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Sprachentwicklung Bei Mehrsprachigen Kindern

Das Dokument listet verschiedene Broschüren zu Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen auf und beschreibt deren Inhalte. Es wird darauf hingewiesen, dass Kommunikation immer wichtiger wird und die Broschüren Informationen zu Erscheinungsbild und Ursachen verschiedener Störungen sowie Anregungen zur Prävention und Unterstützung einer Therapie geben.

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Sprachentwicklung Bei Mehrsprachigen Kindern

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Exemplare:

12 Sprachentwicklung bei Mehrsprachigkeit


Exemplare:
11 Dysphagien
Exemplare:
10 Gestörter Schriftspracherwerb
Exemplare:

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dgs 12
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Datum:
Memonotiz für Ihre Unterlagen
9 Stottern bei Jugendl. und Erw.

8 Stottern bei Kindern

7 Dysarthrie/Dysarthrophonie

6 Myofunktionelle Störungen

5 Aphasie

4 Förderung des Spracherwerbs

3 Störungen des Spracherwerbs

2 Stimmstörungen bei Jugendl. und Erw.

1 Stimmstörungen bei Kindern


Seit einigen Jahren beobachten Fachleute eine Zunahme von
Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen. Gleichzeitig wird Kommuni-
Gesamtkosten:

kation im Alltag, in der Schule und im Beruf zunehmend wichtiger.


Jede Broschüre innerhalb dieser Informationsreihe vermittelt Ihnen DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR SPRACHHEILPÄDAGOGIK E.V.
Kosten:

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Kosten:
notwendige Informationen über Erscheinungsbild und Ursachen
verschiedener Störungen. Sie sind leicht verständlich geschrieben

bei Mehrsprachigkeit
und übersichtlich gestaltet. Sie geben hilfreiche Anregungen, damit
Störungen gar nicht erst entstehen bzw. in ihrem Verlauf gemildert

Sprachentwicklung
werden. Auf diese Weise können sie eine gegebenenfalls
erforderliche Sprachtherapie sinnvoll unterstützen.
Über die Notwendigkeit einer Behandlung entscheiden Fachleute
aus dem medizinisch-sprachtherapeutischen Bereich. Dies ist also
Ihre erste Anlaufstelle bei auftretenden Problemen. Über Berufs-
Stempel

E-Mail

Telefax

Telefon-Durchwahl

Ansprechpartner/in

PLZ, Ort

Straße, Hausnummer

Firma/bzw. Vorname/Name
und Fachverbände (s.u.), Ihre Krankenkasse oder die

Absender:
Gesundheitsämter, erhalten Sie Adressen von qualifizierten
Fachleuten, die eine Sprachtherapie durchführen:

Deutscher Bundesverband der akademischen Sprachtherapeuten e.V. (dbs):

Goethestr. 16 Der dbs ist der Zusammenschluss akademisch ausgebildeter


47441 Moers SprachtherapeutInnen. Sie sind spezialisiert für die Prävention,
Fax: (0 28 41) 98 89 14 Diagnostik, Therapie, Beratung und Nachsorge bei Störungen der
Telefon: (0 28 41) 98 89 19 Laut- und Schriftsprache, des Sprechens, der Stimme und des
Internet: www.dbs-ev.de Schluckens. Akademische SprachtherapeutInnen behandeln Kinder,
E-Mail: [email protected] Jugendliche und Erwachsene. Ihre Tätigkeitsfelder umfassen den
klinisch-therapeutischen Bereich sowie Forschung und Lehre.

Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V. (dgs):

Goldammerstr. 34 Dieser Fachverband ist ein Zusammenschluss aller für die


12351 Berlin Sprachheilarbeit qualifizierten Personen. Er hat die Aufgabe,
Fax: (030) 661 60 24 die Sprachheilpädagogik und damit auch Ihre Interessen als
Telefon: (030) 661 60 04 Betroffene zu fördern.
12 351 Berlin

Goldammerstr. 34
Sprachheilpädagogik e.V. (dgs)
Deutsche Gesellschaft für

Internet: www.dgs-ev.de
E-Mail: [email protected]

