Doktor Faustus Springer
Doktor Faustus Springer
Doktor Faustus
(ver-)stimmen
Kompositionen zu Thomas Manns
Roman
Anna Maria Olivari
Berlin, Deutschland
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en) 2021. Dieses Buch ist eine Open-Access-Publikation.
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Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografi-
sche Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen
neutral.
Ohne die Hilfe vieler Menschen wäre diese Studie unmöglich gewesen. Die fol-
gende, sehr lange Liste erscheint mir daher mehr als notwendig und ich hoffe
sehr, niemanden vergessen zu haben.
Beginnen möchte ich mit den Komponist*innen, die mir ihre Partituren und
Aufnahmen zugeschickt haben und die sich dankenswerterweise für ein Interview
zur Verfügung gestellt haben. Auch standen sie mir mit wertvollen Ratschlä-
gen zur Seite: Herrn Prof. Giacomo Manzoni, der den gesamten Prozess der
Entstehung und Durchführung dieser Studie mitverfolgt hat sowie Herrn Prof.
Gabriele Manca, der mir Manzoni zum ersten Mal vorgestellt und ebenfalls die
Entstehung der gesamten Untersuchung beobachtet hat, gebührt mein besonde-
rer Dank. Ebenso danke ich Herrn Dr. Konrad Boehmer, der mit großer Freude
von meinem wissenschaftlichen Vorhaben erfuhr, jedoch leider im Jahr 2014
verstorben ist und so diese Studie nicht mehr lesen konnte. Weiters sind unter
den Komponist*innen auch Frau Prof. Elaine Fine, Herrn Prof. Karl-Wieland
Kurz, Herrn Lars Petter Hagen, Herrn Prof. Claude Lenners und Herrn Dr. Peter
Ruzicka zu nennen – sie alle haben mir ihre unveröffentlichten Werke zur Verfü-
gung gestellt und/oder wertvolle Informationen zu ihren Kompositionen gegeben.
Einige Komponist*innen, die in dieser Studie behandelt werden, waren leider
bereits verstorben, als ich mit der vorliegenden Arbeit begonnen habe. Dankens-
werterweise erhielt ich Einblick in Partituren, Aufnahmen und Informationen von
Herrn Prof. David Sutton-Anderson und Frau Prof. Avril Anderson (über Hum-
phrey Searle), Frau Prof. Dr. Margaret Murata (über Peter S. Odegard) und Herrn
András Ránki (über György Ránki). Ihnen sei für diese wertvolle Unterstützung
herzlich gedankt. Die nachstehenden Musikverlage, -akademien, -institutionen
und -archive haben mir Materialien zur Verfügung gestellt oder die Veröffent-
lichung von Auszügen aus den Partituren genehmigt. Ohne diese großzügige
VII
VIII Danksagung
Unterstützung hätte die Arbeit nicht in dieser Form entstehen können: An die-
ser Stelle seien die Konrad Boehmer Foundation, der Sikorski Verlag, das Teatro
alla Scala in Mailand, die Akademie der Künste in Berlin, die Bibliothek der
Universität der Künste in Berlin und die British Library in London erwähnt.
Auch wäre diese Arbeit ohne wissenschaftliche und finanzielle Unterstützung
nicht möglich gewesen: So möchte ich mich bei Frau Prof. Dr. Claudia Albert,
Herrn Prof. Dr. Bernhard Huß und Frau Prof. Dr. Sigrid Nieberle sowie bei
der FAZIT-STIFTUNG herzlich bedanken. Für die Lektüre von Textpassagen,
die Ratschläge oder einfach den kollegialen Austausch ein herzlicher Dank an
Frau PD Dr. Barbara Breysach, Frau Hanna Höfer-Lück, Herrn Sebastian Kluge,
Herrn Dr. Innokentij Kreknin, Frau Itta Olaj, Frau Dr. Carmen Preißinger und
Frau Rotraut Schmidt.
Last but not least danke ich meinem Mann, der jeden Schritt der Entstehung
und Durchführung dieser Studie miterlebt hat und dem diese Untersuchung gewid-
met ist, damit er die Freude am (Ver-)stimmen, die uns zusammengebracht hat,
nie verliert.
Einleitung
Thomas Manns Roman Doktor Faustus und dreizehn zwischen 1952 und 2011
entstandene Kompositionen bilden den Hauptgegenstand der vorliegenden, inter-
medial angelegten Studie. Die systematische Analyse eines „Musiker-Roman[s]“
(Ent: 25) im Spiegel seiner Vertonungen füllt eine Forschungslücke. Es sollen
wenig bekannte Musikwerke, die sich mit Motiven, Figuren und fiktiven Werken
aus Doktor Faustus beschäftigen, der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugäng-
lich gemacht werden. Um verdeutlichen zu können, warum von Forschungslücke
gesprochen werden kann, welche Erkenntnisse sich aus dem Umgang mit einem
solchen heterogenen Material gewinnen lassen und durch welchen methodischen
Ansatz man zu diesen Erkenntnissen gelangt, sei zunächst einmal Thomas Manns
Roman kurz angerissen. Thomas Mann veröffentlichte Doktor Faustus im Jahr
1947, nur zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Roman wurde
nicht in Deutschland, wo vor allem die Romanhandlung angesiedelt ist, geschrie-
ben, sondern im amerikanischen Exil. Seit 1941 lebte Mann mit seiner Familie
in Pacific Palisades in Los Angeles. Dort hatte er während des Schreibprozes-
ses die Hilfe seines „Ratgebers“ (Ent: 35) und „Instruktors“ (ebd.) Theodor
W. Adorno erhalten. Warum benötigte er die Unterstützung eines Philosophen
und Musikwissenschaftlers? Thomas Manns Pläne zu diesem Roman über einen
faustischen Teufelspakt reichen bis weit in die Zeit vor den Ersten Weltkrieg
zurück, reiften aber vor allem im Exil angesichts des Faschismus konkret heran.
Als Hauptfigur entwirft Mann die Komponistenfigur Adrian Leverkühn, die der
Leser*innenschaft durch die Erinnerungen des Erzählers Serenus Zeitblom nahe-
gebracht wird. Leverkühn kann sich als Komponist nur aufgrund eines Paktes mit
dem Teufel weiterentwickeln – die intime Beziehung mit der Prostituierten Esme-
ralda symbolisiert diesen Pakt. Leverkühn infiziert sich dadurch mit Syphilis und
wird später eine Kompositionstechnik anwenden, die jedoch – so die nach der
IX
X Einleitung
der Musiktheorie spricht man hinsichtlich dieser Technik von der Zwölf- oder
Reihentechnik bzw. der Dodekaphonie. Der Preis, den Leverkühn für seine Fort-
schritte auf dem Gebiet der Komposition zu zahlen hat, ist hoch, denn es kostet
ihn seine Fähigkeit zu lieben. Bevor Leverkühn seinem Syphilis-Leiden erliegt,
das ihn in die geistige Umnachtung führt, schreibt er seine einzige dodekapho-
nische Komposition, die er Dr. Fausti Weheklag nennt und in der er seine tiefe
Verzweiflung über den Tod seines Neffen Echo zum Ausdruck bringt.
In Anbetracht der oben erwähnten inhaltsbezogenen Gesichtspunkte scheint
es angemessen zu sein, den Roman als eine Bearbeitung des Faust-Stoffes zu
betrachten, und das obwohl sich der Name ‚Doktor Faustus‘ expressis verbis ledig-
lich im Titel des Romans und der letzten Komposition Leverkühns finden lässt.
Diese Zuordnung wird innerhalb der Forschung kontrovers diskutiert. Innerhalb
der vorliegenden Arbeit beschäftigt sich das sechste Kapitel mit dieser Klassifika-
tion und untersucht, inwiefern sie plausibel ist oder nicht.2 Ein weiterer kontrovers
diskutierter Aspekt ist die ‚Präsenz‘ des Teufels, die nicht eindeutig beschrieben
ist: Zum Zeitpunkt des Teufelsgesprächs in Palestrina war Leverkühn bereits infi-
ziert und, da Syphilis bekanntermaßen Halluzinationen bis hin zum Wahnsinn
verursachen kann, ist es nicht sicher, dass er dem Teufel wirklich begegnet ist.
Aus diesem Grund könnte beispielsweise die Figur, die in der kleinen, italieni-
schen Stadt auf dem Sofa von Leverkühns Zimmer sitzt und über Musik, Religion,
Zeit und Liebe spricht, eine reine Projektion des wahnsinnigen Leverkühn sein.
Ein weiterer problematischer Aspekt von Doktor Faustus, der innerhalb der For-
schung kontrovers diskutiert wird, liegt in der Verbindung der Neuen Musik3 mit
dem Teufel, die nicht nur beim eigentlichen Urheber des Kompositionssystems,
1 „Es scheint nicht überflüssig, den Leser zu verständigen, daß die im XXII. Kapitel dargestellte
Begriffs ‚Neue Musik‘ hin. Auch in dieser Studie erweist sich der „Relations- und Funk-
tionsbegriff“ als mehrdeutig und gewinnt vor allem in Abgrenzung zu eher populären oder
traditionellen Musikformen, z. B. zur Pop-, Jazz- oder Volksmusik, an Bedeutung. Die Kon-
texte, in denen Werke aufgeführt werden, sowie Gesamttendenzen im Werk eines*einer
Komponist*in ermöglichen ebenfalls eine nur aus heuristischen Gründen vorgenommene
Unterscheidung. Mit dem Begriff verknüpfen sich keinerlei Wertungsabsichten. Siehe Danu-
ser, Hermann: Art. Neue Musik. Einleitung, Allgemeines, Terminologisches. In: MGG Online.
Einleitung XI
Arnold Schönbergs, für Kritik sorgte.4 In diesem Roman wird die avantgardis-
tische Zwölftontechnik mit den politischen und kulturellen Entwicklungen des
faschistischen Deutschlands verknüpft und zudem auf Traditionen des reformato-
rischen Mittelalters zurückgeführt. Dass eine Figur wie Leverkühn den deutschen
Künstler*innentypus repräsentiert, der die Kunst und das Land ins Verderben
laufen lässt, erzeugt seither vielfältige Diskussionen.5
Bereits an dieser knappen Kontextualisierung des Romans lassen sich seine
verschiedenen Interpretationsebenen erkennen, die bisher in der Forschung dis-
kutiert wurden. Eine davon ist beispielsweise die religiöse Dimension, etwa die
Rolle Luthers im Text oder Leverkühns Theologie-Studium sowie die verschie-
denen religiösen Motive und Diskurse, wie z. B. der apokalyptische Diskurs
oder die Christus-Metaphorik. Auch besteht die Möglichkeit, die politische Ebene
in Betracht zu ziehen, also beispielsweise den Kridwiß-Kreis und die antisemi-
tischen Diskurse der damaligen Zeit sowie deren Bezüge auf politische Texte
und Akteur*innen.6 Seit vielen Jahren ist die Forschungsliteratur nicht nur über
Doktor Faustus, sondern auch über Thomas Mann und sein Werk stark ausdif-
ferenziert: Es gibt kaum Aspekte seines Schaffens und Lebens, die noch nicht
untersucht wurden. Auch Manns Verhältnis zur Musik sowie die Beschreibun-
gen von Musikstücken oder die intermedialen Bezüge etwa zu Kompositionen,
Komponist*innen und Musikformen in seinem Werk (und insbesondere in Dok-
tor Faustus) wurden weit rezipiert.7 Wenig jedoch – zu wenig – ist im Vergleich
Romans einfügen. Vgl. Fußnote 1; Ent. (Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, siehe
Siglenverzeichnis); Schoenberg, E. Randol (Hrsg): Apropos Doktor Faustus. Briefwechsel
Arnold Schönberg – Thomas Mann 1930–1951. Wien: Czernin 2009.
5 Dies auch vonseiten des Autors selbst, der zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Romans
einen „Roman eines Romans“, nämlich das Werk Die Entstehung des „Doktor Faustus“
erscheinen ließ, das sich in einem Spannungsverhältnis zwischen autobiographischem Roman
und Selbstkommentar bewegt. Für eine ausführliche Kontextualisierung von Doktor Faustus
sei hier u. a. auf Röcke, Werner (Hrsg.): Thomas Mann Doktor Faustus 1947–1997, Bern
(u. a.): Lang 2001 verwiesen.
6 All diese Dimensionen wurden bereits untersucht, vgl. das Literaturverzeichnis der vorlie-
genden Studie.
7 Exemplarisch sei hier auf die folgenden aktuellen Publikationen verwiesen: Honold, Alex-
ander: Kontrapunkt. Zur Geschichte musikalischer und literarischer Stimmführung bis in die
Gegenwart. In: Gess, Nicola u. Alexander Honold (Hrsg.): Handbuch Literatur & Musik.
Berlin/Boston: de Gruyter 2017, S. 508–534 (insb. S. 529); Lubkoll, Christine: Musik in
XII Einleitung
Literatur: Telling. In: ebd., S. 78–94 (insb. S. 85 ff.); Wolf, Werner: Musik in Literatur: Sho-
wing. In: ebd., S. 95–113 (insb. S. 99 f.); Weiher, Frank: Die literarische ‚Wiedergabe‘ fiktiver
Musik. Über Adrian Leverkühns Kompositionen in Doktor Faustus. In: Calzoni, Raul, Peter
Kofler u. Valentina Savietto (Hrsg.): Intermedialität – Multimedialität. Literatur und Musik
in Deutschland von 1900 bis heute. Göttingen: V&R 2015, S. 77–87; Knöferl, Eva: „Dies
Glasperlenspiel mit schwarzen Perlen“: Musik und Moralität bei Hermann Hesse und Thomas
Mann. Würzburg: Ergon 2012; Trabert, Florian: „Kein Lied an die Freude“. Die Neue Musik
des 20. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Erzählliteratur von Thomas Manns Doktor
Faustus bis zur Gegenwart. Würzburg: Ergon 2011, S. 175–315; Vaget, Hans Rudolf: See-
lenzauber. Thomas Mann und die Musik. Frankfurt am Main: Fischer 2006; Mertens, Volker:
Groß ist das Geheimnis. Thomas Mann und die Musik. Leipzig: Militzke 2006; Börnchen,
Stefan: Kryptenhall. Allegorien von Schrift, Stimme und Musik in Thomas Manns „Doktor
Faustus“. München: Fink 2006.
8 Auf die hier verwendete Terminologie aus der Intermedialitätsforschung geht das erste
Kapitel der Arbeit ein. Vgl. Sorg, Timo: Beziehungszauber. Musikalische Interpretation und
Realisation der Werke Thomas Manns. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012; Ziolkow-
ski, Theodore: Leverkühn’s Compositions and their Musical Realizations. In: The Modern
Language Review 3 (Juli 2012) H. 107, S. 837–856; Wißmann, Friederike: Faust im Musik-
theater des zwanzigsten Jahrhunderts. Berlin: Mensch und Buch 2003; Hoffmann, Heike u. a.
(Hrsg.): Die musikalische Welt des Adrian Leverkühn. Ein Projekt zum ‚Faustus‘-Roman
von Thomas Mann, Konzerthaus Berlin 1996–97; Olivari, Anna Maria: Zwischen Novelle
und Tanz. „Mario und der Zauberer“ von Thomas Mann im Vergleich mit der gleichnamigen
Tanzszene von Siegfried Matthus. In: Nagelschmidt, Ilse, Albrecht von Massow u. Almut
Konstanze Nickel (Hrsg.): „Die weiten Flügel der Musik: von Ostpreußen nach Berlin in die
Welt“. Der Komponist Siegfried Matthus. Weimar: Denkena 2016, S. 49–58. Sehr nützlich ist
außerdem für die Recherche zu Vertonungen von literarischen Motiven und Stoffen die Daten-
bank von Frank und Michael Schneider. Zu denen von Thomas Manns Werk siehe: Schneider,
Frank u. Michael: Mann, Thomas. In: Klassikthemen. Stoffe und Motive der Musik. <http://
klassikthemen.de/datakat1.php?one=Mann,%20Thomas> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
Einleitung XIII
Wie lässt sich ein solches heterogenes Material, das etwa aus Opern, Monodra-
men und instrumentalen Kompositionen besteht, die zudem zu unterschiedlichen
Zeiten und in unterschiedlichen Ländern entstanden sind, überhaupt analysieren?
Zunächst ist die Art der Mikroformen des „Musiker-Roman[s]“ (Ent: 25) Doktor
Faustus, die in das Medium der Musik transponiert werden, zu benennen: z. B.
Motive, Figuren und Diskurse des Romans sowie fiktive Werke Adrian Lever-
kühns. Daraus ergibt sich eine erste Einteilung des Vorhabens in die Analyse
von Kompositionen, die Zeitbloms Beschreibungen von Leverkühns fiktiven Wer-
ken in die Musik transferieren, und Kompositionen, die sich Figuren des Romans
zuwenden. Teil zwei beschäftigt sich mit der ersten vorher genannten Unterkate-
gorie und Teil drei mit der zweiten. Zudem geben die Titel der Unterabschnitte
über die jeweils behandelten Motive und Diskurse aus Doktor Faustus Auskunft.
In einem zweiten Schritt wird der Frage nachgegangen, weshalb ausgerech-
net diese Mikroformen in das Medium der Musik transponiert wurden und wie
das mit den Mitteln des neuen Mediums überhaupt möglich ist. Die einzelnen
Abschnitte in den Kapiteln, insbesondere die Abschnitte zu den Kompositio-
nen, geben darauf eine Antwort. Dadurch entstehen neue Lesarten des Romans,
die sich durch drei methodisch-interpretatorische Herangehensweisen untersuchen
lassen. Erstens ist der Entstehungskontext zu beachten: Der apokalyptische Dis-
kurs gewinnt beispielsweise in den 1980er Jahren u. a. aufgrund der Angst vor
einem Atomkrieg an Bedeutung und an Facetten, die sich zum apokalyptischen
Diskurs aus Thomas Manns Zeit, also sowohl aus der Zeit vor dem Zweiten
Weltkrieg als auch aus den letzten Jahren des Weltkonflikts, leicht unterschei-
det.9 Zweitens sind diese neuen Lesarten medial bedingt, da sie dem Versuch und
den Umwegen entspringen, Mikroformen aus dem Medium der fiktionalen Schrift
in das Medium der Musik, das sich anderer Codes und Mittel bedient, zu transfe-
rieren. Drittens lassen sich die neuen Sichtweisen auf Thomas Manns Werk mit
Roland Barthes dadurch erklären, dass sich in diesem Fall die Gruppe, die Dok-
tor Faustus liest, rezipiert und in Musik übersetzt, aus professionell ausgebildeten
Komponist*innen besteht.10 Diese lesen folglich etwa Zeitbloms Schilderun-
gen von Leverkühns Werken und Absichten aus der Perspektive und mit dem
Vorwissen eines*r Musikproduzent*in. Beispielsweise erklären alle in dieser Stu-
die behandelten Komponist*innen Leverkühns Absicht, die Neunte Symphonie
zurückzunehmen, für unmöglich und integrieren Zitate aus Beethovens letztem
9 Vgl.Kap. 4.
10 Barthes,Roland: Der Tod des Autors (1968). In: Ders.: Texte zur Theorie der Autorschaft.
Hrsg. u. kommentiert v. Fotis Jannidis u. a. Stuttgart: Philipp Reclam 2000, S. 185–193, hier:
S. 192.
XIV Einleitung
11 Von ca. 18 Kompositionen mussten aus verschiedenen Gründen (z. B. Umfang, Unauffind-
barkeit der Quellen, Verortung der vorliegenden Studie in der Musikliteraturforschung oder zu
eingeschränktem Bezug auf den Roman) fünf ausgelassen werden. Für eine detaillierte Liste
aller intermedialen Transpositionen bzw. Bezugnahmen sei hier auf die mehrfach aktualisierte
Datenbank Schneiders (siehe Fußnote 8) und Sorg: Beziehungszauber, S. 307 ff. verwiesen.
12 Vgl. 9.2.1.
Einleitung XV
von Doktor Faustus in der analytischen Praxis nur durch ein genuin inter-
disziplinäres Vorgehen rekonstruieren lässt. Als direkte Konsequenz wird hier
keine Auswahl zwischen den drei von Scher identifizierten Gegenstandsbereichen
musikliterarischer intermedialer Forschung („Musik in der Literatur“,13 „Musik
und Literatur“14 und „Literatur in der Musik“15 ) getroffen. Vielmehr behandelt
diese Studie alle drei Bereiche. „[W]erk-/aufführungsintern nachweisbare“16 und
„werk-/aufführungsübergreifend erschließbare“17 Intermedialitätsbezüge, die also
entweder am jeweiligen Werk bzw. an der jeweiligen Aufführung oder außerhalb
des Werkes bzw. der Aufführung z. B. durch den Vergleich mit einem anderen
Werk bzw. einer anderen Aufführung festzumachen sind, werden kombiniert und
bilden das analytische Werkzeug. Diese interdisziplinäre Doppelperspektive, die
sich weder rein literaturzentriert noch rein musikzentriert versteht, scheint für
eine Tandem-Untersuchung wie sie diese Arbeit darstellt, besonders angebracht
zu sein: Um die von Mediengrenzen ermöglichten Spielräume beschreiben zu
können, hilft sowohl das Bewusstsein für mediale Differenzen als auch der Blick
vom Feld der Literatur auf die Musik und vice versa.18 So können die kom-
plexen, zirkulären Verweisstrukturen zwischen den beiden Diskursen, die beim
Transponieren oder Sich-Beziehen auf Thomas Manns Roman entstehen, erfasst
werden.
Im Folgenden sei die Struktur der Arbeit kurz geschildert. Wie bereits ange-
deutet, kristallisierten sich aus der Recherche nach Kompositionen zu Thomas
Manns Doktor Faustus einige Gemeinsamkeiten heraus, die hauptsächlich mit
der Auswahl einer bestimmten Mikroform als Vorlage des Komponierens zu tun
haben. Diese Feststellung ermöglicht eine erste Einordnung der Kompositionen
nach transponierten fiktiven Werken (z. B. der Apocalipsis cum figuris)19 oder
13 Scher, Steven Paul: Literatur und Musik – Entwicklung und Stand der Forschung. In: Ders.
(Hrsg.): Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen
Grenzgebietes. Berlin: Schmidt 1984, S. 9–25, hier: S. 14.
14 Ebd.
15 Ebd.
16 Wolf: Musik in Literatur: Showing, S. 98.
17 Ebd.
18 Dazu vgl. Kap. 1 sowie Rajewsky, Irina O.: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln. Über-
Figuren (z. B. Rudolf Schwerdtfeger),20 was sich auch in der Struktur der Arbeit
niederschlägt: Der zweite Teil befasst sich mit den fiktiven Werken und der dritte
Teil mit den Figuren. Warum diese Untergliederung? Weil sich die Analyse mit
leicht unterschiedlichen Gegenständen und methodischen Ansätzen befasst, wie
es im Folgenden veranschaulicht werden soll. Nimmt man die fiktiven Werke
Leverkühns in den Blick, so steht die Umsetzung vor allem des intermedialen tel-
ling durch die Erzählinstanz Zeitblom, d. h. seine Beschreibungen von Leverkühns
Werken, im Medium der Musik im Vordergrund. Dieses Prozedere lässt sich unter
der Formel von der Musik im Text zur Musik in der Musik resümieren. Wendet sich
die Analyse hingegen einer Figur aus dem Roman zu, so befasst sie sich primär
mit dem Transfer von Figurencharakteristika vom Text in die Musik. In einem
Erzähltext wird der Leser*innenschaft eine Figur hauptsächlich durch narratolo-
gisches telling und showing, also durch Kommentare der Erzählinstanz oder das
bloße Zeigen von Eigenschaften präsentiert. In einer Oper kann eine Figur z. B.
durch den Text, die Gestik und die Mimik sowie den Stimmtypus charakterisiert
werden. In einem instrumentalen Werk ist die Figurencharakterisierung bis zu
einem gewissen Grad möglich, nämlich beispielsweise durch paratextuelle Anga-
ben oder durch Instrumente, die man mit der jeweiligen Figur verbinden kann. Es
liegt nahe, dass sich folglich Teil drei mit unterschiedlichen Kategorien aus der
narratologischen und intermedialen Forschung auseinandersetzt. Das in diesem
Teil angewandte Prozedere lässt sich unter der Formel vom Text im Text zum Text
in der Musik subsumieren. Teil eins dient einer ausführlichen Schilderung der For-
schungsziele und der Methode, die später im Laufe der Arbeit Anwendung findet,
und widmet sich einer den ersten Reaktionen auf Thomas Manns Roman, näm-
lich dem Libretto von Eislers Johann Faustus (1952), das vom Komponisten nie
vollständig vertont wurde. Dieses Werk wird im ersten Teil behandelt, einerseits
weil es sich um eine intermediale Bezugnahme handelt, die nicht nur auf Tho-
mas Manns Doktor Faustus, sondern z. B. auch auf Goethes Faust Bezug nimmt,
andererseits weil es über keine Musik verfügt. Die Untersuchung von Eislers Werk
bietet allerdings einen guten Einstieg in die Praxis des Medienvergleichs.
Die Kapitel von Teil zwei und drei weisen eine zweiteilige Struktur auf, die
den vorher präsentierten Formeln, nämlich von der Musik im Text zur Musik in der
Musik und vom Text im Text zum Text in der Musik, Rechnung tragen. Dement-
sprechend werden, ausgehend von einer Analyse des Romans, die Kompositionen
untersucht. Die Leser*innenschaft hat somit die beiden Schritte und Felder der
Analyse, Literatur und Musik, stets vor Augen.
20 Vgl. Kap. 9.
Einleitung XVII
Nun könnte die Frage entstehen, warum Thomas Manns Roman für diese
Untersuchung gewählt wurde. Doktor Faustus ist bekanntlich nicht der einzige
Musikroman der deutschsprachigen Literatur: Als vergleichbare Werke aus dem
20. Jahrhundert seien exemplarisch Franz Werfels Verdi (1924), Klaus Manns
Symphonie Pathétique (1935), Hermann HessesDas Glasperlenspiel (1943), Tho-
mas Bernhards Der Untergeher (1983) oder Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin
(1983) erwähnt. Abgesehen davon, dass für diese Werke keine oder sehr wenige
darauf bezogene Kompositionen auffindbar sind,21 liegt es nahe, dass es sich bei
Doktor Faustus um einen Roman handelt, der aufgrund seiner komplexen verbal
music immer wieder einen gängigen Untersuchungsgegenstand literaturzentrier-
ter Intermedialität darstellt22 und auf den die Neue Musik durch Kompositionen
vielfältiger Art reagiert hat, z. B. mit elektronischer Musik, Oper, Monodrama,
Werken mit Instrumenten aus der norwegischen Volksmusik oder auch rein
instrumentaler Musik für diverse Besetzungen.23 Die zentrale Provokation die-
ses Romans, nämlich die Verbindung der Neuen Musik mit dem Dämonischen,
hat offenbar auf die zeitgenössische Musik intensiv eingewirkt.
Die Musik in Doktor Faustus – in Form etwa von Klangchiffren, Musi-
kerfiguren, fiktiven Musikwerken und musikwissenschaftlichen Diskursen zur
Sterilität der Kunst und zum Spätwerk Beethovens – bildet den Ausgangspunkt
des Komponierens. Der Roman wird somit in das Medium der Musik oder in
die Plurimedialität der Oper transferiert und verlässt daher zum Teil das Gebiet
der Literatur, indem zugleich aber vom Gebiet der Musik aus immer wieder
auf die literarische Vorlage durch Evokation, Simulation oder (Teil-)reproduktion
21 Z. B. zu Hesses Das Glasperlenspiel: Günter Bialas’ Musik des Weltalls für Violine und
Klavier (1945/46; stark beschädigtes Manuskript), Tomás Marco Aragóns Glasperlenspiel für
2 Klaviere (1993/94), Luca Antignanis Il giuoco delle perle di vetro für Orchester (2006); zu
Bernhards Der Untergeher: David Langs Oper the loser (2016); zu Jelineks Die Klavierspie-
lerin: Patricia Jüngers Melodram in einem Akt Die Klavierspielerin (1989). Siehe Schneider,
F. u. M.: Hesse, Hermann. In: Klassikthemen. <http://klassikthemen.de/datakat.php?site=
1&var1=wert1&var2=wert2&one=hesse> (letzter Zugriff: 21.08.2020); Meyer, Gabriele E.:
Bialas, Günter: Werkverzeichnis. Kassel (u. a.): Bärenreiter 2003, S. 42; Resch, Inka (u. a.):
the loser. In: David Lang Music. <https://davidlangmusic.com/music/loser> (letzter Zugriff:
21.08.2020); Unseld, Melanie: Art. Jelinek, Elfriede, Werke. In: MGG Online. 26.07.2017.
<https://www.mgg-online.com/mgg/stable/50998> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
22 Es erscheint kaum ein Sammelband zur musikliterarischen Intermedialität, der nicht auf
Thomas Manns Roman eingeht. Siehe etwa Scher, S. P. (Hrsg.): Literatur und Musik; Cal-
zoni, Kofler u. Savietto (Hrsg.): Intermedialität – Multimedialität; Gess u. Honold (Hrsg.):
Handbuch Literatur & Musik.
23 Siehe etwa die Aufsätze von Honold, W. Wolf und Lubkoll (Fußnote 7). Zum Begriff
‚verbal music‘ vgl. Scher, S. P.: Verbal Music in German Literature. New Haven/London:
Yale University Press 1968.
XVIII Einleitung
Bezug genommen wird. Doktor Faustus selbst verdankt seine Entstehung Diskur-
sen und Mythen, die ebenfalls dem Bereich der Musik- und Musikwissenschaft
entspringen. Im Zentrum des Romans steht zudem auch die Beschreibung von
Kompositionstechniken und -tendenzen der Neuen Musik zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts, etwa Schönbergs „Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander
bezogenen Tönen“,24 die im Rahmen von Werken rezipiert werden, die sich ähn-
licher Musikstile bedienen oder von ihnen ausgehen, und die sich sogar – wie
im Fall von Konrad Boehmers Apocalipsis cum figuris – mit ähnlichen kompo-
sitorischen Anliegen (z. B. der Denaturierung des Klangs) beschäftigen.25 Die
Folgen dieses Transfers in das Medium der Musik sind unterschiedlicher Art:
Humphrey Searle versucht beispielsweise, das intermediale telling des Romans
umzusetzen,26 Fine und Hagen schreiben eine Komposition für das von der
Erzählinstanz gespielte Instrument (die Viola d’amore) bzw. für ein affines (die
Hardangerfiedel).27 Im neuen Medium wird zudem auf dieselben Akteur*innen
der Musikgeschichte und -philosophie (z. B.: Beethoven, Adorno, Schönberg,
Strawinsky) Bezug genommen – und diese Kompositionen werden manchmal
sogar in Kontexten wie den Donaueschinger Musiktagen aufgeführt, die eben-
falls im Roman Erwähnung finden. Die Leser*innenschaft erwartet daher ein sehr
heterogenes und vielfältiges Korpus an Musikwerken.
Die vorliegende Studie füllt eine Forschungslücke, indem sie die kompo-
sitorische Rezeptionsgeschichte von Doktor Faustus aus einer intermedialen
Perspektive beleuchtet. Kontinuitäten und Differenzen zwischen Roman und
Kompositionen stehen im Zentrum, während zugleich das Instrumentarium der
Intermedialitätsforschung erprobt, erweitert und aktualisiert wird. Ausgehend vom
heuristisch produktiven und dynamischen Potenzial der Mediengrenze wird dar-
über hinaus auch ein Mehrwert der Literatur, der Musik und des Austausches
zwischen Literatur und Musik Konturen gewinnen. Um diesen Mehrwert veran-
schaulichen zu können, wird sich nun diese Arbeit auf die Spuren jener zirkulären,
rückkoppelnden Effekte (Text – Musik – Text) begeben, die aus der gleichzeiti-
gen Analyse von Roman und Kompositionen hervorgehen und sogar Neulektüren
von sonst weit rezipierten literarischen Werken wie Doktor Faustus zu bewirken
vermögen.
24 Schönberg, Arnold: Komposition mit zwölf Tönen. In: Ders.: Stil und Gedanke. Aufsätze
zur Musik. Hrsg. v. Ivan Vojtěch. Frankfurt am Main: Fischer 1976, S. 72–96, hier: S. 75,
Herv. i. O.
25 Vgl. 4.2.1.
26 Vgl. 4.2.3 u. 5.2.4.
27 Vgl. 7.2.
Inhaltsverzeichnis
XIX
XX Inhaltsverzeichnis
Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
Teil I
Intermedialität und intermediale Analysen
Forschungsziele und Methode
1
Gegenstand dieser Untersuchung sind Werke, die das Resultat komplexer und
vielfältiger Medienkombinationen, intermedialer Transfers und Transformatio-
nen sind oder an denen sich zahlreiche intra-, inter- und transmediale Bezüge
erkennen lassen.1 Zunächst einmal ist Thomas Manns Doktor Faustus selbst
ein sehr geeigneter literarischer Text zur Erforschung von Intermedialität, da
er die Grenzen der Literatur mehrfach überschreitet und eine Annäherung an
bildende Kunst und Musik wagt.2 Auch enthält diese Arbeit Analysen von Kom-
positionen und Werken, die verschiedene Medien, wie etwa Manzonis Doktor
Faustus3 oder Boehmers Apocalipsis cum figuris4 kombinieren und die auf Tho-
mas Manns höchst kontroversen „Musiker-Roman“ (Ent: 25) reagieren, indem
sie Mikroformen des Romans verschiedener Art (Motive, fiktive Werke, Figuren)
in ein anderes kommunikativ-semiotisches System transferieren.5 Diese Werke,
wie z. B. Hagens To Zeitblom6 oder Henzes Violinkonzert7 gehen dadurch ihrer-
seits an die Grenze zwischen den beiden Gebieten der Musik und der Literatur
1 Zur hier verwendeten Terminologie, die im Folgenden erläutert wird, siehe u. a. Rajew-
sky, I. O.: Intermedialität. Tübingen/Basel: Francke 2002, S. 15–18 und Gess, Nicola:
Intermedialität reconsidered. Vom Paragone bei Hoffmann bis zum Inneren Monolog bei
Schnitzler. In: Poetica 40 (2010) H. 1–2, S. 139–168 (insb. S. 141–144).
2 Vgl. Einleitung.
3 Vgl. 5.2.1, 6.2, 7.2.3, 8.2.4, 10.2 u. 11.2.3.
4 Vgl. 4.2.1.
5 Vgl. Gess: Intermedialität reconsidered, S. 141. Gess stützt sich auf Paech, Joachim:
1.1 Begriffsklärung
8 Vgl. 5.2.2.
9 Vgl. 8.2.3.
10 Vgl. 6.2.
11 Siehe dazu Rajewsky: Intermedialität, S. 2–5.
1.1 Begriffsklärung 5
1.1.1 Intermedialität
12 Ebd., S. 13.
13 Wolf, W.: Intermedialität. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Metzler Lexikon. Literatur und
Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler 2013 [1998], 5. erw.
und aktual. Aufl., S. 344 ff., hier: S. 344.
14 Ebd.
15 Ebd. Zur werkinternen und werkexternen Intermedialität siehe auch Wolf: Musik in
Literatur: Showing, S. 98. Auf die beiden Begriffe wird später eingegangen.
16 Wirth, Uwe: Hypertextuelle Aufpfropfung als Übergangsform zwischen Intermedialität
und Transmedialität. In: Meyer, Urs, Roberto Simanowski u. Christoph Zeller (Hrsg.):
Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Göttingen: Wallstein 2006,
S. 19–38, hier: S. 19.
17 Ebd.
18 Ebd., Herv. i. O.
6 1 Forschungsziele und Methode
1.1.2 Medium
Eine Definition von Intermedialität hängt vom jeweiligen Verständnis des Begriffs
,Medium‘ ab. In Anlehnung an Publikationen von Rajewsky und Wolf stützt
sich die vorliegende Arbeit auf ein weites Konzept von Medium als ein –
so Werner Wolf – „konventionell im Sinn eines kognitiven frame of reference
als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv“.19 Der Vorteil dieses Ver-
ständnisses gegenüber einem, das Medium als „technisch-materiell definierte[n]
Übertragungskanal von Informationen“20 begreift, liegt darin, dass man sowohl
Medien wie die Literatur, die sich in der Regel eines einzigen semiotischen
Systems bedienen, der schriftlich fixierten Sprache, als auch andere, z. B. das
im Rahmen dieser Untersuchung wichtige Medium der Oper, das auf mehrere
semiotische Systeme (Bild, Musik, Text) zurückgreift, als „,(Einzel-)Medien‘“21
bezeichnen kann.22
1.1.3 Intertextualität/Intramedialität
19 Wolf, W.: Intermedialität. Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Litera-
bildlicher und musikalischer. Aus einer solchen Sicht heraus scheint der Begriff
,Intermedialität‘ überflüssig zu sein, da die logische Konsequenz dieser „radika-
len Entgrenzung und Metaphorisierung des Textbegriffs“25 die „Entgrenzung des
Intertextualitätsbegriffs“26 selbst wäre.27
Folglich würde man in dieser Studie beispielsweise lediglich vom Text reden,
sowohl in Bezug auf die Musik als auch auf die Literatur. Der Rückgriff aber
auf einen kommunikativ-semiotisch intendierten Begriff des Mediums und infol-
gedessen auf den Begriff der ,Intermedialität‘ ermöglicht in erster Linie die
Beachtung medialer Differenzen, die in dieser Untersuchung zu einer umfassen-
den Rekonstruktion der jeweiligen Rezeption im neuen Medium beitragen. Wie
Wirth in der bereits erwähnten Definition hervorhebt, subsumiert der Terminus
,Intermedialität‘ die beiden Gesten der Grenzüberschreitung und Grenzziehung;
der letztgenannte Gestus besteht etwa in der Anerkennung einiger grundlegen-
der Unterschiede in den Möglichkeiten der Einbeziehung eines weiteren verbal
fixierten Textes in einem Roman, was im Gegensatz zur Einbeziehung einer
musikalischen Komposition in einem Roman steht, z. B. in der „Erkenntnis, daß
ein literarischer Text das […] [musikalische] System nicht realisieren, sondern
immer nur ,thematisieren‘, ,imitieren‘ oder ,evozieren‘ kann“.28 Diese termino-
logische und systematische Grenzziehung ermöglicht eine fundierte Erfassung
von Grenzüberschreitungen, welche die Potentialität der jeweiligen Medien, die
einbezogen oder verwendet werden, stärker berücksichtigt. In Anlehnung an
Rajewsky wird daher in der vorliegenden Studie der Begriff der Intertextualität
durch den der Intramedialität weitgehend ersetzt. Dadurch soll verdeutlicht wer-
den, dass die Analysen von dem vorher erläuterten kommunikativ-semiotischen
Medium-Begriff ausgehen und als wichtige Voraussetzung die Frage ansehen,
ob die betrachteten Phänomene innerhalb eines bestimmten Mediums oder zwi-
schen zwei oder mehreren Medien, also zwei oder mehreren konventionell als
unterschiedlich angesehenen kommunikativ-semiotischen Systemen, angesiedelt
sind.29
(1967), S. 438–465.
28 Rajewsky: Intermedialität, S. 57.
29 Rajewsky benutzt den Terminus ,Intertextualität‘ nur als Subkategorie der Intramedia-
lität, und zwar als alternative Bezeichnung der intramedialen Einzelreferenz. Siehe etwa
ebd., S. 157. Zur Unterscheidung von Intertextualität zur Intermedialität vgl. auch Robert:
Einführung in die Intermedialität, S. 20 f.
8 1 Forschungsziele und Methode
1.1.4 Transmedialität
Eine weitere, nötige Präzisierung der hier verwendeten Begriffe betrifft die ,Trans-
medialität‘. Auch in diesem Fall wird auf Rajewskys Untersuchung rekurriert, die
als wichtiges Kriterium zur Unterscheidung zwischen Intermedialität und Trans-
medialität das Gebundensein „an eine bestimmte Medienspezifik“30 bzw. „an
eine bestimmte mediale Präsentationsform“31 betrachtet.32 Ihrer Auffassung nach
bezeichnet Transmedialität33
Beispiele für Transmedialität wären dementsprechend etwa die Parodie, die als
Genre nicht nur dem Medium Literatur zugeordnet werden kann sowie christli-
che Motive, die als „Teil des allgemeinen Kulturguts […] nicht (mehr) an eine
bestimmte mediale Präsentationsform gebunden sind“.34 Wenn beispielsweise in
Kapitel vier über die Apocalipsis cum figuris dargestellt wird, wie sich der apoka-
lyptische Diskurs in Thomas Manns Roman und in den Kompositionen entfaltet,
dann bewegt sich die Analyse auch auf dem Gebiet der Transmedialität. Dabei
verlässt sie jedoch den Bereich der Intermedialität nicht, da die behandelten
Musikwerke zugleich den apokalyptischen Diskurs von Doktor Faustus und den
apokalyptischen Diskurs im Allgemeinen (teil-)reproduzieren. Das betrifft auch
die Transposition von parodistischen Elementen des Romans, etwa in Searles
Lamentation:35 Indem diese Medienkombination parodistische Elemente der fik-
tiven Kantate Leverkühns (teil-)reproduziert, setzt sie sich auch automatisch mit
dem transmedialen Genre der Parodie auseinander und reproduziert und aktuali-
siert auch dieses in der Medienkombination. Aus diesen Beispielen geht hervor,
dass die Grenzen zwischen Intermedialität und Transmedialität oft nicht scharf
gezogen werden können. Besonders deutlich wird das in dieser Untersuchung,
weil sie sich sowohl mit intermedialen Bezugnahmen als auch mit intermedialen
Transpositionen36 und Medienkombinationen beschäftigt.37
Um die drei letztgenannten Begriffe zu erläutern, sei hier wieder auf Rajewsky
verwiesen: Die Forscherin nimmt eine Untergliederung von Intermedialität in die
drei Subkategorien der intermedialen Bezugnahme, des Medienwechsels und der
Medienkombination vor. Die erste Subkategorie umfasse38
Nur Letzteres zeichne sich durch seine materielle Präsenz aus. Beispiele aus
der vorliegenden Untersuchung wären gemäß dieser Definition die Bezugnahme
auf Beethovens Neunte Symphonie, auf musikalische Klageformen oder auf die
Zwölftontechnik. Die Subkategorie des Medienwechsels hat Rajewsky zufolge
mit der „Transformation eines medienspezifisch fixierten Produkts bzw. Produkt-
Substrats in ein anderes, konventionell als distinkt wahrgenommenes Medium“39
zu tun, auch in diesem Fall ist „nur letzteres […] materiell präsent“.40 Als
Medienwechsel lassen sich vor allem aufgrund des Bezugs auf Thomas Manns
Roman, der oft durch die Paratexte programmatisch deklariert wird, die Mehr-
heit der hier betrachteten Kompositionen einstufen: Henzes Violinkonzert trägt
z. B. den Untertitel Drei Porträts aus dem Roman „Dr. Faustus“ von Thomas
Mann.41 Eine Ausnahme stellen etwa die Kompositionen von Hagen,42 Ruzicka43
und Kurz44 dar, von denen es angebrachter wäre zu sagen, dass sie interme-
diale Bezugnahmen auf Doktor Faustus enthalten, da sehr kleine Mikroformen
aus dem Roman das Medium „wechseln“ und es sich daher eher um Bezug-
nahmen bzw. sehr kleine Einbeziehungen handelt. Die dritte Subkategorie, der
sich fast alle Kompositionen dieser Studie zuordnen lassen (mit Ausnahme von
Henzes Violinkonzert, Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“ und Fines Four pie-
ces from „Doktor Faustus“),45 sind Medienkombinationen.46 Rajewsky definiert
sie als „die Kombination bzw. das Resultat der Kombination mindestens zweier,
konventionell als distinkt wahrgenommener Medien“,47 die „in ihrer Materia-
lität präsent sind und jeweils auf ihre eigene, medienspezifische Weise zur
(Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtprodukts beitragen“.48 Das wahrscheinlich
beste Beispiel ist die Oper, welche – auf der reinen Ebene der Lektüre, d. h. nur
anhand der Partitur – die Medien des Textes und der Musik kombiniert (zieht man
die Aufführung in Betracht, so erweitert sich die Anzahl an Medien).
Des Weiteren werden bei Rajewsky intermediale Bezüge in die zwei Hauptka-
tegorien der Einzelreferenz und Systemreferenz untergliedert.49 Im ersten Fall
wird auf ein Produkt eines anderen Mediums Bezug genommen, in Doktor
Faustus z. B. auf Monteverdis Lamento d’Arianna bei der Beschreibung der
Weheklag. Diese bloße Thematisierung von Monteverdis musikalischem Werk
könnte eine Systemreferenz indizieren, also beispielsweise die Simulation oder
kategorien von ,Plurimedialität‘. Siehe Wolf., W.: Intermedialität. Ein weites Feld und eine
Herausforderung, ebd.
47 Rajewsky: Intermedialität, S. 15.
48 Ebd.
49 Siehe etwa ebd., S. 157.
1.1 Begriffsklärung 11
50 Vgl. 5.1.1.
51 Siehe etwa Rajewsky: Intermedialität, S. 113 f.
52 Vgl. DF: 703.
53 Vgl. Kap. 7.
54 Rajewsky: Intermedialität, S. 111.
55 Ebd., S. 157, Herv. i. O.
56 Ebd., S. 91.
57 Ebd.
58 Ebd., S. 95.
59 Ebd.
12 1 Forschungsziele und Methode
60 Ebd., S. 157.
61 Ebd., S. 104.
62 Ebd., S. 108; vgl. Kap. 4.
63 Vgl. 5.1.1.
64 Abgesehen davon, weist Rajewsky darauf hin, „daß ein literarischer Text stets und per
konnotierten Sinne verwendet werde, scheint es schwierig, ihn im Sinne einer Befruch-
tung medialer Systeme zu verstehen. Siehe ebd., S. 133. Zur Metaphorizität intermedialer
Begriffe sei hier auf Robert: Einführung in die Intermedialität, S. 24 verwiesen.
70 Siehe Rajewsky: Intermedialität, S. 142 f.
71 Ebd., S. 134.
72 Wirth: Hypertextuelle Aufpfropfung, S. 32.
14 1 Forschungsziele und Methode
73 Ebd.
74 Zum intermedialen showing und telling siehe Wolf: Musik in Literatur: Showing, S. 95 f.
und Ders: „The musicalization of fiction“. Versuche intermedialer Grenzüberschreitung
zwischen Musik und Literatur im englischen Erzählen des 19. und 20. Jahrhunderts. In:
Helbig (Hrsg.): Intermedialität, S. 133–164, hier: S. 133.
75 Wirth: Hypertextuelle Aufpfropfung, S. 32, Herv. i. O.
76 Ebd.
77 Ebd.
78 Ebd.
79 Ebd.
80 Ebd., Herv. i. O.
1.1 Begriffsklärung 15
Die dritte Stufe der Intermedialität ist Wirth zufolge die der „konzeptionelle[n]
Aufpfropfung“,81 bei der „das Konzept der medialen Konfiguration eines Zei-
chenverbundsystems auf ein anderes“82 übertragen wird: Die konzeptionelle
Aufpfropfung lasse sich folglich als „Metapher für eine mediale Aufpfropfung“83
begreifen. Die Übertragung von Aufführungstechniken historischer Instrumente
auf die Narration, etwa die der Scordatura, würde man demnach in diese Kategorie
einordnen.84
Darüber hinaus unterscheidet Wirth zwischen einer von ihm sogenannten ,har-
ten‘ und einer ,weichen‘ Intermedialität. Die ,harte‘ Intermedialität sei der Stufe
zwei zuzuordnen, sprich: der medialen Hybridbildung und der medialen Auf-
pfropfung; ihre Untersuchung benötige „ein technisches Wissen über die medialen
Differenzen der gekoppelten Medien“,85 das die ,weiche‘ Intermedialität, welche
die Stufen eins und drei betrifft, nicht voraussetze. Bei ihr reiche „ein konzep-
tionelles Wissen um mediale Differenzen“86 aus. Infolgedessen sei die ,weiche‘
Intermedialität der Gegenstandsbereich einer „,literaturzentrierten‘ intermedialen
Forschungsperspektive“87 im Sinne Werner Wolfs. „Paradoxerweise“,88 schreibt
jedoch Uwe Wirth,89
ist es nun ausgerechnet die harte Intermedialität der Stufe zwei, die dem Paradigma
der Transmedialität am nächsten kommt, denn mediale Aufpfropfungen können
nicht nur als Produkt einer intermedialen Kopplung, sondern auch als transmedialer
Prozess des Übergangs in den Blick genommen werden: ein Prozess, in dessen Voll-
zug die gekoppelten Elemente ihre Identität gerade durch den Bezug zum anderen
Medion, aber eben auch in Absetzung von diesem erwerben.
81 Ebd., Herv. i. O.
82 Ebd., S. 33.
83 Ebd., Herv. i. O.
84 Vgl. 7.1.2.
85 Ebd.
86 Ebd., S. 33.
87 Ebd. Wirth bezieht sich hier auf die folgende Publikation Werner Wolfs: Wolf, W.:
Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine litera-
turzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen
Medien am Beispiel von Virginia Woolfs „The String Quartet“ (1996). In: Bernhart
(Hrsg.): Selected Essays on Intermediality by Werner Wolf, S. 3–37.
88 Ebd., S. 33 f.
89 Ebd.
16 1 Forschungsziele und Methode
Während Rajewskys Kategorien eine gute analytische Basis zur Erforschung der
„werk-/aufführungsintern nachweisbare[n]“90 Intermedialität bieten, betont Wirth
in dem oben erwähnten Zitat die Notwendigkeit eines doppelten Blicks im Falle
einer sogenannten ,medialen Aufpfropfung‘. Diese könne (und sollte) gleichzeitig
als Produkt und als Prozess in den Blick genommen werden, was ein Sich-Hin-
und-Her-Bewegen zwischen Intermedialität und Transmedialität zur Folge habe.
Auch Wolf spricht von einer „werk-/aufführungsübergreifend erschließbare[n]“91
Intermedialität, die „nicht in einem Einzelwerk […] ersichtlich“92 wird, „sondern
erst aus dem Vergleich eines Werkes mit altermedialen anderen“93 und die er in
die Unterkategorien der ,intermedialen Transposition‘, ein Beispiel wäre die ,Ver-
operung‘ eines Romans wie Manzonis Doktor Faustus, und der Transmedialität
untergliedert.94 Da sich die vorliegende Studie mit werkinterner und werkexterner
Intermedialität beschäftigt sowie mit zahlreichen medialen Aufpfropfungen bzw.
intermedialen Transpositionen, bedarf die Analyse stets eines doppelten, manch-
mal simultanen Blicks auf das Produkt und den Prozess und verlässt, wenn nötig,
das Gebiet der Intermedialität, um mit dem der Transmedialität zu interagieren.95
Weitere Kategorien aus der Intermedialitätsforschung, mit denen die Analysen
der vorliegenden Studie arbeiten und nach denen sich Intermedialität differen-
zieren lässt, werden im Folgenden näher erläutert. Dass sich diese Arbeit vor
allem einer musikliterarischen Intermedialität zuordnet, ist bereits deutlich gewor-
den. Die „beteiligten Medien“96 der in dieser Studie behandelten intermedialen
Produkte und Prozesse betreffen stets die Bereiche von Text und Musik, mit Aus-
nahme von Searles, Lenners und Beyers97 Kompositionen, die jeweils auch mit
Rundfunk, Kunst und Fernsehen zu tun haben: Da es sich hier nicht nur um eine
,weiche‘ Intermedialität nach Wirth handelt, sondern auch um eine ,harte‘, die
dementsprechend von profundem technischen Wissen nicht absehen kann, wer-
den vor allem musik- und textbezogene Aspekte solcher plurimedialen Artefakte
in den Blick genommen.
98 Ebd.
99 Ebd.
100 Ebd.
101 Zum Begriff,Metamedialität‘ vgl. Rajewsky: Intermedialität, S. 81.
102 Wolf: Intermedialität, ebd.
103 Vgl. etwa Ent: 13.
104 Wolf: Intermedialität, ebd.
105 Ebd.
18 1 Forschungsziele und Methode
nach den beteiligten Medien an. Liegt „direct or ,overt‘ intermediality“,106 also
„manifeste“107 bzw. „offene“108 Intermedialität vor, so enthält die Komposi-
tion mehr als ein Medium, die dann „in principle separately ,quotable‘“ sind,
z. B. Musik und Text.109 Das Werk bzw. die Aufführung zeichnet sich folglich
durch mediale Heterogenität, also durch die Ko-Präsenz mehrerer Medien aus.110
Wenn man hingegen von „verdeckte[r]“111 Intermedialität spricht, bleibt „die
Oberfläche des betreffenden Werk-/Aufführungsteils medial homogen“,112 was
zur Folge hat, dass sich die Analyse aufgrund der schwierigen Nachweisbarkeit
von Intermedialität als problematischer erweist. Dies wird in der musikliterari-
schen Intermedialität bei der Betrachtung von Instrumentalmusik von der unter
zeichentheoretischen Gesichtspunkten erschließbaren selbstreferentiellen Quali-
tät der Musik erschwert, was dazu führt, dass sich in der Instrumentalmusik in
der Regel kein intermediales telling, sondern nur showing identifizieren lässt.113
Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“, Henzes Violinkonzert und Fines Four pie-
ces zählen zu den wenigen verdeckten intermedialen Phänomenen dieser Studie,
bei denen u. a. paratextuelle Angaben zur Nachweisbarkeit der Intermedialität bei-
tragen und doch auch Verweise auf Außermusikalisches in einer instrumentalen
Form ermöglichen.114
Die vorliegende Studie beschränkt sich jedoch nicht ausschließlich auf die
Erfassung und Beschreibung intermedialer und transmedialer Phänomene im
Roman und in den Kompositionen, sondern sie geht auch der Frage nach, welche
Funktionen die indizierten Strategien, die eine doppelte Perspektive, d. h. wer-
kintern und werkextern, folglich auf Produkt und Prozess erforderlich machen,
106 Wolf, W.: Musicalized Fiction and Intermediality: Theoretical Aspects of Word and
Music Studies (1999). In: Bernhart (Hrsg.): Selected Essays on Intermediality by Werner
Wolf, S. 238–258, hier: S. 243.
107 Wolf: Intermedialität, S. 345.
108 Wolf: Musik in Literatur: Showing, S. 98.
109 Wolf: Musicalized Fiction, S. 243.
110 Wolf: Musik in Literatur: Showing, S. 98.
111 Ebd.
112 Ebd.
113 Siehe ebd., S. 97; Calzoni, Raul, Peter Kofler u. Valentina Savietto: Einleitung. In: Dies.
115 Bereits Rajewsky betont, die intermediale Analyse solle sich nicht nur auf eine Kate-
gorisierung beschränken, sondern auch die Funktionen intermedialer Phänomene mit
einbeziehen. Vgl. etwa Rajewsky: Intermedialität, S. 111.
116 Siehe diesbezüglich die in Anlehnung an Kramer und Georgiades von Arne Stollberg
einer Zurücknahme der Neunten Symphonie, indem sie Zitate aus Beethovens
letztem symphonischen Werk in das eigene Material integrieren. Somit stellen sie
die Unmöglichkeit von Leverkühns Versuch heraus. Schließlich kann durch die
Musik der Text „hörbar“ werden, was beispielsweise bei Searle deutlich wird, der
sich zum Ziel setzt, Zeitbloms Beschreibungen von Leverkühns Umsetzung der
Zwölftontechnik erklingen zu lassen.
Nicht selten interagiert zudem die Analyse mit Kategorien im Sinne einer trans-
medialen und intermedialen Narratologie und wirft die Frage auf, wie etwa
bestimmte Motive des Romans in der Vertonung (teil-)reproduziert werden oder
ob sich narrative Strategien der Vorlage in der Komposition wiederfinden lassen
und wie es überhaupt möglich ist, beispielsweise Unzuverlässigkeit im Medium
der Musik darzustellen.123 Die Untersuchungsperspektive ist auch in diesem
Fall werkintern und werkextern, transmedial und intermedial und kombiniert das
Instrumentarium der Intermedialitätsforschung mit dem der Narratologie. Insofern
entspringt diese Studie dem doppelten Wunsch, eine Forschungslücke in der sonst
stark ausdifferenzierten Forschungsliteratur zu Thomas Manns Doktor Faustus zu
füllen und Rajewskys Aufforderung nachzukommen, intermediale Kategorien auf
immer unterschiedliche Artefakte anzuwenden, um sie dadurch zu erproben, zu
erweitern und vielleicht auch zu revidieren.124
An dieser Stelle scheint eine methodische und begriffliche Präzisierung bezüg-
lich der Positionierung dieser Untersuchung der transmedialen Narratologie
gegenüber sinnvoll, die sich auch mit der Frage – von Werner Wolf zu Recht
als „vexed problem“125 bezeichnet – nach der Narrativität von Instrumentalmusik
123 Vgl. dazu z. B. Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 482; Ders: Transmedial
Narratology: Theoretical Foundations and Some Applications (Fiction, Single Pictures,
Instrumental Music). In: Narrative 25 (2017) H. 3, S. 256–285; Nünning, Vera u. Ans-
gar Nünning: Dies.: Produktive Grenzüberschreitungen: Transgenerische, intermediale und
interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie. In: Dies. (Hrsg.): Erzähltheorie transgene-
risch, intermedial, interdisziplinär. Trier: WVT 2002, S. 1–22; Ryan, Marie-Laure (Hrsg.):
Narrative Across Media. The Languages of Storytelling. Lincoln/London: University of
Nebraska Press 2004; Dies.: On the Theoretical Foundation of Transmedial Narratology.
In: Meister, Jan Christoph (Hrsg., in Zusammenarbeit mit Tom Kindt u. Wilhelm Scher-
nus): Narratology beyond Literary Criticism. Mediality, Disciplinarity. Berlin/New York:
de Gruyter 2005, S. 1–23.
124 Siehe Rajewsky: Intermedialität, S. 181.
125 Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 480.
1.1 Begriffsklärung 21
jenseits bzw. über den einzelnen Medien verankert ist, um von diesem Blick-
punkt aus unterschiedliche Manifestationsformen des i. w. S. Narrativen und damit
zugleich modalen Gemeinsamkeiten und Differenzen verschiedener Genera Rech-
nung zu tragen, ohne dabei ein bestimmtes Medium, eine bestimmte Gattung oder
einen bestimmten Erzählmodus zu privilegieren und zu einer Fundierungskategorie
,des Narrativen‘ zu erheben.
126 Siehe Chatman, Seymour: Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and
Film. Ithaca/London: Cornell University Press 1993, S. 117.
127 Rajewsky, I. O.: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln, S. 34, Herv. i. O.
128 Ebd.
129 Siehe Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Fink 1994, S. 200 f.
130 Ryan: Narrative Across Media, S. 34. Vgl. Auch Rajewsky, I.: Percorsi transmediali.
Appunti sul potenziale euristico della transmedialità nel campo delle letterature comparate.
In: Between 8 (November 2018) H. 16, S. 1– 24.
131 Siehe auch Rajewsky: Percorsi transmediali, S. 18. Des Weiteren hebt u. a. Meister her-
vor, dass, obwohl seine Kategorien und Begriffe schnell zur narratologischen lingua franca
geworden sind, Genette in seinen Texten keinen Anspruch erhebt, eine komplett kohärente
und umfassende Narrativitätstheorie zu entwerfen, da er zudem nur Marcel Prousts À la
recherche du temps perdu analysiert. Meister, Jan Christoph: Narratology. In: Interdisci-
plinary Center for Narratology (Hrsg.): the living handbook of narratology. 2011. < https://
www.lhn.unihamburg.de/node/48.html > (letzter Zugriff: 21.08.2020), Abschnitt 3.3.
22 1 Forschungsziele und Methode
Medien und Gattungen dienen. Dieser Ansatz ermöglicht jedoch keine komplett
„medienübergreifende[] ,Draufsicht‘“:132 Einerseits wird als Beispiel für eine pro-
totypische Form des Erzählens eine Erzählform genannt, nämlich das Märchen,
die das Primat verbalen Erzählens wieder betont, andererseits wirft der implizite
Zusammenhang von Prototypen und Normalitätskonstruktionen Fragen zur termi-
nologischen Adäquatheit auf. Zurecht unterstreicht allerdings Schmidt, dass sich
der theoretische Rahmen der kognitiven Forschung mit ihrer Berücksichtigung
der Wirkung auf die Rezipient*innen für die Beantwortung der Frage nach der
Narrativität von Instrumentalmusik gut eignen könnte.133 Großes Verdienst von
Wolfs Aufsätzen ist zudem, dass dort ein methodologischer Ansatz zur Identifika-
tion von Elementen, die Narrativität hervorrufen, skizziert wird. Dies kann sowohl
durch kompositionsexterne Stimuli wie kulturellen und historischen Kontext und
Tendenzen im Gesamtwerk bestimmter Komponist*innen als auch durch kompo-
sitionsinterne Stimuli wie Paratexte geschehen: Auch die vorliegende Studie folgt
bei der Analyse von Instrumentalkompositionen dieser Methode und schließt sich
somit der Auffassung an, dass Instrumentalmusik eher als „narrative-inducing“134
zu betrachten sei. Die Bezugnahme auf Passagen und Figuren aus Thomas Manns
Roman erleichtert dann auch in den hier betrachteten instrumentalen Kompositio-
nen die Identifikation von Momenten, die Narrativität induzieren. Nicht nur unter
dem Aspekt der Narrativität lässt sich Instrumentalmusik analysieren: Vielmehr
ist die Deskriptivität in vielen Fällen – u. a. auf die Affinität von Musik und Lyrik
zurückzuführen –135 heuristisch produktiv.
1.1.7 Mediengrenze
Eine letzte, nötige Präzisierung betrifft den für die Erforschung von Intermedia-
lität zentralen Begriff der ,Mediengrenze‘. Dieser wurde in diesem Kapitel auch
für die Beschreibung von Thomas Manns Roman verwendet; zunächst wird hier
auf ein Zitat aus Manns Entstehung des „Doktor Faustus“ verwiesen, in dem er
das Wesen und die Aufgabe der Kunst folgendermaßen beschreibt:
[W]as sonst wäre es uns jemals zu tun, als unser Äußerstes zu geben? Alle Kunst,
die den Namen verdient, zeugt von diesem Willen zum Letzten, dieser Entschlos-
senheit an die Grenze zu gehen, trägt das Signum, die Wundmale des „utmost“.
(Ent: 123)
Kunst zu produzieren heiße den Weg bis zu ihrer Grenze zu wagen; zugleich
sei dieser Versuch nicht völlig harmlos und schließe eine gewisse Verletzbar-
keit ein. Thomas Mann nimmt hier auf Kunstgrenzen Bezug, bedient sich aber
gleichermaßen der Metapher der ,Grenze‘, ebenfalls in Verbindung mit künstleri-
schen Artefakten. Rajewsky kommt bezüglich der Funktion dieses Konzeptes zu
folgender Aussage:136
Damit geht der Versuch einher, ein Umdenken hinsichtlich des Konzepts der Grenze
und der Setzung von Differenzen zu befördern und von deren Auffassung im Sinne
statischer Taxonomien, wie dies topisch mit dem Strukturalismus verbunden wird,
zum dynamischen Potenzial der Grenzen selbst zu gelangen.
Auch die vorliegende Studie vertritt diese Auffassung von Mediengrenze und
konzentriert sich auf den dynamischen, produktiven Austausch zwischen den Fel-
dern der Literatur und der Musik sowie auf die zirkulären Verweisstrukturen,
die dadurch entstehen. Eine Nivellierung von Mediendifferenzen und Gattungs-
konventionen würde die „Möglichkeiten und Freiräume“,137 „die sich für die
künstlerische bzw. kulturelle Praxis durch konventionelle Setzungen auf ver-
schiedensten Ebenen ergeben“,138 kaum beobachtbar machen. Die Betrachtung
von Grenzen als „Ermöglichungsstrukturen, als Spielräume“,139 scheint beson-
ders bei der Analyse von Kompositionen der Neuen Musik ergiebig, insofern
sie oft auf Experimentieren beruhen. Um einige Beispiele aus dieser Untersu-
chung zu nennen: Lars Petter Hagen experimentiert in To Zeitblom mit der Grenze
zwischen Volksmusik und klassischer Musik sowie zwischen theatralischen und
musikalischen Konventionen und Konrad Boehmer kombiniert ebenfalls populäre
Musikgenres mit elektronischer Musik. Tatsächliche Grenzen existieren nicht, es
handelt sich um ein aus heuristischen Gründen eingeführtes Analysekonzept, das
1.2 Quellen
Die Analyse der Kompositionen stützt sich auf Partituren, Aufnahmen und Insze-
nierungen, um allen Dimensionen der jeweiligen musikalischen Form gerecht
zu werden, welche auch die Besonderheit des Mediums selbst ausmachen und
die Notwendigkeit eines kommunikativ-semiotischen Deutungsparadigmas noch
deutlicher herausstellen. Im Fall von Medienkombinationen ist es außerdem
gerade die Kopplung dieser Medien, die zu untersuchen sind, insofern sie der
Transposition des literarischen Textes auch durch die Inszenierung neue Konno-
tationen verleihen kann.141 Selbstkommentare, Selbstaussagen von Autor*innen
sowie biographische Informationen zu ihnen (dies betrifft auch den ersten Teil
jedes Kapitels zum Roman) dienen lediglich der Kontextualisierung; generell
folgt die vorliegende Studie diesbezüglich dem von Stefan Börnchen in seiner
Monographie vorgeschlagenen und umgesetzten Prozedere Manns Selbstaussagen
gegenüber, das er – Bezug nehmend auf Paul de Man – wie folgt beschreibt:142
Eine Interpretation kann sich auf Selbstkommentare des Autors Thomas Manns
stützen, muß aber diese wie alle anderen Texte interpretieren: Denn in den – wie
gesehen: widersprüchlichen – Selbstaussagen tritt nicht die Absicht des Autors
klar und eindeutig zu Tage. In Hinsicht auf Selbstkommentare gilt nach wie vor
Paul de Mans Wort, daß „die einzige irreduzible ,Intention‘ eines Textes die seiner
Konstituierung ist“.
Neben der Präzisierung, wie die Untersuchung mit den Selbstaussagen Thomas
Manns umgeht, scheint hier eine zweite Präzisierung wichtig. Den Leser*innen
140 Siehe dazu auch Backe, Hans-Joachim: Medialität und Gattung. In: Zymner, Rüdiger
(Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: Metzler 2010, S. 105 ff., hier: S. 105; Som-
broek, Andreas: Eine Poetik des Dazwischen. Zur Intermedialität und Intertextualität bei
Alexander Kluge. Bielefeld: transcript 2005; Elleström, Lars (Hrsg.): Media Borders, Mul-
timodality and Intermediality. Basingstoke (u. a.): Palgrave Macmillan 2010 (insb. Part II
u. Part V).
141 Siehe auch Stollberg: Kombination von Literatur und Musik, S. 71.
142 Börnchen: Kryptenhall, S. 72 (Zitat aus: de Man, Paul: Lesen (Proust). In: Ders.: Alle-
gorien des Lesens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 [New Haven 1979], S. 91–117,
hier: S. 98).
1.2 Quellen 25
wird sicherlich auffallen, dass die Analysen wiederholt auf Adornos Musikphi-
losophie rekurrieren, was eine Konstante der meisten Publikationen zu Doktor
Faustus darstellt. In der Forschungsliteratur zum Roman wird nicht selten anhand
biographischer Dokumente unterschiedlicher Art der Frage nachgegangen, welche
Rolle denn Adorno bei der Entstehung von Thomas Manns Roman gespielt habe.
So unterstreicht Bodo Heimann beispielsweise den bedeutenden Einfluss Ador-
nos und zitiert aus einem Brief Schönbergs, in dem er den Philosophen als echten
Kenner des von ihm entwickelten musikalischen Systems und Thomas Mann als
Laien bezeichnet.143 In einem vorher erschienenen Aufsatz (1993) vertritt auch
Claudia Albert die gleiche Auffassung und kommt zum Schluss, dass „die auf
das Teufelsgespräch folgenden Kompositionen Leverkühns, insbesondere also die
,Apocalipsis cum figuris‘ und die Kantate ,Dr. Fausti Weheklag‘ als imaginäre
Werke Adornos betrachtet werden“144 müssten. Ganz anderer Auffassung ist hin-
gegen Matthias Schmidt: Er hebt einerseits die Einflüsse von Kreneks Music Here
and Now hervor, um die Vielfalt von Thomas Manns konsultierten Quellen gegen
die alleinige Reduzierung auf die Musikphilosophie Adornos deutlich zu machen,
andererseits zeigt er anhand anderer autobiographischer Dokumente, dass sich
Schönbergs Ressentiment nicht gegen Mann, sondern gegen Adorno richtete.145
Dass sich diese Kontroverse nicht lösen lässt, auch weil sie zutiefst in einem
hermeneutischen Interpretationsparadigma verankert ist, mag nun bereits deutlich
geworden sein. Diese Studie zielt nicht darauf ab, Adornos Einfluss auf die Ent-
stehung von Doktor Faustus zu rekonstruieren. Vielmehr möchte sie in ihrem
intermedial angelegten Prozedere Bezüge beleuchten, die sowohl im Roman als
auch in den Kompositionen eine Rolle spielen. Da Adornos Auffassungen im
Text und in den Musikwerken mehrfach zum Tragen kommen, versteht es sich
von selbst, dass diese Arbeit wiederholt auf sie verweist. Dies geht nicht aus
der Absicht einer Privilegierung dieser Musikphilosophie vor anderen, sondern
aus der beobachteten Sonderstellung in den Kompositionen hervor. Als Parade-
beispiel dient hierfür Hagens Stück To Zeitblom mit seiner Parodie von Adornos
143 Siehe Heimann, Bodo: Thomas Manns ,Doktor Faustus‘ und die Musikphilosophie
Adornos. In: Ders. (Hrsg.): Literatur und Freiheit von Lessing bis zur Gegenwart. Frankfurt
am Main: Lang 2014, S. 211–228 (zu Schönbergs Brief siehe insb. S. 212).
144 Albert, Claudia: „Doktor Faustus“: Schwierigkeiten mit dem strengen Satz und
Verfehlung des Bösen. In: Heinrich Mann Jahrbuch 11 (1993), S. 99–111, hier: S. 103.
145 Vgl. Schmidt, Matthias: „Unangreifbar nur die Gestalt“. Thomas Mann – Ernst Krenek
– Theodor W. Adorno und die Musik im „Doktor Faustus“. In: Henke, Matthias (Hrsg.):
Schönheit und Verfall: Beziehungen zwischen Thomas Mann und Ernst Krenek – (mehr
als) ein Tagungsbericht (Thomas-Mann-Studien Bd. 47). Frankfurt am Main: Klostermann
2015, S. 135–153 (zu Schönbergs Quellen siehe insb. S. 143).
26 1 Forschungsziele und Methode
Diese Arbeit ist so strukturiert, dass jedes Kapitel aus zwei Hauptteilen besteht:
Der erste Teil jeweils widmet sich Leverkühns fiktiven Werken, bestimmten
Romanstellen oder Figuren. Zugleich wird eine (werkinterne) intermediale Ana-
lyse durchgeführt oder es werden hauptsächlich intradiegetische Motive und
Diskurse näher beleuchtet. Den Kapitelüberschriften lässt sich entnehmen, was
im Zentrum der Untersuchung steht. Der zweite Hauptteil jeweils wagt den
Sprung zur werkexternen und oft auch zur harten Intermedialität und befasst sich
mit Kompositionen, die Leverkühns fiktive Werke nachvertonen oder sich mit
bestimmten Romanpassagen und -figuren auseinandersetzen. Hier wird vor allem
untersucht, ob die vorher beleuchteten Motive und Diskurse in der Komposition
wiederzufinden sind, und wenn ja, wie sie im neuen Medium dargestellt werden.
Falls diese in der Komposition nicht vorliegen oder nur eine marginale Rolle spie-
len, dann wäre diese Feststellung für die Analyse durchaus von Bedeutung, denn
sie kann zur Beobachtung führen, dass solche Motive und Diskurse im jeweiligen
Musikwerk durch andere ersetzt werden, oder dass Motive und Diskurse, die vor-
her nicht analysiert wurden, weil sie vielleicht keine zentrale Stellung im Roman
einnehmen, doch in der Komposition einen Ehrenplatz bekommen und somit ver-
stärkt werden. All diese Beobachtungen sind symptomatisch für die Rezeption
des Romans im jeweiligen Werk, der es als oberstes Ziel schließlich nachzugehen
gilt: Jede intermediale Transposition bzw. Bezugnahme schreibt Thomas Manns
Roman mit den eigenen Mitteln neu und fordert gleichzeitig zum aktiven Lesen
und Hören auf.146
146 SieheWirth: Hypertextuelle Aufpfropfung, S. 23; Barthes, R.: Die Lust am Text. Übers.
v. Traugott König. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 [Paris 1973], S. 68; Ders.: S/Z.
Übers. v. Jürgen Hoch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987 [Paris 1970], S. 8 ff.
1.3 Aufbau der Arbeit 27
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung - Nicht
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des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Hanns Eislers Johann Faustus
2
Dieses Kapitel widmet sich einer der ersten Reaktionen auf Thomas Manns
Roman, nämlich Hanns Eislers Johann Faustus (1952). Aufgrund des Druck-
verbots in der DDR vervollständigte Eisler sein Opernprojekt nie: Das Kapitel
rekonstruiert knapp die Geschichte des Werkes und geht der Frage nach dem
Status des Librettos nach, das in dieser Studie in Anlehnung an Friederike Wiß-
mann für einen selbständigen Operntext gehalten wird. Nichtsdestotrotz wird im
Kapitel versucht, Eislers Gesamtvorhaben anhand der überlieferten Skizzen dar-
zulegen. Daneben führt das Kapitel eine kontrastive Analyse von Doktor Faustus
und Johann Faustus durch und geht auf stilistische und inhaltliche Kontinuitäten
und Differenzen ein. Zu den wichtigsten Gemeinsamkeiten zählt die Montage-
Technik, die durch verschiedene Bezüge auf die politische, gesellschaftliche
und religiöse Geschichte Deutschlands sowie durch Stilmischungen zum Tragen
kommt. Unter den Differenzen ist an erster Stelle die Einordnung der beiden
Werke in die Bearbeitungen des Faust-Stoffes zu erwähnen: Dank der Präsenz
der Figuren Faust und Mephisto sowie dem expliziten Charakter des Teufelspak-
tes lässt sich diese Einordnung bei Eisler anders als bei Thomas Mann kaum
bestreiten.
Von der Intermedialität aus betrachtet, lässt sich festhalten, dass Eislers Johann
Faustus nicht als intermediale Transposition, sondern eher als intermediale Bezug-
nahme auf Thomas Manns Roman zu werten ist, da Doktor Faustus lediglich zu
den Vorlagen des Werkes zählt. Aus diesem Grund befinden sich die Ausfüh-
rungen zu Johann Faustus noch im ersten Teil der vorliegenden Studie nach dem
Kapitel zu den Forschungszielen und der Methode. Die Analyse führt in die Praxis
des Medienvergleichs ein, die charakteristisch für diese Untersuchung ist. Zudem
macht sie auf die Wichtigkeit der Berücksichtigung des Entstehungskontextes des
sekundären intermedialen Produktes aufmerksam, was einen Leitgedanken der
darauf folgenden Kapitel von Teil zwei und drei darstellt.
Vor der kontrastiven Analyse wird zunächst einmal die Debatte um Hanns Eislers
Werk kurz umrissen, um die Entstehungsbedingungen des Werkes zu veranschau-
lichen. 1952 veröffentlicht der Aufbau-Verlag in Berlin das Libretto von Johann
Faustus, welches jedoch aufgrund des raschen Druckverbots in der DDR nur kurze
Zeit auf dem Markt bleibt. Das Verbot ist die Konsequenz langer Diskussionen,
die vor allem an der Akademie der Künste in Berlin stattfinden. Laut Gerhard
Müller hätte die Oper das „Magnum opus“1 des Komponisten werden sollen. Das
sind jedoch nur Vermutungen, denn nach den heftigen Kritiken verzichtet Eisler
darauf, sich mit dem Werk weiter zu beschäftigen und die Musik zu komponieren:
Ausnahme sind einige Skizzen und Fragmente, die man an der Berliner Akademie
der Künste einsehen kann.
Zu den erbittertsten Kritiker*innen Eislers der damaligen Zeit zählen Wilhelm
Girnus und Alexander Abusch. Der eine ist der Ansicht, die Geschichte des deut-
schen Volkes sei bei Eisler als eine der Reaktion und als eine ausschließlich
negative dargestellt.2 Der andere findet im Operntext zahlreiche Widersprüche und
kommt zur Aussage, dass Eisler mit dem Johann Faustus „die geistige und dich-
terische Bedeutung von Goethes Werk für die deutsche Nationalliteratur und für
die Geschichte des deutschen Volkes bagatellisiert“3 habe. Auch die Verteidigung
des Werkes etwa durch Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht und Leonhard Frank
ändert nichts an der Situation.4 Dieses Kapitel beschäftigt sich also mit einem
Werk, das wahrscheinlich noch kontroverser als Manns Doktor Faustus ist und –
so Hans Bunge – „totdiskutiert“5 wurde. Als Beleg für Bunges Aussage reicht
1 Müller, Gerhard: Ein deutsches Trauerspiel. Die Debatte über Eislers Johann Faustus. In:
Eisler-Mitteilungen 30 (2002), S. 9–11, hier: S. 9.
2 Zit. in Eisler, Hanns: [Notizen zur Faustus-Polemik IV] (1953). In: MuP, S. 295 f., hier:
S. 295 f.
3 Zit. in Bunge, Hans: Die Debatte um Hanns Eislers „Johann Faustus“. Eine Dokumen-
Hans Bunge, mit einem Nachwort v. Werner Mittenzwei. Berlin: Henschelverlag 1983,
2.1 Hanns Eislers Johann Faustus und Thomas Manns Doktor Faustus… 31
vielleicht bereits die Beobachtung, dass bis 1982 in der DDR keine Möglichkeit
bestand, den Text aufzuführen.6
Thomas Manns Doktor Faustus ist eine der Vorlagen von Eislers Johann
Faustus, die Hauptvorlage stellt jedoch das Puppenspiel dar. Im Rahmen der vor-
liegenden Arbeit wird das Libretto als eine der ersten Reaktionen auf Manns
Roman betrachtet: Die Bezeichnung ,Vertonung‘ oder ,intermediale Transposi-
tion‘ scheint in diesem Fall nicht wirklich adäquat, weswegen die Definition
,intermediale Bezugnahme‘ präferiert wird. Auch für diesen Vergleich greift diese
Studie auf das Forschungsparadigma der Intermedialität zurück: Laut der Defini-
tion von Medium, der sie folgt, ist ein Libretto Bestandteil des plurimedialen
Mediums Oper.7 Zudem besteht in der Forschungsliteratur keinerlei Konsens –
was im Folgenden aufgezeigt werden soll – ob Eislers Werk für selbständig zu
halten ist. Bereits diese erste Analyse zeigt, wie wichtig die Anwendung von
Kernkategorien intermedialer Theorien auf konkrete Beispiele ist. In dieser Hin-
sicht versucht dieses Kapitel, Manns Roman und Eislers Libretto auf der Suche
nach Kontinuitäten und Differenzen miteinander zu vergleichen. Dabei zieht es
auch die Skizzen für die Musik in die Analyse ein: Auch deswegen plädiert das
Kapitel für das Begriffsinventarium der Intermedialität, da das gesamte Opern-
projekt in den Blick genommen wird. Diese Gesamtperspektive ermöglicht eine
Einführung in den Prozess der Entstehung eines musikalischen Bühnenwerkes,
das einen oder mehrere literarische Texte vertont.8 Als sekundäres Produkt regt
Eislers Johann Faustus zudem zu Reflexionen über Aspekte an, die sich primär
mit der Kontextualisierung des im Nachhinein entstandenen Werkes verbinden
und die für die Analyse solcher Phänomene sehr ergiebig ist.
S. 5 ff., hier: S. 5. Diese Ausgabe des Librettos enthält die Korrekturen, die Eisler nach
den Polemiken anfertigte.
6 1982 wurde er im Berliner Ensemble unter der Regie von Manfred Wekwerth
aufgeführt – früher dreimal in der BRD (1974 in Tübingen, 1976/77 in Kiel und West-
Berlin) – und 1983 erschien das Libretto beim Henschelverlag (siehe Fußnote 5). Vgl.
Schebera, Jürgen: Nachbemerkung. /Johann Faustus/ Oper ohne Musik/. In: Eisler: Johann
Faustus, Leipzig: Faber & Faber 1996, S. 147–166, hier: S. 166.
7 Geht man aber von einer technisch-materiellen Definition von Medium aus, so wäre dies
Wie eingangs des Abschnitts angesprochen, gilt es zunächst einmal der Frage
nachzugehen, ob man Eislers Text für selbständig halten kann. Die Problematik
ist sehr umstritten und verknüpft sich auch mit der Gattung des Librettos selbst.9
Eisler schreibt dazu:10
Ich halte [...] die Hauptidee des Faustus für eine höchst aktuelle, für eine höchst
kämpferische, für eine höchst fortschrittliche Idee, die sich natürlich in der Musik
noch viel wuchtiger offenbaren muß als im Textbuch.
Brecht bestätigt diese Auffassung, laut der Eislers Projekt der Musik bedarf,
in den Thesen zur Faustus-Diskussion, die er im Mai 1953 der Mittwoch-
Gesellschaft der Akademie der Künste vorstellt. Brecht zeigt sich aber vom
Libretto selbst sehr begeistert:11
Obgleich das Werk zu seiner vollen Wirkung der Musik bedarf, ist es ein bedeuten-
des literarisches Werk durch sein großes nationales Thema, durch die Verknüpfung
der Faust-Figur mit dem Bauernkrieg, durch seine großartige Konzeption, durch
seine Sprache, durch seinen Ideenreichtum.
9 Dazu siehe: Gier, Albert: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen
Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 3–32.
10 Eisler: [Entwurf einer Stellungnahme zur Faustus-Polemik] (1953). In: MuP, S. 284–287,
hier: S. 285.
11 Zit. in Bunge: Die Debatte, S. 159.
12 Stollberg: Kombination von Literatur und Musik, S. 71.
13 Ebd.
2.1 Hanns Eislers Johann Faustus und Thomas Manns Doktor Faustus… 33
einen Freiraum, der auf Musik hin konzipiert ist“.14 Friederike Wißmann erläu-
tert hingegen, Eisler habe „das Libretto als einen für sich stehenden Text“15
verfasst, der ohne Musik nicht „defizitär“16 bleibe. Sie unterstreicht außerdem,
dass die Absenz der Musik es jedoch nicht erlaube, den Text in der gleichen
Weise wie ein Theaterstück zu behandeln: Das Libretto bediene sich stilistischer
Register, „die seinem kompositorischen Verfahren erwachsen“.17 Dieser letzten
Auffassung schließt sich auch die vorliegende Studie an: Dies mag auch die Tat-
sache bestätigen, dass der Operntext veröffentlicht wurde, bevor die Musik fertig
war. Zwei Komponisten konnten ihn zudem vertonen: Karl Heinz Füssl (1966–
1967), allerdings nur fragmentarisch, und Friedrich Schenker (2004). Der eine
„wählt eine strenge dodekaphone Gestaltung“18 und betont somit den Einfluss
von Thomas Manns Roman, der andere komponiert „dezidiert unter dem Aspekt
der Textverständlichkeit“19 und stellt daher Eislers Text in den Vordergrund.
Nach der Definition des Status des Operntextes wird im Folgenden auf die Kon-
tinuitäten zwischen Eislers Werk und Manns Roman eingegangen. Mit diesem
Zweck soll zunächst einmal die Beziehung zwischen Mann und Eisler knapp dar-
gestellt werden. In den Exiljahren hatten die beiden Autoren die Möglichkeit,
14 Kreutzer, Hans Joachim: Faust. Mythos und Musik, München: Beck 2003, S. 153.
15 Wißmann, F.: Johann Faustus. Eislers Materialien und die Komposition des Textes. In:
Schweinhardt, Peter (Hrsg.): Hanns Eislers „Johann Faustus“. 50 Jahre nach Erscheinen
des Operntexts 1952. Symposion (Eisler-Studien Bd. 1). Wiesbaden: Breitkopf & Härtel
2005, S. 11–25, hier: S. 11.
16 Ebd., S. 12.
17 Dies.: Faust im Musiktheater des 20. Jahrhunderts, S. 95. Immerhin besteht auch die
Auffassung, eine Oper weise größere Affinitäten zum Roman als zum Drama auf. Siehe
Stollberg: Kombination von Literatur und Musik, S. 70 und Conrad, Peter: Romantic
Opera and Literary Form. Berkeley (u. a.): University of California Press 1977. Aller-
dings ist Theaterregisseur*innen auch gelungen, das Libretto aufzuführen, als wäre es als
Theaterstück konzipiert worden. Siehe Fußnote 6.
18 Wißmann, Robert: Kompositionen für den Faust. Musik zu Hanns Eislers Johann
einander kennenzulernen;20 ein Brief von Thomas Mann an Hanns Eisler drückt
Neugierde für sein Johann Faustus-Projekt aus:21
Dankt für die Übersendung des Librettos zu einer volkstümlichen Faust-Oper. Nennt
die Formung des Faust-Stoffes „sehr neu, sehr kühn, sehr eigentümlich“, die auch
der Musik wie dem Theater recht entgegenkommt. Glaubt, daß das Ganze beson-
ders durch die Musik, an die er sich schwer gewöhnen könne, „hübsch provokant“
werde, besonders durch den derben deutschen Humor, der besonders in der Figur
des Hanswurst zum Ausdruck kommen werde.
Eisler fasst die zentrale Idee von Johann Faustus folgendermaßen zusammen:22
Wer sich gegen das Volk, die Bewegung des Volkes, die Revolution stellt, sie verrät,
gegen sie einen Bund mit den Herren schließt, wird vom Teufel geholt ohne Gnade
und Erbarmen; er wird vernichtet.
20 Sehr wahrscheinlich schätzten sich die beiden hoch. Der Autor von Doktor Faustus
schreibt beispielsweise in der Entstehung des „Doktor Faustus“ über den Komponisten:
„Dagegen traf man im Hause Schönberg Hans [sic] Eisler, an dessen sprühendem Gespräch
ich immer das heiterste Gefallen fand“ (Ent: 82). Vgl. Schebera: Nachbemerkung, S. 147.
Für eine Biographie von Eisler sei hier auf die folgenden Publikationen verwiesen: Wiß-
mann, F.: Hanns Eisler. Komponist, Weltbürger, Revolutionär. Mit einem Vorwort v.
Peter Hamm. München: Elke Heidenreich 2012. Siehe auch Albert, Claudia: Adorno und
Eisler – Repräsentanten des Musiklebens in den beiden deutschen Staaten der Nachkriegs-
zeit. In: Exilforschung – Ein internationales Jahrbuch Bd. 9 (1991), S. 68–80.
21 Briefe 4, 05.11.1952, an Eisler (Mann diktierte seine Briefe seiner Sekretärin, daher
die Verwendung der dritten Person Singular und der indirekten Rede). F. Wißmann,
die aus demselben Brief im Archiv der Akademie der Künste zitiert, unterstreicht
aber, dass oft nur „die Einschätzung ,hübsch provokant‘“ gelesen wird, nicht aber „das
Infragestellen [von Seiten Thomas Mann] des Librettotextes als einerseits ,unsingbar‘,
andererseits ,wunderartig-merkwürdig‘“.Wißmann, F.: Eislers Johann Faustus: „unsing-
bar“, „unkomponierbar“, „wunderbar-merkwürdig“. In: Faust-Jahrbuch 2 (2006), S. 23–34,
hier: S. 25.
22 Eisler: [Entwurf einer Stellungnahme], S. 284.
23 Vgl. etwa Eislers Schriften „Notizen zu Dr. Faustus“ und „Vorbemerkung [zu Dr.
Manns Roman und die Figur des Adrian Leverkühn, in der er vor allem seinen
Lehrer Arnold Schönberg sieht:24
In großartiger Weise hat Thomas Mann verstanden, alle Krankheiten und (Pro-
bleme) Schwierigkeiten der modernen Musik und des (modernen) Musiklebens wie
in einem Brennspiegel zu fangen und sie in seiner Gestalt des Leverkühn auf zwei
Beine zu stellen.
Angeregt von der Lektüre von Doktor Faustus drückt Eisler in Skizzen und
Notizen zu seinem Werk die Absicht aus, mit dem Johann Faustus eine Oper
zu schreiben, die „von den unerfahrenen Ohren und den erfahrensten“25 begrif-
fen werden müsse. Das Libretto setzt sich, wie bereits erwähnt, nicht nur mit
Manns Roman auseinander, sondern geht – so Tim Lörke – „an die Anfänge des
Faust-Mythos“26 zurück.
Hier sei vor allem auf die inhaltlichen und strukturellen Parallelen zwischen
Johann Faustus und Doktor Faustus hingewiesen. In Manns Roman kann man
den Einfluss von Dantes Inferno mehrfach erkennen, etwa an der Schilderung der
Komposition Apocalipsis cum figuris und am Zitat vor Beginn des Romans. Der
Bezug auf die Commedia fehlt auch bei Eisler nicht, z. B. im Vorspiel durch die
Einführung von Charon, dem „treue[n] Totenfährmann“ (JF: 11).27
Auch das Motiv der Verzweiflung, die in Thomas Manns Roman als Voraus-
setzung für die Hoffnung gilt und Leverkühns Weheklag auf vielfältige Art und
Weise darstellt, spielt in Johann Faustus eine wichtige Rolle.28 Noch im Vorspiel
erklärt Mephisto, Faust sei „aus Verzweiflung viermal Doktor“ (JF: 17) geworden.
Auch die seelische „Verwirrung“ (JF: 123) Fausts, von der Wagner in der fünf-
ten Szene des dritten Aktes berichtet, ist nichts anderes als tiefe Verzweiflung,
die – wie in Doktor Faustus – zu einem Geständnis führt. Während dieser confes-
sio wiederholt Faust das Wort „Wehklagen“ (JF: 126 und 127).29 Damit wird auf
moderne. Thomas Mann – Ferruccio Busoni – Hans Pfitzner – Hanns Eisler. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2010, S. 276.
27 Siehe Alighieri, Dante: La commedia, Die göttliche Kömodie, I Inferno – Hölle.
Übers. u. komm. v. Hartmut Köhler. Stuttgart: Reclam 2010, Canto III, V. 78–136,
S. 50–55.
28 Vgl. Kap. 5.
29 Er wiederholt auch den Satz „da klagt doch wer“ (JF: 126 ff.) und benutzt einmal das
grammatikalisch verwandte Wort „Anklagen“ (JF: 128). Seine confessio scheint auch –
vergleichbar zu Leverkühns Kantate – ein „Variationenwerk der Klage“ (DF: 705) zu sein.
36 2 Hanns Eislers Johann Faustus
Ich ging auf dürrer Heiden, / Da hört ein Stimm ich singen, / Tät mir wunderbar
erklingen: / „Komm, lieber Tag; / Geh, finstre Nacht! / Fried und Freud / Und
Freundlichkeit erwacht“. (JF: 144)31
Johann Faustus studiert wie Adrian Leverkühn als erste Disziplin die Theologie,
die er dann aufgibt.32 Auch erleben beide eine Schaffenskrise, die sie zum Pakt
mit dem Teufel führt:
MEPHISTO: Der Herr Doktor befindet sich in einer großen Schaffenskrise, fühlt
sich abgestumpft gegen geistige wie körperliche Genüsse. Wissenschaften erschei-
nen ihm schal; Vernunft ekelt ihn. Er lechzt nach einem „vollen Leben“. (JF:
17)
Eislers Mephisto zeichnet sich genau wie Manns Teufel dadurch aus, dass er ver-
schiedene Gestalten annehmen kann: Er erscheint beispielsweise „in bürgerlicher
Kleidung“ (JF: 43), „in der Tracht eines Junkers“ (JF: 48) und als italieni-
scher Sekretär.33 Zu den Bedingungen des Paktes zählt im Libretto ebenfalls das
Liebesverbot, das – wie bei Mann – eine wichtige Rolle spielt:
30 Vgl. Eisler: [Musikalische Disposition für die Faustus-Oper] (1951). In: MuP, S. 136 f.,
hier: S. 137.
31 Siehe dazu auch Giovannini, Elena: Il patto col diavolo nella letteratura tedesca
Erscheinung des Teufels als italienischer Sekretär könnte außerdem auf das Teufelsge-
spräch in Palestrina in Manns Roman anspielen. Vgl. Kap. 6.
2.1 Hanns Eislers Johann Faustus und Thomas Manns Doktor Faustus… 37
Bei der Besiegelung des Vertrags zittert Faust, genau wie Leverkühn beim Teu-
felsgespräch (währenddessen er jedoch keinen Vertrag tatsächlich unterschreibt):
MEPHISTO: Hier der Vertrag. Erst dein Blut! Zieht mit seiner Hahnenfeder Blut
aus Fausts Arm. Unterschreib!
FAUST: nimmt die Feder, seine Hand zittert.
MEPHISTO: Wie du zitterst, ich will deine Hand führen. Mephisto führt ihm die
Hand und steckt den Vertrag in die Tasche. (JF: 56)35
Ein weiteres wichtiges Motiv, das sich sowohl in Doktor Faustus als auch in
Johann Faustus findet, ist das des Deutschtums und der Auseinandersetzung
mit der Geschichte Deutschlands unter verschiedenen Gesichtspunkten (religi-
ösen, politischen, kulturellen): Ernst Fischer stellt 1952 fest, Faust sei bei Eisler
„Zentralgestalt der deutschen Misere“36 und sein Werk „die Tragödie eines Vol-
kes“.37 Der Komponist betrachtet diese nicht nur als eine historische, sondern
auch als eine „höchst aktuelle“,38 weil er in der „Spaltung Deutschlands“39 die
„nationale Misere“40 seiner Zeit sieht. In diesem Prozess der Auseinandersetzung
mit der deutschen Geschichte darf Martin Luther, „[d]ie Leuchte der […] Nation“
(JF: 125), nicht fehlen: Die Handlung spielt in seiner Epoche, d. h. die erzählte
Zeit ist nicht die von Doktor Faustus. Zudem befindet sich Fausts Palast in Wit-
tenberg und er bewundert in einigen Momenten seines Lebens Luthers Lehre, von
dem er vor der confessio auch umarmt wird. Luther scheint für die Widersprüche
34 Später erklärt Mephisto Faust, dass er nur sich selbst lieben darf. Vgl. JF: 53; zum
Thema des Liebesverbots siehe auch: Giovannini: Il patto col diavolo, S. 282.
35 Das Verhältnis Plutos zu Mephisto entspricht dem Mephistos zu Faust: Der Teufel ist
Johann Faustus gegenüber besonders autoritär, während Johann Faustus fast im ganzen
Libretto passiv bleibt. Siehe auch Giovannini: Il patto col diavolo, S. 297. Giovannini
meint, beim Unterschreiben zittere Faust aufgrund einer psychologischen Spannung und
nicht aus Kälte wie Leverkühn. Vgl. ebd., S. 285. Das Zittern ist ein wiederholtes Motiv
von Doktor Faustus: Auch Zeitblom zittert oft beim Berichten über das Leben seines
Freundes. Siehe z. B. DF: 324.
36 Fischer, Ernst: Doktor Faustus und der deutsche Bauernkrieg. In: Sinn und Form 4
der deutschen Geschichte zu stehen, weil er sich gegen „den päpstlichen Miß-
brauch“ (JF: 127) äußert und die Bibel ins Deutsche übersetzt, damit sie auch
von den Bauern verstanden werden kann. Die Bauer verrät er jedoch wie Faust,
indem er die Herren verteidigt. Das Libretto denunziert also die Unmöglichkeit
seines Volkes, eine Revolution zu Ende zu führen.
Sowohl Thomas Mann als auch Hanns Eisler bedienen sich der Montage-
Technik.41 Der Komponist sieht sie in seinen Skizzen und Notizen zur Oper auf
verschiedenen Ebenen vor. Zuerst auf der musikalischen: Zwar bezeichnen sowohl
Fischer als auch Brecht den Operntext als eine Tragödie,42 indem sie vor allem auf
die politischen Bezüge hinweisen und ausschließlich anhand des Librettos argu-
mentieren. Aus den Plänen geht jedoch ein unterschiedliches Vorhaben hervor,
was hauptsächlich die Musik hätte verdeutlichen sollen. Es handelt sich um die
Mischung von drei Opernstilen, die entweder bestimmten Figuren oder gewissen
Szenen zugeordnet werden:43
Eine Reflexion über soziale Klassen verknüpft sich folglich mit entsprechenden
musikalischen Formen. Eisler schreibt dazu: „Die Gegenüberstellung des Volks-
liedes – gegen den Kirchenchoral“. Die Macht als potestas, also unter ihren
negativen und restriktiven Aspekten gefasst,44 die sich auch durch das Vorschrei-
ben bestimmter musikalischer Formen in gewissen Kontexten ausdrückt, steht im
Zentrum von Eislers Vorhaben. Durch die Mischung von Stilen und Formen in der
Musik des Orchesters – von einigen Forscher*innen als Erzählinstanz der Oper
angesehen45 – könnte es aber auch mit einer Art variabler und manchmal mul-
tipler Fokalisierung mit unterschiedlichen Erzählinstanzen in Verbindung gebracht
41 Zu Eislers Auseinandersetzung mit dem Erbe und den geteilten Meinungen zwischen
ihm und Lukács, was das Montage-Verfahren angeht, vgl. Wißmann, F.: Johann Faustus,
S. 16 f.
42 Vgl. Fischer: Doktor Faustus, S. 67 und Bunge: Die Debatte, S. 159.
43 Eisler: [Zur Wirkung der Faustus-Oper auf die Musikentwicklung] (1951). In: MuP,
46 Siehe Jahn, Manfred: Focalization. In: Herman, David, Jahn, Manfred u. Marie-Laure
Ryan (Hrsg.): Routledge encyclopedia of narrative theory. London/New York: Routledge
2005, S. 173–177; Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Fink 1994, S. 134–138; Fou-
cault, Michel: Subjekt und Macht (1982). Übers. v. Michael Bischoff. In: Ders.: Schriften
in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV 1980–1988. Hrsg. v. Daniel Defert und François
Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005 [Chicago
1982], S. 269–294.
47 Vgl. dazu: Wißmann, F.: Johann Faustus, S. 13. Darüber hinaus ist der Einfluss Brechts
sehr deutlich, was etwa an der Verwendung des Verfremdungseffekts zu erkennen ist.
Nachdem beispielsweise Mephisto Fausts Seele genommen hat, wendet er sich zum Publi-
kum und sagt: „Aplaudite, amici! Contractum finitum est“, JF: 142. Zum Thema siehe
auch Giovannini: Il patto col diavolo, S. 320; und Wißmann, F.: Johann Faustus, S. 17.
48 Wißmann, F.: Johann Faustus, S. 14.
49 Siehe beispielsweise JF: 28: „Dann gewürzte Leberwurst, / Bratwürst auch und Schwar-
Auch bei Eisler könnte man von zwei Hauptfiguren sprechen: Faust und Hans-
wurst.51 Diese unterscheiden sich nicht wie bei Mann dadurch, dass sie zu zwei
unterschiedlichen Konfessionen gehören oder unterschiedliche Auffassungen über
die Kunst vertreten. Vielmehr trennen sie die soziale Klasse und die Ausbildung:
Faust, Sohn eines Bauern, hat viel studiert und besitzt einen Palast in Wittenberg,
Hanswurst ist ein armer, wenig gebildeter „Fresser“.52
Wißmann erläutert diesbezüglich:53
Zum einen kann er [Eisler] durch Hanswurst den Text im Text kommentieren, ande-
rerseits behält die Figur auch ihre Aufgabe bei, politische Mißstände in ironischen
Seitenhieben sichtbar zu machen.
Hanswurst teilt deshalb mit Zeitblom die kommentierende Funktion der Gescheh-
nisse. Fausts breiteres kulturelles Vermögen ermöglicht ihm aber nicht, vernünf-
tiger als Hanswurst zu handeln: Beide gehen einen Pakt mit dem Teufel ein und
sind verdammt, weil sie nur an sich selbst gedacht haben. Ihre fehlende altruisti-
sche Natur macht sie ähnlicher und komplementärer als erwartet und nivelliert die
Klassenunterschiede: Laut Giovannini verkörpern sie beide Seiten eines negativen
Ichs;54 auch Brecht spricht von einem „dunklen Zwilling“55 von Goethes Faust.
