen Ländern grundlegend verändert. Die Appropriation
und Akkumulation politischen, wirtschaftlichen und kulturellen
‫״‬Kapitals“ durch die Kommunistischen Parteien ließ ein Machtmonopol
bisher unbekannten Ausmaßes entstehen. Ideologische Konformität
avancierte zum wichtigsten Rekrutierungsmechanismus der Eliten, wäh-
rend die zunächst stark betonten sozialen Herkunftskriterien bald wieder
in den Hintergrund rückten zugunsten persönlicher Loyalitätsbeziehun-
gen auf der einen und schrittweiser Expansion und Meritokratisierung
des institutionalisierten ‫״‬Kulturkapitals“ auf der anderen Seite. Durch die
Konzentration der politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Verfü-
gungsrechte in den Händen der Nomenklatura entstand das, was Milovan
Djilas 1957 als ‫״‬neue Klasse“ titulierte:
‫״‬Wir haben zu viele vorgeschriebene, von oben vorgeschriebene
Wahrheiten.“ ‫״‬ Die dogmatische, bürokratische Theorie, derzufolge
nur die Kommunisten die bewußten Kräfte des Sozialismus sind
(nach Stalin ein ‘besonderer Menschentyp’) dient nur dazu, sie von
der Gesellschaft zu trennen und über die Gesellschaft zu stellen als
diejenigen, die dazu prädestiniert sind, die anderen zu dirigieren,
weil sie die einzige Gruppe sind, die sich der ' Endziele bewußt' und
vollkommen vertrauenswürdig sind. Diese Theorie und diese Praxis
müssen die Kommunisten von den Massen trennen und sie in Prie-
ster und Polizisten des Sozialismus verwandeln...“ Und weiter: ‫״‬ Die

35 Vgl. R in k i, Gy. / Tom aszew ski, J.: T h e Role o f the S tate in In d u stiy , Banking
a n d T rad e, in: T he Econom ic H istory ao f E astern E urope 1919-1975, hg. v.
M.C. K aser u. E.A. Radice. Vol. 2. O xford 1986, S. 3 ff.; Djurovic, Sm iljana:
D ržavna intervencija и in d u striji Jugoslavije 1918-1941. Beograd 1986; Calie,
M arie-Jan in e: Sozialgeschichte Serbiens 1815-1941. D er aufhaltsam e
F o rtsc h ritt w äh ren d d e r In d u strialisieru n g . M ünchen 1994, S. 4 0 3 ff.

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Eliten, Bürgertum, politische Klasse? 27

Theorie, nach der der Kommunismus von heute eine Form des т о -
demen Totalitarismus ist, ist nicht nur die verbreiteste, sondern
auch die zutreffendste. (...) Der moderne Kommunismus ist dieje-
nige Form des Totalitarismus, die aus drei Hauptfaktoren zur
Kontrolle über das Volk besteht: der erste ist die Macht; der zweite
der Besitz; der dritte die Ideologie. Sie sind das Monopol der einen
und einzigen politischen Partei oder...einer neuen Klasse... Keinem
totalitären System der Geschichte, nicht einmal einem totalitären
System der Gegenwart außer dem Kommunismus ist es gelungen,
gleichzeitig alle diese Faktoren zur Herrschaft über das Volk bis zu
diesem Grad in sich zu vereinigen.^
Diese Formulierungen mögen nicht ungeteilte Zustimmung aller fin-
den, aber der These von der einmaligen Konzentration der Verfügungs-
gewalten wird man sich kaum entziehen können. Zwar wurden im Laufe
der vier Jahrzehnte Sozialismus die Zugangs- und Ausschlußregeln in
einem von Land zu Land unterschiedlichem Ausmaß modifiziert, doch
der Klassencharakter der kommunistischen Oberschicht wurde dadurch
nicht grundlegend in Frage gestellt. Auf Details kann ich hier verzichten,
da diese in anderen Referaten noch behandelt werden.

***

Stattdessen will ich versuchen, in wenigen Worten und stark vereinfacht


(vielleicht zu stark vereinfacht) die Entwicklung seit der Staatsgründung
zusammenzufassen.
Im langfristigen - nicht unbedingt geradlinigen, aber doch stetigen -
Trend zeichnete sich eine zunehmende Konzentration der Verfügungs-
macht über gesellschaftliche Ressourcen in den Händen der staatstragen-
den Eliten ab. Der räumlichen Konzentration auf die Hauptstadt (unter
Vernachlässigung des übrigen Städtenetzes) entsprachen die Konzentra-
tion auf (zentralisierte) staatliche Institutionen (unter Vernachlässigung
nichtstaatlicher, regionaler und lokaler Institutionen), die Konzentration
auf die Hochschulbildung zur Reproduktion der Eliten (unter Vemach-
lässigung der Elementar- und Berufsbildung), die Konzentration auf In-

36 Djilas, M ilovan: Die N eue Klasse. F.ine A nalyse d es k o m m u n istsich en System s.


M ünchen 1957, S. 226.

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28 H. Sundhaussen

dustrie und modernste Technologie (unter Vernachlässigung der


Landwirtschaft) und die Konzentration auf Exekutive und Militär (unter
Vernachlässigung der Zivilgesellschaft). Es waren die politischen Eliten,
die diese Konzentrationsprozesse vorantrieben und von ihnen profitier-
ten. In der ersten Phase - der Phase der Staats- und Nationsbildung -
hing die Zugehörigkeit zur Elite noch stark von personenbezogenen
Merkmalen (vom persönlichen Kapital der Akteure) ab. Im Ergebnis for-
mierte sich eine Art Oligarchie, die in einem langen Machtkampf die An-
eignungs- und Verfügungsregeln über Ressourcen aushandelte und sich
durch Einführung neuer Institutionen eine Basis zur Versorgung ihrer
Anhänger schuf. Ihre Legitimation leitete sie aus ihrem ‫״‬ nationalen
Emanzipationsauftrag“ ab.
In der Krisenphase zwischen den beiden Weltkriegen entstand eine Art
staatlicher Frühkapitalismus im Rahmen einer umrißhaft erkennbaren
Klassengesellschaft (frühe rationale Redistribution). Die ökonomische
Rückständigkeit (insbesondere auf dem Lande), das disproportionierte
Industrialisierungsniveau, die schleppend verlaufende Urbanisierung und
Alphabetisierung begünstigten das Fortbestehen patrimonialer und
traditionalistischer Gefolgschaftsbeziehungen unter veränderten Rah-
menbedingungen. In Auseinandersetzung mit der marginalisierten und
radikalisierten ‫״‬ Intelligencija“ versuchte der konservative Flügel der
partiell verbürgerlichten Eliten, der wirtschaftlich-sozialen Krise und der
zunehmenden politisch-weltanschaulichen Auseinandersetzungen durch
eine weitere Konzentration der erschöpften Ressourcen mittels Staats-
interventionismus in die Wirtschaft und Etablierung der Königs-
diktaturen zu begegnen.
In der dritten Phase kam es in den sozialistischen Ländern zu einer
völligen ideologischen Umpolung der Aneignungs- und Verfügungsrege-
lungen, die zu einem Machtmonopol in den Händen der ‫״‬ neuen Klasse“
führte. Der Weg hatte somit von der traditionell geschichteten, wenig
ausdifferenzierten, klassenlosen Gesellschaft über die staatszentrierte
frühkapitalistische Gesellschaft mit partieller Verbürgerlichung auf der
einen und Formierung einer Arbeiterklasse auf der anderen Seite zur
parteibürokratischen Klassengesellschaft unter sozialistischem Vorzei-
chen mit voll ausgebildeter rationaler Redistribution geführt. Ein gemein-
sames Merkmal aller drei Phasen ist das Fehlen einer selbstbewußten,

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Eliten, Bürgertum, politische Klasse? 29

gesellschaftsprägenden Mittelschicht. Eliten und Nichteliten (einschließ‫־‬


lieh der selbst ernannten Führungsschicht in Gestalt der ‫״‬ Intelligencija“)
standen sich mehr oder minder unvermittelt gegenüber. Die Legiti-
mations-, Rekrutierungs- und Ausschließungsstrategien der Eliten
gegenüber dem Rest der Bevölkerung veränderten sich zwar infolge
unterschiedlich definierter Loyalitätsbeziehungen, doch der vorwiegend
duale Charakter der Gesellschaft blieb erhalten. Ihn zu überwinden,
gehört zu den großen Herausforderungen der postsozialistischen Umge-
staltungsphase.
Das Fehlen bzw. die Schwäche einer Mittelschicht im soziologischen
(nicht statistischen) Sinn hatte weitreichende, negative Konsequenzen
auf die Effizienz der gesellschaftlichen Systeme. Wenn die These vieler
Modernisierungsforscher richtig ist, daß nämlich langfristige und brei-
tenwirksame Steigerungen der gesellschaftlichen Leistungs- und Anpas-
sungskapazitäten auf eine weitreichende Autonomie der Teilsysteme und
die ‫״‬ Entfesselung der teilsystemspezifischen Rationalität“ (Niklas Luh-
mann) zurückzuführen ist, dann sind die Gründe für den schleppenden
und widerspruchsvollen Verlauf der Modernisierung in den Balkanlän-
dem evident. Die fortschreitende Zentralisierung von Verfügungsrechten
in den Händen der Oberschicht bzw. der ‫״‬ neuen Klasse“ erstickte nicht
nur die Autonomie potentieller Teilsysteme, sondem warf auch die Frage
nach den Kontrollmechanismen auf. Um eine wirksame Kontrolle zu
ermöglichen, bedarf es einer unabhängigen und materiell gesicherten
Schicht, die nicht der Gruppe angehört, die es zu kontrollieren gilt. Woher
sollen diese Personen kommen, wenn nicht aus der Mittelschicht? Und
weiter: Kontrolle ohne mögliche Sanktionen bleibt wirkungslos. Deshalb
ist es von grundsätzlicher Bedeutung, daß gleichzeitig mit der Regelung
von Verfügungs- und Ausschlußrechten auch Sanktionsrechte ausgehan-
delt werden. Ihre Durchsetzung ist Aufgabe der richterlichen Gewalt.
Verfügungsrechte ohne Kontrolle und Kontrolle ohne Sanktionen bzw.
Haftungsverpflichtung führen fast zwangsläufig zur Ineffizienz. Entgegen
einer weit verbreiteten Auffassung, die auch im gegenwärtigen Transfer-
mationsprozeß immer wieder zu hören war, daß private Verfügungsrechte
(gleichsam automatisch) effizienter seien als zentralisierte Verfügungs-
rechte wird hier die Auffassung vertreten, daß es nicht oder nicht allein
darauf ankommt, ob Verfügungsrechte zentralisiert oder dezentralisiert

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30 H. Sundhaussen

sind, sondern daß Besitz und Verfügungsmacht ohne Kontrolle und ohne
Haftung früher oder später stets zur Ineffizienz führen. Die Geschichte
der Eliten in den Balkanländem ist zu weitgehenden Teilen eine Ge-
schichte von Rechten ohne Pflichten. Amtsmißbrauch wurde selten oder
nur milde geahndet. Vorwürfe wegen Korruption oder Nepotismus hat es
zwar in Hülle und Fülle gegeben. Aber entsprechende Untersuchungen
endeten meistens ergebnislos. Und wenn es Verurteilungen gab, war die
Korruption oft nur Vorwand in einem Machtkampf, nicht wahrer Grund
für die Verurteilung 3?. Wahlmanipulationen gehörten faktisch zum Sy-
stem. Und die Folgen von Mißwirtschaft wurden regelmäßig auf die Ge-
sellschaft abgewälzt. Das war in vorsozialistischer Zeit nicht viel anders
als in sozialistischer Zeit. Auch in diesem Punkt stehen die postsozialisti-
sehen Gesellschaften vor einer großen Herausforderung. Eine Privatisie-
rung bzw. Dezentralisierung von Eigentums- und Verfügungsrechten
ohne gleichzeitige Dezentralisierung von Haftungsverpflichtungen be-
günstigt den Fortbestand einer (von der Politik in die Wirtschaft oder von
der Wirtschaft in die Politik zirkulierenden) Führungsschicht, die fernab
von der Gesellschaft und über der Gesellschaft steht.

37 Vgl. K ulundžic, Z vonim ir: Politika i k o ru p cija и kraljevskoj Jugoslaviji. Z agreb


1968.

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Elitenwandel in Südosteuropa:
Einige Bemerkungen aus elitentheoretischer Sicht

Anton Sterbling ‫■־‬


"

Der Niedergang der kommunistischen Alleinherrschaft in Ost- und Süd-


Osteuropa veranlaßte viele Beobachter und Akteure und nicht zuletzt
auch namhafte Sozialwissenschaftler wie etwa Ralf Dahrendorf von einer
‫״‬Revolution“ zu sprechen.1 Der Begriff der Revolution indes legt nicht nur
eine tiefgreifende Veränderung der politischen Herrschaftsordnung und
Umwälzungen der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch einen
weitgehenden Elitenwandel nahe. Dem steht nun die vielfach vorgetra-
gene und mitunter auch mit Akzenten moralischer Empörung versehene
Feststellung einer nahezu bruchlosen Kontinuität der Eliten in den Staa-
ten Südosteuropas gegenüber.2
Ein dritter, den realen Gegebenheiten wohl recht nahe kommender
Befund wiederum besagt, daß es zwar einen Elitenwechsel in vielen in-
stitutionellen Bereichen und Spitzenpositionen gegeben habe, daß dabei
aber nur selten alternative Gegeneliten aufgestiegen sind. In die durch
den Abgang der alten Eliten freigewordenen oder im Zuge des institutio-
nelien Wandels neu entstandenen Eliten Positionen aufgerückt sind vor
allem Funktionäre, Technokraten und Angehörige der Intelligenzija der
höheren und mittleren Hierarchieebene im alten System, wobei der Eli-
tenwechsel sich zugleich und vor allem als ein Generationswechsel der

1 Siehe: D ah ren d o rf, Ralf: B etrachtungen ü b e r d ie R evolution in E u ro p a , in


einem Brief, d e r a n ein en H errn in W arsch au g e ric h te t ist. S tu ttg a rt 1990.
Siehe auch: E a ste rn E u ro p e in Revolution, hg. v. Ivo Banac. I t h a c a - L ondon
1993; (iab an y i, A nneli lite : System w echsel in R um änien. Von d e r R evolution
z u r T ran sfo rm atio n . H am burg 1996 (D issertation).
2 Siehe zum Beispiel: M argolina, Sonja: Im S u m p f d e r V ergangenheit. D as alte
K aderw esen v e rh in d e rt in R ußland die H e rau sb ild u n g n e u e r E liten, in:
F ra n k fu rte r A llgem eine Zeitung. Beilage B ilder u n d Z eiten, N r. 141 vom 21.
J u n i 1997.

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32 A . Sterbłing

Eliten darstellt. Alte und neue Eliten haben indes insofern viele Gemein-
samkeiten, als sie häufig denselben Herkunftsgruppen angehören oder
über ähnliche Bildungs- und Karrierewege aufgestiegen sind .3
Solche Befunde können sicherlich durch vielfache empirische Unter-
suchungen und Beobachtungen gestützt werden,‫♦־‬sie sind aber zugleich -
wie angedeutet - weitgehend interpretationsoffen- Um die Frage, ob und
inwiefern es in den Gesellschaften Südosteuropas einen Elitenwandel
gegeben hat, in einem sozialstrukturell und modemisierungstheoretisch
präziseren Sinne zu fassen und mit mehr analytischer Tiefenschärfe zu
verbinden, erscheinen daher einige klärende elitentheoretische Uberle-
gungen angebracht.

3 Siehe: Beyme, Klaus von: System w echsel in O steu ro p a. F ra n k fu rt a. M. 1 9 9 4 »


insb. S. 175 ff.; Sterbling, A nton: S tru k tu rfra g e n u n d M od ern isieru n g s-
P ro b lem e sü d o ste u ro p ä isc h e r G esellschaften. H am b u rg 1993.
4 Z u r E lite n p ro b le m a tik in O steuropa u n d S ü d o steu ro p a liegt m ittlerw eile eine
u m fan g reich e L ite ra tu r vor. W as die E liten p ro b lem atik in O steu ro p a o d e r
ein zeln en o ste u ro p ä isc h e n L änder betrifft, sieh e zum Beispiel: /Elites in
T ra n sitio n . E lite R esearch in C entral a n d E a ste rn E u ro p e, hg. v. H e in n c h Best
u. U lrike Becker. O p lad en 1997;/Beyme, Klaus v.: System w echsel in O steu ro p a.
a.a.O ., insb. S. 175 ff.;: Social C hange a n d M odernization. I^essons from
E a ste rn F^urope, hg. v. B runo G rancelli. Berlin - New York 1 9 9 5 » insb. P art
O ne: T h e A ctors o f Change, S. 43 ff.; Kukolev, Ig o r / Stryków , Petra:
E liten fo rsch u n g , in: Sozialw issenschaft in R ußland, hg. v. In g rid O sw ald u. a.
B and 1, B erlin er D ebatte. Berlin 1996, S. 8 3 -1 1 3 ; M attusch, Katrin: W ie
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B álint Balla и. A nton Sterbling. H am b u rg 1996, S. 1 7 9 -2 0 9 . Z u r E liten p ro -
b lem atik in S ü d o ste u ro p a o d e r einzelnen sü d o ste u ro p ä isc h e n L an d ern siehe
zum Beispiel: W inderl, T hom as: M achteliten im System Wechsel: U b er W andel
u n d K o n tin u ität o steu ro p äisch er E liten, in: S ü d o steu ro p a. Z eitschrift für
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G yörgy Szoboslai. B u d ap est 1991, S. 2 2 6 - 2 8 6 ; H oppe, H an s-Jo ach im : Das
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H an s-Jo ach im : Die neue politische Elite K roatiens ( ‫ ־‬B erichte des
B u n d e sin stitu ts fü r ostw issenschaftliche u n d in te rn a tio n a le S tu d ien , Heft 7).
Köln 1997; G abanyi, A nneli Ute: System w echsel in R um änien. a.a.O .; Roth,
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A nton S terb lin g u. H einz Z ipprian. H am b u rg 1997, S. 181-204.

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Eliten wandel in Südosteuropa 33

Solche elitentheoretische Reflexionen werden im ersten Teil meines


Beitrages im Mittelpunkt der Ausführungen stehen. Im zweiten Teil des
Beitrages werden sodann - unter Bezugnahme auf diese elitentheoreti-
sehen Ausführungen - einige Überlegungen zur Rolle der Eliten und zum
Elitenwandel in Südosteuropa entwickelt.

Elitentheoretische Überlegungen
Der Elitenbegriff ist nicht nur stark wertgeladenen und ideologiebesetzt.
Er erscheint auch in seiner sozialwissenschaftlichen Verwendung reich-
lieh kontrovers und schillernd .5 Viele Probleme und Mißverständnisse der
gegenwärtigen Diskussion um den Elitenwandel in Ost- und Südosteu-
ropa resultieren meines Erachtens aus einer ungenügend klaren theoreti-
sehen Bestimmung und empirischen Abgrenzung des Elitenbegriffs.
So fällt zunächst auf, daß osteuropäische Sozialwissenschaftler heute
zu einer nahezu inflationären Verwendung des vormals ideologisch weit-
gehend tabuisierten Elitenbegriffs neigen.6 Dabei wird dieser Begriff nicht
selten relativ umstandslos als semantisches Äquivalent der obsolet ge-
wordenen Begriffe Spitzenkader oder Nomenklatura verwendet, oder aber
als Beschreibungs- und Selbstbeschreibungskategorie der Intelligenzija
gebraucht. Auch wenn es um wirtschaftliche Akteure oder Angehörige der
‫״‬ neuen Unternehmerschaft“, um sogenannte ‫״‬ Neureiche“ oder selbst um
irgendwelche Lokal-, Kommunal- oder Provinzpolitiker geht, wird mit-
unter vorschnell - manchmal allerdings auch nur in ironischer Absicht -
von ‫״‬ Eliten“ gesprochene Diese vielseitigen, ungenauen und mitunter

5 Siehe d azu auch: Sterbling, A nton: Eliten im M o d ern isieru n g sp ro zeß , in:
W ohin geht die S prache? W irklichkeit - K om m unikation - K om petenz, hg.
J ü rg e n M itteLstraß. Essen 1989, S. 2 0 6 -2 1 9 .
6 Zu d en Folgen ideologischer T ab u isieru n g b e s tim m te r Begriffe u n d
D enkfiguren w ä h re n d d e r kom m unistischen I le rrsc h a ft sieh e auch: S terbling,
A nton: U n terd rü ck u n g , Ideologie u n d d e r u n te rg rü n d ig e F o rtb e s ta n d von
M ythen, in: M ythen, Symbole, R ituale. Die G esch ich tsm äch tig k eit d e r
,Zeichen' in S ü d o steu ro p a im 19. und 20. J a h r h u n d e r t, hg. v. D ittm a r
D ahlm ann u. W ilfried Potthoff. Bonn 1998 (in V orbereitung).
7 Siehe: Social C hange and M odernization. le s s o n s from E a ste rn E u ro p e, hg. v.
B runo G rancelli. B erlin - New York 1995; M attusch, K atrin: W ie k o n so lid iert
sin d die n eu en D em okratien in O steuropa? a.a.O .; L issjutkina, L arissa: Die
‫״‬n eu reich en R ussen“ . Z ur Typologie d e r U n te rn eh m e rsc h a ft, in: M ax W eb er
u n d O steu ro p a. B eiträge z u r O steuropaforschung 1, a.a.O ., S. 1 6 7 -1 8 0 .

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34 A. Sterbling

auch leichtfertigen Vervvendungsformen des Elitenbegriffs sind indes nur


ein spezifischer Ausdruck eines allgemeineren Problems.
Wie sich bei näherer Betrachtung nämlich zeigt, wird in der eliten-
theoretischen Diskussion und sozialwissenschaftlichen Forschung relativ
inkonsistent und deutungsoffen mit unterschiedlichen Elitekonzepten
operiert, wobei selbst die Grundfrage, ob Eliten eine ‫״‬ allgemeine“ oder
eine ‫״‬historische“ Analysekategorie darstellt, durchaus strittig erscheint.8
Günter Endruweit hat dieses weite und komplizierte Feld verschiedener
Auffassungen und Begriffsbestimmungen insofern einigermaßen über-
schaubar gemacht, als er die gängigen wie auch die weniger gebräuchli-
chen Konzepte der ‫״‬ Positionseliten“, ‫״‬Leistungseliten“ ‫״‬Funktionseliten“,
‫״‬Machteliten“, ‫״‬ Werteliten“, ‫״‬Selbsteinschätzungseliten“ und ‫״‬ Fremdein-
schätzungseliten“ systematisch einander gegenübergestellt und in ihrem
analytischen Gehalt näher expliziert hat .9
Daran anknüpfend kann man feststellen, daß in sozialwissenschaftli-
chen und insbesondere in politikwissenschaftlichen Analysen häufig mit
dem Konzept der ‫״‬ Funktionseliten“ oder dem an C. Wright Mills ange-
lehnten Begriff der ‫״‬ Machtelite“10 wie auch mit dem empirisch relativ
einfach operationalisierbaren Konzept der ‫״‬ Positionseliten“ gearbeitet
wird. Das Konzept der ‫״‬ Funktionseliten“ erscheint indes - übrigens ähn-
lieh wie das der ‫״‬Leistungseliten“ - an spezifische strukturelle Vorausset‫־‬
zungen und mitunter auch an einschränkende normative Vorannahmen
gebunden,“ die den analytischen Gebrauch in der Osteuropaforschung

8 Siehe: D reitzel, H ans P eter: E litebegriff u n d S o zialstru k tu r. S tu ttg a rt 1962;


S ch lu ch ter, W olfgang: D er E litebegriff als soziologische Kategorie, in: Kölner
Z eitschrift fü r Soziologie u n d Sozialpsychologie 15 (1963), S. 2 3 3 -2 5 6 , insb. S.
236 ff.; ‫ ״‬D em okratische“ E liten h errsch aft. T rad itio n sb e stä n d e eines
sozialw issenschaftlichen Problem s, hg. v. W ilfried R öhrich. D arm stad t 1975.
9 Siehe: E ndruw eit, G ü n ter: Elite u n d Entw icklung. T h eo rie u n d E m pirie zum
E influß von E liten a u f E ntw icklungsprozesse. F ra n k fu rt a. M. - Bern - New
York 1986, insb. S. 15 ff.
10 Siehe: Mills, C. W right: Die am erikanische Elite. G esellschaft u n d M acht in
d en V ereinigten S taaten . H am burg 1962. Siehe auch: B ottom orc, T hom as B.:
Elite u n d G esellschaft. Eine Ü bersicht ü b e r d ie Entw icklung des
E liteproblem s. M ünchen 1966.
‫״‬ Das K onzept d e r F unktionseliten u n d m e h r noch d a s d e r Leistungseliten
e rsc h e in t häufig m it V o ran n ah m en wie offenem u n d fairem W ettbew erb,
R ek ru tieru n g u n d Selektion d e r E liten a u f d e r G ru n d lag e fachlicher
Q ualifikation u n d individueller l>eistungsfähigkeit, D om inanz funktionaler

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Eliten wandel in Südosteuropa 35

deutlich begrenzen. Das Konzept Machtelite wiederum hat den Nachteil,


daß es sehr stark auf den Macht- und Herrschaftsaspekt ausgerichtet ist,
daß es die Aufmerksamkeit weitgehend auf die politische Elite konzen-
triert wie auch von einer gewissen Dominanz der politischen Elite
ausgeht, was unter bestimmten Herrschaftsverhältnissen und Elitenkon-
figurationen zwar zutrifft, aber nicht ohne weiteres generalisierbar
erscheint. Das Konzept der ‫״‬ Positionseliten“ schließlich - eine relativ
einfache entsprechende Definition lautet, ‫״‬ daß Eliten Menschen in
strategischen Positionen in öffentlichen und privaten bürokratischen
Organisationen sind“‘2 - ist für die Analyse der Elitenbildung und des
Elitenhandelns unter den Bedingungen einer relativ stabilen institutio-
nelien Ordnung durchaus geeignet, zumal der Positionsbezug ein empi-
risch relativ gut handhabbares Bestimmungs- und Abgrenzungskriterium
der Eliten bereitstellt. Dieses Konzept erscheint aber nur in begrenztem
Maße zur Untersuchung des Elitenwandels geeignet, wenn man unter
Elitenwandel nicht nur ein Wechsel oder Austausch der Eliten versteht,
sondern dabei auch weitreichende Veränderungen des institutionell und
sozialstrukturell verankerten Positions- und Statussystems und der maß-
geblichen Elitenbeziehungen mit in Betracht zieht.
Von System- und Elitenwandel ist - im Gegensatz zum Elitenwechsel
- dann zu sprechen, wenn Eliten nicht nur im Rahmen bestehender In-
stitutionen oder ‫״‬ bürokratischer Organisationen“ agieren, sondern auch
und vor allem als ‫״‬ Konstrukteure neuer institutioneller Ordnungen“ her-
vortreten,3‫׳‬wobei sich - bei weitreichenden Veränderungen der institu-

A u to ritä t u n d R atio n alität usw. verb u n d en . Oies sch rän k t d e n G e b ra u c h a u f


b estim m te, d em o k ratisch geordnete H andlungskontexte u n d e n tsp re c h e n d e
G esellschaftssystem e ein. Siehe dazu: S tam m er, O tto: Das E lite n p ro b le m in
d e r D em okratie, in: ‫ ״‬D em okratische“ E liten h errsch aft. T ra d itio n sb e stä n d e
eines sozialw issenschaftlichen Problem s, a.a.O., S. 1 9 2 -2 2 4 ; B achrach, P eter:
Die T h eo rie d e m o k ra tisc h e r E liten h errsch aft. E ine k ritisch e A nalyse.
F ra n k fu rt a. M. 1970; H artm an n , Heinz: F unktionale A u to rität. S ystem atisch e
A b h an d lu n g zu einem soziologischen Begriff. S tu ttg a rt 1964.
12 Siehe: Field, Ixnvell G. / Higley, Jo h n : Eliten u n d L iberalism us. E in neues
M odell z u r geschichtlichen Entw icklung d e r A bhängigkeit von E liten u n d
N icht-E liten: Z usam m enhänge, M öglichkeiten, V erpflichtungen. O p lad en
1983, vgl. S. 34.
>3 Siehe d azu au ch : Rokkan, Stein: Eine Fam ilie von M odellen fü r die
vergleichende G eschichte E uropas, in: Z eitschrift fü r Soziologie 9 (1 9 8 0 ), S.
118-128; E isen stad t, Sam uel N.: R evolution u n d T ra n sfo rm a tio n von

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36 A. Sterbling

tionellen Ordnungen und des Positionsgefüges einer Gesellschaft - in der


Regel auch die bestehenden Elitenkonfigurationen, das heißt die grundle-
genden Beziehungen zwischen verschiedenen Elitengruppen wie auch
zwischen Eliten und Nichteliten, mehr oder weniger tiefgreifend w andeln.
Zur Untersuchung der Art und das Ausmaßes des Elitenwandels er-
scheint daher die Analyseebene der Elitenkonfigurationen von primärer
Bedeutung. Bevor ich anschließend einige Erläuterungen zum Konzept
der Elitenkonfiguration gebe, möchte ich zunächst den Elitenbegriff
selbst zumindest grob definieren.
Es handelt sich hierbei - so sei vorausgeschickt - um eine Begriffsbe-
Stimmung, die sich an den Analysebelangen des Elitenwandels ausrichtet
und daher vorrangig handlungstheoretisch und prozößorientiert angelegt
ist. Zu den Eliten zählen danach all diejenigen Personen, die über längere
Zeit auf Grund bestimmter Handlungsressourcen und besonderen, in der
Regel privilegierten Handlungschancen Adressaten spezifischer Erwar-
tungen größerer Bezugsgruppen sind und deren Entscheidungshandeln
oder Situationsdeutungen für größere Bevölkerungsgruppen handlungs-
relevant oder meinungsbildend werden. Soweit die Realitätsdeutungen
und Entscheidungen der Eliten strukturelle Auswirkungen haben, kön-
nen sie auch die Lebensbedingungen größerer Personenkreise folgenreich
verändern. Dabei müssen - darauf sei ausdrücklich hingewiesen - Ab-
sichten und Ziele des Elitenhandelns und die durch ihr Entscheidungs-
handeln herbeigeführten strukturellen Folgen, zu denen oft eine Vielzahl
unvorhersehbarer, nichtintendierter oder paradoxer Nebenfolgen zählen,
keineswegs übereinstimmend Die zentralen Elemente der vorgeschlage-
nen Definition des Elitenbegriffs sind also: Verfügung über bestimmte
Handlungsressourcen (zum Beispiel Wissen, Kapital, Macht usw.), be-
sondere Handlungschancen, asymmetrische Erwartungsbeziehungen und
Anerkennungsbedürfnisse im Verhältnis zwischen Eliten und Nichteliten

G esellschaften. Eine vergleichende U n tersu ch u n g v ersch ied en er K ulturen.


O pladen 1982; Sterbling, A nton: W id ersp rü ch lich e M oderne u n d die
W iderspenstigkeit d e rT ra d itio n a litä t. H am b u rg 1997, insb. S. 161 ff.
‘4 Die ‫״‬p arad o x en “ W irkungen d es E liten h an d eln s w äre sicherlich ein interes-
s a n te r U n tersu ch u n g sg eg en stan d , vor allem , w enn m an b erü ck sich tig t, d aß es
dabei in vielen Fällen um strateg isch es E n tsch eid u n g sh an d eln geht, das
zum eist ein ‫״‬G egenhandeln“ (a n d e re r I^litengruppen o d e r N ich teliten g ru p p en )
nach sich ziehen kann o d e r in R echnung stellen m uß.

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Eliten wandel in Südosteuropa 37

sowie Entscheidungs- und Definitionsmacht mit kollektiv relevanten


Auswirkungen.^
ln Anlehnung an diese Elitenbestimmung lassen sich nun auch
wichtige konstitutive Elemente oder Dimensionen von Elitenkonfigura-
tionen erläutern. Will man Elitenkonfiguration erfassen, so kann man in
einer ersten Annäherung alle wesentlichen Beziehungen zwischen Eliten
und Nichteliten wie auch zwischen maßgeblichen Elitengruppen in einer
Gesellschaft dazuzählen. Was die Beziehungen zwischen Eliten und
Nichteliten betrifft, so kann man diese - idealtypisch betrachtet - im
wesentlichen als Macht- oder Autoritätsbeziehungen ( Herrschaftsbe-
Ziehungen) oder aber als Stellvertretungsbeziehungen auffassen.16 Die Art
der Beziehungen zwischen Eliten und Nichteliten wird davon maßgeblich
bestimmt: a) ob und inwiefern sich diese auf gemeinsam geteilte
Überzeugungssysteme, auf (partiell) gemeinsame Ziele oder ähnlich
gelagerte Interessen stützen, b) welche Handlungsressourcen (Wissen,
Kapital, Macht, Sanktionsmittel usw.) dabei relevant und wie diese
verteilt sind und c) inwiefern es sich um institutionell verankerte und
stabilisierte Beziehungen handelt. Damit hängt auch unmittelbar
zusammen, welche Kriterien der Rekrutierung und Selektion der Eliten
maßgeblich sind, über welche Durchsetzungschancen und Unter-

‘5 Siehe d azu auch: S terbling, A nton: K ontinuität u n d W andel in R um änien u n d


S ü d o steu ro p a. H istorisch-soziologische A nalysen. M ünchen 1997, insb. S. 255
ff.
16 Die realen E liten-N ichteliten-B eziehungen stellen zum eist eine M ischung
zw ischen M acht-, A u to ritäts- oder S tellvertretungsbeziehungen d ar, wobei die
jew eiligen K om ponenten (von M acht, A utorität, D elegation u.ä.) allerdings
rech t u n te rsch ied lich v erteilt sind, so d aß diesbezüglich von ein er großen
V ariabilität d e r E liten-N ichteliten-V erhältnlsse au szugehen ist. H inzu kom m t
als ein w e ite re r d ifferen zieren d er G esichtspunkt, d a ß es sich um ‫״‬funktionale“
o d er um ‫״‬p ersö n lich e“ A bhängigkeitsbeziehungen o d e r a b e r um M ischform en
h an d eln kann. Siehe: W eber, Max: W irtschaft u n d G esellschaft. G ru n d riß d e r
v ersteh en d en Soziologie. T übingen 51976, insb. S. 122 ff. u n d S. 541 ff.; Roth,
G ü n th er: P olitische H errsch aft u n d persönliche F reiheit. H eidelberger Max
W eber-V orlesungen 1983; W eiß, Jo h an n es: S tellv ertretu n g . Ü berlegungen zu
ein er v ern ach lässig ten soziologischen Kategorie, in: K ölner Z eitschrift fü r
Soziologie u n d Sozialpsychologie 36 (1984), S. 4 3 -5 5 ; Popitz, H einrich:
A u to ritätsb ed ü rfn isse. D er W andel d e r sozialen S ubjektivität, in: Kölner
Z eitschrift fü r Soziologie u n d Sozialpsychologie 39 (1987), S. 6 3 3 -6 4 7 ;
Sterbling, A nton: E liten im M odernisierungsprozeß. Ein T h eo rieb eitrag u n te r
b e so n d e re r B erücksichtigung g ru n d lag en th eo retisch er Problem e. H am burg
1987, S. 258 ff.

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38 A. Sterbling

stützungspotentiale die Eliten verfügen wie auch, auf welche Kontroll-


und Sanktionsmöglichkeiten die Nichteliten zurückgreifen können.17 Die
Entscheidungs- oder Definitionsmacht der Eliten erscheint in einem sol-
chen Konzept durch bestimmte Überzeugungssysteme, Ziele oder Inter-
essen begründet, die entsprechende Eliten- und Nichtelitengruppen
zumindest partiell miteinander teilen und aneinander binden, und gleich-
sam auch durch entsprechende Bindungen begrenzt.
Neben und im Zusammenspiel mit den Eliten-Nichteliten-Beziehun-
gen sind für die nähere Kennzeichnung von Elitenkonfigurationen natür-
lieh auch die Beziehungen zwischen verschiedenen Elitengruppen
konstitutiv. Greift man zunächst auf die Typologie von Field und Higley
zurück, so kann zwischen ‫״‬ Konsensus-Eliten“, ‫״‬ unvollständig vereinten
Eliten“, ‫״‬ entzweiten Eliten“ (bzw. tödlich verfeindeten Eliten) und
‫״‬ideologisch geeinten Eliten“ unterschieden werden.18 In dieser Typologie
wird vor allem auf die Dimension der weltanschaulich-ideologisch be-
gründeten Konflikt-, Konkurrenz- oder Konsensbeziehungen und auf die
politischen Machtauseinandersetzungen zwischen einzelnen Elitengrup-
pen Bezug genommen. Ein anderer, damit mehr oder weniger eng zu-
sammenhängender Betrachtungsgesichtspunkt der Elitenbeziehungen
besteht darin, in welchem Maße die Handlungs- und Kompetenzsphären
verschiedener Elitengruppen ausdifferenziert sind; das heißt über welche
Handlungsautonomie einzelne Elitengruppen verfügen, in welchem Maße
sich ihr Handeln nach eigenständigen, teilsystemspezifischen Rationali-
tätskriterien ausrichtet, legitimiert und soziale Anerkennung findet, wie
stark sich die Einfluß- und Handlungssysteme verschiedener Elitengrup-
pen überschneiden und durchdringen oder voneinander separiert sind
usw\!9 All dies hat natürlich auch und vor allem mit der funktionalen
Differenzierung und institutionellen Ordnung einer Gesellschaft zu tun.
Dabei spielen aber auch die Homogenität oder Heterogenität der sozialen
Herkunft der Eliten, die typischen Rekrutierungs-, Selektions- und Auf­

17 Siehe: S chluchter, W olfgang: D er E litebegriff als soziologische Kategorie.


a.a.O .
18 Siehe: Field, Lowell G. / Higley, Jo h n : Eliten und Liberalism us. a.a.O., insb. S.
56 .
19 Siehe: Sterbling, A nton: Eliten im M odernisierungsprozeß, in: W ohin geht die
S prache? W irklichkeit - K om m unikation - K om petenz, a.a.O ., S. 2 0 6 -2 1 9 .

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Eliten wandel in Südosteuropa 39

stiegswege, die interinstitutionellen Kommunikations- und Konfliktbe-


Ziehungen, die Wertestruktur und Kommunikationskultur einer
Gesellschaft und eine Vielzahl weiterer Faktoren eine nicht unwesentliche
Rolle.
In der näheren Analyse und Kennzeichnung vorliegender Elitenkon-
figurationen - dies sei an dieser Stelle zumindest angemerkt - erscheinen
noch zwei weitere Gesichtspunkte unbedingt beachtenswert. Zunächst ist
näher zu berücksichtigen, welche Rolle bestimmte Elitengruppen in
intergesellschaftlichen, interkulturellen und internationalen Kommuni-
kations- und Diffusionsvorgängens, in gesellschaftsübergreifenden Bezie-
hungen spielen und welche Auswirkungen solche durch Eliten und
andere Trägergruppen vermittelten Prozesse auf gesamtgesellschaftliche
Entwicklungen und innergesellschaftliche Konflikte haben.20 Ein weiterer
Betrachtungsgesichtspunkt wären die Eigeninteressen einzelner Eliten-
gruppen. Das heißt, es müßte auch näher berücksichtigt werden, in wel-
chem Maße bestimmte Elitengruppen Interessen verfolgen, die
unabhängig von den aus den relevanten Eliten-Nichteliten-Beziehungen
sich ergebenden Verpflichtungen und Erwartungshaltungen sind - oder
diesen geradezu gegenläufig erscheinen.21
Wenn man die Eliten-Nichteliten-Beziehungen, die intergesellschaft-
liehen Beziehungen und auch die Eigeninteressen der Eliten weitgehend
ausblendet und allein die Beziehungen zwischen maßgeblichen Eliten-
gruppen in den beiden angesprochenen Dimensionen in den Blick nimmt,

20 H ierbei geht es auch um die Rolle d e r E liten in d e r A daption o d e r in d e r


B ekäm pfung b estim m ter, von au sw ärts k o m m en d er k u ltu rellen Id e e n o d e r
in stitu tio n eller Innovationen, wobei solche V orgänge in M o d em isieru n g s-
Prozessen u n d nicht zuletzt in d en gegenw ärtigen M o d em isieru n g sb e-
Strebungen in O st- u n d S ü d o steu ro p a eine ganz w ichtige Rolle spielen. Siehe:
Sterbling, A nton: Gegen die M acht d e r Illusionen. Zu einem E u ro p a im
W andel. H am burg 1994, insb. S. 225 ff.; S terbling, A nton: K o n tin u ität u n d
W andel in R um änien u n d S üdosteuropa. H istorisch-soziologische A nalysen.
a.a.O ., insb. S. 147 ff.
21 R obert M ichels h at die V erselbständigung d e r E igeninteressen d e r E liten
gegenüber d en B asisinteressen bekanntlich als ‫״‬O lig arch isieru n g sten d en z“
m o d e rn e r P arteien u n d O rganisationen b esch rieb en . A ber au ch in a n d e re n
H insichten u n d Z usam m enhängen können sich die E igeninteressen d e r E liten
verselbständigen und in d en V o rd erg ru n d schieben. Siehe: M ichels, R obert:
M asse, F ü h rer, Intellektuelle. Politisch-soziologische A ufsätze 1 9 0 6 -1 9 3 3 .
F ra n k fu rt a. M. - New York 1987.

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40 A. Sterbling

fallt selbst bei Gesellschaften auf einem vergleichbaren Entwicklungsni-


veau und mit einer ähnlichen politischen Ordnung eine große Variabilität
ihrer Elitenkonfigurationen auf. Deutlicher noch unterscheiden sich Eli-
tenkonfigurationen verschiedener Kulturkreise und Gesellschaftssysteme.
In der Betrachtung des System- und Elitenwandels kommt daher der
Analyse der Stabilität und der Transformation der Elitenkonfigurationen
eine wesentliche Rolle zu. Eine Beschränkung der Analyse auf den Ge-
sichtspunkt des Elitenwechsels - also auf die Fragen, in welchem Maße
ein Elitenaustausch stattfindet und aus welchen Gruppen sich die Eliten
rekrutieren - wäre jedenfalls zu kurz gegriffen.

• I

Überlegungen zur Rolle der Eliten und zum Elitenwandel in


Südosteuropa
Vor dem Hintergrund der grob umrissenen elitentheoretischen Überle-
gungen sollen nun einige thesenartig pointierte Überlegungen zur Rolle
der Eliten und zum Elitenwandel in Südosteuropa entwickelt werden. Im
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit soll dabei die Frage stehen, inwiefern es
zu einem Wandel der Elitenkonfigurationen gekommen ist.
Greift man auf die schon erwähnte Typologie von Field und Higley
zurück,22 so läßt sich zunächst feststellen, daß die Elitenkonfigurationen
in den Staaten Südosteuropas unter kommunistischen Herrschaftsbedin-
gungen am ehesten dem Typus der ‫״‬ ideologisch geeinten Eliten“ entspra-
chen. Aufstiegskriterien in die Eliten waren ‫״‬ ideologische Konformität“
und mehr noch ‫״‬ persönliche Loyalität“.23 Die Elitenkonfigurationen
waren stark vom politischen Zentrum beherrscht und bestimmt und
ideologisch weitgehend gleichgeschaltet. Haben sich die Eliten der süd-
osteuropäischen Staaten nach der kommunistischen Machtübernahme
zunächst - im Zuge eines mehr oder weniger weitgehenden Elitenaus-
tausches, der die Verdrängung und auch Vernichtung von Teilen der bis

22 Siehe: Field, Lowell G. / Higley, Jo h n : Eliten u n d Liberalism us. a.a.O ., insb. S.


56.
23 Siehe auch: Roth, G ü n th er: Politische H errschaft u n d persönliche F reiheit.

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Eliten wandel in Südosteuropa 41

dahin herrschenden Eliten einschloß2* - aus Gruppen der marginali-


sierten Intelligenzija wie auch aus unteren bäuerlichen und städtischen
Bevölkerungsgruppen rekrutiert, so erfolgte der soziale Aufstieg und die
Elitenrekrutierung spätestens seit den sechziger Jahren zunehmend und
überwiegend aus der infolge der Bildungsexpansion massiv angewachse-
nen sozialistischen Intelligenzija. Dies hat zu Differenzierungstendenzen,
im Ergebnis aber dennoch zumeist recht begrenzt bleibenden Binnendif-
ferenzierungen der Elitenkonfigurationen geführt.
Die Dominanz einer ideologisch geeinten Elite während der Zeit der
kommunistischen Herrschaft hatte einerseits zur Folge, daß die Entste-
hung von - alternative Wertüberzeugungen und Interessen vertretenden
- Gegeneliten schon in Ansätzen repressiv unterbunden wurde. Anderer-
seits führte die politische Kontrolle nahezu aller Gesellschaftsbereiche
aber auch dazu, daß die teilsystemspezifische Ausdifferenzierung von
autonomen Kompetenz- und Handlungssphären der Funktionseliten
(zum Beispiel der Wirtschaftseliten, Wissenseliten usw.) stark beschränkt
blieb, wobei dies im Laufe der Zeit zu einem immer größeren Hemm-
schuh der wirtschaftlichen, industriellen, wissenschaftlichen und kultu-
rellen Entwicklungen wurde.
Das Ende der kommunistischen Herrschaft - dies habe ich an anderen
Stellen ausführlich dargelegt25 - ist nicht zuletzt das Ergebnis der
internen Auseinandersetzungen zwischen den oft überalterten Inhabern
von Spitzenpositionen im kommunistischen Herrschaftssystem und jün-
geren, in die Elitepositionen drängenden Funktionären und Technokra-
ten der mittleren Ebene, deren weiterer Aufstieg durch die zunehmende
Immobilität des Systems weitgehend blockiert war und deren Privilegien
mit der fortschreitenden wirtschaftlichen Krise des Systems rapide
schrumpften. Die Veränderungsbestrebungen wichtiger Teile der nach-
rückenden, an ihrem Aufstieg, ihrer Entfaltung oder der Realisierung
ihrer Eigeninteressen gehinderten Eliten traf mit einer weit verbreiteten
und sich angesichts der sozialistischen Wirtschaftskrisen zuspitzenden

2* Siehe: Seton-W aLson, H ugh: Die osteuropäische R evolution. M ünchen 1956;


Fejtő, Francois: Die G eschichte d e r V olksdem okratien. Buch 1: Die Ä ra Stalin
19 4 5 1 9 5 3 ‫■ ־‬F ra n k fu rt a. M. 21988.
25 Siehe: Sterbling, A nton: Gegen die M acht d e r Illusionen. Zu einem E u ro p a im
W andel. a.a.O ., insb. S. 193 ff.

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42 A. Sterbling

Massenunzufriedenheit zusammen, die unter den Randbedingungen


einer spezifischen historischen Situation Ende der achtziger Jahre zum
Teil folgenreiche politische Mobilisierungsprozesse einer ansonsten eher
passiven und politikfemen Bevölkerung ermöglichte.26
Als eine weitere, die erste überlagernde eliteninteme Konfliktachse
kam - wie schon angedeutet - ein immer größerer Dissens zwischen
ideologisch geprägten Macht eliten und technokratisch orientierten
Funktionseliten hinzu.27 Für die Erklärungen des Niedergangs der kom-
munistischen Herrschaft erscheinen zudem auch bestimmte Differenzen
in den Wissenshorizonten, kulturellen Orientierungen, Lebensstilen,
Alltagsauffassungen und Handlungspräferenzen verschiedener Eliten-
gruppen relevant, die nicht zuletzt auf unterschiedliche Generationenla-
gen, auf alterskohortenspezifische sozialisatorische Prägungen und
anders geartete historische Erfahrungen zurückzuführen sind.28
Ein wichtiger Aspekt des spezifischen, stark vom Elitenverhalten be-
stimmten Verlaufs des ‫״‬ Systemwechsels“ ist darin zu sehen, daß es zwar
überall einen beachtlichen Elitenwechsel gab, daß die neuen Eliten aber
zum größten Teil aus den privilegierten Bevölkerungskreisen des alten
Systems stammen.2’ Das weitgehende Fehlen alternativer Elitenpoten­

26 Siehe auch: G abanyi, A nneli Ute: System w echsel in R um änien. a.a.O.


27 A u f d iese Konfliktlinie h ab en K onrád u n d Szelényi sch o n in d en siebziger
J a h r e n scharfsinnig au fm erk sam gem acht. Siehe: K onrád, G yörgy / Szelényi,
Iván: Die Intelligenz a u f d em W eg zu r K lassenm acht. F ra n k fu rt a. M. 1978.
28 Z u n äch st fällt w ohl n a h ezu in allen sü d o steu ro p äisch en L än d ern ein d eu tlich er
U n tersch ied zw ischen d e n ‫״‬stalin istisch “ g ep räg ten F u n k tio n ä re u n d Eliten
d e r fünfziger J a h re u n d d en in d en sechziger u n d siebziger J a h re n
h eran g ew ach sen en und akadem isch so zialisierten nachrückenden
E lite n g ru p p e n auf. E ine gew isse Differenz ist a b e r a u c h zw ischen letzteren u n d
d e n E liten, d ie noch etw as jü n g e re n A ltersk o h o rten an g eh ö ren , zu erkennen.
Siehe d azu auch: H ü tten , S usanne / Sterbling, A nton: E xpressiver Konsum.
Die E ntw icklung von L ebensstilen in O st- u n d W esteu ro p a, in: Lebensstile in
S tä d te n . K onzepte u n d M ethoden, hg. v. J e n s D angschat u. Jö rg Blasius.
O p lad en 1994, S. 122-134.
29 Siehe: Beyme, Klaus von: System w echsel in O steu ro p a. a.a.O ., insb. S. 175 ff.
A u tsch lu ß reich w äre in diesem Z u sam m en h an g sicherlich au ch eine nähere
verg leich en d e A nalyse m it a n d e re n ‫״‬System w echsel“, zum Beispiel nach dem
Z w eiten W eltkrieg in D eutschland. Siehe dazu: D ah ren d o rf, Ralf: Eine neue
d e u tsc h e O berschicht? N otizen ü b e r die E liten d e r B undesrepublik, in:
‫ ״‬D em okratische“ E liten h errsch aft. T ra d itio n sb e stä n d e ein es sozialw issen-
sch aftlich en Problem s, a.a.O ., S. 3 0 9 -3 3 4 .

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Eliten wandel in Südosteuropa 43

tiale ist indes selbst zu einem erheblichen Teil eine Folgewirkung be-
stimmter Herrschafts- und Strukturmechanismen des kommunistischen
Systems, und zwar nicht nur, weil dieses - wie schon erwähnt - die
Herausbildung und die Handlungsmöglichkeiten von Eliten, die zu
systemabweichenden Wertvorstellungen und Interessenartikulationen
neigten, repressiv unterbunden hat. Dadurch, daß die Aufnahme in
höhere Bildungseinrichtungen, die Zugänge zum Beschäftigungssystem
und die beruflichen Aufstiegsprozesse keineswegs nur nach ‫״‬ meritokra-
tischen“ Leistungskriterien erfolgten, sondern in einem erheblichen Maße
politisch reguliert und von ideologischer Konformität abhängig waren,
wurden in gewisser Weise auch die Grundlagen der Herausbildung
alternativer Eliten weitgehend eingeschränkt^0 ’
Obgleich die vor allem in den achtziger Jahren zunehmenden eliten-
internen Spannungen und die davon ausgehende Veränderungsdynamik
zu den entscheidenden Faktoren des Niedergangs des kommunistischen
Systems zählen,3» zeigen die unter den kommunistischen Herrschafts‫־‬
bedingungen geprägten Elitenkonfigurationen doch auch eine gewisse
Resistenz, die über die eben angesprochene Kontinuität der Rekrutie-
rungsbasis der Eliten und weitgehend fehlenden alternativen Eliten-
potentiale hinausgeht. Zunächst kann festgestellt werden, daß das Prinzip
der an Fachkompetenzen und Leistungen gebundenen ‫״‬ funktionalen
Autorität“ in den Gesellschaften Südosteuropas weiterhin nur langsam
zur Geltung und Entfaltung kommt. Der Prozeß der Ausdifferenzierung
von in ihrem Handeln autonomen, an spezifische Institutionenbereiche
und an entsprechende Rationalitätskriterien gebundenen Elitengruppen,
deren Kompetenz spezialisiert und deren Einfluß auf die entsprechende

3° Dies zum al in allen m o d ern en G esellschaften ak ad em isch erw o rb en e


W issenskom petenzen u n d fachliche Q ualifikationen zu z e n tra le n K riterien d e r
E litenselektion in vielen Bereichen zählen u n d in gew isser W eise au ch
u n v erzich tb are V oraussetzungen k o m p eten ten H a n d e ln s in vielen
E liten p o sitio n en sin d . Da h ö here B ildungsabschlüsse in d en sü d o st-
eu ro p äisch en S ta a te n ste ts ein hohen sozialen P restigew ert h a tte n , gelten au ch
h ier - u n d h ie r vielleicht im b eso n d eren - u n iv ersitäre B ild u n g sab sch lü sse als
u n v erzich tb ares K riteriu m in nahezu allen Prozessen d e r E litenselektion.
Siehe: S terbling, A nton: S tru k tu rfrag en u n d M o d ern isieru n g sp ro b lem e
sü d o ste u ro p ä isc h e r G esellschaften. a.a.O ., insb. S. 139 ff.
3 * Siehe: Sterbling, A nton: Gegen die M acht d e r Illusionen. Zu ein em E u ro p a im
W andel, a.a.O ., insb. S. 193 ff.

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44 A. Sterbling

Handlungssphäre begrenzt ist32 - ein Sachverhalt, der für die


Elitengegebenheiten in den meisten westlichen Gesellschaften charak-
teristisch erscheint - macht in Südosteuropa nur allmähliche Fort-
schritte. Die hervorragende Bedeutung des politischen Machtzentrums
oder der politischen Machtzentren und das Gefüge soziokultureller Bin-
dungen bleiben in den Elitenkonfigurationen südosteuropäischer Gesell-
schäften gegenüber dem Prinzip der funktionalen Differenzierung
jedenfalls strukturdominant. Zwar ist das kommunistische Macht- und
Ideologiemonopol, das die Elitenkonfigurationen vormals weitgehend
prägte, verschwunden, etatistische Traditionen, schleppend verlaufende
Privatisierungsprozesse und marktwirtschaftliche Transformationen und
die erneut auflebenden Auseinandersetzungen um Wertkonflikte mit
nationalen, ethnischen oder weltanschaulich-ideologischen Hintergrün-
den führen indes dazu, daß Machteliten und Weltanschauungs- und
Kultureliten, die größtenteils der Intelligenzija angehören und deren Au-
torität und Einfluß sich hauptsächlich auf die Aktivierung allgemeiner
soziokultureller Überzeugungssysteme stützt, weiterhin eine überragende
Bedeutung haben.33
Damit sind gleichsam auch wichtige Aspekte der für die gegenwärtigen
Elitenkonfigurationen kennzeichnenden Eliten-Nichteliten-Beziehungen
angesprochen. In den meisten südosteuropäischen Gesellschaften
bestimmen weitgehend jene Elitengruppen die politischen und gesamtge-
sellschaftlichen Auseinandersetzungen, deren Einflußchancen vorwie-
gend auf der Relevanz und Mobilisierungskraft soziokultureller
(nationalistischer, ethnischer, religiöser usw.) Überzeugungssysteme
beruhen, und nicht jene Elitengruppen, die sich durch spezifische
Sachkompetenzen auszeichnen oder die beispielsweise unterschiedliche
wirtschaftliche Interessenlagen repräsentieren. Damit bleiben viele
sozioökonomische Gruppeninteressen unterrepräsentiert und breite
Bevölkerungsinteressen überhaupt ungenügend in die gesamtgesell-

32 Siehe d a z u auch: Lepsius, M. R ainer: In stitu tio n en an aly se u n d In stitu tio n en -


politik, in: Politische In stitu tio n e n im W andel, hg. v. B irgitta N edelm ann.
O p la d e n 1995 (=K ölner Zeitschrift fü r Soziologie u n d Sozialpsychologie,
S o n d e rh e ft 35), S. 3 9 2 - 4 0 3 ; l^epsius, M. R ainer: In teressen , Ideen u n d
In stitu tio n e n . O pladen 1990.
33 Siehe: S terbling, A nton: K ontinuität u n d W andel in R u m än ien u n d Südost-
e u ro p a. H istorisch-soziologische A nalysen. a.a.O ., insb. S. 255 ff.

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Eliten wandel in Südosteuropa 45

schaftlichen und politischen Entscheidungsprozesse vermittelt. Statt


dessen stehen schwer überbrückbare Wertkonflikte im Vordergrund der
politischen Auseinandersetzungen, und dies führt dazu, daß die weiteren
Modemisierungsprozesse in einzelnen südosteuropäischen Gesellschaf-
ten weiterhin durch die Gefahr ernsthafter, ethnisch oder nationalistisch
begründeter Wertkonflikte bedroht bleiben.34
Betrachtet man die Rolle der Eliten im gegenwärtigen Modemisie-
rungsprozeß, so springt eine - zumindest auf den ersten Blick - neue
Konfliktdimension in den Elitenkonfigurationen ins Auge, die den Aspekt
der intergesellschaftlichen Beziehungen betrifft. Unter diesem Blickwin-
kel haben wir es auf der einen Seite mit Elitengruppen zu tun, die die
Modemisierungsvorgänge voranzubringen suchen, indem sie eine weit-
••

gehende Öffnung und Hinwendung zum Westen anstreben. Sie setzen


sich dabei mehr oder weniger entschieden für die Übernahme demokrati-
scher, marktwirtschaftlicher, rechtsstaatlicher und pluralistischer Ord-
nungsmuster ein und stellen sich als Vertreter universalistischer Werte
und weltoffener Kulturbeziehungen dar. Auf der anderen Seite treten
aber auch politisch und sozial einflußreiche und kulturell definitions-
mächtige Eliten in Erscheinung, die die fremden und insbesondere die
westlichen Einflüsse ablehnen, die sich gegen vermeintliche oder tatsäch-
liehe Enteignungs-, Überfremdungs- und Selbstentfremdungsgefahren
engagieren, die autochthone Werte, nationalkulturelle Traditionen und
nationale Mythen vertreten und die im politischen Rahmen eine gesell-
schaftliche Erneuerung aus eigenen traditionalen Wertbeständen fordern
oder betreiben. Insbesondere in den öffentlichen Auseinandersetzungen
der Intelligenzija kommt dieser Dissens, dieses ‫״‬ Dauerdilemma zwischen
Ost und West“, gegenwärtig besonders deutlich zum A usdruck.35

34 A uf d iese p ro b lem atisch en E ntw icklungstendenzen im D em o k ratisieru n g s-


p ro zeß h ab e ich schon relativ früh au fm erk sam gem acht. Siehe: S terbling,
A nton: M o d ern isieru n g u n d soziologisches Denken. A nalysen und
B etrach tu n g en . H a m b u rg 1991, insb. S. 245 ff.
35 Siehe d azu auch: S terbling, A nton: ‫ ״‬Kritik als Beruf“ o d e r d a s ‫ ״‬D au er-
d ilem m a“ d e r In tellek tu ellen ‫ ״‬zwischen O st u n d W est“, in: Max W eb er u n d
O steu ro p a. B eiträge z u r O steu ro p afo rsch u n g 1, a.a.O., S. 2 0 5 -2 2 7 ; S terbling,
A nton: U n terd rü ck u n g , Ideologie u n d d e r u n terg rü n d ig e F o rtb e sta n d von
M wythen. a.a.O .

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46 A . Sterbling

Diese intellektuellen und politischen Auseinandersetzungen zwischen


den Eliten haben indes nicht nur eine lange Vorgeschichte, die in die Zeit
der langwierigen und tief umstrittenen Prozesse der Staaten- und
Nationenbildung zurückreicht und die in der Zwischenkriegszeit einen
weitere, heute vielfach ins kollektive Gedächtnis zurückgeholte Zuspit-
zung erlebte.36 In diesen Konflikten reflektieren sich natürlich auch bis
heute fortbestehende reale Modemisierungsprobleme, die als Probleme
wirtschaftlicher und sozialer Rückständigkeit, als langfristige und durch
die kommunistische Herrschaft weiter verschärfte Demokratiedefizite, als
zum Teil noch ungelöste oder zumindest unbefriedigend gelöste ethnüche
Minderheitenprobleme und Probleme der nationalstaatlichen Entwick-
lutig und letztlich auch als Spannungen zwischen unterschiedlichen Reli-
gions- und Kulturkreismgehörigkeiten in Erscheinung treten. Wie in
anderen nichtwestlichen Gesellschaften auch, werden die vielschichtigen
Konfliktlinien zwischen westlich oder universalistisch und nationalistisch
oder partikularistisch orientierten Elitengruppen wohl noch längere Zeit
die Elitenkonfigurationen südosteuropäischer Gesellschaften prägen. Wie
sich die Relevanz und der gesamtgesellschaftliche Einfluß der verschiede-
nen Elitengruppen dabei weiterentwickeln wird, hängt unter anderem
vom Fortgang der Modernisierungsprozesse in den einzelnen Staaten und
nicht zuletzt von den Fortschritten und Ergebnissen der weiteren, viel-
fach angestrebten europäischen und transatlantischen Integrationspro-
zesse ab.
Ein letzter Aspekt, der im Hinblick auf den Wandel der Elitenkonfi-
gurationen in den Gesellschaften Südosteuropas anzusprechen ist, be-
trifft die Eigeninteressen der Eliten. Wie ich schon ausführte, wurde der
Niedergang der kommunistischen Herrschaft von elitenintemen Ausein-
a n d e r s e t z u n g e n mit angetrieben, die nicht zuletzt in den Eigeninteressen
bestimmter Teile der nachdrängenden Eliten oder Aspiranten auf Elitepo-
sitionen begründet waren. Aber auch im Hinblick auf die gegenwärtige
Situation kann man wohl sagen, daß für die weiteren Entwicklungen in
den einzelnen südosteuropäischen Gesellschaften von großer, wenn nicht
gar ausschlaggebender Bedeutung sein wird, welche Eigeninteressen der
verschiedenen Elitengruppen letztlich bestimmend werden: Werden sich

36 Siehe: Hösch, E dgar: G eschichte d e r B alkanländer. Von d e r F rü h z e it bis zur


G egenw art, M ünchen 21993.

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Eliten w andel in Südosteuropa 47

jene Eigeninteressen durchsetzen, bei denen es vorrangig um eine erneute


etatistische Absicherung privilegierter Alimentierungschancen der Eliten
und der ihnen nahestehenden Gruppen geht, oder jene Interessen, die auf
die dauerhafte Absicherung neuer Erwerbs- und Appropriationschancen
durch Privatisierung und marktwirtschaftliche Reformen zielen? Oder
welche Kompromisse, welche Mischformen werden bei diesen divergie-
renden Interessenbestrebungen im Einzelfall gefunden?37 Die nähere
Betrachtung der Elitenkonfigurationen in den einzelnen südosteuropäi-
sehen Staaten läßt uns vorerst nur erkennen, daß die diesbezüglichen,
maßgeblich durch die Eigeninteressen verschiedener Elitengruppen und
ihrer Klientele bestimmten ‫״‬ Institutionenkämpfe“38 unvermindert fort-
dauern. Die Weichen für die weiteren Modemisierungsprozesse und Ent-
wicklungspfade sind also auch in dieser Hinsicht noch keineswegs
endgültig gestellt.

37 Siehe auch: S terbling, A nton: D er soziale U m b au in d e n o steu ro p äisch en


T ra n sfo rm a tio n slä n d e rn u n d sein e A usw irkungen a u f d en W irtsch aftsstan d o rt
D eutschland, in: D er W irtsc h a ftssta n d o rt D eutschland, hg. v. Karl E ck art u.
S p irid o n P araskew opoulos. Berlin 1997, S. 137-158, insb. S. 157 f.
3® Siehe: Lepsius, M. R ainer: In stitu tio n e n a n a ly se u n d In stitu tio n en p o litik .

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I

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Nicht-muslimische Eliten im Osmanischen Reich

FiJcret Adamr

I.
Die osmanische Geschichte wird überwiegend als die eines zerfallenden
Reiches thematisiert.1 Die nationalen Nachfolgestaaten dienen dabei als
Bezugspunkt für komparatistische Betrachtungen, die gewöhnlich einen
modernisierungstheoretischen Ansatz haben. Unter Modernisierung stellt
man sich hier einen Sieg der Kräfte des Wandels über die der Tradition
vor. Die ersteren agieren unter der Führung einer westlich gebildeten
Elite, während die letzteren als wenig bewegliche, reaktionäre oder irra-
tional handelnde Gruppen dargestellt werden.2 Die Dichotomie des Pa-
trimonialismus auf der einen Seite und des Modells einer bürgerlich-
liberalen Gesellschaft auf der anderen bildet den historischen Hinter-
grund zu diesem Paradigma, das eng mit dem Bild von der ‫״‬ orientalischen
Despotie“ verbunden ist, mithin einem Konstrukt der Aufklärung,
entstanden unter dem Eindruck von Berichten europäischer Reisender
ebenso wie diplomatischer relationi der Frühen Neuzeit.3
In diesem Rahmen hat man die traditionelle Herrschaft der Osmanen
gern einem besonderen Typus des Patrimonialismus zugerechnet, der

1 F ü r die einschlägige L ite ra tu r siehe A dam r. F.: Der Zerfall d es O sm anischen


Reiches, in: Das E nd e d e r W eltreiche. Von d en P ersern bis z u r Sow jetunion,
hg. v. A lex an d er D em an dt. M ünchen 1997, S. 1 0 8 -2 8 .
2 Von p a ra d ig m a tisch e r B edeutung in d ieser H insicht ist Lewis, B ernard: T he
E m ergence o f M o d ern T urkey. London - New York - T o ro n to 1961.
3 Valensi, Lucette: T h e M aking o f a Political Paradigm : th e O tto m an S tate an d
O rien tal D espotism , in: T h e T ran sm issio n of C ulture in E arly M odern E urope,
hg. v. A. G rafto n u. A. Blair. P hiladelphia 1990, S. 1 7 3 -2 0 3 ; Yapp, M alcom E.:
E urope in th e T u rk ish M irro r, in: P ast an d P resen t 137 (N o v em b er 1992), S.
134 - 5 5 •

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50 F. A dam r

nach Max Weber die höchste Stufe der Herrengewalt darstellte: dem
Sultanismus. Der Herrscher verfügte nach dieser Auffassung über einen
rein persönlichen Verwaltungsstab, rekrutiert durchweg aus Beamten, die
einen sklavenähnlichen Rechtsstatus hatten. Sie sollen in einer Sphäre
der ins Extrem gesteigerten ‫״‬ Willkür und Gnade“ ihres Herrn operiert
haben, was das osmanische Regime ‫״‬ von jeder Form rationaler Herr-
schaft“ unterschied.-» Wie auch von einem führenden Osmanisten konsta-
tiert wird, konnte sich eine korporative bürokratische Elite mit klar
umrissener und gesetzlich garantierter Verantwortung unter solch un-
günstigen Bedingungen schwerlich etablieren .5
Freilich wurde das Bild vom Osmanischen Reich als orientalische
Despotie schon im 18. Jahrhundert in Frage gestellt.6 Die neuere osmani-
stische Forschung hat längst die Existenz einer relativ unabhängigen
Laufbahn-Bürokratie ebenso wie ein wachsendes Bewußtsein von der
Bedeutung verfassungsmäßiger Strukturen für die Reichsverwaltung
herausgestellt.7 Es gibt genug Anhaltspunkte dafür, daß die Osmanen mit
der Problematik des entstehenden modernen Staates seit Ende des 16.
Jahrhunderts vertraut waren, also mit einem Prozeß, der überall von
wachsendem Bedarf nach Finanzmitteln - und dementsprechend nach
Zentralisierung und Monetarisierung des Steuersystems - begleitet war.
Gerade die Transformation der althergebrachten Institutionen der Steu-
ererhebung, die im osmanischen Fall bis ins 18. Jahrhundert hinein an-
dauerte, begünstigte auf Kosten des persönlichen Verwaltungsstabs des

4 W eber, M ax: W irtsch aft u n d G esellschaft. G ru n d riß d e r v ersteh en d en Sozio-


logie, 5., rev. A ufl., beso rg t von J . W inckelm ann. T ü b in g en 1972, S. 1 3 3 -3 4 .
5 Siehe in alcik , H alil: C o m m en ts o n ‘S u ltan ism ’: M ax W eb er’s T ypification of
O tto m a n Polity, in: P rin ceto n P ap ers in N ear E a ste rn S tudies 1 (1992), S. 4 9 -
73; d ers.: D ecision M aking in the O tto m an State, in: Decision M aking in the
O tto m a n E m p ire, hg. v. C aesar E. F arah . Kirksville, MO 1993, p. 10.
6 D as w ar d e r K ern d e r Polem ik eines A .-H . A n q u etil-D u p erro n gegen
M o n tesq u ieu . Siehe V en tu ri, Franco: O rien tal D espotism , in: J o u rn a l of the
H isto ry o f Id e a s 24 (1963), S. 1 3 3 -4 2 , u n d S chneiderheinze, Klaus: O rienta-
lische D espotie: E in B egriff als Blick a u f d en A n deren (unveröff. M agister-
H a u sa rb e it). B ochum 1995.
7 Siehe F leischer, C om ell: B u re a u c ra t a n d In tellectu al in th e O tto m an E m pire:
T h e H isto ria n M ustafa Ali (1 5 4 1 -1 6 0 0 ). P rin ceto n 1986, S. 212 f.

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Nicht-muslimische Eliten im Osmanischen Reich 51

Herrschers den Aufstieg einer kommerziellen Oligarchie, die sowohl in


der Hauptstadt als auch in den Provinzen eingewurzelt war.8
Eine Erörterung der Frage der nichtmuslimischen Eliten im Osma-
nenreich sollte vor diesem Hintergrund zunächst die Tatsache festhalten,
daß die alte Gesellschaftsordnung schon immer eine autonome Sphäre,
unzweifelhaft außerhalb des Bereiches des Patrimonialismus, gekannt
hat: die Religion. Die Rekrutierung religiöser Hierarchien und deren Be-
förderung fand mehr oder weniger auf der Basis von Verdienstkriterien
statt, die spezifische Schulung sowie Leistung im Amt voraussetzten.
Diese relativ autonome Verfassung religiöser Hierarchien war im Falle der
nichtmuslimischen Gemeinschaften des Osmanischen Reiches noch aus-
geprägter. Denn die Geistlichkeit hatte hier auch politische Repräsentati-
onsfunktionen im Rahmen des sog. millet-SysXems wahrzunehmen .9
Daneben konnten sich gewisse Kreise, sei es aufgrund ihres Einflusses auf
die Wahl des ökumenischen Patriarchen, sei es durch ihre dem Staat
erwiesenen diplomatischen Dienste, zu jener veritablen Oligarchie der
Phanarioten formieren, die im 18. Jahrhundert auch die Fürsten der
Moldau und der Wallachei stellte. So gesehen überrascht es nicht, daß es
ein rumänischer Historiker war, der in der griechisch-orthodoxen Kirche
ebenso wie in dem bemerkenswerten Aufstieg der Phanarioten gleichsam

8 Siehe A bou-E l-H aj, Rifa’at: F orm ation o f th e M odern State: the O tto m an
E m pire, S ixteenth to E ighteenth C enturies. A lbany, NY 1991; Salzm ann, Ariel:
An A ncien Regim e Revisited: ‘P rivatization’ a n d Political Econom y in the
Fiightecnth-C entury O tto m an E m pire, in: Society a n d Politics 21 (1993), S.
3 9 3 4 2 3 ‫ ; ־‬dies.: Rew riting Sovereignty. Fiscal D ecentralization a n d the
C on stitu tio n o f the O tto m an A ncien Régime, 1 6 9 5 -1 8 0 7 . Leiden 1998.
9 Die n stitu tio n taucht in d en Q uellen e rst im 18. J a h rh u n d e r t auf. A ber
d e facto hab en w ir es auch schon frü h e r m it m illet-лhnlichen V erh ältn issen zu
tu n . Jed en falls ist die R e-etablierung des griech isch -o rth o d o x en P a tria rc h a ts
im 15. J a h rh u n d e r t eine T atsache. Es gab also von A nfang a n eine
nichtm uslim ische kirchlich-geistige Elite im O sm anischen Reich. Vgl. vor
allem B raude, Benjam in: F o u n d atio n M yths o f the M illet System , in:
C h ristian s an d Jew s in the O tto m an E m pire. T h e F unctioning o f a P lu ral
Society, hg. v. B enjam in B raude a n d B ernard Lewis. New Y o rk -L o n d o n 1982,
Vol. 1, S. 6 9 - 8 8 ; U rsinus, M ichael: Z u r D iskussion u m ‫״‬m illet“ im
O sm anischen Reich, in: S üdost-F orschungen 4 8 (1989), S. 1 9 5 -2 0 7 . Ü b er die
P h an ario ten siehe Pippidi, A ndrei: P h an ar, p h an ario tes, p h an ario tism e, in:
Ders.: H om m es et idées d u S ud-E st e u ro p én à l’au b e d e l’âge m od ern e.
B u k a re st-P a ris 1980, S. 3 4 1 -5 0 , sow ie die B eiträge in: Sym posium . L’ép oque
p h an ario te. T hessaloniki 1974.

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52 F. A dam r

eine Manifestation des Kontinuitätsprinzips in der Geschichte Südosteu-


ropas erblickte, die die Formulierung ‫״‬
Byzance après Byzance“ zu recht-
fertigen schien.10

II.
Zugehörigkeit zur Elite richtete sich in einem vormodemen Imperium mit
multiethnisch- multireligiösen Strukturen freilich nach anderen Kriterien
als in einem bürgerlichen Staatswesen. Im Folgenden steht die Frage nach
nichtmuslimischen bürgerlichen Eliten im Vordergrund, deren Aufstieg
mit der Transformation des ‫״‬ klassischen“ Fiskal- und Verwaltungs-
systems im Zuge des sozio-ökonomischen und -politischen Wandels in
der Frühen Neuzeit aufs Engste verbunden ist. Ein wichtiges Phänomen
in diesem Zusammenhang war die Formierung nichtmuslimischer Kauf-
mannsschichten auf dem Balkan, wo das kommerzielle Leben ehedem
von Italienern beherrscht worden war. Seit dem 16. Jahrhundert zeigten
sich aber die osmanischen Untertanen in der Lage, erfolgreich mit Aus-
ländern zu konkurrieren, und so entstand als ein neuer Faktor mit weit-
reichenden Implikationen das, was Traian Stoianovich ‫״‬ the Conquering
Balkan Orthodox Merchant“ genannt hat, nämlich nichtmuslimische
osmanische Kaufleute, die jetzt - zusammen mit Muslimen - Handel
selbst in Italien betrieben, wie es die Existenz eines Fondaco dei Turchi in
Venedig belegt.11
Die Intensivierung des Handels erleichterte die Ausbreitung westlicher
Kultureinflüsse. Vor allem christliche Kaufleute waren bereit - und dazu
auch in der Lage - , ihre Kinder zum Hochschulstudium ins Ausland zu
schicken, und noch wichtiger: Sie begannen bald Schulen in ihren
Heimatorten zu errichten. Obwohl diese Bildungsanstalten ohne den

10 Iorga, Nicolae: Byzance a p rè s Byzance. B ucarest 1935.


11 Stoianovich, T raian : T h e C onquering B alkan O rth o d o x M erch an t, in: J o u rn a l
o f Econom ic H istory 20 (i9 6 0 ), S. 2 3 4 -3 1 3 ; d ers.: P o u r u n m odèle du
com m erce d u Levant: économ ie co n cu rren tielle e t économ ie d e bazar, 1 5 0 0 -
1800, in: A ssociation In te rn a tio n a le d es E tu d es S u d -E st E u ro p éen n es. Bulletin
12 (1974), 2, S. 61-1 2 0 ; Tucci, Ugo: T ra V enezia e m o n d o tu rco : i m ercan ti, in:
Venezia e i T urchi. Scontri confronti d i d u e civiltà. M ilano 1985, S. 3 ®5 5 ‫; ־‬
K afadar, Cemal: A D eath in Venice (1575): A n ato lian M uslim M erchants
T rad in g in the S erenissim a, in: J o u rn a l o f T u rk ish S tu d ies 10 (1986), S. 191-

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Nicht-muslimische Eliten im Osmanischen Reich 53

offiziell anerkannten privilegierten Status der nichtmuslimischen Religi-


onsgemeinschaften kaum hätten prosperieren können, stellten doch sol-
che Initiativen bürgerlicher Gruppen wichtige Schritte in Richtung auf die
Verweltlichung der Gesellschaft dar. Die griechischen Schulen in Orten
wie Janina, Kastoria, Salona, Delvino, Athen, Chios, Patmos, Samos,
Ayvahk/Kydoniai, izmir/Smyrna oder istanbul/Konstantinopel hatten in
ihren Lehrplänen eminent ‫״‬ praktische“ Fächer wie Rechnen, Erdkunde,
Geschichte, moderne Sprachen, Mechanik, Optik, oder Chemie, neben
dem traditionellen theologisch-philologischen Kanon. Von der Mitte des
18. Jahrhunderts an waren Werke von Leibniz, Wolff und Locke in
••

griechischer Übersetzung verfügbar. In den ersten Dekaden des 19.


Jahrhunderts entstand auch in Bulgarien ein modernes bürgerliches
Schulsystem.12
Parallel zum Aufstieg von kommerziellen Gruppen und regionalen
Notabein (ayan) gewann die Schicht der christlichen kommunalen Füh-
rer (kocaba$1, çorbaci) politisch an Bedeutung.‘3 Schon seit Zeiten der
Eroberung hatten einige Gebiete auf dem Balkan ein beachtliches Maß an
Selbständigkeit genossen. Ihre Autonomie sollte im Verlauf des 18. Jahr-
hunderts eine neue Qualität erlangen.1* In Serbien beispielsweise basierte

12 A dam r, F.: Die S chulbildung in G riechenland (1 7 5 0 -1 8 3 0 ) u n d in B ulgarien


(1 7 5 0 -1 8 7 8 ) im S pannungsfeld von B ew ahrung d e r ethnisch-konfessionellen
Id e n titä t, E n tste h u n g d e r bürgerlichen G esellschaft u n d H erausbildung d es
N atio n alb ew uß tsein s, in: Revolution des W issens? E u ro p a und seine Schulen
im Z eitalter d e r A ufklärung (1750-1825), hg. von W. Schm ale u n d N. L.
D odde. B ochum 1991, S. 4 3 3 -6 8 .
13 Siehe K arp at, Kemal H.: Some H istorical an d M ethodological C onsiderations
C oncerning Social Stratification in the M iddle East, in C om m oners, C lim bers
a n d N otables, hg. v. C.A.O. van N ieuw enhuijze. Leiden 1977, S. 83-1 0 1; fern er
M utafcieva, V era P.: L’in stitu tio n de l’ayanlik p en d a n t les dern ières décennies
d u X V IIle siècle, in: E tudes balkaniques 1 9 6 5 /2 -3 , S. 2 3 3 -4 7 ; Sadat, D eena
R.: R um eli A yanlari: The E ighteenth C entury, in: J o u rn a l o f M odern H istory
4 4 ( 1 9 7 2)‫ י‬S. 3 4 6 - 6 3 ; Özkaya, Yücel: O sm anli im p a ra to rlu ģ u n d a âyânlik.
A nkara 1977.
1•‫י‬ Siehe Visvizis, I. T.: L’ad m in istratio n com m unale des Grecs p e n d an t la
d o m in atio n tu rq u e , in: 1453-1953: l -с cinq-centièm e an n iv ersaire d e la prise
d e C o n stan tin o ple. A then 1953, S. 217-38; C hristov, Christo: Za sam o-
u p rav len ieto na b ãlgarite v O sm anskata daržava prez XV-XVIII v., in:
Istoričeski pregled 1973/1, S. 18-42; G rozdanova, Elena: Bälgarskata selska
o bstina prez X V-XVIII vek. Sofia 1979; Cvetkova, B istra A.: D ocum ents tu rcs
c o n c e rn a n t le s ta tu t de certaines localités d an s la région d e V eliko-Tâm ovo au
XVIle siècle, in: M ém orial Ô m er Lûtfi Barkan. P aris 1980, S. 6 5 -7 3 ;

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54 F. A dam r

das Verwaltungssystem in dieser Zeit auf einer Art Föderation selbständi-


ger Dorfgemeinschaften unter der Führung gewählter Vorsteher (kmet),
die ihrerseits den jeweiligen Bezirksvorsteher (knez) wählten. Die Veran-
lagung und Einziehung von Steuern galten als Prerogativen dieser Grup-
pen, die nebenbei auch als Richter fungierten.« Auch auf der Peloponnes
waren autonome Strukturen verbreitet. Man. wählte eigene Regionalräte,
deren Mitglieder meist aus wohlhabenden Verhältnissen stammten. In
den Quellen tauchen sie als Besitzer von Immobilien von beträchtlichem
Umfang auf, die aus Gebäuden, Gärten, Weinbergen und Olivenhainen
bestanden.16 Daneben werden Christen auch als Gutsherren (çiftlik sa-
hibi) registriert, obwohl man Macht und Reichtum weniger dem Landbe-
sitz denn einer Rolle im sozial-administrativen System als Steuerpächter
oder Geldverleiher verdankte.17
Entwicklungen im urbanen Bereich setzten neue Akzente in dem ein-
getretenen Wandel. Mit der beginnenden Landflucht in der Zeit der sog.
kircali-Unruhen um die Wende zum 19. Jahrhundert erlebte das Stadtle-
ben auf dem Balkan einen demographischen Aufschwung.18 Parallel dazu

Paskaleva, V irginia: Ü ber die S elbstverw altung d e r G em einden in d en


e u ro p ä isc h e n P rovinzen des O sm anischen Reiches, in: B ulgarian H istorical
Review 1982/1, S. 5 0 -5 7 .
•5 Siehe M em o ari P ro te M atije N enadovica. Novi S a d -B e o g ra d 1969, fern er
Pavlow itch, Stevan: Society in Serbia, 1791-1830, in: B alkan Society in the Age
o f G reek In d e p en d e n c e , hg. v. R ichard Clogg. L ondon 1981, S. 137-156, h ie r S.
138, u n d im allgem einen G uzina, Ružica: Knežina i p o stan ak srp sk e buržoaske
države. B eograd 1955.
16 V einstein, G.: Le p a trim o in e foncier d e Panayote Bénakis, косаЬщг d e Kala-
m ata, in: J o u rn a l o fT u rk is h S tudies 11 (1987), S. 211-233.
17 V einstein, G .:‘A yân’ d e la région d ’Izm ir e t com m erce d u Levant (deuxièm e
m o itié d u XVIII siècle), in: Revue d e l’O ccident m u su lm an e t d e la
M é d ite rra n é e 2 0 (1975), S. 131-47; Іпаісік, Halil: T h e E m ergence o f Big
F arm s, Çiftliks: S tate, la n d lo r d s a n d T en an ts, in: C o n trib u tio n s à l’histoire
éco n o m iq u e e t sociale d e !’E m pire o tto m an , hg. v. J.-L . B acqué-G ram m ont, P.
D um ont. Louvain 1983, S. 105-126; M cGrew, W illiam W.: L and an d
R evolution in M o d e m G reece, 1 8 0 0 -1 8 8 1 . T he T ra n sitio n in th e T e n u re an d
E x p lo itatio n o f L and from O tto m an Rule to In d ep en d en ce. Kent, O hio 1985, S.
38.
18 Zu d e n a n a rc h isc h e n V erhältnisse d e r farca/i-Z eit siehe M utafcieva, Vera P.:
K ārdžalijsko vrem e. Sofija 1977. Z u r städ tisch en E ntw icklung vgl. Paskaleva,
V irginia: Die b u lg arisch e S ta d t im XVIII. u n d XIX. J a h rh u n d e rt, in: Die S tadt
in S ü d o ste u ro p a . S tru k tu r u n d G eschichte. M ünchen 1968 (= S ü d o steu ro p a-

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Nicht-muslimische Eliten im Osmanischen Reich 55

wuchs die Bedeutung nichtmuslimischer Gruppen im Bereich der städti-


sehen Politik; beispielsweise nahm die Zahl christlicher Handwerksmei-
ster innerhalb der Zünfte (esnaj) zu.‘9 Waren diese Organisationen früher
durchweg ethnisch und konfessionell gemischt gewesen, so trat nunmehr
ein Prozeß der Differenzierung bzw. Auflösung ein, indem durch Abspal-
tung immer häufiger neue ethnisch und/oder konfessionell homogene
Zünfte gebildet wurden, ohne daß die gemischten Korporationen gänzlich
verschwunden worden wären.20 Zudem wirkte sich die Intensivierung von
Handelsbeziehungen zu Zentraleuropa besonders seit Beginn der Donau-
Dampfschiffahrt auf die Entwicklung nordbulgarischer Orte positiv aus.21
••

Ähnlich belebende Impulse waren später infolge des Ausbaus eines Ei-
senbahnnetzes zu verzeichnen.22

III.
Diese Entwicklungen bildeten freilich den Hintergrund dessen, was für
das Osmanenreich eine Herausforderung an mehreren Fronten zugleich
bedeutete: Erstens hatte die ‫״‬
Industrielle Revolution“ gerade begonnen,
sich auf die osmanische Wirtschaft negativ auszuwirken. In einigen Re-
gionen waren seit dem späten 18. Jahrhundert ‫״‬ proto-industrielle“ Pro-
duktionsformen entstanden. Orte wie Ambelakia in Thessalien zur Zeit
der Kontinentalsperre oder Kleinstädte wie Koprivštica und Sliven in

J a h rb u c h 8), S. 128-145, u n d Todorov, Nikołaj: B alkanskijat grad, X V -X IX


vek. Sofija 1972 (Engl. T he Balkan City, 1 4 0 0 -1 9 0 0 . S eattle 1983 ),passim .
*9 Ja n e v a, Svetla: Bãlgarskoto zanajatčijstvo prez v to rata četv ārt na XIX v. v
istoričeskata lite ra tu ra , in: Istoričeski Pregled 45 (1989), 11, S. 5 8 -7 2 .
20 Ja n e v a, Svetla: L’a rtisa n a t et les co rp o ratio n s de m étier d a n s la p a rtie cen trale
d es Balkans p e n d a n t la p rem ière m oitié d u XIXe siècle. T h èse d u d o cto rat,
Florence: In stitu t U niversitaire E uropéen, D ép artem en t d ’H istoire et Civili-
satio n 1996, b eso n d ers S. 129-33.
21 Paskaleva, Viržinija: S redna E vropa i zem ite po dolnija D unav prez X V III-X IX
v. (Socialno-ikonom ičeski aspekti). Sofija 1986, S. 191-243; dies., S hipping a n d
T ra d e on the Lower D anube in the E ighteenth a n d N in eteen th Century‫׳‬, in:
S o u th east E u ro p ean M aritim e C om m erce, hg. v. A.E. V acalopoulos e t al.
B oulder, C olorado 1988, S. 131-151.
22 Zografski, Dančo: Razvitokot na kapitalističkite elem enti vo M aķedonija za
vrem e na tu rsk o to vladeenje. Skopje 1967, S. 3 3 1 -3 5 0 . Siehe au ch B eiträge in:
Villes O ttom anes à la Fin de !’E m pire, hg. v. P. D um ont u. F. G eorgeon. P aris
1992.

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00061131

56 F. Adamr

Zentralbulgarien in der Frühphase der Reformperiode Tanzimat waren


berühmt und wohlhabend g e w o r d e n .^ Steigende Importe von Fabriker-
Zeugnissen aus Europa bedrohten jedoch die Grundlagen der einheimi-
sehen Produktion.2‫ »־‬Die Bemühungen in den 1840er Jahren, dieser
Herausforderung mit einem staatlichen Industrialisierungsprogramm
entgegen zu treten, das mit der Partizipation vor allem nicht muslimischer
Unternehmer rechnete, blieben ohne Erfolg; die Zentren der industriellen
Produktion auf dem Balkan büßten ihre Bedeutung im Zuge der Einbe-
ziehung in den Weltmarkt wieder ein .25
Zweitens konnten die einheimischen Unternehmer infolge des 1838
eingeführten Freihandels nicht darauf hoffen, durch ein System von ho-
hen Importzöllen vor ausländischer Konkurrenz geschützt zu werden.26

23 Siehe Asdrachas, Spyros: T ra d itio n a lism e s et ouvertures. Le cas d ’A m pelakia


en Thessalie, in : S tructure sociale et développem ent c u ltu re l des ville s sud-est
européennes et adriatiques aux X V IIe -X V IIIe siècles. Bucarest 1 9 7 5 . S. 215-
23; Yannoulopoulos, Yannis: Greek Society on the Eve o f Independence, in :
Balkan Society in the Age o f Greek Independence, hg. v. R ichard Clogg.
London 1981, S. 1 8 -3 9 ; T odorov, N .: B alkanskijat grad, a.a.O., S. 2 0 0 -2 0 6 ;
Berov, Ljuben: Ikonom ičeskoto ra zvitie na B ãlgarija prez vekovete. S ofija 1 9 7 4 >
S. 7 4 •
24 Einige A utoren argum entieren gegen diese altbekannte These, indem sie
daraufhinw eisen, daß die osm anische In d u s trie hauptsächlich von d e r inneren
Nachfrage getragen w urde. Siehe Q uataert, D onald: O ttom an H andicrafts and
In d u s try in the Age o f European In d u s tria l Hegemony, 1800-1914, in : Review.
A Jo u rn a l o f the Fernand B raudel C enter fo r the Study o f Econom ics,
H isto rica l Systems and C ivilisa tio n s X I/2 , S pring 1988, 1 6 9 -7 8 ; ders.:
O ttom an M anufacturing in the Age o f In d u s tria l R evolution. Cam bridge 1993,
passim.
25 Siehe C lark, E.C.: The O ttom an In d u s tria l R evolution, in : In te rn a tio n a l
Jo u rn a l o f M id d le East Studies 5 (1975), S. 6 5 -7 6 ; Keyder, Çaglar: C reation
and D estruction o f Form s o f M a nu fa ctu rin g : The O ttom an Exam ple, in :
Between Developm ent and U nderdevelopm ent. The Precocious A ttem ps at
In d u s tria liz a tio n o f the P eriphery, 1 8 0 0 -7 0 , hg. v. J. Batou .Geneva 1991, S.
1 5 7 1 7 9 ‫ ; ־‬P alairet, M ichael R.: The Decline o f the O ld Balkan W oolen
In d u strie s 1870-1914, in : V ie rte lja h rs c h rift fü r Sozial- und W irtsch a fts-
geschichte 70 (1983), S. 3 3 1 -3 6 2 ; ders.: D ésin dustrialisatio n à la pé riphérie :
études su r la région des Balkans au X IX e siècle, in : H isto ire , Econom ie et
Société 4 (1985) 2, S. 2 5 3 -27 4 .
26 F ü r einige revisionistische Thesen in diesem Zusammenhang siehe die
Aufsätze von Kurm uç, O rhan: Some Aspects o f H a n dicra ft and In d u s tria l
P roduction in O ttom an A n a to lia , 1800-1915, in : Asian and A frica n Studies 15
(1981), S. 85-101, und ders.: The 1838 T re a ty o f Commerce Re-Exam ined, in :

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Nicht-muslimische Eliten im Osmanischen Reich 57

In diesem Rahmen wirkten sich auch die sogenannten ‫״‬ Kapitulationen“


äußerst negativ aus. Das System gewährte nämlich europäischen Kauf-
leuten Exterritorialität einschließlich der Niederlassungs- und Steuerfrei-
heit auf osmanischem Boden, was die einheimischen nichtmuslimischen
Unternehmer dazu trieb, selber den Status des ‫״‬ Protégé“ einer ausländi-
sehen Macht anzustreben und damit gleichsam zum Ausländer im eige-
nen Land zu werden.27
Drittens brachte das 19. Jahrhundert für die Osmanen das Problem
der nationalen Sezession. Die Aufstände in Serbien und Griechenland
zogen militärische Interventionen auswärtiger Mächte nach sich, was
schließlich zur Gründung von ersten Nationalstaaten in Südosteuropa
führte. Diese Entwicklung berührte unmittelbar die Einstellung der
nichtmuslimischen Eliten zum osmanischen Staat, zumal diese sich der
uneingeschränkten Anteilnahme Europas an ihrem Schicksal sicher wa-
ren. Denn die Bewunderung für die Zivilisation der Antike, gekoppelt mit
einem wachsenden Interesse an Volkskunde und Sprachwissenschaft
innerhalb der gebildeten Schichten, hatte im Westen zu dem kulturge-
schichtlich bemerkenswerten Phänomen des Philhellenismus geführt.28
Dies ging Hand in Hand mit der Geburt der romantischen Idee: Volk
wurde nunmehr emphatisch als eine organische Schicksalsgemeinschaft

Économ ie et société dans l ’E m pire ottom an, ed. by J.-L . Bacqué-Grammont


and P. D um ont. Paris 1983, S. 411-417.
27 Siehe Sousa, Nasim : The C a p itu la to ry Regime o f Turkey. B altim ore 1933,
passim, ferner Baģ1§, A li Ihsan: O sm anli ticaretinde gayri m iislim le r.
K a p itiila syo n la r - Berath tiic c a rla r - A vrupa ve hayriye tiic c a rla n (1750-
1839). A nkara 1983; Tum a, Elias H .: The Econom ic Im pact o f the
C apitulations: the M id d le East and Europa: a R einterpretation, in: Jou rn al o f
European Econom ic H isto ry 18 (1989), S. 6 6 3 -6 8 2 ; Spagnolo, John P.:
Portents o f E m pire in B rita in ’s O ttom an E x tra te rrito ria l Ju risd ictio n , in:
M iddle Eastern Studies 27 (1991), S. 2 5 6 -2 8 2 ; Sm ym elis, M arie-Carm en:
Colonies européennes et com m unautés ethnico-confessionnelles à Smyrnę:
coexistence et réseaux de sociabilité (fin du X V IIle -m ilie u du X IX e siècle), in:
V ivre dans l ’E m pire ottom an. S ociabilités et relations intercom m unautaires
(X V lIIe -X X e siècles), hg. v. F. Georgeon u. P. D um ont. Paris 1997, S. 173-194.
28 Aus der einschlägigen L ite ra tu r seien genannt: Spencer, Terence J. B.: F a ir
Greece, Sad Relic. Literary P hilhellenism from Shakespeare to Byron. Bath
1974; H ow arth, D avid: The Greek A dventure. Ix>rd Byron and O ther
Eccentrics in the W ar o f Independence. Ixm don 1976; H offm eister, G erhart:
B yron und der europäische B yronism us, D arm stadt 1983; Der
P hilhellenism us in der westeuropäischen L ite ra tu r 1780-1830, hg. v. A lfre d
Noe. Am sterdam 1994.

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5« F. Adam r

mit gleichsam kollektiver Seele aufgefaßt - eine Seele, die sich durch das
Medium der nationalen Sprache ausdrückte. Die philologische For-
schung, die an der Genese eines solchen Volksbegriffs maßgeblich betei-
ligt war, schärfte den Blick für sprachgenetische Zusammenhänge. Die
Problematik der Ethnogenese und das Schicksal individueller Volksgrup-
pen standen nunmehr im Mittelpunkt des Interesses auch bei den intel-
lektuellen Eliten im Osmanischen Reich. Ihre Energien wurden darauf
konzentriert, das ‫״‬ nationale Erwachen“ des eigenen Volkes voranzutrei-
ben. Die entstehende Geschichtsschreibung übernahm indes die Aufgabe,
den Nachweis nationaler Einzigartigkeit zu erbringen, wenn nicht gar
elaborierte Rechtfertigungen für die territoriale Expansion der jungen
Nationalstaaten geliefert wurden.2’
Die osmanische Staatselite sah ernste Konflikte voraus, genährt
hauptsächlich durch den nationalen Separatismus und Irredentismus.
Um den Fortbestand des Vielvölkerreiches zu sichern, erschien es uner-
läßlich, eine kontrollierte Modernisierung von Staat und Gesellschaft
einzuleiten. Als erster Schritt in diese Richtung gewährte man den Unter-
tanen formalrechtliche Gleichheit ohne Rücksicht auf die religiöse oder
ethnische Zugehörigkeit. Die osmanistische Ideologie, die auf dieser Basis
allmählich Gestalt annahm, zielte letztlich darauf, eine staatsnational-
säkularisierte Identität zu schaffen.3° Projiziert wurde die Solidargemein-
schaft aller osmanischen Völker (ittihad-1 anasir), die sich aus der
Gemeinsamkeit der Staatsbürgerschaft speisen sollte.

2’ Die neuere historische Forschung fü h rt die Anfänge des gegenwärtigen


m ilita n te n N ationalism us a u f dem Balkan zu Recht a u f das rom antische
N ationskonzept des 19. Jahrhunderts zurück und beschreibt die seitherige
K u ltivie ru n g von ethnischem Bewußtsein, die das Schaffen von nationaler
Id e n titä t bezweckt, als die m entale K on stru ktio n einer ‫״‬vorgestellten“
Gem einschaft. Siehe K itro m ilid e s, Paschalis M .:‘Im agined C om m unities’ and
the O rigins o f the N ational Q uestion in the Balkans, in : European H isto ry
Q u arte rly 19 (1989), S. 149-194.
3° Siehe Lewis, Bernard: Tanzim at and Social E quality, in : Économie et sociétés
dans l ’E m pire ottom an, hg. v. J.-L . Bacqué-G ram m ont и. P. D um ont. Paris
1983, S. 4 7 -5 4 ; Fadeeva, Irin a Evgen’evna: O ffic ia l’nye d o k trin y v ideologii i
p o litiķ e Osmanskoj im p e rii (O sm anizm -Panislam izm ). Moskva 1985, passim ;
Safrastjan, Ruben A.: O ttom anlsm in T urkey in the Epoch o f Reform s in X IX
C.: Ideology and Policy, I, in : Études balkaniques 1988/4, S. 7 2 -8 6 .

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Nicht-muslimische Eliten im Osmanischen Reich 59

IV.
Aus der Sicht der Betroffenen war jedoch das gesamte Reformvorhaben
geradezu janusköpfig. Die Säkularisierung der Grundlagen der politischen
Loyalität und die Verbesserung der Rahmenbedinungen des bürgerlichen
Daseins wurden als Bedrohung und Chance zugleich empfunden. Bedro-
hung deshalb, weil der Osmanismus zweifelsohne eine ‫״‬ nationale“ Ideo-
logie war, wenn auch er nur eine ‫״‬ politische Nation“ im Sinn hatte. Die
Verwirklichung seiner Ziele würde den nichtmuslimischen Gemeinschaf-
ten die Perspektive der eigennationalen Entwicklung abschneiden.3 * Den-
noch erwiesen sich die Vorteile, die die Reformen den Nichtmuslimen
versprachen, nicht zuletzt die Gleichberechtigung, von beträchtlicher
Anziehungskraft. Nur so ist zu verstehen, warum die osmanistische Bot-
schaft gerade bei den nichtmuslimischen Gemeinschaften Anklang fand,
während die Muslime das Gefühl hatten, nunmehr ins Hintertreffen zu
geraten .32
Im Wirtschaftsleben hatten die Nichtmuslime schon lange eine be-
herrschende Stellung innegehabt, die sie - wenn auch in zunehmender
Abhängigkeit von europäischem Kapital - bis zur Auflösung des Reiches
bewahren konnten. In Istanbul gab es unter den rund 5.800 Geldwechs-
lern im Jahre 1877 ebenso wie unter den 40 Privatbankiers im Jahre 1912
keinen einzigen Muslim.33 Noch im Jahre 1922 lagen lediglich vier Pro-
zent der kaufmännischen Unternehmungen, drei Prozent der Transport-
firmen, 15 Prozent des Großhandels und etwa 25 Prozent der

3* Augustinos, Gerasimos: The Greeks o f Asia M in o r. Confession, C om m unity,


and E th n ic ity in the N ineteenth C entury. Kent, O h io -L o n d o n 1992, S. 73-74.
Siehe auch Lewis, В.: Tanzim at and Social E quality, a.a.O.; Davison, Roderic
11.: Reform in the O ttom an Em pire, 1856-1876. Princeton 1963, passim.
‫ י‬2 ‫״‬The advantaging o f the m in o ritie s over the M uslim s led to a significant social
po lariza tion w ith in O ttom an society d u rin g the nineteenth century.“ Gôçek,
Fatm a Müge: Rise o f the Bourgeoisie, Demise o f Em pire: O ttom an
W esternization and Social Change. New York 1996, S. 114.
33 The Levant H erald, 3 M arch 1877, S. 167, z itie rt in Sturdza, M ih a il D.: Haute
Banque et Sublim e Porte. P rélim inaires financiers de la G uerre de Crimée, in:
C on tribu tion s à l ’histoire économique et sociale de l ’E m pire ottom an, S. 454;
Issawi, Charles: The T ransform ation o f the Economic Position o f the M ille ts in
the N ineteenth C entury, in: C hristians and Jews in the O ttom an E m pire, Vol.

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60 F. A dam r

Einzelhandelsgeschäfte in den Händen der Muslime.34 Die blühende Sei-


denindustrie von Bursa wurde von Armeniern und Griechen kontrol‫־‬
liert.35 ln Trabzon am Schwarzen Meer stellten griechische und
armenische Geschäftsleute und Rechtsanwälte die überwältigende Mehr-
heit der Exporteure, der Kommissionäre oder Vertreter ausländischer
Versicherungsgesellschaften. Als die ‫״‬Banque Ottomane Imperiale“ Filia-
len in dieser Region zu eröffnen begann, waren die Angestellten fast nur
ortsansässige Griechen und Armenier.36 In der kilikischen Ebene, wo
gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine vielversprechende Textilindustrie
entstand, wurde nicht nur die Industrialisierung, sondern auch die land-
wirtschaftliche Erschließung unter Einsatz moderner Agrartechnik
hauptsächlich von griechischen und armenischen Geschäftsleuten gelei-
stet.37 ln Thessaloniki, der Metropole Makedoniens, war es das jüdische
Element, das die Reformepoche prägte. Die Juden dominierten nicht nur
das private Bankwesen, sondern waren nach 1870 auch im neuen Sektor
der Industrie führend.38 Die freien Berufe in der Stadt lagen ebenfalls
entweder in jüdischer oder griechischer Hand. Die Muslime waren unter
den neun Gründern der Anwaltskammer von Thessaloniki im Jahre 1879

34 Tezel, Yahya S.: C um huriyet d ö n cm in in ik tis a d i ta rih i (1 9 2 3 -1950). A nkara


1982, S. 8 6 -9 7 .
35 Siehe Q uataert, D onald: The S ilk In d u s try o f Bursa, 1880-1914, in: The
O ttom an E m pire and the W orld-E conom y, hg. v. H . Íslam oglu-Ín an.
C am bridge 1987, S. 2 8 4 -3 0 8 ; A ugustinos, G.: The Greeks o f Asia M in o r, S.
9 8 103
- •

36 Turgay, A. Ü ner: Trade and M erchants in N ineteenth-C entury Trabzon:


Elem ents o f E thn ic C o n flict, in : C hristians and Jews in the O ttom an Em pire,
V ol. 1, S. 2 8 7 -3 1 8 . Siehe auch ders.: Trabzon, in : P ort C ities o f the Eastern
M editerranean, 1800-1914, hg. v. Ç. Keyder, Y. E. Özveren и. D. Q uataert
(R eview . A Jo u rn a l o f the Fernand B raudel C enter fo r the S tudy o f Economics,
H is to ric a l Systems and C iv ilis a tio n s , X V I/4 , F a ll 1993), S. 4 3 5 -6 5 .
37 Issaw i, Charles: The Econom ic H is to ry o f T u rke y 1800-1914. C hicago-London
1980, S. 202.
38 Siehe G ounaris, Basil C.: Salonica, in : P ort C ities o f the Eastern
M editerranean, S. 4 9 9 -5 1 8 ; D um ont, Paul: The Social S tru ctu re o f the Jewish
C om m unity o f Salonica at the End o f the N ineteenth C entury, in : Southeastern
Europe 5 (1978), p a rt 2, S. 3 3 7 2 ‫ ־‬.

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Nicht-muslim ische Eliten im Osmanischen Reich 61

nur mit zwei und unter den 74 Ärzten und Medizinern in der Stadt nur
mit sechs Personen vertreten.39
Die Überlegenheit der Nichtmuslime waderspiegelte sich auch im
entstehenden Vereinsleben im urbanen Raum. Besonderes Stellenwert in
diesem Rahmen kam der Freimauerei zu, wobei die Mehrheit der Logen-
mitglieder den nichtmuslimischen Gemeinschaften entstammten.4° Erst
in den 60er und 70er Jahren zeigten auch die muslimischen Eliten Inter-
esse an dieser Bewegung, nachdem sogar ein Sultan Logenmitglied ge-
worden war.*1
In den 1890er Jahren kam es in einigen kosmopolitischen Zentren wie
Istanbul, Izmir oder Thessaloniki zur Gründung neuartiger Organisa-
tionen, die ein exklusives Milieu der Nichtmuslime blieben. Es handelte
sich hierbei um Assoziationen mit durchweg öffentlichen Funktionen, die
aber zugleich zur Pflege des Elitenbewußtseins ihrer Mitglieder dienten.
Mittlerweile hatte man sich insofern dem Zeitgeist angepaßt, daß man es
sich - etwa mit Zweithäusem in eleganten Badeorten - leisten konnte,
seine Freizeit schichtenspezifisch zu gestalten.*2 In Thessaloniki bei-
spielsweise gab es seit 1873 einen Herren-Klub nach englischer Art mit
dem Namen Le Cercle de Salonique, wo man - Vertreter der freien Be-
rufe, Bankiers, Kaufleute und Unternehmer - sich zum Zeitvertrieb traf .*3
Andere Vereine wie l’Evangelismos, Filomouson, Cercle des Intimes

39 Anastassiadou, M eropi: Salonique, 1830-1912. Une v ille ottom ane à l ’âge des
Réformes. L e id e n -N e w Y o rk -Köln 1997, S. 3 4 4 -3 5 8 .
*° Siehe D um ont, Paul: La Franc-M açonnerie d ’obédience française à Salonique
au début du XXe siècle, in : T urcica 16 (1984), S. 6 5 -9 4 ; ders.: La Franc-
M açonnerie ottom ane et les ‘ idées françaises’ à l ’époque des T anzim at, in :
Revue du M onde M usulm an et de la M éditerranée 5 2 /5 3 , 1 9 8 9 -2 /3 , S. 1 50-
159; ders.: Ia Franc-M açonnerie dans l ’E m pire ottom an. La loge grecque
Prom éthée, Jannina, in : I>es Balkans à l ’époque ottom ane, hg. v. D aniel Panzac
(Revue du M onde M usulm an et de la M éditerranée, N 0. 66, 1992/4), S. 105-
112; Svolopoulos, C onstantin: L’in itia tio n de M ourad V à la francm açonnerie
par Claude Scalierie: aux origines de m ouvem ent lib e ra le en T u rq u ie , in:
Balkan Studies 21 (1980), S. 441-457.
*l Svolopoulos, C onstantin: L ’in itia tio n de M ourad V à la francm açonnerie par
Claude Scalierie: aux origines de m ouvem ent lib e ra le en T u rq u ie , in : Balkan
Studies 21 (1980), S. 441-57.
*2 Siehe Nahum , H e n ri: P o rtra it d ’une fa m ille ju iv e de Sm ym e vers 1900, in:
V ivre dans !’E m pire ottom an, S. 163-171.
*3 Anastassiadou: Salonique, S. 3 6 9 -7 0 .

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62 F. A da m r

dienten zur Förderung des Musiklebens, der Kunst oder allgemeinen


Bildung. Auffallend ist auch das Engagement des Establishment im Be-
reich des öffentlichen Sports. Dem Einzug des Fußballs mit der Gründung
eines Football and Rugby Club in Smyrna gegen 1890 folgten jedoch
durchweg elitäre Sportarten wie Tennis und Radfahren. So entstanden in
Thessaloniki bis zur Jahrhundertwende Sportvereine wie White Star
Cycling Club, Lawn Tennis and Croquet Club oder Union Sportive, die
als Treffpunkte für die Blume der lokalen Gesellschaft fungierten. Die
Mitgliedschaft beispielsweise in dem Tennisklub, gegründet 1898 von
einer Gruppe von Damen, war dermaßen begehrt, daß die Zahl bei 60
gefroren wurde.«
Beachtung verdient aber in diesem Rahmen vor allem die Tatsache,
daß die nicht-muslimischen Eliten in den Kemprovinzen des Os-
manischen Reiches auch das kulturelle Leben dominierten. Zum Beispiel
erschienen in Istanbul von den im Jahre 1876 herausgegebenen 47 Zei-
tungen und Zeitschriften nur 13 auf Türkisch, die restlichen 34 Organe
verteilten sich auf Griechisch, Armenisch, Französisch, Bulgarisch,
Spanisch und E n g lis c h .« Von den etwa 90 Verlagshäusem in der os-
manischen Hauptstadt am Ende des 19. Jahrhunderts befanden sich le-
diglich 23 in muslimischem Besitz, d.h., die überwältigende Mehrheit
wurde von Armeniern, Griechen, und Juden kontrolliert. Ein ähnlich
großer Teil der zwischen 1876 und 1893 produzierten Bücher erschien in
den Sprachen der nichtmuslimischen Bevölkerungsgruppen, wobei sogar
die auf Türkisch verfaßten Bücher zu einem beträchtlichen Teil aus der
Feder türkischsprechender Christen stammten.*6 Schließlich verdient
Erwähnung, daß das moderne Theater und die Oper in das Osmanische
Reich hauptsächlich von türkischsprechenden Armeniern und anderen

44 Anastassiadou, M e ro p i: Sports d ’é lite et élites sportives à Salonique au


to u rn a n t du siècle, in : V ivre dans l ’E m pire ottom an, S. 145-160.
*5 Ahm ed E m in [Y alm an], The Developm ent o f M odern T u rke y as M easured by
its Press. New Y ork 1914, S. 41.
46 Siehe Strauss, Johann: Les livre s et l ’im p rim e rie à Ista n b u l (1 8 0 0 -1 9 0 8 ), in:
T u rq u ie : Livres d ’h ie r, liv re s d ’a u jo u rd ’h u i, hg. v. Paul D um ont. S trasbourg-
Ista n b u l 1992, S. 5 -2 4 , h ie r die Anm erkungen 8 und 10, S. 7. V gl. auch
Petrosjan, J u rij A .: T ureckaja p u b lic is tik a epochi re fo rm v Osm anskoj im p e rii
(konec Х Ѵ ІІІ-n a č a lo X X v.). M oskva 1985.

