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Petra Hammesfahr - Die Sünderin

Das Dokument ist der Anfang eines Romans. Es beschreibt die Situation einer Frau namens Cora Bender, die einen Mann getötet hat. Der Hauptkommissar Rudolf Grovian untersucht den Fall weiter, da er Zweifel an der offiziellen Darstellung hat. In Rückblenden wird Coras Ehe und psychische Probleme thematisiert, die sie zu der Tat getrieben haben könnten.

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Petra Hammesfahr - Die Sünderin

Das Dokument ist der Anfang eines Romans. Es beschreibt die Situation einer Frau namens Cora Bender, die einen Mann getötet hat. Der Hauptkommissar Rudolf Grovian untersucht den Fall weiter, da er Zweifel an der offiziellen Darstellung hat. In Rückblenden wird Coras Ehe und psychische Probleme thematisiert, die sie zu der Tat getrieben haben könnten.

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Petra

Hammesfahr

Die Sünderin

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corrected by ut

Cora Bender hat einen Mann getötet. Alle stehen vor einem Rätsel.
Was hat diese stille, liebenswürdige junge Mutter veranlasst, mit
einem Messer blindwütig auf einen Fremden einzustechen? Für die
Polizei ist die Sache erledigt: Die Täterin ist geständig, die
Beweislage klar. Nur Hauptkommissar Rudolf Grovian weigert sich,
den Fall abzuschließen, und stellt auf eigene Faust Nachforschungen
an. Was er aufdeckt, ist ein Alptraum.

ISBN: 3 499 22755 X


Verlag: Rowohlt
Erscheinungsjahr: 2003
Umschlaggestaltung: any.way, Cathrin Günther

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!


Autor

Petra Hammesfahr, geboren 1951, lebt als Schriftstellerin


und Drehbuchautorin in der Nähe von Köln. Ihr Roman
«Der stille Herr Genardy» wurde in mehrere Sprachen
übersetzt und erfolgreich verfilmt. Mit ihren Romanen
«Die Sünderin», «Der Puppengräber», «Lukkas Erbe» und
«Die Mutter» steht sie seit Monaten auf den
Bestsellerlisten. Für «Die Mutter» erhielt Petra
Hammesfahr den ersten Frauenkrimipreis der Stadt
Wiesbaden.
1. Kapitel

Es war ein heißer Tag Anfang Juli, als Cora Bender sich
entschloss zu sterben. In der Nacht hatte Gereon mit ihr
geschlafen. Er schlief regelmäßig am Freitag- und am
Samstagabend mit ihr. Sie schaffte es nicht, ihn
abzuweisen, wusste zu gut, wie sehr er das brauchte. Und
sie liebte Gereon. Es war mehr als Liebe. Es war
Dankbarkeit, bedingungslose Ergebenheit, es war etwas
Absolutes.
Gereon hatte ihr ermöglicht zu sein, was alle waren –
eine normale junge Frau. Deshalb wollte sie, dass er
glücklich und zufrieden war. Früher hatte sie es genossen,
wenn er zärtlich wurde, seit einem halben Jahr war das
vorbei.
Ausgerechnet am Heiligabend war Gereon auf die Idee
verfallen, ein Radio ins Schlafzimmer zu stellen. Es sollte
eine besonders schöne Nacht werden. Sie waren an dem
Heiligabend seit zweieinhalb Jahren verheiratet und seit
achtzehn Monaten Eltern eines Sohnes.
Gereon war siebenundzwanzig, Cora Bender
vierundzwanzig Jahre alt. Gereon war knapp eins achtzig
groß und schlank, er wirkte sportlich und durchtrainiert,
obwohl er keinen Sport betrieb, dazu fehlte ihm die Zeit.
Sein Haar war von Geburt an weißblond und nur leicht
nachgedunkelt. Sein Gesicht war nicht hübsch und nicht
hässlich, es war ein Durchschnittsgesicht, wie Gereon
Bender insgesamt ein Durchschnittsmensch war.
Auch an Cora Bender gab es rein äußerlich keine
Auffälligkeiten, wenn man von einer Narbe an der Stirn
und vernarbten Armbeugen absah. Die Kerbe im Kopf sei
die Folge eines Unfalls, die knotig vernarbten Armbeugen
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entstammten einer bösen Entzündung, hervorgerufen
durch Injektionsnadeln bei der Behandlung im
Krankenhaus, so hatte sie es Gereon erklärt. Sie hatte auch
gesagt, dass sie sich an Einzelheiten nicht erinnere.
Letzteres war die Wahrheit. Der Arzt hatte damals gesagt,
es komme bei schweren Kopfverletzungen häufig zu
Gedächtnisausfällen.
Es gab ein Loch in ihrem Leben. Darin verbarg sich ein
schmutziges, dunkles Kapitel, das wusste sie, obwohl die
eigene Erinnerung daran fehlte. Vor einigen Jahren war sie
in unzähligen Nächten immer wieder hineingefallen. Das
letzte Mal lag vier Jahre zurück. Zu der Zeit hatte sie
Gereon noch nicht gekannt. Und irgendwie hatte sie es
damals geschafft, das Loch zu schließen. Dass sie erneut
hineinstürzen könnte, damit hatte sie nicht mehr
gerechnet, seit sie mit Gereon verheiratet war. Und dann
geschah es – ausgerechnet am Heiligabend.
Zuerst war alles in Ordnung, leise Weihnachtsmusik und
Gereons Zärtlichkeit, die allmählich drängender und
intensiver wurde. Dann rutschte er langsam an ihr
hinunter, da wurde es unangenehm. Und als er mit dem
Gesicht zwischen ihre Beine tauchte und sie seine Zunge
spüren ließ, wurde die Musik laut. Sie hörte den raschen
Wirbel eines Schlagzeugs, eine Bassgitarre und die hohen,
schrillen Töne einer Orgel – nur für den Bruchteil einer
Sekunde, im nächsten Moment war es schon wieder
vorbei. Doch dieser kurze Augenblick reichte.
Etwas in ihr brach zusammen – oder auf, wie ein gut
verschlossener Tresor, den jemand mit einem
Schweißbrenner bearbeitet. Es war ein irreales Gefühl. Als
ob sie nicht mehr im eigenen Bett läge. Sie spürte einen
harten Untergrund im Rücken und etwas im Mund, als
drücke ein besonders dicker Daumen ihr die Zunge nach
unten und verursache einen fürchterlichen Würgreiz.

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Das Aufbäumen war nur ein Reflex. Sie schlang die
Knie um Gereons Nacken und presste die Oberschenkel zu
beiden Seiten an seinen Hals. Es fehlte nicht viel, und sie
hätte ihm das Genick gebrochen oder ihn erwürgt. Sie
bemerkte es nicht einmal, so weit weg war sie in diesem
Moment. Erst als Gereon sie keuchend und röchelnd in die
Seite kniff und seine Fingernägel tief in das weiche
Fleisch ihrer Taille grub, holte der Schmerz sie zurück.
Gereon japste nach Luft. «Bist du bescheuert? Was fällt
dir ein?» Er rieb sich das Genick, hustete, betastete seine
Kehle und starrte sie kopfschüttelnd an.
Er verstand ihre Reaktion nicht. Auch sie wusste nicht,
was da plötzlich so widerlich und abstoßend gewesen war.
So grauenhaft, dass sie für eine Sekunde geglaubt hatte,
die Zunge des Todes zu fühlen.
«Ich mag das eben nicht», sagte sie und fragte sich, was
sie gehört hatte. Die Musik lief noch, sie war leise und
weich. Ein Kinderchor sang: «Stille Nacht, heilige Nacht.
Gottes Sohn, oh, wie lacht Lieb’ aus deinem göttlichen
Mund.» Was sonst an so einem Abend?
Der unverhoffte Angriff hatte Gereon die Lust
genommen. Er schaltete das Radio aus, löschte das Licht
und zog sich die Decke über die Schulter. Gute Nacht
wünschte er ihr nicht, brummte nur: «Dann eben nicht!»
Er schlief rasch ein. Sie hätte später nicht sagen können,
ob sie ebenfalls eingeschlafen war. Irgendwann saß sie
aufrecht im Bett, schlug mit den Fäusten um sich und
schrie: «Aufhören! Loslassen! Lasst mich los! Hört auf,
ihr Schweine!» Und dabei zuckten ihr die wüsten Wirbel
des Schlagzeugs, die Bassgitarre und schrillen
Orgelklänge durch den Kopf.
Gereon erwachte, griff nach ihren Händen, schüttelte sie
und schrie ebenfalls. «Cora! Hör auf! Was soll denn der

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Scheiß?» Sie konnte nicht aufhören und nicht aufwachen.
Sie saß in der Dunkelheit und kämpfte verzweifelt gegen
etwas, das langsam auf sie zukam, etwas, von dem sie nur
wusste, dass es sie um den Verstand brachte.
Erst als Gereon ihr mehrere leichte Schläge gegen die
Wangen versetzte, fand sie zu sich. Er wollte wissen, was
los sei mit ihr. Ob er ihr irgendwas getan habe. Ihr Kopf
war noch nicht klar genug, um ihm auf der Stelle zu
antworten. Sie starrte ihn nur an. Nach ein paar Sekunden
legte er sich zurück. Sie folgte seinem Beispiel, drehte
sich auf die Seite und versuchte sich einzureden, es sei nur
ein gewöhnlicher Albtraum gewesen.
Aber in der darauf folgenden Nacht, als Gereon das
Versäumte nachholen wollte, geschah es wieder, obwohl
diesmal kein Radio im Schlafzimmer stand und er auch
keine Anstalten machte, das mit ihr zu tun, was er als
höchsten Ausdruck von Liebe empfand. Zuerst kam die
Musik, etwas lauter und etwas länger, lange genug, um zu
erkennen, dass sie dieses Lied noch nie gehört hatte. Dann
fiel sie in das schwarze Loch, aus dem sie schreiend und
um sich schlagend hochfuhr. Nicht erwachte – das gelang
ihr erst, als Gereon sie schüttelte, gegen ihre Wangen
schlug und ihren Namen rief.
In der ersten Januarwoche passierte es zweimal, in der
zweiten einmal, da war Gereon am Freitag zu müde.
Jedenfalls behauptete er, müde zu sein. Aber am Samstag
sagte er:
«Allmählich habe ich das Theater satt.» Vielleicht war
das auch am Freitag schon der Grund gewesen.
Im März bestand Gereon darauf, dass sie zu einem Arzt
ging. «Das ist nicht normal, das musst du zugeben. Da
muss man doch endlich was unternehmen. Oder soll das
jetzt immer so weitergehen? Dann schlaf ich aber auf der

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Couch.»
Sie ging nicht zu einem Arzt. Ein Arzt hätte garantiert
gefragt, ob sie eine Erklärung für diesen merkwürdigen
Albtraum wisse oder zumindest dafür, warum es immer
nur dann geschah, wenn Gereon mit ihr geschlafen hatte.
Ein Arzt hätte wahrscheinlich begonnen, in dem Loch zu
stochern, hätte ihr eingeredet, man müsse sich die Dinge
bewusst machen. Ein Arzt hätte nicht verstanden, dass es
Dinge gab, die zu grausam waren, um sie sich bewusst zu
machen. Sie versuchte es mit einer Apotheke. Man
empfahl ihr ein leichtes Schlafmittel. Damit erreichte sie
immerhin, dass das Schreien und Um-sich-Schlagen
ausblieb und Gereon annahm, es sei nun alles wieder in
Ordnung. Das war es nicht.

Es wurde mit jedem Wochenende schlimmer. Schon im


Mai war die Angst vor dem Freitagabend wie ein Tier, das
sie langsam von innen zerfleischte. Der Freitagnachmittag
Anfang Juli war die Hölle.
Sie saß im Büro, das nicht mehr war als ein vom übrigen
Lagerraum abgeteilter Winkel. Über dem Schreibtisch
brannte eine Lampe, und am äußeren Rand des
Lichtkegels stand ein Faxgerät, das Datum und Uhrzeit
anzeigte.
4. Jul. 16:50! Noch zehn Minuten bis zum Feierabend.
Noch etwa fünf Stunden, bis Gereon die Hand nach ihr
ausstreckte. Am liebsten wäre sie sitzen geblieben bis
Montag früh. Solange sie hinter dem Schreibtisch saß, war
sie tüchtig und clever, Seele und Motor in der Firma des
Schwiegervaters.
Ein Familienbetrieb, nur sie, ihr Schwiegervater, Gereon
und ein Angestellter, Manni Weber. Ein
Installationsunternehmen, Heizung und Wasser, und ohne

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sie lief nichts mehr. Sie war stolz auf ihre Position, hatte
sich ihren Platz in der Hierarchie hart erkämpfen müssen.
Am Tag nach der Hochzeit hatte ihr Schwiegervater
verlangt, dass sie die Büroarbeit übernahm. Und er ließ
nichts gelten. «Was heißt hier, ich kann das nicht? Du hast
doch Augen im Kopf! Schau in die Bücher, dann lernst
du’s. Oder hast du gedacht, du kannst hier auf dem faulen
Hintern sitzen?»
Es war nie ihre Art gewesen, auf dem faulen Hintern zu
sitzen. Das sagte sie auch. Und der Alte nickte. «Dann
haben wir das ja geklärt.»
Bis dahin hatte er sich nach Feierabend selbst um den
Papierkram kümmern müssen. Ihre Schwiegermutter
konnte gerade das Telefon bedienen. Viel mehr konnte sie
anfangs auch nicht.
Es gab nie einen Rat von dem Alten, nie einen Hinweis,
wie er es bis dahin gehandhabt hatte. Und sich an den
Büchern orientieren – dazu hätten sie ordentlich geführt
sein müssen. Manchmal schien es, als weide sich der Alte
an ihrer Hilflosigkeit. Nur war sie nicht lange hilflos
gewesen.
Sie begriff rasch, worauf es ankam, und biß sich durch.
Nichts fiel ihr in den Schoß, sogar um die Bretterwände,
die den Bürowinkel vom übrigen Lager abtrennten, mußte
sie kämpfen.
Im ersten Jahr saß sie da in der Ecke, den großen Raum
vor Augen, der nicht geheizt wurde und immer schmutzig
war; an einem ausrangierten Küchentisch, an dem sie sich
wie bei Mutter fühlte. Sie wagte nicht aufzumucken,
obwohl der Alte ihr nicht einmal Lohn zahlte. Auch
Gereon bekam nur ein Taschengeld. Wohnung und Essen
hatten sie frei, Gereons Wagen war als Firmenfahrzeug
deklariert. Wenn sie sonst etwas brauchten, mußte Gereon

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fragen.
Nicht einmal die Schwangerschaft brachte eine
Vergünstigung oder ein bißchen Bequemlichkeit. Bis zur
allerletzten Minute saß sie in dem Lagerwinkel. Als die
Wehen einsetzten, arbeitete sie gerade einen Kosten-
voranschlag für den Einbau einer Gaszentralheizung aus;
im Stehen vor dem Tisch, weil sie nicht mehr sitzen
konnte mit diesem Ziehen im Rücken. Ihre Schwieger-
mutter wurde hysterisch, weil es so schnell ging. Ein paar
heftige Krämpfe, dann platzte die Fruchtblase, und sie
fühlte einen ungeheuren Druck im Unterleib.
Sie hatte nicht ins Krankenhaus gehen wollen. Aber
dann rief sie doch: «Ich brauche einen Krankenwagen!
Ruf mir einen Krankenwagen !»
Ihre Schwiegermutter stand nur da und zeigte auf den
Tisch. «Du bist doch noch nicht fertig. Mach das lieber
erst fertig. So schlimm kann's nicht sein. Man kriegt ein
Kind nicht in zehn Minuten. Mit Gereon hab ich einen
ganzen Tag gelegen. Der Vater wird wütend, wenn das
heute abend nicht fertig ist. Du weißt doch, wie er ist.»
Das wußte sie nur zu gut. Sie lebten ja seit der Hochzeit
unter einem Dach. Der Alte war ein Tyrann, ein
Ausbeuter. Die Schwiegermutter war ein unterwürfiges
Weibsbild, das nach oben buckelte und nach unten trat.
Gereon war nur ein Befehlsempfänger und sie eine
Sklavin; billig eingekauft auf dem großen Markt, nur für
die Illusion eines ordentlichen Lebens, praktisch umsonst.
Und wie sie da vorgekrümmt neben dem alten
Küchentisch stand, mitten im Dreck, die Pfütze
betrachtend, die sich um ihre Füße ausgebreitet hatte, eine
Hand zwischen die Beine pressend und fühlend, wie es
sich dort vorwölbte, da reichte es plötzlich. Mach das
lieber erst fertig? Nein!

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In der Klinik fand sie Zeit, in Ruhe über ihr Leben
nachzudenken und zu begreifen, daß auch die sogenannten
ordentlichen Verhältnisse ihre Tücken hatten, daß jede
Hoffnung, die Träume könnten sich in dieser Umgebung
von allein erfüllen, vergebens war. Es stellte sich nur noch
die Frage, wieviel sie riskieren durfte. Aber mit einem
Kind im Arm war es leichter; das waren sieben Pfund
Gewicht, um jede Forderung zu unterstützen.
Als sie ein paar Tage später zurückkam, begann sie ihre
Vorstellungen zu verwirklichen. Damals fing sie sich den
Ruf ein, ein freches und rücksichtsloses Geschöpf zu sein.
Ein Weib mit Haaren auf den Zähnen, sagte der Alte
häufig. Das war sie mit Sicherheit nicht, aber sie konnte
zur Not so tun. Und es hätte ja nichts genützt, um
Erlaubnis zu fragen.
Sie richtete sich das Büro ein; komplett mit Schreibtisch,
Akten schrank und Heizung. Sie nahm sich noch andere
Freiheiten heraus, zahlte Gereon und sich selbst einen
Lohn. Der Alte bekam einen Tobsuchtsanfall, sprach von
Unverschämtheit und Raffgier. «Wo hast du gelernt, in
anderer Leute Kassen zu greifen?»
Ihr schlug das Herz zum Hals heraus, aber sie gab ihm
Kontra. «Entweder wir werden bezahlt wie andere, oder
wir arbeiten woanders. Das kannst du dir aussuchen. Du
kannst dich auch umhören, was in anderen Betrieben
bezahlt wird. Dann siehst du, dass du noch gut
wegkommst. Und sag nie wieder, dass ich in deine Kasse
greife! Ich arbeite für mein Geld!»
Es war mühsam gewesen, sich gegen den Alten
durchzusetzen. Das hatte sie geschafft, hatte ihm vor gut
einem Jahr sogar ein eigenes Haus abgerungen. Mehr als
einmal hatte sie trotz des Kindes befürchtet, dass er auf die
Tür zeigte. «Geh wieder dahin, wo du hergekommen bist.»
Und Gereon hätte nur dabeigestanden mit betretener
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Miene. Er hatte ihr nicht einmal den Rücken gestärkt, nie
den Mund aufgemacht zu ihrer Verteidigung.
Kurz nach der Geburt des Kindes war es bitter gewesen
zu erkennen, dass sie an ihm keine Hilfe hatte. Inzwischen
spielte es keine Rolle mehr. Er war eben so, tat seine
Arbeit, wollte ansonsten seine Ruhe – und freitags und
samstags ein bisschen Liebe! Dagegen konnte sie nicht
kämpfen, weil Liebe etwas Gutes, etwas Schönes, etwas
völlig Natürliches und Normales war.
4. Jul. 16:52! Es war noch eine Rechnung zu schreiben.
Sie hatte es vor sich hergeschoben, um sich in den
allerletzten Minuten damit abzulenken. Ein neuer
Heizkessel. Gereon hatte ihn am Mittwoch eingebaut,
zusammen mit Manni Weber. Für die kommende Woche
standen zwei weitere auf dem Arbeitsplan. Die neue
Schadstoffverordnung zwang die Leute, ihre alten
Anlagen zu verschrotten. Zwar war die Verordnung schon
vor einigen Jahren in Kraft getreten. Aber viele hatten die
Kosten gescheut und erst einmal abgewartet, bis der
Bezirksschornsteinfeger drohte, die alten Kessel
stillzulegen.
Irgendwie war sie komisch, diese Einstellung. Man
wusste genau, was auf einen zukam. Und tat nichts!
Wartete ab. Als ob so ein alter Heizkessel von heute auf
morgen und völlig aus eigenem Antrieb seinen
Schadstoffausstoß der strengeren Norm anpassen, als ob
ein Loch im Innern sich von einer Minute zur nächsten
wieder schließen könnte.
Vor vier Jahren hatte es das getan. Nicht von einer
Minute zur nächsten, es hatte ein paar Monate gedauert.
Und da war Gereon noch nicht gewesen, der das
Flickwerk von ein paar Tagen mit einem Handstreich
wieder zerriss.

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4. Jul. 16:57! Außer der Rechnung lag nichts mehr an.
Am vergangenen Freitag hatte sie sich noch eine Weile
mit den Lohnabrechnungen beschäftigen können. Es war
nur eine Illusion gewesen, aber immerhin etwas, das die
Panik in Schach gehalten hatte. Es war nicht nur Furcht,
kein simples Gefühl von Unbehagen. Es war ein grauroter
Nebel, der das Gehirn ausfüllte, in jeden Winkel drang
und jeden Nerv blockierte.
Feierabend! Mit steifen Fingern zog sie das Blatt aus der
Maschine und überprüfte sorgfältig die einzelnen Posten.
Es gab nichts zu korrigieren, nur der Schreibtisch musste
noch ein wenig aufgeräumt werden. Zuletzt klappte sie das
Kalenderblatt auf die nächste Woche um. Montag! Bis
dahin waren es zwei Ewigkeiten – wie zweimal sterben.
Dabei war sie bereits halb tot.

Die Beine gehorchten ihr nicht. Sie ging wie auf Stelzen
durch das winzige Büro und das Lager hinaus auf den Hof.
Es war sehr warm draußen. Die Sonne lachte wie ein
Babygesicht vom wolkenlosen Himmel. Das Licht war so
grell, dass ihre Augen zu tränen begannen. Aber das hatte
wohl mit dem Licht nicht viel zu tun.
Vorne an der Straße lag das Haus der Schwiegereltern.
Ihr eigenes stand auf dem ehemaligen Garten. Es war ein
großes Haus mit moderner Einrichtung, die Küche war ein
Traum aus weiß gebleichter Eiche. Normalerweise war sie
sehr stolz auf alles. Augenblicklich gab es keine Gefühle
wie Stolz oder Selbstbewusstsein. Nur die Angst, diese
wahnsinnige Angst, verrückt zu werden. Verrückt sein war
für sie schlimmer als tot.
Bis kurz vor sieben war sie mit ihrem Haushalt
beschäftigt. Gereon war noch nicht da. Freitags ging er
regelmäßig mit Manni Weber in eine Kneipe und trank ein

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oder zwei Bier, niemals mehr als zwei, wenn doch, dann
nur alkoholfreies. Sie trafen sich pünktlich um sieben im
Haus der Schwiegereltern zum Abendessen.
Um acht gingen sie hinüber ins eigene Haus. Ihren Sohn
nahm sie mit und brachte ihn gleich ins Bett. Sie musste
das Kind nur hinlegen. Eine Windel für die Nacht und den
Schlafanzug hatte die Schwiegermutter ihm bereits
angezogen.
Gereon setzte sich vor den Fernseher, schaute sich zuerst
die Nachrichten an, dann einen Film. Um zehn bekam er
seinen nervösen Blick. Er rauchte noch eine Zigarette.
Bevor er sie anzündete, sagte er: «Eine rauche ich noch.»
Er war angespannt und unsicher. Seit Wochen wusste er
nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Nach ein paar
Minuten drückte er die Zigarette aus und sagte: «Ich geh
schon mal rauf.» Ebenso gut hätte er eine Peitsche
schwingen oder sonst etwas Ungeheuerliches tun können.
Sie kam kaum aus dem Sessel hoch, als er wenig später
nach ihr rief. «Cora, kommst du? Ich bin fertig.»
Er hatte geduscht und sich die Zähne geputzt. Er war
noch einmal mit dem Rasierapparat über Wangen und
Hals gefahren, hatte etwas After-Shave auf die Haut
getupft. Sauber, duftend und gut aussehend stand er an der
Tür zum Bad. Er trug nur einen Slip. Unter dem dünnen
Stoff zeichnete sich seine Erektion überdeutlich ab. Er
grinste verlegen und strich mit der Hand durch den
Nacken, weil ihm das Haar dort beim Duschen feucht
geworden war. Dann fragte er zögernd:
«Oder hast du keine Lust?»
Es wäre leicht gewesen, nein zu sagen. Sie dachte auch
kurz daran. Nur war das Problem damit nicht aus der Welt.
Aufgeschoben war nicht aufgehoben.
Im Bad war sie rasch fertig. Auf der Ablage über dem
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Waschbecken lag die Packung mit dem Schlafmittel. Es
war ein stärkeres als zu Anfang, und die Packung war
noch fast voll. Sie nahm zwei Tabletten mit einem halben
Becher Wasser. Dann, nach einem Moment des Zögerns,
schluckte sie auch die restlichen sechzehn in der
Hoffnung, es möge reichen, ein Ende zu machen. Sie ging
ins Schlafzimmer, legte sich neben Gereon und rang sich
ein Lächeln ab.
Er machte nicht viel Aufhebens, war bemüht, es schnell
hinter sich zu bringen, brachte die Hand ans Ziel, schob
einen Finger vor und prüfte die Möglichkeiten. Es gab
keine. Seit er versucht hatte, sie dort zu küssen, gab es
keine mehr. Inzwischen war er daran gewöhnt, hatte eine
Gleitcreme besorgt, die er sanft einmassierte, bevor er sich
über sie schob und in sie eindrang.
Und in dem Augenblick begann der Wahnsinn. Es war
völlig still im Raum, von Gereons Atem abgesehen, der
erst verhalten war, dann heftiger und lauter wurde. Außer
dem Atem war nichts da. Und trotzdem hörte sie es, wie
aus einem unsichtbaren Radio eingespielt. Nach einem
halben Jahr war der Rhythmus so vertraut wie der eigene
Herzschlag; die rasend schnellen Schlagzeugwirbel,
begleitet von den Akkorden der Bassgitarre und dem
hohen Pfeifen der Orgel. Als Gereon schneller wurde,
steigerte es sich, bis sie glaubte, ihr Herz müsse
zerplatzen. Dann war es vorbei, wie abgeschnitten genau
in der Sekunde, in der Gereon sich neben sie rollte.
Er drehte sich auf die Seite und schlief rasch ein. Sie
starrte in die Dunkelheit und wartete darauf, dass die
Wirkung der sechzehn Tabletten einsetzte.
Ihr Magen schien mit flüssigem Blei gefüllt, brannte und
rumorte wie in Feuer getaucht. Dann stieg es heiß und
ätzend in die Kehle. Mit knapper Not schaffte sie es ins
Bad und übergab sich. Anschließend weinte sie sich in den
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Schlaf, weinte sich durch den Traum, der ihr die Nacht in
tausend Stücke riss, weinte noch, als Gereon sie an der
Schulter rüttelte und verständnislos anstarrte. «Was hast
du denn?»
«Ich kann nicht mehr», sagte sie. «Ich kann einfach nicht
mehr.» Beim Frühstück war ihr immer noch übel, und sie
hatte rasende Kopfschmerzen. Die hatte sie häufig am
Wochenende. Gereon erwähnte den Vorfall in der Nacht
mit keinem Wort, betrachtete sie nur mit misstrauischen
und zweifelnden Blicken.
Er hatte Kaffee aufgebrüht. Er war ihm zu stark geraten
und ließ den geschundenen Magen noch einmal heftig
rebellieren. Gereon hatte auch das Kind aus dem Bettchen
genommen, hielt seinen Sohn auf dem Schoß und fütterte
ihn mit einer Scheibe Weißbrot, die er dick mit Butter und
Konfitüre bestrichen hatte. Er war ein guter Vater,
kümmerte sich um das Kind, sooft er die Zeit fand.
Die Woche über wurde der Kleine von der
Schwiegermutter betreut und schlief auch bei den
Schwiegereltern, in dem Raum, der früher Gereons
Zimmer gewesen war. Für das Wochenende nahm sie ihn
dann mit ins eigene Haus. Und wie er da auf Gereons
Schoß saß, schien er ihr das Beste, was sie im Leben
erreicht hatte.
Gereon wischte ihm die Konfitüre vom Kinn und aus
den Mundwinkeln. «Ich zieh ihn mal an», sagte er. «Du
willst ihn doch sicher mit zum Einkaufen nehmen.»
«Ich fahre heute später», sagte sie. «Und bei der Hitze
nehme ich ihn lieber nicht mit.»
Es war erst neun Uhr, und das Thermometer stand schon
bei fünfundzwanzig Grad. Der Schmerz im Kopf drückte
ihr fast die Augen aus den Höhlen. Sie konnte kaum
denken, und sie musste das sorgfältiger planen und

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durchführen. Ein spontaner Entschluss wie in der Nacht
war nicht gut, da blieb zu viel unberücksichtigt. Während
Gereon sich um den Rasen kümmerte, holte sie sich bei
der Schwiegermutter eine von den starken
Schmerztabletten, die es nur auf Rezept gab. Anschließend
wischte sie ihre Küche, das Bad, die Treppe und die Diele
so gründlich wie nie zuvor. Es musste alles pieksauber
sein.
Um elf brachte sie ihren Sohn zur Schwiegermutter und
ging mit zwei leeren Einkaufstaschen in der Hand zum
Wagen. Das Auto schien ihr die einfachste Lösung. Doch
als sie losfuhr, verwarf sie den Gedanken wieder. Gereon
war auf den Wagen angewiesen. Wie sollte er sonst am
Montag zu den Kunden kommen? Es war auch nicht ihre
Art, etwas zu zerstören, das so viel Geld gekostet hatte wie
ein neues Auto.
Sie fuhr aus Gewohnheit zum Supermarkt. Während sie
den Einkaufskorb füllte, wägte sie andere Möglichkeiten
ab. Auf Anhieb fiel ihr nichts ein. Vor der Wursttheke
wartete ein Dutzend Frauen. Und sie fragte sich, wie viele
von ihnen den Abend herbeisehnten und wie viele ebenso
empfinden mochten wie sie. Keine! Davon war sie
überzeugt.
Sie war die Ausnahme. Sie war immer eine Ausnahme
gewesen, die Außenseiterin mit dem Stempel auf der Stirn.
Cora Bender, fünfundzwanzig Jahre alt, zierlich und
schlank, seit drei Jahren verheiratet, Mutter eines knapp
zweijährigen Sohnes, den sie praktisch im Stehen
bekommen hatte, gleich nach dem Einsteigen in den
Krankenwagen.
Eine Sturzgeburt, hatten die Ärzte gesagt. Ihre
Schwiegermutter sah das anders. «Da muss eine nur lange
genug herumgehurt haben, dann ist sie da unten weit
genug, um ein Kind auf die Weise zu verlieren. Wer weiß
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denn, was sie vorher getrieben hat! Was Gutes kann es
nicht gewesen sein, wenn ihre Eltern nichts mehr von ihr
wissen wollen. Nicht mal zur Hochzeit sind sie
gekommen. Da fragt man sich doch: Warum nicht?»
Cora Bender, rötlich braunes schulterlanges Haar, das so
über die Stirn fiel, dass es die Kerbe im Knochen und die
gezackte Narbe verdeckte. Ein hübsches schmales Gesicht
mit einem suchenden, ratlosen Ausdruck, als hätte sie nur
vergessen, eine bestimmte Ware in den Korb zu legen.
Kleine Hände, mit denen sie die Griffstange des
Warenkorbs so fest umklammerte, dass die Knöchel weiß
und spitz hervortraten. Braune Augen, die unruhig über
die Waren im Drahtkorb glitten, die Joghurtbecher
abzählten, an der Pappschale mit den Äpfeln hängen
blieben. Sechs Äpfel, dick und saftig, mit gelblicher
Schale. Golden Delicious. Sie liebte diese Sorte. Sie liebte
auch ihr Leben. Aber es war keins mehr. Genaugenommen
war es nie eins gewesen. Und dann fiel ihr ein, wie sie es
zu Ende bringen konnte.

Am Nachmittag, als die ärgste Mittagshitze überstanden


war, fuhren sie zum Otto-Maigler-See. Gereon saß am
Steuer. Er war nicht begeistert gewesen von ihrem
Vorschlag, aber widersprochen hatte er nicht. Er zeigte
seinen Unmut auf andere Weise, nicht ahnend, dass er
damit ihren Entschluss bekräftigte. Eine Viertelstunde
kurvte er über den staubigen Parkplatz, der dem Eingang
am nächsten lag.
Weiter hinten gab es freie Plätze. Sie machte ihn
mehrfach darauf aufmerksam. «Ich hab keine Lust, den
ganzen Kram so weit zu schleppen», sagte er.
Es war heiß im Wagen. Während der Fahrt hatten sie die
Scheiben nicht herunterdrehen dürfen. Das Kind hätte sich

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in der Zugluft leicht erkälten können. Als sie losfuhren,
war sie ruhig gewesen. Die Kurverei machte sie nervös.
«Jetzt mach schon», verlangte sie. «Sonst lohnt es sich
nicht mehr.»
«Was hast du es denn so eilig? Es kommt ja wohl auf ein
paar Minuten nicht an. Vielleicht fährt einer weg.»
«Blödsinn. Um die Zeit fährt noch keiner heim. Jetzt
mach endlich, oder lass mich aussteigen, dann gehe ich
vor. Dann kannst du von mir aus bis heute Abend hier
herumkurven.»
Es war vier Uhr. Gereon verzog das Gesicht, aber er
schwieg, fuhr ein Stück im Rückwärtsgang, obwohl er
wusste, dass sie das nicht vertrug. Dann parkte er endlich
ein, so dicht neben einem anderen Wagen, dass sich die
Tür an ihrer Seite nicht ganz öffnen ließ.
Sie zwängte sich ins Freie, erleichtert über den
schwachen Lufthauch, der ihr über die Stirn strich. Dann
beugte sie sich zurück in den stickigen Wagen, griff nach
der Umhängetasche, hängte sie sich über die Schulter und
befreite das Kind aus dein Spezialsitz im Wagenfond. Sie
stellte ihren Sohn neben den Wagen auf seine Füße und
ging nach hinten, um Gereon beim Ausladen zu helfen.
Sie hatten alles dabei, was man für einen Nachmittag am
See brauchte. Es sollte später niemand eine Absicht
vermuten. Die Decke und den Sonnenschirm klemmte sie
sich unter den Arm, über dem sie bereits die
Umhängetasche trug. Die beiden Klappsessel packte sie
mit einem Griff in der anderen Hand, für Gereon blieben
nur die Handtücher, die Kühltasche und das Kind.
Sie blinzelte ins Licht. Schatten gab es auf dem großen
Platz nirgendwo. Es standen nur ein paar Büsche am
Rand, mehr staubig als grün. Ihre Sonnenbrille lag unten
in der Umhängetasche. Im Wagen hatte sie sie nicht

18
aufgesetzt, nur die Blende heruntergeklappt. Beim Gehen
schlugen ihr die Sessel gegen das Bein. Ein vorstehendes
Stück Metall kratzte unangenehm über die nackte Haut
und hinterließ eine rote Spur.
Gereon hatte die Sperre am Eingang erreicht, wo er auf
sie wartete. Mit dem Arm zeigte er auf das Drahtgitter und
erklärte dem Kind etwas. Er trug nur Shorts und Sandalen.
Sein Oberkörper war nackt, die Haut braun und glatt. Er
hatte eine gute Figur, breite Schultern, muskulöse Arme
und eine schmale Taille. Wie er da stand, war sie sicher,
dass er rasch eine andere finden würde. Als sie kam, rührte
er sich nicht von der Stelle, machte auch keine Anstalten,
ihr etwas abzunehmen.
Den Eintritt musste man mit der Gebühr für den
Parkplatz lösen. Die Karten hatte sie eingesteckt. Sie
stellte den Klappsessel ab und begann, in der
Umhängetasche nach ihrer Brieftasche zu wühlen. Sie
wühlte sich durch Windeln und frische Unterwäsche,
vorbei an zwei Äpfeln, einer Banane und der
Keksschachtel, fühlte einen der Plastiklöffel für das
Joghurt, dann die Schneide des kleinen Schälmessers
zwischen den Fingern. Beinahe hätte sie sich geschnitten.
Endlich ertastete sie das Leder, klappte es auseinander,
bekam die Eintrittskarten zu fassen und hielt sie der Frau
an der Sperre hin. Dann nahm sie die Klappsessel wieder
auf und schob sich hinter Gereon durch das Gitter.
Sie mussten weit über den platt getretenen Rasen laufen,
sich an unzähligen Decken, Sitzgruppen und spielenden
Kindern vorbeischlängeln. Der Schulterriemen der Tasche
schnitt ins Fleisch. Der Arm, unten den sie Decke und
Schirm geklemmt hatte, wurde allmählich lahm. Und das
Bein schmerzte dort, wo die Metallteile des Sessels die
Haut zerkratzten. Es waren rein äußerliche Empfindungen,
sie störten nicht mehr. Sie hatte mit ihrem Leben

19
abgeschlossen, war nur noch darauf bedacht, sich normal
zu verhalten und nichts zu tun, was Gereon hätte stutzig
machen können. Obwohl es unwahrscheinlich war, dass er
eine verräterische Geste oder einen Satz richtig
interpretiert hätte.
Er machte schließlich Halt an einem Platz, an dem es
wenigstens die Illusion von Schatten gab: ein mickriges
Bäumchen mit durchsichtiger Krone, die Blätter hingen
herunter wie eingeschlafen. Das Stämmchen war nicht
einmal armdick.
Sie legte Decke, Tasche und Sessel auf dem Gras ab,
spannte den Schirm auf und steckte ihn mit der Spitze in
den Boden, breitete die Decke darunter aus, zog die
Klappsessel auseinander und stellte sie daneben. Gereon
setzte das Kind auf die Decke und schob die Kühltasche
nach hinten unter den Schirm. Dann hockte er sich hin und
zog dem Kind Schuhe und Strümpfe aus, dann das dünne
Hemdchen über den Kopf und das bunte Höschen nach
unten.
Der Kleine saß da in einem weißen Schlüpfer über dem
Windelpaket. Mit dem runden Haarschnitt sah er fast aus
wie ein Mädchen. Sie betrachtete ihn und fragte sich, ob er
sie vermissen würde, wenn sie nicht mehr da war. Wohl
kaum, wo er doch jetzt schon die meiste Zeit bei der
Schwiegermutter war.
Es war ein sonderbares Gefühl, inmitten all der
Menschen zu stehen. Hinter ihnen lag eine Großfamilie
auf mehreren Decken verteilt. Vater, Mutter, Großvater,
Großmutter, zwei kleine Mädchen von etwa vier und fünf
Jahren in rüschenbesetzten Bikinis. Ein Baby strampelte in
einer Wippe unter einem Sonnenschirm.
Wie im Supermarkt fragte sie sich, was in den Köpfen
der anderen vorgehen mochte. Die Großmutter hinter dem

20
Bäumchen spielte mit dem Baby. Die beiden Männer
dösten in der Sonne. Der Großvater hatte eine Zeitschrift
über sein Gesicht gelegt, der Vater eine Kappe aufgesetzt,
deren Schirm seine Augen verdeckte. Die Mutter wirkte
abgehetzt. Sie rief einem der kleinen Mädchen zu, es solle
sich die Nase putzen, und kramte dabei in einem Korb
nach den Papiertüchern. Rechts von ihnen saß ein älteres
Paar in Liegestühlen. Links war ein Stück Rasen frei. Dort
spielte eine Gruppe von Kindern mit einem Ball.
Sie zog das T-Shirt über den Kopf und ließ den Rock auf
die Füße fallen, darunter trug sie den Badeanzug. Dann
suchte sie in der Umhängetasche nach ihrer Sonnenbrille,
setzte sie auf und nahm in einem der Sessel Platz.
Gereon saß bereits. «Soll ich dich eincremen?» fragte er.
«Das habe ich daheim schon gemacht.»
«Im Rücken kommst du doch gar nicht überall hin.»
«Ich sitze ja auch nicht mit dem Rücken in der Sonne.»
Gereon zuckte mit den Achseln, lehnte sich zurück und
schloss die Augen. Sie schaute aufs Wasser. Es zog sie an
wie ein straff gespanntes Gummiseil. Es dürfte nicht leicht
sein für eine geübte Schwimmerin. Aber wenn sie vorab
eine Runde drehte und sich dabei völlig verausgabte …
Sie erhob sich wieder, nahm die Sonnenbrille ab und
sagte: «Ich geh ins Wasser.» Es war überflüssig, ihm das
zu sagen. Er öffnete nicht einmal die Augen.
Sie ging über das Gras und den schmalen Sandstreifen
und watete durch das flache Uferstück. Das Wasser war
kühl und frisch. Als sie eintauchte und es ihr über dem
Kopf zusammenschlug, überlief sie ein angenehmer
Schauer.
Sie schwamm bis zur Absperrung, die den bewachten
Strand vom offenen See trennte, und ein Stück daran
entlang. Unvermittelt geriet sie in Versuchung, es sofort
21
zu tun – die Absperrung überwinden und
hinausschwimmen. Verboten war das nicht. Es gab auch
am anderen Ufer ein paar Decken und Sitzgruppen, solche,
die den Eintritt scheuten, denen es nichts ausmachte, sich
zwischen Steine und Gestrüpp zu legen. Aber der
Rettungsschwimmer auf dem Holztürmchen am
befestigten Strand behielt auch die Seite im Auge. Nur
konnte er nicht alles sehen und nicht schnell genug an Ort
und Stelle sein, wenn weiter hinten etwas passierte. Und
Voraussetzung war auch, dass jemand um Hilfe schrie
oder wenigstens mit den Armen ruderte. Wenn in dem
Gewimmel ein Kopf einfach wegtauchte …
Es hieß, im See sei einmal ein Mann ertrunken, die
Leiche habe man nie gefunden. Ob das stimmte, wusste
sie nicht, wenn ja, musste der Mann noch da unten sein.
Dann könnte sie dort mit ihm leben, zwischen den Fischen
und den Algen. Es musste schön sein in einer
Wassertropfenwelt, in der es keine Lieder und keine
schwarzen Träume gab, in der es nur rauschte und
geheimnisvoll grün oder braun aussah. Der Mann im See
hatte zuletzt garantiert kein Schlagzeug gehört. Nur den
Schlag des eigenen Herzens. Keine Bassgitarre und nicht
das Pfeifen einer Orgel. Nur das Summen des eigenen
Blutes in den Ohren.
Nach fast einer Stunde schwamm sie zurück, obwohl es
schwer fiel. Aber einen Großteil Kraft hatte sie bereits im
Wasser gelassen. Und da war das Bedürfnis, noch ein
Weilchen mit dem Kind zu spielen, ihm vielleicht zu
erklären, warum sie gehen musste. Der Kleine verstand es
ja nicht. Sie wollte sich auch unauffällig von Gereon
verabschieden.

Als sie ihren Platz erreichte, war das ältere Paar rechts von
ihnen verschwunden. Nur die beiden Liegestühle standen
22
noch da. Und der Platz links neben ihnen war nicht mehr
frei. Von den spielenden Kindern und ihrem Ball war weit
und breit nichts mehr zu sehen. Da lag jetzt eine hellgrüne
Decke so nahe bei ihrem Klappsessel, dass das Rohrgestell
an den Stoff anschloss. Mitten auf der Decke stand ein
großes Kofferradio mit Kassettenteil, aus dem Musik in
den Nachmittag dudelte.
Um das Radio verteilten sich vier Leute, alle waren im
selben Alter wie sie und Gereon. Zwei Männer, zwei
Frauen. Zwei Paare! Eins saß aufrecht mit angezogenen
Beinen und unterhielt sich nur. Beide Gesichter waren im
Profil zu erkennen. Das zweite Paar hatte vorerst keine
Gesichter. Es lag ausgestreckt, die Frau unten, der Mann
über ihr.
Vom Kopf der Frau war nur das Haar zu sehen, ein sehr
helles Blond, fast weiß – und sehr lang, es reichte ihr bis
an die Hüften. Der Mann hatte kräftiges dunkles Haar, das
sich im Nacken ringelte. Seine muskulösen Beine lagen
zwischen den gespreizten Beinen der Frau. Seine Hände
umschlossen ihren Kopf. Er küsste sie.
Der Anblick krampfte ihr unvermittelt das Herz
zusammen. Sie hatte Mühe zu atmen, fühlte das Blut in
den Beinen versacken. Ihr Kopf wurde leer. Nur um ihn
wieder zu füllen, bückte sie sich unter den Schirm und
griff nach einem Handtuch. Und nur um das Poltern zu
übertönen, mit dem der Herzschlag wieder einsetzte, strich
sie dem Kind über den Kopf, sprach ein paar Worte mit
ihm, kramte den roten Plastikfisch aus der Umhängetasche
und drückte ihn dem Kind in die Finger.
Dann drehte sie ihren Sessel so, dass sie der Gruppe mit
dem Radio den Rücken zukehrte. Trotzdem schwebte ihr
der Anblick weiter vor den Augen. Nur allmählich
verblasste das Bild, und sie beruhigte sich. Was das Paar
hinter ihr tat, ging sie nichts an. Es war normal und
23
harmlos, und die Musik war nicht einmal lästig.
Irgendeiner sang etwas in englischer Sprache.
Außer der Musik hörte sie die helle Stimme einer Frau
und die bedächtige Stimme eines Mannes. Es musste der
sein, der aufrecht saß. Und so wie er sprach, schien er die
Frau noch nicht lange zu kennen. Er nannte sie Alice. Der
Name erinnerte sie an ein Buch, das sie als Kind besessen
hatte. Für einen Tag! Alice im Wunderland. Gelesen hatte
sie es nicht. Dazu war sie nicht gekommen in den paar
Stunden. Vater hatte ihr erzählt, wovon es handelte. Aber
was Vater erzählt hatte – es hatte nicht mehr Wert gehabt
als sein Versprechen:
«Eines Tages wird es besser.»
Der Mann hinter ihrem Sessel erzählte, dass er sich
selbständig machen wolle. Er habe ein gutes Angebot, in
eine Gemeinschaftspraxis einzusteigen, erklärte er Alice.
Von den beiden, die lagen, war nichts zu hören.
Gereon spähte an ihrem Arm vorbei und grinste.
Automatisch warf sie einen Blick über die Schulter. Der
dunkelhaarige Mann hatte sich aufgerichtet. Er kniete,
immer noch mit dem Rücken zu ihr, neben der
weißblonden Frau, hatte ihr das Oberteil des Bikinis
ausgezogen und Sonnenöl zwischen ihre Brüste gegossen.
Die Pfütze war deutlich zu erkennen. Er war dabei, sie zu
verteilen. Die Frau rekelte sich unter seinen Händen. Es
sah aus, als genieße sie es. Dann setzte die Frau sich
ebenfalls. «Jetzt du», sagte sie. «Aber zuerst machen wir
richtige Musik. Bei dem Gedudel schläft man ja ein.»
Neben den Beinen der weißblonden Frau lag ein bunter
Stoffbeutel. Sie fasste hinein und zog eine Musikkassette
heraus. Der dunkelhaarige Mann protestierte: «Nein, Ute,
die nicht. Das ist nicht fair. Wo hast du die her? Gib sie
mir!»

24
Er griff nach dem Arm der Frau. Die Frau ließ sich nach
hinten fallen, und der Mann fiel über sie. Sie balgten
herum, rollten fast von der Decke.
Gereon grinste immer noch.
Dann lag der Mann unten, die Frau saß rittlings auf ihm,
streckte den Arm mit der Musikkassette in die Luft, lachte
und keuchte: «Gewonnen, gewonnen. Verdirb uns nicht
den Spaß, Schätzchen. Die Musik ist phantastisch.» Sie
beugte sich zu dem Radiorecorder hinüber. Ihr langes
weißblondes Haar streifte die Beine des Mannes, während
sie die Kassette in den Recorder schob und auf eine Taste
drückte. Dann drehte sie die Lautstärke höher.
Der Satz ‹Verdirb uns nicht den Spaß› und der Ausdruck
‹Schätzchen› hatten ihr einen Stich versetzt und etwas im
Innern zum Schwingen gebracht. Als die ersten Takte der
Musik aufklangen, ließ die weißblonde Frau sich nach
vorne fallen und umschloss das Gesicht des Mannes mit
beiden Händen. Sie küsste ihn und bewegte die Hüften
über seinem Schoß.
Und Gereon bekam seinen nervösen Blick. «Soll ich
dich jetzt eincremen?» fragte er.
«Nein!» So heftig hatte sie nicht werden wollen. Aber
was die Frau da trieb und wie Gereon darauf reagierte,
machte sie wütend. Abrupt stand sie auf. Es wurde Zeit,
sich von dem Kind zu verabschieden. Das wollte sie in
Ruhe tun, nicht mit einem Weib in unmittelbarer Nähe,
das ihr überdeutlich vor Augen führte, woran sie
gescheitert war.
«Sie könnten wenigstens die Musik leiser stellen», sagte
sie. «Hier ist laute Musik verboten.»
Gereon verzog abfällig das Gesicht. «Demnächst wird
hier noch das Atmen verboten. Reg dich bloß nicht
künstlich auf. Mir gefällt die Musik, und der Rest gefällt

25
mir auch. Die hat jedenfalls Feuer im Hintern.»
Sie kümmerte sich nicht um das, was er sagte, nahm das
Kind auf den Arm und griff mit der freien Hand nach dem
roten Fisch. Es tat gut und beruhigte, den warmen, festen
Körper zu fühlen, das Windelpaket unter dem weißen
Höschen, den runden Arm im Nacken und das
Babygesicht so dicht vor Augen.
Auf dem seichten Uferstreifen stellte sie ihren Sohn auf
die Füße. Er zuckte zusammen. Das Wasser war kühl,
nachdem er so lange in der Hitze gesessen hatte. Nach ein
paar Sekunden hockte er sich hin und blinzelte zu ihr
hoch. Sie reichte ihm den roten Fisch, er tauchte ihn ein.
Er war ein hübsches Kind, ein stilles Kind. Er sprach
nicht viel, obwohl er über einen verhältnismäßig großen
Wortschatz verfügte und deutlich in kurzen Sätzen
artikulieren konnte. «Ich mag essen.» – «Papa muss
arbeiten.» – «Oma kocht Pudding.» – «Das ist Mamas
Bett.»
Einmal, kurz nach dem Umzug ins eigene Haus, er war
gerade ein Jahr alt gewesen, hatte sie ihn zu sich ins Bett
genommen, an einem Sonntagmorgen. Er war noch einmal
eingeschlafen in ihrem Arm. Und es war ein tiefes und
warmes Gefühl gewesen, ihn zu halten.
Und wie sie da aufrecht neben ihm stand, auf den
schmalen weißen Rücken hinunterschaute, auf die kleine
Faust, die den roten Fisch im Wasser schwenkte, auf den
gebeugten Kopf mit den fast weißen Haaren, auf den
zierlichen Nacken, da kam das Gefühl wieder. Wenn es
nicht schon genug Gründe gegeben hätte, hätte sie es nur
für ihn getan. Damit er frei und unbelastet aufwachsen
konnte. Sie hockte sich neben ihn und küsste ihn auf die
Schulter. Er roch sauber und frisch nach der
Sonnenschutzmilch. Gereon hatte ihn eingecremt,

26
während sie im Wasser gewesen war.
Sie blieb eine halbe Stunde mit dem Kind im seichten
Wasser, vergaß die beiden Paare auf der grünen Decke,
vergaß alles, was den Abschied stören konnte. Dann leerte
der Rasen sich allmählich, es ging auf sechs Uhr zu, und
sie begriff, dass es allerhöchste Zeit wurde. Wenn sie das
Kind nicht bei sich gehabt hätte, wäre sie
hinausgeschwommen, ohne noch einen Gedanken an
Gereon zu verschwenden. Den hilflosen kleinen Kerl
allein auf dem Uferstreifen zurückzulassen, brachte sie
nicht über sich. Er hätte ihr folgen können.
Sie nahm ihn wieder auf den Arm, fühlte die jetzt kühlen
Beinchen und das nasse Höschen durch den Badeanzug
am Bauch und den festen, runden Arm wieder im Nacken.
Den roten Fisch hielt er an der Schwanzflosse
umklammert.
Beim Näherkommen erkannte sie, dass sich auf der
grünen Decke nichts verändert hatte. Die Musik lief so
laut wie zuvor. Das eine Paar saß aufrecht und unterhielt
sich, ohne sich zu berühren. Das andere lag wieder.
Sie kümmerte sich nicht darum, zog dem Kind eine
frische Windel und ein trockenes Unterhöschen an. Dann
wollte sie gehen, wurde jedoch noch einmal aufgehalten.
«Ich mag essen», sagte das Kind.
Auf ein paar Minuten kam es nicht an. Sie war voll und
ganz konzentriert auf die letzten Augenblicke mit ihrem
Sohn. «Was magst du denn essen? Ein Joghurt, eine
Banane, einen Keks oder einen Apfel?»
Er hielt das Köpfchen zur Seite geneigt, als denke er
ernsthaft über ihre Frage nach. «Ein Apfel», sagte er. Und
sie setzte sich noch einmal in ihren Sessel, nahm einen
Apfel und das kleine Schälmesser aus der Umhängetasche.

27
Gereon hatte ihren Sessel während ihrer Abwesenheit
verschoben, sodass sie nicht mehr mit dem Rücken,
sondern seitlich zur Decke saß und er besser an ihr
vorbeischauen konnte. Er saß mit ausgestreckten Beinen
und über dem Bauch zusammengelegten Händen da, tat
so, als blicke er zum Wasser, schielte in Wahrheit zu den
Brüsten der weißblonden Schlampe. Unter Garantie würde
er sich so eine suchen, wenn sie nicht mehr da war.
Es hätte sie wütend machen müssen, so zu denken, das
tat es nicht. Es machte nicht einmal traurig. Der Teil von
ihr, der fühlen konnte, war wohl schon tot, gestorben
irgendwann in den letzten sechs Monaten, ohne dass es
einer bemerkt hätte. Sie dachte nur darüber nach, wie sie
es sich leichter machen konnte.
Nicht gegen das Wasser kämpfen. Dort wo die
Absperrung begann, ragte eine winzige Landspitze in den
See hinein, mit Buschwerk bestanden. An der Stelle wäre
sie gleich aus dem Blickfeld der anderen verschwunden.
Und dann zur Mitte des Sees schwimmen. Von Anfang an
tauchen. Das zehrte an den Kräften.
Aus dem Radiorecorder hämmerte ein Schlagzeugsolo.
Obwohl sie es nicht beachtete, drosch es auf ihre Stirn ein.
Sie hielt den Apfel fest in der Hand, fühlte das Zittern im
Nacken, die Schultermuskeln spannten sich an. Es wurde
hart in ihrem Rücken und kalt, als säße sie nicht in der
warmen Luft, sondern läge auf einem kalten Untergrund.
Und etwas wie ein besonders dicker Daumen schob sich in
ihren Mund. So wie Weihnachten, als Gereon es besonders
schön machen wollte.
Sie schluckte heftig, setzte das Schälmesser an und teilte
den Apfel in vier Stücke, drei legte sie sich auf die
geschlossenen Beine.
Hinter ihr sagte die bereits vertraute Stimme von Alice:

28
«Da steckt ja richtig Feuer drin.»
Der sitzende Mann antwortete: «Das traut ihm heute
keiner mehr zu. Es ist auch fünf Jahre her. Das waren
Frankies wilde Wochen. Mehr als ein paar Wochen waren
es nämlich nicht. Er wird nicht gerne daran erinnert. Aber
ich finde, Ute hat Recht. Die Musik ist phantastisch, er
muss sich nicht schämen dafür. Drei Freunde waren sie,
leider sind sie nicht über den Keller hinausgekommen.
Frankie saß am Schlagzeug.»
Frankie, das hallte kurz in ihrem Kopf nach. Freunde,
Keller, Schlagzeug, das prägte sich ein.
«Warst du auch dabei?» fragte Alice.
«Nein», bekam sie zur Antwort, «ich kannte ihn damals
noch nicht.»
Gereon reckte sich im Sessel und warf einen Blick auf
das Apfelstück in ihren Händen. «Er isst ja bestimmt nicht
alles. Den Rest kannst du mir geben.»
«Den Rest esse ich selbst», sagte sie. «Und danach
schwimme ich noch eine Runde. Du kannst dir einen
nehmen. Es ist noch einer da.» Als letztes ein Stück Apfel!
Golden Delicious, die Sorte hatte sie schon als Kind
geliebt. Allein bei dem Gedanken wurde ihr der Mund
wässrig.
Auf der Decke richtete sich die weißblonde Frau auf. Sie
sah es aus den Augenwinkeln. «Wartet mal», sagte die
Frau und drückte eine Taste am Radiorecorder. «Ich spule
ein Stück vor. Was bisher gelaufen ist, ist nichts im
Vergleich mit dem ‹Song of Tiger›! Das ist das Beste, was
ihr je gehört habt.»
Der dunkelhaarige Mann rollte sich herum und griff
wieder nach dem Arm der Frau. Zum ersten Mal sah sie
sein Gesicht, es sagte ihr nichts. Auch seine Stimme ging
wie zuvor in ein Ohr hinein und zum anderen wieder
29
hinaus, als er erneut und diesmal heftiger protestierte:
«Nein, Ute, es reicht jetzt. Das nicht. Tu mir das nicht an.»
Es schien ihm sehr ernst mit seinen Worten. Aber Ute
lachte und wehrte seine Hände ab.
Cora dachte an ihr Haus. Dass die Schwiegermutter
garantiert jeden Winkel durchstöbern und nichts finden
würde, worüber sie meckern könnte. Es war alles
blitzblank. Die Bücher waren auch in Ordnung. Niemand
konnte ihr nachsagen, sie sei eine Schlampe gewesen.
Von einem Apfelviertel hatte sie das Kerngehäuse
entfernt und die Schale so dünn wie möglich. Sie hielt
dem Kind das Stück hin, griff nach dem zweiten Viertel,
um auch für sich das Kerngehäuse herauszuschneiden. In
dem Augenblick setzte die Musik wieder ein, noch lauter
als vorhin. Sie wollte nicht hinschauen, schielte trotzdem
aus den Augenwinkeln zur Seite und sah, wie die
weißblonde Frau sich zurückfallen ließ. Beide Hände hielt
sie an den Schultern des Mannes und riss ihn mit. Sie sah,
wie er eine Hand in das weißblonde Haar wickelte. Wie er
daran zog und den Kopf der Frau in eine Position brachte,
die ihm angenehm war. Dann küsste er sie. Und das
Schlagzeug …
Die Apfelstücke fielen ins Gras, als sie aufsprang.
Gereon zuckte zusammen, als sie zu schreien begann.
«Hört auf, ihr Schweine! Aufhören! Lass sie los! Du sollst
sie loslassen!»
Beim ersten Satz hatte sie sich zur Seite und auf die Knie
geworfen, beim letzten hatte sie das kleine Messer bereits
einmal in den Mann gestoßen.
Mit dem ersten Stich traf sie ihn in den Nacken. Er
schrie auf, rollte den Oberkörper herum und griff nach
ihrem Handgelenk. Er bekam es auch zu fassen und hielt
es für ein oder zwei Sekunden fest umklammert. Dabei

30
schaute er sie an. Und dann ließ er sie los und schaute sie
nur noch an. Er murmelte etwas. Sie verstand ihn nicht.
Die Musik war zu laut.
Und das war es! Das war das Lied aus ihrem Kopf, das
Lied, mit dem der Wahnsinn begann. Es schallte über den
platt getretenen Rasen, streifte entsetzte Gesichter und
steife Körper.
Mit dem zweiten Stich traf sie ihn seitlich in den Hals.
Er riss die Augen weit auf, gab aber keinen Ton mehr von
sich, griff nur mit einer Hand zum Hals und schaute ihr
dabei in die Augen. Das Blut spritzte zwischen seinen
Fingern durch, so rot wie der kleine Plastikfisch. Die
weißblonde Frau kreischte und versuchte, unter seinen
Beinen wegzukriechen.
Sie stieß noch einmal hinunter und noch einmal. Ein
Stich in die Kehle. Ein Stich in die Schulter, ein Stich
durch die Wange. Das Messer war klein, aber sehr spitz
und sehr scharf. Und die Musik war so laut. Das Lied
füllte den ganzen Kopf aus.
Der Mann, der bis dahin nur gesessen und sich mit Alice
unterhalten hatte, schrie etwas. Es klang wie: «Aufhören!»
Natürlich! Darum ging es doch. Aufhören! Hört auf, ihr
Schweine! Der sitzende Mann bewegte eine Hand nach
vorne, als wolle er ihr in den Arm fallen. Aber das tat er
nicht. Niemand tat etwas. Es war, als seien sie alle in der
Zeit eingefroren. Alice presste beide Hände vor den Mund.
Die weißblonde Frau wimmerte und kreischte
abwechselnd. Die kleinen Mädchen in den
rüschenbesetzten Bikinis drückten sich eng an ihre Mutter.
Der Großvater nahm die Zeitung vom Gesicht und richtete
sich auf. Die Großmutter riss das Baby hoch und presste
es sich gegen die Brust. Der Vater machte Anstalten, sich
zu erheben.

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Dann war Gereon endlich aus dem Sessel und in der
nächsten Sekunde über ihr. Er schlug mit der Faust in
ihren Rücken, wollte die Hand mit dem Messer packen,
als sie den Arm erneut anhob. Er brüllte: «Cora! Lass den
Scheiß! Bist du wahnsinnig?»
Nein, nein, sie war völlig klar im Kopf. Es war alles gut.
Es war alles richtig. Es musste so sein. Das wusste sie mit
Sicherheit. Und der Mann wusste es auch, es war in seinen
Augen zu lesen. «Dies ist mein Blut, das für deine Sünden
vergossen wird.»
Als Gereon sich auf sie warf, kamen ihm der sitzende
Mann und der Vater der kleinen Mädchen zu Hilfe. Beide
hielten ihr je einen Arm fest, während Gereon ihr das
Messer aus den Fingern zerrte, mit einer Hand in ihr Haar
griff, ihren Kopf nach hinten zog und ihr mehrfach mit der
Faust ins Gesicht schlug.
Gereon blutete aus zwei oder drei Wunden am Arm. Sie
hatte auch nach ihm gestoßen, obwohl sie das nicht hatte
tun wollen. Der sitzende Mann schrie nun Gereon an, er
solle aufhören. Das tat er schließlich auch. Aber er hielt
sie mit eisernem Griff im Nacken und presste ihr Gesicht
auf die blutige Brust des Mannes.
Es war still in der Brust. Es war auch sonst fast still.
Noch ein paar Rhythmen, ein letztes Schlagzeugsolo kurz
vor dem Bandende. Dann machte es Klack. Eine Taste am
Radiorecorder sprang hoch, es war vorbei.
Sie spürte Gereons Griff, die tauben Stellen im Gesicht,
wo seine Faust sie getroffen hatte, das Blut unter der
Wange und den Geschmack davon auf den Lippen. Sie
hörte das Gemurmel ringsum. Die Frau mit dem
weißblonden Haar wimmerte.
Sie streckte eine Hand aus, um sie der Frau aufs Bein zu
legen. «Keine Angst», sagte sie. «Er wird dich nicht

32
schlagen. Komm. Komm weg hier. Verschwinden wir.
Wir hätten nicht herkommen dürfen. Kannst du alleine
aufstehen, oder soll ich dir helfen?» Auf ihrer Decke
begann das Kind zu weinen.

33
2. Kapitel

Ich habe als Kind nicht viel geweint, nur einmal. Und da
habe ich nicht geweint, sondern vor Angst geschrien. In
den letzten Jahren habe ich nicht mehr daran gedacht.
Aber ich erinnere mich genau. Ich bin in einem
halbdunklen Schlafzimmer. Vor dem Fenster hängen
Gardinen aus schwerem braunem Stoff. Sie bewegen sich.
Das Fenster muss offen sein. Es ist kalt im Zimmer. Ich
friere.
Ich stehe neben einem Doppelbett. Die eine Hälfte ist
ordentlich gemacht, die zweite, beim Fenster, ist zerwühlt.
Von ihr geht ein muffiger, säuerlicher Geruch aus, als ob
die Wäsche lange nicht gewechselt wurde.
Es gefällt mir nicht in dem Zimmer. Die Kälte, der
Gestank von monatealtem Schweiß, ein schäbiger Läufer
auf nackten Holzbrettern. Da, wo ich gerade
hergekommen bin, liegt ein dicker Teppich auf dem
Fußboden, und es ist schön warm. Ich zerre an der Hand,
die meine hält. Ich will gehen.
Auf der ordentlich gemachten Seite des Bettes sitzt eine
Frau. Sie trägt einen Mantel und hält ein Baby im Arm. Es
ist in eine Decke gewickelt, ich soll es mir ansehen. Es ist
meine Schwester Magdalena. Man hat mir gesagt, dass ich
jetzt eine Schwester habe und dass wir gehen, um sie
anzuschauen. Aber ich sehe nur die Frau im Mantel.
Sie ist mir völlig fremd. Sie ist meine Mutter, die ich
lange nicht gesehen habe. Ein halbes Jahr. Das ist viel Zeit
für ein kleines Kind. So weit reicht das Gedächtnis nicht.
Und jetzt soll ich bei dieser Frau bleiben, die nur Augen
für das Deckenbündel hat.

34
Ihr Gesicht macht mir Angst. Hart ist es, grau und bitter.
Endlich schaut sie mich an. Ihre Stimme klingt, wie sie
aussieht. Sie sagt: «Der Herr hat uns die Schuld nicht
verziehen.»
Dann schlägt sie die Decke zurück, und ich sehe ein
winziges blaues Gesicht. Die Frau spricht weiter: «Er hat
uns eine Prüfung geschickt. Wir müssen sie bestehen. Wir
werden tun, was er von uns erwartet.»
Dass ich mir die Worte damals merken konnte, glaube
ich nicht. Man hat sie mir später oft gesagt, deshalb kenne
ich sie wohl noch so genau.
Ich will weg da. Die komische Stimme der Frau, das
winzige blaue Gesicht in der Decke, damit will ich nichts
zu tun haben. Ich zerre wieder an der Hand, die meine
hält, und beginne zu schreien. Jemand hebt mich hoch und
spricht beruhigend auf mich ein. Meine Mutter! Ich bin
fest überzeugt, dass die Frau, die mich auf den Arm
nimmt, meine richtige Mutter ist. Ich klammere mich fest
an sie und bin erleichtert, als sie mich zurück ins Warme
bringt. Ich war noch sehr klein, achtzehn Monate alt. Es
lässt sich leicht nachrechnen.
Als Magdalena geboren wurde, wie ich im Krankenhaus
in Buchholz, war ich ein Jahr alt. Wir hatten im selben
Monat Geburtstag. Ich am 9. und Magdalena am 16. Mai.
Meine Schwester kam als blaues Baby auf die Welt. Sofort
nach ihrer Geburt wurde sie in die große Klinik nach
Eppendorf gebracht und am Herzen operiert. Dabei
stellten die Ärzte fest, dass Magdalena noch andere
Krankheiten hatte. Natürlich versuchten sie, ihr zu helfen,
nur ließ sich nicht alles in Ordnung bringen.
Anfangs hieß es, dass Magdalena ein paar Tage,
höchstens ein paar Wochen leben könne. Die Ärzte
wollten nicht, dass Mutter sie mit heimnahm. Und Mutter

35
wollte Magdalena nicht allein lassen, sie blieb ebenfalls in
Eppendorf. Aber nach einem halben Jahr lebte meine
Schwester immer noch, und die Ärzte konnten sie nicht
ewig festhalten. Sie schickten sie heim zum Sterben.
Ich war während dieser sechs Monate bei einer
Nachbarsfamilie, den Adigars, untergebracht. Als kleines
Kind glaubte ich fest, dass sie meine Familie seien. Dass
mich meine richtige Mutter Grit Adigar nur nebenan
abgeliefert hatte, weil sie nicht viel mit mir zu tun haben
wollte. Nicht gleich, zuerst nahm sie mich ja noch einmal
mit zurück. Leider nicht mehr für lange.
An Einzelheiten aus dieser Zeit erinnere ich mich nicht.
Ich habe mir oft gewünscht, dass mir wenigstens ein
bisschen aus den Wochen und Monaten bei Grit und ihren
Töchtern Kerstin und Melanie einfiele.
Grit war noch sehr jung, sie muss damals Anfang
zwanzig gewesen sein, hatte mit siebzehn das erste Kind
bekommen und mit neunzehn das zweite. Ihr Mann war
nur selten daheim. Er war etliche Jahre älter als sie, fuhr
zur See und verdiente sehr gut. Grit hatte immer genug
Geld und immer genug Zeit für ihre Töchter. Sie war ein
lustiger und unkomplizierter Mensch, selbst fast noch ein
Kind.
Ich habe oft erlebt, wie sie sich plötzlich eine ihrer
Töchter schnappte, sich mit ihr auf den Boden fallen ließ,
sie kitzelte, dass sie sich unter ihren Händen wand,
jauchzte und quietschte und mit dem Lachen kaum
nachkam. Und ich denke heute noch, dass sie das auch mit
mir einmal gemacht hat in der Zeit, in der sie mich
betreute. Dass ich mit Kerstin und Melanie spielte. Dass
Grit mich abends auf den Schoß nahm und mit mir
schmuste, wie sie es mit ihren Kindern tat. Dass sie mich
am Nachmittag mit Kuchen fütterte oder mir eine lustige
Geschichte erzählte. Und dass sie zu mir sagte:
36
«Du bist ein gutes Kind, Cora.»
Aber die sechs Monate sind weg. Auch die paar
Wochen, die ich noch bei Grit verbrachte, nachdem Mutter
mit Magdalena aus der Klinik heimgekommen war, sind
ausgelöscht. Nur das Gefühl hat sich eingeprägt, das
Abgeschobenwerden, das Ausgestoßensein,
hinausgeworfen aus dem Paradies.
Weil im Paradies nur die reinen Engel sein dürfen, die
Gottes Wort bis auf den letzten Buchstaben befolgen,
keines seiner Gebote in Frage stellen, sich nicht gegen ihn
auflehnen und die Äpfel am Baum der Erkenntnis hängen
sehen können, ohne einen Bissen zu begehren.
Ich konnte das nicht. Ich war leicht zu verführen, ein
schwaches, sündiges Menschlein, das die Wünsche, die in
ihm geweckt wurden, nicht kontrollieren konnte, das alles
haben wollte, was ihm vor Augen geriet. Und mit so
einem Menschen wollte Grit Adigar nicht unter einem
Dach leben, glaubte ich.
Deshalb musste ich zu einer Frau Mutter sagen, die ich
nicht leiden mochte, und Vater zu dem Mann, der mit im
Haus lebte. Aber ihn mochte ich sehr gerne. Er war auch
ein Sünder. Mutter nannte ihn oft so.
Ich trug meine Sünden innen, bei Vater waren sie außen.
Ich habe sie oft gesehen, wenn ich in der Badewanne saß
und er aufs Klo musste. Ich weiß nicht, wie ich drauf
gekommen bin, dass dieses Ding seine Sünde war.
Vielleicht, weil ich so etwas nicht hatte und Kerstin und
Melanie Adigar auch nicht. Und weil ich mich für völlig
normal hielt, musste bei Vater etwas zu viel sein. Er tat
mir Leid deswegen. Ich hatte oft den Eindruck, er wolle
seinen Makel loswerden.
Wir schliefen in einem Zimmer. Und einmal wachte ich
nachts auf, weil er so unruhig war. Ich glaube, da war ich

37
drei Jahre alt, genau weiß ich es nicht mehr. Ich hing sehr
an Vater. Er kaufte mir neue Schuhe, wenn die alten
drückten. Er brachte mich abends ins Bett, blieb bei mir,
bis ich eingeschlafen war, und erzählte von früher. Von
ganz früher, als Buchholz noch ein winzig kleines und
sehr armes Heidedorf gewesen war. Nur ein paar
Bauernhöfe und der Boden so schlecht und die Tiere so
mager, dass sie nach dem Winter nicht zur Weide gehen
konnten. Sie mussten hingeschleppt werden. Und wie
dann die Eisenbahn kam. Wie alles besser wurde.
Ich mochte solche Geschichten. Sie hatten etwas von
Hoffnung, waren fast ein Versprechen. Wenn aus einem
winzigen, armen Heidedorf eine schöne kleine Stadt
werden konnte, dann konnte auch alles andere besser
werden.
An dem Abend damals hatte Vater mir von der Pest
erzählt. Und als ich dann aufwachte – Vater stöhnte, ich
dachte an die Pest und hatte Angst, er sei krank geworden.
Aber dann sah ich, dass er seine Sünde in der Hand hielt.
Für mich sah es aus, als wolle er sie abreißen. Das gelang
ihm nicht.
Ich dachte, wenn wir zu zweit reißen, schaffen wir es
bestimmt. Das sagte ich ihm auch und fragte, ob ich ihm
helfen solle. Er meinte, das wäre nicht nötig, stieg aus dem
Bett und ging im Dunkeln zum Badezimmer. Und ich
dachte, er wolle sie abschneiden. Im Bad lag eine große
Schere.
Aber am nächsten Samstag sah ich, dass er sie noch an
sich trug. Und – na ja, ich hätte auch Angst gehabt, mir
etwas abzuschneiden, was fest angewachsen war. Ich
wünschte ihm von ganzem Herzen, sie möge von alleine
abfallen, verfaulen oder wegeitern, wie mir der
Holzsplitter aus dem Handballen geeitert war.

38
Als ich das sagte, lächelte Vater, packte alles zurück in
die Hose, kam zur Wanne und wusch mich. «Ja», sagte er,
«hoffen wir, dass sie abfällt. Wir können ja darum beten.»
Ob wir das taten, weiß ich nicht mehr. Aber ich nehme
es an. Bei uns wurde ständig gebetet um Dinge, die uns
fehlten oder die wir nicht haben wollten – wie der Durst
auf Himbeerlimonade. Der quälte mich oft.
Ich weiß noch, einmal – da muss ich vier gewesen sein –
war ich bei Mutter in der Küche. Dass sie tatsächlich
meine Mutter war, glaubte ich noch nicht. Alle sagten es,
aber ich wusste schon, wie man lügt. Und ich dachte
immer, alle lügen.
Ich war durstig, Mutter gab mir ein Glas Wasser. Es war
nur Wasser aus der Leitung. Das mochte ich nicht. Es
schmeckte fade. Mutter nahm das Glas wieder fort und
sagte:
«Dann bist du auch nicht durstig.»
Das war ich wohl, und ich sagte, dass ich lieber
Himbeerlimonade trinken wolle. Himbeerlimonade gab es
bei Grit. Mutter sah es nicht gerne, wenn ich nebenan war.
Aber sie hatte nicht die Zeit, sich um das zu kümmern,
was ich trieb. Und ich nutzte jede Gelegenheit, ihr zu
entwischen und bei meiner richtigen Familie zu sein.
Ich hatte auch an dem Tag nebenan gespielt. Dann
wollte Grit einen Besuch machen. Sie hatte einen sehr
großen Freundes- und Bekanntenkreis. Viele luden sie ein,
weil ihr Mann oft lange unterwegs war. Grit rief ihre
Kinder ins Haus, um sie zu waschen und umzuziehen. Ich
hatte gefragt, ob ich mitfahren dürfe, und zur Antwort
bekommen: «Meine Mutter» erlaube das nicht. Ich musste
heimgehen.
Ich weiß das noch genau. Es war früher Nachmittag,
Ende Juli oder Anfang August. Draußen war es sehr heiß.

39
Das Küchenfenster stand offen, die Sonne tauchte alles in
helles Licht, die ganze Schäbigkeit, die Armseligkeit, die
keineswegs finanzielle Ursachen hatte.
Vater arbeitete in Hamburg in einem Büro am Freihafen.
Manchmal erzählte er mir auch davon. Ich wusste schon
mit vier Jahren, dass er gut verdiente. Wir hätten ein
besseres Leben führen können. Früher hatten meine Eltern
das auch getan und sich etwas gegönnt. Sie waren oft in
Hamburg gewesen, tanzen, essen und solche Sachen.
Aber seit Magdalena auf der Welt war, brauchte Vater
viel Geld für sich. Und die Klinik kostete auch eine
Menge. Die Ärzte in Eppendorf wunderten sich, dass
Magdalena noch lebte. Sie war oft in der Klinik,
manchmal lange für eine neue Operation, manchmal nur
ein paar Tage für Untersuchungen. Mutter war immer bei
ihr. Und für Mutters Bett und ihr Essen musste Vater
bezahlen. Wenn sie zurückkamen, hieß es dann wieder:
Ein paar Wochen noch, höchstens ein paar Monate.
Wir lebten mit dem Tod unter einem Dach. Und Mutter
kämpfte um jeden Tag. Sie ließ Magdalena nie aus den
Augen, auch nachts nicht. Deshalb schlief Vater in
meinem Zimmer. Wir hatten oben im Haus nur zwei
Zimmer und ein großes Bad. Als sie das Haus kauften,
hatten sie gedacht, dass sie nie Kinder bekämen und mit
dem zweiten Zimmer sogar eins für Gäste hätten.
Mutter stand vor dem Herd, als ich sie nach der
Limonade fragte. Es war ein Elektroherd. Einen
Kühlschrank hatten wir auch. Aber die restliche
Einrichtung unserer Küche bestand noch aus den alten,
klobigen Holzmöbeln, die sie nach ihrer Hochzeit
angeschafft hatten. Alles im Haus war alt, Mutter auch.
An dem Tag damals war sie schon vierundvierzig, eine
große Frau mit einem mageren Gesicht. Sie sah viel älter

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aus, als sie war. Für sich selbst hatte sie keine Zeit. Das
Haar hing ihr grau und strähnig bis auf die Schultern.
Wenn es zu lang wurde, schnitt sie ein Stück ab.
Sie trug einen bunten Kittel und rührte in einem Topf.
Das Wasserglas hatte sie in den Spülstein gestellt. Sie
drehte sich zu mir um und fragte: «Himbeerlimonade?»
Sie hatte eine sanfte Stimme und sprach immer sehr
leise, sodass man gezwungen war, genau hinzuhören. Sie
schüttelte den Kopf, als sei ihr völlig unverständlich, was
mich auf einen so absurden Gedanken gebracht haben
könnte. Dann sprach sie weiter in ihrer ruhigen,
bedächtigen Art: «Weißt du, was man unserem Erlöser
reichte, als er sterbend sagte: Mich dürstet? Einen mit
Essig getränkten Schwamm hielt man ihm an die Lippen.
Ein Becher mit Wasser hätte ihn glücklich gemacht und
seine Leiden gelindert. Aber er hat sich nicht beklagt und
gewiss nicht nach Himbeerlimonade gefragt. Was lernst
du daraus?»
Es kann nicht das erste Gespräch dieser Art gewesen
sein, das ich mit Mutter führte oder sie mit mir. Weil ich
die Antwort auswendig wusste. «Dass unser Erlöser
immer zufrieden war.»
Und ich war nie zufrieden. Ich war ein schwieriges Kind,
trotzig, aufbrausend, egoistisch. Ich wollte alles – und
alles für mich allein. Und wenn man mich nicht hinderte,
nahm ich es mir einfach. Mutter hatte mir erklärt, dass
Magdalena nur deshalb so krank war. Magdalena war ja
aus Mutters Bauch gekommen. Und kurz vor ihr war ich
in Mutters Bauch gewesen. Und ich hatte all die Kraft, die
Mutter in sich getragen hatte, die für mindestens drei
Kinder gereicht hätte, wie sie mir oft sagte, für mich allein
genommen. Für Magdalena war nichts übrig geblieben.
Es war mir egal, wenn Mutter mir so etwas erzählte. Ich

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wollte zwar nicht unbedingt ein schlechter Mensch sein,
aber solange es um meine Schwester ging, war mir das
Gutsein nicht so wichtig. Ich mochte Magdalena nicht. Für
mich war sie ein Ding wie ein Stück Holz. Sie konnte
nicht laufen und nicht sprechen. Sie konnte nicht mal
richtig weinen. Wenn ihr etwas wehtat, quietschte sie. Die
meiste Zeit lag sie im Bett und manchmal für eine Stunde
in einem Sessel in der Küche. Aber das war dann schon
ein sehr guter Tag.
Natürlich durfte ich nicht aussprechen, was ich dachte.
Ich musste genau das Gegenteil sagen. Aber das konnte
ich sehr gut. Ich sagte immer nur das, was die Leute hören
wollten. Mutter war mit meiner Antwort zufrieden.
«Meinst du nicht auch, dass du dir an unserem Erlöser ein
Beispiel nehmen solltest?», fragte sie. Ich nickte eifrig.
Und Mutter sagte:
«Dann geh und bitte ihn um Kraft und Gnade.»
Ich war immer noch durstig. Aber ich wusste, dass ich
nicht einmal mehr das Glas mit dem Leitungswasser von
ihr bekäme, solange ich nicht gebetet hatte, und ging in
unser Wohnzimmer.
Es war genauso schäbig und altmodisch eingerichtet wie
die Küche. Eine verschlissene Couch, ein niedriger Tisch
auf dünnen, schräg stehenden Beinen und zwei Sessel.
Aber niemand, der den Raum betrat, hatte Augen für die
abgewetzten Möbel.
Der Blick fiel immer zuerst auf den Altar in der Ecke
beim Fenster. Eigentlich war es nur ein Schrank, von dem
Vater das Oberteil hatte absägen müssen. Davor stand eine
harte Holzbank, auf der man nur knien durfte. Auf dem
Schrank lag eine mit Kerzen bestickte weiße Decke, auf
der immer eine Vase mit Blumen stand. Meist waren es
Rosen.

42
Sie waren sehr teuer. Aber Mutter kaufte sie gerne, auch
wenn sie mit dem Haushaltsgeld nicht hinkam. Dem
Erlöser ein Opfer zu bringen müsse einem das Herz mit
Freude füllen, sagte sie. Mein Herz füllte sich nie mit
Freude. Es war voll mit der Vermutung, dass ich
weggegeben worden war. Meine richtige Mutter Grit
Adigar musste schon vor langer Zeit erkannt haben, dass
ich ein schlechter Mensch war. Sie wollte nicht, dass
Kerstin und Melanie darunter leiden mussten und am Ende
ebenso krank wurden wie Magdalena. Deshalb hatte Grit
mich zu dieser Frau gebracht, die genau wusste, wie man
einen schlechten Menschen gut macht.
Aber wenn ich allen zeigte, dass ich ein gutes Kind war,
wenn ich fleißig betete und nicht sündigte, jedenfalls nicht
so, dass es einer merkte, dann durfte ich sicher bald wieder
für immer bei meiner richtigen Familie sein, dachte ich.
Dass alle Leute wirklich überzeugt waren, ich könnte
dem kranken Kind Magdalena den nächsten Tag
beschaffen, mochte ich mir nicht vorstellen. Ich wusste
beim besten Willen nicht, wie ich das anstellen sollte. Und
es hätte bedeutet, dass ich nie mehr heim durfte, dass ich
auf ewige Zeiten bei der komischen Frau und unserem
Erlöser bleiben musste.
Er stand auf dem Schrank, zwischen der Blumenvase
und vier Kerzenleuchtern mit hohen weißen Kerzen. Aber
er stand nicht richtig. Er war mit winzigen Nägeln an
einem dreißig Zentimeter hohen Holzkreuz befestigt.
Außerdem war er im Rücken geklebt. Ich hatte ihn mal
vom Schrank genommen und untersucht, als Mutter nicht
in der Nähe war.
Ich wollte nur feststellen, ob er die Augen aufmachte.
Mutter behauptete, er könne seinen Blick tief in die
Herzen der Menschen versenken und alle Sünden und
Begierden sehen. Aber er machte die Augen nicht auf,
43
obwohl ich ihn schüttelte, an der Dornenkrone auf seinem
schmerzgebeugten Haupt wackelte und gegen seinen
Bauch klopfte. Es hörte sich an, als hätte ich gegen den
Tisch geklopft.
Dass er mir auf die Schliche käme, glaubte ich nicht. Ich
hatte keinen Respekt vor ihm. Nur vor Mutter, die mich
zwang, vor ihm zu knien, dreimal am Tag oder öfter um
Gnade, Kraft und Erbarmen zu bitten. Mein Herz sollte er
rein machen. Ich wollte kein reines Herz. Ich hatte ein
gesundes, das reichte mir. Mir die Kraft zum Verzicht
geben sollte er. So eine Kraft wollte ich auch nicht.
Immer nur verzichten – auf Bonbons, Himbeerlimonade
und andere Köstlichkeiten. Den Kuchen zum Beispiel, den
uns Grit Adigar regelmäßig anbot. Sie backte ihn selbst,
jeden Samstag einen – mit dicken Zuckerstreuseln. Und
montags kam sie mit einem Teller, auf dem drei oder vier
Stücke lagen. Die waren dann schon ein bisschen
ausgetrocknet, das machte aber nichts. Mutter lehnte
immer ab. Und mir lief das Wasser im Mund zusammen,
wenn ich den Teller nur sah.
Wenn ich zu lange hinschaute, sagte Mutter: «Du hast
wieder deinen begehrlichen Blick.» Dann schickte sie
mich ins Wohnzimmer. Und dann kniete ich vor dem
Kreuz auf dem Schrank in der Ecke, an dem der Erlöser
sein Blut für unsere Sünden vergossen hatte.

Es war ein irritierender Moment, neben dem Toten zu


knien, sein Blut zu sehen und das Entsetzen der anderen.
Die Frau mit den weißblonden Haaren wollte sich von ihr
nicht anfassen, nicht aufhelfen und nicht fortbringen
lassen. Sie schlug mit beiden Händen nach ihr, als sie
ihrem Bein zu nahe kam. Der sitzende Mann sagte, sie
solle Ute in Ruhe lassen. Das tat sie dann. Ute ging sie

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nichts an.
Sie entschuldigte sich bei Gereon für die Stiche in den
Arm. Er schlug ihr wieder mit der Faust ins Gesicht. Und
der sitzende Mann – er saß längst nicht mehr, er kniete ihr
gegenüber und untersuchte den Toten. Aber da es ein
zeitloser Moment war, etwas für die Ewigkeit, musste er
der sitzende Mann bleiben – schrie er Gereon an: «Lassen
Sie das, verdammt! Jetzt hören Sie endlich auf!» Und
Gereon schrie:
«Bist du wahnsinnig geworden? Warum hast du das
getan?»
Das wusste sie nicht, und irgendwie war es peinlich.
Sie wäre gerne allein gewesen mit dem Toten, nur für
ein paar Minuten, um ihn in Ruhe anzuschauen, um die
Gefühle zu genießen, die sein Anblick auslöste; diese
Zufriedenheit, die grenzenlose Erleichterung und den
Stolz. Als sei eine unangenehme Arbeit, die sie lange vor
sich hergeschoben hatte, nun endlich erledigt. Fast hätte
sie gesagt: «Es ist vollbracht!» Das sprach sie nicht aus,
sie saß nur da und fühlte sich prächtig.
Daran änderte sich auch nichts, als die ersten Polizisten
kamen. Sie waren zu viert, uniformierte Beamte. Einer
wollte von ihr wissen, ob das kleine Schälmesser ihr
gehöre. Als sie das bestätigte, fragte er, ob sie den Mann
damit getötet hätte.
«Ja, natürlich», sagte sie. «Das war ich.»
Und der Polizist erklärte, sie müssten sie festnehmen, sie
brauche keine Aussage zu machen, habe das Recht auf
einen Anwalt und so weiter.
Sie erhob sich. «Vielen Dank», sagte sie. «Ich brauche
keinen Anwalt. Es ist alles in Ordnung.» Das war es auch.
Es war alles bestens. Diese wundervollen Gefühle, der
Jubel, der innere Frieden, etwas Ähnliches hatte sie noch
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nie empfunden.
Ein Polizist forderte Gereon auf, frische Unterwäsche für
sie aus der Umhängetasche zu nehmen und ihm ihre
Ausweispapiere auszuhändigen. Dass sie selbst in die
Tasche griff, gestattete er nicht. Sie durfte nur ihren Rock
und das T-Shirt nehmen. An ein Handtuch dachte sie
nicht.
Gereon begann in der Tasche zu kramen und schrie
erneut:
«Du bist ja völlig daneben. Du hast mich auch
gestochen.»
Sie antwortete ihm ruhig und beherrscht. Daraufhin
reichte Gereon dem Polizisten ihre Unterwäsche. Dem
blieb nichts anderes übrig, als sie zu nehmen und mit
neutraler Miene an sie weiterzureichen.
Sie erlaubten ihr, sich zu waschen. Zwei Uniformierte
begleiteten sie zur Personaltoilette, die in dem Flachbau
beim Eingang lag. Das Waschbecken war schmutzig, der
Spiegel darüber fast blind und mit unzähligen
Wassertropfen bespritzt. Trotzdem erkannte sie ihr
Gesicht klar und deutlich. Sie tastete über die rechte
Schläfe. Dort war die Haut aufgeplatzt. Das Augenlid war
dick geschwollen. Sie konnte auf dieser Seite nur durch
einen schmalen Spalt blinzeln. Es störte nicht.
Sie strich mit der Zungenspitze über die Oberlippe,
schmeckte Blut und dachte an die Holzfigur in der
Wohnzimmerecke, an die rote Farbe an Händen und
Füßen, die Wunde an der Seite, von der mehrere dünne
Streifen nach unten führten. Schon mit vier Jahren hatte
sie gewusst, dass es nur Farbe war. Aber das Blut des
Mannes, das Blut auf ihrem Gesicht, auf ihrem Körper,
das war echt. Und das war die Erlösung.
Alles war rot. Der Badeanzug, die Arme, die Hände,

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sogar ihr Haar war verschmiert. Sie hätte es gerne so
gelassen. Aber sie wollte die Polizisten nicht verärgern,
drehte den Wasserhahn auf, säuberte Hände und Arme,
hielt den Kopf unter den dünnen Strahl und schaute zu,
wie das Blut ins Becken lief. Mit Wasser vermischt wirkte
es hell, fast wie die Himbeerlimonade damals. Dabei war
es gar keine Limonade gewesen, nur zähflüssiger Sirup
mit Wasser verdünnt.
Irgendwann hatte Mutter kapituliert und ein
Zugeständnis gemacht an die Begierden. Ein Glas süßes
Wasser pro Tag. Genau genommen zwei, eins für sie und
eins für Magdalena. Sie sah sich wieder stehen vor dem
alten Küchentisch, dessen Platte so viele Kratzer und
Kerben hatte. Sah sich mit aufmerksamem Blick
verfolgen, wie Mutter Sirup in zwei Gläser goss, sorgsam
darauf achtend, dass in beide gleich viel rann. Und sie sah
sich rasch nach dem Glas greifen, in dem es vielleicht ein
Zehntelmillimeter mehr war. Damit zum Wasserhahn
laufen, bevor Mutter den feinen Unterschied bemerkte und
sie in die Wohnzimmerecke scheuchte.
Seit Jahren hatte sie nicht mehr daran gedacht, und jetzt
war es, als sei es gestern gewesen. Vater mit seinem
Bemühen, sich die Sünde vom Leib zu reißen, und den
alten Buchholzer Geschichten, immer nur früher, als ob es
kein Heute und kein Morgen gegeben hätte. Mutter mit
den bunten Kittelschürzen, den strähnigen Haaren und
dem Kreuz. Und Magdalena, das blauschimmernde
Porzellangesicht, vom immer gegenwärtigen Tod mit
Intensität und Makellosigkeit gezeichnet. Die büßende
Magdalena, ein Bündel Kraftlosigkeit, das für die Sünden
anderer litt.
Es war vorbei. Der Erlöser hatte sein Blut gegeben, die
Schuld der Menschen auf sich genommen und ihnen mit
seinem Tod den Weg in den Himmel geebnet. Sie sah sein

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Gesicht vor sich, seinen Blick, das Begreifen in seinen
Augen, das Verstehen, das Verzeihen. Und die Bitte:
«Vater, vergib ihr, denn sie weiß nicht, was sie tut.» Kein
Mensch konnte alles wissen!
Sie wusch auch den Badeanzug aus, benutzte ihn wie
einen Schwamm, um Brust und Bauch damit zu reinigen.
Das Wasser streifte sie mit den Händen ab. Es gab zwar
ein Handtuch, es hing neben dem Waschbecken an einem
Haken. Aber es war so schmutzig, als hinge es seit
Wochen da. Dann zog sie sich an. Die Unterwäsche und
das T-Shirt klebten auf der Haut, wurden feucht und
durchscheinend. Einen Augenblick zögerte sie, schaute an
sich hinunter. Die Brüste zeichneten sich unter dem
dünnen Stoff ab. So konnte sie nicht hinausgehen. Vor der
Tür warteten die Polizisten, Männer! Es musste
provozierend wirken, wenn sie ihnen so gegenübertrat.
Mutter bekäme einen Anfall, Mutter sähe sich gezwungen,
die Kerzen vor dem Hausaltar anzuzünden, sie auf die
Knie zu zwingen …
Sie verstand nicht, warum das plötzlich so gegenwärtig
war. Und so wichtig! Sie musste es gewaltsam abschütteln
und wurde es doch nicht los. Die Kerzenflammen tanzten
weiter vor ihren Augen. Sie blinzelte heftig, um das Bild
zu vertreiben. Als das nicht half, riss sie die Tür auf und
sprach einen der Polizisten an. «Haben Sie eine Jacke für
mich?»
Sie trugen beide nur die Hemden ihrer Uniform und
wechselten einen raschen Blick. Der Jüngere senkte vor
Verlegenheit den Kopf. Der andere, er mochte Anfang
vierzig sein, schaffte es, ihr in die Augen zu sehen – und
nicht auf die durch den feuchten Stoff schimmernden
Brüste. Er schien zu wissen, worum es ging. «Sie
brauchen keine Jacke», sagte er in väterlich sanftem Ton.
«Da hinten sitzen welche, die haben weniger an als Sie.

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Sind Sie so weit? Können wir gehen?»
Sie nickte nur.
Er hielt den Blick auf ihr Gesicht gerichtet und fragte:
«Wer hat Sie verletzt?»
«Mein Mann», erklärte sie. «Aber er hat das nicht böse
gemeint. Er war sehr aufgeregt und hat die Kontrolle über
sich verloren.» Der Polizist runzelte die Stirn, als
verwundere ihn diese Auskunft. Er fasste mit der Hand an
ihren Ellbogen, aber er zog die Hand sofort zurück, als sie
zusammenzuckte.
«Gehen wir», sagte er.
Und die Kerzenflammen erloschen endlich.
In der Zeit, die sie in der Toilette verbracht hatte, war
das Gelände weitgehend geräumt worden. All die
Menschen, die nicht unmittelbar Zeuge geworden waren,
waren verschwunden. Nur weit hinten, wo die grüne
Decke sein musste mit dem toten Mann darauf, war noch
eine Gruppe von Leuten.
Es war kurz nach sieben Uhr. Auf der Terrasse, die sich
dem Flachbau anschloss, hielten sich rund zwanzig
Personen auf. Und alle starrten sie an, als sie näher kam.
Die ängstlich fragenden Mienen waren ihr unangenehm.
Die übrig gebliebenen drei von der Decke saßen ein
wenig abseits. Der sitzende Mann versuchte, die beiden
Frauen zu trösten. Ute stieß seine Hand weg. Sie
wimmerte ohne Unterbrechung. Bei ihnen stand ein
jüngerer Mann in einem Sportanzug. Er stellte Fragen und
notierte sich die Antworten auf einem Block. Zwei
Sanitäter kamen auf die Terrasse. Ute wurde fortgebracht.
Alice folgte ihr.
Es war wie ein Film. Überall rührte und regte sich etwas,
und sie schaute nur zu. Der ältere Polizist führte sie zu

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einem Stuhl und sorgte dafür, dass ein Sanitäter sich ihr
Gesicht, vor allem das zuschwellende Auge anschaute. Er
war sehr freundlich und blieb neben ihr stehen, während
sein junger Kollege zu dem Mann im Sportanzug ging und
ein paar Worte mit ihm wechselte.
Gereon war auch noch da, hielt das Kind auf dem Schoß
und betrachtete den Verband an seinem Arm. Der Mann
im Sportanzug ging zu ihm und sagte etwas. Gereon
schüttelte heftig den Kopf. Dann stand er auf und ging zu
dem sitzenden Mann hinüber. Für sie hatte er keinen
Blick. Er schaute ihr auch nicht nach, als sie wenig später
von den beiden Polizisten flankiert auf das Drahtgitter
zuging.
Dicht beim Eingang standen zwei Streifenwagen und ein
weiteres Fahrzeug im Schatten einiger Bäume. Ihr fiel ein,
dass Gereons Wagen weit hinten in der prallen Sonne
stand. Sie blieb stehen und wandte sich an den älteren
Polizisten. Er wirkte reifer und lebenserfahrener als sein
Kollege. «Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen?»
«Berrenrath», sagte er automatisch.
Sie bedankte sich mit einem Nicken und verlangte:
«Hören Sie, Herr Berrenrath: Sie müssen noch einmal
zurückgehen und mit meinem Mann reden. Sagen Sie ihm,
er soll den Wagen gut durchlüften und die Scheiben
wieder hochdrehen, bevor er losfährt. Er wird nicht daran
denken, ich kenne ihn. An so etwas denkt er nie. Und der
Kleine hat empfindliche Ohren, er war schon oft krank.
Wenn er hohes Fieber hat, bekommt er so leicht
Krämpfe.»
Berrenrath nickte nur, öffnete die hintere Tür an einem
der Streifenwagen und deutete mit der Hand hinein, sie
möge einsteigen. Der Jüngere ging um den Wagen herum,
setzte sich hinter das Steuer, drehte sich zu ihr um und ließ

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sie nicht aus den Augen. Es sah fast aus, als habe er Angst
vor ihr.
Sie hätte ihn gerne beruhigt, nur wusste sie nicht, wie sie
ihm das erklären sollte. Es war vorbei! Das hätte er nicht
verstanden. Sie verstand es auch nicht. Sie fühlte es nur –
als hätte sie es sich mit dem Blut des Mannes auf die Stirn
geschrieben: VORBEI!
Berrenrath ging tatsächlich noch einmal zurück. Er blieb
nicht lange. Als er sich dann neben sie setzte, sagte er:
«Ihr Mann wird darauf achten.»
Sie fühlte sich losgelöst von allem, abgehoben, ein
wenig isoliert und betäubt von dem Triumph – wie
hinausgeschwommen und untergetaucht. Es war ein sehr
gutes Gefühl. Leider war es auf den Bauch und die
Herzgegend beschränkt. Im Hirn breitete sich ganz
allmählich und schleichend etwas aus, was das Geschehen
aus einer anderen Perspektive betrachten wollte; mit den
Augen der Menschen, die an den See gefahren waren, um
einen entspannten Nachmittag zu erleben.
Das Kind fiel ihr ein, wie es auf der Decke gesessen und
geweint hatte. Der arme kleine Kerl hatte sich das auch
ansehen müssen. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass
er zu klein war, um sich alles zu merken. Er würde
vergessen, was er gesehen hatte. Er würde sie vergessen.
Er würde bei Gereon und den Schwiegereltern
aufwachsen. Die Schwiegermutter war sehr gut zu ihm.
Auch der Alte, dieser grobe Klotz, hütete den Enkel wie
ein rohes Ei.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Und sie war so in
Gedanken versunken, dass sie keinen Meter registrierte.
Als der Wagen anhielt, als Berrenrath ausstieg und sie
zum Aussteigen aufforderte, tauchte sie für einen Moment
auf und versank gleich wieder in der Vorstellung von

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Zukunft, um sich nicht mit der Vergangenheit
beschäftigen zu müssen.
Lebenslänglich! Das war ihr klar. Immerhin hatte sie
einen Mord begangen. Das war ihr auch klar. Strafe
musste sein. Doch wer das Kreuz erlebt hatte, den konnten
Gitter nicht erschrecken. Die Vorstellung einer Zelle hatte
nichts Bedrohliches. Geregelte Mahlzeiten und Arbeit in
der Küche oder der Wäscherei, vielleicht in einem Büro,
wenn sie sich gut führte und allen zeigte, was sie leisten
konnte.
Es konnte nicht viel anders sein als die drei Jahre mit
Gereon. Ob ihr nun die Schwiegereltern oder ein paar
Wärterinnen auf die Finger schauten, das machte keinen
Unterschied. Nur die Wochenenden fielen weg. Nie mehr
eine Zigarette, die mit den letzten erlöschenden
Glutpünktchen im Aschenbecher den Startschuss für den
Wahnsinn gab.
Als sie das nächste Mal auftauchte, saß sie auf einem
Stuhl in einem hellgestrichenen Raum. Ein paar weitere
Stühle standen wahllos herum, in der Mitte zwei
Schreibtische, auf denen sich ein Durcheinander von
Papieren zwischen einer Schreibmaschine und einem
Telefon verteilte. Es störte sie. Sie hätte gern aufgeräumt
und überlegte, ob sie die Polizisten um Erlaubnis fragen
müsste.
Der Jüngere stand neben der Tür, Berrenrath bei einem
großen Fenster, an dem zwei Topfpflanzen
dahinkümmerten. Es fiel noch genügend Sonne ein, um
die Augen zu reizen.
Und sie hatte ihre Brille vergessen. Rechts neben den
Topfpflanzen lagen ein paar Akten. Die Akte Cora
Bender, dachte sie flüchtig. Es musste eine dünne Akte
werden. Es war ja alles klar. Natürlich musste man ihr ein

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paar Fragen stellen, und …
Es hätte sich dringend jemand um die Pflanzen kümmern
müssen. Das war mitleiderregend. Sie mussten den
Nachmittag in der prallen Sonne gestanden haben, hatten
braune Flecken auf den Blättern. Unter aller Garantie war
die Erde pulvertrocken.
«Hören Sie, Herr Berrenrath», sagte sie, «Sie müssen die
Pflanzen vom Fenster wegnehmen. Sie vertragen die
Sonne nicht. Das ist, als ob sie unter einem Brennglas
stehen. Wahrscheinlich brauchen sie auch Wasser. Darf
ich mal sehen?»
Berrenrath schien verblüfft, nach ein paar Sekunden
nickte er zögernd.
An der Wand neben der Tür befand sich ein Schrank mit
einem Spülbecken. Auf der Abtropffläche stand eine alte
Kaffeemaschine, in deren Kanne sich ein hässlicher
brauner Film gebildet hatte. Sie wurde wohl nie richtig
ausgespült. Neben der Maschine stand ein benutzter
Kaffeebecher. Sie wusch ihn sorgfältig aus, dann griff sie
nach der Kanne und wollte auch die reinigen.
«Lassen Sie das», sagte Berrenrath. «Setzen Sie sich
bitte wieder hin.»
«Na, hören Sie mal», protestierte sie. «Sie haben mir
erlaubt, die Blumen zu gießen. Und der Becher war
schmutzig. Was ist denn dabei, wenn ich ein bisschen
sauber mache?»
Berrenrath seufzte und zuckte mit den Achseln.
«Schauen Sie von mir aus nach den Blumen. Aber sauber
machen ist nicht Ihre Aufgabe.»
«Dann eben nicht», sagte sie, «ich hab’s nur gut
gemeint.»
Sie füllte den Becher mit Wasser und ging zum Fenster.

53
Tatsächlich war die Erde knochentrocken. Den Becher
stellte sie erst einmal auf dem Fensterbrett ab, trug die
beiden Pflanzen zum Schreibtisch, schob unauffällig zwei
von den Stühlen zurecht und einige von den Papieren zu
einem akkuraten Stapel zusammen, sodass ein wenig Platz
frei wurde und es etwas aufgeräumter aussah. Dann holte
sie den Becher und tränkte die Erde.
Die Polizisten schauten ihr ungläubig zu, als sie den
Becher ein zweites Mal mit Wasser füllte. «Die hatten es
bitter nötig», sagte sie, als sie sich zurück auf den Stuhl
setzte.
Eine volle Minute lang war es still. Sie bemühte sich, die
Gedanken beisammenzuhalten und sich auf das
einzustellen, was als Nächstes kam. Das Verhör! Wie so
etwas ablief, wusste sie aus Filmen. Im Grunde ging es nur
um ein Geständnis. Das war für die Polizei das Wichtigste.
Demnach war ein Verhör in ihrem Fall überflüssig, ein
Geständnis hatte sie bereits abgelegt, es musste nur noch
zu Papier gebracht und unterschrieben werden. Komisch,
dass sich niemand darum kümmerte. Sie wandte sich
erneut an Berrenrath. «Worauf warten wir eigentlich?»
«Auf die zuständigen Beamten», sagte er.
«Sind Sie nicht zuständig?»
«Nein.»
Sie lächelte ihn an. Es sollte ein bezauberndes Lächeln
werden, doch mit dem zerschlagenen Gesicht wurde es nur
schief. «Hören Sie: Das ist doch Blödsinn. Polizist ist
Polizist. Es wäre mir lieb, wenn wir das erledigen könnten.
Schreiben Sie mal auf, was ich gesagt habe. Ich
unterschreibe es, dann können Sie Feierabend machen.»
«Warten wir lieber auf die zuständigen Beamten», sagte
Berrenrath. «Sie müssen jeden Augenblick kommen.»
Natürlich kamen sie nicht. Sie hatte es oft in Filmen
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gesehen, dass sie einen Verdächtigen schmoren ließen,
damit er ihnen keinen Widerstand entgegensetzte. Nur
verstand sie nicht, warum diese Maßnahme bei ihr
angewandt wurde.
Zum einen war sie nicht nur verdächtig, sie war
eindeutig schuldig. Zum anderen hatte sie nicht vor,
Schwierigkeiten zu machen.
Die Warterei machte sie nur nervös. Sie musste wieder
an Gereon denken. Dass er sich auf der Seeterrasse
benommen hatte, als sei sie eine Wildfremde, die ihn nicht
das Geringste anging. Aber das verstand sie. Für Gereon
musste es ein ungeheurer Schock gewesen sein. Man
musste sich nur einmal in seine Lage versetzen. Er hatte ja
gar nicht an den See fahren wollen. Es sei viel zu heiß,
hatte er beim Mittagessen gesagt, als sie den Vorschlag
machte. Er ging auch nicht gerne ins Wasser. Und dann
hatte sie ihm da in ein paar Sekunden seine Welt in
Streifen geschnitten. Kein Wunder, dass er anschließend
auf sie eindrosch wie ein Wilder. Ob er schon daheim
war? Was mochte er seinen Eltern erzählt haben. Sie
mussten erstaunt gewesen sein, dass er nur mit dem Kind
zurückkam.
Sie sah das vor sich. Die fragenden Mienen. «Wo ist
denn Cora?» Die Stimme der Schwiegermutter. Der Alte
sprach nicht viel, wenn es um familiäre Belange ging. Und
Gereon, blass, mit dem weißen Verband und dem Kind auf
dem unverletzten Arm, bat zuerst, dass ihm jemand half,
den Kofferraum auszuräumen. Seine Mutter ging mit ihm
hinaus. Draußen, wo der Alte ihn nicht hörte, sagte
Gereon: «Sie hat einen Mann erstochen.»
Und später würden sie zusammen im Wohnzimmer
sitzen. Gereon berichtete der Reihe nach, obwohl es nicht
viel zu berichten gab. Seine Mutter jammerte, was die
Nachbarn sagen mochten, wenn sie es erfuhren. Sein Vater
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fragte nur, wie sich das aufs Geschäft auswirkte und wer
denn jetzt den Papierkram erledigte.

Es ging auf neun zu, als endlich die Tür geöffnet wurde.
Die Vorstellung von Gereon und seinen Eltern riss ab. Der
Mann im Sportanzug, der ihr auf der Seeterrasse
aufgefallen war, betrat den Raum. Er nannte ihr seinen
Namen. Sie vergaß ihn gleich wieder und versuchte, den
Mann einzuschätzen. Hoffentlich hielt er sich nicht mit
unnötigen Fragen auf.
Genau das tat er! Er setzte sich an die Schreibmaschine
und forderte sie auf, ihren Namen zu nennen, auch den
Geburtsnamen. Als ob es Zweifel an ihrer Identität
gegeben hätte. Er wollte wissen, wie alt sie sei, seit wann
verheiratet, berufstätig ja oder nein. Alles Dinge, die mit
der Sache überhaupt nichts zu tun hatten. Dann verlangte
er auch noch Auskünfte über ihre Schwiegereltern, Eltern
und Geschwister.
Bis zu den Schwiegereltern antwortete sie ihm
widerstrebend, aber wahrheitsgemäß. Dann sagte sie:
«Meine Eltern sind tot, Geschwister hatte ich nie!»
Und er betrachtete die Pflanzen auf dem Schreibtisch,
erkundigte sich, ob sie Pflanzen mochte, fragte
übergangslos, ob sie Schmerzen habe, einen Arzt brauche
oder einen Kaffee trinken wolle. Sie warf der alten
Maschine einen raschen Blick zu und verneinte.
Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren und ruhig zu
bleiben. Wider Erwarten schien es doch eine längere
Angelegenheit zu werden. Der Mann im Sportanzug
erklärte, welches Verbrechen ihr zur Last gelegt wurde, als
ob sie das nicht gewusst hätte. Er nannte ein paar
Paragraphen, sprach anschließend von ihren Rechten,
wiederholte, was Berrenrath am See bereits gesagt hatte.

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Dass sie keine Aussage machen müsse und so weiter.
An der Stelle unterbrach sie ihn. «Vielen Dank, ich habe
es Herrn Berrenrath schon erklärt, das ist nicht nötig. Ich
brauche keinen Anwalt. Sie schreiben am besten mal mit.
Wir können gleich anfangen.»
Das konnten sie nicht. Der Mann im Sportanzug sagte,
sie müssten auf den Chef warten. Aber er sei bereits im
Haus.
Noch einmal verging mehr als eine Viertelstunde. Es
machte sie ganz elend, nichts weiter tun zu können, als auf
dem Stuhl zu sitzen und die hellgestrichenen Wände zu
betrachten. Sie war es nicht gewohnt, untätig zu sein,
dabei geriet man nur ins Grübeln. Wie mittags im
Supermarkt, als sie gedacht hatte, sie hätte die Lösung
gefunden.
Irgendwie war es doch Wahnsinn. Den eigenen Tod so
fest beschlossen, dass es daran nichts mehr zu rütteln gab.
Und sich dann plötzlich auf einen Mann gestürzt. Nur weil
die weißblonde Frau – der Name fiel ihr im Augenblick
nicht ein – das Lied spielte. Sie hätte besser gefragt, wo
die Frau es herhatte. Und ob ihr jemand erklären könne,
wie es in ihren Kopf gekommen sei.
Niemand sprach. Das einzige Geräusch war das Tropfen
des Wasserhahns. Sie hatte ihn nicht fest genug zugedreht,
als sie den Becher zum zweiten Mal füllte. Die Männer
kümmerten sich nicht darum. Berrenrath behielt die Tür
im Auge. Sein junger Kollege stand da mit auf den
Rücken gelegten Händen. Der Mann im Sportanzug
blätterte in den Notizen, die er sich auf der Seeterrasse
gemacht hatte.
Was mochten ihm die Zeugen erzählt haben? Sie sei
über den Mann hergefallen wie eine Verrückte! So musste
es ausgesehen haben für die Leute. Plötzlich begriff sie,

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warum sie sich so viel Zeit mit ihr ließen. Weil sie es nicht
verstanden, weil sie wie Gereon wissen wollten, warum.
Mit dieser Erkenntnis verwandelte sich ihr Herz in einen
bleigefüllten Klumpen. Das Hirn füllte sich mit grauroten
Schwaden. Sie spürte, dass ihr die Hände feucht wurden
und zu zittern begannen. Keine Spur mehr von der
anfänglichen Erleichterung, dem Jubel und dem Triumph.
Sie brauchte eine vernünftige Erklärung.
Als die Tür endlich aufging, begann sie im Geist zu
zählen – achtzehn, neunzehn, zwanzig – und hoffte, davon
etwas ruhiger zu werden. Der Mann, der hereinkam,
mochte Anfang fünfzig sein. Er machte einen behäbigen
und gutmütigen Eindruck, grüßte kurz und allgemein,
nickte den beiden Polizisten zu. Berrenrath nickte zurück
und dabei irgendwie komisch in ihre Richtung. Der Mann
im Sportanzug erhob sich, und zusammen mit Berrenrath
gingen sie beide wieder hinaus.
Noch einmal warten, sich fragen, was die drei vor der
Tür zu bereden, was das komische Nicken zu bedeuten
hatte. Wenn wenigstens der jüngere Polizist gesprochen
hätte. Die Stille war unerträglich, denn sie war nur außen.
Es war fast wie sonst an einem Samstagabend. In ihrem
Kopf war es nicht still. Da dröhnte das Lied. Der tropfende
Wasserhahn klang fast wie das Schlagzeug. Nach dem
Lied kam immer der Traum. Und jetzt schlief sie nicht!
Wenn die Männer nicht bald zurückkamen …
Es dauerte nur zehn Minuten. Doch das waren
sechshundert Sekunden; und jede Sekunde war ein neuer
Gedanke. Und jeder neue Gedanke nagte an ihrem
Verstand. Was sie am meisten beunruhigte, waren die
Empfindungen, die das Töten in ihr ausgelöst hatte. Jeder
normale Mensch musste entsetzt sein, verzweifelt und von
Schuldgefühlen geplagt, wenn er so etwas getan hatte.
Und sie hatte sich gut gefühlt. Normal war das nicht.
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Endlich kamen sie zurück. Der Mann im Sportanzug
setzte sich wieder hinter die Schreibmaschine. Berrenrath
stellte sich erneut neben das Fenster. Der Chef setzte sich
ihr gegenüber. Er lächelte sie freundlich an und nannte
seinen Namen. Den verstand sie ebenso wenig wie das,
was er sonst noch sagte. Alles im Innern spannte sich an.
Knappe, präzise Antworten. Und eine nachvollziehbare
Begründung, damit erst gar nicht der Verdacht aufkam, sie
sei verrückt.
Berrenrath hielt etwas in der Hand, ihre Brieftasche. Wo
er sie so plötzlich hergenommen hatte, wusste sie nicht.
Sie hatte nicht darauf geachtet. Die gesamte Prozedur
wurde noch einmal wiederholt. Name, Geburtsname,
Geburtsdatum, Geburtsort, Familienstand, Beruf, Eltern,
Geschwister.
«Machen wir hier ein Quiz?» fuhr sie auf. «Da sind Sie
aber spät dran, für die Antworten habe ich meine Punkte
schon bekommen. Oder wollen Sie nur feststellen, ob ich
meine Sinne noch beisammen habe? Keine Sorge, ich hab
sie noch alle. Mir fällt auf, dass man mir dieselben Fragen
zum dritten Mal stellt. Ich mache Ihnen einen Vorschlag.
Fragen Sie zur Abwechslung mal Ihren Kollegen. Das hat
der alles schon aufgeschrieben. Außerdem hat der da
meine Papiere.»
Es tat ihr Leid, dass sie Berrenrath so abwertend mit
«der da» bezeichnet hatte. Das hatte er nicht verdient. Er
war wirklich sehr nett gewesen bisher. Und es wäre sicher
auch ratsamer gewesen, sich höflich und bereitwillig zu
zeigen. Aber bereitwillig war sie ja, nur mussten sie sich
ein bisschen beeilen. Wenn es in dem Tempo weiterging –
das stand sie nicht mehr lange durch.
Niemand reagierte auf ihre Frechheit. Nur der junge
Polizist runzelte kurz die Stirn. Berrenrath kam mit ihrer
Brieftasche zum Schreibtisch. Der Mann im Sportanzug
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griff danach. Ihr wurde bewusst, dass sie sich seinen
Namen nicht hatte merken können, auch den des Chefs
nicht. Sie versuchte, sich zu erinnern, aber jeder Gedanke
verfing sich im Gesicht des Toten. Und sie mochte nicht
sagen: «Entschuldigen Sie, ich war eben nicht ganz bei der
Sache und habe Ihre Namen nicht verstanden.» Sie hätten
sie doch auf der Stelle für verwirrt gehalten.
Die beiden uniformierten Polizisten verließen den Raum.
Es wäre ihr lieb gewesen, Berrenrath wäre geblieben, er
war ein so verständnisvoller Mensch. Darum bitten
mochte sie nicht. Es sollte nicht so aussehen, als ob sie
Beistand brauchte. Der Mann im Sportanzug klappte die
Brieftasche auf, nahm den Personalausweis heraus und
reichte ihn dem Chef. Dann betrachtete er ihren
Führerschein, stutzte und hob den Blick.
Er war über das Gesicht gestolpert, da war sie sicher.
Das kranke, graue Gesicht im Führerschein, das aussah,
als gehöre es einer alten Frau. Für einen Moment
befürchtete sie, dass er sie darauf ansprechen würde. Er
schwieg. Und sie zupfte rasch die Haare über der Stirn
zurecht, damit er nicht auf die Narbe aufmerksam wurde.
Der Chef hatte währenddessen die Daten auf ihrem
Personalausweis studiert, hob ebenfalls den Kopf und
schaute sie an. «Cora Bender», sagte er. «Cora, das klingt
wie eine Kurzform. Oder ist Cora Ihr voller Name?»
Er hatte eine angenehm warme und dunkle Stimme, die
gewiss auf manch einen beruhigend wirkte. Bei ihr stellte
sich diese Wirkung jedoch nicht ein. Sie bekam die Hände
nicht unter Kontrolle. Das Zittern hatte sich verstärkt. Sie
schloss die rechte Hand um die linke im Schoß und hielt
sie dort ganz fest.
«Hören Sie», sagte sie. «Ich möchte nicht unhöflich
erscheinen, aber ich finde, es ist schon spät. Deshalb
sollten wir uns das Geplänkel sparen.»
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Der Chef lächelte. «Wir haben viel Zeit. Und ich finde
ein bisschen Geplänkel entspannend. Wie fühlen Sie sich,
Frau Bender?»
«Sehr gut, vielen Dank.»
«Sie sind verletzt.» Er zeigte auf ihr Gesicht. «Wir
sollten zuerst einen Arzt für Sie rufen.»
«Bleiben Sie mir bloß mit den Weißkitteln vom Leib!»
fauchte sie. «Das hat sich ein Sanitäter angeschaut, es ist
nicht so schlimm, wie es aussieht. Ich habe schon
Schlimmeres erlebt.»
«Was denn?», fragte der Chef.
«Ich wüsste nicht, was Sie das angeht», erwiderte sie.
«Na schön, Frau Bender», sagte er ruhig, aber sehr
bestimmt, «wenn Sie es unbedingt so haben wollen, ich
kann auch anders. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie
Schmerzen haben oder sich sonst irgendwie beeinträchtigt
fühlen. Sie dürfen sich auch melden, wenn Sie einen
Kaffee trinken oder etwas essen möchten. Aber sagen Sie
vorher bitte. Es klingt dann besser.»
Sie hatte ihn verärgert, bewegte unbehaglich die
Schultern, verdrehte die Augen, zumindest das linke, das
nicht zugeschwollen war. «Hören Sie: Es tut mir Leid,
wenn ich ein bisschen laut geworden bin. Ich will Ihnen
keinen Ärger machen. Ich bin nur etwas nervös und
möchte es gerne hinter mich bringen. Warum muss ich
denn dreimal sagen, wie mein Mann heißt? Das tut doch
überhaupt nichts zur Sache. Nehmen Sie mein Geständnis
auf, lassen Sie mich unterschreiben, danach können wir
dann gerne einen Kaffee trinken.»
Als der Chef kurz nickte, stellte der Mann im
Sportanzug einen kleinen schwarzen Kasten auf den
Schreibtisch. Sie zuckte zusammen, als sie erkannte, dass
es sich um ein Kassettengerät handelte. Der Mann drückte
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auf eine Taste. Bevor sie es verhindern konnte, hatte sie
sich beide Hände auf die Ohren gepresst.
Es war in dem Moment wie Feuer im Kopf. Sie wussten
Bescheid! Irgendeiner hatte ihnen von dem Lied erzählt.
Und jetzt wollten sie, dass sie es sich noch einmal anhörte.
Was das für Folgen hätte, wusste nur der Himmel.
Vielleicht sprang sie erneut auf und schlug einem von
ihnen den nächsten Pflanzentopf über den Schädel.
Aber es kam keine Musik, es kam gar nichts. Und die
beiden Männer starrten sie misstrauisch an. «Ist etwas
nicht in Ordnung, Frau Bender?», erkundigte sich der
Chef.
Sie lächelte krampfhaft, nahm die Hände herunter und
versicherte eilig: «Doch, es ist alles in Ordnung. Ich hatte
nur gerade so einen unangenehmen Druck auf den Ohren.
Vom Wasser, nehme ich an. Ich bin getaucht, und … Aber
es ist schon wieder weg. Wirklich, ich höre Sie sehr gut.»
Da begann er endlich. Er hielt sich nicht mehr lange mit
Paragraphen auf, formulierte es so knapp wie möglich.
«Frau Bender, Sie haben kurz nach achtzehn Uhr am Otto-
Maigler-See einen Mann getötet. Es waren mehrere
Personen in unmittelbarer Nähe, die das Geschehen
beobachtet haben und eine Aussage machen konnten.
Einige der Aussagen sind bereits zu Protokoll genommen
und unterschrieben. Die Tatwaffe ist sichergestellt. Soweit
ist die Sachlage klar. Wir möchten Ihnen trotzdem gerne
noch ein paar Fragen stellen. Sie haben das Recht, die
Aussage zu verweigern. Sie haben das Recht, einen
Anwalt …»
Bevor er weitersprechen konnte, hob sie die Hand und
unterbrach ihn. Diesmal bemühte sie sich um einen
sanften Ton. Der schwarze Kasten war ein
Aufnahmegerät, das hatte sie inzwischen begriffen. Damit

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wurde jedes Wort aufgezeichnet, um es später allen
möglichen Leuten vorzuspielen. Jeder konnte sich
anhören, was sie gesagt hatte. Jeder konnte hören, wie sie
es gesagt hatte. Und jeder konnte seine Schlüsse daraus
ziehen.
«Das weiß ich alles», sagte sie. «Und ich habe es schon
zweimal gesagt. Ich brauche keinen Anwalt. Ich lege ein
Geständnis ab. Ich unterschreibe auch, dass Sie mich
weder unter Druck gesetzt noch sonst etwas mit mir
gemacht haben, dass ich mehrfach über meine Rechte
belehrt wurde und so weiter. In Ordnung?»
«In Ordnung», wiederholte der Chef. «Wenn Sie es so
möchten.» Er saß vorgebeugt und ließ sie nicht aus den
Augen.
Sie atmete tief durch und überlegte, wie sie es
ausdrücken könnte, um schon mit dem ersten Satz
klarzustellen, dass sie hundertprozentig in Ordnung war;
körperlich und vor allem natürlich geistig. Das
Händezittern hatte sie recht gut unter Kontrolle. Sie
musste nur die eine Hand fest genug um die andere legen,
dann fiel es kaum auf. Außerdem schauten sie nicht auf
ihre Hände, nur in ihr Gesicht. Nach zwei Sekunden sagte
sie mit fester Stimme: «Ich habe kurz nach achtzehn Uhr
am Otto-Maigler-See einen Mann erstochen. Ich habe
dazu das kleine Messer benutzt, mit dem ich einen Apfel
für meinen Sohn schälte.»
Der Chef zauberte einen Klarsichtbeutel auf den Tisch,
in dem das blutverschmierte Messer lag. «Ist es dieses
Messer?»
Zuerst nickte sie nur, dann fiel ihr ein, dass ein Nicken
nicht auf Band aufgezeichnet wurde, und sagte knapp:
«Ja.»
«Hatten Sie das Messer zu diesem Zweck mit an den See

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genommen, um einen Apfel damit zu schälen?» wollte er
wissen.
«Ja, natürlich. Außer den Äpfeln hatten wir nichts dabei,
wofür wir es gebraucht hätten.»
«Aber stattdessen haben Sie einen Mann damit
erstochen», sagte der Chef. «Wussten Sie, was geschieht,
wenn Sie mit diesem Messer auf einen Menschen
einstechen?»
Sie starrte ihn verständnislos an. Dann begriff sie den
Sinn seiner Frage und begann zu lächeln. «Hören Sie:
Auch wenn ich ein bisschen nervös bin, Sie müssen nicht
mit mir reden wie mit einer Geistesgestörten. Natürlich
wusste ich, was passiert, wenn ich mit diesem Messer auf
einen Menschen einsteche. Ich verletze ihn, ich töte ihn.
Ich habe so zugestochen, dass die Stiche zum Tod führen
mussten. Und das wusste ich, als ich es tat. Ist Ihre Frage
damit umfassend genug beantwortet?»
Der Chef ließ nicht erkennen, wie diese Worte auf ihn
wirkten. Er wollte nur wissen: «Wenn Sie die Stiche
bewusst ausgeführt haben, Frau Bender, erinnern Sie sich,
wo der erste Stich den Mann traf?»
Sie lächelte immer noch. Erinnern Sie sich? Nie im
Leben würde sie es vergessen – alles andere vielleicht,
aber das nicht! «In den Nacken», sagte sie. «Dann drehte
er sich um. Da habe ich auf den Hals gezielt. Es ist ein
kleines Messer. Ich dachte, wenn ich auf die Brust ziele,
das Herz treffe ich vielleicht nicht damit. Aber am Hals,
da ist die Schlagader, und da ist der Kehlkopf. Darauf
habe ich gezielt. Und ich habe auch getroffen. So wie er
geblutet hat, muss ich die Schlagader getroffen haben.
Aber ich habe ihn auch an anderen Stellen getroffen. Im
Gesicht. Und einmal ist mir das Messer abgerutscht, da
ging es in die Schulter.»

