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Doktor Faustus Springer

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Anna Maria Olivari

Doktor Faustus (ver-)


stimmen
Kompositionen zu Thomas Manns
Roman
Doktor Faustus (ver-)stimmen
Anna Maria Olivari

Doktor Faustus
(ver-)stimmen
Kompositionen zu Thomas Manns
Roman
Anna Maria Olivari
Berlin, Deutschland

ISBN 978-3-662-62634-4 ISBN 978-3-662-62635-1 (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-662-62635-1

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-


grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den
Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografi-
sche Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen
neutral.

Planung/Lektorat: Carina Reibold


J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein
Teil von Springer Nature.
Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
A Jacopo
Danksagung

Ohne die Hilfe vieler Menschen wäre diese Studie unmöglich gewesen. Die fol-
gende, sehr lange Liste erscheint mir daher mehr als notwendig und ich hoffe
sehr, niemanden vergessen zu haben.
Beginnen möchte ich mit den Komponist*innen, die mir ihre Partituren und
Aufnahmen zugeschickt haben und die sich dankenswerterweise für ein Interview
zur Verfügung gestellt haben. Auch standen sie mir mit wertvollen Ratschlä-
gen zur Seite: Herrn Prof. Giacomo Manzoni, der den gesamten Prozess der
Entstehung und Durchführung dieser Studie mitverfolgt hat sowie Herrn Prof.
Gabriele Manca, der mir Manzoni zum ersten Mal vorgestellt und ebenfalls die
Entstehung der gesamten Untersuchung beobachtet hat, gebührt mein besonde-
rer Dank. Ebenso danke ich Herrn Dr. Konrad Boehmer, der mit großer Freude
von meinem wissenschaftlichen Vorhaben erfuhr, jedoch leider im Jahr 2014
verstorben ist und so diese Studie nicht mehr lesen konnte. Weiters sind unter
den Komponist*innen auch Frau Prof. Elaine Fine, Herrn Prof. Karl-Wieland
Kurz, Herrn Lars Petter Hagen, Herrn Prof. Claude Lenners und Herrn Dr. Peter
Ruzicka zu nennen – sie alle haben mir ihre unveröffentlichten Werke zur Verfü-
gung gestellt und/oder wertvolle Informationen zu ihren Kompositionen gegeben.
Einige Komponist*innen, die in dieser Studie behandelt werden, waren leider
bereits verstorben, als ich mit der vorliegenden Arbeit begonnen habe. Dankens-
werterweise erhielt ich Einblick in Partituren, Aufnahmen und Informationen von
Herrn Prof. David Sutton-Anderson und Frau Prof. Avril Anderson (über Hum-
phrey Searle), Frau Prof. Dr. Margaret Murata (über Peter S. Odegard) und Herrn
András Ránki (über György Ránki). Ihnen sei für diese wertvolle Unterstützung
herzlich gedankt. Die nachstehenden Musikverlage, -akademien, -institutionen
und -archive haben mir Materialien zur Verfügung gestellt oder die Veröffent-
lichung von Auszügen aus den Partituren genehmigt. Ohne diese großzügige

VII
VIII Danksagung

Unterstützung hätte die Arbeit nicht in dieser Form entstehen können: An die-
ser Stelle seien die Konrad Boehmer Foundation, der Sikorski Verlag, das Teatro
alla Scala in Mailand, die Akademie der Künste in Berlin, die Bibliothek der
Universität der Künste in Berlin und die British Library in London erwähnt.
Auch wäre diese Arbeit ohne wissenschaftliche und finanzielle Unterstützung
nicht möglich gewesen: So möchte ich mich bei Frau Prof. Dr. Claudia Albert,
Herrn Prof. Dr. Bernhard Huß und Frau Prof. Dr. Sigrid Nieberle sowie bei
der FAZIT-STIFTUNG herzlich bedanken. Für die Lektüre von Textpassagen,
die Ratschläge oder einfach den kollegialen Austausch ein herzlicher Dank an
Frau PD Dr. Barbara Breysach, Frau Hanna Höfer-Lück, Herrn Sebastian Kluge,
Herrn Dr. Innokentij Kreknin, Frau Itta Olaj, Frau Dr. Carmen Preißinger und
Frau Rotraut Schmidt.
Last but not least danke ich meinem Mann, der jeden Schritt der Entstehung
und Durchführung dieser Studie miterlebt hat und dem diese Untersuchung gewid-
met ist, damit er die Freude am (Ver-)stimmen, die uns zusammengebracht hat,
nie verliert.
Einleitung

Thomas Manns Roman Doktor Faustus und dreizehn zwischen 1952 und 2011
entstandene Kompositionen bilden den Hauptgegenstand der vorliegenden, inter-
medial angelegten Studie. Die systematische Analyse eines „Musiker-Roman[s]“
(Ent: 25) im Spiegel seiner Vertonungen füllt eine Forschungslücke. Es sollen
wenig bekannte Musikwerke, die sich mit Motiven, Figuren und fiktiven Werken
aus Doktor Faustus beschäftigen, der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugäng-
lich gemacht werden. Um verdeutlichen zu können, warum von Forschungslücke
gesprochen werden kann, welche Erkenntnisse sich aus dem Umgang mit einem
solchen heterogenen Material gewinnen lassen und durch welchen methodischen
Ansatz man zu diesen Erkenntnissen gelangt, sei zunächst einmal Thomas Manns
Roman kurz angerissen. Thomas Mann veröffentlichte Doktor Faustus im Jahr
1947, nur zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Roman wurde
nicht in Deutschland, wo vor allem die Romanhandlung angesiedelt ist, geschrie-
ben, sondern im amerikanischen Exil. Seit 1941 lebte Mann mit seiner Familie
in Pacific Palisades in Los Angeles. Dort hatte er während des Schreibprozes-
ses die Hilfe seines „Ratgebers“ (Ent: 35) und „Instruktors“ (ebd.) Theodor
W. Adorno erhalten. Warum benötigte er die Unterstützung eines Philosophen
und Musikwissenschaftlers? Thomas Manns Pläne zu diesem Roman über einen
faustischen Teufelspakt reichen bis weit in die Zeit vor den Ersten Weltkrieg
zurück, reiften aber vor allem im Exil angesichts des Faschismus konkret heran.
Als Hauptfigur entwirft Mann die Komponistenfigur Adrian Leverkühn, die der
Leser*innenschaft durch die Erinnerungen des Erzählers Serenus Zeitblom nahe-
gebracht wird. Leverkühn kann sich als Komponist nur aufgrund eines Paktes mit
dem Teufel weiterentwickeln – die intime Beziehung mit der Prostituierten Esme-
ralda symbolisiert diesen Pakt. Leverkühn infiziert sich dadurch mit Syphilis und
wird später eine Kompositionstechnik anwenden, die jedoch – so die nach der

IX
X Einleitung

ersten Veröffentlichung des Romans ergänzte Anmerkung von Thomas Mann –


1 „in Wahrheit das geistige Eigentum“ (DF: 740) von Arnold Schönberg sei. In

der Musiktheorie spricht man hinsichtlich dieser Technik von der Zwölf- oder
Reihentechnik bzw. der Dodekaphonie. Der Preis, den Leverkühn für seine Fort-
schritte auf dem Gebiet der Komposition zu zahlen hat, ist hoch, denn es kostet
ihn seine Fähigkeit zu lieben. Bevor Leverkühn seinem Syphilis-Leiden erliegt,
das ihn in die geistige Umnachtung führt, schreibt er seine einzige dodekapho-
nische Komposition, die er Dr. Fausti Weheklag nennt und in der er seine tiefe
Verzweiflung über den Tod seines Neffen Echo zum Ausdruck bringt.
In Anbetracht der oben erwähnten inhaltsbezogenen Gesichtspunkte scheint
es angemessen zu sein, den Roman als eine Bearbeitung des Faust-Stoffes zu
betrachten, und das obwohl sich der Name ‚Doktor Faustus‘ expressis verbis ledig-
lich im Titel des Romans und der letzten Komposition Leverkühns finden lässt.
Diese Zuordnung wird innerhalb der Forschung kontrovers diskutiert. Innerhalb
der vorliegenden Arbeit beschäftigt sich das sechste Kapitel mit dieser Klassifika-
tion und untersucht, inwiefern sie plausibel ist oder nicht.2 Ein weiterer kontrovers
diskutierter Aspekt ist die ‚Präsenz‘ des Teufels, die nicht eindeutig beschrieben
ist: Zum Zeitpunkt des Teufelsgesprächs in Palestrina war Leverkühn bereits infi-
ziert und, da Syphilis bekanntermaßen Halluzinationen bis hin zum Wahnsinn
verursachen kann, ist es nicht sicher, dass er dem Teufel wirklich begegnet ist.
Aus diesem Grund könnte beispielsweise die Figur, die in der kleinen, italieni-
schen Stadt auf dem Sofa von Leverkühns Zimmer sitzt und über Musik, Religion,
Zeit und Liebe spricht, eine reine Projektion des wahnsinnigen Leverkühn sein.
Ein weiterer problematischer Aspekt von Doktor Faustus, der innerhalb der For-
schung kontrovers diskutiert wird, liegt in der Verbindung der Neuen Musik3 mit
dem Teufel, die nicht nur beim eigentlichen Urheber des Kompositionssystems,

1 „Es scheint nicht überflüssig, den Leser zu verständigen, daß die im XXII. Kapitel dargestellte

Kompositionsart, Zwölfton- oder Reihentechnik genannt, in Wahrheit das geistige Eigentum


eines zeitgenössischen Komponisten und Theoretikers, Arnold S c h o e n b e r g s, ist und von
mir in bestimmtem ideellem Zusammenhang auf eine frei erfundene Musikerpersönlichkeit,
den tragischen Helden meines Romans, übertragen wurde“ (DF: 740; Herv. i. O.).
2 Vgl. 6.1.2.
3 Hermann Danuser weist 1997 auf die fundamentale Unschärfe und Mehrdeutigkeit des

Begriffs ‚Neue Musik‘ hin. Auch in dieser Studie erweist sich der „Relations- und Funk-
tionsbegriff“ als mehrdeutig und gewinnt vor allem in Abgrenzung zu eher populären oder
traditionellen Musikformen, z. B. zur Pop-, Jazz- oder Volksmusik, an Bedeutung. Die Kon-
texte, in denen Werke aufgeführt werden, sowie Gesamttendenzen im Werk eines*einer
Komponist*in ermöglichen ebenfalls eine nur aus heuristischen Gründen vorgenommene
Unterscheidung. Mit dem Begriff verknüpfen sich keinerlei Wertungsabsichten. Siehe Danu-
ser, Hermann: Art. Neue Musik. Einleitung, Allgemeines, Terminologisches. In: MGG Online.
Einleitung XI

Arnold Schönbergs, für Kritik sorgte.4 In diesem Roman wird die avantgardis-
tische Zwölftontechnik mit den politischen und kulturellen Entwicklungen des
faschistischen Deutschlands verknüpft und zudem auf Traditionen des reformato-
rischen Mittelalters zurückgeführt. Dass eine Figur wie Leverkühn den deutschen
Künstler*innentypus repräsentiert, der die Kunst und das Land ins Verderben
laufen lässt, erzeugt seither vielfältige Diskussionen.5
Bereits an dieser knappen Kontextualisierung des Romans lassen sich seine
verschiedenen Interpretationsebenen erkennen, die bisher in der Forschung dis-
kutiert wurden. Eine davon ist beispielsweise die religiöse Dimension, etwa die
Rolle Luthers im Text oder Leverkühns Theologie-Studium sowie die verschie-
denen religiösen Motive und Diskurse, wie z. B. der apokalyptische Diskurs
oder die Christus-Metaphorik. Auch besteht die Möglichkeit, die politische Ebene
in Betracht zu ziehen, also beispielsweise den Kridwiß-Kreis und die antisemi-
tischen Diskurse der damaligen Zeit sowie deren Bezüge auf politische Texte
und Akteur*innen.6 Seit vielen Jahren ist die Forschungsliteratur nicht nur über
Doktor Faustus, sondern auch über Thomas Mann und sein Werk stark ausdif-
ferenziert: Es gibt kaum Aspekte seines Schaffens und Lebens, die noch nicht
untersucht wurden. Auch Manns Verhältnis zur Musik sowie die Beschreibun-
gen von Musikstücken oder die intermedialen Bezüge etwa zu Kompositionen,
Komponist*innen und Musikformen in seinem Werk (und insbesondere in Dok-
tor Faustus) wurden weit rezipiert.7 Wenig jedoch – zu wenig – ist im Vergleich

Zuerst veröffentlicht 1997, online veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-online.de/mgg/sta


ble/12957> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
4 Aus diesem Grund musste Mann die bereits erwähnte Anmerkung auf der letzten Seite des

Romans einfügen. Vgl. Fußnote 1; Ent. (Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, siehe
Siglenverzeichnis); Schoenberg, E. Randol (Hrsg): Apropos Doktor Faustus. Briefwechsel
Arnold Schönberg – Thomas Mann 1930–1951. Wien: Czernin 2009.
5 Dies auch vonseiten des Autors selbst, der zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Romans

einen „Roman eines Romans“, nämlich das Werk Die Entstehung des „Doktor Faustus“
erscheinen ließ, das sich in einem Spannungsverhältnis zwischen autobiographischem Roman
und Selbstkommentar bewegt. Für eine ausführliche Kontextualisierung von Doktor Faustus
sei hier u. a. auf Röcke, Werner (Hrsg.): Thomas Mann Doktor Faustus 1947–1997, Bern
(u. a.): Lang 2001 verwiesen.
6 All diese Dimensionen wurden bereits untersucht, vgl. das Literaturverzeichnis der vorlie-

genden Studie.
7 Exemplarisch sei hier auf die folgenden aktuellen Publikationen verwiesen: Honold, Alex-

ander: Kontrapunkt. Zur Geschichte musikalischer und literarischer Stimmführung bis in die
Gegenwart. In: Gess, Nicola u. Alexander Honold (Hrsg.): Handbuch Literatur & Musik.
Berlin/Boston: de Gruyter 2017, S. 508–534 (insb. S. 529); Lubkoll, Christine: Musik in
XII Einleitung

dazu über Kompositionen zu Manns Œuvre geschrieben worden: Die auffind-


baren Publikationen befassen sich lediglich mit den bekanntesten intermedialen
Transpositionen und Bezugnahmen im musikalischen Bereich, z. B. mit Henzes
Violinkonzert und Manzonis Oper.8
Aufgrund dieser Tatsache erklärt sich nun, warum eingangs von einer For-
schungslücke gesprochen wurde: Obwohl es eine erhebliche Anzahl von Kompo-
sitionen gibt, welche die kontroverse „Musikergeschichte“ (SK: 31) als Vorlage
wählen, wurden bisher wenige Untersuchungen durchgeführt. Die Forschungs-
frage entsteht hier deshalb aus einer Forschungslücke und das Erkenntnisinteresse
besteht folglich darin, aus einer vor allem intermedialen Forschungsperspek-
tive die Kompositionen und Medienkombinationen zu untersuchen, die sich auf
Thomas Manns Roman beziehen, da sie weder in der Literatur- noch in der
Musikwissenschaft rezipiert wurden.

Literatur: Telling. In: ebd., S. 78–94 (insb. S. 85 ff.); Wolf, Werner: Musik in Literatur: Sho-
wing. In: ebd., S. 95–113 (insb. S. 99 f.); Weiher, Frank: Die literarische ‚Wiedergabe‘ fiktiver
Musik. Über Adrian Leverkühns Kompositionen in Doktor Faustus. In: Calzoni, Raul, Peter
Kofler u. Valentina Savietto (Hrsg.): Intermedialität – Multimedialität. Literatur und Musik
in Deutschland von 1900 bis heute. Göttingen: V&R 2015, S. 77–87; Knöferl, Eva: „Dies
Glasperlenspiel mit schwarzen Perlen“: Musik und Moralität bei Hermann Hesse und Thomas
Mann. Würzburg: Ergon 2012; Trabert, Florian: „Kein Lied an die Freude“. Die Neue Musik
des 20. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Erzählliteratur von Thomas Manns Doktor
Faustus bis zur Gegenwart. Würzburg: Ergon 2011, S. 175–315; Vaget, Hans Rudolf: See-
lenzauber. Thomas Mann und die Musik. Frankfurt am Main: Fischer 2006; Mertens, Volker:
Groß ist das Geheimnis. Thomas Mann und die Musik. Leipzig: Militzke 2006; Börnchen,
Stefan: Kryptenhall. Allegorien von Schrift, Stimme und Musik in Thomas Manns „Doktor
Faustus“. München: Fink 2006.
8 Auf die hier verwendete Terminologie aus der Intermedialitätsforschung geht das erste

Kapitel der Arbeit ein. Vgl. Sorg, Timo: Beziehungszauber. Musikalische Interpretation und
Realisation der Werke Thomas Manns. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012; Ziolkow-
ski, Theodore: Leverkühn’s Compositions and their Musical Realizations. In: The Modern
Language Review 3 (Juli 2012) H. 107, S. 837–856; Wißmann, Friederike: Faust im Musik-
theater des zwanzigsten Jahrhunderts. Berlin: Mensch und Buch 2003; Hoffmann, Heike u. a.
(Hrsg.): Die musikalische Welt des Adrian Leverkühn. Ein Projekt zum ‚Faustus‘-Roman
von Thomas Mann, Konzerthaus Berlin 1996–97; Olivari, Anna Maria: Zwischen Novelle
und Tanz. „Mario und der Zauberer“ von Thomas Mann im Vergleich mit der gleichnamigen
Tanzszene von Siegfried Matthus. In: Nagelschmidt, Ilse, Albrecht von Massow u. Almut
Konstanze Nickel (Hrsg.): „Die weiten Flügel der Musik: von Ostpreußen nach Berlin in die
Welt“. Der Komponist Siegfried Matthus. Weimar: Denkena 2016, S. 49–58. Sehr nützlich ist
außerdem für die Recherche zu Vertonungen von literarischen Motiven und Stoffen die Daten-
bank von Frank und Michael Schneider. Zu denen von Thomas Manns Werk siehe: Schneider,
Frank u. Michael: Mann, Thomas. In: Klassikthemen. Stoffe und Motive der Musik. <http://
klassikthemen.de/datakat1.php?one=Mann,%20Thomas> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
Einleitung XIII

Wie lässt sich ein solches heterogenes Material, das etwa aus Opern, Monodra-
men und instrumentalen Kompositionen besteht, die zudem zu unterschiedlichen
Zeiten und in unterschiedlichen Ländern entstanden sind, überhaupt analysieren?
Zunächst ist die Art der Mikroformen des „Musiker-Roman[s]“ (Ent: 25) Doktor
Faustus, die in das Medium der Musik transponiert werden, zu benennen: z. B.
Motive, Figuren und Diskurse des Romans sowie fiktive Werke Adrian Lever-
kühns. Daraus ergibt sich eine erste Einteilung des Vorhabens in die Analyse
von Kompositionen, die Zeitbloms Beschreibungen von Leverkühns fiktiven Wer-
ken in die Musik transferieren, und Kompositionen, die sich Figuren des Romans
zuwenden. Teil zwei beschäftigt sich mit der ersten vorher genannten Unterkate-
gorie und Teil drei mit der zweiten. Zudem geben die Titel der Unterabschnitte
über die jeweils behandelten Motive und Diskurse aus Doktor Faustus Auskunft.
In einem zweiten Schritt wird der Frage nachgegangen, weshalb ausgerech-
net diese Mikroformen in das Medium der Musik transponiert wurden und wie
das mit den Mitteln des neuen Mediums überhaupt möglich ist. Die einzelnen
Abschnitte in den Kapiteln, insbesondere die Abschnitte zu den Kompositio-
nen, geben darauf eine Antwort. Dadurch entstehen neue Lesarten des Romans,
die sich durch drei methodisch-interpretatorische Herangehensweisen untersuchen
lassen. Erstens ist der Entstehungskontext zu beachten: Der apokalyptische Dis-
kurs gewinnt beispielsweise in den 1980er Jahren u. a. aufgrund der Angst vor
einem Atomkrieg an Bedeutung und an Facetten, die sich zum apokalyptischen
Diskurs aus Thomas Manns Zeit, also sowohl aus der Zeit vor dem Zweiten
Weltkrieg als auch aus den letzten Jahren des Weltkonflikts, leicht unterschei-
det.9 Zweitens sind diese neuen Lesarten medial bedingt, da sie dem Versuch und
den Umwegen entspringen, Mikroformen aus dem Medium der fiktionalen Schrift
in das Medium der Musik, das sich anderer Codes und Mittel bedient, zu transfe-
rieren. Drittens lassen sich die neuen Sichtweisen auf Thomas Manns Werk mit
Roland Barthes dadurch erklären, dass sich in diesem Fall die Gruppe, die Dok-
tor Faustus liest, rezipiert und in Musik übersetzt, aus professionell ausgebildeten
Komponist*innen besteht.10 Diese lesen folglich etwa Zeitbloms Schilderun-
gen von Leverkühns Werken und Absichten aus der Perspektive und mit dem
Vorwissen eines*r Musikproduzent*in. Beispielsweise erklären alle in dieser Stu-
die behandelten Komponist*innen Leverkühns Absicht, die Neunte Symphonie
zurückzunehmen, für unmöglich und integrieren Zitate aus Beethovens letztem

9 Vgl.Kap. 4.
10 Barthes,Roland: Der Tod des Autors (1968). In: Ders.: Texte zur Theorie der Autorschaft.
Hrsg. u. kommentiert v. Fotis Jannidis u. a. Stuttgart: Philipp Reclam 2000, S. 185–193, hier:
S. 192.
XIV Einleitung

symphonischen Werk in ihre Kompositionen. Zusammengefasst: Die Auseinan-


dersetzung mit der kompositorischen Rezeptionsgeschichte von Doktor Faustus
lässt ein bereits stark erforschtes Werk neu lesen.
Die zumeist erstmaligen Analysen haben demnach das Ziel, diese komposito-
rischen Reaktionen auf Manns Faustus-Roman der wissenschaftlichen Öffentlich-
keit zugänglich zu machen und somit auch neue Sichtweisen auf ein sonst breit
rezipiertes Werk zu eröffnen.11 Zu erwarten ist also einerseits die Rekonstruktion
der kompositorischen Rezeptionsgeschichte von Doktor Faustus und andererseits
die Analyse von Kontinuitäten und Differenzen zwischen literarischer Vorlage und
intermedialer Transposition oder Bezugnahme. Dies geschieht, wie vorher erläu-
tert, sowohl durch die Berücksichtigung des Entstehungskontextes des jeweiligen
Musikwerkes als auch mittels der Anwendung und ggf. Erweiterung des ana-
lytischen Instrumentariums der Intermedialitätsforschung. Diesem letzten Punkt
entsprechend ermöglicht die Untersuchung der Primärwerke eine Überprüfung
der Kategorien, die für den Medienvergleich konzipiert wurden: Beispielsweise
schließt das neunte Kapitel dieser Studie mit der Beobachtung, dass es für die
Analyse intermedialer Effekte sehr ergiebig ist, etwa nicht nur von Verstärkung
einer Mikroform aus der literarischen Vorlage im neuen Medium zu sprechen,
sondern auch diesen Effekt als skalar und variabel aufzufassen.12 Hans Wer-
ner Henze (teil-)reproduziert im letzten Satz seiner instrumentalen Komposition
nach Thomas Manns Roman die Schwerdtfeger-Episode und Charakteristika die-
ser Geigerfigur ausgerechnet in einem Violinkonzert: Somit werden sowohl das
Violinkonzert, das Leverkühn für ihn schreibt als auch Eigenschaften des Geigen-
spiels von Schwerdtfeger, dem sich die Forschungsliteratur kaum zugewendet hat,
in die Musik transferiert. Dadurch wird die literarische Vorlage stark verstärkt:
Eine qualitative Ausdifferenzierung dieses intermedialen Effekts führt demnach
zu einer größeren Genauigkeit in der Analyse und zu einer besseren Beschreibung
des jeweiligen Werkes nach Doktor Faustus.
Die vorigen Ausführungen rücken bereits die Wichtigkeit des Forschungspara-
digmas der Intermedialität für die Ziele dieser Untersuchung ins Zentrum. Unter
methodologischen Gesichtspunkten besteht ein wichtiges Postulat der vorliegen-
den Studie in der Annahme, dass sich die kompositorische Rezeptionsgeschichte

11 Von ca. 18 Kompositionen mussten aus verschiedenen Gründen (z. B. Umfang, Unauffind-

barkeit der Quellen, Verortung der vorliegenden Studie in der Musikliteraturforschung oder zu
eingeschränktem Bezug auf den Roman) fünf ausgelassen werden. Für eine detaillierte Liste
aller intermedialen Transpositionen bzw. Bezugnahmen sei hier auf die mehrfach aktualisierte
Datenbank Schneiders (siehe Fußnote 8) und Sorg: Beziehungszauber, S. 307 ff. verwiesen.
12 Vgl. 9.2.1.
Einleitung XV

von Doktor Faustus in der analytischen Praxis nur durch ein genuin inter-
disziplinäres Vorgehen rekonstruieren lässt. Als direkte Konsequenz wird hier
keine Auswahl zwischen den drei von Scher identifizierten Gegenstandsbereichen
musikliterarischer intermedialer Forschung („Musik in der Literatur“,13 „Musik
und Literatur“14 und „Literatur in der Musik“15 ) getroffen. Vielmehr behandelt
diese Studie alle drei Bereiche. „[W]erk-/aufführungsintern nachweisbare“16 und
„werk-/aufführungsübergreifend erschließbare“17 Intermedialitätsbezüge, die also
entweder am jeweiligen Werk bzw. an der jeweiligen Aufführung oder außerhalb
des Werkes bzw. der Aufführung z. B. durch den Vergleich mit einem anderen
Werk bzw. einer anderen Aufführung festzumachen sind, werden kombiniert und
bilden das analytische Werkzeug. Diese interdisziplinäre Doppelperspektive, die
sich weder rein literaturzentriert noch rein musikzentriert versteht, scheint für
eine Tandem-Untersuchung wie sie diese Arbeit darstellt, besonders angebracht
zu sein: Um die von Mediengrenzen ermöglichten Spielräume beschreiben zu
können, hilft sowohl das Bewusstsein für mediale Differenzen als auch der Blick
vom Feld der Literatur auf die Musik und vice versa.18 So können die kom-
plexen, zirkulären Verweisstrukturen zwischen den beiden Diskursen, die beim
Transponieren oder Sich-Beziehen auf Thomas Manns Roman entstehen, erfasst
werden.
Im Folgenden sei die Struktur der Arbeit kurz geschildert. Wie bereits ange-
deutet, kristallisierten sich aus der Recherche nach Kompositionen zu Thomas
Manns Doktor Faustus einige Gemeinsamkeiten heraus, die hauptsächlich mit
der Auswahl einer bestimmten Mikroform als Vorlage des Komponierens zu tun
haben. Diese Feststellung ermöglicht eine erste Einordnung der Kompositionen
nach transponierten fiktiven Werken (z. B. der Apocalipsis cum figuris)19 oder

13 Scher, Steven Paul: Literatur und Musik – Entwicklung und Stand der Forschung. In: Ders.

(Hrsg.): Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen
Grenzgebietes. Berlin: Schmidt 1984, S. 9–25, hier: S. 14.
14 Ebd.
15 Ebd.
16 Wolf: Musik in Literatur: Showing, S. 98.
17 Ebd.
18 Dazu vgl. Kap. 1 sowie Rajewsky, Irina O.: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln. Über-

legungen zu grundlegenden Annahmen der Dramentheorie im Kontext einer transmedialen


Narratologie. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 117 (2007) H. 1, S. 25–68,
hier: S. 63 u. auf Gess, Nicola u. Alexander Honold: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Handbuch
Literatur & Musik, S. 1–14, hier: S. 12 f.
19 Vgl. Kap. 4.
XVI Einleitung

Figuren (z. B. Rudolf Schwerdtfeger),20 was sich auch in der Struktur der Arbeit
niederschlägt: Der zweite Teil befasst sich mit den fiktiven Werken und der dritte
Teil mit den Figuren. Warum diese Untergliederung? Weil sich die Analyse mit
leicht unterschiedlichen Gegenständen und methodischen Ansätzen befasst, wie
es im Folgenden veranschaulicht werden soll. Nimmt man die fiktiven Werke
Leverkühns in den Blick, so steht die Umsetzung vor allem des intermedialen tel-
ling durch die Erzählinstanz Zeitblom, d. h. seine Beschreibungen von Leverkühns
Werken, im Medium der Musik im Vordergrund. Dieses Prozedere lässt sich unter
der Formel von der Musik im Text zur Musik in der Musik resümieren. Wendet sich
die Analyse hingegen einer Figur aus dem Roman zu, so befasst sie sich primär
mit dem Transfer von Figurencharakteristika vom Text in die Musik. In einem
Erzähltext wird der Leser*innenschaft eine Figur hauptsächlich durch narratolo-
gisches telling und showing, also durch Kommentare der Erzählinstanz oder das
bloße Zeigen von Eigenschaften präsentiert. In einer Oper kann eine Figur z. B.
durch den Text, die Gestik und die Mimik sowie den Stimmtypus charakterisiert
werden. In einem instrumentalen Werk ist die Figurencharakterisierung bis zu
einem gewissen Grad möglich, nämlich beispielsweise durch paratextuelle Anga-
ben oder durch Instrumente, die man mit der jeweiligen Figur verbinden kann. Es
liegt nahe, dass sich folglich Teil drei mit unterschiedlichen Kategorien aus der
narratologischen und intermedialen Forschung auseinandersetzt. Das in diesem
Teil angewandte Prozedere lässt sich unter der Formel vom Text im Text zum Text
in der Musik subsumieren. Teil eins dient einer ausführlichen Schilderung der For-
schungsziele und der Methode, die später im Laufe der Arbeit Anwendung findet,
und widmet sich einer den ersten Reaktionen auf Thomas Manns Roman, näm-
lich dem Libretto von Eislers Johann Faustus (1952), das vom Komponisten nie
vollständig vertont wurde. Dieses Werk wird im ersten Teil behandelt, einerseits
weil es sich um eine intermediale Bezugnahme handelt, die nicht nur auf Tho-
mas Manns Doktor Faustus, sondern z. B. auch auf Goethes Faust Bezug nimmt,
andererseits weil es über keine Musik verfügt. Die Untersuchung von Eislers Werk
bietet allerdings einen guten Einstieg in die Praxis des Medienvergleichs.
Die Kapitel von Teil zwei und drei weisen eine zweiteilige Struktur auf, die
den vorher präsentierten Formeln, nämlich von der Musik im Text zur Musik in der
Musik und vom Text im Text zum Text in der Musik, Rechnung tragen. Dement-
sprechend werden, ausgehend von einer Analyse des Romans, die Kompositionen
untersucht. Die Leser*innenschaft hat somit die beiden Schritte und Felder der
Analyse, Literatur und Musik, stets vor Augen.

20 Vgl. Kap. 9.
Einleitung XVII

Nun könnte die Frage entstehen, warum Thomas Manns Roman für diese
Untersuchung gewählt wurde. Doktor Faustus ist bekanntlich nicht der einzige
Musikroman der deutschsprachigen Literatur: Als vergleichbare Werke aus dem
20. Jahrhundert seien exemplarisch Franz Werfels Verdi (1924), Klaus Manns
Symphonie Pathétique (1935), Hermann HessesDas Glasperlenspiel (1943), Tho-
mas Bernhards Der Untergeher (1983) oder Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin
(1983) erwähnt. Abgesehen davon, dass für diese Werke keine oder sehr wenige
darauf bezogene Kompositionen auffindbar sind,21 liegt es nahe, dass es sich bei
Doktor Faustus um einen Roman handelt, der aufgrund seiner komplexen verbal
music immer wieder einen gängigen Untersuchungsgegenstand literaturzentrier-
ter Intermedialität darstellt22 und auf den die Neue Musik durch Kompositionen
vielfältiger Art reagiert hat, z. B. mit elektronischer Musik, Oper, Monodrama,
Werken mit Instrumenten aus der norwegischen Volksmusik oder auch rein
instrumentaler Musik für diverse Besetzungen.23 Die zentrale Provokation die-
ses Romans, nämlich die Verbindung der Neuen Musik mit dem Dämonischen,
hat offenbar auf die zeitgenössische Musik intensiv eingewirkt.
Die Musik in Doktor Faustus – in Form etwa von Klangchiffren, Musi-
kerfiguren, fiktiven Musikwerken und musikwissenschaftlichen Diskursen zur
Sterilität der Kunst und zum Spätwerk Beethovens – bildet den Ausgangspunkt
des Komponierens. Der Roman wird somit in das Medium der Musik oder in
die Plurimedialität der Oper transferiert und verlässt daher zum Teil das Gebiet
der Literatur, indem zugleich aber vom Gebiet der Musik aus immer wieder
auf die literarische Vorlage durch Evokation, Simulation oder (Teil-)reproduktion

21 Z. B. zu Hesses Das Glasperlenspiel: Günter Bialas’ Musik des Weltalls für Violine und
Klavier (1945/46; stark beschädigtes Manuskript), Tomás Marco Aragóns Glasperlenspiel für
2 Klaviere (1993/94), Luca Antignanis Il giuoco delle perle di vetro für Orchester (2006); zu
Bernhards Der Untergeher: David Langs Oper the loser (2016); zu Jelineks Die Klavierspie-
lerin: Patricia Jüngers Melodram in einem Akt Die Klavierspielerin (1989). Siehe Schneider,
F. u. M.: Hesse, Hermann. In: Klassikthemen. <http://klassikthemen.de/datakat.php?site=
1&var1=wert1&var2=wert2&one=hesse> (letzter Zugriff: 21.08.2020); Meyer, Gabriele E.:
Bialas, Günter: Werkverzeichnis. Kassel (u. a.): Bärenreiter 2003, S. 42; Resch, Inka (u. a.):
the loser. In: David Lang Music. <https://davidlangmusic.com/music/loser> (letzter Zugriff:
21.08.2020); Unseld, Melanie: Art. Jelinek, Elfriede, Werke. In: MGG Online. 26.07.2017.
<https://www.mgg-online.com/mgg/stable/50998> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
22 Es erscheint kaum ein Sammelband zur musikliterarischen Intermedialität, der nicht auf

Thomas Manns Roman eingeht. Siehe etwa Scher, S. P. (Hrsg.): Literatur und Musik; Cal-
zoni, Kofler u. Savietto (Hrsg.): Intermedialität – Multimedialität; Gess u. Honold (Hrsg.):
Handbuch Literatur & Musik.
23 Siehe etwa die Aufsätze von Honold, W. Wolf und Lubkoll (Fußnote 7). Zum Begriff

‚verbal music‘ vgl. Scher, S. P.: Verbal Music in German Literature. New Haven/London:
Yale University Press 1968.
XVIII Einleitung

Bezug genommen wird. Doktor Faustus selbst verdankt seine Entstehung Diskur-
sen und Mythen, die ebenfalls dem Bereich der Musik- und Musikwissenschaft
entspringen. Im Zentrum des Romans steht zudem auch die Beschreibung von
Kompositionstechniken und -tendenzen der Neuen Musik zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts, etwa Schönbergs „Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander
bezogenen Tönen“,24 die im Rahmen von Werken rezipiert werden, die sich ähn-
licher Musikstile bedienen oder von ihnen ausgehen, und die sich sogar – wie
im Fall von Konrad Boehmers Apocalipsis cum figuris – mit ähnlichen kompo-
sitorischen Anliegen (z. B. der Denaturierung des Klangs) beschäftigen.25 Die
Folgen dieses Transfers in das Medium der Musik sind unterschiedlicher Art:
Humphrey Searle versucht beispielsweise, das intermediale telling des Romans
umzusetzen,26 Fine und Hagen schreiben eine Komposition für das von der
Erzählinstanz gespielte Instrument (die Viola d’amore) bzw. für ein affines (die
Hardangerfiedel).27 Im neuen Medium wird zudem auf dieselben Akteur*innen
der Musikgeschichte und -philosophie (z. B.: Beethoven, Adorno, Schönberg,
Strawinsky) Bezug genommen – und diese Kompositionen werden manchmal
sogar in Kontexten wie den Donaueschinger Musiktagen aufgeführt, die eben-
falls im Roman Erwähnung finden. Die Leser*innenschaft erwartet daher ein sehr
heterogenes und vielfältiges Korpus an Musikwerken.
Die vorliegende Studie füllt eine Forschungslücke, indem sie die kompo-
sitorische Rezeptionsgeschichte von Doktor Faustus aus einer intermedialen
Perspektive beleuchtet. Kontinuitäten und Differenzen zwischen Roman und
Kompositionen stehen im Zentrum, während zugleich das Instrumentarium der
Intermedialitätsforschung erprobt, erweitert und aktualisiert wird. Ausgehend vom
heuristisch produktiven und dynamischen Potenzial der Mediengrenze wird dar-
über hinaus auch ein Mehrwert der Literatur, der Musik und des Austausches
zwischen Literatur und Musik Konturen gewinnen. Um diesen Mehrwert veran-
schaulichen zu können, wird sich nun diese Arbeit auf die Spuren jener zirkulären,
rückkoppelnden Effekte (Text – Musik – Text) begeben, die aus der gleichzeiti-
gen Analyse von Roman und Kompositionen hervorgehen und sogar Neulektüren
von sonst weit rezipierten literarischen Werken wie Doktor Faustus zu bewirken
vermögen.