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Nicht-m uslim ische Eliten im Osmanischen Reich 63

nichtmuslimischen Künstlern eingeführt worden sind, wie auch die Au-


toren der ersten türkischen Romane Armenier oder Griechen waren.*7

V.
Gleichberechtigter Zugang zum öffentlichen Dienst war ein Hauptanlie-
gen der osmanischen Reformbewegung des 19. Jahrhunderts. Dement-
sprechend waren Vertreter nichtmuslimischer Gemeinschaften an den
provinzialen Gremien - z.B. Verwaltungsräten - , die ab 1840 gebildet
wurden, beteiligt•48 Später, im Laufe des Krimkrieges, erhielten die
Nichtmuslime Zugang zum Heeresdienst, und zwar bis zum Rang eines
Obersten, und das Reform-Dekret von 1856 gewährte allen osmanischen
Bürgern gleichberechtigten Zugang zu hohen Staatsämtern unter der
Voraussetzung der persönlichen Eignung und bildungsmäßigen Qualifi-
kation.4’ Die Gründung des Lyzeums Galatasaray im Jahre 1868, in dem
Französisch die Unterrichtssprache war, sollte als eine Bildungsstätte für
bürokratische Kader der Zukunft d ie n e n .5 ° Gleichermaßen waren nicht­

47 U lu, Ivsin: is ta n b u l’da ilk opera e tk in lik le ri, in : is ta n b u l 4 (Ja nu a r 1993), S.


13 2 -3 8 ; V artan Faça, A kabi H ikyayesi. ilk T iirk ç e rom an (1851), hg. v. A.
Tietze, is ta n b u l ...; Anhegger, R obert: Das Tem aça-i D iin ya des Evangelinos
M isa ilid is (1871/72) als Q uelle zu r karam anischen Sprach- und
K ulturgeschichte, in : T ürkische Sprachen und L ite ra tu re n , hg. v. Ingeborg
B aldauf et al. W iesbaden 1991, S. 1 -3 8 . Ü ber die türkisch-sprachige L ite ra tu r
de r karam anh-G nechcn siehe S alaville, S. / D alleggio, E.: K aram anlidika.
B ibliograp hie analytique des ouvrages en langue tu rq u e im prim és en
caractères grecs. Athènes, I (1958), II (1966), I I I (1974); Balta, Evangelia:
K aram anlidika. B ib liog rap h ie analytique, I: XXe siècle, I I : A d d itio n s (1 5 8 4 -
1900). Athens 1987; dies.: K a ra m a n lid iko i kodikes tou K entrou M ik ra sia tiko n
Spoudon, in : D e ltio K entrou M ik ra sia tiko n Spoudon 1 9 8 8 -8 9 , S. 2 0 1 -4 6 .
48 Siehe F indley, C arter V.: O ttom an C iv il O fficia ld o m : A Social H isto ry,
Princeton, NJ 1989, S. 3 2 -3 3 . V gl. auch Yalçinkaya, M ehm et A laa dd in : The
P rovincial Reform s o f the E a rly Tanzim at Period as Im plem ented in the Kaza
o f A vre th isa ri, in : O sm anli T a rih i Ara$t1rm a ve U ygulam a D ergisi 6 (1995),
S.4 3 - 8 5 -
49 F indley, C. V.: O ttom an C iv il O fficia ld o m , ebd. Siehe auch Shaw, S tanford:
I>ocal A d m in is tra tio n in the Tanzim at, in : 150. y ilin d a T anzim at. A nkara 1992,
S. 3 3 - 4 9 •
5° De Salve: L’enseignem ent en T u rq u ie : le Lycée im p é ria l de G alata-Séraï, in :
Revue des deux mondes (oct. 15,1874), S. 8 3 6 -8 4 1 . Siehe auch Slavova, Stefka
/ Dojnova, Cvetana: D okum enti o t na cionalnija archív na F rancija za
otkrivan eto na Im p e rskija osm ański licē j v G aiata Saraj i p ã rvite bãlgarski

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64 F. Adam r

muslimische Kinder ab 1877 zu allen militärischen Bildungsanstalten


zugelassen, wie auch die im selben Jahr gegründete zivile Verwaltungs-
schule (Mülkiye) allen Studierenden ohne Unterschied der Religion of-
fenstand.5‘
Obwohl die nichtmiuslimischen Gemeinschaften sich hartnäckig wei-
gerten, ihre Jugend zum Militärdienst einziehen zu lassen, war ihnen die
Teilnahme am politischen Leben oder eine Tätigkeit als Beamter in
osmanischen Diensten durchaus willkommen.52 So belegten sie mit 40
Abgeordneten mehr als 30 Prozent aller Sitze im ersten osmanischen
Parlament (1876-78) und waren mit elf der insgesamt 36 Mitgliedern
auch im Hohen Haus vertreten.53 Als Istanbul in den 1860er Jahren eine
reformierte Munizipalverwaltung erhalten sollte, übernahm die nicht-
muslimische Elite eine Vorreiterrolle .54 Innerhalb der Bürokratie war es
das Außenministerium, das die nichtmuslimische Jugend besonders an-
zog. Rund 30 Prozent des Personals dieses Ministeriums in der Periode
von 1850-1908 waren Armenier, Griechen oder Juden.55
Innerhalb der Provinzialverwaltung dagegen hatten die Nichtmuslime
vergleichsweise geringes Gewicht. Dies hatte hauptsächlich mit der Ent-
Wicklung der Orientalischen Frage nach 1878 zu tun, als Aufstände nicht-
muslimischer Völker auf Kreta, in den armenischen Gebieten Kleinasiens
oder in Makedonien das Gespenst der ‫״‬ Regionalautonomie“ wachriefen,

učenici v nego, in : Izvestija na dāržavnite a rch ivi 19 (1970), S. 2 0 5 -24 4 , und


Davison, R eform , S. 248 f.
51 Devereux, R obert: The F irs t O ttom an C onstitutional Period. A Study o f the
M id h a t C o n stitu tio n and P arliam ent. B altim ore 1963, S. 216, fn. 81.
52 F ü r eine Diskussion dieser P roblem atik siehe A dam r, F ikre t: C hristliche
R ekruten u n te r dem H albm ond: Zum Problem der M ilitä rd ie n s tp flic h t fü r
N ich tm u slim e im spätosm anischen Reich, in : Von der Pruth-Ebene bis zum
G ip fe l des Ida. F estschrift zum 70. G eburtstag von Emm anuel Turczynski, hg.
von G. G rim m . M ünchen 1989, S. 153-64.
53 O rta y li, ilb e r: ilk O sm anli Parlam entosu ve O sm anli m ille tle rin in tem sili, in
Arm aģan. Kanun-u Esasi’n in 100. )111. A nkara 1978, S. 176 ff.
54 Rosenthal, Steven: M in o ritie s and M u n icip a l Reform in Istanbul, 1850-1870,
in : C hristians and Jews in the O ttom an E m pire, V ol. 1, S. 3 6 9 -3 8 5 ; ders.: The
P olitics o f Dependency. U rban Reform in Istanbul. W estport, C onn.-London
1980.
55 Siehe F in dley, C arter V .: The A cid Test o f O ttom anism : The Acceptance o f
N on-M uslim s in the Late O ttom an Bureaucracy, in : C hristians and Jews in the
O ttom an E m pire, V ol. 1, S. 343 f.

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Nicht-muslimische Eliten im Osmanischen Reich 65

das letztlich das Postulat der territorialen Integrität des Reiches zu


gefährden schien. In verschieden Reformprojekten dieser Zeit forderten
die Großmächte die Ernennung von christlichen Gouverneuren - valis,
mutasarriß, kaymakams - zumindest für jene Provinzen oder Distrikte,
in denen kompakte christliche Bevölkerungen lebten. Die osmanische
Regierung widerstand jedoch diesem Druck hartnäckig und schreckte
unter Umständen auch nicht zurück, die Grenzen von Verwaltungs-
einheiten nach politischen Gesichtspunkten neu zu ziehen. Letztlich
erhielten die Nichtmuslime auch dort, wo sie die Mehrheit bildeten, keine
echte Mitsprache in der regionalen Verwaltung.56

VI.
Trotz manches eindrucksvollen Erfolgs erwies sich die osmanistische
Ideologie außerstande, mit dem geradezu sprudelnden Nationalismus der
christlichen Völker zu konkurrieren. Aus der Sicht nicht muslimischer
intellektueller Eliten kam die Wahrnehmung einer Funktion im osmani-
sehen öffentlichen Dienst dem Verrat der eigenen nationalen Ideale nahe.
Das hatte politische und kulturellen Spaltungen, ja Generationen-
konfliktē innerhalb nichtmuslimischer Gemeinschaften zur Folge. In
Bulgarien beispielsweise wurde in den 1860er Jahren von gemäßigten
nationalistischen Gruppen die Perspektive eines türkisch-bulgarischen
dualistischen Sultanats beschworen, während eine kleine Elite die
Befreiung auf dem revolutionärem Weg, damit auch mit militärischer
Hilfe Rußlands forderte .57 Es folgten Terrorhandlungen, Partisanen­

56 A dam r, F.: Zulassung von N ichtm uslim en zum ö ffe n tlich e n D ienst im
spätosm anischen Reich, unveröfflichtes M anuskript. V gl. O rta y li, Ílb e r: II.
A b d ü lh a m id devrinde ta$ra bürokrasisinde ga yrim ü slim le r, in : S ultan II.
A b d ü lh a m id ve D evri Sem ineri - B ild irile r. Ista n b u l 1994, S. 163-171.
• •

U ber das Taen Centralen Balgarsid Komitet und seine dualistische P rogram -
m a tik siehe Davison, R.: Reform in the O ttom an E m pire, S. 156; ders.:
N atio na lism as an O ttom an Problem and the O ttom an Response, in :
N atio na lism in a N on-N ational State. The D issolution o f the O ttom an E m pire,
hg. v. W . W . Haddad u. W . Ochsenwald. C olum bia, O hio 1977, S. 2 5 -5 6 , h ie r
49 f.; Sarova, Krum ka: Dviženie za političesko osvoboždenie prez 1866-1869
g., in : Is to rija na Bãlgarija, V ol. 6: Bãlgarsko vazraždane 1856-1878. Sofia
1987, S. 235; Kosev, Konstantin et al.: Is to rija na A p rilsko to vãstanie 1876.
Sofia 1976, S. 126-128; M itev, Jono: Is to rija na A p rilsko to vãstanie 1876, V ol.
1: P redpostavki i podgotovka. Sofia 1986, S. 9 2 -9 3 . Ü ber das gespannte

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66 F. Adam r

kämpfe, Massenaufstände und deren blutige Unterdrückung von seiten


der Behörden sowie schließlich ‫״‬
ethnische Säuberungen“ besonders im
Laufe des russisch-türkischen Krieges von 1877-78. Die katastrophale
Niederlage des Osmanischen Reiches in diesem Krieg bedeutete einen
empfindlichen Rückschlag für die Idee der brüderlichen Einheit
osmanischer Völker. Beeindruckt auch von Wellen muslimischer Flücht-
linge aus den verlorenen Gebieten vollzog Abdulhamid 11.(1876-1909)
eine Wende zum Islam hin. Von nun an war man bestrebt, politische
Loyalität auf muslimischer Solidarität von Türken, Kurden, Albanern und
Arabern zu gründen, obgleich nach außen hin das Banner des
Osmanismus weiterhin hochgehalten wurde.58
Unter diesen Bedingungen wurde Gleichheit zwischen Muslim und
Nichtmuslim erneut zu einer umstrittenen Frage nicht nur innerhalb des
Reiches, sondern auch auf der Tagesordnung der großen Politik der Kabi-
nette. Die zahlreichen Interventionen der Großmächte lenkten die Ent-
wicklung in eine von den radikal-nationalistischen Kräften gewünschte
Richtung. Einerseits verringerte sich der Anteil der Nichtmuslime am
osmanischen Staatsdienst erheblich, was zu einer Entfremdung gerade
der ‫״‬ turkophilen“ Gruppen zur Folge hatte. Andererseits entstanden, wie
im Falle der Administration de la Dette Publique Ottomane, mächtige
Institutionen des internationalen Finanzkapitals, die sich wie ein Staat im
Staate gebärdeten. Für die Gebildeten aller Konfessionsgemeinschaften
war es schließlich sinnvoller, eine Anstellung bei der Schuldenverwaltung
anzustreben, als sich um eine schlecht und unregelmäßig bezahlte Stelle
im Staatsdienst zu bemühen. Die Administration de la Dette Publique
Ottomane ihrerseits bevorzugte offen nichtmuslimische Kader.59 Euro-

V erhältnis der N ationalisten zu osm anischer Reform im allg. siehe auch


Petrosjan, Irin a E. u. J u rij A.: Osmanskaja im p ē rija . Reform y i re fo rm ato r)‫׳‬
(konec Х Ѵ ІІІ-n a ča lo X X v.). Moskva 1993, S. 7 8 -8 8 .
58 Siehe D e rin g il, Selim : The W ell-P rotected Dom ains: Ideology and the
Le gitim a tion o f Power in the O ttom an E m pire 1876-1909. London 1998,
passim.
59 Siehe Q uataert, D onald: The Em ploym ent Policies o f the O ttom an Public Debt
A d m in istra tio n 1881-1909, in : W iener Z e itsch rift fü r die Kunde des M orgen-
landes 76 (1986), S. 2 3 3 -3 7 . Über die Geschichte der Schuldenverwaltung
siehe im m er noch Roum ani, A d ip : Essai historique et technique su r la Dette
Publique O ttom ane. Paris 1927, und B laisdell, Donald C.: European Financial
C ontrol in the O ttom an E m pire. A Study o f the Establishm ent, A ctivitie s, and

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Nicht-muslimische Eliten im Osmanischen Reich 67

päischen Kapitalinteressen standen weitere Möglichkeiten der Einwir-


kung auf die innerosmanischen Entwicklungen zur Verfügung, die die
Haltung der Eliten unmittelbar beeinflußten: Die großzügigen Infra-
Strukturprojekte wie die Eisenbahnen (Bagdadbahn!), Bewässerungsan-
lagen, Hafeneinrichtungen u.a. eröffneten immer neue Perspektiven für
jenen Kreis von Fachkräften, die dem osmanischen Staat fast nichts mehr
zu verdanken hatten.
Die ‫״‬Revolution“ von 1908 konnte an diesem Zustand wenig ändern.
Zwar bemühten sich die Jungtürken, die osmanistische Ideologie zu
neuem Leben zu erwecken. Friedliches Zusammenleben von Völkern wrar
aber genau das Gegenteil dessen, was die nationalistischen Eliten sehen
wollten. Sie hatten dabei zu Recht befürchten müssen, daß ein Erfolg
osmanistischer Maßnahmen zumindest als Nebeneffekt die Turkisierung
von Kultur und Politik zur Folge haben würde, galt doch das Türkische
seit 1876 als die Amtssprache des Reiches. Daher kam es gerade nach
1908 zum erneuten Aufleben des ethnischen Nationalismus im Osmani-
sehen Reich.60 Schließlich wurde nach dem Zusammenbruch im Balkan-
krieg von 1912, der praktisch den Verlust der gesamten ‫״‬ Europäischen
Türkei“ bedeutete, das osmanistische Projekt von den Jungtürken selbst
aufgegeben. Stattdessen begann man etwa den Groll muslimischer
Flüchtlinge gegen nicht muslimische Bevölkerungen Kleinasiens anzuhei-
zen.61 Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden die verhaßten
Kapitulationen einseitig abgeschafft und eine Politik der ‫״‬ National-
Ökonomie“ à la Friedrich List in Angriff genommen, deren Hauptanliegen
die Sicherung möglichst günstiger Bedingungen für die Entwicklung einer

Significance o f the A d m in istra tio n o f the O ttom an Public Debt. New Y ork 1929
(R epr. 1966).
60 Ü ber die politischen Vorstellungen der Jungtürken siehe H anioglu, M . Çükrü:
The Young T urks in O pposition. New Y o rk -O x fo rd 1995. Die osm anistischen
Elem ente im jun gtü rkische n Program m 1908-11 werden analysiert in A dam r,
F.: O sm anli Im p arato rlu ģ u ’nda U lusal Sorun ile Sosyalizm in O luçm asi ve
Geliamosi: Makedonya Ö rnegi, in : O sm anli І m paratorluģu’nda Sosyalizm ve
M illiy e tç ilik 1876-1923, hg. v. Mete Tunęay u. E rik J. Zürcher. Istanbul 1995,
S.3 3 - 7 2 .
61 Die einschlägige L ite ra tu r w ird vorgestellt in A dam r, F.: The G reco-Turkish
Exchange o f Populations in T u rkish H istoriography, in : C om pulsor)‫ ־‬Removals
o f Populations a fte r the F irst and .Second W orld W ars: C entral-Eastern
Europe, the Balkan-Aegean Region, Is tria , hg. v. M . Cattaruzza and M . Dogo
(im D ruck).

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68 F. Adam r

türkischen Nationalbourgeoisie war.62 Der Zwang zur Benutzung des


Türkischen im öffentlichen Verkehr, eine staatlich gesponsorte
Genossenschaftsbewegung, die zum Nachteil nichtmuslimischer
Kaufleute reichte, staatliche Eingriffe in den Außenhandel sowie in
Währungs- und Bankgeschäfte waren Maßnahmen, die systematisch
ergriffen wurden, um die Turkifizierung des Wirtschaftslebens voranzu-
treiben.
Somit kann festgehalten werden, daß der Erfolg anti-osmanistischer
Kräfte und Strömungen mittelbar zum Sieg des ethnischen Nationalismus
auch bei den muslimischen Bevölkerungsgruppen beigetragen hat - ei-
nem Sieg freilich, der den bisherigen Rahmen der Elitenrivalität sprengte:
Die Folgen waren Deportationen, Zwangsumsiedlung von Bevölkerungen
und G en o zid e

62 H ierzu und zu folg. vgl. Zafer, Toprak: T ü rkiye ’de ‫״‬M illi ik tis a t“ (1908-1918).
A nkara 1982, S. 21 und passim. V gl. auch Ahm ad, Feroz: Vanguard o f a
Nascent Bourgeoisie: The Social and Econom ic Policy o f the Young Turks
1908-1918, in : Social and Econom ic H isto ry o f Turkey, hg. v. O. O kyar and H.
in a lc ik . A nkara 1980, S. 3 2 9 -5 0 ; Keyder, Çaglar: State and Class in T urkey. A
Study in C apitalist Developm ent. London-N ew York 1987, S. 7 1 -9 0 , and
Gôçek, F. M .: Rise o f the Bourgeoisie, S. 108-16.
63 Siehe A dam r, F.: Die Arm enische Frage und der V ölkerm ord an den
A rm eniern im Osmanischen Reich: B etroffenheit im Reflex nationalistischer
G eschichtsschreibung, in : E rlebnis-G edächtnis-Sinn. Authentische und kon-
stru ie rte E rinnerung, hg. von H . Loewy und B. M oltm ann. F ra n k fu rt/M .-N e w
Y ork 1996, S. 2 3 7 -6 3 ; A dam r, F. / Kaiser, H .: M ig ra tio n , D eportation, and
N a tio n -B u ild in g : The Case o f the O ttom an Em pire, 1856-1923, in : Les
M ig ratio ns internationales dans une perspective historique, hg. v. René
Leboutte, Firenze (im D ruck).

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Zwischen Bürokratie und Bürgertum:


‫״‬Bürgerliche Berufe“ in Südosteuropa

Wolfgang Höpken

I. Einleitung
‫״‬Bürgerliche Berufe“ sind erst relativ spät von der sozialhistorischen
Forschung als Gegenstand entdeckt worden. Erst nachdem Klassen und
sich über Marktlage oder Lebensführung definierende soziale Großgrup-
pen wie Arbeiter oder Bürgertum in den Blick genommen worden waren,
richtete sich das Augenmerk auch auf jene Formen von Vergemeinschaf-
tung, die über eine gemeinsame oder ähnliche berufliche Zugehörigkeit
erfolgten. Zusammengefaßt werden unter der Bezeichnung der
‫״‬bürgerlichen Berufe“ gemeinhin jene Berufsgruppen, die durch eine
Reihe gemeinsamer Merkmale verbunden sind, mit denen sie sich von
anderen Sozialgruppen abheben: ein spezialisiertes, zunehmend akade-
misches Wissen, der Anspruch auf ein Monopol für die von ihnen ange-
botenen Dienstleistungen, eine weitgehende Selbstregulierung der
inneren Verhältnisse der jeweiligen Berufsgruppe, ein aus der Qualifika-
tion abgeleiteter Anspruch auf ein hohes soziales Prestige und zumeist
auch auf ein überdurchschnittliches Einkommen, schließlich ein über den
Beruf gewonnenes Zusammengehörigkeitsgefühl und eine gemeinsame
korporative Identität.1 Diese Merkmale sind es, welche die Professionen

1 Z u r Begriftsgeschichte und D e fin itio n von ‫״‬Professionen“ vgl. Conze, W . /


Kocka, J.: E in le itu n g zu: Dies. (H g.): B ildungsbürgertum im 19. Jah rh un d ert,
T e il I: ßildungssystem und Professionalisierung in inte rn ationale n V er-
gleichen, S tu ttg a rt 1985, S.16 f.; M cC lelland, Charles: Z u r Professionalisierung
der akademischen Berufe in Deutschland, ebenda, S.237; Siegrist, Hannes:
B ürgerliche Berufe. Die Professionen und das B ürgertum , in : D ers.(H g.):
B ürgerliche Berufe, G öttingen 1988, S .ll ff.; Jarausch, Konrad: The Unfree
Professions. German Lawyers, Teachers and Engineers, 1900-1950, New Y ork
1990, S.7.

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70 W. Höpken

zu einer sozialen Konfiguration besonderer Art verbinden. Im Zentrum


der Professionen stehen vor allem Juristen, Ärzte, Professoren, Lehrer,
mit einem gewissen zeitlichen Abstand auch die technischen Berufe wie
Ingenieure oder Architekten, wobei die Grenzen zu Bereichen wie dem
Beamtentum durchaus fließend sind. Der Kanon der als bürgerliche
Profession anerkannten Berufe variiert freilich nicht nur von Land zu
Land, sondern auch in der Zeit: einzelnen beruflichen Gruppen, etwa den
Ingenieursberufen, gelingt auf dem Wege gezielter Professionalisierungs-
strategien die Aufwertung in den Kreis der ‫״‬ bürgerlichen Berufe“; andere,
wie etwa die Grundschullehrer, bleiben zumindest in Mitteleuropa lange
Zeit an den Rändern dieser sozialen Konfiguration. Die Geschichte kennt
zudem nicht nur Prozesse der Professionalisierung, sondern auch der
‫״‬De-Professionalisierung“, also des ,Abstiegs“ solcher Berufsgnippen aus
dem Kreise der hochqualifizierten, gesellschaftlich als ‫״‬ bürgerlich“ ge-
achteten Professionen. In Südosteuropa sahen sich beispielsweise die
bulgarischen Juristen in der Zeit der Herrschaft der agrarpopulistischen
Bulgarischen Bauernpartei Aleksandär Stambolijskis in den frühen
1920er Jahren der Gefahr einer solchen Deprofessionalisierung ausge-
setzt - ein Beispiel, auf das noch zurückzukommen sein wird.
Als ‫״‬ bürgerlich“ sind derartige Berufe nicht nur deswegen zu
bezeichnen, weil ihr Aufstieg zumindest in Mitteleuropa mit jenem des
Bürgertums eng verknüpft ist, sondern auch weil sich ihre Inhaber dem
Bürgertum zugehörig fühlten, sie sich an dessen Lebensführung, Wert-
Vorstellungen, Diskursen und Weltdeutungen orientierten.2 Das Ent-
stehen solcher Berufsgruppen, ihr quantitatives Gewicht und ihre
gesellschaftlich-politische Prägekraft ist denn auch zumeist als ein Grad-
messer für die Verbürgerlichung einer Gesellschaft, oder gar als Meßlatte
‫״‬gelungener Modernisierung“ genommen w o rd en .3
Obwohl von Soziologen wie Talcott Parsons schon in den 1930er Jah-
ren zu einer zentralen Kategorie für das Verständnis moderner Gesell-
schäften erhoben,* dauerte es lange, bis sich auch die Geschichts-

2 Siegrist, H .: B ürgerliche Berufe, S .ll.


3 Kocka, J.: ‫״‬B ürgertum “ and Professions in the 19th-Century. Two A lternative
Approaches, in : Burrage, M . / Torstendahl, R. (H g.): Professions in Theory
and H istory’, Ix>ndon 1990, S.62 ff.
* Parsons, T a lco tt: Beiträge z u r soziologischen Theorie, Neuwied 1968, S. 160-
1 7 9 • V gl. auch Rueschemeyer, D ie trich : Professionalisierung. Theoretische

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‫״‬
Bürgerliche Berufe“ in Südosteuropa 71

Wissenschaft des Begriffs und des Gegenstands der Professionen


bemächtigte. Dort, wo sie dies tat, blieb der Blick zudem lange vorrangig
auf den anglo-amerikanischen Raum gerichtet, auf ein Modell bürgerli-
eher Berufe mithin, das durch eine liberale Selbstregulierung und eine
von staatlichem Einfluß weitgehend freie und quasi unternehmerische
Tätigkeit der ‫״‬ liberal professions“ gekennzeichet war. Sehr viel später
erst, eigentlich erst in den siebziger und achtziger Jahren, fand der Begriff
der Professionen und das dahinter stehende theoretische Konzept auch
für die kontinentaleuropäische Entwicklung Anwendung, und zögerlicher
noch wurde Ost- und Südosteuropa für eine vergleichende Geschichte der
bürgerlichen Berufe entdeckt.5 Auch in den ost- und südosteuropäischen
Geschichtswissenschaften hatte man sich zwar durchaus schon früher
diesen Berufsgruppen zugewandt; allerdings näherte man sich ihnen hier
bis heute zumeist vom Begriff und vom analytischen Konzept der
‫״‬Intelligenzija“, nicht jedoch von einer professionalisierungstheoretischen
Perspektive aus. Die ältere, ‫״‬ vor-sozialistische“ Literatur folgte damit
letztlich der kategoriellen Selbstdefinition dieser Berufsangehörigen, die
- wie noch zu zeigen sein wird - bis zum Zweiten Weltkrieg stark an
einem Zugehörigkeitsverständnis von ‫״‬ Intelligenzija“ orientiert blieb.6 In
der sich bis 1989 marxistisch verstehenden Geschichtswissenschaft der
osteuropäischen Länder dürfte diese Präferierung des Intelligenzija-
Begriffs zudem daran gelegen haben, daß er eine größere ideologische
Korrektheit versprach, fügte er sich doch ein in das verbindliche Sowjet-
marxistische Klassenschema von Arbeitern, Bauern und Intelligenz.7 Aber

Probleme fü r die vergleichende G eschichtsforschung, in : Geschichte und Ge-


sellschaft (1980), S.311 ff.
5 M cC lelland, Charles / M e rl, Stephan / Siegrist, Hannes: In tro d u c tio n , in:
D ies.(H g.): Professionen im m odernen O steuropa - Professions in M odem
Eastern Europe, Gießen 1995, S.11 ff.
6 V gl. exem plarisch fü r Bulgarien: G abrovski, N iko la : Nravstvenata zadaća na
inteligencijata, Sofija 1889; Sakázov, Janko: In te lig e n cija ta i nejnata ro ija v
obštestvoto, Sofija 1993 (R e p rin t); Kepov, Ivan: In te lig e n cija i narod, P lovdiv
1925; ( \ ‫׳‬etkov, Luben: PãtLstata na bälgarskata inte lige n cija , in : Filozofiski
pregled 11 (1929); Vasilev, Goran: In te lig e n tn a B ãlgarija, Sofia 1932; Pavlov,
T odor: Inteligencija, in: A rch iv za stopanska i socialna p o litik a 14 (1939) 5,
S .320-329.
7 D im itro v, K rãstju: Bälgarskata in te lige ncija p ri kapitalizm a, Sofija 1974.
Genčev, N iko ła j: Očerci. Socialno-psichologičeski tipove v bälgarskata is to rija ,
Sofija 1987; Kolev, Jordan: Form irane na profesionalnata s tru k tu ra na bài-

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72 W. Höpken

auch seit der Überwindung vormaliger theoretischer und begrifflicher


Vorgaben hat sich an der Präferenz für diesen Begriff gegenüber jenem
der Professionen oder der ‫״‬ bürgerlichen Berufe“ in den Historiographien
der südosteuropäischen Länder nichts geändert.8 Kommt darin bereits
eine gewisse Distanz zum Professionalisierungsbegriff und zum theoreti-
sehen Konzept von Professionalisierung zum Ausdruck, so hat auch die
‫״‬westliche“ Forschung immer wieder Skepsis geäußert, ob sich die aka-
demischen Berufsgruppen in Osteuropa tatsächlich einfügen in ein Mo-
dell ‫״‬ bürgerlicher Berufe“, oder ob sie nicht doch eher als Teil einer sehr
viel breiteren, sozial, lebensweltlich und mentalitätsmäßig anders gearte-
ten ‫״‬ Intelligenzija“ zu verstehen und sozialgeschichtlich zu verorten sind .9
Die begriffliche Unschärfe, mit denen man diesen Berufsgruppen begeg-
net, deutet somit bereits an, daß deren Entstehen, ihr Profil und ihr
Status in den osteuropäischen Gesellschaften offenbar nur schwer exakt
zu fassen sind und daß ihre Entwicklung im Ergebnis besonderer sozial-
geschichtlicher Traditionen hier möglicherweise anderen Wegen gefolgt
ist als im westlichen oder mittleren Europa.
Um eben diese Besonderheiten der ‫״‬ Professionen“ und - soweit dies
im Rahmen eines solchen Beitrags möglich ist - um deren komparative
Einordnung in einen europäischen Kontext soll es im folgenden gehen.
Juristen, Ärzte, in wenigen beispielhaften Bezügen auch Ingenieure sollen
dabei als Untersuchungsbeispiel dienen. Serbien und Bulgarien bilden
dabei den geographischen, das späte 19. und die ersten Jahrzehnte des
20.Jahrhunderts den zeitlichen Hintergrund der Überlegungen. Eine
systematische Beschreibung der ausgewählten Berufsgruppen muß dabei

garskata in te lig e n cija (1 8 7 8 -1 9 0 0 ), in : G odišnik na S ofijskija u n iverzite t


‫״‬S v.K lim ent O ch rid ski“ . Isto riče ski fa k u lte t 81 (1988), S.112-137; Ders.: Ofice-
rite v profesionalnata s tru k tu ra na bälgarskata inteligencija 1878-1912, in:
V oenno-istoričeski sb o m ik (1989) 2; Ljudžev, D im itä r: Bälgarskata
in te lig e n cija prez 40-te g o d in i, in : G odišnik na S ofijskija univerzitet. Isto -
riče ski fa k u lte t 79 (1985), S.114-164;
8 V gl. b e ispielhaft fü r die südosteuropäische Forschung: Ders.: Bälgarskata
in te lig e n cija 1878-1912, S ofija 1992, dessen A rb e it sich schw erpunktm äßig m it
Berufsgruppen befaßt, die als Professionen zu bezeichnen sind sowie: Mana-
fova, Rajna: In te lig e n cija s evropejski izm erenija, Sofija 1992.
9 F ü r Rußland etwa Geyer, D ie trich : Zwischen B ildungsbürgertum und In te lli-
genzija: Staatsdienst und akademische Professionalisierung im vo rre vo lu tio -
nären R ußland, in : Gonze, W . / Kocka, J. (H g .): B ildungsbürgertum I, S.207 ff.

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‫״‬Bürgerliche B erufe“ in Südosteuropa 73

freilich ebenso unterbleiben wie die gesonderte Behandlung einzelner


südosteuropäischer Staaten.

II. Professionalisierung ‫״‬


vom Staat aus“
Die Entwicklung der bürgerlichen Berufe war in Südosteuropa zunächst
einmal eine Angelegenheit des Staates. Hierin ist bereits eine und sicher-
lieh die zentrale sozialgeschichtliche Besonderheit der Professionen in
dieser Region zu erblicken. Zwar war auch in Mitteleuropa, in Frankreich,
im deutschen oder im Habsburger Raum, das Schicksal der Professionen
eng an den Staat geknüpft. Der Staat schuf auch hier viele der Vorausset-
zungen für ihr Entstehen; er besaß - anders als in Großbritannien oder
den USA - das Monopol auf die Bildungsinstitutionen, aus denen sie
hervorgingen; er kontrollierte auf dem Wege von Staatsprüfungen die
Qualifikationsanforderungen und regelte so die Zulassungspraxis zu den
Berufen, er setzte mittels des Koalitionsrechts die Bedingungen für deren
Selbstorganisation, und er stellte nicht zuletzt einen beträchtlichen Teil
der Absolventen in seine Dienste. Dietrich Rueschemeyer spricht daher
auch für Mitteleuropa von einer ‫״‬ staatlich gesponsorten Professionalisie-
rung“; Hannes Siegrist hat, - die prägende und die kontrollierende Rolle
des Staates für die bürgerlichen Berufe noch stärker betonend - den
Begriff der ‫״‬
Professionalisierung von oben“ gebraucht.10
In Südosteuropa ist die Rolle des Staates für Entstehung und Ent-
wicklung der bürgerlichen Berufe aber zweifelsohne noch von ungleich
größerem Gewicht gewesen. Die ‫״‬ extraordinary fixation on the state“, von
der auch der amerikanische Historiker Konrad Jarausch für das deutsche
Beispiel gesprochen hat,11 sie verblaßt, setzt man das Verhältnis von Staat
und Professionen in den südosteuropäischen Staaten dagegen.
Schon das Entstehen der bürgerlichen Berufe war auf dem Balkan
letztlich ganz maßgeblich an die Nationalstaatsbildung gebunden. In
Mitteleuropa hatten sich schon seit dem Mittelalter im Dienst für Für-

10 Rueschemeyer, D ie trich : la w ye rs and th e ir Society. A C om parative A nalysis o f


the I,egal Professions in G erm any and the U nite d States, C am bridge 1973;
Ders.: Professionalisierung, S.324 f.; S iegrist, H .: P rofessionalization as a
Process: Patterns, Progression and D is c o in tin u ity , in : Burrage / T orstendahl
(Eds.): Professions, S. 177 ff.
11 Konrad Jarausch: The G erm an Professions in H is to ry and T heory, in : Cocks,
G. / Jarausch, K. (E d.): Germ an Professions, 1800-1950, New Y ork 1990, S.13.

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74 W. Höpken

sten, Adel, Kirchen und städtische Selbstverwaltung in Gestalt ‫״‬gelehrter


Stände“ vormodeme Traditionen an ‫״‬ Expertenkultur“ aufgebaut, die
dann seit dem ausgehenden 18. Jh. durch die kameralistischen Regulie-
rungsbemühungen und die bürokratische Modemisierungspolitik des
Staates in ‫״‬ moderne“ Berufsgruppen umgeformt wurden.12 Anders auf
dem Balkan: auch hier, im osmanisch beherrschten Südosteuropa, gab es
zwar solche endogenen Ansätze, insbesondere in der Spätphase des
Reiches, als der Modemisierungsschub der Reformära um die Mitte des
19. Jhs. zu einer Belebung von Handel, Handwerk und städtischem
Wachstum in den europäischen Besitzungen des Reiches führte und so
auch unter der christlichen Bevölkerung den Bedarf nach Bildungsträgern
mit ‫״‬ praktischem“, säkularem Wissen, wie das von Lehrern, Juristen,
Medizinern, entstehen ließ.‘3 Die Eröffnung sekundärer Bildungseinrich-
tungen, etwa in Gestalt medizinischer und militärischer Spezialschulen,
die wachsende Frequentierung von weiterführenden Schulen wie die
kurucesme oder das Robert College sowie schließlich die Öffnung der
staatlichen Verwaltung für Nicht-Muslime im Zuge der Tanzimat-Refor-
men - dies alles schuf darüber hinaus erste Entwicklungschancen für
"Professionen" im Osmanischen Reich selbst.‘•» Allerdings blieben derar-
tige Impulse im ganzen doch begrenzt. Die nivellierte Sozialstruktur der
balkanischen Agrargesellschaften mit ihrer bis weit in das 19. Jh. hinein
geringen Arbeitsteilung behinderte letztlich das Entstehen von Dienstlei-
stungsmärkten für derartige Berufe. Die weithin gewohnheitsrechtlich
organisierte Rechtswelt der christlichen Untertanen, sie bedurfte des
professionalisierten juristischen Expertenwissens eben doch sehr viel
weniger; die agrarische Wirtschaft, noch weithin auf dem Subsistenzprin­

12 Siegrist, H .: B ürgerliche Berufe, S.22; Burrage, M .: In tro d u c tio n : The Profes-


sions in Sociology and H isto ry, in : Burrage / T orstendahl (E ds.): Professions,
S .ló f.
‘3 Vgl. hierzu den Beitrag von F ik re t A dam r in diesem Band; ferner: F'indley,
C arter: The A cid Test o f O ttom anism : The Acceptance o f N on-M uslim s in the
Late O ttom an Bureaucracy, in : Braude, Benjam in / Lewis, Bem ard(Eds.):
C hristians and Jews in the O ttom an E m pire: The F unctioning o f a P lural
Society, B d .l, New Y ork 1982, S .3 3 9 -3 6 8 .
1‫־‬ł Z u r Bedeutung des R obert Colleges: Ilčev, Ivan: R obert Kolež i form iraneto na
bälgarskata inte ligencija, in : Isto rice ski pregled (1981) 1, S .5 0 -6 2 ; Nacov, N.:
C arigrad kato ku ltu re n centãr na B älgarite do 1877, in : S bom ik BAN (1925).

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‫״‬Bürgerliche B erufe“ in Südosteuropa 75

zip beruhend, hatte keine große Nachfrage nach professionellen Juristen,


nicht zu reden von Angehörigen der technischen Berufe.
Vor der Nationalstaatsbildung blieb der Markt für derartige Berufe
und mit ihm auch die Zahl der Ausübenden begrenzt. Sicherlich nahm die
Zahl der Lehrer zu, von ihrer Zahl wie von ihrem Selbstverständnis her
blieben sie vor der Etablierung der Nationalstaaten freilich noch weit
davon entfernt eine Art akademische Profession zu bilden; Mediziner,
Juristen, Angehörige technischer Professionen gar kamen im Kreise
dieser vor-staatlichen Intelligenzija zumindest in den hier in erster Linie
ins Auge gefaßten Staaten der Serben und Bulgaren über eine marginale
Ausnahmeerscheinung kaum hinaus . ‘5 Sie beschränkten sich ganz über-
wiegend auf jene, die sich ihre höhere Ausbildung durch ein Studium im
Ausland eworben hatten oder die in der Diaspora in solche Professionen
aufgestiegen waren.‘6 Von ihnen jedoch fanden nur die wenigsten vor der
Staatsbildung den Weg zur Berufsausübung in ihre noch osmanisch
beherrschte Heimat.‘7
Letztlich war es erst die Nationalstaatsbildung, die dem Entstehen die-
ser Berufsgruppen den Weg ebnete. Die Erfordernisse der quasi aus dem
Nichts heraus erfolgenden staatlichen Institutionenschöpfung‘ 8 produ-

‘5 F ü r B ulgarien m it w eiterführenden Literaturangaben Höpken, W .: Professio-


nalisierung an de r P eripherie: Ju ris te n und Beamte in Bulgarien, in:
M cC lelland / M e rl / S iegrist (H g .): Professionen im m odernen Osteuropa -
Professions in M odem Eastern Europe, S .9 5 -9 8 ; Radkova, Rum jana: Bälgars-
kata in te lig e n cija pre7. vāzraždaneto, Sofija 1986; M eininger, Thomas: The
F orm ation o f a N a tio n a list B ulgarian In te llig e n tsia 1835-1878, Ph.D. thesis
U n ive rsity o f M adison, W isconsin 1974; Dragova, N .: Bolgarskaja inteligencija
epochi nacional’nogo vozroždenija, in : Social’naja stru k tu ra obščestva Jugo-
istočnoj E vropy v X IX . v., M oskva 1982, S.283 ff. zu den Anfängen der M edi-
zin: Is to rija na m edicinata v B älgarija, Sofija 1980, S.98 ff. Stefanov, V.:
Bälgarskata m edicina prez vāzraždaneto, Sofija 1980.
‘6 V gl. hierzu Stepanova, L. L: V klad Rossii v podgotovku bolgarskoj in te llig e n c ii
v 5 0 -7 0 -e gg. X IX v., Kišinev 1981, bes. S.120 ff.; Bucvarova, N eli: V ãzpitanici
na ju ž n o ru s k ite u čilišta i ra zvitie na naučnite znanija v B älgarija X IX v., Sofija
1989; S iu p iu r, Elena: Bälgarskata em igrantska in te lige n cija v R um ānija prez
X IX vek, S ofija 1982.
17 K ujum džieva, M iglena: F orm irane na bälgarskata in te lige n cija s visše obrazo-
vanie prez X IX vek, in: G odišnik na S ofijskija U nive rzite t ‫״‬S v.K lim ent
O ch rid ski“ . C entār po kultu ro zna nie 82 (1989), S .83-149.
18 V gl. hierzu allgem ein Sundhaussen, H .: In s titu tio n e n und in s titu tio n e lle r
W andel in den B alkanländern aus h isto risch e r Perspektive, in : Papalekas,

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76 W. Höpken

zierte überhaupt erst eine Nachfrage nach Inhabern akademischer Aus-


bildung und professionellem Wissen. Der Staat regulierte auch, wer in
den Genuß einer solchen beruflichen Qualifikation kam. Bevor die Bai-
kan-Staaten sich mit der Gründung von Hochschulen bzw. Universitäten
eigene Ausbildungsinstitutionen für akademische Berufe schufen, war die
Vergabe von Stipendien bzw. ein Studium im Ausland das wichtigste
Regulierungsinstrument, um das Entstehen akademisch qualifzierter
Berufe den Bedürfnissen des Staates anzupassen, und auch nach Grün-
dung eigener Hochschulen verlor sie diese Funktion lange Zeit nicht.1’
Der Staat beschäftigte zunächst auch praktisch alle Absolventen einer
professionellen Bildung. Stipendiaten wurden ohnehin verpflichtet, nach
Rückkehr für einige Jahre in den Staatsdienst einzutreten, und zumeist
verblieben sie mangels Alternativen dort. Aber auch jene, die nicht mit
staatlicher Unterstützung eine akademische Ausbildung genossen hatten,
fanden in den ersten Jahren nach der Staatsgründung beinahe ohne
Ausnahme im Staat Unterschlupf.20

Johannes C hr.(H g.): In s titu tio n e n und in s titu tio n e lle r W andel in Südosteu-
ropa, M ünchen 1994 (=Südosteuropa‫־‬Jahrbuch. 25), S .35-54.
,‫י‬ V gl. fü r Bulgarien: Tančev, Ivan: Učenieto na ß älgari v čužbina 1879-1892,
S ofija 1994; Ders.: Bälgarskata därzava i podgotvjavaneto na specialisti s evro-
pejsko obrazovanie 1879-1888, in : Istoričeski pregled (1991) 10; Zidarova,
L ju d m ila : S tipendiantstvoto v k u ltu rn a ta p o litik a na B älgarija, in : G odišnik na
S ofijskija U nive rzitet ‫״‬S v.K lim ent O chridski“ . C entär po kulturoznanie 82
(1989), S .189-220; Paskaleva, V irž in ija : Bulgarische Studenten und Schüler in
M itte le u ro p a in den 40er Jahren des 19. Jhs., in : Plaschka, R ./ Mack, K. II.
(H g .): Wegenetze europäischen Geistes. U niversitäten und Studenten und die
Bedeutung studentischer M ig ra tio n in M itte l- und Südosteuropa vom 18.-
2 0 .Jh dt, Bd.2, W ien 1987, S.62 ff.; Karasev, V.: Ausländische Studenten aus
slawischen Ländern an der M oskauer U n ive rsität, in : ebenda, S. 241-249;
M erdžanov, Ivan: Deutsche k u ltu re lle B ildungszentren und die bulgarische
In te llig e n z der W iedergeburtszeit, in : B ulgarian H is to ric a l Review (1990) 2, S.
5 6 -6 9 ; fü r Serbien: M iličevič, J. M .: Prva grupa srb ija n skih studenata
d ržavn ih pitom aca školovanih и inostranstvu 1839-1842, in : Is to rijs k i časopis
9-10(1959), S .363-374; Pavlovié, V ojislav: Srpski stu d e n ti и Parižu 1839-
1856, in : Is to rijs k i časopis 33 (1986); Trgovcevic, Lju bin ka: Srpska inteligen-
cija и X IX . veku - zapadni i Lstočni u tic a ji, in : Is to rijs k i In s titu t SANU (H g.):
Еѵтора i S rbi, Beograd 1996, S.261-273.
20 F ü r Serbien Hinweise bei Trgovcevic, Ljubinka: S tud ije и inostranstvu prve
generaeije u n iverzite tskih nastavnika, in :U n iv e rz ite t и ßeogradu 1838-1988.
S bornik radova, Beograd 1988, S.72f, Katic, Bojana: D ruštvena stru ktu ra gra-
dova u S rb iji sredinom X IX . veka. U n ive rzite t и Beogradu, F ilozofski fakultet:
MagLstarski rad 1993, masch., S .l8 2 f.; fu r B ulgarien: Searles, Joel N.: The

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‫״‬Bürgerliche Berufe “ in Südosteuropa TI

Diese von der Staatsbildung aus in Gang gebrachte Professionalisie-


rung hatte vor allem zwei Folgen: zum einen bestimmte der Bedarf auch
das Profil der bürgerlichen Berufe, d.h. es waren vor allem Juristen, an
denen sich der Staat neben den Lehrern besonders interessiert zeigte,
deren Ausbildung er förderte und denen er vor allem einen Arbeitsplatz in
der Staatsverwaltung anbot.21 Juristen sollten sich damit von Anbeginn
an einen Platz in der Hierarchie der bürgerlichen Berufe erobern, den sie
bis zum 2.Weltkrieg nicht mehr abgaben.22 Mediziner und - mit be-
trächtlichem zeitlichen und quantitativen Abstand - die technischen
Berufe folgten ihnen. Zum zweiten verwandelten diese Entstehungsbe-
dingungen die ‫״‬ bürgerlichen Berufe“ von Anfang an in eine Form Staat-
licher Bürokratie. Die enge Vernetzung mit dem Prozeß der Staatsbildung
verlieh den Professionen einen starken etatistischen Grundzug, den sie
auch dann nicht verlieren sollten, als der Staat sich und seine staatlichen
Institutionen gefestigt hatte und der unmittelbare Bedarf der anfäng-
liehen Staatsbildung überwunden war. Praktisch zu keiner Zeit, allemal
nicht bis zum Ersten Weltkrieg, konnten sich die Professionen aus der
Tutorenschaft, die der Staat seit seiner Gründung über sie gewonnen
hatte, befreien. Nicht nur, daß der Staat - ganz wie in Mitteleuropa auch
- Ausbildung, Qualifikation und Zulassungsvoraussetzungen bestimmte,
er blieb in Serbien, Bulgarien, aber auch in Rumänien, vor allem stets ein
wichtiger, ja ein unverzichtbarer Markt für die bürgerlichen Berufe. Vor
1918 war die Zahl derer, die nicht in den Staatsdienst traten ohnehin
gering. Nicht nur Lehrer, Professoren oder Richter, die aufgrund des
staatlichen Ausbildungs- und Zulassungsmonopols gar keine andere

Emergence o f the le a d e rsh ip Elem ent in Bulgaria. A social and P o litic a l In ve -


stig a tio n 1877-1881, A nn A rb o r 1977.
21 Todorova, Cvetana: M ig ra tio n bulgarischer Studenten an europäische U n ive r-
sitäten seit d e r B efreiung von den T ürken bis zum Ersten W e ltkrie g , in :
Plaschka / M ack (H g.): Wegenetze europäischen Geistes. a.a.O., Bd.2, W ien
1987, S.79ff.
22 V gl. zum ü b erp ro po rtio n a le n A n te il an Jura-S tudenten fü r Serbien: Karano-
vich, M ilenko: H igher Education in Serbia d u rin g the C o n stitu tio n a list Re-
girne, 1838-1848, in : Balkan Studies 28 (1987) 1, S.125-150, h ie r S.131-135;
Ekm ecić, M ilo ra d : Stvaranje Jugoslavije, B d .l, Beograd 1989, S.243. Danach
waren u n te r den 1337 Absolventen d e r ‫״‬V elika skola“ in den Jahren 1863 bis
1905 a lle in 825 Ju riste n ; fü r Bulgarien die Angaben in A m audov, M ih a il:
Is to rija na S o fijskija U n ive rzite t ‫״‬Sv. K lim ent O chridski“ prez pärvoto m u po-
lu sto le tie 1 8 88-1 938, Sofija 1939, S.626 f.

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78 W. Höpken

Auskommensmöglichkeiten besaßen, sondern der größte Teil der Juri-


sten, ganz überwiegend die Ärzte, und selbt Architekten, Ingenieure oder
Apotheker waren in ihrer Mehrzahl Staatsbedienstete. In Bulgarien etwa
waren am Vorabend der Balkan-Kriege von 615 Ingenieuren und Techni-
kern mit höherer Bildung 524 in staatlichen Diensten; gleiches gilt für 49
der 75 Architekten; unter Humanmedizinern praktizierten weniger als 1/3
als selbständige Ärzte, und auch von ihnen taten viele dies nur in Neben-
beschäftigung.23 Nicht viel anders sah es in Serbien aus, wo die sehr viel
frühere staatliche Autonomie den Professionen zwar einen zeitlichen
Entwicklungsvorsprung gegeben hatte, wo aber auch hier die Enge des
Marktes die Professionen nicht weniger in den Staatsdienst drängte. Auch
in Serbien waren noch im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkriege
praktisch alle Ärzte Staatsbedienstete; auch hier hatten die Ingenieure
und Techniker zum großen Teil im Militär oder im staatlichen Eisen-
bahnwesen ihr Auskommen.2•♦Erst in der Zwischenkriegszeit begann sich
die absolute Zahl der selbständigen ‫״‬ professionals“ substantieller zu
erhöhen, der relative Anteil der Selbständigen blieb jedoch auch jetzt
relativ gerin g . Die Bedeutung des Staates als Marktfaktor verringerte sich
dadurch freilich nicht. Noch Ende der 1930er Jahre wirkte nur ein kleiner
Teil in freier Beschäftigung, und von denen, die angestellt waren, war
wiederum nur eine ganz kleine Minderheit in der privaten Wirtschaft
beschäftigt .25

23 Ju b ile jn a kniga na grad Sofija (1878-1928), Sofjia 1928, S.311 ff.; Berov,
Ljuben: M a te ria ln o to położenie na inteligencijata meždu dvete svetovni v o jn i,
in : Isto riče ski pregled (1988) 12, S .22-233; Kolev, J.: Profesionalnata grupa na
m edicinskite spe cialisti v B älgarija (1878-1912), in : Istoričeski pregled (1992)
5 » S.35 f.; Is to rija na m edicinata v Bälgarija, S.163; Kolev, J.: Form irane na
profesionalnata s tru k tu ra , S.133.
2•‫ י‬Stanojevié, V la d im ir: O rganizatori zdravstvene službe i ista kn u ti b o ln ički
le k a ri starog Beograda, in : G odišnjak Grada Beograda IX /X (1962/63), S.171-
177; S rpski A rc h iv za Celokupno Lekarstvo (1901) 10 (kü n ftig : SACL); fü r die
serbischen Ingenieure Trgovcevic, Ljubinka: Srpski inženeri na studijam a и
in o stra nstvu do 1918, in : SANU (H g): Putevi Srpskog inženerstva tokom XX.
veka, Beograd 1995, S. 148 fï.
25 Berov, Luben: The M a te ria l Status o f the Free-lanced Professions in South-
Eastern FAirope ( lS th - ig th century‫)׳‬, in : Etudes balkaniques (1984) 1, S .3-23;
Ders.: M a te ria ln o to położenie na inteligencijata v B älgarija meždu dvete sve-
to v n i v o jn i, in : Isto riče ski pregled (1988) 12.

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‫״‬Bürgerliche B erufe“ in Südosteuropa 79

Die gewichtige Rolle des Staates als Markt für Professionen war dabei
zunächst auch in Mitteleuropa durchaus keine andere gewesen. Peter
Lundgreen hat mit besonderem Nachdruck darauf verwiesen, wie klein
auch in Deutschland, Frankreich, der Schweiz oder Österreich der Anteil
an Angehörigen bürgerlicher Berufe in privatwirtschaftlicher Beschäfti-
gung im ganzen 19. und noch bis weit in das 20. Jh. hinein war. Die
Markterweiterung über das staatliche Angebot hinaus war auch hier ein
lange andauernder Prozeß.26 Für den südosteuropäischen Raum ist
allerdings kennzeichnend, daß sich genau diese Markterweiterung hier
eben kaum oder nur in schüchternen Ansätzen einstellte. Während in
Mitteleuropa Industrialisierung und mehr noch der Ausbau des Wohl-
fahrtsstaates für Juristen, aber auch für Ingenieure und Mediziner, einen
erheblichen Nachfrageschub an professionellen Dienstleistungen außer-
halb der staatlichen Verwaltung auslöste und so einen immer größeren
Teil der Professionen aus der Abhängigkeit eines staatlichen Angebots-
monopols befreite, fand in den südosteuropäischen Gesellschaften ein
vergleichbarer Prozeß nicht statt. Der Staat substituierte somit im Grunde
genommen während der gesamten Existenz der südosteuropäischen
Staaten als "bürgerliche" Staaten die Dienstleistungsmärkte der "freien"
Professionen.
Ökonomische Gründe, mithin also die Folgen der generellen Modemi-
sierungsschwäche der südosteuropäischen Staaten, waren für die nur
zögernd aufbrechende Enge der Dienstleistungsmärkte ein gewichtiger,
keinesfalls aber der einzige Grund. Eine aus der etatistischen Grundein-
Stellung herrührende latente Gegnerschaft gegen private Dienstleistungen
auf seiten der staatlichen Administration, die den privat tätigen
"professionals" noch bis über die Jahrhundertwende hinweg immer
wieder Schwiergkeiten in den Weg stellte und sie vereinzelt sogar einer
oftmals willkürlichen Polizeikontrolle unterstellte, war ein weiterer.27‫־‬
Schließlich aber scheiterte das Bemühen um Markterweiterung aber vor
allem auch daran, daß die neuen, ‫״‬ modernen“ Berufe unter der Bevölke-
rung nicht immer das entsprechende Vertrauen gewannen, um Nachfrage

26 Lundgreen, Peter: B ildung als N orm in historischer Perspektive, in : H e ttlin g ,


M . et al. (H g.): Was ist Gesellschaftsgeschichte?, M ünchen 1991, S.121 f.
27 V gl. entsprechende Klagen von seiten der wenigen p riva te n Ä rzte in Serbien:
SACLO 901) 11, S.523; ebenda, (1908) 12, S.509.

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80 W. Höpken

zu produzieren. Immer wieder beklagten vor allem Mediziner bis weit


über die Jahrhundertwende hinaus, daß die bäuerliche Bevölkerung sich,
durchaus nicht nur aus finanziellen Gründen, der medizinischen Dienst-
leistung verweigere, selbst dort, wo die kostengünstigeren staatlichen und
kommunalen Ärzte zur Verfügung standen.28 .Lieber trage man die kran-
ken Kinder in das nächste Kloster als sie zum Arzt zu bringen, so berich-
tete beispielsweise ein serbischer Kreisarzt um die Jahrhundertwende
und ganz ähnliche Klagen finden sich auch ein Jahrzehnt später noch in
der medizinischen Verbandspresse.2? Wie lange sich solche Distanz zur
professionellen Medizin dabei hielt, dies zeigt der Umstand, daß in den
ländlichen Gegenden Serbiens selbst in den 1920er •Jahren das beschrie-
bene Bild nicht viel anders aussah.3° Die vergleichende Professionalisie-
rungsforschung hat gezeigt, wie entscheidend das Entstehen der freien
Berufsgruppen in Mitteleuropa gerade von der Nachfrageseite her, durch
den Bedarf und das wachsende Vertrauen in die Qualifikation der Exper-
ten, stimuliert wurde.3• Dieser Impuls kam demgegenüber in Südosteu-
ropa nur sehr zögernd zur Geltung und konnte von daher der
quantitativen Entwicklung eines professionellen Mittelstandes nur ge-
ringe Impulse verleihen. Nur in den urbanen Zentren mit ihrer schmalen
Oberschicht entwickelten sich letztlich auch hier bescheidene nicht-
staatliche Märkte für eine freie Ausübung der Professionen. Angesichts
einer solchen Marktlage blieb für die Masse der Professionen der Staats-
dienst jedoch stets eine attraktive Alternative.
Natürlich haben sich die Professionen bemüht, ihre Martklage - in
und außerhalb des Staatsdienstes - zu verbessern. Wie ihre Kollegen in
Mitteleuropa sollte dies vor allem auf zwei, eng miteinander verwobenen
Wegen geschehen - auf dem Wege der Absicherung der eigenen Berufs­

28 G jo rg je w itj, V l.: Die öffentliche Gesundheitspflege in Serbien 1883. V ortrag


des Sektionschefs im K öniglich Serbischen M in iste riu m a u f de r Hygiene-Aus-
Stellung in B e rlin , B e rlin 1883, S.6; Jovanovié-Batut, M ilan: M edicinski Fa-
k u lte t Srpskog U niverziteta, Beograd 1899, S.23.
29 SACL (1897) 8, S.380; ebenda 11 (1906), S.474; ebenda (1907) 8, S.400;
ebenda 12 (1909), S.404 f.
3° V gl. Išic, M om čilo: Seljaštvo u S rb iji 1918-1925, Beograd: F ilzofski fakultet,
d o kto rski rad 1991, masch., S .349-352.
3* Lundgreen, Peter: Wissen und Bürgertum . Skizzen eines historischen Ver-
gleichs zwischen Preußen/D eutschland und den USA, 18 .-20.Ja hrhun dert, in:
S iegrist, H . (H g .): B ürgerliche Berufe, G öttingen 1988.

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‫״‬Bürgerliche Berufe“ in Südosteuropa 81

gruppe gegen nicht-professionelle Konkurrenz zum einen sowie durch


Versuche der Markterweiterung auf der anderen Seite.
Dem ersten Ziel diente vor allem das Bemühen, die eigene Profession
zu verwissenschaftlichen, d.h. eine akademische Ausbildung als verbind-
lieh durchzusetzen, die Berufsausübung an Prüfungen zu binden und
geregelte Zulassungsformen einzuführen. Die Repräsentanten der Profes-
sionen waren denn auch die Protagonisten der Schaffung von akademi-
sehen Ausbildungsstätten im eigenen Lande, so etwa von medizinischen
Fakultäten, die zunächst aus den Universitätsplänen der jeweiligen Regie-
rungen ausgespart blieben und auch erst nach den Balkan-Kriegen eröff-
net wurden.32 Materielles Existenzsicherungsinteresse ging dabei einher
mit dem Anliegen, den gesellschaftlichen Status der eigenen Profession zu
erhöhen. Die einzelnen Berufsgruppen sind in diesem Bemühen unter-
schiedlich erfolgreich gewesen. Am frühesten gelang dies in Serbien wie in
Bulgarien den Medizinern, denen seit den 1860er Jahre im ersteren Falle,
seit Ende der 1880er Jahre in Bulgarien nurmehr nach ausgewiesenem
Studium die Ausübung des Berufs gestattet war. In der Praxis blieb aber
offensichtlich das Prüfungswesen auch danach häufig uneinheitlich
geregelt, inkonsistent und sicherte nicht, Ärzte ‫״‬ in denselben! Sinne
auszubilden wie in Deutschland oder Österreich-Ungam“.33 Auch den
Richtern gelang es, zumindest den gesetzlichen Bestimmungen nach, mit
der Zeit die fachlichen Qualifikationsanforderungen an die eigene Profes-
sion strenger zu reglementieren. Seit 1899 verlangte die Besetzung der
Richterstellen oberhalb der Kreisgerichte in Bulgarien eine juristische
Ausbildung.34 Auch hier blieb jedoch noch lange manches nur auf dem
Papier, ohne daß es in der Praxis wirklich konsequent umgesetzt wurde.
In Bulgarien war selbst am Vorabend der Balkan-Kriege, als der Zugang
zum Richterberuf eigentlich nurmehr nach staatlicher Prüfung möglich
war, immer noch eine relativ große Zahl an Richtern ohne entsprechende

32 V gl zur D iskussion um die N otw endigkeit einer M edizinischen F a ku ltä t in


Serbien: Jovanovic-B atut, M ilan: M edicinski fa ku lte t srpskog un iverziteta ,
Beograd 1899; Z dravlje (1912) 8, S.233 ff.; D jordjevic, Slobodan P.: Srpsko Le-
karsko D ruštvo и osnivanju M edicinskog fakulteta, in: U n ive rzite t и Beogradu
1838-1988, Beograd 1988, S.178ff.
33 SACL 12 (1908), S.500 f. u. S.510.
34 Dāržaven vestnik N0 7 vom 12.1.1899.

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Ausbildung im Dienst.35 Nicht zuletzt die Tatsache, daß auch Richter (wie
auch die staatlich beschäftigten Ärzte) nicht völlig vor willkürlichen
Versetzungen oder gar Entlassungen sicher sein konnten, beeinträchtigte
dabei einen rascheren Fortschritt der fachlichen Professionalisierung der
.Justiz vor dem Ersten Weltkrieg. Hinweise auf Entlassungen von Rieh-
tem finden sich noch bis in die Zwischenkriegszeit. Erst 1939 sprach der
bulgarische Juristen verband davon, daß ‫״‬ der schwierige Weg zur richter-
liehen Unkündbarkeit vollendet sei.“36 Schon für die Prokuratoren jedoch
blieb das gleiche Maß an beruflicher Sicherheit noch bis in die späten
1930er Jahre unrealisiert.37 In Serbien, wo sich in den ersten Jahrzehnten
nach der Erlangung der Autonomie unter Fürst Miloš eine von der Exe-
kutive getrennte Legislative nur langsam durchsetzte38 etwa dauerte es
Jahrzehnte, bis die Zeit der - wie es der Jurist und Historiker Slobodan
Jovanovic genannt hat - analphabetischen und halbgebildete Richter
vorbei war.39 Länger als im Falle der Richter dauerte es, bis sich auch
unter den Advokaten eine vergleichbar strenge Regelung der Zulassungs-
Voraussetzungen herausgebildet hatte. Anfangs durfte in Serbien wie in

35 Kazazov, D im o: lllic i, chora, säb itija. Sofija pred polovin vek, Sofija 1 9 5 9 .
S.183 sp rich t davon, daß 1907/8 von 408 R ichtern n u r 291 eine H ochschulbil-
dung gehabt hätten; S ädijski vestnik 6 (1924) 9, S .2-4.
36 Z u r Rechtslage der U nkündbarkeitsentw icklung: Džambazov, Angel: Pravo-
sãdnata sistem a na B älgarija (1878-1944), Sofija 1990, S.81 ff; zur Praxis vgl.
entsprechende Hinweise in : Centralen Duržaven Istoričeski A rch iv (kü n ftig :
C D IA ) fond 537: Sdruženie na bãlgarskite sãdii, o p .l., a.e.44, lis t 119 (1923);
Sãdijski vestnik 6 (1924) 1, S .1-3; ebenda 10 (1929) 17-18, S.4; ebenda 14
(19ЗЗ) 7 . S.97 ff.; ebenda 17 (1935) 4, S.73 f.; ebenda 17 (1936) 6, S.122; ebenda
20 ( 1939) 5 . S .97 (Zitat).
37 Vgl. die im m er w iederkehrenden Forderungen, den Schutz vor Entlassung
auch a u f die P rokuratoren auszudehnen in : Sädijski vestnik (1924) 19-20,
S.19; ebenda (1925) 18-19, S.9 f.; ebenda (1930) 9, S.158; ebenda (1931) 8,
S.117; ebenda (1935) 4, S.74; ebenda (1936) 10, S.217; ebenda (1938) 10, S.217
f.
38 V gl. zu den Anfängen des Gerichtswesens in Serbien: Petrič, Vera: Razvitak
pravosude и S rb iji и periodu 1815-1839 godine, in : A rh iv za pravne i d ru št-
vene пайке 8 3 /8 4 (1966), S .81-94.
39 Jovanovic, Slobodan: U stavnob ranitelji i njihova vlada, in : Sabrana dela 3,
Beograd 1990 (R e p rin t der Ausgabe von 1912), S.37 f., sowie ebenda, S.439 ff.
zur n ich t gewährleisteten Unabhängigkeit der R ichter bis Ende der 1850er
Jahre.

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‫״‬Bürgerliche Berufe“ in Südosteuropa 83

Bulgarien praktisch jeder diesen Beruf ausüben.*0 In Serbien beließ es


selbst das erste Advokatengesetz 1861 angesichts fehlender Ausbildungs-
möglichkeiten noch bei einem weithin freien Zugang zur Advokatur. Zum
Ende des Jahrhunderts hin setzten sich dabei dabei erst Verregelungen
durch. Auch in Bulgarien wurde 1898 für die Advokatur eine juristische
Ausbildung mit staatlicher Prüfung und Referendariat verlangt.*1 Selbst
als man sich zu schärferen Zugangsregelungen entschloß, blieben noch
Schlupflöcher die Qualifikations- und Zugangsregelungen zu umgehen.
Zumindest in Bulgarien hatte dies auch den Hintergrund, daß der Advo-
katenberuf eines der bevorzugten Betätigungsfelder der Angehörigen der
staatlichen und politischen Bürokratie war. Frühere Minister etwa konn-
ten noch bis 1910 auch ohne die gesetzlich vorgeschriebenen Qualifika-
tionsanforderungen eine Advokatentätigkeit ausüben. 1911 waren hier
immerhin noch etwa 1/3 der Advokaten ohne eine vollständige Erfüllung
der eigentlich notwendigen Anforderungen.*2 Die an den Ersten Weltkrieg
anschließende Regierungszeit der Bulgarischen Bauernpartei unter Alek-
sandar Stambolijski brachte für das Professionalisierungsbemühen der
Advokaten dabei erneute Einbrüche, suchte die Bauernregierung in ihrer
sozialen Gegnerschaft gegen staatliche Bürokratie und akademische
Professionen doch den Zugang zu den juristischen Berufen wieder in
stärkerem Maße zu laizisieren und den Kreis der advokatenpflichtigen
Rechtsstreitigkeiten stark e in z u e n g e n .*3 Advokaten gehörten denn auch

*° Vgl. fü r B ulgarien C onstantin Jireček: Das Fürstenthum Bulgarien, P rag-


W ie n -lx ip z ig 1891, S.280 f.; fü r Serbien: Popovic, Dušan: Beograd kroz ve-
kove, Beograd 1964, S.361.
*• 1888 w urde denjenigen der Zugang zu r A dvokatur erm öglicht, die nach einer
dreijährige n Praxis eine Prüfung ablegten. Auch die V e rp flich tu n g de r ju r is ti-
sehen Staatsprüfung w urde zudem fü r R ichter wie Advokaten in bestim m ten
Zeiten, so w ährend der Balkan-Kriege, w ieder aufgehoben: Ganev, V enelin:
Die Rechtsanwaltschaft in Bulgarien, in : Magus, J.(H g .): Die Rechtsanwalt-
schaft, B erlin 1925, S.129-134.; A dvokatski pregled (1924) 8 -9 , S.98, 103 f.,
ebenda (1929) 1, S.12; Sädijski vestnik (1924) 9, S .2-4.
*2 Kazazov, D.: U lici, chora, säbitija, Sofija 1959, S.183; Kolev, J.: Form irane na
profesionalnata stru ktu ra , S.130; fü r Serbien: Jankovié, Dragoslav: Radjanje
parlam entarne dem okratije. P olitićke stranke и S rb iji X IX . veka, Beograd
1997, S.84.
‫ י־י־‬Zu den A usw irkungen der P o litik der B auernpartei a u f die Professionen Kolev,
.1.: Kam väprosa za profesionalnite organizacii na bälgarskata inteligencija
1919-1923, in : V to ri kongres po B ãlgaristika. D okladi, tom 8, Sofia 1989,
S.562-577•

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84 W. Höpken t

zu den vorbehaltlosen Unterstützern des blutigen Putsches gegen die


Bauemregierung im Juni 1923, und viele weigerten sich sogar, Angehö-
rige der Bauempatei vor Gericht zu verteidigen, nachdem die neue Regie-
rung diese zu belangen suchte.«
Besonders schwer taten sich in dieser Hinsicht die Ingenieure, deren
technisches Wissen in der südosteuropäischen Agrargesellschaft nur
schwer zu standardisieren war. Besonders nachdrücklich forderten auch
sie daher geregelte Prüfungsleistungen, eine gleiche Qualifikationsab-
prüfung für staatliche und private Ingenieure sowie den Schutz des
Berufstitels gegen Laien ohne Qualifikations-Patente ein.45 Unabhängig
von allen im Lande selbst für die Professionen aufgestellten Qualifika-
tionsanforderungen und unabhängig auch von den im eigenen Lande
bestehenden akademischen Ausbildungsmöglichkeiten war aber für alle
akademischen Berufe das Studium im Ausland noch bis in die Zwischen-
kriegszeit hinein ein gewichtiges Kriterium für den Status und auch damit
auch für die Verdienstmöglichkeiten eines Arztes, Advokaten oder auch
Architekten und Ingenieurs. Nur wer ein Studium in Deutschland, Öster-
reich, Frankreich oder - bis 1917 - auch in Rußland absolviert hatte,
gehörte wirklich zur professionellen Elite des Landes.
Markterweiterung war ein zweites Anliegen, die eigene ökonomische
Lage und den sozialen Status der Profession zu verbessern. Die Durchset-
zung eines Angebotsmonopols war dafür ein wichtiger Schritt. Mit Ver-
weis auf ihre höhere und akademische Bildung und ihr Expertenwissen
reklamierten die Professionen vom Staat das ausschließliche Recht auf
die Ausübung einer juristischen, medizinischen oder technischen Be-
schäftigung. Vor allem die juristischen Professionen sind in diesem
Bemühen nicht ohne Erfolg geblieben. Ein Juristenmonopol für den
höheren Verwaltungsdienst, das etwa in Deutschland der juristischen
Profession eine feste Stütze im oberen Staatsdienst sicherte, konnte zwar
angesichts der immer noch geringen Zahl an universitär ausgebildeten

4-‫י‬ A dvokatski pregled 4 (1923) 1 -2 , S.2; ebenda 4 (1923) 8, S.1; zu den Forde-
rungen nach einer W iederherstellung de r Q ualifikationsanforderungen:
ebenda 4 (1923) 5, S .l; ebenda 4 (1923) 6, S .l; ebenda 4 (1923) 8, S.2.
*5 V gl. fü r Serbien S rpski T e h n ički L ist (k ü n fitg STL) 2 (1891) 5, S.66; ebenda
(1906) 13, S.96; ebenda (1906) 17, S.142, ebenda 22 (1911) 22, S.196 u. 226;
ä hnlich auch fü r die slowenischen Ingenieure Šerše, Aleksandra: Technical
In te llig e n tsia in Slovenia, in : M cC lelland / M e rl / S iegrist (H g .): Professionen,
S .3 9 4 ff•

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‫״‬Bürgerliche B erufe“ in Südosteuropa 85

Juristen zunächst nicht einmal auf relativ hoher Ebene durchgesetzt


werden. In Bulgarien dauerte es bis zum Balkan-Krieg, bis dies selbst
unter den Verwaltungschefs der Bezirke der Fall war.*6 Sowohl in Serbien
als auch in Bulgarien gelang es Juristen aber, jene Sektoren der Rechts-
sprechung, die vom Staat zunächst der professionellen Justiz vorenthal-
ten worden war, zunehmend für die eigene Profession zu erobern. Lokale
Bauern und Dorfgerichte, in denen niedere Zivil- und Straftatbestände
ohne anwaltliches Vertretungsrecht und professionelle Richter verhandelt
wurden, wurden im Laufe des späten 19. Jhs. zusehends der professio-
nelien Justiz untergeordnet.*7 Der Kreis der advokaten pflichtigen Rechts-
Streitigkeiten etwa in der Familiengerichtsbarkeit, wurde auf Druck der
.Juristen zunehmend erweitert; Eingaben und Beschwerden wurden in die
alleinige Kompetenz der Anwälte gelegt, die Zulassung von Rechtsverfah-
ren ohne Beteiligung ausgebildeter Juristen auch bei geringeren Streit-
werten wurde verhindert;*8 die Besetzung von höheren Beamtenstellen
mit Personen mit juristischer Ausbildung gefordert.*’ Dies verbreiterte
zwar den potentiellen Klientenkreis der Juristen, tat ihrem sozialen
Kredit aber eher Abbruch, gerieten sie doch dadurch in den Augen der
bäuerlichen Bevölkerung zunehmend in den Geruch einer parasitären
‫״‬ Blutsauger-Kaste“, den sie auch mit Verweis auf ihre hohe Qualifikation
und ihr berufliches Ethos kaum zu entkräften vermochten. Das Ansehen
der Advokaten, so resümierte man noch in der Zwischenkriegszeit, sei
zwar im wachsen begriffen; ‫״‬Jedoch ist dieses Ansehen oft mehr auf die
Person des Anwalts als auf den Stand als Ganzes zurückzuführen. Der
Anwaltstand nimmt nur allmählich, aber sicher seine natürliche Stellung
im Leben des bulgarischen Volkes ein.“5° Ärzte richteten ähnliche Bestre-
bungen nicht nur gegen volksmedizinische Laien-Behandlung, sondern

*6 N arodna B ib liote ka ‫״‬K iril i M e to d ii“ - B älgarski istoričeski archiv (N B K M -


В ІЛ ), fond 177, a.e.4, lis t 2 6 -4 5 .
*‫ ד‬Petrov, G A .: N ašite selsko-obśtinski sádove, in : J u rid iče ski pregled I I (1894),
S .2 2 0 -2 2 3 ; D ejkov, N .: Selsko-obštinski sādilLšta i m e rki za podobrenieto im ,
in : ebenda IV (1896), S .8 0 4 -8 0 6 .
*8 F ü r B ulgarien C D IA fond 833: Sãjuz na bälgarskite advokati op.2, a.e.17, 1-6 ;
ebenda, op.2, a.e.18,1. 2 9 6 -3 1 2 .; ebenda, a.e.17.; ebenda fond 537, o p .l, a.e.20,
1. 101 f.
*9 Ebenda, lis t 18.
5° Ganev, V.: Die Rechtsanwaltschaft, S.134.

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86 W. Höpken

auch gegen die nicht-akademischen Medizin-Berufe wie die ‫״‬ Feldscher“,


die angesichts des Mangels an Ärzten und ihrer kürzeren Ausbildungs-
zeiten in allen südosteuropäischen Ländern wichtige Instanzen medizini-
scher Versorgung waren.5» Auch innerhalb einer Profession selbst kam es
dabei angesichts der bestehenden Marktenge bisweilen zu Kämpfen, die
eine einheitliche Professionalisierungsstrategie gegenüber dem Staat
erschwerten. In Serbien etwa bestanden zwischen der überwiegenden
Zahl der im Staatsdienst tätigen Ingenieure und ihren ‫״‬ zivilen“ Berufs-
kollegen erhebliche Meinungsunterschiede über gleiche Qualifikations-
anforderungen oder den Zugang zu staatlichen Aufträgen.52
Die enge Anbindung an den Staat, die den Professionen auf dem Bai-
kan ein gutes Stück den Charakter von Staatsbürokratie verliehen, ist von
den Betroffenen durchaus als Bevormundung und als Mangel an berufs-
ständischer Autonomie beklagt w o r d e n .53 Zugleich jedoch richtete man
sich aber recht gut in diesem staatlichen Paternalismus ein. Vor allem,
wenn die sozialen Interessen der eigenen Berufsgruppe in Gefahr gerie-
ten, rief man nach dem Staat. Darin allerdings folgten die südosteuropäi-
sehen Berufsgruppen freilich dem Vorbild ihrer mitteleuropäischen
Kollegen. Bei drohenden Überfüllungskrisen verlangte man vom Staat,
durch Zulassungsbeschränkungen die Sicherung der eigenen Position.
Eine ‫״‬ planmäßige Produktion von Advokaten“ forderten beispielsweise
bulgarische Advokaten in der Zwischenkriegszeit vom Staat ein, nachdem
der starke Anstieg der Juristen bei gleichzeitig enger werdenden staatli-
chen Beschäftigungsmöglichkeiten die Zahl der praktizierenden Anwälte
hatte anschwellen lassen.5* Ein Teil der serbischen Ärzte wurde nicht
weniger müde, trotz der eklatanten medizinischen Unterversorgung

5l SACL 11 (1906), S.488. In Bulgarien b o yko ttie rte der Ärzteverband sogar 1919
die Feldscher-Schulen: Is to rija na m edicinata v Bälgarija, S.164.
STL 26 (1906), S. 135fr., S.143; ebenda (1911) 14-15, S.118 f.
53 V gl. etwa die Klage über schikanöse Kompetenzen und Praktiken der Polizei
bei d e r G enehm igung von Praxiszulassungen sowie über den schädlichen E in-
flu ß p a rte ip o litis c h e r Abhängigkeiten SACL 12 (1908), S.508 f. u. S.514 f.
54 C D IA fond 537, op.1., a.e.20, 1.1 8 ; A dvokatski pregled (1924) 8 -9 , S.105;
ebenda (1929) 1, S.15, ebenda (1930) 1, S.30; Sädijski vestnik X V I (1935) 7,
S.107 f.

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‫״‬Bürgerliche Berufe“ in Südosteuropa 87

Serbiens, vor der Gefahr eines Árzte-Proletariats zu w a r n e n . 55 Angesichts


der staatlichen Beschäftigung eines beträchtlichen Teils der jeweiligen
Berufsgruppen ergaben sich selbst innerhalb der Professionen häufig
konkurrierende Abschottungsinteressen. Unter den Ingenieuren etwa gab
es Auseinandersetzungen zwischen der Mehrheit der staatlich Bedienste-
ten und den zivilen Ingenieuren um eine Abgrenzung der Marktchancen.
Staatliche Ingenieure versuchten beispielsweise in Serbien nicht ohne
Erfolg, ihre freischaffenden Kollegen von staatlichen Aufträgen fem zu-
halten; umgekehrt suchten die Zivil-Ingenieure den ohnehin besser
bezahlten beamteten Berufskollegen das Wildem in privater Tätigkeit zu
erschweren.56 Natürlich provozierte auch das Bemühen von Frauen in die
Professionen vorzudringen Widerstand. Angesichts des auf dem Balkan
auch im bürgerlichen und urbanen Milieu noch kaum wirklich angegrif-
fenen Patriarchalismus, wie auch der generellen Marktenge muß es aber
überraschen, wie relativ offen sich die Balkan-Staaten, gerade auch im
Vergleich zu west- oder mitteleuropäischen Staaten zeigten. Später zwar
als die europäischen Vorreiter Schweiz (1865) und England (1869), zeit-
gleich aber immerhin mit dem Deutschen Reich (in Preußen allerdings
erst 1908) und früher immerhin als etwa in Österreich oder Böhmen57
war beispielsweise in Bulgarien 1900 den Frauen der Zugang zum Univer-
sitätsstudium geöffnet worden.58 Sie löste in den kommenden Jahren eine
Dynamik aus, die jene in den meisten mitteleuropäischen Ländern z.T.

55 SACL (1906) 11, S.470 ff.; 484 f; ; (1906) 3, S.150; Zvezda (1900) 1, S.334 f. u.
S.340; zu r m edizinischen Versorgung fü r das frühe 20. Jh .: SACL (1900) 1, S.2
ff.; ebenda (1906) 11, S.471 ff.; Z dravlje 7 (1912) 8, S.236; Zvezda (1900) 1, S.84
u • S.333 f.; Jovanovic-B atut, M .: M edicinski fa ku lte t Srpskog U niverziteta,
S.18-24.
56 STL 27 (1906), S.142 f., S.165; ebenda (1911), S.107 u. S .lio f.
57 V gl. zur westeuropäischen E ntw icklung Costas, Ilse: Die Ö ffnung der U n ive r-
sitäten fü r Frauen - Fan in te rn a tio n a le r Vergleich fü r die Z e it v o r 1914, in : Le-
\ia th a n (1995) 3, S.496-516. A ls interessante Perzeption dieser europäischen
Verhältnisse aus bulgarischer Sicht: Ženite v evropejskite u n iv e rz ite ti, in : B äl-
garska sbirka (1896) 1, S.73-77.
58 V gl. zur vorbereitenden Diskussion um die Zulassung: Šišm anov, Ivan: Ženata
i visše učilište , in: Bãlgarska sbirka (1897) 10, S.162-168; S talutov, D.: Visšeto
u čillšte i ženskijat vãpros, in: M isai V I (1896), S.138-141; Ders.: B àlgarski ženi
i M inisterstvoto na prosveštenieto, in : M isai V II (1897), S.67-7O ; Sretenova,
N. M .: C u ltu ra l and HLstorical Background o f W om en’s E ntrance in to H igher
!education in Bulgaria, in: H isto ry o f European Ideas 19 (1994) 4 -6 , S .8 6 7 -
874.

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88 W. Höpken

weit überstieg. Schon bis 1914 erreichte der Anteil der Frauen unter den
Studenten in Spitzenjahren einen Maximalwert von 25%, im Durch-
schnitt waren es zwischen 1901 bis 1914/15 etwa 10% (im Gesamtzeit-
raum 1901 bis 1938 22% weibliche Studenten) - deutlich mehr als zur
gleichen Zeit in Deutschland. In machen Fakultäten, vor allem in der
historisch-philosphischen, aber auch in der physisch-mathematischen lag
der Anteil bei 59 bzw. 45%; hier überstiegen die weiblichen Studenten die
männlichen seit etwa 1914/15 fast ständig. In der Medizin blieben Frauen
mangels Vorhandensein einer Medizinischen Fakultät an der Universität
Sofia bis zum Ersten Weltkrieg auf ein Auslandsstudium verwiesen.
Aufgrund der dafür notwendigen, ganz erheblichen finanziellen Mittel
ließen auch bulgarische Familien in erster Linie ihren männlichen Nach-
kömmlingen eine solche Chance zugute kommen, darin unterschieden sie
sich nicht substantiell von Eltern in Mitteleuropa zur damaligen Zeit.
Immerhin finden sich unter den bulgarischen 735 Medizinern, die zwi-
sehen 1898 und 1909 im Ausland studiert hatten, 37 Frauen. Nach Eta-
blierung einer Medizinischen Fakultät nach dem Ersten Weltkrieg lag der
Anteil der Frauen mit 23 bzw 26% schon bald sogar noch knapp über dem
Gesamtdurchschnitt - ein bemerkenswerter Unterschied zu dem stets
besonders geschlossen gehaltenen Medizinistudium für Frauen etwa in
Deutschland, Österreich. Eine verschwindende Minderheit blieben die
Frauen lediglich in der Juristischen Fakultät. Selbst die 4.5 % weiblichen
Studenten, die zwischen 1905 und 1938 in Sofia Jura studierten, lagen
jedoch noch weit über jenem Anteil, den Frauen an den Juristischen
Fakultäten in Deutschland ausmachten. Hier waren es selbst auf dem
Höhepunkt der Zwischenkriegszeit nur 2.8%.59 In Serbien war die Ent-
wicklung weniger dynamisch, obwohl das Land sehr viel früher die
Grundlagen für ein Hochschulstudium gelegt hatte und die ersten Stu-
dentinnen 1887 in die damals noch "Hohe Schule" genannte Universität
eintraten; blieb ihre Zahl bis 1914 bei deutlich unter 10%, so lag sie zwi-
sehen 1919 und 1929 bei 13%, 1929 bis 1939 bei immerhin 29% - auch das
jedoch noch mehr als in Deutschland und auch hier verließ bereits 1891
die erste Frau diplomiert die Universität, bevor Frauen in Deutschland

59 Jarausch; K onrad: The U nfree Professions, S.234.

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‫״‬Bürgerliche Berufe“ in Südosteuropa 89

überhaupt Zugang zum Diplom hatten.60 Wie in anderen europäischen


Staaten auch, bedeutete Universitätszugang aber auch auf dem Balkan
noch lange nicht auch Zugang zum erlernten Beruf. Im Gegenteil: In der
••

Frage der Öffnung der Berufe für Frauen verrieten die Professionen
allenthalben ihre eigenen Prinzipien von Leistung und fachlicher Qualifi-
kation als alleinigen Zugangskriterien.6‘ Der Balkan fällt aus diesem
Muster der Geschlechtertrennung sicherlich nicht heraus. Das Beispiel
der südosteuropäischen Staaten zeigt jedoch Ambivalenzen, die so gar
nicht in das Bild eines patriarchalisch bestimmten, hinter mitteleuropäi-
sehen Verhältnisse weit hinterherhinkenden Balkan passen wollen. Zwar
gelang den Frauen auch hier vor allem in jenen ‫״‬ bürgerlichen Berufen“
relativ zügig der Zugang in die bürgerlichen Berufe wo diese Berufe in
ihrem akademischen Charakter umstritten und in ihrem Prestige eher
niedrig angesiedelt waren, also etwa im Grundschullehrerberuf. Der
Zugang wurde umso schwerer, je mehr Prestige ein Beruf hatte. Ange-
sichts der etwa im deutschsprachigen Raum erst seit dem Ende des Ersten
Weltkriegs langsam aufbrechenden Zugangsbarrieren für Ärztinnen,6‫־‬
stellen sich die Verhältnisse in Serbien aber auch hier beinahe als offen
dar. Schon vor dem Ersten Weltkrieg waren etwa in Serbien etwa ein
Dutzend Ärztinnen im Staatsdienst tätig, allerdings, wie selbst der Ärzte-
verband beklagte, in materiell und von ihrer Tätigkeit her zumeist dis-
kriminierten Positionen .63 Auch die Ärztinnen in Bulgarien waren
angesichts des noch kaum entwickelten Marktes für private medizinische
Dienstleistungen ganz überwiegend auf staatliche Anstellungen als Ge-

60 N ikolova, M aja: Skolovanje ženske m ladeži и S rb iji do 1914, in : S rbija и т о -


dcrnizacijskim procesim a 19. i 20.veka 2: Položaj žene kao m e rilo m o d e m i-
zacije, Beograd 1998, S .73-82; zum A uslandsstudium von Frauen: Trgovčevic,
Iju b in k a : О studentkinjam a iz Srbije na stra n im u n ive rzite tim a do 1914 go-
dine, ebenda, S .8 3 -9 8 ;
61 F revert, Ute, in : Jürgen Kocka (H g.): B ürgertum im 19. J h d t., Bd.3, M ünchen
1988.
62 H uerkam p, C laudia: Frauen im A rz tb e ru f im 19. und 20.Jh. D eutschland und
die USA im Vergleich, in: H e ttlin g , M anfred et al. (H g.): Was is t G esellschafts-
geschichte? M ünchen 1991, S.135-145.
6■
‫ י‬SACL 12 (1908), S.506 ff., 518 ff.; Božinovic, Neda: Žensko p ita n je и S rb iji и
X IX . i XX.veku, Beograd 1996, S.80 f.; Stojanovic, D ubravka: Žene ‫״‬и sm islu
razum evanja našeg naroda“ . Slućaj žena stručnjaka и S rb iji 1903-1912, in :
S rbija и m odem izaeijskim procesima 19. i 20.veka 2, S .2 4 lff.

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meinde-, Kreis- oder Stadtärzte angewiesen, wo sie es schwer hatten sich


gegen männliche Konkurrenz durchzusetzen. Bis 1918 schafften es nur
einige wenige einen dieser Jobs zu ergattern; selbst in der Zwischen-
kriegszeit, als der Ausbau des Krankenhauswesens den Bedarf erhöhte
und die ersten Absolventen der eigenen medizinischen Fakultät dazu
kamen, waren es nur einige Dutzend. Die meisten Frauen mit einer medi-
zinischen Ausbildung mußten daher auf medizinische Hilfsberufe, wie die
feldžeri oder den Hebammenberuf ausweichend Am umkämpftesten
jedoch war in Bulgarien, wie auch anderswo in Mitteleuropa, der Zugang
zu den juristischen Professionen. Nur wenige Pioniere wie die USA oder
die skandinavischen Länder hatten hier bereits im Laufe des letzten
Viertel des 19. Jhs. rechtliche Diskriminierungen im Zugang von Frauen
zu juristischen Berufen beiseite geräumt. Andere, wie Belgien und Frank-
reich folgten um die Jahrhundertwende; manche, wie Deutschland über-
haupt erst nach dem Ersten Weltkrieg. Nicht viel besser war auch die
Entwicklung in Südosteuropa. In Bulgarien, wo die Öffnung der Univer-
sitäten 1900 erfolgte und vier Jahre später auch auf die neu geschaffene
juristische Fakultät ausgedehnt wurde, blieb die Zahl der Studentinnen
relativ gering. In Jugoslawien blieb er mit 15-20% selbst in der Zwi-
schenkriegszeit deutlich unter der Medizinischen Fakultät.6^ Der Grund
lag wohl vor allem darin, daß dieser Zugangspraxis zur akademischen
Ausbildung eine restriktive Haltung in der Frage des Zugangsrechts zum
Anwalts- oder Richterberuf entgegenstand. Schon bald nachdem die erste
Generation an Studentinnen die Juristische Fakultät durchlaufen hatte,
wurde der Kampf für die Zulassung der Advokatur seit etwa 1910 zu
einem zentralen Schauplatz des Bemühens von Frauen um die Einlösung
von Gleichheitsforderungen. Die Bemühungen der Frauen sollten jedoch
bis zum Ende der Zwischenkriegszeit und trotz mehrerer Generationen
von juristisch ausgebildeten Frauen vergeblich bleiben. Obwohl 1914 und
dann erneut 1929 in das Parlament eingebracht und obwohl sich die
zuständige beratenden Kommissionen des Parlaments dafür aussprachen,
fiel das formale Verbot des Zugangs der Frauen zum Anwaltsberuf -
anders als in den Nachbarstaaten Jugoslawien, Rumänien und selbst der

6•» SACL (1908) 12, S.517 f.


65 U n ive rzitet и Beogradu, S.230.

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‫״‬Bürgerliche Berufe“ in Südosteuropa 91

Atatürkschen Türkei - bis 1941 nicht.66 Juristisch ausgebildeten Frauen


blieb so, sofern sie nicht nach dem Studium auf einen Abschluß oder auf
eine Ausübung ihres Berufs verzichteten, was offensichtlich bei einer
Reihe von ihnen der Fall war, nicht mehr als eine mittlere oder subalterne
Beamtenstelle vor allem im Finanz- oder Justizministerium - eine Notlö-
sung, die allerdings auch nur wenige erreichten.6‫׳‬ ‫׳‬Auch in Jugoslawien
gelangten erst seit dem Ende der 1920er Jahre die ersten Frauen nach
absolviertem Jura-Studium auch zur Berufsausübung.68
Eines fallt bei dengenannten Restriktionen im Vergleich zu Mitteleu-
ropa allerdings auf: In Mitteleuropa waren es vor allem die professionel-
len Organisationen selbst, die durch ihre Verweigerungsstrategie die
eigene Zunft gegen potentielle weibliche Konkurrenz abschotteten. Für
Deutschland hat Claudia Huerkamp sehr eindringlich und überzeugend
die vielfältigen Strategien der Ärztezunft gegenüber einem Andrang von
Frauen herausarbeiten können. Der deutsche Anwaltsverein versuchte
noch nach der gesetzlichen Zulassung von Frauen zum Anwaltsberuf
diesen zu sabotieren, unter Aufbietung der abstrusesten Argumente, von
denen nur eines wirkliche Relevanz hatte, nämlich die Angst vor Konkur-
renz. Obwohl die Regierung 1921 die Zulassungsfreiheit zum Anwaltsbe-
ruf für Frauen ermöglicht hatte, gab es in der ganzen Weimarer Republik
noch 1932 lediglich 79 Frauen im Anwaltsberuf.6’ In Serbien und Bulga-
rien w aren die Verbände hingegen jedoch sehr viel entgegenkommender,
auch den Frauen den Zugang zum Beruf zu öffnen. Der serbische Ärzte-
verband kritisierte die Praxis, akademisch voll ausgebildete Ärztinnen
nicht auf angemessenen Positionen zu beschäftigten.70 Sowohl die Füh-
rung des bulgarischen Anwaltsvereins als auch der bulgarische Richter-
verband machten sich durchaus zum Fürsprecher einer Öffnung des
Anwaltsberufs und des Richteramtes für Frauen. Ihre mehrfachen Bemü­

66 V gl. zur Parlam entsberatung 1930: A dvokatski pregled (1930) 15, S.187.
67 Noch 1911 arbeiteten in allen Justizbehörden n u r d re i V o llju ris tin n e n , allesam t
in u n te rq u a liiizie rte n Positionen: S tatistika na čin o vn icite i služasti p ri
dāržavnite i izb o m ite učreždenija kam 1 A p ril 1911, Sofija 1918, S.47.
68 A dvokatski pregled (1929) 16, S.197 f.; ebenda (1929) 17, S.210 f.
6‫י‬ Jarausch, K.: The önfree Professions, bes. S.34 ff.; Siegrist, H .: Advokat,
Bürger, Staat. Eine vergleichende Geschichte der Rechtanwälte in Deutsch-
land, Ita lie n und der Schweiz (l8 .-2 0 .J h d t), F ra n k fu rt a. M . 1995.
70 SACL (1908) 12, S.5()6f.u. S.518f.

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92 W. Höpken

hungen in der Zwischenkriegszeit, den Verband der Advokaten für eine


entsprechedne Beschlußfassung zu gewinnen, scheiteren jedoch vor allem
am Widerstand der Anwälte aus der Provinz. Der Grund dafür lag wohl in
der chronischen Überfüllungskrise im Anwaltsberuf, von der schon ein
Großteil der Sofioter Anwälte betroffen war,71 die aber die Existenzsitua-
tion der Provinzanwälte in noch eklatanterer Weise traf.72 Gegen diese
aus elementaren materiellen Interessen herrührenden Konkurrenzängste
vermochten sich auch die aufgeklärten Positionen der Hauptstadtjuristen
und der Führung des Verbandes nicht durchzusetzen.73
Schließungsforderungen an den Staat richteten sich natürlich vor al-
lem gegen ausländische Konkurrenten. Serbische Ingenieure etwa ver-
langten, daß der Eisenbahnbau ausschließlich in die Hände serbischer
Fachleute gelegt und die Posten der staatlichen Bauräte nur mit Einhei-
mischen besetzt werden sollten.7•» Ihre rumänischen Standeskollegen,
auch sie zu einem großen Teil im Staatsdienst, verlangten die Ausschal-
tung der billigeren und besseren britischen Konkurrenz, als die Budget-
krise des Staates um die Jahrhundertwende den Eisenbahnbau ins
Stocken geraten ließ und die öffentlichen Aufträge versandeten.^
Vor allem in den multiethnischen Gesellschaften Südosteuropas er-
hielten solche Schließungsforderungen darüber hinaus leicht eine natio-
nalistische Stoßrichtung gegen Minderheiten im eigenen Lande.
Rumänien kann hierfür sicherlich als das gravierendste Beispiel stehen.
Vor allem die Juristen, aber auch andere akademische Berufsgruppen,

71 V gl. entsprechende Zahlen über den die Industriestaaten z.T. übersteigenden


Anw altsbesatz gemessen an der Gesam tbevölkerung in : A dvokatski pregled
(1926) i l , S.158 f.; ebenda (1929) 1, S.15.
72 V gl. entsprechende Klagen der P rovinziorganisationen des bulgarischen
Advokatenverbandes: C D IA fond 833, op.2., a.e.45, 1.1; ebenda a.e.20, I.95 f.;
ebenda a.e.27,1.43.
73 V gl. die Stellungnahm en des Verbandes der Advokaten: Za advokatskite prava
na ženite, in : S ädijski vestnik X I (1929) 4, S.2, C D IA fond 537, o p .l., a.e.20,
I.63, 89, 97 (1938); A dvokatski pergled (1928) 1, S.2. Auch der bulgarische
Frauenverband w ü rd ig te die unterstützende H altung der Führung des V er-
bandes in einer Grußandresse: S.2. A dvokatite v zaštita na advokatskite prava
na ženite, S ofija 1928.
7* STL 18 (1907) 28, S.225 f. u. S.231.
75 Jensen, John / Rosegger / G erhard: Xenophobia o r N ationalism ? The De-
mands o f the R om anian Engineering Professions fo r Preference o f G overnm ent
C ontracts 1899-1901, in : East European Q u arterly 19 (1985) 1, S .l-1 4 .

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‫״‬Bürgerliche Berufe“ in Südosteuropa 93

setzten sich hier nicht nur erfolgreich gegen den Zugang jüdischer Reprä-
sentanten zum Staatsdienst ein; auch gegenüber anderen nicht-rumäni-
sehen Nationalitäten zeigte beispielsweise der rumänische
Advokatenverband in der Zwischenkriegszeit eine deutliche Exklusions-
neigung.76 Das Ergebnis war hier nicht nur eine Segmentierung des
Berufsstandes, die die Entwicklung einer gemeinsamen korporativen
Identität erschwerte, sondern auch eine Segregierung der Märkte: Zu
erkennen ist dies etwa bei den deutschen Anwälten Rumäniens, die
praktisch nur deutsche Klienten hatten. Im Falle Jugoslawiens, für das es
noch weithin an entsprechenden Forschungen mangelt, scheint schon die
bis 1929 bestehende Uneinheitlichkeit der Strafgesetzgebung zwischen
den einzelnen Landesteilen77 eine solche Segregierung des Marktes
produziert zu haben.
Gegenüber diesem Bauen auf staatliche Regulierung blieben die
Selbstorganisationsfähigkeit und die Autonomie der Professionen fast
durchweg unterentwickelt. Zwar gründeten sich in Übernahme ähnlicher
Vorbilder in Mitteleuropa auch in Südosteuropa schon seit dem letzten
Viertel des Jahrhunderts ein immer dichter werdendes Netz an Berufs-
verbänden.78 In der Zwischenkriegszeit begannen sich diese zum Teil
sogar, wie etwa im Falle der bulgarischen Ärzte, nach politischen Zielen in
mehrere Verbände aufzuspalten. Zu einflußreichen Verbandsorganen, die
auch gegenüber dem Staat zu einer wirksamen korporativen Interessen-
Vertretung fähig gewesen wären, reichte dies aber nur selten. Einige dieser
Verbände blieben schon von ihrer Mitgliederzahl her schwach. Der bulga-
rische Advokatenverband etwa, ohnehin erst 1920 gegründet gegen die
Versuche der Regierung Stambolijski, den Anwaltsberuf zu beschnei‫־‬

76 Livezeanu, Irin a : Between State and N ation: Rom anian Low er M id d le Cass
In tellectuals in In te rn a r Romania, in : Koshar, R udi(E d.): S plintere d Classes,
New York 1990, S.176 ff.
77 Peritsch, J.: Die jugoslawische A nw altschaft, in : Magus, J. (H g .): Die Rechts-
anw altschaft, B e rlin 1925 (D eutscher A nw altsverein D ru cksch rifte n N r.5 ),
S.117-124. Nova Evropa 10 (21.9.1924) 9, S.259 ff.; Cohen, Lenard: The Socia-
lis t Pyram id. E lites and Power in Yugoslavia, O akville 1989, S.259 ff. s p ric h t -
allerdings etwas m ißverständlich - gar von einem ‫״‬legal federalism “ .
78 y g l. etwa fü r die Ju risten Serbiens 1883: Srpski p ra vn ik (1883) 1; fü r die
Ä rzte: lls ta v Srpskog I^karskog D ruštva, o.O. (Beograd) 1874, fü r die m edizi-
nischen Professionen in Bulgarien: Letopis na Lekarskija sãjuz v B ãlgarija I
(1903); Programa i ustav na Farmacevtičesko družestvo, S ofija 1903.

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94 W• Höpken

d e n , 79 erreichte selbst in seinen besten Zeiten nur knapp die Hälfte aller
Anwälte;80 zum Vergleich: in Deutschland gehörten mehr als 4/5 aller
Anwälte dem Deutschen Allgemeinen Anwaltsverein an.81 Die organisato-
rische Erfassung der Provinz zog sich noch bis zum Ende der 1920er
Jahre hin.82 Uber mangelnde Organisationsbereitschaft klagten auch die
serbischen Ärzte, die sich schon Anfang der 1870er Jahre zusammenge-
schlossen hatten.83 Der Verband der serbischen Ingenieure und Archi-
tekten vermochte selbst in der Hauptstadt Belgrad um 1907 herum nicht
mehr als 15 Mitglieder zur aktiven Mitarbeit des ohnehin nur 170 Mitglie-
der umfassenden Landesverbandes zu aktivieren. Zeitweilig blieb der
Ingeneursverband sogar auf staatliche Subventionen angewiesen, um
seine Existenz zu sichern.8* Bisweilen zeigten sich die Berufsverbände
sogar dort zurückhaltend, wo staatliche Politik die autonome Selbstregu-
lierung der Berufe stärken wollte. In Serbien etwa stießen um die Jahr-
hundertwende Bemühungen eine Ärztekammer nach mitteleuropäischem
Vorbild als autonomes korporatives Verbandsinstitut zu schaffen, lange
Zeit auf Widerstand unter großen Teilen der Ärzteschaft.85 Diese sah
darin eine ‫״‬fremde Schablone“, die auf die serbischen Verhältnisse nicht

79 Säjuz na advokatite: Alm anach N0 2 (1925), S .II2 -1 3 1 ; A dvokatski pregled IV


(1923) 1 -2 , S.2; ebenda IV (1923) 3, S.2; Ustav na Säjuza na bälgarskite advo-
ka ti, C D IA fond 833, op.2, a.e.l, I.9 -1 4 ; vgl. ähnliche G ründe auch fü r die
G ründung des Richterverbandes 1919: Po slučaj desettogodišnata na Säjuza,
in : S ädijski vestnik 10 (1929) 15-16, S .I-3 .
80 V gl. die entsprechenden Zahlen in : A dvokatski pregled (1923) 8, S.6; ebenda
(1924) 8 -9 , S.94; ebenda (1926) 18, S.265; ebenda (1927) 17, S.232; ebenda
(1929) 1, S.5 U.13; C D IA fond 833, op.2, a.e.18, I.296-31 2; fond 537, op.2,
a .e .io ., 1.101,1.164.
81 Jarausch, K.: The Germ an Professions, S.14.
82 Klagen über die organisatorische Schwäche in de r Provinz in: A dvokatski
pregled (1924) 8 - 9 , S.94; ebenda (1928) 1, S.7.
83 SACL (1897) 8, S.379 ff.; ebenda (1906) 3, S.150 f.; ebenda 13 (1907) 5, S.261,
S.401; ebenda (1909), S .67-69.
8* STL 7 (1986) 5 -6 , S.69; ebenda 13 (1902), S .3 -4 ; ebenda (1905) 1, S.3; ebenda
18 (1907) 2, S.3; ebenda S.186, ebenda 20 (1909) 28, S.226; Hinweise a u f die
organisatorische Schwäche und die geringe Resonanz der V erbandspublikation
auch in STL 18 (1908) 19, S.204; ebenda 20 (1909) 19, S.157; ebenda 23 (1912)
28, S .2 0 5 -2 0 6 .
85 S A C L3 (1897) 8, S.381.

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‫״‬Bürgerliche Berufe “ in Südosteuropa 95

passe, da ja ohnehin 99% der Ärzte Staatsbeamte seien.86 Nicht nur


mangelnde organisatorische Potenz, sondern auch ein Mangel an gemein-
samem korporativen Bewußtsein drückt sich in diesen Fakten aus.
Ein durchschlagender Interessenlobbyismus ließ sich so nur in Gren-
zen erreichen. Zwar forderten die Verbände immer wieder eine institutio-
nalisierte Beteiligung an administrativen Entscheidungsprozessen. Dem
Ärzteverband und den Juristen wurde beispielsweise in Bulgarien eine
solche fachlich-konsultative Rolle auch gewährt. So stand dem bulgari-
••

sehen Arzteverband seit 1909 ein Vorschlags- und Anhörungsrecht bei


gesundheitspolitischen Vorhaben des Staates zu, welches er auch immer
wieder prägend zur Geltung brachte.87 Die Juristenorganisationen wur-
den ebenfalls zur Vorbereitung und Diskussion wichtiger legislativer
Vorhaben hinzugezogen.88 A uf diese Art und Weise vermochten die
Verbände immer wieder sachlichen Einfluß auf die Staatspolitik in den
jeweiligen Bereichen zu nehmen. Bisweilen setzten sich die Berufe auch
durchaus erfolgreich zur Wehr gegen staatliche Interventions- und Kon-
trollversuche, im ganzen aber wurden sie für den Staat kein gleichwerti-
ger oder gar gefürchteter Partner. Am ehesten scheinen sich noch die
Juristen hier wirkungsvoll in Szene haben setzen können - ihnen dürfte
dabei aber wohl eher ihre enge personelle Vernetzung mit der politischen
Führungselite im Staat geholfen haben als ein organisierter Verbandslob‫־‬
byismus. Advokaten nämlich gehörten zu der die politischen Vertre-
tungsinstanzen dominierenden Berufsgruppe. Der Anteil der Advokaten
am bulgarischen Parlament lag zwischen 1899 und 1918 stets bei 30 bis
37%; ähnlich hoch lag er unter den Ministem. Nicht anders sah es in
anderen südosteuropäischen Staaten aus.8’ Mag dies auch in Südosteu-
ropa besonders stark ausgeprägt sein, so fällt es im Grunde genommen
nicht aus dem europäischen Rahmen heraus, sondern läßt sich in ähnli-

86 SACL (1900) 10, S.482 f.; (1901) 11, S.502, S.509 f. (Z ita t); S.515, S.523;
ebenda (1906) 12, S.554.
87 Is to rija na m edicinata v B älgarija, S.137 f.
88 A dvokatski pregled (1924) 16, S .l.
89 M inčev, G. P.: Našeto narodno predstavitelstvo. S tatističeski s tric h i, in :
Sävremenna M isäl (1911) II, S.155-163; Paruševa, D obrinka: B alkanskijat po-
litič e s k i e lit - Sociografija na p ravite lstven ija e lit v B älgarija i R um ānija v kra ja
na X IX i načaloto na X X vek, in : E lit i obštestvo v is to rija ta , S ofija 1998, S .102-
121, h ie r S.108.

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96 W. Höpken

cher Weise, wie Heinrich Best herausgearbeitet hat, auch in einer ganzen
Reihe von anderen europäischen Ländern ausmachen .9° Die meisten
anderen Berufsgruppen klagten ohnehin immer wieder über ihren gerin-
gen Einfluß auf die Politik.9 ‘
Letztlich war es auch in diesem Zusamenhang die eben durch Staats-
dominanz geprägte Marktlage der Professionen, die ihre korporative
Selbstorganisation und ihren Einfluß hemmte. Auch hier kann der Blick
auf das deutsche Vergleichsbeispiel die Unterschiede in der Entwicklung
schärfer konturieren. Die Ausweitung der Dienstleistungschancen für die
Professionen nämlich eröffnete hier, trotz der auch in Deutschland star-
ken staatlichen Regelungskompetenz, den Professionen die Chance zu
einflußreicher Selbstorganisation, mit der man dem Staat entgegentreten
und für die eigene Gruppe beträchtliche Autonomieräume erstreiten
konnte. Claudia Huerkamp hat dies beispielsweise für den deutschen
••

Arzteverband, der sich zur gewichtigen Lobbyfunktion entwickelte, ge-


zeigt.92 Zu vergleichbarer Kraft gelangten die professionellen Organisatio-
nen in den Balkanstaaten jedoch nicht. Nur in Ansätzen konnten die
Professionen somit auch zum Entstehen einer verbandspluralistischen
Struktur in den südosteuropäischen Gesellschaften beitragen, in der die
Macht des Staates wirkungsvoll durch konkurrierende und kontrollie-
rende Institutionen ergänzt und begrenzt worden wäre.
Die hier angesprochenen Berufsgruppen, und damit sei ein Zwischen-
fazit formuliert, fanden im Laufe der Zeit somit letztlich wohl zu dem,
was in der jüngeren Forschungsdiskussion mit Blick auf den deutschen
Fall mit dem Wort der ‫״‬ Verberuflichung“ bezeichnet worden ist,93 d.h. es
gelang ihnen, ausgehend von einem zunächst noch diffusen Status, ohne

9° Best, H e in rich : Politische M odernisierung und E litenw andel 1848-1997. Die


europäischen Gesellschaften im in te rte m p o ra l-in te rku ltu re lle n V ergleich, in:
H isto rica l Social Research 22 (1997) N0.314, S.4-31, h ie r bes. S.22.
9* F ür Serbien SACL (1897) 6, S.307; (1906) 3, S.151; ebenda (1897) 6, S.307.;
STL 22 (1911) 22, S.169; fü r Bulgarien entsprechende K riü k am R ichterver-
band S ädijski vestnik 7 (1925) 20, S.1.
92 H uerkam p, C laudia: Der A ufstieg der Ä rzte im 19. Jh. Vom gelehrten Stand
zum professionellen Experten: Das Beispiel Preußens, G öttingen 1985.
93 Vgl. fü r die deutschen V olksw irte Bruch, R üdiger v.: Die Professionalisierung
der akademischen gebildeten V olksw irte in Deutschland zu Beginn des 20.
JahrunderLs, in : Jeism ann, K arl-E m st(H g.): B ildung, Staat, Gesellschaft im
19.Jahrhundert, W iesbaden 1989, S.361 ff.

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‫״‬Bürgerliche Berufe“ in Südosteuropa 97

feststehende Qualifikationsanforderungen und geregelte Aufgabenberei-


che, in fließendem Übergang zu anderen Teilen der ‫״‬ Intelligenzija“ zu
einem festen Berufsbild zu gelangen. Was ihnen aber sehr viel weniger
gelang war, sich auch zu dem zu-entwickeln, was mit dem englischen
Wort der ‫״‬ professionalization“ angedeutet ist, nämlich zur selbstregulati-
ven, autonom agierenden Korporation.