Mehr als in Doktor Faustus stehen aber Faust und Hanswurst in Johann Faustus
„in einem fast komischen Gegensatz“,56 so Thomas Mann bezüglich Leverkühn
und Zeitblom. Dieser „komische[] Gegensatz“57 lässt sich an den Namen der
Figuren sofort ablesen. Zudem verdeutlichen die Namen, was Eisler laut seinen
Skizzen auch in der Musik zu realisieren beabsichtigte, insofern sie sich sofort auf
präzise literarische Traditionen, die Tragödie bzw. das Trauerspiel einerseits, die
(Stegreif-)Komödie andererseits sowie auf präzise Autoren wie Goethe zurückfüh-
ren lassen. Das Verhältnis dieser literarischen Traditionen zum Medium Musik,
nämlich durch die Oper sowie die wechselseitigen Beziehungen zwischen Thea-
ter und Musiktheater, hätte Johann Faustus in Opernform wahrscheinlich noch
deutlicher herausgestellt.
51 Thomas Mann spricht in der Entstehung des „Doktor Faustus“ von den „beiden
Wie am Ende des vorigen Unterabschnitts bereits angedeutet, treten beim Ver-
gleich beider Texte in puncto Teufelspakt nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern
auch wichtige Differenzen zutage. Das fällt bereits bei der ersten Lektüre von
Eislers Text auf: Das Libretto lässt die Leser*innenschaft nicht an der Existenz
eines Teufels und eines Paktes (anders als bei Mann) zweifeln. Mephisto ist bei
Eisler eine der Hauptfiguren des Werkes, die keine vage Identität wie in Dok-
tor Faustus hat, welche die Konsequenz eines Deliriums sein könnte. Faust heißt
nicht etwa Adrian Leverkühn, sondern eben Faust, und unterschreibt den Vertrag
bewusst mit seinem Blut: Aus diesem Grund weist Giovannini darauf hin, dass in
Johann Faustus der Pakt einen expliziten Charakter hat.58 Diese Beobachtungen
zeigen, dass die Zuordnung von Eislers Werk innerhalb der Faust-Tradition nur
schwer in Frage gestellt werden kann.
Die Dauer des Paktes beträgt in beiden Werken 24 Jahre. Der Unterschied
ist aber, dass die Laufzeit in Doktor Faustus respektiert wird, in Johann Faustus
dagegen nicht: Trotz des intensiven Studiums bleibt Faust für Mephisto der Sohn
eines Bauern. Der Teufel folgt der calvinistischen Prädestinationslehre.59
Hinsichtlich der Künste, die Johann Faustus vom Teufel gelehrt werden möchte,
bestehen signifikante Unterschiede zwischen Eislers Libretto und Manns Roman.
Eislers Faust will nicht nur die Musik lernen, sondern auch die Malerei und
die Dichtkunst. Der Teufel aber ist kein „Musikintelligenzler“ (DF: 327) wie
bei Mann und kann ihm nur „ein steriles Surrogat von Kunst bieten“60 – denn
die Schwarzspiele sind lediglich „Illusionen von Kunst“.61 Tim Lörke erläutert
dazu:62
[A]lles, was Mephisto bieten kann, ist flüchtiges Blendwerk, weil es nicht der
sozialen Lage angemessen ist. Ist Wahrheit einzig auf seiten des Volks zu finden,
kann solche Kultur nur Lüge sein.
Eislers Teufel wirkt, wahrscheinlich weil er eher die Interessen der Herren als die
des Volkes verteidigt, viel schwächer als der Teufel Thomas Manns. Nicht ledig-
lich, weil er Faust keine echte Kunst bieten kann, sondern auch, weil er Plutos
ebenfalls einem von Gott gewollten Plan folgt, Bedingungen diktieren. Drees, Susanne:
Prädestination und Bekenntnis. Die Rezeption der Prädestinationslehre Johannes Calvins
in den europäischen reformierten Bekenntnisschriften bis 1619. Kamen: Spenner 2011,
S. 22 u. 25.
60 Lörke: Die Verteidigung der Kultur, S. 279.
61 Ebd.
62 Ebd.
2.1 Hanns Eislers Johann Faustus und Thomas Manns Doktor Faustus… 43
Untergebener ist.63 Die Hölle von Johann Faustus weist eine präzise Hierarchie
auf, wovon man gleich im Vorspiel erfährt, wenn Pluto Mephisto befiehlt, ihm
die Seele Fausts zu bringen. Pluto wird dort als autoritäre Figur dargestellt und
Mephisto betont an mehreren Textstellen die Legitimationsinstanz seiner Macht.64
Zwar benutzt auch der „Teufel“ von Doktor Faustus mehrfach die erste Person
Plural und weist so auf die Struktur der Hölle hin.65 Bei genauerer Betrach-
tung aber gewinnt man den Eindruck, dass er dort niemandem untergeben ist:
Aus dieser Perspektive wäre die Verwendung der ersten Person Plural als pluralis
majestatis der Herrscher*innen zu werten.
Ein weiteres Motiv, das in beiden Texten auftaucht, ist das Motiv der
Krankheit, bei dessen Verwendung sich allerdings vor allem Unterschiede
feststellen lassen. In Doktor Faustus soll – laut Zeitbloms Wiedergabe der
Ereignisse – der Geschlechtsverkehr mit Esmeralda, durch den die Syphilis über-
tragen wird, mit der Unterschrift des Paktes korrespondieren. Die Symptome der
Krankheit intensivieren sich während der Laufzeit des Vertrags bis hin zum Wahn-
sinn und zur Paralyse. Die Infektion stellt für den Erzähler den Impuls für viele
Kompositionen Leverkühns dar. Ganz im Gegensatz zum Teufel in Manns Roman
akzeptiert Eislers Mephisto die Bedingung Fausts, 24 Jahre gesund zu bleiben:
FAUST: Denn ich muß die vierundzwanzig Jahr in voller Gesundheit dahin leben.
MEPHISTO: Wenn du es reichlich bunt treibst mit Fressen, Saufen und Huren –
wie kannst du gesund bleiben? Aber da hab ich schon meine Hausmittelchen. Denkt
eine Weile nach. (JF: 50)
Erst gegen Ende des Paktes zeigt Faust die Symptome einer psychischen
Krankheit:
denkbare, aber befristetete Zeit und ein gesetztes Ende, da sind wir wohl auf dem Plan,
da blüht unser Weizen“ (Herv. A. O.).
44 2 Hanns Eislers Johann Faustus
Diese „seltsame Verwirrung“ sieht nicht wirklich wie eine Krankheit, sondern
eher wie tiefe Verzweiflung und Angst aus: Faust wird sich der Tatsache bewusst,
dass er durch die Hilfe des Teufels nichts Besseres realisieren konnte. Zugleich
begreift er, dass Mephisto ohnehin seine Seele haben würde: Der Pakt ist unge-
recht und unausgewogen, der Teufel hat ihn verspottet. In Doktor Faustus gelingt
es Adrian Leverkühn durch die Hilfe des Teufels ein neues kompositorisches Sys-
tem zu entwickeln, was manche jedoch ebenfalls für „Illusionen von Kunst“67
halten könnten. Gleichwohl könnte darauf hingewiesen werden, dass Adrian
Leverkühn durch seine letzte Komposition eine größere Ausdruckskraft der Musik
zu erreichen beabsichtigt, was aber die „Strenge“ der Form, d. h. die präzise
Anwendung der Dodekaphonie, verhindert: In der Aufführungssituation wird das
besonders deutlich, da der Künstler nach dem ersten Laut in Ohnmacht sinkt.68
Zweifelsohne besteht ein weiterer, signifikanter Unterschied zwischen Eislers
Johann Faustus und Thomas Manns Doktor Faustus darin, dass im Libretto die
Musik keinen wichtigen Bestandteil der histoire69 mehr darstellt: Die Oper rückt
nicht das Leben eines Musikers ins Zentrum, sondern die Musik ist einfach eine
der Künste, die Faust vom Teufel lernen will. Die histoire lässt sich bei Eisler
eindeutig als eine Bearbeitung des Faust-Stoffes erkennen, und zwar nicht nur im
paratextuellen Hinweis des Titels.70
Darüber hinaus ist eine Berücksichtigung des Entstehungskontextes, wie ein-
gangs des Kapitelabschnitts angesprochen, für die Analyse sehr ergiebig: Das
sekundäre Produkt wird nicht 1947 gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs in
der BDR bzw. in Schweden, sondern 1952 in der DDR veröffentlicht. Während
Thomas Manns Roman ein höchst kontroverses Werk bleibt, das aber weiter-
hin gelesen und veröffentlicht werden durfte bzw. darf, zu dem sich der Autor
auch wiederholt äußert und sogar ein zweites Werk über seine Entstehungsge-
schichte erscheinen lässt, erfährt Eislers Libretto eine andere Geschichte. Dieses
wird 30 Jahre lang nicht veröffentlicht und die Musik dementsprechend nur sehr
2.2 Fazit
Das Kapitel hat anhand der Werke Doktor Faustus von Thomas Mann und Johann
Faustus von Hanns Eislers gezeigt, unter welchen Aspekten die Analyse von
Kontinuitäten und Differenzen zwischen Vorlage und intermedialer Bezugnahme
durchgeführt werden kann. Im Gesamtkontext der Arbeit machte sie folglich auf
einige wichtige Kriterien für den Medienvergleich aufmerksam, so z. B. den Ent-
stehungskontext, stilistische Entscheidungen sowie das Verhältnis zum Faust-Stoff
und zu den im Roman auftauchenden Motiven. Im Hinblick auf die Forschungs-
fragen der Studie ermöglichte die Analyse von Eislers Johann Faustus bereits ein
Stück der frühen kompositorischen Rezeptionsgeschichte von Doktor Faustus zu
rekonstruieren.
71 Vgl. 2.1. Eine ausführliche Rekonstruktion der damaligen Debatte um Eislers Werk
sowie aller Reaktionen auf Manns Roman würde den Rahmen dieser Untersuchung spren-
gen und auch zu weit vom intermedial angelegten Schwerpunkt abweichen. Daher wird
diese Problematik im Rahmen dieser kontrastiven Analyse nur kurz umrissen. Für weitere
Informationen zum Hintergrund sei jedoch auf die Publikationen von Bunge, F. Wißmann,
Müller, Lörke und Giovannini, die in diesem Kapitel bereits zitiert wurden.
72 Müller: Ein deutsches Trauerspiel, S. 9.
46 2 Hanns Eislers Johann Faustus
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Teil II
Adrian Leverkühns Werke
Gesta Romanorum
3
Der gemeinsame Nenner der Kapitel, die den zweiten Teil der vorliegenden
Untersuchung bilden, liegt darin, dass sie von einzelnen fiktiven Kompositio-
nen Leverkühns und darauf aufbauenden intermedialen Transpositionen bzw.
Bezugnahmen handeln. Damit in den drei Kapiteln dieses Teils Leverkühns
kompositorische Entwicklungen kohärent und nachvollziehbar dargestellt wer-
den können, werden die drei fiktiven Werke, nämlich die Gesta Romanorum,
die Apocalipsis cum figuris und die Dr. Fausti Weheklag, der Chronologie der
intradiegetischen Zeitbezüge des Romans entsprechend behandelt: Zeitblom lie-
fert seiner Leser*innenschaft präzise Daten zur Komposition und Aufführung der
Kompositionen.
Das vorliegende Kapitel beschäftigt sich mit Leverkühns Puppenspiel Gesta
Romanorum und zwei intermedialen Transpositionen des Werkes, jeweils von
Beyer (Die Gesta Romanorum – Musik des Adrian Leverkühn, 1990) und Ode-
gard (The Calling of St. Gregory, 1988). In den Ausführungen der ersten, dem
Roman gewidmeten Abschnitte des Kapitels kristallisiert sich der Labor-Charakter
der Gesta-Kapitel aus Thomas Manns Doktor Faustus heraus, die einerseits auf
der intradiegetischen Ebene der Narration einer Experimentierphase im Schaffen
Adrian Leverkühns entsprechen, andererseits eine Transitionsphase in Thomas
Manns Arbeit am Motiv des Inzests in einem mythischen Kontext darstellen.
In diesem Prozess, der anhand der drei Werke Wälsungenblut, Doktor Faustus
und Der Erwählte kurz geschildert wird, ergeben sich aus intramedialer Sicht
sowohl Kontinuitäten als auch Differenzen, etwa der durchgehende Rückgriff auf
die Parodie und das In-Frage-Stellen der mythischen Vorlage samt Hervorhebung
der Gefährlichkeit von Mythen sowie die – trotz Einbettung in unterschiedliche
geographische Räume und Bezug auf zwei unterschiedliche Religionen – enge
Verknüpfung von Inzest und Rassenfrage.
Der zweite Teil des Kapitels widmet sich zwei intermedialen Transpositionen
von Leverkühns Gesta romanorum. Beyers Die Gesta romanorum – Musik des
Adrian Leverkühn befindet sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Rekon-
struktion und Adaption der Vorlage: Einerseits orientiert sich Besetzung und Stil
an Thomas Manns Roman, anderseits wird das Ziel einer größeren Zugänglich-
keit der Musik nicht durch das Medium des Puppenspiels, sondern durch das des
Fernsehens verfolgt. In Odegards The Calling of St. Gregory wird das Motiv des
Inzests jenseits von kulturellen Tabus behandelt; die spätmittelalterliche Exempel-
sammlung wird in Frage gestellt, indem gleichzeitig der parodistische Charakter
von Leverkühns fiktiver Vertonung im plurimedialen Medium der Medienkom-
bination verstärkt wird. Beide intermediale Produkte konzentrieren sich auf das
zweite von Leverkühns vertonte Exempel, nämlich auf Gregors Mythos.
Der vorigen Darstellung des Inhalts des Kapitels entsprechend wird hier zunächst
einmal auf Leverkühns fiktives Puppenspiel Gesta Romanorum eingegangen. Das
Werk Gesta Romanorum ist eine anonyme spätmittelalterliche Exempelsamm-
lung: Die sehr verschiedenen Texte samt ihren diversen Handlungen, Figuren und
Stoffen haben hauptsächlich eines gemeinsam, nämlich ihre moralisch-didaktische
Absicht. Die Exempelsammlung hat viele Schriftsteller inspiriert, etwa Shake-
speare, Boccaccio, Lessing und Hofmannsthal, denn Werke dieser Autoren stützen
sich auf einige Legenden aus der Sammlung.2 Auch im Schaffen Thomas Manns
1 Der Begriff wurde dem später erwähnten Aufsatz Braidottis entnommen: Es entspricht
der deutschen Übersetzung des von ihr verwendeten Wortes „laboratory“. Zur Übersetzung:
Braidotti: Politik der Affirmation. Übers. v. Elisa Barth. Leipzig: Merve 2018, S. 79.
2 Vgl. Wawrznyiak, Udo: Gesta Romanorum. In: Brednich u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie des
stellen die Gesta den Hypotext3 zweier Werke dar, und zwar nicht nur des hier
behandelten Romans, Doktor Faustus, sondern auch eines zweiten, später entstan-
denen, nämlich Der Erwählte. Während Doktor Faustus auf zwei Exempel4 des
Hypotextes Bezug nimmt, die jeweils die Motive des Ehebruchs und des Inzests in
den Vordergrund rücken und auf der intradiegetischen, histoire-spezifischen Ebene
in der ersten Phase des Ersten Weltkriegs (1914–15) von Adrian Leverkühn ver-
tont werden, basiert der 1951 erschienene Roman lediglich auf dem Exempel des
Papstes Gregor.5 Im intramedialen Prozess wird daher der Fokus auf den mythi-
schen Hypotext reduziert, gleichzeitig aber die Geschichte des christlichen Ödipus
Gregor an sich ausführlicher behandelt und – nach den Worten des Autors – zum
Hauptstoff seines „kleinen archaischen Roman[s]“ (Ent: 114).
In Bezug auf Adrian Leverkühns vertonte Texte aus den Gesta taucht –
sowohl im Roman als auch in den ersten Beiträgen aus der Forschungslitera-
tur – nicht selten das Wort ,Regression‘ auf.6 Zeitblom ist beispielsweise der
Auffassung, dass „die ,Gesta‘ tatsächlich etwas wie eine ,Regression‘ auf den
musikalischen Stil von ,Love’s Labour Lost‘“ (DF: 465), ein Werk der frühen
Phase Leverkühns, darstellen und äußert sogar seine Unzufriedenheit mit dem
Werk und den damaligen Überlegungen seines Freundes über „eine Kunst ohne
Leiden, seelisch gesund, unfeierlich, untraurig-zutraulich, eine Kunst mit der
Menschheit auf du und du“ (DF: 469). In einem 1952 publizierten Aufsatz von
Weigand findet sich diese Stellungnahme ebenfalls: „The style of Adrian Lever-
kühn’s puppet-play music was a reversion to the simpler manner of his earlier
period“.7 Erst in späteren Beiträgen zu Thomas Manns Roman unterliegt diese
Auffassung einer Revision: Herrmanns betont beispielsweise, dass diese Schaf-
fensperiode in Leverkühns Leben doch nicht völlig „unschöpferisch[]“8 gewesen
sei. Das vorliegende Kapitel versucht, jenseits der starren Dichotomien unschöpfe-
risch/schöpferisch bzw. Regression/Progression zu argumentieren. Diese scheinen
nicht angemessen, dem dynamischen Labor-Charakter der Gesta-Kapitel – sowohl
auf der intradiegetischen Dimension des Romans als auch im Schaffen Thomas
Manns – Rechnung zu tragen, der im Zentrum der folgenden Ausführungen steht.
3 Hier und im weiteren Verlauf der Studie aus: Genette: Palimpsestes, z. B. S. 11.
4 Thomas Mann sieht zunächst fünf Geschichten aus den Gesta vor, benutzt dann nur zwei.
Siehe Hermanns, Ulrike: Thomas Manns Roman Doktor Faustus im Lichte von Quellen
und Kontexten. Frankfurt am Main: Lang 1994, S. 40.
5 Siehe Mann, Thomas: Der Erwählte. Frankfurt am Main: Fischer 2015 [1951], 30. Aufl.
6 Zur Forschungsliteratur vgl. z. B. den bereits erwähnten Aufsatz von Weigand (Thomas
Die Kapitel profilieren sich in Anlehnung an eine Publikation von Rosi Braidotti
als vieldimensionales „laboratory for the new in the sense of the actualizations
of experiments in becoming“.9 Im Rahmen dieses Experimentierens kommt dem
Motiv des Inzests eine große Bedeutung zu: Auch die Gesta setzen sich mit der
Frage: „[W]hat happened to the heirs of Oedipus?“10 auseinander, die u. a. auf
den Diskurs des Begehrens, genauer genommen auf den eines „desire outside
cultural intelligibility“,11 verweist.
In der bereits erwähnten Schrift beschreibt Braidotti, was sie unter einem
,intensiven Text‘ versteht:12
Auf dem Tische lagen ein paar Bücher: ein Bändchen Kleist, worin das Lesezeichen
bei dem Aufsatz über die Marionetten eingelegt war, ferner die unvermeidlichen
Sonette Shakespeares und noch ein Band mit Stücken dieses Dichters, – „Was ihr
wollt“ war darin, „Viel Lärm um nichts“, und, wenn ich nicht irre, auch „Die beiden
Veroneser“. (DF: 444 f.)
Jünglings als Inbegriff der Anmut, die dieser, nachdem er sich unvermittelt im Spie-
gel erblickt, nicht mehr wiederholen kann: Seine Anmut bleibt nach dem Erwachen der
Selbst-Wahrnehmung für immer verloren“. Frank, Svenja: Inzest und Autor-Imago im
Marionettentheater. Zum Identitätskonzept in Felicitas Hoppes Paradiese, Übersee. In:
Holdenried, Michaela (Hrsg., in Zusammenarbeit mit Stefan Hermes): Felicitas Hoppe:
Das Werk. Berlin: Schmidt 2015, S. 49–68, hier: S. 65.
3.1 Die Gesta Romanorum als Labor: Adrian Leverkühns Puppenspiel 53
Am Horizont, ich bin dessen sicher, stand schon damals, wahrscheinlich schon
seit Ausbruch des Krieges, der ja für eine Divination, wie die seine, einen tiefen
Ab- und Einschnitt, die Eröffnung einer neuen, tumultuösen und grundstürzenden,
mit wilden Abenteuern und Leiden überfüllten Geschichtsperiode bedeutete, – am
Horizont seines schöpferischen Lebens stand bereits die „Apocalipsis cum figuris“,
das Werk, das diesem Leben einen schwindelnden Auftrieb geben sollte, und bis
zu welchem – so sehe wenigstens ich den Prozeß – er sich mit den genialischen
Puppen-Grotesken die Wartezeit vertrieb. (DF: 458 f.)
Zeitblom schreibt der Gesta zwar Genialität zu, definiert sie jedoch zugleich als
Zeitvertrieb und – wie eingangs dieses Unterabschnitts bereits angesprochen –
als Regression, was einen seiner vielen Widersprüchen in seinem Erzählen dar-
stellt. Hierbei muss allerdings angemerkt werden, dass er ebenfalls eine gewisse
Prozesshaftigkeit erkennt, von der er auch in der Lage ist, ein Ziel zu sehen, und
zwar die Apocalipsis cum figuris. Nicht nur gelten die Gesta als Vorbereitung auf
das apokalyptische Werk, vor allem in Anbetracht der Aufhebung von Trennun-
gen etwa zwischen Stilen, Gattungen und Disziplinen einerseits, ihrer intensiven
Vermischung andererseits sowie der Auseinandersetzung mit dem Kulturgut aus
dem Mittelalter. Sie antizipieren und bereiten auch auf das letzte Werk, die Dr.
Fausti Weheklag, vor, wie im Folgenden aufgezeigt wird. Kleists Text Über das
14 Braidotti: Politik der Affirmation, S. 48. Erwähnenswert ist hier auch, dass Leverkühn
„lockere Szenarien und ungefähre Wechselreden entwarf, worauf […] [Zeitblom] es war,
der sie in Mußestunden rasch in ihre endgültige, aus Prosa und Reimverschen gemischte
Form brachte“, DF: 461.
15 Derrida, Jacques: Apokalypse. Hrsg. v. Peter Engelmann, übers. v. Michael Wetzel.
Marionettentheater, den Leverkühn als Vorbereitung auf die Gesta liest, kon-
zentriert sich bekanntlich auf die Anmut des Mechanischen, das immerhin mit
„Empfindung betrieben werden“16 kann.
Das Studium des Marionettentheaters sowie die Lektüre von Kleists Text stel-
len eine wichtige Etappe im kompositorischen Werdegang Leverkühns dar, da sie
ihm eine zum selben Zeitpunkt der histoire stattfindende Reflexion über die Mög-
lichkeit eines „Durchbruch[s] […] aus geistiger Kälte in eine Wagniswelt neuen
Gefühls“ (DF: 468; Herv. i. O.) erlauben. Dieser Durchbruch gelingt Leverkühn
im Roman durch seine letzte Komposition, die Dr. Fausti Weheklag, welche die
einzige ist, die „seine Idee eines ,strengen Satzes‘ entwickelt[]“ (DF: 704).17 Die
Weheklag bestätigt die Auffassung des Tänzers in Kleists Text, der mit der Erzäh-
linstanz spricht, von einer möglichen „Rekonstruktion des Ausdrucks“ (DF: 703)
auch durch das Mechanische, wofür in Doktor Faustus die Zwölftontechnik ste-
hen könnte, die zum ersten Mal in Leverkühns letzter Komposition angewendet
wird.18 Nicht zuletzt betrachtet Kleists Text Über das Marionettentheater das
Puppenspiel als effiziente technische Vorbereitung: Ein Tänzer, der sich ausbil-
den möchte, könne viel von der Pantomimik der Puppen lernen. Auch Leverkühn
bereitet sich, allerdings als Komponist und nicht als Tänzer, durch die Form des
Puppenspiels auf seine späteren zwei Kompositionen, die Apocalipsis und die
Weheklag, vor.
In diesem Prozess des „becoming“19 spricht Leverkühn laut Zeitbloms Wieder-
gabe der Ereignisse auch darüber, wie er zum künstlerischen Durchbruch gelangen
möchte. Leverkühn beklagt, die Musik habe zu seiner Zeit „im Dienst technischer
Geistigkeit“ (DF: 468) an „Gefühlswärme“ (ebd.) verloren und wünscht sich „eine
Wiedergewinnung des Vitalen und der Gefühlskraft“ (ebd.). Er phantasiert von
einer Kunst, die, um dem Absterben entgegenzuwirken, „den Weg zum ,Volk‘“
(DF: 469) wiederfinden könnte und bedient sich dementsprechend eines „volks-
nahen Instruments“,20 nämlich des Puppenspiels. Betrachtet man aber, wie die
16 Der Aufsatz erschien in den Berliner Abendblättern, 63.– 66. Blatt, den 12.–15. Dezem-
ber 1810. Hier aus: Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater. In: Sembdner,
Helmut (Hrsg.): Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. Studien und Interpretationen.
Berlin: Schmidt 1967, S. 9–16, hier: S. 10.
17 Zeitblom assoziiert diesen Durchbruch ebenfalls auf der intradiegetischen Dimension
der Narration politisch mit dem Bestreben Deutschlands, durch den Ersten Weltkrieg „zur
dominierenden Weltmacht“ (DF: 402) zu werden.
18 Vgl. auch Malknecht, Ludovica: Un’etica di suoni. Musica, morale e metafisica in
21 Die Erzählinstanz Serenus Zeitblom spricht Leverkühns Musik in den meisten Fällen die
bietet daher eine Interpretation der Gesta an, die vom moralisch-didaktischen
Zweck der Vorlage „auf eine recht destruktive Weise“ (DF: 466) Abstand nimmt,
indem „das Skurrile, besonders auch im Erotischen Possenhafte, an die Stelle
moralischer Priesterlichkeit trat, aller inflationärer Pomp der Mittel abgeworfen
und die Aktion der an sich schon burlesken Gliederpuppen-Bühne übertragen
wurde“ (ebd.). Nach Zeitbloms Worten wird also in Leverkühns Puppenspiel
Priesterlichkeit ins Skurrile und Erotische umgewertet und auf eine Theaterform
übertragen, die sich für den „parodistischen Sinn“ Leverkühns besser eignet als
die Gattung der Exempelsammlung. Der Erzähler liefert seiner Leser*innenschaft
Hinweise darauf, wie Leverkühn die Vorlage liest und dementsprechend in
seine Medienkombination transferiert und transformiert: Es handelt sich um
kein rekonstruktives, sondern um ein adaptives Textverständnis, das einerseits
durch Leverkühns Lesart bedingt und andererseits vom gewählten Medium des
Puppenspiels abhängig ist. Zudem zeichnet sich hier Leverkühn als „practitio-
ner of deconstruction“23 aus, der „within the terms of the system“24 arbeitet,
„but in order to breach it“.25 Das System, in dem Leverkühn arbeitet, ist das
der moralischen, mittelalterlichen Exempelsammlungen mythischen Stoffs, das
die Dichotomie moral/immoral ins Zentrum stellt und diese durch christliche
Argumentationen begründet. Der Ehebruch z. B., von dem die erste vertonte
Geschichte handelt, lässt sich aus christlicher Perspektive sowohl anhand der
Zehn Gebote als auch der Todsünden (luxuria) für immoral erklären. Durch Lever-
kühns Medienkombination wird die Vorlage nicht wirklich adaptiv, sondern eher
„destruktiv“ gelesen: Das Werk scheint auf keine „Schlichtung von Gegensät-
zen“26 abzuzielen, was laut Börnchen die logische Ableitung der verwendeten
Auffassung von Komik und Humor ist. Vielmehr werden Gegensätze etwa durch
den nach Zeitblom skurrilen Charakter des Werkes sichtbar gemacht und ausge-
halten.27 Um mit Derrida zu argumentieren, könnte man dementsprechend über
Leverkühns Puppenspiel Folgendes sagen: Die „spielerische Bewegung innerhalb
dieses Abstands zwischen den beiden Zeichen“,28 in diesem Fall: Moralität und
(1968). In: Ders.: Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Hou-
debine, Guy Scarpetta. Wien: Passagen 2009 [Paris 1972], 2., überarb. Aufl., S. 63–122,
S. 94.
3.1 Die Gesta Romanorum als Labor: Adrian Leverkühns Puppenspiel 57
29 Ebd.
30 Ebd.
31 Der Titel wird wortwörtlich der Vorlage entnommen. Siehe Gesta Romanorum: S. 49–52.
32 Diesbezüglich ist zu bemerken, dass hier Zeitblom auch die Rolle des metadiegetischen
Erzählers übernimmt. Dazu vgl. auch Elsaghe, Yahya: Das Goldene Horn und die Hör-
ner der Männchen: Zur Krise der Männlichkeit in Doktor Faustus und Mario und der
Zauberer. In: Honold, Alexander u. Niels Werber (Hrsg.): Deconstructing Thomas Mann.
Heidelberg: Winter 2012, S. 121–134, hier: S. 125.
33 Scherpe, Klaus: Der Buchstabe „A“ und andere Medien des Ehebruchs im Roman.
Goethe, Hawthorne, Flaubert, Fontane, Tolstoi und Thomas Mann. In: Weimarer Beiträge
56 (2010) H. 3, S. 389–403, hier: S. 389, Herv. i. O.
34 Siehe Girard, René: Deceit, Desire, and The Novel. Self and Other in Literary Structure.
eher auf das zwischen Leverkühn und Schwerdtfeger beziehen – wie auch auf
das zwischen Leverkühn und Schildknapp, der ihm die Gesta vorliest,35 also
durch das Medium der Literatur. Der oft eifersüchtige Zeitblom assoziiert die-
ses Begehren zwar mit keinem Ehebruch im eigentlichen Sinne, aber immerhin
mit einem Verrat an seiner Liebe zu seinem Freund: Es wundert nicht, dass er der
Leser*innenschaft Schwerdtfegers emotionale Reaktion auf Leverkühns Vorspiel
detailliert beschreibt.36
Diese knappe Darstellung des ersten Textes leitet zum zweiten Schritt der Ana-
lyse über, der sich, ausgehend vom zweiten vertonten Exempel zu Gregorius, mit
dem Inzest-Motiv im Schaffen Thomas Manns befasst.
Es gilt nun, die Kapitel über die Gesta im Gesamtwerk Thomas Manns zu kon-
textualisieren und sich dabei den daraus resultierenden intramedialen Bezügen
zu widmen, die den Roman Doktor Faustus selbst als Labor erscheinen lassen.
Zeitblom betont, das „eigentlich[e] Kernstück der Suite“ (DF: 461) Leverkühns
sei nicht der oben geschilderte Text, sondern der zweite, nämlich der Text mit
dem Titel „Von der Geburt des seligen Papstes Gregor“ (DF: 461). Dieser handelt
von einem doppelten Inzest: Aus der Liebe eines „königlichen Geschwisterpaars“
(DF: 462) wird ein Kind geboren, das die Mutter, „nicht ohne ein unterrichtendes
Schrifttäfelchen sowie Gold und Silber für seine Auferziehung […] den Mee-
reswogen“ (ebd.) übergibt. Ein Abt, der ein Kloster leitet, findet das Kind, tauft
es auf den Namen Gregor und kümmert sich um seine Erziehung. Gregors Mut-
ter weigert sich, teils aus Treue dem Bruder gegenüber teils, weil sie sich „als
eine Entweihte, der christlichen Ehe Unwürdige betrachtet“ (ebd.), einen Mann
zu heiraten. Dies provoziert den Zorn eines „Herzog[s] des Auslandes“ (ebd.), der
als Folge ihrer Ablehnung ihr ganzes Reich erobert. Gregor, der mittlerweile das
Kloster verlassen hat und sich auf dem Weg zum Heiligen Grab befindet, kommt
jedoch zu Hilfe und befreit das ganze Reich; Gregors Mutter erklärt sich bereit,
35 Vgl.DF: 459.
36 Vgl.DF: 466 f.: „[…] und Schwerdtfeger, in entfesselter Zutraulichkeit, nahm die Lizenz
des Augenblicks wahr, indem er mit einem ,Das hast du großartig gemacht!‘ Adrian
umarmte und dessen Kopf an den seinen drückte. Ich sah Rüdigers [Schildknapp] ohne-
dies schon bitterlichen Mund sich mißbilligend verziehen und konnte selbst nicht umhin,
ein ‚Genug!‘ zu murmeln und die Hand auszustrecken, wie um den Hemmungslosen,
Distanzvergessenen zurückzuholen“.
3.2 Doktor Faustus als Labor: Das Motiv des Inzests … 59
ihn zu heiraten. Sobald Gregor herausfindet, wen er geheiratet hat, büßt er sieb-
zehn Jahre lang seine Sünde ab: Ein Fischer fährt ihn „zu einem flutumbrandeten
Felsen“ (DF: 464) in der See, legt Fesseln an seine Füße und wirft den Schlüssel
ins Meer. Inzwischen stirbt der Papst in Rom und eine Stimme aus dem Him-
mel befiehlt, nach einem Mann namens Gregor zu suchen. So wird er zum Papst
Gregor ernannt. Seine Mutter, die mittlerweile viel Gutes über den neuen Papst
gehört hat, macht sich zum Zweck der Sündenerlösung auf den Weg nach Rom:
Als sich die beiden wiedersehen, begreifen sie, dass Gott ihnen verziehen hat. In
einem vom Gregor gestifteten Kloster lebt die Mutter als Äbtissin bis zu ihrem
Tod.
Ein zentrales Motiv des Textes ist zweifelsohne das des Inzests, das wie
im Fall von Ödipus oder der Antigone in einen mythischen Kontext eingebet-
tet wird. Die Behandlung des Motivs stellt keinen Einzelfall in Thomas Manns
Gesamtwerk dar. In den folgenden Unterabschnitten wird dies anhand der Novelle
Wälsungenblut, der Gesta-Kapitel von Doktor Faustus sowie des Romans Der
Erwählte chronologisch rekonstruiert. Dies soll Kontinuitäten und Veränderungen
im Rahmen dieses Prozesses, also jenes Braidotti zufolge „experimenting with
transformations“,37 erfassbar machen.
Als erste Etappe von Thomas Manns Arbeit am Motiv des Inzests sei hier die
Novelle Wälsungenblut (1905)38 erwähnt, die Wagnerrezeption39 und Décadence
kombiniert.40 Hauptfiguren dieser Novelle sind die Zwillinge Siegmund und Sieg-
lind Aarenhold, Kinder eines reichen jüdischen Privatmannes, die einander sehr
Thomas Mann. In: Weichselbaum, Hans (Hrsg.): Androgynie und Inzest in der Literatur
um 1900. Salzburg/Wien: Müller 2005, S. 181–203 (insb. S. 186–193).
40 Siehe Schoene, Anja: „Ach, wäre fern, was ich liebe!“ Studien zur Inzestthematik in
der Literatur der Jahrhundertwende. Würzburg: Königshausen & Neumann 1997, S. 112;
Marx, Friedhelm: Inzest. Grenze und Grenzüberschreitung bei Ulrike Draesner und Tho-
mas Mann. In: Catani, Stephanie u. Friedhelm Marx (Hrsg.): Familien, Geschlechter,
Macht: Beziehungen im Werk Ulrike Draesners. Göttingen: Wallstein, S. 61–73 (insb.
S. 62–70).
60 3 Gesta Romanorum
nah stehen. Auslöser der ersten inzestuösen Beziehung ist der Besuch der bei-
den Zwillinge einer Vorstellung von Wagners Die Walküre: Die Oper handelt von
der Liebe der gleichnamigen germanischen Götterkinder Siegmund und Sieglind.
Die Zwillinge besuchen die Veranstaltung am Tag vor Sieglinds Hochzeit mit von
Beckerath, der „im Ministerium tätig und von Familie“41 ist. Die Novelle endet
gleich nach der inzestuösen Beziehung und lässt die Frage unbeantwortet, was nun
mit der Hochzeit von Sieglind passieren wird. Der Inzest der jüdischen Zwillinge
Aarenhold ist laut Schoene „im Vergleich zu Wagners mythisch gedachtem eine
Parodie“:42 Der Mythos als Modell übernehme keine erlösende Funktion in Wäl-
sungenblut mehr, vielmehr werde in der Novelle die Krankheit der damaligen Zeit
diagnostiziert, nämlich „die Unfähigkeit, über narzißstische Liebe hinweg zum
Anderen zu finden“.43 Schoene hebt gleichzeitig hervor, wie eng die Problematik
des Inzests in der Literatur um die Jahrhundertwende, der sich ihre Studie widmet,
„mit dem Problem der Rassenzugehörigkeit, speziell des Judentums“44 verquickt
sei: Das schlägt sich in Thomas Manns Novelle nieder, die die Forscherin als
eine der ersten Auseinandersetzungen mit der (gefährlichen) Macht von Mythen
betrachtet. Dies scheint Roland Barthes Ausführungen in Mythen des Alltags unter
vielen Aspekten zu antizipieren.45 Roland Barthes und Thomas Mann haben laut
Schoene auch gemein, dass sie den Mythos als Metasprache gelesen haben, „deren
Form sich unablässig mit dem Sinn der ,Objektsprache‘ auffüllt“.46 Dieser Auffas-
sung zufolge besteht eine der Haupteigenschaften eines Mythos darin, angepasst
und bearbeitet zu werden, damit er stets an Bedeutungen gewinnt.47 Merkmale
dieser ersten Etappe der Arbeit am Motiv des Inzests im Schaffen Thomas Manns
sind daher: die Wagnerrezeption, die Rassenfrage, die in Wälsungenblut mit dem
Judentum in Verbindung gebracht wird, die Lektüre des Mythos durch die Parodie
und die Anerkennung einer Gefährlichkeit des Mythos sowie die Frage nach der
Liebesfähigkeit. In Wälsungenblut kommt nur der Geschwisterinzest zum Tragen,
bei dem die Geschlechterdifferenz im Vordergrund steht.48
Mythen des Alltags. Übers. v. Horst Brühmann. Berlin: Suhrkamp 2016 [Paris 1957], 4.
Aufl. Vgl. auch Kap. 9.
46 Ebd., S. 117.
47 Vgl. Kap. 9.
48 Siehe ebd., S. 10.
3.2 Doktor Faustus als Labor: Das Motiv des Inzests … 61
In Doktor Faustus taucht das Motiv des Inzests sowohl in der Form des Geschwis-
terinzests als auch in der Form des Eltern-Kind-Inzests auf; bei diesem letzten
Typ liegt der Fokus auf dem „Generationsunterschied, wobei beim Elternteil der
Aspekt der Verjüngung, beim Kind der der Regression besonders hervortritt“.49
Dass die Rassenfrage immer noch eine Rolle spielt,50 bestätigt bereits der Titel
der Exempelsammlung, Gesta romanorum, der gleichzeitig verdeutlicht, dass es
sich hier um Taten handelt, die dem historisch-geographischen Raum des Römi-
schen Reiches zuzuordnen sind. Eher als das Judentum wird hier das Christentum
thematisiert, was anhand von Handlungen, Figuren und der moralischen Absicht
des Werkes deutlich wird. Außerdem korrespondiert die Zeit der Intradiegese mit
den ersten Jahren des Ersten Weltkriegs: Bevor Zeitblom auf Leverkühns Kom-
position zu sprechen kommt, berichtet er von den damaligen „volkstümlichen
Hochgefühlen“ (DF: 436), von dem Überlegenheitsgefühl Deutschlands, das sich
als zum Krieg gezwungenes Volk begreift, das durch den Krieg den Durchbruch
„zur dominierenden Weltmacht“ (DF: 402) erreichen möchte. Die Frage nach der
Liebesfähigkeit ist eine, die auch Leverkühns Vertonung prägt. Dies geht etwa aus
der folgenden Auflistung Zeitbloms der „affektbeladenen Höhepunkte“ (DF: 463)
der Handlung der Vorlage hervor, also der Stellen in der Narration, wo Pathos
aufgebaut wird, und „die in der Puppenoper auf so wunderlich-wunderbare Weise
zu ihrem Rechte kommen“ (ebd.):
[W]enn sie bei der Nachricht vom Tode des verbrecherisch Erkannten in die merk-
würdige Klage ausbricht: „Dahin ist meine Hoffnung, dahin ist meine Kraft, mein
einziger Bruder, mein zweites Ich!“ [...] Oder wenn sie, da sie gewahr wird, mit
wem sie in zärtlichster Ehe lebt, zu ihm spricht: „O mein süßer Sohn, du bist mein
einziges Kind, du bist mein Mann und mein Herr, du bist mein und meines Bruders
Sohn, o mein süßes Kind, und du mein Gott, warum hast du mich lassen geboren
werden!“ (DF: 463 f.)
Um die Analyse der Behandlung des Motivs des Inzests im Gesamtwerk Tho-
mas Manns fortsetzen zu können, gilt es nun, diesen Aspekt in Doktor Faustus,
49 Ebd., S. 9. Zu bemerken ist hier, dass der Aspekt der Regression nicht nur durch
Zeitbloms Wertungen des musikalischen Stils der Suite Leverkühns, sondern auch, meta-
diegetisch, eben durch den Eltern-Kind-Inzest von Gregor mit seiner Mutter thematisiert
wird.
50 Gottwald spricht von „literarische[r] Geschichte der Blut-Mythologeme“, die „von Goe-
thes Faust bis Thomas Manns Doktor Faustus und Hans Henny Jahnns Fluß ohne Ufer“
reicht. Gottwald: Das Inzest-Motiv, S. 192.
62 3 Gesta Romanorum
der im Mittelpunkt der vorliegenden Studie steht, näher zu beleuchten. Als guten
Ausgangspunkt bietet sich das oben erwähnte Zitat aus dem Roman, weil dort
schon viele relevante Aspekte genannt werden. Zunächst drückt die zweimalige
Verwendung des Adjektivs ,einzig‘ die Einzigartigkeit des inzestuösen Verhält-
nisses aus: Dem Inzest liegt ein Spannungsverhältnis zwischen Auserwähltheit
und Tabu zugrunde.51 Letzteres kommt im obigen Zitat durch die verzweifelte
Hinwendung von Gregors Mutter an Gott zum Ausdruck, der in spätmittelalter-
lichen Gesellschaften als letzte verbietende Instanz gilt und dem der Ursprung
des Tabus selbst attribuiert wird. Durch die Worte „mein zweites Ich“ tritt das
Motiv des Narzissmus und „des Wunsches nach Ich-Integration“52 zutage; die
Fülle an Attributen, mit denen der jeweilige Partner durch die rhetorische accu-
mulatio bezeichnet wird (Bruder, zweites Ich bzw. Mann, Herr, Bruders Sohn,
Kind), verweist wie im Fall des Mythos der Antigone, dem sich Butler widmet,
auf „deformation and displacement“53 von Verwandtschaft, die vom Inzest verur-
sacht werden. Diese Attribute werden als Synonyme behandelt, was eine gewisse
„interchangeability“54 zwischen Familienmitgliedern ausdrückt.
Adrian Leverkühns fiktive Vertonung von Gregors Exempel aus den Gesta
romanorum widmet sich, wie bereits erwähnt, nicht nur einer Form des Inzests,
sondern zwei unterschiedlichen Formen, die dazu noch unterschiedlich vollzogen
werden. Die erste Form ist die des Geschwisterinzests, der bewusst von Gregors
Mutter und ihrem Bruder vollzogen wird und auch Fortpflanzung einschließt,
da Gregor geboren wird. Der Geschwisterinzest provoziert eine Deformation
von Verwandtschaft, da die Schwester ihre „,schwesterliche[n]‘ Qualitäten“55
und der Bruder seine „brüderlichen“ verliert, und so eine Deplatzierung in ein
anderes System bewirkt, nämlich in das des sexuellen Begehrens, in dem die
Schwester zur geliebten Frau und der Bruder zum geliebten Mann wird.56 Das
Verwandtschaftssystem wird dadurch jedoch nicht völlig unwirksam: Gregors
Mutter spricht von ihrem Bruder „als zweites Ich“ und betont somit den narziss-
tischen Charakter (nicht nur) des Geschwisterinzests einerseits und andererseits
den Wunsch nach einer extrem endogamischen und exklusiven Liebesbeziehung57
51 Ebd.
52 Frank: Inzest und Autor-Imago, S. 53.
53 Butler: Antigone’s Claim, S. 24.
54 Ebd., S. 61.
55 Schoene: „Ach, wäre fern, was ich liebe!“, S. 11.
56 Ebd.
57 Auch aus diesem Grund verknüpft sich der Inzest als „refusal by both partners to share
their common genetic endowment with outsiders“ mit der Rassenfrage. Hoelzel, Alfred:
3.2 Doktor Faustus als Labor: Das Motiv des Inzests … 63
Leverkühn, The Mermaid and Echo: A Tale of Faustian Incest. In: Symposium 42 (1988)
H. 1, S. 3–16, hier: S. 11.
58 Butler: Antigone’s Claim, S. 54.
59 Deleuze, Gilles u. Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt am Main:
S. 19.
61 Deleuze u. Guattari: Kafka, ebd.
62 Schoene: „Ach, wäre fern, was ich liebe!“, S. 19; vgl. Freud, Sigmund: Aus der
Um diesen Prozess weiterzuverfolgen, muss man als letzte Etappe den Roman
Der Erwählte (1951) in die Analyse einbeziehen. Der paratextuelle Hinweis des
Titels drückt unmittelbar und explizit aus, was vorher bezüglich der Adaption
des Textes aus den Gesta über Papst Gregor bereits konstatiert wurde: Durch den
Inzest, die Anerkennung der Schuld und die darauf folgende Askese wird Gregor
zum Erwählten. So Schoene:66
Will das Individuum sich dennoch behaupten, muß es zum Dieb an der eigenen
„Präexistenz“ werden. Daß der Weg tatsächlich über den Inzest führen muß, bestä-
tigt fast fünfzig Jahre später67 Der Erwählte, dessen Schuld schließlich doch zur
Erfüllung führt.
Schoene verdeutlicht in diesem Zitat, was Gregor zum Erwählten macht. Auch
in der Entstehung des „Doktor Faustus“ erörtert Thomas Mann: „Extreme Sünd-
haftigkeit, extreme Buße, nur diese Abfolge schafft Heiligkeit“ (Ent: 114). Ob im
65 Hoelzel betrachtet das Inzest-Motiv als wiederkehrendes Motiv von Doktor Faustus,
was auch bei Leverkühns Abschiedsrede vorkommt: Der Komponist bezeichnet Echo in
seinem Delirium als seinen Sohn mit der „kleine[n] Seejungfrau“ (DF: 724), die wiederum
seine „Schwester und süße Braut“ (ebd.; Herv. A. O.) sei. Siehe Hoelzel: Leverkühn, The
Mermaid and Echo.
66 Schoene: „Ach, wäre fern, was ich liebe!“, S. 117.
67 Schoene nimmt hier auf die Novelle Wälsungenblut Bezug.
3.2 Doktor Faustus als Labor: Das Motiv des Inzests … 65
Fall von Der Erwählte daher von einem Inzestprivileg gesprochen werden kann,68
erscheint in dieser Hinsicht fragwürdig, weil Gregor nicht wirklich dank des
Inzests, sondern eher dank einer nach Thomas Manns Worten „siebzehnjährige[n]
unglaubliche[n] Askese“ (Ent: 114), also dank der Buße und der Reterritorialisie-
rung, zum Papst berufen wird.69 Dieser Aspekt der Buße und der Gnade ist in
Doktor Faustus bereits vorhanden, jedoch kann er aus zwei Hauptgründen über-
sehen werden. Erstens, weil Gregors Mythos nur eine metadiegetische Erzählung
im Rahmen von Doktor Faustus ist, also quantitativ betrachtet viel kürzer als
in Der Erwählte ist und dazu dient, die Haupthandlung um den Komponisten
Leverkühn zu unterstützen und nicht sie zu ersetzen. Zweitens, weil die unzuver-
lässige Erzählinstanz „die affektbeladenen Höhepunkte“ (DF: 463) des Inzests bei
der Beschreibung der fiktiven Vertonung Leverkühns unterstreicht und daher eher
erotische als spirituelle Aspekte in den Vordergrund rückt. Zudem lautet der Titel
des Werkes in Doktor Faustus: „Von der Geburt des seligen Papstes Gregor“ (DF:
462), während das spätmittelalterliche Exempel den Titel Von der wundersamen
Gnade Gottes und der Geburt des seligen Papstes Gregor trägt:70 In Leverkühns
fiktiver Vertonung nimmt die religiös-moralische Absicht der Vorlage bereits im
Titel wenig Platz ein und es wird nur Gregors Seligkeit erwähnt. Aus diesem
Grund überrascht es daher nicht, dass viele Faustus-Interpretationen den Aspekt
der Gnade für nachranging ansehen.71
Nicht nur die Erfüllung steht bei Der Erwählte im Vordergrund, sondern
auch die parodistische Adaption der spätmittelalterlichen Vorlage. Bei Lever-
kühn erfährt die Leser*innenschaft indirekt durch Zeitbloms Wiedergabe, dass
die Vorlage in der Komposition einer parodistischen Revision unterzogen wird.
Die Erzählinstanz spricht beispielsweise von der Umwertung der ursprünglichen
didaktisch-moralischen Intention des Textes ins Skurrile und Erotische, was das
Medium des Puppenspiels unterstützt haben soll: Es handelt sich aber um die im
68 Dieser Auffassung ist beispielsweise Svenja Frank. Siehe Frank: Inzest und Autor-Imago,
S. 56 Fußnote 16.
69 Obwohl sich der Inzest bekanntlich in einem Spannungsverhältnis zwischen Auserwählt-
gleich zu Der Erwählte keine „redeeming features“, weil der Inzest als „refusal by both
partners to share their common genetic endowment with outsiders“ nur auf „repulsive
aspects of National-Socialist Germany and its origins“ und auf Leverkühns Persönlich-
keit zurückzuführen sei. Hoelzel: Leverkühn, The Mermaid and Echo, S. 11 u. 15. Siehe
auch Hermanns: Thomas Manns Roman, S. 37. Murdoch vergleicht Leverkühn und Gregor
und kommt zu der Schlussfolgerung, dass trotz ähnlicher Biographien doch nur Gregor
Erlösung zuteil wird. Murdoch: Gregorius, S. 201.
66 3 Gesta Romanorum
72 Siehe etwa Mann: Der Erwählte, S. 24: „[…] [F]erner weil ich, die eigenen Augen
Im Folgenden werden zwei Kompositionen analysiert, die als Vorlage die Gesta-
Kapitel von Doktor Faustus wählen, nämlich Beyers Die Gesta romanorum –
Musik des Adrian Leverkühn und Odegards The Calling of St. Gregory. Es soll aus
intermedialer Perspektive untersucht werden, wie die Hauptaspekte von Lever-
kühns Puppenspiel, z. B. das Inzest-Motiv oder die Umwertung der moralischen
Absicht der Vorlage u. a. durch die Parodie sowie das Ziel einer größeren Zugäng-
lichkeit des Werkes, im Medium der Musik Umsetzung finden. Daneben wird
auch der Frage nachgegangen, was die jeweilige Transposition über die Rezep-
tion der Kapitel aussagt. Um diese Frage zu beantworten, wird sich die Analyse
nicht nur auf die Transfers und Transformationen aus Doktor Faustus, sondern
auch auf spezifische Eigenschaften der jeweiligen Komposition konzentrieren.
Die Gesta romanorum – Musik des Adrian Leverkühn ist eine Komposition von
Frank Michael Beyer (1928–2008), einem fast das ganze Leben lang in Berlin
tätigen Komponisten.80 Sie wurde für zwei Anlässe adaptiert: zuerst für eine
79 Braidotti:
Intensive Genre, S. 48.
80 Zum Komponisten siehe: Stahl, Claudia: Art. Beyer, Frank Michael. In: MGG Online.
Veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-online.com/mgg/stable/51381> (letzter Zugriff:
68 3 Gesta Romanorum
Fernsehsendung Alexander Kluges, 10 vor 11, die am 8. April 1991 auf RTL
plus übertragen wurde, und dann für ein Konzert, das am 3. November 1996 im
Berliner Konzerthaus stattfand.81 Die Fernsehfassung, die am 22. Mai 1990 die
Münchner Philharmoniker aufnahmen, ist für Kammerensemble gedacht. Die TV-
Produktion kombiniert Musik, Film und Erklärungen von Kluge und Beyer. Die
Version für das Konzerthaus sieht wie in Leverkühns Komposition82 die Präsenz
eines Sprechers – in dem Fall Daniel Minetti – vor.
Im Folgenden wird auf Kontinuitäten und Differenzen vor allem zwischen
Beyers Vertonung und den Gesta-Kapiteln aus Doktor Faustus eingegangen.
Auffällig ist zunächst einmal, dass sich Beyer auf die Geschichte Gregors konzen-
triert: Es handelt sich daher um eine partielle Vertonung nicht nur des Romans
selbst, sondern auch des fiktiven Werkes Leverkühns. Im Autograf findet man
neben dem Stück „Gregorius“ auch drei weitere Stücke: eins davon (S. 6–9),
das den Titel „Löwe und Löwin – Vom Ehebruch“ trägt, bezieht sich sehr wahr-
scheinlich auf die erste von Leverkühn vertonte Geschichte aus den Gesta, da es
dem Titel entsprechend von einem ehebrecherischen Liebesverhältnis handelt. Im
Rahmen der Fernsehsendung wurde dieses Stück aber nicht aufgeführt. Das dritte
Stück des Autografs (S. 10–14) trägt den Titel „Eisenmusik“, das zweite (S. 2),
das sich in der Partitur vor dem ersten, „Löwe und Löwin“, befindet, trägt keinen
Titel; des Weiteren sind auf der ersten Seite des Autografs kurze musikalische
Motive zu finden, die wahrscheinlich als musikalische Untermalung oder musika-
lische Kommentare oder auch Verbindungselemente für die Fernsehsendung bzw.
für die Aufführung im Konzerthaus gedacht wurden, da die Überschrift „Signale
Rite Momente“ lautet: Diese sind zum Teil auch in unterschiedlichen Besetzun-
gen aufführbar. „Gregorius“ ist das vierte Stück des Autografs (S. 15–21). Die
folgende Analyse beruht vor allem gleichzeitig auf dem undatierten Autograf und
auf der Fernsehsendung.83
Ein zweiter erwähnenswerter Aspekt von Beyers Gesta besteht darin, dass
diese Komposition weder in der Fassung für die Fernsehsendung noch in der
für das Konzerthaus ein Puppenspiel ist: Beyer orientiert sich nicht an der Form
von Leverkühns Werk. In einem Interview mit Werner Grünzweig, dem Leiter des
Michael Beyer – Archiv 213–215); die Videokassette mit der Sendung befindet sich u. a.
in der Bibliothek der Universität der Künste in Berlin (Mediathek WF 1589).
82 Vgl. DF: 461.
83 Keine Aufnahme der Version für das Konzerthaus Berlin konnte gefunden werden.
3.3 Vom Roman zur Musik 69
Musikarchivs der Akademie der Künste in Berlin, wo sich Beyers Nachlass befin-
det, und dem Musikwissenschaftler Heribert Henrich erklärt der Komponist, dass
er „von vornherein zur reinen, absoluten Instrumentalmusik“84 tendierte. Da aber
die Komposition als ,direct or overt intermediality‘ und auch als ,intermediale
Transposition‘ einzustufen ist, kann sie für keine reine, absolute Instrumentalmu-
sik gehalten werden.85 Die Begründung dafür ist, dass sie eine*n Sprecher*in
vorsieht und im Titel sofort auf den Versuch verweist, Thomas Manns Roman
zu vertonen. Auch der umstrittene und keineswegs eindeutige Begriff ,Program-
musik‘86 wäre aufgrund des Vorhandenseins eines gesprochenen Textes keine
adäquate Bezeichnung; passender scheint das Begriffsinstrumentarium der Inter-
medialitätsforschung, laut dem es sich um eine Medienkombination handelt. Es
werden nämlich das Medium der Musik und das Medium des gesprochenen
Wortes und in der Fernsehsendung zusätzlich noch das Medium des Fernsehens
miteinander kombiniert. Grundsätzlich könnte auch einfach die Formbezeichnung
Suite verwendet werden; in Bezug auf Doktor Faustus kann ebenfalls ausgesagt
werden, dass Leverkühns fiktive Vertonung eine Medienkombination und eine
Suite ist.
Kontinuitäten lassen sich auch in der Besetzung beobachten: Beyers Stück
hat dieselbe Besetzung wie Leverkühns Puppenspiel, die der von Igor Strawins-
kys Histoire du soldat entspricht.87 Nicht zufällig nimmt dieses Werk Bezug
auf den Faust-Mythos: Dies erzeugt einen Loop von intra- und intermedialen
Einzelreferenzen, also von Bezügen sowohl auf literarische als auch auf musi-
kalische Adaptionen des Faust-Stoffes. Darüber hinaus realisiert Beyer die Gesta
laut Frank Schneider mit „historischer Authentizität“:88
Behutsam und eindringlich hat Beyer Tendenzen der damaligen Moderne verarbei-
tet. Die „Zwölftonmusik“ spielte noch keine manifeste Rolle, aber auch radikale
„Atonalität“ hätte Leverkühns Konzeption widersprochen. Stattdessen findet sich
84 „Ich wollte auch nicht Chopin spielen…“. Frank Michael Beyer im Gespräch mit Werner
Grünzweig und Heribert Henrich. In: Frank Michael Beyer, S. 64–73, hier: S. 69.
85 Zum Begriff ,Absolute Musik‘ siehe etwa: Seidel, Wilhelm: Art. Absolute Musik. In:
S. 5. Sie kann an der Akademie der Künste zusammen mit dem Manuskript konsultiert
werden (unter derselben Signatur).
88 Ebd., S. 6.
70 3 Gesta Romanorum
Auch Albrecht Dümling beschreibt im Tagesspiegel die Musik als eine, die
„in meist ruhigen Zeitmaßen kunstreich aus archaischen Formeln im Stile Stra-
winskys“89 komponiert wurde. Und im Programmheft der Aufführung in Berlin
präzisiert der Untertitel: Von der Geburt des seligen Papstes Gregor, nach Adrian
Leverkühns Intentionen gestaltet und in Musik gesetzt, für Sprecher und Kam-
merensemble.90 Der paratextuelle Hinweis verdeutlicht die Absicht eines rekon-
struktiven Textverständnisses sowie den Versuch, durch die beiden vorhandenen
Medien zu erzählen.91
Was die Nähe zu Strawinsky angeht, gibt der Komponist selbst zu, von die-
sem sehr beeinflusst gewesen zu sein: „Anregungen von außen haben eine relativ
kleine Rolle gespielt. Die Faszination des Neuen ging zunächst vom Spätwerk
Strawinskys aus, das mich bis heute begeistert“.92 Frank Michael Beyer äußert
zeit seines Lebens keine Faszination für die Darmstädter Avantgarde, also für
das, was als das Neue seiner Zeit in Sachen Musik angesehen werden könnte, und
wendet sich stattdessen dem Spätwerk Strawinskys zu.93 Da er Anfang der 1990er
Jahre für das Fernsehen mit Alexander Kluge zusammenarbeitete (die Gesta sind
ein Beispiel dafür), könnte man vermuten, dass er neue Formen der Musikvermitt-
lung erproben wollte, um – vergleichbar zu Adrian Leverkühn im Roman – „eine
Kunst mit der Menschheit auf du und du“ (DF: 469) zu produzieren. Im Inter-
view stellen ihm Grünzweig und Henrich genau diese Frage, auf die er jedoch
antwortet, dass er mit Kluge „nur zusammengearbeitet“94 habe, weil ihm „das
Wechselgespräch mit ihm Freude machte“.95 Diesbezüglich führt er aus, dass
[d]ie Frage, welchen Stellenwert heute Musik in der Öffentlichkeit hat, [...] so offen
[sei], daß [...] [er] nicht glaube, daß sie sich dort entscheidet, wo es um die Medien
geht. Das [...] [sei] vielmehr eine innere Frage, eine Frage dessen, wie die heutige
Zeit insgesamt mit der Kultur umgeht.96
Abgesehen von der Frage nach dem Stellenwert der Musik in der Öffentlich-
keit impliziert das Komponieren der Musik für eine Fernsehsendung, die für
keinen elitären Fernsehkanal und in Kooperation mit einem berühmten Mode-
ratoren produziert wurde, die Tatsache, dass das Medienprodukt einem größeren
Publikum zur Verfügung gestellt und es nicht für den Konzertsaal komponiert
wird. Nicht zuletzt sind diesbezüglich auch die historischen Entstehungsbedin-
gungen des Werkes in die Analyse einzubeziehen, denn 1991 hatte das Fernsehen
einen anderen Stellenwert als in der heutigen, von vielfältigen digitalen Medien
geprägten Gesellschaft.
Zwar ist Beyers Komposition nicht der Form des Puppenspiels zuzuordnen,
greift aber ebenfalls auf ein „volksnahes“ Instrument zurück und lässt die Musik
mit anderen Medien interagieren, sie experimentiert mit ihnen. Die Art des Medi-
ums, mit dem man auf eine größere Zugänglichkeit des Kunstwerkes abzielt, wird
an die jeweilige historische Situation angepasst, was weniger für „historische[]
Authentizität“,97 sondern eher für eine adaptive Lesart spricht.98 Selbstverständ-
lich lässt sich das auch als Experiment definieren: Die reine, absolute Musik,
94 Ebd., S. 73. Vgl. auch Koch, Klaus Georg: Kannst du mich komponieren? Keiner weiß,
ob das Gute bleibt, wenn niemand es sucht. Ein Gespräch mit dem Komponisten Frank
Michael Beyer. In: Berliner Zeitung, 16.06.1999: „Deshalb sollte das Musikleben weitge-
hend befreit bleiben vom finanziellen Zwang. Wenn es erst einmal soweit gekommen ist,
daß etwa die Orchester sagen, wir müssen dieses und jenes realisieren in Hinblick auf den
Publikumsbesuch, dann fängt es an mit dem Warencharakter der Musik“.
95 Ebd.
96 Ebd.
97 Schneider: Konzertheft, S. 6 (siehe Fußnote 86).
98 Siehe dazu auch nochmals das Interview Beyers mit Koch, in dem Beyer die Oper
als „Erweiterung der Sprachmöglichkeiten einer Zeit“ definiert. Koch: Kannst du mich
komponieren, ebd. Zwar bezieht sich diese Äußerung des Autors auf eine unterschiedliche
Musikgattung, spricht aber ebenfalls den Aspekt der Anpassung der musikalischen Mittel
an die jeweilige historische Zeit an.
72 3 Gesta Romanorum
99 Siehe Günter, Manuela: Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19.
das Fagott für die Mutter) stehen: Folglich gibt es im Stück kaum Stellen, welche
die Präsenz der Klarinette nicht vorsehen.104 Insgesamt ist die Musik von Beyers
Gesta leise, statisch und eher von Dialogen zwischen Instrumenten als vom Tutti
geprägt: Das lässt sich auch dadurch erklären, dass die Musik nicht als einziges
Erzählmedium gedacht ist, sondern durch die Moderation ergänzt werden soll,
die jene Vagheit des Erzählens in einer rein instrumentalen Form überwindet.105
Auch bezüglich Gregors Mythos erweist sich die Vertonung als partiell, da die
Handlung an Gregors Geburt ansetzt, sodass der Aspekt des doppelten Inzests
und daher der – so Butler – „performative repetition“,106 durch die Verwandt-
schaft als öffentlichen Skandal wieder eingesetzt wird, im Vergleich zur fiktiven
Vertonung Leverkühns weniger Bedeutung zugemessen wird.107
Angesichts der Divergenzen zwischen Autograf und Aufführungen treten auch
im Fall von Beyers Gesta Experimente und Transformationen zutage, die sich
manchmal auch schwer nachverfolgen lassen, zugleich aber deutlich machen,
dass das Autograf nicht als Schlussversion zu betrachten ist, sondern Bestandteil
eines auf Plurimedialität/Medienhybridisierung und Zugänglichkeit abzielenden
Gesamtprozesses ist. Außerdem herrscht in der Komposition ein Spannungsver-
hältnis zwischen rekonstruktivem und adaptivem Textverständnis: Hinsichtlich
der Besetzung, der stilistischen Nähe zu Strawinsky und der Interaktion mit
104 Auch bei Strawinsky übernimmt das Instrument eine zentrale Funktion: Der Komponist
fertigte dann eine Version der Histoire für Klarinette, Violine und Klavier an. Die Violine
spielt bei Beyer in Teil A eine wichtige Rolle. Siehe Scherliess, Volker: Igor’ Fëdorovič
Stravinskij. In: MGG online. Veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-online.com/mgg/sta
ble/11849> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
105 Siehe Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 480.
106 Butler: Antigone’s Claim, S. 58.
107 Vgl. ebd. Gregors Mythos betreffend lässt sich im Gegensatz zum Mythos der Antigone
nicht wirklich vom öffentlichen Skandal sprechen, da nur wenige Figuren etwa vom ersten
Geschwisterinzest erfahren. Vgl. etwa Mann, T.: Der Erwählte, S. 37–50.
74 3 Gesta Romanorum
The Calling of St. Gregory von Peter S. Odegard (1929–2009) ist eine Kompo-
sition für zwei Sänger (Bass und Bariton), Flexaton109 und Tonband, die 1988
speziell für das Konzert „Music from Dr. Faustus“ an der University of Califor-
nia, Irvine entstand.110 Das Konzert fand anlässlich des Symposiums „Dr. Faustus
at the Margin of Modernism“ statt, das u. a. vom Humanities Research Insti-
tute der University of California gefördert wurde. Die Idee des Konzerts war, die
Musik im Leben Adrian Leverkühns grob zusammenzufassen und aufzuführen:
Es sollten nicht nur seine fiktiven Werke, sondern auch intermediale Einzelre-
ferenzen des Romans, etwa Beethovens Sonate opus 111 und das Volkslied O
wie wohl ist mir am Abend in den Konzertsaal geholt werden. Aufgrund von
Zeit- und Besetzungsproblemen konnten jedoch die Apocalipsis und die Weheklag,
die wahrscheinlich umfangreichsten und ambitioniertesten Projekte von Adrian
Leverkühn, nicht vertont werden. Zwei Komponisten und Professoren der Uni-
versität, Zelman Bokser und Peter Odegard, entschieden sich jeweils für das 1927
an derselben Universität, organisiert und von Prof. Dr. Herbert Lehnert, Professor an der
German School of Humanities ebenfalls der University of California, Irvine, konzipiert.
Prof. Murata stellte dankenswerterweise für die hier vorliegende Arbeit alle Materialien
zur Verfügung, die zur Beschreibung des Stückes nötig waren, nämlich das Autograf, die
Aufnahme der Uraufführung sowie Anmerkungen und Erklärungen von Odegard.
3.3 Vom Roman zur Musik 75
I want the program to show that the musical descriptions in the novel are real.
They’re not fantasies. They can be turned into real music [that represents] a period
when people were trying to do something new and still communicate.
Hier verdeutlicht Murata, dass sich nicht nur das fiktive Puppenspiel Lever-
kühns, sondern die musikhistorische Zeit selbst auf der Suche nach Neuem durch
Experimente und Kommunikation mit dem Publikum befand.
Eine solche Aufgabe, Zeitbloms Beschreibungen von Leverkühns Werken so
präzise wie möglich in Musik umzusetzen, ist alles andere als einfach: „The chal-
lenge for our composers was to write in a style that is not current“,113 führte
die Professorin in dem Interview weiter aus. Wie löste Odegard seinen Worten
zufolge das Problem?114
I basically picked a style that I thought was commensurate with what Leverkuehn
would have done [...]. [M]y puppet opera is primarily a late 19th-Century style
with some areas that may lean toward the 12-tone system.
Die Besetzung von Odegards Puppenspiel entspricht nicht der von Doktor
Faustus,115 obwohl der Komponist im Autograf die Möglichkeit anbietet, eine
111 Das Stück von Bokser, Leverkühn 1927, wird in der vorliegenden Arbeit aus zwei
Hauptgründen ausgelassen. Erstens handelt es sich um eine reine Instrumentalkomposition,
also um verdeckte Intermedialität, was die intermediale Analyse wegen des Rückgriffs auf
das einzige Medium der Musik erschwert (vgl. 1.1.5). Zweitens wird der Vergleich mit
dem Roman auch dadurch erschwert, dass das Stück auf eine kurze Passage von Doktor
Faustus Bezug nimmt, der sich die Forschungsliteratur kaum zuwendet.
112 Flocken, Corinne A.: Mythical Composer’s Work Spurs Esoteric Pieces by UCI
bass, einer Klarinette, einem Fagott, einer Trompete und einer „Posaune nebst Schlagzeug
für einen Mann und dazu einem Glockenapparat“ (DF: 461). Die Komposition Lever-
kühns sieht außerdem eine*n Sprecher*in vor, „der gleich dem testis des Oratoriums,
76 3 Gesta Romanorum
die Handlung in Rezitativ und Erzählung zusammendrängt“ (ebd.). Vor der Apocalipsis
experimentiert daher der Komponist auch mit der Verwendung einer erzählenden Stimme.
116 Siehe „To Whom it May Concern“, S. 1.
117 1988 wurde nicht das ganze Werk aufgeführt, sondern nur eine Szene, ein Rezitativ und
eine Arie. Ob The Calling nur aus diesen drei Stücken besteht und folglich im Untertitel
die Fiktion eines Unvollendetseins des Werkes hervorruft (vergleichbar zur Fiktion einer
Bearbeiterfunktion Odegards), bleibt unklar. 1988 wurde außerdem das Werk nicht als
Puppenspiel, also ohne Inszenierung und Marionetten, uraufgeführt.
118 Vgl. Zipfel, Frank: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität
und Literarität? In: Winko, Simone, Fotis Jannidis u. Gerhard Lauer (Hrsg.): Grenzen der
Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York: de Gruyter 2009,
S. 285–314. Boksers Streichquartett wird hingegen nicht als Leverkühns Komposition
verkauft.
119 Ebd., S. 3.
120 Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 492.
121 „To Whom it May Concern“, ebd.
122 Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, ebd.
3.3 Vom Roman zur Musik 77
ereignet sich alles in kurzer Zeit und es wird entsprechend schnell erzählt, was
das rasch aufsteigende sexuelle Begehren zwischen den Geschwistern hervorhebt.
Das musikalische Tempo passt sich der Schnelligkeit des Erzählten an.123
Nach den „magical chords“ kommt ein Duett zwischen Gregor und dem
Fischer, der ihn „sechzehn Meilen weit in die See hinaus zu einem flutumbran-
deten Felsen“ (DF: 464) fährt, dort fesselt und den Schlüssel ins Meer wirft.
Odegard erklärt, Leverkühns Text für diese Szene sei „clearly expected to shock
the listener by portraying Gregory as an unwilling victim of forces behind his
control“.124 Nicht ohne Komik wird diese Szene realisiert:
In Odegards Komposition scheint – wie der Text belegt – der Weg der Askese
keine Konsequenz von Gregors freiem Willen zu sein. Hervorzuheben sind auch
die Worte des Fischers, „no Seven-Eleven in heaven“ (S. 2 f.), die der Szene
eine amerikanische Konnotation verleihen. Der Begriff „Seven-Eleven“, wie Ode-
gard in den Anmerkungen, die dem Stück folgen, erläutert, bezieht sich auf eine
Kette amerikanischer Convenience Stores, die von 7 bis 23 Uhr geöffnet sind
und „,convenience products‘ at inflated prices“125 verkaufen. Der Fischer – so
in den Selbsterläuterungen des Autors nach der Partitur – könnte hier auf die
123 Bemerkenswert ist zudem, dass auch in Der Erwählte die Raschheit des sexuellen
Aktes gleich nach dem Tod des Vaters zum Tragen kommt. Siehe Mann, T.: Der Erwählte,
S. 30–36.
124 „To Whom it May Concern“„ S. 1.
125 Ebd.
78 3 Gesta Romanorum
späteren Ereignisse im Leben Gregors hindeuten und sich ihn als Papst vorstel-
len, der gegen Geld Sündenablässe verteilt.126 Auf das Duett folgt ein Rezitativ
Gregors. Er wiederholt mehrfach „I repent!“ (S. 3); dann verspricht Gregor, „a
good boy […] for the rest of […] [his] life“ (S. 4) zu sein. Der Musikstil erin-
nert an den der italienischen Oper: In der Tat spielt Odegards The Calling hier
auf die italienische Arie von Richard Strauss’ Rosenkavalier an, die als „musi-
cal ,intertextuality‘“127 noch stärker die Verortung von Odegards Puppenspiel im
Bereich der musikalischen Komödie verdeutlicht.128 Das Thema der Buße und
Askese nimmt eine zentrale Stellung in Odegards Stück ein, wird aber durch die
Lupe der Parodie interpretiert: Sowohl in den Selbsterläuterungen als auch im
musikalischen Text wird eine gewisse Pauschalität und Naivität von religiösen
Entscheidungen deutlich.
Der zweite Teil des Stückes (T. 1–53) schließt unmittelbar an den ersten an.
Gregor ist verzweifelt, weil er denkt, dass er den Rest seines Lebens gefesselt
verbringen wird und kein Ausweg aus der Verdammnis besteht: „Oh I am left
here to die. […] There is no hope left in me, there’s no salvation!“ (S. 6 f.). Im
Takt 21 fragt ihn aber „a sepulchral voice from on high“: „Gregory, do you rep-
ent now?“ (S. 7). Die Musik, die am Anfang „sempre legato e appassionato con
molto rubato“ (S. 6), also „immer legato und ausdrucksvoll mit viel Rubato“ zu
spielen ist, wird im Takt 26 nach einer Passage mit Tremoli, die zum Spannungs-
aufbau beiträgt, und dem darauf folgenden Fortissimo zu einem „Slow Waltz“.
Da beantwortet Gregor die Frage der Stimme von oben: „OH, LORD, gimme a
break!“ (S. 7) (Abbildung 3.3).
In der Aufnahme bricht das Publikum in Gelächter aus. Zum einen wegen
der Verwendung der Walzer-Form, gerade wenn Gregor mit Gott spricht, zum
anderen, weil sich der aus edlem Blut geborene Papst umgangssprachlich äußert.
Dies erinnert an Zeitbloms Beschreibung von Leverkühns Gesta, in denen „das
Skurrile […] an die Stelle moralischer Priesterlichkeit trat“ (DF: 466).
Odegard beschreibt den Stil der Komposition so:129
Komödie für Musik in drei Aufzügen von Hugo von Hofmannsthal, op. 59. Wien: Verlag
Dr. Richard Strauss 1996, S. 113 f.
129 Ebd.
3.3 Vom Roman zur Musik 79
Little needs to be said about the style of the music. It is unabashedly romantic
and certainly not yet dodecaphonic, although the chromatic complexity of the ope-
ning scene [...] has a motivic treatment that suggests some of the procedures of
dodecaphonism.
Adrian Leverkühns Puppenspiel Gesta romanorum als auch auf seinen Wer-
degang als Komponist, die weg von der Dichotomie Progression/Regression
argumentieren und den Prozess besser in den Blick nehmen können. Anderer-
seits treten Experimente und Transformationen zusätzlich auch aus werkexterner
Sicht zutage, und zwar wenn man drei Werke Thomas Manns vergleicht, die
sich mit Mythos und Inzest auseinandersetzen: die Novelle Wälsungenblut und
die Romane Doktor Faustus und Der Erwählte. Auch die im zweiten Teil
des Kapitels analysierten Kompositionen experimentieren mit ihrer Vorlage, den
Gesta-Kapiteln von Doktor Faustus, und dementsprechend auch mit dem Mythos
Gregor, dem Inzest und Leverkühns Ziel einer größeren Zugänglichkeit seiner
musikalischen Sprache. Um diesem letzten Ziel nachzukommen, greift bei-
spielsweise Beyer, der sonst zeit seines Lebens hauptsächlich absolute Musik
komponiert, in Die Gesta romanorum – Musik des Adrian Leverkühn auf das
Medium des Fernsehens zurück. Odegard konzentriert sich hingegen in The
Calling of St. Gregory auf parodistische Aspekte der Vorlage, die selbst die
moralische Absicht der spätmittelalterlichen Exempelsammlung umwertet, und
„ent-auratisiert“ das Inzest-Motiv.
3.4 Fazit
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Apocalipsis cum figuris
4
Zum einen stellt die Offenbarung des Johannes in ihrer kunstvollen ästhetischen
Formung selbst ein poetisches Meisterwerk dar und vermochte daher auch immer
wieder andere Autoren dazu einladen, aus ihrer Sprache, aus ihren Bildern und
ihrer Dramatik zu schöpfen.
Der erste Teil des vorliegenden Kapitels setzt sich mit einer Definition von Apo-
kalypse und mit Typen von Apokalypsen auseinander, die dann auf Manns Roman
übertragen werden. Als wichtiges Element eines apokalyptischen Diskurses pro-
filiert sich das Zusammenspiel von Immanenz und Transzendenz: In Doktor
Faustus wird dieser Diskurs durch das Oratorium Leverkühns musikalisch und
durch die Vorstellung der Ideen eines Münchener Kreises politisch dekliniert.
Sowohl auf der musikalischen als auch auf der politischen Ebene bewegt sich
das 34. Kapitel von Doktor Faustus noch auf einem ersten immanenten Zustand.
Die ursprüngliche, nicht ausschließlich negativ konnotierte Bedeutung des Wor-
tes Apokalypse und des Wortes Katastrophe spielen aufgrund der von Leverkühn
verwendeten mittelalterlichen Quellen für die Komposition und der Ausbildung
1 Müller-Fieberg, Rita: Das „neue Jerusalem“ – Vision für alle Herzen und alle Zeiten? Eine
Auslegung von Offb 21,1–22,5 im Kontext von alttestamentlich-frühjüdischer Tradition
und literarischer Rezeption. Berlin (u. a.): Philo 2003, S. 28 f.
des Erzählers eine zentrale Rolle; zugleich stützt sich dieser Teil u. a. auf Derri-
das Schrift, die ein historisch passendes Pendant zum zweiten Teil des Kapitels
bietet. So wie Derrida in den 1980er Jahren den apokalyptischen Diskurs rezi-
piert und auszuloten versucht, so setzen sich die drei behandelten Kompositionen
jeweils von Konrad Boehmer, Karl-Wieland Kurz und Humphrey Searle zwi-
schen 1980 und 1988 nicht nur mit Leverkühns Werk, sondern auch mit dessen
apokalyptischem Diskurs auseinander. Dieser Aspekt lässt sich als transmedial
einstufen: Die Apokalypse ist an keine „bestimmte mediale Präsentationsform
gebunden“,2 dementsprechend werden in diesem Kapitel medienübergreifende
Rekursverfahren auf den apokalyptischen Diskurs untersucht.
Boehmers Apocalipsis cum figuris zeichnet sich durch die Kombination von
Musikstilen und Musikgattungen aus und schafft durch das Ende mit einem
Leopardi-Zitat und dem Schrei eines neugeborenen Kindes den Sprung zu einer
keineswegs einbahnig interpretierbaren Transzendenz. Sowohl das Werk von Boe-
hmer als auch das von Kurz besitzen einen enzyklopädischen Charakter und üben,
intermedial betrachtet, einen ergänzenden Effekt aus, da sie über die im Roman
erwähnten apokalyptischen Quellen hinausgehen und noch weitere verwenden,
z. B. die Sybillinischen Weissagungen und kasuistische Texte. Zugleich distan-
ziert sich die Komposition von Kurz bereits im Titel von der Vorlage: Es handelt
sich in diesem Fall um eine konturlose Apokalypse sine figuris, in der nicht Bild-
haftigkeit, sondern gerade ihr Gegenteil als formbildend konzipiert wird. Das
sine figuris und das Werk selbst lassen sich allerdings nicht nur als Reaktion
eines sekundären intermedialen Produktes auf das 34. Kapitel von Thomas Manns
Doktor Faustus, sondern (sowohl in Anbetracht der Entstehungszeit als auch der
expliziten Erwähnung von Boehmers Doktorarbeit) als Reaktion eines sekun-
dären intramedialen Produktes auf Boehmers Apocalipsis betrachten. Während die
Kompositionen von Boehmer und Kurz nicht das Ziel verfolgen, den Klang von
Leverkühns Oratorium zu rekonstruieren, sondern eher dessen Radikalität ihrer
musikalischen Epoche anzupassen, versucht die Komposition von Searle dagegen,
sich so präzise wie möglich an der Vorlage zu orientieren. Daraus resultiert eine
Reflexion über Mediendifferenzen und die Rezeption von intermedialen literari-
schen Werken: Die Uneindeutigkeit des Textes bezüglich des musikalischen Stils
wird etwa im Medium der Musik durch einen präzisen Einsatz „der Methode der
Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“3 gelöst. Alle drei Kom-
positionen lassen sich als Medienkombinationen definieren, die mindestens über
2 Rajewsky: Intermedialität, S. 73. Siehe auch Wolfs Definition von ,transmedial‘ als
„media-neutral“. Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 480.
3 Schönberg: Komposition mit zwölf Tönen, ebd., Herv. i. O.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 85
die Medien Musik und Text verfügen, im Fall von Kurz auch über das Medium
Kunst: Der intermediale Bezug in der Vorlage wird somit zu einem materiell
präsenten Medium im sekundären intermedialen Produkt.
Eine Ausführung über Typen von Apokalypsen im Text und in den Vertonun-
gen, apokalyptische Motive und Apokalyptiker*innen muss von einer Definition
von Apokalypse ausgehen. In seiner Schrift von 1983 mit dem Titel Von einem
neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie erläutert Jacques
Derrida die Etymologie des Wortes, um zu einer Definition zu gelangen:4
Apokalypto war sicherlich ein gutes Wort für gala’. Apokalypto, ich entdecke
[decouvre], ich enthülle [dévoile], ich offenbare [révèle] die Sache, die ein Kör-
perteil, der Kopf oder die Augen, sein kann, ein geheimer Teil, das Geschlecht,
oder was auch immer da verborgen zu halten ist, ein Geheimnis, die zu verber-
gende Sache, eine Sache, die weder gezeigt noch gesagt, die vielleicht bedeutet
wird, aber zunächst nicht dem Augenschein preisgegeben werden kann oder darf .
Apokekalymmenoi logoi, das sind anstößige Reden. Es geht also um das Geheimnis
und die pudenda.
Bei einer Apokalypse handelt es sich also um die Offenbarung von Geheimnis-
sen und Verborgenem, um etwas, das man nicht gerne hören möchte und was
sich mit Schamgefühlen, Sexualität und Tabu-Themen verbinden kann. Dem Zitat
lässt sich bereits entnehmen, worauf Jürgen Brokoff explizit hinweist: Der Fokus
einer Apokalypse liegt vielmehr auf dem „Vorgang des Offenbarens, Enthüllens,
Aufdeckens“5 als auf dem Zustand des Offenbarten, Enthüllten und Aufgedeck-
ten. Im Vordergrund steht also die Performanz der apokalyptischen Verkündung,
die Brokoff „ohne das Medium Sprache nur schwer vorstellbar erscheint“.6 Diese
Notwendigkeit eines Rückgriffs auf das sprachliche Medium wird sowohl durch
den Bezug auf Dürers Holzschnitte in Leverkühns Oratorium als auch durch die
Kompositionen des zweiten Teils dieses Kapitels zugleich widerlegt und bestätigt:
Die vorher genannten Beispiele bedienen sich doch anderer Medien, basieren aber
gleichwohl auf einer sprachlichen Vorlage. Leverkühns Komposition, die auch in
ihrer Fiktionalität immerhin auf eine fiktive Aufführung ausgerichtet ist, unter-
streicht sowohl die Bildhaftigkeit des apokalyptischen Textes durch die Ergänzung
cum figuris als auch durch den Rekurs auf das Medium Musik die Performanz und
Prozesshaftigkeit des apokalyptischen Offenbarens.
Apokalypse und Weltuntergang werden nicht selten – und das nicht nur in der
Alltagssprache – gleichgesetzt. Brokoffs Untersuchung zufolge lässt sich diese
Verwechslung darauf zurückführen, dass die Offenbarung des Johannes, die den
Weltuntergang schildert, die letzte Schrift des Neuen Testaments darstellt. Überse-
hen werde aber, dass „[d]er Weltuntergang […] keineswegs den Schlußpunkt der
Johanneischen Erzählung“7 bilde; ihm folge „‚das neue Jerusalem‘, das immer-
währende Reich Gottes“.8 Auf dieses strukturelle Zusammenspiel von Immanenz
und Transzendenz legt Brokoffs Studie, die beabsichtigt, die Apokalypse aus lite-
raturwissenschaftlicher Perspektive, also die Apokalypse als Text zu erforschen,
sehr viel Wert: Die immanente Welt wird mit dem Ziel vernichtet, die „Errichtung
der Herrschaft des transzendenten Gottes im ‚neuen Jerusalem‘“9 zu ermöglichen.
Die Apokalypse als Redeform ist daher eine Rede von Untergang und Neubeginn;
infolgedessen bedarf sie mindestens einer zweimotivischen Struktur, wobei das
zweite Motiv, das Motiv des Neubeginns – wie in der Offenbarung – lediglich
angedeutet werden kann und folglich oft übersehen wird.
Derrida sagt in der bereits erwähnten Schrift Folgendes:10
Man weiß nie (weil es nicht mehr der Ordnung des Wissens unterliegt), wem die
apokalyptische Sendung zukommt, sie springt von einem Sende-Ort zum ande-
ren (und ein Ort wird immer im Ausgang [à partir] vom mutmaßlichen Senden
bestimmt), sie geht von einer Bestimmung, von einem Namen und einem Ton zum
anderen, sie verweist immer auf den Namen und den Ton des anderen, der da
ist, aber nur als derjenige, der da gewesen ist und noch kommen muß, der in der
Gegenwart der Erzählung nicht mehr da oder noch nicht da ist.
Auch im vorliegenden Kapitel wird versucht, die Logik der zahlreichen intra-
und intermedialen Verweise des apokalyptischen Diskurses, die in Leverkühns
Oratorium und in den Kompositionen von Boehmer, Kurz und Searle ent-
halten sind, offenzulegen. Diese verschiedenen, aber aufeinander bezogenen
7 Ebd.
8 Ebd.
9 Ebd., S. 10.
10 Derrida: Apokalypse, S. 71, Anmerkungen des Übersetzers.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 87
im ersten Teil vor allem auf Adrian Leverkühn und seine Vorarbeiten an der
Komposition Apocalipsis cum figuris, sprich: auf seine Lektüre zahlreicher apo-
kalyptischer Texte der Antike und des Mittelalters. Bereits hier kommen das
historische Endzeitgefühl und verschiedene Aspekte von Leverkühns Komposi-
tion zur Sprache, so etwa die Präsenz eines Erzählers, der durch die chiastisch
organisierten Worte „Das Ende kommt, es kommt das Ende“ (DF: 519) den Welt-
untergang verkündet und dann diese Botschaft einem Responsorium abgibt, das
sie „unvergeßlich wiederholt“ (ebd.) und sich aus „zwei vierstimmigen, gegen-
einander bewegten Chören“ (ebd.) zusammensetzt. Neben der Beobachtung, dass
auch das Responsorium die Zweiteiligkeit der Apokalypse reproduziert, ist es hier
auffällig, dass nicht nur formale und inhaltliche Besonderheiten von Leverkühns
Oratorium, sondern auch harmonische geschildert werden. So werden beispiels-
weise musikalisch die Worte des Erzählers „in einer geisterhaften, auf liegenden
Fremd-Harmonien ruhenden, aus reinen Quarten- und verminderten Quinten-
schritten gefügten Melodik“ (ebd.) wiedergegeben. Zeitbloms Beschreibung von
Leverkühns Oratorium fällt nicht nur unter den Modus des intermedialen telling,
sondern auch des intermedialen showing, da diese sehr detaillierte Beschreibung
des Werkes zugleich auch auf die „Vergegenwärtigung eines (fiktiven) Klangein-
drucks“13 zielt und sich daher sowohl als evozierend als auch als simulierend
einstufen lässt.14
Der zweite Teil des Kapitels, in Klammern „Fortsetzung“ (DF: 525) genannt,
befasst sich mit den Tafelrunden des Kridwiß-Kreises, also mit den Treffen einer
Gruppe von Intellektuellen in München, die durch den Rückgriff auf Mythen und
das Ziel einer Vereinfachung der Wissenschaft den ideologischen Boden für die
spätere politische Situation in Deutschland bereiten. Der dritte Teil, in Klammern
„Schluß“ (DF: 538) genannt, geht noch einmal auf Leverkühns Werk ein und
besteht hauptsächlich aus Zeitbloms Bewertung der Komposition. In ihr werden
Stil, Mittel und einige Merkmale wieder durch ein vorherrschendes telling mit
fließenden Grenzen zum showing weiter beschrieben.
Wie durch die Explikation der drei Teile ersichtlich wurde, besitzt das Kapi-
tel eine A-B-A-Struktur, die sich aus einer Präsentation des Hauptthemas, einer
Fortsetzung und seiner Variation sowie aus einem Schluss, der das Haupt-
thema erneut aufgreift und vertieft, zusammensetzt. Formal betrachtet, gibt es
viele musikalische Vorlagen, die einer solchen Struktur zugrunde liegen und die
18 Die letzten beiden Quellen sind nur in der Taschenbuchausgabe zu finden. Siehe Mann,
T.: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von
einem Freunde. Frankfurt am Main: Fischer 2013, 39. Aufl., S. 474.
19 Bemerkenswert ist, dass diese „Parodie verschiedenster musikalischer Stile“ (DF: 545)
mit der „Grundsprache des Haupt-Orchesters“ (ebd.) kombiniert wird, was sich mit Hagens
To Zeitblom und der Kombination der Hardangerfiedel mit einem klassischen Orchester
vergleichen lässt. Vgl. 7.2.2. Die Rolle der Parodie in Thomas Manns Werken und in
Doktor Faustus wurde von vielen Literaturwissenschaftler*innen untersucht, z. B. von
Steen, Inken: Parodie und parodistische Schreibweise in Thomas Manns „Doktor Faustus“.
Tübingen: Max Niemeyer 2001. Vgl. auch Ent: 45: „Ich kenne im Stilistischen eigentlich
nur noch die Parodie“.
20 Vgl. 4.2.1.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 91
Transzendenz erst mit der Anwendung des strengen Satzes und der Komposition
der Dr. Fausti Weheklag. Betrachtet man die verschiedenen Typen von Apokalyp-
sen, die in dem bereits erwähnten Sammelband von Briese, Faber und Podewski
vorgestellt werden, so könnte sich in Doktor Faustus eine „[i]nverse Warnapoka-
lypse“21 profilieren. Im Roman droht zwar „[e]in unerwünschtes, vernichtendes
Ereignis […] unweigerlich einzutreten“,22 nämlich die komplette Sterilität der
Kunst, dieses Ereignis wird jedoch „durch einen grundlegenden Gesinnungs- und
Handlungswandel in der Gegenwart abgewendet“,23 und zwar durch die Anwen-
dung eines kompositorischen Systems, das Adrian Leverkühn schon seit langer
Zeit vorschwebte. Berechtigt wäre aber der Einwand, dass nicht nur von einem
politischen Gesichtspunkt aus, sondern auch in Sachen Musik keine echte Erlö-
sung stattfindet: Im Endeffekt ist nur das „hohe g eines Cello“ (DF: 711) am
Ende der Weheklag in der Lage, nach den Worten des Erzählers den Sinn zu wan-
deln und eine metaphorische Assoziation zu einem „Licht in der Nacht“ (ebd.)
zu ermöglichen. Hätte man dementsprechend Schwierigkeiten, eine musikalische
Erlösung durch die Dodekaphonie im Roman zu sehen, so wäre es angebracht, von
einer „[e]motional-wunschhafte[n] Verneinungs- und Untergangsapokalypse“24
zu sprechen. Die bereits erwähnten Autor*innen des Sammelbandes definieren
diese als eine moderne Art von Apokalypse, deren Entstehung sich im 19. Jahr-
hundert zeitlich situieren lässt: Diese Apokalypsen sind „um jeden zweiten Teil,
den der Erlösung, beschnitten“25 oder begreifen „die Erlösung gerade als Über-
gang in ein non-humanes Nichts“.26 Die Möglichkeit einer Erlösung der Musik
durch ihren Neubeginn von einem einzigen Ton, von jenem g des Cello, könnte für
zu schwach gehalten werden: Folglich wäre keine Erlösung vorhanden. Es könnte
ebenfalls argumentiert werden, dass auch hier die Erlösung als Übergang in ein
menschlich unbegreifliches Nichts zu begreifen ist, was jedoch Brokoff zufolge
immerhin die Präsenz eines zweiten transzendentalen Stadiums und infolgedessen
die mindestens zweimotivische Struktur der Apokalypse bestätigt.
Nachdem die Art des musikbezogenen apokalyptischen Diskurses in Doktor
Faustus definiert wurde, sei nun auf einige Elemente eingegangen, die charak-
teristisch für apokalyptische Diskurse und Darstellungen sind und die man in
Zeitbloms Beschreibung von Leverkühns Komposition wiederfindet. Die Wahl
der Figuren und Inhalte verdeutlicht eine Interaktion zwischen Immanenz und
Transzendenz, denn der Zeuge der Apokalypse Leverkühns warnt vor der bevor-
stehenden Katastrophe, indem er vom Jüngsten Gericht und von der Hölle
berichtet. Der Chor und das Orchester unterstützen sein Erzählen beispielsweise
durch Geheule, das als Thema fungiert, durch zahlreiche Arten von Glissandi, die
auch auf die menschliche Stimme angewandt werden27 und durch die Emulation
eines „Pandämonium des Lachens“ (DF: 548) im letzten Teil der Komposition: Es
wird also versucht, Klänge und Geräusche der Hölle zu reproduzieren. Eine Kritik
und Umwertung von Kompositionstendenzen, die den Weg für die streng zwölf-
tönige Weheklag bereitet, ist wesentlicher Bestandteil des musikalischen Stückes,
denn dieses sei
von dem Paradoxon beherrscht (wenn es ein Paradoxon ist),28 daß die Dissonanz
darin für den Ausdruck alles Hohen, Ernsten, Frommen, Geistigen steht, während
das Harmonische und Tonale der Welt der Hölle, in diesem Zusammenhang also
einer Welt der Banalität und des Gemeinplatzes, vorbehalten ist. (DF: 544)
Auf die Struktur des Jenseits wird im Oratorium auch mittels der Interaktion des
Tonalen und des Dissonanten angespielt, die der Interaktion zwischen Immanenz
und Transzendenz gegenübergestellt werden kann. Dass es sich aber lediglich um
einen Versuch der immanenten Welt handelt, das transzendente Jenseits abzubil-
den, was im Zentrum der meisten apokalyptischen Verkündungen steht, scheint
von der Behandlung und Konzeption des vokalen und orchestralen Parts bestätigt.
So Zeitblom:
Chor und Orchester stehen einander nicht als das Menschliche und das Dingliche
klar gegenüber; sie sind ineinander aufgelöst: der Chor ist instrumentalisiert, das
Orchester vokalisiert, – in dem Grade und zu dem Ende, daß tatsächlich die Grenze
zwischen Mensch und Ding verrückt erscheint […]. (DF: 544)
27 Vgl.DF: 543.
28 DerEinschub in Klammern könnte als ein weiteres Indiz für die Unzuverlässigkeit des
Erzählers interpretiert werden. Zur Unzuverlässigkeit Zeitbloms vgl. Kap. 7. Des Weiteren
weist Börnchen darauf hin, dass sich Thomas Manns Roman „gerade in seinem Hang zum
exzessiven Selbstkommentar selbst dekonstruiert“. Börnchen: Kryptenhall, S. 68.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 93
Dieses Schauen bildet den Kern der Apokalypse, die Derrida als „Kontemplation
[…] oder eine Inspiration […] der Schau“29 definiert. Wichtiger Schritt zur Errei-
chung des Zustands B ist außerdem die „Vernichtung der Differenz selbst“,30 was
sich durch die Vernichtung der weltlichen, in diesem Fall musikalischen, Sprache
umsetzen lässt.31
Eine Apokalypse bedarf eines Apokalyptikers: Im Rahmen der Komposition
selbst übernimmt der Zeuge diese Funktion und im Rahmen der intradiegeti-
schen Dimension des Romans spielt Adrian Leverkühn diese Rolle. Umberto Eco
beispielsweise grenzt in Bezug auf die Massenkultur Apokalyptiker*innen von
Integrierten ab:32
Während die Apokalyptiker gerade dadurch überleben, daß sie Theorien über den
Zerfall ausbilden, versagen sich die Integrierten weitgehend der Theoriearbeit; sie
erzeugen und übermitteln ihre Botschaften in unbefangener Leichtigkeit, tagtäg-
lich, auf allen Ebenen. Die Apokalypse ist eine Besessenheit des dissenters, des
Andersdenkenden; die Integration ist die konkrete Realität derjenigen, die nicht
abweichen, nicht anderer Meinung sind. Das Bild der Apokalypse zeichnet sich ab,
wenn man die Texte über die Massenkultur liest; das Bild der Integration ersteht
bei der Lektüre der Texte aus der Massenkultur.
Bezug nehmend auf Eco konstatieren Briese, Faber und Podewski, dass „der
Motor apokalyptischen Denkens […] vor allem von Künstlern und Intellektuellen
in Gang gehalten zu werden“33 scheint; folglich wäre Leverkühn prädestiniert für
die Rolle des Apokalyptikers, nicht zuletzt weil man durch Zeitbloms Erzählen
den Eindruck gewinnt, dass er sich nonkonform verhält und mit der Welt unzu-
frieden ist.34 Der Komponist zeigt in einer seiner wahrscheinlich produktivsten
Übers. v. Max Looser. Frankfurt am Main: Fischer 1984 [Mailand 1964/1978], S. 16,
Herv. i. O.
33 Briese, Faber u. Podewski: Aktualität des Apokalyptischen, S. 17.
34 Vgl. ebd. Liest man die Ausführungen von Derrida über den apokalyptischen Ton, so
scheint nicht nur Adrian Leverkühn für die Rolle des Apokalyptikers prädestiniert zu sein,
sondern auch die Musik selbst. Derrida rekurriert mehrfach auf Ausdrücke und Wörter,
deren Ursprung der Musik zuzuordnen ist oder auch im musikalischen Bereich verwendet
werden und dort nicht selten als Fachbegriffe gelten. Zwar nimmt Derrida auf Kants
Ton Bezug, spricht aber gleichzeitig etwa von „différence tonale“, „neutralité du ton“,
„norme atonale“, „tonalité“, „voix“ und „timbre“, was dem apokalyptischen Diskurs einen
94 4 Apocalipsis cum figuris
musikalischen Charakter verleiht. Siehe Derrida, Jacques: D’un ton apocalyptique adopté
naguère en philosophie. Paris: Galilée 1983, S. 18–21.
35 Erwin hebt hervor, dass sich auch Nietzsche in seinen wahrscheinlich produktivsten
Phasen isoliert hat. Vgl. Erwin, Andrew: Rethinking Nietzsche in Mann’s Doktor Faustus:
Crisis, Parody, Primitivism, and the Possibilities of Dionysian Art in a Post-Nietzschean
Era. In: Germanic Review 78 (Herbst 2003) H. 4, S. 283–299, hier: S. 284.
36 Vgl. DF: 523 „Sprich weiter! Sprich nur weiter!“.
37 Vgl. Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 18; Offenbarung 1,1.
38 Ebd.
39 Ebd., S. 19
40 Vgl. Kap. 6.
41 Ebd., S. 16.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 95
42 Ebd.
43 Die Vorlage ist auch unterschiedlich: Zeitblom spezifiziert, dass sich hier Leverkühn wie
Dürer an Ezechiel und nicht an der Offenbarung orientiert. Siehe DF: 519.
44 Siehe Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 19.
45 Derrida: Apokalypse, S. 83–88.
46 Ebd., S. 86.
47 Ebd., S. 88.
48 Ebd., Herv. i. O.
49 Ebd., Herv. i. O. Siehe auch Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 20.
96 4 Apocalipsis cum figuris
Im zentralen Teil des 34. Kapitels von Doktor Faustus wird der apokalyptische
Diskurs, wie in 4.1 bereits angedeutet, politisch dekliniert. Wenn man den Zeit-
punkt der histoire betrachtet und diesen mit der entsprechenden historischen Zeit
verbindet, ist das alles andere als erstaunlich: „In den apokalyptischen Texten
der Weimarer Zeit findet […] eine Politisierung der Apokalypse statt“,50 konsta-
tiert Brokoff, der eben diese Texte zum Gegenstand seiner Untersuchung macht.