24 Schönberg, Arnold: Komposition mit zwölf Tönen. In: Ders.: Stil und Gedanke. Aufsätze

zur Musik. Hrsg. v. Ivan Vojtěch. Frankfurt am Main: Fischer 1976, S. 72–96, hier: S. 75,
Herv. i. O.
25 Vgl. 4.2.1.
26 Vgl. 4.2.3 u. 5.2.4.
27 Vgl. 7.2.
Inhaltsverzeichnis

Teil I Intermedialität und intermediale Analysen


1 Forschungsziele und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.1 Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.1.1 Intermedialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.1.2 Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.1.3 Intertextualität/Intramedialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.1.4 Transmedialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.1.5 Klassifikationen und Funktionen von
Intermedialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.1.6 Narrativität in der instrumentalen Musik? . . . . . . . . . . . 20
1.1.7 Mediengrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
1.2 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
1.3 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2 Hanns Eislers Johann Faustus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.1 Hanns Eislers Johann Faustus und Thomas Manns
Doktor Faustus: Kontinuitäten und Differenzen . . . . . . . . . . . . . 30
2.1.1 Eislers Libretto: ein selbständiges Werk? . . . . . . . . . . . 32
2.1.2 Eislers Johann Faustus und Manns Doktor
Faustus: Kontinuitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
2.1.3 Eislers Johann Faustus und Manns Doktor
Faustus: Differenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
2.2 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

XIX
XX Inhaltsverzeichnis

Teil II Adrian Leverkühns Werke


3 Gesta Romanorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
3.1 Die Gesta Romanorum als Labor: Adrian Leverkühns
Puppenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
3.2 Doktor Faustus als Labor: Das Motiv des Inzests im
Werk Thomas Manns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
3.2.1 Das Motiv des Inzests in Wälsungenblut . . . . . . . . . . . . 59
3.2.2 Das Motiv des Inzests in Doktor Faustus . . . . . . . . . . . 61
3.2.3 Das Motiv des Inzests in Der Erwählte . . . . . . . . . . . . . 64
3.3 Vom Roman zur Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
3.3.1 Zwischen Rekonstruktion und Adaption: Frank
Michael Beyers Die Gesta romanorum – Musik
des Adrian Leverkühn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
3.3.2 „Entauratisierung des Inzests“: Peter S.
Odegards The Calling of St. Gregory . . . . . . . . . . . . . . . 74
3.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
4 Apocalipsis cum figuris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
4.1.1 Die musikalische Apokalypse: Adrian
Leverkühns Oratorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
4.1.2 Die politische Apokalypse: Der Kridwiß-Kreis . . . . . . 96
4.2 Vom Roman zur Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
4.2.1 Inverse Warnapokalypsen: Konrad Boehmers
Apocalipsis cum figuris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
4.2.2 Konturlosigkeit: die Apocalipsis sine figuris von
Karl-Wieland Kurz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
4.2.3 Die Musikalisierbarkeit von Doktor Faustus:
Humphrey Searles Apocalypsis cum figuris . . . . . . . . . 117
4.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
5 Dr. Fausti Weheklag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
5.1 Leverkühns Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
5.1.1 (Marien-)klagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
5.1.2 Ausdruck in der Strenge, Sterilität der Kunst
und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
5.2 Vom Roman zur Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
5.2.1 Giacomo Manzonis Oper Doktor Faustus . . . . . . . . . . . 140
Inhaltsverzeichnis XXI

5.2.1.1 Entstehung der Oper und Rezeption


des Romans sowie der Texte Adornos
in Manzonis Selbstkommentaren . . . . . . . . . . 140
5.2.1.2 „Quarto quadro“: Die Teilung des
Raumes, die Integration der Neunten
Symphonie und das klagende Beten . . . . . . . 149
5.2.1.3 Die „Weheklag“: das Volksbuch und
die kollektive Dimension der Schuld . . . . . . . 154
5.2.1.4 Dritter Akt (die Abschiedsrede):
die Realisierung des Wahnsinns im
Medium der Oper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
5.2.1.5 Epilogo: Leverkühns Tod und der
Widerstand der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
5.2.2 György Ránkis Leverkühns Abschied: Leverkühn
als absoluter Protagonist und die Geige des
Teufels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
5.2.3 Peter Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“:
Erinnern, Vergessen, Verstummen und
Zurücknehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
5.2.4 Humphrey Searles The Lamentation of Dr.
Faustus: Marlowe und die Gigue des Teufels . . . . . . . 182
5.3 Fazit .................................................. 186

Teil III Figuren aus Doktor Faustus


6 Der Teufel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
6.1.1 Teufelsevocations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
6.1.2 Zweideutigkeit(-en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
6.2 Vom Roman zur Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
6.2.1 Gender troubles der italienischen Operntradition:
Giacomo Manzonis Teufelsgespräch . . . . . . . . . . . . . . . 220
6.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
7 Zeitblom und die Viola d’amore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus . . . . . . 232
7.1.1 Die Viola d’amore und ihre Bedeutung für die
Familie Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
7.1.2 Zeitbloms Scordatura der Narration . . . . . . . . . . . . . . . . 236
7.2 Vom Roman zur Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
XXII Inhaltsverzeichnis

7.2.1 Zeitbloms musikalisches Talent: Elaine


Fines Four pieces from „Doktor Faustus“:
„Abendmusik“ und „Interlude“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
7.2.2 Simulierte Gleichzeitigkeit, Archivkunst und
Autorinszenierung: Lars Petter Hagens To
Zeitblom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
7.2.3 Fokalisierungswechsel und Überwindung
der Unzuverlässigkeit? – Serenus Zeitblom
in Manzonis Oper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
7.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
8 Hetaera Esmeralda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus . . . . . . . . . . . . . . 272
8.1.1 Femmes fatales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
8.1.2 Unvollständige Tonchiffren und Zeitbloms
Misogynie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
8.2 Vom Roman zur Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
8.2.1 Walzer und h e a e es d: Elaine Fines Esmeralda . . . . 288
8.2.2 Tango, Flageoletts und Figurencharakterisierung:
Hans Werner Henzes 3. Violinkonzert: Drei
Porträts aus dem Roman „Dr. Faustus“ von
Thomas Mann – 1. Satz: Esmeralda . . . . . . . . . . . . . . . . 291
8.2.3 Sichtbare Musik und Zahlensymbolik: Hetaera
Esmeralda von Claude Lenners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
8.2.4 h e a e es d und die Wahrheit der Musik:
Hetaera Esmeralda in der Oper Manzonis . . . . . . . . . . 311
8.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
9 Rudolf Schwerdtfeger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
9.1 Schwerdtfeger in Doktor Faustus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
9.1.1 Der (alltägliche) Mythos des dämonischen
Geigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
9.2 Vom Roman zur Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
9.2.1 Möglichkeiten der Verstärkung einer
literarischen Vorlage: Henzes Rudi S. . . . . . . . . . . . . . . 327
9.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
10 Saul Fitelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
10.1 Intersektionale Analyse der Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
10.1.1 Der jüdische Impresario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
Inhaltsverzeichnis XXIII

10.1.2 Die ungarische Mäzenin und die Frage nach der


Finanzierung des Musikwerkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
10.2 Vom Roman zur Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
10.2.1 Saul Fitelberg in Manzonis Oper: Eine Reflexion
über Finanzierungsmöglichkeiten und die
Zukunft der Oper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
10.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
11 Echo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
11.1 Echo und das Echo-Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
11.1.1 Echo-Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
11.1.2 Systemkontaminationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
11.2 Vom Roman zur Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
11.2.1 Echohafte Resonanzen der Viola d’amore:
Elaine Fines „Echo“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
11.2.2 Nachhall, Montage und Kinderlieder: Henzes
Das Kind Echo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
11.2.3 Cluster und off-stage-Echos: Echo in Manzonis
Oper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
11.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379

Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
Teil I
Intermedialität und intermediale Analysen
Forschungsziele und Methode
1

Gegenstand dieser Untersuchung sind Werke, die das Resultat komplexer und
vielfältiger Medienkombinationen, intermedialer Transfers und Transformatio-
nen sind oder an denen sich zahlreiche intra-, inter- und transmediale Bezüge
erkennen lassen.1 Zunächst einmal ist Thomas Manns Doktor Faustus selbst
ein sehr geeigneter literarischer Text zur Erforschung von Intermedialität, da
er die Grenzen der Literatur mehrfach überschreitet und eine Annäherung an
bildende Kunst und Musik wagt.2 Auch enthält diese Arbeit Analysen von Kom-
positionen und Werken, die verschiedene Medien, wie etwa Manzonis Doktor
Faustus3 oder Boehmers Apocalipsis cum figuris4 kombinieren und die auf Tho-
mas Manns höchst kontroversen „Musiker-Roman“ (Ent: 25) reagieren, indem
sie Mikroformen des Romans verschiedener Art (Motive, fiktive Werke, Figuren)
in ein anderes kommunikativ-semiotisches System transferieren.5 Diese Werke,
wie z. B. Hagens To Zeitblom6 oder Henzes Violinkonzert7 gehen dadurch ihrer-
seits an die Grenze zwischen den beiden Gebieten der Musik und der Literatur

1 Zur hier verwendeten Terminologie, die im Folgenden erläutert wird, siehe u. a. Rajew-
sky, I. O.: Intermedialität. Tübingen/Basel: Francke 2002, S. 15–18 und Gess, Nicola:
Intermedialität reconsidered. Vom Paragone bei Hoffmann bis zum Inneren Monolog bei
Schnitzler. In: Poetica 40 (2010) H. 1–2, S. 139–168 (insb. S. 141–144).
2 Vgl. Einleitung.
3 Vgl. 5.2.1, 6.2, 7.2.3, 8.2.4, 10.2 u. 11.2.3.
4 Vgl. 4.2.1.
5 Vgl. Gess: Intermedialität reconsidered, S. 141. Gess stützt sich auf Paech, Joachim:

Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen. In: Helbig, Jörg


(Hrsg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets.
Berlin: Schmidt 1998, S. 14–30 (insb. Kapitel 2).
6 Vgl. 7.2.2.
7 Vgl. 8.2.2, 9.2 u. 11.2.2.

© Der/die Autor(en) 2021 3


A. M. Olivari, Doktor Faustus (ver-)stimmen,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62635-1_1
4 1 Forschungsziele und Methode

oder kombinieren beide kommunikativ-semiotischen Systeme in einem sekun-


dären intermedialen und plurimedialen Produkt, wie z. B. Ránkis Leverkühns
Abschied 8 oder Lenners’ Hetaera Esmeralda.9 Auch auf diese Untersuchung
selbst lässt sich der Begriff der Grenzüberschreitung anwenden. Um grenzüber-
schreitende Werke analysieren zu können, muss nicht nur die Kunst, sondern
auch die Wissenschaft selbst an die Grenzen des eigenen Faches gehen und mit
anderen Disziplinen interagieren. Nur so kommt man zu plausiblen Ergebnissen:
Die vorliegende, von einer literarischen Vorlage ausgehenden Studie integriert aus
diesem Grund musikwissenschaftliche Kategorien und Werkzeuge in das eigene
Analyseinstrumentarium. Beispielsweise geht es nicht lediglich darum zu zei-
gen, dass bestimmte Figuren des Romans in einer Komposition wiederzufinden
sind, z. B. die Figur des Teufels samt ihren drei Gestalten wie im Roman in
Manzonis Oper.10 Vielmehr ist es für die Analyse sehr fruchtbar zu untersu-
chen, mit welchen spezifischen Mitteln eines musikalischen Bühnenwerkes, etwa
Kostüm, Bühnenbild, Stimmtypen, diese Figur realisiert wird und welche Impli-
kationen diese Aspekte für den Kontext und das Medium bzw. die Medien der
jeweiligen intermedialen Transposition haben (im Fall von Manzonis Oper: Mai-
land, 1989, Teatro alla Scala). Die Untersuchung der jeweiligen Rezeption des
Romans geschieht somit nicht ausschließlich aus literaturwissenschaftlicher Per-
spektive und kann demnach die spezifischen Eigenschaften des neuen Mediums
für umfassende Beobachtungen produktiv machen.

1.1 Begriffsklärung

Die Ausführungen der darauf folgenden Kapitel sind im intermedialen Bereich


angesiedelt: Da unter die Kategorie ,Intermedialität‘ verschiedene Phänomene
fallen und da sich dieses Forschungsparadigma durch eine ausdifferenzierte Viel-
falt an Ansätzen, Definitionen und Methoden auszeichnet,11 erscheint eine kurze
Besprechung der für die spätere Analyse verwendeten Begriffe und Kategorien
unabdingbar.

8 Vgl. 5.2.2.
9 Vgl. 8.2.3.
10 Vgl. 6.2.
11 Siehe dazu Rajewsky: Intermedialität, S. 2–5.
1.1 Begriffsklärung 5

1.1.1 Intermedialität

Zunächst werden drei Definitionen von Intermedialität vorgestellt. Nach Irina


Rajewsky umfasst Intermedialität „Mediengrenzen überschreitende Phänomene,
die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien invol-
vieren“.12 Werner Wolf greift im Metzler-Lexikon auf diese Definition zurück
und differenziert zwischen einem weiten und einem engen Verständnis von Inter-
medialität: Im ersten Fall sei Intermedialität „jedes Überschreiten von Grenzen
zwischen konventionell als distinkt angesehenen Ausdrucks- oder Kommunika-
tionsmedien“13 im zweiten Fall, also „in einem engeren, ,werkinternen‘ Sinn
analog zur Intertextualität, die eine in einem Text nachweisliche Einbezie-
hung mindestens eines weiteren (verbalen) Textes bezeichnet“,14 sei sie „eine
in einem Artefakt nachweisliche Verwendung oder (referentielle) Einbeziehung
wenigstens zweier Medien“.15 Uwe Wirth sieht Intermedialität als „transdiszi-
plinäre ,Schnittstelle‘ zwischen Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft“,16
wertet sie gar als zentrales Konzept „für die Kopplung von Literaturwissen-
schaft und Medienkultur“17 und weist auf die Doppeldeutigkeit des Begriffs
,Schnittstelle‘ hin, der „gleichermaßen einen Moment der Grenzziehung und
der Grenzüberschreitung“18 impliziere. Gemeinsam ist diesen Definitionen die
Erwähnung des Begriffs ,Medium‘ und nicht ,Text‘, was auf eine Verortung der
Diskussion im intermedialen und nicht im intertextuellen Bereich im Sinne eines
entgrenzten Textbegriffs schließen lässt. Darüber hinaus stellen alle drei Defini-
tionen fest, dass Intermedialität ohne Einbeziehung oder Verwendung mindestens
zweier Medien nicht möglich ist (sonst würde man von ,Intramedialität‘ oder
,Intertextualität‘ sprechen) und dass die Analyse intermedialer Phänomene eine
inter- und transdisziplinäre Perspektive voraussetzt, die zu einem verschärften

12 Ebd., S. 13.
13 Wolf, W.: Intermedialität. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Metzler Lexikon. Literatur und
Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler 2013 [1998], 5. erw.
und aktual. Aufl., S. 344 ff., hier: S. 344.
14 Ebd.
15 Ebd. Zur werkinternen und werkexternen Intermedialität siehe auch Wolf: Musik in

Literatur: Showing, S. 98. Auf die beiden Begriffe wird später eingegangen.
16 Wirth, Uwe: Hypertextuelle Aufpfropfung als Übergangsform zwischen Intermedialität

und Transmedialität. In: Meyer, Urs, Roberto Simanowski u. Christoph Zeller (Hrsg.):
Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Göttingen: Wallstein 2006,
S. 19–38, hier: S. 19.
17 Ebd.
18 Ebd., Herv. i. O.
6 1 Forschungsziele und Methode

Blick über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Grenzüberschreitung, also


über mediale Kontinuitäten und Differenzen, führt.

1.1.2 Medium

Eine Definition von Intermedialität hängt vom jeweiligen Verständnis des Begriffs
,Medium‘ ab. In Anlehnung an Publikationen von Rajewsky und Wolf stützt
sich die vorliegende Arbeit auf ein weites Konzept von Medium als ein –
so Werner Wolf – „konventionell im Sinn eines kognitiven frame of reference
als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv“.19 Der Vorteil dieses Ver-
ständnisses gegenüber einem, das Medium als „technisch-materiell definierte[n]
Übertragungskanal von Informationen“20 begreift, liegt darin, dass man sowohl
Medien wie die Literatur, die sich in der Regel eines einzigen semiotischen
Systems bedienen, der schriftlich fixierten Sprache, als auch andere, z. B. das
im Rahmen dieser Untersuchung wichtige Medium der Oper, das auf mehrere
semiotische Systeme (Bild, Musik, Text) zurückgreift, als „,(Einzel-)Medien‘“21
bezeichnen kann.22

1.1.3 Intertextualität/Intramedialität

In seiner Definition von Intermedialität „in einem engeren, ,werkinternen‘ Sinn“23


deutet Werner Wolf bereits darauf hin, dass eine Analogie zwischen Interme-
dialität und Intertextualität besteht, und definiert dieses letzte Phänomen als „in
einem Text nachweisliche Einbeziehung mindestens eines weiteren (verbalen)
Textes“.24 Geht man von einem weitgefassten Textbegriff im Sinne Kristevas aus,
so wird der Text nicht nur als verbaler Text begriffen, sondern z. B. auch als

19 Wolf, W.: Intermedialität. Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Litera-

turwissenschaft (2002). In: Bernhart, Walter (Hrsg.): Selected Essays on Intermediality by


Werner Wolf (1992–2014). Theory and Typology, Literature-Music Relations, Transmedial
Narratology, Miscellaneous Transmedial Phenomena. Leiden/Boston: Brill Rodopi 2018,
S. 63–91, hier: S. 65.
20 Ebd.
21 Rajewsky: Intermedialität, S. 7.
22 Zum Begriff ,Medium‘ siehe auch: Robert, Jörg: Einführung in die Intermedialität.

Darmstadt: WBG 2014, S. 21 ff.


23 Wolf: Intermedialität, S. 344.
24 Ebd.
1.1 Begriffsklärung 7

bildlicher und musikalischer. Aus einer solchen Sicht heraus scheint der Begriff
,Intermedialität‘ überflüssig zu sein, da die logische Konsequenz dieser „radika-
len Entgrenzung und Metaphorisierung des Textbegriffs“25 die „Entgrenzung des
Intertextualitätsbegriffs“26 selbst wäre.27
Folglich würde man in dieser Studie beispielsweise lediglich vom Text reden,
sowohl in Bezug auf die Musik als auch auf die Literatur. Der Rückgriff aber
auf einen kommunikativ-semiotisch intendierten Begriff des Mediums und infol-
gedessen auf den Begriff der ,Intermedialität‘ ermöglicht in erster Linie die
Beachtung medialer Differenzen, die in dieser Untersuchung zu einer umfassen-
den Rekonstruktion der jeweiligen Rezeption im neuen Medium beitragen. Wie
Wirth in der bereits erwähnten Definition hervorhebt, subsumiert der Terminus
,Intermedialität‘ die beiden Gesten der Grenzüberschreitung und Grenzziehung;
der letztgenannte Gestus besteht etwa in der Anerkennung einiger grundlegen-
der Unterschiede in den Möglichkeiten der Einbeziehung eines weiteren verbal
fixierten Textes in einem Roman, was im Gegensatz zur Einbeziehung einer
musikalischen Komposition in einem Roman steht, z. B. in der „Erkenntnis, daß
ein literarischer Text das […] [musikalische] System nicht realisieren, sondern
immer nur ,thematisieren‘, ,imitieren‘ oder ,evozieren‘ kann“.28 Diese termino-
logische und systematische Grenzziehung ermöglicht eine fundierte Erfassung
von Grenzüberschreitungen, welche die Potentialität der jeweiligen Medien, die
einbezogen oder verwendet werden, stärker berücksichtigt. In Anlehnung an
Rajewsky wird daher in der vorliegenden Studie der Begriff der Intertextualität
durch den der Intramedialität weitgehend ersetzt. Dadurch soll verdeutlicht wer-
den, dass die Analysen von dem vorher erläuterten kommunikativ-semiotischen
Medium-Begriff ausgehen und als wichtige Voraussetzung die Frage ansehen,
ob die betrachteten Phänomene innerhalb eines bestimmten Mediums oder zwi-
schen zwei oder mehreren Medien, also zwei oder mehreren konventionell als
unterschiedlich angesehenen kommunikativ-semiotischen Systemen, angesiedelt
sind.29

25 Rajewsky: Intermedialität, S. 48.


26 Ebd.
27 Vgl. auch Kristeva, Julia: Bakthine, le mot, le dialogue et le roman. In: Critique 13

(1967), S. 438–465.
28 Rajewsky: Intermedialität, S. 57.
29 Rajewsky benutzt den Terminus ,Intertextualität‘ nur als Subkategorie der Intramedia-

lität, und zwar als alternative Bezeichnung der intramedialen Einzelreferenz. Siehe etwa
ebd., S. 157. Zur Unterscheidung von Intertextualität zur Intermedialität vgl. auch Robert:
Einführung in die Intermedialität, S. 20 f.
8 1 Forschungsziele und Methode

1.1.4 Transmedialität

Eine weitere, nötige Präzisierung der hier verwendeten Begriffe betrifft die ,Trans-
medialität‘. Auch in diesem Fall wird auf Rajewskys Untersuchung rekurriert, die
als wichtiges Kriterium zur Unterscheidung zwischen Intermedialität und Trans-
medialität das Gebundensein „an eine bestimmte Medienspezifik“30 bzw. „an
eine bestimmte mediale Präsentationsform“31 betrachtet.32 Ihrer Auffassung nach
bezeichnet Transmedialität33

medienunspezifische Phänomene, die in verschiedenen Medien mit den dem jewei-


ligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne daß hierbei die
Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist.

Beispiele für Transmedialität wären dementsprechend etwa die Parodie, die als
Genre nicht nur dem Medium Literatur zugeordnet werden kann sowie christli-
che Motive, die als „Teil des allgemeinen Kulturguts […] nicht (mehr) an eine
bestimmte mediale Präsentationsform gebunden sind“.34 Wenn beispielsweise in
Kapitel vier über die Apocalipsis cum figuris dargestellt wird, wie sich der apoka-
lyptische Diskurs in Thomas Manns Roman und in den Kompositionen entfaltet,
dann bewegt sich die Analyse auch auf dem Gebiet der Transmedialität. Dabei
verlässt sie jedoch den Bereich der Intermedialität nicht, da die behandelten
Musikwerke zugleich den apokalyptischen Diskurs von Doktor Faustus und den
apokalyptischen Diskurs im Allgemeinen (teil-)reproduzieren. Das betrifft auch
die Transposition von parodistischen Elementen des Romans, etwa in Searles
Lamentation:35 Indem diese Medienkombination parodistische Elemente der fik-
tiven Kantate Leverkühns (teil-)reproduziert, setzt sie sich auch automatisch mit
dem transmedialen Genre der Parodie auseinander und reproduziert und aktuali-
siert auch dieses in der Medienkombination. Aus diesen Beispielen geht hervor,
dass die Grenzen zwischen Intermedialität und Transmedialität oft nicht scharf
gezogen werden können. Besonders deutlich wird das in dieser Untersuchung,

30 Rajewsky: Intermedialität, S. 73.


31 Ebd.
32 Andere Studien subsumieren unter ,Transmedialität‘ auch Phänomene des Medienwech-

sels sowie intermediale Bezugnahmen. Siehe ebd., S. 207.


33 Ebd., S. 207.
34 Ebd., S. 73.
35 Vgl. 5.2.4.
1.1 Begriffsklärung 9

weil sie sich sowohl mit intermedialen Bezugnahmen als auch mit intermedialen
Transpositionen36 und Medienkombinationen beschäftigt.37

1.1.5 Klassifikationen und Funktionen von Intermedialität

Um die drei letztgenannten Begriffe zu erläutern, sei hier wieder auf Rajewsky
verwiesen: Die Forscherin nimmt eine Untergliederung von Intermedialität in die
drei Subkategorien der intermedialen Bezugnahme, des Medienwechsels und der
Medienkombination vor. Die erste Subkategorie umfasse38

Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme


auf ein Produkt (=Einzelreferenz) oder das semiotische System (=Systemrefe-
renz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums mit den dem
kontaktnehmenden Medium eigenen Mitteln.

Nur Letzteres zeichne sich durch seine materielle Präsenz aus. Beispiele aus
der vorliegenden Untersuchung wären gemäß dieser Definition die Bezugnahme
auf Beethovens Neunte Symphonie, auf musikalische Klageformen oder auf die
Zwölftontechnik. Die Subkategorie des Medienwechsels hat Rajewsky zufolge
mit der „Transformation eines medienspezifisch fixierten Produkts bzw. Produkt-
Substrats in ein anderes, konventionell als distinkt wahrgenommenes Medium“39
zu tun, auch in diesem Fall ist „nur letzteres […] materiell präsent“.40 Als

36 Zum Begriff siehe Fußnote 40.


37 Siehe auch ebd., S. 104 f.
38 Ebd., S. 19.
39 Ebd.
40 Ebd. Gess kritisiert den Begriff ,Medienwechsel‘ und schlägt, insbesondere im Kontext

musikliterarischer Intermedialität, den Begriff ,Medientransformation‘ vor (zu beachten


ist aber, dass sich hier Rajewsky beim Beschreiben des Phänomens bereits des Termi-
nus bedient): „Es geht bei musik-literarischer Intermedialität nicht um den Wechsel eines
medienunabhängigen etwas von einem Medium ins andere, sondern um die Transformation
des Mediums selbst im Sinne der Transformation medienspezifischer Eigenschaften und
Verfahren“. Die Annahme eines Wechselns sei in diesem Fall besonders problematisch,
speziell im Fall des „Übergang[s] von Musik in literarischen Text“ (z. B. Kontrapunkt
in einem Text), „weil Musik keine medienunabhängigen, inhaltliche Substrate zugewiesen
werden können, die man aus ihr herauslösen und in ein anderes Medium wechseln lassen
könnte“. Gess: Intermedialität reconsidered, S. 142, Herv. i. O. Vielleicht ist diesbezüglich
Wolfs Terminus der ,intermedialen Transposition‘ zu präferieren, insofern er beide Ges-
ten des Transfers und der medienspezifischen Transformation in den Fokus rückt. Siehe
Wolf, W.: Intermedialität. Ein weites Feld und eine Herausforderung, S. 77 u. Ders.:
10 1 Forschungsziele und Methode

Medienwechsel lassen sich vor allem aufgrund des Bezugs auf Thomas Manns
Roman, der oft durch die Paratexte programmatisch deklariert wird, die Mehr-
heit der hier betrachteten Kompositionen einstufen: Henzes Violinkonzert trägt
z. B. den Untertitel Drei Porträts aus dem Roman „Dr. Faustus“ von Thomas
Mann.41 Eine Ausnahme stellen etwa die Kompositionen von Hagen,42 Ruzicka43
und Kurz44 dar, von denen es angebrachter wäre zu sagen, dass sie interme-
diale Bezugnahmen auf Doktor Faustus enthalten, da sehr kleine Mikroformen
aus dem Roman das Medium „wechseln“ und es sich daher eher um Bezug-
nahmen bzw. sehr kleine Einbeziehungen handelt. Die dritte Subkategorie, der
sich fast alle Kompositionen dieser Studie zuordnen lassen (mit Ausnahme von
Henzes Violinkonzert, Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“ und Fines Four pie-
ces from „Doktor Faustus“),45 sind Medienkombinationen.46 Rajewsky definiert
sie als „die Kombination bzw. das Resultat der Kombination mindestens zweier,
konventionell als distinkt wahrgenommener Medien“,47 die „in ihrer Materia-
lität präsent sind und jeweils auf ihre eigene, medienspezifische Weise zur
(Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtprodukts beitragen“.48 Das wahrscheinlich
beste Beispiel ist die Oper, welche – auf der reinen Ebene der Lektüre, d. h. nur
anhand der Partitur – die Medien des Textes und der Musik kombiniert (zieht man
die Aufführung in Betracht, so erweitert sich die Anzahl an Medien).
Des Weiteren werden bei Rajewsky intermediale Bezüge in die zwei Hauptka-
tegorien der Einzelreferenz und Systemreferenz untergliedert.49 Im ersten Fall
wird auf ein Produkt eines anderen Mediums Bezug genommen, in Doktor
Faustus z. B. auf Monteverdis Lamento d’Arianna bei der Beschreibung der
Weheklag. Diese bloße Thematisierung von Monteverdis musikalischem Werk
könnte eine Systemreferenz indizieren, also beispielsweise die Simulation oder

Narrativity in Instrumental Music? A Prototypical Narratological Approach to a Vexed


Question (2008). In: Bernhart (Hrsg.): Selected Essays on Intermediality by Werner Wolf,
S. 480–500.
41 Vgl. 8.2.2.
42 Vgl. 7.2.2.
43 Vgl. 5.2.3.
44 Vgl. 4.2.2.
45 Vgl. 7.2.1, 8.2.1 u. 11.2.1.
46 Bei W. Wolf bilden ,Medienkombinationen‘ zusammen mit ,Medienmischungen‘ Unter-

kategorien von ,Plurimedialität‘. Siehe Wolf., W.: Intermedialität. Ein weites Feld und eine
Herausforderung, ebd.
47 Rajewsky: Intermedialität, S. 15.
48 Ebd.
49 Siehe etwa ebd., S. 157.
1.1 Begriffsklärung 11

(Teil-)reproduktion musikalischer Klageformen im Roman.50 Erster Schritt einer


Intermedialitätsanalyse ist die Suche nach Markierungen im Text:51 Die vorlie-
gende Studie folgt eben diesem Prozedere, das sich in der analytischen Praxis
strukturiert und systematisch umsetzen lässt. In Bezug auf Doktor Faustus lässt
sich etwa feststellen, dass Monteverdis Komposition nicht einfach erwähnt wird,
sondern auch eine Systemreferenz auf musikalische Klageformen indiziert. Dies
bestätigt nicht nur die Einzelreferenz auf Monteverdis Werk, sondern auch die
explizite Systemerwähnung eben dieser Formen, sowohl in Monteverdis Schaffen
als auch in der gesamten musikalischen Tradition (nicht nur) des Abendlandes.52
Die Systemerwähnung stellt bei Rajewsky eine Subkategorie der Oberkate-
gorie der Systemreferenz dar: Ein semiotisches System kann einfach explizit
erwähnt werden (siehe z. B. Zeitbloms explizite Erwähnung „ich spiele die Viola
d’amore“, DF: 12)53 oder eine wichtige Voraussetzung für die Weiterführung der
Analyse sein. Jene Markierung kann sich als Indiz für eine „fremdmedial bezo-
gene Illusionsbildung“,54 also für eine „Systemerwähnung qua Transposition“55
erweisen; dementsprechend könnte man sich fragen, ob das System, im Fall
des vorher genannten Beispiels das musikalische System des Spielens der Viola
d’amore, im Text auch evoziert oder simuliert wird. Wird im Text eine „Ähnlich-
keitsbeziehung zwischen dem ,Vergleichs‘objekt und bestimmten Komponenten
des […] [musikalischen] (Sub-)Systems hergestellt“,56 die „in die Bedeutungs-
konstitution des jeweiligen Textes“57 eingehen? Kommt es vielleicht sogar zu
„einer sprachlichen Imitation der […] [musikalischen] Mikroform“,58 also zu
einer Ähnlichkeitsbeziehung, die „nicht nur ,über das Bezugssystem redend‘
suggeriert oder wie in anderen Fällen konstatiert, sondern tatsächlich diskursiv
hergestellt wird“?59 Beantwortet man die erste oder die zweite Frage positiv, so
hat man es nicht nur mit einer expliziten Systemerwähnung, sondern zusätzlich
auch jeweils mit einer evozierenden und einer simulierenden Systemerwähnung
zu tun.

50 Vgl. 5.1.1.
51 Siehe etwa Rajewsky: Intermedialität, S. 113 f.
52 Vgl. DF: 703.
53 Vgl. Kap. 7.
54 Rajewsky: Intermedialität, S. 111.
55 Ebd., S. 157, Herv. i. O.
56 Ebd., S. 91.
57 Ebd.
58 Ebd., S. 95.
59 Ebd.
12 1 Forschungsziele und Methode

Die dritte Unterform der Systemerwähnung ist die „(teil-)reproduzierende


Systemerwähnung“,60 die jedoch nicht auf das genannte Beispiel angewendet wer-
den kann, da sich das Spielen der Viola d’amore weder als medienunspezifisch
noch als medial deckungsgleich begreifen lässt. (Teil-)reproduzieren lassen sich
in einem anderen Medium nur medienunspezifische Elemente eines bestimmten
kontaktgebenden Systems, beispielsweise „charakteristische inhaltliche Elemente,
Figuren, Figurenkonstellationen, Dialog- und/oder Handlungsstrukturen“61 eines
Genres: Der transmediale apokalyptische Diskurs kann etwa in den Kompositio-
nen, also im Medium der Musik, wohl reproduziert werden, der apokalyptische
Diskurs von Doktor Faustus kann hingegen mit den Mitteln der Musik nur partiell
wiedergegeben werden, und zwar „in seinen medienunspezifischen Bestandtei-
len“.62 Medial deckungsgleiche Elemente bzw. Strukturen, die ebenfalls in einem
anderen semiotischen System teilreproduziert werden können, sind etwa verbal-
sprachliche Komponenten: Um erneut auf Zeitbloms Beschreibung der Weheklag
zu verweisen, lässt sich beispielsweise feststellen, dass zwar bestimmte sprach-
liche Elemente von Stabat Mater-Texten auch im Roman reproduziert werden
können, sich aber die Makroform des musikalischen Stabat Mater nur durch ein
Hinzudenken der Leser*innenschaft gänzlich wiedergeben lässt, folglich nicht
mit den Mitteln des fiktionalen Textes.63 Dies stellt einen wichtigen Unterschied
zur Intramedialität dar: Bei dieser ist hingegen auch eine Systemaktualisierung
möglich,64 d. h. ein literarischer Text kann etwa bestimmte „literarische Subsys-
teme (spezifische Genres, Texttypen usw.)“65 erwähnen, reproduzieren und somit
aktualisieren.
Häufen sich die intermedialen Systemerwähnungen in einem Text und tau-
chen diese dementsprechend nicht nur in einer Passage auf, so kann es Rajewsky
zufolge zu einer Systemkontamination, also zu einer „Modifikation des kon-
taktnehmenden in Richtung auf das kontaktgebende System“66 kommen. Auch
hier ist die Frage, ob eine fremdmedial bezogene Illusionsbildung hervorgerufen
wird, zentral: Eine Bejahung führt zum nächsten Schritt der Analyse, nämlich

60 Ebd., S. 157.
61 Ebd., S. 104.
62 Ebd., S. 108; vgl. Kap. 4.
63 Vgl. 5.1.1.
64 Abgesehen davon, weist Rajewsky darauf hin, „daß ein literarischer Text stets und per

definitionem das System ,Literatur‘ aktualisiert“. Ebd., S. 71, Herv. i. O.


65 Ebd., S. 71.
66 Ebd., S. 133.
1.1 Begriffsklärung 13

zur Unterscheidung zwischen einer „Systemkontamination qua Translation“67


und einer „teilaktualisierende[n] Systemkontamination“.68 Wichtiges Kriterium
ist in diesem Fall die Feststellung der Art dieser „kontaminierenden“ Elemente.69
Hat man es mit medienunspezifischen bzw. medial deckungsgleichen Elemen-
ten zu tun, so handelt es sich um eine teilaktualisierende Systemkontamination:
Das fremdmediale System wird dadurch partiell zur Texterzeugung verwen-
det und folglich auch partiell aktualisiert.70 Es konnte z. B. in dieser Studie
gezeigt werden, dass sich etwa medial deckungsgleiche Mikroformen nicht nur in
der Beschreibung der Weheklag, sondern nahezu im gesamten Roman auffinden
lassen, die auf das musikalische System, und speziell auf das der musikali-
schen Klagen verweisen, und dass auf diese Weise eine fremdmedial bezogene
Illusionsbildung im Text hervorgerufen wird. Dies sprengt den Rahmen einer
intermedialen (Teil-)reproduktion und ist als teilaktualisierende Systemkontami-
nation zu werten. Wenn durchgehend medial spezifische Elemente auftreten und
eine altermedial bezogenen Illusionsbildung in einem Text hervorgerufen wird,
lässt sich dieses Phänomen hingegen der Subkategorie der Systemkontamination
qua Translation zuordnen: Darunter versteht Rajewsky die „Übertragung oder
Verschiebung fremdmedialer Regeln und Prinzipien auf oder in das literarische
Medium“.71 Konstituiert sich der gesamte Text so, dass Regeln und Prinzipien
übertragen werden, die dem literarischen Medium nicht inhärent sind, z. B. Regeln
aus der Aufführungspraxis der Viola d’amore auf das Verfassen einer fiktionalen
Schrift, so sprengt das ebenfalls den Rahmen einer Systemerwähnung und tritt in
das Feld der Systemkontamination qua Translation ein.
Uwe Wirth entwirft ein Stufenmodell von Intermedialität, das zum Teil Rajew-
skys Phänomenbereiche der intermedialen Bezugnahme, des Medienwechsels
und der Medienkombination sowie die Arten der intermedialen Bezüge (Ein-
zelreferenz, Systemerwähnung, Systemkontamination) integriert. Die Nullstufe
der Intermedialität bestehe im bloßen „Thematisieren eines Mediums in einem
anderen Medium, etwa [in] eine[r] literarische[n] Reflexion über die Malerei“,72

67 Ebd., S. 145, Herv. i. O.


68 Ebd.
69 Obwohl Rajewsky betont, dass der Begriff ,Kontamination‘ hier nicht in einem negativ

konnotierten Sinne verwendet werde, scheint es schwierig, ihn im Sinne einer Befruch-
tung medialer Systeme zu verstehen. Siehe ebd., S. 133. Zur Metaphorizität intermedialer
Begriffe sei hier auf Robert: Einführung in die Intermedialität, S. 24 verwiesen.
70 Siehe Rajewsky: Intermedialität, S. 142 f.
71 Ebd., S. 134.
72 Wirth: Hypertextuelle Aufpfropfung, S. 32.
14 1 Forschungsziele und Methode

was mit Rajewskys expliziter Systemerwähnung und Werner Wolfs intermedia-


lem telling korrespondiert und ebenfalls ein Indiz für „implizite Inszenierungen
von Intermedialität“,73 also für Evokation, Simulation und (Teil-)reproduktion
nach Rajewsky oder intermediales showing laut Wolf, sein kann.74 Die erste
Stufe definiert Wirth als die „mediale Modulation der Konfiguration eines Zei-
chenverbundes“;75 sie betreffe etwa den „Übergang von gesprochener Sprache
in geschriebene“:76 Solche Phänomene seien, so Wirth, erst dann als interme-
dial zu werten, „wenn sie zu einer Re-Konfiguration des Zeichenverbundsystems
führen“,77 z. B. im Fall einiger Text-Transfers wie der „Transformation von dra-
matischen Texten in theatrale Aufführungen“.78 Ein Beispiel aus dieser Studie
wäre etwa die Transformation von Manzonis Partitur in die Uraufführung im Tea-
tro alla Scala: Der Vergleich zwischen gedruckter Partitur und Aufführung in den
entsprechenden Abschnitten dieser Arbeit ließe sich demnach der ersten Stufe der
Intermedialität nach Wirth zuordnen. Bei der zweiten Stufe der Intermedialität
geht es um „die Kopplung verschieden konfigurierter Zeichenverbundsysteme –
etwa die Kopplung von Text und Bild“.79 Wirth erläutert die Besonderheit dieser
Kopplung wie folgt:80

Im Gegensatz zu einem multimedialen Nebeneinander ist das intermediale Mit-


einander durch eine integrierende konzeptionelle und mediale Re-Konfiguration
ausgezeichnet. Eine derartige Re-Konfiguration impliziert eine technisch-mediale
und eine inszenierend-konzeptionelle Modulation der performativen Rahmenbedin-
gungen. Das Modell hierfür sind mediale Hybridbildung und mediale Aufpfropfung.

Es handelt sich der Beschreibung entsprechend um eine Medienkombination, die


Konsequenzen für die performativen Rahmenbedingungen hat: So z. B. in Hagens
Komposition, die durch die in der Partitur vorgesehene Moderation inmitten der
Performance die sonst rein instrumentale Komposition re-konfiguriert.

73 Ebd.
74 Zum intermedialen showing und telling siehe Wolf: Musik in Literatur: Showing, S. 95 f.
und Ders: „The musicalization of fiction“. Versuche intermedialer Grenzüberschreitung
zwischen Musik und Literatur im englischen Erzählen des 19. und 20. Jahrhunderts. In:
Helbig (Hrsg.): Intermedialität, S. 133–164, hier: S. 133.
75 Wirth: Hypertextuelle Aufpfropfung, S. 32, Herv. i. O.
76 Ebd.
77 Ebd.
78 Ebd.
79 Ebd.
80 Ebd., Herv. i. O.
1.1 Begriffsklärung 15

Die dritte Stufe der Intermedialität ist Wirth zufolge die der „konzeptionelle[n]
Aufpfropfung“,81 bei der „das Konzept der medialen Konfiguration eines Zei-
chenverbundsystems auf ein anderes“82 übertragen wird: Die konzeptionelle
Aufpfropfung lasse sich folglich als „Metapher für eine mediale Aufpfropfung“83
begreifen. Die Übertragung von Aufführungstechniken historischer Instrumente
auf die Narration, etwa die der Scordatura, würde man demnach in diese Kategorie
einordnen.84
Darüber hinaus unterscheidet Wirth zwischen einer von ihm sogenannten ,har-
ten‘ und einer ,weichen‘ Intermedialität. Die ,harte‘ Intermedialität sei der Stufe
zwei zuzuordnen, sprich: der medialen Hybridbildung und der medialen Auf-
pfropfung; ihre Untersuchung benötige „ein technisches Wissen über die medialen
Differenzen der gekoppelten Medien“,85 das die ,weiche‘ Intermedialität, welche
die Stufen eins und drei betrifft, nicht voraussetze. Bei ihr reiche „ein konzep-
tionelles Wissen um mediale Differenzen“86 aus. Infolgedessen sei die ,weiche‘
Intermedialität der Gegenstandsbereich einer „,literaturzentrierten‘ intermedialen
Forschungsperspektive“87 im Sinne Werner Wolfs. „Paradoxerweise“,88 schreibt
jedoch Uwe Wirth,89

ist es nun ausgerechnet die harte Intermedialität der Stufe zwei, die dem Paradigma
der Transmedialität am nächsten kommt, denn mediale Aufpfropfungen können
nicht nur als Produkt einer intermedialen Kopplung, sondern auch als transmedialer
Prozess des Übergangs in den Blick genommen werden: ein Prozess, in dessen Voll-
zug die gekoppelten Elemente ihre Identität gerade durch den Bezug zum anderen
Medion, aber eben auch in Absetzung von diesem erwerben.

81 Ebd., Herv. i. O.
82 Ebd., S. 33.
83 Ebd., Herv. i. O.
84 Vgl. 7.1.2.
85 Ebd.
86 Ebd., S. 33.
87 Ebd. Wirth bezieht sich hier auf die folgende Publikation Werner Wolfs: Wolf, W.:

Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine litera-
turzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen
Medien am Beispiel von Virginia Woolfs „The String Quartet“ (1996). In: Bernhart
(Hrsg.): Selected Essays on Intermediality by Werner Wolf, S. 3–37.
88 Ebd., S. 33 f.
89 Ebd.
16 1 Forschungsziele und Methode

Während Rajewskys Kategorien eine gute analytische Basis zur Erforschung der
„werk-/aufführungsintern nachweisbare[n]“90 Intermedialität bieten, betont Wirth
in dem oben erwähnten Zitat die Notwendigkeit eines doppelten Blicks im Falle
einer sogenannten ,medialen Aufpfropfung‘. Diese könne (und sollte) gleichzeitig
als Produkt und als Prozess in den Blick genommen werden, was ein Sich-Hin-
und-Her-Bewegen zwischen Intermedialität und Transmedialität zur Folge habe.
Auch Wolf spricht von einer „werk-/aufführungsübergreifend erschließbare[n]“91
Intermedialität, die „nicht in einem Einzelwerk […] ersichtlich“92 wird, „sondern
erst aus dem Vergleich eines Werkes mit altermedialen anderen“93 und die er in
die Unterkategorien der ,intermedialen Transposition‘, ein Beispiel wäre die ,Ver-
operung‘ eines Romans wie Manzonis Doktor Faustus, und der Transmedialität
untergliedert.94 Da sich die vorliegende Studie mit werkinterner und werkexterner
Intermedialität beschäftigt sowie mit zahlreichen medialen Aufpfropfungen bzw.
intermedialen Transpositionen, bedarf die Analyse stets eines doppelten, manch-
mal simultanen Blicks auf das Produkt und den Prozess und verlässt, wenn nötig,
das Gebiet der Intermedialität, um mit dem der Transmedialität zu interagieren.95
Weitere Kategorien aus der Intermedialitätsforschung, mit denen die Analysen
der vorliegenden Studie arbeiten und nach denen sich Intermedialität differen-
zieren lässt, werden im Folgenden näher erläutert. Dass sich diese Arbeit vor
allem einer musikliterarischen Intermedialität zuordnet, ist bereits deutlich gewor-
den. Die „beteiligten Medien“96 der in dieser Studie behandelten intermedialen
Produkte und Prozesse betreffen stets die Bereiche von Text und Musik, mit Aus-
nahme von Searles, Lenners und Beyers97 Kompositionen, die jeweils auch mit
Rundfunk, Kunst und Fernsehen zu tun haben: Da es sich hier nicht nur um eine
,weiche‘ Intermedialität nach Wirth handelt, sondern auch um eine ,harte‘, die
dementsprechend von profundem technischen Wissen nicht absehen kann, wer-
den vor allem musik- und textbezogene Aspekte solcher plurimedialen Artefakte
in den Blick genommen.