Diese Broschüre wurde Ihnen überreicht durch


freimachen
Bitte
3

Sprachentwicklung bei Mehrsprachigkeit

Rund 19 Prozent der Menschen, die in Deutschland


leben, haben einen Migrationshintergrund. Unter den
bis Fünfjährigen sind es schon 33 Prozent, in Groß-
städten und Ballungsgebieten sind die Anteile noch
weit höher. Es leben also Menschen unterschiedlicher
Kulturen und Sprachen zusammen und immer mehr
Kinder wachsen mit zwei oder mehr Sprachen auf.
Mehrsprachigkeit wird in Deutschland unterschiedlich
wahrgenommen: Kinder, die neben Deutsch von Anfang
an eine zweite Sprache erlernen (z. B. Englisch), werden
unterstützt; bei Kindern, die Türkisch, Romanes, Ber-
berisch, Dari, Polnisch oder Russisch von zuhause mit-
bringen, werden vermeintliche Risiken des Mehrspra-
chenerwerbs häufig in den Vordergrund gestellt. Es gibt
viele Gründe für diese unterschiedlichen Wahrnehmun-
gen und Bewertungen:

■ Wir sind – anders als andere Länder – vertrauter


mit dem Zustand „Einsprachigkeit“;
■ Einige Kulturen stehen einander näher
als andere;
■ Viele Mythen und Irrtümer über
Mehrsprachigkeit haben sich im
Laufe der Zeit in unserem
Alltagswissen verankert.

Grund genug, sich genauer mit dem


mehrsprachigen Aufwachsen
zu beschäftigen.
4 5

Mehrsprachigkeit Wenn wir hier von mehrsprachigen Personen sprechen, Nach diesen Gedanken geht es auf den nächsten
sind all jene gemeint, die im Alltag mehr als eine Spra- Seiten darum,
che verwenden. Ausgewogene Fähigkeiten in allen
Sprachen sind dabei sehr selten. Viel häufiger liegt eine ■ wie Kinder mehrere Sprachen erwerben,
Art von Arbeitsteilung vor: Je nach Gesprächskontext, ■ wie sich Sprachentwicklungsstörungen bei
Gesprächspartner und Thema wird die eine oder die mehrsprachigen Kindern ausdrücken,
andere Sprache bevorzugt. So können z.B. Verwandt- ■ wie wir Kinder im Sprachenerwerb unterstützen
schaftsbeziehungen mit Wörtern wie Onkel, Tante, Cou- können.
sin oder Großvater väterlicherseits in der Sprache aus-
gedrückt werden, die überwiegend in der Familie
gesprochen wird, während in der anderen Sprache, die
in der Kita oder Schule gebraucht wird, Wörter wie Insgesamt erweist sich der grundlegende Spracherwerb Sprachentwicklung
Schultüte, Ranzen oder Heft bekannt sind. als „robust“. Wie sonst wäre es möglich, dass sich Kin-
der – unabhängig davon mit welchen Sprachen sie auf-
Eine besondere Fähigkeit bei Mehrsprachigen liegt im wachsen – in der Regel ohne große Mühe Sprache
Sprachwechsel und in der Sprachmischung. So können aneignen können? Dennoch haben eine Reihe von ihnen
sie, wenn sie sich mit anderen Mehrsprachigen unterhal- Schwierigkeiten: dies reicht von vorübergehenden Auf-
ten, von einer in die andere Sprache wechseln oder beide fälligkeiten bis hin zu schweren Sprachentwicklungsver-
Sprachen mischen – das kann mitten im Satz sein oder zögerungen oder -störungen.
während längerer Passagen. Zum Beispiel wird in „Voka-
beltest’de altı aldım“ (Ich habe eine sechs im Vokabeltest Bei mehrsprachigen Kindern besteht häufig von vorne-
bekommen) das Wort „Vokabeltest“ ins Türkische einge- herein die Angst, dass das mehrsprachige Aufwachsen
fügt, da es im Kontext von Schule und somit auf Deutsch an sich einen Risikofaktor bei der Ausbildung von
gelernt wurde. Meist gibt es eine Basissprache, auf die Sprachentwicklungsverzögerungen oder -störungen
sich die Gesprächspartner intuitiv einigen. Auf dieser darstellen könnte. Aus Wissenschaft und Forschung
Grundlage erfolgen dann Einflechtungen aus der oder wissen wir jedoch, dass dies nicht der Fall ist.
den anderen Sprachen. Dieses Mischen und Wechseln Mehrsprachige Kinder sind keineswegs häufiger als
der Sprachen wurde häufig problematisiert und als einsprachige von diesen Problemen betroffen.
Unvermögen angesehen, sich adäquat in einer Sprache Es gibt also keinen Grund, die Kinder nur
auszudrücken und Sprachen trennen zu können. Heute in einer Sprache zu erziehen.
weiß man jedoch, dass sich hierin keinesfalls fehlende
Fähigkeit zur Sprachentrennung oder sprachliches
Unvermögen ausdrückt. Vielmehr wird jeweils angemes-
sen auf den Gesprächspartner reagiert. So wird etwa im
Gespräch mit einsprachigen Personen die Sprache
gesprochen, die das Gegenüber versteht. Auch zeigten
wissenschaftliche Studien, dass gerade kompetente
Mehrsprachige Sprachwechsel und Sprachmischung
kreativ als stilistisches Element nutzen.
6 7