Wie im Fall von Adrian Leverkühns apokalyptischer Komposition lohnt es sich
auch bezüglich dieses apokalyptischen Diskurses nicht, sich auf die Suche nach
der Transzendenz Gottes zu begeben, denn diese ist ebenfalls „durch eine andere
Transzendenz ersetzt worden“.51 Die sogenannte „Fortsetzung“ (DF: 525) des
34. Kapitels präsentiert einige Kernpunkte der Auffassungen eines Kreises von
Intellektuellen, die sich in München im Hause des „Graphiker[s], Buchschmuck-
Künstler[s] und Sammler[s] ostasiatischer Farbenholzschnitte und Keramik“
(ebd.) Sixtus Kridwiß versammeln. Auch hier handelt es sich noch um eine Apo-
kalypse cum figuris: Der Bereich der Kunst ist nicht nur durch den Veranstalter
solcher „Round-table-Sitzungen“ (DF: 526), sondern auch durch die Präsenz des
„Kunstgelehrte[n] und Dürerforscher[s] Professor Gilgen Holzschuher“ (DF: 528)
vertreten, der die Anspielung an Dürer verstärkt und fortsetzt.52
Diese „Männer der Bildung, des Unterrichts, der Wissenschaft“ (DF: 530)
wehren sich gegen die bürgerliche Tradition und ihrer Werte „der Bildung, der
Aufklärung, der Humanität“ (ebd.) und plädieren für Gewalt, Autorität sowie
die Rückkehr zu Prinzipien und politischen Zuständen mittelalterlicher Gesell-
schaften. Dr. Egon Unruhe setzt sich beispielsweise in seinen Schriften mit der
„Rechtfertigung und wissenschaftlichen Verifizierung uralten Sagengutes“ (DF:
527) auseinander und Professor Georg Vogler, der „Literarhistoriker“ (ebd.), mit
einer „Geschichte des deutschen Schrifttums unter dem Gesichtspunkt der Stam-
meszugehörigkeit“ (ebd.). Die Teilnehmer des Kridwiß-Kreises verfolgen sogar
das Ziel, „die parlamentarische Diskussion“ (DF: 531) durch „die Versorgung der
lässt.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 97
Massen mit mythischen Fiktionen“ (DF: 532) zu ersetzen und stützen ihre Über-
legungen vor allem auf die Réflexions sur la violence von Sorel.53 Die immanente
Welt deklarieren sie für gescheitert; die zukünftige Welt ist in ihren Vorstellungen
„eine alt-neue, eine revolutionär rückschlägige“ (DF: 534); sie hoffen nämlich
auf eine „neuigkeitsvolle[] Rückversetzung der Menschheit in theokratisch mit-
telalterliche Zustände und Bedingungen“ (DF: 535). Zeitblom kommentiert das
so:
Das war so wenig reaktionär, wie man den Weg um eine Kugel, der natürlich
herum-, d. h. zurückführt, als rückschrittlich bezeichnen kann. Da hatte man es:
Rückschritt und Fortschritt, das Alte und Neue, Vergangenheit und Zukunft wurden
eins, und das politische Rechts fiel mehr und mehr mit dem Links zusammen.
(ebd.)54
In diesem Fall zeichnet sich der apokalyptische Diskurs durch eine Vermischung
politischer Stimmen aus. Darüber hinaus berichtet der Erzähler davon, dass sich
die Intellektuellen des Kridwiß-Kreises für ein „sacrificium intellectus“ (DF: 532),
für einen absichtlichen Verzicht auf ihre intellektuellen Fähigkeiten, entschie-
den hatten. Als Konsequenz wollen sie alles vereinfachen, wie die Gelehrten
von Swifts „Grand Academy of Lagado“55 in Gulliver’s Travels, die zwecks
einer besseren Verständigung Wörter und Rede abschaffen und Dinge auf dem
Rücken herumtragen wollen.56 Im zentralen Teil des 34. Kapitels profiliert sich
eine politische Revolution besonderer Art, die in Hinblick auf die programmatisch
53 Vgl. Borchmeyer, Dieter: Mythos. In: Borchmeyer, Dieter u. Victor Žmegać (Hrsg.):
Moderne Literatur in Grundbegriffen. Berlin: de Gruyter 1994 [1987], 2. neu bearb. Aufl.,
S. 292–308, hier: S. 298 f.
54 Die Metapher des Wegs um die Kugel kommt erneut im dritten Teil des Kapitels vor, in
dem Serenus Zeitblom behauptet, dieser sei „durch ein neuigkeitsvolles Zurückgehen über
Bachs und Händels bereits harmonische Kunst hinaus in die tiefere Vergangenheit echter
Mehrstimmigkeit“ (DF: 540) verwirklicht. Die Musik Leverkühns strebe nicht nach den
,harmonischen‘ Errungenschaften der Musik von Bach und Händel, sondern lasse sich von
einer mehrstimmigen Vergangenheit inspirieren. Auch die Gelehrten des Kreises verzichten
auf die errungene Zivilisation, um nach einer mythischen und gewaltsamen Vergangen-
heit zu streben. Siehe dazu Puschmann, Rosemarie: Magisches Quadrat und Melancholie
in Thomas Manns Doktor Faustus. Von der musikalischen Struktur zum semantischen
Beziehungsnetz. Bielefeld: AMPAL 1983, S. 104.
55 Swift, Jonathan: Gulliver’s Travels. In: Ders.: The complete works of Jonathan Swift,
D.D., and Dean of St. Patrick’s, Dublin. Containing interesting and valuable papers not
hitherto published. And an autograph letter. With memoir of the author. Hrsg. v. Thomas
Rescoe, Bd. 1. London: Bell and Daldy 1869 [1726], S. 1–81, hier: S. 48.
56 Vgl. ebd.: S. 50; DF: 536.
98 4 Apocalipsis cum figuris
Doktor Faustus. In: Revista de Filología Alemana 16 (2008), S. 165–187, hier: S. 177.
59 Nicht unangebracht scheint eine Verbindung der Ideen des fiktiven Kridwiß-Kreises zu
denen der konservativen Revolution. Vgl. Mohler, Armin: Die konservative Revolution in
Deutschland 1918–1932. Grundriß ihrer Weltanschauungen. Stuttgart: Vorwerk 1950.
60 Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 24.
61 Ebd., S. 22.
62 In diese Deutungsperspektive lässt sich Leverkühns Delirium gut einordnen. Vgl. Kap. 6.
63 Derrida: Apokalypse, S. 34, vgl. auch S. 27–34.
64 Briese, Faber u. Podewski: Aktualität des Apokalyptischen, S. 21.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 99
nach seinen Worten – passiver Beobachter berichtet,65 ist mit dem Ende des
34. Kapitels keineswegs beendet. Die Teilnehmer des Kreises spekulieren über
die Möglichkeiten eines Auswegs aus einem Krisenzustand, der die Politik, die
Gesellschaft und, nicht zuletzt, auch die Wissenschaft betrifft. Dieses Klima spie-
gelt sich laut Zeitblom in Leverkühns Oratorium wider, das „mit dem bei Kridwiß
Gehörten in eigentümlicher Korrespondenz, im Verhältnis geistiger Entspre-
chung stand“ (DF: 539). Die ideologischen Auffassungen des Kridwiß-Kreises
verdeutlichen ein „prinzipielle[s] Nicht-Einverständnis“66 mit den Werten und
Prinzipien ihrer Zeit. Im Gegensatz dazu entspringt Leverkühns Komposition „ei-
ner Rebellions- und Protesthaltung“67 eben gegen jene ideologischen Positionen,
die sich damals verbreiteten, und wählt als Rebellions- und Warnungswaffe das
Medium der Musik. Das 34. Kapitel enthält eine Verschachtelung apokalyptischer
Diskurse; im Fall der Komposition Leverkühns ist die Apokalypse auch histoire
des musikalischen Werkes selbst.
Börnchen stellt in seiner Dissertation fest, dass „sich in den letzten Jahrzehn-
ten der Tenor durchgesetzt zu haben“68 scheint, „den Roman als ,Apokalypse‘ zu
lesen – eine Interpretation, zu der Humor und Komik nicht zu passen scheinen“.69
In dieser Hinsicht könnte man der vorliegenden Studie ebenfalls vorwerfen, sich
in diese Interpretationslinie einzuschreiben und dementsprechend den Humor und
die Komik von Doktor Faustus zu übersehen. An dieser Stelle muss aber beach-
tet werden, dass Apokalypse mit Weltuntergang nicht gleichzusetzen ist, obwohl
sie in der Alltagskommunikation, in literarischen Texten, in Filmen und in der
Kunst oft so verstanden wird.70 Wie zu Beginn des vorliegenden Abschnitts
bereits erwähnt, unterstreicht Brokoff gleich am Anfang seiner Studie, dass auch
in der Offenbarung des Johannes der Weltuntergang „keineswegs den Schluß-
punkt“71 der Erzählung bildet. Des Weiteren weisen Briese, Faber und Podewski
darauf hin, dass der Begriff ,Katastrophe‘, der mit dem ,Weltuntergang‘ in apo-
kalyptischen Texten eng verquickt ist und den heute kaum jemand mit etwas
Für den Nicht-Künstler ist es eine recht intriguierende Frage, wie ernst es dem
Künstler mit dem ist, was ihm das Angelegentlich-Ernsteste sein sollte und zu sein
scheint; wie ernst er sich selbst dabei nimmt und wieviel Verspieltheit, Mumschanz
[sic], höherer Jux dabei im Spiele ist. (DF: 541)78
Ironie und Humor sind aus der Komposition Leverkühns nicht wegzudenken,
auch wenn ihre Basis das Apokalyptische ist. Die im 34. Kapitel dargestellten
Ereignisse stammen zudem aus Zeitbloms fiktiver Feder, dem „als Nachfahre
der deutschen Humanisten“ (DF: 12) die ursprüngliche Bedeutung des Wor-
tes ,Apokalypse‘ bestimmt nicht fremd ist. Da er erzählt, ist er derjenige, der
79 Vgl. Derrida: Apokalypse, S. 62 f. Auch in der Originalausgabe erscheint das Wort auf
Deutsch: Derrida spricht von einer „Verstimmung multipliant les voix et faisant sauter les
tons, ouvrant chaque parole à la hantise de l’autre dans une polytonalité immaîtrisable,
avec greffes, intrusions, parasitages“. Derrida: D’un ton apocalyptique, S. 67, Herv. i. O.
Bemerkenswert ist hier, dass wieder Begriffe verwendet werden, die auch im musikalischen
Bereich Verwendung finden. Siehe Fußnote 34. Hier wird das Thema kurz angesprochen,
ausführlicher wird es im siebten Kapitel der vorliegenden Arbeit behandelt.
80 Briese, Faber u. Podewski: Aktualität des Apokalyptischen, S. 15.
81 Derrida: Apokalypse, S. 64.
82 Ebd., S. 75.
83 Wohl könnte man auch sagen, dass diverse apokalyptische Diskurse im Roman mon-
tiert werden, und sich damit auf eine Technik berufen, nämlich die Montage-Technik, die
in der Doktor Faustus-Forschung zum Untersuchungsgegenstand bereits gemacht wurde.
Siehe etwa Kropfinger, Klaus: „Montage“ und „Composition“ im „Faustus“ – Literarische
Zwölftontechnik oder Leitmotivik? In: Röcke, Werner (Hrsg.): Thomas Manns Doktor
Faustus, S. 345–368.
84 Brokoff kritisiert Derridas Auffassung einer Zwangsläufigkeit der Fortsetzung des apoka-
lyptischen Diskurses, denn die Ebene der Transzendenz setze dem apokalyptischen Diskurs
ein Ende. Brokoff unterstreicht somit „die endliche Struktur der apokalyptischen Entschei-
dung“, die „das unendliche Sprechen gewaltsam beendet“. Angesichts der Überfülle an
Werken, die sich mit dem apokalyptischen Diskurs auseinandersetzen, und der immer noch
bestehenden Faszination für die Apokalypse könnte man wagen, Derridas und Brokoffs
Thesen miteinander zu kombinieren und folglich für die Mittelposition eines vorläufigen
Endes argumentieren. Zwar beendet die apokalyptische Entscheidung das Sprechen, das
102 4 Apocalipsis cum figuris
Anhand des 34. Kapitels von Doktor Faustus kann den vorigen Ausführungen
entsprechend der apokalyptische Diskurs des Romans in seinen musikalisch- und
politisch-bezogenen Deklinationen näher beleuchtet werden. Auf einer Makro-
ebene der Analyse geschieht das durch die Definition der Art von Apokalypse: Als
Voraussetzung gilt die Identifikation der Stadien der Immanenz und der Transzen-
denz sowie die Untersuchung der verwendeten Quellen. Auf einer Mikroebene ist
diese Untersuchung durch die Analyse der Präsenz und Realisierung von wie-
derkehrenden Elementen apokalyptischer Reden, z. B. dem ,Komm‘-Motiv und
der Figur des Zeugen, möglich. Dieses analytische Prozedere wird auch auf die
darauf folgenden Kompositionen von Boehmer, Kurz und Searle angewendet und
mit Kategorien aus der Intermedialitätsforschung stärker in Verbindung gebracht.
Die erste Komposition, die hier präsentiert wird, ist die Apocalipsis cum figu-
ris von Konrad Boehmer (1941–2014) für vier Schlagzeuge, zwei Klaviere, drei
Pop-Vokalist*innen und vier Lautsprecher, die 1984 anlässlich der Donaueschin-
ger Musiktage aufgeführt wurde.85 Während der niederländische Komponist, der
stellt aber ein vorläufiges Stadium dar. Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik,
S. 26 (siehe auch S. 25).
85 Die Partitur wurde 1984 vom Tonos Musikverlag (Darmstadt) veröffentlicht, kann
aber auch aus der Webseite der Konrad Boehmer Foundation heruntergeladen werden.
Siehe Boehmer, Konrad: Apocalipsis cum figuris (Partitur). In: „Konrad Boehmer Foun-
dation“. < https://www.kboehmer.nl/wp-content/uploads/2019/12/Apocalipsis.pdf > (letzter
4.2 Vom Roman zur Musik 103
in Berlin geboren wurde und in Köln mit einer Dissertation zur Theorie der offe-
nen Form in der Neuen Musik im Fach Musikwissenschaft promovierte,86 an
einer Oper über den Faust-Stoff, die sich aber nicht mit Manns Roman auseinan-
dersetzte, arbeitete, wurde er zu einem Symposium über Thomas Manns Doktor
Faustus nach Brüssel eingeladen. Diese Einladung war für Boehmer der Anlass,
den Roman nach vielen Jahren erneut zu lesen. Das in 4.1.1 erwähnte Zitat über
die umgekehrte Rolle und Funktion der Dissonanz und des Tonalen und folg-
lich den paradoxen Charakter von Leverkühns Oratorium,87 das eben das Tonale
und nicht die Dissonanz mit der Hölle assoziiert, versteht der Komponist als die
Essenz des Werkes.88
Bei der Lektüre dieser wohl faszinierendsten Beschreibung […] fesselte mich vor
allem die Radikalität des Entwurfs, die ein Menschenalter nach dessen Nieder-
schrift – und grade [sic] heute, in der Ära musikalischen Neo-Biedermeiers – von
ungebrochener Aktualität ist.
Zugriff: 21.08.2020). Eine Aufnahme des Stückes findet man in der CD Acousmatrix 5
– history of electronic music V, Amsterdam: BVHaast (Nr. 9011) 1990.
86 Siehe Boehmer: Zur Theorie der offenen Form in der Neuen Musik. Darmstadt: Tonos
1967.
87 Vgl. DF: 544.
88 Boehmer: Apocalipsis cum figuris. In: Programmheft der Donaueschinger Musiktage
Apokalyptiker*innen beeinflusst werden, ab. Dies ist laut Eco äußerst produk-
tiv, denn es setzt Prozesse in Gang, die zu einer Erweiterung der Kultursphäre
und einer „Zirkulation einer ,populären‘ Kunst und Kultur“90 beitragen. Die
Prozesshaftigkeit, die Eco somit anspricht und zu den konstitutiven Merkma-
len der apokalyptischen Verkündung als Akt des Offenbarens zählt, spielt eine
vordergründige Rolle in Boehmers Komponieren. Der Komponist sieht eigenen
Aussagen zufolge in all seinen elektronischen Werken „das Moment des Klanges
als Prozeß (und nicht: als Objekt) “91 an: Das Ergebnis der Klangerzeugung ist
für ihn nachrangig, während ihre Prozesshaftigkeit eine Sonderstellung einnimmt.
Außerdem beschäftigt sich Boehmer – genau wie der fiktive Komponist Adrian
Leverkühn im apokalyptischen Oratorium– mit dem Problem der Denaturierung
des Klanges und ist der Auffassung, dass gerade in Manns Doktor Faustus schon
eine Lösung gefunden werden könne:92
Die Lösung der ästhetischen Aporien, die, wie wir jetzt wissen, nicht darin beste-
hen konnte, daß man willkürlich jeden „natürlichen“ Klang in den Fleischwolf der
Klänge, den Ringmodulator, stopfen konnte, jene Lösung hätte man damals schon
bei Thomas Manns Leverkühn nachlesen können, der den „denaturierten“ Klang als
musikgeschichtliches Phänomen schlechthin begriff […].
Deshalb sei Leverkühn „der letzte und radikalste Repräsentant westlicher Kunst-
Musik“,93 da er „den Kunst-Laut in den Natur-Laut zurück zu versenken“94
versucht und damit „etablierte[] Systeme und ästhetische[] Normen“95 sprengt.
Der Komponist assoziiert eben aufgrund dieser Überwindung von inneren Gren-
zen der Musik das fiktive Projekt Leverkühns mit dem Espace von Edgar Varèse,
der die äußeren Grenzen der Musik (des Konzertsaals) sprengt. Dadurch schlägt
er ein weiteres Modell für Leverkühns fiktive Komposition vor, das allerdings
in Thomas Manns Tagebüchern und Selbstkommentaren nicht erwähnt wird und
sich angesichts der Entstehungszeit (ca. 1947) eher mit der Entstehungszeit des
Romans als mit der von Leverkühns Apocalipsis in Verbindung bringen lässt.96
Man könnte den Versuch wagen, eine Synthese zwischen den sympathischen
Songs und dem musikalischen Bewußtsein zu bilden, das wir unbeirrt für das
authentischere und humanere halten.
Köln: Du Mont 1993, S. 96–116, hier: S. 113. Erwähnenswert ist in diesem Kon-
text auch die biographische Information, dass sich Konrad Boehmer in den 1960er und
1970er Jahren gegen Stockhausen, Kagel und andere Komponisten der Zeit positionierte.
Vgl. Sabbe, Herman: Boehmer, Konrad. In: Grove Music Online. Zuerst veröffentlicht
20.01.2001, online veröffentlicht 2001. < https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.art
icle.03375 > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
106 4 Apocalipsis cum figuris
gezogen wird.104 Diese Ebene der Komposition kann mit der Fortsetzung des
34. Kapitels von Thomas Manns Doktor Faustus in Verbindung gebracht wer-
den, da die Nationalhymnen auf den Nationalismus anspielen: Aufgrund des
Erscheinungsjahres schließt Boehmers Komposition den Bezug auf zeitgenössi-
sche Nationalismen mit ein. Die vierte Ebene wird dem Teufel gewidmet; wie
in Dantes Inferno begegnet man ihm im letzten girone. Die Rolle des Teufels
übernehmen die Pop-Vokalist*innen. Sie sollten die „schändlichen Liederreigen
der Söhne des Pfuhls“ (DF: 545) darstellen. Gegen Ende des Stückes findet sich
eine Mischung aus Choral und Hitsong, die um das tonale Zentrum von C-Dur
kreist.105 Diese „einfache“ Tonalität – ein möglicher Bezug auf die Realisierung
der Hölle durch das Tonale bzw. das Banale in der Komposition Leverkühns –
begleitet den Text „I am a dream – I am God“,106 eine Aussage des russischen
Komponisten Skrjabin, die mit dem Delirium assoziiert werden könnte, das apo-
kalyptische Verkündungen bewirken und dem Adrian Leverkühn selbst zum Opfer
gefallen ist.107 Die Aufnahme des ersten Schreis eines neugeborenen Kindes, den
man ganz am Ende der Komposition zu hören bekommt, wird mit den folgen-
den Worten Leopardis verbunden: „Nur Bitterkeit und Langeweile – Die Welt
ist Dreck“ (S. 56). Ordnet man aber diese letzten Elemente der Komposition
in den apokalyptischen Diskurs ein, so ist nicht nur die scheinbar einfache C-
Dur-Tonart alles andere als erstaunlich. Boehmers Komposition schafft in einem
einzigen Stück, was dem fiktiven Leverkühn erst mit der Weheklag gelingt, näm-
lich den Sprung zur Transzendenz. Die Differenz wird vorläufig vernichtet und
eine einfache Tonart herrscht;108 darüber hinaus ist Skrjabins Aussage, „I am a
dream – I am God“, ein sprachlicher Verweis auf eine Traum-Dimension und auf
Gott selbst. Leopardis Worte erklären die immanente Welt für endgültig geschei-
tert und der erste Schrei des neugeborenen Kindes übernimmt die Funktion jenes
„hohe[n] g eines Cello“ (DF: 711), das den Neubeginn markiert. Alles erreicht
morendo ein Ende, was dem apokalyptischen Diskurs ein vorläufiges Ende setzt
(Abbildung 4.1).
Abbildung 4.1 Das Ende des Stückes (S. 56). Mit freundlicher Genehmigung der Konrad
Boehmer Foundation
Das Schlechte ist mir gut (ich umarme den Dreck), das Gute ist mir schlecht (ich
verachte Moralisten); Ordnung ist mir Chaos (denn leerer als absolute Ordnung
kann selbst das Chaos nicht sein); Chaos zu schaffen, ist in meinen Kompositionen
Anlaß zu strengster musikalischer Ordnung; Untergang ist mir Erneuerung (ich bin
fortschrittsgläubig), Erneuerung Untergang (da bin ich Romantiker).
Nach der Analyse von Boehmers Apocalipsis cum figuris wird im Folgenden auf
die Rezeption des Werkes durch die Besprechung einiger Rezensionen und wis-
senschaftlicher Artikel kurz eingegangen. Der Kritiker Ernst Vermeulen, der eine
Aufführung des Stückes im Amsterdams Concertgebouw hörte, sagte, die Kom-
position sei so dämonisch wie wenige andere in der Musikgeschichte.112 Nach
einer sehr kurzen Analyse der Komposition konstatiert der Literaturwissenschaft-
ler Theodore Ziolkowski, dass Boehmer den Beschreibungen in Thomas Manns
Roman nicht präzise folge, aber das Gefühl von Barbarei effektiv vermittle.113
Der Musikwissenschaftler und Komponist Alfred Zimmerlin beschreibt die Apo-
calipsis cum figuris als das extremste Werk Boehmers, „ein fast vierzigminütiges
Pändamonium von einer Radikalität, die gewiss über das hinausgeht, was Tho-
mas Mann seinem Adrian Leverkühn im Doktor Faustus andichtete“.114 Offenbar
treten durch diese Rezensionen Wertungen zutage. Zudem werden voreilige
Schlussfolgerungen über komplexe Dynamiken und Implikationen von interme-
dialen Transpositionen gezogen, die u. a. von medienspezifischen Differenzen
abhängen.115 Nichtsdestotrotz nehmen die letzten erwähnten Zitate Bezug auf
einige Eigenschaften von Intermedialität, die eine Einordnung der Komposition
erlauben. Es handelt sich in diesem Fall um offene bzw. manifeste Intermediali-
tät: Die Komposition enthält mehr als ein Medium und diese Medien sind distinkt
und „in principle separately ,quotable‘“.116 Da sich die elektronische Komposition
an Leverkühns fiktivem Werk orientiert, kann sie als intermediale Transposition
eines literarischen Prätextes in eine Medienkombination eingestuft werden, da
nicht nur ein Medium in der elektronischen Komposition materiell präsent ist.117
Der apokalyptische Diskurs wird dabei um Elemente bereichert, die für die
Apokalypsen der 1980er Jahren als typisch gelten. Zudem wird das Stadium
der Transzendenz erreicht. Insofern ergänzt die Komposition die literarische
Vorlage. Auch Leverkühns Komposition arbeitet mit Umwertungen, da Disso-
nanz und Tonales darin umgewertet werden: Bei Boehmer wird dieser Aspekt
verstärkt und hervorgehoben, denn trotz der scheinbaren Radikalität u. a. der
angewandten musikalischen Mittel profiliert sich sowohl in den immer zu hinter-
fragenden Aussagen der Autorinstanz als auch im Werk selbst eine Umwertung
des Weltuntergangs in Erneuerung.
Die Komposition von Karl-Wieland Kurz (*1961), Apocalipsis sine figuris, distan-
ziert sich bereits im Titel von Leverkühns fiktivem Werk. Zwar lässt sie sich
anhand des Paratextes sofort auf Thomas Manns Roman zurückführen, das sine
figuris jedoch macht gleichzeitig deutlich, dass sich das Werk auf den Roman
indirekt bezieht.124 Wie bei Boehmer handelt es sich hier ebenfalls um parti-
elle direct or overt intermediality, also offene bzw. manifeste Intermedialität, die
erneut der Form der Medienkombination zugeordnet werden kann und sich folg-
lich nicht ausschließlich des Mediums der Musik bedient. Das Wort sine im Titel
ist selbstverständlich die Neuheit eines Stückes, in dem die figurae bzw. die Bilder
weniger strukturiert eingesetzt werden und in dem Bildhaftigkeit nicht als form-
bildend konzipiert wird. Nicht zufällig spricht der Autor selbst von „neutralen
Schichten“125 und „Textüberflutungen“,126 die den Musikfluss unterbrechen bzw.
sogar „überfluten“.127 Während die Schichten Boehmers eine präzise Struktur und
124 Vgl. Scherliess, Volker: Zur Musik in Thomas Manns Roman Doktor Faustus. In:
Weber, Hermann (Hrsg.): Literatur, Recht und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg
vom 16. bis 18. September 2005. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2007, S. 126–154,
hier: S. 152 f.
125 Mail vom 08.10.2013 an die Verfasserin.
126 Ebd.
127 Ebd. Da wenig Sekundärliteratur zum Stück vorhanden ist, beruhen die Ausführungen
dieses Abschnitts fast ausschließlich auf einigen E-Mails (insbesondere auf E-Mails von
Kurz an die Verfasserin vom 07.08.2013, 08.10.2013 und 23.10.2013), auf einem persön-
lichen Gespräch der Verfasserin mit ihm, das in der Schwartzschen Villa in Berlin-Steglitz
anlässlich eines Klavierabends (08.12.2013) stattfand, und auf einigen persönlichen nicht
veröffentlichten Materialien, die der Komponist der Verfasserin dankenswerterweise zur
112 4 Apocalipsis cum figuris
Konzeption nachweisen, sind sie bei Kurz neutral und können nicht eindeutig ein-
geordnet werden. Die Apocalipsis sine figuris ist allerdings nicht gänzlich ohne
Bilder: Es werden Kunstwerke gezeigt, das Medium Kunst ist also auch Bestand-
teil dieses plurimedialen Produktes. Der Unterschied liegt jedoch in der Funktion
der benutzten Bilder und Texte: Diese sind neutral, weil sie laut Aussagen des
Autors keine verstärkende Funktion haben. Da sie die Musik überfluten, zielen
sie auf keine Synthese mit der Musik ab: Sie scheinen als reine, unerwartete
Ablenkungen gedacht zu sein, die aber zugleich in der Lage sind, einen Wechsel
im Dominanzverhältnis der Medien zu bewirken.
Boehmers Apocalipsis hat die Komposition von Kurz beeinflusst, denn Kurz
hat in ihr sogar ein Zitat aus Boehmers Doktorarbeit erwähnt.128 Es handelt sich
in diesem Fall um eine intermediale Bezugnahme auf den Roman, die auf eine
weitere Komposition zu Doktor Faustus Bezug nimmt und daher intramedial als
Antwort sowohl auf den Roman als auch auf Boehmers intermediale Transposition
aufzufassen ist.
Die Erstfassung der Apocalipsis sine figuris wurde in den Jahren 1985–1987
fertig gestellt und ihre Uraufführung fand 1987 in Frankfurt am Main statt – in
der Stadt, in der auch Leverkühns Oratorium uraufgeführt wurde. Die Neufassung
mit der Ergänzung des dritten Satzes „Kataleptische Katalekte“ wurde im selben
Jahr veröffentlicht und 1988 ebenfalls in Frankfurt uraufgeführt.129
Die Besetzung ist in zwei Gruppen gegliedert:
Verfügung stellte (z. B. zwei Aufnahmen des Werkes und Erläuterungen). Der Musikver-
lag Ricordi & CO, der eine Kopie der Partitur haben sollte, konnte kein Exemplar finden.
Ein Beispiel kann man aber auf der Webseite des Komponisten finden: Kurz, Karl Wieland:
Apocalipsis sine figuris – Partiturbeispiel. In: Karl-Wieland Kurz. < https://www.karlwiela
ndkurz.de/pdf/partituren/Apocalipsis%20sine%20figuris.pdf > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
Die Ausführungen dieses Abschnitts konnten sich daher nicht auf die ganze Partitur stüt-
zen. Zur Komposition siehe auch Kurz: Hirn neben Kopf. Vor Apocalipsis, während
Apocalipsis und darüber hinaus. In: Musiktheorie 8 (1993) H. 1, S. 37–56.
128 „Denn der Widerstand, den Natur menschlichem Tun leistet, gründet nicht in ihrem
subjektiven Willen. Vielmehr ist seine Kraft Zeichen für die unvollkommene Kenntnis,
die Menschen über Natur bisher sich aneigneten“. Programmheft Frankfurter Feste 1988,
Mensch und Natur, Apocalipsis sine figuris, Alte Oper Frankfurt: 25. September 1988,
S. 16.
129 Vgl. Kurz: Hirn neben Kopf, S. 37.
4.2 Vom Roman zur Musik 113
Diese detaillierte Beschreibung der Besetzung zeigt, dass das Projekt des Kompo-
nisten sehr ambitioniert ist. Noch ambitionierter scheint es, wenn man die riesige
Menge der verwendeten Texte betrachtet. Genau wie Adrian Leverkühn reicht
Kurz die Offenbarung des Johannes als Quelle eines Werkes über die Apokalypse
nicht aus. Für den apokalyptisch-eschatologischen Teil verwendet er Texte, die
in der sumerischen Zeit beginnen und sich bis zu den „Berliner Knastblättern“
der 1980er Jahre des 20. Jahrhunderts spannen.132 Eine zentrale Rolle spielen
die apokryphen und die frühchristlichen religiösen Texte, wie z. B. die Sybillini-
schen Weissagungen, die Apokalypsen des Thomas und Petrus, Flugblätter und
Schriften aus dem Spätmittelalter, teilweise auf Altfranzösisch und Okzitanisch
sowie kasuistische Texte. In Anbetracht der Anzahl an verwendeten Texten wäre
die Frage berechtigt, ob man den von Gess beschriebenen Effekten von Interme-
dialität noch einen Effekt hinzufügen sollte, nämlich den Effekt der Revision.133
Die Vorlage wird zwar ergänzt und verstärkt, es scheint aber ein Konkurrenz-
verhältnis zu ihr zu entstehen: Die Distanzierung im Titel durch das sine deutet
bereits auf eine revidierende Lektüre von Thomas Manns Roman hin. Zweifel-
los lässt sich das Stück von Kurz ebenso wie Leverkühns fiktive Komposition als
130 Auf S. 112 wird erläutert, wieso hier nur die männliche Form verwendet wird.
131 Siehe ebd. und Kurz: Apocalipsis sine figuris – Supplement. In: Karl-Wieland
Kurz. < https://www.karlwielandkurz.de/pdf/ApocalipsisSineFiguris.pdf > (letzter Zugriff:
21.08.2020).
132 Mail vom 08.10.2013.
133 Siehe Gess: Intermedialität reconsidered, S. 141 u. 1.1.5.
114 4 Apocalipsis cum figuris
„Resumé aller Verkündigungen des Endes“ (DF: 520) definieren: Der enzyklopä-
dische Charakter bleibt trotz intermedialer Transformation erhalten. Diese riesige
Menge von Literatur wird mithilfe eines Montage-Prinzips mit der Musik und mit
sich selbst kombiniert: Man erkennt hier das gleiche Prinzip, das in Doktor Faus-
tus identifiziert werden konnte, nämlich die Kombination von Disparatem durch
die Montage-Technik.134
In der Apocalipsis sine figuris findet man drei Hauptthemen bzw. Haupti-
deen, die durch das vorher beschriebene Prozedere, jedoch weniger präzise als
im Roman organisiert werden, was eine weitere Begründung für das sine figu-
ris darstellt.135 Das erste Thema ist selbstverständlich das der Apokalypse, das
der Komponist als „bizarre Revue von ,den letzten Dingen‘, eine Show vom
verschlissenen und beschissenen Ende der Welt“136 beschreibt. Das zweite wird
als „Galerie der Ideen“137 bzw. „Zentralfriedhof der abendländischen Ideen“138
bezeichnet und umfasst hauptsächlich Texte aus dem 19. und dem 20. Jahrhun-
dert, u. a. von Freud, Mallarmé, Lautréamont, Bakunin, Cioran und Plechanow.
Das dritte Thema ist Adrian Leverkühn gewidmet und versucht, „einen fiktiven
Komponisten so zu porträtieren, als ob er sich bei der kompositorischen Arbeit
gerade selbst über die Schulter schaut und sich dabei in einen Bergson’schen
unbegrenzten Raum verliert bzw. verströmt“.139 Dieser Moment lässt sich als
metakompositorisch bezeichnen, da über das Komponieren selbst reflektiert wird.
Des Weiteren führt die Komposition von Kurz durch die Bezugnahme auf Boeh-
mers Schriften zu einer Reflexion über das „Vertonen“ des Romans von Thomas
Mann selbst, was sich als metamedial einstufen lässt. Im Stück herrschen folglich
verschiedene Metaebenen: Der Transfer und die Transformation von Mikroformen
aus einem Roman, der sich mit der kompositorischen Laufbahn eines Künstlers
134 Siehe dazu Kropfinger „Montage“ und „Composition“ im „Faustus“. Vgl. auch TB2:
19.12.1945, S. 287: „Die Nietzsche’schen Symptome, Medikamente und Speisezettel als
Beispiel für das Montage-Prinzip des Buches“.
135 Die Musikwissenschaftlerin Hanne Stricker erläutert im Programmheft der Urauffüh-
rung der zweiten Fassung, was unter der Ergänzung sine figuris zu verstehen ist: „Das
sine figuris gibt einen Hinweis auf die scheinbare Konturlosigkeit der Gestalten: es fehlt
das Rückgrat. Meint aber auch im musikalischen Sinne, daß die Figurationen fehlen,
d. h. die Heterophonie bestimmt weitgehend das Stück. Nur im Rhythmus, der Urge-
bärde musikalischen Ausdrucks, gibt es noch Verbindung untereinander“. Stricker, Hanne:
Dämonenzauber verzerrter Lebensenergien. In: Programmheft Frankfurter Feste, S. 27,
hier: S. 27.
136 Mail vom 08.10.2013.
137 Ebd.
138 Ebd.
139 Ebd.
4.2 Vom Roman zur Musik 115
befasst, führt zu Reflexionen sowohl über diesen Transfer als auch über die Inhalte
selbst, nämlich den Bereich der Komposition. Um die Rolle von Leverkühn bzw.
des im Programmheft genannten „Künstlers“140 zu porträtieren, verwendet der
Autor Zitate von berühmten Komponisten des 20. Jahrhunderts, etwa Busoni,
Schönberg, Varèse und Skrjabin. Exemplarisch sei hier ein im fünften Teil der
Komposition vorkommendes Zitat von Ferruccio Busoni erwähnt:141
Nehmen wir es uns doch vor, die Musik ihrem Urwesen zurückzuführen; befreien
wir sie von architektonischen, akustischen und ästhetischen Dogmen; lassen wir sie
reine Erfindung und Empfindung sein, in Harmonien, in Formen und Klangfarben
[…].
Neben vielen anderen Aspekten lässt sich dieses Zitat auf Leverkühns Kompo-
sitionstendenzen zurückführen, besonders auf diejenigen, die er mit und nach
der Apocalipsis cum figuris verfolgt. Zunächst verfolgt der fiktive Komponist
ebenfalls das Ziel, die „Musik ihrem Urwesen zurückzuführen“, indem er sich
u. a. auch an Kompositionsstilen vor Bach und Händel orientiert. Zweitens will
er ebenso Grenzen und Dogmen sprengen und entwickelt zu diesem Zweck die
Zwölftontechnik, die etwa die Grenzen zwischen Harmonik und Melodik, also
sozusagen dem Horizontalem und dem Vertikalen der Musik nivelliert. „[R]eine
Erfindung und Empfindung“ ist allerdings die Musik Leverkühns nicht, obwohl in
der Weheklag immerhin das Ziel einer Rekonstruktion des Ausdrucks innerhalb
einer strengen Form verfolgt wird.142 Leverkühns Kompositionskriterien werden
durch den Bezug auf Busonis Stellungnahme musiktheoretisch untermauert: Dies
verstärkt die Vorlage.
Wie zu Beginn des vorliegenden Unterabschnitts angedeutet, weckt der Titel
Apocalipsis sine figuris zum Teil falsche Erwartungen, obwohl hier mit der Poly-
semie des Wortes gespielt wird und daher u. a. auch rhythmische Figurationen
in die Gesamtbedeutung des Wortes einbezogen werden.143 Das Werk von Kurz
besteht nicht nur aus Texten und Musik, sondern auch aus Bildern, etwa der Bild-
betrachtung im Teil III 6, in dem die „Offenbarung S. Johannis des Theologen“144
gezeigt wird.
Es gilt, weitere Verknüpfungspunkte mit Boehmers Apocalipsis und mit dem
Roman anzusprechen. Zum Beispiel die explizite Stellungnahme des Autors, dass
Er [Karl-Wieland Kurz] rückt bewußt ab von der Dialektik als formbildender Kraft,
auch von der Koketterie mit der Ästhetik des Häßlichen und deren Gegensatz,
der Schönheit, die als unzuverlässiges Mittel auszuklinken ist. K.-W. Kurz ist
entschieden für die Mischung von Disparatem.
Laut dieser Rezension lässt die Komposition von Kurz die Binäroppositionen
von Leverkühns apokalyptischem Oratorium, die dort bereits einer Umwertung
unterzogen wurden, beiseite und sucht einer poststrukturalistischen Vision ent-
sprechend keine Differenzen zwischen Zeichen mehr: Schönheit und Hässlichkeit
bilden einen einzigen Pol. Die Grenzen zwischen den Medien sind fließend, die
Schichten werden nicht hierarchisch angeordnet und es herrscht wie in Lever-
kühns Komposition und bei Boehmer eine Vermischung von Stimmen: Diese
Vermischung ist an den verschiedenen Zitaten diverser Autoren aber auch an den
Die dritte und letzte Komposition, die hier präsentiert wird, ist eine Kantate von
Humphrey Searle (Dr. Faustus, im Katalog der British Library The Devil’s Jig
genannt), die von der BBC Radio 3 am 9. März 1980 übertragen wurde.151 Diese
Kantate unterscheidet sich wesentlich von den bisher beschriebenen Komposi-
tionen, da sie das Ziel hat, Serenus Zeitbloms Schilderungen von Leverkühns
Stücken präzise zu folgen. Der Komponist (1915–1982) selbst schreibt in sei-
nen Memoiren: „I followed Mann’s indications as far as possible“.152 Außerdem
setzt sich die Kantate nicht nur mit der Apocalipsis cum figuris, sondern auch
mit anderen Kompositionen des Romans, z. B. mit der Dr. Fausti Weheklag,
auseinander.153
Der britische Komponist konnte diese Herausforderung annehmen, weil er
in Wien Privatunterricht bei einem der berühmtesten Vertreter*innen der Neuen
Musik, Anton Webern, genossen hatte und als erster Komponist gilt, der
die 12-Ton-Kompositionstechnik in Großbritannien eingeführt hat.154 In seinen
Memoiren schreibt er:155
I did not particularly want to write a Faust; there have been admirable ones by
Berlioz, Schumann, Liszt and Busoni […]. However when the BBC asked me to
write music for a programme about Thomas Mann’s Dr. Faustus I could not resist
the challenge, especially as Mann’s Adrian Leverkühn is very different from the
Faust of Goethe, Lenau or the medieval puppet play; he uses the supernatural
151 Es existiert eine weitere Komposition von Poul Ruders (Corpus cum figuris für großes
Ensemble, 1985), die aber nur im Titel und nicht im Inhalt Bezug auf das 34. Kapitel von
Doktor Faustus nimmt.
152 Searle, Humphrey: Chapter 19: Faustus and the Oresteia. In: „Quadrille with
Searle, Humphrey. In: Grove Music Online. Zuerst veröffentlicht 20.01.2001, online
veröffentlicht 2001. < https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.25279 > (letzter
Zugriff: 21.08.2020). Ziolkowski bezeichnet Searle als „British Leverkühn“. Ziolkowski:
Leverkühn’s Compositions, S. 841.
155 Searle: Faustus, ebd.
4.2 Vom Roman zur Musik 119
powers given him by the Devil for the sake of developing himself as a composer
rather than on wine, women or power […].
Sowohl für Boehmer als auch für Searle kommt der Anstoß für die Vertonung
von Leverkühns Apocalipsis von außen; beide setzen sich mit Thomas Manns
Bearbeitung des Faust-Stoffes auseinander, weil dort die Musik eine zentrale Rolle
spielt.
Searle beschreibt sein Projekt nicht als eine Dramatisierung des Romans, son-
dern als eine Diskussion seiner Hauptideen. So handelt sich auch bei ihm, ähnlich
wie bei allen in dieser Studie betrachteten Kompositionen, um kein totales inter-
mediales Produkt, sondern um ein partielles: Trotz des Ziels einer Rekonstruktion
der Vorlage156 beruht die intermediale Transposition auf einer individuellen Aus-
wahl von zu vertonenden Romankapiteln und -zitaten. Die Kantate ist in eine
musikalische Radiosendung eingefügt, in der die Musik manchmal unterbrochen
wird, um Passagen aus dem Roman vorzulesen oder wichtige Momente der Hand-
lung zusammenzufassen bzw. zu erklären. Die Auswahl der Texte sowie das
Schreiben neuer Texte war Aufgabe des Schriftstellers und Dichters Robert Nye.
Am Projekt nahmen auch der Ambrosian Chorus und das New Symphony Orche-
stra mit den Solostimmen von Wendy Eathorne, Paul Esswood, Brian Burrows
und John Gibbs teil. Der Dirigent war Humphrey Searle. Da sowohl das Medium
der Musik als auch durch die Moderation das Medium des gesprochenen Textes
materiell präsent sind, stellt Searles Komposition, ähnlich wie die von Kurz und
Boehmer, eine Form von Medienkombination dar.
Searles Apocalypsis besteht aus zwei Teilen: Der erste ist vom ersten Teil
des 34. Kapitels (DF: 511–525), der zweite vom sogenannten „Schluß“ (DF:
538–550) inspiriert. Die Komposition dauert ca. 20 Minuten und die Texte sind
hauptsächlich in englischer Sprache. Die Verwendung der englischen Sprache
lässt sich nicht als rekonstruktiv bezeichnen. Vielmehr markiert sie einen Unter-
schied zur Vorlage: Ihre Mikroformen werden nicht nur in das Medium der
Musik transferiert, sondern auch sprachlich übersetzt und erhalten somit durch
den Sprachwechsel eine nationale Färbung, auch wenn dieser Aspekt bei Searle
nicht so ausgeprägt wie bei anderen in dieser Studie behandelten intermedialen
Transpositionen, wie z. B. Hagens To Zeitblom, erscheint.157
Vor dem Beginn der Musik wird Zeitbloms Beschreibung im ersten Teil des
apokalyptischen Kapitels vorgelesen: Der Moderator unterstreicht die Verbindung
156 Vgl. dazu (hier und im weiteren Verlauf der Studie): Eibl, Karl: Kritisch-rationale Lite-
raturwissenschaft. Grundlagen zur erklärenden Literaturgeschichte. München: Fink 1976,
S. 68–73.
157 Vgl. 7.2.2.
120 4 Apocalipsis cum figuris
Ich nenne das Stück eine Fuge, und fugal mutet es an, doch ohne daß ehrsam
das Thema wiederholt würde, sondern mit der Entwicklung des Ganzen wird die-
ses selber entwickelt, so daß ein Stil aufgelöst und gewissermaßen ad absurdum
geführt wird, dem der Künstler sich zu unterwerfen scheint, – was nicht ohne
Zurückdeutung auf die archaische Fugenform gewisser Canzonen und Ricercaten
der vor-Bach’schen Zeit geschieht, in denen das Fugenthema nicht immer eindeutig
definiert und festgehalten ist. (DF: 523 f.)160
158 „Lo giorno se n’andava e l’aer bruno/toglieva gli animai che sono in terra/dalle fatiche
loro, ed io sol uno/m’apparecchiava a sostener la guerra/sì del cammino e sì della pie-
tate,/che ritrarrà la mente che non erra./O Muse, o alto ingegno, or m’aiutate,/o mente che
scrivesti ciò ch’io vidi,/qui si parrà la tua nobilitate. DANTE, INFERNO, II. GESANG“.
DF: Motto, Herv. i. O. „Der Tag war im Schwinden, und das Dunkel enthob die Lebewe-
sen auf der Erde ihrer Mühen; einzig und allein ich stellte mich darauf ein, den Kampf
– mit dem Weg wie mit der Anfechtung – zu bestehen, der nun aus der Erinnerung, bei
der es kein Abirren gibt, nachgezeichnet werden soll. Ihr Musen, und du, hohe Begabung,
helft mir jetzt! Gedächtnis, das aufgezeichnet hat, was ich sah, hier wird es sich erwei-
sen, wenn du ausgezeichnet bist“. Dante: La commedia, Die göttliche Kömodie, I Inferno
– Hölle. Übers. u. komm. v. Hartmut Köhler. Stuttgart: Reclam 2010, 2. Gesang, V. 1–9,
S. 27.
159 Ebd.
160 Rajewsky zufolge wäre das ein Beispiel für eine Systemerwähnung, eher für eine
explizite als für eine evozierende, da fremd- bzw. altermediale Elemente einfach benannt
werden und keine „Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Elementen und/oder Strukturen des
4.2 Vom Roman zur Musik 121
Sixtinische Kapelle.
163 Ebd.
164 Sehr ausführlich ist die Analyse des „Lach-Motivs“ in: Kaiser, Gerhard: „… und sogar
eine alberne Ordnung ist immer besser als gar keine.“ Erzählstrategien in Thomas Manns
Doktor Faustus. Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 130–134. Vgl. auch Kap. 6.
165 Ebd.
122 4 Apocalipsis cum figuris
(ebd.), das genau wie in Manns Text auf den Noten des Höllengelächters basiert,
und der Fähigkeit Leverkühns entspricht, das Gleiche zu verungleichen.166 Das
Ende beschreibt Searle als,Abgrundmusik‘ für das ganze Orchester und Orgel.167
Im Kontext einer Medienkombination, besonders von Text und Musik, ist die
Frage nach dem Verhältnis zwischen den beiden Medien zentral. Der Musikkri-
tiker Malcolm Rayment beschreibt Searles Vorgehen wie folgt: „When setting a
text he is inclined to modesty, submerging his own contribution in the interest
of the words“.168 Dies wird auch von zwei Schüler*innen und Bekannten des
Komponisten, Herrn Prof. Sutton-Anderson und Frau Prof. Anderson betont.169
Zwar orientiert sich Searles Apocalypsis stark an der Vorlage, übernimmt jedoch
zugleich durch die Verwendung der englischen Sprache und vor allem durch den
expliziten Einsatz der Zwölftontechnik eine ergänzende Funktion. Programma-
tisch und durchgehend verwendet Leverkühn Schönbergs Kompositionstechnik
lediglich in der Weheklag. Diesbezüglich ergänzt Searles Apocalypsis die Vorlage,
indem Dodekaphonie eindeutig und mit der Präzision eines Traktates zumindest
bei der Realisierung der seltsamen Fugenform angewandt wird.170
Viele Elemente von Leverkühns fiktiver Komposition finden sich in Searles
intermedialer Transposition wieder, etwa die babylonische Hure und das Komm-
Motiv: Searles apokalyptischer Diskurs ist daher derselbe Typ wie der der
Vorlage; worüber sich die Komposition Gedanken macht, das ist der komposito-
rische Stil, mit dem sich die verbal music171 von Doktor Faustus in das Medium
der Musik und in diese spezifische Form von Medienkombination transferieren
lässt. Searles Kantate ist insgesamt eine partielle Vertonung des Romans, aber
die Vertonung der Apocalipsis cum figuris an sich lässt sich als total einstufen,
da kaum ein Element der Vorlage nicht vorkommt. Es handelt sich um direct or
overt intermediality; das intermediale Produkt wählt im Vergleich zu den Werken
von Boehmer und Kurz Zeitbloms Schilderungen von Leverkühns Oratorium als
zurückgreift, sollte man die Partitur sichten, was in diesem Fall nicht möglich war.
171 Der Begriff, der auf Scher zurückzuführen ist (vgl. Einleitung), wird hier und im weite-
ren Verlauf der Studie im Sinne Werner Wolfs verwendet. Siehe Wolf: „The musicalization
of fiction“, S. 133 (insb. Fußnote 3).
4.3 Fazit 123
4.3 Fazit
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Dr. Fausti Weheklag
5
Das vorliegende Kapitel setzt sich aus intra-, inter- und transmedialer Perspektive
nicht nur mit Leverkühns letzter Komposition, wie der Titel verspricht, sondern
darüber hinaus auch mit den letzten Kapiteln des Romans auseinander. Ein erster
Grund für diese Entscheidung ist, dass sich die Kompositionen, die im zweiten
Teil dieses Kapitels behandelt werden, sowohl der Kantate Dr. Fausti Weheklag
als auch dem Ende von Doktor Faustus zuwenden: Dementsprechend scheint eine
Kontextualisierung aller erwähnten Kapitel aus dem Roman für die spätere Ana-
lyse erforderlich.1 Ein zweiter Grund besteht darin, dass die Beschreibung von
Leverkühns Komposition im Medium der Schrift ohne Rückgriff auf Notenzitate
es verunmöglicht, ihre Grenzen zu erkennen, da u. a. auf einer zeichentheoreti-
schen Ebene kein musikalisches Endzeichen zu sehen ist. Das „Pathos der Klage“2
setzt vor der Weheklag ein, zumindest mit Echos Tod und erstreckt sich über alle
darauf folgenden Seiten bis zum Endzeichen, dem Wort „Ende“ (DF: 658), das
die Nachschrift und den Roman selbst beschließt.
Infolgedessen wird im ersten Teil des Kapitels auf das Klage-Motiv in Dok-
tor Faustus und in der Musikgeschichte eingegangen: Der Ausdruck kristallisiert
sich in Leverkühns Dr. Fausti Weheklag, in der zum ersten Mal die Dodekapho-
nie Anwendung findet, als religiös konnotierter Klage-Ausdruck wie im Fall der
Marienklage oder des Stabat Mater heraus. Neben dem Klage-Motiv beschäftigt
sich der erste Teil des Kapitels vor der Analyse der Kompositionen auch mit
einigen intra- und intermedialen Bezügen der letzten Kapitel des Romans. Zu
diesen zählen die Referenzen auf Adornos Musikphilosophie, vor allem was die
1 Eine Ausnahme stellt die Komposition von Searle dar, die Teil einer Radiosendung ist,
die auch von den letzten Jahren Leverkühns handelt und hier isoliert betrachtet wird. Zur
Begründung der Auswahl der BBC Radiosendung vgl. 4.2.3.
2 Albert: „Doktor Faustus“: Schwierigkeiten, S. 107.
Mythisierung Beethovens, die Auffassung einer Sterilität der Kunst und mögliche
Auswege aus ihr sowie die Ausdrucksfähigkeit der Neuen Musik angeht. Die Idee
einer Rekonstruktion des Ausdrucks innerhalb der strengen Form spielt in T. W.
Adornos Philosophie der neuen Musik eine wichtige Rolle. Des Weiteren stel-
len die letzten Kapitel von Doktor Faustus einige Akteure der Musikgeschichte,
die auch in Adornos Schriften wiederholt erwähnt werden, prominent in den Vor-
dergrund: z. B. Beethoven, dessen Neunte Symphonie Leverkühn zurücknehmen
will und auf den die im zweiten Teil des Kapitels behandelten Kompositionen
ebenfalls Bezug nehmen. Mit der Untersuchung der Funktion der vielen inter-
medialen Einzel- und Systemreferenzen des Textes geht die Absicht einher, die
Analyse des apokalyptischen Diskurses in Thomas Manns Doktor Faustus, die
im Zentrum von Kapitel vier stand, zu vervollständigen: Es wird versucht, eine
Antwort auf die Frage zu geben, wo und mit welchen Mitteln das Stadium B
der Transzendenz bezüglich des musikalisch deklinierten apokalyptischen Diskur-
ses im Roman erreicht werden könnte. Mit den Mitteln der Musik, und speziell
der Neuen Musik, scheint eine Überwindung der Sterilität der Kunst, also des
apokalyptischen Zustandes der Musik, laut Zeitbloms Darstellung kaum möglich:
Die Anwendung der Zwölftontechnik – die intramedialen Bezüge auf Adorno
verstärken diese Auffassung – scheitert im Roman, was sich aber schon durch
das Vorlesen des Textes und noch stärker durch den Transfer in das Medium
der Musik überwinden lässt. Die hier genannten Aspekte verweisen alle auf den
übergeordneten Diskurs der Sterilität der Kunst, auf den die Kompositionen eben-
falls reagieren. Die Anzahl der Musikwerke, die sich mit den letzten Kapiteln
des Romans auseinandergesetzt haben und die im zweiten Teil des vorliegenden
Kapitels behandelt werden, scheint dafür zu sprechen, dass sich diese letzten (kon-
troversen) Kapitel des Romans besonders gut dafür eignen, in das Medium der
Musik oder in die Plurimedialität der Medienkombination transferiert zu werden:
Dadurch werden sie ergänzt, revidiert oder auch in Frage gestellt.
Der zweite Teil des Kapitels beginnt mit einer Kontextualisierung der Oper
Manzonis (1989) und schildert einige Akte und Bilder, die sich der Weheklag,
der Abschiedsrede und dem Tod Leverkühns widmen. Besonders intensiv geht
Manzonis Werk der Frage nach, wie sich Wahnsinn im Medium der Oper rea-
lisieren lässt. Mit dieser Frage beschäftigt sich auch Ránkis Stück Leverkühns
Abschied (1979), das allerdings ein Monodrama ist. Diese intermediale Trans-
position stellt die Dimension des Faust-Romans in den Vordergrund und erhebt
Leverkühn zum absoluten Protagonisten sowie zur autodiegetischen Erzählinstanz
(im weiteren Sinne des Wortes). Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“ (2009) stellt
in dieser Studie als verdeckte Form von Intermedialität eine Ausnahme dar.
Die rein instrumentale Komposition setzt sich aus einer dreifachen Erinnerung
5.1 Leverkühns Abschied 127
zusammen und verstärkt im Medium der Musik das Spannungsverhältnis der Vor-
lage zwischen Vergessen bzw. Zurücknehmen und Erinnern. Die letzte in diesem
Kapitel betrachtete Komposition ist Searles Lamentation aus der im Kapitel vier
bereits vorgestellten BBC Radiosendung, die parodistische Elemente von Zeit-
bloms Beschreibung der fiktiven Kantate verstärkt und den Text des Volksbuches
durch den aus Marlowes Faust ersetzt.
5.1.1 (Marien-)klagen
Der Komposition der Apocalipsis cum figuris und deren Uraufführung in Frank-
furt am Main, an der Adrian Leverkühn nicht teilnimmt,3 – was auf Adornos
Ausführungen zur „gesellschaftliche[n] Isolierung“ (PhnM: 24) der Kunst und
speziell der Neuen Musik verweist – folgt eine Reihe von Katastrophen.4 Zu die-
sen zählen z. B. Clarissa Roddes Suizid, Schwerdtfegers Ermordung in München
und Echos Tod.5 Der apokalyptische Zustand der Immanenz, der in der Kompo-
sition geschildert wird, beschränkt sich nicht nur auf die metadiegetische histoire
von Leverkühns Komposition selbst, sondern wird diskursiv und in der darauf fol-
genden intra- und extradiegetischen histoire bis zu den letzten Seiten des Romans
3 Vgl. DF: 656: „Er hat das Werk […] niemals gehört“.
4 Nicht zufällig findet man genau im ersten Satz des 35. Kapitels das Wort „Katastrophe“
(DF: 550).
5 Vgl. Kap. 9. u. 11.
128 5 Dr. Fausti Weheklag
aufrechterhalten. „In der zweiten Hälfte des Romans“, so Gunilla Bergsten, „wid-
met Mann mehrere Kapitel der Darstellung von Schicksalen […], [denen von] Ines
und Clarissa Rodde und Rudi Schwerdtfeger z. B. Sie alle gehen unter und wer-
den damit zu Figuren der grossen Apokalypse des Romans“.6 Zudem unterbricht
der Erzähler immer öfter die intradiegetische Narration, um auf der extradiege-
tischen Ebene über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs zu berichten, etwa die
Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald.7
Auch Leverkühns Leben nähert sich dem Untergang, d. h. dem Voranschreiten
des Wahnsinns8 und der Rückkehr ins Elternhaus. Sowohl sein Aussehen als auch
sein Verhalten verdeutlichen diesen Prozess durch verschiedene Indizien: die star-
ren blicklosen Augen, die auf Michelangelos Verdammten anspielen und die er
manchmal rollt,9 die merkwürdige Redensart, die reich an mittelhochdeutschen
Worten ist, das „Ecce homo-Antlitz“ (DF: 736), das sowohl imitatio Christi als
auch imitatio Fausti bzw. diaboli sein könnte.10
Auf der lexikalischen Ebene ist auffallend, dass sich Wörter und Ausdrücke
häufen, die zum semantischen Feld der Klage bzw. des Klagens gehören. In
diese Kategorie können etwa die Worte von Echo „O Hauptwehe!“ (DF: 687),
die vielen Achs,11 z. B. „Ach, es soll nicht sein“ (DF: 709) im Text der Weheklag
und „Ach, man glaubte das nicht lange“ (DF: 722) im Kommentar des Erzählers
eingeordnet werden. Zudem findet sich die aus dem Latein stammende Version
des Verbs ,klagen‘: „Lamentieren“ (DF: 688), die darüber hinaus auch direkt auf
Italienisch genannt wird, um u. a. auf Monteverdi Bezug zu nehmen: „Dies rie-
senhafte, Lamento‘“ (DF: 705). Schließlich wird das Substantiv ,Klage‘, z. B.
als Reduplikation und exclamatio: „Klage, Klage!“ (DF: 703), als Kompositum:
6 Bergsten, Gunilla: Thomas Manns Doktor Faustus. Untersuchungen zu den Quellen und
zur Struktur des Romans. Stockholm: Svenska Bokförlaget 1963, S. 250.
7 Vgl. DF: 696: „Unterdessen läßt ein transatlantischer General die Bevölkerung von Wei-
mar vor den Krematorien des dortigen Konzentrationslagers vorbeidefilieren und erklärt
sie – soll man sagen: mit Unrecht? – erklärt diese Bürger, die in scheinbaren Ehren
ihren Geschäften nachgingen und nichts zu wissen versuchten, obgleich der Wind ihnen
den Stank verbrannten Menschenfleisches von dorther in die Nasen blies, – erklärt sie
für mitschuldig an den nun bloßgelegten Greueln, auf die er sie zwingt, die Augen zu
richten.“
8 Laut Derrida führen apokalyptische Diskurse zum Delirium und dieses Delirieren sei mit
S. 235 f.
11 Dazu vgl. auch Börnchen: Kryptenhall (insb. S. 303 u. 320 f.).
5.1 Leverkühns Abschied 129
„Klage-Ausbruch“ (DF: 708) und in Verbindung mit einem Genitiv: „die Klage
des Höllensohns“ (DF: 702), mehrfach erwähnt.
Die in den letzten Romankapiteln thematisierte Klage stützt sich auf zahlrei-
che intermediale Einzelreferenzen, die zum Teil auch explizit erwähnt werden.
Wie die Apocalipsis nimmt auch die Weheklag auf eine sehr alte musikalische
Tradition Bezug, und zwar auf die der Madrigale und der ersten Opern, wie Clau-
dio Monteverdis L’Orfeo. Monteverdi steht hier stellvertretend für den Anfang der
modernen Musik, die Zeitbloms Meinung nach mit der „Klage der Ariadne“ (DF:
703), also mit dem Lamento d’Arianna und eben in Form einer Klage beginnt.
Diese wird mithilfe der typischen Echo-Wirkung (nicht nur) der Barockmusik
in intensivierter und stilisierter Form vermittelt. Bergsten, die sich auf Kreneks
Music here and now beruft,12 schreibt Monteverdi dieselbe historische Bedeu-
tung wie Schönberg bezüglich seiner harmonischen Errungenschaften zu. Beide
Komponisten seien als „Portalgestalten“13 zu beiden Seiten der tonalen Musik
aufzufassen: Einer linearen und nach Autor*innen angeordneten Darstellung der
Musikgeschichte entsprechend sieht die Forscherin Monteverdi und Schönberg
jeweils als Anfang und Ende der tonalen Musik.14 Eine weitere von Thomas
Mann verwendete Quelle, die in der Forschungsliteratur wiederholt erwähnt wird,
ist Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels: Auch dort wird Barock mit
Modernität assoziiert.15
Zeitbloms These, die Musik sei der Klage entsprungen, als Verzweiflungs-
ausdruck vor dem Tod einer Person, ist nicht ohne Fundament.16 Sie findet
Bestätigung – werkextern – sowohl in der Produktion Monteverdis als auch in
12 Thomas Mann soll das Werk während des Verfassens von Doktor Faustus konsultiert
haben, was einigen Studien zufolge Spuren im Roman hinterlassen haben soll. Vgl. auch
Schmidt: „Unangreifbar nur die Gestalt“ u. 1.2.
13 Bergsten: Untersuchungen, S. 239.
14 Tambling sieht bereits im Werk Monteverdis eine mögliche Verbindung mit weiteren, in
den letzten Seiten des Romans auftretenden Topoi, etwa mit dem Topos des Spätwerks:
Leverkühns Weheklag stellt sein Spätwerk dar und der fiktive Komponist möchte Beetho-
vens Spätwerk, die Neunte Symphonie, zurücknehmen. Auch der Topos der Sterilität der
Kunst könne gut mit Monteverdi in Verbindung gebracht werden: „The birth of opera, in
Monteverdi, is associated with the moment of its end, with its late style, and with the
end of art“. Tambling, Jeremy: Opera and Novel Ending Together: Die Meistersinger and
Doktor Faustus. In: Forum for Modern Language Studies 48 (2012) H. 2, S. 208–221,
hier: S. 212.
15 Dazu siehe: ebd., S. 212 f.; Piccolo: L’onnipotenza imperfetta, S. 302–315; Wisskirchen,
Hans: Die Geschichte als Trauerspiel. Zu Benjamins Rezeption bei Thomas Mann. In:
Euphorion 81 (1987), S. 171–180.
16 Vgl. DF: 703.
130 5 Dr. Fausti Weheklag
17 Siehe z. B. Alexiu, Margaret: The Ritual Lament in Greek Tradition. London: Cambridge
rentiner Opern war und in Monteverdis Schaffen ebenfalls zu finden ist, verknüpft sich
die Musik mit dem Klagen: vgl. DF: 707: „Orpheische Klage-Akzente sind leise erin-
nert, die Faust und Orpheus zu Brüdern machen als Beschwörer des Schattenreichs“. Der
Orpheus-Mythos und die Klage um die Eurydike dürfen selbstverständlich auch in Adornos
Musikphilosophie nicht fehlen: siehe PhnM: 122 und Börnchen: Kryptenhall, S. 303–306.
19 Rajewsky: Intermedialität, S. 150. Zur associative quotation siehe: Wolf, W.: The
figuris andererseits.21 Darüber hinaus ist bekanntlich Monteverdis Oper über die
mythische Ariadne angesichts der Form und des Sujets keine religiöse Kompo-
sition, während Leverkühns Kantate hingegen als „religiöses Werk“ (DF: 710)
bezeichnet wird, auch wenn es sich um eine „Negativität des Religiösen“ handelt.
Des Weiteren findet sich in den letzten Kapiteln des Romans wiederholt das
Motiv des Faltens der Hände: Echo betet abends, „auf dem Rücken liegend, die
flachen Händchen vor der Brust zusammengefügt“ (DF: 682), faltet dann krank
„die bebenden Händchen […] und stammelt: ‚Echo will herzig sein, Echo will
herzig sein!‘“ (DF: 688), Leverkühn sitzt vor der Abschiedsrede „mit gefalteten
Händen“ (DF: 717) und „ein einsamer Mann“ (Zeitblom bezieht sich hier höchst-
wahrscheinlich auf sich selbst) „faltet seine Hände und spricht: Gott sei euerer
armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland“ (DF: 738).22 Diese letzten
Worte schließen den Roman und verleihen daher dem Klagen ebenfalls eine reli-
giöse Konnotation: Im vorigen Zitat ist es der Erzähler, der klagend betet, kurz
davor versammeln sich die Frauen, die Leverkühn bis zum Tode nah geblieben
sind, vor seinem Grab. Diese sind Jeanette Scheurl, Meta Nackedey, Kunigunde
Rosenstiel und, nicht zuletzt, Leverkühns Mutter, die echte „Maria“ in Doktor
Faustus, da u. a. Leverkühn die letzten Jahre seines Lebens in ihrem Haus ver-
bringt.23 Maria steht auch in vielen Kunstwerken mit gefalteten Händen unter
dem Kreuz Christi: Viele textuelle Indizien, etwa die Gesten der Figuren und
die Beschreibung der Eigenschaften der Kantate Dr. Fausti Weheklag verweisen
auf religiöse Klagen und speziell auf die Marienklage. Leverkühns Abschieds-
rede, bei der Bezüge auf das letzte Abendmahl Christi nicht fehlen, findet in
der gleichen religiösen Periode wie die Marienklage statt, d. h. in der Fastenzeit.
Ähnlich dem Stabat Mater bzw. der Marienklage weist auch Leverkühns Weheklag
den „Charakter eines musikalischen Testaments“24 auf und drückt laut Zeitblom
21 Auch die Form des Madrigals, die im 46. Kapitel erwähnt wird (siehe DF: 704), erfuhr
in der Renaissance bzw. Barockzeit eine substantielle Entwicklung, die ersten Formen
stammen aber aus dem 14. Jahrhundert. Vgl. etwa Fischer, Kurt von: Musica e testo let-
terario nel madrigale trecentesco. In: Borghi, Renato u. Pietro Zappalà (Hrsg.): L’edizione
critica tra testo musicale e testo letterario. Atti del convegno internazionale (Cremona, 4–
8 ottobre 1992). Lucca: LIM 1995, S. 9–15. Weiteres Vorbild der Weheklag könnte auch
Tschaikowskis Symphonie Pathétique sein, insbesondere aufgrund des letzten Satzes der
Symphonie, der „Adagio lamentoso“ genannt wurde und von Celli und Bässen geschlossen
wird. Vgl. Bergsten: Untersuchungen, S. 115.
22 Dazu siehe auch Börnchen: Kryptenhall, S. 312. Dieses letzte Zitat lässt sich selbstver-
prosa des 18. und 19. Jahrhunderts, Heidelberg: Synchron 2002, S. 22.
132 5 Dr. Fausti Weheklag
Leverkühns Verzweiflung über den Tod des Neffen aus.25 Nicht nur nimmt die
Christus-Metaphorik zu, es häufen sich auch die textuellen Hinweise auf ein Kla-
gen musik-religiöser Natur, das auf das Stabat Mater oder auf die Marienklage
zurückgeführt werden kann.26
Die vorher geschilderte Art des Klagens in der Musik entspringt in Leverkühns
Kantate laut Zeitblom der Absicht einer „Rekonstruktion des Ausdrucks“ (DF:
707), sodass Klage und Ausdruck identisch werden. Ein scheinbares Parado-
xon der Kantate Leverkühns ist, dass sie als ein Werk „äußerster Kalkulation“,
zugleich aber „rein expressiv“ beschrieben wird (DF: 707). Zeitblom nennt die-
ses Phänomen „Rekonstruktion des Ausdrucks“ (ebd.): Entweder „innerhalb ihrer
vollkommensten Strenge“ (DF: 706) oder „jenseits des Konstruktiven“ (ebd.)
– hier ist der Erzähler unsicher – wird der Ausdruck wiedergewonnen.27
Wie im ersten Kapitel dieser Arbeit bereits erläutert, ist es nicht Ziel dieser
Untersuchung festzustellen, ob Adorno als Koautor von Doktor Faustus anzuse-
hen ist oder nicht.28 Allerdings gilt es nun – intramedial und zwar im Medium
der Schrift bleibend, aber nicht mehr der fiktionalen – auf Adornos Philosophie
der neuen Musik zurückzugreifen:
Die dramatische Musik, als die wahre musica ficta, bot von Monteverdi bis Verdi
den Ausdruck als stilisiert-vermittelten, den Schein der Passionen.[...]. Ganz anders
bei Schönberg. Das eigentlich umstürzende Moment an ihm ist der Funktions-
wechsel des musikalischen Ausdrucks. Es sind nicht Leidenschaften mehr fingiert,
struktion des Ausdrucks“ betroffen sei: „[T]rotz aller Montage und trotz allen Zitierens
ist Doktor Faustus ohne Zweifel die Schöpfung Manns, die am meisten mit Ausdruck
geladen ist und von der tiefsten inneren Anteilnahme zeugt.“ Bergsten: Untersuchungen,
S. 232.
28 Vgl. 1.2.
5.1 Leverkühns Abschied 133
29 Die Bezeichnung der Musikproduktion von Monteverdi bis Verdi als ,musica ficta‘ ver-
liert die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs und wird hier in einem allgemeineren Sinne
verwendet. Siehe Hirshberg, Jehoash u. Peter W. Urquhardt: Art. Musica ficta. In: MGG
Online. Zuerst veröffentlicht 1997, online veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-online.
com/mgg/stable/13658> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
30 Siehe: „,Denn ich sterbe als ein böser und guter Christ‘, bilden das Generalthema des
Variationswerks. Zählt man seine Silben nach, so sind es zwölf, und alle zwölf Töne der
chromatischen Skala sind ihm gegeben, sämtliche denkbaren Intervalle darin verwandt“
(DF: 706).
31 Zwölf ist auch die Zahl der Apostel des letzten Abendmahls, auf das in der
auf Bairisch, die das letzte Kapitel vor der Nachschrift schließt und ebenfalls zur
Komik der Narration beiträgt:
Macht’s, daß’ weiter kommt’s alle miteinand! Ihr habt’s ja ka Verständnis net, ihr
Stadtleut, und da k’hert a Verständnis her! Viel hat er von der ewigen Gnaden
g’redt, der arme Mann, und i weißt net, ob die langt. Aber a recht’s a menschlich’s
Verständnis, glaubt’s mir, des langt für all’s! (DF: 729)
Das Streben nach Ausdrucksfähigkeit ist in der Neuen Musik zum Scheitern
verurteilt: In Doktor Faustus wird laut Heimann Adornos wissenschaftliche
Erkenntnis übernommen und symbolisch (und prosopoietisch, da Leverkühns
Ohnmacht eben dieses Scheitern verkörpert) wiedergegeben.33 Im Medium der
fiktionalen Schrift wäre demzufolge das möglich, was im Medium der philosophi-
schen Schrift nicht erreicht werden kann, und zwar ein Gewinn „an symbolische[r]
Prägnanz und Freiheit durch mehrdeutige Bezüge“.34 Dies verknüpft sich mit
einem zentralen Konzept von Adornos Musikphilosophie und einem tragenden
Thema von Doktor Faustus: nämlich mit dem der Sterilität der Kunst und den
Möglichkeiten ihrer Überwindung. Sich auf Adorno stützend, schildert Heimann
die historische Begründung der Zwölftonmusik, die einer Unzufriedenheit mit
der Tonalität und der konventionellen Musik entspringt und eine nicht mehr
durchzuhaltende Erweiterung des „Kanon[] des Verbotenen“35 produziert habe.36
In zusammengefasster Form stellt er drei mögliche Antworten auf diese Situa-
tion vor: „das Verstummen“,37 „das weitere Verbleiben im Konventionellen“38
oder „eine revolutionäre Lösung“.39 Die revolutionäre Lösung lässt sich als die
transzendentale begreifen, da sie die einzige ist, die den immanenten Zustand
zu überwinden vermag. Im Roman korrespondiert sie mit der Entwicklung der
Zwölftontechnik und dem Komponieren der Weheklag.
33 Vgl. Heimann: Thomas Manns ,Doktor Faustus‘ und die Musikphilosophie Adornos,
S. 228.
34 Ebd.
35 Ebd., S. 218.
36 Siehe auch PhnM: 13–35.
37 Heimann: Thomas Manns ,Doktor Faustus‘ und die Musikphilosophie Adornos, ebd.
40 Berentelg, Wilhelm: Kafkas Parabel Der Kreisel oder Die ver-zweifelte Jagd nach der
Epiphanie. In: Literatur für Leser 25 (2002) H. 2, S. 91–100, hier: S. 96. In diesem Aufsatz
ordnet Berentelg die Epiphanie den bedeutsamen Topoi der literarischen Moderne zu und
listet ihre Merkmale auf (siehe S. 92 u. 95 f.)
41 Corbineau-Hoffmann, Angelika: Umkehrungen. Beethoven, Leverkühn und Thomas
Manns Doktor Faustus. In: Arcadia 30 (Januar 1995) H. 3, S. 225–247, hier: S. 234.
42 Lubkoll, Christine: Beethovens „Spätstil“ und seine Mythisierung bei Adorno und Tho-
mas Mann. In: Neumann, Gerhard (Hrsg.): Altersstile im 19. Jahrhundert. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2014, S. 125–139, hier: S. 134.
43 Siehe ebd.: S. 138. Vgl. auch: Adorno, Theodor W.: Beethoven. Philosophie der Musik.
Fragmente und Texte. In: Ders.: Nachgelassene Schriften Bd. 1.1. Hrsg. v. Rolf Tiedemann.
136 5 Dr. Fausti Weheklag
Epoche ebenso wenig tragfähig zu sein wie die Ideen der bürgerlichen Revo-
lution, die er zusammen mit Beethovens Spätwerk folglich zurücknimmt.44 Auch
in Doktor Faustus wird Beethovens Spätwerk einer Mythisierung unterzogen.45
Das Mittel der Zurücknahme ist die „rationale[] Durchorganisation des gesamten
musikalischen Materials“ (PhnM: 56): Wie Zeitblom zugespitzt formuliert, soll
Leverkühns Weheklag „keine freie Note mehr“ (DF: 704) haben, weil das ganze
Stück von der zwölftönigen Reihe abgeleitet wird, die vor dessen Verschriftli-
chung festgelegt wird. Zwar enthält auch die Weheklag heterogene Elemente, aber
diese Heterogenität findet – so in der Darstellung Zeitbloms – in der Gebundenheit
einen Platz, sprich: in der Vorherbestimmung der Reihe.46 Durch intermedia-
les telling, worauf in Kapitel eins bereits eingehend Bezug genommen wurde,47
werden im Roman die Kontinuitäten und Differenzen zwischen Leverkühns fik-
tiver Kantate und Beethovens Neunter Symphonie hervorgehoben, etwa dieselbe
Dauer48 und die Variationen der Klage anstatt des Jubels, weswegen Zeitblom
von negativer Verwandtschaft mit Beethovens Werk spricht.49
Im vorigen Kapitel über die Apocalipsis cum figuris wurde bereits kurz die
Frage erläutert, wo im Rahmen der musikalischen Deklination des apokalypti-
schen Diskurses des Romans Transzendenz erreicht werde, wo also der Neubeginn
der Musik aus ihrer Krise zu situieren sei.50 Die erste logische Antwort wäre,
wie im vorliegenden Kapitel herausgearbeitet wurde, dass die Sterilität der Musik
durch die Zwölftontechnik repräsentiert wird. Was diese Argumentation jedoch
ins Schwanken bringt, sind die zahlreichen intramedialen Bezüge auf Adornos
Musikphilosophie. Diese heben vor allem das Scheitern von Leverkühns Vorha-
ben einer größeren Ausdrucksfähigkeit der Musik hervor: Seine Kantate kann
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993; Ders.: Ludwig van Beethoven. Sechs Bagatellen für
Klavier op. 126. In: Ders.: Musikalische Schriften V. In: Ders.: Gesammelte Schriften
Bd. 18. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 185–188; Ders.: Spätstil Beethovens.
In: Musikalische Schriften IV. Moments musicaux; Impromptus. In: Ders.: Gesammelte
Schriften Bd. 17. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 13–17.
44 Nach der Auffassung Tamblings wird die Neunte Symphonie zurückgenommen, denn
„art cannot afford any triumphalism“. Tambling, Jeremy: Opera and Novel Ending
Together: Die Meistersinger and Doktor Faustus. In: Forum for Modern Language Studies
48 (2012) H. 2, S. 208–221, hier: S. 209.
45 Siehe Lubkoll: Beethovens „Spätstil“, S. 139.
46 Vgl. etwa DF: 704 u. 706.
47 Vgl. 1.1.5.
48 „ca. fünf Viertelstunden“ (DF: 705).
49 Vgl. ebd.
50 Vgl. 4.1.1.
5.1 Leverkühns Abschied 137
sich von der strengen Form nicht befreien und vermag im Endeffekt nichts
Anderes als Klage auszudrücken.51 Über den fiktiven Autor dieses Vorhabens
macht sich der Erzähler lustig, da auch die Aufführung des Stückes scheitert
und von der Weheklag im Folgenden nicht mehr die Rede ist. Auf die Frage,
ob sie irgendwo aufgeführt oder publiziert werde, schweigt der Erzähler. Statt-
dessen wird die Leser*innenschaft darüber informiert, dass der (unzuverlässige)
Erzähler nun doch die Entscheidung getroffen hat, seine fiktive Biographie über
Adrian Leverkühn veröffentlichen zu lassen, und zwar bei einem amerikanischen
Verlag.52 Die intramedialen Bezüge auf Adornos Texte dienen also dazu, das
Scheitern hervorzuheben und einen Kontrast zu den mythisierten und als gelungen
dargestellten Versuchen Beethovens zu bilden.
Die Möglichkeit eines Neubeginns, was für die Präsenz einer transzendentalen
Ebene des apokalyptischen Diskurses sprechen würde, räumt Zeitblom vielleicht
nur bezüglich des Endes des Stückes ein:53
Hier, finde ich, gegen das Ende, sind die äußersten Akzente der Trauer erreicht,
ist die letzte Verzweiflung Ausdruck geworden, und – ich will’s nicht sagen, es
hieße die Zugeständnislosigkeit des Werkes, seinen unheilbaren Schmerz verletz-
ten, wenn man sagen wollte, es biete bis zu seiner letzten Note irgend einen anderen
Trost, als den, der im Ausdruck selbst und im Lautwerden, – also darin liegt, daß
der Kreatur für ihr Weh überhaupt eine Stimme gegeben ist. Nein, dies dunkle
Tongedicht läßt bis zuletzt keine Vertröstung, Versöhnung, Verklärung zu. Aber
wie, wenn der künstlerischen Paradoxie, daß aus der totalen Konstruktion sich der
51 Gleichwohl mag man einwenden, dass Zeitblom beim Beschreiben der Weheklag der
Komposition doch Ausdrucksfähigkeit zuschreibt. Der Erzähler spricht etwa von „freie[r]
Sprache des Affekts“ (DF: 704), die sich trotz der Gebundenheit des Werkes vollzieht und
„unendlich komplizierter, unendlich bestürzender und wunderbarer in seiner Logik […] als
zur Zeit der Madrigalisten“ (ebd.) erscheint. Diese Auffassung lässt sich gut auf Adornos
vorher präsentierte These eines Sich-Verabschiedens der Musik Schönbergs vom „Schein
der Passionen“ (PhnM: 44) zurückführen. Nichtsdestotrotz wird im ganzen intermedialen
telling Zeitbloms fast nur von einem einzigen Affekt berichtet: dem der verzweifelten
Klage. Die fiktive Komposition scheint daher vergleichbar mit Adornos Einstellung zu den
Kompositionen Schönbergs ebenfalls von Eintönigkeit geprägt zu sein. Diese Idee einer
mangelnden Ausdrucksfähigkeit verstärkt sich in der Abschiedsrede, in der die Unfähigkeit
Leverkühns gezeigt wird, seine Komposition aufzuführen.
52 Vgl. DF: 664. Die Frage wäre legitim, wieso Zeitblom ausgerechnet in den USA in
eingeführt wird.
138 5 Dr. Fausti Weheklag
Ausdruck – der Ausdruck als Klage – gebiert, das religiöse Paradoxon entsprä-
che, daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung
keimte? Es wäre die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz
der Verzweiflung, – nicht der Verrat an ihr, sondern das Wunder, das über den Glau-
ben geht. Hört nun den Schluß, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach
der anderen tritt zurück, und was übrigbleibt, womit das Werk verklingt, ist das
hohe g eines Cello, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in pianissimo-
Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr. – Schweigen und Nacht. Aber
der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur
die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr,
wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht. (DF: 647 f.; Herv. A. O.)
Das Zitat zeigt, dass Zeitblom in Leverkühns Kantate keine Möglichkeit der
Überwindung des krisenhaften Zustands der Musik sieht, obwohl am Anfang
ein gegensätzlicher Eindruck erweckt wird. Die dort vertretene Idee verneint er
aber schon im zweiten Satz. Mit den Mitteln der totalen Konstruktion ist nur
der Ausdruck der Klage möglich. Die Musik kommt zum Verstummen und dann
ist nichts mehr. Wegen des Versagens der musikalischen Mittel ist die einzige
Transzendenz kraft des religiösen Paradoxons ein Neubeginn aus der Verzweif-
lung:54 Nicht durch Musik erreichbar, sondern durch die Wandlung des letzten
Tons ins Licht („visuelle Metapher“).55 Da jenes Licht zudem einen intramedia-
len Bezug auf Dante darstellt,56 ist vielleicht das Stadium B der Transzendenz
nur im Medium der Literatur möglich. Dieses Verstummen der dort beschriebe-
nen Musik lässt sich dennoch laut Börnchen durch die Lektüre des Textes und die
„,Achs‘ mit der eigenen Stimme“57 überwinden:58
So, und nur so, ist es möglich, daß durch das ,Schweigen‘ […] des Textes hindurch
tatsächlich ein ,Klang der Trauer‘ zu hören ist: Die Elegie, die man vernimmt, ist
das Echo des eigenen ,Achs‘.
Der Text in seiner „Aufführungsdimension“ des Vorlesens wehrt sich gegen den
Erzähler und seine Darstellung; auch die Unzuverlässigkeit des Erzählers lässt
54 Dieses Konzept ist in Thomas Manns Reden und Schriften an mehreren Stellen zu
finden, siehe z. B.: „Wenn Verzweiflung begänne, sich in eure Seelen zu schleichen, es
wäre gut, Deutsche, es wäre der Anfang des Guten. Verzweiflung ist gut, sie ist besser als
feige Prahlerei“ (DH: 47). Darüber hinaus findet das auch im Teufelsgespräch Erwähnung:
siehe DF: 331 f.
55 Ebd., S. 149.
56 Siehe ebd.
57 Börnchen: Kryptenhall, S. 321.
58 Ebd.
5.2 Vom Roman zur Musik 139
sich – wie im siebten Kapitel der vorliegenden Studie konstatiert – nur durch
die Lektüre und die Leser*innenschaft überwinden.59 Zu Recht meint Börnchen,
dass „[m]it der Beschreibung der ,Weheklag‘ […] der Doktor-Faustus-Roman
selbst zum Klagetext“60 werde: Etwa durch die Echo-Wirkung der verwende-
ten Wörter sowie durch die sprachlich-lexikalischen Affinitäten simuliert und
(teil-)reproduziert der Text eine (Marien-)Klage.61
Die letzten Kapitel des Romans beinhalten und führen zu vielen metamedialen
Reflexionen, die entweder vom Erzähler selbst explizit formuliert werden oder
durch zahlreiche intermediale Einzel- und Systemreferenzen angeregt werden.62
Die vorigen Ausführungen gingen beispielsweise auf Adornos Musikphiloso-
phie, Beethovens Neunte Symphonie, Monteverdi und die Marienklage ein, um
die Merkmale der Dr. Fausti Weheklag zu veranschaulichen. Zu diesen zählen
die Subversion von musikalischen Konventionen durch eine Art von Musik, die
um eine vordeterminierte, zwölftönige Reihe kreist und dementsprechend Zeit-
blom zufolge den Ausdruck nur als Klage vermitteln kann. Im Roman dient die
Zwölftontechnik als Paradebeispiel für die Sterilität der Kunst: Dieser Auffas-
sung lässt sich vor allem auf der interpretatorischen Ebene der Rezeptions- und
Wirkungsästhetik widersprechen, also vonseiten der Leser*innenschaft. Wie die
Leser*innenschaft auf diese Darstellung der Dodekaphonie reagiert, wenn sich
diese aus Komponist*innen der Neuen Musik zusammensetzt, soll im folgenden
Teil beleuchtet werden.
Im Folgenden wird auf die Kompositionen eingegangen, die auf die letzten
Kapitel des Romans oder nur auf die Weheklag Bezug nehmen. Diese sind: Gia-
como Manzonis Oper Doktor Faustus, von der einige Bilder behandelt werden,
György Ránkis Leverkühns Abschied, Peter Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“
und Humphrey Searles The Lamentation of Dr. Faustus. Es soll untersucht werden,
wie die vorher beschriebenen Merkmale von Leverkühns Kantate, etwa Ausdruck
59 Siehe auch Barthes’ Begriff des ,lauten Schreibens‘: Barthes: Die Lust am Text, S. 97 f.
Vgl. 7.1.2.
60 Ebd., S. 312.
61 Zur Terminologie sei hier auf Rajewsky verwiesen: Intermedialität, S. 94–113.
62 Vgl. auch ebd., S. 305: „Daß der Doktor Faustus mit der Erzählung der Musik sich selbst
als Text reflektiert, könnte kaum deutlicher werden als in der Beschreibung der ,Weheklag‘.
Sie ist die umfangreichste Musikschilderung in Thomas Manns Œuvre; und sie bildet den
Höhepunkt des Musikromans Doktor Faustus“.
140 5 Dr. Fausti Weheklag
als Klage und durchorganisierte Form vom Medium der fiktionalen Schrift in
das Medium der Musik transferiert werden. Daneben liegt der Fokus der Ana-
lyse darauf, wie diese letzte Phase im kompositorischen Werdegang Leverkühns
in Werken der Neuen Musik dargestellt wird.
Das erste Werk, das in diesem zweiten Teil des vorliegenden Kapitels näher vor-
gestellt wird, ist vom italienischen Komponisten Giacomo Manzoni (*1932) und
in Opernform. Im Folgenden wird zunächst einmal geschildert, wie Manzoni den
Roman und Adornos Musikphilosophie in seinen Schriften rezipiert. Auch wird
darauf eingegangen, wie das Projekt, eine Oper nach Doktor Faustus zu schreiben,
entstanden ist. Schlussendlich werden einige Szenen, die bei Manzoni allerdings
als Bilder bezeichnet werden, in den Fokus gerückt: Diese setzen sich mit den
Kapiteln aus dem Roman, die im ersten Teil dargelegt wurden, auseinander. Die
Analyse der Bilder folgt der Reihenfolge von Roman und Oper.
63 Diesen Zweck verfolgt auch das Interview im Anhang. Zum Umgang der vorliegenden
Arbeit mit Selbstaussagen von Autor*innen und biographischen Daten vgl. 1.2.
5.2 Vom Roman zur Musik 141
interessant in der Biographie von Giacomo Manzoni ist neben dem Studium der
Germanistik die intensive Auseinandersetzung mit den Texten Schönbergs und
Adornos, die er ins Italienische übersetzte –64 entschied sich Manzoni, seine Oper
in italienischer Sprache zu verfassen. Diese basiert primär auf der italienischen
Übertragung von Doktor Faustus von Ervino Pocar.65 Für diese Entscheidung
hatte Manzoni verschiedene Gründe, die er in seinen Schriften erläutert. Erstens
spricht er von einer bewussten und absichtlichen Distanz zum ursprünglichen
Text: „un teatro proprio così obbligato a non confondersi con la propria fonte
letteraria“.66 Zweitens hebt er hervor, dass eine Übersetzung einen größeren Grad
an Freiheit mit sich bringe, denn sogar eine wörtliche Übersetzung biete die Mög-
lichkeit, zwischen unterschiedlichen Ausdrücken zu wählen.67 Drittens spricht
er von einer sogenannten „sgermanizzazione“68 des Romans, wörtlich übersetzt:
eine Entgermanisierung, die er folgendermaßen begründet:69
Dall’altra parte forse c’era anche una voglia istintiva antifilologica, perché non
da oggi l’idea di affrontare un testo che non sia nella lingua originale è sempre
considerata poco seria, non giusta, addirittura scorretta: da questo ho voluto in
qualche modo prendere le distanze, forse anche togliermi di dosso, sempre sul
64 Zum Komponisten siehe auch: Osmond-Smith, David: Manzoni, Giacomo. In: Grove
Music Online. Zuerst veröffentlicht 20.01.2001, online veröffentlicht 2001, Werkver-
zeichnis am 29.05.2002 aktualisiert. < https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.
17692> (letzter Zugriff: 21.08.2020). Manzoni übersetze u. a. auch Adornos Philosophie
der Neuen Musik ins Italienische. Exemplarisch sei hier auf die folgenden zwei Überset-
zungen verwiesen: Adorno, T. W.: Filosofia della musica moderna. Übers. v. G. Manzoni.
Turin: Einaudi 1959; Schoenberg, Arnold: Elementi di composizione musicale. Übers. und
mit einer Einleitung v. G. Manzoni. Mailand: Suvini Zerboni 1969.
65 Vgl. Mann, T.: Doctor Faustus. La vita del compositore tedesco Adrian Leverkühn
langer Zeit die Idee, sich mit einem Text nicht in seiner ursprünglichen Sprache zu beschäf-
tigen, für wenig ernst, nicht richtig, sogar unkorrekt gehalten wird: Schon immer wollte
ich irgendwie davon Abstand nehmen, vielleicht auch mich, immer auf der Unterbewusst-
seinsebene, von dieser Etikettierung des Germanisten, des ,tedescomane‘ befreien, die ich
so auch weiterhin hatte, seit den Universitätsjahren, seit der Zeit meiner Übersetzungen“.
Ebd., S. 305 f.
142 5 Dr. Fausti Weheklag
piano del subconscio, questa etichetta del germanista, del tedescomane, che avevo
addosso da sempre, dai tempi universitari, dai tempi delle mie traduzioni.
70 „Faust […] è figura storicamente tedesca. […] Ma è forse il caso di ricordare che da
Marlowe a Berlioz, Busoni, Clair, Puskin [sic], Rostand, Smetana e mille altri Faust è
diventato per così dire parte costitutiva della cultura europea? O sottolineare che in esso si
esprime l’esigenza […] profondamente e universalmente umana al superamento del conti-
gente […]?“. „Faust ist, historisch gesehen, eine deutsche Figur. […] Aber soll man daran
erinnern, dass von Marlowe über Berlioz, Busoni, Clair, Puškin, Rostand, Smetana und
vielen anderen Faust sozusagen zum Bestandteil der europäischen Kultur geworden ist?
Oder soll man unterstreichen, dass durch diese Figur das tiefe und universell menschliche
Bedürfnis nach der Überwindung des Zufälligen ausgedrückt wird […]?“. Manzoni: Parole
per musica, S. 81. Hier hat Manzoni Teile eines früheren Aufsatzes veröffentlicht, in dem
er in der dritten Person Singular über die Entstehung seiner Oper sprach. Vgl. Manzoni: Il
lungo cammino del Doktor Faustus (1987). In: Manzoni, Giacomo: Scritti. Hrsg. v. Clau-
dio Tempo. Scandicci (Florenz): La Nuova Italia 1991, S. 113–121. Der Text ist außerdem
im Programmheft der Premiere am Teatro alla Scala veröffentlicht (S. 31–35).
71 „Szenen aus Thomas Manns Roman“. Der Titel spielt auch auf Robert Schumanns
der Sprache zurück“. Manzoni: Il linguaggio del Doktor Faustus, S. 310. Trotzdem benutzt
Manzoni den deutschen Titel und nicht den italienischen (Doctor Faustus) für seine Oper.
5.2 Vom Roman zur Musik 143
Rezeption des Romans vonseiten des italienischen Publikums angeht.73 Die Pro-
blematik der Sprache und der Kultur spielt in seinem Werk eine zentrale Rolle. In
einem Aufsatz über den italienischen Komponisten Bruno Maderna, der ebenfalls
der Neuen Musik zugeordnet werden kann, führt er aus, warum er die jeweilige
Kultur so stark in den Blick nimmt: „Denn der Mensch […] kann in keinem Fall
außerhalb seiner unmittelbaren Erfahrung, also seines Landes und seiner Kultur,
gedacht werden“.74 Diese Position ist auch mit dem in mehreren Schriften geäu-
ßerten Wunsch Manzonis nach mehr Verständnis für die zeitgenössische Musik
verbunden. Folgerichtig verzichtet Manzonis Doktor Faustus auf die deutsche
Sprache und den Rekurs auf vom ihm als zu deutsch empfundene Motive und
Diskurse.
Worauf Manzoni im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Komponist*innen
nicht verzichtet, ist auf die Form der Oper.75 Oft stellen Manzonis Opern ein
Resümee von Tendenzen dar, die in vereinzelter Form in vorigen Kompositionen
sichtbar werden: Doktor Faustus definiert er beispielsweise als einen „Ankunfts-
punkt“.76 Die Konzeption von Leverkühns letzter Kantate ist Manzonis Schaffen
nicht fremd. Der Komponist beschreibt beispielsweise sein Gesamtwerk in seinen
Schriften ebenfalls als „ein Werk äußerster Kalkulation, zugleich rein expressiv“
(DF: 707):77
73 Siehe ebd.
74 Manzoni: Bruno Maderna. In: Die Reihe – Information über serielle Musik. Junge Kom-
ponisten 4. Hrsg. v. Herbert Eimert unter Mitarbeit v. Karlheinz Stockhausen. Wien (u. a.):
Universal Edition 1958, S. 113–118, hier: S. 113. Daher spricht der Musikwissenschaftler
Joachim Noller von ,italianità‘ in der Produktion Manzonis. Vgl. Noller, Joachim: Enga-
gement und Form. Giacomo Manzonis Werk in kulturtheoretischen und musikhistorischen
Zusammenhängen. Frankfurt am Main (u. a.): Lang 1987, S. 66.
75 Dazu vgl. auch Sorg: Beziehungszauber, S. 165 f.
76 Vgl. Pozzi, Raffaele: Postfazione. Musica nuova per una nuova società. Colloquio con
Giacomo Manzoni di Raffaele Pozzi (2008). In: Musica e progetto civile, S. 437–490,
hier: S. 474.
77 „Es existiert kein Naturzustand, in dem der reine und naive Komponist Meisterwerke
produziert, indem er den Gefühlen freien Lauf lässt. Die Werkstätten der Komponisten
aller Zeiten sind von Blättern überfüllt, die Notizen, Studien, Korrekturen, Ergänzungen,
Überarbeitungen enthalten: Aus der ursprünglichen Idee – die nie ein Gefühl ist! – keimt
progressiv, mit Arbeit, mit Mühe, eine Komposition auf, die eine in die Musik übersetzte
mentale Struktur ist. Sie drückt nur sich selbst aus, und wahrscheinlich produziert sie
so dieses Fühlen, diese ,Gefühle‘, die wir an der Wurzel der Komposition behaupten“.
Manzoni: Il ritorno del rimosso. Il linguaggio della musica come espressione di sentimenti?
(2000). In: Ders. (Hrsg.): Musica e progetto civile, S. 368 f.
144 5 Dr. Fausti Weheklag
Non esiste uno stato di natura in cui il musicista ingenuo e puro crei capolavori
dando la stura ai sentimenti. I laboratori dei compositori di tutti i tempi rigurgitano
di fogli che contengono appunti, studi, correzioni, integrazioni, rifacimenti: dall’
idea primigenia – che non è un sentimento! – germina a poco a poco, con lavoro,
con fatica una composizione che è una struttura mentale tradotta in musica. Essa
esprime solo se stessa, e forse così facendo provoca quel sentire, quei „sentimenti“
che crediamo stiano alla radice della composizione stessa.
Ausgangspunkt des Komponierens sei also nicht ein Gefühl, sondern eine prä-
zise Konzeption: Auch hier taucht Adornos Idee einer rationalen Organisation
des musikalischen Materials auf. Eine weitere Auffassung, die sichtbar wird,
ist die der Selbstreferentialität der Musik, d. h. von solchen – Eco zufolge –
„rein syntaktisch[en]“ Systemen „ohne offensichtliche semantische Dichte“:78
Eine Komposition verweise dem obigen Zitat entsprechend nur auf sich selbst und
nicht auf Konzepte oder Gegenstände, die außerhalb ihrer selbst liegen. Laut Man-
zoni konstruiert außerdem ein Komponist Emotionen:79 An erster Stelle stehe,
weil das Komponieren eng mit der Architektur verbunden sei, immer die Struk-
tur. Ohne eine Skizze, einen Plan oder ein Projekt könne der Komponist mit
keinem Werk anfangen.80 Joachim Noller bezeichnet dies als „Vereinbarkeit von
Rationalität und Intuition“.81
Giacomo Manzoni schwebte schon lange Zeit eine Oper über Doktor Faustus
vor: Er kannte das Werk Thomas Manns sehr gut, da er bereits während seiner Zeit
an der Universität Die Buddenbrooks gelesen und am Ende seines Germanistikstu-
diums eine Arbeit über „Die Rolle der Musik im Werk Thomas Manns“ verfasst
hatte. Wie konnte man aber eine solche Herausforderung annehmen und ca. 700
Seiten vertonen? Die logischste Lösung, so der Komponist, wäre eine Art Kino-
version mit verschiedenen Figuren und Episoden gewesen, wobei jedoch auf diese
Weise Leverkühns Geschichte eine untergeordnete Rolle gespielt hätte.82 Eine
andere Möglichkeit wäre das Verfassen eines selbstständigen Librettos gewesen.
Dafür hätte er jedoch einen guten Librettisten suchen müssen, der den Text für
die Musikbühne adaptiert: Dies hätte eine vergleichsweise stärkere Bearbeitung
des Textes sowie die Zusammenarbeit mit einer anderen Person von Beginn des
vieralbum 1956 e Incipit (1986). In: Ders. (Hrsg.): Musica e progetto civile, S. 293–298
(insb. S. 297).
81 Noller: Engagement und Form, S. 66.
82 Vgl. Manzoni: Parole per musica, S. 78 f. Auch hier zitiert Manzoni aus dem bereits
[d]ie musikalische Vision […], die er dann am Ende der sinfonischen Kantate über
Faust gibt, enthält viele avantgardistische Anstöße, beinhaltet eine musikalische
83 Siehe ebd., S. 79. Die Wahl der italienischen Sprache erlaubt Manzoni eine gewisse
Distanz zum Text, sodass er im Gegensatz zu Mann die Figur Zeitbloms bis zum Epilog
nicht braucht. Vgl. auch Ent: 28.
84 Ein Vergleich der Handlung von Manzonis Oper mit den entsprechenden Kapiteln von
Maschka (Hrsg): Handbuch der Oper. Kassel (u. a.): dtv/Bärenreiter, S. 555–581, hier:
S. 573.
87 Manzoni: Anmerkungen zum Doktor Faustus (1980). Übers. v. Angelika Schweikert. In:
Hoffmann, Heike u. a. (Hrsg.): Die musikalische Welt des Adrian Leverkühn. Ein Projekt
zum ,Faustus‘-Roman von Thomas Mann. Konzerthaus Berlin 1996–97, S. 47–64, hier:
S. 47. Dieser Text stellt die deutsche Übersetzung von Manzonis Vorwort zur Ausgabe
von 1980 von Doktor Faustus bei Mondadori Mailand dar.
88 Ebd., S. 58, Herv. i. O.
146 5 Dr. Fausti Weheklag
Konzeption, die ganz von den Bedingungen des Materials ausgeht. Auf eigen-
tümliche Weise scheinen sie zuweilen direkt mit den experimentellen Werken der
späteren Generation verbunden zu sein.89
In der Definition des strengen Satzes könne man „die Antizipation technischer und
kompositorischer Alternativen“90 erkennen, „die die europäischen Komponisten
zu Beginn der 1950er Jahre bei den Ferienkursen in Darmstadt anstrebten“.91
Zusammengefasst: Laut Manzoni antizipiert Doktor Faustus die musikalischen
Konzeptionen Nonos, Stockhausens und Madernas, um einige Komponisten der
Neuen Musik zu nennen, die in den 1950er Jahren Kurse in Darmstadt angeboten
haben. Zusammen mit den Donaueschinger Musiktagen galten diese Kurse als
eine der wichtigsten Adressen für die zeitgenössische Musik.92
Manzoni zufolge skizziert der Roman mögliche Lösungswege gegen die Ste-
rilität der Kunst bei gleichzeitiger Klage über ihren hoffnungslosen Zustand.
