teachSam-OER 2019
Nachts schlafen die Ratten doch
Wolfgang Borchert
Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. Staubge-
wölke flimmerte zwischen den steilgereckten Schorn-steinresten. Die Schuttwüste döste. Er
hatte die Augen zu. Mit einmal wur-de es noch dunkler. Er merkte, dass jemand gekommen war
und nun vor ihm stand, dunkel, leise. Jetzt haben sie mich! dachte er. Aber als er ein bisschen
5 blinzelte, sah er nur zwei etwas ärmlich behoste Beine. Die stan-den ziemlich krumm vor ihm,
dass er zwischen ihnen hindurchsehen konn-te. Er riskierte ein kleines Geblinzel an den Hosen-
beinen hoch und erkann-te einen älteren Mann. Der hatte ein Messer und einen Korb in der
Hand. Und etwas Erde an den Fingerspitzen.
Du schläfst hier wohl, was? fragte der Mann und sah von oben auf das Haargestrüpp herunter.
10 Jürgen blinzelte zwischen den Beinen des Mannes hindurch in die Sonne und sagte: Nein, ich
schlafe nicht. Ich muss hier aufpassen. Der Mann nickte: So, dafür hast du wohl den großen Stock
da?
Ja, antwortete Jürgen mutig und hielt den Stock fest.
Worauf passt du denn auf?
15 Das kann ich nicht sagen. Er hielt die Hände fest um den Stock.
Wohl auf Geld, was? Der Mann setzte den Korb ab und wischte das Messer an seinem Hosenbo-
den hin und her.
Nein, auf Geld überhaupt nicht, sagte Jürgen verächtlich. Auf etwas ganz anderes.
Na, was denn?
20 Ich kann es nicht sagen. Was anderes eben.
Na, denn nicht. Dann sage ich dir natürlich auch nicht, was ich hier im Korb habe. Der Mann stieß
mit dem Fuß an den Korb und klappte das Messer zu.
Pah, kann mir denken, was in dem Korb ist, meinte Jürgen geringschätzig, Kaninchenfutter.
Donnerwetter, ja! sagte der Mann verwundert, bist ja ein fixer Kerl. Wie alt bist du denn?
25 Neun.
Oha, denk mal an, neun also. Dann weißt du ja auch, wie viel drei mal neun sind, wie?
Klar, sagte Jürgen, und um Zeit zu gewinnen, sagte er noch: Das ist ja ganz leicht. Und er sah
durch die Beine des Mannes hindurch. Dreimal neun, nicht? fragte er noch einmal, siebenund-
zwanzig. Das wusste ich gleich.
30 Stimmt, sagte der Mann, und genauso viel Kaninchen habe ich.
Jürgen machte einen runden Mund: Siebenundzwanzig?
Du kannst sie sehen. Viele sind noch ganz jung. Willst du?
Ich kann doch nicht. Ich muss aufpassen, sagte Jürgen unsicher.
Immerzu? fragte der Mann, nachts auch?
35 Nachts auch. Immerzu. Immer. Jürgen sah an den krummen Beinen hoch. Seit Sonnabend schon,
flüsterte er.
Aber gehst du denn gar nicht nach Hause? Du musst doch essen.
Jürgen hob einen Stein hoch. Da lag ein halbes Brot. Und eine Blech-schachtel.
Du rauchst? fragte der Mann, hast du denn eine Pfeife?
40 Jürgen fasste seinen Stock fest an und sagte zaghaft: Ich drehe. Pfeife mag ich nicht.
Schade, der Mann bückte sich zu seinem Korb, die Kaninchen hättest du ruhig mal ansehen kön-
nen. Vor allem die Jungen. Vielleicht hättest du dir eines ausgesucht. Aber du kannst hier ja nicht
weg.
Nein, sagte Jürgen traurig, nein nein.
Autor: Gert Egle/www.teachsam.de Dieses Werk ist lizenziert unter einer
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SA - OER Logo © 2012 Jonathas Mello, used under a Creative Commons license BY-ND
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45 Der Mann nahm den Korb hoch und richtete sich auf. Na ja, wenn du hier bleiben musst - schade.
Und er drehte sich um.
Wenn du mich nicht verrätst, sagte Jürgen da schnell, es ist wegen den Ratten.
Die krummen Beine kamen einen Schritt zurück: Wegen den Ratten?
Ja, die essen doch von Toten. Von Menschen. Da leben sie doch von.
50 Wer sagt das?
Unser Lehrer.
Und du passt nun auf die Ratten auf? fragte der Mann.
Auf die doch nicht! Und dann sagte er ganz leise: Mein Bruder, der liegt nämlich da unten. Da.
Jürgen zeigte mit dem Stock auf die zusammenge-sackten Mauern. Unser Haus kriegte eine
55 Bombe. Mit einmal war das Licht weg im Keller. Und er auch. Wir haben noch gerufen. Er war
viel kleiner als ich. Erst vier. Er muss ja noch hier sein. Er ist doch viel kleiner als ich.
Der Mann sah von oben auf das Haargestrüpp. Aber dann sagte er plötz-lich: Ja, hat euer Lehrer
euch denn nicht gesagt, dass die Ratten nachts schlafen?
Nein, flüsterte Jürgen und sah mit einmal ganz müde aus, das hat er nicht gesagt.
60 Na, sagte der Mann, das ist aber ein Lehrer, wenn er das nicht mal weiß. Nachts schlafen die Rat-
ten doch. Nachts kannst du ruhig nach Hause ge-hen. Nachts schlafen sie immer. Wenn es dunkel
wird, schon.
Jürgen machte mit seinem Stock kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Betten sind das,
dachte er, alles kleine Betten.
65 Da sagte der Mann (und seine krummen Beine waren ganz unruhig dabei): Weißt du was? Jetzt
füttere ich schnell meine Kaninchen, und wenn es dunkel wird, hole ich dich ab. Vielleicht kann
ich eins mitbringen. Ein klei-nes oder, was meinst du?
Jürgen machte kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Kaninchen. Wei-ße, graue, weißgraue.
Ich weiß nicht, sagte er leise und sah auf die krum-men Beine, wenn sie wirklich nachts schlafen.
70 Der Mann stieg über die Mauerreste weg auf die Straße. Natürlich, sagte er von da, euer Lehrer
soll einpacken, wenn er das nicht mal weiß.
Da stand Jürgen auf und fragte: Wenn ich eins kriegen kann? Ein weißes vielleicht?
Ich will mal versuchen, rief der Mann schon im Weggehen, aber du musst hier solange warten.
Ich gehe dann mit dir nach Hause, weißt du? Ich muss deinem Vater doch sagen, wie so ein Ka-
75 ninchenstall gebaut wird. Denn das müsst ihr ja wissen.
Ja, rief Jürgen, ich warte. Ich muss ja noch aufpassen, bis es dunkel wird. Ich warte bestimmt.
Und er rief: Wir haben auch noch Bretter zu Hause. Kistenbretter, rief er.
Aber das hörte der Mann schon nicht mehr. Er lief mit seinen krummen Beinen auf die Sonne zu.
Die war schon rot vom Abend und Jürgen konnte sehen, wie sie durch die Beine hindurchschien,
80 so krumm waren sie. Und der Korb schwenkte aufgeregt hin und her. Kaninchenfutter war drin.
Grü-nes Kaninchenfutter, das war etwas grau vom Schutt.
(aus: Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk, Hamburg: Rowohlt 1949, S.216-219)
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