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Der Chef nickte. «Was hat Sie veranlasst, den Mann zu
töten? Ich habe das doch richtig verstanden, Sie wollten
ihn töten.»
«Ja, das wollte ich», sagte sie mit fester Stimme. Und in
dem Moment wusste sie auch, dass sie es schon seit langer
Zeit hatte tun wollen. Diesen Mann töten, nicht
irgendeinen, ausschließlich diesen.

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3. Kapitel

Es spielte keine Rolle mehr, aus welchen Gründen sie an


den See gefahren war. Es war anders gekommen, und es
war gut so. Während der Fahrt hatte sie es so nicht
gewollt, und hätte die Frau an der Sperre gesagt, sie sei
gekommen, um einen Mann zu töten, sie hätte die Frau für
verrückt gehalten. Aber als es geschah, hatte es so sein
müssen. Ihre Erkenntnis machte sie ein wenig ruhiger.
Die beiden Männer dagegen schienen von der knappen
Äußerung schockiert. Sie sah es an ihren Mienen, kam
jedoch nicht dazu, nachzudenken, ob sie es vielleicht
etwas weniger krass hätte formulieren sollen. Jetzt ging es
Schlag auf Schlag. Der Chef stellte die Fragen, der Mann
im Sportanzug saß nur da und ließ sie nicht aus den
Augen.
«Kannten Sie den Mann?»
«Nein.»
«Sie hatten ihn nie zuvor gesehen?»
«Nein.»
«Sie wissen wirklich nicht, wer er war?»
«Nein.»
Das war die Wahrheit, und die Wahrheit war immer gut
und immer richtig. Den Chef schien sie jedoch zu
verwirren. Er warf dem Mann im Sportanzug einen
irritierten Blick zu. Der zuckte mit den Achseln, der Chef
deutete ein Kopfschütteln an und wandte sich wieder an
sie. «Und warum wollten Sie ihn töten?»
«Ich habe mich über die Musik geärgert.» Es war nicht
ganz korrekt, kam aber der Wahrheit am nächsten.

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«Die Musik?» wiederholte der Chef mit einem
fassungslosen Unterton, den sie durchaus registrierte.
Sie beeilte sich, es genauer zu erklären, ohne das Lied
erwähnen zu müssen. «Ja, sie hatten ein großes Radio
dabei. Es lief sehr laut. Dann hat die Frau es noch lauter
gestellt. Das hat mich wütend gemacht.»
Der Chef räusperte sich. «Warum haben Sie die Frau
nicht gebeten, die Musik leiser zu stellen? Und warum
haben Sie den Mann angegriffen, wenn die Frau die Musik
lauter gestellt hatte?» Das war die alles entscheidende
Frage. Nur hatte sie darauf keine Antwort. «Ich habe sie
gebeten», erklärte sie. Und weil es so nicht den Tatsachen
entsprach, korrigierte sie sich auf der Stelle. «Also, nicht
direkt gebeten, aber ich habe mich beschwert. Sie hat sich
nicht darum gekümmert. Kann sein, dass ich nicht laut
genug gesprochen habe. Ich wollte nicht brüllen. Ich …
nun, ich wollte ja eigentlich ins Wasser gehen. Ich wollte
… ich …»
Das ging ihn nun wirklich nichts an, und es hatte auch
mit der Sache überhaupt nichts zu tun. Sie brach ihr
Stammeln ab und sagte energisch: «Hören Sie: Er lag auf
der Frau! An sie wäre ich nicht rangekommen. Aber ihr
wollte ich ja auch gar nichts tun, wirklich nicht. Ich wollte
ihn umbringen. Das habe ich getan. Darüber müssen wir
nicht diskutieren. Ich leugne es nicht. Das reicht doch für
Ihre Akten.»
«Nein», sagte der Chef und schüttelte den Kopf. «Das
reicht nicht, Frau Bender.»
«Wenn Sie dabei gewesen wären», widersprach sie,
«dann wüssten Sie, dass es dreimal reicht. Sie hätten sehen
müssen, wie der Kerl über die Frau herfiel. Da kann man
ja nicht einfach zuschauen. Da muss man doch etwas
unternehmen.»

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Der Chef starrte sie an. Seine Stimme hatte eine gewisse
Schärfe, als er sagte: «Wir reden hier nicht von einem
Kerl, Frau Bender, der über eine Frau herfiel! Wir reden
von einem Mann, über den Sie hergefallen sind. Und ich
wüsste – verdammt nochmal – gerne, warum. Sein Name
war Georg Frankenberg. Und jetzt erzählen Sie mir nicht
wieder …»
Was er sonst noch sagte, verstand sie nicht. Etwas wie
ein Schleier legte sich über ihre Ohren. Unvermittelt
tauchte vor dem geistigen Auge das Bild einer
Gefängniszelle auf. Eine Wärterin schloss die Tür hinter
ihr. Seltsamerweise hatte die Wärterin Mutters Gesicht,
und statt eines Schlüssels hielt sie in der einen Hand eine
brennende Kerze und in der anderen ein Holzkreuz. Und
die Figur am Kreuz war nur angeklebt.
Der Erlöser!
Sein Name war Georg Frankenberg? Sein Name war
nicht wichtig. Trotzdem ließ sie ihn wie ein Echo vor
Mutters Gesicht, der Kerze und dem Kreuz vorbeiziehen
und wartete, ob irgendwo eine Verbindung hergestellt
wurde. Es war so ein Gefühl, dass der Chef sich zufrieden
geben und sie in Ruhe lassen würde, wenn sie sagte: «Ach,
da fällt mir gerade ein, ich kannte ihn doch.»
Aber das Echo verhallte, hinterließ nirgendwo einen
Hauch. Es musste von ihrem Blick abzulesen sein. Da war
pure Ungläubigkeit in der Stimme des Chefs. «Sagt Ihnen
der Name wirklich nichts?»
«Nein.»
Er seufzte, kratzte sich am Hals und warf dem Mann im
Sportanzug einen raschen und unsicheren Blick zu. Der
verhielt sich still und betrachtete die Pflanzen auf dem
Schreibtisch.
Sie schienen bereits ein wenig praller. Vielleicht war es

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Einbildung, aber sie meinte zu sehen, wie die schlaffen
Blätter neue Kraft aus der feuchten Erde saugten. Wasser
war das Lebenselixier schlechthin. Vater hatte früher oft
erzählt von der harten Schicht im Heideboden, die erst
durchbrochen werden musste, damit das Wasser nicht
davonlief, wenn es regnete.
Aber hier ging es nicht um den Heideboden, und die
Stimme des Chefs verhinderte, dass sie sich an Vaters
Geschichten festhielt. «Sie wollen uns also erzählen, dass
da ein Fremder war. Ein Mann, den Sie noch nie zuvor
gesehen hatten. Und nur weil er mit seinen Freunden laute
Musik hörte, haben Sie auf ihn eingestochen wie eine
Irre.»
«Sagen Sie nicht so was», fuhr sie ihn an. «Ich bin nicht
verrückt. Ich bin völlig normal.»
Der Mann im Sportanzug räusperte sich verhalten und
schob seinen Notizblock über die Schreibtische. Er beugte
sich vor und flüsterte dem Chef etwas zu. Dabei tippte er
auf eine Stelle.
Der Chef nickte und hob den Kopf wieder. «Sie haben
sich nicht über die Musik geärgert, nur über das, was die
beiden miteinander trieben, nicht wahr? Sie sagten ja eben,
er sei über die Frau hergefallen. So war es aber nicht.
Georg Frankenberg hat nichts weiter getan, als
Zärtlichkeiten mit seiner Frau auszutauschen. Und die
Initiative ging eindeutig von seiner Frau aus. Sie haben auf
ihn eingestochen mit den Worten: ‹Hört auf, ihr
Schweine.› Damit waren doch beide gemeint, oder?»
Von all den Worten blieben nur zwei haften, steckten ihr
wie ein Kloß in der Kehle. Nur mit Mühe schaffte sie es,
sie herauszuwürgen. «Seine Frau?»
Der Chef nickte. «Georg Frankenberg war erst seit drei
Wochen verheiratet. Vorgestern sind sie von ihrer

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Hochzeitsreise zurückgekommen. Sie waren sozusagen
noch in den Flitterwochen und sehr verliebt ineinander. Da
ist es normal, dass man Zärtlichkeiten austauscht. Und
auch wenn man es in der Öffentlichkeit tut, daran nimmt
heutzutage niemand mehr Anstoß. Nur Sie haben sich
darüber aufgeregt. Warum, Frau Bender? Was hat Sie auf
die Idee gebracht, Georg Frankenberg könne seine Frau
schlagen?»
Georg Frankenberg? Irgendetwas stimmte nicht.
Irgendetwas war nicht so, wie sie es instinktiv erwartet
hatte. Es war dasselbe irritierende Gefühl wie gleich nach
der Tat, als die weißblonde Frau ihre Hand wegstieß.
Seine Frau! Es verwirrte sie vollends.
«Hören Sie», sagte sie. «Es bringt nichts, wenn Sie mir
so etwas erzählen und blöde Fragen stellen. Ich sage jetzt
nichts mehr. Wir können eine Menge Zeit sparen, wenn
Sie mein Geständnis aufnehmen. Ich habe den Mann
getötet. Mehr kann ich nicht sagen.»
«Mehr wollen Sie nicht sagen», sagte der Chef. «Aber
wir haben ja bereits ein paar Aussagen. Und einer der
Zeugen erklärte, Sie hätten Frau Frankenberg nach der Tat
in die Arme nehmen wollen. Sie haben auch zu ihr
gesprochen. Erinnern Sie sich an das, was Sie gesagt
haben?»
Jetzt war er wütend. Es kümmerte sie nicht. Georg
Frankenberg! Und seine Frau! Wenn der Chef es sagte,
musste es wohl so sein. Warum sollte ein Polizist lügen?
Davon hatte er nichts. Und Gereon hatte nicht einmal
mehr einen Blick für sie gehabt.
Wahrscheinlich saß er jetzt gemütlich vor dem Fernseher
und schaute sich einen Film an. Das war sein Leben,
Arbeit und Filme. Aber es war eher anzunehmen, dass er
noch mit seinen Eltern im Wohnzimmer saß. Und alle

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waren wütend auf sie. Der Alte sagte: «Sie war ein Luder.
Das habe ich schon gesehen, als sie zum ersten Mal hier
durch die Tür kam. Wir hätten sie dahin zurückschicken
sollen, wo sie hergekommen ist.»
Und Gereons Mutter sagte: «Du solltest dich von ihr
scheiden lassen. Das musst du tun, schon wegen der Leute.
Dass sie nicht denken, wir wollten mit so einer was zu tun
haben.»
Und Gereon nickte. Er nickte zu allem, was seine Eltern
vorschlugen. Und wenn ihm nicht anschließend jemand
erklärte, es sei Unsinn, tat er es auch.
Es war niemand mehr da, der ihm etwas erklärte. Aber er
fand bestimmt rasch eine andere. Er war ein gut
aussehender, junger, gesunder Mann. Er hatte ein Haus. Er
verdiente nicht schlecht, dafür hatte sie noch gesorgt. Und
eines Tages sollte er den Betrieb übernehmen, Chef sein in
der eigenen Firma. Er konnte einer Frau etwas bieten,
nicht nur finanziell.
Er trank nicht. Er prügelte nicht, er ging jeder
Auseinandersetzung aus dem Weg. Er hatte Zärtlichkeit,
doch, die hatte er. Sie hätte noch jahre- und jahrzehntelang
mit ihm schlafen können, wenn er am Heiligabend nicht
versucht hätte, sie auf diese Weise zu küssen.
Wahrscheinlich konnte er jede andere Frau damit
glücklich machen.
Ihm war eine zu gönnen, die ihn lieben konnte, wie er es
verdient hatte. Die es genoss, mit ihm im Bett zu liegen.
Die dem Moment entgegenfieberte, wo er an ihr
herunterrutschte, die das auch für ihn tat. Es tat weh, sich
das vorzustellen, aber sie wünschte ihm von ganzem
Herzen, dass er recht bald so eine Frau fand. Er war ein
Spießer auf seine Art. Aber er war ein ganz normaler
Mann. Und sie … war auch normal. Völlig normal! Das

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war sie von Kind an gewesen. Grit Adigar hatte es damals
gesagt.

Das war das Schlimmste, was ich als Kind begreifen


musste: Bei uns war keiner normal. Ich weiß nicht mehr
genau, ab wann ich wusste, dass ich dazugehörte und dass
sich für mich nie etwas ändern würde. Ich weiß auch nicht
mehr, ob es einen besonderen Anlass gab oder ob das
Begreifen ein allmählicher Prozess war. Irgendwann
wusste ich eben, dass dieses scheußliche Weib meine
leibliche Mutter war. Wenn ich mich mit ihr in der Stadt
hätte zeigen müssen, ich hätte sie verleugnet wie Petrus
den Erlöser. Aber das änderte nichts an den Tatsachen,
überhaupt nichts an diesem elenden Leben.
Vater bemühte sich, es für mich ein bisschen erträglicher
zu machen. Aber was konnte er schon tun? Da war der
Tag, an dem ich eingeschult wurde. Vater hatte mir in
Hamburg einen Ranzen gekauft und ein blaues Kleid. Es
war ein hübsches Kleid mit kleinen weißen Knöpfen auf
der Brust, einem weißen Kragen und einem Gürtel zum
Binden.
Ich musste es – weil Eitelkeit auch eine Sünde ist – am
nächsten Tag vor dem Altar im Wohnzimmer verbrennen.
In einem Blecheimer. Mutter stand mit einer gefüllten
Wasserkanne daneben, damit uns nicht das Haus in
Flammen aufging.
Vater schüttelte den Kopf, als ich es ihm abends
erzählte. Er erklärte mir, dass Mutter katholisch sei und
dass es da ein bisschen strenger wäre. Und später, als wir
im Bett lagen, erzählte er mir von der ersten Schule in
Buchholz.
Sie war 1654 erbaut worden, erzählte er. Und sie hatte
nur zwei Stuben gehabt. Die Schulstube war auch die

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Wohnstube der Lehrerfamilie gewesen. Und die Leute
schickten ihre Kinder nicht hin, weil sie sie für die Arbeit
auf dem Hof brauchten. Weil sie selbst nicht lesen und
schreiben konnten und es deshalb nicht für so wichtig
hielten. Dass aber heute jeder wüsste, wie wichtig es sei,
lesen und schreiben zu können, erklärte Vater. Und dass in
der Schule jeder in seinen eigenen Händen hielte, was aus
ihm wurde.
Das war seine Art, mir zu sagen: «Tu für dich, was du
kannst, Cora. Ich kann dir leider nicht helfen.»
Er sagte, es sei nicht wichtig, was man anziehe, es zähle
nur, was man im Kopf habe. Die Kinder früher seien in
Lumpen gegangen und hätten keine Schuhe gehabt. Na ja,
Schuhe hatte ich. Und Lumpen musste ich auch nicht
anziehen an meinem ersten Schultag. Ich kam mir
trotzdem vor wie aus einem Mülleimer gestiegen unter all
den herausgeputzten Mädchen.
Den neuen Ranzen auf dem Rücken wie die anderen
auch. Aber in einem alten sackartigen Kleid, das Mutter
eigens zur Buße aus dem Schrank gekramt hatte, obwohl
es mir zu eng war. Ich roch nach Mottenkugeln und kam
mit leeren Händen. Alle anderen hielten mit Süßigkeiten
gefüllte Tüten im Arm.
Zum Glück hatte Mutter keine Zeit, mich auf meinem
ersten Schulweg zu begleiten. Sie wussten es trotzdem
alle. Man glaubt nicht, wie schnell sich so etwas
herumspricht.
Ich war vom ersten Schultag an die Außenseiterin, weil
ich eine kranke Schwester hatte. Ja, sie lebte noch. Die
Ärzte wunderten sich alle paar Monate aufs Neue, aber das
kümmerte Magdalena nicht. Ich dachte oft, das sei ihre
Rache an mir. Ich hatte ihr in Mutters Bauch die Kraft
weggefressen, dafür lebte sie jetzt eisern weiter, und die

73
halbe Zeit gab es nichts zu essen.
Es gab auch keine Freundinnen. Nicht einmal Kerstin
und Melanie Adigar wollten auf dem Schulhof etwas mit
mir zu tun haben. Sie hatten Angst, ebenfalls ausgelacht
zu werden. In der großen Pause stand ich abseits, jeden
Tag, jede Woche, jeden Monat. Die anderen spielten und
tobten. Ich musste innere Einkehr halten, den Erlöser um
Verzeihung und Kraft für mich und um Gnade und den
nächsten Tag für Magdalena bitten.
Seit ich zur Schule ging, war es schlimmer geworden mit
ihr. Ich brachte häufig etwas mit, Husten, Schnupfen oder
Halsweh. Sie steckte sich regelmäßig an, obwohl ich nicht
in ihre Nähe kam. Und wenn ich nur einmal geniest hatte,
Magdalena traf es wie ein Hammerschlag.
Mutter schob die sich häufenden Krankheiten der
Tatsache zu, dass ich nicht mehr so viel Zeit zum Beten
hatte. Der Vormittag fiel ja weg. Da musste ich
wenigstens in der großen Pause meine Pflicht tun. Das tat
ich auch. Die Erkenntnis, dass Magdalena wirklich und
wahrhaftig meine Schwester war, hatte mich irgendwie
gelähmt. Es hieß doch, dass ich, so lange sie lebte, ebenso
gezeichnet und abgestempelt war wie sie.
Ich wünschte ihr nicht den Tod – wirklich nicht. Aber
ich wollte auch Freundinnen haben, die auf dem Schulhof
mit mir spielten und am Nachmittag zu mir kamen. Ich
wollte sonntags spazieren gehen und mit meinen Eltern in
der Eisdiele sitzen. Mit einer Mutter, die Zeit genug
gehabt hatte, sich vorher zu waschen, zu frisieren und ein
hübsches Kleid anzuziehen. Dass sie sich mal die Nägel
lackierte oder die Lippen nachzog wie Grit Adigar, hätte
ich ja gar nicht von ihr verlangt.
Ich wollte einen Vater haben, der lachen konnte. Der mir
nicht immer nur von früher erzählte, von Dingen, die

74
längst tot und vermodert waren. Der nicht nachts ins Bad
schleichen musste, um mit seiner Sünde zu kämpfen. Der
einmal von morgen sprach oder vom nächsten
Wochenende. Der einmal, nur ein einziges Mal sagte:
«Wir könnten den Hamburger Dom besuchen!
Zuckerwatte essen und Riesenrad fahren.»
Ich wollte Einkäufe machen mit Mutter. Ich wollte, dass
sie mich im Laden fragte, ob ich eine Tafel Schokolade
oder lieber einen Beutel Kartoffelchips haben möchte. Ich
wollte nicht immer nur hören, dass ich ein schlechter und
gieriger Mensch sei.
Das Kind, das die ganze Kraft aus ihrem Bauch für sich
allein genommen hatte. Verdammt nochmal! Ich hatte es
nicht mit Absicht getan. Ich hatte doch nicht ahnen
können, dass nach mir noch eine käme, die auch Kraft
brauchte.
Manchmal versuchte ich, Mutter das Geständnis
abzulocken, dass sie es ein bisschen übertrieben darstellte.
Ich fing solche Gespräche sehr geschickt an. Es war
trotzdem eine sinnlose Sache. Wenn ich Mutter erklärte,
dass ich meine Schlechtigkeit eingesehen hätte und
dagegen ankämpfte, schaute sie mich nur an, als wolle sie
sagen: «Es wurde aber auch höchste Zeit.»
Wenn ich ihr sagte, dass die Kinder in der Schule über
mich lachten, sagte sie: «Der Erlöser ist auch verspottet
worden. Sogar noch, als er sterbend am Kreuz hing. Und
er richtete seine Augen zum Himmel und sagte: Vater,
vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Was
lernst du daraus?»
Wie ich diesen Satz hasste!
Es war nicht ratsam, Mutter auch nur den kleinsten
Einblick in das zu geben, was ich tatsächlich lernte. Lesen,
schreiben, rechnen und lügen. Mich bei der Lehrerin

75
einschmeicheln, damit sie einschritt, wenn die anderen zu
laut über mich lachten und dabei noch mit den Fingern auf
mich zeigten. Meine Schwester zu hassen, das vor allem
lernte ich.
Ich hasste Magdalena damals wirklich und so inbrünstig,
wie man es nur als Kind kann. Wenn ich sie in der Küche
liegen sah, ihr Quietschen und Stöhnen hörte, hoffte ich
immer, dass ihr alles wehtat, was überhaupt wehtun kann.
Das änderte sich erst nach diesem Tag im Mai. Es war
im Jahr nach meiner Einschulung. Für mich war es ein
normaler Tag. Niemand sagte morgens etwas Besonderes.
Mit Ausnahme der Lehrerin, die mir in der Pause die Hand
drückte und mich anlächelte. «Nun bist du auch schon
sieben Jahre alt, Cora.»
Ich kam mittags um die übliche Zeit heim. Mutter
öffnete mir und schickte mich gleich ins Wohnzimmer.
Eine Mahlzeit gab es nicht, kein Topf auf dem Herd, auch
kein Brot auf dem Tisch. Das Brot lag oben im
Küchenschrank hinter einer verschlossenen Tür. Den
Schlüssel trug Mutter immer bei sich nach dem Motto:
«Und führe uns nicht in Versuchung!»
Mutter ging wieder hinauf sich um Magdalena
kümmern. Anfang April hatte ich ihr einen Schnupfen aus
der Schule mitgebracht, von dem sie sich nicht erholte.
Ihre Nase blutete häufig, ohne dass sie sie geputzt oder
sich gestoßen hätte. Auch wenn Mutter ihr die Zähne
putzte, spuckte sie Blut. Sie musste sich oft übergeben,
dabei aß sie kaum etwas. Überall an ihrem Körper waren
blaue und rote Flecken. Die Haare fielen ihr aus. Sie hatte
ständig Durchfall. Mutter wagte es nicht, mit ihr nach
Eppendorf zu fahren, aus Furcht, Magdalena müsse noch
einmal operiert werden. Jeden Abend, wenn wir am Tisch
saßen, hieß es: «Beten wir für morgen.»

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Am späten Nachmittag kam Vater heim. Da hockte ich
immer noch mit knurrendem Magen unter einem Strauß
frischer Rosen. Sie waren so lang, dass sie das Kreuz um
etliches überragten. Wegen der Rosen hatten wir sonntags
nur eine Suppe mit grünen Bohnen gegessen, kein noch so
winziges Stückchen Wurst darin. Vater kam durch die
Küche herein und rief leise nach mir. Ich ging zu ihm und
sah, dass er etwas in der Hand hielt.
Eine Tafel Schokolade! Schon als ich sie sah, bäumte
sich mein Magen auf. Vater küsste mich und flüsterte:
«Die schenke ich dir zu deinem Geburtstag.»
Ich wusste von anderen Kindern aus der Klasse, was ein
Geburtstag ist. Und wenn Grits Töchter Geburtstag hatten,
gab es nebenan ein Riesenfest mit Negerküssen,
Kartoffelchips und Eis. Dass ich auch einen Geburtstag
haben könnte, darüber war bis dahin nie gesprochen
worden.
Vater erklärte, jeder Mensch hätte so einen Tag und fast
alle feierten ihn. Dass sie sich Freunde einluden, Kuchen
aßen und Geschenke bekamen. Während er sprach, ließ er
die Tür zum Flur nicht aus den Augen. Über uns hörten
wir Mutter rumoren. Sie hatte kurz zuvor versucht,
Magdalena ein paar Löffel Hühnerbrühe einzuflößen.
Nach dem dritten Löffel hatte Magdalena sich erbrochen.
Mutter musste das Bett frisch beziehen. Danach hatte sie
Magdalena ins Bad getragen, um sie zu waschen.
Dann kam Mutter in die Küche. Wir hatten sie nicht
gehört auf der Treppe. Ich hatte mir gerade den ersten
Riegel Schokolade in den Mund geschoben. Sie kam zur
Tür herein. Nach zwei Schritten erstarrte sie. Ihr Blick
ging zwischen meiner Hand und meinem Mund hin und
her, ehe sie sich Vater zuwandte.
«Wie kannst du so etwas tun?», fragte sie. «Während die

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eine nicht den kleinsten Bissen im Leib behält, fütterst du
die andere mit Süßigkeiten.»
Vater senkte den Kopf und murmelte: «Sie hat doch
Geburtstag, Elsbeth. Andere Kinder werden mit
Geschenken überhäuft, da kommt die Verwandtschaft,
jeder bringt etwas mit. Sieh nur, wie es nebenan ist. Grit
holt die ganze Straße zusammen. Und hier …»
Weiter kam er nicht. Mutter wurde nicht laut, das wurde
sie nie. «Hier», unterbrach sie ihn sanft, «zählt nur ein
Geburtstag, der unseres Erlösers. Und an ihn werden wir
uns jetzt wenden, ihn bitten, dass er uns Kraft gibt, den
vielen Versuchungen zu widerstehen. Wenn wir nicht alle
reinen Herzens sind, wie soll er denn Erbarmen haben?»
Dann streckte sie die Hand aus und verlangte von mir:
«Gib das her und zünde die Kerzen an.»
Und dann hockten wir zu dritt auf dem Bänkchen, fast
eine Stunde lang. Anschließend schickte Mutter mich ins
Bett. Sie fragte, ob ich bereit sei, auf das Abendessen zu
verzichten. Ich dürfe nicht einfach nur ja sagen. Ich müsse
wirklich bereit sein, ein Opfer zu bringen.
Ich hatte entsetzlichen Hunger, aber ich nickte, ging
hinauf und legte mich ins Bett, ohne die Zähne zu putzen.
Mir war übel, ich hatte Bauchweh und wünschte mir, auch
einmal richtig krank zu werden. Oder zu sterben, vielleicht
zu verhungern.
Einschlafen konnte ich nicht. Ich lag noch wach, als
Vater ins Zimmer kam. Das muss so gegen neun gewesen
sein. Er ging immer um neun ins Bett, wenn er früh von
der Arbeit gekommen war, auch im Sommer, wenn es
draußen noch hell war. Was hätte er sonst tun sollen?
Andere Leute schauten sich abends einen Film im
Fernsehen an. Oder sie hörten eine Sendung im Radio,
lasen in einer Zeitung oder einem Buch.

78
So etwas gab es bei uns nicht. Außer den Büchern,
Mutters Bibeln. Sie hatte mehrere. Ein Altes Testament
und ein Neues Testament und ein Testament für Kinder.
Da waren auch Bilder drin und nur die schönen
Geschichten von den Wundern, die der Erlöser getan hatte.
Aus dem Buch las Mutter Magdalena oft vor. Dann
zeigte sie ihr die Bilder und erzählte ihr, dass sie eines
Tages als reiner Engel auf einem kleinen Bänkchen vor
dem Thron Seines Vaters sitzen und mit den anderen
Engeln jubilieren dürfe. In den Wochen damals nicht.
Magdalena war zu schwach, um ihr zuzuhören. Mutter
versuchte es zwar, doch wenn sie zu erzählen oder zu
lesen anfing, drehte Magdalena den Kopf zur Seite.
Als Vater die Tür hinter sich schloss, hörte ich ihn
murmeln: «Das haben wir bald überstanden. Und dann
hört der Zirkus auf, oder ich geb ihr einen Tritt in den
Hintern.» Er schlug sich mit einer Faust in die Hand, hatte
noch nicht bemerkt, dass ich nicht schlief.

Sein Name war Rudolf Grovian. Manche sprachen ihn


absichtlich falsch aus, dann klang es nach Brutalität. Aber
er war kein gewalttätiger Mann, im Gegenteil; im privaten
Bereich hätte er von Zeit zu Zeit härter durchgreifen
müssen, das wusste er. Er war zweiundfünfzig Jahre alt,
seit siebenundzwanzig Jahren verheiratet, seit
fünfundzwanzig Jahren Vater.
Seine Tochter war immer ein aufsässiges Geschöpf
gewesen, das unverschämte Forderungen stellte und den
Eltern auf der Nase herumtanzte. Es war seine Schuld. Er
hätte die Erziehung nicht allein seiner Frau überlassen
dürfen. Mechthild war zu nachgiebig und zu gutgläubig.
Sie schaffte es nicht, Grenzen zu ziehen, nahm jeden
Unsinn, der ihr aufgetischt wurde, für bare Münze. Wenn

79
er früher etwas gesagt hatte, hieß es nur: «Rudi, lass sie
doch, sie ist noch so klein.»
Später war sie größer und ließ sich nichts mehr sagen,
von ihm bestimmt nicht. Und Mechthild legte sich den
Standardsatz zu: «Reg dich nicht auf, Rudi, denk an deine
Galle. So sind sie in dem Alter.»
Seit drei Jahren war seine Tochter nun verheiratet und
tanzte einem tüchtigen, netten jungen Mann auf der Nase
herum. Vor zwei Jahren hatte sie einen Sohn bekommen.
Und Rudolf Grovian hatte gehofft, dass sie zur Vernunft
käme, ihre Verantwortung begriff und ihre Ansprüche
zurückschraubte.
Ausgerechnet an dem Samstag hatte er schmerzlich
einsehen müssen, dass manche Hoffnungen die Zeit nicht
lohnten, die man darauf verwendete. Er hatte den
Nachmittag bei der Geburtstagsfeier seiner Schwägerin
verbracht. Tochter, Schwiegersohn und Enkel waren
selbstverständlich auch eingeladen gewesen. Tochter und
Enkel tauchten auf, sein Schwiegersohn ließ sich nicht
blicken.
Rudolf Grovian schnappte ein paar Fetzen aus der
Unterhaltung zwischen Frau und Tochter auf, die Anlass
zu schlimmsten Befürchtungen gaben. «Anwalt», das
Wort hörte er mehrfach. Und sich einzureden, es ginge
eventuell um eine Verkehrssache oder eine
Mietstreitigkeit, so naiv war er nicht.
Er nahm sich vor, im Laufe des Abends ein ernstes Wort
mit seiner Tochter zu reden, obwohl er wusste, dass es
zwecklos war und ihm danach nur die Galle überlief. Und
bevor es dazu kam, wurde er weggeholt. Das brachte der
Beruf hin und wieder mit sich.
Rudolf Grovian war Hauptkommissar bei der
Polizeibehörde im Erftkreis, Leiter des Ersten

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Kommissariats. Er hätte – dem Alter und den Parallelen
nach – Cora Benders Vater sein können. Stattdessen war
er der Chef, der sie mit seinen Fragen nicht vorwärts,
sondern zurückschob. Langsam, aber stetig immer weiter
zurück, mitten hinein in den Wahnsinn, den sie mehr
fürchtete als den Tod.
Es war ein unheilvolles Aufeinandertreffen für beide
Seiten: Der Polizist, der im Privatleben ein oft gereizter
und manchmal schuldbewusster Vater war, und die Frau,
die mit dem Wissen lebte, dass Väter nicht helfen konnten,
dass alles nur schlimmer wurde, wenn sie es versuchten.
Möglich, dass Rudolf Grovian an diesem Samstag ein
wenig gereizter war als sonst. Trotzdem tat er seine
Arbeit, wie er es gewohnt war – neutral und distanziert.
Als er über das Geschehen am Otto-Maigler-See
benachrichtigt wurde, fuhr er zur Dienststelle, trommelte
alle erreichbaren Kollegen für die Vernehmungen
zusammen, auch die, die sich sonst nicht mit
Kapitaldelikten befassten.
Es ging trotz des Wochenendes zügig voran. Das ganze
Völkchen wurde auf die umliegenden Räume verteilt. Er
sprach mit jedem, um sich einen ersten Eindruck zu
verschaffen. Die Leute gaben sich alle erdenkliche Mühe,
auch die kleinste Kleinigkeit zu erwähnen.
Doch alles bezog sich auf das unmittelbare
Tatgeschehen. Es gab keinen Hinweis, was die
Katastrophe ausgelöst hatte. In solchen Fällen, das wusste
er aus Erfahrung, lag der Auslöser entweder in der
Vergangenheit oder in der Natur des Täters. Dass eine
Täterin blindwütig auf einen ihr völlig Fremden losging,
mit solch einem Fall hatte Rudolf Grovian noch nie zu tun
gehabt und auch noch nie von einem gehört.
Frauen ertränkten ihre Kinder, schlugen ihren Männern

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im Schlaf die Köpfe ein, vergifteten oder erstickten ihre
pflegebedürftigen Mütter, wenn sie nicht mehr ein noch
aus wussten; Frauen waren Beziehungstäterinnen. Und
alles, was Rudolf Grovian zwischen sieben und neun Uhr
am Samstagabend hörte, passte in das gängige Muster.
Die wichtigste Aussage bekam er von Georg
Frankenbergs Freund und Arbeitskollegen Winfried
Meilhofer. Wie das Opfer war Meilhofer Arzt an der
Uniklinik in Köln, ein nüchterner Mann, der sich trotz
seines Schocks nur einen Satz erlaubte, der keine Fakten
enthielt. Wie das göttliche Strafgericht sei die Frau über
sie gekommen.
Er sei wie gelähmt gewesen, hatte Meilhofer gesagt,
habe einfach nicht reagieren können. Es habe auch so
ausgesehen, als werde Frankie allein mit der Frau fertig.
Nach dem ersten Stich, der keinesfalls tödlich gewesen
sein konnte, habe er ihr Handgelenk umfasst.
Bestätigt wurde das von einem Familienvater. «Ich
verstehe das nicht. So ein großer, kräftiger Kerl. Er hatte
sie doch gepackt! Und dann ließ er sie wieder los. Ich
hab’s genau gesehen. Sie hat sich nicht etwa losgerissen.
Er hätte sie ohne Mühe festhalten können. Aber er ließ
sich widerstandslos von ihr abschlachten. Und wie er sie
angeschaut hat dabei! Es kam mir so vor, als ob er sie
kennt und genau weiß, warum sie es tut.»
Zur Vermutung des Mannes, Georg Frankenberg habe
Cora Bender gekannt oder erkannt, zuckte Winfried
Meilhofer die Achseln. «Kann sein, ich weiß es nicht. Als
wir kamen, waren da nur der Mann und das Kind. Die
Frau kam später – aus dem Wasser glaube ich. Mir fiel sie
auf, weil sie Frankie und Ute so merkwürdig betrachtete.
Ich hatte das Gefühl, sie erschrak. Nur glaube ich nicht,
dass Frankie sie bemerkt hat. Ich wollte ihn noch auf sie
aufmerksam machen. Aber dann setzte sie sich und
82
beachtete uns nicht weiter. Und ich habe mich auch nicht
mehr um sie gekümmert. Als es passierte … Frankie
starrte sie an und sagte etwas. Ich habe es nicht
verstanden. Es tut mir Leid, Herr Grovian, dass ich Ihnen
nicht mehr sagen kann. Ich kenne Frankie erst seit zwei
Jahren. Und ich kenne ihn als einen ruhigen, besonnenen
Mann. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er einer Frau
Grund für solch einen Wahnsinn gegeben hat. ‹Er wird
dich nicht schlagen›, hat sie zu Ute gesagt. Frankie war
nicht der Typ, der eine Frau schlägt. Im Gegenteil, Frauen
waren ihm irgendwie heilig.»
Winfried Meilhofer sprach von einer Andeutung, die
Frankie einmal gemacht hatte. Dass er zu Beginn seines
Studiums ein Mädchen kennen gelernt habe, bis über
beide Ohren verliebt gewesen sei. Dann sei das Mädchen
bei einem Unfall gestorben.
Winfried Meilhofer sagte: «Er hat es nicht ausdrücklich
betont, aber so wie er sprach, hatte ich den Eindruck, er
war dabei, als dieses Mädchen starb. Und er kam nicht
darüber hinweg. Ich glaube nicht, dass er danach noch
eine Affäre hatte. Bis vor sechs Monaten, als er Ute
kennen lernte, gab es für ihn nur den Beruf. Er hat es nie
verkraftet, dass er einmal nicht helfen konnte.»
Winfried Meilhofer erinnerte sich an eine Begebenheit,
die bezeichnend war für Frankies Einstellung zu Frauen
und Beruf. Sie hatten eine Patientin verloren, eine junge
Frau – Lungenembolie nach einem Routineeingriff. Es lag
ein knappes Jahr zurück. So etwas konnte geschehen. Man
musste sich damit abfinden. Frankie schaffte das nicht. Er
war wie von Sinnen, brach der Toten zwei Rippen bei dem
Versuch, sie zu reanimieren. Anschließend betrank er sich
und wollte nicht heimgehen.
Winfried Meilhofer mochte ihn nicht allein lassen. Sie
gingen zusammen in eine Kneipe. Im Hintergrund lief
83
Musik. Frankie sprach über die tote Patientin, dass er nicht
begreife, wie eine junge Frau einem so plötzlich unter den
Händen wegsterben könne. Dann begann er unvermittelt
von seiner Musik zu erzählen. Von den wilden Wochen in
seinem Leben; dem Schlagzeug. Dass ein Freund ihn dazu
überredet habe. Dass es ein großer Fehler gewesen sei,
dass er sich besser aufs Studium konzentriert hätte.
Erst nach Stunden ließ er sich von Winfried Meilhofer in
seine Wohnung bringen. Er machte die Andeutung über
das Mädchen, das er geliebt und an den Tod verloren
hatte. Dann zeigte er Meilhofer das Band, das Ute am See
eingelegt hatte. Frankie spielte es auch ab, saß auf dem
Boden und trommelte den Takt mit den Fäusten in die
Luft. «Ich muss es jeden Abend hören», sagte er. «Wenn
ich es höre, ist sie bei mir. Ich kann sie fühlen. Und wenn
ich sie fühle, kann ich einschlafen.»
Ein sonderbarer Mann, dieser Georg Frankenberg, sehr
ernst, sehr verantwortungsbewusst, manchmal depressiv,
mit einer fatalen Neigung zu schnellen Autos. Es konnte
einem schon der Verdacht kommen, dass er nicht allzu
sehr an seinem Leben hing. Winfried Meilhofer hatte mehr
als einmal befürchtet, ihn nach einem Wochenende nicht
lebend wieder zu sehen. Erst Ute hatte ihn aus seiner
Melancholie gerissen.
Nach den Informationen über das Opfer hoffte Rudolf
Grovian, von Gereon Bender ein wenig zur Vorgeschichte
der Täterin zu erfahren. Man hatte Cora Benders Ehemann
mit Rücksicht auf das kleine Kind angeboten
heimzufahren. Man wollte ihm folgen und daheim mit ihm
reden.
Dagegen hatte Gereon Bender heftig protestiert. Er
wollte im Kreis der Zeugen nicht die große Ausnahme
sein. In Polizeibegleitung nach Hause fahren, unmöglich!
Wenn alle zur Dienststelle beordert wurden, wollte er auch
84
dahin. Das Kind stelle kein Problem dar. Der Kleine war
auch sehr brav, saß auf dem Schoß seines Vaters,
knabberte an einem Keks und verlangte nur einmal nach
seiner Mutter. «Mama gehen.»
Die dünne Kinderstimme saß Rudolf Grovian noch Tage
später wie ein Stachel im Fleisch. Und Gereon Bender
erklärte nachdrücklich: «Ich weiß nicht, warum sie
plötzlich durchgedreht ist. Ich weiß überhaupt nichts. Sie
hat nie was erzählt, nur mal was von einem Unfall früher.
Aber wir hatten keine Probleme. Mit meinem Vater hatte
sie manchmal ein bisschen Ärger, weil sie sich nichts von
ihm gefallen ließ. Was sie wollte, setzte sie auch durch.
Und sie hat immer gesagt, dass sie mit mir sehr glücklich
ist.» Letzteres entsprach wohl nicht ganz den Tatsachen.
Berrenrath, der Kollege von der Schutzpolizei, der als
einer der Ersten am Tatort eingetroffen war, hatte etwas
Interessantes aufgeschnappt. Als man Cora Bender von
Georg Frankenbergs Leiche fortführte, hatte ihr Mann
heftig auf sie eingeschrien und sie beschimpft. Sie war
ruhig geblieben, hatte sich noch einmal zu ihm umgedreht
und gesagt: «Es tut mir Leid, Gereon, ich hätte dich nicht
heiraten dürfen. Ich wusste ja, was ich mit mir
herumschleppe. Jetzt bist du frei. Du wärst es ab heute so
oder so gewesen. Ich wollte schwimmen gehen.»
Eine aufschlussreiche Bemerkung, fand Rudolf Grovian.
Er hatte seine Schlüsse daraus gezogen und einige Punkte
gesammelt, die seine Ansicht zu bestätigen schienen: zwei
voneinander unabhängige Hinweise auf einen ‹Unfall› in
früheren Jahren und zwei Aussagen, die – auch wenn sie
nur auf persönlichen Eindrücken beruhten – den Verdacht
untermauerten; Opfer und Täterin waren sich am Otto-
Maigler-See nicht zum ersten Mal begegnet.
Dass Georg Frankenbergs Reaktion auf den Angriff sich
allein in Schreck und Schock begründen könnte, zog
85
Rudolf Grovian anfangs nicht in Betracht. Er ging vom
Naheliegenden aus.
Er hatte, als er Cora Bender kurz nach neun
gegenübertrat, ein zitterndes Bündel mit blutig
geschlagenem Gesicht gesehen, ein Häufchen Elend mit
einem zugeschwollenen Auge und einem, in dem nackte
Panik flackerte. Und Berrenrath hatte ihn darauf
hingewiesen: «Die pfeift aus dem letzten Loch, Herr
Grovian. Sie will’s unbedingt loswerden. Aufgeräumt hat
sie. Ich glaube, wenn ich sie gelassen hätte, hätte sie Ihnen
das Büro auf Hochglanz gebracht.» Auf Berrenraths
Menschenkenntnis konnte man sich im Allgemeinen
verlassen.
Rudolf Grovian hatte damit gerechnet, dass sie ihm
innerhalb kürzester Zeit heulend und um Verständnis
bettelnd die rührend tragische Geschichte einer früheren
Liebe und eines großen Irrtums oder sonst etwas erzählte,
was eine nachvollziehbare Motivation für ihre Tat lieferte.
Doch schon nach wenigen Minuten hatte er Mühe, am
bewährten Konzept Ruhe und Freundlichkeit festzuhalten.
Momentan war er nahe daran, mit der Faust auf den Tisch
zu schlagen und diesem Herzchen klarzumachen, dass auf
jeden Blitz ein Donner folgte. «Ist Ihre Frage damit
umfassend genug beantwortet?» Soviel Kaltschnäuzigkeit
hatte er noch nie erlebt.
Wie ein Granitblock saß sie ihm gegenüber. Das
Herzklopfen sah er nicht. Und die grauroten Schwaden im
Hirn trieben ihr auch nicht zu den Ohren hinaus. Seine
letzte Frage hatte sie noch nicht beantwortet. Es sah aus,
als wolle sie ihre Drohung wahr machen. «Ich sage nichts
mehr.» Er wartete darauf, dass ihre Miene sich den
Worten anpasste und sich verschloss. Aber es kam anders.
Das zerschlagene Gesicht entspannte sich plötzlich. Der

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Blick richtete sich nach innen, die Hände im Schoß
lockerten den eisernen Griff und lagen wie vergessen auf
den Oberschenkeln. Ein paar Minuten lang war sie nur nett
und adrett in ihrem Jeansrock, dem weißen T-Shirt und
den Sandalen an den nackten Füßen. Die junge Frau von
nebenan, der man ohne Bedenken die eigenen Kinder für
ein paar Stunden anvertraut. Die Seele im Familienbetrieb
des Schwiegervaters, müde und erschöpft nach einem
anstrengenden Tag.
Er betrachtete sie unschlüssig und rief sie zweimal beim
Namen. Sie reagierte nicht. Für einen Moment spürte er
Unbehagen wie einen Kälteschauer über den Rücken
ziehen. Die Schlagspuren in ihrem Gesicht waren ihm
nicht geheuer. Dass sie – entgegen ihren wiederholten
Behauptungen – nicht völlig in Ordnung war, stand außer
Frage. Nur bezog er das mehr auf ihre körperliche als auf
ihre seelische Verfassung. Dass sie ihren Verstand nur
noch auf einem schmalen Grat balancierte, war für ihn
nicht zu erkennen. Aber mehrere heftige Fausthiebe gegen
den Kopf …
Winfried Meilhofer hatte gesagt: «Ich dachte, er schlägt
sie tot.» Es war nicht auszuschließen, dass sie eine innere
Verletzung erlitten hatte, die sich erst nach Stunden
bemerkbar machte. Man hörte so etwas gelegentlich nach
Schlägereien. Wenn sie ihm hier zusammenbrach …
Er hätte sich nicht auf das verlassen dürfen, was sie
sagte. Sie brauchte doch einen Arzt. Wahrscheinlich
brauchte sie auch einen, der ihr bezüglich der von ihm
vermuteten Selbstmordabsicht auf den Zahn fühlte.
Es war normalerweise nicht seine Art, Verantwortung
abzuschieben, aber plötzlich wünschte er, der Staatsanwalt
wäre gekommen und hätte entschieden. Weitermachen?
Oder zum Haftrichter? Oder besser ins nächste
Krankenhaus, den Kopf röntgen lassen, damit einem
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später keine Versäumnisse angekreidet werden konnten?
Der Staatsanwalt war gerade mit einer anderen Sache
beschäftigt. In einer Kölner Kneipe hatten sie einen
geschnappt, der im Verdacht stand, vor ein paar Wochen
seiner Freundin den Schädel gespalten zu haben. Rudolf
Grovian war am Telefon leicht unwillig abgefertigt
worden. «Ich bin mitten in einer Vernehmung. Ich komme
morgen früh und hole mir die Unterlagen. Wenn Sie mit
der Frau fertig sind, schaffen Sie sie zum Haftrichter nach
Brühl. Es ist doch alles so weit klar, oder?»
Klar war überhaupt nichts, solange sie behauptete, ihr
Opfer nicht gekannt zu haben. Aber für den Haftrichter
genügten die Zeugenaussagen. Um den Rest konnte sich
der psychologische Sachverständige kümmern. Es wurde
garantiert einer eingeschaltet. Sollte der sich die Zähne an
ihr ausbeißen.
Etwas in Rudolf Grovian war der Meinung, er solle
zusehen, sie sich so rasch wie möglich vom Hals zu
schaffen. Sie hatte etwas an sich, was ihn wütend machte
und – auch wenn er sich das niemals eingestanden hätte –
verunsicherte. Je länger er schwieg, umso deutlicher fühlte
er ihn, den ersten leisen Zweifel. Was nun, wenn sie die
Wahrheit sagte?
Blödsinn! Das gab es nicht, dass eine unbescholtene
Ehefrau und Mutter aus nichtigem Anlass auf einen ihr
völlig Fremden einstach.
Sie spielte mit ihrem Ehering. Unter ihren Fingernägeln
waren noch Reste von Blut zu erkennen. Sie begann daran
zu zupfen. Ihre Hände fingen erneut zu zittern an. Sie hob
den Kopf und schaute ihm ins Gesicht. Ein Blick wie ein
Kind, ratlos und verloren. «Hatten Sie mich etwas
gefragt?»
«Ja, hatte ich», sagte er. «Aber anscheinend können Sie

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sich nicht mehr konzentrieren. Ich denke, wir machen
Schluss für heute, Frau Bender. Wir reden morgen
weiter.»
Das war die beste Lösung. Vielleicht war sie nach einer
Nacht in der Zelle zugänglicher. Vielleicht nutzte sie die
Zeit auch, um ihre ursprüngliche Absicht erneut in Angriff
zu nehmen. Schwimmen gehen! Da gab es ja auch noch
andere Methoden. Er musste die Kollegen instruieren, dass
sie nicht eine Sekunde ohne Aufsicht war. Und beim
geringsten Anzeichen war die Sache für ihn ohnehin
erledigt. So wie damals, als seine Tochter verkündete, dass
sie heiraten wolle. Aufgeatmet hatte er und gedacht, nun
hätte er endlich seine Ruhe.
«Nein, nein», erklärte sie rasch. «Es geht mir gut. Es
geht einem nur manchmal so viel auf einmal durch den
Kopf.» Das Zittern der Hände verstärkte sich und griff auf
Arme und Schultern über. «Entschuldigen Sie, wenn ich
nicht bei der Sache war. Ich musste an meinen Mann
denken. Das hat ihn sehr aufgeregt. Ich habe ihn noch nie
so wütend erlebt.»
Es klang, als habe sie eine Beule in den Wagen ihres
Mannes gefahren. Ihre Energie hatte merklich
nachgelassen. Sie betrachtete ihre Hände, schien voll und
ganz darauf konzentriert, nicht die Beherrschung zu
verlieren. Und er fragte sich, was passieren mochte, wenn
sie sie verlor. Ein Tränenausbruch? Endlich die Wahrheit?
Oder eine Wiederholung der Szene vom See?
Der Zweifel meldete sich erneut und diesmal etwas
lauter. Was, verdammt nochmal, war sie? Eine junge Frau,
die sich plötzlich mit einem unangenehmen Bestandteil
ihrer Vergangenheit konfrontiert gesehen hatte, oder eine
von diesen wandelnden Zeitbomben, die ihrer Umgebung
jahrelang Harmlosigkeit und Normalität suggerierten, um
dann ohne erkennbaren Grund zu explodieren? Ob sie auf
89
ihn losgehen würde?
Er war näher als Werner Hoß, der Mann im Sportanzug,
der hinter dem Schreibtisch saß wie eine Gipsfigur. Es war
sein Bereitschaftsdienst, und normalerweise war Hoß nicht
so zurückhaltend. Aber normalerweise war er auch einer
Meinung mit ihm. Diesmal nicht.
Als sie zu dritt vor der Tür gestanden hatten, als
Berrenrath seine Ansicht über das Pfeifen auf dem letzten
Loch verkündete und Rudolf Grovian kurz umriss, was
nach Einschätzung der Zeugenaussagen seiner Meinung
nach passiert war, hatte Hoß den Kopf geschüttelt. «Ich
weiß nicht, das müsste aber ein verdammt großer Zufall
gewesen sein. Da ist eine Frau mit ihrem Mann
kreuzunglücklich, will sich umbringen, und ausgerechnet
in der Situation stolpert sie über einen, mit dem sie früher
mal was hatte. Da könnte ich mir eher vorstellen, dass bei
ihr etwas ausgesetzt hat, als sie sich ansehen musste, wie
die Frankenbergs miteinander umgingen.»
Ihre Stimme riss Rudolf Grovian aus seinen
Überlegungen, klein und ängstlich war sie geworden.
«Könnte ich jetzt vielleicht doch einen Kaffee haben,
bitte?»
Er war versucht abzulehnen. Hier gibt’s erst Kaffee,
wenn wir alle zufrieden sind. Na komm schon, Mädchen!
Erzähl uns, was in deinem Kopf vorgeht. Du kannst doch
nicht so tun, als hättest du nach einer Wespe geschlagen,
die von deinem Eis naschen wollte. Du wolltest dich da
draußen ersäufen, habe ich Recht? Aber dann musste ein
Mann dran glauben. Der Mann war jung, hatte es sich zur
Aufgabe gemacht, Leben zu retten. Und du stichst ihn ab
wie einen tollwütigen Hund. Warum?
«Möchten Sie auch etwas essen?», fragte er stattdessen.
«Nein, vielen Dank», sagte sie rasch. «Nur einen Kaffee,

90
bitte. Ich habe Kopfschmerzen. Es ist nicht schlimm. Ich
meine, ich bin im Vollbesitz meiner Kräfte. Ich werde
nicht morgen behaupten, es sei mir so schlecht gegangen,
dass ich nicht mehr wusste, was ich tat und sagte.»

Ihre Behauptung entsprach nicht den Tatsachen. Es ging


hinauf und hinunter wie in einem Lift. Von Gereon zu
Vater, von Vater zu Mutter, von Mutter zu Magdalena,
von Magdalena zur Schuld. Sie wollte keinen Kaffee, nur
eine Verschnaufpause, um abzuschätzen, wie groß der
Berg war, der sich so unvermittelt vor ihr aufgetürmt
hatte.
Es kam zu viel auf einmal. Erinnerungen und neue
Erkenntnisse. Von der Ruhe, der Zufriedenheit, dem
Gefühl grenzenloser Erleichterung in den ersten Minuten
war nichts übrig. Es war nicht vorbei, das Loch nicht
gestopft. Sie steckte mitten drin, fühlte sich wie von
schwarzen Wänden umgeben, die unaufhaltsam näher
rückten.
«Seit wann haben Sie denn Kopfschmerzen?» Rudolf
Grovian erhob sich mit einem Gemisch aus Resignation
und neu erwachendem beruflichen Ehrgeiz. Es war eine
Sache der Intuition und der Erfahrung. Weitermachen!
Ihre Stimme, ihre Haltung, die plötzliche Nachgiebigkeit,
er kannte das, hatte es schon hundertmal erlebt. Zuerst
wurden sie frech, dann sahen sie die Ausweglosigkeit ihrer
Situation und versuchten, mit einer harmlosen Bitte
abzuschätzen, wie viele Sympathiepunkte sie sich bereits
verscherzt hatten.
Er ging zur Kaffeemaschine, nahm die Kanne und hielt
sie unter den Wasserhahn. Hinter sich hörte er sie zitternd
durchatmen. «Seit ein paar Minuten. Es ist aber wirklich
nicht schlimm.»

91
«Am See hatten Sie also noch keine Schmerzen?»
«Nein.»
«Wir sollten doch einen Arzt rufen, der sich Ihre
Verletzungen einmal anschaut», schlug er vor.
«Nein!», erklärte sie trotzig wie ein Kind, das den
warmen Schal nicht umbinden will. «Ich will keinen Arzt.
Und wenn ich keinen will, dürfen Sie keinen rufen. Mich
darf kein Arzt untersuchen, wenn ich es nicht will. Das
wäre Körperverletzung.»
Sieh an, dachte er, Körperverletzung. Laut fragte er:
«Haben Sie etwas gegen Ärzte?»
Aus den Augenwinkeln sah er, dass sie die Schultern
anhob und wieder sinken ließ. Nach ein paar Sekunden
meinte sie:
«Etwas dagegen haben ist zu viel gesagt. Ich halte nichts
von ihnen. Sie erzählen einem irgendeinen Quatsch. Und
man muss ihnen glauben, weil man das Gegenteil nicht
beweisen kann.»
«Wissen Sie, welchen Beruf Georg Frankenberg
ausübte?»
Ihre Stimme schwamm auf einer Pfütze Verzweiflung,
es entging ihm nicht. «Woher soll ich das wissen, wenn
ich den Mann nicht kannte?»
Das war die Wahrheit, die reine Wahrheit. Ein fremder
Mann. Aber seine Frau hatte das Lied gehabt! «Ich spule
ein Stück vor …» Und in ihrem Kopf spulte etwas zurück.
Der Chef ließ ihr keine Zeit nachzudenken, wie, wann und
unter welchen Umständen das Lied von der Kassette in
ihren Kopf gekommen sein könnte. Dabei wäre es wichtig
gewesen, das zu wissen.
«Haben Sie häufig Kopfschmerzen?», fragte er.
«Nein. Nur wenn ich schlecht geschlafen habe.»

92
«Möchten Sie ein Aspirin? Ich glaube, wir haben
welches hier.» Er durfte ihr nichts geben, auch nicht so
etwas Harmloses wie Aspirin. Sie hätte später behaupten
können, er habe ihr etwas eingeflößt, das ihren freien
Willen beeinträchtigte.
Er fragte nur, um zur Abwechslung wieder mal ein Ja
von ihr zu bekommen.
Und sie sagte: «Nein. Das ist lieb gemeint, aber Aspirin
hilft mir nicht. Meine Schwiegermutter hat Tabletten,
manchmal nehme ich eine davon. Man bekommt sie aber
nur auf Rezept. Es ist ein sehr starkes Mittel.»
«Dann müssen es doch auch sehr starke Schmerzen
sein», meinte er, während er Kaffeepulver in eine
Filtertüte häufte. Er setzte den Filter ein, drückte auf den
Schalter an der Maschine und drehte sich zu ihr um.
«Ja, manchmal, aber jetzt nicht. Wirklich», sie schüttelte
den Kopf, «ich kann es aushalten. Hören Sie: Würden Sie
bitte die Maschine noch einmal ausschalten und zuerst die
Kanne spülen? Sie ist schmutzig, sehen Sie diesen Film da
am Boden? Den müssen Sie wegreiben, wenn Sie nur mit
Wasser spülen, das hilft nicht.»
Der Ausdruck von Ekel auf ihrem Gesicht war nicht zu
übersehen. Ordentliches Mädchen, dachte Rudolf Grovian
mit einem Anflug von Sarkasmus, nach dem ihm nicht
zumute war. «Ich wette», sagte er leise, «Sie spülen die
Kanne jedes Mal richtig aus.»
«Natürlich.»
«Und auch sonst ist in Ihrem Haushalt alles blitzblank.»
«Ich habe nicht viel Zeit für den Haushalt. Aber ich gebe
mir Mühe, alles sauber zu halten.»
«Ihr Leben auch?», fragte er.
Obwohl sie sich so elend fühlte, dass sie kaum noch klar

93
denken konnte, glaubte sie zu begreifen, worauf er
abzielte. Ihre Hände umfassten automatisch die vernarbten
Armbeugen. Ihre Stimme klang heiser vor Abwehr. «Wie
meinen Sie das?»
«Wie ich es sage. Sie mögen nicht über früher sprechen.
Ihr Mann war doch bestimmt nicht der erste Mann in
Ihrem Leben. Waren Sie glücklich mit ihm, Frau Bender?»
Sie nickte nur.
«Und warum haben Sie dann vor ein paar Stunden zu
ihm gesagt, Sie hätten ihn nie heiraten dürfen?»
Sie zuckte mit den Achseln, führte eine Hand zum Mund
und begann am Daumennagel zu knabbern.
«Er hat Sie übel zugerichtet», sagte Rudolf Grovian und
deutete auf ihr Gesicht. «Hat er Sie öfter geschlagen?»
«Nein!» Die Heiserkeit war verschwunden, ohne dass sie
sich hatte räuspern müssen. Sie wurde energisch: «Gereon
hat mich nie geschlagen. Heute, das war das erste Mal.
Und es ist verständlich. Versetzen Sie sich doch mal in
seine Lage! Was würden Sie tun, wenn Ihre Frau plötzlich
aufspringt und mit einem Messer auf einen fremden Mann
einsticht? Sie würden auch versuchen, Ihrer Frau das
Messer wegzunehmen. Und wenn sie es sich nicht
wegnehmen lässt, würden Sie sie schlagen. Das ist ganz
normal.»
Rudolf Grovian rubbelte den Kannenboden mit den
Fingerspitzen blank, schob die Kanne zurück unter den
Filter und drückte noch einmal auf den Knopf, während er
erklärte:
«Ich kann mich nicht in die Lage Ihres Mannes
versetzen, Frau Bender. Weil meine Frau etwas so
Verrücktes nicht täte.»
Ihre Reaktion war heftiger als erwartet. Sie stampfte mit

94
einem Fuß auf und schrie: «Ich bin nicht verrückt!»
Ihre ersten derartigen Ausbrüche waren ihm keineswegs
entgangen. Die erneute Wiederholung forderte ihn
geradezu heraus, einmal in diese Richtung vorzustoßen.
«Die Leute werden es aber so sehen, Frau Bender, wenn
Sie keine Erklärung für Ihr Handeln liefern. Kein normaler
Mensch bringt einen Fremden um, nur weil er sich über
Musik ärgert. Ich habe mich eben lange mit Ihrem Mann
unterhalten, und …»
Sie stammelte etwas, das er nicht verstand, und
unterbrach ihn damit. Heftig verlangte sie: «Lassen Sie
meinen Mann in Ruhe! Er hat damit überhaupt nichts zu
tun.» Ein wenig gemäßigter fuhr sie fort: «Gereon ist ein
netter Kerl. Er ist fleißig und ehrlich. Er trinkt nicht. Er ist
nicht brutal.»
Sie senkte den Kopf. Ihre Stimme verlor an Festigkeit.
«Er würde eine Frau niemals zwingen, etwas zu tun, was
sie nicht will. Er hat mich auch nie gezwungen. Gestern
hat er sogar gefragt, ob ich Lust habe. Ich hätte nein sagen
können. Aber ich …»
Rudolf Grovian kam sich ein wenig schäbig vor und
verstand es nicht so recht. Cora Bender war wie ein wild
gewordenes Tier über einen wehrlosen Mann hergefallen.
Cora Bender hatte mit ihrem kleinen Schälmesser gewütet
wie eine Furie. Cora Bender zeigte nicht die Spur von
Reue oder Mitleid für ihr Opfer. Aber wie sie da auf dem
Stuhl saß, mit zitternden Lippen die Qualitäten ihres
Mannes beschrieb, war sie das Opfer.
Doch dann lächelte sie wieder, selbstbewusst und
überheblich, begann mit ihrem üblichen: «Hören Sie» und
machte ihn damit erneut wütend. «Ich will mit Ihnen nicht
über meinen Mann reden. Es reicht, wenn er seine
Aussage gemacht hat. Das hat er doch. Und er muss das

95
vor Gericht auch noch einmal wiederholen. Aber damit
muss es gut sein. Den Rest können wir hier unter uns
abmachen. Ich sehe nicht ein, dass Außenstehende in diese
Sache hineingezogen werden.»
Härter als beabsichtigt sagte er: «Es werden eine Menge
Außenstehende in diese Sache hineingezogen, Frau
Bender. Ich sage Ihnen jetzt mal, wie die Dinge stehen.
Sie können oder wollen uns nicht erklären, warum Sie
plötzlich die Kontrolle über sich verloren haben.»
Sie öffnete den Mund, er sprach rasch weiter: «Jetzt
unterbrechen Sie mich nicht wieder. Ich habe nur gesagt,
die Kontrolle verloren. Ich habe nicht behauptet, dass Sie
verrückt sind. Niemand hat das bisher behauptet. Aber Sie
haben etwas getan, was nicht zu begreifen ist. Und es ist
unsere Aufgabe herauszufinden, warum Sie es getan
haben. Dazu verpflichtet uns das Gesetz, ob Ihnen das nun
angenehm ist oder nicht. Wir werden mit vielen Leuten
reden müssen. Mit allen, die Ihnen nahe stehen. Ihre
Schwiegereltern und Ihre Eltern. Wir werden jeden fragen
…»
Weiter kam er nicht. Sie machte Anstalten, vom Stuhl
aufzuspringen, umklammerte die Sitzfläche mit beiden
Händen, als könne sie sich nur auf diese Weise an ihrem
Platz halten. Ihre Eltern! Das zitterte in ihrem Kopf nach.
Sie fauchte ihn an wie eine Katze. «Ich warne Sie!
Lassen Sie meinen Vater in Ruhe. Reden Sie von mir aus
mit meinen Schwiegereltern. Die werden Ihnen erzählen,
was Sie hören wollen. Dass ich nur die Hand aufhalten
kann, dass ich unverschämt bin. Ein Flittchen, meine
Schwiegermutter hat von Anfang an gesagt, ich sei ein
Flittchen. Sie kann so gemein werden. Immer hackte sie
auf mir herum.»
Rudolf Grovian wusste nicht, dass sie ihre Eltern für tot

96
erklärt hatte. Es war so viel zu besprechen gewesen, da
waren Nebensächlichkeiten untergegangen. Er sah, dass
Werner Hoß ein Zeichen gab. Auf ihn wirkte es, als wolle
Hoß die Sache abbrechen. Und das war nicht in seinem
Sinne. Wer hört denn auf, wenn es gerade losgeht? Und
das ging es. Der Gletscher schmolz, wie ein Sturzbach
gurgelten ihm die Fluten um die Ohren. Er begriff schnell,
dass er einen wunden Punkt getroffen hatte; Eltern, Vater.
Als sie weitersprach, erkannte er, dass es mehr war als nur
ein Punkt.
Hoß kritzelte etwas auf einen Zettel. «Eltern tot», las
Rudolf Grovian und dachte, sieh einer an. Zu längeren
Gedanken blieb keine Zeit. Ihre Stimme hatte schon nach
zwei Sätzen den Elan eingebüßt, wippte auf und ab wie
ein Papierschiffchen in der Gosse.
«Ich habe das Kind nicht verloren. Es war eine
Sturzgeburt. Die Ärzte haben gesagt, das kann jeder Frau
passieren. Es hat überhaupt nichts damit zu tun, ob man
mit einem oder mit hundert Männern geschlafen hat. Ich
habe nicht mit hundert Männern geschlafen. Ich habe mir
als kleines Kind schon vorgestellt, dass die Dinger eines
Tages abfaulen müssen.»
Sie hielt die Finger der linken Hand mit der rechten
umklammert und knetete sie, als wolle sie sie zerbrechen.
Rudolf Grovian beobachtete sie mit einer Mischung aus
Faszination und Triumph. Den Blick auf den Boden
gerichtet, fuhr sie leise fort: «Aber mit Gereon war es
schön. Er hat mich nie gezwungen. Er war immer gut zu
mir. Ich hätte ihn nicht heiraten dürfen, weil ich … weil
ich … Ich hatte doch diesen Traum. Aber der war länger
nicht mehr gekommen. Und ich … Ich wollte doch nur
…»
Sie brach ab, hob den Kopf und schaute ihm ins Gesicht,
die Stimme von Panik zersplittert: «Ich wollte doch nur
97
ein normales Leben mit einem netten jungen Mann. Ich
wollte es genauso, wie andere es haben. Verstehen Sie
das?»
Er nickte. Wer hätte es nicht verstanden? Und welcher
Vater hätte sich nicht gewünscht, die eigene Tochter möge
dasselbe Ziel verfolgen, glücklich und zufrieden sein mit
einem netten, ordentlichen Mann?
Das war der Moment, in dem sich für Rudolf Grovian
die Perspektiven verschoben. Er bemerkte es nicht, hielt
sich noch Tage später für distanziert, für einen engagierten
Polizisten, der auch mit dem Elend der Täter konfrontiert
wurde und Mitleid haben durfte. Mitleid war nicht
verboten, solange man darüber nicht das Ziel aus den
Augen verlor. Das tat er keine Sekunde lang. Das Ziel
seiner Arbeit war schließlich Aufklärung und Aufdeckung,
in finsteren Winkeln stöbern und nach Beweisen suchen.
Und es spielte keine Rolle, ob dieser Winkel in einem
Gebäude, einem Waldstück oder in einer Seele lag.
Rudolf Grovian hatte nicht den Ehrgeiz, einen Part zu
übernehmen, der kompetenten Fachleuten zugestanden
hätte. Es war auch nicht seine Absicht, auf Biegen und
Brechen zu beweisen, dass er richtig lag mit seiner ersten
Vermutung. Er war nur ein Mensch, der herausgefordert
wurde, der die ersten Alarmsignale übersah, die ein
kippender Verstand ausschickte, der in Versuchung geriet
und ihr erlag. Am Ende ging es für ihn nur noch darum zu
beweisen, dass er ohne Schuld war.
Cora Bender kniff die Augen zu und stammelte: «So war
es auch am Anfang. Es war alles ganz normal. Ich mochte
es, wenn Gereon zärtlich war. Ich habe gern mit ihm
geschlafen. Aber dann … hat es wieder angefangen. Es
war nicht seine Schuld. Er hat es nur gut gemeint. Andere
mögen das, die sind ganz wild darauf. Er konnte doch
nicht ahnen, was er anrichtet, wenn er das mit mir macht.
98
Das wusste ich doch selbst nicht, bis es passierte. Ich hätte
mit ihm darüber reden müssen. Aber was hätte ich ihm
denn sagen sollen? Dass ich nicht lesbisch bin? Das war es
doch nicht – glaube ich. Ich weiß es nicht – aber … Ich
meine, ich weiß ja, dass nicht nur Frauen es sich mit der
Zunge machen. Männer tun das auch, und alle finden es
schön. Nur ich nicht. Und es hörte nicht wieder auf. Ich
dachte, es sei das Beste, wenn ich schwimmen gehe. Es
hätte ausgesehen wie ein Unfall. Gereon hätte sich keine
Vorwürfe machen müssen. Das ist ja das Schlimme, wenn
jemand stirbt, dass man sich diese Vorwürfe macht. Dass
man den Gedanken nicht los wird, man hätte es verhindern
können. Das wollte ich ihm ersparen. Wenn das Kind
mich nicht aufgehalten hätte, wäre nichts passiert. Da wäre
ich längst weg gewesen, als sie ein Stück vorspulte.»
Sie begann mit einer Faust gegen ihre Brust zu schlagen,
die Augen hielt sie geschlossen, ihre Stimme bekam einen
hysterischen Beiton. «Es war mein Lied! Es war mein
Lied! Und ich halte es nicht aus, wenn ich es höre. Der
Mann wollte es auch nicht hören. Das nicht, hat er gesagt,
tu mir das nicht an. Er wusste, dass ich in ein Loch falle,
wenn ich es höre. Er muss es gewusst haben. Er hat mich
angeschaut, und er hat mir vergeben. Ich konnte es in
seinen Augen lesen. Vater, vergib ihr! Sie weiß nicht, was
sie tut.»
Sie schluchzte auf. «Oh, mein Gott! Vater, vergib mir!
Ich habe euch doch alle geliebt. Dich und Mutter und …
Ja, sie auch. Ich wollte nicht töten. Ich wollte nur leben,
ganz normal leben.»
Sie riss die Augen wieder auf, funkelte ihn an und
fuchtelte mit einem Zeigefinger vor ihm herum. «Merken
Sie sich das: Es war allein meine Schuld. Gereon hat
nichts damit zu tun. Und mein Vater auch nicht. Lassen
Sie meinen Vater in Ruhe. Er ist ein alter Mann. Er hat

99
genug mitgemacht. Sie bringen ihn um, wenn Sie ihm das
sagen.»

100
4. Kapitel

Vater hat sich in all den Jahren auf seine Art viel Mühe
gegeben. Und wenn ich ihn hundertmal enttäuscht habe,
wenn ich ihm tausendmal Grund gab, mich zu verachten,
er hat nie aufgehört mich zu lieben. Und er hat etwas für
mich getan, was kein anderer Vater getan hätte.
Ich meine nicht das, was er damals an meinem
Geburtstag tat, als ich hungrig im Bett lag und er
schimpfend zur Tür hereinkam. Obwohl er da auch schon
etwas für mich tat. Als er bemerkte, dass ich noch nicht
schlief, setzte er sich auf mein Bett und strich mir über das
Haar. «Es tut mir Leid», sagte er.
Ich war wütend auf ihn. Wenn er mir die blöde
Schokolade nicht gegeben hätte, hätte ich auch einen
Teller Suppe bekommen. «Lass mich», sagte ich und
drehte mich auf die Seite.
Aber er ließ mich nicht. Er nahm mich in die Arme und
wiegte mich hin und her. «Mein armes Mädchen»,
flüsterte er.
Ich wollte kein armes Mädchen sein. Ich wollte auch
keinen Geburtstag, nur meine Ruhe haben. «Lass mich»,
sagte ich noch einmal.
«Das kann ich nicht», flüsterte er. «Es reicht doch, wenn
eine leidet. Für die kann ich nichts tun, das ist Sache der
Ärzte. Aber du bist meine Sache. Wenn du es noch eine
halbe Stunde aushältst, dann schläft Mutter bestimmt,
dann hole ich dir etwas zu essen. Du musst doch Hunger
haben wie ein Wolf.»
Er saß länger als eine Stunde auf meinem Bett, hielt
mich im Arm, und diesmal erzählte er mir nichts von

101
früher. Mutter war noch unten und betete das letzte Mal
für den Tag. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis wir
endlich ihre Schritte auf der Treppe hörten. Sie ging aufs
Klo, kurz darauf wurde nebenan die Tür geschlossen.
Vater wartete noch ein paar Minuten, ehe er hinunterging.
Er kam mit einem Teller Suppe zurück. Sie war nur
lauwarm, aber das machte nichts. Nachdem der Teller leer
war, stellte er ihn auf den Fußboden, griff in seine
Hosentasche und zog etwas heraus. Den Rest von der
Schokolade.
Ich wollte sie nicht nehmen, wirklich nicht. Aber Vater
brach einen Riegel ab, schob ihn mir einfach zwischen die
Lippen und sagte: «Jetzt nimm schon. Mach dir keine
Gedanken, du darfst sie essen. Wenn ich es dir sage, dann
darfst du. Es ist keine Sünde. Ich könnte dich doch
niemals zu einer Sünde verführen. Du brauchst auch keine
Angst zu haben, dass Mutter etwas merkt. Sie meint, die
Schokolade liegt draußen im Müll.» Da konnte ich nicht
anders.
Am nächsten Tag ging es Magdalena schlechter. Und am
Tag darauf verschlimmerte sich ihr Zustand noch mehr.
Vater bestand darauf, sie in die Klinik zu bringen. Mutter
wollte nicht, aber diesmal setzte Vater sich durch. Sehr
früh morgens fuhren sie los.
Ich werde das nie vergessen. Mutter kam am Nachmittag
zurück – allein, mit einem Taxi. Vater war bei Magdalena
in Eppendorf geblieben, um in Ruhe mit den Ärzten zu
reden. Ich war nebenan bei Grit Adigar. Vater hatte mir
morgens gesagt, ich solle zu Grit gehen, wenn mir daheim
niemand öffne. Ich hatte ein gutes Mittagessen bekommen
und später noch ein paar Bonbons für die ordentlichen
Schularbeiten.
Ich wollte sie eigentlich erst essen, wenn Magdalena

102
wieder daheim war. Aber dann dachte ich, dass es nach
der Schokolade nicht darauf ankäme. Ich lutschte noch, als
Mutter erschien, um mich abzuholen. Natürlich sah sie,
dass ich etwas im Mund hatte. Aber sie verlangte nicht,
dass ich es ausspuckte.
Sie war anders als sonst. Wie aus Stein war sie, und ihre
Stimme klang nach dem weißen Sand, auf dem nichts
wachsen kann. Magdalena müsse sterben, hatten die Ärzte
gesagt. Jetzt müsse sie. Sie hätte dem Tod oft genug ins
Gesicht gelacht, nun sei ihre Zeit endgültig abgelaufen.
Man dürfe sie nicht behandeln, das sei nur Quälerei.
Zu all den Krankheiten war noch eine gekommen. Sie
hatte nichts mit dem Schnupfen zu tun, den ich ins Haus
geschleppt hatte. Sie hieß Leukämie. Krebs, sagte Mutter.
Und ich stellte mir vor, dass Magdalena ein Tier mit
Scheren im Bauch hatte, das sie von innen zerfleischte.
Mutter holte einen Koffer für sich und einen für
Magdalena aus dem Keller. Ich musste hinaufgehen mit
ihr. Ich musste neben dem Bett in ihrem Schlafzimmer
stehen, während sie Wäsche in Magdalenas Koffer legte
und sagte:
«Schau dir das Bett gut an. So wie es jetzt ist, wird es
bleiben. Und du wirst dein Leben lang deine Schwester
darin sehen. Bis an das Ende deiner Tage wirst du dich
fragen müssen: War es das wert? Wie konnte ich meine
Schwester sterben lassen für einen flüchtigen Genuss?
Und dann einen so furchtbaren Tod.»
Ich habe das geglaubt. Ich habe es tatsächlich geglaubt.
Und ich hatte so wahnsinnige Angst. Bis dahin hatte ich
nie nachgedacht, wie es bei uns weiterginge, wenn
Magdalena nicht mehr da wäre. Jetzt tat ich das. Ich
schaute mir das Bett an, wie Mutter es verlangt hatte. Und
ich dachte, dass sie mich in ihrem Schlafzimmer

103
einsperren wollte, damit ich das leere Bett mein Leben
lang sehen könnte.
Mutter fuhr mit einem Taxi zurück nach Eppendorf. Ich
blieb allein im Haus. Im Schlafzimmer eingesperrt hatte
sie mich nicht. Als Vater am Abend heimkam, war ich im
Wohnzimmer. Ich hatte mir die Kerzen angezündet, den
ganzen Nachmittag auf der Holzbank gekniet und dem
Erlöser versprochen, dass ich nie wieder irgendetwas
haben wollte. Angefleht hatte ich ihn, er solle mich tot
umfallen und meine Schwester in Ruhe lassen. Und als ich
nicht tot umfiel, hatte ich gedacht, ich müsste Mutter
zeigen, welch große Opfer ich bringen könnte. Ich wollte
meine Hände verbrennen wie das blaue Kleid mit dem
weißen Kragen, damit ich nie wieder etwas Süßes
anfassen konnte. Aber als ich sie über die Flammen hielt
und der Schmerz stärker wurde, hatte ich die Hände
wieder fortgezogen. Es hatte nur ein paar Blasen gegeben.
Vater war entsetzt, als er sie sah. Er wollte wissen, was
Mutter gesagt hatte. Ich erzählte es ihm. Zuerst wurde er
wütend und schimpfte fürchterlich. Die blöde Kuh! Die ist
doch krank! Und solche Sachen. Dann ging er zu Grit
Adigar, um mit der Klinik zu telefonieren und den Ärzten
zu sagen, dass er es sich anders überlegt hätte. Dass sie
Magdalena behandeln mussten. Und wenn sie dazu nicht
bereit wären, werde er sie anzeigen und Magdalena in eine
andere Klinik bringen.
Als er zurückkam, war er sehr still. Er kochte für uns.
Eine Suppe mit grünen Bohnen aus einem Einweckglas,
etwas anderes war nicht im Haus. Dann setzte er noch
einen kleineren Topf auf den Herd und goss Milch hinein.
Milch war immer da. Für Magdalena. Ich mochte keine.
Auf Milch zu verzichten fiel mir leicht. Aber ich tat jedes
Mal so, als ob es ein großes Opfer wäre. Ich war als Kind
so falsch, so verlogen, so verdorben.

104
Vater zog eine kleine Tüte aus seiner Hosentasche und
lächelte mich an. «Mal sehen, ob ich das kann», sagte er.
Es war Puddingpulver. Er hatte Grit darum gebeten. Er
hatte gesagt:
«Ich muss ihr begreiflich machen, dass sie essen kann,
was sie will. Gerade jetzt muss ich. Aber was mache ich
mit Magdalena? Es wäre das Beste, wir ließen sie in
Frieden sterben. Diese Behandlung ist eine Folter. Die
Ärzte haben es mir ausführlich erklärt. Sie kann das nicht
überstehen. Und dann werde ich mit dem Gedanken leben
müssen, dass sie auf meine Veranlassung zu Tode gequält
wurde. Aber ich muss es tun – für Cora.»
Später hat Grit mir das erzählt, erst viel später. Aber ich
wusste immer, dass Vater mich liebt. Und ich liebte ihn
auch. Ich liebte ihn so sehr.
Wir blieben damals lange allein, ein halbes Jahr. Es war
eine schöne Zeit, die schönste, die ich hatte. Bevor Vater
morgens zur Arbeit fuhr, machte er mir Frühstück mit
Kakao, gekochten Eiern und Wurstbroten. Er gab mir auch
immer einen dicken Apfel oder eine Banane mit für die
Pause.
Wenn ich mittags heimkam, ging ich zu Grit, spielte
nachmittags mit Kerstin und Melanie. Wenn wir bei ihnen
zu Hause waren, waren sie immer nett zu mir. Da sagten
sie sogar manchmal, dass es ihnen Leid täte wegen der
Pause.
Am schönsten war es, wenn Vater am späten Nachmittag
heimkam. Er putzte die Fenster und wusch die Gardinen,
ich wischte Staub und fegte die Küche. Und alles sah
blitzblank aus. Wenn wir sauber gemacht hatten, kochte er
für uns. Es gab jeden Tag Fleisch oder Wurst und jeden
Tag einen süßen Nachtisch. Nach dem Essen blieben wir
in der Küche. Vater erklärte mir, dass Magdalenas

105
Krankheiten nicht besser und nicht schlimmer wurden,
wenn wir Pudding aßen. Er versprach auch, mit Mutter zu
reden, damit sie mich ein normales Kind sein ließe.
«Es reicht», sagte er einmal, «wenn in diesem Haus der
verzichtet, der für das Übel verantwortlich ist. Ich habe
mir fest vorgenommen, das zu tun. Gebe Gott, dass ich es
schaffe.»
Ins Wohnzimmer gingen wir immer erst, bevor wir uns
schlafen legten. Vater zündete nie Kerzen an. Wir knieten
im Dunkeln vor dem Altar und beteten für Magdalena.
Mutter hatte verlangt, dass wir es tun. Aber wir hätten es
auch freiwillig getan, glaube ich.
Ein paar Mal fuhr Vater sonntags in die Klinik. Mich
nahm er nicht mit. Ich durfte nicht in Magdalenas Nähe
kommen, weil ich wieder eine an sich harmlose Krankheit
hätte zu ihr tragen können. Die Behandlung, auf der er
wegen mir bestanden hatte, war ja erfolgreich. Aber
Magdalena war so schwach geworden, an einem
Schnupfen hätte sie sterben können.
Wenn Vater sie besuchte, war ich nebenan. Ich bekam
Kakao und frischen Kuchen mit Zuckerstreuseln. Ich war
glücklich, unendlich glücklich. Vor allem, wenn Vater aus
der Klinik zurückkam, wenn er sagte: «Es sieht so aus, als
ob sie es schafft. Sie besteht nur noch aus Augen. Die
Ärzte sagen, sie hat einen unbändigen Lebenswillen. Man
könnte fast meinen, sie pumpt das Blut nur noch mit ihrem
Willen durch die Adern. So ein kleines, schwaches
Menschlein, hat nicht genug Kraft im Leib, um den Kopf
zu heben. Man begreift es nicht. Aber am Leben hängen
sie alle.»
Im Dezember kamen sie wieder heim. Magdalena hatte
keine Haare mehr. Sie war so schwach, dass sie nicht
abwarten durfte, bis sie von allein musste. Mutter machte

106
ihr jeden Tag einen Einlauf, damit sie nicht drücken
musste. Magdalena mochte die Einläufe nicht. Sie weinte
schon, wenn sie Mutter nur mit der Kanne und dem
Schlauch kommen sah. Und jetzt weinte sie richtig, aber
das durfte sie auch nicht. Es war zu anstrengend für sie.
Wenn sie zu weinen anfing, drehte Mutter durch und
scheuchte mich ins Wohnzimmer. Und dann durfte ich
nicht mal mehr rauskommen, um meine Schularbeiten zu
machen. Am nächsten Tag hatte ich regelmäßig Ärger mit
der Lehrerin. Früher hatte sie mich gut leiden mögen, und
jetzt meinte sie, ich sei faul und nachlässig geworden. Ich
könnte nicht immer meine kranke Schwester als
Entschuldigung für meine Schlampigkeit anführen. Ein
paar Mal bekam ich sogar Eintragungen ins Klassenbuch.
Grit Adigar riet mir, die Schularbeiten abends zu
machen, wenn Mutter mich ins Bett schickte. Da lag ich
dann mit meinen Heften und Büchern auf dem Boden,
weil wir keinen Tisch im Zimmer hatten. Und dann
meckerte die Lehrerin über meine krakelige Schrift.
Natürlich war ich dem Erlöser dankbar, dass er meine
Schwester verschont hatte. Aber so hatte ich mir
Magdalenas Überleben nicht vorgestellt. Manchmal dachte
ich, es wäre besser gewesen, wenn Mutter mich bis an
mein Lebensende im Schlafzimmer eingesperrt hätte. Da
hätte ich nicht so viel Ärger gehabt.
Alle vier Wochen musste Magdalena zur
Nachbehandlung in die Klinik. Mutter fuhr mit. Jedes Mal
blieben sie zwei oder drei Tage. Jedes Mal wünschte ich
mir, sie kämen nicht mehr heim. Dass die Ärzte sagten,
Magdalena müsse für immer in Eppendorf bleiben. Nur
dort könne sie überleben. Und Mutter bliebe bei ihr. Sie
ließ sie doch nie allein. Und dann bliebe ich mit Vater
zurück. Und Vater wäre wieder so, wie er in dem halben
Jahr gewesen war. Mehr wollte ich nicht, nur dass er nicht
107
so traurig war.

Es war wie der Albtraum, aus dem sie nicht aufwachen


konnte, nur war es ganz anders diesmal. Nichts blieb
verborgen. Alles glitt ihr aus den Händen, rutschte aus
dem Kopf und breitete sich aus. Sie hörte sich reden, von
dem Geburtstag, der Schokolade. Von den Tagträumen.
Nur Vater und ich! Sie sah ihren Finger tanzen, sah das
aufmerksame und betroffene Gesicht des Chefs wie durch
einen Nebel.
Manchmal nickte er.
Und sie konnte nicht aufhören zu reden. Sie durfte auch
nicht aufhören. Sie musste ihn überzeugen, dass er Vater
in Ruhe ließ. Gereon auch. Gereon hatte es nicht verdient,
belästigt zu werden mit einer Sache, die er nicht zu
verantworten hatte. Und für Vater wäre es der Untergang
gewesen, davon zu erfahren.
Sie erzählte dem Chef von Vater. Nicht zu viel, nur was
für ein warmherziger und fürsorglicher Mann er früher
gewesen war; vielseitig interessiert, ein wandelndes
Geschichtsbuch, Heimatkunde. Sie sprach auch über
Mutter, über das Kreuz und die Rosen auf dem Hausaltar,
über den Erlöser aus Holz und die Gebete. Nur den Grund
erwähnte sie nicht. Magdalena.
Der Körper zitterte wie in einem Krampf, das Hirn
zitterte mit, ließ den Kopf wie von einer Maschine
gesteuert auf und ab rucken. Aber so viel Kontrolle war
noch da. An Magdalena durfte man nichts und niemanden
heranlassen, gewiss keine Männer. Jede Aufregung, jede
Anstrengung konnte für Magdalena den Tod bedeuten.
Sie sprach von den zwiespältigen Gefühlen, von der
Notwendigkeit, ein guter Mensch zu sein, und dem
Verlangen nach einem sündigen Leben. Süßigkeiten in

108
Kinderjahren, und später die jungen Männer und ihre
magische Anziehungskraft. Da war besonders einer
gewesen. Einer von denen, die nur mit dem Finger
schnipsen mussten, alle nannten ihn Johnny Guitar.
Und Grit Adigar hatte einmal gesagt: «Wenn du alt
genug bist, machst du es wie ich. Such dir einen netten
Mann, lass dir ein Kind von ihm machen, geh mit ihm
weg, und vergiss den Zirkus hier.» Mit Johnny wäre sie
gerne weggegangen. Sie hatte mehr als einmal überlegt,
wie es wäre, sich ein Kind von ihm machen zu lassen.
Über den Gedanken an Johnny kam sie auf Gereon
zurück. Erzählte von dem Tag, an dem sie ihm zum ersten
Mal begegnete. Es ging nur über Gereon zurück in die
Normalität. Und da wollte sie hin. Da musste sie hin,
unbedingt. Normal sein, eine erwachsene Frau, die ihre
Kindheit längst hinter sich gelassen hatte. Auch das
schmutzige Kapitel, das sich anschloss, das im Mai vor
fünf Jahren begonnen und ein halbes Jahr später – im
November – geendet, das so deutliche Spuren in ihren
Armbeugen und auf ihrer Stirn hinterlassen hatte. An das
man nicht rühren durfte, weil dann zu viel Schmutz
aufgewirbelt wurde.
Ihre Schwiegermutter hatte es oft versucht. Flittchen!
«Wer weiß denn, was sie vorher getrieben hat!» Und der
Alte mit seinen dämlichen Sprüchen: «Du hast es
faustdick hinter den Ohren. Mich kannst du nicht für
dumm verkaufen.»
Und wie sie konnte! Das hatte sie von der Pike auf
gelernt. Wenn sie wollte, konnte sie jeden für dumm
verkaufen. Auch den Chef. Es half ihr, sich an die erste
Begegnung mit Gereon zu erinnern. Vier Jahre war das
her. Im Dezember wurden es fünf. Kurz vor Weihnachten
war es gewesen.

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Gereon hatte Einkäufe gemacht in der Stadt, Geschenke
für seine Eltern besorgt. Mit Tüten beladen kam er in das
Café an der Herzogstraße, in dem sie sich ihren
Lebensunterhalt verdiente – auf ehrliche Weise! Beim
ersten Mal war er nur durch Zufall hineingeraten. Er setzte
sich an einen Tisch und wartete, dass er bedient wurde. Er
wusste nicht, dass er im Verkaufsraum hätte bestellen
müssen, und wurde verlegen, als sie es ihm sagte.
«Muss ich jetzt nochmal zurück?» Offenbar war ihm das
peinlich. Er fühlte sich als Dorftrampel erkannt und
errötete.
«Können Sie mir nicht was bringen?»
«Ich weiß doch nicht, was Sie mögen.»
«Alles», sagte er und grinste. «Irgendwas mit Sahne und
einen Kaffee.»
«Kännchen oder Tasse?», fragte sie.
«Tasse reicht mir», sagte er. Es war bezeichnend für ihn,
große Ansprüche hatte er nie gestellt.
Sie ging in den Verkaufsraum und holte ein Stück
Schwarzwälder Kirschtorte für ihn. Er bedankte sich:
«Nett von Ihnen. Möchten Sie vielleicht auch was? Ich
lade Sie ein.»
«Vielen Dank», sagte sie. «Aber ich bin hier, um zu
arbeiten.»
«Ja, natürlich.» Er wurde erneut verlegen, stach ein
großes Stück von der Torte ab, schob es sich in den Mund,
begann zu kauen und verfolgte sie mit seinen Blicken
durch den Raum. Wenn sie zu ihm hinschaute, lächelte er
jedes Mal.
Zwei Tage später war er wieder da. Diesmal hatte er im
Verkaufsraum bestellt und lachte sie an wie eine gute
Bekannte. Und bevor er ging, fragte er: «Was machen Sie,

110
wenn Sie hier fertig sind? Wann haben Sie eigentlich
Feierabend?»
«Um halb sieben.»
«Können wir dann noch irgendwohin gehen? Vielleicht
ein Bier trinken?»
«Ich trinke kein Bier.»
«Dann eben etwas anders, ist ja egal. Es muss auch nicht
lange sein. Nur eine halbe Stunde. Ich möchte Sie gerne
richtig kennen lernen.»
Er war unbeholfen und trotzdem sehr direkt, machte
keinen Hehl daraus, dass sie ihm gefiel. Aber er war in
keiner Weise aufdringlich. Als sie seine Einladung
ablehnte, meinte er mit einem Achselzucken: «Dann
vielleicht ein andermal.»
Dreimal bat er sie um ein Rendezvous, dreimal lehnte sie
ab. Nach dem dritten Mal sprach sie mit Margret. Über
sein gutes Aussehen und seine Naivität. Dass er ein Mann
war, den man mit drei Sätzen überzeugen konnte, die Erde
sei doch eine Scheibe und die Schiffe, die zu weit
hinausfuhren, fielen am Ende der Scheibe ins Nichts.
Über das Bedürfnis sprach sie, einen dicken Strich unter
die Vergangenheit zu ziehen und irgendwo, wo niemand
sie kannte, neu anzufangen. Ein Leben führen wie tausend
andere auch. Und das ging nur mit einem Mann, der keine
eigene Meinung hatte. Dem man erzählen konnte, die
Narben in den Armbeugen seien Spuren einer bösen
Entzündung, was im Prinzip auch stimmte. Und die Narbe
an der Stirn, da sei man vor ein Auto gelaufen. Margret
verstand das alles sehr gut.
Nur musste sie das dem Chef nicht erzählen. Er hätte
doch augenblicklich wissen wollen, wer Margret war, und
hätte sie auch auf die Liste der Leute gesetzt, mit denen er
unbedingt reden musste. Und dass auch noch Margret in
111
diese Sache hineingezogen wurde, ging entschieden zu
weit.
Margret war Vaters jüngere Schwester. Im Vergleich mit
Mutter war Margret immer eine junge Frau gewesen. Jung
und hübsch und modern, mit revolutionären Ansichten
über das Leben und Verständnis für alle Schwächen und
Fehler, die ein Mensch haben und begehen konnte.
Als Gereon in ihrem Leben auftauchte, lebte sie seit
einem Jahr bei Margret in Köln, in einer kleinen
Altbauwohnung. Zwei Zimmer, eine winzige Küche, das
Duschbad so schmal wie ein Handtuch. Wenn man sich
auf die Toilette setzte, stieß man sich an der Tür die Knie.
Sie schlief auf der Couch, mehr hatte Margret ihr nicht
bieten können. Das Schlafzimmer war zu klein für ein
zweites Bett.
Sie wollte auch kein Bett. Ein zweites Bett in
unmittelbarer Nähe hätte sie nicht ertragen. Manchmal
fragte sie sich, was aus ihr geworden wäre, wenn Margret
sie nicht aufgenommen hätte, als sie es daheim nicht mehr
ertrug. Darauf gab es nur eine Antwort: Dann wäre sie tot.
Und eigentlich lebte sie doch gerne.
Und bei Margret lernte sie es endlich. Margret beschaffte
ihr die Arbeit in dem Café an der Herzogstraße. Und als
Gereon auftauchte, nicht lockerließ, sie wieder und wieder
um ein Rendezvous bat, sagte Margret: «Du kannst doch
mal mit ihm ausgehen, Cora. Du bist eine junge Frau. Es
ist normal, wenn du dich in einen jungen Mann verliebst.»
«Ich weiß nicht, ob ich verliebt in ihn bin. Er erinnert
mich nur an jemanden, in den ich einmal sehr verliebt war.
Alle nannten ihn Johnny. Wie er mit richtigem Namen
hieß, habe ich nie erfahren. Er sah aus wie der Erzengel
aus Mutters Bibel, der die Menschen aus dem Paradies
vertreibt. Kennst du die Stelle? ‹Und ihnen gingen die

112
Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren!› So
sah Johnny aus. Gereon sieht ihm ein bisschen ähnlich.
Aber es ist nur äußerlich, die Haarfarbe und so. Gereon ist
ein lieber Kerl, er kommt aus ordentlichen Verhältnissen.
Von seinen Eltern hat er mir schon erzählt. Und eines
Tages wird er mich fragen …»
«Quatsch», sagte Margret. «Lass ihn fragen, wir
erzählen ihm schon etwas. Du sagst doch, er hat nicht viel
Grips. Und du bist nicht verpflichtet, ihm deine
Lebensgeschichte aufzutischen. Er wird dich auch
bestimmt nicht gleich nach deiner Familie fragen. Junge
Männer haben meistens etwas anderes im Sinn. Wenn er
fragt, sagst du, du hast es zu Hause nicht mehr
ausgehalten. Sag ihm, deine Mutter sei nicht richtig im
Kopf, aber es sei nicht erblich. Das entspricht den
Tatsachen.»
«Und wenn er mit mir schlafen will?» Es war nur ein
Murmeln, gar nicht an Margret gerichtet.
Verstanden hatte es Margret trotzdem, schaute sie an,
aufmerksam, so voller Verständnis und Mitgefühl.
«Meinst du, du kannst nicht?»
Natürlich konnte sie. Darum ging es nicht. Sie fragte
sich oft, wie es wohl wäre mit einem netten jungen Mann.
Aber es wäre Betrug gewesen. Da sie nicht antwortete,
erklärte Margret in dem für sie typischen bestimmten Ton:
«Cora, das ist überhaupt kein Problem. Wenn dir nicht
danach ist, sagst du einfach nein.»
So einfach, wie Margret sich das dachte, war es nicht.
Man durfte nicht immer nein sagen, wenn man einen
Mann halten wollte. Und das wollte sie. Er gefiel ihr. Da
war einmal die Ähnlichkeit mit Johnny. Das Äußerliche.
Dann war er auch sehr zärtlich und sanft. Die ersten
Abende in seinem Wagen waren wundervoll.