Dies aber in seiner intermedialen Transposition umzusetzen, erscheint dem
Komponisten kaum möglich:93
89 Ebd., S. 53. Das wurde in der vorliegenden Studie auch über die Komposition Apoca-
lipsis cum figuris festgestellt, die einiges mit der Musik der 1970er/1980er Jahre gemein
hat, sowie von Konrad Boehmer, der sich in der Nachkriegszeit mit dem Problem der
Denaturierung des Klanges beschäftigt (vgl. Kap. 4).
90 Ebd., S. 56.
91 Ebd.
92 Vgl. Reißfelder, David u. Andreas Meyer: Art. Darmstadt, 20. und 21. Jahrhundert: Die
Internationalen Ferienkurse für Neue Musik. In: MGG Online. Veröffentlicht September
2019. <https://www.mgg-online.com/mgg/stable/52499> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
93 Manzoni: Anmerkungen, S. 48.
5.2 Vom Roman zur Musik 147
[L]a musica del Medioevo europeo non è per certi aspetti meno complessa della
dodecafonia dell’inizio del secolo scorso, quella di Bach o Mozart non richiede
diversa applicazione e approfondimento rispetto a quella di ricerca più avanzata.
Non si conosce insomma nelle civiltà del pianeta – salvo qualche fenomeno affatto
marginale e ininfluente – una musica che si produca al di fuori di qualsiasi
conoscenza teorica e artigianale.
In diesem Sinne muss also die Hoffnung auf zukünftige Musik nicht in Dok-
tor Faustus, sondern im Werk der Komponist*innen der Nachkriegsjahre sowie
der heutigen Zeit gesucht werden. Diese seien von der Möglichkeit eines Kul-
turoptimismus bzw. eines Kulturpositiven überzeugt und betrachteten diese als
Grundlage ihrer Arbeit:97
Dieses Neue, an das Thomas Mann nicht glauben konnte, hat ihm quasi gegen den
eigenen Willen die Botschaft einer authentischen Erlösung der Musik der Zukunft
eingegeben. Es ist die Musik derer, die heute trotz der neueren Tragödien der
94 Siehe Manzoni: Adorno e la musica degli anni Cinquanta e Sessanta in Italia (1980).
ger komplex als die Dodekaphonie des Anfangs des letzten Jahrhunderts, die Musik Bachs
oder Mozarts verlangt den selben Fleiß und dieselbe Vertiefung wie experimentelle Musik.
Wir kennen also in allen Kulturen der Welt – mit der Ausnahme einiger marginalen Phä-
nomene ohne Einfluss – keine Art von Musik, die ohne theoretische und handwerkliche
Kenntnis produziert wird“. Manzoni: Parole per musica, S. 143.
97 Manzoni: Anmerkungen, S. 59.
148 5 Dr. Fausti Weheklag
Menschheit das Vertrauen nicht verloren haben, sich mit der Stimme der Kunst
ausdrücken zu können.
98 Ebd., S. 63. Siehe auch Sorg: Beziehungszauber, S. 165. Sorg scheint so tief überzeugt
zu sein, dass sich Manzoni hier auf die sozialistische Gesellschaft bezieht, dass er in
Klammern beim Zitieren dieser Stelle sogar das Adjektiv „sozialistisch“ ergänzt.
99 Der Musikwissenschaftler Luigi Pestalozza betont, bei Manzoni sei das Theater als Ort
der Diskussion über die Probleme der Kunst und der Gesellschaft aufzufassen. Daneben
unterstreicht er auch die Faszination des Komponisten für Sujets, die mit Gerechtigkeit
zu tun haben, wie bei der Oper La sentenza (1960). Siehe Pestalozza, Luigi: Manzoni: Il
teatro come punto d’arrivo. In: Programmheft Teatro alla Scala, S. 37–41, hier: S. 37 f.
100 „Ein Wendepunkt?“. Manzoni: Parole per musica, S. 84–94.
101 „Wie viele andere Leute in meinem Alter sah ich den Kommunismus als radikale
Erneuerung des Menschen, die ihm erlauben würde, seine Instinkte, Impulse, negativen
Bilder zu überwinden, und nur die positiveren Eigenschaften seiner Natur zu entwickeln
[…]. Wir legten nicht viel Wert auf psychische, vererbte Elemente sowie mentale Nei-
gungen, die sogar die perfekteste Gesellschaft – und die Länder des Realen Sozialismus
waren keine solchen – nicht überwinden oder sogar hätten aufheben können“. Manzoni:
Parole per musica, S. 34.
5.2 Vom Roman zur Musik 149
Come tanti miei coetanei vedevo il comunismo come una rigenerazione radicale
dell’uomo, che gli permettesse di superare istinti, pulsioni, concezioni negative,
e di sviluppare soltanto le caratteristiche più positive della sua natura […]. Non
tenevamo nel dovuto conto elementi psichici, ancestrali, predisposizioni mentali
che persino la società più perfetta – e i Paesi del socialismo reale tali non erano –
non avrebbe avuto la possibilità di superare o addirittura annullare.
nicht veröffentlichten Aufnahme, die der Komponist der Verfasserin der vorliegenden
Studie zur Verfügung stellte.
150 5 Dr. Fausti Weheklag
der Regisseur der Uraufführung, beschreibt diese Art von Bühnenbild, das aus
mehreren Orten besteht, so:105
Nicht nur ist aufgrund der vagen und knappen Anweisungen zum Bühnenbild
Manzonis Oper von einer großen Freiheit bezüglich der Inszenierung geprägt,
auch die Uraufführung erlaubt den Zuschauer*innen die Freiheit, sich eine der
parallelisierten Szenen auszusuchen und dieser ihre Aufmerksamkeit zu schenken.
Eine Haupthandlung lässt sich zwar erkennen, der Ort der Nebenhandlung kom-
mentiert bzw. ergänzt diese jedoch. Die Haupthandlung wird somit auch ständig
gestört und die Illusion, das Make-Believe permanent durchbrochen. Die Insze-
nierung gleicht – wie bereits die Verwendung des Wortes quadro statt scena im
Libretto und in der Partitur verdeutlicht – einer Ausstellung von Momentaufnah-
men: Zwar spricht der Regisseur im obigen Zitat immerhin von Szenen und nicht
von Bildern, aber diese Szenen beschreibt er als Flashs, als extrem kleine Einhei-
ten, die ausgewählte Stellen des Romans in kondensierter Form wiederzugeben
versuchen.
Nach dem instrumentalen Teil zu Beginn des Bildes, der von lauter Dynamik
über ein Glissando zu einem Piano kommt, ist die Stimme Adrians zu hören.106
Sie wird immer von der off-stage-Stimme von Echo bzw. von Adrians Echo-
Projektion begleitet: Adrian singt „Prendilo, mostro!“, „Nimm ihn, Scheusal!“
(DF: 691), Echo entweder „Aiuto!“, „Hilfe!“ oder „Oh!“ (Abbildung 5.1).
In der Uraufführung wird Echos Tod nicht on-stage inszeniert: Vielmehr
erklingt seine Stimme off-stage und die Zuschauer*innen können lediglich den
Ort sehen, an dem er stirbt. Das Wechselspiel der beiden Klangräume, des on-
stage und des off-stage, mit ihren je entsprechenden Handlungen wird durch das
105 „Die Oper Manzonis besteht aus Szenen aus einem langen Roman, manchmal sind sie
quasi Flashs. Ich bin dieser Struktur gefolgt. In der Vergangenheit habe ich oft die Zeit
zerstört, indem ich sie endlos gedehnt und den Raum eingeschränkt habe. Hier mache ich
oft das Gegenteil. Und das Auge kann manchmal eine ganze Szene frei wählen, manchmal,
wie in der Kinoregie, wird ein Detail herangezoomt, d. h. eine Wahl, die ich getroffen
habe“. Programmheft Teatro alla Scala: S. 16.
106 In Manzonis Oper ist Leverkühn immer mit seinem Vornamen benannt, was als Sym-
pathiebekundung gedeutet werden könnte. Für ihn ist die Bassbaritonstimme vorgesehen.
5.2 Vom Roman zur Musik 151
Abbildung 5.1 M-DF 166, T. 441–449: Adrian und die Projektion Echos
geteilte Bühnenbild, also den geteilten visuellen Raum, erweitert. So Timo Sorg
zu den off-stage- und on-stage-Stimmen:107
Die off-stage erklingenden Stimmen […] könnten als innere Stimmen Leverkühns
verstanden werden, die aufgrund der Schuld, die er sich aufgeladen hat, und der
schrecklichen Konsequenzen, die daraus entstanden sind, nicht zur Ruhe kommen.
Im Medium der Oper werden hier folglich Schuldgefühle realisiert, die zu einer
Form von Wahnsinn zu führen scheinen. Wenn Adrian „Prendi il suo corpo!“ (M-
DF: 173, T. 485–490), „Nimm seinen Leib“ (DF: 691), singt, betritt auch Serenus
Zeitblom – in der Uraufführung spielt Robert Wilson seine Rolle – die Bühne,
der die Handlung bis zum „Epilogo“ beobachtet: Die Ebene der Extradiegese des
Romans wird in der Uraufführung angedeutet, was ein weiteres Detail, dem die
Zuschauer*innen ihre Aufmerksamkeit schenken könnten oder nicht, ist.108
Die lapidaren Worte Adrians: „Ho trovato: non deve essere“ (M-DF: 188 f.,
T. 633–637), „Ich habe gefunden […] es soll nicht sein“ (DF: 692; Herv. i. O.),
fordern durch den Sprechgesang und die kommentierende Funktion des Orches-
ters ein klares Textverständnis und lenken die Aufmerksamkeit auf sich.109 Nach
einer Generalpause singt Adrian allein „Io lo voglio revocare“ (M-DF: 189 f.,
T. 650 ff.), „Ich will es zurücknehmen“ (DF: 692): Die Wiederholung derselben
Note und die absolute Fokussierung auf die Hauptfigur betonen die Irreversibili-
tät der Entscheidung und erlauben den Zuschauer*innen in diesem Fall nicht, sich
auf andere Details zu konzentrieren (Abbildung 5.2).
Die Worte „La Nona Sinfonia“ (M-DF: 190, T. 654 f.), „Die Neunte Sympho-
nie“ (DF: 693) sollten piano und im Falsett gesungen werden, in der Mailänder
bis zur lyrischen Kantilene reichen kann“. Sorg: Beziehungszauber, S. 186. Vgl. auch die
Hinweise für die Sänger*innen (M-DF: XXVI).
152 5 Dr. Fausti Weheklag
Abbildung 5.2 M-DF: 189 f., T. 650 ff. „Ich will es zurücknehmen“
Uraufführung werden sie aber aus vollem Hals gesungen, sodass die feste Ent-
scheidung noch stärker betont wird (Abbildung 5.3).110 Auch hier handelt es sich
um die Wiederholung derselben Noten, die nicht nur die Irreversibilität der Ent-
scheidung, sondern auch das Voranschreiten des Wahnsinns ausdrückt: Es kommt
also zur Eintönigkeit, die in der Musik durch das Singen eines einzigen Tons kon-
kretisiert wird. Wie im ersten Teil dieses Kapitels dargestellt, spricht auch Adorno
von der Eintönigkeit der Neuen Musik, welche die Vielfalt der Musik, für die die
Neunte Symphonie im Roman steht, annulliert habe.111
In die Musik wird hier als intramedialer Bezug der berühmte dissonante
Akkord von Beethovens Neunter Symphonie eingefügt, der eine Mischung aus
einem verminderten Septakkord und einem d-Moll-Dreiklang ist, was auch als
Schichtung von Terzen aufgefasst werden könnte und dazu führt, dass sich das
Zitat aus der Neunten nicht als ein der Komposition externes Element einstufen
lässt. Noller zufolge handelt es sich hier um keinen Antagonismus zu Beetho-
vens Symphonie.112 Die Neunte Symphonie wird infolgedessen bei Manzoni nicht
wirklich zurückgenommen. Vielmehr wird sie in die Musik integriert: Beethovens
110 Mit freundlicher Genehmigung des Komponisten war der Verfasserin möglich, das Pro-
grammheft der Premiere zu konsultieren, in das Manzoni wahrscheinlich während der
Proben und/oder nach den Aufführungen verschiedene Notizen geschrieben hatte. Dort ist
zu sehen, dass einige Sätze gelöscht oder an anderen Stellen hinzugefügt wurden. Die
Partitur wurde 1991 veröffentlicht und beinhaltet die im Programmheft handgeschriebenen
Änderungen.
111 Siehe PhnM: 79.
112 Siehe Noller: „Sono cose lontane, fuori del linguaggio.“ Osservazioni sulla musica
e sulla drammaturgia del „Doktor Faustus“. In: Programmheft Teatro alla Scala. Übers.
5.2 Vom Roman zur Musik 153
symphonisches Werk und die Neue Musik bilden also keine positiv oder negativ
konnotierten Gegenpole, sondern einen einzigen neutralen Pol.113
Nachdem Adrian seine Absicht geäußert hat, die Neunte Symphonie zurückzu-
nehmen, sagt er leise zu Zeitblom („parlato“, laut der Anweisung für die Stimme):
„Then to the elements. Be free and fare thou well“ (M-DF: 191, T. 660).114
Diese Worte werden von keiner Musik begleitet: Das Shakespeare-Zitat wird
durch die Simulation einer theatralischen Situation, in der das gesprochene
Wort die Hauptrolle spielt, verstärkt. Das Motiv des Abschieds und des Sich-
Verabschiedens, das das Shakespeares-Zitat ausdrückt und in der Abschiedsrede
noch einmal sowie generell in den letzten Kapiteln des Romans wiederholt auf-
taucht, kommt sowohl in der Oper als auch im Roman an exponierter Stelle vor,
und zwar am Ende des Bildes bzw. des Kapitels.115 Wie von Sorg unterstrichen,
bedeutet die Zurücknahme auch Leverkühns Abschiednehmen vom „Leben an
sich“.116
Nach diesen Worten beginnt das Orchester „impetuos[a]“ (M-DF: 191, T. 662),
„heftig“. Nach einigen rein orchestralen Takten singt Adrian „Vegliate meco“ (M-
DF: 193, T. 667 f.), „Wachet mit mir“ (DF: 711) und antizipiert so die spätere
Abschiedsrede: Diese Antizipation ist im Roman an dieser Stelle nicht zu finden,
sondern erst später, nachdem Zeitblom Leverkühns Kantate beschrieben hat.117
Das betrifft auch die darauf folgenden Worte von Adrian: „Statemi vicini quando
sarà giunta la mia ora“ (M-DF: 195 f.), „Verlaßt mich nicht! Seid um mich zu mei-
ner Stunde!“ (DF: 712) und „Pregate per la mia povera anima“ (M-DF: 196 ff.),
„Bete für meine arme Seele“ (DF: 658). Das Klagen beginnt daher bei Manzoni
bereits hier, indem durch die Antizipationen eine Kohärenz geschaffen wird. Der
v. Olimpio Cescatti, S. 42–45 (insb. S. 44). Auch der Musikwissenschaftler Piero Santi
beschreibt den Akkord der Neunten als „den tröstlichsten der ganzen Partitur“. Santi,
Piero: La musica del „Doktor Faustus“. In: Programmheft Teatro alla Scala, S. 23–27,
hier: S. 27.
113 Siehe ebd.
114 Vgl. DF: 694. Dies ist ein Zitat aus William Shakespeares Komödie The Tem-
Rhythmus der Pauke sowie die Imperative in den vorher genannten Zitaten ver-
weisen sowohl auf die Texte musikalischer Klagen (Monteverdi, Stabat Mater,
usw.) als auch auf den apokalyptischen Ton selbst und lassen Adrian daher als
Apokalyptiker erscheinen, der auf die letzte Stunde hinweist und die hier unde-
finierten Rezipient*innen seiner Worte bittet, mit ihm zu warten und für ihn zu
beten: Auch hier handelt es sich um eine klagende Ankündigung religiöser Natur,
in der Klagen und Beten eins werden. Das Orchester schließt das vierte Bild, „tutti
accel. molto gli impulsi“ (M-DF: 199, T. 699), „alle, beschleunigend mit deutlich
betonten Impulsen“, und unterstützt daher den emotional aufgeladenen, klagen-
den Charakter des Bildendes. Erst nach einer langen Note fast aller Instrumente
fällt der Vorhang über der Szene.
118 Vgl. Historia von D. Johann Fausten dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünst-
ler. Mit einem Nachwort hrsg. v. Richard Benz. Stuttgart: Reclam 2006, S. 145 f.: „O ich
armer Verdammter, warum bin ich nit ein Viehe, so ohne Seele stirbet, damit ich nichts
weiters befahren dürfte? […] [W]er will mich Elenden erretten? Wo ist meine Zuflucht, wo
ist mein Schutz, Hülf und Aufenthalt? […] Wessen darf ich mich trösten? […] Ach was
klage ich, daß kein Hülf kommet? Da ich keine Vertröstung der Klage weiß?“. Vgl. auch
Meier, Andreas: Faustlibretti. Geschichte des Fauststoffs auf der europäischen Musikbühne
nebst einer lexikalischen Bibliographie der Faust-Vertonungen. Frankfurt am Main (u. a.):
Lang 1990, S. 541 f.
119 Darüber hinaus findet man in der Oper wie in Leverkühns Werk kein Solo. Siehe Sorg:
Einordnung in die Gattung,Oper‘ und speziell der italienischen Oper mit ihren
Intermezzi und sonstigen Digressionen bestätigt.120
Adrian komponiert vor geschlossenem Vorhang an seinem Schreibtisch, der oft
auf der Bühne ist und der den Fokus der Oper auf die Hauptfigur und sein Kom-
ponieren unterstreicht. Die lange orchestrale Einleitung (M-DF: 200 ff., T. 1–19),
etwa zwanzig Takte, erzeugt Spannung durch die sehr langen Noten mit Trillern,
kommt dann zu einem Fortissimo „tenuto“ (M-DF: 202, T. 18), von einem hefti-
gen Schlag der Harfe gekennzeichnet.121 Plötzlich geht das Fortissimo zurück und
der Chor beginnt mit einer Piano-Dynamik: eine typische Behandlung des Orche-
sters am Anfang oder am Ende der Szenen bzw. auch vor der ersten oder nach
der letzten Note des Sängers, die der gesamten Oper zugleich Kohärenz verleiht,
die die Spannung vorantreibt und den apokalyptischen Ton des Romans, speziell
der zweiten Hälfte, unterstützt. Somit wird an den vorher aufgelisteten, exponier-
ten Stellen der Vagheit in den Raumangaben ein präziser klanglicher, und zwar
rein instrumentaler Raum entgegengesetzt. Der am Anfang fünfstimmige, spä-
ter sechsstimmige Chor kann den Angaben in der Partitur zufolge entweder im
Orchestergraben oder hinter dem Vorhang oder auch auf der Bühne singen: Die
Möglichkeiten der Positionierung des Chors sind noch einmal ein Hinweis auf
die Freiheit in der Inszenierung; selbstverständlich werden durch die Wahl einer
bestimmten Positionierung unterschiedliche Effekte erreicht und unterschiedliche
Aspekte der literarischen Vorlage hervorgehoben. Singt etwa der Chor im Orche-
stergraben, so wird in der Medienkombination die „Identität des Vielförmigsten“
(DF: 706), die Rigorosität und Gebundenheit des Werkes unterstrichen, da Orche-
ster und Chor – klanglich und räumlich – eins werden. Befindet sich hingegen
der Chor hinter dem Vorhang, so wird der Eindruck erweckt, dass es sich um
eine Erinnerung handelt. Folglich wird in der Medienkombination betont, dass
Leverkühns Kantate als Erinnerung an das Volksbuch aufzufassen ist: Die ver-
schiedenen Transfers und Transformationen von einem Medium in ein anderes
werden ins Zentrum gestellt. Singt schließlich der Chor auf der Bühne, so lässt
sich der Gesang keineswegs ignorieren und der Fokus liegt auf dem Klagen.
Das mehrmals wiederholte „Warum“, das später auch das Interludium schließt,
drückt das verzweifelte Fragen nach einer Erklärung aus und lässt selbst Manzonis
intermediale Transposition der Weheklag zu einem „riesenhafte[n] Lamento“ (DF:
705) werden. Seit Takt 29 (M-DF: 204), entweder schneller oder heftiger zu spie-
len, überwältigt die Partitur mit verschiedenen Schlagzeugen: ein „Begleitsystem,
das, zusammengesetzt aus zwei Harfen, Cembalo, Klavier, Celesta, Glockenspiel
120 Vgl. Kimbell, David: Italian Opera. Cambridge: Cambridge University Press 1991.
121 „Die Saite heftig gegen die Resonanzdecke schlagen“ (M-DF: 293).
156 5 Dr. Fausti Weheklag
und Schlagzeug, als eine Art von ,Continuo‘ immer wieder auftretend das Werk
durchzieht“ (DF: 709), wie man auch im Roman liest. Bei Manzoni gibt es nur
eine Harfe: Cembalo, Klavier und Celesta sind nicht zu finden. Stattdessen wer-
den in der Oper die Ondes Martenot gewählt, ein monophones elektronisches
Instrument, das Magie evoziert, vielleicht eine musikalische Hommage an „de[n]
weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler“122 des Volksbuches und gleich-
zeitig eine Anspielung auf die „Echo-Wirkung“ (DF: 703) der Klage. Xylofon
und Piccoloflöte tragen zum hohen Register bei (ab T. 35).
Ab Takt 47 singt der Chor allein. Die Fermate im Takt 57, der ein langes
Glissando folgt, bietet eine musikalische Realisierung der Bedeutung des Wortes
„Aufenthalt“ (M-DF: 207): Nach dem schreienden Klagen, worauf die musikali-
schen Paratexte „urlato“, „geschrien“ und die Forte-Dynamik hinweisen, erreicht
die Musik allmählich eine vorläufige Pause (Abbildung 5.4).123
Abbildung 5.4 M-DF: 207, T. 52–57. Musikalische Realisation des Wortes „Aufenthalt“
Der Chor singt 35 Takte lang ohne orchestrale Begleitung, dann kommentiert
das Orchester ab Takt 86 (M-DF: 210) und führt die Musik zu einem Fortis-
simo von höchster Kraft, das auf das Wort „Ach“ (T. 86) fällt, also auf eine
122 Historia: S. 1.
123 Siehe auch Sorg: Beziehungszauber, S. 240
5.2 Vom Roman zur Musik 157
Von Anfang an machte ich [Serenus Zeitblom] die Beobachtung, daß viele gar nicht
bemerkten, daß Adrian längst im Zimmer war, und so sprachen, als ob sie ihn noch
erwarteten, einfach weil sie ihn nicht erkannten. (DF: 715)
124 In anderen Bildern der Oper, in denen das Klagen (aber im Italienischen) Ausdruck
findet, wird das deutsche „Ach“ durch das italienische „Oh“ ersetzt.
125 Sorg: Beziehungszauber, S. 190.
158 5 Dr. Fausti Weheklag
Abbildung 5.5 M-DF: 210, T. 84–89. Das Finale von Manzonis „Weheklag“
5.2 Vom Roman zur Musik 159
Auch Manzonis Adrian sitzt am Tisch und schaut nicht auf die Personen, an
die seine Rede adressiert ist: Dargestellt wird hier durch die Körpersprache des
Sängers sowohl der Wahnsinn als auch das Scheitern der Neuen Musik in der
Kommunikation mit dem Publikum sowie in der Vermittlung von Ausdruck, wie
im Roman und in Adornos Musikphilosophie wiederholt hervorgehoben wird.
Das Orchester lässt Adrian sein Geständnis singen und übernimmt eine kom-
mentierende Funktion. Musikalisch ist Adrians Wahnsinn als Duett der Hauptfigur
mit sich selbst realisiert (Abbildung 5.6):
Abbildung 5.6 M-DF: 216, T. 22 ff. Adrians Duett mit sich selbst
Adrian erzählt vom bunten Schmetterling (M-DF: 224);126 danach singt auch
eine in der Partitur sogenannte „Sopranfigur“ mit, Esmeralda, die später „Guardati
dal mio corpo!“ (M-DF: 231), „Hüte dich vor meinem Körper“127 singt:128 Bei
Manzoni wird daher nicht ausschließlich von ihr erzählt, ihre Stimme ist materi-
ell präsent, verstärkt und stört gleichzeitig die Narration, indem sie noch einmal
das Motiv der Warnung vor dem eigenen Körper auftauchen lässt, das in der
Darstellung Esmeraldas zentral ist. Zugleich verdichtet sich der Eindruck einer
schizophrenen Störung: Der Raum ist nicht nur der Saal in Pfeiffering, wo im
Roman die Abschiedsrede stattfindet, sondern auch Leverkühns Gehirn.129
dieser Szene angeht: „Con il Doktor Faustus ho trovato una musica e un libretto che
permettono una notevole libertà al regista: valga per tutte la scena del lungo monologo
di Adrian Leverkühn, nel III atto. Durante la festa, ad esempio, si vede talora la festa
stessa, talaltra ciò che si ,dipinge‘ nel cervello di Adrian, ossia come Adrian vede ciò che
lo circonda“. Programmheft Teatro alla Scala: S. 16. „Mit dem Doktor Faustus habe ich
eine Musik und ein Libretto gefunden, die dem Regisseur viel Freiheit gewähren: Das gilt
160 5 Dr. Fausti Weheklag
Die gesprochenen Worte der Gruppe, „E’ bello!“ (M-DF: 234), „Es ist schön“
(DF: 721), die im Roman nur von Daniel Zur Höhe gesprochen werden, len-
ken zusammen mit dem Gelächter und Ausrufen, die im Laufe der Szene immer
lauter werden, die Aufmerksamkeit von Adrians Narration weg, setzten sich
dem die Narration unterstützenden Orchester entgegen und durchbrechen stän-
dig die Illusion.130 Auch hier liegt der Fokus auf der Kollektivität: Es sind nicht
mehr einzelne, identifizierbare Figuren, sondern eine relativ homogene Masse, die
Leverkühns Rede kommentiert.
Nachdem die Hauptfigur „Egli l’uccise senza pietà“ (M-DF: 239), „[S]o bracht
Er es um“ (DF: 725) gesungen hat, kommt das Orchester zu einem plötzli-
chen Fortissimo, das innerhalb eines Taktes von einer früheren Piano-Dynamik
erzeugt wird und Adrians Verzweiflung vor dem Tod Echos mit musikalischen
Mitteln darstellt. Das Kind ist sofort danach zu hören, seine Stimme markiert mit
ihrer Transparenz einen Kontrast zur allgemeinen, finsteren Atmosphäre. Adrians
Sprechweise ist, wie im Roman, ein wenig stockend, was im Gesang durch
Pausen, Akzente und kurze Töne vermittelt wird (Abbildung 5.7):131
Einer Analyse der Textauswahl von Manzonis Kompositionen kann man ent-
nehmen, dass diese Erkundung der musikalischen Realisierungsmöglichkeiten des
Wahnsinns kein Unikum der Doktor Faustus-Oper ist.132 Nicht selten wird in
Manzonis Œuvre der Wahnsinn durch eine „Phonemisierung der Sprache“133
für die ganze Szene des langen Monologs von Adrian Leverkühn, im dritten Akt. Zum
Beispiel sieht man während der Feier zum Teil die Feier selbst und zum Teil, was sich
Adrian im Kopf vorstellt, d. h. wie Adrian sieht, was ihn umringt“.
130 Vgl. auch Santi: La musica del „Doktor Faustus“, S. 24.
131 Vgl. Sorg: Beziehungszauber, S. 191.
132 Siehe Manzoni: Parole per musica, S. 120.
133 Noller: Engagement und Form, S. 265.
5.2 Vom Roman zur Musik 161
realisiert: Noller bestimmt diesen Begriff als eine enorme Ausdehnung von Pho-
nemen, fast eine Reduktion des Textes auf einzelne Vokale und Konsonanten, die
als musikalisches Material genutzt werden.134
Nach Adrians Erwähnung der Kinder, die ihm Motetten sangen,135 ist ein
Knabenchor zu hören, wahrschlich eine weitere Projektion Leverkühns (M-DF:
257–260). Das Kommen und Gehen der Gäste geschieht nicht zufällig, sondern
korrespondiert mit starken und skandalösen Äußerungen Leverkühns, z. B. der
oben erwähnten, wo er über die surrealen Besuche der Kinder spricht (M-DF:
260, T. 470). So wird das zwiespältige Verhalten der Gäste gezeigt, die auf der
einen Seite schockiert sind und auf der anderen im Gegensatz zum Roman nicht
weggehen können: Das Reden über den Teufel und teuflische Emissäre ist in
einem Spannungsverhältnis zwischen Tabu und Faszination verortet; Manzonis
Faust-Oper reflektiert hier über das Potenzial des Fauststoffes selbst.
Wenn Adrian von seiner Sünde spricht, kann man auch die Stimme des Teu-
fels hören. Bei Manzoni zeichnet sich dieser, wie in Kapitel sechs erläutert, durch
seine drei Verkörperungen aus: zwei männliche und eine weibliche Stimme.136
Hier lautet die Anweisung für die drei Teufel: „Von hinter der Bühne mit Verstär-
kung in den Saal. Mit metallischem Klang (kann auf Band sein)“ (M-DF: 263).
Die Stimmen kommen „[v]on rechts“, „[v]on hinten“ und „[v]on links“ (ebd.).
Der letzte Akt ist ein Resümee aller Figuren, die bis dato auftraten.137
Nach dem lauten Gelächter der Teufelsstimmen wird die Musik äußerst fins-
ter (M-DF: 264). Gegen Takt 540 ist die Stimme Adrians, der in seiner Rede
immer mehr den Faden verliert, durch einen ständigen Wechsel von Piano und
Forte realisiert. Hier wird deutlich, dass er erneut mit sich selbst spricht: Eine
Stimme ist sehr statisch und singt unerschütterlich dieselbe Note weiter, die
andere ist dagegen sehr dynamisch und bewegt. Erneut erkundet die Oper die
Realisierungsmöglichkeiten des Wahnsinns (Abbildung 5.8):
Den Worten „La mia ora“ (M-DF: 271, T. 551), „Meine Stunde“ folgt
ein großes Chaos, das sich aus einer Mischung von Ausrufen der Gäste und
plötzlichen Dynamikwechseln im Orchester zusammensetzt. Adrian spielt einige
Akkorde am Klavier: „Dabei öffnete er den Mund, wie um zu singen, aber nur ein
Klagelaut […] brach zwischen seinen Lippen hervor; er […] fiel plötzlich, wie
134 Siehe Sorg: Beziehungszauber, S. 175. Auch Zeitblom spricht bei der Beschreibung der
Weheklag von „Dehnung von Silben“ (DF: 708).
135 Siehe DF: 726, M-DF: 249 ff.
136 Vgl. 6.2.1.
137 Wie vorher angesprochen, wählt Manzoni für die Oper nur eine kleine Anzahl aller
Romanfiguren aus.
162 5 Dr. Fausti Weheklag
Abbildung 5.8 M-DF: 268, T. 540–544. Zweites Gespräch Adrians mit sich selbst
gestoßen, seitlich vom Sessel hinab zu Boden“ (DF: 728 f.), heißt es im Roman.
Manzoni ergänzt diese Beschreibung Zeitbloms durch das gewaltsame Zuschlagen
des Klavierdeckels. Dies korrespondiert mit dem Vorspielen eines Zitats aus der
letzten Klaviersonate Beethovens op. 111, was noch einmal auf die Mythisierung
Beethovens in Doktor Faustus hinweist und an die Esmeralda-Episode erinnert,
wo Leverkühn ebenfalls einige Akkorde am Klavier spielt und dann rasch weg-
geht.138 Frau Schweigestill schließt die Szene wie im Roman, indem sie die Gäste
bittet, bei Manzoni allerdings nicht auf Bayrisch, den Raum zu verlassen.
Das Auffälligste an diesem Akt ist die intensive Erkundung der Realisierungs-
möglichkeiten des Wahnsinns im Medium der Oper, was durch unterschiedliche
Mittel realisiert wird: durch die Phonemisierung der Sprache, die Duette Adrians
mit sich selbst und den Stimmen, welche die Projektionen Adrians verkörpern
und somit die Zuhörer*innenschaft in einen weiteren Raum transportieren, näm-
lich in den Raum seiner Vorstellungen. Kraft der hier geschilderten Mittel wird
die Präsenz eines Teufels in der literarischen Vorlage in Frage gestellt, da eher die
Symptome einer geistigen Krankheit als die Konsequenzen eines Teufelspaktes
hervorgehoben werden.
138 Vgl.die Angabe „Arietta“ auf der Partitur (M-DF: 272, T. 562). Sorg interpretiert so:
„[S]o nimmt Manzoni die Abschieds- und Endthematik der letzten Klaviersonate Beetho-
vens zurück und demonstriert durch sie und mit ihr einen neuen Weg der modernen
Musik“. Sorg: Beziehungszauber, S. 228.
5.2 Vom Roman zur Musik 163
der Premiere gut skandiert, mit fester, gefühlloser Stimme: Der Einfluss des
epischen Theaters von Brecht, der sonst auch in anderen Werken des Kompo-
nisten eine Rolle spielt, wird hier wie an anderen Stellen der Oper, z. B. selbst
an der episodischen Dramaturgie und der ständigen Illusionsbrechung, sichtbar.
In einem Interview beschreibt Giacomo Manzoni die Wirkung des Brecht’schen
Theaters auf die Komponist*innen der Nachkriegszeit, besonders im italienischen
Raum:139
Das Bühnenbild, das in der ganzen Uraufführung relativ schmucklos ist, zeigt
wie im Roman einen Lindenbaum,140 der sich nicht lediglich als Symbol für den
Tod interpretieren lässt, sondern auch für das Leben bzw. die Hoffnung steht,
da im Libretto und im Roman zu lesen ist, dass er blüht:141 Inszeniert wird bei
der Uraufführung das von Zeitblom im Roman angesprochene religiöse Parado-
xon einer „Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit“ (DF: 711), der Möglichkeit
einer „Transzendenz der Verzweiflung“ (ebd.), was durch den religiösen Charak-
ter der Musik unterstützt wird. Die Christus-Metaphorik und ganz allgemein die
religiösen Motive des Romanendes werden durch die Präsenz von Elsbeth Lever-
kühn, Adrians Mutter, die gleich Maria am Kreuz um den Tod ihres Kindes weint,
verstärkt.142
139 „Brecht half uns dabei, uns von einer Konzeption des reichhaltigen, stabilen und
sentimentalen Theaters einer gewissen Tradition, von Strindberg bis Pirandello, zu verab-
schieden […]. Er überzeugte uns von der Idee einer engagierten Lehrkunst. […] Brechts
Werke, so unterschiedlich vom traditionellen Theater, an das wir gewöhnt waren, stellten
für uns ein reinigendes Bad in jedem Sinne dar.“ Pozzi: Musica nuova, S. 455.
140 Zum Motiv des Lindenbaumes bei Thomas Mann: Würffel, Stefan Bodo: Vom Linden-
baum zu Doktor Fausti Weheklag. Thomas Mann und die deutsche Krankheit zum Tode.
In: Vom „Zauberberg“ zum „Doktor Faustus“. Die Davoser Literaturtage 1998 (Thomas-
Mann-Studien Band 23, 2000). Hrsg. v. Thomas Sprecher. Frankfurt am Main: Vittorio
Klostermann 2000.
141 Siehe DF: 736: „Die Linde blühte, er saß darunter“.
142 In der Partitur findet man im Gegensatz zum Uraufführungslibretto die folgenden Zeilen
nicht: „Ma durante il viaggio verso il nord ci fu, senza motivo apparente, uno scoppio di
collera da parte del figlio contro la madre, un attacco di furore. Fu un incidente isolato.
Nulla di simile si ripeté più“ (Programmheft Teatro alla Scala: 15). „Während der Reise
aber, nach Norden ins Mitteldeutsche, […] kam es ohne erkennbaren Anlaß zu einem
164 5 Dr. Fausti Weheklag
Nicht nur Elsbeth Leverkühn verabschiedet sich von ihrem Sohn, sondern auch
viele Figuren, denen die Zuhörer*innen im Laufe der Oper begegnet sind, tun
es ihr gleich. In den Noten des Orchesters sind verschiedene Soli zu finden,
als ob sich die einzelnen Instrumente von dem Komponisten Leverkühn ver-
abschieden würden: u. a. auch die Geige, das Instrument Rudi Schwerdtfegers
(M-DF: 276), der in Manzonis Oper nicht vorkommt, aber vielleicht hier Erwäh-
nung findet. Die lange Begleitung der Bratschen betont, dass sich der Freund und
Viola d’amore-Spieler Serenus Zeitblom von Leverkühn verabschiedet (M-DF:
280 ff.); da weiters in der Musik ein Imitationsprozess bemerkt werden kann,
könnte die Passage auf die ersten Musikübungen Leverkühns und Zeitbloms mit
der Stallmagd Hanne Bezug nehmen (Abbildung 5.9):143
Am Anfang des Epilogs ist außerdem das Thema der letzten Klaviersonate
Beethovens zu finden, das in der Partitur dank des paratextuellen Hinweises „Ari-
etta“ leicht zu erkennen ist: Auch das Spätwerk Beethovens „verabschiedet sich“
daher von Leverkühn (M-DF: 274, T. 588 ff.). Die oben geschilderte Bewegung
der Bratschen bereitet Zeitbloms Bericht von Adrians Tod (M-DF: 285), der
Zornesausbruch des Sohnes gegen die Mutter, einem von niemandem erwarteten Wutanfall
[…]. Es war ein einmaliges Vorkommnis. Niemals hat Ähnliches sich wiederholt“ (DF:
735 f.). Das Motiv von Adrians Rebellion gegen die Mutter wurde nach der Premiere
aufgrund der Dauer der Komposition oder einer späteren Überlegung des Komponisten
ausgelassen.
143 Vgl. DF: 47.
5.2 Vom Roman zur Musik 165
visuell vom Erscheinen weiterer Figuren unterstützt wird, vor. Dann hört man
einen Frauenchor off-stage, der „arialior“ singt, eine Erinnerung an Esmeralda,
die gleich danach dasselbe Wort zu singen beginnt (M-DF: 286–289) und an das
weibliche Klagen und Trauern am Ende des Romans. Die Figur wird nicht als
„Esmeralda“, sondern als „verschleierte Frau“ bezeichnet: Wie im Roman bleibt
ihre Interpretation offen. Der Text ist erneut, wie auch in der vorher analysierten
Abschiedsrede, auf einzelne Vokale bzw. Konsonanten reduziert.144
In den letzten Takten sind nur das Schlagzeug, die Klarinette und die Frau
zu hören (M- DF: 291). Die Anweisung über der letzten Note, gesungen von
der verschleierten Frau, lautet: „lunghissima“, „estinguendosi“, „sehr lang“, „er-
löschend“: „Die Stimme ist es also, die über das Alte, Vergangene hinaus in eine
neu musikalische Zukunft weist“, kommentiert Sorg.145 Der Vorhang fällt „len-
tamente“ (ebd.), „langsam“ über der letzten Szene und unterstützt das extrem
langsame Tempo des Endes. Die Oper endet daher nicht wie im Roman mit Zeit-
bloms Gebet, sondern mit der immer leiseren Frauenstimme und ihrem Echo.
Trotz des anfänglichen Eindrucks, die Musik habe versagt und die Oper kehre aus
diesem Grund zur Rezitation zurück, taucht der Gesang erneut auf – wenn auch
wieder auf minimale Elemente reduziert – und überlässt die letzten Worte nicht
Zeitblom, sondern eben der Musik. Erwähnenswert ist im musikalischen Para-
text auch die Verwendung des Wortes „estinguendosi“, also „sich erlöschend“,
anstatt des üblicheren und logischeren „morendo“, „sterbend“, das auf das Licht
in der Nacht am Ende der Beschreibung der Weheklag verweist und Visuelles und
Klangliches miteinander vereint: Die Musik „stirbt“ nicht, sie „erlischt“ gleich
einer Kerze.
György Ránkis (1907–1992) Komposition ist ein weiteres Beispiel für die
Rezeption von Doktor Faustus außerhalb Deutschlands. In seinem Monodrama
nimmt der Roman trotz der Beibehaltung der deutschen Sprache eine leicht
volkstümliche, ungarische Konnotation an.146
die Verfasserin der vorliegenden Studie das unveröffentlichte Manuskript des Stückes
konsultieren, auf das sich die Analyse bezieht. Unter den Noten des Sängers steht
166 5 Dr. Fausti Weheklag
Das Stück trägt den Titel „Leverkühns Abschied (Monodrama). Nach dem
Roman: ,Doktor Faustus‘ von Thomas Mann (für Tenorstimme und Kammeren-
semble)“ und wurde im August 1979 fertiggestellt. Das Kammerensemble besteht
aus einer Flöte und einer Piccoloflöte, einem Englischhorn, einer Bassklarinette,
einer Harfe, dem Schlagzeug und einem Streichquintett; Leverkühn singt mit
Tenorstimme. Laut Partituranweisung soll das Stück zwischen zwölf und fünf-
zehn Minuten dauern. Bei der Aufnahme jedoch haben sich die Musiker*innen
für ein schnelleres Tempo entschieden, denn dort ist das Stück nur ca. elf Minuten
lang.147
Leverkühns Abschied besteht aus acht Episoden:
Intermedial betrachtet, ist auch Ránkis Monodrama ein Beispiel für ein partiel-
les intermediales Produkt, das sich nur der Abschiedsrede Leverkühns widmet.
Auch handelt es sich bei dem Stück erneut um eine Medienkombination, die
nicht nur aus den Medien Text und Musik besteht, sondern auch aus dem Medium
der Inszenierung: Die Bezeichnung ,Monodrama‘ macht deutlich, dass das Stück
kein Lied für Stimme und Instrumente, sondern eben ein kurzes aus Monologen
einer einzigen Figur bestehendes Drama ist, das als solches einer Inszenierung
auch eine ungarische Übersetzung, sodass einer Aufführung auf Ungarisch nichts
entgegensteht. Zum Komponisten, der Schüler von Kodály war: Breuer, János: Hun-
garian Composers Today: Some Senior Composers. In: Tempo 88 (1969), S. 33–38;
Wilheim, András F.: Ránki, György. In: Grove Music Online. Zuerst veröffentlicht
20.01.2001, online veröffentlicht 2001. <https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.art
icle.22888> (letzter Zugriff: 21.08.2020); Pethő, Csilla: Art. Ránki György. In: MGG
Online. Zuerst veröffentlicht 2005, online veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-online.
com/mgg/stable/27410> (letzter Zugriff: 21.08.2020); Dies.: Ránki György. Budapest:
Mágus 2002.
147 Ránki, György: Leverkühns Abschied. In: Songs by Contemporary Hungarian Compo-
bedarf.148 Des Weiteren lässt sich Ránkis Leverkühns Abschied der Form der offe-
nen Intermedialität zuordnen, da es, auch wenn das Monodrama nicht tatsächlich
inszeniert wird, immerhin Text und Musik enthält. Der paratextuelle Hinweis des
Titels erlaubt sofort eine Zuordnung zu den intermedialen Transpositionen von
Doktor Faustus.
Der Text, der verschiedene Stellen aus dem Ende des Romans Doktor Faus-
tus kombiniert149 und manchmal auch leicht verändert, präsentiert Leverkühn
als absoluten Protagonisten: Leverkühn kann bei Ránki mit einer autodiegeti-
schen Erzählinstanz, die mit den Musikinstrumenten kommuniziert, verglichen
werden. Die Abschiedsrede, die schon im Roman „im Zeichen einer doppelten
Abwesenheit“150 steht, d. h. der Kantate und der Verbindung Schöpfer – Werk,
steht hier im Zeichen einer dreifachen Abwesenheit, denn auch die Gäste – sonst
würde sich das Werk ja nicht als Monodrama bezeichnen lassen – kommen in der
Komposition Ránkis nicht vor.
Die erste Episode, mit „[t]empo molto sostenuto e rubato“, „sehr gehalte-
nes Tempo mit Rubato“ zu spielen, handelt vom ersten Teil der Abschiedsrede
Leverkühns. Der Text lautet:
Fromme Brüder und Schwestern, ihr wollet mein Fürtragen annehmen. Ich, Adrian
Leverkühn, deutscher Tonsetzer, bin längst verheiratet mit dem Satan. Was ich vor
mich gebracht, ist Teufelswerk. Ja, Teufelslied.151
Im 47. Kapitel ist das Adjektiv „fromm“ nicht zu finden: In Thomas Manns
Roman wird das lauere „lieb[]“ (DF: 721) oder „günstig[]“ (DF: 723) ver-
wendet, bei Ránki hingegen die religiös konnotierte Binäropposition zwischen
dem verdammten Leverkühn und seinem frommen Publikum gleich zu Beginn
der Abschiedsrede markiert. Die emphatische Betonung „Ja, Teufelslied“ findet
sich in Doktor Faustus ebenfalls nicht. Ránkis Komposition hingegen schreibt
Leverkühns fiktiver Kantate sofort Dämonisches zu.
Integriert werden Hommagen an die Zwölftontechnik und ihrer Behandlung
des Materials (z. B. gleich am Anfang, T. 1–4) sowie an Prokofjew oder Scho-
stakowitsch. Das Kammerensemble unterstützt insgesamt Leverkühns Narration,
148 Vgl. Mc Lucas, Anne Dhu: Monodrama. In: Grove Music Online. Zuerst veröffent-
licht 20.01.2001, online veröffentlicht 2001. <https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.
article.18976> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
149 Siehe DF: S. 717–729.
150 Corbineau-Hoffmann: Umkehrungen, S. 239.
151 Vgl. DF: 719 f.
168 5 Dr. Fausti Weheklag
Es war nur ein Schmetterling. Hetaera Esmeralda. Die hatte es mir angetan, durch
Berührung. Sie gab mir Gift in der Liebe, da war ich eingeweiht.153
Die weibliche Figur, Esmeralda, wird musikalisch durch den Harfen- und Flö-
tenklang realisiert: Ein Dialog beider Instrumente eröffnet die Episode. Das
Streichquintett soll ebenfalls „flautato“ spielen und auf diese Weise den Klang
der Flöte imitieren; zusammen mit den Mordenten wird hier das Fliegen eines
Schmetterlings in der Musik simuliert (Abbildung 5.10):
Der chromatische Verlauf der ersten Violinstimme samt den vielen Mordenten
könnte ab D auf die Konsequenz der intimen Beziehung mit Esmeralda hinweisen,
die Syphilis, die später auch im Text des Sängers angesprochen wird („Die hatte
es mir angetan“). Dieses Motiv stört den „lieblichen und kapriziösen“ Verlauf der
Flöte und lenkt trotz der Pianissimo-Dynamik die Aufmerksamkeit auf sich: Da
die anderen Instrumente zupfen, lässt es sich nicht überhören. Abgesehen davon,
dass in der Musik von der Ansteckung erzählt wird, stellt dies sicherlich ein
den allgemeinen Musikverlauf störendes Element dar. Zwei Takte später singt
Leverkühn „mezza voce“, als ob er ein Geheimnis erzählen würde: „Es war ein
Schmetterling…“ (T. 41) (Abbildung 5.11):154
Die dritte Episode erweist sich als sehr unterschiedlich zur zweiten, da die
Anweisung „[a]gitato, misterioso“ lautet (T. 56), also „bewegt und geheim-
nisvoll“. Die geheimnisvolle Atmosphäre wird durch das tiefe Register der
Bassklarinette erzeugt; die Tenorstimme singt erregt und betont einige Worte, die
in der Partitur großgeschrieben sind:
Was zum Teufel will, das lässt sich NICHT aufhalten. Und JENER hat mir Zeit
verkauft für meine Seele. Doch es wurde ausgemacht, dass ich NICHT lieben darf,
und das END ist SEIN.155
Hier werden also das Liebesverbot und Leverkühns Ohnmacht angesichts seiner
verzweifelten Lage thematisiert. Dank des Rallentando und der Stille des Streich-
quintetts wird das Wort „End“ wiederholt deutlich betont, was eine Parallele zu
155 Herv.
i. O. (hier und im Folgenden). Vgl. DF: 723. Eine weitere Entlehnung Thomas
Manns aus dem Volksbuch. Vgl. Historia: S. 7.
170 5 Dr. Fausti Weheklag
Abbildung 5.11 Die Thematisierung der Ansteckung in der zweiten Episode (T. 39 ff.)
Manzonis Realisierung des Wortes „Aufenthalt“ ist.156 Das Motiv der Verabschie-
dung Leverkühns von der Welt bzw. des sich nähernden Endes, das bei Ránki
bereits im Titel enthalten ist, nimmt in beiden intermedialen Transpositionen eine
wichtige Stellung ein (Abbildung 5.12):
Die vierte Episode handelt von der geistigen und physischen Krankheit
Leverkühns, die wie ein Delirium präsentiert wird:
Ach, Spirochaetae Pallidae! Ihr geisselt den müden Geist. Ach, cerebrale Illumina-
tion! Teufels Zauber und höllisch Fieber! Ach, helfet dem Künstler, der der Zukunft
den Marsch schlagen will. Tramda, tram[daratta]!157
Ach, eitler Wahn, bitt’re Schmerzen, ach!158
Diese Episode, in der das Klagen deutlich zum Tragen kommt, ist als „Largo
espressivo (quasi una preghiera)“ (T. 69), als „expressives Largo, fast wie ein
156 Vgl.5.2.1.3.
157 Die in Klammern geschriebenen Buchstaben existieren in der Partitur und in der
Aufnahme, sind aber im „Libretto“ des Manuskripts nicht zu finden.
158 Im Fall dieser Textpassage hat der Komponist unterschiedliche Textstellen aus dem
Roman mit einigen von ihm erfundenen Worten kombiniert, sodass man auf keine genaue
Seite von Doktor Faustus verweisen kann.
5.2 Vom Roman zur Musik 171
Gebet“, bezeichnet. Durch die Tempoanweisung wird vermittelt, was die Musik
bestätigt: Diese Ausdrucksexplosion von Klage nähert sich einem Klagen reli-
giöser Art, das statisch (siehe die Tempoangabe ,Largo‘) wirken soll. Auch
Zeitblom beschreibt Leverkühns Weheklag als „recht eigentlich undynamisch, ent-
wicklungslos, ohne Drama“ (DF: 705). Rhetorisch betrachtet, beinhaltet der Text
eine Fülle von exclamationes und invocationes, wie z. B. „Ach, cerebrale Illu-
mination!“. Die Partikel der Klage, ,ach‘, fehlt hier ebenfalls nicht. Leverkühn
bittet den Teufel um Hilfe, um geniale Werke für die künftigen Generationen
zu schreiben: Das Scheitern seines Projekts wird aber hervorgehoben, indem das
172 5 Dr. Fausti Weheklag
musikalische Tempo dem Textinhalt entgegensetzt ist, folglich kann der dort ange-
sprochene Künstler, „der den Marsch schlagen will“, nur einen langsamen Marsch
schlagen. Auffällig ist zudem, dass die restlichen Instrumente diesen Marsch sehr
schwach unterstützen, was eine Ausnahme im Monodrama darstellt, denn sonst
passt sich die Musik dem Inhalt des Textes an (Abbildung 5.13):
Die Worte „tramda, tramdaratta“ am Ende des Stückes wiederholen nicht nur
das Motiv der Musik für künftige Generationen und unterstützen nicht nur sprach-
lich den Marsch-Rhythmus, sondern drücken auch das Motiv der Sprachkrise, das
auch bei Manzoni eine zentrale Rolle spielt, aus.
Die fünfte Episode handelt von Echos Tod durch den Teufel:
Eine kleine Seejungfrau, die war meine Schwester und Süsse Braut. Sie hat mir ein
Söhnchen gerehlt, ein holdselig heilig Knäbchen. Doch ER – bracht es um – ohn
Erbarmen.159
immer erkennbar.160 Darüber hinaus lässt sich an der Erwähnung der kleinen
Seejungfrau konstatieren, dass das Motiv des Inzests auch in Ránkis Monodrama
trotz der im Vergleich zur Vorlage starken Textreduktion auftaucht.161 Das Kam-
merensemble unterstützt hier, wie sonst im Monodrama, Leverkühns Narration
durch die Dynamik.
Die darauf folgende Episode, die „agitato e[d] excitato“ [sic], „mit Aufre-
gung“ zu spielen ist, handelt vom Liebesverbot des Teufels sowie von der Zeit,
die Leverkühn bis zum Ende des Teufelspaktes übrig bleibt:
Hatt ich einst gedacht, dass ich auch lieben darf, in Blut und Fleisch, was NICHT
weiblich war. Doch DEN – musste ICH töten. – Ach, meine Sünde ist grösser,
denn dass sie mir könnte verzeihen [sic] werden. Ach, die Zeit ist ausgelaufen, ich
bin verdammt.162
Gerade beim Singen des letzten Satzes, in dem der Klagelaut ,ach‘ wieder auf-
taucht, wird auch passend hierzu die Musik statisch und der Klagelaut selbst
erneut gedehnt (T. 107 f.), zudem lautet die Anweisung für die Tenorstimme
„lamentando“ (T. 104), also „klagend“: Alle diese musikalischen Elemente ver-
weisen auf Leverkühns Weheklag, auch der Schluss selbst im Pianissimo, wie das
g des Cello am Ende der fiktiven Kantate. Im Text wird außerdem angedeutet,
dass Leverkühn nicht nur Figuren weiblichen Geschlechts geliebt hat, was sich in
diesem Fall auf den Neffen bezieht, für dessen Tod er sich verantwortlich erklärt.
Die Anweisung für die siebte Episode lautet „[r]ubato, molto espressivo“,
„mit Rubato, sehr expressiv“ und ihre ersten acht Takte sind rein instrumental
(T. 111–118): Am Anfang spielt das Englischhorn gemeinsam mit dem Streich-
quintett, danach hört man auch Flöte, Bassklarinette, Pauke und später, wenn die
Tenorstimme zu singen beginnt, auch die Harfe.163 Der Text lautet:
Nun höret mein Abschiedslied, wie ich es der SATANS Geige abgehört: „ACH,
FAUSTE, DU VERWEGENES UND NICHTWERDENDES HERZ… ACH…-
VERNUNFT UND VERMESSENHEIT, ACH…FREIER WILL, ACH…“164
Das Dämonische wird mithilfe des ,teuflischen‘ Instruments par excellence ins
Zentrum gestellt: Die virtuose, fast komplett auf der G-Saite und in höheren Lagen
Passage der Violine unterstützt den Text. Der Klagelaut tritt zudem wiederholt
auf und stört Leverkühns Erzählen; im Text wird die Sprachkrise Leverkühns
nochmals deutlich.
Die letzte Episode handelt vom gescheiterten Versuch Leverkühns, seine
Komposition aufzuführen. Vor dem letzten Klagelaut sind nochmals die Worte
„[t]ramda, tramdaratta“ zu hören, die Leverkühns Sprachkrise und Kommunika-
tionsunfähigkeit unterstreichen.165 Die Episode beginnt mit derselben Art von
instrumentaler Begleitung, die den Anfang der ersten Episode bestimmt (T. 132–
135): Das Stück besitzt also eine Kreisstruktur. Die Worte des Sängers „tramda,
tramdaratta“ sind in Crescendo und weisen einen Marsch-Rhythmus auf, der vom
Schlagzeug unterstrichen wird (ab M). Dies erzeugt eine große Spannung. Das
nochmals gedehnte Wort „Ach“ wird nur vom Schlagzeug begleitet (N): Die
Dynamik geht vom Piano zu einem plötzlichen Fortissimo und dann „morendo“,
„sterbend“ zu einem plötzlichen Pianissimo. Das Kammerensemble antwortet auf
die letzten Noten der Tenorstimme mit einem Echo im Fortissimo samt Akzenten
und schließt auf diese Weise das Stück: Auch bei Ránki hat wie beim Vorlesen
des letzten Teils der Beschreibung der Weheklag das Echo des Klagens das letzte
Wort.
Ránkis Monodrama verdeutlich noch einmal, was auch in den vorigen Kapi-
teln der vorliegenden Studie konstatiert wurde, nämlich, dass sich trotz sehr
unterschiedlicher Musikstile der behandelten Komponist*innen bisweilen Kon-
tinuitäten feststellen lassen, z. B. in der Art und Weise, wie bestimmte Motive im
Medium der Musik (teil-)reproduziert und wie bestimmte Passagen des Romans
interpretiert werden: Auch hier stehen das Klagen, das quasi religiöser Natur
ist, wie die Tempoangabe der vierten Episode ausdrückt, und die Sprachkrise
im Vordergrund. Was aber das Monodrama verstärkt, ist die Zuordnung der Vor-
lage zur Faust-Tradition: In Ránkis Text ist so oft die Rede vom Teufel, dass sich
diese Zuordnung, die doch im Roman immer noch Anlass für Diskussionen bietet,
kaum in Frage stellen lässt. Es handelt sich sogar um einen musikalischen Teu-
fel, der die Geige spielt. Die Inkongruenzen des Erzählers lassen sich bei Ránki
165 Nichtnur die Musik Leverkühns ist unfähig zur Kommunikation, sondern auch Lever-
kühn in der Abschiedsrede selbst: Die Gäste verstehen zum großen Teil nicht, was er sagt,
und reagieren darauf auf unterschiedliche Art und Weise. Einige, wie etwa der Dichter
Daniel Zur Höhe, denken, dass alles schon Teil des Stückes als theatralischer Teil vor
dem Einsatz der Musik sei, einige verlassen den Raum und werfen Leverkühn vor, den
Verstand verloren zu haben und lediglich wenige nehmen seine Worte ernst und bleiben
bis zum Ende. Vgl. DF: 720 ff. u. 725 f.
5.2 Vom Roman zur Musik 175
durch die Erhebung Leverkühns zum absoluten Protagonisten und zur alleinigen,
autodiegetischen Instanz überwinden.
166 Vgl.1.1.5.
167 Zum Komponisten: Wißmann, F.: Art. Ruzicka, Peter. In: MGG Online. Zuerst
veröffentlicht 2005, online veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-online.com/mgg/stable/
26400> (letzter Zugriff: 21.08.2020). Ruzicka hat sich zeit seines Lebens nicht nur mit
dem Komponieren, sondern auch mit dem Klavier, der Oboe, dem Tonsatz und der
Musiktheorie, der Rechtswissenschaft, der Betriebswirtschaft und der Theater- und Musik-
wissenschaft auseinandergesetzt. Im Jahr 1977 wurde er an der Freien Universität Berlin
in Rechts- und Musikwissenschaft mit einer interdisziplinären Arbeit über das „ewige
Urheberpersönlichkeitsrecht“ promoviert. Siehe Ruzicka: Die Problematik eines „ewigen
Urheberpersönlichkeitsrechts“ unter besonderer Berücksichtigung des Schutzes musikali-
scher Werke. Berlin: Schweitzer 1979. Vgl. auch Traber, Habakuk: Nach-Zeichnung. Peter
Ruzicka. Eine Werkmonographie. Hofheim: Wolke 2013 u. Peter Ruzicka. Komponist –
Dirigent – Intendant: Vita. In: <https://www.peter-ruzicka.de/de/vita.html> (letzter Zugriff:
21.08.2020). Zur Partitur: Ruzicka, Peter: „…ZURÜCKNEHMEN…Erinnerung für großes
Orchester“. Hamburg: Sikorski 2009.
176 5 Dr. Fausti Weheklag
auch nicht von Medienkombination sprechen, weil das einzige materiell prä-
sente Medium die Musik ist. Auch die Definition ,offene Intermedialität‘ wäre
problematisch, da die intermedialen Bezüge keineswegs im musikalischen Text
selbst offen deklariert werden und es sich um eine rein instrumentale Kom-
position handelt. Das im Titel der Komposition erwähnte Zurücknehmen ist
kein eindeutiger Verweis auf Leverkühns Zurücknahme der Neunten Sympho-
nie und dementsprechend auf das Medium der fiktionalen Schrift.168 Ruzickas
…ZURÜCKNEHMEN… ist eher ein in dieser Studie selten vorkommendes Bei-
spiel für verdeckte Intermedialität: Die Präsenz eines einzigen Mediums, nämlich
der Musik, die sich zudem durch ausgeprägte Selbstreferentialität auszeichnet,
erschwert die Nachweisbarkeit intermedialer Bezüge.169
Wie geht denn die folgende Analyse vor? Erstes Mittel dafür können Quel-
len außerhalb der Partitur und der Aufnahme sein, die jedoch bekanntlich alleine
keine ausreichende Aussagekraft besitzen. In der Beschreibung des Werkes im
Booklet der CD schreibt Becker, dass der Titel von Ruzickas Komposition „auf
d a s Skandalon in Thomas Manns Roman Doktor Faustus“170 verweist. Er ver-
steht darunter Leverkühns Absicht, die Neunte Symphonie zurückzunehmen. Das
stelle aber nicht die einzige Erinnerung dar, so Becker, auf die sich der Titel
beziehe: Es sei eine dreifache, und zwar an Manns Doktor Faustus, an Beetho-
vens Neunte Symphonie und an Ruzickas eigenes Schaffen.171 Folglich ließen
sich in der Komposition sowohl intra- als auch intermediale Bezüge indizieren.
Beckers These, die sich u. a. auch auf die Intention des Autors stützt, ist – einer
größeren Aussagekraft wegen – mit einer Analyse des Stückes auf der Suche nach
Kontinuitäten mit Thomas Manns Roman auf den Prüfstand zu stellen.
Zunächst gilt es anhand der Partitur herauszuarbeiten, ob sich intramediale
Bezüge auf Beethovens Spätwerk finden lassen, die somit das im Titel erwähnte
Zurücknehmen in Verbindung mit Leverkühns Zurücknahme von Beethovens
Neunter Symphonie bringen könnten. Die Beispiele dafür sind zahlreich und wer-
den auch anhand einiger publizierter Analysen des Werkes hervorgehoben. Erstens
168 Obwohl der Titel selbst kraft der Anführungszeichen typografisch wie ein Zitat aussieht;
die Auslassungszeichen scheinen des Weiteren auf fehlende Teile des Zitats hinzuwei-
sen, die ausgefüllt werden müssen, und machen die später im vorliegenden Abschnitt
angesprochene Tendenz zum Fragmentarischen im Werk Ruzickas und speziell in dieser
Komposition deutlich.
169 Vgl. 1.1.6.
170 Becker, Peter: „…ein Sehnen über die Dinge der Welt hinaus“. In: Ruzicka: Ein-
schreibung. Bühl/Baden: Thorofon (Bella Musica Edition) 2012 (CD), S. 2–7, hier: S. 5,
Herv. i. O. (im Folgenden als Booklet.)
171 Ebd., S. 6.
5.2 Vom Roman zur Musik 177
Das musikalische Material speist sich zunächst auch aus früheren Kompositionen
Ruzickas, die wie Erinnerungen an Vorgedachtes, auch Verworfenes der neuen
Partitur eingeschrieben sind: In diese wie aus tektonischen Verschiebungen und
kosmischen Stürzen fräst sich immer wieder der hochgespannte Eröffnungsakkord
ein, der die Gegenwart Beethovens ebenso beschwört wie die Signale der Klei-
nen Trommel („Alla Marcia!“) oder die auf den Ton d (die Tonart der Neunten)
fokussierten Repetitionsfelder der Streicher und Bläser.
Wie bei Manzoni werden also Elemente aus Beethovens Werk in das eigene
musikalische Material integriert:175 Im Gegensatz zur Oper geht es aber bei
Ruzicka weniger um eine Fusion oder eine Vermischung der Bezüge auf Beetho-
vens Neunte mit dem eigenen musikalischen Material, sondern eher um eine
Markierung und eine Nebeneinanderstellung. Trabert betont, dass der letzte von
Becker erwähnte Punkt, nämlich das Drängen auf die Tonart der Neunten (d-Moll)
sowohl als Hommage an Beethovens Symphonie als auch an andere zwei Neunte
Symphonien interpretiert werden kann, und zwar an die Bruckners, ebenfalls in d-
Moll, und die Mahlers, in D-Dur/Des-Dur.176 So erweitere Ruzicka das „Arsenal
der Erinnerung“177 und der Zurücknahme von Doktor Faustus.
Da aber die Bezüge auf Beethoven sich nicht zwangsläufig auf Thomas Manns
Roman zurückführen lassen, muss in einem nächsten Schritt nach weiteren Indi-
zien für Bezugnahmen auf Doktor Faustus gesucht werden. Aus diesem Grund sei
durch paratextuelle Hinweise markiert, siehe etwa die Angabe „Arietta“. Vgl. 5.2.1.5.
176 Siehe Franklin, Peter: Mahler, Gustav. In: Grove Music Online. Zuerst veröffentlicht
Der zweite, heftige Teil von „…ZURÜCKNEHMEN…“ mit dem Auf und Ab sei-
ner Sturz- und Schwungfiguren, dem Orchestersatz, der wie ein vielfältiges Echo
auf virtuos-attackierende Paukensoli wirkt, mit seinen cholerischen Crescendi und
dem Energiestau, der durch die metrische Polyphonie unterschiedlich schneller,
marschartiger Repetitionsmuster entsteht, trägt Züge jenes „Höllengalopps“ und
„Schreckenstanzes“, den Thomas Mann in seinem Roman beschwor.
Gerade die Anweisung „feroce“ erinnert an die „wilde Idee des Niedergeholt-
werdens als Tanz-Furioso“ (DF: 708) und gleichzeitig auch an manche Stellen
aus der Apocalipsis cum figuris, z. B. die des „Tutti-Fortissimo grauenhaft
anschwellenden, überbordenden, sardonischen Gaudium Gehennas“ (DF: 548).179
Der dritte Teil von Ruzickas Komposition weist eine erlöschende Dynamik
auf, die also allmählich leiser wird, und kehrt zum selben Klangverlauf des ersten
Teils zurück. Hier mag man an Zeitbloms Schilderung des Schlusses von Lever-
kühns Weheklag denken: „[E]in symphonischer Adagiosatz, in welchen der nach
dem Höllengalopp mächtig einsetzende Klage-Chor allmählich übergeht“ (DF:
709).180 Im Gegensatz zur Weheklag gibt es in Ruzickas Werk einige Soli. Zudem
findet Traber eine Korrespondenz zu Zeitbloms Beschreibung der „Hauptstimme,
die oft in langen melodischen Bögen verläuft“ (DF: 708) im Flötenmelos im ers-
ten und dritten Teil sowie im Duo der Violine solo mit den Bassinstrumenten
im zweiten Teil.181 Im Stück lässt sich tatsächlich in allen Teilen eine ähnliche
keinen Chor.
181 Siehe Traber: Nach-Zeichnung, S. 236.
5.2 Vom Roman zur Musik 179
Melodie auffinden: ein selbständiges, singbares Element, das nicht immer gleich
auftaucht, aber einer ähnlichen kompositorischen Konzeption zugeordnet werden
kann. Diese Melodie wirkt wie eine Erinnerung, die an einigen Stellen unbe-
stimmter und vager ist, an anderen deutlicher, dennoch immer erkennbar bleibt.
Der Quintklang a-d der Celesta, der das Stück schließt, ist außerdem als Anspie-
lung sowohl auf Beethovens letzte Symphonie aufzufassen – als „Eingangstor
zur Neunten Symphonie“182 – als auch auf den Roman, denn das Instrument
ist dort Teil der Besetzung. Eine erwähnenswerte Differenz zu Leverkühns Kan-
tate stellt aber das wiederholt auftretende Verstummen dar: Leverkühns Werk
zeichnet sich durch seine Gebundenheit aus, nur der Schluss kommt zum Ver-
stummen. Eine echte Differenz ist das aber – genauer betrachtet – nicht: Wißmann
erläutert in Bezug auf das ganze Schaffen des Komponisten, dass das Verstum-
men bei Ruzicka keine leere Zeit darstelle, sondern als Teil der Komposition
aufzufassen sei.183 Dies erzeuge eine bewusste Tendenz zum Fragmentarischen,
ohne dabei Klarheit und Sprachkraft zu verhindern.184 Vielleicht gelingt Ruzickas
„…ZURÜCKNEHMEN…“ durch jenes kohäsive Fragmentarische eine größere
Ausdrucksfähigkeit und daher durch den Medienwechsel eine Ergänzung der
Vorlage.
In einem dritten Schritt der Analyse wird auf konzeptuelle Ähnlichkeiten
zwischen den letzten Kapiteln von Doktor Faustus und Peter Ruzickas Werk,
ausgehend vom paratextuellen Hinweis des Titels, eingegangen. Die Bezeichnung
der Form eines musikalischen Stückes als Erinnerung ist in der Musikgeschichte
kaum zu finden und weist auf die Darstellung der Zeit im Werk als Zeit des
Erinnerns und Nachdenkens, die man durch den ständigen Wechsel zwischen
Klangflächen und Verstummen wahrnimmt, hin. Zugleich bezieht sich diese Defi-
nition auf die drei Erinnerungsschichten von „…ZURÜCKNEHMEN…“, und
zwar auf Beethovens Neunte, Doktor Faustus und Ruzickas eigenes Schaffen.
Außerdem tauchen zwei zentrale und auf den ersten Blick gegensätzliche Kon-
zepte im Titel auf: Der Akt des Zurücknehmens lässt sich als Amnestie begreifen.
Aleida Assmann, die sich in ihrer Forschung intensiv mit der Erinnerungskultur
auseinandergesetzt hat, definiert die Amnestie als „willentliches Vergessen, eine
Form der Selbstlegung und Diskursbegrenzung, die bestimmte Sachverhalte aus
der gesellschaftlichen Zirkulation verbannt“.185 Diesem setzt sich aber die Erin-
nerung entgegen: Die Klangflächen ihrerseits könnten daher für eine Zeit des
Erinnerns und das Verstummen für eine Zeit des Vergessens stehen. Daraus ergibt
sich ein „Kampf der Erinnerungen“:186 Assmann versteht darunter mit Bezug
auf Shakespeares Dramen eine spannungsreiche Art des Erinnerns, in der die
beiden Pole (das Vergessen und das Erinnern) neutral in einem ausgewogenen
Dominanzverhältnis nebeneinanderstehen. Ruzickas Komposition verfolgt durch
die im Titel explizit deklarierte Absicht des Erinnerns einen quasi historiogra-
phischen Zweck im Medium der Musik.187 Denn das Verstummen kann nicht
nur für das Vergessen stehen: In der ganzen Komposition bildet sich der Prozess
des Erinnerns ab; Assmann weist darauf hin, die Erinnerung sei „alles andere als
eine einheitliche Kraft“188 und gehöre „zum Unzuverlässigsten, was ein Mensch
besitzt“.189 Außerdem macht sie darauf aufmerksam, dass in Erinnerungen „als
Motor des Handelns und der Selbstdeutung“190 ein großes Potenzial liege: „Wir
definieren uns durch das“,191 so Assmann, „was wir gemeinsam erinnern und
vergessen“.192 Auch Leverkühn erinnert sich im Roman an die Neunte Sympho-
nie und nimmt sie gleichzeitig, insbesondere durch die Weheklag, zurück: Die
Erinnerung an jene „Variationen des Jubels“ (DF: 705) stellt im Roman die Vor-
aussetzung für das Handeln in Form des Zurücknehmens und Anwendens der
Zwölftontechnik dar. Jenem Akt des Zurücknehmens wohnt sowohl Vergessen als
auch Erinnerung inne, er dient dem Durchbruch Leverkühns und führt zum epi-
phanischen Moment. Die Weheklag trägt gleichzeitig kraft ihrer Umkehrung der
Variationen des Jubels in Variationen der Trauer zum Vergessen und Erinnern der
Neunten Symphonie bei.
Es ist vor allem dieses, der fiktiven Kantate innewohnende Spannungsver-
hältnis zwischen Erinnern und Zurücknehmen bzw. Vergessen, das Ruzickas
Komposition aus dem literarischen Medium in das musikalische transferiert und
so mit weiteren Elementen des Werkes kombiniert, wobei sich daraus eine Form
von verdeckter Intermedialität ergibt. Da in den letzten Kapiteln des Romans
185 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächt-
nisses. München: Beck 1999, S. 71.
186 Ebd., S. 70.
187 Siehe auch ebd., S. 75.
188 Ebd., S. 82.
189 Ebd., S. 64.
190 Ebd., S. 83.
191 Ebd., S. 62.
192 Ebd.
5.2 Vom Roman zur Musik 181
das Thema der Sterilität der Kunst, u. a. auch kraft der vielen intramedialen
Bezüge auf Adorno, in den Vordergrund gerückt wird, liefert Ruzickas Werk
auch eine Lösung, die zugleich alle drei von Heimann in Anlehnung an Adorno
präsentierten Kategorien (Verstummen, Verbleiben im Konventionellen und revo-
lutionäre Lösung) unter dem übergeordneten Begriff der Erinnerung subsumiert.
Als Motor des Handelns und der Selbstdeutung erlaubt die memoria nicht nur
das Zurückschauen, sondern auch das Suchen nach Alternativen und Lösungswe-
gen. In allen in diesem Kapitel behandelten Kompositionen scheint beispielsweise
der Lösungsweg nicht wie im Roman über die Zurücknahme der Neunten Sym-
phonie zu führen. Vielmehr unterstreichen sie die Unmöglichkeit dieses Aktes,
nicht zuletzt wegen des Platzes, der die Symphonie im kulturellen Gedächtnis
hat, und integrieren Beethovens Werk in das musikalische Material. Um diesbe-
züglich aber keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, soll zunächst einmal das letzte
Musikwerk dieses Kapitels näher betrachtet werden, das erneut eine intermediale
Transposition ist.
The Lamentation of Dr. Faustus ist das letzte Stück in Searles Kantate. Vor
dem Beginn der Musik erwähnt der Moderator die Merkmale von Leverkühns
Komposition, darunter die Anwendung der Zwölftontechnik: Im Gegensatz zum
Roman, wie bereits in 4.2.3 hervorgehoben, wendet Searle diese Kompositions-
technik bereits in seiner Apocalypsis cum figuris an. Der Komponist kennt sich
damit sehr gut aus, da schon seine ersten Kompositionen laut Lockspeiser eine
„mastery […] of the twelve-note system“193 beweisen. Der Einfluss von Searles
Kompositionslehrer, Anton Webern, taucht nicht selten in seinem Werk auf. So
Lockspeiser:194
[He] acquir[ed] from him [Webern] that power of acute musical analysis combined
with an almost excessively sensitive feeling for the musical phrase which was the
direct legacy of Schoenberg.
193 Lockspeiser,Edward: Humphrey Searle. In: The Musical Times 96 (1955) H. 1351,
S. 468–472, hier: S. 468.
194 Ebd.
5.2 Vom Roman zur Musik 183
The Lamentation of Dr. Faustus ist eine dreiteilige Komposition.195 Der erste
vom Autor als „Faust’s lamentation“196 bezeichnete Teil stützt sich auf das End-
gespräch Fausts aus Christopher Marlowes Theaterstück The Tragicall History
of the Life and Death of Doctor Faustus.197 Vor dem Einsatz des Sängers, der
mit einer Baritonstimme singt, gibt es eine orchestrale Einleitung. Das Register
des Orchesters ist tiefer, wenn die Stimme zu singen beginnt. Der zweite Teil
ist ein chorales Scherzo, „showing the carrying off of Faust to hell as a dance-
furioso“,198 schreibt Searle. Hier wird folglich in der Medienkombination das
realisiert, was Serenus Zeitblom als „gräßliche[s] […] zynische[s] chorische[s]
Scherzo“ beschreibt,
worin „der böse Geist dem betrübten Fausto mit seltsamen spöttischen Scherzreden
und Sprichwörtern zusetzt“, – mit diesem fürchterlichen „Drumb schweig, leid,
meyd und vertrag, dein Unglück keinem Menschen klag, es ist zu spat, an Gott
verzag, dein Unglück läuft herein all Tag“. (DF: 708)
Der scherzhafte, parodistische Charakter dieses Teiles wird durch die Einführung
eines „dance poem in the form of a jig“,199 das den Titel „Devil’s Jig“ trägt und
auf einem Text von Nye sowie auf der Gigue-Form basiert, stark hervorgeho-
ben.200 Fausts Höllenfahrt wird von einem Chor begleitet, der die letzten Zeilen
von Marlowes Theaterstück spielerisch und humorvoll singt.201 Außerdem kann
man Höllengelächter hören, durch das die Verwandtschaft mit der Apocalipsis
sendung. Nach Ziolkowskis Auffassung könne das der Grund sein, warum die Kantate
nicht sofort als Doktor Faustus-Vertonung erkannt werden kann und warum sie von der
Faustus-Forschung kaum rezipiert wurde. Er unterstreicht jedoch, dass Searle in seiner
Autobiographie die „Faustus Cantata“ erwähnt und sich so auf seine eigene Komposition
bezieht. Ziolkowski: Leverkühn’s Compositions, S. 844. Dieser letzte Titel verstärkt den
Bezug auf Thomas Manns Roman, da im Titel auf die musikalische Form von Leverkühns
letzter Komposition angespielt wird.
201 Siehe Marlowe: Dr Faustus, S. 68. Vgl. auch Ziolkowski: Leverkühn’s Compositions,
S. 844. Auch bei Marlowe sind diese Worte dem Chor anvertraut.
184 5 Dr. Fausti Weheklag
cum figuris des Romans sowie mit der Apocalypsis cum figuris der Radiosendung
verdeutlicht wird.
Der dritte Teil beginnt nach dem a cappella-Einsatz mit der Fortissimo-
Dynamik des Chores, der Marlowes Worte „Cut is the branch that might have
grown full straight“202 singt. Vom Komponisten wird dieser Moment als „purely
orchestral Adagio, ,the extreme lament‘“203 geschildert. Die Instrumente, denen
im Gegensatz zu Doktor Faustus Soli gegeben werden und die beim Hören am
meisten auffallen, sind zunächst das Violoncello und alle Streicher, dann die
Klarinette, danach die Violine und letztendlich der tiefe Klang der Celli und
Kontrabässe. Anders als im Roman wird das Stück nicht mit dem Cello beendet.
Beim Nachdenken über die Struktur seiner Lamentation sagt Searle:204
I suddenly realised that the three sections of this piece corresponded in some ways
to the first three movements of the Choral Symphony, so I prefaced each of the first
two sections with quotations from the first two movements of the symphony, but
substituting the Esmeralda phrase for Beethoven’s themes. That may not be what
Thomas Mann had in mind but it seemed to work quite well.
Einige Elemente von Searles Vertonung, etwa das fehlende g am Ende, die Ein-
führung von Zitaten aus Beethovens Neunter und die Verwendung von Marlowes
Text, weisen also darauf hin, dass sich diese Komposition aus der Radiosendung
eine größere Distanz zur Vorlage erlaubt. Zeitbloms Beschreibung der Weheklag
wird in The Lamentation von allen ihren Wertungen befreit und parodistisch gele-
sen, was vor allem in „Devil’s Jig“ deutlich wird: Vorlage für die musikalische
Form des Stückes sind keine Lamenti mehr, sondern eine Tanzform, die speziell
der Figur des Teufels gewidmet wird. Zwar war die Gigue in der Renaissance-
bzw. Barockepoche ebenfalls sehr populär, gehörte aber zu einer anderen Dimen-
sion des Musizierens, die ursprünglich kaum religiös zu begreifen war.205 Auch
das Klagen, das in dieser intermedialen Transposition realisiert wird, ist nicht
religiöser Natur. Searles Komposition verstärkt daher parodistische Elemente der
Vorlage und zielt vor allem darauf ab, die Heterogenität des musikalischen Materi-
als, das beispielsweise auf Scherzi, Gigue und Adagi zurückgreift, herauszustellen
202 Ebd.
203 Searle:Faustus, ebd. Vgl. DF: 709.
204 Searle:Faustus, ebd.
205 Siehe Marsh, Carol G.: Art. Gigue. In: MGG Online. Zuerst veröffentlicht
und gleichzeitig die Idee der Eintönigkeit der Zwölftontechnik durch die Zwölf-
tontechnik selbst zu kritisieren. Die Gebundenheit ist durch die dreiteilige Struktur
und die Beethovens Zitate, die auch in diesem Fall in die Musik integriert wer-
den und kein fremdes, der Komposition äußerliches Element darstellen, immerhin
gewährleistet. Die Themen aus Beethovens Neunter Symphonie ersetzen sogar die
Esmeralda-Chiffre, ein im Roman häufig wiederholtes Motiv, das vor allem auf
die Syphilis-Ansteckung und auf den Teufelspakt verweist; darüber hinaus wird
die Deutungsebene des Faust-Romans parodistisch gelesen: Viele Indizien spre-
chen dafür, dass diese Interpretationsperspektive in Searles Medienkombination
in Frage gestellt wird.
Des Weiteren ergänzt Searles Lamentation die Vorlage, indem sie den eng-
lischsprachigen Faust-Text par excellence verwendet. Diese Ergänzung lässt sich
auf die in dieser Studie wiederholt ausgesprochene Beobachtung zurückführen,
dass das sekundäre intermediale Produkt, das aus anderen geographischen und
historischen Prämissen entsteht, eben diesen unterschiedlichen Entstehungs- und
Rezeptionskontext berücksichtigt. Der intramediale Bezug der Vorlage wird folg-
lich bei Searle in England, wo Marlowe gelebt hat, verstärkt. Denn strukturell und
inhaltlich betrachtet ist der Einfluss des englischen Autors auch an den letzten
Kapiteln von Manns Doktor Faustus zu erkennen. Marlowes Theaterstück endet
mit einem Monolog Fausts, in dem er ebenfalls tief verzweifelt ist und über seine
unüberwindliche Verdammnis spricht. Dem Monolog folgt ein „Epilogue“:206 Der
Chor kommentiert, was geschehen ist, und schließt somit das Stück. Anstelle
des Chores wird im Epilog von Doktor Faustus – dort „Nachschrift“ benannt
– die Figur des Erzählers verwendet, aber die Struktur und zum Teil der Inhalt
zeigen eine frappante Ähnlichkeit zum Theaterstück Marlowes. Folglich wird in
Searles/Nyes Vertonung dieser verdeckte intramediale Bezug der Vorlage verstärkt
und durch die Zitate aus Marlowes Drama explizit gemacht. Nicht zuletzt zwingt
die Verwendung des Marlowe-Textes zu keinem Sprachwechsel oder zu keiner
Übersetzung, indem er gleichzeitig eine Faust-Bearbeitung aus ungefähr dersel-
ben Zeit (1592) wie die des Volksbuches bietet. Resümierend lässt sich sagen,
dass zu den auffälligsten Merkmalen von Searles Vertonung der Weheklag, die
aus einer intermedialen Analyse resultieren, die Verstärkung von parodistischen
Elementen der Vorlage und durch den Marlowe-Text die Berücksichtigung unter-
schiedlicher Entstehungsprämissen und Rezeptionskontexte zählen, mit denen ein
sekundäres intermediales Produkt zwangsläufig konfrontiert ist.
Aus der Auseinandersetzung mit der Dr. Fausti Weheklag sowie den letzten
Kapiteln des Romans im ersten Teil des vorliegenden Kapitels lassen sich zwei
5.3 Fazit
Dieses Kapitel beschließt den zweiten Teil dieser Studie, der sich mit Lever-
kühns fiktiven Werken und den darauf bezogenen Kompositionen befasst. Um
die Beobachtungen, die im Laufe der Kapitel aufgetaucht sind, aus einer inter-
medialen Perspektive zu abstrahieren und resümieren, lässt sich Folgendes sagen.
Erstens, dass ein weiterer Effekt von Intermedialität die Revision der Vorlage ist,
die vielmehr als eine bloße Infragestellung darstellt. Alle Kompositionen revi-
dieren die Idee, dass Beethovens letztes symphonisches Werk zurückgenommen
werden kann, indem sie nicht einfach diesen Gedanken in Frage stellen, sondern
die Neunte Symphonie selbst in das Material integrieren. Die kompositorische
Rezeptionsgeschichte wies diesbezüglich eine eindeutige Position, die vom Ent-
stehungsjahr und -ort des Werkes unabhängig ist, auf, nämlich, dass Beethoven
aus der Neuen Musik nicht wegzudenken ist. Zweitens fanden sich in diesem
Kapitel noch weitere Indizien für die Relevanz des Systems der Alten Musik, das
von Monteverdi, Stabat Mater und Marienklagen vertreten ist, für die Erzeugung
des Textes. In den nächsten Kapiteln wird diesem Aspekt erneut Aufmerksamkeit
geschenkt, um die Frage beantworten zu können, ob es sich aus intermedialer
Sicht um eine Systemkontamination handelt, was sich nur anhand einer Analyse
des gesamten Romans nachweisen lässt.
Das hier angewandte analytische Prozedere, das aus einer ersten Analyse des
Romans und dann aus einer Analyse der Kompositionen besteht, wird im nächs-
ten Teil fortgesetzt. Dieser befasst sich mit Figuren aus Thomas Manns Doktor
Faustus, die etwa in Opern und Violinkonzerte transferiert und (teil-)reproduziert
werden. Auf diese Weise soll die Rekonstruktion der kompositorischen Rezep-
tionsgeschichte des Romans vervollständigt werden. Zudem werden intermediale
Analysekategorien an die Bedürfnisse dieses leicht unterschiedlichen Fokus dieser
musikliterarischen Untersuchung angepasst.
188 5 Dr. Fausti Weheklag
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Teil III
Figuren aus Doktor Faustus
Der Teufel
6
Mit diesem Kapitel beginnt der dritte Teil der vorliegenden Untersuchung, der
sich primär mit der Darstellung ausgewählter Figuren in Doktor Faustus und in
darauf bezogenen Kompositionen befasst. Die folgenden Ausführungen widmen
sich einem interpretatorischen Aspekt von Thomas Manns Doktor Faustus, mit
dem sich die Forschungsliteratur zum Roman seit seiner Publikation immer wie-
der beschäftigt und der kontrovers diskutiert wird, nämlich der Einordnung des
Dämonischen und dementsprechend der Einordnung des Romans. Der erste Teil
des Kapitels wendet sich jenen hier in Anlehnung an Thomas Manns Definition
des modernen Romans sogenannten Teufelsevocations zu, also jenen Symbolen,
Motiven, Figuren und Orten des Romans, die das Dämonische im Text hervor-
rufen. Anschließend wird dem Teufelsgespräch, darunter den drei Gestalten des
Teufels und der Wahl des Ortes, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Schließ-
lich werden einige Positionen aus der Forschungsliteratur vorgestellt, die sich
– allgemein gefasst – den beiden Interpretationspolen des Faust-Romans und
des Nicht-Faust-Romans zuordnen lassen. Im ersten aber auch im zweiten Teil
des Kapitels zeichnet sich Zweideutigkeit als zentrales Merkmal sowohl der in
Palestrina angesiedelten Kapitel als auch der Teufelsproblematik selbst aus. Der
zweite Teil des Kapitels befasst sich mit Giacomo Manzonis Vertonung des Teu-
felsgesprächs, die keine eindeutige Antwort auf die Frage liefert, ob man von einer
Teufelsfigur im Roman ausgehen oder das Teufelsgespräch eher als Leverkühns
Delirium auffassen sollte, und daher die Ambiguität der Vorlage im Medium
der Oper – besonders in Anbetracht der Partitur, weniger bei einer Analyse der
Uraufführung – beibehält. Zugleich werden einige Aspekte des Romans verstärkt,
etwa die Bezüge auf Shakespeare und der musikalische Raum Italiens, der im
Teatro alla Scala „hörbar“ wird. Dieser Raum greift allerdings im Gegensatz
zum Roman nicht auf Palestrinas geistige Musik, sondern auf Stimmtypen und
Konventionen der italienischen opera buffa zurück und bringt somit den parodis-
tischen Charakter der Palestrina-Kapitel aber auch des Romans selbst deutlich
zum Ausdruck.
Die Figur des Teufels sowie die Rolle des Dämonischen in Doktor Faustus sind
einige der wahrscheinlich am stärksten kontrovers diskutierten Aspekte in der For-
schungsliteratur zu Thomas Manns Roman: Der vorliegende Teil dieses Kapitels
versucht einen kurzen Überblick über die bestehenden Positionen zu geben, was
wiederum eine Positionierung des Kapitels selbst impliziert. Es handelt sich dabei
um keine Festlegung, sondern eher um das Aufzeigen einiger Interpretationswege,
indem das Augenmerk einerseits auf bestimmte textuelle Elemente und anderer-
seits auf intra- und intermediale Bezüge gerichtet wird. Dies bietet einen guten
Ausgangspunkt für die spätere Analyse einiger Bilder aus Manzonis Oper und
trägt dem Roman selbst Rechnung. Die Darlegung des Teufels und des Dämoni-
schen führt zur Auseinandersetzung mit einigen Kernfragen, welche die Doktor
Faustus-Forschung seit jeher beschäftigen, z. B.: „Ist Thomas Manns ,Doktor
Faustus‘ ein Faustroman?“1 (so etwa Käte Hamburger 1969); oder: Kann Adrian
Leverkühn als eine Verkörperung Fausts gesehen werden?; oder grundsätzlich:
Gibt es überhaupt einen Teufel in Doktor Faustus?
Doktor Faustus erweist sich als ein offener Roman im Sinne Ecos.2 Der Autor
selbst kann das Werk nicht der Gattung ,Roman‘ zuordnen und schreibt es daher –
zusammen eben mit Joyces Ulysses, dem Ecos Ausführungen gewidmet sind –
in eine Tradition von ,Nicht-Romanen‘ ein. Deren wichtigste Eigenschaft sei, –
und hier beruft sich Mann auf Levin – dass sie auf „evocation[s]“ (Ent: 73), also
auf Evokationsakten, die Reminiszenzen entspringen, beruhen. Bemerkenswert ist
hier, dass sich Thomas Mann eines Begriffs bedient, des Begriffs der Evokation,
der gerade in der Intermedialitätsforschung eine wichtige Rolle spielt: Auch der
Teufel und das Dämonische werden in Doktor Faustus durch eine vielschich-
tige Symbolik evoziert, denn im Gegensatz etwa zu Goethes Faust oder Eislers
Johann Faustus findet man keine Figur (außer vielleicht im sogenannten ,Teu-
felsgespräch‘), die beispielsweise Mephistopheles heißt und an mehreren Stellen
des Romans auftritt. Folglich ist im vorliegenden Kapitel in Bezug auf dieses
ursprünglich transmediale Motiv des Dämonischen, das aber mit den Mitteln des
jeweiligen Mediums (teil-)reproduziert wird, was bei Manzoni besonders deutlich
wird, von ,Teufelsevocations‘ die Rede. Durch die Verwendung des sprachlich
gemischten Kompositums soll auch die Einordnung des „Nietzsche-Roman[s]“
(Ent: 30) in die europäische Tradition des Romans seit Flaubert und James betont
werden.3
Mit den oben vorgestellten evocations befasst sich der erste Teil des vorliegen-
den Abschnitts, während der zweite Teil eine Analyse des Teufelsgesprächs im
Roman ist und einige Positionen aus der Forschungsliteratur zur Einordnung oder
Nicht-Einordnung von Thomas Manns Roman in die Bearbeitungen des Faust-
Stoffes berücksichtigt. Sowohl durch die Untersuchung der Teufelsevocations
als auch durch die Auswahl einiger Thesen aus der Forschungsliteratur zum
Roman werden produktive Ambiguitäten sichtbar, die unter dem Terminus
,Zweideutigkeit(- en)‘ im zweiten Teil dieses Abschnitts subsumiert werden. Jene
Zweideutigkeit der Musik „als System“ (DF: 74), die Leverkühn im Gespräch
mit Zeitblom u. a. in Bezug auf die Enharmonik anspricht und die zu den
am häufigsten erwähnten Zitaten aus dem Roman zählt, wird in der Narration
(teil-)reproduziert: Dies wird so weit geführt, dass sich die Rezeption selbst als
zweideutig definieren lässt, was mindestens zweidimensionale Interpretationen
vieler der Teufelsproblematik zugehörigen Aspekte ermöglicht.
6.1.1 Teufelsevocations
In diesem Abschnitt soll zunächst einmal auf einige Aspekte der sogenannten
,Teufelssymbolik‘ eingegangen werden, welche Hamburger als „psychologisch-
atmosphärische[] Verkörperung“4 versteht. Die Zweideutigkeit solcher Aspekte –
vergleichbar der Zweideutigkeit eines Tons im temperierten System, die sich z. B.
in der möglichen Benennung eines Tons als cis oder des je nach Tonart äußert –
wird in den Fokus gerückt. Hamburger kritisiert vor allem die Auffassung, nach
der das Künstler*innenleben etwas Unnatürliches sei, und stellt viele Aspekte des
Romans in Frage, die laut Zeitbloms Wiedergabe sowie einigen Beiträgen aus
der Forschungsliteratur, auf die im Folgenden eingegangen wird, als dämonisch
3 Zur Frage der Modernität von Doktor Faustus und seiner Beziehung zum Werk Joyces
siehe: Kaiser: „… und sogar eine alberne Ordnung“, S. 165–178.
4 Hamburger: Anachronistische Symbolik, S. 317.
194 6 Der Teufel
5 Ebd., S. 312.
6 Siehe DF: 330: „Uninteressiertheit“.
7 Vgl. DF: 194: Leverkühn sei seiner eigenen Einschätzung nach „zu schamhaft, zu stolz,
zu spröde, zu einsam fürs Virtuosentum“, was er als „Weltscheu“ bezeichnet und als
„Ausdruck des Mangels an Wärme, an Sympathie, an Liebe“ beschreibt.
8 Siehe Ent: 108. Thomas Mann zitiert aus „Über Calderons Tragödie vom wundertätigen
Magus. Ein Beitrag zum Verständnis der Faustischen Fabel von Dr. Karl Rosenkranz,
worin folgende Äußerung aus Franz Baaders Vorlesungen über religiöse Philosophie zitiert
wird“: „,Der wahre Teufel muß die äußerste Erkältung sein‘“.
9 Vgl. DF: 331: „Ich [der Teufel] bin nun einmal so kalt. Wie sollte ich’s sonst auch
Konnotation, denn sowohl Deutschlin als auch Teutleben erweisen sich als Befürworter
des Patriotismus und Präfaschismus und Matthäus Arzt als Befürworter des Sozialismus.
Dies gilt nicht nur für diese Passage, sondern für den ganzen Roman. Vgl. auch TB2:
24.04.1944, S. 47 f.: „Später Vorlesung der Studentengespräche, die das eigentümliche
Deutschtum des Buches neu hervortreten ließen“.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 195
„Ist das so deutsch?“ fragte Adrian. „Wiedergeburt hieß einmal rinascimento und
ging in Italien vor sich. Und ,Zurück zur Natur‘, das wurde zuerst auf französisch
empfohlen“. (DF: 175)
Und:
Die Figur des deutschen Tonsetzers lässt sich den vorigen Zitaten entsprechend
eher mit einem Kosmopolitismus verbinden. Auch Figuren aus seinem Umfeld
tragen zu dieser Sicht bei und beeinflussen ihn, wie etwa sein Musiklehrer Wen-
dell Kretzschmar. Dieser eröffnet „ihm die Reiche der Weltliteratur“ (DF: 108),
verlockt „ihn durch Neugier erwekkende Vorberichte in die ungeheueren Gebreite
des russischen, englischen, französischen Romans“ (ebd.), regt ihn „zur Beschäf-
tigung mit der Lyrik von Keats, Hölderlin und Novalis“ (ebd.) an und gibt ihm
„Manzoni und Goethe, Schopenhauer und Meister Ekkehart zu lesen“ (ebd.).
Auch im musikalischen Bereich fördert Kretzschmar eine internationale Kenntnis
der musikalischen Produktion:
Es freute ihn, und stundenlang hielt er sich dabei auf, seinem Schüler sinnfällig zu
machen, wie Franzosen auf Russen, Italiener auf Deutsche, Deutsche auf Franzosen
gewirkt. Er ließ ihn hören, was Gounod von Schumann hatte, was César Franck
von Liszt, wie Debussy sich auf Mussorgsky stützte, und wo D’Indy und Chabrier
wagnerisierten. (DF: 115)
Leverkühns „Weltscheu“ (DF: 194) besteht nach den Worten Zeitbloms aus „dem
altdeutschen Provinzialismus von Kaisersaschern“ (DF: 240) und „einem aus-
gesprochenen Gesinnungskosmopolitismus“ (ebd.). Seine „Abneigung gegen das
Deutschtum“ (ebd.), die er mit Rüdiger Schildknapp teilt, ist sowohl mit einer
Art Gleichgültigkeit13 gegenüber der Welt als auch mit einem Bedürfnis nach
„Welt und Weite“ (DF: 241) verbunden und führt ihn zur Wahl fremdsprachiger
12 Vgl. auch DF: 117: „Die Deutschen […] wollen immer eins und das andere, sie wollen
alles haben. […] Ein konfuses Volk […] und für die anderen verwirrend“. In Leverkühns
Aussagen erklingen Hölderlins Verse: „[I]ch kann kein Volk mir denken, das zerrißner
wäre, wie die Deutschen“. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Textausgabe
Bd. II. Hyperion. Hrsg. v. D. E. Sattler. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1984, XXIX,
V. 14 f., S. 206.
13 Diese Gleichgültigkeit ist auch charakteristisch für den Teufel: „Er muß…die höchste
Genügsamkeit in sich selbst, die extreme Gleichgültigkeit, sich selbst genießende Vernei-
nung seyn“ (Ent: 108, nochmals von Mann aus Rosenkranz zitiert).
196 6 Der Teufel
Texte für seine Kompositionen. Auch nach dem Teufelsgespräch verliert Lever-
kühn seinen Kosmopolitismus nicht: Er lässt später seine Apocalipsis „bei dem
Fest der ,Internationalen Gesellschaft für neue Musik‘“ (DF: 547) aufführen und
rückt von dem Weg zum Nationalsozialismus durch seine Isolierung in Pfeiffe-
ring ab. Außerdem zeigt er in seiner Musik die Einflüsse einer kosmopolitischen
Musikausbildung, etwa in der apokalyptischen Komposition, die Jazz und franzö-
sischen Impressionismus kombiniert14 und in der Weheklag, die sich u. a. auf die
Musik Monteverdis stützt.15
Aus dieser Sicht bedeutet Leverkühns Kälte nicht nur einen Mangel an Empa-
thie oder übertriebenen Intellektualismus, sondern weist auch auf ein kritisches
Verhalten hin: Diese Tendenz, Dinge zu hinterfragen, erlaubt Leverkühn, sich
von den Ideologien seiner Zeit zu distanzieren und ihnen eine kosmopolitische
Vision der europäischen Kultur und Zivilisation entgegenzuhalten. Rohrmoser
äußert einen ähnlichen Gedanken, allerdings über Leverkühns Krankheit:16
Krankheit, und nun gar anstößige, diskrete, geheime Krankheit, schafft einen gewis-
sen kritischen Gegensatz zur Welt, zum Lebensdurchschnitt, stimmt aufsässig und
ironisch gegen die bürgerliche Ordnung und läßt ihren Mann Schutz suchen beim
freien Geist, bei Büchern, bei Gedanken. (DF: 339)
Diese Distanz, die eine Konsequenz seiner Kälte sowie seiner Krankheit ist, stellt
daher „kein schweres ihn benachteiligendes Schicksal, sondern ein großes Privi-
leg“17 dar und macht folglich Leverkühn zu jenem Apokalyptiker,18 zu jenem
(teuflischen?) „Initiierten“ (DF: 188), der – so nochmals der „Teufel“ – „der
Zukunft den Marsch“ (DF: 355) schlägt.
Und doch ist nicht zu leugnen und ist nie geleugnet worden, daß an dieser strah-
lenden Sphäre das Dämonische und Widervernünftige einen beunruhigenden Anteil
hat [...]. (DF: 13)
19 Vgl. DF: 206: „Unter uns gesagt, macht die Harmonielehre mir [Leverkühn] viel
Gähnens, da ich doch bei dem Kontrapunkt sofort lebendig werde“ (Herv. A. O.)