III. Bürgerliche Identität oder Intelligenzija?

Enstehungsbedingungen, Marktlage und gesellschaftliche Rolle waren


somit für die Professionen Südosteuropas aufs engste mit dem Staat
verknüpft. Welche Auswirkungen, und damit ich möchte zu einem weite-
ren Aspekt kommen, ergaben sich aus dieser Situation für deren Selbst-
Verständnis? War es, wie im Falle der mitteleuropäischen Professionen
eine bürgerliche Identität, an der sich ihre Vertreter orientierten? Lassen
sich in den genannten Berufen vielleicht gerade jene bürgerlichen Kreise
identifizieren, an denen es nach weit verbreiteter Meinung der Geschichte
der Balkan-Gesellschaften doch so sehr ermangelte?
Eine Antwort auf diese Frage fällt beim gegenwärtigen Forschungs-
stand nicht leicht. Auch hier stochern wir, wie überall, wenn es um die
sozialen Eliten Südosteuropas geht, noch weithin im Nebel. Es scheint
allerdings, daß die hybride soziale Positionierung der Professionen zwi-
sehen bürgerlichem Beruf und Bürokratie auch im sozialen Gruppenbe-
wußtsein der ‫״‬ professionals“ eine Entsprechung gefunden hat. Eine
diffuse mentale und identitäre Selbstdeutung, die sich durch die Publika-
tionen und Selbstzeugnisse ihrer Angehörigen zieht, deutet an, daß hier
eine sozialstrukturell erst im Entstehen begriffene Gruppe auch bewußt-
seinsmäßig ihren gesellschaftlichen Platz noch suchte.
Einerseits ist dabei unübersehbar, daß diese Berufsgruppen mit ihrer
höheren, zunehmend akademischen Ausbildung (die sie ja großenteils im
Ausland erhalten hatte), zugleich auch die Prinzipien bürgerlicher Werte-
Vorstellungen adaptierte. In der ständig wiederholten Betonung der
eigenen Bildung und des eigenen Expertenwissens, im Verweis auf die
eigene Leistung, auf das Dienstethos und vor allem auf die eigene ‫״‬ Mo-
dem ität“ der jeweiligen Berufsgruppe spiegeln sich unübersehbar bil-
dungsbürgerliche Selbstdeutungen wider. In zunehmendem Maße war es
dabei das fachlich-profesionelle Expertenwissen, das man zugleich als ein

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98 W. Höpken

Symbol der angestrebten Europäisierung der eigenen Gesellschaft begriff,


mit dem man die eigenen Eliten-Rolle begründete.9‫ *־‬Und immer weniger
rekurrierte man auf jenen schwammigen, allgemein kulturellen Bildungs-
anspruch, den noch die ‫״‬ alte“ Intelligenzija zur Begründung ihrer
Führungsrolle ins Feld führte. Hier deuten sich meines Erachtens nach
Entwicklungen von einem Wandel in der eigenen sozialen Verortung vom
‫״‬intelligent“ zum ‫״‬
professional“ an. Besonders wird dies dort spürbar, wo
der Anspruch zur ‫״‬ Intelligenzija“ zu gehören am umstrittensten war, wie
bei den Ingenieuren und den technischen Berufen. Der Widerspruch
zwischen der beanspruchten wissenschaftlichen Qualität und dem ihnen
von der Gesellschaft zugewiesenen Status war bis zum Ersten Weltkrieg
beinahe ein Dauerthema der Verbandspresse. Repräsentant moderner
Technik und damit Vorreiter einer künftigen zu ‫״‬ Kultur“ sein, dies wurde
von ihnen immer wieder geltend gemacht, gerade auch gegen die
••

Uberlegenheitsattitüden anderer professioneller Gruppen wie Juristen,


Mediziner oder Professoren.95 Auch die Lebensführung, das Alltagsleben,
die Wahnvorstellungen und Freizeitgewohnheiten waren unverkennbar
am mitteleuropäischen Leitbild bürgerlicher Stadt-Kultur ausgerichtet.
Die insgesamt freilich spärlichen Informationen etwa zur Wohnungs-
einrichtung Sofioter Juristen und Professoren oder zu den Gesellig-
keitsformen von Angehörigen der Belgrader Oberschicht aus dem Kreise
der Professionen lassen dies erkennen.96 Ärzte und seit dem frühen 20.
Jh. auch Ärztinnen gehörten beispielsweise in Belgrad zu den Organi-
sátorén urban-bürgerlicher Geselligkeitsformen wie des Salons.97‫ ־‬Bürger-

9* Vgl. etwa der kroatische Advokatenverband: Nova Evropa 10 (21.9.1924) 9,


S.252.
95 STL 2 (1891) 5, S.66; ebenda 4 (1893) 3, S.1, S.74; ebenda 4 (1893) 4, S.86;
ebenda 5 (1894) 3, S.45: ebenda 13 (1902) 1-2 , S .l f.; ebenda 17 (1906), S.96;
ebenda 23 (1912) 2 6 -2 7 , S.92.
96 Vasileva, D arija: In te rio rä t na žilište to na bälgarskata gradska inteligencija
1878-1912, in : Bälgarska etnogrāfijā 4 (1993) 1, S .33-47; Dies.: Ž ilište to na
gradska inteligencija (1878-1912), in: Bälgarska etno g rā fijā I I I (1992) 5 -6 ,
S .41-50. Zugleich w urde Klage darüber geführt, daß n u r eine M in d e rh e it der
A nw älte in der I la u p tstad t sich eigene W ohnungen oder Häuser leisten könn-
ten: A dvokatski pregled IV (1924) 13, S.9.
9‫ל‬ H ierzu m it ersten Andeutungen Č olak-A ntic, T atjana: Ž u r и Beogradu u doba
izm edju dva svetska rata. U niverzitet и B eogradu.Filozofski fa ku lte t, odeljenje
za etnologiju: D iplom ski rad 1993, S.92.

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‫״‬Bürgerliche Berufe“ in Südosteuropa 99

lieh ausgerichtet waren letztlich auch die materiellen Erwartungen und


der Prestigeanspruch, welche die Angehörigen der Professionen immer
wieder geltend machten. Solche materiellen Ansprüche wurden von allen
Berufsgruppen immer wieder mit den Notwendigkeiten einer Stand und
Qualifikation entsprechenden Lebensführung begründet - mit den
‫״‬ kulturellen und professionellen Bedürfnissen“, wie es hieß.98 Wir sind
über die materielle Lebenssituation der professionellen Eliten allerdings
noch höchst ungenügend informiert. Die verdienstvollen quantitativen
Vergleichsuntersuchungen des bulgarischen Wirtschaftshistorikers
Ljuben Berov über die freien Professionen Südosteuropas geben hier
allenfalls Anhaltspunkte ,99 sie sagen aber wenig über die tatsächliche
Lebensführung aus. In der Breite scheint die materielle Substanz der
professionellen Eliten, vor allem wenn man sie zum bürgerlichen Status
ihrer mitteleuropäischen Berufskollegen in Relation setzt, eher über-
schätzt zu werden. Alle Berufsgruppen haben beinahe konstant Klage
geführt über ihre materiellen Verhältnisse,100 und nicht alles daran war
unbegründeter Standesegoismus. Nur für einen Teil der Professionen
dürfte die Einlösung ihrer Bürgerlichkeitsvorstellungen auch tatsächlich
materiell möglich gewesen sein. Zumindest in Bulgarien, ähnliches
scheint auch für Rumänien zuzutreffen, dürfte sich die zuvor recht gene-
röse Einkommenslage der meisten Professionen seit der Jahrhundert-
wende und insbesondere in der Zwischenkriegszeit, zunächst nach
Kriegsende und sodann mit der Weltwirtschaftskrise, verschlechtert
haben.101 Die in relativ sicheren staatlichen Stellungen arbeitenden Ange-

9® (!D IA 833, op.2, a.e.37,1.78; Sädijski vestnik X (1928) 9 -1 0 , S.112.


99 Berov, Luben: The M a te ria l Status o f the free-Lanced Professions in
Southeastern Europe ( l8 th - l9 th century), in : Etudes balkaniques (1984) 1,
S .3-23; ders.: M a te ria ln o to położenie na intelige ncijata v B älgarija meždu
dvete svetovni vo jn i, in : Istoričeski pregled (1988) 12, S 3 -2 1 .
100 Vgl. exem plarisch fü r die Ä rzte .Serbiens: Rezolūcija Upravnog O dbora
I>ekarskog D ruštva, in : SACL 13 (1907) 5, S.261; fü r die R ichter in de r Z w i-
schenkriegszeit in K roatien: Nova Evropa 10 (21.9.1924) 9, S.263 f.; fü r die In -
genieure: STL (1891) 4, S.51; ebenda (1894) 3, S.45; ebenda (1899) 4, S.89;
ebenda (1911) 14-15, S.118 f.
101 Vgl. fü r die bulgarischen Advokaten C D IA fond 833, op.2., a.e.37,1.78; ebenda
I.74, 83; ebenda fond 997, op.1, a.e.31, 1.1,5 ; Sädijski vestnik 10 (1928) 9 -1 0 ,
S.l f.; A dvokatski pregled (1925) 19, S.238; ebenda (1930) 6, S.69; fuir die
R ichter: C D IA fond 537, op.1., a.e.50, lis t 203 (1921); S ädijski vestnik 8 (1928)
1-2, S .l f.; ebenda (1928) 12, S .l f.; ebenda 11 (1930) 9, S.161; ebenda 8 (1932)

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100 W. Höpken

hörigen litten jetzt unter der sich verschärfenden staatlichen Budgetkrise;


für die freien Berufsangehörigen wurden die Überfüllungstendenzen in
den meisten Berufen zum Problem. Unter den Juristen, denen aufgrund
ihres generell schlechten Ansehens aus dem Kreise der bäuerlichen
Bevölkerung konstant der Vorwurf unangemesser Bereicherung gemacht
wurde, aber auch der kleinen Händler und Handwerker,102 konnte zwar in
der Hauptstadt so mancher ein beträchtliches Einkommen erzielen und
einen bürgerlichen Lebensstil pflegen, vor allem jene, die mit der Politik
verhandelt waren. Der Zugang zum politischen Amt erwies sich hier als
das wertv ollste Kapital, das man aus der Profession ziehen konnte.,Q3 Wer
über derartige Beziehungen nicht verfügte oder gar seinen Beruf in der
Provinz ausübte, der mußte allerdings mit einem sehr viel bescheidene-
ren, oft wohl ‫״‬ unbürgerlichen“ Lebensstandard vorlieb nehmen. Bulgari-
sehe Provinzadvokaten führten jedenfalls in lebendigen Beschreibungen
Klage darüber, daß manche von ihnen mit der täglichen Existenz zu
kämpfen hatten.10* Angesichts der Tatsache, daß Länder wie Bulgarien
und Rumänien in der Zwischenkriegszeit einen größeren Besatz mit
Advokaten erreichten als Deutschland oder Frankreich klingen derartige
Klagen durchaus überzeugend. Auch hier zeigte sich im Übrigen ganz die
Erwartungshaltung an den staatlichen Paternalismus auf seiten der
Professionen: da man nicht für sich, sondern für die Gesellschaft arbeite,
so klagten beispielsweise Anfang der 30er Jahre lokale Anwälte in Bulga-
rien, habe der Staat auch für deren angemessenes Leben materielle Sorge
zu tragen . ‘°5

9, S.129 ff.; ebenda 25 (1933) 9, S.122 ff.; ebenda 20 (1938) 3, S.49 f., Advo-
katski Pregled (1923) 8, S.6; ebenda IV (1924) 14, S .l. Ä rzte waren, sofern sie
als M ilitä rä rz te gearbeitet hatten, zudem von den E n tm ilita risie ru ng sver-
pflichtungen, welche der Friedensvertrag von N e u illy Bulgarien auferlegt
hatte, betroffen, so daß u n te r ihnen angesichts eines nach wie vor beengten
privaten D ienstleistungsm arktes Anfang der 1920er Jahre eine beträchtliche
A rbeitslosig keit zu verzeichnen w ar: Kolev, J.: Kam väprosa, S. 562.
102 V gl. entsprechende Beispiele in : A dvokatski pregled (1930) 18, S .l.
•°3 C D IA fond 833, op.2, a.e.44, I.135 f ‫ ״‬Klagen von Advokaten aus der Provinz,
daß die hauptstädtischen Advokaten m it Beziehungen zur Regierung das Gros
der lu kra tive n R echtsstreitigkeiten an sich zögen.
1a» C D IA fond 997: Visš advokatski sävet, o p .l., a.e.31,1. 1, 55 f.,9 f., 5, 17, 18, 25;
C D IA fond 833, op.2, a.e.44, 1-7 4 : ebenda a.e.37, I.78; Sädijski vestnik (1928)
9 -1 0 , S.112; Kazazov, D.: lllic i, chora, sä b itija , S.184.
105 C D IA 9777, o p .l, a.e.32,1. 1, 6 u.a.

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‫״‬Bürgerliche Berufe“ in Südosteuropa 101

Gaben sich die Professionen somit auf der einen Seite somit bürger-
lieh, so war dieses bürgerliche Selbstbewußtsein auf der anderen Seite
aber auch in zweierlei Hinsicht auffallend gebrochen: Zum einen nämlich
konnte auch die eigene professionelle Identität sich nie von der Fixierung
auf den Staat lösen. Will heißen: Das gesellschaftliche Leitbild, dem man
nacheiferte, blieb für viele stets das des beamteten ‫״‬ Gebildeten“. Staatlich
angest eilte Ingenieure in Serbien beispielsweise forderten von der Regie-
rung die finanzielle und statusmäßige Gleichstellung mit höheren Beam-
ten; die Forderung nach einer Staatsprüfung für jeden Ingenieur diente
eben dem Ziel, damit den Anspruch auf einen Zugang zum Staatsdienst
zu erhalten.106 Auch zivile Techniker orientierten sich in ihren Erwartun-
gen in puncto Entlohnung und gesellschaftliche Stellung an den Staats-
beamten. Nicht das Ideal des britischen oder amerikanischen ‫״‬ liberal
professional“ war es, wonach der Arzt, Anwalt oder Ingenieur strebte in
Südosteuropa, sondern der Status des Beamten.
Und noch von einer anderen Seite her erweist sich die Selbstdeutung
der hier in Rede stehenden Berufe als diffus und hybride: So sehr man
nämlich auch zunehmend auf die eigene fachliche Qualifikation und den
Beruf als Ausweis des eigenen Status verwies, so sehr man also Arzt,
Jurist oder Ingenieur war, so sehr blieben doch auch die Relikte jenes in
der Tradition des 19. Jhs. stehenden ‫״‬ Intelligenzija-Bewußtseins“ spürbar
- einer Identität also, die letztlich aus einem moralisch-kulturellen Ver-
antwortungsanspruch der eigenen Gruppe genährt wurde. Der ‫״‬ Dienst am
Volke“, eine Art ‫״‬ Kulturmission“ gegenüber einer rückständigen und
aufklärungsbedürftigen Bevölkerung, damit begründeten Ärzte, Juristen
und Ingenieure ihren Prestigeanspruch stets auch und nicht nur mit dem
Verweis auf Studium und professionelles Bildungspatent. An die Stelle
der Pflichterfüllung gegenüber dem Volk, so kritisierte beispielsweise die
Verbandszeitschrift der serbischen Ärzte um die Jahrhundertwende,
beginne immer mehr rüder Materialismus das Selbstverständnis des
Arztes zu bestimmen.107 Offenbar bedurfte es dieser traditionellen Identi-
fikation, um damit bei der Bevölkerung jene Zustimmung und Wertschät-
zung einzuklagen, die man allein mit dem Verweis auf die professionelle

106 STL 2 (1891) 5, S.66; ebenda (1894) 3, S.45 f., S.61; ebenda 17 (1906) 24, S.95.
107 SACL (1900) 11, S.474; ähnliche Hinw eise in : ebenda (1921) 2, S .lll ff.; Nova
Evropa 10 (21.9.1924) 10, S.269.

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102 W. Höpken

Zugehörigkeit noch nicht einzuhandeln in der Lage war. Nicht nur die
chronisch schlecht angesehenen Juristen, auch Ärtze und Ingenieure
klagten jedenfalls immer wieder darüber, daß die Gesellschaft ihr profess-
sionelles Wissen nicht genügend würdige.108 ‫״‬ Moderne“ Berufsidentität
stand so neben traditionellem ‫״‬ Intelligenzija-Bewußtsein“, ein Ausdruck
dafür, wie sehr auch die gebildeten Eliten sich in Südosteuropa im späten
19. und frühen 20. Jh. in einem äußerst widersprüchlichen Entwicklungs-
gang befanden.

ГѴ. Fazit
Welche Erkenntnisse lassen sich nun aus einem solchen, zwangsläufig
kursorischen Blick auf die Rolle der profesisionellen Eliten für eine So-
zialgeschichte der Balkan-Gesellschaften entnehmen? Der Blick auf die
Professionen, und darum ging es dem vorliegenden Beitrag, zeigt einmal
mehr die Brechungen, denen die Balkan-Gesellschaften in ihrer jüngeren
Entwicklungsgeschichte ausgesetzt waren. Der soziale Wandel dieser
Gesellschaften brachte zweifelsohne Berufsgruppen hervor, die sich in
vielem in das Konzept der Professionen einordnen lassen; indes, in diesen
Professionen erwuchsen den Balkan-Gesellschaften gleichwohl keine
wirklich bürgerliche Trägerschicht; im ganzen blieben sie der Bürokratie
näher. Ist dieser hybride Charakter zwischen Bürgertum und Bürokratie
somit ein weiterer Beleg für das viel beschriebene Scheitern der Moderni-
sierung in dieser Region? Folgt man herkömmlichen struktur-funktiona-
len Modemisierungskonzepten, so wäre dies wohl nicht anders zu deuten.
Der Weg der osteuropäischen Professionen ist denn in der Literatur
bisweilen auch als ‫״‬ immature professionalization“ bezeichnet worden . I09
Sehr viel Normativität klingt hierin an, die mir unangemessen zu sein
scheint. Sinnvoller dürfte es statt dessen sein, so wie es die vergleichende
Professionalisierungsforschung auch für das westliche Europa getan hat,
die Vielschichtigkeit der Entwicklungswege der bürgerlichen Berufsgrup-
pen überall in Europa im Auge zu haben anstatt von generalisierbaren
Verlaufsmodellen des Entstehens und der Entwicklung dieser Berufs­

108 S T L 1 (1890) 7, S.1 f.


,0‫ י‬Balzer, H .: The Problem o f Professionals in Im p e ria l Russia, in : Clowes, E. W.
et al. (H g): Between T sar and People. Educated Societies and the Quest fo r
Public Id e n tity in Late Im p e ria l Russia, P rinceton 1991, S.183-198.

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‫״‬Bürgerliche B erufe “ in Südosteuropa 103

gruppen auszugehen.110 Auch Professionalisierung ist, um einen Begriff


von Wolfgang Zapf zu übernehmen, ein pfadabhängier Prozeß;111 und es
sind letztlich die sozialen Traditionen und Rahmenbedingungen, die die
jeweiligen Professionalisierungspfade prägen.
Und noch in einem weiteren Punkt scheint Relativierung angebracht:
Vor allem die ältere amerikanische soziologische Professionalisierungs-
theorie hat im Entstehen von akademischen Berufsgruppen gleichsam
eine conditio und einen Garanten für demokratische Stabilität gesehen.
In den Diskusisonen um die heutigen Transformationsgesellschaften wird
bisweilen in eine ähnliche Richtung argumentiert, so etwa, w‫׳‬ enn Charles
McClelland schreibt: ‫״‬ whatever democracy, pluralism, return to the west
... really mean, their meaning will be stamped to a significant degree by
the success or failure of members o f the learned occupations to professio-
nalise themselves“. Schon die problemlose, bisweilen gar enthusiastische
Art und Weise, mit der die deutschen Professionen sich nach 1933 ver-
staatlichen ließen und ihre mühsame Autonomie aufgaben,112 mahnt hier
zur Vorsicht. Und auch in Südosteuropa ist die politische Rolle der beruf-
liehen Gruppen durchaus höchst unterschiedlich gewesen: unter dem
Druck sozialer Marginalisierung wurden sie in Rumänien zweifelsohne zu
Trägem nationalistischer, autoritärer Strömungen;3‫״‬in Bulgarien, unter
vergleichbarem sozialen Krisendruck, gab es hingegen durchaus Distanz
der professionellen Organisationen gegen die Versuche einer autoritären
Neuformierung der Gesellschaft seit 1934. Die Richter verweigerten dem
autoritären Staat zwar ihre Loyalität nicht, beharrten aber auf der Selb-
ständigkeit ihres Verbandes gegen die Bestrebungen einer den ganzen
administrativen Sektor umfassenden korporativen Organisation unter

110 Siegrist, H .: P rofessionalization as a Process, in Burrage / T orstendahl (Eds.):


Professions, S.179.
111 Zapf, W olfgang: Die M odernisierungstheorie und unterschiedliche Pfade der
gesellschaftlichen E ntw icklung, in : Leviathan (1996) l , S . 6 3 7 7 ‫ ־‬.
112 Zu den deutschen A nw älten im N ationalsozialism us je tz t auch: Douma, Eva:
Zwischen D em okratie und Anpassung. Deutsche A nw älte 1933-1950, Frank-
fu rt а. M . 1998.
3‫״‬ Heinen, A rm in : Die ‫ ״‬le g io n Erzengel M ichael“ in Rum änien, M ünchen 1986.

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104 W. Höpken

staatlicher Kontrolle.11* Der Advokaten verband erwies sich als Verfechter


parlamentarischer Normen gegen den "Fassadenparlamentarismus" und
die schleichende Autoritarisierung des Landes5‫ ״‬und verweigerte trotz
aller Überfüllung der Zunft allen staatlichen Versuchen zur Ausgrenzung
jüdischer Kollegen die Zustimmung.116 Autoritārismus wie Liberalität -
beides verband sich also durchaus mit der Rolle dieser Berufsgruppen,
und auch in dieser Hinsicht scheint die Sozialgeschichte der Balkanstaa-
ten durchaus facettenreich verlaufen zu sein.

114 C D IA fond 537, o p .l, a .e .2 0 ,1.6 0 , 69. S ädijski vestnik 16 (1934) 3, S.38; Advo-
katski pregled (1935) 1, S.2; ebenda (1937) 1, S.2; ebenda (1938) 10, S.219 f.;
ebenda (1941) 10, S .l.
5‫״‬ C D IA fond 537, o p .l, a.e.20, I.91 (1938); ebenda fond 833, op.2, a.e.50, I.3
(1937); ebenda a.e.47,1.193 (1934); ebenda a.e.18,1.37 (1943); ebenda I.2 6 9 -
271 (1935). ebenda I.2 7 9 -2 8 2 (1937), ebenda I.341-344 (1940); Sädijski
vestnik 17 (1936) 10, S.221 (Z ita t); A dvokatski pregled (1938) 1, S .l; ebenda
(1940) l,S.22.
116 C D IA 833, op.2, a.e.18,1-3 4 1 - 3 4 4 •

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Unternehmer, Staat und Politik:


Zur Rolle der Wirtschaftselite in Bulgarien 1878-1941

Maria Georgieva

Die Rolle der Unternehmerschicht und der Wirtschaftselite in Bulgarien


bzw. im Südosteuropa des 19. Jahrhunderts ist noch kaum erforscht.
Während es in Rumänien und Jugoslawien einige Wissenschaftler gibt,
die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, so gibt es in Bulgarien nur
wenige Historiker, Soziologen oder Politilogen, die sich überhaupt mit
‫״‬Eliten“ beschäftigen.
Die Gründe hierfür sind unterschiedlicher Natur: Erstens mangelt es
immer noch an Interesse und dementsprechend auch an Untersuchungen
im Bereich der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Darstellungen zur po-
litischen Geschichte nehmen nach wie vor einen überragenden Platz un-
ter den Veröffentlichungen ein. Zweitens war und ist immer noch ein
Theoriedefizit zu beobachten, besonders bei der Untersuchung sozialer
Prozesse und Phänomene (Dieser Umstand ist auf das jahrelange Theo-
riemonopol des Marxismus-Leninismus zurückzuführen; damit ist auch
die Auswahl von Forschungsthemen in den letzten vier bis fünf Jahr-
zehnten verbunden: Geschichte der Arbeiterklasse, -bewegung und -par-
tei; Geschichte der Volksmassen und nicht der Persönlichkeit, noch
weniger: der Elite. Und was die Unternehmer betrifft, so durften sie als
Angehörige der Ausbeuterklasse auf keinen Fall Objekt einer Untersu-
chung sein). Drittens ist nicht zuletzt der Mangel an einem für die Region
passenden Begriffsystem zu erwähnen, das anstelle des von Westeuropa
geliehenen geschaffen werden muß und adäquate Bezeichnungen für die
sozialen Gruppen, Schichten, Erscheinungen und Strukturen liefern
kann.
Und wenn solch wichtige Werkzeuge des Historikers wie Theorie und
Begriffsystem fehlen, dann ist es nicht erstaunlich, daß es nach den in den

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106 M. Georgieva

vergangenen Jahrzehnten geschriebenen Arbeiten zur Geschichte der


Arbeiterklasse, zur Geschichte einzelner Parteien - an erster Stelle der
Kommunistischen Partei und deren Verbündeten in Bulgarien, etwa dem
Bauernbund, einigen kleinbürgerlichen Parteien - an anderen Studien im
Bereich Sozialgeschichte mangelt.
In den letzten Jahren beschäftigen sich zwar südosteuropäische und
bulgarische Historiker auch mit anderen Bewegungen, Strukturen oder
Organisationen (etwa der Frauenbewegung, der Stratifikation politischer
Eliten, der Intelligenzija usw.). Es fehlen aber noch immer Forschungen
zu sozialen Prozessen, Phänomenen, Transformationen, zu Institutionen-
geschichte und -wandel, zur politischen Kultur und zu bestimmten so-
zialen Gruppen und Schichten, darunter auch das Unternehmertum.
Die Figur bzw. Schicht, die im Zentrum der vorliegenden Untersu-
chung stehen soll: der Unternehmer resp. die Wirtschaftselite, ist aus den
erwähnten Gründen mit Ausnahme separater biographischer Studien,
Autobiographien und Memoiren einzelner Staatsmänner, die zugleich
dieser Gruppe angehörten (z.B. die Brüder Gešov u.a.).1 kaum erforscht
worden.
Welch eine Forschungslücke sich hier in der Historiographie auftut,
zeigt schon ein Blick auf die Handlungsfelder dieser sozialen Gruppe:
Wenn die Arbeiterklasse nur die ausführende Kraft im Produktionspro-
zeß ist, so ist der Unternehmer, der Industrielle, der Bankier die Person,
die das Kapital investiert, die Branche wählt, das Unternehmen aufbaut
und die Arbeit organisiert, den Produktionsprozeß leitet und nicht selten
sein Produkt verkauft, also eine Schlüsselfigur im Produktionsprozeß,
und damit auch im sozialen Bereich, soweit man den Produktionsprozeß
als einen sozialen Prozeß versteht. Der Mangel an Untersuchungen über
eben diese so wichtige Figur im Wirtschaftsleben und im sozialen Bereich
kann nur andeuten, wie wenig wir über den Produktionsprozeß und den
Sektor Wirtschaft wissen. Natürlich kann man die Geschichte des Pro-
duktionsprozesses nicht nur als eine Geschichte des Unternehmertums
begreifen, aber man muß dieser Schicht zumindest einen vorderen Platz

1 Vgl. u.a. Staneva, Evelina: Alm anach na bãlgarskite in d u stria lci, 1878-1995.
Sofija 1995; G luškov, C hr./S tatelova, E.: B ratja E vlogi i C hristo Georgiev!.
Sofija 1982.

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Wirtschaftselite in Bulgarien 18 78 -1941 107

bei den Untersuchungen über die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte re-


servieren.
Mit der Untersuchung dieser Figur - ihrer Herkunft, Zahl usw. -
können wir einen Beitrag leisten zur Rekonstruktion eines vollständige-
ren Bildes von der Sozialgeschichte Südosteuropas. Das wichtigste wäre
aber, den Platz dieser sozialen Gruppe in der Gesellschaft, ihren Platz im
sozialen Transformationsprozeß und im politischen Leben zu erforschen.
Wenn wir die Frage nach dem spezifischen Verlauf der historischen Pro-
zesse und dessen Ergebnissen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts unter-
suchen, müssen wir unter anderem alle sozialen Schichten in Betracht
ziehen - ihre Charakteristika, Rolle, Beteiligung an den Prozessen. Nur so
sind vielleicht einige Erklärungen für die Geschwindigkeit, für den Kurs
und für die Resultate der sozialen Prozesse und Wirtschaftsentwicklung
zu finden, zumal die gegenwärtigen Prozesse in der Region nicht nur von
der Perestrojka oder vom ‫״‬ Wind of Change“, sondern auch und vielleicht
in wesentlich größerem Umfang von den historischen Gegebenheiten und
jahrhundertelang überlebten sozial-ökonomischen Charakteristika ge-
prägt worden sind, die sich nicht zuletzt in den sozialen Schichten und
Gruppen widerspiegeln.

Bevor wir mit der Untersuchung der Unternehmerschaft in Bulgarien


beginnen, sei vorweggeschickt:
1. Diese Studie hat, wie jeder erste Versuch, nicht die Absicht, die
wichtigsten Fragen endgültig zu beantworten. Vielmehr stellt sie
Fragen und arbeitet Hypothesen aus. Noch weniger erhebt die Un-
tersuchung den Anspruch auf Vollkommenheit. Es soll eine Unter-
suchung der sozialen Schichten versucht werden.
2. Hier soll nicht nur die dünne Schicht der Unternehmerschaft im
engeren Sinne des Wortes im Zentrum stehen, also die Personen,
die Aktien kaufen und in Unternehmen (vorwiegend in Industrie
und Transport) investieren oder an einem bestimmten risikorei-
chen Projekt arbeiten, sondern die Unternehmer als solche, die sich
mit ‫״‬ Business“, mit Unternehmensgründung und Unternehmens-
leitung im Bereich der Industrie, Handel, Transport, Versiehe-
rungswesen, Bankwesen usw. beschäftigen. Hier verwenden wir
also den Terminus Unternehmer in einem weiteren Sinne, im Sinne

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108 M. Georgieva

von Bourgeoisie bzw. Wirtschaftselite, auch wenn es nicht ganz


korrekt ist, die ganze Untemehmerschicht als Wirtschaftselite zu
betrachten.
Im Rahmen der vorliegenden Studie soll vor allem folgenden Fragen
nachgegangen werden: Welche Unternehmer gehören zur Wirtschafts‫־‬
elite: die reicheren und erfolgreich arbeitenden Unternehmer im Finanz-
und Wirtschaftssektor? Wie und wie erfolgreich funktionierte die Unter-
nehmerschicht als Wirschaftselite?

Generelle Probleme
Zunächst soll Fragen nach der Bedeutung der Präsenz der Unternehmer-
schaft in der Gesellschaft nachgegangen werden, etwa nach der numeri-
sehen Größe dieser Schicht, nach der Kontinuität zwischen den mittleren
und reichen und anderen bekannten Familien aus der ‫״‬ Wiedergeburts-
zeit“ (Kaufleute, Fabrikanten, Handwerker) und den Unternehmern aus
den folgenden Jahrzehnten sowie nach der sozialen Herkunft der Unter-
nehmerschaft. Warum sind diese Fragen wichtig? Vor allem deshalb, weil
schon einige Angaben über die Zahl, Herkunft und soziale Basis die Rolle
dieser Schicht in der Gesellschaft beleuchten.
1. Während des Untersuchungszeitraums existierte eine dünne Schicht
aus Besitzbürgertum, Unternehmern, Industriellen und Bankiers. Nach
den vorhandenen statistischen Daten ist es nicht besonders leicht, diese
Kreise von anderen differenziert zu beobachten, aber unter den Rubriken
Klein-, Mittel- und Großbourgeoisie (Besitzer, Selbständige), finden sich
folgende Zahlen:

1877 1910 1926

Industrie und Handwerk 200 1.050 88.501


(2,87 %)

Kredit, unternehmerische 32.000 39.000 49.000


Tätigkeit u.Handel (1,32 %)

Verkehr bzw. Kommuni- 50 150 10.000


kation (0,35 %)

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W irtschaftselite in Bulgarien 1878 -1941 109

Im großen und ganzen machte das nur 3 -4 % der beschäftigten Per-


sonen (oder der aktiven Bevölkerung) aus.2
Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gab es kaum wichtige
Veränderungen - die Periode war zu kurz dafür. Die letzte Volkszählung
vor dem Krieg war 1934; seitdem hatte sich die Schicht der Industriellen
und Unternehmer um 1500 bis 2000 Unternehmer vergrößert, vorwie-
gend im Bereich Dienstleistungen, Nahrungsmittelindustrie, Transport
usw.
Wenn wir hier von Zahlen sprechen, dann nicht ohne Grund. Die Zahl
der Unternehmerschaft war recht gering und unbedeutend, nicht nur im
Vergleich zu Westeuropa. Man kann davon ausgehen, daß eine dermaßen
kleine soziale Gruppe, trotz ihres Reichtums und ihrer Position in
Gesellschaft und Politik, nicht dieselbe bedeutende große Rolle spielen
kann, wie die entsprechende Gruppe etwa in Westeuropa.
2. Gab es eine Kontinuität zwischen den Schichten mit unternehme-
rischer Aktivität (reiche Kaufleute, Handwerker, erste Vertreter der Indu-
striellen aus der Zeit der bulgarischen ‫״‬ Wiedergeburt“) und den
Unternehmern aus den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit? Verbun-
den damit ist auch die nächste Frage: Aus welchen Schichten rekrutierte
sich die Unternehmerschicht des neuen Staates: Bauern, Beamte, Kauf-
leute, Handwerker, Händler usw.?
Soweit diese Fragen in der bulgarischen Geschichtsliteratur überhaupt
erforscht wurden, sind Schlußfolgerungen gemacht worden, wonach die
bulgarischen industriellen Kreise nach 1878 in ihrer Mehrzahl neu
entstanden bzw. neu rekrutiert worden sind und sich kaum auf die
Reichtümer der bekannteren bulgarischen Familien aus der Zeit der
‫״‬Wiedergeburt“ stützten. Man muß auch wissen, daß es bis zur Befreiung
von der osmanischen Herrschaft nur drei oder vier bulgarische Millionäre
gab (mit einem Kapital von mehr als über 1 Mio. Groschen - also über
0,25 Mio. Francs - bis höchstens 2,54 Mio. Groschen): die Brüder Geor-
gievi, Michalaki Gjumjušgerdan und Chr. Tapcilestov. Zwei von ihnen
mußten in den Jahren des Befreiungskrieges aufgeben - die Fabrik
Gjumjušgerdans bei Plovdiv wurde zerstört und Tapcilestov ging Pleite,

2 Ljuben Berov (H g .): Ikonom ikata na B älgarija do socialističeskata re voljucija .


Sofija 1989, S. 367; S tatističeski G odišnik na Carstvo B älgarija. Sofija 1935,
X X V II, S. 31.

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110 M. Georgieva

zum Teil weil er sein den Türken geliehenes Geld nicht zurückbekommen
hatte. Während des Krieges wurden auch andere reiche Kaufleute, Wu-
cherer, Großgrundbesitzer und reiche Bulgaren ruiniert (reich im Sinne
von Geldreserven über einige Zehntausend Groschen) und das war meist
mit materiellen Schäden an ihrem Besitz, mit verliehenen Summen, die
nicht mehr erhebbar waren, verbunden.
So kam es, daß von über 279 reicheren Familien vor der Befreiung
nach 1900 nur noch 82 als immer noch reich bzw. als Vertreter der soge-
nannten Bourgeoisie erwähnt wurden. Darunter sind die Beispiele von
Familien nicht sehr zahlreich, die vor der Befreiung Kaufleute, Handwer-
ker oder Industrielle waren, und nachher zu der Untemehmerschicht
gehörten .3
1878 gehörten von allen untersuchten, als ‫״‬ Intelligenz“ bezeichneten
Leute nur 2,3 % zu den kaufmännischen und industriellen Kreisen, als
Unternehmer wurden nur 0,2 % bezeichnet.*
Unterstrichen werden kann in diesem Zusammenhang, daß ein großer
Teil von den Kindern der reichen Leute, die potentiell zu der Unter-
nehmerschicht gehören konnten, andere Berufe wählten - sie wurden
Rechtsanwälte, Ärzte, Ingenieure, Beamte im Staatsapparat, Journalisten
usw. Diese Tendenz war am Ende des 19. Jahrhunderts besonders ausge-
prägt. Die ‫״‬ Bürokratisierung“ der Intelligenz und der mittleren und rei-
cheren Kreise ist nicht zufällig. Die Gründe dafür können in folgenden
Richtungen gesucht werden: Die Beamtenstellen waren sicher, mit siche-
rem Gehalt und erschienen als eine bessere Alternative nicht nur im Ver-
gleich zum Leben und der Arbeit auf dem Lande, sondern auch im
Vergleich zur unternehmerischen Aktivität. Für den Erfolg der letzteren
ist viel Kapital notwendig, das den meisten potentiellen Unternehmern
nicht oder nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung stand, da die
Gesellschaft als Ganzes arm war; ebenso war ein gewisser Grad der Indu-
strialisierung noch nicht erreicht - bekanntlich steckte die Industrialisie-
rung noch in ihren Anfängen. Weitere Gründe waren die noch nicht
entwickelten Marktbedingungen - kleine Märkte, unqualifizierte Arbeits­

3 Es seien h ie r n u r folgende Fam ilien erw ähnt: C hr. Petrov aus Burgas, Iv .
Kalpazanov, Chr. Bobčev, Rašeev, H adžiberov, die G ebrüder Stojčevi aus Gab-
rovo, Iv . Grozev aus K arlovo u.a.
* Genčev, N iko ła j: Bälgarskata vāzroždenska in te lig e n cija . S ofija 1 9 9 1 . S.280.

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Wirtschaftselite in Bulgarien 1878-1941 Ill

kräfte, mangelnde Infrastruktur. Hinzu kam die fehlende Sicherheit im


politischen Leben - denken wir an die Staatsstreiche, an die kaum ent-
wickelte und unvollständige parlamentarische "Demokratie, an die häufi-
gen Regierungswechsel, die Kriege, die Inflation, die Weltwirtschaftskrise
usw. Zuletzt sei hier die Mentalität erwähnt. Meiner Meinung nach reicht
es anzumerken, daß sich unternehmerische Mentalität und unternehme-
risches Handeln in der sich nur langsam modernisierenden traditionell-
patriarchalischen Welt des bulgarischen Handwerkers, Industriellen und
Bankiers nicht besonders schnell verwurzeln konnten. Zuletzt sei auch
noch die mangelnde professionelle Ausbildung erwähnt. Erst um die
Jahrhundertwende und in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts
wurden Handelsschulen in Sofia, Plovdiv, Burgas und Varna gegründet.
Es gab zwar Leute aus den alten, bekannteren Familien, die sich weiter
mit ‫״‬ Business“ beschäftigten, aber das meiste Kapital wurde in der
Industrie um die Jahrhundertwende akkumuliert. Ähnliches gilt auch für
den Sektor Handel. Erst in den zwanziger und dreißiger Jahren sind mehr
Beispiele anzutreffen, bei denen die Söhne aus Untemehmerfamilien eine
spezielle Ausbildung erhalten, damit sie das Geschäft übernehmen kön-
nen; gleichzeitig vermehren sich die Beispiele von zwei bis drei Genera-
tionen Unternehmersfamilien. Leider war die Zeit für eine normale
Entwicklung dieses Prozesses zu knapp. Mit dem Zweiten Weltkrieg und
dem sich anschließenden Bruch in der gesellschaftlichen Entwicklung war
auch das Schicksal der Unternehmerschaft besiegelt.
3. Neben der Rekrutierung von Unternehmern aus alten Familien
kamen auch andere Schichten dafür in Frage: einfache Handwerker, so-
gar Lehrlinge.5 Dabei spielten solche Eigenschaften wie Risikobereit-
schaft, unternehmerische Lust, Organisationstalent eine Rolle - und
nicht das zuvor angehäufte Kapital. Hier müssen auch Kaufleute erwähnt
werden - waren und sind doch die unternehmerische und händlerische
Tätigkeit eng verbunden. In einem geringeren Umfang rekrutierte sich die
Unternehmerschicht auch noch aus den Reihen der Intelligenzija. Der
Adel als Basis für die Rekrutierung der Untemehmerschicht fehlte in
Bulgarien.

5 A ls Beispiel h ie rfü r könnte man T odor Balabanov nennen. Vom l>ehrling und
H ilfs k ra ft eines türkischen Händlers stieg er zum U nternehm er a u f - m it einer
H o lzfa b rik und einer S p iritu sfa b rik.

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112 M. Georgieva

Die Hauptwege, auf denen die Gelder akkumuliert wurden, waren


Wucherei, Handel, Boden- und Immobilienspekulation usw. Hinzu kam
unternehmerische Tätigkeit bei staatlichen Baumaßnahmen und Liefe-
rungen (besonders beim Eisenbahnbau), und hier wird schon die Rolle
des Staates mit seiner Industrieförderungspolitik berührt. Dieser förderte
durch die Zollpolitik und durch spezielle Gesetze, z.T. durch die Steuer-
politik die Fabrikproduktion und damit auch die Industriellen, die Un-
tem ehm er selbst, indem er die unternehmerische Tätigkeit und das
Kapital lenkte und günstige Marktbedingungen schuf. Andere Wege für
die Geldakkumulation waren der Schwarzhandel und die Spekulation
während der Kriege - das Geld wurde anschließend zum Teil in die Pro-
duktion investiert.
Im großen und ganzen existierten völlig andere Ausgangsbedingungen
bei der Rekrutierung und Formierung der Schicht der Unternehmer in
Bulgarien im Vergleich zu Westeuropa, und sogar im Vergleich zu einigen
südosteuropäischen Staaten wie Rumänien oder Serbien, ganz zu
schweigen von den südslawischen Gebieten Österreich-Ungarns. Die Un-
temehmerschicht war sehr dünn, häufig ohne unternehmerische Her-
kunft und nie adeliger Abstammung. Es handelte sich also um die erste
bis zweite Generation Unternehmer. Sie waren kapitalarm und in den
ersten Jahren nicht immer speziell für das Geschäft ausgebildet - dies
änderte sich erst in den zwanziger und dreißiger Jahren. Die Untemeh-
merschaft in Bulgarien startete also mit ungünstigen Ausgangsbedingun-
gen und das allein ist schon ein Anzeichen dafür, daß sie sich nur langsam
und mühsam als soziale Schicht emanzipieren und ihren Platz in Gesell-
schaft und Politik finden konnte.

Die Frage nach der Wechselbeziehung Staat - Unternehmer


Kommen wir nun zum Spannungsfeld ‫״‬ Wirtschaft - Politik“ auf dem
Balkan. Dies ist ein sehr interessantes Forschungsobjekt, weil in der Re-
gion viele ,Abweichungen“ vom westlichen Entwicklungsmodell zu beob-
achten sind. Man könnte gar von anderen spezifischen Merkmalen,
Strukturen und manchmal auch Phänomenen sprechen. Diese unter-
schiedlichen Rahmenbedingungen haben zur Folge, daß auch die Figur
des Händlers bzw. des Unternehmers auf dem Balkan in einer wesentlich
anderen Beziehung zu Staat und Politik steht als in Westeuropa.

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Wirtschaftselite in Bulgarien 1878-1941 113

Wenn wir an die politische Betätigung des bulgarischen Unternehmers


denken, dann fallen uns gleich zwei unterschiedliche Typen politischen
Benehmens des bulgarischen Unternehmers auf. Zum einen der Typ ‫״‬ Baj
Ganjo“ (hier verwenden wir den Namen von Baj Ganjo in keinem Falle als
Symbol eines Teils der bulgarischen Unternehmer, sondern als Typ von
Benehmen, als Einheit von Charakteristiken, als eine ‫״‬ Einheit von
unsympatischen Zügen“, die erstens in der Literatur unterschiedlich
interpretiert worden sind und zweitens in keinem Falle speziell für den
bulgarischen Unternehmer und nur für ihn typisch waren.) und zum
anderen haben wir die sehr dünne Schicht von Bankiers, Unternehmern
sowie Staatsbeamten, Ministern, Staatsmännern, Wirtschaftswissen-
schaftlern europäischer Prägung. Diese beiden Typen waren während der
ganzen Periode zu treffen. Manchmal tendierte ein Teil von ihnen zum
Populismus und der andere zu Formen der formalen Modernisierung.
Beide Typen waren von der Umschichtung der traditionellen Gesell-
schaftsstrukturen und damit von Konstruktionsprozessen einer bürgerli-
chen Gesellschaft betroffen, in der die Untemehmerschicht ihre Rolle
spielen sollte. Es ist aber ebenso klar, daß erstens diese Veränderungen in
der Region sehr langsam verliefen, und daß zweitens die dünne Schicht
der Unternehmer, Bankiers und Kaufleute, in ihrer Mehrheit einerseits
Träger einer bäuerlich-traditionellen Mentalität und des Provinzialismus
waren und andererseits die Züge des Quasistadtlebens und, in seltenen
Fällen, sogar der Modernität zur Schau trugen. Und eben diese Charake-
ristik des Unternehmers als Mischfigur der alten und der neuen Zeit
prägte den Verlauf und das Resultat der Modernisierungsversuche in
Bulgarien.
Was die politische Betätigung dieser Schicht betrifft, läßt sich kon-
statieren, daß von den Unternehmern (wenigstens vom zweiten Flügel)
versucht wurde, als Vertreter des Liberalismus, Parlamentarismus und
Pluralismus zu handeln. Wie wir aber wissen, wurde aus dem Liberalis-
mus staatliche Förderung und Lenkung der Wirtschaft; aus dem Paria-
mentarismus nur eine schwache parlamentarische Demokratie mit
Parteienvielfalt anstatt Pluralismus. Das demokratische System wurde
zudem sehr leicht und oft von undemokratischen, autoritären Regimen
außer Kraft gesetzt. Die Traditionalisten verdrehten die Prinzipien der
Modernisierung; den westeuropäisch orientierten ‫״‬ M odemisierem“ ge-

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114 Л/. Georgieva

lang es nicht, diese Prinzipien als akzeptabel für die ganze Gesellschaft
durchzusetzen.6 Die Gründe dafür müssen wir nicht zuletzt in der Figur,
in der unternehmerischen Aktivität dieses Personenkreises, in den Bezie-
hungen innerhalb dieser sozialen Gruppe und im politischen Handeln
und Benehmen der Wirtschaftselite suchen.
Was die Figur des Unternehmers betraf, so konnte sich der bulgari-
sehe Unternehmer nicht leicht von seiner patriarchalen Welt entfernen,
er konnte die engen Grenzen dieser Welt nicht leicht überwinden. Für ihn
war das große, risikoreiche Unterfangen eher untypisch. Sein Denken war
voll Aberglauben und Fatalismus. In seinem Bereich, der wirtschaftlichen
Aktivität, zeichneten ihn unrationelle Betriebsführung und Verwendung
veralteter technischer Ausrüstungen ebenso aus wie vorkapitalistische
Arbeitsethik und Mangel an Disziplin. Erst in der Zwischenkriegszeit
fanden sich Beispiele für modern organisierte und geführte Untemeh-
men, deren Leiter zudem entsprechend ausgebildet waren, und in denen
auch neue Technologien und Arbeitsmethoden eingeführt wurden. In den
meisten Fällen gingen diese Neuerungen allerdings auf den Einfluß aus-
ländischer Unternehmer bzw. Experten zurück.
Dies alles hatte seine Gründe in den wirtschaftlichen und sozio-kul-
turellen Gegebenheiten der Region, die sich von denen in Westeuropa
unterschieden sowie z.T. in den verspäteten Modernisierungsprozessen.
So wie der Bauer in Südosteuropa nicht nur bis zur Mitte des Jahrhun-
derts, sondern bis heute kein Farmer geworden ist, so ist auch der Unter-
nehmer kein businessman geworden, sondern vielmehr ein gešefiar -
vom deutschen Wort ‫״‬ Geschäft“, aber im Sinne von ‫״‬ dunklen Geschäf-
ten“. Im gleichen Maße, wie der Unternehmer zu keinem Bourgeois
wurde, blieb auch die Gesellschaft von einer bürgerlichen Gesellschaft
entfernt.
Dieser Umstand wird nicht nur durch die Figur des Unternehmers,
sondern auch durch die Beziehungen innerhalb dieser Gruppe und das
politische Engagement des Unternehmers illustriert. Sie unterschieden
sich nicht von den für den Balkanraum spezifischen sozialen Beziehun­

6 Sundhaussen, H .: In s titu tio n e n und in s titu tio n e lle r W andel in den B alkan-
ländern aus historischer Perspektive, in : Papalekas, J . (H g.): In s titu tio n e n und
in s titu tio n e lle r W andel in Südosteuropa. M ünchen 1994 (= Südosteuropa-
Jahrbuch. 25), S.51 f.

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W irtschaftselite in Bulgarien 1878-1941 П5

gen, die von familiären, Sippen- und Klan-Banden geprägt waren. Diese
Beziehungen wurden in den meisten Fällen auch in die politische Aktivi-
tat des Unternehmers hineingetragen. Was etwa das politische Engage-
ment der Unternehmer betraf, so waren die Unternehmer in verschiedene
Parteien gespalten, die der Clan- oder Interessengemeinschaft sehr nahe
standen.
Während der ganzen Periode galt keine der vielen Parteien aus-
schließlich als Partei der Industriellen und der Finanzkreise. In der Zeit
vor dem Ersten Weltkrieg entstammten die Anhänger der beiden Zweige
der Liberalen Partei, der Progressiv-Liberalen Partei (ihre Mitglieder
waren vor allem mit dem Binnenmarkt verbundene Kaufleute, Industri-
elle, Handwerker), aber auch der Demokratischen Partei P. Karavelovs
der Kleinbourgeoisie sowie dem Handel und der Industrie. Ähnliches galt
für die Narodna Partija (‫״‬ Volkspartei“), die eher konservative Kreise,
einen Teil der Großhändler, Industriellen und Wucherer mit engen Bezie-
hungen nach Frankreich um sich scharte. Die Nationalliberale Partei
Radoslavovs wird in der Literatur als Partei eines anderen Teils des Han-
dels- und Unternehmenskapitals mit Verbindungen zum deutschen und
österreichischen Kapital erwähnt.
Die Charakterisierung des politischen Lebens in Bulgarien als
Scheinpluralismus ist insofern treffend, als die Parteienvielfalt aus der
Bindung bestimmter Personen bzw. Personenkreise an einzelne Parteien
resultierte. Die verschiedenen Gruppen von Unternehmern in den jeweili-
gen Parteien konkurrierten untereinander. Für sie war es wichtig, ihr
Streben nach Macht zu befriedigen, aber nicht etwa, um politische Pro-
gramme, sondern vielmehr um ihre spezifischen Gruppeninteressen
durchzusetzen. Dies gilt auch für die Zwischenkriegszeit, als die Demo-
kratische Partei und die ‫״‬ Demokratische Eintracht“ (Demokratičeski
Sgovor) als die Parteien der Großbourgeoisie angesehen wurden.
Wie effektiv aber waren die Organisationen der Unternehmer und die
politischen Parteien, wie wirksam ihre Beteiligung an der Macht? Wel-
chen öffentlichen Druck konnten diese Organisationen ausüben? Einige
Beispiele, etwa von der Beteiligung und Durchsetzung der Interessen der
Industriellen bei der Steuerung der Wirtschaftspolitik sowie bei der Eta-
blierung undemokratischer Regime, sollen das Verhalten der Untemeh-
merschaft in der Politik illustrieren.

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116 M. Georgieva

So gelang es Kreisen von Großindustriellen um die regierende


‫״‬Demokratische Eintracht“ in den zwanziger Jah ren , den Zollprotektio-
nismus und die Privilegien der Industrieförderungsgesetze bis zum Ende
des Jahrzehnts zu bewahren. Sie waren Anhänger des Industrieprotektio-
nismus, nicht weil sie Anhänger des Protektionism us gewesen wären,
sondern vielmehr, weil der gesetzliche Schutz der Industrie die Förderung
der Produktion und direkte Privilegien bedeutete. Diese M aßnahmen
• •

wurden unter dem Zeichen der ‫״‬W irtschaftsprosperität“ und der ‫״‬Uber-
windung der Rückständigkeit“ durchgeführt, was zur gesellschaftlichen
Akzeptanz dieser Politik jenseits der Regierenden beitrug. Auch unter
anderen Regierungen, unabhängig davon, ob es sich um parlam entarisch-
demokratische oder autoritäre Regime handelte, gelang es den Kreisen
der Industriellen und Finanziers, die persönlich m it den Regierenden und
den machthabenden Zentren verbunden waren bzw. direkt an der Macht
teilhatten, ihre Interessen durchzusetzen.
Die Durchsetzung von engen G ruppeninteressen führte in der Zwi-
schenkriegszeit zu Erscheinungen, die von den Zeitgenossen als
‫״‬Überindustrialisierung“ und ‫״‬parasitäre Industrien“ bezeichnet worden
sind, zur Liquidierung der Konkurrenz und des Geistes der Rationalisie-
rung der Wirtschaft, zu Opfern der ganzen W irtschaft in Namen der ge-
förderten Zweige, Unternehm en und U nternehm er.
Ein Beispiel für diese Verzahnung von U ntem ehm erinteressen und
Politik war die Zollpolitik. Aus Angst, daß die Gültigkeit des Förderungs-
gesetzes nicht verlängert wird, forderten die V ertreter der alten Branchen
(Mehl-, Bier-, Leder- und W olltextilproduzenten) hohe Schutzzölle. Bei
den neuen Industrien im Bereich der M etallproduktion und -Verarbeitung
sowie bei der Baumwolltextilproduktion war das Argument die Schaffung
von guten Ausgangsbedingungen für diese Industriezweige. Auf diese
Weise sollten soziale Gegensätze zwischen den V ertretern der beiden
Gruppen vermieden werden, da wegen der sozialpolitisch schwierigen
Nachkriegssituation die Elite konsolidiert werden m ußte. Vergleichbare
Motive standen auch hinter den Veränderungen des Förderungsgesetzes
im Jahre 1928, wobei es interessant ist, daß die Industrie- und Handels-
kam m em sich gegen die neuen und gegen die kleineren U nternehm en
stellten, deren Interessen sie eigentlich hätten verteidigen sollen. Das
Resultat war der für die W irtschaft schädliche Ü berprotektionism us.

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Wirtschaftselite in Bulgarien 1878-1941 117

Dank des Protektionism us und anderer Regieningsmaßnahmen war der


Preisverfall der industriellen im Vergleich zu den landwirtschaftlichen
Erzeugnissen w ährend der Weltwirtschaftskrise weniger dramatisch. Das
bedeutete weniger Verluste für die Industriellen im Vergleich zu den Pro-
duzierenden auf dem Lande.
Ein weiteres Beispiel für die Durchsetzung der Interessen einer
Gruppe von Industriellen in einigen Branchen sei hier noch erwähnt:
Hinter den Apellen der Großindustriellen in der zweiten Hälfte der zwan-
ziger bis zur zweiten Hälfte der dreißiger Jahre nach Rationalisierung der
Industrie und Herabsetzung der Zölle verbarg sich ihr Kampf mit kleine-
ren Konkurrenten, weil deren Produktion ohne staatlichen Schutz nicht
hätte existieren können. Die Kreise der Großindustriellen, die die Demo-
kratische Partei unterstützten oder ihr angehörten (der Industriellen ver-
band in Zusam m enarbeit mit dem ‫״‬Volksblock“) die Herabsetzung der
Zölle und die Annulierung der gesetzlichen Vorteile durchsetzen, weil sie
auch die politische Macht dazu besaßen. Von den Industriellen um die
Nationalliberale und die Radikale Partei wurde dies als gegen ihre Inter-
essen gerichtete Politik gesehen. Hier zeigt sich, daß die industriellen
Kreise sich keineswegs einig waren - sie sind gespalten in neu und alt, in
groß und klein. Profitieren konnten nur jene, die der Regierung nahe
standen.
•ф

Ähnlich verhielt es sich mit der Steuerpolitik, die vor allem die Indu-
striellen begünstigte. Bei einigen Steuern, z. B. auf Gesellschaften und
Einkommen, fielen die Steuersätze für Industrielle geringer aus als für
Kaufleute. Zudem wurden nach einem Gesetz vom Juli 1925 die reinve-
stierten Summen in der Industrieproduktion nicht besteuert.
Das Regime der ‫״‬Ü berproduktion“ in einigen Branchen führte zur
Annulierung der Begünstigungen für bestimmte Zweige, aber es verbot
auch die G ründung von neuen Unternehmen in diesen Zweigen - also
neue Verbote für die Konkurrenz.
Zwei Punkte sind an diesen Beispielen bemerkenswert:
Nicht Theorien oder volkswirtschaftliche Interessen waren bei der
Steuerung der staatlichen Wirtschaftspolitik zu respektieren, sondern
vielmehr enge Gruppeninteressen, wenn etwa die Unternehm er Staatspo-
litik und Volkswirtschaft als Profitquelle betrachteten. In diesem Fall
wurden die M odemisierungsversuche des Staates akzeptiert, weil sie hohe

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118 M. Georgieva

Profite versprachen. Der politische Druck der U nternehm er erwies sich


als effektiv, was ihre eigene Interessen betraf; im Hinblick auf den
volkswirtschaftlichen Nutzen aber, der zugunsten von persönlichen und
Gruppeninteressen, von politischen Zwecken und von den Imperativen
der Zeit in den Hintergrund gedrängt wurde, erwies sich diese Politik als
schädlich.
Darüber hinaus gelang es nicht allen, sondern nur einem Teil der
Unternehm er, von dieser Politik zu profitieren. Die besseren Positionen
an der Macht (oder in ihrer Nähe) im Vergleich zu den anderen in- und
ausländischen Produzenten bedeutete für sie höhere Profite.
Es scheint ein Charakteristikum der U ntem ehm erschicht hinsichtlich
ihrer Einstellung zur Macht und Politik in Bulgarien und Südosteuropa
zu sein: Man strebt nach engen Beziehungen zu Prominenten, zur Macht
- und das gilt heute noch. Der U nternehm er ist bestrebt, nicht n u r sein
Geschäft zu haben, sondern auch der Macht nahe zu stehen. Diese
Anziehungskraft der Macht, ist mit dem hohen Grad an Sicherheit, den
die Macht gibt, sowie mit den zusätzlichen Profitmöglichkeiten verbun-
den. In einem armen Land, mit kleinen M odernisierungschancen, mit
geringen Kapital-, Human- und anderen Ressourcen, mit geringen Ex-
portchancen und begrenztem Binnenmarkt, sind die Möglichkeiten für
ein profitbringendes Geschäft viel enger mit staatlicher Förderung und
anderen Formen der Staatshilfe verbunden als in Westeuropa. Und weil
der Staat, die Regierenden, nicht allen geschäftlichen Kreisen behilflich
sein können, ist das Bestreben der meisten von ihnen, sich in der Nähe
der Macht zu befinden verständlich, um so die Möglichkeit zu haben, sich
zu bereichern - auf Kosten der anderen Schichten der Bevölkerung. Es
geht hier also um die typische Beteiligung an der Macht als Quelle von
geschäftlichen Vorteilen. Das erklärt auch viele Charakteristika der Indu-
striellen und auch anderer sozialer Gruppen und der politischen Kultur in
Bulgarien wie z.B. den Konformismus oder die Beteiligung ein und der-
selben Person in unterschiedlichen Parteien oder Formierungen mit dem
Ziel, immer an der Macht zu sein. Ebenso erklärt es auch die Bildung von
Klans und Netzwerken an der Spitze der Verwaltung usw. zur Sicherung
des Erfolgs von Unternehmen.
Die Nähe zur Macht zu suchen hat aber auch noch einen anderen
Sinn: Typisch für alle Einsteiger ist das Streben nach Ansehen, guten

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Wirtschaftselite in Bulgarien 1878-1941 119

sozialen und politische Positionen sowie, wenn möglich, Auszeichnungen


und W ürden. Das ist besonders für die Gruppe der U nternehm er des Typs
‫״‬Baj Ganjo“ kennzeichnend.
Im Gegensatz dazu waren die modern denkenden Unternehm er eher
an der Beteiligung an spezialisierten Organisationen wie Industrie- und
Handelskammern interessiert. Von den erforschten 150 bekannten Indu-
striellen in Bulgarien in der Zeit 1878-1945 waren nur 7 Abgeordnete im
Parlament; unter den ungefähr 40 W irtschaftsministern waren nur 7
Industrielle oder Bankiers.
Außer der politischen Beteiligung sind hier auch die Berufs- bzw.
Branchenorganisationen zu erwähnen. Weil die soziale Differenzierung
nach der Befreiung wenig vorangeschritten war, war auch die W ahmeh-
mung der U nternehm er als separate Schicht nur rudim entär ausgebildet.
Daher entstanden erst nach und nach Berufsvereinigungen. 1894 wurden
die ersten Industrie- und Handelskammern in den größeren Städten ge-
gründet. Später kamen Verbände und Vereinigungen nach Branchen
hinzu: Industrielle, Händler, ‫״‬U nternehm er“, die Wirtschaftsvereinigung
usw. Diese Organisationen waren allerdings zunächst schwach und unbe-
deutend. Allmählich aber begannen sie, zunächst auf kommunaler Ebene
und seit den zwanziger Jahren auch auf Staatsebene, ihre Brancheninter-
essen zu verteidigen. Erst seit dieser Zeit konnten sie sich leistungsfähiger
an der Förderung des Einflusses der Untem ehmerkreise auf Verwaltung
und Politik beteiligen.
Bezüglich dieser Beispiele sei aber folgendes hinzugefügt: Es wäre zu
einfach und einseitig, hier die Rolle der staatlichen Wirtschaftspolitik nur
als eine Funktion von Geschäftsinteressen der Bourgeoisie oder nur eines
Teils davon zu betrachten. Im Vergleich zu W esteuropa besaß der Staat
zwar eine geringere, aber trotzdem eine gewisse Autonomie gegenüber
dom inanten gesellschaftlichen Interessen. Zweitens sollte immer auch die
andere Richtung der Wechselbeziehung zwischen Unternehm er und Staat
berücksichtigt werden. Der Staat, die staatliche Politik spiegelt in großem
Umfang gewisse Interessen einiger Gruppen wider; gleichzeitig prägt aber
der Staat diese Gruppen und Schichten. Sie sind vom Staat abhängig. Und
hier sollte die Rolle des Staates als kompensatorischer Faktor für die
mangelnden Elemente der Marktwirtschaft erwähnt werden: Der Staat
sichert und akkum uliert Kapital, er investiert in strategischen Bereichen,

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120 Ai. Georgieva

er schafft günstige M arktbedingungen für den U nternehm er usw. In die-


sem Sinne wurde der Staat nicht n u r in Bulgarien, sondern in ganz Süd-
Osteuropa zu einer unterstützenden Einrichtung fü r die potenziellen
M odemisierungskräfte, die U nternehm er; in m anchen Fällen tra t er we-
gen deren Schwäche gar an ihre Stelle.
Wenn wir von der Beziehung U n tern eh m er-S taat bzw. U nternehm er-
Politik sprechen, müssen wir auch das Problem U ntem ehm erkreise bzw.
W irtschaftselite und die undem okratischen bzw. autoritären Regime
erw ähnen. In diesem Zusam m enhang stellt sich eine Reihe von Fragen:
Inwieweit war die U nternehm erschaft an den Transform ationen der
Macht und an der Gestaltung des politischen Systems beteiligt? W ar sie
ein Gegner, ein Träger, ein Sym patisant der autoritären Regime? Inwie-
fern war diese Schicht verantwortlich für die Etablierung dieser Regime?
W enn wir diese Fragen stellen, denken wir zuerst an das veraltete
Schema, wonach in Bulgarien seit 1923 der Faschismus als Macht der
Großindustriellen und Finanziers regierte. An diesem Bild sind schon
Korrekturen angebracht worden: Zum einen ist in den letzten Jah ren der
Zeitpunkt der Etablierung nichtdem okratischer Regime in die dreißiger
Jah re verschoben worden und zum anderen bezeichnet man heute die
Regime als ‫״‬autoritär“ und nicht als ‫״‬m onarchofaschistisch“. Wie verhält
es sich aber mit der Rolle der Bourgeoisie? Es sind zwar keine speziellen
U ntersuchungen gemacht worden, die die Beteiligung oder den Wider-
stand dieser Klasse und der unterschiedlichen Gruppen in ihren Reihen
zum Gegenstand haben, aber man kann schon in diesem Forschungssta-
dium zu ihrer Rolle einige Aussagen treffen:
W ährend der autoritären Wellen stand in Bulgarien keine Person-
lichkeit aus der politischen und wirtschaftlichen Elite an der Spitze des
Regimes, und dies, obwohl Ideen für ein elitäres Regiment relativ weit
verbreitet waren.
Für ganz Südosteuropa und überhaupt für die kleinen Länder war
typisch, daß sich die Elite, und ‫״‬die Massen“ kaum an autoritären oder
faschistischen Bewegungen beteiligten. Insofern ein Teil der Elite
(darunter die Wirtschaftselite) zur D iktatur tendierte, sah sie hierin eine
Möglichkeit zur Schaffung einer stabilen Macht und kom petenter Füh-
rung mit elitärem Charakter, die den Kapitalismus retten und die Krise
bewältigen konnte. Deswegen gingen die Anhänger der antidem okrati-

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W irtschaftselite in Bulgarien 1878-1941 121

sehen Bewegungen oder Regime nicht selten sogar aus den alten und
traditionellen M achtgruppen hervor, die die Rettung des Staates aus dem
Chaos propagierten.7 So etablierten sich in Bulgarien die beiden
‫״‬autoritären“ Wellen in den Jah ren tiefer sozialer, politischer und morali-
scher Krisen. Die Idee für eine ‫״‬grundlegende Veränderung“ in Richtung
Stabilität und Prosperität schien einen Ausweg aus der Situation zu bie-
ten. Das war der Grund, w arum auch in den traditionellen dem okrati-
sehen Kreisen elitäre bzw. autoritäre Ideen Fuß fassen konnten. Zudem
standen einige V ertreter des Banken- und Finanzkapitals aus den Kreisen
der ‫״‬W irtschaftsentwicklung AG“ hinter der Organisation und
Finanzierung verschiedener Aktivitäten wie z.B. der Zeitung ‫״‬Slovo“ der
‫״‬Volkseintracht“ (Naroden bzw. Demokratičeski Sgovor). Auch nach der
M achtübernahm e der ‫״‬Volkseintracht“ wurde die Regierung von der
genannten Aktiengesellschaft finanziell unterstützt - bis zum Jah re 1925.
Das Regime fand auch eine gewisse ökonomische und soziale U nterstüt-
zung durch einen bedeutenden Teil der G roßunternehm er und Bankiers,
aus dem Umfeld der Demokratischen Partei und der Vereinigten Volks-
progressiven Partei, die zudem mit mächtigen internationalen Kapital-
gruppierungen verbunden waren.
Ein anderer Teil der W irtschafselite nicht nur Bulgariens, sondern
auch der anderen südosteuropäischen Staaten gehörte zu den Gegnern
der Diktatur. Dabei entsprach die Abgrenzungslinie zwischen den Anhän-
gern und den Feinden der D iktatur unter der Wirtschaftselite der Linie
zwischen persönlichen Kontakten zum Hof und dem mit ihm verbünde-
nen Militär- und Bürokratiekreisen einerseits und den Anhängern des
Regimes andererseits.
Was die Beziehung der autoritären Regime zu den Vertretern der
Großwirtschaft betraf, so waren die Regime und die faschistischen Bewe-
gungen bestrebt, sich einerseits der U nterstützung dieser Machtelite zu
versichern; andererseits aber sahen sie in dieser Elite eine Stütze des de-
m okratisch-parlam entarischen Systems und versuchten sie deshalb von
der Macht auszuschließen. So kam es, daß einige Gruppen dieser Elite in

Tham er, H . IT.: Faschismus, N ationalism us, A u to ritä re Regime, in : A u to ritä re


Regime in O stm itteleu ropa 1919-1944, hg. v. E. O berländer et. al. M ainz 1995,
S.15.

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122 M. Georgieva

den Machtkomplex einbezogen w urden, w ährend andere ausgeschlossen


wurden.
Eingedenk des Ziels der Regime au f dem Balkan, das System n u r zu
verbessern und zu sanieren, nicht aber zu zerstören, war im großen und
ganzen auch die Sicherung der M achtposition d er traditionellen Eliten
und der Mangel an Bestrebungen verständlich, neue Massenbewegungen
zu schaffen.

Z u sa m m e n fa ssu n g
Nachdem wir die Größe der U nternehm erschaft und ihre Stellung in Staat
und Politik betrachtet haben, stehen wir jetzt vor der Aufgabe, die Rolle
d er U nternehm erschaft zu bewerten. Dabei m üssen wir zuerst den Fragen
nach der Rolle der U nternehm er in der Gesellschaft und bei der Gestal-
tung der sozialen Prozesse nachgehen.
Wie sah die U nternehm erschaft als soziale Gruppe aus? Entwickelten
sich die U nternehm er zu einer sozialen Gruppe und später zu einer
‫״‬Klasse“ mit innerem Zusam m enhalt, eigener Lebenswelt und Lebensstil,
gemeinsamen Interessen und mit der Notwendigkeit zum politischen
Handeln zur Verteidigung und Durchsetzung dieser Interessen? Entwik-
kelte sich die U nternehm erschaft zu einer Elite, zur W irtschaftselite, mit-
hin zu einer Schicht von Personen im Zentrum der Macht, die die
politischen Entscheidungen trifft? Ü bernahm sie ihre ‫״‬natürliche“ Rolle,
die wirtschaftliche Entwicklung und die sozialen Prozesse zu gestalten? In
diesem Zusammenhang muß auch die Frage nach der Wechselbeziehung
U nternehm er oder W irtschaftselite einerseits und M odernisierung ande-
rerseits gestellt werden.
Hinsichtlich des ersten Problemenkreises läßt sich behaupten, daß
sich eine Art ‫״‬Bourgeoisie“ und die uns hier interessierende neue Wirt-
schaftselite (U nternehm er, Bankiers usw.) im Laufe der letzten Jah r-
zehnte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Ja h rh u n d e rts nur langsam
und allmählich konstituieren konnten. Sie waren dem nach im sozialen,
politischen und wirtschaftlichen Leben präsent. Ob die bloße Präsenz
aber ein Zeichen eines vollendeten Prozesses der Form ierung einer bür-
gerlich-industriellen Gesellschaft war, ist allerdings fraglich. In der bulga-
rischenen Historiographie spricht man von städtischer und ländlicher
Bourgeoisie und bürgerlichen Kreisen schon seit dem 19. Jah rh u n d e rt wie

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Wirtschaftselite in Bulgarien 1878-1941 123

auch von industrieller Revolution, von einer kapitalistischen Entwick-


lungsphase ohne vorkapitalistische Überbleibsel während der Zwischen-
kriegszeit. Neuerdings setzt sich aber die Meinung durch, daß man von
einer Bourgeoisie als ‫״‬Klasse“ oder von einer bürgerlichen Gesellschaft bis
zur Mitte des 20. Jah rh u n d erts kaum sprechen kann, und wenn, dann
n u r in Ansätzen.8 Betrachtet man die politische Betätigung der Unter-
nehm erkreise, kann man von Scheinpluralismus sprechen, meint man die
Parteien, kann man sie vielleicht besser als Interessengruppen und das
Bürgertum als Scheinbürgertum bezeichnen. Man könnte daher auch von
einem Defizit an Bürgerlichkeit sprechen.
Bis zu einem gewissen Grad kann man die Ursachen für die Etablie-
rung der autoritären Regime eben in dieser Charakteristik der politischen
Kultur (hier im Sinne eines pluralistisch-demokratischen Systems) in der
ganzen Region suchen. Es mangelte an m oderner politischer Kultur im
echten Sinne des W ortes bzw. an politischer Kultur, die charakteristisch
für die bürgerliche Gesellschaft war. Woran es nicht mangelte waren Eie-
m ente der politischen Kultur, die typisch sind für vorkapitalistische, pa-
tem alistische Strukturen wie Klientelismus und Korruption. Daran
änderte auch die Existenz von Institutionen wie Verfassung oder Geset-
zen nichts. Die tragenden Kräfte in der Gesellschaft (auch die U ntem eh-
merschicht gehört hierher) sind besonders wichtig: Fehlen sie oder haben
sie nicht den Willen oder sind sie nicht vorbereitet, ein parlamentarisch-
dem okratisches System zu organisieren und die Rechtsordnung zu re-
spektieren bzw. die gesetzlichen Normen nach den bürgerlich
dem okratischen Normen zu verwirklichen - und genau dies war der Fall
in Bulgarien - so kom m t es zu bescheidenen Resultaten beim Aufbau
eines bürgerlichen, parlam entarisch-dem okratischen Systems oder gar
zur völligen Abkehr vom ‫״‬bürgerlichen“ politischen System und zur Er-
richtung von autoritären Regimen.
Betrachtet man politische Kultur im politilogischen Sinn des Wortes
als politische Aktivität der Eliten, als ein Normensystem, das die Bezie-
hung des Individuum s zum politischen Objekt zeigt und seine Beteiligung

8 Sundhaussen, H .: R ückkehr in die Vergangenheit oder A ufbruch in die Zu-


ku n ft: Versuch einer Zwischenbilanz fü r die Balkanländer, in : Südosteuropa zu
Beginn d e r neunziger Jahre. Reformen, Krisen und K onflikte in den vorm als
sozialistischen Staaten, hg. v. H . Sundhaussen. B e rlin 1993, S.216.

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124 M. Georgieva

am politischen Prozeß leistet, so zeigt sich, daß dieser Lernprozeß auch in


Bulgarien in Angriff genommen wurde. Gleichwohl setzte dieser Prozeß
sehr spät ein; er verlief auch überaus langsam. Bis zum Zweiten Weltkrieg
hatten Elemente der traditionellen, parochialen Kultur durchaus Be-
stand: schwach differenzierte politische Rollen und schwach ausge-
drückte Interessen, manchmal durch Abneigung gegenüber dem Staat
gekennzeichnet. Zugleich gab es vom Ende des 19. Jah rh u n d erts bis zur
Mitte des 20. Jahrhunderts eine eher passive Beteiligung am politischen
Leben mit geringen Anteilen einer Partizipationskultur.
Die Gründe hierfür lagen zum einen in der durch die historische
Entwicklung unterbrochenen Beziehung zwischen Individuum und politi-
scher Aktivität. Zum anderen bildeten sich n u r vorläufige Modelle dieser
Beziehungen, die ständigen turbulenten Ereignissen unterzogen waren
und zudem unter dem Schatten eines Im perium s standen, das sich im
Bewußtsein der Bulgaren widerspiegelte: Entfrem dung, Pragmatismus
(aber nicht im Sinne von Rationalität, sondern als O pportunism us bzw.
Egoismus), Konformismus, Fatalismus, Klientelismus, politischer Nihi-
lismus und Konservatismus sowie mangelnde Toleranz. Gesellschaftliche
Beziehungen bildeten sich in erster Linie auf dem Prinzip der Abstam-
mungs- bzw. Regionalverwandtschaften heraus, weniger nach Standes-
oder Branchenzugehörigkeit. Nur m ühsam entwickelte sich eine Stadt-
kultur, die jedoch oft nur quasistädtischen C harakter erreichte. Bis 1940
lassen sich kaum Veränderungen in der politischen Kultur der gesell-
schaftlichen Schlüsselgruppen beobachten. Der bulgarische U nternehm er
wurde nicht zum echten Homo politicus, obwohl er schon seine ersten
Schritte erfolgreich gemacht hatte. Die politische Kultur besaß nur
scheinbar die Formen der bürgerlichen und politischen Beteiligung. Da-
mit entfernte sich diese Kultur von ihren w esteuropäischen Vorbildern
der rationalen Beteiligungskultur.
Aber konnte sich unter diesen Bedingungen die U nternehm erschaft zu
einer Elite, zu einer W irtschaftselite entwickeln? Übernahm sie ihre
‫״‬natürliche“ Rolle, die wirtschaftliche Entwicklung und die sozialen Pro-
zesse zu gestalten?
Versteht man die beschriebene Figur des U nternehm ers, seine politi-
sehe Betätigung und professionelle Organisation als ein Symbol für den
Stand und die Reife der gesamten Gesellschaft, würde das bedeuten, daß

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W irtschaftselite in Bulgarien 1878-1941 125

eine geschlossene, traditionalistische, provinzielle, rückständige und


arm e Gesellschaft kaum U nternehm er europäischer Prägung hervorbrin-
gen konnte; ‫״‬m oderne“ U nternehm er waren unter diesen Umständen
eher eine Ausnahm e von dieser Regel. Andersherum könnte man sagen
sagen: Wie der U nternehm er - so die Gesellschaft und das würde heißen:
Weder in der Zeit der nationalen ‫״‬Wiedergeburt“ noch in den folgenden
Jahrzehnten verfügte Bulgarien über eine genügend ausgebildete und
reiche unternehm erische und kaufmännische Schicht. Und eben dies
hatte Folgen für die Gestaltung der Prozesse vor und nach der Gründung
des Staates: Die Abwesenheit einer führenden Schicht im Bereich der
W irtschaft mit ausreichendem Potential und einem Bewußtsein für ihre
Rolle in der Gesellschaft verlangsamte zusätzlich die soziale Transforma-
tion und die wirtschaftliche Entwicklung.
Die Rolle des Initiators und Organisators der Umgestaltungsprozesse
während der ‫״‬nationalen W iedergeburt“ hatte anstelle der kaum existie-
renden Bourgeoisie und der Besitzerkreise die Intelligenz übernommen -
zunächst als Kompensator. Später, nach der Gründung des Staates re-
krutierte sich ein großer Teil der regierenden Elite und der Wirtschafts-
elite aus den Reihen der Intelligenzija; man denke hier nur an die
sogenannten Parlam ente der Professoren; oder die Handelsminister, die
ihres Berufs nach Journalisten, oder Rechtsanwälte waren usw. Dieses
Phänomen - die Intelligenzija übernim m t die Rolle der Bourgeoisie - ist
übrigens bis zum heutigen Tage in fast allen osteuropäischen bzw. post-
sozialistischen Staaten zu beobachten. Als weiterer Kompensationsfaktor
für die dünne U nternehm erschicht und auch für andere fehlende Moder-
nisierungsfaktoren kann in diesem Zusammenhang der Staat gelten.
Die M odernisierung hatte fördernde, in gewissem Maße aber auch
hem mende Auswirkungen^ für die Rekrutierung, Struktur und Funktio-
nen der Eliten. Fördernde Auswirkungen insofern, als sie die gesellschaft-
liehe und wirtschaftliche Transformation beschleunigte (und damit auch
die Prozesse der Herausbildung dieser Schicht); hemmende Effekte, weil
sie umfangreiche Anpassungsfähigkeiten erforderte und zu dementspre-

9 Gross, M .: Die R olle der E liten in der M odernisierung N ordkroatiens von den
fünfziger bis zu den achtziger Jahren des 19. Jhs, in: Gesellschaft, P o litik und
V erw altung in d e r H absburgerm onarchie 1830-1928, hg. v. F. G latz u. R. M el-
v ille . B udapest/S tuttgart 1987., S. 106.

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126 Aí. Georgieva

chenden Schwierigkeiten führte. Nur solche Gruppen konnten gute


M odem isierungschancen haben und sie ausnutzen, die sich schon auf
dem Wege der Umwandlung befanden. In Bulgarien gab es solche Grup-
pen nicht. Die bulgarische U nternehm erschaft besaß recht geringe Mo-
dem isierungschancen. Und selbst diese geringen Chancen w urden in
vollem Umfang von der Wirtschafselite genutzt. H ier stellt sich die Frage,
inwieweit die Modernisierung den Einstieg dieser Schichten aus der
‫״‬W iedergeburtszeit“ - Intelligenzija, Handwerker, Kaufleute, Fabrikanten
- in die kapitalistische W irtschaft ermöglichte. Wie schon erw ähnt, ist
das nicht allen gleich gut gelungen. Viele Angehörige der alten Eliten
wurden ruiniert, viele der neuen Reichen, besonders au f dem Lande und
die W ucherer, übernahm en nur langsam und nicht in vollem Umfang die
neuen Produktionsform en und M ethoden. Die M ehrzahl konnte sich
überhaupt nicht anpassen.
Die U ntem eh merschicht versuchte m odernisierend zu wirken. Diese
Versuche waren aber erstens einseitig, etwa im Bereich der Eisenbahn-
bauten, aber auch der Verwaltung und der gesetzlichen Institutionen. Die
anderen W irtschaftsbereiche aber wurden vernachlässigt. Man ging nur
langsam dazu über, die Wuchergelder und H andelsreichtüm er als akku-
m uliertes Kapital zu betrachten, das in U nternehm en investiert wurde.
Lange Zeit war der ‫״‬take-off‘ in die Industrialisierung und d er endgültige
D urchbruch d er kapitalistischen Produktionsweise nicht abzusehen. Und
zweitens führten die Denkweise und das geringe Ausbildungsniveau in
Kombination mit dem Kapitalmangel dazu, daß veraltete technische Aus-
rüstung verwendet wurde, U nternehm en oft unrationell organisiert wur-
den und nicht im m er die volle Produktionskapazität erreichen konnten
sowie Qualitätsverbesserungen nicht angestrebt w urden. Die geringe Zahl
von U nternehm ern europäischer Prägung konnte kaum zu einer generel-
len Richtungsänderung beitragen.
Nur im Falle, daß die W irtschaftselite schon einen gewissen M odemi-
sierungsstand erreicht hatte, konnte es möglich sein, daß sie die M odemi-
sierungswellen in ihrem Interesse nutzen konnte. Das war aber in
Bulgarien bis zum Ende der untersuchten Periode fast nicht der Fall - die
Zeit war zu knapp. Zwar konnte diese Elite die Prozesse des gesellschaftli-
chen und wirtschaftlichen Wandels verhältnism äßig erfolgreich in ihrem
eigenen Interesse, aber viel uneffektiver im Interesse eines allgemeinen

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W irtschaftselite in Bulgarien 1878-1941 127

W irtschaftw achstum s ausnutzen und steuern - und das hätte zu den


wichtigsten sozialen Funktionen dieser Schicht gehört. Und dam it wird
die These der marxistischen Historiographie, daß die Regierungen
‫״‬Regierungen der Bourgeoisie“ gewesen seien und in deren Interessen
handelten, widerlegt. Es ist wahr, daß die industriellen Kreise, Kaufleute
und Bankiers nach gesellschaftlicher Dominanz strebten; es ist aber auch
wahr, daß ihnen dafür die wirtschaftliche und kulturelle Grundlage fehlte.
Die U nternehm er fungierten nur bedingt als Wirtschaftselite; gleich-
zeitig funktionierte diese Elite n u r bedingt als Stütze einer Zivilgesell-
schaft. Es gab sowohl traditionalistisch orientierte Schichten, als auch
moderne, westeuropäisch orientierte. Erstere strebten nicht nach echter
M odernisierung, sondern pervertierten sie oder erfüllten sie mit Pseudo-
inhalt oder Populismus. Die ‫״‬m odernen“ Unternehm er übernahm en mei-
stens die formale Modernisierung: Sie waren gut ausgebildet, waren
Verfechter des Liberalismus und der Demokratie, im portierten moderne
Maschinen und Technologien. Aber es gelang der Unternehmerschaft
nicht, die Moderne als ganzes in eine sozioökonomische Realität zu
überführen und alle Symbole des Modernen in gesellschaftseigene um-
zuwandeln, sie m ithin fü r die Bevölkerungsmehrheit verständlich und
akzeptabel zu machen und auf diese Weise die Gesellschaft mit all ihren
Strukturen und Beziehungen in eine bürgerlich-demokratische Gesell-
schaft zu transform ieren. Dazu mangelte es an Verständnis für die eigene
soziale Rolle, an Verständnis für die Rolle der Beteiligung an Institutio-
nen, die entweder zu passiv ausfiel oder als Pfründen gesehen wurden.
Ihnen gelang es nicht, in den Unternehmen neue Produktionsdisziplin,
Rationalität und Arbeitsethik einzuführen und in Gesellschaft und Politik
solche Institutionen und Beziehungen zu schaffen, die ihre Interessen als
soziale Gruppe, und nicht als konkurrierende Gruppen schützten. Eben-
sowenig dienten sie als Vermittler zwischen Bürger und Staat, um auf
diese Weise autonom und nicht als Verlängerung der Staatsautorität zu
agieren. Es gelang ihnen auch nicht, eine Partizipationskultur zu entwik-
kein und die traditionalen, patriarchalen Politikbeziehungen zu überwin-
den. Es bestand eine Kluft zwischen ihnen und der sich n u r langsam
anpassenden M ehrheit der bäuerlichen Bevölkerung.
Hätte eine solchermaßen skizzierte Figur eines Unternehm ers zu einer
W irtschaftselite westeuropäischer Prägung werden können? H ätte sie die

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128 Aí. Georgieva

Gesellschaft dominieren (erinnern wir uns n u r an die geringe Zahl


U nternehm er in den Organen der legislativen u n d exekutiven Macht) und
die Rolle eines Transform ateurs der vorm odem en Gesellschaft unter-
nehm en können? Gemeint ist hier ihre gleichsam ‫״‬natürliche“ Rolle, um
ihre ‫״‬Mission“, als Vorreiter der sozialen, politischen und wirtschaftlichen
Prozesse aufzutreten, sei es im Kampf um die Befreiung vor 1878, sei es in
den sich anschließenden M odem isierungsbem ühungen. W enn wir in ihre
geringe Anzahl, ihre M entalität und politische Kultur sowie die mangeln-
den wirtschaftlichen und anderen Grundlagen in Betracht ziehen, so kann
man nicht um hin, den U nternehm ern diese Möglichkeiten abzusprechen.
Daß die U ntem eh merschicht nicht bereit und auch nicht fähig war,
schnell und stark genug als M odem isierungsfaktor aufzutreten, zeigte
sich auch in den nicht langsamen und wenig erfolgreich verlaufenden
Transform ationsprozessen in der bulgarischen Gesellschaft und Wirt-
schaft.

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Party Elites in Serbia 1903-1914:
Their Role, Style o f Ruling, Way of Thinking

Dubravka Stojanovic

Political elites in predom inantly agrarian societies, such as the Balkan


societies at th e beginning of the 20th century, play an exceptionally im-
portant and even simple role. In societies without aristocracy, industry
and major capital - where th e middle class consists of civil servants, offi-
cers and m erchants - political elites are also the social and intellectual
elite. Advantages as well as lim itations derive from this fact. Due to these
social circum stances political elites, and even politics, become the gen-
erators of m odernization, th e motivating force of an otherwise rather
inert society, and creators of basic developmental assumptions. Such
undifferentiated, m ulti-functional political elites, without a counter-bal-
ance in another area (culture, society , economy) breed societies which are
prisoners of politics, where politics seems to define all relations - from
economic to private. The significant role of the political elite in Southeast
European societies makes it an extremely im portant subject for historical
analysis. This is tru e particularly because the slow development of these
societies during th e 19th and 20th centuries rendered possible a continu-
ity of power, which unfortunately has helped to perpetrate some major
problems. Therefore, th e results of this historical analysis are strikingly
similar to those obtained in my study of th e present-day party elites in
Serbia.
Irrespective of m utual political differences, there are many similarities
in the social origins of members of the party elites in Serbia at the
beginning of th e 20th century. Their social profile shows th at Serbian
political party leaders at the tu rn of the century were mainly people who
came from small Serbian towns, which had retained pronounced Balkan-
Ottom an characteristics, who went on to earn highest academic titles at

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130 D. Stojanovió

W estern universities, and who were mainly intellectuals or m embers of


the free professions. As the best educated stratum of the population, in-
tellectuals naturally entered politics.1 This political engagement eclipsed
their o th er professional activities and led many to see their political acti-
vity as a mission. This lent an especially emotional tone to political debate
and lower tolerance for political difference.
Educated at W estern universities, party leaders brought m odem
political concepts to Serbia. This created a paradoxical situation where
political thought and the institutional and legal foundations of the
Serbian state were much more modem than the society itself, which was
only slowly abandoning its profoundly agrarian and patriarchal pattem .
In addition to writing books, these intellectuals/politicians also started
theoretical-legal, political and literary journals, based on th e highest
European standards.2 Aside from records of parliam entary debates, these
journals are perhaps th e best proof th at Serbian politicians were compe-
tently and sovereignly familiar with and open to the new political
doctrines of th e tim e, and th at they possessed very precise knowledge
about th e norm ative aspect of their political ideal - parliam entary
democracy.
After the coup in 1903, when a group of military conspirators liqui-
dated the last m embers of the Obrenovic dynasty, Serbian political lead-
ers had th e opportunity to implement their theoretical knowledge. The
new king, Petar Karadordevic, was elected by the National Assembly after
th e liberal constitution of 1888 was reinstated. This act confirmed that
the center of political life in the ‫״‬new age“ had shifted from the court to
th e parliam ent. The constitution on which this new parliam entary mon-
archy was founded in 1903 was modelled after the Belgian constitution
and recognized the principles of traditional constitutional m onarchy .3

1 See also: Perovic, Latinka: N aućnik i p o litic a r: Jovan Žujovic. P rilog prouca-
vanju srpske e lite [S cientist and P o liticia n : Jovan Žujovic. A C o n trib u tio n to
the S tudy o f the Serbian E lite ], in : T okovi is to rije 1 - 2 ,1992, p p .5 5-67.
2 See: S rpski kn jiže vn i glasnik, Delo, A rh iv za pravne i društvene пайке,
N e d e ljn i pregled, Glas prava, sudstva i adm inistracije.
3 See: Popovié-O bradovié, О.: Parlam entarizam и K ra lje vin i S rb iji 1903-1914
[P arlam entarism in the Kingdom o f Serbia, M anuscript o f the d o cto ra l thesis].
Belgrade 1996.

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Party Elites in Serbia 1903-IQI4 131

The new political system was the work of the western educated political
elites and is th e best proof of their modernizing desires.
With th e introduction of parliamentarism, organized parties became
the main political factor in Serbia. However, with almost balanced power,
neither the ruling parties nor the opposition could establish a stable par-
liam entary majority‫ ׳‬and this became one of the biggest obstacles for the
development of parliamentarism and even of political modernization in
Serbia. U nstable governments (18 within 11 years) and violent party con-
flicts opened the scope of political influence of the king and a group of
military‫ ׳‬conspirators who brought him to power. This practically reduced
the power of parliam ent and forced the non-institutional resolution of
many im portant government problems.*
In addition to these obstacles, the political system in Serbia was
shaped under th e influence of many other internal and traditional factors.
Their profound impact brought the newly-established system into the
historic continuity of Serbian political development. Under-developed
liberal traditions, disregard for political culture, lack of tolerance, a
,,surplus of party fanaticism and unscrupulousness“5, old models of po-
liticai behavior and specific perceptions of the state prevented the new
institutions from fully assuming modem contents.6 Political mentality,
custom s and political philosophy established through historic develop-
ment adjusted the parliamentary‫ ׳‬system to Serbian environm ent as much
as they alienated it from its original principles. Party elites, on the one

4 A bout the re lations between the King and the conspirators see: Ž ivo jin o vic, D.:
K ra lj Petar I Karadordevic. Belgrade 1990, pp.199-244 and 315-340. Analyses
show th a t by the end o f this period it wasn’t only the m a tte r o f the arm y in flu -
enee on p o litic s , b u t an open fig h t fo r dominance. Cf. M itro v ic , A .: S rbija и
Prvom svetskom ra tu [Serbia in W o rld W ar I]. Belgrad 1984, p p .3 9 -4 0 ;
Batkovic, D.: Sukob vo jn ih i c iv iln ih vla sti и S rb iji u proleće 1914 [C o n flict bet-
ween M ilita ry and C iv il A u th o ritie s in Serbia in the spring o f 1913], in : Isto -
rijs k i časopis X X IX -X X X , 1982-1983.
5 Jovanovic, S.: D vodom ni sistem [The bicam eral System ], in : Sabrana dela
[C ollected W orks], 2. Belgrade 1990, p.270.
6 Com pare: Popovic-O bradovic, O.: D em okrātijā и S rb iji [Dem ocracy in Serbia],
in : О D em okrātijā [O n Democracy], Belgrade 1995, pp.171-186. By the same
au thor: Osnovne prepreke p o litičko j m odernizaciji и S rb iji pośle 1903 godine
[Fundam ental Obstacles to P olitical M odernization in Serbia a fte r 1903], in :
T okovi is to rije , 1-2,1994, pp.49-53.

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132 D. Stojanovič

hand th e driving force behind political m odernization, became its most


visible barrier.
Such a situation was th e consequence of th e specific process of plu-
ralization, one of the main assum ptions of political m odernization. Plura-
lization in Serbia after 1903 did not occur as the th e expression of interest
differentiation within society, bu t rath er as th e result of cleavages in the
until-then-dom inant Radical Party. The relationship between Radicals
and Independents almost entirely defined all political relations in Serbia.
The search for a coherent party identity, shifts in th e form erly nearly-
m onolithic electorate, recomposition of th e political scene, and changes in
th e balance of power made this process as fierce as if it were th e ‫״‬final
showdown“, with em otions stirred to a point more appropiate between
fighting families than between political rivals.
The Independent Radicals, who founded th eir own political party to-
wards th e end of 1904, were responsible for this bitterness in political
relations. Ideological differences between th e two radical parties were
negligible, so th a t their search for a party identity relied more on critisism
of others th an on shaping th eir own program . It appears th a t th e most
significant characteristic of these two political groups in Serbia was the
attitude tow ard the other party rath er than an actual articulation of a
political alternative. The conflict between the Radicals and Independents
is th e key to the com prehension of relations between party elites, because
it m ost explicitly shows th e essence of their political behavior and under-
standing of politics.
The People’s Radical Party was founded in 1881 as a broad popular
movement with ideological roots in Svetozar Markovic’s narodnicheski
socialism. The Radicals aimed to establish a people’s state, in contrast to a
state of law.7 To carry out such a program it was necessary to establish a
broad popular movement, fully-centralized and subject to firm discipline.
The idea was to come to power and then perm eate th e entire state with
the movem ent and th u s essentially transform th e people’s state into the
party state. Equally im portant for the party were slogans which identified
it with its uncontested leader, Nikola Paśić (‫״‬Paśić belongs to us, we be-
long to him “), and those which identified it with th e entire people

7 Perovic, L.: S rpski s o c ija lis ti 19. veka [S erbian S ocialists in the 19th C entury],
Belgrade 1995, p.122.

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Party Elites in Serbia 19 0 3 -19 14 133

(‫״‬Radical Party and Serbian people are one“). This program established a
specific feeling between the leader, party and people which was closer to
patriarchal sensibility than to civil rationalism.
The party evolved over time. It adopted a liberal interpretation of
constitutionality and inclined tow ards parliam entarism , making a major
step away from th e people’s state concept. The English parliam entary
pattern, which they most frequently m entioned as their model, was quite
opposed to economic egalitarianism and political self-government, their
main principles in 1881. However, when the separation of the Independ-
ent wing and th e attendant loss of nearly half of th e electorate jeopard-
ized their almost unlim ited rule, it became obvious th a t their political
behavior patterns had not changed much. It turned out th a t opting for
parliam entarism had not represented their m aturity and their own mod-
ernization, bu t rath er had been th e consequence of the fact th at since
they held nearly 90% of the seats in parliam ent (after th e 1903 elections),
their power could have been seriously restricted by any institutional
boundaries. The Radical leaders’ political behavior after 1905 dem on-
strated th at their perception of parliam entarism did not necessarily imply
its main assum ption - political pluralism. Evidence for this may be found
in their rhetoric, their attitude toward elections, and in instances of po-
liticai violence.
The Radicals’ rhetoric shows th at they continued to perceive their
party as an all-people’s movement rather than as one of many political
options. It naturally follows th at they understood the separation of the
Independent Party as a ‫״‬schism in the Serbian people“8, as ‫״‬evil and mis-
fortune“.? Proceeding from the idea that ‫״‬enemies of th e Radical Party are
enemies of Serbia“10, in their party papers and parliam entary speeches
they proclaimed th a t other parties, in particular the Independents, were

8 Perovic, L.: N iko la Pasié - pism a, cianci i govori [N ik o la Pasié - le tte rs ,


A rticle s and Speeches]. Belgrade 1995, p.17.
9 Shorthand notes fro m the N atio nal Assem bly (S N N A ), I, Belgrade 1905,
pp.115-118.
10 ‫״‬Pred izbore“ [B efore the elections], in : Samouprava, 9 June 1905.

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134 D. Stojanovič

‫״‬evil for th e people“11 and act ‫״‬against vital interests of th e fatherland“.12


This not only m eant th at the Radical Party was th e only representative of
people’s interest, but th at political pluralism was evil in itself because, as
they used to say, ‫״‬Serbia needs unanim ity more th a n ever to be able to
face to serious forthcom ing challenges while ‘independent’ Serbian papers
try to obstruct it on its way“.^
In th e Radical’s rhetoric, the motive of ‫״‬treason“ had a function be-
yond discrediting political opponents. In the new political situation, Radi-
cal leaders w anted to return to the idea of their party as th e em anation of
th e people’s will.•4 They tried to raise th eir party above politics and con-
crete problem s and th u s show th at their opinion was not ju st a political
stand, but an articulation of a general tru th . From such a stand followed
an attitude tow ards th e parliam entary minority, which saw th e minority
not as a constituent elem ent of parliam entary s y s t e m ^ , but, as th e leader
of th e independent radicals Ljuba Davidovic often said, as ‫״‬enemies of
this country, against whom any instrum ent was acceptable.“16 This was
most visible during parliam entary elections, for which we have evidence
of breaches of voting confidentiality, disorderly election lists which al-
lowed m anipulation with the num ber of voters, corruption, and direct

11 ‫״‬O dgovor na ispravku nekoliko kragujevackih sam ostalaca“ [Response to the


co rre ctio n suggested by several Independents fro m Kragujevac], in : Samo-
uprava, 19 M arch 1905.
12 ‫״‬O poziciona stam pa“ [The opposition press], in : Sam ouprava, 12 A p ril 1905;
‫ ״‬Bas tako vajna braco“ [Ju st lik e that, so-called b ro th e rs], ibidem , 20 M ay
1905; ‫״‬I opet tv rd im o “ [W e claim , once again], ib id em , 23 M ay 1905; ‫״‬Ко ra d i
u interesu S rbije“ [W ho w orks in the in te re st o f S erbia], ibidem , 27 M ay 1905;
‫״‬P rijatelska reč“ [A frie n d ly w o rd ], ibidem , 10 June 1905; see also Pašic’s
speeches: 14 O ctober 1905; 9 December 1905; 9 O ctober 1906; 17 December
1907; 24 M arch 1908, in : N ikola Pašic и N arodnoj S kupštini.
13 ‫״‬O poziciona stam pa“ [The opposition press], in : Sam ouprava, 12 A p ril 1905.
14 The R adical P arty as an expression o f the ‫״‬people’s w ill“ see: ‫״‬Ко ra d i и in te -
resu S rbije“ [W ho w orks in the inte rest o f S erbia], in : Sam ouprava, 27 M ay
1905; Pasic’s speeches in the N ational Assem bly: 24 M arch 1908; 4 June 1907;
28 January 1908; 3 M arch 1908; 14 M arch 1908; 8 M arch 1908, in : N ikola
Pasié и N arodnoj S kupštini.
15 See P arliam ent sessions: 1 December 1903; 14 December 1903; 20 M arch
1907; 20 December 1907, in : N ikola Pašic и N arodnoj S kupštini.
16 SNNA, E x tra o rd in a ry session 1906, p.113.

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Party Elites in Serbia 1903-1914 135

pressures on voters by the police and municipal authorities.‘? The huge


influence of municipal authorities on the elections is witnessed by the fact
that prior to elections th e party in power used to replace civil servants in
accordance with th e party‫ ׳‬needs, and that the party which organized
elections won all five elections in this period. This refers above all to the
Radicals who were in power throughout the period under consideration,
with th e exception of a one-year term in 1905-1906, when the Independ-
ents won th e elections, which they carried out instead of the Radicals
after th e King’s intervention. The most drastic examples of the denial of
pluralism are certainly th e instances of physical violence against political
rivals. The best known case is the m urder of the Novakovic brothers,
officers who were strong opponents of military conspirators. They were
killed in prison, in th e presence of the Radical interior minister. Though
the courts later proclaimed him guilty, the Radical majority in the parlia-
ment cast a vote of confidence in his favor.
With such behavior, the party in power showed th a t it did not perceive
politics as a way of channeling and mitigating social conflicts, but as a
skill for the sake of th e skill, cunning and violence. It was an authoritarian
concept of rule, which viewed tolerance as weakness and pluralism as its
enemy. Social and political conflicts were pushed out of the system ’s
institutions, reducing th e possibility of compromise and widening the
scope of non-institutional and open conflict. That is why in Serbia, in
response to th e ‫״‬dictatorship of the majority“, opposition parties, above
all the Independents, justified the use of all means, mentioning repeatedly
even revolution.18 Open confrontation as a way of conflict resolution is
typical of pre-m odem societies in which stagnation in a series of semi-
emergency situations slows down development.‘9

17 For details o f election irre g u la ritie s see: Popovic-O bradovic, O.: Parlam en-
tarizam и K ra lje v in i S rb iji 1903-1914 [P arlam entarism in the Kingdom o f Ser-
bia, M a n u scrip t o f the doctoral thesis]. Belgrade 1996.
18 SNNA, 1906-1907, p.269; Ib id ., 1907-1908, II, p.193; Ib id ., 1910-1911, p.32;
O djek, 28 February 1908; 3 /4 M arch 1908, cited a fte r Popovic-O bradovic, O.:
D em okrātijā и S rb iji, p.173.
19 M arkovié, P.: T heory o f M odernization and its a p p lica tion on the In te rn a r
Yugoslavia and Belgrade, in : Serbia in M odernization processes o f the 20th
century. Belgrade 1994, p.436.

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136 D. Stojanovié

Born of the same circumstances, th e Independents, at least until 1906,


were only the other side of the sam e model. Insufficiently ideologically
differentiated from their parent organization, th e Radicals, the In-
dependent Radical Party developed its identity‫ ׳‬by accusing Pašic’s
Radicals of abandoning th e original party program, th u s presenting
themselves as the only authentic advocates of radicalism. It seemed th at
these men who had studied in France wanted to annul the development
which occurred in the Radical Party, to return to its narodnicheski roots
and to enhance the collectivist and patriarchal com ponents in the party
policy. However, subsequent development showed th at it was only in the
initial phase in search of th e party profile, in which the Independents -
typical of dissidents - tried to present themselves to the electorate as
orthodox and thus emotionally attach th e voters to themselves.20
This is evidenced by th e campaign pursued against th e Radicals in
1905 and 1906, at the tim e when th e political scene in Serbia was devel-
oping. In their 4-page party paper Odjek (‫״‬Echo“) three pages were de-
voted to attacks on Radicals. An analysis of these texts shows th at the
Independents, attacking m ethods employed by Radicals in inter-party
confrontations, acted in an almost identical m anner. Although they ac-
cused the leaders of the Radical Party of ‫״‬inventing treason theories“,21
they themselves used this motive frequently in confrontations with the
others. In doing this, they did not only write about the betrayal of party
principles,22 but also about th e betrayal of the ‫״‬reputation and interests of
their fatherland“2‫ ’׳‬by the Radicals and other opposition parties, not

20 On relations between the Radicals and the Independents, see: Jovanovic, S.:
R adikal! i sam ostalci [R adicals and Independents], in : Sabrana delà, X I,
p p .5 33-53 6; Popovic-O bradovic, О.: О ideološkom p ro filu Radikala i
Samostalaca и S rb iji 1903-1914 [O n the ideological p rofiles o f the Radicals
and the Independents in Serbia 1903-1914], in : T okovi is to rije , 1-2 , 1 9 9 4 >
PP-5 9 - 7 6 .
21 ‫״‬Dva Stojana“ [Tw o S tojans], in : O djek, 23 M arch 1905.
22 See: ‫״‬Pred organizaciju“ [B efore getting organized], in : O djek, 9 M arch 1905;
‫״‬Fuzionaške navike“ [F u sio n ist h a bits], ibidem , 5 A ugust 1905
23 ‫״‬Nasa opoziciona stam pa“ [The opposition press o f th is co u n try], in : O djek, 30
J u ly 1905.

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Party Elites in Serbia 190 3-1914 137

hesitating to rem ind their readers th a t the Radicals’ ‫״‬mockery“ with poli-
tics is ‫״‬well paid.“2*
In addition to such direct accusations of political rivals, their texts
contained overt personal insults. In response to the continuous accusa-
tions by the Radicals th at the Independents, because of the generation
gap, were im m ature, frivolous political ‫״‬brats“, who were playing govern-
m ent ,25 the Independents restorted th at the leaders of the original party
were ‫״‬feeble old men, who no longer know what they are doing“26 that
their main attributes were ‫״‬old-age spiritual exhaustion“ and ‫״‬old-age
nervousness“.27 But, insults were sometimes much more drastic. Thus,
while the Radicals wrote in Samouprava (‫״‬The Self-Rule“) that many
among the Independents ‫״‬do not know what a family is, because they
have neither a wife nor children, they don’t even have a kitten or puppy,
as the saying goes, and hence do not know what honor and dignity are“28,
their former party-m ates wrote th at being in th e company of Radicals
means ‫״‬getting over th e threshold of a damp, dark and stuffy‫ ־‬cave, full of
poisonous gasses, swarming with innum erable disgusting and slimy
creatures “ .29
What is interesting is that th e Independents behaved towards other
opposition parties in th e same way th at the Radicals acted towards them,
using as accusations what had already been used against them. Thus, one
of the main criteria in party confrontations was political background.
Background as a political criterion was first used by the Radicals in rela-

2* ‫ ״‬Ко je otpadnik“ [W ho is the renegade?], in: O djek, 19 M arch 1905; Pred


organizaciju“ [B efore getting organized], ibidem , 9 M arch 1905; ‫״‬Fuzionaške
navike“ [F usionist h a bits], ibidem , 5 A ugust 1905.
25 See ‫״‬Bas tako vajna braco“ [Just lik e that, so-called broth ers], in : Samouprava,
20 M ay 1905; ‫״‬Ко ste vi?“ [W ho are you?], ibidem , 30 May 1905; ‫״‬Samostalski
program i kobni zajam “ [The I ndependents’s program and the disastrous
loam ], ibidem , 7 J u ly 1905; ‫״‬Iz greha и greh“ [F ro m sin to s in ], ib id ., 2 August
1905.
26 ‫״‬Fuzionaśi na prvom koraku“ [The firs t step o f the fusionists], in : O djek, 3
M arch 1905.
27 ‫״‬Po naprednjački“ [In the Progressivists’ m anner], in : Odjek, 27 J u ly 1905.
28 ‫״‬O djekovcim a“ [T o the Echoists], in: Sam ouprava, 2 August 1905.
29 ‫״‬Klevetnicim a oko Samouprave“ [T o the L ib e llists around the The Self-R ule],
in: O djek, 21 M ay 1905.

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138 D. Stojanovič

tion to the Progressive and People’s Parties, the ruling parties in the pre-
vious Obrenovic period. In relation to th e parties of the form er regime, an
alm ost post-revolutionary relationship was established after 1903, which
enabled the winning Radicals to get even with the parties which had been
in power under the Obrenovic dynasty. This created divisions between
Radicals and non-Radicals which outlived the split of the Radical Party
and survived until 1912, when the Independents finally made an alliance
with the rest of the opposition, eliminating the form er divisions.3° This
division between Radicals and non-Radicals, which existed for more than
thirty years, irrespective of dram atic changes in Serbia within this period,
shows th at the behavior of the political parties, which did not want to
overcome traditional divisions and in th e new conditions build new, more
m odern relationships, aggravated the stagnant political situation. It was
also responsible for the inertia of the electorate, which was already insuf-
ficiently mobile due to social conditions, hindering regular change in
power.
The other type of division ‫״‬by background“ started with the separation
of th e Independent from the original Radical Party. Radicals then started
to emphasize their background, their struggle for political freedoms in
Serbia, their sacrifices^1even stressing th a t the history of the party was at
th e same time its p r o g r a m .32 They wanted thus to discredit the
Independents as a party w ithout a past, without roots, and hence without
future. On the other hand, Independents implemented a similar method,
often ridiculing old Radicals for their excessive insistence on the past and
accusing them of doing this only because they had no other choice.33
Promoting themselves as people with an immaculate past, they accused
th e Radicals of succumbing to the ‫״‬absolutist Obrenovic regime“,

3° Popovic-O bradovic, O.: P olitičke stranke i izb o ri..., p.344.


3* See N. Pašic’s speeches: 20 Novem ber 1906; 7 February 1907; 13 M arch 1907;
24 M arch 1908; 17 M arch 1911, in : N ikola Pašic и N arodnoj S kupštini;
‫״‬N ekoliko kragujevackih samostalaca“ , in : Samouprava, 19 M arch 1905; ‫״‬Ко
ste vi?“ , ib id ., 30 M ay 1905; ‫״‬Ne odbraniste se“ [You have not defended yo u r-
selves], ib id ., 16 June 1905; ‫״‬Deseti ju li“ [J u li lo th ], ib id ., 6 J u n i 1905; ‫״‬Iz
greha и greh“ , ib id ., 2 August 1905.
32 N ikola Pašic’s speech on 13 M arch 1907, in : N ikola Pašic и N arodnoj S kupštini.
33 ‫״‬K levetnicim a око sam ouprave“ , in : O djek, 21 M arch 1905; ‫״‬N jihova prošlost!“
[T h e ir past!], ib id ., 31 M arch 1905.

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Party Elites in Serbia 1903-1914 139

reminding them in almost every issue of their paper of unpleasant details


which proved th at the Radicals were corrupt, unscrupulous and lacking in
principles.
Personal accusations set the tone for the entire political life, making it
an arena for wild political passions. Although this created the impression
th a t politics was the main occupation of society - which is why such
societies are often called political societies - there was in fact very little
that was ‫״‬political“ in these politics. They remained dimmed by personal
conflicts and skirmishes, which seemed to become an end in themselves,
pressing all essential problems to background. It appeared to contem po-
raries, that politics remained neglected, subordinate to rhetorical compe-
tition. Some people were even of the opinion that ‫״‬because of party
confrontations the idea of state became almost lost, that the country is
heading into disaster“.34 Such a political mentality certainly ‫״‬ham pered
proper implementation of parliamentarism“ because, as one of th e great-
est Serbian historians Slobodan Jovanovic wrote, ‫״‬such a system implies
pursuing public affairs through discussion, but reasonable and tolerant
discussion, which should, if possible, lead to compromise. In our country,
with our mentality, discussion often turned into personal quarrel, the
topic of discussion became irrelevant and, like in sports matches, the only
thing that m attered was who will outplay whom. Instead of a compro-
mise, where both parties would at least get something, politicians pre-
ferred quarrel, which left both parties beaten and bruised .“35
Such a perception of politics defined the political behavior of the op-
position. After the election in 1906, when it became obvious th at the
electorate had finally swayed towards Nikola Pašič’s Radicals, the Inde-
pendents shifted from verbal insults to more concrete and no less fierce
models of political struggle. To the extent that the Radicals used their
power almost to the limits, the opposition abused its power and liberal
parliamentary rules of procedure in the parliament, obstructing the par-
liament for m onths on end and thus jeopardizing the functioning of the
entire government system. Resorting to the ultimate instrum ents of po-

34 Jovanovic, S.: R adikali i samostalci, p.535.


35 Jovanovic, S.: Jedan p rilo g za proučavanje srpskog nacionalnog karaktéra [A
co n trib u tio n to the study o f the Serbian national character], in: Sabrana dela,
X II, p.581.