Natürliche Anzeichen der Mehrsprachigkeit wie Sprach- Erreichen ihrer Ziele angemessen einsetzen kann, wann
wechsel und Sprachmischung sowie unausgewogene „es sich gehört“ zu sprechen und wann es besser ist,
Fähigkeiten in den verschiedenen Sprachen führen zu zu schweigen. Im Alter von vier Jahren hat sich die
einer weiteren allgemeinen Unsicherheit. Sie betrifft die Sprache Deutsch in ihren Grundzügen entwickelt (siehe
Einschätzung des kindlichen Spracherwerbs und mün- Heft 4 der dgs-Reihe).
det in der Frage: Benötigt ein mehrsprachig aufwach-
sendes Kind grundsätzlich eine allgemeine Sprach-
fördermaßnahme in der Kindertagesstätte oder gar
eine systematische Sprachtherapie durch hierfür aus-
gebildete Fachkräfte?

Dies zu entscheiden ist gar nicht so einfach. Es handelt


sich vielmehr um ein – wie der Sprachwissenschaftler
Wolfgang Klein es formulierte – ziemlich verwickeltes
Phänomen, das von vielen Faktoren bestimmt wird.
Man muss sich daher ein genaues Bild von der Situa-
tion zu machen, in der ein Kind mehrere Sprachen
erwirbt. Denn wenn wir von mehrsprachigen Kindern
reden, ist dies bei Lichte betrachtet wenig aussage-
kräftig. Es gibt nicht „das“ mehrsprachige Kind. Die
Konstellationen und Bedingungen, in und unter denen
mehrere Sprachen erworben werden, sind sehr unter-
schiedlich. Die Auswirkungen auf den Spracherwerb
der Kinder lassen sich an den nun folgenden Beispielen
gut nachvollziehen.
Bilingualer Erstspracherwerb

Erstspracherwerb Beim klassischen Erstspracherwerb wachsen Kinder Beim bilingualen Erstspracherwerb wachsen Kinder
mit nur einer Sprache auf. Die Sprache, die sie im von Geburt an mit zwei Sprachen auf, eine dieser Spra-
Elternhaus erwerben ist gleichzeitig die der Umgebung. chen ist häufig auch die Umgebungssprache. Beide
Ein prototypischer Erstspracherwerb könnte folgender- Sprachen entwickeln sich dabei wie bei einsprachigen
maßen verlaufen: Kindern auch, es werden die gleichen sprachlichen
Lisa ist vier Jahre alt und wächst in Hannover auf. Ihre Meilensteine durchlaufen. Es gibt aber auch Unter-
Eltern sprechen Deutsch mit ihr und auch in der Umge- schiede: So kann die Entwicklung in einem Teilbereich
bung (Nachbarschaft, Kindergarten) wird Deutsch einer Sprache, wie z.B. Mehrzahlbildung, schneller
gesprochen. Sie erwirbt eine Sprache, nämlich die gehen kann als in der anderen. Dass beide Sprachen
Sprache des Landes, in dem sie groß wird. Lisa eignet sich von Anfang an entwickeln bedeutet also nicht,
sich Aussprache, Wortschatz, Grammatik und Sprach- dass sie sich im Gleichschritt entwickeln! Ein solcher
verständnis an. Sie lernt auch, wie sie Sprache zum Spracherwerb könnte folgendermaßen aussehen:
8 9