90 Wolf: Musik in Literatur: Showing, S. 98.


91 Ebd.
92 Ebd., S. 96.
93 Ebd.
94 Siehe ebd, S. 98.
95 Jedenfalls muss hier angemerkt werden, dass Intermedialität per definitionem ohne
werkexterne Verweise kaum nachweisbar ist: Wie lässt sich etwa die Simulation einer
Sonatenform in einem Roman zeigen, wenn nicht auf Beispiele aus der Musikgeschichte
verwiesen wird?
96 Wolf, W.: Intermedialität, S. 345.
97 Vgl. 3.3.1.
1.1 Begriffsklärung 17

Sofern eine medienspezifische Dominanzbildung betrachtet wird, lassen sich


die Kompositionen dieser Studie beiden Typologien, d. h. dem Typ „mit Domi-
nanz eines Mediums gegenüber einem oder mehreren anderen“98 (z. B.: Fine,
Hagen und Henze) als auch dem „ohne klare Dominanz“99 zuordnen (z. B.: Man-
zoni, Ránki und Searle): Es sind vor allem Medienkombinationen, bei denen sich
kein klares Dominanzverhältnis feststellen lässt. Rückt „die Quantität der inter-
medialen Bezugnahmen“100 in den Fokus der Klassifizierung, so lässt sich vorab
festhalten, dass die hier präsentierten Kompositionen alle partiell sind, d. h. sie
spiegeln nie das ganze Werk, sondern nur Teile davon wider. Auch bei Manzoni
signalisiert das Wort scene im Untertitel der Oper, dass eine Auswahl getroffen
wurde. Nur auf einer sehr theoretischen Ebene wäre es aufgrund der Textlänge
möglich, einen Roman wie Doktor Faustus vollständig intermedial zu transponie-
ren, was zu metamedialen Reflexionen101 über die Erzählzeiten der Literatur und
die Aufführungszeiten der Musik führt.
Die Intermedialität lässt sich auch nach ihrer Genese klassifizieren. Im Fall
des Romans selbst ist sie primär, also „von Anfang an Teil des Werkkonzep-
tes“,102 wie man etwa Manns Tagebucheinträgen oder der Entstehung des „Doktor
Faustus“ entnehmen kann.103 Da sich unter diesem Aspekt die hier behandel-
ten Kompositionen mit Romanverfilmungen gleichsetzen lassen, hat man es mit
sekundärer Intermedialität zu tun, insofern alle Werke „erst im Nachhinein, […]
von fremder Hand“104 entstanden sind. Diese Beobachtung beinhaltet einige für
die Analyse wichtige Implikationen: Die Kompositionen dieser Studie entstehen
aus unterschiedlichen geographischen und historischen Prämissen, die u. a. für
die im Werk sichtbare Rezeption des Romans eine Rolle spielen. Des Weite-
ren gilt es, die „Qualität des intermedialen Bezuges“105 in Betracht zu ziehen:
Wie das erfolgen kann, wird im Folgenden erläutert. Diese von Wolf vorge-
schlagene Kategorisierung schließt sich an die vorher erwähnte Unterscheidung

98 Ebd.
99 Ebd.
100 Ebd.
101 Zum Begriff,Metamedialität‘ vgl. Rajewsky: Intermedialität, S. 81.
102 Wolf: Intermedialität, ebd.
103 Vgl. etwa Ent: 13.
104 Wolf: Intermedialität, ebd.
105 Ebd.
18 1 Forschungsziele und Methode

nach den beteiligten Medien an. Liegt „direct or ,overt‘ intermediality“,106 also
„manifeste“107 bzw. „offene“108 Intermedialität vor, so enthält die Komposi-
tion mehr als ein Medium, die dann „in principle separately ,quotable‘“ sind,
z. B. Musik und Text.109 Das Werk bzw. die Aufführung zeichnet sich folglich
durch mediale Heterogenität, also durch die Ko-Präsenz mehrerer Medien aus.110
Wenn man hingegen von „verdeckte[r]“111 Intermedialität spricht, bleibt „die
Oberfläche des betreffenden Werk-/Aufführungsteils medial homogen“,112 was
zur Folge hat, dass sich die Analyse aufgrund der schwierigen Nachweisbarkeit
von Intermedialität als problematischer erweist. Dies wird in der musikliterari-
schen Intermedialität bei der Betrachtung von Instrumentalmusik von der unter
zeichentheoretischen Gesichtspunkten erschließbaren selbstreferentiellen Quali-
tät der Musik erschwert, was dazu führt, dass sich in der Instrumentalmusik in
der Regel kein intermediales telling, sondern nur showing identifizieren lässt.113
Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“, Henzes Violinkonzert und Fines Four pie-
ces zählen zu den wenigen verdeckten intermedialen Phänomenen dieser Studie,
bei denen u. a. paratextuelle Angaben zur Nachweisbarkeit der Intermedialität bei-
tragen und doch auch Verweise auf Außermusikalisches in einer instrumentalen
Form ermöglichen.114
Die vorliegende Studie beschränkt sich jedoch nicht ausschließlich auf die
Erfassung und Beschreibung intermedialer und transmedialer Phänomene im
Roman und in den Kompositionen, sondern sie geht auch der Frage nach, welche
Funktionen die indizierten Strategien, die eine doppelte Perspektive, d. h. wer-
kintern und werkextern, folglich auf Produkt und Prozess erforderlich machen,

106 Wolf, W.: Musicalized Fiction and Intermediality: Theoretical Aspects of Word and
Music Studies (1999). In: Bernhart (Hrsg.): Selected Essays on Intermediality by Werner
Wolf, S. 238–258, hier: S. 243.
107 Wolf: Intermedialität, S. 345.
108 Wolf: Musik in Literatur: Showing, S. 98.
109 Wolf: Musicalized Fiction, S. 243.
110 Wolf: Musik in Literatur: Showing, S. 98.
111 Ebd.
112 Ebd.
113 Siehe ebd., S. 97; Calzoni, Raul, Peter Kofler u. Valentina Savietto: Einleitung. In: Dies.

(Hrsg.): Intermedialität – Multimedialität, S. 9–19, hier: S. 12 f.; Adorno, Theodor W.:


Fragment über Musik und Sprache (1956/57). In: Knaus, Jakob (Hrsg.): Sprache, Dichtung,
Musik. Texte zu ihrem gegenseitigen Verständnis von Richard Wagner bis Theodor W.
Adorno. Tübingen: Niemeyer 1973, S. 71–74; Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik.
Übers. v. Jürgen Trabant. München: Fink, S. 104–107.
114 Siehe Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 492.
1.1 Begriffsklärung 19

übernehmen.115 Mediale Kontinuitäten und Differenzen rücken somit in den


Fokus: Es geht nicht nur darum, was in das Musikwerk transponiert wird, son-
dern auch darum, wie das geschieht. Dadurch wird man zwangsläufig mit der
Frage konfrontiert, ob sich dies nur als Resultat einer bestimmten Rezeptions-
weise erklären lässt116 oder vielleicht der Schwierigkeit entspringt, im Medium
der Musik oder z. B. im plurimedialen Format der Oper oder des Monodramas
bestimmte Mikroformen des Romans zu reproduzieren.
Als letzter Punkt dieses Unterabschnitts lohnt es sich, nun der Frage nach-
zugehen, wie diese Effekte und Funktionen von Intermedialität benannt und
dementsprechend eingeordnet werden können. Gess schlägt bezüglich der Funk-
tion von Musik im Verhältnis zum Text im Kontext von Medienkombinationen
einige Kategorien, die für die Analyse eines einzigen Produkts gedacht sind,
vor: „Verstärkung, Kommentierung“,117 „Infragestellung“,118 „Verfremdung“119
und Ergänzung.120 Des Weiteren weist die Forscherin darauf hin, dass die Dif-
ferenz zwischen Text und Musik „minimiert“121 oder „gerade herausgestellt und
konturiert werden“122 kann. Diese Arbeit bedient sich des Vokabulars von Gess’
Aufsatz, das nicht nur für die Betrachtung eines einzigen intermedialen Produktes
wie im genannten Text, sondern in der vorliegenden Untersuchung auch für die
Analyse zweier intermedialen Produkte verwendet wird (sozusagen eines *Geno-
produktes und eines *Phänoproduktes): In welchem Verhältnis steht etwa die
Apocalipsis cum figuris von Boehmer zu Thomas Manns Roman? Beide Produkte,
Vorlage und Komposition, werden in die Analyse einbezogen. Im Laufe der Stu-
die werden zudem neue Benennungen für die Untersuchung intermedialer Effekte
vorgeschlagen: So ist etwa von Revision zu sprechen, wenn eine Mikroform aus
dem Roman nicht nur in Frage gestellt, sondern auch einer Revision unterzo-
gen wird. Beispielsweise revidieren einige Kompositionen Leverkühns Absicht

115 Bereits Rajewsky betont, die intermediale Analyse solle sich nicht nur auf eine Kate-
gorisierung beschränken, sondern auch die Funktionen intermedialer Phänomene mit
einbeziehen. Vgl. etwa Rajewsky: Intermedialität, S. 111.
116 Siehe diesbezüglich die in Anlehnung an Kramer und Georgiades von Arne Stollberg

vorgestellten semantischen Typologien der Textvertonung: Stollberg, Arne: Kombination


von Literatur und Musik. In: Gess u. Honold (Hrsg.): Handbuch Literatur & Musik, S. 57–
77, hier: S. 64.
117 Gess: Intermedialität reconsidered, S. 152.
118 Ebd.
119 Ebd., S. 156.
120 Vgl. ebd., S. 141.
121 Ebd., S. 158.
122 Ebd.
20 1 Forschungsziele und Methode

einer Zurücknahme der Neunten Symphonie, indem sie Zitate aus Beethovens
letztem symphonischen Werk in das eigene Material integrieren. Somit stellen sie
die Unmöglichkeit von Leverkühns Versuch heraus. Schließlich kann durch die
Musik der Text „hörbar“ werden, was beispielsweise bei Searle deutlich wird, der
sich zum Ziel setzt, Zeitbloms Beschreibungen von Leverkühns Umsetzung der
Zwölftontechnik erklingen zu lassen.

1.1.6 Narrativität in der instrumentalen Musik?

Nicht selten interagiert zudem die Analyse mit Kategorien im Sinne einer trans-
medialen und intermedialen Narratologie und wirft die Frage auf, wie etwa
bestimmte Motive des Romans in der Vertonung (teil-)reproduziert werden oder
ob sich narrative Strategien der Vorlage in der Komposition wiederfinden lassen
und wie es überhaupt möglich ist, beispielsweise Unzuverlässigkeit im Medium
der Musik darzustellen.123 Die Untersuchungsperspektive ist auch in diesem
Fall werkintern und werkextern, transmedial und intermedial und kombiniert das
Instrumentarium der Intermedialitätsforschung mit dem der Narratologie. Insofern
entspringt diese Studie dem doppelten Wunsch, eine Forschungslücke in der sonst
stark ausdifferenzierten Forschungsliteratur zu Thomas Manns Doktor Faustus zu
füllen und Rajewskys Aufforderung nachzukommen, intermediale Kategorien auf
immer unterschiedliche Artefakte anzuwenden, um sie dadurch zu erproben, zu
erweitern und vielleicht auch zu revidieren.124
An dieser Stelle scheint eine methodische und begriffliche Präzisierung bezüg-
lich der Positionierung dieser Untersuchung der transmedialen Narratologie
gegenüber sinnvoll, die sich auch mit der Frage – von Werner Wolf zu Recht
als „vexed problem“125 bezeichnet – nach der Narrativität von Instrumentalmusik

123 Vgl. dazu z. B. Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 482; Ders: Transmedial
Narratology: Theoretical Foundations and Some Applications (Fiction, Single Pictures,
Instrumental Music). In: Narrative 25 (2017) H. 3, S. 256–285; Nünning, Vera u. Ans-
gar Nünning: Dies.: Produktive Grenzüberschreitungen: Transgenerische, intermediale und
interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie. In: Dies. (Hrsg.): Erzähltheorie transgene-
risch, intermedial, interdisziplinär. Trier: WVT 2002, S. 1–22; Ryan, Marie-Laure (Hrsg.):
Narrative Across Media. The Languages of Storytelling. Lincoln/London: University of
Nebraska Press 2004; Dies.: On the Theoretical Foundation of Transmedial Narratology.
In: Meister, Jan Christoph (Hrsg., in Zusammenarbeit mit Tom Kindt u. Wilhelm Scher-
nus): Narratology beyond Literary Criticism. Mediality, Disciplinarity. Berlin/New York:
de Gruyter 2005, S. 1–23.
124 Siehe Rajewsky: Intermedialität, S. 181.
125 Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 480.
1.1 Begriffsklärung 21

verknüpft, da der Gegenstand der Studie auch rein instrumentale Kompositio-


nen bilden. Das Narrative muss in diesem Fall im weiteren Sinne aufgefasst
werden, was eine Abstrahierung voraussetzt:126 Folglich soll eine Perspektive
eingenommen werden, die – so Rajewsky –127

jenseits bzw. über den einzelnen Medien verankert ist, um von diesem Blick-
punkt aus unterschiedliche Manifestationsformen des i. w. S. Narrativen und damit
zugleich modalen Gemeinsamkeiten und Differenzen verschiedener Genera Rech-
nung zu tragen, ohne dabei ein bestimmtes Medium, eine bestimmte Gattung oder
einen bestimmten Erzählmodus zu privilegieren und zu einer Fundierungskategorie
,des Narrativen‘ zu erheben.

Eine transmediale Narratologie, die „metonymisch gesprochen“128 von Genet-


tes modaler Narratologie ausgeht,129 hält auch diese Studie in Anlehnung an
Rajewsky für eine widersprüchliche Analysebasis: Es besteht die Gefahr eines
– so Marie-Laure Ryan, die doch als eine der ersten Forscherinnen für eine
transmediale Narratologie plädiert – „indiscriminating transfer of concepts“,130
die ursprünglich für die Erforschung fiktionaler literarischer Texte konzipiert
wurden.131
In einigen Aufsätzen zur Narrativität von Instrumentalmusik listet Wolf mit-
hilfe eines prototypisch-kognitiven Ansatzes Stimuli instrumentaler Musikwerke,
die Narrativität induzieren, auf. Diese Auflistung beruht auf der Feststellung
obligatorischer und fakultativer Narrateme prototypischen Erzählens, wie z. B.
Zeit, Raum, Figuren und Erzählinstanz, die beweisen, dass Narrativität ein gra-
duierbares Phänomen ist, und der Erfassung von Narrativität in verschiedenen

126 Siehe Chatman, Seymour: Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and
Film. Ithaca/London: Cornell University Press 1993, S. 117.
127 Rajewsky, I. O.: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln, S. 34, Herv. i. O.
128 Ebd.
129 Siehe Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Fink 1994, S. 200 f.
130 Ryan: Narrative Across Media, S. 34. Vgl. Auch Rajewsky, I.: Percorsi transmediali.

Appunti sul potenziale euristico della transmedialità nel campo delle letterature comparate.
In: Between 8 (November 2018) H. 16, S. 1– 24.
131 Siehe auch Rajewsky: Percorsi transmediali, S. 18. Des Weiteren hebt u. a. Meister her-

vor, dass, obwohl seine Kategorien und Begriffe schnell zur narratologischen lingua franca
geworden sind, Genette in seinen Texten keinen Anspruch erhebt, eine komplett kohärente
und umfassende Narrativitätstheorie zu entwerfen, da er zudem nur Marcel Prousts À la
recherche du temps perdu analysiert. Meister, Jan Christoph: Narratology. In: Interdisci-
plinary Center for Narratology (Hrsg.): the living handbook of narratology. 2011. < https://
www.lhn.unihamburg.de/node/48.html > (letzter Zugriff: 21.08.2020), Abschnitt 3.3.
22 1 Forschungsziele und Methode

Medien und Gattungen dienen. Dieser Ansatz ermöglicht jedoch keine komplett
„medienübergreifende[] ,Draufsicht‘“:132 Einerseits wird als Beispiel für eine pro-
totypische Form des Erzählens eine Erzählform genannt, nämlich das Märchen,
die das Primat verbalen Erzählens wieder betont, andererseits wirft der implizite
Zusammenhang von Prototypen und Normalitätskonstruktionen Fragen zur termi-
nologischen Adäquatheit auf. Zurecht unterstreicht allerdings Schmidt, dass sich
der theoretische Rahmen der kognitiven Forschung mit ihrer Berücksichtigung
der Wirkung auf die Rezipient*innen für die Beantwortung der Frage nach der
Narrativität von Instrumentalmusik gut eignen könnte.133 Großes Verdienst von
Wolfs Aufsätzen ist zudem, dass dort ein methodologischer Ansatz zur Identifika-
tion von Elementen, die Narrativität hervorrufen, skizziert wird. Dies kann sowohl
durch kompositionsexterne Stimuli wie kulturellen und historischen Kontext und
Tendenzen im Gesamtwerk bestimmter Komponist*innen als auch durch kompo-
sitionsinterne Stimuli wie Paratexte geschehen: Auch die vorliegende Studie folgt
bei der Analyse von Instrumentalkompositionen dieser Methode und schließt sich
somit der Auffassung an, dass Instrumentalmusik eher als „narrative-inducing“134
zu betrachten sei. Die Bezugnahme auf Passagen und Figuren aus Thomas Manns
Roman erleichtert dann auch in den hier betrachteten instrumentalen Kompositio-
nen die Identifikation von Momenten, die Narrativität induzieren. Nicht nur unter
dem Aspekt der Narrativität lässt sich Instrumentalmusik analysieren: Vielmehr
ist die Deskriptivität in vielen Fällen – u. a. auf die Affinität von Musik und Lyrik
zurückzuführen –135 heuristisch produktiv.

1.1.7 Mediengrenze

Eine letzte, nötige Präzisierung betrifft den für die Erforschung von Intermedia-
lität zentralen Begriff der ,Mediengrenze‘. Dieser wurde in diesem Kapitel auch
für die Beschreibung von Thomas Manns Roman verwendet; zunächst wird hier

132 Rajewsky: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln, S. 34.


133 Vgl.Schmidt, Matthias: Literatur in (Instrumental-)musik. In: Gess, Nicola u. Honold,
Alexander (Hrsg.): Handbuch Literatur & Musik. Berlin/Boston: de Gruyter 2017, S. 114–
128, hier S. 115.
134 Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 496, Herv. i. O. Die Übersetzung dieses

Konzeptes ins Deutsche als ,Narrationsinduktion/Narrativitätsinduktion‘ verdankt die Ver-


fasserin Vorträgen und Erläuterungen von Werner Wolf im Rahmen der Summer School
2019 „Konstanten und Varianten des Erzählens in transgenerischen und transmedialen
Kontexten“ (Saint-Hippolyte, 06.–10.08.2019).
135 Schmidt: Literatur in (Instrumental-)musik, S. 119.
1.1 Begriffsklärung 23

auf ein Zitat aus Manns Entstehung des „Doktor Faustus“ verwiesen, in dem er
das Wesen und die Aufgabe der Kunst folgendermaßen beschreibt:

[W]as sonst wäre es uns jemals zu tun, als unser Äußerstes zu geben? Alle Kunst,
die den Namen verdient, zeugt von diesem Willen zum Letzten, dieser Entschlos-
senheit an die Grenze zu gehen, trägt das Signum, die Wundmale des „utmost“.
(Ent: 123)

Kunst zu produzieren heiße den Weg bis zu ihrer Grenze zu wagen; zugleich
sei dieser Versuch nicht völlig harmlos und schließe eine gewisse Verletzbar-
keit ein. Thomas Mann nimmt hier auf Kunstgrenzen Bezug, bedient sich aber
gleichermaßen der Metapher der ,Grenze‘, ebenfalls in Verbindung mit künstleri-
schen Artefakten. Rajewsky kommt bezüglich der Funktion dieses Konzeptes zu
folgender Aussage:136

Damit geht der Versuch einher, ein Umdenken hinsichtlich des Konzepts der Grenze
und der Setzung von Differenzen zu befördern und von deren Auffassung im Sinne
statischer Taxonomien, wie dies topisch mit dem Strukturalismus verbunden wird,
zum dynamischen Potenzial der Grenzen selbst zu gelangen.

Auch die vorliegende Studie vertritt diese Auffassung von Mediengrenze und
konzentriert sich auf den dynamischen, produktiven Austausch zwischen den Fel-
dern der Literatur und der Musik sowie auf die zirkulären Verweisstrukturen,
die dadurch entstehen. Eine Nivellierung von Mediendifferenzen und Gattungs-
konventionen würde die „Möglichkeiten und Freiräume“,137 „die sich für die
künstlerische bzw. kulturelle Praxis durch konventionelle Setzungen auf ver-
schiedensten Ebenen ergeben“,138 kaum beobachtbar machen. Die Betrachtung
von Grenzen als „Ermöglichungsstrukturen, als Spielräume“,139 scheint beson-
ders bei der Analyse von Kompositionen der Neuen Musik ergiebig, insofern
sie oft auf Experimentieren beruhen. Um einige Beispiele aus dieser Untersu-
chung zu nennen: Lars Petter Hagen experimentiert in To Zeitblom mit der Grenze
zwischen Volksmusik und klassischer Musik sowie zwischen theatralischen und
musikalischen Konventionen und Konrad Boehmer kombiniert ebenfalls populäre
Musikgenres mit elektronischer Musik. Tatsächliche Grenzen existieren nicht, es
handelt sich um ein aus heuristischen Gründen eingeführtes Analysekonzept, das

136 Rajewsky: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln, S. 38.


137 Ebd., S. 63.
138 Ebd.
139 Ebd.
24 1 Forschungsziele und Methode

u. a. historische Kontextualisierungen und einen verschärften Blick auf den Raum


des Dazwischen fördert.140

1.2 Quellen

Die Analyse der Kompositionen stützt sich auf Partituren, Aufnahmen und Insze-
nierungen, um allen Dimensionen der jeweiligen musikalischen Form gerecht
zu werden, welche auch die Besonderheit des Mediums selbst ausmachen und
die Notwendigkeit eines kommunikativ-semiotischen Deutungsparadigmas noch
deutlicher herausstellen. Im Fall von Medienkombinationen ist es außerdem
gerade die Kopplung dieser Medien, die zu untersuchen sind, insofern sie der
Transposition des literarischen Textes auch durch die Inszenierung neue Konno-
tationen verleihen kann.141 Selbstkommentare, Selbstaussagen von Autor*innen
sowie biographische Informationen zu ihnen (dies betrifft auch den ersten Teil
jedes Kapitels zum Roman) dienen lediglich der Kontextualisierung; generell
folgt die vorliegende Studie diesbezüglich dem von Stefan Börnchen in seiner
Monographie vorgeschlagenen und umgesetzten Prozedere Manns Selbstaussagen
gegenüber, das er – Bezug nehmend auf Paul de Man – wie folgt beschreibt:142

Eine Interpretation kann sich auf Selbstkommentare des Autors Thomas Manns
stützen, muß aber diese wie alle anderen Texte interpretieren: Denn in den – wie
gesehen: widersprüchlichen – Selbstaussagen tritt nicht die Absicht des Autors
klar und eindeutig zu Tage. In Hinsicht auf Selbstkommentare gilt nach wie vor
Paul de Mans Wort, daß „die einzige irreduzible ,Intention‘ eines Textes die seiner
Konstituierung ist“.

Neben der Präzisierung, wie die Untersuchung mit den Selbstaussagen Thomas
Manns umgeht, scheint hier eine zweite Präzisierung wichtig. Den Leser*innen

140 Siehe dazu auch Backe, Hans-Joachim: Medialität und Gattung. In: Zymner, Rüdiger
(Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: Metzler 2010, S. 105 ff., hier: S. 105; Som-
broek, Andreas: Eine Poetik des Dazwischen. Zur Intermedialität und Intertextualität bei
Alexander Kluge. Bielefeld: transcript 2005; Elleström, Lars (Hrsg.): Media Borders, Mul-
timodality and Intermediality. Basingstoke (u. a.): Palgrave Macmillan 2010 (insb. Part II
u. Part V).
141 Siehe auch Stollberg: Kombination von Literatur und Musik, S. 71.
142 Börnchen: Kryptenhall, S. 72 (Zitat aus: de Man, Paul: Lesen (Proust). In: Ders.: Alle-

gorien des Lesens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 [New Haven 1979], S. 91–117,
hier: S. 98).
1.2 Quellen 25

wird sicherlich auffallen, dass die Analysen wiederholt auf Adornos Musikphi-
losophie rekurrieren, was eine Konstante der meisten Publikationen zu Doktor
Faustus darstellt. In der Forschungsliteratur zum Roman wird nicht selten anhand
biographischer Dokumente unterschiedlicher Art der Frage nachgegangen, welche
Rolle denn Adorno bei der Entstehung von Thomas Manns Roman gespielt habe.
So unterstreicht Bodo Heimann beispielsweise den bedeutenden Einfluss Ador-
nos und zitiert aus einem Brief Schönbergs, in dem er den Philosophen als echten
Kenner des von ihm entwickelten musikalischen Systems und Thomas Mann als
Laien bezeichnet.143 In einem vorher erschienenen Aufsatz (1993) vertritt auch
Claudia Albert die gleiche Auffassung und kommt zum Schluss, dass „die auf
das Teufelsgespräch folgenden Kompositionen Leverkühns, insbesondere also die
,Apocalipsis cum figuris‘ und die Kantate ,Dr. Fausti Weheklag‘ als imaginäre
Werke Adornos betrachtet werden“144 müssten. Ganz anderer Auffassung ist hin-
gegen Matthias Schmidt: Er hebt einerseits die Einflüsse von Kreneks Music Here
and Now hervor, um die Vielfalt von Thomas Manns konsultierten Quellen gegen
die alleinige Reduzierung auf die Musikphilosophie Adornos deutlich zu machen,
andererseits zeigt er anhand anderer autobiographischer Dokumente, dass sich
Schönbergs Ressentiment nicht gegen Mann, sondern gegen Adorno richtete.145
Dass sich diese Kontroverse nicht lösen lässt, auch weil sie zutiefst in einem
hermeneutischen Interpretationsparadigma verankert ist, mag nun bereits deutlich
geworden sein. Diese Studie zielt nicht darauf ab, Adornos Einfluss auf die Ent-
stehung von Doktor Faustus zu rekonstruieren. Vielmehr möchte sie in ihrem
intermedial angelegten Prozedere Bezüge beleuchten, die sowohl im Roman als
auch in den Kompositionen eine Rolle spielen. Da Adornos Auffassungen im
Text und in den Musikwerken mehrfach zum Tragen kommen, versteht es sich
von selbst, dass diese Arbeit wiederholt auf sie verweist. Dies geht nicht aus
der Absicht einer Privilegierung dieser Musikphilosophie vor anderen, sondern
aus der beobachteten Sonderstellung in den Kompositionen hervor. Als Parade-
beispiel dient hierfür Hagens Stück To Zeitblom mit seiner Parodie von Adornos

143 Siehe Heimann, Bodo: Thomas Manns ,Doktor Faustus‘ und die Musikphilosophie
Adornos. In: Ders. (Hrsg.): Literatur und Freiheit von Lessing bis zur Gegenwart. Frankfurt
am Main: Lang 2014, S. 211–228 (zu Schönbergs Brief siehe insb. S. 212).
144 Albert, Claudia: „Doktor Faustus“: Schwierigkeiten mit dem strengen Satz und

Verfehlung des Bösen. In: Heinrich Mann Jahrbuch 11 (1993), S. 99–111, hier: S. 103.
145 Vgl. Schmidt, Matthias: „Unangreifbar nur die Gestalt“. Thomas Mann – Ernst Krenek

– Theodor W. Adorno und die Musik im „Doktor Faustus“. In: Henke, Matthias (Hrsg.):
Schönheit und Verfall: Beziehungen zwischen Thomas Mann und Ernst Krenek – (mehr
als) ein Tagungsbericht (Thomas-Mann-Studien Bd. 47). Frankfurt am Main: Klostermann
2015, S. 135–153 (zu Schönbergs Quellen siehe insb. S. 143).
26 1 Forschungsziele und Methode

theoretischen Postulaten inmitten der Aufführung. Im Prozess der Rekonstruktion


der kompositorischen Rezeptionsgeschichte von Doktor Faustus scheint folglich
erforderlich, auf einige Schriften Adornos einzugehen.

1.3 Aufbau der Arbeit

Diese Arbeit ist so strukturiert, dass jedes Kapitel aus zwei Hauptteilen besteht:
Der erste Teil jeweils widmet sich Leverkühns fiktiven Werken, bestimmten
Romanstellen oder Figuren. Zugleich wird eine (werkinterne) intermediale Ana-
lyse durchgeführt oder es werden hauptsächlich intradiegetische Motive und
Diskurse näher beleuchtet. Den Kapitelüberschriften lässt sich entnehmen, was
im Zentrum der Untersuchung steht. Der zweite Hauptteil jeweils wagt den
Sprung zur werkexternen und oft auch zur harten Intermedialität und befasst sich
mit Kompositionen, die Leverkühns fiktive Werke nachvertonen oder sich mit
bestimmten Romanpassagen und -figuren auseinandersetzen. Hier wird vor allem
untersucht, ob die vorher beleuchteten Motive und Diskurse in der Komposition
wiederzufinden sind, und wenn ja, wie sie im neuen Medium dargestellt werden.
Falls diese in der Komposition nicht vorliegen oder nur eine marginale Rolle spie-
len, dann wäre diese Feststellung für die Analyse durchaus von Bedeutung, denn
sie kann zur Beobachtung führen, dass solche Motive und Diskurse im jeweiligen
Musikwerk durch andere ersetzt werden, oder dass Motive und Diskurse, die vor-
her nicht analysiert wurden, weil sie vielleicht keine zentrale Stellung im Roman
einnehmen, doch in der Komposition einen Ehrenplatz bekommen und somit ver-
stärkt werden. All diese Beobachtungen sind symptomatisch für die Rezeption
des Romans im jeweiligen Werk, der es als oberstes Ziel schließlich nachzugehen
gilt: Jede intermediale Transposition bzw. Bezugnahme schreibt Thomas Manns
Roman mit den eigenen Mitteln neu und fordert gleichzeitig zum aktiven Lesen
und Hören auf.146

146 SieheWirth: Hypertextuelle Aufpfropfung, S. 23; Barthes, R.: Die Lust am Text. Übers.
v. Traugott König. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 [Paris 1973], S. 68; Ders.: S/Z.
Übers. v. Jürgen Hoch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987 [Paris 1970], S. 8 ff.
1.3 Aufbau der Arbeit 27

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Hanns Eislers Johann Faustus
2

Dieses Kapitel widmet sich einer der ersten Reaktionen auf Thomas Manns
Roman, nämlich Hanns Eislers Johann Faustus (1952). Aufgrund des Druck-
verbots in der DDR vervollständigte Eisler sein Opernprojekt nie: Das Kapitel
rekonstruiert knapp die Geschichte des Werkes und geht der Frage nach dem
Status des Librettos nach, das in dieser Studie in Anlehnung an Friederike Wiß-
mann für einen selbständigen Operntext gehalten wird. Nichtsdestotrotz wird im
Kapitel versucht, Eislers Gesamtvorhaben anhand der überlieferten Skizzen dar-
zulegen. Daneben führt das Kapitel eine kontrastive Analyse von Doktor Faustus
und Johann Faustus durch und geht auf stilistische und inhaltliche Kontinuitäten
und Differenzen ein. Zu den wichtigsten Gemeinsamkeiten zählt die Montage-
Technik, die durch verschiedene Bezüge auf die politische, gesellschaftliche
und religiöse Geschichte Deutschlands sowie durch Stilmischungen zum Tragen
kommt. Unter den Differenzen ist an erster Stelle die Einordnung der beiden
Werke in die Bearbeitungen des Faust-Stoffes zu erwähnen: Dank der Präsenz
der Figuren Faust und Mephisto sowie dem expliziten Charakter des Teufelspak-
tes lässt sich diese Einordnung bei Eisler anders als bei Thomas Mann kaum
bestreiten.
Von der Intermedialität aus betrachtet, lässt sich festhalten, dass Eislers Johann
Faustus nicht als intermediale Transposition, sondern eher als intermediale Bezug-
nahme auf Thomas Manns Roman zu werten ist, da Doktor Faustus lediglich zu
den Vorlagen des Werkes zählt. Aus diesem Grund befinden sich die Ausfüh-
rungen zu Johann Faustus noch im ersten Teil der vorliegenden Studie nach dem
Kapitel zu den Forschungszielen und der Methode. Die Analyse führt in die Praxis
des Medienvergleichs ein, die charakteristisch für diese Untersuchung ist. Zudem
macht sie auf die Wichtigkeit der Berücksichtigung des Entstehungskontextes des
sekundären intermedialen Produktes aufmerksam, was einen Leitgedanken der
darauf folgenden Kapitel von Teil zwei und drei darstellt.

© Der/die Autor(en) 2021 29


A. M. Olivari, Doktor Faustus (ver-)stimmen,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62635-1_2
30 2 Hanns Eislers Johann Faustus

2.1 Hanns Eislers Johann Faustus und Thomas Manns


Doktor Faustus: Kontinuitäten und Differenzen

Vor der kontrastiven Analyse wird zunächst einmal die Debatte um Hanns Eislers
Werk kurz umrissen, um die Entstehungsbedingungen des Werkes zu veranschau-
lichen. 1952 veröffentlicht der Aufbau-Verlag in Berlin das Libretto von Johann
Faustus, welches jedoch aufgrund des raschen Druckverbots in der DDR nur kurze
Zeit auf dem Markt bleibt. Das Verbot ist die Konsequenz langer Diskussionen,
die vor allem an der Akademie der Künste in Berlin stattfinden. Laut Gerhard
Müller hätte die Oper das „Magnum opus“1 des Komponisten werden sollen. Das
sind jedoch nur Vermutungen, denn nach den heftigen Kritiken verzichtet Eisler
darauf, sich mit dem Werk weiter zu beschäftigen und die Musik zu komponieren:
Ausnahme sind einige Skizzen und Fragmente, die man an der Berliner Akademie
der Künste einsehen kann.
Zu den erbittertsten Kritiker*innen Eislers der damaligen Zeit zählen Wilhelm
Girnus und Alexander Abusch. Der eine ist der Ansicht, die Geschichte des deut-
schen Volkes sei bei Eisler als eine der Reaktion und als eine ausschließlich
negative dargestellt.2 Der andere findet im Operntext zahlreiche Widersprüche und
kommt zur Aussage, dass Eisler mit dem Johann Faustus „die geistige und dich-
terische Bedeutung von Goethes Werk für die deutsche Nationalliteratur und für
die Geschichte des deutschen Volkes bagatellisiert“3 habe. Auch die Verteidigung
des Werkes etwa durch Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht und Leonhard Frank
ändert nichts an der Situation.4 Dieses Kapitel beschäftigt sich also mit einem
Werk, das wahrscheinlich noch kontroverser als Manns Doktor Faustus ist und –
so Hans Bunge – „totdiskutiert“5 wurde. Als Beleg für Bunges Aussage reicht

1 Müller, Gerhard: Ein deutsches Trauerspiel. Die Debatte über Eislers Johann Faustus. In:
Eisler-Mitteilungen 30 (2002), S. 9–11, hier: S. 9.
2 Zit. in Eisler, Hanns: [Notizen zur Faustus-Polemik IV] (1953). In: MuP, S. 295 f., hier:

S. 295 f.
3 Zit. in Bunge, Hans: Die Debatte um Hanns Eislers „Johann Faustus“. Eine Dokumen-

tation (Reihe Brecht-Studien). Hrsg. v. Brecht-Zentrum Berlin. Berlin: BasisDruck 1991,


S. 56. Während seines zweijährigen Berufsverbots verfasste Bunge diese Dokumentation,
auf die hier für eine vollständige Rekonstruktion der Debatte verwiesen wird. Der Vortrag
von Abusch erschien auch in Sonntag (17.05.1953) und in Sinn und Form 3 + 4 (1953)
unter dem Titel „Faust – Held oder Renegat in der deutschen Nationalliteratur“.
4 Vgl. Bunge: Die Debatte, S. 82; Eisler: [Stellungnahme zu den 6 Fragen von Wilhelm

Girnus] (1953). In: MuP, S. 296–302, hier: S. 299.


5 Bunge: Zu dieser Ausgabe. In: Eisler: Johann Faustus. Fassung letzter Hand. Hrsg. v.

Hans Bunge, mit einem Nachwort v. Werner Mittenzwei. Berlin: Henschelverlag 1983,
2.1 Hanns Eislers Johann Faustus und Thomas Manns Doktor Faustus… 31

vielleicht bereits die Beobachtung, dass bis 1982 in der DDR keine Möglichkeit
bestand, den Text aufzuführen.6
Thomas Manns Doktor Faustus ist eine der Vorlagen von Eislers Johann
Faustus, die Hauptvorlage stellt jedoch das Puppenspiel dar. Im Rahmen der vor-
liegenden Arbeit wird das Libretto als eine der ersten Reaktionen auf Manns
Roman betrachtet: Die Bezeichnung ,Vertonung‘ oder ,intermediale Transposi-
tion‘ scheint in diesem Fall nicht wirklich adäquat, weswegen die Definition
,intermediale Bezugnahme‘ präferiert wird. Auch für diesen Vergleich greift diese
Studie auf das Forschungsparadigma der Intermedialität zurück: Laut der Defini-
tion von Medium, der sie folgt, ist ein Libretto Bestandteil des plurimedialen
Mediums Oper.7 Zudem besteht in der Forschungsliteratur keinerlei Konsens –
was im Folgenden aufgezeigt werden soll – ob Eislers Werk für selbständig zu
halten ist. Bereits diese erste Analyse zeigt, wie wichtig die Anwendung von
Kernkategorien intermedialer Theorien auf konkrete Beispiele ist. In dieser Hin-
sicht versucht dieses Kapitel, Manns Roman und Eislers Libretto auf der Suche
nach Kontinuitäten und Differenzen miteinander zu vergleichen. Dabei zieht es
auch die Skizzen für die Musik in die Analyse ein: Auch deswegen plädiert das
Kapitel für das Begriffsinventarium der Intermedialität, da das gesamte Opern-
projekt in den Blick genommen wird. Diese Gesamtperspektive ermöglicht eine
Einführung in den Prozess der Entstehung eines musikalischen Bühnenwerkes,
das einen oder mehrere literarische Texte vertont.8 Als sekundäres Produkt regt
Eislers Johann Faustus zudem zu Reflexionen über Aspekte an, die sich primär
mit der Kontextualisierung des im Nachhinein entstandenen Werkes verbinden
und die für die Analyse solcher Phänomene sehr ergiebig ist.

S. 5 ff., hier: S. 5. Diese Ausgabe des Librettos enthält die Korrekturen, die Eisler nach
den Polemiken anfertigte.
6 1982 wurde er im Berliner Ensemble unter der Regie von Manfred Wekwerth

aufgeführt – früher dreimal in der BRD (1974 in Tübingen, 1976/77 in Kiel und West-
Berlin) – und 1983 erschien das Libretto beim Henschelverlag (siehe Fußnote 5). Vgl.
Schebera, Jürgen: Nachbemerkung. /Johann Faustus/ Oper ohne Musik/. In: Eisler: Johann
Faustus, Leipzig: Faber & Faber 1996, S. 147–166, hier: S. 166.
7 Geht man aber von einer technisch-materiellen Definition von Medium aus, so wäre dies

ein Beispiel für Intramedialität/Intertextualität. Vgl. 1.1.2.


8 Zur Kritik an der Auffassung, ein Komponist vertone ein Libretto siehe Stollberg:

Kombination von Literatur und Musik, S. 70.


32 2 Hanns Eislers Johann Faustus

2.1.1 Eislers Libretto: ein selbständiges Werk?

Wie eingangs des Abschnitts angesprochen, gilt es zunächst einmal der Frage
nachzugehen, ob man Eislers Text für selbständig halten kann. Die Problematik
ist sehr umstritten und verknüpft sich auch mit der Gattung des Librettos selbst.9
Eisler schreibt dazu:10

Ich halte [...] die Hauptidee des Faustus für eine höchst aktuelle, für eine höchst
kämpferische, für eine höchst fortschrittliche Idee, die sich natürlich in der Musik
noch viel wuchtiger offenbaren muß als im Textbuch.

Brecht bestätigt diese Auffassung, laut der Eislers Projekt der Musik bedarf,
in den Thesen zur Faustus-Diskussion, die er im Mai 1953 der Mittwoch-
Gesellschaft der Akademie der Künste vorstellt. Brecht zeigt sich aber vom
Libretto selbst sehr begeistert:11

Obgleich das Werk zu seiner vollen Wirkung der Musik bedarf, ist es ein bedeuten-
des literarisches Werk durch sein großes nationales Thema, durch die Verknüpfung
der Faust-Figur mit dem Bauernkrieg, durch seine großartige Konzeption, durch
seine Sprache, durch seinen Ideenreichtum.

Beide Zitate helfen zu erinnern – vergleichbar zur relativ einseitigen Definition


eines Librettos als „bloßen Sprungbrett[s] für musikalisch bzw. sängerisch herge-
stellte Affekterregungen“ –12 dass, so Arne Stollberg, „sich das Zusammenwirken
von Musik und Text auf der Bühne im Moment der Live-Performance anders
darstellt als auf dem Papier“.13 Die Forscher*innen, die Hanns Eislers Johann
Faustus untersucht haben, vertreten hinsichtlich der Definition des Operntextes
unterschiedliche Auffassungen. Hans Joachim Kreutzer erörtert: „Dieses Libretto
[…] bedarf der Musik, als Drama, es ist kein bloßer ,Text‘, sondern es enthält

9 Dazu siehe: Gier, Albert: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen
Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 3–32.
10 Eisler: [Entwurf einer Stellungnahme zur Faustus-Polemik] (1953). In: MuP, S. 284–287,

hier: S. 285.
11 Zit. in Bunge: Die Debatte, S. 159.
12 Stollberg: Kombination von Literatur und Musik, S. 71.
13 Ebd.
2.1 Hanns Eislers Johann Faustus und Thomas Manns Doktor Faustus… 33

einen Freiraum, der auf Musik hin konzipiert ist“.14 Friederike Wißmann erläu-
tert hingegen, Eisler habe „das Libretto als einen für sich stehenden Text“15
verfasst, der ohne Musik nicht „defizitär“16 bleibe. Sie unterstreicht außerdem,
dass die Absenz der Musik es jedoch nicht erlaube, den Text in der gleichen
Weise wie ein Theaterstück zu behandeln: Das Libretto bediene sich stilistischer
Register, „die seinem kompositorischen Verfahren erwachsen“.17 Dieser letzten
Auffassung schließt sich auch die vorliegende Studie an: Dies mag auch die Tat-
sache bestätigen, dass der Operntext veröffentlicht wurde, bevor die Musik fertig
war. Zwei Komponisten konnten ihn zudem vertonen: Karl Heinz Füssl (1966–
1967), allerdings nur fragmentarisch, und Friedrich Schenker (2004). Der eine
„wählt eine strenge dodekaphone Gestaltung“18 und betont somit den Einfluss
von Thomas Manns Roman, der andere komponiert „dezidiert unter dem Aspekt
der Textverständlichkeit“19 und stellt daher Eislers Text in den Vordergrund.