113
Zweimal in der Woche holte er sie abends vom Café ab,
fuhr an ein einsames Plätzchen und nahm sie in die Arme.
Meist war es zu kalt, um die Jacke, geschweige denn
etwas anderes auszuziehen. Aber Gereon bedrängte sie
nicht, begnügte sich bis weit ins Frühjahr mit Küssen und
Streicheln. Dann erst wollte er mehr.
Sie hätte es gerne noch ein wenig hinausgezögert. Aber
die Furcht, ihn zu verlieren, wenn sie ihn abwies, war
stärker als die Angst, er könne anschließend enttäuscht
sein. Das war er auch nicht. Er fühlte sich nicht betrogen
oder hereingelegt, sagte nur: «Jungfrau warst du aber nicht
mehr.»
Natürlich nicht! Mit einundzwanzig war man nicht mehr
Jungfrau. Da hatte man wohl schon mit dem einen oder
anderen Mann geschlafen. Aber auch das musste sie dem
Chef nicht auf die Nase binden.
Sie hatte alles wieder im Griff, hatte so erzählen können,
dass Margret unerwähnt blieb, ohne dass eine Lücke
entstanden wäre. Nur der letzte Satz, Gereons Feststellung,
rutschte heraus, bevor sie es verhindern konnte.
Und der Chef schaute sie an. Er wollte mehr hören, seine
Miene ließ keinen Zweifel daran. Er wollte eine Erklärung
für den Tod des Mannes. Bevor er die nicht bekam, konnte
er keine Ruhe geben, wollte mit Gereon reden,
wahrscheinlich sogar mit Vater.
Minutenlang war es still im Raum. Der Mann im
Sportanzug betrachtete mit zweifelnder Miene das
Aufnahmegerät. Der Chef schaute ihr fordernd ins
Gesicht. Sie musste ihm etwas erzählen, irgendetwas. Und
wenn er die Wahrheit nicht glauben wollte! Jetzt, wo sie
den Kopf halbwegs frei hatte und wieder einigermaßen
vernünftig denken konnte …
Und sie dachte, dass sie Gereons Bemerkung über die

114
Jungfräulichkeit und das, was Grit Adigar über die
Möglichkeit, von daheim wegzukommen, gesagt hatte,
sehr gut als Grundlage für eine Geschichte nehmen
könnte. Und einen Namen für die Hauptfigur … Wie hatte
der Chef es ausgedrückt? «Sein Name war Georg
Frankenberg.» Das mochte sein, nur war ihr der Name
fremd, und sie befürchtete, sich zu versprechen, wenn sie
ihn benutzte. Johnny war vertrauter. Und wenn sie das,
was sie sich damals gewünscht hatte, mit dem mischte,
was über Johnny erzählt worden war. Da waren ein paar
üble Gerüchte im Umlauf gewesen. Es war eine
hervorragende Basis für eine gute Geschichte.
«Wenn ich …», begann sie zögernd, «Ihnen erkläre,
warum ich ihn umgebracht habe. Versprechen Sie mir,
dass Sie meine Familie nicht belästigen?»
Er versprach ihr nichts, fragte nur: «Könnten Sie es denn
erklären, Frau Bender?»
Sie nickte. Ihre Hände zitterten wieder unkontrolliert.
Sie legte die eine fest um die andere und drückte beide in
den Schoß. «Natürlich kann ich das. Ich hatte nur gehofft,
es nicht tun zu müssen. Und ich will nicht, dass mein
Mann es erfährt. Er könnte das nicht verstehen. Und seine
Eltern erst recht nicht. Sie würden ihm das Leben zur
Hölle machen, wenn sie davon wüssten. Weil er sich mit
einer wie mir eingelassen hat.»
Bis dahin hatte sie mit gesenktem Kopf gesprochen. Nun
hob sie ihn, schaute ihm fest in die Augen und atmete
einige Male tief durch.
«Ich habe Sie angelogen, als ich sagte, dass ich den
Mann nicht kannte. Ich kannte seinen richtigen Namen
nicht. Aber ihn …
Es ist fünf Jahre her. Im März tauchte er das erste Mal in
Buchholz auf. Wie er wirklich hieß, wusste niemand. Er

115
nannte sich Johnny Guitar.
Mit Männern hatte ich kaum Erfahrung. Ich durfte nur
selten ausgehen und musste lügen, um ein paar Stunden
für mich zu haben. Meist sagte ich meiner Mutter, dass ich
unter freiem Himmel, ohne schützendes Dach, direkt unter
dem Auge Gottes meine Begierden klar erkannte und mich
besser darauf konzentrieren konnte, sie niederzukämpfen.
Solche Sprüche imponierten ihr. Da erlaubte sie mir auch
an einem Samstagabend, das Haus zu verlassen. Es gab für
junge Leute nicht viele Möglichkeiten in Buchholz. Viel
Natur ringsum, Radwanderwege, Cafés und Hotels für
Menschen, die Erholung suchten, aber keine Diskothek.
Manche fuhren nach Hamburg. Das habe ich nie getan.
Obwohl Vater mir bestimmt seinen Wagen gegeben hätte.
Er hatte mir auch erlaubt, den Führerschein zu machen.
Wir waren Verbündete, Vater und ich. Nur wollte ich das
nicht über Gebühr strapazieren.
Ich ging immer in die Stadt. Es gab ein paar Eisdielen
und auch ein Lokal, in dem man samstags tanzen konnte.
Freundinnen oder Freunde hatte ich nicht. Die Mädchen in
meinem Alter hatten meist einen Freund, mit dem sie
lieber allein waren. Und die Männer, natürlich lernte ich
ein paar Mal junge Männer kennen, aber das war nichts
Ernstes. Ich tanzte mit ihnen, ließ mich auch mal zu einer
Cola einladen. Aber mehr passierte nicht. Ich hatte
Hemmungen. Und wenn sie merkten, dass sie nicht gleich
bei mir landen konnten, verloren sie das Interesse.
Es hat mir nie etwas ausgemacht. Bis Johnny kam. An
dem Abend im März. Ich glaube, ich habe mich schon in
den ersten Minuten in ihn verliebt. Er war nicht allein. Es
war noch ein Mann bei ihm, ein kleiner Dicker. Sie
stammten beide nicht aus unserer Gegend, das merkte ich,
als ich sie sprechen hörte. Sie schauten sich um. Mich
nahmen sie nicht zur Kenntnis. Sie setzten sich an einen

116
Tisch. Nach ein paar Minuten stand Johnny auf und ging
zu einem Mädchen. Er tanzte ein paar Mal mit ihr. Später
verließen sie das Lokal zusammen mit dem kleinen
Dicken.
Am nächsten Samstag waren sie wieder da, auch das
Mädchen. Sie saß mit zwei Freundinnen in einer Ecke. Als
sie Johnny und seinen Freund bemerkten, steckten sie die
Köpfe zusammen und tuschelten. Aber das Mädchen ging
nicht zu ihnen. Ich hatte den Eindruck, sie wollte mit
Johnny und dem Dicken nichts mehr zu tun haben. Johnny
kümmerte sich auch nicht um sie. Es dauerte nicht lange,
da tanzte er mit einer anderen. Wenig später verschwand
er mit ihr. Der kleine Dicke lief hinterher. Und am
nächsten Samstag kannten sie sich nicht mehr.
Ein paar Wochen ging es so. Vielleicht hätte mich ihr
Verhalten und mehr noch das der Mädchen stutzig machen
müssen. Aber ich dachte mir nichts dabei. Ich war
wirklich sehr naiv damals. Und sehr verliebt! Was hätte
ich dafür gegeben, wenigstens einmal mit ihm zu reden.
Ich konnte es kaum noch erwarten, samstags aus dem
Haus zu kommen. Nie vorher habe ich meine Mutter so
dreist belogen wie in der Zeit. Es drehte sich alles nur
noch um Johnny. Ich wusste, dass ich bei ihm keine
Chance hatte. Ich wollte auch nur in seiner Nähe sein und
fragte ein bisschen herum, wer er war. Aber keiner wusste
etwas Genaues. Ein paar von den Mädchen erzählten, dass
er Musik mache. Und die, die mit ihm und seinem Freund
zusammen gewesen waren, grinsten, wenn ich sie fragte.
Ein paar Mal hieß es: ‹Es war ein netter Abend. Aber für
dich wäre es kaum das Richtige.›
Und dann, es war am 16. Mai, eine Woche nach meinem
Geburtstag, sprach der kleine Dicke mich an. Es war nicht
viel los an dem Abend. Sie hatten schon eine Weile am
Tisch gesessen, ehe der Dicke zu mir kam. Ich tanzte mit
117
ihm, weil ich dachte, danach nimmt er mich vielleicht mit
an ihren Tisch. Irrtum! Er wurde zudringlich. Ich hatte
Mühe, ihn mir vom Leib zu halten. Er wurde ausfallend
und beschimpfte mich.
Ich war ziemlich deprimiert und ging. Und draußen auf
dem Parkplatz hörte ich Johnny nach mir rufen. Er
entschuldigte sich für seinen Freund. Ich solle die
Schimpferei nicht übel nehmen. Sein Freund sei ein
Hitzkopf und habe leider nicht viel Glück bei Mädchen.
Wir blieben eine Weile draußen und unterhielten uns. Ich
konnte es kaum glauben. Er fragte, ob ich wieder mit
hineingehen wolle. Es sei doch zu früh, um heimzugehen.
Und er werde dafür sorgen, dass sein Freund mich nicht
noch einmal belästige.
So hat es angefangen mit Johnny und mir. Es kam mir
vor wie ein Wunder. Mir war schon der Verdacht
gekommen, dass er nur nach Buchholz kam, um ein
Mädchen für einen Abend abzuschleppen. Aber so
benahm er sich bei mir nicht. Der Dicke ging, als wir
zurück ins Lokal kamen. Fast eine halbe Stunde saßen wir
allein am Tisch und unterhielten uns. Dann fragte Johnny,
ob ich Lust hätte, mit ihm zu tanzen.
Mehr passierte nicht an dem Abend. Der Dicke tauchte
nicht wieder auf. Als ich gehen musste, brachte Johnny
mich hinaus. Er wollte mich auch heimbringen. Das ging
leider nicht. Wenn meine Mutter uns gesehen hätte, wäre
ich nie wieder vor die Tür gekommen. Wir
verabschiedeten uns auf dem Parkplatz. Er gab mir nur die
Hand und fragte: ‹Sehe ich dich wieder?›
Ich sagte: ‹Wahrscheinlich bin ich nächsten Samstag
wieder hier.›
Er lächelte. ‹Ich auch. Und es ist wohl am besten, wenn
ich allein komme. Also dann bis nächsten Samstag.›

118
Er kam tatsächlich allein. Und er war sehr
zurückhaltend. Es dauerte drei Wochen, ehe er mich zum
ersten Mal küsste. Er war lieb und zärtlich, und egal, was
ich sagte, er verstand es. Auch als ich ihm von meiner
Mutter erzählte, lachte er nicht. ‹Jeder so, wie er glaubt,
dass es richtig wäre›, meinte er.
Natürlich fragte ich ihn nach seinem Namen. Er sagte, er
hieße Horsti. Das war mir zu blöd, also blieb ich bei
Johnny. Er sagte, er kann Mädchen nicht ausstehen, bei
denen man auf Anhieb landen kann, die seien nur gut, um
sich zu amüsieren. Er sagte, er hätte noch nie ein Mädchen
wie mich getroffen und dass er mich liebe. Es war alles
perfekt. Er war sogar ein bisschen eifersüchtig. Ein paar
Mal konnte er am Wochenende nicht nach Buchholz
kommen. Dann bat er mich, daheim zu bleiben, damit ihm
kein anderer in die Quere kam.
Ich wusste nicht viel von ihm. Er erzählte nicht gerne,
nur ab und zu ein bisschen. Dass er mit zwei Freunden
eine Band gegründet hatte, dass sie in einem Keller
probten. Der Dicke gehörte dazu. Johnny sagte, sein
Freund sei ein Ass am Keyboard. Er selbst spielte
Schlagzeug und der dritte die Bassgitarre.
Im August fragte er mich, ob ich Lust hätte, mir ihre
Musik einmal anzuhören. Lust hatte ich. Aber ich wollte
nicht mit dem Dicken in einem Keller sitzen, wo ich nicht
die Möglichkeit gehabt hätte wegzugehen, wenn er mich
belästigte. Johnny lachte mich aus. ‹Ich bin doch dabei. Er
wird dich nicht einmal schief von der Seite ansehen.›
Am darauf folgenden Wochenende brachte er ihn noch
einmal mit. Da benahm der Dicke sich manierlich, und ich
willigte ein, mit ihnen zu fahren. Es wurde ein toller
Abend. Sie spielten ein neues Lied, es hieß ‹Song of
Tiger›. Johnny sagte, das sei jetzt mein Lied. Er hätte es
für mich gemacht.
119
Nach einer Stunde hörten sie auf zu spielen. Die beiden
anderen gingen hinaus und kamen nicht zurück. Johnny
gab mir etwas zu trinken und schaltete die Stereoanlage
ein. Es gab ein paar Tonbänder mit Aufnahmen, die sie
selbst bespielt hatten. Wir tanzten, tranken noch ein paar
Gläser, setzten uns auf die Couch. Und da ist es eben
passiert.
Ich will nicht behaupten, er hätte mich vergewaltigt. Es
war sehr schön. Und ich wollte es auch. Ich war ein
bisschen betrunken und hatte nur Angst, dass ich
schwanger werde. Ich hatte noch nie ein Verhütungsmittel
genommen.
Johnny sagte: ‹Mach dir keine Sorgen. Ich passe auf.›
Darauf habe ich mich verlassen. Und dann bekam ich
meine Periode nicht. Ich bin fast gestorben vor Angst.
Johnny gab mir Geld. Ich sollte mir einen Test aus der
Apotheke holen. Er sagte: ‹Wenn der Test positiv ist,
heiraten wir eben.›
Er war positiv. Als ich ihm das sagte … Er tat, als freue
er sich riesig, riss mich an sich und jubelte. ‹Ich werde
Vater. Meine Eltern werden Augen machen. Morgen stelle
ich dich ihnen vor. Lass dir etwas einfallen, damit deine
Mutter dir Ausgang gibt. Und sag ihr auch, es wird
ziemlich spät werden. Wir treffen uns um zwei hier auf
dem Parkplatz. Wenn es eine halbe Stunde später werden
sollte, lauf nicht heim. Warte auf mich.›
Das habe ich getan, bis abends um sieben. Er kam nicht.
Ich habe ihn nie wieder gesehen. Was ich tun konnte, um
ihn ausfindig zu machen, habe ich getan, viel war das
nicht. Ich kannte seinen richtigen Namen nicht und wusste
nicht, wo er wohnte.
Das Einzige, woran ich mich erinnerte, war, dass wir an
dem Abend auf der Autobahn Richtung Hamburg gefahren

120
waren. Aber wir hatten hinten im Wagen gesessen, er hatte
mich abgelenkt. Ich wusste nicht einmal, ob wir im Haus
seiner Eltern oder bei einem seiner Freunde gewesen
waren. Wochenlang fuhr ich herum und suchte. Ich
dachte, mir fiele die eine oder andere Einzelheit ein, wenn
ich unterwegs bin.
Jeden Abend, wenn Vater von der Arbeit kam, ließ er
den Wagen am Buenser Weg stehen, damit Mutter nichts
merkte. Meinem Vater erzählte ich, dass ich üben müsse,
damit ich das Fahren nicht wieder verlernte. Er verstand
das.
Über die Schwangerschaft konnte ich nicht mit ihm
reden. Es war auch sonst niemand da. Irgendwann begriff
ich, dass meine Suche aussichtslos war. Ein paar Wochen
habe ich noch gewartet, dass Johnny sich bei mir meldet.
Er kannte meinen Namen und meine Adresse. Ich mochte
nicht glauben, dass ein Mensch so schlecht sein kann.
Aber die Mädchen, mit denen er vor mir zusammen
gewesen war, sagten alle: ‹Hast du dir wirklich
eingebildet, dass der es ernst meint?›
Ende Oktober bemerkte ich, dass mein Bauch dicker
wurde. Und meiner Mutter war aufgefallen, dass mir
häufig übel war. Sie verlangte, dass ich mich von einem
Arzt untersuchen ließ. Da bin ich von zu Hause weg, per
Anhalter. Und dann habe ich versucht, mich umzubringen.
Ich habe mich vor ein Auto geworfen. Dabei verlor ich das
Baby. Es war ein Mädchen, das konnte man schon sehen.
Mir selbst war nicht viel passiert, nur ein paar Schrammen
im Gesicht und eben die Fehlgeburt.
Ich musste wieder heim. Aber meine Mutter wollte mich
nicht mehr im Haus haben. Dass ich zu sterben versucht
und dabei mein Baby getötet hatte, sei die schwerste
Sünde, die ein Mensch begehen könne, sagte sie und warf
mich hinaus.
121
Ich fuhr nach Köln und fand Arbeit dort. Ein Jahr später
lernte ich meinen Mann kennen, wir heirateten. Aber ich
habe die Sache nie überwunden. Meine Mutter hat doch
Recht. Ich bin eine Mörderin. Ich habe ein unschuldiges
Kind getötet. Seit mein Sohn auf der Welt ist, stelle ich
mir vor, wie es wäre, wenn er eine ältere Schwester hätte,
die ihn liebt, die alles für ihn tut und immer für ihn da ist.
Als ich Johnny heute Nachmittag mit dieser Frau sah …
Zuerst habe ich nur seinen Rücken gesehen. Da dachte ich
noch, das kann nicht sein. Aber dann richtete er sich auf.
Ich hörte ihn sprechen. Und dann spielte die Frau das
Lied. Mein Lied.
‹Song of Tiger›.
Es war … Ich weiß nicht, was es war. Es ging so
wahnsinnig schnell. Es ging irgendwie automatisch.»
Mit dem letzten Satz hob sie den Kopf, schaute dem
Chef ins Gesicht und fühlte die Erleichterung wie eine
warme Flüssigkeit durch den Körper fluten. Seine Miene
war weich geworden. Er glaubte die Geschichte. Es war
aber auch eine sehr gute Geschichte. Und da sie zu einem
kleinen Teil auf Wahrheit beruhte, konnte niemand sie
widerlegen.
Die kleine Kölner Altbauwohnung, in der Margret Rösch
im Dezember vor fünf Jahren ihre Nichte aufgenommen
hatte, lag an einer viel befahrenen Straße. Im Winter störte
es Margret nicht. Da reichte es ihr, morgens und abends
kurz durchzulüften. Im Sommer wurde es oft unerträglich.
Bei geöffneten Fenstern drang neben dem Verkehrslärm
auch der Gestank von Abgasen bis in den letzten Winkel.
Blieben die Fenster geschlossen, staute sich die Hitze. Da
hatte man beim Heimkommen das Gefühl, einen Brutofen
zu betreten.
Heimgekommen war Margret Rösch an diesem

122
Samstagabend kurz nach neun Uhr. Den Nachmittag und
den frühen Abend hatte sie mit einem langjährigen Freund
verbracht. Sie bezeichnete ihn nie anders als ihren Freund.
Achim Miek, Doktor der Medizin mit eigener Praxis in der
Innenstadt und seit dreißig Jahren ihr Geliebter.
Verheiratet war Margret nie gewesen, und jetzt lohnte
sich das nicht mehr. Nach all den Jahren als Freundin
konnte sie dem Gedanken, ihre persönliche Freiheit
aufzugeben, nicht mehr viel abgewinnen. Obwohl Achim
Miek jetzt darauf drängte. Er war seit gut einem Jahr
verwitwet.
Margret hatte ihn nie gedrängt, niemals das Wort
Scheidung ausgesprochen. Und nur ein einziges Mal hatte
sie ihn gebeten, etwas für sie zu tun, nicht direkt für sie –
für ihren Bruder und ihre Nichte. Es lag fünf Jahre zurück,
im August war es gewesen – und nicht legal. Dass Achim
Miek sie ausgerechnet heute daran hatte erinnern müssen,
hielt Margret später für ein schlechtes Omen. Man hätte es
eher Erpressung nennen können.
Sie hatte sich früher als geplant verabschiedet, um einer
Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Als sie ihre
Wohnung betrat, war sie nicht eben bester Laune. Die Luft
war stickig. Aber es war spät genug, um alle Fenster zu
öffnen. Der Verkehr hatte nachgelassen. Draußen war es
einige Grade kühler als drinnen.
Sie nahm eine lauwarme Dusche. Anschließend richtete
sie sich ein leichtes Abendbrot, aus dem gemeinsamen
Essen im Restaurant war ja leider nichts geworden. Dann
las sie ein paar Seiten in einem Roman, um die
Enttäuschung und das ungute Gefühl zuzudecken.
Für halb elf war auf dem Ersten Programm ein Film
angekündigt, den sie sich anschauen wollte. Als sie ihr
Fernsehgerät einschaltete, sprach gerade ein gütig

123
aussehender Mensch mit engagierter Miene über das große
Vorbild, den Erlöser.
Margret vergaß auf der Stelle die eigenen Probleme, bis
auf die Worte ihres Freundes: «Vergiss nicht, was ich für
dich getan habe.» Wie hätte sie das vergessen sollen? Sie
hatte bei dieser Sache damals entschieden mehr riskiert als
Achim Miek. Unvermittelt spürte sie kalte Wut in sich
aufsteigen, sah für den Bruchteil einer Sekunde die
bläulich verfärbte Leidensmiene ihrer jüngeren Nichte vor
sich, hörte Elsbeths sanfte Stimme ein Gebet murmeln.
Der Geruch von brennenden Kerzen stach ihr in die Nase.
Der Eindruck war so real, dass sie niesen musste.
Sie putzte sich die Nase, griff erneut nach dem Buch und
konzentrierte sich auf die Zeilen, während der gütig
aussehende Mensch noch ein paar Minuten lang referierte.
Wenn man es so erlebt hatte wie Margret, konnte man
dem nicht zuhören. Dabei hatte sie es nur sporadisch
erlebt. Vierteljährlich für höchstens zwei Tage – und nicht
einmal von Anfang an. Mit den regelmäßigen Besuchen
bei ihrem Bruder hatte sie erst begonnen, als Wilhelm sie
ausdrücklich darum bat. Zu dem Zeitpunkt war Cora neun
Jahre alt gewesen. Und wenn Margret abreiste, sprach sie
ebenfalls ein Gebet, genauso inbrünstig wie die, die
Elsbeth im Wohnzimmer murmelte. «Pass auf Cora auf,
Wilhelm. Du musst etwas für sie tun, sonst geht sie vor die
Hunde.»
Jedes Mal nickte Wilhelm und versprach: «Ich tu, was
ich kann.»
Ob er es wirklich tat und wie viel er tun konnte, wusste
Margret nicht. Sie wusste insgesamt nicht viel über ihn.
Achtzehn Jahre Altersunterschied – das von der Mutter
gehätschelte Nesthäkchen und der große Bruder.
Als Margret geboren wurde, hatte Wilhelm sich bereits

124
als Freiwilliger zur Wehrmacht gemeldet. Er war in den
Jahren danach einmal auf Urlaub daheim gewesen, doch
daran erinnerte sie sich nicht. Daheim war damals
Buchholz, die kleine Stadt nahe der Lüneburger Heide, in
die es Wilhelm später zurückzog. Im Frühjahr 1944
verließen Margret und ihre Mutter die alte Heimat. Sie
kamen ins Rheinland, wo noch Verwandte der Mutter
lebten. Es war nach dem Umzug oft vom großen Bruder
die Rede gewesen. Doch Margret lernte ihn erst kennen,
als sie zehn Jahre alt und Wilhelm bereits ein gebrochener
Mann war.
Es war nie offen darüber gesprochen worden. Aus den
wenigen Andeutungen, die er im Laufe der Jahre gemacht
hatte, zog Margret den Schluss, dass er in Polen an
Erschießungen teilgenommen hatte, Zivilbevölkerung,
auch Frauen und Kinder. Auf Befehl; hätte er sich
geweigert, hätte man ihm vermutlich auch eine Kugel ins
Genick gejagt oder ihn aufgeknüpft. Wilhelm konnte es
nicht so sehen und wurde nicht damit fertig.
Er hielt es nicht lange aus im Rheinland bei Mutter und
Schwester. Der Vater war in Frankreich gefallen. Und
Wilhelm wollte zurück nach Buchholz. Vielleicht hoffte
er, dort einen Teil der unschuldigen Jugend wieder zu
finden.
Stattdessen fand er Elsbeth. Eine bildhübsche junge Frau
aus Hamburg, eine fast übernatürliche Erscheinung mit
weißblondem Haar und einem Teint wie Porzellan, mit
einem Schicksal, wie es nach dem Krieg viele gehabt
hatten – ein Verhältnis mit einem Sieger. Elsbeth war
schwanger geworden, bekommen hatte sie das Kind nicht.
Dass sie es mit Hilfe einer Stricknadel losgeworden und
fast daran gestorben war, erfuhr Margret erst, als es bei
Elsbeth nichts mehr zu retten gab. Aber es war eine
Erklärung. Und Erklärungen waren das Wichtigste

125
überhaupt.
In den eineinhalb Jahren, die Cora bei ihr verbrachte,
hatte Margret häufig darüber gesprochen. Unzählige
Nächte hatten sie zusammengesessen, über Schuld und
Unschuld, Glauben und Überzeugung diskutiert. Über die
Eltern, die langen kinderlosen Jahre ihrer Ehe. Wie
Wilhelm sich an Elsbeths Seite allmählich von einem
schwermütigen in einen lebenslustigen Mann verwandelte.
Wie Elsbeth ihn mitriss, lachen, tanzen, lieben. Wie er
begann, sein Leben zu genießen. Wie sie reisten, eine
Woche Paris, drei Tage Rom, das Oktoberfest in München
und der Prater in Wien.
Einmal im Jahr waren sie ins Rheinland gekommen.
Karneval in Köln, den ließ Elsbeth sich nicht entgehen. Da
trank sie auch mal ein Gläschen. Und wenn es ein
Gläschen zu viel wurde, verfiel sie in melancholische
Stimmung, erzählte ein wenig von Liebe, Leid und der
schweren Schuld, die sie auf sich geladen hatte.
Als sie schwanger wurde, war Elsbeth fast vierzig,
Wilhelm ging auf die fünfzig zu und war überglücklich.
Zu Coras Geburt lud er Mutter und Schwester ein. Sie
mussten unbedingt kommen und die kleine Enkeltochter
und Nichte, dieses Geschenk des Himmels, bewundern.
Ein hübsches Baby, kerngesund, mit Wilhelms dichtem
dunklem Haarschopf und einem gesunden Appetit. Es
hatte Elsbeth viel Kraft gekostet. Ganz matt lag sie in dem
Krankenhausbett, fast ausgeblutet, blass und schwach,
aber ebenso glücklich wie Wilhelm.
«Hast du sie schon gesehen, Margret? Geh nur, die
Schwester wird sie dir zeigen. Alle hier sagen, dass sie
selten so ein hübsches Kind gesehen haben. Und wie stark
sie ist. Sie hält ihr Köpfchen schon aus eigener Kraft oben.
Nie hätte ich geglaubt, dass ich einmal ein Kind im Arm
halten darf – und dann so ein schönes. Der Herr hat mir
126
verziehen, er hat mir ein so großes Geschenk gemacht. Für
so ein Kind gibt man gerne etwas von sich her. Ich werde
mich schon wieder erholen.»
Doch ehe Elsbeth sich erholen konnte, wurde sie zum
zweiten Mal schwanger, mit Magdalena. Die
Todeskandidatin. Gezeichnet vom offenen Ductus Botalli,
der Verbindung zwischen Aorta und Lungenarterie, die
sich normalerweise bei der Geburt schließt, außerdem
geschlagen mit mehreren Septumdefekten. Sowohl die
Vorhöfe des winzigen Herzens als auch die beiden
Kammern waren betroffen. Hinzu kamen weitere
Gefäßanomalien. Die linke Herzkammer war nicht
vollständig ausgebildet, die Bauchaorta wies sackartige
Ausbildungen, Aneurysmen, auf. Der betroffene Abschnitt
war zu groß, um ihn komplett zu entfernen. Und die Ärzte
vermuteten, dass noch weitere Gefäße betroffen waren.
Margret war Krankenschwester. Niemand musste ihr
sagen, dass der blaue Winzling keine Chance hatte – trotz
der sechs Operationen im ersten halben Jahr. Einer der
Ärzte hatte damals zu Wilhelm gesagt: «Was in der Brust
Ihrer Tochter schlägt, ist kein Herz, das ist ein Schweizer
Käse. Es sieht aus, als hätte es jemand mit einer
Stricknadel bearbeitet.»
Unglücklicherweise hatte Elsbeth diese Worte ebenfalls
gehört, oder sie waren ihr von einer nichtsahnenden
Krankenschwester zugetragen worden.
Aber egal, was die Ärzte an Zeit vorgaben, Magdalena
strafte sie Lügen. Sie nahm es sogar mit einer Leukämie
auf und gewann ihren Kampf. Elsbeth führte das auf die
Kraft der Gebete zurück und steigerte ihren Eifer so, dass
es für jeden normal empfindenden Menschen unerträglich
wurde.
Margret hatte gewusst, wie es im Haus des Bruders

127
zuging, und nichts getan, die Entfernung zum Vorwand
genommen und die alte Mutter, mit der sie damals
zusammenlebte. In den ersten Jahren nach Magdalenas
Geburt hatten ihre Besuche in Buchholz Seltenheitswert
gehabt. Kurz reinschauen, Augen zu und wieder nach
Hause.
Dann starb ihre Mutter. Wilhelm kam zur Beerdigung
nach Köln – allein, Elsbeth war nicht abkömmlich.
Abends saßen sie zusammen, Margret und ihr Bruder, der
dem Alter nach beinahe ihr Vater hätte sein können. Er
druckste eine Weile herum, ehe er seine Bitte flüssig über
die Lippen brachte. Ob sie nicht in den nächsten Wochen
einmal zu Besuch kommen möchte. Und ob sie vielleicht
einmal mit Elsbeth reden könne. Ein Gespräch von Frau
zu Frau – über die Bedürfnisse eines Mannes. Es fiel ihm
schwer, es auszusprechen. Dass er es überhaupt schaffte,
wo sie sich so fremd waren, zeigte, dass er keinen Ausweg
mehr wusste.
«Ich habe schon daran gedacht, mich von ihr zu trennen.
Aber das wäre verantwortungslos. Und ich will mich nicht
drücken vor der Verantwortung. Nur kann es nicht so
weitergehen, das halte ich nicht aus.»
Nach einer Pause von mindestens zwei Minuten fügte er
hinzu: «Seit Magdalenas Geburt schlafe ich im
Kinderzimmer. Sie lässt mich nicht zu sich. Ich kann
sagen, was ich will. Früher bin ich oft zu einer Frau
gegangen, die Geld nahm. Ich wusste mir nicht anders zu
helfen. Es war nicht richtig, ich weiß. Ich habe auch damit
aufgehört vor einiger Zeit.»
Seit Magdalenas Geburt, das waren zu dem Zeitpunkt
acht Jahre. Wilhelm war neunundfünfzig, sah jedoch
wesentlich jünger aus. Ein großer, kräftiger Mann war er.
Und wie er sie anschaute, wie er murmelte: «Es geht ja
nicht nur um mich, auch um Cora. Sie ist jetzt neun. Und
128
sie wird älter, und … Ich habe Angst um sie.» Da lief es
Margret kalt den Rücken hinunter. Obwohl Wilhelm es
bestimmt nicht so gemeint hatte, wie sie es im ersten
Augenblick auffasste.
Vierzehn Tage später machte sie sich auf den Weg und
versuchte ihr Glück bei Elsbeth. Doch da war alle Mühe
vergebens. Elsbeth hörte ihr mit genügsamer Miene und
im Schoß gefalteten Händen zu und sagte: «Wenn ich die
Kraft hätte für ein weiteres Kind, würde ich ihn zu mir
lassen. Meine Zeit ist noch nicht abgelaufen, ich könnte
noch empfangen. Und wie soll ich das schaffen? Nein!
Wir müssen alle Opfer bringen. Wilhelm ist ein Mann. Er
muss es tragen wie ein Mann.»
Das hatte Wilhelm wohl tun müssen. Er war vermutlich
wieder zu einer Frau gegangen, die Geld nahm. Genau
wusste Margret es nicht. Es war nie mehr über die Sache
gesprochen worden, nur noch ein paar Mal über Wilhelms
Angst um Cora, die plötzlich ein paar Auffälligkeiten
zeigte.
Es war nicht angenehm gewesen, darüber nachzudenken,
ob Wilhelm dem Wahnsinn, den Elsbeth mit Cora
veranstaltete, die Krone aufsetzte. Der eigene Bruder! Und
wenn er hundertmal nicht wusste, wohin mit seinen
Bedürfnissen, er würde sich nicht an einem Kind
vergreifen! Gewiss nicht an seiner Tochter!
Margret konnte sich das nicht vorstellen und hatte mit
halbem Herzen versucht, der Sache auf den Grund zu
gehen. Sie war gegen eine Mauer gerannt, hatte schon
damals die Erfahrung gemacht; was Cora nicht sagen
wollte, bekam kein Mensch aus ihr heraus.
Dass es irgendwann zu einer Katastrophe hatte kommen
müssen, war vorhersehbar gewesen. Zu einer! Aus
Margrets Sicht war die vor fünf Jahren geschehen, genau

129
am 16. Mai – an Magdalenas Geburtstag. Cora war fast
zerbrochen und ein halbes Jahr wie vom Erdboden
verschluckt gewesen.
Nur mit Schaudern erinnerte sich Margret an den Anruf
im Dezember des gleichen Jahres, an die Stimme ihrer
Nichte am Telefon: «Darf ich zu dir kommen? Ich kann
hier nicht mehr leben. Ich kann überhaupt nicht mehr
leben, glaube ich.» Und wie sie dann vor ihrer Tür stand
mit den zerstochenen Armen und der Kerbe in der Stirn.
Und die Nächte bis weit in den folgenden März hinein, in
denen Margret aus dem Bett gesprungen und ins
Wohnzimmer gerannt war. Als Erstes immer nach den
Händen gegriffen, damit Cora sich nicht verletzte.
Grauenhafte Albträume und danach rasende
Kopfschmerzen und eisernes Schweigen. Was immer mit
ihr geschehen war, Cora konnte nicht darüber reden, sie
sprach nur einmal von einem Unfall im Oktober.
Sie hätte Hilfe gebraucht, einen kompetenten Arzt. Aber
sie ließ niemanden an sich heran. Margret musste betteln,
ehe sie sich wenigstens einmal von Achim Miek
untersuchen ließ. Die Kopfschmerzen seien wohl Ursache
der Schädelverletzung, meinte Achim und wunderte sich,
wie gut die Wunde verheilt war in der kurzen Zeit seit
Oktober. Was die Albträume anging, vermutete er ein
traumatisches Erlebnis. Und das aufzuarbeiten gehörte in
die Hände eines Facharztes. Ein guter Psychologe könne
wahrscheinlich helfen.
Cora winkte ab. Und irgendwie schaffte sie es ohne
Hilfe. Inzwischen war es überflüssig, sich Sorgen um sie
zu machen. Es ging ihr gut. Alle zwei Wochen kam sie
sonntags zu Besuch mit Gereon und ihrem Söhnchen,
erzählte vom eigenen Haus und der aufreibenden Arbeit
im Büro.
Margret freute sich jedes Mal, mit welcher Begeisterung
130
Cora in die ihr fremde Materie eingestiegen war. Gereon
Bender war in Margrets Augen kein Traummann. Er war
ein Trottel. Aber seit der Hochzeit mit ihm hatte Cora
etwas Sinnvolles zu tun, keine Zeit mehr zum Grübeln –
und absolut keine Probleme mehr. Immer machte sie einen
ausgeglichenen Eindruck, wenn sie zu Besuch kamen. Am
nächsten Tag wollten sie auch kommen.
Am Freitag hatte Margret noch mit ihrer Nichte
telefoniert, kurz vor Mittag. Da hatte Cora ein bisschen
nervös geklungen. In letzter Zeit klang sie freitags häufig
ein bisschen nervös. Kein Wunder nach einer Woche voll
Hektik und Stress im Büro.
Kurz vor elf, gerade als der Film begonnen hatte, rief
Gereon an. Das hatte er bis dahin noch nie getan. Da war
schon der Anruf an sich ein schlechtes Zeichen. Das
zweite an diesem Abend. Gereon gab einen konfusen
Bericht, von dem Margret im ersten Moment nur ein Wort
verstand: Kripo!
Sie dachte, Cora sei etwas zugestoßen. Dass Cora
zugestoßen haben könnte, der Gedanke wäre ihr nicht im
Traum gekommen. Cora war rebellisch auf ihre Art, sie
mochte auf manche Leute einen aggressiven Eindruck
machen. Doch im Grunde ihres Herzens war sie sanft wie
ein Lamm. Und Lämmer töten nicht, taugen nur zum
Opfer.
Gereon hatte längst wieder aufgelegt, da hielt Margret
den Telefonhörer noch am Ohr und war überzeugt, sie
habe irgendetwas falsch verstanden. Sie versuchte einen
Rückruf, aber es wurde nicht abgehoben, weder im Haus
ihrer Nichte noch bei deren Schwiegereltern. Es dauerte
eine Weile, ehe sie sich aufraffen konnte, die Auskunft
anzurufen und die Nummer der Polizeibehörde des
Erftkreises zu erfragen. Danach brauchte sie einen
Cognac.
131
Es schwankte wie damals zwischen Nicht-wissen-
Wollen und dem Bedürfnis, sich Gewissheit zu
verschaffen, zwischen dem Wunsch nach Ruhe, einem
Leben ohne Probleme und dem Bewusstsein, dass
niemand für Cora einstand. Von Gereon Bender durfte
man nichts erwarten. Er hatte mit seinem letzten Satz
klargemacht, wie die Dinge für ihn standen. «Die ist für
mich erledigt.»
Margret brühte Kaffee auf, trank zwei Tassen, um den
Cognac zu neutralisieren. Dann wählte sie endlich, nannte
ihren Namen und brachte ihr Anliegen vor. Doch es gab
keine Auskunft am Telefon. Es gab auch nicht die
Möglichkeit, sie mit einem der zuständigen Beamten zu
verbinden. Das war Auskunft genug.

132
5. Kapitel

Rudolf Grovian schaltete das Aufnahmegerät vorläufig ab,


als sie mit einem tiefen Atemzug zu erkennen gab, dass sie
erst einmal genug erzählt hätte. Es war ein paar Minuten
nach elf. Sie wirkte müde, ausgelaugt und sehr erleichtert.
Er kannte den Effekt aus anderen Verhören. Der Kaffee
war längst fertig. Er erhob sich, ging zum Spülschrank,
nahm den Becher, wusch ihn äußerst gründlich und so,
dass sie es sehen konnte, unter fließendem Wasser aus.
Dann schüttelte er ihn, dass die Wassertropfen nur so
flogen. Ein sauberes Tuch zum Trockenwischen war
natürlich nicht in der Nähe. Nie war das da, was man
gerade brauchte.
«Nehmen Sie Milch oder Zucker, Frau Bender?»
«Nein, vielen Dank, schwarz, bitte. Ist er schön stark?»
«Wie Teer», sagte er. Und sie lächelte flüchtig und
nickte. Er goss den Becher voll und brachte ihn ihr an den
Schreibtisch. Sein Verhalten entsprach noch der gängigen
Verhörtaktik. Dass etwas daran anders war als sonst, fiel
niemandem auf, nicht einmal ihm selbst. «Möchten Sie
auch etwas essen?»
Er setzte sich wieder auf den Stuhl ihr gegenüber und
fragte sich, wo er um diese Zeit noch etwas Essbares
auftreiben sollte. Flüchtig tauchte die reich gedeckte
Kaffeetafel seiner Schwägerin vor seinem geistigen Auge
auf. Für den Abend waren Nackensteaks vom Grill
vorgesehen gewesen, zusammen mit dem geplanten
ernsten Wort an seine Tochter wären sie für seine Galle
ohnehin zu fett gewesen.
Er schaute zu, wie sie den Becher mit beiden Händen

133
umfasste, ihn dann vorsichtig beim Henkel nahm und zum
Mund führte. Sie trank einen winzigen Schluck, murmelte:
«Gut, genau richtig», und schüttelte den Kopf. «Vielen
Dank, ich bin nicht hungrig, nur ziemlich müde.»
Das war nicht zu übersehen. Er hätte ihr eine Pause
gönnen müssen. Sie hatte das Recht darauf. Aber es waren
nur noch ein paar Fragen. Sie hatte es vermieden, den
kleinsten Anhaltspunkt zu geben, der es erlaubt hätte, ihre
Angaben zu überprüfen. Keine Namen! Mit Ausnahme
von Johnny Guitar und dem blödsinnigen Horsti. Kein
Lokal benannt, keinen Fahrzeugtyp, von einem amtlichen
Kennzeichen ganz zu schweigen. Es passte zu ihr. – Nur
niemanden mit hineinziehen.
Aber sie musste begreifen, dass es so nicht ging. Ein
wenig mehr als das bisher Gelieferte brauchte er schon.
Sonst müsste sich der Staatsanwalt zwangsläufig an die
Stirn tippen und auf ein paar Ungereimtheiten verweisen.
Auf die Tatsache zum Beispiel, dass Georg Frankenberg
aus Frankfurt stammte. Er war dort geboren und
aufgewachsen, hatte sein Elternhaus erst verlassen, als er
zur Bundeswehr einberufen wurde. Anschließend hatte er
sein Studium an der Universität in Köln aufgenommen.
Buchholz in der Nordheide! Was mochte Frankenberg
dorthin verschlagen haben? Dass ihn nur die Suche nach
Abenteuern hinauf in den Norden getrieben haben sollte,
war schwer vorstellbar. Rudolf Grovian ging davon aus,
dass einer seiner Freunde aus Hamburg oder Umgebung
stammte. Leider hatte er versäumt, von Meilhofer
Auskünfte über die beiden anderen Bandmitglieder
einzuholen. Er hatte zu dem Zeitpunkt nicht ahnen
können, dass sie wichtig werden könnten.
Er fragte nicht, ob sie sich imstande fühle, noch ein paar
Fragen zu beantworten, sagte nur: «Der Kaffee wird Ihnen

134
gut tun.»
Die Brühe war ziemlich stark, das hatte er gesehen, als
er den Becher voll goss. Deshalb hatte er nichts davon
genommen. Starker Kaffee bekam seiner Galle auch nicht.
Er schaltete das Aufnahmegerät wieder ein und begann –
ahnungslos, in welcher Wunde er stocherte –, mit dem
einzig konkreten Punkt, den sie genannt hatte. «Sie haben
Georg Frankenberg also vor fünf Jahren, genau am 16.
Mai kennen gelernt.»
Sie schaute ihn über den Rand des Bechers mit
ausdruckslosem Blick an und nickte. Er rechnete kurz. Zu
dem Zeitpunkt war Frankenberg zweiundzwanzig gewesen
und dürfte am Beginn seines Studiums gestanden haben.
Das Sommersemester begann im März und ging bis Mitte
Juli. Semesterferien waren im August und September.
Blieben die Wochenenden. Sie hatte ausschließlich von
Wochenenden gesprochen. Und nicht einmal von jedem.
Ein junger Mann mit einer fatalen Neigung zu flotten
Wagen hatte schnell ein paar hundert Kilometer
zurückgelegt, und motorisiert dürfte Frankenberg während
seiner Studienzeit gewesen sein. Nobles Elternhaus, das
den Sprössling mit allem versorgte, was für ein
standesgemäßes Leben notwendig war. Der Vater war ein
Herr Professor! Facharzt für Neurologie und
Unfallchirurgie. Seit sieben Jahren Chef in der eigenen
Klinik, die sich auf plastische Chirurgie spezialisiert hatte.
Da erwartete man, dass der Filius wusste, in welche
Fußstapfen er zu treten hatte.
Aber der Sohn hatte ein paar Flausen im Kopf, saß lieber
am Schlagzeug als im Hörsaal, amüsierte sich jede Woche
mit einer anderen, schwängerte schließlich ein Mädchen
aus obskuren Verhältnissen, das so leicht nicht zu haben
gewesen war. Dass Frankie sich tatsächlich gefreut haben

135
sollte, Vater zu werden, mochte sein oder auch nicht.
Seine Eltern dürften keinesfalls begeistert gewesen sein.
Es passte wirklich alles. Rudolf Grovian besaß genug
Phantasie, um sich in die seelische Verfassung Georg
Frankenbergs hineinversetzen zu können. Ein junger
Mann ließ vor Jahren – entweder um Ärger daheim zu
vermeiden oder auf Befehl von oben – seine schwangere
Freundin sitzen. Vermutlich hörte er irgendwann, dass sie
sich im Oktober vor ein Auto geworfen hatte. Damit
verklärte sich für ihn die ganze Angelegenheit.
Das Gewissen meldete sich und machte ihm schwer zu
schaffen. Wenn er später von dieser Freundin sprach – nur
einmal und in Andeutungen –, erklärte er sie für tot,
gestorben bei einem Unfall. So konnte man das auch
ausdrücken. Aber vergessen hatte Frankie sie nie. Wie oft
mochte er sich gefragt haben, was aus ihr und seinem
Kind geworden wäre, wenn er sich zu ihr bekannt hätte?
Und als sie sich am See auf ihn stürzte …
Dass seine Stimme um einige Grade sanfter klang, fiel
ihm nicht auf. «Wir brauchen zumindest die Namen der
beiden Männer, mit denen Georg Frankenberg damals
zusammen war, Frau Bender.»
Sie hob müde die Schultern. «Ich weiß die Namen nicht.
Er nannte die beiden nur seine Freunde.»
«Würden Sie die Männer wieder erkennen?»
Sie atmete tief durch. «Den Dicken vielleicht. Den
anderen kaum. Ich habe ihn nur einmal flüchtig gesehen.
Er war schon unten, als wir kamen. Es war nicht sehr hell,
und er saß in der Ecke. Als er zusammen mit dem Dicken
hinausging, habe ich mich nicht um ihn gekümmert.»
So ungefähr hatte er sich das gedacht. Aber es konnte
nicht schwierig sein herauszufinden, mit wem
Frankenberg für kurze Zeit von einer Karriere als Musiker

136
geträumt hatte. Der nächste Punkt: «Welchen Wagen fuhr
Georg Frankenberg, als Sie ihn kennen lernten?»
Sie schaute in den Kaffeebecher. «Das weiß ich nicht
mehr. Als ich mitgefahren bin, das war, glaube ich, nicht
sein Auto. Der Dicke saß am Steuer.» Nach ein paar
Sekunden fügte sie zögernd an: «Das war ein Golf GTI,
silberfarben. Das Kennzeichen begann mit einem B. BN
vielleicht – ich bin nicht sicher.»
«Und diese Fahrt ging nach Hamburg?»
Sie nickte nur.
«Geht es nicht ein bisschen genauer, Frau Bender? Wie
lange dauerte die Fahrt? Welche Abfahrt haben Sie
genommen?»
Sie zuckte mit den Achseln und murmelte: «Tut mir
Leid. Ich habe nicht aufgepasst.»
«Sie haben also keine Ahnung, in welchem Stadtteil von
Hamburg das Haus lag?»
Als sie den Kopf schüttelte, fühlte er Frustration in sich
aufsteigen. «Können Sie wenigstens das Haus
beschreiben? War es ein freistehendes Haus? Wie sah die
Umgebung aus?»
Sie reagierte aufbrausend. «Wem nutzt das denn heute
noch? Das bringt doch nichts! Hören Sie: Ich habe
gestanden, dass ich ihn erstochen habe. Ich habe Ihnen
erklärt, warum ich ihn umgebracht habe. Lassen wir es
doch damit gut sein. Wozu wollen Sie das alles wissen?
Wollen Sie sich auf die Suche nach dem Haus machen?
Dann viel Glück. Hamburg ist groß. Und es war ein großes
Haus.»
Sie brach ab, blinzelte nervös, wischte sich mit der Hand
über die Augen, als wolle sie einen unangenehmen
Eindruck verscheuchen. Unvermindert heftig fuhr sie fort:

137
«Es war eine Villa mit viel Grün drum herum. Mehr weiß
ich wirklich nicht. Ich war sehr verliebt und habe mehr auf
Johnny geachtet als auf die Umgebung oder die
Hausfassade. Den Flur kann ich Ihnen beschreiben. Dann
können Sie ja an allen großen Häusern klingeln und
fragen, ob Sie sich den Flur mal ansehen dürfen.»
«Vielleicht mache ich das», sagte er. «Wenn Sie mir
sagen, wie der Flur aussah.»
«Es war überhaupt kein Flur», murmelte sie. Erneut
blinzelte sie heftig, stellte den Kaffeebecher ab, bewegte
die Schultern, als sei ihr Nacken verspannt, und biss sich
auf die Unterlippe, ehe sie endlich erklärte: «Es war eine
Halle, riesengroß und ganz in Weiß gehalten. Nur im
Fußboden waren kleine grüne Steine zwischen den weißen
Platten. Und da hing ein Bild an einer Wand, neben der
Treppe zum Keller. Ich weiß es noch, weil Johnny mich an
die gegenüberliegende Wand drückte und mich küsste.
Und die anderen gingen schon die Treppe hinunter. Ich
habe ihnen nachgeschaut und das Bild gesehen.
Gewundert habe ich mich, dass sich jemand so etwas
aufhängt. Da war überhaupt nichts zu erkennen. Es waren
nur Farbkleckse.»

Es war eine so gute Geschichte gewesen. Bis dahin! Dass


der Chef weitere Fragen hatte, war zwar unangenehm.
Aber ein paar Antworten gab es noch. Ein silberfarbener
Golf GTI und ein Autokennzeichen, das mit einem B
begann. BN vielleicht oder auch nicht. Sie hatte BM sagen
wollen. Im letzten Moment war ihr eingefallen, dass
Gereons Kennzeichen mit BM begann. Da hätte der Chef
die Lüge sicher bemerkt.
Was den Wagen anging, hatte sie nicht lange überlegen
müssen. Es war ein typisches Junge-Männer-Auto. Gereon

138
hatte einen silberfarbenen Golf gefahren, als sie ihn
kennen lernte, allerdings nicht mehr lange, der Wagen war
schon alt gewesen. Und sie meinte, sich zu erinnern, dass
auch Johnnys kleiner, dicker Freund einen Golf gefahren
hatte. Genau wusste sie es nicht mehr. Es war auch nicht
wichtig. Sie hatte ja nie etwas mit diesen beiden Männern
zu tun gehabt.
Und das Haus, irgendein Haus in Hamburg. Man
brauchte nur ein bisschen Logik. Natürlich ein
freistehendes Haus! Wenn im Keller ein Proberaum für
Musiker eingerichtet war, musste ringsum ein bisschen
Platz sein, damit sich die Nachbarn nicht über den Lärm
beschwerten. Und ein großes, freistehendes Haus in
Hamburg konnte nur Leuten gehören, die reich waren.
Und reiche Leute hängten sich Bilder an die Wände. Wie
sie ausgerechnet auf ein Bild aus Farbklecksen gekommen
war, wusste sie beim besten Willen nicht. Aber es war
ebenso nebensächlich wie das Auto.
Der Chef unterbrach ihre Gedanken. «Wieso die
anderen?», fragte er. «Eben sprachen Sie nur von dem
Dicken und sagten, der dritte sei schon unten gewesen, als
Sie kamen. Wer war denn da noch auf der Treppe außer
dem Dicken?»
Die anderen? Es war ihr nicht bewusst, das gesagt zu
haben. Sie presste eine Hand gegen die Stirn, versuchte
sich zu erinnern, wie genau sie formuliert hatte, als sie das
Bild aus Farbklecksen ins Spiel brachte. Es fiel ihr nicht
ein, und der Chef wartete auf eine Antwort. Es musste eine
logische Antwort sein. Ein Bild aus Farbklecksen war
nicht logisch. Reiche Leute bevorzugten gediegene Kunst.
Ihre Stimme klang gequält. «Ich weiß es nicht. Ein
Mädchen. Der Dicke hatte sich auch ein Mädchen
mitgenommen.»
Sie nickte zufrieden. Das war eine hervorragende
139
Antwort.
«Genau!», sagte sie. «So war das. Sonst wäre ich
nämlich nicht mitgefahren. Dem habe ich nicht getraut.
Ich hatte es vergessen. Aber gerade fiel es mir wieder ein.
Es war noch ein Mädchen bei uns.»
Sie lächelte ihn an wie um Verzeihung bittend. «Jetzt
fragen Sie mich aber nicht, wie das Mädchen hieß. Das
weiß ich wirklich nicht. Ich hatte sie noch nie vorher
gesehen. Sie war an dem Abend zum ersten Mal da. Ich
glaube, sie war nicht aus Buchholz. Wissen Sie, die
Mädchen aus Buchholz waren vorsichtig geworden, was
Johnny und seinen Freund anging. Von denen wäre
garantiert keine mit uns gefahren. Es war ein fremdes
Mädchen, und es ging später zusammen mit dem Dicken
und dem anderen hinaus. Ich weiß nicht, wo sie
hingegangen sind. Vielleicht sind sie weggefahren.»
«Wie sind Sie denn nach Hause gekommen?»
«Johnny hat mich heimgebracht. Mit dem Golf. Der
stand vor dem Haus, als wir herauskamen.»
«Dann können die anderen doch nicht weggefahren
sein.»
Sie seufzte und erklärte gereizt: «Ich habe doch gesagt,
vielleicht. Sie können auch noch im Haus gewesen sein.
Ich weiß es nicht. Ich bin ja nicht durchs Haus gelaufen.»
Der Chef nickte bedächtig. «Und bei der Rückfahrt
haben Sie auch nicht auf die Hausfassade oder die Strecke
geachtet!»
«Nein, ich war ziemlich betrunken und bin im Auto
eingeschlafen.»
Er nickte noch einmal und wollte wissen: «Im wievielten
Monat waren Sie schwanger, als Sie das Baby verloren?»
Sie musste erst überlegen. Was hatte sie gesagt? Im

140
August mit Johnny geschlafen! Hatte sie den August
erwähnt? Sie erinnerte sich nicht, wusste nur noch, dass
sie gesagt hatte: «Im Oktober merkte ich, dass mein Bauch
dicker wurde …»
Das war ein bisschen knapp, nach drei Monaten wurde
noch kein Bauch so dick, dass es auffiel. Ob der Chef das
nicht wusste? Jetzt nur keinen Fehler machen. Sie
schüttelte den Kopf. «Bitte, das nicht noch einmal. Ich
kann nicht darüber reden. Das konnte ich noch nie.»
Rudolf Grovian wollte sie nicht zu sehr bedrängen. Er
gestattete sich nur den dezenten Hinweis, dass er sich
notgedrungen an andere halten musste, wenn sie nicht
kooperierte. «Wie alt sind Ihre Eltern, Frau Bender?»
Sie antwortete automatisch. «Mutter ist fünfundsechzig,
Vater zehn Jahre älter.»
In dem Moment schaltete sich Werner Hoß ein. «Warum
haben Sie mir gesagt, Ihre Eltern seien tot?»
Sekundenlang schien sie irritiert, starrte Hoß feindselig
an und erklärte mit rauer Stimme: «Für mich sind sie das.
Und Tote muss man in Frieden ruhen lassen. Oder sind Sie
anderer Meinung?»
«Nein», sagte Hoß. «Aber sie leben ja noch. Und wenn
ich merke, dass ich in einem Punkt belogen wurde, werde
ich auch bei anderen Punkten stutzig.»
Im ersten Moment hatte Rudolf Grovian sich zwar jede
Einmischung verbitten wollen. Dann ließ er Hoß erst
einmal gewähren, mal sehen, worauf es hinauslief.
«Sie haben uns sehr viel erzählt», sagte Hoß. «Und es
war einiges dabei, was mir merkwürdig vorkommt. Dass
sich zum Beispiel ein Schlagzeuger Johnny Guitar nennt
und ein großer, kräftiger Mann Horsti.»
Sie zuckte mit den Achseln. «Merkwürdig fand ich das

141
nicht, nur lächerlich. Aber wer weiß schon, warum einer
sich so nennt oder anders. Er wird seine Gründe gehabt
haben.»
«Mag sein», räumte Hoß ein. «Und über seine Gründe
werden wir vermutlich nichts mehr erfahren. Kommen wir
also wieder zu Ihren Gründen. Warum sollten wir glauben,
Ihre Eltern seien tot? Könnte es sein, dass Ihre Eltern uns
etwas ganz anderes erzählen als Sie?»
Etwas wie ein Lächeln verzog ihr den Mund. «Meine
Mutter wird Ihnen etwas aus der Bibel erzählen, sie ist
verrückt.»
«Aber Ihr Vater ist doch nicht verrückt», nahm Rudolf
Grovian die Sache wieder in seine Hände. «Eben haben
Sie uns erzählt, dass er ein sehr netter Mensch ist. Oder
war das auch eine Lüge?»
Sie schüttelte stumm den Kopf.
«Warum regt es Sie denn auf, wenn ich sage, dass ich
mit ihm reden möchte?»
Sie atmete zitternd durch. «Weil ich nicht will, dass er
sich aufregt. Er weiß nichts von Johnny. Er hat mich ein
paar Mal gefragt damals, ich habe ihm nichts gesagt. Es
war nicht leicht für ihn, als ich wieder heimkam. Er
machte sich Vorwürfe. Einmal sagte er: Wir beide wären
besser vor Jahren hier weggegangen. Dann wäre das nicht
passiert. Aber Vater war immer ein
verantwortungsbewusster Mann. Er wollte Mutter nicht
allein lassen mit dem Erlöser und der büßenden
Magdalena.»
Für Rudolf Grovian hatte der Name keine Bedeutung. Er
sah nur ein Zucken in ihrem Gesicht, als habe sie
Schmerzen. Sie griff nach dem Kaffeebecher und führte
ihn mit einer hastigen Bewegung zum Mund. Aber sie
trank nicht, stellte ihn zurück auf den Schreibtisch und bat:

142
«Könnten Sie bitte etwas Wasser zulaufen lassen? So ist er
mir doch zu stark, davon wird mir übel.»
«Es ist nur kaltes Wasser.»
«Das macht nichts. Er ist sowieso zu heiß.»
Der Schreck war ihr wie ein Blitz durchs Hirn
geschossen. Magdalena! Es war noch einmal gut
gegangen. Der Chef reagierte nicht, auch der andere hakte
nicht nach, ob das mit den Geschwistern auch eine Lüge
gewesen sei. Sie strich mit einer Hand über die Stirn,
zupfte die Haare über der Narbe zurecht, betastete
vorsichtig die blutige Kruste über dem rechten Auge, rieb
mit einer Hand durch ihren Nacken und bewegte den
Kopf. «Darf ich aufstehen und ein bisschen herumgehen?
Ich bin steif vom Sitzen.»
«Natürlich», sagte der Chef.
Sie trat ans Fenster, schaute in die Dunkelheit und
erkundigte sich mit abgewandtem Rücken. «Wie lange
wird es noch dauern?»
«Nicht mehr lange, es sind nur noch ein paar Fragen.»
Rudolf Grovian sah sie nicken und hörte sie murmeln:
«Das dachte ich mir.» Lauter und in bestimmtem Ton
sagte sie: «Na schön, machen wir weiter. Haben Sie das
Ding wieder eingeschaltet? Ich habe keine Lust, Ihnen
morgen früh alles noch einmal zu erzählen.» Sie gewann
ihre alte Form zurück, kratzbürstig wie zu Anfang. Dass er
ihr Verhalten da noch als aggressiv bewertet hatte, schien
ihm nun übertrieben formuliert. Sie zeigte keine
Anzeichen mehr von Schwäche und Erschöpfung oder gar
Verwirrung. Das allein zählte. Die nächste Frage. Wie
hieß das Lokal, in dem sie Georg Frankenberg alias Horsti
oder Johnny Guitar kennen lernte?
Die Antwort kam nach einigem Zögern. «Es war im

143
‹Aladin›. So haben wir es genannt wegen der Lampen. Es
hatte eigentlich keinen Namen. Ich meine, von montags
bis freitags hatte es keinen. Da war es etwas für alte Leute.
Und samstags war es eben das ‹Aladin›. Da war ich meist.
Weil man da tanzen konnte.»
Das ließ sich zur Not überprüfen. Und wann genau hatte
sie versucht, sich das Leben zu nehmen? Diesmal kam
zuerst ein lang gezogener Seufzer, dann die Auskunft:
«Habe ich doch schon gesagt, im Oktober. Den genauen
Tag weiß ich nicht mehr.»
Und in welchem Krankenhaus war sie anschließend
behandelt worden? Sie antwortete mit abgewandtem
Rücken. Ihre Stimme klang belegt. «Ich war nicht in
einem Krankenhaus. Der Mann, der mich angefahren hat,
war Arzt. Er hat mich in seine Praxis gebracht. Ich sagte
ja, ich war nicht schwer verletzt. Außerdem hatte er etwas
getrunken. Er hatte Angst um seinen Führerschein und war
dankbar, dass ich keine Polizei wollte. Ich bin dann bei
ihm geblieben, ein paar Wochen, bis Mitte November.»
«Wie hieß dieser Arzt, und wo wohnte er?»
Sie drehte sich um und schüttelte nachdrücklich den
Kopf.
«Nein! Bitte, lassen Sie das. Ich rede nicht über den
Arzt, das kann ich nicht. Er hat mir geholfen. Er hat
gesagt, ich … Er war sehr nett zu mir. Er hat gesagt, ich
…» Das Kopfschütteln wurde heftiger, gleichzeitig
schlang sie die Hände umeinander, rieb und knetete sie
und versuchte einen dritten Anlauf.
«Er hat gesagt, ich …»
Sie schaffte es erst nach einer Pause und ein paar
vernehmlichen Atemzügen, den Satz zu vollenden: «…
muss wieder nach Hause gehen. Aber meine Mutter …»
Sie zog die Schultern zusammen, als sie sich erinnerte.
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Mutter in der offenen Haustür stehend. Der misstrauische
Blick. Sie sah sich selbst. Ein neues Kleid auf dem Leib,
darüber einen Mantel, ebenfalls neu. Und die Schuhe, die
Unterwäsche, über die Grit Adigar sich so gewundert
hatte, schwarze Spitzenwäsche und Strümpfe, alles neu.
Alles bezahlt von einem Mann, der sich verpflichtet
gefühlt hatte, ihr zu helfen. Ein Arzt! Das war keine Lüge.
Und Mitte November setzte er sie in einen Zug und
schickte sie heim, obwohl es ihr noch nicht gut ging. Im
Gegenteil, es ging ihr sehr schlecht. Die Zugfahrt war nur
ein verschwommener Eindruck. Wo sie eingestiegen,
ausgestiegen und wie sie heimgekommen war, daran
erinnerte sie sich gar nicht. Nur wie sie dann vor der Tür
stand. So schwach auf den Beinen, den Kopf mit Blei
gefüllt. Neben dem Blei nur den Wunsch, sich in ein Bett
legen zu dürfen und zu schlafen. Einfach nur noch zu
schlafen. Sie hörte ihre eigene Stimme, den bettelnden
Ton darin: «Mutter, ich bin es, Cora.»
Und Mutters Stimme, teilnahmslos und gleichgültig:
«Cora ist tot.»
So ähnlich hatte sie sich auch gefühlt im November vor
fünf Jahren. Und jetzt wieder. Sie hätte Mutter nicht
erwähnen dürfen. Und den Arzt auf gar keinen Fall.
Rudolf Grovian sah, dass sie sich fast die Finger brach
mit diesem Kneten und Reiben. Er bezog die Abwehr auf
die Worte über ihre Mutter. «Schon gut, Frau Bender. Sie
müssen es nicht wiederholen. Das haben wir bereits auf
Band. Aber den Namen des Arztes brauchen wir
unbedingt. Wir wollen dem Mann nichts Böses. Kein
Mensch wird ihn heute noch dafür belangen, dass er vor
fünf Jahren unter Alkoholeinfluss ein Auto gefahren hat.
Wir wollen ihn nur als Zeugen hören. Er könnte uns Ihren
Selbstmordversuch bestätigen und die Schwangerschaft.»

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«Nein!», sagte sie gepresst, krallte die Hände hinter dem
Rücken um das Fensterbrett. «Von mir aus können Sie es
wieder vergessen. Ja, vergessen Sie es. Sagen wir doch
einfach: Ich hatte mal was mit dem Mann, den ich
erstochen habe. Er hat mich sitzen lassen, ich war sauer
auf ihn. Und als ich ihm heute begegnete, habe ich ihn
umgebracht.»
Rudolf Grovian legte eine gehörige Portion Nachdruck
in seine Stimme. «Frau Bender, so geht das nicht. Sie
können uns nicht irgendwas erzählen und bei jedem Punkt,
der es uns erlaubt, Ihre Angaben zu überprüfen, mauern.
Da muss ich fast wie mein Kollege annehmen, dass Sie
uns nicht die Wahrheit sagen.»
Sie drehte sich erneut dem Fenster zu. Es war eine
endgültige Bewegung, ihre Stimme unterstrich das noch.
«Ich habe gesagt, vergessen Sie es! Ich habe mich nicht
darum gerissen, Ihnen irgendwas zu erzählen. Sie haben
mir gedroht, vergessen Sie das nicht. Aber jetzt müssen
Sie aufhören. Ich kann nicht mehr, es geht mir nicht gut.
Sie haben gesagt, wenn es mir nicht gut geht, soll ich es
sagen, und dann hören wir auf.»
«Ich habe aber nicht gesagt, Sie sollen es als Ausrede
benutzen.»
«Es ist keine Ausrede. Ich kann wirklich nicht mehr.»
Ihre Stimme, eben noch fest und bestimmt, klang mit
einem Mal matt und weinerlich. Ihre Unterlippe begann zu
zittern wie die eines zweijährigen Kindes, das in der
nächsten Sekunde in Tränen ausbrechen will.
Er sah es in der Fensterscheibe. Doch auf solch einen
billigen Trick fiel er nicht herein. Den Ton hatte seine
Tochter auch immer benutzt, wenn sie ihren Willen auf
andere Weise nicht durchsetzen konnte. Und die
Unterlippe, Mechthild hatte es Eine-Schnute-Ziehen

146
genannt.
«Ein paar Minuten werden Sie noch können», sagte er.
Dass seine Stimme schärfer klang, konnte er nicht
verhindern, wollte er auch nicht. Bei aller Rücksicht und
Anteilnahme, sie sollte spüren, dass er sich nicht auf
Dauer mit Ausflüchten und Verweigerung abspeisen ließ.
«Sie sind also im Dezember vor fünf Jahren nach Köln
gekommen. Gab es einen besonderen Grund, dass Sie sich
ausgerechnet für Köln entschieden?»
Er nahm an, dass sie doch etwas über Frankenbergs
wahre Identität und seinen Aufenthaltsort herausgefunden
hatte. Dass sie sich auf den Weg machte, ihn zu suchen.
Und sie sagte leise: «Nein! Ich habe mich in einen Zug
gesetzt, und der fuhr eben nach Köln.»
Bis dahin hatte er ihr geglaubt. Das glaubte er auf keinen
Fall. «Vielleicht denken Sie noch einmal nach, Frau
Bender. Es gab einen Grund. Wir kennen ihn bereits. Aber
wir möchten es von Ihnen hören.»
«Da muss ich nicht nachdenken. Es gab keinen Grund.
Ich kannte niemanden in Köln, darauf wollen Sie doch
hinaus.»
Sie begriff nicht, warum er so nachdrücklich fragte,
stand im Geiste noch daheim vor der Haustür, schaute in
Mutters Gesicht, hörte Mutters Stimme. Cora ist tot. Nein!
Cora lebte, der Mann war tot. Und Cora verlor allmählich
ihren Verstand. Sie spürte es ganz deutlich – wie eine
Hand voll Wasser, das langsam durch ihre Finger
davonrann. Sie mochte die Finger noch so fest
zusammenpressen, das Wasser ließ sich nicht festhalten.
Es war nicht gut, eine Lügengeschichte mit Bröckchen
von Wahrheit zu mischen. Dann bekam die Lüge lange
Beine und holte einen ein, und die Wahrheit schlug einem
wie mit Knüppeln auf den Kopf. Und dann geriet alles

147
durcheinander. Das Bild aus Farbklecksen war frei
erfunden! Das wusste sie genau. Und trotzdem sah sie es
deutlich vor sich, wie es da an der Wand hing in der weiß
gehaltenen Halle, nur im Fußboden waren kleine grüne
Steine. Und das Gesicht … So dicht vor dem ihren, dass
sie die Augen schließen musste, weil es verschwamm. Es
konnte nicht sein. Johnny küsste sie – so wie sie es eben
erzählt hatte. Sie fühlte den Druck seiner Lippen auf den
ihren.
Es waren nur die eigenen Finger, die sie gegen den
Mund presste, um nicht aufzuschreien. Sie wusste, dass es
nur ihre eigenen Finger waren. Nur half ihr dieses Wissen
nicht. Über seine Schulter schaute sie auf die beiden
Rücken auf der Treppe!
Ein kleiner, dicker Mann und ein Mädchen auf dem Weg
nach unten. Das Mädchen hatte blonde Haare. Es trug eine
dunkelblaue Bluse aus Satin und einen weißen Rock mit
gezipfeltem Saum. Der Rock war aus Spitze und fast
durchsichtig.
Wo kamen diese Einzelheiten her? Sie musste es
irgendwo gesehen haben. In einem Film! Das war die
Erklärung. Es konnte nur ein Film gewesen sein. Und
jeder Film hatte Dialoge. Das Mädchen auf der Treppe
lachte und rief über die Schulter: «Kommt ihr? Damit
könnt ihr unten weitermachen. Da ist es sicher
gemütlicher.» Jeder Film hatte Musik. Von unten drang
ein Wirbel nach oben. Ein Schlagzeugsolo. Und während
sie sich bemühte, sich auf den Titel des Films zu besinnen
oder darauf, wie es nach dieser Szene weitergegangen war,
fragte der Chef nach Köln.
Sie war nicht mehr in der Verfassung, sich eine logische
Lüge einfallen zu lassen. Köln! Das war Margret. Ob er
bereits von ihr wusste? Was er gesagt hatte, klang danach.
Ob Gereon sie erwähnt hatte? Möglich.
148
Fünf Minuten Pause. Mehr brauchte sie nicht. Nur fünf
Minuten, um sich für Köln eine plausible Geschichte
auszudenken. Und wenn er ihre Bitten ignorierte, musste
sie ihn eben an sein Versprechen erinnern. «Kann ich
vielleicht etwas essen, bevor wir weitermachen? Bitte, ich
bin sehr hungrig. Am See bin ich ja nicht mehr dazu
gekommen. Ich wollte mir den Rest vom Apfel nehmen.
Ein Golden Delicious, die Sorte mochte ich schon als Kind
sehr gerne.»

Wir hatten einen Garten, er lag nicht beim Haus. Wir


mussten weit laufen, um dorthin zu kommen. In
Wirklichkeit war es nicht weit. Aber damals kam mir alles
sehr groß, sehr lang und unendlich vor. Etwas, das immer
weiterging und nie aufhörte. Für mich war es ein furchtbar
langer Weg zum Garten. Und oft war ich so müde, dass
ich dachte, ich schaffe ihn nicht. Ich wollte ihn auch nicht
schaffen, weil der Garten eine große Versuchung war.
In dem Jahr, in dem Magdalena gegen ihren Krebs
kämpfte, als ich anfing darüber nachzudenken, wie es
wäre, wenn sie nicht mehr heimkäme, waren wir nicht oft
im Garten gewesen. Im darauf folgenden Frühjahr war
dann viel zu tun. Wir gingen fast täglich hin, zupften
Unkraut aus den Gemüsebeeten, das war meine Aufgabe.
Vater arbeitete derweil mit einem Spaten oder einer
Harke. Mutter kümmerte sich um Magdalena. Es war ein
milder Frühling, und Mutter glaubte, die frische Luft täte
Magdalena gut.
Rechts und links von unserem lagen andere Gärten, in
denen es auch Obst gab, Erdbeeren und Apfelbäume.
Zäune gab es nicht, zwischen den Gärten war nur eine
Furche gezogen. Die Erdbeeren standen so dicht an der
Furche, dass ich mich nur hätte bücken müssen, keinen
Fuß in den Nachbargarten setzen, wirklich nicht.
149
Manchmal hingen sie in der Furche.
Ich hätte sie zusammen mit ein wenig Unkraut abreißen
und rasch in den Mund stecken können, ohne dass es
jemand gesehen hätte. Das wagte ich nicht. Ich hatte
erlebt, was nach einer Tafel Schokolade mit Magdalena
geschehen war. Und die hatte Vater mir gegeben. Aber
etwas nehmen, das einem nicht gehört, war eine von den
großen Sünden.
Ich war acht Jahre alt inzwischen und wusste, dass es
gewaltige Unterschiede gab. Ich wusste es nicht von
Mutter, für die wogen alle Sünden gleich schwer. Aber wir
sprachen auch in der Schule darüber: Über die lässlichen,
das waren die kleinen, die verziehen wurden, wenn man
sie auf der Stelle bereute. Über die mittelschweren, von
denen man im Fegefeuer geläutert wurde, wenn man
gestorben war. Und über die Todsünden, für die man bis in
alle Ewigkeit in der Hölle büßen musste.
In der Schule war nie die Rede davon, dass ein anderer
dafür leiden oder sterben müsse. Das behauptete nur
Mutter. Und ich war mir nicht mehr sicher, ob Mutter es
vielleicht ein bisschen besser wusste als die Lehrerin. Die
Lehrerin war nicht katholisch.
Es war für mich eine unsichere Zeit. Ich wusste nie,
wem und was ich glauben durfte. Vater sprach mal so und
mal so. Den einen Abend kniete er unter dem Kreuz und
bereute seine Begierden. Am nächsten Abend war er
nervös, lief im Haus herum oder schloss sich im
Badezimmer ein. Wenn er dann wieder herunterkam,
schaute er Magdalena an und murmelte: «Was habe ich dir
angetan, Spatz?»
Magdalena war kränker als vorher. Sie musste alle vier
Wochen nach Eppendorf gebracht werden. Da gaben sie
ihr Gift, sagte Vater, und beschossen sie mit bösen

150
Strahlen. Am Tag, bevor Mutter sie hinbrachte, weinte sie
viel. Nur ganz still und leise für sich, weil sie sich nicht
anstrengen durfte. Wenn sie zurückkamen, ging es ihr so
schlecht, dass sie keine zwei Minuten allein bleiben
konnte.
Manchmal schickte Mutter mich ins Schlafzimmer,
damit ich mir anschaute, was ich getan hatte und es nie
vergaß. Dann stand ich neben dem Bett und schaute
Magdalena an. Und sie schaute mich an. Ich hätte mich
gerne bei ihr entschuldigt, aber ich wusste nie, was ich
sagen sollte.
Es war eine schlimme Zeit. Vor allem das Frühjahr. Das
war wie ein Zwang. Ich musste mir unentwegt vorstellen,
was mit Magdalena passierte, wenn ich eine Erdbeere
nahm. Das Gefühl, dass es allein in meiner Hand lag, ob
sie lebte oder starb … Ich musste doch ständig
kontrollieren, was ich tat; was ich sagte und was ich
dachte. Manchmal war mir alles zu viel. Dann wäre ich
gerne eingeschlafen, hätte etwas Schönes geträumt und im
Traum weitergelebt.
Als die Erdbeerzeit sich ihrem Ende näherte, war ich
sehr erleichtert. Ich hatte der Versuchung widerstanden
und war stolz auf mich. Ich war vor allem stolz, weil es zu
funktionieren schien. Magdalena erholte sich allmählich.
Von einem Tag zum anderen merkte man keinen
Unterschied, aber von einem Monat zum nächsten schon.
Mutter fuhr sie immer in einem alten Kinderwagen zum
Garten. Und im Frühjahr hing Magdalena noch wie ein
Kleiderhäufchen im Wagen. Aber im Herbst konnte sie
fast aufrecht sitzen. Immer nur für ein paar Minuten, es
war trotzdem ein großer Fortschritt.
Im Sommer war im Garten nicht viel zu tun gewesen.
Und es war auch am späten Nachmittag oft noch zu heiß

151
für Magdalena. Im Herbst gingen wir wieder jeden Tag.
Wenn Vater von der Arbeit kam, marschierten wir los wie
eine kleine Prozession. Vater voran, mit den Geräten auf
der linken Schulter. In der rechten Hand trug er immer
einen Eimer. Mutter schob den Kinderwagen. Magdalena
trug eine Mütze, obwohl ihr Haar schon ein bisschen
nachgewachsen war. Aber es war noch sehr dünn und fast
weiß. Sonne konnte sie am Kopf nicht vertragen.
Ich lief hinter Mutter her und dachte an die gelben Äpfel.
Golden Delicious, Vater hatte mir gesagt, wie sie heißen
und dass sie süß waren. Der Baum stand so dicht an der
Grundstücksgrenze, dass viele in die Furche und einige
sogar in unseren Garten fielen. Und ich dachte, dass es
nicht direkt gestohlen wäre, wenn sie in unserem Garten
lagen und ich sie aufhob, und dass Äpfel nicht so
verheerend sein konnten wie Schokolade und Bonbons.
Grit sagte häufig, Obst essen sei gesund. Ich könnte auch
für Magdalena ein paar aufheben, dachte ich, damit sie
gesund wurde. Ich wollte sie nicht für mich alleine,
wirklich nicht.
Der Weg zum Garten führte über eine Straße, auf der
viel Verkehr herrschte. Und irgendwo am Straßenrand
stand eine große alte Holzkiste, in der früher das Streugut
für den Winter aufbewahrt worden war. Inzwischen war
sie leer. Das wusste ich von Vater. Und dann hatte ich
diesen Traum.
Im Traum waren wir auf dem Heimweg. Magdalena saß
im Wagen, sie war völlig erschöpft, hatte Schmerzen und
weinte leise. Mutter machte Halt, kniete auf der Straße hin
und begann zu beten. Ich ging an ihnen vorbei. Vater war
schon auf Höhe der Kiste. Ich erreichte ihn, und wir
gingen langsam weiter.
Dann hörte ich Geräusche hinter mir, ein Knarren und
Knurren. Ich drehte mich um und sah einen schwarzen
152
Wolf aus der Kiste springen. Mich und Vater beachtete er
nicht. Er hetzte auf Mutter und Magdalena zu, war mit
einem Satz im Kinderwagen und hatte Magdalena auch
schon verschlungen. Um Mutter kümmerte er sich nicht.
Er lief zurück zur Kiste, sprang hinein, und bevor er den
Deckel zuklappte, schaute er mich an. Er lachte wie ein
Mensch, riss sein Maul weit auf dabei. An seinen Zähnen
war noch Magdalenas Blut. Ich hätte Angst haben müssen.
Aber ich hatte keine. Wie er mich anlachte, wusste ich,
dass er mich mochte. Ich hätte ihn gerne mit nach Hause
genommen wie einen Hund.
Mutter lag neben dem leeren Kinderwagen auf den
Knien und hatte die Hände zum Himmel erhoben. Vater
legte mir den Arm um die Schultern. Er lächelte zufrieden
und sagte:
«Das war der Höllenhund. Ein schönes Tier, nicht wahr!
Hast du gesehen, was für einen prachtvollen Schwanz er
hatte? Und diese herrlichen Zähne. Damit hat er uns einen
großen Gefallen getan. Die sind wir los! Endgültig. Jetzt
müssen wir uns nicht mehr wünschen, dass uns die Sünden
abfaulen. Jetzt können wir sie wieder genießen. Und das
werden wir tun, Cora. Soll ich dir mal etwas Schönes
zeigen?»
Es war ein Zweikampf! Nach seinem kurzen Einwurf
beteiligte sich der Mann im Sportanzug nicht weiter. Er
saß da wie abgeschaltet. Mit dem sicheren Instinkt eines
gehetzten Tieres erkannte sie, dass er nicht einverstanden
war. Sie wusste nur nicht, was ihn störte, ihre Lügen oder
die Vorgehensweise des Chefs. Dieses Bohren, Stochern,
Drängen.
Er verlangte ihr etwas ab, was sie nicht geben konnte. Es
war fast so wie damals mit Mutter. Das alleine hätte sie
bewältigt. Das hatte sie von Grund auf gelernt, täuschen.

153
Nur war es diesmal ganz anders. Es war wie verhext. Das
Bild ließ sich nicht abschütteln, es beschwor nur weitere
Bilder herauf. Diese verdammten Farbkleckse. Und die
beiden Rücken auf der Treppe. Ein Mann und ein
Mädchen.
Sie sah die Rücken nun auch auf den Vordersitzen eines
Wagens. Nur waren es dort die Rücken von zwei
Männern. Einer drehte sich zu ihr um und lächelte sie an.
Sein Blick war wie ein Versprechen. Johnny Guitar!
Es war alles nur Einbildung. Ein Wunschtraum.
Wünsche konnten im Hirn leicht zu Bildern werden und
sich wie Erinnerungen darin breit machen. Und der Rest
… Die Stimme des Mädchens, die Satinbluse, der Rock
mit dem gezipfelten Saum, das Schlagzeugsolo. All diese
Einzelheiten, irgendwann hatte sie das vermutlich gesehen
und gehört. In einem Film! Es gab überhaupt keine andere
Möglichkeit. Gereon hatte sich Unmengen von Filmen
angeschaut. Fast jeden Abend einen. Das waren über
tausend in den drei Jahren. Wenn ihr erst der Titel einfiel
oder der Schluss …
Der Chef ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken. Er
zauberte von irgendwoher einen Imbiss herbei. Nur ein
paar Kekse und noch einmal frischen Kaffee. Diesmal
sollte der andere ihn aufbrühen, damit er nicht so stark
wurde. Sie hörte seine Stimme wie durch Watte. Immer
wieder Köln. Warum hatte sie sich ausgerechnet für diese
Stadt entschieden, wollte er wissen. Bremen oder
Hamburg wäre doch nahe liegender gewesen. Wo hatte sie
das Geld herbekommen für eine so weite Fahrt?
«Gestohlen», murmelte sie und schaute zu Boden. «Von
meiner Mutter. Fast achthundert Mark. Davon konnte ich
die Fahrkarte bezahlen und ein paar Wochen leben. Ich
fand sofort Arbeit und auch eine kleine Wohnung.»

154
«Wo?»
Sie nannte ihm Margrets Adresse! Im Durcheinander
war nichts anderes greifbar. Es dauerte ein paar Sekunden,
ehe ihr bewusst wurde, was sie gesagt hatte. Im selben
Augenblick wurde ihr klar, wie sinnlos es war. Wenn er
ihre Worte überprüfte, und das tat er gewiss, musste er
rasch feststellen, wo die Lügen aufhörten und die
Wahrheit begann.
Der Herzschlag beschleunigte sich, die Hände wurden
feucht von Schweiß. Margret käme in große
Schwierigkeiten. Sie hatte einen entscheidenden Fehler
gemacht. Sie hätte sagen müssen, sie sei mit Johnny
durchgebrannt. Nicht sofort, erst im August. Der August
war wichtig. Sie wusste nicht, warum. Im Augenblick
wusste sie insgesamt nicht viel, weil es zu viel war, was
ihr durch den Kopf zog.
Aufgeben! Sie hatte schon von Leuten gehört, die in
Verhören zusammenbrachen, deren Widerstandskraft
gebrochen wurde von immer denselben Fragen. Sie nicht!
Sie raffte zusammen, was noch an Kraft in ihr war. Eine
letzte Reserve gab es immer. Achtzehn Jahre Kampf
gegen Mutter hatten sie stark gemacht, hatten sie gelehrt,
Geschichten so zu erzählen, dass keine Frage offen blieb.
Wahrscheinlich musste sie Mutter auch noch dankbar sein
für das unermüdliche Training.
Dem äußeren Anschein nach war es die endgültige
Resignation. Den Kopf kurz anheben, ein wunder Blick in
die Augen des Chefs und den Kopf wieder senken, die
Stimme ebenfalls. Im Innern war es eiserne
Selbstkontrolle und Anspannung bis zum Zerreißen. Die
linke Hand mit der rechten umklammern, den Schweißfilm
am Rock abwischen. Sie saß längst wieder auf dem Stuhl.
Ihre Schultern sackten nach unten. Georg Frankenberg war
tot, ihn konnten sie nicht um eine Bestätigung bitten.
155
Es war nur ein Flüstern. «Sie finden es ja doch heraus.
Ja, es gab einen Grund, dass ich ausgerechnet nach Köln
gekommen bin. Ich habe Ihnen eben nicht die Wahrheit
gesagt, weil ich mich so geschämt habe. Ich bin nämlich
damals eine Weile mit Johnny herumgezogen. Verstehen
Sie? Er hat mich gar nicht heimgebracht an dem Abend,
als wir in Hamburg waren. Die anderen waren weg, wir
waren allein im Keller. Er wollte, dass ich bei ihm bleibe.
Und ich … ich hatte doch mit ihm geschlafen, und das war
toll gewesen. Ich dachte, wir gehören jetzt zusammen. Das
war im August. Hatte ich schon gesagt, dass es im August
war?»
Der Chef nickte, und sie log ihm vor von einigen
Wochen, in denen sie gemeinsam herumgezogen waren,
von einer Fahrt im September Richtung Köln, wo Johnny
einen Freund besuchen wollte, wie er von unterwegs
mehrfach vergebens telefonierte, um sie anzukündigen.
Und einmal schickte er sie zum Telefon, er schrieb ihr die
Nummer auf einen Zettel. Und später, als sie wieder
daheim war, fand sie den Zettel. Und als Mutter sie
hinauswarf, rief sie die Nummer an. Es meldete sich eine
junge Frau. Sie fragte nach Johnny, die Frau wusste mit
dem Namen nichts anzufangen und riet ihr, am Abend
noch einmal anzurufen, dann sei ihr Mann daheim.
Ein paar Sekunden Pause! Sie nahm einen Schluck aus
dem Kaffeebecher. Fast atemlos wartete sie, ob auch zu
dieser Lüge ein paar Bilder entstanden. Es geschah nichts.
Sie biss ein winziges Stückchen von einem Keks ab,
konnte es kaum schlucken. Die Kekse hatten einen
Überzug aus Schokolade, da war jeder Krümel das
Todesurteil für Magdalena.
Der Chef beobachtete sie aufmerksam. Sie hatte schon
wieder einen Fehler gemacht. Eine Weile herumgezogen!
Womit denn? Mit welchem Fahrzeug waren sie nach
156
Köln gekommen, um Johnnys Freund zu besuchen, wenn
doch der silberfarbene Golf dem Dicken gehörte?
Ehe der Chef nachhaken konnte, log sie rasch weiter.
«Abends rief ich noch einmal an. Der Mann war am
Telefon. Diesmal fragte ich nach Horsti. Der Mann lachte.
‹Sein Name ist Georg Frankenberg›, sagte er. ‹Wie er auf
Horsti gekommen ist, weiß der Blödmann selbst nicht.›
Der Mann fragte mich, was ich von Georg Frankenberg
wollte. Ich sagte nur, dass ich mit ihm befreundet gewesen
sei und ihn gerne wieder sehen möchte. Und der Mann
sagte, da müsse ich nach Köln kommen.»
In dem Moment wurde Rudolf Grovian stutzig und sah
sich gezwungen, alles in Frage zu stellen. Da hätte Werner
Hoß gar nicht so demonstrativ das Gesicht verziehen
müssen. Sein Name ist Georg Frankenberg! Das waren
seine Worte. Er wusste nicht, was er von dieser
Formulierung halten sollte. Georg Frankenberg war –
außer für seine Eltern – Frankie gewesen, sogar für seine
Frau. Das nahm dem Freund aus Köln jede Substanz. Er
fragte trotzdem: «Hatte der Mann auch einen Namen?»
Sie hörte sein Misstrauen. Aber den Patzer mit dem
Fahrzeug hatte er anscheinend nicht registriert. Und dass
es um Margret ging, glaubte sie nicht mehr so recht. Das
hätte er ihr doch längst ins Gesicht gesagt. Ihm ging es nur
um Georg Frankenberg und die Namen von Freunden, die
ihre Geschichte bestätigten. Sie konnte ihm keine Namen
geben. Nicht einmal aus Versehen oder in Verwirrung
konnte sie Namen ausplaudern.
«Ich überlege ja schon. Es war ein komischer Name. Ich
komme im Moment nicht drauf. Ich bin sehr müde.»
«Und die Telefonnummer?»
«Tut mir Leid, die habe ich vergessen. Nummern konnte
ich mir nie merken.»

157
«Die Adresse?»
Sie hob die Achseln an, erklärte leise: «Weiß ich nicht
mehr. Vielleicht fällt mir morgen wieder ein, wie die
Leute hießen und wo sie wohnten. Wenn man sich
unbedingt an etwas erinnern will, geht es überhaupt nicht.
Man kann so etwas nicht erzwingen, wissen Sie.»
«Ja, ich weiß», sagte Rudolf Grovian. «Und wenn man
das Blaue vom Himmel lügt, taugen Erinnerungen sowieso
nicht viel. Sie sind also der Einladung dieses Mannes
gefolgt?»
Sie nickte mechanisch. In ihrem Kopf schien eine Art
Dammbruch stattgefunden zu haben. Ein wüstes Knäuel
von Bildern und Worten schoss aus der Bruchstelle und
wirbelte ihr durchs Hirn. Die vier Leute auf der Decke am
See. Das Lied. Die Äpfel aus dem Supermarkt und die aus
dem Garten. Die Geschichte, die sie erzählt hatte, und der
Film, in dem ein junger Mann und ein Mädchen eine
Treppe hinunterstiegen.
Zudem spuckte der Berg Erinnerung weitere Steine aus
und warf sie durchs Gelände. Mutter, Vater, Magdalena,
Horsti, Johnny, Margret und Gereon. Viele Namen. Zu
viele. Es waren ein paar dabei, die sie nie gehört hatte.
Lächerliche Namen, Böcki und Tiger. In ihrem Gesicht
zuckte es wie kurz vor einem Tränenausbruch. «Das hätte
ich mir besser erspart. Frankie wollte nichts mehr von mir
wissen.»
«Wer ist Frankie?», fragte der Chef.
Sie zuckte zusammen. «Was?»
«Wer ist Frankie?», wiederholte Rudolf Grovian und
hatte Mühe, die Frage in Neutralität zu packen. Er warf
Werner Hoß einen triumphierenden Blick zu. Darauf hatte
er gewartet. Für ihn war es die Bestätigung. «Sie sagten,
Frankie wollte nichts mehr von mir wissen, Frau Bender.

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Wer ist Frankie?»
Es war ihr nicht bewusst, was sie gesagt hatte. Und dass
sie den Namen am See gehört hatte, hatte sie vergessen.
«Was habe ich gesagt? Tut mir Leid. Ich bin wirklich sehr
müde.»
Sie fasste mit einer Hand an die Stirn. Ihre Augen
huschten über die Schreibtische, erfassten Werner Hoß
und blieben an ihm haften, als könne er der Quälerei ein
Ende machen. Es war nur noch Quälerei. Dieser prall
gefüllte Kopf. Wie ein Schubfach, in das sie zu viel
hineingestopft hatte. Nun quoll alles auf einmal heraus.
Nur das kleine Messer, das sie dringend brauchte, fand
sie nicht. Sie hätte erst alles sortieren müssen. Und wenn
sie alles sortiert hatte, hätte sie festgestellt, das Messer war
nicht im Schubfach gewesen. Es lag auf dem Tisch, auf
dem die Zitronen geschnitten wurden, sichtbar für jeden,
der hereinkam. Nur sie hatte es nicht gesehen. Weil sie zu
tief lag und der Tisch zu hoch war. Und vor dem hohen
Tisch stand ein kleiner, dicker Mann. Er hatte sich weißes
Pulver auf den Handrücken gestreut, leckte es ab, trank
etwas und biss in die Zitrone.
«Sagen Sie ihm, er soll aufhören», stammelte sie, den
Blick auf Werner Hoß gerichtet. «Sagen Sie ihm, er muss
mich jetzt in Ruhe lassen, sonst werde ich verrückt. Ich
sehe lauter komische Dinge, nur so blöde Sachen. Sie
werden sich schieflachen, wenn ich Ihnen davon erzähle.»
Sie schüttelte sich wie ein Hund mit nassem Fell, senkte
den Kopf und betrachtete ihre Hände. «Mir ist mal etwas
sehr Dummes passiert», erklärte sie. «Ich kann mich nicht
daran erinnern, will ich auch gar nicht. Ich habe es
eingemauert. Achim hat gesagt, das machen viele Leute
mit Erlebnissen, die sie nicht verkraften. Sie ziehen eine
Mauer durch ihr Hirn und stopfen alles, was wehtut,

159
dahinter. Achim sagte, man muss die Mauer einreißen und
die Dinge verarbeiten, sonst kommt man nie zur Ruhe.
Aber ich fand das mit der Mauer eine sehr gute Lösung.»
Sie nickte versonnen, hob den Kopf wieder und schaute
Werner Hoß an. Ausschließlich an ihn gerichtet, sprach sie
weiter. «Man hat im Hirn wahnsinnig viel Platz. Zum
Denken braucht man nicht mal die Hälfte, knapp vierzig
Prozent, glaube ich. Es kann aber auch sein, dass es
umgekehrt ist und man sechzig braucht. Wussten Sie
das?»
Werner Hoß nickte.
Sie lächelte melancholisch. «Das ist toll, nicht wahr?
Das ist wie ein Dachboden, auf dem man das ganze
Gerümpel unterbringen kann. Es hat auch funktioniert –
bis Weihnachten. Seitdem ist es wieder da. Wenn ich das
Lied gehört habe, kommt es über die Mauer wie der Wolf
aus der Kiste. Vielleicht hat es etwas mit der Geburt des
Erlösers zu tun. Das weiß ich nicht. Ich weiß ja gar nicht,
worum es geht. Ich wache auf, und es ist nichts da. Es darf
auch nichts da sein. Es hat mir den Kopf zerbrochen,
wissen Sie. Ich fühle es heute noch, wenn ich den Traum
hatte.»
Das wehmütige Lächeln verlor sich. Nach einem tiefen
Atemzug wurde sie eifrig. «Als Kind ist mir das schon mal
passiert. Das war aber ein anderer Traum, an den konnte
ich mich immer erinnern. Und den fand ich auch schön,
ich war gerne ein Tier.»

160
6. Kapitel

Es war ein furchtbarer Traum damals mit dem Wolf. Aber


er war auch wunderschön. Mein sehnlichster Wunsch ging
in Erfüllung. Magdalena war nicht mehr bei uns, und es
war nicht meine Schuld. Mutter wollte auch nicht mehr bei
uns sein. Sie blieb neben dem leeren Kinderwagen liegen.
Und Vater hatte den Eimer voller Äpfel. Ich dachte, er
müsse schon vorher gewusst haben, dass es passiert, sonst
hätte er Gemüse und Kartoffeln in den Eimer getan.
Ich wachte auf und fühlte mich ganz leicht, obwohl ich
rasch begriff, dass es nicht wirklich geschehen war. Aber
gerade das fand ich so toll. Ich wusste, dass es eine der
allerschwersten Sünden war, einem Menschen den Tod zu
wünschen. Dafür musste man eines Tages Schmerzen
leiden, die nie ein Ende nahmen.
Bis in alle Ewigkeit, sagte Mutter immer, würden
Hunderte von kleinen Teufeln mir das Fleisch mit
rotglühenden Zangen vom Leib reißen – in winzig kleinen
Stücken, damit mein Fleisch für die Ewigkeit reichte.
Mutter hatte mir Bilder gezeigt, auf denen das mit
anderen Leuten passierte. Aber wenn ich es nur träumte,
konnte ich nichts dafür, und dann war es bestimmt keine
Sünde.
Als ich morgens aufstand, war mir immer noch so leicht.
Ich hatte das Gefühl, es würde ein ganz besonderer Tag
werden. Damals dachte ich zuerst sogar, es wäre ein
Wunder geschehen. Aber ein Wunder war es nicht, es
wurde nur alles ganz anders.
Nachmittags musste Mutter Einkäufe machen. Sie
schickte mich nach oben, Magdalena anschauen. Ich

161
stellte mich wie sonst auch neben das Bett und dachte, sie
schlafe. Doch als unten die Haustür zufiel, öffnete sie die
Augen und fragte:
«Liest du mir was vor?»
Es war das erste Mal, dass Magdalena mit mir sprach.
Sie sprach überhaupt selten, höchstens mal mit Mutter.
Manchmal hatte ich schon gedacht, sie könne nicht richtig
sprechen. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte.
«Bist du taub, oder verstehst du kein Deutsch?», fragte
sie.
«Was soll ich denn sagen?», fragte ich.
«Gar nix, lies mir was vor», verlangte sie.
Ich wusste nicht, ob Mutter damit einverstanden war.
«Ich glaube, das ist zu anstrengend», sagte ich.
«Für dich oder für mich?», fragte Magdalena. «Soll ich
dir sagen, was ich glaube? Du kannst gar nicht lesen.»
Ich war zu verblüfft, dass man mit ihr ganz normal reden
konnte wie mit den Kindern auf dem Schulhof, dass ich
gar nicht darüber nachdachte, was ich sagte. «Und ob ich
das kann. Ich kann es sogar besser als Mutter. Ich lese
nämlich laut und deutlich, ich nuschele nicht. Und ich
kann auch richtig betonen, sagt die Lehrerin. Die anderen
können das längst nicht so gut.»
«Das glaube ich erst, wenn du mir was vorliest», sagte
sie.
«Oder willst du nicht, weil du mich nicht leiden kannst?
Das kannst du ruhig zugeben. Ich weiß, dass mich hier
keiner leiden kann. Das macht mir nichts aus. Ich kann
auch keinen leiden. Warum meinst du, habe ich bisher den
Mund gehalten? Weil ich nicht mit Idioten spreche. Ich
spare mir den Atem für Leute, die etwas Vernünftiges
sagen können.»

162
Da nahm ich die Bibel vom Nachttisch und schlug eine
Stelle auf, die Mutter oft las, von dem Wunder, das der
Erlöser getan hatte, als ein Mann sein Gewand berührte.
Ich weiß nicht, ob ich ein schlechtes Gewissen hatte, weil
sie sagte, dass wir sie nicht leiden können, oder ob ich ihr
beweisen wollte, wie gut ich lesen konnte. Vielleicht war
ich auch ein bisschen stolz, weil sie mit mir gesprochen
hatte.
Ich gab mir sehr viel Mühe. Sie hörte mit geschlossenen
Augen zu. Anschließend verlangte sie: «Und jetzt das von
der Magdalena, die ihm die Füße wusch und sie mit ihren
Haaren abtrocknete. Das mag ich am liebsten.»
Als ich auch das zu Ende gelesen hatte, sagte sie leise:
«Ich habe aber auch ein Pech.»
Ich wusste nicht, was sie meinte. Und sie sagte: «Na, bei
uns hat er doch kein Gewand an, nur so ein kleines
Läppchen vor dem Bauch. Meinst du, wir könnten ihm
eins umhängen? Wenn du ihn vom Schrank nimmst und
heraufbringst, könnten wir es versuchen. Wir nehmen ein
Taschentuch, und das berühre ich dann. Und danach
wasche ich ihm die Füße. Ich trockne sie ihm mit meinen
Haaren auch wieder ab. Das muss doch helfen.»
«Deine Haare sind viel zu kurz», sagte ich.
Magdalena zuckte mit den Schultern. «Da müssen wir
nur nahe genug ran. Das wollte ich schon immer mal tun.
Holst du ihn rauf? Oder hast du Angst, dass Mutter dich
auf der Treppe erwischt?»
Ich hatte keine Angst vor Mutter. Ich wollte nur nicht,
dass Magdalena etwas tat, wovon sie sich viel erhoffte.
«Er kann dir nicht helfen», sagte ich. «Er ist doch nur aus
Holz. Und die Magdalena aus der Bibel war nicht krank.
Sie war eine Sünderin.»
«Sündigen kann ich auch», erklärte sie. «Soll ich mal ein

163
dreckiges Wort sagen?» Bevor ich ihr antworten konnte,
sagte sie: «Arschloch! Holst du ihn jetzt?»
Da ging ich hinunter. Sie tat mir plötzlich so furchtbar
Leid. Ich glaube, an dem Nachmittag begriff ich zum
ersten Mal, dass meine Schwester ein normales Kind war.
Ein sehr krankes Kind, das jederzeit sterben, das niemals
ein Leben führen konnte wie ich. Aber sie konnte sprechen
wie ich, denken wie ich und fühlen wie ich.
Ich brachte ihr das Kreuz ans Bett. Zuerst machten wir
das mit dem Taschentuch. Ich nahm eins von Vater, das
war groß genug. Ich band es ihm um den Hals, und
Magdalena rieb es zwischen ihren Fingern. Dann holte ich
aus dem Bad Wasser in einem Zahnputzbecher. Und
Magdalena wusch ihm die Füße. Ich hielt das Kreuz ganz
nahe an ihren Kopf. Damit sie ihn mit ihren Haaren auch
wieder abtrocknen konnte. Völlig trocken wurden seine
Füße nicht. Seine Beine waren auch nass geworden. Er
war ja ziemlich klein. Und Magdalena wollte nicht, dass
ich ihn mit dem Taschentuch trockenrieb.
«Dann wirkt es vielleicht nicht», meinte sie.
Nachdem ich ihn wieder hinuntergebracht hatte, fragte
ich, woher sie schmutzige Ausdrücke kannte.
«Aus der Klinik», sagte sie. «Du glaubst nicht, was die
da für dreckige Worte kennen. Und wenn sie meinen, man
schläft, sagen sie die auch. Die Ärzte nicht, aber die
anderen Leute. Viele Leute, die krank sind, werden richtig
gemein. Ich liege ja meist bei den Großen. Und die
schimpfen und fluchen, sie wollen einfach nicht sterben.»
Für einen Moment war sie still, dann sprach sie langsam
weiter: «Ich wünsche mir, dass ich nicht mehr nach
Eppendorf muss. Obwohl es manchmal nett ist, nicht so
langweilig wie hier. Sie haben Spiele. Wenn ich im Bett
sitzen kann, bringt die Schwester eins, sie holt dann auch

164
ein paar Kinder, und die spielen mit mir. Es ist Mutter
nicht recht. Aber sie traut sich nicht, etwas zu sagen.
Einmal hat die Schwester nämlich mit ihr gemeckert.
Mutter sagte, ich könnte nicht spielen, ich müsste ruhen.
Da hat die Schwester gesagt: ‹Es kommt der Tag, da kann
sie ruhen, bis sie schwarz wird. Und bis dahin soll sie
spielen, solange sie Lust hat.› Tote werden schwarz, weißt
du, und dann kriegen sie Würmer und faulen weg.»
Sie schaute mich nicht an, während sie das sagte. Sie
malte mit einem Finger Kreise auf das Laken und erzählte
noch mehr. «Da war mal ein Mädchen, die war schon
achtzehn. Die hat mir das erklärt. Sie hatte auch
Leukämie, aber bei ihr schlug die Behandlung nicht an.
Einen Knochenmarkspender haben sie auch nicht
gefunden für sie. Sie sagte, sie hätte keine Angst vor dem
Tod. Aber ich habe welche.»
Sie malte immer noch Kreise auf das Laken. Aber jetzt
hob sie den Kopf und schaute mir ins Gesicht. «Nicht vor
dem Tod», sagte sie. «Sterben macht mir nichts aus. Es ist
vielleicht besser, wenn man tot ist und nichts mehr wehtut.
Wenn sowieso nichts richtig funktioniert und man nicht
mal alleine aufs Klo gehen kann, ist es wirklich besser,
glaube ich. Nur … Ich will nicht schwarz werden. Ich will
keine Würmer kriegen und wegfaulen. Kannst du dir
vorstellen, wie eklig das ist? Ich habe zu Mutter gesagt, sie
sollen mich verbrennen lassen. Das machen viele. Es ist
auch gar nicht so teuer. Aber Mutter sagte, das geht nicht.
Erde zu Erde, hat sie gesagt. Der Erlöser ist auch nicht
verbrannt worden.»
Wieder war sie still und schloss für eine Weile die
Augen. Ich dachte, sie sei erschöpft vom vielen Reden.
Das war sie auch, aber sie wollte mir unbedingt noch
etwas sagen. Sie war nur nicht sicher, ob sie mir trauen
durfte.

165
«Was ich dir jetzt sage, kannst du von mir aus Mutter
erzählen», begann sie. «Ich hasse ihn! Ich hoffe, er fault
jetzt, wo seine Füße nass geworden sind. Holz fault
nämlich auch, wenn es nass wird. Deshalb wollte ich ihn
waschen. Nur deshalb. Glaub nicht, ich denke, der macht
mein Herz gesund. So einen Quatsch erzählen sie einem
bloß, damit man den Mund hält und tut, was sie wollen.
Ich habe aber keine Lust mehr. Wirst du es Mutter
erzählen?»
Ich schüttelte den Kopf.
«Dann sind wir jetzt Freundinnen, ja?», fragte sie.
«Wir sind doch Schwestern», sagte ich. «Das ist mehr
als Freundinnen.»
«Ist es nicht», widersprach sie. «Freundinnen mögen
sich nämlich immer und Schwestern manchmal nicht.»
«Aber ich mag dich», sagte ich.
Sie verzog ihr Gesicht, es sah fast aus wie ein Lächeln –
aber nur fast. Ich glaube, sie wusste genau, dass ich
gelogen hatte. Dabei mochte ich sie in dem Moment
wirklich. Das sagte ich ihr auch, und sie fragte: «Meinst
du, wir könnten auch mal was zusammen spielen?»
«Ich weiß nicht. Was denn?»
«Kennst du das Spiel: Ich sehe was, was du nicht siehst?
Dabei muss man sich nicht anstrengen. Das kann man gut
spielen, wenn man im Bett liegt.»
Sie erklärte mir das Spiel, dann spielten wir es eine
Weile. Im Schlafzimmer gab es nicht viel zu sehen. Uns
wurde rasch langweilig. Wir hatten alles schon dreimal
durch, da schlug Magdalena vor: «Wir können auch das
Wunschspiel spielen, das habe ich mir selbst ausgedacht.
Es ist ganz leicht. Man muss nur sagen, was man sich
wünscht. Aber es müssen Dinge sein, die man kaufen

166
kann. Also nicht so was wie viele Freunde oder so. Und
dann muss man aufzählen, was man damit machen will.
Am besten, ich fange mal an, dann siehst du, wie es geht.»
Sie wünschte sich als erstes einen Fernseher. Das kannte
sie aus der Klinik. Da waren manchmal Leute, die ein
Gerät auf dem Zimmer hatten. Dann wollte sie von
morgens bis abends fernsehen. Außerdem wünschte sie
sich ein Radio und einen Plattenspieler mit vielen
Schallplatten. «Aber Stereo!», sagte sie. «Ich mag Musik
so gerne, richtige Musik. Nicht solche, wo nur einer
singt.»
«Soll ich Vater fragen, ob er ein Radio kauft? Es gibt
ganz kleine, die kann man leicht verstecken.»
Magdalena schüttelte den Kopf. «Das bringt nichts.
Wenn er wirklich eins kauft, wo soll ich es denn hier
verstecken? Ehe wir uns umsehen, hat Mutter es
verbrannt. Außerdem glaube ich nicht, dass er eins kauft.
Für dich vielleicht, aber für mich nicht. Der rührt für mich
keinen Finger. Er wünscht sich, ich wäre tot.»
«Das ist nicht wahr!», sagte ich.
«Ist es wohl», widersprach sie. «Wenn ich tot bin, kann
er bei Mutter schlafen. Alle Männer schlafen bei ihren
Frauen. Das tun sie gerne. Ich hab das mal gehört in der
Klinik. Da hat ein Mann den Arzt gefragt, wann seine Frau
nach Hause kommt und ob er sofort wieder mit ihr
schlafen darf. Seine Frau hatte einen Herzinfarkt. Und der
Arzt hat gesagt, das dauert noch ein Weilchen. Der Mann
war sehr enttäuscht. Vater ist auch sehr enttäuscht.
Deshalb ist er immer so unausstehlich.»
Ganz Unrecht hatte sie nicht. Manchmal war Vater
wirklich unausstehlich. Nicht zu mir oder zu ihr, nur zu
Mutter. Er schrie sie an, wenn sie ihm abends das Essen
vorsetzte. Einmal warf er ihr den Teller mit der Suppe

167
nach. «Den Fraß kannst du ins Wohnzimmer tragen. Der
Herr stellt ja keine großen Ansprüche. Aber ich will für
mein Geld etwas Vernünftiges auf dem Teller haben.»
Dann rannte er hinauf und schloss sich im Bad ein. Als
ich später an die Tür klopfte, weil ich mal aufs Klo
musste, brüllte er: «Geh in den Garten pinkeln! Ich kann
jetzt nicht aufmachen! Ich bin gerade dabei, mir den
Schwanz abzureißen. Das kann noch dauern. Er hängt
verdammt fest.»
Aber ich mochte ihn trotzdem. Und Magdalena mochte
ich auch, an dem Nachmittag ganz bestimmt. Ich wollte
nicht, dass sie schwarz wurde und Würmer bekam. Das
stellte ich mir genauso eklig vor wie sie. Ich weiß noch,
dass ich dachte, es wäre am besten für sie, wenn mein
Traum in Erfüllung ginge. Mit einem Bissen von einem
großen Wolf verschlungen zu werden, das ging schnell
und tat wahrscheinlich auch nicht sehr weh.
Und in der Nacht hatte ich den Traum wieder. Er war ein
bisschen anders als beim ersten Mal. Nachdem der Wolf
sie gefressen hatte, kam er langsam auf mich zu. Er lief
nicht zurück zur Kiste wie beim ersten Mal. Er stand vor
mir und schaute mich an. Von seiner Schnauze tropfte
noch Magdalenas Blut. Und er drückte mir die Schnauze
in den Bauch. Ich dachte, jetzt frisst er mich auch. Aber es
sah eher so aus, als wollte er schmusen.
Und dann passierte etwas Komisches. Seine Schnauze
verschwand in meinem Bauch. Und das tat überhaupt
nicht weh. Auch nicht, als der Rest von ihm in mir
verschwand. Die Beine, die Pfoten, der ganze Körper,
zuletzt der dicke Schwanz. Und mein Bauch war in
Ordnung, es war kein Loch drin. Da wusste ich Bescheid.
Ein paar Wochen vorher hatte ich nämlich auf dem
Schulhof gehört, wie zwei Mädchen über einen Mann

168
sprachen, der sich nachts in einen Wolf verwandelte und
Leute fraß. Tagsüber war er ein ganz normaler Mensch.
Da gab er sich sehr viel Mühe, lieb und nett zu sein, half
allen Leuten, und alle mochten ihn leiden. Es quälte ihn
furchtbar, dass er so böse war und jede Nacht zur Bestie
wurde. Aber er konnte nichts dagegen tun. Es passierte
ihm einfach.
Bei mir musste das so ähnlich sein, und Vater wusste das
schon seit langem. Er stand neben mir auf der Straße, hatte
alles gesehen und war sehr ernst. «Mach dir keine
Sorgen», sagte er. «Von mir erfährt niemand etwas. Ich
habe mir schon gedacht, dass es irgendwann so kommt.
Erinnerst du dich, dass ich an deinem Geburtstag zu dir
sagte, du müsstest doch Hunger haben wie ein Wolf? Da
habe ich schon damit gerechnet, dass du zum Tier wirst
und sie umbringst, bevor sie dir dein Leben wegfrißt.»
An der Stelle wachte ich auf. Ich fühlte mich stark und
so mächtig wie die Bestie, von der die Mädchen auf dem
Schulhof gesprochen hatten. Nach ein paar Minuten fiel
mir auf, dass mein Bett kalt wurde. Ich hatte es nass
gemacht und schämte mich so, dass ich weinen musste.
Vater wachte auf, kam zu mir, befühlte das Laken und
meinte: «Das ist nicht schlimm, Cora. Das kann jedem mal
passieren.»
Mein Nachthemd und die Unterwäsche waren auch nass.
Vater half mir, alles auszuziehen. Dann durfte ich mich in
sein Bett legen, weil es im Zimmer so kalt war.

Minutenlang fühlte Rudolf Grovian sich betrogen. Er


wusste beim besten Willen nicht, wie er Cora Benders
Verhalten einordnen sollte. Werner Hoß schien es auch
nicht zu wissen und hing wie gebannt an ihren Lippen.
Sie faselte mit verhangenem Blick und zuckenden

169
Mundwinkeln von der Mauer im Hirn und dem Tier im
Bauch, das bei der einen ein Krebs mit scharfen Scheren
war und bei der anderen ein Wolf, der Kinder fraß und in
sie hineinkroch. Immer wieder kam der Wolf in den Bauch
des Kindes. Aber es tat nicht weh. Es konnte auch nicht
wehtun, weil das Kind selbst das Tier war. – Es war ein
furchtbares Kind. Es machte das Bett nass, um bei Vater
zu sein. Es hatte den Erlöser erstochen, weil er nicht
faulen wollte. Sechs- oder siebenmal hatte es das
Zitronenmesser in ihn gestoßen! Und der Erlöser hatte das
Kind angeschaut. Und er hatte gesagt: «Dies ist mein Blut,
das für deine Sünden vergossen wird.» Und mit seinem
Blut auf dem Gesicht war das Kind frei gewesen, erlöst
von dem Fluch, den der Erzengel ausgesprochen hatte.
Mit dem Blut des Erlösers auf Brust und Bauch hatte das
Kind erkannt, Johnny war nie ein Engel gewesen. Sein
Freund hatte ihn Böcki genannt. Er war Satan. Er führte
das Weib durch die Schlange in Versuchung. Und als es
am Boden lag, kam der Tiger. Im Bauch des Weibes war
kein Platz mehr für ihn. Da stopfte er dem Weib seinen
Schwanz in den Mund. Und als es ihn biss, schlug er zu.
Er hatte Pranken aus Kristall, in denen sich das bunte
Licht brach. Dann kam die Dunkelheit, das große
Vergessen. Und das Vergessen war der Tod. Und der Tod
war der Traum. Und der Traum lag hinter der Mauer im
Hirn. Es war alles ganz einfach, man musste es nur
wissen.
Jetzt wusste sie es. Jetzt überschaute sie das alles und
erkannte die Zusammenhänge. Jetzt wusste sie sogar,
warum es so grausam gewesen war, wenn Gereon vorher
noch eine Zigarette geraucht hatte. Es lag am
Aschenbecher, der hatte das Licht ausgeschaltet und das
Lied heraufbeschworen.
Für das Aufnahmegerät sprach sie zu leise. Rudolf
170
Grovian, der näher bei ihr war, verstand sie trotzdem und
fühlte sich verdammt elend; hilflos, unsicher, überfordert
und ein bisschen wütend. Er traute ihr durchaus zu, eine
Wahnsinnsshow abzuziehen, um ihr Ziel zu erreichen, in
Ruhe gelassen zu werden. Aber hundertprozentig sicher
war er nicht.
Dies ist mein Blut, dachte er und: Vater, vergib ihr! Ihm
war nach einem Fluch. Der Erlöser und ein
Zitronenmesser. Satan in der Gestalt eines Liebhabers.
Religiöser Wahnsinn! Wenn zutraf, was sie über ihre
Kindheit erzählt hatte, musste man das einkalkulieren und
noch einiges mehr. Dann durfte sich niemand wundern,
wenn sie als Nächstes erzählte, ein Engel des Herrn habe
ihr den Befehl gegeben, Männer zu töten, die ihre Frauen
in der Öffentlichkeit küssten.
Er hob die Hand, wollte Hoß ein Zeichen geben, dass er
das Verhör abbrach. Da schüttelte sie sich, richtete sich
auf dem Stuhl auf und erklärte mit ruhiger Stimme und in
normaler Lautstärke: «Entschuldigung. Ich war nicht ganz
bei der Sache. Wir hatten zuletzt von Frankie gesprochen,
nicht wahr? Frankie war der Name! Ich wusste nicht,
woher ich ihn kannte. Aber es fiel mir gerade wieder ein.
Der Mann in Köln nannte ihn so.»
Sie nickte, als müsse sie sich das selbst bestätigen, etwas
eifriger fuhr sie fort: «Jetzt weiß ich auch wieder, wie
seine Freunde hießen. Nicht die Leute aus Köln, an die
Namen kann ich mich im Moment wirklich nicht erinnern.
Aber die beiden anderen, die zusammen mit uns im Keller
waren. Ich weiß natürlich nicht, wie sie wirklich hießen.
Ich weiß nur, wie sie sich nannten. Böcki und Tiger.»
Sie lachte leise, hob verlegen die Achseln an und räumte
ein: «Klingt blöd, ich weiß. Aber ich habe das so gehört.
In Köln, als Frankie und der Mann über die beiden
sprachen.»
171
Rudolf Grovian fasste es nicht und wusste auch nicht,
wie er es einschätzen sollte. Sie war wieder voll da. Und
der neuerliche Wandel machte den Verdacht auf ein
Schmierenstück zunichte. Welchen Grund sollte sie haben,
einen gelungenen Auftritt abzubrechen? Also ein geistiger
Ausrutscher. Und es mochte bereits der zweite an diesem
Tag gewesen sein. Beim ersten war ihr nur zusätzlich die
Hand mit dem Messer ausgerutscht.
Er konnte sich nicht aufraffen, sie zu unterbrechen,
wusste nicht mehr, was er glauben sollte oder durfte. Sie
erzählte mit beherrschter Stimme von ein paar Tagen in
Köln. Von dem verzweifelten Versuch, Horsti alias
Johnny beziehungsweise Georg oder Frankie
zurückzugewinnen. Wie er sie abserviert hatte, so kalt und
gnadenlos. Wie seine Freunde, dieses junge Ehepaar, ihr
halfen. Wirklich nette Leute, sehr verständnisvoll, rührend
besorgt. Morgen fiel ihr der Name garantiert ein. Heute
hatte sie es nicht so mit Namen, es war vielleicht
verständlich, es war ein furchtbarer Tag gewesen.
Es war ein paar Minuten nach Mitternacht, als das
Telefon auf dem vorderen Schreibtisch klingelte. Beim
ersten Ton zuckten sie alle drei zusammen. Sie sprach
noch und unterbrach sich mitten im Satz. Werner Hoß
nahm mit offensichtlicher Erleichterung den Hörer ab,
sagte kurz: «Ja», lauschte ein paar Sekunden und warf
Rudolf Grovian einen sonderbaren Blick zu.

Sie war ebenfalls erleichtert über die Unterbrechung,


schaute zu, wie der Chef nach dem Hörer griff. Eine kurze
Verschnaufpause, die Bruchstücke sortieren. Es sah wüst
aus in ihrem Hirn. Die Mauer brach. An manchen Stellen
gab es schon breite Risse, da schimmerte etwas durch. Die
weiße Halle mit den kleinen grünen Steinen im Fußboden,
die Treppe und das Fleckenbild gehörten hinter die Mauer.
172
Und sie waren nur der Auftakt gewesen. Am Ende der
Treppe lag ein Raum, in dem buntes Licht flackerte.
Hineingefallen war sie nicht, aber sie hatte einen Blick
hinuntergeworfen und weißes Pulver auf einem
Handrücken gesehen. Und den Biss in eine Zitrone. Eine
Pranke aus Kristall. Böcki und Tiger. Es war grausam, und
es war lächerlich. Ein Wunder, dass der Chef nicht gelacht
hatte.
Ganz klein vor Angst und Sorge, betrachtete sie sein
Gesicht. Zuerst huschte ein Ausdruck von Erstaunen
darüber, dann Genugtuung, seine Stimme troff über davon.
«Es muss nicht sein», sagte er. «Es reicht, wenn Sie am
Vormittag kommen. Um zehn Uhr?» Er horchte wieder,
lächelte sogar. «Ja, gut, wenn es Ihnen so wichtig ist. Es
ist nicht die erste Nacht, die ich mir um die Ohren
schlage.»
Nachdem er aufgelegt hatte, schickte er zuerst ein
bedeutsames und wie um Vergebung bittendes Nicken an
den Mann im Sportanzug, dann eins in ihre Richtung. In
sein Lächeln mischte sich Mitleid. Er zeigte auf das
Telefon. «Ein junges Ehepaar?», fragte er. «Freunde von
Georg Frankenberg?» Er seufzte und sagte gedehnt: «Frau
Bender!»
Dann sprach er weiter mit väterlicher Gönnerhaftigkeit:
«Warum haben Sie uns nicht einfach gesagt, dass Ihre
Tante in Köln lebt? Sie sind im Dezember vor fünf Jahren
zu Ihrer Tante geflüchtet. Es gab kein junges Ehepaar. Das
gerade war Ihre Tante, Frau Bender.»
Sie schüttelte den Kopf. Das hätte sie besser gelassen.
Sie spürte weitere Brocken aus der Mauer fallen und wie
sie darüber stolperte, wie sie abrutschte, ein paar
Treppenstufen hinunter. Es gab nirgendwo einen Halt. Sie
bemühte sich zwar, indem sie sich an Margret klammerte

173
und schrie:
«Nein! Das stimmt nicht! Meine Tante hat nichts damit
zu tun. Sie hatte nie etwas mit mir zu tun. Da fällt mir
gerade ein, wie die Leute hießen, die Frau hieß Alice. Und
der Mann … warten Sie, es fällt mir sofort ein. Er hieß …
Er war … O Scheiße, verfluchte Scheiße, wo ist das denn
hin? Gerade wusste ich es noch. Er … Er wollte sich
selbständig machen mit einer Gemeinschaftspraxis, das
hat er mir erzählt.»
Scheiße, dachte auch Rudolf Grovian, zu mehr reichte es
nicht. Winfried Meilhofer und Alice Winger, der See! Und
sie schrie weiter: «Was hätte ich denn bei meiner Tante
suchen sollen? Meinen Sie wirklich, ich hätte eine Frau
angerufen, die ich kaum kannte, damit sie mir hilft?»
«Ja», sagte er, es klang gepresst von Enttäuschung und
Frustration. «Und das meine ich nicht nur. Ihre Tante hat
es mir gerade so erklärt. Und damit stellt sich uns die
Frage, wo Sie die Namen Frankie, Böcki und Tiger
tatsächlich gehört haben. Nicht von einem Mann in Köln.
Sie haben diese Namen heute Nachmittag am See
aufgeschnappt, habe ich Recht?»
Sie starrte ihn mit konzentriert gerunzelter Stirn an. Es
schien fast, dass sie angestrengt über seine Frage
nachdachte. Aber sie antwortete nicht. Es war auch
überflüssig. Alles war in Frage gestellt, alles wieder offen.
Wie ein Idiot war er ihr auf den Leim gegangen! Und
warum, verdammt nochmal? Weil sie ihm exakt das
erzählte, was er eingangs für die einzig rationale
Erklärung gehalten hatte – eine wunderhübsche
Liebesgeschichte mit tragischem Ausgang. Er seufzte und
winkte ab. «Machen wir Schluss.»
«Nein!» Sie hielt sich nur mit Mühe auf dem Stuhl, das
sah er. Mit beiden Händen umklammerte sie die Sitzlehne.

174
«Ich kann das alles nicht noch einmal. Wir bringen es
jetzt zu Ende.»
«Nein», sagte er ebenfalls und sehr bestimmt. «Ich habe
genug für heute. Ich rufe die Kollegen. Die können Sie für
die Nacht unterbringen. Eine Portion Schlaf wird Ihnen
gut tun. Sie sagten ja eben, dass Sie sehr müde sind.»
«Das war doch nur so gesagt. Ich bin überhaupt nicht
müde», beteuerte sie und fragte im gleichen Atemzug:
«Was wollte Margret? Warum hat sie angerufen?»
«Sie will mit uns reden», sagte er und fand, es wurde
allerhöchste Zeit, mit einem Mitglied ihrer Familie zu
sprechen.
«Und das ist ihr so wichtig, dass sie damit nicht bis
morgen warten kann. Sie kommt her.»
«Sie müssen sie wieder wegschicken», verlangte sie
beschwörend. «Mit Margret vertrödeln Sie nur Ihre Zeit.
Sie kann Ihnen nichts sagen. Niemand kann Ihnen etwas
sagen, nur ich.»
Rudolf Grovian lächelte freudlos. «Und Sie haben für
heute genug gesagt, glaube ich. Da brauchen wir drei
Tage, um das zu sortieren. Mal sehen, ob Ihre Tante uns
dabei helfen kann.»
Wieder schüttelte sie den Kopf, noch etwas heftiger
diesmal. Und es ging noch ein paar Stufen hinunter. «Das
kann sie nicht! Ich habe ihr nie etwas erzählt. Ich habe
keinem Menschen etwas davon erzählt. Ich habe mich viel
zu sehr geschämt. Sie haben kein Recht, Margret Fragen
zu stellen. Wenn ich Ihnen doch sage, dass sie nichts
weiß.»
Sie sprang vom Stuhl auf, es half nicht viel. Der Körper
kam zwar in die Höhe, das Hirn nicht. Das rutschte die
letzten Stufen hinunter und tauchte mitten hinein in das
zuckende Licht. Sie blinzelte heftig und bettelte: «Lassen
175
Sie Margret in Ruhe, bitte. Sie hat nichts Schlimmes
getan. Niemand hat etwas Schlimmes getan, nur ich. Ich
bin eine Mörderin, glauben Sie mir. Ich habe ein
unschuldiges Kind getötet. Das ist die Wahrheit. Und
Frankie! Ihn natürlich auch. Aber ich musste ihn doch
umbringen, weil er …»
Sie geriet ins Stammeln, gestikulierte hektisch und
hilflos mit beiden Händen, als könne sie auf diese Weise
den Wahrheitsgehalt ihrer Behauptungen unterstreichen
und ihn zwingen, ihr noch ein paar Minuten seiner Zeit zu
widmen.
«Er hat … Er wusste nicht, wie er es machen muss. Ich
habe ihm gesagt, er muss aufpassen. Er hat nicht auf mich
gehört. Ich habe ihm gesagt, er muss aufhören. Er hat sich
nicht darum gekümmert. Wissen Sie, was er getan hat?»
Natürlich wusste Rudolf Grovian es nicht, aber er konnte
es sich lebhaft vorstellen. Anscheinend versuchte sie, ihn
mit ihrem Gestammel erneut auf Schwangerschaft und
Fehlgeburt festzunageln. Dazu passte jedoch nicht, was
danach kam.
«Er hat sich auf sie geworfen», keuchte sie atemlos und
heftig blinzelnd. «Er hat sie geküsst. Und er hat sie
geschlagen. Immer abwechselnd geküsst und geschlagen.
Und dabei schrie er: Amen! Amen! Amen! Er war
verrückt, ich nicht. Er hat so lange auf sie eingeschlagen,
bis sie tot war. Ich habe gehört, wie ihre Rippen brachen.
Es war furchtbar, es war so grauenhaft. Ich wollte ihr
helfen, aber sie haben mich festgehalten. Der eine lag auf
mir, der andere hielt meinen Kopf fest und steckte mir sein
Ding in den Mund. Ich habe ihn gebissen, und …»
Das Licht flackerte noch einmal, ehe es erlosch. Und sie
wusste nicht weiter. Der Chef starrte sie an. Der Mann im
Sportanzug sprang auf und mit zwei Sätzen auf die Tür zu.

176
Er verließ den Raum. Das Aufnahmegerät lief noch, hatte
jedes ihrer Worte aufgezeichnet, hielt auch den Rest fest.
«Rufen Sie ihn zurück!», schrie sie. «Es darf jetzt keiner
weggehen. Lassen Sie mich nicht allein. Bitte! Das halte
ich nicht aus. Helfen Sie mir! Um Gottes willen, helfen
Sie mir. Holen Sie mich hier raus. Ich kann nicht im
Keller sein. Ich sehe nichts mehr. Schalten Sie das Licht
wieder ein. So helfen Sie mir doch!»
Alles verwischte sich. Der Chef stand nur da und rührte
sich nicht. Er hätte etwas tun müssen. Irgendetwas. Ihren
Arm nehmen, ihre Hand halten, sie zurück zur Treppe
führen. Oder wenigstens das Licht wieder einschalten,
damit sie allein zur Treppe zurückfand. Es war so dunkel,
nur ein paar grüne, blaue, rote und gelbe Blitze zuckten
noch durch den Raum und zerrten Bruchstücke aus der
Finsternis. «Loslassen», keuchte sie. «Geh runter von ihr,
lass sie in Ruhe. Aufhören! Hört auf, ihr Schweine! Lasst
mich los!»
Rudolf Grovian konnte nicht reagieren, er war zu
schockiert von seinem Begreifen. Was sie da von sich gab,
klang nach Vergewaltigung, und was sie zuvor gestammelt
hatte, klang nach Mord. Und sie hatte ein zweites
Mädchen erwähnt, das dumm genug gewesen war, sich
ihnen anzuschließen. Es war wohl doch nicht so aus der
Luft gegriffen, wie er sekundenlang angenommen hatte.
Er sah, wie sie mit einer Hand vor ihrem Unterleib
fuchtelte und mit der anderen vor ihrem Gesicht, als wolle
sie etwas von sich wegschieben. Dabei würgte sie. Ohne
Zweifel erlebte sie gerade noch einmal, was sie ihm zu
erklären versuchte.
Er sah, wie sie einen Arm hochriss, als wolle sie sich vor
etwas schützen. Wie sie mit beiden Händen an den Kopf
griff und schrie: «Nein!» Er sah, dass sie schwankte, dass

177
ihr verzerrtes, aufgequollenes Gesicht plötzlich
erschlaffte. Aber er war nicht schnell genug bei ihr. Es
waren nur zwei Schritte, und trotzdem lag sie auf dem
Fußboden, bevor er sie erreichte und ihren Sturz auffangen
konnte.
Es war zu plötzlich gekommen. Im ersten Moment
konnte er gar nicht reagieren. Dann schlug er mit der Faust
gegen sein Bein. Am liebsten hätte er sich auch gegen den
Kopf geschlagen, sich in den Hintern getreten, wenn er ihn
nur hätte erreichen können. Das war sein Albtraum.
Keinen Arzt gerufen, trotz der Schlagspuren in ihrem
Gesicht, trotz der Aussage eines jungen Arztes: «Ich
dachte, er schlägt sie tot.»
Hirnblutung, schoss es ihm durch den Kopf. Und endlich
kniete er neben ihr und hob ihren Kopf an. Dass er zu
flüstern begann, wurde ihm nicht bewusst. «Na, komm
schon, Mädchen, steh auf. Tu mir das nicht an. Komm
schon. Komm schon! Du warst doch okay.»
Auf ihrer Stirn zeichnete sich ein roter Fleck von der
Größe eines Handtellers ab. Er schob mit zitternden
Fingern ihr Haar zurück, um nach weiteren Verletzungen
zu suchen, wohl wissend, dass er nur mit den Augen keine
schwer wiegenden entdecken konnte.
Aber er sah die Einbuchtung im Schädelknochen und die
gezackte weiße Linie direkt am Haaransatz. Ihr Atem ging
flach, aber gleichmäßig. Er hob ihr linkes Augenlid an,
genau in dem Moment, in dem Werner Hoß den Raum
wieder betrat, dicht gefolgt von den beiden Kollegen, die
sie für den Rest der Nacht in Verwahrung nehmen sollten.
Hoß griff sofort nach dem Telefon.
«Sie sackte einfach weg», sagte Rudolf Grovian hilflos.
«Ich hab zu spät reagiert.»
Zehn Minuten später traf der von Werner Hoß alarmierte

178
Arzt ein. Es waren höllische Minuten für Rudolf Grovian.
Zwar kam sie zu sich, noch bevor Hoß den Hörer
aufgelegt hatte, aber es schien kein Funken Leben mehr in
ihr. Wie eine Stoffpuppe ließ sie sich vom Boden
aufheben und auf einen Stuhl setzen. Und als er ihr die
Hand auf die Schulter legen, als er irgendetwas sagen
wollte, schlug sie mit schwachen fuchtelnden
Bewegungen nach ihm und schluchzte: «Gehen Sie weg.
Warum haben Sie nicht aufgehört? Warum haben Sie mir
nicht geholfen? Es ist alles nur Ihre Schuld.»
Dann wandte sie sich an Berrenrath und bettelte:
«Können Sie ihn rauswerfen, bitte? Er macht mich
verrückt. Er hat mir die Mauer kaputtgemacht. Das halte
ich nicht aus.»
Rudolf Grovian sah sich gezwungen, den Raum zu
verlassen, damit sie sich wieder beruhigte. Werner Hoß
folgte ihm auf den Flur, räusperte sich mehrfach, ehe er
sich erkundigte:
«Wie ist das denn passiert?»
«Na, wie soll das passiert sein», fauchte Rudolf Grovian.
«Sie hat’s doch gesagt. Ich habe nicht aufgehört und ihre
Mauer kaputtgemacht.»
Hoß ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe er fragte:
«Und was halten Sie von der Story?»
«Weiß ich noch nicht. Aus den Fingern gesogen hat sie
sich das jedenfalls nicht. Ich habe noch nie erlebt, dass
einer übers Flunkern zu Boden geht.»
«Ich auch nicht», sagte Hoß unbehaglich. «Dabei hätte
ich geschworen, dass sie uns nach Strich und Faden
belogen hat.»
Das Eintreffen des Arztes entband Rudolf Grovian von
einer Antwort. Zu dritt betraten sie den Raum wieder. Sie

179
saß unverändert auf dem Stuhl. Berrenrath stand neben ihr
und hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. Ob er sie
damit zu trösten oder zu stützen versuchte, war nicht zu
erkennen.
Aber Halt brauchte sie anscheinend nicht mehr. Kaum
hatte sie den Neuankömmling registriert, streifte sie die
Apathie ab und protestierte erst einmal gegen das
Erscheinen eines Weißkittels. Ihre Stimme klang lahm vor
Benommenheit und Verwirrung, aber es ging ihr gut, es
ging ihr blendend. Sie hatte weder Kopfschmerzen noch
sonst was. Eine Spritze brauchte sie auf keinen Fall.
Der Arzt überprüfte ihre Reflexe, diagnostizierte nach
einem langen Blick in ihre Pupillen einen simplen
Schwächeanfall und sprach dabei mit Engelszungen auf
sie ein. Dass ihr eine Injektion gut täte. Nur etwas für den
Kreislauf, ein harmloses Stärkungsmittel, das sie wieder
auf die Beine brachte.
Sie lachte hysterisch, verschränkte zuerst die Arme vor
dem Leib, mit beiden Händen hielt sie ihre Taille
umklammert. «Sparen Sie sich das Gesülze. Ich weiß, was
Sie von mir wollen. Sie wollen nur an meine Arme.»
Dann streckte sie ihm abrupt beide Arme entgegen.
«Bitte, bedienen Sie sich. Suchen Sie sich eine Vene aus,
wenn Sie eine finden. Wollen Sie auch eine Blutprobe
nehmen? Tun Sie’s lieber, sonst kriegen Sie am Ende noch
Ärger. Wer weiß denn, was ich mir heute Morgen
reingezogen habe.»
Der Arzt klopfte eine Weile auf ihre Armbeugen und
entschied sich für den Handrücken. Er machte eine
Bemerkung über eine Haut wie Leder, alte Narben und
dass er solche Krater noch nie gesehen habe.
Rudolf Grovian hörte es zwar, aber er war zu erleichtert
über ihre Reaktion, um auf der Stelle seine Schlüsse zu

180
ziehen. Eine halbe Stunde später saß er ihrer Tante
gegenüber.