Maria ist fünf Jahre alt und wächst in Düsseldorf auf. Ihr
Vater kommt aus Italien und spricht Italienisch mit Früher Zweitspracherwerb
Maria, ihre Mutter kommt aus Deutschland und spricht
Deutsch mit ihr. Die Eltern verfolgen das Spracherzie- Beim frühen Zweitspracherwerb wachsen Kinder bis
hungsprinzip „eine Sprache – eine Person“, Maria zum Alter von drei bis vier Jahren (überwiegend) mit
wächst also mit einer Mutter- und mit einer Vatersprache einer Sprache auf, ihrer Erst- oder Familiensprache, die
auf. Sie erfährt, dass „caldo“ auf Italienisch etwas War- nicht die Umgebungssprache ist. Spätestens mit Eintritt
mes bezeichnet, auch wenn es sich fast wie das deut- in die Kita kommt eine weitere Sprache – die Umge-
sche Wörtchen „kalt“ anhört. Bis zum Alter von drei Jah- bungs- oder Zweitsprache Deutsch – hinzu. Der frühe
ren mischt Maria manchmal ihre Sprachen, z.B. sagt sie: Zweitspracherwerb erfolgt also zeitlich versetzt (suk-
„Mangiare machen!“ Das ist ganz typisch für Kinder, die zessiv) zum Erstspracherwerb. Da die Kinder mit der
von Beginn an zwei Sprachen erwerben. Sie leihen sich zweiten Sprache in der frühen Kindheit konfrontiert wer-
Wörter und Strukturen aus der Sprache, die weiter vor- den, können sie intuitiv auf die Strategien zurückgrei-
angeschritten ist. Nach dieser Phase trennt Maria die fen, die auch den Erstspracherwerb leiten. Sie schlüp-
Sprachen schließlich und setzt sie personengerecht ein. fen über die Sprachmelodie in die neue Sprache hinein
und eignen sich Aussprache, Wortschatz, Grammatik
und Sprachverständnis an. Ein Beispiel hierfür:
Murat ist fast fünf Jahre alt, wächst in Berlin auf und
spricht mit seinen Eltern überwiegend Türkisch. Als er
mit fast vier Jahren in die Kita kam, hat er angefangen
Deutsch zu lernen. Im ersten halben Jahr sprach er
nicht ein Wort Deutsch, doch dann sofort erste Sätze:
wie „ich auch machen“ oder „du malen das“.
Murats Vorgehen ist durchaus typisch für Kinder in die-
ser Situation: Er macht sich mit der Sprache zunächst
passiv vertraut, also über das Hören, bevor er aktiv wird
und zu sprechen beginnt. Daher wird diese Phase auch
als Schweigephase bezeichnet. Sie kann bis zu einem
halben Jahr andauern und kann bei vielen Kindern im
frühen Zweitspracherwerb beobachtet werden.
Während diese ersten Äußerungen von Murat noch
ungrammatisch sind, ist er nach gut einem Jahr des
Sprachkontakts ein Kenner der deutschen Sprache, wie
das nächste Beispiel demonstriert: Murat puzzelt
zusammen mit einer Erwachsenen ein Hundepuzzle
und sagt: „Du musst mir helfen. Ich brauch die Nase.“
(Er kennt das Wort „Schnauze“ noch nicht). Die Erzie-
herin verbessert: „Die Schnauze.“ Worauf Murat ant-
wortet: „Aber Schnauze ist was Böses.“ Die Äußerungen
Murats sind grammatisch korrekt und er benutzt Spra-
che, um über Sprache – hier die Bedeutung von Wör-
10 11