2.1.2 Eislers Johann Faustus und Manns Doktor Faustus:


Kontinuitäten

Nach der Definition des Status des Operntextes wird im Folgenden auf die Kon-
tinuitäten zwischen Eislers Werk und Manns Roman eingegangen. Mit diesem
Zweck soll zunächst einmal die Beziehung zwischen Mann und Eisler knapp dar-
gestellt werden. In den Exiljahren hatten die beiden Autoren die Möglichkeit,

14 Kreutzer, Hans Joachim: Faust. Mythos und Musik, München: Beck 2003, S. 153.
15 Wißmann, F.: Johann Faustus. Eislers Materialien und die Komposition des Textes. In:
Schweinhardt, Peter (Hrsg.): Hanns Eislers „Johann Faustus“. 50 Jahre nach Erscheinen
des Operntexts 1952. Symposion (Eisler-Studien Bd. 1). Wiesbaden: Breitkopf & Härtel
2005, S. 11–25, hier: S. 11.
16 Ebd., S. 12.
17 Dies.: Faust im Musiktheater des 20. Jahrhunderts, S. 95. Immerhin besteht auch die

Auffassung, eine Oper weise größere Affinitäten zum Roman als zum Drama auf. Siehe
Stollberg: Kombination von Literatur und Musik, S. 70 und Conrad, Peter: Romantic
Opera and Literary Form. Berkeley (u. a.): University of California Press 1977. Aller-
dings ist Theaterregisseur*innen auch gelungen, das Libretto aufzuführen, als wäre es als
Theaterstück konzipiert worden. Siehe Fußnote 6.
18 Wißmann, Robert: Kompositionen für den Faust. Musik zu Hanns Eislers Johann

Faustus. In: Eisler Mitteilungen 30 (2002), S. 8, hier: S. 8.


19 Ebd.
34 2 Hanns Eislers Johann Faustus

einander kennenzulernen;20 ein Brief von Thomas Mann an Hanns Eisler drückt
Neugierde für sein Johann Faustus-Projekt aus:21

Dankt für die Übersendung des Librettos zu einer volkstümlichen Faust-Oper. Nennt
die Formung des Faust-Stoffes „sehr neu, sehr kühn, sehr eigentümlich“, die auch
der Musik wie dem Theater recht entgegenkommt. Glaubt, daß das Ganze beson-
ders durch die Musik, an die er sich schwer gewöhnen könne, „hübsch provokant“
werde, besonders durch den derben deutschen Humor, der besonders in der Figur
des Hanswurst zum Ausdruck kommen werde.

Eisler fasst die zentrale Idee von Johann Faustus folgendermaßen zusammen:22

Wer sich gegen das Volk, die Bewegung des Volkes, die Revolution stellt, sie verrät,
gegen sie einen Bund mit den Herren schließt, wird vom Teufel geholt ohne Gnade
und Erbarmen; er wird vernichtet.

Zusätzlich zu den gedanklichen Affinitäten zwischen Manns Werk und Eislers


Oper, die sich am vorigen Zitat ablesen lassen, gibt Eislers Bezeichnung sei-
nes Textes als ,Doktor Faustus‘ einen ersten Hinweis für seine Nähe zu Thomas
Manns Roman: Sie taucht nicht nur in den ersten Skizzen der Arbeit auf, son-
dern auch im Jahr 1953, also zur Zeit der Veröffentlichung des Librettos und
der Debatte um seine Druckerlaubnis.23 Mit Bewunderung äußert sich Eisler über

20 Sehr wahrscheinlich schätzten sich die beiden hoch. Der Autor von Doktor Faustus
schreibt beispielsweise in der Entstehung des „Doktor Faustus“ über den Komponisten:
„Dagegen traf man im Hause Schönberg Hans [sic] Eisler, an dessen sprühendem Gespräch
ich immer das heiterste Gefallen fand“ (Ent: 82). Vgl. Schebera: Nachbemerkung, S. 147.
Für eine Biographie von Eisler sei hier auf die folgenden Publikationen verwiesen: Wiß-
mann, F.: Hanns Eisler. Komponist, Weltbürger, Revolutionär. Mit einem Vorwort v.
Peter Hamm. München: Elke Heidenreich 2012. Siehe auch Albert, Claudia: Adorno und
Eisler – Repräsentanten des Musiklebens in den beiden deutschen Staaten der Nachkriegs-
zeit. In: Exilforschung – Ein internationales Jahrbuch Bd. 9 (1991), S. 68–80.
21 Briefe 4, 05.11.1952, an Eisler (Mann diktierte seine Briefe seiner Sekretärin, daher

die Verwendung der dritten Person Singular und der indirekten Rede). F. Wißmann,
die aus demselben Brief im Archiv der Akademie der Künste zitiert, unterstreicht
aber, dass oft nur „die Einschätzung ,hübsch provokant‘“ gelesen wird, nicht aber „das
Infragestellen [von Seiten Thomas Mann] des Librettotextes als einerseits ,unsingbar‘,
andererseits ,wunderartig-merkwürdig‘“.Wißmann, F.: Eislers Johann Faustus: „unsing-
bar“, „unkomponierbar“, „wunderbar-merkwürdig“. In: Faust-Jahrbuch 2 (2006), S. 23–34,
hier: S. 25.
22 Eisler: [Entwurf einer Stellungnahme], S. 284.
23 Vgl. etwa Eislers Schriften „Notizen zu Dr. Faustus“ und „Vorbemerkung [zu Dr.

Faustus]“ (1951, in: MuP, S. 136).


2.1 Hanns Eislers Johann Faustus und Thomas Manns Doktor Faustus… 35

Manns Roman und die Figur des Adrian Leverkühn, in der er vor allem seinen
Lehrer Arnold Schönberg sieht:24

In großartiger Weise hat Thomas Mann verstanden, alle Krankheiten und (Pro-
bleme) Schwierigkeiten der modernen Musik und des (modernen) Musiklebens wie
in einem Brennspiegel zu fangen und sie in seiner Gestalt des Leverkühn auf zwei
Beine zu stellen.

Angeregt von der Lektüre von Doktor Faustus drückt Eisler in Skizzen und
Notizen zu seinem Werk die Absicht aus, mit dem Johann Faustus eine Oper
zu schreiben, die „von den unerfahrenen Ohren und den erfahrensten“25 begrif-
fen werden müsse. Das Libretto setzt sich, wie bereits erwähnt, nicht nur mit
Manns Roman auseinander, sondern geht – so Tim Lörke – „an die Anfänge des
Faust-Mythos“26 zurück.
Hier sei vor allem auf die inhaltlichen und strukturellen Parallelen zwischen
Johann Faustus und Doktor Faustus hingewiesen. In Manns Roman kann man
den Einfluss von Dantes Inferno mehrfach erkennen, etwa an der Schilderung der
Komposition Apocalipsis cum figuris und am Zitat vor Beginn des Romans. Der
Bezug auf die Commedia fehlt auch bei Eisler nicht, z. B. im Vorspiel durch die
Einführung von Charon, dem „treue[n] Totenfährmann“ (JF: 11).27
Auch das Motiv der Verzweiflung, die in Thomas Manns Roman als Voraus-
setzung für die Hoffnung gilt und Leverkühns Weheklag auf vielfältige Art und
Weise darstellt, spielt in Johann Faustus eine wichtige Rolle.28 Noch im Vorspiel
erklärt Mephisto, Faust sei „aus Verzweiflung viermal Doktor“ (JF: 17) geworden.
Auch die seelische „Verwirrung“ (JF: 123) Fausts, von der Wagner in der fünf-
ten Szene des dritten Aktes berichtet, ist nichts anderes als tiefe Verzweiflung,
die – wie in Doktor Faustus – zu einem Geständnis führt. Während dieser confes-
sio wiederholt Faust das Wort „Wehklagen“ (JF: 126 und 127).29 Damit wird auf

24 Eisler:Notizen zu Dr. Faustus, S. 129 (Ergänzungen i. O.).


25 Ebd., S. 133.
26 Lörke, Tim: Die Verteidigung der Kultur. Mythos und Musik als Medien der Gegen-

moderne. Thomas Mann – Ferruccio Busoni – Hans Pfitzner – Hanns Eisler. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2010, S. 276.
27 Siehe Alighieri, Dante: La commedia, Die göttliche Kömodie, I Inferno – Hölle.

Übers. u. komm. v. Hartmut Köhler. Stuttgart: Reclam 2010, Canto III, V. 78–136,
S. 50–55.
28 Vgl. Kap. 5.
29 Er wiederholt auch den Satz „da klagt doch wer“ (JF: 126 ff.) und benutzt einmal das

grammatikalisch verwandte Wort „Anklagen“ (JF: 128). Seine confessio scheint auch –
vergleichbar zu Leverkühns Kantate – ein „Variationenwerk der Klage“ (DF: 705) zu sein.
36 2 Hanns Eislers Johann Faustus

Leverkühns letztes Werk angespielt, in dem – so Zeitblom im Roman – „die letzte


Verzweiflung Ausdruck“ (DF: 711) erhält und wo ebenfalls ein Geständnis folgt.
Eisler sah für die Musik von Johann Faustus drei Lamentationes und eine Ver-
zweiflungsarie im dritten Akt vor, was diese Bezugnahme noch verstärkt hätte.30
Sowohl bei Eisler als auch bei Thomas Mann scheint die letzte (oder die einzige?)
Hoffnung in der Musik zu liegen. Das Lied des Knaben am Ende des Librettos,
das im Folgenden zitiert wird, erinnert an das „hohe g eines Cello“ (DF: 711) am
Ende von Leverkühns Weheklag:

Ich ging auf dürrer Heiden, / Da hört ein Stimm ich singen, / Tät mir wunderbar
erklingen: / „Komm, lieber Tag; / Geh, finstre Nacht! / Fried und Freud / Und
Freundlichkeit erwacht“. (JF: 144)31

Johann Faustus studiert wie Adrian Leverkühn als erste Disziplin die Theologie,
die er dann aufgibt.32 Auch erleben beide eine Schaffenskrise, die sie zum Pakt
mit dem Teufel führt:

MEPHISTO: Der Herr Doktor befindet sich in einer großen Schaffenskrise, fühlt
sich abgestumpft gegen geistige wie körperliche Genüsse. Wissenschaften erschei-
nen ihm schal; Vernunft ekelt ihn. Er lechzt nach einem „vollen Leben“. (JF:
17)

Eislers Mephisto zeichnet sich genau wie Manns Teufel dadurch aus, dass er ver-
schiedene Gestalten annehmen kann: Er erscheint beispielsweise „in bürgerlicher
Kleidung“ (JF: 43), „in der Tracht eines Junkers“ (JF: 48) und als italieni-
scher Sekretär.33 Zu den Bedingungen des Paktes zählt im Libretto ebenfalls das
Liebesverbot, das – wie bei Mann – eine wichtige Rolle spielt:

MEPHISTO: Zum dritten: Du mußt der Liebe entsagen!


FAUST: Der Liebe?

30 Vgl. Eisler: [Musikalische Disposition für die Faustus-Oper] (1951). In: MuP, S. 136 f.,

hier: S. 137.
31 Siehe dazu auch Giovannini, Elena: Il patto col diavolo nella letteratura tedesca

dell’esilio. Rom: Aracne 2010, S. 321.


32 Vgl. ebd., S. 294.
33 Siehe dazu JF: 109 und Giovannini: Il patto col diavolo, S. 296 (Fußnote 84). Die

Erscheinung des Teufels als italienischer Sekretär könnte außerdem auf das Teufelsge-
spräch in Palestrina in Manns Roman anspielen. Vgl. Kap. 6.
2.1 Hanns Eislers Johann Faustus und Thomas Manns Doktor Faustus… 37

MEPHISTO: Wichtigster Punkt im Vertrag! (JF: 51)34

Bei der Besiegelung des Vertrags zittert Faust, genau wie Leverkühn beim Teu-
felsgespräch (währenddessen er jedoch keinen Vertrag tatsächlich unterschreibt):

MEPHISTO: Hier der Vertrag. Erst dein Blut! Zieht mit seiner Hahnenfeder Blut
aus Fausts Arm. Unterschreib!
FAUST: nimmt die Feder, seine Hand zittert.
MEPHISTO: Wie du zitterst, ich will deine Hand führen. Mephisto führt ihm die
Hand und steckt den Vertrag in die Tasche. (JF: 56)35

Ein weiteres wichtiges Motiv, das sich sowohl in Doktor Faustus als auch in
Johann Faustus findet, ist das des Deutschtums und der Auseinandersetzung
mit der Geschichte Deutschlands unter verschiedenen Gesichtspunkten (religi-
ösen, politischen, kulturellen): Ernst Fischer stellt 1952 fest, Faust sei bei Eisler
„Zentralgestalt der deutschen Misere“36 und sein Werk „die Tragödie eines Vol-
kes“.37 Der Komponist betrachtet diese nicht nur als eine historische, sondern
auch als eine „höchst aktuelle“,38 weil er in der „Spaltung Deutschlands“39 die
„nationale Misere“40 seiner Zeit sieht. In diesem Prozess der Auseinandersetzung
mit der deutschen Geschichte darf Martin Luther, „[d]ie Leuchte der […] Nation“
(JF: 125), nicht fehlen: Die Handlung spielt in seiner Epoche, d. h. die erzählte
Zeit ist nicht die von Doktor Faustus. Zudem befindet sich Fausts Palast in Wit-
tenberg und er bewundert in einigen Momenten seines Lebens Luthers Lehre, von
dem er vor der confessio auch umarmt wird. Luther scheint für die Widersprüche

34 Später erklärt Mephisto Faust, dass er nur sich selbst lieben darf. Vgl. JF: 53; zum

Thema des Liebesverbots siehe auch: Giovannini: Il patto col diavolo, S. 282.
35 Das Verhältnis Plutos zu Mephisto entspricht dem Mephistos zu Faust: Der Teufel ist

Johann Faustus gegenüber besonders autoritär, während Johann Faustus fast im ganzen
Libretto passiv bleibt. Siehe auch Giovannini: Il patto col diavolo, S. 297. Giovannini
meint, beim Unterschreiben zittere Faust aufgrund einer psychologischen Spannung und
nicht aus Kälte wie Leverkühn. Vgl. ebd., S. 285. Das Zittern ist ein wiederholtes Motiv
von Doktor Faustus: Auch Zeitblom zittert oft beim Berichten über das Leben seines
Freundes. Siehe z. B. DF: 324.
36 Fischer, Ernst: Doktor Faustus und der deutsche Bauernkrieg. In: Sinn und Form 4

(1952) H. 6, S. 59–73, hier: S. 63, Herv. i. O.


37 Ebd., S. 67, Herv. i. O.
38 Eisler: [Entwurf einer Stellungnahme], S. 285.
39 Ders.: [Stellungnahme zu den 6 Fragen], S. 297.
40 Ebd.
38 2 Hanns Eislers Johann Faustus

der deutschen Geschichte zu stehen, weil er sich gegen „den päpstlichen Miß-
brauch“ (JF: 127) äußert und die Bibel ins Deutsche übersetzt, damit sie auch
von den Bauern verstanden werden kann. Die Bauer verrät er jedoch wie Faust,
indem er die Herren verteidigt. Das Libretto denunziert also die Unmöglichkeit
seines Volkes, eine Revolution zu Ende zu führen.
Sowohl Thomas Mann als auch Hanns Eisler bedienen sich der Montage-
Technik.41 Der Komponist sieht sie in seinen Skizzen und Notizen zur Oper auf
verschiedenen Ebenen vor. Zuerst auf der musikalischen: Zwar bezeichnen sowohl
Fischer als auch Brecht den Operntext als eine Tragödie,42 indem sie vor allem auf
die politischen Bezüge hinweisen und ausschließlich anhand des Librettos argu-
mentieren. Aus den Plänen geht jedoch ein unterschiedliches Vorhaben hervor,
was hauptsächlich die Musik hätte verdeutlichen sollen. Es handelt sich um die
Mischung von drei Opernstilen, die entweder bestimmten Figuren oder gewissen
Szenen zugeordnet werden:43

1. der Spieloper (Hanswurst – Gretel)


2. der seriösen Oper (Faust – Mephisto)
3. der komischen Oper („Vorspiel in der Hölle und Hanswurstszenen“).

Eine Reflexion über soziale Klassen verknüpft sich folglich mit entsprechenden
musikalischen Formen. Eisler schreibt dazu: „Die Gegenüberstellung des Volks-
liedes – gegen den Kirchenchoral“. Die Macht als potestas, also unter ihren
negativen und restriktiven Aspekten gefasst,44 die sich auch durch das Vorschrei-
ben bestimmter musikalischer Formen in gewissen Kontexten ausdrückt, steht im
Zentrum von Eislers Vorhaben. Durch die Mischung von Stilen und Formen in der
Musik des Orchesters – von einigen Forscher*innen als Erzählinstanz der Oper
angesehen45 – könnte es aber auch mit einer Art variabler und manchmal mul-
tipler Fokalisierung mit unterschiedlichen Erzählinstanzen in Verbindung gebracht

41 Zu Eislers Auseinandersetzung mit dem Erbe und den geteilten Meinungen zwischen

ihm und Lukács, was das Montage-Verfahren angeht, vgl. Wißmann, F.: Johann Faustus,
S. 16 f.
42 Vgl. Fischer: Doktor Faustus, S. 67 und Bunge: Die Debatte, S. 159.
43 Eisler: [Zur Wirkung der Faustus-Oper auf die Musikentwicklung] (1951). In: MuP,

S. 137 f., hier: S. 137.


44 Dazu siehe Braidotti, Rosi: Intensive Genre and the Demise of Gender. In: Angelaki.

Journal of the Theoretical Humanities 13 (2008) H. 2, S. 45–57, hier: S. 56 Note 1.


45 Vgl. Stollberg: Kombination von Literatur und Musik, S. 70.
2.1 Hanns Eislers Johann Faustus und Thomas Manns Doktor Faustus… 39

werden, die nicht ausschließlich die damaligen Macht legitimierenden Akteure


repräsentieren.46
Eine weitere Ebene des Montage-Verfahrens ist die sprachliche. Zum einen
orientiert sich Eisler wie Mann an einer Vielzahl von Vorlagen, z. B. an den Pup-
penspielen, dem Volksbuch, sowie an Goethe und Mann, um nur einige Quellen
zu benennen.47 Zum anderen erinnert der Sprachgestus „an Hans Sachs und d[ie]
Luthersche[] Bibelübersetzung“48 und an Autor*innen des 20. Jahrhunderts, nicht
nur an Mann, sondern auch an Brecht.49 „Eisler verbindet in seinem Faustus-Text
die Zeit des Bauernkrieges mit Erlebnissen aus dem Exil des 20sten Jahrhun-
derts, ohne eine sprachliche Vereinheitlichung zu bemühen“,50 so F. Wißmann,
die dadurch auf eine weitere Ebene der Montage-Technik hinweist, welche die
historische Zeit betrifft. Die Handlung spielt zwar zur Zeit der Bauernkriege, der
Text jedoch ist reich an Anspielungen auf den Nationalsozialismus, den Holo-
caust, die deutsche Schuld, die Diskriminierung der Schwarzen in den USA, den
Kalten Krieg und die DDR. In Doktor Faustus gibt es kraft der Extra- und Intra-
diegese zwei erzählte Zeiten, d. h. die Zeitbloms und des Zweiten Weltkriegs und
die Leverkühns vor 1940; anhand von Digressionen und Andeutungen wird aber
über weitere Ereignisse der abendländischen Geschichte reflektiert.

46 Siehe Jahn, Manfred: Focalization. In: Herman, David, Jahn, Manfred u. Marie-Laure
Ryan (Hrsg.): Routledge encyclopedia of narrative theory. London/New York: Routledge
2005, S. 173–177; Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Fink 1994, S. 134–138; Fou-
cault, Michel: Subjekt und Macht (1982). Übers. v. Michael Bischoff. In: Ders.: Schriften
in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV 1980–1988. Hrsg. v. Daniel Defert und François
Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005 [Chicago
1982], S. 269–294.
47 Vgl. dazu: Wißmann, F.: Johann Faustus, S. 13. Darüber hinaus ist der Einfluss Brechts

sehr deutlich, was etwa an der Verwendung des Verfremdungseffekts zu erkennen ist.
Nachdem beispielsweise Mephisto Fausts Seele genommen hat, wendet er sich zum Publi-
kum und sagt: „Aplaudite, amici! Contractum finitum est“, JF: 142. Zum Thema siehe
auch Giovannini: Il patto col diavolo, S. 320; und Wißmann, F.: Johann Faustus, S. 17.
48 Wißmann, F.: Johann Faustus, S. 14.
49 Siehe beispielsweise JF: 28: „Dann gewürzte Leberwurst, / Bratwürst auch und Schwar-

tenmagen, / Erbsenbrei und Schweinebraten, / Braunbier nicht vergessen! / Das wär


Essen!“. Die Worte erinnern an Brecht/Weills Oper Aufstieg und Fall der Stadt Maha-
gonny. Siehe Weill, Kurt und Bertolt Brecht: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny.
Oper in drei Akten. Leipzig: Universal-Edition 1929. Darüber hinaus spielen sowohl das
Libretto Brechts als auch das Eislers in einer amerikanischen Stadt, obwohl sie im ersten
Fall fiktiv ist.
50 Wißmann, F.: „unsingbar“, S. 32.
40 2 Hanns Eislers Johann Faustus

Auch bei Eisler könnte man von zwei Hauptfiguren sprechen: Faust und Hans-
wurst.51 Diese unterscheiden sich nicht wie bei Mann dadurch, dass sie zu zwei
unterschiedlichen Konfessionen gehören oder unterschiedliche Auffassungen über
die Kunst vertreten. Vielmehr trennen sie die soziale Klasse und die Ausbildung:
Faust, Sohn eines Bauern, hat viel studiert und besitzt einen Palast in Wittenberg,
Hanswurst ist ein armer, wenig gebildeter „Fresser“.52
Wißmann erläutert diesbezüglich:53

Zum einen kann er [Eisler] durch Hanswurst den Text im Text kommentieren, ande-
rerseits behält die Figur auch ihre Aufgabe bei, politische Mißstände in ironischen
Seitenhieben sichtbar zu machen.

Hanswurst teilt deshalb mit Zeitblom die kommentierende Funktion der Gescheh-
nisse. Fausts breiteres kulturelles Vermögen ermöglicht ihm aber nicht, vernünf-
tiger als Hanswurst zu handeln: Beide gehen einen Pakt mit dem Teufel ein und
sind verdammt, weil sie nur an sich selbst gedacht haben. Ihre fehlende altruisti-
sche Natur macht sie ähnlicher und komplementärer als erwartet und nivelliert die
Klassenunterschiede: Laut Giovannini verkörpern sie beide Seiten eines negativen
Ichs;54 auch Brecht spricht von einem „dunklen Zwilling“55 von Goethes Faust.
Mehr als in Doktor Faustus stehen aber Faust und Hanswurst in Johann Faustus
„in einem fast komischen Gegensatz“,56 so Thomas Mann bezüglich Leverkühn
und Zeitblom. Dieser „komische[] Gegensatz“57 lässt sich an den Namen der
Figuren sofort ablesen. Zudem verdeutlichen die Namen, was Eisler laut seinen
Skizzen auch in der Musik zu realisieren beabsichtigte, insofern sie sich sofort auf
präzise literarische Traditionen, die Tragödie bzw. das Trauerspiel einerseits, die
(Stegreif-)Komödie andererseits sowie auf präzise Autoren wie Goethe zurückfüh-
ren lassen. Das Verhältnis dieser literarischen Traditionen zum Medium Musik,
nämlich durch die Oper sowie die wechselseitigen Beziehungen zwischen Thea-
ter und Musiktheater, hätte Johann Faustus in Opernform wahrscheinlich noch
deutlicher herausgestellt.

51 Thomas Mann spricht in der Entstehung des „Doktor Faustus“ von den „beiden

Protagonisten“ (Ent: 72) von Doktor Faustus.


52 Bunge: Die Debatte, S. 142.
53 Wißmann, F.: Faust im Musiktheater, S. 93.
54 Vgl. Giovannini: Il patto col diavolo, S. 313.
55 Zit. in Bunge: Die Debatte, S. 161.
56 GkFA 19.1: S. 261.
57 Ebd.
2.1 Hanns Eislers Johann Faustus und Thomas Manns Doktor Faustus… 41

Aus den vorigen Ausführungen kristallisieren sich einige Gemeinsamkeiten


zwischen Eislers und Manns Faustus-Projekt heraus, die sich auf verschiedenen
analytischen Ebenen feststellen lassen. Erstens an den literarischen, politischen,
religiösen und historischen Bezügen, z. B. auf Dante und Luther. Zweitens auf der
Ebene der Figuren, etwa der drei Gestalten des Teufels oder der zwei Hauptfiguren
der Werke. Drittens von einem stilistischen Gesichtspunkt aus, was hauptsächlich
an der Montage-Technik erkennbar wird. Schließlich auf der Ebene der Motive,
beispielsweise der Verzweiflung und des Teufelspaktes. Dieses letzte Motiv, zen-
trales Handlungselement einer Bearbeitung des Faust-Stoffes, leitet die kontrastive
Analyse zum zweiten Schritt über, mit dem sich der nächste Unterabschnitt
befasst, weil diesbezüglich signifikante Differenzen zwischen Manns und Eislers
Text deutlich werden.

2.1.3 Eislers Johann Faustus und Manns Doktor Faustus:


Differenzen

Wie am Ende des vorigen Unterabschnitts bereits angedeutet, treten beim Ver-
gleich beider Texte in puncto Teufelspakt nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern
auch wichtige Differenzen zutage. Das fällt bereits bei der ersten Lektüre von
Eislers Text auf: Das Libretto lässt die Leser*innenschaft nicht an der Existenz
eines Teufels und eines Paktes (anders als bei Mann) zweifeln. Mephisto ist bei
Eisler eine der Hauptfiguren des Werkes, die keine vage Identität wie in Dok-
tor Faustus hat, welche die Konsequenz eines Deliriums sein könnte. Faust heißt
nicht etwa Adrian Leverkühn, sondern eben Faust, und unterschreibt den Vertrag
bewusst mit seinem Blut: Aus diesem Grund weist Giovannini darauf hin, dass in
Johann Faustus der Pakt einen expliziten Charakter hat.58 Diese Beobachtungen
zeigen, dass die Zuordnung von Eislers Werk innerhalb der Faust-Tradition nur
schwer in Frage gestellt werden kann.
Die Dauer des Paktes beträgt in beiden Werken 24 Jahre. Der Unterschied
ist aber, dass die Laufzeit in Doktor Faustus respektiert wird, in Johann Faustus
dagegen nicht: Trotz des intensiven Studiums bleibt Faust für Mephisto der Sohn
eines Bauern. Der Teufel folgt der calvinistischen Prädestinationslehre.59

58 Sieheebd., S. 279. Vgl. Kap. 6.


59 Susanne Drees erläutert, das lateinische Wort praedestinatio bedeute im engeren Sinne
„die Auffassung, dass das Schicksal eines Menschen von Gott vorherbestimmt ist“. Laut
Calvin sei die Prädestinationslehre in der Heiligen Schrift begründet: Dieser Lehre entspre-
chend seien alle Menschen „zum Heil oder Unheil“ prädestiniert. Folglich kann Johann
Faustus weder seinen sozialen Status durch das Studium ändern, noch dem Teufel, der
42 2 Hanns Eislers Johann Faustus

Johann Faustus verlangt vom Teufel, die Künste zu lernen:

FAUST: Zum vierten: Du sollst mich die Künste lehren.


MEPHISTO: Nenn sie!
FAUST: Die große Malerei, die hohe Musik, die edle Dichtkunst.
MEPHISTO: Das kann ich nicht.
FAUST: Du hast keine Macht über sie?
MEPHISTO: schweigt.
FAUST: Ich brauch den Ruhm. Die Herrn der Welt müssen vor mir sich neigen, die
Sorg im Blick, ob ich auch guter Laun. Schlägt auf den Tisch. Wichtigster Punkt
im Vertrag!
MEPHISTO: Durch eine neue Kunst, die ich dir lehr, kannst du Helden erscheinen
lassen, als ob sie wirklich wären und lebeten. (JF: 49)

Hinsichtlich der Künste, die Johann Faustus vom Teufel gelehrt werden möchte,
bestehen signifikante Unterschiede zwischen Eislers Libretto und Manns Roman.
Eislers Faust will nicht nur die Musik lernen, sondern auch die Malerei und
die Dichtkunst. Der Teufel aber ist kein „Musikintelligenzler“ (DF: 327) wie
bei Mann und kann ihm nur „ein steriles Surrogat von Kunst bieten“60 – denn
die Schwarzspiele sind lediglich „Illusionen von Kunst“.61 Tim Lörke erläutert
dazu:62

[A]lles, was Mephisto bieten kann, ist flüchtiges Blendwerk, weil es nicht der
sozialen Lage angemessen ist. Ist Wahrheit einzig auf seiten des Volks zu finden,
kann solche Kultur nur Lüge sein.

Eislers Teufel wirkt, wahrscheinlich weil er eher die Interessen der Herren als die
des Volkes verteidigt, viel schwächer als der Teufel Thomas Manns. Nicht ledig-
lich, weil er Faust keine echte Kunst bieten kann, sondern auch, weil er Plutos

ebenfalls einem von Gott gewollten Plan folgt, Bedingungen diktieren. Drees, Susanne:
Prädestination und Bekenntnis. Die Rezeption der Prädestinationslehre Johannes Calvins
in den europäischen reformierten Bekenntnisschriften bis 1619. Kamen: Spenner 2011,
S. 22 u. 25.
60 Lörke: Die Verteidigung der Kultur, S. 279.
61 Ebd.
62 Ebd.
2.1 Hanns Eislers Johann Faustus und Thomas Manns Doktor Faustus… 43

Untergebener ist.63 Die Hölle von Johann Faustus weist eine präzise Hierarchie
auf, wovon man gleich im Vorspiel erfährt, wenn Pluto Mephisto befiehlt, ihm
die Seele Fausts zu bringen. Pluto wird dort als autoritäre Figur dargestellt und
Mephisto betont an mehreren Textstellen die Legitimationsinstanz seiner Macht.64
Zwar benutzt auch der „Teufel“ von Doktor Faustus mehrfach die erste Person
Plural und weist so auf die Struktur der Hölle hin.65 Bei genauerer Betrach-
tung aber gewinnt man den Eindruck, dass er dort niemandem untergeben ist:
Aus dieser Perspektive wäre die Verwendung der ersten Person Plural als pluralis
majestatis der Herrscher*innen zu werten.
Ein weiteres Motiv, das in beiden Texten auftaucht, ist das Motiv der
Krankheit, bei dessen Verwendung sich allerdings vor allem Unterschiede
feststellen lassen. In Doktor Faustus soll – laut Zeitbloms Wiedergabe der
Ereignisse – der Geschlechtsverkehr mit Esmeralda, durch den die Syphilis über-
tragen wird, mit der Unterschrift des Paktes korrespondieren. Die Symptome der
Krankheit intensivieren sich während der Laufzeit des Vertrags bis hin zum Wahn-
sinn und zur Paralyse. Die Infektion stellt für den Erzähler den Impuls für viele
Kompositionen Leverkühns dar. Ganz im Gegensatz zum Teufel in Manns Roman
akzeptiert Eislers Mephisto die Bedingung Fausts, 24 Jahre gesund zu bleiben:

FAUST: Denn ich muß die vierundzwanzig Jahr in voller Gesundheit dahin leben.
MEPHISTO: Wenn du es reichlich bunt treibst mit Fressen, Saufen und Huren –
wie kannst du gesund bleiben? Aber da hab ich schon meine Hausmittelchen. Denkt
eine Weile nach. (JF: 50)

Erst gegen Ende des Paktes zeigt Faust die Symptome einer psychischen
Krankheit:

ARZT: Wie äußert sich die seltsame Verwirrung?


WAGNER: Seit sieben Tagen findet er keinen Schlaf, ächzend schleppt er sich
durchs Haus. „Verhängt die Spiegel“, schreit er, „kann mein Gesicht nicht sehn.“
Dann wieder hockt er in einer Ecke und murmelt Flüche.

63 Vgl. auch Giovannini: Il patto col diavolo, S. 281.


64 Siehe etwa JF: 44: „Von Pluto habe ich die Macht, in jeglicher Gestalt zu erscheinen“,
und JF: 108: „Sei ohne Sorg, durch meine Macht, von Pluto mir verliehn, mache ich aus
deinem Wagner einen Mann, voll Phantasie, voll Schwung und Wärme“.
65 Vgl. z. B. DF: 335: „Überall, wo das Stundglas gestellt und Zeit gegeben ist, unaus-

denkbare, aber befristetete Zeit und ein gesetztes Ende, da sind wir wohl auf dem Plan,
da blüht unser Weizen“ (Herv. A. O.).
44 2 Hanns Eislers Johann Faustus

ARZT: Wem flucht er?


WAGNER: Sich. (JF: 123)66

Diese „seltsame Verwirrung“ sieht nicht wirklich wie eine Krankheit, sondern
eher wie tiefe Verzweiflung und Angst aus: Faust wird sich der Tatsache bewusst,
dass er durch die Hilfe des Teufels nichts Besseres realisieren konnte. Zugleich
begreift er, dass Mephisto ohnehin seine Seele haben würde: Der Pakt ist unge-
recht und unausgewogen, der Teufel hat ihn verspottet. In Doktor Faustus gelingt
es Adrian Leverkühn durch die Hilfe des Teufels ein neues kompositorisches Sys-
tem zu entwickeln, was manche jedoch ebenfalls für „Illusionen von Kunst“67
halten könnten. Gleichwohl könnte darauf hingewiesen werden, dass Adrian
Leverkühn durch seine letzte Komposition eine größere Ausdruckskraft der Musik
zu erreichen beabsichtigt, was aber die „Strenge“ der Form, d. h. die präzise
Anwendung der Dodekaphonie, verhindert: In der Aufführungssituation wird das
besonders deutlich, da der Künstler nach dem ersten Laut in Ohnmacht sinkt.68
Zweifelsohne besteht ein weiterer, signifikanter Unterschied zwischen Eislers
Johann Faustus und Thomas Manns Doktor Faustus darin, dass im Libretto die
Musik keinen wichtigen Bestandteil der histoire69 mehr darstellt: Die Oper rückt
nicht das Leben eines Musikers ins Zentrum, sondern die Musik ist einfach eine
der Künste, die Faust vom Teufel lernen will. Die histoire lässt sich bei Eisler
eindeutig als eine Bearbeitung des Faust-Stoffes erkennen, und zwar nicht nur im
paratextuellen Hinweis des Titels.70
Darüber hinaus ist eine Berücksichtigung des Entstehungskontextes, wie ein-
gangs des Kapitelabschnitts angesprochen, für die Analyse sehr ergiebig: Das
sekundäre Produkt wird nicht 1947 gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs in
der BDR bzw. in Schweden, sondern 1952 in der DDR veröffentlicht. Während
Thomas Manns Roman ein höchst kontroverses Werk bleibt, das aber weiter-
hin gelesen und veröffentlicht werden durfte bzw. darf, zu dem sich der Autor
auch wiederholt äußert und sogar ein zweites Werk über seine Entstehungsge-
schichte erscheinen lässt, erfährt Eislers Libretto eine andere Geschichte. Dieses
wird 30 Jahre lang nicht veröffentlicht und die Musik dementsprechend nur sehr

66 Siehe dazu auch Giovannini: Il patto col diavolo, S. 319.


67 Lörke: Die Verteidigung der Kultur, S. 279.
68 Vgl. DF: 728 f.
69 Hier und im weiteren Verlauf der Studie aus: Genette, Gérard: Palimpsestes. La

littérature au second degré. Paris: Seuil 1982, z. B. S. 319.


70 Dazu vgl. auch Genette, G.: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt

am Main: Suhrkamp 2019 [Paris 1987], S. 86.


2.2 Fazit 45

fragmentarisch komponiert. Die kritischen Reaktionen auf Eislers Werk, nach


denen die Darstellung der deutschen Geschichte in Johann Faustus von Pessi-
mismus und Einseitigkeit geprägt sowie Goethes Faust bagatellisiert sei, hatten
Konsequenzen für die Verbreitung und die Vervollständigung des Werkes.71 Mül-
ler kommt sogar zur Aussage, dass Eislers Johann Faustus „ein Beispiel für den
kulturpolitischen Dogmatismus der DDR“72 sei. In der Rezeptionsgeschichte von
Thomas Manns Doktor Faustus und Hanns Eislers Johann Faustus profilieren
sich demnach wahrscheinlich die größten Unterschiede. Differenzen, die mit dem
unterschiedlichen Entstehungsdatum und Veröffentlichungsort zusammenhängen,
sind allerdings nicht nur werkextern, sondern auch werkintern an den politischen
und historischen Anspielungen und Bezügen beider Texte zu erkennen. Auch
diese sind historisch und geographisch bedingt und machen folglich eine (auch
grobe) Kontextualisierung für die Analyse erforderlich.

2.2 Fazit

Das Kapitel hat anhand der Werke Doktor Faustus von Thomas Mann und Johann
Faustus von Hanns Eislers gezeigt, unter welchen Aspekten die Analyse von
Kontinuitäten und Differenzen zwischen Vorlage und intermedialer Bezugnahme
durchgeführt werden kann. Im Gesamtkontext der Arbeit machte sie folglich auf
einige wichtige Kriterien für den Medienvergleich aufmerksam, so z. B. den Ent-
stehungskontext, stilistische Entscheidungen sowie das Verhältnis zum Faust-Stoff
und zu den im Roman auftauchenden Motiven. Im Hinblick auf die Forschungs-
fragen der Studie ermöglichte die Analyse von Eislers Johann Faustus bereits ein
Stück der frühen kompositorischen Rezeptionsgeschichte von Doktor Faustus zu
rekonstruieren.

71 Vgl. 2.1. Eine ausführliche Rekonstruktion der damaligen Debatte um Eislers Werk
sowie aller Reaktionen auf Manns Roman würde den Rahmen dieser Untersuchung spren-
gen und auch zu weit vom intermedial angelegten Schwerpunkt abweichen. Daher wird
diese Problematik im Rahmen dieser kontrastiven Analyse nur kurz umrissen. Für weitere
Informationen zum Hintergrund sei jedoch auf die Publikationen von Bunge, F. Wißmann,
Müller, Lörke und Giovannini, die in diesem Kapitel bereits zitiert wurden.
72 Müller: Ein deutsches Trauerspiel, S. 9.
46 2 Hanns Eislers Johann Faustus

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Teil II
Adrian Leverkühns Werke
Gesta Romanorum
3

Der gemeinsame Nenner der Kapitel, die den zweiten Teil der vorliegenden
Untersuchung bilden, liegt darin, dass sie von einzelnen fiktiven Kompositio-
nen Leverkühns und darauf aufbauenden intermedialen Transpositionen bzw.
Bezugnahmen handeln. Damit in den drei Kapiteln dieses Teils Leverkühns
kompositorische Entwicklungen kohärent und nachvollziehbar dargestellt wer-
den können, werden die drei fiktiven Werke, nämlich die Gesta Romanorum,
die Apocalipsis cum figuris und die Dr. Fausti Weheklag, der Chronologie der
intradiegetischen Zeitbezüge des Romans entsprechend behandelt: Zeitblom lie-
fert seiner Leser*innenschaft präzise Daten zur Komposition und Aufführung der
Kompositionen.
Das vorliegende Kapitel beschäftigt sich mit Leverkühns Puppenspiel Gesta
Romanorum und zwei intermedialen Transpositionen des Werkes, jeweils von
Beyer (Die Gesta Romanorum – Musik des Adrian Leverkühn, 1990) und Ode-
gard (The Calling of St. Gregory, 1988). In den Ausführungen der ersten, dem
Roman gewidmeten Abschnitte des Kapitels kristallisiert sich der Labor-Charakter
der Gesta-Kapitel aus Thomas Manns Doktor Faustus heraus, die einerseits auf
der intradiegetischen Ebene der Narration einer Experimentierphase im Schaffen
Adrian Leverkühns entsprechen, andererseits eine Transitionsphase in Thomas
Manns Arbeit am Motiv des Inzests in einem mythischen Kontext darstellen.
In diesem Prozess, der anhand der drei Werke Wälsungenblut, Doktor Faustus
und Der Erwählte kurz geschildert wird, ergeben sich aus intramedialer Sicht
sowohl Kontinuitäten als auch Differenzen, etwa der durchgehende Rückgriff auf
die Parodie und das In-Frage-Stellen der mythischen Vorlage samt Hervorhebung
der Gefährlichkeit von Mythen sowie die – trotz Einbettung in unterschiedliche
geographische Räume und Bezug auf zwei unterschiedliche Religionen – enge
Verknüpfung von Inzest und Rassenfrage.

© Der/die Autor(en) 2021 49


A. M. Olivari, Doktor Faustus (ver-)stimmen,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62635-1_3
50 3 Gesta Romanorum

Der zweite Teil des Kapitels widmet sich zwei intermedialen Transpositionen
von Leverkühns Gesta romanorum. Beyers Die Gesta romanorum – Musik des
Adrian Leverkühn befindet sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Rekon-
struktion und Adaption der Vorlage: Einerseits orientiert sich Besetzung und Stil
an Thomas Manns Roman, anderseits wird das Ziel einer größeren Zugänglich-
keit der Musik nicht durch das Medium des Puppenspiels, sondern durch das des
Fernsehens verfolgt. In Odegards The Calling of St. Gregory wird das Motiv des
Inzests jenseits von kulturellen Tabus behandelt; die spätmittelalterliche Exempel-
sammlung wird in Frage gestellt, indem gleichzeitig der parodistische Charakter
von Leverkühns fiktiver Vertonung im plurimedialen Medium der Medienkom-
bination verstärkt wird. Beide intermediale Produkte konzentrieren sich auf das
zweite von Leverkühns vertonte Exempel, nämlich auf Gregors Mythos.

