0% fanden dieses Dokument nützlich (1 Abstimmung)
255 Ansichten20 Seiten

BENJAMIN, Walter. Über Den Begriff Der Geschichte (1942)

Das Dokument enthält Walter Benjamins Abhandlung 'Über den Begriff der Geschichte'. Benjamin untersucht darin verschiedene Aspekte der Geschichtsschreibung und plädiert für einen materialistischen Ansatz, der die Perspektive der Unterdrückten einbezieht. Er vergleicht die Geschichte mit einem Engel, der in einen Sturm gerät und immer weiter von der Vergangenheit weggetrieben wird.

Hochgeladen von

Roberto Kawano
Copyright
© © All Rights Reserved
Wir nehmen die Rechte an Inhalten ernst. Wenn Sie vermuten, dass dies Ihr Inhalt ist, beanspruchen Sie ihn hier.
Verfügbare Formate
Als PDF, TXT herunterladen oder online auf Scribd lesen
0% fanden dieses Dokument nützlich (1 Abstimmung)
255 Ansichten20 Seiten

BENJAMIN, Walter. Über Den Begriff Der Geschichte (1942)

Das Dokument enthält Walter Benjamins Abhandlung 'Über den Begriff der Geschichte'. Benjamin untersucht darin verschiedene Aspekte der Geschichtsschreibung und plädiert für einen materialistischen Ansatz, der die Perspektive der Unterdrückten einbezieht. Er vergleicht die Geschichte mit einem Engel, der in einen Sturm gerät und immer weiter von der Vergangenheit weggetrieben wird.

Hochgeladen von

Roberto Kawano
Copyright
© © All Rights Reserved
Wir nehmen die Rechte an Inhalten ernst. Wenn Sie vermuten, dass dies Ihr Inhalt ist, beanspruchen Sie ihn hier.
Verfügbare Formate
Als PDF, TXT herunterladen oder online auf Scribd lesen
Sie sind auf Seite 1/ 20

Walter Benjamin

Werke und Nachlaß


Kritische Gesamtausgabe

Im Auftrag der Hamburger


Stiftung zur Förderung
von Wissenschaft und Kultur
herausgegeben von
Christoph Gödde und Henri Lonitz
in Zusammenarbeit mit dem
Walter Benjamin Archiv

Band 19
Walter Benjamin

Über den Begriff der Geschichte


Herausgegeben von Gérard Raulet

Suhrkamp
Inhaltsübersicht

Texte
< Über den Begriff der Geschichte – Das Hannah-Arendt-Manuskript >
Faksimile und Transkription Seite 6
< Über den Begriff der Geschichte – Benjamins Handexemplar > Seite 30
< Thèses sur le concept d’histoire – Französische Fassung >
Faksimile und Transkription Seite 44
< Über den Begriff der Geschichte – Abschrift > Seite 69
Ueber den Begriff der Geschichte –
Das Dora-Benjamin-Typoskript Seite 83
< Geschichtsphilosophische Reflexionen / Von Walter Benjamin –
Posthume Abschrift > Seite 93
< Titel- und Widmungsblatt des Gedenkheftes von 1942 > Seite 106

Manuskripte – Entwürfe und Fassungen Seite 107

Kommentar
Vorbemerkung Seite 159
Entstehungs- und Publikationsgeschichte Seite 161
Zur Edition Seite 209
Lesarten, Varianten, Erläuterungen und Nachweise Seite 242
Dokumente Seite 310
Abkürzungen, Siglen, Zeichen Seite 362
Danksagung Seite 364
Zur Ausgabe Seite 365
Personenregister Seite 369
Inhaltsverzeichnis Seite 375

Impressum Seite 380

© Suhrkamp Verlag Berlin 2010


< Über den Begriff der Geschichte – Das Hannah-Arendt-Manuskript >

Die Faksimiles auf den Seiten 7 bis 15 sind auf 95 % verkleinert.


Die Seitenzahlen am Rand verweisen vom Faksimile auf die Umschrift
und von der Umschrift auf das Faksimile.