tern – nachzudenken. Während die Tätigkeitswörter Diese unterschiedlichen Bedingungen führen also dazu,
machen und malen in seinen ersten Äußerungen am dass Kinder zu verschiedenen Altersgrenzen bestimmte
Ende des Satzes platziert sind, stehen sie jetzt in der sprachliche Merkmale erwerben. Dies macht die Ein-
jeweils korrekten Stellung. Diese Erwerbsreihenfolge schätzung schwer, was als entwicklungsgerecht und
stimmt mit der beim unauffälligen Erwerb des Deut- was als verzögert oder abweichend und damit förder-
schen als Erstsprache überein. Auch so genannte Über- bzw. therapiebedürftig verstanden werden muss. Die
gangsphänomene, die Kinder auf dem Weg zum kor- Faustregel beim einsprachigen Erwerb „Im Alter von
rekten Ausdruck verwenden und die wir von vier Jahren ist die grammatische Entwicklung im Deut-
einsprachigen Kindern kennen, können bei Kindern im schen in Grundzügen erfolgt!“ können wir nicht auf Kin-
Zweitpracherwerb beobachtet werden: Das Kind sagt der übertragen, die erst mit drei oder vier Jahren begon-
zunächst „ich bin gelauft“ bevor es dann korrekt „ich bin nen haben, die zweite Sprache Deutsch zu erwerben.
gelaufen“ gebraucht. Mehrsprachige Kinder nutzen
unter Umständen eine größere Vielfalt solcher Formen Erschwerend kommt hinzu, dass die hier beschriebe-
als einsprachige und behalten sie länger bei. nen Typen des mehrsprachigen Aufwachsens in der
Realität nicht so eindeutig abgrenzbar sind. So können
je nach familiärer Konstellation noch weitere Sprachen
Auswirkungen auf die mehrsprachige Kompetenz eine Rolle spielen. Dies ist etwa der Fall, wenn Kinder
beim bilingualen Erstspracherwerb mit zwei Sprachen
Murats Zweitspracherwerb baut schon auf Kenntnis- (Mutter- und Vatersprache) aufwachsen und keine der
sen in seiner Familiensprache Türkisch auf. Er wusste beiden Sprachen die Umgebungssprache ist. Diese
bereits, was man mit Sprache bezwecken kann und wird erst mit Eintritt in die Kita erworben. Hier hätten wir
dass es bestimmte sprachliche Regeln gibt. Allerdings
fällt noch etwas auf, was den frühen Zweitspracher-
werb vom (bilingualen) Erstspracherwerb unterschei-
det: Murat erwirbt die zweite Sprache in der Kita. Hier
sind viele Kinder – auch solche wie er, für die die
Zweitsprache Neuland ist – und wenige Erwachsene,
die als Sprachvorbilder für die deutsche Sprache die-
nen können. Hingegen sind Lisa und auch Maria in der
glücklichen Lage, dass mindestens ein Elternteil
zuhause diese Rolle übernehmen kann. Es sind also
besondere (durchaus erschwerte) Bedingungen für den
Erwerb einer zweiten Sprache, vor allem, wenn diese
auf einem Niveau entwickelt werden muss, das den
Anforderungen unserer schriftsprachlich geprägten
Gesellschaft genügt. Murat ist trotz dieser schwierigen
Situation ein erfolgreicher Zweitspracherwerber: nach
12 Monaten hat er wesentliche Meilensteine (Stellung
des Tätigkeitswortes im Satz und Beugung des Tätig-
keitswortes) in der grammatischen Entwicklung des
Deutschen gemeistert.
12 13

es dann zwar mit dem bilingualen Erstspracherwerb zu Am Beispiel von Cem wollen wir uns der Sache annä-
tun, gleichzeitig aber auch mit dem sukzessiven Erwerb hern und einige Anhaltspunkte für einen gestörten
der Umgebungssprache. Auch die klare Trennung zwi- Spracherwerb bei Mehrsprachigkeit erläutern.
schen Familien- und Umgebungssprache ist in der Rea-
lität oftmals uneindeutig. denn in vielen Familien spie- Cem ist fast fünf Jahre alt, wächst in Stuttgart auf und
len beide Sprachen eine Rolle, beispielsweise wenn besucht seit gut einem Jahr den Kindergarten. Mit sei-
ältere Geschwister untereinander Deutsch sprechen nen Eltern spricht er Türkisch und im Kindergarten lernt
oder Eltern beide Sprachen auch zuhause sprechen er Deutsch als zweite Sprache (früher Zweitspracher-
und diese mischen. werb). Nach 14 Monaten des Sprachkontakts äußert er
sich im Deutschen so: „du male“ (du sollst malen), „du
Wie sieht nun eine Sprachentwicklungsstörung bei Kin- mach“ (mach du das doch!), „ich winn“ (ich gewinne),
dern im bilingualen Erstspracherwerb oder im frühen „ich nehmen das“ (ich nehme die Karte). Wenn wir uns
Zweitspracherwerb aus und woran erkennen wir sie? Murats Äußerungen nach 12 Kontaktmonaten ver-
gegenwärtigen, können wir deutliche Unterschiede
feststellen: Cems Äußerungen sind kurz, die Beugung
Störungen der Sprachentwicklung bei Mehrsprachigkeit des Tätigkeitswortes gelingt noch nicht und die Wort-
stellung ist fehlerhaft. Vergleichen wir Cems Äußerun-
Zunächst einmal müssen – wie bei einsprachigen Kin- gen mit denen von sprachentwicklungsgestörten ein-
dern auch – andere Schädigungen (wie des Hörorgans) sprachigen Kindern (siehe Heft 3 der dgs-Reihe), so
ausgeschlossen werden. Und dann? können wir feststellen, dass Cem die gleichen Fehler-
muster produziert.