3.1 Die Gesta Romanorum als Labor:1 Adrian Leverkühns


Puppenspiel

Der vorigen Darstellung des Inhalts des Kapitels entsprechend wird hier zunächst
einmal auf Leverkühns fiktives Puppenspiel Gesta Romanorum eingegangen. Das
Werk Gesta Romanorum ist eine anonyme spätmittelalterliche Exempelsamm-
lung: Die sehr verschiedenen Texte samt ihren diversen Handlungen, Figuren und
Stoffen haben hauptsächlich eines gemeinsam, nämlich ihre moralisch-didaktische
Absicht. Die Exempelsammlung hat viele Schriftsteller inspiriert, etwa Shake-
speare, Boccaccio, Lessing und Hofmannsthal, denn Werke dieser Autoren stützen
sich auf einige Legenden aus der Sammlung.2 Auch im Schaffen Thomas Manns

1 Der Begriff wurde dem später erwähnten Aufsatz Braidottis entnommen: Es entspricht
der deutschen Übersetzung des von ihr verwendeten Wortes „laboratory“. Zur Übersetzung:
Braidotti: Politik der Affirmation. Übers. v. Elisa Barth. Leipzig: Merve 2018, S. 79.
2 Vgl. Wawrznyiak, Udo: Gesta Romanorum. In: Brednich u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie des

Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 5


von 14. Berlin/New York: de Gruyter 1987, S. 1201–1212. Nach der Auffassung von
Weigand und Murdoch bedient sich Thomas Mann der Gesta-Übersetzung von Gräße,
auf die sich das vorliegende Kapitel ebenfalls beziehe. Vgl. Murdoch, Brian: Gregorius.
An Incestuous Saint in Medieval Europe and Beyond. Oxford: Oxford University Press
2012, S. 200; Weigand, Hermann J.: Thomas Mann’s Gregorius. In: Germanic Review 27
(1952) H. 0031, S. 10–30, hier: S. 10; Gesta Romanorum. Übers. v. Johann G. T. Gräße.
Leipzig: Löffler 1905 [Dresden 1842], 3. Aufl. Bd. 1. Siehe auch: Weiske, Brigitte: Gesta
Romanorum (2 Bände: 1. Untersuchungen zu Konzeption und Überlieferung, 2. Texte,
Verzeichnisse). Tübingen: Niemeyer 1992.
3.1 Die Gesta Romanorum als Labor: Adrian Leverkühns Puppenspiel 51

stellen die Gesta den Hypotext3 zweier Werke dar, und zwar nicht nur des hier
behandelten Romans, Doktor Faustus, sondern auch eines zweiten, später entstan-
denen, nämlich Der Erwählte. Während Doktor Faustus auf zwei Exempel4 des
Hypotextes Bezug nimmt, die jeweils die Motive des Ehebruchs und des Inzests in
den Vordergrund rücken und auf der intradiegetischen, histoire-spezifischen Ebene
in der ersten Phase des Ersten Weltkriegs (1914–15) von Adrian Leverkühn ver-
tont werden, basiert der 1951 erschienene Roman lediglich auf dem Exempel des
Papstes Gregor.5 Im intramedialen Prozess wird daher der Fokus auf den mythi-
schen Hypotext reduziert, gleichzeitig aber die Geschichte des christlichen Ödipus
Gregor an sich ausführlicher behandelt und – nach den Worten des Autors – zum
Hauptstoff seines „kleinen archaischen Roman[s]“ (Ent: 114).
In Bezug auf Adrian Leverkühns vertonte Texte aus den Gesta taucht –
sowohl im Roman als auch in den ersten Beiträgen aus der Forschungslitera-
tur – nicht selten das Wort ,Regression‘ auf.6 Zeitblom ist beispielsweise der
Auffassung, dass „die ,Gesta‘ tatsächlich etwas wie eine ,Regression‘ auf den
musikalischen Stil von ,Love’s Labour Lost‘“ (DF: 465), ein Werk der frühen
Phase Leverkühns, darstellen und äußert sogar seine Unzufriedenheit mit dem
Werk und den damaligen Überlegungen seines Freundes über „eine Kunst ohne
Leiden, seelisch gesund, unfeierlich, untraurig-zutraulich, eine Kunst mit der
Menschheit auf du und du“ (DF: 469). In einem 1952 publizierten Aufsatz von
Weigand findet sich diese Stellungnahme ebenfalls: „The style of Adrian Lever-
kühn’s puppet-play music was a reversion to the simpler manner of his earlier
period“.7 Erst in späteren Beiträgen zu Thomas Manns Roman unterliegt diese
Auffassung einer Revision: Herrmanns betont beispielsweise, dass diese Schaf-
fensperiode in Leverkühns Leben doch nicht völlig „unschöpferisch[]“8 gewesen
sei. Das vorliegende Kapitel versucht, jenseits der starren Dichotomien unschöpfe-
risch/schöpferisch bzw. Regression/Progression zu argumentieren. Diese scheinen
nicht angemessen, dem dynamischen Labor-Charakter der Gesta-Kapitel – sowohl
auf der intradiegetischen Dimension des Romans als auch im Schaffen Thomas
Manns – Rechnung zu tragen, der im Zentrum der folgenden Ausführungen steht.

3 Hier und im weiteren Verlauf der Studie aus: Genette: Palimpsestes, z. B. S. 11.
4 Thomas Mann sieht zunächst fünf Geschichten aus den Gesta vor, benutzt dann nur zwei.
Siehe Hermanns, Ulrike: Thomas Manns Roman Doktor Faustus im Lichte von Quellen
und Kontexten. Frankfurt am Main: Lang 1994, S. 40.
5 Siehe Mann, Thomas: Der Erwählte. Frankfurt am Main: Fischer 2015 [1951], 30. Aufl.
6 Zur Forschungsliteratur vgl. z. B. den bereits erwähnten Aufsatz von Weigand (Thomas

Mann’s Gregorius, Fußnote 2).


7 Weigand: Thomas Mann’s Gregorius, S. 11.
8 Hermanns: Thomas Manns Roman, S. 38.
52 3 Gesta Romanorum

Die Kapitel profilieren sich in Anlehnung an eine Publikation von Rosi Braidotti
als vieldimensionales „laboratory for the new in the sense of the actualizations
of experiments in becoming“.9 Im Rahmen dieses Experimentierens kommt dem
Motiv des Inzests eine große Bedeutung zu: Auch die Gesta setzen sich mit der
Frage: „[W]hat happened to the heirs of Oedipus?“10 auseinander, die u. a. auf
den Diskurs des Begehrens, genauer genommen auf den eines „desire outside
cultural intelligibility“,11 verweist.
In der bereits erwähnten Schrift beschreibt Braidotti, was sie unter einem
,intensiven Text‘ versteht:12

The literary text as an experiment in sustainable models of change is a laboratory


grounded in accurate knowledge and subjected to the same rigorous rules of verifi-
cation as science or philosophy. This fundamental parallelism cuts across different
areas, disciplines and textual genres. Life, science and art are equally enlisted to
the project of experimenting with transformations.

Auch Leverkühns fiktives Experimentieren entspringt genauen und sorgfältigen


Vorarbeiten und Lektüren, die Zeitblom wie folgt schildert:

Auf dem Tische lagen ein paar Bücher: ein Bändchen Kleist, worin das Lesezeichen
bei dem Aufsatz über die Marionetten eingelegt war, ferner die unvermeidlichen
Sonette Shakespeares und noch ein Band mit Stücken dieses Dichters, – „Was ihr
wollt“ war darin, „Viel Lärm um nichts“, und, wenn ich nicht irre, auch „Die beiden
Veroneser“. (DF: 444 f.)

Durch diese Lektüren setzt sich Leverkühn u. a. mit Marionettentheater und


Narzissmus13 (Kleist), Geschwisterinzest (Shakespeares Was ihr wollt) und ehe-
licher Treue (Shakespeares Viel Lärm um Nichts) auseinander; darüber hinaus
liest Leverkühn ausschließlich Komödien von Shakespeare: Ein Hinweis darauf,

9 Braidotti: Intensive Genre, S. 48.


10 Butler,Judith: Antigone’s Claim. Kinship Between Life and Death. New York: Columbia
University Press 2000, S. 25.
11 Ebd., S. 54.
12 Braidotti: Intensive Genre, S. 48.
13 Wie Svenja Frank hervorhebt, deutet Kleists Text „bekanntlich die Bewegungen eines

Jünglings als Inbegriff der Anmut, die dieser, nachdem er sich unvermittelt im Spie-
gel erblickt, nicht mehr wiederholen kann: Seine Anmut bleibt nach dem Erwachen der
Selbst-Wahrnehmung für immer verloren“. Frank, Svenja: Inzest und Autor-Imago im
Marionettentheater. Zum Identitätskonzept in Felicitas Hoppes Paradiese, Übersee. In:
Holdenried, Michaela (Hrsg., in Zusammenarbeit mit Stefan Hermes): Felicitas Hoppe:
Das Werk. Berlin: Schmidt 2015, S. 49–68, hier: S. 65.
3.1 Die Gesta Romanorum als Labor: Adrian Leverkühns Puppenspiel 53

dass er für die mittelalterliche Exempelsammlung keine Realisierung in aristo-


telischer tragischer Handlung vorsieht. Leverkühn entscheidet sich für die Form
des Marionettentheaters und vertieft seine Kenntnisse durch Besuche von Puppen-
bauern und -spielen sowie das Studium der „sehr kunstreichen Handpuppen- und
Schattenfiguren-Spiele der Javanen“ (DF: 466). Er nimmt also sowohl in seinen
Vorarbeiten an den Gesta als auch in der Kompositionsphase selbst „keine Rück-
sicht auf die Trennungen verschiedener Felder, Disziplinen und Textgattungen“.14
Wo dieser Aspekt im Schaffen Leverkühns verstärkt wird, ist in der Apocalipsis
cum figuris. Dort kommt es zu einer „Vermischung der Stimmen, Gattungen und
Codes“,15 wie Zeitblom seiner Leser*innenschaft mitteilt:

Am Horizont, ich bin dessen sicher, stand schon damals, wahrscheinlich schon
seit Ausbruch des Krieges, der ja für eine Divination, wie die seine, einen tiefen
Ab- und Einschnitt, die Eröffnung einer neuen, tumultuösen und grundstürzenden,
mit wilden Abenteuern und Leiden überfüllten Geschichtsperiode bedeutete, – am
Horizont seines schöpferischen Lebens stand bereits die „Apocalipsis cum figuris“,
das Werk, das diesem Leben einen schwindelnden Auftrieb geben sollte, und bis
zu welchem – so sehe wenigstens ich den Prozeß – er sich mit den genialischen
Puppen-Grotesken die Wartezeit vertrieb. (DF: 458 f.)

Zeitblom schreibt der Gesta zwar Genialität zu, definiert sie jedoch zugleich als
Zeitvertrieb und – wie eingangs dieses Unterabschnitts bereits angesprochen –
als Regression, was einen seiner vielen Widersprüchen in seinem Erzählen dar-
stellt. Hierbei muss allerdings angemerkt werden, dass er ebenfalls eine gewisse
Prozesshaftigkeit erkennt, von der er auch in der Lage ist, ein Ziel zu sehen, und
zwar die Apocalipsis cum figuris. Nicht nur gelten die Gesta als Vorbereitung auf
das apokalyptische Werk, vor allem in Anbetracht der Aufhebung von Trennun-
gen etwa zwischen Stilen, Gattungen und Disziplinen einerseits, ihrer intensiven
Vermischung andererseits sowie der Auseinandersetzung mit dem Kulturgut aus
dem Mittelalter. Sie antizipieren und bereiten auch auf das letzte Werk, die Dr.
Fausti Weheklag, vor, wie im Folgenden aufgezeigt wird. Kleists Text Über das

14 Braidotti: Politik der Affirmation, S. 48. Erwähnenswert ist hier auch, dass Leverkühn

„lockere Szenarien und ungefähre Wechselreden entwarf, worauf […] [Zeitblom] es war,
der sie in Mußestunden rasch in ihre endgültige, aus Prosa und Reimverschen gemischte
Form brachte“, DF: 461.
15 Derrida, Jacques: Apokalypse. Hrsg. v. Peter Engelmann, übers. v. Michael Wetzel.

Wien: Böhlau 1985 [1983], S. 76.


54 3 Gesta Romanorum

Marionettentheater, den Leverkühn als Vorbereitung auf die Gesta liest, kon-
zentriert sich bekanntlich auf die Anmut des Mechanischen, das immerhin mit
„Empfindung betrieben werden“16 kann.
Das Studium des Marionettentheaters sowie die Lektüre von Kleists Text stel-
len eine wichtige Etappe im kompositorischen Werdegang Leverkühns dar, da sie
ihm eine zum selben Zeitpunkt der histoire stattfindende Reflexion über die Mög-
lichkeit eines „Durchbruch[s] […] aus geistiger Kälte in eine Wagniswelt neuen
Gefühls“ (DF: 468; Herv. i. O.) erlauben. Dieser Durchbruch gelingt Leverkühn
im Roman durch seine letzte Komposition, die Dr. Fausti Weheklag, welche die
einzige ist, die „seine Idee eines ,strengen Satzes‘ entwickelt[]“ (DF: 704).17 Die
Weheklag bestätigt die Auffassung des Tänzers in Kleists Text, der mit der Erzäh-
linstanz spricht, von einer möglichen „Rekonstruktion des Ausdrucks“ (DF: 703)
auch durch das Mechanische, wofür in Doktor Faustus die Zwölftontechnik ste-
hen könnte, die zum ersten Mal in Leverkühns letzter Komposition angewendet
wird.18 Nicht zuletzt betrachtet Kleists Text Über das Marionettentheater das
Puppenspiel als effiziente technische Vorbereitung: Ein Tänzer, der sich ausbil-
den möchte, könne viel von der Pantomimik der Puppen lernen. Auch Leverkühn
bereitet sich, allerdings als Komponist und nicht als Tänzer, durch die Form des
Puppenspiels auf seine späteren zwei Kompositionen, die Apocalipsis und die
Weheklag, vor.
In diesem Prozess des „becoming“19 spricht Leverkühn laut Zeitbloms Wieder-
gabe der Ereignisse auch darüber, wie er zum künstlerischen Durchbruch gelangen
möchte. Leverkühn beklagt, die Musik habe zu seiner Zeit „im Dienst technischer
Geistigkeit“ (DF: 468) an „Gefühlswärme“ (ebd.) verloren und wünscht sich „eine
Wiedergewinnung des Vitalen und der Gefühlskraft“ (ebd.). Er phantasiert von
einer Kunst, die, um dem Absterben entgegenzuwirken, „den Weg zum ,Volk‘“
(DF: 469) wiederfinden könnte und bedient sich dementsprechend eines „volks-
nahen Instruments“,20 nämlich des Puppenspiels. Betrachtet man aber, wie die

16 Der Aufsatz erschien in den Berliner Abendblättern, 63.– 66. Blatt, den 12.–15. Dezem-

ber 1810. Hier aus: Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater. In: Sembdner,
Helmut (Hrsg.): Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. Studien und Interpretationen.
Berlin: Schmidt 1967, S. 9–16, hier: S. 10.
17 Zeitblom assoziiert diesen Durchbruch ebenfalls auf der intradiegetischen Dimension

der Narration politisch mit dem Bestreben Deutschlands, durch den Ersten Weltkrieg „zur
dominierenden Weltmacht“ (DF: 402) zu werden.
18 Vgl. auch Malknecht, Ludovica: Un’etica di suoni. Musica, morale e metafisica in

Thomas Mann. Mailand: Mimesis 2010, S. 177 f. Vgl. auch Kap. 5.


19 Braidotti: Intensive Genre, S. 49.
20 Hermanns: Thomas Manns Roman, S. 38.
3.1 Die Gesta Romanorum als Labor: Adrian Leverkühns Puppenspiel 55

Mehrheit seiner Stücke im Roman durch zahlreiche intermediale Systemerwäh-


nungen beschrieben werden, so scheint das Ziel einer größeren Zugänglichkeit
der Musik keine Leitidee seines Schaffens zu sein. Zwar mischt Leverkühn etwa
in der Apocalipsis Jazz und französischen Impressionismus, jedoch selten aus der
Absicht heraus, „eine Kunst mit der Menschheit auf du und du“ (DF: 469) zu pro-
duzieren, um ein breiteres Publikum für seine Kompositionen zu gewinnen. Dies
wird besonders deutlich, wenn man die intermedialen Einzelreferenzen auf Werke
und Stile von Komponist*innen der Neuen Musik in die Analyse einbezieht: Um
einige Beispiele aus dem nächsten Kapitel zu nennen, seien die Denaturierung
des Klanges und die Umwertung von Konsonanz und Dissonanz in der Apoca-
lipsis, die auf kompositorische Experimente u. a. der Wiener Schule um Arnold
Schönberg hinweisen, erwähnt.
Wenn Leverkühns Absicht ab den Gesta romanorum wirklich darin bestünde,
ein größeres Publikum zu erreichen, dann müsste man feststellen, dass dieser
Leitgedanke in Zeitbloms Schilderungen seiner Werke nicht mehr als tragend
erscheint. Plausibler scheint, dass dieser Widerspruch in Leverkühns Komposi-
tionswerdegang der Unzuverlässigkeit des eifersüchtigen Erzählers zuzuschreiben
ist, der anlässlich dieser Konversationen das weitere Diskutieren mit Leverkühn
unterlässt und „vielmehr ein besorgtes Auge auf Rudi Schwerdtfeger [hat], ob
der ihn am Ende nicht wieder umarmen wollte“ (DF: 470).21 Zugleich gilt
es hervorzuheben, dass der Prozess des Werdens, der in dieser kompositori-
schen Phase Leverkühns besonders evident scheint, durchaus auch von „block of
becoming[s]“,22 also von Blöcken, Brüchen und Zögerungen charakterisiert ist.
Folglich werden laut Braidotti im Laufe dieses Prozesses einige Potenziale aktua-
lisiert, andere beiseitegelassen. In Bezug auf Leverkühns kompositorische Phase
des Puppenspiels Gesta romanorum könnte resümierend gesagt werden, dass etwa
die Absicht einer größeren Ausdruckskraft der musikalischen Sprache weiterver-
folgt wird, das Ziel aber einer größeren Zugänglichkeit seiner Werke und seiner
musikalischen Sprache jedoch nicht.
Adrian Leverkühn bereitet sich auf das Puppenspiel-Werk auch durch die Lek-
türe von Shakespeares Komödien vor, auch weil Zeitblom zufolge „die ,Gesta‘ in
ihrer historischen Unbelehrtheit, christfrommen Didaktik und moralischer Naivität
[…] [i]m höchsten Grade […] danach [sic] angetan [waren], Adrians parodis-
tischen Sinn aufzuregen“ (DF: 459 f.). Leverkühns fiktive Medienkombination

21 Die Erzählinstanz Serenus Zeitblom spricht Leverkühns Musik in den meisten Fällen die

Kommunikationsfähigkeit ab, um bei anderer Gelegenheit hervorzuheben, wie elitär und


erfolglos die Musik seines Freundes (besonders in Deutschland) sei. Siehe etwa DF: 446.
22 Braidotti: Intensive Genre, S. 49.
56 3 Gesta Romanorum

bietet daher eine Interpretation der Gesta an, die vom moralisch-didaktischen
Zweck der Vorlage „auf eine recht destruktive Weise“ (DF: 466) Abstand nimmt,
indem „das Skurrile, besonders auch im Erotischen Possenhafte, an die Stelle
moralischer Priesterlichkeit trat, aller inflationärer Pomp der Mittel abgeworfen
und die Aktion der an sich schon burlesken Gliederpuppen-Bühne übertragen
wurde“ (ebd.). Nach Zeitbloms Worten wird also in Leverkühns Puppenspiel
Priesterlichkeit ins Skurrile und Erotische umgewertet und auf eine Theaterform
übertragen, die sich für den „parodistischen Sinn“ Leverkühns besser eignet als
die Gattung der Exempelsammlung. Der Erzähler liefert seiner Leser*innenschaft
Hinweise darauf, wie Leverkühn die Vorlage liest und dementsprechend in
seine Medienkombination transferiert und transformiert: Es handelt sich um
kein rekonstruktives, sondern um ein adaptives Textverständnis, das einerseits
durch Leverkühns Lesart bedingt und andererseits vom gewählten Medium des
Puppenspiels abhängig ist. Zudem zeichnet sich hier Leverkühn als „practitio-
ner of deconstruction“23 aus, der „within the terms of the system“24 arbeitet,
„but in order to breach it“.25 Das System, in dem Leverkühn arbeitet, ist das
der moralischen, mittelalterlichen Exempelsammlungen mythischen Stoffs, das
die Dichotomie moral/immoral ins Zentrum stellt und diese durch christliche
Argumentationen begründet. Der Ehebruch z. B., von dem die erste vertonte
Geschichte handelt, lässt sich aus christlicher Perspektive sowohl anhand der
Zehn Gebote als auch der Todsünden (luxuria) für immoral erklären. Durch Lever-
kühns Medienkombination wird die Vorlage nicht wirklich adaptiv, sondern eher
„destruktiv“ gelesen: Das Werk scheint auf keine „Schlichtung von Gegensät-
zen“26 abzuzielen, was laut Börnchen die logische Ableitung der verwendeten
Auffassung von Komik und Humor ist. Vielmehr werden Gegensätze etwa durch
den nach Zeitblom skurrilen Charakter des Werkes sichtbar gemacht und ausge-
halten.27 Um mit Derrida zu argumentieren, könnte man dementsprechend über
Leverkühns Puppenspiel Folgendes sagen: Die „spielerische Bewegung innerhalb
dieses Abstands zwischen den beiden Zeichen“,28 in diesem Fall: Moralität und

23 Culler,Jonathan: On Deconstruction. Theory and Criticism after Structuralism. London


(u. a.): Routledge & Kegan 1983 [Cornell 1982], S. 86.
24 Ebd.
25 Ebd.
26 Börnchen: Kryptenhall, S. 83.
27 Siehe ebd.
28 Derrida, Jacques: Positionen. Gespräch mit Jean-Louis Houdebine und Guy Scarpetta

(1968). In: Ders.: Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Hou-
debine, Guy Scarpetta. Wien: Passagen 2009 [Paris 1972], 2., überarb. Aufl., S. 63–122,
S. 94.
3.1 Die Gesta Romanorum als Labor: Adrian Leverkühns Puppenspiel 57

Immoralität, bewirkt eine „umstürzende Dekonstruktion“,29 die einer Deplatzie-


rung in ein neues Medium „außerhalb der Gegensätze“30 bedarf. In diesem Fall
ermöglicht folglich die profane und auf die Unterhaltung abzielende Form des
Puppenspiels eine Aufhebung der Trennung zwischen Moralität und Immoralität.
Der Umwertung von Himmel und Hölle bzw. von Konsonanz und Dissonanz in
der Apocalipsis liegt daher ein interpretatorisches Verfahren zugrunde, mit dem
sich der fiktive Komponist von Doktor Faustus bereits auskennt und mit dem
er in der Vertonung der Gesta ebenfalls experimentiert. Auch die Parodie eignet
sich zur Umsetzung dieses Vorhabens und stellt eine Kontinuität in Leverkühns
Schaffen dar, an der er im Labor der Gesta weiterarbeitet.
Nun zum ersten von Leverkühn vertonten Text aus den Gesta: Der Text trägt
den Titel „Von der gottlosen List der alten Weiber“31 (DF: 460) und handelt
von einem jungen Mann, der „eine edle und sogar ausnehmend ehrbare Ehefrau“
(ebd.) begehrt, „deren vertrauensvoller Gatte sich auf Reisen befindet“ (ebd.) und
die sich von einer „Hexe“ (ebd.) durch eine List überzeugen lässt, mit dem jun-
gen Mann zu schlafen, um nicht Gefahr zu laufen, in eine Hündin verwandelt
zu werden. Das erste wichtige Motiv, das in der Gesta-Vertonung von Leverkühn
zum Tragen kommt, ist das des Ehebruchs; diesbezüglich ergibt sich eine Inter-
aktion zwischen Meta- und Intradiegese, denn das Motiv des Ehebruchs taucht
später wieder auf und es lassen sich inhaltliche Entsprechungen zwischen dem
hier beschriebenen Ehebruch und dem von Ines Institoris und Rudolf Schwerdt-
feger feststellen.32 Die Darstellung des Ehebruchs beruht in der Literatur nicht
selten auf „medialen Interventionen“:33 Schwerdtfeger ist anwesend, als Lever-
kühn die Partitur der Gesta vorspielt. Zugleich gilt es hervorzuheben, dass Ines
Institoris an diesen abendlichen Treffen im Nike-Saal nicht teilnimmt. Das ver-
mittelte Begehren34 durch das Medium der Musik könnte sich infolgedessen

29 Ebd.
30 Ebd.
31 Der Titel wird wortwörtlich der Vorlage entnommen. Siehe Gesta Romanorum: S. 49–52.
32 Diesbezüglich ist zu bemerken, dass hier Zeitblom auch die Rolle des metadiegetischen
Erzählers übernimmt. Dazu vgl. auch Elsaghe, Yahya: Das Goldene Horn und die Hör-
ner der Männchen: Zur Krise der Männlichkeit in Doktor Faustus und Mario und der
Zauberer. In: Honold, Alexander u. Niels Werber (Hrsg.): Deconstructing Thomas Mann.
Heidelberg: Winter 2012, S. 121–134, hier: S. 125.
33 Scherpe, Klaus: Der Buchstabe „A“ und andere Medien des Ehebruchs im Roman.

Goethe, Hawthorne, Flaubert, Fontane, Tolstoi und Thomas Mann. In: Weimarer Beiträge
56 (2010) H. 3, S. 389–403, hier: S. 389, Herv. i. O.
34 Siehe Girard, René: Deceit, Desire, and The Novel. Self and Other in Literary Structure.

Übers. v. Yvonne Freccero. Baltimore: John Hopkins 1965 (insb. S. 26–37).


58 3 Gesta Romanorum

eher auf das zwischen Leverkühn und Schwerdtfeger beziehen – wie auch auf
das zwischen Leverkühn und Schildknapp, der ihm die Gesta vorliest,35 also
durch das Medium der Literatur. Der oft eifersüchtige Zeitblom assoziiert die-
ses Begehren zwar mit keinem Ehebruch im eigentlichen Sinne, aber immerhin
mit einem Verrat an seiner Liebe zu seinem Freund: Es wundert nicht, dass er der
Leser*innenschaft Schwerdtfegers emotionale Reaktion auf Leverkühns Vorspiel
detailliert beschreibt.36
Diese knappe Darstellung des ersten Textes leitet zum zweiten Schritt der Ana-
lyse über, der sich, ausgehend vom zweiten vertonten Exempel zu Gregorius, mit
dem Inzest-Motiv im Schaffen Thomas Manns befasst.

3.2 Doktor Faustus als Labor: Das Motiv des Inzests im


Werk Thomas Manns

Es gilt nun, die Kapitel über die Gesta im Gesamtwerk Thomas Manns zu kon-
textualisieren und sich dabei den daraus resultierenden intramedialen Bezügen
zu widmen, die den Roman Doktor Faustus selbst als Labor erscheinen lassen.
Zeitblom betont, das „eigentlich[e] Kernstück der Suite“ (DF: 461) Leverkühns
sei nicht der oben geschilderte Text, sondern der zweite, nämlich der Text mit
dem Titel „Von der Geburt des seligen Papstes Gregor“ (DF: 461). Dieser handelt
von einem doppelten Inzest: Aus der Liebe eines „königlichen Geschwisterpaars“
(DF: 462) wird ein Kind geboren, das die Mutter, „nicht ohne ein unterrichtendes
Schrifttäfelchen sowie Gold und Silber für seine Auferziehung […] den Mee-
reswogen“ (ebd.) übergibt. Ein Abt, der ein Kloster leitet, findet das Kind, tauft
es auf den Namen Gregor und kümmert sich um seine Erziehung. Gregors Mut-
ter weigert sich, teils aus Treue dem Bruder gegenüber teils, weil sie sich „als
eine Entweihte, der christlichen Ehe Unwürdige betrachtet“ (ebd.), einen Mann
zu heiraten. Dies provoziert den Zorn eines „Herzog[s] des Auslandes“ (ebd.), der
als Folge ihrer Ablehnung ihr ganzes Reich erobert. Gregor, der mittlerweile das
Kloster verlassen hat und sich auf dem Weg zum Heiligen Grab befindet, kommt
jedoch zu Hilfe und befreit das ganze Reich; Gregors Mutter erklärt sich bereit,

35 Vgl.DF: 459.
36 Vgl.DF: 466 f.: „[…] und Schwerdtfeger, in entfesselter Zutraulichkeit, nahm die Lizenz
des Augenblicks wahr, indem er mit einem ,Das hast du großartig gemacht!‘ Adrian
umarmte und dessen Kopf an den seinen drückte. Ich sah Rüdigers [Schildknapp] ohne-
dies schon bitterlichen Mund sich mißbilligend verziehen und konnte selbst nicht umhin,
ein ‚Genug!‘ zu murmeln und die Hand auszustrecken, wie um den Hemmungslosen,
Distanzvergessenen zurückzuholen“.
3.2 Doktor Faustus als Labor: Das Motiv des Inzests … 59

ihn zu heiraten. Sobald Gregor herausfindet, wen er geheiratet hat, büßt er sieb-
zehn Jahre lang seine Sünde ab: Ein Fischer fährt ihn „zu einem flutumbrandeten
Felsen“ (DF: 464) in der See, legt Fesseln an seine Füße und wirft den Schlüssel
ins Meer. Inzwischen stirbt der Papst in Rom und eine Stimme aus dem Him-
mel befiehlt, nach einem Mann namens Gregor zu suchen. So wird er zum Papst
Gregor ernannt. Seine Mutter, die mittlerweile viel Gutes über den neuen Papst
gehört hat, macht sich zum Zweck der Sündenerlösung auf den Weg nach Rom:
Als sich die beiden wiedersehen, begreifen sie, dass Gott ihnen verziehen hat. In
einem vom Gregor gestifteten Kloster lebt die Mutter als Äbtissin bis zu ihrem
Tod.
Ein zentrales Motiv des Textes ist zweifelsohne das des Inzests, das wie
im Fall von Ödipus oder der Antigone in einen mythischen Kontext eingebet-
tet wird. Die Behandlung des Motivs stellt keinen Einzelfall in Thomas Manns
Gesamtwerk dar. In den folgenden Unterabschnitten wird dies anhand der Novelle
Wälsungenblut, der Gesta-Kapitel von Doktor Faustus sowie des Romans Der
Erwählte chronologisch rekonstruiert. Dies soll Kontinuitäten und Veränderungen
im Rahmen dieses Prozesses, also jenes Braidotti zufolge „experimenting with
transformations“,37 erfassbar machen.

3.2.1 Das Motiv des Inzests in Wälsungenblut

Als erste Etappe von Thomas Manns Arbeit am Motiv des Inzests sei hier die
Novelle Wälsungenblut (1905)38 erwähnt, die Wagnerrezeption39 und Décadence
kombiniert.40 Hauptfiguren dieser Novelle sind die Zwillinge Siegmund und Sieg-
lind Aarenhold, Kinder eines reichen jüdischen Privatmannes, die einander sehr

37 Braidotti:Intensive Genre, S. 48.


38 Mann, T.: Wälsungenblut. In: Ders.: Frühe Erzählungen. 1893–1912. Hrsg. v. Terence J.
Reed unter Mitarbeit v. Malte Herwig. GkFA Bd. 2.1, S. 429–463.
39 Zu Wagners Vorlage siehe Gottwald, Herwig: Das Inzest-Motiv bei Richard Wagner und

Thomas Mann. In: Weichselbaum, Hans (Hrsg.): Androgynie und Inzest in der Literatur
um 1900. Salzburg/Wien: Müller 2005, S. 181–203 (insb. S. 186–193).
40 Siehe Schoene, Anja: „Ach, wäre fern, was ich liebe!“ Studien zur Inzestthematik in

der Literatur der Jahrhundertwende. Würzburg: Königshausen & Neumann 1997, S. 112;
Marx, Friedhelm: Inzest. Grenze und Grenzüberschreitung bei Ulrike Draesner und Tho-
mas Mann. In: Catani, Stephanie u. Friedhelm Marx (Hrsg.): Familien, Geschlechter,
Macht: Beziehungen im Werk Ulrike Draesners. Göttingen: Wallstein, S. 61–73 (insb.
S. 62–70).
60 3 Gesta Romanorum

nah stehen. Auslöser der ersten inzestuösen Beziehung ist der Besuch der bei-
den Zwillinge einer Vorstellung von Wagners Die Walküre: Die Oper handelt von
der Liebe der gleichnamigen germanischen Götterkinder Siegmund und Sieglind.
Die Zwillinge besuchen die Veranstaltung am Tag vor Sieglinds Hochzeit mit von
Beckerath, der „im Ministerium tätig und von Familie“41 ist. Die Novelle endet
gleich nach der inzestuösen Beziehung und lässt die Frage unbeantwortet, was nun
mit der Hochzeit von Sieglind passieren wird. Der Inzest der jüdischen Zwillinge
Aarenhold ist laut Schoene „im Vergleich zu Wagners mythisch gedachtem eine
Parodie“:42 Der Mythos als Modell übernehme keine erlösende Funktion in Wäl-
sungenblut mehr, vielmehr werde in der Novelle die Krankheit der damaligen Zeit
diagnostiziert, nämlich „die Unfähigkeit, über narzißstische Liebe hinweg zum
Anderen zu finden“.43 Schoene hebt gleichzeitig hervor, wie eng die Problematik
des Inzests in der Literatur um die Jahrhundertwende, der sich ihre Studie widmet,
„mit dem Problem der Rassenzugehörigkeit, speziell des Judentums“44 verquickt
sei: Das schlägt sich in Thomas Manns Novelle nieder, die die Forscherin als
eine der ersten Auseinandersetzungen mit der (gefährlichen) Macht von Mythen
betrachtet. Dies scheint Roland Barthes Ausführungen in Mythen des Alltags unter
vielen Aspekten zu antizipieren.45 Roland Barthes und Thomas Mann haben laut
Schoene auch gemein, dass sie den Mythos als Metasprache gelesen haben, „deren
Form sich unablässig mit dem Sinn der ,Objektsprache‘ auffüllt“.46 Dieser Auffas-
sung zufolge besteht eine der Haupteigenschaften eines Mythos darin, angepasst
und bearbeitet zu werden, damit er stets an Bedeutungen gewinnt.47 Merkmale
dieser ersten Etappe der Arbeit am Motiv des Inzests im Schaffen Thomas Manns
sind daher: die Wagnerrezeption, die Rassenfrage, die in Wälsungenblut mit dem
Judentum in Verbindung gebracht wird, die Lektüre des Mythos durch die Parodie
und die Anerkennung einer Gefährlichkeit des Mythos sowie die Frage nach der
Liebesfähigkeit. In Wälsungenblut kommt nur der Geschwisterinzest zum Tragen,
bei dem die Geschlechterdifferenz im Vordergrund steht.48

41 Mann: Wälsungenblut, S. 445.


42 Schoene: „Ach, wäre fern, was ich liebe!“, S. 113
43 Ebd., S. 116. Schoene demonstriert in ihrer Studie, wie eng die Themenfelder Inzest,

Narzissmus und Androgynie verknüpft sind. Vgl. ebd., S. 11.


44 Ebd., S. 221.
45 Schoene: „Ach, wäre fern, was ich liebe!“, S. 222 (auch Fußnote 110); Barthes, Roland:

Mythen des Alltags. Übers. v. Horst Brühmann. Berlin: Suhrkamp 2016 [Paris 1957], 4.
Aufl. Vgl. auch Kap. 9.
46 Ebd., S. 117.
47 Vgl. Kap. 9.
48 Siehe ebd., S. 10.
3.2 Doktor Faustus als Labor: Das Motiv des Inzests … 61

3.2.2 Das Motiv des Inzests in Doktor Faustus

In Doktor Faustus taucht das Motiv des Inzests sowohl in der Form des Geschwis-
terinzests als auch in der Form des Eltern-Kind-Inzests auf; bei diesem letzten
Typ liegt der Fokus auf dem „Generationsunterschied, wobei beim Elternteil der
Aspekt der Verjüngung, beim Kind der der Regression besonders hervortritt“.49
Dass die Rassenfrage immer noch eine Rolle spielt,50 bestätigt bereits der Titel
der Exempelsammlung, Gesta romanorum, der gleichzeitig verdeutlicht, dass es
sich hier um Taten handelt, die dem historisch-geographischen Raum des Römi-
schen Reiches zuzuordnen sind. Eher als das Judentum wird hier das Christentum
thematisiert, was anhand von Handlungen, Figuren und der moralischen Absicht
des Werkes deutlich wird. Außerdem korrespondiert die Zeit der Intradiegese mit
den ersten Jahren des Ersten Weltkriegs: Bevor Zeitblom auf Leverkühns Kom-
position zu sprechen kommt, berichtet er von den damaligen „volkstümlichen
Hochgefühlen“ (DF: 436), von dem Überlegenheitsgefühl Deutschlands, das sich
als zum Krieg gezwungenes Volk begreift, das durch den Krieg den Durchbruch
„zur dominierenden Weltmacht“ (DF: 402) erreichen möchte. Die Frage nach der
Liebesfähigkeit ist eine, die auch Leverkühns Vertonung prägt. Dies geht etwa aus
der folgenden Auflistung Zeitbloms der „affektbeladenen Höhepunkte“ (DF: 463)
der Handlung der Vorlage hervor, also der Stellen in der Narration, wo Pathos
aufgebaut wird, und „die in der Puppenoper auf so wunderlich-wunderbare Weise
zu ihrem Rechte kommen“ (ebd.):

[W]enn sie bei der Nachricht vom Tode des verbrecherisch Erkannten in die merk-
würdige Klage ausbricht: „Dahin ist meine Hoffnung, dahin ist meine Kraft, mein
einziger Bruder, mein zweites Ich!“ [...] Oder wenn sie, da sie gewahr wird, mit
wem sie in zärtlichster Ehe lebt, zu ihm spricht: „O mein süßer Sohn, du bist mein
einziges Kind, du bist mein Mann und mein Herr, du bist mein und meines Bruders
Sohn, o mein süßes Kind, und du mein Gott, warum hast du mich lassen geboren
werden!“ (DF: 463 f.)

Um die Analyse der Behandlung des Motivs des Inzests im Gesamtwerk Tho-
mas Manns fortsetzen zu können, gilt es nun, diesen Aspekt in Doktor Faustus,

49 Ebd., S. 9. Zu bemerken ist hier, dass der Aspekt der Regression nicht nur durch

Zeitbloms Wertungen des musikalischen Stils der Suite Leverkühns, sondern auch, meta-
diegetisch, eben durch den Eltern-Kind-Inzest von Gregor mit seiner Mutter thematisiert
wird.
50 Gottwald spricht von „literarische[r] Geschichte der Blut-Mythologeme“, die „von Goe-

thes Faust bis Thomas Manns Doktor Faustus und Hans Henny Jahnns Fluß ohne Ufer“
reicht. Gottwald: Das Inzest-Motiv, S. 192.
62 3 Gesta Romanorum

der im Mittelpunkt der vorliegenden Studie steht, näher zu beleuchten. Als guten
Ausgangspunkt bietet sich das oben erwähnte Zitat aus dem Roman, weil dort
schon viele relevante Aspekte genannt werden. Zunächst drückt die zweimalige
Verwendung des Adjektivs ,einzig‘ die Einzigartigkeit des inzestuösen Verhält-
nisses aus: Dem Inzest liegt ein Spannungsverhältnis zwischen Auserwähltheit
und Tabu zugrunde.51 Letzteres kommt im obigen Zitat durch die verzweifelte
Hinwendung von Gregors Mutter an Gott zum Ausdruck, der in spätmittelalter-
lichen Gesellschaften als letzte verbietende Instanz gilt und dem der Ursprung
des Tabus selbst attribuiert wird. Durch die Worte „mein zweites Ich“ tritt das
Motiv des Narzissmus und „des Wunsches nach Ich-Integration“52 zutage; die
Fülle an Attributen, mit denen der jeweilige Partner durch die rhetorische accu-
mulatio bezeichnet wird (Bruder, zweites Ich bzw. Mann, Herr, Bruders Sohn,
Kind), verweist wie im Fall des Mythos der Antigone, dem sich Butler widmet,
auf „deformation and displacement“53 von Verwandtschaft, die vom Inzest verur-
sacht werden. Diese Attribute werden als Synonyme behandelt, was eine gewisse
„interchangeability“54 zwischen Familienmitgliedern ausdrückt.
Adrian Leverkühns fiktive Vertonung von Gregors Exempel aus den Gesta
romanorum widmet sich, wie bereits erwähnt, nicht nur einer Form des Inzests,
sondern zwei unterschiedlichen Formen, die dazu noch unterschiedlich vollzogen
werden. Die erste Form ist die des Geschwisterinzests, der bewusst von Gregors
Mutter und ihrem Bruder vollzogen wird und auch Fortpflanzung einschließt,
da Gregor geboren wird. Der Geschwisterinzest provoziert eine Deformation
von Verwandtschaft, da die Schwester ihre „,schwesterliche[n]‘ Qualitäten“55
und der Bruder seine „brüderlichen“ verliert, und so eine Deplatzierung in ein
anderes System bewirkt, nämlich in das des sexuellen Begehrens, in dem die
Schwester zur geliebten Frau und der Bruder zum geliebten Mann wird.56 Das
Verwandtschaftssystem wird dadurch jedoch nicht völlig unwirksam: Gregors
Mutter spricht von ihrem Bruder „als zweites Ich“ und betont somit den narziss-
tischen Charakter (nicht nur) des Geschwisterinzests einerseits und andererseits
den Wunsch nach einer extrem endogamischen und exklusiven Liebesbeziehung57

51 Ebd.
52 Frank: Inzest und Autor-Imago, S. 53.
53 Butler: Antigone’s Claim, S. 24.
54 Ebd., S. 61.
55 Schoene: „Ach, wäre fern, was ich liebe!“, S. 11.
56 Ebd.
57 Auch aus diesem Grund verknüpft sich der Inzest als „refusal by both partners to share

their common genetic endowment with outsiders“ mit der Rassenfrage. Hoelzel, Alfred:
3.2 Doktor Faustus als Labor: Das Motiv des Inzests … 63

außerhalb der „cultural intellegibility“,58 in der Geschlechterdifferenz teils mar-


kiert (Schwester/Bruder, Mann/Frau), teils aufgehoben wird. Bei der Aufhebung
der Geschlechterdifferenz stellen sich Fragen, wie: Welches Geschlecht soll denn
dieses zweite Ich haben? Ist das überhaupt von Bedeutung? Deleuze und Guattari
definieren diese Art von Inzest als „Schizo-Inzest“,59 der deterritorialisierend ist,
da die Schwester nicht die Mutter ersetze,60 sondern „auf der anderen Seite des
Klassenkampfs steht, auf der Seite der Dienstmädchen und der Huren“.61
Die zweite Form von Inzest, die in Gregors Mythos auftaucht, ist die des
Eltern-Kind-Inzests, der jedoch unbewusst vollzogen wird: Mythischer Vorläu-
fer ist bekanntlich Ödipus, dem sich Freud gewidmet und den er in seine Theorie
der sexuellen Entwicklung des männlichen Kindes eingebettet hat.62 Das Modell,
das sich laut Schoene von Freuds Theorie ableiten lässt, ist „die Reproduktion des
patriarchalen Systems durch den ,Ödipus‘“:63 Auch Deleuze und Guattari spre-
chen im Fall des Ödipus-Inzests nicht von Deterritorialisierung, sondern von einer
Reterritorialisierung, da der Inzest „mit der Mutter […], also mit einer Territo-
rialität“64 vollzogen wird. Das patriarchale System wird auch in Gregors Mythos
reproduziert, da Gregor schließlich sogar Papst, also zur machtlegitimierenden
Instanz des politisch-gesellschaftlichen Systems der damaligen Zeit selbst wird.
Seine Mutter wird durch seine Entscheidung Äbtissin; beide erhalten erneut eine
privilegierte Stellung innerhalb des sozialen Systems, die sogar noch höher ist als
die vorherige.
Da aber Leverkühns Vertonung auf Parodie beruht, gilt es, die Frage aufzu-
werfen, ob es angebracht ist, auch bezüglich Leverkühns sekundären, fiktiven
intermedialen Produkts von Reterritorialisierung zu sprechen. Die Wirkung der
Parodie auf einer fiktiven discours-spezifischen Ebene ist die Infragestellung
der Vorlage – und das gilt auch, weiter gefasst, für das intramediale Verhältnis

Leverkühn, The Mermaid and Echo: A Tale of Faustian Incest. In: Symposium 42 (1988)
H. 1, S. 3–16, hier: S. 11.
58 Butler: Antigone’s Claim, S. 54.
59 Deleuze, Gilles u. Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt am Main:

Suhrkamp 1976 [Paris 1975], S. 92.