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ЦО D. Stojanovié

liticai struggle, both the governm ent and th e opposition paralyzed the
state, hampering even th e voting on th e budget (M arch 1907-April 1908).
All these problems, arising from the traditional understanding of
politics, and even more from th e traditional way of political behavior,
ham pered the full establishm ent of a parliam entary system. The true
reason for this condition was th e discrepancy between institutions and
social foundations. Serbian society at this tim e was predom inantly agrar-
ian, with more than 87 % of th e population poor peasants, only half of
whom owned up to 5 hectares of land. In 1905 craftsm en accounted for
only about 5 % of the total population, little more th an 2 % were mer-
chants, and another 2 % governm ent employees.36 This poorly differenti-
ated society had poorly differentiated interests, so th a t political division
did not occur as the natural and spontaneous articulation of social inter-
ests. Political parties did not emerge as the representatives of certain
parts of society and the advocates of their interests before th e state, but
from the political ideas of their leaders or, more frequently, as the result
of personal animosities within th e close circle of the intellectual elite in
the capital. Small differences and th e absence of social foundations in
political parties forced the political conflict to take place mostly on the
surface, substituting dynamic party strife for actual pluralism .
Hence, political m odernization did not come about as th e consequence
of social development. Rather, it seems th a t in Serbia at th e beginning of
the 20th century it became its prerequisite. It seem s th at th e institutional
and political parliam entary system, with its rules and formal framework,
started to produce modernizing effects and to overcome many traditional
obstacles th at limited it. Strict parliam entary principles forced the
political mentality to gradually adjust, guiding th e participants in the
political competition to change their habits, and gradually even their
understanding of politics. This was shown in 1908 when the election
results did not allow the establishm ent of a hom ogenous Radical govern-
ment.37 Therefore, for th e first tim e after the party split, th e Radical and
Independent Parties form ed a coalition governm ent, which lasted - with

36 Dordevic, D.: Srpsko d ru š tv o ‫ ״‬., p.126.


37 Radicals won 44,1 96, Independents 31,2 96 and the C o a litio n o f the N ationalists
and Progressivists 23,3 96 o f the votes. P opovic-O bradovic O.: Parlam enta-
rizam и K ra lje v in i S rb iji 1903-1914. Belgrade 1996, p.506.

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Party Elites in Serbia 190 3-1914 141

som e changes - until 1911 as the first coalition government in the history
of Serbian parliamentarism.38 The annexation crisis of 1908 forced the
tw o-m em ber coalition to admit ministers from th e National and Progres-
sive Parties into its ranks. This established for the first time the 4-mem-
ber coalition which lasted from February to October 1909. The
experiences with these coalition governments, which the parties were
forced to form because of constitutional rules or foreign threats, contrib-
uted to gradual changes in m utual relations. It turned out that the politi-
cal opponent need not be only an enemy, but could also be a collaborator,
who in some circum stances may help one to retain power. In addition, it
turned out th at pluralization - irrespective of how it came about - re-
suited in political m odernization in Serbia. It definitely prevented the
Radicals from establishing firm and predom inant rule. It forced them,
after th e collapse of th e coalition in 1911, to safeguard their almost mini-
mal majority, among other ways, by a careful attitude towards the oppo-
sition. At the same time, pluralism led to the linking of opposition parties
into a single block before the elections scheduled, but never held, in 1914.
This event definitely halted the traditional division between Radicals and
non-Radicals and rendered possible a modern, political-interest-based
grouping and the stabilization of parliam entaiy rule. It turned out that
the m odernization process begun by party elites through introduction of
parliamentary‫ ׳‬institutions and a liberal constitution in 1903, modernized
the parties and their elites themselves. This proves that the political elites
in agrarian societies serve as the driving force, obstructor and product of
modernization.

8‫נ‬ D ordevic, D.: O brazovanje i raspad viade četvorne koalicije и S rb iji 1909.
godine [F o rm a tio n and d isin te g ra tio n o f the quadruple coa lition in Serbia
1909]. in : Is to rijs k i časopis, X I, i9 6 0 , pp.213-229.

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Politische Eliten und Klientelismus:


Albanien in der Zwischenkriegszeit

Anila Habibi

Die zwei fü r das gesamte Europa turbulenten Jahrzehnte der Zwischen-


kriegszeit waren zugleich die ersten Jah re im Leben des albanischen Na-
tionalstaats. Dieser Staat, gegründet de jure 1913, de fa cto erst 1920,
erstreckte sich auf Teile der in jeder Hinsicht vernachlässigten westlichen
Peripherie des ehemaligen Osmanischen Reiches. Er umfaßte eine Fläche
von ca. 28.000 qkm mit rund 740.000 Einwohnern. Nach Erlangung der
Unabhängigkeit m ußten auf den Trüm m ern der osmanischen Herrschaft
neue politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen errichtet
werden. Bei der U ntersuchung dieser Aufbauprozesse wird zwangsläufig
sehr viel die Rede von wenigen Personen sein. Der Elitenforschung
kommt dabei prim äre Bedeutung zu.
Als Ausgangspunkt des folgenden Beitrags dient die von Politikwis-
senschaftlern erarbeitete und auf Webers Begriff des Patrim onialism us
beruhende Theorie des neo-patrimonialen Staates.1 Nach Weber ist Pa-

1 Kine erste Verw endung des Weberschen Begriffs finden w ir bei R oth,
G uenther: Personal ru le rs h ip , pa trim o n ia lism and em pire b u ild in g in the new
states, in : W o rld P olitics, Bd. 20, 1968, S. 194-203. Es fo lg t W illam e, Jean-
Claude: P a trim o n ia lism and P o litica l Change in the Congo. S tanford 1972. Die
be g rifflich e D ifferenzierung zwischen dem tra d itio n e lle n und heutigen
P atrim onialism us m achte Eisenstadt, S. N.: T ra d itio n a l p a trim o n ia lism and
m odern n e o-p a trim o n ia lism , in : Sage Research Papers. London 1973. W e ite r
Eisenstadt, S. N .; Rokan, Stein (H g.): B u ildin g States and N ations, Bd. 2.
Ixm don 1973, S. 3 8 4 -4 2 6 , Schwartzm ann, Sim on: Back to W eber:
(Corporatism and p a trim o n ia lism in the seventies, in : A u th o rita ria n is m and
C orporatism in Isatin A m erica, hg. v. James M . M alloy. P ittsburg h 1977;
M édard, Jean-François: The Underdeveloped State in T ro p ica l A frica : P o litic a l
C lientelism o r N eopatrim onialism ?, in : Private Patronage and P ublic Power.
P olitica l C lien telism in the M odern State, hg. v. C hristopher Clapham . London
1982, S. 162-193; M it seinem ‫״‬C lie n te lisi State“ m eint Powell eine ‫״‬v a ria tio n

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144 A . Habibi

trim onialism us eine aus den prim ären Typen von Herrschaft
(Gerontokratie und Patriarchalism us) abgeleitete Herrschaftsform. Sie
unterscheidet sich vom prim ären Patriarchalism us durch die Entstehung
eines persönlichen Verwaltungsstabes.2 Der Gegenstand von Obedienz ist
hier die Autorität des Herrschers, die dieser aufgrund seines traditionel-
len Status genießt. Die Person, welche die Herrschaft ausübt, ist kein
Vorgesetzter, sondern ein affektiver Führer. Sein Verwaltungsstab besteht
nicht aus Offiziellen, sondern aus persönlichen Gefolgsleuten, die aus den
Reihen seiner Verwandten, Kameraden, Sklaven oder Klientel stam m en.
Der Stab stützt sich bei der Ausübung von Macht im einfachsten Fall
hauptsächlich auf die personenbezogene Loyalität, kultiviert durch einen
allgemeinen Prozeß der Sozialisation. Auch die Beziehung des Stabes zum
Herrscher wird durch die persönliche, traditionsorientierte Loyalität und
nicht die impersonelle Pflicht gegenüber dem Amt bestim m t. Um die
Interessengemeinschaft zwischen Herrscher und Gefolgschaft unlöslich
zu machen, stützt sich die patrim oniale Herrengewalt auf Sold, Leibwa-
chen und -heere und erweitert so das Ausmaß der Willkür, Gunst und
Gnade auf Kosten der Traditionsgebundenheit .3 Die Essenz des Patrimo-
nialismus kann auf die Idee reduziert werden, daß alle Staatsautorität
und -m acht sowie die dam it verbundenen Rechte dazu neigen, als privat
appropriierte Vorteile behandelt zu werden.4
Im Unterschied zum ursprünglichen Patrim onialismus ist der Neo-
Patrimonialismus ein modernes Phänom en, da er eng mit der Modemi-
sierung verknüpft ist. N eo-patrimoniale Gesellschaften agieren im
Netzwerk m oderner Staaten und sind in das internationale System einbe-
zogen. Sie können sich Im pulsen von außen nicht entziehen und müssen

on W eber’s P atrim on ia l State“ , siehe dazu Powell, J. Duncan: Peasant Society‫׳‬


and C lie n te lisi P olitics, in : Friends, Follow ers and Factions. A Reader in
P o litica l C lientelism , hg. v. Steffen W . S chm idt et. al. Berkeley 1977, S. 147-161.
2 W eber, Max: W irtsch a ft und G esellschaft. G ru n d riß der verstehenden
Soziologie, 5. A u fl., Tübingen 1980, S.133-134.
3 Ib id ., S. 133.
4 M édard, Jean-François: The U nderdeveloped State, S. 178-179.

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Albanien in der Zw ischenkriegszeit 145

ihr traditionelles Herrschaftssystem den veränderten Rahmenbedingun-


gen anpassen .5
Das ‫״‬conceptual framework“ bzw. der Begriff ‫״‬Klientelismus“ bietet
einen guten Ansatz zur Analyse der Eliten in neo-patrim onialen Gesell-
schäften. Er hat, im Gegensatz zu anderen, viel zu abstrakten und schwer
um setzbaren Großtheorien einen ausgeprägten empirischen Charakter.
Dieses weniger anspruchsvolle Modell hilft bei der Untersuchung mikro-
politischer Realitäten. Doch für deren Einordnung in den größeren Rah-
men der Makro-Politik oder der wirtschaftlichen Umwelt benötigt man
w eiterführende theoretische Ansätze, z.B. die Klassentheorie. Wenn der
Klientelismus auf die soziale Ungleichheit hinweist, bezieht er sich auf die
sozialen Klassen, wobei ein scharfer Unterschied zu machen ist zwischen
Klassen als analytische Kategorie und Klassen als Einheiten der politi-
sehen Aktion.6
Beispielsweise kann das Konzept Klientelismus erklären, wie und
warum eindeutig ausgebeutete soziale Gruppen sich nicht organisieren
können, um der Ausbeutung zu entkom m en, und warum das Klassenbe-
wußtsein stärker bei den höheren als bei den unteren Klassen präsent ist.7
Andererseits deckt der Klientelismus eine Reihe von Phänom enen wie
Nepotismus, Tribalism us oder Korruption nicht ab, die mit ihm zum Teil,
weil stark überlappend, identifiziert werden, obwohl sie keineswegs iden-
tisch sind. Aber eines haben diese Kategorien gemeinsam: das Fehlen
einer Trennung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich
beziehungsweise die Privatisierung des öffentlichen Sektors. Sie alle las-
sen sich unter dem Dach des neo-patrim onialen Konzepts subsum ieren,
weil dieses breit genug ist, die verschiedenen Elemente, einschließlich des
Klientelismus, sinnvoll m iteinander zu verknüpfen. Daraus ergeben sich
mehrere Fragen: Welche genaue Proportion hat sich im neo-patrim onia-
len Staat zwischen Nepotismus, Klientelismus, Korruption oder anderen

5 Eisenstadt, S. N .: R evolution and the T ra n sfo rm a tio n o f Societies. New Y ork


1978, S. 276, z itie rt bei: M édard, Jean-François: The Underdeveloped State, S.
179•
6 Clapham , C hristopher: C lientelism and the state in : P rivate Patronage and
Public Power. P o litica l C lientelism in the M odern State, hg. v. C. Clapham.
London 1982, S. 3 1 -3 2 .
7 M édard, Jean-François: The U nderdeveloped State, S. 170-178.

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146 A. НаЬіЪі

Komponenten gebildet? Inwiefern kann eine Gesellschaft (oder Staat) als


klientelistisch, nepotistisch oder tribalistisch bezeichnet werden? Wie
lautet die patrimoniale Formel? Diese Fragen können hier nur angespro-
chen werden; ihre Beantwortung bedarf weiterer Forschung.
Der Klientelismus ist Forschungsobjekt zweier Wissenschaftsrich-
tungen: der Sozialanthropologie und der Politikwissenschaft. Weil beide
Disziplinen das Phänomen in unterschiedlichen Phasen seiner Ausprä-
gung untersuchen, ergeben sich zwei sehr verschiedenartige Definitionen.
Für Anthropologen ist Klientelismus in erster Linie ein zwischen mensch-
liches Verhältnis, das von Verena Burkolter wie folgt definirt wird:
‫״‬Two parties unequal in status, wealth and influence form a dyadic,
particularistic, self-regulating (no formal normative regulations are
needed) relationship of assymmetrical commitment and face-to-
face contact, and legitimated by certain values. The relationship
depends on the formation and maintenance of reciprocity in the
exchange of resources (goods and services) in totalistic terms...
meaning th at none of these resources can be exchanged sepa-
rately.“8
Folgt man Burkolter weiter, bestehen die Verpflichtungen des Patrons
gegenüber dem Klienten aus folgenden Punkten: Er liefert die Basismittel
für die Existenz des Klienten, steht als Versicherung für eventuelle
Existenzkrisen, gibt Schutz in verschiedenen Bereichen, wirkt als
Vermittler (broker) und setzt seinen Einfluß zugunsten seines Schützlings
ein. Die Verpflichtungen des Klienten gegenüber dem Patron sind:
Leistung der Grunddienste und der vom Patron angeordneten Sonder-
dienste, ein loyales Mitglied der Fraktion zu sein, die Bereitschaft, sich für
die Ehre des Patrons einzusetzen, die Selbstverständlichkeit für die Auf-
rechterhaltung des Status-quo und schließlich neue Klienten für den
Patron zu rekrutieren .9
Die Politologen haben den Begriff aus der Anthropologie ausgeliehen,
um dam it eine spezifische Form der M achtausübung zu bezeichnen.
Klientelismus ist also im politikwissenschaftlichen Kontext ein Attribut
des politischen Systems. Es war naheliegend, die Terminologie der An­

8 B urko lter, Verena: The Patronage System. Theoretical Remarks. Basel 1976, S.
7- 8 .
9 Ib id ., S. 9 -1 0 .

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Albanien in der Zwischenkriegszeit 147

thropologen auch für den Prozeß der Integration patrim onialer Gesell-
schäften in nationalpolitische Systeme zu verwenden. Der Staat wurde
dam it zum ‫״‬Patron“ und ‫״‬rekrutierte“ die lokalen Notablen. Die ‫״‬Res-
sourcen“ der letzteren bestanden im Einfluß, den sie auf ihre Domänen-
bauern ausübten. Allgemein formuliert:
‫״‬The study of patronage ... is the analysis of how persons of un-
equal authority, yet linked through ties of interest and friendship,
m anipulate their relationships in order to attain their ends.“10
Oder:
‫״‬Klientelismus ist, zumindest in seinen dauerhaftesten Erschei-
nungen, ein Index für die strukturelle Konfusion zwischen Staat
und Gesellschaft und der mangelnden Institutionalisierung des po-
litischen Systems.“11
Auf eine spezifische Entwicklungsstufe bezogen kann Klientelismus
auch verstanden werden als
‫״‬Analyse der verschiedenen Formen, in welchen die Parteiführer
versuchen, die Institutionen und Ressourcen für eigene Zwecke zu
benutzen, und wie Favorisierungen unterschiedlicher Art gegen
Stimmen ausgetauscht werden.“12
Augenfällig ist, daß sowohl bei anthropologischen wie bei politologi-
sehen Konzipierungen zwei Elemente - Ungleichheit und Tausch - expli-
zit oder implizit immer zugrunde liegen. Klientelismus ist also eine
Interessenbeziehung zwischen Ungleichen. Dadurch unterscheidet er sich
vom Nepotismus, der durchaus ein Verhältnis zwischen Gleichen sein
kann, weil hier primordiale (verwandtschaftliche) Bindungen und nicht
wirtschaftliche Interessen eine konstitutive Rolle spielen (allerdings kön-
nen sich in der Realität beide Erscheinungen überschneiden). Wenn sich
in einem Staat die Praxis des Tauschs unter Verwandten auf mehrere
hundert Personen erstreckt, hat man es mit Tribalismus zu tun.

10 W eingrod, A .: ‫״‬Patrons, patronage and p o litic a l parties, in : Com parative


Studies in Society and H istory‫׳‬, N r. 10 (1968), S. 3 7 7 -4 0 0 , z itie rt nach:
Clapham , C hristopher: C lientelism and the state, a.a.O., S. 4.
11 G raziano, L u ig i: C lientelism o e sistem a p o litico . I l caso d e ll’Ita lia . M ilan o
1980, S. 10.
12 Ders.: Schema concettuale per lo stu d io del clientelism o, in : C lientelism o e
m utam ento p o litico , hg. v. Luigi G raziano. M ilano 1974, S. 12.

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148 A. Habibi

Zum Schluß dieses theoretischen Abschnitts möchte ich darauf ver-


weisen, daß Klientelismus nicht zuletzt auch eine moderne Erscheinung
ist. Vor der Entstehung der neuzeitlichen N ationalstaaten, in welchen
(zum indest spekulativ) die Frage nach der politischen Emanzipation auf-
geworfen wird, kann von Klientelismus als Analysekategorie im politolo-
gischen Sinn keine Rede sein. Weder die verwandtschaftsgeprägten
(Stam m es-) noch die feudalen (oder feudal-ähnlichen) Gesellschaften
sind klientelistische Gesellschaften im engeren, politikwissenschaftlichen
Sinn, obwohl sie viele Komponenten klientelistischer Verhaltensm uster
aufweisen und der Boden sind, auf dem sich diese M uster herausbilden
und später ihre Existenz unter der Marke ‫״‬Klientelismus“ fortführen.
W ährend in traditionellen Gesellschaften diese Prinzipien offen oder gar
stolz proklam iert sowie allgemein akzeptiert wurden, ‫״‬weiß“ der ‫״‬т о -
d em e“ Klientelismus genau, daß er, obschon von jahrhundertealter
••

Überlieferung unterm auert, nicht der offiziellen Moral entspricht.‘3


Angesichts des dürftigen Forschungsstands über die gesellschaftlichen
Verhältnisse in Albanien zu Anfang des 20. Jah rh u n d erts ist es schwierig,
ein vollständiges Bild der Eliten in dieser Zeit zu erstellen. Die albanische
Gesellschaft scheint von zwei Hauptformen der sozialen Organisation
dom iniert worden zu sein: von den Stam m esstrukturen im Norden und
dem Çiftlik-System der Tanzimat-Epoche (vorwiegend) im Süden des
Landes.
Für die nördliche Bergbevölkerung Albaniens (die Ghegen) interes-
sierte sich seit der Jahrhundertw ende eine beachtliche Zahl von Ethno-
graphen‘4, da die dortige Bevölkerung vielleicht die letzte in Europa war,
in der ein tribales, d.h. auf streng verwandtschaftlicher Basis organisiertes
Gemeinschaftssystem, überlebt hatte. Die Mitglieder eines Stammes
führten ihre H erkunft auf ein und denselben Stam m vater zurück und
durften - als Verwandte - nicht untereinander heiraten. Die Konservie-

‘3 G ellner, Ernest: Patrons and clients in : Patrons and C lients in M editerranean


Societies, hg. v. E. G e lln er u. J. W aterbury. London 1977, S. 1-6 .
Besonders erw ähnensw ert sind in diesem Zusamm enhang die Reiseberichte
von M . E. D urham und Baron F. Nopcsa und die Studien der Ita lie n e r
Baldacci, C ordignano, Cozzi und V a le n tin i. Der letztere w ar ein Jesuitenpater
der A nfang des Ja h rh u n d erts von Rom nach A lbanien geschickt w urde um das
G ew ohnheitsrecht zu untersuchen.

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Albanien in der Zwischenkriegszeit 149

rung dieser archaischen Gesellschaftsform war durch eine Reihe von


Faktoren ermöglicht worden:
Aus den praktischen Überlegungen der Hohen Pforte, wie die von
allen Routen abgetrennten, schwer zugänglichen und armen Gebieten des
nordalbanischen Siedlungsraums effizienter in das Osmanische Reich
integriert werden könnten, gewährte man den dortigen Bewohnern die
Selbstverwaltung gegen einen jährlichen Tribut und schuf die Institution
des Bajrak. Letztere wurde vom osmanischen Staat gegen Ende des 17.
Jah rh u n d erts eingeführt und stellte eine autonom e territoriale Verwal-
tungseinheit mit militärischen und rechtlichen Funktionen, auf Basis des
traditionellen Gewohnheitsrechts dar. Anstatt die stets rebellische und
extrem arm e Bergbevölkerung in das allgemeine Timar-System einzube-
ziehen, entschlossen sich die Osmanen, die militärischen Dienste dieser
geborenen Krieger in Anspruch zu nehmen. Nach den Tanzimat-Refor-
men verdingten sich dann die Nordalbaner als Söldner, da Krieg ihr ei-
gentliches Handwerk war. So verharrten sie bis ins 20. Jah rh u n d ert
hinein in Stam m esstrukturen, abgeschirmt durch die für den Staat vor-
teilhafte Institution des Bajrak. Ende des 19. Jahrhunderts existierten in
den zwei nordalbanischen Provinzen, den Vilayets von Shkodra und Ko-
sova, 96 resp. 72 Bajraks mit jeweils 100 bis 1500 H aushalten.«
Das O berhaupt des Bajrak, der Bajraktar (türk. Fahnenträger), hatte
durch seine um fassenden administrativen und kriegerischen Aufgaben
und durch die U nterstützung des osmanischen Staates die vormalige
Stam m esaristokratie weitgehend verdrängt.16 Er hatte eine unum strittene
und erbliche Macht erworben und unterschied sich hinsichtlich seiner
wirtschaftlichen und sozialen Stellung von der übrigen Bevölkerung.
.Ieder neue Bajraktar, der den ‫״‬Posten“ geerbt hatte, stellte sich den Auto-
ritäten des Sandschaks oder Vilayets vor, begleitet von der Führungs-
schicht des Bajrak, um die allgemeine U nterstützung seiner U ntertanen
zu beweisen.1? Die Fahnenträger waren zumeist katholischen, m itunter

'5 IJ lq in i, Kahrem an: B ajraku në organizim in e vjetë r shoqëror. F undi i shek.


X V II d e ri më 1912. T ira n e 1991, S. 2 3 -3 7 .
16 Z ojzi, R rok: ‫״‬M b e tu rin a të re n d it fis n o r në disa m ikrorajone të ve n d it tonë“ ,
in : Konferenca Kom bëtare e Studim eve E tnografike 2 8 -3 0 qershor 1976.
T ira n e 1977, S. 161-181.
17 U lq in i: B ajraku, S. 42.

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150 A. НаЬіЬі

aber auch muslimischen Glaubens. Einige von ihnen, wie z.B. der Mirdi-
ten-“Fürst“18, schufen regelrechte ‫״‬Dynastien“, konzentrierten beträchtli-
che Macht in ihren Händen und wurden zu gewichtigen und einfluß-
reichen Persönlichkeiten im sozialen und politischen Leben der Region.
Der Süden des albanischen Siedlungsraums blieb seinerseits bis tief
ins 20. Jah rh u n d ert hinein in feudalähnlichen Produktionsverhältnissen
geoprägt. 210 0 0 0 ha (55% des bebaubaren Bodens) unterlagen dem Çift-
lik-System.^ 56 287 ha davon gehörten dem osm anischen bzw. nach 1912
dem albanischen Staat, und 13 700 ha waren Vakuf-Eigentum.20 Den
Rest, ca. 140 0 0 0 ha, besaßen private Personen. Mitte des 19. Jahrhun-
derts hatte zwar ein Prozeß der Zersplitterung des Großgrundbesitzes
eingesetzt, aber am Vorabend des Ersten Weltkrieges verfügten die sieben
bis zehn größten Grundbesitzerfamilien noch im m er über ca. die Hälfte
der obengenannten Fläche. Einigen hundert kleinen Besitzern (Agas,
Händlern, Funktionären) gehörte die andere Hälfte, ca. 68 0 0 0 ha. Der
neue Staat übernahm die ererbten Eigentumsverhältnisse und ließ sie im
großen ganzen bis zum Zweiten Weltkrieg unangetastet.21
Die ausschließlich muslimischen Großgrundbesitzer, die ‫״‬Beys“, be-
saßen noch im 20. Jahrhundert absoluten Einfluß auf ihren Domänen.
Sie waren Eigentümer des Landes, das von ihren Bauern (çifçi) in Fronar-
beit bestellt wurde. Der Gutshof mit seinen Ländereien war eine ‫״‬Welt“
für sich, ein eigener (m ehr oder minder abgeschirmter) Schutzraum:

18 Ü ber die Person des M ird ite n fü h re rs Prenk Bib Doda schreibt m it
Begeisterung der Augenzeuge Ekrem Bey V lora in : V lora, E. Bey:
Lebenserinnerungen, Bd. 1. M ünchen 1968, S. 81: ‫״‬Prenk B ib Doda w ar... w eit
davon en tfe rnt, ein grober Bauer zu sein. E r w ar im G egenteil einer der
gebildetsten, hum orvollsten, patriotischsten (sic!) und zugleich realistischsten
und gescheitesten erblichen Feudalherrn des dam aligen A lbaniens.“
19 Ü ber die Entstehung, V erbreitung und In h a lt des Ç iftlik-S ystem s in den
europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches siehe McGowan, Bruce:
Econom ic Life in O ttom an Europe. Taxation, trade and the struggle fo r land,
1600-1800. Cam bridge 1981.
20 V aku f = Eigentum from m er S tiftungen.
21 H isto ria e Shqipërisë, Bd. 3. T irane 1984, S. 6 7 -7 0

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Albanien in der Zwischenkriegszeit 151

‫״‬The law is weak and distant. Only tough men can survive the
ruthlessness of th e struggle. The landlord who is weak loses all he
has...“22
U nter den U m ständen einerfeudalähnlichen Anarchie stützte sich je-
der Gutsbesitzer (çifligar) auf eine, seiner wirtschaftlichen Macht ent-
sprechenden, bewaffnete Truppe, die sich aus engsten V ertrauten und
Nachfolgern und nicht zuletzt aus Söldnern zusammensetzte. Die Beys
konnten in ihren Herrschaftsgebieten nach Belieben schalten und walten,
auch weil die zentrale Gewalt, die die Bauern vor ihrer Willkür schützen
sollte, ‫״‬weak and d istan t“ war. Aber nicht alle nutzten dies aus. Es gibt
reichlich Beispiele sowohl für ‫״‬tyrannische“ wie für ‫״‬gute“ Beys.
Zu der wirtschaftlichen Macht und dem dam it verbundenen Zwangs-
apparat gesellte sich ein anderer Machtfaktor. Gewöhnlich hatten die
Beys mit ihren großen Familienkreisen sämtliche lokale Verwaltungsäm-
ter m onopolisiert und besaßen Zugang zu vielfältigen überregionalen
Verbindungsnetzwerken im Osmanischen Reich. 1912, nach der Lostren-
nung von der Pforte, verloren sie zwar ihre offiziellen Posten, konnten
aber noch eine Zeitlang infolge der tiefverwurzelten kulturellen M uster
ihre sozialen Privilegien aufrechterhalten. Die Beys gaben im politischen
Leben ihrer Region den Ton an und drängten sowohl das bürgerliche
Element, von dem noch zu sprechen sein wird, als auch die kleinen N0-
tablen der sog. freien Dörfer an den Rand. Dementsprechend besaßen sie
ein ausgeprägtes Standesbewußtsein, das sich auch in ihrer Lebensfüh-
rung niederschlug. Ekrem Bey Vlora beschreibt den Alltag in den großen
Beyhäusem des Südens im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts mit
den W orten:
‫״‬Im G runde genom m en hatte jedes ‘Große Haus’ ein doppeltes Le-
ben: Der M ann verbrachte seine Zeit wie in einem Junggesellen-
heim... mit dem Empfang von H underten von Besuchern:
Reisenden, N ichtstuern, Kaffeetrinkern, Bittstellern, Angebern,
selten auch von Freunden. Ohne die geringste Rücksicht auf Zeit,

22 Yalm an, N .: ‫״‬O n Land Disputes in Eastern T urkey“ , in : G. L. T ik k u (H g.):


Islam and iLs C u ltu ra l Divergence. U rbana 1971, S. 180-218, z itie rt nach:
Ö zbudun, E rgun: ‫״‬T urkey: The P olitics o f C lientelism “ , in: P o litica l
C lientelism , Patronage and Developm ent, hg. v. S. N. Eisenstadt u. R.
!/;m a rch a n d . Beverly H ills 1981, S. 255.

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152 A . Habibi

Lust und Ausdauer des H ausherrn, gingen sie scharenweise ein und
aus, und wehe dem H ausherrn, der erschöpft oder gelangweilt in
der Erfüllung der Pflichten nachließ, welche die ‘heilige Sitte’ des
‘Offenen Hauses’ vorschrieb. Wer die Besucher nicht empfing oder
sich nicht wenigstens durch einen seiner nächsten Verwandten
vertreten ließ, der wurde der schärfsten Kritik unterzogen und
mußte gewärtig sein, mit der geringschätzigen Bemerkung ‘er hat
sein Tor selbst verschlossen’ abgetan zu werden. Was ich über den
Selamlik (M ännerwohnung) gesagt habe, kann auch für den Ha-
remiik (Frauenwohnung - Familienwohnung) gelten.“
Und weiter:
‫״‬Diese M entalität wird dem Leser verständlich machen, welche Be-
deutung der Gastfreundschaft in Albanien... beigemessen wurde. In
den Städten gab es für ‘H errschaften’ keine Hotels. Einige misera-
ble Herbergen (Hane) genügten für die U nterkunft der bescheide-
nen Leute. Wer in eine Stadt kam, Namen und gesellschaftliche
Stellung hatte oder sich einbildete, etwas zu sein, der ging als Gast
in das ‘Große Tor’ oder in ein weniger wichtiges, aber offenes Haus
(mit großem Tor und hohem Schornstein). Ich habe es in unserem
Hause nie erlebt, daß die Eingangstore des Parkes und des Hauses
geschlossen wurden. Sie standen Tag und Nacht offen, dam it jeder
ohne irgendwelche Formalität eintrete... Wozu all das? ‘Das Große
Tor’ in Albanien mußte, wenn es auf diesen Titel nicht verzichten
wollte, gastfreundlich sein... sie (diese Gastfreundschaft) fing an,
sobald ein ‘großer H err’ über das Allemotwendigste... hinaus noch
etwas bieten konnte, und sie hörte auf, wenn er auch seinen letzten
Brocken der Glorie der Gastfreundschaft geopfert hatte.“ 23
Diese Schilderung bestätigt Grazianos Beobachtungen, daß in denje-
nigen Gesellschaften,
‫״‬in denen der Markt nicht als allgemeiner Akkumulierungsmecha-
nismus fungieren kann, Großzügigkeit die rationalste Form der In-
vestition ist; denn sie erlaubt die Maximierung jener Ressource, die

23 V lora: Lebenserinnerungen, Bd. 1, S. 2 2 -2 4 .

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Albanien in der Zw ischenkriegszeit 153

im traditionellen Kontext das Ausmaß der Macht bestim mt: des


sozialen Ranges.“ 2•»
Viele R epräsentanten der Beyklasse waren an der albanischen Natio-
nalbewegung beteiligt. Ihre Beweggründe^ reichten zwar n u r so w‫׳‬eit, wie
die Pforte ihre lokale Herrschaft störte, dennoch ist ihre entscheidende
Rolle bei der Erlangung der Unabhängigkeit unbestreitbar. Daß sich der
albanische Staat bald als größerer ‫״‬Störer“ heraustellen und dam it sofort
auf ihre Ablehnung stoßen sollte, davon wird noch die Rede sein.
Auch die Geistlichen aller drei im albanischen Siedlungsraum ver-
tretenen Konfessionen sind den Notablen zuzurechnen. Infolge des inten-
siven Islamisierungsprozesses stellten die Muslime 1912 ca. 70% der
Bevölkerung des albanischen Staates. Sie waren in zwei Richtungen ge-
teilt: in die Sunniten oder orthodoxen Muslime auf der einen und die
Derwischorden der Bektaschis auf der anderen Seite. Die erste Gruppe
war in Zentralalbanien und vor allem in den Städten kompakt vertreten,
doch fanden sich Sunniten sporadisch auch im Norden, unter den Stäm-
men.26 Anders als in den Städten, wo das soziale Leben einer zwingenden
Kontrolle unterlag und der islamische Glaubenseifer nicht selten in Fa-
natism us einm ündete, blieb den sunnitischen Geistlichen der breite Ein-
fluß auf die ländliche Bevölkerung verwehrt. Dies lag in erster Linie an
der Reduzierung ihrer Lehre auf eine Sammlung trockener Regeln, an der
unüberw indbaren Kluft zwischen Gott und Mensch, die von den Sunniten
gepredigt wurde, an der Starrheit und Unpersönlichkeit ihres Wirkens, an
der fehlenden Seelsorge und nachhaltigen Missionstätigkeit. Das Sunni-
tentum im ländlichen Albanien hinterließ eine Tendenz zur Kontempla-
tion sowie eine apathische H innahm e all dessen, was das Schicksal, sprich
die Autoritäten, den U ntertanen beschert hatte.2? Entsprechend unbe-
deutend gestaltete sich der Einfluß der Sunniten auf die politischen Ge-
schehnissen des Landes. Gänzlich anders verhielt es sich mit den
Bektaschis.

2‫ ♦י‬G raziano: C lientelism o e sistema p o litic o , S. 37.


25 M orozzo della Rocca, Roberto: Kom bësia dhe feja në S hqipëri 1920-1944
(O rig in a ltite l: Nazione e religione in A lb a n ia 1920-1944).*T irane 1994, S. 27.
26 Ib id ., S. 24.

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154 A. Habibi

Im Gegensatz zum orthodoxen Islam war der Bektaschismus wesent-


lieh attraktiver und volksnäher. So wie alle Derwischorden vertraten auch
die Bektaschis eine islamische Volksreligion, durchmischt mit christli-
chen und vorchristlichen Elementen. In ihren Tekkes, die nicht weiter als
sechs Stunden voneinander entfernt waren, pflegten sie Gastfreundschaft
und Wohltätigkeit. Sie gingen gelassen mit kultischen Pflichten um (z. B.
hielten sie einen regelmäßigen Besuch der Moschee nicht für unbedingt
notwendig, tranken Wein und reduzierten den Fastenmonat auf drei
Tage), sie predigten die Gleichheit zwischen Männern und Frauen, betrie-
ben Seelsorge und übten weitestgehende Toleranz gegenüber Nichtmus-
limen. Letzteres machte sie auch unter der christlichen Bevölkerung im
Süden Albaniens, wo sie ihren eigentlichen Verbreitungsraum gefunden
hatten, besonders beliebt.28
Zu den Bektaschis gehörten nicht nur die prom inentesten Vertreter
der albanischen Nationalbewegung, die Gebrüder Frashëri, sondern auch
viele andere nationale Protagonisten. Nach den Untersuchungen Morozzo
della Roccas29 waren die Derwische hauptsächlich bürgerlicher Herkunft
oder stam m ten aus der Schicht der kleinen Beys. Dieser gesellschaftliche
H intergrund sowie die geistige Tradition und die in der Vergangenheit oft
schweren Existenzbedingungen der ‫״‬Sekte“ erklären das hohe kulturelle
Niveau der Bektaschis, ihre Aufgeschlossenheit gegenüber dem Fort-
schritt und ihre Bereitschaft zur Aufnahme neuer Ideen aus dem Ausland.
Die Passivität der übrigen muslimischen Sekten war ihnen fremd. Nicht
zuletzt aufgrund ihres stetigen Gegensatzes zum Regime in Istanbul wa-
ren sie nationalen Ideen besonders zugänglich, und in ihren Tekkes, die
dem westlichen Reisenden als Oasen der Ordnung und Sauberkeit im
Kontrast zur düsteren Umwelt erschienen, wurde eine intensive nationale
Propaganda betrieben. Gelegentlichen zeitgenössischen Vorstellungen,
der Bektaschismus könne zur nationalen Religion der Albaner erhoben
werden3°, stand die These gegenüber, der Bektaschismus sei unfähig,
Organisationsformen zu konzipieren, die über die Grenzen einer gehei­

28 B a rtl, Peter: Die albanischen M uslim e zur Zeit der nationalen Unabhängig-
keitsbewegung 1878-1912. W iesbaden 1968, S. 99-101.
29 M orozzo della Rocca: Kombësia dhe feja, S. 3 8 -4 5 .
3° H asluck, M argaret: The nonconform ist Moslems o f A lbania, in: C ontem porary
Review, M ay 1925, S. 5 9 9 -6 0 6 .

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Albanien in der Zwischenkriegszeit 155

men Sekte hinausgingen. Ihr ‫״‬Universalismus“ habe eher den Charakter


einer ewigen Sehnsucht als die Form eines zielbewußten Projekts. Nichts-
destotrotz genossen sie als ‫״‬Gottesleute“ höchstes Ansehen im Volk.
Die Eigentumsverhältnisse der muslimischen Institutionen sind noch
weitgehend unerforscht. Es ist bekannt, daß sie über 13 700 ha Vakuf-
boden verfügten, aber ob und inwiefern diese wirtschaftliche Kompo-
nente ihre Stellung beeinflußte, bleibt unklar.
Die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft im Land stellte die griechisch-
orthodoxe dar, mit einem Bevölkerungsanteil von ca. 20%. Ihr Kemgebiet
lag im Süden des Siedlungsraums, doch waren sie auch in einigen Städten
M ittelalbaniens vertreten. Gleich allen anderen orthodoxen Christen in
den europäischen Provinzen des Osmanischen Reiches unterstanden
auch die albanischen Glaubensgenossen im Rahmen des Millet-Systems
«•

der Jurisdiktion des Ökumenischen Patriarchen in Istanbul. Dessen


Kompetenz bzw. die Kompetenz der ihm unterstehenden W ürdenträger
beschränkte sich nicht allein auf religiöse Fragen, sondern erstreckte sich
auch auf die Regelung ziviler Angelegenheiten des Alltagslebens.3» So
lautet z.B. der erste Absatz im ‫״‬Kanon des Altenrats (Dhim ogerondia)“
der orthodoxen Gemeinde der Stadt Korçë:
‫ ״‬Die Dhimogerondia ist das höchste Forum... und das Gericht der
Gemeinde unter Vorsitz...des Metropoliten, des natürlichen und
ständigen O berhaupts der Dhimogerondia, der Ephorien32 und
E p it r o p ie n 3 3 sowie jeder Voll- oder Teilversammlung.“ 34

Trotz der Sonderstellung in ihren selbstverwalteten Gemeinden haben


die orthodoxen W ürdenträger die albanische Staats- und Nationsbildung
eher behindert als gefördert. Da der griechische Nationalismus die
orthodoxe Bevölkerung Albaniens und deren Siedlungsgebiete traditio-
nell für sich reklamierte, existierte ein tiefes M ißtrauen gegenüber einem
(‫״‬muslimischen“) albanischen Staat. Dieses wurde nicht zuletzt durch die
grundsätzlich griechischen Nationalität des hohen Klerus begünstigt, so

3‘ Ib id ., S. 4 6 -4 7 .
32 Die E phoria is t der dreiköpfige Rat fü r die V erw altung der Gemeindekasse.
33 Die E p itro p ia Lst der zweiköpfige Rat fü r die V erw altung der K irchen.
34 M ateriale dokum entäre për Shqipërinë Jug lindore të s h e k u llit X V III- fillim i i
s h e k u llit X X (K odiku i Korçës dhe i S elasforit), hg. v. Petraq Pepo, Bd. 2.
T ira ne 1981, S. 78.

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156 A. Habibi

daß die orthodoxen Honoratioren, von einigen Ausnahmen abgesehen, im


besten Fall eine desinteressierte, im extremsten Fall eine abtrünnige
Haltung gegenüber Albanien einnahmen.
Last but not least umfaßte die katholische Konfession ca. 10% der
Bevölkerung. Ihr Wirkungsgebiet lag ausschließlich im Norden. Der alba-
nische Katholizismus hatte über die Jahrhunderte hinweg eine erstaunli-
che W iderstandsfähigkeit im ständigen Kampf mit dem Islam und der
Orthodoxie bewiesen. Dabei war es zu einer wechselseitigen Durchdrin-
gung von christlichem Glauben und albanischem Gewohnheitsrecht ge-
kommen. Die Träger des albanischen Katholizismus waren lange Zeit die
Franziskaner gewesen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts kamen die
Jesuiten hinzu. Waren die ersteren ausschließlich Albaner, so wiesen die
Jesuiten mehrheitlich eine italienische Herkunft auf. W ährend sich der
niedere, säkulare Klerus kaum von anderen Dorfbewohnern unterschied,
entfalteten die ca. 100 franziskanischen und 61 jesuitischen Priester, die
sich überwiegend in Shkodër aufhielten, vielfältige Aktivitäten im Schul-
bereich, im Verlagswesen oder bei der Entwicklung und Förderung von
Sprache, Literatur und anderen kulturellen Aufgaben. Sie prägten damit
nicht nur die geistige Atmosphäre der Stadt, sondern fanden auch Wider-
hall im ganzen Land. Der leidenschaftliche Patriotismus der Franziskaner
war einer der H auptträger des ‫״‬Wiedergeburts“-Gedankens gewesen.
Auch später, bis zu ihrer Eliminierung unter kommunistischer Herr-
schaft, blieb ihre intellektuelle Rolle von maßgeblicher Bedeutung für das
ganze Land, während sich ihr Zentrum Shkodër als Festung von Kultur
und Bildung gemäß westlichen Maßstäben präsentierte.35
In den Städten, vor allem in Shkodër und Korçë, hatte sich während
der Epoche des Paschaluks (M itte des 18. Jahrhunderts bis zu den 30er
Jahren des 19. Jahrhunderts) eine dünne Schicht der Handelsbourgeoisie
gebildet, die zur Zeit von Napoleons Kontinentalsperre ihre Blütezeit
erlebt hatte.36 Ihre (aufgrund der geographischen Lage) zunächst unent-
behrliche Transitfunktion zwischen Ost und West hatte sie allerdings mit
Öffnung des Suez-Kanals wieder verloren.37 Dennoch blieb sie auch wei­

35 M orozzo della Rocca: Kombësia dhe feja, S. 6 5 -8 2 .


36 Shkodra, Z ija: Q yte ti sh q ip ta r gjatë R ilindjes Kombëtare. Tirane 1984, S. 40.
37 H isto ria e Shqipërisë, Bd. 3, S. 78.

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Albanien in der Zwischenkriegszeit 157

terhin ein wichtiger Teil der städtischen Eliten. Die soziale Stellung der
Bourgeoisie ähnelte der der Notablen, doch waren die V ertreter des Han-
delskapitals im wohlverstandenen Eigeninteresse stärker als die Notabein
••

an der Überwindung traditioneller Entwicklungsbarrieren interessiert


und dem entsprechend kompromißbereit. 38
U nter den A uslandsalbanem lassen sich zwei Gruppen unterscheiden:
1. Die Wirtschaftsemigranten außerhalb des Osmanischen Reiches.
Neben den albanischen M inderheiten in Italien und Griechenland, die seit
dem 15. Jah rh u n d ert existierten, hatten sich im 19. Jahrh u n d ert im na-
hen und fernen Ausland albanische Kolonien gebildet. U nter ihnen sind
die ägjptische, die bulgarische und die rumänische hervorzuheben. Im
20. Jah rh u n d ert kam en (nicht zuletzt infolge der verschiedenen Kriege
auf albanischem Boden) eine US-amerikanische und eine australische
Diaspora hinzu. Welches Ausmaß die wirtschaftliche Emigration bei den
Südalbanem Anfangs des Jahrhunderts erreichte, verdeutlicht eine Äuße-
rung Petraq Pepos:
‫״‬Sämtliche Dörfer (es folgt eine Aufzählung von Ortsnamen, A.H.)
blieben... ohne erwachsene männliche Einwohner, da diese... in
m ehijährige Emigration gegangen w a r e n .“39
Aus den Reihen dieser Diaspora stam m ten die ersten Protagonisten
der albanischen Nationalbewegung. Mobilität, Bildungsbereitschaft und
Zugang zu den geistigen Strömungen im Ausland prädestinierten sie zu
Vorkämpfern politischer und gesellschaftlicher Veränderungen.*0 Hinzu
kamen die Erfahrungen, die sie als Angehörige einer ethnischen Minder-
heit gesammelt hatten und die sie in ihrem Kampf um einen eigenen Staat
bestärkten.•‫ יי‬Sie werden förmlich als die albanische Intelligenzija der
‫״‬W iedergeburtsepoche“ angesehen.
2. Die Emigranten innerhalb des Osmanischen Reiches. Diese setzten
sich zum großen Teil aus islamisierten Beamten und Offizieren im Dienst
der Hohen Pforte zusamm en. Die Albaner hatten über die Jahrhunderte

3« W eiter dazu, siehe Schm idt-Neke, M ichael: Entstehung und Ausbau der
K ö n ig sd ikta tu r in A lbanien. M ünchen 1987, S. 286.
39 Pepo: M ateriale, Bd. 1, S.15.
40 Siehe dazu Sundhaussen, H olm : E xperim ent Jugoslawien. Von der Staats-
g riin d u n g bis zum Staatszerfall. M annheim 1993, S. 21-22.
41 lan ge , Klaus: G rundzüge der albanischen P o litik . M ünchen 1973, S. 13-14.

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158 A. Habibi

hinaus eine Sonderstellung in der osmanischen Bürokratie innegehabt.


Der letzte Sultan, Abdülhamid II., beförderte Albaner besonders gern in
die höchsten Äm ter seines Staates. Dort besetzten sie die Positionen ihres
Umfelds mit ‫״‬eigenen Leuten“, die ihrerseits ‫״‬vertrauenswürdige“ Perso-
nen aus der Heim at um sich scharten; dies setzte sich bis in die letzte
Ecke des Staatsapparates fort. Die Balkankriege machten all dem ein
Ende. Die osm anisch-albanischen Beamten und Militärs waren nun
gezwungen, das vergleichsweise riesige Osmanische Reich durch die
kleine albanische Heimat zu ersetzen. Das Ergebnis war, daß die alba-
nische Staatsverw altung mit Beamten und Offizieren aus der türkischen
Schule überflutet wurde.•»2 Die ‫״‬größten“ unter ihnen trugen glänzende
Namen und waren mit beeindruckenden Curricula ausgestattet. Dennoch
wird ihre Rolle im albanischen Staat in der Regel negativ beurteilt. Zum
einen übten sie mit ihren unverhältnismäßigen M achtansprüchen eine
destabilisierende Wirkung aus, zum anderen verfestigten sie in ihrer
Heimat jenen berühm t-berüchtigten osmanischen Geist der Passivität,
Ineffizienz« und Korruption, der sich in der Dekadenzzeit des Reiches
herausgebildet hatte und der die Modernisierungsbestrebungen in den
folgenden Jah ren hartnäckig behindern sollte.«

***

Im Leben des albanischen Staates der Zwischenkriegszeit werden fol-


gende Phasen unterschieden:
1. Die Jah re der Staatsgründung und des Parlamentarismus von 1920
bis Ju n i 1924;

•2‫ י‬V lora , E krem Bey: Lebenserinnerungen, Bd. 2. M ünchen 1973, S. 204.
43 Zu dem ersten M inisterpräsidenten Albaniens, T urhan Pasha Përm eti, ex-
B otschafter in allen europäischen H auptstädten und m ehrere Male M in iste r
im Osm anischen Reich, schreibt V lora w eiter: ‫״‬T urhan Pasha w ar entschieden
ein hochfeiner M ann, ein glänzender ‘(Causeur’, aber in der A rb e it fu rch tb a r
unschlüssig. Legte m an ihm einen Text vor, dann mußte er stundenlang
herum grübeln und herum streichen, Beistriche, Punkte, Ausrufungszeichen
hineinm alen und dann w ieder auslöschen, bis er endlich nach einem
anstrengenden V o rm itta g ein Telegram m von d re i Zeilen aus der Hand ließ.“
•w Çika, N ebil: N jim endësija shqiptare. S tudim p o litik e p siko llo g jik. T irane 1943,
S. 15-17.

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Albanien in der Zwischenkriegszeit 159

2. die Monate des Sieges nach der ‫״‬dem okratisch-bürgerlichen Revo-


lution“ von Ju n i 1924 bis Dezember 1925 und
3. die Restauration der traditionellen Eliten u n ter der Königsdiktatur
Zogus (Zogistische Periode) von Dezember 1925 bis zur italieni-
sehen Besetzung des Landes im April 1939.
Im Jah re 1920 konnte endlich eine m ehr oder m inder norm ale
staatsbildende Aktivität aufgenommen werden. Ein ‫״‬Organisationsko-
mitee“ berief einen nationalen Kongreß durch Appellbriefe ein, in denen
jede U nterpräfektur aufgefordert wurde, zwei ‫״‬V ertreter“ in die Stadt
Lushnjë zu entsenden: Der Kongreß fand im Ja n u a r 1920 statt.45 Leider
konnte ich eine vollständige Liste der Teilnehmer bisher nicht finden,
doch deutet alles darauf hin, daß es sich bei den Delegierten um die
bekanntesten Notablen des Landes handelte. Sie bildeten eine Regierung
und bereiteten sich nach dem okratisch-parlam entarischen Prinzipien
und gemäß westlichen Vorbildern auf die ersten Wahlen vor.*6
W ährend der Wahlkampagne zeichneten sich erste Konturen künftiger
politischer Orientierungen ab, doch ist es unmöglich, im W irrwarr der
damaligen albanischen Politik die ideologischen Fäden d er jeweiligen
Gruppierungen konsequent zurückzuverfolgen. Politische Parteien im
modernen Sinn, mit Programm und Organisation, waren nicht einmal im
Ansatz zu erkennen. Bislang hatten die Albaner n u r die Gefolgschaft-
streue gegenüber einem ‫״‬Anführer“ gekannt, während politische Über-
zeugungen keinerlei Rolle gespielt hatten.47 Daran sollte sich auch so bald
nichts ändern. Aufgrund persönlicher Sympathien oder A ntipathien wur-
den Bündnisse ebenso schnell geschlossen wie gebrochen.
Wie zu erwarten war, erhielt der neue Staat mit 70% muslimischer
Bevölkerung auch ein unverwechselbar muslimisches Gepräge. Dies

45 H isto ria e Shqipërisë, Bd. 3, S. 209.


46 Nach den H inte rgrün de n dieser W ahl der albanischen S taatsbildner forschte
Klaus Lange in seiner oben z itie rte n A rb e it: G rundzüge d e r albanischen
P o litik . Seiner Auffassung nach s te llt die dem okratische Tendenz in den
nationalpolitischen E ntw icklungen die K o n tin u itä t der politischen
Ideengeschichte A lbaniens dar, eine v irtu e lle Verlängerung d e r V orstellungen
der späten ‫״‬R ilin d ja “ (alb. W iedergeburt), welche, angeregt d urch die
zugespitzte soziale Frage im Süden, ‫״‬soziale Veränderungen als autom atische
Folge der U nabhängigkeit“ betrachtet hatte.
47 Ib id ., S. 139.

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160 A. Habibi

führte zu Unzufriedenheit und Verunsicherung bei den christlichen Min-


derheiten, die sezessiv oder aufständisch reagierten und das dam it ohne-
hin heikle politische Gleichgewicht zusätzlich gefährdeten. Doch der
eigentliche M achtkam pf wurde zwischen den Beys, dem (noch immer)
wichtigsten M achtfaktor im Lande, und den aufsteigenden städtischen
Schichten, der künftigen Mittelschicht, ausgetragen. W ährend es den
Beys grundsätzlich um die Erhaltung ihrer Privilegien ging, kämpften die
letzteren um einen angemessenen Platz auf dem politischen und ökono-
mischen Spielfeld Albaniens. Die beiden Grundtendenzen sind jedoch
nicht als geschlossene Aktionseinheiten zu verstehen. Sie waren vielfältig
gespalten, und die Bandbreite der politischen Strömungen reichte vom
Liberalismus bis zum exaltierten Radikalismus.
Die Macht der Beys basierte auf der breiten Gefolgschaft in ihren
Einflußgebieten und auf der Undurchlässigkeit ihrer Kaste (sie rekrutier-
ten sich ausschließlich aus den eigenen Nachkommen), - zwei Aspekte,
die eine Festigung der politischen Dominanz in Zukunft aussichtsreich
erscheinen ließen. Die Grundbesitzer mußten nun ihre Gefolgschafts-
netzwerke für politische bzw. Wahlzwecke einsetzen und sie somit in
Klientelnetzwerke verwandeln. Damit hielt der Klientelismus Einzug in
den neuen Staat und begann, sich wie ein Krebsgeschwür auszubreiten.
Die Zersplitterung und Koordinationsunfähigkeit der Beys bot jedoch
ihren politischen Gegnern verhältnismäßig viele Angriffsflächen. Prä-
gnant und lebhaft beschreibt Vlora den Zustand seiner Klasse Anfang der
zwanziger Jahre:
‫ ״‬...die Beys hatten seit jeher nur die Tradition der Uneinigkeit, des
Kampfes untereinander geerbt, die jedem von ihnen die Illusion
gab, der wichtigste und stärkste Zankhahn im Hühnerstall zu sein
und auf dem politischen Hof Albaniens am lautesten krähen zu
können. Das war natürlich nicht mehr möglich. Die soziale und po-
litische Entwicklung der Mittelklasse, insbesondere der Staats-
beam ten, und die Erfahrungen der letzten Jahre hatten die
Einstellung des Volkes geändert. Die Beys waren durch die Teilung
des Besitzes wirtschaftlich nicht mehr so stark, um die für die Er-
haltung eines ‫״‬Großen Hauses“ notwendigen Ausgaben zu bestrei-
ten. Sie waren durch die vorhergehenden Geschehnisse und die

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Albanien in der Zw ischenkriegszeit 161

obwaltenden Verhältnisse zwar noch nicht verarm t, aber im m erhin


recht mitgenommen.
... Der Sandschakbey und seine Gleichgestellten waren selbst Staat,
Regierung und Sultansvertreter in einer Person (gewesen); die
Leute ström ten von selbst durch ihr ‘großes Tor’... H eute m ußte
man... wenn es so bleiben sollte,... Macht erkämpfen. So sah ich
mich gezwungen, äußerlich mit den Wölfen zu heulen, um nicht
gefressen zu werden. ...um die Position zu halten, m ußten wir uns
die neuen Methoden des W ettbewerbes auf dem politischen Felde
aneignen, Reklame machen, W ahlpropaganda treiben, Begünsti-
gungen und Gefälligkeiten geben und nehm en. Wer Einfluß suchte,
war zu schäbiger Klientenpolitik gezwungen...
... Bei meiner... Beschäftigung störten mich wieder die allzu zahlrei-
chen und ausgedehnten Besuche... Sie sitzen zu lassen oder kurz
abzufertigen wie ehedem - das ging nicht mehr. Die Zeiten hatten
sich geändert, wir hatten uns alle dem okratisiert. Meine Besucher
waren nicht m ehr ‘Gefolgsleute’ sondern ‘Parteifreunde’... Sie
brauchten mich als Aushängeschild, ich brauchte sie, um bei den
‘W ahlen’, ohne ein Wort zu sagen, ohne das Tor meines Hauses zu
überschreiten, das zu werden, was ich sein wollte.“48
Die Mittelschicht als politischer Faktor hatte bis dahin nicht existiert.
Ihre Entstehung war eine natürliche Folge der sozialen Entwicklungen.
Die Durchsetzung der Prinzipien der Volkssouveränität und Demokratie
in Nachkriegseuropa fand auch in Albanien ihre Resonanz. Darüber hin-
aus hatten der Mobilisierungseffekt der vorangegangenen Kriege, der
Erfolg bei den Bemühungen um die Unabhängigkeit und internationale
Anerkennung des neuen Staates und der überraschende Sieg über die
letzten italienischen Besatzungstruppen im Süden für Euphorie und Auf-
bruchsstim m ung gesorgt. In diesem Klima keimte die antikonservative
politische Kraft auf, die sich heterogen aus Angehörigen des Bürgertums,
der Beamten- und Offiziersschicht, aus Geistlichen, Ärzten, Anwälten,
Lehrern, Abkömmlingen des verarmten Adels« usw. zusam m ensetzte. Sie
selbst nannten sich ‫״‬das demokratische Elem ent“, obwohl sie eine ziem-

48 V lora, Iyebenserinnerungen, Bd. 2, S. 140,171,162.


49 Ib id ., S. 161.

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162 A. Habihi

lich unscharfe Vorstellung von Demokratie hatten. Ihr politisches Kapital


waren ‫״‬patriotische“ Taten und ‫״‬umstürzlerische“ Ideen, die bei einem
Teil der Bevölkerung gut ankamen. Im großen und ganzen blieben diese
Menschen jedoch Einzelkämpfer, und einen maßgebenden Einfluß auf die
Bevölkerung konnten sie nie erlangen. Im Gegensatz zu den Beys verfüg-
ten sie über keine Klientelbeziehungen, und von einer politischen Eman-
zipation der Bevölkerung konnte ebenfalls keine Rede sein.
W ährend der ersten Wahlkampagne hatten sich ‫״‬Parteien“ formiert,
welche im Grunde nichts anderes waren als parlamentarische Clubs oder
‫״‬H onoratioren-Parteien“.5° Oft besaßen sie nicht einmal ein politisches
Programm. Und wenn sie eines gehabt hätten, hätte es wenig bewirkt, da
die W ähler für Personen und nicht für abstrakte Ideen votierten, unter
denen sich keiner etw as vorzustellen vermochte. So wie die Großgrundbe-
sitzer, gruppierten sich auch die Bürgerlichen in derartigen ‫״‬Parteien“.
Daneben existierten auch außerparlamentarische, antikonservative Ver-
bände, die über einen m ehr oder minder weiten W irkungsradius verfüg-
ten. 51 Einige (nach eigener Bezeichnung) ‫״‬patriotische Gesellschaften“
jüngerer Vertreter des Bürgertums existierten in vielen Städten seit Be-
ginn des Ersten Weltkrieges. Sie schlossen sich 1921 zu einem Dachver-
band zusammen, der sog. ‫״‬Gesellschaft Bashkimi (alb. Union)“. In dieser
Gruppe, die ein revolutionäres (nach Auffassung verschiedener Autoren
faschistisch angehauchtes) Programm vertrat, befanden sich auch die
extremistischen Elemente, wie Avni Rustemi, die ‫״‬gegen alles Alte und
Schädliche“ kämpften.
Trotz massiver Bemühungen gewannen die bürgerlichen Elemente
sowohl bei den ersten (1921) wie bei den zweiten Wahlen (1923) nicht
m ehr als ein Drittel der Parlamentssitze und blieben somit aus dem Kreis

5° Ü ber den B e g riff der ‫״‬H onoratioren“ fin d e t sich bei W eber: W irtschaft und
G esellschaft, S. 170, folgende D e fin itio n : ‫״‬H onoratioren sollen solche Personen
heißen, welche:
k ra ft ih re r ökonom ischen Ixige im stande sind, ko n tin u ie rlic h nebenberuflich in
einem Verband le ite n d und verw altend ohne E ntgelt oder gegen nom inalen
oder E hren-E ntgelt tä tig zu sein, und welche
eine, gleichviel w o ra u f beruhende, soziale Schätzung d e ra rt genießen, daß sie
die Chance haben, bei fo rm a le r u n m itte lb a re r Dem okratie k ra ft Vertrauens der
Genossen zunächst fre iw illig , schließlich tra d itio n a l, die Aem ter inne zu
haben.“
5‘ Schm idt-N eke: Entstehung, S. 78 ff.

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Albanien in der Zwischenkriegszeit 163

d er Entscheidungsträger ausgeschlossen. Die demokratische Bewegung


befand sich noch in ihren Anfängen: Nichts sprach im damaligen Alba-
nien dafür, daß der Zeitpunkt für einen politischen Umbruch gekommen
wäre.
Ekrem Bey Vlora, dieser reaktionäre und zugleich hochbegabte und -
gebildete Akteur, erlebte den W ahlkampf 1923 in seinem Heimatsort
Vlorë wie folgt:
‫״‬Ich bildete... meine Parteigruppe aus Personen, die im Bezirk von
Vlorë mehr oder weniger Einfluß, Anhang und eine konservative
Einstellung hatten. Es schien mir die selbstverständlichste Sache,
daß ich die Wahlen wieder fast einstimmig gewann. Freunde und
auch Feinde, die konservativ dachten, unterstützten mich ohne Zö-
gern. Es zeigte sich noch einmal, daß die Mehrheit der Bevölkerung
von überspannten Linksparolen nichts wissen wollte. Ich mußte für
die Sicherung meines Erfolges nicht ein Wort, nicht einen Pfennig
investieren... Man wählte mich und meine Gruppe, weil es noch
unfaßbar war, jem and anderen als den Bey zu wählen...“52
Die fünf Jah re des politischen Parlam entarism us wurden durch einen
erbitterten Kampf um die Macht und eine zunehm ende Radikalisierung
aller teilnehm enden Kräfte geprägt. W ährend sich die beiden Gruppen im
Parlam ent über die Agrarfrage und die Beute der Ölkonzessionen stritten,
legten die Glaubensminderheiten, vor allem in Korça und Shkodra,
kantonale Ansprüche an den Tag. Die Stämme lehnten sich in Rebelionen
auf. Ausgegrenzt fühlten sich auch die ‫״‬Rückwanderer“. Die
prom inentesten von ihnen verbündeten sich in einer weitgehend mysteiös
gebliebenen Organisation namens ‫״‬Clique“53, und schlugen sich auf die
Seite der Regierungsgegner. Der kompromißlose Charakter dieses
Kampfes um die Macht war angesichts der albanischen Gegebenheiten
schon in seinen Anfängen vorherzusehen, nahm jedoch einige Jahre spä-
ter ein Ausmaß von Gewalttätigkeit an, daß Bluttaten als politisches In-
strum ent die Oberhand gewannen.

52 V lora : Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 171-172.


53 Fischer, B em d-Jürgen: M b re ti Zog dhe përpjekja për s ta b ilite t në S hqipëri
(O rig in a ltite l: King Zog and the Struggle fo r S ta b ility in A lbania, New Y ork
1984). T irane 1996, S. 38.

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164 A. Habibi

Diese fünf Jahre können aber auch als die Ja h re des Aufstiegs einer
Person betrachtet werden, welche später allen Entwicklungen ihren
Stempel aufdrücken würde: des künftigen Königs Ahmed Bey Zogu. Die-
ser Mann, ein muslimischer Stammesführer, also eine Mischung zwischen
Bey und Stammeshäuptling, hatte seinen Machtbereich binnen kurzer
Zeit progressiv erweitert, bis er es zum M inisterpräsidenten gebracht
hatte. Als unbedeutender, kleiner Stam m esführer, bediente er sich zu-
nächst der ‫״‬Clique“ und der Demokraten, später begriff er, daß die gün-
stigste Konstellation fü r die Regierung des Landes momentan die Beys
darstellten, obwohl die Zukunft gegen sie arbeitete. Sie sollten ihn in den
Sattel der Macht verhelfen, während er sich als geeignetster Fürsprecher
zur Erhaltung ihrer Privilegien ausgab.
In der ersten Hälfte 1924 eskalierte die Situation, bis im Ju n i eine
Revolution ausbrach. 43 oppositionelle Abgeordnete verließen das Paria-
ment in Tirana und versammelten sich im empfänglichen Vlorë. Mit der
Hilfe einiger Gendarmerieoffiziere und einer 12 0 0 0 Mann starken
Truppe marschierten sie auf die H auptstadt. Die Regierung und die
Mehrzahl der Großgrundbesitzer flohen aus dem Land.
Die an die Macht gekommene Gruppe bildete eine bürgerlich-liberale
Regierung und kündigte umfassende Reformen an, darunter auch eine
Agrarreform. Daß sie sechs Monate später, allerdings durch eine Inter-
vention von außen, aus dem Land veijagt wurde, während sich die alten
Eliten restaurierten, haben die Demokraten ihrer Schwäche, Inkonse-
quenz und den Versäumnissen bei der Mobilisierung der Bevölkerung zu
verdanken. Es ist schwierig festzustellen, wie tief der Umsturz in das Be-
wußtsein der Bevölkerung eingedrungen ist. Sicher ist allerdings, daß sein
ideologisches Wirkungsgebiet der Süden und Südwesten des Landes war,
und daß der Norden davon so gut wie unangetastet blieb.
In seinem Belgrader Exil hatte Zogu sorgfältig seine Rückkehr vorbe-
reitet. Mit Hilfe einiger Beys, die ihre Ressourcen zur Verfügung stellten,
aber vor allem mit Hilfe der jugoslawischen, und weniger der griechischen
Armee, marschierte er im Dezember 1924 siegreich nach Albanien zurück.
Die ‫״‬revolutionäre“ Regierung verließ das Land, ohne den geringsten
W iderstand zu leisten. In der späteren Zeit versuchte Zogu, die exilierten
Juni-Revolutionäre mittels verschiedener Amnestien ins Land zurückzu-
holen. Damit wollte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: einerseits

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Albanien in der Zwischenkriegszeit 165

die Quelle für neue Um sturzpläne trockenlegen, andererseits seinem


Regime einen bürgerlich-intellektuellen Touch verleihen. Viele der dama-
ligen Oppositionellen kehrten tatsächlich zurück, fügten sich aber dem
Regime und fanden sich dam it ab.
In den ersten Jah ren stützte sich Zogu weitgehend auf die kleine Schar
der einflußreichsten Großgrundbesitzer. Etwa ein Drittel der Par-
lam entsm itglieder von 1925 trugen den Titel Bey. Der Rest bestand aus
ihren Strohm ännern oder regimekonformen Elementen; das Gleiche gilt
für die Regierungen. Es wurde jedoch versucht, den multikonfessionellen
Verhältnissen des Landes gerecht zu werden. W ährend sich der National-
konvent von Vlorë im Ja h re 1912 aus 77%, der Lushnjë-Senat von 1920
aus 72% und das Parlam ent von 1921 aus 70% Muslimen zusammen-
setzte, ging ih r Prozentanteil in Zogus Parlamenten bis auf 64% zurück,
und auch an den Regierungen war mindestens ein Minister christlichen
Glaubens beteiligt.54 Diese Tatsache steht im direkten Zusammenhang
mit der von Zogu konsequent verfolgten Gleichgewichtspolitik.
Ende der zwanziger Jahre, sobald sich der, inzwischen zum König
proklam ierte, erste Mann Zogu auf seine von britischen und italienischen
Offizieren auf die Beine gebrachten Gendarmerie und Miliz verlassen
konnte, versuchte er, die Macht der Beys zu beschneiden. Diese taten
natürlich alles, um ihren Einfluß zu behalten und weiter zu festigen. Auf
ihren Domänen verhielten sie sich wie kleine Könige und den wirklichen
König, diesen ‫״‬Emporkömmling“, verachteten sie wegen seiner niedrige-
ren Herkunft und seines geringeren Vermögens. Über den ‫״‬bedeutend-
sten aller albanischen Beys“, Shevqet Bey Verlad, berichtet ein
ehemaliger italienischer Diplomat:
‫״‬Zogu... klagte lang und breit über die Forderungen dieses Mannes,
...über seine Anmaßung, ein Staat im Staate zu sein; zum Beispiel,
daß er nicht zulassen wolle, daß ein anderer als er den Präfekten
von Elbasan ernenne...
Ein Staat im Staate, das war sein Lehen in Elbasan wirklich. Ich
erinnere mich, wie wir ihn das erste Mal auf seinen Gütern be-
suchten. V erlad hatte alle Vorsichtsmaßregeln getroffen, um den
militärischen Charakter seines Schlosses zu tarnen... Kein einziger

54 A lle Zahlenangaben berechnet ans den Parlam entslisten ve rö ffe n tlich t von
Schm idt-N eke: Entstehung, S. 3 2 0 -3 5 6 .

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166 A . Habibi

Bewaffneter war zu sehen, aber man spürte überall die charakteri-


stische Atmosphäre einer Festung im Alarmzustand.
Mit ihm durch die Straßen von Elbasan zu gehen war einzigartig:
Alle Männer, oder fast alle, trugen den Schnurrbart wie er. Im
Basar blieben alle in respektvoller Entfernung in der Haltung einer
halben Verbeugung stehen, keiner tra t näher, dem nicht das
Zeichen dazu gegeben wurde, keiner sprach mit ihm, ohne ihm
vorher devot die Hand geküßt zu haben.“55
Eine solche M achtakkum ulation in seiner nächsten Umgebung wollte
und konnte Zogu nicht dulden. Spätestens seit der Verkündung der
Agrarreform von 1930, die allerdings nie umgesetzt wurde, ging seine
Vem unftehe mit den Beys in die Brüche. Den tatsächlichen politischen
Einfluß im zentralen Staat Albanien verlor die Gutsbesitzerklasse allmäh-
lieh, ihre Namen sind jedoch bis zum Schluß in den Abgeordnetenlisten
zu finden. Sie verwandelten sich in Bürokraten und ersetzten ihre frühe-
ren Çiftlikeinnahmen durch die beträchtlichen staatlichen Gehälter sowie
- nicht weniger wichtig - durch den regelmäßigen Amtsmißbrauch. An-
dere begnügten sich mit verschiedenen Funktionen im diplomatischen
Dienst. Trotz dieser Verdrängung wurden ihre Klasseninteressen bis zum
Schluß vom Staat konsequent verteidigt. Offenbar war auch das Regime
selbst an einer Veränderung der bestehenden sozialen Verhältnisse nicht
interessiert. Nach zeitgenössischen Feststellungen, beurteilte Zogu die
Rahmenbedingungen für eine soziale U m strukturierung in seinem Staat
als unreif^6, eine Überlegung die in erster Linie zu seinem zentralen Zweck
der M achtabsicherung zurückzuführen ist.
Fortan regierte Zogu ganz allein, umgeben von einer Handvoll von
Vertrauensleuten, ehemaligen M itstreitern, Personen aus dem Familien-
kreis und Stammesgenossen, also Personen des eigenen ‫״‬Verwaltungs-
stabs“, und war bestrebt, seine Herrschaft zu verewigen. Seine Leibgarde
setzte sich ausschließlich aus M atjanem (aus Zogus Heimat Mati)
zusammen. Ghegischer Abstamm ung war auch die Mehrheit der
Gendarmerie- und Milizangehörigen. Die Beys dagegen hatten einen
neuen Schirmherren gefunden: die Italiener, welche der Meinung waren,

55 Q uaroni, P ietro: D iplom atengepäck. F ra n k fu rt 1956, S. 101-106.


56 Robinson, Vandeleur: A lb a n ia ’s Road to Freedom . London 1941, S. 114.

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Albanien in der Zw ischenkriegszeit 167

daß sie zur Realisierung ihrer Penetrationspolitik im m er eine alternative


Kraft zur offiziellen Gewalt griffbereit halten m üßten.
Auch die katholischen Stäm m e hatten sich zum Gegenstand auslän-
discher M anipulationen gemacht, und zwar Jugoslawiens, das nach dem
‫״‬V errat“ Zogus daran interessiert war, das Regime in Tirana zu beseitigen.
Diese Versuche kam en den unzufriedenen Stam m eshäuptlingen gelegen;
sie lehnten sich 1926 in eine Rebellion auf, die zunächst blutig niederge-
schlagen wurde. Zogu hatte aber schon im m er erkannt, welche destabili-
sierende Gefahr von den Stäm m en ausgehen konnte und versuchte ihnen
entgegenzukom m en. Bereits 1925 war in Tirana eine Versammlung aus-
gerichtet worden, an der ca. 350 Stam m esführer teilgenommen hatten.
Dort verlangte und bekam Zogu von ihnen die ‫״‬Besa“ (alb. Ehrenwort),
die Waffen niederzulegen und den neuen Staat zu respektieren .57 Gleich-
zeitig wurden die noch im m er absolutistisch herrschenden Bajraktaren
und ihre Söldnerverbände für ihre angeblichen militärischen Dienste
regelmäßig in Gold bezahlt, was für eine recht gebrechliche W irtschaft wie
die albanische eine außerordentliche Belastung darstellte. Diese, aller-
dings überm äßig kostspielige Beschwichtigungspolitik trug ihre Früchte:
Die Stam m esführer hielten sich aus der albanischen Politik weitgehend
heraus.
Durch ein 1929 erlassenes Dekret versuchte Zogu ferner, den Einfluß
der Religionsgemeinschaften zu beschränken. Den Gemeinden wurde
jegliche politische Betätigung, die Ausübung einer eigenen Jurisdiktion,
die ausländische Finanzierung sowie das W ahlrecht für geistliche Wür-
denträger untersagt. Gleichzeitig waren sie verpflichtet, den Patriotism us
und die Einigkeit aller Albaner zu unterstützen. Die eigentlichen Ziel-
gruppen waren die christlichen M inderheiten, vor allem der einflußreiche
katholische Klerus, welcher, wie erw artet, heftigsten W iderstand leistete:
‫ ״‬Die albanische Regierung hatte entschieden, das bürgerliche
Gesetz anzunehm en,... (und somit) das ganze Familienrecht der
kirchlichen Rechtsprechung zu entziehen. Der albanische Klerus
wollte nicht nachgeben. Und... dies war ein Echo aus anderen
Zeiten, als Monsignore Mjeda (der Erzbischof von Skutari) von der
Kanzel seiner kleinen Kirche in Skutari die Exkommunikation

57 J!is to ria e Shqipërisë, Bd. 3, S. 314-316.

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168 A . H abibi

gegen den albanischen Staat und gegen jeden aussprach, der sich
seinen Gesetzen füge.
...In der türkischen Epoche erzogen, als die religiöse Gemeinschaft
offiziell anerkannt war, brachte er es nicht fertig, sich den
m odernen laizistischen Ansprüchen des neuen albanischen Staates
zu fügen. Im Bewußtsein seines Einflußes auf seine Katholiken und
im Bewußtsein ihres militärischen und politischen Gewichts
verhandelte er mit dem albanischen Staat wie eine kriegführende
Macht mit der anderen.“58
Ihre Loyalität gewann Zogu erst dann, als er die Gemeinschaften mit
Regierungssubventionen bedachte.
Zogu wird nachgesagt, sein Regime hätte zwar eine modernisierende
Fassade gehabt, wurde aber mit orientalischen Methoden ausgeübt. Tat-
sache ist, daß er seit Ende der zwanziger Jah re durch die Umbildung der
Rechtsgrundlagen wichtige Versuche in Richtung Modernisierung unter-
nahm .59 Der Staat nahm Schritt für Schritt bürgerliche Züge an, obwohl
die osmanisch geprägte sozial-ökonomische S truktur den nominellen
Neuregelungen nur sehr schleppend folgte. Durch eine bürgertum s-
freundliche Politik (bei Schaffung vorteilhafter Rahmenbedingungen für
die Entwicklung der heimischen Industrie und massiver Steuerbegünsti-
gungen) erhoffte Zogu eine Erweiterung seiner schmalen sozialen Basis.
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wuchs auch das politische Gewicht
der bürgerlichen Schichten, was seinen Ausdruck in einer zunehmenden
Teilnahm e bürgerlicher Elemente in den Regierungen der 30er Jahre
fand.
Ein im Jah re 1935 gnadenlos niedergeschlagener Aufstand einiger
Offizieren und Intellektueller aus dem Kreis seiner persönlichen Gegner
bewegte Zogu zu einem Kurswechsel. Es wurde eine bürgerlich-liberale
Regierung mit im Westen ausgebildeten Persönlichkeiten gebildet, um
den W ünschen und Bedürfnissen der bürgerlichen Schichten entgegen-
zukom men. Die Regierung versprach eine Stärkung des Rechtsstaates. An
die Stelle der bisherigen Patronagekriterien zur Beförderung von Beam-

58 Q uaroni: Diplom atengepäck, S. 163-164.


59 Ib id ., S. 7 9 -8 0 . In der zw eiten H ä lfte der 20er Jahre verabschiedete das
Parlam ent das Z iv il-, S tra f- und H andelsrecht, welche von den bestgeschätzten
Exem plaren der europäischen Ländern übernom m en w orden waren.

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Albanien in der Zw ischenkriegszeit 169

ten sollte ein qualifications- und leistungsorientierter Auswahlsvorgang


treten; die Pressefreiheit sowie um fassende wirtschafts- und finanzpoliti-
sehe Sanierungsm aßnahm en w urden angekündigt. Das von Zogu ange-
strebte Ergebnis blieb jedoch aus: Die Lockerung der Repression brachte
sta tt einer Basisverbreiterung lediglich die Erm utigung der Regimegegner
mit sich: überall im Lande wurden U nruhen registriert. So ließ Zogu das
erst einjährige Kabinett wieder fallen. Aber auch ohne diese uner-
w ünschte Nebenwirkung wäre es nicht m ehr lebensfähig gewesen. Das
reaktionäre Parlam ent boykottierte die Arbeit der Regierung, da deren
U nterstützung letztlich auf eine Eliminierung der althergebrachten Pri-
vilegien hinausgelaufen wäre. Zogu kehrte nun zu den bekannten Ge-
sichtern der früheren Jah re zurück, und dem ‫״‬liberalen Experim ent“
wurde ein Ende gesetzt. Sein Scheitern zeugte noch einmal davon, daß die
Durchsetzung von dem okratischen Prinzipien ein M indestmaß an gesell-
schaftlicher Entwicklung und Institutionalisierung voraussetzte.
Vandeleur Robinson, ein Engländer und Kenner Albaniens der 30er
Jahre, hat Zogus H errschaftsm ethode {‫״‬ How King Zog Governed“) wie
folgt beschrieben:
‫ ״‬Ruling in the... lands lately ruled by Turkey, is essentially th e art of
dealing with people. ...First you make th e fullest enquieries about a
m an’s abilities and loyalty. ...Then you give him a good job, and
treat him with apparent confidence. After a bit you sack him , to
ensure th at he shall realise his complete dependence upon the
throne. ...Presently you relent, and put him back in office... If he
strikes up a friendship with another functionary, you move one of
them to a rem ote station. This is personal rule, and it is the way in
which King Zog retained control of Albania for more th an fourteen
years.
...One of th e most unpleasant and, in the long run, disastrous
feature of th is kind of régime is the almost inevitable Court ca-
marilla. King Zog had an unpleasant favourite nam ed Abdur-
rahm an Krosi, much hated, and th e centre of all sorts of intrigues.
As is the way with such persons, he had his own clientèle of friends
and favourites, for whom he would exercise a sort of reflected
power of protection, im portuning th e King when necessary ...

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170 A. НаЬіЪі

...the Parliam ent was an assemblage of mere individuals. W hat is


more im portant, these individuals were hand-picked by the
King.“60
Was Robinson so scharf beobachtet hat, ist der Klientelismus in
idealtypischer Gestalt. Er war praktisch in allen Stufen des Verwal-
tungspparates nachweisbar. Parallel dazu kam eine andere Eigenschaft
von Zogus Herrschaftsweise zum Vorschein: seine Strategie von ‫״‬Zucker-
brot und Peitsche“. Tatsächlich, in Zogus Staat durfte sich niem and seiner
Stellung sicher fühlen. Den Beys hielt er die Agrarreform als ‫״‬Schreck-
gespenst“ vor die Nase, - den Bürgerlichen, den Separatisten, den Geistli-
chen die repressiven Gesetze und die militärische Gewalt. Und immer
wieder verkündete er Amnestien, rehabilitierte ehemalige politische
Verfolgte, unternahm Annäherungsversuche zu den feindlichen Gruppen
und schien die Situation perfekt zu meistern. Es ist überflüssig zu
betonen, daß die Wahlen in der zogistischen Periode zu einer Farce
reduziert wurden.
»•

U nter der Überschrift ‫״‬ Corruptio ad absurdum “ behandelt Robinson


ein anderes, mit dem Klientelismus eng verwandtes Phänomen, die
Korruption:
‫״‬Before you get to the Prefect or the Magistrate or the Minister,
who has power to settle your business, you give a present to the
clerk who adm its you. If you do not, the clerk states that th e Mi-
nister is engaged: and the Minister never knows that you have
called.
The higher positions give even greater opportunities. Imagine
yourself a Minister, about to award a contract... Italy has ju st ad-
vanced the money - on which you will, of course draw liberally for
‘expenses’. Your brother-in-law has got some concrete... and the
bill will not be too closely scrutinised. Dishonest? Yes, but how is a
man to live? ...Next m onth the King will perhaps dismiss you, and
there is no pension. Moreover, you are now the prosperous
m em ber of your family; your relations are all clamouring for
sinecures, subsidies, pensions, jobs, contracts, or Heaven knows
what.

60 Robinson: A lb a n ia ’s Road, S. 108-114.

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Albanien in der Zw ischenkriegszeit 171

...It should be said at once th at, particularly of late years, there was
an increasing num ber of genuinely honest men in th e public
service... But not all Albanians looked with th e sam e eyes upon an
honest public servant; a few years ago one such man died, as poor
as he began, and a bystander at his funeral re m a rk e d :... T h e re goes
another fool’.“61

Wenn man alle drei Phasen, die das neue Albanien durchlaufen hat,
unter der Pespektive des Klientelismus betrachtet, ergeben sich folgende
Beobachtungen:
Zunächst - nach form aler G ründung des Staates - m ußten sich neue
M achtstrukturen in freier Konkurrenz um das Gewaltmonopol herauskri-
stallisieren. In diesem Konkurrenzkampf besaßen die Großgrundbesitzer
die eindeutig besten Ausgangspositionen. Sie konnten sich auf ihre wirt-
schaftliche Macht, ihre jeweiligen Söldnerverbände und die kulturelle
Tradition stützen. Konkurrenz erwuchs ihnen seitens d er aufstrebenden
Schichten, für die nicht zuletzt auch die Zeit arbeitete. Erst nachdem sich
die Beys mit Zogu, einem ehemals lokalen Führer, der später in die Rolle
des affektiven, nationalen Führers schlüpfte, verbunden hatten, konnten
sich die zwar kastenbew ußten, aber völlig unorganisierten und zersplit-
terten Beys vor einer gewalttätigen Absetzung retten.
Zogu baute seinen Verwaltungsstab nach klientelistischen Kriterien
auf. Er kooptierte die lokalen Notablen, um zunächst eine politische Sta-
bilität für seine spätere Herrschaft zu sichern. Ein Leader, der das Zen-
trum kontrollierte, besaß die Möglichkeit, Ämter und G üter zu verteilen
und sich im Tausch dafür politische U nterstützung und personengebun-
dene Koalitionen zu sichern. In einem noch nicht institutionalisierten
Staat waren derartige Koalitionen unverzichtbar. D arüberhinaus schufen
klientelistische Strukturen, diese auch in den Randgebieten verwurzelten
menschlichen Netzwerke, eine Verbindung zwischen Zentrum und Peri-
pherie. Zugleich hielten sie die Kosten für den U nterhalt eines Gewalt-
apparates in Grenzen, - Kosten, die der rudim entäre Staat noch nicht
tragen konnte. Eine m eisterhafte H andhabung klientelistischer M ethoden
seitens der herrschenden Oligarchie konnte zeitweilig sogar die Aufwen-

61 Ib id .

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172 A. НаЬіЬі

dungen für kostspielige soziale Reformen ersparen und darüber hinaus


potentielle Gegner in das System einbinden. Die Kunst bestand allerdings
darin, die Mehrung des eigenen Reichtums mit der Redistribution von
Ressourcen zum Zweck der Herrschaftssicherung in Einklang zu brin‫־‬
gen.62 Zogu scheint alle diese Imperative und Künste gekannt und gemei-
stert zu haben. Das Albanien seiner Zeit wies daher alle Merkmale eines
neo-patrim onialen Staates auf.
Auch wenn Zogu die Einschränkung oder gar Gefährdung seiner per-
sönlichen Macht, die von den Beys ausging, mit einigem Erfolg abzu-
schütteln versuchte, blieb der klientelistische Charakter seines Regimes
vollständig erhalten, wenngleich mit dem Unterschied, daß sich der König
jetzt auch auf seine Streitkräfte verlassen konnte. Nepotismus und Triba-
lismus spielten daneben weiterhin eine gesellschaftsprägende Rolle. Zu-
sam m en mit der Fügsamkeit und Käuflichkeit - auf Kosten von
Qualifikation und Effizienz - bildeten sie die Hauptkriterien bei der Re-
krutierung von Staatsbediensteten.
Zogu behandelte die Regierungsangelegenheiten wie private Angele-
genheiten. Ihm ging es nur und ausschließlich um persönliche Macht. In
dieser Hinsicht ähnelte sein Staat späteren afrikanischen Staaten, von
denen Guenther Roth 1968 schrieb: ‫״‬...some of these new states may not
be states at all but merely priv ate governments of those powerful enough
to rule .“63 Ein nennenswerter Fortschritt bei der funktionalen Ausdiffe-
renzierung gesellschaftlicher Rollen und Rollenträger war im Albanien
der Zwischenkriegszeit nicht zu verzeichnen. Die allgegenwärtige Kor-
ruption im Verwaltungsapparat zeugte von dieser einschneidenden Kon-
••

fusion. Amter wurden wie selbstverständlich als Pfründe betrachtet. Eine


Verselbständigung der Politik wurde zwar propagandistisch angestrebt,
aber nie erreicht.
In diesem Sinn bestand eine direkte Beziehung zwischen Klientelismus
und Legitimation von Macht.64 Grundsätzlich kann das Verhältnis eines
Führers zu seinen Gefolgsleuten a) auf purer Gewalt, b) auf persönlichem
Einfluß oder c) auf Autorität beruhen.

62 M édard, Jean-François: The Underdeveloped State, S. 169.


63 R oth, G uenther: Personal ru le rsh ip , p a trim o nia lism and em pire b u ild in g in
the new states, in : W o rld P olitics, Bd. 20,1968, S. 194-203.
64 G raziano: C lientelism o, S. 4 8 -4 9 .

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Albanien in der Zwischenkriegszeit 173

Zogus Fall war der zweite; er hatte lediglich einen engen Kreis von
Personen zur Verfügung, die dazu gebracht wurden, seine Macht zu re-
spektieren. Es gelang Zogu allerdings nicht, die Grenzen dieses engen
Kreises zu überwinden. Autorität bzw. eine durch Familien, Schulen und
relevante Trägerschichten der Gesellschaft verm ittelte und gestützte An-
erkennung seiner Person und Herrschaft, mit anderen W orten: eine
breite Massenbasis erreichte sein Regime nicht. Der Klientelismus erwies
sich dabei als größtes Hindernis. Die persönlichen Netzwerke unterm i-
nierten die Entfaltung horizontaler Vernetzungen und die Formierung
m oderner sozialer Strukturen. Sie sprengten das Vertrauen in rationale,
anonym e Spielregeln und in die Institutionen, die etabliert w urden, um
letzteren Anerkennung zu verschaffen. Die Verhaltensweisen k o rru pter .
Funktionäre und Beamter nährten die Erwartung auf unm ittelbare und
persönliche Vorteile und sabotierten die Wirksamkeit gesellschaftlicher
Neuerungen. Die Akkumulierung materieller Ressourcen zugunsten
staatlicher und gesellschaftlicher Investitionen wurde hintertrieben, so
daß der Modernisierung und der politischen Emanzipation der Bevölke-
rung die Grundlage entzogen wurde .65
Fazit: Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges läßt sich eine weit-
gehende Kontinuität der albanischen Machteliten beobachten. Im U nter-
schied zu vielen anderen europäischen Ländern, wo Ende der zwanziger
Ja h re der ‫״‬Berufspolitiker“ zum dominierenden Typ in politisch-staatli-
chen Spitzenpositionen avancierte, gab es in Albanien keinen Wechsel der
Eliten in der Zwischenkriegszeit. Die traditionellen Träger lokaler Macht
transform ierten sich in Träger der neuen national-politischen Entschei-
dungsprozesse. Das heißt: Wir haben es mit einem Rollentausch, teilweise
mit Elitenzirkulation (von Stammesführern zu Politikern, von Beys zu
‫ ״‬Parlam entariern“), aber nicht mit einem Elitenwechsel zu tun. Hält man
sich allerdings vor Augen, daß die Zwischenkriegszeit nur zwanzig Jah ren
währte, erscheint diese Entwicklung angesichts der Ausgangsbedingun-
gen nicht erstaunlich. Grundlegende strukturelle Veränderungen, die zur
Ablösung der traditionellen Eliten hätten führen können, waren in der
Kürze der Zeit realistischerweise nicht zu vollbringen.

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Bürgertum in Griechenland:
Bürgerliches Selbstverständnis in der Kontroverse -
Die Diskurse der Zwischenkriegszeit

Fanny Papoulia

Das Bürgertum wird gemeinhin verbunden mit dem Eintritt in die Mo-
dem e. Industrialisierung und Französische Revolution markieren den
Beginn des ‫״‬bürgerlichen Zeitalters“, den Übergang von der Agrargesell-
schaft zur Industriegesellschaft, vom Absolutismus zum modernen Ver-
fassungsstaat. Auf der Basis marktwirtschaftlich organisierter Ökonomien
und m oderner Verwaltungen entstanden Funktionsträger, welche die
Grundlage für die Entstehung eines modernen Bürgertums bildeten. Bei
seiner Betrachtung der griechischen gesellschaftlichen Entwicklung
schlußfolgert der Journalist und Historiker Georgios Ventiris 1931:
‫״‬...während das Bürgertum das Rückgrat heutiger Gesellschaften bildet,
fehlte es in den historischen Ereignisabläufen Griechenlands bis zu Be-
ginn des 20. Jahrhunderts...und hat sich bis auf den heutigen Tag nicht
vollständig ausgebildet...“‘ Es stellt sich hierbei die Frage: Welches Ver-
ständnis von Bürgertum legt Ventiris seinem ernüchternden Urteil von
1931 zugrunde? Steht hinter diesem Resümee die bloße Rezeption eines
westlichen Modells bürgerlicher Entwicklung, verbunden mit der Entste-
hung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, den Auswirkungen der französi-
sehen Revolution und der Industrialisierung, an der die griechische
Entwicklung gemessen wird?2 Diese Fragen drängen sich auf angesichts

1 Bevxripnç, recòpYioç: H EXAàç to u 1910-1920. Іотор»кг| рсАстг|. 2 Bde. Athen


1931, ND A then 1970, S. 22.
2 Zu Problemen der Entwicklungsgeschichte des Bürgertum s in Europa vgl.
Kocka, Jürgen: Das europäische M uster und der deutsche Fall, in : Bürgertum
im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Eine Auswahl.
Bd. 1: E inheit und V ie lfa lt Europas, hg. von J. Kocka. G öttingen 1995 (=K leine

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176 F. Papoulia

der Tatsache, daß sich in der Zwischenkriegszeit eine intellektuelle Elite


in Griechenland durchaus als ‫״‬bürgerlich“ definierte. Diesem offensichtli-
chen W iderspruch in der Selbstwahmehmung soll nachgegangen werden.
Bei meinen Betrachtungen möchte ich mich deshalb im folgenden auf das
Selbstverständnis dieser intellektuellen Führungsschicht in der Zwi-
schenkriegszeit konzentrieren, wie es sich in zeitgenössischen Quellen
spiegelt. Zwei Aspekte, die zu den virulenten gesellschaftspolitischen
Diskursen der Zwischenkriegszeit zählen, bieten hier einen fruchtbaren
Zugang. (1.) Die Genese des Bürgertums. Wie w ird der historische Kon-
stituierungsprozeß des griechischen Bürgertums dargestellt und welche
Funktion m ißt man dem Bürgertum innerhalb der gesellschaftlichen
Gestaltungsprozesse zu? (2.) Welche konstitutiven Merkmale von Bür-
gertum werden form uliert? Am Beispiel der Sprachen- und Bildungsfrage
einerseits, des Disputs um das ‫״‬richtige“ Kulturverständnis andererseits
möchte ich die W irksam keit und Grenzen solcher bürgerlicher ‫״‬Selbst-
definitionen“ veranschaulichen.
Die m it den 1920er Jahren auftretende Brisanz der Frage, warum bzw.
ob es in Griechenland - anders als in den westlichen Gesellschaften - im
19. Jahrhundert zu keiner Formierung eines Bürgertums gekommen war,
verweist auf die Rahmenbedingungen, in denen sich diese Diskussion
entfaltete.3 Die griechische Zwischenkriegszeit war (1.) geprägt von einer
tiefen Krisenstim m ung, die im Anschluß an die Niederlage im kleinasia-
tischen Feldzug, der sogenannten ‫״‬Kleinasiatischen Katastrophe“ (1922),
das öffentliche Klim a beherrschte.* Allein die Aufnahme von 1,5 M illionen

Vandenhoeck-Reihe. 1573), S .9-75; H altern, Lutz: B ürgerliche Gesellschaft.


Sozialtheoretische und sozialhistorische Aspekte. D arm stadt 1985 (=E rträge
der Forschung. 227).
3 Z u r G eschichte d e r griechischen Zw ischenkriegszeit vgl. Aàtpvnç, Грпуорю ^:
H EAÀàç цехами био лоХецшѵ 1923-1940. 2 Bde. 2. A u fl. A then 1 9 7 4 ;
M avrogordatos, George T h.: S tillb o rn Republic. Social C oalitions and Party
Strategies in Greece, 1922-1936. B erkeley-Los A ngeles-London 1983;
H ering, G unnar: Die politischen Parteien in G riechenland 1821-1936.
M ünchen 1992, Bd. 2, S. 883-1127; Mazower, M ark: Greece and the In te r-W a r
Econom ic C risis. O xford 1991; BeviÇeXiajióç каг aoxiKÓç eKauYXP°v lo MÒÇ» hg.
v. ГicòpYoç Ѳ. М аироуорбато^ и. XpqoToç Х ат^ш хтгцр. Ira k le io n 1988.

‫י‬ S te llve rtre te n d fü r die um fangreiche L ite ra tu r zu 1922‫ “ ״‬sei fü r unseren
Zusam m enhang le d ig lich erw ähnt Pentzopoulos, D im itri: The Balkan
Exchange o f M in o ritie s and Its Im pact upon Greece. P aris-D en Haag 1965 (=
P ublications du Centre de Sciences sociales d ’Athènes. 1); Augustinos,

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Bürgertum in Griechenland 177

Flüchtlingen bedeutete einen Bevölkerungszuwachs von über 25% und


stellte das Land vor enorme wirtschaftliche und soziale Probleme. Diese
Niederlage w irkte (2.) um so stärker, als ohnehin die Frage über den
griechischen Kriegseintritt in den Ersten W eltkrieg zu einem nachhaltigen
K o nflikt zwischen König und liberaler Regierung geführt hatte, an dem
sich die gesamte Gesellschaft polarisierte. Dieser sogenannte Dichasmos
(Schisma) vergiftete das innenpolitische Klima auf Jahrzehnte hinaus .5
Nach einer Periode großer Reformeuphorie während der ersten
Regierungsphase (1910-1920) unter dem M inisterpräsidenten Venizelos
war (3.) eine weitreichende Ernüchterung eingetreten. Soziale und
institutionelle Mißstände, die dort kurzfristig nicht gelöst werden
konnten, traten nun um so offensichtlicher zu Tage. Schließlich setzte (4.)
m it dem Scheitern der Vision eines Großgriechenlands, die m it viel H off-
nung verbunden war, eine stärker nach innen gerichtete Reflexion ein.6 Es
w ird begonnen, nach inneren Gründen der ‫״‬griechischen Krankheit“ (so
der griechische Bildungsm inister Glinos) zu suchen. Für das als
rückständig empfundene Verharren in Traditionen und das dam it in
Zusammenhang gebrachte N ichtfunktionieren des gesellschaftlichen
Zusammenspiels werden historische Ursachen analysiert. Zwei Parameter
an denen die Unzulänglichkeit der Gegenwart gemessen werden,
bestimmen die Vorstellung eines idealen Zustandes: die ‫״‬eigene“
vergangene geistige Größe und die m it der Französischen Revolution

Gerasimos: Developm ent Through the M arket in Greece: The State,


E ntrepreneurs, and Society‫־‬, in: Diverse Paths to M o d e rn ity in Southeastern
Europe. Essays in N ational Developm ent, hg. von G. Augostinos. New Y o rk -
W estport, C onn.-London 1991, S.92 f f ; Д рітаа, М а р уа р іта : rioXm icéç ксп
oiKovopiKÈç óípciç той лрооф иуікоі) лроРХгіцатод, in : Хицлоою y la тоѵ
ЕХсиѲсрю BcviÇêXo. П р и к т іш . АцсріѲсатро ЕѲѵікои Iôpù|icrcoç Ереиѵшѵ 3.,
4• кш 5. Дскецрріои 1986, hg. ѵ. Е таірсіа ЕХХпѵікои А оуотсхѵж ои ка»
IoTopiKoù Apxeiou и. М оиосіо М лсѵакп. Athen 1988, S.133-144.
5 Zur Geschichte des ‫״‬Dichasmos“ und seiner nachhaltigen Wirkung auf das
griechische politische !,eben vgl. MaupoyopSaToę, I’icôpYoç: O Aixaopôç wç
Kpioq e0 v\K!1ç 0X0KXr!pu)anç, in: Ders.: MeXéTcç кш ксіцгѵа ,nļv леріобо
19 0 9 -19 4 °• Athen-Komotini 1982, S.39-54; Ders.: О Діхаоцо? u>ç та^ікг!
оѵукроиоп. Ebda., S.55-77.
6 Vgl. Дрцарск;, Kwvotcivtívoç: O TcXca<pòpoç аиукераац 0£, in: Іаторіа той
EXXqviKOÙ ’E 0vouç, hg. v. ГссЬрукх; ХрготолоиХо^, Iw áw qç Млаатшд. Bd. 15.
Athen 1978, S. 484-489; TÇiòPaç, Anpr|Tpqç: Ol цстацорфоюсід той еѲѵюцог)
ка i то гбсоХоупца *Л? сХХпѵ1к<гп1тси; ото цеоолоХсцо. Athen 1989.

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178 F. Papoulia

ausgelöste M ustergültigkeit der westeuropäischen Gesellschaften. Die


Frage nach der historischen Rolle des Bürgertums gewann in der
öffentlichen Diskussion in dieser Phase innerer Zerrissenheit und
politischer Instabilität an Bedeutung. Die Funktion von Bildung und das
‫״‬richtige“ Verständnis von K u ltu r werden zu zwei zentralen Diskurs-
elementen.
Die Frage nach dem Konstituierungsprozeß des griechischen Bür-
gertums, eines der virulenten Themen dieser Diskussion, bildet meinen
ersten Untersuchungsaspekt. M it Aufkommen der ersten sozialistischen
Theoretiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts w ird der Bürgertum sbegriff
in den griechischen Sprachgebrauch eingeführt.7 Dem staatsbürgerlichen
Begriff des ‫״‬лоАітпд“ w ird die eher Klassen akzentuierende Bezeichnung
des ‫״‬aoTÓę“ bzw. der ‫״‬аотгкг)1<‫ג‬£‫ “ןז‬zur Seite gestellt. Anders als in West-
europa, wo der Bürgertum sbegriff sich in einem langen Prozeß aus dem
ständischen Bürgerbegriff des Ancient Regime heraus entwickelte, w ird er
in Griechenland nach der Jahrhundertwende als ‫״‬Kam pfbegriff“ einge-
fü h rt: das Bürgertum als sozialer Antagonist der Arbeiterklasse.8
Als einer der ersten them atisiert der Soziologe Georgios Skliros 1919 in
einem historisch weit ausholenden Exkurs die Entwicklung des griechi-
sehen Bürgertums .9 Anhand einer historisch-soziologischen Analyse

7 Z u r E ntw icklung des B ürgertum -B egriffes in G riechenland vgl. KovõúXnç,


Паѵауи*нт|(;: H ка хс^іа той аотікои OTOi/eiou o n ļ ѵсосХЛпѵікг! коіѵш ѵіа к а і
ібеоЛоуіа, in : Т а Іо то р іка 1990) ‫)ך‬, S. 4 f.
8 Z u r Begriffsgeschichte im allgem einen vgl. Riedel, M anfred: Bürger,
Staatsbürger, B ürgertum , in : G eschichtliche G rundbegriffe. H istorisches
I>exikon zu r politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. O. B run ner u.a..
Bd. 1. S tu ttg a rt 1972, S. 672-725 und die kom paratistische A rb e it von
Koselleck, R einhart, U lrik e Spree u. W illib a ld Steinm etz: D rei bürgerliche
W elten? Z u r vergleichenden Sem antik der bürgerlichen Gesellschaft in
Deutschland, England und Frankreich, in : B ürger in de r Gesellschaft der
Neuzeit. W irtsch a ft - P o litik - K u ltu r, hg. v. H ans-Jürgen Puhle. G öttingen
1991 (= B ürgertum . Beiträge zu r europäischen Gesellschaftsgeschichte. 1),
S.14-58.
9 Georgios S kliros (Pseudonym fü r Georgios K onstantinides) w urde 1878 in
Trapezunt geboren. Nach Studien in M oskau und Jena lebte er bis zu seinem
Tod 1919 im ägyptischen A lexandria. Neben der Ausübung seines zweiten
Berufes als A rz t nahm er rege am ku ltu re lle n und publizistischen Leben der zu
jenem Z e itpu nkt etwa 25.000 Personen umfassenden griechischen Gemeinde
te il. V gl. AÇeXóç[!], Aoukôç: Г. EicÀnpóç 1878-1919. H £0‫ ףנ‬той, то épyo к а і ‫ף‬
слохп той, in : L iJ ^ p ó ç , Г.: 'Epya, S. 9 -7 4 ; Е таирібп-П атриаои, Pèva: О Г.

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Bürgertum in Griechenland 179

möchte er Erklärungsansätze fü r die ‫״‬gegenwärtigen Probleme“ der grie-


chischen Gesellschaft aufzeigen.10 Der west- bzw. mitteleuropäische Ent-
wicklungsweg dient ihm protot>pisch als Vergleichsschablone. Er
u n te rte ilt die historische Entwicklung des Bürgerbegriffes in drei aufein-
anderfolgende Stufen. Zunächst umfaßt ‫״‬Bürgertum “ laut Skliros die
Gruppe der Nichtadligen. Somit setzt er den Entstehungszeitpunkt des
griechischen Bürgertums recht schematisch m it dem Niedergang des
byzantinischen Adels durch die Osmanische Eroberung in die M itte des
15. Jahrhunderts an.“ M it dem Verlust des byzantinischen Adels, so seine
zentrale These in Bezug auf die Bürgertum skonstituierung, sei die grie-
chische Gesellschaft eine ‫״‬bürgerliche“ geworden: eine Gesellschaft frei
von aristokratischer Herrschaft - wenngleich unter frem der Herrschaft.
In einer zweiten Stufe ist bei ihm jeder nichtagrarisch Tätige m it einer
gewissen Bildung Bürger.12 Hierzu zählt er die geistigen Vordenker des
nationalen Aufstandes von 1821. Entscheidend ist aber seine d ritte Be-
deutung, die er in das 20. Jahrhundert verlegt.‘3 Der Begriff des Bürgers
erhält nun einen dynamischen , auf Fortschritt und sozialen Wandel ab-
zielenden Impetus. In den ‫״‬D im otikisten“ , der Bewegung zur Durch-
Setzung der Volkssprache, sieht Skliros, die erste bürgerliche Bewegung in
Griechenland. Sie sind die gedanklichen Vorbereiter fü r das große Re-
form werk des liberalen Politikers Venizelos. Hierin gipfelt fü r Skliros die
Verw irklichung eines bürgerlichen Gesellschaftsprogrammes. Das Bür-
gertum w ird som it zum Hoffnungsträger einer m it sozialer Gerechtigkeit
und Chancengleichheit verbundenen Modernisierungsbewegung.
Diese offenkundige Funktionalisierung des Bürgertu ms-Begriffes bei
Skliros entsprach einem, wie sich zeigte, sehr weitgehenden gesellschaftli-

XicÀqpóç oTTļv А іуилто. ХошаАѵацск;, Дпцотікюцос; к а і цстарриѲцюп. Athen


1988.
10 lüA npóç, Г.: Т а avYXPova лроРХгщата тои EXAqviapoù. Alexandreia 1 9 ! 9 > im
folgenden z itie rt nach dem A bdruck in der Werkausgabe: LicXnpóç, Г.: 'Epya,
eingel. и. hg. v. Loukas Axelos. 2. A u fl., Athen 1977, S. 153-358. ‫״‬Т а сгоуХР°ѵа
лроРХгщата t o w ЕХАпѵюцои“ w urde von A p ril bis Ju n i 1919 in Ägypten
verfaßt und erschien im Selbstverlag des A utors a u f Betreiben der
griechischsprachigen L ite ra tu rze itsch rift Alexandrias ‫״‬Т а Грац цата“ in einer
Auflage von zunächst 1000 Exem plaren.
11 XKÀnpóç: Т а аѵуХР°ѵа лрорАгщата, a.a.O., S.213-219.
12 Ebda, S .220-247.
‘3 Ebda, S. 2 9 0 -3 0 5 .

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180 F. Papoulia

chen Bedürfnis nach grundlegenden S trukturreform en. Der solcher-


maßen positiv besetzte Bürgertum s-Begriff wurde von der P olitik
Venizelos vereinnahmt. In einem persönlich von Venizelos in Auftrag
gegebenen Werk verankerte der Journalist Georgios V entiris in seiner
1931 erschienen politischen ‫״‬Geschichte Griechenlands“ die Genese des
griechischen Bürgertums in die zweite H älfte des 19. Jahrhunderts.1* Ziel
war es hierbei, die liberale System politik Venizelos in eine historische
K ontinuität zu stellen, die ihren Ausgang in der M odem isierungspolitik
des M inisterpräsidenten T rikoupis in den 80er Jahren des 19. Jahrhun-
derts nahm. Während Skliros weder der M odem isierungspolitik unter
M inisterpräsident Trikoupis im letzten D ritte l des 19. Jahrhunderts noch
dem M ilitäraufstand von 1909 nachhaltige politische Bedeutung beim ißt,
werden diese zu zentralen Momenten bei V entiris. Der ‫״‬freie griechische
Bürger“ tr itt hier nicht erst im 20. Jahrhundert auf, sondern um 1880.‘5
Die staatliche Neuorganisation unter M inisterpräsident T rikoupis habe
die Voraussetzung fü r den Durchbruch des Bürgertums geschaffen. Seit-
dem sei eine im m er deutlicher werdende Organisierung des Bürgertums
aufzeigbar, die ihren Ausdruck finde in der Gründung von Berufsverei-
nen, Kammern und Verbänden. Die viel beschworene Zäsur von 1909, der
M ilitäraufstand von Goudi, sei demnach Ergebnis und nicht Ursache

‘4 Georgios V e n tiris (1 89 0 -1 9 5 4) arbeitete nach einem Ju ra -S tu d iu m an der


A thener U n iv e ritä t bei zahlreichen griechischen Tageszeitungen. E r gehörte zu
den engen M ita rb e ite rsta b Venizelos in dessen letzten Lebensdekade. Seine
Studie basiert a u f A rc h iv a rb e it und zahlreichen s c h riftlic h und m ünd lich
geführten Interview s m it führenden P ersönlichkeiten des p o litisch e n Lebens
je n e r Z eit. A u f persönlichen W unsch von Venizelos e rh ä lt er den A u ftra g eine
Geschichte des libe ralen Regierungswerkes zu verfassen. Nachdem V e n tiris
sich der im m er rig id e r w erdend R edaktion seines M anuskriptes du rch die
Ehefrau des P olitikers w idersetzte, w urde ih m die zunächst großzügige
finanzielle U nterstützung entzogen. Lam brakis, d e r Herausgeber der
führenden A thener libe ra le n Tageszeitung ‫״‬E leutheron V im a“ , sicherte m it
den Vorabdrucken fü r seine Zeitung schließ lich die Fortsetzung des begonnen
W erkes. So erschien ‫״‬H EXAàç той 1910-1920“ zunächst als A rtik e ls e rie in 56
Folgen, bevor es als zw eibändige M onographie zum allgem einen Standardw erk
fü r die griechische G eschichte de r ersten beiden Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts werden sollte. Bcv‫׳‬rr|pnç: a.a.O., zum E ntstehungshintergrund
des Buches vgl. die E rinnerungen von N avov, А іЛ іка : To XP0VIKÓ M1aÇ
8пцооюура<рои. 2. A u fl. A then 1981, S.149-156.
‘5 B cvtripnç: a.a.O., S.25 ff.