6 Über den Begriff der Geschichte


16

17

7
18

19

8 Über den Begriff der Geschichte


20

Das Hannah-Arendt-Manuskript 9
21

22

10
23

24

11
12 Über den Begriff der Geschichte
25

26

13
27

14 Über den Begriff der Geschichte


28

29

Das Hannah-Arendt-Manuskript 15
7 I

Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so


­konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit
einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie
sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im
Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte.
Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser
Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger
Zwerg darin, der die Hand der Puppe an Schnüren lenkte ein Meister
im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte.
Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philo­
sophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man „histo­
rischen Materialismus“ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem
aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute
bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken
lassen.

II

„Zu den bemerkenswertesten Eigentümlichkeiten des mensch­


lichen Gemüts“, sagt Lotze, „gehört neben so vieler Selbstsucht im
Einzelnen die allgemeine Neidlosigkeit jeder Gegenwart gegen ihre
Zukunft.“ Diese Reflexion führt darauf, daß das Bild von Glück,
das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert ist, in welche
der Verlauf unseres eignen Lebens uns nun einmal verwiesen hat.
Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die
wir geatmet haben, mit Menschen, die [zu] denen wir hätten reden,
mit Frauen, die sich uns hätten schenken können. Es schwingt, mit
andern Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die
der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche
die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die

16 Über den Begriff der Geschichte


Vergangenheit führt einen zeitlichen Index mit, durch den sie auf
die Erlösung verwiesen wird. Es besteht eine geheime Verabredung
zwischen den gewesnen Geschlechtern und unserem. Wir sind auf
der Erde erwartet worden. Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor
5 uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche
die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht
abzufertigen. Der historische Materialist weiß davon darum.

10 III

„Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung,


dann wird euch das Reich Gottes von selbst
zufallen.“ Hegel 1807
15

Der Klassenkampf, der einem Historiker, der an Marx geschult


ist, immer vor Augen steht, ist ein Kampf um die rohen und
materiellen Dinge, ohne die es keine feinen und spirituellen gibt.
Trotzdem sind diese letztern im Klassenkampf anders zugegen
20 denn als die Vorstellung einer Beute, die an den Sieger fällt. Sie sind
als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in
diesem Kampf lebendig und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück.
Sie werden immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden
jemals zufiel [zugef<al>len ist], in Frage ziehen [stellen]. Wie Blumen
25 ihr Haupt nach der Sonne wenden, so strebt im Treibhaus des
Historismus das kraft Gewesne eines Heliotropismus geheimer Art,
das Gewesene der Sonne sich zuzuwenden, die am Himmel der
Geschichte im Aufgehen ist. Auf diese unscheinbarste von allen
Veränderungen muß sich der historische Materialist verstehen.
30

17 Das Hannah-Arendt-Manuskript
8 IV

Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das
auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben
aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. „Die Wahrheit wird uns
nicht davonlaufen“ – dieses Wort, das von Gottfried Keller stammt,
bezeichnet im Geschichtsbild des Historismus genau die Stelle, an der
es vom historischen Materialismus durchschlagen wird. Denn es ist
ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegen­
wart zu verschwinden droht, welche [die] sich nicht als in ihm gemeint
erkannte. [  Die frohe Botschaft, die der Historiker der Vergangenheit
mit fliegenden Pulsen bringt, kommt aus einem Munde, der vielleicht
schon im Augenblick, da er sich auftut, ins Leere spricht.]

Vergangnes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen „wie


es denn eigentlich gewesen ist“. Es heißt, sich einer Erinnerung
bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzte. Dem
historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit
festzuhalten, wie es [sich] im Augenblick der Gefahr dem historischen
Subjekt unwillkürlich kommt [unversehens einstellt]. Die Gefahr
droht sowohl dem Bestande der Tradition wie ihre<m> Empfänger
selbst. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herr­
schenden Klasse herzugeben. Jeder Epoche ist aufgegeben [  In jeder
Epoche muß versucht werden], die Überlieferung von neuem dem
Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwäl­
tigen. Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als
der Überwinder des Antichrist. Nur derm Geschichtsschreibungeiber
wohnt die Gabe bei, im Vergangnen den Funken der Hoffnung anzu­
fachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem

18 Über den Begriff der Geschichte


Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen
nicht aufgehört.

VI
5

Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der


„Ausnahmezustand“, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu
einem Begriff von Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann
wird uns als unsere geschichtliche Aufgabe die Herbeiführung des
10 wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen; und dadurch wird
unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern.
Dessen Chance besteht nicht zuletzt darin, daß die Gegner ihm im
Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen. –
Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten
15 Jahrhundert „noch“ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht
nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung
von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.