Für Margret Rösch war es ein zäher Kampf gewesen.


Hartnäckig sein, obwohl es um etwas ging, wovon sie
lieber nichts gehört hätte. Sich nicht abspeisen lassen,
obwohl es verlockend war. Es wieder und wieder
versuchen, bis endlich ein Anruf durchgestellt wurde.
Sie bestand darauf, ihre Nichte zu sehen. Rudolf Grovian
vertröstete sie auf später. Augenblicklich lag Cora Bender
in einem der Nebenräume. Der Arzt war noch bei ihr,
zusammen mit Berrenrath, um dessen Anwesenheit hatte
sie gebeten. «Ich nehme an, dass mich einer von Ihnen
bewachen muss. Sind Sie so nett und übernehmen den
Posten? Sie sehen in diesem Haufen aus wie ein Mensch.»
Werner Hoß hatte noch einmal frischen Kaffee
aufgebrüht. Zwei Tassen davon nahm Rudolf Grovian mit
in das Büro, in das er Margret Rösch führte. Sie machte
auf ihn einen fassungslos betroffenen, aber resoluten
Eindruck. Eine attraktive Person, Mitte fünfzig,
mittelgroß, kräftige Figur. Dichtes Haar vom gleichen
Farbton wie das ihrer Nichte, rötlich braun. Auch das
Gesicht wies eine Familienähnlichkeit auf.
Die wichtigste Frage, ob es bei ihrer Nichte jemals
Anzeichen einer geistigen Störung, Verwirrtheitszustände
oder dergleichen gegeben hätte, beantwortete Margret
Rösch mit einem energischen Kopfschütteln. Und bevor
sie weitere Auskünfte gab, verlangte sie ihrerseits welche.
Es gab keinen Grund, ein Geheimnis aus den Tatsachen
zu machen. Er umriss die Sachlage in ein paar knappen
Sätzen. Sie hörte mit steifem Gesicht zu. Als er zum Ende
kam, gab es die ersten Antworten.
Der Name Georg Frankenberg sagte ihr nichts. Horsti

181
und Frankie riefen nur ein Achselzucken hervor. Johnny
dagegen war ihr ein Begriff. Cora hatte ein einziges Mal
über ihn gesprochen und ihn bei dieser Gelegenheit als
den Erzengel bezeichnet, der die Menschen aus dem
Paradies vertrieb. «Und ihnen gingen die Augen auf, und
sie erkannten, dass sie nackt waren.»
Sein Freund nannte ihn Böcki, dachte Rudolf Grovian, er
war Satan, führte das Weib durch die Schlange in
Versuchung. Und dann kam der Tiger. Er hatte Pranken
aus Kristall.
Natürlich klang es verrückt. Aber die Kerbe in ihrer
Stirn und die Narbe hatte er mit eigenen Augen gesehen.
Und sie hatte auch einen Aschenbecher erwähnt. Man
brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was in
diesem Keller abgelaufen war. Und wer sich einen
Diskoabend mit dem Auge Gottes in freier Natur hatte
erschwindeln müssen, packte vermutlich auch eine bittere
Erfahrung in Bibelsprüche.
Ob Johnny mit Nachnamen Guitar oder Saxophon
genannt worden war, wann Cora Bender ihn kennen
gelernt und was genau sie mit ihm erlebt hatte, wusste ihre
Tante nicht. Dennoch bestätigte sie indirekt das
Gestammel ebenso wie die klar verständlichen Passagen.
Es war vor fünf Jahren gewesen. Im Mai hatte ihr Bruder
Margret Rösch angerufen. Er machte sich Sorgen um seine
Tochter, vermutete, sie sei in schlechte Gesellschaft
geraten.
«Ich habe ihn nicht ernst genommen», sagte Margret
Rösch. «In einem Haus, in dem ein Fernseher Teufelswerk
ist, ist jeder junge Mann schlechte Gesellschaft.»
Doch so unbegründet, wie sie gedacht habe, seien die
Befürchtungen ihres Bruders nicht gewesen, erklärte sie.
Im August sei Cora verschwunden und drei Monate wie

182
vom Erdboden verschluckt gewesen. Erst im November
habe sich ein Arzt bei Wilhelm gemeldet.
Laut Auskunft dieses Arztes hatte man Cora ein paar
Wochen zuvor gefunden, irgendwo am Straßenrand. Sie
war furchtbar misshandelt worden und bis dahin ohne
Bewusstsein gewesen. Später erzählte sie, sie sei vor ein
Auto gelaufen. Der Arzt vermutete jedoch aufgrund ihrer
Verletzungen, man habe sie aus einem fahrenden Auto auf
die Straße geworfen.
Rudolf Grovian fühlte sich etwas leichter. Was Margret
Rösch ihm sonst noch bot, passte ebenfalls ins Bild. Sie
sprach von einem Trauma. Was immer ihrer Nichte
angetan worden war, Cora konnte nicht darüber reden.
Den Selbstmordversuch konnte man damit ins Reich der
Fabel schieben, die Schwangerschaft vermutlich auch. Er
versuchte, Gewissheit über diesen Punkt zu erhalten. «Ihre
Nichte hat wiederholt behauptet, sie habe ein unschuldiges
Kind getötet.»
Margret Rösch lachte nervös. «Das hat sie mit Sicherheit
nicht. Sie hatte kein Kind.»
«Ich denke auch eher an eine Schwangerschaft», sagte
er.
«Sie meinen eine Abtreibung?» Margret Rösch
schüttelte den Kopf. «Das kann ich mir nicht vorstellen.
Nicht bei Cora.»
«Es könnte eine Fehlgeburt gewesen sein», sagte er.
«Wenn sie misshandelt wurde, wäre das nicht
verwunderlich. Ist Ihnen der Name des Arztes bekannt, der
Ihre Nichte damals behandelt hat?»
«Nein. Ich weiß auch nicht, in welcher Klinik sie
behandelt wurde.»
«Sie sagte, sie sei nicht in einer Klinik …»

183
Margret Rösch lachte unfroh und unterbrach ihn damit.
«Sie sagte! Fragen Sie nicht Cora. Sie hat diese Sache
völlig verdrängt. Wissen Sie, was ein Trauma ist?»
Er dachte an eine Mauer im Hirn, die er mit seinen
Fragen eingetreten hatte, und nickte kurz. Und Margret
Rösch meinte: «Gut, dann fragen Sie Ihren Verstand. Ich
kenne eine Menge Ärzte, auch engagierte Ärzte. Aber es
ist keiner dabei, der ein schwer verletztes Mädchen ohne
Bewusstsein vom Straßenrand aufhebt und mit zu sich
nach Hause nimmt. Das wäre verantwortungslos. Ich weiß
nicht, warum sie Ihnen das so erzählt hat. Vielleicht
wünscht sie sich, es wäre einer für sie da gewesen. Einer,
der wirklich einmal etwas für sie tut. Sie war immer
ziemlich auf sich allein gestellt.»
Das klang logisch. Die nächste Frage. Er hatte die
Bemerkung des Arztes über die zerstochenen Arme nicht
vergessen.
«Hatte Ihre Nichte jemals mit Drogen zu tun?»
Es vergingen ein paar Sekunden, ehe Margret Rösch
zögernd nickte. «Mit Heroin, aber nur kurz. Das muss in
der Zeit passiert sein. Ich nehme an, Johnny hat es ihr
gegeben, um sie sich gefügig zu machen. Selbst gespritzt
hat sie auf keinen Fall. Sie wusste nicht, wie man mit dem
Zeug umgeht.»
Margret Rösch seufzte. «Als sie zu mir kam, war sie in
einem elenden Zustand. Sie meinte, es seien
Entzugserscheinungen, aber damit hatte es nichts zu tun.
Sie hatte grauenhafte Albträume. Immer kurz vor zwei in
der Nacht. Man konnte die Uhr danach stellen. Ich gab ihr
regelmäßig Resedorm. Ebenso gut hätte ich ihr
Traubenzucker geben können. Pünktlich um fünf Minuten
vor zwei saß sie auf der Couch, schlug um sich und schrie
sich die Lunge aus dem Leib: Aufhören! Hört auf, ihr

184
Schweine! Sie war nicht wach und auch nicht wach zu
bekommen. Wenn ich sie ansprach, stammelte sie etwas
von einem Keller, von Würmern, Tigern und
Ziegenböcken.»
Rudolf Grovian hörte es mit Interesse und fühlte weitere
Steine von seinem Herzen purzeln. Böcki und Tiger, die
Namen hatte er ihrer Tante nicht genannt. Und es war eine
Sache, eine junge Frau mit Fragen in den Wahnsinn zu
treiben. Es war eine ganz andere Sache, diese junge Frau
mit Fragen an einen Punkt zu bringen, an dem
Erinnerungen aufbrachen, die letztendlich ein Motiv
lieferten.
«Ich habe sie mehrfach aufgefordert, zu einem Arzt zu
gehen», fuhr ihre Tante fort. «Das lehnte sie ab, und
zwingen mochte ich sie nicht. Aber sie brauchte dringend
Hilfe. Ich habe ihr schließlich Psychopharmaka ins Essen
gemischt. Nach ein paar Monaten ging es ihr besser, sie
schlief nachts durch und erholte sich auch körperlich.»
Margret Rösch schwieg ein paar Sekunden lang und
wollte dann wissen: «Was ich Ihnen hier erzähle, das
erfährt sie doch nicht, oder? Wenn Sie ihr sagen, dass ich
Sie über das Heroin informiert habe, macht Cora die Tür
zu. Dafür garantiere ich. Nichts ist ihr wichtiger, als das
unter Verschluss zu halten. Am besten wäre, wenn Sie es
gar nicht erwähnen. Es ist doch auch nicht nötig, ihr das
noch einmal vorzuhalten. Es ist lange her. Sie hat Ihnen
bereits eine Menge erzählt, wahrscheinlich den Anfang der
Geschichte. Johnny wird sich ja nicht gleich wie ein Tier
benommen haben. Vielleicht kann ich sie dazu bewegen,
Ihnen auch noch etwas vom Ende zu erzählen. Ich weiß
nicht, an wie viel oder ob sie sich überhaupt erinnert. Aber
es wäre einen Versuch wert. Erlauben Sie mir, mit ihr zu
sprechen?»
Er nickte, vertröstete sie erneut auf später und tastete
185
sich langsam voran. Elternhaus, Kindheit. Er wollte nur
eine Bestätigung für die fanatisch religiöse Mutter und den
Vater, der dem Wahnsinn nicht hatte die Stirn bieten
können. Vielleicht noch ein wenig zu dem, was ihm im
Hinterkopf tickte. Kindesmissbrauch?
Doch kaum hatte er die ersten Fragen zu Cora Benders
Kindheit gestellt, ging mit ihrer Tante eine seltsame
Verwandlung vor. Die Bereitwilligkeit und der Eifer
lösten sich in Wohlgefallen auf.
«Dazu kann ich nicht viel sagen. Ich hatte kaum Kontakt
zur Familie meines Bruders. Ich konnte mich mit den
Verrücktheiten meiner Schwägerin nicht auseinander
setzen. Wenn ich sie besuchte, machte Cora auf mich
einen normalen Eindruck. Meine Schwägerin ließ ihr nicht
viel Freiraum. Aber Cora schaffte es, sich gegen ihre
Mutter zu behaupten. Manch ein Kind wäre unter dem
ständigen Druck zerbrochen, Cora dagegen … wie soll ich
das ausdrücken? Sie wuchs daran. Sie war immer sehr reif
für ihr Alter, sehr verständig und verantwortungsbewusst.
Sie übernahm schon früh Pflichten im Haushalt. Nicht
weil sie dazu aufgefordert wurde, sondern weil sie sah,
dass ihre Mutter damit nicht zurechtkam. Man könnte
sagen, sie übernahm die Rolle der Erwachsenen.»
Und was war mit der Rolle im Ehebett gewesen? All die
auffälligen Zeichen! Bettnässen mit neun. Und mit
neunzehn Heroin! Missbrauchte Kinder endeten häufig so,
das wusste Margret. Aber Wilhelm war immer ein
anständiger Kerl gewesen, das wusste sie auch. Und jetzt
war er ein alter Mann, ausgelaugt und müde vom
erbärmlichen Leben. Manchmal rief er an. «Wie geht es
Cora?» Er freute sich immer, zu hören: «Es geht ihr gut.»

Fast eine Stunde saß Margret Rösch mit Rudolf Grovian

186
zusammen. Von dem, was ihr neben der Fassungslosigkeit
durch den Kopf ging, erfuhr er nichts. Auch der Name
Magdalena fiel nicht einmal. Irgendwann kam die Frage:
«Wann kann ich denn nun endlich meine Nichte sehen?»
Er erhob sich. «Ich schau mal, wie weit die Kollegen
sind.»
Die Kollegen standen auf dem Gang herum. Er wollte
nur sehen, in welchem Zustand Cora Bender sich befand.
Sie saß wieder aufrecht, als er den Raum betrat.
Berrenrath stand am Fenster und unterhielt sich mit dem
Arzt. Und der Arzt hatte eine Miene aufgesetzt, die ihn
unwillkürlich an die Bemerkung Winfried Meilhofers
denken ließ; das göttliche Strafgericht.
Da musste der richtige Eindruck entstanden sein. Die
Polizei und ihre brutalen Verhörmethoden. Eine
bewusstlose junge Frau mit zerschlagenem Gesicht.
«Ihre Tante möchte Sie sehen, Frau Bender», sagte er.
Sie starrte ihn an, als wolle sie sich mit ihren Blicken in
sein Hirn bohren.
«Die Frau braucht Ruhe», protestierte der Arzt.
«Quatsch», widersprach sie. «Eben haben Sie mir noch
erzählt, dass mich Ihr Mittelchen wieder munter macht.
Das hat es getan. Ich war noch nie in meinem Leben so
wach.» Sie schaute zu Rudolf Grovian auf. «Was hat sie
Ihnen erzählt?»
«Ich hole sie», sagte er nur.
Zwei Minuten später betrat er den Raum erneut. Margret
Rösch war dicht hinter ihm. Er winkte Berrenrath und den
Arzt hinaus. Er selbst blieb, hielt sich jedoch im
Hintergrund und beobachtete schweigend. Margret Rösch
blieb mitten im Raum stehen. Und er sah die Panik in Cora
Benders Gesicht, hörte die raue, gedrängte Stimme: «Was

187
hast du ihm erzählt?»
«Nichts», log ihre Tante. «Mach dir keine Sorgen. Ich
bin nur hier, um dich zu sehen. Aus deinem Besuch
morgen wird ja leider nichts. Ich hatte mich darauf
gefreut. Wie geht es dem Kleinen?»
Sie sprach, als mache sie einen Besuch am Krankenbett,
als ginge es nur um ein gebrochenes Bein. Doch so rasch
war Cora Benders Misstrauen offenbar nicht zu
besänftigen.
«Gut. Hast du wirklich nichts gesagt?»
«Nein. Was soll ich denn gesagt haben?»
«Was weiß ich! In so einer Situation erzählt man eine
Menge Blödsinn. Das habe ich auch getan. Vom Erlöser,
der büßenden Magdalena und dem ganzen Quatsch.»
Margret Rösch schüttelte den Kopf. «Nein, kein Wort.»
Cora Bender sackte vor Erleichterung ein wenig in sich
zusammen und wechselte das Thema. Ob sie sich hatte
beschwichtigen lassen oder einen bestimmten Zweck
verfolgte, wagte er nicht zu beurteilen. Es klang bedrückt
und aufrichtig und passte zu dem Verhalten, das sie am
See gezeigt hatte. Berrenrath hatte von ihrer Sorge um die
Ohren des Kindes berichtet.
«Hat Gereon dich angerufen?», wollte sie wissen.
Margret Rösch nickte, und sie erkundigte sich: «Wie
geht es ihm? Hat er etwas von seinem Arm gesagt? Ich
habe ihn gestochen, zweimal, glaube ich. Einer von den
Sanitätern am See hatte ihn verbunden. Es war ein
ziemlich großer Verband, ging über den ganzen Unterarm.
Hoffentlich kann er damit arbeiten. Im Moment ist so viel
zu tun. Manni Weber schafft das nicht allein. Und den
Alten kannst du vergessen. Du weißt ja, wie er ist. Er hat
eine große Klappe, aber er kann einen Schraubenzieher

188
nicht von einer Rohrzange unterscheiden.»
Ihre Tante nickte erneut, biss sich auf die Lippen und
brachte die Sprache endlich – zumindest im Ansatz – auf
das Geschehen.
«Brauchst du irgendetwas? Soll ich mich um einen
Anwalt kümmern?»
Cora Bender winkte ab. «Lass nur. Aber wenn du mir
ein paar Sachen bringen könntest. Ein bisschen Kleidung
und das Waschzeug. Das Übliche, du weißt schon.»
Unvermittelt wurde Margret Rösch heftig. «Nein, ich
weiß nicht. Was ist denn das Übliche, wenn man ins
Gefängnis geht? Das ist nicht wie Urlaub. Cora, tu mir
einen Gefallen und sag den Leuten hier die Wahrheit.
Mach dir keine Gedanken um andere. Denk jetzt mal an
dich. Sag ihnen, was vor fünf Jahren passiert ist. Erzähl
ihnen, warum du im August damals von daheim
weggegangen bist. Sie werden das verstehen. Erzähl ihnen
alles.»
«Habe ich schon», behauptete sie.
«Das glaube ich dir nicht», erklärte Margret Rösch.
Sie hob gleichmütig die Achseln. «Dann lass es! Lass
mich in Ruhe. Stell dir vor, Mutter hätte Recht und ich
wäre tot.»
Ein paar Sekunden lang war sie still. Dann bat sie leise:
«Sprichst du mit Vater? Erfahren muss er das ja. Es ist
mir lieber, wenn du es ihm sagst. Aber bring ihm das
behutsam bei. Sag ihm, es geht mir gut. Ich will nicht,
dass er sich aufregt. Er soll auch nicht herkommen. Ich
will das nicht.»
Margret Rösch nickte nur und warf einen sehnsüchtigen
Blick zur Tür. Rudolf Grovian begleitete sie hinaus,
bedankte sich für ihr Erscheinen und die Hilfe, die sie ihm

189
gewesen war. Es war ihm ernst damit. Johnny und Heroin,
furchtbar misshandelt und aus einem fahrenden Auto auf
die Straße geworfen, damit ließ sich etwas anfangen. Nicht
zu vergessen die brechenden Rippen des zweiten
Mädchens.
Auch der Dialog zwischen Tante und Nichte war
aufschlussreich gewesen und hatte die
Verdrängungsmechanismen der Familie offenbart. Reden
wir zuerst mal übers Wetter.
Er war ziemlich sicher, dass Margret Rösch ihm noch
ein bisschen mehr hätte erzählen können. Zumindest ein
paar Worte über den Erlöser, die büßende Magdalena und
den ganzen Quatsch. Es musste verwundern, dass Cora
Bender nur daran gelegen schien, sich in diesen Punkten
des Schweigens ihrer Tante zu versichern. Und das,
obwohl sie selbst bereits ausführlich davon berichtet hatte.
In Gedanken korrigierte er sich. Nein, sie hatte nur über
das Kreuz gesprochen. Deutlich erinnerte er sich an das
Zucken in ihrem Gesicht, als sie den Erlöser im
Zusammenhang mit der büßenden Magdalena erwähnte.
Und wie sie mit dem Wasser für ihren Kaffee sofort ein
Ablenkungsmanöver startete.
Er war nicht sonderlich bibelfest und fragte sich, welche
Bedeutung einer biblischen Randfigur zukommen mochte,
wenn Georg Frankenberg fünf Jahre nach seinem
Auftreten als Satan mit der Schlange nun als Erlöser
fungiert hatte. Aber es lohnte nicht, darüber zu grübeln.
Ein Trauma! Er hatte daran gerüttelt – unwissend und
ahnungslos. Es umzurühren war wirklich nicht seine
Aufgabe; nicht vor diesem Hintergrund. Dafür waren die
Ärzte zuständig. Er machte einen Fehler immer nur
einmal. Vor seinen Füßen würde sie nie wieder
zusammenbrechen. Man musste wissen, wo die Grenze

190
war. Er hatte die seine erreicht. Dachte er.

191
7. Kapitel

Margrets Besuche waren für mich immer eine


zwiespältige Sache. Sie kam zu selten und blieb nicht
lange genug, um wirklich etwas zu verändern. Sie brachte
nur Hoffnung für Vater ins Haus und nahm sie wieder mit,
wenn sie zurückfuhr.
An die Besuche aus den ersten Jahren erinnere ich mich
kaum. Es können nicht viele gewesen sein. Und da kam
Margret meist zusammen mit einer uralten Frau, meiner
Großmutter. Sie brachten jedes Mal etwas Süßes mit.
Mutter nahm es in Empfang, legte es in den Schrank zum
Brot. Wo die Sachen von da aus hingerieten, wussten nur
Mutter und der Erlöser. Vergünstigungen gab es nicht
durch diese frühen Besuche. Deshalb empfand ich sie eher
als Belästigung. Die Großmutter wollte ständig von mir
wissen, ob ich artig sei, Vater und Mutter gehorche, immer
brav täte, was sie von mir verlangten. Ich nickte zu allem
und war erleichtert, wenn sie wieder abfuhren.
Dann kam Margret das erste Mal allein. Die Großmutter
war gestorben. Bei dem Besuch unterhielt sie sich mit mir.
Sie wollte wissen, ob mir die Schule Spaß mache. Ob ich
gute Noten hätte. Welches Fach ich am liebsten mochte.
Ob es mir gefiel, mit Vater in einem Zimmer zu schlafen.
Und ob ich ihr vielleicht ein Bild von Vater zeichnen
könnte, weil sie kein Foto von ihm hatte.
Ich konnte nicht gut zeichnen und malte ihr ein
Männchen mit einer Harke und einem Eimer. Margret
wollte wissen, was das lange Ding an der Seite des
Männchens bedeutete. Ich erklärte es ihr. Das war es auch
schon.
Die restliche Zeit war sie mit Mutter zusammen.
192
Tagsüber jedenfalls, Vater musste ja arbeiten. Und Mutter
war danach tagelang so komisch. Ich weiß nicht, wie ich
es beschreiben soll. Es kam mir vor, als hätte sie Angst.
Richtig durcheinander war sie, hielt mir endlose Vorträge
über die wahren Sünden, als ob es nicht schon genug
andere gegeben hätte.
Die wahren Sünden seien die Begierden des Fleisches,
sagte Mutter. Damit konnte ich nichts anfangen. Ich war
doch erst neun Jahre alt. Ich dachte, es hätte etwas mit
dem Rinderbraten zu tun, den sie für Margret auf den
Tisch hatte bringen müssen. Vater hatte das verlangt.
Einem lieben Gast könne man nicht zwei Tage
hintereinander Bohnensuppe vorsetzen. Vater hatte sich
zwei Stücke von dem Braten genommen, ich nur eins, das
kleinste, obwohl Margret mich aufforderte: «Nimm dir
doch noch ein Stück, Cora. Oder magst du kein Fleisch?»
Natürlich mochte ich Fleisch. Aber ich dachte, wenn ich
mir noch ein Stück nehme, Margret reist wieder ab, und
ich muss mir das dann anhören. So war es ja auch.
Und dann, eine Woche nachdem Margret abgereist war,
kam ein Päckchen. Im Winter war das, in den Schulferien.
Das weiß ich noch genau. Das Päckchen kam morgens mit
der Post, und weil Vaters Name draufstand, wagte Mutter
nicht, es zu öffnen. Sie legte es auf den Küchenschrank.
Und abends trennte Vater mit einer großartigen Geste die
Kordel durch.
Margrets Besuch hatte ihn verändert. Seit sie wieder weg
war, sprach er unentwegt von dem neuen Wind, der jetzt
im Haus wehte, und von den sieben dürren Jahren, auf die
sieben fette folgen mussten. Und wenn es acht dürre
gewesen wären, müssten es auch acht fette sein. Danach
sei er dann alt genug für den endgültigen Verzicht.
Einmal sagte er zu Mutter: «Wer nicht erhören will,

193
muss zahlen. Sonst kriege ich noch Schwielen an die
Hände.» Grit Adigar sagte immer zu ihren Töchtern: «Wer
nicht hören will, muss fühlen», wenn sie Kerstin oder
Melanie auf die Finger schlug. Mir war Vaters komisches
Gerede nicht geheuer. Die Leute in unserer Nachbarschaft
erzählten, Mutter sei verrückt. Das sagten sie so, dass ich
es hörte. Ich hatte Angst, dass Vater nun auch verrückt
wurde.
Er machte ein Theater um das Päckchen, benahm sich,
als sei ein neues Herz für Magdalena drin. Es waren ein
paar Süßigkeiten, von denen er sofort etwas verteilte,
obwohl Mutter mit steifem Gesicht dabeistand. Magdalena
bekam ein Röhrchen mit Schokoladenbonbons. «Viele,
viele bunte Smarties.» Ich kannte die Dinger vom
Schulhof. Ich bekam auch ein Röhrchen und wollte es
Mutter geben. Aber Vater hielt meine Hand fest.
«Das sind deine», sagte er. «Und du wirst sie essen. Den
Rest heben wir uns für Weihnachten auf. Dann müssen wir
Mutter nicht zumuten, süße kleine Verführer
einzukaufen.»
Außer den Süßigkeiten hatte Margret noch andere
Sachen eingepackt, alle in buntes Papier gewickelt, mit
Schleifen darum. An den Schleifen waren kleine Karten
befestigt, auf denen unsere Namen standen. Obenauf lag
ein Briefumschlag.
Es war der erste Brief von Margret, den Vater mir
vorlas. Nicht nur mir, Mutter und Magdalena waren auch
in der Küche. Mutter hatte beide Sessel aus dem
Wohnzimmer geholt und aneinander gestellt, damit
Magdalena liegen konnte. Es ging ihr nicht so gut an dem
Tag.
Margret wünschte uns allen ein frohes Weihnachtsfest,
ein glückliches und vor allem gesundes neues Jahr. Sie

194
bedauerte, dass ihr Besuch nicht das gewünschte Resultat
erzielt hatte. Hoffte, Mutter möge sich noch auf ihre
Pflichten besinnen und einmal darüber nachdenken, dass
der Erlöser niemals Enthaltsamkeit von seinen Dienern
gefordert habe. Das hätten später andere behauptet. Aber
denen sei es nur darum gegangen, das angehäufte
Vermögen nicht an irgendwelche Erben verteilen zu
müssen. Und Mutter möge doch bitte auch bedenken, dass
Vater nicht allein im Zimmer läge.
Es sei keinem geholfen, wenn es ein Unglück gäbe. Sie
verstehe sehr gut, dass Mutter Angst vor einer weiteren
Schwangerschaft habe. Aber das müsse in der heutigen
Zeit nicht sein, da gäbe es genügend Mittel. Und Margret
war sicher, dass der Erlöser diese Mittel billigte, weil
niemand die Natur der Menschen besser kannte als er. Und
das zweite Lamm zu opfern sei eine Verschwendung, die
er niemals gutheißen könnte.
Vater las das alles laut vor, dann kam er zu den
Geschenken. Für Magdalena eine Puppe. Sie war aus
Stoff, hatte ein lustiges Gesicht mit buntem Garn
aufgestickt. Große blaue Augen und rote Wangen, ein
lachender Mund mit weißen Zähnen. Ihr Haar war aus
Strickwolle, gelbe Fäden, die zu dicken Zöpfen geflochten
waren. Margret wünschte Magdalena von ganzem Herzen
ein Gesicht, wie die Puppe es hatte, lustig und gesund.
Magdalena durfte die Puppe sofort auspacken. Ich half ihr
dabei.
Währenddessen warf Vater ein winziges Päckchen zu
Mutter hinüber und sagte: «Geh am besten mal ins
Wohnzimmer. Zeig es ihm und frag, ob er etwas dagegen
einzuwenden hat.»
Mutter rührte sich nicht von der Stelle. Das kleine
Päckchen prallte von ihrem Kittel ab und fiel zu Boden.
Zuletzt überreichte Vater mir mein Geschenk. Es war ein
195
Buch: «Alice im Wunderland».
Mehr als den Titel habe ich nicht lesen können. An dem
Abend war es schon zu spät, und am nächsten Tag
verlangte Mutter, dass ich es im Blecheimer vor dem Altar
verbrannte. Sie verlangte es nicht so, wie man einen
Befehl gibt. Sie hielt mir eine Predigt über Margrets Brief
und die verdorbenen Gedanken darin. Dass ich ihr sofort
sagen müsste, wenn Vater sich mir zu erkennen gäbe.
Ich dachte, jetzt ist sie völlig übergeschnappt. Ich kannte
Vater doch schon so lange. Und dass er mein richtiger
Vater war, wusste ich inzwischen auch ganz genau. Ich
sah ihm sehr ähnlich und glaubte schon lange nicht mehr,
dass die Adigars meine Familie wären. Ich nickte nur zu
allem.
Ich nickte auch, als sie mich fragte, ob ich nicht wie sie
der Ansicht sei, dass es für ein erfülltes Leben
vollkommen ausreiche, das Buch der Bücher zu kennen?
Das kannte ich nun auswendig. Mutter hatte mir sämtliche
Sündenfälle der Menschheit erzählt, bis sie mir an den
Ohren wieder herausliefen. Und seit ich selbst lesen
konnte, musste ich … Ach, was soll’s!
Sie schickte mich, den Blecheimer zu holen, drückte mir
die Zündhölzer in die Hand, und dann schauten wir zu,
wie sich das Wunderland in ein Häufchen Asche
verwandelte.
Als Vater am späten Nachmittag heimkam und davon
erfuhr, wurde er so wütend, wie ich ihn noch nie erlebt
hatte. Er sagte Dinge, von denen ich damals nur die Hälfte
verstand. Dass er nie damit gerechnet hätte, die Hure eines
Besatzungssoldaten könnte sich eines Tages in ein
Gebetbuch verwandeln. Es hätte ihr doch auch einmal
geschmeckt. Und sie hätte sich nicht nur das reinschieben
lassen, was von der Natur dafür vorgesehen wäre, sondern

196
auch mit Freuden die Nadel. Mutter stand da, als sei ihr
das Gesicht eingefroren. Irgendwie tat sie mir Leid.
Danach saßen wir noch lange am Küchentisch, Vater
und ich, während Mutter das Geschirr spülte. Vater
erzählte mir die Geschichte von Alice im Wunderland.
Dabei kannte er sie gar nicht. Er erfand für mich eine
völlig andere von einem Mädchen, dessen Mutter verrückt
war und die ganze Familie in den Wahnsinn treiben
wollte. Dass es dem Mädchen daheim nicht gefiel, dass es
aber nicht weglaufen konnte, weil es noch zu jung war und
kein Geld hatte. Und da machte es sich seine eigene Welt.
Es dachte sich Leute aus und unterhielt sich mit ihnen,
obwohl sie nicht existierten.
«Dann war das Mädchen aber genauso verrückt wie
seine Mutter», sagte ich.
Vater lächelte. «Ja, wahrscheinlich. Aber wie soll man
auch nicht verrückt werden bei so einer Mutter? Wenn
man nie etwas anderes sieht, nie etwas anderes hört.»
Magdalena war auch in der Küche. Wie am Abend zuvor
lag sie in den beiden Sesseln. Sie hatte einen harten Tag
hinter sich; zwei Einläufe, die nichts weiter gebracht
hatten als Bauchkrämpfe. Sie hatte aufmerksam zugehört
und unentwegt zwischen Vater und Mutter hin- und
hergeschaut. Sie kannte die Geschichte von Alice im
Wunderland nämlich.
Die Schwester, die in der Klinik dafür sorgte, dass sie
manchmal mit anderen Kindern spielen durfte, hatte sie
einmal in ein Zimmer gebracht, in dem eine andere Mutter
ihrem Kind aus dem Buch vorlas. Später hat sie mir das
erzählt. Aber wovon «Alice im Wunderland» tatsächlich
handelte, hat sie mir nicht gesagt. Ich habe sie auch nicht
gefragt, ich wollte es gar nicht wissen.
Vater lächelte sie an und fragte: «Wie geht es unserem

197
Spatz denn heute?»
Magdalena antwortete ihm nicht. Sie sprach inzwischen
oft mit mir und selten mit Mutter. Mit ihm sprach sie nie.
Mutter tat das an ihrer Stelle. «Es geht ihr nicht gut. Wie
sollte es auch in einem Haus, in dem sich niemand an die
Gebote des Herrn hält?»
«Du hältst dich doch daran», sagte Vater. Er war immer
noch sehr verärgert. «Aber das Gebot musst du mir erst
zeigen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals gelesen zu
haben, dass der Herr von einem Kind verlangt hätte, ein
Buch zu verbrennen. Soweit ich weiß, waren es andere,
die das veranlasst haben. Aber die nannten sich ja auch
Herren. Von denen hast du zu viel mitbekommen, fürchte
ich. Da wirfst du manchmal die Methoden
durcheinander.»
Mutter schaute ihn nur an. Er nickte vor sich hin, senkte
den Kopf und betrachtete die Tischplatte. «Aber um auf
deinen jetzigen Herrn zurückzukommen», sagte er nach
einer Weile. «Hat er nicht gesagt: Wenn ihr nicht werdet
wie die Kinder? Ich meine, er hätte mal so etwas gesagt.
Und wenn du dich schon Punkt für Punkt an seine Worte
hältst, dann such dir nicht nur die raus, die dir in den Kram
passen. Kinder möchten auch mal etwas anderes als
Kreuzzeichen schlagen. Wenn wir schon eins hergeben
müssen, und irgendwann müssen wir, das weißt du so gut
wie ich, dann will ich das andere so gesund und munter
wie es nur eben geht. Ich hätte auf die Ärzte hören sollen,
dann wäre es längst überstanden. Dann könntest du deinen
Blödsinn auf dem Friedhof veranstalten.»
Ich dachte, mir wäre das Herz stehen geblieben. Was er
damit meinte, wusste ich genau. Und Magdalena wusste es
auch. Sie war nicht dumm. Durch die häufigen
Aufenthalte in der Klinik wusste sie eine Menge über ihre
Krankheit und andere Dinge. Sie wusste viel mehr als ich.
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Sie konnte nicht lesen, nicht rechnen und nicht schreiben.
Aber sie kannte Worte wie Elektrokardiogramm,
Septumdefekt, Insuffizienz, Aortenaneurysma, Pathologie
und Krematorium. Und sie wusste auch, was diese Worte
bedeuteten.
Sie schaute Vater an, drückte ihre Puppe an sich und
spielte mit den dicken Fadenzöpfen. Es sah aus, als wollte
sie ihm etwas sagen. Sie bewegte die Lippen, ein paar Mal
tat sie das. Nur kam kein Ton heraus. Schließlich erkannte
ich, dass sie nur ein Wort formte. Arschloch!
Ob Vater es auch ablesen konnte, weiß ich nicht. Er
atmete tief durch, dann meinte er etwas leiser: «Aber wo
wir uns nun einmal so entschieden haben, sollten wir auch
versuchen, es so erträglich wie möglich zu machen. Ein
bisschen Freude geben, nicht immer nur fromme Sprüche.
Davon hat sie nichts. Ich bin sicher, ihr hätte die
Geschichte von Alice im Wunderland auch gefallen. Und
Cora hätte ihr bestimmt etwas vorgelesen.»
Mutter erklärte: «Sie muss jetzt ruhen. Es war ein
anstrengender Tag für sie.» Sie hob Magdalena aus den
Sesseln, nahm sie auf den Arm und trug sie zur Tür. Vater
schaute ihnen nach und schüttelte den Kopf. Dann
betrachtete er wieder die Tischplatte. «Das war meine
Sünde», sagte er leise, «dass ich einmal nicht verzichten
und die Zeit abwarten konnte. Hätte ich ihn doch besser in
ein Mauseloch gesteckt.»
Er hob den Kopf und schaute mich an. «Am besten, wir
gehen ins Bett, was meinst du? Für dich wird es ohnehin
Zeit, und ich bin auch müde.»
Wir gingen nach oben. Mutter war noch mit Magdalena
im Bad, wusch sie und putzte ihr die Zähne. Vater ging ins
Schlafzimmer und holte sich die Sachen aus dem Schrank,
die er am nächsten Morgen zur Arbeit anziehen wollte. Ich

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ging in unser Zimmer und zog das Nachthemd über. Als
Mutter mit Magdalena aus dem Bad kam, ging ich
hinüber, um mir ebenfalls die Zähne zu putzen.
Mutter brachte Magdalena ins Bett und ging noch einmal
hinunter, um zu beten. Vater kam zu mir, er war sehr
bedrückt, stand neben dem Waschbecken und schaute zu,
wie ich mir das Gesicht wusch und die Haare kämmte.
Ich kam mit dem Kamm nicht durch. Manchmal
zwirbelte ich meine Haare, wenn ich lange vor dem Altar
knien musste. Vater half mir, die Knoten aufzulösen. Dann
zog er meinen Kopf gegen seine Brust, hielt ihn fest. «Es
tut mir so Leid», murmelte er. «Es tut mir so furchtbar
Leid.»
«Sei nicht traurig wegen dem Buch», sagte ich. «Ich mag
gar nicht gerne lesen. Ich mag es lieber, wenn du mir von
früher erzählst. Du hast mir schon lange nichts mehr
erzählt von der Eisenbahn und der alten Schule und wie
sie die Kirche gebaut haben.»
«Ich habe dir viel zu viel davon erzählt», sagte er. «Nur
nicht ans Heute rühren und nicht ans Gestern.»
Er hielt meinen Kopf fest gegen seine Brust gepresst und
strich mit einer Hand meinen Rücken hinunter. Dann stieß
er mich plötzlich weg, drehte sich zum Waschbecken und
sagte: «Wird Zeit, dass das Frühjahr kommt. Da hat man
Arbeit im Garten und keine Zeit mehr für dumme
Gedanken.»

Es war ein dummer Gedanke gewesen anzunehmen,


Margret hätte sie verraten. Auf Margret konnte man sich
verlassen, sie hatte ja auch selbst einiges zu verlieren. An
der Angst, der Verwirrung und der Unsicherheit änderte
die Erkenntnis nichts.
Als Margret zusammen mit dem Chef den Raum verließ,
200
kam der Mann im Sportanzug herein. Mit ihm blieb sie ein
paar Minuten allein. Sie wünschte sich, er hätte mit ihr
gesprochen. Nur zwei Sätze, um das tote Gefühl aus dem
Kopf zu vertreiben.
Seit sie aus der kurzen Bewusstlosigkeit erwacht war,
war es so eng und dunkel da drin wie in einem Grab. Oder
in einem Keller, in dem jemand das Licht ausgeschaltet
hatte. Sie wusste, dass sie etwas Grauenhaftes gesehen und
etwas Schreckliches gefühlt hatte. Aber was immer durch
die Mauer im Hirn gebrochen war, es hatte sich wieder
zurückgezogen. Nur das Gefühl war geblieben. Und
Vaters Stimme spukte in der Dunkelheit herum.
Sie sah ihn auf ihrem Bett sitzen. Abend für Abend war
er zu ihr gekommen in den wenigen Wochen, die sie nach
der Rückkehr im November damals noch daheim
verbracht hatte. Sie hörte sein Flehen, die Stimme so alt
und brüchig. «Sprich mit mir, Cora. Tu es nicht wie sie.
Du musst mit mir reden. Sag mir, was passiert ist. Was
immer du getan hast, ich werde dich nicht verurteilen und
niemals ein Wort darüber verlieren, das verspreche ich dir.
Ich habe gar nicht das Recht, dich zu verurteilen. Und
Mutter hat es auch nicht. Jeder von uns hat etwas auf dem
Gewissen. Jetzt sage ich dir, was ich getan habe und was
Mutter getan hat. Und dann bist du an der Reihe. Du musst
es mir sagen, Cora. Wenn man nicht darüber spricht, frisst
es einen auf. Was ist passiert, Cora? Was hast du getan?»
Nur zwei oder drei Sätze von dem Mann im Sportanzug,
um Vaters Stimme zu übertönen. Aber er schaute sie nur
an, sein Blick spiegelte Mitgefühl und Unsicherheit.
Vielleicht wartete er darauf, dass sie etwas sagte. Als sie
schwieg, machte er sich an dem Aufnahmegerät zu
schaffen. Er nahm die Kassette heraus und legte sie zu den
anderen, die im Laufe des Abends zusammengekommen
waren.

201
Kassetten! «Ich spule ein Stück vor», hatte die Frau am
See gesagt. Und: «Das ist das Beste, was ihr je gehört
habt.»
Der Satz fuhr ihr wie ein Stromschlag durchs Hirn und
fand irgendwo ein Echo. «Das ist das Beste, was ich je
gehört habe», sagte Magdalena.
Magdalena lag auf dem Bett und hielt ein winziges
Kassettengerät in der Hand, von dem eine dünne Schnur
zu dem Stöpsel in ihrem linken Ohr führte. Sie lachte
leise, wiegte den Kopf, nur den Kopf, etwas anderes
konnte sie nicht wiegen. Sie summte eine Melodie.
«Bohemian Rhapsody – Is this the real life?» Und
Magdalena sagte: «Ich liebe das Stück. Eine Stimme hat
dieser Freddy Mercury, einfach Wahnsinn. Ich wünsche
mir, ich könnte es mal richtig laut hören. So wie in der
Disco. Aber da bräuchten wir eine riesige Stereoanlage.
Und wenn die Alte die zu Gesicht bekäme, sperrt sie uns
auch noch den Strom ab. Hast du den Hauptwasserhahn
gefunden?»
Der Chef kam zurück und fragte: «Wie fühlen Sie sich,
Frau Bender?»
Sie war noch bei Magdalena und sagte: «Leider nicht.
Ich hole einen Eimer von Grit, zum Waschen reicht das.»
Dann erst wurde ihr bewusst, was der Chef gefragt hatte,
und sie sagte rasch: «Danke, ausgezeichnet.»
Sie war überzeugt, dass es nun weiterging mit den
Fragen. Daran erinnerte sie sich noch, dass er zuletzt hatte
wissen wollen, wo sie die Namen Frankie, Böcki und
Tiger gehört hatte. Bei Frankie war es einfach. Am See.
Und das wollte sie ihm sagen.
Es ging nur mit der Wahrheit. Lügen machten alles
schlimmer. Mutter hatte es wieder und wieder gepredigt.
Mutter hatte immer Recht gehabt, das war jetzt endgültig

202
bewiesen. Wer den Herrn erzürnte, den strafte er. Dem
einen verwirrte er die Sprache, dem anderen den Geist.
Die Wahrheit! Die reine Wahrheit! Nichts als die
Wahrheit! Ich kannte den Mann nicht. Ich kannte ihn
wirklich nicht, weder seinen Namen, noch sein Gesicht!
Ich weiß nicht, warum ich ihn töten musste. Ich weiß nur,
ich musste es tun!
Doch der Chef machte keine Anstalten, tauschte einen
Blick mit dem Mann im Sportanzug und sagte in
besorgtem Ton etwas von Ruhe, die sie alle bitter nötig
hätten. Als er es aussprach, fühlte sie die Müdigkeit wie
Blei in den Gliedern. Gleichzeitig hatte sie Angst, allein
gelassen zu werden mit den Erinnerungsfetzen, die sich ihr
aufdrängten, die wie schmutzige alte Putzlappen die Seele
scheuerten. Alles im Innern wurde steif und hart. Sie kam
kaum vom Stuhl in die Höhe und hatte nicht mehr die
Energie zu protestieren.
Der Chef sorgte dafür, dass sie fortgebracht wurde. Der
freundliche Berrenrath und sein junger Kollege nahmen
sie mit. Dann lag sie auf einem schmalen Bett, fast so tot
wie Georg Frankenberg und doch nicht fähig, Schlaf zu
finden.
Sie grübelte, ob Margret Vater schon angerufen hätte.
Wahrscheinlich nicht so spät in der Nacht! Es gab kein
Telefon im Haus der Eltern. Wenn man ihnen eine
dringende Nachricht zukommen lassen wollte, musste man
in der Nachbarschaft anrufen und Vater erst holen lassen.
Und Grit Adigar mitten in der Nacht aus dem Bett klingeln
… Grit!
Sie war so wund. Nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches
empfunden. Und jetzt breitete es sich aus. Sehnsucht nach
früher! Noch einmal an Magdalenas Bett sitzen und von
draußen erzählen. Von der Disco, von wilder Musik,

203
grellem Licht und jungen Männern. Und Magdalenas
Fragen beantworten.
«Wie ist das mit Koks? Das soll ein irres Gefühl sein.
Man erlebt alles viel intensiver, vor allem den Sex. Hast
du es schon mal probiert? Wie war es? Erzähl.»
Noch einmal vor dem Altar knien. Noch einmal die
Hände falten. Noch einmal flehen, der Erlöser möge die
Kraft zum Verzicht geben und Magdalena den nächsten
Tag. Und dann hinüberlaufen zu Grit, die regelmäßig
fragte: «Na, Cora, alle Pflichten erfüllt für heute?»
Alle Pflichten erfüllt! Nicht nur für heute – für alle Zeit.
Einen Mann getötet – Georg Frankenberg! Ein Lied
gehört – Song of Tiger! Ein Märchen erzählt – Alice im
Wunderland! Vaters Fassung – und machte sich ihre
eigene Welt. Dachte sich Leute aus, die nicht existierten –
Böcki und Tiger.
Das Schlimmste war zu spüren, wie der Verstand
bröckelte, wie er mürbe wurde, mehr und mehr an
Substanz verlor. Am Ende könnte man ihn zwischen zwei
Fingerspitzen zerbröseln. Gegen fünf am Morgen schlief
sie endlich ein.

Um die Zeit lag Rudolf Grovian auf der Couch im


Wohnzimmer. Die Arme hatte er unter dem Nacken
verschränkt. Er betrachtete die dunkle Zimmerdecke und
hörte ihr Betteln:
«Schalten Sie das Licht wieder ein.»
Um drei war er heimgekommen, aufgewühlt, erschöpft
und ein wenig deprimiert von dem Bewusstsein, dass er
etwas angefangen hatte, dessen Beendigung er anderen
überlassen musste. «Helfen Sie mir!» Er konnte ihr nicht
helfen. Alles, was er für sie tun konnte, war, zu beweisen,

204
dass Johnny Guitar und Georg Frankenberg identisch
gewesen waren.
Werner Hoß zweifelte daran, und was Hoß an
Argumenten vorbrachte, war nicht so einfach von der
Hand zu weisen.
Dreimal hatten sie sich die beiden wichtigsten Bänder
angehört, ehe sie Feierabend machten. Das erste und das
letzte. Hoß plädierte für das erste. «Es war das Lied.» Er
meinte, das sei die Antwort. Und mit dieser Antwort sei
das Gestammel auf dem letzten Band ja nicht in Frage
gestellt. Es seien lediglich zwei Paar Stiefel. Man könne
doch nicht wissen, was in einem Kopf vorginge, der
neunzehn Jahre lang mit der Bibel geprügelt und vor fünf
Jahren von einer Kristallpranke zerbrochen worden wäre.
Rudolf Grovian hatte sich ins Bett gelegt und so lange
herumgewälzt, bis Mechthild verlangte: «Rudi, tu mir den
Gefallen und leg dich auf die Couch. Dann kann
wenigstens ich schlafen.»
Er hatte es sich schon vor langer Zeit abgewöhnt, mit ihr
über seinen Beruf zu sprechen. Mechthild hatte ihre eigene
Auffassung von Recht, Gesetz und Gerechtigkeit. Sie
verbrachte zwei Nachmittage in der Woche in der
Kleiderkammer der Caritas, verteilte abgelegte Mäntel und
Hosen an gescheiterte Existenzen und andere Bedürftige.
Ehrenamtlich, versteht sich! Und wenn er ihr früher
erzählt hatte, dass wieder mal eine dieser gescheiterten
Existenzen mit einer Knarre in der Hand in eine
Sparkassenfiliale marschiert war, hatte Mechthild
regelmäßig gesagt: «Ach, der arme Kerl.»
«Ist Marita gut heimgekommen?», fragte er, um
überhaupt etwas zu sagen und in der Hoffnung, dass sie
ihn fragte, warum es so spät geworden und was denn los
gewesen sei. Irgendwie war es ihm ein Bedürfnis, von ihr

205
zu hören: «Ach, das arme Geschöpf.»
«Ich nehm’s an», sagte sie.
«Was hat sie dir erzählt? Sie hat dir doch was erzählt.
Ich meine, ich hätte was von Anwalt gehört.»
«Rudi», kam es gedehnt und gequält. «Lass uns morgen
in Ruhe darüber reden. Sieh mal auf die Uhr.»
«Morgen habe ich keine Zeit. Ich will es jetzt wissen.»
«Sie will sich scheiden lassen», seufzte Mechthild.
«Was?» Es war nicht einmal wert, vom Kissen
hochzuschießen. Er hatte es ja bereits befürchtet. «Wenn
es dem Esel zu wohl wird», sagte er, «geht er aufs Eis.»
«Rudi», seufzte Mechthild erneut. «Sie tut es nicht zum
Vergnügen, das kannst du glauben.»
«Mir reicht’s, wenn du es glaubst», sagte er. «Aber du
glaubst ihr ja jeden Scheiß.»
«Wenn sie doch Recht hat», erklärte Mechthild
halbwegs bestimmt. «Peter arbeitet zu viel. Sie ist immer
allein. Das ist kein Leben für eine junge Frau.»
«Wieso? Ich finde, das ist ein tolles Leben. Er arbeitet zu
viel, und sie wirft das Geld, das er damit verdient, mit
beiden Händen zum Fenster raus. Das ist doch besser, als
mit gefalteten Händen unter einem Kreuz hocken zu
müssen.»
«Na, das ist ja ein Vergleich», sagte Mechthild. «Wie
kommst du denn darauf?»
«Nur so. Sag mal, haben wir eigentlich eine Bibel?»
«Also, jetzt reicht’s, Rudi! Es ist fast halb vier.»
Mechthild drehte sich auf die Seite.
«Haben wir eine oder nicht?», fragte er.
«Unten im Schrank», sagte sie.
Da ging er hinunter, räumte den halben Schrank um,

206
fand ein abgegriffenes und reichlich dünnes Exemplar. Es
musste noch aus der Schulzeit seiner Tochter stammen. Es
lag bei ihren alten Schulbüchern, und die Ränder waren
vollgekritzelt. Er legte sich damit auf die Couch und las
das Stück über die Vertreibung aus dem Paradies. Daran
erinnerte er sich noch, dass es um einen Apfel gegangen
war. Und er ging so weit, zu vermuten, dass Cora Bender
die Äpfel nur aus einem Grund mit an den See genommen
hatte, weil sie dort schwimmen wollte bis zum Jüngsten
Tag.
Die Vertreibung aus dem Paradies, aus dem
Familienbetrieb ihres Schwiegervaters und der Ehe mit
einem Mann, der ihr das Gesicht blutig schlug und sich
einen Dreck darum scherte, wie die Polizei mit ihr
umging. Mit keinem Wort hatte Gereon Bender sich nach
dem Befinden seiner Frau erkundigt oder gefragt, was
denn nun mit ihr geschehe, als er seine Aussage machte.
Unter der Erinnerung an ihr Söhnchen stand ihm nicht
mehr der Sinn nach der büßenden Magdalena. Er las
trotzdem ein paar Zeilen und fühlte sich anschließend
noch deprimierter. Magdalena war eine Hure gewesen.
Und da ergab sich in Verbindung mit Heroin und ihren
zerstochenen Armbeugen eine Kombination, die ihm
überhaupt nicht gefiel.
Um halb sechs raffte er aus den Küchenschränken
zusammen, was man für ein kräftiges Frühstück brauchte,
und legte einen Zettel für Mechthild auf den Tisch, dass er
zusehen wolle, zu Mittag heimzukommen. Länger, davon
war er überzeugt, konnte es kaum dauern, Cora Bender
beim Haftrichter abzuliefern. Und genau das hatte er vor.
Genau das hätte er am vergangenen Abend schon tun
müssen, als sie die ersten Anzeichen von Verwirrung
zeigte. Es war unverzeihlich, dass er sich seiner inneren
Stimme widersetzt hatte.

207
Um sechs war er wieder im Büro. Kurz nach ihm traf
Werner Hoß ein. Sie stellten die Unterlagen für den
Staatsanwalt zusammen, hörten sich noch einmal die
Bänder an, vor allem das letzte, diskutierten eine Weile
darüber und kamen zu keiner Einigung.
«Ist eigentlich das Band aus Frankenbergs Recorder
sichergestellt?», fragte er.
Hoß grinste. «Wollen Sie einen Versuch machen?»
«Nein», sagte er und grinste ebenfalls. «Ich lasse die
Finger von der Sache. Aber wenn es sich tatsächlich um
eine Eigenkomposition handelt …» Den Rest sprach er
nicht aus.
Hoß kümmerte sich darum und trieb die Kassette bei der
Spurensicherung auf. Sie hörten kurz hinein. Es war nur
Musik. Rock, ziemlich wüst und wild. In Rudolf Grovians
Ohren klang es nach Chaos und immer gleich. Aber wenn
es etwas mit der Musik zu tun gehabt hatte, konnte es sich
nur um das letzte Stück auf dem Band handeln. Von
Winfried Meilhofer wussten sie, dass der Recorder
abgeschaltet hatte – wenige Sekunden, nachdem es
geschehen war.
«Auf einen Versuch sollten wir es ankommen lassen»,
meinte Hoß. «Wir lassen sie einen Querschnitt hören.
Wenn sie das Stück auf Anhieb bezeichnen kann. Ich
könnte das nicht bei dem Gewusel.»
Rudolf Grovian schüttelte bestimmt den Kopf. «Und
wenn sich herausstellt, dass wir es ihr vorgespielt haben,
können wir die Sache vergessen.»
Kurz vor neun traf eine Kopie vom Obduktionsbefund
ein. Sieben Stiche insgesamt. Die Platzierung stimmte mit
Cora Benders Angaben überein. Einer in den Nacken,
einer hatte die Halsschlagader zerfetzt, einer den Kehlkopf
getroffen. Die restlichen waren mehr oder weniger

208
belanglos. Todesursache: Aspiration. Georg Frankenberg
war an seinem Blut erstickt, bevor er hatte verbluten
können.
Wenig später erschien der Staatsanwalt. Es wurde noch
einmal alles durchgesprochen von A bis Z.
«Haben Sie ein Geständnis?»
«Wir haben eine Aussage», sagte Rudolf Grovian. Er
erklärte, wie er darüber dachte, erwähnte auch den
Schwächeanfall. Vertuschen ließ sich das nicht. Und
beschönigen wollte er es nicht. Er beschrieb ihr
Schwanken zwischen Klarheit und Verwirrung und
schloss mit Margret Röschs Worten über die Albträume.
«Ich möchte, dass Sie sich das hier anhören.» Auf sein
Zeichen schaltete Werner Hoß das Bandgerät ein. Cora
Benders Stimme ließ den Staatsanwalt die Stirn runzeln.
Auf den Schwächeanfall ging er nicht ein. Seine Miene
machte deutlich, was er davon hielt. So etwas durfte
einfach nicht passieren. Er lauschte sekundenlang dem
Gestammel vom Band, murmelte: «Guter Gott» und
machte eine bezeichnende Geste vor der Stirn. «Ist sie …»
Werner Hoß hob bedeutsam die Schultern. Rudolf
Grovian schüttelte nachdrücklich den Kopf. Und der
Staatsanwalt wollte wissen, ob sie ihnen etwas vorgespielt
haben könnte.
«Nein!», sagte Rudolf Grovian. Einen kleinen Seitenhieb
konnte er sich nicht verkneifen. «Wenn Sie dabei gewesen
wären, müssten Sie die Frage nicht stellen. Diese Bänder
sollten sich Leute anhören, die sie interpretieren können.
Und wenn ich sage anhören, meine ich das auch. Mit
einem schriftlichen Bericht ist es nicht getan. Sie schleppt
ein tüchtiges Päckchen mit sich herum.» Er gab ein paar
Stichworte zur Kindheit. Religiöser Fanatismus und das
Ding, von dem sie sich vorgestellt hatte, es müsse

209
abfaulen.
«Und dann das», sagte er. «Wir werden uns morgen
darum kümmern. Viel haben wir nicht in der Hand, das
gebe ich zu. Nur die paar Sätze. Aber wir sollten
zumindest nachfragen. Vielleicht ist zur fraglichen Zeit ein
junges Mädchen aus Buchholz verschwunden. Vielleicht
haben die da oben sogar eine Leiche mit gebrochenen
Rippen.»
Der Staatsanwalt zuckte mit den Achseln, blätterte in
den Zeugenaussagen und überflog den Obduktionsbericht.
Dann hob er den Kopf und meinte: «Wir haben auch eine,
vergessen Sie das nicht. Unsere hat zwar keine
gebrochenen Rippen, aber mir reicht das hier dreimal. Es
ist selten, dass sich jemand so präzise erinnert, wohin er
oder in diesem Fall sie gestochen hat.»
«Was heißt hier präzise», sagte Rudolf Grovian. «Sie hat
die Punkte aufgezählt, an denen ein Stich tödlich sein
kann. Ihre Tante ist Krankenschwester, bei der hat sie
eineinhalb Jahre gelebt. Da könnte sie sich ein bisschen
medizinisches Wissen angeeignet haben.»
Der Staatsanwalt betrachtete ihn sekundenlang mit
unbewegter Miene. «Das wären dann aber merkwürdige
Gespräche gewesen bei der Tante», meinte er. «Und sie
hat die Punkte nicht nur aufgezählt, Herr Grovian. Sie hat
sie auch getroffen.»
Das wusste er ja, auch wenn er es nicht mit eigenen
Augen gesehen hatte. Und er wusste auch, dass derart
präzise Angaben äußerst selten, um nicht zu sagen die
große Ausnahme waren. Bei einer Tat im Affekt erinnerte
sich anschließend kein Mensch an den exakten Ablauf.
Und es war ein Affekt gewesen. Etwas anderes konnte es
gar nicht gewesen sein. Und ihm war es wichtig, dass der
Staatsanwalt sich seiner Meinung anschloss. «Wollen Sie

210
mit ihr reden?», schlug er vor. «Ich kann sie holen lassen.»
Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf. «Lassen Sie sie
schlafen. Es muss eine harte Nacht für sie gewesen sein.
Aber meine war auch nicht angenehm. Nach einer
Fortsetzung ist mir im Moment nicht.»
Arschloch, dachte Rudolf Grovian.

Es war später Vormittag, als Berrenrath sie weckte. Dass


er längst daheim in seinem Bett hätte liegen können,
wusste sie nicht. Und wenn er es ihr gesagt hätte, es hätte
sie kaum noch interessiert. In der Nacht mochte seine
Freundlichkeit einen gewissen Wert gehabt haben. Jetzt
war Berrenrath nur noch ein Glied in der Kette, mit der sie
zurückgeprügelt und gefesselt worden war in der
Vergangenheit.
Sie hatte einen schalen Geschmack im Mund, aber der
Kopf war wieder völlig klar und kalt, als sei ihr Gehirn im
Schlaf erfroren. Nun war die Angst in einem Eisblock
eingeschlossen – und mit der Angst jedes andere Gefühl.
Sie bat um ein Glas Wasser. Das bekam sie,
Mineralwasser. Es tat gut, sie trank in kleinen Schlucken.
Wenig später brachte Berrenrath sie zurück in das Büro
des Chefs.
Dort bot man ihr ein Frühstück. Der Chef war da, der
andere auch, diesmal mit einer hellen Stoffhose und einem
dezent gemusterten Hemd bekleidet. Beide Männer
wirkten übermüdet. Und besorgt waren sie, dass es ihr
auch wirklich gut ging. Auf dem Tablett, das man ihr
vorsetzte, stand ein Teller mit Wurst- und Käsebroten. Sie
war nicht hungrig. Der Chef forderte sie auf, wenigstens
ein bisschen zu essen. Sie tat ihm den Gefallen, biss
einmal von einem Salamibrot ab und schluckte den Bissen
mit viel Kaffee hinunter.

211
Dann fragte sie nach den Namen. «Es tut mir Leid. Mir
ging gestern so viel durch den Kopf. Ich konnte mir Ihre
Namen nicht merken.»
Der Chef nannte sie ihr, aber in seinem Fall war der
Name ohne Bedeutung. Er hatte sie an den Rand des
Wahnsinns getrieben und ihr damit deutlich gemacht, wie
viel Macht er besaß über sie und ihren Verstand. Nach ihm
konnte keiner mehr kommen, der stark genug wäre, ihr das
anzutun.
Er erklärte, dass sie nun zum Amtsgericht nach Brühl
führen, um sie dem Haftrichter vorzustellen.
«Damit werden Sie warten müssen», sagte sie, schaute
Werner Hoß an und erklärte mit unbewegter Miene: «Sie
hatten ja in der Nacht bereits Zweifel an meiner
Geschichte. Mit Recht!»
Sie waren beide sehr aufmerksam, ließen kein Auge von
ihr, während sie mit ruhiger und gefasster Stimme das
gesamte Lügengebilde um Johnny Guitar widerrief. Sie
schloss mit einer winzigen neuen Lüge: Im Oktober vor
fünf Jahren sei sie beim Überqueren einer Straße nicht
aufmerksam gewesen und von einem Auto angefahren
worden.
Sie sah Werner Hoß nicken, seine Miene drückte
Genugtuung aus. Der Chef warf ihm einen wütenden Blick
zu und schüttelte den Kopf. Dann begann er von Margret
zu sprechen, vorsichtig, behutsam, wie die Katze um den
heißen Brei schleichend. Margret habe ihm von einer
furchtbaren Misshandlung erzählt. Sie selbst habe auch ein
paar Hinweise gegeben, behauptete er.
Es war ein harter Schlag zu erfahren, dass Margret sie
angelogen und doch geredet hatte. Die Häufchen Dreck
ausgebreitet, die sie von Vater kannte, das Ende der
Geschichte! Furchtbar misshandelt! Und ihr den Rat

212
gegeben, die Wahrheit zu sagen. Ab August! Ab August
war die Wahrheit für Margret nicht mehr gefährlich. Denk
jetzt mal an dich! Margret hatte an sich gedacht.
«Was soll der Blödsinn?», fuhr sie auf. «Ich habe keine
Hinweise gegeben. Oder habe ich etwa behauptet, ich sei
misshandelt worden?»
Der Chef lächelte. «Nicht direkt.» Er bat sie, sich ein
Stück von einem der Bänder anzuhören, natürlich nur,
wenn sie sich dazu in der Lage fühle.
«Von mir aus», sagte sie. «Ich fühle mich genau richtig
für meine Lage.»
Er schaltete das Bandgerät ein. Und sie hörte sich das
Gestammel an. «Er hat so lange auf sie eingeschlagen, bis
sie tot war. Ich habe gehört, wie ihre Rippen brachen.»
«Mein Gott», sagte sie, «das klingt ja scheußlich. Hört
sich an, als sei ich ziemlich durcheinander gewesen. Sie
haben mir aber auch ganz schön zugesetzt. Das können Sie
nicht leugnen. Der Weißkittel, den Sie mir auf den Hals
gehetzt haben, sagte, ich sei starkem emotionalem Druck
ausgesetzt gewesen. Deshalb sei ich zusammengeklappt.
Fragen Sie ihn, wenn Sie mir nicht glauben. Oder fragen
Sie Herrn Berrenrath, er hat es auch gehört. Aber machen
Sie sich keine Sorgen. Ich werde mich nicht über Sie
beschweren. Sie haben Ihre Arbeit getan. Ich verstehe
das.»
Rudolf Grovian nickte, warf Werner Hoß einen
undefinierbaren Blick zu. Es war eine Bitte um gütliches
Einvernehmen oder die Verurteilung zum Schweigen, das
blieb sich gleich. Er atmete tief durch, versuchte
einzuschätzen, in welcher Verfassung sie war. Sie wirkte
völlig klar. Und wenn sie wollte, konnte sie ihm eine
Menge Arbeit ersparen. Sie musste nur den Namen des
Mädchens nennen, das der kleine Dicke für sich

213
mitgenommen hatte.
Er ging äußerst behutsam vor, erklärte ihr, zu verstehen,
was sie zu ihrem Widerruf veranlasste: Die Angst, sich
noch einmal mit grausamen Dingen auseinander setzen zu
müssen.
Sie verzog spöttisch den Mund. «Sie verstehen einen
Dreck. Es gab kein Mädchen für den Dicken. Es war
Johnny, der die Mädchen abschleppte. Der Dicke trottete
jedes Mal hinter ihnen her wie ein Hündchen, das nur mal
am Knochen schnuppern darf.»
«Dann gab es Johnny also», stellte Rudolf Grovian fest.
«Natürlich. Aber nicht für mich. Der hat mich doch mit
dem Hintern nicht angeguckt.»
Rudolf Grovian legte ein wenig väterliche Ermahnung in
die Stimme. «Frau Bender, Ihre Tante sagte …»
Weiter kam er nicht. «Lassen Sie mich doch in Ruhe mit
dem Quatsch! Margret hat keine Ahnung! Oder war sie
etwa dabei? Vergessen Sie den Mist da. Hören Sie sich
lieber das erste Band an. Da haben Sie die richtigen
Antworten bekommen. Ich habe Georg Frankenberg
gestern zum ersten Mal gesehen. Und ich habe gehört, wie
der Mann, der bei ihm war, über ihn sprach. Deshalb
konnte ich Ihnen etwas über die Musik und den Keller
erzählen.»
«Nein», widersprach er. «Sie haben schon vor Jahren
von einem Keller gesprochen, geträumt haben Sie davon.
Da war Ihre Tante sehr wohl dabei. Und in der
vergangenen Nacht sind Sie nicht zusammengebrochen,
weil ich Sie unter Druck gesetzt habe. Ich habe Sie unter
Druck gesetzt, das bestreite ich nicht. Aber das war nicht
der Grund für Ihren Zusammenbruch. Sie haben sich an
den Keller erinnert. Geschrien haben Sie, dass Sie es nicht
aushalten. Dass ich Ihnen helfen soll. Ich will Ihnen

214
helfen, Frau Bender. Aber Sie müssen mir einen Schritt
entgegenkommen. Ihre Tante sagte …»
Sie schürzte die Lippen und begann zu nicken. Dabei
grinste sie, mit den Verletzungen im Gesicht wirkte es
hilflos. «Ich könnte Ihnen etwas von meiner Tante
erzählen, da würden Ihnen die Ohren flattern. Meine Tante
hat sich ein Ding geleistet, ich glaube, das nennt man
Diebstahl. Und Sie kommen im schlimmsten Albtraum
nicht darauf, was sie geklaut hat. Margret hat Sie genauso
belogen wie ich. Das dürfen Sie mir unbesehen glauben.
Sie kann es sich gar nicht leisten, Ihnen die Wahrheit zu
sagen. Aber lassen wir das, ich will niemanden in die
Scheiße reiten. Ich hatte ein paar Albträume, als ich bei ihr
wohnte, das stimmt. Aber die hatten nichts mit Georg
Frankenberg zu tun. Da ging es um ganz andere Dinge.»
«Ich weiß», sagte er, «um Böcke, Schweine und Tiger.
Um Würmer und dergleichen. Man braucht nicht viel
Phantasie, um das zu interpretieren. Für mich klingt es
nach einer Vergewaltigung.»
Wie er dazu kam, ihr ein Wort in den Mund zu legen,
hätte er niemandem erklären können. Er fing sich einen
verständnislosen Blick von Werner Hoß ein.
Und sie lachte auf. «Vergewaltigung? Wer hat Ihnen
denn den Floh ins Ohr gesetzt? Margret?» Sie nickte,
lachte noch einmal kurz und abfällig. «Wer sonst! Zu
ärgerlich, dass sie es nur Ihnen gesagt hat. Das hätte sie
besser mit mir besprochen, da hätte ich aber eine Story
gehabt. Da säße ich jetzt hier wie ein Lamm.»

Margret hat oft gesagt, ich hätte meinen Weg gemacht,


trotz allem. Für sie sah es vielleicht so aus. Aber es war
nicht mein Weg, es war meine Teststrecke. Bewusst
sündigen! Und zusehen, was passiert. Mit Magdalenas

215
Leben spielen, als wäre der Tod nur ein kleiner Ball, den
man von einer Hand in die andere wirft. Eine Zeit lang
war es das, Nervenkitzel. Später war es Gewohnheit.
Es fing mit kleinen Dingen an. Mit dem Traum vom
Wolf, bei dem ich das Bett nass machte. Bei dem ich nicht
aufhörte, mir zu wünschen, dass er noch einmal käme.
Weil er mich frei machte, wenigstens für die kurze Zeit in
der Nacht. Und er kam immer wieder. Fast ein Jahr lang,
fast jede Nacht. Oder dass ich am Nachmittag zu Grit
hinüberhuschte und um ein Bonbon bettelte oder ein Stück
Kuchen, das ich dann in aller Eile hinunterschlang. Jedes
Mal, wenn ich danach ins Haus zurückkam, beobachtete
ich Magdalena. Immer war ihr Zustand unverändert. Die
kleinen Sünden konnten sie also nicht umbringen.
Ich wollte sie auch nicht umbringen, wirklich nicht. Sie
war eine große Belastung für mich. Sie zwang mir ein
Leben auf, das ich nicht führen wollte. Aber nach dem
Nachmittag mit dem Taschentuch und den nassen Füßen
des Erlösers wünschte ich mir oft, ich hätte mehr für sie
tun können, als mit ihr reden oder ihr Geschichten aus der
Bibel vorzulesen.
Ich glaube, ich hatte angefangen meine Schwester zu
lieben. Und wenn ich bei Grit Süßigkeiten schnorrte …
Vielleicht wollte ich mir nur beweisen, dass ich sündigen
konnte auf Teufel komm raus, ohne dass es einen Einfluss
auf Magdalenas Befinden hatte. Wenn mir dafür eines
Tages die kleinen Teufel das Fleisch mit glühenden
Zangen vom Körper rissen, war das allein mein Problem.
Und dann fand ich eines Tages auf der Straße ein
Markstück. Da war ich elf und ging bereits zur
Hauptschule. Ich hatte noch nie eigenes Geld gehabt. Die
anderen Mädchen in meiner Klasse bekamen sonntags von
ihren Eltern etwas. Und montags gingen sie nach der
Schule in einen kleinen Laden und kauften sich
216
Negerküsse, Weingummi oder Eis am Stiel. Mich zogen
sie auf, dass ich nie in den Laden gehen konnte.
Es war morgens auf dem Weg zur Schule. Ich sah das
Geldstück da liegen. Ich wusste, dass ich es zwar aufheben
durfte, aber abgeben musste. Und ich steckte es ein. In der
großen Pause verließ ich den Schulhof. Es war verboten.
Ich ging zum Laden und kaufte mir ein Eis. Und als die
Lehrerin mich fragte, wo ich gewesen sei, sagte ich, ich
hätte Kerzen für meine Mutter bestellen müssen. Alles
zusammengenommen musste so schwer wiegen wie eine
Todsünde.
Mittags trödelte ich auf dem Heimweg. Ich hatte
schreckliche Angst. Es war Magdalena an dem Morgen
gar nicht gut gegangen. Und ich … Ach, ich weiß nicht,
obwohl ich schon alt war, obwohl ich es gar nicht glauben
wollte und mir ein paar Leute versichert hatten, Mutter sei
nicht richtig im Kopf, ich glaubte es immer noch –
irgendwie.
So etwas setzt sich fest. Es gibt keinen Beweis dafür und
keinen dagegen. Man kann nicht viel tun. Man kann
immer nur etwas versuchen. Manche Leute glauben, sie
werden vom Pech verfolgt, wenn sie unter einer Leiter
durchgehen. Oder dass ein Unglück geschieht, wenn ihnen
eine schwarze Katze über den Weg läuft. Sie schaffen es
nie, unter einer Leiter durchzugehen. Und bei der
schwarzen Katze kehren sie wieder um. Aber ich wollte es
wissen. Und dann kam ich heim.
Ich klingelte schon lange nicht mehr an der Haustür,
sondern ging hinten herum zur Küche. Bevor ich die Tür
erreichte, hörte ich Mutter singen.
«Großer Gott, wir loben dich. Herr, wir preisen deine
Stärke. Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine
Werke. Wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in

217
Ewigkeit. Alles, was dich preisen kann, Cherubim und
Seraphinen, stimmen dir ein Loblied an. Alle Engel, die
dir dienen, rufen dir stets ohne Ruh’ heilig, heilig, heilig
zu.»
Wenn Mutter dieses Lied sang, musste eigentlich alles in
Ordnung sein. Das war es auch. Ich kam in die Küche,
Magdalena saß im Sessel und hatte das kleine Tischchen
über den Beinen. Sie löffelte Hühnerbrühe – ganz allein –
und blinzelte mit einem Auge: Ich solle aufpassen, was
jetzt käme. Es ging ihr viel besser als am Morgen.
«Das wird mir aber sehr langweilig da oben», sagte sie.
«Den ganzen Tag nur heilig, heilig, heilig rufen.»
Es ging ihr so gut, dass sie Mutter ein bisschen ärgern
konnte. Das tat sie gerne, weil sie sich auch oft über
Mutter ärgerte. Magdalena war kein sanftes Kind. Solange
sie noch klein gewesen war, hatte sie nicht viel tun
können. Sie konnte auch nicht viel tun, als sie älter wurde,
sie konnte nur reden. Und Mutter war jedes Mal verblüfft
oder schockiert, vielleicht, weil sie Magdalena in ihrem
Zustand nicht ins Wohnzimmer scheuchen konnte, wenn
sie über den Erlöser oder Mutters Ansichten spöttelte.
Blasphemie, sagte Mutter dazu, und das war auch eine
sehr große Sünde.
«Hör lieber auf zu singen», verlangte Magdalena.
«Dabei vergeht mir der Appetit. Wenn ich da oben nichts
anderes rufen darf, will ich wenigstens etwas anderes
hören, solange ich noch hier unten bin. Cora soll mir etwas
aus der Schule erzählen.»
Aus der Schule erzählen, das hatte sich mit der Zeit aus
unserem Wunschspiel ergeben – als Ersatz fürs Fernsehen.
In der Schule war häufig etwas los. Mal hatten sich welche
geprügelt. Mal war einer von den größeren Jungs beim
Rauchen erwischt worden. Einmal hatte sich ein Mädchen

218
in der Toilette eingeschlossen und Tabletten genommen.
Da war später sogar ein Krankenwagen gekommen.
Magdalena fand es aufregend, wenn ich so etwas erzählte.
Das war ihr Leben, sie kam ja kaum raus – nur mit
Mutter in die Klinik alle drei Monate. Einmal in der Stadt
mit ihr spazieren gehen war nicht möglich. Und sie im
Kinderwagen spazieren fahren, da schämte sie sich, dafür
war sie doch schon zu alt.
Vater hatte vorgeschlagen, einen Rollstuhl für sie zu
kaufen. Das wollte sie nicht. «Einer, der sich dreimal am
Tag in den Schwanz kneift, weil er mich gemacht hat,
braucht für mich keinen Pfennig aus dem Fenster zu
werfen», sagte sie zu mir.
So schlimm, wie sie meinte, war Vater nicht. Das sagte
ich ihr auch oft. Außerdem hatte ich angeboten, sie im
Rollstuhl spazieren zu fahren. Aber das wollte Mutter
nicht. Magdalena hätte unterwegs etwas passieren können.
Dann hätte ich nicht gewusst, was ich tun sollte.
Ich wollte gerne etwas für sie tun, wirklich. Mit elf
Jahren wollte ich es schon fast jeden Tag. Aber ich konnte
ihr nur erzählen, was in der Schule los war. Wenn nichts
Besonderes gewesen war, erfand ich einfach etwas. Den
Unterschied merkte sie ja nicht.
An dem Tag hätte ich ihr von dem Markstück erzählen
können. Verraten hätte sie mich nicht. Aber wir blieben
bei Mutter in der Küche. Während Mutter den Tisch
abräumte und das Geschirr spülte, erzählte ich eine
erfundene Geschichte. Als Mutter mit dem Abwasch fertig
war, war Magdalena erschöpft. Mutter brachte sie hinauf.
Aber als Vater am späten Nachmittag von der Arbeit kam,
war sie bereits wieder unten.
Und am nächsten Tag tat ich es wieder – sogar
schlimmer. Bevor ich zur Schule ging, nahm ich Geld aus

219
Mutters Portemonnaie – zwei Markstücke. In der Pause
verließ ich den Schulhof, allerdings hatte ich die Lehrerin
um Erlaubnis gefragt. Ob ich gehen dürfe und fragen, ob
die Kerzen schon geliefert seien. Die Lehrerin sagte:
«Natürlich, Cora, lauf nur.»
Und ich lief zum Laden, kaufte mir ein Eis und eine
Tafel Schokolade. Das Eis aß ich sofort. Die Schokolade
versteckte ich in meiner Jackentasche. Mittags brachte ich
sie in den Schuppen und legte sie in die hinterste Ecke
unter die alten Kartoffelsäcke.
Als ich dann auf die Küchentür zuging, hatte ich
Herzklopfen. Doch bevor ich die Klinke drückte, hörte ich
Magdalena reden. Wie am Tag zuvor saß sie im Sessel,
hatte einen Teller mit Kartoffelbrei und einem weich
gekochten Ei vor sich. Es ging ihr gut. Nachdem sie eine
Stunde geruht und ich gebetet und die Schularbeiten
gemacht hatte, wollte sie unbedingt mit mir spielen. Nicht
«Ich sehe was, was du nicht siehst» oder das Wunschspiel,
ein richtiges Spiel.
Mutter schickte mich zu Grit Adigar, das «Mensch
ärgere dich nicht» zu holen. Bevor ich mit dem Karton
unter dem Arm zurück in unsere Küche ging, lief ich rasch
in den Schuppen und brach ein Stück von der Schokolade
ab. Ich legte es mir nur auf die Zunge und ließ es langsam
schmelzen. Wenn ich darauf gekaut hätte, wäre es Mutter
aufgefallen.
Magdalena beobachtete mich, während ich die Figuren
auf das Spielfeld stellte. Sie sah, dass ich etwas im Mund
hatte, aber sie sagte nichts. Erst später, als Mutter
hinausging, fragte sie: «Was hattest du da eben?»
«Schokolade.»
Magdalena dachte, ich hätte sie von Grit bekommen.
«Wenn du das Spiel zurückbringst, bringst du mir auch

220
ein Stück mit? Aber pass auf, dass das Papier dranbleibt.
Du musst es mir unters Kopfkissen legen. Ich esse es,
wenn Mutter mich ins Bett gebracht hat. Ich passe auf,
dass sie es nicht sieht.»
Mutter wollte nicht, dass sie Süßigkeiten aß, berief sich
dabei allerdings nicht auf den Erlöser wie bei mir, sondern
auf den Zahnarzt. Es war ein großes Problem mit
Magdalenas Zähnen. Sie waren zu weich. Einmal hatten
sie ihr in der Klinik einen Backenzahn ziehen müssen, der
ein Loch hatte. Da hatten sie ihr eine Spritze gegeben. Und
Magdalena hatte sie nicht vertragen. Die Ärzte hatten zu
Mutter gesagt, so etwas dürfe nicht wieder vorkommen.
Deshalb war Mutter auch so hinterher mit dem
Zähneputzen.
Ich wusste das. Und ich wusste auch, dass man nach
dem Zähneputzen nichts Süßes mehr essen darf, weil es
sonst Löcher gibt. Um es ganz konkret auszudrücken, ich
wusste, dass ich ihr schadete – richtig schadete, wenn ich
ihr ein Stück Schokolade unter das Kopfkissen legte. Ich
nickte trotzdem. Magdalena griff nach dem Würfel und
sagte: «Dann mal los! Nimm keine Rücksicht auf mich,
Cora. Ich kann gut verlieren.»

Nimm keine Rücksicht auf mich, Cora! Den Satz von ihr
höre ich heute noch. Er wurde mir zum Lebensmotto. Ich
nahm auf nichts und niemanden mehr Rücksicht, belog die
Lehrerin und die anderen Kinder in der Schule, sogar
meinen Vater. Ich klaute, was sich nur klauen ließ.
Mindestens zweimal in der Woche nahm ich Geld aus
Mutters Portemonnaie. Ich kaufte mir Süßigkeiten,
versteckte sie im Schuppen und holte mir etwas, wann
immer ich Lust hatte. Wenn sich die Gelegenheit bot,
brachte ich auch für Magdalena etwas ins Haus und legte
es ihr unter das Kopfkissen. Wenn meine Vorräte verzehrt
221
waren, nahm ich eben wieder Geld.
Zuerst hatte ich Angst, dass die Leute aus dem kleinen
Laden Mutter etwas erzählten. Sie kaufte auch da ein. Und
eigentlich hätten sie sich wundern müssen, dass ich
plötzlich über so viel Geld verfügte. Um allem
vorzubeugen, erzählte ich einmal, Margret hätte mir Geld
geschickt in einem Brief, und Margret hätte geschrieben,
dass ich Mutter nichts davon sagen sollte, damit sie es mir
nicht wegnähme und Kerzen oder Rosen dafür kaufte. Die
Frau im Laden lächelte und sagte:
«Von mir erfährt deine Mutter kein Sterbenswörtchen.»
Damals begriff ich, was es bedeutet, Geld zu haben. Alle
waren plötzlich freundlich zu mir, alle, die vorher gelacht
oder mich nicht beachtet hatten. Als ich zwölf wurde,
waren es mindestens drei Mark in der Woche von Mutter.
Dabei bekam ich zu dem Zeitpunkt auch schon regelmäßig
Geld von Vater.
Manchmal wunderte es mich, dass Mutter das Geld nicht
vermisste. Ich weiß nicht, ob sie mit der Zeit nachlässig
geworden war oder ob ich sie überzeugt hatte, ich sei der
frömmste Mensch auf der Welt. Vielleicht hatte ich sie
überzeugt. Ich gab ihr Recht, egal welchen Unsinn sie
verzapfte. Ich half ihr im Haushalt, spülte freiwillig das
Geschirr ab, wischte Staub oder holte die Wäsche von der
Leine, damit sie sich um Magdalena kümmern konnte. Das
tat ich immer, wenn ich ein schlechtes Gewissen hatte.
Und das hatte ich oft, weil ich alles hatte und Magdalena
nur selten etwas abgeben konnte.
Ich verzichtete auf das Abendessen, wenn ich mich am
Nachmittag so mit Süßigkeiten voll gestopft hatte, dass ich
keinen Bissen mehr runterbrachte. Zu Mutter sagte ich:
«Ich habe bei der Einkehr heute Mittag eine Begierde
entdeckt. Ich will jetzt Buße tun.» Mutter fand so viel

222
Einsicht natürlich toll.
Um die Einkäufe riss ich mich jedes Mal. Ich sagte:
«Lass mich das machen, Mutter. Ich bin jung und stark. Es
macht mir nichts aus, schwer zu tragen. Und du brauchst
deine Kraft für Magdalena.»
Und dann sagte ich noch, dass ich lieber zum Aldi ginge,
weil dort alles billiger sei. «Man darf die Händler doch
nicht dazu verleiten, sich zu bereichern.» Und Mutter
fand, sie hätte an mir eine große Hilfe und ich hätte viel
vom Erlöser gelernt. Manchmal sagte sie, sie sei stolz auf
mich.
Und wenn ich Magdalena erzählte, welchen Bären ich
Mutter aufgebunden hatte, meinte sie: «Man muss sie
verarschen, wo man nur kann. Blödheit muss bestraft
werden.»
Magdalena dachte, dass ich den weiteren Weg in die
Stadt nur gehe, damit ich ihr erzählen konnte, ob irgendwo
etwas los gewesen sei. Warum ich tatsächlich lieber zum
Aldi ging, habe ich ihr nie gesagt. Weil man dort leichter
klauen konnte und Woolworth in der Nähe war.
Gut die Hälfte von dem, was ich nach Hause trug, war
nicht bezahlt. Beim Aldi klaute ich Süßigkeiten und ein
paar von den Lebensmitteln, die ich für Mutter besorgen
sollte. Bei Woolworth nahm ich Haarspangen, Lippenstifte
und anderen Kleinkram, den ich leicht in die Jackentasche
stecken, aber selbst gar nicht brauchen konnte. Ich
verkaufte die Sachen auf dem Schulhof.
Ich konnte so gut klauen, das glaubt man nicht. Ich sah
nett und harmlos aus, mir traute niemand etwas Böses zu.
Viele Leute wussten, wer ich war. Die Frau, die meist bei
Aldi an der Kasse saß, wohnte in unserer Straße, für die
war ich nur das arme Kind. Und bei Woolworth war eine
der Verkäuferinnen eine gute Freundin von Grit Adigar,

223
da war es genauso leicht.
Es hat nie einer etwas bemerkt. Auch nicht die, die mir
die Sachen abkauften. Denen musste ich nur sagen:
«Meine Tante hat mir wieder ein Päckchen geschickt.
Aber was soll ich mit dem Kram? Meine Mutter hängt mir
das Kreuz aus, wenn sie mich mit Lippenstift sieht.» Da
freuten sie sich alle, weil sie die Sachen von mir für die
Hälfte bekamen.
Ich hatte damals eine Menge Geld zur Verfügung. Mein
Taschengeld von Vater, die Griffe in Mutters
Portemonnaie und meine Einkünfte vom Schulhof. Und
ich gab kaum etwas aus. Ich hortete alles, das Geld ebenso
wie Naschzeug. Oft hatte ich so viel süßes Zeug im
Schuppen, dass ich es nicht alleine essen konnte. Im
Sommer schmolz mir die Schokolade unter den alten
Kartoffelsäcken. Danach nahm ich häufig etwas mit zur
Schule und verschenkte es an andere Kinder. Dann war ich
ihre beste Freundin, und sie stritten sich, wer in der Pause
mit mir spielen durfte.
Und ich spielte unentwegt mit Magdalenas Leben. Es
war wie mit der Leiter. Einmal ist man mutig, man geht
drunter durch, und nichts passiert. Und dann tut man es
immer wieder. Irgendwann ist man überzeugt, dass es gar
kein Pech gibt, das einen verfolgen könnte. Aber das
Schicksal kann man nicht austricksen wie eine Mutter, die
im Kopf nicht richtig ist. Irgendwann, wenn niemand mehr
damit rechnet, schlägt es zu.
Es sah lange Zeit so aus, als hätte ich keinen Einfluss auf
Magdalenas Zustand. Egal, was ich tat oder unterließ, ihr
ging es gleichbleibend gut oder schlecht. Es kam darauf
an, wie man es sah. Die Leukämie hatte sie überstanden.
Nach fünf Jahren, sagten die Ärzte, könne man getrost von
einer vollständigen Heilung sprechen.

224
Mutter führte die Genesung natürlich auf unsere Gebete
zurück, weil sogar die Ärzte sagten, es sei ein Wunder.
Dabei betete ich gar nicht mehr. Ich kniete vor dem Kreuz
und dachte mir Geschichten für Magdalena aus.
Einmal erzählte ich ihr, ich hätte jetzt eine richtige
Freundin. Da war ich schon fast dreizehn und hätte mir
bequem eine Freundin kaufen können. Ich hatte
achthundert Mark im Schuppen und wusste, dass
Magdalena sich in dem Punkt geirrt hatte. Für Geld konnte
man alles haben.
Sie fand das mit der Freundin aufregend. Ich musste ihr
das Mädchen beschreiben. Jede Einzelheit wollte sie
wissen. Wie groß ist sie? Ist sie dick oder dünn? Ist sie
hübsch? Redet ihr auch über Jungs? Hat sie sich schon mal
in einen verliebt? Meinst du, du schaffst es, dass sie mal
hier am Haus vorbeigeht? Dann könnte ich sie sehen.
Da saßen wir an einem Nachmittag am Fenster im
Schlafzimmer. Von dort aus konnte man auf die Straße
sehen. Magdalena saß auf dem Bett, und ich passte am
Fenster auf. Als ein wirklich hübsches Mädchen die Straße
hinunterkam, holte ich Magdalena ans Fenster. Ich hielt
sie mit einem Arm fest und klopfte an die Scheibe. Das
Mädchen wurde aufmerksam und schaute zu uns hoch. Es
schüttelte den Kopf, wahrscheinlich hielt es uns für blöd.
Und ich erzählte Magdalena, meine Freundin wüsste
genau, wie vorsichtig wir wegen Mutter sein müssten. Nur
deshalb hätte sie den Kopf geschüttelt. Magdalena glaubte
mir alles.
Als ich einmal den halben Nachmittag mit Einkäufen
vertrödelt hatte, erzählte ich ihr, meine Freundin hätte
mich in die Eisdiele eingeladen. Sie hätte mir einen
Erdbeerbecher mit Schlagsahne spendiert. Und dann hätte
sie mir von einem Jungen vorgeschwärmt, in den sie sehr

225
verliebt sei. Der Junge wüsste aber nichts davon.
Am nächsten Tag erzählte ich ihr, wir hätten einen Brief
an den Jungen geschrieben. Und meine Freundin hätte
mich gebeten, dem Jungen den Brief zuzustecken. Lügen!
Lügen! Lügen! Manchmal kam es mir so vor, als ob mein
Leben eine einzige Lüge sei.

226
8. Kapitel

Allmählich wurde Rudolf Grovian wütend – nicht auf sie,


auf sich. Die Warnung ihrer Tante – dann macht Cora die
Tür zu – schoss ihm durch den Sinn. Verdammt, er hatte
es falsch angepackt. Aber es musste doch möglich sein,
den Fuß noch einmal in die Tür zu drücken. Er probierte
eine Weile herum, nur fand er den richtigen Ton nicht. Mit
Margret legte er nur noch ein paar zusätzliche Riegel vor
die Tür.
Auf die Fragen, in welcher Hinsicht er von ihrer Tante
belogen worden sei und was Margret Rösch gestohlen
haben könnte, dass man im schlimmsten Albtraum nicht
darauf käme, antwortete sie: «Machen Sie Ihre Arbeit
allein. Sie werden dafür bezahlt, ich nicht.»
Er kam auf den Kernpunkt zurück. Wenn es Johnny gab,
war er identisch mit Georg Frankenberg? Darauf gab sie
ihm keine Antwort. So sah er sich genötigt, noch einmal
zu drohen, obwohl er das auf gar keinen Fall hatte tun
wollen. «Frau Bender, dann werde ich wohl doch mit
Ihrem Vater reden müssen.»
Sie lächelte. «Probieren Sie es lieber bei meiner Mutter,
die hat die Wahrheit mit drei Pfund Bibelseiten gefressen.
Aber sorgen Sie dafür, dass Ihre Knie gut gepolstert sind.»
Dann nippte sie an ihrem Kaffee, stellte die Tasse mit
einer endgültigen Bewegung zurück und schaute zu ihm
auf. «Das war’s wohl, oder? Darf ich mich umziehen,
bevor Sie mich dem Haftrichter vorführen? Meine Sachen
sind verschwitzt. Ich habe darin gelegen. Und ich hatte sie
gestern schon an. Die Zähne möchte ich mir auch gerne
putzen.»

227
In dem Moment tat sie ihm unendlich Leid. Sie war
immer auf sich gestellt gewesen. Wie sollte sie
ausgerechnet ihm glauben, wenn er ihr Hilfe anbot?
Davon abgesehen, welche Hilfe konnte er ihr bieten?
Etliche Jahre hinter Gittern. Mit so viel Neutralität, wie er
aufbringen konnte, sagte er: «Ihre Sachen sind noch nicht
hier, Frau Bender. Wir hatten Ihren Mann gestern gebeten,
etwas herzubringen. Bisher ist er nicht erschienen.»
Sie zuckte gleichgültig mir den Achseln. «Er wird auch
nicht erscheinen. Ich hatte doch gesagt, Margret soll es
tun.»
Eine halbe Stunde später traf Margret ein. In der Zeit
hatte er sich noch dreimal bemüht, Auskunft zu erhalten.
Wer war das zweite Mädchen? Beim ersten Mal versuchte
er es mit ruhiger Stimme. Sie schlug vor: «Fragen Sie
meine Mutter. Aber Sie können es auch gerne bei meinem
Vater probieren. Wenn Sie ihm erzählen, ich wäre
vergewaltigt worden, während ein anderes Mädchen
totgeprügelt wurde, freut er sich bestimmt.»
Beim zweiten Mal legte er ein wenig Nachdruck in die
Stimme. Sie schaute Werner Hoß an und erkundigte sich:
«Braucht Ihr Chef ein Hörgerät, oder ist er einfach stur?
Er hat ein großes Problem, was? Mir kommt er vor wie
eine Schallplatte mit einem Sprung.»
Beim dritten Mal bettelte er fast. Und sie betrachtete die
Kaffeemaschine und wollte wissen: «Haben Sie das Ding
zu Hause ausrangiert? Können Sie sich fürs Büro keine
neue Maschine leisten? So teuer sind die doch nicht. Es
gibt welche, die kochen das Wasser richtig. Da schmeckt
der Kaffee viel besser. Ich habe mir so eine gekauft. Ich
werde sie vermissen. Oder meinen Sie, ich darf in der
Zelle eine eigene Kaffeemaschine haben? Dann lasse ich
sie mir bringen. Wenn Sie mich dann mal besuchen,

228
kriegen Sie auch eine Tasse. Sie werden mich doch
besuchen, oder? Wir machen uns einen gemütlichen
Nachmittag mit Kaffee und wilden Geschichten. Mal
sehen, wer von uns beiden besser ist.»
Es war eine harte Bewährungsprobe für ihn, fast war er
erleichtert, als es endlich an die Tür klopfte und ihre Tante
hereinkam. Margret Rösch hatte einen kleinen Koffer
gepackt. Werner Hoß nahm ihn und untersuchte den
Inhalt. Viel war nicht darin: Zwei Nachthemden, das
Waschzeug, zwei Blusen, zwei einfache Röcke, einige
Garnituren Unterwäsche, zwei Strumpfhosen, ein Paar
Schuhe mit halbhohem Absatz und eine gerahmte
Fotografie ihres Kindes.
Es war ein friedliches Bild, aufgenommen auf einer
Terrasse. Der Kleine hockte am Boden, eine Hand auf
einem grünen Traktor, blinzelte er ins grelle Licht und die
Kamera.
Sie winkte ab, als Werner Hoß das Foto zu den anderen
Sachen legte. Ihr Gesicht war steif geworden, die Stimme
klang hart und unpersönlich, und der Blick, den sie ihrer
Tante zuwarf, verschoss Eiskristalle. «Nimm es wieder
mit!»
Margret Rösch, die in der Nacht einen so energischen
Eindruck auf ihn gemacht hatte, wirkte in dem Moment
nur hilflos und irgendwie verängstigt. «Warum denn? Ich
dachte, du möchtest gerne ein Bild von dem Kleinen bei
dir haben. Es ist doch sicher erlaubt, oder?» Beim letzten
Satz warf sie Grovian einen fast verzweifelten Blick zu. Er
nickte nur.
«Ich will es nicht», sagte Cora. «Nimm es wieder mit.»
Ihre Tante nahm wie ein eingeschüchtertes Kind die
Fotografie von den Blusen und steckte sie in ihre
Handtasche.

229
«Hast du mir Tabletten mitgebracht?», fragte Cora.
Margret Rösch nickte, steckte die Hand noch einmal in
ihre Tasche und brachte sie mit einer
Medikamentenschachtel wieder zum Vorschein. Und
Rudolf Grovian glaubte zu begreifen, warum er den Fuß
nicht mehr in die Tür bekommen hatte. «Das ist nicht
möglich», sagte er.
«Aber die braucht sie», protestierte Margret Rösch. «Sie
hat oft starke Kopfschmerzen. Das sind Folgen einer
schweren Schädelverletzung. Sie hat Ihnen doch gestern
erzählt von diesem Unfall.» Die Betonung lag
unüberhörbar auf dem letzten Wort.
Er nahm ihr die Schachtel aus der Hand. «Ich werde es
nehmen und den zuständigen Leuten aushändigen. Wenn
sie das Mittel braucht, wird sie es bekommen. In der
vorgeschriebenen Dosierung.»
Margret Rösch tat einen Schritt nach vorne, als wolle sie
ihre Nichte in die Arme nehmen.
«Lass das!», sagte Cora beinahe lässig. «Am besten, du
tust so, als sei ich gestorben. Du brauchst doch dafür nicht
unbedingt meine Leiche, oder? Wenn du eine brauchst,
geh in euren Leichenkeller, da liegen ja immer ein paar
herum.»
Für Rudolf Grovian klang diese Bemerkung nach purer
Gehässigkeit. Die Reaktion ihrer Tante war entsprechend.
Margret Rösch schluckte hart, ließ die Arme sinken und
drehte sich zur Tür ohne ein Wort des Abschieds. Nur eine
Sekunde später schloss die Tür sich hinter ihr. Mit einem
Kopfnicken bedeutete er Werner Hoß, den Raum ebenfalls
zu verlassen. Als er allein mit ihr war, startete er den
letzten Versuch.
«So», sagte er. «Jetzt sind wir unter uns, Frau Bender.
Und jetzt reden wir miteinander wie erwachsene und

230
vernünftige Menschen. Am See hat es nicht geklappt. Mit
den Tabletten wird es auch nicht funktionieren. Über
etwas anderes brauchen Sie erst gar nicht nachzudenken.
Der Flucht nach vorne schiebe ich einen Riegel vor.
Treten Sie lieber die Flucht nach hinten an.»
Sie reagierte nicht.
«Eine schwere Schädelverletzung», sagte er bedächtig.
«Sie haben eine ziemlich tiefe Narbe an der Stirn. Da
war nicht nur die Haut verletzt, da war auch der Knochen
betroffen. Das ist mir in der Nacht aufgefallen. Sie haben,
bevor Sie zusammenbrachen, von einer Pranke aus Kristall
gesprochen und davon, wie grausam es war, wenn Ihr
Mann vorher eine Zigarette rauchte. Weil der
Aschenbecher all das auslöste. Also erzählen Sie mir nicht
wieder, Sie wären vor ein Auto gelaufen.»
Es schien, dass sie schmunzelte. «Ihnen erzähle ich gar
nichts mehr. Ich denke, wenn ich dem Haftrichter etwas
erzähle, haben wir alle noch was vom Wochenende. Was
sagt eigentlich Ihre Frau, wenn Sie hier durchmachen?
Oder haben Sie keine?»
«Doch.»
«Gut.» Sie schmunzelte nicht nur, sie grinste. «Dann
packen Sie Ihre Frau ins Auto und machen einen schönen
Ausflug mit ihr, wenn Sie mich abgeliefert haben. Ist ja
herrliches Wetter draußen. Fahren Sie an den Otto-
Maigler-See. Am besten nehmen Sie auch Herrn Hoß mit.
Er kann Ihnen ein interessantes Fleckchen zeigen. Da
wurde nämlich gestern ein Mann umgebracht. Stellen Sie
sich vor, der arme Kerl wurde abgeschlachtet, nur weil er
mit seiner Frau Zärtlichkeiten austauschte und dabei ein
bisschen Musik hörte. Und da war so eine blöde Kuh, der
gefiel das nicht, da ist sie ausgeflippt.»
Er versuchte es mit Autorität. «Frau Bender, die

231
Mätzchen können Sie sich sparen. Woher stammt diese
Narbe?»
Sie wurde ausfallend. «Ach, lecken Sie mich doch.»
Noch ein Versuch, sie mit ihren eigenen Ängsten zu
ködern. «Ich denke, das mögen Sie nicht. Gestern haben
Sie so etwas angedeutet, oder habe ich Sie da
missverstanden?»
Sie starrte ihn an, das unverletzte Auge war wie ein Loch
im Gesicht. Er hätte gerne gewusst, was in diesem Loch
glühte, Wut oder Panik. Sekundenlang glaubte er, das sei
der richtige Ton gewesen. Da tippte sie sich gegen die
rechte Kopfseite. «Hier habe ich eine Narbe, die ist noch
größer. Möchten Sie sie sehen? Da müssen Sie aber die
Haare anheben. Nur ist da nicht viel zu sehen. Es sieht
eben geflickt aus.»
«Und wer hat Ihnen diese Verletzungen zugefügt?»
Sie zuckte mit den Achseln, das Grinsen fand den Weg
zurück auf ihr zerschlagenes Gesicht. «Ich hab’s Ihnen
doch erklärt. Wenn Sie mir nicht glauben, ist das Ihr
Problem. Ich bin mit dem Kopf auf die Motorhaube
geknallt. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich war high,
als es passierte. Der Weißkittel hat Ihnen doch gesteckt,
was mit meinen Armen ist. Und Margret hat doch
garantiert auch gesagt, was damals mit mir los war. Ich
hab gefixt.»
Sie streckte den linken Arm aus und deutete auf die
Armbeuge. «Ich war nicht vorsichtig genug, habe auch
keinen Wert auf Sauberkeit gelegt. Das hatte sich mächtig
entzündet. Es hat richtige Löcher gegeben. Sehen Sie? Es
ist ganz knotig.»
Sie strich mit einem Finger der rechten Hand über das
vernarbte Gewebe. «Ich habe alles probiert, was im
Angebot war», erklärte sie. «Hasch, Koks, zuletzt

232
Heroin.» Sie lachte leise und fügte hinzu: «Aber keine
Sorge. Sie haben nichts versäumt. Ich bin seit Jahren
clean. Gestern war ich so sauber wie Sie. Und wenn ich
mich gewaschen habe, rieche ich auch wieder so. Zeigen
Sie mir jetzt bitte, wo ich mich umziehen kann?»
Sie hatte sehr lässig gesprochen, die Feindseligkeit gab
ihrer Stimme einen rostigen Beiklang. Und er hatte keine
Ahnung, wie ein Mensch sich mit einem Trauma fühlte.
Der Vergleich mit der Mauer schien ihm passend. Was
ihm bei seiner Tochter nie gelang, bei ihr schaffte er es: an
seinem Konzept festzuhalten; Ruhe, Gelassenheit,
Verständnis und Geduld. Er stellte sich einfach vor, dass
sie vor ihrer Mauer stand und alles, was sich dahinter
verbarg, mit Zähnen und Klauen vor seinem Zugriff
verteidigte. «Warum haben Sie uns nicht schon in der
Nacht erzählt, dass Sie süchtig waren?»
Sie zuckte erneut mit den Achseln. «Weil ich dachte, es
geht Sie nichts an. Es ist ein paar Jahre her und hat mit der
Sache nichts zu tun. Mein Mann weiß nichts davon. Ich
hatte gehofft, dass er es nie erfährt. Es war lange vor
seiner Zeit.»
«War es die Zeit mit Georg Frankenberg? Hat er Ihnen
das Zeug gegeben?»
Sie richtete den Blick zur Decke und verdrehte die
Augen.
«Gegen wen ermitteln Sie eigentlich, gegen mich oder
ihn? Was wollen Sie dem armen Schwein denn noch alles
anhängen? Sie wollen ihn unbedingt zum Verbrecher
stempeln, was? Passt es nicht in Ihr Weltbild, dass eine
Frau töten kann, nur weil sie sich über laute Musik ärgert?
Soll ich Ihnen was sagen? Eigentlich wollte ich das Weib
abstechen. Der Mann hatte einfach Pech, weil er oben
lag.»

233
Rudolf Grovian lächelte. «Und weil das für Sie so
aussah, als ob er über die Frau herfiele. Weil Sie
befürchteten, er könnte sie schlagen. Hat es Sie an das
erinnert, was damals im Keller passiert ist?»
Sie antwortete nicht sofort. Erst nach ein paar Sekunden
und einem tiefen, entnervten Seufzer meinte sie lakonisch:
«Wenn Sie unbedingt an dieser Story festhalten wollen,
finden Sie das mal selbst raus. Fragen Sie einfach noch ein
paar Leute. Sie fragen doch so gerne. Warum soll ich
Ihnen den Spaß verderben?»
Mit den letzten Worten griff sie eine Bluse, einen Rock,
eine Garnitur Unterwäsche und ihre Zahnbürste vom
Schreibtisch. Um Erlaubnis fragte sie nicht noch einmal.
Sie ging einfach zur Tür. Er folgte ihr, Werner Hoß
schloss sich ihnen an. Auf dem Korridor versuchte er es
noch einmal.
«Frau Bender, es hilft Ihnen doch nicht, wenn Sie so
verstockt sind. Wenn Georg Frankenberg …»
«Wer ist hier verstockt?», unterbrach sie ihn. «Ich
bestimmt nicht. Ich mag nur diese Bohrerei nicht. Sie
sehen doch, was dabei herauskommt. Ein Haufen Dreck!
Ich hatte Ihnen so eine hübsche Geschichte erzählt.
Richtig romantisch war sie am Anfang. Und am Schluss
war sie rührend. Ein totes Baby. Tote Babys sind immer
rührend, dreckig sind sie nicht. Die Wahrheit ist dreckig.
Die Wahrheit ist voller Würmer und Maden, sie wird
schwarz und stinkt zum Himmel. Ich mag keinen Dreck
und keinen Gestank.»
«Ich auch nicht, Frau Bender. Aber ich mag die
Wahrheit. Und in einem Fall wie diesem wäre es doch nur
zu Ihrem Vorteil, wenn Sie offen zu uns sind.»
Sie lachte kurz auf. «Machen Sie sich keine Sorgen um
meinen Vorteil. Um den kümmere ich mich selbst. Das

234
habe ich schon als Kind getan. Ich bin ziemlich früh auf
die schiefe Bahn geraten. Da rutscht man irgendwann
völlig ab. Da haben Sie Ihre Wahrheit. Mir musste
niemand etwas geben, bestimmt keinen Stoff. Was ich
haben wollte, habe ich mir genommen.»
Während sie sich – bei offener Tür – notdürftig wusch
und umzog, stand er – mit Werner Hoß als Zeugen – auf
dem Korridor, horchte auf die eindeutigen Geräusche und
ließ den nächtlichen Dialog zwischen ihr und Margret
Rösch wieder und wieder durch seinen Kopf ziehen.
Es kam so weit, dass er sich für schizophren hielt, in den
harmlosen Sätzen verschlüsselte Absprachen zu vermuten
und in einer schockierten und besorgten Tante eine
Todesbotin zu sehen. Aber schizophren hin und her, er
musste sich den Inhalt ihres Köfferchens noch einmal
genau anschauen. Seine Hand hätte er ins Feuer gelegt,
dass sie nur deshalb nicht aus der Ruhe zu bringen war,
weil Margret Rösch ihr mehr mitgebracht hatte als
Tabletten. Vielleicht war die Medikamentenschachtel nur
ein raffinierter Schachzug gewesen, um von einer
Rasierklinge oder etwas Ähnlichem abzulenken.

Ihr Hirn war immer noch zu einem festen Klumpen


gefroren, von dem niemand ein Stück abschlagen, den
niemand zum Tauen bringen konnte. Mochte der Chef
wüten, wie er wollte. Nur hinter den Rippen glühte es
schmerzhaft. Margret hätte das Foto nicht mitbringen
dürfen.
Es hatte ihr einen heftigen Stich versetzt, das Kind noch
einmal zu sehen, so fröhlich und unschuldig. Es war der
letzte Blick zurück gewesen. Lots Weib war daraufhin zur
Salzsäule erstarrt. Sie war nur im Innern steif geworfen, so
steif und kalt wie Mutter damals, als sie mit Magdalena

235
auf dem Bett saß und von der großen Schuld sprach, die
der Herr nicht vergeben hatte.
Aber der Kleine war gut aufgehoben bei den Großeltern.
Schwiegereltern dachte sie nicht mehr. Und irgendwann
durften sie ihm erzählen, seine Mutter sei gestorben. Wenn
sie es ihm erzählten, war es die Wahrheit. Mochte der
Chef Riegel vorschieben, so viele er wollte. Sie wusste,
was sie zu tun hatte. Sie wusste auch womit! Und Margret
schien auch gewusst zu haben, dass es so viele
Möglichkeiten nicht gab in einer Zelle, dass man sich auf
etwas beschränken musste, das völlig natürlich und
harmlos aussah. Nach dem Tod der Angeklagten wurden
die Ermittlungen bestimmt eingestellt. Warum sollten sie
dann noch im Dreck wühlen?
Auf der Fahrt nach Brühl schwiegen sie. Werner Hoß
fuhr, der Chef hatte neben ihr im Fond des Wagens Platz
genommen. Er schien endlich begriffen zu haben, dass er
drohen, betteln oder weinen mochte, dass er bei ihr auf
Granit biss, selbst wenn er sie auf Knien anflehte.
Beim Haftrichter ging es überraschend schnell. Der Chef
trug mit nüchterner Stimme vor, was ihr zur Last gelegt
wurde. Sie hörte sich alles mit unbewegter Miene an. Der
Richter fragte, ob sie sich dazu äußern wolle. Sie erklärte,
sie habe sich bereits ausführlich geäußert und wolle sich
nicht ständig wiederholen. Und der Richter verfügte, dass
sie in Untersuchungshaft zu nehmen sei. Er belehrte sie
noch einmal über ihre Rechte. Damit war es überstanden.
Ein kleiner Schock stand ihr noch bevor, als der Chef
ihren Koffer äußerst gründlich untersuchte. Sogar das
Futter tastete er ab, als vermute er darin ein paar
Sandkörner. Und schließlich nahm er die Strumpfhosen an
sich.
«Was fällt Ihnen ein?», protestierte sie. «Sie haben kein

236
Recht, sich an meinen Sachen zu vergreifen.»
«Ich habe eine Menge Rechte», sagte er. «Und für
Strümpfe ist es doch zu warm. Im Moment tragen Sie ja
auch keine.»
Dann ließ er sie allein. Das Mittagessen nahm sie in
einer Zelle ein. Es war nicht schlecht. Im Vergleich mit
dem, was Mutter früher auf den Tisch gebracht hatte, war
es sogar hervorragend.
Und dort war sie ausgekommen und hängen geblieben.
Als ob die Vergangenheit das eigentliche Ziel ihres
Lebens gewesen sei und sie sich noch einmal überdeutlich
vor Augen führen müsse, welch ein schlechter Mensch sie
gewesen war. Dabei waren die Erinnerungen, die bisher
aufgebrochen waren, noch vergleichsweise harmlos.
In regelmäßigen und kurzen Abständen hörte sie ein
Geräusch an der Tür. Der Chef hatte tatsächlich
Anweisung gegeben, sie zu beobachten. Aber wenn er sich
einbildete, er könne sie zwingen, die Flucht nach hinten
anzutreten, irrte er gewaltig. Die Wut auf ihn war wie ein
Besenstiel im Rücken. Und der Kopf, immer noch
gefroren, brachte glasklare Gedanken zustande. Sie
wartete darauf, dass der Nächste kam, ihr ein paar Fragen
zu stellen. Lange musste sie nicht warten.
Gegen zehn Uhr am Montagvormittag wurde sie
abgeholt und zur Vernehmung zum Staatsanwalt gebracht.
Er war ein junger Mann, durchaus freundlich, vor sich
hatte er einen Haufen Papier, das er mit ihr durchsprechen
wollte. Er wies sie darauf hin, dass ihre Aussage in der
vorliegenden Form ohne Wert sei. Er könne das erst
akzeptieren, wenn sie ihm die Namen der beiden anderen
Männer nenne. Nicht die blödsinnigen Spitznamen Böcki
und Tiger. Er brauche die richtigen Namen. Natürlich auch
den des Mädchens. Es sei nur in ihrem eigenen Interesse.

237
Beinahe hätte sie gelacht. Bildete dieser Knabe sich ein,
er kenne ihre Interessen? «Hat Herr Grovian Ihnen denn
nicht gesagt, dass ich diesen Unsinn gestern widerrufen
habe?»
Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf. Sie sah ihn
unsicher an, schaffte es, Resignation in ihre Stimme zu
legen. «Was soll ich denn nun sagen vor dem Richter,
wozu raten Sie mir?»
«Zur Wahrheit», sagte der Staatsanwalt.
Zuerst nickte sie bedrückt, dann erklärte sie leise: «Die
ist aber verdammt dürftig. Ich war furchtbar wütend auf
die Frau.»
«Was hatte die Frau getan, um Sie wütend zu machen?»,
fragte der Staatsanwalt.
«Eigentlich nichts», murmelte sie. «Mein Mann fand sie
scharf. Sie hat Feuer im Hintern, sagte er. Ich habe mir
immer Mühe gegeben, dass er mit mir zufrieden ist. Dann
kommt so eine Kuh und macht ihm den Hals lang. Und
das nicht zum ersten Mal. Er bekam immer Stielaugen,
wenn wir am See waren. Und anschließend hielt er mir
Vorträge, ich sei prüde und zickig. Manchmal wollte er
dann auch Sachen, die ich nicht mochte. Ich konnte mir
schon denken, was mich abends erwartete. Und ich hatte
einfach die Schnauze voll, verstehen Sie? Ich wollte einem
von diesen verdammten schamlosen Weibern einen
Denkzettel verpassen. Aber ich kam nicht an sie ran. Und
da dachte ich …»
Sie schaute über seine Schulter auf einen unbestimmten
Punkt an der gegenüberliegenden Wand. «Ich dachte eben,
ist doch egal, ob ich sie erwische oder den Mann. Ihm hat
es ja auch Spaß gemacht. Die sind doch irgendwie alle
gleich, diese Schweine.»
Das reichte dem Staatsanwalt. Er fragte noch nach den

238
Stichen, präzise ausgeführt nannte er sie. Als sie dazu nur
die Achseln zuckte, wollte er wissen, woher ihre
Kopfverletzungen stammten. Sie wiederholte, was sie dem
Chef zuletzt erzählt hatte. Voll gepumpt mit Heroin direkt
in ein Auto gelaufen. Und einen barmherzigen Samariter
habe es nie gegeben, den betrunkenen Arzt als Fahrer habe
sie frei erfunden. Behandelt worden seien ihre
Verletzungen im Kreiskrankenhaus in Dülmen.
Sie musste lächeln, als sie das sagte, wusste nicht
einmal, ob es in Dülmen ein Kreiskrankenhaus gab. Manni
Weber war in Dülmen geboren und aufgewachsen, seine
Großmutter lebte noch dort. Vor einem Jahr hatte Manni
Weber sie um ein paar Tage unbezahlten Urlaub gebeten.
Seine Großmutter war gestürzt und lag mit einem
Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus. Wo genau, hatte
Manni Weber nicht gesagt.
Der Staatsanwalt lächelte nicht. «Wir werden das
überprüfen», sagte er.
Sie dachte, er hätte sie nun endlich ein Geständnis
unterschreiben lassen. Aber nein. Das müsse ja nun alles
noch einmal neu aufgenommen werden, meinte er. Und
am besten sei, damit zu warten, bis ihre Angaben
überprüft wären. Ihr Geständnis könne sie dann vor dem
Untersuchungsrichter ablegen und unterzeichnen.
Kurz nach Mittag war sie wieder in ihrer Zelle. Den
halben Nachmittag grübelte sie, wie sie dem Drama ein
Ende setzen könne. Schließlich kam sie auf die Idee mit
den Papiertüchern. Sie hatte keine, aber man gab ihr
bestimmt ein Päckchen, wenn sie darum bat. Papiertücher
waren so harmlos wie Eine-Runde-Schwimmen. Als das
Abendessen gebracht wurde, fragte sie danach.
«Haben Sie Schnupfen?», wollte die Wärterin wissen.
Sie nickte und schniefte ein wenig. Die Wärterin sagte:

239
«Ich bringe Ihnen gleich ein paar Tücher», und ging
weiter.
Sie aß ein bisschen, dabei fühlte sie sich noch gut, ohne
Appetit, jedoch sonst in Ordnung. Nachdem sie das
Tablett an die Seite geschoben hatte, kniete sie vor dem
Bett auf dem Boden und faltete die Hände.
Es war das erste Mal seit langer Zeit, und es ging nur,
weil kein Kreuz da war. Einen unsichtbaren Erlöser um
Vergebung der letzten Sünde zu bitten, war nicht so
schwer. Sie sah dabei das blutige Gesicht des Mannes vor
sich. Georg Frankenberg! Und sein Blick … Er hatte ihr
vergeben, das war sicher.
Etwas in ihr war immer noch der festen Überzeugung, es
sei gut und richtig gewesen, ihn zu töten. Dieses Etwas
musste der Wahnsinn sein. Frankie, dachte sie. Ein
zärtlicher Mann! Seit drei Wochen verheiratet. Bei ihr
waren es drei Jahre. Die Drei war eine magische Zahl. Das
wurde ihr mit einem Schlag bewusst, nur begriff sie nicht
auf Anhieb, was an der Drei so bemerkenswert war. Als es
ihr dann einfiel …
Es waren drei Kreuze auf Golgatha. Und die beiden
Männer, die mit dem Erlöser gekreuzigt wurden, hatten
den Tod verdient. Der in der Mitte dagegen war ohne
Schuld gewesen.
Es traf sie wie ein glühendes Eisen, bohrte sich zwischen
die Schulterblätter und zog sie zusammen, kroch in den
Nacken und weiter hinauf, stieß ins Hirn und brachte den
gefrorenen Klumpen zum Tauen. Wie hatte sie das auch
nur für eine Sekunde aus den Augen verlieren können?
Der Erlöser war frei von jedem Makel gewesen, so rein
und unschuldig, wie kein Mensch jemals sein konnte.
Minutenlang zitterte sie wie in einem Krampf. Es war, als
stünde Vater neben ihr:

240
«Was hast du getan, Cora? Was hast du getan?» Und
über Vaters Kopf schwebte das Kreuz mit dem
schuldlosen Mann.
Als es ihr endlich gelang, vom Boden aufzustehen,
schlich sie zum Waschbecken. Als wenig später das
Tablett abgeholt wurde, wusch sie sich immer noch die
Hände und dachte nicht an Papiertücher. Die Wärterin
hatte auch nicht daran gedacht.