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Bürgertum in Griechenland 181

einer bürgerlichen K onstituierung.‘6 Die Forderung nach Abschaffung der


‫״‬erblichen Oligarchie“ auf der Versammlung 50.000 Athener Bürger im
September desselben Jahres sei, so V entiris, ein deutlicher Ausdruck
eines politischen Herrschaftsanspruchs gewesen. Das erste Mal seit
Staatsgründung habe sich eine solche Anzahl Menschen vereinigt, um
öffentlich ih re r M einung Ausdruck zu verleihen. Die Offiziere und deren
Aufstand von Goudi habe ihnen den Im puls gegeben, ihre Forderungen
zu bekräftigen. Die nicht scharf genug ausgeprägten sozialen Antagonis-
men zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Klassen hätten jedoch die
K raft dieses Aufstandes geschwächt. Dieses sei darauf zurückzuführen,
daß der griechische Bürger sich sozial und w irtschaftlich nicht in dem
unüberbrückbaren Maße von der politischen Oligarchie, wie das westeu-
ropäische Bürgertum von der privilegierten Klasse unterschieden hätte.
Um dem drohenden Scheitern des Aufstandes entgegenzuwirken, so die
Interpretation V entiris, war die ‫״‬schwache Bürgergemeinde“ gezwungen,
eine starke politische Persönlichkeit fü r ihre Führungsaufgaben zu beru-
fen.17 Diese habe sie in dem kretischen P olitiker Eleftherios Venizelos
gefunden. Die Übertragung von Sonderrechten und gleichzeitige vertrau-
ensvolle Unterordnung unter seiner Führung habe ihre noch junge
Volksherrschaft [Хаократіа] geschützt und habe som it das große liberale
Reformwerk geschützt. Bürgertum und Bürgerlichkeit wurden zu den
Garanten einer sozialen Modernisierung. Diese Sicht auf das Bürgertum
prägte weitgehend das zukünftige Geschichtsbild und wurde auch in sy-
stem stabilisierender H insicht instrum entalisiert.
Das unter den Bedingungen der Zwischenkriegszeit konstruierte
Selbstbild des Bürgertums als ‫״‬Modernisierungsagent“ w arf im folgenden
die drängende Frage auf, in welchem gesellschaftlichen Bereich dieser
Um strukturierungsprozeß greifen sollte. N ur marginale Berücksichtigung
finden ökonomische Aspekte. Der Bürger als Bourgeois hatte kaum einen
prägenden Einfluß auf die Debatte. Statt dessen g riff man die von den
D im otikisten aufgeworfenen Fragen wieder auf und konzentrierte sich
auf den Bildungsbereich. Am Beispiel der brisanten Bildungsfrage möchte
ich deshalb den zweiten Teil meiner Fragestellung illustrieren, nämlich

16 Seine Bewertung der Ereignisse um den M ilitä ra u fsta n d von 1909 s. Bcvrr!pnç:
a.a.O., S .37-66.
«7 BevTiipnç: a.a.O., S.51-59, 74 f.

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182 F. Papoulia

die Frage nach den konstitutiven Merkmalen von Bürgertum in der grie-
chischen Diskussion.
Bildung und Bildungspolitik, so der Pädagoge Glinos, sollten die
Führungsaufgabe des Bürgertums sein, es gleichsam im Gegenzug aber
auch konstituieren.18 Unter dem Schlagwort der ‫״‬Griechischen Krank-
heit“ führte Glinos deshalb die Schwäche des Bürgertums im 19. Jahr-
hundert darauf zurück, daß es sich eben diesem Führungsanspruch
verweigert habe.19 Während in allen Gesellschaften das Bürgertum m it
dem Moment seiner Herrschaftsdurchsetzung die jeweilige Sprachenfrage
gelöst habe, gebe man sich in Griechenland seit hundert Jahren nach wie
vor klassizistischen Träumereien hin. Glinos wandte sich dam it entschie-
den gegen die Anhänger der am Altgriechischen orientierten Kathare-
vousa, einer künstlich geschaffenen ‫״‬Reinsprache“ . Diese Richtung
verwarf die gesprochene Volkssprache als Produkt des geistigen Verfalls
der Griechen unter Osmanischer Herrschaft, die ih re r Ansicht nach eine
Rückbesinnung auf die eigenen antiken Traditionen behindere.20 Glinos’
Vision, auf der Grundlage des aufklärerischen Bildungsideals eine neue
bürgerliche Identität zu schaffen, hatte in der Gründung des

18 D im itrio s G linos w urde 1882 in Sm yrna geboren und absolvierte die dortige
griechische ‫״‬Evangelische Schule“ . Nach Studien an der Philosophischen
F a kultät Athens, Jena und Leipzig übte er an verschiedenen O rten seinen
B eruf als I^ h re r aus. U n te r den Regierungen des M inisterpräsidenten
Venizelos hatte er zahlreiche Ä m te r im Bereich der B ild u n g sp o litik inne:
R ektor der A thener Pädagogischen Hochschule (1912), M ita rb e ite r des
B ildungsm inisters T sirim okos (1913), Leiter des ‫״‬Erziehungsrates“ der
provisorischen Regierung Venizelos in Thessaloniki (1917). 1925 verfaßte er die
Satzung der neugegründeten U nive rsitä t von Thessaloniki. D arüber hinaus
gründete er 1921 die ‫״‬Höhere Frauenschule“ und die ‫״‬Pädagogische
Akadem ie“ (1924). Zum ideengeschichtlichen H in te rg ru n d von G linos vgl.
IpßptuTng, n à w n ç : H ібсоХоуікг) лорсіа той Д ‫ף‬ц‫ף‬тp‫ ף‬rX qvov, in:
ЕліОсшрпоп T é /vn ç 9 (1964), S .389-396.
19 r ^ v ó ç , Дпцг|трп5: Н еХЛпѵікг! аррсоотеіа, in : AvaYCwqoq 1 (1926), S.121-
129 (= ND in : rXnvòç, Д ‫ןוו^ף‬тp‫ף‬ç: EicXciacç ocXi6cç. Bd. 2, S.109-123). Der
Text ist die A n tw o rt G linos’ a u f eine von der Zeitung ‫״‬EXcùOcpoç Tim oç“
durchgeführten Interview s über Phänomene, Ursachen und
Bewältigungsstrategien der zum dam aligen Z e itp u n kt em pfundenen Krise.
20 Z u r P roblem atik der griechischen Sprachenfrage vgl: H ering, G unnar: Die
Auseinandersetzungen über die neugriechische Schriftsprache, in : Sprachen
und N ationen im Balkanraum . Die historischen Bedingungen der Entstehung
der heutigen N ationalsprachen, hg. von C hristian H annick. K ö ln -W ie n 1987,
S.125-194.

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Bürgertum in Griechenland 183

‫״‬Erziehungsvereins“ im Mai 1910 konkrete Gestalt gewonnen.21 Der


‫״‬Erziehungsverein“ war die Organisationsplattform der Dim otikisten-
Bewegung. Von der Durchsetzung der Volkssprache und der Einführung
protot>pischer Modellschulen erwarteten die M itglieder eine tiefgreifende
Reform des Systems von innen heraus auf der Grundlage umfassender
Volksbildung. Diese Erwartung erfüllte sich zunächst, nicht zuletzt, weil
einige der prominentesten M itglieder des Erziehungsvereins in die b il-
dungspolitische Arbeit der Regierungen Venizelos integriert wurden.
Berühm t geworden ist die Triade der Bildungswissenschaftler Glinos,
Delmouzos und T riantafyllidis, die als eigentliche Architekten der neuen
B ildungspolitik in dieser ersten Regierungsphase Venizelos’, die wohl
radikalsten Bildungsreformen seit Staatsgründung durchsetzten.22 Höhe-
punkt der Reform maßnah men bildete die Einführung der Volkssprache
als Unterrichtssprache in den ersten vier Grundschulklassen sowie die
parallele Abschaffung des Altgriechischen als U nterrichtsfach.^ Es muß

21 Z u r Gründungsgeschichte des ‫״‬Erziehungsvereines“ s. die G rundsatzerklärung


und den E inladungsbrief zur M itgliedschaft, abgedruckt in: ДеХтіо той
Е кясибсѵтікои ОціХои 1 (1911), S .4 -6 ; vgl. auch T01pt!1ÓK0ç, MàpKoç: Іоторіа
той Е клаіб ситж оі) ОціХои (Граццсѵл ало čvav ібритт!), in: Nêa Е отіа 1
(1927), H e ft 7, S.401-410 и. H eft 8, S .468-478; ХараХацлоѵс;, Дпціугрпд Ф.:
О Ełcru16cuT1KÓę ,ОціЛод: ‫ ף‬iöpuaq, ‫ ף‬браол той y ia тлѵ склаібситгкг)
цетаррѵѲцшп ка » ‫ ף‬біаолаог! той. Thessaloniki 1987 (Па1баушу»кс§ McXctcç
k u i 'Epcuveç, 10), S .43 -6 0. lib e r die soziale Zusammensetzung des Vereines

vgl. Д ‫ף‬цapàç, AÀèï,nç: T a цсХп той Е клаібситікои ОріХои (1910-27). Прштсд


CKTipnociç, in : Ta Is to rik û 16 (1992), S.95-120.
22 Zu den Gesetzesentwürfen und Reformmaßnahmen im Einzelnen incl.
A bdrucke der Gesetzesentürfe s. rXpvóç, Дпцг!трпс;: А лаѵта, hg. von ФіХілло^
iXiox), Bd. 2. A then 1983, S. 183-372; AeXjiouÇoç, AXè^avôpoç: McXèxeç ка !
n à p c p y a (М стаѲ аѵатга скбооп), Bd. 2. Athen 1958, S. 224 f.; Anpapàç,
AXé^qç: HpooOèociç тшѵ лрштыѵ K‫־‬ußcpvr|0c0)v BeviÇèXou (1910-1913) ота
скл а іб си тіка . Evôci^ciç ало ѵоцоѲетіка ксіреѵа. МсХстгщата yùpw ало тоѵ
BcviÇéXo к а ! Tqv слохп той, hg. von Oàvoç Bepépnç u. Oôuooèaç
ДЛИПтраколоиХо^. A then 1980, S.21-47.
23 Gesetz N r. 827 vom 5.9.1917 und Gesetz N r. 1332 vom 27.4.1918, welche
zusammen k o d ifiz ie rt w urden im königlichen D ekret vom 15.5.1918. Einen
G esam tüberblick über die Bildungsreform en der Zwischenkriegszeit gibt
Длцарш ;, AXé^qç: Е клаібсиоп 1913-1941, in : Іо то р іа тои ЕХХпѵисой 'ЕѲѵоѵд,
hg. von recopYioç ХріатолоѵХо^ и. Iw àvvnç М лаотгад. Bd. 15, Athen 1978, S.
4 8 9 -4 9 3 . Zum C harakter der B ild u n g sp o litik un te r den Regierungen
Venizelos vgl. Ders.: Х а р а ктп р ю тіка аотікои фіХсХсиѲеріоцоі) ота
скл а іб е и тіка лроураццата тыѵ ки(крѵг!оса)ѵ BcviÇéXou. BeviÇcAiapòç к а і
aoTiKÒç CKauYXPoviopóç, hg. von FiwpYioç Ѳ. MuupoYopôaToç u. Xp110T0ç X.

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184 F. Papoulia

allerdings betont werden, daß sich diese Reformmaßnahmen in erster


Linie auf die Grundschule beschränkten. Die m ittlere und höhere Schul-
ausbildung verharrte nach wie vor in einem strengen Klassizismus, der
w irklichkeitsfrem d blieb.
Doch schon bald stieß das Selbstbild des Bürgers als ‫״‬Bildungsagent“
an seine Grenzen. Das Modell der sozialen Modernisierung auf dem Weg
der Bildungsreform verlor in dem Maße an Rückhalt, wie die ausgeklam-
merten ökonomischen Umbrüche sich in wachsenden Klassenantagonis-
men niederschlugen. Glinos selbst verwarf nun die Idee des bürgerlichen
Bildungsauftrages. Bildungsreformen m it dem Bürgertum als Träger-
gruppe betrachtete er als nicht realisierbar. Wie auch andere griechische
Intellektuelle wechselte er unter dem Eindruck des gescheiterten bürger-
liehen Modernisierungskonzeptes in das sozialistische Lager.2■♦ Bildung
wurde nun zu Klassenbildung und richtete sich dam it gegen ihre früheren
Verfechter. In starren Formen standen sich die ehemals in der Bildungs-
frage Verbündeten Glinos und Delmouzos gegenüber. Während Alexand-
ros Delmouzos an dem Grundsatz Bildung fü r alle festhält und m it Volk
die gesellschaftliche Einheit gleichsetzt, w ird bei Glinos der Volksbegriff
nun in einem marxistischen Interpretationsansatz als Klassenbegriff ver-
standen. Das V olk w ird dam it abgesetzt von der ‫״‬herrschenden Klasse“ ,
dem Bürgertum . Das Konzept einer ‫״‬Bildung fü r die Gesamtheit“ hat laut
Glinos keine andere Funktion als eine Bildungspolitik zu kaschieren, die
letztendlich n u r den Interessen des Bürgertums diene. Delmouzos wehrt
sich gegen eine solche Politisierung der Kategorie Bildung. Sie müsse
unabhängig von parteipolitischen Interessen verfolgt werden, da sie eine
den sozialen Klassen übergeordnete Größe darstelle. Der Schüler müsse
zum gesamtgesellschaftlichen Gemeinsinn erzogen werden. Über das
Verhältnis von Bildung bzw. Bildungsreform zu sozialpolitischen Fragen
konnte schließlich keine Einigung erzielt werden. Die Diskrepanzen gip-
feiten im Frühjahr 1927 in der Spaltung des Erziehungsvereins.25 In ei-

Хсл£п1аюг|ф. 2. A u fl. Ira k le io n 1992 (П а ѵсл іа тп щ а кгд Екбооеід Kpr|xr|ç),


S .21-32.
2•‫ י‬M it d e r G ründung d e r ‫״‬Kom m unistischen Partei G riechenlands“ (K K E ) 1924
b o t sich fü r zahlreiche lin ke K ritik e r des Venizelism us eine politische
A lte rn a tiv e , dazu M avrokordatos: S tillb o rn Republic (w ie A nm .3), S.335-337.
25 Die unausw eichlich gewordene Spaltung des Erziehungsvereins w urde
d e u tlich a u f d e r Jahreshauptversam m lung 16.2.-24.3.1927. Zu den

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Bürgertum in Griechenland 185

nem offenen Brief erklärte der auf der Jahreshauptversammlung


unterlegene Flügel um Delmouzos seinen geschlossenen A u stritt.26 Ange-
sichts der im m er schwächer werdenden Dynamik des Venizelismus und
einer zunehmend erstarkenden sozialistischen Organisierung zerbrach
die integrative Funktion von Bildung als Bindeglied fü r ein gemeinsames
bürgerliches Verständnis.
Ich komme zu dem zweiten Beispiel, an dem ich bürgerliche Selbst-
definition darstellen möchte. Es war die junge ‫״‬Generation der 30er“ , die
zu Beginn der 1930er Jahre eine gewandelte Funktion und dam it verän-
derte Grundlage bürgerlichen Selbstverständnisses aufbrachte.27 Stark
geprägt von den Kriegs- und Fluchterlebnissen der ‫״‬Kleinasiatischen
Katastrophe“ (1922) drängte sie darauf, Antworten auf eine tie f em pfun-
dene nationale und kulturelle Identitätskrise zu finden. Über die rein
literarische Verarbeitung ihrer Erfahrungswelt hinausgehend begann sie,
sich kritisch m it einem von ih r als ‫״‬verkrustet und erstarrt“ empfundenen

unterschiedlichen Positionen von Delmouzos und G linos s. H рстарриѲщоп


лои беѵ èyivc (Текцг!р1а Io to p îa ç ), hg. von AXè^nç Дпцарас;. Bd. 2: 1895-
1967, S.151-153; sie dokum entiert sich schließlich in d e r öffentlichen
A u strittse rklä ru n g von 44 M itg lie de rn um A. Delmouzos in : ЕХсиѲероѵ Вгціа
vom 8.5.1927 und der neuen G rundsatzerklärung um den verbliebenen Flügel
um D. G linos ‫״‬Д іа кіір у ^ п t71ç Д»о»кп‫־‬пкг|£ Ел»тролг!£ той Е кл а іб е гт ко ѵ
ОціХои“ , abgedruckt in : А ѵаусѵѵпоп 1 (1927), S .578-589; die Positionen des
Delm ouzos-Flügels ausführlich auch in : AeXpoùÇoç, AÀé^avôpoç: П а іб сіа ка»
Коцра. Athen 1947, S .33-84 über Einzelheiten der Auseinandersetzungen
siehe auch die Erinnerungen von Ewnepvtqç, £xpà‫־‬n1ç: H цеуаАп кацлг),
M apTvpicç-Avanvr|0c1ç 1 9 2 4 -1974. Athen 1975, S. 185-241; vgl.
ХараХарло«(;, Д ‫ף‬ц‫^ף‬p‫ף‬ç Ф.: О Е к л а іб е іт к о ^ ,ОціЛо^: U »öpuoq, ‫ ף‬браоп той
Y»a ■nļv еклаібситгкг! цстарриѲцюп к а і ‫ ף‬біаолаог! той. Thessaloniki 1987
(= П а 1бауи)у 1кс£ McXéxcç ка» ’Epcwvcç. 10), S.117-155; Ф раукоибакп, À w a :
Е клаібситікг) ^^eтapp‫ס‬Ѳ |il0‫ ף‬ка» tpiXeXcùOcpo» бюѵооицсѵо». Ayovo» ауыѵед
ка ! 16еоХоу»ка абіс^оба ото цсоолоХсцо. Athen 1977, S. 7 6 -8 5 .
26 ЕХейѲероѵ Вгща vom 8.5.1927. Der Verein habe seine Zielsetzung
grundlegend geändert. E r hätte nach der A nsicht der Verfasser des Briefes
w e ite rh in ein re in e r ‫״‬B ildungsverein“ bleiben müssen. Ä hnliche Diskussionen
wie die h ie r beispielhaft aufgeführte innerhalb des ‫״‬Erziehungsvereins“ , haben
auch in anderen Vereinen und Verbänden stattgefunden. So spaltete sich
un te r ähnlichen Um ständen 1928 auch der Lehrerverband.
27 Zum Forschungsstand über die ‫״‬G eneration von ’30“ vgl. Млаоко^ос;, Г »àvvqç
N.: О реоолоХсро^ ка» ‫ ף‬лс£оура<р»а. Еюауш у*1^ ларатт!рг|0е»£ лро^
6»cpciw ļ0n, in : Діара^а) N r. 279 (22.1.1992), S.14-18; vgl. V itti, M a rio: H
‫״‬Геѵіа той Т р іа ѵта “ . ІбсоХоуіа к а і цорф»1. 2. neue, überarb. A u fl. A then 1995;
Tastsoglou, Evangelia: Social Class, Ideology, and the N ovel in In te rn a r
Greece (1922-1940), in: M odern Greek Studies Yearbook 8 (1992), S.241-271.

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186 F. Papoulia

Umfeld auseinanderzusetzen. N icht mehr die soziale Modernisierung,


sondern die kulturelle M odernisierung wurde hierbei zum Kern des Bür-
gertumsbegriffs. Unter dem programmatischen T itel ‫״‬Freier Geist“ veröf-
fentlichte der Schriftsteller Theotokas 1929 eine Essaysammlung, in der
er fü r die ideelle Erneuerung der griechischen K u ltu r plädierte .28 Sein
Manifest ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, g ilt es doch als
Gesinnungsliteratur einer ganzen Generation. Theotokas richtet sich
gegen die vorherrschende kulturpolitische Strömung des ‫״‬Helleno-
zentrismus“ , der sich ursprünglich aus einem Rekurs auf die historische
Größe der Griechen in der A ntike bzw. Byzanz speiste und je tz t die
V olkskultur als grundlegendes Identifikationselem ent entdeckte.2’ Dieser
Kreis, aus ursprünglichen Vertretern der Dimotikisten-Bewegung, so
lautet der V orw urf von Theotokas, verknüpfe nun die V olkskultur m it
historischen Traditionen und verharre so in einem ewig gestrigen
Ahnenkult. Sittliche und ku ltu re lle Normen müßten den realen Lebens-
bedingungen entsprechen und würden deshalb zwangsläufig andere sein
als die der Vätergenerationen. Traditionen könnten nur m ittelbar - auf
die Bedürfnisse realer Anforderungen zugeschnitten - der Zukunftsgestal-
tung dienlich gemacht werden. Der rückwärtsgewandten T raditionalität
und dogmatischen Engstirnigkeit der von ihm kritisierten Hellenozen-
tristen stellte Theotokas M einungspluralism us und D iskurskultur als
spezifisch bürgerliche Werte gegenüber. Er forderte die Wiederbelebung
des Humanismus als Leitidee einer jungen Generation auf dem Weg in
eine neue sittlich begründete Gesellschaft.30 Damit reagierte er auf die

28 [O restis DigenLs] O cotokôç, Гсы рую ^: ЕХейѲсро ГІѵсица. A then 1929, ND


Athen 1973 (= N ća ЕХХлѵікг! В1рХюѲг|кп. 22), siehe auch die ausführliche
E inleitu ng von К.Ѳ. A npapàç in dieser Ausgabe S.ic’-X ß ’.
2‫י‬ E r bezieht sich hierbei nam entlich a u f den K ritik e r Fotos P o litis (1 8 9 0-1 93 4 )
und den Professor fü r neugriechische P hilologie an de r U n ive rsitä t von
Thessaloniki G iannis A postolakis (1 88 6-1 947), OeoToicàç: a.a.O., S.13 ff.. Z u r
E ntw icklung des H ellenozentrism us als neugriechische Ideologie vgl.
KovSùXqç: a.a.O., S .16-20; zu den einzelnen V e rtre te rn des H ellenozentrism us
in der Zw ischenkriegszeit vgl. TaÒKOvaç, Дпцг)трп£ Гр.: А оуотсхѵіа к а і
Kowcovia ото МсаолоХецо. A then 1987, S .400-418.
3° O cotokùç, r»á)pY0ç: E jm póç ото ко іѵш ѵіко лрорХлца. A then 1 9 3 2. in i
folgenden z itie rt nach ÕeoToicàç, Гшруос;: Е тохаоцоі к а і Ѳсоск;. П о Х т к а
кеіцсѵа 1925-1966. B d .l: 1925-1949, hg. v. Nhcoç AXiPiÇòtoç u. M1xàAr!ç
Тоалоуас;. A then 1996, S.170-197. Z u r politischen H altung Theotokas vgl.
auch die E inleitu ng von N íkoç AAíPiÇòtoç in : Ѳсотокш ;: a.a.O ., S .4 3 -9 6 ;

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Bürgertum in Griechenland 18?

wachsende Krisenstimmung von Sittenverfall und Werteverlust. Das


Bürgertum wurde je tzt zum ‫״‬K ulturträger“ . Nicht mehr der Bildungs-
auftrag, sondern der Kulturauftrag bekam konstitutive Qualität fü r das
bürgerliche Selbstbild. Ziel dieser vom Bürgertum getragenen ideellen
Erneuerung der griechischen K u ltu r war fü r diesen Protagonisten der
30er Generation die Vision eines die Gesellschaft fundierenden Bürger-
humanismus.
Abschließend stellt sich die Frage gab: es in Griechenland der Zwi-
schenkriegszeit ein Bürgertum? Folgt man der inzwischen klassischen
sozialgeschichtlichen Bürgertumsforschung m it ih re r schematisierten
Klassifizierung von bürgerlichen Schichten, so wäre die Antw ort wohl
negativ.3» W ählt man dagegen - wie hier geschehen - einen kulturge-
schichtlich akzentuierten Zugang zur griechischen Geschichte, dann er-
öffnet sich ein anderer Blick auf die Fragestellung. In den Diskursen der
Zwischenkriegszeit spiegelte sich die Selbstwahmehmung als Bürgertum.
In engster Verschränkung m it den gesellschaftsgeschichtlichen Ereignis-
sen \u1rden bürgerliche Deutungs- und Handlungsmuster entwickelt, die
in spezifischer Weise den jeweiligen zeitpolitischen Bedürfnissen entspra-
chen. Entsprechend waren die Deutungsmuster, was Bürgertum ausma-
che, sehr kurzlebigen Konjunkturen unterworfen. Der griechische Fall
zeigt, daß das Konzept Bürgertum in höchstem Maße funktionalisierbar
ist. Es konnte ganz unterschiedlichen gesellschaftpolitischen Bedürfnis-
sen entsprechen. Angehörige des Bürgertums sind demnach eben nicht
nur nach sozialgeschichtlichen Kriterien zu definieren, sondern auch aus
ihrem bürgerlichen Selbstverständnis. Das mag eine griechische Beson-
derheit sein, eine Überprüfung anhand anderer ‫״‬nicht-bürgerlicher“ Ge-
sellschaften wäre aber sicherlich lohnenswert.

КітроцпХібпд, riaoxãX nç M .: T a ó p ia той еХАпѵікоѵ фіАсХеиѲсрюцои: То


ларабеіуцца "‫ז‬°‫ ט‬ГмЬруои Ѳ сотока, in : Aiaßa^co N r. 137 (12.2.1986), S .37-
40; Ile n o vriç, A v. £.: О Гіыруо^ (‫ )־‬c o i o k ù ç к а і ‫ ף‬сХАпѵікг) л о А ткг! акегуп, in:
То Вг!ца tn ç KupiaKnç vom 23.5.1976.
3• Die M öglichkeiten über M ethoden der quantifizierenden Sozialgeschichte,
diese ausgesprochen heterogene soziale F orm ation zu erfassen haben sich a b
recht begrenzt erwiesen, vgl. dazu Kocka: a.a.O., S. 9 ff.

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Die ‫״‬überlebte“ Elite:
Rumänische Aristokratie in der Zwischenkriegszeit

Mihai Sorin Rädulescu

Das Thema könnte überraschend wirken, weil es eine Reihe von Fragen
hervorruft: Gab es w irklich eine rumänische Aristokratie? Kann man in
unserem geographischen und kulturellem Raum von A ristokratie im 20.
.Jh. sprechen? Kann man dieses komplexe Problem ohne systematische
Quellen studieren, ohne eine statistische Analyse, die m it unseren heuti-
gen M itteln eher als unverw irklichbar erscheint? Wie sollte man die Ent-
wicklung dieser E lite ohne die notwendigen H ilfsinstrum ente studieren
können, aber auch ohne allgemeine sozialgeschichtliche Werke, weil uns
noch im m er die Synthesen in diesem Bereich fehlen? W ir verfügen weder
über eine Geschichte der Bojarenklasse noch über eine Geschichte des
rumänischen Bürgertums. Die Werke von §tefan Zeletin, Eugen Lovi-
nescu, M ihail Manoilescu, loan C. F ilitti, Constantin C. Giurescu - und
diese Aufzählung ist bestim m t unvollständig - , die als wertvolle Beiträge
in dieser Richtung angesehen werden können, ersetzen aber nicht die
fehlenden Studien zur Geschichte der sozialen Klassen und Gruppen
Rumäniens. Ebenso fehlen Lexika der rumänischen P olitiker, Studien zur
Prosopographie der politischen Parteien, oder genealogische Synthese-
werke. Diese historiographischen Schwierigkeiten haben eine eindeutige
Erklärung: sie sind den historischen Bedingungen zu verdanken, die in
Rumänien nach dem Zweiten W eltkrieg eingeführt wurden. Während der
langen Periode to ta litä re r Unterdrückung standen die Archive nur te il-
weise den Forschem zur Verfügung. Viele Themen bekamen eine offizielle
Interpretation, die keinen Platz fü r alternative Meinungen ließ. In dieser
Atmosphäre wurde das Studium der rumänischen Eliten in großem Maße

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190 M. S. Ràduteseli

ignoriert und selbst der Begriff der ‫״‬E lite“ hatte einen subversiven Cha-
raktér.1
In der rumänischen Gesellschaft hatten sich in der Zeitspanne zwi-
sehen der Herrschaft des Fürsten Alexandru loan Cuza und der Einfüh-
rung des kommunistischen Regimes sozio-politische Eliten entwickelt,
die vor 1989 m it einem vereinfachenden und propagandistischen Begriff
als ‫״‬burghezo-mo§ierime“ (Bourgeoisie und Gutsbesitzer) bezeichnet
wurden. Die Bedeutung dieser Eliten kann nicht unterschätzt werden,
ohne die Geschichte dieser Epoche selbst zu verfälschen. Aus den geho-
benen Kreisen der rumänischen Gesellschaft stammten die meisten Ak-
teure der rumänischen politischen Szene: von der Bewegung der jungen
rumänischen Bojaren in 18482 bis zu den Führern der demokratischen
wie antidemokratischen Parteien der Zwischenkriegszeit.
Die Aristokratie hat die rumänischen H istoriker und Soziologen wenig
interessiert. A uf der Suche nach der nationalen Eigenartigkeit der
rumänischen Gesellschaft schienen sie ihre aristokratische Dimension
eher vergessen zu haben. Dieser Zustand ist seltsam, wenn man die wich-
tige Rolle bedenkt, die die Bojaren während des ganzen M ittelalters fü r
die Erhaltung des Staates sowie im kulturellen Leben gespielt haben. Die
Bojarenfamilien lebten auch nach 1858, dem Jahr der Abschaffung der
Bojarenprivilegien weiter, indem sie ih r Prestige behielten. Die Aristokra-
tie bewahrte ihren sozialen Status, auch nachdem sie nicht mehr einen
kla r abgegrenzten Teil der Gesellschaft darstellte. In diesem Sinne scheint
uns die von M ihail Manoilescu gegebene D efinition des Begriffs ‫״‬Klasse“
verwendbar: Sie ‫״‬kennzeichnet sich durch eine relative Dauer der aufein-
anderfolgenden Generationen derselben Familie. Man erkennt die Masse
dadurch, daß sich die Individuen, die ihre M itglieder sind, in der Zeit
physisch verschwinden, aber die Familienstämme sich nur wenig verän-

1 Rädulescu, M ih a i S orin: N ojiunea de e litä in isto rio gra fia occident ala [D er
B e g riff ‫״‬E lite “ in der w estlichen G eschichtsschreibung], in: C ontem poranul,
N r. 7, Bukarest, 19. Februar 1993, S .8 -9 .
2 B erindei, Dan: Legäturile genealogico d in tre fru n ta ç ii re v o lu te ! de la 1848 d in
Tara Româneascã [D ie genealogischen V erbindungen zwischen den A n fü h rern
der R evolution von 1848 aus der W alachei], in : Caietele B alcescu,IX -X ,
Bälce$ti pe Topolog, 1984, S.113-120.

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Rumänische Aristokratie in der Zw ischenkriegszeit 191

dern.“3 Diese D efinition kann fü r die Bojarenfam ilien verwendet werden,


deren Stämme sich o ft bis heute fortsetzten. M ehr als in jedwelchen an-
deren Teil der rumänischen Gesellschaft ist die K ontinuität der Familien
im Falle der Aristokratie erkennbar. Manoilescu definierte drei
Hauptzüge der Begriffs ‫״‬Klasse“ : 1‫״‬. Die Klasse ist eine soziale Gruppe, die
aus zahlreichen Familien besteht. 2. Sie w ird durch die K ontinuität der
Generatioen gekennzeichnet, indem ihre M itglieder durch Geburt rekru-
tie rt werden. 3. Die Klasse ist eine soziale hierarchische und horizontale
Gruppe.“*
Die genealogische Forschung fü h rt zu der Schlußfolgerung, daß wäh-
rend der Zwischenkriegszeit die Bojarenfam ilien eine wahre Klasse bilde-
ten,5 auch wenn ihre ökonomische Macht und ih r politischer Einfluß sich
im Vergleich zu der Lage vor dem Ersten W eltkrieg erheblich verringer-
ten. Die Meinungen der H istoriker und Soziologen über die K ontinuität
der rumänischen Aristokratie sind sehr unterschiedlich. Der H istoriker
Radu Rosetti, Nachfahre von moldauischen Großbojaren und Enkel des
letzten Hospodaren der Moldau, Grigore Alexandru Ghica, schrieb über
die ‫״‬perfekte Ruine der Bojaren, die aufgehört haben, ein politischer
Faktor zu sein“ , sogar vor dem Ersten W eltkrieg.6 1907 waren fü r diesen
A utor die Nachfolger der Bojaren, ‫״‬als Anzahl wie auch als ökonomische
Bedeutung eine ganz vemachlässigbare Menge geworden, eine winzige
Fraktion m it Ansprüchen innerhalb der neuen führenden Klasse. Die alte
rumänische Oligarchie, wenn sie noch lebt, verdankt diesen Lebensrest
der Erinnerung ihrer vergangenen Macht, und nicht ih re r aktuellen
Macht, die nicht existiert.“7 W ir sind nicht der Meinung von Radu Rosetti
über den Abgang der Bojaren von der Szene der Geschichte. W ir werden
weiter unten auch konkrete Gründe angeben, die man fü r das Bewahren
der Stellung der Bojaren in den politischen und kulturellen Strukturen
nach der Zwischenkriegszeit anführen kann.

3 M anoilescu, M ih a il: R ostul $i d e stin u l burgheziei rom âneçti [D e r Sinn und das
Schicksal d e r rum änischen Bourgeoisie], Bukarest, o J ., S.23.
* Ebda., S.25.
5 Ebda., S .3 0 3 -3 0 5 .
6 R osetti, Radu: Pentru ce s-au räsculat g ra n ii (W arum sich die Bauern
auflehnten), hg. von Z. Om ea. Bukarest 1987, S .3 6 8 -3 6 9 .
7 Ebda., S-369, siehe auch S.370 u. 372.

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192 Aí. S. Ràduteseli

Eine interessante Meinung wurde von dem Soziologen §tefan Zeletin


ausgedrückt, der über die Beseitigung des Adels durch die Bourgeoisie,
über die ku ltu re lle Opposition, die die alte führende Masse ausgeübt
hatte, sprach.8 Wenn in anderen Ländern der Adel die Macht in seinen
Händen m it H ilfe der Waffen zu bewahren versuchte, verwendeten
‫״‬unsere Bojaren edlere Waffen als die gewöhnlichen: als führende Klasse
hatten sie das M onopol der K ultur, der Intelligenz. Darum richteten sie
gegen die Bourgeoisie die scharfsinnigen Waffen der Wissenschaft. An-
ders gesagt, war ih r Kampf ein kultu re ller Kampf.“9 So entstand die Ge-
sellschaft ‫״‬Junim ea“ als ku ltu re lle r Ausdruck des ‫״‬theoretischen Kampfes
gegen die rumänische Bourgeoisie“ .10 Gleichzeitig war die Bourgeoisie
im m er mehr bestrebt, die Aristokratie, deren Lebensweise als vorbildlich
galt, nachzuahmen.11 Die Aristokratisierung der neuen höheren Schichten
war ein Prozeß, der sich auch in der Zwischenkriegszeit abspielte und
über welchen der Literaturhistoriker George Cälinescu im Jahre 1941 in
seiner Geschichte der Rumänischen Literarur schrieb: ‫״‬Vor einem Jahr-
hundert konnte Gh. Eminovici zu einem Bojaren werden, da es einen
Fürsten gab, der ihm diesen T itel verleihen konnte, während heute dem
Bürger fü r im m er diese Eitelkeit fehlt. Die rumänische A ristokratie bildet
sich gerade heute und die zahlreichen Genealogien und Studien zur Fa-
m ilienarchivistik zeigen, daß die Individuen, die Urkunden hervorbringen
können, die Neigung aufweisen, eine Kaste zu bilden und kollektiv der
In itia tiv e des Individuum s W iderstand zu leisten“ .12 Die Bemerkungen
von Cälinescu wurden von dem Roman ‫״‬Donna Alba“ von Gib Mihaescu
veranlaßt, einem Roman, der die Bewunderung des aristokratischen Gei-
stes ausdrückte.
Wie George Cälinescu, dessen monumentale Literaturgeschichte
zahlreiche Schriftstellergenealogien enthält, schrieb, kann man eine Be­

8 Z eletin, Ģtefan: N eoliberalism ul (D er N eoliberalism us). Bukarest 31992, S.34.


9 Ebda., lo c.cit.
10 Ebda., S.35
11 C haussinand-N ogaret, Guy: [>a noblesse, m inistère de l ’idéal, in : Noblesse
oblige, N r. 89 von A utrem ent, A p ril 1987, S .8 8 -9 5 .
12 Cälinescu, G.: Is to ria lite ra tu rii romàne de la o rg in i pânã ín prezent [D ie
Geschichte der rum änischen L ite ra tu r von den Anfängen bis zu r G egenwart].
Bukarest 21982, S.764.

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Rum änische Aristokratie in der Zw ischenkriegszeit 193

ziehung zwischen dem Selbstbewußtsein der Nachfolger der rumänischen


Bojaren und dem Aufschwung der genealogischen Forschungen in der
Zwischenkriegszeit feststellen. Aus dieser Periode stammen die Genealo-
gien der Bojarenfam ilien aus der Walachei, aufgestellt von loan C. F ilitti,
Emanoil Hagi-Mosco und George D. Florescu (die bis heute unveröffent-
lich t geblieben sind). Für die Moldau kann man die Werke von Sever
Zotta, Gheorghe Ghibänescu, Constantin Gane und Gheorghe Bezviconi,
der die Z eitschrift ‫״‬Din trecutul nostru“ (Aus unserer Vergangenheit)
veröffentlichte, erwähnen. Die genaueste Familienmonographie verdan-
ken w ir dem General Radu Rosetti: ‫״‬Familia Rosetti“ (2 Bände, Bukarest
1938-1940). Das Buch ist in bemerkenswerter Weise dokum entiert. Und
es ist nicht das einzige W erk dieser Gattung. In derselben Kategorie kann
man die Monographien von loan Nädejde'3, General M ihai Racovitä-
Cehan‘4, Teodor Bälan‘5, Gheorghe Ungureanu16, Teodor Boti?17 usw.
erwähnen.
Das Interesse fü r die Geschichte der Bojarenfamilien ist durch die
Anzahl und die Q ualität dieser Monographien, wie auch durch die
Versuche der Gründung eines Instituts fü r genealogische Forschungen
bewiesen. Als die Studien in diesem Bereich einen hohen Grad der
M annigfaltigkeit erreichten, erwies sich die Notwendigkeit ih re r
Koordinierung. Im Rumänien der Zwischenkriegszeit gab es aber kein
In s titu t und keine genealogische Gesellschaft, die diese Rolle hätte spielen
können.
Am 7. .Juli 1938 sandte Gheorge Bezviconi an Nicolae Iorga eine
Denkschrift, in der er die Notwendigkeit eines genealogischen In stitu ts

‘3 Nädejde, loan: V. G. M o r{u n. Biografìa lu i §i genealogia fa m ilie i M o rju n [V . G.


M o rju n . Seine B iographie und die Genealogie der F am ilie M o rfu n ]. Bukarest
1923.
‘4 Racovi{ä-Cehan, M ih a i: F am ilia Racovi{ä-Cehan. Genealogie §i is to rie [D ie
F am ilie Racovita-Cehan. Genealogie und G eschichte]. Bukarest 1942.
'5 ßälan, Teodor: F am ilia O nciul. S tudiu §i docum ente [D ie F a m ilie O nciu.
S tudium und U rku n d e n ]. C ernäuti 1927.
16 Ungureanu, Gheorghe: F am ilia Sion. S tudiu $i docum ente [D ie F a m ilie Sion.
S tudium und U rku n d e n ]. Ia$i 1936.
17 Botię, Teodor: M onografia fa m ilie i M ocioni [D ie M onographie der F a m ilie
M o cio n i]. Bukarest 1939.

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194 M. S. Ràduteseli

begründete.18 Es folgte die Denkschrift von George D. Florescu, die von N.


Iorga im gleichen Jahr in der ‫״‬Revista istoricä“ (Historische Zeitschrift)
veröffentlicht wurde.19 Es handelt sich zweifelsohne um einen der interes-
santesten Texte der rumänischen genealogischen Literatur. Florescu
sprach von einem genealogischen Bewußtsein der rumänischen Bojaren
des M ittelalters. Die V otivbilder z. B. galten ihm als Beweise der Vorfah-
rensverehrung im rumänischen M ittelalter.
Durch dieses In s titu t w ollte man eine Kontrolle über die genealogi-
sehen Arbeiten ausüben, um den D ilettantism us zu bekämpfen und um
wissenschaftliche Studien zu fördern. Das In s titu t sollte in fü n f Abteilun-
gen eingeteilt werden: 1. Die Walachei m it Oltenien (m it den Zentren in
Bukarest und in Craiova); 2. Die Moldau, m it Bessarabien und der Buko-
wina (m it den Zentren in Ia§i, Chi§inäu, Cem äuti); 3. Siebenbürgen, Ma-
ramure§, Banat (m it dem Zentrum in C luj); 4. Die Dobrudscha, m it dem
Kadrilater (m it dem Zentrum in Constanta); 5. Eine Abteilung fü r Maze-
donién. George D. Florescu betonte die Ziele jeder Abteilung des Instituts;
er w ollte ebenfalls einen Verein fü r gegenseitige H ilfe des rumänischen
Adels, nach dem V orbild der ,Association d’entre aide de la noblesse
française“ , gründen.
Für die Verw irklichung eines genealogischen Institutes nahmen in der
Presse Aurel George Stino, Theodor Râçcanu, George Grecianu20, Scarlat
Preajbä (Pseudonym des Generals N. Negreanu)21 sowie N. Mojoc-
Epureanu22 Stellung. Dieser Plan wurde aber leider wegen des Krieges
nicht verw irklicht. Am 7. März 1943 gründete man in der Bukarester
W ohnung des Generals M ihai Racovijá-Cehan aber einen Verein von
Fachleuten: ‫״‬Cercul Genealogie Roman“ (Der rumänische genealogische

18 V e rö ffe n tlic h t in : Cetatea M oldovei, Januar 1944, S.67.


19 Florescu, George D.: P lanul u n u i In s titu t de genealogie. M em oriu [D er Plan
eines In stitu te s fü r Genealogie. D en ksch rift], in : Revista istoricä, N r.10-12,
Bukarest 1938, S. 3 4 0 -3 5 0 .
20 In : D in tre cu tu l nostru, N r.3 6 -3 9 , S .8 8 -8 9 , J a n u a r-A p ril 1939, S.1-7; M a i-
J u li, S.25-31; O ktober, S .1-4.
21 Preajbä, Scarlat: P rezentäri lite ra re [L ite ra tisch e D arstellungen], Auszug aus
der Z e its c h rift ‫״‬Bugeacul“ . Bukarest 1941, S.21-27.
22 M otoc-Spureanu, N .: U n im p e ra tiv al v re m ii: In s titu tu l rom án de cercetari
genealogice [E ine N otw endigkeit der Z eit: das rum änische In s titu t fü r
genealogische Forschungen]. Ia$i 1942.

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Rum änische Aristokratie in der Zw ischenkriegszeit 195

Z irkel).23 Das Ziel des Vereins war die ‫״‬Erforschung der Vergangenheit
der Familien des Landes“ , sowie die ‫״‬Seelenannäherung zwischen allen
Erforschern unserer Vergangenheit“ . Es handelte sich meistens um das
Studium der Bojarenfam ilien, aber der Verein strebte nach einer sozialen
• ■

Öffnung. An der Führung des Vereins standen Nachfolger der Bojaren.


Als Vorsitzender wurde der General M ihai Racoviļā-Cehan, als stellver-
tretender Vorsitzender George D. Florescu ernannt. Der Rumänische
Genealogische Zirkel gab eine Zeitschrift ‫״‬A rh iv a Genealogicã Romänä“
(Das Rumänische Genealogische Archiv) heraus. Dieser Verein hatte eine
kurze Lebensdauer von nur einem Jahr. Er ist also in einer Atmosphäre
der Förderung der Adels- und Fam ilienstudien entstanden.
Waren sich die Nachfahren der Bojaren in der Zwischenkriegszeit ih re r
H erkunft bewußt und an ih r interessiert? Was dachten sie über ihren
eigenen Stammbaum? Die M em oirenliteratur dieser Epoche beantwortet
diese Fragen; einige Beispiele aus diesem Genre seien hier erwähnt. Der
P olitiker Constantin Argetoianu schrieb über die Bojarengeschlechter aus
Oltenien, von denen er abstammte.2•» Der K unsthistoriker Alexandru
Tzigara-Samurca§ entdeckte die Beweise seiner adeligen H erkunft in
einer venezianischen Kirche .25 Er war in m itten alter Fam ilienurkunden
aufgewachsen, deren W ert er seit seiner K indheit zu schätzen gelernt
hatte.26 Ebenfalls in seinem Fam ilienm ilieu erfu h r er die Schönheit der
Volkskunst.27
Wenn Tzigara-Samurcaç seine A ffin itä t zur K u ltu r an seine H erkunft
knüpfte, sah auch der H istoriker Nicolae Iorga seine Neigung zum p o liti-
sehen Leben als Folge seiner Abstammung von alten moldauischen Boja-

23 A rh iva Genealogice Romàna [Das Rum änische Genealogische A rc h iv ].


Bukarest 1944, S.85.
2•‫ י‬A rgetoianu, C onstantin: P entru cei de m äine [F ü r d ie von m orgen], I. Band, I.
T e il. Bukarest 1991, S .8 -1 1 ,13-14.
25 Tzigara-Sam urcaç, A l.: M e m o rii [E rin n e ru n g e n ], I. Band, hg. v. lo a n und
Florica §erb. Bukarest 1991, S.21.
26 Tzigara-Sam urcaç, A l.: M uzeografie romäneascä [R um änische M useographie].
Bukarest 1936, S .X III-X IV .
27 Ebda.

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196 M . S. Rädulescu

rengeschlechtem (den Miclescu, den Catargi usw.).28 Für Nicolae Iorga


war die Liebe zur Geschichte eine Erbschaft der Vorfahren und zugleich
der Ausdruck der Verbindung m it ihnen. Der H istoriker glaubte fest an
die byzantinische Abstammung der Familie seiner M utter (der Familie
Arghiropol).
Das Bewußtsein seiner sozialen Zugehörigkeit wurde kla r von dem
Schriftsteller Alexandru Paleologu ausgedrückt: ‫״‬Ich habe im m er zugege-
ben, daß ich eine bürgerliche H erkunft habe, ich hätte sie als adelig be-
zeichnet, aber so war die Formel, ich habe also meine Abstammung nicht
verhüllt (...). Es wäre absurd gewesen, anders zu tu n ; indem ich meine
Erinnerungen veröffentliche, sieht man klar, daß meine Kindheitserinne-
rungen in ein adeliges M ilieu und adelige K u ltu r gehörten“ .29
Die rumänische Gesellschaft hat sich jahrhundertelang kontinuierlich
entwickelt, indem sie sich im M itte la lte r eine Oberschicht geschaffen
hatte, die man als A ristokratie bezeichnen könnte, um einen allgemeinen
Begriff zu benützen. Seine weite Geltung erlaubt, ihn fü r verschiedenar-
tige soziale Kategorien zu verwenden: die Bojaren der Moldau und der
Walachei, sowie die Nachfolger der Bojaren aus dem Fägära§-Gebiet, der
rumänischen Adeligen aus der Maramure§ und aus anderen Regionen
Siebenbürgens. Dieser Begriff umfaßt die verschiedenen angegebenen
sozialen Gruppen unter dem Gesichtspunkt eines ihnen gemeinsamen
Zuges, der N obilität, deren symbolischer und ku ltu re lle r W ert seine Kraft
seit dem M ittelalter und bis heute behielt. Man kann beobachten, daß der
adlige Charakter aus der K o ntin uität der T radition innerhalb derselben
Familie hervorgeht.
Die N obilität ist im Westen gewöhnlich von einer monarchischen
A u to ritä t verliehen und sie w ird genealogisch w eiter vererbt. Andererseits
‫״‬la noblesse c’est !’oeuvre du temps“ - eine Eigenartigkeit auch des ru-
manischen Bojarentums. Die N o bilität war in der rumänischen Gesell-
schaft nicht unbedingt m it Adelstiteln verbunden, die eigentlich (m it

28 Iorga, N.: O riz o n tu rile mele. O viatä de о т a§a cum a fost [M eine H orizonte.
E in Menschenleben so w ie es w a r], hg. v. V e le riu und Sanda Râpeanu.
Bukarest 1976, S.7.
29 Paleologu, A l. / Tänase, S telian: Sfidarea m em oriei (c o n v o rb iri) [D ie Heraus-
forderung der E rinnerung (G espräche)]. Bukarest 1996, S.59.

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Rum änische Aristokratie in der Zw ischenkriegszeit 197

einigen Ausnahmen) bei den Bojaren der Moldau und der Walachei auch
nicht existierten.
Die A delstitel, die von den rumänischen Verfassungen von 1866 und
1923 nicht anerkannt wurden, stammten von ausländischen Autoritäten,
gewöhnlich vom Habsburgischen Kaiser. So im bekannten Fall der Fami-
lie Brâncoveanu, die auch im Gotha-Almanach (unter der Form
‫״‬Bassaraba de Brancovan“ ) verzeichnet ist, da der Hospodar der Wala-
chei, Constantin Brâncoveanu, im Jahre 1695 zum Fürst des Römisch-
Deutschen Reiches erhoben worden w ar.3° Den Fürstentitel hat im Jahre
1900 ebenfalls Radu (Rodolphe) Kretzulescu vom italienischen König
Umberto 1.3» erhalten, m it dessen Tochter er sich verloben sollte. Als
weitere Beispiele könnten angeführt werden: Constantin Bäläceanu, der
am Ende des 17. Jhs. den G rafentitel bekam, die Barone Bellu, M eitani,
Kapri USW.32
Das westliche Adelssystem funktionierte in Siebenbürgen wie auch in
der Bukowina33 während der österreichischen Herrschaft. In Siebenbür-
gen blieben viele Rumänen auf dem Niveau des titellosen Kleinadels
(gentry).34 Die Rumänen, die zur katholischen Konfession übertraten,
konnten den Stand der Agnaten erreichen. Die rumänische Abstammung
der ungarischen Adelsfam ilien Banffy, Kendeffy, Kemeny usw. ist be-
kannt. In der Bukowina erkannten die Behörden die N o b ilita i vieler Boja-
renfam ilien an.35 Während der österreichischen Herrschaft wurden
Adelstitel wie Edler, R itter, Freiherr und einm alig der Grafentitel (fü r die
Familie W assilko von Serecki) verliehen.
Für die A ristokratie des alten rumänischen Königreiches sind die
selbstverliehenen Adelstitel spezifisch. Es handelt sich also um die Nach-

3° Die Brâncoveanu (B rancovan) sind in den G otha-Alm anachen verzeichnet, z.


B. im L ’alm anach de G otha p our l ’année 1912, S.287.
31 Ebda., S.355.
32 Bãlãceanu-Stolnici, C onstantin: Cele tre i sãge{i [D ie d re i P feile]. Bukarest
1990, S.59.
33 Larionescu, T ra in : F a m ilii vechi bucovinene [A lte F am ilien aus der Bukow ina]
in : A rh iva Genealogica Românã. Bukarest 1944, S .26-27.
34 Puçcariu, lo a n cavaler de: Date isto rice privatoare la fa m iliile nobile romàne
[H istorisch e Angaben über die rum änischen A de lsfa m ilie n ], 2 Bde. Sibiu
1892-1895.
35 la rio n e scu , T .: op. c it.

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198 M. S. Ràduteseli

folger der Hospodaren der Fürstentümer, die o ft den Fürstentitel ver-


wendeten: zuerst die Nachfolger von Gheorghe Bibescu und Barbu
§tirbei, danach auch die der phanariotischen H e r r s c h e r ^ 6 ähnlich han-
delten auch einige Cantacuzenen, besonders aus dem Zweig des Hospoda-
ren §erban Cantacuzino, sowie auch einige Ghica, wie der katholische
Priester V ladim ir Ghica, Enkel des Hospodaren Grigore Alexandru
Ghica.37 In der Zwischenkriegszeit gab es in der hohen rumänischen Ge-
sellschaft den ‫״‬Fürsten“ Barbu §tirbei, M inisterpräsident im Jahre 1927,
und den ‫״‬Fürsten“ George Valentin Bibescu, Vorsitzender des Internatio-
nalen Aeronautischen Verbandes. Die Adelstitel hatten im Rumänien der
Zwischenkriegszeit einen mondänen und nicht einen juridischen Wert.
Nach 1918 enthielt die rumänische A ristokratie die Nachfolger der
Bojaren der Walachei und der Moldau, die des rumänischen Adels aus
Siebenbürgen, sowie die des Adels aus der Bukowina und aus Bessara-
bien; die in den moldauischen Bojarenfamilien wurzelten. Hinzu kamen
Elemente des Großbürgertums, die durch Heirat von der Aristokratie
assim iliert wurden. Es gab eine Tendenz der Homogenisierung der rumä-
nischen Aristokratie, die sich durch Ehen zwischen Siebenbürgern und
‫״‬Moldowalachen“ ausdrückte - einige Beispiele in diesem Sinne, die aus
verschiedenen Generationen stammen: Constantin Sãrãteanu (erster
Vorsitzender des Hohen Gerichtshofes, M itglied der Regentschaft) und
Olga Popovici, die Schwester des Politikers M ihai Popovici; Octavian C.
Täsläuanu, Schriftsteller und Politiker; Fatma Sturdza, Enkelin Vasile
Sturdzas, dem moldauischen Staatsmann und M itglied der Regentschaft
der Moldau in 1858-1859; Eugen Goga, der Bruder des Dichters Octavian
Goga, und Eliza Odobescu, die Nichte des Schriftstellers Alexandru
Odobescu und Nachfahrin m ütterlicherseits der Bojarenfam ilie Florescu
und Manu; der Volkskundler M ihai Pop, der Neffe des Politikers Ilie
Lazär (de Purcäreti) und Irina Sturdza, Nachfahrin desselben Vasile
Sturdza, und des Staatsmannes Ion Câmpineanu. Obwohl in der Gesell-
schaft solche Ehen gefunden werden können, gab es aber in der P olitik
Spannungen zwischen der politischen Klasse des alten Königreiches und

36 A rgetoianu, C onstantin: op. c it., S. 110


37 Bossy, Raoul: A m in tiri d in via^a diplom atica [E rinnerungen aus dem
diplom atischen Leben], I.B and. Bukarest 1993, S.187.

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Rum änische Aristokratie in der Zw ischenkriegszeit 199

den aus Siebenbürgen stammenden Politikem.38 Diese drückten sich in


der M achtkonkurrenz zwischen der National-Liberalen Partei und der
Nationalen Bauernpartei aus.
In den folgenden Betrachtungen werde ich versuchen, den Platz der
A ristokratie in der rumänischen Gesellschaft zwischen 1918 und 1947 zu
definieren. Sie fußen auf der genealogischen Analyse mehrerer rum äni-
scher politischer Persönlichkeiten, deren Vorfahren und Verwandt-
schaftsbeziehungen ich untersucht habe.
Wenn m it der Abschaffung der Bojarenprivilegien im Jahre 1858,
durch die Pariser Konvention, die rechtliche Existenz der Bojaren beendet
worden war, setzte sich ihre physische und geistige Existenz in dem p ri-
vaten Bereich doch fo rt. Man könnte vielleicht einen Vergleich m it der
Stellung der Bojaren im rumänischen M ittelalter (im 15. und 16. Jh.)
wagen, eine Stellung, die selten m it dem Am t der betreffenden Person zu
tu n hatte, sondern vielm ehr m it der Geburt in eine Bojarenfamilie, welche
Boden besaß, sich eines besonderen sozialen Prestiges erfreute und oft
m it dem Hospodaren (im Falle der Großbojaren, die als ‫״‬viastelini“ be-
zeichnet wurden) und m it anderen Bojarengeschlechtem verwandt war.39
Wenn w ir uns einen solchen Sprung in der Zeit und im Raum erlauben
könnten, würden w ir auch eine andere Frage stellen: hörte der Adel in
Frankreich nach der Abschaffung der aristokratischen Privilegien ‫״‬de
facto“ auf zu existieren? Die A ntw ort ist negativ - auch heute gibt es in
Frankreich den Adel als relativ geschlossene soziale Gruppe, m it spezifi-
sehen Zügen.*0 Eine ähnliche Lage kannte die rumänische Gesellschaft
nach 1858.
Bis zur E inführung des kommunistischen Regimes erlebte die rumä-
nische Gesellschaft eine organische Entwicklung, ohne brutale Umgestal-
tungen, ohne strukturelle Umwälzungen. Eine bedeutsame Veränderung
in der Entwicklung der politischen Klasse während des liberalen Regimes

3* A rgetoianu, C onstantin: M e m o rii [E rinnerun gen], IV . Band, V I. T e il. Bukarest


1996, S.220—221.
39 Piemia, Dan: Quelques grandes fam illes valaques des X lV e et XVe siècle, in : 12.
In te rn a tio n a le r Kongreß fü r genealogische und heraldische W issenschaften.
M ünchen 1974, Bd. Genealogie, S .209-219.
4° ‫״‬Noblesse oblige“ , ,A u tre m e n t“ , N r. hg. v. Y. de Kerorguen und O. Poivre
d ’A rvo r. Paris 1987.

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200 M. S. Ràduteseli

war die Assim ilation der aus Siebenbürgen stammenden rumänischen


Politiker, die sich auf der politischen Szene nach 1918 als sehr aktiv
erwiesen haben. Diese Elite, die in das Spiel eintrat, umfaßte zahlreiche
Nachfolger des rumänischen Kleinadels, so wie z. B. Iu liu Maniu** und
Alexandru Vaida Voevod. Nach dem Verschwinden der Bojaren als
privilegierte Klasse der Gesellschaft äußerten sich ihre Vertreter weiter im
öffentlichen Leben Rumäniens. Sie verwendeten dabei das symbolische
und kulturelle Kapital ihrer F a m i l i e n . 4 2 Wie schon betont worden ist,
behielten die alten Bojarengeschlechter - manchmal m it Linien hoch-
und m ittelbürgerlicher Familien a lliie rt und o ft lange Stammbäumen
m ittelalterlicher W ürdenträger weiterführend - ihre soziale Stellung bis
zur Sowjetisierung des Landes, also auch nach den Veränderungen, die
nach dem Ersten W eltkrieg stattfanden. O ft auch m it den Phanarioten
genealogisch verbunden, überstanden sie die Schwankungen in der
sozialen Hierarchie des 19. und zu Beginn des 20. Jhs.
Man müßte systematische Untersuchungen über den Einfluß der
phanariotischen Familien in der Entwicklung der rumänischen Aristo-
kratie durchführen. Man müßte sich in diesem Zusammenhang fragen, ob
man z. B. von einer H eiratspolitik der Phanarioten sprechen könnte. Und
wann kann man überhaupt von der Assim ilation einer phanariotischen
Familie sprechen, d. h. nach wievielen Generationen, die sie in der rumä-
nischen Gesellschaft gelebt hat? Inwieweit beeinflußten die Phanarioten
die Entstehung des rumänischen Bürgertums im 19. Jh.? Zahlreiche Grie-
chen, die in der Klasse der rumänischen Bojaren akzeptiert worden sind,
wie die Vertreter der Familien Mano, Ventura und vieler anderer, wurden
schnell zu Rumänen, während die Sutzu z. B. wegen ihrer starken Endo-
gamie den Idealen der nationalen, politischen und kulturellen Wiederge-

4 » Rädulescu, M ih a i S orin: Despre genealogia lu i Iu liu M aniu [Ü ber die


Genealogie von Iu liu M aniu), in : Iu liu M aniu in fa(a isto rie i [Iu liu M aniu vor
der G eschichte]. Bukarest 1993, S .14-20.
42 B erindei, Dan: M utations dans le sein de la classe dirigeante valaque au cours
du deuxiem e qu a rt du X IX e siècle, in : ‫״‬Genealogica et H eraldica. Reports o f
the 14. In te rn a tio n a l Congress o f Genealogical and H eraldic Sciences in
Copenhagen 2 5 -2 8 August 1988. Kopenhagen 1988; ders.: Societatea
româneascã ín ѵте те а lu i Carol I (1 866-1 876) [D ie rum änische Gesellschaft
zur Zeit Carols I.]. Bukarest 1992, S.104-107.

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Rumänische Aristokratie in der Zwischenkriegszeit 201

b u rt Griechenlands verbunden blieben.« Die in das rumänische M ilieu


integrierten Phanarioten brachten einen wichtigen Beitrag zu der Formie-
rung der politischen Klasse Rumäniens; so z. B. entstammte der liberale
P olitiker M ihail G. Orleanu (1859-1942), M inister und Vorsitzender des
Abgeordnetenhauses, zwei bedeutenden phanariotischen Geschlechtern,
den Plagino und den Aristarchi.*»
Die Nachfolger der Phanarioten gehörten nicht nur der liberalen Elite
an, sondern auch der sozialen Basis der Konservativen Partei. So z. B. im
Falle des Generals Gheorghe Manu (1833-1911), einem der einflußreich-
sten Gestalten dieser Partei und Sohn des Regenten (‫״‬caimacam“) loan
Manu und seiner Frau Ana, geborene Ghika.45 Mehrere hohe W ürdenträ-
ger des Patriarchats in Konstantinopel - des kulturellen und historischen
Erben der byzantinischen Legim ität - gehörten der Familie Mana»6 an,
und ein Zweig dieser Familie ist in Griechenland geblieben, wo er auch
heute noch existiert.
• «

Trotz der Öffnung, welche die Einführung des allgemeinen Wahlrechts


im politischen Leben Rumäniens nach dem Ersten W eltkrieg verursachte,
lieferten die Nachfahren der Bojaren weiterhin politische Führer des
Landes, sowie berühmte Intellektuelle. Die Vertreter der Aristokratie
brachten die Tradition der politischen Beschäftigung m it sich, sowie eine
gepflegte Erziehung, meistens im Westen vollendet, besonders in
Frankreich und in Deutschland. Sie kamen ins politische Leben m it einem
hohen sozialen Prestige, das sie der Vergangenheit ih re r Familien, ihrem
Vermögen, ihren Verwandtschaftsbeziehungen, ihren durch Gene-
rationen weitergeführten Freundschaften verdankten. Alle diese Vorteile,
die ihren sozialen Status definierten - und diese Aufzählung ist natürlich
unvollständig - mußten durch gezielte Ehen bewahrt werden, die die von

■»3 Sturdza, M ih a il D im itri: Grandes fam illes de Grèce, d ’A lbanie et de


C onstantinople. D ictio n na ire h isto rique et généalogique. Paris 1983.
■»■» Ghyka, G. u. Râdulescu, M . S.: O rle n ii [D ie O rleanu], in: P orto-franco, N r.3 -4
(9 -1 0 ). Galani 1991, S.42; diess.: D in tre cu tu l P.N.L. - M ih a il G. O rleanu [aus
der Vergangenheit der N ational-Liberalen Partei - M ih a il G. O rleanu], in:
L ib cra lu l, N r. 3 4 ,1 8 .-2 5 . Januar 1991. Bukarest, S .l.
■»5 Sturdza, M . D.: op.cit, S.315.

•»6 Mano, C onstantin G.: Docum ente d in secolele al X lV -lea - al X lX -le a p riv i-
toare la fa m ilia Mano [U rku nd en aus dem 14.-19. Jh. über die F am ilie M ano].
Bukarest 1907.

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202 M. S. Rädulescu

der Bodenreform von 1921 erheblich verkleinerten Vermögen zu retten


versuchen sollten.
Die Tatsache, daß viele P olitiker, die sich im öffentlichen Leben vor
und nach dem Ersten W eltkrieg äußerten, direkte Nachkommen der alten
Bojarenfamilien waren, wurde von dem H istoriker Neagu Djuvara in einer
im Jahre 1987 in den ‫״‬Südostforschungen“ veröffentlichten Studie her-
vorgehoben.4‫ ׳י‬Diese Tatsache werden w ir je tz t m it H ilfe der Genealogie
näher betrachten. So stammte z. В. I. G. Duca, einer der hervorragendsten
liberalen P olitiker der Zeit durch seine M utter Lucia, geborene Ghica-
Bude§ti, aus der zahlreichen fürstlichen Fam ilie der Ghica und durch
seine Großmutter m ütterlicherseits, aus dem Geschlecht der walachi-
sehen Großbojaren Filipescu.48 Die Ahnen des Politikers Constantin
Argetoianu, eine bedeutende Gestalt der rumänischen Freimaurerei der
Zwischenkriegszeit, waren V ertreter der Familien Otetele§anu, Raho-
vi^eanu und Slätineanu49, um nur einige Namen seiner Vorfahren
aufzuzählen. Diese Feststellung kann auch durch die Genealogie des
Diplomaten Nicolae Titulescu veranschaulicht werden, dessen M utter aus
der alten Bojarenfamilie der Urdäreanu stammte. Titulescus Großmutter
m ütterlicherseits war die Schwester des Malers Theodor Aman und des
Costache Aman, dessen Tochter Elena sich im Jahre 1853 m it Barbu
Bälcescu, dem jüngeren Bruder des H istorikers und Politikers Nicolae
Bälcescu, vermählt hatte.5° Eine ih re r Töchter war die M utter des
Ingenieurs Ion Gigurtus‫׳‬, M inisterpräsident im Jahre 1940, der also ein
Neffe von Nicolae Titulescu war.

4‫ד‬ D juvara, Neagu: Les Grandes Boyards o n t-ils constitué dans les principautés
roum aines une véritable o lig arch ie in s titu tio n n e lle et héréditaire?, in:
Südostforschungen 46 (1987).
48 Siche das fü r die letzten G enerationen der Fam ilien verwendbare
genealogische W erk von Lecca, O ctav George: Genealogia a 100 de case d in
Tara Româneascã çi M oldova [D ie Genealogie von 100 Häusern aus der
W alachei und der M o ldau]. Bukarest 1911, T afel 45.
49 A rgetoianu, C onstantin: op. c it., S.7-17.
5° Rädulescu, M . S.: Despre originea §i în ru d irile lu i Nicolae Titulescu [Ü ber die
Abstam m ung und die Verw andtschaftsbeziehungen von Nicolae T itu lescu ], in:
‫״‬Dreptatea“ , N r. 278, Bukarest, 11. Januar 1991, S.2; ders.: Theodor Am an -
le g ä tu ri genealogice [T heodor A m an - genealogogische V erbindungen], in:
Centenar Theodor Am an 1991. Bukarest 1991.
5* Rädulescu, M . S.: op.cit, S.26.

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Rumänische Aristokratie in der Zwischenkriegszeit 203

Die Vertreter der rumänischen historischen Elite erscheinen nicht nur


in politischen Parteien von liberaler und demokratischer Prägung,
sondern auch in rechts- und linksradikalen Bewegungen. So z. B.
stammte der General Gheorghe Cantacuzino ‫״‬Gränicerul“ , Vorsitzender
der ultranationalistischen Partei ‫״‬Totul pentru Jarä“ ( ‫״‬Alles fü r das Va-
terland“), von dem Hospodaren der Walachei Çerban Cantacuzincp2, wäh-
rend Alecu Cantacuzino, eine junge Hoffnung der Eisernen Garde, der
Enkel des konservativen Politikers Gheorghe Grigore Cantacuzino war.53
Alexandru Ghika - der Leiter der Polizei der Eisernen Garde - war der
Urenkel des Grigore Alexandru Ghica, dem letzten Hospodaren der
Moldau, und auch der direkte Nachkomme des Politikers Ion Campi-
neanu.54 Einer der bekanntesten kommunistischen Intellektuellen war
der Dichter und H istoriker Scarlat Callimachi, der ‫״‬rote Prinz“ genannt,
direkter Nachfahre eines Bruders des Hospodaren der Moldau loan Theo-
dor Callimachi; seine M utter war die Tochter des Politikers Gheorghe
Vernescu.55
Unter den 20 M inisterpräsidenten Rumäniens zwischen 1918 und
1940 stammten e lf (väterlicherseits oder m ütterlicherseits) aus der histo-
rischen Elite der Donaufürstentümer (der General Constantin Coandä;
Ion I. C. Brätianu, Barbu §tirbei, V in tilä Brätianu, Nicolae Iorga, I. G.
Duca, Dr. Constantin Angelescu, Gheorghe Tätärescu, der General
Gheorghe Argeçanu, Constantin Argetoianu, Ion G igurtu); zwei stammten
aus dem rumänischen Kleinadel aus Siebenbürgen (Iu liu Maniu, Alexán-
dru Vaida Voevod); zwei entstammten dem bürgerlichen M ilieu (Take
Ionescu, Armand Cälinescu), zwei hatten bäuerliche H erkunft (der Gene-
ral Alexandru Averescu, der Patriarch M iron Cristea), einer entstammte
dem orthodoxen Pfarrerm ilieu aus dem Süden Siebenbürgens (der Dich-
ter Octavian Goga), einer stammte von moldauischen Freibauern (der
Professor George G. Mironescu), einer war der Sohn eines Beamten von
frem der H erkunft (der General A rth u r Väitoianu).

52 F ilitti, loan C.: A rh iva Gheorghe G rigore Cantacuzino. Bukarest 1919, Anhang
II.
53 F:bda.
54 I^cca, O. G.: op. c it, Tafeln 23 u. 45.
55 Xenopol, A. П.: Isto ria çi genealogia casei C allim achi [D ie Geschichte und die
Genealogie des Hauses C a llim a chi]. Bukarest 1897, S.198-199.

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204 M. S. Rädulescu

Die Brätianu, die sich an der Spitze der National-Liberalen Partei


befanden, die als Ziel die Herausbildung einer nationalen Bourgeoisie
hatte, waren auch alter adeliger H erkunft, adelig in dem osteuropäischen
orthodoxen Sinn.56 Ihre Genealogie kann man bis in das 15., und sogar bis
Ende des 14. Jhs. verfolgen, wenn man die Bojaren Vlädescu in Betracht
zieht, die ihre Vorfahren in weiblicher Linie w a re n .57
Das Verschwinden der Konservativen Partei aus dem politischen Le-
ben stellte eine Folge der Demokratisierung des W ahlrechts nach dem
Ersten W eltkrieg dar, des Zugangs zum politischen Leben einer großen
Anzahl von Bürgern - meistens aus dem dörflichen M ilieu - die bis dahin
nicht das Recht zur Äußerung auf diesem Gebiet gehabt hatten. Die wich-
tigen Reformen, die nach 1918 durchgeführt wurden, verringerten erheb-
lieh die ökonomische Basis der rumänischen historischen Elite. Trotzdem
waren die Nachkommen der Bojarengeschlechter weiter aktiv in der Poli-
tik , in der Wissenschaft sowie in der Kunst. H ierfür finden sich zahlreiche
Beispiele. In der Zwischenkriegszeit wurde die berühm te Zeitschrift
‫״‬C onvorbiri literare“ durch den Kunsthistoriker Alexandru Tzigara-Sa-
murcaç geleitet, dem Umeffen des ‫״‬vom ics“ Constantin Samurcaç, einem
griechischen Bojaren, M itglied der Hetärie und hohem W ürdenträger am
Bukarester Hofe zu Beginn des 19. Jhs.58
Nicolae Ghika-Bude§ti, eine der hervorragendsten Gestalten der ru-
manischen Baukunst, zugleich Künstler und A rchitekturhistoriker, Ver-
fasser eines klassischen Werkes über die Entwicklung der Baukunst in der
Walachei, stammte aus einem moldauischen Zweig der Familie Ghica59,
die zehn Hospodaren der Donaufürstentümer geliefert hatte. Durch seine
M utter war er Cousin ersten Grades des Architekten G.M. Cantacuzino

5* Genealogia fa m ilie i B rätianu [D ie Genealogie der F am ilie B rä tia n u ], aufgestellt


von George D. Florescu, ü b e rp rü ft und ergänzt von Dan Cernovodeanu,
v e rö ffe n tlic h t in d e r Broschüre von Io n I. B rätianu: C o n trib u tia lu i loan C.
B rätia nu la re v o lu ta paçoptistã d in Tara Româneascá $i cugetãrile sale despre
aceastà re v o lu te [D e r Beitrag loan C. Brãtianus zur R evolution von 1848 in
der W alachei und seine Gedanken über diese R evolution]. Paris 1983.
57 Vlädescu, N icolas M .: Der Stammbaum de r F am ilie Vlädescu
(u n v e rö ffe n tlic h t); die genealogische M onographie über die F am ilie Vlädescu,
in der H andschriftenabteilung der B ibliothek der Rum änischen Akadem ie in
Bukarest (S ig n a tu r A 2460).
58 Tzigara-Sam urca$, A lexandru: M em orii, S.15.
59 Lecca, О. G.: op. c it., Tafel 45

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Rum änische Aristokratie in der Zw ischenkriegszeit 205

und des Malers Theodor Pallady, zwei anderen Aristokraten und In te l-


lektuellen, die beide - einer väterlicherseits, der andere m ütterlicherseits
- aus dem Zweig Daleanu-Mägureanu der Familie Cantacuzino stamm-
ten.60 Die Bojarenklasse hatte noch genug Energie, um der rumänischen
K u ltu r zahlreiche Talente zu liefern. Der Erfinder Henri Coandä, Sohn des
Generals Constantin Coandä, war der Urenkel Ghitä Coandäs, der im
Jahre 1845 die Bojarenwürde eines ‫״‬p ita r“ bekommen hatte.6* Einer der
berühmtesten Juristen des Landes, Istrate Micescu, war der Enkel eines
gleichnamigen Bojaren, der am 30. August 1839 ebenfalls zum ‫״‬p ita r“
ernannt worden war.62
An der Spitze der rumänischen historischen Schule der Zwischen-
kriegszeit befanden sich ebenfalls Nachfolger der alten Bojarenklasse.
Nicolae Iorga hatte in der Familie seines Vaters fü n f W ürdenträger; sogar
sein Vater war im Jahre 1858 zum ‫״‬medelnicer“ ernannt worden. Das alte
Bojarentum aber kam bei Nicolae Iorga durch seine M utter in die Fam ilie;
näher gesagt durch seine Urgroßm utter Catinca Miclescu; diese hatten
einen Sohn Gheorghe Arghiropol, der sich m it Elena, der Tochter des
‫״‬vom ics“ Iordache Dräghici, einem der aufgeklärteten Bojaren am Anfang
des 19. Jh. vermählte. Aus dieser Ehe wurde Zulnia A rghiropol, die M ut-
ter von Nicolae Iorga, geboren.63 Desgleichen stammte Gheorghe B räti-
anu, H istoriker von europäischer Dimension, durch seine M utter Maria,
geborene M oruzi64, von den phanariotischen Hospodaren Constantin und
Alexandru M oruzi ab, während seine Frau Elena, geborene Sturdza war.65

60 Cantacuzène, Jean-M ichel: M ille ans dans les Balkans. Paris 1992, S.442.
61 Rädulescu, M . S.: Genealogia lu i H e n ri Coandä [D ie Genealogie H e n ri
C-oandäs], in : C ontem poranul, N r.l, 8. Januar 1993, S .l,6,7.
62 F ilitti, loan C.: C atagrafie oficiālā de to {i b o e rii T ä rii Rom âneçti la 1829
[A m tliches V erzeichnis a lle r Bojaren der W alachei von 1829]. Bukarest 1929,
S.23.
6■
‫ י‬G orovei, Çtefan S. u. Rädulescu, M . S.: S tra m oni cunoscufi ai lu i N. Iorga [D ie
bekannten V orfahren von N. Io rga], in : ,A cta M oldáviáé M e rid io n a lis “ , V I I -
V III. V aslui 1985-1986. '
6‫ י‬M arinescu, F lo rin : Ktude généalogique sur la fa m ille M ourouzi. A thena 1987,
S. 127
6‫ א‬Rädulescu, M . S.: Posteritatea lu i M ih a il vodã Sturdza [D ie N achkom m en-
schaft des Fürsten M ih a il S turdza], in : A rh iva Genealogica, neue Folge, N r.3 -
4. Ia$i 1995, S .277-282.

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206 M. S. Rädulescu

Der H istoriker P. P. Panaitescu stammte durch seine M utter Leonia gebo-


rene Greceanu - aus dem moldauischen Bojarengeschlecht der Gre‫־‬
ceanu66 - aus den Familien Mano (aus deren moldauischen Zweig),
Miclescu67 usw. Durch seine Großmutter, Profira Mano, geborene Miele-
scu, war P. P. Panaitescu ein Cousin vierten Grades (trotz des Altersun-
terschiedes) von Nicolae Iorga68, m it dem er in großer historiographischer
Polemik stand. Man könnte in diesem Sinne ebenso den H istoriker loan
C. F ilitti, einen Nachkommen m ütterlicherseits der Bojaren Slätineanu,
erwähnen. Einer der bedeutenden Altertumswissenschaftler seiner Zeit,
Scarlat Lambrino, stammte aus einem moldauischen Bojarengeschlecht
griechischer H erkunft, das in der Moldau erstmals im 17. Jh. urkundlich
erwähnt w ird.69
In der rumänischen biologischen Wissenschaft der Zwischenkriegszeit
traten mindestens drei Vertreter der Aristokratie hervor: der Entomologe
Aristide Caradja, der Arzt loan Cantacuzino und der Speläologe Emil
Racovi^ä. Aristide Caradja war der Urenkel des loan Caradja, Hospodar
der Walachei zwischen 1812 und 181870 und seine M utter Eufrosina,
geborene Sutzu, stammte von einem anderen phanariotischen Hospodar,
Alexandru Sutzu, der Caradja auf dem Throne in Bukarest folgte. Der Arzt
loan Cantacuzino war den Enkel des Großbojaren Constantin
Cantacuzinos, Regent der Walachei in den Jahren 1848/49, und seine
M utter war die Tochter des Generals Nicolae Mavros.71 Emil Racovijä
stammte aus dem alten Bojarengeschlecht der Racovi^ä-Cehan, das im 15.
Jh. erstmals urkundlich erwähnt wurde.72
In der Musik und in der Musikwissenschaft zeichneten sich der
Volksmusikwissenschaftler Constantin Bräiloiu aus, Nachfolger einer

66 Ghibänescu, Gh.: F a m ilia Greceanu d in M oldova [D ie Fam ilie Greceanu aus


der M o ldau], in : Io n Neculce, N r.9 , 1 . T e il, 1931, S.191-219.
67 M . S. Rädulescu b ere itet zu r Z eit eine Studie über die Ahnen des H isto rike rs P.
P. Panaitescu vor.
68 G orovei, Ģtefan S. u. Rädulescu, M . S.: op.cit., S.442, Anm . 23 und 36.
I

69 Cf. Perietzianu-Buzäu, A lexandru: der Stammbaum der F am ilie Lam brino


(u n ve rö ffe n tlich t).
70 Sturdza, M . D.: op. c it., S .2 5 7 -2 5 8 ,420.
71 Cantacuzène, Jean-M ichel: op. c it., S.440.
72 Racovitã-Cehan, M .: op. c it.

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Rumänische Aristokratie in der Zw ischenkriegszeit 207

alten Bojarenfam ilie aus Oltenien; M ihail Jora, ein berühm ter Komponist
und D irigent stammte aus einem alten moldauischen Geschlecht, dem die
M utter des Chronisten Grigore Ureche zugehört hatte. Seine Großmutter
väterlicherseits Smaranda Jora, geborene Rosetti, war die Nichte von
Costache Negri, einem bekannten P olitiker und Schriftsteller aus dem 19.
Jh.?3 M ihail Jora war ebenfalls ein Cousin ersten Grades der Manica
Cantacuzino, geborene Rosetti-Tatcanu, der G attin des Komponisten
George Enescu. Die Anzahl der Schriftsteller, Wissenschaftler und
Künstler der Zwischenkriegszeit, die aus rumänischen aristokratischen
Familien entstammten, ist sehr hoch und ihre Aufzählung könnte ermü-
dend werden. Darum erwähnen w ir nu r noch einige Namen: die Dichter
Elena Väcärescu, Ion Pillát, Adrian Maniu, die Prinzessin Martha Bibescu,
den Sprachwissenschaftler Alexandru Rosetti, die Schauspielerin Lucia
Sturdza-Bulandra, den M athem atiker Alexandru Ghika, den Geologen
§tefan Ghika-Bude§ti usw.
Die D iplom atie war eine der rumänischen Elitekorps, dem die Boja-
renklasse zahlreiche Elemente lieferte. Wegen der Fremdsprachenkennt-
nisse, der gepflegten Erziehung und dem sozialen Status, der m it der
diplom atischen Laufbahn verbunden war, traten die Nachfolger der ari-
stokratischen Familien besonders häufig in die Diplom atie ein, eine Tat-
sache, die m it H ilfe vieler Beispiele bewiesen werden kann. W ir haben
schon Nicolae Titulescu erwähnt, ebenso entstammte Grigore Gafencu
durch seinen Vater einer Bojarenfamilie aus der Bukowina und durch
seine M utter dem Bojarengeschlecht der Costaki7‫»־‬, dem der M etropolit
der Moldau Veniamin Costaki und der P olitiker Manolache Costaki Epu-
reanu angehört hatten. Die M utter des Diplomaten Nicolae Petrescu-
Commen, Außenm inister Rumäniens, stammte aus der Familie
Cemovodeanu.75 Auch in der Regierung der Eisernen Garde, im Herbst
des Jahres 1940, war das Außenm inisterium von einem Sturdza, M ihail

73 Ілсса, О. G.: op. cit.


7•* Rädulescu, M . S.: G rigore Gafencu - date genealogice [G rigore Gafencu -
genealogische Angaben], in: C ontem poranul, N r. 38 (75), 20. Sept. 1991, S. 6;
ders.: C o m pleta i! la genealogia lu i G rigore Gafencu [Ergänzungen zur
Genealogie von G rigore Gafencu], ibidem , Nr.41 (182), 15. O ktober 1993, S .ll.
75 Cf. C-emovodeanu, Paul: Der Stam m baum der F am ilie Cemovodeanu
(u n ve rö ffe n tlich t).

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208 M. S. Rädulescu

(Lucä) Sturdza, geleitet, der ein Enkel des obenerwähnten Vasile Sturdza
war.76 M ihail Manoilescu, W irtschaftswissenschaftler und Außenminister
in der Regierung G igurtu, stammte m ütterlicherseits von den m oldaui-
sehen Bojarengeschlechtem Bãdãrãu und Täutu.77
Alle diese Beispiele - und w ir hätten genauso auch andere wählen
können - zeigen, daß vor dem Sowjetisierungsprozeß des Landes die ru-
manische Gesellschaft von historischen Eliten geleitet worden ist. Die
diktatorischen Regime, die 1938 und danach 1940 eingeführt worden
sind, hatten keine Folgen fü r die Entwicklung der Strukturen der Gesell-
schaft. Der erste Leiter der Regierung nach der Wiedereinsetzung des
demokratischen Regimes im August 1944, der General Constantin
Sänätescu, stammte aus einer Bojarenfamilie aus dem oltenischen Kreis
G oij, die im Jahre 1717 von dem Kaiser Karl V I. geadelt worden war.?8
Bis zu der Einführung des kommunistischen Regimes führten die
Nachfolger der Bojaren ih r von der französischen Zivilisation tiefgreifend
beeinflußtes Leben weiter; meistens behielten sie ihre Gutshäuser und
ihre Bukarester Wohnsitze.
Das Leben auf dem Lande hatte auch in der Zwischenkriegszeit seine
Bedeutung. Die Enteignungen, die von der Bodemreform verursacht
worden waren, beeinflußten die ökonomische Grundlage der Aristokratie
stark, indem sie den Großgrundbesitz um 6 M illionen ha verkleinerte.79
Die Nachfolger der Bojaren besaßen aber w eiterhin große Ackerflächen
m it ihren Gutshäusern. Das Landgut der Brätianu war Florica, das von
Gheorghe Tätärescu Poiana (im Kreis G oij), das von Iu liu Maniu sein
Geburtsdorf Bädäcin (im Kreis Sälaj). Orte, die politisch-m ythologische
Bedeutung erlangten.
Das Leben der A ristokratie auf dem Lande erscheint in den Erinne-
rungen ih re r Nachkommen, die nach 1989 veröffentlicht wurden: so er-

76 Sturdza, M ih a i: Rom ania $i sfär$itul E uropei. A m in tiri d in tara pierdutā


[R um änien und das Ende Europas. E rinnerungen aus dem verlorenen Land].
A lba Iu lia - P aris,1994, S.52.
77 M anoilescu, M ih a il: M e m o rii [E rinn e run ge n ], I.ß an d. Bukarest 1993, S.19
78 Ģtephānescu, M ih a il G. и. Mãnescu, lo a n N.: E nlum inures héraldiques des
X V Ie - X V IIe siècles dans la collection de l ’Académ ie Roum aine, in : Revue
Roum aine d ’H is to rire de l ’A rt - Beaux-Arts, Band X V II, 1980, S .32-33.
79 Çandru, D.: Reform a agrará d in 1921 d in Rom ania [D ie A g ra rre fo rm von 1921
aus R um änien]. Bukarest 1975, S.350.

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Rum änische Aristokratie in der Zw ischenkriegszeit 209

zählt z. B. der L ite ra tu rk ritik e r Matei Cälinescu über das Gutshaus in


Därvari (in dem Kreis M ehedintf), das der Fam ilie seiner M utter, den
Vulcänescu, gehört hatte.80 Elisabeth Varlam , die Tochter des Generals
und H istorikers Radu Rosetti, erinnerte sich ihres Vaters:
‫״‬Ich glaube, daß der O rt, wo mein Vater sich am besten fühlte,
Brusturoasa, an dem Fluß Trotuç, im Kreis Bacäu, war. D ort war
der Besitz meiner M utter (Ioana Rosetti, geborene §tirb e i), wo sie
nach ih re r H eirat die Sommerzeit verbrachten. Meine M utter war
sehr stark m it diesem O rt verbunden, wie auch mein Vater. Als
Andenken an meine M utter errichtete mein Vater dort eine Schule
und eine Krankenbehandlungsstelle, er reparierte Kirchen und half
den Leuten aus diesem O rt, wie er es vermochte, er zeigte uns
durch alle seine Äußerungen seine tiefe Liebe fü r die Bauern und
fü r das Land“ .81
In der Zwischenkriegszeit wohnte die Prinzessin und Schriftstellerin
M artha Bibescu in ihrem Schloß in Mogo§oaia bei Bukarest, welches sie
nach den Plänen der Architekten Domenico Rupolo und G.M. Cantacu-
zino restaurieren ließ. Das alte Herrenhaus der Bojaren Buzescu in
Strejeçti (im Kreis O lt) wurde von der Fam ilie Därvari geerbt; in
§torobäneasa (im Kreis Teleorman) gab es den Sitz der Familie Racottä;
in Buftea, Voila (im Kreis Prahova) und Därmäne§ti lagen die Herrenhäu-
ser der Fam ilie § tirbe i; in Sihlea (im Kreis Buzäu) wurde das Herrenhaus
der Bojaren Grädi§teanu von der Familie Ghica (dem Zweig des Inge-
nieurs §erban Ghica) geerbt. Die Ghica aus der Walachei (der Zweig des
Nicolae I. Ghica, dem Sohn des Schriftstellers Ion Ghica) besaßen ein
Herrenhaus in Ghergani (im Kreis Däm bovija), während die Ghica aus
der Moldau Besitzer wahrer Schlösser in ihrem Heimatgebiet waren: in
Comäne§ti, Dofteana usw. Die Fürsten Bräncoveanu hatten ein Herren-
haus in Breaza (im Kreis Prahova). Der Diplom at Antoine Bibescu hatte
als Sommersitz das Herrenhaus in Corcova (im Kreis M ehedinfi). In
Ciocãneçti (im Kreis Ilfo v) befand sich das Herrenhaus der Prinzessin
Alexandrina Cantacuzino, geborene Paldi, der Vorsitzenden des Vereins

80 Cälinescu, M atei u. V ianu, Ion: A m in tiri in dialog [E rinnerungen im D ialog].


Bukarest 1994, S .31-32.
81 V arlam , Elisabeta H .: U n rem em ber [E ine E rin n e ru n g ], in : R osetti, R.: Pagini
de ju rn a l [Tagebuchseiten]. Bukarest 1993, S.35.

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210 M. S. Rädulescu

der Rumänischen Orthodoxen Frauen. Die Cantacuzino besaßen in der


Zwischenkriegszeit (m it einer K ontinuität seit dem 17. Jh.) Bodenflächen
und Herrenhäuser in dem Kreis Prahova: in Räfov (der Zweig von §erban
Vodä), in Fiorenti und in Poiana Tapului (der Zweig des Politikers
Gheorghe Grigore Cantacuzino) usw. In Cäciulatf (im Kreis Ilfov) gehörte
das neoklassizistische, von dem Hospodaren Alexandru Ghica errichtete
Herrenhaus den Nachfolgern der Familie Blaremberg (den Mavrocordat
und den Filipescu). Das Herrenhaus des Gelehrten Udri§te Nästurel aus
dem 17. Jh. in Heráçti (im Kreis Ilfov) war im Besitz der Nachkommen des
liberalen Politikers Anastase Stolojan. Der Sitz der Familie Callimachi auf
dem Lande war das Herrenhaus in Stänce§ti (im Kreis Boto§ani)82, sowie
der eines Zweiges der Bojaren Miculescu - das Herrenhaus in Cäline§ti
(auch im Kreis Botoçani). Die berühmte Familie Väcärescu besaß Herren-
häuser in Väcäre§ti (im Kreis Dämbovi^a) und in Mâneçti (im Kreis
Prahova).
Die von Lydia Filipescu, geborene Handjerli, der Nachfahrin des
phanariotischen Hospodaren Alexandru Handjerli, veranstalteten
‫״‬gardenparties“ in ihrem Bukarester W ohnsitz, auf der Dionisie-Lupu-
Strasse oder die von Constanta Cantacuzino, der Schwester des Wissen-
schaftlers loan Cantacuzino, in ihrem Haus in Bukarest organisierten
Konzerte waren prestigevolle Orte, wo sich die rumänische historische
Elite der Zwischenkriegszeit tra f.83
Die meisten Aristokraten waren prodemokratisch und prowestlich
gesinnt. Die französische Zivilisation übte ihren Einfluß aus durch die
Verwendung der französischen Sprache, die als Zeichen der sozialen Vor-
nehmheit angesehen wurde.8« Frankreich und Paris übten eine magische
Anziehungskraft auf die rumänische Elite aus®5, deren Vertreter sogar
teilweise in den Reihen der französischen Armee kämpften, wie es der Fall

82 C allim achi, Princess A nne-M arie: Yesterday Was M ine. London 1952, S .230-
231.
83 M iclescu, Paul E m il: D in B ucureçtii trä s u rilo r cu cai [Aus dem Bukarest der
Pferdewagen]. Bukarest 1985, S.101 u. 105
8•‫ י‬Paleologu, A lexandru: M inunatele a m in tiri ale unui ambasador al go lanilor
[D ie w underbaren E rinnerungen eines Botschafters der Strolchen]. Bukarest
1995. S.57■
85 MavTocordato, Roxane J. B erindei: En to urnan t les pages. Bukarest 1939, S.52.

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Rumänische Aristokratie in der Zw ischenkriegszeit 211

von loan Olänescu, dem Neffen von Martha Bibescu, war, der im Juni
1940 an der französischen Front starb.86 ‫״‬Der Fall Frankreichs war ein
Ereignis, welches uns allen die Luft nahm“ , erzählte der Schriftsteller
Alexandru Paleologu.87 Frankreich wurde als Grundlage der W erte-
hierarchie der rumänischen Gesellschaft angesehen.88 Die rumänische
A ristokratie der Zwischenkriegszeit verdankte ihre europäische Offenheit
ih re r Erziehung89 sowie den häufigen Reisen in den Westen.90 Die
Nachkommen des rumänischen Adels aus Siebenbürgen und aus der
Bukowina waren m it der deutschen Sprache vertraut und im Geiste der
deutschen K u ltu r erzogen worden.
Die Pflege der Ehre drückte sich aus in dem adeligen Ritual des Duells,
das noch in der rumänischen aristokratischen Gesellschaft der Zwi-
schenkriegszeit existierte.91 Nach Paul Morand war Bukarest eine der
Städte, wo die Duelle am häufigsten stattfanden.92
Das mondäne Leben der Bukarester Aristokratie w ird in Einzelheiten
in der Zeitschrift ‫״‬Je sais to u t de Bucarest“ , die zwischen 1939-1944 von
§tefan Miculescu herausgegeben wurde, geschildert. Man w ird von der
großen Anzahl der Bälle beeindruckt, die die ausländischen Diplomaten
und die Vertreter der rumänischen Elite zusammenbrachten.93 Sehr be-
lie b t waren die von den Botschaften in Bukarest veranstalteten Bälle.9‫»־‬
Wie noch betont wurde, waren die Treffpunkte der rumänischen Aristo-
kratie sowohl Musikabende95 als auch Ausstellungseröffnungen.96

86 Bibescu, M artha: J u rn a l p o litic ian. 1939 - ian. 1941 [P olitisches Tagebuch


.Januar 1939 - Januar 1941]. Bukarest 1979, S.220.
87 Paleologu, A lexandru u. Tänase, Stelian: Sfidarea m em orei (co n vo rb iri), S.72.
88 Ebda.
89 C allim achi, Princess A nne-M arie: op. c it., S.236.
90 Ebda., S.207.
91 Hagi Mosco, E m anoil: Bucureçti. A m in tirile u n u i ora§ [B ukarest. Die
E rinnerungen einer S tadt]. Bukarest 1995, S.167-268.
92 M orand, Paul: Bucarest. Paris 21990, S.247.
93 Siehe etwa den com pte-rendu eines Balls im C ountry-C lub in der Z e itsch rift
‫״‬Je sais to u t de Bucarest“ , I. Jg., N r.3 -4 , 20. J u li 1939.
9‫ יי‬A rgetoianu, C.: op. cit., S.115-116.
9•‫ יי‬Kay, §tefan J.: Caietele unui fiu ris ip ito r [D ie Hefte eines verschwenderischen
Sohnes]. Bukarest 1994, S.12.

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212 M. S. Rädulescu

Man kann natürlich über die Lebensweise der rumänischen Aristo-


kratie in der betrachteten Zeitspanne kritische Fragen stellen. Manche
Aristokraten teilten ihre Zeit zwischen ‫״‬busy leisure“ und Reisen .97 Aber
viele der Nachfolger der moldo-walachischen Bojaren und des rum äni-
sehen Adels in Siebenbürgen waren im Leben der Gesellschaft tätig, in-
dem sie ihre Persönlichkeit in verschiedenen Bereichen entfalteten. Das
Flugwesen, eine Äußerungsweise des aristokratischen Geistes, wurde von
einigen klangvollen Namen vertreten: George Valentin Bibescu, Constan-
tin (Bāzu) Cantacuzino, Ionei Ghica, Marina Çtirbei-Brâncoveanu. Das
königliche Palais war ein aristokratisches M ilieu: die Hofdamen (unter
ihnen Simona Lahovary, Elena Mavrodi geborene Greceanu, Irina Proco-
più, geborene Berindei, Nelly Catargi geborene Miclescu) und die Hof-
marschälle (z. B. Henri Catargi, Constantin H iott, der Freiherr I.
Mosconyi-Stärcea, Octav Ullea, D im itrie Negel) stammten alle aus Boja-
renfam ilien.
Unbedingt erwähnt werden müssen die Eliteclubs: der Jockey-Club,
der Club ‫״‬Tinerimea Românã“ (‫״‬Die Rumänische Jugend“), der Automo-
bil-C lub, der Yacht-Club. Der Zugang zu diesen Clubs war von der Emp-
fehlung der M itglieder abhängig. Besonders der Jockey-Club, im Jahre
1875 gegründet, hatte einen ziemlich geschlossenen Charakter; es war ein
hauptsächlich aristokratischer Verein. Der Jockey-Club ist aus dem Ver-
einigungswunsch der rumänischen aristokratischen Elite hervorgegan-
gen, aus ihrer Bestrebung, sich eine spezifische Institu tion zu schaffen,
ohne politischen Charakter. Für das politische Leben gab es die Parteien,
die sich einander in der Regierung ablösten. Die M itglieder des Jockey-
Clubs wurden durch ihre Leidenschaft fü r die Pferde und fü r das Pferde-
rennen, wie auch durch das Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zu der Elite
der Gesellschaft vereinigt. Alle diese Institutionen wurden nach der
Machtergreifung der Kommunisten aufgelöst; die ganze Lebensweise der
rumänischen Aristokratie wurde nun grundsätzlich verändert.
Während der Zwischenkriegszeit wurde der Jockey-Club von seinen
stellvertretenden Vorsitzenden effektiv geleitet, alle aus Bojarenfamilien
stammend: Alexandru Marghiloman, Constantin I. Bäläceanu, D im itrie

96 Z. B. in ‫״‬Je sais to u t de Bucarest“ , N r.2 2 -2 3 , Dezember 1940 die E röffnung


d e r A usstellung von Anna Tzigara-Berza im Dalles-Saal.
97 C allim achi, Princess A nne-M arie: op. cit., S.224.

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Rumänische Aristokratie in der Zwischenkriegszeit 213

Greceanu, M ihail De§liu, Constantin Argetoianu und Barbu Catargi. Die


H aupttätigkeit des Jockey-Clubs war die Veranstaltung von Pferderennen
in Bäneasa bei Bukarest, eines der beliebtesten sportlichen Ereignisse der
Hauptstadt, wo man den Jockey-Club-Preis, den Royal-Preis und den
Diana-Preis verlieh.
Der berühmteste Pferdebesitzer in der Geschichte des rumänischen
.Jockey-Clubs war Alexandru Marghiloman m it seinem Gestüt ,A lbatros“
in der Stadt Buzäu. Es gab auch andere bekannte Gestüte, ebenfalls im
Besitz der M itglieder der Bukarester A ristokratie: das von Târgçor (im
Kreis Prahova) des Generals Gheorghe M oruzi, das von Afum ati (im Kreis
Ilfo v) des Gheorghe Negroponte, das von Mägureni (im Kreis Prahova)
des Brabu Catargi, das von Logre§ti (im Kreis G oij) des Obersten E.
Sävoiu, das von Carapciu (im Kreis Storojinet) der Familie Grigorcea.
In der Zwischenkriegszeit befand sich der Sitz des Jockey-Clubs in
einem Bukarester Bojarenhaus, das vorher der Familie Gianni gehört
hatte, an der Ecke Episcopiei- und Nicolae-Golescu-Straße, in der Nähe
des Rumänischen Athenäums. Das Innere des Clubs war m it gutem Ge-
schmack eingerichtet und sicherte seinen M itgliedern eine angenehme
Atmosphäre. Der Rumänische Jockey-Club bestand im Jahre seiner A uf-
lösung 1947 aus 307 ‫״‬ständigen M itgliedern“ .

M it der brutalen Beseitigung der alten führenden Klasse von der Spitze
der Gesellschaft fand eine grundlegende Veränderung in der Entw icklung
der rumänischen sozialen Strukturen statt. Die kommunistischen Führer,
die die sowjetischen Interessen vertraten, hatten als Ziel die völlige Um -
Wandlung der rumänischen Gesellschaft und die Entfernung der A risto-
kratie aus dem öffentlichen Leben, was ihnen auch gelang.
Man kann sich die Frage stellen, was m it der rumänischen A ristokratie
nach der Machtübernahme der Kommunisten passiert ist. Durch ihre
Beseitigung von der politischen Szene w ollte man die rumänische Gesell-
schaft enthaupten, um ihre Verbindung m it der eigenen Vergangenheit
abzuschaffen. Die Unterdrückung war nicht nur gegen die A ristokratie
gerichtet, sie fü h rte auch zur totalen Veränderung der Stellung des Bür-
gertums und der Bauernschaft in der Gesellschaft. Vielleicht hatte die
A ristokratie am meisten wegen des neuen Regimes zu leiden, weil sie auch
am engsten m it der Vergangenheit verbunden war. Ihre Vertreter über­

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214 M . S. Rädulescu

lieferten von einer Generation zur anderen ihre Werte und die Erinnerung
an das vorkom m unistische Rumänien.
Das Ende des Krieges hatte einen Schein der Normalisierung ins Leben
der rumänischen A ristokratie gebracht. Die Atmosphäre von Norm alität
verschwand als Folge der von der Groza-Regierung beschützten
Ereignisse: die Bodenreform von 1945, die gefälschten Wahlen von N0-
vember 1946, die Verstaatlichung der Produktionsm ittel, die politischen
Prozesse und schließlich die Abdankung des Königs Michael. Man hat ein
Terrorregim e gegen die ‫״‬Ausbeuterklasse“ eingeführt, deren Vertreter
unter den Folgen ih re r sozialen H erkunft leiden mußten. Manche Aristo-
kraten wanderten in den Westen aus und versuchten von dort den Kampf
gegen die in Bukarest von den sowjetischen Truppen installierte Regie-
rung weiterzuführen.
Die Tatsache, daß keine Adelstitel in der rumänischen Geschichte
existierten (m it den oben angeführten Ausnahmen), sowie die langjährige
U nterdrückung hatten wichtige Folgen fü r das Zugehörigkeitsgefühl zur
A ristokratie. Trotzdem gibt es dieses Gefühl auch noch heute. In den
liberalen Gesellschaften w ird es von einer Generation zur nächsten über-
lie fe rt und nur ein liberales Regime kann die K ontinuität der Existenz der
historischen E lite gewährleisten und begünstigen.

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Nationalist Ideology and the Circulation of Elites


in Greater Romania

Irina Livezeanu

Present-day intellectuals who are follow ing the current tran sitio n to post-
communism - and I count myself among these - tend to view the in te r-
war, pre-communist, period w ith a generous dose o f nostalgia. Many o f
them , or most o f us, almost in volu ntarily perceive those years somewhat
uncritically as a golden age o f intellectual creativity and p o litical democ-
racy. It would nevertheless be d iffic u lt to analyze Greater Romania’s in -
terw ar history conscientiously w ithout recognizing certain intractable
problems. One task fo r historians, then, is to try to see the interw ar pe-
riod w ithout the idealizations imposed by our own tim es and our needs
fo r a ‫״‬usable past“ .
I would like to stress from the start that interw ar Romania was by no
means unique in the dilemmas and challenges that it faced. On the con-
trary, the entire group o f countries located between Germany and the
Soviet Union, that emerged from W orld War I and the subsequent peace
treaties, shared a number o f predicaments and problems th a t affected
th e ir elites and the tenor o f th e ir politics. A fter 1918 several new, rein-
vented political entities o f this area underwent a m ajor tran sitio n from
the status o f subunits o f m ultinational empires to sovereign states that
viewed themselves as nation-states. W hile some o f these newly reconfig-
ured countries were in th e ir tu rn m ultiethnic, m u lticu ltu ra l, and m u lti-
confessional - like th e ir im perial predecessors only less so - th e ir elites
fo r the most part did not clearly acknowledge these pluralistic, m ultina-
tional qualities which were hidden behind the image o f the homogeneous,
centralized, unitary nation-state. In addition, in the victorious nations,
those which emerged from the Great War enriched by newly-awarded
territories, there was a new dimension o f com plexity to contend w ith : the

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216 I. Livezeanu

sub-national u n it o r region, that was part o f the newly-constituted state


but had a separate ‫״‬personality“ or political culture. These regions also
had elites o f whatever nationality who had been socialized historically by
differin g sets o f cultural and political institutions, who had been
‫״‬educated“ , even in the strict meaning o f the word, in different university
and secondary school systems in a variety o f languages. In these funda-
mental, structural problems in te rn a r Romania differed little from the
newly form ed contemporary states o f Czechoslovakia, Poland, and the
Kingdom o f Serbs, Croats and Slovenes, to mention only the most obvi-
ous comparisons.
Alm ost everywhere in Eastern Europe the interw ar period was marked
ideologically by a rising tide o f nationalism that ran the gamut from
moderate, establishment politicians involved in centrist political parties,
to political figures in extra-parliam entary opposition on the extreme
right. Outside o f th is ‫״‬nationalist consensus“ were generally the left-w ing
parties and th e ir sympathizers, standing fo r socialist or communist
internationalism , and the national m inorities which adhered to their own,
usually nationalist, m in o rity parties or to the internationalism o f the left.
It is significant th a t what I am calling the ‫״‬nationalist consensus“
included some o f the most sophisticated democrats o f the period, o f
which there is perhaps no better example than Thomas Masaryk, the
founder and firs t president o f the Czechoslovak Republic. Roman Szpor-
lu k has w ritte n about Masaryk’s interw ar political philosophy and
Czechoslovakia’s nationality policies that in spite o f the Czechoslovak
Republic having ‫״‬a democracy that her neighbors lacked. (...), even this
regime was corrupt in the eyes o f the [m in o rity] nationals involved, be-
cause the State was thought to be an instrum ent in the hands of a perma-
nent m ajority‫( ־‬...) seeking to promote only the ruling nation’s welfare.“ *
Even Czechoslovakia, ‫״‬the bastion o f democracy“ in interw ar Eastern
Europe, had a deeply flawed form o f democracy according to Szporluk
because the country was ‫״‬governed by the Czechs,“2 prim arily fo r the
Czechs who were considered to be the ‫״‬leading“ nationality in the state.
‫״‬Czechoslovakia lacked a rationale that could unite here [sic] citizens in a

1 S zporluk, Rom an: The P o litica l Thought o f Thomas G. M asaryk. Boulder 1981,
P-1 5 5 •
2 Ib id . Em phasis added.

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Elites in Greater Romania 217

common loyalty that would supersede mere attachment to n a tio n a lity .“3
In all o f the m ulti-ethnic East European states o f th a t period electoral
m ajorities were sim ilarly tied to ethnic politics. Ethnically-based electoral
m ajorities thus perpetuated themselves, leaving the m inorities consis-
te n tly unrepresented. In an ethnic-blind democracy, o r in ethnically ho-
mogeneous polities in which parties do not p rim a rily express ethnic
identities, the parties’ popularity and electoral base can change more
easily. Once the political m a jo rity/m in o rity is tied to ethnicity, which in
the East European context was in tu rn fa irly slow to change, such m ajori-
ties and m inorities become almost fixed.
‫״‬C ivil society,“ another supposed virtue, along w ith democracy, o f the
independent eastern Europe’s interw ar polities when viewed in the nos-
talgic hindsight o f the communist and post-com m unist periods, is an
equally problem atic category under closer scrutiny .4 In Romania, among
other Eastern European countries, populism rather than pluralism was
the favorite form o f opposition to authoritarian politics. Anti-establish-
ment populists, often hailing from university youth o f the m ajority eth-
nos, tried and often succeeded in excluding from the universities, from
the political process, and from any elite status the ‫״‬foreigners“ most expe-
rienced in urban economic, social, political and cultural traditions, the
very bread-and-butter o f civil society.5 W hile this may have been a clever
strategy fo r prom oting new, formerly-disadvantaged ethnic elites, it
clearly retarded rather than fostered the continuous development o f civil
society in the Eastern European region.

3 Ib id .
4 See fo r example the im p lic it reference in V la d im ir Tism aneanu’s chapter tyA
G lorious R esurrection: The Rise o f C iv il Society,” in : R einventing P olitics:
Eastern Europe from S talin to Havel. New Y ork 1992. Tism aneanu uses the
expressions ‫״‬re b irth ” and ‫״‬resurrection” o f c iv il society to describe the rise o f
the Polish, Czech and H ungarian dissident movements in the 1970s and 80s
w ith im p lic it reference to the p lu ra lism o f the p re -W orld W ar I I era.
5 For populism in the Rom anian context see Livezeanu, Irin a : C u ltu ra l P olitics
in G reater Rom ania: Regionalism , N ation B uildin g, and E th n ic Struggle,
1918-1930. Ithaca 1995, pp.307-312 and passim; and fo r a co n tra stin g view
T reptow , K u rt: Populism and T w entieth C entury Rom anian P olitics, in :
Populism in Eastern Europe: Racism, N ationalism , and Society, ed by Joseph
H eld. B oulder 1996. For populism in other Eastern European countries, see
the oth e r essays in the H eld volum e.

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218 I. Livezeanu

One key to a better understanding o f Romania’s in te rn a r history, its


problem atic democracy and fragile civil society, lies in a close look at its
elites, both in demographic and social terms, and in terms o f the elites’
dom inant ideologies. As I have already explored this theme in my book,
Cultural Politics in Greater Romania: Regionalem , Nation Building, and
Ethnic Struggle, 1918-1930, 1 would like to summarize here some o f the
research and findings presented there.6 This paper w ill analyze the pro-
portional imbalance between largely non-Romanian urban elites in inter-
war Romania’s cities and towns and Romania’s rural hinterlands
inhabited by Romanian majorities. I w ill also examine the regionalized
nature o f the different provincial elites, and the political and ideological
im plications o f such demographics.
Greater Romania was formed by uniting three provinces o f varied
p o litical provenance w ith what u n til 1918 had been the Old Kingdom o f
Romania, o r Vechiul Regat. (Dobrudja, a marvelously m ultiethnic region
w ith its own unique characteristics, was added to the Romanian Kingdom
in 1913 follow ing the Balkan Wars and the Peace o f Bucharest; it is here
considered as part o f the Old Kingdom.) The regions annexed in 1918
were Bessarabia, taken from the Moldavian Principality under Ottoman
suzerainty by Russia in1812, Bukovina, sim ilarly taken from the
M oldavian Principality by the Habsburgs in 1775, and Transylvania,
whose medieval and modem history had been ineluctably intertwined
w ith that o f Hungary. The fou r units that came together in 1918 thus
varied substantially in th e ir political trajectories and cultural histories,
th e ir ethnic compositions, and in the languages and mores o f th e ir gen-
eral populations and elites. The three new provinces, however, they had in
common th e ir absence from the process o f modern nation-building trav-
ersed by Romania in the long nineteenth century. W hile each area had
either a Romanian demographic m ajority (in Transylvania and Bessara-
bia) or a Romanian p lu ra lity (in Bukovina), the ethnic m inorities in the
three new territories were not insignificant, and proved to be challenging
and even troublesome. The new provinces o f Greater Romania thus
brought w ith them in to the newly enlarged-state national glory and fu i-
fillm e n t, but also social complications and political problems.

6 See footnote 5 above. F or the Rom anian e d itio n see Livezeanu, Irin a : C ultura
$i nationalism in Rom ania M are, 1918-1930. Bucharest 1998.

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Elites in Greater Romania 219

The heterogeneity o f the population posed a challenge to the newly-


enlarged Romania because the m ulti-national population consisted o f
over twenty-eight percent ethnic non-Romanians in a state th a t saw its e lf
and projected the image in its propaganda o f a homogeneous nation-
state.7 The problem , in short, was the divergence between image and
reality. Ethnic heterogeneity had, o f course, been introduced w ith the
annexation o f the new territorie s where the Romanians outnum bered all
other groups, but where th e ir proportion was much sm aller relative to
these other ethnic groups than in Old Romania’s population p rio r to 1918.
Whereas ethnic Romanians constituted 92 percent o f the population o f
the Old Kingdom before the unification o f 1918, they declined relatively to
only 71.9 percent o f Greater Romania’s population by 1930.8 In each o f
the new provinces the numbers were even less favorable to Romanian
ethnicity than this overall figure: in Transylvania ethnic Romanians were
57.8 percent, in Bessarabia 56.2 percent, and in Bukovina 44.5 percent o f
the general regional population.9
Heterogeneity was not sim ply the result o f the m ultiple ethnic, lin -
guistic and confessional groups o f Romania’s population, and thus o f the
non-Romanians who amounted to 28.1 percent o f the country’s entire
population according to the 1930 census;10 regionalism , a factor which
affected ethnic Romanians as much as the m inorities, also contributed in
its own way to this problem atic diversity. Regionalism was the norm al
effect o f the different provinces’ separate historical development under
fo u r sets o f conditions. I f the nineteenth-century‫ ־‬French historian Ernest
Renan was correct in th in kin g that ‫״‬the essence o f a nation is th a t all
individuals have many things in common, and also th a t they have to ­

7 Livezeanu: C u ltu ra l P olitics, p.10, table 3. The o ffic ia l Rom anian estim ate in
1920 considered th a t Rom anians constituted 69.9 percent in a to ta l p o p u la tio n
o f 16,897,000. See §andru, D u m itru : Populaça ru ra lã a R om âniei ìn tre cele
doua rãzboaie m ondiale, in : A n u a ru l In s titu tu lu i de isto rie §i arheologie ,A .D .
Xenopol“ (S uplim ent II) . Ia$i 1980, p.49.
8 R othschild, Joseph: East C entral Europe between the Tw o W o rld W ars Seattle
1977 . Р-284.
9 Livezeanu: C u ltu ra l P olitics, p p .9 -1 0 .
10 Ib id ., Table 2, p.10.