20 VII 9

„Mein Flügel ist zum Schwung bereit


unIch kehrte gern zurück
denn blieb ich auch lebendge Zeit
25 ich hätte wenig Glück.“
Gerhard Scholem: Gruß vom Angelus

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist
darauf dargestellt, der aussieht als wäre er im Begriff, sich von etwas
30 zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein
Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der
Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit

19 Das Hannah-Arendt-Manuskript
zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint,
da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf
Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl
verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagne zusammenfügen.
Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln
verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen
kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er
den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufe vor ihm zu Himmel
wächst. W Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

VIII

Die Gegenstände, die die Klosterregel den Brüdern zur Meditation


anwies, hatten die Aufgabe, sie der Welt und ihrem Treiben abhold
zu machen. Der Gedankengang, den wir hier verfolgen, ist aus einer
ähnlichen Bestimmung hervorgegangen. Er beabsichtigt, in einem
Augenblick, da die Politiker, auf die die Gegner des Faschismus
gehofft hatten, am Boden liegen, und ihre Niederlage mit dem Verrat
an der eignen Sache bekräftigen, das politische Weltkind aus den
Netzen zu lösen, mit denen sie es umgarnt hatten. Diese Betrach­
tungsweise geht davon aus, daß der sture Fortschrittsglaube dieser
Politiker, ihr blindes Vertrauen in ihre „Massenbasis“ und schließlich
ihre servile Einordnung in einen unkontrollierbaren Apparat drei
Seiten derselben Sache gewesen sind. Sie sucht einen Begriff davon
zu geben, wie teuer unser gewohntes Denken eine Vorstellung von
Geschichte zu stehen kommt, die jede Komplizität mit der vermeidet,
an der diese Politiker weiter festhalten.

20 Über den Begriff der Geschichte


IX a 10

Der Konformismus, der von Anfang an in der Sozialdemokratie


heimisch gewesen ist, haftet nicht nur an ihrer politischen Taktik
5 sondern auch an ihren ökonomischen Vorstellungen. Er ist dieser eine
Ursache des späteren Zusammenbruchs. Es gibt nichts, was die
­deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hät hat wie die
Annahme, mit dem Strom zu schwimmen. Die wirtschaftliche
Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie
10 schwamm. Von da war es nur ein Schritt zu der Illusion, die Fabrik­
arbeit, die im Zuge des technischen Fortschritts gelegen sei, stelle eine
politische Leistung dar. Die alte protestantische Werkmoral feierte in
säkularisierter Gestalt bei den deutschen Arbeitern ihre Auferstehung.
Das Gothaer Programm trägt bereits Spuren dieser Verirrung an sich.
15 Es definierte die Arbeit als „die Quelle alles Reichtums und aller
Kultur.“ Böses ahnend, entgegnete Marx darauf, daß der Mensch, der
kein anderes Eigentum besitze als seine Arbeitskraft, „der Sklave der
andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern ... gemacht
haben.“ Die Konfusion griff um sich und bald darauf verkündete Josef
20 Dietzgen: „Arbeit heißt der Heiland der neueren Zeit ... In der ...
Verbesserung ... der Arbeit ... besteht der Reichtum, der jetzt voll­
bringen kann, was bisher kein Erlöser vollbracht hat.“ Dieser vul­gär­
marxistische Begriff von dem, was die Arbeit ist, hält sich bei der
Frage nicht lange auf, wie ihr Produkt den Arbeitern selber anschlägt,
25 solange sie nicht darüber verfügen können. Er nahm an [ in] der
Entwicklung der Technik nur die Fortschritte der Naturwissenschaft
<x> will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rück­
schritte der Gesellschaft wahrhaben. Er weist schon die technokrati­
schen Züge auf, die mit später zum [ im] Faschismus gehören werden.
30 begegnen werden. Zu ihnen gehört ein Naturbegriff, der sich auf
unheilverkündende Art von dem in den sozialistischen Utopien des
Vormärz abhebt. Die Arbeit, wie sie nunmehr verstanden wird, läuft

21 Das Hannah-Arendt-Manuskript

Das könnte Ihnen auch gefallen