60 Dieser Auffassung ist z. B. Freud. Siehe Schoene: „Ach, wäre fern, was ich liebe!“,

S. 19.
61 Deleuze u. Guattari: Kafka, ebd.
62 Schoene: „Ach, wäre fern, was ich liebe!“, S. 19; vgl. Freud, Sigmund: Aus der

Geschichte einer infantilen Neurose. Leipzig (u. a.): Internationaler Psychoanalytischer


Verlag 1924.
63 Ebd., S. 19
64 Deleuze u. Guattari: Kafka, ebd., Herv. i. O.
64 3 Gesta Romanorum

zwischen der spätmittelalterlichen Exempelsammlung und Doktor Faustus. Die


Vorlage wird dekonstruiert und ebenfalls deterritorialisiert: Während die Inten-
tion des spätmittelalterlichen Textes moralischer Natur war, ist die Absicht von
Leverkühns Vertonung das genaue Gegenteil, eben jene moralische Intention zu
demaskieren, unwirksam zu machen und für lächerlich zu erklären.
Bereits aus der Analyse dieser zweiten Etappe der Arbeit Manns am Motiv
des Inzests in einem mythischen Kontext lassen sich Kontinuitäten und Differen-
zen feststellen.65 Gemeinsamkeiten betreffen etwa den Rückgriff auf die Parodie
und die Verknüpfung des Inzest-Motivs mit der historisch-politischen Situation,
folglich auch mit der Rassenfrage. Ein Unterschied, der eher eine Ergänzung
ist, stellt die Behandlung zweier Typen von Inzest dar, die Implikationen für die
Darstellung des Verwandtschaftssystems im Text hat.

3.2.3 Das Motiv des Inzests in Der Erwählte

Um diesen Prozess weiterzuverfolgen, muss man als letzte Etappe den Roman
Der Erwählte (1951) in die Analyse einbeziehen. Der paratextuelle Hinweis des
Titels drückt unmittelbar und explizit aus, was vorher bezüglich der Adaption
des Textes aus den Gesta über Papst Gregor bereits konstatiert wurde: Durch den
Inzest, die Anerkennung der Schuld und die darauf folgende Askese wird Gregor
zum Erwählten. So Schoene:66

Will das Individuum sich dennoch behaupten, muß es zum Dieb an der eigenen
„Präexistenz“ werden. Daß der Weg tatsächlich über den Inzest führen muß, bestä-
tigt fast fünfzig Jahre später67 Der Erwählte, dessen Schuld schließlich doch zur
Erfüllung führt.

Schoene verdeutlicht in diesem Zitat, was Gregor zum Erwählten macht. Auch
in der Entstehung des „Doktor Faustus“ erörtert Thomas Mann: „Extreme Sünd-
haftigkeit, extreme Buße, nur diese Abfolge schafft Heiligkeit“ (Ent: 114). Ob im

65 Hoelzel betrachtet das Inzest-Motiv als wiederkehrendes Motiv von Doktor Faustus,
was auch bei Leverkühns Abschiedsrede vorkommt: Der Komponist bezeichnet Echo in
seinem Delirium als seinen Sohn mit der „kleine[n] Seejungfrau“ (DF: 724), die wiederum
seine „Schwester und süße Braut“ (ebd.; Herv. A. O.) sei. Siehe Hoelzel: Leverkühn, The
Mermaid and Echo.
66 Schoene: „Ach, wäre fern, was ich liebe!“, S. 117.
67 Schoene nimmt hier auf die Novelle Wälsungenblut Bezug.
3.2 Doktor Faustus als Labor: Das Motiv des Inzests … 65

Fall von Der Erwählte daher von einem Inzestprivileg gesprochen werden kann,68
erscheint in dieser Hinsicht fragwürdig, weil Gregor nicht wirklich dank des
Inzests, sondern eher dank einer nach Thomas Manns Worten „siebzehnjährige[n]
unglaubliche[n] Askese“ (Ent: 114), also dank der Buße und der Reterritorialisie-
rung, zum Papst berufen wird.69 Dieser Aspekt der Buße und der Gnade ist in
Doktor Faustus bereits vorhanden, jedoch kann er aus zwei Hauptgründen über-
sehen werden. Erstens, weil Gregors Mythos nur eine metadiegetische Erzählung
im Rahmen von Doktor Faustus ist, also quantitativ betrachtet viel kürzer als
in Der Erwählte ist und dazu dient, die Haupthandlung um den Komponisten
Leverkühn zu unterstützen und nicht sie zu ersetzen. Zweitens, weil die unzuver-
lässige Erzählinstanz „die affektbeladenen Höhepunkte“ (DF: 463) des Inzests bei
der Beschreibung der fiktiven Vertonung Leverkühns unterstreicht und daher eher
erotische als spirituelle Aspekte in den Vordergrund rückt. Zudem lautet der Titel
des Werkes in Doktor Faustus: „Von der Geburt des seligen Papstes Gregor“ (DF:
462), während das spätmittelalterliche Exempel den Titel Von der wundersamen
Gnade Gottes und der Geburt des seligen Papstes Gregor trägt:70 In Leverkühns
fiktiver Vertonung nimmt die religiös-moralische Absicht der Vorlage bereits im
Titel wenig Platz ein und es wird nur Gregors Seligkeit erwähnt. Aus diesem
Grund überrascht es daher nicht, dass viele Faustus-Interpretationen den Aspekt
der Gnade für nachranging ansehen.71
Nicht nur die Erfüllung steht bei Der Erwählte im Vordergrund, sondern
auch die parodistische Adaption der spätmittelalterlichen Vorlage. Bei Lever-
kühn erfährt die Leser*innenschaft indirekt durch Zeitbloms Wiedergabe, dass
die Vorlage in der Komposition einer parodistischen Revision unterzogen wird.
Die Erzählinstanz spricht beispielsweise von der Umwertung der ursprünglichen
didaktisch-moralischen Intention des Textes ins Skurrile und Erotische, was das
Medium des Puppenspiels unterstützt haben soll: Es handelt sich aber um die im

68 Dieser Auffassung ist beispielsweise Svenja Frank. Siehe Frank: Inzest und Autor-Imago,

S. 56 Fußnote 16.
69 Obwohl sich der Inzest bekanntlich in einem Spannungsverhältnis zwischen Auserwählt-

heit und Kulturtabu befindet.


70 Siehe Gesta Romanorum: S. 141.
71 Hoelzel sieht etwa in der Behandlung des Mythos Gregors in Doktor Faustus im Ver-

gleich zu Der Erwählte keine „redeeming features“, weil der Inzest als „refusal by both
partners to share their common genetic endowment with outsiders“ nur auf „repulsive
aspects of National-Socialist Germany and its origins“ und auf Leverkühns Persönlich-
keit zurückzuführen sei. Hoelzel: Leverkühn, The Mermaid and Echo, S. 11 u. 15. Siehe
auch Hermanns: Thomas Manns Roman, S. 37. Murdoch vergleicht Leverkühn und Gregor
und kommt zu der Schlussfolgerung, dass trotz ähnlicher Biographien doch nur Gregor
Erlösung zuteil wird. Murdoch: Gregorius, S. 201.
66 3 Gesta Romanorum

Vergleich zur Apocalipsis oder Weheklag nicht besonders ausführliche Beschrei-


bung einer fiktiven Komposition, die sich die Leser*innen durch das intermediale
telling nur vorstellen können. Bei Der Erwählte bildet Gregors Mythos den Kern
des Romans und es lässt sich nicht bezweifeln, dass es sich hier um eine par-
odistische Lektüre der Gesta romanorum handelt, da die Leser*innenschaft mit
der Umsetzung der Adaption direkt konfrontiert wird. Die Präsenz eines Erzäh-
lers, der sich als Mönch schämt, von bestimmten Stellen zu erzählen,72 und der
sich für „die Inkarnation des Geistes der Erzählung“73 hält, verstärkt etwa den
parodistischen Aspekt.74
Der Roman Doktor Faustus kann daher als Labor für den Roman Der Erwählte
gesehen werden, als experimentiervolle Transitionsphase in Thomas Manns lang-
jähriger Auseinandersetzung mit dem Motiv des Inzests in einem mythischen
Kontext. Ob parodistisch oder nicht parodistisch gefärbt, das Motiv des Inzests
wirft unweigerlich die Frage „nach Alternativen der bestehenden Ordnung“,75
nach der „Möglichkeit einer anderen Existenzweise außerhalb des dominierenden
hierarchisch-patriarchalen Systems“76 auf. Diese Frage wird im literarischen Text
etwa durch die Figur von Antigone oder Gregors Mutter und ihre Deterritoriali-
sierungsprozesse, die gesellschaftliche Verhältnisse subvertieren,77 transportiert:
Sie entspricht jener „representational quality of narratives“,78 also der Fähig-
keit narrativer Texte, mögliche Welten zu entwerfen. Die Frage nach Alternativen
des bestehenden Verwandtschafts- und Begehrenssystems prägt in Doktor Faustus
nicht nur Leverkühns Adaption der Gesta, sie taucht auch in der (platonischen?)
homosexuellen Beziehung zwischen Schwerdtfeger und Leverkühn, dem Liebes-
verbot des Teufels und im Ehebruch Ines Institoris mit Schwerdtfeger auf: Es

72 Siehe etwa Mann: Der Erwählte, S. 24: „[…] [F]erner weil ich, die eigenen Augen

mönchisch niederschlagend, berichte […]“.


73 Ebd., S. 8.
74 Dies öffnet die Tür für literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu metanarrativen

Verfahren. Außerdem würde sich lohnen zu untersuchen, ob der Mönch-Erzähler von


Der Erwählte für eine zuverlässige Erzählinstanz zu halten ist. In dieser Hinsicht wäre
auch die Arbeit an der unzuverlässigen Erzählinstanz Zeitblom als Experimentieren und
Vorbereitung auf das später veröffentlichte Werk anzusehen.
75 Schoene: „Ach, wäre fern, was ich liebe!“, S. 21.
76 Ebd., S. 23.
77 Siehe ebd., S. 229. Was die gesellschaftlichen Verhältnisse angeht, so unterstreicht

Schoene zurecht, dass diese in „ihrer historischen Bedingtheit zu erfassen und zu


untersuchen“ sind. Ebd., S. 12.
78 Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 485, Herv. i. O.
3.3 Vom Roman zur Musik 67

wundert nicht, dass der einzige Reterritorialisierungsversuch Leverkühns durch


den seltsamen Heiratsantrag an Marie Godeau zum Scheitern verurteilt ist.
Die zwei Kapitel über die Gesta romanorum machen jenes „experimenting with
transformations“79 aus textimmanenter und intramedial-diachroner, die Werke des-
selben Autors berücksichtigender Perspektive sichtbar, dementsprechend sowohl
wenn sich die Analyse nur auf die Gesta-Kapitel von Doktor Faustus konzentriert
als auch wenn sie chronologisch Manns Arbeit am Inzest-Motiv in den Werken Wäl-
sungenblut, Doktor Faustus und Der Erwählte rekonstruiert. Das Hauptanliegen
des darauf folgenden Abschnitts besteht darin zu untersuchen, wie einige Mikro-
formen der Kapitel anhand der Analyse zweier intermedialer Transpositionen in das
Medium der Musik transferiert und transformiert werden.

3.3 Vom Roman zur Musik

Im Folgenden werden zwei Kompositionen analysiert, die als Vorlage die Gesta-
Kapitel von Doktor Faustus wählen, nämlich Beyers Die Gesta romanorum –
Musik des Adrian Leverkühn und Odegards The Calling of St. Gregory. Es soll aus
intermedialer Perspektive untersucht werden, wie die Hauptaspekte von Lever-
kühns Puppenspiel, z. B. das Inzest-Motiv oder die Umwertung der moralischen
Absicht der Vorlage u. a. durch die Parodie sowie das Ziel einer größeren Zugäng-
lichkeit des Werkes, im Medium der Musik Umsetzung finden. Daneben wird
auch der Frage nachgegangen, was die jeweilige Transposition über die Rezep-
tion der Kapitel aussagt. Um diese Frage zu beantworten, wird sich die Analyse
nicht nur auf die Transfers und Transformationen aus Doktor Faustus, sondern
auch auf spezifische Eigenschaften der jeweiligen Komposition konzentrieren.

3.3.1 Zwischen Rekonstruktion und Adaption: Frank Michael


Beyers Die Gesta romanorum – Musik des Adrian
Leverkühn

Die Gesta romanorum – Musik des Adrian Leverkühn ist eine Komposition von
Frank Michael Beyer (1928–2008), einem fast das ganze Leben lang in Berlin
tätigen Komponisten.80 Sie wurde für zwei Anlässe adaptiert: zuerst für eine

79 Braidotti:
Intensive Genre, S. 48.
80 Zum Komponisten siehe: Stahl, Claudia: Art. Beyer, Frank Michael. In: MGG Online.
Veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-online.com/mgg/stable/51381> (letzter Zugriff:
68 3 Gesta Romanorum

Fernsehsendung Alexander Kluges, 10 vor 11, die am 8. April 1991 auf RTL
plus übertragen wurde, und dann für ein Konzert, das am 3. November 1996 im
Berliner Konzerthaus stattfand.81 Die Fernsehfassung, die am 22. Mai 1990 die
Münchner Philharmoniker aufnahmen, ist für Kammerensemble gedacht. Die TV-
Produktion kombiniert Musik, Film und Erklärungen von Kluge und Beyer. Die
Version für das Konzerthaus sieht wie in Leverkühns Komposition82 die Präsenz
eines Sprechers – in dem Fall Daniel Minetti – vor.
Im Folgenden wird auf Kontinuitäten und Differenzen vor allem zwischen
Beyers Vertonung und den Gesta-Kapiteln aus Doktor Faustus eingegangen.
Auffällig ist zunächst einmal, dass sich Beyer auf die Geschichte Gregors konzen-
triert: Es handelt sich daher um eine partielle Vertonung nicht nur des Romans
selbst, sondern auch des fiktiven Werkes Leverkühns. Im Autograf findet man
neben dem Stück „Gregorius“ auch drei weitere Stücke: eins davon (S. 6–9),
das den Titel „Löwe und Löwin – Vom Ehebruch“ trägt, bezieht sich sehr wahr-
scheinlich auf die erste von Leverkühn vertonte Geschichte aus den Gesta, da es
dem Titel entsprechend von einem ehebrecherischen Liebesverhältnis handelt. Im
Rahmen der Fernsehsendung wurde dieses Stück aber nicht aufgeführt. Das dritte
Stück des Autografs (S. 10–14) trägt den Titel „Eisenmusik“, das zweite (S. 2),
das sich in der Partitur vor dem ersten, „Löwe und Löwin“, befindet, trägt keinen
Titel; des Weiteren sind auf der ersten Seite des Autografs kurze musikalische
Motive zu finden, die wahrscheinlich als musikalische Untermalung oder musika-
lische Kommentare oder auch Verbindungselemente für die Fernsehsendung bzw.
für die Aufführung im Konzerthaus gedacht wurden, da die Überschrift „Signale
Rite Momente“ lautet: Diese sind zum Teil auch in unterschiedlichen Besetzun-
gen aufführbar. „Gregorius“ ist das vierte Stück des Autografs (S. 15–21). Die
folgende Analyse beruht vor allem gleichzeitig auf dem undatierten Autograf und
auf der Fernsehsendung.83
Ein zweiter erwähnenswerter Aspekt von Beyers Gesta besteht darin, dass
diese Komposition weder in der Fassung für die Fernsehsendung noch in der
für das Konzerthaus ein Puppenspiel ist: Beyer orientiert sich nicht an der Form
von Leverkühns Werk. In einem Interview mit Werner Grünzweig, dem Leiter des

21.08.2020); Grünzweig, Werner u. Daniela Reinhold (Hrsg.): Frank Michael Beyer.


Hofheim: Wolke 1998.
81 Das Autograf kann an der Akademie der Künste in Berlin eingesehen werden (Frank

Michael Beyer – Archiv 213–215); die Videokassette mit der Sendung befindet sich u. a.
in der Bibliothek der Universität der Künste in Berlin (Mediathek WF 1589).
82 Vgl. DF: 461.
83 Keine Aufnahme der Version für das Konzerthaus Berlin konnte gefunden werden.
3.3 Vom Roman zur Musik 69

Musikarchivs der Akademie der Künste in Berlin, wo sich Beyers Nachlass befin-
det, und dem Musikwissenschaftler Heribert Henrich erklärt der Komponist, dass
er „von vornherein zur reinen, absoluten Instrumentalmusik“84 tendierte. Da aber
die Komposition als ,direct or overt intermediality‘ und auch als ,intermediale
Transposition‘ einzustufen ist, kann sie für keine reine, absolute Instrumentalmu-
sik gehalten werden.85 Die Begründung dafür ist, dass sie eine*n Sprecher*in
vorsieht und im Titel sofort auf den Versuch verweist, Thomas Manns Roman
zu vertonen. Auch der umstrittene und keineswegs eindeutige Begriff ,Program-
musik‘86 wäre aufgrund des Vorhandenseins eines gesprochenen Textes keine
adäquate Bezeichnung; passender scheint das Begriffsinstrumentarium der Inter-
medialitätsforschung, laut dem es sich um eine Medienkombination handelt. Es
werden nämlich das Medium der Musik und das Medium des gesprochenen
Wortes und in der Fernsehsendung zusätzlich noch das Medium des Fernsehens
miteinander kombiniert. Grundsätzlich könnte auch einfach die Formbezeichnung
Suite verwendet werden; in Bezug auf Doktor Faustus kann ebenfalls ausgesagt
werden, dass Leverkühns fiktive Vertonung eine Medienkombination und eine
Suite ist.
Kontinuitäten lassen sich auch in der Besetzung beobachten: Beyers Stück
hat dieselbe Besetzung wie Leverkühns Puppenspiel, die der von Igor Strawins-
kys Histoire du soldat entspricht.87 Nicht zufällig nimmt dieses Werk Bezug
auf den Faust-Mythos: Dies erzeugt einen Loop von intra- und intermedialen
Einzelreferenzen, also von Bezügen sowohl auf literarische als auch auf musi-
kalische Adaptionen des Faust-Stoffes. Darüber hinaus realisiert Beyer die Gesta
laut Frank Schneider mit „historischer Authentizität“:88

Behutsam und eindringlich hat Beyer Tendenzen der damaligen Moderne verarbei-
tet. Die „Zwölftonmusik“ spielte noch keine manifeste Rolle, aber auch radikale
„Atonalität“ hätte Leverkühns Konzeption widersprochen. Stattdessen findet sich

84 „Ich wollte auch nicht Chopin spielen…“. Frank Michael Beyer im Gespräch mit Werner

Grünzweig und Heribert Henrich. In: Frank Michael Beyer, S. 64–73, hier: S. 69.
85 Zum Begriff ,Absolute Musik‘ siehe etwa: Seidel, Wilhelm: Art. Absolute Musik. In:

MGG Online. Zuerst veröffentlicht 1994, online veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-


online.com/mgg/stable/11554> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
86 Dazu siehe etwa Altenburg, Detlef: Art. Programmusik. In: MGG Online. Zuerst

veröffentlicht 1997, online veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-online.com/mgg/stable/


12244> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
87 Vgl. die Rezension Frank Schneiders im Konzertheft der Aufführung im Konzerthaus,

S. 5. Sie kann an der Akademie der Künste zusammen mit dem Manuskript konsultiert
werden (unter derselben Signatur).
88 Ebd., S. 6.
70 3 Gesta Romanorum

eine Nähe zu dem von Mann evozierten Strawinsky, u. a. in der Selbstbezüglich-


keit des Werkes mit seinem heraldischen Ankündigungsgestus, der Verwendung
ostinater, rhythmisch verschränkter Modelle, dem verfremdenden Rückgriff auf
traditionelle Ausdruckstopoi [...].

Auch Albrecht Dümling beschreibt im Tagesspiegel die Musik als eine, die
„in meist ruhigen Zeitmaßen kunstreich aus archaischen Formeln im Stile Stra-
winskys“89 komponiert wurde. Und im Programmheft der Aufführung in Berlin
präzisiert der Untertitel: Von der Geburt des seligen Papstes Gregor, nach Adrian
Leverkühns Intentionen gestaltet und in Musik gesetzt, für Sprecher und Kam-
merensemble.90 Der paratextuelle Hinweis verdeutlicht die Absicht eines rekon-
struktiven Textverständnisses sowie den Versuch, durch die beiden vorhandenen
Medien zu erzählen.91
Was die Nähe zu Strawinsky angeht, gibt der Komponist selbst zu, von die-
sem sehr beeinflusst gewesen zu sein: „Anregungen von außen haben eine relativ
kleine Rolle gespielt. Die Faszination des Neuen ging zunächst vom Spätwerk
Strawinskys aus, das mich bis heute begeistert“.92 Frank Michael Beyer äußert
zeit seines Lebens keine Faszination für die Darmstädter Avantgarde, also für
das, was als das Neue seiner Zeit in Sachen Musik angesehen werden könnte, und
wendet sich stattdessen dem Spätwerk Strawinskys zu.93 Da er Anfang der 1990er
Jahre für das Fernsehen mit Alexander Kluge zusammenarbeitete (die Gesta sind
ein Beispiel dafür), könnte man vermuten, dass er neue Formen der Musikvermitt-
lung erproben wollte, um – vergleichbar zu Adrian Leverkühn im Roman – „eine
Kunst mit der Menschheit auf du und du“ (DF: 469) zu produzieren. Im Inter-
view stellen ihm Grünzweig und Henrich genau diese Frage, auf die er jedoch

89 Dümling, Albrecht: Kindertrompetenstil. Faustus-Projekt mit dem Kammerensemble

Neue Musik Berlin. In: Der Tagesspiegel, 05.09.1996.


90 Dieser Untertitel erscheint im Autograf nicht; allerdings wurde das Autograf Die Gesta

romanorum – Musik des Adrian Leverkühn betitelt.


91 Siehe Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 492. Obwohl Wolf sich hier auf reine

Instrumentalmusik bezieht, lassen sich seine Argumentationen zu den „intracompositional


incitements to narrativize“ auch auf die analysierte Medienkombination Beyers übertra-
gen. Selbstverständlich gewinnt die Komposition kraft der Präsenz eines*r Sprecher*in an
Erzählpotenzial.
92 Grünzweig u. Henrich: „Ich wollte auch nicht Chopin spielen…“, S. 70. Die Histoire

gehört aber nicht zum Spätwerk des Komponisten (Lausanne, 1918).


93 Siehe ebd.
3.3 Vom Roman zur Musik 71

antwortet, dass er mit Kluge „nur zusammengearbeitet“94 habe, weil ihm „das
Wechselgespräch mit ihm Freude machte“.95 Diesbezüglich führt er aus, dass

[d]ie Frage, welchen Stellenwert heute Musik in der Öffentlichkeit hat, [...] so offen
[sei], daß [...] [er] nicht glaube, daß sie sich dort entscheidet, wo es um die Medien
geht. Das [...] [sei] vielmehr eine innere Frage, eine Frage dessen, wie die heutige
Zeit insgesamt mit der Kultur umgeht.96

Abgesehen von der Frage nach dem Stellenwert der Musik in der Öffentlich-
keit impliziert das Komponieren der Musik für eine Fernsehsendung, die für
keinen elitären Fernsehkanal und in Kooperation mit einem berühmten Mode-
ratoren produziert wurde, die Tatsache, dass das Medienprodukt einem größeren
Publikum zur Verfügung gestellt und es nicht für den Konzertsaal komponiert
wird. Nicht zuletzt sind diesbezüglich auch die historischen Entstehungsbedin-
gungen des Werkes in die Analyse einzubeziehen, denn 1991 hatte das Fernsehen
einen anderen Stellenwert als in der heutigen, von vielfältigen digitalen Medien
geprägten Gesellschaft.
Zwar ist Beyers Komposition nicht der Form des Puppenspiels zuzuordnen,
greift aber ebenfalls auf ein „volksnahes“ Instrument zurück und lässt die Musik
mit anderen Medien interagieren, sie experimentiert mit ihnen. Die Art des Medi-
ums, mit dem man auf eine größere Zugänglichkeit des Kunstwerkes abzielt, wird
an die jeweilige historische Situation angepasst, was weniger für „historische[]
Authentizität“,97 sondern eher für eine adaptive Lesart spricht.98 Selbstverständ-
lich lässt sich das auch als Experiment definieren: Die reine, absolute Musik,

94 Ebd., S. 73. Vgl. auch Koch, Klaus Georg: Kannst du mich komponieren? Keiner weiß,

ob das Gute bleibt, wenn niemand es sucht. Ein Gespräch mit dem Komponisten Frank
Michael Beyer. In: Berliner Zeitung, 16.06.1999: „Deshalb sollte das Musikleben weitge-
hend befreit bleiben vom finanziellen Zwang. Wenn es erst einmal soweit gekommen ist,
daß etwa die Orchester sagen, wir müssen dieses und jenes realisieren in Hinblick auf den
Publikumsbesuch, dann fängt es an mit dem Warencharakter der Musik“.
95 Ebd.
96 Ebd.
97 Schneider: Konzertheft, S. 6 (siehe Fußnote 86).
98 Siehe dazu auch nochmals das Interview Beyers mit Koch, in dem Beyer die Oper

als „Erweiterung der Sprachmöglichkeiten einer Zeit“ definiert. Koch: Kannst du mich
komponieren, ebd. Zwar bezieht sich diese Äußerung des Autors auf eine unterschiedliche
Musikgattung, spricht aber ebenfalls den Aspekt der Anpassung der musikalischen Mittel
an die jeweilige historische Zeit an.
72 3 Gesta Romanorum

die sonst immerhin unweigerlich von Massenmedien beeinflusst wird,99 sucht


den Dialog mit dem Medium Fernsehen und mit seinen Akteur*innen. Liest man
zudem die Biographie Beyers, so ist festzustellen, dass die Zusammenarbeit mit
Kluge kein nur die Gesta betreffender Einzelfall ist: Es handelt sich um ein fort-
gesetztes Experiment, denn neben dieser Produktion haben die beiden auch noch
weitere Folgen von 10 vor 11 zusammen konzipiert.100 Auch Beyers Kompo-
sition, wie andere (wenn nicht alle) in dieser Studie betrachteten,101 ist nicht
lediglich „auf dem Papier ausgerechnet“ (PhnM: 20), sondern zieht die Bedin-
gungen der jeweiligen Aufführung (für eine Fernsehsendung, für das Konzerthaus
Berlin) in Betracht, indem etwa der Moderator durch eine*n Sprecher*in ersetzt
wird (Fassung für das Konzerthaus) oder indem zwischen den einzelnen Stücken
weitere Erklärungen geliefert werden (Fassung für die Fernsehsendung).
Nun werden Musik und Struktur des vierten Stückes des Autografs, „Gregori-
us“ näher beleuchtet. Es besteht aus den folgenden vier Teilen:
Teil A – Die Geburt
Teil B – Sein Schicksal
Teil C – Angekettet im Meer
Teil D – Süße Eltern102
In Teil A findet man einen Dialog mit Klarinette, Violine und Fagott. Die übri-
gen Instrumente des Ensembles (Trompete, Posaune, Schlagzeug und Kontrabass)
übernehmen hier eine begleitende Funktion bzw. sind nicht zu hören. Der dar-
auf folgende Teil ist dank der ständigen Präsenz des Schlagzeugs rhythmischer
gedacht; hier wird vom Schicksal Gregors erzählt. Wie der vorherige ist auch
dieser Teil von einer leisen Dynamik gekennzeichnet. Nun musizieren alle Instru-
mente zusammen. Gegen Ende des zweiten Teils (B) sieht der Komponist die
Wiederholung von A ab T. 20 bis zum Fine vor. Teil C ist der längste Teil der
Partitur und Teil D schließlich, der den Namen „Süße Eltern“ trägt, ist durch einen
Dialog zwischen Klarinette und Fagott charakterisiert (Abbildung 3.1).
Da hier Gregors Mutter den Sohn in Rom besucht, wo er nun Papst ist, wird
deutlich, dass diese zwei Instrumente als anthropomorphe Entitäten in einer musi-
kalischen Erzählwelt103 jeweils für die beiden Figuren (die Klarinette für Gregor,

99 Siehe Günter, Manuela: Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19.

Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2008 (insb. 2.2).


100 Siehe Stahl: Beyer; Kreimeier, Klaus: TEN TO ELEVEN oder: Kann man Zeit abbil-

den? Alexander Kluges Kuriositätenkabinett im Privatfernsehen. In: Die Zeit, 27.11.1992.


101 Siehe etwa Hagens To Zeitblom (Kap. 7).
102 Die Titel der einzelnen Teile stammen aus der Fernsehsendung; im Autograf ist nur der

Titel „Süße Eltern“ zu finden (S. 20).


103 Siehe Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 494.
3.3 Vom Roman zur Musik 73

Abbildung 3.1 Klarinette und Fagott in „Süße Eltern“ (T. 5–12)

das Fagott für die Mutter) stehen: Folglich gibt es im Stück kaum Stellen, welche
die Präsenz der Klarinette nicht vorsehen.104 Insgesamt ist die Musik von Beyers
Gesta leise, statisch und eher von Dialogen zwischen Instrumenten als vom Tutti
geprägt: Das lässt sich auch dadurch erklären, dass die Musik nicht als einziges
Erzählmedium gedacht ist, sondern durch die Moderation ergänzt werden soll,
die jene Vagheit des Erzählens in einer rein instrumentalen Form überwindet.105
Auch bezüglich Gregors Mythos erweist sich die Vertonung als partiell, da die
Handlung an Gregors Geburt ansetzt, sodass der Aspekt des doppelten Inzests
und daher der – so Butler – „performative repetition“,106 durch die Verwandt-
schaft als öffentlichen Skandal wieder eingesetzt wird, im Vergleich zur fiktiven
Vertonung Leverkühns weniger Bedeutung zugemessen wird.107
Angesichts der Divergenzen zwischen Autograf und Aufführungen treten auch
im Fall von Beyers Gesta Experimente und Transformationen zutage, die sich
manchmal auch schwer nachverfolgen lassen, zugleich aber deutlich machen,
dass das Autograf nicht als Schlussversion zu betrachten ist, sondern Bestandteil
eines auf Plurimedialität/Medienhybridisierung und Zugänglichkeit abzielenden
Gesamtprozesses ist. Außerdem herrscht in der Komposition ein Spannungsver-
hältnis zwischen rekonstruktivem und adaptivem Textverständnis: Hinsichtlich
der Besetzung, der stilistischen Nähe zu Strawinsky und der Interaktion mit

104 Auch bei Strawinsky übernimmt das Instrument eine zentrale Funktion: Der Komponist
fertigte dann eine Version der Histoire für Klarinette, Violine und Klavier an. Die Violine
spielt bei Beyer in Teil A eine wichtige Rolle. Siehe Scherliess, Volker: Igor’ Fëdorovič
Stravinskij. In: MGG online. Veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-online.com/mgg/sta
ble/11849> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
105 Siehe Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 480.
106 Butler: Antigone’s Claim, S. 58.
107 Vgl. ebd. Gregors Mythos betreffend lässt sich im Gegensatz zum Mythos der Antigone

nicht wirklich vom öffentlichen Skandal sprechen, da nur wenige Figuren etwa vom ersten
Geschwisterinzest erfahren. Vgl. etwa Mann, T.: Der Erwählte, S. 37–50.
74 3 Gesta Romanorum

volksnahen Medien orientiert sich Beyers Komposition an ihrer Vorlage, näm-


lich Leverkühns Puppenspiel, während sie sich hinsichtlich des Rückgriffs auf
das Medium Fernsehen von ihr distanziert.

3.3.2 „Entauratisierung des Inzests“:108 Peter S. Odegards The


Calling of St. Gregory

The Calling of St. Gregory von Peter S. Odegard (1929–2009) ist eine Kompo-
sition für zwei Sänger (Bass und Bariton), Flexaton109 und Tonband, die 1988
speziell für das Konzert „Music from Dr. Faustus“ an der University of Califor-
nia, Irvine entstand.110 Das Konzert fand anlässlich des Symposiums „Dr. Faustus
at the Margin of Modernism“ statt, das u. a. vom Humanities Research Insti-
tute der University of California gefördert wurde. Die Idee des Konzerts war, die
Musik im Leben Adrian Leverkühns grob zusammenzufassen und aufzuführen:
Es sollten nicht nur seine fiktiven Werke, sondern auch intermediale Einzelre-
ferenzen des Romans, etwa Beethovens Sonate opus 111 und das Volkslied O
wie wohl ist mir am Abend in den Konzertsaal geholt werden. Aufgrund von
Zeit- und Besetzungsproblemen konnten jedoch die Apocalipsis und die Weheklag,
die wahrscheinlich umfangreichsten und ambitioniertesten Projekte von Adrian
Leverkühn, nicht vertont werden. Zwei Komponisten und Professoren der Uni-
versität, Zelman Bokser und Peter Odegard, entschieden sich jeweils für das 1927

108 Marx: Inzest, S. 68.


109 Ein Flexaton ist ein Instrument für Spezialeffekte, das aus einer flexiblen Metall-
platte besteht, die sich innerhalb eines Drahtrahmens mit Griff und zwei Klöppeln
befindet. Schüttelt man das Instrument mit zitternder Bewegung, so werden die Klöp-
pel gegen die Platte geschlagen: Das stärkere oder schwächere Drücken kann den Ton
erhöhen oder erniedrigen. Ursprünglich stammt das Instrument aus der Jazz-Musik. Siehe
Blade, James u. James Holland: Flexatone. In: Grove Music Online. Zuerst veröffent-
licht 20.01.2001, online veröffentlicht 2001. <https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.
article.09829> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
110 Das Konzert wurde von Prof. Dr. Margaret Murata, Professorin für Musikwissenschaft

an derselben Universität, organisiert und von Prof. Dr. Herbert Lehnert, Professor an der
German School of Humanities ebenfalls der University of California, Irvine, konzipiert.
Prof. Murata stellte dankenswerterweise für die hier vorliegende Arbeit alle Materialien
zur Verfügung, die zur Beschreibung des Stückes nötig waren, nämlich das Autograf, die
Aufnahme der Uraufführung sowie Anmerkungen und Erklärungen von Odegard.
3.3 Vom Roman zur Musik 75

vom fiktiven Komponisten Leverkühn verfasste Streichquartett111 und die Gesta


Romanorum.
Margaret Murata, Organisatorin des Konzerts, unterstützte sie bei der Wahl des
zu vertonenden Stückes und erklärte ihre Entscheidung der Los Angeles Times
so:112

I want the program to show that the musical descriptions in the novel are real.
They’re not fantasies. They can be turned into real music [that represents] a period
when people were trying to do something new and still communicate.

Hier verdeutlicht Murata, dass sich nicht nur das fiktive Puppenspiel Lever-
kühns, sondern die musikhistorische Zeit selbst auf der Suche nach Neuem durch
Experimente und Kommunikation mit dem Publikum befand.
Eine solche Aufgabe, Zeitbloms Beschreibungen von Leverkühns Werken so
präzise wie möglich in Musik umzusetzen, ist alles andere als einfach: „The chal-
lenge for our composers was to write in a style that is not current“,113 führte
die Professorin in dem Interview weiter aus. Wie löste Odegard seinen Worten
zufolge das Problem?114

I basically picked a style that I thought was commensurate with what Leverkuehn
would have done [...]. [M]y puppet opera is primarily a late 19th-Century style
with some areas that may lean toward the 12-tone system.

Die Besetzung von Odegards Puppenspiel entspricht nicht der von Doktor
Faustus,115 obwohl der Komponist im Autograf die Möglichkeit anbietet, eine

111 Das Stück von Bokser, Leverkühn 1927, wird in der vorliegenden Arbeit aus zwei
Hauptgründen ausgelassen. Erstens handelt es sich um eine reine Instrumentalkomposition,
also um verdeckte Intermedialität, was die intermediale Analyse wegen des Rückgriffs auf
das einzige Medium der Musik erschwert (vgl. 1.1.5). Zweitens wird der Vergleich mit
dem Roman auch dadurch erschwert, dass das Stück auf eine kurze Passage von Doktor
Faustus Bezug nimmt, der sich die Forschungsliteratur kaum zuwendet.
112 Flocken, Corinne A.: Mythical Composer’s Work Spurs Esoteric Pieces by UCI

Professors. In: Los Angeles Times, 11.3.1988 (Ergänzung i. O.)


113 Ebd.
114 Ebd.
115 Da besteht das „sehr sparsam besetzte[]“ Orchester aus einer Violine, einem Kontra-

bass, einer Klarinette, einem Fagott, einer Trompete und einer „Posaune nebst Schlagzeug
für einen Mann und dazu einem Glockenapparat“ (DF: 461). Die Komposition Lever-
kühns sieht außerdem eine*n Sprecher*in vor, „der gleich dem testis des Oratoriums,
76 3 Gesta Romanorum

Orchesterbearbeitung für spätere Aufführungen anzufertigen.116 Die Form korre-


spondiert mit der des Romans: Odegards Werk ist ein Puppenspiel.117 Wie Beyers
Komposition versucht Odegards The Calling of St. Gregory den musikalischen Stil
von Leverkühns Werk und der entsprechenden musikhistorischen Zeit (ca. 1915)
zu rekonstruieren. Im Programmheft erscheint Leverkühn sogar als Urheber der
Komposition (seine Lebzeiten werden auch angegeben) und Odegard als Bear-
beiter („ed. P. Odegard“), was sich als autofiktionales Verfahren einstufen lässt:
Odegard ruft die Fiktion hervor, dass er sich um die Herausgabe von Leverkühns
Musik gekümmert habe, und spielt mit den Grenzen zwischen Faktualität und
Fiktionalität.118 Er verweist somit indirekt auf einen wichtigen Aspekt interme-
dialen Transponierens: Komponist*innen transferieren und transformieren fiktive
Musik in faktuale.
Nun wird auf Struktur, Inhalt und musikalische Faktur von Odegards The Cal-
ling of St. Gregory eingegangen. Das Stück dauert ungefähr acht Minuten und
ist in zwei Hauptteile gegliedert. Der erste Teil (T. 1–55) fängt mit den in den
Erklärungen des Autors genannten „magical chords“119 an, die sich laut die-
sen „extracompositional“120 Angaben auf „the loving and passionate glances of
the brother and sister who were Gregory’s parents“121 beziehen, also auf das
Motiv des Geschwisterinzests, das daher anders als bei Beyer zur Handlung von
Odegards Stück gehört (Abbildung 3.2):
Zu bemerken sind am obigen Notenbeispiel auch einige „intracompositional
incitements to narrativize“,122 nämlich die Präsenz zweier Stimmen und die Tem-
poangabe, die Hinweise auf die erzählte Zeit und die Erzählzeit liefert. Im Stück

die Handlung in Rezitativ und Erzählung zusammendrängt“ (ebd.). Vor der Apocalipsis
experimentiert daher der Komponist auch mit der Verwendung einer erzählenden Stimme.
116 Siehe „To Whom it May Concern“, S. 1.
117 1988 wurde nicht das ganze Werk aufgeführt, sondern nur eine Szene, ein Rezitativ und

eine Arie. Ob The Calling nur aus diesen drei Stücken besteht und folglich im Untertitel
die Fiktion eines Unvollendetseins des Werkes hervorruft (vergleichbar zur Fiktion einer
Bearbeiterfunktion Odegards), bleibt unklar. 1988 wurde außerdem das Werk nicht als
Puppenspiel, also ohne Inszenierung und Marionetten, uraufgeführt.
118 Vgl. Zipfel, Frank: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität

und Literarität? In: Winko, Simone, Fotis Jannidis u. Gerhard Lauer (Hrsg.): Grenzen der
Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York: de Gruyter 2009,
S. 285–314. Boksers Streichquartett wird hingegen nicht als Leverkühns Komposition
verkauft.
119 Ebd., S. 3.
120 Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 492.
121 „To Whom it May Concern“, ebd.
122 Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, ebd.
3.3 Vom Roman zur Musik 77

Abbildung 3.2 Odegards „magical chords“ (S. 1 T. 1 f.)

ereignet sich alles in kurzer Zeit und es wird entsprechend schnell erzählt, was
das rasch aufsteigende sexuelle Begehren zwischen den Geschwistern hervorhebt.
Das musikalische Tempo passt sich der Schnelligkeit des Erzählten an.123
Nach den „magical chords“ kommt ein Duett zwischen Gregor und dem
Fischer, der ihn „sechzehn Meilen weit in die See hinaus zu einem flutumbran-
deten Felsen“ (DF: 464) fährt, dort fesselt und den Schlüssel ins Meer wirft.
Odegard erklärt, Leverkühns Text für diese Szene sei „clearly expected to shock
the listener by portraying Gregory as an unwilling victim of forces behind his
control“.124 Nicht ohne Komik wird diese Szene realisiert:

Gregory: Oh dreary place!