20 Vgl. auch Giovannini: Il patto col diavolo, S. 223 (Fußnote 113) u. Kap. 9.
21 Siehe DF: 128.
22 Vgl. Aurelius Augustinus: De musica. Bücher I und VI. Vom ästhetischen Urteil zur
Hochmuts, aber auch ein Lachen der sozialen Kälte und Isolation“.23 Somit macht
Röcke auch auf die interdependente Verflechtung einzelner Teufelsevocations auf-
merksam, in diesem Fall: von Lachen, Kälte, Isolation und Hochmut; des Weiteren
hebt er hervor, dass sich auch Hölle und Teufel „durch ihr satanisch-höhnisches
Gelächter“24 auszeichnen, das sich im „Pandämonium des Lachens“ (DF: 548)
der apokalyptischen Komposition niederschlägt. Auch für Rosemarie Puschmann
ist es als Zeichen von Zwiespältigkeit (daher ist auch das Lachen zweideutig) mit
dem Satanismus verbunden.25 Bei Kaiser wird das Lachen, das nicht nur mit der
Kälte, sondern auch mit der Migräne verknüpft wird, als Leitmotiv der Narra-
tion betrachtet,26 das im Laufe der fiktiven Biographie intensiviert werde: Seinen
teuflischen Ursprung bestätige auch der „Teufel“ selbst.27 Gerade auch Kaisers
Auffassung vom Lachen als „Über-den-Dingen-Stehen[]“28 ermöglicht eine Ver-
knüpfung mit Leverkühns kritischem Verhalten der Gesellschaft gegenüber und
öffnet daher die Tür zu einer anderen Interpretation dieser vermeintlichen Teu-
felssymbolik. Durch das Lachen, zu dem auch die parodistisch gefärbten Werke
Leverkühns anregen, ist kritische Distanz und Reflexion möglich.
Leverkühn habe seine Neigung zum Dämonischen vom Vater, „ein[em] Speku-
lierer und Sinnierer“ (DF: 31), geerbt und Zeitblom behauptet, dieses Spekulieren
habe „mit Hexerei zu tun“ (DF: 32). Diese Überzeugung wird vom Teufel
bestätigt:
O, dein Vater ist in meinem Maule gar nicht so fehl am Ort. Er hatt es hinter den
Ohren, mochte immer gern die elementa spekulieren. Das Hauptwee [...] hast du
doch auch von ihm... (DF: 343)29
23 Röcke, Werner: Teufelsgelächter. Inszenierung des Bösen und des Lachens in der His-
toria von D. Johann Fausten (1587) und in Thomas Manns Doktor Faustus. In: Hans
Richard Brittnacher u. Fabian Stoermer (Hrsg.): Der Schöne Schein der Kunst und seine
Schatten. Bielefeld: Aisthesis 2000, S. 345–365, hier: S. 363. Bemerkenswert ist, dass auch
Dante in der Commedia den Hochmut als Merkmal seiner Persönlichkeit anerkennt. Dieser
intramediale Bezug verstärkt daneben die Auffassung Leverkühns als Apokalyptiker. Vgl.
Alighieri, Dante: La commedia, Die göttliche Kömodie, II Purgatorio – Läuterungsberg.
Übers. u. komm. v. Hartmut Köhler. Stuttgart: Reclam 2011, insb. Canto IX, S. 204–225.
24 Ebd., S. 349.
25 Siehe Puschmann: Magisches Quadrat, S. 172.
26 Vgl. Kaiser: „… und sogar eine alberne Ordnung“, S. 131 f.
27 Siehe ebd., S. 133. Vgl. DF: 344: „[W]er’s von Natur mit dem Versucher zu tun hat,
immer mit den Gefühlen der Leute auf konträrem Fuße steht und immer versucht ist, zu
lachen, wenn sie weinen, und zu weinen, wenn sie lachen“.
28 Ebd., S. 131.
29 Die Entlehnung aus dem Volksbuch ist hier offensichtlich: Vgl. Historia: S. 7 und 15.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 199
Nicht nur die Migräne hat der Protagonist von Jonathan Leverkühn. Sein Vater
zeigt daneben eine Tendenz zum „Lächeln“ (DF: 24); bei Adrian Leverkühn
handelt es sich aber um echtes Lachen und die Migräne ist viel ausgeprägter.
Laut Piccolo wird im Gegensatz zum Vater Leverkühns Mutter als positive
Figur im Roman dargestellt:30 Nicht zufällig ist sie diejenige, die Leverkühn bis
zum Tode nahe bleibt und daher innerhalb der Christus-Metaphorik des Romans,
die u. a. durch die intermedialen Bezüge auf Marienklagen und Stabat Mater
verstärkt wird, für Maria steht.31 Zeitblom beschreibt sie als eine gut aussehende
Frau32 und betont ihr Misstrauen gegenüber der Musik und dem Musiklehrer ihres
Sohnes.33 Dennoch sei gerade Leverkühns Musikalität von der Mutter geerbt:
die ich einmal gleichzeitig mit ihm [Kretzschmar] und Adrian auf Buchel verbrachte,
eine gewisse, durch Freundlichkeit nicht ganz verhüllte Gezwungenheit, Zurückhaltung,
Ablehnung in ihrem [von Elsbeth Leverkühn] Verhalten gegen den Organisten […]“.
34 Giovannini vertritt daher diesbezüglich eine andere Auffassung: Leverkühns faustischer
Bestandteil sei von der Mutter geerbt worden. Vgl. Giovannini: Il patto col diavolo, S. 254.
35 Siehe DF: 44 f.
36 Siehe Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Texte. Hrsg. v. Albrecht Schöne. Frankfurt am
könnten. Einer davon ist der bereits zitierte Musiklehrer und Organist Wen-
dell Kretzschmar, ein Mann von „deutsch-amerikanischen Eltern“ (DF: 75), „mit
Rundschädel, einem gestutzten Schnurrbärtchen und gern lachenden braunen
Augen“ (DF: 76). Züge, die teuflisch anmuten, sind also der Schnurrbart und
die lachenden Augen.37 Die Vorträge des Dozenten erweisen sich als komisch-
grotesk, was – so der Erzähler – sowohl an den ausgewählten Themen als auch
an seinem ausgeprägten Stottern liegt. Außerdem hat Kretzschmar Leverkühns
Musikstudium zu verantworten und thematisiert in seinen Vorträgen das Versagen
der traditionellen Kompositionsformen, das daher die Dringlichkeit einer revo-
lutionären Lösung in den Vordergrund rückt. Ein Beispiel dafür ist der Vortrag
über die Frage, „,warum Beethoven zu der Klaviersonate opus 111 keinen drit-
ten Satz geschrieben habe‘“ (DF: 79), der zudem wie im Fall der Zurücknahme
der Neunten Symphonie erneut auf die Bedeutung der intramedialen Referenz auf
Beethoven hinweist:38
Diese Beobachtung ist wieder ein Bezug auf Adornos Schriften;39 die Figur
Kretzschmar selbst kann für eine Karikatur des Philosophen gehalten werden.40
So Thomas Mann in der Entstehung:
Dann spielte mir Adorno, während ich zuschauend bei ihm am Flügel stand, die
Sonate opus 111 vollständig und auf höchst instruktive Art. Ich war nie aufmerksa-
mer gewesen, stand am nächsten Morgen früh auf und widmete drei Tage einer
eingreifenden Um- und Ausarbeitung des Sonatenvortrags, die eine bedeutende
Bereicherung und Verschönerung des Kapitels, ja des Buches selbst bedeutete.
In die poetisierenden Wort-Unterlegungen, mit denen ich das Arietta-Thema in
seiner ursprünglichen und seiner volleren Schluß-Gestalt versah, gravierte ich,
als versteckte Dankbarkeitsdemonstration, den Namen „Wiesengrund“, Adornos
Vaternamen, mit ein. (Ent: 40)
Ob sich das wirklich für eine Dankbarkeitsdemonstration halten lässt, sei hier
aufgrund des karikaturistischen und grotesken Charakters des Erzählens dieser
Musikvorträge in Frage gestellt.
Dämonische Züge tragen auch zwei Dozenten an der Universität in Halle,
wo Leverkühn einige Semester Theologie studiert. Die Entscheidung der Haupt-
figur, sich dem Theologiestudium zu widmen, kommt für Zeitblom und die
Leser*innenschaft unerwartet, insbesondere nach seiner intensiven Beschäftigung
mit der Musik in Kaisersaschern.41 Diese Wahl, die Leverkühn vielleicht aus
Hochmut trifft, wie der Erzähler vermutet,42 erweist sich bald als prekär. Denn
Leverkühn teilt den theologischen und politischen Radikalismus seiner Kommi-
litonen nicht: Kurz nach der Beschreibung der bereits erwähnten Diskussionen
innerhalb des Winfriedskreises ahnt Zeitblom, dass sein Freund „das theologische
Studium noch vor dem ersten Examen“ (DF: 186) abbrechen wird. Der „Teufel“
wird später diese Entscheidung loben:
[A]ber du wolltest dich bald keinen Theologum mehr nennen, sondern legtest
die Hl. Geschrift unter die Bank und hieltest es ganz hinfort mit den figuris,
characteribus und incantationibus der Musik, das gefiel uns nicht wenig. (DF: 362)
Darüber hinaus trägt wahrscheinlich auch die Begegnung mit zwei seltsamen
Dozenten zu dieser Entscheidung bei. Einer ist „der Systematik lesende Professor,
Ehrenfried Kumpf“ (DF: 141), der einen „pittoresk-altertümlichen Sprachstil[]“
(DF: 142) hat und „Vertreter jenes Vermittlungs-Konservativismus mit kritisch-
liberalen Einschlägen“ (ebd.) ist, der für den Erzähler Gefahr läuft, „zur Dämo-
nologie zu werden“ (DF: 135). Zwar sind die Argumentationen des Professors
eher progressiv, da er den Dogmatismus als die „intellektuelle Form des Pha-
risäertums“ (DF: 143) betrachtet, doch auch nationalistisch: Der Professor ist
tatsächlich „ein Bejaher der Kultur, – besonders der deutschen, denn bei jeder
Gelegenheit entpuppte er sich als ein massiver Nationalist lutherischer Prägung“
(ebd.).43 Außerdem stehe er „mit dem Teufel auf sehr vertrautem, wenn auch
natürlich gespanntem, Fuße“ (DF: 144).
Der andere noch „dämonischere“ Dozent ist Eberhard Schleppfuß, „eine kaum
mittelgroße, leibarme Erscheinung, gehüllt in einen schwarzen Umhang, dessen
er sich statt eines Mantels bediente“ (DF: 146). Schleppfuß ist laut Zeitblom eine
weitere Verkörperung jener Art von Theologie, die dazu neigt, zur Dämonolo-
gie zu werden. Er kennt sich mit der Manipulation von Begriffen sehr gut aus
und spricht gern „von der Macht der Dämonen über das Menschenleben“ (DF:
154). Die Versuchung ist für den Privatdozenten „keine Sünde, sondern […] eine
Prüfung der Tugend“ (DF: 155), und ihr instrumentum44 die Frau. Die Antizipa-
tionen der späteren Ereignisse im Leben der Hauptfigur sind hier offensichtlich;
darüber hinaus bezeichnet sich der Dozent als „Diener“ (DF: 164) Leverkühns
und/oder Zeitbloms,45 was ein weiteres Indiz für die Betrachtung von Schleppfuß
als Teufelsemissär sein könnte. Durch diese beiden Figuren soll Thomas Mann
seinen Worten nach den Teufel „mehr und mehr Gestalt und Gegenwart“ (Ent: 58)
gegeben haben. Jedoch flieht Leverkühn aus dieser nationalistischen, zum Dämo-
nischen neigenden Theologie, um „sich ganz der Musik in die Arme zu werfen“
(DF: 190). Diese Flucht lässt vermuten, dass er mit diesem Bereich nichts mehr zu
tun haben will. In diesem Kontext erscheint die Betrachtung der beiden Dozen-
ten als Teufelsemissäre plausibler als die Leverkühns als Verkörperung Fausts:
Sowohl bei Goethe als auch in der Historia interessiert sich Faust für diese Berei-
che, um den Teufel beschwören zu können, was bei Thomas Mann nicht der Fall
ist. Leverkühn widersteht folglich der Versuchung dieser beiden Dozenten und
seiner Theologie-Kommilitonen.
Um die Liste der Teufelsemissäre zu vervollständigen, muss man auch vom
Leipziger Dienstmann sprechen, der Leverkühn statt zu einem Gasthaus in ein
Bordell führt, wo der Komponist Esmeralda begegnet.46 Er sei
so ein Kerl, einen Strick um den Leib, mit roter Mütze und Messingschild, im
Wetterumhang, teuflisch redend wie alle Welt dahier mit gesträubtem Unterkiefer,
sah meiner [Leverkühns] Meinung nach entfernt unserem Schleppfuß ähnlich von
wegen des Bärtchens. (DF: 207)47
44 Giovannini unterstreicht daneben die musikalische Bedeutung des vom Dozenten ver-
wendeten Wortes. Vgl. Giovannini: Il patto col diavolo, S. 195 (Fußnote 19). Zweifellos
wird durch diese intermediale Markierung die Verbindung zwischen der Musik und dem
Dämonischem verstärkt.
45 Die grammatikalische Struktur dieser Passage trägt zu ihrer Ambiguität bei, da man
vermuten könnte, dass er nur Diener Leverkühns oder Zeitbloms oder Diener von beiden
ist. Dies spricht für Kinzels These, Zeitblom sei ebenfalls ein Agent des Teufels. Siehe
Kinzel, Ulrich: Zweideutigkeit als System. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen der
Vernunft und dem Anderen in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“. Frankfurt am
Main (u. a.): Lang 1988, S. 114.
46 Für eine ausführlichere Analyse dieser Passage vgl. Kap. 8.
47 Kaiser analysiert das Motiv des Lexems ,rot‘, das mit dem Lachen, der Musik und dem
Teufel verknüpft sei. Siehe Kaiser: „… und sogar eine alberne Ordnung“, S. 136–140.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 203
Darüber hinaus kann auch Leverkühns Freund Rüdiger Schildknapp der Figu-
renkonstellation zugeordnet werden, die den Komponisten zum Bösen führt.
Schildknapps Augen haben die gleiche Farbe wie die Leverkühns48 und trotz
des scheinbar gesunden Aussehens neigt er zur Tuberkulose.49 Auch Schildknapp
mag lachen: „Nie habe ich [Zeitblom] ihn so viel lachen, und zwar Tränen lachen,
sehen, wie beim Zusammensein mit Rüdiger Schildknapp“ (DF: 249).50 Als letzte
„teuflische“ Figur sei hier kurz Baptist Spengler erwähnt, den Leverkühn in Mün-
chen im Hause Rodde kennenlernt und mit dem er sich trotz Warnungen von Ines
Rodde, die ihm gegenüber ihr Misstrauen hinsichtlich Spengler offen anspricht,
gern unterhält. Spengler, „aus Mitteldeutschland gebürtig, mit sehr starkem blon-
den Schnurrbart“ (DF: 290), sei „ein skeptischer Weltmann, vermögend, wenig
arbeitend, hypochondrisch, belesen, stets lächelnd im Gespräch und rasch mit
den Augen blinzelnd“ (ebd.). Bereits dieses Zitat reicht aus, um einige teuflische
Züge identifizieren zu können, nämlich den Bart, das Lachen und in diesem Fall
auch die „blinzelnd[en]“ (ebd.) Augen: Es wundert nicht, dass er in Palestrina
vom „Teufel“ selbst als „Esmeraldus“ (DF: 339) und demnach als sein Emissär
bezeichnet wird.
Neben der Auflistung von möglichen Teufelsemissären im Roman, die einige
in die Sphäre des Dämonischen einordbare Motive und äußerliche Figurenmerk-
male wie das Lachen, die Krankheit, den Schnurrbart, den Mantel aufweisen, gibt
es eine zweite Auflistung, nämlich die von Städten: Ihre Beschreibung lässt eben-
falls dämonische Motive sichtbar werden. Zunächst sei die Stadt Leipzig erwähnt,
wo Leverkühn vom „teuflischen“ Dienstmann zu Esmeraldas Bordell gebracht
wird.51 In Leipzig, „[c]entrum musicae, centrum des Druckwesens und der Buch-
gremplerei“ (DF: 205), „reden die Leute überaus teuflisch gemein“ (ebd.). In der
Luft von Kaisersaschern sei dann auch „etwas hängengeblieben von der Ver-
fassung des Menschengemütes in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts,
Hysterie des ausgehenden Mittelalters, etwas von latenter seelischer Epidemie“
(DF: 57 f.): An sie erinnert die Apocalipsis cum figuris52 und auf sie verweist
der „Teufel“ im Teufelsgespräch („Wenn du den Mut hättest, dir zu sagen: ,Wo
hafte und Sagenmäßige in Thomas Manns Roman Doktor Faustus. In: Bluhm, Lothar u.
Heinz Rölleke (Hrsg.): „Weil ich finde, daß man sich nicht ,entziehen‘ soll“. Gesammelte
Aufsätze zu Thomas Mann und seinem Werk. Trier: WVT 2001, S. 400–413.
52 Vgl. DF: 515.
204 6 Der Teufel
ich bin, da ist Kaisersaschern‘“, DF: 330). Der „Teufel“ macht somit deutlich,
dass Kaisersaschern nicht nur eine fiktive Stadt in der Narration, sondern auch
Bestandteil von Leverkühns Identität und ein metaphorisch aufgeladener Raum
ist. Hier intensiviert Leverkühn die Auseinandersetzung mit der Musik. Auch in
München, dem Gründungsort der NSDAP, äußern sich die Teufelsevocations in
Form einer „Gemütskrankheit“, die politisch und musikalisch in der Konvention
verharrt und so auf die Sterilität der Kunst53 verweisen:
Wovon ich [Zeitblom] spreche, ist das München der späten Regentschaft, nur vier
Jahre noch vom Kriege entfernt, dessen Folgen seine Gemütlichkeit in Gemüts-
krankheit verwandeln und eine trübe Groteske nach der anderen darin zeitigen
sollten, – diese perspektivenschöne Hauptstadt, deren politische Problematik sich
auf den launigen Gegensatz zwischen einem halb separatistischen Volkskatholi-
zismus und einem lebfrischen Liberalismus reichsfrommer Observanz beschränkte
[...]; München mit seiner stehengebliebenen Wagnerei [...]. (DF: 295 f.)
Was die Räume angeht, so muss auch das Lexem ,ungarisch‘ erwähnt werden:
Kaiser weist darauf hin, dass es aufgrund der ungarischen Frau von Tolna und
weiterer textueller Indizien, z. B. des Geschlechtsverkehrs von Leverkühn mit
Esmeralda (also des „Teufelspaktes“) in der damals zum Königreich Ungarn
gehörenden Stadt Pressburg (heute: Bratislava), mit dem Dämonischen verknüpft
ist.54
Ein weiterer, wichtiger Raum des Romans, der häufig im Werk Thomas Manns
auftaucht, ist zweifelsohne der italienische. Dass dieser in Doktor Faustus mit
dem Dämonischen verknüpft ist, scheint alleine von der Feststellung bestätigt zu
sein, dass das Teufelsgespräch nahe Rom, und zwar in Palestrina, stattfindet. Die
Analyse dieses Raumes ermöglicht, auf weitere Teufelsevocations sowie auf das
Teufelsgespräch und auf die Darstellung des „Teufels“ selbst einzugehen. Auffäl-
lig scheint zunächst die Wahl des Ortes, wo Leverkühns Gespräch mit dem Teufel
stattfindet. Palestrina ist in der italienischen Kultur dank des Musikers Giovanni
Pierluigi da Palestrina bekannt, jedoch generell ein ungewöhnliches Urlaubsziel.
Innerhalb des Schaffens der Gebrüder Mann spielt die Stadt aber eine bedeutende
Rolle, da Heinrich an diesem Ort den Roman Die Kleine Stadt ansiedelt:55 Dies
53 Vgl. Kap. 5.
54 Vgl. Kaiser: „… und sogar eine alberne Ordnung“, S. 134 f.
55 Siehe Mann, Heinrich: Die kleine Stadt. Leipzig: Insel-Verlag 1909.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 205
kann auf die biographische Reminiszenz zurückgeführt werden, dass die beiden
Brüder 1895–1897 lange Sommermonate in Palestrina verbrachten.56
Im Gegensatz zum Roman seines Bruders scheint Palestrina und im Allge-
meinen Italien im Gesamtwerk Thomas Manns eine ambivalente Konnotation zu
erhalten: Das Land wird nicht wie bei Goethe als Mythos dargestellt, sondern
dämonisiert, denn – so Erwin Koppen – „nicht selten zeigt sich der Tod (oder
ist er der Teufel?) auch italienisch gewandet“.57 Koppen weist zudem darauf hin,
dass Thomas Mann oft eine ikonoklastische Technik der literarischen Darstel-
lung anwendet, die auf der Zerstörung von Klischees, Stereotypen und Mythen
basiert.58 In Doktor Faustus wird diese Verknüpfung von Palestrina mit dem
Dämonischen von einer intramedialen Referenz des Erzählers bekräftigt, dass die
Stadt „von Dante im 27. Gesange des Inferno erwähnt“ (DF: 308) wird und zwar
in Verbindung mit der Geschichte von Guido da Montefeltro.59 Zudem berichtet
Zeitblom von den im Zentrum und Süden Italiens nicht unüblichen schwarzen
Schweinen, die in Palestrina herumlaufen und ebenfalls mit dem Dämonischen
verknüpft sind.60 Während der erneute Bezug auf Dante – ohne Zweifel ein
Hypotext von Doktor Faustus – die Teufelsevocations verstärkt, verlieren diese
durch die intermediale Einzelreferenz auf den Komponisten Palestrina an Bedeu-
tung. Zur Zeit der Gegenreformation bewies er, etwa durch die Missa Papae
Marcelli, dass die kontrapunktische Musik das Verständnis von heiligen Texten
56 Thomas Mann soll tatsächlich wie Leverkühn auch in der Casa Manardi übernach-
tet haben; eine Engländerin soll vom Teufel gesprochen haben und dieses Gespräch die
Ursache einer ähnlichen Vision des Satans seitens des Schriftstellers gewesen sein. Vgl.
Koppen, Erwin: Schönheit, Tod und Teufel. Italienische Schauplätze im erzählenden Werk
Thomas Manns. In: Arcadia 16 (1981) H. 1–3, S. 151–167 (insb. S. 161 u. 165); Kerényi,
Karl: Thomas Mann und der Teufel in Palestrina. In: Die neue Rundschau 73 (1962)
H. 2+3, S. 328–346 (insb. S. 341).
57 Ebd., S. 156. Zum Thema ,Thomas Mann und Italien‘ vgl. auch: Jonas, Ilsedore B.:
Thomas Mann und Italien. Heidelberg: Winter 1969; Ognibene, Fabio: Die Sehnsucht
nach Italien. Thomas Mann und sein ambivalentes Verhältnis zur Welt Italiens. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2008; Mazzetti, Elisabetta: Thomas Mann und die Italiener.
Frankfurt am Main: Lang 2009.
58 Siehe ebd., S. 166.
59 Siehe Alighieri, Dante: Die göttliche Komödie. Nachdichtungen von Felix Zielinski mit
einem Geleitwort von Walter Goetz. Erlangen: Dipax-Verlag 1950, Hölle XXVII, S. 145–
149.
60 Vgl. Kerényi: Thomas Mann und der Teufel in Palestrina, S. 341; Giovannini: Il patto
nicht verhinderte.61 Einerseits betont diese Referenz noch einmal die zweideu-
tige Verbindung der Musik nicht nur mit dem Dämonischen, sondern auch mit
dem Himmlischen, andererseits verweist dies erneut auf Leverkühns Faszina-
tion für den Kontrapunkt und stellt daher die Auffassung in Frage, er sei allem
gegenüber gleichgültig.62 Durch die impliziten Referenzen auf die katholische
Kirche, auf die sowohl der intermediale Bezug auf Palestrina (siehe eben die
Missa Papae Marcelli) als auch der intramediale auf Dante63 verweisen, wird der
Raum auch religiös konnotiert: Hier spielt der Katholizismus und nicht mehr der
Lutheranismus die Hauptrolle. Dieser zeichnet sich ebenfalls durch seine Zwei-
deutigkeit aus, zum einen als Mäzen der Kunst, der allerdings keineswegs alles
akzeptiert, und daher Konkurrent des „Teufels“, zum anderen als (bei Dante)
Institution nicht ohne korrupte Oberhäupter. Die Nähe zu Rom konnotiert den
Raum jedoch auch politisch: Auf der Deutungsebene der – so Thomas Mann
in einem Brief an Oppenheimer – „faschistische[n] Intoxikation der Völker“64
wird hier auf die ,Achse Berlin-Rom‘ angespielt, die zwischen den im Roman nie
namentlich erwähnten Diktatoren Italiens und Deutschlands geschlossen wurde.
So wird durch den indirekten Bezug auf den Papst und an anderen Textstellen des
Romans durch den Bezug auf Luther die Schuld beider Konfessionen bezüglich
ihrer Einstellung zum Faschismus betont.65 Es ist eine komplexe Verflechtung
61 Siehe Crawford, Karin L.: Exorcising the Devil from Thomas Mann’s Doktor Faus-
tus. In: German Quarterly 76 (2003) H. 2, S. 168–182, hier: S. 172. Zu Palestrina vgl.
Heinemann, Michael: Giovanni Pierluigi da Palestrina und seine Zeit. Laaber: Laaber
Verlag 1994; Bianchi, Lino: Giovanni Pierluigi da Palestrina. Paris: Fayard 1994. Tho-
mas Mann konsultierte das Buch von Eckstein für die Biographie des Komponisten: vgl.
TB2: 01.09.1945, S. 248 u. Schmidt-Schütz, Eva: Doktor Faustus zwischen Tradition
und Moderne. Eine quellenkritische und rezeptionsgeschichtliche Untersuchung zu Tho-
mas Manns literarischem Selbstbild (Thomas-Mann-Studien Bd. 28). Frankfurt am Main:
Klostermann 2003, S. 165.
62 Kretzschmar lässt Leverkühn im Rahmen seiner Klavierausbildung auch „vierstimmige
Psalmen von Palestrina spielen“. Vgl. DF: 110. Die wiederholte Einzelreferenz auf den
italienischen Komponisten macht deutlich, dass es sich um kein zufälliges Textelement
handelt.
63 Vgl. noch einmal die Geschichte von Guido da Montefeltro im Canto XXVII (siehe
z. B. „Hätt jener Papst“, Alighieri: Die göttliche Komödie, Hölle, V. 70, S. 146).
64 Briefe 3: 591 f., 12.02.1949.
65 Vgl. Piccolo: L’onnipotenza imperfetta, S. 239. Thomas Mann schreibt über das Teu-
felsgespräch: „Das stärkste darin ist wohl die Beschreibung der Hölle (Gestapokeller)“
(TB2: 20.02.1945, S. 165). Die Stadt Palestrina verweist auch auf Hans Pfitzners Oper
Palestrina (1915): Thomas Mann soll Pfitzners Oper mit Bewunderung betrachtet haben,
Pfitzner zählt aber zu den Unterzeichnenden des Briefes Protest der Richard-Wagner-Stadt
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 207
von Religion, Politik und Musik, die sich unter dem Namen der Stadt subsu-
mieren lässt und die zugleich jener deutschen Sehnsucht nach Italien seit Goethe
ebenfalls eine gewisse Zweideutigkeit verleiht: Der „Teufel“, der Leverkühn dazu
auffordert, nur auf Deutsch zu reden, der allerdings gleich danach ursprünglich
aus anderen Sprachen stammenden Wörter wie „Paletot“, „Plaid“ und „Gentle-
man“ (DF: 326) verwendet,66 will auf das „schöne[] Lande Italia“ (DF: 331), wo
er „schöne Geschäfte“ (ebd.) hat, nicht verzichten.
Bereits in Dantes Canto ist die Rede von „teuflischen Gestalten“:67 Im Teu-
felsgespräch hat man es nicht nur mit einem Teufel, sondern mit drei teuflischen
Gestalten zu tun. Die erste Gestalt beschreibt Leverkühn – Zeitblom soll hier ein
nachgelassenes Dokument von ihm abgeschrieben haben – wie folgt:
Ist ein Mann, eher spillerig von Figur, längst nicht so groß wie Sch.,68 aber auch
kleiner als ich – eine Sportmütze übers Ohr gezogen, und auf der andern Seite steht
darunter rötlich Haar von der Schläfe hinauf; rötliche Wimpern auch an geröte-
ten Augen, käsig das Gesicht, mit etwas schief abgebogener Nasenspitze [...]. Ein
Strizzi. Ein Ludewig. Und mit der Stimme, der Artikulation eines Schauspielers.
(DF: 327)
Leverkühn erwähnt hier als Erstes das Geschlecht des „ersten Teufels“, der eine
Mütze wie der Leipziger Dienstmann, allerdings in diesem Fall eine Sportmütze,
trägt. Das „teuflische“ Lexem ,rot‘ tritt mehrfach auf; des Weiteren redet und sieht
der Teufel wie ein Schauspieler aus,69 der vor allem über Zeit spricht und Lever-
kühn Zeit verkaufen will.70 Die zweite Gestalt des Teufels als „Intelligenzler, der
über Kunst, über Musik, für die gemeinen Zeitungen schreibt, ein Theoretiker und
Kritiker, der selbst komponiert“ (DF: 347), lässt sofort an Theodor Wiesengrund
Adorno denken. Der „zweite Teufel“ hat „einen weißen Kragen um und einen
Schleifenschlips, auf der gebogenen Nase eine Brille mit Hornrahmen“ (ebd.)
und „feucht-dunkle, etwas gerötete Augen“ (ebd.), zitiert offensichtlich aus der
München, der Mann zum Exil zwang. Siehe auch Vaget: Seelenzauber, S. 203–237 u.
Lörke: Die Verteidigung der Kultur, S. 97–112 und 150–161.
66 Und später sogar die Notennamen auf Italienisch erwähnt: siehe DF: 363.
67 Alighieri: Die göttliche Komödie, Canto XXVII, V. 112, S. 148.
68 Diese Abkürzung könnte sich auf Schildknapp beziehen, der sich in Palestrina mit Lever-
kühn befindet, aber auch auf Schleppfuß, der auch in der Beschreibung des Leipziger
Dienstmannes erwähnt wird. Auch besteht die Möglichkeit, dass sich hier Leverkühn auf
den „teuflischen“ Geiger Schwerdtfeger bezieht.
69 Siehe auch DF: 328: „ruhig und überzeugend wie ein Schauspieler lachend“.
70 Vgl. etwa DF: 332.
208 6 Der Teufel
Philosophie der Neuen Musik 71 und spricht gerne von Beethoven.72 Die Bezüge
auf Adornos Werk und Biographie sind schwer zu übersehen; es scheint ein ironi-
scher Zufall zu sein, dass gerade die Texte von Adorno, der laut Manzoni in seinen
Schriften einen Teufel sucht,73 in der Rede des zweiten Teufels zitiert werden.74
Den „dritten Teufel“ beschreibt Leverkühn folgendermaßen:
Ein geteiltes Bärtchen am Kinn ging ihm beim Reden auf und ab, und überm
offenen Munde, drin kleine scharfe Zähne sich sehen ließen, stand ihm das
spitzgedrehte Schnurrbärtchen strack dahin.
Mußt ich doch lachen in meiner Frostvermummung ob seiner Metamorphose ins
Altvertraute.
„Ganz ergebener Diener!“ sag ich. (DF: 327)
Die dritte Gestalt des Teufels erinnert Leverkühn an Schleppfuß; der Kompo-
nist redet ihn auch mit seinem typischen Gruß an. Es wundert daher nicht, dass
diese teuflische Gestalt theologische Fragen nach dem Aussehen der Hölle und
den Auswegen aus der Verdammnis mittels der contritio anspricht.75 Kurz bevor
71 Siehe z. B.: „wie in der vorliberalen Ära hängt die Möglichkeit der Produktion weithin
vom Zufall der Mäzenatengunst ab“ (DF: 349). Vgl. PhnM: 29. Zum Thema siehe auch:
Valk, Thorsten: Literarische Musikästhetik. Eine Diskursgeschichte von 1800 bis 1950.
Frankfurt am Main: Klostermann 2008.
72 Michael Maar sieht in der Figur des Teufels aufgrund des Kragens, des Schleifenschlips
und des Grübchens auch Gustav Mahler. Siehe Maar, Michael: Der Teufel in Palestrina.
Neues zum Doktor Faustus und zur Position Gustav Mahlers im Werk Thomas Manns.
In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 30 (1989), S. 211–247, hier: S. 214. Maar unter-
streicht auch die Ähnlichkeit zwischen Leverkühn und Mahler (S. 237) und Kretzschmar
und Mahler (S. 236).
73 Siehe dazu Manzoni: Adorno e la musica negli anni Cinquanta e Sessanta in Italia,
S. 257.
74 Vgl. Pfleger, Karl: Thomas Mann, der Teufel und Theodor W. Adorno. In: Ders.: Nur
das Mysterium tröstet. Frankfurt am Main: Josef Knecht 1957, S. 285–291. Adornos Philo-
sophie stellt jedoch nicht die einzige Quelle des Teufelsgesprächs in Palestrina dar. Adrian
Del Caro unterstreicht u. a. die Zusammenhänge mit Fjodor Dostojewskis Roman Die
Brüder Karamasow, in dem Iwan ebenfalls auf einem Sofa gegenüber dem Teufel sitzt,
nicht zugeben will, dass er mit ihm spricht, und von ihm angeekelt ist. Vgl. Del Caro,
Adrian: The Devil as Advocate in the Last Novels of Thomas Mann and Dostoevsky.
In: Orbis Litterarum 43 (1988) H. 2, S. 129–152, hier: S. 134 f. Erwin macht daneben
auf die „Nietzschean undertones“ des Gesprächs aufmerksam: In seiner Analyse ist der
Teufel Befürworter des Dionysischen auf dem Weg über die Barbarei. Erwin: Rethinking
Nietzsche, S. 290.
75 Siehe DF: 357–361.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 209
Leverkühn fast ohnmächtig wird und dann auf dem Sofa den Freund Schild-
knapp sitzen sieht, erscheint wieder „das Mannsluder, der käsige Ludewig in der
Kappe, mit roten Augen“ (DF: 362), also der erste, pragmatische Teufel, der die
Bedingungen des durch den Geschlechtsverkehr mit Esmeralda unterschriebenen
Paktes, darunter das Liebesverbot, bespricht.
Die vorigen Ausführungen konnten zeigen, dass sich Teufelsevocations auf
verschiedenen Ebenen der Analysen identifizieren lassen, z. B. in Bezug auf
Figuren, Motive und Städte. Diese Indizien sprechen zugleich für und gegen
die Präsenz eines Teufels im Roman und sind folglich zweideutig. Solche
Zweideutigkeiten soll der folgende Teil näher beleuchten.
6.1.2 Zweideutigkeit(-en)
76 Vgl. auch Alighieri: Die göttliche Komödie, Hölle, Canto XXVII: „sinds doch der
Schlüssel zwei, / Die Coelestin sich beinah ließ entwinden“, V. 104 f., S 147.
77 Vgl. Axer, Eva: Alldeutig, zweideutig, undeutig. Walter Benjamins ,Bezwingung‘ dämo-
berücksichtigt worden, da sich dieser durch seine drei Gestalten auszeichnet. Den-
noch kehrt am Ende des Gesprächs die erste Gestalt zurück und stellt folglich
die Zahl vier, das Vielfache von zwei, in den Vordergrund; allerdings interagiert
Leverkühn im Kapitel insgesamt mit vier Figuren bzw. mit vier unterschiedlichen
Stimmen, da am Ende des Gesprächs Schildknapp auf dem Sofa sitzt und mit
Leverkühn redet. Auf vielen Ebenen der narratologischen Analyse versucht das
Medium der fiktionalen Schrift, die Zweideutigkeit des temperierten musiktonalen
Systems zu reproduzieren.
Aufgrund dieser Zweideutigkeiten lässt sich das Teufelsgespräch und Thomas
Manns Roman im Allgemeinen keineswegs eindeutig interpretieren. Wie ist der
„Teufel“, der aus diesem Grund in dieser Studie oft in Anführungszeichen angege-
ben wird, zu klassifizieren: Als Figur? Als Symbolik? Als beides? Weder als Figur
noch als Symbolik? Diese Fragen verknüpfen sich mit Fragen nach der Klassifi-
kation des Romans selbst. Sieht man den Teufel nicht als Romanfigur, dann wird
die Definition des Werkes als Bearbeitung des Faust-Stoffes in Frage gestellt;
im umgekehrten Fall kann Manns Roman unproblematisch der Faust-Tradition
zugeordnet werden. Auch in den Interpretationen des Werkes zeigt sich eine
gewisse Zweideutigkeit, obwohl besonders in puncto Teufelsproblematik zahlrei-
che Auslegungen vorliegen, die sich nicht so dichotomisch etikettieren lassen. Im
Folgenden sei auf einige Positionen eingegangen. Hannum, die Doktor Faustus
als den letzten Faust-Roman betrachtet, stellt 1974 die These ins Zentrum ihrer
Analyse, der Teufelspakt stelle die Selbst-Opferung Leverkühns dar.78 Impliziert
sei dies im Befehl des Teufels „Du darfst nicht lieben“ (DF: 363); Leverkühn
erscheine auf verschiedenen Ebenen als ein Selbstopfer, da er seine psychische
und physische Gesundheit sowie sein Glück opfert.79 Hannum verbindet diese
Selbstopferung mit Nietzsches Konzept vom Übermenschen, denn Leverkühn, der
gegenwärtige Mensch, mache Platz für den zukünftigen.80 Diese Position könnte
man auch mit Deleuzes und Guattaris Auffassung, der Teufelspaktes sei ein maso-
chistischer Vertrag, in Verbindung bringen.81 Auch Rohrmoser interpretiert 2005
auf rational nicht nachvollziehbare Art und Weise zwischen teuflischem und göttlichem
,Wesen‘ changieren“. Rohrmoser: Dekadenz und Apokalypse, S. 102.
78 Siehe Hannum, Hildegarde: Self-Sacrifice in Doktor Faustus. Thomas Mann’s Con-
die Figur Leverkühns als Opfer: „Das Schicksal Adrian Leverkühns ist ein Stell-
vertreterschicksal. Er steht für die Not und das Leiden der Zeit“;82 zudem ist
Corbineau-Hoffmann zufolge (1995) Leverkühn nicht Urheber seiner Werke, son-
dern ihr Opfer.83 Diese Interpretationen verweisen auf die Deutungsperspektive
der imitatio Christi.84
Gegen diese Perspektive spricht aber die Tatsache, dass sich Leverkühn „mit
voller Absicht“85 infiziert. Dies kommt etwa in der Oper Giacomo Manzo-
nis durch Esmeraldas insistente Wiederholung der Worte „Guardati dal mio
corpo“86 – „Hüte dich vor meinem Körper“ –87 deutlich zum Ausdruck. Die Ver-
suchung Satans sei also im Roman nicht gescheitert und die Begegnung mit dem
Bösen die Konsequenz einer „Wunschdisposition“88 Leverkühns – so Röcke 2000
im in Unterabschnitt 6.1.1 erwähnten Aufsatz zum Lach-Motiv in Doktor Faustus.
Del Caro untersucht 1988 die Wichtigkeit der Rolle des Teufels: „[W]hat
makes the devil useful to an author is the impunity with which the devil is allowed
to speak“.89 Da Del Caro den Satan für einen Advokaten hält, könne der Autor –
eine gewisse biographical fallacy der Untersuchung lässt sich hier nicht überse-
hen – durch diese Figur auch die von ihm nicht geteilten Ansichten verteidigen.90
Die Originalität dieser These besteht aber darin, dass der Satan als ein dialek-
tisches Mittel angesehen und dementsprechend die alternative Bezeichnung des
Teufelsgesprächs als Teufelsprozess vorgeschlagen wird.
Die bisher vorgestellten Positionen gehen von der Annahme aus, der Teufel
sei eine Figur von Doktor Faustus. Auch Thomas Mann leugnet dies in seinen
Schriften nicht: In den Tagebüchern bezieht er sich beispielsweise explizit auf
diese Figur91 und betont die Bedeutung der Motive aus der Faustsage für die
Montage-Technik des Werkes.92
Es gibt einige Argumente, die für eine gewisse Skepsis gegenüber der mög-
lichen Definition als Faust-Roman sprechen. Das erste ist, dass die Art von
Syphilis, an der die Hauptfigur leidet, zur Demenz führen kann. Thomas Mann
hatte sich über die Spirochaeta pallida informiert: „Gelesen in ,Syphilis des Zen-
tralnervensystems‘“,93 liest man in den Tagebüchern. Infolgedessen könnte Satans
Vision in Palestrina eine Konsequenz des mit der Krankheit verbundenen Deli-
riums sein, da die Ansteckung schon stattgefunden hat. Dies vermutet Adrian
Leverkühn selbst im Teufelsgespräch:
Viel wahrscheinlicher ist es, daß eine Krankheit bei mir im Ausbruch ist und ich den
Fieberfrost, gegen den ich mich einhülle, in meiner Benommenheit hinausverlege
auf eure Person und euch sehe, nur um in euch seine Quelle zu sehen. (DF: 328)94
Viele weitere textuelle Indizien weisen auf eine Art Rollenspiel hin, bei dem am
Ende die Person „nicht mehr weiß, wer oder was das Ich ist“95 und das Vietta
unter dem Begriff der „Subjektdissoziation“96 subsumiert.97 Auch in Leverkühns
Abschiedsrede, die ihn ebenfalls mit der Figur Fausts assoziieren soll, häufen
sich die textuellen Indizien für ein psychisches Delirium.98 Maar plädiert 1989
wie Vietta für die Idee eines Rollenspiels im Teufelsgespräch und definiert den
Teufel wie folgt:99
Reflektierte Präsenz, wie wir annehmen dürfen, wenn wir nicht daran, daß Thomas
Mann im Ernst an den Leibhaftigen glaubte, unsererseits ernsthaft glauben wollen,
sondern eher überlegen: ob er nicht im fünfundzwanzigsten Kapitel einen dreiteili-
gen Spiegel aufklappt, der Leverkühn wenig schmeichelhafte Aspekte seiner Person
entgegenwirft, in dessen Mittelfeld der Gespiegelte sich aber noch am wenigsten
entstellt finden wird?
und literarische Moderne. In: Anz, Thomas (Hrsg.): Die Modernität des Expressionismus.
Stuttgart (u. a.): Metzler 1994, S. 9–20, hier: S. 15.
96 Ebd. (allerdings in Bezug auf die literarische Frühmoderne).
97 Vgl. auch DF: 328: „Ihr sagt lauter Dinge, die in mir sind und aus mir kommen, aber
Die überkonfessionelle Religiosität, von der er spricht, kann ich mir nicht anders
vorstellen als gebunden an die Idee des Menschen, als einen religiös fundierten und
getönten Humanismus, der vielerfahren, durch vieles hindurchgegangen, alles Wis-
sen ums Untere und Dämonische hineinnähme in seine Ehrung des menschlichen
Geheimnisses.
Auch der Begriff der Zweideutigkeit könnte wohl ein intramedialer Bezug auf
Nietzsche sein, der in seinem Werk – so Vietta – „den Begriff der ,Zweideutigkeit‘
der Moderne exponiert“.104
Diese Säkularisierung des Faust-Stoffes werde in Doktor Faustus so weit
geführt, dass es sich für Crawford überhaupt nicht lohnt, einen Teufel hineinzu-
deuten: „[I]t is time we exorcise the devil from Mann’s Doktor Faustus because
there is no devil in the novel“,105 stellt sie lapidar fest. Pfleger war bereits
1957 der gleichen Auffassung: „Der Teufel und sein metaphysisches Korrelat“106
glänze im Roman „durch vollkommene Abwesenheit“.107 Käte Hamburger ver-
sucht, eine Erklärung zu liefern, wieso es so schwierig sei, den Roman als eine
Bearbeitung des Faust-Stoffes zu lesen:108
In der Tat bietet der Roman das eigentümliche Phänomen dar, daß wir den moder-
nen Komponisten Adrian Leverkühn keineswegs als einen Faust erleben, seine
religiöse Sonderform“.
104 Vietta: Zweideutigkeit der Moderne, S. 9.
105 Crawford: Exorcising the Devil, S. 168.
106 Pfleger: Der Teufel und Adorno, S. 287.
107 Ebd.
108 Hamburger: Anachronistische Symbolik, S. 311.
214 6 Der Teufel
Die Leser*innenschaft neigt Hamburger zufolge nicht nur dazu, einen Gegen-
entwurf zu Zeitbloms unzuverlässiger Darstellung der Ereignisse zu erstellen,
sondern stellt auch Paratexte des Romans (vor allem den Titel selbst) und
Kommentare des Autors automatisch in Frage.
Wie aber soll man das Teufelsgespräch interpretieren, wenn man es mit kei-
nem Faust-Roman zu tun hat? Laut Hamburger als eine „dichterische Produktion
Leverkühns“;109 Crawford stimmt dieser Interpretation zu und glaubt, das Teu-
felsgespräch sei in der Tat ein Fragment für die Weheklag:110 Im Kapitel vor dem
Teufelsgespräch erfährt die Leser*innenschaft durch Zeitblom, dass Leverkühn
an der Vertonung von Shakespeares Komödie Love’s Labour’s Lost in Palestrina
arbeitet. Dabei werden nicht nur inhaltliche Entsprechungen zum Teufelsgespräch
sichtbar, etwa die Präsenz eines Königs und dreier Gefährten, die sich mit den drei
Teufelsgestalten vergleichen lassen, oder der Verzicht auf die Liebe, bei Shake-
speare zugunsten der intensiven Beschäftigung mit der Philosophie, in Doktor
Faustus hingegen mit der Musik.111 Vielmehr ähnelt das Teufelsgespräch auch
dem komisch-grotesken Charakter von Shakespeares Stück, der in Manns Roman
ebenfalls erkennbar wird, z. B. an der Tatsache, dass der eine Sportmütze (!) tra-
gende Teufel seinem Gegenüber dazu auffordert, auf Deutsch zu reden, obwohl er
selbst ständig die Sprache wechselt. Gleichwohl könnte das Teufelsgespräch eine
reine Erfindung des unzuverlässigen Erzählers sein: Beispiele seiner Unzuverläs-
sigkeit sind allemal zu finden, man braucht nur daran zu denken, dass Zeitblom
wieder nicht anwesend war und dass er das Dokument mit zitternder Hand aus
einem undatierten Notenpapier abschreibt.112 Börnchen spricht 2006 sogar von
einer „geheime[n] Identität“113 zwischen Zeitblom und Leverkühn, was – zusam-
men mit Kinzels Betrachtung von Zeitblom als Agenten des Teufels – die Tür
zu folgenden Fragen öffnet: Sind denn Zeitblom und Leverkühn etwa dieselbe
Figur? Erzählt Zeitblom doch von sich selbst? Ist Zeitblom der eigentliche Faust
des Romans?
Börnchen weist in seiner Monographie mehrfach darauf hin, dass das Schrei-
ben einer Biographie die Bewältigung eines Paradoxons impliziere, nämlich das
des Erzählens vom Leben im toten Zeichenkörper der Buchstaben, was in Doktor
Faustus durch die „musikalische“ Faktur des Textes, der durch das Vorlesen neue
Interpretationen ermögliche, aufgehoben wird.114 Dieses Schwingen der Spra-
che ist, genau gesehen, im Fall von Thomas Manns „Musiker-Roman“ (Ent: 25)
ein (verstimmtes) Mit-Schwingen vergleichbar zur Aufführungspraxis des Instru-
ments, das der Erzähler spielt und das sich ebenfalls kraft der Präsenz von Spiel-
und Resonanzsaiten, der möglichen Anwendung der Scordatura und, nicht zuletzt,
der Praxis der Verzierung durch Zweideutigkeit auszeichnet: Der Roman muss
vorgelesen und – wie (nicht nur) in der Aufführungspraxis barocker Musik –
mehrfach wiedergelesen werden, denn jedes Vorlesen und Wiederlesen verleiht
der Interpretation neue Konnotationen.115
Doktor Faustus ist nicht nur von Teufelsevocations geprägt, sondern auch (ver-
gleichbar zum oben erwähnten Stück Shakespeares) von Komik und Humor nicht
selten grotesker Natur: Börnchen betont unter Bezug auf Thomas Manns Selbst-
kommentare, Paul de Man und Friedrich Schlegel eben diese Eigenschaft des
Textes, indem er zugleich darauf hinweist, dass es sich „um eine Entscheidung
[handle], Komik oder Humor und Allegorizität zu sehen“.116 Das komische Poten-
zial von Doktor Faustus tritt auch in den in Palestrina angesiedelten Kapiteln
zutage, etwa in der Charakterisierung der Familie Manardi. Signora Manardi bei-
spielsweise, „von den Ihren Nella genannt – ich glaube, sie hieß Peronella“ (DF:
309), sei „eine stattliche Matrone römischen Typs“ (ebd.). Nicht weniger grotesk
wirkt daneben die Figur Amelias,
ein leicht zum Närrischen geneigtes Kind, das die Gewohnheit hatte, bei Tische den
Löffel oder die Gabel vor ihren Augen hin und her zu bewegen und dabei irgend
ein Wort, das ihr im Sinn hängen geblieben, mit fragender Betonung wiederholt
vor sich hin zu sprechen. (ebd.)
114 Siehe etwa S. 182–202. Vgl. Kap. 5, insbesondere die Echo-Wirkung von Zeitbloms
Beschreibung der fiktiven Kantate Leverkühns (5.1.2).
115 Zur Viola d’amore und Scordatura vgl. Kap. 7.
116 Börnchen: Kryptenhall, S. 90. Siehe dort auch S. 81–91.
216 6 Der Teufel
„Landmann“ (ebd.) ist. Der Advokat darf den nicht nur damaligen und nicht
ausschließlich italienischen Höflichkeitsvorschriften gemäß, welche die gesell-
schaftlichen Verhältnisse widerspiegeln, nicht mit einem liebevollen Spitznamen
angesprochen werden. An erster Stelle muss immer sein prestigevoller Beruf
stehen. Nichts ist ihm verboten:
Der Advokat übte allem Anschein nach seinen Beruf nicht mehr aus, sondern las
nur noch die Zeitung, – dies allerdings unausgesetzt, wobei er sich an heißen Tagen
erlaubte, in seinem Zimmer bei offener Tür in Unterhosen zu sitzen. (DF: 310 f.)
Der einzige, der sich über dieses Verhalten beschwert, ist der Landmann Alfo,
wobei Privilegien, die vom sozialen Status abhängig sind, erneut durch die Komik
der Narration zutage treten.
Eine Schilderung der opulenten Mahlzeiten darf natürlich nicht fehlen: „eine
gehaltvolle Minestra, Singvögelchen mit Polenta, Scaloppini in Marsala, ein
Hammelgericht oder Wildschwein mit süßer Zukost, auch viel Salat, Käse und
Früchte“ (DF: 312) werden aufgezählt und am Ende gibt es Kaffee und Zigaretten.
Signora Manardi kann selbst nach einer solchen Mahlzeit fragen, ob die Gäste satt
sind und ob sie vielleicht noch ein bisschen Fisch essen möchten. Wichtig für sie
ist, dass die Gäste viel Wein trinken, denn „[f]a sangue il vino“ (ebd.). In diesem
falsch zitierten Sprichwort finden sich die zwei koexistierenden Deutungsperspek-
tiven. Erstens verweist das Blut auf den Teufel, und speziell auf den Teufelspakt
– es handelt sich zudem in diesem Fall um kein gutes Blut, da das Sprichwort in
der Regel: Il vino fa buon sangue lautet. Zweitens wird dies von einer komisch-
grotesken Figur geäußert und verweist auch auf eine gewisse Genussfähigkeit
sowie zugleich auf einen gewissen italienischen Aberglauben, was zu den wieder-
kehrenden Topoi in den Narrationen über Italien zählt.117 Der intramediale Bezug
auf Heinrich Manns Die kleine Stadt wird hier deutlich, da bestimmte Mikrofor-
men des Romans erwähnt und reproduziert werden;118 darüber hinaus profiliert
sich auch in der literarischen Narration über Italien eine signifikante Zweideu-
tigkeit: Italien als Land der Kultur119 vs. Italien als Land des Aberglauben, der
Genussfähigkeit und der Volkstümlichkeit.120
117 Vgl. auch Goethe, Johann Wolfgang von: Italienische Reise. Hrsg. v. Jochen Holz.
Berlin: Rütten & Loening 1983 [1813–17], 3. Aufl., S. 221 f. (19.03.1787, Neapel).
118 Darüber hinaus erinnern diese Beschreibungen auch an das Werk Giovanni Vergas.
119 In diesen Kapiteln aus dem Roman z. B.: Dante für die Literatur, Palestrina für die
Musik, „die Ruinen eines antiken Theaters“ (DF: 308) für die Kunst.
120 Das Thema ist immer noch aktuell: siehe z. B. den mehrfach ausgezeichneten Film La
grande bellezza von Paolo Sorrentino (2013). Berühmt ist auch Federico Fellinis La dolce
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 217
In einfachen Fällen wird die Reihe zwischen Vertikale und Horizontale verteilt und,
sobald die zwölf Töne vollständig sind, wiederholt oder durch eines der Derivate
ersetzt [...]. (PhnM: 64)
In diesem Kontext verwundert kaum, dass die in der Dodekaphonie zentrale Zahl
zwölf ebenfalls ein Vielfaches von zwei ist und somit wieder auf die Zweideu-
tigkeit hinweist: Die vorliegenden Ausführungen begannen mit der lexikalischen
Bedeutung der Zahl zwei und wurden dann auf weiteren Ebenen der literatur-
wissenschaftlichen Analyse fortgeführt. Darüber hinaus findet sich das Wesen der
Neuen Musik Adorno zufolge „einzig in den Extremen“ (PhnM: 14) ausgeprägt,
was mit sich bringt, dass er diese Werke nicht einmal als ,Werk‘ bezeich-
nen würde.122 Ein verwandtes Konzept drückt Thomas Mann in Bezug auf die
Literatur, und speziell auf den Roman seiner Zeit, in der Entstehung aus:
Mein Vorurteil war, daß neben Joyces exzentrischem Avantgardismus mein Werk
wie flauer Traditionalismus wirken müsse. Daran ist wahr, daß traditionelle Gebun-
denheit, sei sie selbst schon parodistisch gefärbt, leichtere Zugänglichkeit bewirkt,
die Möglichkeit einer gewissen Popularität in sich trägt. Doch ist sie mehr eine
Sache der Haltung als des Wesens. „As his subject-matter reveals the decompo-
sition of the middle class“, schreibt Levin, „Joyce’s technique passes beyond the
limit of realistic fiction. Neither the Portrait of the Artist nor Finnegan’s Wake is a
novel, strictly speaking, and Ulysses is a novel to end all novels.“ Das trifft wohl
auf den Zauberberg, den Joseph und Doktor Faustus nicht weniger zu, und T. S.
Eliots Frage „whether the novel had not outlived its function since Flaubert and
vita (1960). Beide Filme wurden in Rom gedreht, also in derselben Region wie Palestrina
(Lazio). Die Region, Zentrum des römischen Reiches, übernimmt also eine prototypische
Funktion sowohl in der Literatur als auch in der Filmkunst.
121 Siehe Börnchen: Kryptenhall, S. 180 (auch Fußnote 672). Zur Dialektik von Doktor
James [...]“ korrespondiert genau mit meiner eigenen Frage, ob es nicht aussähe,
als käme auf dem Gebiet des Romans heute nur noch das in Betracht, was kein
Roman mehr sei. (Ent: 73; Herv. i. O.)
Der Autor selbst betrachtet einige seiner Werke, darunter auch Doktor Faustus,
zusammen mit Werken von Joyce als „Nicht-Romane“, weil sie mit Konventio-
nen der vorigen Epochen gebrochen haben – mit der reservatio, dass Thomas
Mann dem obigen Zitat entsprechend Joyces Romanen Avantgardismus und sei-
nen eher Traditionalismus zuschreibt.123 Die Kategorie des Romans selbst sei
seiner Meinung nach in der Moderne zweideutig geworden und bedürfe einer
Infragestellung, die also nicht nur die Einordnung von Doktor Faustus in die
Bearbeitungen des Faust-Stoffes, sondern im Allgemeinen die Gattung ,Roman‘
selbst betrifft. Durch jene evocations und Zweideutigkeiten verweise der Roman
der Moderne im Endeffekt auf sich selbst, ähnlich der Neuen Musik, die zugleich
von Selbstreferentialität und Zweideutigkeit geprägt ist.124
Umberto Eco definiert die ästhetische Botschaft sui generis als zweideutig und
autoreflexiv:125
Die Botschaft hat eine ästhetische Funktion, wenn sie sich als zweideutig struk-
turiert darstellt und wenn sie als sich auf sich selbst beziehend (autoreflexiv)
erscheint, d. h. wenn sie die Aufmerksamkeit des Empfängers vor allem auf ihre
eigene Form lenken will. [...]
Eine völlig zweideutige Botschaft erscheint als äußerst informativ, weil sie mich
auf zahlreiche interpretative Wahlen einstellt, aber sie kann an das Geräusch
angrenzen, d. h. sie kann sich auf bloßes Geräusch reduzieren. Eine produk-
tive Ambiguität ist die, welche meine Aufmerksamkeit erregt und mich zu einer
Interpretationsanstrengung anspornt. [...]
[E]ine Botschaft, die mich in der Schwebe zwischen Information und Redundanz
hält, die mich zu der Frage treibt, was das denn heißen soll, während ich im Nebel
der Ambiguität etwas erblicke, was auf dem Grunde meiner Decodierung leitet,
eine solche Botschaft beginne ich zu beobachten, um zu sehen, wie sie gemacht ist.
Auch Thomas Manns Roman stellt die Leser*innenschaft, wie dies auch das vor-
liegende Kapitel belegt, auf zahlreiche interpretative Optionen ein und erzeugt
viele produktive Ambiguitäten. Er kann, um mit Eco weiter zu argumentieren, im
123 Und die Erzählinstanz von Doktor Faustus selbst, darauf weist Börnchen hin, wiederholt
mehrfach, sie schreibe doch keinen Roman. Siehe Börnchen: Kryptenhall, S. 196.
124 Vgl. auch 1.1.6 u. Bernhart, Walter u. Werner Wolf (Hrsg.): Self-Reference in Literature
Deutungsprozess jedoch auch nur auf die Oberfläche des Textes reduziert wer-
den und daher die Aufmerksamkeit lediglich auf seine Form lenken. Als Vorbild
für dieses Phänomen von gleichzeitiger Autoreflexivität und Zweideutigkeit dient
in Doktor Faustus die Zweideutigkeit der Musik: Der Thomas Mann zufolge
hybride, schwer definierbare Nicht-Roman, der sich mit dem Adorno zufolge
hybriden, schwer definierbaren Nicht-Werk der Neuen Musik vergleichen lässt,
versucht diese Zweideutigkeit der Musik zu reproduzieren.
Obwohl lediglich der zweite Teil des vorliegenden Abschnitts den Titel
„Zweideutigkeit(-en)“ trägt, gibt es auch im ersten Teil Doppeldeutigkeiten, die
folglich als roter Faden der präsentierten Argumentationen dienen: Die Frage
nach der Präsenz eines Teufels bzw. einer Teufelssymbolik im Roman lässt sich
aufgrund der vielen Ambiguitäten des Textes nicht pauschal beantworten. Dies
ergibt sich aus einer Analyse, die sich von der Untersuchung der Motive bis hin
zur Berücksichtigung von Stoff und Form erstreckte. Doktor Faustus versucht
eher, die im Text erwähnte Zweideutigkeit der Musik im Medium der fiktionalen
Schrift zu reproduzieren. Im folgenden Abschnitt wird untersucht, ob und wie
in Manzonis Oper dieser Eigenschaft des Textes und folglich diesen produktiven
Ambiguitäten Rechnung getragen wird und wie grundsätzlich der Transfer des
Teufelsgesprächs in das neue Medium geschieht.
In diesem letzten Abschnitt wird auf die Rezeption der Teufelsproblematik, vor
allem durch die Analyse von Manzonis Teufelsgespräch in der Doktor Faustus-
Oper eingegangen. Mit der Teufelsproblematik beschäftigt sich mehr oder weniger
die Mehrheit der in dieser Studie behandelten Kompositionen: Die Komponis-
tin Fine, deren Werk im nächsten Kapitel behandelt wird, macht etwa darauf
aufmerksam, dass die Auseinandersetzung mit bestimmten interpretatorischen
Fragen, z. B. mit Zeitbloms Zuverlässigkeit und eben mit dem Teufel, funda-
mentale Voraussetzung für das Transferieren/Transformieren von Mikroformen
der Vorlage ist.126 Jedoch zählt Manzonis Oper zu den wenigen existierenden
Transpositionen des Romans, die nicht nur eine Antwort auf die Frage, ob es
einen Teufel in Doktor Faustus gebe, zu liefern versuchen, sondern auch das
Teufelsgespräch selbst vertonen.
Im Folgenden soll die Aufmerksamkeit auf das sechste Bild aus Manzonis Oper,
deren Entstehung und Eigenschaften im fünften Kapitel dieser Arbeit bereits the-
matisiert wurden,127 gerichtet werden. Das Teufelsgespräch im sechsten Bild stellt
den wichtigsten und längsten Teil des ersten Aktes von Manzonis Oper dar (M-
DF: 59–106). Die Anweisung für das Bühnenbild ist erneut vage: „Un luogo o più
luoghi“ (M-DF: 59), also „ein Ort oder mehrere“.128 Das Bühnenbild ist schlicht
und dunkel. Bei Thomas Mann ruft Leverkühn, als er eine Person im Zimmer
fühlt: „Chi è costà!“ (DF: 326), in der italienischen Übersetzung ergänzt Pocar
„grido in italiano“ (I-DF: 259), „Ich rufe auf Italienisch“, um den Sprachwechsel
zu verdeutlichen. Da dies im Medium der Oper nur im Libretto, und zwar im
Nebentext, möglich wäre, wird hier die Entscheidung getroffen, den Sprachwech-
sel auch bei der Aufführung beizubehalten, daher die Übersetzung ins Englische:
„Who’s there?“ (M-DF: 59, T. 486 f.). Durch diese auf den ersten Blick wenig
bedeutende Beobachtung tauchen einige relevante Aspekte der Veroperung auf:
Manzoni hätte das Zitat auch etwa ins Französische übertragen können. Die Ver-
wendung der englischen Sprache erlaubt der Oper, sich indirekt auf die bei der
Auswahl der Figur ausgelassene Figur Schildknapp zu beziehen, der sich zum
Zeitpunkt der histoire ebenfalls in Palestrina befand und beruflich eben Texte ins
Englische übersetzte.129 Auch antizipiert das die spätere Vertonung von Shakes-
peares The Tempest bei der Echo-Episode, da bei Manzoni die fiktive Vertonung
Leverkühns wie die Weheklag transponiert wird130 sowie den späteren, im vori-
gen Kapitel bereits erwähnten intermedialen Bezug noch einmal auf Shakespeares
The Tempest gleich nach der Entscheidung, die Neunte Symphonie zurückzuneh-
men („Then to the elements. Be free, and fare thou well!“, DF: 694, M-DF: 191,
T. 660). Zugleich wird somit indirekt auf eine weitere Vertonung verwiesen, mit
der sich Leverkühn zum Zeitpunkt des Teufelsgesprächs in Palestrina beschäf-
tigt, nämlich die von Love’s Labour’s Lost, also ebenfalls eine Vertonung nach
Shakespeare. Die Bezüge des Romans auf Shakespeare werden in der interme-
dialen Transposition hervorgehoben, indem sie gleichzeitig das Augenmerk auf
Leverkühns Kosmopolitismus und sein Interesse nicht nur an deutschsprachigen
Vorlagen richten.
Der Teufel fordert Adrian auf, in seiner Sprache zu sprechen, die in diesem
Fall nicht Deutsch ist, da das Gespräch auf Italienisch geführt wird. Er sei da,
„per trattare d’affari“ (M-DF: 59, T. 493), also „um die Geschäfte mit […] [ihm]
zu besprechen“ (DF: 327). Nachdem Adrian wegen der Kälte des Teufels Mantel
und Hut angezogen hat, sagt er: „Siete qui ancora? Mi assale il sospetto che non
ci siate affatto“ (M-DF: 60, T. 498 f.; „Ihr seid noch da […]. Das wundert mich.
Denn nach meiner starken Vermutung seid ihr nicht da“, DF: 328). So werden bei
Manzoni wie auch in Manns Roman sofort die Zweifel Adrians thematisiert, was
er sieht und fühlt. Manzoni interpretiert in seinen Schriften den Teufel als eine
bloße Projektion des kranken Leverkühn: Die venerische Ansteckung, deren Opfer
Adrian geworden ist, verursache Veränderungen in der Zellstruktur des Gehirns,
was Auswirkungen auf die mentalen Prozesse des Protagonisten hätte.131 Im
Interview, welches im Zuge dieser Arbeit geführt wurde, sagt Manzoni, dass ein
Komponist doch nicht auf die Figur des Teufels verzichten könne.132 Abgesehen
von den Widersprüchlichkeiten, die oft in den Selbstäußerungen eines Autors auf-
tauchen, steht tatsächlich die gesamte Oper – wie auch Thomas Manns Roman –
im Zeichen eines zwiespältigen Verhältnisses zwischen der Deutungsebene des
Faust-Romans und dem Eindruck eines Deliriums, wie im Folgenden aufgezeigt
wird.
Leverkühn wiederholt mehrmals „Taci, taci!“ (z. B. M-DF: 66, T. 533 f.),133
als ob er diese Visionen stoppen wolle. Durch diese Aufforderung zum Schwei-
gen tritt auch in der intermedialen Transposition das Motiv des Schweigens in
den Vordergrund, das etwa Frau Schweigestill prosopoietisch verkörpert, die nicht
zufällig mit ihren bayerischen Worten Leverkühns Abschiedsrede zum Schwei-
gen bringt.134 Darüber hinaus personifiziert der Teufel jenen Ausweg aus der
Sterilität der Kunst durch eine revolutionäre Lösung, der im fünften Kapitel
der vorliegenden Studie angesprochen wurde: Diese Lösung setzt sich der ande-
ren Möglichkeit, der des Verstummens, also des Schweigens, entgegen.135 Zwar
131 Siehe Manzoni: Il duplice volto di Faust. In: Ferruccio Busoni Website. < https://www.
erscheint im Roman die Aufforderung zum Schweigen nicht als rhetorische gemi-
natio,136 das Motiv taucht jedoch an exponierter Stelle auf, und zwar gleich in
den ersten Zeilen von Leverkühns Schrift: „,Weistu was so schweig. Werde schon
schweigen‘“ (DF: 324). Weiters wird es in Verbindung mit der Musik genannt,
und zwar wieder durch einen Vergleich zwischen dem Schreiben eines sprachlich
fixierten Textes und dem Schreiben einer musikalischen Komposition: „Schweige
es alles hier aufs Musikpapier nieder“ (DF: 325). Manzonis Oper, die nur aus
Zitaten in direkter Rede aus dem Roman besteht, rückt das Motiv des Schwei-
gens durch die geminatio in den Vordergrund, was in der Komposition auch mit
dem dort zentralen Motiv der Sprachkrise verknüpft ist.137
Die Worte „Taci, taci!“ begleiten die Erklärungen des ersten Aussehens des
Teufels, als „Lui I“, „Er I“ in der Partitur benannt: In diesem Fall präzisiert der
Satan die Dauer des Paktes. Der erste Teil dieses Bildes konzentriert sich haupt-
sächlich auf das Gespräch zwischen Adrian und Lui I, der mit einer Bassstimme
singt. Dem Orchester wird eine Begleitfunktion zugewiesen (Abbildung 6.1):
Abbildung 6.1 Lui I spricht mit Adrian. M-DF: S. 65 f., T. 530–535. Vgl. DF: 332
An dem obigen Notenbeispiel wird ein weiteres Motiv sichtbar, das auch in
dem Teufelsgespräch von Doktor Faustus eine zentrale Rolle spielt, nämlich das
der Zeit.138 Das Erste, was der Teufel Leverkühn anbietet, ist eben Zeit: Im Ver-
gleich zu Gott kann der Teufel keine Unendlichkeit anbieten, dementsprechend
136 Die Wiederholung erinnert in der Oper an Frau Manardis „Bevi, bevi!“ (DF: 300):
Diese Worte werden noch einmal zu Beginn von Leverkühns fiktivem Dokument erwähnt.
Vgl. auch DF: 334.
137 Siehe auch nochmals Dantes Canto XXVII: „Und Schweigen wollt mir länger nicht
gefallen“. Alighieri: Die göttliche Komödie, Hölle, Canto XXVII, V. 107, S. 147.
138 Das Motiv taucht auch in Dantes Canto XVII auf: „Es ist zu spät“, Alighieri: Die
wird hier – darauf weist auch Kinzel hin – „befristete Zeit und ein gesetztes
Ende“139 angeboten. Das Ende wird bei Manzoni im Gegensatz zum Roman
sofort erwähnt: „ventiquattr’anni“, also vierundzwanzig Jahre. Diese Zeit ist eben-
falls zweideutig, denn die Disziplinierung der Frist – so Kinzel – ermögliche die
Produktion. Die Zeit ist daher Ausdruck der Enge und Breite zugleich und erfülle
eine doppelte Funktion als „Medium der Produktion“140 einerseits und „als Maß
des Tauschs“141 andererseits. Dieses Konzept findet sich in den Worten des ers-
ten Teufels wieder, der im Roman feststellt: „und […] so eine Zeit [ist] auch eine
Ewigkeit“ (DF: 363), sprich: begrenzte Zeit erlaube unbegrenzte Produktion.
In den Paratexten der Oper wird der Teufel nicht einmal als solcher bezeich-
net: Auch im fiktiven Dialog des Romans werden die Äußerungen des Teufels
durch die Angabe „Er:“ (z. B. DF: 361; Herv. i. O.) angekündigt. Im Medium
der Oper wird der dialogische Charakter des Textes verstärkt, der kraft dessen für
einen Entwurf einer vokalen Komposition Leverkühns gehalten werden könnte.
Bei Manzoni wird zudem jedes Mal spezifiziert, um welche Gestalt des Teu-
fels es sich handelt (Lui I, Lui II und Lui III): Die Oper zielt auf eine größere
Präzision und Klarheit in einigen Details der histoire ab, was auch durch die
unmittelbar explizit genannte Frist (24 Jahre) zum Ausdruck kommt und dar-
über hinaus durch die Auslassung von Zeitbloms ständigen Digressionen möglich
ist.142 Die präzisen Angaben zur jeweils singenden Gestalt des Teufels, dem auch
jeweils eine unterschiedliche Stimmlage gegeben wird (Bass, tenore leggero und
Sopran), erweckt wie in der Abschiedsrede den Eindruck einer Persönlichkeitss-
paltung, die in Manzonis Oper mit der Präzision eines Arztberichts erfasst wird.
Adrian befindet sich aber noch in diesem Schwebezustand zwischen Wahnsinn
und Rationalität und begreift nicht, dass die Stimmen bzw. Projektionen aus ihm
selbst kommen: Deswegen werden sie in der Oper als ,Lui‘ bezeichnet und nicht
etwa als ,Io‘, ,Ich‘ oder ,Adrian‘, was auch dafür sprechen könnte, dass es sich
doch nicht um eine Form von Persönlichkeitsspaltung handelt, denn Manzoni
hätte sie auch als Adrian I, II und III bezeichnen können. Bei der Urauffüh-
rung wird Leverkühns Entfremdung und infolgedessen die Deutungsebene des
Deliriums noch deutlicher als in der Partitur betont, indem Adrian nie auf Lui
schaut.
Das Wort „patto“, „Pakt“, das die Deutungsebene des Faust-Romans sowie das
zeitgebundene Motiv der Endlichkeit erneut in den Mittelpunkt rückt, wird durch
ein Crescendo, die Forte-Dynamik und eine darauf folgende Fermate besonders
hervorgehoben (Abbildung 6.2):
Und entsprechend tief, ehrenvoll tief, geht’s zwischendurch denn auch hinab, – nicht
nur in Leere und Öde und unvermögende Traurigkeit, sondern auch in Schmerzen
und Übelkeiten. (DF: 337)
Die Verwandlung von Lui I in Lui II ist, auch im Fall der nächsten Verwandlung
in Lui III, von erregter Orchestermusik gekennzeichnet. Wenn Lui II singt, über-
nimmt das Orchester im Allgemeinen eine deutlichere kommentierende Funktion
im Vergleich zum Part von Lui I: Besonders dramatisch wirkt die orchestrale
Begleitung bei der Erklärung der Krankheit Adrians durch Lui II (M-DF: 74–
77). Dies kann einerseits daran liegen, dass das Gespräch mehr ins Detail geht,
da Leverkühns Art von Krankheit und seine musikalische Inspiration thematisiert
werden. Andererseits könnte es auch sein, dass der zweite Teufel mit dem „Mu-
sikintelligenzler“ (DF: 327) korrespondiert. Dementsprechend wird ihm auch eine
143 InPocars Übersetzung ist die Konnotation nicht zu finden. Vgl. Mann: Doctor Faustus,
S. 267. In Dantes Inferno sind die Wörter „dolore“, „basso“ und „scendere“ mehrmals
wiederholt. Siehe z. B. „PER ME SI VA NELLA CITTÀ DOLENTE PER ME SI VA
NELL’ETTERNO DOLORE“, „DURCH MICH GEHT’S EIN ZUR STADT DES JAM-
MERS, DURCH MICH GEHT’S EIN ZUR ENDLOSEN QUAL“; „Mentre ch’i’ ruvinava
in basso loco“, „Während ich so hinuntertaumelte“; „Così scendemmo nella quarta lac-
ca“, „Darüber kletterten wir nun in die vierte Aussparung“. Alighieri, D.: La commedia.
Inferno, Canto III V. 1 f. S. 42 f., Canto I V. 61 f. S. 16 f.; Canto VII V. 16 f. S. 104 f.
6.2 Vom Roman zur Musik 225
besondere Stimme, die des tenore leggero, gegeben und der musikalische Verlauf
erweist sich, wenn er mit dem von Lui I verglichen wird, als deutlich virtuoser
(Abbildung 6.3):
Abbildung 6.3 Virtuoser Verlauf von Lui II. M-DF: 77, T. 594 ff.
Wenn Lui II „Dovrà ben il diavolo intendersi di musica“144 singt, lautet die
Anweisung „liberamente“, „frei“, als ob er sein musikalisches Talent durch eine
Art kleiner Improvisation beweisen wollte (Abbildung 6.4):
Der zweite Lui spielt mit der Musik; darüber hinaus wäre der Stimmtypus des
tenore leggero145 für eine Oper mit tragischer Handlung, besonders im Teatro
alla Scala, ungeeignet:146 Manzonis Oper zeigt hier ihr komisches Potenzial und
spielt mit der Oper selbst, und zwar speziell mit der italienischen, in einem der
wahrscheinlich renommiertesten Opernhäuser der Welt.147
Noch merkwürdiger könnte auf den ersten Blick die Wahl einer Sopranstimme
für Lui III erscheinen: Warum wurde diese Teufelin nicht als ,Lei I‘ bezeichnet?
Die weibliche Darstellung des Bösen unter einem männlichen Namen führt in
der Oper zu einer Zweideutigkeit, welche die Kategorie des Geschlechts betrifft.
Auch scheint sich hier ein gender trouble zu profilieren, der die traditionellen
144 Vgl. DF: 353: „Es sollte der Teufel wohl was von Musik verstehen“.
145 Im älteren Italienischen auch mit der Schreibweise tenore leggiero bekannt.
146 Siehe Seedorf, Thomas: Art. Stimmengattungen, Stimmtypen und Rollenfächer. In:
MGG Online. Zuerst veröffentlicht 1998, online veröffentlicht 2016. < https://www.mgg-
online.com/mgg/stable/11182 > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
147 Vgl. auch Noller: „Sono cose lontane“, S. 42. Dies passiert auch in der Fitelberg-
148 Siehe Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New
York/London: Routledge 2007 [1990]. Die Beobachtung ist auch legitim, dass wiederum
eine weibliche Stimme unter einem männlichen Namen erscheint, was zu einer gewis-
sen Namenlosigkeit des Weiblichen führt. Die Rolle, in die aber die weibliche Sängerin
schlüpft, ist die des Inbegriffs des Bösen.
149 Vgl. DF: 360.
150 Vgl. DF: 363.
151 Manzoni: Il duplice volto, ebd.
152 Vgl. 5.2.1.1.
6.2 Vom Roman zur Musik 227
Bildern verbunden sind, „in denen entweder der Teufel selbst oder seine Abgesandten
vorkommen, oder es um die Verletzung des Liebesverbotes geht, das ebenfalls auf den
Teufel hinweist“. Sorg: Beziehungszauber, S. 198.
228 6 Der Teufel
kein genderneutrales Kostüm für die weiblichen Teufelinnen vorsieht und zugleich
der Tatsache Rechnung trägt, dass in Doktor Faustus die Kleidung des Teufels
eine wichtige Rolle spielt, da sie detailliert wiedergegeben wird (Abbildung 6.5):
Abbildung 6.5 Die Skizze Versaces für eine Teufelin. Programmheft Teatro alla Scala,
S. 57 Mit freundlicher Genehmigung der Fondazione Teatro alla Scala, Mailand
158 „Teufelsfiguren mit dem Schwanz gefallen mir nicht; Teufelsfiguren, die wie Teufel
angezogen sind, interessieren mich nicht, weil der Teufel in uns ist“. Programmheft Teatro
alla Scala: S. 57. Dieses Zitat ist wahrscheinlich von Gianni Versace, da auf diesen Seiten
des Programmhefts Skizzen von ihm für die Kostüme abgebildet sind, dennoch findet man
keine Information darüber, wer diese Texte verfasst hat. Siehe ebd., S. 56 f.
6.3 Fazit 229
aussehen, auf die Adrian jedoch niemals schaut: Einerseits wird die „Normali-
tät“ des Teufels hervorgehoben, andererseits das Spannungsverhältnis zwischen
der Deutungsperspektive des Faust-Romans und der des Nicht-Faust-Romans ein
wenig ins Schwanken gebracht, indem der Aspekt des Deliriums mit verschiede-
nen Mitteln der Oper realisiert wird.159 Wer also in Manzonis Oper eine deutliche
Antwort auf die Kontroverse um den Teufel im Roman sucht, mag – besonders in
Anbetracht der Partitur – enttäuscht sein, da dort viele kontroverse und interpre-
tatorisch ambivalente Aspekte kaum an Klarheit gewinnen und lediglich in das
plurimediale Medium der Oper transferiert und mit seinen Mitteln wiedergegeben
werden. Es sind weitere Aspekte, die bei Manzoni verstärkt werden und die das
Medium Oper durch die nötige Reduktion des Ursprungstextes besonders hervor-
hebt: Zu diesen zählen die Bezüge auf Shakespeare und der musikalische Raum
Italiens. Diesen letzten Punkt betreffend, wird jedoch in der Oper auf Palestrinas
geistige Musik verzichtet und die Entscheidung getroffen, ganz im Bereich der
profanen Musik, auch in dem der opera buffa, zu bleiben, was den parodistischen
Charakter der Vorlage verstärkt.
6.3 Fazit
159 Sorgbetont außerdem, dass andere Opernfiguren die gleiche Stimme wie Lui besitzen.
Vgl. Sorg: Beziehungszauber, S. 185.
230 6 Der Teufel
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Zeitblom und die Viola d’amore
7
Die Viola d’amore ist, so soll in diesem Kapitel aufgezeigt werden, viel mehr
als eine bloße intermediale Systemerwähnung. Das Streichinstrument zeichnet
sich durch die Präsenz von Spiel- und Resonanzsaiten aus, die beim Vorspielen
mitschwingen. Klanglich ähnelt es sowohl einer Bratsche als auch einer Geige:
Demnach verwundert es nicht, dass die deutsche Bezeichnung, die jedoch selten
verwendet wird „Liebesgeige“ lautet. Der erste Abschnitt des vorliegenden Kapi-
tels informiert über das Instrument und dessen Relevanz für die Familie Mann.
Im zweiten Abschnitt steht Zeitbloms Unzuverlässigkeit, die sich mit der Technik
der Scordatura beim Spielen der Liebesgeige vergleichen lässt, im Vordergrund.
Zeitblom manipuliert Leverkühns Biographie: Anhand verschiedener Modelle und
Textindizien wird im Folgenden seine Unzuverlässigkeit auf den Prüfstand und
anschließend unter Beweis gestellt. Der dritte Abschnitt befasst sich mit zwei
Stücken aus Fines Four pieces from Doktor Faustus (2010) für Viola d’amore
und Klavier. Auch dort wird – etwa mittels ausgeschriebener Verzierungen in
der Stimme der Liebesgeige – die Manipulation von histoire und discours von-
seiten der Erzählinstanz im Medium der Instrumentalmusik betont. Auf Hagens
Werk To Zeitblom (2011) für Hardangerfiedel und Orchester konzentriert sich der
vierte Abschnitt des vorliegenden Kapitels. Die Komposition profiliert sich als
mehrdimensionale Reflexion über einige Thematiken, die auch in Doktor Faustus
vorhanden sind, etwa nationale Identität, Erinnerung und subjektives, unzuverläs-
siges Erzählen. Darüber hinaus sieht die Partitur Autorinszenierung vor, was zu
medial und konzeptuell bedingten Ähnlichkeiten und Differenzen zur Autorinsze-
nierung in Thomas Manns Entstehung des „Doktor Faustus“ führt. Der letzte
Abschnitt widmet sich der Zeitblom-Figur in Manzonis Oper: Auch dort kann er
mit einer Erzählinstanz, jedoch eher mit einer extern fokalisierten, verglichen wer-
den. Lediglich hier lässt sich die Frage aufwerfen, ob Zeitbloms Unzuverlässigkeit
durch das Medium der Oper und Manzonis spezifische Adaption überwunden
wird. Das vorliegende Kapitel konzentriert sich den vorigen Darlegungen entspre-
chend vor allem auf die Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz, die durch den Rekurs
auf die Viola d’amore (oder auf die Hardangerfiedel bei Lars Petter Hagen) im
Roman und in den Kompositionen verstärkt wird.
Viele Beiträge über Thomas Manns Doktor Faustus haben die Figur Zeitblom
ausführlich untersucht, nur wenige haben hingegen ihr Augenmerk auf das Instru-
ment gerichtet, das er spielt.1 Der Aufsatz von Ford B. Parkes-Perrett stellt zwar
einen ersten Versuch in dieser Richtung dar, lässt aber Raum für weitere Vertie-
fungen des Themas.2 Die Funktion der Viola d’amore im Text lässt sich nicht
nur auf das Liebesmotiv beschränken, sondern übt, intermedial betrachtet, einen
verstärkenden Effekt von narrativen Strategien aus.
Die Wahl der Viola d’amore für die Erzählinstanz Zeitblom ist kein zufälliges
Textelement, was sich sowohl anhand biographischer Daten über den Autor und
seinen Sohn als auch durch textuelle Indizien bestätigen lässt.3 Bezüglich die-
ses letzten Aspekts gilt es auf einer Abstraktionsebene, die mediale Differenzen
beachtet, Textpassagen und narratologische Strategien mit den Eigenschaften der
Viola d’amore und des Viola d’amore-Spielens zu vergleichen. Ein erstes Beispiel
bietet die folgende Präsentation des Erzählers auf den ersten Seiten des Romans
mittels Anwendung vieler loci a persona:
Ich bin eine durchaus gemäßigte und, ich darf wohl sagen, gesunde, human tem-
perierte, auf das Harmonische und Vernünftige gerichtete Natur, ein Gelehrter und
conjuratus des „Lateinischen Heeres“, nicht ohne Beziehung zu den Schönen Küns-
ten (ich spiele die Viola d’amore), aber ein Musensohn im akademischen Sinne des
Wortes, welcher sich gern als Nachfahre der deutschen Humanisten aus der Zeit
der „Briefe der Dunkelmänner“, eines Reuchlin, Crotus von Dornheim, Mutianus
und Eoban Hesse betrachtet. (DF: 12; Herv. A. O.)
1 Unter den aktuellen Beiträgen zum Erzähler von Doktor Faustus sei hier auf die folgenden
verwiesen: Baier, Christian: Die „Vita Adriani“ des Dr. Serenus Zeitblom: Hagiographische
Elemente in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“. In: Thomas-Mann-Jahrbuch 25
(2012), S. 75–98; Joy, Stephen: Melancholy Echo and the Case of Serenus Zeitblom. In:
Cosgrove, Mary u. Anna Richards (Hrsg.): Sadness and Melancholy in German-Language
Literature and Culture. Rochester/NY: Camden House 2012, S. 135–150.
2 Siehe Parkes-Perrett, Ford B.: Thomas Mann’s Silvery Voice of Self-Parody in Doktor
Zeitblom ordnet hier seine Kenntnisse hauptsächlich dem Trivium der Sieben
Freien Künste zu. Jedoch ist ihm die „dämonische Sphäre“ (Ent: 82) der Musik,
also eine Disziplin des Quadriviums, nicht fremd. Gleich am Anfang des Romans
erweist sich seine Rhetorik als nicht frei von Widersprüchen, denn trotz seiner
„auf das Harmonische und Vernünftige gerichtete[n] Natur“ (DF: 12) beschäf-
tigt er sich gerne mit Musik, der er zugleich durch den ganzen Roman hindurch
Dämonisches zuschreibt. Außerdem fühlt er sofort das Bedürfnis, in Klammern
zu spezifizieren, welches Instrument er spielt. Ob er wirklich behaupten darf,
eine „gesunde, human temperierte4 […] Natur“ (DF: 12) zu sein, gewinnt im
Laufe der Narration an Fragwürdigkeit, da er der Leser*innenschaft eine verzerrte,
kaum wertungsfreie Darstellung der Ereignisse liefert. Die in diesem Kapitel kon-
statierte Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz führt zur These, dass ihre Berichte
jederzeit in Frage gestellt werden dürfen und können.5
Durch das gespielte Instrument offenbart sich das „Geheimnis der Identi-
tät“ (DF: 549) Zeitbloms, der „alles andere als Serenus“6 ist. Im Folgenden
soll zunächst einmal die Viola d’amore vorgestellt werden, da es sich um ein
Instrument handelt, das man heutzutage sehr selten in Konzertsälen hört. Das
Vorwissen über Eigenschaften der Liebesgeige ist zudem fundamentale Voraus-
setzung für den Medienvergleich, der im zweiten Teil des vorliegenden Abschnitts
durchgeführt wird und narrative Strategien mit Aufführungspraktiken vergleicht.
7.1.1 Die Viola d’amore und ihre Bedeutung für die Familie
Mann
4 In diesem Fall verzichtet Zeitblom durch die Verwendung des Adjektivs „temperiert“
nicht auf einen intermedialen Bezug, der sich sowohl als ,Einzelreferenz‘ auf J. S. Bachs
Das Wohltemperierte Klavier als auch als ,Systemreferenz‘ auf die temperierte Stimmung
einstufen lässt. Der intermediale Bezug rückt die musikalische Stimmung in den Vorder-
grund. Zu den hier verwendeten Begriffen aus der Intermedialitätsforschung siehe etwa
Rajewsky: Intermedialität, S. 72 f.
5 Zur Unzuverlässigkeit Zeitbloms vgl. auch Petersen, Jürgen H.: Faustus lesen. Eine Streit-
schrift über Thomas Manns späten Roman. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007,
S. 47–63.
6 Steinby, Liisa: Kultur als Differenzierung: Die Funktion der Klöpfgeißel-Geschichte in
Thomas Manns Doktor Faustus. In: Interlitteraria 14 (2009) H. 2, S. 273–289, hier: S. 276.
234 7 Zeitblom und die Viola d’amore
7 Diese Fragen stellt sich auch der Viola d’amore-Spieler David Troutman nach der Lektüre
von Doktor Faustus. Zitiert in Scott, Rachel: Thomas Mann. The Viola d’Amore in Thomas
Mann’s novel Doctor Faustus, a literary connection for my 1772 Eberle viola d’amore.
In: Viola d’amore. Music & Instruments. < https://violadamore.com/index.php/dr-faustus.
html > (letzter Zugriff: 21.08.2020). Der Newsletter 1993 der International Viola d’Amore
Society enthielt den originalen Text Troutmans („The Viola d’amore in Doctor Faus-
tus“), den die Verfasserin dank des Präsidenten derselben Gesellschaft, Hans Lauerer, lesen
durfte. Die International Viola d’Amore Society hat sich intensiv auf diversen Kongressen
mit dem Thema beschäftigt: 2014 wurden z. B. die im Roman erwähnten Kompositionen
für das Instrument auf einem Kongress in Ungarn von Carlos Maria Solare vorgespielt
und erläutert. Hier sei auf die Webseite „Viola d’amore society“ verwiesen: < https://violad
amoresociety.org/ > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
8 Ebd.
9 Bibi war der Spitzname Michaels.
10 TB2: 17.05.1945, S. 206.
11 TB2: 21.07.1944, S. 79.
7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus 235
zu unterscheiden scheint: In der Liste Scotts, die sich auf das im Geigenkasten
gefundene Repertoire bezieht, kommen auch Hindemith und Casadesus vor.12
Die Viola d’amore wird in einer der ersten Untersuchungen des 20. Jahr-
hunderts zum Instrument als eine „Abart der Alt-Viola da braccio mit 5 bis 7
Spielsaiten und ebenso vielen Resonanzsaiten“13 beschrieben. Zeitbloms Viola
hat sieben Saiten und stammt aus der Parochialstraße, also aus dem Instrumenten-
Magazin Kaisersascherns.14 Dieses Instrument – wie die italienische und die
deutsche Bezeichnung ausdrücken – trägt Züge sowohl der Geige als auch der
Bratsche. Klanglich betrachtet ist aber laut Koehler die Viola d’Amore eher mit
der Bratsche zu vergleichen.15 Außerdem meinte Leopold Mozart, der Klang der
Liebesgeige eigne sich für Abendkonzerte,16 und nicht zufällig spielt Zeitblom in
Münchener Abendkreisen gern vor:
Leopold Mozart war auch überzeugt, die Viola d’amore sei leider oft ver-
stimmt.18 Harry Danks, Spezialist im Bereich der Viola d’amore, weist diese
Behauptung jedoch zurück: Es sei möglich, obwohl äußerst kompliziert, das
Instrument zu stimmen, „and often a suggested tuning or scordatura is added
by the composer“.19
12 Vgl. Scott, Rachel: Michael Mann’s library. Michael Mann’s sheet music.
Berlin: Funk 1938, S. 7. Danks betont, die Zahl der Saiten könne nicht festgestellt werden,
denn in den Museen Europas gibt es sehr unterschiedliche Instrumente. Danks, Harry: The
Viola d’Amore. In: Music & Letters 38 (1957) H. 1, S. 14–20, hier: S. 14.
14 Vgl. DF: 62 ff.
15 Vgl. Koehler: Beiträge, ebd.
16 Zitiert in Danks: The Viola d’Amore, S. 14.
17 Nochmals scheint die Erklärung Zeitbloms widersprüchlich: Am Anfang des Romans
bezeichnet er sich als deutschen Humanisten, dennoch bevorzugt er hier das Spielen vor
dem Reden.
18 Zitiert in Danks: ebd.
19 Ebd.
236 7 Zeitblom und die Viola d’amore
Eine wichtige Rolle spielen die Resonanzsaiten, die zum typischen Klang
beitragen:20
These strings are not touched by the bow but vibrate sympathetically when the
upper strings are played and give a resonance to the small but lovely and distinctive
tone-quality that is characteristic of the viola d’amore.
Zu den berühmtesten Meistern der Viola d’amore, etwa Gagliano, Stainer und
Tielke, zählt auch Eberle. Michael Mann, der eine von Eberle gebaute Liebesgeige
besaß, spielte daher ein sehr bedeutendes Instrument. Anfang des 20. Jahrhunderts
erfuhr die Liebesgeige ein echtes Revival – eine Folge der vielen Untersuchungen
dieser Zeit im Bereich der Musikinstrumente; die zahlreichen Studien von Curt
Sachs21 sowie die erwähnte Doktorarbeit Koehlers sind Beispiele dafür. Dieses
Revival spiegelte sich in den Werken vieler Komponist*innen wider, die entwe-
der ein Stück für das Instrument komponierten (z. B. Paul Hindemith) oder es
in orchestrale Werke einfügten (z. B. Richard Strauss).22 Auch die Besetzung
von Pfitzners Oper Palestrina enthält die Viola d’amore: All diese biographi-
schen und historischen Zusammenhänge scheinen in den Roman Doktor Faustus
eingeflossen zu sein.23
Das Instrument, das Zeitblom spielt, verstärkt diverse Aspekte des discours
von Thomas Manns Doktor Faustus. Die Verstärkung des Liebesmotivs lässt
sich beispielsweise nicht übersehen. Dass Zeitblom Leverkühn liebt, sollte kein
Geheimnis sein: „[I]ch habe ihn geliebt“ (DF: 15), stellt er im ersten Kapitel des
Romans fest. „As the biography of Leverkuehn is a labor of love24 by Zeitblom,
20 Ebd.
21 Exemplarisch sei hier auf die folgende Publikation verwiesen: Curt, Sachs: Real-Lexikon
der Musikinstrumente zugleich ein Polyglossar für das gesamte Instrumentengebiet. Mit
200 Abbildungen. Berlin: Bard 1913.
22 Vgl. Danks: The Viola d’Amore, S. 19.
23 Siehe Parkes-Perrett: Silvery Voice, S. 29 (Fußnote 10).
24 Dass Zeitbloms Biographie für eine Liebesaufgabe gehalten werden kann, wird im
is it not appropriate that he plays the instrument ,of love‘?“,25 fragt sich Trout-
man. Bezüglich homoerotischer Aspekte, welche die Figur Zeitblom betreffen,
liegen unterschiedliche Interpretationen vor. Parkes-Perrett findet viele Indizien
für Zeitbloms Liebe zu Leverkühn im Roman und interpretiert sogar seine Auf-
fassung der Musik als eine erotische: Wenn er Leverkühn beim Üben entdeckt,
halte der Erzähler dies für eine heimliche sexuelle Aktivität.26 Hingegen meint
Hans Hilgers, die Homoerotik werde bei der Charakterisierung Zeitbloms von
Thomas Mann ausgespart, nicht aber bei der Leverkühns.27 Allein das italienische
mit dem Musikinstrument verbundene Substantiv ,amore‘ scheint diese These in
Frage zu stellen, denn (nicht nur) im italienischen Sprachgebrauch lässt es sich
kaum mit ,Freundschaft‘ verwechseln. Eine latente Homoerotik ist fast im gan-
zen literarischen Schaffen Thomas Manns zu bemerken; u. a. auch in der Novelle
Der Tod in Venedig, deren Einfluss auf den Faustus auch vom Autor selbst aner-
kannt wird.28 Darüber hinaus bedarf der Erzähler ständig der Nähe zu seinem
geliebten Freund29 und oft gewinnt man sogar den Eindruck, dass er Leverkühn
überwacht. So rechtfertigt er beispielsweise seine Entscheidung, in Halle mit ihm
zu studieren:
[I]ch leugne natürlich nicht, daß der persönliche Grund seiner Anwesenheit stark,
ja entscheidend mitgespielt hatte bei meinem Entschluß. [...] Mein eigener Wunsch,
ihm nahe zu sein, zu sehen, wie er es trieb, welche Fortschritte er machte und wie
seine Gaben sich in der Luft akademischer Freiheit entfalteten; dieser Wunsch, in
täglichem Austausch mit ihm zu leben, ihn zu überwachen, von nahebei ein Auge
auf ihn zu haben – hätte wahrscheinlich von sich aus genügt, mich zu ihm zu
führen. (DF: 129f.; Herv. A. O.)30
25 Troutman: The Viola d’amore in Doctor Faustus, Newsletter 1993 der International
Viola d’amore Society. Zitiert auch in Scott: The Viola d’Amore in Thomas Mann’s novel
Doctor Faustus, ebd.
26 Siehe Parkes-Perrett: Silvery Voice, S. 22.
27 Vgl. Hilgers, Hans: Serenus Zeitblom. Der Erzähler als Romanfigur in Thomas Manns
nerweiblichkeit. Zur Homosexualität bei Klaus und Thomas Mann. Frankfurt am Main:
Athenäum 1988.
29 Vgl. dazu auch Hilgers: Serenus Zeitblom, S. 21–27; Metzler, Ilse: Dämonie und Huma-
nismus. Funktion und Bedeutung der Zeitblomgestalt in Thomas Manns „Doktor Faustus“.
Essen: Rohden 1960, S. 31.
30 Vgl. auch DF: 151: „Ich tat es aus vollkommen freien Stücken, nur aus dem unabweis-
lichen Wunsche, zu hören, was er hörte, zu wissen, was er aufnahm, kurz: auf ihn acht zu
haben […]“ (Herv. i. O.).
238 7 Zeitblom und die Viola d’amore
Die ,explizite Systemerwähnung‘ „ich spiele die Viola d’amore“ (DF: 12) in der
Selbstvorstellung des overt narrator 31 auf den ersten Seiten des Romans ver-
stärkt als „Intermedialitätssignal“32 auch die diegetischen Ebenen des Romans.
Einerseits ist im Roman die Ebene der extradiegetischen Narration zu finden, die
vergleichbar zum Resonieren einer Resonanzsaite der Viola d’amore vor allem
eine kommentierende und ergänzende Funktion erfüllt, in der Zeitblom als extra-
diegetischer Erzähler die Biographie seines Freundes niederschreibt und seine
Leser*innenschaft über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs informiert. Ande-
rerseits besteht Thomas Manns Roman auch aus der intradiegetischen Ebene
von Leverkühns Leben, die chronologisch vor der extradiegetischen zu situie-
ren ist und in der Zeitblom eine Figur der Diegese darstellt: Dieser Ebene lässt
sich aufgrund der Handlungsgewichtung keine rein kommentierende Funktion
zuschreiben, weswegen sie eher mit dem Streichen einer Spielsaite der Viola
d’amore in Verbindung zu bringen ist. Der Rekurs auf die Liebesgeige verschärft
gleichzeitig auch den Blick auf mediale Differenzen, welche die Kategorie der
Zeit betreffen. Die Gleichzeitigkeit des Streichens der Spiel- und Resonanzsaiten
in der musikalischen Aufführung ist in der Situation des Erzählens – bezüglich
der extra- und intradiegetischen Ebene – nicht gegeben.33 Der Rückgriff auf die
Viola d’amore verstärkt aber auch die Homodiegese selbst, also Zeitbloms dop-
pelte Funktion als Erzähler und Figur auf der intradiegetischen Ebene von Doktor
Faustus. In diesem Fall ist ein höherer Grad an Gleichzeitigkeit auch im Erzähltext
möglich, da die homodiegetische Erzählinstanz wiedergibt und erlebt.
Der intermediale Bezug auf die Viola d’amore verstärkt aufgrund der mögli-
chen Anwendung der Scordatura vor dem Spielen eine weitere narrative Strategie
des Romans, nämlich die des unzuverlässigen Erzählens. Wayne C. Booth,
31 Dazu siehe Chatman, Seymour: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and
führung eines Stückes, sondern auch mit dem Lesen eines Stückes selbst – es sei denn,
es handelt sich um eine Komposition, die für ein ausschließlich monodisches Instrument
komponiert wurde. Im Fall von Werken für die Viola d’amore ist die Gleichzeitigkeit des
Spielens und Resonierens implizit im musikalischen Text durch die paratextuelle Angabe
„Viola d’amore“ im Untertitel der Komposition und/oder neben dem Notenliniensystem
und nicht etwa durch die Präsenz zweier Notenliniensysteme gegeben. Exemplarisch sei
hier auf die folgende Sonate von Huberty verwiesen: Huberty, Anton: Sonata for Viola
d’amore No. 1 in E major. In: IMSLP. < https://imslp.org/wiki/Sonata_for_Viola_d%27a
more_No.1_in_E_major_(Huberty%2C_Anton) > (letzter Zugriff: 21.08.2020). Bei dieser
Version der Sonate findet man außerdem eine Anweisung zur Stimmung des Instruments.
7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus 239
Since fictional homodiegetic unreliable narrators are often deeply emotional invol-
ved, obsessed or disturbed monologists, they can frequently be recognized by
features like exclamations, ellipses, rhetorical questions, any number of repetiti-
ons and the tempo of their narration. In trying to convince readers of the truth of
their story, they often appeal to the reader by direct address and explanation.
Alle drei Eigenschaften, die Vera Nünning in Bezug auf unzuverlässige, homo-
diegetische Erzähler*innen nennt, lassen sich auf Zeitblom übertragen. Aufgrund
seiner Gefühle zu Leverkühn ist er beispielsweise stark emotional beteiligt.
Zudem zeigt das auf S. 216 angeführte Zitat aus dem Roman über das Über-
wachungsbedürfnis des Erzählers, dass er von seinem Freund besessen ist. Nicht
34 Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction. Chicago/London: University of Chicago Press
zuletzt haben die in diesem Kapitel genannten Textindizien ergeben, dass Zeit-
blom als gestörter Monologist anzusehen ist, der im Laufe der Narration auf alle
von Vera Nünning aufgelisteten rhetorischen Mittel zurückgreift, nämlich Aus-
rufe, Ellipsen, rhetorische Fragen und Wiederholungen, und sich, wie im Zitat
über Schildknapp, direkt an seine Leser*innenschaft wendet, um sein Erzählen zu
rechtfertigen oder zusätzliche Erklärungen zu liefern.