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220 I. Livezeanu

gether forgotten many things“ ,11 i.e. that they have shared memories and
‫״‬forgettings,“ then the branches o f the Romanian nation, living u n til 1918
under different political and cultural systems had no way o f building the
common memories and ‫״‬forgettings“ suggested by Renan p rio r to th e ir
unification. The stock o f shared memories had largely to be deliberately
produced beginning from the moment o f the Great Union. A process of
production o f common memories would be the result o f a collaboration
between the old and new‫ ׳‬elites o f Greater Romania.
Finally, and perhaps most im portantly, the urban-rural balance
shifted against ethnic Romanians w ith the addition of the new territories
in 1918. In the cities and towns o f Transylvania, Bukovina and Bessarabia,
ethnic Romanians were severely underrepresented. By and large, the Ro-
manians were the rural peasants o f these long-lost Romanian provinces,
and not th e ir urban elites. Ethnic Romanians amounted to three-quarters
o f the Old Kingdom’s urban population, but they made up only about
one-third o f the urban population in the new provinces (34.7 percent in
Transylvania, 33 percent in Bukovina, and 31 percent in Bessarabia).12
The new territories brought Greater Romania large masses o f Romanian
peasants sprinkled w ith a th in stratum o f Romanian urbanites. The
greater part o f the urban elites in the new territories were ethnic foreign-
ers o f which Hungarians, Germans, Jews, and Russians were the most
numerous.
A closer look at Transylvania (by which I mean Transylvania proper,
together w ith the adjacent territories o f Satu-Mare, Crisana, Maramures
and the Banat), also known in Romanian as ‫״‬Ardeal,“ w ill serve as an
example. According to the 1910 census, Transylvanian Romanians made
up close to 60 percent o f the region’s rural population, but only 18 per-
cent o f the urban population, w hile Magyars, Germans and Jews together
constituted 82 percent o f the urbanites .*3 As a m atter o f fact, prio r to the

11 Renan, Ernest: W hat Is a N ation?, in : Becoming N ational, ed. by G eoff Eley


and Ronald G rig o r Suny. New Y ork 1996, p.45.
12 Livezeanu: C u ltu ra l P olitics, Table 3, p. 10.
13 These figures are recalculated fro m Table 9, p.135 in ib id . A corrected version
o f Table 9, w hich was based on erroneous figures cited in M anuilã, Sabin:
Aspects dém ographiques de la Transylvanie, in : La Transylvanie, 1938, has
been introduced in the R om anian e d itio n o f th is book at p.164. See note 6
above.

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Elites in G reater Romania 221

union w ith Romania, the Ardeal’s urban areas were even more culturally
Magyar and German than these figures m ight indicate, fo r several rea-
sons. Not only had the Jews largely assimilated as Hungarians and Ger-
mans, but the Romanians who lived in the towns had failed to leave much
o f a stamp on th e ir environm ent. I f they worked as domestic servants,
they were perceived and identified themselves as peasants, despite th e ir
urban residence; th e ir extended o r even im m ediate fam ilies resided in the
countryside, and it was the ancestral village, to which they periodically
returned, that they considered to be th e ir true ‫״‬home.“
W ith few exceptions, Romanian pupils in Transylvania seeking
schooling beyond the firs t few grades would attend urban Hungarian or
German gymnasiums and lycées. Once there, they were obliged to wear
‫״‬European“ clothing, and thus give up a part o f th e ir ethnic id e n tity rep-
resented by the trad itio nal costume.1-» For some this socialization opened
the way to fu rth e r assim ilation, w hile it turned others in to b itte r enemies
o f Hungarian assim ilationist policies. Although Bukovina and Bessarabia
each had a different evolution, the sparseness and awkwardness o f the
Romanians in the urban environm ents and higher social strata consti-
tuted a common denom inator fo r all three provinces.
The fact that the Romanians represented larger proportions o f the
population o f sm aller towns, and sm aller proportions o f the larger cities,
which were also the more ‫״‬urban“ and im portant from a cultural point o f
view, is sim ilarly significant, suggesting yet another way in which the
Romanian impact on the urban environm ent was dampened.‘5 In addi-
tion, some urban Romanians who worked in the Romanian com m unity as
lawyers, priests, teachers, journalists or other sim ilar professions, did not
leave th e ir mark on the general urban landscape, although they had a
deep impact on the Romanian enclaves. This meant that the Romanian
cultural presence in Transylvania’s cities existed largely in a ‫״‬ghettoized“
form p rio r to 1918. Another category‫ ׳‬o f urban Romanians who did not
add to the Romanian character o f the towns, were the ones who had sue-
cessfully absorbed other languages and cultural codes becoming

*‫ ♦־‬F or the schooling o f O n isifo r G hibu and th a t o f his brothers see Livezeanu:
C u ltu ra l P olitics, p. 145.
'5 M anuilã: Aspects dém ographiques, pp.16,17,70.

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222 I. Livezeanu

‫״‬assimilated,“ usually to Magyar, less often to German, language and


culture.
Overall then, from the point o f view o f victorious nationalism , Greater
Romania was at best an ambiguous vehicle, no m atter how attractive it
may seem now to those nostalgic fo r the ‫״‬good old days.“ I have even used
the metaphor o f the ‫״‬Trojan Horse“ : on the one hand the country had
gained almost all the territories nationalists p rio r to the Great W ar might
have dreamt about, and it had gathered together almost all ethnic
Romanians from the territories adjacent to the Old Kingdom. On the
other hand, however, the g ift th a t fu lfille d Romanians’ patriotic
am bitions concealed certain nightmares: possibly the worst o f these was a
large number and proportion o f ethnic m inorities that were more urban,
educated, wealthy, and modern than most Romanians. The Romanians
were thus ethnically dim inished in Greater Romania. Moreover, the large
num ber o f urban ethnic m inorities faced a largely rural, agricultural soci-
ety. The m inorities were then relatively overrepresented in the social
strata, locales, and in stitu tion s associated w ith urban elites, that is, in
towns, industries, trade, culture, and among groups w ith a secondary and
higher education.
Furthermore, Greater Romania also faced the above-mentioned
problems o f regionalism which involved not only ethnic foreigners, but
the Romanians themselves, who had been differently socialized in the
fo u r different zones o f modernization under Austria, Hungary, Russia,
and Romania. Regional heterogeneity made itse lf felt particularly at the
level o f the elites, schooled in a variety o f languages, cultural traditions,
and in stitu tio n a l settings. Less mobilized by modem life, the peasants
were more likely to continue living th e ir local life w ithout any immediate
dram atic changes in th e ir relations w ith other localized populations. But
Romanian elites, from heretofore distinct provinces, found themselves
‫״‬the m orning after“ the Great Union confronting, in th e ir new com patii-
ots, divergent understandings o f Romanian identity, institutions, and
goals, and confronting in th e ir new, post-union, circumstances a degree of
crisis. As the Transylvanian journalist Petre Nemoianu saw it, in 1918 his
province’s peasants had ‫״‬voted fo r the union, danced the hora, and then
gone home,“ to pick up where they had le ft off, while educated intellectu-
als like him self, whose role had been that o f mediators between the Ro­

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Elites in Greater Romania 223

manian peasantry and the Hungarian state and urban institutions, now
had to fin d a new raison d’etre and ‫״‬to change th e ir whole way o f life .“ 16
Another unexpected result o f the unification was the conflict which
arose amongst the country’s regional elites. Romanian educational cadres
from Bukovina fo r example, fe lt superior to th e ir counterparts in the Old
Kingdom. They insisted on autonomy and on holding on to th e ir old
school inspectors, even m in o rity ones; they also demanded the right to
th e ir own, distinct, curriculum . These claims and attitudes alienated the
officials o f the M inistry o f Education in Bucharest, who accused the
Bukovinians involved in the transitional and semi-autonomous in s titu -
tions o f the province p rio r to 1920 o f harboring ‫״‬regionalist sentiments.“
Regat Romanians stood fo r centralization in part because this process
brought the rest o f the country under th e ir system. But they took offense
at the new Romanians’ resistance to the institutional-level unification
slated to take place under the aegis o f Old Kingdom institutions. The
centralizers objected to the superiority evinced by Bukovinian and Tran-
sylvanian Romanians and to the ‫״‬Russianness“ o f the Bessarabians. As a
result, in 1920 they dism antled as soon as possible the transitional semi-
autonomous in stitu tio n s to the considerable outrage o f the
‫״‬provincials.“ ‘?
Although the problems o f m ultiethnicity and regionalist tensions
could be studied in various aspects o f interw ar Romanian society, I have
analyzed especially the cultural politics o f unification, both in the official
policies designed fo r bringing about the integration o f the expanded
country‫׳‬, and from the more intriguing angle o f the im plem entation and
evolution o f such policies on the ground, w ith all th e ir contingent and
unexpected elements. I chose the cultural angle fo r several reasons; the
most im portant o f these is that cultural in stitu tio n s - all schools, but
secondary schools and universities especially - lite ra lly produced the
elites o f Greater Romania. These in tu rn drew my attention because o f
their ethnic profile: Greater Romania faced at its foundation a relatively
small proportion o f ethnically Romanian elites vis-à-vis relatively numer-
ous foreign elements. Given these demographic conditions, Romanian

16 Nem oianu, Petre: In te le c tu a lii ardeleni dupã unire, in : T ara noastrã, 27


January, 1924
17 Livezeanu: C u ltu ra l P olitics, p.43.

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224 L Livezeanu

cultu ra l policies aimed to make over and expand Romania’s elites by lin -
guistically nationalizing schools and universities, by expanding the school
and university system (which grew trem endously in the interw ar period),
by increasing the number o f Romanian teachers and faculty, and by un-
o fficia lly giving in to student demands o f ‫״‬numerus clausus“ , the exclu-
sion o f the old, particularly Jewish, elites from the universities and more
generally from elite positions. The policy o f school expansion was also
aimed at helping to resolve one source o f regionalist tension by raising the
Old Kingdom up to the level o f the new provinces, since the Regat was
both num erically and relatively behind these provinces in terms o f edu-
cational development.18
The demographic transform ation o f Romania which coincided w ith
the country’s te rrito ria l expansion in 1918 helps to explain both Bucha-
rest’s cultural policies as desribed above, and the ideological choices o f
interw ar Romanian students and intellectuals. In fact one could say that
the prevailing public discourse o f the period was a populist and national-
ist one, reflecting the project o f nationalizing the elites discussed above.
By the 1930s, much o f th is discourse was also infused w ith a self-right-
eous anti-Sem itism . Although this was by no means a uniquely Romanian
phenomenon - it circulated widely in Western, Central, and Eastern
Europe at the tim e19 - I would suggest that in Romania the emerging
nationalist consensus was in large part a response to demographic reali-
ties. These, in turn , were mediated through the policies that successive
governments designed in order to integrate the new territories solidly
w ith the Old Kingdom core o f the country‫׳‬, and to create new‫ ׳‬and larger,
ethnically-pure Romanian elites, who would secure the te rrito ria l expan-
sion w ith th e ir loyalty.
The focus o f many o f these policies and the heroes o f much o f the
nationalist-populist discourse o f interw ar Romanian intellectuals were
Romania’s peasants. According to many government spokesmen, and to
both mainstream and extreme nationalists, it was among Romanian v ii-

18 Angelescu, C onstantin: E v o lu ía ín vã tã m ân tu lu i p rim a r §i secundar ín u ltim ii


20 de ani. Bucharest n.d., p p .2 3 -2 4 .
19 F or an exam ination o f fascism in the heart o f dem ocratic W estern Europe see
S ternhell, Zeev: N eith er R ight n o r Left: Fascist Ideology in France. P rinceton
1996.

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Elites in Greater Romania 225

lagers, in the rura l, Eastern Orthodox strata o f the population, th a t Ro-


manian nationhood resided most purely and most fu lly . It was from these
hinterland manpower reserves that renewed, reinvigorated, and tru ly
legitim ate Romanian elites m ight emerge that could take over the elite
positions form erly held by foreigners, urbanites, and non-Orthodox. Such
a functional d e fin itio n o f the Romanian nation as necessarily based on
the native, ethnic-Rom anian, Orthodox peasantry was an effective strat-
egy. It excluded from social com petition the urban, m in o rity elites s till
dw elling in Romania’s new territories, vestiges o f pre-war, non-Romanian
urban society (civil society), as well as the newly-emancipated Jewry o f
the Old Kingdom. A Romanian nation thus conceived in autochthonist
principles, was not o f the political, contractual type, but rather o f the
ethnic, organic type. Nae Ionescu, the renowned philosopher and m entor
o f the ‫״‬new generation“ o f Romania’s interw ar intellectuals, described it
using an appropriately botanical metaphor:
‫״‬I f you plant a wheat grain in the soil (...) it w ill sprout and grow
shoots, a certain type o f shoot, w ith a certain necessary7develop-
ment already determined by the very structure o f the wheat grain.
%

I t ’s the same way w ith our ‘Romanianness.’ To be Romanian means


having a certain make-up, from which, w ith absolute necessity,
flow certain attitudes and gestures.“20
This is clearly not the kind o f fusionist or contractual nationality th a t
one could be naturalized in to o r grow in to after im m igration, o r even
after several generations. To be Romanian fo r Ionescu and so many o f his
disciples, was nothing like being American or Australian in our own day,
or even like being French or B ritish to Ernest Renan in his day. Renan
warned against the grave mistake being made in the last decades o f the
nineteenth century (and later more brutally, and s till in our day in Croa-
tia, Bosnia, and Kosovo) o f confusing races, or ethnographic, or linguistic
groups w ith nations.21 It is conceivable, though not easily so, that d iffe r-
ently imagined, the Romanian nation m ight have been able to absorb and
benefit from the vestigial non-Romanian elites from Bukovina, Transyl-
vania and Bessarabia, integrating them in to a new7political, cultural, and

20 Ionescu, Nae: Roza v â n tu rilo r 1926-1933. Bucharest 1937, p .1 9 7 •


21 Renan: W hat Is a N ation?, p.42.

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226 I. Livezeanu

social configuration, much the way that nineteenth-century Hungarian


society attem pted to assimilate its m inorities, and successfully incorpo-
rated bourgeois Germans and Jews. But conceived as an autochthonist
u n it, the Romanian nation became a protectionist refuge fo r ethnic Ro-
manian elites, an instrum ent fo r prom oting the collective heirs o f the
Romanian peasantry, even if these had not necessarily been bom in the
village, and even if - o r especially if - they were attem pting to make th e ir
ways and careers in the ethnically im pure w orld o f the city.
This w orking d e finition o f the Romanian nation became a bridge
between government spokesmen and those from right-w ing opposition
groups since both mainstream politicians and th e ir extrem e-right critics
shared these basic assumptions. Both the moderate nationalists in the
National Peasant and Liberal parties, and the radicals from the student
movement, the Iron Guard, and the League fo r National Christian De-
fense, tended to accept and actively organize fo r the idea that the Roma-
nian state belonged above all to the Romanian nation defined in the
organic, populist, ethnic sense. The extreme nationalism of the generation
o f the 1922 student movement and o f the Iron Guard was not a marginal
element on the po litical scene.22 On the te rrito ry o f nationalism, populist
ideology brought the radicals close to the moderates; granted that the
radicals appeared more principled, more idealistic, and less prone to
compromise, w hile the establishment could be accused o f corruption,
half-measures, and collaborationism w ith the enemies o f the nation.
N ationalist populism succeeded so well fo r a number o f additional
reasons. The populist currents seemed like a welcome balance to the
abuses o f the Regat- and Bucharest-based bureaucracy. Some Transylva-
nians fo r instance allied themselves w ith the Iron Guard because it em-
bodied a principled opposition to the corrupt power o f Old Kingdom
Liberals. Second, fo r the young generation, integral nationalism repre-
sented a force against the regionalism that asserted itse lf so em phatically
among th e ir elders precisely after the 1918 unification. Thus, unlike the
establishment po litical parties hailing from the historic prewar parties,
which tended to have regional bases o f power, the radical nationalists in

22 On the re la tio n sh ip between Rom ania’s student movement and the Iro n G uard
see C hapter 7, ‫״‬The G eneration o f 1922: From Student M ovem ent to Iro n
G uard,” in : Livezeanu: C u ltu ra l P olitics.

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Elites in Greater Romania 227

the student movement and the Iron Guard included youth from all the
Romanian provinces and all comers o f Greater Romania.
The integral, populist nationalism harbored by many o f Romania’s
elites gave resounding, fittin g , and convenient answers to the problems
posed by the unification o f 1918, and particularly to the issues concerning
the new demography and elites o f Greater Romania. For this reason, an
ideology based on an ethnically-defined populism was central to the dis-
course and politics o f the interw ar period.

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»‫**״׳^»־*י‬v^í .TÍl

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Military Elites - Continuity and Discontinuities:


The Case of Yugoslavia, 1918-1980

Mile Bjelajac

Many historians and other analysts have paid attention, more or less
successfully, to the m ilita ry factor in form er Yugoslavia. Obviously that
fact proves that there is a real interest in such a subject. In the opinion o f
this author there is plenty o f room fo r fu rth e r research that w ill improve
our knowledge. We could lis t several well-known and inevitable scholarly
works o f our esteemed colleagues concerning East European or Yugoslav
history in particular, and show traces o r influence produced by older
literature. Those old works, especially on the Kingdom o f Yugoslavia, had
been affected by political attitudes and quarrels. The general remark o f
the present author is that previous approaches were too narrow. These
authors emphasised the political role o f m ilita ry representatives, some
times o f a few im portant or well-known persons, as well as o f the Arm y in
the frame o f a m ulti-ethnic society.1 We would like to try to enlarge the

1 Hićanić, R udolf: Ekonomska podłoga hrvatskog p ita n ja (preface by d r V.


M aček). Zagreb 1938; Tomasevich, Jozo: Peasants, P olitics and Econom ic
Change in Yugoslavia. Stanford 1955; R othschild, J.: East C entral Europe
Between the Tw o W o rld W ars. Seattle 1974; D enitch, Bogdan Denis: The
Le gitim a tion o f a R evolution. Yugoslav case. New H aven-London 1976;
(Communist A rm ies in P olitics, ed. by Jonathan R. Adelm an. W estview Press,
1982; Soldiers, Peasants and Bureaucrats. C iv il-M ilita ry relations in
C om m unist and M odernizing Societies, ed. by R .K olkow ich and A. Korbonski.
George A llen & U N W IN , 1982; Banac, Ivo: The N ational Q uestion in
Yugoslavia. O rigins, H istory, P olitics. Zagreb 1988; Yugoslavia’s security
dilem m as: arm ed forces, national defence, and foreign policy, ed. by M .
M iliv o je v ic et. al. Berg Publishers L im ite d , 1988; Deák, István: Beyond
N ationalism . A .Social and P o litica l H is to ry o f the Habsburg O ffice r Corps,
1848-1918. O xford 1990; R.J. C ram pton: Eastern Europe in the T w entieth
C entury. Routledge 1994.

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230 Aí. Bjelajac

field o f interest and take in to account many more aspects in which m ili-
tary elite, o r army in general exercised influence on society.
In the past and present, every country, at war, in revolution, or at cold
war has faced problems o f relations between civilians and the m ilitary.
The clashes between m ilita ry values and civilian ones appeared very
often. The m ilita ry may easily become a focus o f discontent and the
strongest alternative to civilian government. Thus the questions o f
m ilita ry elites always emphasises the type o f civil-m ilita ry relations,
democracy, m ilitarism , modernisation, and m ilitary structure itself
(recruitm ent, social and national origins, education level, social status,
prestige, internal differentiation on an elite ‫״‬cadre“ and elite ‫״‬nucleus“
etc.) Furtherm ore, we cannot avoid questions o f relations between
m ilita ry and other elites (especially economic ones) in the frame o f the
m ilita ry-in d u stria l complex, and also questions o f legitimacy.2
W hat does the case o f Yugoslav m ilita r} elites show? First o f all, can
we lay out some new aspects o f its characters o r even structure? For the
moment, the purpose o f this paper is not to cover all the topics which we
have previously mentioned but to present more, in our opinion very
interesting results o f our ongoing research.
The Yugoslav officer corps was created by unification o f several d if-
ferent elements: form er Serbian (3.500), Montenegrin (469), Austro-
Hungarian (2.590) and Russian (12) army officers. Step by step, on the
eve o f W .W .II it became a new corps, educated in Yugoslavia (over 85%
out o f 10.000). This unification was not only a m ilitary m atter but also a
political one. In spite o f intentions o f m ilita ry and civilian rulers

2 The Role o f the M ilita r)‫ ־‬in Underdeveloped C ountries, ed. by John J. Johnson.
P rinceton 1962; Janow itz, M o rris: The M ilita ry in the P olitical Developm ent o f
New N ations. 4 th ed ition , Chicago 1971; Arm ed Forces and Society.
Sociological Essays, ed. by Jacques van D oor. Paris 1968; C ivilia n C ontrol o f
the M ilita ry . T heory and Cases from Developing Countries, ed. by Claude E.
W elch, J r. A lba ny 1976; The M ilita ry and Problem o f Legitim acy, ed. by
G .H arries-Jenkins, J . van Door. London 1976; N ordlinger, E ric A.: Soldiers in
P olitics, M ilita ry Coups and G overnm ents. Prentice H a ll, NJ 1977; M ilita ry
Profession and M ilita r}‫ ׳‬Regimes. C om m itm ents and C onflicts, ed. by Jacques
van D oor. The H ague-P aris; Russett, Bruce: C ontroling the Sword. The
D em ocratic Govemence o f N ational S ecurity. Cam bridge, M A -L o n d o n 1990;
Gow, James: Legitim acy and the M ilita ry . The Yugoslav C risis. New Y ork 1992;
Barany, Z oltan: Soldiers and P olitics in Eastern Europe, 1945-1990. New York
1993•

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Military Elites in Yugoslavia 231

(including Prince Alexander), the practice was faced w ith opponents both
from among the officers as well as from the public at large. Some preju-
dices or myths about that m atter created in those days persisted up to
date and we can fin d its echoes even in the scholarly literature.
By social origin, Serbian highly educated officers had been predom i-
nantly (75%) from tin y bourgeois class. Officers from the M ilita ry Acad-
emy, some faculties and supplemented education, in a decade before
W .W .I constituted some 77-80% (in 1907 76,8% out o f 2.021) o f the ca-
reer officer corps.3 Others came from the ranks (non-commissioned o ffi-
cers, reserve officers, private soldiers, etc.). We do not have precise data
on th e ir social background. We can only state w ith certainty th a t reserve
officers at least had some kind o f secondary school, th a t is six o r eight
years o f regular education, whereas non-commissioned officers had eight
>ears o f schooling.
The Balkan wars and W orld War I affected badly the officer corps in
terms o f numbers. For example, the rate o f casualties o f the graduates
from 1899-1914 who had entered the wars as majors o r in lower ranks,
averaged 38,1% (490 out o f 1.286). The percentage varied from class to
class in a scale from 16,6 up to 6 2 .4
Concerning the previously mentioned pre-wars Serbian officer corps,
it should be emphasised that outstanding social position and prestige o f
officer corps in poor, predom inantly peasant (over 85%) Serbian society
had been im proved by marriages w ith girls from the bourgeois fam ilies
(99,8%). This process was carefully encouraged by laws and regulations at
the tim e .5
What can we conclude if we take a look at the part o f the k.u.k. officer
corps adm itted in to the new created Yugoslav Arm y, what can we fin d
out?

3 Spomenica sedam desetpetogodinjice Vojne akadem ije 1850-1925. Beograd


1925; M ilice vic, M ilić : Reforma srpske vojske 1897-1900. M A thesis, Beograd
1996; Bjelajac, M .: Slučaj tajnog raporta pukovnika M aina 1906, in : M ilita ry
H isto rica l Review (Belgrade), No 1,1997, p.64.
4 Spomenica V ojne akadem ije 1925.
5 Bjelajac, M .: Ženidbe o fícira srpske i jugoslovenske vojske 1881-1941. P la n i-
rano stvaranje elite , in: A nnual fo r .Social H isto ry (Belgrade), No 1,1995.

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232 M. Bjelajac

In brief, according to Deák, in 1910 there were only 2,4% Serbs, Croats
and Slovenes, or in to ta l 427 out o f 17.808 k. u. k. officers in active
service. That shows a decline o f 1,5% in comparison to data o f 1897. In the
same period there were only 35 Serbs, Croats and Slovenes in all classes o f
Military• Academy, out o f which 17 were Serbs. The M ilita ry and the Tech-
nical Academies, m ainly schools fo r the sons o f the m ilita ry and c iv il elite
(much o f them nobles) lost th e ir elite character at the beginning o f the
tw entieth century7, especially on the eve o f W .W .I. Only graduates o f the
m ilitary academies had a good chance o f making it in to the General staff
and thus ending up as Generals. For the staff officers it was possible to
obtain that rank at the age o f 53, but fo r the others only at the age o f 58
or 61. On 1 November 1918, there were 25 South Slavs out o f 375 actively
serving Generals (or 6,6%).6
The m ajority o f Yugoslavs enrolled in one o f the nineteen Cadet
schools (Kadettenschulen). Those schools, predom inantly fo r the less
prestigious infantry could adm it 1.000 youngsters annually. In practice,
however, there were never enough students. The number o f to ta l enrol-
ment on three years fe ll steadily (from 3.333 in 1897, 2.279 in 1907 to
1.864 in 1911). A fter those schools future officers served firs t fo r tw o years
as cadets.7
In k.u.k. m ilita ry practice it was also possible to become career officer
from the reserve corps o r from the ranks (14,3%). It is im portant to point
out that the casualty rate among k.u.k. officers was tremendous. By the
and o f 1914 3.168 officers (out o f 18.000 career and 14.000 reserve o ffi-
cers, and 25.000 o f various categories activated) were killed, and other
casualties amounted to 22.310 (50%). Throughout the war 15.408 were
killed and 8.000 died in captivity. For example, from the class which
graduated from the M ilita ry Academy in 1913 (134), 30% died in war,
some were badly wounded, some missing in action (in total 51,9% casual-
ties).8
It is well known that preponderant influence on Yugoslav Royal army
was exercised by Serbian General corps. However, as opposed to some

6 Deak, p.188; Review R atnik, 1906, V0I.3, p p .4 5 5 -6 .


7 Deak, pp.86,91.
8 Deak, p p .9 1 ,194

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M ilitary Elites in Yugoslavia 233

claims th a t there were no others among Generals but a few non-Serbs (2


Croats and 2 Slovenes), according to the researches o f this author, it can
be said th a t there were 12 form er Montenegrin and 64 form er k.u.k. o ffi-
cers in the G eneral/Adm iral corps (out o f 506). The percentage o f those
Generals in active service had increased, especially in the last six years
before the W .W .II. (6,5% in 1936,23,5% in 1940/41).9
Among the oYugoslav Generals o f Serbian origin, besides the M ilita ry
Academy, 36% o f the Generals had finished the W ar Academy too. In
addition, the next 23% have passed preparations fo r General staff. Of the
officers in Services, 10% graduated from faculties (74% out o f that num-
ber abroad). Also 10% o f them have passed schools, m ilita ry academies or
war academies abroad, and 15% out o f the strata spent longer periods on
v arious courses or specialisation. Among the Generals and Adm irals who
hailed from the form er к. и к. army, originally only 38% had finished
Militar>•, Technical o r Naval Academy (25 in total), 52% Cadet schools
(34), 12% had graduated from faculties (8). In advanced training in Mon-
archy 17% finished the W ar Academy (11) and some o f them preparations
fo r General staff.
Irrespective o f the decline in social descent o f newly created Yugoslav
officer corps, the old guard was rooted in bourgeois (m iddle) class. This
was especially so w ith Generals who were connected by marriages, in high
percentage (45%) to the richest fam ilies (by local standards). As fo r the
rest o f the Serbian and form er k.u.k. officers we can state the follow ing.
According to the ‫״‬Yugoslav Arm y’s rank list fo r the officers in active
service“ 10 after some re tirin g or abandoning army by own decision, there
had been le ft in ranks 1.979 form er k.u.k. officers (353 superiors) in 1924.
Among superior officers 15% had finished the M ilita ry Academy, 61,7%
had finished the Cadet school, 17,5% had graduated from faculties and

9 Stručna rang lista o fícira , službenika i ukaznog osoblja K raljevine SHS.


Beograd 1922 (1926); Personal files in the M ilita ry Archives, Belgrade;
Službeni v o jn i lis t (M ilita ry Gazet) 1918-1941; Pavlow itch, Stevan K.: How
m any non-Serbian Generals in 1941?, in : East European Q uarterly, V ol.X V I,
N0.4, .January 1983, pp.447-452.
10 Opšta rang lis ta o fíc ira K raljevine SH S/Jugoslavije za 1924. Beograd 1924
(also fo r 1927, 1932, 1937). The Navy had separatlly lists. These lists were not
p u b lic ly available in pre-w ar Yugoslavia, and today access to them is only
possible in the M ilita ry Archives.

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234 M. Bjelajac

5,6% came from the ranks etc. On the other hand, there was a group of
1064 form er Serbian superior officers. Among them 65,6% had finished
the M ilita ry Academy, in addition 26,7% had finished the Higher school
o f M ilita ry Academy (W ar Academy), 6% had graduated from faculties
and 28% came from the ranks (out o f them 11,8% Colonels, 29% Lieuten-
ant colonels, 54,3% M ajors). As a result o f war in the next lower rank
(Captains I. class), which included the last pre-war class (46) o f the M ili-
tary Academy, the rate o f officers who came from the ranks amounted to
83,27% (among form er k.u.k. 31,25%). Most o f them had previously been
non-commissioned officers (64%).
W orld war II and the social revolution made a deep cut in continuity
o f Yugoslav m ilitary‫ ׳‬elites. A fte r the so called ‫״‬A pril war“ in 1941, the
m ajority o f active officer corps were sent to prisoners camps in Germany
and a smaller number in Italy. A t the end o f June 1941 13.559 officers
were in German captivity, m ainly Serbs, Slovenes and Jews. Very few
Croats remained w ith th e ir comrades. The M ajority‫ ׳‬o f Croats were ad-
m itted in to the army o f newly created Croat State (3.300 Generals, o ffi-
cers and cadets from m ilita ry schools).11
Serbian m ilita ry elite, General corps, and in smaller scale those of
form er k.u.k. disappeared from the historical stage at the end o f the war.
On the eve o f the W .W .II, out o f 506, some 17,19% had died in the inter-
war period, 3,75% died at home during the war years, 2,37% in captivity
and 2% were killed in action o r during the bombing o f Belgrade. Some
20% (m ainly retired Generals), spent the war years inactively at home.
Out o f some 200 Generals who had been taken prisoners, 47% returned
home during or at the end o f the war, and 36,5% more or 73 in total
(included some refuges in 1944 and 1945) chose the life o f emigrants,
rather than living under new regime o f communism or in order to escape
being put on tria l fo r collaboration etc. According to the available data 16
active Generals took a part in Pavelic’s Croat units. Three o f them emi-
grated (one returned home after w hile), one was sentenced to death by a
law court in 1945. That was the fate o f another two in Serbia and Slove-
nia. For the remaining 93 o r 18,37% this author has no data as yet.

11 Terzić, V e lim ir: Slom K ralje vine Jugoslavije 1941. godine, v o l.II. Beograd
1982; Tom asevich, Jozo: The C hetniks. S tanford 1975 (Zagreb 1979); Koutić,
Ivan: H rvatsko dom obranstvo и D rugom syjetskom ra tu . Zagreb 1992.

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M ilitary Elites in Yugoslavia 235

In 1946 there were only 12,4% form er m ilita ry personnel in the new
officer corps. Former officers consisted only 7,7% o f the officer corps in
1950. Only 12 form er Generals were accepted in the new army, m ainly on
posts in education and sciences as well as in medical service. Concerning
the social origin o f the new officers, 40% were o f peasant and 25% of
w orker origin. This officer corps had no m ilita ry education in the begin-
ning but war experience. However it was soon transform ed in to an edu-
cated and trained one (around 90% in 1953). Among the Generals or
fu tu re Generals (up to 1980) 76% (out o f 846)12 passed the Higher M ili-
tary Academy, in addition 27% the W ar Academy and 12% faculties.
Around 13% o f them were educated or supplementary trained in Russia,
USA, France etc. As fo r th e ir b irth place, 30,13% were bom in towns (only
7 in Belgrade). However, ‫״‬village“ sometimes can hide the social back-
ground. There were sons o f teachers, priests, o r even new civil servants
who moved from villages to cities very soon after th e ir sons had been
born. Thus, among them we can fin d persons who graduated in France or
elsewhere in Europe before W .W .II. According to th e ir social status be-
fore the war and revolution, 12,5% were peasants and fishermen, 20%
workers, 13,4 students, 19,13% pupils, 2,63% teachers, 6,4% civil servants
(including highly educated ones), 3,1% medical doctors, 2,15% lawyers,
0,8 engineers, 10,76% arm y officers, 5,26% non-commissioned officers.
To a smaller degree than in 1919, Yugoslavia was again a land o f ree-
onciliation after tremendous civil and liberation war. The new army took
some o f the officers who had returned from German captivity2.016) ‫)־‬,
1.963 officers o f Independent State o f Croatia (Domobranstvo), 215 from
the German army, 322 from the Bulgarian army, 124 from the Italian
arm y 18 from the Hungarian army, 4 from Albanian the fascist m ilitia,
727 from General M ihailovic’s troops and 17 Royal officers who had es-
caped to the M iddle East in 1941. The process o f reception began on the
larger scale in late 1944, and was accelerated in the spring o f 1945. It is
interesting to note that the Croat group s till included many form er k.u.k
officers. Such was fo r example the Chief o f new the A ir Force, General

12 V o jn i leksikon. Beograd 1981.

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236 M. Bjelajac

Pire, and the Chief o f M ilitary7Intelligence and member o f the Supreme


Command in late spring o f 1945, General Vjekoslav Klianić . ‘3
Former Yugoslavia was a m ultiethnic society, and that has always been
a special concern o f its rulers at the tim e.1« W ithout going in to details,
suffice it to say that there is no evidence in the sources which can confirm
any chauvinistic attitude or intention o f the Serbian decision makers in
m ilita ry hierarchy o f the inter-w ar period. On the contrary, many top
secret orders by the War m inister to the upper commanders or whole
officer corps show that they were fu lly aware that harmony and loyalty
among different elements and satisfied citizens are the main pre-
conditions o f the combat moral. They were also fu lly aware that every
mistake in that respect would nourish anti-Serb or anti-Yugoslav propa-
ganda by opponents to the new Kingdom .^
In spite o f many political claims at the tim e that form er k.u.k. officers
were neglected in the common army, figures suggest more profound con-
elusions. Absence o f non-Serb Generals or the small number o f them in
the period between 1923-1935 cannot be taken as the only proof fo r negli-
gence towards those officers by Serbian m ilitary authorities. For example,
at the beginning o f the 1920s form er k.u.k officers formed 36,76% out of
the officer corps (6.800), in 1924 they had been only 9,7% o f the Colonels,
15,8% o f the Lieutenant colonels and 42,2% o f the Majors and only 4 of
the Generals and Admirals. Twelve years later (1936), they were 6,5% o f
the General corps, 33,35% o f the Colonels, 34,66 o f the Lieutenant colo-
nels and 47,76% o f the Majors (among pre-war officers, newly promoted
Yugoslav officers excluded). On the eve o f the W .W .II there were 23% in
active General corps.

‘3 lo ite r, K lianić was transferred to the post o f the C hief o f the Education
departm ent o f the Defense M in istry‫׳‬. (Razvoj oružanih snaga SFRJ 1945-1985,
vol. 15, K adrovi i kadrovska p o litik a , Classified ed. o f YPA. Beograd 1986).
1-* Yugoslav experience w ith a m u lti ethnic arm y d u rin g seven decades w ill be
discussed m uch m ore thorougly in the fortcom ing a rticle ‫״‬Die jugoslawische
E rfahrung m it der m ultihnischen Arm ee 1918-1991“ by th is author in the
review ‫״‬Südosteuropa“ .
‘5 M ore about it: Bjelajac. M .: Vojska K raljevine Srba, H rvata i Slovenaca 1918-
1921. Beograd 1988; Vojska K raljevine SH S/Jugoslavije 1922-1935. Beograd
1994•

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Military Elites in Yugoslavia 237

The Yugoslav Communist Party, or more precisely its top brass,


brought in to socialist Yugoslavia much o f its political heritage from pre-
vious times. They were o f the opinion that the main problem in the pre-
war arm y had been the dom ination o f Serbian Generals, as well as the
alleged Serbian hegemony in general. Consequently, they concluded that
the problem o f legitimacy in m ultiethnic society would be overcome by
appropriate representation o f non-Serbs among the Generals and the
officer corps in general. However, they faced the same or sim ilar prob-
lems, as th e ir royal predecessors. Non balance caused by the commanding
structure o f the partisan Army, and after 1950 absence o f interest fo r
m ilitary‫ ׳‬schools in already less represented nations, steadily repeated
undesirable national proportions in officer corps. Thus the Serbs who
were 36,30% o f the Yugoslav population formed approxim ately 57,17% o f
the officer corps. However among Generals th e ir share was 46% and they
held only 33% o f the highest posts. I f compared to the Croats who were in
the same tim e (1971) 22% o f the population, 14% o f the officer corps, 19%
o f the General Corps but 38% o f the highest posts, it can be seen th a t it
was much easier fo r a non-Serb to be promoted to the highest ranks and
posts.16
Regarding both elites, we can identify some sim ilarities. The most
obvious ones deal w ith modernisation. Firstly , the army officer corps is a
channel fo r vertical social m obility allowing individuals o f modest or
lower social origin (sons of: peasants, workers, lower rank clerks etc.) to
achieve a social prom otion in to prestige, to become a part o f the well o ff
or even the political decision making elite. The second one is the influence
on a developing m ilita ry and other basic or supplement industry, ra il-
roads, ports, water supplies (pipes, reservoirs etc.), energy systems, mines
etc. Painful experience during W.W.I and problems in obtaining enough
supplies before W .W .II contributed to the developing o f Yugoslavia’s own
m ilitary-industrial complex. That complex became at the end o f SFRY an
impressive one employing 80.000 workers (strictly m ilita ry factories),
and affecting also many complementary industries o f various kinds. The

16 D enitch, p. 115

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238 M. Bjelajac

arms export in the last decades produced an income o f $ 1,5-2 b illio n per
year, a sum much higher o r equal to that o f tourism .17
Both elites, involved in the creation o r liberation and the enlargement
o f Yugoslavia, were highly motivated in her defence and survival.
According to o ur present knowledge, that basic m o tif made them firm
supporters o f the rulers (Alexander I and T ito ) in the moments when
Yugoslavia faced foreign threats. Rulers could also count on them when
they wanted to impose radical solutions in internal politics, especially
when crisis endangered and underm ined the sta b ility and u n ity o f Yugo-
slavia and consequently sapped the country’s defence strength (1929,
1971).
Both elites, because they had experienced war sufferings, were keen to
m aintain the peace in the region and around the w orld. According to our
knowledge which is more profound o f the inter-w ar period, there were no
war plans except fo r defence. Offensive plans against Hungary would be
put in to force only in case Hungary7 attacked any o f the Yugoslav allies
from L ittle Entente, or Yugoslavia itself. Plans fo r operations in northern
Albania w ould be put in to practice only in a case o f confrontation w ith
the Italian arm y in Albania. An exception was the preparation of
operation w ith in lim ited range the territory‫ ׳‬near the border o f Bulgaria in
1930 to settle the problem o f Internal Macedonian Revolutionary‫ ׳‬Organi-
sation terrorism after too many assassinations and attacks had been
com m itted by that organisation. Yugoslavia had the rig h t to undertake
such an action according the League o f Nations’ Pact. However that plan
was abandoned in early 1931. Another exception was the case o f the prep-
arations fo r sending m ilitary assistance to General Marcos during the
Greek c iv il war (1948). A complete Division had been prepared to cross
the border in a region o f B ito lj and take part on his side. However, the
Yugoslav leaders or T ito him self gave up the plan because o f the changed
circumstances (aggravation in the relationship w ith the USSR).
S till, there are some differences between those m ilitary elites, too.
Since 1903 a certain tendency had existed among the groups o f Serbian
officers to take an active part in politics in an unconstitutional way during

17 D ragojevic (G eneral), D r M ilo ra d : Razvoj naoružanja u SFRJ u makazama


ideologije i p o litiķ e , (fro m his fo rtcom ing book ‫״‬T iin a zvona“ ), in : P olitika, 2 3
Novem ber - 14 December 1996.

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M ilitary Elites in Yugoslavia 239

internal o r international crises. They also had a propensity to act as


‫״‬praetorians“ . That heritage came in to Yugoslav Arm y, and fin a lly caused
the coup d’état on 27 March 1941.
However, according to the results o f our research, we can state th a t no
doctrinal m ilitarism existed in Yugoslavia. In general, elite ‫״‬cadre“ was in
favour o f democracy and healthy po litical life which would provide
satisfied citizens, fu tu re combatants. As fo r the elite ‫״‬nucleus“ usually
identified as ‫״‬W hite hand“ o r King’s military• ‫״‬entourage“ it can be said
th a t they acted sometimes in th e ir own selfish interest.18 For example, in
spite o f predom inant democratic orientation o f the officer corps, during
the long p o litica l crisis in 1924 some very in flu e n tia l officers worked in
private interest in cahoots w ith corrupted m inisters. On the eve o f the
King’s ‫״‬coup d’état“ in 1929 they were busy, too. A fter the King’s death,
Regent Prince Paul had trie d (and almost succeeded after 1936) to remove
them from the Arm y.
In com m unist Yugoslavia, in T ito ’s era, the m ilita ry elite was rather an
object or a tool then an active subject which created politics in spite o f
legal possibilities fo r exercising influence through the bodies o f the LCY
(Central Committee or Presidency) o r through the post o f the Defence
M inister. The revolutionary m ultinational army and its elite was trans-
form ed in to an exclusive, professional, supranational ‫״‬Yugoslav“ in s titu -
tio n that was almost herm etically sealed o ff from the rest o f the Yugoslav
society. Defence Secretary General Gonjak (1953-1967) and his close asso-
ciates were responsible fo r m ilita ry affairs only to Tito. Nothing, o r very
little , has changed in the period o f Gonjak’s successor General Ljubičic.
The old partisan guard was s till devoted to T ito , and was prepared to
carry out the task which he had given to them in late 1971, that is to be
the ‫״‬ultim ate guarantor o f the Yugoslav state and Communist system.“
This general remark must be supplemented by some data on certain
exceptions. Behind the curtain, far away from the eyes o f the public, usu-
ally a rivalry among the top brass existed. The causes were o f different

18 French contem poraries in Belgrade had o n ly five persons in m in d . A lso, they


made rem arks about the character o f secret organisations lik e ‫״‬W hite hand“
and especially on its ch ie f General Petar Ž ivkovic (m ore about it in Bjelajac,
M .: Vojska K ralje vine S H S /Jugoslavije 1922-1935, p p .4 4 -5 4 , 141, 2 4 2 -2 4 7 ,
3 0 8 -3 0 9 ; Izm edu vojske i p o litiķ e . B io g rā fijā generala Duana T rifu n o vié a
1880-1942. Beograd 1997, p p .1 3 3 -1 3 6 ,188-194).

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240 Aí. Bjelajac

kinds, ranging from political or ideological to strictly m ilita ry ones.


Sometimes Generals were accused o f being puppets o f political wire-
pullers from w ith o u t the army. Such things we can follow since 1948,
when tw o prom inent Generals (Arso Jovanovic and Branko Petričevic),
along w ith a certain number o f Colonels, opposed to T ito and the m ajority
o f the officer corps in the quarrel w ith Stalin. The cases o f the Generals
(Serbs) M iloje M ilojevic, Radivoje Jovanovic and V elim ir Terzić in the
early 1960s testified fo r the firs t tim e the existence o f a national question
or different approaches to it. The cases o f the Generals Pavle Jakié, Rado-
van Vukanovié and Rade Hamovié were o f m ilita ry doctrinal type. How-
ever, after 1967 and 1968 and especially after the retirem ent o f many
prom inent partisans’ cadre we can id e n tify firs t cracks in the army unity.
The culm ination o f that process in T ito ’s era took place during the
‫״‬Croatian spring“ in 1971. Some 13 Generals (Croats) gave support to the
political leadership o f Croatia and new nationalist tendencies. Finally, in
the m id 1970s, T ito retired some Generals close to his wife Jovanka, ac-
cused o f disloyalty, in spite o f th e ir m erits during the National Liberation
W ar and afterwards.1? However, T ito increasingly relied on the army u n til
his death.
In a fact, some analysts claim that ‫״‬in the mid-1960s, party reformers
feared th a t this isolation o f the m ilita ry could mean a future ‘m ilita ristic’
threat to wide ranging economic and political reforms introduced in
Yugoslavia at the tim e. They sought, w ith considerable success, to dilute
the exclusiveness o f the m ilita ry establishment. The reformers forced on
the YPA an ‘opening to society’ (as process was termed in Yugoslavia)
after 1966.“20 However, secret clashes between streams in the elite o f the
YPA cannot be correctly judged if the efforts from the outside are ne-

‘9 V ukovié, Zdravko: O d deform ācijā SDB do maspoka i libe ralizm a . M o ji


stenografski zapisi. Beograd 1989; Jakié (G eneral), Pavle: Nad uspomenama,
V o l.II. Beograd 1990; Vukčevic, R adom ir: Jovankin (B roz-M .B .) vo jn i puč, in:
Duga, No 415, 1990; General osum njičen za d rža vn i udar. Svedočenje
narodnog heroja Doke Jovaniéa, in: Borba, 20 Januar - 1 Februar 1990;
Ramet, Sabrina P.: N ationalism and Federalism in Yugoslavia 1962 - 1991.
B loom ington and In dian op olis, 2.ed. 1992 (the a u th o r quoted S. Dodan, a
Croat ex-leader who stated that 18 Generals and 270 partisan officers were
punished a fte r 1971).
20 Johnson, A . Ross: The role o f the m ilita ry in Yugoslavia: A n h isto rica l sketch,
in : Soldiers, Peasants (see note 1), p.187.

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M ilitary Elites in Yugoslavia 241

glected. T ito has wavered from one side to another, but has always man-
aged to w in support o f his war comrades declaring him self in favour o f
the Yugoslav u n ity. For th is reason the m ajority remained loyal to him .21
Finally, in order to better understand the real position and prestige o f
T ito ’s Generals in a rather poor communist society (in 1950s and 1960s) it
has to be said th a t a General’s rank bore some privileges such as com fort-
able housing (big flats o r villas), official cars fo r private use (up to 1962),
and m otor boats on the A driatic, credits fo r buying private cars in 1960s,
good salaries (equal to those o f the nomenclature), holidays in Arm y ho-
tels or villas etc. In the m id 1970s federal m ilita ry social security• was es-
tablished (pensions and health insurance). That fa c ility im proved the
status o f many retired arm y officers and th e ir fam ilies, even Generals.
Thus, thousands were received ‫״‬w ith open arms by YPA and federal Cen-
ter“ again. For Generals that meant pensions almost equal to the salaries
o f the same rank in active service (especially fo r holders o f ‫״‬Spomenica
1941“ ), rig h t to medical treatm ent in m ilita ry hospitals (separate rooms
and the best care) and w inter and summer vacations in m ilita ry hotels at
the seaside or in the mountains.

21 One very fam ous YPA G eneral, m em ber o f C entral C om itte o f the l/T Y and
p a rtic ip a n t at the tim e on its fam ous B rio n ’s 4th session (1966), confided to his
close frie n d : ‫״‬I cried. I fe lt that the end o f Yugoslavia had begun.“ B ut he
rem ained on the post and d id not resign.

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Ж ‫י‬
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Die bulgarische Elite:


Der brüchige Übergang von Intelligenzija zu
Expertentum

Rumen Dimitrov

.
1
Die Grundthese dieses Beitrags lautet, daß der Postkommunismus in
Bulgarien m it einem gravierenden Defizit an Eliten verbunden ist. Eli-
tenlosigkeit ist ein Zustand, der auch fü r den modernen Westen nicht
untypisch ist. Das Leistungsprinzip produziert eine medienwirksame
Prominenz, deren Schattenseite die egalitäre Langeweile des M ittelstan-
des ist. Offen bleibt die Frage, ob Prominenz - in Ost und West - heute
als Elite zu definieren ist. Trotz des strukturellen Durcheinanders ver-
blassen auch die Eliten im Osten zu Prominenz. Wenn die Entwicklung
im Westen sich Zeit nahm, einen deutlichen Übergang von Parvenü zu
Prominenz zu markieren, so treffen im Osten in aller Eile Parvenü und
Prominenz gleichzeitig zusammen. Die große Frage ist, ob dies eine Ähn-
lichkeit nur auf der Oberfläche ist, und sie eigentlich auf ganz unter-
schiedlichen Prozeßtiefen zu beziehen ist, oder, im Gegenteil, der Osten in
seinem Umbruch nur Prozesse und Probleme offensichtlicher und sicht-
barer macht, die im Westen unter der Oberfläche verborgen bleiben. Ha-
ben europäische Eliten doch ein gemeinsames Schicksal? Ich werde in
diesem Beitrag keine Antw ort auf diese Frage geben können. Doch ich
finde, das bulgarische Beispiel kann als eine Anregung in dieser Richtung
dienen.

2 .
Die modernen Eliten - als funktionelle Eliten - haben etwas m it der
funktionellen Ausdifferenzierung der Gesellschaft zu tun. Elitenbildung
und Demokratisierung können durchaus parallele Prozesse sein. Ausdif-
ferenzierung als Entflechtung, Autonomisierung, Individualisierung ist
eine notwendige Grundlage der Demokratie. Und Eliten sind auch ein

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244 R■Dimitrov

Medium - Produkt und Voraussetzung - dieser Ausdifferenzierung. Sie


machen - nach Bourdieu - den ‫״‬feinen Unterschied“ aus. Sich fein zu
unterscheiden, bedeutet, sich als Teil des Ganzen auszusondem, ohne
sich davon abzuspalten. Dieser Teil hat den Anspruch, das Ganze zu ver-
treten, zu verm itteln, zu resümieren. Gibt es den Unterschied nicht, oder
ist er zu groß, verlieren die Eliten in beiden Fällen ihre Funktion und
Legitim ation - die öffentliche Repräsentanz. Wenn keine Eliten entstehen
- oder die Erwartungen an sie nicht e rfü llt werden - , so d a rf zumindest
gefragt werden, worauf ein solcher elitenloser Postkommunismus hin-
ausläuft.

3•
Nach meinem Dafürhalten - hier unterscheidet sich meine These von den
Prämissen der meisten Elitetheorien - ist das Verhältnis zwischen Öf-
fentlichem und Privatem fü r die D efinition moderner Eliten entschei-
dend. Die Eliten als meinungsbildende und prom inente Assoziationen, so
Habermas1, übernehmen unter anderem die verm ittelnde - und an Be-
deutung stets wachsende - Funktion eines öffentlichen Bindegliedes
zwischen den autonomen privaten Sphären. Wenn - nach Szelenyi - das
Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft fü r die (östliche) Intelligen-
tija konstituierend ist, weil sie als staatliche E lite ih r Pendant in der ge-
sellschaftlichen (m arktw irtschaftlichen) Elite der (westlichen) Experten
hat2, so ist - fü r mich - das Verhältnis zwischen Ö ffentlichem und Pri-
vatem fü r die Eliten (M einungsführer, Prominenz, Reputations- und
Prestigeträger) konstituierend, da ihre Domäne die Öffentlichkeit ist.
Auch die Eliten in den privaten Sektoren sind n u r insoweit Eliten, als sie
als öffentliche Sprecher fü r das Private auftreten. Von diesem Standpunkt
aus betrachtet heißt das: Nicht die ganze Intelligenzija einerseits und
nicht nu r die Intelligenzija andererseits gehört zur Elite. Z erfällt die Öf-
fentlichkeit, w ird den Eliten der Boden entzogen.

1 V gl. Habermas, J.: S trukturw andel der Ö ffe n tlic h k e it. F ra n k fu rt/M a in ,
besonders im V o rw o rt zur Neuauflage von 1990, S .3 3 -5 0 .
2 V gl. Szalai, E.: Two Studies on T ra n sitio n : In te lle ctu a ls and Value Changes.
Notes fro m the B elly o f a W hale. A W o rld F a llin g A p a rt. Budapest: C ollegium
B u d a p e st/In stitu te fo r Advanced Study, Discussion Paper No. 24,1 996.

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Die bulgarische Elite 245

4•
Dem okratisierung bedeutet mehr Ö ffentlichkeit. Überall in Osteuropa ist
sie heute q u a n tita tiv gewachsen. Die Institution der politischen Zensur ist
weg usw. Doch q u a lita tiv erfahrt die Ö ffentlichkeit dort sehr wider-
sprüchliche, ja zum T eil rückläufige Prozesse. Nach dem mißlungenen
Versuch im Kommunismus, die Ö ffentlichkeit zu totalisieren, erfährt sie
im Postkommunismus - zumindest im bulgarischen Fall - einen überra-
sehenden weiteren V erfall. Im Kommunismus sollte das Öffentliche als
das quasi W eltlich-Sakrale das Private als das Profan-Defizitäre nicht
ergänzen bzw. verm itteln sondern ersetzen und dominieren. Der Kom-
m unismus ste llt unter anderem den totalen Versuch dar, das Private zu
veröffentlichen. Dieser Versuch ist mißlungen - auf Kosten einer folgen-
schweren und langanhaltenden Diskreditierung des Öffentlichen als des
gewissermaßen Kommunalen. Im Postkommunismus scheint deshalb die
Emanzipation des Bürgers zunächst als eine Emanzipation des Privaten
»•

gegen das Ö ffentliche zu verlaufen. Doch was ‫ ־‬wieder zumindest im


bulgarischen Fall ‫ ־‬in W irklichkeit stattfindet, ist eine Zerstörung der
••

Ö ffentlichkeit, aber nicht als Emanzipation des Privaten, sondern als


Revanche des Patemalistischen - des bereits im Sozialismus im Schatten
gediehenen - deshalb von vornherein streng nichtöffentlich, ja anti-
öffentlich funktionierende - ‫״‬zweiten Netzes“ des Patriarchalisch-Kollek-
tiven, der egalitär-etatistischen Sippensolidarität. Der Verfall der
•■

Ö ffentlichkeit hat weitreichende Folgen. Die M afiabildung ist nur eine


unter den vielen, die die öffentliche Verschließung der Gesellschaft bzw.
der W irtschaft verursacht hat.

5•
Es ist schwer, sich ‫״‬fein zu unterscheiden” , wenn das Spiel grober wird.
Dann bleibt von der ‫״‬öffentlichen Repräsentanz” nicht viel mehr als die
unverm ittelte Geste des Körpers. Wenn das Mediale, das Verm ittelnde
‫״‬verstopft” w ird, dann erscheint und funktioniert die Körpergeste nur als
Gewalt. Das ist eine der Paradoxien östlicher Transition. Demonopolisie-
rung der W irtschaft - also die Ausbildung des Marktes - und die Demo-
nopolisierung der P o litik - also die Gewaltenteilung und der
Parteipluralism us - werden durch eine überraschende, ungebetene, quasi
automatische Demonopolisierung der Gewalt überhaupt begleitet. Die

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246 R. Dimitrov

Gewaltkompetenz - geheimdienstliche, bewaffnete, rein physische - w ird


dem zentralen Staat teils entnommen, teils von ihm selbst freigegeben
und, so Emest Gellner, von den ‫״‬segmentierten Gemeinschaften der Väter
und der Rituale”3 aufgesaugt. Die vom Staat entlassene und gekündigte
Gewalt entgeht nunm ehr nicht nur jeglicher gesellschaftlichen Kontrolle,
sondern w ird auch gezielt gegen sie angewendet• Die Gewalträume wer-
den sprunghaft erw eitert. Wenn w ir die Norbert Elias’ Theorie des
Prozesses der Z ivilisation als einer Tendenz unter anderem der M onopoli-
sierung der Gewalt vom (zunächst absolutistischen) Staat‫ »־‬- in Betracht
ziehen, dann haben w ir es bei der Demonopolisierung der Gewalt m it
einem eindeutig rückläufigen und som it antizivilisatorischen Prozeß zu
tun.

6.
Der Um bruch in Osteuropa erweist sich als historischer Selbstmord (-
versuch?) der ‫״‬Intelligenzija” als staatstragende und vom Staat getragene
Elite. Dieser Selbstmord basiert auf einem gewaltigen und folgenschwe-
ren Irrtu m . Man hat sich vor der Wende eine ganz andere Zukunft ver-
sprechen. Doch nachdem der Prozeß angelaufen war und es ziemlich bald
kla r wurde, w orauf er hinausläuft, war es zu spät, ihn zu stoppen. Der
Irrtu m bestand darin, daß die Intelligenzija ernsthaft geglaubt hat, daß sie
ihre privilegierte Position durch die Demokratisierung weiter ausbauen
könne. Sie identifizierte sich - zunächst rein ideologisch, also in schizo-
phrenem W iderspruch zu ih re r tatsächlichen Lage - nicht mehr m it der
Staatsmacht, sondern m it der M arktw irtschaft. Man dachte sich einen
Scheingegner aus: den Bürokraten, den ‫״‬Apparatschik” . Er hat die Macht
und ist dum m . Die Intelligenzija braucht keine Macht, weil sie klug ist. Im
Perestrojka-Slogan ist die Intelligenzija da, um die Gesellschaft wieder
einm al zu retten (obwohl sie von ih r selber als Sozialismus eingeführt
worden war), da sie angeblich schon im m er gegen die Macht aufklärt und,

3 V gl. G ellner, E.: C onditions o f L ib e rty. C iv il Society and its R ivals. Praha 1966,
S .ll-1 6 .
4 V gl. E lias, N.: Ü ber den Prozeß der Z ivilis a tio n . Soziogenetische und
psychogenetische U ntersuchungen. Bd. 2: W andlungen de r Gesellschaft.
E n tw u rf zu ein e r T heorie der Z ivilis a tio n . F ra n k fu rt/M a in 1982, besonders
S.1 4 3 - 159 , 351-368.

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Die bulgarische Elite 247

um Gottes W illen, die Macht nie eingeweiht habe. Dies war die neue
Ideologie der Intelligenzija, m it der sie ihrem alten Machtanspruch eine
neue Legitim ation verleihen wollte. Gestützt wurde sie von der Er-
folgsstory der 70er Jahre, als die erste, die nichtöffentliche Phase des
Transformationsprozesses - zumindest in Gesellschaften m it staatlich-
korporatistischen Eliten wie der bulgarischen oder der ungarischen -
abgeschlossen w‫׳‬urde. Dies war die Transform ation eines Teils des p o liti-
sehen Kapitals in kulturelles. Dies war das erste Zeichen der ansetzende
Pluralisierung. Die kulturelle Elite erlangte eine gewisse Autonom ie von
der politischen Elite. Kein kultu re ller M arkt entstand, doch fette Hono-
rare wurden nunm ehr adm inistrativ um verteilt. Man blieb durchaus
innerhalb des staatlichen Machtgefüges, doch die Macht konnte adäqua-
ter, zeitgemäßer legitim iert werden - nicht mehr über proletarischen
Internationalism us, sondern beispielsweise durch die kulturelle W ieder-
entdeckung des Nationalstaates usw. Man versprach sich eine neue, er-
folgreiche Phase nach der Wende - die der Transform ation des
kulturellen Kapitals in ökonomisches und, dadurch - was man nicht gern
eingestand - ja auch, indirekt, in politisches Kapital. Szelenyi behauptet
auch heute, daß dies dann tatsächlich geschah, und daß in Ungarn die
gegenwärtige P olitik von ehemaligen kulturellen Eliten beherrscht w ird.
Ich weiß nicht. Ich glaube nicht daran. A uf jeden Fall zeigt das bulgari-
sehe Beispiel, das ich eher fü r verallgemeinerbar fü r Osteuropa halte, daß
sich in W irklichkeit alles ganz anders entwickelt hat.

7•
Dieser Mythos war falsch und effektiv zugleich. Doch die neue Gesell-
schaft ähnelte ihrem E ntw urf kaum. Die Emergenz war enorm. S truktu-
ren und Werte zerfielen über Nacht, ohne daß ihnen unbedingt neue
folgten. Einige persönliche Beispiele fü r Transform ation des kulturellen
Kapitals in politisches - wie der erste demokratische Präsident Želju
Želev in Bulgarien - , konnten niemanden darüber hinwegtäuschen, daß
sich das neue politische Kapital aus ganz anderen Ressourcen zu rekrutie-
ren begann. Sieben Jahre nach der Wende in Bulgarien ist kein einziger
ehemaliger Dissident in der aktiven P olitik geblieben. Als Illusion erwies
sich die Transform ation des kulturellen Kapitals in politisches. Die P olitik
in Bulgarien schöpft Ressourcen entweder aus dem eigenen M ilieu (die

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248 R. Dimitrov

Sozialisten) oder aus marginalen Feldern (die Demokraten), die von den
kulturellen M ilieus ziemlich weit entfernt sind.

8.
Die bulgarische Intelligenzija zeichnete sich - ähnlich wie die slowakische
- durch ihre bäuerliche H erkunft aus. Dam it unterschied sie sich von der
‫״‬klassischen” russischen Intelligenzija, die vom ökonomisch relativ gesi-
cherten, doch politisch abhängigen Adel kom m t. Sie unterschied sich
auch von den französischen Intellectueles, die aus der politisch autono-
men, doch ökonomisch ungesicherten Berufsbourgeoisie stammen. Der
strukturelle Rahmen des Sozialismus wies also verschiedene ku ltu rh isto -
rische Im plikationen auf. Die russische Intelligenzija produzierte das
Symbol des Non-Profit-Intellectuals, dessen M ission es war, in den N i-
sehen außerhalb des Staates, ja auch der (verstaatlichen) Gesellschaft sein
Wissen - fü r die Schubladen und fü r die Schüler - retten und bewahren
zu können. H ier scheint das kultu re lle Kapital in ewiger, heiliger Opposi-
tio n zum politischen - aber auch zum ökonomischen - Kapital zu stehen.
N atürlich werden auch solche Symbole - von individuellen Beispielen
abgesehen - in kollektivem M uster falsch resüm iert, die dann als ideolo-
gische Legitimationen vervielfältigt werden. Den Intellektuellen als ir-
gendeine Opposition zur Macht gab es natürlich in Rußland als
Einzelbeispiele zahlreicher als anderswo. Aber nicht diese zerstreute und
isolierte M arginalintelligenz, sondern die Gruppe der russischen staatli-
chen Intelligenzija war der m odell- und systembildende K u ltu rfa kto r im
Sozialismus. Die bulgarische ku ltu re lle Elite hat diese spezifisch russische
Projektion in der Zeit der Perestrojka als kritische Waffe gegen das
‫״‬Komm ando-adm inistrative System” (Alexander Beck) unkritisch über-
nommen. Doch anders als die russischen M arginalen - und ähnlich wie
die ungarische Elite - stand die bulgarische Intelligenzija in einem engen
korporativen Verhältnis zu dem Staat und dachte kaum daran, eine
• Щ

‫״‬zweite Ö ffentlichkeit” - etwa nach polnischem M uster - außerhalb der


partei-staatlichen zu gründen. Nach der Wende hat sich herausgestellt,
daß alle Schubladen leer waren. Keine Schulen, keine Schüler tauchten
von irgendeinem subkulturellen Untergrund auf. Die kleinbürgerliche
H erkunft e ilt m it dem momentanen Erfolg, ih r Zeitgeist bleibt im Augen-
blick der Gegenwart gefangen. Die ‫״‬Lüge” des russischen Intellektuellen

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Die bulgarische Elite 249

war, daß er gegen die M achtinhaber sei, ohne Experte zu sein. Die ‫״‬Lüge”
des bulgarischen war, daß er ein Experte sei, obwohl er im Staatsgefüge
blieb.

9•
Das Problem, das auch Szalais beschäftigt, ist, was tun, wenn die ku ltu -
relie Elite aufhört, Intelligenzija zu sein (weil die direkt verfügbaren
staatlichen Ressourcen im allgemeinen und die indirekten - etwa die
Subventionen - im besonderen weg sind) und zugleich (noch) nicht zum
Expertentum wird, da die ursprüngliche Akkum ulation des Kapitals (als
Bildung eines prim ären Marktes) alles andere, nur nicht K ultur
(Tauschwert erst eines sekundären, noch nicht existierenden Marktes)
braucht. Die ku ltu re lle Elite hat einerseits (im Unterschied zur p o liti-
sehen) keine Ressourcen mehr, um den M arkt mitzugestalten, und ist
andererseits bereits außerhalb des Staates geraten, um ihn - zu spät, zu
spät! -pro je ktieren und um definieren zu können. Ein Teil der geistes-
und sozialwissenschaftlichen Elite - H istoriker, Schriftsteller, Lehrer
usw. - , die über ein national geprägtes transkontextuelles Wissen verfügt,
verliert m it der Öffnung des nationalen Marktes nach Westen seine gei-
stige und m aterielle Position. Was ihm bleibt, ist entweder die Arbeitslo-
sigkeit oder die U m profilierung als Tel der nationalistischen politischen
Elite. Zugleich dazu haben Geisteswissenschaftler ein anderes, in h a ltli-
ches und wertmäßiges Problem - sie können noch nicht den Schock einer
elementaren Entdeckung überwinden. Die Kontakte m it dem Westen
waren fü r sie zuerst eine pure Enttäuschung. Plötzlich haben sie mitbe-
kommen, daß sie die Aufklärung völlig falsch verstanden hatten. Sie be-
trachteten die Wissenschaft als Domäne der Freiheit, als M ittel der
Selbstemanzipation. Manche wissenschaftliche Institutionen in Bulga-
rien, insbesondere die Sofioter Universität, stellten - als einzige vor der
Wende - exklusive Gewächshäuser fü r exotische Liberale dar. Die ersten
Forschungsreisen in den Westen - besonders nach Amerika - und die
ersten Boten des westlichen Rationalismus und Postmodemismus nach
Bulgarien verkündeten vor dem seinen Ohren nicht glaubenden Ost-Do-
zenten, daß die Wissenschaft ein M ittel nicht der Befreiung, sondern der

5 V gl. Szalai, E.: op. c it.

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250 R . Dimitrov

D isziplinierung sei. Ein wichtiges Stück Id e n titä t des osteuropäischen


Sozialwissenschaftlers geht m it der ‫״‬W iedererlangung“ seiner
‫״‬W e ltid e n titä t“ verloren. M it der ‫״‬Verwestlichung der Wissenschaft” fin -
det in ihm ein mehr als ernüchternder W ertewandel statt, indem die sich
als illusorisch erweisende W irbelsäule des osteuropäischen Wissen-
schaftlers, der Freiheitsgedanke - auch auf Raten - gebrochen w ird.

10.
Die Intelligenzija konnte auch als journalistische E lite nicht gerettet wer-
den. Ist die Jou rnalistik nicht etwas passenderes fü r Intellektuelle als die
Politik? Die Enttäuschung von der P o litik war schnell bei der Hand. Die
Enttäuschung von der Jou rn alistik hat ein wenig länger auf sich warten
lassen. Viele Kandidaten-Sprecher in der Ö ffentlichkeit haben etwas Zeit
gebraucht, um zu erfahren, daß ihre Intelligenzija-R olle auch hier an den
Nagel gehängt werden muß. Als unverbesserliche Weltverbesserer, w oll-
ten sie die im m er deutlich werdende Defizite der P o litik durch Medien-
Wirkung korrigieren. Doch die Ö ffentlichkeit soll und kann dies nicht. Sie
kann Defizite sichtbar machen, zur Sprache bringen. Aber als interm ediä-
res Kommunikationssystem6 kann die Ö ffentlichkeit politische Entschei-
dungsstrukturen nicht ersetzen. Als Illu sio n hat sich auch herausgestellt,
daß über Medien politische Ziele oder ku ltu re lle W erte zu schaffen und in
die Gesellschaft zu im plantieren sind. Dies ist jedoch nicht das Spezifi-
kum der Medien, die in der differenzierten modernen Gesellschaft - nach
Jeffrey Alexander - hauptsächlich eine generalisierende und integrie-
rende Leistung zu bringen haben. Die W erte-W erkstatt der kulturellen
Eliten ist nicht so sehr die M edienöffentlichkeit, sondern vielm ehr das
inform elle Netzwerk der s til- und milieugebundenen U nter-Ö ffentlich-
keiten. Sie müssen aber in Bulgarien nun erst neu ko n stitu ie rt werden. Zu
dieser Zeit scheint hier die politische Teilung zwischen den K ulturträgern
jedoch im m er noch stärker als die eigene G ravitation des kulturellen
com m unity zu sein. Und die Medien erweisen sich auch hier eher als eine

6 V gl. N e id h a rd t, F.: A u f d e r Suche nach ‫״‬Ö ffe n tlic h k e it” , S .25-35, in : Kunst,
K om m unikation, K u ltu r. F e stschrift zum 80. G eburtstag von A lfons
S ilberm an, hg. v. W . N utz. F ra n k fu rt/M a in 1989, sowie G erhards, J. /
N e id h a rd t, F.: S tru ktu re n und F unktionen m oderner Ö ffe n tlich ke it.
Fragestellungen und Ansätze. B e rlin : W ZB Discussion Paper FS I I I , S .90-101.

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Die bulgarische Elite 251

Falle. Denn wenn kultu re lle - aber auch journalistische - Eliten ver-
suchen (selbstverständlich aus guten moralischen Gründen), als öffent-
liehe A u to ritä t anstelle der fehlenden politischen A utorität zu agieren,
dann überträgt das Publikum unw illentlich die politischen Defizite auf
die Medien und die gesellschaftlich-politische Krise w ird nunm ehr als
Medienkrise empfunden. Die Eliten beseitigen hier die Ursachen des
Unbehagens nicht, sondern lenken es lediglich auf sich selbst. Ih r Prestige
und Einfluß gehen dam it auch dort unter, wo dies nicht unbedingt selbst-
verschuldet zu sein mag.

11 .
Dies möchte ich am Beispiel der Zeitungen in Bulgarien veranschau-
liehen. Bald nach dem Wandel definierten sich alle neuenstandene Zei-
tungen als Teil des demokratischen politischen Sektors. Die Ö ffentlichkeit
verstand sich ausschließlich als politische Öffentlichkeit. Alles neue war
‫״‬dem okratisch” , also - ‫״‬antikom m unistisch” . ‫״‬Unabhängig” war ein di-
rekter Anspruch auf eigene staatsbürgerliche Position. Das Publikum
wurde nicht als Konsumort, sondem als Biirgerforum angesprochen.
Eine wahre Renaissance der Ö ffentlichkeit! Dieser Mythos konnte über-
zeugen, auch weil die journalistische Elite nicht alle Probleme der p o liti-
sehen geerbt hatte. Die neue P olitik konnte nur durch neue Gesichter -
durch neue Personen - legitim iert werden. Für die neue Journalistik
reichte, ein neues Gesicht zu zeigen - also ohne die Personen zu wech-
sein. So wurde im Postkommunismus das Prinzip der Nomenklatura im
Bereich der Medien w eiter und besser fortgesetzt als im Bereich der Poli-
tik selbst.

12 .
Nach der ersten Runde von Etablierungswahlen - insbesondere nach der
Konstituierung der ‫״‬politischen Klasse” - hatte die politische Legitima-
tion der Medien keinen so großen K redit mehr beim Publikum. Auch die
Transform ation des politischen Kapitals in ökonomisches schien nun -
am offensten zu der Zeit des Kabinetts Berov 1992-1995 - ziemlich fo rt-
geschritten zu sein. Als der Unterschied zwischen ‫״‬Demokraten” und
‫״‬Demokratie” nicht mehr zu übersehen war, wurde eine neue Differenz

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252 R. Dimitrov

signifikant - die nicht mehr innerhalb der P olitik, sondern die zwischen
P olitik und Gesellschaft. Die Medien entdeckten ihre neue Legitim ation.
Ih r Vorschlag an das Publikum war, nicht mehr zwischen demokratischer
und undemokratischer P olitik zu unterscheiden, sondern zwischen Poli-
tik und Demokratie schlechthin. Die P olitik wurde als Sphäre privater
Interessen diskreditiert. N ur die Medien als Hauptträger der Ö ffentlich-
keit brüsteten sich als einzige Domäne des ‫״‬allgemeinen Interesses” . Doch
so verschwand das Politische im Öffentlichen. Was blieb, war genau das
Gegenteil - die Ö ffentlichkeit als die Sphäre, wo die Leute jenseits der
P olitik unter sich sind. Das Publikum bestand nicht mehr aus Staatsbür-
gern, sondern aus Konsumenten. Das Bürgerliche wurde also zum Gegen-
satz des Politischen - zum Nichtpolitischen und, letzten Endes, zum
Apolitischen. So haben die meisten Zeitungen langsam aufgehört, zwi-
sehen Gesellschaft und P olitik zu verm itteln, als Anleitung zu bürgerli-
eher Partizipation und politischem Handeln zu dienen.

13•
In diesem Kontext wurde ‫״‬unabhängig” als unabhängig von der Politik
verspätet hervorgehoben. Dieser Rückfall vom Öffentlichen ins Private
konnte jedoch das Publikum nicht über die neue - viel wichtigere - Ab-
hängigkeit der Medien hinwegtäuschen: die Abhängigkeit von den neuen
politökonomischen Gruppierungen. Sie ist auch m arktverm ittelt, doch
nu r sekundär. Einerseits sind diese Medien öffentlich-rechtlich nicht
mehr kontrollierbar. Kein Zufall, daß die Sensibilität fü r journalistische
Rechte in den öffentlichen Medien in viel stärkerem Maße als in den p ri-
vaten erhalten geblieben ist. Andererseits ist nicht der M arkt, und am
wenigsten - über die Auflagenzahl - das Publikum der Faktor, welcher
über ih r Schicksal entscheidet. Eigentum und Werbung sind begrenzte
ökonomische Faktoren, die auch fü r politische Zwecke instrum entalisiert
werden können. Im neuverteilten politökonomischen Raum besitzt jede
Gruppierung ih r eigenes Medium - wie ihre eigene Bank, ihre eigene
Lobby im Parlament. In der Regel verlustbringend, haben die ‫״‬großzügig“
unterstützen Medien das Ziel, das angeschlagene Image ih re r Eigentümer
- nicht besonders zim perlich und wenig ruhm voll fü r das allgemeine
Publikum - aufzupolieren und sie als Teil des ‫״‬nationalen Kapitals” zu
legitim ieren. Was dieser Mythos nicht verdecken konnte, sind die lokalen

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Die bulgarische Elite 253

Kriege, die zwischen den Gruppierungen selbst ab und zu aufflammen.


Wo er mehr Erfolg hat, ist die Tarnung der journalistischen Elite als inte-
grativer Teil der neuen politischen Klasse. Sonst hätte sie nicht so hart-
näckig auf dem Unterschied bestanden.

14•
Die ‫״‬unabhängige” Presse hat auch ihre neue, ‫״‬antiideologische” Sprache
gefunden. Als eine gegen den Kopf - gegen das Ideologische - gerichtete
Sprache, wurde der neue Diskurs einzig auf den Körper - besonders auf
seinen unteren Teil - fixie rt. Die ‫״‬Emanzipation von unten“ wurde also
als Enttabuisierung des Unterleibes dargestellt. Die existentielle Geste des
Körpers, der Vor-Diskurs des Biologischen erzeugen eine neue Untole-
ranz, die letzten Endes nicht weniger antiindividualistisch w irkt. Die
Reduktion des Individuellen auf den Körper erlaubt noch keine persönli-
che Identifikation. In den Bedingungen einer halbmodemisierten Gesell-
schaft ist die Intoleranz des individuellen physischen Körpers nur die
Kehrseite der Intoleranz des sozialen kollektiven Körpers. Ziehen w ir
auch die Anomie der totalen Krise - den Zerfall sozialer Normen und
‫״‬N orm alität“ - in Betracht, dann können w ir besser verstehen, warum
diese neue Sprache nur solche sozialen Identifikationen stiften kann, die
auf sozial unkom plizierten, quasi-natürlichen, anschaulich-physischen
Merkmalen ruhen können. Solche neue Identifikationen kann in Bulga-
rien nur die Vetternw irtschaft der Mafia m it ihren Kampfeinheiten und
ihren ‫״‬Helden“ - den sogenannten Ringkämpfern - liefern. So haben
gerade die unabhängigen Medien die Jungs fü r das Grobe, die schm utzi-
gen Hände der Mafia, die hirnlosesten Gewaltgeile als Zentralhelden der
Gegenwart m ythologisiert und mehr oder weniger gerechtfertigt. Sie wer-
den als Beispiel gezeigt und gegeben, sie machen die Schlagzeilen; m it
einem W ort - sie machen den antiideologischen Gegenpol, das action.
Damit ist eine historische Chance vertan. Die Sprache bewegt sich jenseits
des Ideologischen, doch sie w ird nicht reflexiv und kritisch. Nur die Form
der Intoleranz wechselt. Sie w ird nun zu einer vor-kulturellen, physisch-
entdisziplinierten, nachrichtenwert-legitimiértén Gewalt. Doch jeder
Diskurs bewahrt seine ideologische Dimension - im Vorder- oder H inter-
grund. Auch wenn das Ideologische nicht präsentiert wird, ist es nicht
abwesend. Ein Beispiel dafür ist, wie leicht sich die unabhängigen Zeitun-

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254 R• Dimitrov

gen während der letzten Kommunalwahlen in Bulgarien (H erbst 1995)


und den allgemeinen Wahlen (Frühling 1997) fü r die Interessen von die-
sen oder jenen politökonom ischen Gruppierungen instrum entalisieren
ließen. Oder - m it Georgi Losanov, dem bulgarischen Medienforscher zu
sprechen - wurde ihre Rolle als Unabhängige einzig auf eine Wechsel-
münze reduziert, welche sich zu besitzen lo h n t, um sie dann fü r etwas
anderes tauschen zu können.

15•
Der Ringkämpfer ist die Schlüsselfigur der heutigen bulgarischen Eliten-
losigkeit. ‫״‬Ringkämpfer“ oder ‫״‬Kämpfer“ (in Bulgarisch ist es eins und
dasselbe W ort - ‫״‬borec“) ist das resümierte Bild einer neuer emporwach-
senden ‫״‬Business-Schicht“ , deren Vertreter wenig m it dem buchhalteri-
sehen S tift, dagegen aber viel m it dem Baseballschläger anfangen können.
Äußerlich ist der Kämpfer unverkennbar, ja auffallend. Stämmige - eher
beleibte als kräftige - Figur, quadratischer Nacken, vom W inde umgebla-
sene Ohren. A u f dem kurzgeschnittenen H aarschnitt ist eine kleine
Schüssel-Kappe aus schwarzer W olle aufgesetzt. Ih r Rand kann im Falle
eines Falles heruntergerollt werden. So kann sie als Maske - m it Schlitzen
fü r die Augen - das Gesicht völlig decken. Kettchen um Hals und Hand,
kurze Lederjacke, aus der ein üppiger Bauch - wie aus einer geöffneten
Knospe - hervorspringt. Er steht auf Mercedes und BMW, die Straßen-
verkehrsordnung w ird von ihm hingegen glatt ignoriert. Das Handy ist
sein Lieblingsspielzeug. Die Schuhe kennen keine Farbe und Bürste. Die
Fortuna hat diesen M igranten offensichtlich allzu schnell überrollt. Alles
in ihm verrät die M inderwertigkeitskom plexe der Bauem herkunft - das
Schwanken des vom Erfolg erwischten Obskuranten, die dumpfe Ge-
sundheit des seinem Körper Überlassenen, der Schreck, daß alles, was so
schnell gerafft ist, noch schneller zwischen den Fingern versickern kann.
K arikatur von sich selber, doch im m erhin eine starke Figur, w ird der
Kämpfer in der Ö ffentlichkeit respektvoll verspottet - weil gefürchtet. Er
liefert fast ausschließlich die Nahrung fü r die neuen W itze. Sie sind je tzt
an die Stelle der M ilizionär-W itze getreten. Im Unterschied zum dam ali-
gen M ilizionär ist der Ringkämper ein Aufsteiger - ein Parvenü. Er unter-
scheidet sich jedoch sowohl vom klassischen westlichen Parvenü als auch
vom russischen Neureichen. Der westliche Parvenü hat schon das Geld,

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Die bulgarische Elite 255

doch nicht die ku ltu re lle Kraft, sich fein zu unterscheiden. Was ihm als
Aufsteiger fe h lt, ist die Raffinesse der höfischen Aristokratie, ih r S til und
Geschmack - die fü r die bürgerliche Elite lange Zeit ein Modell war. Die
S ituation in Bulgarien ähnelt der Situation der ursprünglichen Akkum u-
lation des Kapitals im Westen. N ur der Kämpfer hat die Rolle des Par-
venüs übernommen. Da aber die ‫״‬modellbildende Schicht“ - nach
Bourdieu - der A ristokratie fe h lt, hat der Kämpfer nicht fü r seine Zu-
ku n ft, sondern lediglich m it seiner Vergangenheit zu kämpfen. Er ist nur
ein Ersatz fü r Elite. Schickt er sich als Elite an, w ird seine Elitenlosigkeit
besonders auffällig. Er hat kein Modell vor sich und kann zu keinem Mo-
dell selbst werden. Der bulgarische Kämpfer ist auch nicht fähig, sich die
A rt des Sich-Unterscheidens seines russischen Maitres leisten, der keine
westliche K u ltu r braucht, da er von seiner slawischen Seele schon über-
fü llt ist. Der Russe dem onstriert A n tiku ltu r, ohne zur Avantgarde zu ge-
hören. W ichtig ist fü r ihn die Weite der irrationalen Geste, in der er
auszuufern braucht - in einer nach ihrem Ausmaß atemberaubenden und
aggressiv kitschigen Verschwendung, in einem tollen Verhalten, welches
sich gerade der spröden Sparlogik des westlichen Parvenüs demonstrativ
widersetzt. Sein bulgarischer Kollege ist hier nicht nur viel armer, son-
dem auch viel schüchterner und weniger einfallsreich in seiner Ge-
schmacklosigkeit.

16.
ln jeder Epoche existiert eine zentrale Jugendgruppe, die das Erfolgsmo-
dell einer ganzen Generation konkret resümiert. Solche relevante Grup-
pen sind mal Soldaten, mal Gymnasiasten; sind mal Schauspieler, mal
Sportler. In Bulgarien vor dem Krieg war es zum Beispiel der zaristische
Offizier - er bat der Frau gesellschaftliches Ansehen und soziale Sicher-
heit. In der Zeit der ‫״‬wissenschaftlich-technischen Revolution“ der 60er
Jahren war es der jun ge Spezialist - sein Hochschulabschluß versprach
den meisten Erfolg. Heute ist das der Kämpfer. Vielleicht hängt die rele-
vante Gruppe irgendwie m it den Zukunftserwartungen der Generation
zusammen. Der Kämpfer resümiert eine Zeit, in der man - ohne Zukunft
und Vergangenheit - völlig der Gegenwart überliefert ist. Er produziert
nicht, er w ird nur wegen des Konsums beneidet. Er verspricht nichts, er
erm öglicht nur. Die Tragödie der bulgarischen Eliten besteht in ihrer

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256 R. Dimitrov

historischen D iskontinuität. Jede Revolution und Konterrevolution ist


ein guter Anlaß fü r den bäuerlichen Obskurantism us gewesen, sich an der
verhaßten - weil unverstandenen - städtischen Bürgerintelligenz zu rä-
chen. Nach jedem historischen Bruch fängt die Gesellschaft wieder von
vorne an, indem wieder neue Dorfm igranten den Anspruch erheben, die
neue Elite zu sein. Und irgendwie gelingt ihnen das - zumindest hin-
sichtlich der Beseitigung alter Eliten. Beispielsweise sind die Kinder der
Kämpfer heute diejenigen - da der patriarchalische K u lt der Bildung als
Rettung vom Acker in allen Schichten der östlichen Gesellschaft fest ver-
ankert bleibt - , die fast ausschließlich in englische Colleges und amerika-
nische Universitäten geschickt werden.

17•
Es gibt keinen Königsweg in der Verwandlung der Nom enklatura in
Bourgeoisie. Das historische Risiko ist erheblich, der Prozeß ist ein zwei-
schneidiges Messer, entscheidend hier ist der W ettlauf m it der Zeit. Denn
die Nomenklatura verliert ihre alte Legitim ation noch bevor sie eine neue
bekommt. Als redistribuierender Stand hat sie einen Machtanspruch
gerade über ihre Eigentumslosigkeit im bürgerlichen Sinne - also als
kollektiver Verwalter des ‫״‬gesellschaftlichen“ Eigentums. Jede (offene)
Privatisierung, jede (offene) persönliche Aneignung entzieht ih r die Legi-
timationsbasis, macht sie sofort politisch angreifbar und verletzbar. Es
handelt sich um ein geschichtliches Abenteuer, um einen künstlich verur-
sachten Schiffbruch in m itten eines unruhigen Meers, wo es darauf an-
kom m t, nicht nur überhaupt, sondern auch als erster zum anderen,
ersehnten und rettenden U fer (m öglichst trocken) zu gelangen. Der So-
zialismus war die erste ausgedachte Gesellschaft. Doch auch der Post-
kommunismus ist voll m it Neuheiten und Experimenten. Er ist nur viel
phantasieloser. Ein - vielleicht utopisches - Ziel im Postkommunismus
ist die Verkleinbürgerlichung, die Schaffung einer ‫״‬nationalen Bourgeoi-
sie“ - der Massenbasis der M arktw irtschaft und der zivilen Gesellschaft.
Das ist auch beispiellos in der Geschichte, da sie bisher n u r die entgegen-
gesetzte Tendenz kennt. Die Kleinbourgeoisie zerfällt und erzeugt stünd-
lieh - nicht nur nach Marx - Eigentum und Nichteigentum,
Großbourgeoisie und Proletariat. Die Frage lautet nun: Kann es umge-
kehrt passieren? Kann man Nom enklatura (sta tt Großbourgeoisie) und

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Die bulgarische Elite 257

Proletariat zurück verkleinbürgerlichen? Die Schicht der selfmade-men,


der unabhängigen Marktagenten, der individuellen Effizienz-Beispiele ist
ohne Zweifel sowohl psychologisch als auch politisch äußerst wichtig.
Psychologisch können die Kleinbesitzer eine neue M entalität einführen,
die eben auf Gewinn, nicht auf Vorteile o rie n tie rt ist. Die - eigentlich
frühliberale - Logik, vom Staat ökonomisch unabhängig zu sein, um auf
ihn politisch w irken zu können, ist wahrscheinlich im m er noch unersetz-
lieh fü r die (Selbst-) Erziehung des neuen Bürgers. Und politisch ist diese
hypothetische Schicht mehr als jede andere ein Garant dafür, daß die
osteuropäische Variante nicht lateinam erikanisiert wird. Wenn die histo-
rische Hegemonie der Nom enklatura auch im Postkommunismus - wer
die Vergangenheit ko n tro llie rt, der ko n tro llie rt auch die Zukunft - nicht
gebrochen w ird, w ird nicht nur der Staat, sondern auch die Gesellschaft
wie eine ausgehöhlte Pyramide aussehen - eine zahlenmäßig große pau-
perisierte Schicht unten, eine kleine reiche Oligarchie oben, und kein
M ittelstand, nichts dazwischen, welches Demokratie tragen und verm it-
teln könnte.

18.
Doch es kam leider anders. Die ‫״‬roten Barone“ haben nach 1989 die Ban-
ken und den Großhandel fü r sich privatisiert, doch in ihrem Interesse
war, das Staatseigentum in der G roßproduktion und das Gemeindeei-
gentum an den Kleinuntem ehm en zu bewahren, um ihre Extraprofite
dam it sichern zu können. In Bulgarien wurde keine Kleinprivatisierung
wie in der Tschechoslowakei durchgeführt, wo allein im Jahr 1990 etwa
30 000 Kleinbetriebe privatisiert wurden. Damit wurde die Chance vertan
- die Leute hatten damals im m er noch Geld, welches heute von der Infla-
tio n verzehrt ist - , die soziale und ökonomische Basis der Demokratie zu
gründen und zu sichern. An die Stelle der nichtgeborenen Bourgeoisie
drängten sich die krim inellen Gruppierungen - die Ringkämpfer, die
Schutzgelderpresser, die Versicherer. Sie eroberten den Tourismus, die
Restaurants, die Geschäfte, die Speicher, die Handelsflächen, die Waren
m it gesichertem Gewinn - wie A lkohol, Zigaretten, Zucker, Speiseöl, Ben-
zin, Getreide, zuletzt auch das Brot. Was sich den Krim inellen immer
noch widersetzen könnte, w ird von der Inflations- und Steuerpolitik des
Staates vernichtet. Die Investitionen werden nicht als Kosten anerkannt,

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258 R. Dimitrov

keine technische Innovation w ird von Steuern befreit, die Am m ortisa-


tionsabschreibungen sind völlig unadäquat usw. Die M ieten sind so hoch,
daß nur diejenigen, die über eigene Garagen verfügen, w eiter überleben
können. Oder die, die keine Steuer zahlen. Sie werden in die Schatten-
Wirtschaft getrieben, da Bestechung b illig e r als Steuerzahlen bleibt. Die
‫״‬graue Ökonomie” stellt heute über 40 Prozent des BIP in Bulgarien her.
Sie w ird jedoch in der Regel von den Ringkämpfern ko n tro llie rt. So
konnte die Verkleinbürgerlichung in Bulgarien - tro tz günstiger stru ktu -
relier Voraussetzungen - nicht stattfinden. Im Gegenteil. D ort ist eine
Entkleinbürgerlichung zu beobachten. Der Weg zum erträum ten - und
von den P olitikern so heraufbeschworenen - M ittelstand bleibt den mei-
sten Bulgaren heutzutage m ehr denn je versperrt. Die V erkleinbürgerli-
chung hat in Bulgarien nicht stattgefunden - nicht weil es do rt nicht
genug, sondern weil es do rt allzuviel Kleinbürgertum gab. K leinlich ver-
hielt man sich auch - und am meisten - dort, wo Kleinbürgertum am
wenigsten zu suchen hatte - im Denken und Handeln der Eliten. Sie
konnten sich nur klein, nicht fein unterscheiden. Sie waren leider zu
klein, um dem notwendigen histortechen Sprung - auch über sich selbst
- gewachsen zu sein.

19•
Die jüngst gewählten ‫״‬demokratischen” Regierungen und Präsidenten in
Bulgarien und Rumänien zeigen, daß die fundam entale Transform ation
des politischen in ökonomisches Kapital in diesen Gesellschaften weitge-
hend abgeschlossen ist. Das alte, politisch legitim ierte Kapital, hat sich
prinzipiell in das neue ökonomische transform iert. Doch es ist nicht zu
ökonomischer Elite, sondern zunächst zu M afia geworden. Es ist eine
spontan abortierte Elite, ohne öffentliches Dasein. Es handelt sich hier
nur zum geringeren Teil um eine funktionelle Elite, die sich aus der т о -
demen Ausdifferenzierung der W irtschaft von der P o litik ableiten läßt
und deren Macht nur biographisch gebunden, über Generationenwechsel
nicht gesichert ist. Dieser Moment ist schon da, aber er ist noch nicht
bestimmend. Es handelt sich am meisten um eine teilweise Bewahrung
der Standesgesellschaft, um einen politökonom ischen Bündel von alt-
neuen Priviligierten, zu denen der Zugang fü r Nichtangehörige weiterhin
verschlossen oder erschwert bleibt. Ihre ökonomischen V orteile bleiben

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Die bulgarische Elite 259

politisch rückversichert, die strikte funktionelle Grenze zwischen W irt-


schaft und Staat bleibt aus.

20 .
Die Macht der ‫״‬ehemaligen Kom m unisten” , der Nachfolgeparteien, wurde
gebraucht, um diese Transform ation in Gang zu setzen und zu verw irkli-
chen. Nun braucht man die Macht der neuen demokratischen Parteien,
um diese Transform ation abzuschließen, sie gleichsam zu besiegeln. Und
das ist das Neue im Alten. Der Unterschied ist kein unwesentlicher. Das
neue ökonomische Kapital hat mächtige Legalitäts- und Legitimations-
Probleme. Verwachsen m it w irtschaftlicher K rim inalität und politischem
Klientelism us, besitzt es ein schlechtes Ansehen in der Gesellschaft. Die
Nachfolgeparteien waren notwendig fü r seine ‫״‬ursprüngliche Akku-
m ulation” . Die ehemaligen Kommunisten konnten auf die politischen
Expansion der ‫״‬neuen Demokraten” kaum anders reagieren als m it ihrer
Verschanzung in den ökonomischen Nischen und deren Ausbau. Durch
m arktw irtschaftliche Ideologie versuchten sie dieses ‫״‬nationale Kapital”
zu legitimieren, obwohl es im wesentlichen illegal vonstatten ging. Nun
kom m t die Phase der ‫״‬Norm alisierung” . Dafür eignen sich die ehemaligen
Kommunisten nicht mehr. Die ‫״‬neuen Demokraten” - viele von ihnen
ganz ehrlich - haben je tzt der ‫״‬M afia” einen Krieg erklärt: Man w ill ihre
politischen und krim inellen Fühler abschneiden. Da das Kind nicht m it
der Badewanne ausgeschüttet werden soll, kann niemand die ganze W irt-
schaft als solche in Frage stellen. Genetisch-theoretisch wäre das richtig,
doch praktisch-politisch - dumm. So w ird nun eine H intertü r fü r
‫״‬D epolitisierung” und ‫״‬E ntkrim inalisierung” des Kapitals offen gelassen.
Man vergißt gern seine Vergangenheit, wenn es nunm ehr nach den allge-
mein anerkannten Normen handelt - vorausgesetzt, sie exisitierten. Die
‫״‬neuen Demokraten” - ohne es unbedingt beabsichtigt zu haben, und
genau umgekehrt wie die Sozialisten - legalisieren das bereits transfor-
mierte Kapital, indem sie seine Legitim ität anzweifeln.

21.
Das ist eine Tendenz nicht ohne Ironie, doch m it Gewinnen fü r alle. Die
Zeit der gewaltsamen A ufteilung w irtschaftlicher Räume, der K rim inalität
als P roduktivkraft geht vorbei. Erpressung und physische Gewalt sind

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260 R. Dimitrov

nicht mehr so gewinnbringend und -sicher, wie Wechsel, Anleihen und


Zinsen. Deshalb werden die ‫״‬neuen Demokraten” von den neuen Reichen
gegen die K rim inalität, die sie früher ja selber gestiftet haben, nunm ehr
nicht nur durch pure Lippenbekenntnisse unterstützt. Die Prioritäten
ih re r Interessen haben bereits eine wichtige neue Runde auf der zivilisa-
torischen Schraube vollzogen. Was allerdings verschwunden ist, ist die
alte Intelligenzija. Und was geblieben ist, sieht nicht unbedingt nach
neuen Eliten aus.

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Die Intelligenz als ‫״‬


verlorene Elite“:
Intellektuelle Diskurse in Bulgarien 1990-1996

Juliana Roth

A. Einleitendes
Es ist wohl der Aufmerksamkeit von kaum einem Beobachter der p o liti-
sehen Szene in Ost- und Südosteuropa entgangen, daß der Zusammen-
bruch des Realsozialismus Veränderungen nach sich gezogen hat, die
auch die grundlegenden sozio-kulturellen Strukturen, Institutionen und
W erte dieser Gesellschaften derart tiefgreifend umgestaltet haben, daß
man vielleicht eher von einer ‫״‬K ulturrevolution“ als nur von
‫״‬Kulturw andel“ sprechen könnte. Angedeutet werden soll dam it das
schwindelerregende Tempo der andauernden, vielfältigen, im m er noch
kaum vorhersehbaren und kontrollierbaren Entwicklungen im soziokul-
turellen Bereich, die die gesamte Umwelt der wirtschaftlichen und p o liti-
sehen Reformen beeinflussen. Heute, fast zehn Jahre nach dem Beginn
des demokratischen und m arktw irtschaftlichen Experiments in den Re-
form ländern, zeigt sich deutlicher denn je, wie w ichtig das Wissen um
diese Entwicklungen ist, und wie entscheidend auch soziokulturelle Krite-
rien fü r die Gestaltung der Reformprozesse sind.
Unsere tatsächlichen Kenntnisse der gegenwärtigen soziokulturellen
Strukturen der Reformgesellschaften stehen in keinem Verhältnis zum
Bedarf an exaktem Wissen. Dieses ist nicht ungewöhnlich, denn in Zeiten
w irtschaftlicher Not und politischer Instabilität erscheinen soziologisch-
ethnologische Studien zumeist als Luxus. Doch auch inhaltliche Gründe
sind festzustellen: Der Umbruch hat z.T. recht unerwartete Reaktionen
der Betroffenen ausgelöst und eine so starke Differenzierung in trad i-
tionsbestim m te und innovative Handlungsbereiche gezeitigt, daß es im -
mer schwieriger w ird, diese m it dem Instrum entarium der üblichen
Denkmodelle und Konzepte - wie z.B. jenen der Modernisierung, des

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262 J. Roth

rationalen Handelns oder des Universalismus - hinreichend zu erfassen


(vgl. Bendix 1973; Mänicke-Gyöngyösi 1995). Es fehlen empirische Erhe-
bungen von aktuellen soziokulturellen Daten und Fallbeobachtungen,
z.B. Analysen von heutigen form ellen und inform ellen M achtstrukturen
oder des Zusammenspiels zwischen in novationsbereiten und traditions-
gebundenen Sektoren des Alltagshandelns im Postsozialismus.
Zu den spezifischen soziokulturellen Phänomenen der Wende in
Südosteuropa gehört gewiß die Schlüsselbedeutung der Intelligenzija als
Wegbereiter und A nführer der politischen und gesellschaftlichen Trans-
form ation. Die unerwartete Machtposition, die den Intellektuellen beim
Systemwechsel zukam (und fü r die als Beleg gerne die Abgeordneten-
listen der ersten fre i gewählten Parlamente m it ihrem hohen Anteil von
Akademikern und besonders von Angehörigen geisteswissenschaftlicher,
künstlerischer und freier Berufe angeführt werden) (vgl. Sterbling 1993:
4 2 - 4 5 ). hat eine Reihe von Fragen aufgeworfen. Es sind Fragen
- nach den Gründen fü r ihren schnellen und scheinbar unhinter-
fragten gesellschaftlichen und politischen Aufstieg,
- nach ihren politischen und staatsmännischen Kompetenzen,
- nach ihrem integrativen und orientierendem Potential als Moder-
nisierungsagenten, sowie rückblickend
- nach dem Schicksal und der Funktion der Intellektuellen in der so-
zialistischen Periode.
Der V erlauf der politischen Entwicklung hat m ittlerw eile einige dieser
Fragen beantwortet. Zu ihnen gehört die am Anfang der 90er Jahre
vielleicht am häufigsten gestellte Frage, ob die Inteligentsia die ih r beim
Systemwechsel zugefallene politische Verantwortung und die anfängliche
Führungsssrolle in Staat und Gesellschaft ausbauen und halten konnte.
Heute, fast ein Jahrzehnt nach dem Ende des realen Sozialismus, genügt «

ein Blick auf den politischen Alltag und auf die Medienlandschaft, um zu
erkennen, daß die Führungspositionen inzwischen *durch andere Perso-
nen besetzt sind. Verschwunden sind die öffentlichen Figuren und Idole
der ersten postsozialistischen Periode, ihre Vorreiterolle und V orbild-
fu n ktio n scheinen vergessen zu sein und selbst der Gebrauch der W örter
‫״‬Intelligenzija“ und ‫״‬Intellektueller“ , die früher fü r positive Werte und fü r
die Zugehörigkeit zur ‫״‬besseren Hälfte der Nation“ standen, hat stark
abgenommen.

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Intellektuelle Diskurse in Bulgarien i ç ç o - і д д б 263

Gehören also die Intellektuellen zu den Verlierern der politischen


Wende? Wie verlief der Prozeß der Verdrängung der Intellektuellen von
der politischen und gesellschaftlichen Führung? W arum hat die
Intelligenzija ihren ‫״‬Weg zur Staatsmacht“ nicht realisieren können? Sind
die Gründe dafür immanent oder sind sie eher in den äußeren Begleitum-
ständen der politischen und w irtschaftlichen Transform ation zu suchen?
Die Konzentration auf diese und ähnliche Fragen bedarf heute der
besonderen Begründung, denn das Problem der Intelligenzija ist inzw i-
sehen nahezu obsolet geworden. Fast überall in Osteuropa ist es zu einer
M arginalisierung der Intelligenzija und zur Bildung von neuen Führungs-
schichten aus Politikern, Unternehmern und Angehörigen freier Berufe
gekommen.
Das heutige Forschungsinteresse geht, anders als kurz nach der
Wende, über das bloße Feststellen des politischen Kräftespiels hinaus und
zielt auf die Erfassung des soziokulturellen Wertewandels und der men-
talen Konsequenzen der postsozialistischen Transform ation. Eine fun-
dierte Analyse des soziokulturellen Wandels im Postsozialismus steht
noch aus. Welches sind seine Dimensionen und wie sehen seine Differen-
zierungen fü r die einzelnen Reformländer aus? W ie verhält sich die
Dynamik und das Wesen des kulturellen Wandels zum V erlauf der
ökonomischen und politischen Transformationsprozesse? Mein Ziel ist,
zu einer differenzierten Darstellung der Umgestaltung zu gelangen und
Konzepte fü r die angemessene Erfassung der soziokulturellen Realität in
den Reformländern zu entwickeln. Eine solche Vorgehensweise b irg t die
Chance, das Denken in von außen angelegten Modellen zu überwinden
und zu ku ltu re ll stimmigeren Erklärungen und Prognosen fü r die Re-
formstaaten zu gelangen.
Für dieses Anliegen ist die Betrachtung der Intelligenzija-P roblem atik
ein sehr geeigneter Weg. Denn die Ablösung der Intellektuellen von ihren
Führungspositionen und ihre gesellschaftliche M arginalisierung spiegeln
nur die massiven Veränderungen in den Normen- und W ertevor-
Stellungen ih re r Gesellschaften, die durch die soziokulturellen Verande-
rungen beim System Wechsel verursacht wurden.

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264 J. Roth

В. Die bulgarische ‫״‬


Intellektuellendiskussion“
Die bulgarische Entwicklung nach dem November 1989 unterschied sich
in ihren Hauptzügen kaum von jener in den anderen sozialistischen
Staaten. Bedingt durch das historisch gewachsene Verständnis der geisti-
gen Führungsrolle der Intelligenzija sowie durch das tatsächliche p o liti-
sehe und moralische Engagement einzelner Intellektueller war im
Bewußtsein der bulgarischen Ö ffentlichkeit eine A rt Gleichsetzung von
Intellektuellen und Opposition entstanden (vgl. Daskalov 1996). In der
politischen Relevanz dieser Gleichsetzung liegt wohl die Erklärung fü r die
enorme öffentliche Aufm erksam keit, die der Intelligenzija insgesamt und
ihren exponierten Vertretern sofort nach der Wende zuteil wurde. Bis
dahin nur in engsten Fachkreisen bekannte Soziologen, H istoriker,
S chriftsteller, Künstler usw. wurden plötzlich zu Schlüsselfiguren, die
sich jeden Tag in den Medien wiederfanden. Unerwartet kam dazu auch
die Verantwortung, fü r die neue Ordnung im Staate zu arbeiten, m it den
Machthabern zu verhandeln und ihnen Positionen abzutrotzen, notfalls
m it der Macht der Straße, die sie zumindest in den Großstädten auf ihrer
Seite wußten und auch in kürzester Zeit fü r Protestaktionen mobilisieren
konnten.
Die große Bedeutung der Intellektuellen aufgrund ih re r Rolle als In-
itia to r und A nführer der Wende weckte nach innen den Wunsch nach
einer Aufarbeitung des Geschehenen und nach einem Nachdenken über
die neuen Aufgaben. Hieraus entstand eine Grundsatzdebatte über das
Wesen, die politische Befähigung und den moralischen W illen der
Intelligenzija, sowie allgemein über ihre Rolle im Staate und in der
Gesellschaft. Ich benutze fü r diese Debatte den Begriff Jntellektuellen-
diskussion “ und meine dam it jene Vielzahl von Publikationen zu
verschiedenen Aspekten der Intelligenzija-Problem atik, die in den
Druckmedien des Intellektuellen-Spektrum s ab 1990 erschienen. Bis zu
ihrem Ausklang 1995 begleitete sie den Werdegang der bulgarischen
Intelligenzija nach der Wende, vom Aufstieg in Spitzenpositionen in Staat
und Gesellschaft bis hin zum Absinken in die politische Ohnmacht und
M arginalität. Sie bildete den Kontext, in dem alle damals wichtigen
Themen wie Machtfragen, politische Kämpfe, W irtschaftsreform en,
Sicherung der Demokratie, Bildungsfragen, Vergangenheitsbewältigung
usw. diskutie rt wurden. Der Verlauf, die Intensität und die Inhalte dieser

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Intellektuelle Diskurse in Bulgarien 19 9 0 -19 9 6 265

Debatte können als Indikator fü r die Veränderungen in den sozialen


S trukturen und W ertvorstellungen gelten. Die Beiträge zur Intellek-
tuellendiskussion stellen dam it eine wertvolle Quelle fü r das Studium der
soziokulturellen Aspekte der postsozialistischen Transform ation dar.
A u f die übliche definitorische Klärung des Begriffs Intelligenzija
möchte ich verzichten; zum einen, weil dieses in etlichen historischen und
soziologischen Untersuchungen bereits geleistet worden ist, die zahlrei-
che K riterien anführen, m it denen aus der Außensicht allgem ein-theoreti-
sehe und landesspezifische Aspekte zur Abgrenzung der Intelligenzija
zusammengefaßt sind (Sterbling 1994: 4 9 -5 8 ); zum anderen, weil m.E.
die Einnahme der Binnenperspektive der Betroffenen die Chance bietet,
den B egriff aus seinem kulturellen Um feld heraus, d.h. aus der emischen
Sicht der Intellektuellen selbst vorzustellen und so den im pliziten k u ltu -
rellen Konsens über seinen Gehalt und seine Wertbesetzung nachzuvoll-
ziehen.
Zentral fü r die eigene Identitätsbestim m ung der bulgarischen In te l-
lektuellen sind zwei Vorstellungen, näm lich jene von dem abstrakt-geisti-
gen Wesen der Intelligenzija als ‫״‬Wissenselite“ , das sich aus der
Kompetenz ih re r M itglieder im literarischen, künstlerischen und
wissenschaftlichen Bereich ergibt. K raft dieser Kompetenz entsteht ih r
Anspruch, sich in politischen, moralischen und öffentlichen Angelegen-
heiten zu W ort zu melden; als ‫״‬Gewissenselite“ ist sie daher gewohnt, sich
als gesellschaftliche Gruppe und als politischer Faktor w ichtig zu
nehmen. Überzeugt von ih re r moralischen Aufgabe als ‫״‬Retter“ der
Nation, fü h lt sie sich aufgerufen, in konflikthaften Perioden der
Geschichte ihres Landes Verantwortung zu übernehmen, also konkret
und pragmatisch zu handeln. Die Allgem einheit, aber auch die
W idersprüchlichkeit dieser Bestim m ungskriterien, die sich nur schwer an
konkreten sozialen Handlungen und demographischen Gruppen festma-
chen lassen, scheinen das Selbstverständnis nicht zu stören; selbst
Standardwerke über die bulgarische Intelligenzija verzichten auf die
D efinition ihres Untersuchungsgegenstandes oder geben lediglich einen
Verweis auf die U nhinterfragtheit und allgemeine Akzeptanz des Begriffs
(vgl. Genčev 1987: 134-153: Genčev 1988; Kujumdžieva 1995; Radkova
1986).

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266 J. Roth

Im folgenden möchte ich den Verlauf und die wichtigsten Inhalte der
Intellektuellendiskussion vorstellen. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht
7möchte ich auf einige Aspekte hinweisen, die ein Erklärungspotential fü r
die heutige Transform ation der bulgarischen Gesellschaft enthalten. Als
Hauptquelle meiner Fallstudie nutze ich die regelmäßig erschienenen
Jahrgänge (1990-1995) der Wochenzeitung Vek 21, die in ihrem An-
spruch, aber auch im öffentlichen Ansehen als programmatisches Forum
der intellektuellen Elite galt. Bereits der selbstbewußt gewählte T itel 21‫״‬.
Jahrhundert“ zeugt von der großen Zuversicht, die die Intellektuellen
bezüglich ih re r historischen Leit- und V orbildrolle hegten. Die blaue
Farbe im T itel verwies zudem symbolisch auf die Zugehörigkeit zur anti-
kommunistischen Opposition ( Union der Demokratischen Kräfte).
Vek 21 veröffentlichte in der angegebenen Periode die meisten expli-
ziten Beiträge zur Intelligenzija-Problem atik. Es gibt mehrere Hinweise,
darunter die große Nähe des Blattes zu den entscheidenden Kreisen der
bulgarischen Intelligenzija, die dafür sprechen, daß seine inhaltliche Aus-
richtung und Entwicklung den Charakter und die Wandlungen der bulga-
rischen Intelligenzija im Postsozialismus widerspiegelt. Ergänzend
wurden von m ir aber auch Beiträge aus anderen Druckmedien m it expli-
zitem Bezug zur Intellektuellen-Problem atik berücksichtigt.
Die Betrachtung dieses Materials ergab, daß die Gestaltung und der
Verlauf der Intellektuellendiskussion das aktuelle politische Geschehen
unm ittelbar widerspiegelt. Der Zeitraum 1990-1996 läßt sich nach den
wichtigsten Abschnitten im Kräftespiel der zwei damaligen großen p o liti-
sehen Kontrahenten, der Bulgarischen Soriafctischen Partei (als Nach-
folgeorganisation der Bulgarischen Kommunistischen Partei) und der
Union der Demokratischen Kräfte in drei Phasen einteilen; diese Phasen-
einteilung m arkiert zugleich auch die Perioden der Intellektuellendiskus-
sion.