Fisherman: What were you expecting?
G: A larger space?
F: There’s room for genuflecting! (S. 1)

In Odegards Komposition scheint – wie der Text belegt – der Weg der Askese
keine Konsequenz von Gregors freiem Willen zu sein. Hervorzuheben sind auch
die Worte des Fischers, „no Seven-Eleven in heaven“ (S. 2 f.), die der Szene
eine amerikanische Konnotation verleihen. Der Begriff „Seven-Eleven“, wie Ode-
gard in den Anmerkungen, die dem Stück folgen, erläutert, bezieht sich auf eine
Kette amerikanischer Convenience Stores, die von 7 bis 23 Uhr geöffnet sind
und „,convenience products‘ at inflated prices“125 verkaufen. Der Fischer – so
in den Selbsterläuterungen des Autors nach der Partitur – könnte hier auf die

123 Bemerkenswert ist zudem, dass auch in Der Erwählte die Raschheit des sexuellen
Aktes gleich nach dem Tod des Vaters zum Tragen kommt. Siehe Mann, T.: Der Erwählte,
S. 30–36.
124 „To Whom it May Concern“„ S. 1.
125 Ebd.
78 3 Gesta Romanorum

späteren Ereignisse im Leben Gregors hindeuten und sich ihn als Papst vorstel-
len, der gegen Geld Sündenablässe verteilt.126 Auf das Duett folgt ein Rezitativ
Gregors. Er wiederholt mehrfach „I repent!“ (S. 3); dann verspricht Gregor, „a
good boy […] for the rest of […] [his] life“ (S. 4) zu sein. Der Musikstil erin-
nert an den der italienischen Oper: In der Tat spielt Odegards The Calling hier
auf die italienische Arie von Richard Strauss’ Rosenkavalier an, die als „musi-
cal ,intertextuality‘“127 noch stärker die Verortung von Odegards Puppenspiel im
Bereich der musikalischen Komödie verdeutlicht.128 Das Thema der Buße und
Askese nimmt eine zentrale Stellung in Odegards Stück ein, wird aber durch die
Lupe der Parodie interpretiert: Sowohl in den Selbsterläuterungen als auch im
musikalischen Text wird eine gewisse Pauschalität und Naivität von religiösen
Entscheidungen deutlich.
Der zweite Teil des Stückes (T. 1–53) schließt unmittelbar an den ersten an.
Gregor ist verzweifelt, weil er denkt, dass er den Rest seines Lebens gefesselt
verbringen wird und kein Ausweg aus der Verdammnis besteht: „Oh I am left
here to die. […] There is no hope left in me, there’s no salvation!“ (S. 6 f.). Im
Takt 21 fragt ihn aber „a sepulchral voice from on high“: „Gregory, do you rep-
ent now?“ (S. 7). Die Musik, die am Anfang „sempre legato e appassionato con
molto rubato“ (S. 6), also „immer legato und ausdrucksvoll mit viel Rubato“ zu
spielen ist, wird im Takt 26 nach einer Passage mit Tremoli, die zum Spannungs-
aufbau beiträgt, und dem darauf folgenden Fortissimo zu einem „Slow Waltz“.
Da beantwortet Gregor die Frage der Stimme von oben: „OH, LORD, gimme a
break!“ (S. 7) (Abbildung 3.3).
In der Aufnahme bricht das Publikum in Gelächter aus. Zum einen wegen
der Verwendung der Walzer-Form, gerade wenn Gregor mit Gott spricht, zum
anderen, weil sich der aus edlem Blut geborene Papst umgangssprachlich äußert.
Dies erinnert an Zeitbloms Beschreibung von Leverkühns Gesta, in denen „das
Skurrile […] an die Stelle moralischer Priesterlichkeit trat“ (DF: 466).
Odegard beschreibt den Stil der Komposition so:129

126 Siehe ebd.


127 Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 494.
128 Siehe „To Whom it May Concern“, S. 1. und Strauss, Richard: Der Rosenkavalier.

Komödie für Musik in drei Aufzügen von Hugo von Hofmannsthal, op. 59. Wien: Verlag
Dr. Richard Strauss 1996, S. 113 f.
129 Ebd.
3.3 Vom Roman zur Musik 79

Abbildung 3.3 Gregors Gespräch mit Gott (S. 7 T. 21–29)

Little needs to be said about the style of the music. It is unabashedly romantic
and certainly not yet dodecaphonic, although the chromatic complexity of the ope-
ning scene [...] has a motivic treatment that suggests some of the procedures of
dodecaphonism.

Auch Leverkühn komponiert in dieser Phase noch nicht dodekaphonisch und


sucht einen Weg zum Volk. Die Einbeziehung des Volks im musikalischen Vor-
haben wird als das große Verdienst der Romantik betrachtet.130 The Calling of
St. Gregory kann daher für eine intermediale Transposition gehalten werden, die
sich stark an der Vorlage orientiert. Nichtsdestotrotz vertont Odegard nur einen
Teil von Leverkühns Puppenspiel nach: Dementsprechend handelt es sich um eine
partielle Vertonung des Romans selbst und eine partielle von Leverkühns Gesta.
Zudem passt er den Stoff dem historisch-geographischen Kontext an, etwa durch
den Sprachstil und den Bezug zu den convenience stores. Die Art der Interme-
dialität ist aufgrund der gleichzeitigen Präsenz der Medien Text und Musik als
direct or overt einzustufen. Am Titel selbst lässt sich nicht gleich ablesen, dass
das Werk auf Thomas Manns Roman Bezug nimmt: Er suggeriert zunächst einmal
nur, dass er sich auf die spätmittelalterliche Exempelsammlung beziehen könnte.
Die fehlende Erwähnung von Thomas Manns Doktor Faustus im Titel der Kom-
position schafft eine Kohärenz der paratextuellen Angaben, welche die Fiktion
hervorrufen, dass Odegard Leverkühns Puppenspiel bearbeitet bzw. herausgege-
ben habe. Durch die Parodie interagiert The Calling simultan mit zwei textuellen
Vorlagen, nämlich der Exempelsammlung und den Gesta-Kapiteln aus Doktor
Faustus: Die spätmittelalterliche Vorlage wird wie im Roman durch Leverkühn
in Frage gestellt und verschiedene Aspekte von Leverkühns Werk, speziell die

130 Vgl. DF: 468 f.


80 3 Gesta Romanorum

Parodie und die Dekonstruktion der Vorlage, werden in der Medienkombination


verstärkt.
Es lohnt sich nun, kurz der Frage nachzugehen, wie das Inzest-Motiv bei Ode-
gard interpretiert wird. In die Analyse können die bereits erwähnte Passage über
die leidenschaftlichen und liebevollen Blicke von Gregors Eltern und eine weitere,
in der Gregors Inzest mit seiner Mutter angesprochen wird sowie die folgenden
Worte Gregors im Text: „I deserve to be alone, while I atone for my mother’s
erogenous zone“ (S. 2.) einbezogen werden. Das Inzest-Motiv unterliegt offen-
bar keiner „Selbstzensur des Textes“,131 es scheint kein Inzest-Tabu zu herrschen
und das sexuelle Begehren kommt deutlich zum Ausdruck.132 Die Worte über die
erogenen Zonen der Mutter machen deutlich, dass es sich um ein paritätisches
Begehren und nicht um eines im Namen des übergeordneten Phallus handelt.133
Nicht nur der Inzest wird in The Calling entauratisiert, sondern auch,
wie bereits angesprochen, die spätmittelalterliche Exempelsammlung mit ihrer
moralisch-didaktischen Absicht, die durch das Vertonen von Leverkühns Werk
zugleich „auf eine recht destruktive Weise“ (DF: 465) (teil-)reproduziert wird.
„Were it not for Leverkuhn’s [sic] well documented seriousness of purpose“, sagt
Odegard „one might almost accuse him of writing purposeful kitsch to highlight
the religious paradoxes that simpler faith does not question“.134 Odegard situiert
Leverkühns Werk an den Grenzen zum Kitsch; in seiner Komposition wird wie
bei Leverkühn eine Gesellschaft für lächerlich erklärt, die blind an Mythen und
pauschale religiöse Entscheidungen glaubt. Somit wird die gefährliche Seite des
Mythos hervorgehoben, was in Doktor Faustus sowohl durch Leverkühns Ver-
tonung der Gesta als auch beispielsweise durch den Kridwiß Kreis zum Tragen
kommt.135 In den Sitzungen dieses Münchner Kreises, auf die das darauf folgende
Kapitel eingeht, dient der Mythos zur Unterstützung politischer Stellungnahmen.
In Anlehnung an Braidotti erscheint in diesem Kapitel die Definition eines lite-
rarischen Textes als Labor, das Experimentieren voraussetzt und sichtbar macht,
für die Analyse der Gesta-Kapitel von Thomas Manns Doktor Faustus beson-
ders ergiebig. Einerseits eröffnet diese Auffassung neue Sichtweisen sowohl auf

131 Frank: Inzest und Autor-Imago, S. 53.


132 Auch in den Erläuterungen des Komponisten ist die Rede sowohl bezüglich des
Geschwister- als auch des Eltern-Kind-Inzests von „passionate and incestuous relation-
ship“. Siehe „To Whom it May Concern“, S. 2.
133 Siehe Butler: Antigone’s Claim, S. 21.
134 „To Whom it May Concern“, S. 3.
135 Dies taucht allerdings im Gesamtwerk Thomas Manns auf. Siehe Schoene: „Ach, wäre

fern, was ich liebe!“, S. 222.


3.4 Fazit 81

Adrian Leverkühns Puppenspiel Gesta romanorum als auch auf seinen Wer-
degang als Komponist, die weg von der Dichotomie Progression/Regression
argumentieren und den Prozess besser in den Blick nehmen können. Anderer-
seits treten Experimente und Transformationen zusätzlich auch aus werkexterner
Sicht zutage, und zwar wenn man drei Werke Thomas Manns vergleicht, die
sich mit Mythos und Inzest auseinandersetzen: die Novelle Wälsungenblut und
die Romane Doktor Faustus und Der Erwählte. Auch die im zweiten Teil
des Kapitels analysierten Kompositionen experimentieren mit ihrer Vorlage, den
Gesta-Kapiteln von Doktor Faustus, und dementsprechend auch mit dem Mythos
Gregor, dem Inzest und Leverkühns Ziel einer größeren Zugänglichkeit seiner
musikalischen Sprache. Um diesem letzten Ziel nachzukommen, greift bei-
spielsweise Beyer, der sonst zeit seines Lebens hauptsächlich absolute Musik
komponiert, in Die Gesta romanorum – Musik des Adrian Leverkühn auf das
Medium des Fernsehens zurück. Odegard konzentriert sich hingegen in The
Calling of St. Gregory auf parodistische Aspekte der Vorlage, die selbst die
moralische Absicht der spätmittelalterlichen Exempelsammlung umwertet, und
„ent-auratisiert“ das Inzest-Motiv.

3.4 Fazit

Bereits diese erste Analyse zweier intermedialer Transpositionen nach Tho-


mas Manns Roman, die von einer Untersuchung der transferierten Kapitel über
Leverkühns Puppenspiel Gesta romanorum ausgehen, ließ durch die Auseinan-
dersetzung mit der kompositorischen Rezeptionsgeschichte von Doktor Faustus
einige neue Sichtweisen zu. Das Forschungsparadigma der Intermedialität half
dabei, das Verhältnis der Kompositionen gegenüber der Vorlage auszuloten. Beyer
verstärkt beispielsweise den Aspekt der Zugänglichkeit der Musik durch das
Mediums des Fernsehens, indem er durch das angewandte Medium zugleich in
Frage stellt, dass sich dieses Ziel Ende des 20. Jahrhunderts durch das Puppen-
spiel erreichen lässt. Odegard verstärkt die parodistischen Elemente der Vorlage,
die er als nahezu kitschig interpretiert, so sehr, dass er eine Komposition schreibt,
die auf Humor und Komik zurückgreift. Die Analyse sowohl der Effekte und
Funktionen von Intermedialität als auch die Kontextualisierung des jeweiligen
Werkes erwiesen sich als wichtige Werkzeuge des Medienvergleichs und spezi-
ell der Rekonstruktion der kompositorischen Rezeptionsgeschichte von Doktor
Faustus.
82 3 Gesta Romanorum

Die chronologische Behandlung von Leverkühns fiktiven Kompositionen setzt


im nächsten Kapitel mit dem Oratorium Apocalipsis cum figuris fort. Zusam-
men mit der Dr. Fausti Weheklag wird diese Komposition durch die Erzählinstanz
Zeitblom sehr ausführlich beschrieben und ermöglicht daher Leverkühns kompo-
sitorischen Werdegang noch genauer zu rekonstruieren. Einige in diesem Kapitel
aufgetauchte Aspekte, z. B. Leverkühns Vorliebe für die Parodie und die Gefähr-
lichkeit von Mythen, werden die Analyse auch im nächsten Kapitel begleiten und
mit der Untersuchung des apokalyptischen Diskurses von Doktor Faustus und der
Kompositionen kombiniert.

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Apocalipsis cum figuris
4

Die Analyse von Leverkühns fiktiven Kompositionen und ihren intermedialen


Transpositionen wird in diesem Kapitel mit der Apocalipsis cum figuris fortge-
setzt. Das im Jahr 1919 geschriebene Oratorium wird im 34. Kapitel des Romans
Doktor Faustus geschildert: Der Titel des fiktiven Werkes lässt es sofort in eine
Tradition künstlerischer Werke einschreiben, die sich u. a. von der Offenbarung
des Johannes inspirieren lassen. So Rita Müller-Fieberg über die Faszination
vieler Künstler*innen für den biblischen Text:1

Zum einen stellt die Offenbarung des Johannes in ihrer kunstvollen ästhetischen
Formung selbst ein poetisches Meisterwerk dar und vermochte daher auch immer
wieder andere Autoren dazu einladen, aus ihrer Sprache, aus ihren Bildern und
ihrer Dramatik zu schöpfen.

Der erste Teil des vorliegenden Kapitels setzt sich mit einer Definition von Apo-
kalypse und mit Typen von Apokalypsen auseinander, die dann auf Manns Roman
übertragen werden. Als wichtiges Element eines apokalyptischen Diskurses pro-
filiert sich das Zusammenspiel von Immanenz und Transzendenz: In Doktor
Faustus wird dieser Diskurs durch das Oratorium Leverkühns musikalisch und
durch die Vorstellung der Ideen eines Münchener Kreises politisch dekliniert.
Sowohl auf der musikalischen als auch auf der politischen Ebene bewegt sich
das 34. Kapitel von Doktor Faustus noch auf einem ersten immanenten Zustand.
Die ursprüngliche, nicht ausschließlich negativ konnotierte Bedeutung des Wor-
tes Apokalypse und des Wortes Katastrophe spielen aufgrund der von Leverkühn
verwendeten mittelalterlichen Quellen für die Komposition und der Ausbildung

1 Müller-Fieberg, Rita: Das „neue Jerusalem“ – Vision für alle Herzen und alle Zeiten? Eine
Auslegung von Offb 21,1–22,5 im Kontext von alttestamentlich-frühjüdischer Tradition
und literarischer Rezeption. Berlin (u. a.): Philo 2003, S. 28 f.

© Der/die Autor(en) 2021 83


A. M. Olivari, Doktor Faustus (ver-)stimmen,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62635-1_4
84 4 Apocalipsis cum figuris

des Erzählers eine zentrale Rolle; zugleich stützt sich dieser Teil u. a. auf Derri-
das Schrift, die ein historisch passendes Pendant zum zweiten Teil des Kapitels
bietet. So wie Derrida in den 1980er Jahren den apokalyptischen Diskurs rezi-
piert und auszuloten versucht, so setzen sich die drei behandelten Kompositionen
jeweils von Konrad Boehmer, Karl-Wieland Kurz und Humphrey Searle zwi-
schen 1980 und 1988 nicht nur mit Leverkühns Werk, sondern auch mit dessen
apokalyptischem Diskurs auseinander. Dieser Aspekt lässt sich als transmedial
einstufen: Die Apokalypse ist an keine „bestimmte mediale Präsentationsform
gebunden“,2 dementsprechend werden in diesem Kapitel medienübergreifende
Rekursverfahren auf den apokalyptischen Diskurs untersucht.
Boehmers Apocalipsis cum figuris zeichnet sich durch die Kombination von
Musikstilen und Musikgattungen aus und schafft durch das Ende mit einem
Leopardi-Zitat und dem Schrei eines neugeborenen Kindes den Sprung zu einer
keineswegs einbahnig interpretierbaren Transzendenz. Sowohl das Werk von Boe-
hmer als auch das von Kurz besitzen einen enzyklopädischen Charakter und üben,
intermedial betrachtet, einen ergänzenden Effekt aus, da sie über die im Roman
erwähnten apokalyptischen Quellen hinausgehen und noch weitere verwenden,
z. B. die Sybillinischen Weissagungen und kasuistische Texte. Zugleich distan-
ziert sich die Komposition von Kurz bereits im Titel von der Vorlage: Es handelt
sich in diesem Fall um eine konturlose Apokalypse sine figuris, in der nicht Bild-
haftigkeit, sondern gerade ihr Gegenteil als formbildend konzipiert wird. Das
sine figuris und das Werk selbst lassen sich allerdings nicht nur als Reaktion
eines sekundären intermedialen Produktes auf das 34. Kapitel von Thomas Manns
Doktor Faustus, sondern (sowohl in Anbetracht der Entstehungszeit als auch der
expliziten Erwähnung von Boehmers Doktorarbeit) als Reaktion eines sekun-
dären intramedialen Produktes auf Boehmers Apocalipsis betrachten. Während die
Kompositionen von Boehmer und Kurz nicht das Ziel verfolgen, den Klang von
Leverkühns Oratorium zu rekonstruieren, sondern eher dessen Radikalität ihrer
musikalischen Epoche anzupassen, versucht die Komposition von Searle dagegen,
sich so präzise wie möglich an der Vorlage zu orientieren. Daraus resultiert eine
Reflexion über Mediendifferenzen und die Rezeption von intermedialen literari-
schen Werken: Die Uneindeutigkeit des Textes bezüglich des musikalischen Stils
wird etwa im Medium der Musik durch einen präzisen Einsatz „der Methode der
Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“3 gelöst. Alle drei Kom-
positionen lassen sich als Medienkombinationen definieren, die mindestens über

2 Rajewsky: Intermedialität, S. 73. Siehe auch Wolfs Definition von ,transmedial‘ als
„media-neutral“. Wolf: Narrativity in Instrumental Music?, S. 480.
3 Schönberg: Komposition mit zwölf Tönen, ebd., Herv. i. O.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 85

die Medien Musik und Text verfügen, im Fall von Kurz auch über das Medium
Kunst: Der intermediale Bezug in der Vorlage wird somit zu einem materiell
präsenten Medium im sekundären intermedialen Produkt.

4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus

Eine Ausführung über Typen von Apokalypsen im Text und in den Vertonun-
gen, apokalyptische Motive und Apokalyptiker*innen muss von einer Definition
von Apokalypse ausgehen. In seiner Schrift von 1983 mit dem Titel Von einem
neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie erläutert Jacques
Derrida die Etymologie des Wortes, um zu einer Definition zu gelangen:4

Apokalypto war sicherlich ein gutes Wort für gala’. Apokalypto, ich entdecke
[decouvre], ich enthülle [dévoile], ich offenbare [révèle] die Sache, die ein Kör-
perteil, der Kopf oder die Augen, sein kann, ein geheimer Teil, das Geschlecht,
oder was auch immer da verborgen zu halten ist, ein Geheimnis, die zu verber-
gende Sache, eine Sache, die weder gezeigt noch gesagt, die vielleicht bedeutet
wird, aber zunächst nicht dem Augenschein preisgegeben werden kann oder darf .
Apokekalymmenoi logoi, das sind anstößige Reden. Es geht also um das Geheimnis
und die pudenda.

Bei einer Apokalypse handelt es sich also um die Offenbarung von Geheimnis-
sen und Verborgenem, um etwas, das man nicht gerne hören möchte und was
sich mit Schamgefühlen, Sexualität und Tabu-Themen verbinden kann. Dem Zitat
lässt sich bereits entnehmen, worauf Jürgen Brokoff explizit hinweist: Der Fokus
einer Apokalypse liegt vielmehr auf dem „Vorgang des Offenbarens, Enthüllens,
Aufdeckens“5 als auf dem Zustand des Offenbarten, Enthüllten und Aufgedeck-
ten. Im Vordergrund steht also die Performanz der apokalyptischen Verkündung,
die Brokoff „ohne das Medium Sprache nur schwer vorstellbar erscheint“.6 Diese
Notwendigkeit eines Rückgriffs auf das sprachliche Medium wird sowohl durch
den Bezug auf Dürers Holzschnitte in Leverkühns Oratorium als auch durch die
Kompositionen des zweiten Teils dieses Kapitels zugleich widerlegt und bestätigt:
Die vorher genannten Beispiele bedienen sich doch anderer Medien, basieren aber
gleichwohl auf einer sprachlichen Vorlage. Leverkühns Komposition, die auch in

4 Derrida: Apokalypse, S. 12, Anmerkungen des Übersetzers, Herv. i. O.


5 Brokoff, Jürgen: Die Apokalypse in der Weimarer Republik. München: Fink 2001, S. 7.
6 Ebd.
86 4 Apocalipsis cum figuris

ihrer Fiktionalität immerhin auf eine fiktive Aufführung ausgerichtet ist, unter-
streicht sowohl die Bildhaftigkeit des apokalyptischen Textes durch die Ergänzung
cum figuris als auch durch den Rekurs auf das Medium Musik die Performanz und
Prozesshaftigkeit des apokalyptischen Offenbarens.
Apokalypse und Weltuntergang werden nicht selten – und das nicht nur in der
Alltagssprache – gleichgesetzt. Brokoffs Untersuchung zufolge lässt sich diese
Verwechslung darauf zurückführen, dass die Offenbarung des Johannes, die den
Weltuntergang schildert, die letzte Schrift des Neuen Testaments darstellt. Überse-
hen werde aber, dass „[d]er Weltuntergang […] keineswegs den Schlußpunkt der
Johanneischen Erzählung“7 bilde; ihm folge „‚das neue Jerusalem‘, das immer-
währende Reich Gottes“.8 Auf dieses strukturelle Zusammenspiel von Immanenz
und Transzendenz legt Brokoffs Studie, die beabsichtigt, die Apokalypse aus lite-
raturwissenschaftlicher Perspektive, also die Apokalypse als Text zu erforschen,
sehr viel Wert: Die immanente Welt wird mit dem Ziel vernichtet, die „Errichtung
der Herrschaft des transzendenten Gottes im ‚neuen Jerusalem‘“9 zu ermöglichen.
Die Apokalypse als Redeform ist daher eine Rede von Untergang und Neubeginn;
infolgedessen bedarf sie mindestens einer zweimotivischen Struktur, wobei das
zweite Motiv, das Motiv des Neubeginns – wie in der Offenbarung – lediglich
angedeutet werden kann und folglich oft übersehen wird.
Derrida sagt in der bereits erwähnten Schrift Folgendes:10

Man weiß nie (weil es nicht mehr der Ordnung des Wissens unterliegt), wem die
apokalyptische Sendung zukommt, sie springt von einem Sende-Ort zum ande-
ren (und ein Ort wird immer im Ausgang [à partir] vom mutmaßlichen Senden
bestimmt), sie geht von einer Bestimmung, von einem Namen und einem Ton zum
anderen, sie verweist immer auf den Namen und den Ton des anderen, der da
ist, aber nur als derjenige, der da gewesen ist und noch kommen muß, der in der
Gegenwart der Erzählung nicht mehr da oder noch nicht da ist.

Auch im vorliegenden Kapitel wird versucht, die Logik der zahlreichen intra-
und intermedialen Verweise des apokalyptischen Diskurses, die in Leverkühns
Oratorium und in den Kompositionen von Boehmer, Kurz und Searle ent-
halten sind, offenzulegen. Diese verschiedenen, aber aufeinander bezogenen

7 Ebd.
8 Ebd.
9 Ebd., S. 10.
10 Derrida: Apokalypse, S. 71, Anmerkungen des Übersetzers.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 87

Deklinationen des apokalyptischen Diskurses werden definiert und in Verbin-


dung sowohl mit kulturwissenschaftlichen Studien zur Apokalypse als auch mit
Intermedialitätstheorien gebracht.

4.1.1 Die musikalische Apokalypse: Adrian Leverkühns


Oratorium

Im vorliegenden Abschnitt wird zunächst einmal auf die musikalische Dekli-


nation des apokalyptischen Diskurses in Doktor Faustus und dementsprechend
auf die Darstellung von Leverkühns Oratorium durch die Erzählinstanz Zeitblom
eingegangen. Dem Titel des fiktiven Werkes lässt sich entnehmen, dass Adrian
Leverkühn nicht nur aus der Sprache und der Dramatik der Offenbarung schöpft,
sondern auch aus den Bildern, was durch die Spezifizierung cum figuris deutlich
zum Ausdruck kommt. Diese Spezifizierung verweist zudem auf eine weitere Vor-
lage der Komposition: Dürers Druckwerk gleichnamigen Titels. Die dynamische
Verflechtung dreier Medien (Text, Musik und Kunst) wird im fiktiven paratextu-
ellen Hinweis bereits programmatisch deklariert: Leverkühns Oratorium ist das
fiktive Produkt zahlreicher intermedialer Bezüge und Medientransformationen.
Denn weder die Offenbarung des Johannes noch Dürers Holzschnitte stellen die
einzigen Quellen von Leverkühns Apocalipsis und des 34. Kapitels dar: Das Ora-
torium wird als „Resumé aller Verkündigungen des Endes“ (DF: 520) bezeichnet
und so könnten ebenfalls alle Kompositionen bezeichnet werden, die Eingang in
den zweiten Teil des vorliegenden Kapitels finden.
Diese „Vermischung der Stimmen, Gattungen und Codes“11 in Leverkühns
Komposition und in den später betrachteten Musikwerken ist laut Derrida dem
apokalyptischen Ton angeboren. Selbst der Sprache der Offenbarung des Johan-
nes wird nicht nur von Müller-Fieberg Bildhaftigkeit zugesprochen, sondern auch
Albrecht Dürer transferierte und transformierte eine bereits vorhandene Qua-
lität des biblischen Textes in das Medium der Kunst und Adrian Leverkühn
setzt sich als Ziel, eine bildhafte Komposition zu schreiben, die Bezug auf den
apokalyptischen Diskurs nimmt.12
Das sogenannte „apokalyptische“ Kapitel von Thomas Manns Doktor Faus-
tus, also das 34. Kapitel, weist eine dreiteilige Struktur auf und entspricht daher
Brokoffs vorher präsentierter Definition der Apokalypse als Redeform, die eine
mindestens zweimotivische Struktur besitzt. Das 34. Kapitel konzentriert sich

11 Derrida: Apokalypse, S. 76.


12 Siehe auch Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 7.
88 4 Apocalipsis cum figuris

im ersten Teil vor allem auf Adrian Leverkühn und seine Vorarbeiten an der
Komposition Apocalipsis cum figuris, sprich: auf seine Lektüre zahlreicher apo-
kalyptischer Texte der Antike und des Mittelalters. Bereits hier kommen das
historische Endzeitgefühl und verschiedene Aspekte von Leverkühns Komposi-
tion zur Sprache, so etwa die Präsenz eines Erzählers, der durch die chiastisch
organisierten Worte „Das Ende kommt, es kommt das Ende“ (DF: 519) den Welt-
untergang verkündet und dann diese Botschaft einem Responsorium abgibt, das
sie „unvergeßlich wiederholt“ (ebd.) und sich aus „zwei vierstimmigen, gegen-
einander bewegten Chören“ (ebd.) zusammensetzt. Neben der Beobachtung, dass
auch das Responsorium die Zweiteiligkeit der Apokalypse reproduziert, ist es hier
auffällig, dass nicht nur formale und inhaltliche Besonderheiten von Leverkühns
Oratorium, sondern auch harmonische geschildert werden. So werden beispiels-
weise musikalisch die Worte des Erzählers „in einer geisterhaften, auf liegenden
Fremd-Harmonien ruhenden, aus reinen Quarten- und verminderten Quinten-
schritten gefügten Melodik“ (ebd.) wiedergegeben. Zeitbloms Beschreibung von
Leverkühns Oratorium fällt nicht nur unter den Modus des intermedialen telling,
sondern auch des intermedialen showing, da diese sehr detaillierte Beschreibung
des Werkes zugleich auch auf die „Vergegenwärtigung eines (fiktiven) Klangein-
drucks“13 zielt und sich daher sowohl als evozierend als auch als simulierend
einstufen lässt.14
Der zweite Teil des Kapitels, in Klammern „Fortsetzung“ (DF: 525) genannt,
befasst sich mit den Tafelrunden des Kridwiß-Kreises, also mit den Treffen einer
Gruppe von Intellektuellen in München, die durch den Rückgriff auf Mythen und
das Ziel einer Vereinfachung der Wissenschaft den ideologischen Boden für die
spätere politische Situation in Deutschland bereiten. Der dritte Teil, in Klammern
„Schluß“ (DF: 538) genannt, geht noch einmal auf Leverkühns Werk ein und
besteht hauptsächlich aus Zeitbloms Bewertung der Komposition. In ihr werden
Stil, Mittel und einige Merkmale wieder durch ein vorherrschendes telling mit
fließenden Grenzen zum showing weiter beschrieben.
Wie durch die Explikation der drei Teile ersichtlich wurde, besitzt das Kapi-
tel eine A-B-A-Struktur, die sich aus einer Präsentation des Hauptthemas, einer
Fortsetzung und seiner Variation sowie aus einem Schluss, der das Haupt-
thema erneut aufgreift und vertieft, zusammensetzt. Formal betrachtet, gibt es
viele musikalische Vorlagen, die einer solchen Struktur zugrunde liegen und die

13 Gess u. Honold: Einleitung, S. 8.


14 Zu den Begriffen vgl. 1.1.5.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 89

dementsprechend für eine „Musikalisierung der Literatur“15 sprechen könnten.


Strukturell betrachtet ist es nicht so, dass das Kapitel selbst versucht, die zweitei-
lige Struktur der Apokalypse zu reproduzieren. Infolgedessen könnte man der in
einem Sammelband zur Aktualität des Apokalyptischen präsentierten Auffassung
von Briese, Faber und Podewski zustimmen, dass dort „[w]o Apokalyptisches
drauf steht, […] Apokalyptisches gerade nicht drin“ ist.16 Auch aus inhaltlicher
Sicht bewegt sich das Kapitel auf dem immanenten Stadium des „krisenhaften
Zustand[s] A“,17 für den kein Neubeginn vorgeschlagen wird. Was durch die
Struktur des Kapitels zum Tragen kommt, ist ein apokalyptischer Diskurs, an des-
sen Anfang und Ende die Musik steht. Folglich wäre es auch nicht unangebracht,
von einer A1 -A2 -A1 -Struktur zu sprechen, denn der zentrale Teil des Kapitels
könnte als politische Modulation eines vorrangig musikalischen Themas interpre-
tiert werden. Zweifellos werden durch Zeitbloms Erzählen im 34. Kapitel sowie
in weiteren Kapiteln des Romans verschiedene Deklinationen des apokalyptischen
Diskurses sichtbar; im Folgenden wird aufgrund der Akzentuierung der vorliegen-
den Studie vor allem auf die musikalische Ebene eingegangen, ohne die politische
– die durch den Kridwiß-Kreis zum Ausdruck kommt – zu vernachlässigen.
Adrian Leverkühns Oratorium schafft noch nicht den Sprung zur Transzendenz
und zur Erlösung. Was die Komposition widerspiegelt, ist ein äußerst produk-
tiver Krisenzustand der Musik, die sich neu erfinden möchte und zu diesem
Zweck disparate Musikstile und -mittel anwendet. Eine große Inspirationsquelle
des Werkes stellt das Mittelalter und die Renaissance dar, sowohl in der Aus-
wahl der apokalyptischen Texte und Kunstwerke, die zu den fiktiven Prätexten
zählen, als auch in der musikalischen Faktur selbst. Leverkühn stützt sich bei-
spielsweise auf Dante, besonders auf sein Inferno, auf „die ekstatischen Erlebnisse
der Mechthild von Magdeburg“ (DF: 517) und der Hildegard von Bingen, auf die
Historia ecclesiastica gentis Anglorum von Beda Venerabilis und auf vergleich-
bare Texte italienischen Ursprungs, wie beispielsweise die „Dialoge[] Gregors des
päpstlichen Sangesmeisters“ und die „Vision Alberichs, des Mönchs von Monte

15 Rajewsky: Intermedialität, S. 7. Vgl. auch Werner Wolfs Einschränkung des Begriffs:

Wolf, „The musicalization of fiction“, S. 134 (siehe auch Rajewsky: Intermedialität,


S. 39 f.)
16 Briese, Olaf, Richard Faber u. Madleen Podewski: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.):

Aktualität des Apokalyptischen. Zwischen Kulturkritik und Kulturversprechen. Würzburg:


Königshausen & Neumann 2015, S. 7–37, hier: S. 18.
17 Ebd., S. 11.
90 4 Apocalipsis cum figuris

Cassino“,18 also allgemein gefasst verwendet er „früh-christliche[] und mittel-


alterliche[] Visionsliteratur und Jenseitsspekulation“ (DF: 518). Zeitblom liefert
Hinweise zum Verfahren, dem Leverkühn folgt, um diese Texte zu kombinieren:
Leverkühn sammle „alle ihre Elemente in einem Brennpunkt“ (DF: 518), fasse
„sie in später künstlerischer Synthese“ (DF: 518 f.) zusammen, um dann den
Rezipient*innen „nach unerbittlichem Auftrag der Menschheit den Spiegel der
Offenbarung vor Augen“ (DF: 519) zu halten, „damit sie darin erblicke, was nahe
heran[…]komm[t]“ (ebd.). Es handelt sich nach Zeitbloms Wiedergabe dabei um
ein Verfahren, das mit einer moralischen Absicht auf eine Synthese vieler Prätexte
abzielt.
Auch in der musikalischen Faktur des Werkes sind Rückgriffe auf Formen, die
vor der Barockzeit zu finden waren, enthalten: Dazu zählt etwa die „Chorfuge
zu den Worten des Jeremias“ (DF: 523), die sich „auf die archaische Fugenform
gewisser Canzonen und Ricercaren der Vor-Bach’schen Zeit“ (DF: 524) stützt,
„in denen das Fugenthema nicht immer eindeutig definiert und festgehalten ist“
(ebd.). Gleichzeitig handelt es sich aber um eine Komposition, die verschiedene
musikalische Stile parodiert: den französischen Impressionismus, die „bürgerliche
Salonmusik, Tschaikowsky, Music Hall“ (DF: 545) und Jazz.19 Adrian Lever-
kühn experimentiert mit Rhythmen, Stilen und Formen und beschäftigt sich sogar
mit der Frage nach der Denaturierung des Klanges, die Zeitblom als „die frü-
heste Errungenschaft der Tonkunst“ (DF: 542) definiert und die immer noch ein
zentrales Anliegen von Komponist*innen der Nachkriegszeit, etwa von Konrad
Boehmer, darstellt.20 Neues und Altes greifen ineinander; die Komposition lässt
sich jedoch nicht als dodekaphonisch klassifizieren: Ein Neubeginn, also eine
Überwindung der musikalischen Immanenz durch ein neues kompositorisches
System, steht nicht hier, sondern erst in der Weheklag im Vordergrund.
Der Übergang zum Zustand B ist also nicht in diesem Kapitel zu suchen: Die
musikalische Apokalypse setzt fort und schafft den Sprung zu einer musikalischen

18 Die letzten beiden Quellen sind nur in der Taschenbuchausgabe zu finden. Siehe Mann,

T.: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von
einem Freunde. Frankfurt am Main: Fischer 2013, 39. Aufl., S. 474.
19 Bemerkenswert ist, dass diese „Parodie verschiedenster musikalischer Stile“ (DF: 545)

mit der „Grundsprache des Haupt-Orchesters“ (ebd.) kombiniert wird, was sich mit Hagens
To Zeitblom und der Kombination der Hardangerfiedel mit einem klassischen Orchester
vergleichen lässt. Vgl. 7.2.2. Die Rolle der Parodie in Thomas Manns Werken und in
Doktor Faustus wurde von vielen Literaturwissenschaftler*innen untersucht, z. B. von
Steen, Inken: Parodie und parodistische Schreibweise in Thomas Manns „Doktor Faustus“.
Tübingen: Max Niemeyer 2001. Vgl. auch Ent: 45: „Ich kenne im Stilistischen eigentlich
nur noch die Parodie“.
20 Vgl. 4.2.1.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 91

Transzendenz erst mit der Anwendung des strengen Satzes und der Komposition
der Dr. Fausti Weheklag. Betrachtet man die verschiedenen Typen von Apokalyp-
sen, die in dem bereits erwähnten Sammelband von Briese, Faber und Podewski
vorgestellt werden, so könnte sich in Doktor Faustus eine „[i]nverse Warnapoka-
lypse“21 profilieren. Im Roman droht zwar „[e]in unerwünschtes, vernichtendes
Ereignis […] unweigerlich einzutreten“,22 nämlich die komplette Sterilität der
Kunst, dieses Ereignis wird jedoch „durch einen grundlegenden Gesinnungs- und
Handlungswandel in der Gegenwart abgewendet“,23 und zwar durch die Anwen-
dung eines kompositorischen Systems, das Adrian Leverkühn schon seit langer
Zeit vorschwebte. Berechtigt wäre aber der Einwand, dass nicht nur von einem
politischen Gesichtspunkt aus, sondern auch in Sachen Musik keine echte Erlö-
sung stattfindet: Im Endeffekt ist nur das „hohe g eines Cello“ (DF: 711) am
Ende der Weheklag in der Lage, nach den Worten des Erzählers den Sinn zu wan-
deln und eine metaphorische Assoziation zu einem „Licht in der Nacht“ (ebd.)
zu ermöglichen. Hätte man dementsprechend Schwierigkeiten, eine musikalische
Erlösung durch die Dodekaphonie im Roman zu sehen, so wäre es angebracht, von
einer „[e]motional-wunschhafte[n] Verneinungs- und Untergangsapokalypse“24
zu sprechen. Die bereits erwähnten Autor*innen des Sammelbandes definieren
diese als eine moderne Art von Apokalypse, deren Entstehung sich im 19. Jahr-
hundert zeitlich situieren lässt: Diese Apokalypsen sind „um jeden zweiten Teil,
den der Erlösung, beschnitten“25 oder begreifen „die Erlösung gerade als Über-
gang in ein non-humanes Nichts“.26 Die Möglichkeit einer Erlösung der Musik
durch ihren Neubeginn von einem einzigen Ton, von jenem g des Cello, könnte für
zu schwach gehalten werden: Folglich wäre keine Erlösung vorhanden. Es könnte
ebenfalls argumentiert werden, dass auch hier die Erlösung als Übergang in ein
menschlich unbegreifliches Nichts zu begreifen ist, was jedoch Brokoff zufolge
immerhin die Präsenz eines zweiten transzendentalen Stadiums und infolgedessen
die mindestens zweimotivische Struktur der Apokalypse bestätigt.
Nachdem die Art des musikbezogenen apokalyptischen Diskurses in Doktor
Faustus definiert wurde, sei nun auf einige Elemente eingegangen, die charak-
teristisch für apokalyptische Diskurse und Darstellungen sind und die man in
Zeitbloms Beschreibung von Leverkühns Komposition wiederfindet. Die Wahl

21 Briese, Faber u. Podewski: Aktualität des Apokalyptischen, S. 21.


22 Ebd.
23 Ebd., Herv. i. O.
24 Ebd., S. 22.
25 Ebd.
26 Ebd.
92 4 Apocalipsis cum figuris

der Figuren und Inhalte verdeutlicht eine Interaktion zwischen Immanenz und
Transzendenz, denn der Zeuge der Apokalypse Leverkühns warnt vor der bevor-
stehenden Katastrophe, indem er vom Jüngsten Gericht und von der Hölle
berichtet. Der Chor und das Orchester unterstützen sein Erzählen beispielsweise
durch Geheule, das als Thema fungiert, durch zahlreiche Arten von Glissandi, die
auch auf die menschliche Stimme angewandt werden27 und durch die Emulation
eines „Pandämonium des Lachens“ (DF: 548) im letzten Teil der Komposition: Es
wird also versucht, Klänge und Geräusche der Hölle zu reproduzieren. Eine Kritik
und Umwertung von Kompositionstendenzen, die den Weg für die streng zwölf-
tönige Weheklag bereitet, ist wesentlicher Bestandteil des musikalischen Stückes,
denn dieses sei

von dem Paradoxon beherrscht (wenn es ein Paradoxon ist),28 daß die Dissonanz
darin für den Ausdruck alles Hohen, Ernsten, Frommen, Geistigen steht, während
das Harmonische und Tonale der Welt der Hölle, in diesem Zusammenhang also
einer Welt der Banalität und des Gemeinplatzes, vorbehalten ist. (DF: 544)

Auf die Struktur des Jenseits wird im Oratorium auch mittels der Interaktion des
Tonalen und des Dissonanten angespielt, die der Interaktion zwischen Immanenz
und Transzendenz gegenübergestellt werden kann. Dass es sich aber lediglich um
einen Versuch der immanenten Welt handelt, das transzendente Jenseits abzubil-
den, was im Zentrum der meisten apokalyptischen Verkündungen steht, scheint
von der Behandlung und Konzeption des vokalen und orchestralen Parts bestätigt.
So Zeitblom:

Chor und Orchester stehen einander nicht als das Menschliche und das Dingliche
klar gegenüber; sie sind ineinander aufgelöst: der Chor ist instrumentalisiert, das
Orchester vokalisiert, – in dem Grade und zu dem Ende, daß tatsächlich die Grenze
zwischen Mensch und Ding verrückt erscheint […]. (DF: 544)

Chor und Orchester verkörpern dieser Beschreibung entsprechend immer noch


die materielle Welt auf der Suche nach einer neuen musikalischen Sprache, die
aber immerhin vom Status quo aus auf diese einzutretende musikalische Phase
blickt und über die Möglichkeiten ihrer Umsetzung durch vielfältiges Experi-
mentieren, intensives Interagieren und die Aufhebung von Trennungen reflektiert.