Rudolf Grovian hatte ein paar Stunden vom


Sonntagnachmittag am Otto-Maigler-See verbracht. Nicht,
um ihrer Empfehlung zu folgen, er fuhr auch nicht mit
seiner Frau hin. Als er in seinen Wagen stieg, war
Mechthild bereits auf dem Weg nach Köln. Sie hatte mit
dem Mittagessen auf ihn gewartet, natürlich hoffte sie
auch, dass er sie begleitete. Aber die Vorstellung, ein paar
nutzlose Stunden in der Wohnung seiner Tochter zu
verbringen, wo er bisher nicht einmal den Tatort gesehen
hatte …
Nur war da nichts zu sehen außer dem Wasser und
einem Volksauflauf. Da war auch nichts mit in der Sonne
sitzen und die Umgebung oder die Atmosphäre auf sich
einwirken lassen. Er war deprimiert, schwankte zwischen
der eigenen Überzeugung und der Meinung, die Werner
Hoß vertrat, dass Johnny, Tiger und Böcki nichts mit
Georg Frankenberg zu tun hatten.
Er saß auf dem platt getretenen Rasen und betrachtete
die halb nackten Menschen, junge und alte, Männer,
Frauen und Kinder. Ein älteres Paar ging Hand in Hand
zum Wasser hinunter. Der Mann musste das Pensionsalter
fast erreicht oder bereits überschritten haben. Und er
erinnerte sich nicht einmal mehr, wann er zuletzt Hand in
Hand mit Mechthild gegangen war. Früher hatten sie oft

241
davon gesprochen, was sie alles tun wollten, wenn die
Tochter aus dem Haus war. Mal ein Wochenende ins
Blaue, für ein paar Tage in den Schwarzwald oder an die
Nordsee, bisher war nichts daraus geworden.
Ein bisschen abseits von ihm spielten ein Mann und ein
kleiner Junge mit einem Ball. Der Junge war nur wenig
größer als sein Enkel und trat den Ball ungeschickt in
seine Richtung. Er fing ihn auf und warf ihn zurück. Der
Junge lachte ihn an, und ihm fiel ein, dass seinem Enkel
das Lachen bald verginge. Oder auch nicht!
Es war anzunehmen, dass Marita sich samt ihrem
Söhnchen daheim einquartieren wollte, wenn ihre Ehe
tatsächlich in die Brüche ging. Eine ernüchternde
Erkenntnis, die vorübergehend alles andere in den
Hintergrund drängte! Der häusliche Friede mit Füßen
getreten. Nichts gegen ein paar Bauklötze im
Wohnzimmer, nichts gegen ein bisschen Kinderlachen
oder -weinen, aber die geruhsamen Abende auf der Couch
wären Vergangenheit, wenn die Tochter wieder im Haus
war.
Er sah es vor sich, so wie es früher gewesen war. Der
Tisch im Wohnzimmer übersät mit Nagellack,
Lippenstiften, Wimperntusche und dem anderen Mist, den
sie sich ins Gesicht schmierte. Hundertmal, tausendmal
hatte er verlangt, sie solle ihre Kriegsbemalung gefälligst
im Bad auftragen. Aber nein! Da war angeblich das Licht
zu schlecht, und Mechthild sagte: «Nun lass sie doch,
Rudi. Ist das denn nötig, jeden Abend dasselbe Theater?»
Eine knappe Stunde später saß er in der Wohnung seiner
Tochter, entschlossen zu retten, was zu retten war. Sein
Schwiegersohn war nicht da. Und seine Versuche wurden
abgeblockt mit: «Halt dich raus, Rudi, du hast keine
Ahnung, worum es geht.»

242
Mechthild hielt den Jungen auf dem Schoß, sagte ein
übers andere Mal: «Ja, aber wie soll das denn …» Weiter
kam sie nie. Wie es denn sollte, hatte Marita bereits
gründlich durchdacht. Von Heimkommen war nicht die
Rede. Die geräumige Wohnung gegen ein Zimmer im
Elternhaus, die Möglichkeiten der Großstadt gegen den
kleinbürgerlichen Mief einzutauschen, danach stand ihr
nicht der Sinn. Die finanzielle Seite warf keine Probleme
auf, Peter müsste natürlich zahlen. Dreitausend im Monat,
so stellte Marita sich das vor.
«Es gibt auch kleinere Summen», sagte Rudolf Grovian.
«Es gibt auch größere», sagte seine Tochter. «Und bei
seinem Einkommen, da weiß er wenigstens, wofür er
schuftet.»
Danach vergaß sie seine Anwesenheit und sprach wieder
ausschließlich zur Mutter. Es ging um grobe
Vernachlässigung, um unüberbrückbare Gegensätze, um
einen Mann, der nichts anderes im Kopf hatte als Bits und
Bytes, Rams und Roms, das Internet und anderen
Firlefanz, mit dem ein vernünftiges Gespräch nicht mehr
möglich war, von einem unterhaltsamen Abend in einer
Diskothek ganz zu schweigen.
«So ist das nun mal, wenn ein Mann arbeitet und es im
Beruf zu etwas bringen will», sagte Mechthild lahm. «Da
muss man als Frau hin und wieder eine Faust in der
Tasche machen. Dafür hat man doch aber auch was vom
Leben.»
Ja, Windeln, Kochtöpfe und zur Abwechslung einmal
wöchentlich die Spielgruppe für Zweijährige. Rudolf
Grovian konnte sich das nicht länger anhören, er zog
unentwegt Vergleiche. Aber es gab keine. Seine Tochter
und Cora Bender, das war wie Tag und Nacht, wie Feuer
und Wasser. Die eine brauchte seinen Rat nicht, wollte

243
nicht einmal wissen, wie er darüber dachte. Halt dich raus,
Rudi. Was sollte ein Mann tun, wenn ihm privat ständig
solche Grenzen gesetzt wurden? Ihm blieb doch nur, sich
in die Arbeit zu stürzen.
Am Montagmorgen um acht tat er das, hatte am Abend
eine längere Unterredung mit dem Staatsanwalt und bis
Dienstag genug zusammengetragen, um sie noch einmal
mit ihren Lügen zu konfrontieren und ein wenig an ihrer
Mauer zu kratzen. Vorsicht hin, Rücksicht her. Er hatte sie
herausgefordert und sie ihn. Sie war schuldig geworden,
und jetzt war er am Zug. Das war sie ihm schuldig.
Es war später Nachmittag, als er die Zelle betrat. Er sah
ihr Erschrecken bei seinem Anblick und erschrak
ebenfalls. Die beiden Tage hatten sie in ein stumpfes
Bündel verwandelt, das zu keiner Reaktion mehr fähig
schien.
Er begann mit dem Kreiskrankenhaus in Dülmen. Das
hatte ihn nur einen Anruf und ein bisschen Warterei am
Telefon gekostet.
Mit Georg Frankenbergs Vater hatte er persönlich
gesprochen, am vergangenen Nachmittag. Ute
Frankenberg war noch nicht vernehmungsfähig. Man hatte
ihn nicht zu ihr gelassen. Aber viel konnte sie ihm wohl
ohnehin nicht sagen, wenn sie ihren Mann erst sechs
Monate vor der Hochzeit kennen gelernt hatte.
«Und ich glaube kaum», erklärte er mit einem kleinen
Lächeln, «dass er mit seiner Frau über frühere Affären
gesprochen hat.»
Im Geist hörte er den Staatsanwalt noch einmal sagen:
«Ihr Engagement in allen Ehren, Herr Grovian, aber ich
muss Sie dringend bitten, nicht so einseitig zu ermitteln.
Gehen wir lieber davon aus, dass die Frau ihr Opfer
wirklich nicht kannte.»

244
Sie musste ihn gekannt haben! Er hatte in den beiden
Tagen ein paar Details zusammengetragen, die dafür
sprachen. Es Beweise zu nennen wäre übertrieben
gewesen. Fakten, das traf es eher. Und zu diesen Fakten
gehörte auch die Leiche eines jungen Mädchens.
Es gab tatsächlich eine – mit zwei gebrochenen Rippen!
Eine Vermisstenmeldung in Buchholz für die fragliche
Zeit gab es nicht. Aber sie hatte ja gesagt, sie habe das
Mädchen nie vorher in Buchholz gesehen. Die
Vermisstenmeldung konnte überall liegen. In Lüneburg
gab es nur die Unterlagen über eine unbekannte Tote –
fünfzehn bis höchstens zwanzig Jahre alt.
Im August vor fünf Jahren hatte man ihre skelettierte
Leiche in der Nähe eines militärischen Sperrgebiets in der
Lüneburger Heide gefunden. Die Todesursache war nicht
mehr feststellbar gewesen. Keine Schädelverletzung,
Kehlkopf und Zungenbein intakt. Die Rippenbrüche
konnten nach Ansicht der zuständigen Gerichtsmediziner
später erfolgt sein; Tiere als Verursacher. Das kam
häufiger vor.
Die Leiche musste mindestens drei Monate im Freien
gelegen haben. Nackt! Kleidungsstücke waren bei ihr
nicht gefunden worden. Auch sonst nichts, was der
Identifizierung hätte dienen können. Man hatte es mit
Aufrufen in der Presse versucht, ohne Erfolg. Die
zuständigen Kollegen gingen von einer Anhalterin aus.
Aber wenn man in Erwägung zog, dass Cora Bender und
ihre hilfsbereite Tante um die Wette geschwindelt hatten,
war es durchaus denkbar, dass es sich um das Mädchen
aus dem Keller handelte. Man brauchte nicht viel
Phantasie, nur etwas Menschenkenntnis, Intuition und ein
gutes Gedächtnis, das beiläufig hingeworfene Sätze
registrierte und ihnen im entscheidenden Moment die
richtige Bedeutung beimaß.

245
Vorausgesetzt, Cora Bender hatte sich schon im Mai und
nicht erst im August zu einer Fahrt mit Johnny und seinem
kleinen, dicken Freund überreden lassen, dann kam es hin.
Und irgendwie war es doch sonderbar, wie sie und ihre
Tante auf dem August herumgeritten waren.
Er hatte vor, sich ans BKA zu wenden und sämtliche
Vermisstenfälle der fraglichen Zeit überprüfen zu lassen.
Mit einem Namen wäre es wesentlich einfacher gewesen.
Zwei Namen hatte er am Montagmorgen von Winfried
Meilhofer erfahren. Ottmar Denner und Hans Böckel.
«Sagen Ihnen die Namen etwas, Frau Bender?»
Sie schüttelte den Kopf. Er lächelte weiter. Immer nur
lächeln, freundlich sein und Rätsel raten, warum sowohl
sie als auch ihre Tante den August als Quelle des Übels
nannten. Weil sie von dem Leichenfund wussten! Darauf
hätte er einen Eid abgelegt. Weil sie damit nicht in
Verbindung gebracht werden wollten, weil sie alles
Mögliche und Unmögliche befürchteten, wenn die
Verbindung hergestellt wurde. Weil! Wenn! Und hundert
Fragezeichen.
«Mir aber!», sagte er. «Hans Böckel gleich Böcki.
Ottmar Denner könnte der Tiger sein. Denner war der
Komponist in der kleinen Band, hat man mir erzählt. Und
Komponisten setzen sich gerne ein Denkmal. Ein Stück
auf dem Band heißt ‹Song of Tiger›. Erinnern Sie sich?
Sie haben es als Ihr Lied bezeichnet.»
Der Staatsanwalt hatte ihn ausgelacht. Böcki und Tiger,
so ein Quatsch! Das hatte ebenso viel Wert wie das
Kreiskrankenhaus Dülmen. Und sie schüttelte nur wieder
den Kopf. Er sprach unbeirrt weiter. «Interessant erscheint
mir auch, dass Ottmar Denner aus Bonn stammt. Er hat
zusammen mit Georg Frankenberg in Köln studiert und
während seiner Studienzeit noch daheim gelebt. Er fuhr zu

246
der Zeit einen silberfarbenen VW-Golf GTI, das
Kennzeichen begann logischerweise mit BN. Wir
bemühen uns im Augenblick, seine derzeitige Anschrift in
Erfahrung zu bringen. Aber das ist nicht einfach. Es sieht
so aus, als sei er ins Ausland gegangen. In die
Entwicklungshilfe.»
Er hatte mit Ottmar Denners Eltern gesprochen, vor ein
paar Stunden erst. Und keine Auskunft erhalten.
Angeblich wusste man nicht, wo der Sohn sich derzeit
aufhielt. In Ghana, im Sudan oder im Tschad. Auch seine
Bitte um eine Fotografie war abgelehnt worden. Wozu
brauchte er die? Was lag vor gegen Ottmar Denner? Sein
Gesprächspartner war ein kleiner, dicker Mann und
energischer Vater gewesen, der seine Rechte kannte, die
des Sohnes auch.
Und Rudolf Grovian hatte sich vorgestellt, er könne ihr
einige Fotografien auf den Tisch legen, fünf oder sechs
oder sieben. Er könne sie bitten, den kleinen Dicken
herauszusuchen. Fehlanzeige! Aber so wie die Dinge
standen, hätte sie wohl auch zu einem Foto nur den Kopf
geschüttelt.
Über Hans Böckel hatten sie noch nichts in Erfahrung
gebracht. Rudolf Grovian ging davon aus, dass Böckel
derjenige war, der aus Norddeutschland stammte. Aber
wenn Hans Böckel jemals Verbindung zu einem Haus in
Hamburg gehabt hatte, gemeldet war er dort nicht
gewesen. Und ein Studienfreund von Frankenberg konnte
er auch nicht gewesen sein. Es gab keine entsprechende
Einschreibung an der Universität.
Stattdessen gab es eine Erklärung von Georg
Frankenbergs Vater. Mit der Mutter hatte Rudolf Grovian
nicht reden können. Sie hatte einen Schock erlitten. Und
Professor Johannes Frankenberg wusste mit den Namen
Denner und Böckel nichts anzufangen. Das mit der Musik
247
sei nur eine kurze Episode gewesen, eine Laune, die ein
paar Wochen vorhielt. Georg habe damals rasch
eingesehen, dass seine Zeit zu kostbar sei für Spielereien.
Und im Mai vor fünf Jahren hatte sich Georg
Frankenberg daheim aufgehalten. In Vaters Privatklinik,
wo er einen Armbruch kurierte. Gebrochen hatte sich
Georg Frankenberg den Arm am 16. Mai, das ging aus den
Unterlagen der Klinik hervor. Genau der Tag, an dem
Cora Bender ihm – von ihrer ersten Version ausgehend, in
die der Leichenfund so hübsch hineingepasst hätte –
abends in einem Lokal in Buchholz näher gekommen sein
wollte.
Nach den Angaben seines Vaters war Georg
Frankenberg übers Wochenende heimgekommen, am
Freitagabend eingetroffen, am Samstagmorgen
unglücklich gestürzt. Doch Glück im Unglück, es war ein
unkomplizierter Bruch, und es waren nur ein paar Meter
vom Privathaus zu Vaters Klinik. Da musste man nicht
einmal einen anderen Arzt bemühen.
Dem Staatsanwalt genügte die Aussage von Professor
Johannes Frankenberg, um Cora Benders Rückzug als
Besinnung auf die Wahrheit zu nehmen. Rudolf Grovian
genügte es nicht. Ihn hatte der Zeitpunkt des Armbruchs
förmlich elektrisiert. Unterlagen ließen sich manipulieren,
wenn man Chef in der eigenen Klinik war und wusste,
dass der Sohn Dreck am Stecken hatte. Ausgerechnet der
16. Mai! Ein anderes Datum hätte ihn kaum stutzig
gemacht. Aber …
«Professor Frankenberg ist ein honoriger Mann»,
erklärte er ihr. «So leicht wird er nicht zu widerlegen sein.
Wir können nur hoffen, dass Ottmar Denner und Hans
Böckel Ihre Angaben bestätigen, wenn wir die beiden
ausfindig machen.»

248
Bis dahin hatte sie nur zugehört, ihn zum Teufel
gewünscht und ihn insgeheim bewundert für seine
Hartnäckigkeit. Er machte vor nichts Halt, schreckte vor
nichts zurück, nicht einmal davor, den Vater ihres Opfers
zu belästigen.
Als er von dem silberfarbenen VW-Golf GTI sprach,
war Panik aufgestiegen. Aber sie hatte sich rasch wieder
beruhigt. Es musste ein Zufall sein, dass Johnnys Freund
den gleichen Wagen gefahren hatte wie ein Freund von
Georg Frankenberg. Es war eben ein typisches Junge-
Männer-Auto. Der Chef schaute sie abwartend und
aufmerksam an.
«Niemand kann Ihnen etwas bestätigen», sagte sie. «Ich
habe Ihnen ein Märchen erzählt.»
Rudolf Grovian hatte ihre Stimme seit zwei Tagen nicht
gehört. In seiner Erinnerung war sie noch fest, feindselig,
kalt und gleichgültig wie vor dem Haftrichter. Der raue,
völlig emotionslose Klang und ihre geduckte, in sich
gekehrte Haltung mahnten zur Vorsicht.
Bedächtig schüttelte er den Kopf. «Nein, Frau Bender,
Märchenfiguren legen keine Leichen in der Nähe eines
militärischen Sperrgebietes ab. Ich habe das Mädchen
gefunden, das mit Ihnen im Keller war. Ein totes Mädchen
mit zwei gebrochenen Rippen, Frau Bender. Und Sie
haben gehört, wie die Rippen brachen.»
Das hatte er sich für den Schluss aufgehoben, ein Schuss
ins Blaue für den Fall, dass sie sich auf nichts einließ.
Vielleicht nur ein kleiner Knallfrosch. Wenn sie
tatsächlich erst im August und nicht schon im Mai … war
die Leiche für ihn bedeutungslos. Aber ein Knallfrosch
schien es ihrer Reaktion nach nicht zu sein, eher eine
Leuchtrakete. Von einer Sekunde zur anderen erwachte sie

249
zum Leben. Er sah, wie sie nach Atem rang, ehe sie
ausstieß: «Lassen Sie mich doch in Ruhe mit dem
Blödsinn! Denken Sie nach, Mensch. Ich kann überhaupt
nichts gehört haben bei dem Krach. Wenn es so gewesen
wäre, wie ich es Ihnen erzählt habe. Es war nicht so. Aber
nehmen wir mal an, es wäre. Dann wären da fünf Leute
gewesen und laute Musik. Ich weiß nicht, wie es sich
anhört, wenn Rippen brechen. Aber so laut kann es nicht
sein.»
Ihre Hände begannen zu zittern. Sie umklammerte die
linke mit der rechten. Er kannte das noch aus der Nacht.
Es waren die ersten Alarmsignale. Oder – nach den
bisherigen Erfahrungen mit ihr wollte er es lieber so
bezeichnen – die Vorboten einer Wahrheit, mit der sie
nicht konfrontiert werden wollte. Sein Verstand schaltete
auf höchste Aufmerksamkeit, hob gleichzeitig mahnend
den Finger: «Hör auf, Rudi. Überlass es den Ärzten.» Sein
Herz holperte ein wenig.
«Sie sind ein …», fauchte sie heiser. Der treffende
Ausdruck schien ihr zu fehlen oder war ihr vielleicht zu
ordinär. Stattdessen erkundigte sie sich: «Finden Sie es
eigentlich in Ordnung, was Sie machen? Sie laufen herum
und belästigen seinen Vater. Das ist eine
Unverschämtheit! Es muss schlimm für den armen Mann
sein. Hat er noch mehr Kinder?»
Er schüttelte den Kopf und beobachtete ihr wechselndes
Mienenspiel, das Reiben und Kneten der Hände. Ihre
Stimme brach, die Schultern sackten nach unten, ihr Kopf
ebenfalls.
«Dann müssen Sie ihn in Ruhe lassen. Was passiert ist,
ist passiert. Es ist keinem Menschen geholfen, wenn Sie
herausfinden, dass ein Mädchen gestorben ist. Gut, es ist
eins gestorben. Aber ich habe damit nichts zu tun. Ich
habe nur den Mann auf dem Gewissen.»
250
Als sie den Kopf wieder hob und ihm ins Gesicht
schaute, überlief ihn ein Frösteln. Da war etwas in ihrem
Blick. Er brauchte ein paar Sekunden, eher er es einordnen
konnte. Und er schaffte es nur, weil ihre Worte seinen
Eindruck unterstrichen. Irrsinn!
«Einen unschuldigen Mann», sagte sie. «Und er wird
nicht am dritten Tag auferstehen. Er wird schwarz werden,
Würmer bekommen und wegfaulen. Wenn Sie seinen
Vater unbedingt belästigen müssen, dann sagen Sie ihm, er
soll ihn verbrennen lassen. Werden Sie das tun? Sie
müssen es tun. Und Sie müssen mir etwas versprechen.
Wenn es mich erwischt, eines Tages, ich will nicht
verbrannt werden. Sorgen Sie dafür. Ich will ein anonymes
Grab. Sie können mich auch bei einem
Truppenübungsplatz ablegen. Legen Sie mich einfach
neben das Mädchen.»
Truppenübungsplatz, dachte er. So hatte er es nicht
bezeichnet. Aber er hakte nicht nach. Ihn fröstelte immer
noch unter ihrem Blick. Das konnte doch nicht sein! Sie
war völlig Herrin ihrer Sinne gewesen, bis zum
Sonntagmittag aufgewühlt, zeitweise verwirrt unter dem
Gewicht ihrer Tat und fest entschlossen, die Konsequenz
zu ziehen, aber nicht verrückt. Und dass sie in den beiden
Tagen den Verstand verloren haben sollte … Nein, das
war unmöglich. Sie war nur am Ende.
Er wechselte das Thema, begann von ihrem Kind zu
sprechen in der Hoffnung, damit so etwas wie Kampfgeist
in ihr zu wecken. Ein Junge von zwei Jahren! Ob sie nicht
auch finde, dass ein so kleines Kind seine Mutter
brauchte?
«Wer braucht denn die Pest?», hielt sie dagegen.
«Niemand», sagte er. «Und es braucht auch niemand
Würmer oder die Schwänze von Wölfen oder Tigern im

251
Bauch. Es tut mir Leid, Frau Bender, ich hatte gehofft, wir
beide könnten miteinander reden wie normale Menschen.
Aber wenn Sie nicht können oder wollen, ich verstehe das.
Ich bin wahrscheinlich auch nicht der richtige Mann für
Ihre Probleme. Dafür sind Experten zuständig. In den
nächsten Tagen kommt wohl einer.»
«Was heißt das?», wollte sie wissen. Und bevor er ihr
antworten konnte, wurde sie heftig. «Ich will mit Experten
nichts zu tun haben. Hetzen Sie mir bloß keinen Psychiater
auf den Hals. Ich sage Ihnen was: Wenn so einer hier
auftaucht!»
Was dann passieren sollte, erklärte sie nicht, brach
mitten im Satz ab, wischte sich mit einem Handrücken
über die Stirn und lächelte. «Ach, was rege ich mich denn
auf! Ich muss doch mit keinem reden. Bestimmt nicht mit
einem Psychiater. Hören Sie: Von mir aus können Sie mir
ein Dutzend Weißkittel herschicken. Aber sagen Sie
ihnen, sie sollen sich ein Kartenspiel mitbringen, damit
ihnen die Zeit nicht lang wird.»
Ihr Ausbruch wirkte auf ihn befreiend. Er blieb
unverändert freundlich, erkundigte sich, ob sie lieber mit
einer Frau reden möchte, statt mit einem Mann. Vielleicht
könne er da etwas für sie erreichen. Sie antwortete ihm
nicht mehr.
Er wollte sich verabschieden und ging auf die Tür zu mit
den Worten: «Ich kann nicht verhindern, dass ein
psychologischer Sachverständiger hinzugezogen wird. Das
ist eine Entscheidung des Staatsanwalts. Und ich finde, es
ist eine gute Entscheidung.»
Damit brach das Eis endgültig.
«Sie finden!», fauchte sie ihn an und stellte sich ihm in
den Weg. «Ihnen ist auch jedes Mittel recht. Zuerst setzen
Sie mich mit meiner Familie unter Druck und jetzt mit

252
Ihrem verfluchten Sachverständigen. Bilden Sie sich ein,
der bekäme mehr aus mir raus als Sie? Ich weiß, was Sie
hören wollen. Bitte schön, das können Sie haben. Sparen
wir dem Staat ein paar Mark. So ein Sachverständiger will
ja bezahlt werden. Und er hat bestimmt einen anderen
Stundenlohn als ein Installateur. Es soll doch später nicht
heißen, ich hätte unnötige Kosten verursacht.»
«Sie müssen mir nichts sagen, Frau Bender.»
Sie stampfte mit dem Fuß auf. «Jetzt will ich aber,
verdammt nochmal. Jetzt will ich, und Sie werden mir
zuhören. Wollen Sie mitschreiben, oder können Sie sich
das so merken? Frankies Vater hat Sie nicht belogen. Ich
habe Frankie nicht im Mai kennen gelernt, das war später.
Vielleicht war es im August, ich weiß es nicht mehr
genau. Ich hing schon eine Weile an der Nadel, war
ständig im Tran und habe nicht auf den Kalender
geachtet.»
Sie schniefte und tupfte mit den Fingerspitzen unter ihre
Augen. «Haben Sie vielleicht ein Päckchen Papiertücher
für mich? Ich habe hier schon darum gebeten, aber die
haben es vergessen. Vielleicht kostet es was, ich habe kein
Geld dabei.»
Er kramte in seinen Taschen, fand ein angebrochenes
Päckchen und reichte es ihr. Sie nahm eins der Tücher
heraus, tupfte damit flüchtig die Augen ab und steckte es
sorgfältig zurück zu den anderen. Dabei lächelte sie ihn
an. «Danke. Und entschuldigen Sie, wenn ich ein bisschen
laut geworden bin. Es war nicht so gemeint. Ach, Quatsch,
natürlich war es so gemeint. Es ist ein beschissenes
Gefühl, wenn man nicht einmal mehr das Recht hat, den
eigenen Dreck unter dem Teppich zu lassen. Es ist ein
großer Haufen Dreck, das sage ich Ihnen lieber gleich.»
Er lächelte ebenfalls. «Ich habe bestimmt schon größere

253
gesehen.»
Sie zuckte mit den Achseln. «Mag sein, aber ich nicht.»
Dann strafften sich ihre Schultern. «Also», begann sie,
«es war wahrscheinlich im August. Ich habe zuerst Mai
gesagt, weil ich mich geschämt habe. Ich habe mich
nämlich gleich am ersten Abend mit ihm eingelassen und
mich an ihn rangehängt wie eine Klette. Er hatte Stoff, und
er hatte Geld genug, um mich regelmäßig mit dem Zeug
zu versorgen. Da brauchte ich mir darum selbst keine
Gedanken mehr zu machen. Als Gegenleistung verlangte
er, dass ich mit ihm schlief. Das war in Ordnung, das habe
ich freiwillig getan. Aber nach ein paar Wochen wollte er,
dass ich auch mit seinen Freunden schlafe.»
Sie lachte bitter. «Ich hab’s getan. Ich hab alles getan,
was er von mir verlangte. Er wollte zusehen, zusammen
mit dem Mädchen. Ich weiß nicht, wie sie hieß, wirklich
nicht. Aber das ist auch gar nicht wichtig. Es war so eine
dämliche Kuh, die er sich von zu Hause mitgebracht hatte.
Er hat ihr nichts getan. Er hat sie bestimmt nicht
geschlagen. Ich habe mir nur gewünscht, dass er es tut. Er
war sehr verliebt in sie und wollte ihr zeigen, was für ein
toller Kerl er ist, dass er alles mit mir machen kann.»
«War das auch im August?»
Sie schüttelte den Kopf. «Nein, im Oktober.»
«Und wo waren Sie mit ihm? Daheim waren Sie nicht.»
Wieder schüttelte sie den Kopf. «Ich war mal hier, mal
da. In Hamburg oder Bremen, meist habe ich auf der
Straße geschlafen. Manchmal hat er mir Geld gegeben für
ein Zimmer. Er kam am Wochenende, dann sind wir
rumgezogen. Und einmal waren wir in diesem tollen Haus.
Das war an dem Abend, als es passiert ist.»
«Was genau ist denn passiert?» Er wusste nicht, ob er ihr
glauben durfte. Sie sprach ruhig und beherrscht, mit einem
254
Unterton von Resignation. Es klang nach Wahrhaftigkeit.
«Ich war schwanger von ihm. Und er sagte, wenn ich
tue, was er will, besorgt er einen guten Arzt, der alles in
Ordnung bringt. Ich habe ein bisschen geheult, aber ich
wusste, dass es nicht viel Sinn hatte. Also habe ich
nachgegeben.»
Noch einmal lachte sie auf, es war eher ein Schluchzen.
Ihr Blick irrte wie gehetzt durch den kleinen Raum,
mehrfach strich sie fahrig über ihre Stirn. «Wissen Sie,
wie ich mich gefühlt habe? Da liege ich auf dem Boden
und lasse mich von den beiden Typen besteigen. Und
diese Schlampe sitzt mit ihm auf der Couch und verlangt,
dass ich nochmal und diesmal mit beiden gleichzeitig …»
Sie würgte und brauchte ein paar Sekunden, ehe sie
weitersprechen konnte. «Sie sagte: Verdirb uns nicht den
Spaß, Schätzchen. Und dann sagte sie zu einem von den
beiden: Gib ihr eine Prise, das entspannt.»
Sie schüttelte sich, dann fand ihr Blick endlich den Weg
zu seinem Gesicht. Ihre Stimme klang wieder fest und
beherrscht. «Sie haben mich festgehalten und mit Stoff
voll gepumpt. Ich dachte, sie wollten mich umbringen mit
dem Zeug. Ich habe mich gewehrt. Da haben sie mich
geschlagen und getreten, auf den Kopf und in den Bauch.
Und dann fing ich plötzlich an zu bluten. Da haben sie
wohl Angst bekommen und sind alle abgehauen. Mich
haben sie liegen lassen. Irgendwie habe ich es geschafft,
auf die Straße zu kommen. Und da bin ich dann vor das
Auto gelaufen. Und mein einziges Glück bei der Sache
war: der Mann, der mich anfuhr, war Arzt. Er sah, dass ich
eine Fehlgeburt hatte. Er sah auch, dass ich high war. Aber
das reicht jetzt wirklich. Als Nächstes fragen Sie doch
wieder nach seinem Namen. Und den werden Sie von mir
nie erfahren.»
«Warum nicht, Frau Bender? Der Mann hat sich doch in
255
keiner Weise strafbar gemacht. Und so wie es im Moment
aussieht, wäre er der Einzige, der Ihre Geschichte
bestätigen könnte.»
Sie schaute wieder an ihm vorbei zur Wand und
murmelte:
«Das wird er bestimmt nicht. Er wird behaupten, dass er
mich nie gesehen hat.»
«Warum sollte er das behaupten?»
«Weil er ein Schwein war. Er hat mich angefasst, da
wusste ich noch gar nicht, worum es ging. Da dachte ich
noch, er will mich nur untersuchen. Einmal wurde ich
nachts wach, da onanierte er neben mir. Und vorher hatte
er mich befummelt. Wollen Sie noch mehr wissen?»
Er sah, wie sie die Hand um das kleine Päckchen presste,
wie ihre Augen zu glänzen begannen. «Er war ein geiler
alter Bock», stieß sie hervor. «Wenn er im Zimmer war,
roch alles nach Schweiß. Ich sage Ihnen was! Wenn ich
diesem Schwein jemals wieder ins Gesicht sehen muss,
und das muss ich, wenn ich seinen Namen nenne, ich
werde ihn ebenso abstechen wie Frankie. Und wenn der
Gerichtssaal voller Polizisten steht, niemand wird mich
daran hindern. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe.»
Sie drehte sich um, legte einen Arm gegen die Wand und
verbarg ihr Gesicht darin. Sie weinte. Es war das erste
Mal, dass er sie weinen sah. Es war ein Reflex, dass er ihr
die Hand auf die Schulter legte, ein Bedürfnis, etwas
Tröstliches zu tun oder zu sagen. Sie schüttelte seine Hand
ab und schluchzte:
«Hauen Sie bloß ab, Mensch. Sie haben keine Ahnung,
was passiert, wenn ich mit Ihnen rede. Es kommt alles
zurück. Es wird alles lebendig. Ich halte das nicht aus.
Jetzt gehen Sie doch. Verschwinden Sie. Und lassen Sie
meinen Vater in Ruhe. Er ist ein alter Mann, er ist krank,

256
er ist … Er hat mir nie etwas getan. Er konnte doch nichts
dafür, dass er in seinem Alter noch Bedürfnisse hatte. Es
war alles nur meine Schuld.»

257
9. Kapitel

Es waren die Süßigkeiten. Darüber hatte ich nicht


nachgedacht, wenn ich mich voll stopfte, dass sich das
Zeug irgendwo niederschlagen musste. Als ich dreizehn
war, wurde es offensichtlich. Ich hatte Fett angesetzt.
Babyspeck, sagte Margret und zog mich damit auf, wenn
sie zu Besuch kam. Ich wollte nicht dick sein und
versuchte, das Zeug wegzulassen. Nur war das nicht so
einfach, weil ich nicht mit dem Klauen aufhören konnte.
Beim Geld wurden die Beträge immer größer.
Manchmal saß ich im Schuppen und zählte es. Dann stellte
ich mir vor, dass ich damit eines Tages weggehen könnte,
weit weg. Ich weiß noch, als ich
eintausendzweihundertachtundsiebzig Mark
zusammenhatte, nahm ich das Kleingeld, ging zum
Bahnhof und fragte, was eine Fahrkarte nach Hamburg
kostet. «Ich will sie jetzt nicht kaufen», sagte ich. «Ich
will es nur wissen.»
Der Mann am Schalter fragte: «Einfach oder retour?»
«Einfach», sagte ich. «Ich komme nie zurück. Und
können Sie mir auch sagen, was eine Fahrt auf einem
Schiff kostet?»
Er lachte: «Kommt darauf an, wohin man will. Fliegen
ist schneller. Allerdings muss man für jedes Kilo
Übergewicht extra zahlen.»
Übergewicht, dachte ich, als ich vom Schalter wegging.
Und mit den acht Mark ging ich in die Eisdiele und
schlang einen großen Fruchtbecher mit Schlagsahne in
mich hinein. Anschließend ging ich aufs Klo und steckte
mir einen Finger in den Hals. Das machte ich von da an

258
jedes Mal, wenn ich etwas Süßes gegessen hatte.
Magdalena meinte, ich müsse unbedingt damit aufhören.
«Das ist eine Krankheit», sagte sie. «Da sind schon
welche dran gestorben. Kauf dir lieber andere Sachen für
das Geld.»
Sie dachte, es sei nur das Taschengeld, das ich von Vater
bekam. «Schicke Klamotten», sagte sie. «Die kannst du
auch im Schuppen verstecken. Dann ziehst du dich um,
wenn du rausgehst und bevor du wieder reinkommst.
Wenn du etwas Schickes zum Anziehen hast, das wirst du
sehen, dann kannst du dich auch wieder leiden.»
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Kleider etwas
änderten. Ich war viel zu dick, fand mich hässlich und
machte immer noch das Bett nass. Nicht mehr jede Nacht,
aber oft, obwohl ich längst nicht mehr von dem Wolf
träumte. Ich wurde einfach nicht wach, wenn ich mal
musste.
Meist merkte ich erst, dass wieder alles feucht war, wenn
Vater sich darum kümmerte. Er stand oft auf, zwei-,
dreimal die Nacht. Und sein erster Schritt war immer der
zu meinem Bett. Und sein erster Griff war immer unter
meine Decke.
Manchmal wunderte ich mich, dass er so geduldig mit
mir war, dass er nie schimpfte, nie ein Wörtchen darüber
verlor. Mein Bett stank, unser ganzes Zimmer stank, weil
meine Matratze so oft nass und nie richtig trocken wurde.
Im Sommer stellte ich sie tagsüber hochkant vors Fenster.
Und dann kaufte ich mir ein Gummituch.
Irgendwie wurde ich nur außen erwachsen, aber da
gründlich. Ich bekam einen Busen und Haare unter den
Achseln, unten auch. Wenn Vater zur gleichen Zeit wie
ich ins Bett ging, schämte ich mich. Ich mochte mich nicht
mehr ausziehen, wenn er dabei war. Er merkte das nicht.

259
Wenn ich ins Bad ging, um mich dort auszuziehen, kam er
hinterher, weil er mir noch etwas erzählen wollte. Wenn
auf der Arbeit etwas Besonderes gewesen war oder mit
dem Auto. Mit Mutter konnte er nicht über solche Dinge
reden, da besprach er eben alles mit mir. Das fand ich
auch toll, aber dass er mir beim Ausziehen zuschaute, war
mir nicht recht.
Dann bekam ich auch noch meine Periode. Ich wusste
nicht viel über das, was mit mir passierte. Natürlich war
ich aufgeklärt, das war in der Schule geschehen. Die rein
biologische Seite, wie man schwanger wird. Margret hatte
auch mal mit mir darüber gesprochen. Aber sie hatte sich
im Großen und Ganzen nur vergewissert, dass mich die
erste Blutung nicht unvorbereitet traf.
Als Margret mit mir darüber sprach, wusste ich längst,
was auf mich zukam. Mutter hatte mich gründlich
instruiert. Dass ich mich hüten müsse, einem Mann das
Tor der Hölle zu öffnen. Dass mich nun bald der Fluch
Evas träfe. Ein Fluch war es auch.
Ich hatte scheußliche Krämpfe, wenn die Blutung
einsetzte. Schon Tage vorher war ich nervös, ich fühlte,
dass es kam, und hätte mich am liebsten in eine Ecke
verkrochen. Aber ich musste zur Schule. Und ich mochte
mich nicht vom Sport befreien lassen, damit es nicht
auffiel.
Ich fragte Grit Adigar, was ich tun könnte, wenn wir
Schwimmen hätten. Das ging immer abwechselnd, die
eine Woche Sport in der Turnhalle, die zweite Woche
Schwimmen. Ich konnte doch nicht mit einer Binde ins
Wasser. Grit schlug vor, ich solle Tampons benutzen. Sie
erklärte mir, wie man damit umging. Ich fand es widerlich,
aber ich tat es und wusch mir danach die Hände mit
heißem Wasser, bis sie dick und rot waren.

260
Die anderen Mädchen in meiner Klasse waren begeistert
von der Sache. Sie hielten sich für erwachsen und gaben
damit an. Sie sagten es auch, wenn Jungs dabei waren.
«Ich habe gerade meine Tage.» Die Jungs schien das
anzumachen.
Dann passierte das mit der Zeitung. Ich hatte sie auf dem
Schulhof bei einem Mädchen gesehen. «Bravo, die
Zeitschrift für junge Leute». Natürlich musste ich sie
sofort haben. Ich versteckte sie im Schuppen. Und
nachmittags, als Magdalena ruhen musste, las ich darin. Es
waren eine Menge Artikel, die mich interessierten. Über
Musik, Sänger und Rockgruppen, über Schauspieler und
wie man sich richtig schminkt. Es waren auch Briefe
abgedruckt, von Leuten, die einen Rat haben wollten.
Da war ein Brief von einem Mädchen, das war nur ein
Jahr älter als ich, es hatte aber schon einen Freund. Er
hatte ein eigenes Zimmer, da waren sie ungestört. Er fasste
sie an, wenn sie allein waren, schob seinen Finger in ihr
Höschen. Dabei wurde sein Glied steif und ihr Höschen
feucht. Und das Mädchen wollte wissen, ob das in
Ordnung sei. Es schämte sich für die Feuchtigkeit, aber
der Freund fand sie schön. Er war schon etwas älter.
Siebzehn, glaube ich.
In der Antwort auf den Brief hieß es, das feuchte
Höschen sei normal, das müsse so sein. Für einen Mann
sei die Feuchtigkeit ein Zeichen sexueller Erregung der
Frau. Er wüsste dann, dass sie bereit sei für den Verkehr.
Mein Gott, habe ich mich geschämt. Ich fragte mich,
was Vater wohl von mir dachte. Ob er glaubte, dass ich
ihn damit anmachen wollte. Mir wurde richtig schlecht. Es
war plötzlich alles ganz anders, es war alles verkehrt.
Als Vater an dem Abend nach Hause kam, musste ich
sofort hinausgehen. Ich konnte nicht mit ihm in der Küche

261
sitzen. Schon als er hereinkam, fühlte ich, dass mein
Gesicht heiß wurde. Er merkte, dass etwas nicht mit mir
stimmte. Magdalena merkte es auch. Vater fuhr nach dem
Essen nochmal weg. Mutter ging ins Wohnzimmer. Ich
kümmerte mich um den Abwasch. Magdalena blieb bei
mir in der Küche und wollte wissen, was eben mit mir los
gewesen sei. «Du hattest plötzlich einen Kopf wie eine
Tomate.»
Ich erzählte ihr von dem Brief. Zuerst nur davon. Sie
dachte, ich hätte einen Freund, und drängte, dass ich ihr
mehr erzählte. Alles, was wir bisher gemacht hätten.
«Mich hat noch nie ein Junge so angefasst», sagte ich.
«Und mich wird auch nie wieder einer so anfassen.»
«Was heißt, nie wieder?», fragte sie. «Dann hat doch
schon einer! Jetzt stell dich nicht so an, Cora. Komm,
erzähl es mir.»
Ich wollte nicht. Aber sie drängte so lange, bis ich es ihr
schließlich doch sagte. Sie hörte mir aufmerksam zu, und
als ich fertig war, meinte sie: «Zeig mir mal genau, wie er
dich angefasst hat.»
Nachdem ich es ihr gezeigt hatte, lachte sie mich aus.
«Das zählt nicht! Darüber brauchst du dich nicht
aufzuregen. Er hat nur gefühlt, ob du ins Bett gepinkelt
hast. Da ist nichts dabei, immerhin ist er dein Vater. Das
ist genauso, als ob Mutter oder ein Arzt dich anfassen.
Überleg mal, wie oft Mutter bei mir da unten rumfummelt,
wenn sie mir einen Einlauf macht oder mich wäscht. Da
müsste sie ja lesbisch sein, wenn was dabei wäre. Und die
Ärzte erst, das kannst du dir nicht vorstellen. Wenn die
eine Urinprobe brauchen, warten sie nicht, bis ich aufs Klo
muss. Sie schieben mir einfach einen Katheter rein. Nein,
glaub mir, Vater hat nichts Schlimmes getan. Missbraucht
werden ist ganz anders.»

262
Das wusste sie von einer jungen Frau, mit der sie mal in
der Klinik zusammen in einem Zimmer gelegen hatte. Die
Frau war auf den Strich gegangen, gefixt hatte sie auch
und eine Menge gesoffen. Nun war ihre Leber kaputt. Sie
hatte Magdalena erzählt, das habe sie ihrem Vater zu
verdanken. Er habe sich schon über sie hergemacht, da sei
sie noch nicht zur Schule gegangen. Zuerst mit dem Finger
und dann richtig.
«Das hat er doch nicht gemacht, oder?», wollte
Magdalena wissen.
Ich schüttelte den Kopf.
«Siehst du», meinte sie. «Du brauchst dir wirklich keine
Sorgen zu machen. Wenn du mir nicht glaubst, frag
Margret.»
Das mochte ich nicht. Wenn Vater nichts Schlimmes
getan hatte, warum hätte ich Margret fragen sollen? Dass
ich etwas Schlimmes gedacht hatte, war mein Problem.
Ich dachte auch, dass Vater ein alter Mann sei, viel zu alt,
um so etwas noch zu tun. Welch ein Irrtum.

Das waren die wahren Sünden, die Begierden des


Fleisches. Es ging nicht um ein Stück Rinderbraten. Es
ging um einen alten Mann, der seinen Trieb nicht unter
Kontrolle bekam. Der sich mir bereits zu erkennen
gegeben hatte, wie Mutter es ausdrückte, als ich noch
nicht wusste, dass es zwei verschiedene Sorten Mensch
gab. Und als ich es dann genau wusste, passierte es
wieder.
Im April, drei Wochen bevor ich vierzehn wurde, wachte
ich nachts auf. Ich musste zur Toilette. Im ersten Moment
war ich nur glücklich, dass es nicht schon ins Bett
gelaufen war. Ich ging im Dunklen zum Bad, dass Vater
nicht im Bett lag, fiel mir nicht auf. Im Bad machte ich das

263
Licht an, und da stand er vor dem Waschbecken. Seine
Schlafanzughose hing ihm um die Füße. Die Unterhose
hatte er auch heruntergelassen. Er hielt sein Glied mit der
Hand fest und bewegte die Hand rauf und runter. Ich
wusste, was er tat. Die Jungs in der Schule sagten wichsen
dazu.
Den Ausdruck fand ich ordinär. Und dass mein Vater es
tat, nachdem ich mich entschlossen hatte, ihn als
harmlosen alten Mann zu sehen, war ungeheuerlich. Und
noch ungeheuerlicher war, ich konnte nicht anders, ich
musste ihm zusehen. Und am allerschlimmsten war: er
musste mich bemerkt haben, wo ich doch die Tür geöffnet
und das Licht eingeschaltet hatte. Aber er machte einfach
weiter. Und sein Gesicht dabei, die Töne, die er von sich
gab, es war abstoßend.
Plötzlich fuhr er zu mir herum. «Mach, dass du ins Bett
kommst!», brüllte er. «Was hast du hier herumzugeistern
wie ein Gespenst?»
Ich schrie zurück: «Ich muss mal!»
«Dann pinkel ins Bett», brüllte er. «Das machst du ja
sonst auch.»
Er war so laut, dass er zwangsläufig Mutter und
Magdalena aufwecken musste. Aber das kümmerte ihn
nicht. Ich fand es gemein von ihm, dass er es durchs ganze
Haus schrie. Ich konnte doch nichts dafür, dass ich ins
Bett machte. Er sagte immer, dass ich nichts dafür könne.
«Das sind die Tränen der Seele», sagte er. Und danach
ging er ins Bad. Vielleicht aus demselben Grund wie in
dieser Nacht.
Ich lief zurück ins Zimmer und warf mich aufs Bett.
Dass ich mal aufs Klo musste, hatte ich vergessen. Ein
paar Minuten später kam er mir nach. Er setzte sich zu mir
und strich mir über den Kopf. Er hatte sich die Hände

264
gewaschen. Ich roch die Seife.
Er starrte mich an, als wolle er mich schlagen.
Stattdessen fing er an zu weinen und stammelte: «Es tut
mir Leid.» Er heulte wie ein Dreijähriger, der sich das
Knie aufgeschlagen hat. Das fand ich beinahe noch
widerlicher als das andere. Nachdem er sich wieder
beruhigt hatte, meinte er: «Ich hoffe, dass du es verstehst,
wenn du älter wirst. Man kommt nicht gegen die Natur an.
Was soll ich denn machen? Es gibt Frauen, die lassen sich
dafür bezahlen. Aber dann ist es nur ein Geschäft. Wenn
ich allein bin, kann ich mir wenigstens vorstellen, es wäre
eine bei mir, die mich liebt. Jeder Mensch braucht das
Gefühl, dass er geliebt wird, auch ein alter.»
«Ich hatte dich früher sehr lieb», sagte ich und hätte am
liebsten auch geheult.
Wie ich befürchtet hatte, waren Mutter und Magdalena
von dem Lärm aufgewacht. Morgens beim Frühstück
schaute Mutter mich zwar komisch an. Aber sie fragte
nicht, was los gewesen wäre. Als ich mittags aus der
Schule kam, wollte Magdalena es wissen und drängte
jedes Mal, wenn Mutter die Küche verließ: «Erzähl doch!
Was hat er gemacht? Ist er dir jetzt doch mit dem Finger
reingegangen? Oder hat er ihn dir richtig reingesteckt?»
Ich schüttelte den Kopf. Was wirklich passiert war,
mochte ich ihr nicht erzählen. Das war auch nicht nötig.
Magdalena konnte sich denken, was ich gesehen hatte. Sie
wusste schon lange, warum er nachts ins Bad schlich.
Vater hatte oft an die Tür nebenan geklopft und zu
Mutter gesagt, dass er es jetzt wieder so mache wie der
Typ aus der Bibel, der seinen Samen auf die Erde spritzte.
Ob sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren könne, dass er
ständig auf diese Weise sündigen müsse.
Magdalena amüsierte sich darüber. «Er ist noch ziemlich

265
munter, unser alter Knabe. Aber das sind viele in dem
Alter. Die Alten sind oft die Schlimmsten, das kannst du
mir glauben. Vor allem, wenn sie nicht können, wie sie
wollen. Jetzt erzähl doch mal. Hast du wirklich genau
gesehen, wie er es gemacht hat?»
Ich konnte nicht darüber sprechen. Tagelang war ich
völlig durcheinander. Und nachts erst! Vater kam ein paar
Tage lang sehr spät heim. Meist lag ich schon eine Weile
im Bett und konnte nicht schlafen. Manchmal dachte ich,
ich sollte ihm vielleicht etwas Nettes sagen, wenn er
endlich käme. Dass ich ihn immer noch lieb hätte. Ich
hatte ihn schon so oft wegen anderer Dinge belogen, es
wäre nicht darauf angekommen.
Aber wenn ich seine Schritte auf der Treppe hörte, wenn
er die Türklinke drückte, merkte ich, wie mein Bauch hart
wurde, kalt und steif wie ein Stein, gegen den man nicht
anatmen kann. Dann konnte ich nichts sagen. Dann tat ich
so, als ob ich schliefe und lauerte darauf, was er tat. Ob er
noch einmal aufstand, zu mir kam oder ins Bad ging.
Ich wünschte mir, es könnte noch einmal so sein wie
früher, wo ich sogar in seinem Bett geschlafen hatte. Wo
er nichts weiter gewesen war als mein Vater. Plötzlich war
er das nicht mehr, er war nur noch ein widerlicher alter
Mann, der sich selbst befriedigte. Und die Jungs in der
Schule sagten, dabei müsse man an nackte Weiber denken.
Woran Vater gedacht hatte, begriff ich drei Wochen
später.
Da saßen wir sonntags beim Essen, und plötzlich sagte
er zu Mutter: «Ich trage gleich mein Bettzeug rüber. Hier
wird jetzt getauscht. Das sind ja keine Zustände so.»
Mutter war natürlich nicht einverstanden. Und er schrie
sie an: «Worüber regst du dich noch auf nach all den
Jahren?! Du bildest dir doch nicht etwa ein, dass mich

266
dein schrumpliger Hintern noch reizen könnte? Da mach
dir nur keine Sorgen. Mir ist ein saftiges Stück Fleisch
lieber. Und so eins möchte ich nicht Nacht für Nacht in
greifbarer Nähe haben. Ich möchte nicht derjenige sein,
der das zweite Lamm opfert. Wenn das hier so weitergeht,
kann ich für nichts garantieren. Und jetzt komm mir nicht
mit Magdalena. Wenn es da mal Ernst wird, machst du
auch nichts mehr, und wenn du hundertmal
danebenliegst.»
An dem Abend musste er noch einmal bei mir schlafen.
Mutter ging mit Magdalena etwas früher als üblich hinauf
und schloss die Zimmertür von innen ab. Am nächsten
Tag nahm Vater ihr den Schlüssel weg und trug sein
Bettzeug hinüber.
Magdalena kam zu mir ins Zimmer. Wochenlang war
deswegen dicke Luft im Haus. Dann begriff Mutter
endlich, dass ihre Keuschheit nicht in Gefahr war und ich
mit Magdalena zurechtkam. In den ersten Nächten hatte
ich zwar Angst. Ich war dieses komische Atmen nicht
gewohnt. Magdalena lachte mich aus. «So atme ich
immer. Es fällt dir tagsüber nur nicht auf.»
Nach ein paar Wochen fand ich es toll, dass sie bei mir
war. Sie genoss es auch. Meist brachte ich sie nach dem
Abendessen hinauf. Sie ließ sich lieber von mir helfen als
von Mutter. Tragen konnte ich sie nicht, das hatte Mutter
auch schon lange nicht mehr gekonnt. Aber wenn man
sehr langsam mit ihr ging, reichte es aus, wenn man sie
gut stützte. Sogar die Treppe schaffte sie, sie brauchte nur
nach jeder Stufe eine Pause.
Ich hielt sie fest, wenn sie sich die Zähne putzte. Das
wollte sie lieber allein tun. Waschen musste ich sie dann.
In der Wanne baden durfte sie nicht mehr. Früher hatte
Mutter sie reingesetzt und auch wieder rausgehoben. Als
sie größer wurde, hatte Vater einen Stuhl gekauft mit
267
einem großen Loch in der Sitzfläche und einer Schüssel
darunter. Das ging gut so. Man musste nur nachher das
Bad aufwischen.
Anfangs war ich ziemlich ungeschickt. Da schrubbte ich
an ihr genauso rum wie an mir. Nur hatte sie im Gegensatz
zu mir eine sehr empfindliche Haut vom vielen Liegen.
Mit den kratzigen Waschlappen tat ich ihr weh.
«Mach es lieber mit den Händen», bat sie. «Dann nimm
den Schwamm, um die Seife abzuspülen. Und mit dem
Handtuch nur tupfen. Mutter hat das nie begriffen. Aber
vielleicht hat sie auch gedacht, wenn sie mich beim
Waschen kratzt, trage ich wenigstens auf diese Weise zur
allgemeinen Buße bei.»
Nach dem Waschen wurde sie eingecremt, damit sie
nicht wund lag. Dann das Nachthemd über und ab ins Bett
mit ihr. Wenn in der Küche nichts mehr zu tun war, blieb
ich bei ihr. Vor dem Einschlafen erzählten wir uns immer
eine Menge.
Und im Bett, mit der geschlossenen Tür, konnte ich
anders reden. Und Magdalena war die Einzige, mit der ich
wirklich offen über alles sprechen konnte. Nicht übers
Klauen, aber über diese Sachen, über den Ekel vor Vater
und vor mir selbst. Dass ich nie einen Freund haben
wollte.
Obwohl sie ein Jahr jünger war als ich, hatte sie eine
andere Einstellung dazu. «Warte mal ab», sagte sie.
«Wenn du noch ein paar Pfund runter hast, vergeht der
eine Ekel von allein. Und der andere; das kannst du nicht
vergleichen. Vor einem alten Mann ekelt es mich auch.
Warum meinst du, lasse ich mich von Vater nicht
anfassen? Das fehlt mir noch, dass er an mir rumfummelt.
Er würde mich bestimmt in die Wanne setzen und
rausheben, wenn du ihn darum bittest.

268
Aber da kann ich nur sagen: Vielen herzlichen Dank.
Mit einem jungen Mann ist das ganz anders. Das merke
ich bei den Ärzten. Es ist ein großer Unterschied, wie
einer aussieht und wie sich seine Hände anfühlen. Am
liebsten sind mir die Studenten. Die lassen sie oft
scharenweise an mir herummachen. Für die bin ich das
Schauobjekt, das medizinische Wunder. Ich bin das halbe
Herz mit dem inoperablen Aortenaneurysma, das wider
alle Erwartungen seit Jahren hält. Wer weiß, vielleicht hat
das Ding in meinem Bauch längst die Funktion der Pumpe
übernommen.»
Sie lachte leise. «Da stehen die Jungs dann und wissen
nicht, wie sie das Stethoskop ansetzen sollen. Viel mehr
lassen sie die armen Kerle leider nicht tun. Nur mal
horchen, wie sich ein Luftballon mit Löchern anhört.»
Sie wünschte sich, sie könnte einen Freund haben,
später, mit fünfzehn oder sechzehn. Oder besser sofort,
weil sie nicht glaubte, dass sie fünfzehn oder sechzehn
werden konnte.

Nachdem der Chef sie verlassen hatte, brauchte sie fast


eine Stunde, um sich zu beruhigen. Sie verstand nicht, wie
sie sich hatte hinreißen lassen können, ihm diese wüste
Geschichte zu erzählen, wo sie doch die Tücher bereits in
der Hand hielt. Mit zwei Männern geschlafen! Das hatte
sie wohl getan in dem schmutzigsten Kapitel ihres Lebens.
Da war jedenfalls kurz etwas aufgeblitzt.
Und dann hatte sie Vater vor sich gesehen – mit
heruntergelassener Hose und höllischer Wut. Beinahe
wäre auch das aus ihr herausgebrochen. Sie hatte es eben
noch verhindern können, indem sie den Arzt zum
Sündenbock machte.
Es war unverzeihlich. Dieser Mann hatte ihr das Leben

269
gerettet und nichts von ihr verlangt. Ein gütiger,
freundlicher Mensch war er gewesen. Niemals hatte er sie
in der Art berührt, die sie dem Chef geschildert hatte. Er
war kein schmieriger alter Mann gewesen, nur ein Mann
im weißen Kittel, der den kleinen Fehler begangen hatte,
sich einmal ein bisschen betrunken in sein Auto zu setzen.
Höchstens Anfang fünfzig war er gewesen. Ein schmales
Gesicht hatte er gehabt und einen dunklen, sauber
gestutzten Vollbart. Wenn er zu ihr kam, hielt er meist
eine Spritze in der Hand. Seine Hände waren schmal und
sehr gepflegt gewesen. Und eine warme, sanfte Stimme
hatte er gehabt. «Wie fühlen Sie sich? Jetzt werden Sie
gleich schlafen.»
Ihre Armbeugen waren von eitrigen Geschwüren
übersät. In ihrem Handrücken steckte eine Kanüle. In die
injizierte er. Und sofort danach kam die Dunkelheit, das
Ende der rasenden Schmerzen. Im Kopf waren sie
unerträglich. Es war ein Hämmern, Bohren und Stechen,
als sei ihr Schädel in einen Schraubstock gespannt. Dabei
war es nur ein Verband.
Schädelfrakturen, sagte der Arzt später, als sie endlich so
weit war, dass sie ihn fragen konnte. Unter anderem, sagte
er, da seien noch mehr Verletzungen gewesen. Und die
hätten unmöglich von dem kleinen Aufprall herrühren
können. Er sei nicht schnell gefahren, habe sofort
gebremst und sie praktisch nur mit dem Kühlergrill
gestreift, als sie ihm vor den Wagen taumelte. Vor drei
Wochen, als sie aus dem Nichts der Dunkelheit am Rand
einer Landstraße auftauchte.
Drei Wochen ohne Bewusstsein?
«Seien Sie froh», meinte er. «Das Schlimmste haben Sie
verschlafen. Entzug ist eine scheußliche Sache. Der
gesamte Körper rebelliert, alle Nerven spielen verrückt.

270
Aber Sie haben nichts davon bemerkt.»
Er fragte sie nach ihrem Namen. Sie habe keine Papiere
bei sich gehabt, sagte er. Er fragte sie auch, ob sie wisse,
was mit ihr geschehen sei. Sie wusste es nicht. Es war
alles weg. Nicht nur die drei Wochen, von denen er
sprach, mehr als fünf Monate waren ausgelöscht.
Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war der Samstag in
der zweiten Maiwoche. Magdalenas Geburtstag! Eine
Flasche Sekt! Bei Aldi – nicht geklaut – gekauft zur Feier
des Tages. Drei Tage im Schuppen versteckt. Unter den
alten Kartoffelsäcken hervorgeholt, nachdem Mutter und
Vater das Haus verlassen hatten, um einen weiteren Abend
im Kreise der Hoffnungslosen zu verbringen, die sich an
den Himmel klammerten, weil sie nicht allein auf der Erde
stehen konnten.
Der Sekt war warm, als sie ihn ins Haus holte. Sie legte
die Flasche in den Kühlschrank. Dort blieb sie bis kurz vor
acht am Abend. Um acht wollte Magdalena mit einem
Schlückchen auf ihr neues Lebensjahr anstoßen. Nur mit
einem Schlückchen. «Das wird mir bestimmt nicht
schaden», meinte sie. «Und vielleicht hilft es, das Jahr voll
zu machen.»
Daran glaubte niemand, nur Magdalena und sie. Sie
natürlich auch, ganz fest. Aber die Ärzte in Eppendorf
nicht – wie üblich. Im April war Magdalena wieder einmal
in der Klinik gewesen. Sie hatte entschieden länger
bleiben müssen als die vorgesehenen zwei Tage. Über den
Grund wollte Magdalena nicht sprechen.
«Ich gebe was auf den Humbug, den die mir immer
servieren. Wenn es nach denen ginge, wäre von mir längst
nichts mehr übrig. Die begreifen nicht, wie es funktioniert.
Die können sich von mir aus mein Herz und meine
Bauchaorta in ihre Hintern schieben. Und meine Nieren

271
hinterher. Ich brauche nichts weiter als meinen Willen.
Das ist es, Cora! Man muss leben wollen, dann lebt man
auch. Das beweise ich doch seit achtzehn Jahren. Und ich
werde ihnen auch beweisen, dass eine Operation möglich
ist. Wie viel Geld haben wir inzwischen?»
Punkt acht, das wusste Magdalena, war die Stunde ihrer
Geburt.
«Du bleibst doch so lange bei mir?»
«Ich bleibe den ganzen Abend bei dir. Du glaubst doch
nicht, dass ich an deinem Geburtstag wegfahre.»
«Ich will aber, dass du fährst. Wenigstens eine von uns
soll richtig feiern. Nächstes Jahr feiern wir beide richtig.
Wir geben eine Party, dass die Straße wackelt. Heute
musst du es nochmal alleine tun. Du musst ja nicht so
lange bleiben wie sonst. Wenn du um elf zurückkommst,
bin ich zufrieden. Wir heben uns etwas vom Sekt auf. Und
dann erzählst du mir, wie es war. Triffst du dich mit
Horst?»
«Nein. Ich habe ihm letzte Woche gesagt, dass ich heute
nicht kann. Er meinte, das macht nichts. Sein Vater hätte
ihn schon ein paar Mal gebeten, nach dem Auto zu sehen.
Das könne er dann ja machen.»
«So was Blödes. Aber vielleicht ist er trotzdem da. Nach
einem Auto sehen kann ja nicht den ganzen Abend und die
Nacht dauern. Und wenn er nicht da ist, amüsier dich mit
einem anderen. Ein bisschen Abwechslung kann nicht
schaden. Du machst dir zwei schöne Stunden mit einem
tollen Kerl, versprich mir das. Und dann kommst du
zurück. Und dann …»
Das war der 16. Mai gewesen! Und plötzlich war
Oktober. Der Arzt wusste nicht, was in der Zwischenzeit
geschehen war. Er lächelte sie an, während er sie Finger,
Zehen, Arme und Beine bewegen ließ. «Es fällt Ihnen

272
bestimmt wieder ein. Lassen Sie Ihrem Kopf ein wenig
Zeit, sich zu erholen. Und wenn Ihnen nichts einfällt, ich
glaube, viel verloren haben Sie nicht.»
«Ich muss nach Hause», sagte sie.
«Es wird noch ein Weilchen dauern, ehe wir daran
denken können.» Er hob ihren linken Fuß an, piekste mit
einer Nadel in die Ferse. Als sie zusammenzuckte, sagte
er: «Sehr schön.»
Und dann sagte er: «Nun schlafen Sie. Sie brauchen
noch viel Ruhe.»
Er sprach nie sehr viel, wenn er kam. Und außer ihm
kam nur eine Krankenschwester. Eine mürrische Person
im gleichen Alter wie er, die die Lippen nicht auseinander
brachte und keinen Handgriff tat, der nicht unbedingt
notwendig war. Sie brachte das Essen, schüttelte das
Kissen auf, zog das Laken stramm und wusch sie. Und der
Arzt machte Übungen mit ihr, damit die Glieder nicht steif
wurden vom Liegen. Er ließ sie rechnen und Gedichte aus
der Schule aufsagen, um festzustellen, ob ihr Hirn gelitten
hatte unter dem Heroinkonsum und den Schlägen. Er stach
die Nadeln in die Kanüle auf ihrem Handrücken, versorgte
die entzündeten Armbeugen mit Heilsalbe und wechselte
die Flasche unter dem Bett aus. Ein Blasenkatheter.
Und sie dachte an Magdalena, die sie brauchte, und dass
sie so schnell wie möglich heim musste. Magdalena wollte
den Ärzten in Eppendorf zeigen, was machbar war. Sie
wollte sich operieren lassen in den USA, wenn das Geld
für den Flug und die Klinik reichte. Es reichte noch lange
nicht. Es fehlte noch eine immens große Summe, die sie
beschaffen musste. Daran dachte sie, bis die Injektion ihre
Gedanken auslöschte.
Es gab keinen Tag und keine Nacht in dem kleinen
Zimmer. Es gab kein Fenster, nur ein schwaches Licht an

273
der Wand. Jedes Mal, wenn sie die Augen aufschlug,
brannte es. Jedes Mal, wenn der Arzt kam, versuchte sie,
mehr zu erfahren. Aber viel wusste er nicht.
«Ich glaube nicht, dass es ein Unfall war», sagte er
einmal.
«Die Umstände sprechen dagegen. Ein nacktes junges
Mädchen ohne Papiere, voll gepumpt mit Heroin.» Er
sprach von gravierenden Verletzungen im Vaginalbereich
und an anderen Stellen, die für bestimmte sexuelle
Praktiken typisch waren und nur einen Schluss zuließen.
Für ihn hatte sich ein bestimmtes Bild ergeben. Eine
süchtige Hure. Eine leichte Beute für einen Perversen,
einen Sadisten, einen, der es vorzog zu quälen. Der sein
Opfer bewusstlos am Straßenrand ablud, vielleicht in der
Annahme, es getötet zu haben.
«Ich hätte die Polizei verständigen müssen», sagte er.
«Aber ich hatte Angst um meinen Führerschein. Und
dann dachte ich, Sie sollten selbst entscheiden, wenn Sie
wieder dazu in der Lage sind. Die Polizei müsste nach
dem äußeren Anschein urteilen. Das wäre so, als ob Sie
sich selbst einen Stempel auf die Stirn drücken. Und das
halte ich für überflüssig. Sehen Sie, egal, was geschehen
ist, egal, wie Sie gelebt haben, Sie sind ohne bleibende
Schäden davongekommen. Und Sie sind noch sehr jung,
nicht einmal zwanzig. Sie können noch einmal neu
beginnen. Sie müssen nur den Willen haben und sich von
diesem Gift fern halten. Ihr Körper braucht es nicht mehr,
jetzt müssen Sie nur noch Ihre Seele überzeugen. Es lebt
sich ohne Heroin besser, glauben Sie mir. Vor allem lebt
es sich billiger. Dann reicht auch ein achtbarer Beruf für
den Lebensunterhalt.»
«Wo bin ich denn überhaupt?», fragte sie.
«Gut aufgehoben», sagte er und lächelte. «Verzeihen Sie

274
mir, wenn ich jetzt an mich denke.»
Natürlich verzieh sie ihm. Einem so gütigen,
verständnisvollen und liebenswürdigen Menschen musste
man verzeihen, wenn er einmal an sich dachte und das
Risiko scheute, im Nachhinein noch für seine Hilfe mit
Führerscheinentzug bestraft zu werden. Beinahe ein
Heiliger war er gewesen. Nur diesem Mann hatte sie es zu
verdanken, dass sie den Weg in ein normales Leben
geschafft hatte.
Und sie hatte ihn zur Bestie gemacht. Weil sie nicht
eingestehen konnte, was sie gewesen war: ein Stück
Dreck, das sich tiefer und tiefer in die Gosse trieb und zum
Schluss jeden an sich heran und alles mit sich machen
ließ.
Und der Chef ließ nicht locker, bohrte und stocherte in
den alten Wunden, bis sie aufbrachen, eine nach der
anderen. Wenn er mit Vater sprach … Das war das Letzte,
was er gesagt hatte, bevor er sie verließ. Dass er am
nächsten Morgen nach Buchholz fahren müsse. «Es tut
mir sehr Leid, Frau Bender. Ich kann Ihren Vater nicht in
Ruhe lassen. Aber ich werde ihn nicht unnötig aufregen,
das verspreche ich Ihnen. Ich will ihn nur fragen …»
Vater wusste von den perversen Freiern. Vater wusste
auch von anderen Perversitäten.
Die letzte Sünde! Es spielte keine Rolle mehr, ob der
Erlöser verzieh oder ob sie in der Hölle schmoren musste,
wie Mutter es oft so plastisch geschildert hatte. Bis in alle
Ewigkeit werden Hunderte von kleinen Teufeln dir das
Fleisch mit rotglühenden Zangen vom Leib reißen. Sie
hatten doch längst damit angefangen, die kleinen Teufel.
Und der Chef führte sie an, zeigte ihnen die Stellen, wo sie
ihre Zangen am besten ansetzten.
Nach dem Abendessen ließ sie noch ein paar Stunden

275
verstreichen, bis sie sicher sein durfte, dass die
Aufmerksamkeit nachgelassen hatte. Nachts kamen sie
nicht mehr so häufig, um nach ihr zu sehen. Kurz nach
zwölf nahm sie das Päckchen mit den Papiertüchern,
zupfte von einem Tuch kleine Fetzen ab, drehte sie zu
Kugeln und verstopfte sich die Nase damit.
Vorerst konnte sie noch durch den Mund atmen. Sie
drehte die restlichen drei Tücher zu einem Klumpen und
stellte sich ans Fußende des Bettes mit dem Gesicht zur
Wand. Dann atmete sie kräftig aus, stieß sich den
Klumpen in den Hals – so tief hinein, wie es nur ging. Und
noch bevor sie die Hand wieder nach unten gebracht hatte,
warf sie den Kopf mit Schwung nach vorne gegen die
Mauer.

Rudolf Grovian brach früh um sechs am Mittwochmorgen


auf. Mechthild schlief noch, als er das Haus verließ. Er
rechnete mit einer Fahrzeit von fünf Stunden. Eine
schlechte Schätzung, die etliche Baustellen auf der A1
außer Acht gelassen hatte. Der erste Stau kurz hinter dem
Kamener Kreuz kostete ihn eine halbe Stunde, der zweite
vor der Raststätte Dammer Berge fast eine volle. Erst
gegen halb eins war er am Ziel.
Buchholz in der Nordheide. Eine blitzsaubere Stadt, viel
Grün, im Zentrum gab es kaum ein Gebäude, das älter als
zehn oder fünfzehn Jahre war. Cora Benders Kindheit in
dieser Umgebung – es war wie die Faust aufs Auge. Und
er sah bei diesem Vergleich ihr zerschlagenes Gesicht vor
sich.
Eine Weile fuhr er kreuz und quer durch die Stadt,
schaute sich um und machte sich auf einem Stadtplan
kundig, ehe er den Wagen vor ihrem Elternhaus hielt. Ein
nettes Häuschen, gebaut vermutlich Anfang der sechziger

276
Jahre. Sauber und adrett wie die Nachbarschaft, gepflegtes
Vorgärtchen, die Fenster blank geputzt, dahinter reinweiße
Gardinen. Ihm war danach, den Kopf zu schütteln.
Die genaue Anschrift hatte er am Dienstagabend von
Gereon Bender erfahren. Er hatte sich bei Margret Rösch
danach erkundigen und ihr bei der Gelegenheit noch ein
paar Fragen stellen wollen. Doch Cora Benders Tante war
überraschenderweise abgetaucht. So hatte er mit dem
Ehemann vorlieb nehmen müssen und die Auskunft
erhalten, dass Gereon Bender seine Schwiegereltern nie zu
Gesicht bekommen hatte.
«Die wollten schon vor Jahren nichts mehr mit ihr zu tun
haben. Da hätte ich besser mal drüber nachgedacht. Es
muss ja Gründe geben. Mich hat sie auch von Anfang an
belogen. Monatelang hat sie mir erzählt, Margret sei ihre
Mutter. Und ihr Vater sei gestorben, kurz bevor sie
vierzehn wurde. Erst als wir das Aufgebot bestellten, kam
das raus. Da hätte ich sie besser sausen lassen. Sagen Sie
mal, wie ist das eigentlich? Sie hat mich doch auch
verletzt. Da müsste ich sie doch anzeigen können wegen
Körperverletzung. Oder zählt das nicht, wenn man
verheiratet ist?»
Gereon Bender hatte noch mehr gesagt. Er hatte
eingeräumt, dass es im letzten halben Jahr nicht mehr so
rosig um seine Ehe bestellt gewesen war. Noch ein Punkt,
in dem er sich getäuscht und hintergangen fühlte. «Ein
bisschen prüde war sie immer. Aber ich hatte trotzdem das
Gefühl, dass es ihr Spaß macht, dass sie es nur nicht
zeigen will. Aber seit Weihnachten …»
Das Radio im Schlafzimmer und diese besondere
Zärtlichkeit mit äußerst unangenehmen Folgen. Gereon
Bender hatte sich ein wenig geniert, war dann aber doch
ins Detail gegangen, sogar mit dem exakten Ausdruck.
Oraler Sex. «Jetzt denken Sie nicht, ich hab das von ihr
277
verlangt. Hätte ich nie getan. Ich wollt’s mal für sie
besonders schön machen. Und sie hat mir fast das Genick
gebrochen.»
Seit er das gehört hatte, beschäftigte sich Rudolf Grovian
wieder mit dem Verdacht, der ihm im Verhör gekommen
war. Kindesmissbrauch. Es passte besser zu Drogen und
Ekel. Und ihr letzter Ausbruch passte auch. Da hatte sie
nun wirklich zu dick aufgetragen. Von einer Katastrophe
in die andere geschlittert. Und lassen Sie meinen Vater in
Ruhe! Er ist ein alter Mann! Den sie ihrem Mann
gegenüber für tot erklärt hatte.
Der Kern ihrer Geschichte, dass sie irgendwann die
Szene erlebt hatte, die sie vor ihrem Zusammenbruch
schilderte, glaubte er immer noch. «Ich habe gehört, wie
ihre Rippen brachen.» So etwas sog sich niemand aus den
Fingern. Aber dass Georg Frankenberg an diesem
Horrorszenario beteiligt gewesen sein könnte, mit dieser
Ansicht stand er allein.
Sogar Mechthild, die sich, wenn sie nicht gerade mit der
Tochter beschäftigt war, gerne auf Seiten der Täter schlug
und eine Litanei von Entschuldigungen fand, die in der
Ansicht gipfelten, die Leute müssten eigentlich auf freien
Fuß gesetzt werden, stimmte diesmal mit
Staatsanwaltschaft, Werner Hoß, Untersuchungsrichter
und der Presse überein.
Ein unschuldiger Mann, noch dazu ein Arzt, hatte wegen
irgendeinem Wahnsinn sterben müssen. Ärzte waren für
Mechthild unantastbare Personen, nicht unfehlbar, aber
Leute, denen man sich auslieferte, zu denen man
zwangsläufig vertrauensvoll aufschaute, damit einen nicht
das kalte Grausen überkam, wenn sie ein Messer in die
Hand nahmen.
Cora Bender hatte einen dieser vertrauenswürdigen

278
Männer ausgelöscht, von dem die Presse behauptete, er
habe nur für seinen Beruf gelebt. Da gab es kaum Gnade
in Mechthilds Augen. Sie hatte am Montagmorgen in der
Zeitung davon gelesen und den Faden dankbar
aufgegriffen, um jeder Diskussion über die bevorstehende
Trennung von Tochter und Schwiegersohn aus dem Weg
zu gehen.
Er hatte es nicht auf Anhieb durchschaut, hatte sich
ehrlich und aufrichtig gefreut, dass Mechthild sich nach
langen Jahren wieder einmal für seine Arbeit interessierte
und ihm Gelegenheit bot, sich etwas von der Seele zu
reden. Leichter war ihm allerdings nicht geworden.
Zwar erkannte Mechthild in Cora Benders Kindheit
einen mildernden Umstand. Doch als er zum Ende kam,
sagte sie:
«Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, Rudi. Wie ist
dir zumute, wenn du so einer armen Kreatur den Rest
geben musst?»
«Ich habe nicht vor, ihr den Rest zu geben», protestierte
er.
Und Mechthild lächelte nachsichtig. «Was hast du dann
vor, Rudi? Sie hat vor hundert Leuten einen Arzt
erstochen. Da kann man ihr doch nicht auf die Schulter
klopfen.»
«Wenn ich beweisen kann …»
«Rudi», unterbrach Mechthild ihn. «Mach dir doch
nichts vor. Du kannst beweisen, was du willst, es stellt
sich hier nur die Frage Haft oder Psychiatrie.»
Sie hatte Recht, er wusste das. Aber er wusste nicht, ob
er jemals den Beweis fand, dass es eine Verbindung
zwischen Frankie und Cora gegeben hatte. Vor fünf Jahren
mochte zwischen Mai und November für Cora Bender die
Welt untergegangen oder sonst etwas passiert sein, was ihr
279
Grund gab zu schwindeln, dass sich die Balken bogen,
was ihre Tante veranlasste, sich nach ihrer freiwilligen
Aufklärungsaktion schnellstmöglich abzusetzen. Über
Georg Frankenberg hatten sie bisher nur Gutes gehört. Ein
stiller Mann, zurückhaltend, fast scheu Frauen gegenüber.
Und Gereon Bender sagte: «Sie lügt, wie es ihr gerade in
den Kram passt.» Natürlich log sie, wenn sie sich nicht
anders zu helfen wusste. Wenn einer gegen ihre Mauer
trat, warf sie in ihrer Not alles, was ihr durch den Kopf
ging, in einen Topf, rührte einmal kräftig um und knallte
eine Schöpfkelle Chaos auf den nächsten Teller. Und dann
musste man sortieren, was sie anbot, und bei jedem
Bröckchen fragen, wo sie es hergenommen hatte.
Inzwischen stand fest, dass sie einen Großteil dessen,
was sie an Fakten aus Frankenbergs Vorleben präsentiert
hatte, am See aufgeschnappt haben konnte. Einen
Großteil, nicht alles. Die Spitznamen Böcki und Tiger
hatte Winfried Meilhofer nicht genannt, weil er sie nie
zuvor gehört hatte. Zu ihm hatte Georg Frankenberg
immer nur von Hans Böckel und Ottmar Denner
gesprochen. Und Meilhofer hatte auch den silberfarbenen
Golf GTI mit Bonner Kennzeichen nicht erwähnt.
Der Wagen und die beiden Namen waren alles, was
Rudolf Grovian noch in der Hand hatte, um eine Linie
zwischen Opfer und Täterin zu ziehen. Dabei konnten die
Namen durchaus der Phantasie Cora Benders entsprungen
sein. Dass es ihm logisch erschien, Hans Böckel gleich
Böcki und der «Song of Tiger», bewies nichts.
Aber wenn man zu Gedankenspielereien neigte, ergab
sich eine reizvolle Variante. Hans gleich Johnny, Guitar
gleich Gitarre. Winfried Meilhofer glaubte sich zu
erinnern, Frankie habe einmal erwähnt, Hans Böckel sei
der Gitarrenspieler im Trio gewesen. Mochte Georg
Frankenberg auch am 16. Mai mit einem Armbruch in
280
Vaters Obhut gelegen haben. Hans Böckel konnte ihr
durchaus an diesem Tag begegnet und sie über ihn an
Heroin gekommen sein.
Er hatte nicht viel Hoffnung, von ihrem Vater etwas
Wesentliches zu erfahren. Er hatte auch nicht vor, den
Mann unter Druck zu setzen. «Haben Sie sich an Ihrer
Tochter vergangen, Herr Rösch? Haben wir die
Katastrophe Ihnen zu verdanken?» Darum konnte sich
später der Gutachter kümmern. Er wollte nur ein bisschen
Aufschluss über die Zeit von Mai bis November. Und den
Namen der Klinik, in der ihre Kopfverletzung behandelt
worden war.

Auf sein Klingeln an der Haustür öffnete ihm eine Frau,


die vom Aussehen her in die Stadt passte. Blitzsauber und
jugendlich, sodass er unwillkürlich schluckte. Cora
Benders Worte schossen ihm durch den Kopf. «Mutter ist
fünfundsechzig.» Die Frau an der Tür war höchstens Mitte
vierzig, modisch gekleidet, eine flotte Kurzhaarfrisur, ein
dezentes Make-up. Sie hielt ein Tuch in der Hand, als habe
er sie beim Abwasch gestört.
Er stellte sich vor, ohne den Grund für seinen Besuch
oder seinen Beruf anzugeben, und erkundigte sich
zögernd: «Frau Rösch?»
Sie lächelte. «Gott behüte! Ich bin die Nachbarin, Grit
Adigar.»
Ihm fiel ein kleiner Stein vom Herzen, nur ein winzig
kleiner. «Ich hätte gerne Herrn Rösch gesprochen.
Wilhelm Rösch.»
«Er ist nicht hier», erklärte Grit Adigar.
«Wann kommt er zurück?», fragte er.
Grit Adigar antwortete nicht, wollte stattdessen wissen:

281
«In welcher Angelegenheit möchten Sie ihn sprechen?»
Und noch bevor er etwas erklären konnte, schien sie zu
begreifen. Sie spähte über seine Schulter zu dem
Fahrzeug, das er am Straßenrand geparkt hatte, und nickte
gedankenverloren. «Es geht um Cora. Sie sind von der
Polizei, nicht wahr?»
Wieder kam er nicht dazu, etwas zu sagen. «Margret
sagte schon, dass wahrscheinlich jemand käme», erklärte
Grit Adigar. «Kommen Sie erst mal rein. Das müssen wir
ja nicht an der Haustür regeln.»
Sie trat von der Tür zurück. Und damit veränderte sich
alles.
Hinter der Tür lag ein schmaler, dämmriger Flur, die
Tapeten an den Wänden waren mindestens so alt wie das
Haus. Links ging es eine Treppe hinauf, auf den Stufen lag
ein abgewetzter Läufer mit Streifen. Geradeaus stand eine
Tür spaltbreit offen, durch die ein schmaler Streifen
Tageslicht einfiel. Hinter dieser Tür lag die Küche. Rechts
daneben war noch eine Tür. Dass auch die offen stand,
bemerkte er erst, als er näher kam.
Der Raum dahinter musste das Wohnzimmer sein. Das
Fenster führte hinaus auf die Straße. Von den reinweißen
Gardinen war innen nichts zu sehen. Die Vorhänge waren
aus schwerem braunem Stoff und zugezogen. Der Raum
lag im Dunkeln. In der offenen Tür stand eine weitere
Frau.
Er zuckte zusammen, als sie plötzlich einen Schritt
vortrat. Ein Gesicht wie eine Spitzmaus. Graues Haar, das
ihr bis zur Taille reichte. Es sah aus, als sei es wochenlang
nicht gewaschen worden. So roch es auch, ein säuerlich
muffiges Aroma umgab die Gestalt wie ein zu weit
geschnittener Mantel. Für eine Frau war sie groß, hätte ihn
wohl um einige Zentimeter überragt, wenn sie sich

282
aufrecht gehalten hätte. Doch sie stand da, als trüge sie
eine Zentnerlast auf den Schultern. Eine verblichene
ehemals bunte Kittelschürze schlotterte um ihren Körper.
Im Vorbeigehen fasste Grit Adigar nach der Schulter der
Frau: «So haben wir nicht gewettet, Elsbeth! Zuerst wird
der Teller leer gegessen, dann kannst du weiterbeten.»
Die Frau reagierte nicht, musterte Rudolf Grovian mit
leicht geneigtem Kopf und erkundigte sich: «Sucht er die
Hure?»
«Nein. Er möchte mit Wilhelm reden. Ich kümmere
mich darum.»
Etwas wie ein Lächeln glitt nach Grit Adigars Erklärung
um die dünnen Lippen der Jammergestalt, begleitet wurde
es von einem bedächtigen Nicken. «Der Herr war mit
seiner Geduld am Ende und hat ihn bestraft. Er hat ihm die
Stimme genommen und die Kraft. Er hat ihn aufs Lager
geworfen, er wird sich nie wieder erheben.»
Es war ein gewaltiger Unterschied, Cora Bender von
ihrer Mutter sprechen zu hören, sich ein paar Gedanken
dazu zu machen und dann die Mutter leibhaftig vor sich zu
sehen und sie sprechen zu hören. Trotz der sommerlichen
Temperaturen spürte Rudolf Grovian ein Frösteln. Die
Vorstellung eines Kindes, das tagein, tagaus diesem
salbadernden Ton ausgesetzt gewesen war, ließ ihn
schaudern.
«Schon gut, Elsbeth», sagte Grit Adigar, packte die
Schulter fester und schob das muffige Bündel vor sich her
auf die Küche zu. «Du setzt dich jetzt an den Tisch und
tust, was dem Herrn gefällt. Er mag leere Teller. Das
schöne Essen in den Müll werfen wäre Verschwendung.
Und wie er darüber denkt, das weißt du doch.»
Zu Rudolf Grovian sagte sie: «Kümmern Sie sich nicht
um sie. Früher war es schon schlimm mit ihr. Aber seit

283
Montag ist sie völlig durcheinander. Und wenn Sie sich
jetzt fragen, wen die gute Elsbeth als Hure bezeichnet,
Cora war nicht gemeint. Das galt Margret. Für Elsbeth ist
jede Frau eine Hure, die sich auf ein Verhältnis mit einem
verheirateten Mann einlässt.»
Eine an und für sich überflüssige Erklärung, fand er.
Und wenn ihm jemand ungefragt etwas erklärte, wurde er
immer hellhörig und fragte sich, wozu es gut sein sollte.
Dann saßen sie zu dritt an einem alten Küchentisch. Auf
einem Schrank an der Seite stand eine stattliche Anzahl
gerahmter Fotografien. Auf jeder davon Cora Bender,
allein, mit ihrem Söhnchen, mit ihrem Mann, mit beiden.
Das Hochzeitsfoto, ein Schnappschuss aus dem
Wochenbett und einer vom neuen Haus. Grit Adigar war
seinem Blick gefolgt und erklärte weiter ungefragt:
«Margret hat regelmäßig Fotos geschickt. Das ist
Wilhelms Altar. Stundenlang konnte er hier sitzen und die
Bilder betrachten. Er träumte davon, dass sie einmal auf
Besuch käme. Dass er seinen Enkel leibhaftig erleben
könnte. Aber das hätte sie nie getan. Und ich glaube, er
wusste, dass er sie nie wieder sieht.»
Eine gute Einleitung, fand Rudolf Grovian, um frontal
den Punkt anzusteuern, über den er immer wieder
stolperte. Von einer Nachbarin war in dieser Hinsicht
vielleicht eher etwas zu erfahren als von den Eltern oder
einer Tante, die es vorgezogen hatte, nach ihrer
freiwilligen Aussage zu verschwinden. «Hat Wilhelm
Rösch sich an seiner Tochter vergangen?»
Grit Adigar riss empört die Augen auf. «Wilhelm? Wo
denken Sie hin? Auf so eine Idee kann auch nur ein
Polizist kommen. Eher hätte er sich eigenhändig kastriert.
Cora war sein ein und alles. Es hat ihn fast umgebracht,
als sie damals von hier wegging. Und als Margret am
Montag …»
284
Sie berichtete der Reihe nach. Margret Rösch war ihm
um zwei Tage zuvorgekommen, nicht untergetaucht, um
weiteren Fragen zu entgehen, nur in bester Absicht noch in
der Nacht zum Montag nach Buchholz gefahren, um ihrem
Bruder schonend beizubringen, was geschehen war. Aber
mit Schonung war nicht viel gewesen bei solch einer
Nachricht. Wilhelm Rösch hatte einen Schlaganfall
erlitten. Es stand nicht gut um ihn. Margret war bei ihm im
Krankenhaus.
Es war am Montag so schnell gegangen, da war keine
Zeit geblieben für Erklärungen. Margret Rösch hatte sich
bisher einmal telefonisch bei Grit Adigar gemeldet und
mitgeteilt, dass es kaum Hoffnung für Wilhelm gab. Und
dass vielleicht einer von der Polizei auftauche, weil Cora
eine Riesendummheit begangen habe.
«Hat sie versucht, sich umzubringen?», wollte Grit
Adigar wissen.
«Nein.»
Sie legte vor Erleichterung beide Hände vors Gesicht
und murmelte: «Gott sei Dank. Ich dachte schon, sie hätte
es wieder getan. Weil Wilhelm so …»
Wieder! Das klang in Rudolf Grovians Ohren nach einer
Frau, die informiert war. Die entschieden mehr wusste als
eine Tante, die kaum Kontakt zur Familie gehabt hatte.
Die ebenso weiterhelfen konnte wie Cora Benders Eltern.
Die vor allen Dingen auch bereit war zu sagen, was sie
wusste.
So ohne weiteres war Grit Adigar jedoch nicht bereit.
Zuerst wollte sie von ihm wissen, was Cora denn
angestellt habe. Wie sie es ausdrückte, klang es harmlos,
und dabei huschte ein Lächeln um ihre Lippen. Aber es
gefror rasch.
Er entschloss sich zur Offenheit, umriss die Situation in

285
ein paar knappen Sätzen. Grit Adigar schluckte mehrfach
heftig und brauchte anschließend ein paar Sekunden, um
ihre Fassung zurückzugewinnen. «Gott im Himmel!»
Elsbeth Rösch hob den Kopf, den sie bis dahin
teilnahmslos über den Teller gesenkt hatte. Ihre sanfte
Stimme hatte einen scharfen Beiton. «Du sollst seinen
Namen nicht …»
«Halt die Klappe, Elsbeth», beschied Grit Adigar kurz.
Sie atmete hörbar ein und aus. «Wie hieß der Mann?»
«Georg Frankenberg.»
«Den Namen habe ich nie gehört.»
Er zeigte ihr ein Foto, auch dazu schüttelte sie den Kopf.
Und einen silberfarbenen Golf mit Bonner Kennzeichen
hatte sie nie gesehen.
«Und was ist mit Hans Böckel, Ottmar Denner oder mit
den Spitznamen Frankie, Böcki und Tiger?»
Sie hob bedauernd die Achseln an. «Sagen mir auch
nichts.»
«Johnny Guitar?»
Grit Adigar lächelte flüchtig. «Der ist mir allerdings ein
Begriff. Aber über ihn sollten Sie sich mit meiner Jüngsten
unterhalten. Ich weiß nur, dass Johnny vor ein paar Jahren
halb Buchholz die Köpfe verdreht hat. Meine Melanie
bildete da keine Ausnahme. Er war Musiker. Das hat bei
jungen Mädchen einen höheren Stellenwert als
Automechaniker.»
Musiker, dachte er, wenigstens etwas. Welches
Instrument er gespielt hatte, wusste Grit Adigar nicht. Und
sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass Cora mit
Johnny zusammengekommen sein sollte. «Sie hatte doch
einen festen Freund, Horsti.» Den hatte Rudolf Grovian
fast schon vergessen.

286
Grit Adigar lächelte erneut, als wolle sie sich damit
entschuldigen. «Mehr als seinen Vornamen kenne ich
leider nicht. Für uns war er immer nur Horsti. Für Cora
war er die Liebe ihres Lebens. Als sie ihn kennen lernte,
war sie siebzehn. Schon nach drei Monaten verkündete
sie, dass sie ihn eines Tages heiratet und mit ihm fortgeht.
Sie war ganz hingerissen von ihm. Kein Mensch hat es
verstanden. Ein kleines, schmächtiges Kerlchen war er,
sah fast aus wie ein Albino, helle Haut und strohgelbes
Haar, es fehlten nur die roten Augen. Ich habe ihn ein paar
Mal kurz zu Gesicht bekommen, wenn er sich auf der
Straße herumdrückte und auf Cora wartete. Meine Melanie
könnte ihnen mehr erzählen. Leider ist sie zurzeit in
Dänemark, sie kommt erst nächste Woche zurück. Aber
sie hat die beiden oft zusammen gesehen und sich über
Coras Verliebtheit amüsiert. Spargeltarzan nannte sie ihn.»
Es sah so aus, als kämpfe er auf verlorenem Posten. Ein
Spargeltarzan als festen Freund. Die nächste Frage.
«Wissen Sie Einzelheiten über den Selbstmordversuch von
damals, über die Gründe?»
Grit Adigar nickte langsam, schränkte jedoch ein. «Ich
weiß nur, was Cora mir erzählt hat. Es ist nicht hier
passiert. Sie sagte, sie habe sich vor ein Auto geworfen.
Über den Grund hat sie nie gesprochen. Das musste sie
auch nicht. Es lag auf der Hand. Sie ist mit Magdalenas
Tod nicht fertig geworden.»

287
10. Kapitel

Als der Name fiel, spürte Rudolf Grovian ein


unangenehmes Ticken im Hinterkopf und eine unbändige
Wut auf Margret Rösch. Der Erlöser und die büßende
Magdalena! Grit Adigar sprach fast eine halbe Stunde
ohne Unterbrechung über das blaue Bündel, die
Entbehrungen, den Blecheimer, Brandblasen an den
Händen, wunde Knie, nasse Bettlaken und eine
vertrocknete Seele.
Allein das Zuhören war eine Qual. Und die ganze Zeit
war ihm, als müsse er in der nächsten Sekunde etwas
begreifen, irgendeinen Zusammenhang, von dem er bisher
nicht einmal geahnt hatte, dass er existierte. Den er auch
gar nicht begreifen wollte, weil er zu sehr nach Wahnsinn
klang. Und mit der vor sich hin muffelnden Elsbeth an
einem Tisch schien es unmöglich, dass sich unter ihrer
Fuchtel ein Kind auch nur halbwegs normal hatte
entwickeln können.
Ein Zusammenhang tat sich ihm nicht auf. Er begriff nur
eines: Warum Cora Bender ihre Schwester bisher nicht
erwähnt hatte. Weil sich mit deren Tod eine Schuldenlast
verband, die nichts und niemand tilgen konnte. Schuldig
geworden noch vor der Geburt. Die gesamte Kraft aus
Mutters Bauch gefressen.
Er hätte dieser Jammergestalt eigenhändig das Kreuz
brechen können. Wie sie da über ihrem Teller hing, stand
für ihn fest, Georg Frankenbergs Tod ging auf ihr Konto,
um sieben Ecken vielleicht, aber das nahm ihr nicht ein
Gramm Last von den knochigen Schultern.
Grit Adigar beschrieb ein eigenwilliges, stilles, in sich
gekehrtes Kind und ein junges, rebellisches Mädchen, das
288
sich einerseits rührend um die kranke Schwester
kümmerte, das andererseits ein wenig persönliche Freiheit
suchte. Samstagabende mit Horsti im «Aladin».
Ein verrufener Schuppen. Es ging das Gerücht, man
habe dort vor Jahren nicht nur Musik, Tanz und Getränke
geboten bekommen. Drogen seien auch leicht erhältlich
gewesen. Seit gut vier Jahren gab es «Aladin» nicht mehr.
Es war jetzt nur noch ein nettes, sauberes Restaurant, in
dem man vorzüglich und preiswert speisen konnte.
«War Cora rauschgiftsüchtig?», fragte er.
«Nicht solange sie hier war», erklärte Grit Adigar mit
Bestimmtheit. «Sie war viel zu verantwortungsbewusst.
Und später, wollen Sie eine ehrliche Antwort?»
Die wollte er schon aus Prinzip. Grit Adigar sagte: «Ich
glaube es nicht. Ich fand immer, dass ihre Arme eher
dagegen sprachen als dafür. Das müssen vereiterte
Wunden gewesen sein. Ich hatte noch nie mit Junkies zu
tun, aber den möchte ich sehen, der in eitrige Geschwüre
sticht. Da nehmen sie lieber die Beine oder sonst etwas,
das hört man doch immer. Ich habe sie darauf
angesprochen damals. Und sie sagte: Ich glaube es auch
nicht, Grit, aber ich glaube vieles nicht, und es ist
trotzdem so. Es wäre doch kein Wunder, wenn ich gefixt
hätte. Nach dem Drama hier.»
Ereignet hatte sich das Drama nach Grit Adigars Worten
im August vor fünf Jahren. Sie hatte es nicht persönlich
erlebt, war an dem fraglichen Samstag zu Besuch bei
Bekannten gewesen und erst spät in der Nacht
heimgekommen. Insofern konnte sie nur Vermutungen
äußern, das betonte sie. Doch es waren Vermutungen,
welche die Grenzen der Wahrscheinlichkeit erreichten.
Im April hatten die Ärzte festgestellt, dass es nun
wirklich mit Magdalena zu Ende ging. Mitte Mai

289
verschlechterte sich ihr Zustand. Cora verließ das Haus
nicht mehr, nicht einmal um Einkäufe zu machen. Das
musste Wilhelm übernehmen. Tag und Nacht saß Cora am
Bett ihrer Schwester.
Das war die Zeit, in der Grit Adigar Horsti ein paar Mal
zu Gesicht bekommen hatte, wenn er sich in der Straße
herumdrückte, um wenigstens in Coras Nähe zu sein oder
ihr einen Blick auf die Liebe ihres Lebens zu gönnen.
Da war ein Widerspruch zu dem, was Margret Rösch
über die beiden Anrufe ihres Bruders erzählt hatte. Grit
Adigar tat ihn leicht ab. «Da muss Margret Wilhelm falsch
verstanden haben. Schlechte Gesellschaft! So hat er das
bestimmt nicht ausgedrückt. Und wenn doch, dann bezog
es sich nicht auf Horsti, eher auf Magdalena. Wilhelm
kam nicht zurecht mit ihr – und sie nicht mit ihm. Das
beruhte auf Gegenseitigkeit. Es war nicht leicht mit ihr.
Wenn ein Mensch sterbenskrank ist, heißt das ja nicht,
dass er keinen Willen hat. Magdalena hatte einen, das
dürfen Sie mir glauben.»
Grit Adigar lächelte dünn und sprach weiter über die
letzten Monate. Magdalenas endgültiges Sterben zog sich
hin. Und wie das häufig war bei Todeskandidaten: kurz
vor dem Ende blühten sie noch einmal auf, schienen sich
zu erholen. Im August riskierte Cora es. Wilhelm und
Elsbeth machten einen Besuch in Hamburg, Cora gönnte
sich einen Samstagabend mit Horsti, dem Getreuen. Nur
ein paar Stunden blieb sie weg. Als sie zurückkam, war
ihre Schwester tot.
Grit Adigar erhob sich. «Ich will Ihnen etwas zeigen,
kommen Sie mit.» Die auf ihren Teller starrende Elsbeth
blieb in der Küche zurück. Grit Adigar ging vor ihm her in
den Flur und stieg die schmale Treppe hinauf. Oben gab es
nur drei Türen. Eine davon öffnete sie für ihn.

290
Dahinter lag ein spartanisch eingerichtetes Zimmer.
Zwei Betten und einen Nachttisch, mehr gab es nicht. Auf
dem Nachttisch stand ein kleiner Wecker, dessen Zeiger
zwischen vier und fünf Uhr stehen geblieben waren.
Neben dem Wecker lag ein Walkman mit Ohrsteckern,
dahinter ein Stapel Musikkassetten. Und vor den Kassetten
stand ein Foto im Silberrahmen.
Es war eine Amateuraufnahme. Sie zeigte zwei junge
Mädchen, nebeneinander auf einem der Betten sitzend.
Bei beiden Mädchen reichten die Haare bis in den
Silberrahmen. Bei der einen waren sie weißblond, bei der
anderen rötlich braun.
Rudolf Grovian nahm das Foto auf und betrachtete es.
Sein Hauptaugenmerk galt dem von rötlich braunem Haar
umrahmten Gesicht Coras. Mit solch einem Lächeln hatte
er sie noch nicht gesehen. Ernst, besorgt und liebevoll
wirkte sie. Sie hatte einen Arm um die Schultern ihrer
Schwester gelegt. Und Magdalena …
«Zwei sehr hübsche Mädchen», sagte er.
«Hübsch waren sie beide», stimmte Grit Adigar zu.
«Aber bei Magdalena ist das eine Untertreibung. Sie war
eine Schönheit von der Art, die Männer um den Verstand
bringt. Manchmal dachte ich, dass die Natur sämtliche
inneren Defekte im Äußeren kompensierte oder mit diesen
Defekten dafür sorgte, dass die Hülle nicht noch einen
Mann ins Verderben reißt.»
Sie seufzte, hob die Achseln an und lächelte dabei
verlegen.
«Man kommt auf seltsame Gedanken, wenn man so
etwas hautnah erlebt. So muss Elsbeth als junge Frau
ausgesehen haben. Kein Wunder, dass sie den Verstand
verlor bei diesem Kind. Cora kommt mehr nach Wilhelm.
Magdalena war das Ebenbild ihrer Mutter.»

291
«Man sieht ihr nichts an von der Krankheit», stellte er
fest.
Grit Adigar lächelte erneut. «Teuflisch, nicht wahr? Ihre
Herzfunktion war derart beeinträchtigt, dass der gesamte
Körper aufgeschwemmt wurde. Zusätzlich versagten ihre
Nieren. Und sie sah aus wie das blühende Leben. Nur die
bläuliche Hautfarbe deutete darauf hin, dass etwas nicht in
Ordnung war mit ihr. Bevor ich auf den Auslöser drücken
durfte, hat Cora eine halbe Stunde lang mit ihren Make-
up-Utensilien hantiert. Magdalena wollte sich nicht
fotografieren lassen. Sie war sehr eitel und stimmte erst
zu, nachdem Cora sie so zurechtgemacht hatte. Es ist das
einzige Bild, das von ihr existiert. Ich habe es Anfang
April aufgenommen, zwei Tage bevor sie das letzte Mal
nach Eppendorf gebracht wurde. Da dachten wir noch, es
ginge ihr besser als je zuvor. Sie hatte zugenommen. Ihr
Gesicht war voller geworden, ihre Beine sahen auch nicht
mehr aus wie Stelzen. Es war nur Wasser. Aber das haben
wir erst später erfahren.»
Er stellte das Foto zurück und drehte sich um. Über dem
zweiten Bett war ein Regal angebracht, auf dem sich
Buchrücken an Buchrücken reihte.
«Die Bücher fanden wir damals im Schuppen», erklärte
Grit Adigar. «Wilhelm hat das Regal erst nachträglich
über Coras Bett angebracht und sie hier aufgestellt.»
Es handelte sich überwiegend um medizinische
Fachliteratur. Zwei Titel ließen auf den Bereich
Psychologie schließen. Die Thematik war bezeichnend,
religiöser Wahn und Selbstheilung durch Willenskraft.
Dass Wilhelm im Schuppen noch ein kleines und sehr
dünnes Buch gefunden hatte, in dem nur Zahlen standen,
erwähnte Grit Adigar nicht. Mehr als dreißigtausend
Mark! Wilhelm hatte gefragt: «Wie um alles in der Welt

292
ist sie an so viel Geld gekommen?»
«Seit sie sechzehn war, hat sie den größten Teil ihres
Taschengeldes für diese Bücher ausgegeben», sagte Grit
Adigar.
«Wie oft habe ich sie am Abend aus dem Haus kommen
sehen. Sie schlich zum Schuppen. Da verwahrte sie
modische Kleidung, Lippenstift und dergleichen; Dinge,
die Elsbeth nicht duldete und die für junge Mädchen so
wichtig sind. Und ihre Bücher. Wenn sie in die Stadt ging,
hatte sie sich umgezogen und ein bisschen geschminkt. Da
hätte man denken können, jetzt zieht sie los, um sich zu
amüsieren. Aber sie hatte meist einen von diesen Wälzern
unter den Arm geklemmt. Und damit geht man nicht
tanzen, auch nicht ins Kino oder in die Eisdiele. Sie hat
sich nicht herumgetrieben. Dass sie sich samstags mit
Horsti traf, kann man ihr kaum zum Vorwurf machen. Ein
bisschen Freiheit brauchte sie doch, ein paar Stunden in
der Woche für sich. Den Rest der Zeit war sie für ihre
Schwester da.»
Grit Adigar erzählte, dass Cora damals in einer
Zeitschrift über Herztransplantation gelesen hatte, über die
großen Erfolge, die man damit in den USA verzeichnete.
Dass Cora häufig erklärt habe, eines Tages bringe sie
Magdalena dorthin. Dass sie nicht begreifen wollte oder
konnte, dass es mit einer Herztransplantation nicht getan
war.
«Wenn es nur das gewesen wäre», sagte Grit Adigar,
«das hätten sie in Eppendorf mit Freude erledigt, allein um
zu zeigen, dass sie es können. Ich weiß nicht, was da alles
zusammenkam. Da müssten Sie sich mit Margret
unterhalten. Sie hat damals die Unterlagen aus der Klinik
geholt, die gesamte Krankengeschichte. Solange
Magdalena lebte, wusste hier kein Mensch, wie es
wirklich um sie stand. Wilhelm kümmerte sich kaum
293
darum. Elsbeth war zu blöd zu begreifen, was die Ärzte ihr
erklärten. Und Magdalena wollte es nicht wahrhaben und
schwieg. Im April wollten die Ärzte sie in der Klinik
behalten. Sie bestand darauf, hier zu sterben. Sie hätte
daheim genau die Pflege, die sie brauche, soll sie gesagt
haben. Nur hat sie hier den Mund nicht aufgemacht. Und
dann kam Cora heim in der Nacht … Als Wilhelm am
nächsten Morgen nachschaute, weil sie nicht herunterkam,
war Cora verschwunden.»
«Wann genau war das?», wollte er wissen.
«Warten Sie, das Datum steht auf dem Totenschein. Ich
hole ihn, er ist im Schlafzimmer.»
Wie ein Blitz huschte sie zur Tür hinaus, war zwei
Sekunden später wieder da und hielt ihm den Schein hin.
«Herz-Nieren-Versagen», las er. Und die Unterschrift des
Arztes. Sie war unleserlich, er machte sich nicht die Mühe,
sie zu entziffern. Seine Augen hatten das Datum
ausgemacht. 16. Mai. Magdalenas Geburtstag. Gestorben
war Cora Benders Schwester am 16. August.

Zweimal der 16. Man musste nicht Psychologe sein, um


zu begreifen, welche Bedeutung das Datum in Cora
Benders Leben hatte und warum sie in ihrer ersten Version
den Beginn ihrer Romanze mit Johnny in den Mai
verlegte. Wunschdenken. Frei nach dem Motto: Wäre ich
doch im Mai, statt im August. Die Tote aus der
Lüneburger Heide konnte er damit vergessen, ebenso ihre
Behauptung, ihre Tante habe ihn belogen.
Von ihrer Tante hatte er vermutlich die Wahrheit gehört,
jedenfalls andeutungsweise. Was sie ihm unterschlagen
hatte! Von seiner Wut auf Margret Rösch war noch kein
Quäntchen verraucht. Dass sich jemand freiwillig anbot,
sich geradezu aufdrängte, alle notwendigen Auskünfte zu

294
geben, und dann beim wichtigsten Punkt mauerte, was das
Zeug hielt, es war eine bodenlose Unverschämtheit.
Behinderung der Ermittlungsarbeit mindestens, wenn nicht
Irreführung.
Aber das musste er mit Margret Rösch klären. Er kam
auf das zu sprechen, was ihn am meisten interessierte; der
ominöse Selbstmordversuch und die anschließende
ärztliche Behandlung. Leider wusste Grit Adigar nicht viel
darüber.
Es hatte jemand bei ihr angerufen – damals im
November, ein paar Tage, bevor Cora zurückkam. Einen
Namen hatte Grit Adigar nicht verstanden in der ersten
Aufregung. Sie hatte auch nicht nachgefragt, war sofort
nach nebenan gelaufen und hatte Wilhelm ans Telefon
geholt. Wilhelm müsste den Namen wissen. Er hatte
länger mit dem Mann gesprochen. Grit Adigar konnte nur
sagen, in welchem Zustand Cora heimgekommen war.
Und danach zu urteilen, musste der behandelnde Arzt ein
Stümper gewesen sein. So schickte man keine Patientin
nach Hause, wenn man auch nur ein bisschen
Verantwortungsbewusstsein hatte.
Cora kam mit einem Taxi an. Der Wagen hatte ein
Hamburger Kennzeichen. Der Fahrer musste ihr beim
Aussteigen helfen. Sie konnte sich kaum auf den Beinen
halten. Der Fahrer kümmerte sich nicht weiter um sie, fuhr
gleich wieder los.
Grit Adigar schüttelte den Kopf. «Sie stand auf der
Straße und starrte das Haus an, als sehe sie es zum ersten
Mal. Dann ging sie langsam darauf zu. Ich sah das vom
Fenster aus, lief hinaus und sprach sie an. Sie nahm mich
nicht wahr. Elsbeth öffnete ihr die Tür. Und, na ja, Elsbeth
mit ihrem Dachschaden schaute sie an und sagte: ‹Cora ist
tot. Meine Töchter sind beide tot.› Cora schrie auf. Ich
hatte noch nie einen Menschen so schreien hören. Wie ein
295
Tier.»
Grit Adigar erzählte weiter, wie Cora in den Knien
einknickte und ihren Kopf gegen die Stufen vor der
Haustür schlug, wieder und wieder. Wie Wilhelm in den
Hausflur kam. Wie sie Cora gemeinsam nach oben
schafften. Wie sie sie auszogen. Und unter dem Kleid kam
ein völlig abgemagerter Körper zum Vorschein. Die blutig
geschlagene Stirn und darüber die frische Narbe, diese
Kerbe im Knochen. Gut verheilt für die paar Wochen – im
Gegensatz zu den Armbeugen. Und während sie Cora
auszogen, schrie und wimmerte sie. «Magdalena kann
nicht tot sein! Wir fliegen nach Amerika!»
«Ich hatte das Gefühl», sagte Grit Adigar, «sie wusste es
nicht mehr. Sie hatte die Nacht vergessen. Völlig
vergessen. So etwas passiert wohl manchmal nach einem
großen Schock.»
Die Möglichkeit, dass Cora tatsächlich erst im
November vom Tod ihrer Schwester erfahren hatte, weil
sie in der fraglichen Augustnacht nicht mehr
heimgekommen war, zog Grit Adigar anscheinend nicht in
Betracht. Rudolf Grovian tat es.
Johnny Guitar, dachte er, der halb Buchholz die Köpfe
verdrehte. Für den sie Luft war. Bis zu diesem Abend.
Drei Monate neben dem Bett der Schwester ausgeharrt.
Dann wagt sie sich hinaus, glücklich und erleichtert, weil
es Magdalena scheinbar besser geht. Und welch ein Glück
erst, als Johnny sie endlich zur Kenntnis nimmt. Horsti
wird kalt lächelnd abserviert, vielleicht ist er auch nicht im
«Aladin» an dem Abend. Sie steigt mit klopfendem
Herzen zu Johnny und seinem kleinen, dicken Freund in
den silberfarbenen Golf. Vielleicht zusammen mit noch
einem Mädchen, vielleicht auch nicht. Das war momentan
nicht der springende Punkt.

296
Die Frage war nur noch, konnte man sich für die
Erfüllung eines Wunschtraumes entschließen, die kranke
Schwester ihrem Schicksal zu überlassen und nicht mehr
heimzugehen? Schwer vorstellbar nach dem, was Grit
Adigar erzählt hatte. Es stellte sich noch eine andere
Frage, der er bisher nicht die entsprechende Bedeutung
beigemessen hatte. Konnte eine schwere Kopfverletzung
in wenigen Wochen heilen? Auch das war nur schwer
vorstellbar.
Von Cora Benders Elternhaus machte er sich wenig
später auf den Weg zu dem Restaurant, in dem man
vorzüglich und preiswert speisen konnte. Er hatte Pech.
Von fünfzehn bis achtzehn Uhr war geschlossen. Also
fuhr er zuerst zum Kreiskrankenhaus, in dem Wilhelm
Rösch um den Rest Leben in sich kämpfte, in dem
Margret Rösch Wache hielt und das Pflegepersonal
kommandierte. Mit Cora Benders Vater konnte er nicht
reden. Und ihre Tante verteidigte vehement ihr
Schweigen.
Was hatte denn ein vor fünf Jahren an Herz-Nieren-
Versagen verstorbenes Mädchen mit dem Fall
Frankenberg zu tun? Absolut nichts! Und man musste den
Namen Magdalena nur erwähnen, um Cora den Boden
unter den Füßen wegzuziehen. Als besorgte Tante hatte
Margret Rösch diese Entscheidung lieber ihrer Nichte
überlassen wollen. Wenn er sich – bitte schön – erinnern
möge! Sie hatte zu Cora gesagt: «Erzähl ihnen, warum du
im August von daheim weggegangen bist.» Dass Cora es
nicht erzählt hatte, sprach für sich. Ein Schuldkomplex,
von dem sich ein biederer Kripobeamter keine Vorstellung
machen konnte.
Den biederen Kripobeamten schluckte er ohne Protest.
Margret Rösch ließ ihm auch keine Zeit für eine
Zurechtweisung. Sie verstand sich gut darauf, von ihrem

297
Versäumnis abzulenken und den biederen Kripobeamten
auf eine andere Fährte zu setzen. Hatte sie doch montags –
noch bevor sie ein Wort über Coras Wahnsinnstat
verlauten ließ – zuallererst versucht, von Wilhelm den
Namen der Klinik zu erfahren, in der ihre Nichte damals
behandelt worden war.
Von einer Klinik wusste Wilhelm nichts. Nur ein Arzt!
Und dieser Arzt hatte Wilhelm einen Namen und eine
Adresse in Hamburg genannt. Doch als Wilhelm später
einen Dankesbrief an diese Adresse schickte, kam der
postwendend zurück. Adressat unbekannt!
«Interessant, nicht wahr?», fragte Margret Rösch in
gemäßigterem Ton. «Welchen Grund hatte dieser Kerl,
einen falschen Namen anzugeben? Was hat er mit ihr
gemacht? Ich kann’s mir denken!»
Sie stieß die Luft aus und schüttelte den Kopf. «Wissen
Sie, was mich am meisten ärgert, Herr Grovian? Dass ich
Cora damals nicht habe hantieren lassen, als sie mit
diesem Zeug in meiner Küche saß.»
«Mit welchem Zeug?»
Margret Rösch seufzte und deutete ein verlegenes
Achselzucken an. «Heroin. Ich habe Ihnen doch erzählt,
dass sie meinte, ihr elender Zustand sei eine Folge des
Entzugs. Sie hatte sich am Bahnhof etwas besorgt und bat
mich, ihr die Spritze aufzuziehen. Ich habe es ihr
weggenommen. Ich dachte damals nur, sie kann nicht
damit umgehen, weil der Kerl ihr das Zeug gespritzt hat.
Aber inzwischen denke ich, wenn das der Fall gewesen
wäre, da hätte sie doch zumindest einmal sehen müssen,
wie er es aufzieht. Sie hatte keine Ahnung. Lassen Sie es
auf einen Versuch ankommen, wenn Sie mir nicht
glauben.»
Er glaubte ihr kein Wort mehr. Weder den angeblichen

298
Arzt mit falschem Namen noch den Rest. Margret Rösch
hatte Zeit genug gehabt, eine Absprache mit Grit Adigar
zu treffen. Die nette Nachbarin bereitete den Boden vor,
die rührige Tante setzte das Pflänzchen ein. Was sie
bezweckten, war ihm allerdings schleierhaft. Als
Krankenschwester konnte Margret Rösch kaum so naiv
sein zu glauben, er zöge in Betracht, dass ein
Medizinstudent in den ersten Semestern Cora Benders
Schädelverletzung verarztet hatte.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Anfragen an alle
Krankenhäuser in Hamburg und Umgebung richten zu
lassen. Und die freipraktizierenden Ärzte nicht zu
vergessen. Eine Arbeit für einen, der sich gerne die Ohren
wund telefonierte.
Um Horsti ausfindig zu machen, fehlten ihm die nötigen
Informationen. Außerdem war er hungrig. Nach dem
Gespräch mit Margret Rösch machte er noch einen
Versuch, zu einer vorzüglichen und preiswerten Mahlzeit
zu kommen. Es war ein paar Minuten nach achtzehn Uhr,
und das Steak war wirklich üppig und ausgezeichnet, auch
die Beilagen ließen nichts zu wünschen übrig. Er hatte
Mechthild gesagt, dass es sehr spät werden könne und sie
mit dem Essen nicht auf ihn warten solle.
Etwas länger als eine Stunde saß er in gemütlich
rustikaler Umgebung und versuchte sich vorzustellen, wie
es zu «Aladins» Zeiten ausgesehen haben mochte. Die
freundliche Bedienung konnte ihm nicht weiterhelfen,
lebte erst sei zwei Jahren in Buchholz, hatte niemals von
Johnny, Böcki und Tiger, auch niemals von Frankie oder
Horsti gehört.
Kurz vor acht trat er die lange Heimfahrt an. Um einiges
klüger als zuvor und keinen Schritt weiter. Im Gegenteil!
Auf der Rückfahrt waren es trotz der späten Stunde
insgesamt vier Staus, zusammen mit den diversen
299
Baustellen ergaben sie sieben Stunden. Um halb vier in
der Nacht war er daheim.
Mechthild schlief, auf seinem Kopfkissen lag ein Zettel,
er möge unbedingt noch Werner Hoß anrufen. Doch auch
für unbedingt war es zu spät. So leise wie möglich kroch
er neben Mechthild ins Bett. Die Augen brannten ihm vor
Müdigkeit, der Kopf brummte, Nacken und Schultern
waren völlig verspannt. Er brauchte keine zwei Minuten,
um einzuschlafen.
Am nächsten Morgen erfuhr er, dass Cora Bender
versucht hatte, die Ermittlungen auf ihre Weise zu
beenden. Es traf ihn wie ein Peitschenhieb. Wenn er ihr
eine geladene Pistole gereicht hätte, hätte er sich nicht
halb so elend gefühlt.
Ein Päckchen Papiertücher! Nur noch knapp zur Hälfte
gefüllt! Wie hatte er sich nur eine Sekunde lang einbilden
können, zumindest eine Ahnung zu haben, was in ihrem
Kopf vorging?
Minutenlang saß er an seinem Schreibtisch, saß nur so
da und starrte die Kaffeemaschine an. Am Boden der
Kanne hatte sich erneut ein brauner Film gebildet. Um
halb zehn verließ er das Büro, besorgte in einem
Supermarkt eine Flasche Spülmittel und einen
Scheuerschwamm. Dann schrubbte er nicht nur die Kanne,
er polierte die alte Maschine, bis sie dastand wie neu. Und
er sah es nicht einmal.
Er sah nur ihre Hand, die das harmlose Päckchen
umklammerte. Irgendwann hörte er auch ihre Stimme:
«Sie haben keine Ahnung, was passiert, wenn ich mit
Ihnen rede. Es wird alles lebendig.»
Jetzt hatte er eine Ahnung. Zumindest wusste er jetzt,
welchen Geist er heraufbeschworen hatte. Die büßende
Magdalena.