Ein weiteres, relevantes Detail ist, dass Zeitbloms Liebe zu Leverkühn nicht
erwidert wird:
[I]ch habe ihn geliebt – mit Entsetzen und Zärtlichkeit, mit Erbarmen und hin-
gebender Bewunderung – und wenig dabei gefragt, ob er im mindesten mir das
Gefühl zurückgäbe.
Das hat er nicht getan, o nein. (DF: 15)
Die Narration scheint daher nicht nur von Eifersucht, sondern auch von einem
Rachebedürfnis des abgelehnten Erzählers diktiert zu sein.
Es stellt sich nun die Frage: Aus welchen Gründen schenkt man einer Erzählin-
stanz das eigene Vertrauen und einer anderen, wie Zeitblom, nicht? In Anlehnung
an Studien jeweils von Möllering sowie von Schweer und Thies listet Vera Nün-
ning einige Voraussetzungen auf, die erfüllt werden müssen, um einem Menschen
zu vertrauen:40
Reliability – ,engagement‘ (the expectation that speakers will act according to their
words and manifest intentions)
Sincerity – the belief that someone is giving a truthful account of his or her beliefs,
knowledge, feelings and motives
Competence – the belief in the ability of the speaker to do what he or she intends.
Leser*innen werden von Zeitblom schnell enttäuscht, wenn sie erwarten, dass
er nach seinen Worten und manifesten Absichten handelt. Gleich in den ersten
Kapiteln des Romans will er etwa seiner Leser*innenschaft von der dämonischen
Natur der Musik überzeugen, kann aber selbst nicht auf sie verzichten. Zudem
hilft sein Vater Leverkühns Vater, dem „Spekulierer und Sinnierer“ (DF: 31),
indem er ihm „Stoffe[] aus seinem Laboratorium“ (DF: 25) für seine Studien
besorgt. Darüber hinaus verurteilt er sehr streng Leverkühns Geschlechtsverkehr
mit der Prostituierten Esmeralda, leugnet aber zugleich nicht, selber eine rein
sexuelle Beziehung „zu einem Mädchen aus dem Volk“ (DF: 215) unterhalten zu
haben. Was Ehrlichkeit, also „sincerity“ angeht, so kann man zudem auf das vor-
her erwähnte Zitat über Schildknapp zurückgreifen, in dem der Erzähler bedauert,
kein ehrliches und objektives Bild der Ereignisse liefern zu können.42
Der Aspekt der Kompetenz lässt sich angesichts der Affinität der beiden Kon-
zepte zusammen mit dem der Expertise behandeln. Selbstverständlich ist Zeitblom
durch seine Bereitschaft, Leverkühns Biographie zu erzählen, vor eine große Her-
ausforderung gestellt. Nicht nur wird von ihm verlangt, über das Leben seines
geliebten Freundes, der ihn nicht liebte, zu berichten, sondern auch als Amateur-
Spieler komplexe Themen wie Dodekaphonie und Denaturierung des Klanges
zu beherrschen. Zeitblom löst dieses Problem durch alles andere als wertungs-
freie und objektive Schilderungen der Stücke Leverkühns und Stellungnahmen zu
musikalischen Themen. So beschreibt er seine Auffassung des Glissandos, indem
er zugleich die Grenzen seiner Musikrezeption signalisiert:
Der emotionale und akustische Effekt eines Glissandos hängt sowohl vom persön-
lichen Empfinden als auch von vielen kompositorischen und musikhistorischen
Faktoren ab (Tonart, Stil, Epoche, usw.), sodass keine pauschale und allge-
meine Definition seiner Wirkung möglich erscheint. Außerdem könnte man sich
fragen, wo denn Zeitblom gelesen oder gehört habe, das Glissando sei „aus
tief kulturellen Gründen mit größter Vorsicht“ zu behandeln. Aus kulturwissen-
schaftlicher Perspektive könnte nun die Frage aufkommen, welche Aspekte zu
42 Zwar könnte man einwenden, Zeitblom sei hier eben ehrlich, weil er zugibt, auf Schild-
knapp eifersüchtig zu sein. Es ist aber sein Erzählen, dem er selbst aufgrund fehlender
Selbstbeherrschung keine Ehrlichkeit zuschreibt.
242 7 Zeitblom und die Viola d’amore
Ich bin ein altmodischer Mensch, stehen geblieben bei gewissen, mir lieben romanti-
schen Anschauungen, zu denen auch der pathetisierende Gegensatz von Künstlertum
und Bürgerlichkeit gehört. (DF: 42)44
Zeitblom könnte wohl für eine „Parodie des Stils und der Haltung des bürgerli-
chen Humanismus“45 gehalten werden, wie es Ilse Metzler in ihrer Dissertation
zum Ausdruck bringt. Petersen bezeichnet außerdem Zeitbloms Sprachstil als „be-
tulich[]“,46 indem er u. a. hervorhebt, dass der Erzähler noch den alten Dativ
verwendet, z. B.: „seine[] Begegnung mit Marien“ (DF: 610).47
Dieser Aspekt lässt sich auch aus einer anderen Perspektive betrachten. Wie
im ersten Abschnitt dieses Kapitels erläutert, ist der Anfang des 20. Jahrhunderts
übertragen, die aber nicht von ihm, sondern immerhin vom unzuverlässigen Erzähler hätten
geschrieben werden können. Vgl. Kap. 8.
7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus 243
48 Ähnliche Tendenzen lassen sich allerdings auch in der literarischen Moderne wiederfin-
den. Siehe etwa: Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache – Ästhetik
– Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München: Beck 2004 u. Kap. 6.
49 Hilgers weist außerdem darauf hin, dass Zeitbloms humanistisches Ideal ebenfalls
dass ,Zeitblom‘ von ,Zeitblume‘ kommt.54 ,Zeitblume‘ sei ein anderer Name
für die ‚Herbstzeitlose‘, eine hochgiftige Pflanze. Dass der Erzähler nicht frei
von Vergiftung ist, sollte nicht mehr überraschen.55 Jacques Darmaun liefert
der Doktor Faustus-Forschung eine andere, ebenfalls aufschlussreiche Interpre-
tation. ,Zeitblom‘ bedeute zwar ,Blume der Zeit‘, aber damit impliziere man
seine Verkörperung des Zeitgeistes.56 Der Erzähler ist tatsächlich unter vielen
Gesichtspunkten kein altmodischer Mensch, sondern ein „Kind seiner Zeit“,57
etwa bezüglich der Judenfrage.58 Seine Gefühle gegenüber den Juden „schwanken
[…] zwischen Hochachtung und Antipathie“.59 Zum einen sagt er:
Es mag mit an dieser Jugenderfahrung liegen, aber auch an der spürsinnigen Aufge-
schlossenheit jüdischer Kreise für das Schaffen Leverkühns, daß ich gerade in der
Judenfrage und ihrer Behandlung unserem Führer und seinen Paladinen niemals
voll habe zustimmen können, was nicht ohne Einfluß auf meine Resignation vom
Lehramte war. (DF: 17)
Freilich haben auch Exemplare jenes Geblütes meinen Weg gekreuzt – ich brauche
nur an den Privatgelehrten Breisacher in München zu denken –, auf deren ver-
wirrend antipathisches Gepräge ich an gehörigem Ort einiges Licht zu werfen mir
vornehme. (DF: 17; Herv. A. O.)
Zeitbloms Rhetorik verzichtet nicht auf eine rassistische Konnotation wie „Exem-
plare jenes Geblütes“, die alles andere als Toleranz zeigt. Nicht nur hier kann
man den Einfluss der nationalsozialistischen Propaganda auf die Schreibweise
des Erzählers bemerken. Er spricht beispielsweise an anderer Stelle auch von der
„glorreichen Kultur des deutschen Kunstliedes“ (DF: 117) sowie von der „Inva-
sion unseres schönen Siziliens“ (DF: 255; Herv. A. O.): Das Adjektiv ,unser‘
2003, S. 228.
57 Hilgers: Serenus Zeitblom, S. 65.
58 Dazu siehe auch Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne, S. 74–84.
59 Darmaun: Thomas Mann, Deutschland und die Juden, ebd. (siehe auch S. 230–233).
könnte darauf hinweisen, dass Zeitblom die Insel dem deutschen Reich zuordnet
oder sich auf die Allianz der faschistischen Länder bezieht.60
Die hier erwähnten Zitate aus dem Roman sind aber nicht ausschließlich auf
die Nazi-Propaganda, sondern auch auf ältere Diskurse und rhetorische Stil-
mittel zurückzuführen: um einige exemplarisch zu nennen, sei hier auf den
George-Kreis,61 auf Goethes Italienische Reise und auf den pluralis modestiae
der Gelehrten und der antiken Rhetorik verwiesen. Der Erzähler kann hauptsäch-
lich für einen sehr passiven inneren Emigranten gehalten werden.62 Er lehnt die
Sprachmanipulation des Dritten Reiches ab:
Ich liebe es nicht, wenn Einer Alles haben will, dem Gegner das Wort aus dem
Munde nimmt, es umdreht und Begriffsverwirrung damit treibt. Das geschieht heute
mit größter Kühnheit, und es ist die Hauptursache meiner Zurückgezogenheit. (DF:
150f.)63
Seine Stellungnahme gegenüber dem Zweiten Weltkrieg ist jedoch sehr vage:
Ich wage kaum, mich zu fragen, zu welcher dieser beiden Kategorien64 ich gehöre.
Vielleicht zu einer dritten, in der man die Niederlage zwar dauernd und klaren
Bewußtseins, aber auch eben unter dauernden Gewissensqualen ersehnt. (DF: 50)
60 Des Weiteren, wie u. a. von Jens Ewen hervorgehoben, spricht Zeitblom im ersten Zitat
auf dieser Seite von „unserem Führer“. Vgl. Ewen, Jens: Deutungsangebote durch Sym-
pathiepunkte. Zur Strategie der narrativen Unzuverlässigkeit in Thomas Manns Roman
Doktor Faustus. In: Hillebrandt, Claudia u. Elisabeth Kampmann (Hrsg.): Sympathie und
Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft. Berlin:
Schmidt 2014, S. 270–283, hier: S. 282. Interessant ist Giovanninis Bemerkung, dass Hit-
ler im Roman nie mit seinem Namen genannt wird, sondern im Allgemeinen als Führer
oder mit ähnlichen Appellativen bezeichnet wird. Damit werden die gemeinsame Dimen-
sion sowie der breite Konsens des Nationalsozialismus betont. Dasselbe könne auch für
Mussolini gesagt werden. Siehe Giovannini: Il patto col diavolo, S. 229 (Fußnote 129).
61 Nicht zufällig erinnert der Kridwiß-Kreis an den George-Kreis.
62 Thomas Manns Einschätzung der inneren Emigration war nicht positiv: „Die ,innere
mit der Biographie seines Freundes doch auf ähnliche Art und Weise verhält.
64 D. h.: Zu der Kategorie von Menschen, die auf Deutschlands Sieg, oder zu der von
Der Leser sieht sich also vom Erzähler vor die Aufgabe gestellt, selbst zu entschei-
den, was es mit dem Dämonischen in dieser Welt, was es mit dem Teufel, mit dem
Ursprünglich Elementaren in der Politik, der Kunst, der musikalischen Sphäre auf
sich hat, denn der Narrator ist eine schillernde Figur mit wechselnden Darstellun-
gen, Bewertungen, Einordnungen und wirkt daher unzuverlässig: Er führt den Leser
weniger, als dass er ihn verunsichert und ins Schwanken bringt. Diese Unzuverläs-
sigkeit des Figuren-Erzählers73 kommt schließlich dadurch auf ihren Höhepunkt,
dass er von Begebenheiten, Szenen, Dialogen berichtet, die er gar nicht kennen
kann.
die von Genette bezüglich Fokalisierungen, siehe Genette: Die Erzählung, S. 134–138)
und führt einen neuen narratologischen Begriff ein, den des Figuren-Erzählens. Dieser
erlaube ihm einen doppelten Blick auf die Erzählinstanz Zeitblom, der zugleich Er- und
Ich-Erzähler sei. Der Verzicht auf Genettes Kategorien und die Einführung einer neuen
schwammigen Bezeichnung scheinen so irreführend wie die Auffassung zu sein, Er-
Erzählen sei per definitionem zuverlässig. Diesem Punkt lässt sich anhand vieler Studien
zum unzuverlässigen Erzählen widersprechen, vgl. u. a. Nünning, V. (Hrsg.): Unreliable
Narration and Trustworthiness. Intermedial and Interdisciplinary Perspectives. Berlin: de
Gruyter 2015.
74 Ebd., S. 174.
75 Olson: Reconsidering Unreliability, S. 93.
76 Vgl. 4.1.2.
248 7 Zeitblom und die Viola d’amore
zieht. Außerdem spielt Zeitblom ein Instrument, das bestimmte Kenntnisse vor-
aussetzt, auch wenn es auf einem Amateur-Niveau gespielt wird. Darüber hinaus
ist die Scordatura, die ein Spieler der Viola d’amore anwendet oder die von einer
Komponistin bzw. von einem Komponisten für die Aufführung eines bestimmten
Stückes vorgeschrieben wird, ein vor dem Spielen bewusst eingesetztes Mittel.
Als unzuverlässiger, aber nicht inkompetenter Erzähler entscheidet sich Zeitblom
dafür, absichtlich unzuverlässig zu erzählen. Würde man dieses Verfahren aus
Sicht der Intermedialitätsforschung bezeichnen, so könnte diese Verstimmung der
Narration als Simulation einer instrumentalen Aufführungspraxis eingestuft wer-
den, die eine verstärkende Funktion narrativer Strategien aufweist.77 Die Viola
d’amore und das Spielen der Viola d’amore werden im Text nicht nur thematisiert,
sondern auch inszeniert.78
Zeitbloms Charakterisierung ist nicht frei von Ironie: Ilse Metzler betrach-
tet den Erzähler von Doktor Faustus als „Parodie des Stils und der Haltung
des bürgerlichen Humanismus“79 und Börnchen macht darauf aufmerksam, dass
Zeitblom den Ironiebegriff von Cicero „in seiner Erzählweise bewahrt“.80 Dies
wäre ein weiterer Beweis für die Unzuverlässigkeit des Erzählers: Booths The-
sen zufolge ist Unzuverlässigkeit eine Funktion von Ironie.81 Innerhalb von
Booths Auffassung spielt die Kategorie der impliziten Autorin bzw. des impli-
ziten Autors eine große Rolle, wird sogar zum Maßstab für die Unzuverlässigkeit
einer Erzählinstanz. Wenn deren Wahrnehmungen und Werte zu stark von denen
der impliziten Autorin bzw. des impliziten Autors abweichen, liegt Unzuverläs-
sigkeit vor.82 Spätere Studien kritisieren Booths Definition des implied author.
Ansgar Nünning hebt beispielsweise hervor: „the implied author provides a ter-
minologically acceptable way of talking about the author and his or her intention,
under the guise of talking about textual phenomena“.83 Dem Terminus liegt dem
Zitat entsprechend der Versuch zugrunde, indirekt auf die Autor*innenintention
77 Vgl. Gess: Intermedialität reconsidered, S. 159 u. 152. Bei Rajewsky eine „simulierende
Systemerwähnung“. Siehe etwa Rajewsky: Intermedialität, S. 94.
78 Vgl. Wolf: „The musicalization of fiction“, S. 133 u. Rajewskys Analyse von Tabucchis
Unreliability, S. 94.
82 Siehe Booth: The Rhetoric of Fiction, S. 158 f.
83 Nünning, A.: Reconceptualizing Unreliable Narration, S. 92.
7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus 249
einzugehen. Die Inkohärenz des Begriffs macht ihn folglich zu einer unangemes-
senen Grundlage zur Erschließung von Unzuverlässigkeit: Aus diesem Grund wird
in diesem Abschnitt der Rückgriff auf textuelle Indizien bevorzugt und lediglich
undifferenziert von Autor bzw. Autorin geredet.
Gerade Thomas Mann ist der Auffassung, Zeitblom stehe „in einem fast
komischen Gegensatz“84 zu Leverkühn. Unzuverlässigkeit lässt sich in der Cha-
rakterisierung Zeitbloms durch Booths Modell, das sich auf die drei Instanzen
der Erzählinstanz, der Leser*innenschaft und des*r implied author stützt, wohl
nachweisen. Noch aussagekräftiger, da man nicht Gefahr läuft, wegen Booths
kontroverser Definition des*r implied author in eine hermeneutische Rekonstruk-
tion von Autor*innenintention zu geraten, bietet Ansgar Nünnings Modell, das
der implizite Autor bzw. die implizite Autorin durch textuelle Indizien ersetzt,
einen anwendbaren Orientierungsrahmen für die Analyse.85 In diesem Abschnitt
lag der Fokus eher auf Thomas Manns Text, aber gerade das u. a. von Claudia
Albert konstatierte „Mißverhältnis[] von Textgestalt und behaupteter ästhetischer
Intention“86 weist auf Booths Modell hin: „I have called a narrator reliable when
he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to
say, the implied author’s norms), unreliable when he does not“.87 Booths Spe-
zifizierung in Klammern reduziert die Normen eines Werkes auf diejenigen der
impliziten Autorin bzw. des impliziten Autors: Eine Faust-Adaption orientiert sich
aber auch an den Normen des Faust-Stoffes und eben die Zuordnung des Werkes
zur Faust-Tradition wurde in der Forschungsliteratur in Frage gestellt.88 Diese
Inkonsistenz wird schon durch den Verweis auf paratextuelle Hinweise89 deut-
lich: Bereits im Untertitel muss Zeitblom seinen Leser*innen mitteilen, dass er
derjenige ist, der über das Leben seines Freundes berichtet. Dadurch wird deut-
lich, dass er für das Geschriebene verantwortlich ist. Aus diesem Grund ist es
nicht verwunderlich, dass die Textgestalt mit dem Titel und dem entsprechenden
literarischen Stoff wenig übereinstimmt.
Im Laufe der Narration wird Zeitblom als „the pathetic perfectionist, the
platonic adulterer, the weeping schoolmaster“90 enttarnt, also als extrem wider-
sprüchliche und inkonsistente Erzählinstanz, der man kein Vertrauen schenken
möchte. Es handelt sich im Fall des Erzählers von Doktor Faustus um keine
„bonding“,91 sondern um eine „estranging unreliability“.92 Zeitblom erregt kein
Mitleid, Leser*innen, darunter auch die in dieser Studie betrachteten Kompo-
nist*innen, bleiben seiner Wiedergabe gegenüber skeptisch, nehmen ihm gegen-
über eine eher ablehnende Haltung ein.93 Als Konsequenz sympathisieren die
meisten Komponist*innen dieser Studie mit Adrian Leverkühn: Laut Jens Ewen
geschieht das, weil Zeitblom Sympathie für seinen Freund hegt.94 Dieser These
scheint schwer zuzustimmen, angesichts dessen, dass er der Leser*innenschaft
eine höchst manipulierte Version der Biographie Leverkühns liefert, indem er
etwa alles dämonisiert und von Eifersucht getrieben berichtet. Es ist eher diese
estranging unreliability, die die Leser*innen dazu ermutigt, sich von Zeitbloms
Scordatura der Narration zu distanzieren. Der intermediale Bezug auf die Viola
d’amore, zum Teil in Form einer expliziten, zum größeren Teil aber als simu-
lierende Systemerwähnung, verstärkt die discours-spezifischen Eigenschaften des
Romans.
Die Unzuverlässigkeit Zeitbloms im Roman konnte durch verschiedene Mit-
tel der narratologischen und intermedialen Analyse nachgewiesen werden, z. B.
durch die Modelle Booths und Nünnings, durch die Stilmittelanalyse sowie durch
den Medienvergleich, und zwar mit den Eigenschaften der Viola d’amore und der
Aufführungspraxis des Instruments. Wie lässt sich aber diese narrative Strategie
im Medium der Musik realisieren? Ist das die Mikroform aus dem Roman, die
Komponist*innen in das neue Medium transferieren? Diesen Fragen widmet sich
u. a. der darauf folgende Abschnitt zu den Kompositionen.
91 Phelan, James: Estranging Unreliability, Bonding Unreliability, and the Ethics of Lolita.
In: Narrative 15 (2007), S. 222–238, hier: S. 223.
92 Ebd.
93 Vielleicht nur im Fall der von Phelan sogenannten „flesh and blood readers“ könnte
Manzonis Oper untersucht, die in dieser Studie einen roten Faden darstellt und
die für die relativ breite kompositorische Rezeption des Romans in den 1980er
Jahren, welche etwa auch die Werke von Boehmer, Kurz und Searle beweisen,
steht.
Four pieces from „Doktor Faustus“ for Viola d’amore and Piano entstanden
im Jahr 2010 nach der Teilnahme der Komponistin und Viola d’amore-Spielerin
Elaine Fine (*1959) an einer internationalen Tagung von Spezialist*innen in Illi-
nois.95 Die Komposition ist Carlos Maria Solare gewidmet, der dieses Instrument
ebenfalls spielt, und dauert ungefähr zwölf Minuten. Sie besteht aus vier Stücken:
1. Abendmusik (Moderato)
2. Hetaere [sic] Esmeralda (Waltz tempo)
3. Interlude (Moderato)
4. Echo (Moderato).
Es handelt sich hier aufgrund der materiellen Präsenz eines einzigen Mediums
um verdeckte Intermedialität, aber aufgrund der paratextuellen Hinweise und der
Verwendung der Viola d’amore ist der Bezug zu Thomas Manns Roman deutlich,
sodass sich die Komposition – trotz der Vagheit instrumentaler Musik – immer
noch der Kategorie der intermedialen Transposition zuordnen lässt. Da das Werk
außerdem speziell für die Viola d’amore gedacht wurde, ist die Hommage an
Zeitblom ebenfalls deutlich. Zwei Stücke sind zwar Esmeralda und Echo gewid-
met, aber das Ganze wird durch den narrativen Faden des Erzählers miteinander
verbunden. In Abendmusik und Interlude ist die Simulation einer Erzählstimme
so auffällig, dass sie in diesem Kapitel analysiert werden: Im Zentrum der beiden
Stücke steht also eher das Wie der Darstellung als die Geschichte selbst.96
Zwar betont Fine, dass es nicht ihre Intention gewesen sei, durch die Musik
eine Stellungnahme zu kontroversen Thematiken des Romans zu nehmen, etwa
zur Unzuverlässigkeit Zeitbloms,97 aber der musikalische Text spricht für sich
selbst: Die Viola d’amore übernimmt im Stück nicht nur eine Begleitfunktion,
95 Die Komposition darf kostenlos von der Webseite IMSLP heruntergeladen werden: Fine,
Elaine: Four pieces from Doktor Faustus. In: IMSLP. < https://imslp.org/wiki/4_Pieces_
from_Doktor_Faustus_(Fine,_Elaine) > letzter Zugriff: 21.08.2020).
96 „Heteare Esmeralda“ und „Echo“ werden jeweils in Kap. 8 u. 11 vorgestellt.
97 E-Mail der Komponistin an die Verfasserin (05.07.2014).
252 7 Zeitblom und die Viola d’amore
sondern sie ist im ganzen Stück durchgängig zu hören. Sie steht wie das Klavier
für Leverkühn innerhalb des Stückes stellvertretend für Zeitblom. Das Klavier eig-
net sich für Leverkühn aus vielen Gründen. Erstens, weil sein erstes heimliches
Musizieren mit dem Harmonium beginnt, also ebenfalls mit einem Tasteninstru-
ment.98 Bei dieser Aktivität wird er nicht nur vom Onkel, der ihm empfiehlt,
„Klavierstunden [zu] nehmen“ (DF: 75), sondern auch von Zeitblom entdeckt,
der sich ständig in das Leben des Freundes einmischt. Ein zweiter Grund ist
der, dass gerade Leverkühns Musiklehrer die Wichtigkeit des Instruments für
Komponist*innen präzisiert:
Das Klavier erlaubt in der Tat, sich beispielsweise in Abwesenheit eines echten
Orchesters ein orchestrales Werk grob vorzustellen, und ist noch heutzutage oft
wichtiges Nebenfach (nicht nur) eines Kompositionsstudiums. Der dritte Grund,
warum sich das Klavier für Leverkühn eignet, ist, dass das Zusammenspiel eines
historischen Instruments mit einem modernen mit der vorherigen These der zwei
musikalischen Seiten einer Epoche in Verbindung gebracht werden kann. Fine
hätte das Cembalo wählen können, was im Vergleich zum Klavier aus der Per-
spektive der historischen Aufführungspraxis ein kohärenteres Pendant zur Viola
d’amore darstellt. Leverkühn und Zeitblom werden folglich in der Komposition
wie im Roman in ihrer Komplementarität widergespiegelt.
Das erste Stück, Abendmusik, „is kind of a fantasy on,Oh how lovely is the
evening‘, a piece that Zeitblom identifies as an early influence on Leverkuehn“,99
so die Komponistin. O, wie wohl ist mir am Abend wird im Roman unter den Kan-
ons erwähnt, welche die Stallmagd Hanne die Kinder lehrt.100 Zeitblom erinnert
sich an diese Gesangsübungen so:
[D]ie Erinnerung daran hat später eine erhöhte Bedeutung angenommen, weil sie
es waren, die, soweit meine Zeugenschaft reicht, meinen Freund zuerst mit einer
Fines Stück ist jedoch kein Kanon, obwohl man einen Imitationsprozess erken-
nen kann. Ohne Zweifel passt allerdings die Viola d’amore hervorragend zu einer
Abendmusik.102 Der Titel des Stückes verweist auf Zeitbloms Musizieren in den
Münchener Abendkreisen: Somit wird einerseits durch die Wahl der Besetzung
und die musikalische Gestalt auf Leverkühns erste Auseinandersetzung mit kon-
trapunktischer Musik, andererseits mittels paratextueller Hinweise auf Zeitbloms
Vorspielen Bezug genommen. Die Komposition folgt einer ordo naturalis103 und
beginnt mit der musikalischen Wiedergabe durch „das Medium,des Freundes‘“
(Ent: 27) der Jugendzeit Leverkühns bzw. seines ersten Kontakts mit kontrapunkti-
scher Musik. Zeitblom drückt sich musikalisch durch Pizzicati aus. Am folgenden
Notenbeispiel ist außerdem abzulesen, dass die Viola d’amore, alias Zeitblom, den
harmonischen Verlauf eben mittels Pizzicati stört, denn auf jeden Ton des Kla-
viers, alias Leverkühn, folgt ein gezupfter Ton der Viola. Des Weiteren muss der
Tempoaufgabe (Moderato) Aufmerksamkeit geschenkt werden, die zur „durchaus
gemäßigte[n]“ (DF: 12) Figur Zeitbloms sehr gut past (Abbildung 7.1).
101 Der Nebensatz „soweit meine Zeugenschaft reicht“ ist ein weiteres Beispiel für Zeit-
bloms Tendenz, an den eigenen Erzählfähigkeiten zu zweifeln, weil er Vielem nicht
beigewohnt hat. Vgl. 7.1.2.
102 Dieser Auffassung war auch Leopold Mozart. Vgl. 7.1.1.
103 Dazu siehe Haßler, Gerda u. Cordula Nels (Hrsg.): Lexikon sprachtheoretischer
Grundbegriffe des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin/New York: de Gruyter 2009, S. 1134 f.
254 7 Zeitblom und die Viola d’amore
Ab Takt 22 hört man zum ersten Mal das Thema bzw. den Refrain: Die Viola
d’amore zupft und interagiert aktiv mit der Klavierstimme und trägt zum gesam-
ten, melancholischen Charakter des Stückes bei. Musikalisch gesehen, ist dies auf
Tonalität und Intervallsprünge zurückzuführen; intermedial betrachtet, spielt das
auf Zeitbloms aktive Rolle in der Wiedergabe von Leverkühns Leben an, dem er
eine eigene Interpretation verleiht (Abbildung 7.2).
Dann wird das Thema mittels eines nichtaufgelösten Tritonus und einer kleinen
Coda leicht variiert: Hier ist aber das Klavier das Instrument, welches das letzte
Wort hat, indem es das Thema beendet. Da Zeitblom vielen zentralen Ereignissen
im Leben des Freundes nicht beigewohnt hat, kann er sie – wenn überhaupt – nur
partiell wiedergeben.104 Anders als Leverkühn im Roman erlaubt sich aber hier
die Klavierstimme den musikalischen Satz zu beenden: Konstante fast aller in die-
ser Studie betrachteten Kompositionen ist, dass Leverkühn eine Stimme gegeben
wird, deren er sich bedient, um – mehr oder weniger – einen Widerstand gegen
Zeitbloms Manipulation zu leisten (Abbildung 7.3).
Was den musikalischen Stil von „Abendmusik“ angeht, so meint Fine: „I made
it kind of Mahlerian to reflect the feeling of the time and the place, and used
some Stravinsky-like fourths (since that’s how the viola d’amore is built)“.105
Zwar passt der Bezug auf Gustav Mahler zum Zeitpunkt der Geschichte, auf den
das Stück zurückgeführt werden kann, aber nicht wirklich zum Ort, denn die
Gesangsübungen finden im Roman „im Herzen der Luther-Gegend“ (DF: 18) und
das abendliche Musizieren Zeitbloms in München statt. Strawinskys Musik stellt
diesen Takten scheint es, dass er sein virtuoses Talent als Viola d’amore-Spieler
zeigen möchte: In Fines Komposition besteht Zeitbloms Aufgabe darin, sein
musikalisches Talent zu entfalten. Nicht zufällig sagt Fine: „The arpeggios […]
represent the way I feel Zeitblom would have musically expressed whatever it
is that Leverkuehn encountered“.111 Auch im Roman schreibt Zeitblom Lever-
kühns fiktives Dokument nicht einfach ab, sondern man findet vor und nach der
autobiographischen Schrift seine gewöhnlichen sprachlichen Verzierungen und
Kommentare. Des Weiteren erinnert diese Passage an Musikübungen, was gut
zum Gymnasialdozenten Zeitblom passt (Abbildung 7.5) :
instrument can make the other-worldly strange resonance that draws you in that
particular way“.112 In Fines Komposition wird anders als im Roman eher eine
bindende Unzuverlässigkeit113 erreicht: Zwar darf sich Leverkühn ausdrücken,
aber weder durch eine imposante Begleitung noch ein wenig bekanntes Instru-
ment, sodass Hörer*innen aus Neugierde dazu geneigt sind, mit der virtuosen
und merkwürdig widerhallenden Viola d’amore zu sympathisieren. Es ist eher
Zeitblom, dem großes musikalisches Talent zugeschrieben wird.
Wie im Roman wird in den beiden betrachteten Stücken aus Fines Four pieces
die Manipulation der Biographie durch Zeitblom betont, die jedoch eher eine
bindende Wirkung auf die Hörer*innenschaft hat. Zeitblom wird nicht nur als
Erzähler, sondern auch als musikalisch interessierte Romanfigur porträtiert, die
sogar größeres Talent als Leverkühn besitzt. Was außerdem ein Unikum darstellt,
ist die Transposition von Leverkühns und Zeitbloms Jugendzeit, denn das kommt
in den Kompositionen dieser Studie kaum vor.
Nachdem nun ein Stück für genau das Instrument besprochen wurde, das Zeitblom
im Roman spielt, wird im Folgenden ein Werk für die Hardangerfiedel, die in
mancherlei Hinsicht mit der Viola d’amore verwandt ist, vorgestellt. To Zeitblom
für Hardangerfiedel und Orchester vom norwegischen Komponisten Lars Petter
Hagen (*1975) war eine Auftragskomposition des Südwestrundfunks, die 2011
anlässlich der Donaueschinger Musiktage uraufgeführt wurde. Die Besetzung
umfasst neben der Solo-Hardangerfiedel zwei Flöten, eine Piccoloflöte, zwei Kla-
rinetten in B, ein Fagott, drei Trompeten, vier Hörner, drei Posaunen, Schlagzeug
(Vibraphon, Crotales, Choir Chimes, Röhrenglocken), zwei Harfen und Streicher.
Der Komponist, so die Partitur, ist „on stage (operating ghettoblaster and giving
lecture)“.115
Eivind: Posthume Leidenschaften. Über Lars Petter Hagens Verzweiflung. In: MusikTexte
140 (2014), S. 11–16, hier: S. 14.
115 Partitur S. 3; mit freundlicher Genehmigung des Komponisten durfte die Verfasserin der
vorliegenden Studie eine Kopie des Autografs konsultieren. Zur Aufnahme: Hagen, Lars
258 7 Zeitblom und die Viola d’amore
Der Text ist kein Zitat. Wieland Hoban [Übersetzer und Moderator] ist so ein guter
Übersetzer, dass wir Adornosche Texte geschrieben haben, die Adornos Ansichten
zusammenfassen, aber auch weiterentwickeln.
Laut Aussage des Komponisten sei das Stück nur sehr lose mit dem Roman Dok-
tor Faustus verbunden.118 Jedoch ist dessen intermedialer Charakter bereits an
der Werkoberfläche abzulesen: Der Titel erfüllt nicht nur eine Titel-, sondern
auch eine Widmungsfunktion, die paratextuellen Elemente des Werkes verwei-
sen eindeutig auf den Erzähler des Romans. Zeitblom wird wie bei Fine durch
das solistische Instrument musikalisch dargestellt: „Hardanger fiddle solo part is
a close collaboration with the soloist and entirely in oral tradition“ (S. 2), liest
man im Autograf. Was also To Zeitblom thematisiert, ist das subjektive Erzäh-
len mündlicher oder tönender Natur, was sich gut mit dem Roman verknüpfen
Petter, Oslo Philarmonic Orchestra, Rolf Gupta (Dirigent), Gjermund Larsen (Hardanger-
fiedel), Oslo: Aurora 2013. Es existiert auch eine Ensemble-Version des Stückes, die für
das Ensemble Modern bearbeitet wurde (2013). Hier sei auf die Webseite des Komponisten
verwiesen: „Lars Petter Hagen“. < https://www.lphagen.no/ > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
Eivind Buene, norwegischer Komponist und Bekannter von Hagen, erklärt, der Ghet-
toblaster sei für ihn „so etwas wie ein Markenzeichen“ geworden. Damit erzeuge er
Distanz. Buene, Eivind: Posthume Leidenschaften. Über Lars Petter Hagens Verzweiflung.
In: MusikTexte 140 (2014), S. 11–16, hier: S. 13 f.
116 „In Lars Petter Hagens Musik ist es die Zeit, die oft beinahe unbeweglich auf der
Stelle steht wie eingefrorene Augenblicke“, erläutert Martina Seeber. Seeber, Martina:
Komponieren für das Hier und Jetzt. In: MusikTexte 140 (2014), S. 6–11, hier: S. 6.
117 Seeber: Komponieren, S. 9.
118 Skype-Interview der Verfasserin mit dem Komponisten (September 2014).
7.2 Vom Roman zur Musik 259
lässt, denn Zeitblom berichtet auf sehr subjektive Art und Weise und ähnelt somit
einer mündlichen Erzählinstanz. Vergleichbar mit der Wiedergabe der Ereignisse
durch Zeitblom im Roman, der als „obsessed or disturbed monologist[]“119 an
einen schriftlich inszenierten oralen Erzähler denken lässt,120 kann die mündlich
überlieferte Musiktradition für unzuverlässig, inkohärent und subjektiv gehalten
werden. Darüber hinaus nimmt auch die Komposition To Zeitblom wie der Roman
Doktor Faustus Bezug auf Adornos Schriften, die bei Hagen nicht in das Medium
der fiktionalen Schrift, sondern in eine Medienkombination integriert und wie bei
Thomas Mann dort auch weiterentwickelt werden. Es handelt sich also in diesem
Fall um die direct or ,overt‘ intermediality, die sich durch die Präsenz mehre-
rer Medien auszeichnet. Diese Form von Intermedialität ist allerdings als partiell
einzustufen, da der Fokus auf einer Figur liegt.
Die Hardangerfiedel, auf Norwegisch hardingfela/hardingfele genannt, ist eine
Volksgeige aus Westnorwegen, die in der Regel vier Spielsaiten über dem
Fingerbrett und vier oder fünf Resonanzsaiten unter dem Fingerbrett sowie
typische nationale Dekorationen besitzt.121 Das Instrument hat darüber hin-
aus Resonanzsaiten wie die Viola d’amore; zudem weisen die Liebesgeige und
die Hardangerfiedel eine parallele Herkunft auf, die an Volkstraditionen und
mündlich-improvisierte musikliterarische Praktiken gebunden ist.122 Während
sich aber das Repertoire der Viola d’amore bereits im 17. Jahrhundert stark ausdif-
ferenzierte und sich zum großen Teil von der Volksmusik verabschiedete, besteht
das Repertoire der Hardangerfiedel hauptsächlich aus Volksliedern und -tänzen,
die in der ersten Lage gespielt werden.123
dingfela, hardingfele). In: Grove Music Online. Zuerst veröffentlicht 20.01.2001, online
veröffentlicht 2001. < https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.12361 > (letzter
Zugriff: 21.08.2020).
122 Siehe Rosenblum, Myron: Viola d’amore (Fr. Viole d’amour, Ger. Liebesgeige). In:
Auch der Klang der hardingfele, der als „whispery and nasal“124 beschrieben
wird, erinnert an den der Liebesgeige. Bereits die Dekorationen auf dem Instru-
ment verweisen auf die enge Verbindung des Instruments mit nationaler Identität:
Die Hardangerfiedel ist seit der Unabhängigkeit Norwegens zu einem Natio-
nalsymbol geworden, noch heutzutage werden regelmäßig Wettbewerbe für das
Instrument organisiert. Goertzen bezeichnet die Anhänger*innen der Volksmusik,
die in den 1940er und 1950er Jahren über sie schrieben, als „ardent romantic
nationalists“.125
In Hagens Komposition erfolgt daher eine doppelte Adaption. Die erste betrifft
die Vorlage, d. h. Thomas Manns Roman, der durch ein plurimediales Kunstpro-
dukt zu Wort kommt. Der zweiten liegt eine Neuinterpretation des Instruments
zugrunde. Nicht nur, weil statt der Viola d’amore die Hardangerfiedel gewählt
wird, sondern auch, weil 2011 das norwegische Instrument an andere Praktiken
der Musik angepasst wird. To Zeitblom wird weder in Norwegen noch bei einem
Volksfest uraufgeführt, die Komposition wird im Rahmen eines Festivals präsen-
tiert, das als das erste weltweit gilt, das sich vollständig der zeitgenössischen
Musik widmete.126
Hagens Schaffen beschäftigt sich intensiv mit der Frage: „Woher komme ich,
historisch, traditionell als Komponist und Mensch?“,127 also mit der Frage nach
der eigenen und kollektiven Identität einer Generation, die „mit amerikanischem
Fernsehen aufgewachsen“128 ist. Auf der Suche nach seiner nationalen Identität
verbringt Hagen, der klassisch ausgebildete Komponist, viel Zeit an den Orten, wo
Volksmusik produziert und gelehrt wird. Orte also, die jenseits von globalisierten
Städten liegen.129
Buene definiert Hagens Kompositionen als „Archivkunst“: „Einzelne Elemente
werden aus den Tiefenschichten des persönlichen Gedächtnisses, aus dem Archiv,
das wir alle mit uns herumtragen, ausgegraben“.130 Diese Metapher verweist
124 Goertzen, Chris: Fiddling for Norway. Revival and Identity. Chicago: The University
of Chicago Press 1997, S. xi.
125 Ebd., S. 35. Auch Hagen selbst ist der Auffassung, norwegische Musik habe viel mit
auf den Erinnerungsraum des Archivs nach Aleida Assmann. In Hagens Schaf-
fen fungiert also die musikalische Schrift als „kollektiver Wissensspeicher“.131
Dieser dient im Fall von To Zeitblom der Konservierung einer kulturellen, natio-
nalen Tradition und wird etwa durch Aufführungen und Aufnahmen zugänglich
gemacht; darüber hinaus liegt diesem Wissensspeicher nach persönlicher Aus-
einandersetzung mit der norwegischen Musikpraxis eine Auswahl zugrunde, die
beispielsweise bereits an der Wahl des Instruments sichtbar wird.132
To Zeitblom möchte als Archivkomposition diese musikalische Tradition auch
der jungen Generation zugänglich machen. Bei einem ersten Blick in die Parti-
tur fällt die Widmung des Stückes auf: „Dedicated to my children Petra, Anton
und Agnes and all their friends in Oslo“ (S. 1). Zunächst lässt sich dies mit dem
Roman verknüpfen, und zwar wieder mit der Figur Zeitbloms, der drei Kinder
hat (obwohl dieser Aspekt im Roman spiegelbildlich erscheint, da der Erzähler
von Doktor Faustus zwei Söhne und eine Tochter hat).133 Das mag die Frage
aufwerfen, warum eine Komposition, die „speziell für das Donaueschinger Publi-
kum“134 entstand und stilistisch schwer mit einigen Kinderkompositionen aus
dem 20. Jahrhundert verglichen werden kann, etwa die Hans Werner Henzes,
um auf einen in dieser Studie behandelten Komponisten Bezug zu nehmen,135
ausgerechnet einem Kinderpublikum gewidmet wird.
Es gilt, wieder auf die Metapher des Archivs zurückzugreifen, um diese Frage
zu beantworten. Die Vorarbeiten an To Zeitblom lassen sich mittels Buenes Zitats
beschreiben: Ein Element der norwegischen, nationalen Identität, d. h. das Spielen
der Hardangerfiedel, wird „ausgegraben“.136 Hier rekurriert Buene erneut auf eine
Erinnerungsmetapher, die auch in Freuds Schriften zu finden ist und die dort mit
dem psychoanalytischen Erraten und Rekonstruieren des Vergessenen in Verbin-
dung gebracht wird.137 Wird außerdem das Gedächtnis wie bei Walter Benjamin
als Medium „für die Erkundung des Vergangnen“138 aufgefasst, so ist Hagens
Medienkombination noch plurimedialer als anfänglich gedacht. Die Komposition
als plurimediales Medium fungiert als Archiv dieses Ausgrabens: „Kontrolle des
Archivs ist Kontrolle des Gedächtnisses“,139 erörtert Aleida Assmann. Diese Kon-
trolle wird in Hagens Werk weitergegeben: Zum einen – auf einer fiktionalen
Ebene – dem Erzähler von Doktor Faustus durch den Titel, der gleichzeitig eine
Widmungsfunktion erfüllt, zum anderen – auf einer nicht-fiktionalen Ebene – der
jungen Generation durch die Widmung, damit sie eine Tradition nicht vergisst
und eventuell fortsetzt.
Auch Zeitbloms fiktives Verfassen der Biographie Leverkühns ist eine fiktive
Archivarbeit, die der Konservierung biographischer Daten dient, eine Auswahl
impliziert und durch das fiktive Buch zugänglich gemacht wird. Zeitblom hat
als nullfokalisierter Erzähler die komplette Kontrolle über das Archiv, wovon er
in seiner Unzuverlässigkeit profitiert. Des Weiteren denkt auch der Erzähler von
Doktor Faustus mehrfach über die Zukunft seiner Kinder und der seines Lan-
des nach: Im Prozess der Archivarbeit wird durch die simultane Betrachtung von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Gleichzeitigkeit simuliert.140
Nicht nur reflektiert To Zeitblom über die Subjektivität des Erzählens und
über Erinnerung, es kombiniert auch ein modernes Orchester mit einem Instru-
ment der Volksmusik. So werden in der Komposition wie in Doktor Faustus
die zwei musikalischen Seiten einer Epoche dargestellt: Die Hardangerfiedel
symbolisiert zugleich das Revival alter Instrumente und der Volkstraditionen.141
Sie passt hervorragend zu Zeitblom, der sich als „altmodischer Mensch“ defi-
niert, der „bei gewissen, […] [ihm] lieben romantischen Anschauungen“ (DF:
42) stehen geblieben ist. Die Kombination eines Instruments, das keinen Noten,
sondern Improvisationsparametern folgt, mit einem Orchester ist – komposito-
risch betrachtet – eine schwierige Aufgabe. Zuhörer*innen nehmen aber diese
Schwierigkeit nicht wahr, weil sich die Gegenpole integrieren.
Hagens Komposition ist nicht nur vom Vorhandensein improvisierter und
nicht-improvisierter Musik, sondern auch von der Autorinszenierung gekenn-
zeichnet. Franzen definiert sie als die „öffentliche Handlung[] eines Autors“,142
„die ein kulturell vorgeprägtes Rollenmuster vermitteln“143 soll. Der*Die
Autor*in, der*die somit zum Subjekt der Kommunikation werde, mische sich
ter Forschung am Beispiel der Studie Posierende Poeten von Alexander M. Fischer. In:
Philologie im Netz 80 (2017), S. 87–100, hier: S. 91.
143 Ebd.
7.2 Vom Roman zur Musik 263
[I]ch versuche, die Barriere zwischen Publikum und Bühne aufzuheben oder
zumindest eine dynamische, direkte Beziehung zum Hörer oder zum Publikum
aufzubauen.
Die direkte Beziehung zum Publikum widerlegt Adornos Betrachtung der Neuen
Musik als eine, die „auf dem Papier ausgerechnet“ (PhnM: 20) ist. Gleichwohl
scheint der experimentelle Charakter des Werkes und seiner Aufführung hingegen
Adornos Auffassung zu bestätigen, dass „[d]ie einzigen Werke heute, die zählen,
[…] die [sind], welche keine Werke mehr sind“ (PhnM: 37). Die Form dieses
Werkes lässt sich nämlich kaum definieren. Rajewsky zufolge würde man Hagens
Komposition dem Phänomen der Medienkombination zuordnen, dass die Forsche-
rin als „die Kombination bzw. das Resultat der Kombination mindestens zweier,
konventionell als distinkt wahrgenommener Medien“148 definiert, die „in ihrer
Materialität präsent sind und jeweils auf ihre eigene, medienspezifische Weise zur
(Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtprodukts beitragen“.149 Was die Verwir-
rung beim Versuch einer Formbezeichnung des Werkes betrifft, so hebt Rajewsky
hervor, dass150
144 Ebd., S. 88. Siehe auch Kyora, Sabine: Subjektform ,Autor‘? Einleitende Überlegun-
gen. In: Dies. (Hrsg.): Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der
Subjektivierung. Bielefeld: transcript 2014, S. 11–20 (insb. S. 11–16).
145 „The composer, who has been sitting on stage all the time in a helpless attempt to
write himself into the tradition, gives a lecture on the Hardanger fiddle. Illustrated by the
soloist“.
146 Seeber: Komponieren, S. 8.
147 Ebd.
148 Rajewsky: Intermedialität, S. 15.
149 Ebd.
150 Ebd. Siehe auch Wolf: Musicalized Fiction, ebd.
264 7 Zeitblom und die Viola d’amore
Nachdem zwei Werke vorgestellt wurden, die Zeitblom überwiegend durch instru-
mentale Musik darstellen, soll nun auf die (Teil-)reproduktion der Erzählinstanz
von Doktor Faustus durch die vielfältigen Mittel der Oper eingegangen wer-
den. Serenus Zeitblom ist bei Manzoni an drei Stellen zu finden. Zunächst im
Teufelsgespräch (im sechsten Bild des ersten Aktes): Dort betritt er die Bühne,
nachdem Lui I das Liebesverbot zum ersten Mal erwähnt hat (M-DF: 94, T. 705).
Er beobachtet die Szene, ohne etwas zu sagen. Dadurch wird die Verbindung
Zeitbloms mit dem Liebesmotiv hervorgehoben. Dann ist er im vierten Bild des
151 Partitur,ebd. Aus dieser Angabe geht hervor, dass vielleicht nicht lediglich dieser Teil,
sondern auch die ganze Komposition als Autorinszenierung zu werten ist.
152 Was die Nähe des Werkes zum Theater ebenfalls unterstreicht, dazu siehe auch: Fluder-
nik, Monika: Narrative and Drama. In: Pier, J. u. J. A. García Landa (Hrsg.): Theorizing
Narrativity. Berlin: de Gruyter, S. 353–381, hier: S. 365.
7.2 Vom Roman zur Musik 265
zweiten Aktes zu finden, wenn Adrian kurz nach Echos Tod von der Zurücknahme
der Neunten Symphonie spricht. Auch im Roman erfährt nur Zeitblom von der
Absicht des Freundes, Beethovens letztes symphonisches Werk zurückzunehmen.
Wie im Roman sagt ihm Adrian danach (die Anweisung für den Sänger lautet
„parlato, lentamente“, also gesprochen und langsam: M-DF: 191, T. 660): „Then
to the elements. Be free, and fare thou well!“153 Für einen Augenblick scheint
es, dass der fiktive Komponist Zeitbloms Präsenz wahrnimmt. Letztendlich betritt
Zeitblom im „Epilogo“ die Bühne (M-DF: 285–288). Da erzählt er wie der Kom-
mentator am Ende eines Films von den letzten Tagen Leverkühns und vom letzten,
strengen Blick, den der sterbende Adrian auf ihn richtete.
Ursprünglich wollte Giacomo Manzoni die Figur Zeitbloms auslassen, wie
man dem Aufsatz Il lungo cammino del „Doktor Faustus“ entnehmen kann, um
dadurch die extradiegetische Ebene der Narration, d. h. die des Erzählens und
des zweiten Weltkriegs, drastisch zu reduzieren.154 Seine ersten Pläne beschreibt
Manzoni wie folgt:155
Il professore rimarrà nel „libretto“156 appunto come ombra muta, presenza austera,
talora di impotente conforto, non più narratore ma per così dire osservatore a futura
memoria; cadenza alcuni passaggi essenziali della vicenda di Adrian ma non gli
è dato parlare; delinea acutamente aspetti e caratteri della personalità dell’amico
compositore, ma non gli è dato penetrarne realmente il mondo fantastico.
Aus dieser Aussage geht die Absicht hervor, Zeitblom am Rande der Oper zu
lassen, insofern es im Roman fast niemals so scheint, als dass Leverkühn seine
Präsenz explizit will. Die Endfassung der Oper weist aber einige Veränderung der
ursprünglichen Zeitblom-Konzeption auf, denn der Erzähler157 darf im Epilogo
von machtloser Tröstung, bleiben. Er ist nicht mehr Erzähler, sondern Beobachter für die
künftigen Generationen: Er kadenziert einige Hauptmomente der Geschichte Adrians, darf
aber nicht sprechen; er beschreibt scharfsinnig Aspekte und Eigenschaften der Persön-
lichkeit seines Freundes, darf aber in seine fantastische Welt nicht wirklich eindringen“,
ebd.
156 Zu bemerken ist hier aus typografischer Sicht die Verwendung von Anführungszeichen
für das Wort ,Libretto‘: Manzoni betont hier nochmals, dass der Begriff für seinen Opern-
text zum Teil unangebracht ist, da dieser lediglich aus ausgewählten Stellen in direkter
Rede aus der italienischen Übertragung von Thomas Manns Roman besteht. Vgl. 5.2.1.1.
157 Mit dem Satz „Er ist nicht mehr Erzähler“ (Fußnote 155) mag sich Manzoni darauf
bezogen haben, dass sein ursprünglicher Plan nicht vorsah, dass Zeitblom in der Oper eine
266 7 Zeitblom und die Viola d’amore
sprechen. Seine Stimme ist gefühllos; bei Manzoni wirkt er wie ein Reporter oder
ein Journalist, der das Leben Leverkühns still beobachtet und am Ende von des-
sen Verfall und Tod berichtet.158 Dort erfahren die Zuhörer*innen wie in einem
Krimiroman, dass die Figur, die sonst die ganze Oper lang alles lediglich beobach-
tet, Leverkühn kennengelernt hat. Auch das Kostüm, das er bei der Uraufführung
trägt, kann sowohl an einen Journalisten als auch an einen Detektiv denken lassen
(Abbildung 7.6) :
Daher könnte man sagen, dass erst am Ende der Versuch sichtbar wird, die
zwei Ebenen der Extra- und Intradiegese – wenn auch in reduzierter Form – in
der Oper zu reproduzieren. In der intermedialen Transposition herrscht aber –
will man Thomas Manns Roman und Manzonis Oper unter dem Aspekt der
Fokalisierung vergleichen – keine Nullfokalisierung wie im Roman, sondern
eine externe Fokalisierung. Introspektion wird Zeitblom verboten, er ist auf ein
eingeschränktes showing angewiesen.159
Auch in der Endfassung erweist sich Zeitblom – bis zum Epilogo – als
„Beobachter für die künftigen Generationen“.160 Aleida Assmann macht darauf
aufmerksam, dass „Beobachten […] Distanz und Entkörperung [impliziert]. Der
Ertrag solcher Disziplin ist kognitive Sicherheit und rationale Kontrolle“.161 Man-
zonis Zeitblom wirkt distanziert und entkörpert; man könnte sich fragen, ob er im
Libretto an rationaler Kontrolle gewinnt und dementsprechend als zuverlässiger
Erzähler eingestuft werden kann. Zwar wird er mit dem Liebesmotiv assoziiert,
aber er betritt nie die Bühne mit seiner Viola d’amore, die als verstärkendes
Element seines inkongruenten Erzählens zu bewerten ist. Darüber hinaus erfüllt
Zeitblom – Manzonis Worten zufolge – auch eine Erinnerungsfunktion, indem
er für künftige Generationen beobachtet. Dass sich seine Rolle aber nicht nur auf
eine Beobachtungsfunktion reduzieren lässt, wird auch dadurch bestätigt, dass er –
im Vergleich zu allen anderen Figuren der Oper – nicht singt, sondern rezitiert.
Insofern lässt sich die Funktion von Zeitblom in der Oper auch durch Pfisters
epische Kommunikationsstrukturen veranschaulichen: Diesen zufolge handelt es
Art auktorialer Erzähler darstellen sollte, denn der Rest des Zitats weist immerhin auf eine
Erzählfunktion Zeitbloms hin.
158 Zur genaueren Schilderung dieses Bildes vgl. 5.2.1.5.
159 Der englische Begriff ist hier in seiner narratologischen Bedeutung zu verstehen und
nicht im Sinne eines intermedialen showing und telling nach Werner Wolf. Vgl. Wolf:
„The musicalization of fiction“, S. 133. Zum Begriff in der Erzähltextanalyse: Lubbock,
Percy: The Craft of Fiction. London: Cape 1972 [1921]; Hansen, Per Krogh: Karakterens
rolle. Aspekter af en litterær karakterologi. Holte: Medusa 2000, S. 117–155.
160 Fußnote 155.
161 Assmann: Erinnerungsräume, S. 95.
7.2 Vom Roman zur Musik 267
7.3 Fazit
Das vorliegende Kapitel widmete sich vor allem der Frage nach den Realisie-
rungsmöglichkeiten von Unzuverlässigkeit im Medium der fiktionalen Schrift und
im Medium der Musik. Der erste Teil untersuchte die Indizien, die dafür spre-
chen, dass Zeitblom ein unzuverlässiger Erzähler ist, was durch die Viola d’amore
aus intermedialer Sicht verstärkt wird. Der zweite Teil hat gezeigt, dass alle drei
Kompositionen auf das unzuverlässige Erzählen Zeitbloms eingehen und, grund-
sätzlich, wie sich Unzuverlässigkeit im Medium der Musik realisieren lässt: z. B.
durch Verzierungen bei Fine, die Einbeziehung der mündlichen Musiktradition bei
Hagen und die vorwiegend beobachtende Funktion Zeitbloms bei Manzoni, die
darauf abzielen könnte, seine Unzuverlässigkeit zu überwinden, aber auch darauf,
diese in einem indirekten, weniger expliziten Modus zu realisieren. Resümierend
lässt sich sagen, dass dieses Kapitel gezeigt hat, dass der Medienvergleich noch
mehr ins Detail gehen kann, wenn stets ein doppelter Blick, in diesem Fall: ein
literatur- und einen musikwissenschaftlicher, angewandt wird. Ausgangspunkt der
Analyse war in den vorigen Ausführungen sowie in vielen intermedial angelegten
Untersuchungen eine einzige Textstelle, wo das Instrument Zeitbloms Erwähnung
findet. In der Intermedialitätsforschung wird dieser Beleg als explizite Systemer-
wähnung bezeichnet: Bereits dort wird betont, dass sie eine wichtige Rolle spielt,
162 Pfister,
Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. München: Fink 1997 [1977], 9.
Aufl., S. 123.
7.3 Fazit 269
indem sie intermediale Analysen in Gang setzt.163 Das konnte dieses Kapitel
beweisen und somit die in Einleitung und Kapitel eins beabsichtigte Anwendung
der Theorie auf konkrete Beispiele umsetzen.
In Bezug auf die Forschungsfragen dieser Arbeit hob das vorliegende Kapi-
tel zudem hervor, dass eine gründliche intermediale und narratologische Analyse
des Vorlagetextes, also die werkinterne Intermedialität, eine ergiebige Grundlage
für die Untersuchung von kompositorischen Reaktionen auf die Vorlage, also von
werkexterner Intermedialität, bietet. Vor allem Manzonis Oper zwang daneben
auch zu einem Blick auf den Roman zurück, denn sie provoziert die Frage – die
wohl auch Erzähltexte betrifft – nach dem Grad an unzuverlässigem Erzählen je
nach Darstellungsmodus. Im folgenden Kapitel wird die Erzählinstanz von Dok-
tor Faustus erneut eine wichtige Rolle spielen, weil es primär darum geht, wie
Hetaera Esmeralda durch Zeitblom charakterisiert wird.
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falls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende
nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative
Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften
erlaubt ist, ist auch für die oben aufgeführten nicht-kommerziellen Weiterverwendungen
des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Der Name ,Hetaera Esmeralda‘ wird zum ersten Mal im dritten Kapitel des
Romans erwähnt. Er bezieht sich auf einen Schmetterling aus einem der „farbig
illustrierten Bücher über exotische Falter und Meergetier“ (DF: 26) von Jonathan
Leverkühn. Die Schmetterlinge werden als „Insekten [bezeichnet], die in phantas-
tisch übertriebener Schönheit ein ephemeres Leben fristen, und von denen einige
den Eingeborenen als böse Geister gelten, die die Malaria bringen“ (ebd.; Herv.
A. O). Schon diese kurze Beschreibung fasst die Eigenschaften dieser Insekten
zusammen: die Schönheit, das vergängliche Leben, ihre Betrachtung als dämo-
nische Tiere, die Krankheiten hervorrufen. ,Hetaera Esmeralda‘, eine Art von
Schmetterling „in durchsichtiger Nacktheit den dämmernden Laubschatten lie-
bend“ (DF: 27), hat „nur einen dunklen Farbfleck in Violett und Rosa“ (ebd.) auf
ihren Flügeln, „der sie, da man sonst nichts von ihr sieht, im Flug einem windge-
führten Blütenblatt gleichen läßt“ (ebd.). Eine weitere Eigenschaft von einigen
Arten dieser Tiere ist, dass sie in der Lage sind, sich unsichtbar zu machen.
Gerade deswegen besäßen sie etwas Schwermütiges: Astrid Roffmann vertritt in
ihrer Untersuchung, die sich mit der Natur im Werk Thomas Manns befasst, die
Auffassung, Schmetterlinge seien von Melancholie gekennzeichnet, weil sie an
ihrer Isolation leiden.1
Die Erwähnung der im Roman genannten Eigenschaften dieses Schmetterlings
bzw. anderer Schmetterlinge sowie weiterer Eigenschaften von Tieren und Natur-
phänomenen im dritten Kapitel findet eine Entsprechung in einer wichtigen Figur
des Romans, nämlich Hetaera Esmeralda.2 Leverkühn nennt die Prostituierte im
1 Siehe Roffmann, Astrid: „Keine freie Note mehr“. Natur im Werk Thomas Manns.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 191. Vgl. DF: 28.
2 Vgl. auch Börnchen: Kryptenhall, S. 212–215.
Leipziger Bordell, die ihm mit dem Arm die Wange streichelt, bei eben die-
sem Namen, den er durch die Bücher des Vaters kennengelernt hatte.3 Wie ihr
tatsächlicher Vorname lautet, erfährt die Leser*innenschaft nicht.
Anhand von Studien über einen bekannten Weiblichkeitstypus des fin de
siècle, des der Femme fatale, von sexuellen Metaphern des Romans sowie von
Freuds Schriften wird im vorliegenden Kapitel Zeitbloms Verhalten dem weibli-
chen Geschlecht, und speziell Esmeralda, gegenüber ausgelotet. Die Darstellung
der Erzählinstanz bezüglich dieser Figur stellt dann den Ausgangspunkt für die
Analyse der Kompositionen dar, die Hetaera Esmeralda ins Zentrum stellen.
Der Name ,Hetaera Esmeralda‘ verweist nicht nur auf die gleichnamigen Schmet-
terlinge im eingangs erwähnten Buch von Adrian Leverkühns Vater, sondern
prägt als musikalische Chiffre auch viele Werke des Komponisten und stellt
folglich eine Erinnerung an die Begegnung sowie die intime Beziehung mit
der Prostituierten aus dem Leipziger Bordell dar.4 Darüber hinaus verweist die
Esmeralda-Episode sowie die durch den Geschlechtsverkehr mit ihr auf Lever-
kühn übertragene Syphilis auf die Deutungsperspektive „Nietzsche-Roman“ (Ent:
30), die in der Forschungsliteratur zu Doktor Faustus verschiedentlich erörtert
wird.5 Ebenfalls weit rezipiert wurde die Erläuterung Thomas Manns, warum in
Doktor Faustus der Name des Philosophen expressis verbis vergebens zu suchen
ist und was dennoch seiner Biographie entlehnt wurde:
Da ist die Verflechtung der Tragödie Leverkühns mit derjenigen Nietzsches, dessen
Name wohlweislich in dem ganzen Buch nicht erscheint, eben weil der euphorische
Musiker an seine Stelle gesetzt ist, so daß es ihn nun nicht mehr geben darf; die
wörtliche Übernahme von Nietzsches Kölner Bordell-Erlebnis und seiner Krank-
heitssymptomatik, die Ecce-Homo-Zitate des Teufels, das – kaum einem Leser
bemerkliche – Zitat von Diät-Menus nach Briefen Nietzches aus Nizza, oder das
ebenfalls unauffällige Zitat von Deussens letztem Besuch mit dem Blumenstrauß
bei dem in geistige Nacht Versunkenen. (Ent: 29)6
ten zwischen dem Leben Leverkühns und dem Nietzsches (etwa die Paralyse, die
8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus 273
Als Ergänzung zum sechsten Kapitel dieser Arbeit über den „Teufel“ soll durch
die Analyse der Charakterisierung von Esmeralda im Roman zugleich diskutiert
werden, inwieweit sie neben etwa Kretzschmar und Spengler als Teufelsemissärin
gesehen werden kann. Leverkühn lernt diese Figur durch Vermittlung eines weite-
ren Teufelsemissärs kennen, nämlich durch den Leipziger Dienstmann, mit dem er
die Stadt Leipzig besichtigt (es handelt sich wie im Fall des Teufelsgesprächs um
ein fiktives Dokument des Komponisten an Zeitblom, diesmal in Form eines auf
das Jahr 1905 datierten Briefes). Am Ende des Tages ist Leverkühn erschöpft und
hungrig. Der Dienstmann bringt ihn zu einem Gasthaus, das in der Tat ein Bordell
ist, und wünscht ihm einen „Guten Appetit“ (DF: 208). Dem verwirrten und betro-
genen Leverkühn kommen einige Prostituierte entgegen, die er folgendermaßen
beschreibt:
Thomas Manns „Doktor Faustus“. Tübingen: Niemeyer 1996; Klugkist, Thomas: Sehn-
suchtskosmogonie. Thomas Manns „Doktor Faustus“ im Umkreis seiner Schopenhauer-,
Nietzsche- und Wagner-Rezeption. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000.
274 8 Hetaera Esmeralda
Nymphen und Töchter der Wüste, sechs oder sieben, wie soll ich sagen, Morphos,
Glasflügler, Esmeralden, wenig gekleidet, durchsichtig gekleidet, in Tüll, Gaze und
Glitzerwerk, das Haar lang offen, kurzlockig das Haar, gepuderte Halbkugeln, Arme
mit Spangen, und sehen dich mit erwartungsvollen, vom Lüster gleißenden Augen
an. (DF: 208 f.)
Leverkühn bezeichnet sie sofort mit dem Namen der Schmetterlinge aus dem
Buch seines Vaters, ist verwirrt und sucht Schutz in der Musik, und zwar an
einem offenen Klavier:
[Ich] schlage im Stehen zwei, drei Akkorde an, weiß noch, was es war, weil mir das
Klangphänomen gerade im Sinne lag. Modulation von H- nach C-dur, aufhellender
Halbton-Abstand wie im Gebet des Eremiten im Freischütz-Finale, bei dem Eintritt
von Pauke, Trompeten und Oboen auf dem Quartsextakkord von C. (DF: 209)
Gleich danach nähert sich ihm „eine Bräunliche, in spanischem Jäckchen, mit
großem Mund, Stumpfnase und Mandelaugen“ (DF: 209), die ihm mit dem Arm
die Wange streichelt und die er Esmeralda nennt (Leverkühns Bezeichnung für
alle Prostituierten des Bordells). Noch verwirrter verlässt Leverkühn den Ort so
schnell wie möglich. Der Bericht der Begegnung mit Esmeralda, zentraler Aus-
gangspunkt vieler Beiträge zu Thomas Manns Doktor Faustus, umfasst im Roman
nur eine Seite. Die Kommentare des Erzählers umrahmen diesen Bericht: Vor
der Wiedergabe von Leverkühns Brief präzisiert etwa Zeitblom, dass er ihn „mit
Empfindungen las, wie sie wohl eine Mutter bei solchen Mitteilungen eines Kin-
des bewegen mögen“ (DF: 203). Der Sprachstil ist – wie nicht selten im Fall
von Leverkühns fiktiven Dokumenten oder Reden –9 reich an Attributen und
wirkt exzentrisch, wie die anfängliche Anredeformel „Ehrbar, hochgelahrter, lie-
ber, günstiger Herr Magister und Ballisticus!“ (DF: 204) zeigt. Im letzten Teil des
Briefes stellt Leverkühn seine Gedanken bezüglich verschiedener Komponisten,
Künstler und Schriftsteller vor, die insgesamt mehr Platz als die Erzählung vom
Bordell-Erlebnis einnehmen.10
Zusätzlich zu den kurzen Kommentaren vor und nach Leverkühns Brief
widmet sich Zeitblom im darauf folgenden ca. sechsseitigen Kapitel noch ausführ-
licher der Bordell-Episode: Vergleichbar einer Briefausgabe mit Erläuterungen
liefert der Erzähler seiner Leser*innenschaft sämtliche Ausführungen zum Inhalt,
Sprachstil und zur korrekten Interpretation des Briefes seines Freundes:
9 Dies trifft allerdings oft auch auf Zeitbloms Narrationsstil zu. Vgl. Kap. 7.
10 Vgl. DF: 210 f.
8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus 275
Alles übrige war Zutat, Einhüllung, Vorwand, Aufschub und, nachher, ein gesprä-
chiges Wiederzudecken mit musikkritischen Aperçus, als ob es nichts gewesen
wäre. Auf die Anekdote, um ein sehr sachliches Wort zu gebrauchen, steuert alles
zu [...]. (DF: 211 f.; Herv. i. O.)
Zeitblom suggeriert, dass „die Betrachtungen über Schumann, die Romantik, Cho-
pin“ (DF: 212), die den zweiten Teil des Briefes bilden, „offenbar den Zweck“
(ebd.) verfolgen, der sogenannten Anekdote „das Gewicht zu nehmen […] [und]
sie wieder in Vergessenheit zu bringen“ (ebd.). Die Unzuverlässigkeit der Erzäh-
linstanz lässt sich zu Beginn des Kapitels erneut feststellen: „Der kategorischen
Weisung, diesen Brief zu vernichten, bin ich nicht gefolgt“ (DF: 211). Nicht nur
kommentiert Zeitblom wieder Ereignisse, bei denen er nicht anwesend war, mit
großer Sicherheit und Ausführlichkeit, nicht nur gibt er zu, den Brief wie eine
besorgte Mutter gelesen und ihn mit zitternden Händen abgeschrieben zu haben,
er verrät seiner Leser*innenschaft darüber hinaus, den Willen seines Freundes auf-
grund des „dokumentarischen Charakter[s]“ (DF: 194), den der Text hat, ignoriert
zu haben. Noch komischer wirkt es zudem, dass er seiner Leser*innenschaft eine
Analyse des Briefes liefert, deren Grenzen er jedoch zugleich deklariert: „Analyse
hat notwendig den Anschein der Kühle, auch wenn sie im Zustande tiefer Erschüt-
terung geübt wird. Erschüttert aber war ich, mehr noch, ich war außer mir“ (DF:
213).11 Seine Analyse entspricht seiner eigenen Definition zufolge aufgrund ihres
emotionalen Charakters nicht der Kategorie einer objektiven Interpretation.
Zeitbloms Erschütterung lässt sich dadurch begründen, dass Esmeralda seine
erste Konkurrentin in Sachen Liebe und Sexualität darstellt. Dass Leverkühn sexu-
ell begehrt, darüber hat der Erzähler den Leser*innen gegenüber noch nichts
verlauten lassen: „Es war, um mich emphatisch auszudrücken, wie wenn man
einen Engel über die Sünde sich ergehen hörte“ (ebd.). Der Dogmatismus des
katholischen Zeitblom setzt einen einmaligen Bordellbesuch mit einer Sünde
gleich. Provoziert vom Bericht des Freundes, gesteht er, eine fast rein sexu-
elle Beziehung „zu einem Mädchen aus dem Volk“ (DF: 215) unterhalten zu
haben. Dann äußert er seine tiefe Eifersucht, indem er zugleich Indizien für sein
Verhalten Frauen gegenüber liefert:
Ich hatte Lust, die Hexe mit dem Knie von ihm wegzustoßen, wie er den Schemel
beiseite stieß, um den Weg ins Freie zu gewinnen. Tagelang spürte ich die Berüh-
rung ihres Fleisches auf meiner eigenen Wange und wußte dabei mit Widerwillen,
mit Schrekken, daß sie seither auf der seinen brannte. (DF: 217)
11 Noch ein Beweis dafür, dass Zeitblom ein unzuverlässiger, aber doch kein inkompetenter
Nach dem ersten Treffen mit Esmeralda im Leipziger Bordell, fährt Leverkühn im
Mai 1906 nach Graz, um „die österreichische Première der ,Salome‘“ (DF: 224)
zu hören. Dies ist zumindest das, was er seinen Freunden und seinem Lehrer
Kretzschmar erzählt. Es bleibt jedoch unklar, ob er an der Aufführung überhaupt
teilgenommen oder lediglich Esmeralda besucht hat. Die Prostituierte, die krank
ist und sich in Pressburg befindet, erinnert sich noch an Leverkühn und warnt
ihn vor ihrem Körper; Leverkühn „verschmäht[]“ (DF: 226) aber die Warnung
und besteht „auf dem Besitz dieses Fleisches“ (ebd.). So soll Leverkühn zum
ersten Mal Beischlaf mit einer Frau gehabt und sich folglich mit Syphilis infiziert
haben.12
Die Wahl der Oper geht Hand in Hand mit Esmeraldas Charakterisierung
im Roman.13 Denn Salome ist Stefan Wurz zufolge „geradezu der Inbegriff der
Femme fatale“;14 Silvia Volckmann fügt hinzu, ihr Phantasma sei für viele Künst-
ler*innen und Schriftsteller*innen zur Verkörperung „einer blutigen Bedrohung
durch das Weib und seine verführerische Potenz“15 geworden. Das Motiv der
Versuchung durch die Frau antizipierte schon Privatdozent Schleppfuß in seinen
Theologie-Sitzungen.16 Darüber hinaus wurde die Figur Salome in der Literatur
12 Die Stadien dieser Krankheit werden im folgenden Beitrag beschrieben: Lahmann, Claas:
Die Bedeutung der Krankheit für die Kunst in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“.
Frankfurt am Main: Fischer 1995.
13 Vorausgesetzt selbstverständlich, dass man davon ausgeht, dass sie nicht Zeitbloms
Phantasie entspringen. Auch der junge Adolf Hitler soll laut Wimmer an der Premiere
teilgenommen haben. Vgl. GkFA 10.2: 426 f.
14 Wurz, Stefan: Kundry, Salome, Lulu. Femmes fatales im Musikdrama (Magisterarbeit
Karlsruhe 1999, Karlsruher Beiträge zur Musikwissenschaft Bd. 4). Frankfurt am Main
(u. a.): Lang 2000, S. 84. Zur Femme fatale vgl. auch Bronfen, Elisabeth: Liebestod
und Femme fatale. Der Austausch sozialer Energien zwischen Oper, Literatur und Film.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004; Hoffmann-Curtius, Kathrin: Constructing the „femme
fatale“: A Dialogue between Sexology and the Visual Arts in Germany around 1900.
In: Fronius, Helen (Hrsg.): Representation of female victims and perpetrators in German
culture 1500–2000. Rochester/NY: Camden House 2008, S. 157–185. Zu Femmes fatales
bei Thomas Mann siehe: Galvan, Elisabeth: Femme fatale und Allegorie. Thomas Manns
Renaissancedrama „Fiorenza“ und das München der Jahrhundertwende. In: Koopmann,
Helmut (Hrsg.): Die Wiederkehr der Renaissance im 19. und 20. Jahrhundert. Münster:
mentis 2013, S. 181–193.
15 Volckmann, Silvia: Die Frau mit zwei Köpfen. Der Mythos Salomé. In: Kreuzer, Helmut
(Hrsg.): Don Juan und Femme fatale. München: Fink 1994, S. 127–142, hier: S. 128.
16 Vgl. DF: 155 u. 6.1.1.
8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus 277
auch mit der Syphilis verbunden, da der Teufel durch sie in dem (von Tho-
mas Mann selbst kritisierten) Drama Das Liebeskonzil von Oskar Panizza die
Krankheit verbreitet.17
Wie lassen sich Femmes fatales definieren? Helmut Kreuzer bezeichnet sie
als „Typus der kollektiven Phantasie“18 und hält sie für „mythische Figuren,
für fiktive Figuren, für ideologieträchtige Symbolfiguren der Erotik, die das eine
gemeinsam haben, daß sie dem Mann zum Verhängnis zu werden drohen, der in
ihren weiblichen Bannkreis gerät“.19 Auch für Wurz ist die Femme fatale eine
verhängnisvolle Frau [...], die meist unter Einsatz weiblicher Reize einen Mann ins
Unglück stürzt, bzw. zu stürzen versucht. Dieser kommt dabei häufig zu Tode, ver-
liert aber mindestens seine Gesundheit, seinen Verstand, seinen gesellschaftlichen
Status oder seine Familie.20
17 In demselben Drama gibt es außerdem eine andere Femme fatale, und zwar Lucrezia
hier: S. 9.
19 Ebd.
20 Wurz: Kundry, Salome, Lulu, S. 17.
21 Siehe Börnchen: Kryptenhall, S. 249–252.
22 Vgl. DF: 209.
278 8 Hetaera Esmeralda
23 Nieberle, Sigrid: Gender Studies und Literatur: Eine Einführung. Darmstadt: Wissen-
10.1.2.
26 Scheurl betreffend, siehe etwa DF: 294.
27 Siehe Oswald, Victor A. Jr.: Thomas Mann’s Doktor Faustus: The Enigma of Frau von
29 Hilmes, Carola: Kleopatra. Das versteinerte Frauenbild und die Geschichten eines
verteufelten Eros. In: Kreuzer (Hrsg.): Don Juan und Femme fatale, S. 99–116, hier:
S. 100.
30 Meier, Ulrich: Verführerinnen der Jahrhundertwende. Kunst – Literatur – Film. In:
Kreuzer (Hrsg.): Don Juan und Femme fatale, S. 155–163, hier: S. 156.
31 Ebd., S. 159.
32 Vgl. DF: 341. Darmaun findet, Esmeralda sei eine Art Mephistophela. Siehe Darmaun:
Es gilt nun, die Verteufelung von Esmeralda und vielen anderen Figuren weib-
lichen Geschlechts durch die Erzählinstanz näher auszuloten. Laut Börnchen
gliedern sich die weiblichen Figuren von Doktor Faustus in sexualisierte und
desexualisierte Gestalten.39 Es zeichnen sich folglich zwei Darstellungsarten im
Roman ab: Entweder erfüllen Frauen im Roman Reproduktionszwecke bzw. sie
bedienen einfach das Verlangen nach sexueller Befriedigung des Mannes oder sie
bieten ihm Schutz und sind unattraktiv. Das wahrscheinlich beste Beispiel aus
dem Roman, das im Rahmen von Börnchens Studie eine wichtige Rolle spielt, ist
Zeitbloms Ehefrau, Helene, die nicht nur den Namen des mythischen Inbegriffs
der Frau, die aus trojanischer Sicht ins Unglück bringt, trägt, sondern viele weib-
liche Tugenden verkörpert.40 Exemplarisch sei hier ein Zitat aus dem zweiten
Kapitel von Doktor Faustus erwähnt, in dem der Erzähler, nachdem er Leverkühn
kurz vorgestellt hat, sich selbst präsentiert:
Frühzeitig, bald schon nach meiner Bestallung in Kaisersaschern, habe ich mich
vermählt – Ordnungsbedürfnis und der Wunsch nach sittlicher Einfügung ins Men-
schenleben leiteten mich bei diesem Schritt. Helene, geb. Ölhafen, mein treffliches
Weib, das noch heute meine sich neigenden Jahre betreut, war die Tochter eines
älteren Fakultäts- und Amtskollegen zu Zwickau im Königreich Sachsen, und auf
die Gefahr hin, das Lächeln des Lesers hervorzurufen, will ich nur gestehen, daß
der Vorname des frischen Kindes, Helene, dieser teure Laut, bei meiner Wahl nicht
die letzte Rolle spielte. Ein solcher Name bedeutete eine Weihe, deren reinem Zau-
ber man nicht seine Wirkung verwehrt, sollte auch das Äußere der Trägerin seine
hohen Ansprüche nur in bürgerlich bescheidenem Maß, und auch dies nur vorüber-
gehend, vermöge rasch entweichenden Jugendreizes erfüllen. Auch unsere Tochter,
die sich längst einem braven Manne, Prokuristen an der Filiale der Bayerischen
Effektenbank in Regensburg, verbunden hat, haben wir Helene genannt. Außer ihr
schenkte meine liebe Frau mir noch zwei Söhne, so daß ich die Freuden und Sorgen
der Vaterschaft nach Menschengebühr, wenn auch in nüchternen Grenzen erfahren
habe. (DF: 20 f.)41
„Perfekter“ könnte Zeitbloms Frau nicht sein: Sie ist kein „Mädchen aus dem
Volke“ (DF: 215) wie das, mit dem er in Halle eine rein sexuelle Beziehung
unterhalten hatte, sie betreut ihn und hat ihm darüber hinaus auch männliche
Erben geschenkt. Kein Wunder, dass sich das Ehepaar für denselben Namen bei
der Wahl des Tochternamens entschieden hat, der sich – sittlich-bürgerlichen Ver-
hältnissen gemäß – als erfolgsversprechend erwiesen hat. Des Weiteren wird im
obigen Zitat nochmals die mitberücksichtigte klangliche Qualität der von Zeit-
bloms verwendeten Wörter betont.42 Zeitbloms Frau kommt aus Sachsen, was für
Börnchens These einer „Helena Esmeralda“,43 also einer Identität von Helene und
Esmeralda, sprechen könnte, da in Leipzig der Bordellbesuch angesiedelt ist.
Was für intellektuelle Fähigkeiten Zeitbloms Ehefrau und Tochter besitzen,
erfährt die Leser*innenschaft nicht. Dies ist aber kein Einzelfall im Roman, denn,
auch wenn weiblichen Gestalten Intelligenz oder im geistigen Bereich liegende
Talente zugesprochen werden, geraten diese wegen der detaillierten, oft zugespitz-
ten Beschreibung von Körpermerkmalen in den Hintergrund; das gilt insbesondere
für die sexualisierten weiblichen Figuren von nicht selten niedrigem sozialen
Status. Nicht nur wird auf den großen Mund und die Stumpfnase Esmeraldas
hingewiesen,44 auch die Stallmagd Hanne, die den Kindern das Singen von Kan-
ons beibringt, ist Zeitblom zufolge so ein „tierisch duftende[s] Geschöpf“ (DF:
39), dass sie an manchen Stellen der Narration sogar den Namen „Stall-Hanne“
(DF: 47) bekommt.45 Auch in Pfeiffering soll es eine Stallmagd „mit Waberbu-
sen und emsig mistigen Barfüßen“ (DF: 46) gegeben haben, die „der Hanne von
Buchel so ähnlich“ (ebd.) sieht. Der Körper weiblicher Figuren steht im Roman
stets im Vordergrund, auch der nackte Körper, wie nicht nur an der Beschreibung
der Prostituierten im Leipziger Bordell, sondern auch anhand des Namens von
Leverkühns Verehrerin Meta Nackedey deutlich wird.46
Andererseits gebe es – so z. B. Börnchen – desexualisierte weibliche Figuren
in Doktor Faustus, die Leverkühn verehren und ihm auch Schutz bieten. Frau von
Tolna ist beispielsweise Leverkühns Mäzenin: Sie finanziert sein Werk, ist bei
allen Uraufführungen unsichtbar dabei und ihre Körpermerkmale werden kaum
beschrieben.47 Sie lässt an einige berühmte weibliche Mäzeninnen der Musikge-
schichte denken, z. B. an Frau von Meck, die Mäzenin Tschaikowskis.48 Eine
42 Vgl. Kap. 5.
43 Bornchen: Kryptenhall, S. 262.
44 Zudem sollte diese Beschreibung von Leverkühn stammen.
45 Siehe ebd., S. 266.
46 Vgl. ebd., S. 268.
47 Auf diese Figur geht 10.1.2. ein.
48 Vgl. ebd.
282 8 Hetaera Esmeralda
49 Das gibt Zeitblom selbst zu: „[D]enn eine Wurstdarmfabrik hat entschieden etwas
Amazonenmythen bei Schiller und Kleist. In: Stephan, Inge u. Sigrid Weigel (Hrsg.):
Feministische Literaturwissenschaft. Dokumentation der Tagung in Hamburg vom Mai
1983. Berlin: Argument 1984, S. 23–42.
51 Zur Figur vgl. auch Elsaghe, Yahya: Kunigunde Rosenstiel. Thomas Manns späte Alle-
Bedeutet es nicht den „Durchbruch“, von dem zwischen uns, wenn wir das Schick-
sal der Kunst, Stand und Stunde derselben, besannen und erörterten, so oft als
von einem Problem, einer paradoxen Möglichkeit die Rede war, – die Wiederge-
winnung, ich möchte nicht sagen und sage es der Genauigkeit willen doch: die
Rekonstruktion des Ausdrucks, der höchsten und tiefsten Ansprechung des Gefühls
auf einer Stufe der Geistigkeit und der Formenstrenge, die erreicht werden mußte,
damit dieses Umschlagen kalkulatorischer Kälte in den expressiven Seelenlaut und
kreatürlich sich anvertrauende Herzlichkeit Ereignis werden könnte?
Ich kleide in Fragen, was nichts weiter als die Beschreibung eines Tatbestandes, der
seine Erklärung im Gegenständlichen sowohl wie im Künstlerisch-Formalen findet.
(DF: 703)
Lexikalisch tauchen hier wieder Wörter auf, die auch Leverkühn zum Beschrei-
ben seines künstlerischen Vorhabens verwendet hatte (,Durchbruch‘, ,geistig‘,
,Gefühl‘, ,Kälte‘); durch das Verb ,müssen‘ wird darauf hingewiesen, dass es
sich hier um keine optionale, sondern um eine „obligatorische Alternative“59
handelt.60 Diese erlaube die Überwindung der Sterilität der Kunst und die Auf-
deckung ihres wahren Wesens, das die Sprache nur in Fragen zu kleiden vermag.
Daher auch die Wiederholung der Motive der Durchsichtigkeit (etwa die Kleider
der Prostituierten in Leipzig) und der Verschleierung (etwa die verschleierte Frau
bei Leverkühns Trauerfeier): Börnchen spricht diesbezüglich von einem „topi-
sche[n] Schleier, der durchsichtig gemacht, aufgehoben oder gar zerrissen werden
muß, um zur ,Wahrheit‘ dessen zu gelangen, was sich dahinter befindet“61 –
dieser Schleier gehöre eindeutig einer Frau.62 Die Präsenz dieser allegorischen
Motive im Roman, die mit dem Topos der Sterilität der Kunst einhergehen,63
stellen die auch von Adorno angesprochenen Vorwürfe eines übertriebenen Intel-
lektualismus der Neuen Musik in Frage.64 Die Entwicklung der Dodekaphonie
wird metaphorisch mit einem Geschlechtsakt assoziiert, der mit einem gewissen
Widerstand vollzogen wird: Zwar soll Esmeralda Leverkühn „alle Süßigkeiten
ihres Weibtums“ (DF: 226) aufgeboten haben, „um ihn zu entschädigen für das,
was er für sie wagte“ (ebd.), aber die Prostituierte wirft sich nicht in die Arme des
Komponisten, sondern warnt ihn „vor ihrem Körper“ (DF: 225; Herv. i. O.).65
Vgl. 6.1.2 Hier steht wieder die sexuelle Dimension im Zentrum und die Textstelle wird
typographisch durch die Kursivierungen erneut hervorgehoben.
8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus 285
Esmeraldas Warnung lässt sich auch mit jenem von Freud in Jenseits des
Lustprinzips beschriebenen Reizschutz in Verbindung bringen. Zur Beschäfti-
gung mit diesem Text motiviert einerseits das chronotopische textuelle Indiz des
Geschlechtsaktes mit Esmeralda – Leverkühn reist 1906 nach Graz, um dann wei-
ter nach Pressburg zu fahren, der Schauplatz ist die Monarchie Österreich-Ungarn
– andererseits die Notwendigkeit, sich mit den damaligen die Sexualität betref-
fenden psychoanalytischen Theorien auseinanderzusetzen. Dies verbindet sich mit
der Absicht zu prüfen, ob auch lediglich auf lexikalischer Ebene ähnliche Begriffe
auftauchen, die die sexuelle Metaphorik des Textes noch deutlicher machen.66
In Bezug auf den Reizschutz spricht Freud von einer „besondere[n] Hülle oder
Membran“,67 die „reizabhaltend wirkt […] bis nicht Reize von solcher Stärke her-
ankommen, daß sie den Reizschutz durchbrechen“.68 Dieser Reizschutz kommt
im Roman sowohl durch die Warnung Esmeraldas als auch durch das Motiv der
Verschleierung zum Tragen: Dieser kann Freud zufolge durchbrochen werden,
wobei die Folge dieses Durchbruchs „die gemeine traumatische Neurose“69 sei.
Des Weiteren schildert Freud die Sexualtriebe als Lebenstriebe,70 die sich gegen
die Ich-Triebe, also die Todestriebe, opponieren:71 Diese seien zugleich „lebens-
erhaltend und verjüngend“72 und könnten „narzißtisch“,73 insbesondere wenn die
„Libido vom Objekt abgezogen und aufs Ich gerichtet wird“,74 sadistisch, wenn
66 Die hier betrachtete Schrift von Freud erschien 1920, als die Monarchie Österreich-
Ungarn nicht mehr bestand. Der Erzähler Zeitblom berichtet aber retrospektiv während des
Zweiten Weltkriegs und der Roman selbst wurde 1947 veröffentlicht, sodass man von einer
Rezeption von Freuds Theorien wohl ausgehen kann. Zum Einfluss von Freuds Schiften
auf Thomas Manns Roman siehe: Ceppo, Anna Maria: Freud nel „Doctor Faustus“ di
Thomas Mann. In: Nuova Rivista Storica 64 (1980) H. 5, S. 637–652; Straus, Nina Pelikan:
„Why Must Everything Seem Like Its Own Parody?“: Thomas Mann’s Parody of Sigmund
Freud in Doctor Faustus. In: Literature and Psychology 33 (1987) H. 3–4, S. 59–75.
67 Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips. Leipzig (u. a.): Internationaler Psychoanaly-
Es wundert daher in diesem Kontext nicht, dass die Konsequenz jenes Durchbruchs von
Leverkühn, der sowohl der Geschlechtsverkehr mit Esmeralda als auch die Entdeckung
der Zwölftontechnik sein könnte, eben das Delirium ist.
70 Siehe z. B. ebd., S. 38 f.
71 Vgl. etwa ebd., S. 43.
72 Ebd., S. 49.
73 Ebd.
74 Ebd., S. 51.
286 8 Hetaera Esmeralda
der Trieb, „auf die Schädigung des Objektes zielt“,75 aber auch masochistisch
„als eine Rückwendung des Sadismus gegen das eigene Ich“76 gewendet werden.
In den Romankapiteln, die auf die Bordell-Episode folgen, häufen sich Wör-
ter und Ausdrücke, die auch in Freuds Text zu finden sind und die auch der
sexuell-konnotierten Deutungsebene des Durchbruchs- und Verschleierungsmotivs
zugeordnet werden können. So taucht beispielsweise mehrfach das Wort „Trieb“
auf (z. B. DF: 226, auch „nackte[r] Triebe“, was wieder auf das Motiv der Nackt-
heit hinweist, DF: 224). Das Wort „Begierde“ (DF: 224) ist ebenfalls zu finden;
des Weiteren vergleicht Zeitblom Leverkühns Bericht vom Bordell-Erlebnis mit
einer „Durchbrechung einer sonst unbedingten und von mir stets respektierten
Verschlossenheit“ (DF: 214; Herv. A. O.). Der Erzähler definiert diesen Trieb als
eine „krude Fixierung der Begierde auf ein bestimmtes und individuelles Ziel“
(DF: 224; Herv. i. O.), was also der Auffassung Freuds folgend für einen narziss-
tischen Trieb sprechen könnte. Sexualität kombiniere sich hier mit dem Bereich
des Dämonischen:
Und, gütiger Himmel, war es nicht Liebe auch, oder was war es, welche Verses-
senheit, welcher Wille zum gottversuchenden Wagnis, welcher Trieb, die Strafe in
die Sünde einzubeziehen, endlich: welches tief geheimste Verlangen nach dämoni-
scher Empfängnis, nach einer tödlich entfesselnden chymischen Veränderung seiner
Natur wirkte dahin, daß der Gewarnte die Warnung verschmähte und auf dem Besitz
dieses Fleisches bestand? (DF: 226)
Der Ausdruck „Besitz dieses Fleisches“ weist noch einmal darauf hin, dass es
sich um einen narzisstischen Trieb handelt: Ob die Frau dem Geschlechtsakt
zustimmt, scheint hier und an anderen Stellen der Esmeralda-Kapitel irrelevant
zu sein, nicht zuletzt, weil gar keine Frau erwähnt wird, denn Esmeralda wird
hinter dem Wort „Fleisch“ verborgen. Das weibliche Geschlecht erfüllt daher
lediglich Reproduktionszwecke und wird in der Narration zum sexuellen Objekt
eines begehrenden Mannes gemacht.77 Eine gewisse Misogynie Zeitbloms lässt
sich auch anhand eines Vergleichs der Tonchiffren von Leverkühn und Esmeralda
konstatieren. Dass die Tonchiffre Esmeraldas in mehreren Kompositionen Lever-
kühns auftaucht oder sogar zum Ausgangsmaterial des Komponierens gemacht
75 Ebd., S. 53.
76 Ebd., S. 54.
77 Leicht unterschiedlich profiliert sich aber im Roman die Figur Ines Rodde, der sich u. a.
Kap. 9 widmet.
8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus 287
wird,78 ist wohl bekannt.79 In der Tat ist diese musikalische Chiffre falsch oder –
genauer gesagt – unvollständig. Hetaera Esmeralda wäre: h e a e a es e a d a. Man
könnte aufgrund der Wiederholung der Töne auch schreiben: h e a e (a) es (e) (a)
d (a) und dementsprechend vier Töne eliminieren. Die wiederholten Töne dazwi-
schen sollen laut Zeitblom in einigen Kompositionen Leverkühns vorkommen,
von dieser vergessenen Note d ist aber nie die Rede: Der Name lautete – über-
setzt in Buchstaben – ,Hetaera Es‘.80 Esmeraldas Tonchiffre ist daher defizitär
und stellt ihren sozialen Status in den Vordergrund; es mag auch nicht erstaunen,
dass die Intervalle, aus denen Leverkühns und Esmeraldas Tonchiffren bestehen,
zum großen Teil vergleichbar sind, bis auf jene verminderte Prime, die nur in der
Tonchiffre der weiblichen Figur zu finden ist (Abbildung 8.1):
verstärkt.81 Die Misogynie der Erzählinstanz kristallisiert sich bereits aus tex-
timmanenter sowie intra- und intermedialer Perspektive heraus; diese Haltung
des Erzählers dem weiblichen Geschlecht gegenüber kommt in ihrer Darstellung
als Femme fatale und in der Darstellung der Frau als Objekt, welches sexuelle
Wünsche erfüllt, zum Tragen. Im Roman wird ihr zudem eine unvollständige
Tonchiffre gegeben.
Nachdem im ersten Teil des Kapitels untersucht wurde, wie Esmeralda im Roman
durch die Erzählinstanz Zeitblom dargestellt wird, soll im Folgenden auf die Dar-
stellung dieser Figur in vier Kompositionen eingegangen werden, nämlich im
zweiten Stück von Elaines Fines Four pieces from „Doktor Faustus“, in Hen-
zes Violinkonzert, in Hetaera Esmeralda von Claude Lenners und in Manzonis
Oper.
Das zweite Stück von Elaine Fines Four pieces from „Doktor Faustus“ (für Viola
d’amore und Klavier)82 konzentriert sich, wie der paratextuelle Hinweis des Titels
deutlich macht, auf die Figur Esmeraldas. Die Komponistin beschreibt ihr Werk
so:83
Hetaere [sic] esmeralda is a waltz that has a tone row as its main melody. It is not
a 12-tone piece, but it still has obvious connections to the time and place of the
book.
81 Dies könnte zu den Versehen des Romans zählen; diese Frage lässt sich wahrscheinlich
lediglich anhand des Kriteriums der Intentionalität sowie einer genauen Rekonstruktion
der tatsächlichen Interventionen Adornos beantworten, was den Rahmen und die Methode
dieser Arbeit sprengen würde. Börnchen hebt des Weiteren hervor, dass sich in den Aus-
führungen Leverkühns, die auf die Bordell-Episode folgen, Chopin als männliche, positive
Gegenfigur profiliert. Siehe DF: 192 ff. u. Börnchen: Kryptenhall, S. 254.
82 Zwei Stücke aus der Komposition wurden in 7.2.1 analysiert.
83 E-Mail an die Verfasserin (02.07.2013).
8.2 Vom Roman zur Musik 289
Raum und Zeit des Romans sollen also laut der Komponistin Ausgangspunkt des
Vertonens gewesen sein. Ob sich Fine in „Hetaere esmeralda“ auf das Bordell-
Erlebnis in Leipzig oder auf den Geschlechtsakt in Pressburg bezieht, bleibt
unklar. Die Musikform des Stückes, die der paratextuelle Hinweis „Waltz Tem-
po“ zu Beginn der Komposition offen deklariert, scheint mehr mit der Monarchie
Österreich-Ungarn als mit Leipzig zu tun zu haben. Folglich könnte man zur
Auffassung tendieren, hier werde Esmeraldas Geschlechtsverkehr mit Leverkühn
geschildert. Von Leverkühn ist aber, zumindest in den paratextuellen Hinweisen
der Komposition, gar nicht die Rede:84 Fines Stück stellt Esmeralda ins Zen-
trum. Die Viola d’amore scheint hier nicht mehr für Zeitblom, sondern für sie
zu stehen, nicht zuletzt, weil ihre Stimme eben mit der Tonchiffre h e a e es
beginnt. Alles könnte jedoch auch immerhin von Zeitblom, dem Viola d’amore-
Spieler des Romans, erzählt werden. Die Vagheit von Elementen, die Narrativität
induzieren, in der instrumentalen Musik lässt zugleich Ambiguitäten und Inter-
pretationspotenziale erscheinen. Jedenfalls hat die Komponistin nicht übersehen,
dass die Tonchiffre Esmeraldas im Roman unvollständig ist: „Hetaere Esme-
ralda“ ergänzt hier den Roman, indem Esmeralda die Note d im letzten Teil ihrer
Tonfolge zurückgegeben wird.
Da Pressburg, wie bereits erläutert, 1906 ebenso zur Monarchie Österreich-
Ungarn gehörte wie Graz, die Stadt, in der Leverkühn auf dem Weg nach
Pressburg Salome gehört haben soll, liegt nahe, dass die Komposition eine sehr
passende Tanzform zur musikalischen Darstellung dieser Figur gewählt hat. Damit
unterstreicht sie auch eine weitere Eigenschaft der Femme fatale, die in Doktor
Faustus durch Esmeraldas Annäherung an Leverkühn beim Anschlagen einiger
Akkorde am Klavier lediglich angedeutet wird: Das Tanzen als typische Aus-
drucksform dieses Frauentypus. Der Walzer hat aber keinen Unterhaltungscha-
rakter, sondern erinnert eher an eine valse triste und an die Schwermütigkeit der
gleichnamigen Schmetterlinge in Jonathan Leverkühns Bücher (Abbildung 8.2):
Die musikalischen Eigenschaften von „Hetaere esmeralda“ rufen die Musik
verschiedener Komponisten aus Leverkühns Zeit ins Gedächtnis: Tschaikowski
mit einigen spätromantischen Stellen, Schönberg, Zemlinsky und die ersten Dis-
sonanzen sowie die „exotischen“ Klänge Debussys, die gut zur „exotischen“
Esmeralda passen. Die Tatsache, dass Fine hier keine dodekaphonische Musik
komponiert hat, muss keinen Kontrast zum Roman bilden, denn in dieser Phase
84 Das betrifft allerdings die gesamte Komposition Fines, die Leverkühn, zumindest in den
Das dritte Violinkonzert Hans Werner Henzes (1926–2012) ist dem Geiger
Michael Erxleben und dem Berliner Sinfonie-Orchester gewidmet und wurde
am 12. September 1997 unter der Leitung von Michael Schønwandt in Berlin
uraufgeführt. Es existieren zwei Fassungen des Konzerts: Der ersten von 1997
folgte im Jahr 2002 eine Revision, die aber keine wesentlichen Veränderungen
zur ersten Version aufweist.85 Die Orchesterbesetzung besteht aus zwei Flöten
(die zweite auch Piccolo- und Altflöte), zwei Oboen (die zweite auch Englisch-
horn), zwei Klarinetten in B (die zweite auch Bassklarinette in B), zwei Fagotten
(das zweite auch Kontrafagott), vier Hörnern in F, zwei Trompeten in C, einer
Tenorposaune, einer Tuba, Pauken, Schlagzeug (Fingerzimbeln, zwei hängende
Becken, zwei Tamtams, Bronzeplatte, große und kleine Trommel, Holzblock, Kas-
tagnetten, Peitsche, Vibraphon und Marimbaphon), Harfe, Celesta, Klavier und
Streichern. Es handelt sich in diesem Fall wie auch bei Ruzicka oder bei Fine um
verdeckte Intermedialität, da die Komposition auf einem einzigen Medium basiert:
Die explizite Systemerwähnung im Titel verweist allerdings unmittelbar auf Tho-
mas Manns Roman, wodurch Henzes Komposition als intermediale Transposition
zu werten ist.
Die Musikwissenschaftlerin Elisabeth Schmierer ordnet das Konzert aufgrund
der Wahl eines literarischen Themas dem Genre der sinfonischen Dichtung zu.86
Das Interesse des Komponisten an der Literatur spielte in seiner gesamten Produk-
tion eine zentrale Rolle: Henze vertonte nicht nur zahlreiche Werke von diversen
Autor*innen, sondern arbeitete auch mit ihnen zusammen, u. a. mit Ingeborg
Bachmann.87
85 Vgl. Sorg: Beziehungszauber, S. 255. Die revidierte Fassung, auf die sich die Ana-
lyse bezieht, erschien 2002 bei Schott, Mainz, die erste 1997 bei demselben Verlag. Die
drei Violinkonzerte Henzes findet man in der folgenden Aufnahme: Henze, Hans Werner:
Violin Concertos Nr. 1–3, Torsten Janicke (Geige), Magdeburger Philarmonie, MDG 2005.
86 Siehe Schmierer, Elisabeth: Musik als Sprache. Zu Henzes Instrumentalkonzerten auf
literarische Themen. In: Abels, Norbert u. Elisabeth Schmierer (Hrsg.): Hans Werner
Henze und seine Zeit. Regensburg: Laaber 2013, S. 279–304, hier: S. 295.