Die Art der grammatischen Fehler kann also, unab-


hängig vom Erwerbstyp, als Indiz für eine Sprachent-
wicklungsproblematik dienen. Denn Studien zum bilin-
gualen Erstspracherwerb zeigen, dass auch hier die
gleichen Fehler gemacht werden wie beim einsprachi-
gen Erwerb. Sie zeigen außerdem, dass sprachgestörte
Kinder im bilingualen Erstspracherwerb in einigen
Bereichen bessere Ergebnisse erzielen als einsprachige
mit einer Erwerbsproblematik. Mehrsprachigkeit ist hier
also kein Nachteil, sondern ein Vorteil!

Ein weiteres Kriterium ist, dass die Sprachentwicklungs-


störung in allen Sprachen des Kindes auftritt, in Cems
Fall also auch im Türkischen. Hier ist zu beachten, dass
im Türkischen andere grammatische Bereiche betroffen
sind, weil das Türkische eine andere Sprachstruktur
besitzt als das Deutsche. Die Fehlermuster sind daher
einzelsprachenspezifisch und das Regelsystem der
jeweiligen Einzelsprache ist betroffen.
14 15

Ein besonderes Kriterium ist die Dauer des kontinu- Ein letztes Kriterium ist der erheblich verzögerte
ierlichen Kontakts mit der Zweitsprache. Es ist bes- Sprechbeginn in der Erstsprache. Das ist der Fall,
ser als Altersgrenzen in der Lage, als Maßstab zu die- wenn erst mit eineinhalb Jahren oder noch später erste
nen. Murat erwirbt Deutsch seit 12 Monaten, Cem seit Wörter auftreten. Ähnlich wie einsprachige Kinder auch,
14. Als Faustregel gilt: Ist nach einem Jahr (12 Kontakt- sind diese Kinder besonders gefährdet eine Sprachent-
monaten) die Satzklammer wie bei „du musst mir hel- wicklungsverzögerung oder -störung auszubilden.
fen“, also die korrekte Stellung und Beugung des Tätig-
keitswortes im deutschen Hauptsatz noch nicht Wir können also zusammenfassen:
erworben und werden lediglich kurze Zwei- bis Drei- ■ Nur eine Betrachtung der jeweiligen Erwerbskon-
wort-Äußerungen wie in Cems Fall produziert, kann stellation ermöglicht Einblicke in das Sprachvermö-
man nicht mehr von einem Zweitspracherwerb spre- gen des einzelnen Kindes;
chen, der nur allgemeine Förderung braucht. Hier müs- ■ Die Dauer des jeweiligen Kontakts mit der Zweit-
sen Fachleute wie z.B. SprachheilpädagogInnen oder sprache und die vor diesem Hintergrund erreichten
akademische SprachtherapeutInnen klären, ob eine Meilensteine in der grammatischen Entwicklung
Sprachentwicklungsstörung vorliegt. können als Kriterium für eine gefährdete Sprachent-
Ein weiteres Beispiel zeigt die Bedeutung der Sprach- wicklung dienen;
kontaktmonate zur Unterscheidung von normaler und ■ Nicht die Fehlerhaftigkeit beim Sprechen in der
gestörter Sprachentwicklung besonders anschaulich: Zweitsprache an sich ist entscheidend, sondern die
Denise ist fast sechs, spricht zuhause Russisch und Art der Fehler verbunden mit der Länge der Äuße-
lernt in der Kita seit 26 Monaten Deutsch. Sie will erzäh- rungen, die die Kinder produzieren;
len, dass sie an diesem Tag früher aus der Kita abge- ■ Störungen zeigen sich immer in beiden Sprachen, es
holt wird, weil sie zur Schulanmeldung muss: Ich geh gibt keine Sprachentwicklungsstörung, die nur in der
Schule melde. Heut (unverständliches Wort) ihr mich Zweitsprache auftritt;
lange lange sehe in Kindegate. Auf Denises Äußerung ■ Später Spracherwerbsbeginn in der Erstsprache
hin schauen sie die anderen Kinder, denen sie die Mit- erhärtet den Verdacht auf eine Sprachentwicklungs-
teilung macht, verständnislos an. Ihre ohnehin kurzen störung;
Äußerungen sind von grammatikalischen Fehlern, ■ Hörstörungen und andere Hindernisse
undeutlicher Aussprache und Wortschatzdefiziten müssen ausgeschlossen werden.
geprägt. Nach über zwei Jahren des Sprachkontakts
fehlen Denise die sprachlichen Möglichkeiten, sich
anderen mitzuteilen. Es wurde zu lange gewartet, um
abzuklären, ob ihre eingeschränkte Fähigkeit, Ziele
sprachlich zu verfolgen, nicht in einer Sprachentwick-
lungsstörung begründet ist. So ist wertvolle Zeit ver-
strichen und der Schulbesuch steht unmittelbar bevor.
16 17