300
Sie lag auf einem Bett. Hände und Füße hatte man ihr
mit breiten Stoffmanschetten fixiert. Der Kopf schmerzte
und summte von Benommenheit, dem heftigen Schlag,
den sie sich versetzt hatte, und einer Injektion, etwas zur
Beruhigung hatte man ihr gegeben. Das wusste sie noch.
Sie hatte getobt, um sich geschlagen, getreten, gebissen,
geschrien, war kaum zu bändigen gewesen.
Etwas davon war haften geblieben, aber die Eindrücke
waren zu vage, um sich damit zu beschäftigen. Seit man
sie in das Zimmer gebracht hatte, lag sie still auf dem
Rücken und dämmerte vor sich hin. Sie spürte zwar die
Fesseln an Hand- und Fußgelenken, auch die Steifheit in
den Gliedern und das breite Wundpflaster auf der Stirn,
aber es war alles egal.
Auch als der Kopf sich allmählich klärte, gab es keinen
Platz für Tränen. Ihr Herz schlug, sie atmete, konnte sogar
denken. Und trotzdem hatte sie aufgehört zu existieren.
Nur hatte sie die Ewigkeit um ein paar Minuten verfehlt
und war jetzt am schlimmsten Ort, den es gab. Endstation
Irrenanstalt!
Ihr Bett war nicht das einzige im Zimmer, aber die
anderen Betten waren leer. Nicht unbenutzt, das Bettzeug
war knittrig und gab beredtes Zeugnis, dass die Benutzer
sich anderswo frei bewegen durften. Sie nicht! Am
beschämendsten war noch die Windel. Sie fühlte sie
deutlich.
Irgendwann ging die Tür auf. Eilige Hände überprüften
die Fesseln, ein unbeteiligtes Gesicht schaute auf sie
hinunter.
«Wie fühlen Sie sich?»
Gar nicht! Sie wollte sich nicht mehr fühlen und drehte
den Kopf zur Seite. Von irgendwoher kamen zwei, drei
Tränen und versickerten im Bezug des Kissens, zwei, drei

301
weitere rannen an der Nase entlang und erreichten die
geschlossenen Lippen. Sie nahm sie mit der Zungenspitze
auf.
Sie war durstig, hätte sich jedoch eher die Zunge
abgebissen, als um einen Schluck Wasser zu bitten. Ihr
Hals schmerzte vor Trockenheit und der rüden
Behandlung, die Nase auch. Wund gescheuert, alles war
wund gescheuert.
Es war sehr hell im Zimmer, früher Nachmittag. Ein
Flügel des vergitterten Fensters war spaltbreit geöffnet.
Von draußen drang das Zirpen von Spatzen herein. Die
federnden, schmatzenden Schritte von Gummisohlen
verzogen sich wieder in Richtung Tür. Dann war sie
erneut allein – mit den Gedanken, den Erinnerungen, der
Angst und der Schuld.
Jeden Herzschlag fühlte sie, und bei jedem wünschte sie
sich, das dumme Ding möge endlich stillstehen. Sie
konzentrierte sich darauf. Wenn man allein durch den
Willen leben konnte, wie Magdalena es achtzehn Jahre
getan hatte, warum sollte man dann nicht auch allein durch
den Willen sterben können? Es ging nicht! Es ging immer
weiter.
Später wurde die Tür erneut geöffnet. Draußen war es
immer noch hell. Jemand kam herein mit einem Tablett in
den Händen. Das Abendmahl. Nur war es nicht das letzte
für eine Frau, die aus freiem Willen ihre Entscheidungen
treffen konnte, es war das erste für einen Zombie. Eine
Schnabeltasse und ein Brot, das jemand mit Käse belegt
und in kleine Würfel geschnitten hatte. Eine Hand griff an
ihr Kinn, eine zweite Hand hielt ihr die Tülle der Tasse an
die Lippen. Sie drehte den Kopf mit einer unwilligen
Bewegung zur Seite. Die Brühe lief ins Kopfkissen. Der
Geruch von Pfefferminze stieg auf. Eine Stimme sagte in
gleichgültigem Ton: «Wenn Sie nicht freiwillig essen und
302
trinken, werden Sie zwangsernährt. Also, machen Sie den
Mund jetzt auf oder nicht?»
Sie machte ihn nicht auf. Der Durst war fast unerträglich
geworden, der Hals völlig ausgedörrt, die Zunge
angeschwollen.
Wer immer gekommen war mit dem Tablett, er ging
wieder. Die Tür fiel ins Schloss. Aber nicht lange, da
wurde sie erneut geöffnet. Und diesmal kam ER.
Schon als er sich über sie beugte, wusste sie, wer er war.
Er trug den Sachverstand um sich wie eine Aura. Es
blitzte in seinen Augen, strömte ihm mit jedem Atemzug
aus der Nase. «Ich habe das Wissen und die Macht! Ich
bin es, der dich retten kann aus der ewigen Verdammnis.
Vertrau dich mir an, und du wirst dich leicht fühlen.»
Da war ein letzter Rest von Renitenz in ihr. Und dieser
Rest dachte: Irrtum, du Würstchen. Hast du ein
Kartenspiel dabei?
Seine Stimme klang freundlich. «Sie möchten nicht
essen?»
Sie war nicht sicher, ob sie ihm antworten sollte. Wer
wusste denn, was er aus ihren Antworten ableitete? Am
Ende ließ er sie nie mehr aus diesem Zimmer, nie mehr
aus diesen Windeln, nie mehr aus seinen Klauen.
Dann entschloss sie sich doch, einen Versuch zu wagen.
Nur um ihm zu zeigen, dass er sich an ihr die Zähne
ausbiss. Eine süchtige Hure, hart geworden auf der Straße.
Da wurden alle hart. Es war nur ein Krächzen, der raue
Hals wollte nicht so wie sie. «Vielen Dank, ich bin nicht
hungrig. Aber wenn Sie eine Zigarette für mich hätten,
wäre ich Ihnen dankbar.»
«Das tut mir Leid», sagte er. «Ich habe keine Zigaretten
bei mir. Ich rauche nicht.»

303
«So ein Zufall», krächzte sie. «Haben wir schon eine
Gemeinsamkeit. Ich rauche nämlich auch nicht. Das hab
ich mir vor zehn Jahren abgewöhnt. Ich dachte nur, mit
einer Zigarette kriege ich wenigstens eine Hand frei.»
«Möchten Sie eine Hand frei haben?»
«Eigentlich nicht. Ich liege ganz bequem so. Ich würde
mich nur gerne mal an der Nase kratzen.»
Sie hatte ein anderes Wort als Nase benutzen wollen, ein
ordinäres. Arschloch! Das war Magdalenas dreckiges
Wort, und es wollte nicht über ihre Lippen.
«Wenn Sie vernünftig sind, sorge ich dafür, dass Ihre
Fesseln gelöst werden.»
«Habe ich noch nicht bewiesen, wie vernünftig ich
bin?», fragte sie. «Ich wollte dem Staat ein nettes
Sümmchen sparen. Man sollte die Todesstrafe wieder
einführen. Auge um Auge, so steht es in der Bibel. Leben
um Leben.»

Darauf ging er nicht ein. «Es liegt bei Ihnen», sagte er


ruhig. «Wenn Sie etwas essen, etwas trinken und Ihre
Medikamente nehmen …»
Es strengte an, ihm zu antworten. Aber wo sie nun
einmal angefangen hatte, wollte sie auch weitermachen.
«Was haben Sie denn Schönes für mich? Ein bisschen
Resedorm?»
Es war nur ein kurzes Aufblitzen im Hirn. Eine
gepflegte, schmale Hand und ein Glas Orangensaft. Es
verschwand auf der Stelle in Dunkelheit. Und in der
Dunkelheit fragte eine misstrauische Frauenstimme. «Was
gibst du ihr da?»
Die Stimme eines Mannes antwortete, vertraut, aber
nicht sanft, nur nüchtern. «Resedorm. So wirkt es am

304
schnellsten.»
Und die Frau sagte mit nörglerischem Unterton: «Aber
sie ist doch nicht richtig bei Bewusstsein. Kann sie
überhaupt schlucken?»
Der Mann erwiderte leicht ungehalten: «Das versuche
ich gerade herauszufinden. Und es wäre mir lieb, wenn du
still bist. Ich bin nicht sicher, ob sie uns versteht.»
Es war immer noch dunkel. Sie fühlte nur, dass sich eine
Hand unter ihren Nacken schob, und hörte dazu die
Stimme.
«Blinzeln Sie, wenn Sie mich verstehen.»
Sie blinzelte, aber vor ihren Augen war nur Nebel.
«Gut», sagte er. «Versuchen Sie, den Kopf zu heben. Ich
helfe Ihnen.» Und der kühle Rand des Glases berührte ihre
Lippen.
«Hübsch austrinken», sagte er. «Schön langsam,
versuchen Sie es. Ein Schlückchen und noch eins. Ja,
wunderbar, es geht doch. Sie dürfen gleich weiterschlafen.
Sie brauchen noch viel Schlaf.»
Der kam augenblicklich nach dem Glas Orangensaft.
Wie mit einem Sack über den Kopf gestülpt kam er. Es
war kein Sack! Es war ein Aschenbecher! Er stand auf
einem niedrigen Tisch.
Auch das war nur ein Aufblitzen im Hirn, grün, rot, blau
und gelb ausgeleuchtet. Es ergab keinen Sinn, war nur
unvermittelt da. Vielleicht, weil der Chef von einem
Aschenbecher gesprochen hatte. Aber es kam zusammen
mit dem metallischen Geschmack von Blut im Mund und
einem Schmerzensschrei, mehr einem Kreischen: «Das
Aas hat mich gebissen.»
Und eine Hand griff zum Tisch, tauchte mit einem
schweren Aschenbecher aus Glas vor ihrem Gesicht auf,

305
sauste hinunter – und dann nichts mehr. Nur der Gedanke
jetzt, fast ein Grinsen im Hirn.
Quäl dich nicht mit der Frage, wer dir den Schädel
eingeschlagen hat. Du weißt es doch! Es war einer von
den letzten Freiern, die auf ihre Weise bezahlten.
Der Sachverständige stand noch über sie gebeugt,
beobachtete die kleinen und winzigen Regungen mit
Argusaugen.
«Haben Sie Erfahrungen mit Resedorm?», erkundigte er
sich.
«Ich habe viele Erfahrungen», sagte sie. «An welchen
sind Sie denn am meisten interessiert?» Mit dem
ausgedörrten Hals hatte sie beim Sprechen ein Gefühl, als
jongliere sie Nadeln in der Kehle. Aber sie sprach weiter.
«An meinen Erfahrungen mit einer frommen Mutter? An
meinen Erfahrungen mit einem schwachen Vater? Oder an
meinen Erfahrungen mit Drogen?»
«Resedorm ist keine Droge», erklärte er. «Es ist ein
Schlafmittel.»
«Weiß ich doch», murmelte sie.
Als sie es aussprach, fiel es ihr wieder ein. Margret hatte
ihr Resedorm gegeben – auf Vorschlag ihres Freundes
Achim Miek. Ein Arzt und eine Krankenschwester …
Nein! Nein, so war das nicht gewesen. Achim Miek hatte
ihr niemals ein Glas an die Lippen gehalten, und Margret
hatte ihr nie einen Orangensaft gereicht! Zwei Tabletten
mit einem Glas Wasser hatte Margret ihr gegeben. Und
das eben war auch nicht Margrets Stimme gewesen.
Es musste die mürrische Krankenschwester gewesen
sein. Und der Arzt mit den feinen Händen und dem sauber
gestutzten Bart! Komisch, bisher hatte sie sich nie an ein
Glas in seiner Hand erinnert. Nur an die Injektionen. Und

306
an das, was er ihr gesagt hatte! Perverse Freier!
Sie war müde, nur noch müde. «Weiß ich alles»,
murmelte sie. «Und das sollten Sie mich tun lassen,
schlafen.»
Der Sachverständige blieb noch eine Weile neben dem
Bett. Sie kümmerte sich nicht weiter um ihn.
Als sie die Augen schloss, sah sie sich am Wasser
stehen. Der Kleine hockte zu ihren Füßen und schwenkte
den roten Fisch. Sein schmaler weißer Rücken, die runden,
glatten Kugeln der Schultern, der zierliche Nacken und
das weißblonde Haar ließen ihn aussehen wie ein
Mädchen. Wie Magdalena zu der Zeit, als sie nur ein
Bündel gewesen war, das von einem Raum in den anderen
getragen wurde, das sie hassen durfte mit der ganzen
Inbrunst und der Unschuld eines Kindes.
Warum war sie nicht hinausgeschwommen? Er wäre ihr
nicht gefolgt. Sie war doch für ihn nur die Frau gewesen,
die ihn übers Wochenende mit Joghurt und Äpfeln
fütterte, statt mit Kinderschokolade und Gummibärchen.
Dass er sie Mama genannt hatte, war ohne Bedeutung.
Irgendwann verband sein Unbewusstes den Begriff Mama
vielleicht mit dem Geschmack von Golden Delicious und
einem blutigen kleinen Schälmesser. Irgendwann würde
seine Großmutter zu ihm sagen: «Lasst uns froh sein, dass
sie fort ist. Sie war eine Schlampe. Was wir alles über sie
erfahren haben, nachdem sie weg war …»
Irgendwann hörte sie Schritte zur Tür gehen. Es war
nebensächlich. Der Sachverständige käme wieder – wie
ein Dämon, den sie selbst aus der Hölle heraufbeschworen
hatte.
Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.
«Der Zauberlehrling». Das Gedicht hatte sie für die
Schule lernen müssen. Es war eins von denen, die der Arzt

307
sie ständig hatte aufsagen lassen. Da hatte es ihr noch gut
gefallen. Jetzt gefiel es ihr nicht mehr. Es waren zu viele
Geister aufgetaucht.
Und der, der gerade die Tür hinter sich schloss, durfte
keine Ruhe geben, bis auch das letzte Körnchen Dreck an
die Oberfläche gezerrt war. Ein paar perverse Freier, die
einer süchtigen Hure den Schädel einschlugen, nachdem
sie ihren Spaß gehabt hatten. Das war seine Aufgabe,
dafür wurde er bezahlt.
Sie konnte sich auflehnen gegen ihn – und damit alles
hinauszögern. Aber es gab kein Entkommen, kein Recht
zu schweigen. Ihre Rechte hatte sie mit dem kleinen
Messer in den Mann gestoßen. Und die da draußen wollten
wissen, warum. Sie hätte es auch gerne gewusst. Das Lied
war kein vernünftiger Grund gewesen. Dass sie sich davor
einmal gefürchtet hatte, war schon fast nicht mehr wahr.
Irgendwann schlief sie ein, bemerkte nichts von den
Frauen, die ins Zimmer kamen und vielleicht an ihrem
Bett standen, vielleicht über ihr Gesicht strichen, vielleicht
auch über ihr Haar, bevor sie sich in ihre eigenen Betten
legten. Sie meinte am nächsten Morgen, es habe ihr
jemand in der Nacht über das Gesicht und das Haar
gestreichelt. Es musste Vater gewesen sein, der sie noch
einmal in den Arm nehmen und ihr vielleicht einen Teller
mit lauwarmer Bohnensuppe hatte bringen wollen, weil er
doch wusste, dass sie hungrig war wie ein Wolf.
Als sie aufwachte, waren die Betten schon wieder leer.
Und sie fühlte sich halb tot, erinnerte sich an einen wüsten
Traum kurz vor dem Erwachen, in dem sie sich die Nase
mit Papierfetzen verstopfte und sich einen Knebel in den
Hals stieß. Dann ein Schlag gegen die Stirn. Und nicht
einmal das Bewusstsein verloren. Die Panik, die Atemnot.
Das Rasseln des Schlüssels in der Tür. Die schrille
Stimme der Wärterin: «Um Gottes willen! Hab ich mir
308
doch gedacht, dass die durchdreht.» Fremde Finger im
Hals. Rote Kreise vor den Augen. Endstation Irrenanstalt.
Und das war kein Traum.
Es gab Frühstück, sie nahm etwas davon, als ihr die
linke Hand losgebunden wurde. Kurz nach dem Frühstück
wurden auch ihre rechte Hand und die beiden Füße von
den Fesseln befreit. Sie sollte aufstehen, sich waschen und
anziehen. Ihre Glieder waren taub vom Liegen, ihr
Verstand taub vor Angst. Um neun Uhr Termin beim
Chef, sagte man ihr.
Etwas in ihr weigerte sich, ihn so zu bezeichnen. Der
Chef war nach wie vor Rudolf Grovian, ein furchtbarer
Mann, der nie begreifen konnte, was er ihr angetan hatte.
Aber ihn hatte sie wenigstens belügen können. Bei einem
Psychiater hielt sie jeden Versuch für völlig aussichtslos.
Professor Burthe, sagte man ihr. Er sah auch aus wie ein
Professor, klein und mickrig. Ein Zwerg war er, das
musste er auch sein. Nur Zwerge konnten sich in fremde
Gehirne bohren, in jede Windung kriechen, hinter jede
Biegung spähen. Er gab sich freundlich wie am Abend,
verstrahlte Gelassenheit und Souveränität. Der gütige
Allvater, der seine Augen tief in die Herzen anderer
versenken konnte. Und er hatte die Augen offen.
Es gab keine Renitenz mehr, kein Aufbegehren. Sie war
klein geworden in der Nacht – mit Vater auf der Bettkante
und seinem verzweifelten Versuch, ihr seine Liebe zu
zeigen. Zu einem winzigen, durchsichtigen Menschlein
hatte er sie damit gemacht, das in einem bequemen Sessel
Platz nehmen durfte, um gemütlich zu sitzen, während es
sein Innerstes bloßlegte.
Der Professor begann mit der Frage, wie sie sich fühle.
«Beschissen», sagte sie und atmete tief durch. Ihre
Gelenke schmerzten, aber das war nicht so schlimm. Vater

309
hätte nicht kommen dürfen. Sie hatte doch eigens gesagt,
Margret solle verhindern, dass er kam. Sie begann das
linke Gelenk mit der rechten Hand zu massieren, hielt die
Augen darauf gerichtet und wartete auf die nächste Frage.
Er war so sanft, dass sie es kaum ertragen konnte. Weil
es falsch war und verlogen. Er wollte mit ihr über den
Sinn des Lebens reden und über die Flucht vor der Strafe.
«Ich wollte nicht vor der Strafe fliehen», sagte sie. «Ich
wollte mir nur nicht anhören müssen, was der Chef von
meinem Vater erfahren hat.»
«Was könnte er denn erfahren?»
Das geht dich einen Dreck an, du Zwerg, dachte sie.
Dass ich … Vater war einmal in unserem Zimmer und hat
im Nachttisch geschnüffelt. Es war ein einfacher
Nachttisch mit einem Schubfach oben und einer Klappe
unten. Hinter der Klappe bewahrte Magdalena ihre Musik
auf. Im Schubfach lagen ihre Medikamente. Und die
Kerze! Eine von denen, die Mutter für den Altar gekauft
hatte. Mutter kam nie ins Zimmer. Aber Vater. Und er
fand die Kerze. Er sah auch, dass ich sie nicht zum Beten
benutzt hatte. Der Docht war nämlich noch weiß. Und am
Ende war sie ein bisschen verschmiert.
Sie sah Vater bei der Tür stehen, schwankend zwischen
Abscheu und Enttäuschung. Die Kerze hielt er in der
Hand. Er streckte ihr die Hand entgegen. «Was geht hier
vor? Was treibst du damit?»
Sie hörte sich antworten: «Kannst du dir das nicht
denken? Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff,
wenn es um die Natur des Menschen geht. Hast du mir
nicht mal erzählt, wenn man älter wird, kommt man nicht
dagegen an? Ich habe auch eine Natur. Aber ich bevorzuge
die trockene Variante. Eine Kerze spritzt nicht, und sie
stinkt nicht. Leg sie wieder dahin, wo du sie gefunden

310
hast, und dann verzieh dich.»
Vater ließ die Kerze auf den Boden fallen und schlich
mit hängenden Schultern zur Treppe. Er weinte wie in der
Nacht, als er auf ihrem Bett saß und ihr sein Elend zu
erklären versuchte. Diesmal erklärte er nichts, er murmelte
nur: «Was ist aus dir geworden? Du bist ja schlimmer als
eine Hure.»

Mit den Jahren hat sich alles umgekehrt. Es hatte wohl


etwas mit Erwachsenwerden zu tun, mit Verstehen und
Begreifen. Es gibt Dinge, die will man nicht verstehen,
aber man muss. Dass ein Vater ein Mann ist. Dass er
Bedürfnisse hat wie jeder Mann. Dass er zornig wird und
ungerecht, wenn man ihm seine Befriedigung verweigert.
Irgendwie verstand ich ihn ja.
Als ich älter wurde, habe ich auch oft darüber
nachgedacht, wie es wohl ist, geliebt zu werden. Nicht nur
mit dem Herzen, auch mit dem Körper. Hingabe,
Leidenschaft, Zungenküsse, Orgasmus und solcher Kram.
Als ich älter wurde, gewöhnte ich mich an den Busen und
die Blutungen. Ich hatte keine Schwierigkeiten mehr,
Tampons zu benutzen. Und manchmal dachte ich eben, ob
ich jetzt den Tampon reinschiebe oder ob ein Mann … So
groß kann der Unterschied nicht sein, dachte ich. Und
wenn ein Mann das braucht!
Aber ich verstand auch Mutter, die damit nichts mehr zu
tun haben wollte. Im Grunde war Mutter ein
bedauernswertes Geschöpf. Ich meine, wenn eine Frau
nicht richtig ist im Kopf, kann sie doch eigentlich nichts
dafür. Mutter glaubte diesen Quatsch eben. Dass man es
nur tun darf, wenn man ein Kind zeugen will.
Solange sie nicht schwanger wurde, war es in Ordnung
gewesen, auch dreimal am Tag. Da durfte sie sich

311
einreden, dass sie sich große Mühe gibt, dem lieben Gott
einen Gefallen zu tun. Mutter hat nie begriffen, dass
zweitausend Jahre eine verdammt lange Zeit sind, in der
nun wirklich mehr als genug Menschen gemacht wurden.
Und dabei könnte es durchaus so sein, wie Margret es in
ihrem Brief damals schrieb. Dass der Erlöser mit all diesen
Verboten überhaupt nichts zu tun hatte. Dass der horrende
Blödsinn erst später von seinen Vertretern auf Erden
erfunden wurde. Und die Leute mussten es glauben. Was
hätten sie sonst tun sollen, wo sie nicht lesen und
schreiben konnten?
Wenn ich mir nur vorstelle, wie es in Buchholz war.
Eine Hand voll Höfe und die Böden so schlecht. Um das
bisschen Vieh, das sie hatten, über den Winter zu bringen,
mussten sie so manches Jahr das Stroh von den Dächern
nehmen. Vater erzählte mir einmal, dass ein fettes
Schwein zu der Zeit hundert Pfund wog. Das muss man
sich mal vorstellen: Hundert Pfund waren ein fettes
Schwein. Darüber kann man heute nur lachen. Und dann
die Pest und dreißig Jahre Krieg.
Sie waren arm, sie waren dumm, sie wussten meist nicht,
wie sie ihre Kinder satt bekommen sollten. Wenn da einer
predigte: Es ist Sünde, es ist schlecht und
verdammenswürdig, dem Geschlechtstrieb nachzugeben,
schauten sie sich ihre Kinder an und dachten, Mensch, der
hat Recht. Wenn wir es lassen, kommen keine Mäuler
mehr nach, die wir stopfen müssen.
Und gerade die Frauen. Der Fluch Evas. Denen hat doch
keiner etwas gegeben, wenn sie in den Wehen lagen. Das
gehörte dazu. Unter Schmerzen sollst du …
Mutter hat sich, als ihr die Verantwortung zu viel wurde,
als sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, in diese
Armut und diese Dummheit geflüchtet. Und da ist sie

312
hängen geblieben. Da musste sie sich nicht länger mit dem
Baby auseinander setzen, das sie nicht wollte – und nicht
bekommen hat. Dass es nicht gut gewesen war, es
abzutreiben, hatte sie wohl auch vorher gewusst. Aber
vorher waren da bestimmt ein paar Leute, die es besser
fanden, als aufrechte Deutsche nicht ein Kind vom Feind
in die Welt zu setzen. Denen hatte sie geglaubt.
Mutter brauchte immer einen, der ihr sagte, was gut und
was richtig ist. Als sie jung war, glaubte sie an den Führer,
etwas später glaubte sie an einen Sieger, an sich selbst
glaubte sie nie. Mir glaubte sie eine Weile, wenn ich sagte,
was sie gerne hörte. Mit ein paar Bibelsprüchen konnte
man sie um den Finger wickeln.
Die Mühe hat Vater sich nie gemacht. Wenn er spät in
der Nacht und noch dazu betrunken heimkam, erzählte er
ihr, sie hätten in der Firma noch etwas gefeiert und er
könne sich nicht immer drücken. Mutter wusste so gut wie
ich, dass er bei einer anderen Frau gewesen war.
Seit ich ihn im Bad erwischt hatte, ging er häufig zu
Huren. Anschließend soff er sich den Kragen voll, weil er
sich mies fühlte. Und die Wut auf sich selbst, die
Verachtung, die er für sich empfand, ließ er an Mutter aus.
Wenn er sie vom Kreuz weg an den Herd scheuchte, damit
sie ihm das Essen noch einmal aufwärmte, tat sie mir Leid.
Da konnte ich nicht anders. Ich sagte: «Lass nur, Mutter,
ich mache das schon.»
Manchmal hätte ich weinen mögen, wenn ich sie zurück
ins Wohnzimmer schleichen sah. Ich war erst vierzehn,
fünfzehn und fühlte mich so alt. Als ob ich zwei Kinder
hätte, die beide größer waren als ich und viel älter. Aber
das änderte nichts an der Tatsache, dass sie Kinder waren.
Dass ich die Verantwortung trug, für sie sorgen und sie
erziehen musste.

313
Bei Mutter gab es nicht viel zu erziehen. Sie war ein
braves Mädchen. Nicht mal schmutzige Gedanken hatte
sie, nur schmutzige Unterwäsche. Aber Vater war ein
wüster Bengel, mit dem man nicht streng genug reden
konnte. Schon mit fünfzehn sagte ich zu ihm: «Wie viel
hat dich die Hure heute gekostet? Hundert? Zweihundert?
Ich brauche dreihundert für diese Woche. Es ist alles
teurer geworden. Und hier sind schließlich noch andere im
Haus, die haben auch Bedürfnisse.»
Und Vater schaute mich an, während ich ihm sein Essen
vorsetzte. Er sagte nie etwas, zog nur die Geldscheine aus
der Brieftasche und schob sie über den Tisch. Er
verachtete mich für die Ausdrücke, die ich gebrauchte, das
wusste ich. Und ich verachtete ihn, das wusste er.
Wir waren Feinde geworden. So wie eine Mutter und ihr
Sohn Feinde werden im Laufe der Zeit. Weil der Sohn
Dinge tut, von denen die Mutter meint, er solle sie besser
noch lassen. Weil der Sohn weiß, dass die Mutter diese
Dinge auch einmal getan hat – oder in meinem Fall noch
tun wird. Aber die Mutter ist die Stärkere von beiden.
Solange sie zusammen unter einem Dach leben, hat sie
viel Macht über den Sohn. Er liebt sie ja, und er wünscht
sich von ganzem Herzen, dass sie ihn liebt, dass sie stolz
ist auf ihn. Und wenn er hundertmal auf sie schimpft und
flucht, wenn er sie tausendmal anbrüllt, ihr seine Wut und
seine Enttäuschung ins Gesicht wirft. Es ist nur
Verzweiflung, Einsamkeit und die Angst, verlassen zu
werden vom letzten Menschen, der ein bisschen Liebe
geben könnte.
Nicht Mutter, ich habe Vaters Rückgrat gebrochen. Es
war meine Schuld, dass er sich Mutter anschloss. Dass er
nicht nur das Bett mit ihr teilte auf seine alten Tage, auch
das Kreuz. Dass er vergaß, er war ein Mann. Dass er es
völlig vergaß, als sei ihm der Beweis nun endlich

314
abgefault.
Ich habe mich später oft gefragt, wie ich das tun konnte;
für Geld mit irgendwelchen Männern schlafen. Ich weiß,
warum ich es getan habe. Weil ich das Geld brauchte. Und
irgendwann brauchte ich auch Stoff gegen den Ekel – und
damit brauchte ich noch mehr Geld. Aber das hat mir als
Erklärung nie gereicht. Und das Blöde ist, ich erinnere
mich nicht an die Zeit.
Dass wir einmal Hasch geraucht haben in Horstis Auto,
weiß ich noch. Horsti hatte sich so einen Prügel gedreht
und ließ mich mal ziehen. Und dann sagte er, ich hätte es
falsch gemacht, weil ich den Rauch sofort wieder
ausgeblasen hatte. Das ist alles, woran ich mich erinnere,
der Rest ist weg. Ob das eine Folge der Sucht ist oder ob
es eher etwas mit der Kopfverletzung zu tun hat, weiß ich
nicht.
Der Arzt damals meinte, es könne sowohl das eine als
auch das andere, es könnte durchaus ein
Verdrängungsprozess sein. Weil ich Dinge getan hatte,
von denen ich wusste, dass kein normaler Mensch sie tut.
Und ich wollte doch normal sein. Ich wollte nicht
nachdenken müssen über die Männer, an die ich mich
verkauft hatte. Deshalb habe ich sie alle hinter die Mauer
geschoben. Ich wollte nicht, dass sie in meinem Kopf
Gesichter bekamen und Körper und Hände, die mich
anfassten. Ich wollte sie nicht vor mir sehen und sie nicht
fühlen müssen, wenn ich mich erinnerte. Ich wollte mich
eben nicht erinnern.
Und trotzdem habe ich mich oft gefragt, ob es alte oder
junge waren. Ich denke, zu Anfang müssen es in der
Hauptsache alte gewesen sein. Männer wie Vater, die
daheim zu kurz kamen, die sich das, was sie brauchten,
nachts im Bad oder abends auf der Straße holen mussten.
Die nichts weiter wollten als ein bisschen Zärtlichkeit und
315
das Gefühl, dass sie überhaupt noch Männer sind. Und
manchmal habe ich mich dann gefragt, warum ich es
meinem Vater nicht angeboten habe.
«Du kannst zu mir kommen, wenn du es so dringend
brauchst. Sei ehrlich, du hast auch schon daran gedacht, zu
mir zu kommen. Mach dir keine Sorgen, du opferst kein
Lamm. Ich bin nie ein Lamm gewesen. Ich war immer der
Wolf. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich bei Aldi und
Woolworth zusammengerafft habe. So wie ich in Mutters
Bauch alles zusammengerafft habe. All ihre Kraft habe ich
mir über die Nabelschnur geholt. Ich habe Mutters Gehirn
ausgedörrt und sie in den Wahnsinn getrieben. Ich bin ein
Werwolf, nachts springe ich aus meiner Kiste und fresse
unschuldige Kinder. Und alten Männern, die sich nicht
wehren können, ziehe ich die Haut vom Leib und reiße
ihnen das Herz heraus. Ich bin das personifizierte Böse,
Satans Tochter. Und da du mein Vater bist, musst du Satan
sein. Komm in meine Arme, du armer Teufel! Als ich
noch klein war, hast du das zu mir gesagt. Jetzt sage ich es
zu dir.»
Gesagt habe ich es nie. Aber auf meine Weise habe ich
wohl versucht, mich bei Vater zu entschuldigen. Vielleicht
habe ich in jedem Mann, mit dem ich zu Anfang noch auf
normale Weise schlief, ihn gesehen. Vielleicht habe ich
irgendwann wirklich begriffen, dass Männer ihren
Bedürfnissen ausgeliefert sind. Nicht jeder hat die Kraft
eines Erlösers, der verzichten konnte. Und verstehen und
verzeihen – sogar der Hure Magdalena.

316
11. Kapitel

Ihre Stunde war um. Der Professor hatte sie gebeten, ihm
von ihren Erfahrungen mit der frommen Mutter und dem
schwachen Vater zu berichten. Und sie hatte es getan. Um
es möglichst schnell hinter sich zu bringen, hatte sie auch
den Dreck ausgebreitet. Leicht war es nicht gewesen. Aber
sie hatte es geschafft, war zufrieden mit sich und
überzeugt, dass der Professor ihre Worte umgehend an den
Staatsanwalt weiterleiten würde.
Vielleicht kam dann einer auf die Idee zu glauben,
Frankie sei nur ein ehemaliger Kunde gewesen. Das war
auch keine üble Erklärung! Sie hatte ihn töten müssen, ehe
er sie erkannte und ihrem Mann gegenüber ein
verräterisches Wort verlauten ließ.
Bei dem Gedanken an Gereon schoss ihr kurz etwas
Heißes in die Augen. Es ging rasch vorbei. Die Jahre mit
ihm waren wie die Haarspangen und Lippenstifte, bei
Woolworth gestohlen und auf dem Schulhof an andere
Mädchen verkauft oder verschenkt. Aus und vorbei, für
immer und alle Zeiten. Spätestens vor Gericht musste
Gereon sich anhören, wem er Treue geschworen hatte.
Zu Mittag gab es Kartoffelpüree mit einer
undefinierbaren Gemüsebeilage, es war alles völlig
zerkocht. Das Fleisch war in kleine Würfel geschnitten, es
bestand zum größten Teil aus Fett und Sehnen und
schwamm in einer unappetitlichen braunen Tunke. Als
Nachtisch war ein Becher Fruchtjoghurt vorgesehen.
Auf dem Tablett lag ein weißer Plastiklöffel. Er erinnerte
sie an den See und wühlte alles noch einmal auf. Warum
hatte das Kind nicht nach einem Joghurt fragen können?
Mit einem kleinen Plastiklöffel hätte sie Frankie höchstens
317
das Gesicht zerkratzt.
Sie aß ein wenig Püree. Es schmeckte nach Pappe. Mit
dem Joghurt stellte sie sich an das vergitterte Fenster,
schaute den Himmel an und fragte sich, wo die Leute aus
den anderen Betten zu Mittag aßen. Ob man sie für so
gefährlich hielt, dass sie nicht zusammen mit den anderen
essen durfte. Ob es überhaupt Leute gab oder ob die
benutzten Betten sie nur vortäuschen sollten. Vielleicht
war das ein Test, um festzustellen, wie viel von ihrem
Verstand noch übrig war. Vielleicht wollte der Professor
sie beim nächsten Gespräch fragen, wie sie mit den Leuten
im Zimmer zurechtkäme?
Sie dachte eine Weile nach, welche Antwort sie ihm
geben könnte. Dann überlegte sie die Sache mit Frankie
als Kunden gründlich. Wenn der Professor nicht von allein
auf den Gedanken kam, musste sie ihn mit der Nase darauf
stoßen.
Zuletzt fragte sie sich, ob Magdalena erleichtert gewesen
war, als sie oben ankam und feststellen musste, dass
Mutter noch nicht da war. Ob Magdalena seitdem
unentwegt heilig, heilig, heilig rief und sich dabei
langweilte. Oder ob sie in einer stillen Ecke dem Erlöser
gegenübersaß. Von Angesicht zu Angesicht. Irgendwann
hatte Magdalena auf ein Bild in der Bibel gezeigt und
gesagt: «Stell ihn dir mit einem vernünftigen Haarschnitt
und glatt rasiert vor. Dann sieht der Typ nicht übel aus.»
Frankie hatte auch nicht übel ausgesehen. Ein hübsches
Gesicht hatte er gehabt, männlich, aber hübsch. Sie
dürften ihr kaum glauben, wenn sie behauptete, er sei ein
Kunde gewesen. So einer hatte es nicht nötig, zu einer
Hure zu gehen. So einer war auch nicht pervers.
Sie sah ihn noch deutlich vor sich – ohne Blut. Dieser
eine Moment, als er sich aufrichtete und gegen das Lied

318
protestierte. Vielleicht hatte es ihn ebenso gequält, wie es
sie gequält hatte. Vielleicht war er dankbar gewesen, als
sie ihn von seiner Qual erlöste. Wie er sie angeschaut hatte

Bis kurz nach zwei stand sie am Fenster. Stand nur da
und war glücklich, dass man sie nicht wieder ans Bett
gebunden hatte. Das Tablett wurde abgeholt. Es gab eine
Rüge, weil sie das Gemüseeinerlei und das Fleisch nicht
angerührt hatte. Sie lächelte zur Entschuldigung und zeigte
auf ihre Kehle. «Es tut noch weh beim Schlucken. Aber
das Joghurt habe ich aufgegessen. Und wenn es morgen
Suppe gibt, esse ich bestimmt zwei Portionen.» Dann war
sie wieder allein.
Zweimal hörte sie hinter sich ein Geräusch an der Tür.
Sie drehte sich nicht um, wusste auch so, was das
Geräusch verursachte. Ein wachsames Auge. Kurz nach
zwei war es dann ein Schlüssel. Sie dachte an Kaffee und
ein Stück von dem trockenen Kuchen aus dem Dürener
Krankenhaus, wo sie nach der Geburt des Kindes eine
kurze Zeit verbracht hatte. Dort hatten sie den
Nachmittagskaffee immer zu Mittag serviert – und am
Nachmittag das Abendessen, weil sie Feierabend haben
wollten.
Die Tür wurde geöffnet, sie drehte sich um. Und im
selben Augenblick sprang die Furcht sie an wie ein
wütender Hund. Der Chef! Eine neutrale, fast
geschäftsmäßige Miene hatte er aufgesetzt, hinter der er
alles verbarg, was er von Vater gehört haben musste.

Hinter der unbewegten Miene versteckte Rudolf Grovian


nur die eigenen Gefühle. Mea culpa! Mechthild war
derselben Meinung gewesen. Er war über Mittag
heimgefahren, hatte es nicht ausgehalten im Büro mit der

319
blitzblanken Kaffeemaschine und dem Stuhl vor Augen,
auf dem sie gesessen hatte. Mechthild hatte nicht mit ihm
gerechnet, er kam sonst nie mittags heim. Da musste er
nicht viel sagen. Sie fragte von sich aus: «Was ist los,
Rudi?»
Und nachdem er es erklärt und auch gesagt hatte, was er
seiner Meinung nach als Nächstes tun musste, sagte sie:
«Rudi, du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank. Lass
das arme Ding doch in Ruhe. Du kannst ihr nicht helfen,
du machst nur noch mehr kaputt. Da, wo sie jetzt ist, ist
sie gut aufgehoben.»
«Gut aufgehoben, dass ich nicht lache! Hast du eine
Ahnung, wie es in der Psychiatrie zugeht?»
«Nein, Rudi», sagte Mechthild und schlug ein paar Eier
für ihn in die Pfanne, «und ich will auch keine haben. Ich
habe nämlich schon eine Ahnung, wie es bei euch zugeht.
Das reicht mir. Kein Mensch sagt etwas, wenn du dich
zusammen mit Hoß auf einen Kerl stürzt, der es verdient
hat. Aber so eine junge Frau! Rudi, bedenk doch, was sie
mitgemacht hat.»
Das bedachte er unentwegt. Und das Gesetz verpflichtete
ihn, nicht nur gegen sie zu ermitteln, sondern auch alles
zusammenzutragen, was zu ihrer Entlastung beitragen
konnte. Das erklärte er Mechthild. Und sie sagte: «Dann tu
das, Rudi. Tu das, um Gottes willen, und geh mit allem,
was du findest, zum Staatsanwalt. Aber nicht zu ihr.
Bestimmt nicht mit der Nachricht, dass ihr Vater im
Sterben liegt. Was willst du ihr denn noch alles aufladen?»
Wie er sie da am Fenster stehen sah, ein Häufchen
Elend, dessen Gesicht in den Farben des Regenbogens
schillerte. Auf der Stirn das frische breite Heftpflaster. Er
dachte an die Utensilien in seiner Jackentasche und an die
Nachricht, die er für sie hatte. Und im Hinterkopf sagte

320
Mechthild noch einmal: «Rudi, du hast nicht alle Tassen
im Schrank.»
Die Tür wurde hinter ihm geschlossen. «Es tut mir
Leid», begann er und rechnete, als er weitersprach, fest
damit, dass sie mit den Fäusten auf ihn losging. Er
überlegte bereits, wie er verhindern konnte, dass man sie
in eine Zwangsjacke steckte. Aber sie sackte nur ein wenig
mehr in sich zusammen, fixierte ihn aus feuchten Augen
und schürzte die zitternde Unterlippe wie ein Kind, das
gerne weinen möchte und weiß, dass es verboten ist.
«Möchten Sie sich nicht lieber setzen, Frau Bender?»
Sie schüttelte den Kopf. «Ein Schlaganfall?», flüsterte
sie.
«Wie geht es ihm denn? Wird er es überleben?»
«Die Ärzte sind sehr zuversichtlich», log er. «Und
Margret weicht nicht von seiner Seite.»
«Das ist gut», murmelte sie. Dann ging sie doch zum
Bett und setzte sich. Er ließ ihr ein paar Minuten, sah, wie
sie sich von dem Schock erholte, wie sie Hoffnung
schöpfte. Ihre Schultern strafften sich. Sie hob den Kopf
und schaute ihn an.
«Dann haben Sie wohl nicht mit ihm sprechen können?»
«Nein.»
Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Sie wirkte mit einem
Mal sehr zufrieden. «Gut!», sagte sie. «Und ich will nicht
mit Ihnen sprechen. Gehen Sie!»
Er rührte sich nicht von der Stelle. Obwohl er plötzlich
fand, es sei die beste Lösung. Die Psychiatrie mochte der
blanke Horror sein für einen, der sie nicht brauchte, aber
als Sachverständiger genoss Professor Burthe einen
hervorragenden Ruf. Er würde aufdecken, warum Georg
Frankenberg hatte sterben müssen. Er würde garantiert

321
auch herausfinden, ob, wann und unter welchen
Umständen Cora Bender Frankenberg vor Jahren kennen
gelernt, ob Heroin eine Rolle dabei gespielt hatte oder ob
sie damit erst später in Berührung gekommen war. Was er
mit ihr vorhatte, war im Grunde genommen Unsinn. Es
hatte keine Beweiskraft vor Gericht. Es war auch nicht
geeignet, die Verbindung zu Frankenberg herzustellen.
Und sich persönlich Gewissheit verschaffen zu wollen, ob
ihre Tante nur wieder ein Ablenkungsmanöver gestartet
hatte …
Er atmete einmal tief durch. «Ich verstehe, dass Sie
wütend auf mich sind, Frau Bender. Ich verstehe auch,
dass Sie nicht mit mir reden wollen. Aber ich bin nicht
gekommen, um mit Ihnen zu reden. Ich wollte Sie nur
bitten, etwas für mich zu tun.»
Sie schaute ihn an, fragend, erstaunt – und immer noch
zufrieden. Er griff in die äußere Jackentasche. Verflucht!
Jetzt hatte er den Kram beschafft. Und jetzt wollte er es
wissen. Er zog eine Plastiktüte aus der Tasche, ging damit
zum Tisch und breitete die Sachen aus. Eine noch
verpackte Spritze, ein hitzebeständiger Löffel, ein
Kerzenstummel, ein Gummiband zum Abbinden und ein
kleines Tütchen mit pudrigem Inhalt.
Ihre Augen wanderten über die Utensilien. Ihr Gesicht
verzog sich in eisiger Abwehr. «Was soll das? Sie mögen
die Amerikaner, was? Das ist doch nicht schlecht mit
Gaskammer und Giftspritze, spart dem Staat ein
Vermögen, und wir sind ja ziemlich pleite. Was soll ich
denn für Sie tun? Mir den goldenen Schuss setzen?»
«So viel ist nicht im Tütchen», sagte er.
Sie hob desinteressiert die Schultern an. «Also nur was
zur Aufheiterung? Das ist lieb gemeint, trotzdem vielen
Dank. Wissen Sie, ich kriege hier Stoff genug. Ich bin

322
gespannt, ob ich mir das Zeug, das die mir hier servieren,
später genauso leicht abgewöhnen kann wie das da.»
«Haben Sie sich das hier so leicht abgewöhnen
können?»
Ihm war nach einem kleinen Schmunzeln. Es schien ein
winziger Hinweis, dass ihre Tante in diesem Punkt
Tatsachen ausgesprochen hatte. «Da sind Sie aber die
große Ausnahme», fügte er an. «Andere kriegen das
heulende Elend dabei.»
«Das habe ich verschlafen», erklärte sie patzig.
Er nickte kurz. «Bei dem netten Arzt, nehme ich an. Ein
Arzt hat natürlich Möglichkeiten, einem den Entzug
leichter zu machen. Aber nach allem, was ich bisher
gehört habe, lassen die Ärzte einen damit durch die Hölle
laufen, damit man auch gründlich kuriert wird. Na ja, es
gibt wohl verschiedene Höllen. Darüber reden wir später.»
«Ich rede gar nicht», sagte sie nachdrücklich. «Nicht
jetzt und auch nicht später.»
«In Ordnung», sagte er. «Sie müssen nicht reden. Sie
sollen sich das hier auch nicht spritzen. Zeigen Sie mir
nur, dass Sie damit umgehen können.»
Sie lachte leise und abfällig. «Ach, darum geht’s. Haben
Sie mit Margret gesprochen? Was hat sie Ihnen erzählt?
Dass ich die Spritze damals nicht aufziehen konnte?
Wissen Sie, das ist eine Sache für sich, wenn man nicht
weiß wohin. Wenn man Angst hat, rausgeworfen zu
werden, weil man ohnehin schon eine Menge Scherereien
macht, und wenn man dann auch noch beim Fixen
erwischt wird. Da muss man sich was einfallen lassen.»
Noch einmal lachte sie leise auf. «Was passiert, wenn
ich Ihnen zeige, dass ich mit dem Zeug umgehen kann?
Lassen Sie mich dann endlich in Ruhe?»

323
Als er nickte, stand sie vom Bett auf und kam zum
Tisch. Sie hob den rechten Zeigefinger, als ermahne sie
ein Kind zur Aufmerksamkeit. «Gut, dann treffen wir
beide jetzt eine Abmachung. Ich zeige es Ihnen. Und dafür
lassen Sie nicht nur mich in Ruhe, sondern auch meinen
Vater. Ich will Ihre Hand drauf.»
Er reichte ihr die Hand, wunderte sich kurz über ihre
zierlichen Finger und den festen Händedruck. Nachdem er
sie wieder losgelassen hatte, gab er ihr ein Feuerzeug.
Sie seufzte, betrachtete die verpackte Spritze und das
Gummiband. «Das mache ich mir aber nicht um den
Arm», erklärte sie. «Das Gefühl mochte ich damals schon
nicht. Es reicht doch, wenn ich die Spritze aufziehe. Ich
setze sie dann auf dem Handrücken an. In die Arme käme
ich sowieso nicht rein. Ist das in Ordnung?»
Er nickte noch einmal.
«Na, dann lassen Sie mich mal überlegen. Das ist ja
schon eine Weile her.» Sie legte einen Finger an ihre
Schläfe, dann entschied sie: «Zuerst kleben wir mal die
Kerze auf den Tisch. Wenn hier Wachsreste bleiben, das
erklären Sie denen aber. Es war Ihre Idee.»
«Sie müssen die Kerze nicht auf den Tisch kleben, Frau
Bender», sagte er noch. Da hatte sie das Feuerzeug schon
an den Docht gehalten, drehte den Stummel über der
Tischplatte und ließ Wachs heruntertropfen.
«Das ist aber sicherer», meinte sie, «wenn einem die
Hände zittern. Und die zittern ja meist. Da steht sie
wenigstens fest. Dann kann man sich auf den Löffel
konzentrieren und verschüttet nichts von dem kostbaren
Zeug. So, was kommt als Nächstes?»
Sie griff nach dem Tütchen, rieb es zwischen den
Fingern und beäugte das weiße Pulver durch das Plastik.
«Was ist das? Das ist doch kein Stoff! So was dürfen Sie

324
mir gar nicht geben.»
Sie schob die Zunge in die Backentasche, betrachtete ihn
nachdenklich. «Das würden Sie auch nicht tun. So blöd
sind Sie nicht. Sie wissen genau, dass ich Sie verpfeife,
kaum dass Sie den Rücken gedreht haben. Was haben Sie
reingetan? Mehl ist das nicht, das ist nicht so hell.»
Als er nicht antwortete, erklärte sie: «Ich frage nur
wegen der Auflösung. Es soll ja keine Klümpchen geben,
dann kriege ich es nicht durch die Nadel.»
Er schwieg. Sie zuckte gleichgültig mit den Achseln, riss
das Tütchen vorsichtig auf, roch zuerst daran, befeuchtete
dann einen Finger und steckte ihn hinein. Sie ließ ihn nicht
aus den Augen, während sie den Finger langsam zum
Mund führte und kurz gegen die Zungenspitze stippte.
«Puderzucker», stellte sie fest. «Das ist nicht fair. Wo
ich so verrückt nach Süßem war. Haben Sie vielleicht auch
ein Stückchen Butter in der Tasche? Dann mache ich uns
ein schönes Karamellbonbon. Davon hätten wir mehr als
von dem Quatsch.»
Als er nicht reagierte, sich nur plötzlich so dumm und
dämlich fühlte und Margret Rösch mit ihren Ansichten,
die nichts weiter waren als Vernebelungstaktik, zum
Teufel wünschte, zuckte sie noch einmal mit den Achseln.
«Na schön. Bringen wir es hinter uns.»
Sie kippte den Inhalt des Tütchens in den Löffel, ging
damit zum Waschbecken, drehte den Hahn auf und
regulierte, bis es nur noch tröpfelte. Dann hielt sie den mit
Zucker gefüllten Löffel darunter und nickte bei jedem
Tropfen, der darin versank. Es sah fast aus, als zähle sie
mit. Zweimal rührte sie behutsam mit einer Fingerspitze in
der Masse. Dann war sie anscheinend zufrieden mit der
Konsistenz, drehte den Wasserhahn wieder zu und kam
zum Tisch zurück. Sie lächelte ihn an, als sie den Löffel

325
über die Kerzenflamme hielt. Er bemühte sich um eine
neutrale Miene.
«Hier ist das Wasser wenigstens sauber», sagte sie.
«Früher haben wir das aus den Klobecken geschöpft. Wer
weiß, was ich mir da für einen Scheiß in die Arme gejagt
habe. Da braucht man sich nicht wundern, dass es
aussieht, als hätten Ratten dran gefressen.»
Sie war unsicher, es war nicht zu übersehen. Ihre Augen
huschten zwischen seiner Miene und dem Löffel hin und
her. Schließlich zog sie den Löffel über die Flamme fort,
lächelte ihn an und meinte lässig: «Ich glaube, es ist warm
genug. Ich muss es ja jetzt nicht kochen lassen.»
Er hatte Mühe, sich das Grinsen zu verkneifen. Als sie
mit der freien Hand nach der Spritze griff, hielt er ihren
Arm fest. «Danke, Frau Bender, das reicht. Sie müssen es
nicht aufziehen.»
Er wusste nicht, ob er lachen oder fluchen sollte. Er
wusste auch nicht, welche Bedeutung es für den Fall
Frankenberg hatte. Er wusste nur: Ihre Tante hatte Recht.
Cora Bender hatte wirklich keine Ahnung, wie man mit
Heroin umging. Sie hatte sich nie mit eigener Hand einen
Schuss verpasst, sie konnte höchstens im Fernseher
zugeschaut haben, wie ein anderer die Spritze aufzog.
Rudolf Grovian blies die Kerze aus, nahm ihr den Löffel
aus der Hand und spülte die Zuckerbrühe unter fließendem
Wasser ab. Dann packte er alles zurück in die Plastiktüte
und steckte sich diese wieder in die Jackentasche.
«So», sagte er dabei. «Sie wissen noch, was wir
vereinbart hatten? Sie zeigen mir, dass Sie mit dem Zeug
umgehen können, dann lasse ich Sie in Ruhe. Jetzt haben
Sie mir gezeigt, dass Sie nicht damit umgehen können. Ich
darf Ihnen also noch ein paar Fragen stellen.»
Sie war so verblüfft, dass sie ihn sekundenlang nur

326
anstarrte, ehe sie den Kopf schüttelte und ihn wütend
anfunkelte.
«Habe ich was falsch gemacht? Ja, ich weiß, ich hätte
zuerst die Spritze auspacken müssen. Aber das hätte ich
noch getan. Das kann ich auch mit einer Hand und mit den
Zähnen. Hören Sie, das ist eine ganz miese Tour, die Sie
hier reiten. Sie haben mir den Arm festgehalten, bevor ich
es Ihnen zeigen konnte. Und jetzt wollen Sie behaupten,
ich hätte es nicht gekonnt.»
«Das war es nicht, Frau Bender.»
«Was dann?»
«Warum wollen Sie das wissen? Sie wollen doch mit
Heroin nichts mehr zu tun haben. Da müssen Sie es nicht
wissen.»
Zum Teufel mit der Angst und den Schuldgefühlen,
seinen und ihren. Er fühlte sich gut in dem Moment,
verdammt gut sogar. Der erste Schritt war gemacht. Nun
kam der zweite. Dass sie sich mit verschlossener Miene
zurück auf ihr Bett setzte und demonstrativ in Richtung
Fenster schaute, nahm er nicht so wichtig. Er war sicher,
dass er sie zum Reden brachte. Bisher hatte er es doch
jedes Mal geschafft, ihr die Zunge gelöst und etwas in ihr
geweckt, Bröckchen aus ihrer Mauer getreten. Es brauchte
noch einige Tritte, vorsichtig und richtig platziert.
«Mit Ihrem Vater habe ich zwar nicht sprechen können»,
begann er. «Bei Ihrer Mutter habe ich es erst gar nicht
versucht. Aber Ihre Nachbarin hat mir weitergeholfen.» Er
machte eine winzige Pause, ehe er den Namen folgen ließ:
«Grit Adigar. Sie erinnern sich doch sicher an sie.»
Sie antwortete nicht, starrte weiter in Richtung Fenster
und zog die Unterlippe zwischen die Zähne.
«Sie hat mir von Horsti und Johnny Guitar erzählt», fuhr

327
er fort und mischte Grit Adigars Erklärungen mit den
eigenen Spekulationen. «Johnny war ein Freund von
Georg Frankenberg. Und Horsti war ein kleiner
Schmächtiger mit heller Haut und strohgelben Haaren. Sie
waren mit Horsti befreundet, seit Sie siebzehn waren. Ihre
Nachbarin hat mir auch von Magdalena erzählt. Dass Sie
Ihre Schwester sehr geliebt und für sie getan haben, was
Sie konnten. Und dass Magdalenas Tod Sie völlig aus der
Bahn warf.»
Er ließ sie nicht aus den Augen. Sie tat nichts weiter, als
zum Fenster zu starren und dabei auf ihrer Unterlippe zu
kauen. Blass war sie geworden unter all den
Regenbogenfarben und dem breiten Heftpflaster auf der
Stirn. Fast hatte er wieder Mitleid, aber nur fast. Mitleid
half ihr nicht.
«So», sagte er noch einmal, als müsse er mit dem Wort
einen Punkt in die Luft stechen. «Ich will, dass Sie eines
begreifen, Frau Bender! Ich bin nicht Ihr Vater. Ich bin
nicht Ihre Mutter. Ich bin nicht Ihre Tante und auch nicht
Ihre Nachbarin. Ich kann mir denken, dass es eine Menge
Fragen und Vorwürfe gegeben hat, als Sie damals
heimkamen. Aber ich bin nicht interessiert an Magdalena.
Ich will nicht wissen, warum Sie Ihre Schwester
ausgerechnet an dem Abend allein ließen. Das ist für mich
völlig irrelevant. Verstehen Sie das?»
Sie reagierte nicht, er fuhr fort: «Ich will nur wissen, was
in dieser Nacht im ‹Aladin› passiert ist und wie es danach
weiterging. Was aus Horsti wurde, ob Sie mit Johnny
zusammengeblieben sind, wann und wo Sie Georg
Frankenberg kennen lernten. Ob und wann Sie mit Heroin
in Berührung gekommen sind und wer es Ihnen gegeben
hat. Ich will vor allem wissen, wie der Arzt hieß, der Ihre
Verletzungen behandelt hat.»
Keine Reaktion. Ihre Hände lagen im Schoß wie
328
vergessen. Die Unterlippe musste sie sich inzwischen
blutig gebissen haben.
«Und lügen Sie mich nicht wieder an, Frau Bender»,
sagte er mit einer gewissen Strenge, als spreche er zu
einem Kind – und irgendwie sah er sie auch so. «Sie
sehen, ich krieg’s raus. Das eine geht schnell, das andere
dauert etwas länger. Aber am Ende weiß ich das auch.
Zwei von meinen Kollegen hängen seit heute Mittag am
Telefon, sie haben jeder eine lange Liste neben sich. Jeden
Arzt, jedes Krankenhaus in Hamburg und Umgebung
rufen sie an. Sie können uns eine Menge Zeit und eine
Menge Geld sparen, wenn Sie es mir freiwillig sagen.»
Es kam so unvermittelt, dass er zusammenzuckte. Zuerst
war es ein Flüstern. Schon mit der ersten Wiederholung
schwoll es zu normaler Lautstärke an. Bei der zweiten
schrie sie: «Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht! Ich weiß
es nicht! Ich will es auch nicht wissen. Wann begreifen
Sie das endlich? Ich bin überhaupt nicht weggefahren an
dem Abend. Ich lasse doch meine Schwester nicht allein
an ihrem Geburtstag.»
Er hob beide Hände zu einer Geste der Beschwichtigung.
«Beruhigen Sie sich, Frau Bender, ganz ruhig. Ich rede
nicht vom Geburtstag Ihrer Schwester. Dass Sie an dem
Abend nicht ausgegangen sind, weiß ich schon. Ich rede
von der Nacht im August, in der Magdalena starb.»
Sie schüttelte den Kopf, wie ein Hund die Regentropfen
aus dem Fell schüttelt, ihr Atem ging keuchend. Fast eine
Minute verging, ehe sie langsam den Arm hob und auf die
Tür zeigte. «Und ich rede gar nicht. Ich hab’s Ihnen so oft
gesagt.
Ich sag’s jetzt zum letzten Mal: Raus! Verschwinden
Sie. Hauen Sie ab, Mann. Sie sind ja schlimmer als die
Pest. Glauben Sie im Ernst, dass ich nochmal den Mund

329
aufmache? Da müsste ich ja Prügel haben. Ich erzähle
Ihnen Scheiße, und dann werde ich den Gestank nicht
mehr los.»
Den Kopf schüttelte sie immer noch, zusätzlich stampfte
sie mehrfach mit dem Fuß auf. «Nein! Schluss! Aus!
Feierabend! Hier gibt’s nichts mehr, sonst legen Sie mir
am Ende noch meine Schwester ins Bett. Raus! Oder ich
brülle das ganze Haus zusammen. Und dann sage ich, dass
Sie mir Stoff geben wollten und dass ich das Heroin ins
Waschbecken gekippt habe. Die werden mir glauben. Sie
haben den Kram ja noch in der Tasche. Und dann sage ich,
dass Sie mit mir schlafen wollten. Und dann beweisen Sie
mal das Gegenteil. Ich mache Sie genauso fertig, wie Sie
mich fertig machen, wenn Sie nicht auf der Stelle
verschwinden. Ich rede nur noch mit dem, der hier der
Chef ist. Dem habe ich heute Morgen alles erzählt.»
«Alles?», fragte er gedehnt und ihre Drohung völlig
außer Acht lassend. «Haben Sie ihm wirklich alles erzählt,
Frau Bender?»
Etliche Sekunden vergingen, in denen sie mit
verschlossener Miene an ihm vorbei auf die Tür starrte
und sich ein wenig beruhigte. «Ich habe ihm alles gesagt,
was er wissen muss.»
«Und was haben Sie ihm verschwiegen?»
Wieder vergingen einige Sekunden, in denen sie
mehrfach schluckte und sich für die Antwort sammelte.
«Nichts von Bedeutung.» Der Rest kam stockend. Es fiel
ihr sichtlich schwer, überhaupt ein Wort davon über die
Lippen zu bringen. «Nur das, was für Sie – irrelevant ist.
Dass ich eine Schwester hatte, die mit achtzehn Jahren –
an Herzversagen starb.»
Dieses verfluchte Schwanken. Sein Verstand zeigte mit
ausgestrecktem Arm auf die Tür, sein Gefühl wollte die

330
Arme nach ihr ausstrecken. Ist ja gut, Mädchen, es ist alles
gut. Es war nicht deine Schuld. Nichts davon hast du zu
verantworten. Kein Mensch wird schuldig geboren.
Stattdessen sagte er: «Ihre Schwester war todkrank, Frau
Bender. Sie ist im April aus der Klinik nach Hause
gekommen, um dort zu sterben. Sie hat es nur niemandem
gesagt.»
«Das ist nicht wahr.» Sie klang, als habe sie kaum noch
Atem.
«Doch, das ist es», erklärte er nachdrücklich. «Die Ärzte
werden es Ihnen bestätigen. Und wenn Sie den Ärzten
nicht glauben, fragen Sie Ihre Tante, sie hat die gesamten
Unterlagen aus der Klinik. Da steht alles drin, Frau
Bender. Ihre Schwester wäre auf jeden Fall gestorben,
auch wenn Sie an dem Abend daheim geblieben wären.
Sie hätten es nicht verhindern können.»
Etwas wie ein Lächeln verzog ihre Mundwinkel. Sie
begann zu lachen oder zu schluchzen. Er konnte es nicht
unterscheiden. «Halten Sie den Mund! Sie haben ja keine
Ahnung, wovon Sie reden.»
«Dann sagen Sie es mir doch, Frau Bender. Sagen Sie es
mir.»
Sie schüttelte den Kopf, bewegte ihn nur hin und her,
von links nach rechts, von rechts nach links. So weit, dass
ihr Kinn und die Nase jedes Mal eine Einheit bildeten mit
dem Armansatz. Weiter tat sie nichts.

Ich kann mit keinem Menschen über Magdalena sprechen.


Wenn ich es täte, offen und ehrlich erzählen, wie es mit
ihr war, jeder müsste denken, dass ich sie gehasst habe –
so sehr gehasst, dass ich sie töten konnte. Vater hat es
gedacht, Margret hat es gedacht. Und Grit wusste nicht,
was sie denken sollte.
331
Ich habe Magdalena nicht getötet. Ich kann sie gar nicht
getötet haben. Sie war doch meine Schwester, und ich
habe sie geliebt. Nicht immer, das gebe ich zu. Nicht von
Anfang an. Aber dass ich sie anfangs nicht mochte, war
doch normal. Jedes andere Kind an meiner Stelle hätte
genauso empfunden.
Magdalena hat mir die Kindheit gestohlen. Magdalena
hat mir die Mutter genommen und Vater die Frau, die er
bitter nötig gebraucht hätte. Die fröhliche, lebenslustige
Frau, die sie angeblich einmal gewesen sein soll. Margret
hat mir davon erzählt. Eine Frau, die Karneval feierte, die
lachen und tanzen konnte und auch gerne mal ein
Gläschen trank. Die regelmäßig und weil sie es selbst
wollte mit ihrem Mann schlief. Die sich ein Kind
wünschte. Die zu einer Mutter wurde, die restlos glücklich
war über die Geburt ihrer ersten Tochter.
Ich habe meine Mutter nie lachen sehen, nur beten, nie
glücklich, nur wahnsinnig. Und Magdalena hat sie
verrückt gemacht. Wäre Magdalena nicht gewesen, hätte
ich mir nie anhören müssen, ich hätte Mutter die Kraft aus
dem Bauch gefressen. Ich hätte mir nicht jahrelang die
Lippen und die Knie wund beten müssen. Ich hätte nicht
mit Vater in einem Zimmer schlafen, ich hätte mir nie
ansehen müssen, wie er sich selbst befriedigte. Ich hätte
mir nie anhören müssen, dass ich für ihn nur ein saftiges
Stück Fleisch war. Ich hätte nie diesen Ekel empfunden.
Ich hätte nicht jahrelang ins Bett gepinkelt. Ich hätte nicht
Zustände gekriegt wegen meiner Periode. Ich hätte eben
eine Mutter gehabt, die mir alles erklärte und mir half, mit
mir selbst fertig zu werden, wenn ich Schwierigkeiten
bekommen hätte. Und vielleicht hätte ich die dann nie
bekommen.
Aber Magdalena hat sie doch ebenso vermisst wie ich.
Ich weiß noch, sie war gerade fünfzehn geworden, als sie

332
einmal darüber sprach. Sie war wieder mal für zwei Tage
in Eppendorf gewesen, war wieder durchgecheckt worden
von oben bis unten. Elektrokardiogramm, Blutanalysen,
alle möglichen Tests hatten sie mit ihr gemacht, bei denen
am Ende nur eine Zahl herauskam. Es war jedes Mal eine
verdammt kleine Zahl. Diesmal war es eine Fünf gewesen.
Fünf Monate! So viel Zeit hatten die Ärzte ihr noch
gegeben.
Ihr Herz war zu groß geworden, richtig ausgeleiert war
es. Die Ärzte sprachen ganz offen mit ihr darüber. Früher
hatten sie das bei Mutter versucht, aber da war nicht viel
zu machen. Und Vater war zu der Zeit … Na ja, er
interessierte sich nicht mehr für das, was im Haus vorging.
Wir lagen abends im Bett, nachdem sie wieder aus der
Klinik zurück war. Es war noch hell im Zimmer.
Magdalena schaute zur Zimmerdecke hinauf. «Inzwischen
ist es mir egal, welche Frist sie mir setzen», sagte sie. «Sie
haben sich bisher noch jedes Mal geirrt. So wird es auch
diesmal sein. Du wirst es erleben. Ich werde mit meiner
Pumpe alt und grau, und du wirst vermutlich die Einzige
sein, die es erlebt. Ich nehme doch schwer an, dass unser
lieb Mütterlein und Vater Saufkopf bis dahin längst das
Zeitliche gesegnet haben.»
Sie verschränkte die Arme unter dem Nacken, nahm sie
gleich wieder fort und fluchte: «Verdammte Scheiße, nicht
mal liegen kann man, wie man will. Aber trotzdem: Das
dauert noch ein Weilchen, ehe ich schwarz werde. Und
eines musst du mir versprechen, Cora. Lass mich nicht
faulen, steck mich nicht in die Erde zu den Würmern. Sorg
dafür, dass ich ein hübsches, sauberes Feuer bekomme.
Wenn es gar nicht anders geht, schlepp mich irgendwo in
die Wildnis, kipp mir einen Kanister Benzin über und stell
dir vor, du stehst mit dem Blecheimer im Wohnzimmer.
Ich will die Hölle haben, bevor ich im Himmel mit Mutter

333
um die Wette singen muss. Mir graut jetzt schon vor dem
Gedanken, dass ich oben ankomme, und sie erwartet mich
an der Himmelspforte.»
Sie lachte leise auf. «Kannst du dir vorstellen, was da
oben los ist, wenn Mutter ihr Plätzchen erst bezogen hat?
Der gute Petrus kann in Pension gehen, dafür garantiere
ich dir. Mutter wird Empfangschefin, und sie wird schon
sortieren, wer rein darf und wer nicht. Mit der Zeit darf
dann bestimmt keiner mehr rein. Aber dann kann sie sich
ja mit Petrus zusammensetzen, wenn ihr langweilig wird.
Dann können sie über alte Zeiten plaudern. Ich halte jede
Wette, Mutter weiß mehr darüber als er. Nur was hier
unten gebraucht wird, das weiß sie nicht.»
Ein paar Minuten lang war sie still, schaute die
Zimmerdecke an, als könne sie hindurch in Mutters
Phantasien sehen. Dann sprach sie langsam weiter.
«Inzwischen bin ich ganz froh, dass sie es nicht weiß.
Wenn sie wieder mal drei Tage keine Zeit hatte, sich zu
waschen, bin ich sogar dankbar, wenn sie nicht in meine
Nähe kommt. Aber früher habe ich mir oft gewünscht,
dass sie mich einmal in die Arme nimmt, statt ihren
Quatsch runterzuleiern. Vor allem damals, als es mich so
übel erwischte. Es ging mir so dreckig, das kannst du dir
nicht vorstellen. Ich habe mir die Seele aus dem Leib
gekotzt. Ich dachte, beim nächsten Schwall platzt das
Aneurysma. Und wer hielt mir die Schüssel unters
Gesicht? Wer wischte mir den Schweiß von der Stirn und
die Haare gleich mit vom Kopf? Eine junge
Lernschwester. Mutter, die eigens bei mir war, um mir
Kraft, Mut und weiß der Teufel was sonst noch zu geben,
lag derweil auf den Knien und der Schwester im Weg.
Manchmal habe ich mir gewünscht, dass die Schwester ihr
einen Tritt versetzt. Ich hätte sie so gebraucht, Cora, und
sie war nicht da. Sie war ständig in meiner Nähe. Und nie

334
war sie da. Aber wem erzähle ich das. Für dich war sie ja
auch nicht da.»
Sie bewegte langsam ihren Kopf auf dem Kissen, drehte
ihr Gesicht zur Seite und schaute mich an. «Hast du dir
auch manchmal gewünscht, dass sie dich mal in den Arm
nimmt?»
«Eigentlich nicht», sagte ich.
Magdalena seufzte. «Na ja, du hattest Vater. Und jetzt
hast du einen Freund da draußen. Erzähl mir ein bisschen
von ihm.»
Und ich erzählte ihr von einem Jungen, der nicht
existierte. Er war ein toller Kerl, zwei Jahre älter als ich
und bereits mit der Schule fertig. Er fuhr ein Moped, und
abends trafen wir uns beim Stadtsee. Seine Eltern waren
reich und sehr modern eingestellt. Sie hatten ein tolles
Haus, eins von denen, die im Wald an der Straße nach
Dibbersen standen, von denen man nur die Dächer sah,
wenn man vorbeifuhr. Es war sehr chic und teuer
eingerichtet. Und seine Eltern hatten natürlich nichts
dagegen, wenn er mich mitbrachte. Im Gegenteil, sie
mochten mich sehr gerne und freuten sich jedes Mal, wenn
sie mich sahen. Dann sprachen sie ein paar nette Worte
mit mir, aber sie hielten uns nie lange auf, weil sie
wussten, dass wir lieber allein sein wollten. Wir gingen
hinauf in sein Zimmer, hörten Musik, lagen auf dem Bett,
küssten und streichelten uns.
Jeden Abend erzählte ich ihr davon. Jeden Abend
brachte ich sie nach dem Essen hinauf, half ihr beim
Ausziehen, stützte sie beim Zähneputzen, wusch sie,
cremte sie ein, brachte sie ins Bett und sagte dabei: «Ich
freue mich schon so auf ihn.»
Ich hatte ihm den Namen Thomas gegeben. In der
Schule gab es einen Jungen, der so hieß und den ich sehr

335
nett fand. Er war nicht so wüst und ordinär wie die
anderen. Ich wusste nicht viel über ihn. Er ging aufs
Gymnasium, ich sah ihn immer nur in der Pause. Da saß er
meist in einer Ecke auf dem Boden und las in einem Buch.
Um Mädchen kümmerte er sich nicht – und sie nicht um
ihn. Er trug eine Brille.
Mein Thomas trug natürlich keine. Magdalena hätte das
als einen Makel empfunden. Für sie mussten die Jungs
groß und stark und hübsch, wild und zärtlich sein. Thomas
war schon der zweite in der Art, den ich erfunden hatte.
Wenn Magdalena im Bett lag, ging ich hinunter und
sagte zu Mutter: «Ich muss jetzt unter dem Auge Gottes
Einkehr halten.» Ich konnte nicht im Haus bleiben, dann
hätte Magdalena den Schwindel schnell bemerkt.
Ich lief in die Stadt. Im Zentrum war immer etwas los.
Es wurde viel gebaut. Da schaute ich mir die Baustellen an
und stellte mir vor, dass sie uns eines Tages einmauerten.
Dass sie einfach eine Mauer um unser Haus zogen, damit
wir isoliert waren wie die Pestkranken, von denen Vater
mir früher erzählt hatte. Manchmal stellte ich mir auch
vor, dass ich Thomas traf. Den richtigen, mit seiner Brille
und einem Buch. Dass wir uns irgendwohin setzten und
beide in einem Buch lasen.
Ich hatte auch Bücher – gekaufte. Ich hatte sie eigens
bestellen müssen, und sie waren ziemlich teuer gewesen.
Aber Geld hatte ich genug. Von den dreihundert Mark für
den Haushalt, die ich Vater jede Woche abverlangte,
brauchte ich nicht mal ein Drittel, und wir lebten trotzdem
üppiger als vorher. Und auf dem Schulhof verkaufte ich
keine Haarspangen mehr. Lippenstifte wohl noch und
andere Make-up-Sachen, aber hauptsächlich Parfüms und
andere Dinge, die viel Geld brachten und die man leicht
einstecken konnte, einmal sogar einen Walkman.

336
Für Magdalena hatte ich auch einen besorgt. Sie hatte
ihn im Bett immer bei sich. Die Gefahr, dass Mutter sie
damit erwischte, bestand nicht. Mutter kam nicht mehr in
unser Zimmer. Sie pendelte nur noch zwischen dem
Hausaltar und ihrem Bett hin und her, hatte ihre
sämtlichen irdischen Verpflichtungen an mich abgetreten.
Ich machte das Frühstück für alle und versorgte
Magdalena, bevor ich zur Schule ging. Ich kochte zu
Mittag, wenn ich heimkam. Ich machte die Einkäufe, die
Wäsche und hielt das Haus sauber. Und jede freie Minute
verbrachte ich mit Magdalena, bis sie dann abends im Bett
lag und ich auf Tour ging.
Ein Mädchen aus meiner Klasse nahm mir regelmäßig
die neuesten Schlager auf Kassette auf. Dafür schenkte ich
ihr schon mal eine Kleinigkeit. Sonst hätte Magdalena ja
nichts von dem Walkman gehabt. Sie liebte Musik. In den
drei Stunden, während ich unterwegs war, hörte sie eine
Kassette nach der anderen, bis ich zurückkam.
Bevor ich ins Haus ging, machte ich noch einen kurzen
Abstecher in den Schuppen. Dort lagen keine Süßigkeiten
mehr unter den Kartoffelsäcken. Dafür lagen jetzt eine
Menge anderer Sachen da, auch Zigaretten und ein kleines
Feuerzeug. Ich zündete mir eine Zigarette an und nahm ein
paar Züge. Dann drückte ich sie sorgfältig aus und steckte
sie zurück in die Packung. Auf die Weise kam ich mit
einer Zigarette ein paar Tage lang aus.
Ich machte mir gar nichts aus Rauchen. Mir wurde
schwindlig davon, husten musste ich auch oft. Aber
Magdalena fand es chic, wenn man rauchte. Und sie
konnte riechen, ob ich es getan hatte. Ein paar Monate
später, nach der Zeit mit Thomas, hörte ich auf damit. Ich
erzählte ihr, mein neuer Freund hasse Zigaretten und
könne es nicht leiden, wenn ein Mädchen rauchte. Er hätte
zu mir gesagt, da könnte er auch gleich einen
337
Aschenbecher küssen. Und ich wolle da lieber kein Risiko
eingehen, weil er phantastisch aussähe und ich schon ein
feuchtes Höschen bekäme, wenn er mir nur an die Beine
fasste. Magdalena verstand das.
Den neuen Freund – ich weiß nicht mehr, wie ich ihn
genannt habe, es waren so viele Namen im Laufe der Zeit
– machte ich drei Jahre älter. Er war dann auch der erste,
mit dem ich schlief. Und Magdalena bat mich, ihr zu
zeigen, wie das war.
Ich habe wirklich für sie getan, was ich tun konnte.
Manchmal sagte sie: «Wenn ich alt genug bin, selbst zu
entscheiden, dann lasse ich mich noch einmal operieren.
Ich finde schon einen Arzt, der es tut.»
Wir wollten zusammen in die USA fliegen, in eines der
großen Herzzentren. Immer wieder haben wir
ausgerechnet, wie viel Geld wir zusammenbekämen bis zu
ihrem achtzehnten Geburtstag, wenn wir jede Woche
hundert Mark auf die Seite legten. Ich hatte ihr gesagt, so
viel könnte ich vom Haushaltsgeld sparen. Dass es
eigentlich doppelt so viel war, mochte ich ihr nicht sagen,
damit sie nicht stutzig wurde und sich ausrechnete, dass
ich klaute wie eine Elster.
Sie meinte, mit hundert Mark in der Woche sei es nicht
zu schaffen. Und ich erzählte ihr, dass ich am Bahnhof
eine Brieftasche mit tausend Mark gefunden hätte. Und
dass ich jetzt immer die Augen offen hielte, weil doch
viele Leute ziemlich schlampig mit ihren Sachen wären
und gar nicht merkten, wenn sie etwas verloren.
Magdalena lachte. «Du bist lieb», sagte sie. «Aber du
bist ein Schaf. Da müsstest du schon eine Bank überfallen,
um das Geld zusammenzubringen. Sich darauf verlassen,
dass mal einer was verliert …»
Ich war nahe daran, ihr zu sagen, dass ich das Geld nicht

338
gefunden und weit mehr im Schuppen hatte als tausend
Mark. Aber ich hatte in einer Zeitung gelesen, was eine
Operation in den USA kostete und dass man sie selbst
bezahlen musste. Und so viel hatte ich noch lange nicht.
Ich wusste auch nicht, wie ich es beschaffen sollte.
Wenn ich hätte arbeiten können, nachdem ich mit der
Schule fertig war, wäre es kein so großes Problem
gewesen. Aber einer musste sich doch um den Haushalt
und Magdalena kümmern. Mutter schaffte das nicht mehr,
auch wenn sie gewollt hätte. Sie war oft so durcheinander,
dass sie den Suppentopf mit dem Waschkessel
verwechselte. Vater hatte eine moderne Waschmaschine
gekauft, damit kam sie überhaupt nicht klar. Sie wollte
damit auch nichts zu tun haben. Ich glaube, sie hatte Angst
davor. Sie meinte, es sei Teufelswerk und stellte uns das
Wasser ab. Wir sollten vierzig Tage in der Wüste fasten.
Das konnte ich ihr aber ausreden. Nur musste man eben
ständig aufpassen, damit sie keine Dummheiten machte.
Und Magdalena meinte auch, es wäre besser, wenn ich
daheim bliebe. «Arbeiten», sagte sie. «Was willst du denn
arbeiten? In deinem Alter kannst du höchstens eine Lehre
machen. Das sind drei Jahre, in denen du so gut wie gar
nichts verdienst. Wenn es dir wirklich ernst damit ist, das
Geld für meine Operation zusammenzubringen, müssen
wir uns etwas anderes einfallen lassen. Ich hätte da schon
eine Idee. Es gibt etwas, da werden die Jüngsten am besten
bezahlt. Aber ich weiß nicht, wie du darüber denkst.»

339
12. Kapitel

Cora Benders Verlegung aus der Untersuchungshaft in die


Landesklinik zwang die Justizbehörden, umgehend einen
Anwalt für sie zu bestellen. Von Seiten ihrer Familie war
bisher kein Schritt in diese Richtung unternommen
worden.
Ihr Mann und ihre Schwiegereltern schienen vergessen
zu haben, dass sie existierte. Ihre Tante, die ausgebildete
Krankenschwester, saß in Norddeutschland und bewachte
das Sterben eines alten Mannes, für den niemand mehr
etwas tun konnte. Von ihrer Mutter war nichts zu
erwarten.
Auf der dem Landgericht Köln vorliegenden Liste mit
Rechtsanwälten, die mit einer Pflichtverteidigung
beauftragt werden konnten, wurde auch Doktor Eberhard
Brauning geführt – und wegen seiner guten
Zusammenarbeit vor Gericht sehr geschätzt. Freunde,
darunter einige Richter, nannten ihn Hardy. Er war
achtunddreißig Jahre alt und ledig. In seinem Leben gab es
nur eine Frau, die ihm wirklich wichtig war: Helene, seine
Mutter, mit der er zusammenlebte.
Helene Brauning war lange Jahre im gleichen Fachgebiet
tätig gewesen wie Professor Burthe. Sie hatte häufig als
psychologische Gutachterin vor Gericht ausgesagt und nur
zweimal nicht verhindern können, dass eine Haftstrafe
verhängt wurde. Helene Brauning hatte sich speziell – und
nicht nur vor Gericht – mit den Fällen befasst, in denen
eine gravierende Störung vorlag. Allerdings hatte sie sich
vor zwei Jahren aus dem Berufsleben zurückgezogen. Es
war auf Dauer doch sehr deprimierend gewesen, nicht
helfen, nur verwahren zu können.

340
Für Eberhard Brauning waren Psychiatrie und
Psychologie zweischneidige Schwerter. Geistig gestörte
Straftäter hatten ihn seit frühester Jugend fasziniert,
allerdings nur in der Theorie. In der Realität waren sie ihm
ein Gräuel. Glücklicherweise waren sie im Alltag eines
Juristen eher die Ausnahme.
Wenn ein Ehemann im betrunkenen Zustand oder aus
Eifersucht seine Frau umbrachte, damit konnte er
umgehen. Wenn ein bis dahin unbescholtener Angestellter
nach einer feuchtfröhlichen Betriebsfeier eine
Arbeitskollegin vergewaltigte, für solch einen Mann
konnte er sich einsetzen, auch wenn es ihn persönlich
schauderte.
Eberhard Brauning brauchte kalkulierbare Reflexe und
nachvollziehbare Motivationen. Er brauchte das offene
Gespräch, nicht unbedingt Reue; wenn sie ihm geboten
wurde, war ihm das recht angenehm, doch ebenso gut
konnte er sich mit Leugnen auseinander setzen.
Und all das war von den Geschöpfen, denen Helene
mehr als ihr halbes Leben gewidmet hatte, nicht zu
erwarten. Sie lebten in einer Welt, zu der er keinen
Zugang fand. Ihr Verhalten war ganz nett für eine
angeregte Unterhaltung am Abend. Was jedoch seine
Arbeit betraf, bevorzugte Eberhard Brauning Fälle, in
denen die Sachlage und die geistige Verfassung des
Mandanten klar waren.
Als ein solcher stellte sich dem Untersuchungsrichter der
Fall Frankenberg dar. Eine junge Frau hatte vor einem
guten Dutzend Augenzeugen ihren ehemaligen Liebhaber
umgebracht, zu Beginn des Verhörs bestritten, den Mann
gekannt zu haben, nach gutem Zureden durch die
vernehmenden Beamten schließlich doch die
Bekanntschaft und ihre Motivation offen gelegt und
zwischenzeitlich einen Suizidversuch unternommen.
341
Die Ermittlungsunterlagen der Staatsanwaltschaft waren
fast vollständig. Es fehlte nur das Gutachten des
psychologischen Sachverständigen. Das konnte auch noch
ein wenig dauern. Professor Burthe war beruflich stark
eingespannt.
Ein unterzeichnetes Geständnis lag ebenfalls noch nicht
vor, weil die junge Frau ihre erste Aussage widerrufen
hatte und seitdem wieder hartnäckig leugnete, ihr Opfer
gekannt zu haben. Was sie sich davon versprach, lag auf
der Hand. Und da war Eberhard Brauning nun genau der
richtige Mann, sie zu überzeugen, dass eine Haftstrafe
dem Maßregelvollzug vorzuziehen wäre.
Dass Cora Bender sich derzeit in der geschlossenen
Abteilung der Psychiatrie befand, war für Eberhard
Brauning mit ihrem Suizidversuch hinreichend erklärt.
Papiertücher! Auf solch eine Idee musste man erst einmal
kommen. Er hielt es für einen äußerst raffinierten
Schachzug, verließ sich auf den persönlichen Eindruck des
Haftrichters, der sie als kaltschnäuzig bezeichnete. Er
verstand jedoch auch, dass der Untersuchungsrichter kein
Risiko eingehen wollte.
Eberhard Brauning bat um Akteneinsicht und bekam
fünf Tage nach Georg Frankenbergs Tod Kopien
sämtlicher vorhandenen Unterlagen ausgehändigt. Das war
der Donnerstag. Am frühen Abend begann er sein
Aktenstudium mit den Zeugenaussagen, die kurz nach der
Tat gemacht und später noch ergänzt worden waren um
Details, die sich nicht unmittelbar auf das Geschehen
bezogen.
Das Verhalten des Opfers erschien ihm ebenso eindeutig
wie dem unbedarften Familienvater, der es zu Protokoll
gegeben hatte. Dem Personalbogen mit den persönlichen
Daten Cora Benders war nachträglich eine Notiz angefügt
worden. Eine Schwester, Magdalena Rösch, verstorben
342
vor fünf Jahren an Herz-Nieren-Versagen. Er maß dieser
Notiz keine Bedeutung bei.
Bei den Abschriften der Tonbänder beschlich ihn
kurzzeitig ein ungutes Gefühl. Entweder hatte Cora
Bender sich zeitweise in einem Zustand befunden, für den
Verwirrung ein sehr milder Ausdruck war, oder sie hatte
den vernehmenden Beamten eine großartige Show
geboten. Er gab der letzten Interpretation den Vorzug und
hätte dazu gerne die Ansicht seiner Mutter gehört. Leider
war Helene schon zu Bett gegangen, als er die Akten
endlich beiseite legte. Es war weit nach Mitternacht. Beim
gemeinsamen Frühstück am nächsten Morgen war die Zeit
zu knapp für ein ausführliches Gespräch. Er erwähnte nur
kurz, dass er einen neuen und höchst interessanten Fall
habe. Wieder mal eine, die sich einbildete, die
Landesklinik sei ein Sanatorium.
Gleich nach seinem Eintreffen in der Kanzlei vereinbarte
er einen Gesprächstermin mit seiner Mandantin. Er war
fest entschlossen, ihr unmissverständlich klarzumachen,
dass sie mit einem umfassenden Geständnis auf milde
Richter hoffen durfte. Am frühen Freitagnachmittag,
pünktlich um fünfzehn Uhr, wurde eine Tür für ihn
aufgeschlossen, und er sah sie das erste Mal vor sich.
Sie stand am Fenster, trug einen schlichten Rock und
eine einfach geschnittene Bluse, beides war fleckig und
zerknittert. Strümpfe trug sie nicht. Ihre nackten Füße
steckten in einem Paar Schuhe mit halbhohen Absätzen.
Ihr Haar schien seit mehreren Tagen nicht mehr mit
Wasser und Shampoo in Berührung gekommen zu sein.
Und ihr Gesicht, als sie sich langsam zur Tür und damit zu
ihm umdrehte …
Eberhard Brauning hielt unwillkürlich den Atem an und
fühlte die ersten Zweifel an seiner Beurteilung der Lage
aufsteigen. So viel Stumpfheit! Ihre Augen erinnerten ihn
343
an die Glasknöpfe im Kopf eines alten Plüschbären, den er
als kleiner Junge heiß geliebt hatte. Sie waren ziemlich
groß gewesen, diese Knöpfe. Und wenn er sie ins Licht
gehalten hatte, hatte er sich darin spiegeln können. Nur
sich, sein Zimmer, die Umgebung eben. Von seinem
Innenleben aus Stroh hatte der alte Teddy niemals etwas
preisgegeben.
Vor Unbehagen zog er die Schultern zusammen. Der
Aktenkoffer in seiner Hand schien sein Gewicht
verdoppelt zu haben. Langsam ließ er den angehaltenen
Atem entweichen, schluckte einmal trocken und sagte mit
bemüht ruhiger und sehr betonter Stimme: «Guten Tag,
Frau Bender. Ich bin Ihr Anwalt, Eberhard Brauning.»
Den Doktor ließ er weg. Der Titel schien so unpassend
angesichts der Glasaugen in dem gelbgrünen Gesicht.
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, ließ keine Regung
erkennen.
«Mein Anwalt», murmelte sie. Ihre Stimme klang nach
gar nichts.
«Ich bin vom Gericht mit der Wahrnehmung Ihrer
Interessen oder, einfacher ausgedrückt, mit Ihrer
Verteidigung beauftragt. Sie wissen, was Ihnen zur Last
gelegt wird?»
So wie sie dastand, hätte er geschworen, dass sie es nicht
wusste. Sie beantwortete seine Frage auch nicht. «Es ist
ziemlich heiß hier drinnen», stellte sie fest und drehte sich
wieder dem vergitterten Fenster zu. «Dabei sieht es
draußen bewölkt aus. Das ist kein Wetter zum
Schwimmen. Ich hätte bei der ersten Runde im Wasser
bleiben sollen. Ich hätte längst alles vergessen und könnte
jetzt in Ruhe und Frieden mit dem Mann da unten leben.»
Ein zittriger Atemzug ließ ihre Bluse flattern. «Darüber
haben wir heute Morgen gesprochen, der Herr Professor

344
und ich. Dass ich mit dem Mann im See leben wollte. Und
freitags hatte ich zu ihm gesagt: Du irrst dich, mein
Lieber, heute ist schon Montag. Aber heute ist Freitag,
oder? Ich habe den Professor gefragt heute Morgen. Und
er sagte, heute sei Freitag.»
Sekundenlang war sie still, dann drehte sie den Kopf
wieder in seine Richtung und betrachtete ihn über die
Schulter mit kritisch abschätzendem Blick. «Oder hat er
mich angelogen? Wenn Sie mir einen großen Gefallen tun
wollen, dann sagen Sie mir, dass er mich belogen hat. Es
ist ein Kreuz mit den Weißkitteln. Wenn man denkt, sie
sagen die Wahrheit, irren sie sich. Und wenn man denkt,
sie müssen sich irren, sagen sie die Wahrheit. So einer hat
mir mal gesagt, ich sei eine süchtige Hure, eine, die sich
nur mit perversen Freiern einließ.»
Sie hob kurz die Schultern an, ließ sie gleich wieder
fallen.
«Der hat sich leider auch nicht geirrt. Die Perversen
zahlen einfach besser. Und ich musste eine Menge Geld
zusammenbringen bis zum Tag X. Es hing doch alles von
mir ab. Und sie hat verlangt, dass ich es tue. Sie wollte,
dass ich mit meinem Körper für ihr Herz zahle.»
Ein flüchtig wehmütiges Lächeln brachte für den
Bruchteil einer Sekunde Leben in ihr Gesicht. Es war
gleich wieder vorbei. «Ich hätte alles für sie getan»,
erklärte sie. «Das Herz hätte ich mir herausgerissen und es
ihr gegeben, wenn es nur möglich gewesen wäre. Sie
wusste das. Sie wusste eine Menge über kaputte Typen.
Sie wusste auch, dass ich so kaputt war, dass es eigentlich
nicht mehr darauf angekommen wäre.»
Eberhard Brauning konnte nichts weiter tun als sie
anstarren und sich nur einen ungefähren Reim auf das
machen, was sie von sich gab. Herz, Schwester.

345
Sie nickte gedankenverloren vor sich hin. «Aber das
konnte ich nicht für sie tun. Ich war doch erst sechzehn.
Ich hatte noch nie mit einem Mann geschlafen. Die ganze
Nacht habe ich geheult und gebettelt, dass ihr etwas
anderes einfällt. Und wissen Sie, was sie sagte: ‹Du sollst
ja auch nicht mit einem ficken, du Schaf. Der normale
Verkehr bringt nicht viel. Nur mit SM kannst du richtig
Kasse machen, und dabei musst du deine Möse nicht für
so einen Drecksack hinhalten. Du brauchst den alten
Knackern nur ordentlich was überzuziehen. Gib ihnen die
Peitsche. Kneif ihnen in den Sack, stech ihnen Nadeln in
die Schwänze, so wollen sie das.› Aber ich konnte auch
keine alten Männer quälen. Allein die Vorstellung!»
Sie legte eine Hand vor den Mund. Das bedächtige
Nicken ging in ein ebenso bedächtiges Kopfschütteln über.
«Sie sagte, ich soll dabei einfach an Vater denken. Wie er
sich an mir aufgegeilt hätte. Sie hätte, als ich ihr zeigte,
wie er mir an das Höschen fühlte, nur verhindern wollen,
dass ich hysterisch wurde, sagte sie. Nur deshalb hätte sie
mir erklärt, es sei nichts dabei. Aber um festzustellen, ob
ich ins Bett gepinkelt habe, hätte er mir nicht zwischen die
Beine greifen müssen. Da hätte ein Blick aufs Laken
gereicht. Als sie das sagte, wusste ich, dass sie ein Biest
ist. Aber jeder versucht es auf seine Weise, nicht wahr?
Sie wollte doch auch nur leben.»
Eberhard Brauning brachte ein zustimmendes Nicken
zustande und sagte: «Das wollen wir doch alle.»
Sie nickte ebenfalls. «Ich hätte es besser getan. Viele
wollen es ja wirklich so. Denen tut man nur einen
Gefallen, wenn man sie demütigt und quält. Und damit
hätte ich sie mir auf legale Weise vom Hals schaffen
können. Ich musste sie mir doch irgendwie vom Hals
schaffen. Von allein wäre sie nie gestorben. Aber nach
einer Operation hätte sie alleine leben können. Da hätte sie

346
mich nicht mehr gebraucht. Warum habe ich es nicht
getan, solange noch Zeit war? Warum habe ich das erst
geschafft, als sie tot war? Was meinen Sie, war es das
schlechte Gewissen? Wollte ich zwei Fliegen mit einer
Klappe schlagen? Mich bei meinem Vater entschuldigen
und gleichzeitig sagen können: Hallo, du da oben, schau
mal nach unten. Siehst du, ich tue es. Ich tu es für dich.»
Sie schaute ihm ins Gesicht, und tief in diesen
Glasaugen glomm ein Funke auf. Es war kein Leben, was
da glühte, es war nur Qual – wie ein Funken aus der Hölle.
«Ich habe es getan», sagte sie mit einem langen Seufzer.
«Nicht so, wie sie es mir vorgeschlagen hatte. Das hätte
ich nie geschafft, einen Mann mit einer Nadel zu stechen.
Ich habe die Sache umgedreht und meine Haut
hingehalten. Aber das habe ich auch nicht verkraftet. Und
um die Sauereien auszuhalten, habe ich gefixt. Klingt
logisch, oder? Ich meine, es klingt sehr logisch. Aber der
Chef glaubt es nicht. Glauben Sie es?»
Eberhard Brauning verspürte das dringende Bedürfnis,
gegen die Tür zu hämmern, damit man ihn befreite. Aus
dem Blick dieser Augen, in denen es nun stärker glühte,
aus dem Raum, nach Möglichkeiten auch von diesem
Mandat. Er sah die Notiz vor sich. Herz-Nieren-Versagen!
Das war wohl ein Irrtum gewesen – nicht der einzige
Irrtum in diesem Fall. Und er hatte sich die Sache
eingehandelt!
Er klopfte nicht gegen die Tür, begann nur im Geist zu
pfeifen. Ein fröhliches Lied. Ich hab den Vater Rhein in
seinem Bett gesehen. Wie er darauf kam, wusste er nicht.
Aber im Geist zu pfeifen hatte ihn schon als Kind
beruhigt.
Die Betten im Raum waren ordentlich gemacht. Nur an
den Bezügen erkannte man, dass sie benutzt worden

347
waren. Sie waren so fleckig und zerknittert wie Cora
Benders Kleidung.
Sie war seit mindestens einer Minute still. Es fiel ihm
erst auf, als sie seinem Blick folgte, zu grinsen begann und
mit spöttischem Unterton meinte: «Sieht aus, als wäre ich
hier nicht alleine, was? Lassen Sie sich von den Betten
nicht hinters Licht führen. Das ist nur ein
Täuschungsmanöver. Bisher habe ich außer dem
Pflegepersonal, dem Professor und dem Chef noch keinen
zu Gesicht bekommen. Ich nehme an, die wollen testen, ob
ich meine Sinne noch alle beisammen habe oder anfange
mit Leuten zu reden, die nicht existieren.»
Der Wandel traf ihn völlig unvorbereitet. Ihre Stimme,
sogar ihr Blick, waren plötzlich die einer Person, die sich
lustig machte. Man hatte ihr einen Streich gespielt und
noch nicht erkannt, dass sie die Sache längst durchschaut
hatte. Da durfte sie sich amüsieren über die Dummheit der
anderen.
Sie zuckte lakonisch mit den Achseln und schränkte ein:
«Aber vielleicht liegt es auch daran, dass ich zu viel
schlafe. Ich muss mich nur hinlegen, zwei Sekunden
später bin ich abgetaucht. Und dann können Sie eine
Kanone neben mir abschießen, ich wache nicht auf.
Morgens müssen die mich immer rütteln. Der Professor
hält es für ein schlechtes Zeichen, dass ich so viel und
noch dazu gerne schlafe. Er hat wohl auch mal gelesen,
der Schlaf sei der kleine Bruder des Todes.»
Sie lachte belustigt. «Blödsinn, mit kleinen Brüdern
hatte ich nie etwas im Sinn. Ich habe jahrelang mit dem
großen in einem Zimmer geschlafen. Und ich habe mich
auch noch gefreut, als Vater nach nebenan und der große
Bruder bei mir einzog. Manchmal ist man so blöd, dass es
verboten werden müsste.»

348
Eberhard Brauning hatte bereits erleichtert aufgeatmet
und suchte den Anfang der Rede, die er sich für sie
zurechtgelegt hatte. Da blinzelte sie plötzlich, und als sie
weitersprach, klang ihre Stimme wieder benommen und so
teilnahmslos wie zu Beginn. «Entschuldigung. Sie wissen
wahrscheinlich gar nicht, wovon ich rede. Manchmal weiß
ich es auch nicht. Ich bin nicht immer ganz klar im Kopf.
Die pumpen mich hier andauernd voll mit irgendeinem
Scheiß. Der Professor behauptet, es seien nur
Psychopharmaka gegen meine Depressionen. Das ist ein
verlogener Haufen hier, sage ich Ihnen.»
Ihre Schultern strafften sich, die Stimme ebenso. «Aber
ich beiße mich schon durch», erklärte sie. «Das habe ich
immer getan. Früher habe ich oft gesagt, wenn mich einer
in den Hintern tritt, stolpere ich automatisch zwei Schritte
vor. Das ergibt sich ja aus der Bewegung, oder sind Sie
anderer Meinung?»
Das hatte bereits hellwach geklungen, mit dem nächsten
Satz wurde ihre Stimme scharf und spöttisch. «Jetzt ziehen
Sie nicht so ein ängstliches Gesicht. Ich bin nicht verrückt.
Ich tu nur so. Es ist praktisch, hier drin verrückt zu sein.
Das habe ich schnell herausgefunden. Man kann den
größten Schwachsinn von sich geben und auf jede
unangenehme Frage irgendeinen Mist auftischen. Da
freuen die sich. Das brauchen sie zur Selbstbestätigung,
sie verdienen schließlich ihr Geld damit. Aber wir beide
reden vernünftig miteinander. Sie müssen ja niemandem
weitererzählen, dass ich noch kann. Ich nehme an, als
mein Anwalt unterliegen Sie der Schweigepflicht. Nur
brauche ich Sie nicht. Tut mir Leid, dass Sie sich umsonst
herbemüht haben.»
Eberhard Brauning fühlte sich einem Wechselbad
ausgesetzt. Er wusste weder, was er von ihrem Gerede
halten, noch, wie er darauf reagieren sollte. «Ich bin vom

349
Gericht mit Ihrer Verteidigung beauftragt», wiederholte er
lahm.
Sie zuckte bedauernd mit den Achseln, ihre gelbgrüne
Miene spiegelte Überheblichkeit. «Und woraus schließt
das Gericht, dass ich verteidigt werden will? An mir
können Sie nichts verdienen, guter Mann. Sagen Sie dem
Gericht, ich hätte Sie rausgeworfen. Sie können auch
sagen, Sie hätten sich die Sache anders überlegt, nachdem
Sie mit mir gesprochen hätten.»
«Das ist nicht möglich, Frau Bender», erklärte er. «Sie
brauchen einen Anwalt, und …» Weiter kam er nicht.
«Quatsch», unterbrach sie ihn lässig. «Ich brauche
niemanden. Ich komme am besten zurecht, wenn ich ganz
alleine bin. Ich bin nämlich nie alleine. Kennen Sie den
Zauberlehrling?»
Als er verblüfft nickte, erklärte sie: «Ich habe die Geister
nicht gerufen. Der Chef war es. Dieser Schweinehund hat
sie einen nach dem anderen aus der Hölle
heraufbeschworen. Jetzt hat er mir auch noch Magdalena
auf den Hals gehetzt. Ich wusste, dass das passiert, wenn
ich ihn an sie ranlasse. Deshalb habe ich ihn fern gehalten.
Aber dann hat er mit Grit gesprochen. Und ich weiß nicht,
wie ich sie wieder loswerden soll. Die anderen bin ich
auch nicht mehr losgeworden. Johnny, Böcki und Tiger.
Ich weiß nicht, wo ich sie hergenommen habe. Und ich
weiß – verdammt nochmal – nicht, wo ich sie hinstecken
soll, damit sie mir nicht länger auf dem Verstand
herumtrampeln.»
Sie schlug sich mit einer Faust in die offene Hand,
atmete tief durch und lächelte noch einmal. Überheblich
war es nicht mehr, nur noch kläglich. «Mit so einer
Gesellschaft ist man hier gut aufgehoben, glauben Sie mir.
Es war nicht mein Traum, in der Klapsmühle zu enden.

350
Nur kann man es sich nicht aussuchen. Und viel anders als
im Knast ist es gar nicht. Vielleicht ist es sogar besser, ich
kriege jedenfalls keinen Ärger mit anderen Weibern. Ich
schlucke brav meine Pillen, esse meist meinen Teller leer
und erzähle dem Professor, was er hören will. Aber damit
wollen wir es gut sein lassen. Dass jetzt noch einer
auftaucht und mich mit Fragen nervt, damit er mich vor
Gericht verteidigen kann, herzlichen Dank. Ich will nicht
verteidigt werden. Das kann ich alleine.»
Es erging Eberhard Brauning, wie es Rudolf Grovian in
den ersten Stunden mit ihr ergangen war. Er sah den
äußerst schmalen Grat nicht, auf dem ihr Verstand
balancierte. Er fühlte Wut in sich aufsteigen, bemühte
sich, ruhig zu bleiben und sachlich zu argumentieren.
«Das können Sie nicht, Frau Bender. Vor einem
Schwurgericht kann sich niemand selbst vertreten. Das
könnte nicht einmal ich, wenn man mich eines
Kapitalverbrechens bezichtigte. Das Urteil hätte keine
Rechtsgültigkeit und könnte jederzeit angefochten werden,
wenn der oder die Angeklagte keinen Rechtsbeistand
hatte.»
Er machte eine kurze Pause, wartete, ob sie ihm darauf
antwortete. Als sie schwieg, ging er die wenigen Schritte
zum Tisch, stellte seinen Aktenkoffer darauf ab, öffnete
ihn jedoch nicht gleich, zog nur einen der Stühle zu sich
heran und sagte dabei: «Das sind die Fakten. Ob es uns
beiden gefällt oder nicht, spielt keine Rolle. Ich wurde als
Ihr Anwalt verpflichtet, das konnte ich nicht ablehnen.
Jetzt könnte ich das. Ich könnte dem Richter erklären,
Frau Bender kooperiert nicht, ich kann sie unter diesen
Umständen nicht vertreten.
Das würde der Richter einsehen, mich von meiner
Aufgabe entbinden und einen anderen Anwalt für Sie
bestimmen. Den können Sie natürlich auch ablehnen,

351
ebenso den dritten und den vierten. Ich weiß nicht, wie
lange der Richter sich dieses Spielchen von Ihnen bieten
lässt, ehe ihm der Geduldsfaden reißt. Aber vielleicht
begreifen Sie, dass Sie nur die Alternative haben: ich oder
irgendein anderer.»
Warum er ihr das erklärte, wusste er nicht. Es wäre
entschieden einfacher gewesen, dem Richter diesen
Vortrag zu halten. Nur sah er in dem Moment nichts, was
ihn hätte veranlassen können, seine Worte in Kürze zu
bereuen. Er fühlte sich auf den Arm genommen von ihr, er
hätte geschworen, dass sie mit ihm das gleiche Spielchen
versuchte wie mit den Beamten, die das Verhör geführt
hatten.
Johnny, Böcki und Tiger! Nicht mit ihm! Sie war gut in
ihrer Rolle, sie war fast schon brillant. Aber er lebte – seit
er denken konnte – mit Helene. Und wenn er eines von ihr
gelernt hatte, dann das: Wer sich amüsieren konnte über
die Trottel, die brav ein paar Mätzchen schluckten, der
wusste noch genau, was er tat.
Es war faszinierend, ihr Gesicht zu betrachten, den
Spott, der ihre Lippen verzog und den Glasaugen Leben
einhauchte. Keine Frage, sie amüsierte sich köstlich über
ihn. Er war überzeugt, dass Helene seinen Eindruck
bestätigt hätte, wäre sie dabei gewesen. Cora Bender
bildete sich ein, sie könne alle Welt an der Nase
herumführen.
«Da sitzen wir beide wohl in derselben Tinte, was?»,
stellte sie fest, kam ebenfalls zum Tisch und setzte sich
auf einen der Stühle. «Was machen wir nun? Tut mir
aufrichtig Leid, dass es ausgerechnet Sie erwischt hat.
Aber wenn die Dinge so stehen, behalte ich Sie doch
lieber. Sonst schicken die mir am Ende irgendeinen alten
Knacker. Mit Ihnen habe ich wenigstens was fürs Auge.
Ich werde es Ihnen leicht machen, damit die
352
Angelegenheit für Sie nicht zur Strapaze wird. Ich bin
schuldig. Daran gibt es nichts zu rütteln. Ich leugne nicht,
bin voll geständig, habe jedoch nicht vor, weitere
Erklärungen abzugeben. Reicht das?»
Eberhard Brauning setzte sich endlich, klappte seinen
Koffer auf, nahm das Aktenbündel heraus und legte es vor
sich auf den Tisch. «Für eine Verurteilung reicht es»,
sagte er und legte eine Hand auf den Aktendeckel. «Das
hier sieht nicht gut aus für Sie.»
Sie grinste wieder. «Daran bin ich gewöhnt. Für mich
hat noch nie etwas gut ausgesehen. Stecken Sie es wieder
ein, ich weiß, was drin steht. Präzise ausgeführte Stiche!
Und es kommt noch einiges dazu. Nur der Himmel allein
weiß, was der Chef noch ausgräbt. Und wenn der Herr
Professor mit mir fertig ist, möchte er sicher auch einen
schönen Bericht schreiben für den Staatsanwalt. Vielleicht
tut er Ihnen den Gefallen und erwähnt ein paar mildernde
Umstände.»
Mit einem langen Seufzer fügte sie an: «Wir werden
sehen. Wenn Sie alles beisammenhaben, überlegen Sie
sich Ihre Strategie. Dann kommen Sie nochmal her, und
wir besprechen es in Ruhe. Bis dahin bin ich vielleicht
auch etwas klüger. Im Moment verschwenden wir beide
nur unsere Zeit.»
Sie warf einen sehnsüchtigen Blick zum Fenster, ihre
Stimme wurde schwer und melancholisch. Und für kurze
Zeit glaubte Eberhard Brauning noch einmal, dass sie
nichts weiter als ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen
wollte.
«Ich muss nämlich ein bisschen aufpassen mit dem, was
ich sage», erklärte sie. «Haben Sie schon mal das Gefühl
gehabt, Sie müssten Ihren Verstand mit beiden Händen
festhalten? Da ist man ziemlich beschäftigt, glauben Sie

353
mir. Ich traue mich kaum noch zu denken. Manchmal
muss ich dreimal auf das Gitter schauen, um zu erkennen,
dass ich nicht daheim bin. Es ist alles so real, als ob ich
mittendrin stehe. Ich bringe sie ins Bett, stehe mit ihr im
Bad, habe sie hinter mir in der Küche. Ich weiß nicht, was
das soll. Warum muss ich das alles nochmal erleben? Ich
hatte es so weit hinter mir gelassen und die Tür ganz fest
zugemacht. Der Chef hat sie eingetreten. Er hätte mir nicht
drohen dürfen. Damit hat es angefangen.»
Sie schüttelte verwundert den Kopf und korrigierte sich:
«Nein, angefangen hatte es schon am See. Aber da habe
ich nur die Himbeerlimonade geschmeckt und das kleine
Kreuz gesehen. Und jetzt schmecke ich sein Blut und sehe
die drei großen. Es spielt keine Rolle, wohin ich schaue,
ich sehe sie überall. Und das in der Mitte trägt einen ohne
Schuld.»
Es widerstrebte ihm, ihren Monolog zu unterbrechen.
Aber ihm gegenüber war solch eine Show nun wirklich
nicht angebracht. Höchste Zeit, ihr das begreiflich zu
machen.
«Wer hat Ihnen gedroht und womit?» erkundigte er sich.
Sie schaute weiter zum Fenster. Ihr Gesicht trug wieder
den gleichen unbeteiligten Ausdruck wie zu Beginn. «Der
Chef», murmelte sie und erklärte etwas lauter. «Er heißt
Rudolf Grovian. Ein hartnäckiger Hund, sage ich Ihnen.
Er hat mir erzählt, er hätte das Mädchen mit den
gebrochenen Rippen gefunden.»
Ihr Blick fand zu ihm zurück, und ihre Augen bestanden
wieder aus purem Glas. «Furchtbar, nicht wahr?» Sie
nickte schwer. «Aber da kann man nichts machen. Er tut
nur seine Arbeit. Ich weiß, dass ich kein Recht habe, mich
über ihn zu beschweren. Das will ich ja auch gar nicht.
Aber jetzt hat er so viel zusammen, da könnte er doch

354
Ruhe geben. Und das wird er nicht tun. Er wird nicht eher
aufhören, bis er mich fix und fertig gemacht hat. Ich geh
kaputt hier drin.»
Ihre Stimme verursachte ihm einen Kälteschauer. Der
letzte Satz war nur noch ein heiseres Flüstern. Sie schlug
sich mit einer Faust gegen die Brust. Sekundenlang kniff
sie wie unter Schmerzen die Augen zusammen. Dann fing
sie sich wieder.
«Ich könnte ihm den Hals umdrehen. Aber irgendwie
mag ich ihn. Der Erlöser hat ja immer gesagt: Liebet eure
Feinde. Der Chef war mein erster Feind. Und ich habe
mich so stark gefühlt am Anfang. Da lag dieser Mann und
blutete und war tot, und mir ging es prächtig. Wie Goliath
habe ich mich gefühlt. Ich war Goliath. Ich war so groß,
dass ich das Messer auf dem hohen Tisch sehen und
greifen konnte. Und dann kam dieser kleine David und
sagte, dass er mit meinem Vater reden muss. Ich habe die
Nerven verloren und drauflos gelogen. Und das Komische
war, je mehr ich erzählte, umso mehr sah ich. Das
Klecksebild und die grünen Steine im Fußboden und den
Dicken mit dem Mädchen auf der Treppe. Und jetzt sehe
ich die drei Kreuze. Ich weiß, dass ich einen unschuldigen
Mann getötet habe. Und ich habe Angst. Ich habe
entsetzliche Angst vor dem Zorn seines Vaters.»
Eberhard Brauning konnte sich nicht überwinden zu tun,
was er sich vorgenommen hatte, sie auf den Punkt
bringen. Er wünschte sich, Helene wäre in der Nähe, um
ihr Urteil abzugeben und ihm zu sagen, wie er sich
verhalten sollte.
Cora Bender presste die Lippen aufeinander, fuhr mit
beiden Händen zum Gesicht und bedeckte es
sekundenlang. Dabei flüsterte sie: «Manchmal nachts,
wenn ich denke, ich schlafe, tritt er an mein Bett. Ich sehe
ihn nicht, ich fühle ihn nur. Er beugt sich über mich und
355
sagt: ‹Mein Sohn hatte keine Schuld an diesem Desaster.
Er hat getan, was er tun konnte.› Jedes Mal, wenn er das
sagt, will ich schreien: ‹Du lügst!› Aber ich kann nicht. Ich
kann den Mund nicht aufmachen. Ich schlafe doch.»
Nach einer Ewigkeit nahm sie ihre Hände herunter, und
ihr Gesicht war so, wie er sich als Kind das Gesicht eines
Geistesgestörten vorgestellt hatte.
«Machen Sie sich keine Sorgen», murmelte sie
erschöpft.
«Ich weiß, wie das alles klingt. Aber ich weiß auch, wem
ich es sagen darf und wem nicht. Beim Professor kommt
kein Wort über den Erlöser und die büßende Magdalena
auf den Tisch. Zu Anfang wollte ich wirklich nichts mit
ihr zu tun haben. Aber dann wusch sie ihm die Füße, und
alles veränderte sich. Kennen Sie sich in der Bibel aus?»
Der Blick, der diese Frage begleitete, war kritisch und
nüchtern. Als ob eine Expertin einem Laien etwas
begreiflich zu machen versuchte. Er zog wieder
unwillkürlich die Schultern zusammen. «Ein wenig», sagte
er.
«Wenn Sie Fragen dazu haben», fuhr sie fort, «fragen
Sie mich nur. Ich kenne jedes Wort. Ich kenne sogar die
Stücke, die nie geschrieben wurden. Als sie ihm die Füße
wusch, wollte sie sich nur bei mir einschmeicheln. Ihn
wollte sie vernichten, und das hat sie geschafft. Ich habe
es getan. Und ich weiß nicht, warum. Ich weiß es wirklich
nicht. Das Lied allein kann nicht der Grund gewesen
sein.»
Sie begann mit den Fingerspitzen einen Rhythmus auf
die Tischplatte zu trommeln. «Es war sein Lied. Und ich
hatte es im Kopf. Wie ist es da reingekommen? Ich muss
ihn doch gekannt haben, meinen Sie nicht? Warum kann
ich mich dann nicht an ihn erinnern? Meinen Sie, er

356
könnte wirklich einer von den Freiern gewesen sein? An
die kann ich mich ja auch nicht erinnern. Alles, was nach
ihrem Tod passiert ist, ist weg. Ich habe es so tief
vergraben, dass ich nicht mehr rankomme. Ich habe mir
schon das ganze Hirn danach umgebuddelt und nichts
gefunden. Vielleicht lag es hier hinten.»
Sie tippte mit einem Finger gegen ihre von Haaren
bedeckte Stirn. «Und dann kann ich bis an mein
Lebensende graben, ohne etwas zu finden. Auf die Stelle
hat er zuerst geschlagen, das weiß ich jetzt wieder. Und
dann nochmal auf die Seite. Da wurde es dunkel. Sie
haben wohl gedacht, ich bin tot. Auf die Straße haben sie
mich geworfen. Was meinen Sie, soll ich es dem Professor
mal so erzählen, wie ich es dem Chef erzählt habe? Das
wäre vielleicht günstig, dann gibt es keinen Widerspruch.
Man darf sich nicht in Widersprüche verwickeln, dann
haben sie einen gleich am Haken.»
«Was haben Sie dem Chef denn erzählt?», erkundigte
sich Eberhard Brauning zögernd.
«Na, das mit den beiden Männern, wo Frankie auf der
Couch saß. Haben Sie das nicht in Ihren Akten?»
Er schüttelte den Kopf. «Komisch», meinte sie. «Für
schlampig hatte ich ihn nicht gehalten.» Dann wurde sie
eifrig. «Ich habe gesagt, es waren Freunde von Frankie,
und das Mädchen wollte, dass ich sie beide gleichzeitig
ranließ. Dabei möchte ich gerne bleiben, und ich möchte
eigentlich auch erklären, dass Frankie mein Zuhälter war.»
«War er das?», fragte Eberhard Brauning.
«Natürlich nicht», sagte sie. Es klang beinahe entrüstet.
«Aber es könnte mir auch keiner das Gegenteil
beweisen. Ich hatte mir das schon mal überlegt, aber im
Moment …» Sie brach ab und lächelte entschuldigend.
«Na ja, mir kommt halt manchmal einiges durcheinander,

357
wenn ich denke. Aber machen Sie sich keine Sorgen, das
kriege ich hin.»
Dann lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück und nickte
versonnen. «Jetzt haben wir doch schon alles besprochen.
Na, dann hat es sich für Sie wenigstens gelohnt, und Sie
haben das Wiederkommen gespart. Ich werde jetzt
versuchen, darüber nachzudenken. Vielleicht sollten Sie
besser gehen.»
Das fand Eberhard Brauning auch. Er konnte sich nun
einigermaßen hineinversetzen – nicht in sie und ihre
Motivation, nur in die vernehmenden Beamten. Jetzt
musste er sich erst einmal mit Helene besprechen.