87 Zur Biographie bzw. Autobiographie Henzes siehe auch: Rosteck, Jens: Hans Werner
Henze. Rosen und Revolutionen. Berlin: Propyläen 2009; Henze: Reiselieder mit böhmi-
schen Quinten. Autobiographische Mitteilungen 1926–1995. Frankfurt am Main: Fischer
1996. Vgl. auch Bielefeldt, Christian: Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann:
292 8 Hetaera Esmeralda
Bevor der Esmeralda gewidmete Satz aus dem Violinkonzert analysiert wird,
gilt es – insbesondere im Rahmen einer intermedial angelegten Studie – auf
Henzes Auffassungen zum Verhältnis von Musik und Sprache einzugehen. Diese
stellen nämlich eine weitere Positionierung in der Intermedialitätsforschung dar,
selbstverständlich mit der reservatio, dass es sich hier um keine wissenschaftliche
Positionierung, sondern um die eines Komponisten handelt. So Henze bezüg-
lich des Verhältnisses von Musik und Sprache in seinen autobiographischen
Schriften:88
Wir sind darin geübt, Musik als Sprache zu verstehen, wir möchten nun etwas
mehr über ihre Eigentümlichkeiten wissen als zuvor, das Mythische in ihr ver-
stehen, das Geheimnis durchleuchten, wollen verhindern, daß das Sprachliche der
Musik nicht noch weiter ins Leere gestoßen wird, von den Menschen weg: um
dieses Sprachliche zu vertiefen, es zugänglich machen [sic] und nützlich und
es als eine notwendige Erweiterung des menschlichen Bewußtseins und seines
Ausdrucksvermögens zu begreifen.
Musik wie Sprache zu verstehen. Gleichsam auf Augenhöhe. Und das heißt, Musik
bemisst sich nach den gleichen Standards der Verständlichkeit, Empathie und poe-
tischen Präzision – und das schließt Mehrdeutigkeit, Vagheit und Offenheit mit ein
[...].
Henze scheint im obigen Zitat, wie Brockmeier ebenfalls unterstreicht, auf Ador-
nos Auffassung in Fragment über Musik und Sprache (1956/57) zu reagieren,
denn Adorno sagt diesbezüglich:90
die gemeinsamen Werke. Beobachtungen zur Intermedialität von Musik und Dichtung.
Bielefeld: transcript 2003.
88 Henze: Reiselieder, S. 403 f.
89 Brockmeier, Jens: Eine Sprache in harter Währung. Die Idee musikalischer Sprachlich-
keit bei Hans Werner Henze. In: Hans Werner Henze. Musik und Sprache. Musik-Konzepte
132 (2006), S. 5–25, hier: S. 19, Herv. i. O. Siehe auch Bielefeldt: Hans Werner Henze
und Ingeborg Bachmann, S. 37–43.
90 Adorno: Fragment über Musik und Sprache, S. 71.
8.2 Vom Roman zur Musik 293
Bereits 1956/57 weist Adorno auf die medialen Differenzen zwischen dem
Medium der Musik und dem der Sprache hin, indem er zugleich Überschnei-
dungsfelder, beispielsweise Fachbegriffe wie Tonfall oder Idiom, anführt. Mit
der Bezugnahme auf die Vagheit der Musik, speziell der instrumentalen Musik,
erscheint Adorno somit als Vorreiter der Intermedialitätsforschung. Henze schlägt
vor, die Aufmerksamkeit auf produktive Interdependenzen zwischen Musik und
Sprache zu lenken, anstatt sich mit Differenzen zu befassen. Dies setzt voraus,
dass man Adornos „Weg ins Innere“ der Musik verfolgt, d. h., dass man sich
stärker auf die innere Struktur der Musik konzentriert. Henze scheint im genann-
ten Zitat nicht wirklich dafür zu plädieren, dass Musik wie Sprache verstanden
werden könne.91 Vielmehr befürwortet er den Blick auf Grenzüberschreitungen
und erklärt den Blick auf Grenzziehungen für zweitrangig, weil dieser weniger
produktiv sei.92 Es mag in diesem Kontext nicht verwundern, dass die große
Ausdrucksfähigkeit von Henzes Musik in der Forschungsliteratur immer wie-
der thematisiert wird. Ausgangspunkt des Komponierens ist Brockmeier zufolge
immerhin das musikalische Zeichen, wobei die anderen Zeichensysteme eine inte-
grierende Rolle spielen und das Ziel zu verfolgen scheinen, „die Imagination des
Hörers szenisch-performativ zu organisieren“.93 Dies stellt Bielefeldt in Frage,
der die Intermedialität als Ausgangspunkt nimmt, was sich mit jener von Wolf
als primär bezeichneten Intermedialität in Verbindung bringen lässt, die somit
Teil des Werkkonzeptes wäre.94 Für die vorliegende Untersuchung ist dies beson-
ders interessant, weil es bedeuten würde, dass sich Henzes Violinkonzert zugleich
aufgrund der Konzeption als primäre und zusätzlich, da es sich um eine Transpo-
sition von Doktor Faustus handelt, auch als sekundäre Intermedialität bezeichnen
lässt. Gleichwohl könnte man auch argumentieren, dass die Analyse von Ein-
zelfällen bestimmte intermediale Kategorien ins Schwanken bringt, was anhand
dieser (oder vielleicht aller) Kompositionen Henzes deutlich wird.
Den ersten Kontakt mit Thomas Manns Werk hatte Henze bereits im natio-
nalsozialistischen Deutschland. Zusammen mit einem Freund soll er in Bielefeld
heimlich die verbotenen Bücher einer Bibliothek, darunter die der Brüder Mann
gelesen haben.95 Später wählt der Komponist u. a. aufgrund seiner deklarier-
ten Homosexualität und seiner politischen Haltung, Marino, eine Stadt in der
91 Andere Äußerungen und Kommentare des Komponisten scheinen aber dieser Auffassung
zu widersprechen. Siehe Bielefeldt: Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann, S. 42.
92 Vgl. Kap. 1.
93 Brockmeier: Eine Sprache in harter Währung, S. 24.
94 Vgl. 1.1.5.
95 Vgl. Henze: Reiselieder, S. 37.
294 8 Hetaera Esmeralda
Nähe von Rom, als Wohnort. Als Komponist stellt sich Henze gegen die Expe-
rimente Nonos und Stockhausens: Seine Musik ist – so Bielefeldt – von einer
„(Quasi)tonalität“96 geprägt.97
Der erste Satz des Violinkonzerts, der ca. sieben Minuten dauert, ist der
Figur Esmeralda gewidmet. Die Tanzkonnotation dieses Satzes stellt ein zentrales
Merkmal dar: Die „Sphäre der Unterhaltungsmusik“98 ist durch die zweimal wie-
derholte Angabe „nicht eilen, tänzerisch gemütvoll“ (VK: 1, T. 2 und 19, T. 89),
die Bezeichnung des zweiten Teiles als „Wiener Lied“ (VK: 11, T. 42) und des
dritten als „Tango“ (VK: 13, T. 49) gegeben. Durch das Wiener Lied – die einzige
Form, die nicht auf den Tanz zurückgreift – wird bei Henze, ähnlich wie bei Fine,
eine Verbindung mit der Monarchie Österreich-Ungarn hergestellt. Der Tango ist
laut Schmierer „reine Augenmusik“:99 Der Rhythmus erscheine zwar in Harfe
und Tuba, werde aber kaum wahrgenommen. Durch diese Tanzform kommt Sorg
zufolge das Exotische Esmeraldas als „Prostituierte südländischen Typs“100 zum
Ausdruck.
Wie in Fines Komposition wird Esmeralda zur tanzenden Femme fatale; die
Unterhaltungsmusik eignet sich außerdem in beiden Kompositionen für die Schil-
derung des Bordells. Sorg sieht in diesem Stück den Charakter eines Totentanzes,
was Klangqualität und Partiturangaben jedoch nicht bestätigen:101 Es herrschen
Dynamikanweisungen wie „soave“, „dolce“ (VK: 9), „dolcissimo“ (VK: 11) und
„con grazia“ (VK: 14), also „lieblich“, „süß“, „sehr süß“ und „anmutig“, die bei
einer danse macabre ungewöhnlich wären. Die vorherrschende Atmosphäre ist
dank der Harfe und der Celesta sowie der „Flageolett-Quintklänge, die aus einer
anderen Welt zu kommen scheinen“,102 nicht so dramatisch wie bei Fine; die
isolierten dramatisch wirkenden Momente könnten im Prozess des Erzählens im
Medium der instrumentalen Musik auf die Infizierung anspielen.
Der Satz fängt mit einem Rezitativ der Violine solo an, das keine stabile
Dynamik aufweist und Stellen im Forte oder sogar im Fortissimo mit solchen
96 Bielefeldt: Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann, S. 40. Brockmeier spricht dies-
bezüglich von einer „Spannung von Tonalität und Atonalität“. Brockmeier: Eine Sprache
in harter Währung, S. 11.
97 Timo Sorg unterstreicht biographische und poetologische Parallelen zwischen Thomas
Mann und H. W. Henze (insbesondere in Bezug auf das Traditionsverständnis und das
Parodieverfahren). Vgl. ebd., S. 260–266.
98 Schmierer: Musik als Sprache, S. 296.
99 Ebd.
100 Sorg: Beziehungszauber, S. 272.
101 Siehe ebd.
102 Schmierer: Musik als Sprache, S. 295.
8.2 Vom Roman zur Musik 295
103 Rônez, Marianne: Art. Violine, Violinspiel, Technik, Technik der linken Hand, Flageo-
lett. In: MGG Online. Veröffentlicht 14.09.2015. <https://www.mgg-online.com/mgg/sta
ble/49510> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
104 Ebd.
296 8 Hetaera Esmeralda
bedeutet, der graphisch angegebene Ton ist nicht genau der Ton, den man in
der Aufführungssituation hört: Auch wenn beispielsweise tatsächlich ein a klingt,
korrespondiert dieses nicht mit der graphisch angegebenen Oktave. Flageoletts
bedürfen daher einer notationsbedingten Kodierung und einer aufführungsbe-
dingten Dekodierung: Dies kann mit der Kodierung und Dekodierung einer
Tonchiffre verglichen werden, die sich aus einem Namen ableitet. Gerade in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehen viele Violinkonzerte (etwa von Pro-
kof’ev und Schönberg), die auf diese Klänge zurückgreifen und die heute aus
zeitgenössischen Kompositionen kaum wegzudenken sind.105
Nach dem Einsatz des Orchesters erklingen in Takt 9 Kastagnetten, die deutlich
zu hören sind und die die spanischen Eigenschaften der Prostituierten betonen.
Im Takt 26 (VK: 8) ist der Einsatz des Klaviers eine deutliche Reproduktion des
handlungsbezogenen Moments von Leverkühns Anschlagen einiger Akkorde im
Freudenhaus – es ist aber nur der Akt, den die Musik reproduziert, und nicht die
im Roman erwähnten Akkorde (Abbildung 8.4):106
Einige Töne der Tonchiffre Esmeraldas, vor allem e und es, sind hier aber zu
finden.
Das folgende musikalische Motiv, das sich im Tango-Teil befindet und „flau-
tando“ zu spielen ist, verweist wieder, auch graphisch, auf jene Leichtigkeit eines
Schmetterlings und seiner Art zu fliegen (Abbildung 8.5):
Die Seiten 17 bis 19 der Partitur sind als Höhepunkt des Satzes aufzufassen.
Etwas geschieht hier, wahrscheinlich die intime Beziehung mit der Prostitu-
ierten, oder lediglich die Berührung, die auch im Roman den Höhepunkt der
Esmeralda-Episode darstellt. Die Dynamik ist im Crescendo (f , ff , und fff );
die Tamtams tragen zur bedrohlich-wirkenden Atmosphäre bei. Die Spannung
105 Paradebeispielhierfür sind die Werke von Salvatore Sciarrino, siehe etwa die 6 Capricci
(1975/76) für Violine solo.
106 Vgl. auch Sorg: Beziehungszauber, S. 270.
8.2 Vom Roman zur Musik 297
wird bis Takt 89 (VK: 19) aufrecht gehalten. Dann spielt die Violine solo eine
Kadenz, welche die musikalischen Hauptmotive des Satzes zusammenfasst. Die
hier wiederholte Anweisung „nicht eilen, tänzerisch gemütvoll“ (VK: 19, T. 89)
belegt die Kreisstruktur des Stückes. Ab T. 90 (VK: 20) ist die Dynamik im
Decrescendo, morendo (pp, ppp und pppp). Die letzten Takte setzen sich aus
Flageoletts der Violine solo, einer loopartigen, chromatischen Struktur der Strei-
cher und rhythmischen Figurationen der Kastagnetten zusammen: Sie bilden eine
Zusammenfassung von Eigenschaften und Motiven, die man mit Esmeralda, dem
gleichnamigen Schmetterling oder im Allgemeinen den Esmeralda-Kapiteln ver-
bindet (die Durchsichtigkeit, die Berührung, die Infizierung, das Exotische, das
Fliegen im Kreis eines Schmetterlings).
Schmierer behauptet, Henze verkürze die Tonfolge Hetaera Esmeraldas (h
e es), während Ziolkowski zufolge sie nicht benutzt wird. Dieser Auffassung
schließt sich auch die vorliegende Studie an, weil die Chiffre in der Komposi-
tion kaum identifiziert werden kann und keineswegs programmatisch verwendet
wird.107 Sucht man im Roman nach einem Vorbild für den musikalischen Stil
dieses Satzes von Henze, so ist es vielleicht in „der symphonischen Phanta-
sie ,Meerleuchten‘“ (DF: 221) mit jener „ausgesuchter Tonmalerei“ (DF: 221)
und den „unenträtselbare[n] Klangmischungen“ (ebd.) zu suchen, die auch wohl
diesen Satz aus dem Violinkonzert beschreiben könnten. Berücksichtigt werden
muss, dass ein Unterschied zwischen einer Transposition, die sich an den fiktiven
Werken Leverkühns orientiert, und einer Transposition, die bestimmte Figuren
und Textstellen des Romans in der Musik zu reproduzieren versucht, besteht,
107 Vgl. Schmierer: Musik als Sprache, S. 296; Ziolkowski: Leverkühn’s Compositions,
S. 850.
298 8 Hetaera Esmeralda
sodass es sich in den meisten Fällen nicht lohnt, nach Vorlagen des Komponie-
rens im Roman zu suchen. Dass dies nicht das Hauptvorhaben des Violinkonzerts
ist, deklariert bereits der Titel selbst: Dort ist die Rede von Porträts. Der Fokus,
der spezifischer als der von Fine mit dem Wort pieces ist, liegt daher in der Figu-
rencharakterisierung und eher in der Beschreibung als im Erzählen bzw. – genauer
gefasst – in der Induktion von Narrativität. Die Komposition ruft einzelne Töne
aus ihrer Chiffre, ihre durchsichtige Kleidung und den Verweis auf Spanien (im
Roman vor allem durch das spanische Jäckchen und ihren spanischen Namen
gegeben) klanglich und graphisch in Erinnerung, verweist auf den gleichnami-
gen Schmetterling und verstärkt wie bei Fine durch den tänzerischen Charakter
der Satzteile ihre Assoziation zur musikalischen Welt. Man könnte sagen, dass
Zeitbloms Darstellung der weiblichen Figur als Femme fatale hier durch die
Wahl verschiedener Tanzformen deutlich unterstützt wird. Die kulturelle Geo-
graphie der Monarchie Österreich-Ungarns, auf die lediglich ein Teil in Form
eines Wiener Lieds anspielt, ist hier weniger signifikant. Des Weiteren bietet sich
musikstilistisch ein Vergleich dieses Violinkonzerts mit denen von Pizzetti und
Wolf-Ferrari aus den 1930er/1940er Jahren an.108
Der Tango verleiht Esmeralda eine nicht ausschließlich eurozentrische exo-
tische Konnotation, was erneut die Auffassung bestätigt, dass das sekundäre
intermediale Produkt aus unterschiedlichen geographischen und historischen Prä-
missen entsteht, die daher andere Mittel etwa zur Unterstreichung des Exotischen
erforderlich machen. Dieser Satz (das gilt allerdings für das ganze Konzert von
Henze) bietet ein Beispiel dafür, wie sich Figurencharakteristika im Medium der
instrumentalen Musik realisieren lassen. Ob sich Musik, speziell instrumentale
Musik, wie Sprache verstehen lässt, kristallisiert sich aus der vorigen Analyse als
eine sehr problematische Auffassung heraus, wie auch mit Verweis auf Adornos
Zitat deutlich wird. Dieses Bewusstsein für mediale Differenzen, das als Voraus-
setzung für die Analyse dient, stellt aber keine Einschränkung dar, sondern führt
sowohl bei Henze als auch bei Fine zur gezielten Identifikation von Möglichkeiten
zur Grenzüberschreitung.109
108 Henze hörte Wolf-Ferraris Musik schon in den Bielefelder Jahren. Siehe Henze: Reise-
lieder, S. 36. Vgl. auch Hamann, Peter: Ermanno Wolf-Ferrari. Tutzing: Schneider 1983.
Viagrande, Riccardo: Ildebrando Pizzetti. Compositore, poeta, critico. Monza: Eco 2013.
109 Siehe Rajewsky: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln, S. 39.
8.2 Vom Roman zur Musik 299
110 Eubel, Paul (Hrsg.): Thomas Mann, Claude Lenners, Margret Lafontaine: Hetaera
Esmeralda. Luxemburg: Goethe Institut 1998 (Serie Wort & Klang: Begegnungen von
Literatur, Kunst und Musik).
111 Die Partitur wurde nicht veröffentlicht. Mit freundlicher Genehmigung des Komponisten
In diesem Zusammenhang ist auch die Besetzung mit Sopran, 2 Harfen, Glasharfe
und Streichtrio zu verstehen, die absichtlich die ungerade 7 in den Vorder-
grund stellt. Hierbei spielen die beiden Harfen eine zentrale Rolle, weil durch
ihre symetrische [sic] Gegenüberstellung die Vision des Glasflüglers zur Geltung
kommt.
Auch in diesem Fall ist also die vorherrschende Atmosphäre magisch konno-
tiert, was nicht nur durch die Zahlensymbolik betont wird, sondern auch durch
die Anwendung eines höchst seltenen Instruments wie der Glasharfe. „Insofern
soll die Musik den Zuhörer größtenteils in eine geheimnisvolle Stimmung ver-
setzen, die dem Zeitstillstand nahekommt“,116 so der Komponist. Zeitstillstand
und Geheimnis sollten also die zwei Leitgedanken des Komponierens sein. Die
Zahlensymbolik, die auch im Roman eine bedeutende Rolle spielt, etwa kraft
des Wiederauftretens der Zahl zwei (bei Lenners mittels der zwei Harfen eben-
falls vorhanden), übernimmt auch hier eine wichtige Funktion, insbesondere in
der Gestaltung der Besetzung. Die Sopranstimme steht für Esmeralda: Ihr ist der
Schluss des Stückes vorbehalten. Eine Konzentration auf diese Figur lässt sich
bereits dem paratextuellen Hinweis des Titels entnehmen, was durch die Beset-
zung, die um die Sopranstimme kreist, bekräftigt wird. Am Schluss rezitiert die
Sopranstimme den in Doktor Faustus erwähnten Text von Clemens Brentano O
lieb Mädel, wie schlecht bist du!:117 Esmeralda soll – so Lenners – „dabei ihr
wahres Gesicht“118 zeigen. Der Inhalt des Textes verweist wieder auf „schlech-
te“ Frauen, die den Mann ins Unglück treiben; das weibliche Geschlecht verbirgt
sich jedoch nicht hinter Tonchiffren oder (misogynen) Darstellungen des Erzäh-
lers, sondern kommt direkt zu Wort. Die Sopranstimme Esmeraldas ist auch im
Echo gewidmeten Abschnitt zu hören. Auffällig ist, dass die Komponist*innen,
welche die Figur der Prostituierten ins Zentrum ihres Stückes rücken, oft auch die
des Kindes behandeln: Bei Henze wird ihm der zweite Satz gewidmet, bei Fine
das vierte Stück. Gemeinsamer Nenner beider Figuren ist laut Zeitblom, dass
sie von Leverkühn geliebt werden und dass diese Liebe sowohl Auswirkungen
auf Leverkühns Schaffen als auch seine physische sowie psychische Gesundheit
haben.
Wie bei Manzoni herrscht auch bei Lenners eine große Varietät in den
Ausdrucksweisen der Stimme (Abbildung 8.6):119
Wie in der ersten Beschreibung von Esmeralda im Roman steht auch hier
der Mund der Sängerin im Zentrum; die Reichweite der Ausdrucksmöglichkeiten
erstreckt sich vom lautlosen Sprechen bis hin zum sehr hohen Schreien: Während
Esmeralda im Roman nie direkt zu Wort kommt, wird sie hier zur Hauptfigur,
die von ihren Emotionen erzählt. Das Motiv der Verschleierung kommt auch hier
zum Tragen, denn die Sängerin soll einen Schleier tragen: Auch wenn sie „mit
unverdecktem Gesicht“ spricht, soll dieses Sprechen so lautlos sein, dass „man
[…] auf den Lippen ablesen können [soll] was gesagt wird, ohne es zu hören“ (S.
III s. obige Abbildung). Dies lenkt die Aufmerksamkeit wieder auf den Mund der
Sängerin und kann zugleich als eine Art gesangliche Verschleierung aufgefasst
werden, also als eine Realisierung des Motivs mit den Mitteln des Gesanges: Das
Gesagte wird vergleichbar dem Topos der nackten Wahrheit gleichzeitig ent- und
bekleidet, also mitgeteilt und verdeckt gehalten. Auditiv bleibt die Mitteilung ver-
deckt, da man sie nicht hören soll, sie wird optisch durch jenes Ablesen auf den
Lippen mitgeteilt. Die metaphorische Verknüpfung von Mund und Wahrheit ist
auch in der römischen Kunst zu finden (siehe etwa den sogenannten „Mund der
Wahrheit“, Bocca della verità, in Rom, was allerdings kein weibliches Gesicht
ist). Darüber hinaus findet sich die Idee einer verschleierten Wahrheit auch im
mythischen Topos der verschleierten Isis, in diesem Fall eher in Bezug auf die
Wahrheit der Natur als auf die des Textes.120
118 Zit.in Eubel: Thomas Mann, Claude Lenners, Margret Lafontaine, S. 10.
119 So der Musikjournalist Loll Weber über die Werke Lenners’: „His works display a
notable sensitivity to musical colour, and are mostly written for chamber ensembles or
orchestra“. Weber: Lenners, ebd.
120 Dies passt auch sehr gut zum dritten Kapitel von Doktor Faustus, in dem Tiere (darunter
Abbildung 8.6 Anweisungen für die Sängerin (S. III). Mit freundlicher Genehmigung
des Autors
und zu dieser Komposition, die nach einer Imitation von Naturklängen strebt. Dazu siehe
Assmann, Jan: Immanuel Kant und Friedrich Schiller über Isis und das Erhabene. In:
Anselm, Sigrun (Hrsg.): Talismane. Klaus Heinrich zum 70. Geburtstag. Basel (u. a.):
Stroemfeld 1998, S. 102–113.
8.2 Vom Roman zur Musik 303
Die Aufführung beginnt mit der Lektüre einiger Textpassagen aus dem dritten
Kapitel des Romans, die vom Inhalt der Bücher Jonathan Leverkühns handeln.
Die von den Instrumenten betonten Worte sind: „böse Geister“, „Malaria“, „Trug“,
„Hetaera Esmeralda“ und „auf ihren Flügeln“.121 Die letzten beiden Worte werden
durch den Klang der Harfe, die mit dem Schmetterling assoziiert wird, unterstri-
chen. Der Fokus liegt also auf der trügerischen Schönheit der Natur. Der Lektüre
folgt ein Musikabschnitt für zwei Harfen (eine ist links vom restlichen Ensem-
ble, die andere rechts positioniert) und die Glasharfe. Dieser Abschnitt ist „ben
articolato“, „gut artikuliert“ und „misterioso“ (T.1), „geheimnisvoll“ zu spielen:
Die vorherrschende Atmosphäre, die dadurch erzeugt wird, ist, genau wie das
„misterioso“ aussagt, geheimnisvoll. Der Fokus liegt dabei auf jedem einzelnen
gespielten Ton und nicht auf ganzen musikalischen Phrasen. Nicht zufällig ist
dieser Abschnitt von einer minimalistischen Musik geprägt: Es gibt nur wenige
Elemente, die sich wiederholen. Der Abschnitt basiert auf Esmeraldas Tonfolge,
die in der zweiten Hälfte umgekehrt präsentiert wird (ab T. 14). Die Musik ist
erneut sowohl akustische als auch optische Musik, was die Positionierung der
Harfen, die klanglich und optisch einen Schmetterling reproduzieren sollen, zeigt.
Das nächste Thema sind die Experimente Jonathan Leverkühns: Das der „sicht-
baren Musik“ (DF: 32) und das des „Fressende[n] Tropfen[s]“ (DF: 33). Das erste
Experiment scheint in der Komposition von Lenners nicht nur durch die Lektüre
explizit thematisiert, sondern auch durch musikalische Mittel (teil-)reproduziert
zu werden, denn ein Leitgedanke von Hetaera Esmeralda ist zweifelsohne der
Versuch, Musik auch sichtbar zu machen. Der darauf folgende Musikabschnitt ist
reich an Glissandi, die auf den ersten Musikversuch anspielen. Ab T. 46 werden
„die Crotales von den Streichern gespielt, welche sich an 3 verschiedenen Punk-
ten im Raum befinden“: Sowohl optisch als auch musikalisch wirkt es so, als
wollten die Spieler*innen die Akustik des Raumes testen. Ab T. 62 imitiert das
Waterphone die Wassertropfen, die ihr eigenes Tempo haben. Lenners’ Kompo-
sition zielt darauf ab, Naturphänomene im Medium der Musik zu reproduzieren
(Abbildung 8.7):
Der dritte Abschnitt der Lektüre handelt vom Bordell-Erlebnis.122 Hier wer-
den die Wörter nicht von den Instrumenten betont. Die Musik am Beginn dieses
Abschnitts besteht aus großen Kontrasten: Die Dynamik reicht von einem Forte
„so laut wie möglich“123 bis zu einem Pianissimo, das den Zeitstillstand (siehe
die Angabe „statico“) erreicht (Abbildung 8.8):
die Berührung Leverkühns durch Esmeralda oder die Verwirrung des Komponis-
ten nach der Berührung musikalisch illustriert, was die Angabe „überstürzt“ zu
bestätigen scheint (Abbildung 8.9). Zu bemerken ist auch, dass sich ein Glissando
bei Saiteninstrumenten eben durch eine gleitende Berührung der Saite bzw. der
Saiten erzeugen lässt:
Die Bratsche und das Violoncello schließen diesen Abschnitt mit einem Triller
und einem Glissando.
Die vierte Lektüre handelt von der intimen Beziehung in Pressburg. Beim
Vorlesen der Wörter „Person“ und „Weib“ ist die Sopranstimme aus der Ferne
zu hören. Die Wörter „Streicheln“ und „Trieb“ werden vom Schlagzeug betont
und ihre Bedeutung musikalisch (teil-)reproduziert:124 Das Motiv des sexuellen
Begehrens ist aus der Darstellung dieser Kapitel nicht wegzudenken. Die darauf
bezogene Musik schafft Destabilisierung, wie man anhand des ständigen Wechsels
der Metronomangaben und Fermaten sowie des unabhängigen Rhythmus der links
positionierten Harfe feststellen kann. Ab T. 117 lautet die Dynamikanweisung
„con melencolia“, „melancholisch“. Dies bedarf auch einer Inszenierung: „Die
Sängerin erscheint jetzt zwischen den zwei symetrisch [sic] aufgestellten Harfen:
Esmeralda, der Glasflügler“ (T. 127). Lenners’ Partitur sieht eine Inszenierung
vor, zu der nicht nur die Sängerin, sondern auch die Musiker*innen des Ensem-
bles, etwa durch die Glissandi, welche die Berührung zu inszenieren versuchen,
beitragen.
Die Warnung Esmeraldas ab T. 145 besteht anfänglich nur aus Vokalen und
wird erst im T. 156 zu einem verzweifelten „Geh“ (Abbildung 8.10):
Das imperative „Geh“ ist mehr als Warnung denn als Befehl, der die Auf-
forderung wegzugehen impliziert, aufzufassen und setzt sich daher dem „Komm,
komm“ der Bordell-Episode entgegen. Anfänglich weist also Esmeralda Lever-
kühn zurück.
Danach wird die Passage vorgelesen, in der es um Zeitbloms Auffassung von
„Liebe und Gift“ (DF: 225) geht. Auf Zeitbloms telling und dementsprechend
auf seine Wertungen verzichtet Hetaera Esmeralda nicht komplett: Zwar macht
sie Esmeralda zur Hauptfigur, jedoch lässt sie durch die Lektüre Zeitbloms Wie-
dergabe zu Wort kommen und schafft somit einen kommentierenden/diegetischen
8.2 Vom Roman zur Musik 307
Rahmen im Werk. Der darauf folgende Musikabschnitt beginnt mit der Rahmen-
trommel und einen Takt danach folgt der Sprechgesang der Sopranstimme. In
T. 180 wiederholt die Sängerin: „Komm, komm“. Diesmal soll sie „lautlos spre-
chen mit unverdecktem Gesicht“ (S. 3), was in der Partitur präzisiert wird: „Man
soll auf den Lippen ablesen können, was gesagt wird, ohne es zu hören“ (ebd.).
Hier weist Esmeralda Leverkühn nun nicht mehr zurück und so besteht bei Len-
ners sowohl durch das „Komm, komm“ als auch durch das unverdeckte Gesicht
jene Ambiguität des Romans nicht mehr, da Esmeralda als Teufelsemissärin bzw.
Femme fatale porträtiert, die Leverkühn zu ihrem Opfer macht, wird. Den dar-
auf folgenden Geschlechtsverkehr sieht man auch grafisch kraft der plötzlichen
Intervallsprünge (Abbildung 8.11):
Abbildung 8.11 Die intime Beziehung (T. 192–196). Mit freundlicher Genehmigung des
Autors
Die Passage, die danach vorgelesen wird, ist dem Teufelsgespräch gewid-
met. Die Komposition versucht, die Kälte des Teufels mittels des Waterphones
zu reproduzieren (T. 206). Das Ende dieses Abschnitts wird als „diabolico“,
„teuflisch“ (T. 244) bezeichnet und von den Streichern sowie ab T. 247 auch
308 8 Hetaera Esmeralda
125 Die vorliegende Analyse konzentriert sich hauptsächlich auf jene Episoden, die mit
der Figur Esmeralda direkt verbunden sind, und thematisiert nur kurz weitere im Stück
behandelte Episoden.
126 Bronfen: Liebestod und Femme fatale, S. 15.
127 Vgl. DF: 729.
8.2 Vom Roman zur Musik 309
nicht wirklich von einer Kreisstruktur sprechen, aber ohne Zweifel von einer Ten-
denz zur Kohäsion der verschiedenen Abschnitte. Am Ende nimmt die Sängerin,
so das Manuskript, „den Schleier ab und trägt den von Thomas Mann im Dr. Faus-
tus erwähnten Text von Clemens Brentano vor“ (S. 44). Der Anweisung kann man
entnehmen, dass die Sängerin offenbar während der gesamten Aufführung einen
Schleier trägt, den sie nur an exponierten Stellen abnimmt (Abbildung 8.12). O
lieb Mädel, wie schlecht bist du! ist ebenfalls mit dem Motiv der Versuchung
durch die Frau verbunden. Wenn noch Zweifel bestanden, dass dies die Rezepti-
onslenkung des Stückes sei, werden diese durch die Anweisung zur Interpretation
der Passage sofort aus dem Weg geräumt. Die Männerwelt wird zum Opfer der
Femme fatale:
Abbildung 8.12 Die erste Strophe des Gedichts von Brentano (S. 45). Mit freundlicher
Genehmigung des Autors
Esmeralda soll durch das Rezitieren in den ersten drei Strophen Ironie –
in der dritten singt die Sängerin beispielsweise die Melodie von Stille Nacht,
was an Mahlers kompositorisches Verfahren erinnert und einen destabilisierenden
Effekt erzeugt – und in der sechsten und letzten dagegen tiefen Hass ausdrücken
(Abbildung 8.13).
Nicht nur kommentiert der Chor kontinuierlich, was die Sängerin sagt, auch
auf der Ebene der Partitur bleibt kein Vers unkommentiert: So wie Doktor Faus-
tus zeigt auch Lenners’ Stück einen „Hang zum exzessiven Selbstkommentar“.128
Dies erlaubt der Figur Esmeralda einerseits, von sich selbst zu erzählen, was
andererseits jedoch durch die vielen Anweisungen in der Partitur eingeschränkt
wird, denn die Sängerin soll beim Singen bestimmte, vorgegebene Emotionen
ausdrücken.
Abbildung 8.13 Die letzte Strophe (S. 46). Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Im Roman spielt die Vertonung des Gedichts aus dem Brentano-Zyklus eine
wichtige Rolle: Es ist dasjenige, in dem er „einem strengen Satz am nächsten
war“ (DF: 279) – so Leverkühn dort:
Das ist ganz aus einer Grundgestalt, einer vielfach variablen Intervallreihe, den fünf
Tönen h-e-a-e-es abgeleitet, Horizontale und Vertikale sind davon bestimmt und
beherrscht, soweit das eben bei einem Grundmotiv von so beschränkter Notenzahl
möglich ist. Es ist wie ein Wort, ein Schlüsselwort, dessen Zeichen überall in dem
Lied zu finden sind und es gänzlich determinieren möchten. (DF: 279)
In Manzonis Oper spielt Esmeralda eine wichtige Rolle, sie ist sogar wichtiger als
Zeitblom.130 Die Oper beginnt mit der Bordell-Episode und das erste gesungene
Wort ist: „Esmeralda!“ (M-DF: 16, T. 87–90). Außerdem wird die Tonchiffre der
Prostituierten durch die gesamte Oper geführt.131 Bei Manzoni wird nicht die
verkürzte Tonfolge, sondern die vollständige, h e a (e) es d, benutzt. Das erste
Bild des ersten Aktes, das vom Erlebnis im Freudenhaus handelt, ist durch Farb-
und Lichteffekte charakterisiert: Das Bühnenbild der Uraufführungen ist anfäng-
lich grau-grün, dann blau und am Ende der Szene rot. Musikalisch betrachtet,
dominiert der Dialog zwischen Blasinstrumenten und Streichern. Die Linie der
Streicher basiert hauptsächlich auf langen Tönen, die der Blasinstrumente sowie
des Schlagzeugs auf schnelleren rhythmischen Figurationen.
Adrian betritt die Bühne völlig verwirrt, er weiß nicht mehr, wo er sich befin-
det und bewegt sich, als ob er blind wäre. Er schlägt am Klavier einige Akkorde
an (M-DF: 10, T. 59 ff.), die aber wie bei Henze nicht denen des Romans entspre-
chen: „Das romantische ,Vokabular‘“,132 meint Sorg, „ist in Manzonis Oper nicht
möglich“.133 Man sieht tatsächlich kein Klavier auf der Bühne: Das Publikum
ist darauf angewiesen, sich das Instrument wie etwa in den Aufführungen des
elisabethanischen Theaters, wo kaum Requisiten verwendet wurden, vorzustellen.
Am Ende des ersten Bildes zieht Esmeralda die Jacke aus (sie trägt also wie im
Roman eine Jacke) und bewegt sich mit Sinnlichkeit, es ist aber kein echter Tanz:
Manzonis Oper schreibt sich nochmals in die Tradition einer im Vergleich zur
französischen Oper Tanzelemente ablehnenden Operntradition ein und orientiert
130 Vgl. Manzoni: Parole per musica, S. 82. Siehe auch Wißmann, F.: Faust im
Musiktheater, S. 168 f.
131 Vgl. ebd. und Sorg: Beziehungszauber, S. 197.
132 Sorg: Beziehungszauber, ebd. Im Roman spielt Leverkühn drei Akkorde, die an den
Freischütz erinnern. Vgl. DF: 209. Das romantische Vokabular scheint aber auch in Henzes
Musik trotz seines – so Manzoni bezüglich Henzes Musik – „denso sinfonismo d’impronta
romantica“ nicht möglich zu sein. „Eine reichhaltige Sinfonik romantischer Prägung“.
Manzoni: Le novità della Rassegna di musica contemporanea (1959). In: Ders. (Hrsg.):
Musica e progetto civile, S. 55 ff., hier: S. 56.
133 Ebd.
312 8 Hetaera Esmeralda
sich diesbezüglich ganz an dem Roman.134 Nicht nur durch die Berührung, son-
dern auch durch dieses performative Entkleiden versucht Esmeralda Leverkühns
Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Kurz danach beginnt das zweite Bild, das von der intimen Beziehung handelt.
Die Konnotation des Ortes, die im Fall der vorher präsentierten Kompositionen
eine wichtige Rolle spielte, fehlt im Gegensatz dazu bei Manzoni: Die Bühnenan-
weisung lautet nur „[u]n altro luogo. Incontro con la prostituta del primo quadro“
(M-DF: 16).135
Adrian und Esmeralda singen fast die ganze Szene lang. Die im Werk des
Komponisten typische Reduktion des Gesungenen auf einzelne Buchstaben ist
auch hier zu sehen (Abbildung 8.14):136
Adrian versucht, sich Esmeralda anzunähern, sie nimmt aber Abstand von ihm
und singt entweder „Guardati dal mio corpo“ (M-DF: 18) oder „Non devi amar-
mi“ (M-DF: 21), also „Hüte dich vor meinem Körper“ oder „Du darfst mich
nicht lieben“.137 Bei Manzoni ist es daher nicht nur der Teufel, der das Liebes-
verbot ausspricht: Es wird auch von Esmeralda ausgesprochen und das Motiv der
Warnung kommt sowohl hier als auch an anderen Stellen der Oper deutlich zum
Tragen. Somit wird betont, dass Adrian Esmeralda geliebt und sich absichtlich
infiziert hat.
Kurz vor der intimen Beziehung wird das Bühnenbild feurig rot und dann
nochmals grau-grün wie am Anfang des ersten Bildes: Das Ende der Esmeralda-
Episode ist damit signalisiert. Im Medium der Oper werden auf diese Weise
Emotionen bzw. Affekte farblich vermittelt.
134 Siehe auch Burney, Charles: The Present State of Music in France and Italy, or: The
Journal of a Tour Through Those Countries, Undertaken to Collect Materials for a General
History of Music. London: Becket 1773, S. 346–350.
135 „Ein anderer Ort. Begegnung mit der Prostituierten des ersten Bildes“. Zur Vagheit der
Ein „Soprano interno“, also off-stage, singt während der Abschiedsrede eben-
falls „Guardati dal mio corpo“ (M-DF: 231; T. 230–237) und eine „donna velata“,
also eine verschleierte Frau im Epilog singt „a…r…a…i…a…l…i…o…r“ (M-
DF: 289. T. 715–742).138 Diese Stimmen wurden in der Premiere der Sängerin
zugewiesen, die auch die Rolle der Esmeralda spielt: In den Bezeichnungen
bleibt daher das Geheimnis bezüglich dieser Figur ungelöst, jedoch nicht unter
gesanglich-musikalischen Gesichtspunkten, denn Esmeralda und die verschleierte
Frau teilen denselben Stimmtypus. Nicht selten lässt sich bei Manzoni feststellen,
dass der Vagheit in den paratextuellen Angaben eine Genauigkeit in der musikali-
schen Faktur entgegengesetzt wird: Die Musik umgeht ihre Selbstreferentialität
und erreicht sogar eine größere Eindeutigkeit als die schriftlich fixierte Spra-
che. Hinter dem Schleier steht also die Wahrheit der Musik: Das metaphorisch
konnotierte Motiv der Verschleierung kommt auch in der Oper vor, ebenfalls
in Verbindung mit Wahrheit und Musik. Abgesehen vom Namen der Prostitu-
ierten, wird die Herkunft Esmeraldas nicht thematisiert: historisch-geographische
Angaben finden in Manzonis Oper kaum Berücksichtigung; trotz der Verwendung
der italienischen Sprache gewinnt Leverkühns Geschichte an Universalität, wird
abstrahiert von ihrem historisch-geographischen Kontext. Zeitbloms Darstellung
von Esmeralda als Femme fatale bzw. als Figur, die Leverkühn ins Unglück bringt,
scheint hier keine wichtige Rolle zu spielen: Ihre Tonchiffre ist nicht unvollstän-
dig und das erste gesungene Wort lautet nicht „Hetaera Esmeralda“, was ihren
Status als Prostituierte unterstrichen hätte, sondern einfach „Esmeralda“. Diese
Information zu Esmeraldas sozialem Status lässt sich lediglich der Inszenierung
und einigen Paratexten entnehmen: Primat hat bei Manzoni die Handlung und die
fiktive Musik Leverkühns, Identitätskategorien wie Nationalität und Klasse sind
zweitrangig.
Zusammenfassend ergeben sich einige Gemeinsamkeiten in der komposito-
rischen Rezeption der Figur Esmeralda sowie der ihr gewidmeten Kapitel, die
hier, bevor aus dem gesamten Kapitel ein Fazit gezogen wird, resümiert werden
sollen. Erstens übersehen sowohl Manzoni als auch Fine nicht, dass die Tonchif-
fre im Roman unvollständig ist und ergänzen sie in ihren Kompositionen. Im
Gegensatz zu Henze, der durch den Verzicht auf die Tonchiffre ihre Bedeutung
abschwächt, spielt sie jedoch bei Manzoni und Fine immerhin eine zentrale Rolle.
Zweitens unterstreichen alle Kompositionen die Verbindung von Esmeralda mit
der Musik, die typisch für das kulturelle Stereotyp der Femme fatale ist. Um diese
Verbindung im Medium der Musik noch ausdrücklicher hervorzuheben, greifen
die meisten Kompositionen auf Tanzformen wie Tango und Walzer zurück. Drit-
tens orientieren sich die behandelten Musikwerke zum großen Teil an Zeitbloms
misogyner Darstellung von Esmeralda, was bei Lenners durch die Anweisungen
sowie den Rückgriff auf Brentanos Text deutlich wird.
8.3 Fazit
Der erste Teil des vorliegenden Kapitels konzentrierte sich auf die Darstellung der
Figur Esmeralda durch Leverkühn auf der metadiegetischen Ebene der Narration
und durch Zeitblom auf der intra- und extradiegetischen. Diese Charakterisie-
rung weist viele Aspekte des kulturellen Stereotyps der Femme fatale auf und bot
Anlass, über Zeitbloms nicht selten misogyne Darstellung weiblicher Figuren im
Roman zu reflektieren. Die Analyse sexuell konnotierter metaphorischer Motive
der Esmeralda-Kapitel, untermauert vom intramedialen Verweis auf Freuds Schrift
Jenseits des Lustprinzips, brachte nicht nur die sexualisierte Charakterisierung der
Prostituierten ans Licht, sondern auch von vielen weiblichen Figuren von Doktor
Faustus. Viele dieser Motive – die Nacktheit, die Durchsichtigkeit, der Durch-
bruch – tauchen auch in Verbindung mit den Topoi der Sterilität der Kunst und
der (nackten) Wahrheit des Textes und der Musik auf. Die in diesem Kapitel
behandelten Kompositionen unterstützen oft die Zuordnung Esmeraldas zum kul-
turellen Stereotyp der Femme fatale, indem sie auf Tanzformen zurückgreifen
(den Walzer bei Fine, den Tango bei Henze) oder das Motiv der Versuchung
durch die Frau ins Zentrum rücken (Lenners). Dass die Tonchiffre der Prostituier-
ten im Roman unvollständig ist, was ihre misogyne Darstellung noch deutlicher
hervorhebt, übersehen die Kompositionen von Fine und Manzoni jedoch nicht
und ergänzen sie um die Note d. Die Analyse zweier verdeckter intermedialer
Produkte (Fine und Henze) bot außerdem die Möglichkeit, über Grenzen und
Potenziale der Figurencharakterisierung im Medium der instrumentalen Musik
nachzudenken. Beispielsweise ermöglicht die Vagheit, die diesbezüglich auffällig
wird, keine klare Darstellung wie im Medium des Romans. Somit wird jedoch
sowohl die Vorstellungskraft von Rezipient*innen angeregt als auch die emotio-
nale Welt der Figur effektiver gezeigt bzw. hörbar gemacht. In Hinblick auf die
Forschungsfragen der Arbeit lässt sich demnach Folgendes sagen: Indem dieses
Kapitel noch ein Stück kompositorischer Rezeptionsgeschichte von Doktor Faus-
tus beleuchtet hat, ist es auch im Prozess des Medienvergleichs der Frage nach
den Möglichkeiten der Figurencharakterisierung sowohl im Medium der Literatur
als auch der Musik, selbst in dem der instrumentalen Musik, nachgegangen.
8.3 Fazit 315
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Rudolf Schwerdtfeger
9
1 Vgl. 8.1.2.
Die Figur Rudolf Schwerdtfeger ist Teil vieler Kapitel von Doktor Faustus2 und
ist eine der allerersten Figuren, die Thomas Mann zu Beginn seines Schaffenspro-
zesses am Roman skizziert haben soll: „Figur des Rud. Schwerdtfeger, Geigers
aus dem Münchener Zapfenstösser-Orchester“3 heißt es in den Tagebüchern. Die
Leser*innenschaft begegnet dem Musiker erst im 23. Kapitel, als Leverkühn nach
München umzieht und Schwerdtfeger als Gast des gesellschaftlichen Kreises um
die Familie Rodde kennenlernt. Er sei
ein begabter junger Geiger, Mitglied des Zapfenstößer-Orchesters, das neben der
Hofkapelle eine bedeutende Rolle im musikalischen Leben der Stadt spielte, und
in welchem er unter den ersten Violinen arbeitete. (DF: 290)4
In der Forschungsliteratur zum Roman bleibt diese Romanfigur, bis auf wenige
Ausnahmen, jedoch relativ unbeachtet.5 Seit Beginn seiner Freundschaft zu
Adrian Leverkühn möchte der talentierte Geiger, der nicht nur dem Musizieren,
sondern auch – so Zeitblom – „dem Flirt mit dem schönen Geschlecht, jungen
Mädchen sowohl wie reiferen Frauen, selig hingegeben“ (DF: 290) ist, dass der
Komponist für ihn ein Violinkonzert schreibt, „mit dem er sich in der Provinz
hören lassen kann“ (DF: 298). Dieses Konzert, das laut der Erzählinstanz „nicht
zu Leverkühns höchsten und stolzesten“ (DF: 573) gehört, wird der Komponist für
ihn schließlich komponieren; nicht nur das, Leverkühn wird auch bei allen seinen
2 Ab Kapitel XXII bis zum Kapitel XLII taucht Schwerdtfeger bis auf wenige Ausnahmen
(z. B. das Teufelsgespräch) immer auf.
3 TB1: 29.04.1943, S. 568.
4 Später wird er die Stelle des Konzertmeisters besetzen: vgl. DF: 506. Laut Dirk Heißerer
korrespondiert das von Thomas Mann erfundene Münchener Orchester mit dem Kaim-
Orchester. Vgl. Heißerer, Dirk: Unterwegs im „Lebensbuch“. München in Thomas Manns
Roman Doktor Faustus. In: Hirmer, Simone u. Marcel Schellong (Hrsg.): München lesen.
Beobachtungen einer erzählten Stadt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 109–
125, hier: S. 117.
5 Siehe z. B. Riggs, Robert: Violins and Violinists in Literature. In: Ders. (Hrsg.): The
Violin. Rochester: University of Rochester Press 2016, S. 36–59 (insb. S. 56 f.); Grim-
stad, Kirsten J.: The Modern Revival of Gnosticism and Thomas Mann’s Doktor Faustus.
Rochester/New York: Camden House 2002; Luft, Klaus Peter: Erscheinungsformen des
Androgynen bei Thomas Mann. New York (u. a.): Lang 1998, S. 114 ff.; Dill, H. J.:
Zur Erklärung des Namens „Pfeiffering“ in Thomas Manns Doktor Faustus. In: Germanic
Notes 2 (1971), S. 34 ff.
9.1 Schwerdtfeger in Doktor Faustus 319
Aufführungen anders als sonst anwesend sein.6 Im Laufe der Arbeit an dem Kon-
zert nimmt die Intimität zwischen Schwerdtfeger und Leverkühn zu: Die beiden
umarmen sich,7 nennen „einander Du“ (DF: 603) und nach einer schweizerischen
Aufführung des Konzerts erscheinen sie „Hand in Hand“ (DF: 604). Nach der
Uraufführung in Wien hatten Geiger und Komponist einige Tage im Schloss Tolna
zusammen verbracht, weswegen die Forschungsliteratur unter anderen textuellen
Indizien zwischen der Auffassung einer homosexuellen und der einer platonischen
Liebe oszilliert – Letzteres scheint u. a. Schwerdtfegers Bezeichnung des Violin-
konzerts als „platonisches Kind“ (DF: 510) zu bestätigen.8 Zweifelsohne sind die
Romankapitel, die vom Komponieren und der Aufführung des Konzerts handeln,
reich an homoerotisch-konnotierten textuellen Hinweisen. Schwerdtfeger ist eine
höchst sexualisierte Figur in Doktor Faustus: Mit ihm begeht Ines Rodde – eine
der beiden Töchter der Senatorin, bei der Leverkühn in München Schwerdtfeger
kennenlernt – kurz nach der Eheschließung mit Dr. Helmut Institoris, „Ästhetiker
und Kunsthistoriker [sowie] Privatdozent an der Technischen Hochschule“ (DF:
417), einen langjährigen Ehebruch.9 Ines Institoris soll aber nach Schwerdtfegers
Meinung, der dem Komponisten die ehebrecherische Beziehung folgendermaßen
schildert, alleine die Schuld tragen:
„Ich kann nichts dafür, Adrian, glaube – glauben Sie mir! Ich habe sie nicht ver-
führt, sondern sie mich, und die Hörner des kleinen Institoris, um diesen dummen
Ausdruck zu gebrauchen, sind ausschließlich ihr Werk, nicht meines“. (DF: 508)10
6 Das Violinkonzert wird vom Autor in der Entstehung als „Adrians hybrides Geschenk an
die Zutraulichkeit“ (Ent: 158) beschrieben.
7 Vgl. DF: 466 f.
8 Vgl. DF: 574 f. Siehe Grimstad: The Modern Revival of Gnosticism, S. 197. Auch
Riggs betrachtet die Beziehung als nicht platonisch. Vgl. Riggs: Violins and Violinists in
Literature, S. 57.
9 Es wurde in der Forschungsliteratur bereits mehrfach hervorgehoben, dass Institoris der
Name eines der beiden Verfasser des Malleus Maleficarum ist. Vgl. z. B. Müller, Maria
E.: Die Gnadenwahl Satans. Der Rückgriff auf vormoderne Pakttraditionen bei Thomas
Mann, Alfred Döblin und Elisabeth Langgässer. In: Röcke, W. (Hrsg.): Thomas Mann.
Doktor Faustus 1947–1997. Bern (u. a.): Lang 2001, S. 145–165, hier: S. 155.
10 Im selben Zugeständnis betont Schwerdtfeger auch, sie nie geliebt, sondern einfach
Von Anfang an ahnt Leverkühn die möglichen, fatalen Konsequenzen einer sol-
chen Beziehung.11 Schwerdtfeger findet den Mut, Frau Institoris zu verlassen.
Diese kann anfänglich dank des Morphiums, das sie sehr wahrscheinlich von
Natalie Knöterich bekommt, das Leben wieder ertragen.12
Das Violinkonzert stellt zweifelsohne den Höhepunkt der Beziehung zwischen
Leverkühn und Schwerdtfeger dar.13 Diese Beziehung findet jedoch gleich nach
der Aufführung des Stückes in der Schweiz ihr Ende, da die beiden Marie Godeau
kennenlernen. Diese „französische Schweizerin“ (DF: 606) hat „die schönsten
schwarzen Augen von der Welt“ (DF: 607), teilt Zeitblom seinen Leser*innen mit.
Sie sei Zeichnerin und arbeite „für kleinere Pariser Opern- und Singspielbühnen“
(DF: 608). Schwerdtfeger und Leverkühn verlieben sich auf den ersten Blick in
sie und Leverkühn will sie nach kurzer Zeit heiraten.14 Daher die Idee, den Geiger
zu ihr zu schicken, um sie von seinen Gefühlen in Kenntnis zu setzen. Es handelt
sich demnach um einen Vorheiratsantrag:
Bringst du mir soviel zurück, daß der Gedanke, mein Leben mit mir zu teilen, ihr
nicht ganz und gar zuwider, nicht ungeheuerlich ist, – dann kommt meine Stunde,
dann will ich selber mit ihr und ihrem Tantchen reden. (DF: 635 f.)15
11 „Übrigens ist das kein Spaß für ihn. – Er soll zusehen, daß er heil aus der Sache
davonkommt“ (DF: 435).
12 Als Ergänzung zu Börnchens Ausführungen über das dritte Kapitel von Doktor Faustus
und Esmeralda sei hier am Rande erwähnt, dass Natalia Knöterich auch Esmeralda in
Erinnerung ruft, einerseits weil sie „spanisch-exotisch von Ansehen“ (DF: 475) ist, ande-
rerseits weil sie Ines Institoris mit einer Art Gift, nämlich mit Morphium, versorgt. Vgl.
Börnchen: Kryptenhall, S. 215.
13 Vgl. Luft: Erscheinungsformen des Androgynen, S. 115.
14 Laut Heißerer korrespondiert das Dreieck Leverkühn – Marie – Schwerdtfeger zu dem
Thomas Mann – Katia Pringsheim – Paul Ehrenberg. Katia Mann habe die gleichen
schwarzen Augen wie Marie gehabt. Siehe Heißerer: Unterwegs im „Lebensbuch“, S. 116.
Zu Paul Ehrenberg siehe auch Riggs: Violins and Violinists in Literature, S. 59, Fußnote
9.
15 Thomas Mann erklärt diesen Plan Leverkühns so: „Adrian schickt den Reinen, Glückli-
chen, Gewinnenden, teils um durch ihn besser zu werben, teils um ihn zu opfern“ (TB2:
25.10.1945, S. 268; Herv. A. O.). Hannum bestätigt und erläutert diese Auffassung: „[T]he
sacrifice is called for outright by Leverkühn, who asks Rudi to propose to Marie Godeau
on his behalf“. Hannum: Self-Sacrifice, S. 299. Das Motiv von Schwerdtfegers Opferung
wird auch in 11.2.2 angesprochen.
9.1 Schwerdtfeger in Doktor Faustus 321
Leverkühns exzentrischer Plan, den Zeitblom heftig kritisiert,16 ist zum Schei-
tern verurteilt und führt nicht zur Verlobung Leverkühns mit Godeau, sondern zu
ihrer Verlobung mit Schwerdtfeger. Nach dem letzten Konzert für das Münchner
Orchester – der Geiger will nämlich mit seiner Verlobten nach Paris ziehen, wo er
die Stelle des Konzertmeisters im „Orchestre Symphonique“ (DF: 646) antreten
soll – wird er von einer rachsüchtigen Frau Institoris in einer Tram erschossen.17
In diesem Kapitel steht diese Musikerfigur von Doktor Faustus, die mit dem
Mythos des dämonischen Geigers in Verbindung gebracht wird, im Zentrum. Als
theoretische Untermauerung der folgenden Analyse dienen die Ausführungen von
Roland Barthes in Mythen des Alltags.
Der Mythos des dämonischen Geigers lässt sich als Modifikation oder mit Barthes
als Deformation des ursprünglichen Mythos der Geige als dämonisches Instru-
ment verstehen. Zu den ersten literarischen und künstlerischen Zeugnissen der
Assoziation von Geige und Teufel bzw. auch von Geige und Tod zählen Texte
und Manuskriptabbildungen zum Todestanz, die von einem Geige spielenden Tod
erzählen oder ihn direkt abbilden sowie Zitate aus Shakespeares Dramen.18 Dass
dieser Mythos, der vor Paganini in der Barockepoche bereits mit den real exis-
tierenden Violinisten Tartini und Strunck in Verbindung gebracht wurde, sehr
geeignet für die Rezeption im Medium der literarischen Schrift zu sein scheint,
mag schon die Beobachtung bestätigen, dass ein aktueller Sammelband zur Vio-
line überraschenderweise nicht mit ihrer Geschichte oder mit Informationen zum
Geigenbau, sondern mit dem im Titel einer rhetorischen Frage tragenden Teil „An
Instrument oder a Metaphor?“ beginnt.19 In diesem Teil des Buches wird zunächst
die Verbindung von Geige und Tod bzw. von Geige und Teufel in künstlerischen
und literarischen Werken ausgelotet, danach wird der Fokus auf Violinist*innen
16 Siehe DF: 642: „Wie bekennt man einer Frau die Liebe eines andern? Neigt man sich
zu ihr? Blickt man ihr ins Auge? Nimmt man bittend ihre Hand, die man gern in die des
Dritten legen zu wollen erklärt?“
17 Vgl. DF: Kap. XLII.
18 Vgl. Berger, Robert W.: The Devil, the Violin, and Paganini: The Myth of the Violin
as Satan’s Instrument. In: Religion and the Arts 16 (2012), S. 305–327, hier: S. 309;
Shakespeare, W.: Henry VIII. In: Ders.: The Complete Works, Part 2, Akt 1 Szene 3,
714–752, hier: S. 721; Riggs, R.: Association with Death and the Devil. In: Ders. (Hrsg.):
The Violin, S. 3–35.
19 Riggs (Hrsg.): The Violin, S. vii.
322 9 Rudolf Schwerdtfeger
und das Instrument in der Literatur gelegt, wobei die meisten Geiger*innenfiguren
dämonische Züge tragen und so auch Schwerdtfeger aus Thomas Manns Roman
selbstverständlich nicht fehlt.20 In der vorliegenden Studie wird nicht wie bei
Riggs von Metaphern, sondern von Mythen gesprochen, denn speziell die Ver-
flechtung mit real existierten Musikern wie Paganini oder Tartini macht dieses
zweite semiologische System sichtbar, das auf einem Signifikanten beruht, der
zugleich Sinn und Form ist. Nicht zufällig weist Barthes darauf hin, dass ein
Mythos wohl deformieren kann, jedoch nichts verbirgt:21 Obwohl real existierte
Musiker vom Mythos deformiert werden können, bleiben die Vorlagen erkennbar.
Die Bezeichnung ,Metapher‘ scheint daher für ein Phänomen, das Fakten und
Persönlichkeiten des Musiklebens sowie u. a. literarische und anekdotische Texte
über die Epochen hinweg einschließt und deformiert, unzureichend.
Laut Riggs ist Schwerdtfeger „a demonic character“22 und auch Zeitblom
spricht im Roman von seiner „kindischen Dämonie“ (DF: 604): Sein Talent für
den Flirt und das Geigenspiel verbindet sich mit einer gewissen Naivität, was der
Erzähler einem dämonischen Ursprung zuschreibt. Inwieweit sich Schwerdtfeger,
der wohl auch für eine Opferfigur von Doktor Faustus gehalten werden kann,
als Verkörperung des Mythos des dämonischen Geigers auffassen lässt, sei im
Folgenden aufgezeigt. Bei der Erwähnung seines Repertoires taucht Paganini nie
auf, Tartini wird jedoch explizit benannt.23 Des Weiteren spielt Schwerdtfeger das
typische Repertoire eines Geigenvirtuosen, etwa Bachs Partita in E-Dur, Vivaldi,
Spohr, Vieuxtemps, Grieg, Beethovens Kreutzer-Sonate und Dvořáks Humo-
reske.24 Dass auf Tartini explizit verwiesen wird, spricht auch wieder für jene
Kontamination des Romans durch das System der Barockmusik, mit dem sich der
Viola d’amore-Spieler Zeitblom gut auskennt;25 dass hingegen Paganini nament-
lich nicht erwähnt wird, ist in Bezug auf Doktor Faustus, wo etwa die Namen
20 Vgl. Riggs: Association with Death and the Devil u. Ders.: Violins and Violinists in
Literature.
21 Barthes: Mythen des Alltags, S. 268 u. 277.
22 Riggs: Violins and Violinists in Literature, S. 57.
23 Siehe DF: 506 u. 291.
24 Vgl. DF: 506 u. 622; zur Geschichte und zum Repertoire des Instruments: Nardolillo, Jo:
The Canon of Violin Literature: a Performer’s Resource. Lanham, Md. (u. a.): Scarecrow
Press 2011; Menuhin, Yehudi: The Violin. Paris: Flammarion 1996.
25 Vgl. 11.1.2. In Bergers Aufsatz wird außerdem eine Anekdote erwähnt, die ein Treffen
Struncks mit Corelli betrifft und das virtuose Spielen mittels Anwendung der Scorda-
tura ebenfalls mit dem Dämonischen verknüpft. Vgl. Berger: The Devil, the Violin, and
Paganini, S. 313. Hier sei zudem erwähnt, dass auch Paganini auf die Scordatura zurück-
gegriffen haben soll. Vgl. Grisley, Roberto: Art. Paganini, Nicolò, Würdigung. In: MGG
9.1 Schwerdtfeger in Doktor Faustus 323
Schönberg oder Nietzsche nie auftauchen, kein Beweis dafür, dass der Mythos des
dämonischen Geigers hier ausnahmsweise nicht auf den Paganini-Mythos zurück-
greift.26 Einzelheiten aus Anekdoten über den italienischen Violinisten, Autor der
Ventiquattro Capricci für Violine solo, die als Meilenstein des Geigenvirtuosen-
tums gelten, finden im 19. Jahrhundert Eingang u. a. in Texte von Grillparzer
und Heine. In vielen literarischen und nicht-literarischen Texten stellt Paganini
aufgrund seiner Biographie, die im Folgenden dargelegt wird und seines meister-
haften, virtuosen Geigenspiels die Verkörperung par excellence des Mythos des
dämonischen Geigers dar.27
Auch die folgende Analyse stützt sich vor allem auf den Paganini-Mythos, um
die Darstellung von Schwerdtfeger als Paganini von Doktor Faustus zu beleuch-
ten. Der italienische Geiger sei Anekdoten der Zeit zufolge nicht nur für sein
unerreichbar virtuoses Geigenspiel, sondern auch für seine Fähigkeit berühmt
gewesen, Tiergeräusche, das Seufzen und Stöhnen von Liebenden und das Wei-
nen alter Frauen zu imitieren.28 Schwerdtfeger kann ebenfalls das traditionelle
Violinrepertoire meisterhaft spielen und zudem hervorragend pfeifen:
Ich [Zeitblom] habe das später auch bei Roddes und Schlaginhaufens gehört und
mir von ihm erzählen lassen, wie er schon als ganz kleiner Junge, bevor er Violinun-
terricht bekam, diese Technik auszubilden begonnen und sich im reinen Nachpfeifen
vernommener Musikstücke, fast wo er ging und stand, geübt, auch später an dem
Erworbenen immer fortentwickelt hatte. Es war glänzend, – eine kabarettreife Fer-
tigkeit, die fast mehr imponierte als sein Geigenspiel, und für die er organisch
besonders glücklich angelegt sein mußte. (DF: 380)
Dieses Talent von Schwerdtfeger ist so ausgeprägt, dass Zeitblom ihn nach dieser
ersten Erwähnung immer häufiger als „Geiger und Pfeifer“ (DF: 401) anredet.
Auch das Pfeifen lässt sich mit Paganini in Verbindung bringen, und zwar mit
seinem Imitationstalent, denn durch das Pfeifen ahmt der Geiger musikalische
Kompositionen, die ursprünglich etwa für Violine, Flöte und Harfe geschrieben
wurden, nach.29
Zeit. In: Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen 156 (2004) H. 1,
S. 157–167.
28 Siehe Berger: The Devil, the Violin, and Paganini, S. 318.
29 Vgl. DF: 507 f. Wahrscheinlich ist es auch kein zufälliges Textelement, dass zu den
Gästen der Familie Institoris auch ein Maler gehört, der „für die lustige Imitation von
324 9 Rudolf Schwerdtfeger
Schauspielern, Tieren, Musikinstrumenten und Professoren“ (DF: 477) sehr begabt ist.
Obwohl sich dies auf eine andere Figur bezieht, verstärkt es indirekt den Bezug auf
den Paganini-Mythos, da Schwerdtfeger Liebhaber von Ines Institoris ist und wenige Sei-
ten später vom Ehebruch erzählt wird. Zu Schwerdtfegers Pfeifen vgl. auch: Dill: Zur
Erklärung des Namens „Pfeiffering“.
30 Vgl. Berger: The Devil, the Violin, and Paganini, S. 319 f.; Cersowsky: „Mehr als
Zugriff: 21.08.2020).
34 „Feger“. In: Schweizerisches Idiotikon. < https://digital.idiotikon.ch/idtkn/id1.htm#!page/
10685/mode/1up > (letzter Zugriff: 21.08.2020). Des Weiteren könnte das Komposi-
tum ,Schwerdtfeger‘ bzw. ,Schwertfeger‘ auf die handwerkliche Qualität des Spielens
hinweisen und daher die mittelalterliche Einteilung von Musiker*innen in musici theorici
und musici practici in Erinnerung rufen. Ersteres lässt sich auf Leverkühn als Komponisten
und Kompositionstheoretiker, Letzteres auf Schwerdtfeger als Geigenvirtuosen übertragen.
Siehe auch „Schwertfeger“. In: Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd.
15 Sp. 2587 bis 2588. < https://www.woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=
DWB&lemid=GS22166 > (letzter Zugriff: 21.08.2020) u. Salmen, Walter: Art. Musiker,
Zum Terminus. In: MGG Online. Veröffentlicht November 2016. < https://www.mgg-onl
ine.com/mgg/stable/12883 > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
9.1 Schwerdtfeger in Doktor Faustus 325
35 Ebd.
36 Vgl. DF: 291 f.; Cersowsky: „Mehr als Musik“, S. 160 u. 166.
37 Cersowsky: „Mehr als Musik“, S. 166.
38 Vgl. auch Berger: The Devil, the Violin, and Paganini, S. 323.
39 Und (wieder vermutlich nicht zufällig) liegt Florenz in derselben Region wie Lucca, der
Geburtsstadt Paganinis. Darüber hinaus verknüpft die rote Mütze Schwerdtfeger mit dem
„teuflischen“ Leipziger Dienstmann. Vgl. 6.1.1.
40 Zit. in Cersowsky: „Mehr als Musik“, S. 164.
326 9 Rudolf Schwerdtfeger
noch aktuell ist, bestätigen etwa journalistische Darstellungen von heutigen Gei-
genvirtuos*innen, die von Teufelsgeigern reden und deren Aussehen ins Zentrum
rücken.52
Der vorliegende Abschnitt widmet sich dem letzten Satz von Henzes Violin-
konzert, der sich zugleich als partielle intermediale Transposition des fiktiven
Konzerts und als Darstellung mit musikalischen Mitteln einer Romanfigur und
der mit ihr verbundenen Kapitel begreifen lässt. Auch Henzes Violinkonzert setzt
sich mit dem Mythos des dämonischen Geigers auseinander.
Der dritte Satz des im vorigen Kapitel bereits betrachteten Violinkonzerts von
H. W. Henze ist dem Geiger Rudolf Schwerdtfeger gewidmet. Die erste Frage,
die spontan in Bezug auf den Titel gestellt werden könnte, ist: Warum verwen-
det Henze den abgekürzten Namen als Titel des Satzes? Timo Sorg behauptet,
die Identität Schwerdtfegers werde auf diese Weise geschützt, „wie etwa in
einem Zeitungsbericht“.53 Die Musik behält tatsächlich die Spannung sowie den
Krimi-Charakter der Schwerdtfeger-Kapitel von Doktor Faustus bei. „Ein anderer
Grund“,54 fügt der Musikwissenschaftler hinzu, „könnte im vertrauten Verhält-
nis zwischen Rudi und Leverkühn liegen“.55 Die Komposition spricht aus diesem
Grund direkt im Titel Leverkühns enges Verhältnis zu Schwerdtfeger an, darauf
weist auch die anfängliche Angabe auf den Noten der Violine solo – „canto dol-
cissimo“ (VK: 45, T. 2), „sehr süßer Gesang“ – hin.56 Diese Angabe verdeutlicht
zudem, dass sich hier die Instrumentalkomposition dem Gesang annähern möchte.
Faustus nicht tödliches Attentat auf einen Freund Henzes, der ebenfalls Rudi hieß. Siehe
Rosteck: Hans Werner Henze, S. 319.
328 9 Rudolf Schwerdtfeger
Die zweite Frage, die sich die Leser*innen von Doktor Faustus stellen könn-
ten, hat mit der Reihenfolge der Konzertsätze zu tun: Der zweite Satz ist Echo
gewidmet, aber sein Ankommen in Pfeiffering findet nach dem Tod des Geigers
statt. Schmierer begründet diese Entscheidung so: „Er [der dritte Satz] ist jedoch
als nochmals übersteigerter Schicksalsschlag in doppeltem Sinne auskomponiert
und steht deshalb am Schluss“.57
In Bezug auf die Vorlage folgt daher die intermediale Transposition einer ande-
ren „Anordnung der Ereignisse oder zeitlichen Segmente“.58 Henzes dritter Satz
stellt nicht nur einen Versuch dar, im Medium der instrumentalen Musik die Figur
Schwerdtfegers zu charakterisieren, sondern lässt sich auch als Transposition des
Violinkonzerts begreifen und hätte wohl auch dem zweiten Teil der vorliegenden
Studie, der sich mit einigen fiktiven Kompositionen Leverkühns befasst, zugeord-
net werden können. Zeitbloms Darstellung des Musikstils des Werkes scheint mit
dem Gesamtstil von Henzes Kompositionen, den der Autor als musica impura
bezeichnet,59 gut vereinbar zu sein: Die Erzählinstanz beschreibt Leverkühns
Komposition als eine, die „durch eine gewisse verbindliche virtuos-konzertante
Willfährigkeit der musikalischen Haltung ein wenig aus dem Rahmen von Lever-
kühns unerbittlich radikalem und zugeständnislosem Gesamtwerk“ (DF: 592 f.)
fällt. Leverkühn selbst erkennt eine gewisse, in seinem Schaffen selten vorhandene
„Menschlichkeit“ in seinem Violinkonzert, das er einer Person gewidmet habe, bei
der er „zum erstenmal in [s]einem Leben menschliche Wärme fand“ (DF: 633).
Diese durch das Violinkonzert vermittelte „Menschlichkeit“ spricht Henzes Satz
im paratextuellen Hinweis des Titels sofort an, der zudem darauf aufmerksam
macht, dass Schwerdtfeger Leverkühn „zum Du bekehrte“ (ebd.). Im Medium der
instrumentalen Musik, wo eine gewisse Vagheit des Erzählens herrscht, lässt sich
die Frage, wie die Art der Beziehung zwischen Leverkühn und Schwerdtfeger
dargestellt wird, anhand viel weniger Indizien als in einem Erzähltext beantwor-
ten. Der Titel und die Angabe „canto dolcissimo“, welche die intime Beziehung
zwischen Leverkühn und Schwerdtfeger in den Mittelpunkt rücken, deuten auf ein
mehr als professionelles Verhältnis hin, das also weit über die Zusammenarbeit
für die Entstehung des Violinkonzerts geht.60
Trier: WVT 2002, S. 243–246, hier: S. 243 (Interview des Autors mit Henze).
60 Wie Manzoni war Henze zeit seines Lebens auch sehr politisch engagiert; die Thema-
tik der Homosexualität lag ihm besonders am Herzen: „Ich denunziere die bürgerliche
Gesellschaft und unter anderem, nebenbei bemerkt, auch die Leute, Spießer z. B., die
sich über die Schwulen mokieren. Da gibt es doch häufig so einen gewaltsamen Hohn.
9.2 Vom Roman zur Musik 329
Die Tragik kündigt sich [...] bereits nach den ersten Takten an: Der ,Canto
dolcissimo‘ auf sattem Streicherklang wird durch pochende, hintergründige Holz-
bläserakkorde gestört, die kantable Linie zerfällt, die Schläge der großen Trommel
und der Blechbläserklang kündigten den schicksalhaften Schlag an, der am Schluss
des Satzes durch knallende Peitschenklänge unterstrichen wird – die Schüsse aus
dem Revolver wiedergebend.
Die Musik wird tatsächlich immer erregter und der Peitschenklang bringt die
Sologeige zum Schweigen, was innerhalb der Handlungslogik der instrumenta-
len Komposition zu bedeuten scheint, dass Schwerdtfeger an dieser Stelle seine
Seele aushaucht (Abbildung 9.1) :
Ich wehre mich schon mit meiner ersten Note gegen solchen eventuellen Hohn“. Ebd.,
S. 245. Sorg interpretiert das Violinkonzert Henzes als „Deutschlandbild“: In dieser Hin-
sicht stehe Rudi symbolisch für die Situation der Homosexuellen im Dritten Reich. Vgl.
Sorg: Beziehungszauber, S. 303.
61 Vgl. auch Sorg: Beziehungszauber, S. 284 f.
62 Der ganze Satz dauert ca. sieben Minuten.
63 Siehe z. B. DF: 574 f.: „Nicht ich war ihm dabei zur Seite und hätt’es nicht sein können,
selbst wenn er mich dazu aufgefordert hätte. Schwerdtfeger war es, er könnte berichten.
Aber er ist tot. – “
64 Schmierer: Musik als Sprache, S. 299.
330 9 Rudolf Schwerdtfeger
Abbildung 9.1 Der Tod Rudis (VK: 62) (Das Zeichen (…) bedeutet, dass nur eine
Auswahl der Orchesterbesetzung wiedergegeben wird.)
Die Violine solo ist nach den kurzen, geseufzten Noten im Sforzato, die man
in der Abbildung sieht, nicht mehr zu hören, jedoch zwei Mal noch die Peitsche,
die für die wiederholten Schüsse durch Ines steht.65 Und dann das Tamtam, das
laut Sorg „idiofone[] Klangsymbol des Todes“.66
Der Satz schließt mit einer kurzen, akzentuierten Note im ffff des ganzen
Orchesters (Abbildung 9.2) :
Die instrumentale Komposition ist in der Lage sowohl die Spannung als auch
die inhaltlichen Aspekte der Schwerdtfeger-Kapitel partiell zu reproduzieren,
indem sie etwa Erzählstrategien und sonstige Mittel durch bestimmte Musikin-
strumente, Rhythmen und Dynamiken ersetzt, die gewisse Klangeffekte erzielen.
Diese Elemente rufen zusammen mit den paratextuellen Angaben die Episode in
Erinnerung; die Spannung bleibt bis zum letzten, im vierfachen Forte zu spielen-
den Ton aufrecht erhalten, nur der Applaus des Publikums kann hier die Illusion
durchbrechen.
Was die Transposition von Leverkühns Violinkonzert angeht, lässt sich sagen,
dass Henzes dritter Satz zum großen Teil einen eigenen Weg geht: Er versucht
nicht, die dreiteilige Struktur des fiktiven Werkes zu reproduzieren, das sich aus
einem „Andante amoroso“ (DF: 593), einem virtuosen, „ein Zitat aus Tartinis
Teufelstriller-Sonate“ (DF: 594) enthaltenden Scherzo und einem dritten Satz mit
Variationen zusammensetzt, obwohl sich vereinzelte Eigenschaften wiederfinden
lassen. Anders als die anderen Sätzen gibt es hier nur ein Andante (abgese-
hen selbstverständlich von der frei zu spielenden Kadenz).67 Dementsprechend
ist die Einordnung von Henzes Satz in dieses Kapitel durchaus angemessen,
weil das, was er vor allem (teil-)reproduziert, inhaltliche Substrate des Romans
sind, z. B. Eigenschaften von Schwerdtfeger oder seinem Geigenspiel, seine Auf-
führung von Leverkühns Violinkonzert, seine Beziehung zu ihm sowie seine
Ermordung in München. Das ausgeprägte Virtuosentum des Satzes ermöglicht
ebenfalls eine Zuordnung Schwerdtfegers zum Paganini-Mythos, nicht zuletzt,
weil der Musikstil auch auf den von Paganinis Violinkonzerten verweist.
Die Betrachtung des dritten Satzes von Henzes Violinkonzert macht außer-
dem den Nutzen einer Studie, die auch mit werkexterner Intermedialität arbeitet,
sichtbar: Eine in der Forschungsliteratur sonst relativ vernachlässigte Roman-
figur gewinnt in der Transposition an Bedeutung und bietet den Anlass zu
9.3 Fazit
Dieses Kapitel hat im kleinen Rahmen noch einmal gezeigt, was dieser gesamte
dritte Teil zu den Figuren aus dem Roman herausstellen sollte: Der Fokus der
Untersuchung ist leicht unterschiedlich, wenn man sich auf den Transfer von
Romanfiguren in das Medium der Musik konzentriert. Anhand des Satzes von
Henze konnte über viele Untersuchungsobjekte dieser Studie reflektiert wer-
den, da der hier behandelte dritte Satz sowohl die Schwerdtfeger-Kapitel und
folglich seine Charakterisierung im Roman als auch Leverkühns Violinkonzert
transferiert. Im ersten Fall handelt es sich um die Evokation, Simulation oder
(Teil-)reproduktion von handlungsbezogenen Passagen oder Figurencharakteris-
tika, die in einem Erzähltext vorwiegend durch telling und/oder showing vonseiten
der Erzählinstanz zum Tragen kommen. Im zweiten Fall wird im neuen Medium
versucht, das intermediale telling des Romans, also die Beschreibung von Faktur
und Wirkung fiktiver Musikstücke, umzusetzen. Die Gegenstände der Unter-
suchung und folglich die erzähltheoretischen sowie intermedialen Kategorien,
mit denen sich die Analyse auseinandersetzt, sind nicht komplett miteinander
vergleichbar.
Ebenfalls konnte dieses Kapitel zeigen, dass der Effekt der Verstärkung, den
Gess einführt,68 analytisch vertieft und erweitert werden kann, indem man ihn
qualitativ ausdifferenziert und dementsprechend skalar auffasst. Henze beispiels-
weise rückt eine Figur aus dem Roman, auf die sonst wenige Beiträge zu Doktor
68 Vgl. 1.1.5.
9.3 Fazit 333
Faustus eingehen, ins Zentrum und erreicht somit einen hohen Verstärkungsgrad.
Daran wird noch einmal deutlich, was bereits in der Einleitung dieser Studie ange-
sprochen wurde: Die Auseinandersetzung mit den kompositorischen Reaktionen
auf Thomas Manns Roman bewirkt eine neue Lektüre des Werkes, in diesem Fall
z. B. wird einer Figur und ihrer Mythisierung mehr Aufmerksamkeit geschenkt.
Im nächsten Kapitel soll sich die Untersuchung auf eine*n Akteur*in im Musik-
bereich, nämlich den Impresario bzw. die Impresaria, konzentrieren, was durch
die Analyse des jüdischen Musikagenten Saul Fitelberg möglich ist.
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Saul Fitelberg
10
Fitelberg ist ein Impresario jüdischer Herkunft aus Paris, der nach Pfeiffering
kommt, um Leverkühn anzubieten, seinen Musikagenten zu sein. Der erste Teil
des vorliegenden Kapitels konzentriert sich auf die Darstellung des jüdischen
Impresarios Saul Fitelberg in Thomas Manns Doktor Faustus, indem für eine
intersektionale Analyse dieser Figur plädiert und diese dementsprechend durch-
geführt wird. Zugleich wird Saul Fitelberg mit der Mäzenin Frau von Tolna
kontrastiert: Beide Figuren stehen für zwei Formen der Musikfinanzierung, nur
die zweite, d. h. das Mäzenatentum, scheint sowohl im Roman als auch in Ador-
nos Philosophie für die Neue Musik besser geeignet zu sein. Allerdings hat auch
das Mäzenatentum seine Nachteile, da es beispielsweise nur eine scheinbare Auto-
nomie ermöglicht. Über Formen der Musikfinanzierung und die Zukunft der Oper
reflektiert auch Manzonis Doktor Faustus: Der Veroperung widmet sich der zweite
Teil des vorliegenden Kapitels. Gegen eine exzessive Vermarktung des Musik-
werkes scheint sich Manzonis Oper zu wehren, indem der Musikagent durch das
Falsett als Lügner und durch den verstärkten monologischen Charakter seiner
Rede vom Hauptgeschehen isoliert wird – und zugleich zu Reflexionen über die
Bedingungen des Opernbetriebes anregt.
Leser*innenschaft im 37. Kapitel: Das vorherige Kapitel schließt mit der Erwäh-
nung von Schwerdtfegers und Leverkühns Aufenthalt im Schloss Tolna.1 Doktor
Faustus als „Musiker-Roman“ (Ent: 25) übersieht kaum einen Aspekt des Lebens
eines*r Komponist*in und geht folglich auch auf die Finanzierung und Ver-
breitung des künstlerischen Schaffens ein. Diesbezüglich finden sich sowohl in
diesem Kapitel als auch in dem Kapitel über Frau von Tolna in prosopoietischer
Form Auffassungen aus Adornos Musikphilosophie über die Finanzierung des
Musikwerkes: Saul Fitelberg steht für die Welt der Impresari, Frau von Tolna für
das Mäzenatentum. Beide verkörpern jeweils eine Seite der Welt außerhalb der
„Einsamkeit“ (PhnM: 48) von Pfeiffering und des Kunstwerkes: Nicht zufällig
unterstreicht Zeitblom, dass Frau von Tolna und Fitelberg zum „Kapitel ,Welt‘“
1 Vgl. DF: 573 ff. Die Thomas Mann-Forschung hat sich lange Zeit bemüht, ein rea-
les Vorbild für den jüdischen Impresario zu finden. Der Autor spricht in der Entstehung
des „Doktor Faustus“ von einem „ehemals in Paris tätigen Literatur- und Theateragenten
S.C.“ (Ent: 156). Den vollständigen Nachnamen erwähnt seine Frau, die ihm auch die
Person vorgeschlagen hatte, in ihren Memoiren: Collin. Collin steht „freilich der Musik
ferne“ (Ent: 156): Er dient Thomas Mann dazu, „für den ,Weltmann‘ ein Gesicht zu
haben“ (ebd.). Laut Schmidt-Schütz wurden die Figur des jüdischen Impresarios und
ihr Umfeld nicht nur vom Theateragenten inspiriert, sondern auch von den Memoiren
Strawinskys, deren deutsche Ausgabe der Autor von Doktor Faustus konsultierte. Der in
Russland geborene Komponist wird im Roman genauso wie Nietzsche und Schönberg
nie explizit erwähnt. Dies spricht immerhin für seine Bedeutung, denn die nie genannten
Personen spielen in Doktor Faustus eine wichtige Rolle, wie Thomas Mann am Beispiel
von Nietzsche erläutert. Darüber hinaus widmet sich Adorno im zweiten Teil seiner Phi-
losophie der Neuen Musik gerade Strawinsky (siehe PhnM: 127–200). Paris, wo Fitelberg
lebt und arbeitet, war auch Strawinskys jahrelanger Lebens- und Arbeitsmittelpunkt. Dar-
über hinaus beschreibt der Impresario Premieren in der französischen Hauptstadt, die den
Premieren Strawinskys ähnlich waren: „[W]ährend des Abends [springt] alles von den
Plätzen […] und die Majorität brüllt: ,Insulte! Impudence! Bouffonnerie ignominieuse!‘,
während sechs, sieben initiés, Erik Satie, einige Surrealisten, Virgil Thomson, aus den
Logen rufen:,Quelle précision! Quel esprit! C’est divin! C’est suprême! Bravo! Bravo!‘“
(DF: 582). Die Fitelberg-Episode hat weiters dem Autor zufolge „etwas von der munte-
ren Zweideutigkeit und Theaterwirksamkeit einer Riccaut de la Marlinière-Szene“ (Ent:
156): Harry L. Stout unterstreicht in seinem Aufsatz die Ähnlichkeiten zwischen Les-
sings Darstellung von de la Marlinière in Minna von Barnhelm und der Thomas Manns
vom exzentrischen Impresario. Siehe Mann, Katia: Meine ungeschriebenen Memoiren.
Hrsg. v. Elisabeth Plessen und Michael Mann. Frankfurt am Main: Fischer 1976, S. 83;
Schmidt-Schütz: Doktor Faustus zwischen Tradition und Moderne, S. 151 u. 156–159;
Strawinsky, Igor: Erinnerungen. Übers. v. Richard Tüngel. Zürich/Berlin: Atlantis 1937
[Paris 1935]; Stout, Harry L.: Lessing’s Riccaut and Thomas Mann’s Fitelberg. In: The
German Quarterly 36 (1963) H. 1, S. 24–30; Ent: 29.
10.1 Intersektionale Analyse der Figur 337
(DF: 575) seiner Biographie gehören.2 Die Art und Weise, wie Fitelberg und Frau
von Tolna Leverkühn jeweils anbieten, sich um die Verbreitung und Finanzierung
seines Werkes zu kümmern, ist jedoch unterschiedlich. Unterschiedlich sind auch
die Bedingungen des jeweiligen Unterstützungsverhältnisses, denn Fitelberg for-
dert z. B. die körperliche Präsenz Leverkühns bei den Aufführungen seiner Werke,
während das Mäzenatentum à la Frau von Tolna zur Einsamkeit zwingt und folg-
lich für die Popularität des*r Komponist*in ein Hindernis darstellt. Mit diesen
zwei Formen der Musikfinanzierung – die Darstellung von Fitelberg und Frau
von Tolna regt zu ihrer Reflexion an – beschäftigt sich das vorliegende Kapitel:
Das intermediale telling von Doktor Faustus beschränkt sich nicht nur auf die
Beschreibung von Musikstücken und Musikerfiguren, sondern schließt auch die
finanziellen Bedingungen der Musikproduktion und seiner Akteur*innen ein.3
Saul Fitelberg wird im Roman zugleich als Jude und als Impresario dargestellt.
Leverkühn und Zeitblom gegenüber stellt er sich mit folgenden Worten vor:
„[I]ch bin Jude, müssen Sie wissen: Fitelberg, das ist ein ausgesprochen mie-
ser, polnisch-deutsch-jüdischer Name“ (DF: 580), sagt er und ergänzt eine Seite
danach: „[D]enn wie Sie mich da sehen, bin ich Impresario, bin es von Geblüt, bin
es notwendiger Weise“ (DF: 581). Bereits diese Zitate eröffnen die Möglichkeit
einer narratologisch-intersektionalen Analyse dieser Figur, da in der Darstellung
die beiden Identitätskategorien der Ethnizität und der Klasse bzw. des beruflichen
Status kaum voneinander zu trennen sind: In der Narration werden „sozio-
kulturelle[] Differenzen“4 konstruiert, Interdependenzen von Identitätskategorien
werden erzählt und der literarische Text als „Laboratorium der Gesellschaft“5
2 Zu Frau von Tolna siehe DF: 567: „[D]a es sich um eine Frau von Welt handelte, welche
dem Einsiedler von Pfeiffering auch wirklich die Welt repräsentierte“.
3 Siehe Lubkoll: Musik in Literatur: Telling.
4 Nünning, Vera u. Ansgar Nünning: ,Gender‘-orientierte Erzähltextanalyse als Modell
eröffnet „ein[en] Raum der Reflexion“6 über die damalige politische und kultu-
relle Situation sowie die damaligen sozialen Kategorien im europäischen Raum,
wie es im Folgenden aufgezeigt wird.
Fitelberg hat an alles gedacht, um auf Leverkühn den besten Eindruck zu
machen: Zu Leverkühns Wohnort fährt er in einem Auto „samt Chauffeur“ (DF:
576), gibt Frau Schweigestill eine „Besuchskarte“ (DF: 576) und erscheint „som-
merlich elegant“ (DF: 578) gekleidet, „in einen auf Taille gearbeiteten, bläulich
gestreiften Flanellanzug, zu dem er Schuhe aus Leinen und gelbem Leder trug“
(DF: 578). Zeitblom beschreibt ihn als
ein[en] wohl vierzigjährige[n] fette[n] Mann, nicht bauchig, aber fett und weich von
Gliedern, mit weißen, gepolsterten Händen, glattrasiert, vollgesichtig, mit Doppel-
kinn, stark gezeichneten, bogenförmigen Brauen und lustigen Mandelaugen voll
mittelmeerischen Schmelzes hinter der Hornbrille. (ebd.)
Die Erzählinstanz präsentiert ihn dem obigen Zitat entsprechend als gepflegten,
vielleicht wohlhabenden Geschäftsmann und die antisemitischen Stereotypen sind
in diesem Zusammenhang nur schwer zu leugnen.7 Mehr noch, Zeitblom und Frau
Schweigestill bezeichnen Fitelberg in kurzer Zeit als „Dummkopf“ (DF: 579) und
„,spinnerten Uhu‘“ (DF: 576): Der Erzähler lässt hier Wertungen in die Narra-
tion einfließen, die zweifellos nicht darauf abzielen, Sympathie für Fitelberg zu
hegen. Aufgrund der gleichzeitigen Darstellung von Fitelberg als Impresario und
als Jude bleibt unklar, welche der beiden Kategorien Zeitblom zu diesen Wer-
tungen führt. Intersektional betrachtet scheint eine Trennung auch nicht sinnvoll,
denn es sind eben die „Überkreuzungen, Überlappungen bzw. Interdependenzen
von Identitätskategorien“,8 die auch hier zu einer gewissen Unsichtbarkeit von
sozialen Ungleichheiten und Diskriminierungsprozessen beitragen.9 Bevor Fitel-
berg die Möglichkeit hat, sich selbst zu präsentieren, werden zwei Aspekte durch
die Erzählinstanz angedeutet: Es handelt sich bei ihm um keinen Künstler, son-
dern um eine Figur, die mit Geld arbeitet und wahrscheinlich jüdischer Herkunft
6 Ebd.
7 Zum möglichen Antisemitismus Zeitbloms vgl. 7.1.2.
8 Blome: Erzählte Interdependenzen, S. 46, Herv. i. O.
9 Siehe ebd. 49; Crenshaw, Kimberle: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex:
ist. Zeitblom und Frau Schweigestill sehen in Fitelberg eine potentielle Gefahr
für ihr alltägliches Leben und ihre moralischen Sitten: Frau Schweigestill schließt
die Tochter in ihrem Zimmer ein, Zeitblom ist froh, „zu Adrians Bedeckung zur
Stelle zu sein“ (DF: 577).10
Die Fitelberg-Episode ist quasi ein Monolog, denn – so Stout – „[d]uring the
ensuing conversation the visitor does most or all of the talking, much of which is
about himself“,11 was die Nähe zum möglichen dramatischen Hypotext (Lessing)
noch weiter betonen könnte.
Wodurch zeichnet sich ein Impresario bzw. eine Impresaria aus?12 Jutta Toelle
listet unter den Eigenschaften einer Musikagentin bzw. eines Musikagenten „Ri-
sikobereitschaft, Überredungskünste, hohes Selbstvertrauen“13 auf. Eine schnelle
Lektüre dieser Episode reicht, um dem Impresario aus Paris diese Eigenschaften
10 Thomas Mann schreibt in der Entstehung, „daß die Gefahr einer antisemitischen Miß-
deutung meiner jüdischen Riccaut-Figur, bei aller sympathischen Drolerie […], nicht ganz
von der Hand zu weisen ist“ (Ent: 156). Diese Episode hat zusammen mit der Schilde-
rung des Dr. Chaim Breisacher in Doktor Faustus und u. a. der Novelle Wälsungenblut
zu einer heftigen Kontroverse über den möglicherweise versteckten Antisemitismus des
Autors geführt. Die Polemik begann kurz nach der Veröffentlichung von Doktor Faustus
und dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Siehe Manns Eintrag am 31. Dezember 1948 in
den Tagebüchern: „Der Angriff auf mich wegen Antisemitismus im Faustus u. anderwärts
nicht in ,Commentary‘, sondern in einem Washingtoner ,Congressional Weekly‘. Dumm
und harmlos“ (TB 3: S. 348). Todd Kontje glaubt beispielsweise, Manns Ambivalenz
gegenüber den Juden spiegle seine „ambivalence towards himself“ wider: Als Kind einer
nicht rein deutschen Familie und Mensch unklarer sexueller Orientierung sind für ihn
die Juden „people with whom he clandestinely identifies“. Kontje, Todd: Thomas Mann’s
Wälsungenblut: The Married Artist and the „Jewish Question“. In: PMLA 123 (2008) H.
1, S. 109–124, hier: S. 120. Diese Polemik lässt eine gewisse biographical fallacy nicht
übersehen.
11 Stout: Lessing’s Riccaut, S. 24. Siehe auch Fußnote 1.
12 Rosselli erläutert, Impresari seien selten weiblichen Geschlechts gewesen, jedoch ist in
dem Grove-Eintrag nicht zu lesen, dass es keinerlei Beweise für die Existenz weiblicher
Musikagentinnen gibt. Daher werden auch diesbezüglich genderneutrale Formulierungen
präferiert; die Pluralform des Wortes hat im heutigen Sprachgebrauch des Italienischen
jedoch nur Männer im Blick. An dieser Stelle sei allerdings erwähnt, dass die vor-
liegende Arbeit keineswegs den Zweck einer musikhistorischen Rekonstruierung unter
gender-Aspekten des Impresario/Impresaria-Berufs verfolgt. Siehe Rosselli, John: Impresa-
rio (Ger. Schauspieldirektor). In: Grove Music Online. Zuerst veröffentlicht 01.12.1992,
online veröffentlicht 2002. < https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.O007223
> (letzter Zugriff: 21.08.2020); Toelle: Oper als Geschäft; Rosselli, John: The Opera Indus-
try in Italy from Cimarosa to Verdi: The Role of the Impresario. Cambridge: Cambridge
University Press 1984.
13 Toelle, Jutta: Oper als Geschäft. Impresari an italienischen Opernhäusern 1860–1900.
Franka: Der Manager als Sündenbock. Zur Funktion des jüdischen Impresario Saul Fitel-
berg in Thomas Manns „Doktor Faustus“. In: Zeitschrift für Germanistik 14 (2004) H. 3,
S. 564–580, hier: S. 573.
18 Siehe Toelle: Oper als Geschäft, S. 21.
10.1 Intersektionale Analyse der Figur 341
Benedetto Marcello stellt sie als Lügner und Scharlatanen vor.19 Im Kapitel
„Agl’Impresari“20 liest man:21
Der*die Musikagent*in hält also seine Versprechen nicht ein: Lügen sind Bestand-
teil seiner bzw. ihrer Marketingstrategie. Tatsächlich etablierte sich diese Vor-
stellung so sehr, dass oft die Impresari als Sündenböcke für „die Misere der
Opernindustrie“22 fungierten. Ende des 19. Jahrhunderts, als die Welt der ita-
lienischen Oper in eine Krise geraten war, hielt man sie für die „Ausbeuter der
Kunst und der Künstler“23 par excellence. In der Tat starben sie aber nicht selten
bankrott, weil sie sich so sehr für Musik einsetzten, dass sie Geldaspekte nicht
ausreichend berücksichtigten.24
In Doktor Faustus passiert nichts anderes: „Im Verlauf seines buchstäblich
pausenlosen ,Geplappers‘ wird aus dem Teufel mit Zaubermantel ein veritabler
Sündenbock“,25 erklärt Marquardt. Im ersten Teil des Gesprächs stellt sich Fitel-
berg vor und versucht, Leverkühn davon zu überzeugen, ihn als Musikagenten zu
engagieren.26 Sein Angebot erweckt jedoch kein Interesse bei dem Komponisten.
19 Benedetto Marcello (1686 Venedig – 1739 Brescia) war Komponist, Dichter und Theo-
retiker: „1720 gab Marcello anonym die beißende Satire Il teatro alla moda in den Druck,
ein Angriff gegen die Unsitten an den Opernhäusern […]“. Bizzarini, Marco: Art. Mar-
cello, Benedetto. In: MGG Online. Zuerst veröffentlicht 2004, online veröffentlicht
2016. < https://www.mgg-online.com/mgg/stable/51086 > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
20 Marcello, Benedetto: Il teatro alla moda. Rom: Castelvecchi 1993 [Venedig 1720], S. 66.
21 Ebd., S. 69, Herv. i. O. Die Übersetzung lautet: „Auswärtigen Sängerinnen zahle der
Intendant die Anreise, damit diese auch wirklich kommen. Er verspreche ihnen eine gute
Unterkunft unweit des Theaters, diverse Leckereien, Wäsche etc. und quartiere sie dann
(auf jeden Fall in Theaternähe) in einer winzigen Besenkammer ein, die allerdings mit
o. g. Aufmerksamkeiten vollgestopft ist“. Marcello, Benedetto: Das neumodische Theater.
Übers. u. hrsg. v. Sabine Radermacher. Heidelberg: mkverlag 2001. Die Übersetzung ist
leider nicht sehr präzise (siehe z. B. die Verwechslung zwischen Intendanten und Impresa-
rio und die Übersetzung von „cucinetta“, also einer Art winzige Einzimmerwohnung, als
„Besenkammer“).
22 Toelle: Oper als Geschäft, S. 64.
23 Ebd.
24 Siehe ebd.
25 Marquardt: Der Manager als Sündenbock, S. 580.
26 Vgl. DF: 576–585.
342 10 Saul Fitelberg
Vor allem ist Leverkühn nicht bereit, die Bedingungen einer solchen Zusammen-
arbeit, auf die im Folgenden noch näher eingegangen wird, zu akzeptieren: Zwar
kann sich Fitelberg damit abfinden, dass Leverkühn seine Kompositionen nicht
dirigieren und am Klavier begleiten möchte, die conditio sine qua non besteht
aber darin, dass er bei den Aufführungen seiner Werke anwesend ist.27 „Dies aller-
dings ist Bedingung“ (DF: 584), sagt Fitelberg: „particulièrement à Paris“ (ebd.)
sei Leverkühns „persönliches Erscheinen […] unerläßlich“ (ebd.). Im Laufe sei-
nes Monologs wird sich Fitelberg aufgrund der zurückhaltenden Reaktionen des
Komponisten seines Scheiterns bewusst.
Statt sich gleich zu verabschieden, erlaubt er sich eine kleine „Rache“. Zuerst
kritisiert er das Verhalten Leverkühns, der nichts von anderen Künstler*innen wis-
sen und an den Aufführungen seiner Werke nicht teilnehmen will, indem er es als
„personalistischen Einsamkeitshochmut“ (DF: 587) bezeichnet. Dann überlegt er
laut, ob das Scheitern seines Besuchs überhaupt eine Enttäuschung für ihn sei.28
Danach reflektiert er darüber hinaus noch über den „deutschen Charakter“ (DF:
590) und die Vorteile einer Mediation durch die Juden. Fitelberg hat als Ost-
jude Mut gezeigt, weil er – darauf weist Marquardt hin – an einem Schabbat,
im Krisenjahr 1923, in Bayern aufgetaucht ist.29 Aus Paris ist er mutig gekom-
men, hat aber in Deutschland nichts anderes als Skeptizismus gefunden: Er war
an der Musik Leverkühns auch deswegen interessiert, weil sie seiner Meinung
nach eine bestimmte „qualité d’Allemand“ (DF: 583) aufweist, die im Rahmen
von Konzerten o. Ä. mit neuer, internationaler Musik ein erfolgsversprechendes
Alleinstellungsmerkmal darstellen könnte. Seiner Auffassung nach reiche es für
Leverkühn nicht aus, dass seine Musik bei solchen Konzerten aufgeführt werde:
Als Vertreter der deutschen, neuen Musik sei seine Anwesenheit ausschlaggebend.
Identitätskategorien spielen in den Äußerungen von Fitelberg eine zentrale Rolle,
sowohl in Bezug auf seine Selbstdarstellung als auch auf Leverkühn und dessen
Musik sowie auf seine Vorstellung davon, wie er Leverkühns Musik dem Pariser
Publikum präsentieren möchte.
Im zweiten Teil des Kapitels – d. h.: sobald klar wird, dass sein Angebot keine
Aussichten auf Erfolg hat – kritisiert Fitelberg den Komponisten hemmungslos
und äußert sich daneben über den aufkeimenden Antisemitismus, indem er selbst
nationale bzw. ethnische Stereotypen anspricht:
Sie wissen wohl gar nicht, maître, wie deutsch Ihre répugnance ist, die sich, wenn
Sie mir erlauben, en psychologue zu sprechen, aus Hochmut und Inferioritätsge-
fühlen charakteristisch zusammensetzt, aus Verachtung und Furcht [...]. Zwar ist es
ein deutscher Aberglaube, daß es draußen nur Valse brillante gibt und Ernst nur in
Deutschland. [...] Wir Juden haben alles zu fürchten vom deutschen Charakter, qui
est essentiellement anti-sémitique. (DF: 589f.)
Und später:
Die Deutschen sollten es den Juden überlassen, pro-deutsch zu sein. Sie werden
sich mit ihrem Nationalismus, ihrem Hochmut, ihrer Unvergleichlichkeitspuschel,
ihrem Haß auf Einreihung und Gleichstellung [...] – sie werden sich damit ins
Unglück bringen [...]. Die Deutschen sollten dem Juden erlauben, den médiateur zu
machen zwischen ihnen und der Gesellschaft [...]. (DF: 591f.)