■ bei Unterhaltungen mit anderen Eltern in der KITA in


der Umgebungssprache gesprochen wird;
■ Feste und Gebräuche der verschiedenen Kulturen
gemeinsam gefeiert werden;
■ der Einkauf bewusst nicht auf Läden der eigenen
Nationalität begrenzt bleibt;
■ Kinderlieder und Verse strophenweise in anderen
Sprache gesungen werden;
■ mehrsprachige Bilderbücher und -lexika
bereit stehen.

Damit geben wir dem Kind ein Signal, dass alle Spra-
chen wertvoll sind. Das Kind wird unausgesprochen
ermuntert und motiviert, diese zu lernen.

Neben der Wertschätzung wird dabei ein weiteres För-


derprinzip verwirklicht. Um die Mehrsprachigkeit zu för-
dern ist es wichtig, Verbindungen zwischen den Spra-
Tipps zur Unterstützung chen herzustellen. Das gelingt sehr gut beim Vorlesen in
zwei Sprachen (beim bilingualen Erstspracherwerb in der
Familie nach dem Prinzip „eine Person – eine Sprache“;
Es gibt zahlreiche Möglichkeiten im Alltag, mehrspra- bei frühem Zweitspracherwerb zuhause in der Familien-
chige Kinder in ihrem Spracherwerb zu fördern. Im sprache, im Kindergarten in der Zweitsprache Deutsch).
Zweifelsfalle ist es wichtig zu beurteilen, ob eine thera- Mittlerweile gibt es in den meisten Kindergärten und
piebedürftige Sprachentwicklungsstörung vorliegt. Büchereien wunderschöne zweisprachige Kinderbücher,
Akademische SprachtherapeutInnen und Sprachheil- die sich Eltern auch ausleihen und mit nach Hause neh-
pädagogInnen beraten Sie gerne. So können sie dabei men können. Wird im Kindergarten also eine Geschichte
helfen zu entscheiden, was für das jeweilige Kind am vorgelesen, können Eltern sie zuhause in ihrer Familien-
besten geeignet erscheint. sprache dem Kind vorlesen und kleine Gespräche führen.
Auch Kinderverse und -lieder bieten sich an, um das
Grundsätzlich gilt: Eine positive Einstellung gegenüber Sprachgefühl in beiden Sprachen zu stärken.
den Sprachen, auch der Zweitsprache, hilft dem Kind,
seine Sprachen anzunehmen, freudvoll mit seinen Spra- Genauso wie bei einsprachigen Kindern gilt also auch
chen umzugehen und sie als Werkzeug einzusetzen, um bei mehrsprachigen: Miteinander handeln, spielen
sich auszudrücken und seine Umgebung über Sprache und reden ist die beste Unterstützung, die geboten
zu entdecken. Diese Wertschätzung gegenüber den werden kann! (siehe auch Heft 4 der dgs-Reihe). Eltern
Sprachen und Kulturen kann sich z.B. in der Kinderta- sollten sich dabei der Sprache bedienen, die ihnen am
gestätte und/oder in der Familie darin zeigen, dass: Herzen liegt und in der sie sich zuhause fühlen. Denn
auf diese Weise bieten sie ihrem Kind die notwendige
■ im Eingangsbereich in verschiedenen Sprachen ein sprachliche Zuwendung und liefern ein authentisches
Willkommensgruß aushängt; und natürliches Sprachangebot.
18

Weitere Anregungen

finden Sie in folgenden Übersichten und Ratgebern:

Kinderverse, Kinderlieder und Vorlesebücher in mehre-


ren Sprachen gibt es in gut sortierten Buchläden und
Büchereien. Gut geeignet sind Bücher der Schweizer
Kinderbuchautorin und Illustratorin Silvia Hüsler. Eine
Übersicht findet sich auf www.silviahuesler.de

Nodari, Claudio; De Rosa, Raffaele (2003): Mehrspra-


chige Kinder. Ein Ratgeber für Eltern und andere Bezugs-
personen. Bern: Haupt.