1. Phase (1990-1991): A uf dem Weg zur Macht


Diese Phase m arkiert die Periode zwischen dem Wahlsieg der Sozialisten
im Juni 1990 und ihrer Ablösung von der politischen Verantwortung
nach den vorgezogenen Wahlen im Oktober 1991 durch die oppositionelle
UDK. In dieser Zeit weist die Intellektuellen-Bebatte ihre größte Intensi-
ta t auf. Die Beiträge sind am zahlreichsten und sind im m er zentral posi-
tio n ie rt. Die Themenwahl und ihre engagierte, gelegentlich pathetische

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Intellektuelle Diskurse in Bulgarien 19 9 0 -19 9 6 267

Behandlung reflektiert die damalige Aufbruchstim m ung unm ittelbar


nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft. Sie zeugen von dem
hohen Selbstwertgefühl der Intelligenzija sowie von ihrem Anspruch auf
die geistige und moralische Führung der Nation. Die Liste der Autoren
liest sich wie ein ‫״‬Who is Who“ der wissenschaftlichen und schriftstelleri-
sehen Elite; die Länge der Beiträge, ih r hoher Abstraktionsgrad und ih r
schwieriger S til verliehen ihnen literaturwissenschaftliche Qualitäten, die
den Rahmen von Medien, die eigentlich auf das allgemeine Publikum
zielen sollten, sprengten. Titel wie ‫״‬Die große Zeit der Intelligenzija“
(Kultura 51/1990), ‫״‬Die Auferstehung der Intelligenzija“ ( Vek 21
27/1990), ‫״‬Der neunte September und die Intelligenzija“ ( Vek 21
23/1990), ‫״‬Der Zerfall der Intelligenzija“ (Kultura 13/ 1991), ‫״‬In te li-
genzjia oder eine Handvoll Nörgler“ ( Vek 21 6/1991) sind Beispiele fü r
Themen, die der gesamten Nation m it ungebrochenem Selbstverständnis
zur Diskussion angeboten wurden, obwohl sie sehr spezifische Inhalte
und ausschließlich interne Probleme der Intellektuellen ansprachen.
Das Hauptinteresse der Beiträge in Vek 21 in dieser Periode g ilt der
P olitik und der K u ltu r (im engeren Sinne). W irtschaftsthem en sind un-
terrepräsentiert, und wenn sie Vorkommen, so beschwören sie plakativ
und allgemein die Vorteile verschiedener m arktw irtschaftlicher Modelle,
ohne den Bezug zur bulgarischen wirtschaftlichen Realität herzustellen.
Die zwei wichtigsten Grundannahmen, die in dieser Phase fü r A uftrieb
sorgen, sind ‫״‬Die Kommunisten sind im m er noch an der Macht“ und ‫״‬Die
Bulgarische Sozialistische Partei = Bulgarischen Kommunistische Partei“ .
Dementsprechend sind die zentralen Themen die Bloßstellung des p o liti-
sehen Gegners und die böse Natur des Kommunismus, das Aufbrechen
des kommunistischen Inform ationsm onopols, d.h. das Nachholen von
Inform ation über einstige Tabuthemen und über früher gemiedene Auto-
ren, die Betrachtung historischer Themen aus neuer Sicht, und die Aufar-
beitung der kommunistischen Vergangenheit. Die K ritik an den
Zuständen vor 1989 sowie die Abrechnung m it früheren Ereignissen und
Führungspersönlichkeiten beherrschten jede Ausgabe: Die Beliebtheit
dieser Themen und der aggressive Ton in den A rtikeln belegen das Auf-
kommen einer neuen, nun antikommunistischen ‫״‬ political correctness “ .
Die Sicht ist stark innenbezogen, d.h. die behandelten Themen be-
ziehen sich in der Regel auf das innerbulgarische Geschehen; auswärtige

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268 J. Roth

Angelegenheiten dienen nur der Legitim ierung der eigenen antikom m u-


nistischen Sichtweise. Daß daraus eine Horizontverengung entstand, lag
in der N atur der Sache. Als Beispiel möchte ich aus dem dreiteiligen Be-
rieht des Herausgebers von Vek 21 über eine Reise m it zwei Redaktions-
kollegen nach Österreich, Polen und der (damaligen) Tschechoslowakei
zitieren ( Vek 21 24-26/1991). Ganz im Gegensatz zu dem sonst elitären
Anspruch des Blattes bringen die Reisenden in einer herausgehobenen
Sonderrubrik ‫״‬ Vek 21 in Europa“ eine extrem vereinfachende Darstellung
des beobachteten fremden Alltags. Als einziges Beurteilungskriterium fü r
Demokratie und Fortschritt dienen ihnen Warenangebot und M arkt-
preise, die in extenso m it den heimischen verglichen werden. Die Erklä-
rung fü r die schlechte Situation in Bulgarien ist bestechend einfach: ‫״‬Weil
bei uns noch die Kommunisten an der Macht sind“ ! So heißt es am An-
fang des Berichts über Polen: ‫״‬Ein kleines Mädchen erklärt m ir die Be-
Sonderheiten des polnischen Marktes: - Weißt Du, Onkel, warum es in
Polen Bananen gibt? W eil es keine Kommunisten gibt. Und in Bulgarien
gibt es keine Bananen, weil es Kommunisten gibt.“ (Za komunizma i ba-
nanite; Vek 21 24/1991).
Auffallend ist das Fehlen von interner K ritik . In den seltenen Fällen, in
denen kritische Töne aufscheinen, w ird nicht zur Sache, sondern in Form
eines persönlichen A ngriffs auf den K ritike r reagiert, dem
‫״‬kommunistischen Gedankengut“ nachgewiesen w ird.

2. Phase (1991-1992): An der Macht


Diese Periode ist m arkiert durch die Übernahme der Regierungsverant-
wortung durch die Union der Demokratischen Kräfte. Den Intellektuel-
len brachte sie den Trium ph, daß sie nun in der ihnen gebührenden
Führungsrolle bestätigt waren. Viele von ihnen gelangten in Regierungs-
ämter und andere hohe Positionen, was in Spezialbeiträgen besonders
gefeiert wurde: Der Anspruch auf die Rolle der Intelligenzija als m orali-
sehe und richtende Instanz wurde noch ausgeweitet.
Und doch: fü r den außenstehenden Beobachter nehmen Intensität
und Anspruchsniveau der Intellektuellendiskussion m erklich ab. Hat sich
die Intelligenzija-Problem atik erschöpft oder ist sie fü r die Leserschaft
nicht mehr so zentral? Vek 21 bringt im m er mehr Inform ationen und
Berichte, die Analysen nehmen ab, politische Themen treten in den H in-
tergrund. Die Beiträge zur internen Intellektuellen-Problem atik werden

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Intellektuelle Diskurse in Bulgarien 19 9 0 -19 9 6 269

seltener und sind auf engere Fragestellungen beschränkt. Neu ist die Dis-
kussion über die Spaltung der Intellektuellen in ‫״‬Idealisten“ und
‫״‬Pragmatiker“ , die sich aus der Spannung zwischen der Anziehungskraft
der politischen M achtposition und der romantischen Vorstellung von
dem die Macht negierenden Intellektuellen. P o litik gewinnt an A ttra k ti-
v itä t und viele Intellektuelle wandern in Äm ter ab; diesen ‫״‬Pragmatikern“
w ird zunehmend Nähe zu kom m unistischen Machthabern vorgeworfen
und zugleich das moralische Recht auf Führung abgesprochen. In Ver-
bindung dam it w ird das Thema der Partei-Intelligenzija aktualisiert, also
jenen Intellektuellen, die ihren beruflichen und sozialen Aufstieg der
Verflechtung m it dem kom m unistischen Regime verdanken. Ähnlich wie
in der Vergangenheit stellt sich die Nähe zur Macht als eine ernste Bedro-
hung der eigenen Identität dar, denn durch sie w ird die Abgrenzung vom
kommunistischen Gegner undeutlich. Die Aufspaltung in ‫״‬Idealisten“ und
‫״‬Pragmatiker“ bedeutete nun eine Grenzziehung m it stabilisierender
W irkung; durch die deutliche Abgrenzung zu den ‫״‬Abwanderem“ ver-
mochte sie die ‫״‬echten“ Intellektuellen in ih re r Zusammengehörigkeit
und Identität zu bestärken (vgl. D im itrov 1992).
Auch in dieser Phase nim m t die Aufarbeitung der kommunistischen
Vergangenheit einen zentralen Platz ein. Die stereotype Erklärung fü r alle
vergangenen und gegenwärtigen Mißstände, ‫״‬an allem ist der Kommu-
nismus schuld“ , bestach durch ihre Einfachheit. Kritische und differen-
zierte Auseinandersetzungen m it der postkommunistischen Realität
blieben aus. Der Blick war rückwärts gewandt und auf die ‫״‬böse N atur“
des Kommunismus fixie rt.

3. Phase (1992-1995): N icht mehr an der Macht


Der vorzeitige R ücktritt der UDK-Regierung im Dezember 1992 und die
Rückkehr der BSP an die Macht markieren den Beginn der dritte n Phase.
Die Kommentare in Vek 21 zeigen deutlich die Enttäuschung und B itter-
keit über den Verlust, der in der öffentlichen Meinung auch als Versagen
der Intellektuellen gedeutet wurde. Die Zahl der Beiträge zur Intellektu-
ellen-Problem atik nahm stark ab und selbst die W örter Intellektueller
und Intelligenzija tauchten im m er seltener auf. Die wenigen einschlägi-
gen Beiträge erscheinen nun ausschließlich in Vek 21, das seit 1993 in-
haltlich und gestalterisch sein Gesicht auffällig veränderte: Aus dem einst
anspruchsvollen Intellektuellen-B latt wurde zunächst ein allgemeines

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270 J. Roth

Inform ationsm edium zu P o litik und K u ltu r m it vielen Kurzbeiträgen, m it


K ulturkalender und Werbung, während Kommentare und Analysen na-
hezu verschwanden. Das häufigste Thema war die politische Krise der
Union Deinokratischer Kräfte , die m it kom munistischer Verschwörung
erklärt wurde: Es fehlte w eiterhin an einer ernsthaften kritischen Aufar-
beitung nach innen und es blieb bei den verzweifelten Versuchen, die
Schuld fü r das Geschehene allein beim politischen Gegner, den ehemali-
gen Komm unisten zu suchen.
Das Intellektuellen-Them a schien ausgedient zu haben und die weni-
gen aufm untem den Beiträge (‫״‬Neobchodim ijat vestnik“ , Vek 21 11/1994)
können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Intellektuellen ihre zen-
trale Position in der Gesellschaft und im Staat verloren hatten und daß
andere, vorwiegend w irtschaftlich definierte Gruppierungen an ihre Stelle
getreten waren. Die Intellektuellendiskussion war 1995 an ih r Ende ge-
langt. Das sinkende öffentliche Interesse an der Intelligenzija spiegelte
sich im Lebensweg ihres Blattes. 1995 erschien es noch regelmäßig, wenn
auch in veränderter Form als Massenblatt; nach einer erneuten Umge-
staltung 1996 zum Boulevardblatt existiert Vek 21 seither als unregel-
mäßiges Periodikum an der Peripherie der inzwischen stark
diversifizierten bulgarischen Medienlandschaft.

C. Die Gründe
Der vorausgesagte ‫״‬Weg der Intellektuellen zur Klassen macht“ (vgl. Kon-
rád/Szelényi 1979) war fü r Bulgarien offensichtlich gescheitert. Warum?
Der Prozeß der Verdrängung der Intellektuellen von der politischen und
gesellschaftlichen Führung im Postsozialismus kann aus der Perspektive
mehrerer Wissenschaften betrachtet werden. Am bekanntesten ist die
politologische und die soziologische Perspektive (vgl. Konrád/Szelényi
1991), während die Einbeziehung kulturwissenschaftlicher Kriterien im -
mer noch selten ist. Erst in letzter Zeit gibt es, unter dem Eindruck der
Mißerfolge in der demokratischen und m arktwirtschaftlichen Entwick-
lung in den Reformstaaten und angeregt durch Samuel P. Huntingtons
Verknüpfung von politischen und kulturellen Kriterien (vgl. Huntington
1997) einige Versuche, fü r die Deutung ‫״‬harter“ Daten aus P olitik und
W irtschaft auch auf ‫״‬weiche“ , kulturelle Faktoren zurückzugreifen.

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Intellektuelle Diskurse in Bulgarien 1 9 9 0 -1 9 9 6 271

Diesen Weg möchte auch ich beschreiten, indem ich versuche, einige
wichtige Merkmale der drei Phasen der Intellektuellendiskussion anhand
ethnologischer Kategorien zu analysieren. Von herausragender Bedeu-
tung erscheinen m ir hier die ethnologischen Kategorien Ingroup -
Outgroup, privat - öffentlich, sowie Zeit und Kontext.
Ingroup - Outgroup ist eine ethnologische Kategorie, die der Erfas-
sung der Unterscheidung zwischen dem sozialen Drinnen und dem so-
zialen Draußen, also der Bestimmung sozialer Zugehörigkeit dient. Diese
Bezeichnungen gehen zurück auf den amerikanischen Forscher Sumner,
der als erster auf das Phänomen des Ethnozentrism us hingewiesen und
den Begriff geprägt hat (vgl. Sumner 1906). Die Beziehungen der M itglie-
der der Ingroup zu den verschiedenen Outgroups sind durch Abgrenzung
und Ausgrenzung bestim m t, die beide als M itte l der inneren Stabilisie-
rung von Gruppen und Gesellschaften gelten. W ährend die Abgrenzung
diese S tabilität durch die Abwehr des ,Außen“ bew irkt, zielt Ausgrenzung
auf die Festigung der Zusammengehörigkeit und Id e n titä t im Inneren.
Beide Mechanismen dienen der Bestandssicherung und der Stärkung der
Innenstabilität, die fü r das Fortbestehen jeder Gruppe essentiell ist. Die
Ingroup/Outgroup Grenze ist niemals fest; sie w ird je nach S ituation und
Konstellation und im m er subjektiv durch die M itglieder der Ingroup
gesetzt (s. Roth 1998).
Die Unterscheidung zwischen sozialem Drinnen und Draußen ist
natürlich eine universelle Kategorie. Die A rt der Grenze zwischen beiden,
ihre M arkierung und Gewichtung können jedoch je nach K u ltu r sehr
unterschiedlich ausfallen. Ein spezifisches M erkm al der bulgarischen
(bzw. der balkanischen) K u ltu r ist die Neigung zur Bildung von sehr fe -
sten Grenzen zwischen beiden und zur strikten A ufteilung des sozialen
Raumes in Innen und Außen. Bei ih re r Realisierung in nahezu allen
kom m unikativen Interaktionen, z.B. bei Gründungen von Parteien oder
Interessenverbänden, bei Gesprächen, Verhandlungen, Leistungsbeur-
teilungen, Arbeitsaufträgen usw. bedeutet das, daß die beteiligten Perso-
nen allein nach ih re r Gruppenzugehörigkeit ( Ingroup - Outgroup) und
kaum nach sachlichen K riterien b e u rte ilt werden. Bevorzugt werden stets
die M itglieder der Ingroup, da das Aufrechterhalten der interpersonellen
Beziehungen P riorität vor der Aufgabenerfüllung hat. Es gelten auch
unterschiedliche Normen fü r die Kom m unikation m it Personen, die ‫״‬zu

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272 J. Roth

uns gehören“ (‫״‬ naš čovek “) und m it solchen, die als Outgroup definiert
werden (jiru g ite “).
Diese W erthaltungen sind handlungsleitend und bestimmen, daß man
sich etwa einer Partei, einer Gruppierung oder Zeitungsredaktion
anschließt nur, wenn deren Führungspersonen von den ‫״‬unsrigen“
(‫״‬паЗГ) sind. Es sind dies Denk- und Handlungsweisen, die ständig neu
Klientelsysteme reproduzieren. Es ist sicher nicht falsch zu sagen, daß der
im kulturellen System Südosteuropas tie f verwurzelte Klientelism us we-
sentlich auf der scharfen Absetzung des sozialen Drinnen vom Draußen
basiert (s. Ganslandt 1992).
Der Kategorie Ingroup - Outgroup benachbart ist die Kategorie privat
- öffentlich insofern, als auch sie etwas aussagt über den sozialen
Abstand zwischen Individuen. Der soziale Abstand w ird definiert als die
Bereitschaft einer Person, gewisse Situationen m it anderen Personen zu
teilen. Unterschiede zeigen sich in verschiedenen Graden der In tim itä t
bzw. des Zugangs zu den verschiedenen Regionen der Persönlichkeit. Ein
geringer sozialer Abstand bedeutet, daß mehr Regionen fü r eine Teil-
nähme von außen offenstehen; beim größeren sozialen Abstand sind es
n u r einige wenige periphere Schichten. Eine größere ‫״‬O ffenheit“ des Indi-
viduum s ste llt sich dar, wenn mehrere periphere Schichten und ihre
Grenzen weniger W iderstand gegen Teilnahme von außen leisten und nur
wenige, sehr zentrale Regionen unzugänglich bleiben. Betrachtet man die
Zugänglichkeit der verschiedenen Regionen der Individuen unter dem
Gesichtspunkt der Gruppenbildung, so zeigt sich, daß die zugänglichen,
peripheren Regionen fü r das gesellschaftliche, ‫״‬öffentliche“ Leben, und
die unzugänglichen fü r das ‫״‬private“ Leben reserviert sind (vgl. Lewin
1953: 22 -6 2).
In der bulgarischen Gesellschaft ist der W iderstand gegen Teilnahme
von außen sehr hoch. Die starke Separierung der Individuen, auch der
Intellektuellen, nach Ingroups und Outgroups betont zugleich auch die
Grenze zwischen privat und öffentlich, wobei nur sehr wenige periphere
Bereiche fü r eine Teilnahme von außen zugänglich sind. Die meisten Re-
gionen der Persönlichkeit sind durch Privatheit belegt, wodurch der Um-
fang der dem Privaten zugeordneten Ereignisse vergleichsweise groß ist.
Bei der Begegnung zwischen Individuen kom m t es daher sehr schnell zu
einer Berührung von privaten Regionen; entsprechend ist fast jeder Aus­

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Intellektuelle Diskurse in Bulgarien IQ 90-IQ 96 273

tausch, da meist im privaten Innenraum angesiedelt, eine in tim e Angele-


gen heit und kann nur M itgliedern der Ingroup zugebilligt werden. Von
außen Herantretende werden stets in Bezug zu der trennenden Grenze
gesehen und jeder Annäherungsversuch w ird tendenziell als ein A ngriff,
bestenfalls als eine nicht emstzunehmende Idee in te rp re tie rt. Diesen
Kommunikationsmechanismus kennt jeder, der in Bulgarien (und an-
derswo in Südosteuropa) versucht hat, sich engagiert an einer Problem lö-
sung zu beteiligen, um hinterher festzustellen, daß alle seine Vorschläge
ohne erkennbare Gegenargumente einfach ig noriert wurden: ‫״‬Das ist
unsere Sache, das verstehen Sie n ich t“ ist die höfliche, ‫״‬W arum müssen
die Fremden im m er m it Ratschlägen kommen“ die weniger höfliche Er-
klärung, m it der der Fremde auf seine Zugehörigkeit zur Outgroup und
auf den großen sozialen Abstand hingewiesen w ird.
Die bulgarische Intellektuellendiskussion ist (tro tz ih re r medialen
Ö ffentlichkeit) nach der A rt ih re r Austragung deutlich als ein in tim e r,
nach innen gerichteter Diskurs zu bezeichnen. K lar erkennbar ist die
Tendenz zur Etablierung dichter inform eller Gruppen und die Formie-
rung der Intellektuellen als eine stabile Ingroup m it scharfer Abgrenzung
nach außen. Die Sicherheit und In tim itä t im Innern w ird bestärkt durch
die Bevorzugung des Privaten, das in den meisten Handlungsbereichen
dom iniert. In der ersten Phase der Diskussion w ird die Grenze nach au-
ßen durch das Feindbild des kom m unistischen Gegners bestim m t; als
sich später diese Grenze infolge der pragmatischen Annäherung mehrerer
Intellektueller und ih re r Beteiligung an staatlichen S trukturen ab-
schwächt, w ird die intellektuelle Ingroup durch die Distanzierung von
den ‫״‬unechten Intellektuellen“ (oder ‫״‬Realos“) neu etabliert.
Das ständige Ziehen neuer Grenzen und der Rückzug ins Private ha-
ben eine sehr wichtige Konsequenz: Die ohnehin schwache Tendenz zum
Gedankenaustausch m it Andersdenkenden nim m t w eiter ab, die Ent-
wicklung einer form alen öffentlichen Sphäre, die Freiräume fü r den k riti-
sehen Diskurs bieten könnte, w ird behindert, die Umgangsformen werden
von der geringen Fähigkeit zur Distanzierung und R eflexivität dom iniert,
kurz: es herrscht die ‫״‬Tyrannei der In tim itä t“ . Verständlich w ird dam it
die Bevorzugung der personalisierten Diskussionsführung und die Ver-
meidung des sachorientierten Diskurses: Wenn Meinungsaustausch nur
innerhalb der Ingroup möglich ist, wo es einen breiten Sockel gemeinsa-

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т е г unhinterfragter Überzeugungen gibt, dann können Gedanken auch
n u r unter Bezug auf das persönliche P rofil ihres Urhebers richtig gedeutet
werden. ‫״‬ Wer hat das gesagt“ statt ‫״‬ Was hat er gesagt“ w ird dann zur
vorrangigen Frage.
Die In tim itä t der Ingroup schafft sehr dichte Kom m unikationskon-
texte (vgl. H all 1983: 59-77). Das bedeutet, daß ein großer Teil der
Inform ation nicht im expliziten ‫״‬Text“ enthalten ist, sondern ausschließ‫־‬
lieh als gemeinsamer Wissensvorrat der Ingroup vorhanden ist. Außen-
seiter haben in der Regel zu diesem Wissen keinen Zugang, und in der Tat
sind große Teile der veröffentlichten Inhalte ohne intim ste Kenntnisse
der personalen Kontexte und Beziehungen nicht verstehbar. Für die ad-
äquate Interpretation der Zeitungsinhalte ist also zumeist das Insider-
Vorwissen oder das Einholen des jeweiligen Diskussionskontextes unab-
dingbar, was nur durch face-to-face-Kom m unikation in Gesprächen und
Interviews m it vertrauten Insidern möglich ist. Die Ö ffentlichkeit des
Printm edium s erweist sich dam it w eithin als eine Scheinöffentlichkeit.
Dieser Umstand, der die Erstellung von zuverlässigen Analysen enorm
erschwert, ist nur wenigen auswärtigen Analy sten bewußt.
Die Konsequenz ist diskursive Isolation und eine patriarchale Abge-
schlossenheit gegenüber der Außenwelt, die sich als ein unüberwindbares
H indernis fü r die Herausbildung eines offenen gesellschaftlichen Diskur-
ses erweist und jeden Ansatz von kritischem Umgang als ‫״‬Nestbeschmut-
zung“ denunziert. Die Aussicht auf die Entwicklung von Bewegungen,
Netzwerken oder Institutionen, die unabhängig vom Staat im öffentlichen
Raum zwischen Individuum und Staat existieren und handeln, erscheint
angesichts dieser sozio-kulturellen Strukturm erkm ale als wenig reali-
sti sch.
Die zeitliche O rientierung der Diskussion ist sehr deutlich die Ver-
gangenheit. Die Aufm erksam keit ist fix ie rt auf vergangene Zeitepochen,
mal die idealisierte Epoche der nationalen ‫״‬W iedergeburt“ des 19. Jahr-
hunderts, mal die bürgerliche vorkom m unistische Zeit, mal die kommu-
nistische Periode. Die Vergangenheit ist stets präsent und aktuell, sie wird
stets zur Legitim ierung von gegenwärtigem Handeln herangezogen. Bei
dieser Rückwärtsgewandtheit fe h lt im Diskurs nahezu völlig die Zu-
kunftsorientierung (vgl. Roth 1995).

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Intellektuelle Diskurse in Bulgarien 19 9 0 -19 9 6 275

Für das Verstehen des Niedergangs der bulgarischen Intelligenzija


ergibt die Analyse der Intellektuellendiskussion entscheidende Hinweise
auf soziokulturelle Merkmale, die ich wie fo lg t zusammmenfassen
möchte: Der V erlauf der öffentlich ausgetragenen Diskussion ist be-
stim m t durch ihre Gestaltung als eine private und nach innen gerichtete
Ingroup- Diskussion. Da in der ersten Phase die Interessen der
Intelligenzija-Ingroup hauptsächlich auf die Bloßstellung der üblen N atur
des Kommunismus gerichtet waren und dam it m it dem Interesse einer
Bevölkerungsmehrheit noch übereinstim m ten, konnten die Intellek-
tuellen ihre V orreiterrolle erfüllen. In dem Maße aber, wie das allgemeine
Interesse sich von der Aufarbeitung der kom m unistischen Vergangenheit
abwandte, die Intellektuellen sich aber fü r einen kritischen, zukunfts-
orientierten Diskurs nicht öffneten, verloren die Intellektuellendiskussion
und ihre Träger rapide an Relevanz. Die Ingroup erlaubte durch ihre
Abkapselung keine freie Z irkula tio n der Gedanken und Innovationen,
sondern war darauf bedacht, durch im m er neue Ausgrenzungen von
Außenseitern und Abgrenzungen nach innen die S tabilität der Iden titä t
zu wahren. So kam es zu keiner Entw icklung von S trukturen, die in der
sich konstituierenden postsozialistischen Ö ffentlichkeit gestalterische
Kraft entwickeln und der Intelligenzija eine Rolle als innovativer Führer
und als moralisch-geistiges Gegengewicht zu den neuen politischen und
ökonomischen Eliten sichern konnten. Eine ähnliche kritische Bilanzie-
rung der Rolle der bulgarischen Intellektuellen im Reformprozeß läßt sich
in den Reflexionen des ehemaligen Staatspräsidenten und ‫״‬Nobel-
intellektuellen“ Želju Želev erkennen (s. Červenkova u.a. 1997:11-16).
Die Betrachtung der bulgarischen Intellektuellendiskussion hat einige
markante traditionelle Merkmale im kulturellen P ortrait der bulgarischen
Intelligenzija offenbart: zunehmende patriarchale Separierung, Meidung
von offenem kritischem Diskurs, Betonung partiku larer Interessen,
Bereitschaft zum Austausch nur in der Privatsphäre und Vergangen-
heitsorientierung. M it diesen Eigenschaften vor Augen und m it dem
Wissen um die Konsequenzen möchte ich abschließend zu meiner An-
fangsfrage zurückkehren: Waren die Intellektuellen in der Lage, die inno-
vatorische Leistung einer M odernisierungselite zu erbringen und die
durch den Systemwechsel bedingten immensen externen Anforderungen
an die eigene Realität zu adaptieren? Konnten die Intellektuellen über-

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276 J. Roth

haupt Modemisierungsagenten werden fü r die Transform ation in eine


offene Gesellschaft, bei der neue Handlungsweisen eines rationalen Um-
gangs, eines (selbst)kritischen Diskurses und einer bürgerlichen Z ivilitä t
eingeübt und vorgelebt werden mußten? Vor dem Hintergrund meines
Datenmaterials muß meine A ntw ort negativ ausfallen. Kritisch und ein-
schränkend muß ich allerings anmerken, daß die Quellengrundlage mei-
ner Fallstudie begrenzt war. Es w ird der Vertiefung und Ausweitung der
Forschung bedürfen, um hier zu einer verläßlicheren Antw ort zu gelan-
gen.

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Elitenwandel in Kroatien 1989-1995

Nenad Zakošek

Im vorliegenden Beitrag soll versucht werden, den Wandel der kroati-


sehen politischen Eliten seit dem Zusammenbruch des sozialistischen
Regimes und dem Beginn der Konstituierung einer demokratischen Ord-
nung in den Jahren 1989-90 zu umreißen. Diesen Versuch werde ich in
mehreren Schritten vollziehen, möchte aber den inhaltlichen A usführun-
gen zwei methodische Anmerkungen voranstellen.
Erstens möchte ich den von m ir benutzten Begriff der politischen Elite
näher bestimmen. Es handelt sich um einen w ertneutral gebrauchten
Begriff der Elite, der weder positive noch negative Konnotationen über
die Qualitäten, S truktur und gesellschaftliche Rolle der Elite im p lizie rt -
etwa im Sinne der klassischen Studie von Schumpeter. Die politische Elite
umfaßt die führenden politischen Akteure, welche die politische
Entscheidungsfindung und -im pie-mentierung bestimmen und als eine
besondere gesellschaftliche Gruppe erkennbar sind. In diesem Begriff
sind sowohl strukturelle als auch Aktionsaspekte enthalten. Durch seine
Betonung der Bedeutung von politischer Macht unterscheidet er sich von
dem neuerdings oft gebrauchten Begriff der politischen Klasse (über den
Unterschied von ‫״‬politischer Klasse“ und ‫״‬politischer E lite“ siehe
Borchert/Golsch 1995: 614-615). In Anwendung auf die kroatischen
Umstände beschreibt der Begriff der politischen E lite die Gruppe des
oberen - in der Regel professionell an den politischen Entscheidungen
beteiligten - politischen Personals auf nationaler und regionaler Ebene.
Eine solche D efinition im pliziert eine klare Absetzung der politischen
Elite gegen andere Gruppen, die sich ebenfalls an der P o litik beteiligen:
- die politischen Gegeneliten, also führende politische Akteure der
oppositionellen Kräfte, insbesondere auch der Oppositionsparteien,

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280 N. Zakošek

die kontinuierlich und professionell im politischen Leben tätig


sind, aber nicht über die politische Entscheidungsmacht verfügen;
- andere Elitegruppen, m it denen die politische Elite in enger Inter-
aktion steht, z.B. die intellektuellen, ökonomischen, juristischen
oder m ilitärischen Eliten.
Zweitens ist darauf hinzuweisen, daß die empirischen Grundlagen
meiner Analyse äußerst d ü rftig sind. Das hängt m it dem Umstand zu-
sammen, daß die empirische Erforschung der politischen Eliten in Kroa-
tien nach wie vor sehr unterentw ickelt ist und deswegen die wichtigsten
Daten fehlen. Über die postsozialistischen politischen Eliten in Kroatien
gibt es nur wenige wissenschaftliche Forschungsarbeiten (als erste
Schritte in diese Richtung gibt es bisher die Studien von Jovic 1993 und
T u li 1995); gleichzeitig liegen die offiziellen, von den staatlichen Organen
zur Verfügung gestellten Inform ationen über führende politische Funk-
tionäre in keiner geordneten Form vor. Die einzigen Daten bietet - in
unsystematischer Weise - die journalistische Berichterstattung. Aus die-
sem Grund hat auch mein Beitrag den Charakter einer vorläufigen Skizze,
die die Möglichkeiten einer künftigen Forschung nur andeutet.
Im weiteren Text werden sechs Aspekte des Elitenwandels in Kroatien
untersucht: 1) Die politischen Bedingungen in Kroatien vor dem
Zusammenbruch des sozialistischen Regimes und ihre Bedeutung fü r die
Entstehung der neuen politischen Elite, 2) die politischen Rahmenbedin-
gungen des Elitenwandels nach 1989, 3) die Hauptquellen der Elite-Re-
krutierung, 4) Die politischen und institutionellen Mechanismen der
Elite-Rekrutierung, 5) die Ideologie der neuen politischen Elite und 6)
einige kritische Anmerkungen und Aussichten der zukünftigen Entwick-
lung.

1. Die politischen Bedingungen in Kroatien vor dem


Zusammenbruch des sozialistischen Regimes und ihre Bedeutung
für die Entstehung der neuen politischen Elite
Der Wandel der kroatischen politischen Elite nach 1989 ist nicht ohne die
vorangegangene Entwicklung im Sozialismus zu verstehen. Einige Cha-
rakteristika des jugoslawischen sozialistischen Systems sind allgemein
bekannt; jedoch sind im H inblick auf die Entstehung der neuen p o liti-
sehen Eliten in den jugoslawischen Republiken eher weniger bekannte

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Elitenw andel in Kroatien 19 8 9 -19 9 5 281

Merkmale w ichtig. Kroatien wiederum unterscheidet sich in einigen we-


sentlichen Momenten von den anderen Republiken. Ich möchte fü n f
dieser Besonderheiten erwähnen, die fü r die spätere Entstehung der post-
sozialistischen politischen Elite von großer Bedeutung waren:
a) Für das gesamte jugoslawische System war charakteristisch, daß
sich die herrschende politische E lite seit den W irtschaftsreform en M itte
der sechziger Jahre zunehmend von der technokratischen Elite unter-
schied, welche sich m it der Führung großer staatlicher W irtschaftsunter-
nehmen befaßte. Diese beiden Gruppen wurden nach unterschiedlichen
Selektionsmechanismen re kru tie rt (ideologische Loyalität versus techni-
sehe Kompetenz), und daraus entwickelte sich zunehmend auch ein
politischer Gegensatz. Die technokratische Elite akkum ulierte Experten-
wissen, das eine kritische Bedeutung fü r die Lösung von W irtschaftspro-
blemen unter M arktbedingungen hat. Demgegenüber behielt die
Nom enklatura zwar die politische Übermacht bis zum Regimezu-
sammenbruch, war aber in der W irtschaftspolitik auf den Sachverstand
der Technokraten angewiesen. Deswegen wurden die Träger der W irt-
schaftspolitik seit den sechziger Jahren in der Regel aus dem Kreis der
letzteren re kru tiert.
b) Die innere Dynamik der politischen E lite seit Anfang der sechziger
Jahre war wesentlich durch ethnopolitische Konkurrenz und K onflikt
bestim m t. Die neue Situation drückte sich in einer Reihe von Verande-
ningen aus: der U m strukturierung der Institutionen der jugoslawischen
Föderation nach ethnischen K riterien, den politischen K onflikte inner-
halb der kom m unistischen Führung, der A rtiku la tio n divergierender
Interessen in allen Politikbereichen aus der Perspektive der interethni-
sehen Beziehungen, schließlich in der Dominanz von ethnopolitischen
K riterien bei der Rekrutierung in die politischen Führungsorgane. Jede
Republik versuchte, sich als Nationalstaat der ethnischen M ehrheit zu
profilieren - vielleicht m it Ausname von Bosnien und Herzegowina. Zu-
gleich verlangten unter diesen Bedingungen die politischen Vertreter der
stärksten ethnischen M inderheit in jeder Republik nach mehr Macht und
Garantien fü r ihre Rechte. In Kroatien hatte diese Veränderung fü r die
politischen Eliten zwei Auswirkungen: Die kroatisch-serbischen Bezie-
hungen in Kroatien wurden zur wichtigsten politischen Frage, wobei die
politischen V ertreter der serbischen M inderheit in Kroatien nach einem

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ethnopolitischen Gleichgewicht bzw. Vetomacht der Serben in Kroatien


drängten; zugleich wurde nach außen der Kam pf um die Position Kroa-
tiens in der Föderation entscheidend. Die kroatische Republikführung
form ulierte Forderungen nach mehr Selbständigkeit der Republiken - ih r
w ichtigster Gegenspieler war die serbische Republikführung, die eine
stärkere Zentralisierung des Bundesstaates befürwortete (Slowenien
agierte dabei als kroatischer Bündnispartner).
Zugleich drängte die Dominanz der ethnopolitischen K onflikte den in
allen anderen sozialistischen Staaten vorherrschenden Gegensatz zwi-
sehen Reformern und Dogmatikern in den H intergrund.
c) Es kam zum Aufstieg einer neuen Generation der politischen Elite
seit der zweiten H älfte der sechziger Jahre und zu ih re r repressiven Be-
seitigung nach der Zerschlagung des sogenannten ‫״‬kroatischen
Frühlings“ . Dies zeitigte langfristige Folgen fü r die Reproduktion der
politischen Elite in Kroatien: einerseits die Frustration der politisch Ver-
folgten, andererseits die Blockade des Aufstiegs von neuen Generationen
als Folge der Übermacht der Status-quo-Koalition in den siebziger Jah-
ren, die sich auch nach Titos Tod in den achtziger Jahren fortsetzte.
Gleichzeitig bildeten die politisch Ausgeschlossenen w eiterhin das Poten-
tia l einer Gegenelite, waren also fü r das Status quo gefährlich. Die Aus-
maße der Blockade und Frustration in der politischen Elite Kroatiens
stellen m.E. eine kroatische Besonderheit dar und sind nur teilweise ver-
gleichbar m it ähnlichen Frustrationen innerhalb der serbischen Eliten
(obwohl politische Säuberungen praktisch die Eliten in allen Republiken
und nicht nur in Kroatien und Serbien trafen).
d) Aus den oben umrissenen Gründen gab es keine Erneuerung der
kroatischen politischen Elite in den achtziger Jahren, aber auch keinen
Aufstieg einer neuen demokratischen Gegenelite: Dies bedeutete zum
einen versperrte Aufstiegschancen in der P olitik fü r eine ganze Genera-
tio n und zum anderen eine biologische und geistige Überalterung sowohl
der kom munistischen politischen Elite als auch der unterdrückten Gege-
nelite.
e) Die Dynamik innerhalb der kroatischen kommunistischen Elite war
zusätzlich durch die politische Bedeutung einer starken kroatischen
Em igration belastet: Diese Em igration war sehr heterogen, sie umfaßte
Vertreter der faschistischen Ustasa-Bewegung aus dem 2. W eltkrieg, Be­

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Elitenwandel in Kroatien 1989-1995 283

fü rw o rte r von verschiedenen ‫״‬bürgerlichen“ Optionen, sowie eine zahl-


reiche, westlich orientierte ökonomische M igrantenpopulation, die
politisch m obilisierbar war und eine ständige Quelle der potentiellen
politischen Destabilisierung fü r Kroatien darstellte.

2. Die politischen Rahmenbedingungen des Elitenwandels nach


1989
Kroatien gehört zur Gruppe der postsozialistischen Staaten, in denen der
Regimewechsel frie d lich erfolgte und zugleich auch infolge des Ausgangs
der ersten freien W ahl die politische Elite ausgewechselt wurde (darin
vergleichbar m it Polen, Ungarn oder Tschechien). Die Auswirkungen
dieser Veränderungen führten allerdings zur staatlichen Unabhängigkeit
und zum Krieg, wodurch spezifische Bedingungen fü r die Fortsetzung der
demokratischen Transform ation geschaffen wurden, die sich wesentlich
von jenen der oben genannten Staaten unterscheiden.
Diese besonderen Bedingungen haben auch den Prozeß des Eliten-
wandels nach 1989 bestim m t. Die politischen Rahmenbedingungen
waren vor allem durch folgende Momente gekennzeichnet:
a) Seit 1990 wurde durch die ununterbrochene Regierungsmacht der
in der ersten freien W ahl erfolgreichen Kroatischen Demokratischen Ge-
meinschaft (HDZ) eine monopolistische politische Situation geschaffen.
Die HDZ ist ein Amalgam von breiter nationaler Bewegung (die die Er-
richtung der staatlichen Unabhängigkeit zum Ziel hatte) und einer popu-
listischen catch-all-Partei, die um ihren charismatischen Führer, den
kroatischen Staatspräsidenten Dr. Franjo Tudjm an, aufgebaut ist. Die
monopolistische Position der HDZ und die Schwäche der Oppositions-
partéién hat zur Folge, daß die HDZ sich zum wichtigsten (und praktisch
einzigen) Rekrutierungskanal fü r die neue politische E lite entw ickelt hat.
b) Die traum atischen Bedingungen der Konstituierung des unabhän-
gigen kroatischen Staates, die innere Rebellion der serbischen M inderheit
und der Krieg gegen die Bundesarmee, führten dazu, daß auf der sym boli-
sehen Ebene ein radikaler Bruch m it der Vergangenheit vollzogen wurde.
Dieser Bruch fand seinen Ausdruck in einer durch die HDZ form ulierte
neue politische Ideologie, die das Ziel der staatlichen Konstituierung ins
Zentrum stellte. Die P rio ritä t des Aufbaus des kroatischen Staates erfor-
derte zugleich die Etablierung einer Reihe von staatlichen und politischen

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Posten, die in Kroatien vorher nicht existierten (auswärtige Beziehungen,


Landesverteidigung). Dam it wurde auch das Feld fü r neue politische Eli-
tekarrieren geöffnet.
c) Trotz radikaler Veränderung auf der symbolisch-ideologischen
Ebene hat es in Kroatien keine systematischen ‫״‬Säuberungen“ oder
‫״‬Lustrationen“ von alten politischen ‫״‬Kadern“ gegeben (besonders im
Vergleich zu einigen anderen postsozialistischen Staaten, wie z.B. Ost-
deutschland und Tschechien). Dadurch war der Wandel der kroatischen
politischen Elite auf personeller Ebene weit weniger radikal als auf der
symbolischen. Zwar kam es auf der Ebene der höchsten staatlichen Füh-
rung zum personellen Wechsel (auch wenn viele der HDZ-Führungsfigu-
ren, einschließlich Tudjm an selbst, eine Geschichte zumindest als m ittlere
oder untere ‫״‬Kader“ der kom m unistischen Nomenklatura hinter sich
haben), aber die neue Regierungspartei nahm zugleich praktisch alle
politischen Überläufer aus dem alten Regime (zumindest jene, die die
m ittleren und niederen Ränge der alten Nomenklatura bekleideten) w illig
auf. Die wichtigste Vorbedingung fü r diesen politischen Farbenwechsel
war allerdings, daß die neue herrschende Ideologie ohne Vorbehalt ak-
zeptiert wurde. H inter der symbolischen D iskontinuität in der kroati-
sehen politischen E lite versteckt sich also ein gewisses Maß an
K ontinuität.
d) In einem Bereich allerdings kam es zu einer sehr spürbaren Ver-
änderung: angesichts der serbischen Rebellion, des Krieges und einer
offenen antiserbischen Stim m ung in der Ö ffentlichkeit verschwanden die
M itglieder der serbischen politischen M inderheit aus der kroatischen
politischen Elite. Während im Sozialismus das Regime auf einer A rt eth-
nischem Gleichgewicht zwischen Serben und Kroaten gerade in höchsten
politischen Positionen insistierte, wurden die Serben unter neuen p o liti-
sehen Bedingungen aus allen wesentlichen politischen Stellungen ver-
drängt.
e) Schließlich sei anzumerken, daß die dominante Position der HDZ
nicht nur auf nationaler, sondern auch auf regionaler Ebene (m it wenigen
Ausnahmen) durchgesetzt wurde. Dies sah unm ittelbar nach der ersten
freien W ahl 1990 noch anders aus, da die Sozialdemokratische Partei
(SDP), die sich als die Nachfolgepartei der Reformkommunisten konsti-
tu ie rt hatte, als zweitstärkste Partei einige wichtige Regionen (vor allem

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Eliten wandel in Kroatien 19 8 9 -19 9 5 285

jene m it einer lokalen serbischen M ehrheit) erobern konnte. Der Krieg


veränderte diese Umstände radikal, einige Gebiete m it regionaler serbi-
scher M ehrheit fanden sich vorübergehend unter K ontrolle einer serbi-
sehen sezessionistischen Bewegung (die nach der m ilitärischen
Niederlage 1995 einen massenhaften Exodus der Serben aus diesen Ge-
bieten organisierte), und die SDP verlor rapide ihren politischen Einfluß.

3. Die Hauptquellen der Elite-Rekrutierung


U nter den allgemeinen politischen Bedingungen, die oben umrissen w ur-
den, gibt es im wesentlichen fü n f erkennbare Gruppen, aus denen die
M itglieder der neuen politischen Elite re kru tie rt werden. Es handelt sich
um folgende Gruppen:
a) Politische A ktivisten des sogenannten ‫״‬Kroatischen Frühlings“ , der
nationalen Bewegung vom Ende der sechziger, Anfang der siebziger
Jahre, die in den Jahren 1971/1972 gewaltsam aus dem politischen Leben
entfernt wurden. Hierbei handelt es sich jedoch keineswegs um eine bio-
graphisch und politisch homogene Gruppe. Im ‫״‬F rühling“ waren Teile der
damaligen kom m unistischen Nom enklatura, ehemalige M itglieder der
kom m unistischen Partei sowie radikale A ntikom m unisten aktiv. Auch
das Schicksal der A ktivisten nach der Unterdrückung des Frühlings war
sehr unterschiedlich: von langjährigen Gefängnisstrafen, über Em igration
und Berufsverbot bis zum politischen Rückzug, bei gleichzeitiger Mög-
lichkeit, eine ‫״‬bürgerliche“ Berufskarriere zu verfolgen.
b) M itglieder der kroatischen politischen und ökonomischen Emi-
gration, die durch die HDZ oder auch andere Parteien im Ausland poli-
tisch m obilisiert wurden (im letzteren Fall war es notwendig, daß die
Kandidaten fü r eine politische Karriere zumindest zu einem späteren
Zeitpunkt der HDZ beitraten) und die nun nach Kroatien zurückkehrten.
Zu dieser Kategorie gehören auch Kroaten aus Bosnien und Herzegowina,
die ja keine Emigranten sind, jedoch nach der Auflösung des jugoslaw i-
sehen Staates gewissermaßen den Status von ,Auslandskroaten“ haben.
c) M itglieder des alten kom m unistischen Staatsapparats, die über be-
stim m tes Experten wissen verfügen und die zugleich bereit sind, die neue
herrschende Ideologie k ritik lo s anzunehmen.
d) M itglieder der technokratischen Elite in den großen Staatsunter-
nehmen (die inzwischen teilweise privatisiert sind), die ihre politische

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286 N. Zakošek

Karriere durch ih r Expertenwissen begründen, zugleich aber ihre p o liti-


sehe Loyalität nachweisen müssen.
e) Schließlich sei noch eine Gruppe erwähnt, deren Bedeutung nicht zu
vernachlässigen ist: Es handelt sich um Teile der im sozialistischen
System politisch passiven Intelligenz (insbesondere Schriftsteller, akade-
mische Lehrer, Ärzte und Rechtsanwälte), die nun ihre Sachkompetenz
m it der erforderlichen ideologischen Ausrichtung zum Zwecke des p o liti-
sehen Aufstiegs kom binieren.

4. Die politischen und institutionellen Mechanismen der


Elitenrekrutiening
Es wurde oben bereits erwähnt, daß die neue Regierungspartei wegen
ih re r monopolistischen Position der entscheidende Selektionsmechanis-
mus fü r die neue politische Elite ist. Eine genauere Analyse zeigt aber, daß
dieser Mechanismus nicht lediglich einen, sondern zwei Kanäle der Se-
lektion beinhaltet. Es handelt sich einerseits um den Parteiapparat der
HDZ (einschließlich regionaler Parteizweige), andererseits um den Appa-
rat des Präsidialamtes. Die Selektion der Kandidaten fü r die höchsten
politischen bzw. staatlichen Positionen (Regierung, Parlament, Spitzen-
Positionen in der Verwaltung auf nationaler und regionaler Ebene) erfolgt
durch das Zusammenspiel, Konkurrenz und Auseinandersetzung dieser
zwei Apparate. Der Selektionsprozeß verläuft natürlich nicht konfliktlos,
sondern ist durch persönliche und politische Rivalitäten gekennzeichnet.
In beiden Rekrutierungsorganen spielen auch bestimmte ‫״‬regionale A lli-
anzen“ (also die Gruppierung der Elitem itglieder nach regionaler Her-
ku n ft) eine Rolle.
Die gegebene monopolistische Position von HDZ hat noch weitere
zwei Konsequenzen. Einerseits kom m t es im m er wieder zu Versuchen, die
bestehenden schwachen Oppositionsparteien durch Spaltungen und An-
Werbung einzelner führender Aktivisten zu destabilisieren. Zum zweiten
versucht die HDZ, nicht nur den Zugang zu politischen Eliteposten unter
ih re r K ontrolle zu behalten, sondern auch die Aufstiegskanäle im gesell-
schaftlichen und ökonomischen Bereich zu erobern. Einige wichtige Se-
lektionsmechanismen sind bereits in Händen der HDZ, etwa die
Ernennung von leitenden Managern in staatlichen Unternehmen und
Medien, oder auch die Auswahl der Richter.

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Elitenwandel in Kroatien 1989-1995 287

5. Die Ideologie der neuen politischen Elite


Ein wichtiges K riterium der Elitenselektion, als auch das M itte l zum Er-
halt ih re r inneren Kohäsion, ist die bereits erwähnte neue Ideologie der
Staatsformation. Nach dem Ende des Sozialismus wurde in Kroatien also
keine ideologiefreie politische Arena fü r freien politischen W ettbewerb
geschaffen. Im Gegenteil, es wurde eine A rt neue quasi-offizielle Ideologie
geschaffen, die in funktionaler H insicht die gleiche Rolle hat wie die
überwundene sozialistische Ideologie. Inhaltlich beruht die neue p o liti-
sehe Ideologie auf einer nationalistischen Interpretation der kroatischen
Geschichte, die zweierlei leistet: einerseits die Filterung des Geschichts-
bildes von allen m it der herrschenden nationalistischen Sicht unvereinba-
ren Daten, andereseits eine historische Legitim ierung der politischen
Mission der neuen Elite, die gewissermaßen neben die demokratische
Legitim ation tr itt. Die Zugehörigkeit zur politischen E lite setzt die un-
hinterfragte Akzeptanz der genannten Ideologie voraus.

6. Kritische Anmerkungen und Aussichten der zukünftigen


Entwicklung.
Die demokratische Transform ation in Kroatien nach dem Zusammen-
bruch des Sozialismus wurde durch die Bedingungen der Staatsbildung
und des Krieges aufgehalten und teilweise verzerrt. Die Demokratie ist
deswegen in Kroatien noch im m er nicht stabilisiert (Zakošek 1995). Die
Mechanismen der Rekrutierung und Machterhaltung der neuen p o liti-
sehen Elite weisen deutliche Demokratiedefizite aus. Die Entw icklung
Kroatiens zur vollen liberalen Demokratie ist nur durch die Überwindung
der bestehenden monopolistischen politischen S ituation möglich. Es ist
zu erwarten, daß die Veränderung, die das ermöglichen w ird, durch un-
terschiedliche Prozesse zustande kom m t: durch K onflikte und Spaltun-
gen innerhalb der Regierungspartei, durch Stärkung und politische
Zusammenarbeit der Oppositionsparteien und nicht zuletzt auch durch
eine größere politische Partizipation der zivilen Akteure.

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288 N. Zakošek

Literatur
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D em okratien: R ekrutierung, K arriereinteressen und in s titu tio n e lle r
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Neue Wirtschaftseliten in Rumänien:
Von der Nomenklatura zur Oligarchie

Anneli Ute Gabanyi

Systemwandel und Elitentransformation in Osteuropa


Im zehnten Jahr nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in den
Staaten Osteuropas gewinnt die Frage nach dem seither vollzogenen E li-
tenwechsel oder -wandel zunehmend an Bedeutung. Schlüssige
Antw orten auf die noch offenen Fragen im Zusammenhang m it den
osteuropäischen Eliten zu finden ist angesichts der dynamischen Ent-
Wicklung der politischen, sozialen und w irtschaftlichen Bedingungen in
diesen Ländern schwierig.
Das g ilt nicht zuletzt auch fü r die D efinition der neuen W irtschafts-
eliten. Die Studie zur E litenzirkulation in den Transformationsstaaten
von Szelény, Treim an und W nuk-Lipinsky decken nicht das gesamte re-
gionale Spektrum ab. Die Untersuchung basiert auf der Gleichsetzung
zwischen W irtschaftseliten und den Managern der erfolgreichsten -
staatlichen wie privaten - Firmen in den betreffenden Ländern.‘ Rumä-
nien ist weder in der ersten, in polnischer Sprache veröffentlichten Ver-
sion noch in der englischen Version vertreten.2 Die W irtschaftseliten in
Rumänien kann man wohl m it den Begriff ‫״‬patroni“ bezeichnen. Der dem
Französischen entlehnte Begriff des ‫״‬patron“ entspricht im Deutschen
demjenigen des ‫״‬Arbeitgebers“ . Im Unterschied zu dem oder den u r­

1 C ircu la tio n vs. R eproduction o f E lites d u rin g Postcom m unist T ransform ation
o f Eastern Europe, hg. v. I. Szelényi et al. (=T heory and Society, Special Issue,
2 4 d 9 9 5 ) 5 )•
2 E lity w Polsce, w R osji i na W egrzech. W ym iana czy reprodukcja? [E lite n in
Polen, Rußland und U ngarn. W andel oder R eproduktion?]. W arschau 1 9 9 5 •
Siehe hierzu: K a rp iń ski, Jakub: Sociologists Com pare N om enklatura M em bers
and C ontem porary E lites, in : T ra n sitio n , 31.5.1996.

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290 A. U. Gabanyi

sprünglichen Firm eneigentüm er/n und den Besitzern von Aktienanteilen


ist der ‫״‬patron“ in Großbetrieben zumeist m it dem leitenden Manager des
••

Unternehmens identisch.3 In Rumänien wie auch in den anderen Uber-


gangsländem kann man davon ausgehen, daß diese leitenden Manager in
vielen Fällen m it den Eigentümern (oder m it Verwandten der Eigentü-
mer) identisch sind.
Die Frage, ob die alten kommunistischen Eliten Nutznießer des Sy-
stemwandels waren, ist relativ leicht m it Ja “ zu beantworten. Empirische
Forschungen haben nachgewiesen, daß es Teilen der vormaligen M acht-
eliten nach 1989 gelungen ist, das form al freie Spiel der Kräfte von M arkt
und Meinung dank ihres Herrschaftswissens und der von ihnen ausge-
übten Kontrolle über die nationalen Ressourcen sozusagen legal zu ihren
eigenen Gunsten zu nutzen und es in ökonomische Vorherrschaft und
politische Macht umzumünzen. Verkürzt gesagt: Die Nomenklatura
wurde zur Oligarchie.*
Kein Konsens herrscht hingegen darüber, ob die alten M achteliten aus
Partei, Staatsapparat und W irtschaftsbürokratie fre iw illig auf ihre vor
1989 gehaltene Monopolstellung in P olitik (Einparteienstaat) W irtschaft
(Staatseigentum und Ressourcenallokation) und Ideologie (Definitone-
m onopol) verzichtet und den Systemwandel zu ihren eigenen Gunsten
genutzt haben. In Unterstützung dieser These lassen sich drei Argumente
ins Feld führen:

3 V a le riu Sim ion, der geschäftsführende G eneraldirektor der N ationalen


K onföderation der Rum änischen A rbeitgeber (Confederaria N aļionalā a
P a tro n a tu lu i Roman) in einem In te rvie w m it der Zeitung D ilem a N r. 2 2 9 ,1 3 .-
19.6.1997.

‫י‬ Siehe hierzu: Ágh, A ttila : From N om enklatura to C lientura. The Emergence o f
New P olitica l E lites in East-C entral Europe, in : S tabilising Fragile
Democracies. Com paring New Party Systems in Southern and Eastern Europe,
hg. v. G eoffrey Pridham и. Paul G. Lewis. London etc. 1996, S .4 4 -6 8 ; Baylis,
Thom as A .: Plus Ca Change? T ransform ation and C o n tin u ity Am ong East
European E lites, in : C om m unist and Post-Com m unist Studies 27 (1994) 3,
S . 3 ! 5 3 2 8 ‫ ; ־‬Best, H e in rich / Becker, U lrike : E lites in T ra n sitio n . E lite Research
in C entral and Eastern Europe. O pladen 1997; H igley, John / K ullberg, J u d ith
/ Pakulski, Jan: The Persistence o f Postcom m unist E lites, in : Jo u rn a l o f
Dem ocracy 7 (1996) 2, S.133-147; Schröder, H .-H .: Russische W irtschafts-
und G esellschaftseliten im Übergang, in : Der Osten Europas im Prozeß dert
D ifferenzierung, hg. v. B lO st. M ünchen etc. 1995, S .266-277.

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Neue Wirtschaftseliten in Rumänien 291

1. Die sich zuspitzende Krise der staatlichen Planwirtschaftssyteme in


den kommunistischen Staaten hatte dazu geführt, daß K orruption
und K rim inalität im Rahmen einer halbstaatlichen Form der
Schattenwirtschaft zunehmend überhand nahmen. Im m er deutli-
eher kristallisierte sich dabei die Kommandowirtschaft als eine M i-
schung aus staatlichen Eigentumsformen und ihrer p riva tw irt-
schaftlichen Abschöpfung durch die herrschenden Eliten heraus.5
2. Die Vertreter der alten Machteliten verfügten zwar über kollektive
Privilegien, nicht aber über Eigentumsrechte. Der Genuß der P rivi-
legien konnte wegen der herrschenden Gleichheitsideologie nicht
zur Schau gestellt werden. Diese politisch begründeten Privilegien
konnten auch verlorengehen, da sie amts- und nicht personenge-
bunden waren. Eigentum kann vererbt und investiert werden. Den
Schluß aus dieser Gleichung habe die kommunistische M achtelite
bereits vor dem Systemwandel gezogen, meint der polnische Wis-
senschaftler Wojtech Lamentowicz: ‫״‬Indem sie (wie in Ungarn und
Polen) die W irtschaftsreform in Kraft setzte, versuchte sie, ihre
kollektiven Privilegien in individuelle Eigentumsrechte zu verwan-
dein.“6 Diese ‫״‬Befreiung der Nomenklatura“ führte, so Jadwiga
Staniszkis, zur ‫״‬Woge der Revolutionen von oben und zur kontrol-
Herten Aufgabe des Kommunismus“ m it dem Ziel, den ‫״‬Status der
vorangegangenen Periode und die Netzwerke der kommunistischen
Vergangenheit“ zu bewahrend Entsprechend interpretiert der rus-
sische Bürgerrechtler Timofejew die Wende denn auch als die
‫״‬Liquidierung der sozialistischen Planwirtschaft zugunsten eines
freien Marktes von Gruppen, die diesen M arkt vorher bereits be-
herrscht haben.“8

Siehe hierzu: Pleines, H eiko: K o rru p tio n in den post-sozialistischen Staaten.


BlO st, A ktue lle Analysen N r. 1/1998, 29.12.1997.
l^amentowicz, W ojtech: Politische In s ta b ilitä t in O st- und M itte leu rop a :
innenpolitische Gefährdungen der europäischen Integ ration und S icherheit,
in : D em okratie und M a rktw irtsch a ft in O steuropa, Strategien fü r Kuropa, hg.
v. W erner W eidenfeld. G ütersloh 1995.
Staniszkis, Jadw iga: ‫״‬G lobalisierung“ und das Ende des Kom m unism us, in :
In te rn a tio n a le P o litik N r. 5/1997.
R aith, W erner: Das neue M a fia -K a rte ll. W ie die Syndikate den Osten erobern.
B e rlin 1994, S.167.

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292 A. U. Gabanyi

3. Als Folge der Rezession und der Ölkrisen im V erlauf der 70er Jahre
tra t die pseudostaatliche Schattenwirtschaft in einen halboffiziellen
Austausch m it der westlichen Finanzwirtschaft. Um diese neuen
Kreditgeschäfte abzuwickeln, wurden in den einzelnen osteuropäi-
sehen Staaten Tam firm en der kom m unistischen Partei und der
Nachrichtendienste im In - und Ausland gegründet, die eine breite
Palette oftm als okkulter Devisengeschäfte abwickelten. Aus dem
Bereich solcher Firmen und Seilschaften in den ehemals kom m uni-
stischen Staaten sind besonders viele erfolgreiche und wohlha-
bende V ertreter der neuen W irtschaftseliten hervorgegangen.
Die weitgehende Übereinstim m ung der politischen und w irtschaftli-
chen Systeme in den ehemals kom m unistischen Staaten O stm itteleuro-
pas hatte zur Folge, daß auch der 1989 erfolgte Wandel dieses Systems in
den betroffenen Staaten große strukturelle Ähnlichkeiten aufwies. Am
Ende dieser Entwicklung steht folgerichtig nicht die ‫״‬M arktw irtschaft im
Sinne eines freien Marktes“ , sondern ein ‫״‬System von Beziehungen,
Begünstigungen und gegenseitigen Abhängigkeiten“ zwischen den
M itgliedern einer ‫״‬kleinen Gruppe von W irtschaftsführem , Regierungs-
m itgliedem und hohen Staatsbeamten“ ^ Dieser ‫״‬oligarchische
Kapitalism us“ , so Staniszkis, bedient sich selektiv der ‫״‬institutionellen
Hinterlassenschaften des Kommunismus“ . Es ist gekennzeichnet durch
gemischte Eigentumsverhältnisse, Verstaatlichung und Politisierung der
W irtschaft, Konzentration durch die Verbindung von Finanzwelt und
Industrie, beruhend auf Netzwerken persönlicher Beziehungen aus der
Zeit des Kommunismus. ... Gelenkte M ärkte m it adm inistrativ regulier-
tem Zugang werden von ‘politischen Kapitalisten’ als Vehikel benutzt, um
Risiken und Kosten m it dem Staat zu teilen und so die Globalisierung zu
überleben sowie die Bildung inländischen Kapitals zu beschleunigen.“ 10
Das System ste llt einen idealen Nährboden fü r Korruption und K ri-
m ina litä t dar. Der Übergang von der K orruption der staatlichen Planw irt-
schaft und der sie begleitenden Schattenwirtschaft in die private
W irtschaftskrim inalität vollzieht sich fast nahtlos. Die nach der Wende

9 H offm ann, C hristiane: W ettbew erb um P rivile g ie n . Die V erflechtung von


W irtschaftsm acht und politischen Befugnissen in Rußland, in : F ra n kfu rte r
A llgem eine Z eitung, 21.7.1997.
10 Staniszkis, Jadw iga: ‫״‬G lobalisierung“ , a.a.O.

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Neue Wirtschaftseliten in Rumänien 293

überall entstandenen Defizite bei der Gewährleistung der inneren Sicher-


heit sind auch eine Folge der notwendigen Reformen im Bereich von Ju-
stiz, Polizei, Armee und Nachrichtendiensten. Die Entstehung neuer
Staaten und Grenzen und die Kriege in Teilen Europas haben zur Inter-
nationalisierung, Brutalisierung und M ilitarisierung der krim inellen
Strukturen geführt.“

Der Kam pf um das Erbe des Diktators


Der Wandel, schreibt der nim änische Politologe Stelian Tänase in Anleh-
nung an ein W ort Schumpeters, könne nur gelingen, wenn die Eliten
zusammenarbeiteten und darauf verzichteten, einander physisch und
politisch auszuschließen. Dies sei eine der Vorbedingungen fü r das Gelin-
gen der Demokratie.12 U nter dem Blickwinkel der Kooperation alter und
neuer, bürokratischer und technokratischer Eliten um das Vermögen der
kommunistischen Partei und ihres Vorsitzenden ist der Wandel in Rumä-
nien als gelungen zu bezeichnen. Die Bedingungen h ie rfü r waren in dem
einzigen Land Osteuropas, wo eine blutige Revolution stattfand und wo
als einziger der ehemalige Staats- und Parteichef hingerichtet wurde,
nicht gerade günstig.
Das politische System Rumäniens unter Nicolae Ceauçescu entsprach
in weit stärkerem Maße als das der anderen kom munistischen Staaten
Ostmitteleuropas dem von Eisenstadt so genannten Konzept des ‫״‬neo-
patrim onialen Staates“ .^ Es zeichnete sich durch ein ungewöhnlich hohes
Maß an Klientelw irtschaft und Patronagewesen aus. Zur Sicherung seiner
Macht hatte Ceau§escu in zunehmendem Maße auf ein inform elles Sy-
stem persönlicher Bindungen und Belohnungen gesetzt. In einer ersten
Phase, die nach seinem 1965 erfolgten M achtantritt begann und bis zum
Ende des Jahrzehnts dauerte, spielte die Fachkompetenz bei der Kooptie-
rung neuer Eliten zwar eine wichtige Rolle, da der Generalsekretär der

11 Siehe Tham m , Bernd Georg: Es is t fü n f M in uten nach zw ölf. Das Ende des
Kalten Krieges: Q uantensprung des organisierten Verbrechens, in : Die W elt,
20.4.1996.
12 Tänase, Stelian: R evo luta ca e§ec. E lite çi societate [D ie R evolution als
Scheitern. E lite n und G esellschaft]. Jassy 1996, S.70.
13 Eisenstadt, Samuel N.: R evolution and the T ra nsform a tio n o f Societies: A
Com parative Study o f C iviliza tio n s. New Y ork 1978.

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294 A. U. Gabanyi

RKP Nicolae Ceau§escu daran interessiert war, seine M achtstellung im


Inneren gegen den W iderstand zu festigen. Nach 1968 ging Ceau§escu
dazu über, die Macht entsprechend dem Loyalitätsprinzip zunehmend auf
einen im mer kleineren Kreis von Funktionären zu reduzieren - zum
Nachteil jener jüngeren technokratischen Eliten, auf die er sich während
der liberalen Phase der sechziger Jahre gestützt hatte. Die ‫״‬Rotation der
Kader“ sollte verhindern, daß V ertreter der Nom enklatura eigene Seil-
schäften aufbauen und eigene Machtareale abstecken konnten. In einer
dritten Phase, deren Beginn m it der Übernahme des Staatspräsidenten-
amts durch Parteichef Ceau§escu im Jahre 1974 gleichzusetzen ist und die
m it dem Sturz des D iktators ih r Ende fand, erfolgte der Übergang vom
autoritären zum oligarchischen Führungsprinzip.1‫ »׳‬Es kam zur quasi-
hermetischen Schließung der Führungselite, die normale Z irkulation der
Eliten auf allen Ebenen wurde praktisch unterbunden. Die operative
Macht im Staate war in den Händen des Ceau§escu-“Clans“ konzentriert,
bei dessen Rekrutierung nicht moderne Selektionskriterien, sondern
patriarchalische Verwandtschafts- und Loyalitätsbeziehungen den Aus-
schlag gegeben hatten . ‘5
W iderspruch gegen die P olitik und den Führungsstil des Staats- und
Parteichefs regte sich in unterschiedlichen Gruppierungen der Partei, aus
unterschiedlichen, zum Teil sogar gegensätzlichen M otiven. Die Unzu-
friedenheit m it Ceau§escu einte Bürokraten und Technokraten, alte
Feinde und alte Freunde des D iktators. Aus den Reihen der Leistungs-
eliten kam K ritik an Ceauçescus politischer und ökonomischer Gesamt-
Strategie, insbesondere die hohe Akkum ulationsrate, die forcierte Indu-
strialisierung zum Schaden der Landwirtschaft, die Reform feindlichkeit
und die Autarkiebestrebungen des Regimes. Forderungen nach einer
Demokratisierung der streng zentralistischen innerparteilichen S truktu-
ren war Ceauçescu in einer Rede vor dem Politischen Exekutivkomitee

‘4 Siehe z. B. Shiis, Edw ard: C enter and Periphery‫׳‬. Essays in M acrosociology.


Chicago etc. 1975.
15 Siehe hierzu: G ilberg, T ro n d : N atio na lism and C om m unism in Rom ania. The
Rise and F a ll o f Ceauçescu's Personal D icta to rsh ip . B oulder etc. 1990, S .8 3 -
109.

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Neue Wirtschaftseliten in Rumänien 295

der RKP im A p ril 1988 m it dem Argum ent entgegengetreten, die Partei sei
kein D ebattierklub.16
ln den achtziger Jahren ging Ceauçescu auch m it dem Parteiapparat
als solchem auf Kollisionskurs. In dem Maße, wie Ceau§escu seine per-
sönlichen Machtbefugnisse ausweitete, wurde der politische Einfluß der
Partei- und Staatsbürokratie, die seit längerem Ansätze einer Verbürgerli-
chung gezeigt hatten, systematisch herabgestuft, ihre wirtschaftlichen
Privilegien wurden abgebaut.17 Angesichts der in der Bevölkerung aufge-
stauten Empörung über die beispiellose Senkung des Lebensstandards im
Zuge der A usteritätspolitik der 80er Jahre mußte die Elite fürchten, bei
dem zunehmend absehbaren Sturz Ceauçescus m it in die Tiefe gerissen
zu werden. Die Furcht und der U nm ut im gesamten Staats- und Parteiap-
parat erklärt, weshalb Ceauçescu im Dezember 1989 über sowenig Rück-
halt verfügte.18
Die M öglichkeiten, legal zusätzliche Einkünfte außerhalb des staatli-
chen Sektors zu erwirtschaften, waren in Rumänien ungünstiger als
sonstwo in Osteuropa. Private Handwerksbetriebe und Kleinuntemehmer
waren m it Ausnahme einer kurzen Liberalisierungsperiode zum Ende der
60er Jahre nicht zugelassen. Die private Landwirtschaft wurde zuneh-
mend zurückgedrängt. Schätzungen zufolge lag der Anteil einer potenti-
ellen M ittelklasse in Rumänien vor der Wende bei 5 Prozent der
Gesamtbevölkerung - im Vergleich zu 30 Prozent in Tschechien, 25 Pro-
zent in Polen und 20 bis 25 Prozent in Ungarn.19
Für rumänische Bürger, die illegal Gewinne machten, sah das Gesetz
drakonische Strafen vor. Das hinderte die damalige rumänische Führung
jedoch nicht, ebenso wie die anderen Ostblockstaaten okkulte, in Devisen
abgewickelte Geschäfte m it westlichen Partnern zu tätigen, um dem dro-
henden w irtschaftlichen und finanziellen Kollaps zu entgehen. N ur we-

16 Scânteia, 4.5.1988; siehe hierzu: G abanyi, A n n e li Ute: Von Gorbačev zu


G rom yko: Zum Stand de r rum änisch-sow jetischen Beziehungen, in:
Südosteuropa 37 (1986), S. 257-271.
17 Kenneth J o w itt hat diesen Prozeß als ‫״‬p a rty fa m ilia liz a tio n “ beschrieben in:
The Leninist Response to N atio na l Dependency. Berkeley 1978, S.70.
18 Vgl. die Analyse in : Tänase, S telian: R e vo lu ta ca e$ec, a.a.O., S .54-85.
19 S ilviu Brucan: De la pa rty hacks la nouveaux riches [Von Parteihengsten zu
N eureichen], in : Sfera P o litic ii N r. 59 / A p ril 1998, S.17.

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296 A. U. Gabanyi

nige Personen aus dem Umkreis Ceauçescus sowie einige der zuständigen
Finanz- und W irtschaftsexperten kannten dieses Geflecht inländischer
und ausländischer Firmen und Geheimdienste. Die wichtigsten dieser
Unternehmen waren:
- das Zentrale W irtschaftsam t Carpati, M itte der 80er Jahre als Teil
des parteieigenen W irtschaftsuntemehmens gegründet m it dem
Ziel, okkulte Devisengeschäfte der Partei und Transaktionen m it
anderen KPs zu tätigen;
- das Außenhandelsunternehmen des Sicherheitsdienstes Securitate,
ICE Dimärea, gegründet im Oktober 1982 und aufgelöst im A p ril
1990. Seine W arenpalette reichte von Waffen bis zu künstlichen
Diamanten, Gewinne wurden auf geheime Auslandskonten über-
wiesen;
- Sicherheitsdienste unterhielten eigene Devisenkonten, auf die
Zahlungen ausländischer Regierungen und Geheimdienste fü r
Waffengeschäfte, die Ausreise von Aussiedlem etc. erfolgten;
- in - und ausländische Firmen, die von den rumänischen Sicher-
heitsbehörden k o n tro llie rt oder gesteuert wurden. Eine der
wichtigsten war die eines arabischen Privatmannes 1990 in Piräus
gegründete und später in Z>pem ansässige Firma Crescent.20
In diesen dem Bereich, der m it Fug und Recht als halblegale Schat-
tenw irtschaft des Staates bezeichnet werden kann, wurden nicht n u r die
D ollarm illiarden erw irtschaftet, die zur Rückzahlung der Devisenschul-
den Rumäniens in den 80er •Jahren gebraucht wurden. H ier lernte auch
eine Kaste von Spezialisten und Managern den Umgang m it m arktw irt-
schaftlichen Praktiken, die ihnen fü r die Zeit nach dem Sturz des D ikta-
tors unm ittelbar nach der Wende einen Startvorsprung verschaffen sollte.
Zugleich m it dem Machtkampf, der m it dem Sturz des kom m unisti-
sehen Staats- und Parteichefs durch den sogenannten Rat der Front der
Nationalen Rettung am 22. Dezember 1989 einsetzte, begann auch der
Kampf um das Vermögen der Rumänischen Kommunistischen Partei und
dasjenige Nicolae Ceauçescus. Im Anschluß an die am 25. Dezember er-
folgte Exekution Ceauçescus und seiner Frau Elena erklärte sich dieses

20 Siehe hierzu d e ta illie rte Angaben in : Badea, Dan: Averea Preçedintelui.


C o n tu rile lu i Ceausescu [Das Vermögen des Präsidenten. Die Ceauçescu-
K onten]. Bukarest 1998.

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Neue Wirtschaftseliten in Rumänien 297

Gremium zum alleinigen Inhaber der Macht im Staate m it allen legislati-


ven und exekutiven Befugnissen - einschließlich des Zugriffs auf die w irt-
schaftlichen und finanziellen Ressourcen des Staates, ln dessen Besitz
wurde am 18. Januar 1990 das Vermögen der Rumänischen Kommuni-
stischne Partei überführt, die offiziell weder aufgelöst noch verboten
worden war. Zum Jahresende 1989 betrug das gesamte mobile und im -
mobile Parteivermögen, das von dem sogenannten Zentralen W irt-
schaftsamt ‫״‬Carpati“ verwaltet wurde, rund 40 M illiarden Lei (zum
Tageskurs rund 2,23 M illiarden USD).21 Die von Ceauçescu persönlich
genutzten V illen und die darin befindlichen Wertgegenstände und Ge-
schenke - darunter 584 Schmuckstücke aus Edelmetallen, eine kostbare
Sammlung alter Waffen, mehrere Luxuswagen - waren darin nicht jedoch
enthalten.22 Eine Vielzahl dieser Betriebe, Villen und Restaurants wurden
zur Nutzung an M inisterien, Stadtverwaltungen, die Orthodoxe Kirche,
aber auch an Unternehmer und P olitiker übergeben.
Im Vordergrund stand dabei die Frage nach den Geheimkonten des
damaligen Staats- und Parteichefs Nicolae Ceausescu, auf denen angeb-
lieh zwischen 400 M illionen und fü n f M illiarden US-Dollar liegen sollten.
Bei der Vernehmung im Rahmen des Schauprozesses, der den beiden
Ceauçescus bereitet worden war, bestritten sie, über Privatkonten in der
Schweiz zu verfügen. Auch weigerten sie sich, ih r Einverständnis zur
••

Übernahme dieser Konten durch den rumänischen Staat schriftlich zu


erklären.^ Verschleudern des Volksvermögens und die Anhäufung per-
sönlichen Reichtums auf ausländischen Bankkonten gehörten zu den
Anklagepunkten, aufgrund derer der alte von den neuen Machthabern
zum Tode verurteilt und exekutiert wurde.
Für die Führung dieser Konten war bis zu seiner 1978 erfolgten Flucht
in die USA der stellvertretende Chef des rumänischen Auslands-
nachrichtendienstes, Ion M ihai Pacepa, verantw ortlich. Danach wurde
diese Funktion von Ceauçescus Bruder M arin, dem Leiter der ru-
manischen Handelsmission in Wien, wahrgenommen. Er wurde am 29.
Dezember 1989 in Wien erhängt aufgefunden.

21 Ebda., S.17.
22 Dekretgesetz N r. 30,18.1.1990.
23 Badea, D.: o p.cit., S. 61.

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298 A. U. Gabanyi

Während das Interesse der Ö ffentlichkeit in Rumänien, aber auch im


Ausland auf die Suche nach Ceauçescus Devisenguthaben gelenkt wurde,
war es Vertretern der alten politischen und w irtschaftlichen Eliten gelun-
gen, sich das Vermögen der ehemaligen Staatspartei sowie die in Staats-
besitz befindlichen Ressourcen anzueignen. Das Notizbuch Elena
Ceauçescus, worin u.a. Bankadressen und Kontonum m em verm erkt ge-
wesen sein sollen, wurde beim Sturm auf das Gebäude des Zentralkom i-
tee der RKP am 22. Dezember 1989 gefunden und an den d o rt anwe-
senden Ion Iliescu, den künftigen Staatspräsidenten übergeben, wie
Zeugen berichteten.2* Es tauchte nie wieder auf. Ein im Dezember 1989
aufgefundenes Notizbuch Nicolae Ceauçescus wurde aus den Paria-
mentsarchiven entwendet und blieb seither ebenfalls unauffindbar.«
Die von den neuen Machthabern durchgeführten offiziellen Demar-
chen zur Auffindung der geheimen Ceauçescu-Konten wurden Ende 1992
abgebrochen. Die Arbeit dreier - von der Regierung, dem Senat sowie von
mehreren M inisterien eingesetzten - Kommissionen fü h rte nicht zum
Erfolg, obwohl die von der Regierung beauftragten ausländischen Er-
m ittle r sehr wohl Hinweise auf eventuelle Geheimkonten entdeckt hatten.
Der Vertrag m it dem kanadischen E rm ittlungsbüro wurde von Bukarest
aufgekündigt, weil dieses seine Erkentnisse den Herstellern eines kanadi-
sehen Fernsehfilms über die Ceauçescu-Konten weitergegeben hatte,
nachdem die rumänische Seite die E rm ittlungen tro tz - oder gerade we-
gen - der erzielten Anfangserfolge nicht weiterführen w ollte.26 Die Buka-
rester Führung versuchte, eine fü r Oktober 1991 geplante Ausstrahlung
des Films zu verbieten.
Im Jahre 1995 fand die Parlamentskommission zur Erforschung der
Ereignisse von 1989, nunm ehr geleitet von Valentin Gabrielescu, einem
Vertreter der damals oppositionellen Christdemokratischen Nationalen
Bauernpartei, heraus, daß die kanadischen E rm ittle r zu dem Schluß ge­

2•» Ebda., S. 2 5 -3 7 .
25 C o n turile lu i Ceausescu rãm ân íngropate [Ceauçescus Konten bleiben
begraben], in : A devärul, 3.10.1995.
26 Neac§u, Romeo / Georgescu, D aniela: In tâ m p lã ri ciudate pe traseul
descoperirii c o n tu rilo r lu i Ceausescu [Seltsam e Begebenheiten a u f dem Wege
der versuchten Aufdeckung d e r Konten Ceauçescus], in : T in e re tu i Liber,
30.10.1991.

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Neue Wirtschaftseliten in Rumänien 299

langt waren, Anlage und Transfer von Geldern auf rumänische Geheim-
konten hätten n u r von vier rumänischen Firmen - verdeckt arbeitende
Außenhandelsfirmen der Partei, der Geheimdienste und der Armee -
sowie von der Rumänischen Außenhandelsbank getätigt werden können.
Die rumänische Regierung unter M inisterpräsident Teodor Stolojan hatte
den E rm ittlern die Unterlagen der entsprechenden Firmen m it dem H in-
weis verweigert, es handle sich dabei um Staatsgeheimnisse.27 Fachleute
zweifeln nicht daran, daß die Ceauçescu-Konten längst abgeräumt und
zum Grundstock von Kapitalakkum ulation durch Eingeweihte gemacht
wurden. Die Tatsache, daß der Zugang zu diesen Konten nicht ohne die
Unterstützung von M itwissern aus den Reihen der engsten Ceauçescu-
M itarbeiter erfolgt sein konnte, die Investition dieser Vermögenswerte in
Rumänien aber auch nicht ohne eine Zusammenarbeit m it den neuen
Machthabern getätigt werden konnte, w irft ein Schlaglicht auf die enge
Kooperation zwischen bürokratischen und technokratischen Eliten der
Vor- und Nach-Wende-Zeit.

‫״‬Bereichert euch!“ - Die Privatisierung der Nomenklatura


Wie überall in den Übergangsstaaten Osteuropas bildete die parlamenta-
rische Demokratie den Nebelvorhang, vor dem sich die eigentlich rele-
vante Umwandlung politischen in ökonomisches Kapital vollzog. Um eine
wie auch im m er geartete p rim itive Akkum ulation von Kapital auf den
Weg zu bringen, hatte die Regierung unter Prem ierm inister Petre Roman
die Parole ‫״‬Bereichert euch“ ausgegeben. ‫״‬W ir alle sind der Meinung,“ so
Roman, ‫״‬daß die Menschen in einer Gesellschaft, in der wirtschaftliche

27 V or 1989 w ar S tolojan a b Ceauçescus Vertrauensm ann im F inanzm inisterium


beauftragt m it der F ührung der Devisengeschäfte. Am 29. Dezember 1989
w urde er S tellve rtre ten d e r F inanzm inister in der neuen provisorischen
Regierung, nach den W ahlen z u r Verfassunggebenden Versam m lung vom M ai
1990 Finanzm inLster. Im M ai 1991 übernahm e r die Leitung der staatlichen
P rivatisierungsagentur, nach dem Sturz Petre Romans folgte er ihm a u f dem
S tuhl des P rem ierm inisters. Nach den Parlam entswahlen von 1992 avancierte
der im W esten hochgeschätzte ‫״‬unpolitische Fachmann“ Stolojan a u f einen
leitenden Posten bei d e r W eltbank. E rst anläßlich der Parlam ents- und
Präsidentschaftsw ahlen vom Novem ber 1996 legte Stolojan seine politischen
Präferenzen o ffe n -s ie gelten dem früheren Präsidenten Ion Iliescu. Siehe
hierzu: M eier, V ik to r: M ehr als Iliescus Aushängeschild?, in : F ra n kfu rte r
Allgem eine Zeitung, 18.10.1991.

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300 A. U. Gabanyi

Freiheit herrscht, das Recht haben (oder haben müßten), sich zu berei-
ehem. Aber in jedem zivilisierten Staat müssen jene, die E inkünfte haben,
diese auch an melden und begründen.“28
A u f welchen Wegen wurden die ehemals Mächtigen und Tüchtigen -
die Spitzen von Partei, Sicherheitsdienst und M ilitä r, die leitenden Mana-
ger, Bürokraten und die Experten des alten Regimes - nach der Wende
reich?
Dem A u fru f Petre Romans folgten zuerst die V ertreter der politischen
Eliten der Vor-W ende-Zeit. Sie oder ihre Fam ilienm itglieder hatten vor
1989 tro tz der Androhung hoher Strafen Schwarzgeld angehäuft, das sie
unm ittelbar nach der Wende in eilig gegründete P rivatfirm en einbrach-
ten. Einige dieser Firmen entstanden noch im Dezember 1 9 8 9 -29 Nach
rumänischen Presseberichten befanden sich im September 1994 1.000
von 1.540 Firm en, die über eine M illiarde Lei Gewinn machten, in den
Händen von M itgliedern der ehemaligen kom m unistischen Nomenkla-
tura.3° Ion Dinca, M itglied im Politischen Exekutivkom itee des Zentral-
komitees der untergegangenen RKP, dessen Schwiegersöhne vor 1989
dank der politischen Vorm achtstellung ihres Schwiegervaters einflußrei-
che Positionen im Elektronikbereich eingenommen hatten, verfügte nach
der Wende über Kapital und Kontakte, um P rivatfirm en im Computer-
und Fotokopierbereich zu gründen und in kurzer Zeit ein Vermögen zu
verdienen. Auch M arius Järlea, der Schwiegersohn von Nicolae
Ceauçescus Bruder Ion, vor 1989 M itglied des Staatlichen
Planungskomitees, gründete nach der Wende eine Exportfirm a und m it
dem dam it erwirtschafteten Geld die rumänisch-schweizerische
Columna-Bank.
Es ist das Verdienst des ru manischen Publizisten Andrei Cornea von
der Wochenzeitung 22, auf die Bedeutung eines nach der Wende entstan-
denen Netzwerks von Akteuren aus W irtschaft, P o litik und Verwaltung

28 Echipa de s a crificiu . D in culisele g u ve m ä rii postrevolu^ionare. 5 ianuarie


199° 5‫־‬ fe b ru a rie 1991 [D ie O pferm annschaft. Aus den Kulissen der
nachrevolutionären R egierung]. Bukarest 1992, S.70.
29 §ega, Liana: în democrazia de tip пои averea dã puterea [In der D em okratie
neuen Typs v e rle ih t Besitz M a ch t], in : A zi, 30.6.1995.
3° Popescu, C ristia n T u d o r: PCR&CO., ltd . [RKP und Co., G m b H ], in : A devärul,
17.91994 •

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Neue Wirtschaftseliten in Rumänien 301

hingewiesen zu haben, das er die ‫״‬D irektokratie“ nennt.3» Diese ‫״‬Klasse“


besteht nicht n u r aus den gewöhnlich so genannten ‫״‬roten Direktoren
und Managern“ großer Staatsbetriebe, sie umfaßt auch die Besitzer und
Manager von P rivatfirm en, die m it den großen Staatsfirmen eng ver-
flochten sind, sowie Teile der Bürokratie auf lokaler und auf Landes-
ebene. Aus den vor 1989 bestehenden überdim ensionierten Industrie-
und Handelskomplexen wurden die profitablen Firm enteile herausgelöst
und von den Managern im Zuge der sogenannten MEBO-Privatisierung
oder des Aufkaufs von Privatisierungscoupons in Besitz gebracht.32 Diese
P rivatfirm en - gelegentlich ‫״‬Zeckenfirmen“ genannt - werden bevorzugt
m it Kapital, Rohstoffen und Maschinen zum Nachteil der Staatsbetriebe
versorgt. Im Jahre 1997, so ein Bericht, bereiteten insgesamt 20.789 sol-
cher Firm en dem rumänischen Staat Verluste von über 200 M illiarden
M ark. Die meisten dieser Firmen gibt es in bestimmten Industriezweigen
und bei dem autonomen Regiebetrieb der Telekom m unikation (10.350
Fälle im Jahre 1997), in den Bereichen Handel, Tourism us, Nahrungs-
m ittelindustrie und staatliche Landwirtschaft (6.508 Fälle), im Bauge-
werbe und im Transport auf der Straße (3.931 Fälle).33
Die Strategie der D irektokratie beruht auf der Nutzung der m ateriel-
len, finanziellen und personellen Ressourcen der Staatsbetriebe in priva-
ten Unternehmen, die von der Bürokratie durch günstige Kredite und
Subventionen unterstützt werden. Die Folgen: fortdauernde mangelhafte
Effizienz der Staatsbetriebe, wachsende Defizite der öffentlichen Haus-
halte, die Ausbreitung einer parasitären Form der Privatw irtschaft und
die Förderung der K orruption auf allen Ebenen. Zur Zeit der Regierung
von M inisterpräsident Nicolae Väcäroiu konnte die ‫״‬D irektokratie“ ihre
M achtposition im Staat festigen, wobei sie sich gelegentlich auch der
Unterstützung unfähiger oder korrupter Gewerkschaftsführer bediente.

3' Cornea, A n d re i: Lichidarea directocra^iei [Das Ausm erzen der D ire kto kra tie ],
in : 22 N r. 33 ,19.-2 5 .8 .19 9 7 .
32 P etria, A lexandra: D ire c to rii acapareazä în tre p rin d e rile p rin metoda ‫״‬M EBO“
[D ie D ire kto re n erw erben die U nternehm en nach der M E B O -M ethode], in:
C o tid ia n u l, 11.10.1994, und Schröder, H enriette: Die N om enklatura von einst
sahnt ab, in : Süddeutsche Zeitung, 22.12.1994.
33 C ro ito ru , A dina: în 1997, au ac(ionat in Rom ania 20.789 regele de firm e -
cãpuçà [In R um änien w aren im Jahre 1997 20.798 Zeckenfirm en täüg], in:
Rom ania Liberä, 6.7.1998.

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302 A. U. Gabanyi

Dieses Netzwerk der ‫״‬Direktokraten“ ist an der Beibehaltung der gradu-


ellen Reformstrategie interessiert und widersetzt sich daher der Privati-
sierung und U m strukturierung der Betriebe.
Am Beispiel der Bereicherungsstrategien der Direktoren und
Technokraten aus dem Bereich Außenhandel vor 1989 läßt sich die Um-
wandlung von politischem Kapital, Expertenwissen und Kontakten in
wirtschaftliches Kapital ebenso überzeugend darstellen.34 Diese Personen
waren gut ausgebildet, mehrsprachig, weit gereist und im Umgang m it
westlichen Geschäftspartnern geübt. Da die rumänischen Außenhandels-
firm en in der Regel kein großes Anlagevermögen besaßen, fie l es den füh-
renden Managern und Experten nicht leicht, diese Firmen zu erwerben.
S ilviu Brucan beschreibt die Schritte, m it denen es diesem Personenkreis
gelang, ihre Monopolstellung im Außenhandelsbereich in die neue Zeit
herüberzuretten. Vier Schritte waren dazu notwendig: die Privatisierung
ih re r bisherigen Unternehmen; die Kontaktaufnahme zu rumänischen
Unternehmen, deren Direktoren dafür gewonnen werden mußten, wie
bisher fü r westliche Abnehmer zu produzieren und ihre Erzeugnisse
durch V erm ittlung ihrer früheren V erm ittler zu exportieren; die Kontakt-
aufnahme zu ihren Abnehmern im Westen m it dem Ziel, die vor der
Wende bestehenden Handelsabkommen zu verlängern; und schließlich
die Aufnahme von Beziehungen zu rumänischen und westlichen Banken,
um sie dazu zu bewegen, ihre vor 1989 getätigten Geschäfte bei der Ab-
w icklung dieser Exporte nach der Wende fortzusetzen. Um ihre Exportge-
schäfte abzusichem, kauften die alt-neuen Exportkaufleute Aktien der fü r
sie produzierenden Betriebe auf und drängten in die Aufsichtsräte ihrer
Banken. Aus dem Außenhandelsbereich sind einige der prominentesten
neuen Reichen der Nach-Wende-Zeit hervorgegangen. An ihrem Werde-
gang läßt sich der erreichte Grad der Verflechtung von w irtschaftlicher,
finanzieller und politischer Macht ablesen:
Petre Crięan, vor 1989 D irektor der Firma Romanoexport,
privatisierte 1990 sein Exportuntemehmen und sicherte sich die A ktien-
m ehrheit; daraufhin kaufte er zwei große rumänische Zulieferfirm en und
erwarb die Aktien weiterer 124 solcher Firmen, ln der Regierung Väcäroiu
avancierte er zum Handelsminister;

34 Siehe hierzu Brucan, S ilviu : S tîlp ii n o ii p u te ri [D ie Stützen der neuen M a ch t].


Bukarest 1996, S. 108-114.

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Neue Wirtschaftseliten in Rumänien 303

Virgil Cataramä : arbeitete in den 80er Jahren fü r die Exportfirm a


Tehnoforestexport, die in dem profitablen Sektor rumänischer Mö-
belexporte in westliche Staaten eine Monopolstellung innehatte. Ab 1984
war Cataramä als Exportdirektor fü r das Ostgeschäft bei einer belgischen
Firm a tätig. 1990 gründete er in Rumänien mehrere große M öbel- und
Textiluntem ehm en. Seine Firma Elvila International gehört zu den
umsatzstärksten rumänischen Unternehmen. Cataramä gehört auch der
Liberalen Partei in führender Position an. Im Jahre 1992 war er fü r
wenige Monate Unterstaatssekretär im M inisterium fü r W irtschaft und
Außenhandel;
General Victor Atanasie Stänculescii, einer der Regisseure des Staats-
streichs gegen Nicolae Ceauçescus, leitete seit 1980 die Abteilung
Beschaffung der rumänischen Armee. Bei der Abwicklung der W affen-
geschäfte, die vor der Wende von rumänischen ebenso wie von anderen
osteuropäischen Vertretern über okkulte Kanäle nach Ost und West
getätigt wurden, spielte Stänculescu offenbar auch eine R o lle .3 5 In den
ersten Monaten nach der Wende avancierte der General zunächst zum
Industriem inister, später zum Verteidigungsminister. Nach den Wahlen
vom Mai 1990 übernahm er die Bukarester Vertretung des biritischen
Bali-Konzems und gründete eine Handelsfirma sowie eine Versicherungs-
gesellschaft;
George Constantin Päunescu, in den 80er Jahren Chef der rum äni-
sehen Handelsmission in Mailand und D irektor im Außenhandels-
m inisterium , gründete 1991 zwei große Im port-Export-Firm en.
Gemeinsam m it seinem Bruder Viorel ist George Constantin Päunescu
einer der reichsten Männer Rumäniens. Den Brüdern gehören die
Bukarester Luxushotels Lido und Intercontinental, die Bukarester
Melody-Bar und das Hotel Rex in Mamaia. Seine L u ftflo tte DacAir m it 24
kanadischen Flugzeugen ist inzwischen in Konkurs gegangen;
Dan Voiculescii: vor 1989 M itarbeiter der Exportfirm en Tehnoforst
und V itrocim und in enger Verbindung m it der - von dem Nachrichten-
dienst Securitate gesponserten - zypriotischen Firma Crescent. Nach der
Wende gründete Voiculescu ein Unternehmen fü r Feinmechanik, das

35 Ica, S.R.: Románia ín caracati{a sp ã lã rii d o la rilo r. P roiectul Demavand


[R um änien in den Fängen der Geldwäscher. Das P rojekt Dem avand], in:
Rom ania Liberä, 22.12.1994.

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304 A. U. Gabanyi

bald Umsatzrekorde erzielte. Er ist Besitzer der Zeitung Jum alul


National und des Fernsehsenders Antena 1.
Auch im Bankensektor stammen die (inzwischen zum Teil abgesetz-
ten) Gründer der meisten Privatbanken aus dem Kreis der Direktoren
und Spezialisten des Finanzapparats des alten Regimes. Marcel Ivan, der
Vorsitzende der Creditbanc, war vor der Wende der D irektor einer Filiale
der Landwirtschaftsbank; Ion Sima, der Vorsitzende der Dacia-Felix-
Bank, war bei der Klausenburger Investmentbank tätig; der Leiter von
Bankcoop Alexandru Dinulescu war vorher D irektor der Kreditkasse der
Konsumgesellschaften usw. Ihnen w ird präferentielle Kreditvergabe,
Investitionen zugunsten der Bankvorstände, illegale Finanztransfers,
Bestechung und Geldwäsche vorgeworfen, w om it im Finanzbereich seit
der Wende unvorstellbare Gewinne erzielt w u r d e n .36 N icht selten sollen
derartige Gewinne zur Unterstützung politischer Parteien abgezweigt
worden sein.37 Der Volkswirtschaft, aber auch privaten Anlegern und
Sparern entstanden dadurch hohe Schäden, nicht zuletzt auch fü r die
Geprellten der rund 600 Pyramidenspiele, die in Rumänien nach der
Wende grassierten.38 Bei Transaktionen hatten gelegentlich auch aus dem
westlichen Ausland heimgekehrte Emigranten oder westliche Banken ihre
Hand im unsauberen Spiel.
Die neuen Wendegewinnler tragen ihren Reichtum dem onstrativ zur
Schau. Sie fahren große Wagen (häufig m it Vierradantrieb) und erhalten
Z u tritt zu den zahllosen Bukarester Kasinos. Ih r Statussymbol ist das
H a n d y .39 Der Prototyp des neuen Neureichen ist Ilie Alexandru, Paten-
sohn des ehemaligen Vorsitzenden der Creditbank Marcel Ivan und selbst
M itglied des Aufsichtsrates dieser Bank. Vor 1989 war Alexandru Boxer,

36 Banken und K om m unikation, M inuspunkte fü r Rum änien, in : Allgem eine


Deutsche Z eitung fü r Rum änien, 1.2.1997; Stanca, F io rin a / Raveica, Dan:
A lexa ndru D in u lescu -de la ve n itu l p rin çpagã la v e n itu l in Calea Rahovei
[A le xa n d ru D in u le scu-vom Einkom m en durch Bestechung zu r A n k u n ft beim
U ntersu chungsrichter], in : A zi, 21.2.1997.
37 Geldwäsche m it sta a tlich e r Genehmigung. Die C olum na-Bank so ll m it dem
G eld ih re r Kunden das lin ke Parteienbündnis fin a n zie rt haben, in:
H erm annstädter Zeitung, 8.8.1997.
3® G avrilescu, A l.: Cangrena Caritas [Das C aritas-G eschw ür], in: A devärul,
6.9.1994.
39 K ivu, M ircea: P u rtä to rii de ce lu lar [D ie H andy-T räger], in : D ilem a N r. 229,
13.-19.6.1997.

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Neue Wirtschaftseliten in Rumänien 305

Boxtrainer, Kleingangster und Österreichasylant, bevor er nach Rumä-


nien zurückkehrte und ein W irtschaftsim perium auf Pump gründete. Zu
seinen besten Zeiten besaß er eine Ranch in der Nähe seiner südrum äni-
sehen Heimatstadt Slobozia, wo er eine fünfzig Meter hohe Replik des
Pariser E iffelturm errichten ließ. Zu der Ranch im Dallas-Stil gehörten ein
Schwimmbad, eine Pferdekoppel, in der sich 170 Pferde tum m elten, dazu
eine Straußenfarm, Kamele und sogar ein Lama.•♦0
Wie überall in Ostmitteleuropa sind auch in Rumänien die Grenzen
zwischen den neuen Magnaten und den staatlichen Strukturen auf der
einen, dem organisiertem Verbrechen auf der anderen Seite fließend. In
vielen Bereichen der W irtschaft ist die Eigentumsfrage im Falle der -
im m er noch - staatlichen Betriebe nicht klar definiert. Der Staat ist o ffi-
ziell nicht der Arbeitgeber (‫״‬patron“). Diese Funktion e rfü llt der Staatli-
che Eigentumsfonds (rum . ‫״‬Fondul P roprietàri de Stat“ , kurz FPS), der
jedoch seinerseits der Regierung unterstellt wurde.*1 Aus dem Zusam-
menspiel okkulter, zu einem großen Teil aus den früheren M acht- und
W irtschaftseliten hervorgegangenen Kräfte entstand eine Schattenwirt-
schaft, die dem Staatshaushalt durch Steuerhinterziehung, Zollbetrug,
Korruption, Subventionsschwindel, Schmuggel, Geldwäsche usw große
Verluste einbrachte. Sie werden durch die gesetzgeberische Mängel
ebenso begünstigt wie durch die Schwäche der m it der Bankenaufsicht
und der Kontrolle der Zollbehörden befaßten Institutionen.*2 1995 ent-
standen dem Staatshaushalt infolge der Schattenwirtschaft M inderein-
nahmen von 2 M illiarden US.Dollar. Allein die Steuerhinterziehung
machte 60 Prozent des Staatshaushalts aus. Über das Ausmaß dieser
Parallelwirtschaft gibt es unterschiedliche Angaben. Für das Jahr 1993
hatte das Landesamt fü r Statistik einen W ert von 9 -1 0 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts angegeben. Im gleichen Jahr hatte der D irektor
des Rumänischen Nachrichtendienstes SRI diesen A nteil bei 38 Prozent

40 A devärul, 16.1.1997.
*ł Serbãnescu, Ilie : L u p ii m o ra lis ti p ro fita de absenta unei stra te g ii de
restructurare [D ie W ölfe im Schafspelz p ro fitie re n vom Fehlen einer Strategie
der U m stru ktu rie ru n g ], in : 22 N r. 34, 26.8.-1.9.1997.
*2 Die jä h rlic h e n Berichte der Polizeibehörden lie fe rn d e ta illie rte In fo rm a tio n e n
zu den vie lfä ltig e n Form en der W irtsch a ftskrim in a litä t. Siehe hierzu:
A devärul, 17.1.1997 und 3.3.1997.

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306 A. U. Gabanyi

des BIP festgem acht.« Für das Jahr 1997 sprach Präsident Constantine-
scu von Schattenwirtschaft in Rumänien, entsprechend 3 5 -4 0 Prozent
des Staatshaushalts.** Die Schätzungen hinsichtlich der Zahl der
Schwarzarbeiter, die im Bereich der Schattenwirtschaft tätig sind,
schwanken zwischen 850 000 im Jahre 1995 und 2 M illionen im Jahre
1998. (1998 lag die Zahl der o ffizie ll arbeitslos gemeldeten Personen bei
878.785. )45
Hinzu kommen diverse Mafiabanden, die wie Sekundärparasiten an
den neuen Unternehmen der form ale W irtschaft, vor allem aber der
Schattenwirtschaft hängen. Es gibt eine Erdölm afia, die enge Beziehun-
gen zum alten Nachrichtendienst Securitate und zur neuen Führung zur
Zeit des Präsidenten Ion Iliescu unterhält. Radu T inu, einer er prom i-
nentesten und reichsten V ertreter der Erdölm afia, ist der ehemalige lo-
kale Securitate-Chef der westrumänischen Stadt Temeswar. Nach der
Wende wurde er verhaftet und mußte eine zweijährige Gefängnisstrafe
verbüßen. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis bereicherte er sich
am Erdölschmuggel m it Jugoslawien. Er ist der Leiter einer deutsch-ru-
manischen Import-Export-Firma.■»6
Die Gewerkschaftsmafia - eine spezifisch rumänische Form des or-
ganisierten Verbrechens - erpreßte im Zuge der sogenannten ‫״‬M ineria-
den“ (Aufmärsche der Bergarbeitern in der H auptstadt) P olitiker und
brutalisierte die Bevölkerung. M itglieder von Zigeunermafiagruppen
treiben Schutzgelder ein oder sind als Geldverleiher tätig.7«‫ ־‬Stark vertre-
ten ist in Rumänien auch eine arabische Mafia. Hierzu zählen ehemalige
Studenten aus arabischen Staaten, die vor der Wende, von Ceau§escus
D ritte -W e lt-P o litik bevorzugt, in großer Zahl in Rumänien studierten.

43 A lb u , Lucian: A natom ia econom iei subterane V [D ie A natom ie der


Schattenvvirtschaft V ], in : T rib u n a Econom ica N r. 13, 28.3.1996, S.63.
■»“» A zi, 21.1.1998.
45 Rädulescu, Liana: M unca la n e g ru -o boalã ce tin d e sã devinã epidem ie [D ie
S chw a rzarb eit-eine K rankheit, die chronisch zu w erden b e g in n t], in : Rom ánul
N r. 19, 15.5.1995, und: O lo v itu rã p e n tru a m a to rii de m uncã la negru [E in
Schlag fü r die Liebhaber der S chw arzarbeit], in : A zi, 24.6.1998.
6«‫ ־‬T ra n s itio n , 17.5.1996.
*>‫ י‬Teodorescu, V lad: M afia (igäneascä face legea în pie{ele B u cu re çtiu lu i [D ie
Zigeunerm afia bestim m t die Gesetze a u f den B ukarester M ä rkte n ], in:
A devärul, 30.6.1997.

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N eue Wirtschaftseliten in Rumänien 307

Viele blieben nach der Wende in Rumänien oder kehrten dorthin zurück,
um Firmen zu gründen und schnelle Geschäfte zu machen. Der bekannte-
ste von ihnen ist der aus Syrien stammende Zäher Iskandarani, bereits in
den 70er Jahren in illegale Geschäfte verwickelt und abgeschoben, baute
nach der Wende in mehreren rumänischen Städten zusammen m it arabi-
sehen Geschäftsleuten eine mafiaartige Organisation auf, die sich m it
Zigaretten-, Kaffee- und KFZ-Schmuggel befaßte.

Der Aufbau des Kapitalism us mit ehemaligen Kommunisten


Vertreter der radikalen antikom m unistischen Opposition hatten frühzei-
tig auf die sich anbahnende Umwandlung der früheren Nomenklatura in
die neu entstehende kapitalistische Untemehmerschicht hingewiesen.
‫״‬Diese auch w eiterhin herrschende Klasse,“ so ein Kommentator, ‫״‬welche
über die w irtschaftlichen Hebel verfügt, hat sich ihre eigenen Privilegien
geschaffen. (...) In ih re r Eigenschaft als ‘Besitzer von Kapital’ haben die
Vertreter der Nom enklatura beim Start in die ‘M arktw irtschaft’ die gün-
stigsten Positionen besetzt. (...) es ist der ‘roten A ristokratie’ gelungen,
ihren eigenen Fortbestand zu sichern.“*8
In der am 19. März 1990 verabschiedeten ‫״‬Proklamation von Temes-
war“ hatten oppositionelle Gruppen nicht nur die politische Abstinenz
aller ehemaligen kom m unistischen Funktionäre und Angehörigen der
Nachrichtendienste gefordert, sondern auch die Erfassung ihres Vermö-
gens. Bei den Parteien des Runden Tisches, des sogenannten Provisori-
sehen Rates der Nationalen Einheit (CPUN), fand diese Forderung kein
Gehör. Bei einer Demonstration anläßlich des ersten Jahrestages der
Proklam ation fand ein Redner drastische W orte:
‫״‬Die Justiz hat sich nicht um die Privilegierten der früheren Macht-
haber gekümmert (...) Viele von ihnen sind heute Besitzer bedeutender
priv ater Investitionsprojekte, morgen werden sie die W irtschaftsmagna-
ten Rumäniens sein. M ith ilfe der schmutzigen Korruptionsgelder der
Ceau§escu-Ära entsteht vor unseren Augen ein Bürgertum m it unsichtba-
ren Schulterstücken. Die Speichellecker Ceauçescus von gestern sind die

48 Roman, Torna: C riza mo'ralä $i v iito ru l R om âniei [D ie m oralische Krise und


die Z u ku n ft R um äniens], in : Rom ania L ite ra ra N r. 8, 21.2.1991.

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308 A. U. Gabanyi

Bojaren von morgen.“« Politische Beobachter sehen darin nicht eine


Restauration des Kommunismus, wohl aber der Kom m unisten: ‫״‬W ir
bauen den Kapitalism us m it den ehemaligen Kom m unisten auf,“ schrieb
der liberale P olitiker Nicolae Manolescu.5°
Die neuen Machthaber, so heißt es im m er wieder, hätten der Ö ffent-
lich ke it anfangs das Märchen von der drohenden Rückkehr des
Kommunismus vorgegaukelt, um von der laufenden Kapitalisierung der
Nom enklatura abzulenken. Liberalisierung, Entbürokratisierung, Privati-
sierung - im W indschatten dieser Parolen sei die ‫״‬Ausplünderung des
Staatsvermögens“ zügig vorangetrieben worden. Inzwischen sei dieser
Prozeß im wesentlichen abgeschlossen. Seine K ritik e r würden m it H in-
weisen auf freie M arktw irtschaft, die Verfassung, Demokratie, den
Rechtsstaat, Europa, etc. in die Schranken verwiesen. 5! Es sei das Ziel der
in Rumänien nach 1989 regierenden Parteien gewesen, sich so lange an
der Macht zu halten, bis die Kapitalisierung der Nom enklatura und ihrer
Klientel abgeschlossen war. Diese ‫״‬Komm unisten im Kapitalistenpelz“
bildeten in Rumänien inzwischen eine ‫״‬w irtschaftliche und politische
Oligarchie“ .52
N icht allen Kommentatoren ist hierüber der H um or vergangen. In
einem oligarchischen System dieses Typs sei sogar die Demokratie von
einem oligarchischen Zuschnitt: ‫״‬In der Demokratie vom oligarchischen
Typus küm m ert sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten: Die
Oligarchen um Handel, Industrie und das Regieren, w ir um Streiks,
Proteste und Parabeln. Ihnen bleibt das Geld, uns die Einsicht, daß w ir
den Kapitalism us nicht mehr aufbauen müssen, weil er schon von einer
Handvoll beherzter, geschichtsbewußter Leute aufgebaut worden is t.“53
Früh wurde in der rumänischen Presse auf den mafiosen Charakter
dieser im Entstehen befindlichen ‫״‬neuen neuen Klasse“ hingewiesen:
‫״‬Seit der [kom m unistischen Machtübernahme des Jahres] 1948 war nur

49 Radio Tem eswar, 10.3.1991.


5° In te rv ie w in : Rom ania Liberà, 4.10.1994.
5* Popescu, C ristia n T u do r: PCR&CO., ltd . [RKP und Co., G m bH ], in : A devärul,
17.91994 •
52 A ntonesei, L iv iu : C o m un içtii ín blanã ca p ita lista [D ie K om m unisten im
K ap italiste np e lz], in : 22 N r. 40,5.-11.10.1994.
53 O ctavian, T u d o r: P roclam are cätre popor, in : Rom ania Liberã, 6.4.1995.

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N eue Wirtschaftseliten in Rumänien 309

eine einzige Partei an der Macht. (...) Diese Partei tr itt nicht als Partei auf.
Es handelt sich um eine Gemeinschaft, eine Mafia, ein Netzwerk, eine
verschworene Gesellschaft, ein Netzwerk, das durch gemeinsame Interes-
sen zusammengehalten w ird .“!>4 Als besonders besorgniserregend - aus
der Sicht der antikom m unistischen Opposition, aber auch der Európai-
sehen Institutionen - g ilt die Vernetzung der neuen W irtschaftsmagnaten
m it Teilen der Regierung, des Parlaments, der öffentlichen Verwaltung
und der Justiz .55
Die so entstandene ‫״‬neue neue Klasse“ war jedoch keineswegs mono-
lithisch. Vielm ehr zeigten sich in Rumänien wie auch anderswo in den
Transform ationsländem bald erhebliche Interessengegensätze zwischen
den alten und neuen W irtschaftseliten. Die einflußreichen ‫״‬roten Direkto-
ren“ an der Spitze der überdim ensionierten, ständig vom Zusammen-
bruch bedrohten staatlichen Betriebe und die M inisterialbürokratie
waren prim är an der Beibehaltung des Status quo interessiert. Hingegen
wollen die neuen W irtschaftseliten der früheren Außenhandelsunter-
nehmen, viele Ingenieure und im Betriebsmanagement eingesetzte J u ri-
sten, die gute technische und organisatorische Fähigkeiten m itbrachten,
die Reformen der W irtschaft stärker vorantreiben. Die Interessen der
alten Bürokratie innerhalb der Regierungspartei vertrat die konservative
Fraktion der Front der Nationalen Rettung um Ion Iliescu, die techno-
kratische neue Bourgeoisie scharte sich um Prem ierm inister Petre
Roman.
Die Spannungen führten zur Spaltung der Partei und zum gewaltsa-
men Sturz des Prem ierm inisters im September 1991. Schon im November
1990 hatte eine oppositionelle Tageszeitung den Sturz der Regierung
Roman von der Hand der Direktoren großer W irtschaftsbetriebe voraus-
gesagt.56 Diese Direktoren avancierten danach zu ‫״‬Patriarchen“ der Partei

54 Tänase, Stelian: Cine duce greul [W e r die Last trä g t], in : Acum N r. 13/1991.
55 Cre^u, T ä tä lin : Jocul de interese d in in te rio ru l NATO §i integrarea Rom äniei
[Das Spiel der Interessen in der NATO und die In te g ra tio n R um äniens], in :
Sfera P o litic ii N r. 49/1997, S. 2 9 -3 0 .
56 Pani§, A natolie: D ire c to rii feseniçti doboarä guvem ul Roman [D ie D irektoren
der F ro n t der N ationalen R ettung stürzen die Regierung Rom an], in : Rom ania
Libéra, 24.11.1990.