Fitelberg scheint hier Leverkühn aus mindestens zwei Gründen „den médiateur“
machen zu wollen: Einerseits als Impresario, um sich für die Verbreitung von
Leverkühns Werk in der Gesellschaft einzusetzen (und somit auch selbst zu profi-
tieren), andererseits aus politischen Gründen, um zu zeigen, dass eine Kooperation
zwischen einem Deutschen und einem Juden doch noch möglich ist. Es mag nicht
wundern, dass er hinsichtlich der politischen Situation Deutschlands von „Valse
brillante“ spricht und so zugleich auf seine Kenntnisse im musikalischen Bereich
hinweist: Aus dem ganzen Fitelberg-Kapitel kristallisiert sich die starke Verflech-
tung ethnisch-nationaler und beruflicher Identitätskategorien heraus. Auch der
ständige Sprachwechsel verdeutlicht das: In Fitelbergs Worten profiliert sich der
Versuch einer produktiven Mediation zwischen der deutschen und der französi-
schen Sprache, es geht auch um die Beziehung zwischen der deutschen und der
französischen Bevölkerung, die in dieser Zeit (1923) ebenfalls angespannt war.30
Um zu Marquardts Auffassung zurückzukehren, könnte aus Fitelberg in der
Narration ein Sündenbock sowohl aufgrund seiner jüdischen Herkunft als auch
aufgrund seines Berufs, der – wie das Zitat aus Marcello zeigt – ebenfalls Ste-
reotypen ausgesetzt war, werden. Er handelt, obwohl er natürlich mit Leverkühns
Musik Geld verdienen möchte, immer noch im Interesse der Musik. „Es gibt
zwei Seelen in Fitelbergs Brust: den Geschäftsmann und den Kunstkenner“,31
meint Darmaun. Er bezieht sich damit auf das Wesen eines Impresario bzw.
Giulia: „Worte des Fremden“. Stimme und Sprachdifferenz in Elias Canettis Die Stim-
men von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise. In: Klein u. Schnicke (Hrsg.):
Intersektionalität und Narratologie, S. 185–204.
31 Darmaun: Thomas Mann, Deutschland und die Juden, S. 245.
344 10 Saul Fitelberg
einer Impresaria: Ein Musikagent bzw. eine Musikagentin hat mit Konten sicher-
lich viel zu tun, ist aber zugleich sehr bewandert im musikalischen Bereich,32
sodass er oder sie manchmal für die „Durchsetzung echter Kunst“33 bankrott
stirbt. Fitelberg leugnet nicht, dass sein erstes Projekt, das „Théâtre des fourberies
gracieuses“ (DF: 580), gescheitert ist. Man könnte zudem an seinen Kompeten-
zen zweifeln und sich fragen, ob ein Jahr an der Sorbonne34 und die Kenntnisse
berühmter Persönlichkeiten des damaligen Pariser Kulturlebens ausreichend seien,
um als Kunstkenner bezeichnet zu werden.
Ein Teil der Doktor Faustus-Forschung betrachtet Fitelberg als Verführer.
So vertritt beispielsweise Schmidt-Schütz anhand des Mantel-Zitats die Auffas-
sung,35 dass die Diktion „bereits klar [mache], daß der Konzertagent sich in die
Gruppe der ,Verführer‘-Gestalten“36 einreihe. Und Evelyn Cobley fügt hinzu: Der
Komponist „cannot be tempted by the world when it visits him in the guise of
Saul Fitelberg“. Wie bereits antizipiert, gehört allerdings auch Frau von Tolna zum
„Kapitel ,Welt‘“ (DF: 575) von Leverkühns Biographie und von der lässt sich der
fiktive Komponist doch finanzieren. Und zwar schon vor Fitelbergs Erscheinen in
Pfeiffering: Das Angebot des Impresarios anzunehmen, wäre ein Verstoß gegen
die Bedingungen des Finanzierungsverhältnisses. In dieser Hinsicht kann Fitel-
berg also als Verführer betrachtet werden. Dem Vergleich zwischen Fitelberg und
Frau von Tolna widmet sich der nächste Unterabschnitt.
Es gilt nun, die beiden Figuren, Saul Fitelberg und Frau von Tolna, näher zu ana-
lysieren und auf ihre Funktion im Roman einzugehen. Innerhalb der Ordnung des
32 Toelle erklärt, die berühmtesten Impresari in Mailand, Venedig oder Parma seien oft
ausgebildete Tänzer*innen oder Sänger*innen gewesen. Siehe Toelle: Oper als Geschäft,
S. 20 ff.
33 Ebd.
34 Siehe DF: 580.
35 „Und dennoch, figurez-vous, bin ich gekommen, Sie zu entführen, Sie zu vorübergehen-
der Untreue zu verführen, Sie auf meinem Mantel durch die Lüfte zu führen und Ihnen
die Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeit zu zeigen, mehr noch, sie Ihnen zu Füßen zu
legen…“ (DF: 579). Man sieht hier die Anspielung auf die Versuchung Christi durch den
Teufel.
36 Schmidt-Schütz: Doktor Faustus zwischen Tradition und Moderne, S. 145. Siehe auch
Romans scheint es kein Zufall zu sein, dass der Musikagent gleich nach dem 36.
Kapitel vorgestellt wird, das von der reichen Mäzenin handelt.37 Die Identität der
Frau von Tolna stellt bis heute ein Rätsel für die Doktor Faustus-Forschung dar –
obwohl der Großteil der Forscher*innen sie für Hetaera Esmeralda hält, wofür es
auch diverse Argumente gibt:38 Zunächst die im Esmeralda-Kapitel dieser Arbeit
genannten Eigenschaften einiger Schmetterlinge, nämlich die Unsichtbarkeit und
die Flüchtigkeit.39 Frau von Tolna ist eine große Verehrerin Leverkühns, die
sein Werk und die Aufführungen seiner Kompositionen finanziell unterstützt und
seine Wirkungsstätte besichtigt, ohne jemals von ihm gesehen zu werden.40 Die
Unsichtbarkeit41 ist sowohl die Haupteigenschaft dieser Figur als auch Bedingung
für das Unterstützungsverhältnis zu Leverkühn: So entsteht eine Verbindung mit
den Schmetterlingen in Jonathan Leverkühns Büchern, die so gut getarnt waren,
dass man sie für Blätter halten könnte. Ein anderes Argument wäre die ange-
griffene Gesundheit Frau von Tolnas, die auf die Syphilis Esmeraldas anspielen
könnte:
Sie lebte in Paris, Neapel, Ägypten, im Engadin, von Ort zu Ort begleitet von einer
Jungfer, einem männlichen Angestellten, der etwas wie einen Quartiermacher und
Reisemarschall abgab, und einem allein ihren Diensten gewidmeten Arzt, was auf
delikate Gesundheit schließen ließ. (DF: 568)42
Aus dem obigen Zitat geht auch der flüchtige und mondäne Charakter von Frau
von Tolnas Lebensstil hervor. So Zeitblom:
dem Leser nicht vor Augen stellen, von ihrem Äußeren nicht das kleinste Zeugnis geben,
denn ich habe sie nicht gesehen und nie eine Beschreibung von ihr empfangen […]“.
42 Dies allerdings ist die Schlussfolgerung Zeitbloms, denn Frau von Tolna könnte auch
Weiters werden der Ring aus „hellgrüne[m] Ural-Smaragd“ (DF: 569), den Lever-
kühn zusammen mit dem ersten Brief bekommt43 sowie die ungarische Herkunft
der Mäzenin erwähnt. Zeitblom präzisiert die Übersetzung des Namens ,Press-
burg‘, „Poszony“ (DF: 225), ins Ungarische, wo die intime Begegnung mit der
Prostituierten stattfindet. Auf diese Weise schafft er einen symbolischen Zusam-
menhang, der sich auf die Bedeutung des Namens ,Esmeralda‘ sowie auf das Land
Ungarn stützt.44 Schließlich hätte Esmeralda (und das könnte eine Erklärung für
den Nachnamen bieten) einen reichen Aristokraten heiraten können, Herrn von
Tolna, der jedoch beim Pferderennen tödlich verunglückt war.45
Es gibt auch Argumente, die gegen diese Identifikation sprechen. Was die
Anspielung auf den Schmetterling angeht, könnte man darauf hinweisen, dass
diese Insekten „ein ephemeres Leben fristen“ (DF: 26). Die intime Begegnung
mit Esmeralda lässt sich auf Mai 1906 datieren,46 wo sie bereits krank ist. 1927
– zur Zeit der Uraufführung der Apocalipsis cum figuris sowie der ersten Schil-
derung der Figur Frau von Tolnas –47 müsste sie also aus einer zeitlogischen, die
Intradiegese berücksichtigenden Perspektive schon längst tot sein. Darüber hinaus
trägt der geschenkte Ring – laut Zeitblom „Symbol der Bindung, der Fessel, ja der
Hörigkeit“ (DF: 570) – „die Anfangsworte eines Apollon-Hymnus des Kallima-
chos“ (DF: 570). Der Verweis auf den Gott Apoll, Schützer der Künste, bestätigt
die Auffassung eines Verhältnisses „im rein Geistigen“ (DF: 571) zwischen dem
Komponisten und der Verehrerin, das wenig Dionysisches enthält. Unter diesem
Aspekt ist die Verbindung Frau von Tolnas mit Esmeralda fragwürdig, denn im
Fall der Prostituierten handelt es sich um eine andere Art von Beziehung. Ein letz-
tes zu betrachtendes Element hat mit der Darstellung Esmeraldas als Femme fatale
durch Zeitblom zu tun. Oft wird diese symbolische Figur, nicht selten im Namen
der Kunst, geopfert.48 Wenn also die verschleierte Frau, die bei der Beerdigung
Leverkühns erscheint, zugleich Esmeralda und Frau von Tolna ist, wäre daraus
zu schließen, dass in Doktor Faustus die Femme fatale nicht geopfert wurde.
Dies wäre im Sinne einer Erneuerung des Typus durchaus möglich; zweifelsohne
wird allerdings Frau von Tolna nicht als Femme fatale, sondern vielleicht eher als
Femme fragile dargestellt.
Abgesehen von der Identitätsproblematik verkörpern Saul Fitelberg und die
ungarische Witwe zwei antithetische Formen und Konzeptionen des Musikbe-
triebs, die in Adornos Philosophie geschildert werden. Der Philosoph schreibt
dazu:
Die nicht konformierende Musik ist vor solcher Vergleichgültigung des Geistes,
der des Mittels ohne Zweck, nicht geschützt. Wohl bewahrt sie ihre gesellschaft-
liche Wahrheit kraft der Antithese zur Gesellschaft, durch Isolierung, aber diese
läßt wiederum auch sie selber verdorren. Es ist, als wäre ihr der Stimulus zur
Produktion, ja die raison d’être entzogen. [...] Unter den Symptomen solcher Läh-
mung ist das sonderbarste vielleicht, daß die fortgeschrittene Musik, welche durch
Autonomie eben jenes demokratisch breite Publikum von sich stieß, das sie einmal
durch Autonomie erobert hatte, nun an die Ära vor der bürgerlichen Revolution
zugehörige und in ihrem Wesen Autonomie gerade ausschließende Einrichtung der
Auftragskomposition sich erinnert. [...] Fast alle exponierten Stücke, die überhaupt
noch fertig werden, sind nicht auf dem Markt verkäuflich, sondern von Mäzenen
oder Institutionen bezahlt. Der Konflikt zwischen Auftrag und Autonomie kommt
in widerwilliger, stockender Produktion an den Tag. Denn weit mehr noch als in der
absolutistischen Ära sind heute der Mäzen und der Künstler, die immer schon in
prekärem Verhältnis standen, einander fremd. Der Mäzen hat keinerlei Beziehung
zum Werk, sondern bestellt es als einen Sonderfall jener „kulturellen Verpflich-
tung“, die selber bloß die Neutralisierung der Kultur bekundet; für den Künstler
aber reicht die Festlegung auf Termine und bestimmte Gelegenheiten schon hin,
um die Unwillkürlichkeit, deren das emanzipierte Ausdrucksvermögen bedürfte,
zu tilgen. Es herrscht historisch prästabilierte Harmonie zwischen der materiellen
Nötigung zur Auftragskomposition durch Unverkäuflichkeit und einem Nachlassen
der inneren Spannung, das zwar den Komponisten dazu befähigt, mit der in unbe-
schreiblicher Anstrengung errungenen Technik des autonomen Werkes heteronome
Aufgaben zu erfüllen, dafür aber vom autonomen Werk ablenkt“. (PhnM: 28f.)
Der „Konflikt zwischen Auftrag und Autonomie“ kommt auch in Doktor Faustus
durch die zwei Figuren zum Tragen. Fitelberg bietet Leverkühn Reichtum und
Popularität an. Laut Adorno ist aber die radikale Musik „die Antithese gegen die
Ausbreitung der Kulturindustrie über ihr [sic] Bereich“ (PhnM: 15), sie macht
„spröde gegen die ratio der Verkäuflichkeit“ (ebd.): Die Welt der Impresari lässt
sich folglich schwer mit ihr vereinbaren, denn diese Form der Musikfinanzie-
rung ist vom Geschmack des Publikums nie komplett unabhängig. Auch wenn
Impresari wie Fitelberg für keine bekannten Operntheater arbeiten, sondern sich
348 10 Saul Fitelberg
für die Neue Musik einsetzen, müssen sie sich bestimmten Bedingungen des
Marktes beugen: Die bloße Aufführung des Werkes in Abwesenheit seines*seiner
Urheber*in ist beispielsweise nicht erfolgsversprechend, die Isolierung des*der
Künstler*in kann diese Form der Musikfinanzierung nicht gewährleisten. Die
Impresari wissen als Geschäftsmänner und- frauen und ebenso als Kunstkennende,
wie weit sie gehen dürfen – so Toelle:49
Er[*Sie] musste das Schicksal berechnen können und möglichst alle Zufälle
ausschalten, die Erfolg oder Misserfolg einer Produktion oder eines Abends beein-
flussen konnten, und er[*sie] musste die Reputation, die Qualität, den Wert und die
Erfolgsaussichten des zu erwartenden spettacolo mit der Situation am Theater und
in der Stadt und den Erwartungen des Publikums in Beziehung setzen.
dadurch noch deutlicher wird, dass die Mäzenin, also die Frau, dem Komponis-
ten, also dem Mann, den Ring schenkt. Leverkühn ist sich über die Bedingungen
eines solchen exklusiven Verhältnisses im Klaren und lässt sich von Fitelberg
nicht verführen.
Schließlich gilt es an dieser Stelle auf eine Dichotomie einzugehen, die sich im
Roman profiliert, nämlich die Dichotomie Frankreich – Ungarn. Es mag bereits
aufgefallen sein, dass Frankreich, und insbesondere Paris, einen unrealisierba-
ren Traum darstellt. Marie Godeau lebt in der französischen Hauptstadt, will
aber Leverkühn nicht heiraten. Schwerdtfeger wird, kurz bevor er nach Paris
umziehen soll, getötet. Und der Impresario aus Paris beabsichtigt, Leverkühns
Musik in diversen Städten zu präsentieren – u. a. auch in Paris – und den
Komponisten in die dortigen Zirkel von Intellektuellen einzuführen. Sein Ange-
bot wird abgelehnt.51 Ganz im Gegenteil dazu stellt Ungarn einen erfüllbaren
Traum dar. Leverkühn begegnet der Prostituierten in Leipzig, findet sie dann in
der (damals: Monarchie Österreich-Ungarn) ungarischen Stadt Pressburg wieder.
Frau von Tolna kommt aus demselben Land wie Esmeralda: In ihrem Schloss
verbringt Leverkühn zwölf Tage (wieder die Zahl zwölf, die an die Zwölfton-
technik und an die Zahl zwei erinnert)52 mit Schwerdtfeger, was Zeitblom als
„leicht exzentrische[] Episode“ (DF: 574) bezeichnet. Nationalbedingte Formen
des kulturellen Lebens, das liberale Paris vs. das traditionsgebundene Ungarn,
treten durch die zwei Figuren Frau von Tolna und Saul Fitelberg zutage; zudem
wird, worauf Schmidt-Schütz hinweist, im Fitelberg-Kapitel die Stadt Paris auch
mit Pfeiffering kontrastiert.53 Das bayerische Dorf, das der Impresario wohl mit
Absicht unzutreffend als „Idyll“ (DF: 578) bezeichnet, hat mit der französischen
Metropole in den 1920er Jahren, wahrscheinlich das damalige kulturelle Zen-
trum Europas, wo man Veranstaltungen aller Art besuchen und auf Picasso, Satie,
Joyce, Miller, usw. treffen konnte, wenig gemein, auch unter politischen Gesichts-
punkten nicht. Zusammenfassend liegt es nahe, dass Fitelberg hauptsächlich vor
der Unverkäuflichkeit des Musikwerkes der Neuen Musik und vor dem in Pfeif-
fering geäußerten Misstrauen flieht. Selbst die Begründung für diese Flucht ist
in einem intersektionalen Denkparadigma angesiedelt, denn sie vereint beruf-
liche und politisch-ethnische Aspekte und weist folglich noch einmal auf die
Notwendigkeit hin, diese Figur aus dieser Forschungsperspektive zu untersuchen.
51 Siehe auch Darmaun: Thomas Mann, Deutschland und die Juden, S. 249.
52 Vgl. 6.1.2.
53 Vgl. Schmidt-Schütz: Doktor Faustus zwischen Tradition und Moderne, S. 174.
350 10 Saul Fitelberg
Der Figur des jüdischen Impresarios ist in Manzonis Doktor Faustus das dritte
Bild des zweiten Aktes gewidmet. In diesem Abschnitt sei zuerst der Frage nach-
gegangen, warum die Oper nicht alle Romanfiguren übernimmt, Saul Fitelberg
aber beibehält. Sogar Serenus Zeitblom, die Erzählinstanz, bleibt am Rande von
Manzonis Werk; ganz zu schweigen von Schwerdtfeger, der nicht einmal erwähnt
wird. Im Gegensatz dazu lässt Manzonis Doktor Faustus Fitelberg eine ganze ca.
siebenminütige Episode hindurch Adrian Leverkühn ohne Erfolg sein Angebot
vorstellen. Durch ihn wagt die Oper in einem der renommiertesten Operntheater
der Welt über die Möglichkeit zu reflektieren, wie man sie ökonomisch fördern
könnte, und zwar zusammen mit denjenigen, die noch in die Oper gehen und
sie somit auch finanzieren. Das Bild lässt sich darüber hinaus auch als Refle-
xion über die Musikgattung und ihre Zukunft begreifen, denn die Oper ist im
Rahmen der Neuen Musik, die zum Teil der Idee der absoluten, rein instrumenta-
len Musik verpflichtet ist, zweifelsohne eine kontroverse Gattung.54 Sorg erklärt:
„Mit Fitelberg zieht am offensichtlichsten Manzonis Kritik an einem marktori-
entierten Kunstbegriff in die Oper ein“.55 Der Impresario sei seiner Auffassung
nach als kapitalistischer Versucher porträtiert und in diesem Bild kritisiere die
Oper die exzessive Vermarktung der Musik.56 Die wiederholte Verwendung des
Falsetts konnotiert den Musikagenten als Lügner noch deutlicher: Das italienische
Wort falsetto ist der Diminutiv vom Adjektiv falso (,falsch/unehrlich‘); darüber
hinaus erzeugt diese Art von Gesang einen Eindruck von Künstlichkeit. Nicht
54 Die Frage nach der Zukunft der Oper ist immer noch aktuell: Vgl. Beyer, Barbara,
Kogler, Susanne u. Roman Lemberg (Hrsg.): Die Zukunft der Oper. Zwischen Hermeneutik
und Performativität. Berlin: Theater der Zeit 2014.
55 Sorg: Beziehungszauber, S. 206.
56 Vgl. ebd., S. 205.
10.2 Vom Roman zur Musik 351
selten findet diese Gesangstechnik dann Verwendung, wenn Fitelberg die Namen
berühmter Persönlichkeiten zitiert. Es wirkt so, als wolle die Oper unterstreichen,
dass hier der Impresario den Höhepunkt seiner Lügen und Überredungsstrategien
erreicht (Abbildung 10.1) :
Abbildung 10.1 Die Verwendung des Falsetts – grafisch durch Punkte auf den ent-
sprechenden Tönen signalisiert – bei der Erwähnung von Eigennamen (M-DF: 142 f., T.
275–279)
Dennoch ist die Figur des jüdischen Impresarios, der allerdings bei Manzoni
lediglich als Impresario inszeniert wird (andere Identitätskategorien spielen in
der Oper selten eine Rolle), auch eine komische: „Mit der Verführungsabsicht
geht auch eine Komik einher“,57 präzisiert Sorg. Manzonis Fitelberg scheint aus
einer opera buffa zu stammen, da er sich in der Aufnahme der Uraufführung auf
der Bühne ständig bewegt und sogar Leute aus Paris imitiert, wie das folgende
Textbeispiel zeigt:
SF: (parlato, con un timbro di voce diverso; come mimando un altro ipotetico
personaggio; con tono molto salottiero) Madame, oh madame! Que pensez vous,
madame? On me dit, madame, que vous êtes fanatique de musique; tout le monde
sait, madame, que votre jugement musical est infaillible!“. (M-DF: 144, T. 290)58
Genauer gesagt hat diese Szene eine Intermezzo-Qualität, weil sie sich zwi-
schen den Echo-Bildern befindet: „Die Komik dieses dritten Bildes hellt für einen
Moment die tragisch-düstere Geschichte um Leverkühns Neffen auf und besitzt
damit auch eine retardierende Funktion“,59 unterstreicht Sorg.60 Daher lässt sie
eher an ein komisches Zwischenspiel vor dem tragischen Ende eines italienischen
dramma per musica aus dem 18. Jahrhundert denken.
57 Ebd., S. 208.
58 „(gesprochen,mit einem anderen Timbre der Stimme; als ob er eine andere hypothetische
Figur imitieren würde; mit starkem Salonton)“. Für den restlichen Text vgl. DF: 581 und
584 f.
59 Sorg: Beziehungszauber, S. 208.
60 Vgl. 11.2.3.
352 10 Saul Fitelberg
Was die Sprache von Manzonis Fitelberg angeht, kann man einige kleine
Unterschiede zu Manns Roman bemerken. Zum Beispiel die Dominanz des Fran-
zösischen. In der Oper wird zu einem Großteil auf die Mischung zweier Sprachen,
was hingegen den Roman prägt, verzichtet: Der Impresario hätte teils auf Ita-
lienisch, teils auf Französisch sprechen können. Vielleicht thematisiert die Oper
aufgrund der programmatisch deklarierten „sgermanizzazione“61 des Romans die
Problematik des Antisemitismus, der im Roman durch Fitelberg wahrscheinlich
am deutlichsten hervortritt, kaum und lässt Fitelberg weder Deutsch noch Italie-
nisch sprechen. An vereinzelten Stellen wird darauf hingewiesen, etwa „ça c’est
bien allemand!“ (M-DF: 147, T. 306), „Une confusion tragique – Wagner…“ (M-
DF: 155, T. 361 ff.) und „Deutschland…Deutschland!“ (M-DF: 158, T. 385 ff.).
Durch das Französische gewinnt aber der Bezug auf das kulturelle Leben in
Frankreich an Bedeutung und Fitelberg wird eher als jüdischer Impresario denn
als französischer dargestellt.62
Formal betrachtet ist außerdem Fitelbergs Episode in der Oper ein echter
Monolog vom Anfang bis Ende, oder, genauer gesagt, ein Solo des Sängers: Nie-
mand stellt den Agenten vor, er betritt plötzlich die Bühne und präsentiert sich.
Und niemand kommentiert, was er sagt. Ein Grund dafür ist, dass sich Man-
zoni für die Verwendung der Romanpassagen in der direkten Rede entscheidet
und im entsprechenden Kapitel ist er die einzige Figur, die sich auf diese Weise
ausdrückt.63
Sorg unterstreicht, dass Manzoni hier mit Klangmöglichkeiten experimentiert,
„indem Geräusch und Klang zusammengeführt werden“.64 Er behauptet außer-
dem, die Musiksprache stehe „gegen die Verführungsversuche Saul Fitelbergs“.65
Es scheint aber, dass die „abgerissene[n] Motive der Streicher“66 sowie der ganze
Musikverlauf hervorragend zur tragikomischen Figur passen und ihre Besonder-
heit noch deutlicher unterstreichen. Ein Beweis dafür ist, dass seine Rede nie vom
Orchester zugedeckt, sondern einfach begleitet wird. Die Zusammenführung von
Klang und Geräusch könnte sich zudem im Medium der Musik auf Fitelbergs
„sgermanizzazione“) 5.2.1.1.
64 Sorg: Beziehungszauber, S. 205.
65 Ebd.
66 Ebd., S. 208.
10.3 Fazit 353
Versuch beziehen, die Neue Musik an die Welt der Impresari anzupassen, sie ver-
käuflicher und mondäner zu machen. Fitelbergs Angebot wird aber in der Oper
komplett ignoriert: Eher als die Einsamkeit des Kunstwerkes wird hier die Ein-
samkeit der Welt der Impresari, die – wie Adorno in der Philosophie der Neuen
Musik darlegt – mit der neuen musikalischen Situation nicht kommunizieren kann
und folglich für lächerlich erklärt wird. In Manzonis Oper treten Adornos Auffas-
sungen in umgekehrter Form auf: Nicht mit der Neuen Musik will keine*r „etwas
zu tun haben […], die Individuellen so wenig wie die Kollektiven“ (PhnM: 126).
Vielmehr „verhallt“ (ebd.) das Angebot des Impresarios Saul Fitelberg in der Oper
und im Roman „ungehört, ohne Echo“ (ebd.) und wird dann schnell vergessen.
10.3 Fazit
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Echo
11
Nepomuk Schneidewein ist das vierte Kind von Leverkühns Schwester Ursula. Es
kommt im Jahr 1928 nach Pfeiffering, da sich seine Mutter um ihn nicht kümmern
kann, weil ihr der Arzt einen Anstaltsaufenthalt verschrieben hat. Er kommt aber
auch, um sich „in oberbayrischer Landluft“ (DF: 666) von den Masern zu erholen.
Nepomuk nennt sich selber Echo und ist ein sehr liebreizendes Kind, von dem
eine enorme Anziehungskraft ausgeht und das den Eindruck vermittelt, aus einer
anderen Welt zu stammen. Als Echo in Pfeiffering ankommt, beugen sich z. B. die
Frauen „mit gerungenen Händen zu dem Männlein herab […] und r[u]fen Jesus,
Maria und Joseph“ (DF: 667). Er hat blondes Haar und Augen „vom klarsten
Blau“ (ebd.). Wenn er spricht ist aufgrund seines Akzents und einiger Redens-
arten die schweizerische Herkunft seines Vaters zu erkennen.1 Zugleich spricht
er auf altertümliche Weise, denn er benutzt mittelhochdeutsche Wörter.2 Er ist
also ein sehr merkwürdiges, „fast überirdisch[es]“3 Kind.4 Auch die Darstellung
zerin Gret Moser, gewesen sein: „Wählte mir Bilder von Frido für die Nepomuk-Episode
aus“ (TB 1: 04.07.1943, S. 596), schreibt der Autor in seinem Tagebuch. Nicht nur das
Aussehen soll er seinem Enkel entliehen haben, sondern auch die Ausdrucksweise: „Mit-
tags mit dem kleinen Fridolin auf der Promenade. Wenn es vorüber ist, sagt er ,habt‘.
Dies für Nepomuk Schneidewein’“ (Ent: 25). Tschechne spricht diesbezüglich von „Lie-
beserklärung großväterlicherseits“. Frido Mann äußerte sich lange Zeit nicht über die
Echo-Episode, erst 1997 hielt er einen Vortrag über die Beziehung des Modells zur
literarischen Figur in der Heimatstadt des Großvaters. Sehr groß soll die Wirkung der
Echo-Episode auf die ersten, vor allem weiblichen Leser*innen des Romans, gewesen
sein, wie man der Entstehung des „Doktor Faustus“ entnehmen kann. Erika Mann „hatte
des Erzählers verstärkt den Eindruck, Echo stamme aus einer anderen Welt: Sein
Aussehen lasse zugleich an ein „Elfenprinzchen“ (DF: 667) und – so Winkler –
an einen Engel, eine Art Gotteskind denken.5 Es scheint kein zufälliges Text-
element zu sein, dass sowohl das Wort ,Echo‘ als auch ,Elfen‘ oder ,Engel‘ mit
dem Buchstaben E beginnen. Auch ist mit dem realen Namen des Kindes eine
religiöse Symbolik verbunden, insofern Johannes von Nepomuk ein böhmischer
Märtyrer war.6 Der Verweis auf Johannes von Nepomuk verstärkt die christliche
Symbolik, indem diese um das Motiv des Opfers bereichert wird: Der Pfarrer von
Pfeiffering schenkt Echo „ein buntes Bild des Lammes“ (DF: 672).7
Das Kind bringt in Pfeiffering als eine Art Erzengel oder – so Börnchen –
„kleiner Hermes“8 eine Botschaft von Liebe, Zärtlichkeit und „Transparenz“ (Ent:
168), die der Autor in der Entstehung des „Doktor Faustus“ folgendermaßen
beschreibt:
Ich schilderte den zarten Kömmling im Elfenreiz, steigerte eine Zärtlichkeit meines
eigenen Herzens ins nicht mehr ganz Rationale, zu einer Lieblichkeit, welche die
Leute heimlich an Göttliches, an ein von hoch- und weither zu Besuch Kommendes,
eine Epiphanie glauben läßt. Vor allen Dingen: ich ließ den kleinen Boten seine
wunderlichen Sprüche machen, wobei ich Stimme und Akzent des Enkelknäbchens
im Ohr hatte. (Ent: 168)
sich nämlich, dem Jahreswechsel zu Ehren, nach durchlesener Nacht in die Pflege eines
,beauty shop‘ begeben, und nachmittags, beim Lesen der Echo-Kapitel, war das ganze
kunstvolle make-up, Wimperntusche und alles, von Tränen verschwemmt, ihr schwärzlich
übers Gesicht geflossen“ (Ent: 174). Die Frau Alfred Neumanns habe „die Nacht nicht
schlafen können und nur an das Kind immer denken müssen“ (Ent: 179). Und die Über-
setzerin in London soll Mann gefragt haben: „How could you do it?“ (Ent: 169). Die
Kapitel, so Mann in der Entstehung, mussten auf diese Weise beendet werden. Tschechne,
Wolfgang: Vorwort. In: Mann, Frido: „Echo“ zwischen Tod und Leben. Betrachtungen
zum Verhältnis von Figur und Modell in Thomas Manns „Doktor Faustus“. Hrsg. v. Lisa
Dräger und Wolfgang Tschechne. Lübeck: DrägerDruck 1998, S. 9–19; vgl. Mann, F.:
„Echo“ zwischen Tod und Leben. u. Ent: 169.
5 Vgl. Winkler: Das romantische Kind, S. 151 u. Kaufmann, Fritz: „Dr. Fausti Weheklag“.
entspricht, „daß sich Leverkühns christomorphe Züge in dem Moment verstärken, wo das
Bild des seligen Kindes zurückgenommen und in ein Bild unschuldigen Leidens verkehrt
wird“. Marx, Friedhelm: „Ich aber sage Ihnen…“. Christusfigurationen im Werk Thomas
Manns. Frankfurt am Main: Klostermann 2002, S. 279.
8 Börnchen: Kryptenhall, S. 295.
11.1 Echo und das Echo-Motiv 357
Diese Botschaft, die das Kind auf der intradiegetischen Ebene der histoire 1928
mit sich bringt, „soll nicht sein“ (DF: 692; Herv. i. O.): Das Kind stirbt nach einer
qualvollen Krankheit an Meningitis.
Wird die Figur Echo im Roman in den Blick genommen, so muss auch
die komplexe Verflechtung von Musik-, Zeichentheorie, Rhetorik und Mytholo-
gie berücksichtigt werden, die sich mit dem Spitznamen des Kindes verbindet
und die hauptsächlich vom intramedialen Bezug auf Ovids Metamorphosen aus-
geht, besonders im Rahmen einer intermedial angelegten Studie. In Anlehnung
vor allem an Börnchens Studie wird diese Deutungsebene des Romans, deren
Untersuchungsgegenstand phono- und prosopoietische Elemente sowie intra- und
intermediale Bezüge bilden, vor allem im ersten Abschnitt ausgelotet.9 Vor dem
Hintergrund des Interpretationsvorschlags von Börnchen, der zu Recht die Rolle
des intramedialen Bezugs auf Ovids Metamorphosen unterstreicht,10 geht dann
der erste Abschnitt des vorliegenden Kapitels einen eigenen Weg: Er bezieht auch
den ebenfalls mit Echo verbundenen intermedialen Bezug auf Beethovens Sonate
opus 111 in die Analyse ein und schaut schließlich mithilfe von Kategorien aus
der Intermedialitätsforschung auf die Analyse als Ganzes zurück. Zweck dieser
Rückschau am Ende des ersten Abschnitts ist eine Definition der Funktion des
Echo-Motivs aus intermedialer Sicht für die Bedeutungskonstitution von Doktor
Faustus. Im zweiten Teil des Kapitels liegt der Fokus auf der Charakterisierung
der Figur Echo in den Kompositionen von Fine, Henze und Manzoni: Ihrer Ana-
lyse lässt sich nicht nur entnehmen, wie das Kind im jeweiligen Werk dargestellt
wird und wie dies im Medium der instrumentalen Musik oder der Oper überhaupt
möglich ist, sondern auch, wie sich die Werke mit dem transmedialen, jedoch –
zumindest implizit – immer auf akustische Phänomene verweisenden Motiv des
Echos auseinandersetzen.
In diesem Abschnitt sei das Echo-Motiv von Doktor Faustus zunächst aus
handlungs- und figurenbezogener Perspektive behandelt, um dann Figuren und
Inhalte zu abstrahieren und ihrer phono- und prosopoietischen Funktion – oder,
allgemeiner gefasst ihrer allegorischen Funktion – nachzugehen. In diesem zwei-
ten Schritt wird das Augenmerk sowohl auf die Echo-Kapitel als auch auf das
achte Kapitel von Thomas Manns Doktor Faustus samt seinem intermedialen
Bezug auf Beethovens Klaviersonate opus 111 sowie erneut auf den bedeu-
tenden intramedialen Bezug auf Adornos musikphilosophisches Werk gerichtet.
Der letzte Teil des Abschnitts widmet sich der intermedialen Kategorie der Sys-
temkontamination nach Rajewsky und legt dementsprechend den Fokus auf den
gesamten Roman. Dabei werden auch musikwissenschaftliche Definitionen des
Echos und der barocken Echo-Wirkung miteinbezogen.
11.1.1 Echo-Wirkungen
Doktor Faustus könnte nicht nur den Faust-Mythos, sondern auch den Echo-
und Narziss-Mythos neu erzählen. Der Spitzname des Kindes stellt eine expli-
zite Referenz auf die Figur aus Ovids Mythos dar, die im Sinne einer associative
quotation einer Komplettierung bedarf: Aus Ovids Mythos ist die Figur Narziss
nicht mehr wegzudenken, weil die mythische Echo ihre Funktion in der Hand-
lung nur in Bezug auf Narziss erhält. Dass Adrian Leverkühn im Rahmen von
Zeitbloms Darstellung im Roman Narziss verkörpern könnte, bestätigen Charak-
tereigenschaften wie seine Indifferenz, seine Kälte und seine Liebe nur für sich
selbst und für seine Musik, obwohl er doch wie Narziss von Männern und Frauen
geliebt wird.11 Zwar soll Narziss im Gegensatz zu Leverkühn weder von einem
Mann noch von einer Frau jemals „gerührt“12 worden sein: Wird aber der Mythos
als Deformationsverhältnisse voraussetzendes System angesehen, so sollte diese
Modifikation bei Thomas Mann kaum überraschen.13 Die Berührung durch Esme-
ralda, die zusammen mit den anderen Prostituierten des Leipziger-Bordells als
„Nymphe der Wüste“ (DF: 208) bezeichnet wird (und die Mutter von Narziss ist
eben eine Nymphe, genauer eine Wassernymphe),14 führt aber zu einem steri-
len, selbstbefriedigenden Geschlechtsakt. Weitere Modifikation des Mythos wäre
zudem, dass das Kind Echo keine Nymphe, immerhin aber ein kleiner Elf ist, der
gänzlich oder teilweise wiederholt, was er hört oder wahrscheinlich irgendwo ein-
mal gehört hat.15 Adrian Leverkühn versucht, das Kind, das ihn liebt, ebenfalls zu
11 Siehe Naso, Publius Ovidius: Metamorphosen (im Folgenden als Ovid: Metamorphosen).
Hrsg. u. übers. v. Gerhard Fink. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2004, Liber III,
S. 104, V. 351–355.
12 Ebd., S. 105.
13 Barthes: Mythen des Alltags, S. 268.
14 Vgl. Ovid: Metamorphosen, S. 104, V. 341 f.
15 Vgl. DF: 684: „,Übrigens sprechen wir von ihm‘, fuhr ich [Zeitblom] fort, ,als hätte er
selbst sich diese Dinge ausgedacht. Hast du ihn je gefragt, woher er sie hat? Von seinem
Vater oder von wem?‘
11.1 Echo und das Echo-Motiv 359
lieben: Der Komponist ähnelt somit Narziss, der herausfinden will, wer ihn liebt
und seine Worte wiederholt.16 Vielleicht aufgrund des Verbots des Teufels oder
seiner Unfähigkeit, andere Menschen als sich selbst zu lieben, kann Leverkühn
Echos Liebe, die, weitere Modifikation, eine andere Art von Liebe im Vergleich
zu der der mythischen Echo zu Narziss ist, nicht immer erwidern: Manchmal
erlaubt er ihm, seinem Komponieren beizuwohnen, manchmal sieht er ihn ganze
Tage nicht, scheint „ihn zu meiden und sich den zweifellos geliebten Anblick zu
verbieten“ (DF: 678). Dieses letzte Verhalten kulminiert dann in der Äußerung „es
soll nicht sein“ (DF: 692; Herv. i. O.): Leverkühn beschäftigt sich länger als Nar-
ziss mit der Frage, ob er doch einen anderen Menschen lieben soll, verneint dies
jedoch im Endeffekt ebenfalls.17 Kurz nach dieser Entscheidung stirbt der schon
sehr kranke Echo oder zumindest stirbt sein Leib wie die mythische Figur: Was in
ihm noch lebt, „ist der Klang nur“,18 der sich etwa in jener „Echo-Wirkung“ (DF:
703) der Weheklag wieder äußert, die vielleicht auch für das Klagen von Narziss
und später der Dryaden („planxerunt dryades: plangentibus adsonat Echo“19 ) ste-
hen könnte.20 Die exzessive Liebe zu sich selbst führt zum Tod: Das Einzige,
was von Narziss bleibt, ist eine Blume „foliis medium cingentibus albis“,21 von
Leverkühn bleiben ebenfalls die Blätter der Biographie seines Freundes Zeitblom:
das Kind doch liebt und dass dies einen Verstoß gegen das Verbot des Teufels – „Du darfst
nicht lieben“ (DF: 363) – darstellt. Vgl. u. a. von Rohr Scaff, Susan: The Duplicity of the
Devil’s Pact: Intimations of Redemption in Mann’s Doktor Faustus. In: Monatshefte 87
(1995) H. 2, S. 151–169, hier: S. 152. Jedenfalls scheint der „Teufel“ diese Liebe nicht
zu erlauben.
18 Ebd., S. 109.
19 „Auch die Dryaden klagen, es klagt mit den Klagenden Echo“. Ebd., S. 112, V. 507
(Übers. S. 113).
20 Dazu vgl. auch Voß, Torsten: Von der Stimme zur Schrift. Mythologisch-metaphorische
Die Gattung der Biographie entspricht dem Topos „vom ,toten Buchstaben‘, der
dennoch das Leben bewahrt“.22
Nun sei der Frage nachgegangen, wie Doktor Faustus – nochmals Börn-
chen zufolge – „seine Musiktheorie mit der impliziten Text- und Zeichentheorie
des Echo-Mythos“23 überblendet: In diesem Fall liegt der Fokus eher auf
musiktheoretisch-bezogenen Aspekten des Romans. Denn Echo ist – vergleichbar
zu Ovids Mythos selbst, der als „Ätiologie der Prosopopöie“24 aufgefasst werden
kann – nicht nur eine Figur von Doktor Faustus, sondern auch Personifikation
des natürlichen Phänomens des Widerhalls. Als Erstes sei hier auf Brinkempers
Definition des Echos in Abgrenzung zur Spiegelung (und teilweise in Anlehnung
an Roland Barthes) verwiesen:25
Die Begegnung mit Nepomuk kommt für die Leser*innenschaft nicht völlig
unerwartet, denn sowohl die Figur als auch das Motiv des Widerhalls werden
in früheren Kapiteln mithilfe lexikalischer und semantischer Anspielungen anti-
zipiert. Aus der musikalischen Realisierung des Namens ergibt sich, dass der
Spitzname Echo geradezu das Echo von ,Nepomuk Schneidewein‘ ist. In diesem
Fall hallt nicht das ganze Wort, sondern nur ein Teil davon, wider, was im Fall der
musikalischen Stilisierung des Echos doch nicht unüblich ist (Abbildung 11.1):26
Faustus“. Würzburg: Königshausen & Neumann 1997, S. 84. Siehe auch Barthes, R.: Die
Rauheit der Stimme. In: Ders.: Was singt mir, der ich höre in meinem Körper das Lied.
Berlin: Merve 1979 [Paris 1972], S. 19–36.
26 Braun, Werner: Art. Echo. In: MGG Online. Zuerst veröffentlicht 1995, online veröffent-
Die Eigenschaften des Arietta-Themas deuten auf die Figur Echo. Das unschul-
dige Kind ist selber „zu Abenteuern und Schicksalen bestimmt“, für die es
keineswegs geboren scheint: Hier sowie mit der Aussage „Leb’-mir wohl“ wird
auf seinen frühen Tod angespielt.29 Seine vollständige Klangchiffre lässt sich
ebenfalls auf ein dreitöniges Motiv reduzieren, welches der Klangchiffre sei-
nes Spitznamens entspricht und als Echo ebenfalls „einem kurzen, seelenvollen
Rufe“ gleicht.30 Wenn noch Zweifel bestehen, dass hier zugleich auf die Figur
des Kindes und auf Ovids Mythos angespielt wird, so seien noch die Wörter
„Him-melsblau“ (die Augenfarbe des Kindes) und „Lie-besleid“ (die nicht erwi-
derte Liebe der mythischen Echo zu Narziss und die des Kindes zu Leverkühn)
erwähnt. Das Wort „Wiesengrund“ wird in der Forschungsliteratur oft als eine
Karikatur Adornos gesehen, was in der Entstehung des „Doktor Faustus“ eine
27 An dieser Stelle sei außerdem auf die Wichtigkeit des Echos für das Orgelspielen
hingewiesen: Eine wichtige Gattung ist in der Musikgeschichte das Orgel-Echo. Siehe
ebd.
28 Vgl. Bergsten: Untersuchungen, S. 234 ff.
29 Laut Bergsten wird Echo „allmählich zu einem Symbol des Kindes und der unschuldig
leidenden Schöpfung“. Ebd., S. 236. Auch Angela Winkler interpretiert das Sterben Echos
als „Akt der Opferung“, „der den Menschen Erlösung von ihren Sünden bringt“. Winkler:
Das romantische Kind, S. 152. Siehe auch Kaufmann: „Dr. Fausti Weheklag“, ebd.
30 Vgl. auch Börnchen: Kryptenhall, S. 303–306.
362 11 Echo
Die Zwölftonmusik hat ein Moment von streamline. In der Realität soll die Technik
Zwecken dienen, die jenseits ihres eigenen Zusammenhangs liegen. Hier, wo solche
Zwecke entfallen, wird sie zum Selbstzweck und surrogiert die substantielle Einheit
des Kunstwerks durch eine bloße des „Aufgehens“. (PhnM: 70)
Die Frage wäre berechtigt, ob nicht nur im Fall der Dodekaphonie aufgrund die-
ser Selbstreferentialität der Musik eine Assoziation zum Narzissmus nahe liegt;
31 Vgl. 6.1.1.
32 Vgl. Kapitel 5.
11.1 Echo und das Echo-Motiv 363
jedenfalls sieht Adorno hier als prägendes Merkmal die Tatsache, dass sie keine
anderen Zwecke als die technisch-musikalischen erfüllen kann bzw. zu erfüllen
beabsichtigt. Folglich erscheint die Neue Musik in Adornos Musikphilosophie als
narzisstisch.33
So wie das Kind Echo Einblick nimmt in die Skizzenbücher Leverkühns, so
versucht auch das Klangphänomen des Echos sich in die Weheklag, sprich: in die
Zwölftontechnik, zu integrieren und zeigt somit seine „Einsamkeit“ (PhnM: 48),
sprich: seine Selbstreferentialität:
Das Echo, das Zurückgeben des Menschenlautes als Naturlaut und seine Enthüllung
als Naturlaut, ist wesentlich Klage, das wehmutsvolle „Ach, ja!“ der Natur über den
Menschen und die versuchende Kundgebung seiner Einsamkeit, – wie umgekehrt
die Nymphen-Klage ihrerseits dem Echo verwandt ist. In Leverkühns letzter und
höchster Schöpfung aber ist dieses Lieblingsdessin [sic] des Barock, das Echo,
oftmals mit unsäglich schwermütiger Wirkung verwendet. (DF: 703f.; Herv. i. O.)
S. 84.
364 11 Echo
Blick in das obige Notenbeispiel aus Beethovens Klaviersonate zeigt eine gewisse
Insistenz auf den Ton g, der nicht nur in den ersten Takten die dreitönige, motivi-
sche Struktur beschließt, sondern in der dritten Stimme wiederholt zu finden ist.
Die Beschreibung der Weheklag durch Zeitblom kann zudem für ein Echo (und
auch für eine Spiegelung) der Beschreibung von Beethovens Arietta-Satz durch
Kretzschmar gehalten werden:
[…] – und das ist alles. (DF: 83) Dann ist nichts mehr, – […] (DF: 711)
Diese Struktur aus Echo und Spiegelung lässt sich sowohl aus typografischer –
was auch an der Position der Gedankenstriche zu erkennen ist – als auch aus
struktureller und semantischer Sicht konstatieren: Ein Echo ist, so Börnchen, „eine
nie identische Wiederholung“,38 beide Sätze drücken eine sehr ähnliche Bedeu-
tung aus und befinden sich am Ende einer Beschreibung des jeweiligen Stückes,
die kurz vor den hier erwähnten Sätzen ins Detail geht und sogar Motive und
Töne explizit erwähnt. Beide Sätze bestehen aus vier kurzen Wörtern, die in einem
ähnlichen Tempo vorgelesen werden.
Zudem komme die Sonate laut Kretzschmar auch bei Beethoven zu einem als
irreversibel dargestellten Ende: „Die Sonate“ (DF: 85), so der Musiklehrer im
Roman, „selber sei hier zu Ende, ans Ende geführt, sie habe ihr Schicksal erfüllt,
ihr Ziel erreicht, über das hinaus es nicht gehe, sie hebe und löse sich auf, sie
nehme Abschied“ (ebd.). Demnach fehlt der Sonate ein außerhalb ihrer selbst
liegendes Ziel: Auch Beethovens Sonate profiliert sich in Kretzschmars Vorträgen
als narzisstisch, was sie wie die Weheklag zum Verzicht auf einen dritten Satz
und folglich zum Verstummen führt. Dieses Verstummen wird auch dort, also
im proposta-Teil dieser Echo-Struktur, eben durch das Echo überwunden: Die
Zuhörer*innen verlassen am Ende des Vortrags das Haus und – so Zeitblom im
Roman
noch längere Zeit hörte man aus entfernteren Gassen, in die die Zuhörer sich
zerstreuten, nächtlich stillen und widerhallenden Gassen der Kleinstadt, das
„Leb’-mir-wohl“, „Leb’-mir-ewig-wohl“, „Groß – war Gott in uns“ echohaft
herüberschallen. – (DF: 86)
Als letztes Element dieser Analyse ausgewählter Echos von Doktor Faustus sei
an dieser Stelle erwähnt, dass das Kind Echo, Prosopopöie des Widerhalls, beim
Sprechen selbst Echos produziert:
Echo freute sich wohl über diese Gaben, sagte aber doch bald „’habt“, wenn er
damit gespielt hatte, und zog es bei Weitem vor, wenn der Onkel ihm die Gegen-
stände seines eigenen Gebrauches zeigte und erklärte – immer dieselben und immer
aufs neue, denn Beharrlichkeit und Wiederholungsverlangen der Kinder sind groß
in Dingen der Unterhaltung. (DF: 679 f.)
Dieses „’habt“ des Kindes ist Echo seiner Gedanken und könnte zum Beispiel
als risposta von „genug gehabt“ stehen. Ein Gegenstand, mit dem das Kind
gerne spielt, ist auch die „Spieldose“ (DF: 680), die ihm Zeitblom geschenkt
hat und die drei „Biedermeier-Melodien“ (ebd.) spielt, „denen Echo in immer
gleichem Gebanntsein lauschte“ (ebd.). So entsteht ein Zusammenhang zwischen
dem Kind, der Personifikation des Widerhalls, und der Musik. Dieses Spielen
geschieht – so die Erzählinstanz im vorigen Zitat – mit einem gewissen Verlan-
gen nach Wiederholung, das nicht nur typisch für Kinder ist, wie Freud in der im
Esmeralda-Kapitel erwähnten Schrift Jenseits des Lustprinzips bemerkt,39 sondern
auch den Widerhall selbst ausmacht.
11.1.2 Systemkontaminationen
Die Behandlung der Echos des Romans öffnet die Tür zu vielfältigen interdiszipli-
nären Reflexionen, denn das Phänomen kann sowohl in der Natur als auch in der
Literatur und in der Musik beobachtet werden, und ist dementsprechend durchaus
als transmediales Motiv zu werten.40 Wendet man aber eine eher in die Katego-
rie der Intermedialität fallende Perspektive an, und zieht man folglich die in der
Beschreibung der Weheklag angesprochene barocke Echo-Wirkung in Betracht, so
kann man einige Schlussfolgerungen ziehen, die sich auf den gesamten Roman
beziehen. Gleichzeitig können einige im Laufe der Studie behandelten Aspekte
bereits hier vor dem Schlusskapitel resümiert und weiterentwickelt werden. Zu
diesem Zweck sei auf die Kategorie der intermedialen Systemkontamination
rekurriert. Zweifelsohne ist Doktor Faustus vom musikalischen System geprägt,
was jedoch eine sehr allgemeine Beobachtung ist. Genauer betrachtet ist das spe-
zifische musikalische System, dessen Regeln bzw. Prinzipien in das Medium der
fiktionalen Schrift übertragen werden, nicht nur das der Zwölftontechnik, wie
viele Publikationen hervorheben.41 Vielmehr ist für die Bedeutungskonstitution
des Romans das System der Renaissance- und Barockmusik, da in jener Zeit
die meisten Kompositionen für Viola d’amore geschrieben wurden, sehr wich-
tig. Mit diesem Musiksystem ist die Erzählinstanz sehr vertraut. Die ständige
Beschreibung der Kompositionen Leverkühns, die sich in andere Musiksysteme
bzw. -tendenzen (z. B.: Spätromantik, Expressionismus, Neue Musik) einordnen
lassen, führt dazu, dass man das Musiksystem, mit dem sich Zeitblom gut aus-
kennt, übersieht.42 Tatsächlich aber häufen sich im Text die Systemerwähnungen,
die auf die Musik der Renaissance und des Barocks verweisen. Es handelt sich
dabei zum großen Teil um eine Systemkontamination, die sich dem Typ ,qua
Translation‘ zuordnen lässt: Regeln und Prinzipien der Barockmusik, wie die
Scordatura und die musikspezifische Echo-Wirkung, werden auf den Romantext
von Thomas Manns Doktor Faustus übertragen. Zum Teil lässt sich die Art der
Systemkontamination auch als teilaktualisierend begreifen, besonders bezüglich
medienunspezifischer bzw. medial deckungsgleicher Elemente wie des Echos und
der Echo-Wirkung, die nicht nur in der barocken Musik, sondern auch in der
barocken Lyrik zu finden sind.43 Die Interdependenz beider Systeme, das der
Neuen Musik und das der Barockmusik, die die Erzählinstanz oft betont,44 wird
im Roman auch diskursiv hergestellt, d. h. sowohl auf der Ebene des Was als auch
auf der Ebene des Wie des Erzählens.
In diesem Abschnitt wurden schon viele Beispiele aufgezählt, wo und wie
das Echo-Motiv und die Echo-Wirkung im Roman dargestellt werden; dazu sei
ergänzt, dass die Figur Echo in zwei Kapiteln auftritt, die ebenfalls eine zwei-
teilige, dialogische Struktur vergleichbar zu der des Typs ,proposta – risposta‘
vieler Kompositionen, die auf Echo-Strukturen beruhen, aufweist.45 Zugleich
wenn man sich dem Neuen verschließt, das mit geschichtlicher Notwendigkeit daraus
hervorgegangen“.
45 Siehe Braun: Echo, ebd.
11.1 Echo und das Echo-Motiv 367
erlauben die Kapitel auch eine Verknüpfung zur Terrassendynamik des Barocks,
denn, wenn das erste Kapitel sich tatsächlich einem „Allegretto moderato“ nähern
soll, wie Bruno Walter Thomas Mann in einem Brief empfiehlt,46 so kann das
für das zweite Kapitel, das von Echos Tod handelt, schwer behauptet werden:
Eine fröhlich-wirkende Dynamik dominiert das erste Kapitel, während das zweite
eher von einer dramatisch-wirkenden geprägt scheint. Des Weiteren lassen sich
die Echo-Kapitel auch als Antwort auf das achte Kapitel mit seiner Darstellung
der Vorträge Kretzschmars und speziell des Vortrags zu Beethovens Klavierso-
nate opus 111 begreifen.47 Echoeffekte sind insbesondere in Kompositionen, die
zwischen 1550 und 1750 ca. entstanden sind, zu finden (sowohl in vokalen als
auch in instrumentalen Werken), ab 1800 werden sie deutlich weniger benutzt.48
Der Viola d’amore-Spieler kennt sich mit diesem Repertoire aus;49 des Weite-
ren spielt er ein Instrument, das von sich selbst ständig kraft der Resonanzsaite
einen dem Echo verwandten Klangeffekt erzeugt. Auch in dieser Hinsicht werden
einige Techniken und Mechanismen des Spielens der Viola d’amore narrativ simu-
liert. Ausgehend von der Überlieferung des Mythos bei Ovid,50 kristallisiert sich
aus intra, inter- und transmedialer Perspektive die Vielschichtigkeit der Behand-
lung des Echo-Mythos und des Echo-Motivs in Doktor Faustus heraus, die sich
nicht nur auf die Figur des Kindes beschränkt, sondern auch zur Simulation der
barocken Echo-Wirkung im Textmodus führt.
46 Vgl. Ent: 25: „Ein Brief an Bruno Walter nach New York fiel in diese Zeit, […] voll
von Geschichten und Anekdoten aus dem Zusammenleben mit dem reizenden Kind. Seine
Antwort bekundete freudiges Interesse an dem Plan eines ,Musiker-Romans‘ […], und
schloß ein, was ich, ich weiß nicht mit welchen Gefühlen, ,eine bemerkenswerte Anregung‘
nannte, nämlich den Vorschlag, Frido solle darin eine Rolle spielen – er denke sich die
Episode als ein ,Allegretto moderato‘“.
47 Auch ein Kanon beruht auf Echos, daher könnte man auch wohl der Meinung sein, dass
das Echo-Motiv bereits mit der Erwähnung des Singens von Kanons durch die Stallmagd
Hanne in den Roman eingeführt wird.
48 Braun: Echo, ebd.
49 Siehe z. B. DF: 402: Dort erzählt Zeitblom davon, was er vor einer geschlossenen
Gesellschaft gespielt hat, darunter „eine[] Chaconne oder Sarabande aus dem 17ten Jahr-
hundert, einem ,Plaisir d’Amour‘ aus dem 18ten […] oder […] eine Sonate von Ariosti,
dem Freunde Händels, oder eines der von Haydn für die Viola di Bordone geschriebenen,
aber auf der Viola d’amore wohl spielbaren Stücke“.
50 Auf die Metamorphosen könnte auch das folgende Zitat aus der Beschreibung der Wehe-
klag anspielen: „Orpheische Klage-Akzente sind leise erinnert, die Faust und Orpheus
zu Brüdern machen als Beschwörer des Schattenreichs […]“ (DF: 707). Siehe Ovid:
Metamorphosen, Liber X, S. 478–527.
368 11 Echo
Echo ist das vierte und letzte Stück von Elaine Fines Four pieces from „Doktor
Faustus“ und dauert etwa drei Minuten. Die Komponistin beschreibt das Stück
folgendermaßen:51
Echo is a play on words in a way. The viola d’amore generates a strange kind of
echo because of the sympathetic strings. It is most prominent on the open A string,
because you have three bowed A strings resonating with it, and then you have four
sympathetic strings buzzing along. The open F string is also very resonant, and the
parallel fourths (the viola d’amore is tuned in fourths) give it a far-away feeling.
Poor Echo.
52 Zur Rezeption des Werkes von Shakespeare in Doktor Faustus sei hier auf: Cerf, Steven
R.: Thomas Mann, England, and English Literature: The Role of Britain and English
Literature in the Writings of Thomas Mann. Yale University 1975, S. 156–226 verwiesen.
53 Besonders wichtig ist dieser Bezug in Manzonis Oper: vgl. 5.2.1.2 u. 11.2.3.
370 11 Echo
Mann vorgeschlagen hat und den man im Roman mit dem ersten Kapitel in Ver-
bindung bringen könnte, dominiert die Komposition, allerdings nur in reduzierter
Form als langsameres und weniger fröhlich-wirkendes „Moderato“. In Fines Stück
verliert folglich das Pathos am Ende des zweiten Echo-Kapitels, das in dem „es
soll nicht sein“ (DF: 692; Herv. i. O.) gipfelt, zum Teil an Bedeutung, während
sowohl die Charaktereigenschaften des Kindes als auch die Echo-Wirkungen des
Romans mit musikalischen Mitteln (teil-)reproduziert werden.
Der zweite Satz von Hans Werner Henzes Violinkonzert ist Echo gewidmet
und dauert gut acht Minuten. In der instrumentalen Komposition wird die
Echo-Episode mit großer Genauigkeit erzählt: In derselben chronologischen Rei-
henfolge wie im Roman beinhaltet Henzes Satz alle wichtigen inhaltlichen
Mikroformen von Doktor Faustus.
Zunächst sei hier auf den Titel hingewiesen, und zwar auf die Ergänzung „[d]as
Kind“ (VK: 22). Diese könnte als Versuch interpretiert werden, ein sprachliches
Missverständnis im Medium der Musik zu vermeiden, denn nicht selten werden
dort musikalische Echo-Strukturen eben von der Angabe „Echo“ angeleitet;54
folglich wäre der Titel ohne Ergänzung kein eindeutiger Verweis auf die Figur
des Kindes in Thomas Manns Roman. Eine gewisse Beeinflussung hinsichtlich
der Entwicklung von Sympathie für die Figuren des Romans lässt sich auch im
dritten Satz des Konzerts feststellen, der – vergleichbar zu Manzonis „Adrian“
– nicht den Titel „Rudolf Schwerdtfeger“, sondern den Titel „Rudi S.“ (VK: 45)
trägt: Die Ergänzung „Das Kind“ in diesem Satz stellt die Unschuld des Kindes
sofort in den Vordergrund und evoziert Sympathie.
Der Satz beginnt mit gedämpften Klängen der Violine solo und macht
dann im Orchesterverlauf sichtbar, dass hier wie bei Fine musikalisch mit dem
Klangphänomen des Widerhalls gespielt wird (Abbildung 11.4):55
Das Kind Echo zeigt eine ständige Alternanz von zarten Passagen, die für
das Kind stehen, und erregteren Tutti-Teilen, die vom Schicksal erzählen, das –
so Timo Sorg – „über ihn hereinbricht“.56 Diese Momente unterscheiden sich
Offenbar musizieren die Solovioline und das Orchester nicht gemeinsam, sondern
stellen getrennte musikalische Welten dar, so wie die unschuldige, reine Welt Nepo-
muks der teuflischen Leverkühns gegenübersteht, die aber schließlich über jene
hereinbricht.
Der narzisstische Leverkühn, der nicht in der Lage ist, das Kind zu lieben und
selten Zeit mit ihm verbringt, wird hier durch das getrennte Musizieren von
Orchester und Violine solo deutlich hervorgehoben; diese Beobachtung sei durch
den Hinweis ergänzt, dass im Violinkonzert Leverkühn kein Satz explizit gewid-
met wird. Henzes Komposition konzentriert sich auf Figuren, die Leverkühn
zunächst geliebt haben und ihm dann zum Opfer gefallen sind: Esmeralda ist
Musik Bachs als seine musikalische Kindheit: „Die Bachsche Musik war für mich so
etwas wie ein Licht in der Düsternis meiner Gegenwart, das sie mit feierlichem Ernst,
aber auch mit Optimismus versah; es war das Gerechte und das Wahrhaftige, das Richtige
und das Tröstende, das Heilbringende“. Henze: Reiselieder, S. 25. Des Weiteren setzte
sich der Komponist in seiner Produktion auch mit dem jüngeren Publikum auseinander,
wie an der Kinderoper Pollicino (Montepulciano, 1980) abzulesen ist.
11.2 Vom Roman zur Musik 373
angedeutet – nicht als solche, sondern als „Große Klage I“ (VK: 38) bezeichnet
wird. Sorg ist der Auffassung, die explizite Bezeichnung ,Kadenz‘ fehle, weil sie
mehr im expressiven als im virtuosen Sinne konzipiert sei: Diese Kadenz nähert
sich einer Opernarie, die in der Regel die Handlung nicht vorantreibt, weil sie
den Emotionen der Figuren einen Ehrenplatz zuweist. Hauptziel dieser Kadenz
scheint eher die Vermittlung von Gefühlen als das Zeigen von Virtuosität zu sein:
Sorg zufolge korrespondiert sie mit dem Klagen Echos vor seinem Tod, der –
wenn man davon ausgeht, dass die Geige für den fiktiven Komponisten steht
– durch Leverkühn in der Musik mitgeteilt wird.62 Die Kadenz soll „con furo-
re“, „wütend“ (VK: ebd.) gespielt werden und erinnert somit an jenes Klagen
Echos, das „das Herz zerreiß[t]“ (DF: 692) an seine Konvulsionen, an sein Zäh-
neknirschen, das laut Zeitblom „einen Eindruck von Besessenheit verleiht“ (ebd.).
Nach der „Große[n] Klage II“ (VK: 39), die sich als Leverkühns risposta auf die
erste Klage begreifen lässt – nicht zuletzt, weil sie ebenfalls drei Zeilen umfasst –
nimmt auch das solistische Instrument an der erregten Tutti-Passage teil, als wolle
Leverkühn das erbarmungslose Schicksal beschimpfen. Der Satz schließt mit einer
langen Note der Streicher von ppp „al niente“, „zum Nichts“ (VK: 44) sehr leise
zu spielen (die Anweisung lautet „sul tasto“, also auf dem Griffbrett) mit einem
Nachhall-Effekt.
Wie bei dem Esmeralda-Satz des Konzerts lässt sich hier (und auch in Dok-
tor Faustus) ebenfalls ein ,Montage-Prinzip‘ erkennen: Jeder Satz besteht aus
verschiedenen Abschnitten, denen unterschiedliche Musikformen zugeschrieben
werden, in diesem zweiten Satz z. B. das Kinderlied und die Klagen und im ersten
Esmeralda gewidmeten Satz das Wienerlied und der Tango. Henzes Violinkonzert
(teil-)reproduziert Erzähltechniken von Thomas Manns Roman im Medium der
instrumentalen Musik: Verschiedene Mikroformen der Vorlage tauchen in diesem
Satz und im gesamten Konzert auf.
Die Figur Echo findet man im zweiten Akt von Giacomo Manzonis Doktor
Faustus (im ersten, zweiten und vierten Bild) sowie im dritten Akt bei der musi-
kalischen Schilderung der Abschiedsrede Leverkühns, in der man die Stimme
des Kindes hinter der Bühne hört. Die Echo-Kapitel werden bei Manzoni fast
vollständig vertont: Nepomuk spielt in der Oper eine bedeutende Rolle.
Im ersten Echo gewidmeten Bild warten viele Leute auf die Ankunft des Kin-
des. Die idyllisch-wirkende Landschaft sowie die „musica dietro il sipario“, die
Musik hinter dem Vorhang (M-DF: 107), vermitteln den Eindruck, dass ein über-
irdisches Wesen erscheinen wird. Das Kind springt dann, was seine anfängliche
Lebendigkeit betont, über die Bühne. Versace kleidet es mit volkstümlicher, baye-
rischer Kleidung ein, die sich von Zeitbloms Beschreibung im Roman distanziert.
Dort trägt Echo „ein weißbaumwollenes Hemd-Jäckchen mit kurzen Ärmeln,
ganz kurze Leinenhöschen und ausgetretene Lederschuhe“, DF: 667). Durch die
Kleidung wird folglich die Vagheit in den Raumangaben der Oper überwunden
(Abbildung 11.5):
Echo spricht gleich danach von sich selbst in der dritten Person Singular wie
im Roman: „A Echo non pare che è bene rimanere qui fuori. E’ meglio entrare a
salutare lo zio“ (M-DF: 109 f., T. 28–32).63 Dadurch erscheint Nepomuk als ein
extrem diszipliniertes Kind, das sich bereits einer komplizierten Sprache bedient.
Nachdem Leverkühn seine Freude über die Ankunft Echos geäußert hat, singt
er: „Allora possiamo cominciare“, „Dann können wir beginnen“ (M-DF: 110,
T. 35 f.). In der Uraufführung wird der Eindruck vermittelt, als hätte Adrian
Leverkühn auf den „Elfenprinz“ (DF: 676) gewartet, um mit dem Komponieren
der Tempest-Vertonung zu beginnen. Diese behält viele Eigenschaften der Skizze
Leverkühns bei, etwa die Besetzung „für Sopran, Celesta, sordinierte Geige, eine
Oboe, eine gedämpfte Trompete und die Flageolett-Töne der Harfe“ (DF: 681),
auch werden der originale Text auf Englisch sowie die lustigen Stellen, die Echo
amüsieren, übernommen.64 Das „Bowgh, wowgh“ (DF: 681) des Hundes und
das „Cock-a-doodle-doo“ (ebd.) des Hahns – in der Oper mit „Chicchirichì“
(M-DF: 114, T. 81) ausgedrückt – ergänzt Manzonis Oper durch den Glocken-
klang „din don“ (M-DF: 113). Es soll hier auf eine Melodie Purcells aus The
Tempest angespielt werden,65 die aber laut Sorg „ziemlich unkenntlich“66 bleibt:
So soll Manzonis Werk „parallel dazu seine Ideen einer neuen Musiksprache“67
präsentieren, welche „die Musikgeschichte in sich aufnimmt und auf ihre Weise
weiterschreibt“.68 Die Musikgeschichte, die Manzonis Doktor Faustus in sich auf-
nimmt, ist insbesondere – wie bereits im sechsten Kapitel zum „Teufel“ gezeigt
63 Vgl. DF: 669: „Echo dünkt es nicht wohlanständig, länger noch außer Dach zu bleiben.
werden konnte – die der italienischen Oper. Das Werk greift etwa auf Stimm-
typen und gender troubles der italienischen opera buffa zurück, stellt Fitelberg
als typischen Impresario dar und verstärkt hier den im Roman bereits vorhande-
nen Bezug auf Shakespeares Schaffen, womit indirekt auf die große Rolle der
Texte Shakespeares etwa im Werk Giuseppe Verdis verwiesen wird.69 Das Ver-
hältnis der Oper zur literarischen Vorlage lässt sich daher als adaptiv begreifen:
Es wird weitestgehend bis auf den Titel und auf die Weheklag auf die deutsche
Sprache verzichtet und der musikgeschichtliche Raum ist oft der italienische, der
zwar im Roman bereits vertreten ist, hier aber deutlich in den Vordergrund gerückt
wird. Zugleich stellt die Vertonung durch die Einbeziehung von etwa Shakespeare,
Purcell, Beethoven, dem Volksbuch und der italienischen Oper die internatio-
nale Ausbildung Leverkühns und die vielen intra- und intermedialen Bezüge des
Romans, die nicht nur dem deutschsprachigen Raum zugeordnet werden können,
heraus.
Das erste Bild entspricht dem Inhalt des ersten Echo-Kapitels (des 44.). Dieser
wird jedoch in einer anderen Reihenfolge wiedergegeben: Nach der Realisierung
der Ariel-Lieder wirkt die Musik trauriger und das Kind singt ein kurzes Gedicht,
das auch im Roman vorkommt:70
Dieses Gedicht wird als melancholisches Kinderlied mit Refrain vertont. Danach
wirkt die Musik bedrohlich und erregt (M-DF: 116 ff.): Durch die „Klangflächen
aus Tonclustern“72 antizipiert die Oper wie im Roman durch Zeitblom oder auch
durch den Inhalt des obigen Gedichts73 das dramatische Schicksal Nepomuks:
Wie der Hund konnte nur das Kind die Ariel-Lieder sehen, starb aber kurz danach.
69 Vgl. 6.2.1 u. 10.2.1; siehe Klein, Holger (Hrsg.): The opera and Shakespeare.
Vielleicht ist die Musik für seinen Tod verantwortlich, eine Mutmaßung, die den
sterilen Zustand der Musik noch unterstreicht.
In der Oper verliert die Figur des Kindes ihre religiöse Konnotation: Es gibt
keine Bezugnahme auf sein engelhaftes Aussehen und keine Erwähnung der
Abendgebete. Dennoch wird die außerirdische Dimension durch die Musik des
Bildanfangs und die Shakespeare-Vertonung besonders hervorgehoben.
Das zweite Bild des zweiten Aktes beginnt mit einem neuen Bühnenbild.
Anlässlich der ersten Aufführungen im Teatro alla Scala entscheidet sich der
Regisseur Robert Wilson für die gleichzeitige Präsenz von zwei Orten: Echos
Zimmer und Leverkühns Arbeitszimmer. Durch diese Parallele wird das enge
Verhältnis zwischen Kind und Onkel unterstrichen: Der Tod des Kindes treibt
Leverkühn in den Wahnsinn und paralysiert ihn. Das Publikum kann also sowohl
die Reaktionen des Onkels als auch das Sterben Echos sehen. Zugleich wird auf
diese Weise Leverkühns Narzissmus und seine Liebesunfähigkeit in den Vorder-
grund gestellt, denn er ist zwar verzweifelt, bleibt aber in seinem Studienzimmer
und besucht das kranke Kind nicht.
Die Musik wirkt sehr dramatisch und ist nochmals reich an Clustern: Für
Sorg sind diese Klänge „Ausdruck des anhaltenden Kopfschmerzes, insbeson-
dere von Nepomuk, aber auch von den Schmerzen, die Leverkühn durch den Tod
seines Neffen erfährt“.74 Zweifelsohne können sie sowohl mit dem physischen
und psychischen Leiden beider Figuren als auch mit der herrschenden Atmo-
sphäre assoziiert werden und antizipieren die innovative Kompositionstechnik der
Weheklag.75
Bei der Auswahl der Figuren werden in Manzonis Oper zwar wichtige Figu-
ren wie Schwerdtfeger oder Schildknapp ausgelassen und es wird Zeitblom eine
marginale Rolle zugewiesen, es werden aber überraschenderweise die Ärzte bei-
behalten. Nach der intimen Begegnung mit Esmeralda betritt „Dott. Erasmi“
(M-DF: 35) die Bühne und am Ende des hier präsentierten Bildes wird Echo
von einem Kinderarzt untersucht (M-DF: 125–130). Die Ärzte stellen jedes-
mal eine präzise Diagnose: Leverkühn leidet an „il morbus gallicus…spirochaeta
pallida…la sifilide…“ (M-DF: 35, T. 245),76 Nepomuk an „[m]eningite cere-
brospinale“ (M-DF: 125, T. 174 ff.).77 Auch in dieser Hinsicht weist Manzonis
74 Sorg:Beziehungszauber, S. 210.
75 Nicht zuletzt, weil bei Manzoni die Apocalipsis, die Leverkühn im Roman allerdings
vor Echos Ankunft in Pfeiffering komponiert, nicht vertont wird.
76 „Der morbus gallicus…die Spirochaeta pallida…die Syphilis“. Zur Episode vgl. DF:
228 f.
77 „Cerebrospinal-Meningitis“ (DF: 687).
378 11 Echo
Doktor Faustus eine Genauigkeit auf, die gegenüber der Vagheit der Raumanga-
ben einen Kontrast bildet. Die Dimension der Krankheit verweist auf den Teufel,
der im Teufelsgespräch auf seine Verantwortung verweist, obwohl die Exis-
tenz dieser Figur aufgrund von Leverkühns Krankheit zugleich in Frage gestellt
wird. Sowohl der Tod Nepomuks als auch der Tod Leverkühns können außer-
halb der Deutungsebene des Faust-Romans auf präzise medizinische Ursachen
zurückgeführt werden, die in der Oper explizite Benennung finden.78
Das dritte Bild des zweiten Aktes handelt vom Besuch des jüdischen Impresa-
rios Saul Fitelberg, der in Doktor Faustus vor der Ankunft des Kindes stattfindet
und in Manzonis Transposition ein eher komisches Intermezzo vor dem Tod
Nepomuks darstellt.79 Das Bühnenbild bleibt allerdings in der Uraufführung
unverändert: Der Impresario macht seine Vorschläge, während das Publikum
zugleich auf das Sterbebett Echos schauen kann. Es handelt sich um eine
Digression im Medium der Oper, was auch dadurch deutlich wird, dass die Zuhö-
rer*innenschaft im vierten Bild erneut in die dramatische Atmosphäre des zweiten
Bildes versetzt wird. Leverkühn beschimpft den „Teufel“: „Prendilo, mostro!
Prendilo, cane fottuto, ma spicciati, spicciati se non hai voluto ammettere nem-
meno questo, infame che sei!“ (M-DF: 166–169), „Nimm ihn, Scheusal! […]
Nimm ihn, Hundsfott, aber beeil dich nach Kräften, wenn du denn, Schubjack,
auch dies nicht dulden wolltest!“.80 Um den Hals des Kindes sieht man eine
Schnur: Es verlässt langsam die Bühne wie erhängt. „Es wurde uns genommen,
das seltsam-holde Wesen wurde von dieser Erde genommen“ (DF: 684), so Zeit-
blom im Roman: Dieses Konzept wird in der Oper optisch realisiert. Besonders
betont werden zudem die Worte Leverkühns: „La sua anima dolce dovrai mio caro
lasciarla in pace: questa è la tua impotenza“ (M-DF: 175–179).81 Diese Aussage
hebt hervor, dass Echo unschuldig stirbt und daher der „Teufel“ seine Seele nicht
nehmen darf. Die Opfer-Konnotation wird durch Echos Verlassen der Bühne und
die Auswahl der Worte deutlich illustriert: Zeitblom betont im obigen Zitat durch
die Wiederholung, dass Echo, das außerirdische Züge tragende Kind, von ihnen
genommen wird. Diese Aussage bildet ein lexikalisches und gedankliches Pen-
dant zu Leverkühns Zurücknahme der Neunten Symphonie. Zwar werden diese
Worte in der Oper nicht erwähnt, da Zeitblom bei Manzoni bis zum Epilogo nicht
zu Wort kommt, die Idee einer Zurücknahme der Figur Echo wird aber optisch
78 Vgl. Kapitel 6
79 Siehe Sorg: Beziehungszauber, S. 213.
80 Vgl. DF: 691.
81 Vgl. DF: 691: „Wirst mir seine süße Seele doch hübsch zufrieden lassen müssen, und
durch die Schnur und das Verlassen der Bühne realisiert, was indirekt auf die
extradiegetische Ebene der Romannarration und insbesondere auf die unschul-
digen Opfer des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs verweist. Zudem wird
gleich danach Leverkühns Absicht einer Zurücknahme der Neunten Symphonie
thematisiert, was die Ähnlichkeit beider Zurücknahmen unterstreicht. Hier wird
also die Reihenfolge der Ereignisse leicht geändert: Im Roman stirbt Echo nach
Leverkühns Entscheidung, bei Manzoni davor.82 Das Bild endet mit Leverkühns
verzweifeltem Ruf: „Pregate per la mia povera anima“ (M-DF: 196 ff.), „Bete für
meine arme Seele!“.83
Die Stimme Echos ist dann im ersten Bild des dritten Aktes, also bei der
Abschiedsrede, hinter der Bühne zu hören (M-DF: 241 ff.). Da singt er noch-
mals das bereits erwähnte Gedicht über den Hund, der nach dem Konzert stirbt.
Die off-stage klingenden Stimmen Echos an anderen Stellen der Oper können
wohl für eine Projektion des wahnsinnigen Leverkühn, aber auch für Echos, also
für Widerhalle, gehalten werden: Keine in diesem Abschnitt behandelte Kompo-
sition verzichtet auf die Realisierung der Figur des Kindes und von Echos mit
musikalischen Mitteln.
In diesem Abschnitt konnte bestätigt werden, dass die Kompositionen nicht nur
Eigenschaften des Kindes Echo, sondern auch die Echo-Wirkung des Romans
(teil- )reproduzieren. Ersteres wird etwa am Rückgriff auf Kinderlieder deut-
lich, Letzteres an den vielfältigen Realisierungen von Echo-Effekten durch etwa
Resonanzen und off-stage-Echos.
11.3 Fazit
Auch dieses letzte Kapitel von Teil drei konnte – wie beinahe alle Kapitel –
diverse Annahmen und Kategorien aus der Intermedialitätsforschung an konkreten
Beispielen erproben. Zunächst einmal wurde auf eine wichtige Systemkonta-
mination hingewiesen, nämlich die Kontamination mit dem System der Alten
Musik. Diese Beobachtung war nicht nur dank der spezifischen Analyse der
Echo-Kapitel, sondern auch dank der Position des Kapitels möglich. So konnten
Schlussfolgerungen gezogen, die auf den Ergebnissen voriger Analysen aufbauen,
und nachgewiesen werden, wie wichtig das System der Renaissance- und Barock-
musik neben dem der Neuen Musik für die Bedeutungskonstitution von Thomas
82 Vgl. Kapitel 5.
83 Vgl. DF: 658.
380 11 Echo
Manns Roman ist. Der Erzähler, der von Adrian Leverkühns Biographie berich-
tet, spielt ein Instrument aus der historischen Aufführungspraxis und lässt folglich
Scordatura und Echo-Wirkungen in seine Narration einfließen.
Des Weiteren zeigten die Analysen der Werke von Fine und Henze noch ein-
mal, dass instrumentale Musik durch etwa paratextuelle Angaben, die Wahl präzi-
ser Musikformen und bestimmte Klangeffekte ihre Selbstreferentialität umgehen
und somit sogar Eigenschaften von Romanfiguren (teil-)reproduzieren kann.84 Die
hier knapp dargelegten Ergebnisse sollen im Schlusskapitel noch ausführlicher
veranschaulicht werden.
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des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
84 Vgl. 1.1.6.
Schlusswort
der vorliegenden Studie vorgestellt. Teil zwei befasst sich mit Transpositionen
von Leverkühns fiktiven Werken, während Teil drei von den Figuren des Romans
und ihrer (Teil-)Reproduktion im Medium der Musik handelt. Ausgehend von
einer Untersuchung des Romans werden im zweiten und dritten Teil Kompositio-
nen analysiert, die zwischen 1952 und 2011 in verschiedenen Ländern entstanden
sind. Die Methode ist genuin interdisziplinär, da sie literatur- und musikzentrierte
Intermedialität, also grundsätzlich Literatur- und Musikwissenschaft miteinander
verbindet: Der Blick auf den Roman und auf die Musikwerke geschieht aus dieser
doppelten Perspektive.
Im Folgenden sei auf die Ergebnisse der Arbeit anhand exemplarischer Bei-
spiele eingegangen, um veranschaulichen zu können, welche neuen Lesarten
des Romans die vorliegende Untersuchung und ein solches analytisches Proze-
dere ermöglicht. Was die Erprobung intermedialer Kategorien angeht, so kann
ausgesagt werden, dass Funktionen und Effekte in dieser Untersuchung im Vor-
dergrund stehen. Noch 2018 betont Rajewsky, dass der Anwendungsbereich von
Intermedialität nicht lediglich auf die Analyse möglicher intermedialer Formen
beschränkt werden soll. Vielmehr sollen die Funktionen intermedialer Phäno-
mene in der analytischen Praxis in den Mittelpunkt gerückt werden.1 Gess hatte
2010 der intermedialen Forschung bereits ein Repertoire an Begriffen für die-
ses Vorhaben, etwa Verstärkung, Infragestellung, Ergänzung und Verfremdung zur
Verfügung gestellt.2 Bezüglich des erst genannten Effekts, der Verstärkung, wurde
anhand des Violinkonzerts von Hans Werner Henze, das in Kapitel neun dieser
Studie behandelt wird, festgestellt, dass dieser Begriff einer Ausdifferenzierung
bedarf.3 Der dritte Satz, welcher der Geigerfigur Rudolf Schwerdtfeger gewidmet
ist, übt aus verschiedenen Gründen einen hohen verstärkenden Effekt aus. Ers-
tens, weil Schwerdtfegers Talent als Virtuose durch die Mittel der Musik, speziell
des Konzerts für Violine solo und Orchester (teil-)reproduziert wird, was infol-
gedessen sein Talent auch hörbar macht. Zweitens, weil im Satz versucht wird,
das Violinkonzert, das Leverkühn für ihn schreibt, (teil-)zureproduzieren. Drit-
tens, weil Charakteristika der Geigerfigur aus Doktor Faustus im Satz ebenfalls
evoziert werden. Eine skalare Auffassung nach Graden des Verstärkungseffekts
ermöglicht eine innere Differenzierung sekundärer intermedialer Produkte.
Zudem führt die vorliegende Arbeit einen neuen Effekt ein: die Revision
der Vorlage. Einige Kompositionen, die in Kapitel fünf analysiert werden, näm-
lich Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“, Manzonis Oper Doktor Faustus und
während Esmeralda hingegen viel mehr Platz eingeräumt und ihr sozialer Status
in den Hintergrund gerückt wird. Bezüglich der Effekte von Intermedialität kann
des Weiteren nicht pauschal gesagt werden, dass eine Komposition den Roman
im Ganzen verstärkt oder erweitert. Vielmehr müssen Effekte auf präzise Mikro-
formen der Vorlage jeweils zurückgeführt und entsprechend beschrieben werden.
Im spezifischen Fall der intermedialen Transpositionen und Bezugnahmen auf
Doktor Faustus spielt die Beobachtung eine Rolle, dass sie alle partiell sind, da
kein Musikwerk, nicht mal Manzonis Oper, den Roman als Ganzes in die Musik
transferiert. Auf diese Weise konzentrieren sich die Werke auf einige ausgewählte
Mikroformen aus dem Roman. Diesbezüglich ist der Begriff der Reduktion nur
eingeschränkt zu verwenden: Obwohl die Komponist*innen nicht den gesam-
ten Roman vertonen, wird die Mikroform an sich, z. B. die Geschichte Gregors
aus Adrian Leverkühns Puppenspiel nach den Gesta romanorum bei Beyer und
Odegard wohl erweitert.9
Den vorigen Ausführungen lässt sich entnehmen, dass zwar Effekte von
Intermedialität einen Ehrenplatz in dieser Studie bekommen, jedoch auch die
Benennung intermedialer Phänomene eine ebenso wichtige Rolle spielt. Beson-
dere Aufmerksamkeit schenkt die Arbeit z. B. der Systemkontamination, die sich
beobachten lässt, wenn Regeln und Prinzipien, die dem Medium nicht inhärent
sind, durchgehend auftreten und auf diese Weise eine fremdmedial bezogene
Illusionsbildung hervorrufen.10 Zahlreiche Studien zu Doktor Faustus betonen
diesbezüglich die Wichtigkeit des Systems der Zwölftontechnik, das zweifelsohne
für die Konstitution des Textes zentral ist. Diese Studie weist aber auch auf die
Notwendigkeit einer stärkeren Berücksichtigung des Systems der Alten Musik
hin. Der Erzähler von Doktor Faustus, der Viola d’amore-Spieler Zeitblom, kennt
sich damit aus: Kein Wunder, dass infolgedessen die Narration vom religiösen
Klagen vergleichbar zur Marienklage oder zum Stabat Mater, von Scordature,
also Verstimmungen sowie Echo-Wirkungen kontaminiert wird. Dieses Fazit lässt
sich erst in Kapitel elf ziehen,11 nachdem Kapitel fünf auf die Verwandtschaft des
Klagens in der Weheklag mit mittelalterlichen Klageformen sowie auf die baro-
cke Echo-Wirkung der Kantate,12 Kapitel sieben auf die Eigenschaften der Viola
d’amore und ihrer Aufführungspraxis, was die narratologische Kategorie des
unzuverlässigen Erzählens verstärkt,13 und Kapitel elf auf die Echo-Wirkungen
9 Vgl. 3.3.
10 Vgl. 1.1.5.
11 Vgl. 11.1.2.
12 Vgl. 5.1.
13 Vgl. 7.1.
Schlusswort 385
14 Vgl. 11.1.1.
15 Vgl. 7.2.1.
16 Vgl. 11.2.3.
17 Vgl. 5.2.1.3.
18 Vgl. 4.2.2.
19 Vgl. 3.3.
20 Zur media awareness/media consciousness siehe u. a.: Rajewsky: Percorsi transmediali,
23 Vgl. 5.2.1.1.
24 Vgl. 5.2.4.
25 Vgl. 3.3.1.
Schlusswort 387
lässt.26 Nur Manzoni und Lenners vertonen das Teufelsgespräch.27 Was Zeitblom
angeht, so widmen sich lediglich Fine, Hagen und Manzoni der Erzählerfigur
von Doktor Faustus und heben sein unzuverlässiges Erzählen hervor.28 An die
Stelle von Zeitbloms Berichten, welche die Verknüpfung von Musik und Dämo-
nischem in den Vordergrund stellen, tritt alleine die Musik: Durch etwa vielfältige
Gesangstechniken, die sich z. B. bei Lenners vom lautlosen Sprechen bis hin zum
hohen Schreien erstrecken29 sowie Klang- und Aufführungsmöglichkeiten, etwa
die off-stage und on-stage-Stimmen in Manzonis Oper,30 beweist das musikali-
sche Medium doch große Ausdruckskraft. Diese Beobachtung lässt sich als die
vierte Konstante einordnen, mit der eine fünfte unmittelbar verknüpft ist: Die
Musik reagiert somit nicht nur auf Doktor Faustus, sondern auch auf Adornos
Auffassungen, denn sowohl in Manns Roman als auch in der Philosophie der
Neuen Musik wird der Neuen Musik Ausdrucksfähigkeit abgesprochen. Mehr
oder weniger explizit nehmen die Kompositionen Abstand oder verstärken die
vielen Bezüge des Romans auf Adorno: Sehr deutlich wird diese letzte Konstante
in Hagens To Zeitblom, der Zitate aus Schriften des Philosophen mitten in der
Komposition parodiert.31
Im Prozess der Untersuchung der Musikwerke wurden alle Typen von Les-
arten, medial oder kontextuell bedingten Lektüren sowie Interpretationen, die
der Bedingung entspringen, dass sich ein*e professionell ausgebildete*r Kom-
ponist*in Thomas Manns „Musiker-Roman“ (Ent: 25) zuwendet, zugleich in den
Blick genommen: Nur so kommt man zu umfassenden Beobachtungen bezüglich
der Rezeption des Romans im Medium der Musik.
Bereits in der Einleitung wurde angedeutet, dass die Rekonstruktion der kom-
positorischen Rezeptionsgeschichte von Doktor Faustus nicht nur die jeweilige
Adaption beleuchtet, sondern auch den Roman selbst neu lesen lässt. Zwar besteht
jedes Kapitel aus einer Untergliederung in Analyse des Romans und Analyse der
Kompositionen, sprich: literaturzentrierte und musikzentrierte Intermedialität. Im
Laufe der Studie konnte jedoch beobachtet werden, dass es oft zu Rückkopplungs-
effekten kommt, welche die Grenzen dieser Trennung sprengen. Beispielsweise
26 Eine Ausnahme stellt Manzonis Oper dar, wobei den teuflischen Gestalten immerhin der
Name „Lui“ gegeben wird. Zum Reiz der Teufelsfigur im Medium Oper siehe auch das
Interview mit Manzoni im Anhang.
27 Vgl. 6.2.1. u. 8.2.3.
28 Vgl. 7.2.
29 Vgl. 8.2.3.
30 Vgl. z. B. 11.2.3.
31 Vgl. 7.2.2.
388 Schlusswort
32 Vgl. 5.2.4.
33 Vgl. 5.2.1.2 u. 11.2.3.
34 Vgl. Kapitel 9.
35 Vgl. Kapitel 10.
36 Vgl. 4.2.1.
37 Vgl. 5.2.1.1.
Schlusswort 389
AO: Sie schreiben in einem Aufsatz, 41 dass Sie denken, „Doktor Faustus“ sei
quasi Thomas Manns Rache an der Modernität, die er prinzipiell gut verstanden
hatte, jedoch nicht lieben konnte.
GM: Ja, die Modernität passte nicht zu Thomas Mann. Doktor Faustus ist
sicherlich keine Visitenkarte für die Neue Musik.
AO: Sie denken aber auch, Thomas Mann habe trotzdem gefühlt, dass im
Bereich der Kunst und der Musik Innovationen notwendig seien.
GM: Ja, das stimmt. Thomas Mann sah keine Zukunft für die Neue Musik,
aber er wusste ganz genau, dass sich die Musik entwickeln musste. Er spielte
die Geige als Amateur und interessierte sich sehr für die Kunst, wie viele andere
Deutsche seiner Generation, die zum Großbürgertum gehörten. Im Gegensatz zu
38 Vgl. 1.1.7.
39 Vgl.Fußnote 20.
40 Der vorliegende Text ist eine Zusammensetzung zweier Interviews, die am 16.05.2013
und am 26.06.2015 in Mailand mit dem Komponisten geführt wurden. Beide wurden von
der Verfasserin aus dem Italienischen übersetzt.
41 Manzoni: Anmerkungen zum Doktor Faustus, S. 58.
390 Schlusswort
42 Siehe etwa Mann, T.: Leiden und Größe Richard Wagners. In: GW. Bd. 9, S. 363–427.
43 Siehe Mann: Doctor Faustus.
Schlusswort 391
jedoch meine eigene schützen: Die deutsche Kultur ist für mich eine Ergänzung
zur italienischen, kein Ersatz. Aus diesem Grund habe ich die Übersetzung ins
Italienische von Pocar gewählt, die ich aber leicht geändert habe. Außerdem habe
ich die Konzeption und die Aussagen von Thomas Manns Doktor Faustus bei-
behalten: Ich hätte vielleicht einen moralischen Schluss der Geschichte ergänzen
können, wie in Mozarts Don Giovanni, das habe ich jedoch für inadäquat gehal-
ten. Ich hätte zudem vielleicht am Ende der Oper unterstreichen können, dass die
dodekaphonische Musik nicht so negativ ist, wie sie im Roman geschildert wird,
aber das wäre meiner Meinung nach sinnlos gewesen, weil es zu stark von der
Vorlage abgewichen wäre.
AO: Denken Sie, dass die Komponist*innen der Nachkriegsjahre von Manns
„Doktor Faustus“ beeinflusst wurden?
GM: Nein, das denke ich nicht. Die Ferienkurse in Darmstadt sind ein Beispiel
für die extreme musikalische Rationalität der Nachkriegsjahre. Zudem glaube ich,
dass viele italienische bzw. europäische Komponist*innen Doktor Faustus leider
nie gelesen haben. Beweis dafür ist, dass noch in den 1980er Jahren kein*e Kom-
ponist*in eine Oper nach dem Roman geschrieben hatte. Hingegen glaube ich,
dass Adorno einen viel größeren Einfluss als Thomas Mann auf Komponist*innen
ausgeübt hat, auch weil er direkter und spezifischer sprach.
AO: Kommen wir nun zu den Figuren Ihrer Oper. Warum haben Sie viele
ausgelassen, jedoch nicht Saul Fitelberg, den jüdischen Impresario?
GM: Aufgrund der Dramaturgie. Zum einen war es nötig, nicht zuletzt aus
einem narrativen Grund, klar zu machen, wie berühmt Leverkühn als Komponist
geworden war. Zum anderen ist das Fitelberg-Bild das einzige Intermezzo der
Oper, das vielleicht nicht wirklich komisch, aber bestimmt humoristisch wirkt.
Es unterscheidet sich von anderen Episoden und besitzt einen leichten Charak-
ter. Aus dem Roman habe ich nur Satzfragmente auf Französisch verwendet, um
der Szene eben diese humoristische Qualität zu verleihen. Man versteht auch,
dass sich Leverkühn weigert, die Vermittlung des Impresarios zu akzeptieren. Die
grundlegende Idee ist also sowohl dramaturgisch, weil sie die Gesamtstruktur
des Werkes in Betracht zieht als auch musikalisch, weil sie darauf zielt, einen
spannungsgeladenen Moment der Oper durch eine nahezu komische Szene zu
unterbrechen.
AO: Nicht zufällig setzt das Fitelberg-Bild vor Echos Tod ein.
GM: Genau und dann fängt plötzlich die dunkle Atmosphäre wieder an.
AO: In der Aufnahme, die Sie mir gegeben haben, kann man tatsächlich
die beiden Orte zugleich sehen: Echos Bett und Leverkühns Arbeitszimmer. Das
Publikum behält den Blick auf das Kind.
392 Schlusswort
GM: Ich glaube, diese Idee stammte von Wilson, der vermeiden wollte, dass
das Publikum den Faden der Handlung verliert.
AO: In meiner Arbeit bin ich der Frage nachgegangen, warum Sie viele Figu-
ren aus Thomas Manns „Doktor Faustus“ ausgelassen, jedoch dem Impresario
ein siebenminütiges Bild gewidmet haben.
GM: Die anfängliche Idee war, durch „Flashs“ den Roman nachzuerzählen,
wie ich das auch in meinen Schriften erläutert habe.44 Einige von mir aus-
gelassene Episoden waren aus dramaturgischer Sicht ebenfalls wichtig, etwa
Leverkühns Kinderzeit, die Treffen und die Salons in München, Schwerdtfegers
Tod usw. Ich habe mir das gründlich überlegt und bin zu der Schlussfolgerung
gekommen, dass eine so umfassende und ambitionierte Idee nicht funktioniert
hätte. Ich könnte nun vielleicht eine zweite Oper nach Doktor Faustus schreiben,
die alle Episoden, die in der Oper von 1989 keinen Platz gefunden haben, enthält!
AO: Haben Sie bei der Schilderung Fitelbergs an Benedetto Marcello und an
seine Satire „Il teatro alla moda“, „Das neumodische Theater“ gedacht? Mir fiel
das ein, weil auch dort Impresari*e als exzentrische Menschen präsentiert und
leicht zu Sündenböcken gemacht werden.
GM: Nein, daran habe ich nicht gedacht, obwohl tatsächlich Parallelen
gezogen werden können, was die Figur des Impresarios angeht.
AO: Bleiben wir noch beim Thema der Figurenwahl. Warum behalten Sie in
Ihrer Oper die Ärzte bei?
GM: Den ersten Arzt kann man schwer auslassen, weil er die Syphilis-
Infektion diagnostiziert, die in der Handlung eine zentrale Rolle einnimmt. Ich
habe das als präzises biographisches Detail behandelt. Dasselbe gilt für den Arzt,
der Echo untersucht: Er lässt uns klar verstehen, dass die Krankheit des Kin-
des nicht heilbar ist. Gerade die Diagnose des Arztes führt Leverkühn zu der
Entscheidung, die Neunte Symphonie, und damit also das Schöne und das Gute,
zurückzunehmen. Die beiden Arztbesuche waren für mich Schlüsselereignisse des
Romans: Die Diagnosen sind Fakten (selbstverständlich innerhalb einer fiktiven
Geschichte) und folglich keine beliebigen oder subjektiven Interpretationen.
AO: Sie wissen natürlich, dass der Teufel in „Doktor Faustus“ lediglich als
Projektion Leverkühns aufgefasst werden kann…
GM: Ja, das weiß ich sehr gut. Auf die Figur des Teufels, sei sie nur im
Allgemeinen als Dämonisches aufgefasst, kann aber ein Opernkomponist schwer
verzichten: Sie hat einen viel zu großen Reiz; ohne sie verliert die Handlung
ihren Sinn und ihr Gewicht. Der Teufel zeichnet sich auch bei mir durch seine drei
Gestalten aus. Die drei Teufel wechseln sich aber nicht ab, sondern sie überlagern
einander: Der zweite Teufel ersetzt nicht den ersten, er kommt hinzu. Und später
der dritte zum zweiten und zum ersten, sodass am Ende ein Trio entsteht. Die
Idee des Romans habe ich in meiner Oper durch eine komplexere, reichere Form
realisiert.
AO: Warum haben Sie für den dritten Teufel eine weibliche Stimme gewählt?
Und warum haben Sie diese als Lui III bezeichnet und nicht beispielsweise als
Lei I?
GM: Diese Stimme ist wie die beiden anderen eine Inkarnation des Dämo-
nischen und soll wie das Dämonische selbst geschlechtsneutral sein. Sie ist böse
und beißend und passt deshalb gut zu ihrem Zweck. Wenn die italienische Sprache
das Neutrum besitzen würde, dann hätte ich die drei Teufelsstimmen wahrschein-
lich mit dem Pronomen „Es“ bezeichnet. „Lui“ ist also als geschlechtsneutraler
„demoniaco“ zu verstehen45 und die dritte weibliche Stimme ist eine weitere Ver-
wandlung des Teuflischen par excellence. In der Uraufführung war das Kostüm
von Lui III ein weibliches. Wir hätten vielleicht noch mehr Verwirrung stiften
können, wenn wir für den Sopran an ein männliches Kostüm gedacht hätten…
Wilson kam aber sogar auf die Idee eines riesigen Schuhs, auf dem der Sopran
singt. Das ist leider in der DVD kaum zu sehen.
AO: Was ist Ihrer Auffassung nach das Dämonische in „Doktor Faustus“?
GM: Aus einer logischen und analytischen Perspektive ist die Musik die am
wenigsten verständliche Kunst. Wenn wir eine Komposition analysieren, fällt uns
auf, dass sie oft eine feste Struktur hat. Es gibt keine Stücke, die wirklich frei und
„anarchisch“ sind. Von Machaut bis hin zu Schönberg gibt es immer eine musika-
lische Struktur oder Form, z. B. die Symphonie, die Sonatenform usw. Die Musik
ist mit der Mathematik tief verbunden. Wenn wir aber Musik hören, entsteht
nicht der Eindruck, dass sie eine feste Struktur besitzt: Im Gegensatz zu einem
Mosaik oder einer Architektur können wir vielleicht nur einzelne Themen erken-
nen. Dieser Bruch zwischen dem Komponieren und dem Hören ist unbegreiflich.
Wie kann man sagen, dass eine Komposition besser als eine andere funktioniert?
Das ist sehr subjektiv. Aber man versteht viel einfacher, dass beispielsweise ein
bestimmtes Gedicht besser als ein anderes funktioniert. Die Unbegreiflichkeit ist
in der Musik total – eine Auffassung, die auch Mann in den Schriften zu Wag-
ner unterstreicht.46 Dieser Aspekt kann gleichzeitig sowohl mit dem Dämonischen
als auch mit dem Himmlischen assoziiert werden und ist Thomas Mann sicherlich
aufgefallen.
AO: In Ihrem Interview mit Francesco Degrada habe ich gelesen, dass Ihre
Opern ein Resümee Ihres vorigen musikalischen Schaffens darstellen. 47 Gilt das
auch für „Doktor Faustus“?
GM: Ja, auch Doktor Faustus ist eine Synthese der symphonischen und
musikalischen Erfahrungen, die ich in den zwölf Jahren vor Beginn der Nieder-
schrift des Musikwerkes gemacht hatte. Selbstverständlich spiegelt eine Oper oft
zahlreiche Entdeckungen und Ideen wider. In meinem Faustus gibt es sowohl
Kammermusik- als auch reichhaltige, symphonische Momente. Auch heute noch,
falls ich nochmals eine Oper schreiben würde, wäre sie ein Resümee meiner
aktuellsten Konzeptionen und Erfahrungen, weil die Form der Oper eben dies
ermöglicht.
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