Schindler, Angelika:
– Störungen des Spracherwerbs: Heft 3
– Förderung des Spracherwerbs: Heft 4
Beides sind Hefte aus der Informationsreihe der Deut-
schen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik (dgs).

Triarchi-Hermann, Vassilia (2003): Mehrsprachige


Erziehung. Wie Sie Ihr Kind fördern.

Vertiefende Literatur

Jampert, Karin; Zehnbauer, Anne; Sens, Andrea;


Leuckefeld, Kerstin; Laier, Mechthild (Hrsg.) (2009):
Kinder-Sprache stärken. Aufwachsen mit mehreren
Sprachen. Praxismaterial. Weimar, Berlin: verlag das
netz.

Tracy, Rosemarie (2007): Wie Kinder Sprachen lernen.


Und wie wir sie dabei unterstützen können. Tübingen:
Francke Verlag.
Bestellkarte

Mit der untenstehenden Karte können Sie aus unserer


dgs-Reihe zu Sprachstörungen die gewünschten Broschü-
ren bestellen.
쐍 Bei Bestellwert bis € 10,– fügen Sie bitte den Wert
in Briefmarken bei.
쐍 Bei Beträgen über € 10,– fügen Sie bitte einen
Verrechnungsscheck über den Gesamtbetrag bei, oder
überweisen Sie auf das nachfolgende Konto:
Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V. (dgs)
Bank für Sozialwirtschaft, BLZ: 25120510, Kto.: 840 20 00
dgs 1 dgs 8
Wir bestellen folgende Broschüren:
1 Stimmstörungen bei Kindern

bei Kindern
bei Kindern
_____ Expl. à € 1,– Gesamt € ______

Stimmstörungen

Stottern
2 Stimmstörungen bei Jugendlichen
dgs 2 und Erwachsenen dgs 9

Jugendlichen und
_____ Expl. à € 1,– Gesamt € ______

Erwachsenen

und Erwachsenen
bei Jugendlichen
3 Störungen des Spracherwerbs

Stimmstörungen
bei

Stottern
_____ Expl. à € 1,– Gesamt € ______
dgs 3 4 Förderung des Spracherwerbs dgs 10
_____ Expl. à € 1,– Gesamt € ______

Schriftspracherwerb
Spracherwerbs
5 Aphasie

Störungen des

Gestörter
_____ Expl. à € 1,– Gesamt € ______
6 Myofunktionelle Störungen
dgs 4 dgs 11
_____ Expl. à € 1,– Gesamt € ______

Spracherwerbs
7

Dysphagien
Dysarthrie/Dysarthrophonie
_____ Expl. à € 1,– Gesamt € ______

Förderung
des
8 Stottern bei Kindern
dgs 5 _____ Expl. à € 1,– Gesamt € ______ dgs 12

bei Mehrsprachigkeit
Sprachentwicklung
Impressum 9 Stottern bei Jugendlichen und
Erwachsenen

Aphasie
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V. (dgs) und _____ Expl. à € 1,– Gesamt € ______
Deutscher Bundesverband der akademischen Sprachtherapeuten e.V. (dbs) dgs 6 10 Gestörter Schriftspracherwerb
Autorin: Dr. Drorit Lengyel, akademische Sprachtherapeutin dbs _____ Expl. à € 1,– Gesamt € ______
Projektleitung: Angelika Schindler 11

Störungen
Dysphagien
Layout: Werbeagentur MWK, Köln _____ Expl. à € 1,– Gesamt € ______

Myofunktionelle
Titelfoto: www.istockphoto.com | ArtisticCaptures
Druck: 1. Auflage, 10.000 Exemplare
12 Sprachentwicklung bei Mehrsprachigkeit
dgs 7 _____ Expl. à € 1,– Gesamt € ______

Dysarthrophonie
Versand/Porto € 1,50
Total € ______

Dysarthrie und

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