Es war ein ständiges Stolpern über Bruchstücke, Sich-


wieder-Aufraffen und Weiter-Umherirren in dem
Trümmerfeld, das einmal ein sauber von einer Mauer in
zwei Hälften geteiltes Hirn gewesen war. Nach dem
Besuch des Chefs war es so schlimm geworden, dass sie
sich selbst verloren hatte. Manchmal fand sie einen Teil
von sich wieder, aber der stammte dann meist aus einer
anderen Zeit.
Als ihr Anwalt erschien, tauchten im Gewirr einige Teile
der Cora auf, die nach der Geburt ihres Kindes dem Alten
Kontra gegeben, ihm die Büroecke, den Lohn und
schließlich sogar ein Haus abgerungen hatte. Nur
entschwanden die Stücke, noch während er ihr am Tisch
gegenübersaß.
Und sie saß wieder an Magdalenas Bett und neben
Frankie am See. Sie legte ihr Gesicht in sein Blut, um im
nächsten Moment Johnnys Lächeln vom Vordersitz eines
Wagens in sich aufzunehmen und dabei genau zu wissen,
es konnte so nicht gewesen sein. Es war sowenig
Wirklichkeit wie Gottvater, der sich nachts über sie beugte

358
und zu ihr von der Unschuld seines Sohnes sprach, wenn
sie dachte, sie schliefe.
Sie hätte dringend einen Menschen gebraucht, der ihr
half, die größten Brocken beiseite zu räumen. Aber es
hätte ein besonderer Mensch sein müssen. Einer, der
verstand und glaubte, notfalls an Geister und Wünsche, die
zu Bildern wurden. Wenn gar nichts mehr half, musste
man daran glauben. Aber ein besonderer Mensch tauchte
nicht auf. Also versuchte sie es alleine. Wenigstens ein
bisschen Ordnung schaffen, damit es etwas aufgeräumter
aussah.
Dass die anderen Betten kein Täuschungsmanöver
waren, bemerkte sie schon kurz nach dem Tag, an dem sie
mit ihrem Anwalt gesprochen hatte. Wie lange danach,
hätte sie nicht sagen können. Die Tage glichen sich. Aber
es war nebensächlich. Sie hatte mit den anderen Frauen
nichts zu tun. Im Gegensatz zu ihr waren die in gewisser
Weise noch frei. Für sie ging es nur hinaus, wenn eine
weitere Sitzung beim Professor anstand. Die Angst vor
ihm wurde bald Vergangenheit. Sie kam gut zurecht mit
ihm, fand schnell heraus, was er hören wollte. Sogar über
Magdalena sprachen sie schließlich, weil sie davon
ausging, dass er es ohnehin vom Chef erfuhr.
Und Magdalenas Tod war Frankies Schuld. So hatte sie
es schließlich mit ihrem Anwalt besprochen. Der Professor
glaubte ihr nicht auf Anhieb, weil Frankies Vater ein
Kollege von ihm war, auch ein Professor. Ein hübscher
Junge aus gutem Haus, sagte er, habe es doch nicht nötig,
sich als Zuhälter zu betätigen.
So ähnlich hatte sie auch einmal gedacht. Aber was sie
gedacht hatte, zählte nicht mehr. Jetzt zählte nur noch,
dass die Gedanken beisammenblieben wie eine ängstliche
Lämmerherde, dass sie sich nicht plötzlich auf und davon
machten. Leider taten sie das meist, wenn die Wölfe sie
359
hetzten. Aber nicht in dem Gespräch über Frankie, den
Zuhälter. Da hielt sie die Herde eisern beisammen und die
Wölfe fern.
Warum nicht, hielt sie dagegen. Frankie fand es eben
chic, ein Pferdchen laufen zu haben, das nach seiner Pfeife
tanzte. Natürlich hatte er nie mit seinem Vater darüber
gesprochen. Kein Mensch wusste davon. Aber so war es
gewesen! Er hatte sie aufgehalten an dem Abend im
August. Er hatte von ihr verlangt, dass sie mit zwei
Männern gleichzeitig schlief.
Er hatte viel von ihr verlangt, zu viel. Und als
Magdalena tot war, als sie ihn bitter nötig gebraucht hätte,
wurde sie ihm lästig. Er suchte sich eine neue Freundin.
Und weil sie nicht freiwillig ging, befahl er seinen
Freunden, ihr einen Denkzettel zu verpassen. Er ließ sie
zusammenschlagen und schaute zu. Seine neue Freundin
auch.
Hätte ihr Anwalt zuhören können, er wäre stolz auf sie
gewesen. Obwohl der Professor der Sachverständige war,
konnte man ihn ebenso leicht belügen wie Mutter. In
insgesamt drei Sitzungen nagelte sie ihn auf den Zuhälter
fest, erging sich in Details, schmückte hier und dort etwas
aus, präsentierte alle Scheußlichkeiten, die sich ein Hirn
nur ausdenken konnte. Die kleinen Teufel mit den
rotglühenden Zangen ergaben eine gute Vorlage für
perverse Freier.
Wenn der Professor genug gehört hatte, ließ er sie
zurückbringen in den Raum. Und dort war sie eine
Verrückte, durfte sich gehen lassen und tat das auch.
Wenn kein Mensch in ihrer Nähe war, kam es nicht darauf
an, wo sie sich aufhielt oder ob sie selbst noch vorhanden
war. Es waren genug andere da. Mutter und Vater,
Magdalena und Johnny, Böcki und Tiger, Frankie und ein
Arzt und die Angst und die Scham und die Schuld.
360
Ab und zu kamen auch Leute vom Pflegepersonal. Da
sie jedoch durch die Tür hereinkamen, wusste sie genau,
wie sie sich verhalten musste. Sie sprach ganz normal mit
ihnen, beschränkte sich dabei auf Allgemeinplätze, um
keinen Fehler zu machen. Sie sagte zum Beispiel: «Was
bietet uns die Küche denn heute? Das duftet ja wieder!»
Dann betrachtete sie die Pampe und sagte: «Ich wünsche
mir nur, ich hätte einen besseren Appetit. Aber ich habe
noch nie viel gegessen.»
Manchmal fragte sie auch: «Meinen Sie, ich könnte mal
einen richtig guten Kaffee bekommen? Ich bin immer so
müde. Ein Kaffee täte mir bestimmt gut.»
So müde, wie sie sich gab, war sie gar nicht, weil sie nur
noch am Abend die verordneten Medikamente schluckte.
Danach schlief sie auf der Stelle ein und musste sich nicht
mit den anderen Frauen auseinander setzen. Es hätte eine
fragen können, warum sie hier sei. Aber was morgens auf
dem Tablett lag, ließ sie verschwinden. Die Leute vom
Pflegepersonal waren nachlässig, und sie selbst war sehr
überzeugend.
Und ohne Medikamente hatte sie die Situation besser
unter Kontrolle, konnte Vater um Verzeihung bitten,
Mutter vom Auge Gottes in freier Natur vorschwärmen,
Magdalena von leidenschaftlichen Freunden und dem Flug
nach Amerika erzählen. Nur mit Frankie und den anderen
jungen Männern sprach sie kein Wort. Wenn Frankie sie
anschaute mit seinem Vergebung spiegelnden Blick,
schnürte er ihr die Kehle zu. Er musste gewusst haben,
dass er als Opferlamm geboren war, um ihre Sünden zu
tilgen mit seinem Blut. Wie sonst sollte man sich seinen
Blick erklären?
Vielleicht war es am Ende doch nicht so verrückt
gewesen, was Mutter gepredigt hatte. Wenn er vor
zweitausend Jahren in den Himmel aufgestiegen war, wer
361
oder was hätte ihn daran hindern sollen zurückzukommen,
um noch einmal zu helfen, zu erlösen? Um sie ein paar
Minuten absoluter Freiheit spüren zu lassen. Vielleicht
war er nur aus einem einzigen Grund mit dieser
weißblonden Frau an den See gekommen, um ihr vor
Augen zu führen, dass Magdalena ein Biest gewesen war.
Und vielleicht wollte er, dass sie kämpfte, nicht um ihre
äußere Freiheit, nur um die innere, um das Gefühl, von
ihm erlöst worden zu sein.
Sie hätte diesen Aspekt gerne mit ihrem Anwalt
besprochen. Aber ihn sah sie vorerst nicht wieder. Nur der
Chef kam noch einmal und wollte mit ihr über die
Irrelevanz reden. Sie schüttelte den Kopf, damit gab er
sich zufrieden. Er war auch nicht als Polizist gekommen,
nur als Besucher.
Und wie ein Besucher am Krankenbett brachte er ihr
etwas mit. Eine Zeitschrift, eine Flasche Haarshampoo
und etwas Obst. Drei Äpfel. Golden Delicious. Kein
Messer. Er war ein bisschen verlegen, als er ihr die Tüte
auf den Tisch legte.
«Ich hoffe», sagte er, «Sie essen sie auch gerne, wenn
Sie sie vorher nicht zerschneiden können.»
Seine Verlegenheit machte ihn harmlos und menschlich.
Die ersten Fragen, die er stellte, taten ein Übriges. Ob sie
schon Besuch gehabt habe, wollte er wissen.
«Mein Anwalt war einmal hier.»
Und sonst sei noch niemand hier gewesen?
Wer denn? Sie wusste, auf wen er abzielte. Gereon!
Aber das Kapitel war abgeschlossen. Und es war fast, als
hätte sie die Jahre mit ihm nur erfunden. Familie, Beruf,
ein Kind, ein Haus, ein schönes Leben. Aus der Traum. Es
hatte in ihren Geschichten immer nur ein dramatisches
Ende gegeben und niemals eine Fortsetzung.

362
Der Chef hatte noch einmal mit Margret gesprochen,
davon erzählte er ihr. Er hatte den weiten Weg nach
Buchholz erneut auf sich genommen, um sich nach Vaters
Befinden zu erkundigen, weil er meinte, es interessiere sie
vielleicht. Natürlich interessierte es sie, und es rührte sie
beinahe zu Tränen, dass ein Feind eine derart großherzige
und menschliche Regung zeigte.
Margret war noch bei Vater. Der Chef richtete schöne
Grüße aus und Margrets Betroffenheit über die Verlegung
vom Untersuchungsgefängnis in die Landesklinik. Er
wiederholte wörtlich, dass Margret gesagt hatte: «Um
Gottes Himmels willen, holen Sie sie da raus, bevor sie
wirklich den Verstand verliert. Haben Sie eine Ahnung,
was Sie ihr antun?»
Ganz offen sprach er darüber und war auch ehrlich
dabei. Dass er leider keinen Einfluss darauf habe, gestand
er. Es läge allein bei ihr. An ihrer Zusammenarbeit mit
Professor Burthe. Ob sie dem Professor denn inzwischen
von Magdalena erzählt habe.
«Ja, natürlich», versicherte sie.
Rudolf Grovian schüttelte den Kopf. Ihr Lächeln sprach
Bände, ebenso gut hätte sie sagen können: «Ich habe ihn
tüchtig angeflunkert.» Er legte ein wenig väterlichen Tadel
in seine Stimme.
«Frau Bender, Sie müssen ihm die Wahrheit sagen,
damit er sich einen Eindruck verschaffen kann. Sie
schaden sich nur, wenn Sie ihn belügen. Von seinem
Gutachten hängt Ihre Zukunft ab.»
Sie lachte leise. «Ich will keine Zukunft. Ich habe eine
Vergangenheit, die reicht für hundert Jahre. Richten Sie
Margret einen schönen Gruß von mir aus. Sie hat sich
geirrt, es ist doch wie Urlaub. Man wird nicht braun dabei,
aber sonst stimmt alles. Der Service ist hier nicht

363
schlechter als in einem billigen Hotel. Alle sind nett,
keiner meckert, und keiner erwartet ein Trinkgeld. Sehen
Sie, tagsüber habe ich sogar ein Einzelzimmer. Ich sage
Ihnen was: Wenn sich das rumspricht, kriegen Sie alle
Hände voll zu tun. Dann sind Sie eines Tages froh, wenn
Sie mir hier Gesellschaft leisten dürfen. Hier haben Sie
Ihre Ruhe, das garantiere ich Ihnen. Ab und zu eine
gepflegte Unterhaltung mit einem gebildeten Mann.
Ansonsten können Sie sich Ihren Gedanken hingeben.»
«Und welchen Gedanken geben Sie sich hin, Frau
Bender?»
Sie hob die Schultern. «Ach, das ist verschieden. Am
liebsten denke ich, nicht ich hätte Frankie umgebracht,
sondern seine Frau. Und ich hätte nur versucht, ihr das
Messer wegzunehmen. Es wäre mir ehrlich gesagt lieber,
wenn die kleinen Teufel sich später um meine Sünden
gekümmert hätten. Ich bin nicht Pilatus.»
Rudolf Grovian nickte. Er hatte Krach daheim, den
ersten richtigen Krach seit zehn, zwölf oder fünfzehn
Jahren. Als Mechthild zu toben begann, hatte er nicht
einmal gewusst, wie lange es her war. Eine Höllenszene
hatte sie ihm gemacht, als er beim Frühstück beiläufig
gefragt hatte, ob er die Ersatzflasche Shampoo aus dem
Bad mitnehmen könne und vielleicht noch eine Zeitung
oder sonst was zum Lesen.
Mechthild hatte ihn erstaunt und misstrauisch
angeschaut.
«Willst du Hoß den Kopf waschen und ihm etwas
vorlesen? Oder was hast du sonst vor? Rudi, du willst ja
wohl nicht etwa …»
Natürlich wollte er, er musste. Er hatte eine Menge
erfahren bei seinem zweiten Besuch in Buchholz, viel
mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Aber es reichte immer

364
noch nicht, um die Verbindung herzustellen. Dazu fehlten
ihm noch ein paar Bruchstücke. Und sie hatte diese
Trümmer in ihrem Kopf. Das hatte er Mechthild
begreiflich zu machen versucht.
Da war es losgegangen, und geendet hatte es mit: «Fahr
nur, fahr zu ihr, wenn du es nicht lassen kannst. Wenn du
weg bist, ruf ich mal an, dass sie dich gleich dabehalten.»
Dann war Mechthild ins Wohnzimmer gerannt, hatte die
Äpfel aus der Obstschale geschnappt, ihm auf den Tisch
geknallt. «Hier, die nimmst du am besten auch mit. Du
kannst den Tathergang damit rekonstruieren.»
Mechthild ging von falschen Voraussetzungen aus. Was
er rekonstruieren wollte, hatte nichts mit Äpfeln zu tun,
allenfalls mit Zitronen.
Er begann zu plaudern, harmlos und unverfänglich. Dass
es ihrem Vater nun wirklich etwas besser ginge. Die Ärzte
meinten, er sei über den Berg. Margret wolle ein gutes
Pflegeheim für ihn suchen. Und Margret denke daran, im
Laufe der nächsten Woche zurück nach Köln zu kommen.
Dann fragte er, ob sie überhaupt mit ihm reden dürfe.
Privater Besuch oder nicht, vielleicht habe ihr Anwalt ihr
geraten zu schweigen.
Damit brachte er sie erneut zum Lachen. «Nein, er sah
aus, als ob er selbst einen guten Rat braucht. Wissen Sie,
irgendwie hat er mich an Horsti erinnert. Nicht dass er ein
schmächtiges Kerlchen wäre, aber er war genauso
schüchtern und leicht zu beeindrucken.»
Eigentlich hatte Rudolf Grovian noch ein Weilchen über
ihren Anwalt plaudern wollen. Eberhard Brauning, den
Namen hatte er vom Staatsanwalt gehört, nur sagte er ihm
nichts. Er hätte gerne gewusst, ob Eberhard Brauning zu
den scharfen Hunden zählte. Es gab ein paar scharfe
Hunde unter den Pflichtverteidigern, die für ihre Klientel

365
taten, was getan werden konnte.
Mechthild war der Meinung, dass Cora Bender einen
von den ganz scharfen Hunden brauchte, der als Erstes
dafür sorgte, dass ein gewisser Polizist die Finger von
seiner Mandantin ließ. Weil dieser gewisse Polizist selbst
nahe dran war, den Verstand zu verlieren. Das war
vielleicht der gute Aspekt an dem Ärger daheim,
Mechthild sorgte sich ausschließlich um ihn. «Du reibst
dich auf, Rudi. Du steigerst dich da in etwas hinein. Sieh
dich doch mal an, wie du aussiehst! Mein Gott, du bist
nicht mehr fünfundzwanzig, du brauchst deinen Schlaf.»
Und in den letzten Nächten hatte er nicht allzu viel
bekommen. Zu viele Gedanken! Er hätte gerne ein paar
davon abgegeben. An ihren Anwalt zum Beispiel. Dass sie
ihm, dem Polizisten, den Zugriff auf ihre letzten Reserven
verwehrte, war verständlich. Er war von der ersten Minute
an der Angreifer gewesen. Aber ein Verteidiger, ein
tüchtiger Mann, der ihr von der ersten Sekunde an
suggerierte: Ich bin auf deiner Seite.
Was sie gerade gesagt hatte, klang nicht nach
Tüchtigkeit und Suggestionskraft. Und Horsti war das
zweite Thema für diesen Tag. Er griff den Faden auf,
dankbar, dass er sich nicht das Hirn verrenken musste, um
sie dahin zu bringen.
Er hatte die weite Fahrt nach Buchholz nicht erneut auf
sich genommen, um mit Margret zu reden oder sich nach
dem Zustand ihres Vaters zu erkundigen. Da gab es auch
nichts mehr zu erkundigen. Wilhelm Rösch war tot.
Margret suchte ein Pflegeheim für ihre Schwägerin. Man
konnte deren Versorgung nicht auf Dauer der Nachbarin
überlassen. Aber ihr das zu sagen, hätte er nicht übers
Herz gebracht. Da hätte ihn Professor Burthe nicht eigens
darauf hinweisen müssen. «Frau Bender könnte das nicht
verkraften.» Natürlich nicht! Horsti war als
366
unverfängliches Thema genehmigt.
Es hatte ihn nicht viel Mühe, nur ein wenig Fragerei
gekostet, ihren Jugendfreund ausfindig zu machen. Grit
Adigars Tochter Melanie, inzwischen aus Dänemark
zurück, hatte ihm weitergeholfen, sich erinnert, dass
Horsti mit Nachnamen Cremer hieß und wo er zu finden
war. In Asendorf, einem kleinen Ort in der Nähe von
Buchholz. Melanie wusste noch mehr.

Sie hatten zu dritt in einem hellen, modern eingerichteten


Wohnzimmer gesessen, während Melanie Adigar ihr
Gedächtnis bemühte.
Sie hatte Cora einmal zusammen mit Johnny Guitar im
«Aladin» gesehen. An Magdalenas Geburtstag. An dem
Punkt versuchte Grit Adigar noch, ihrer Tochter zu
widersprechen. «Du musst dich irren. An dem Tag ist sie
bestimmt nicht weg gewesen.»
Melanie erklärte mit vorwurfsvollem Unterton: «Mama,
ich weiß doch, was ich gesehen habe. Ich habe mich ja
auch gewundert. Aber ich habe sogar mit ihr gesprochen.
Sie war allein, und …» Und dann war ein wenig Neid
aufgekommen. Johnny Guitar, ein blonder Adonis, ein
faszinierender Mann, den hätte auch Melanie nicht von der
Bettkante gestoßen. Obwohl er mit Vorsicht zu genießen
war! Er schleppte ja immer diesen kleinen Dicken mit sich
herum.
Und Melanie hatte einmal erlebt, wie ein Mädchen nach
dem Zusammensein mit beiden zurück ins «Aladin» kam.
Heulend! Das Mädchen verzog sich mit ein paar anderen
aufs Klo. Melanie war neugierig, folgte dem Grüppchen
und schnappte zwischen zahlreichen Schluchzern die
Sätze auf:
«So ein Schwein! Er hat überhaupt nichts unternommen.

367
Er ließ den einfach machen. Die zeige ich an.» Eine
andere Stimme riet: «Du solltest lieber den Mund halten.
Wir hatten dich gewarnt, und du bist freiwillig
mitgefahren.»
Den Mund hielten sie alle. Trotzdem war es für Johnny
schwieriger geworden, er kam nicht mehr so gut an. Es
konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, ehe er das Revier
wechseln musste. Dass sich die Gefahr, die von ihm
ausging, bis zu Cora herumgesprochen hatte, musste man
bezweifeln. Wo Cora doch immer mit Horsti zusammen
war.
An dem Abend nicht. Johnny nutzte seine Chance
prompt. Und Cora war so verliebt, richtig weggetreten. Sie
tanzten und schmusten. Melanie beobachtete sie und war
fest entschlossen, Cora zu warnen, bevor sie sich von
Johnny zu einer Tour überreden ließ. Aber es geschahen
noch Wunder. An dem Abend hatte der kleine Dicke auch
einmal Glück. Melanie sah ihn ebenfalls tanzen – fast
ohne Pause und immer mit demselben Mädchen. Neu im
«Aladin», blond und ein bisschen pummelig, aber ganz
niedlich. Genau das Richtige für den kleinen Dicken.
«Wir sind um halb elf gegangen», sagte Melanie Adigar.
«Da tanzte er immer noch mit ihr. Und Cora war mit
Johnny zusammen. Ich wollte ihr den Spaß nicht
verderben. Ich dachte, wenn sie zu viert sind, kann ja nicht
viel passieren. Es war das letzte Mal, dass ich Cora
gesehen habe. Johnny und sein Freund sind danach auch
nicht wieder aufgetaucht.»
Horst Cremer hatte diese Angaben bestätigt und ergänzt.
Er war zuletzt am ersten Maiwochenende mit Cora
zusammen gewesen. Da hatte sie ihm gesagt, sie könne
sich erst in zwei Wochen wieder mit ihm treffen. Einen
besonderen Grund hatte sie dafür nicht angegeben, gewiss

368
kein Wort verlauten lassen, dass es ihrer Schwester
schlechter ging als sonst. Aber sie hatte nur äußerst selten
einmal von ihrer Schwester gesprochen.
Am 16. Mai blieb Horst Cremer daheim. Am 23. wartete
er vergeblich im «Aladin» auf Cora. Er drückte sich zwei
Abende in der Nähe ihres Elternhauses herum in der
Hoffnung, sie zu Gesicht und eine Erklärung von ihr zu
bekommen. Auch vergebens. An der Haustür zu klingeln,
wagte er nicht bei seiner Schüchternheit und den
Horrorgeschichten, die sie ihm über ihren strengen Vater
erzählt hatte.
Horst Cremer versuchte sein Glück am letzten
Maisamstag noch einmal im «Aladin». Cora erschien
nicht. Er fragte ein wenig herum und erfuhr, dass sie ihn
am 16. schmählich verraten hatte. Nicht nur Melanie
Adigar hatte den Beginn der Liaison mit Johnny Guitar
beobachtet. Ein paar andere wollten gesehen haben, dass
Cora später in der Nacht zu Johnny und seinem kleinen,
dicken Freund ins Auto gestiegen war – zusammen mit
noch einem Mädchen, das allerdings niemand kannte!
Rudolf Grovian hatte augenblicklich an die skelettierte
Leiche denken müssen bei dieser Auskunft. Von wegen:
Wenn sie zu viert sind, kann ja nicht viel passieren.
Um welches Auto es sich gehandelt hatte, ließ sich nicht
mehr in Erfahrung bringen. Melanie Adigar erinnerte sich
nicht genau. «Die kamen nicht immer mit demselben
Wagen. Kann sein, dass da mal ein silberfarbener Golf
dabei war. Der muss dann aber dem kleinen Dicken gehört
haben. Johnny stand auf Nobelkarossen. Porsche oder
Jaguar. Einmal sah ich ihn aus einem Amischlitten steigen.
Keine Ahnung, was für ein Typ das war. Lindgrün war er,
das weiß ich noch, mit riesigen Heckflügeln, ein Oldie, ein
richtiges Angeberauto. Da dachte ich, der Typ hat einen
reichen Papi. Oder sie haben zu Hause einen Autoverleih.»
369
Auch Horst Cremer konnte keine Auskünfte über den
Wagen geben. Man hatte ihm keine Marke genannt. Zu
Johnny ins Auto gestiegen eben. Horsti hatte seinen ersten
Kummer ersäuft. Bis Mitte Juni schwankte er zwischen
Enttäuschung und der Hoffnung, dass Cora zu ihm
zurückfände. Johnny war bekannt dafür, dass er nur nach
Buchholz kam, um zu naschen.
Horsti verbrachte jedes Wochenende im «Aladin» und
belauerte Abend für Abend ihr Elternhaus. An einem
Sonntag Ende Juni ging er aufs Ganze. Er begnügte sich
nicht damit, an der Straßenecke zu stehen. Er klingelte an
der Haustür.
Zu Rudolf Grovian hatte er gesagt: «Da kam ein altes
Weib an die Tür, so ein zotteliges Schreckgespenst. Ich
frag sie nach Cora, und sie sagt zu mir: Es gibt in diesem
Haus keine Cora mehr. Meine Tochter ist verschwunden.
Ich dachte, ich hör nicht richtig.»
Das hatte Rudolf Grovian auch gedacht. Verschwunden!
Schon Ende Juni? Wo Tante und Nachbarin überzeugt
waren, Cora habe bis zum 16. August am Bett ihrer
sterbenden Schwester ausgeharrt!
Allerdings waren sowohl Grit Adigar als auch Margret
Rösch plötzlich gar nicht mehr so überzeugt. Nach der
Aussage ihrer Tochter trat Grit Adigar den Rückzug an.
Sie war ja in der Zeit von Mai bis August nicht nebenan
gewesen. Und irgendwie war das schon komisch, wenn sie
jetzt darüber nachdachte. Als ob es Wilhelm plötzlich
nicht mehr recht gewesen wäre, dass sie auf einen Sprung
hereinschaute. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, wenn er
sie in der Küche abwimmelte. Sie hatte ihm geglaubt,
wenn er mit sorgenvoller Miene zur Zimmerdecke deutete
und murmelte: «Cora rührt sich nicht von der Stelle.»
Warum sollte Wilhelm gelogen haben?

370
Das fragte Margret sich auch. Wenn Cora, wie Rudolf
Grovian vermutete, bereits am 16. Mai verschwunden war,
warum hatte Wilhelm dann bei seinem Anruf am 17. Mai
nur von schlechter Gesellschaft gesprochen?
Wilhelm konnte man nicht mehr fragen. Rudolf Grovian
hatte sein Glück bei Elsbeth Rösch versucht. Unter vier
Augen! Margret, die sich nach dem Tod ihres Bruders im
Haus einquartiert hatte, verließ widerstrebend die Küche.
Und er hörte sich an, dass Magdalena in neu erblühter
Schönheit zu Füßen des Herrn saß, nachdem jeder Makel
und jeder sündige Gedanke aus ihrem alten Leib gedörrt
war.
Es hatte nicht viel Sinn. Im ersten Moment dachte er,
Elsbeth erinnere sich nicht mehr an ihre älteste Tochter.
Doch dann erzählte sie ihm vom Geschöpf Satans, das sie
alle genarrt hatte. Das in den Tempeln der Sünde
verkehrte, statt Einkehr zu halten. Das die leidende
Kreatur ins Verderben riss, weil es verblendet war von den
Begierden des Fleisches. Zu welchem Zeitpunkt das
Geschöpf Satans dem Elternhaus den Rücken gekehrt
hatte, wusste Elsbeth nicht.
Ihr Gefasel konnte er vergessen. Da gaben die beiden
anderen Aussagen mehr her. Leider hatten sie vor Gericht
keinen Wert. Was Horst Cremer vorbringen konnte, war
Hörensagen um drei Ecken. Er erinnerte sich nicht einmal
mehr, wer ihn damals über Coras Treuebruch informiert
hatte. Und Melanie Adigar hatte nicht gesehen, ob Cora in
der Mainacht das Lokal allein oder in Begleitung Johnnys,
des kleinen Dicken und des unbekannten Mädchens
verlassen hatte.

Dass er sich mit ihrem Jugendfreund unterhalten hatte,


schien sie zu freuen. Ihre Stimme wurde schwer vor

371
Melancholie. «Wie geht es ihm denn? Was macht er? Ist
er verheiratet?»
Sie ließ sich berichten, wollte wissen, ob Horsti sich
nach ihr erkundigt habe. Dann erzählte sie ihrerseits. Von
den Abenden im «Aladin». Wo sie manchmal getanzt und
manchmal in einer Ecke gestanden hatten. Horsti
schwärmte für Udo Lindenberg. Nicht die wüsten Songs,
nur die sanften.
«In den dunklen, tiefen Gängen der Vergangenheit. Ein
Hauch Erinnerung treibt durch das Meer der Zeit.» Und
jetzt tappte sie durch die dunklen Gänge. Ab und zu
schwappte eine kalte Welle Zeit über sie hinweg.
Augenblicklich nicht, da war die Welle lauwarm. Sie
lachte leise. «Er war ein lieber Kerl. Oft hatte ich ein
schlechtes Gewissen, weil ich ihn nur benutzte, um mir die
anderen vom Leib zu halten. Ich wollte warten, bis der
Richtige kam. Gemein, nicht wahr?»
Rudolf Grovian hob nur kurz die Achseln, ließ sie reden
und strapazierte sein Hirn mit der Überlegung, wie er die
Klippe Magdalena umschiffen und trotzdem den 16. Mai
ansteuern könnte. Nur die Zeit im «Aladin» und die kurze
Szene auf dem Parkplatz, über etwas anderes wollte er gar
nicht mit ihr reden. Auf gar keinen Fall wollte er sie erneut
hinter ihre Mauer scheuchen wie beim letzten Gespräch,
wo er sich eine geschlagene Viertelstunde lang ihr
Kopfschütteln angeschaut hatte, ehe er begriff, dass sie
abgeschaltet hatte.
Nur wissen, wie es weitergegangen war mit ihr und
Johnny. Es musste weitergegangen sein. Es gab nur diese
eine Möglichkeit: Johnny gleich Hans Böckel. Böckel
besorgte die Mädchen, hatte seinen Spaß mit ihnen und
sorgte dafür, dass auch seine Freunde nicht zu kurz
kamen. Und wenn es ihr so ergangen war wie der Kleinen,

372
deren Schluchzer Melanie Adigar vor der Toilette
belauscht hatte, bekam die Geschichte einen Sinn.
Von der großen Liebe an zwei andere Männer
ausgeliefert. Mochte der Dicke auch ein Mädchen bei sich
gehabt haben an dem Abend, da war immer noch Georg
Frankenberg. Und mochte Frankie ein noch so
zurückhaltender und ernsthafter junger Mann gewesen
sein – es hatte sich schon manch einer mitreißen lassen.
Dann blieb nur noch zu beweisen, dass Georg
Frankenbergs Arm nicht am 16. Mai, sondern etwas später
gebrochen war.
Für die Vorstellung, wie sich der Armbruch ereignet
hatte, brauchte man nicht viel Phantasie, nur ein paar
schlaflose Nächte, in denen man im Geist durchspielte,
wie ein junger Mann völlig aufgelöst nach Hause kommt.
Wie er seinem Vater von einem oder zwei toten Mädchen
erzählt. Der junge Mann hat Angst. Der Vater beruhigt
ihn, stellt ein paar gezielte Fragen und erfährt: Niemand
hat den Sohn zusammen mit den beiden Mädchen
gesehen. Darüber hinaus ist es fern der Heimat passiert.
Also: Mach dir keine Sorgen, mein Junge. Das regeln wir
schon. Es tut auch gar nicht weh. Ich gebe dir vorher eine
Spritze.
Rudolf Grovian war mit seinen Gedanken in Frankfurt,
im «Aladin» und an einigen anderen Orten, nur nicht ganz
bei ihr. Etwas Wesentliches schien er nicht zu verpassen.
Er hörte sie weiter über Horsti sprechen, und der war für
ihn nun wirklich ohne Belang.
Sie seufzte. «Ich hoffe, er ist glücklich verheiratet. Doch,
wirklich, das wünsche ich ihm. Er hat es verdient. Er hat
sich immer bemüht, es mir Recht zu machen. Zu meinem
Geburtstag hat er mir eine Kassette geschenkt. Er hatte sie
selbst aufgenommen. Von Queen. Die hatten wir schon,
aber seine Aufnahme war viel besser. Da war überhaupt
373
kein Rauschen drin. ‹We are the Champions› und
‹Bohemian Rhapsody›. Magdalena war verrückt danach.
In der Woche hat sie nichts anderes mehr gehört. Sie war
so begeistert von Freddy Mercurys Stimme. Und jetzt ist
der auch schon so lange tot. Mein Gott, warum sind sie
denn alle tot?»
Sie riss entsetzt die Augen auf und legte kurz eine Hand
vor den Mund. «Den habe ich aber nicht, oder? Den habe
ich bestimmt nicht … Er war krank. Ich meine, ich hätte
das mal gelesen, dass er sehr krank war.»
Rudolf Grovian hatte den Anschluss verpasst. Für ihn
ging es immer noch um Horst Cremer. Er sah ihr
Entsetzen und beeilte sich zu versichern: «Nein, keine
Sorge, Frau Bender. Er ist kerngesund, und demnächst
bekommt seine Frau ein Baby, darauf freut er sich schon
sehr. Es geht ihm wirklich ausgezeichnet. Ich habe ja mit
ihm gesprochen. Eine kleine Autowerkstatt hat er
eröffnet.»
«Sie lügen», stellte sie fest, biss sich auf die Lippen und
schüttelte den Kopf. Und mit dem Schütteln entstand das
Bild in ihrem Hirn.

Sie vergaß den Chef, hatte nur noch Augen für den kleinen
Wecker auf dem Nachttisch. Er war deutlich zu sehen. Die
Zeiger standen ein paar Minuten nach elf.
Magdalena hatte ihre Schritte auf der Treppe nicht
gehört, weil sie beide Ohren mit den Stöpseln des
Walkmans verstopft und die Musik so laut gestellt hatte
wie möglich. Sie richtete sich auf mit einem erstaunten,
aber auch zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht. «Du
bist ja superpünktlich. War nichts los in der Disco?»
Sie ging zum Bett, setzte sich, hob eine Hand, strich eine
der langen Haarsträhnen aus Magdalenas Gesicht nach

374
hinten und küsste sie auf die Wange. «Nein, überhaupt
nichts.
Ich hatte keine Lust, noch länger herumzustehen. Ich
wollte lieber bei dir sein.»
Aus den winzigen Ohrhörern in Magdalenas Hand drang
verzerrt Freddy Mercurys Stimme. Bohemian Rhapsody. Is
this the real life? Nein, das war es nicht. Es war ein
Lügengebilde. «Ich gehe seit Jahren für dich auf den
Strich. Wir haben das Geld bald zusammen.» Haben wir
nicht! Weil es mit Diebstählen nicht so schnell geht. «Ich
habe Schluss gemacht mit meinem Freund. Der wurde mir
lästig mit seiner dämlichen Fragerei. Aber ich habe schon
wieder einen neuen, er heißt Horst. Ein cooler Typ.»
Quatsch! Ein Spargeltarzan, über den sich alle lustig
machen. «Ich wollte lieber bei dir sein.» Wollte ich nicht!
Ich wäre gerne geblieben. Johnny war da. Ich habe dir
noch nie von ihm erzählt. Ich werde dir auch jetzt nichts
erzählen. Johnny gehört mir allein. Stell dir einen Mann
vor, jung, stark und so schön, wie du ihn nur auf Papier zu
sehen bekommst. Er sieht aus wie der Erzengel aus
Mutters Bibel. Und ich habe ihn angefasst, seine
Schultern, sein Gesicht. Ich hatte meine Arme um seine
Taille und seine Hände in meinem Nacken.
Ihre Hand lag noch an Magdalenas Haar. Sie zog sie
nach vorne und strich über die glatte Wange. Mit einem
Finger zeichnete sie die Konturen der Lippen nach.
«Musst du nochmal zur Toilette, bevor wir uns hinlegen?»
Magdalena schüttelte den Kopf. Sie erhob sich von der
Bettkante.
«Dann hole ich uns den Rest vom Sekt.»
Die Flasche war noch fast voll. Um acht hatten sie jede
nur einen winzigen Schluck getrunken. Magdalena hatte
behauptet, der Sekt schmecke ihr nicht. Sie selbst war

375
vorsichtig gewesen, weil Magdalena darauf bestand, dass
sie noch ins «Aladin» fuhr. Jetzt war sie dankbar für
Magdalenas Hartnäckigkeit.
Magdalena hatte sich aufrecht in die Kissen gesetzt, als
sie mit der Flasche und den beiden Gläsern zurück ins
Zimmer kam. Magdalena lächelte und betrachtete sie mit
kritischem Blick. «Du bist so komisch. Hast du was?»
«Nein. Was soll ich denn haben?» Sehnsucht habe ich.
Ich habe mir so lange gewünscht, dass er einmal mit mir
spricht. Mit mehr hatte ich nicht gerechnet. Und nun hat er
mich sogar angefasst. Getanzt haben wir. Und ich habe
mir gewünscht, dass er mit mir hinausgeht, dass er mich
liebt. Er war erregt, ich habe es gespürt beim Tanzen. Als
ich gehen musste, hat es mich fast zerrissen. Nächste
Woche wird er mich nicht mehr kennen. Ich hätte bei ihm
bleiben müssen. Die Chance bekommt man nur einmal.
Und ich habe sie nur bekommen, weil sonst keine da war
für ihn, weil er sich langweilte. Ich weiß das. Und jetzt
habe ich meine einzige Chance verspielt. Aber ich hatte
dir ja versprochen, dass ich nicht zu lange bleibe.
Manchmal hasse ich dich! Und jetzt hasse ich dich mehr
als zu Anfang, ich hasse dich nicht mehr wie ein Kind. Ich
hasse dich wie eine Frau, die um ihr Leben betrogen wird.
Wenn du nicht wärst, wäre ich frei. Ich müsste nicht seit
zwei Jahren mit dieser Klette Horsti im «Aladin» stehen.
Alle amüsieren sich darüber. Ich bin mal wieder die
Witzfigur. Cora steht nicht mehr betend auf dem Schulhof.
Jetzt steht sie mit einem Spargeltarzan im «Aladin». Für
einen richtigen Mann hat sie keine Zeit. Sie hat nämlich
eine Schwester, die frisst ihr das Leben weg.
Aber heute hätte ich es allen zeigen können. Allen, die
wichtig sind. Melanie war da mit ihrer Clique. Du kennst
Melanie nicht persönlich. Du kennst niemanden
persönlich, nur dich. Wir unterhielten uns kurz. Melanie
376
fragte nach Horsti.
«Wo hast du denn deinen Spargeltarzan gelassen?»
«Der ist zu Hause und biegt ein paar Bananen», sagte
ich. Dann wollte ich austrinken und heimfahren. Aber
genau in dem Augenblick kamen sie herein. Johnny und
sein Freund.
Vielleicht sollte ich dir doch von ihm erzählen. Alles,
jede Einzelheit. Nur damit du siehst, dass ich mich nicht
von dir kaputtmachen lasse, dass ich noch ganz normal
fühlen kann. Willst du es hören? Wie sie hereinkamen,
sich an einen Tisch setzten, sich umschauten. Wie sie
miteinander sprachen. Ich konnte mir denken, worüber.
Dass nichts los ist, dass sie woanders hinfahren müssen.
Aber dann sah der Dicke ein Mädchen. Er sieht jedes
Mal eins. Nur hatte er bisher keinen Erfolg. Ich weiß
nicht, wie oft ich schon beobachtet habe, dass ihn eine
abblitzen ließ. Ich dachte, so wäre es auch diesmal. Er
stand vom Tisch auf und ging zu ihr. Er sprach sie an. Und
sie ging tatsächlich mit ihm zur Tanzfläche.
Johnny saß allein am Tisch. Er langweilte sich, das sah
ich. Heute hast du Pech, dachte ich. Da schaute er zu mir
herüber. Und dann lächelte er. Ich weiß nicht, ob ich
zurückgelächelt habe. Es war in dem Moment ein Gefühl,
als sei mein Gesicht eingeschlafen. Und mein Herz war
fast flüssig.
Dann stand er auf. Und dann kam er zu mir. Weißt du,
was er sagte? «Die festen Hände daheim gelassen, damit
ein armer Mann auch ’ne Chance bekommt?»
Ich konnte es nicht glauben. Er fragte, ob ich Lust hätte,
mit ihm zu tanzen. Ob ich Lust hätte! Beim Tanzen
erzählte er mir, dass er es bisher nur nicht gewagt hätte,
mich anzusprechen, weil Horsti immer bei mir gewesen
wäre. Er hielt mich so fest, dass ich ein paar Mal an die

377
Kerze denken musste. Sie ist nicht so dick wie das, was
ich gefühlt habe.
Ich fühlte Johnnys Lippen an der Stirn und wartete
darauf, dass er mich küsste. Aber er fragte nur, ob ich Lust
hätte, woanders hinzufahren mit ihm und seinem Freund.
Mit ihm allein wäre ich gefahren, auf der Stelle. Da hättest
du ein bisschen länger auf mich warten müssen. Aber
zusammen mit seinem Freund! Mir hat mal eine gesagt:
Die beiden gibt es nur im Doppelpack. Ich kann mir
denken, wie das gemeint war. Und ich glaubte nicht, dass
das Mädchen, mit dem der Dicke tanzte, auch mitfahren
wollte. Wo sie ihn gerade erst kennen gelernt hatte.
Wahrscheinlich tanzte sie nur mit ihm, weil sie dachte,
über ihn käme sie an Johnny heran.
Und da sagte ich eben: «Lust hätte ich schon, aber es
geht nicht. Ich kann nicht zu lange wegbleiben. Meine
Schwester ist alleine zu Hause.»
Er war erstaunt. «Wie alt ist deine Schwester denn?»
«Achtzehn», sagte ich, «heute geworden.»
Er lachte. «Und warum ist sie dann zu Hause? Warum ist
sie nicht mitgekommen?»
«Sie fühlte sich nicht so besonders.»
Er wollte unbedingt, dass ich bei ihm bleibe, dass ich mit
ihnen fahre. Notfalls mit ihm allein. Er schaute zu dem
Dicken und dem Mädchen hin und meinte: «Tiger ist ja
beschäftigt. Er hat bestimmt nichts dagegen, wenn wir ihn
hier ein Weilchen allein lassen.»
Ich fand es witzig, dass er ihn Tiger nannte. Der sah eher
aus wie ein kleines rosiges Ferkel.
Johnny fragte: «Kannst du nicht anrufen, deine Eltern
von der Party pfeifen und ihnen sagen, dass heute mal sie
babysitten müssen?»

378
Und ich sagte: «Wir haben keine Eltern mehr.»
Haben wir ja auch nicht. Hatten wir nie. Wir hatten
immer nur uns. Und weil ich die Ältere bin und die
Stärkere, muss ich für dich sorgen. Da bin ich gegangen,
ich bin fast gestorben. Es war, als ob ich mir selbst das
Herz herausreiße. Johnny wollte mir seinen richtigen
Namen nennen, wenn ich bleibe. Gebettelt hat er. Noch
eine halbe Stunde, noch einen Tanz. Er ging mit hinaus
auf den Parkplatz. Und bevor ich in den Wagen stieg,
küsste er mich endlich. Es war anders als mit Horsti. Er
trank Whisky-Cola. Vielleicht war es das. Süß bis in die
Knie. Ich hätte stundenlang so mit ihm stehen können, und
es waren nur ein paar Sekunden.
Er ließ mich wieder los und sagte: «Sing deiner
Schwester ein Schlaflied, und dann komm wieder, ja? Ich
warte auf dich.» Er stand da und winkte mir nach, als ich
losfuhr. Und ich dachte, dass ich vielleicht wirklich noch
einmal zurückkommen könnte, wenn du eingeschlafen
bist. Sing deiner Schwester ein Schlaflied …

379
13. Kapitel

Nur eine Sekunde Unaufmerksamkeit, und es war


geschehen. Kaum hatte sie den Namen Magdalena
ausgesprochen, tauchte sie weg. Rudolf Grovian
beobachtete, wie sie zum Bett ging und sich setzte –
seitlich – mit dem Gesicht zum Kissen. Mit einer Hand
strich sie über den zerknitterten Stoff. Das wechselnde
Mienenspiel dabei machte deutlich, dass sie nicht mehr bei
ihm war.
Er hoffte auf ein paar Worte, zumindest ein Murmeln,
aus dem sich Rückschlüsse ziehen ließen auf das, was sie
gerade durchlebte. Den Gefallen tat sie ihm nicht. Und es
von ihrem Gesicht ablesen … Da war ein Ausdruck von
Ekel und Widerwillen, mehrfach schluckte sie heftig. Es
schien fast, als kämpfe sie gegen einen Würgreiz an.
Minuten vergingen. Er wagte es nicht, sie anzusprechen.
Nur der Himmel wusste, an welchem Punkt er sie
erwischte. Dann tauchte sie wieder auf, ganz plötzlich.
Ihre Augen waren schreckhaft geweitet. Sie strich mit der
Hand über die Stirn. «Ich bin heimgefahren», sagte sie
klar verständlich.
Er atmete erleichtert auf und stimmte ihr rasch zu:
«Natürlich, Frau Bender.»
«Ich habe Magdalena nicht im Stich gelassen.»
Nur nicht an Magdalena rühren! Nach den Erfahrungen
beim letzten Gespräch wollte er ihre Schwester liebend
gerne Professor Burthe überlassen. «Natürlich nicht, Frau
Bender. Aber wir reden nicht von Magdalena. Wir
sprechen nur über Horsti. Er hat sich damals ein paar Mal
nach Ihnen erkundigt, als Sie nicht mehr ins ‹Aladin›

380
kamen.»
Sie schaute ihn nur an, schien verwirrt und unsicher. Er
wusste nicht, ob sie ihm überhaupt noch folgen konnte,
und sprach langsam weiter. «Das war im Juni. Da müssen
Sie doch noch daheim gewesen sein. Oder waren Sie
schon im Juni weg?»
Natürlich war sie weg gewesen! Er hätte seine Hände
dafür über brennende Kerzen gehalten. Sie war im Mai
verschwunden, nicht erst im August. Und aus einem
unerfindlichen Grund hatte ihr Vater erzählt … Oder die
anderen waren der Meinung gewesen, es sei besser, sie
neben Magdalenas Bett zu setzen, bis man Gewissheit
hatte.
Inzwischen beherrschte er das Spielchen ebenso gut wie
sie, ihre Tante und die Nachbarin – einen halben Meter an
der Wahrheit vorbei. Es fiel ihr nicht auf. «Einmal hat
Horst auch mit Ihrem Vater gesprochen. Ihr Vater hat ihm
erklärt, dass Sie nichts mehr von ihm wissen wollen. Sie
wären jetzt mit Johnny zusammen, hat Ihr Vater gesagt.
Und das war im Juni.»
Welche Reaktion er sich von ihr erhofft hatte, wusste er
nicht. Irgendeine. Die bekam er auch. Sie senkte den Kopf
und murmelte: «Nein, ich bin heimgefahren.»
Etwas in ihrem Ton irritierte ihn. Er wurde noch
vorsichtiger.
«Ganz sicher sind Sie das. Aber Sie waren einmal mit
Johnny zusammen?»
«Ja.»
«Wissen Sie noch, wann das war?»
«Ja. Jetzt weiß ich es wieder. An Magdalenas
Geburtstag. Aber ich bin heimgefahren.»
Bist du nicht, dachte er und sagte: «Natürlich, Frau

381
Bender. Das bezweifle ich gar nicht. Erinnern Sie sich an
den Abend?»
«Ganz genau. Es ist mir gerade eingefallen. Ich bin kurz
vor elf heimgefahren.»
So kam er nicht weiter. Er versuchte es anders. «Und
warum sind Sie heimgefahren?»
«Ich hatte es Magdalena versprochen. Und ich hatte
Angst, dass Tiger mitfahren wollte. Das Mädchen wäre
bestimmt nicht mitgekommen. Sie hatte ihn ja gerade erst
kennen gelernt.»
Das Mädchen! Er hätte pfeifen können in dem
Augenblick. Gut so, weiter so, erzähl es mir, ganz
langsam, ganz vorsichtig. «Welches Mädchen, Frau
Bender?»
«Weiß ich nicht.»
Na schön, das wusste ja anscheinend niemand. Kein
Wunder, dass es in Buchholz keine Vermisstenmeldung
für die fragliche Zeit gab. Der Himmel allein mochte
wissen, woher das arme Ding gekommen war. Zurück zum
Kernpunkt.
«War Frankie auch dabei?»
Sie betrachtete ihre Hände, spreizte die Finger ab, rieb
über die Nägel. Ihre Miene drängte ihm den Vergleich mit
einem trotzigen Kind auf. «Wissen Sie es nicht, Frau
Bender?»
«Doch, ich weiß es. Er war nicht dabei. Ich habe ihn nie
gesehen.»
Er atmete tief durch und entschloss sich, das Ziel frontal
anzusteuern. «Doch, Frau Bender. Sie haben ihn gesehen.
Einmal, im Keller. Und es war in dieser Nacht. Aber es
war später als elf. Ich weiß das genau. Wenn Sie um elf
heimgefahren sind, müssen Sie später noch einmal

382
zurückgekommen sein. Ich verstehe sehr gut, dass Sie
noch einmal zurückgefahren sind. Ich an Ihrer Stelle wäre
auch noch einmal ins ‹Aladin› gefahren. Sie waren sehr
verliebt in Johnny und wollten bei ihm sein. Das ist ganz
normal. Jedes normale Mädchen hätte das getan, Frau
Bender. Und Sie waren doch ein normales Mädchen, nicht
wahr? Sie waren nicht verrückt. Nur eine Verrückte hätte
Johnny sausen lassen und sich … daheim verkrochen.»
Beinahe hätte er gesagt: «… neben das Bett der kranken
Schwester gesetzt.» Er hatte es gerade noch verschlucken
können und sprach mit einem Hauch von Erleichterung
weiter. «Sie sind in der Nacht zusammen mit Johnny, dem
kleinen Dicken und noch einem Mädchen in ein Auto
gestiegen und weggefahren, dafür habe ich Zeugen.
Frankie muss der Mann gewesen sein, der schon im Keller
war, als Sie mit den anderen hereinkamen.»
«Ich weiß es nicht.» Es klang, als wolle sie weinen. Sie
zupfte an ihren Fingernägeln. «Ich weiß es wirklich nicht.
Ich weiß nur, dass ich um elf heimgefahren bin. Und dann
war Oktober. Ich weiß nicht, wie das passiert ist.»
Ihre Finger verflochten sich, rieben, drehten und
kneteten einander, als gebe es keinen anderen Halt als die
eigenen Hände. Ihre Stimme bekam einen Hauch von
Panik. Ihr Blick war ein einziges Flehen um Glauben und
Verständnis.
«Ich habe meine Schwester nicht im Stich gelassen. Ich
habe alles für sie getan. Alles nur für sie. Nur anschaffen,
das nicht. Ich wollte es nur mit einem Mann tun, den ich
liebe. Und Johnny … Ich habe daran gedacht beim
Tanzen. Dass ich es will – mit ihm. Und wenn es nur
einmal gewesen wäre. Das wäre mir egal gewesen. Das
eine Mal hätte ich erlebt, das hätte mir keiner wegnehmen
können. Sing deiner Schwester ein Schlaflied, hat er
gesagt. Ich warte hier auf dich. Und ich dachte, wenn sie
383
richtig müde wird, wenn sie schläft, kann ich vielleicht
nochmal …»
Sie riss die Augen auf und beteuerte: «Aber ich war
vorsichtig. Ich war immer vorsichtig. Das müssen Sie mir
glauben. Ich habe sie geliebt. Ich hätte nie etwas getan,
was ihr schadet. Ich habe immer aufgepasst. Ich wusste,
worauf ich achten muss. Wenn sie den Atem anhielt, habe
ich sofort aufgehört. Und wenn er zu schnell wurde, habe
ich langsamer gemacht. Ich habe immer eine Hand auf
ihrer Brust gehalten und gefühlt, wie ihr Herz schlägt. Ich
habe mich nie auf sie gelegt, nie. Ich habe es meist auch
nur mit den Fingern gemacht. Nur ganz selten mit der
Kerze, ehrlich. Und mit der Zunge … das war mir zu …
Sie hat mir davon vorgeschwärmt. Ich hab’s mal versucht,
aber das war mir zu eklig und auch zu gefährlich. Da
konnte ich nicht aufpassen, wie sie atmet.»
Sie zog die Unterlippe ein und zuckte hilflos mit den
Schultern. Ihre Stimme war schwer von unterdrückten
Tränen. «Ich weiß, dass es nicht richtig war. Ich hätte es
nicht tun dürfen. Es war wider die Natur. Dafür wurden
Sodom und Gomorrha vernichtet. Ich wollte es ja auch
nicht tun. Aber sie sagte, es ist nur bei Vätern und Brüdern
verboten, nicht bei Schwestern. Und sie hatte doch nichts
von ihrem Leben. Sie wollte so gerne einmal richtig mit
einem Mann schlafen, aber das hätte sie niemals … Sie
hatte doch nur mich. Und sie hatte auch Gefühl.»
Ihre Stimme brach, zwischen zwei Schluchzern bettelte
sie: «Sie werden es dem Professor nicht sagen.
Versprechen Sie mir das?»
«Natürlich, Frau Bender, ich verspreche es.» Er hatte es
ausgesprochen, noch bevor er richtig erfasste, was sie ihm
soeben anvertraut hatte. Das Begreifen ging nicht so rasch.
Sie sprach bereits weiter, als ihm klar wurde, wie ihr «Ich
habe sie geliebt» zu interpretieren war. Wörtlich!
384
«Sie sagte immer, ein Orgasmus sei ein irres Gefühl.
Und ich wusste nicht, wie es war. An dem Abend wollte
ich es wissen. Und da musste ich heimfahren. Sie hat es
gemerkt und nicht lockergelassen. Du bist so komisch, hat
sie gesagt. Du hast doch was. Und dann hat sie gesagt, ich
soll den Sekt alleine trinken. Er schmeckt nicht, und ihr
wird schwindlig davon.»
Die Schluchzer verstummten. Sie weinte ohne Tränen,
hielt den Blick auf ihre Hände gerichtet, auf diese sich
drehenden, windenden Finger. Er hatte das Bedürfnis, sie
in die Arme zu nehmen oder wenigstens etwas Tröstliches
zu sagen. Aber er wollte sie nicht aus dem Konzept
bringen und ließ sie weiterstammeln.
«Ich bin bei ihr geblieben. Ich habe alles getan, was sie
wollte. Ich habe ihr die Nägel lackiert. Wir haben Musik
gehört. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich höre sie nur
immer noch sagen: Tanz für mich!»
Ihre Finger waren wie zu einem Knoten in ihrem Schoß
verflochten. Er hörte die Gelenke knacken und versuchte
einzuordnen, was er gerade gehört hatte. Filmriss! Ihr
hartnäckiges Leugnen war wie eine Bestätigung. Er lag
richtig mit seiner Vermutung. Sie war nicht daheim
gewesen, als ihre Schwester starb. Sie hatte erst im
November gehört …
Ihre Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen. Sie stieß
die Sätze aus, als fehle ihr der Atem. «Tanz für mich!
Lebe für mich. Rauch für mich eine Zigarette. Geh für
mich auf den Strich. Such dir für mich die Freier aus, die
am besten zahlen. Und damit du etwas für dich hast, geh
in die Disco. Such dir einen Freund, schlaf mit ihm. Und
dann erzähl mir, wie es war. Ich habe ihr von dem Licht
im ‹Aladin› erzählt, wie es flackert, wenn die Musik lauter
wird. Rot und grün und gelb und blau.»

385
Eine Lichtorgel, dachte er noch. Da schrie sie auf: «Es
war dasselbe Licht wie im Keller. Ich kann da nicht hin.
Bitte, halten Sie mich fest. Helfen Sie mir. Das halte ich
nicht aus. Tun Sie etwas. So tun Sie doch etwas. Ich will
nicht in den Keller.»
Sie schlug mit den Händen um sich, ruderte durch die
Luft, als suche sie Halt.
Er hätte Professor Burthe rufen müssen. Der Gedanke
kam ihm auch, aber er ließ ihn sofort wieder fallen. Der
Professor war ein viel beschäftigter Mann. Ob er sich jetzt
die Zeit nehmen konnte, den Keller mit ihr zu erforschen,
war fraglich. Vermutlich hielt er eine Beruhigungsspritze
für angebrachter.
Rudolf Grovian glaubte sich durchaus imstande, die
Situation unter Kontrolle zu halten. Er setzte sich neben
sie auf das Bett, griff nach ihren Händen, hielt sie fest,
drückte sie und bemühte sich um einen beschwichtigenden
Ton, obwohl ihm das Herz fast zum Hals heraus schlug.
Sie war völlig außer sich. Ihr Blick hetzte durch den
Raum. Ihre Brust und die Schultern zuckten unter den
krampfhaften Atemstößen.
«Ganz ruhig, Frau Bender, ganz ruhig. Ich bin bei Ihnen.
Ich halte Sie fest. Fühlen Sie meine Hände? Es kann
überhaupt nichts passieren. Wir gehen jetzt zusammen
hinunter und schauen uns um. Ich nehme Sie auch wieder
mit hinauf. Das verspreche ich Ihnen.»
Es klang verrückt. Aber was hätte er sonst sagen sollen?
Ihre Hände umklammerten die seinen und zitterten so
stark, dass es sich auf seine Arme übertrug. Sie kniff die
Augen zusammen.
«Sagen Sie mir, was Sie sehen, Frau Bender. Was ist im
Keller? Wer ist da unten?»
Sie beschrieb ihm einen in zuckendes Licht getauchten

386
Raum. Eine Bar an der linken Wand, eine Menge Flaschen
im Regal, dahinter ein Spiegel. In der Ecke gegenüber die
Musikinstrumente und die Verstärkeranlage auf einem
Podest.
«Song of Tiger». Und sie tanzte dazu. Tanzte allein in
der Mitte des Raumes. Und rechts an der Wand stand eine
Couch, davor ein niedriger Tisch, darauf ein
Aschenbecher.
«Song of Tiger»! Es war ein wildes Lied, es war ein
wilder Tanz. Dann warf Frankie die Stöcke weg, ging zur
Couch und setzte sich neben das Mädchen. Johnny legte
ein Band ein, und das Lied dröhnte erneut durch den
Raum. Tiger ging zur Bar. Er hatte wieder den Kürzeren
gezogen, aber es schien ihn nicht weiter zu bekümmern.
Sie tanzte immer noch. Nicht mehr allein. Johnny hielt
sie im Arm und küsste sie. Es war wie ein Traum. Auch
dann noch, als er seine Hände unter ihren Rock schob. Sie
genoss seine Berührungen. Und diesmal nicht für
Magdalena, nur für sich selbst. Man konnte nicht immer
für zwei leben.
Irgendwann lagen sie auf dem Boden. Johnny zog sie
aus. Es war alles gut. Frankie saß auf der Couch und
kümmerte sich nicht um sie. Er unterhielt sich mit dem
Mädchen. Tiger schnitt an der Bar eine Zitrone in Stücke,
streute sich weißes Pulver auf den Handrücken. Dann
leckte er seinen Handrücken ab, kippte eine glasklare
Flüssigkeit aus einem kleinen Glas hinterher und biss in
die Zitrone. Dreimal tat er das. Dann griff er in seine
Hosentasche und sagte: «Ich hab uns was mitgebracht. Ein
bisschen Koks. Jetzt wird’s gemütlich.»
Rudolf Grovian hörte zu, hielt ihre Hände fest und
drückte sie in der Hoffnung, dass sie es spürte. Sie lag
immer noch auf dem Boden. Frankie und das Mädchen

387
schauten zu, wie Johnny sie liebte. Tiger kam
herübergeschlendert. Er wollte auch seinen Teil. «Mach
ein bisschen Platz, Böcki», sagte er.
Johnny tat nichts, um ihn abzuwehren. Und das
Mädchen sagte: «Gib ihr eine Prise, das entspannt.»
Es kamen noch ein paar klare Sätze. «Was tust du da?
Ich will das nicht. Kein Koks! Mach es wieder weg.»
Anschließend gab sie ein wenig Gestammel von sich, nur
undeutliches Gemurmel. Dann drehte sie plötzlich mit
einem Ruck den Kopf zur Seite. Ihre Stimme klang scharf
und atemlos. «Was machst du da? Hör sofort auf damit!
Bist du bescheuert? Lass sie los, verdammt nochmal. Du
sollst sie sofort loslassen.»
Dann ging ein Ruck durch ihren gesamten Körper. Sie
schrie auf. «Nein! Hör auf. Lass das!» Das Schreien ging
in Wimmern über. Ihr Kopf flog wieder zu ihm herum, die
Augen hatte sie weit aufgerissen. Ihr Blick traf ihn mitten
ins Gesicht. Aber er hätte geschworen, dass sie nichts von
ihm sah.
«Nicht schlagen! Hör auf, du schlägst sie ja tot!
Aufhören! Hört auf, ihr Schweine. Lasst mich los!
Loslassen!»
Das kannte er bereits zur Genüge. Nicht ganz in der
Fassung, aber so ähnlich hatte er sich das gedacht. Und
trotzdem war er nicht auf das gefasst, was dann geschah.
Sie zerrte mit erstaunlicher Kraft an ihren Händen, bekam
sie frei und sprang auf. Es ging so rasend schnell, dass er
nicht reagieren konnte. Sie hatte die Rechte zur Faust
geballt und stieß damit auf seinen Hals hinunter. Dabei
keuchte sie: «Ich brech dir das Genick, du Schwein. Ich
schlitz dir den Hals auf. Ich schneid dir die Kehle durch.»
Sie zählte exakt die Punkte auf, die der
gerichtsmedizinische Befund bestätigt hatte, und stieß bei

388
jedem Satz zu. Einmal, zweimal, dreimal, ehe er ihr
Handgelenk zu packen bekam. Und kaum hatte er das
rechte im Griff, schlug sie mit der linken Faust auf ihn ein.
Es dauerte ein paar Sekunden, ehe er auch das linke fassen
und sich aufrichten konnte.
Er hielt sie auf Armlänge von sich, schüttelte sie und
schrie sie an: «Frau Bender! Hören Sie auf, Frau Bender.»
Zwei Sekunden lang stand sie noch vor ihm und
betrachtete ihn mit einem Blick voller Nichtbegreifen. Sie
murmelte etwas, das er nicht verstand. Dann brach sie
zusammen.

Professor Burthe machte sich nicht die Mühe, seinen Zorn


zu verbergen. Dass ein Kripobeamter eine psychisch
schwer gestörte Persönlichkeit mit seinen Fragen zum
zweiten Mal in den Zusammenbruch trieb, obwohl man
ihn gewarnt hatte! Man konnte nur den Kopf schütteln und
sich erkundigen:
«Was fällt Ihnen ein? Hatte ich Ihnen nicht deutlich zu
verstehen gegeben, dass Sie mit Frau Bender nicht
umgehen können wie mit einer gewöhnlichen
Kriminellen? Das war das letzte Gespräch, das Sie mit ihr
geführt haben! Ist Ihnen nicht klar, dass Frau Benders
Suizidversuch nur eine Folge Ihrer Ermittlungstechnik
war?»
Rudolf Grovian konnte sich nicht zu einer
Rechtfertigung aufraffen. Dass er kein Wort über den Tod
ihres Vaters verloren hatte, hatten sie bereits geklärt. Cora
Bender war in aller Eile zu irgendwelchen
Untersuchungen abtransportiert worden, immer noch
bewusstlos. Er hätte wer weiß was gegeben, die letzte
halbe Stunde mit ihr ungeschehen machen zu können. Er
verstand selbst nicht mehr, wie er sich zu diesem Blödsinn

389
hatte hinreißen lassen können. «Ich nehme Sie auch
wieder mit hinauf.»
Irrtum! So einfach war es nicht. Er hatte sich darum
bemüht. Minutenlang gegen ihre Wangen geklopft, sie
beim Namen gerufen, ihr Gesicht mit kaltem Wasser
bespritzt, ehe er sich dazu durchringen konnte, sie den
Ärzten zu überlassen. Und die ganze Zeit hatte er denken
müssen: wenn sie ein Messer in der Hand gehabt hätte …
Ihm war ein wenig übel. Aber er war auch zufrieden.
Ihre Aufzählung: Genick, Hals, Kehle. Mit Vorsatz
getötet? Nein, bestimmt nicht! Wenn sie nicht zufällig den
Apfel für ihren Sohn geschält hätte, wäre sie nur mit den
Fäusten auf Georg Frankenberg losgegangen und hätte
getan, woran man sie vor Jahren gehindert hatte – in einer
Situation, in der jeder Schlag erweiterte Notwehr gewesen
wäre.
Über diese Erkenntnis hätte er gerne mit Professor
Burthe gesprochen. Nur kam er vorerst nicht zu Wort.
Sekundenlang prasselten die Fachausdrücke auf ihn ein.
Schizothymer Typus, abgegrenzte Individualzone,
bewusster Gegensatz zwischen Ich und Außenwelt,
empfindsames, teilweise gleichgültiges Sichzurückziehen
von den Mitmenschen. Der Traum-, Ideen- und
Prinzipienwelt wurde der Vorrang eingeräumt.
Es klang sehr eindrucksvoll, nur interessierte es ihn
herzlich wenig. Was ihm durch den Kopf ging, war zwar
nur die Interpretation eines Laien, aber weit
eindrucksvoller. Nach fünf Jahren gab es keine Notwehr
mehr. Nach fünf Jahren war es Totschlag. Es sei denn,
jemand bewies, dass Cora Bender sich zur Tatzeit nicht
am Otto-Maigler-See aufgehalten hatte, sondern in diesem
vermaledeiten Keller. Und er konnte das nicht beweisen,
er nicht. Das war Aufgabe des Professors.

390
Die Strafpredigt ließ er über sich ergehen, ohne eine
Miene zu verziehen. Professor Burthe beruhigte sich
wieder und wollte wissen, was Cora Bender kurz vor
ihrem Zusammenbrach von sich gegeben hatte. Rudolf
Grovian umriss die Kellerszene und das vorangegangene
Gespräch. Dass sie ihn angegriffen hatte, verschwieg er.
Aber ein, zwei Sätze zur Notwehr ließ er anklingen. Und
sie hatte ja nicht einmal sich allein, sie hatte dieses andere
Mädchen verteidigen wollen.
Als er zum Ende kam, nickte Professor Burthe kurz.
Eine Zustimmung war das nicht. Im Gegenteil! Natürlich
kannte Burthe die Kellerszene, er kannte sogar zwei
Versionen. Einmal die vom Band mit den gebrochenen
Rippen. Und einmal die mit dem Zuhälter auf der Couch.
Es musste noch eine dritte Version geben, an die Cora
Bender niemanden heranließ. Diese dritte Version dürfte
das beinhalten, was sich tatsächlich im Keller abgespielt
hatte, meinte Burthe. Vermutlich war ihr nur die eigene
Lust zum Bumerang geworden. Demzufolge war die
Kellerszene nicht von Belang, sie war nur ein winziges
Teilstück des schwarzen Kapitels in Cora Benders Leben.
Und Cora Bender verteidigte das gesamte Kapitel mit aller
Macht gegen jeden Zugriff, notfalls auf Kosten ihrer
geistigen Gesundheit. Als ob Rudolf Grovian das nicht
schon gewusst hätte.
Professor Burthe erklärte ausführlich den Unterschied
zwischen Wahrheit und Lüge und wie Cora Bender mit
beidem umging. In einer Stresssituation hielt sie sich
zuerst an die Wahrheit. Wenn sie sich auf die Situation
eingestellt hatte und der Druck nachließ, suchte sie ihren
Vorteil. Den gab es nur über die Lüge. Allerdings erzeugte
die Lüge neuen Druck. Die Erregung, die sie dann zeigte,
mochte auf einen Laien wirken, als werde ihm nun das
letzte Geheimnis offenbart.

391
So war es im Verhör gewesen. Mit ihm versuchte sie
dasselbe Spielchen. Aber er war der Fachmann, ihn konnte
man nicht an der Nase herumführen. Niemand wollte
bestreiten, dass Cora Bender vor Jahren schlechte
Erfahrungen mit einem Mann gemacht hatte, eher wohl
mit mehreren. Es stellte auch niemand in Frage, dass sie
bei einer dieser Gelegenheiten schwer misshandelt worden
war. Mit ihren selbstzerstörerischen Tendenzen musste sie
auf entsprechend veranlagte Männer wie eine
Herausforderung gewirkt haben.
An dieser Stelle erhob Rudolf Grovian den ersten
Einwand. «Wenn Sie damit andeuten wollen, sie sei auf
den Strich gegangen, das ist sie nicht. Ihre Schwester hat
es von ihr erwartet oder sogar verlangt, wenn ich das eben
richtig verstanden habe. Aber sie konnte nicht.»
Sein Gegenüber lächelte. Es war ein sehr wissendes
Lächeln. «Sie konnte sehr wohl, Herr Grovian. Nach dem
Tod ihrer Schwester hat sie für sich die schlimmste Art
von Bestrafung gewählt, die sie sich vorstellen konnte.
Perverse Freier. Sie hat mir ein paar Praktiken geschildert.
Ich bin einiges gewohnt, aber da wurde sogar mir das
Zuhören beinahe zu viel. Sie werden zugeben, Herr
Grovian, dass keine Frau solch eine Betätigung zugibt,
wenn sie sie nicht auch tatsächlich ausgeübt hat. Es war
das Bedürfnis nach Sühne, gekoppelt mit dem
unterschwelligen Wunsch nach einem inzestuösen
Verhältnis zum Vater.»
«Das ist doch Schwachsinn», protestierte Rudolf
Grovian und hörte, wie lahm es klang, als sei er trotz des
Widerspruchs halbwegs überzeugt von Burthes Ansicht.
Aber so war es nicht. Es war nur Fassungslosigkeit, die
ihm die Sprache verschlug, die Sicherheit, mit der es
ausgesprochen wurde. Als hätte Burthe daneben gestanden
und zugeschaut.

392
Das hatte er auch, natürlich nur im übertragenen Sinne.
Was er vor Rudolf Grovian ausbreitete, war, wie er
betonte, Cora Benders innere Überzeugung. Als geschulter
und aufmerksamer Beobachter war Burthe imstande, die
Bröckchen Wahrheit aus dem großen Haufen Lügen zu
fischen.
«Ich fürchte», sagte Rudolf Grovian trocken, «bei dieser
Sache haben Sie ein paar Lügen gefischt. Ich weiß nicht,
warum sie Ihnen so einen Unsinn erzählt. Aber es kommt
zeitlich gar nicht hin. Sie war …»
Er wollte erklären, was er eben herausgefunden hatte.
Dass es von Magdalenas Geburtstag ohne Zeitverzögerung
in den Keller ging, und danach war Oktober gewesen. Mit
einer Handbewegung wurde er unterbrochen. Es ging hier
nicht um Zeit. Es ging auch nicht um Prostitution. Es gab
keinen Grund, sich zu ereifern.
Es ging nur um den Tod von Georg Frankenberg, um
Cora Benders Motiv und ihre Einsichtsfähigkeit. Die war
nicht vorhanden. Cora Bender war schuldunfähig. Man
konnte sie nicht zur Verantwortung ziehen für ihre Tat. Es
war am See nicht eine Sekunde lang um den Mann und
sein Verhalten gegangen. Die Frau war der Auslöser
gewesen.
In dem Augenblick hörte Rudolf Grovian sie wohl
sagen:
«Der Mann hatte Pech, weil er oben lag.» Er schüttelte
trotzdem den Kopf. «Ich weiß nicht, wie Sie auf den
Gedanken gekommen sind, Herr Burthe. Und Sie machen
einen großen Fehler, wenn Sie den Keller so einfach
abtun. Ich habe es jetzt zweimal erlebt! Und ich bin auch
ein geschulter und aufmerksamer Beobachter. Frau Bender
wurde in einem Keller von zwei Männern missbraucht und
beinahe umgebracht. Bei dieser Gelegenheit wurde ein

393
weiteres Mädchen getötet, höchstwahrscheinlich von
Georg Frankenberg. Deshalb musste er sterben.»
Inzwischen hatte sich Professor Burthe vollends
beruhigt, lehnte sich in seinem Sessel zurück, musterte ihn
mit nachdenklichem Blick und wollte wissen: «Woraus
ziehen Sie Ihre Sicherheit? Aus Frau Benders Worten?
Oder haben Sie Beweise?»
Nein, verdammt. Er hatte insgesamt nur Worte. Hier ein
paar und da ein paar. Horst Cremer, Melanie Adigar und
Johnny Guitar! Es stand nicht einmal fest, dass Hans
Böckel und Johnny Guitar identisch waren. Und Böckel
war sein einziges Verbindungsglied zu Frankenberg. Man
konnte doch vor Gericht nicht mit dem «Song of Tiger»
argumentieren, «Sie tut Ihnen Leid», stellte Professor
Burthe fest, als er nicht antwortete. Es klang wie ein Urteil
und blieb als unumstößliche Tatsache im Raum stehen.
«Sie haben den Wunsch, ihr zu helfen und bemühen sich,
eine rationale Erklärung zu finden. Sie haben eine Tochter,
nicht wahr? Wie alt ist Ihre Tochter, Herr Grovian?»
Als wieder keine Antwort kam, nickte Burthe sich selbst
eine Zustimmung und sprach weiter in diesem
verständnisvollen Ton, der Rudolf Grovian zur Weißglut
brachte. «Ich habe nicht nur das letzte Band abgehört und
verstehe Ihr Engagement. Eine junge Frau, die nichts
anderes wollte als ein ganz normales Leben, so hilflos, so
verzweifelt. Zerstört von Umständen, die sie nicht
beeinflussen konnte, bettelt sie um Verständnis. Da steht
sie einem gegenüber, völlig aufgelöst. Sie stammelt ihren
Hilferuf und bricht zusammen. Sie waren allein mit ihr, als
das passierte, nicht wahr? Cora Benders Hilfeschrei ging
ausschließlich an Sie. Und Sie standen in diesem
Augenblick stellvertretend für ihren Vater. Genauso haben
Sie sich auch gefühlt. Und vor ein paar Minuten hat sich
diese Szene wiederholt. Und ein Vater, Herr Grovian, will

394
glauben. Denken Sie einmal darüber nach. Und fragen Sie
sich, wie Sie Ihr Verhalten beurteilen müssten, wenn es
sich bei einem Kollegen zeigte!»
Rudolf Grovian musste die Zähne zusammenbeißen,
deshalb klang es gepresst: «Ich bin nicht hier, um mich
analysieren zu lassen. Ich habe lediglich versucht, ein paar
neue Informationen abzuklären.»
Burthe nickte bedächtig. «Und konnte Frau Bender diese
neuen Informationen bestätigen?»
«In gewisser Weise, ja.»
Wieder nickte der Professor bedächtig. Nach den neuen
Informationen erkundigte er sich nicht. «Sie wird Ihnen
alles bestätigen, Herr Grovian. Alles, was die Verbindung
zwischen ihr und Georg Frankenberg herstellt. Sie selbst
ist ja um eine rationale Erklärung bemüht. Sein Tod hatte
auf sie eine befreiende Wirkung, und sie sucht nach dem
Grund. Sie versucht krampfhaft, ihn in ihr Leben zu
installieren und nachvollziehbare Beweggründe zu liefern.
Um das zu erreichen, setzt sie ihn sogar als ihren Zuhälter
auf eine Couch.»
Rudolf Grovian wollte etwas sagen, wurde jedoch erneut
durch eine Handbewegung zum Schweigen verurteilt. «Ich
will versuchen, Ihnen etwas zu erklären. Und ich hoffe
sehr, dass Sie dann endgültig begreifen, wo Ihre Arbeit
und Ihr Engagement enden und meine beginnen. Jetzt
vergessen wir Georg Frankenberg und den Keller einmal.
Frau Benders Trauma heißt nicht Keller, es heißt
Magdalena.»
Für Professor Burthe war es einfach. Für ihn war Georg
Frankenberg nur ein Zufallsopfer. Es hätte jeden Mann
treffen können, der sich in Begleitung einer Frau befand,
an der etwas war, das Cora Bender an ihre Schwester
erinnerte. Die Frau zu töten, die ihr Leben zerstört hatte,

395
hätte Cora Bender nicht noch einmal geschafft. In ihrer
Not, und es war eine sehr große Not gewesen, hatte sie
sich auf den Mann gestürzt. Mit seinem Tod erreichte sie
zwei Dinge gleichzeitig. Sie erfüllte Magdalena den
größten Wunsch, schickte ihr einen gut aussehenden
Mann. Und stellvertretend für Magdalena stieß
Frankenbergs Frau ihre Hand zurück und signalisierte
damit, dass keine Hilfe mehr gebraucht wurde. Cora
Bender war frei. Sie war so frei in diesem Augenblick,
dass sogar die Gewissheit einer lebenslangen Haftstrafe
sie nicht mehr erschütterte. Strafe hatte sie ihrer Meinung
nach auch verdient.
Rudolf Grovian hörte mit regloser Miene der
Aufzählung zu. Ein Leben wie ein Strafregister. Lügen,
betrügen, stehlen, fixen. Und als krönender Abschluss ein
Mord. Nein! Nicht Georg Frankenberg. Den sollte er ja
erst einmal vergessen. Das Opfer hieß Magdalena!
Ob Cora Bender ihre Schwester mit Vorsatz getötet
hatte, weil sie Magdalena als Zerstörerin des eigenen Ichs
empfand – nicht nur des eigenen, auch der Vater war
zerstört worden. Und Cora Bender liebte ihren Vater
abgöttisch –, oder ob es versehentlich im Drogenrausch
geschehen war, wusste Professor Burthe nicht. Aber die
brechenden Rippen waren Magdalenas Rippen gewesen.
Und Rudolf Grovian hörte sie sagen: «Ich habe immer
eine Hand auf ihrer Brust …» Es reichte ihm. Weißkittel,
dachte er, ihm fiel nicht auf, wie er sich ihre Denkweise zu
Eigen machte. Wenn man denen eine halbe Stunde zuhört,
glaubt man wieder an den Weihnachtsmann.
Er nicht! Er hatte Fakten zusammengetragen. «Ich
mache Ihnen einen Vorschlag», sagte er, während er sich
erhob. «Sie tun Ihre Arbeit, und ich tu die meine. Wenn
Sie das in Ihrem Gutachten so anführen wollen, kann ich
Sie mit drei Sätzen widerlegen.» Diese drei Sätze wollte
396
Professor Burthe lieber sofort hören. Und Rudolf Grovian
zählte seine Fakten auf. Punkt eins: Als ihre Schwester
starb, war Cora seit drei Monaten nicht mehr daheim. Da
lag sie nämlich mit eingeschlagenem Schädel in
irgendeiner Klinik, aus der sie erst im November entlassen
wurde. Punkt zwei: Prostitution nach dem Tod der
Schwester als Sühne, gekoppelt mit dem unterschwelligen
Wunsch nach einem inzestuösen Verhältnis zum Vater. Es
war hübsch formuliert. So hätte er das nie ausdrücken
können. Nur hatte dazu leider die Zeit gefehlt, mit einem
zertrümmerten Schädel prostituierte sich niemand mehr.
Davon abgesehen war es kein unterschwelliger Wunsch
gewesen und auch nicht der abgöttisch geliebte Vater.
«Sie sollten mal in der Bibel nachschlagen, Herr Burthe.
Da steht alles drin. Auf ihre Art versucht sie unentwegt,
uns die Wahrheit zu sagen. Magdalena war die Hure.»
Er schüttelte den Kopf und lächelte. «Magdalena hat die
Vorarbeit geleistet, und im Keller haben sie ihr den Rest
gegeben. Wenn Sie mir nicht glauben, machen Sie einen
Versuch mit einer Lichtorgel. Oder spielen Sie ihr das
Lied vor. ‹Song of Tiger›. Ich halte jede Wette, das war
der Auslöser, nicht Frau Frankenberg. Sie hat selbst
gesagt, es war das Lied. Holen Sie zur Sicherheit einen
Pfleger dazu, wenn Sie den Versuch machen. Es sind ja
ein paar kräftige Männer dabei.»
Er ging langsam auf die Tür zu und spielte seinen letzten
Trumpf aus. Punkt drei: «Und fragen Sie Frau Bender bei
Gelegenheit einmal, wie viele Tropfen Wasser ein Junkie
aus dem Klobecken schöpft, um seinem Schuss die nötige
Konsistenz zu verleihen.»
Professor Burthe runzelte die Stirn. «Was soll ich …»
Rudolf Grovian hatte die Hand bereits an der Türklinke.
«Sie haben mich verstanden. Legen Sie ihr ein

397
Fixerbesteck hin. Und lassen Sie Frau Benders Haut
untersuchen, jeden Quadratzentimeter. Wenn Sie auch nur
eine Narbe finden, die auf frühere SM-Praktiken schließen
lässt, quittiere ich meinen Dienst. Aber das werde ich
nicht tun müssen.»
Er öffnete die Tür, trat einen Schritt auf den breiten Flur
hinaus und sagte: «Denken Sie an das Lied, Herr
Professor. Leider habe ich es nicht gewagt, ihr das
vorzuspielen. Aber bei nächster Gelegenheit hole ich es
nach. Wenn ich Frau Bender hier reingebracht habe mit
meinen Ermittlungsmethoden, hole ich sie damit auch
wieder hier raus. Das ist ein Versprechen, Herr Burthe.»

Er war so wütend wie selten zuvor und dabei so hilflos, als


er die Landesklinik verließ. Er hatte nicht mal Abitur,
hatte sich intern hochgearbeitet. Wie sollte er einen
Professor widerlegen, wenn es hart auf hart kam? Er
konnte kein Gegengutachten in Auftrag geben.
Er fuhr zurück nach Hürth und machte sich im
Telefonbuch kundig. Eberhard Brauning, den Namen fand
er zweimal, als Anwaltskanzlei und privat. Er wählte die
Kanzlei an. Leider war Herr Dr. Brauning nicht zu
sprechen. Und einen Termin konnte ihm die freundliche
Dame am Telefon frühestens für den nächsten Tag
einräumen. Mit ein wenig Nachdruck gelang es ihm, doch
zum Herrn Doktor durchgestellt zu werden.
Eberhard Brauning stutzte, als Rudolf Grovian seinen
Namen nannte und die Angelegenheit, in der er dringend
mit ihm sprechen müsse. Da kam eine Bemerkung durchs
Telefon. «Ach Gott, der Chef.» Es folgte ein leises
Lachen, dann wieder Sachlichkeit. «Ich hätte Sie ohnehin
in den nächsten Tagen um ein Gespräch gebeten. Da sind
ein paar Unklarheiten …»

398
Weiter ließ Rudolf Grovian ihn nicht kommen. «Ein
paar?» Er gestattete sich ein Lachen, nach dem ihm gar
nicht war. Dann sprach er weiter, sehr energisch und
bestimmt.
«Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ein bisschen
Zeit für mich hätten. Ich verstehe, dass Sie beschäftigt
sind, aber ich finde meine Zeit auch nicht auf der Straße.
In den nächsten Tagen habe ich keine, und die Sache eilt.»
Und wie sie eilte. So wie Burthe gesprochen hatte, klang
es, als neige sich seine Arbeit dem Ende zu. Wenn das
verdammte Gutachten erst beim Staatsanwalt lag …
Burthes Erklärungen schwirrten ihm wie ein
Wespenschwarm durch den Kopf. Es hätte jeden treffen
können, der sich in Begleitung einer Frau …
Das kam wohl nicht ganz hin. Er jedenfalls hatte sich
nicht in Begleitung einer Frau befunden, als sie auf ihn
einstach. Und genau das war es gewesen. Er hörte noch,
wie sie aufzählte. Genick, Hals, Kehle. Ihm fiel nicht auf,
dass sein Gesprächspartner zögerte. Erst als ein lang
gezogenes «Ja» durch den Hörer drang, wurde er wieder
aufmerksam. «Ich sehe hier in meinem Kalender …» Was
Eberhard Brauning sah, wurde nicht erklärt, stattdessen
kam die Frage: «Passt es Ihnen heute Abend? Haben Sie
meine Privatadresse?»
«Ja.»
«Gut. Um zwanzig Uhr. Ist Ihnen das recht?»
«Geht es nicht ein bisschen früher?» Es war nicht einmal
vier, und er wusste nicht, wie er sich den Nachmittag
vertreiben sollte. Ehe er das nicht losgeworden war,
konnte er sich kaum auf etwas anderes konzentrieren.
«Wie ist es mit achtzehn Uhr? Oder störe ich Sie da beim
Abendessen?» Sie verblieben bei neunzehn Uhr.
Nachdem das geklärt war, brühte er Kaffee auf.

399
Während er die erste Tasse trank, hörte er noch einmal
kurz in die Bänder hinein. «Ich wollte doch nur ein
normales Leben! Verstehen Sie das?» Und: «Gereon hätte
das nicht mit mir machen dürfen.» Oraler Sex, dachte er,
Magdalenas Traum. Deshalb ist sie ausgerastet, als ihr
Mann das bei ihr versuchte. Irgendwie erklärte sich alles.
Bei der zweiten Tasse notierte er ihre Beschreibung des
Kellers, soweit sie ihm in Erinnerung war. Auf sein
Gedächtnis konnte er sich verlassen. Die Rekonstruktion
war ausgezeichnet. Er sah es vor sich. Die Flaschen in den
Regalen, den Spiegel dahinter. Und davor ein kleiner,
dicker Mann, der sich weißes Pulver auf den Handrücken
streute, es ableckte und in die Zitrone biss. Tequila, dachte
er. Tequila, Koks und mach ein bisschen Platz, Böcki.
Und ihr wurde die eigene Lust zum Bumerang! So ein
Blödsinn! Aber er hatte immerhin Margret Röschs
Aussage, Albträume zu einer Zeit, als alles noch frisch
war.
Er fragte sich, ob sie wieder bei Bewusstsein war und ob
sie den Weg zurück alleine gefunden hatte. Oder ob sie
ihn jetzt wieder verfluchte, weil er ihr das angetan, weil er
sie trotz seines Versprechens im Keller zurückgelassen
hatte.
Werner Hoß kam mit einigen Neuigkeiten herein und
riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Es gab noch keinen
Hinweis auf den Aufenthaltsort von Ottmar Denner, und
Hans Böckel war nach wie vor nur ein Name. In den
Hamburger Krankenhäusern hatten sie bisher keinen
Erfolg gehabt. Aber Ute Frankenberg war aus der Klinik
entlassen worden.
Wunderbar! Mit ihr musste er unbedingt reden.
Vielleicht hatte Frankie ihr irgendwann einmal erzählt, wo
er mit seinen Freunden musiziert hatte. Er steckte die
Bänder der Vernehmung ein und machte sich auf den Weg
400
nach Köln.
Fast pünktlich auf die Minute kam er an. Eberhard
Braunings Privatadresse war ein vierstöckiges Gebäude
älteren Baujahres, sehr gepflegt, die Außenfassade mit
frischem Anstrich und allerlei Schnörkeln. Er hatte keinen
Blick dafür. Auf sein Klingeln wurde ein elektrischer
Türöffner betätigt.
Hinter der Haustür lag eine dämmrige, angenehm kühle
Halle. Der Fußboden war mit schwarzweißen Fliesen
ausgelegt. Und er hörte sie sagen: «Der Fußboden war
weiß mit kleinen grünen Steinen darin.» Diese Bude
musste sich doch finden lassen.
Es gab einen Lift. Er entschied sich für die Treppe.
Eberhard Braunings Wohnung lag im zweiten Stock.
Große, alte Räume mit hohen Decken, hohen Fenstern,
auserlesenen Antiquitäten und wenigen üppigen
Grünpflanzen dazwischen. Sämtliche Türen zur Diele
standen offen. Alles war in das milde Licht des frühen
Abends getaucht.
Cora Benders Anwalt empfing ihn bei der Wohnungstür.
Einen schüchternen Eindruck machte er nicht, eher einen
angespannten. Er führte ihn durch die geräumige Diele in
den Wohnraum und sagte dabei: «Sie haben hoffentlich
nichts dagegen, wenn meine Mutter bei unserer
Unterhaltung zugegen ist.»
Ach du Schande, dachte Rudolf Grovian und sagte:
«Nein.» Er sah sie gleich, als er den Raum betrat. Noble
ältere Dame, Anfang bis Mitte sechzig, ein wachsames
Gesicht, silbergraues Haar, akkurat und streng um den
Kopf frisiert.
Wahrscheinlich besuchte sie ihren Friseur zweimal in
der Woche. Ob Cora Bender das Shampoo benutzte?
Er grüßte freundlich, erwiderte einen festen Händedruck,
401
betrachtete einen fingernagelgroßen Rubin in schwerer
Goldfassung an ihrer rechten Hand. Und sah im Geist nur
das strähnige Haar vor sich. Warum sie es bisher nicht
gewaschen hatte? Hatte sie sich so total abgeschrieben?
Perverse Freier! Sie musste doch wissen, dass sie sich mit
solch einer Behauptung den Weg zurück endgültig
versperrte. Ihr Mann war nicht der Typ, sich damit
auseinander zu setzen.
Dann saß er in einem Sessel mit gestreiften Polstern,
neben ihm stand auf einem kniehohen Tischchen mit
Schnörkelbeinen und Intarsien in der polierten Platte eine
hauchfeine Porzellantasse. Der Kaffee hatte genau die
richtige Farbe und enthielt kein Koffein. Und er wusste
nicht, womit er beginnen sollte.
Robin Hood, dachte er in einem Anflug von Ironie,
Rächer der Enterbten, Beschützer der Witwen und
Waisen. Und der Entmündigten! Na, dann los, Robin,
mach dem Knaben klar, was seine Mandantin braucht.
Einen vernünftigen Gutachter, der ihr nicht diesen Stempel
auf die Stirn drückt. Sie braucht eine Frau zum Reden.
Einem älteren Herrn kann sie sich nicht anvertrauen. Da
sieht sie vielleicht ihren Vater vor sich. Aber eine Frau …
Dann sah er Elsbeth am Küchentisch und schüttelte den
Kopf. Alles Quatsch.
Er warf der noblen älteren Dame ein winziges Lächeln
zu, heftete den Blick auf Eberhard Brauning und begann:
«Ich war heute bei Frau Bender. Sie sagte, dass sie
inzwischen auch mit Ihnen gesprochen hat. Sie waren
einmal bei ihr?»
Als Eberhard Brauning zögernd nickte, erkundigte er
sich:
«Halten Sie ein Gespräch für ausreichend?»
«Natürlich nicht. Aber ich habe noch nicht alle

402
Unterlagen beisammen. Ich warte auf das psychologische
Gutachten.»
«Ich kann Ihnen sagen, was drin steht. Schuldunfähig!
Georg Frankenberg war ein Zufallsopfer. Es hätte jeden
treffen können.»
Eberhard Brauning schaute ihn mit leicht gerunzelter
Stirn an. Auf eine Antwort hoffte er vergebens. Also
fragte er: «Welchen Eindruck hatten Sie von Frau
Bender?»
Die noble ältere Dame ließ ihn nicht aus den Augen. Das
bemerkte er sehr wohl. Ihm fiel auch der Blick auf, mit
dem sie der Antwort ihres Sohnes entgegenschaute, und
ihr Lächeln. Er wusste es nur nicht zu deuten. Es sah fast
aus, als amüsiere sie sich. Geantwortet hatte Eberhard
Brauning noch nicht.
Rudolf Grovian grinste. «Na, kommen Sie, Herr
Brauning. Sie führen solch ein Gespräch doch bestimmt
nicht zum ersten Mal. Welchen Eindruck hatten Sie von
Frau Bender? Sie hat Ihnen eine Menge Unsinn verzapft,
habe ich Recht? Hat sie Ihnen auch was aus der Bibel
erzählt, vom Erlöser und der büßenden Magdalena?»
Eberhard Brauning war von Natur aus ein misstrauischer
und überaus vorsichtiger Mann. Und er führte solch ein
Gespräch wirklich nicht zum ersten Mal. Normalerweise
lief es darauf hinaus, dass so ein Polizist einem ins
Gewissen zu reden versuchte. Es ginge nur mit einer
Freiheitsstrafe. Und die sollte nicht zu knapp bemessen
sein. «Überlegen Sie mal, was da alles zusammenkommt.»
Das war ein Standardsatz. Und bei Cora Bender kam eine
Menge zusammen.
Der «Unsinn», den sie ihm verzapft hatte, war ihm noch
in bester Erinnerung. Er hatte ihn in den letzten Tagen
auch häufig genug mit Helene durchgesprochen. Nicht nur

403
den Unsinn, auch die klar verständlichen Aussagen über
ihre Schwester. «Ich musste sie mir doch irgendwie vom
Hals schaffen.»
Helene war derselben Meinung wie er. Sie hatte die
Ermittlungsunterlagen durchgelesen und gesagt: «Hardy,
ich kann von diesem Sessel aus nicht beurteilen, in
welcher geistigen Verfassung sich diese Frau befindet. Ich
kann dir auch nicht sagen, ob sie ihr Opfer kannte. Man
sollte nicht völlig ausschließen, dass er nur ein ehemaliger
Freier war. Gerade junge Männer aus guten Verhältnissen
zieht es oft in dieses Milieu. Aber es wird der Polizei
schwer fallen, diese Verbindung herzustellen. Und selbst
wenn, ist das für dich eher ein Nachteil. Ich will dir nicht
in deine Arbeit hineinreden. Ich weiß ja auch, dass du die
Psychiatrie für eine unbefriedigende Lösung hältst. Aber
vielleicht überdenkst du deine Einstellung noch einmal. In
diesem Fall wäre es die beste Lösung. Viel tun für diese
Frau kannst du ohnehin nicht. Bring sie dazu, mit Burthe
über die Kreuze und die Erscheinung Gottvaters an ihrem
Bett zu sprechen. Das wirkt kurioser als die
Kurzschlussreaktion einer ehemaligen Nutte.» Helene
hatte Recht!
«Herr Grovian», begann er, verzog das Gesicht zu einem
wissenden Lächeln und sprach langsam und bedächtig
weiter.
«Ich bin nicht der Meinung, dass Frau Bender mir eine
Menge Unsinn verzapft hat. Ich kann mir denken, dass Sie
diese Frau lieber im Strafvollzug sähen. Aber …» Er
wollte noch mehr sagen.
Rudolf Grovian unterbrach ihn mit einem einzigen Wort.
Es klang sehr entschieden. «Nein!» Nach einer winzigen
Pause erklärte er: «Am liebsten sähe ich sie auf der
Terrasse ihres Hauses, am Bett ihres Söhnchens, vor dem
Herd in ihrer Küche. Von mir aus auch in dem Kabuff, das
404
sie ihr Büro nannte. Da hat sie sich wohl gefühlt. Da war
sie erwachsen, tüchtig und zufrieden. Haben Sie sich die
Ecke mal angeschaut? Das sollten Sie tun! Es gibt nicht
mal ein Fenster. Sie war im Hause Bender nicht mehr als
ein willkommenes Arbeitstier. Und trotzdem war sie da
frei. Das war ihr Himmel. Da fragt man sich, wie muss
ihre Hölle ausgesehen haben?»
Er konnte kaum glauben, dass er das sagte. Aber es kam
flüssig über die Lippen. Und es war die Wahrheit. Zum
ersten Mal gestand er sich ein, dass der Herr
Sachverständige nicht mit all seinen Absichten
danebengelegen hatte. Die Meinung über ihn war
zutreffend. Zum Teufel damit! Neunzehn Jahre bei Elsbeth
waren Strafe genug. Bei «lebenslänglich» durfte man nach
fünfzehn Jahren auf Begnadigung hoffen. So gesehen,
hatte Cora Bender vier Jahre über die Zeit abgesessen.
Gnade vor Recht, wenigstens einmal.
«Was wissen Sie über Cora Benders Kindheit und
Jugend, Herr Brauning? Ist Ihnen nur bekannt, was in den
Akten steht? Oder hat sie mit Ihnen darüber gesprochen?»
Hatte sie nicht. Also tat er es für sie, fasste das Elend in
eine Viertelstunde, zog mit den letzten Sätzen eine der
Kassetten aus seiner Tasche. «Und dann passierte das!»,
sagte er.
«Ich bin absolut sicher, es ist passiert. Genau so, wie sie
es schildert. Aber ich kann es nicht beweisen, Herr
Brauning; Ich kann’s nicht beweisen!»
Gegen die Beklemmung, die er bei diesen Worten
empfand, half nur eine Prise Ironie. Er zeigte auf die
Wand links von seinem Sessel. «Sie haben da eine schöne
Stereoanlage. Kassettendeck und alles, was man sonst
noch braucht. Ich verschaffe Ihnen jetzt die Gelegenheit,
die Frau Bender Ihnen verwehrt hat: beim Verhör

405
anwesend zu sein. Sie haben eine Menge verpasst. Man
muss es gehört haben. Gelesen wirkt es nicht. Schalten Sie
ein. Es steht an der richtigen Stelle.»
Über die großen Lautsprecherboxen klang es, als säße
sie neben der noblen älteren Dame auf der Couch. Von
dort hörte er ihre Stimme. Das Schluchzen, Betteln,
Stammeln – und noch einmal ihr: «Helfen Sie mir!»
Er sah Eberhard Brauning ein paar Mal heftig schlucken.
Ihm war auch danach, aber er musste mit Kaffee
nachhelfen. Cora Benders Stimme verstummte nach
einigen Minuten.
«An dem Punkt hatte ich sie heute wieder», sagte er
leise. «Sie ging auf mich los. In genau der Weise, wie sie
Frankenberg angegriffen hat. Wenn sie ein Messer gehabt
hätte, säße ich jetzt nicht hier.»
Eberhard Brauning antwortete nicht, er betrachtete den
Kassettenrecorder, als müsse noch etwas nachkommen. Es
kam nichts mehr. Und Helene hüllte sich in Schweigen,
gab nicht mal Zeichen mit den Augen. Er sah sich genötigt
zuzugeben: «Ich verstehe nicht ganz, was Sie von mir
wollen, Herr Grovian.»
Rudolf Grovian fühlte die Wut wieder. Er hatte auf der
Zunge zu fragen: «Was machen Sie denn normalerweise
als Pflichtverteidiger? Treten Sie als Galionsfigur auf?» Er
beherrschte sich. «Beschaffen Sie ihr einen weiteren
Gutachter», verlangte er und war ein wenig überrascht, als
sich die noble ältere Dame plötzlich einmischte. «Herr
Burthe genießt einen ausgezeichneten Ruf.»
«Mag sein», sagte er. «Aber wenn Cora Bender zu
flunkern beginnt, hilft einem der beste Ruf nichts. Sie hat
ihm einen fetten Brocken hingeworfen, und er hat ihn
geschluckt. Prostitution und perverse Freier.» Als er
weitersprach, fiel ihm auf, wie sich Eberhard Braunings

406
Miene veränderte. Der Knabe hätte beim Pokern keinen
Pott gewonnen. «Hat sie auch Ihnen diesen Schwachsinn
aufgetischt?» Eine Antwort bekam er nicht, nur diese viel
sagende Miene. «Hören Sie!», sagte er und hätte beinahe
gelacht. Hören Sie! Er sah sie vor sich, den tanzenden
Finger, die Wut in ihren Augen. Lassen Sie meinen Vater
in Ruhe!
Er lachte nicht, sprach es noch einmal ganz bewusst aus:
«Hören Sie! Ich muss wissen, was sie Ihnen erzählt hat.
Jedes Wort, auch wenn Sie es für Schwachsinn halten. Sie
gibt eine Menge Hinweise. Man muss das nur richtig
interpretieren.»
Eberhard Brauning ging zur Stereoanlage, nahm die
Kassette aus dem Tapedeck, überreichte sie ihm und sagte
der Form halber: «Ich brauche Kopien von allen Bändern.
Auch von der Kassette, die am See abgespielt wurde.»
«Hat sie mit Ihnen über das Lied gesprochen?»
Eberhard Brauning antwortete nicht, nahm wieder
umständlich Platz und runzelte missbilligend die Stirn.
«Herr Grovian, Sie werden nicht von mir erwarten, dass
ich das Gespräch mit Frau Bender vor der Gegenseite
ausbreite.»
«Verdammt nochmal! Ich bin nicht die Gegenseite.
Muss ich Kniefälle tun, damit Sie den Mund aufmachen?
Ich sitze zwar hier in meiner Eigenschaft als
Ermittlungsbeamter. Aber ich bin nicht Cora Benders
Feind.»
«Da ist Frau Bender anderer Meinung.» Still für sich –
Helene half ihm ja nicht, saß nur da und schmunzelte –
gelangte Eberhard Brauning zu der Ansicht, dass es nicht
schaden konnte, ein paar von Cora Benders Ergüssen
auszubreiten.
Er begann bei David und Goliath, kam über die drei
407
Kreuze mit dem ohne Schuld in der Mitte zu Gottvater,
der manchmal nachts an ihrem Bett auftauchte, sich über
sie beugte und ihr von der Schuldlosigkeit seines Sohnes
erzählte.
Rudolf Grovian hörte aufmerksam zu. Aber er erkannte
rasch, dass hier jeder Einsatz Zeitverschwendung war.
«Ja», sagte er gedehnt, während er sich aus dem
gestreiften Sessel erhob und der noblen älteren Dame noch
ein flüchtiges Lächeln schenkte. «Jeder von uns gerät mal
in Versuchung, den Weg des geringsten Widerstands zu
gehen. Und in einem Fall wie diesem, da stehen wir alle
gut da. Niemand verurteilt das arme Ding. Wir schließen
sie nur weg. Und keiner muss sich mehr fragen, warum sie
es getan hat. An dem Punkt war ich auch einmal. Aber
dann hat es mich gereizt, der Sache auf den Grund zu
gehen. Und jetzt stecke ich bis zum Hals drin. Ich fürchte
nur, weiter lassen sie mich nicht rein. Burthe war der
Meinung, dass meine Ermittlungsmethoden Frau Bender
in die Landesklinik gebracht haben. Für einen guten
Anwalt wäre das sicher ein gefundenes Fressen.»
Das war der Moment, in dem Eberhard Brauning sich
auf seine Rolle besann, vielmehr mit der Nase darauf
gestoßen wurde. Pflichtverteidiger! Er fühlte sich ein
wenig unbehaglich. Natürlich musste er das noch in Ruhe
mit Helene besprechen und überlegen, welche
Möglichkeiten es überhaupt gab. Aber man sollte es
vielleicht doch nicht so ausschließlich dem Staatsanwalt
überlassen. Wenn sich ein Polizist für diese Frau einsetzte,
konnten ihre Chancen so schlecht nicht stehen.
Er räusperte sich verhalten. «Ganz unter uns, Herr
Grovian. Habe ich mit einem Gegengutachten Aussichten
auf einen Freispruch?»
«Nein», sagte Rudolf Grovian ruhig. «Die haben Sie
nicht. Aber ein paar Jahre Gefängnis sind besser als ein
408
Todesurteil. Und ich befürchte, darauf läuft es für Cora
Bender hinaus. Sie braucht keine Richter mehr. Sie hat ihr
Urteil gesprochen. Zurzeit ist sie dabei, uns die
Begründungen zu liefern. Und mit der nächsten
Vollstreckung hat sie vielleicht mehr Glück. Ich denke, im
Gefängnis wird sie davon absehen. Da sind nämlich die
normalen Übeltäter eingesperrt. Und um dahin zu
kommen, Herr Brauning, muss sie nur zugeben, dass sie
Georg Frankenberg am See erkannte und sich an ihm
rächen wollte.»
«Rächen wofür?», fragte Eberhard Brauning. Und
Rudolf Grovian erklärte es ihm. Was er vorschlug, war
alles andere als legal. Es konnte ihn Kopf und Kragen
kosten. Aber das kümmerte ihn in dem Moment nicht.

Es ging auf neun Uhr zu, als er sich verabschiedete. In der


letzten Stunde bei den Braunings hatte er sich mehrfach
gewundert, wie interessiert sich die ältere Dame zeigte, bis
Eberhard Brauning erklärte, welchen Beruf Helene
ausgeübt hatte. Keine schlechte Kombination, fand er und
fragte sich, ob Cora Bender wohl bereit wäre, Helene
Brauning zu akzeptieren.
Für einen weiteren Besuch war es reichlich spät. Doch
bisher war Ute Frankenberg sehr rücksichtsvoll behandelt
worden. Kein Mensch hatte sie mit Fragen belästigt. Nur
zwei oder drei Antworten, mehr wollte er nicht von ihr.
Um zehn Minuten nach neun parkte er seinen Wagen in
der Nähe von Frankenbergs Wohnung. Sie lag in einem
modernen Apartmenthaus. Die Tür wurde ihm von
Winfried Meilhofer geöffnet. Im Wohnraum saß eine
junge Frau. Er kannte sie nicht persönlich. Sie hatte – wie
Frankenbergs Frau – am vergangenen Samstag als Zeugin
nicht zur Verfügung gestanden. Werner Hoß hatte in der

409
Zwischenzeit ihre Aussage aufgenommen.
Ihr Name war jedoch auch ihm geläufig. Alice Winger,
die Freundin von Ute Frankenberg, deren Flirt mit
Meilhofer Cora Bender so jäh unterbrochen hatte.
Anscheinend waren sich die beiden in der Zwischenzeit
näher gekommen. Ihr Umgang miteinander deutete auf ein
vertrautes Verhältnis.
«Ich muss mich entschuldigen, dass ich so spät noch
störe», begann er. «Aber die Sache duldet keinen
Aufschub. Ich wollte Frau Frankenberg deshalb nicht
eigens nach Hürth kommen lassen. Meine Fragen kann sie
auch hier beantworten.»
Vorerst bekam er sie nicht zu Gesicht. «Ute hat sich
hingelegt», teilte Alice Winger mit. «Welche Fragen
denn?»
Nichts von Bedeutung. Als Einstimmung vielleicht wann
und wo sie ihren Mann kennen gelernt hatte. Das konnte
Alice Winger ihm beantworten. «Das war im vergangenen
Dezember. Im Museum Ludwig. Ich war dabei.»
Als Nächstes, ob ihr Mann jemals den Namen Cora
erwähnt hatte. Alice Wingers Gesicht verschloss sich.
«Das kann ich mir kaum vorstellen.»
Nun, da waren noch ein paar andere Namen, auf die er
im Laufe der Ermittlungen gestoßen war. Und: «Es wäre
mir lieber, wenn ich mit Frau Frankenberg persönlich
sprechen könnte. Es ist eine reine Formsache.»
«Ich hole sie.» Alice Winger erhob sich und verließ den
Raum. Sie blieb ein paar Minuten weg. Die Zeit nutzte
Winfried Meilhofer, um sich zu erkundigen: «Kommen
Sie voran mit Ihren Ermittlungen?»
Er nickte. Irgendwie tat es gut, dass ausgerechnet der
Mann, der direkt daneben gesessen hatte, davon ausging,
dass es noch Ermittlungen gab.
410
«Ich werde den Anblick nicht los», sagte Winfried
Meilhofer leise. «Wie sie neben Frankie sitzt und ihn
anschaut. Sie war glücklich. Ich sollte das vielleicht nicht
sagen, aber sie hat mir Leid getan. Merkwürdig, wie man
reagiert. Ich hätte entsetzt sein müssen. Ich war auch
entsetzt. Aber mehr über Frankies Reaktion, über ihren
Mann und über mich. Ich hätte von mir nie gedacht, dass
es eine Situation gibt, in der ich mich nicht rühren kann.
Ich hätte es verhindern können. Den ersten Stich nicht.
Aber den zweiten. Und …»
Er wurde durch Alice Winger unterbrochen. Sie kam
zurück und erklärte: «Sie kommt sofort. Bitte, gehen Sie
behutsam mit ihr um. Es ist alles noch frisch. Sie waren so
glücklich.»
«Ja, natürlich.» Beinahe schämte er sich. Das war die
andere Seite. Die Seite, für die er einzustehen hatte.
Anständige Bürger, deren Leben in Sekundenbruchteilen
durch irgendeinen Wahnsinn zerstört wurde.
Es vergingen noch ein paar Minuten, ehe Ute
Frankenberg bei der Tür erschien. Im ersten Augenblick
bemerkte er nur den rosafarbenen Morgenrock, bodenlang
und aus Plüsch. Sie hatte sich darin eingewickelt, als friere
sie. Über dem Kragen ein rundliches graues Gesicht,
übernächtigt, verweint, Nase und Augen waren rot
geädert. Und um das Gesicht eine Kappe aus
weißblondem Haar, eng anliegend, im Nacken mit einer
Spange zusammengehalten. Mehr sah er nicht davon.
Er wiederholte die erste Frage, auf die er bereits Antwort
von Alice Winger erhalten hatte. Ute Frankenberg
bestätigte mit leiser, kaum verständlicher Stimme. Er kam
auf frühere Freunde ihres Mannes zu sprechen. Sie wusste
nur, was Frankie erzählt hatte. Und gerne hatte er nicht
darüber gesprochen. Einmal, als sie ihn auf das Lied
ansprach, das er sich jeden Abend anhörte, ohne das er
411
angeblich nicht einschlafen konnte, hatte er ihr ein paar
alte Fotos gezeigt und erklärt, es sei die größte Dummheit
gewesen, die er hätte machen können.
Den Namen Cora hatte sie nie von ihm gehört. Aber er
war auch nie hinter jedem Rock her gewesen, im
Gegensatz zu den andern beiden. Was die trieben, habe
ihn oft abgestoßen, hatte er gesagt. Mädchen und Koks.
Koks und Mädchen. Und einmal hatte er gesagt, dass er
immer auf sie gewartet habe. Sie sei sein Traum, genau die
Frau, die er brauche, um geheilt zu werden.
Ute Frankenberg sprach wie unter dem Einfluss starker
Beruhigungsmittel. Er konnte nichts weiter tun als hin und
wieder nicken, obwohl ihn der Hinweis auf Fotografien
beinahe elektrisch aufgeladen hatte. Behutsam, dachte er.
Gehen Sie behutsam mit ihr um. Natürlich!
«Frau Frankenberg, diese alten Fotos, gibt es die noch?»
«Frankie wollte sie wegwerfen. Ich fand das zu schade.
Ich habe sie …» Sie hatte auf einer Couch Platz
genommen, erhob sich schwerfällig, ging zu einem
Schrank, bückte sich, zog ein Schubfach auf und nahm ein
Album heraus. «Kann sein, dass sie hier drin sind.»
Das waren sie nicht. Sie hätte ins Schlafzimmer gehen
müssen, dort lag noch ein Album. Und sie fühlte sich
außerstande, es zu holen. Alice Winger erledigte das.
Dann saß Ute Frankenberg wieder auf der Couch, das
Album im Schoß, die Augen auf ein Foto in
Postkartengröße geheftet. Frankie! Sie streichelte das
Papier mit den Fingerspitzen, brach in Tränen aus und
konnte nicht weiterblättern.
Rudolf Grovian bemühte sich um Geduld. Alice Winger
nahm das Album an sich, suchte und nahm eine Fotografie
heraus. «Ist es das, was Sie meinen?»
Ja, das war es! Die Erleichterung machte seine Brust

412
wieder frei. Er musste nicht lügen, nicht manipulieren,
nicht tun, was er vor knapp einer Stunde ihrem Anwalt
vorgeschlagen hatte:
«Wenn alle Stricke reißen, machen wir aus Frankie einen
lieben, aber verzogenen Bengel aus gutem Haus, der –
meinetwegen unter dem Einfluss von Alkohol und Kokain
– zuließ, dass seine Freunde sich im August vor fünf
Jahren an seinem Mädchen vergriffen. Es gibt keine
Beweise dafür, aber es gibt auch keine dagegen, wenn wir
uns an den 16. August halten, da war sein Arm wieder
verheilt. Machen wir uns die Flunkereien zunutze. Ich
bringe Ihnen eine Zeugin, die unter Eid aussagen wird,
dass sie Cora Bender am Abend des 16. August in Georg
Frankenbergs Auto einsteigen sah. Ich bin sicher, ihre
Nachbarin wird das für sie tun, wenn wir ihr garantieren,
dass es keine Folgen hat. Sie hämmern Frau Bender jetzt
ein, dass von ihr in der Verhandlung kein Wort über den
Erlöser und die büßende Magdalena kommen darf und
auch keins über Zuhälter und Prostitution. Was wir
brauchen, ist die nette Liebesgeschichte mit dramatischem
Ausgang.»
Und genau das war es! Die Aufnahme war schlecht
belichtet. Doch mit ein bisschen gutem Willen und ihrer
Beschreibung im Hinterkopf konnte man durchaus einiges
erkennen. Die Musikinstrumente auf dem Podest in der
Ecke. Sogar zwei Männer. Der hinter dem Schlagzeug
musste Frankie sein. Er hatte die Arme erhoben. Sein
Gesicht war nur ein verschwommener Fleck. Da war der
andere schon deutlicher. Er stand hinter dem Keyboard.
Ein blonder Pummel mit verträumter Miene. Nicht
übermäßig groß und von kräftiger Statur.
«Wer ist das?»
Ute Frankenberg beugte sich zu seiner ausgestreckten
Hand hin. «Das müsste Ottmar Denner sein.»
413
Tiger, dachte er. «Hat Ihr Mann einmal den Spitznamen
Ottmar Denners erwähnt? Tiger?»
«Nein, nie.»
«Auch keinen anderen Spitznamen? Böcki oder Johnny
Guitar?»
«Nein.»
Schade! Jammerschade! «Auf diesem Foto sind nur zwei
Männer, Frau Frankenberg. Wo ist der dritte, Hans
Böckel?»
Wo schon? Am Auslöser!
«Bueckler», sagte sie mechanisch. «Nicht Böckel, er
hieß Bueckler. Es schreibt sich mit ue.»
Winfried Meilhofer murmelte eine Entschuldigung.
«Dann habe ich den Namen falsch verstanden.»
«Es muss aber auch ein Foto von Hans Bueckler da
sein», murmelte Ute Frankenberg wie im Selbstgespräch.
Sie nahm das Album wieder an sich, schlug eine Seite um,
schüttelte den Kopf, noch eine Seite. «Hier», sagte sie, zog
das Foto unter der Klarsichtfolie heraus und reichte es
ihm. Gleichzeitig fuhr sie mit der freien Hand in den
Nacken und machte eine rasche Bewegung mit dem Kopf.
Rudolf Grovian registrierte zwei Dinge zur gleichen
Zeit. Den Mann auf dem Foto. Melanie Adigars
Beschreibung von Johnny passte wie maßgeschneidert.
Ein blonder Adonis. Als hätte er den griechischen
Steinmetzen Modell für ihre Götter gestanden. Und das
Haar, das Ute Frankenberg den Rücken hinunterfiel.
Immer noch von der Spange im Nacken
zusammengehalten, aber lang, es reichte ihr bis auf die
Hüften.
Er fühlte sein Herz einen Satz der Betroffenheit machen,
weil er sich in derselben Sekunde vor dem alten

414
Nachttisch stehen sah, das Foto im Silberrahmen in der
Hand. Magdalena, dachte er. Die Frau war der Auslöser.
Verdammt! Dieser Gartenzwerg von psychologischem
Sachverständigen hatte Recht! Aber es konnte nicht sein!
Was er in der Hand hielt, war ein Beweis. Er konzentrierte
sich wieder auf den Schnappschuss in seinen Händen.
Hans Bueckler stand an der Kellerbar und hielt ein Glas in
der Hand. «Wissen Sie, wo diese Aufnahmen gemacht
wurden, Frau Frankenberg?»
Sie nickte. «In ihrem Probekeller.»
«Wo finde ich diesen Keller?»
«Das weiß ich nicht. Ist er wichtig für Sie?»
«Sehr wichtig.»
«Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht im Haus von
Denners Eltern oder bei Hans Bueckler. Ja, es wird da
gewesen sein. Ich weiß nicht, wo er wohnte. Irgendwo in
Norddeutschland. Sein Vater hatte etwas mit Musik zu
tun. Er war Agent, glaube ich, ich bin nicht sicher.»
«Ich muss die Fotografien mitnehmen, Frau
Frankenberg. Nach Möglichkeit noch mehr, wenn es noch
mehr Aufnahmen aus diesem Keller gibt. Vielleicht gibt es
sogar eine vom Haus?»
Die gab es nicht, aber aus dem Keller gab es noch zwei.
Und die waren auch scharf. Auf einer war die Couch mit
dem niedrigen Tisch davor abgelichtet. Frankie saß auf der
Couch. Und es gab noch eine Aufnahme, die ihn und
Denner neben einem roten Sportflitzer zeigte.
«Wissen Sie, wem der Wagen gehörte?»
Sie nickte nur und betrachtete das Foto in seiner Hand.
Antworten konnte sie nicht. Das tat Winfried Meilhofer
für sie. «Das war Frankies Wagen. Er fuhr ihn noch, als
ich ihn kennen lernte.»

415
Als er sich verabschiedete, fühlte er sich ein wenig
leichter. Nur ein wenig. Viel war es nicht, was er in der
Hand hielt. Im Grunde war es nur Hoffnung, dass er ein
Foto von Johnny in der Tasche trug. Und da war eine
innere Stimme, die ihm sagte, er hätte besser eins von Ute
Frankenberg mitgenommen. Und er solle ihr lieber das
zeigen. Er solle sie fragen:
«Wer ist das, Frau Bender?»
Und im Geist sah er sie lächeln, so intensiv, so besorgt
und zärtlich wie auf dem Foto in ihrem Zimmer. Und im
Geist hörte er sie mit wehmütigem Unterton sagen: «Das
ist Magdalena.»