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310 A. U. Gabanyi

der Sozialen Demokratie Rumäniens von Ion Iliescu.57 Roman und seine
M inister sahen sich denn auch im Rückblick als Opfer der vom alten Re-
gime übernommenen Bürokratenriege. Diese habe nach der Revolution
zwar ängstlich reagiert, sei dann aber bald zum passiven W iderstand und
schließlich zum offenen A u fru h r übergegangen m it dem Ziel, ‫״‬die Reform
zu blockieren und zu zerstören.“^
Bei den Parlamentswahlen vom November 1992 verlor die von der
Front der Nationalen Rettung abgespaltene, auf Ion Iliescu eingeschwo-
rene so genannte Partei der Sozialen Demokratie Rumäniens die abso-
lute M ehrheit. Angesichts w irtschaftlicher Krisensymptome und eines
sinkenden Lebensstandards reagierte die Ö ffentlichkeit auf die zuneh-
menden Einkommensunterschiede und den im m er offener zur Schau
getragenen Luxus der neuen Superreichen m it Ablehnung. Die Presse
enthüllte die Privatisierungspraktiken der Regierung, die zu einer ekla-
tanten Benachteiligung der einfachen Bürger zugunsten der Insider aus
den Kreisen der alten und neuen Eliten führte.59 Die Journalisten be-
mächtigten sich des Themas der Revolutionsgewinnler wie George Päune-
scu, die offen zugaben, das nach dem Sturz Ceauçescus entstandene
Chaos und die Fehler einer ‫״‬inkom petenten Regierung“ ausgenutzt zu
haben.60 In der Ö ffentlichkeit entstand die Einsicht, daß es sich hier nicht
um das Spiel freier M arktkräfte handelte, sondern um K orruption an der
Nahtstelle von staatlichem Eigentum und politischem M onopol. Die
Skandale häuften sich, die Verflechtung zwischen einflußreichen m afio-
sen Gruppen und der Regierung tra t im m er deutlicher zutage. So wurde
Landwirtschaftsm inister loan Oancea, der gesetzliche Maßnahmen zum
Schutz der rumänischen Bauern verfügt hatte, unter dem Druck der
einflußreichen Mafia der Getreideim porteure abgesetzt. Einer dieser
Im porteure, Angelo Miculescu, hatte vor 1989 das Am t des Land-
W irtschaftsministers ausgeübt. Sein Schwiegersohn, Adrian Nästase, ist

57 T in u , D u m itru : Legea de fie r a n o m e n cla tu rii [Das eiserne Gesetz der


N om enklatura], in : A devärul, 15.9.96.
58 Severin, A d ria n : L a crim ile d im in e {» [D ie m orgendlichen T ränen]. Bukarest
1995 . S.22.
59 C ris to iu , Io n : A d e v ä ru l despre p riv a tiz a re [D ie W a h rh e it ü b e r d ie
P riv a tis ie ru n g ], in : Exprès M agazin N r. 33, 2 3 .8 .-3 0 .8 .1 9 9 4 .
60 Ficeac, Bogdan: P ro fito rii [D ie P ro fite u re ], in : Rom ania Liberà, 18.11.1995.

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N eue Wirtschaftseliten in Rumänien 311

stellvertretender Vorsitzender der regierenden Partei der Sozialen


Demokratie Rumäniens.61
Ion Iliescu und seine Partei waren sich der Gefahr, die ihrer p o liti-
sehen M achtstellung von der herrschenden, korruptionsfeindlichen
Stim m ung in der Bevölkerung drohte, sehr wohl bewußt. Im W ahljahr
1996 kamen aus ihren Reihen Wagen über die angeblich 10 000 Per-
sonen, die seit 1996 aufgrund illegaler Praktiken zu Lei-M illardären
geworden seien.62 Um nicht selbst als Schuldige dazustehen, wurden
Inkompetenz und K orruption dem 1991 abgelösten M inisterpräsident
Petre Roman und seinen M inistem zur Last gelegt.
Demgegenüber präsentierte sich Staatspräsident Ion Iliescu als Ehren-
mann, der Steuern zahle und seine Einkünfte offenlege. In einem
Femsehinterview bezeugte er Leuten wie George Päunescu gegenüber
Respekt, weil sie es verstanden hätten, die Schlupflöcher der Gesetz-
gebung zu nutzen und ‫״‬leichte, wenn auch keineswegs illegale“ Gewinne
einzufahren.63 Zugleich schob Iliescus Partei der Sozialen Demokratie
Rwnäniens ihren ehemaligen Parteigenossen um den früheren Premier-
m inister Petre Roman die Schuld an den während der ersten Jahre
gemeinsamer Machtausübung aufgetretenen Korruptionsfälle zu.
Das Ablenkungsmanöver mißlang. Angesichts der Kooptierung zahl-
reicher Direktoren in die Partei der Sozialen Demokratie Rumäniens
hatten die W ähler vielm ehr dieser Partei die Schuld fü r die ausufemde
K orruption im Lande zugewiesen. Daraufhin setzte Iliescus Partei zur
Großoffensive auf einem Gebiet - der Korruptionsbekämpfung - an, das
die Opposition und insbesondere sein Herausforderer Emil Constanti-
nescu von der Demokratischen Konvention Rumäniens in den M itte l-
punkt seiner Wahlaussage gestellt hatten. Doch auch Petre Romans
Demokratische Partei übte K ritik an dem ‫״‬verfassungsfeindichen und
unpopulären Gesetz, das in Kürze zu einer Aufteilung der Gesellschaft in
sehr arme und sehr reiche Menschen führen werde.“6•»

61 In te rvie w m it L a n d w irtsch a ftsm in iste r loan Oancea in : A devärul, 6.8.1994


und: T in u , D u m itru : C abinetul d o i [Das K abinett N r. 2], in : A devärul,
20.8.1994.
62 Süddeutsche Zeitung, 6.3.1996.
63 In te rvie w m it dem Fernsehsender A ntena 1, abgedruckt in: A devärul, 1.2.1996.
6■» A zi, 10.3.1995.

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312 A. U. Gabanyi

Die Führung der Partei der Sońalen Demokratie Rumäniens ver-


sprach, dafür zu sorgen, daß Unternehmer, die auch in der Parteiführung
vertreten waren, sich zwischen ih re r politischen Funktion und ih re r wart-
schaftlichen Position entscheiden müßten .65 Die Regierung von
Prem ierm inister Nicolae Väcäroiu legte dem Parlament einen Gesetzes-
en tw urf vor, der es den höchsten staatlichen W ürdenträgern ebenso wie
den Vertretern der Leitungsgremien in der noch-staatlichen W irtschaft
zur Auflage machte, ihre Vermögensverhältnisse offenzulegen.66 Ein
Gesetzentwurf, der den rumänischen Parlamentariern verbot, den Auf-
sichtsräten von Betrieben und Banken anzugehören, fie l 1995 im Paria-
ment durch. Der Innenm inister verlangte von der Polizei Aufklärung über
den Stand der E rm ittlungen in den zahlreichen großen Korruptionsfällen,
die von der Polizei aufgedeckt worden waren, ohne daß die Schuldigen
bisher vor Gericht gestellt worden wären.67
Die Kampagne konnte die Abwahl der seit 1989 regierenden Macht-
partei und ihres Präsidenten Ion Iliescu nicht verhindern. Gelegentlich
wurde sogar die M einung geäußert, daß die ‫״‬zunehmend gierige und arro-
gante W irtschafts- und Finanzoligarchie“ dies auch nicht gewollt habe:
‫״‬Nachdem der Nationalkom m unism us die Umwandlung der staatlichen
in private Monopole begünstigt hat, ist er nun seinerseits zu einem Brem-
ser der Entw icklung dieser privaten Monopole geworden.“68 In der Tat
waren es nicht zuletzt die privaten elektronischen Medien in den Händen
der neuen Magnaten, die entscheidenden Einfluß auf die Wahlentschei-
dung der Bürger gegen die bisher herrschenden Parteien und Präsident
Ion Iliescu ausübten.

Der K am pf gegen die Korruption - ein K am pf um die Macht


Im W ahlkam pf fü r die Parlamentswahlen vom November 1996 setzten
die oppositionellen bürgerlichen Parteien den Kampf gegen die Korrup-
tio n ganz oben auf die Tagesordnung. In ihrem W ahlprogramm m it dem

65 C o ru pfia - p ia tra legata de p ic io ru l pedeseri$tilor [D ie K o rru p tio n - der M ü h l-


stein am Bein d e r PSDR], in : A devärul, 27.7.1996.
66 M ircea M oldovan in : C u rie ru l Romänesc N r. 7/1996.
67 M ilitā ru , N icolae: Lista lu i T ãrãcilã [Tãrãcilas Liste], in : A devärul, 29.6.1996.
68 A d ria n Severin in einem In te rv ie w m it der Zeitung A zi, 4.1.1996.

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Neue Wirtschaftseliten in Rumänien 313

T ite l ‫״‬Kontrakt m it Rumänien“ hatte die Rumänische Demokratische


Konvention dem Kampf gegen Korruption einen hohen Stellenwert ver-
liehen. M it den Geldern, die dem Staatshaushalt aus der Vernichtung der
Schattenwirtschaft zufließen sollten, wollte das Oppositionsbündnis seine
Wahlversprechen hinsichtlich eines verbesserten Sozialschutzes finan-
zieren.6? Auch Emil Constantinescu, der Präsidentschaftskandidat der
Opposition, nahm sich dieses Themas in besonderer Weise an, war die
überhandnehmende Korruption Meinungsumfragen zufolge doch die
größte Sorge der rumänischen Bürger.70
Zwar hatten die oppositionellen Parteien und ih r Kandidat fü r das
Präsidentenamt, Emil Constantinescu, versichert, im Falle ihres W ahl-
sieges werde es keinen politisch m otivierten Eliten Wechsel, also keine
‫״‬Hexenjagd“ geben. Nach ihrem Wahlsieg wurde Constantinescu und
insbesondere den Politikern der Rumäntechen Demokratischen Konven-
tion jedoch bald klar, daß sie den angesagten Kampf gegen die K orruption
nicht m it den Vertretern des alten Apparats führen konnten. Vertreter der
abgewählten Partei der Sozialen Demokratie Rumäniens reichten beim
Europarat Beschwerde gegen die von der neuen Führung eingeleiteten
‫״‬politischen Säuberungen“ im Bereich der Verwaltung ein. Innenm inister
Gavril Dejeu von der Christdemokratischen Nationalen Bauernpartei
betonte jedoch, ‫״‬die Demokratie kann nicht m it jenen Leuten aufgebaut
werden, die die D iktatur aufgebaut haben; die M arktw irtschaft kann
nicht jenen Leuten aufgebaut werden, die die Kom m andowirtschaft auf-
gebaut haben.“" 1 ‫״‬Die Liquidierung dieser M afia,“ so der Politologe
Stelian Tänase, ‫״‬ist nicht nur eine Sache der Justiz und der M oral, oder
der W irtschaft im engeren Sinne, sondern vor allem der P olitik - und
somit eine Existenzfrage fü r den Prozeß der Demokratisierung der
rumänischen Gesellschaft“ .72
Entsprechend fanden seit Jahresbeginn 1997 in Rumänien umfang-
reiche Umbesetzungen im Bereich der Polizei, der Justiz, der Staats-

6‫י‬ A devärul, 23.9.1996.


70 Rum änischer Präsidentschaftskandidat w ill die K o rru p tio n bekäm pfen, in:
F ra n kfu rte r Allgem eine Zeitung, 24.7.1996.
71 In te rvie w in : E venim entul Z ile i, 29.1.1997.
72 Tänase, Stelian: А те п іЩ а гіІе dezam ägirii [D ie G efahren de r E nttäuschung],
in: Sfera P o litic ii N r. 47 / 1997, S.3.

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314 A. U. Gabanyi

anwaltschaft und der Nachrichtendienste, auf Landesebene wie auf der


Ebene der lokalen Behörden statt. Noch im Januar 1997 wurde auch die
gesamte Leitung des Fonds des Staatseigentums, der Schlüsselbehörde
bei der Privatisierung, ausgetauscht, im Ju n i 1997 folgte der Chef-
kommissar der Finanzgarde.
Präsident Constantinescu rie f einen Nationalen A ktionsrat gegen
K orruption und K rim in a litä t (C onsiliul National de Actiune îm potriva
C oruptiei §i C rim in a litä tii) ins Leben, fü r dessen Tätigkeit er die person-
liche Verantwortung übernahm. Dem A ktionsrat, ein dem Landesrat fü r
Verteidigung untergeordnetes Beratungsorgan, gehören Regierungsver-
treter, hohe Finanzbeamte und die Leiter der Nachrichtendienste an.
Entsprechende Komitees sollten auf Kreisebene eingerichtet werden. In
einem Femsehinterview betonte Constantinescu, der Kam pf gegen die
K orruption sei keine politische Maßnahme, sondern ziele auf die
Stärkung der staatlichen Institutionen und auf die W iederherstellung der
sozialen Gerechtigkeit . 7 3
Zeitgleich m it der Ankündigung dieser Kampagne startete der Präsi-
dent auch internationale A ktivitäten m it dem Ziel, den Kampf seiner
Regierung zur Bekämpfung der K orruption auch international abzu-
sichern. Noch im Januar 1997 brachte Nadia Constantinescu, die G attin
des Staatspräsidenten und selbst Ju ristin , beim Europarat den Vorschlag
fü r eine Rahmenkonvention zum Thema Korruptionsbekäm pfung ein, an
deren Ausarbeitung sie aktiv m itw irkte. Im März 1997 Unterzeichnete
Rumänien Konventionen des Europarats zum Thema Geldwäsche und
Konfiszierung krim in e lle r Güter.™ Im November 1997 forderte Präsident
Constantinescu auf dem Europa-Forum in Berlin zum gemeinsamen
Kampf aller europäischen Staaten gegen K rim in a litä t, Terrorism us, Dro-
gen- und W affenhandel sowie Schmuggel auf.75 A u f der Europakonferenz
der EU in London im März 1998 schlug Präsident Constantinescu die
Gründung eines europäischen Zentrum s fü r Krim inalitätsbekäm pfung in
Bukarest vor.76 Die internationale Kampagne der rumänischen Regierung

73 N achgedruckt in : Rom ania Libéra, 22.I.1997.


7•‫ י‬Le Figaro, 19.3.1997.
75 A llgem eine Deutsche Zeitung fü r R um änien, 11.11.1997.
76 A llgem eine Deutsche Zeitung fü r R um änien, 14.3.1998.

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N eue Wirtschaftseliten in Rumänien 315

war erfolgreich. Lob kam nicht nur vom Missionschef der W eltbank in
Rumänien, Francois E ttori, sondern auch von dem amerikanischen
Kongressabgeordneten Tom Lantos, der erklärte, Unternehm er und
Bankenvertreter der Vereinigten Staaten würden durch die rumänische
Antikorruptionskam pagne zu weiteren Investitionen in diesem Lande
erm untert.77
Die rumänische Presse begrüßte die In itia tive der neuen rumänischen
Führung zur Bekämpfung der K orruption, zugleich wurden aber auch
Befürchtungen laut, ob der Staatspräsident sich dam it auch innerhalb der
eigenen K oalition durchsetzen könne.78 Diese Befürchtung war nicht ganz
unbegründet, schließlich gehörte der Regierungskoalition auch Petre
Romans Demokratische Partei an, die nicht nur von der oppositionellen
Partei der Sozialen Demokratie des ehemaligen Staatspräsidenten Ion
Iliescu, sondern auch von einigen Vertretern der Rumänischen Demo-
kratischen Konvention als die hauptsächlich Verantwortlichen fü r die
Privatisierung der Nom enklatura nach 1989 betrachtet wurde.
Seit seiner Gründung konnte der Aktionsrat bei der Erforschung und
Erfassung der organisierten Verbrechens und der K rim inalität beacht-
liehe Leistungen vorweisen, allen voran ein umfangreiches Weißbuch, das
•»

der Ö ffentlichkeit im J u li 1998 vorgestellt und in der Presse ausführlich


kom m entiert wurde. Darin wurden auch Vorschläge zur besseren Verbre-
chensbekämpfung in Zusammenarbeit m it westlichen Staaten und dem
Europarat unterbreitet.7? In der Praxis gestaltete sich die Bekämpfung der
Korruption jedoch schwieriger als offenbar erhofft. Trotz der zahlreichen
personellen Umbesetzungen setzte sich der passive W iderstand innerhalb
des Apparats gegen diese Maßnahmen fo rt. In den ersten Wochen nach
dem A m tsantritt der neuen Regierung wurden zwar einige der
‫״‬prom inentesten“ W irtschaftskrim inellen, sofern sie sich nicht durch
Flucht ih re r Verhaftung entziehen konnten, in Untersuchungshaft ge-
nommen. Bis August 1997 waren die meisten von ihnen - m it Ausnahme

77 Financial Tim es, 6.4.1997 und M ediafax, 320.1.1997.


78 T in u , D u m itru : în b â rlog u l lu p ilo r [In der H öhle der W ölfe], in : A devärul,
10.1.1997.
79 Azi, 21., 22., 24.7.1998.

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316 A. U. Gabanyi

einiger ‫״‬kleinen Fische“ - wieder auf freiem Fuß.80 Ein Jahr später ging
Staatspräsident Constantinescu in einer Rede selbst auf diese Negativbi-
lanz der rumänischen Justizbehörden ein. Er nannte es ‫״‬unglaublich“ ,
daß 1997 nur sieben große K orruptionsfälle vor Gericht behandelt worden
seien. Es habe nur 314 Verurteilungen fü r Schmiergeldannahme und 113
fü r Amtsmißbrauch in eher marginalen Fällen gegeben.81
Auch in der Koalition kam es deswegen zu Spannungen. Zwar hatte die
Demokratische Partei ihre Unterstützung fü r die A n tikorru ption s-
kampagne zugesagt. Petre Roman behauptete sogar, den Kam pf gegen
K orruption und organisierte K rim in a litä t selbst in itiie rt zu haben.82 Es
war offensichtlich, daß man in der K oalition bereit war, Rücksicht auf
Romans Partei zu nehmen, der Korruptionsvorw ürfe aus der Zeit ih re r
Regierungsbeteiligung zwischen 1990 - und 1991 nachhingen. Die U nter-
suchungen im Falle des Führers der Bergarbeitergewerkschaft, M iron
Cosma, der unm ittelbar nach dem A m tsa n tritt der neuen Führung ver-
haftet wurde, konzentrierten sich ausschließlich auf seine Rolle beim
Sturz der Regierung Roman im September 1991, ließ jedoch die blutigen
Ausschreitungen vom Juni 1990 außer acht, fü r die auch Petre Roman in
••

der Ö ffentlichkeit als m itverantw ortlich g ilt. Präsident Constantinescu


nahm die Demokratische Partei Petre Romans ausdrücklich vor K ritik in
Schutz.83 Hingegen ging das Kontrolldepartem ent der Regierung, an
dessen Spitze ein Repräsentant der Bürgerallianz, Valerian Stan, stand,
bald in die Offensive und setzte das Thema der nach 1989 von der ‫״‬neuen
neuen Klasse“ besetzten V illen aus dem Fundus der V illen des Staats- und
Parteiprotokolls vor der Wende, als deren Nutznießer besonders viele
Vertreter der Demokratischen Partei galten, auf die Tagesordnung. Diese

80 M ilitā ru , N icolae: Când se va ocupoa G uvem ul §i de falim entele in lan { d in


J u s tifia rom àna [W ann w ird sich die Regierung auch m it d e r Pleitenserie in der
rum änischen Ju stiz befassen?], in : A devärul, 16.8.1997.
81 A llgem eine Deutsche Zeitung fü r R um änien, 3.3.1998.
82 Drägotescu, C orina: PD î$i asumā patem itatea cruciadei an t i-со гирЦ іе a lu i
E m il Constantinescu [D ie D em okratische P artei beansprucht die V aterschaft
des Kreuzzugs E m il Constantinescus gegen die K o rru p tio n ], in : A devärul,
10.1.1997, und Petre Roman in : A devärul, 17.2.1997.
83 Rede a u f dem B ilanztreffen des In n e n m in iste riu m s, in : A zi, 21.1.1998.

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N eue Wirtschaftseliten in Rumänien 317

A ktio n löste die erste schwere Koalitionskrise aus. Die Proteste der
Demokratischen Partei führten zur Entlassung Valerian Stans.8•»
Führende V ertreter der Demokratischen Partei brachten dessen-
ungeachtet ihren W iderstand gegen den von Staatspräsident Constanti-
nescu, Prem ierm inister V ictor Ciorbea und einigen M inister der
Bauernpartei eingeleiteten Kam pf gegen die K orruption im m er unver-
hohlener zum Ausdruck. In einem Interview m it der Tageszeitung Eveni-
m entül Zilei, das zu seiner Entlassung als Transportm inister führte, übte
Traian Bäsescu unverhohlen K ritik an dem Präsidenten, dem im Kampf
gegen die K orruption ‫״‬die Pferde durchgegangen“ seien.85 Und Bogdan
Niculescu-Duväz, Vizepräsident der Demokratischen Partei, rügte jüngst
die Vereinnahmung der Verwaltungs- und W irtschaftsstrukturen durch
die Rumänische Demokratische Konvention beziehungsweise durch die
Bauernpartei.**>
Die Presse setzte sich nach dem A m tsantritt der neuen Regierung bald
sehr kritisch m it jenen Parteien und P olitikern auseinander, fü r deren
Wahlsieg sie vor 1996 gekämpft hatte. U nter Iliescu, so hieß es, sei von
K orruption die Rede gewesen, ohne korrupte Personen konkret zu
benennen. U nter Constantinescu gebe es zwar korrupte Personen, doch
behaupte man, die K orruption gestoppt zu haben.87 Der neuen Führung
w ird vorgeworfen, die Strukturen von W irtschaft und Verwaltung nur
deswegen von Vertretern der Vorgängerregierung zu säubern, um ihre
eigenen Leute in lukrative Stellungen zu hieven.88 Präsident Constanti-
nescu wurde vorgeworfen, die wichtigsten Schlüsselpositionen im Staat

8•» A nnem arie W eber: H at die P o litik den Rechtsstaat besiegt? In :


H erm annstädter Zeitung, 5.9.1997.
85 E venim entul Z ile i, 29.12.1997.
86 ‫״‬Tendinea de cederizare sau, m ai bine zis, de pene^ecederizare a s tru c tu rilo r
a d m in istra tive §i economice“ . Siehe hierzu: M unteanu, Andreea: PD acuzä
penejecederizarea s tru c tu rilo r economice [D ie D em okratische P artei rü g t die
V ereinnahm ung der W irtsch a ftsstru ktu re n d urch die B auernpartei], in : A zi,
7.8.1998.
87 Ciobanu, Rodica: S tatui de d re p t in epoca de p ia trä [D e r Rechtsstaat im
S te in ze ita lte r], in : A devärul, 1.5.1998.
88 Kessler, M alte: Schnitzer, die m an sich n ich t leisten d ü rfte , in : Allgem eine
Deutsche Zeitung fü r R um änien, 9.4.1997, und: Popescu, C ristia n T udor:
T a lib a n ii - cutrem ura^i de scärbä [D ie T aliban - von Ekel geschüttelt], in :
A devärul, 6.7.1998.

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318 A . U. Gabanyi
ф

m it Leuten seines eigenen Apparats zu besetzen.89 Aus der Presse kamen


auch Hinweise auf Fehlbesetzungen seitens der neuen Führung sowie auf
K orruptionsfälle, die auch in jenen Parteien der Regierungskoalition auf-
traten, die m it einem hohen moralischen Anspruch angetreten waren.
Inzwischen ist in Rumänien ein offener M achtkam pf zwischen den aus
der alten Nom enklatura hervorgegangenen oligarchischen Strukturen
und der neuen Führung entbrannt. In einer aufsehenerregenden Presse-
konferenz vom September 1997 gestand Präsident Constantinescu: ‫״‬Im
November 1996 haben w ir die Wahlen gewonnen, nicht aber die Macht
errungen. Denn ein großer Teil der W irtschaftsm acht gehörte und gehört
im m er noch weitgehend gewissen mafiosen Interessenstrukturen, die
keinerlei Bezug zum nationalen Interesse haben.“90 Noch deutlicher
wurde der Präsident in einer öffentlichen Erklärung, die er aus Anlaß der
akuten Krise abgab, die zwei Monate später zum R ücktritt von Premier-
m inister V ictor Ciorbea führen sollte:
‫״‬Tatsache ist, daß es in Rumänien Interessengruppen gibt, die
eigentlich keine Reformen wollen oder die Reformen nur zu ihren
eigenen Gunsten wollen. Es gibt Kreise, die von dem Kampf gegen
K orruption, Schattenwirtschaft und gegen mafiose Strukturen in
Alarm bereitschaft versetzt wurden. Es gibt Kreise, die den
Interessen der internationalen Zusammenarbeit Rumäniens
feindlich gegenüberstehen.“9‘
Der Präsident äußerte seine Besorgnis angesichts der zunehmenden Be-
reitschaft dieser Interessengruppen, m ittelbar oder unm ittelbar Gewalt
zur Durchsetzung ih re r Ziele einzusetzen.92 Er sollte bald selbst im Fa-
denkreuz dieser Gewalt stehen. Ende A p ril flog eine brisante Schmuggel-
affare auf dem Flughafen Otopeni auf, die nach Meinung von
Constantinescus Beraterin Zoe Petre das Ziel hatte, den Präsidenten per-

89 M itro i, Rázván / Ionica, Io n M .: Unde au fost §i unde au ajuns oam enii


pre çe d inte lui [W o die Leute des Präsidenten waren und wo sie hingelangt
sin d ], in : A devärul, 17.7.1998.
90 Palade, Rodica: A m câçtigat alegerile, d a r nu am cucerit puterea [W ir haben
die W ahlen gewonnen, n ic h t aber die M a ch t], in: 22 N r. 39, 30.9.-6.10.1997.
Siehe auch: F ra n k fu rte r A llgem eine Zeitung, 26.9.1997.
91 22 N r. 3, 20.-26.1.1998.
92 C astali, L u m in ila : S tru c tu rile m afiote reactioneazä cu violenta [D ie mafiosen
S tru ktu re n reagieren gew altsam ], in : Rom ania Libéra, 5.2.1998.

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Neue Wirtschaftseliten in Rumänien 319

sönlich und seinen Sicherheitsapparat zu diskreditieren .93 In der Tat


wurde die Affare genau zu dem Zeitpunkt aufgedeckt, als die Staatsan-
waltschaft einige der brisantesten anhängigen Korruptionsfälle abge-
schlossen hatte und sich anschickte, die Dossiers an die Gerichte
weiterzuleiten .94
Bleibt abschließend zu fragen, weshalb sich gerade in Rumänien der
Kampf zwischen der alt-neuen Oligarchie und den demokratisch gewähl-
ten, aus der antikom m unistischen Opposition vor 1989 hervorgegange-
nen Strukturen so konfliktreich gestaltet. Eine mögliche A ntw ort könnte
dahin gehend lauten, daß sich in Rumänien die anderswo in Osteuropa
bereits vor der Wende verhandelte Kohabitation zwischen der halblegalen
Schattenwirtschaft und den technokratischen Gegeneliten erst etablieren
konnte. Wieder einmal könnte dam it die azyklische Entwicklung Rumä- «

niens nach 1989 in einem ursächlichen Zusammenhang zu dem Sonder-


weg stehen, den das Land davor genommen hatte.

93 A zi, 6.5.1998. Siehe auch: K ohler, B erthold: D unkle Geschäfte a u f dem


Bukarester Flughafen, in : F ra n k fu rte r Allgem eine Zeitung, 8.5.1998.
94 Popa, C ätälin: О perdea de fu m [E in N ebelvorhang], in : C urentul, 30.4.1998.

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1
Eliten im postsozialistischen Ungarn»

Csilla Machos

1. Einleitung
W ie in öffentlichen Diskursen o ft der Fall, kursierten in der ersten Zeit
nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus auch in Ungarn häufig
diam etral entgegengesetzte Meinungen über das Ausmaß des Elitenaus-
tausches im Transformationsprozeß. Einerseits klagten viele ehemalige
systemoppositionelle P olitiker und ihnen nahe stehende Intellektuelle
über den vollzogenen ‫״‬Systemwechsel ohne Eigenwechsel“ . Das Ausblei-
ben des radikalen Wechsels in der personellen Zusammensetzung von
Verwaltungs-, W irtschafts-, aber auch eines großen Teiles von politischen
Eliten als organische, ‫״‬spontane“ Folge des Transformationsprozesses
führte zu Frustrationen bei vielen ehemaligen, liberal gesinnten Opposi-
tionellen. Sie gerieten o ft in K onflikt m it sich selbst, weil der von ihnen
ersehnte postkommunistische Zustand (die Entfernung der alten Kader
aus den gesellschaftlichen Schlüsselpositionen) entsprechend ih re r Prin-
zipien, unter voller Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit, nicht zu erreichen
schien. Letzteres interessierte einige sich rechts profilierende P olitiker
weniger, die von der ersten frei gewählten, nicht-kom m unistischen
Antall-Regierung nach dem Systemwechsel härtere Maßnahmen bei-
spielweise gegen die ‫״‬Konvertierung der politischen Macht in ökono-
mische duch die ehemalige Nomenklatura“ forderten.
Andererseits griffen viele linke, aber auch einige rechte K ritike r die
neue Regierung aus ganz unterschiedlichen Gründen, doch im m erhin m it
der gemeinsamen Parole ‫״‬Elitenwechsel ohne Systemwechsel“ an und
forderten dabei konsequentere sozio-ökonomische Maßnahmen in die

1 Es sei dankbar verm erkt, daß diese S tudie m it de r U nterstützung der


Alexander von H u m b o ld t-S tiftu n g zustande gekommen ist.

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322 C. Machos

eine oder andere Richtung. Die linken Diskussionsteilnehmer hielten oft


sogar das Ausmaß des stattgefundenen Elitenaustausches zu hoch, und
bewerteten es m it dem Argument, daß dadurch das fachliche Niveau
sinke, als äußerst kontraproduktiv. Man redete in diesem Zusammenhang
in postkommunistischen Kreisen von einem ‫״‬unterbrochenen System-
Wechsel“ . Man nahm dabei an, daß die Europäisierungs- und Kapitalisie-
rungstendenzen, die die letzte sozialistische Regierung noch vor dem
politischen Sytemwechsel in Gang setzte, durch die christlich-konserva-
tive Antall-Regierung verlangsamt und in einigen Bereichen sogar ange-
halten worden wären.
Inzwischen sind, obwohl die Gefechte der politischen Akteure in die-
sen Fragen noch im m er andauem, die sozialwissenschaftlichen Bewer-
tungen allerdings etwas ausgewogener, differenzierter geworden. Anhand
von Ergebnissen der soziologisch und politologisch orientierten Elitenfor-
schung w ird in diesem Beitrag folgenden Fragen nachgegangen:
1. Inwieweit konnte sich die staatssozialistische Nomenklatura Un-
gams während der Systemtransformation reproduzieren bzw. in
welchem Ausmaß und durch welche Mechanismen kam es zur per-
sonellen Erneuerung der Elite?
2. Welches waren die Besonderheiten des Wandels der politischen
Elite? Welche neuen Selektionsmechanismen der Elitenauslese
etablierten sich in diesem Bereich und durch welche Politikertypen
w ird er dom iniert?
Abschließend folgen einige Bemerkungen zur Frage des Standes der
Konsolidierung der neuen politischen Elite und der Vertrauenskrise der
Bevölkerung ih r gegenüber.

2. Reproduktion oder/und Zirkulation der Elite?


Die charakteristischen Sichtweisen der politischen Diskussionen spiegel-
ten sich auch in den Sozialwissenschaften wider. Während das Denkmu-
ster ‫״‬Systemwechsel ohne Eigenwechsel“ sein sozialwissenschaftliches
«•

Äquivalent in der These der einfachen Elitenreproduktion während des


Transformationsprozesses findet, reflektiert die These der Elitenzirkula-
tio n die Erwartung eines vollzogenen deutlichen Elitenwechsels bzw.
einer relevanten Veränderung der E litenstruktur im Laufe der Transition.

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Eliten im postsozialistischen Ungarn 323

Die ‫״‬klassische“ Reproduktionsthese wurde das erste Mal Ende der


80er Jahre durch Elemér Hankiss unter dem Eindruck der spontanen
Privatisierung form ulie rt. Sie beinhaltet, daß in dem Transform ations-
prozeß durch aktives M itw irken der einstigen Nomenklatura ein
‫״‬politischer Kapitalismus“ entsteht, indem das ehemalige politische
Establishment sein politisches Am t dafür nutzt, sich Privateigentum an-
zueigenen. So gehe das Großbürgertum aus der einstigen Nomenklatura
hervor bzw. bilde m it anderen Teilen der entsehenden Kapitalistenklasse
eine ‫״‬große K oalition“ . Hankiss nahm dabei stillschweigend an, daß die
entscheidende Kapitalform in dieser Periode das soziale Kapital darstellt.
(Hankiss 1989 a,b)
Im Laufe der darauffolgenden Untersuchungen rückte bei der E rfor-
schung der Reproduktionsbedingungen die Frage in den Vordergrund,
wie mitgebrachte ‫״‬alte“ in neue Aufstiegsgüter transferiert werden bzw.
wie die wichtigsten Kapitalformen (ökonomisches, kulturelles und sozia-
les Kapital (Bourdieu 1983)) so ineinander zu konvertieren sind, daß ih r
Besitz fü r die gegebenen Personen auch im neuen System eine Eliteposi-
tio n garantiert.2 Dabei brach man nach und nach auch m it der These der
absoluten P riorität des sozialen Kapitals.
Es verstärkten sich intensive Überlegungen zu der in der Tradition von
Pareto stehenden Zirkulationsthese, nachdem es infolge der System-
wechsel-Wahlen in vielen osteuropäischen Ländern zu relevanten Verän-

2 Iván Szelényi und Szonja Szelényi schlugen in einer früheren P ub lika tion vor,
den B e g riff ‫״‬soziales K ap ital“ bezüglich des Staatssozialism us durch den
Term inus ‫״‬politische G üter“ zu ersetzen. (Szelényi/Szelényi 1991, S.9) Die
‫״‬politischen G üter“ konstruierten in dieser Zeit wegen der absoluten P rio ritä t
der P o litik im Sozialsystem in der T at im wesentlichen die E lite n s tru k tu r.
Trotzdem erscheint es uns sin n vo lle r, diese K a p ita lfo rm als T e il eines b re ite re n
sozialen Beziehungsgeflechtes (des sozialen K apitals) sowohl bezüglich des
Staatssozialism us als auch anderer m oderner Gesellschaften aufzufassen. Eis
gab näm lich auch schon in der Z eit des Realsozialism us eine Reihe von
w ichtigen sozialen Kontakten, die n ich t p rim ä r p o litisch d e te rm in ie rt w aren
und eine relevante R olle bei der R eproduktion des E litestatus spielten.
Inzw ischen benutzen auch Szelényis wie viele andere Sozialw issenschaftler
sowohl bezüglich der post- als auch der staatssozialistischen V erhältnisse
neben dem B e g riff ‫״‬soziales K ap ital“ o ft auch den T erm inus ‫״‬politisches
K ap ital“ . Das werden w ir auch tun, wobei w ir den ersteren B e g riff dann
verwenden werden, wenn w ir dabei das allgem eine soziale Beziehungssystem
des gegebenen In d ivid u u m s m einen und den zweiten dann, wenn w ir seine
p rim ä r p o litisch determ inierten Kontakte betonen w ollen.

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324 C. Machos

derungen in der personellen Zusammensetzung der Parlamente kam und


dies auch zum weiteren Elitenwandel in anderen Segmenten der Elite
führte. In diesem Zusammenhang wurde die Frage gestellt, inwieweit
diese Prozesse in der politischen Elite andere (Verwaltungs-, W irtschafts-
und ku ltu re lle ) Eliten betreffen, welche Selektionsmechanismen dabei
eine Rolle spielen und wie dauerhaft sie sind.
Inzwischen zeigen die Befunde vieler Untersuchungen, daß weder die
Reproduktions- noch die Zirkulationsthese auf die alleinige Erklärung des
vollzogenen Elitenwandels prätendieren kann. So auch die Ergebnisse des
u.a. durch Iván Szelényi geleiteten, unserer Kenntnis nach bisher größten
länderübergreifenden soziologischen Forschungsprojektes zum Thema
‫״‬Soziale Schichtung in Osteuropa nach 1989“ (im weiteren: ‫״‬Szelényi-
Projekt“), auf die w ir in der folgenden Analyse in erster Linie zurückgrei-
fen können. In dieser, im Herbst 1993 beendeten vergleichenden
Untersuchung analysierten europäische und amerikanische Soziologen
die sozialen Umstrukturierungsprozesse in Rußland und in fü n f ost- bzw.
mitteleuropäischen Ländern (Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Polen und
Slowakei). Die Ergebnisse des Forschungsprojektes zu drei der unter-
suchten Länder (Polen, Rußland und Ungarn) wurden in der Sonder-
num m er von ‫״‬Theory and Society“ vom Oktober 1995 veröffentlicht.3 Der
Zeitraum der Untersuchung (1988-1993) engt die Verallgemeinbarkeit
der Ergebnisse naturgemäß ein. Deshalb werden die Befunde dieser Un-
tersuchung an einigen Stellen durch Ergebnisse anderer, aktuellerer Stu-
dien ergänzt.
Die allgemeine Logik des Elitenwandels scheint am ehesten dem Pro-
zeß zu entsprechen, den die ungarische Soziologin, Erzsébet Szalai, in der
Diskussion um die These der ‫״‬großen Koalition“ von Elemér Hankiss
prognostizierte. (Szalai 1989) Sie wandte sich gegen diese Auffassung,
weil sie - nach ih re r Meinung - die Nomenklatura als einheitliches Sub-
je k t auffasse. Sie ging hingegen davon aus, daß die spätsozialistische Elite
sehr differenziert gewesen sei. Sie unterschied dabei zwei wesentliche
Gruppierungen innerhalb der Machtelite: die ‫״‬bürokratische Fraktion“
(ältere, weniger qualifizierte ‫״‬systemtreue Kommunisten“) und die ‫״‬neue

3 Siehe: Böröcz/Róna-Tas 1995; E yal/Tow nsley 1995; F odor/W nuk-


L ip iń s k i/Yershova 1995; Szelényi/Szelényi 1995; Szelényi/Szelényi/Kovách
1995•

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Eliten im postsozialistischen Ungarn 325

Technokratie“ (jüngere, gebildetere Personen, die ihren Glauben an den


Sozialismus - ‫״‬wenn sie überhaupt je einen hatten“ - verloren und unter
Umständen zur radikalen Umgestaltung des Institutionensystem s bereit
waren). Die Angehörigen dieser ‫״‬Fraktionen“ besäßen unterschiedliche
Fähigkeiten und Ressourcen, ih r Schicksal im und nach dem Um bruchs-
prozeß zu ihren Gunsten m it Erfolg zu gestalten: Die V ertreter der
‫״‬bürokratischen Fraktion“ seien in einem stärkeren Maße zum Verlust
ih re r Positionen prädestiniert als die ‫״‬neuen Technokraten“ , denen es
öfter gelänge, ihren Status zu behalten oder sogar ihre Lage zu verbes-
sem.
Diejenigen Angehörigen der 88er Nomenklatura, die ihren Elitestatus
in Ungarn auch im Jahre 1993 behalten konnten (das waren 29,2% der
88er ökonomischen, 21,9% der politischen und 9% der kulturellen Elite),
waren - nach den Befunden des Szelényi-Projektes - überwiegend
Personen, die neben ihrem sozialen Kapital auch über kulturelles Kapital
verfügten und zur technokratischen Fraktion der alten Führung zählten.
(Szelényi/Szelényi 1995, S.623, 627-629) Nach den Ergebnissen einer
von Tamás Kolosi und M atild Sági durchgeführten Analyse konnte man
ca. ein Viertel der von ihnen untersuchten sog. ‫״‬redistributiven E lite“■♦aus
der Zeit vor dem Systemwechsel im Jahr 1995 in einem solchem Status
wiederfinden. Für den Statuserhalt reichte aber das ‫״‬positionelle“ Kapital
der betreffenden Personen nicht aus. Wenn diese Ressource jedoch m it
kulturellem Kapital verbunden war, war die alte E lite in ihre einstigen
Positionen gewissermaßen ‫״‬einbetoniert“ . (Kolosi/Sági 1996, S.169-170)
Eine besondere Gruppe, deren Vertreter es im neuen System
(besonders in der Privatw irtschaft) o ft ‫״‬geschafft“ haben, bilden die

* U nter ‫״‬re d is trib u tiv e r Sphäre“ verstehen die A utoren - im E inklag m it den
soziologischen A rbeiten von Kolosi in den 8 0er Jahren - die Sphäre der
gesellschaftlichen P roduktion, die n ich t dem M a rk tp rin z ip u n te rlie g t und die
im Staatssozialism us praktisch dem b re it in te rp re tie rte n ‫״‬staatlichen
U m verteilungssektor“ gleichzusetzen w ar. Die Verw endung de r B egriffe
‫״‬re d is trib u tiv e E lite “ und ‫״‬M a rkte lite “ im entsprechenden Sinne b e h ie lt in
bestim m ter H in sich t auch heute noch ih re n heuristischen W ert. V iele
staatliche Betriebe fo rdern z.B. von ih re n M anagern auch heute noch andere
Fähigkeiten bzw. E instellungen als die P riva tw irtsch a ft. Deshalb kom m t es
nich t selten v o r - wie die U ntersuchungen der A uto ren zeigen - , daß einige
ehemalige L e ite r der re d istrib u tive n Sphäre, die sich in d e r P riva tw irtsch a ft
versuchen, aber sich d o rt n ich t etablieren können, nach einiger Z eit w ieder in
die ‫״‬R e d istrib u tio n “ zurückkehren.

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326 C. Machos

Funktionäre des ehemaligen kommunistischen Jugendverbandes


(Kom m unista Ifjúsági Szövetség), die teilweise zur alten politischen, aber
o ft ‫״‬n u r“ zur damaligen Sub-Elite zählten.
Ein anderer Teil der alten Nomenklatura war allerdings in der neuen
Situation nicht in der Lage, seine Elitepositionen zu behalten und ist in
dieser H insicht durch eine ‫״‬A bw ärts-M obilität“ zu charakterisieren. Das
betraf nicht nur die kom prom ittierte politische Spitzenelite. Im m erhin
gehörten dazu 1993 in Ungarn ca. 80% der alten Nomenklatura.
(Szelényi/Szelényi 1995, S. 623) Das waren in erster Linie diejenigen Per-
sonen, die überwiegend über soziales Kapital verfügten.
Auch die 1995er ungarische Eliten-Studie von Kolosi und Sági lieferte
Argumente gegen die einstmals vorherrschende Hypothese der ‫״‬Großen
K oalition“ . Die Autoren bemerken in diesem Zusammenhang sarkastisch:
Es könne zwar sein, daß die Betreffenden dachten, daß sie ihre politischen
Beziehungen in ökonomisches Kapital ‫״‬konvertieren“ könnten, aber es ist
wenigen gelungen. (Kolosi/Sági 1996, S.170) (In einem Interview schätzte
Kolosi die Rolle der politischen ‫״‬M achtkonvertierung“ bei der Etablierung
einer wirtschaftlichen Eliteposition ungefähr so groß ein wie die der Aus-
landsbeziehungen, über die die aus der Emigration zurückgekehrten A lt-
bzw. Neukapitalisten am stärksten verfügten.(Kolosi 1997, S.52))
Nach Angaben von Kolosi und Sági versuchte ca. ein Viertel der alten
redistributiven Elite, M arktaktivitäten zu entfalten, aber nur etwa die
H älfte davon war verhältnismäßig dauerhaft. Ein großer Teil derjenigen,
die durch ‫״‬Selbstprivatisierung“ der staatlichen Betriebe auch in der
Privatw irtschaft ihren Status hielten, konnte nur kurze Zeit in dieser
Position bleiben. Um dem Statusverlust in den gegebenen Unternehmen
zu entgehen, gingen diese Personen o ft in andere Leitungspositionen in
die redistributive Sphäre zurück oder gründeten gelegentlich kleinere
privatw irtschaftliche Unternehmen. (Kolosi/Sági 1996, S.169-173)
Diese Personen erlebten also überwiegend keinen großen sozialen
Abstieg. Unter denen, die sich im Jahre 1993 in Nicht-Elite-Postionen
befanden, waren in Ungarn nur 15,7% in solchen Stellen beschäftigt, wo
sie über keine untergeordneten M itarbeiter verfügten. Ein bedeutender
Teil von ihnen ging außerdem m it H ilfe der sich schon im Staatssozialis-
mus bewährten, alten ‫״‬Fluchttechnik“ in die Rente. In Ungarn waren es
im Jahre 1993 32,8% der im Szelényi-Projekt untersuchten ,88er Ge-

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Eliten im postsozialistischen Ungarn 327

Samtnomenklatura. (Szelényi/Szelényi 1995, S. 622-623) Viele von ihnen


wurden vorzeitig pensioniert. Von den durch Kolosi und Sági in Ungarn
1995 untersuchten ehemaligen Angehörigen der Nomenklatura gingen
sogar 18% unter 55 Jahren in Rente. (Kolosi/Sági 1996, S. 171)
Im Zusammenhang m it der Frage der ,A bw ärts-M obilität“ einiger im
Staatssozialismus gut positionierter Personen lenkten Kolosi und Sági die
Aufm erksam keit auf ein weiteres, sehr lehrreiches Phänomen. Viele Ver-
tre te r der spätsozialistischen ‫״‬M arktelite“ konnten ihren Elitestatus unter
den neuen Verhältnissen nicht reproduzieren. M ehr als die Hälfte der von
ihnen untersuchten Personen verlor nach dem Systemwechsel ihren E li-
testatus. Dieses Phänomen kann dam it erklärt werden, daß im Staats-
Sozialismus die Teilnahme am Marktgeschehen (was im wesentlichen die
sog. ‫״‬zweite W irtschaft“ bzw. ihre durch die Parteiführung nach beliebi-
gen Kriterien legalisierten Segmente bedeutete) eng m it der Logik der
R edistribution verbunden war und andere Kenntnisse und Fähigkeiten
erforderte, als die nach dem Systemwechsel institutionalisierte M arkt-
W irtschaft. (Kolosi/Sági 1996, S.154-155, 167) Ähnlich wie die Angehöri-
gen der ‫״‬bürokratischen Fraktion“ der Nomenklatura durch ih r soziales
Kapital allein nicht ‫״‬gerettet“ werden konnten, konnte den ‫״‬Helden“ der
‫״‬zweiten W irtschaft“ durch ih r in den letzten Jahren des Spätsozialismus
eventuell erworbenes ökonomisches Kapital nicht in Elitepositionen
‫״‬hinübergeholfen“ werden, wenn sie nicht über fü r die Orientierung unter
den neuen Verhältnissen aktualisierbares kulturelles Kapital (Kenntnisse,
Hintergrundwissen und Wertesystem) verfügten.
Nach der Untersuchung der Stellung der Vertreter der alten Elite im
neuen System ergibt sich die Frage, woher diejenigen Angehörigen der
neuen Elite kamen, die vorher nicht zur Nomenklatura gehörten. Das
waren in Ungarn - nach den Ergebnissen des Szelényi-Projektes - im -
m erhin 68,3% der 193er Gesamtelite. 47,5% von ihnen gehörten 1988 zur
Gruppe der ‫״‬m ittleren Leiter“ . Ih r Anteil übersteigt deutlich den Anteil
sowohl der alten Nomenklatura (32,7%) als auch der ‫״‬newcomers“
(19,8%). (Szelényi/Szelényi 1995, S. 623)5 Seltener war - wie erwartet -

5 Einige Unterschiede zwischen den Angaben über den E litenstatus der


Angehörigen der 1988er N om enklatura im Ja h r 1993 und den sozialen Status
der 1993er E lite im Ja h r 1988 erklären sich d a m it, daß die 1993er E lite in
absoluter Zahl größer ist als es die 8 8er N om enklatura w ar. In dem neuen

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328 C. Machos

der Aufstieg der m ittleren Leiter innerhalb der politischen Elite. Er cha-
rakterisierte allerdings stark die W irtschaftseliten (54,7% dieser Elite
kamen 1993 aus den Reihen der 1988 noch ‫״‬m ittleren Leiter“) und war
auch in der kulturellen Elite bedeutend (47,4%). (Szelényi/Szelényi 1995,
S. 628-629)
In der Sphäre der W irtschaft war diese Tendenz nicht nur in den
‫״‬redistributiven“ , staatlichen Betrieben so deutlich, sondern auch im
Privatsektor, wo viele aus den ‫״‬second ranks o f enterprise management“
während des Privatisierungsprozesses oder kurz danach in Schlüsselposi-
tionen gelangten. (Kolosi/Sági 1996, S.172) (Böröcz/Róna-Tas 1995, S.
777) Wegen dieses relevant hohen Anteils der ehemaligen m ittleren Leiter
in der neuen Elite wurde der ungarische Transformationsprozeß durch
Tamás Kolosi treffend als ‫״‬Revolution der stellvertretenden Abteilungs-
leiter“ bezeichnet. In der Situation, als eine Reihe von zuvor exponierten
Leitern ihre Positionen verlor, entstand ein Machtvakuum, was durch die
Angehörigen der bisherigen Sub-Elite, die meistens jünger und gebildeter
waren als ihre bisherigen Vorgesetzten (Lengyel 1992, S.205), o ft m it
Erfolg genutzt worden ist. Dieser Prozeß bedeutete also auch einen deut-
liehen und ‫״‬beschleunigten Generationswechsel“ . (Kolosi/Sági 1996,
S.153) Dabei deuten einige Zeichen darauf hin, daß sich die Intergenera-
tionsm obilität der neuen Elite verlangsamt. So stellte z.B. György Lengyel
fest, daß 1990 ca. die Hälfte der ökonomischen Elite von einem Vater m it
Beruf eines Arbeiters und 68% von einer M utter m it Grundschulbildung
abstammte, während ih r Anteil innerhalb der 93er Elite 35 bzw. 37%
betrug. (Lengyel 1995, S.316)
Die E litenzirkulation war in Ungarn im Vergleich zu anderen osteu-
ropäischen Ländern relativ hoch. Dabei war nicht nur beispielsweise fü r
Rußland eine deutlich höhere Elitenreproduktion charakteristisch, son-
dem überraschenderweise auch fü r Polen. Im ersteren konnten 81,8% der
88er ökonomischen, 67,7% der politischen und 49,4% der kulturellen
Elite bis 1993 ihren Elitestatus behalten, während im zweiten das auf
56,6% der 88er ökonomischen, 27,5% der politischen und 43,9% der
kulturellen Elite zutraf. (Szelényi/Szelényi 1995, S. 623, 627-629;
Fodor/W nuk-Lipinski/Yershova 1995, S.799) Eine höhere Elitenzirkula-

gesellschaftlichen System sind - besonders in der (P riva t)W irtsch a ft - m ehr


E litepositionen als vorher entstanden. (Szelényi/Szelényi 1995, S.625)

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Eliten im postsozialistischen Ungarn 329

tio n in Ungarn kann man im Vergleich zu einigen anderen ehemaligen


staatssozialistischen Ländern wie auch zu Rußland m it dem Argum ent
begründen, daß sich in Ungarn wegen seines Vorsprungs in der Entw ick-
lung der M arktw irtschaft zum Zeitpunkt der Untersuchung die m arkt-
w irtschaftlichen Kriterien der Elitenselektion schon stärker auswirkten.
Außerdem war in der Sowjetunion nur eine sehr schwache antistaatsso-
zialistische Opposition vorhanden, was die hohe Elitenreproduktion in
Rußland auch begünstigte. Hingegen war der Stand von ökonomischen
Reformen in Polen als einstigem Reformland des Staatssozialismus dem
ungarischen sehr ähnlich. Außerdem stand in Polen während des p o liti-
sehen Transitionsprozesses eine viel stärkere Opposition der Staatspartei
gegenüber. Deshalb konnte man vermuten, daß die M itglieder der ehe-
maligen Nomenklatura in einem stärkeren Maße von ihren Posten ver-
drängt worden wären als das in Ungarn der Fall w a r.6
Die erste polnische nicht-kom m unistische Regierung unter Mazo-
wiecki war aber ausgehend von ihren liberalen Wertpräferenzen weniger
bereit, alte Kader aus der ökonomischen und kulturellen Elite m it admi-
nistrativen Maßnahmen zu entfernen, wie das in Ungarn unter der christ-
lich-konservativen Regierung von József A ntall der Fall war. (Szelényi/
Szelényi/Kovách 1995, S.715) Das Ausmaß der Elitenreproduktion bzw.
-Zirkulation kann also nicht nur durch die staatssozialistische
Vergangenheit dieser Länder, sondern nur unter Einbeziehung der kon-
kreten Besonderheiten der P olitik nach dem Systemwechsel erklärt
werden.

6 Die re la tiv starke E lite n z irk u la tio n in U ngarn w ar auch deswegen über-
raschend, w eil Sozialwissenschaftler bezüglich dieses Landes o ft davon
berichteten, daß sich d o rt schon in den 8 0er Jahren in der staatlichen
A d m in istra tio n und inn erhalb der Leitung der W irtsch a ft ein ra d ika le r
E litenw andel vollzog. W ährend in den 70er Jahren n u r 9,3% der Regierungs-
und ökonom ischen E lite ausgewechselt w urden, hatte das Maß der
Erneuerung in den 8 0er Jahren - noch vo r dem Systemwechsel - 70%
überschritten. (Gazsó 1993, S .16-26)

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33° C. Machos

3. Politische Elite: postsozialistische Selektionsm echanism en und


Politikertypen
Die personelle Erneuerung der politischen Elite war nach den Ergebnis-
sen des Szelényi-Projekts im Vergleich zum Personalwechsel innerhalb
der ökonomischen und kulturellen Elite am deutlichsten. (Szelényi/
Szelényi 1995, S. 629) 30,4% der 93er politischen Elite gehörten zu der
1988er Nomenklatura, 26,1% zu den damaligen ‫״‬m ittleren Leitern“ und
4 3 ,5 % waren ‫״‬newcomer“ . Der A nteil der letzteren war in der politischen
Elite im Vergleich zum kulturellen und ökonomischen Bereich am
größten: ungefähr doppelt so hoch wie in der kulturellen Elite und ca.
\ie rm a l höher als in der W irtschaftselite. Die politische Sphäre war die
einzige, deren Elite im Jahre 1993 weder durch ehemalige (alte)
‫״‬Stellvertreter“ noch durch Angehörige der alten Nomenklatura dom i-
niert wurde.
Die innerhalb der politischen Elite im Vergleich zu anderen Sphären
stärkste E litenzirkulation wurde in erster Linie durch eine der wichtigsten
Basisinstitutionen von modernen Demokratien, durch ‫״‬freie Parlaments-
wählen“ hervorgerufen. Sie fanden in Ungarn im Frühjahr 1990 statt. Der
Sieger der Wahl wurde das christlich-konservative Ungarische Demokra-
tische Forum (UDF) (24,73% der Stimmen; 42,7% der Mandate), das m it
zwei kleineren Parteien, Unabhängige Kleinlandw irtepartei (UKLWP)
(11,73%; 11 ,4 %) und Christlich-Dem okratische Volkspartei (CDVP)
(6,46%;.5,4%), die Regierungskoalition bildete. A u f die Oppositionsseite
gelangten die zwei liberalen Parteien, Bund Freier Demokraten (BFD)
(21,39%; 23,6%) und Bund Junger Demokraten (BJD) (8,95%; 5,4%) und
der Nachfolger der ehemaligen Staatspartei, die Ungarische Sozialistische
Partei (USP) (10,89%; 8,5%). Diese Parlamentswahlen führten also zur
Abwahl der Regierung der seit Jahrzehnten regierenden Staatspartei. Die
darauffolgenden Veränderungen brachten eine Reihe von unbekannten
P olitikern in Elitepositionen. Auch in der ‫״‬Nachfolgepartei“ erschienen
viele neue Gesichter.
Die ‫״‬newcomer“ der P olitik kamen hauptsächlich aus den Reihen der
intellektuellen Elite des Staatssozialismus, oder verfügten zumindest über
bedeutendes kulturelles Kapital. Die herausragende Rolle des letzteren
konnte sowohl beim Statuserhalt der alten Elite als auch beim Aufstieg

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Eliten im postsozialistischen Ungarn 331

der ‫״‬S tellvertreter“ sowie bei der Etablierung der spätsozialistischen


‫״‬M arktelite“ unter den neuen Verhältnissen festgestellt werden.
Die besondere Bedeutung des kulturellen Kapitals erklärt sich aus h i-
storischen Traditionen Ost- und M itteleuropas und aus dem besonderen
‫״‬teleologischen“ Charakter der staatssozialistischen Modernisierung.7 Es
spielte außerdem in der Determ inierung der sozialen Ungleichheitstruk-
tu r dieses Systems eine viel größere Rolle, als das in den kapitalistischen
Gesellschaften der Fall ist. Das folgte u.a. aus der Unm öglichkeit der Ak-
kum ulation ökonomischen Kapitals. Für viele bürgerliche Familien war
die ku ltu re lle die einzige Kapitalform , die auch w eiterhin ‫״‬vererbt“ wer-
den konnte. (Kolosi/Sági 1996, S.168; Utasi 1996) Es wurde nach Mög-
lich ke it m ehrdimensional, gleichzeitig in seinen a) inkorporierten
(verinnerlichten), b) in kulturellen Gütern objektivierten und c) in wis-
senschaftlichen T iteln institutionalisierten (Bourdieu 1983) Formen ak-
kum uliert. Zu diesem Kapital gehörte auch ein breites Netz von sozialen
Kontakten innerhalb des ‫״‬Standes“ des während des Staatssozialismus
anonymen Bildungsbürgertum s. Ih r spezifisches soziales und kulturelles
Kapital ‫״‬betonierte“ die gegebenen Intellektuellen in ihre Positionen
‫״‬doppelt“ ein bzw. erm öglichte ihnen gute Aufstiegschancen während und
besonders nach dem Realsozialismus. (Kolosi/Sági 1996, S.169)
Von den bildungspolitischen Erfolgen des staatssozialistischen Sy-
stems profitierten auch breite Schichten der Bevölkerung. Für sie ent-
standen o ft das erste Mal in der Geschichte dieser Länder
Aufstiegschancen durch Bildung. Das kulturelle Kapital dieser Intellektu-
eilen der ersten Generation war aber nicht im gleichen Maße mehrdimen-
sional und nicht m it einem solch breiten Netz von sozialen Kontakten
verbunden, wie das des anonymen staatssozialistischen Bildungsbürger-

7 Die Besitzer des k u ltu re lle n K apitals, die In te lle ktu e lle n , spielten in den
osteuropäischen Gesellschaften tra d itio n e ll eine herausgehobene Rolle. (M an
denke z.B. an die besonderen F unktionen des B ildungsbürgertum s in den
w idersprüchlichen Verbürgerlichungsprozessen dieser Länder, an die
V o rre ite rro lle der H um anin telligenz in den national-dem okratischen
Bewegungen dieser lü n d e r im X IX . und A nfang des X X . Jahrhunderts.) Selbst
die ‫״‬sozialistische R evolution“ (was ih re K onzipierung anbelangt) w ar
größtenteils Sache der sozialistisch gesinnten In te lle ktu e lle n , die sich die
ö topie einer bewußten, zielgerichteten (staatssozialistischen) M odernisierung,
die die zivilisa to risch e F u n ktio n des M arktes durch andere gesellschaftliche
M echanism en ersetzen kann, zu eigen m achten.

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332 C. Machos

turns. Das häufige Engagement der neuen Intelligenz innerhalb der be-
stehenden staatssozialistischen politischen Strukturen diente auch der
Kompensation dieser Situation: Die Vertreter dieser Gruppe nutzten
überwiegend m it Erfolg das erworbene politisch-positionelle Kapital als
Aufstiegsstütze. Eine Reihe dieser Intellektuellen hat sich aber im Laufe
der Zeit von doktrinären Ideologen des Regimes zu Technokraten oder zu
‫״‬Reform intellektuellen“ gewandelt. Letztere entwickelten in der Spät-
phase des Staatssozialismus den Programmen der ‫״‬Demokratischen Op-
position“ weitgehend ähnliche politische Konzepte zur grundlegenden
Reform des bestehenden gesellschaftlichen Systems.
Viele Vertreter des Bildungsbürgertums, die sich außerhalb ih re r
fachspezifischen Tätigkeit in irgendeiner Form auch politisch-sozial
(meistens in der ‫״‬Demokratischen O pposition“) engagierten, wurden als
‫״‬teleologische“ oder ‫״‬empirische Revisionisten“ in die M arginalität ge-
drängt. (Konrád/Szelényi 1981, S.375) Letztere unterstützten im Spätso-
zialismus den Anspruch der Technokraten, ihre Macht auf Kosten des
‫״‬herrschenden Standes“ (genauer gesagt, der doktrinären ‫״‬bürokra-
tischen Fraktion“ des Partei- und Staatsapparats) auszudehnen und sind
praktisch zu ‫״‬Ideologen“ der Technokratie geworden. (Konrád/Szelényi
1981, S.379) Die ‫״‬teleologischen Revisionisten“ trugen zur geistigen
Vorbereitung der Systemtransformation wesentlich bei, indem sie
Geschichtsdiskussionen über die antistalinistischen, antistaatssoziali-
stischen Traditionen in itiie rte n und moralisch-philosophische Gégénkön-
zepte zum ‫״‬real existierenden“ System entwarfen. M it diesen stellten sie
die Legitim ität des aktuellen Regimes nach und nach in Frage.
Währenddessen sind sie (und unter ihnen überproportional viele Reprä-
sentanten des Bildungsbürgertums) zu einer ernst zu nehmenden poli-
tisch-kulturellen Gegenmacht des alten Systems geworden. Dabei stellten
sie - trotz aller programm atisch-konzeptioneller Ähnlichkeiten - eine
emstzunehmende Konkurrenz fü r die durch Intellektuelle der ersten
Generation dom inierte ‫״‬neue Technokratie“ und ‫״‬Reform intelligenz“ dar.
Auch soziale Unterschiede anderer A rt aus der Zeit vor dem Staatsso-
zialismus wurden während der Systemtransformation Ende der 80er
Jahre wiederbelebt. Sie wurden durch fam iliäre Sozialisation der gegebe-
nen P olitiker ‫״‬vererbt“ . Es gibt z.B. zwei parlamentarische Parteien (die
Unabhängige Kleinlandwirtepartei und die Ungarische Sozialistische

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Eliten im postsozialistischen Ungarn 333

Partei), unter deren in den Parteiführungen tätigen Politikern (im Zeit-


raum von der Entstehung der Partei Ende der 80er Jahre bis 1997) nur
eine M inderheit (ca. 20%) aus intellektuellen Familien stammte. Wäh-
renddessen dom inierten in den anderen vier Parteien zu etwa 70% P o liti-
ker aus ‫״‬gebildeten Elternhäusern“ .8 Bei ca. 50% der P olitiker der
UKLWP war mindestens ein E ltem teil (natürlicherweise meistens der
Vater) Klein- oder m ittle re r Bauer. Im Zusammenhang m it ihm wurde in
den Autobiografien meistens auch die Größe des Landbesitzes der Familie
genau angegebenen. (Der eigentliche Anteil der aus ‫״‬Kleinlandw irte“ -
Fam ilien stammenden P olitiker dieser Partei ist m it großer W ahrschein-
lich ke it deutlich höher, weil verm utlich auch viele andere Eltern -
M ütter, deren Beruf als ‫״‬Hausfrau“ angegeben wurde oder Väter m it Be-
rufen wie Handwerker, Ju rist oder Beamte - vor dem Staatssozialsmus
über Bodenbesitz verfügten, was aber in den gegebenen Autobiografien
aus unterschiedlichen Gründen keine Erwähnung fand. In dieser H insicht
ist es bestim m t kein Zufall, daß 87% der P olitiker dieser Partei in der
Provinz geboren wurden - eine im Vergleich zu anderen Parteien sehr
hohe Zahl.) In den meisten Lebensläufen dieser P olitiker w ird das unter
dem Staatssozialismus erlittene Unrecht, die Enteignung des Grundbe-
sitzes der Fam ilie nach dem Zweiten W eltkrieg, beklagt.
Demgegenüber w ird in den Autobiografien der M itglieder des USP-
Präsidiums hauptsächlich der soziale Aufstieg betont. Wenn auch ihre
Eltern intellektuelle Berufe ausübten, handelte es sich um die tra d itio n e ll
unteren Positionen der Intelligenz (z.B. Lehrer in Grundschulen). In die-
sem Zusammenhang wurde in den Lebensläufen mehrmals darauf hinge­

8 Die folgenden Angaben sind erste Ergebnisse einer laufenden


Forschungsarbeit der A u to rin , in der Entw icklungstendenzen der Führungen
de r ungarischen parlam entarischen Parteien seit ih re r Entstehung bis 1997
untersucht und dabei auch einige soziologische M erkm ale ih re r M itg lie d e r
verglichen w erden. H auptquellen der U ntersuchung waren die in den
H andbüchern des ungarischen Parlam ents und der Budapester
Abgeordnetenversam m lung (Kiss 1992; Kiss 1996; A Fővárosi... 1994) und in
anderen le x ik a ve rö ffe n tlich te n Lebensläufe der P o litik e r der Parteien bzw.
die a u f s c h riftlic h e A nfrage der A u to rin zugesandten A utobiografien der
Personen, über die in keinem anderen Handbuch Angaben gefunden werden
konnten. (D ie M ehrzahl d e r Biografien - außer den in Lexika gefundenen
lx:bensläufen e in ig e r der bekanntesten P o litik e r - trugen autobiografischen
C harakter, w e il die parlam entarischen H andbücher p rim ä r a u f der G rundlage
der Eigenangaben der Abgeordneten angefertigt w orden sind.)

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334 C. Machos

wiesen, daß der gegebene E ltem teil Intellektueller der ersten Generation
war (z.B. als sog. ‫״‬A rbeiterdirektor“ , dem es erst in den 50er Jahren mög-
lieh wurde, ein Hochschulstudium zu absolvieren.) Auch im Falle der
Zugehörigkeit der Eltern zu anderen sozialen Schichten konnte festge-
stellt werden, daß sie o ft zu den untersten Schichten der jeweiligen sozia-
len Gruppen gehörten. Das tr ifft sowohl auf die Gruppe der Angestellten
zu, als auch auf die Handwerker, die meistens nicht selbständig tätig wa-
ren; das gleiche g ilt auch fü r die in der Landwirtschaft Beschäftigten. In
letzteren Fällen fand in Lebensläufen der Status eines Elternteiles als
,A grarproletarier“ besonders häufig Erwähnung. Bezeichnend ist in die-
sem Zusammenhang, daß mehrmals auch die Bezeichnung des Berufs der
M utter als ‫״‬Dienstmädchen“ zu finden war. Diese fre iw illig gewählte
Form ulierung - man hätte ‫״‬eleganter“ auch ‫״‬Angestellte“ schreiben kön-
nen - deutet auf diesbezügliche Sensibilität und die bewußte Wahmeh-
mung des eigenen sozialen Aufstiegs hin. Im Zusammenhang m it der
Berufsangabe der Eltern wurde aber in keinem Fall angeführt, daß diese
Besitzer von bedeutendem Privateigentum gewesen und demzufolge nach
dem Zweiten W eltkrieg enteignet worden wären. Diese Umstände prägten
die Interessenlage der gegebenen Politiker nach dem System Wechsel
deutlich m it, und bestimmten ih r Verhältnis z.B. zu den verschiedenen
Privatisierungs- bzw. Eigentumsformen.
Die Untersuchung der fam iliären Sozialisation spielt fü r das Ver-
ständnis der W ertpräferenzen von einzelnen Politikern bzw. auch der
programmatischen Prioritäten von ganzen Parteien eine um so größere
Rolle, weil die dominierenden Politikergruppen des neuen Systems an-
hand einer Reihe von soziologischen Merkmalen (wie Ausbildungsgrad,
Berufsstruktur usw.) durch eine weitgehende Homogenität zu charakteri-
sieren sind. Es konnte z.B. in den Führungsgremien aller parlamentari-
sehen Parteien die Dominanz einiger Berufe (Juristen, Ökonomen und
Sozialwissenschaftler) und ein deutliches Übergewicht der Intellektuellen
generell festgestellt werden.
Das rü h rt daher, daß die Intellektuellen in der Systemtransformation
eine überproportionale Bedeutung hatten.9 Sie waren - entsprechend der

9 Die ersten P arlam entarier der neuen osteuropäischen Dem okratien wiesen
viele Ä h n lich ke ite n m it den ‫״‬H onoratioren“ der westlichen bürgerlichen
E ntw icklung a u f - sie hatten Berufe der ‫״‬geistigen A risto kra tie “ : ‫״‬G eistliche,

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Eliten im postsozialistischen Ungarn 335

Traditionen der klassischen Revolutionen - sinn- und orientierungsge-


bend auch fü r den ungarischen System Wechsel. Ihre Massen m obilisie-
rungskapazität war aber im Unterschied zu dem klassischen M uster sehr
beschränkt. Die Massen m obilisierten sich nu r punktuell, meistens fü r
kurze Zeit und aus den vereinzelten Massenprotesten entstanden keine
großen Massenbewegungen, die neue soziale Schichten der Bevölkerung
in die politische Elite hätten bringen können. Die relevanten Systemver-
änderungen blieben im wesentlichen durch die intellektuelle E lite10 und
durch einen Teil der spätsozialistischen Machtelite dom iniert.
Die Vertreter dieser neuen/alten politischen Elite verfügen über ein
unterschiedliches Maß an politischer Erfahrung, die sie während diverser
gesellschaftlicher Tätigkeiten gesammelt haben. Die dabei erworbene
Erfahrungswelt prägt ihre Wertpräferenzen und ih r Verhältnis zur p o liti-
sehen Tätigkeit im besonderen Ausmaß. In diesem Zusammenhang kön-
nen - außer den ehemaligen Vertretern der spätsozialistischen M achtelite
- folgende Poitikertypen unterschieden werden:
a) ‫״‬A ltp o litik e r“ : P olitiker der Zeit vor der Etablierung des Staatsso-
zialismus, insbesondere während des demokratischen Aufbruchs zwi-

I>ehrer, Professoren, Advokaten, Ä rzte...“ (W eber 1984, S.34) und w aren zum
Z e itp u n kt der W ahl w irk lic h die angesehensten B ürger in ih re m W ahlbezirk.
Konrad und Szelényi sehen in der Dom inanz des Systemwechsels du rch
In te lle ktu e lle sogar die Bestätigung ih re r noch am A nfang d e r 70er Jahre
fo rm u lie rte n , bekanntesten These über ‫״‬die In te llig e n z“ , die sich ‫״‬a u f dem
Weg zu r Klassenmacht“ befindet. Die In te lle ktu e lle n (als V e rte re r ein e r A rt
‫״‬B ildungsbürgertum s“ ) sind infolge der osteuropäischen Um bruchsprozesse -
zwar un te r anderen Um ständen als erw artet - fü r eine Übergangszeit, fü r die
Zeit zwischen dem Niedergang der K ader-E lite und de r F orm ierung der
Bourgeoisie, zur ‫״‬P o lito kra tie “ der Gesellschaft geworden. Nach d e r E rfü llu n g
ih re r diesbezüglichen historischen Aufgabe (d e r Schaffung de r
Voraussetzungen fü r die H erausbildung des B esitzbürgertum s) w ürden sie
sich von der P o litik verabschieden und in ih re F orschungsinstitute,
U niversitäten zurückgehen. D am it w ürden sie zu ih re r eigentlichen F u n ktio n ,
zur R olle einer ‫״‬M ediokratie“ (zu r Form ung einer gebildeten öffentlichen
M einung) zurückkehren, die sie auch im Prozeß d e r A ufhebung des
Parteistaates erfolgreich ausübten. (S zelényi/K onrad 1992, S .9 -2 8 )
10 Der politische Transform ationsprozeß w ar n ich t einfach d u rch In te lle ktu e lle ,
sondern durch männliche In te lle ktu e lle d o m in ie rt. D er A n te il d e r Frauen in
der politischen E lite is t sehr gering. So w aren von den
Parlam entsabgeordneten nach den 1990er W ahlen 7,3%, nach den W ahlen von
1994 11,196 Frauen. (A g h /K u rtá n 1995, S.18).

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336 C. Machos

sehen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der stalinistischen


Gleichschaltung 1948/49;
b) ‫״‬A ltoppositionelle“ : Teilnehm er der ‫״‬klassischen“ antista linisti-
sehen, dem okratisch-sozialistisch orientierten Bewegungen (in Ungarn
insbesondere der Revolution von 1956); Oppositionelle, die seit den 70er
Jahren z.B. in der A rbeit der sog. ‫״‬Demokratischen O pposition“ tätig
waren;
c) ‫״‬Neuoppositionelle“ : Personen, die sich in der Systemopposition
erst ab Ende der 80er Jahre engagierten;
d) ‫״‬Experten“ : Sie waren bis zum Ende des Staatssozialismus meistens
in Forschungsinstituten, Universitäten tätig und erfreuten sich auf ihrem
Spezialgebiet gewisser Bekanntheit. Sie ‫״‬überlebten“ den Realsozialismus
ohne besonderes politisches Engagement, gehörten auch nicht zur
Systemopposition und erst zu bestimmten Ereignissen des System-
Wechsels (z.B. zu den ‫״‬Runde-Tisch-Gesprächen) wurden sie - meistens
dank ih re r persönlichen Bekanntschaft zu dominanten Persönlichkeiten
der zuerst genannten drei Gruppen - als juristische, ökonomische usw.
Berater der oppositonellen Seite ‫״‬herangeholt“ . Einige von ihnen erlang-
ten während dieser Tätigkeit solche Bekanntheit, daß sie sich der späteren
politischen Verantwortung nicht entziehen konnten. Zu dieser Gruppe
gehören auch Personen, die nach den ersten freien Wahlen ohne irgend-
welche vorherige politische oder oppositionelle Tätigkeit auf Einladung
der neuen Regierungsparteien aus dem Expertenstatus sofort in höhere
politische Positionen gelangten. Ih r P o litikstil stieß o ft auf die Sympathie
der sich weniger nach revolutionärer Rethorik, sondern nach Berechen-
barkeit und Sachverstand sehnenden Wähler, demzufolge ein großer Teil
der ‫״‬Experten“ auch w eiterhin in der P olitik blieb.
Demgegenüber gelang während des Systemwechsels vielen ‫״‬A ltp o liti-
kern“ der ‫״‬historischen Parteien“ die Rückkehr nicht. Eine Reihe von
ihnen war näm lich durch das ihnen während der stalinistischen Gleich-
Schaltung des politischen Systems geschehene Unrecht derart traum ati-
siert, daß sie auch die K onflikte der 90er Jahre nur durch das Prisma der
K o n fliktstru ktu r der 40er Jahre sehen konnten. Ihre Verhaltensweisen,
politische Sprache, Geschichtsbilder und historischen V orbilder erwiesen
sich als weit entfernt von den M entalitäten großer Teile der Bevölkerung,
was das relativ schlechte Abschneiden dieser Parteien bei den

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Eliten im postsozialistischen Ungarn 337

Parlaments- und Kommunalwahlen 1990 verursachte, entgegen den


aufgrund ih re r historischen Traditionen erwarteten Ergebnissen. Die
Etablierung der UKLWP seit 1992 als stärkste unter den vielen, durch
rivalisierende ‫״‬A ltp o litik e r“ geleiteten Kleinlandw irteparteien und ih r
anschließender Popularitätsanstieg begann auch erst unter der Leitung
von József Torgyán, des vom juristischem ‫״‬Experten“ der Partei nach dem
Systemwechsel in der Partei aufgestiegenen, ambitiösen nationalistischen
Populisten.
In dieser ersten kurzen ‫״‬in stitutionsfreie n“ Zeit des System Wechsels,
als die alten Mechanismen der Elitenauslese nicht m ehr funktionierten,
neue aber noch nicht entstanden waren, gelangten oppositionelle Netz-
werke und intellektuelle Subkulturen in der Rekrutierung der neuen
politischen E lite zu entscheidender Bedeutung. (Róna-Tas 1991, S. 3 6 3 -
374) Die politische Rolle der Emigranten blieb dabei überraschenderweise
im Gegensatz zu den Erwartungen relativ gering, was verm utlich dadurch
zu erklären ist, daß die ‫״‬Väter“ fü r ein politisches Engagement schon zu
alt und die ‫״‬Söhne“ in den gegebenen westlichen Ländern schon so ver-
wurzelt waren, daß sie nicht mehr zurückkehrten oder allenfalls ein
‫״‬Doppelleben“ begannen und sich meistens in der W irtschaft engagierten.
Andererseits entwickelte sich in den letzten Jahren der ungarischen
‫״‬weichen D ikta tu r“ eine relativ starke ‫״‬heimische“ oppositionelle Gegen-
elite, die 1989/90 auch nicht sehr intensiv darum bem üht war, Emigran-
ten als politische Konkurrenten ‫״‬nach Hause“ zu holen.
Neben den Parteien der Systemopposition hatte auch die Nachfolge-
partei, die USP, ihre eigenen ‫״‬Neuoppositionellen“ : die radikalen Refor-
mer innerhalb der Staatspartei, die am Ende 1988 die sog. ‫״‬Reformkreis-
Bewegung“ ins Leben riefen. (Sipos 1996) Außerdem konnte sie nach dem
Systemwechsel viele ‫״‬Experten“ und auch einige ,A ltoppositionelle“ fü r
sich gewinnen. Innerhalb der Parteielite der USP im Zeitraum von 1989-
1997 gehörten 21,8% der P olitiker zu denen, die Spitzenfunktionäre im
Staatsozialismus waren, also im engeren Sinne des W ortes zur politischen
Elite des alten Systems gehörten; 29,9% der neuen Parteielite waren
Funktionäre auf der m ittleren Ebene (gehörten gewissermaßen zu den
‫״‬Stellvertretern“ im Partei- und Staatsapparat). 34,5% waren ‫״‬Experten“ ,
also Personen m it fachlich orientierter Karriere ohne Unterbrechung (die
vorher nicht einm al ‫״‬Stellvertreterpositionen“ bekleideten, also nicht zu

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338 C. Machos

der Sub-Elite gehörten) und 10,3% hatten ‫״‬unterbrochene“ fachliche


und/oder politische Karrieren hinter sich. Unter den letzteren befanden
sich einige ,Altoppositionelle“ des Volksaufstandes von 1956. (Machos
1997, S.73)
Bei der Formierung des Wertesystems und politischen Stils der Poli-
tik e r spielt ihre Generationszugehörigkeit auch eine wichtige Rolle. Zu
einer politischen Generation zählen (den Gedanken von Karl Mannheim
folgend) Personen, die die gleichen politischen Ereignisse im gleichen, fü r
ihre politische Sozialisation wichtigsten jungen A lter erlebten. Sie verfü-
gen durch ihre sozialisationsprägende Grunderfahrung über eine ähnliche
O ptik, durch die sie die W elt sehen, auch wenn sie zu verschiedenen Par-
teien gehören und das Gesehene im Endeffekt anders interpretieren. In
der ersten Zeit nach dem Systemwechsel waren sogar ganze Parteien
durch Angehörige der einen oder der anderen politischen Generation m it
ihren spezifischen M entalitäten und Verhaltensweisen dom iniert. Diese
Parteien konnten bei den 1990er Parlamentswahlen auch in der Tendenz
W ähler m it derselben politischen Sozialisation ansprechen.
Zu dieser Zeit konnten die folgenden relevanten politischen Genera-
tionen unterschieden werden: 1. die Generation der Horthy-Ära, die in
der Zeit der kommunistischen Machtübernahme schon über ein relativ
ausgeprägtes W eltbild verfügte (repräsentiert durch die ‫״‬historischen
Parteien“ , die während der Transition wiederbelebten Parteien aus der
Zeit vor dem Staatssozialismus - UKLWP und CDVP); 2. die zwischen
1930 und dem Ende des Zweiten Weltkrieges geborene Generation, die
ihre grundlegende politische Sozialisation während der Rákosi-Zeit be-
kam (vertreten hauptsächlich in der Ungarischen Sozialistischen Arbei-
terpartei -USAP11 und in der USP); 3. die nach dem zweiten W eltkrieg
geborene Generation, die in der frühen und klassischen Kádár-Zeit sozia-
lisie rt worden ist (sie bildete meistens den Kern des BFD und UDF), 4. die

11 Sie ist die staatssozialistisch-konservative N achfolgepartei der gleichnam igen


ehem aligen Staatspartei. Nachdem im O ktober 1989 a u f dem X IV . Parteitag
der USAP die Staatspartei aufgelöst und die USP gegründet w orden war,
separierten sich einige konservative K räfte und verkündeten die w eitere
Existenz der Partei. Die USAP nahm an den Parlam entswahlen 1990 te il,
schaffte aber den Sprung ins Parlam ent nicht, w urde jedoch die zahlenmäßig
stärkste außerparlam entarische Partei. Sie benannte sich im A p ril 1993 in
A rb e ite rp a rte i um.

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Eliten im postsozialistischen Ungarn 339

nach 1956 geborene Generation, die ‫״‬Enkelkinder von Kádár“ , die ihre
ersten politischen Erfahrungen in der späten Kádár-Zeit sammelten. Ihre
Generationspartei stellte der BJD (entstanden im März 1988 ursprünglich
als alternative Jugendorganisation) dar. (Róna-Tas 1992, S. 609) Ihre
P olitiker widerspiegelten die typischen Charakterzüge ih re r Generation:
Fachwissen und Erfolg an der Spitze ihrer W ertehierarchie, Streben nach
persönlicher Souveränität, spontaner Liberalismus m it wenig sozialer
Sensibilität, yuppie-ähnliche Züge, rationale Abneigung gegenüber ideo-
logischen Debatten, Pragmatismus. (Machos 1993)
M ittlerw eile haben sich die politischen Generationen sowohl in der
politischen Elite als auch in den Sympathisantenkreisen der verschiende-
nen Parteien vermischt. Der Generationsfaktor spielt zwar in den Menta-
litäten, Verhaltensweisen der Kerne der Parteien im m m erhin noch eine
gewisse Rolle, allerdings ähneln sich Sprache und Argumentationsweise
von Politikern einer politischen Generation parteiübergreifend o ft stär-
ker, als die verschiedener Generationen innerhalb einer Partei.
Polikertypen, die in Ungarn seit dem Systemwechsel eine relevante
Rolle spielen, können außerdem nach der spezifischen Politikauffasssung
der gegebenen P olitiker wie folgt unterschieden werden:
a) P olitiker der ‫״‬historischen Vision“ (‫״‬politician of historical visions“
(Agh 1996b, S. 47)): Für ihn ist P olitik das Feld fü r die Verw irklichung
von großen Idealen, die in der Geschichte seines Landes tie f verwurzelt
sind. Seine Hauptvision ist meistens die Europäisierung des Vaterlandes,
begleitet von einer historischen Argumentation nach dem Schema: ‫״‬W ir
gehörten schon im m er zu Europa.“ Dementsprechend ist Tradition fü r
ihn von außerordentlichem W ert. Seine politischen Vorbilder stammen
häufig aus den älteren Zeiten der nationalen Geschichte oder zumindest
aus der Zeit vor dem Zweiten W eltkrieg. In der K ontinuität des nationalen
Erbes findet er etwas m it rationalen Kategorien nicht Faßbares, M ysti-
sches. (Es ist kein Zufall, daß ein sehr charakteristischer Repräsentant
dieses Typus, der UD F-Politiker und ungarische M inisterpräsident 1990-
93, József Antall (Bod 1996), z.B. kaum eine Rede hielt, in der er nicht
über die 1000‫״‬-jährige nationale M ythologie“ der Ungarn gesprochen
hätte.) M it gewisser M oderne-kritischer A ttitüde bemängelt er das Fehlen
der ‫״‬richtigen“ Erziehung der Jugend, die er sich durch verstärkte staatli-
che Aufsicht über die Medien und das Bildungswesen vorstellt. W eil er all

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34° C. Machos

seine Kräfte auf die Verw irklichung der großen Ideale konzentriert, findet
er Kompromisse eher lästig, obwohl er sich entsprechend den elitende-
mokratischen Traditionen des Landes in der Kam arillenpoltik sehr gut
auskennt. Er scheut vor Extremen zurück. Wegen seines deutlich spürba-
ren Elitism us hat er o ft Kommunikationsschwierigkeiten m it breiten
Schichten der Bevölkerung. Er beschäftigt sich häufig mehr m it den aus
der Vergangenheit herrührenden Problemen (z.B. m it der ‫״‬Schaffung
einer historischen Gerechtigkeit“ , m it der Rückgabe des Kirchenbesitzes),
als m it den konkreten Problemen des ‫״‬heutigen Tages“ . Am wohlsten
fü h lt er sich unter den Vertretern der gebildeten M ittelschichten.
b) Populististischer Politiker: Für ihn ist P olitik in erster Linie Ver-
tretung von Interessen des ‫״‬Volkes“ , die durch die Betroffenen oft (noch)
gar nicht a rtiku lie rt, aber durch den Populisten als ‫״‬Auserwählten“ recht-
zeitig erkannt werden . In dieser Gruppe von Politikern kann man fo l-
gende Untert>pen unterscheiden:
b i) traditioneller Populist: In seiner Auffassung w ird das Volk in erster
Linie durch die Bauern (und/oder andere Kleinproduzenten) gebildet,
deren durch die kapitalistische Entwicklung bedrohte traditionelle
Gemeinschaft fü r ihn das ideale Gemeinwesen bedeutet. Er fü h lt sich m it
ihnen besonders verbunden wegen ihres tie f verwurzelten Nationalge-
fühls. Sein Gesellschaftsideal ist der Sozialismus oder Kapitalismus der
Kleinproduzenten. Er gedenkt, das Volk durch direkten staatlichen Inter-
ventionismus und sozialen Protektionismus zu schützen. Seine Kapita-
lism uskritik paart sich in einigen Fällen auch m it Antisemitismus. Dieser
P olitikertyp hat tiefes Mißtrauen gegenüber der parlamentarischen De-
mokratie, westliche Institutionen erscheinen ihm oft als der Volksseele
fremd. Parteien gegenüber verhält er sich besonders skeptisch. Ih r
Hauptübel sieht er darin, daß sie die Einheit des Volkes spalten. Aufgrund
seiner Kapitalism uskritik verwickelt er sich oft in emotionsgeladene,
‫״‬Kulturkam pf“-ähnliche Streitigkeiten vor allem m it liberalen Politikern.
Kompromisse betrachtet er o ft als Verrat und neigt dazu, alles Schlechte
in der Gesellschaft durch Veschwörung von Kommunisten und Liberalen
zu erklären. (Man könnte als Beispiel fü r diesen Politikertyp István
Csurka, den ehemaligen ‫״‬Gründungsvater“ und stellvertretenden V orsit-
zenden des Ungarischen Demokratischen Forums nennen. Er leitet seit

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Eliten im postsozialistischen Ungarn 341

1993 die nationalistisch-rechtspopulistische Partei der Ungarischen


W ahrheit und des Ungarischen Lebens.)
b2) postmoderner Populist: Er ähnelt seinen westeuropäischen
‫״‬Kollegen“ in politischen Inhalten, Politikstrategien, S til stärker, als die
Traditionspopulisten. József Torgyán, der ambitiöse Budapester Rechts-
anwalt, Vorsitzender der Unabhängigen Kleinlandwirtepartei, wurde in
diesem Zusammenhang in der Literatur treffend als ‫״‬Haider in Ungarn“
bezeichnet. (Kovács 1996, S.182) Dieser Typ von P olitiker hat keine be-
sondere Zielgruppe, er wendet sich an alle, die m it dem sog. ‫״‬Parteistaat“
unzufrieden sind. Seine Hauptthemen sind Korruptionsaffären von
‫״‬denen da oben“ , K rim inalität und zur Assim ilation nicht bereite M inder-
heiten. (Torgy án ist in diesem Zusamenhang zwar zurückhaltend, bedient
sich aber ab und zu antisemitischer Metaphern.) Zur Bewältigung dieser
Probleme fordert der postmoderne Populist in erster Linie einen starken
Staat und eine härtere Polizei. In W irtschaftsfragen ist er liberaler als die
Traditionspopulisten. Im Gegensatz zu letzteren, die ständig darüber
klagen, daß die Medien ihre W orte verdrehen, bedient er sich in perfekter
Weise der modernen Massenkommunikationsmittel. Er kann am tre f-
fendsten durch eine m it der Haltung ‫״‬S til ist w ichtiger als Überzeugung“
verbundene ‫״‬Ideologielosigkeit“ (Kovács 1996, S.195) charakterisiert
werden. Dementsprechend bleibt er in der Regel den durch Traditions-
populisten m it Vorliebe betriebenen durchideologisierten ‫״‬K ulturkam pf“-
Debatten fern.
c) Rationaler Politiker: Für ihn fungiert P olitik als Spiel, in dem so-
wohl die politischen Akteure als auch die W ähler nach vorher definierten
Spielregeln rationale Entscheidungen treffen. Er hält sich fü r einen Ver-
m ittle r der gleichermaßen legitimen Interessen von verschiedenen
Wählergruppen. Dieser Politkertyp behält auch in der P olitik den analyti-
sehen Geist eines Intellektuellen. Er achtet ‫״‬die vernünftigen Argumente
mehr als Gefühle. Unter Einhaltung des notwendigen Abstandes versucht
er die kritische Betrachtungsweise auch bei den täglichen politischen
Auseinanderstzungen zur Geltung zu bringen.“ (Kéri 1994, S.243) Er
strebt auch als P olitiker danach, seine Autonomie zu bewahren, und des-
halb hat er o ft Probleme m it der Parteidisziplin. Für ihn ist z.B. seine
Präferenz fü r Modernisierung, Europäisierung eine rational durchdachte
Entscheidung ohne Alternative. Er hält es fü r seine Pflicht, seine p o liti-

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34 2 C. Machos

sehen Positionen bei jeder Gelegenheit m it klugen, vielschichtigen Argu-


menten zu verteidigen. Deshalb verwickelt er sich o ft m it
‫״‬Strukturkonservativen“ (Glaeßner 1994, S.260) aller A rt in ideologische
Debatten des ‫״‬Kulturkam pfes“ . Er pflegt - meistens durch seine persönli-
chen Kontakte - außerordentlich gute Beziehungen zu den Medien, deren
wichtige V e rm ittlerfu nktio n in modernen Gesellschaften ihm vollkom -
men bewußt ist. Sein ‫״‬Publikum “ w ird durch Intellektuelle und einige
Teile der M ittelschichten gebildet. In der Kom m unikation m it Wählern
aus unteren Schichten der Gesellschaft hat er große Schwierigkeiten. (Als
Beispiel fü r diesen P olitikertyp könnten viele P olitiker des Bundes Freier
Demokraten genannt werden.)
d) Pragmatischer P olitiker: Für ihn ist P o litik das Feld der konkreten
Problemlösung. Er kom m t o ft aus der ‫״‬Neuen Technokratie“ des Spätso-
zialim us oder aus den Reihen der während des System Wechsels in die
P olitik gelangten ‫״‬Experten“ , und ist eigentlich mehr oder weniger stark
in allen Parteien zu finden. Sein wichtigstes Leitm otiv ist die E ffektivität.
Er ist zwar M eister der alltäglichen politischen Problembewältigung, hat
aber kein Gespür fü r langfristiges, strategisches Denken. ‫״‬M it den Medien
geht er ganz rational um und kalkuliert sie in seine tägliche Arbeit als
einen Faktor ein, der seine W irksam keit unterstützt...“ Er begreift ‫״‬auch
die sozialen Fragen als einen rationalen Faktor in der eigenen Strategie...-
weshalb die Abgeordneten dieses Typs nicht aus ideologischen, sondern
aus sehr praktischen Gründen zeitweilig zum Sprecher von Problemgrup-
pen in der Gesellschaft werden.“ (Kéri 1994, S.249) Seine Handlungsma-
xime ist: ‫״‬wenn man seine Interessen gut genug abstim m t, w ird man sich
m it jedem einigen können. Wenn es sein muß, ist er empfänglich fü r jede
Ideologie, weil er sich sagt, daß es sich nicht besonders lohnt, kostbare
Zeit fü r ideologische Fragen zu verschwenden.“ (Kéri 1994, S.248) Für ihn
ist nicht einm al einer Selbstreflexion wert, daß er vor einigen Jahren ge-
gen einen N A TO -B eitritt seines Landes plädierte und heute sich als über-
zeugtester Protagonist des NATO -Beitritts präsentiert, oder daß er
gestern noch über eine behutsame, die Interessen des eigenen Staates
berücksichtigende Privatisierung sprach und heute sich als P olitiker er-
weist, der den Großteil der N ationalw irtschaft im Interesse von ausländi-
sehen Großunternehmen privatisiert. (Zu dieser Gruppe gehört z.B. Gyula
Horn, der Vorsitzende der USP, seit 1994 ungarischer M inisterpräsident.)

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Eliten im postsozialistischen Ungarn 343

Nach den ersten freien Wahlen waren unter den Vertretern all dieser
Typen nicht wenige, die während der chaotischen Verhältnisse des Sy-
stemzusammenbruchs ‫״‬zufällig“ P olitiker geworden sind (‫״‬politician by
chance“ (Ágh 1996b, S.48)). Das war merkwürdigerweise sogar bei den
Systemoppositionellen o ft der Fall. Sie käm pften zwar radikal gegen den
Abbau von staatssozialistischen S trukturen, sind aber durch die Schnei-
lig ke it der Ereignisse sehr überrascht worden und waren auf die M acht-
Übernahme in vielen Fällen nicht vorbereitet.
Seitdem traten deutliche Professionaliserungstendenzen ein, aus einer
Reihe von Amateuren sind professionelle, erfolgreiche Berufspolitiker
geworden. Viele bekannte V ertreter der ehemaligen Systemopposition
verließen aber die P o litik.12 Einige von ihnen gingen fre iw illig , weil sie
wieder ihre Berufe ausüben w ollten. Andere wurden von ihren Posten
nach der Logik von P arteipolitik durch ihre Konkurrenten verdrängt.
Letztere entsprachen o ft besser den veränderten K riterien der Elitense-
lektion (Regionalisierung der Auswahl, Medienpräsenz, Sicherung von
ökonomischen Ressourcen usw.). Die Neu-Aufsteiger waren o ft Apparat-
schicks oder gewählte P olitiker auf unteren Ebenen (‫״‬neue Stellvertre-
ter“ ) innerhalb der Parteien (Sugatagi 1994, S.50), die die Apparate in der
•♦

Übergangszeit im Schatten der großen Namen der ‫״‬revolutionären A ri-


stokratie“ aufbauten und je tz t fü r sich Karrieren, Ämterpatronage fo r-
derten.

4. Elitenkonsolidierung und Vertrauenskrise -


einige Schlußbem erkungen
Bei der Interpretation der Ergebnisse derjenigen Elitenstudien, die aus
der Zeit vor 1994 stammen, muß man unbedingt bedenken, daß sich in
dieser Zeit die G rundstruktur der neuen Macht noch im Herausbildungs-
prozeß befand, weil die Privatisierung und wichtige legislative Kontrover-
sen über den legitim en Zugang zu politischen und ökonomischen

12 Davon zeugt beispielsweise, daß in Führungsgrem ien a lle r parlam entarischen


Parteien seit 1993/94 d e r A n te il d e r P o litik e r m it K a rrie re typ ‫״‬unterbrochene
K arriere“ (Personen, die wegen ih re r system oppositionellen T ä tig ke it w ährend
des Staatssozialism us R etorsionen ausgesetzt w aren) d e u tlich abgenommen
hat. Parallel dazu erhöhte sich die Zahl der P o litik e r m it K a rrie re typ ‫״‬fachlich
o rin tie rte K a rriere “ .

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344 C. Machos

Führungspositionen noch im Gange waren. Außerdem kam es zu w ichti-


gen Umstrukturierungsprozessen innerhalb der politischen Elite durch
die Parlamentswahlen 1994, die m it einigem Recht als Protest der Bürger
gegen die ‫״‬m it adm inistrativen M itte ln beschleunigte“ E litenzirkulation-
Kontraselektion der ersten Legislaturperiode unter der A n ta ll-Regierung
in te rp re tiert werden können. (Szelényi/Szelényi/Kovách 1995, S.715)
Infolge der Wahlen gelangten die christlich-konservativen Regierungs-
partéién (UDF /11,74 % der Stimmen und 9,8 % der M andate/, CDVP
/7,03 %; 5,6 % / und UKLWP /8 ,8 2 ; .6,7%/) und der sich inzwischen in
Richtung des national-konservativ geprägten Liberalismus gewendete
BJD (7,02 %; 5,1%) in die Opposition. Der Sieger der W ahl, die sich so-
zialdem okratisch p ro filie rte Nachfolgepartei USP (32,99%; 54,1%), schloß
eine Regierungskoalition m it dem sozialliberalen BFD (19,74%; 17,8%).
In dieser K oalition wurde das Bündniss der 80er Jahre zwischen der
spât-kádárschen Technokratie und ihren Ideologen: den Vertretern der
‫״‬Demokratischen O pposition“ einerseits und der ‫״‬neuen Reform er-Intel-
ligenz“ andererseits, reaktiviert. (Szalai 1996, S.24) Trotz der bedeuten-
den ideologischen und programmatischen Ähnlichkeiten der Vertreter
dieser Gruppierungen w ird allerdings die Regierungskoalition durch per-
manente K onflikte, persönliche Spannungen ihrer P olitiker charakteri-
siert. Das hängt nicht zuletzt m it den Mentalitätsunterschieden,
Em pfindlichkeiten der sie dominierenden ‫״‬Fraktionen“ der Intelligenz
(der in der USP überwiegenden Intellektuellen der ersten Generation und
des im BFD repräsentierten traditionellen Bildungsbürgertums) zusam-
men. (Von der diesbezüglichen sozialen Zusammensetzung dieser Par-
teien zeugt beispielsweise, daß in der USP der Anteil derer, die nicht aus
Intellektuellenfam ilien stammen, 80% betrug, während 1994 ca. 80% der
Abgeordneten des BFD aus der Intelligenzschicht kamen. (Zsolt 1994))
A uf die 1994er Parlaments- und Kommunalwahlen folgten wichtige
Veränderungen in der personellen Zusammensetzung der Verwaltungs-,
aber auch in der ökonomischen und kulturellen Elite. Über deren Aus-
maß wurden bisher leider wenig solide empirische Angaben veröffent-
licht. Diese Veränderungen trugen einerseits sicherlich dazu bei, daß ein
Teil der Klientel der ehemaligen Staatspartei, aber auch der ehemaligen
‫״‬Demokratischen O pposition“ , (wieder) in Macht- oder machtnahe Posi-
tionen gelangte. (Helybenjárás... 1997, S.8) Andererseits entstanden aber

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Eliten im postsozialistischen Ungarn 345

inzwischen die wichtigsten Basisinstitutionen des neuen Systems, deutli-


che Verselbständigungstendenzen setzten in der W irtschaft und in der
K u ltu r ein, die die M öglichkeit der Rückkehr zu alten E litenkonstellatio-
nen erheblich erschweren. Das bezieht sich auch auf die politische
Sphäre, wo sich neben dem Institutionenw andel die K riterien der Eliten-
Selektion, die Karrierewege und die ganze politische Transitionselite in
einem solchen Ausmaß veränderten, daß es sehr unwahrscheinlich ist,
daß die alte S tru ktu r der politischen Elite auch nur annähernd adäquat
reproduziert werden kann.
Obwohl die politische Rhetorik der P arteipolitiker o ft als irra tio n a l
(iberideologisiert bezeichnet und ihre gegenseitige W ahrnehmung durch
viel Mißtrauen und Fehlperzeption charakterisiert werden können
(Simon 1997, S.677), scheint der Prozeß der Elitenkonsolidierung in Un-
garn sowohl auf in stitu tio n e lle r als auch mentaler Ebene weit vorange-
schritten zu sein. Die Angehörigen der politischen E lite nehmen ihre
gemeinsamen Interessen zunehmend bewußt wahr, wovon das im Jahre
1995 verabschiedete Mediengesetz (das die gemeinsame K ontrolle aller
größeren Parteien über die Medien sichert) oder die neuesten Regelungen
über das Vermögen der Parteien, ihre staatliche Finanzierung oder die
Diätenerhöhung der Parlamentsabgeordneten zeugen. (Agh 1996a, S.30;
Agh 1996c, S.9-10) In der Bewertung der Grundfragen der Systemtrans-
form ation kann man unter den relevanten politischen Akteuren sogar von
einem fundamentalen Elitenkom prom iß (elite settlem ent) sprechen
(B urton/H igley 1987; H igley/B urton 1989, S.28; B urton/G unther/
Higley 1992, S.325), wodurch nach Meinung einer Reihe von Transfor-
mationsforschern die allgemeinen Demokratisierungs- und Konsolidie-
rungschancen des Landes deutlich erhöht werden. (Baylis 1994, S.316)
Inzwischen entwickelte sich aber auch eine Vertrauenskrise gegenüber
der politischen Elite. (Agh 1997a, S.28) Ein Teil der einst m it hohem
moralischen Anspruch angetretenen Systemwechsel-Elite oder ihrer
Nachfolger (in den Jahren 1990-94: ih r christlich-konservativer und ab
1994 ih r sozialistisch-liberaler Teil) ist nämlich in der Nähe der Macht
und der Zentren der Privatisierung dabei, ih r während des Systemwech-
sels erworbenes ‫״‬politisches Kapital“ in ‫״‬ökonomisches“ und ‫״‬kulturelles“
zu konvertieren. (Szalai 1996, S. 27; Lengyel 1996, S.177) N icht zuletzt die
diesen Prozeß begleitenden Korruptionsskandale und Parteifinanzie-

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346 C. Machos

rungsaffáren führen zu in unterschiedlichsten Meinungsumfragen doku-


m entierten niedrigen Vertrauenswerten der Bevölkerung gegenüber allen
Akteuren, die zu der politischen Elite gezählt werden können.

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Verzeichnis der Autoren

Prof. Dr. Fikret Adam r (R uhr-U niversität Bochum)

Dr. M ile Bjelajac (In s titu t fü r Moderne Serbische Geschichte, Belgrad)

Dr. Rumen D im itro v (U niversität ‫״‬Sv. Klim ent O chridski“ , Sofia)

Dr. Anneli Ute Gabanyi (S üdost-Institut München)

Dr. M aria Georgieva (Bulgarische Akademie der Wissenschaften Sofia)

Anila H abibi (Freie U niversität Berlin)

Prof. Dr. W olfgang Höpken (U niversität Leipzig)

Irina Livezeanu (Departm ent o f H istory, U niversity o f Pittsburgh)

Dr. Csilla Machos (H um boldt-U niversität Berlin)

Fanny Papoulia (Freie U niversität Berlin)

Dr. Juliana Roth (München)

Prof. Dr. Anton Sterbling (U niversität der Bundeswehr Hamburg)

Dr. Dubravka Stojanovic (U niversität Belgrad)

Prof. Dr. Holm Sundhaussen (Freie U niversität Berlin)

Dr. M ihai Sorin Rädulescu (Historische Fakultät der U niversität Bukarest)

Dr. Nenad Zakošek (U niversität Zagreb)

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München
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Veröffentlichungen der Südosteuropa-Gesellschaft


Eine vollständige Liste der bisher von der SOG herausgegebenen Publikationen ist über die
Geschäftsstelle, Widenmayerstraße 49, D-80538 München, zu beziehen.

SÜDOSTEUROPA-J AHRBÜCHER
Band 27: Sprache und P o litik : Die Balkansprachen in V ergangenheit und G e g en w art Hrsg
von Helm ut Schaller. 348 S., München 1996. (D M 76,‫)־‬
Band 28: R eligion und G esellschaft in Südosteuropa. Hrsg. von Hans-Dieter Döpmann. 310 S.,
München 1997. (D M 76,‫)־‬
Band 29: E lite n in Südosteuropa. R olle, K o n tin u itä te n , Brüche in Geschichte und G egenw art
Hrsg. von W olfgang Höpken und Holm Sundhaussen. 357 S., München 1998. (D M 80,-)

SÜDOSTEUROPA-STUDIEN
Band 54: T ra n s itio n to a M a rk e t Econom y a t the End o f the 20th C en tu ry. Übergang zu r
M a rk tw irts c h a ft am Ende des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Ivan T. Berend. 272 S.,
München 1994. (D M 48,‫)־‬
Band 55: Föderalism us und die A rc h ite k tu r der europäischen In te g ra tio n . Hrsg. von Nikolaus
W enturis. 237 S., München 1994 (D M 48,‫)־‬
Band 57: Long-T erm S tru c tu ra l Changes in T ra n sfo rm in g C e n tra l Sí E astern Europe (The
1990s). Hrsg. von Iván T. Berend. 195 S., München 1997. (D M 38,-)
Band 58; G erm any and Southeastern Europe - Aspects o f R elations in the T w e n tie th C entury.
D eutschland und Südosteuropa - Aspekte der Beziehungen im Zw anzigsten
J a h rh u n d e rt Hrsg. von Roland Schönfeld. 209 S., München 1997. (D M 38,-)
Band 59: M ig ra tio n und sozioökonomische T ra n sfo rm a tio n in Südosteuropa. Hrsg von
W ilfrie d Heller. 326 S., München 1997. (D M 58,-)
Band 60: Die Staaten Südosteuropas und die europäisch-atlantischen S tru ktu re n . Eine
Bestandsaufnahm e. Hrsg. von Hansjörg Brey und Günther Wagenlehner 287 S.,
München 1997. (D M 54,-)
Band 61 R edefining Southeastern E urope: P o litic a l Challenges and Econom ic O p p ortu nitie s.
Hrsg. von Theofanis G. Stavrou und John R. Lampe 283 S., München 1998. (D M 52,-)
Band 62: R om ania: M ig ra tio n , Socio-economic T ra n sfo rm a tio n and Perspectives o f Regional
D evelopm ent Hrsg. von W ilfried Heller. 342 S., München 1998. (D M 62,-)

SÜDOSTEUROPA A K T U E LL
Heft 20: B eiträge z u r S ta b ilisie ru n g Südosteuropas aus deutscher und griechischer Sicht.
Hrsg. von Heinz-Jürgen Axt. 296 S., München 1995. (D M 32,-)
H eil 21: D er D onauverkehr: M öglichkeiten einer grenzüberschreitenden Zusam m enarbeit
Hrsg. von W erner Gumpel. 154 S., München 1996. (D M 18,-)
H eil 22: A ktuelle U m w eltproblem e in Südosteuropa. Hrsg. von Frank-Dieter Grimm. 152 S.,
München 1996 (D M 18,‫)־‬
Heft 23: C yprus and the European U nion. New Chances fo r S olving an O ld C o n flict? Hrsg
von Heinz-Jürgen A xt und Hansjörg Brey. 257 S., München 1997. (D M 30,-)
Heft 24: Problem s o f P riv a tiz a tio n in B u lg a ria . Hrsg. von Bruno Schönfelder. 95 S., München
1997. (D M 14,-)

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Heft 25: Das D o rf in Südosteuropa zwischen T ra d itio n und U m bruch. Hrsg. von Frank-Dieter
Grim m und Klaus Roth 277 S., München 1997. (D M 34,-)
H eil 26: S tru ktu rw a n d e l in Europa - Südosteuropa, R uhrgebiet und R eform d er EU-
S tru k tu rp o litik . Hrsg. von Heinz-Jürgen Axt. 288 S., München 1997. (D M 34,‫)־‬
Heft 27: B ulgarien - ein J a h r nach dem Regierungswechsel. Hrsg. von Gemot E rler und Johanna
Deimel. 157 S., München 1998. (D M 20,‫)־‬.
Heft 28: Grenzen und G renzregionen in Südosteuropa. Hrsg. von Frank-Dieter Grim m . 154 S.,
München 1998. (D M 20,‫)־‬

AUS D ER SÜDOSTEUROPA-FORSCHUNG
Band 1: F ü n f Jahre nach der W ende - B ilanz in M itte l- und Südosteuropa. Hrsg. von Roland
Schönfeld. 240 S., München 1995. (D M 26,‫)־‬
Band 2: Südosteuropa-VeröfTentiichungen aus der B undesrepublik D eutschland 1989-1993.
Hrsg. von Gerhard G rim m ; zusammengestellt von F ilip Hlušička. 175 S., München 1996.
(D M 22,‫)־‬
Band3: 100 Jahre R u m ä nistik an der U n iv e rs itä t Leipzig. Hrsg. von KJaus Bochmann und
Sabine Krause. 165 S., München 1996. (D M 22,-)
Band 4: R um änien und die deutsche K la s s ik Hrsg. von Eva Behring. 206 S., München 1996.
(D M 24,‫)־‬
Band 5: Tendenzen d er kroatischen G egenw artsliteratur. Hrsg. von Josip Matešic 131 S.,
München 1996. (D M 20,‫)־‬
Band 6: Das U n g a rn b ild in Deutschland und das D eutschlandbild in U ngarn. Hrsg. von
Holger Fischer. 140 S., München 1996. (D M 20,‫)־‬
Band 7: Deutschland und die T ü rk e i ‫ ־‬Gemeinsame Interessen in E uropa, im M ittle re n Osten
und in M itte la sie n . Hrsg. von Werner Gumpel. 103 S., München 1996. (D M 18,‫)־‬
Band 8: K o n flik tre g io n Südosteuropa - Vergangenheit und Perspektiven. Hrsg. von W ilfried
Potthoff. 182 + ѴП S., München 1997. (D M 26,‫)־‬
Band 9: Frauen in Südosteuropa. Hrsg von Anneli Ute Gabanyi und Hans Georg M ajer. 115 S.,
München 1998 (D M 20,‫)־‬

SÜDOSTEUROPA-SCHRIFTEN
Band 18: Südosteuropa - K o n tin u itä t und W andel. Ausgewählte B eiträge von Roland
Schönfeld. Hrsg. von W alter Althammer und Hansjörg Brey. 432 S., München 1995.
(D M 78,-)
Band 20 Das Karpatenbecken und die osteuropäische Steppe. Hrsg. von Bernhard Hansel und
Jan Machnik. 560 S., München • Rahden/Westf. 1998. (D M 149,80)

W EITERE VERÖFFENTLICHUNGEN
Frieden oder K rie g a u f dem Balkan? - D ayton und die Folgen. Reader zu einer
DiskussionsVeranstaltung am 18.6.1996 in Köln. Hrsg. von Dietrich Schlegel. Deutsche Welle. 120
S., Köln 1996. (kostenlos)
Die Lage im Kosovo. Reader zu einer Diskussionsveranstaltung am 28.5.1998 in Köln. Hrsg von
Dietrich Schlegel Deutsche Welle. 90 S., Köln 1998. (kostenlos)

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