416
14. Kapitel

Ihr Haar war noch feucht. Sie hatte es nach dem Frühstück
gewaschen. Und Margret hatte vergessen den Föhn
einzupacken. Es war Nachmittag, das wusste sie. Viel
mehr wusste sie nicht, nur dass ihr Haar noch feucht war.
Sie spürte es kühl im Nacken. Wenn ein Windhauch von
draußen hereinkam, fühlte sie auch die Kühle am Kopf.
Aber sonst fühlte sie nichts.
Einmal hatte es am rechten Bein gejuckt, unterhalb der
Kniekehle an der Wade – als ob sich ein Insekt dorthin
gesetzt hätte. Es war schon eine Weile her. Sie hatte lange
überlegt, ob sie an die Stelle fassen sollte – kratzen oder
das Insekt verscheuchen. Es hätte eine Mücke sein
können. Sie hatte sich auf die Stelle konzentriert und
herauszufinden versucht, ob sie es nur durch
Konzentration identifizieren oder zum Verschwinden
bringen konnte. Hingeschaut hatte sie nicht, auch nicht
hingefasst. Irgendwann hatte das Jucken aufgehört. Vor
einer halben Stunde. Da war sie sicher, sie hatte die
Sekunden gezählt.
Seit sie vom Professor zurück war, beschäftigte sie sich
ausschließlich mit Zählen. Sie war weit über zehntausend
gewesen, als das Jucken am Bein sie unterbrach und sie
wieder von neuem beginnen musste. Achtzehn! So alt war
Magdalena geworden. Neunzehn – so alt war sie damals
gewesen. Zwanzig – da hatte sie langsam zu leben
begonnen. Einundzwanzig – da hatte sie sich eingebildet,
ein Leben führen zu können wie tausend andere, mit
einem Mann, der zu dumm war, um gefährlich werden zu
können. Aber das war ein Irrtum gewesen.
Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig …

417
aus.
Der Professor hatte gesagt: «Ich sehe, Sie haben Ihr Haar
gewaschen, Frau Bender.»
Zu dem Zeitpunkt war es noch nass gewesen, nicht nur
feucht. Dem Professor hatte es gefallen. Er hatte gefragt,
wie oft sie es früher gewaschen habe? Doch sicher täglich!
Ob es Naturlocken seien oder eine Dauerwelle. Und
welches Shampoo sie benutzt habe, es dufte so angenehm
frisch.
«Es ist auch ein sehr gutes Shampoo», hatte sie
geantwortet. «Der Chef hat es mir mitgebracht. Wo ist er?
Habe ich ihn umgebracht?»
Sie wusste, sie hatte auf ihn eingestochen – mit dem
kleinen Messer, das auf der Bar lag. Irgendwie hatte sie es
zu packen bekommen. Und in dem Augenblick, als sie auf
ihn einstach, war er nicht der Chef gewesen. Nur einer, der
etwas tat, was er nicht tun sollte. Dann hatte sie noch
einmal, nur für einen winzigen Moment, sein Gesicht
gesehen, hatte ihn auch erkannt, aber nicht mehr
feststellen können, ob er blutete, ob er überhaupt noch am
Leben war. Es war gleich dunkel geworden.
Und dann ein weißes Bett und ein schmales, besorgtes
Gesicht, das sich über sie beugte. Der sauber gestutzte
Bart fehlte. Er hat ihn abgenommen, war ihr erster
Gedanke gewesen. Er hat sich rasiert, während ich schlief.
Sie wartete darauf, dass er sie Orangensaft trinken ließ
oder ihre Arme und Beine bewegte. Dass er sie
aufforderte, ein Gedicht aus der Schulzeit aufzusagen,
oder etwas in die Kanüle auf ihrem Handrücken injizierte.
Oder den Verband am Kopf überprüfte oder in ihre Ferse
pikste.
Und die Angst, diese wahnsinnige Angst, dass alles von
vorne begonnen hatte, dass sie es noch einmal durchleben

418
musste: Heimkommen. Mutters gleichgültige Stimme an
der offenen Haustür. «Cora ist tot. Meine Töchter sind
beide tot.»
Und Vater an ihrem Bett. «Was hast du getan, Cora?»
Und Grit mit ihrem ängstlich besorgten Gesicht, nicht
wissend, ob sie reden durfte oder schweigen musste. Sich
langsam vorantastend. Jeder Satz ein Hammerschlag. «Du
brauchst dir keine Sorgen zu machen. Margret hat sich um
alles gekümmert. Auf ihrem Totenschein steht Herz-
Nieren-Versagen. Margret hat sich die Unterlagen aus
Eppendorf geholt und eine Leiche besorgt, ein
Junkiemädchen, glaube ich. Ihr Freund hat ihr geholfen, er
hat auch den Schein ausgestellt.»
Grit hatte den Kopf geschüttelt, gleichzeitig mit den
Achseln gezuckt und weitergesprochen: «Es war eine
junge Frau. Margret hat sie im Auto hergebracht. Ein
Himmelfahrtskommando, aber wir brauchten ja etwas für
die Beerdigung. Wir haben sie verbrennen lassen.
Magdalena wollte das ja so. Und Margret sagte, damit ist
die Sache ausgestanden. Wenn es irgendwann dumme
Fragen gibt, Antworten gibt es nicht mehr.»
Die grausame Angst, das alles noch einmal hören zu
müssen, brachte sie fast um. Sie schrie, griff nach der
Hand, die den Puls an ihrem Handgelenk überprüfte, und
klammerte sich daran fest. «Ich will nicht nach Hause.
Schicken Sie mich nicht weg, bitte. Lassen Sie mich hier
bleiben. Ich kann im Haushalt helfen. Ich tu alles, was Sie
wollen. Nur schicken Sie mich nicht heim. Meine
Schwester ist tot. Ich habe Magdalena umgebracht.»
Wie lange sie geschrien, gebettelt und die Hand
umklammert hatte, wusste sie nicht. Es hatte ewig
gedauert, bis sie ihren Irrtum erkannte. Er hatte sich nicht
rasiert. Er hatte gar keinen Bart getragen. Er war der

419
Sachverständige. Und sie hatte es ihm gesagt. Und wenn
er am nächsten Morgen hundertmal so tat, als habe er
nichts gehört. Wenn er sie noch tausendmal fragte, mit
welchem Shampoo sie ihr Haar gewaschen hatte. Er hatte
sein Ziel erreicht. Das Letzte aus ihr herausgeholt.
Viertausenddreihundertsiebenundzwanzig.
Viertausenddreihundertachtundzwanzig.
Magdalenas Knochen im Staub zwischen verdorrtem
Gras.
Viertausenddreihundertneunundzwanzig.
Viertausenddreihundertdreißig.
Eine unbekannte Tote! Eine skelettierte Leiche in der
Nähe eines Truppenübungsplatzes in der Lüneburger
Heide.
Viertausenddreihunderteinunddreißig! Nicht denken! Sie
durfte nicht denken, wollte auch nicht mehr.
Grit hatte gesagt: «Als dein Vater an dem
Sonntagmorgen im Mai vor meiner Tür stand und sagte:
‹Die Mädchen sind weg.› Zuerst konnte ich es nicht
glauben. Dann dachte ich, du hättest Magdalena nach
Eppendorf bringen müssen. Wir haben herumtelefoniert.
Fehlanzeige. Am Nachmittag fanden wir das Auto auf
dem Parkplatz beim ‹Aladin›. Wir konnten uns das nicht
erklären und wussten nicht, was wir tun sollten. Ich habe
deinem Vater vorgeschlagen, er solle zur Polizei gehen.
Das wollte er auf keinen Fall. Ich hatte fast das Gefühl, er
nahm an, du hättest Magdalena …»
Grit hatte einen langen Seufzer ausgestoßen. «Wie er auf
solch einen Gedanken kommen konnte, werde ich nie
verstehen. Gerade er musste doch wissen, dass du dich für
sie hättest vierteilen lassen. Ja, und dann haben wir in der
Nachbarschaft erzählt, es ginge zu Ende mit ihr, und du

420
weichst nicht von ihrer Seite. Ein Glück nur, dass Melanie
an dem Wochenende bei Freunden übernachtet hat. Sie
hätte vielleicht den Mund nicht halten können.»
Dann hatte Grit vom August gesprochen: «Ich finde es
immer noch nicht richtig, was Margret gemacht hat. Und
ich mache mir Vorwürfe, dass ich überhaupt etwas gesagt
habe, als ich von dem Leichenfund in der Zeitung las. Ich
wollte zuerst nicht mit deinem Vater darüber reden. Ich
dachte, es regt ihn nur unnötig auf. So war es auch. Er hat
auf der Stelle mit Margret telefoniert. Und weißt du, was
er zu ihr sagte? ‹Wir haben Magdalena gefunden.› Ich
sagte: ‹Wilhelm, das ist doch nicht wahr! Wir haben gar
nichts. Man hat eine Tote gefunden, irgendeine Tote, die
kein Mensch mehr identifizieren kann. Es kann unmöglich
Magdalena sein. Bei der hätte man Kleidungsstücke finden
müssen, zumindest das Nachthemd. Sie hat doch immer
ein Nachthemd getragen.› Er hat mich so komisch
angeschaut und den Kopf geschüttelt. Und dann sagte
Margret: ‹Es spielt keine Rolle, wer die Tote ist. Wir
müssen etwas unternehmen. Wir haben schon viel zu
lange gewartet.› Und im Grunde hatte sie Recht. Wir
konnten nicht bis in alle Ewigkeit erzählen, du sitzt an
Magdalenas Bett. Dass sie noch lebte, haben wir ja auch
nicht geglaubt.»
Viertausenddreihundertzweiunddreißig. Und weiter bis
in alle Ewigkeit – mit diesem Bild vor Augen – morsche
Knochen im Dreck. Mit Magdalenas Stimme im Ohr: «Ich
will die Hölle.» Aber die Leiche da draußen war nicht
verbrannt gewesen. Gefault war sie, schwarz geworden,
Würmer hatte sie bekommen.

Bei achttausendsiebenhundertdreiundvierzig hörte sie den


Schlüssel in der Tür. Sie ließ sich nicht unterbrechen,
rechnete fest damit, dass man sie noch einmal abholen
421
wollte, um sie ein zweites Mal zum Professor zu bringen.
Die Sitzung am Vormittag war sehr unerquicklich für
ihn gewesen. Er hatte von ihr wissen wollen, worüber sie
zuletzt mit dem Chef gesprochen hatte. Der falsche Hund!
Er wusste es doch längst. So blöd war sie noch nicht, dass
sie nicht aus seinen Fragen heraushörte, wie viel er
wusste.
Er fragte, ob sie noch einmal mit ihm über den Keller
reden möchte. Und darüber, dass Zuhälter normalerweise
keine gläubigen Menschen seien. Dass Zuhälter wohl
häufig ein Mädchen schlagen ließen, es auch selbst
schlugen, dass sie dabei jedoch nicht Amen! Amen!
Amen! brüllten. Aber sie hätte gewiss häufig Amen sagen
müssen. Und sie hätte sich doch auch bestimmt oft
gewünscht, ein normales Leben führen zu können. Mit
einem jungen Mann.
Er sagte, er wisse, wie groß die Belastung durch
Magdalena für sie gewesen sei. Und dann wollte er mit ihr
über Musik reden. Speziell über die Lieder, die Magdalena
gerne gehört hatte. Ob sie sich noch an bestimmte Titel
erinnere, wollte er wissen.
Aber wo der Chef war, wollte er ihr nicht sagen. Kein
Wort, ob er noch lebte. Da antwortete sie ihm auch nicht
mehr. Und dann machte er Musik. Er ließ sie das
Schlagzeug hören, die Gitarre und das hohe Pfeifen einer
Orgel. «Song of Tiger»!
Und dieser scheinheilige Hund fragte, wie sie sich fühle.
Woran sie jetzt denke. Woran schon? Achtzehn!
Neunzehn! Zwanzig! Einundzwanzig! Sie hatte die Zähne
zusammenbeißen müssen, dass es in den Kiefern knackte.
Aber es hatte funktioniert. Zweiundzwanzig!
Dreiundzwanzig! Vierundzwanzig!
Er war nervös geworden. Anzusehen war ihm das nicht

422
gewesen, aber sie hatte es gefühlt und weitergezählt,
weiter, immer weiter.
Achttausendsiebenhundertvierundvierzig. Die Tür ging
auf. Einer der Pfleger kam herein. Es war der, der am
vergangenen Abend zweimal nach ihr geschaut hatte.
Einmal hatte er ihr das Haar aus der Stirn gestrichen und
gefragt: «Wie fühlen Sie sich, kleine Frau? Geht’s
wieder?»
Er hieß Mario, war ein netter Kerl, immer freundlich,
immer gut gelaunt, dunkelhaarig wie Vater früher. Und
sehr stark, ungeheuer kräftig. Er konnte sich einen
erwachsenen Mann unter den Arm klemmen und ohne
Schwierigkeiten forttragen, obwohl der Mann zappelte
und strampelte und mit beiden Fäusten in Marios Rücken
drosch.
Sie hatte es einmal gesehen, auf dem Rückweg vom
Professor zu ihrem Zimmer. Und sie hatte gedacht, dass
Vater vielleicht auch einmal so gewesen war. So groß wie
Mario, so stark wie Mario. Als junger Mann auch so
hübsch wie Mario. Sie hatte sich vorgestellt, wie Mutter
sich in ihn verliebte, wie sie sich das erste Mal von ihm
küssen ließ. Wie sie das erste Mal mit ihm schlief. Wie sie
es genoss. Und wie sie das erste Kind mit ihm zeugte. Wie
glücklich Mutter war über die späte Schwangerschaft und
über den Mann, der zu ihr gehörte. Und sie hatte sich
vorgestellt, sie wäre an Mutters Stelle und Mario wäre
Vater.
Gestern Abend hatte sie es sich auch vorgestellt, als sie
noch so benommen war von den Medikamenten, dass sie
kaum denken konnte, sich nur etwas wünschen: Mario
möge sie aus dem Bett nehmen und forttragen, weit, weit
fort. Zurück in den Keller. Sie dort auf den Boden legen.
Mitten im Raum stehen wie Herkules. Und sich jeden
Einzelnen, jeden von denen, die sonst noch da waren,
423
unter den Arm klemmen. Sie alle hinaustragen ins Freie.
Und sie dort totschlagen. Alle! Und wenn er sie alle
totgeschlagen hätte, käme er zurück, nähme sie wieder
vom Boden hoch und sagte: «Jetzt ist es vorbei, kleine
Frau. Jetzt ist es überstanden.» Und dann ließe er sie
schlafen – bis in alle Ewigkeit.
Es war Sünde, so etwas zu wünschen. Das ganze Leben
war Sünde. Der Tod auch. Sie hatte ihre Schwester getötet.
Und als sie Magdalena tot vor sich liegen sah, war sie in
Panik aus dem Haus gerannt. Sie war zurück zum
«Aladin» gefahren, wo Johnny auf sie wartete. Er hatte ihr
geholfen, die Leiche in die Heide zu schaffen. Sie hatten
Magdalena irgendwo abgelegt, wo sie nicht so schnell
gefunden werden konnte. Nahe dem militärischen
Sperrgebiet, da ging niemand hin, auch die Soldaten nicht.
Da konnte Magdalena zu einem stinkenden, ekligen Stück
Dreck werden.
So musste es gewesen sein, genau wusste sie es nicht,
aber Grit sah es so. Wobei Grit davon ausging, Magdalena
sei bereits tot gewesen, als sie heimkam in der Nacht. Das
war Grits Irrtum. Und der Professor wusste es jetzt. Und
wenn sie nicht zählte, musste sie sich fragen: Warum habe
ich ihr kein Feuer gemacht? Ich hatte es versprochen.
Hatten wir kein Benzin dabei? In Vaters Wagen lag immer
ein voller Kanister. Aber Vaters Wagen stand beim
«Aladin». Er kann für diese Fahrt nicht benutzt worden
sein. Also muss mir jemand geholfen haben. Ich kann
nicht allein gewesen sein mit ihr. Wenn ich allein gewesen
wäre, sie hätte ihr Feuer bekommen. Es muss jemand bei
mir gewesen sein, der nicht in Vaters Wagen fahren
wollte. Der in seinem Wagen keinen vollen Benzinkanister
hatte. Oder dem ein Feuer zu gefährlich war. Der
befürchtete, dass jemand die Flammen sah. Johnny!? Es
gab keine andere Möglichkeit.

424
Mario blinzelte sie mit dem rechten Auge an wie ein
Verschwörer. Sie sah, dass er ein Tablett in der Hand hielt.
Darauf standen eine kleine Kanne aus dickem weißem
Porzellan und zwei Tassen mit Untertellern. Er trug das
Tablett zum Tisch, stellte es ab und legte einen Finger an
seine Lippen.
«Das bleibt unter uns», sagte er. «Den habe ich selbst
aufgebrüht. Das ist richtig guter Kaffee.»
Sie biss sich auf die Lippen und blinzelte gegen die
Feuchtigkeit an.
«Na», sagte Mario. «Das lassen Sie besser. Sie wollen
sich doch den Kaffee nicht verwässern. Eine Tasse für Sie
und eine für Ihren Besuch.»
«Ist der Chef gekommen? Lebt er noch?»
«Natürlich lebt er noch.» Mario lächelte breit. «Aber er
wird sich hier so schnell nicht mehr blicken lassen. Der
Professor hat ihm tüchtig den Kopf gewaschen.»
Und sie stellte sich vor, dass nun auch der Chef mit
feuchten Haaren herumlief, während Mario anfügte: «Ihr
Anwalt ist da. Jetzt kommen Sie an den Tisch und trinken
Ihren Kaffee mit ihm.»
Er drehte sich zur Tür und rief: «Kommen Sie nur. Sie
ist okay.» Ihr blinzelte er noch einmal zu, hob einen
Daumen, als könne er sie damit aufrichten.«Ich bleibe
hier, in Ordnung? Ich passe auf, dass nichts passiert.»
Mario postierte sich neben die Tür, legte die Hände auf
den Rücken und stand da wie ein Wachsoldat.
Sie rutschte vom Bett wie ein Kind mit zu kurzen
Beinen, als ihr Anwalt durch die Tür trat. Sie erinnerte
sich, dass sie ihn bereits einmal gesehen und auch längere
Zeit mit ihm gesprochen hatte. Aber … «Tut mir Leid, ich
habe Ihren Namen vergessen.»

425
«Das macht doch nichts», sagte er. «Ich muss mir auch
alles notieren. Sonst vergesse ich die Hälfte. Brauning.»
Er lächelte sie an, während er seinen Namen nannte. Im
Gegensatz zu Marios Lächeln fiel seines verkrampft aus.
Er fühlte sich nicht wohl in ihrer Nähe, sie spürte es.
«Haben Sie Angst vor mir?»
«Nein, Frau Bender», sagte er. «Warum sollte ich denn
Angst vor Ihnen haben?»
Das wusste sie nicht, aber es war so. «Ich tu Ihnen
nichts», versicherte sie. «Ich tu keinem Menschen mehr
etwas. Wenn Frankie mir gesagt hätte, dass er ein Mensch
ist, hätte ich ihm auch nichts getan – glaube ich. Aber das
hat er mir nicht gesagt. Er wollte, dass ich es tue. Ich habe
neulich vergessen, Ihnen das zu sagen.»
«Schon gut, Frau Bender», sagte ihr Anwalt. «Darüber
können wir später reden.»
«Nein», sagte sie. «Ich rede nicht mehr. Ich zähle jetzt
nur noch. Dabei kann überhaupt nichts passieren.»
Eberhard Brauning hatte wie beim ersten Besuch den
Aktenkoffer dabei. Er stellte ihn neben dem Tisch ab und
setzte sich auf einen der Stühle, sodass er die Tür und den
Pfleger daneben im Auge hatte. Ein kräftiger Mensch!
Oberarme wie ein Ringer. Der Anblick hatte etwas
Beruhigendes.
«Ich habe hier ein paar Dinge, bei denen Sie mir helfen
müssen, Frau Bender», sagte er.
Helene hatte ihn gut instruiert. Rudolf Grovians
Erklärungen und sein Eintreten für Cora Bender, vor allem
seine Bereitschaft, notfalls die eigene Existenz zu
riskieren, hatten Eindruck auf Helene gemacht.
«Er versteht es, einem die Sache schmackhaft zu
machen. Das heißt natürlich nicht, dass ich seine

426
Vorschläge gutheiße. Um Gottes willen, Hardy, ich kann
dir nur dringend raten, davon Abstand zu nehmen. Es wird
vielleicht auch gar nicht nötig sein zu manipulieren. Weißt
du, Hardy, Burthe hat wirklich einen guten Ruf, man kann
nichts Nachteiliges über ihn sagen. Nur verbeißt er sich
eben schnell in die Freud’sche Theorie. Und in einem so
komplexen Fall reicht das nicht. Dieser Grovian könnte
durchaus richtig liegen mit seiner Einschätzung. Man darf
die Meinung eines Laien nicht unterbewerten, und er hat ja
doch einiges zusammengetragen, was dafür spricht.
Tatsache ist auch, er kann mit ihr umgehen. Er bringt sie
zum Reden. Und das hast du auch geschafft, Hardy. Es ist
nur eine Frage der Autorität. Aber es ist deine
Entscheidung. Ich will dir da nicht hineinreden. Du musst
nur eines beherzigen, wenn du mit ihr sprichst. Geh
natürlich mit ihr um. Appelliere an ihre Hilfsbereitschaft
und ihr Verantwortungsbewusstsein.» Helene hatte leicht
reden.
«Darf ich Ihnen Kaffee einschenken?» Sie erkundigte
sich nicht einmal, wobei sie ihm helfen sollte.
«Ja, das wäre nett», sagte er.
«Stört es Sie, wenn ich stehen bleibe? Ich habe den
ganzen Tag gesessen. Eine Stunde bei Professor Burthe
und die restliche Zeit auf dem Bett.»
Helene hatte gesagt: «Halte sie beim Thema. Lass sie
nicht abschweifen. Wenn sie es versucht, und das wird sie
mit Sicherheit tun, bring sie sofort auf den Punkt zurück.
Und lass dich nicht provozieren, Hardy. Sie wird es tun,
wenn sie einigermaßen klar ist. Stell dir ein Kind vor, das
völlig auf sich allein gestellt ist. Wenn da plötzlich jemand
auftaucht, der behauptet, ich mag dich und will dir helfen,
muss das Kind ihn auf die Probe stellen. Es wird ihn bis
zur Weißglut reizen. Zeig ihr, wo die Grenzen sind. Bleib
ruhig, aber bestimmt, Hardy. Du wirst doch mit einem
427
Kind fertig werden.»
«Es wäre mir lieber, wenn Sie sich setzen», sagte er. Mit
Helenes Instruktionen und Vorhersagen im Kopf war er
auf alles gefasst. Auf ein Grinsen, auf Widerspruch, eine
gelangweilte oder teilnahmslose Miene. Nichts
dergleichen.
Sie zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und nahm
Platz. Brav stellte sie die Füße nebeneinander, zupfte den
Rocksaum über die Knie und lächelte ihn an. «Ich weiß
immer noch nicht, ob es eine Mücke war oder nur ein
Nervenreflex. Ich hätte hinschauen müssen. Es war dumm,
das nicht zu tun. Wenn es eine Mücke war, ist sie
bestimmt noch hier. Und dann kommt sie in der Nacht
wieder. Ich hätte draufhauen müssen. Draufhauen! Einfach
draufhauen! Es wäre nur eine Scheißmücke gewesen, die
mich stechen will. Und alles, was sticht, muss man
totschlagen.»
Eberhard Brauning konnte nicht beurteilen, ob sie
einigermaßen klar war, ob sie Rudolf Grovians Meinung
bestätigte und auf verschlüsselte Weise ihre
Todessehnsucht zum Ausdruck brachte oder ihm nur
Unsinn erzählte. Er hielt an Helenes Vorschlägen fest.
«Ich bin nicht hier, um mit Ihnen über Mücken zu reden,
Frau Bender. Ich habe ein paar Fotografien bei mir und
möchte, dass Sie sich die Männer ansehen und mir …»
Weiter kam er nicht. «Ich will mir keine Männer
ansehen.»
Punkt und Schluss! Ihre Miene machte deutlich, dass sie
nicht bloß einen Punkt, sondern ein Ausrufezeichen hinter
ihren Willen gesetzt hatte.
Nur ein Kind, dachte er, ein ungeliebtes Kind. Er dachte
es wie eine Beschwörungsformel. «Es ist sehr wichtig,
Frau Bender. Sie werden sich die Fotos anschauen und mir

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sagen, ob Sie einen der Männer kennen.»
«Nein!» Zur Bekräftigung schüttelte sie energisch den
Kopf. «Es ist doch garantiert ein Foto von Frankie dabei.
Und das werde ich mir nicht anschauen. Ich muss mein
Gedächtnis nicht auffrischen. Ich sehe ihn so deutlich,
dass ich ihn zeichnen könnte.»
Unvermittelt brach ihre Stimme. Sie gab einen Laut von
sich wie ein trockenes Schluchzen. «Ich sehe ihn mit und
ohne Blut. Ich sehe ihn am Schlagzeug, und ich sehe ihn
am Kreuz. Und immer hängt er in der Mitte. Er war der
Erlöser. Nein! Nein, bitte, schauen Sie mich nicht so an.
Ich bin nicht verrückt. Ich habe es doch in seinen Augen
gelesen. Aber ich bin auch nicht Pilatus. Ich kann mir
nicht die Wasserschüssel reichen lassen.»
Es hat überhaupt keinen Sinn, dachte Eberhard
Brauning. Wenn wir es wirklich bis zur Hauptverhandlung
schaffen – ein derartiger Ausbruch, und das war es.
Sie legte die Hände vors Gesicht, sprach mit gepresster
Stimme weiter: «Er wollte nicht sterben. Er hat seinen
Vater angefleht: Lass diesen Kelch an mir vorübergehen.
Er hatte so eine schöne Frau. Warum lassen Sie mich nicht
sterben? Ich will nicht mehr denken! Ich kann nicht mehr.
Jetzt kann ich wieder von vorne anfangen. Achtzehn,
neunzehn, zwanzig, einundzwanzig …»
Eberhard Brauning atmete tief und gleichmäßig ein und
aus, ein und aus und wünschte Helene und ihre frisch
erwachte Liebe zum Beruf zum Teufel. Und Rudolf
Grovian, der ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte, gleich
hinterher.
Der Pfleger stand bei der Tür und rührte sich nicht, tat,
als sehe und höre er nichts. Er stand da nicht als
Leibwache für ihn, auch nicht als Wachhund für sie. Er
stand da auf Anweisung des Staatsanwalts, der es gerne

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persönlich übernommen hätte. Professor Burthe hatte ihm
das ausreden können und es auch strikt abgelehnt, einen
Kriminalbeamten in Cora Benders Nähe zu lassen. So war
das Los auf ihn als ihren Anwalt gefallen. Aber sie
brauchten einen unparteiischen Zeugen. Nach Möglichkeit
einen, auf den sie positiv reagierte. Sonst, meinte der
Professor, sei jeder Versuch sinnlos. Niemand brächte
zurzeit ein Wort aus Frau Bender heraus.
Es waren zwanzig Aufnahmen, die er in seinem Koffer
hatte. Er wusste nicht, wen sie darstellten. Rudolf Grovian
hatte ihm die Fotos kurz nach Mittag in die Kanzlei
gebracht. Das Polizeilabor hatte eine Nachtschicht
eingelegt. Zwanzig Männerköpfe, alle etwa im gleichen
Alter. Und nichts als die Köpfe abgebildet. Bei jedem war
der Hintergrund so verschwommen, dass er nicht den
kleinsten Anhaltspunkt bot.
Er nahm einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse
wieder ab. Sie war bereits bei fünfundvierzig, als er sich
endlich überwinden konnte, sie zu unterbrechen. «Hören
Sie auf damit, Frau Bender. Sie werden sich jetzt diese
Fotos ansehen. Ich weiß nicht, ob ein Foto von Frankie
dabei ist. Wenn Sie eines sehen, sagen Sie es mir. Dann
nehme ich es weg. Sie müssen ihn nicht anschauen. Nur
die anderen. Sagen Sie mir, wenn Sie jemanden erkennen.
Und nennen Sie mir den Namen, wenn Sie ihn wissen.»
Sie brach ihre Zählerei tatsächlich ab. Er hatte nicht
damit gerechnet und fasste es als einen persönlichen
Erfolg auf. Als er sich nach dem Koffer bückte, kam der
Pfleger zum Tisch und baute sich daneben auf.
Es beruhigte Eberhard Brauning ein wenig, den Mann
näher bei sich zu haben. Nicht dass er Angst gehabt hätte.
Aber für den Fall eines Falles. Wo sie sogar auf Grovian
losgegangen war. Er zog einen Umschlag heraus und legte
ihn auf den Tisch. Es war ein großer brauner Umschlag. Er
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nickte ihr aufmunternd zu, während er die Aufnahmen
herausnahm.
Sie starrte die Fotos an wie ein Gewimmel giftiger
Reptilien. «Woher haben Sie die?», wollte sie wissen.
«Herr Grovian brachte sie heute Mittag.»
In ihren Augen flackerte Interesse auf. «Wie geht es
ihm?»
«Gut. Ich soll Sie schön grüßen.»
«Ist er böse auf mich?»
«Nein, warum sollte er?»
Sie beugte sich über den Tisch zu ihm hinüber und
wisperte: «Ich habe ihn doch gestochen.»
«Nein, Frau Bender.» Er schüttelte energisch den Kopf.
«Das haben Sie nicht. Geschlagen haben Sie nach ihm.
Aber das versteht er. Er hat Sie gereizt, und Sie waren sehr
aufgeregt. Er ist Ihnen wirklich nicht böse. Er möchte,
dass Sie sich die Fotos anschauen. Er hat eine Menge
Lauferei gehabt, ehe er sie alle beisammen hatte. Es ist
sogar eines von seinem Schwiegersohn dabei, hat er mir
erzählt.»
Sie lehnte sich wieder zurück, schürzte die Lippen und
verschränkte die Arme über der Brust. «Na schön. Ich
schaue sie mir ja an.»
Er schob ihr den Packen zu. Sie beugte sich wieder vor
und betrachtete die erste Aufnahme, schüttelte den Kopf,
nahm sie vom Packen und legte sie zur Seite. Die zweite,
die dritte; die vierte, jedes Mal ein Kopfschütteln.
«Welcher ist denn der Schwiegersohn?», erkundigte sie
sich bei der fünften.
«Das weiß ich nicht, Frau Bender. Ich darf das auch
nicht wissen.»
«Schade», murmelte sie. Bei der sechsten Aufnahme
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stutzte sie, runzelte die Stirn, legte einen Finger an die
Lippen und begann am Nagel zu kauen. «Könnte er das
sein? Den habe ich einmal gesehen. Aber ich weiß nicht
wo. Wie er heißt, weiß ich auch nicht. Was machen wir
jetzt mit ihm?»
«Wir legen ihn zur Seite», sagte er.
Sie betrachtete die siebte und achte Aufnahme. Bei der
neunten kniff sie die Augen zusammen und verlangte
heiser:
«Tun Sie es schnell weg! Das ist Frankie.»
Er nahm das Foto an sich und schob es zurück zwischen
die, die sie bereits aussortiert hatte. Sie brauchte ein paar
Minuten, ehe sie weitermachen konnte. Der Pfleger legte
ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Sie schaute zu
ihm auf und nickte mit zusammengepressten Lippen. Dann
widmete sie sich der zehnten, elften und zwölften
Aufnahme.
Bei der dreizehnten sagte sie: «Das Schwein will ich
überhaupt nicht kennen. Und ich will auch nicht wissen,
wie er heißt.» Sie schob das Foto mit einem energischen
Ruck zu ihm hinüber.
«Ich muss aber wissen, wie er heißt, Frau Bender»,
erklärte er.
«Tiger», sagte sie knapp und betrachtete ausgiebig die
vierzehnte Aufnahme. Bei der fünfzehnten überzog ein
Lächeln ihr Gesicht.
«Mein Gott, hat der eine große Nase.»
«Kennen Sie ihn?»
«Nein. Aber schauen Sie sich mal seine Nase an.»
Es lief besser als erwartet. Er war stolz auf sich und
rechnete nicht mehr mit einem dramatischen Zwischenfall.
Aber beim achtzehnten Foto wurde es kritisch.

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Eberhard Brauning bemerkte es nicht sofort. Dem Pfleger
fiel auf, dass etwas nicht stimmte. Er legte ihr erneut die
Hand auf die Schulter. Und da sah Eberhard, wie sie das
Foto anstarrte.
«Kennen Sie den Mann?», fragte er.
Sie reagierte nicht. Und er konnte ihren
Gesichtsausdruck nicht einordnen. Wehmut? Sehnsucht?
Trauer? Oder Hass?
Unvermittelt schlug sie mit der Faust auf den Tisch. Die
beiden Tassen hüpften von den Untertellern. Aus ihrer
Tasse schwappte Kaffee über den Tisch. In das Klirren
hinein schrie sie mit sich überschlagender Stimme: «Was
hast du mit mir gemacht? Ich habe es doch nur für dich
getan! Ich wollte nicht, dass sie stirbt. Nur schlafen sollte
sie. Du hast gesagt, ich soll sie schlafen lassen und zu dir
kommen! Bin ich gekommen? Du musst es doch wissen!»
Eberhard Brauning konnte sich nicht aufraffen, seine
Frage zu wiederholen, zog ein Tuch aus der Hosentasche
und wischte notdürftig die Kaffeepfütze auf, damit die
Fotos nicht verschmierten.
Der Pfleger griff ein, beugte sich zu ihr nieder und
meinte besänftigend: «Hey, kleine Frau, nicht aufregen.
Das ist nur ein Foto. Der kann Ihnen nichts tun. Ich passe
doch auf. Sagen Sie mir, wer er ist, dann gebe ich unten
Bescheid. Dann lassen die ihn nicht rein, falls er mal
auftaucht.»
Sie schluchzte auf. «Er kommt überall rein. Er ist Satan.
Haben Sie schon mal ein Bild von Luzifer gesehen,
Mario? Sie zeigen ihn immer mit einem langen Schwanz,
einem Klumpfuß und Hörnern. Wie einen Bock mit einer
Mistgabel zeigen sie ihn. Aber so kann er gar nicht
aussehen, er war doch einer von den Engeln. Und so sieht

433
er auch aus, wenn er einem gegenübertritt. Er macht alle
Mädchen verrückt, alle wollen ihn haben. Keine hört mehr
zu, wenn sie gewarnt wird. Ich habe auch nicht zugehört.
Sein Freund nannte ihn Böcki. Ich hätte wissen müssen,
was das bedeutet. Man hat immer die Wahl und die freie
Entscheidung zwischen Gut und Böse. Ich habe mich für
das Böse entschieden.»
Eberhard Brauning wagte nicht, ihr die Fotografie
wegzunehmen. Der Pfleger tat es für ihn. «Böcki», sagte
er. «Na, dann legen wir ihn mal zum Tiger. Ich glaube, da
gehört er hin.»
Sie nickte.
Der Pfleger führte die Befragung weiter: «Und was ist
nun mit dem hier? Gehört der auch dazu?»
Sie schaute sich das erste aussortierte Foto noch einmal
an und zuckte mit den Schultern. «Es kommt mir so vor,
als hätte ich ihn beim Chef gesehen. Deshalb dachte ich,
es wäre sein Schwiegersohn. Aber das kann eigentlich
nicht sein. Oder ist sein Schwiegersohn auch Polizist?»
«Fragen wir den Chef, wenn er das nächste Mal
kommt», sagte der Pfleger. Dann wandte er sich an
Eberhard Brauning:
«War’s das, oder brauchen Sie mich noch?»
Eberhard steckte die Fotos zurück in den Umschlag.
Markieren durfte er Böcki und Tiger nicht. Sie sollte Hans
Bueckler und Ottmar Denner vor dem
Untersuchungsrichter noch einmal identifizieren, sobald
man sie dem Richter vorführen konnte. Er schüttelte den
Kopf. «Nein. Ich glaube, Sie können uns jetzt allein
lassen.» Nach sehr viel Glauben klang es nicht.
Der Pfleger verließ den Raum. Eberhard trank den Rest
aus seiner Tasse. Der Kaffee war kalt geworden. Und sie
hatte ihre Tasse bisher nicht angerührt.
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Sie schaute sehnsüchtig zum Fenster hin. «Sind wir
fertig?»
«Noch nicht ganz.» Er wusste nicht, wie er es anstellen
sollte.
Rudolf Grovian hatte gesagt: «Wenn sie die Männer
identifizieren kann, sind wir einen großen Schritt weiter.
Dann brauchen wir als Nächstes den Namen der Klinik,
um zu beweisen, dass ihr nicht die eigene Lust zum
Bumerang wurde! Wir hatten keinen Erfolg in Hamburg.
Natürlich haben wir nicht jeden Arzt gefragt. Aber den
Arzt können wir auch vergessen. Dass ihre Tante anderer
Meinung ist …» Ein kleiner Lacher hinterher und ein
Verweis auf die Neurologie.
Sie war inzwischen gründlich untersucht worden. Man
hatte auch den Schädel geröntgt. Der Bericht des
Neurologen lag beim Staatsanwalt. Es war äußerst
unwahrscheinlich, dass diese Verletzungen in einer
Arztpraxis behandelt worden waren.
Die Röntgenaufnahme zeigte ein wahres Spinnennetz.
Und für jede Linie gab es einen speziellen Ausdruck.
Stirnbein, Scheitelbein, Schläfenbein, Berstungsbruch,
Biegungsbruch, Terrassenbruch. Epiduralblutung konnte
als wahrscheinlich angenommen werden und noch einiges
mehr.
Natürlich war es unmöglich, nach fünf Jahren eine
exakte Diagnose zu stellen. Doch allein die Tatsache, dass
sie diese Verletzungen ohne körperliche Beeinträchtigung
überlebt hatte, war ein Beweis für fachärztliche
Betreuung, und dazu gehörten die entsprechenden
Apparaturen. An einer Klinik führte kein Weg vorbei.
Eberhard Brauning gab sich geschäftig, hob den Koffer
auf seinen Schoß und begann darin zu kramen, ohne etwas
herauszunehmen. Helene hatte ihm einen langen Vortrag

435
gehalten über Cora Benders Motivation, die Polizei nach
Strich und Faden zu belügen in diesem Punkt und in
anderen.
Helene hatte gesagt: «Mach ihr klar, dass sie nichts zu
verlieren hat. Die süchtige Hure ist bekannt. Lock sie mit
Grovians Ansicht über die Sucht aus der Reserve. Wenn
du es schaffst, auch die Hure überzeugend in Frage zu
stellen, hast du gewonnen, Hardy. Dann bietest du ihr,
wonach sie verzweifelt sucht: ein normales und
anständiges Leben.»
Er versuchte es ohne viel Hoffnung. Wenigstens hörte
sie ihm zu. Und manchmal wirkte ihre Miene wie eine
Bestätigung für Helene. Als er wieder schwieg, hob sie die
Achseln und lächelte wie zu einer Entschuldigung.
«Ist nett, wie Sie das sagen. Ich wünsch mir, Sie hätten
Recht.» Sie atmete tief durch und schaute an ihm vorbei.
«Was passiert eigentlich mit einem Menschen, der
meint, es sei ein Verbrechen geschehen, und alles tut, um
es zu vertuschen?»
«Ihm passiert nichts, wenn es nicht bekannt wird. Aber
wir müssen jetzt über die Klinik reden, Frau Bender.»
«Nein», widersprach sie und begann, einen Fingernagel
der linken Hand mit dem Daumen der rechten zu polieren.
«Das machen wir später. Ich muss Sie noch etwas
fragen. Sie sind doch mein Anwalt. Sie dürfen nicht
darüber reden. Nehmen wir einmal an, es ist ein Mensch
begraben worden, den man irgendwo gefunden hat. Keiner
wusste, wie er hieß.
Man hat die paar Knochen, die übrig waren, in die Erde
gesteckt. Nun wollte dieser Mensch aber gerne ein Feuer.
Und jetzt nehmen wir an, ich wusste das. Kann ich
hingehen und sagen: ‹Ich möchte diesem armen Menschen
seinen letzten Wunsch erfüllen. Ich möchte ihn verbrennen
436
lassen.› Kann ich das tun?»
«Wenn Sie den Menschen kannten, können Sie das tun.»
«Da müsste ich aber seinen Namen nennen, oder?» Sie
polierte immer noch an dem Fingernagel und vermied es,
ihn anzuschauen.
Er wusste nicht, worauf sie hinauswollte, und fasste sich
in Geduld. «Ja, das müssten Sie.»
«Und wenn ich das nicht darf?»
«Dann kann man leider nichts machen.»
Endlich hob sie den Blick, ihre Miene drückte wilde
Entschlossenheit aus. «Ich muss aber! Sonst werde ich
verrückt. Lassen Sie sich etwas einfallen. Es wird doch
irgendeinen Trick geben. Wenn Ihnen etwas einfällt, fällt
mir vielleicht auch etwas ein.»
Er atmete tief durch. «Frau Bender, können wir das nicht
ein andermal besprechen? Das ist eine sehr komplizierte
Angelegenheit. Da muss ich erst nachschauen, ob es einen
Trick gibt. Ich werde nachschauen, das verspreche ich
Ihnen. Aber jetzt muss ich wissen, in welcher Klinik Sie
damals behandelt wurden. Wenn Sie es nicht wissen,
sagen Sie mir, in welcher Stadt es war. Geben Sie mir
irgendeinen Anhaltspunkt, damit ich beweisen kann, dass
Sie keine süchtige Hure waren. Süchtig waren Sie nicht.
Das hat Herr Grovian schon bewiesen. Und Herr Grovian
kann sich nicht vorstellen, dass Sie sich mit perversen
Freiern abgegeben haben.»
Er hoffte, mit der erneuten Erwähnung Grovians ihre
Bereitschaft noch einmal zu wecken. Vergebens, sie
reagierte nicht, schaute ihn nur an, abwartend und
ausdruckslos. Er vergaß Helene. Zum Teufel mit den
psychologisch fundierten Instruktionen. Er war Anwalt,
und als solcher hatte er andere Argumente.

437
«Wollen Sie wirklich bis an Ihr Lebensende hier sitzen
und zählen, damit Sie nicht denken müssen? Wäre es nicht
viel besser, einmal gründlich nachzudenken und sich den
Kopf damit frei zu machen? Eines dürfen Sie mir glauben,
Frau Bender. Ein paar Jahre Gefängnis, und mehr als ein
paar Jahre werden es nicht, das verspreche ich Ihnen,
gehen vorbei. Und im Gefängnis wird niemand verrückt.
Aber hier», er pochte auf die Tischplatte, «kann man
verrückt werden, wenn man es noch nicht ist. Wollen Sie
das?»
Sie antwortete nicht, schaute ihn nur an und kaute auf
ihrer Unterlippe.
«Ich glaube nicht, dass Sie es wollen», erklärte er
bestimmt. Er hatte sich in Form geredet, seine Stimme
gewann mehr und mehr Überzeugungskraft. «Sie haben
einen Mann getötet, Frau Bender, nur einen Mann, nicht
den Erlöser. Diesen Ausdruck will ich von Ihnen nicht
mehr hören. Wir werden herausfinden, warum Sie es getan
haben. Wir werden beweisen, dass es einen Grund gab,
den jeder normale Mensch versteht. Und in ein paar
Jahren, Frau Bender, sind Sie wirklich frei. Denken Sie
einmal darüber nach. Sie sind gerade vierundzwanzig. Sie
können noch einmal …»
An ihrem Blick änderte sich kaum etwas. Nur ein
leichter Ausdruck von Verwunderung zog über ihre
Miene, mehr war es nicht. «Er wusste, wie alt ich war»,
sagte sie und unterbrach ihn damit.
«Aha», meinte er, ahnungslos, von wem die Rede war,
und unsicher, ob er sie jetzt zurück auf den Punkt bringen
durfte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht zeugte von
Konzentration.
«Woher wusste er das, wenn ich keine Papiere bei mir
hatte? Nackt auf der Straße, hat er gesagt, schwer verletzt,

438
voll gepumpt mit Heroin und ohne Papiere. Und dann
sagte er: Sie sind nicht einmal zwanzig. Hat er das
geschätzt? An meinem Gesicht konnte er es nicht ablesen.
Ich sah furchtbar aus. Schauen Sie mal in meinen
Führerschein. Ich musste mir ja damals neue Papiere
machen lassen. Ich hatte noch alte Fotos. Aber die wollten
sie auf dem Amt nicht nehmen. Sie wollten mir nicht
einmal glauben, dass es meine Fotos sind. Weil ich so alt
aussah. Er konnte es nicht wissen.»
Ein paar Sekunden lang war sie still, strich mit den
Fingern über die Stirn und seufzte. «Seinen Namen weiß
ich wirklich nicht», sagte sie dann endlich. «Er hat ihn mir
nicht gesagt. Ich habe ihn einmal gefragt, wo ich bin. Das
hat er mir auch nicht gesagt. Und ich weiß nicht, wie ich
in den Zug gekommen bin. Ein Schaffner hat gesagt, ich
müsste jetzt aussteigen. Ich hatte einen Zettel, da stand
drauf, wo ich hinmuss. Geld hatte ich auch. Irgendeiner
muss dem Taxifahrer den Zettel und das Geld gegeben
haben. Grit sagte, ich sei mit einem Taxi gekommen.»
Sie seufzte noch einmal und hob bedauernd die Achseln.
«Wenn Sie mir versprechen, dass Sie mir helfen, meine
Schwester zu verbrennen, ohne dass Margret und Achim
für den Schein und die fremde Frau bestraft werden, werde
ich Ihnen den Arzt beschreiben. Mehr kann ich nicht tun.
Versprechen Sie es mir?»
Er versprach es, und eine halbe Stunde später sagte er ins
Telefon: «Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Herr
Grovian. Sie bleibt dabei. Nur ein Arzt und eine
Krankenschwester, die jedoch nur selten kam. Ihr Zimmer
sei ein kleines Kämmerchen gewesen, sagte sie. Ohne
Fenster, gerade Platz genug für ein Bett und ein paar
medizinische Geräte. Für mich klang es nach einer
Abstellkammer.»

439
Dann gab er die Beschreibung des Mannes durch.
Danach war es sekundenlang still in der Leitung. «Herr
Grovian?» erkundigte er sich, zweifelnd, ob noch jemand
am Apparat war.
«Ja, ich bin noch da», kam es zurück. «Ich bin nur …»
Wieder folgten ein paar Sekunden Stille. «Mein Gott»,
sagte Rudolf Grovian dann fassungslos, «das ist doch
völlig ausgeschlossen. Das sind doch … wie viele
Kilometer sind das denn? Siebenhundert mindestens. Das
ist doch unmöglich.»

Sie saß neben ihm im Wagen, seit gut einer halben Stunde
schon. Zu Beginn der Fahrt hatte Rudolf Grovian versucht,
sie auf die Gegenüberstellung vorzubereiten. Er hatte ihr
erklärt, wohin die Fahrt ging und welchem Zweck sie
dienen sollte. In Absprache mit dem Staatsanwalt, dem
Untersuchungsrichter, Professor Burthe und Eberhard
Brauning hatte er ihr jedes Wort in den Mund gelegt –
mindestens dreimal.
Unter normalen Voraussetzungen hätte es nicht mehr
den geringsten Wert gehabt. Doch die Voraussetzungen
waren alles andere als normal. Sogar Professor Burthe war
der Ansicht – und hatte den Untersuchungsrichter ebenso
davon überzeugt wie den Staatsanwalt, dass man sie nur
mit der Peitsche dazu bringen könnte, ihren Finger zu
heben. «Das war der Mann, der meine Kopfverletzung
behandelt hat.»
Rudolf Grovian brauchte keine Peitsche, er war der
Chef. Zugehört hatte sie ihm, auch einmal genickt, als er
fragte, ob sie alles verstanden habe und ob sie ihm diesen
Gefallen täte, wo er soviel Arbeit und Zeit investiert habe,
den Arzt ausfindig zu machen.
Facharzt für Neurologie und Unfallchirurgie. Chef in der

440
eigenen Klinik. Professor Johannes Frankenberg!
Er hätte ihr den Namen verschweigen sollen. Es fiel ihm
nicht schwer, sich in ihre Gedankengänge einzufinden.
Wenn Frankie der Erlöser gewesen war, musste Johannes
Frankenberg zwangsläufig der liebe Gott sein. Und wie
ein solcher mochte er damals, als sie noch nicht wieder
richtig bei Bewusstsein war, häufig neben ihrem Bett
gestanden haben.
Der Allmächtige, der an ihr – im wahrsten Sinne des
Wortes – ein Wunder vollbracht und ihren zertrümmerten
Schädel wieder zu einem funktionierenden Kopf
zusammengeflickt hatte. Wie oft mochte er sich über sie
gebeugt, mit einem Lämpchen die reglosen Augenlider
angeleuchtet und zu ihr gesprochen haben. «Mein Sohn
hatte keine Schuld an diesem Desaster.» Vielleicht hatte er
sich verpflichtet gefühlt, ihr das mit auf den Weg in die
Ewigkeit zu geben. Dass er sie tatsächlich durchbrachte,
damit konnte er nicht gerechnet haben.
Helene Brauning hatte gesagt: «Man weiß bei
bewusstlosen und komatösen Patienten nie genau, was sie
noch registrieren.»
Und Cora Bender hatte gefragt: «Ich tu Ihnen wirklich
gerne einen Gefallen. Aber ich weiß nicht, ob ich das
kann. Was soll ich ihm denn sagen? Mein Gott, verstehen
Sie nicht? Er war so gut zu mir. Und ich habe seinen
einzigen Sohn getötet. Frankie hatte mir doch nichts
getan.»
Das war vor zwei Tagen gewesen. Professor Burthe hatte
nicht sehr erbaut auf seinen Besuch in der Klinik reagiert.
Zuerst hatten sie ein langes Gespräch unter vier Augen
geführt, der Sachverständige und der Polizist ohne Abitur.
Die Fakten auf den Tisch, obwohl es genau genommen
wieder nur ein paar Worte waren. Aber es war eine exakte

441
Personenbeschreibung. Das konnte er bezeugen. Und
sogar Professor Burthe musste einräumen, dass sie nicht
allein Cora Benders Phantasie entsprungen sein konnte. Er
hatte ihm erlaubt, kurz mit ihr zu sprechen.
Er sah es noch vor sich, wie sie zusammenzuckte, als er
hereinkam. Wie sie auf seinen Hals starrte und zu zittern
begann. Beruhigt hatte sie sich erst, als er ihr zum zweiten
Mal erklärte, warum er gekommen war. «Ich möchte in
den nächsten Tagen einen Ausflug mit Ihnen machen,
Frau Bender. Nur wir beide. Wir fahren nach Frankfurt.»
Vor zwei Tagen hatte sie verstanden. Und als er sie
abgeholt hatte vor gut einer halben Stunde … Sie starrte
geradeaus auf die Fahrbahn. Er versuchte es noch einmal.
«Also, Frau Bender, wie ich schon sagte. Sie müssen nicht
mit Herrn Frankenberg reden. Sie schauen ihn nur kurz an.
Dann gehen wir hinaus. Und dann sagen Sie mir, ob …»
Endlich reagierte sie, warf ihm einen gequälten Blick zu.
«Können wir nicht über was anderes reden? Ich tue es ja.
Ich schaue ihn mir an, wenn wir da sind. Aber bis wir da
sind. Es muss doch nicht sein.»
Sie sprach schleppend. Er war ziemlich sicher, dass man
ihr in der Klinik Medikamente gegeben hatte, bevor man
sie ihm überließ. Er hoffte nur, dass sie nicht einschlief.
Und Reden war eine gute Methode, wach zu bleiben. Das
Thema musste nicht unbedingt Frankenberg sein.
«Worüber möchten Sie denn sprechen?»
«Ich weiß nicht. Ich habe ein Gefühl wie Wasser im
Kopf, ein ganzer Eimer voll.»
«Dagegen weiß ich ein gutes Mittel.»
Sie hatten Zeit. Vor dreizehn Uhr brauchten sie nicht am
Ziel zu sein. Um dreizehn Uhr konnte Johannes
Frankenberg ein paar Minuten erübrigen. Rudolf Grovian
hatte den Besuch angekündigt, allerdings nicht erwähnt,
442
dass er in Begleitung kam. Es war nicht einmal zehn. Eine
Kaffeepause tat ihr bestimmt gut.
Wenig später steuerte er eine Raststätte an. Dann saß er
mit ihr an einem Fenstertisch. Sie kippte Zucker aus einem
Spender in ihre Tasse, bis er ihr die Hand festhielt. «Jetzt
dürfen Sie aber nicht mehr umrühren. Sonst können Sie
den Kaffee nicht trinken. Sie trinken ihn doch ohne
Zucker, oder irre ich mich?»
Sie schüttelte den Kopf und schaute zum Fenster hinaus.
Im Profil wirkte ihr Gesicht noch blasser. «Ich möchte Sie
gerne etwas fragen.»
«Nur zu», forderte er.
Sie atmete tief durch, trank einen Schluck Kaffee. «Das
Mädchen», begann sie zögernd. «Sie haben mir doch von
dem toten Mädchen erzählt, das man bei einem
Truppenübungsplatz gefunden hat. Wissen Sie, was man
mit dem Mädchen gemacht hat?»
«Begraben», sagte er.
«Das dachte ich mir. Wissen Sie wo?»
«Nein. Aber das kann ich herausfinden, wenn es Sie
interessiert.»
«Es interessiert mich sehr. Wenn Sie es rausfinden und
mir sagen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.»
Er nickte nur, vermutete in diesem Moment alle
möglichen Beweggründe. Nur der Grund, der sie wirklich
antrieb, blieb ihm verborgen. Eberhard Brauning hatte
zwar nicht begriffen, von welchem Schein und welcher
fremden Frau die Rede gewesen war, aber sein
Versprechen hatte er selbstverständlich gehalten. Und
Rudolf Grovian ging immer noch davon aus, Magdalena
Rösch sei am 16. August verstorben – an Herz-Nieren-
Versagen.

443
Sie griff erneut nach ihrer Tasse und wollte sie zum
Mund führen. Aber das Händezittern war so stark, dass der
Kaffee überschwappte und auf den Tisch tropfte. Sie
stellte die Tasse mit einem Klirren zurück auf den Teller.
«Ich kann das nicht. Es kann ja auch gar nicht sein.
Denken Sie doch mal nach. So weit sind wir nicht
gefahren damals. Das war Hamburg, nicht Frankfurt. Ich
hab doch die Schilder gesehen auf der Autobahn. Wir
müssen umkehren. Er war so ein netter Mensch. Vielleicht
hat er mich wirklich auf der Straße gefunden. Es könnte
doch sein, dass ich weit gelaufen bin. Es war viel Zeit.»
«Ich glaube nicht, dass Sie noch laufen konnten, Frau
Bender», sagte er.
«Ach Sie.» Sie winkte gequält ab. «Sie glauben nur, was
gelogen ist. Kein Mensch hat Ihnen die Wahrheit gesagt,
glauben Sie mir.» Sie drehte wieder das Gesicht zum
Fenster und schaute sekundenlang schweigend hinaus.
Dann wollte sie, immer noch mit abgewandtem Gesicht,
wissen: «Was passiert mit mir, wenn ich Ihnen noch einen
Mord gestehe? Dann sind es zwei. Was kriege ich dafür?»
«Nur fürs Geständnis kriegen Sie gar nichts», erklärte er.
«Da müssen Sie mir schon eine zweite Leiche bieten.»
Sie schaute in ihren Kaffee und hob noch einmal die
Tasse zum Mund. Das Händezittern war immer noch stark,
aber sie schaffte einen Schluck, ohne Kaffee zu
verschütten. Nachdem sie die Tasse wieder abgestellt
hatte, sagte sie: «Sie haben doch schon eine, das Mädchen
aus der Heide.»
Ein kurzes Lächeln zog über ihr Gesicht, als sie
verkündete: «Ich habe das Mädchen umgebracht. Ich war
das.» Als er nicht reagierte, erklärte sie: «Das ist ein
Geständnis. Und ich will, dass Sie es so behandeln.»
Er nickte. «Dann brauche ich nähere Einzelheiten.»

444
«Das weiß ich. Ich habe Sie angelogen mit Magdalenas
Geburtstag. Ich bin doch nochmal zum ‹Aladin› gefahren,
als sie schlief. Aber Johnny war nicht mehr da, nur noch
das Mädchen, das mit Tiger getanzt hatte. Sie erzählte mir,
dass die beiden woanders hingefahren sind. Johnny hätte
gesagt, es lohne nicht, auf eine verklemmte Ziege zu
warten. Das hat mich so wütend gemacht, da bin ich
ausgeflippt. Aber ich bin ganz freundlich geblieben. Ich
habe sie gefragt, ob sie Lust hat, mit mir woanders
hinzufahren. Und dann bin ich mit ihr in die Heide. Ich
habe sie geschlagen und getreten. Ich bin mit beiden
Füßen auf ihre Brust gesprungen. Dabei sind ihre Rippen
gebrochen. Als sie tot war, habe ich sie ausgezogen, damit
es so aussieht, als hätten Männer das gemacht. Ihre Sachen
habe ich unterwegs weggeworfen. Wir fahren am besten
zurück. Dann können Sie das zu Protokoll nehmen.»
«Wir fahren nicht zurück, Frau Bender», erklärte er
bestimmt. «Das Protokoll kann ich auch später noch
aufnehmen. Nach fünf Jahren kommt es auf ein oder zwei
Stunden nicht an.»
Ihre Lippen zuckten wie in der Nacht des Verhörs, als er
noch dachte, sie ziehe eine Show vor ihm ab. «Ich will
aber da nicht hin. Ich kann das wirklich nicht. Er wird
mich doch fragen, warum ich es getan habe. Und mein
Anwalt hat gesagt, ich darf nichts mehr vom Erlöser
erzählen. Und dann wird er sagen, dich hätte ich verrecken
lassen sollen. Das hätte er besser getan. Aber er hat mir
das Leben gerettet.»
Er griff über den Tisch nach ihren Händen, hielt sie fest
und zerrte daran, bis sie ihn endlich anschaute. «Hören Sie
mir jetzt gut zu, Frau Bender. Herr Frankenberg hat Ihnen
das Leben gerettet, das ist ja lobenswert. Aber bevor er es
retten konnte, muss es jemand in Gefahr gebracht haben.
Und er wollte nicht, dass dieser Jemand dafür ins

445
Gefängnis musste. Das hätte er nicht für einen Fremden
getan. Daran denken Sie jetzt. Nur noch daran. Haben Sie
mich verstanden?» Als sie nickte, ließ er ihre Hände los.
«Aber für das tote Mädchen muss ich ins Gefängnis?»
«Ja, natürlich», sagte er.
«Und nicht nur ein paar Jahre?»
«Nein, das war ein heimtückischer Mord. Dafür
bekommen Sie lebenslänglich.»
Er zahlte den Kaffee, griff nach ihrem Arm und führte
sie zum Wagen zurück. Sie schien sich leichter zu fühlen.
Auf der Weiterfahrt erzählte sie ihm vom Leben mit
Gereon. Drei Jahre in einer Seifenblase. Seifenblasen
platzen leicht. Aber der Kleine hatte es gut bei seinen
Großeltern, da war sie sicher.
Sie waren fast eine Stunde zu früh am Ziel. Er hielt den
Wagen auf dem Parkplatz vor der Klinik. Es war ein
schmucker zweistöckiger Bau mit strahlend weißem
Verputz. Er hoffte auf ein Zeichen des Erkennens. Es kam
nichts. Der Staatsanwalt war der Ansicht: «Wenn es sich
tatsächlich so abgespielt hat, wurde sie vermutlich betäubt,
ehe man sie zum Bahnhof brachte. Das lässt sich nur
leider alles nicht beweisen, selbst wenn sie Professor
Frankenberg wiedererkennt. Da brauchten wir schon ein
Geständnis von seiner Seite, und damit rechnen Sie lieber
nicht.»
Sie spähte minutenlang durchs Wagenfenster, hielt dabei
unbehaglich die Schultern zusammengezogen. Dann
verlangte sie, er solle ihr Geständnis über den
heimtückischen Mord an dem Mädchen aufnehmen. Nur
zur Sicherheit. Man könne ja nicht wissen, was noch
käme. Vielleicht ginge es ihr gleich nicht so gut. Und da
wolle sie es lieber hinter sich haben.
Er tat ihr den Gefallen, kritzelte ein paar Sätze in sein
446
Notizbuch und ließ sie unterschreiben. Sie lehnte sich in
ihrem Sitz zurück.
«Haben wir noch viel Zeit?»
«Noch fast eine Stunde.»
«Können wir uns ein bisschen die Beine vertreten?»
Der Parkplatz war grün umrandet, das zweistöckige
Gebäude von altem Baumbestand umgeben. «Das sieht so
friedlich aus», sagte sie.
Er ließ sie aussteigen und verschloss den Wagen. Dann
schlenderte er neben ihr an den Büschen entlang auf die
Klinik zu. Das Privathaus lag dahinter. Es war noch nicht
zu sehen. Doch er wusste von seinem ersten Besuch, dass
es im selben Stil wie die Klinik errichtet war.
Nach Beinevertreten war ihm nicht. Er führte sie
langsam auf die Gebäude zu, nur noch darum bemüht, es
hinter sich zu bringen. Sie erzählte wieder irgendetwas.
Wie ein Kind, das singend und pfeifend in den dunklen
Keller geht, kam sie ihm vor. Und er wusste so gut, wie
sie sich fühlte: schuldig von den Haarwurzeln bis zu den
Fußsohlen.
Die eigenen Gefühle versuchte er auszuklammern. Er
konnte ihr nicht helfen. Er nicht, Brauning nicht, der
Staatsanwalt nicht und auch keine Richter. Sie mochten
tausend plausible Gründe finden für Georg Frankenbergs
Tod. Aber niemand nahm ihr Magdalena von den
Schultern. Burthe könnte es versuchen, ihr erklären, es sei
ein Unfall gewesen oder der Gnadentod für eine leidende
Kreatur.
Er hatte begriffen, dass er sich in diesem Punkt geirrt
hatte und was sie ihm hatte erklären wollen. Magdalenas
Sterben! Ihm war sogar klar geworden, wessen Skelett
man im August vor fünf Jahren in der Heide gefunden
hatte. Aber mit beiden Füßen auf ihre Brust gesprungen,
447
so ein Quatsch. Ein bisschen zu fest mit der Hand
aufgestützt bei der Liebe und beim Gedanken an Johnny.
Mehr konnte es nicht gewesen sein.
Und ihr Vater, der sie über alles liebte, hielt den Mund.
Ihre verrückte Mutter begriff es nicht. Die Nachbarin
wurde nicht mehr ins Haus gelassen. Die Leiche lag
vielleicht ein paar Monate im Zimmer da oben, bis
Margret endlich etwas unternahm; das Gerippe in die
Heide schaffte und den Totenschein besorgte. So einfach
war das.
Der Eingang zum Privathaus lag drei Stufen hoch. Er
war ihr um einen Schritt voraus, drückte den
Klingelknopf. Sekunden später wurde die Tür geöffnet.
Eine junge Frau, nett und adrett im weißen Kittel, schaute
ihn fragend an und warf über seine Schulter einen
skeptischen Blick auf seine Begleitung.
«Sie wünschen?»
Er zeigte ihr seinen Dienstausweis. «Wir sind für
dreizehn Uhr bei Professor Frankenberg angemeldet.
Leider sind wir etwas zu früh.»
Das machte nichts. Sie durften im Salon warten. Er trat
zuerst ein und durchquerte die Eingangshalle. Sie folgte
ihm ängstlich und geduckt, als stünde mitten im Salon ihr
Richtblock. Doch da stand nur eine Couch an der Seite.
Daneben stand eine riesige Palme, deren Wedel wie ein
Regenschirm ausgebreitet waren. Und über der Couch
hing ein Stück moderner Kunst in schlichtem Rahmen.
Rudolf Grovian war bei seinem ersten Besuch in einen
anderen Raum geführt worden und sah die Farbkleckse
zum ersten Mal.
Sie steuerte direkt darauf zu und blieb vor der Couch
stehen. Ihr Gesicht spiegelte eine Mischung aus Erstaunen
und Verwirrung. Ihr Blick senkte sich und betrachtete den

448
Fußboden, hob sich wieder und streifte die Wand neben
der Couch.
«Das stimmt nicht», protestierte sie verhalten. «Die
haben die Treppe zugemauert.» Sie zeigte mit einer
hilflosen Geste quer durch den Raum. «Die haben alles
umgebaut.» Mit einem Finger deutete sie auf die
gegenüberliegende Wand.
«Da haben wir gestanden. Johnny und ich. Mir war
schlecht, weil ich Magdalena …» Sie brach mitten im Satz
ab, schüttelte sich und würgte unvermittelt. Dann sprach
sie stockend weiter.

449
15. Kapitel

Ich habe sie nie mehr gehasst als in dem Augenblick, als
sie sich auf dem Bett ausstreckte. Und ich wusste, diesmal
reichten meine Finger und die Kerze nicht. Danach wollte
sie meist noch eine Weile reden und schmusen. Wenn ich
sie richtig müde machen wollte, musste ich es ihr mit der
Zunge … Mir wurde übel, als ich nur daran dachte.
Das war der Moment, in dem ich begriff, dass alles
umgekehrt war. Nicht ich lebte für sie. Sie lebte mein
Leben. Früher hatte Vater sie Spatz genannt. Und sie
pickte sich wie ein Spatz die Haferkörner aus meinem
Scheißleben. Und nur das, was übrig blieb, ließ sie für
mich. Ekel!
Vielleicht war es nur der Sekt, der mir alles
durcheinander warf. Vielleicht war es Johnny, den ich
zurückgelassen hatte. Ich hatte das Gefühl, innerlich zu
verbrennen, während ich sie küssen und streicheln musste.
Genau das hätte Johnny mit mir gemacht, wenn ich bei
ihm geblieben wäre.
Und da begann ich zu erzählen. Die ganze Wahrheit.
Keine Männer bisher, nur einen Spargeltarzan. Keinen
heißen Sex mit scharfen Typen. Nur ein paar lauwarme
Küsse, die nach Bier schmeckten. Und jetzt dieser eine,
dieser andere, der mir bis in die Knie gefahren war.
Sie lag still und hörte mir zu. Als ich zu weinen begann,
nahm sie mich in die Arme. Ich fühlte ihre Hände im
Rücken. Sie zog mir das T-Shirt aus dem Rockbund,
schob ihre Hände darunter und strich mir über den
Rücken. Ich hörte sie flüstern: «Es ist ja gut. Es ist alles
gut, Schätzchen. Es tut mir Leid. Ich bin eine furchtbare
Last für dich. Ich weiß das. Aber nicht mehr lange. Nicht
450
mehr lange, Schätzchen, das verspreche ich dir.» Sie
schob ihre Hände unter meinen Armen nach vorne und
legte sie mir auf die Brust. Ich wollte nicht, dass sie mich
so anfasste. Ich wollte Johnnys Hände dort fühlen,
Johnnys Flüstern, Johnnys Küsse, Johnnys Körper.
Ob ich ihr das sagte, weiß ich nicht mehr. Ich muss
wohl, weil sie plötzlich von mir abrückte und sagte: «Du
kriegst ihn, Schatz. Hol ihn dir. Und ich will gar nicht
wissen, wie es war.» Und während sie sich aufrichtete,
sagte sie: «Weißt du, was wir jetzt tun? Wir fahren zu
Johnny.»
Sie sagte immer wir, wenn sie mich meinte. Ich musste
an die Lernschwester denken, von der sie mir einmal
erzählt hatte. Wie sehr sie sich in der schlimmen Zeit nach
Mutters Umarmung gesehnt hatte. Und dass sie nie einen
Menschen hatte. Nur mich.
Es tat mir Leid, dass ich ihr so gemeine Sachen gesagt
hatte. Sie konnte doch nichts dafür. Aber ich konnte auch
nichts dafür, dass ich mich verliebt hatte. Ich war
neunzehn! Es war normal, dass man sich mit neunzehn in
einen Mann verliebte. Ich konnte doch nicht für den Rest
meines Lebens dazu verdammt sein, Männer zu erfinden
und meiner Schwester zu zeigen, wie es war, von ihnen
geliebt zu werden. Ich wollte jetzt, in diesem Moment
wissen, wie es war.
Ich wollte danach heimkommen und zu meinem Vater
sagen können: «Ich weiß jetzt, was du all die Jahre
vermisst hast. Verzeih mir, Papa! Verzeih mir all die
widerlichen Dinge, die ich zu dir gesagt und über dich
gedacht habe. Verzeih mir den Ekel. Ich glaube, ich habe
mich nur vor mir selbst geekelt. Aber das ist jetzt vorbei.
Ich bin jetzt eine Frau, eine richtige Frau. Ich habe mit
einem Mann geschlafen. Und es war wunderschön.»

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Ich wollte doch nur leben. Ganz normal leben. Mit
einem Mann, den ich liebte und der mich liebte. Mit einem
Vater, der zufrieden war und glücklich auf seine alten
Tage.
Er sollte nie mehr vom schwarzen Buchholz erzählen
müssen, um die kleinen Kinder zu vergessen, die er in
Polen erschossen hatte. Wenn er damals alleine in Polen
gewesen wäre, hätte er das bestimmt nicht getan. Und ich
wollte, dass er begriff: Er hatte daran soviel Schuld wie
ich an den Löchern in Magdalenas Herz. Ich wollte, dass
er es vergaß.
Er sollte nur noch an die Kinder denken, die ich ihm
vielleicht eines Tages auf den Schoß setzte, damit er ihnen
die alten Geschichten von der Eisenbahn erzählte. Ich
wollte, dass er stolz auf mich war. Ich wollte, dass er in
seinen Kindern nicht mehr seine Strafe sah, dass er sich
nicht mehr wünschen musste, er hätte einmal verzichtet
und die Zeit abgewartet, und Magdalena wäre nie geboren.
Sie lächelte mich an. Mir war ein bisschen schwindlig
vom Sekt, den Gedanken und den Gefühlen. Mir war so
schwer im Innern, so elend. Wir hatte sie gesagt. Und das
hieß: Ich sollte noch einmal zum «Aladin» fahren. Ich
sollte sie allein lassen mit ihrem Elend, ihren Gedanken
und ihren Gefühlen.
«Das geht nicht», sagte ich. «Du hast doch Geburtstag.»
«Und genau deshalb wird es gehen», widersprach sie
sanft.
«Es muss gehen. Du hilfst mir jetzt beim Aufstehen, und
…»
Da begriff ich erst, was sie wirklich meinte. «Du bist
verrückt», sagte ich. Sie war in der Woche kaum aus dem
Bett gekommen. Nicht einmal zum Essen war sie unten
gewesen. Und im Bad auch nur selten, dreimal auf dem

452
Klo. Gewaschen hatte ich sie im Bett, ihr fürs
Zähneputzen eine Schüssel hingehalten. Sie konnte nicht
aufstehen, auch nicht, wenn ich ihr dabei half. Es war
unmöglich.
Das sah sie anders. Und sie konnte sehr energisch
werden, wenn sie etwas erreichen wollte. «Mach kein
Theater, Cora. Wenn ich dir sage, es geht, dann geht es.
Ich habe die ganze Woche geruht, es geht mir blendend.
Weißt du, dass ich schon wieder ein bisschen
zugenommen habe? Schau dir meine Beine an. Wenn ich
nicht aufpasse, werde ich noch fett. Es geht mir wirklich
gut. Ich sage das nicht nur so. Ich mache doch nicht solch
einen Vorschlag, wenn ich weiß, dass es unmöglich ist.»
Sie kniff misstrauisch die Augen zusammen. «Oder
gönnst du es mir nicht? Das da draußen ist dein Revier,
nicht wahr? Ich habe gefälligst im Bett zu bleiben.»
«Das ist nicht wahr.»
«Es sieht aber so aus. Oder hast du Schiss? Den brauchst
du nicht haben. Ich weiß, was ich mir zutrauen kann.» Sie
lachte leise. «Wir haben Zeit. Wir müssen nicht hetzen.
Wenn dein Johnny es ernst gemeint hat, wird er warten.
Dann ist er auch um zwölf noch da. Du hilfst mir jetzt
beim Anziehen, schmierst mir ein bisschen Farbe ins
Gesicht und lackierst mir die Nägel. Das können wir zum
Schluss machen. Sie können während der Fahrt trocknen.»
«Das geht nicht», sagte ich noch einmal.
Und Magdalena widersprach erneut. «Und ob es geht.
Wenn wir nach Amerika wollen, muss es auch gehen. Das
ist die gleiche Situation. Du musst mir nur die Treppe
hinunterhelfen. Im Auto kann ich schon wieder sitzen. In
der Disco kann ich auch sitzen. Die paar Schritte über den
Parkplatz schaffe ich leicht. Ich setze mich in eine Ecke
und schaue zu, wie du mit Johnny tanzt.»

453
Sie merkte, dass ich nicht wollte, und sagte: «Nein! Ich
will dir nicht zuschauen. Es ist dein Abend. Ich setze mich
einfach zu seinem Freund. Du hast doch gesagt, er hatte
einen Freund dabei. Wie ist er denn? Sein Freund, meine
ich.»
«Ganz nett», log ich. «Ein lustiger Typ. Er nennt sich
Tiger.» Dass er sich ausgerechnet an dem Abend zum
ersten Mal ein Mädchen geangelt hatte, hatte ich bis dahin
nicht erwähnt. Auch jetzt verschwieg ich das lieber.
«Klingt gut.» Magdalena grinste spöttisch. «Hat er auch
Streifen und einen langen Schwanz?»
Wir lachten beide. «Weiß ich nicht», sagte ich. «Ich
habe ihn noch nicht ohne Hemd und Hose gesehen.»
Sie lachte immer noch. «Ich kann ja mal nachschauen,
wenn du mit Johnny verschwindest.» Sie schaute mich mit
schief gelegtem Kopf von unten an. «Du wirst sehen, es ist
phantastisch. Es wird dir gefallen, das weiß ich.»
Ich wollte immer noch nicht. Aber was sie über Amerika
gesagt hatte, da hatte sie Recht. Und da dachte ich eben, es
könnte ein Test sein, bei dem wir in der Nähe blieben.

Sie wollte meine dunkelblaue Satinbluse und den weißen


Rock mit dem Zipfelsaum anziehen. Der Rock war fast
durchsichtig, ihre Beine schimmerten durch die Spitze. Sie
hatte wirklich zugenommen, ihre Beine waren schlank,
aber nicht mehr dünn.
Während ich ihr beim Anziehen half, meinte sie: «Ich
kriege die Zeit schon rum, bis du zurückkommst. Genieß
es, Schatz. Das werde ich auch tun. Ich in der Disco, weißt
du, wie lange ich mir das schon wünsche? Ich hätte nie
gedacht, dass ich es in diesem Jahr noch schaffe. Himmel,
das wird ein Geburtstag!»

454
Für ihre Nägel wollte sie einen dunkelroten Lack, damit
man nicht sah, wie blau sie waren. Im Auto fragte sie mich
dann, wie viel Geld wir nun wirklich hätten.
«Nur dreißigtausend», sagte ich. «Nicht neunzig. Es tut
mir Leid.»
Sie zuckte mit den Schultern. «Dreißig ist aber auch ein
hübsches Sümmchen. Wie hast du die denn
zusammenbekommen?»
Diesmal zuckte ich mit den Schultern. «Gespart. Immer
nur das Billigste eingekauft.»
Sie warf mir einen komischen Blick von der Seite zu,
aber sie sagte nichts. Ich fuhr langsam und vorsichtig.
Wegen dem Sekt hatte ich Angst vor einem Unfall. Und
ich hatte auch Angst um sie. Riesengroße Angst hatte ich.
«Jetzt vergiss das doch», meinte sie. «Ich fahre nicht
zum ersten Mal in der Gegend herum. Und ich glaube, zur
Klinik zu fahren ist anstrengender. Das ist ja auch viel
weiter. Aber bis jetzt habe ich es noch immer überlebt.»
Sie lachte wieder.
Und dann vergaß ich es wirklich. Schon als wir auf dem
Parkplatz ausstiegen. Er war nicht so voll wie sonst. Ich
sah den silberfarbenen Golf da stehen und bekam
Herzklopfen. Die wenigen Meter bis zum Eingang
machten keine Probleme. Ich legte Magdalena den Arm
um die Taille, wir gingen ganz langsam. Beim Eingang
blieb sie stehen. «Warte mal», sagte sie. «Lass mich das
ein paar Sekunden genießen.»
Es war ein bisschen windig, ich konnte nicht hören, wie
ihr Atem ging. «Kannst du nicht mehr?», fragte ich.
«Und ob ich kann. Ich will mich nur mal umsehen. Lass
mich los. Sonst denken sie da drinnen, du schleppst eine
Kleiderpuppe durch die Gegend.»

455
Ich ließ sie los, hielt aber die Hände in ihrer Nähe, um
sie sofort wieder stützen zu können. Sie machte einen
Schritt und noch einen, hielt sich dabei nicht mal an der
Wand fest. Dann drehte sie sich um und lachte: «Siehst du,
ich bin völlig in Ordnung.»
Als ich Johnny lächeln sah, war ich auch völlig in
Ordnung. Sie saßen zu zweit am Tisch und unterhielten
sich. Von dem fremden Mädchen war nichts mehr zu
sehen. Johnny war nicht erstaunt, dass ich zurückkam.
Und dass ich Magdalena mitbrachte …
Es war mir unangenehm, wie er sie anstarrte und dabei
lächelte, anders als bei mir. Sie gefiel ihm. Sie hätte jedem
Mann gefallen. So wie ich sie zurechtgemacht hatte, sah
sie toll aus.
Und sie sah genauso wie ich, dass Johnny nachdenklich
wurde. «Damit hier keine Irrtümer aufkommen», sagte sie.
«Ich bin nur mitgekommen, um mir einen Tiger
anzusehen. Man hat mir gesagt, hier läuft einer frei rum.
Darf ich mich setzen?»
Tiger grinste von einem Ohr bis zum anderen, nickte
eifrig und rückte auf der Bank ein Stück zur Seite.
Magdalena hielt sich mit beiden Händen an der Tischplatte
fest. «Ich bin etwas wacklig auf den Beinen», sagte sie.
«Ich habe den ganzen Tag im Bett gelegen. Sollte man
nicht tun. Ist nicht gut für den Kreislauf.»
Sie setzte sich neben ihn, und ich setzte mich neben
Johnny. Er hatte begriffen, dass er bei ihr nicht landen
konnte, legte mir den Arm um die Schultern und zog mich
fest an sich. «Hat nicht geklappt mit dem Schlaflied,
was?», fragte er.
Magdalena hatte ihn gehört und lachte ihn an. «Für
Schlafliedchen bin ich ein bisschen zu alt!»
Es war mir peinlich. Ich wusste nicht, dass ich ihr das
456
gesagt hatte. Johnny wollte tanzen. Es lief ein alter Song
von den Beach Boys. Er nahm mich in die Arme und
meinte: «Ihr seht euch überhaupt nicht ähnlich. Ist sie
wirklich deine Schwester?»
«Nein», sagte ich. «Meine Schwester liegt daheim und
schläft. Sie ist wirklich ziemlich krank. Das ist
Magdalena. Ich habe sie draußen auf dem Parkplatz
getroffen. Sie meinte, wir sollten euch ein bisschen an der
Nase rumführen.»
«Ach so», sagte Johnny nur.
Wie lange wir tanzten, weiß ich nicht mehr. Mir kam es
kurz vor. Aber es muss wohl länger als eine halbe Stunde
gewesen sein. Als wir zurück an den Tisch kamen, meinte
Magdalena, die Musik sei lahm. «Haben die hier nichts
von Queen?»
Und da sagte Tiger: «Was heißt hier Queen? Willst du
mal eine wirklich gute Band hören? Live?»
«Hast du eine in der Hosentasche?», fragte sie.
«Und im Hemd und in den Schuhen», sagte er, «aber nur
einen Teil davon. Ich bin der Keyboarder.» Er zeigte auf
Johnny. «Bassgitarre», sagte er. «Das Schlagzeug haben
wir im Keller gelassen. Frankie hatte keine Lust. Frankie
hat nie Lust. Er hat immer Angst, seine Alten könnten mal
überraschend auftauchen.»
Im gleichen Atemzug fragte er: «Leute, was haltet ihr
davon, wenn wir ihm eine Überraschung bereiten. Hier ist
doch nichts los. Fahren wir zurück und machen unsere
eigene Party. Sehen wir zu, dass wir Frankie von den
Büchern wegkriegen.»
Magdalena war sofort begeistert. Ich dachte an den Sekt,
damit wollte ich lieber nicht zu weit fahren. Johnny
meinte, wir könnten mit ihnen fahren. Sie wollten uns
auch wieder zurück zu unserem Auto bringen.
457
Auf dem Weg nach draußen stützte Magdalena sich auf
Tiger. Es fiel kaum auf. Sie war größer als er und legte
ihm einen Arm auf die Schultern, als kenne sie ihn schon
seit Jahren. Ihm gefiel das. Wir stiegen beide hinten ein.
Johnny setzte sich nach vorne.
Ich hatte fürchterliches Herzklopfen, wegen Magdalena.
Ich fand es nicht richtig, was wir taten, viel zu riskant.
Aber ich fand es auch aufregend und schön, wegen
Johnny. Während der Fahrt drehte er sich zu mir um. Er
sagte nichts, schaute mich nur an, als ob wir allein wären –
in einem Zimmer oder sonst wo.
Auf die Strecke habe ich kaum geachtet. Ich weiß auch
nicht, wie das Haus aussah. Ich weiß nur noch, als der
Golf hielt, stiegen sie beide aus. Jeder klappte den Sitz auf
seiner Seite zurück, jeder streckte eine Hand in den
Wagen. Johnny zog mich direkt in seine Arme. Tiger half
Magdalena.
Er ging sehr nett mit ihr um, richtig liebevoll und
fürsorglich. In der Zeit, die sie allein am Tisch gesessen
hatten, hatte sie ihm erzählt, sie hätte mit einer Gastritis im
Bett gelegen. Und er hatte gesagt, damit sei sie bei ihm gut
aufgehoben. Er studiere Medizin, Frankie auch. Und
Frankie sei ein Ass. Der brächte es bestimmt eines Tages
zum Professor wie sein Alter. Sie hat mir das noch erzählt,
bevor sie … Ich glaube, im Auto hat sie es gesagt. Ich
weiß es nicht mehr.
Sie waren vor uns an der Haustür. Ob Tiger einen
Schlüssel hatte oder ob er klingeln musste, darauf habe ich
nicht geachtet. Sie waren längst drinnen, als wir die Tür
erreichten. Und dabei hatte ich die Augen geschlossen.
Johnny hielt mich, schob mich rückwärts und küsste mich.
Einmal murmelte er: «Vorsicht, Stufe.» Hob mich hoch
und stellte mich erst wieder auf die Füße, als wir im Flur
waren – in dieser riesigen weißen Halle.
458
Er drückte mich gegen die Wand und küsste mich
wieder. Und über seine Schulter sah ich das Bild und
daneben die Treppe. Tiger und Magdalena waren bereits
auf der Treppe. Sie stieg allein hinunter, hielt sich nur mit
einer Hand am Geländer fest. Verdammt, dachte ich, sie
schafft das nicht. Ich darf sie nicht allein gehen lassen.
Warum lässt sie sich denn nicht helfen von ihm?
Ich glaube, ich weiß es. Sie muss Frankie gesehen
haben, gleich als sie ins Haus kam. Vielleicht hat er ihnen
die Tür geöffnet. Und er war ein paar Nummern besser als
das rosa Ferkelchen.
Sie drehte sich auf der Treppe um und rief: «Kommt ihr?
Damit könnt ihr unten weitermachen. Da ist es sicher
gemütlicher.» Ich hörte von unten das Schlagzeug. Und
Johnny sagte: «Sie hat Recht. Gehen wir runter.»

Magdalena saß bereits auf der Couch, als wir in den Keller
kamen. Und sie ließ die Augen nicht von der Ecke, in der
die Musikinstrumente standen. Frankie saß hinter dem
Schlagzeug. Er spielte nur ein bisschen herum und ließ die
Augen nicht von ihr.
Tiger stand an der Bar und schnitt eine Zitrone in
Stücke.
«Zuerst ein Schluck Feuerwasser», hörte ich ihn sagen.
Er schaute zu Magdalena hinüber. «Willst du auch ein
Glas?»
Sie schüttelte den Kopf. «Eine Limo, wenn du hast. Aber
kein Schnaps. Das nimmt mein Magen mir nur wieder
übel.»
Dann spielten sie für uns – mehr für Magdalena als für
mich. Sie war der Star. Ich glaube, jeder von den dreien
hätte sie gerne gehabt. Aber sie sah nur Frankie. Sie
forderte mich auf zu tanzen. Das tat ich.
459
Johnny lächelte mich die ganze Zeit an. Mir wurde
warm. Es war auch sehr warm da unten. Und Magdalena
sah toll aus in dem flackernden bunten Licht. Die
dunkelblaue Bluse passte gut zu ihren hellen Haaren. Und
ihre schlanken Beine unter der fast durchsichtigen Spitze
… Dass ihre Haut blau war, sah man nicht. Braun wirkte
sie – wie frisch aus der Sonne gekommen.
Dann warf Frankie die Stöcke in die Luft, stand auf und
ging zur Couch. Er setzte sich neben sie. Tiger ging
wieder zur Bar und trank noch ein paar Gläser. Johnny
schaltete die Stereoanlage ein. Die Musik vom Band war
auch von ihnen. Er kam zu mir, wir tanzten. Und obwohl
die Musik ziemlich wild war, hielt er mich im Arm und
zog mich langsam aus.
Ich fühlte seine Hände im Rücken und seine Lippen am
Hals. Irgendwann lagen wir auf dem Boden. Es war sehr
schön, aber so richtig genießen konnte ich es nicht. Ich
konnte mich einfach nicht genug auf ihn konzentrieren,
musste immer wieder zur Seite schauen.
Frankie hatte einen Arm über die Rückenlehne der
Couch gelegt. Es sah aus, als hielte er Magdalena. Sie
unterhielten sich, bei der lauten Musik konnte ich nicht
verstehen, worüber sie sprachen. Ich sah nur, wie sie sich
anschauten – sie ihn und er sie. Irgendwann küsste er sie
auch. Und ich dachte, küssen darf er sie. Das schadet ihr
nicht. Er war sehr zärtlich und behutsam, das habe ich
gesehen. Und als er ihr die Bluse auszog …
Natürlich wurde er auf die Narben aufmerksam. Er fuhr
sie mit einem Finger ab, ganz leicht und sanft. Und er
wollte wissen, was es war. Da war eine kleine Pause auf
dem Band, ich verstand jedes Wort von ihm. Auch
Magdalenas Antwort hörte ich.
«Meine Himmelsleiter», sagte sie.

460
Danach habe ich eine Weile nicht auf sie geachtet, auch
nicht auf Tiger, der vor der Bar stand und sich dort
vermutlich die erste Prise Koks reinzog. Dann kam er
rübergeschlendert, stand neben uns und schaute auf uns
herunter. Angenehm war mir das nicht, ich wäre lieber mit
Johnny allein gewesen. Aber das mochte ich nicht
vorschlagen. Ich konnte Magdalena doch nicht mit zwei
Männern zurücklassen.
Tiger hielt einen kleinen Spiegel und einen Trinkhalm in
der Hand. Johnny richtete sich auf und nahm etwas von
dem Zeug. Tiger rief zur Couch rüber: «Was ist mit dir,
Frankie?»
Frankie wollte nicht, er küsste Magdalena.
Dann kniete Tiger sich neben meinen Kopf. Er strich mir
über die Brust. Ich dachte, dass Johnny ihn verscheuchen
würde, aber er unternahm nichts. Ich sagte: «Hör auf
damit. Lass das. Nimm deine Finger weg. Ich will das
nicht», und so was.
Magdalena wurde aufmerksam und rief: «Stell dich nicht
so an. Es ist doch nichts dabei.» Und zu Tiger sagte sie:
«Gib ihr eine Prise. Das entspannt. Sie ist ein bisschen
verkrampft.»
Er hielt mir den Spiegel hin. Aber ich wollte das Zeug
nicht. Und Magdalena sagte: «Verdirb uns nicht den Spaß,
Schätzchen. Ich habe dir schon hundertmal gesagt, es ist
ein irres Gefühl. Jetzt nimm dir etwas, entspann dich und
lass dich verwöhnen.»
Ich wollte mir nichts von diesem verdammten Spiegel
nehmen. Ich wollte nur Johnny. Er steckte mir einen
Finger in den Mund und stippte ihn in das Pulver. Dann
rieb er mich unten ein mit dem Zeug.
«Mach es wieder ab», verlangte ich.
«Das hatte ich vor», sagte er und rutschte an mir
461
herunter.
Ich fühlte, wie er mich dort küsste. Es war … Es war
Wahnsinn.
Magdalena kümmerte sich nicht um mich. Frankie ließ
ihr auch nicht die Möglichkeit, mir zuzuschauen. Er hatte
sie halb in seinen Schoß gezogen, hielt sie mit beiden
Armen, küsste und streichelte sie. Den Ausdruck auf
ihrem Gesicht werde ich nie vergessen. Ich glaube, sie war
sehr glücklich.
Das war ich auch. Tiger tat nichts mehr, eine Weile
kniete er nur neben meinem Kopf und schaute zu. Dann
öffnete er seine Hose. Aber zu dem Zeitpunkt war es mir
egal. Eklig war es nicht. Es war nicht viel anders, als ob
man am Daumen lutscht. Ich dachte einmal an Mutter.
Was sie wohl sagen würde, wenn sie mich so sehen
könnte. Auf dem Boden, mit zwei Männern gleichzeitig.
Es war falsch. Es war alles falsch. Aber es war
wunderbar. Ich hatte Feuer im Bauch, Sekt im Kopf,
Kokain im Blut und Johnny überall.
Irgendwann schaute ich noch einmal zur Couch hinüber.
Viel war nicht zu erkennen. Tigers Bein versperrte mir die
Sicht. Ich sah nur den Rücken. Einen nackten Rücken,
breit und dunkel im flackernden bunten Licht. Im ersten
Moment begriff ich nicht, was das bedeutet. Magdalena
lag nicht mehr mit dem Oberkörper in seinem Schoß. Sie
lag unter ihm. Die Bluse und der weiße Rock hingen an
der Seite von der Couch herunter.
Es ging alles so schnell. Aber ich sah es wie in Zeitlupe.
Frankie liebte sie, zuerst langsam. Dann wurde er
schneller. Er küsste sie wieder. Und dann hörte er
plötzlich auf und fuhr in die Höhe.
Er kniete zwischen ihren Beinen und schlug mit der
Faust auf ihre Brust. Er schrie: «Amen!»

462
Dann warf er sich über sie, küsste sie erneut, hielt ihr
dabei die Nase zu, schoss wieder hoch und schlug weiter
auf sie ein, diesmal mit beiden Fäusten gleichzeitig. Und
dabei schrie er:
«Amen! Los, mach schon! Amen, Amen, Amen!» Und
bei jedem Wort schlug er mit beiden Fäusten auf ihre
Brust ein.
Ihr Kopf pendelte auf der Couch hin und her. Ihr rechtes
Bein hing herunter. Das linke lag noch über der
Rückenlehne. Dann rutschte das auch nach unten.
Da war noch eine kurze Pause zwischen zwei
Musikstücken auf dem Band. Eine halbe Sekunde
vielleicht, in der er sie erneut schlug. Und ich hörte dieses
Knacken oder Knirschen. Ich wusste, das waren ihre
Rippen. Aber ich konnte nicht zu ihr. Ich konnte
überhaupt nichts tun, nur denken. Und ich dachte an das
Messer auf der Bar und wohin ich ihn stechen musste,
damit er sie nicht umbrachte.
Johnny war über mir und drückte mich mit seinem
Gewicht auf den Boden. Tiger hielt meinen Kopf mit
beiden Händen fest. Ich konnte nicht mal schreien mit
seinem Glied im Mund. Die Musik setzte wieder ein, und
Frankie schrie in den Lärm: «Helft mir doch! Helft mir!
Sie muss atmen! Sie atmet nicht mehr.» Er hatte Irrsinn in
den Augen.
Johnny begriff endlich, dass etwas nicht stimmte und
schrie zurück. «Bist du beknackt? Was treibst du da, du
Idiot?» Aber er machte keine Anstalten, mich loszulassen.
Er schaute nur zur Couch.
Frankie antwortete ihm nicht mehr, er schlug nur noch
wie besessen mit beiden Fäusten auf Magdalena ein.
Und dann schrie Tiger: «Das Aas hat mich gebissen.» Er
griff zum Tisch hinüber nach dem Aschenbecher. Ich sah

463
ihn auf mich zukommen. Das Licht brach sich darin. Die
Musik lief immer noch. Song of Tiger! Dann wurde es
dunkel und still.

Während der Rückfahrt weinte sie leise in sich hinein.


Manchmal schüttelte sie den Kopf, dabei schwoll das
Weinen für zwei Sekunden an. Rudolf Grovian ließ sie in
Ruhe. Vor dem Bild stehend, hatte sie wie in Trance
gesprochen; steif und aufrecht, die Augen geschlossen,
beide Hände zu Fäusten geballt. Wie erfroren, hatte er
denken müssen. Und jetzt taute sie allmählich auf.
Hoffentlich begriff sie auch.
Für ihn gab es keine Zweifel. Magdalena hatte es so
gewollt. Magdalena hatte gewusst, dass es vorbei war.
Keine Chance, ihr Blut durch die Dialyse zu jagen. Ihr
Herz hätte das nicht geschafft. Er fragte sich, was
geschehen wäre, wenn sie Magdalena den Wunsch
abgeschlagen hätte. Kommt nicht in Frage! Wir bleiben
daheim! Dann hätte Magdalena vermutlich den Tod in
ihren Armen gesucht – und gefunden! An der
vermeintlichen Schuld hätte sich nichts geändert.
Doch ihr das klarzumachen war wirklich nicht mehr
seine Aufgabe. Und über das, was sie von Johannes
Frankenberg gehört hatten, mussten die Richter
entscheiden. «Mein Sohn war schuldlos an diesem
Desaster.»
Das war er mit Sicherheit gewesen. Ihm fiel dazu nur
ein, was Grit Adigar über die Schönheit und die Vorsorge
der Natur gesagt hatte. Leider hatte die Natur Magdalenas
Willen außer Acht und zugelassen, dass doch noch ein
Mann ins Verderben gerissen wurde. Rudolf Grovian
konnte es nicht anders sehen. Hätte sich ihm die
Möglichkeit noch geboten, er hätte diesem Geschöpf

464
gehörig seine Meinung gesagt und einiges mehr. Für ihn
stand Magdalena auf einer Stufe mit den
verantwortungslosen Idioten, die sich ein Stück Autobahn
suchten, um ihr Leben als Geisterfahrer zu beenden und
das von ein paar Unschuldigen gleich mit.
Ein ernsthafter junger Mann war Georg Frankenberg
gewesen, der höchstens am Wochenende zusammen mit
zwei Freunden seinem Hobby frönte. Und weil die Eltern
es nicht gerne sahen, gingen sie ihrer Passion im Haus der
Großmutter nach, heimlich, ohne Wissen der Eltern.
Das Haus stand in Hamburg-Wedel. Es war das
Geburtshaus der Mutter, stand seit Monaten leer. Man
dachte daran, es zu verkaufen. Aber noch hatte sich kein
Käufer gefunden, der bereit war, die Preisvorstellung zu
akzeptieren. Georg fuhr häufig am Wochenende hin, um
nach dem Rechten zu sehen. Behauptete er! Doch seine
Mutter vermutete schon seit längerer Zeit, dass es nicht
nur Pflichtbewusstsein war.
Da war sein Freund, dieser kleine Dicke aus Bonn,
Ottmar Denner. Georgs Mutter mochte ihn nicht. Georg
hatte ihn zweimal mitgebracht nach Frankfurt. Ottmar
Denner hatte etwas Verschlagenes und Genusssüchtiges
im Blick. Und an dem Samstag im Mai damals …
Frau Frankenberg hatte mehrfach versucht, ihren Sohn in
seiner Wohnung in Köln zu erreichen, vergebens. Kurz
nach Mittag rief sie in Hamburg an. Und wer kam ans
Telefon? Ottmar Denner!
Er sprudelte los: «Na endlich, Böcki! Ich dachte schon,
du bist wieder versackt. Seit gut einer Stunde warte ich
darauf, dass du dich meldest. Jetzt mach dich aber auf die
Socken. Und bring von unterwegs eine Flasche
Feuerwasser mit. Frankie hat’s mal wieder vergessen.
Koks besorgen wir uns heute Abend. Das wird ’ne heiße

465
Nacht, Junge. Eh, Böcki, warum antwortest du nicht?»
Frau Frankenberg legte wortlos den Hörer auf und
bestand darauf, augenblicklich nach Hamburg zu fahren.
«Ich wusste doch, dass da etwas faul ist. Aber das geht
entschieden zu weit. Du wirst ein ernstes Wort mit Georg
reden.»
Nach zwei in der Nacht kamen sie an. Da war Georg
nicht mehr ansprechbar. Die Haustür stand offen. Georg
saß auf dem Kellerboden, hielt den blutigen Kopf eines
nackten Mädchens im Schoß und wiederholte nur die
Sätze. «Sie muss atmen. Sie atmete plötzlich nicht mehr.»
Johannes Frankenberg verstand nicht, was sein Sohn
meinte. Das Mädchen in seinem Schoß war schwer
verletzt und ohne Bewusstsein, aber ohne Zweifel lebte es.
Noch! Dass noch ein zweites Mädchen da gewesen sein
musste, bemerkte seine Frau erst später, als sie auf das
Kleiderhäufchen aufmerksam wurde. Und erst nach drei
Tagen konnte Georg erklären, dass Hans Bueckler und
Ottmar Denner die Leiche des zweiten Mädchens aus dem
Haus geschafft hatten, kurz bevor die Eltern eintrafen.
Denner und Bueckler hatten auch Cora mitnehmen
wollen. Georg hatte das nicht zugelassen. Und Georg hatte
wieder und wieder beteuert: «Ich habe Magdalena nicht
umgebracht. Sie hörte plötzlich auf zu atmen.»
Herzversagen, dachte Rudolf Grovian, oder das
Aneurysma ist geplatzt unter der Anstrengung. Auf jeden
Fall war es ein natürlicher Tod gewesen – und für
Magdalena vielleicht sogar ein schöner. Frankie hatte ihr
gegeben, was sie wollte, und getan, was er tun konnte.
Was sie beschrieben hatte, klang nach
Reanimationsversuchen. Und Rudolf Grovian dachte an
die junge Patientin, von der Winfried Meilhofer
gesprochen hatte. Der Frankie zwei Rippen brach, weil er

466
sich mit ihrem Tod nicht abfinden konnte. Vielleicht hatte
er in ihr noch einmal Magdalena vor sich gesehen. Der
Erlöser, dachte er. Das war er gewesen. Magdalena erlöste
er von ihrem Leiden, Cora von der Last. Nur von ihrer
Schuld hatte er sie nicht erlösen können. Im Gegenteil! An
ihm war sie schuldig geworden vor dem Gesetz.
Sie weinte immer noch. Nach mehr als einer Stunde
drehte sie ihm endlich das Gesicht zu und wollte wissen:
«Wie kann man so etwas vergessen?»
Er hob die Schultern an. «Frau Bender, Sie müssen mit
Professor Burthe darüber reden. Fragen Sie ihn. Er kann
Ihnen das bestimmt erklären.»
«Ich frage aber Sie. Wie kann man so etwas vergessen?»
«Das passiert vielen Leuten», sagte er nach ein paar
Sekunden. «Man hört es oft nach Unfällen. Da erinnern
sich manche nur noch, dass sie auf eine Kreuzung
zugefahren sind. Was dann geschehen ist, wissen sie
nicht.»
«Auf eine Kreuzung», murmelte sie. «Oder kurz vor elf
nach Hause.» Sie begann erneut mit ihrem Kopfschütteln.
Minutenlang war sie still. Als sie dann wieder sprach,
hatte ihre Stimme einen ersten Hauch von Bitterkeit.
«Fünf Jahre!»
Mit einem zittrigen Atemzug brach sie ab, dann
wiederholte sie: «Fünf Jahre lang habe ich gedacht, ich
hätte meine Schwester umgebracht. Alle haben es gedacht.
Mein Vater, Margret und Grit. Nein, die nicht. Sie hat
immer gesagt: ‹Das traue ich dir nicht zu.› Aber sie hat
auch gesagt: ‹Ich glaube nicht, dass du gefixt hast.› Und
ich musste mir nur meine Arme ansehen, dann musste ich
es glauben, ob ich wollte oder nicht.»
Unvermittelt schlug sie mit dem linken Arm zur Seite.
Er fiel mit der Armbeuge nach oben auf das Lenkrad.

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«Vorsicht, Frau Bender!», schrie er. Ihm wurden die
Hände feucht. Die Tachonadel stand bei hundertsechzig.
Links neben ihm war die Leitplanke, rechts eine Kolonne
von Lastwagen.
Sie beachtete ihn nicht, ließ den Arm, wo er war.
«Warum hat er das getan?»
Er drosselte langsam die Geschwindigkeit. Abrupt wäre
es nicht möglich gewesen, ohne den Hintermann auffahren
zu lassen. Dann nahm er ihren Arm und legte ihn in ihren
Schoß. «Machen Sie das nicht noch einmal. Oder wollen
Sie uns beide umbringen?»
«Warum hat er das getan?», wiederholte sie.
«Das wissen Sie doch.»
«Nein!», stieß sie hervor. «Das weiß ich nicht. Um
Frankie aus der Sache rauszuhalten, hätte er mir nicht die
Arme so versauen müssen. Da hätte es gereicht, mir zu
erzählen, ich sei vor sein Auto gelaufen. Ich habe mir so
gewünscht, ich wäre nur ganz normal vor sein Auto
gelaufen. Und er erzählt mir von Verletzungen im
Vaginalbereich. Die kann ich gar nicht gehabt haben.
Johnny hat mir nicht wehgetan. Warum hat er mir so
etwas erzählt? Mein Gott, das höre ich heute noch. Die
Umstände und die Art Ihrer Verletzung lassen nur einen
Schluss zu! Warum hat er das gesagt?»
Sie war völlig außer sich. Es wäre ihm entschieden
lieber gewesen, sie hätte sich beruhigt. Er konnte nicht
rüber auf die Standspur. Es gab keine Lücke zwischen den
Lastwagen.
«Das wissen Sie doch, Frau Bender.»
«Ja, ich weiß es. Aber ich will hören, ob Sie es auch
wissen. Sagen Sie es mir! Na los doch! Jetzt sagen Sie es
schon! Ich muss es einmal von einem anderen hören.
Wenn ich es nur denke, hilft es nicht.»
468
Es widerstrebte ihm. Er hatte die Gefühle hinter sich
gelassen und war wieder ausschließlich Polizist. Ein
zufriedener Polizist, der gute Arbeit geleistet hatte. Und
als solcher wollte er ihr nicht noch mehr Worte in den
Mund legen und sie nicht mit einer vorgefertigten
Meinung zurück zu Burthe schicken.
Aber dann sagte er trotzdem: «Er wollte verhindern, dass
Sie zur Polizei gehen. Er konnte sich nicht darauf
verlassen, dass Ihre Amnesie anhält. Wenn Ihnen
irgendwann eingefallen wäre, was im Keller passiert war,
wer hätte Ihnen dann noch geglaubt? Da war immerhin die
Zeitspanne von fast sechs Monaten. Dass Sie die gesamte
Zeit in seinem Haus gelegen hatten, wussten nur er, seine
Frau und sein Sohn. Und nun beruhigen Sie sich, Frau
Bender. Wenn wir zurück sind, sprechen Sie mit Professor
Burthe über alles. Ich werde auch mit ihm reden. Und mit
dem Staatsanwalt und dem Untersuchungsrichter. Ich
werde allen erklären, was wir von Herrn Frankenberg
gehört haben.»
Sie hatten eine Menge gehört. Angefangen mit der
Notversorgung im Keller. Dann die stundenlange Fahrt
durch die Nacht. Frankie im Wagenfond. Ihren Kopf im
Schoß, die Fingerspitzen an ihrem Hals, alle paar
Sekunden wie im Fieber verkündend: «Puls ist noch
tastbar.»
Wie groß das Risiko für sie gewesen war, die Fahrt nicht
zu überleben, mussten Fachleute beurteilen. Und was mit
ihr geschehen wäre, wenn das winzige Flämmchen
unterwegs erloschen wäre …
Vielleicht hatten sie darauf gehofft. Frankie nicht, aber
seine Eltern. In diesem Fall hätte Johannes Frankenberg es
sich ersparen können, seinem Sohn den Arm zu brechen.
Noch eine unbekannte Tote irgendwo am Straßenrand,
nackt und ohne Papiere. Noch so ein armes Ding wie das
469
aus der Lüneburger Heide. Ob es sich dabei tatsächlich um
Magdalenas Leiche gehandelt hatte, mussten Ottmar
Denner und Hans Bueckler beantworten. Wenn man sie
ausfindig machte.
«Ich hätte sie nicht mitnehmen dürfen», unterbrach sie
seine Gedanken. «Ich wusste, dass ich sie nicht
mitnehmen durfte. Ich wusste es ganz genau. Vielleicht
war es mir doch egal, ob sie stirbt. Ich war nur scharf auf
Johnny. Das kommt davon! Meine Mutter hat immer
gesagt, dass die Begierden des Fleisches nur Unheil
bringen.»
«Frau Bender», mahnte er. «Ihre Mutter ist verrückt. Das
war sie immer.»
«Nein», murmelte sie. «Immer nicht. Margret hat mir
einmal erzählt …» Sie brach ab und fragte: «Was wird aus
Margret?»
Zeit für eine Antwort ließ sie ihm nicht. Ihre Stimme
wurde hektisch. «Hören Sie: Können wir es nicht so
machen; ich habe doch zu Johnny gesagt, meine
Schwester wäre daheim und krank. Ich hätte das Mädchen
auf dem Parkplatz getroffen. Dabei können wir doch
bleiben. Kein Mensch kann uns das Gegenteil beweisen.»
«Frau Bender, jetzt tun Sie mir einen Gefallen und
beherzigen Sie, was Margret Ihnen geraten hat. Denken
Sie an sich. Ich bin nicht der Einzige, der gehört hat, was
Sie sagten. Davon abgesehen weiß Herr Frankenberg von
seinem Sohn, dass das Mädchen Magdalena hieß. Und Sie
selbst haben Herrn Frankenberg damals gesagt, dass Sie
nach Hause zu Ihrer kranken Schwester müssen.»
«Natürlich, das ist doch ein Beweis, dass sie daheim
war», erklärte sie. «Und Frankie konnte es nicht besser
wissen. Wenn das Mädchen zu ihm gesagt hat, sie heißt
Magdalena und ist meine Schwester. Aber das war nur ein

470
Spiel. Ich hatte das mit dem Mädchen auf dem Parkplatz
so vereinbart. Die Ärzte in Eppendorf werden Ihnen
bestätigen, dass es nicht meine Schwester gewesen sein
kann. Magdalena war viel zu krank, um das Haus zu
verlassen. Das funktioniert. Sie müssen es nur wollen.»
Er schüttelte den Kopf. «Es funktioniert nicht, Frau
Bender. Sie können Margret nicht aus der Sache
raushalten.»
«Aber sie hat es nur für mich getan. Dafür kann man sie
doch nicht einsperren. Sie werden Margret nicht verhaften,
versprechen Sie mir das!»
Das konnte er ihr ruhigen Gewissens versprechen. Für
Margret war er nicht zuständig. Um die mussten sich die
Kollegen in Norddeutschland kümmern. Wobei sich die
Frage stellte, was man ihr vorwerfen sollte. Es war nicht
strafbar, eine Beerdigung zu organisieren. Eine
Feuerbestattung. Jetzt fiel ihm das wieder ein.
Davon hatte Grit Adigar gesprochen. Es war alles
ordnungsgemäß abgelaufen. Zuerst ein Feuer. Dann das
Meer. Eine Beisetzung im engsten Kreis. Und nur Margret
wusste, was sich in der Urne befunden hatte. Asche! Grit
Adigar hatte sie in die Nordsee rieseln sehen.
Er fragte sich, wen oder was sie ins Krematorium
geschickt haben mochten oder ob nicht, wie es
üblicherweise sein sollte, ein Forensiker einen letzten
Blick in den Sarg geworfen hatte. Dann fiel ihm siedend
heiß ein, was sie über Margrets Diebstahl gesagt hatte.
Verdammt nochmal! Es war ein Hammer, aber beweisen
ließe es sich heute kaum noch, wenn vor fünf Jahren
niemandem aufgefallen war, dass irgendwo eine Leiche
fehlte.
Gegen seinen Willen musste er lächeln. Mit ein bisschen
Geschick und Phantasie … Von beidem hatte Margret

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Rösch bestimmt ausreichend. Sie hat Recht, dachte er. Es
könnte nicht nur, es musste funktionieren. Mit Magdalenas
Krankengeschichte. Mit Grit Adigars Aussage. Mit Hans
Bueckler. Und Achim Miek, der den Totenschein
ausgestellt hatte, würde sich auch eher auf die Zunge
beißen, als zuzugeben, dass er vor einem leeren Bett
gestanden und seine Freundin die Tote erst hatte
organisieren müssen.

Sie stand am Fenster und starrte hinaus in den trüben Tag.


Es war kalt draußen und nass. Am Vormittag hatte es
geregnet. Februar war es inzwischen. Und es war der
letzte Tag hinter Gittern. Sie wusste es, nur glauben
konnte sie es nicht.
Eberhard Brauning hatte bei seinem Besuch gesagt: «Ich
hole Sie am frühen Nachmittag ab, Frau Bender. Eine
genaue Uhrzeit kann ich Ihnen leider nicht sagen.»
Es kam nicht an auf ein paar Minuten. Sie hatte viel Zeit,
viel zu viel Zeit. Die anderen hatten keine. Der Professor
hatte nur eine knappe Viertelstunde für sie gehabt – kurz
nach Mittag. Es gab Kartoffelbrei, Erbsen in Mehlpampe
und ein Hühnerbein mit labbriger Haut und wenig Fleisch
am Knochen. Nach dem Essen kam Mario und brachte sie
zum Professor. Er wollte ihr noch etwas erklären und ihr
seine guten Wünsche für die Zukunft mit auf den Weg
geben. Er hatte ihre Entlassung in eine offene Therapie
befürwortet. Jetzt war sie nicht mehr wichtig für ihn.
Sie war für niemanden mehr wichtig. Auch für die
Richter war sie es nicht gewesen. Ein Hauptverfahren
gegen Cora Bender vor der großen Strafkammer am
Landgericht Köln hatte es nicht gegeben. Keine Anklage
wegen Mord oder wenigstens Totschlag. Kein Urteil:
Lebenslänglich! Damit hätte man es vielleicht irgendwie

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zurechtrücken können. Aber wie sie darüber dachte,
interessierte niemanden.
Sie hatte es nur bis ins Büro des Untersuchungsrichters
geschafft. Aufgrund des psychologischen Gutachtens
stellte der Staatsanwalt den Antrag, kein Verfahren zu
eröffnen.
«Schuldunfähig!» Da war ohnehin nicht mit einer
Verurteilung zu rechnen.
Aber gehört worden waren sie alle. Rudolf Grovian und
Johannes Frankenberg. Sogar Hans Bueckler! In Kiel
hatten sie ihn aufgetrieben. Sie hatte ihn nicht zu Gesicht
bekommen, es war besser so.
Hans Bueckler erklärte unter Eid, er habe in jener
Mainacht vor fünf Jahren zusammen mit Ottmar Denner
das Haus in Hamburg-Wedel fluchtartig verlassen,
nachdem sie feststellen mussten, dass Georg Frankenberg
ein Mädchen getötet hatte. Wer das Mädchen gewesen
war, wusste Hans Bueckler nicht. Er erinnerte sich nur
noch, dass er und Denner in einem Lokal zwei Mädchen
kennen gelernt hatten, die sich als Schwestern ausgaben,
es jedoch nicht waren. Was mit der Leiche und dem
zweiten Mädchen geschehen war, wusste Hans Bueckler
auch nicht. Eine Falschaussage war ihm nicht
nachzuweisen.
Das psychologische Gutachten befasste sich ausführlich
mit der Kellerszene und noch ausführlicher mit der
schwarzen Seele Cora Benders. Schuldig geboren.
Neunzehn Jahre Haft in einem mittelalterlichen Kerker.
Aber am Ende war ein Vater der Verbrecher. Nein, ihrer
nicht, von ihrem Vater war gar nicht die Rede. Frankies
Vater war der wahre Übeltäter. Das stand allerdings nicht
im Gutachten. Das behauptete nur der Pflichtverteidiger.
Eberhard Brauning war großartig gewesen. Er hatte mit

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Helenes tatkräftiger Unterstützung ein Plädoyer aufgesetzt
und es dem Untersuchungsrichter vorgetragen, als stünde
er vor der großen Strafkammer. Sein Versprechen hatte er
dennoch nicht halten können. Keine zeitlich befristete
Haftstrafe, zurück in die Klapsmühle, bis der Professor sie
für reif befand, von nun an wieder für sich selbst zu
denken.
Es war schneller gegangen als erwartet. Ein Tag im
Februar. Und sie stand am Fenster. Und hinter ihr auf dem
Bett lag der kleine Koffer, den Margret ihr vor einer
Ewigkeit, auf jeden Fall in einem anderen Leben, ins Büro
des Chefs gebracht hatte.
Sie dachte an Margrets kleine Wohnung. Ein Platz auf
der Couch, mehr konnte Margret ihr nicht bieten, das
Duschbad so eng, dass man sich an der Tür die Knie stieß,
wenn man sich auf die Toilette setzte. Es war ein neuer
Anfang dort, wo sie schon einmal begonnen hatte zu
leben. Morgens sollte sie aus der Wohnung gehen, abends
sollte sie zurückkommen. Es wäre dann fast so, als sei sie
nur zur Arbeit fort gewesen. Nur dass sie diesmal nicht ins
Café an der Herzogstraße, sondern in eine Tagesklinik
gehen sollte.
Der Professor war überzeugt, dass sie es schaffte, weil
Margret ihr Vorbild einer Frau mit revolutionären
Ansichten war. Er war auch überzeugt, dass er sie an den
Punkt gebracht hatte, den man ihr vor fünf Jahren
verweigert hatte. Das war nicht ganz richtig so. Der Chef
hatte sie an diesen Punkt gebracht. Aber sie hatte dem
Professor nicht widersprochen, um ihn nicht zu kränken
und zu verhindern, dass er seine Meinung über ihre
Fortschritte noch einmal revidierte.
Und Eberhard Brauning hatte gesagt: «Frau Bender, wir
können sehr zufrieden sein.»

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Sie war nicht zufrieden. Sie sah immer noch Frankies
Gesicht. Wie er sie anschaute und ihre Hand losließ. Und
wie er kurz zuvor die Hand seiner Frau losgelassen, wie er
gerufen hatte: «Nein, Ute, es reicht jetzt. Das nicht. Tu mir
das nicht an!» Ute hatte ihm nichts angetan.
In einem ihrer Gespräche hatte der Professor gesagt,
Frankie habe den Tod gesucht. Über diesen Satz hatte sie
lange gegrübelt. Zu einem Ergebnis war sie nicht
gekommen. Fest stand nur, Frankie hatte den Tod geliebt –
einmal. Und dann hatte er eine Frau gesucht, die dem Tod
aufs Haar glich.
Eberhard Brauning kam kurz vor vier. Er wollte ihren
Koffer nehmen. Sie lehnte das ab, verabschiedete sich von
Mario und folgte ihrem Anwalt auf dem Weg nach
draußen.
Als er sich neben sie in seinen Wagen setzte, sagte er:
«Ich habe gestern noch einmal mit Ihrem Mann
gesprochen, Frau Bender. Es tut mir sehr Leid, dass ich
nichts erreicht habe.»
Sie zuckte mit den Schultern und richtete den Blick nach
vorne. Gereon hatte die Scheidung eingereicht, anders
hatte sie es nicht erwartet. Obwohl sie zuletzt gehofft …
Wo sie doch bis zu dem Moment am See eigentlich nichts
Schlimmes getan hatte. «Es macht nichts», sagte sie. «Ich
dachte auch nur, er hätte sich das noch einmal überlegt.
Aber wenn er nicht will, da kann man nichts machen. Es
ist vielleicht besser so. Vorbei ist vorbei, nicht wahr?»
Eberhard Brauning nickte und konzentrierte sich auf den
Verkehr. Sie fragte: «Muss ich dabei sein? Das können Sie
doch sicher ohne mich regeln. Sagen Sie einfach, ich
müsste den ganzen Tag in dieser Klinik sein. Ich dürfte
nur abends raus. Und sagen Sie Gereon, ich will die
Einbauküche und meine persönlichen Sachen. Und wenn

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ich hin und wieder vielleicht das Kind sehen dürfte. Es
muss nicht oft sein und auch nicht lange. Einmal im
Monat für ein oder zwei Stunden, das reicht mir. Solange
ich noch bei Margret bin, kann Gereon ja abends mal mit
ihm vorbeikommen. Ich will nur sehen, ob’s dem Kleinen
gut geht.»
Eine Antwort erwartete sie nicht. Sie schaute ihn auch
nicht an, ob er nickte. Nach ein paar Sekunden Stille
wollte sie wissen: «Wie lange kann das dauern mit dieser
Therapie? Ein Jahr oder zwei?»
«Das kann man so nicht sagen, Frau Bender. Das hängt
von vielen Faktoren ab. In der Hauptsache natürlich von
Ihnen.»
«Das dachte ich mir. Es hängt immer alles nur von mir
ab in der Hauptsache.» Sie lachte leise. «Dann will ich mir
mal Mühe geben. Ich kann nicht ewig bei Margret bleiben.
Und mir eine eigene Wohnung suchen, das lohnt sich
nicht. Ich muss so schnell wie möglich nach Hause. Haben
Sie etwas Neues von meinem Vater gehört?»
Er wusste nicht, was er ihr darauf antworten sollte.
Rudolf Grovian hatte es übernommen, ihr zu erklären,
dass ihr Vater tot war. «Ich mache das schon. Ich bin
ohnehin der Sündenbock für sie.» Kurz nachdem er mit ihr
in Frankfurt gewesen war, hatte Rudolf Grovian es ihr
gesagt. Das wusste Eberhard Brauning mit Sicherheit.
Sie schaute nach vorne auf die Straße. «Ich habe mir
schon gedacht», sagte sie, «dass Gereon die Scheidung
nicht zurücknimmt. Und da ist es am besten, ich gehe
dahin, wo ich gebraucht werde. Ich werde meinen Vater
pflegen. Das habe ich mir vorgenommen. Waschen und
kämmen und füttern, was man halt tun muss für einen
alten Mann, der ans Bett gefesselt ist. Ich werde auch
Mutter zurückholen. Sie müssen sie mir doch

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zurückgeben, oder? Sie ist nicht gefährlich, sie tut keinem
Menschen etwas. Und dann sorge ich dafür, dass
Magdalena ihr Feuer bekommt. Ich weiß noch nicht, wie
ich das anstellen soll. Aber irgendwie schaffe ich das
schon. Und wenn ich sie nachts auf dem Friedhof
ausgraben muss. Irgendwie schaffe ich das.»
Ein paar Sekunden lang schwieg sie, dann begann sie zu
lächeln, warf ihm einen raschen Blick zu und sagte:
«Keine Angst! Ich sage das nur. Der Chef hat gesagt, es ist
Leichenschändung oder Störung der Totenruhe oder so.
Ich werde niemanden schänden und niemanden stören. Ich
habe auch nicht vergessen, wo mein Vater ist. Ich werde
nie wieder etwas vergessen, befürchte ich. Es ist rein
theoretisch. Ich stelle es mir eben gerne vor, wie ich an
seinem Bett sitze und mit ihm rede. Ich hätte ihm das alles
gerne noch erklärt.»
Dann strafften sich ihre Schultern, ihre Stimme wurde
hart. «Denken Sie daran, die Einbauküche. Die lasse ich
gleich nach Buchholz schaffen. Und meine persönlichen
Sachen. Geld will ich nicht. Geld habe ich genug. Ein
Haus habe ich auch. Und ein Auto. Es ist zwar alles alt.
Aber es ist alles noch da. Und es muss sich ja einer darum
kümmern, dass es nicht völlig vergammelt. Können Sie
sich vorstellen, wie der Vorgarten aussieht? Das war
immer Vaters Stolz. Der Vorgarten und die Gardinen. Wie
es im Haus aussah, war ihm nie so wichtig. Aber die
Gardinen mussten sauber sein. Herr Grovian sagte, bei
seinem letzten Besuch wäre alles ordentlich gewesen.
Aber das ist ja lange her.»
Sie seufzte. «Haben Sie nochmal was von Herrn Grovian
gehört?» Eberhard Brauning schüttelte den Kopf. Und sie
zuckte noch einmal mit den Achseln. Vorbei war vorbei.
Das ging schnell.
Nur vergessen, das ging nicht mehr. Das ging nur mit
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der letzten Sünde. Mal sehen. Wenn es unerträglich wurde
… Eine Tagesklinik. Und die Nächte in Margrets
Wohnung. Margret machte oft Nachtschicht. Und sie hatte
immer einen Haufen Arznei-Zeug in dem kleinen
Schränkchen neben ihrem Bett.

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