27 Vgl.DF: 543.
28 DerEinschub in Klammern könnte als ein weiteres Indiz für die Unzuverlässigkeit des
Erzählers interpretiert werden. Zur Unzuverlässigkeit Zeitbloms vgl. Kap. 7. Des Weiteren
weist Börnchen darauf hin, dass sich Thomas Manns Roman „gerade in seinem Hang zum
exzessiven Selbstkommentar selbst dekonstruiert“. Börnchen: Kryptenhall, S. 68.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 93

Dieses Schauen bildet den Kern der Apokalypse, die Derrida als „Kontemplation
[…] oder eine Inspiration […] der Schau“29 definiert. Wichtiger Schritt zur Errei-
chung des Zustands B ist außerdem die „Vernichtung der Differenz selbst“,30 was
sich durch die Vernichtung der weltlichen, in diesem Fall musikalischen, Sprache
umsetzen lässt.31
Eine Apokalypse bedarf eines Apokalyptikers: Im Rahmen der Komposition
selbst übernimmt der Zeuge diese Funktion und im Rahmen der intradiegeti-
schen Dimension des Romans spielt Adrian Leverkühn diese Rolle. Umberto Eco
beispielsweise grenzt in Bezug auf die Massenkultur Apokalyptiker*innen von
Integrierten ab:32

Während die Apokalyptiker gerade dadurch überleben, daß sie Theorien über den
Zerfall ausbilden, versagen sich die Integrierten weitgehend der Theoriearbeit; sie
erzeugen und übermitteln ihre Botschaften in unbefangener Leichtigkeit, tagtäg-
lich, auf allen Ebenen. Die Apokalypse ist eine Besessenheit des dissenters, des
Andersdenkenden; die Integration ist die konkrete Realität derjenigen, die nicht
abweichen, nicht anderer Meinung sind. Das Bild der Apokalypse zeichnet sich ab,
wenn man die Texte über die Massenkultur liest; das Bild der Integration ersteht
bei der Lektüre der Texte aus der Massenkultur.

Bezug nehmend auf Eco konstatieren Briese, Faber und Podewski, dass „der
Motor apokalyptischen Denkens […] vor allem von Künstlern und Intellektuellen
in Gang gehalten zu werden“33 scheint; folglich wäre Leverkühn prädestiniert für
die Rolle des Apokalyptikers, nicht zuletzt weil man durch Zeitbloms Erzählen
den Eindruck gewinnt, dass er sich nonkonform verhält und mit der Welt unzu-
frieden ist.34 Der Komponist zeigt in einer seiner wahrscheinlich produktivsten

29 Derrida: Apokalypse, S. 15, Herv. i. O.


30 Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 21.
31 Vgl. ebd., S. 24.
32 Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur.

Übers. v. Max Looser. Frankfurt am Main: Fischer 1984 [Mailand 1964/1978], S. 16,
Herv. i. O.
33 Briese, Faber u. Podewski: Aktualität des Apokalyptischen, S. 17.
34 Vgl. ebd. Liest man die Ausführungen von Derrida über den apokalyptischen Ton, so

scheint nicht nur Adrian Leverkühn für die Rolle des Apokalyptikers prädestiniert zu sein,
sondern auch die Musik selbst. Derrida rekurriert mehrfach auf Ausdrücke und Wörter,
deren Ursprung der Musik zuzuordnen ist oder auch im musikalischen Bereich verwendet
werden und dort nicht selten als Fachbegriffe gelten. Zwar nimmt Derrida auf Kants
Ton Bezug, spricht aber gleichzeitig etwa von „différence tonale“, „neutralité du ton“,
„norme atonale“, „tonalité“, „voix“ und „timbre“, was dem apokalyptischen Diskurs einen
94 4 Apocalipsis cum figuris

Phasen zwei psychologische Zustände – einen depressiven und einen gehobe-


nen –, die „innerlich nicht scharf gegen einander abgesetzt waren“ (DF: 512).
Während er die Apocalipsis cum figuris komponiert, isoliert er sich von der
Welt, „um unbelauscht, unbeargwöhnt, in ausgeschalteter, von unserem Gesund-
heitsleben schmerzhaft abgesonderter Verborgenheit Entwürfe zu hegen und zu
entwickeln“ (DF: 516).35 Adrian Leverkühn komponiert diese „Lebensgeschichte
der Musik“ (DF: 542) wie besessen, also genau mit jener Besessenheit der dis-
senters, von denen Eco spricht; dies ist nicht verwunderlich, da er zu diesem
Zeitpunkt Esmeralda und dem ,Teufel‘ bereits begegnet war. Die Apocalipsis
wird schnell komponiert: 1919 in einer Zeitspanne von sechs Monaten, ein Jahr
nach Ende des Ersten Weltkriegs. Die Krankheit beeinflusst das Komponieren.
Man gewinnt den Eindruck, dass Leverkühn persönlich mit dem Teufel, seiner
Inspirationsquelle, spricht.36 Auch er ist Knecht einer Vision, die er dringend
kommunizieren muss, genau wie Johannes in der Offenbarung, der sich als Knecht
bezeichnet, der das Wort Gottes über die Zukunft vermittelt.37 Mit Johannes teilt
Leverkühn auch das „Erhoben-Werden“;38 des Weiteren, darauf verweist Brokoff,
ist auch im Fall des Zeugen der biblischen Offenbarung nicht klar, ob er für den-
jenigen zu halten ist, der die Wahrheit offenbart oder doch für denjenigen, „dem
die Wahrheit offenbart wird“.39 Bezüglich Thomas Manns Romans hängt die Ant-
wort auf diese Frage vor allem davon ab, wie man sich der Teufelsproblematik
gegenüber positioniert.40
Um kurz einige weitere, wiederkehrende inhaltliche Elemente und Figuren von
Apokalypsen zu erwähnen, seien hier exemplarisch die babylonische Hure und die
Aufforderung des Komms aufgegriffen. „[D]ie große Erzhure“ (DF: 519) fungiert
laut Brokoff als „zentrale Metapher der Unreinheit“41 und kann der Binäropposi-
tion Unreinheit und Reinheit zugeordnet werden, welche „der Unterscheidung von

musikalischen Charakter verleiht. Siehe Derrida, Jacques: D’un ton apocalyptique adopté
naguère en philosophie. Paris: Galilée 1983, S. 18–21.
35 Erwin hebt hervor, dass sich auch Nietzsche in seinen wahrscheinlich produktivsten

Phasen isoliert hat. Vgl. Erwin, Andrew: Rethinking Nietzsche in Mann’s Doktor Faustus:
Crisis, Parody, Primitivism, and the Possibilities of Dionysian Art in a Post-Nietzschean
Era. In: Germanic Review 78 (Herbst 2003) H. 4, S. 283–299, hier: S. 284.
36 Vgl. DF: 523 „Sprich weiter! Sprich nur weiter!“.
37 Vgl. Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 18; Offenbarung 1,1.
38 Ebd.
39 Ebd., S. 19
40 Vgl. Kap. 6.
41 Ebd., S. 16.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 95

Transzendenz und Immanenz Kontur verleiht“.42 Diese fehlt auch in Leverkühns


fiktiver Komposition, die sich von Dürers entsprechender Schilderung inspirieren
lässt, der sich wiederum auf Ezechiel und auf eine „Portraitstudie einer venezia-
nischen Kurtisane“ (ebd.) stützte, nicht. Zwar wird in Zeitbloms Beschreibung
der Komposition Leverkühns nie erwähnt, dass das in der apokalyptischen Ver-
kündung zentrale Verb ,kommen‘ im Imperativ verwendet wird, es lässt sich aber
gleichwohl eine Parallele zu Derridas Analyse dieses sprachlichen Elements zie-
hen. Die Worte „Das Ende kommt, es kommt das Ende, es ist erwacht über dich;
siehe, es kommt. Es gehet schon auf und bricht daher über dich, du Einwohner des
Landes“ (ebd.) besitzen immerhin Aufforderungscharakter, auch wenn die Impe-
rativform nicht in Verbindung mit dem Verb ,kommen‘ verwendet wird.43 Diese
Worte werden zunächst vom Erzähler gesungen und dann einem Responsorium
abgegeben, das sie „unvergeßlich wiederholt“ (ebd.): Der Aufforderungscharak-
ter ergibt sich daher sowohl aus der Imperativ-Verwendung des im Rahmen einer
apokalyptischen Verkündung ebenfalls wichtigen Verbs ,sehen‘44 als auch aus
der obsessiven Wiederholung des Zitats durch den Chor sowie aus der vermit-
telten Botschaft selbst. Zugleich hebt Derrida die Uneindeutigkeit des ,Komm‘
– u. a. aus pragmatischen Gründen – hervor, sodass es reduktiv erscheint, die-
sem apokalyptischen Element nur einen Aufforderungscharakter zuzuschreiben.45
Geeignet sei das ,Komm‘ jedoch, um „in allen Tonlagen ausgesprochen“46 zu wer-
den, was sich anhand von Leverkühns Oratorium bestätigen lässt und dort eine
gesangliche Realisierung findet. Das ,Komm‘ ist Derrida zufolge selbstreferenti-
ell, denn es kündigt „nicht diese oder jene Apokalypse […]“,47 sondern „seine
differánce selbst“48 an. Derrida führt weiter aus, dass im ,Komm‘ „bereits ein
gewisser Ton wider[hallt], es ist an sich selbst die Apokalypse der Apokalypse,
Komm ist apokalyptisch“.49

42 Ebd.
43 Die Vorlage ist auch unterschiedlich: Zeitblom spezifiziert, dass sich hier Leverkühn wie

Dürer an Ezechiel und nicht an der Offenbarung orientiert. Siehe DF: 519.
44 Siehe Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 19.
45 Derrida: Apokalypse, S. 83–88.
46 Ebd., S. 86.
47 Ebd., S. 88.
48 Ebd., Herv. i. O.
49 Ebd., Herv. i. O. Siehe auch Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 20.
96 4 Apocalipsis cum figuris

4.1.2 Die politische Apokalypse: Der Kridwiß-Kreis

Im zentralen Teil des 34. Kapitels von Doktor Faustus wird der apokalyptische
Diskurs, wie in 4.1 bereits angedeutet, politisch dekliniert. Wenn man den Zeit-
punkt der histoire betrachtet und diesen mit der entsprechenden historischen Zeit
verbindet, ist das alles andere als erstaunlich: „In den apokalyptischen Texten
der Weimarer Zeit findet […] eine Politisierung der Apokalypse statt“,50 konsta-
tiert Brokoff, der eben diese Texte zum Gegenstand seiner Untersuchung macht.
Wie im Fall von Adrian Leverkühns apokalyptischer Komposition lohnt es sich
auch bezüglich dieses apokalyptischen Diskurses nicht, sich auf die Suche nach
der Transzendenz Gottes zu begeben, denn diese ist ebenfalls „durch eine andere
Transzendenz ersetzt worden“.51 Die sogenannte „Fortsetzung“ (DF: 525) des
34. Kapitels präsentiert einige Kernpunkte der Auffassungen eines Kreises von
Intellektuellen, die sich in München im Hause des „Graphiker[s], Buchschmuck-
Künstler[s] und Sammler[s] ostasiatischer Farbenholzschnitte und Keramik“
(ebd.) Sixtus Kridwiß versammeln. Auch hier handelt es sich noch um eine Apo-
kalypse cum figuris: Der Bereich der Kunst ist nicht nur durch den Veranstalter
solcher „Round-table-Sitzungen“ (DF: 526), sondern auch durch die Präsenz des
„Kunstgelehrte[n] und Dürerforscher[s] Professor Gilgen Holzschuher“ (DF: 528)
vertreten, der die Anspielung an Dürer verstärkt und fortsetzt.52
Diese „Männer der Bildung, des Unterrichts, der Wissenschaft“ (DF: 530)
wehren sich gegen die bürgerliche Tradition und ihrer Werte „der Bildung, der
Aufklärung, der Humanität“ (ebd.) und plädieren für Gewalt, Autorität sowie
die Rückkehr zu Prinzipien und politischen Zuständen mittelalterlicher Gesell-
schaften. Dr. Egon Unruhe setzt sich beispielsweise in seinen Schriften mit der
„Rechtfertigung und wissenschaftlichen Verifizierung uralten Sagengutes“ (DF:
527) auseinander und Professor Georg Vogler, der „Literarhistoriker“ (ebd.), mit
einer „Geschichte des deutschen Schrifttums unter dem Gesichtspunkt der Stam-
meszugehörigkeit“ (ebd.). Die Teilnehmer des Kridwiß-Kreises verfolgen sogar
das Ziel, „die parlamentarische Diskussion“ (DF: 531) durch „die Versorgung der

50 Brokoff:Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 10.


51 Ebd., S. 11. Zu theologischen Aspekten des Romans siehe: Rohrmoser, Günter:
Dekadenz und Apokalypse. Thomas Mann als Diagnostiker des deutschen Bürgertums.
Bietigheim/Baden: Gesellschaft für Kulturwissenschaft e. V. 2005; Piccolo, Veronica:
L’onnipotenza imperfetta. Teologia secolarizzata nel Doctor Faustus di Thomas Mann.
Mailand: Ancora 2010.
52 Des Weiteren sammelt Kridwiß Holzschnitte, was sich auch mit Dürers Werk verknüpfen

lässt.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 97

Massen mit mythischen Fiktionen“ (DF: 532) zu ersetzen und stützen ihre Über-
legungen vor allem auf die Réflexions sur la violence von Sorel.53 Die immanente
Welt deklarieren sie für gescheitert; die zukünftige Welt ist in ihren Vorstellungen
„eine alt-neue, eine revolutionär rückschlägige“ (DF: 534); sie hoffen nämlich
auf eine „neuigkeitsvolle[] Rückversetzung der Menschheit in theokratisch mit-
telalterliche Zustände und Bedingungen“ (DF: 535). Zeitblom kommentiert das
so:

Das war so wenig reaktionär, wie man den Weg um eine Kugel, der natürlich
herum-, d. h. zurückführt, als rückschrittlich bezeichnen kann. Da hatte man es:
Rückschritt und Fortschritt, das Alte und Neue, Vergangenheit und Zukunft wurden
eins, und das politische Rechts fiel mehr und mehr mit dem Links zusammen.
(ebd.)54

In diesem Fall zeichnet sich der apokalyptische Diskurs durch eine Vermischung
politischer Stimmen aus. Darüber hinaus berichtet der Erzähler davon, dass sich
die Intellektuellen des Kridwiß-Kreises für ein „sacrificium intellectus“ (DF: 532),
für einen absichtlichen Verzicht auf ihre intellektuellen Fähigkeiten, entschie-
den hatten. Als Konsequenz wollen sie alles vereinfachen, wie die Gelehrten
von Swifts „Grand Academy of Lagado“55 in Gulliver’s Travels, die zwecks
einer besseren Verständigung Wörter und Rede abschaffen und Dinge auf dem
Rücken herumtragen wollen.56 Im zentralen Teil des 34. Kapitels profiliert sich
eine politische Revolution besonderer Art, die in Hinblick auf die programmatisch

53 Vgl. Borchmeyer, Dieter: Mythos. In: Borchmeyer, Dieter u. Victor Žmegać (Hrsg.):
Moderne Literatur in Grundbegriffen. Berlin: de Gruyter 1994 [1987], 2. neu bearb. Aufl.,
S. 292–308, hier: S. 298 f.
54 Die Metapher des Wegs um die Kugel kommt erneut im dritten Teil des Kapitels vor, in

dem Serenus Zeitblom behauptet, dieser sei „durch ein neuigkeitsvolles Zurückgehen über
Bachs und Händels bereits harmonische Kunst hinaus in die tiefere Vergangenheit echter
Mehrstimmigkeit“ (DF: 540) verwirklicht. Die Musik Leverkühns strebe nicht nach den
,harmonischen‘ Errungenschaften der Musik von Bach und Händel, sondern lasse sich von
einer mehrstimmigen Vergangenheit inspirieren. Auch die Gelehrten des Kreises verzichten
auf die errungene Zivilisation, um nach einer mythischen und gewaltsamen Vergangen-
heit zu streben. Siehe dazu Puschmann, Rosemarie: Magisches Quadrat und Melancholie
in Thomas Manns Doktor Faustus. Von der musikalischen Struktur zum semantischen
Beziehungsnetz. Bielefeld: AMPAL 1983, S. 104.
55 Swift, Jonathan: Gulliver’s Travels. In: Ders.: The complete works of Jonathan Swift,

D.D., and Dean of St. Patrick’s, Dublin. Containing interesting and valuable papers not
hitherto published. And an autograph letter. With memoir of the author. Hrsg. v. Thomas
Rescoe, Bd. 1. London: Bell and Daldy 1869 [1726], S. 1–81, hier: S. 48.
56 Vgl. ebd.: S. 50; DF: 536.
98 4 Apocalipsis cum figuris

deklarierte Absicht einer Rückkehr zu den Ursprüngen als „re-volution“57 aufge-


fasst werden könnte und „präfaschistisch“58 anmutet.59 Das Ende der Immanenz,
also die Vernichtung der Differenz ist auch wie in Leverkühns Oratorium und
in vielen apokalyptischen Texten wesentlicher Bestandteil dieses apokalyptischen
Diskurses, der eine politische und gesellschaftliche Transzendenz vorsieht, die aus
Gewalt, Mythen, Diktatur und Differenzlosigkeit besteht. Gewalt ist apokalypti-
schen Schriften nicht fremd: Brokoff weist darauf hin, dass in der Offenbarung
des Johannes „Wahrheit und Gewalt selbst auf unlösliche Weise miteinander ver-
knüpft“60 sind, da „Gott und Gewalt ineinsgesetzt“61 werden. Nicht nur in den
Konversationen des Kridwiß-Kreises kristallisiert sich also Gewalt als notwen-
dige Voraussetzung zur Erreichung der Transzendenz heraus, sondern auch in
dem biblischen, apokalyptischen Text par excellence.
Als Apokalyptiker lassen sich auch wie der Zeuge von Leverkühns Kompo-
sition die Teilnehmer des Kridwiß-Kreises bezeichnen, denn sie beabsichtigen
nicht, sich zu integrieren, sondern bilden Theorien über den Zerfall der Gesell-
schaft aus. Ebenfalls könnte man sie mit den Mystagogen nach Derrida in
Verbindung bringen, die zum Delirium,62 zu jeder „Verstimmung der Saiten und
Stimmen im Kopf“63 führen, da sie die Werte, die Grundprinzipien und die poli-
tischen Institutionen einer bestehenden Gesellschaft in Frage stellen. Aus Sicht
der Intellektuellen des Kridwiß-Kreises stellt die Vernichtung der Differenz als
Voraussetzung einer geschichtlichen Erlösung etwas Positives dar: Ihre Ideen kön-
nen dem Typ einer „Erfüllungs- und Erlösungsapokalypse“64 zugeordnet werden
und historisch mit jenen politischen Bewegungen u. a. in Deutschland assoziiert
werden, die den ideologischen Boden für den Nationalsozialismus bereiten.
Auch dieser politisch deklinierte apokalyptische Diskurs, der sich im Rah-
men der Sitzungen des Kridwiß-Kreises entfaltet und von dem Zeitblom als –

57 Roberts, David: The Sense of an Ending. Apocalyptic Perspectives in the 20th-century

German Novel. In: Orbis Litterarum 32 (1977) H. 2, S. 140–158, hier: S. 147.


58 Petersen, Jürgen H.: Der unzuverlässige Narrator. Figuren-Erzählen in Thomas Manns

Doktor Faustus. In: Revista de Filología Alemana 16 (2008), S. 165–187, hier: S. 177.
59 Nicht unangebracht scheint eine Verbindung der Ideen des fiktiven Kridwiß-Kreises zu

denen der konservativen Revolution. Vgl. Mohler, Armin: Die konservative Revolution in
Deutschland 1918–1932. Grundriß ihrer Weltanschauungen. Stuttgart: Vorwerk 1950.
60 Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 24.
61 Ebd., S. 22.
62 In diese Deutungsperspektive lässt sich Leverkühns Delirium gut einordnen. Vgl. Kap. 6.
63 Derrida: Apokalypse, S. 34, vgl. auch S. 27–34.
64 Briese, Faber u. Podewski: Aktualität des Apokalyptischen, S. 21.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 99

nach seinen Worten – passiver Beobachter berichtet,65 ist mit dem Ende des
34. Kapitels keineswegs beendet. Die Teilnehmer des Kreises spekulieren über
die Möglichkeiten eines Auswegs aus einem Krisenzustand, der die Politik, die
Gesellschaft und, nicht zuletzt, auch die Wissenschaft betrifft. Dieses Klima spie-
gelt sich laut Zeitblom in Leverkühns Oratorium wider, das „mit dem bei Kridwiß
Gehörten in eigentümlicher Korrespondenz, im Verhältnis geistiger Entspre-
chung stand“ (DF: 539). Die ideologischen Auffassungen des Kridwiß-Kreises
verdeutlichen ein „prinzipielle[s] Nicht-Einverständnis“66 mit den Werten und
Prinzipien ihrer Zeit. Im Gegensatz dazu entspringt Leverkühns Komposition „ei-
ner Rebellions- und Protesthaltung“67 eben gegen jene ideologischen Positionen,
die sich damals verbreiteten, und wählt als Rebellions- und Warnungswaffe das
Medium der Musik. Das 34. Kapitel enthält eine Verschachtelung apokalyptischer
Diskurse; im Fall der Komposition Leverkühns ist die Apokalypse auch histoire
des musikalischen Werkes selbst.
Börnchen stellt in seiner Dissertation fest, dass „sich in den letzten Jahrzehn-
ten der Tenor durchgesetzt zu haben“68 scheint, „den Roman als ,Apokalypse‘ zu
lesen – eine Interpretation, zu der Humor und Komik nicht zu passen scheinen“.69
In dieser Hinsicht könnte man der vorliegenden Studie ebenfalls vorwerfen, sich
in diese Interpretationslinie einzuschreiben und dementsprechend den Humor und
die Komik von Doktor Faustus zu übersehen. An dieser Stelle muss aber beach-
tet werden, dass Apokalypse mit Weltuntergang nicht gleichzusetzen ist, obwohl
sie in der Alltagskommunikation, in literarischen Texten, in Filmen und in der
Kunst oft so verstanden wird.70 Wie zu Beginn des vorliegenden Abschnitts
bereits erwähnt, unterstreicht Brokoff gleich am Anfang seiner Studie, dass auch
in der Offenbarung des Johannes der Weltuntergang „keineswegs den Schluß-
punkt“71 der Erzählung bildet. Des Weiteren weisen Briese, Faber und Podewski
darauf hin, dass der Begriff ,Katastrophe‘, der mit dem ,Weltuntergang‘ in apo-
kalyptischen Texten eng verquickt ist und den heute kaum jemand mit etwas

65 Vgl. DF: 534.


66 Briese, Faber u. Podewski: Aktualität des Apokalyptischen, S. 9.
67 Ebd.
68 Börnchen: Kryptenhall, S. 92 f.
69 Ebd. Ein Beispiel für diese Deutungslinie ist etwa der Aufsatz Mehrings: Mehring,
Reinhard: Apokalypse der deutschen „Seele“? Thomas Manns „Doktor Faustus“ als
„Zeitroman“. In: Weimarer Beiträge 51 (2005) H. 2, S. 188–205.
70 Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 7.
71 Ebd.
100 4 Apocalipsis cum figuris

Positivem assoziieren würde, ursprünglich im Sinne einer „Wendung zu Besse-


rem“72 eine positive Bedeutung trug, die „von der römischen Antike bis über
die Renaissance hinaus“73 auch so verwendet wurde. Dies gelte auch für den
Begriff ,Apokalypse‘, der – „bis in die Frühe Neuzeit hinein – immer auch ein
positiv besetzter Erwartungs- und Hoffnungsbegriff“74 gewesen sei. Dies änderte
sich erst „mit den allmählichen Transformationen des Christentums“.75 Die drei
Forscher*innen bestätigen die von Brokoff ebenfalls vorgestellte „binäre Bedeu-
tungsstruktur“76 der Apokalypse, die aus „Krise, Untergang und Erlösung“77
besteht. Da Leverkühns Apocalipsis cum figuris vor allem mittelalterliche und
frühneuzeitliche Texte und Kunstwerke als Vorlage aus der Absicht heraus ver-
wendet, Altes und Neues musikalisch zu kombinieren, scheint sein Werk sowohl
in der musikalischen Faktur als auch in seiner Darstellung der Apokalypse die
ursprüngliche Bedeutung des Begriffs zu beleben: Den verwendeten Texten ist
diese Bedeutung inhärent. Eine Apokalypse wie Leverkühn sie nach Zeitbloms
Wiedergabe versteht, schließt keineswegs Positives aus, sondern impliziert sogar
eine Erlösung.
Von der Parodie verschiedener Musikstile war in diesem Kapitel bereits die
Rede. Dazu sei ergänzt, dass Zeitblom im 34. Kapitel die provozierende Haltung
von Künstler*innen adressiert. Nachdem der Erzähler über den Namen „Ober-
Kirchenrat“ (DF: 541) berichtet, den Richard Wagner zur Zeit des Parsifal unter
einem Brief hinzufügte, ist im Text folgender Kommentar des Erzählers zu finden:

Für den Nicht-Künstler ist es eine recht intriguierende Frage, wie ernst es dem
Künstler mit dem ist, was ihm das Angelegentlich-Ernsteste sein sollte und zu sein
scheint; wie ernst er sich selbst dabei nimmt und wieviel Verspieltheit, Mumschanz
[sic], höherer Jux dabei im Spiele ist. (DF: 541)78

Ironie und Humor sind aus der Komposition Leverkühns nicht wegzudenken,
auch wenn ihre Basis das Apokalyptische ist. Die im 34. Kapitel dargestellten
Ereignisse stammen zudem aus Zeitbloms fiktiver Feder, dem „als Nachfahre
der deutschen Humanisten“ (DF: 12) die ursprüngliche Bedeutung des Wor-
tes ,Apokalypse‘ bestimmt nicht fremd ist. Da er erzählt, ist er derjenige, der

72 Briese, Faber u. Podewski: Aktualität des Apokalyptischen, S. 31.


73 Ebd.
74 Ebd.
75 Ebd.
76 Ebd.
77 Ebd.
78 Dazu siehe auch Rohrmoser: Dekadenz und Apokalypse, S. 214 f.
4.1 Apokalypsen in Doktor Faustus 101

den apokalyptischen Ton setzt: Es scheint legitim zu fragen, ob er der Apo-


kalyptiker par excellence des Romans sei. Mit der Verstimmung, die Derrida
zufolge apokalyptischen Diskursen zugrunde liegt, scheint sich der Viola d’amore-
Spieler ebenfalls gut auszukennen.79 Zeitblom rezipiert Leverkühns Werk: Briese,
Faber und Podewski heben hervor, dass „nicht die Produzenten Apokalypsen pro-
duzieren, sondern die Rezipienten“.80 Dies verweist auf Derridas Auffassung,
wonach es eine wichtige aber nicht immer selbstverständliche Voraussetzung
für das Gelingen der apokalyptischen Kommunikation ist, dass der Ton ange-
nommen wird: „Wer den apokalyptischen Ton annimmt, wird Ihnen [sic] etwas
bedeuten, wenn nicht gar sagen“.81 Der Erzähler rezipiert Leverkühns Orato-
rium allerdings nicht passiv, sondern produziert seinerseits seine apokalyptische,
verstimmte Darstellung des Lebens des Freundes. Dass „die Apokalypse von
langer Dauer“82 ist, bestätigt das 34. Kapitel von Thomas Manns Doktor Faus-
tus durch das komplexe Ineinandergreifen83 zahlreicher apokalyptischer Diskurse
auf der intradiegetischen und extradiegetischen Ebene der Narration und darüber
hinaus.84

79 Vgl. Derrida: Apokalypse, S. 62 f. Auch in der Originalausgabe erscheint das Wort auf
Deutsch: Derrida spricht von einer „Verstimmung multipliant les voix et faisant sauter les
tons, ouvrant chaque parole à la hantise de l’autre dans une polytonalité immaîtrisable,
avec greffes, intrusions, parasitages“. Derrida: D’un ton apocalyptique, S. 67, Herv. i. O.
Bemerkenswert ist hier, dass wieder Begriffe verwendet werden, die auch im musikalischen
Bereich Verwendung finden. Siehe Fußnote 34. Hier wird das Thema kurz angesprochen,
ausführlicher wird es im siebten Kapitel der vorliegenden Arbeit behandelt.
80 Briese, Faber u. Podewski: Aktualität des Apokalyptischen, S. 15.
81 Derrida: Apokalypse, S. 64.
82 Ebd., S. 75.
83 Wohl könnte man auch sagen, dass diverse apokalyptische Diskurse im Roman mon-

tiert werden, und sich damit auf eine Technik berufen, nämlich die Montage-Technik, die
in der Doktor Faustus-Forschung zum Untersuchungsgegenstand bereits gemacht wurde.
Siehe etwa Kropfinger, Klaus: „Montage“ und „Composition“ im „Faustus“ – Literarische
Zwölftontechnik oder Leitmotivik? In: Röcke, Werner (Hrsg.): Thomas Manns Doktor
Faustus, S. 345–368.
84 Brokoff kritisiert Derridas Auffassung einer Zwangsläufigkeit der Fortsetzung des apoka-

lyptischen Diskurses, denn die Ebene der Transzendenz setze dem apokalyptischen Diskurs
ein Ende. Brokoff unterstreicht somit „die endliche Struktur der apokalyptischen Entschei-
dung“, die „das unendliche Sprechen gewaltsam beendet“. Angesichts der Überfülle an
Werken, die sich mit dem apokalyptischen Diskurs auseinandersetzen, und der immer noch
bestehenden Faszination für die Apokalypse könnte man wagen, Derridas und Brokoffs
Thesen miteinander zu kombinieren und folglich für die Mittelposition eines vorläufigen
Endes argumentieren. Zwar beendet die apokalyptische Entscheidung das Sprechen, das
102 4 Apocalipsis cum figuris

Anhand des 34. Kapitels von Doktor Faustus kann den vorigen Ausführungen
entsprechend der apokalyptische Diskurs des Romans in seinen musikalisch- und
politisch-bezogenen Deklinationen näher beleuchtet werden. Auf einer Makro-
ebene der Analyse geschieht das durch die Definition der Art von Apokalypse: Als
Voraussetzung gilt die Identifikation der Stadien der Immanenz und der Transzen-
denz sowie die Untersuchung der verwendeten Quellen. Auf einer Mikroebene ist
diese Untersuchung durch die Analyse der Präsenz und Realisierung von wie-
derkehrenden Elementen apokalyptischer Reden, z. B. dem ,Komm‘-Motiv und
der Figur des Zeugen, möglich. Dieses analytische Prozedere wird auch auf die
darauf folgenden Kompositionen von Boehmer, Kurz und Searle angewendet und
mit Kategorien aus der Intermedialitätsforschung stärker in Verbindung gebracht.

4.2 Vom Roman zur Musik

Der vorliegende Abschnitt integriert die literaturzentrierte, intermediale Analyse


des ersten Abschnitts in die Analyse der intermedialen Transpositionen bzw.
Bezugnahmen jeweils von Konrad Boehmer (Apocalipsis cum figuris), Karl-
Wieland Kurz (Apocalipsis sine figuris) und Humphrey Searle (Apocalypsis cum
figuris). Somit sollen einerseits der Transfer und die Transformation von Lever-
kühns Oratorium vom Medium der fiktionalen Schrift in das Medium der Musik,
andererseits der apokalyptische Diskurs der jeweils betrachteten Komposition
rekonstruiert werden. Zu diesem letzten Zweck wird erneut auf die Terminologie
und die Positionen des vorigen Abschnitts rekurriert.

4.2.1 Inverse Warnapokalypsen: Konrad Boehmers Apocalipsis


cum figuris

Die erste Komposition, die hier präsentiert wird, ist die Apocalipsis cum figu-
ris von Konrad Boehmer (1941–2014) für vier Schlagzeuge, zwei Klaviere, drei
Pop-Vokalist*innen und vier Lautsprecher, die 1984 anlässlich der Donaueschin-
ger Musiktage aufgeführt wurde.85 Während der niederländische Komponist, der

stellt aber ein vorläufiges Stadium dar. Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik,
S. 26 (siehe auch S. 25).
85 Die Partitur wurde 1984 vom Tonos Musikverlag (Darmstadt) veröffentlicht, kann

aber auch aus der Webseite der Konrad Boehmer Foundation heruntergeladen werden.
Siehe Boehmer, Konrad: Apocalipsis cum figuris (Partitur). In: „Konrad Boehmer Foun-
dation“. < https://www.kboehmer.nl/wp-content/uploads/2019/12/Apocalipsis.pdf > (letzter
4.2 Vom Roman zur Musik 103

in Berlin geboren wurde und in Köln mit einer Dissertation zur Theorie der offe-
nen Form in der Neuen Musik im Fach Musikwissenschaft promovierte,86 an
einer Oper über den Faust-Stoff, die sich aber nicht mit Manns Roman auseinan-
dersetzte, arbeitete, wurde er zu einem Symposium über Thomas Manns Doktor
Faustus nach Brüssel eingeladen. Diese Einladung war für Boehmer der Anlass,
den Roman nach vielen Jahren erneut zu lesen. Das in 4.1.1 erwähnte Zitat über
die umgekehrte Rolle und Funktion der Dissonanz und des Tonalen und folg-
lich den paradoxen Charakter von Leverkühns Oratorium,87 das eben das Tonale
und nicht die Dissonanz mit der Hölle assoziiert, versteht der Komponist als die
Essenz des Werkes.88

Bei der Lektüre dieser wohl faszinierendsten Beschreibung […] fesselte mich vor
allem die Radikalität des Entwurfs, die ein Menschenalter nach dessen Nieder-
schrift – und grade [sic] heute, in der Ära musikalischen Neo-Biedermeiers – von
ungebrochener Aktualität ist.

Diese Aussage verdeutlicht nochmals, was im vorigen Abschnitt bereits hervor-


gehoben wurde: Leverkühns fiktive Komposition enthält musikalische Ideen und
Ansätze, die auffällige Korrespondenzen zu musikalischen Ideen, Ansätzen und
Versuchen nicht nur seiner Zeit, sondern auch der Nachkriegszeit aufweisen.
Konrad Boehmer erläutert im Programm zur Uraufführung, seine Intention
sei nicht gewesen, Leverkühns Oratorium nachzukomponieren, um eine Art
Programm-Musik zu konzipieren. Die ästhetische Konzeption und die Spannweite
der im Roman geschilderten Komposition seien jedoch durchaus die Grundlagen
seines Werkes gewesen. Wichtiger Ausgangspunkt seiner Überlegungen sei auch
die Faszination für den Konnex zwischen Zivilisationsstadien der europäischen
Geschichte und „apokalyptischen Ideologien“.89 Direkt oder indirekt scheint sich
hier der Komponist auf die vorher erwähnten Ausführungen von Umberto Eco
zur Wirkung der Argumentationen von Apokalyptiker*innen zu berufen, in denen
die Massenkultur als Antikultur erscheint: Diese Art des Argumentierens ziele auf
eine Reaktion der Integrierten und folglich der Massenkultur, die somit von den

Zugriff: 21.08.2020). Eine Aufnahme des Stückes findet man in der CD Acousmatrix 5
– history of electronic music V, Amsterdam: BVHaast (Nr. 9011) 1990.
86 Siehe Boehmer: Zur Theorie der offenen Form in der Neuen Musik. Darmstadt: Tonos

1967.
87 Vgl. DF: 544.
88 Boehmer: Apocalipsis cum figuris. In: Programmheft der Donaueschinger Musiktage

1984, S. 23–26, hier: S. 23.


89 Ebd., S. 24.
104 4 Apocalipsis cum figuris

Apokalyptiker*innen beeinflusst werden, ab. Dies ist laut Eco äußerst produk-
tiv, denn es setzt Prozesse in Gang, die zu einer Erweiterung der Kultursphäre
und einer „Zirkulation einer ,populären‘ Kunst und Kultur“90 beitragen. Die
Prozesshaftigkeit, die Eco somit anspricht und zu den konstitutiven Merkma-
len der apokalyptischen Verkündung als Akt des Offenbarens zählt, spielt eine
vordergründige Rolle in Boehmers Komponieren. Der Komponist sieht eigenen
Aussagen zufolge in all seinen elektronischen Werken „das Moment des Klanges
als Prozeß (und nicht: als Objekt) “91 an: Das Ergebnis der Klangerzeugung ist
für ihn nachrangig, während ihre Prozesshaftigkeit eine Sonderstellung einnimmt.
Außerdem beschäftigt sich Boehmer – genau wie der fiktive Komponist Adrian
Leverkühn im apokalyptischen Oratorium– mit dem Problem der Denaturierung
des Klanges und ist der Auffassung, dass gerade in Manns Doktor Faustus schon
eine Lösung gefunden werden könne:92

Die Lösung der ästhetischen Aporien, die, wie wir jetzt wissen, nicht darin beste-
hen konnte, daß man willkürlich jeden „natürlichen“ Klang in den Fleischwolf der
Klänge, den Ringmodulator, stopfen konnte, jene Lösung hätte man damals schon
bei Thomas Manns Leverkühn nachlesen können, der den „denaturierten“ Klang als
musikgeschichtliches Phänomen schlechthin begriff […].

Deshalb sei Leverkühn „der letzte und radikalste Repräsentant westlicher Kunst-
Musik“,93 da er „den Kunst-Laut in den Natur-Laut zurück zu versenken“94
versucht und damit „etablierte[] Systeme und ästhetische[] Normen“95 sprengt.
Der Komponist assoziiert eben aufgrund dieser Überwindung von inneren Gren-
zen der Musik das fiktive Projekt Leverkühns mit dem Espace von Edgar Varèse,
der die äußeren Grenzen der Musik (des Konzertsaals) sprengt. Dadurch schlägt
er ein weiteres Modell für Leverkühns fiktive Komposition vor, das allerdings
in Thomas Manns Tagebüchern und Selbstkommentaren nicht erwähnt wird und
sich angesichts der Entstehungszeit (ca. 1947) eher mit der Entstehungszeit des
Romans als mit der von Leverkühns Apocalipsis in Verbindung bringen lässt.96

90 Eco: Apokalyptiker und Integrierte, S. 16; vgl. dazu auch S. 15.


91 Boehmer: Apocalipsis (Programmheft), S. 23.
92 Ebd.; siehe DF: 542.
93 Boehmer: Apocalipsis (Programmheft), S. 24.
94 Ebd.
95 Ebd.
96 Siehe Griffiths, Paul: Varèse, Edgar [Edgar] (Victor Achille Charles). In: Grove Music

Online. Zuerst veröffentlicht 20.01.2001, online veröffentlicht 2001. < https://doi.org/10.


1093/gmo/9781561592630.article.29042 > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
4.2 Vom Roman zur Musik 105

Die Unmöglichkeit einer Zuordnung von Leverkühns Kompositionstendenzen in


der Apocalipsis zu denen des musikalischen Panoramas seiner Zeit wäre nicht
nur ein Beweis für die Fiktionalität des Textes, sondern könnte auch eine Erklä-
rung dafür liefern, warum manchmal bei Komponist*innen der Eindruck entsteht,
dass in Doktor Faustus Tendenzen der Neuen Musik der Nachkriegszeit antizi-
piert werden.97 Leverkühns Oratorium weist laut Boehmer auf das Ende einer
musikalischen Ära – der bürgerlichen Epoche – hin und „dieses Ende nimmt bei
ihm apokalyptische Dimensionen an, wird Ausdruck des freien Leidens, ,musique
concrète‘ im wahrsten Sinne des Wortes“.98 Auch der Komponist scheint daher in
diesem Zitat Leverkühns Oratorium dem apokalyptischen Stadium des Untergangs
einer musikalischen Welt zuzuordnen, weil es gleichzeitig durch etwa die Dena-
turierung des Klanges auf eine neue Welt hinweise, aber im Ganzen immer noch
nicht dem eingetretenen Stadium der musikalischen Transzendenz entspreche.
Die Präsenz der Pop-Sänger*innen sollte für diejenigen, die mit dem Denken
Boehmers vertraut sind, keine Überraschung sein. In seinem Essay Reihe oder
Pop? erläutert der Komponist, er habe großen Respekt vor Bob Dylan, Ferré,
den Lords und den Rolling Stones, weil sie durch ihre Musik Vorurteile thema-
tisiert und entkräftet haben, und offenbart den programmatischen Versuch, eine
Annäherung der Neuen Musik an die Pop-Musik zu fördern:99

Man könnte den Versuch wagen, eine Synthese zwischen den sympathischen
Songs und dem musikalischen Bewußtsein zu bilden, das wir unbeirrt für das
authentischere und humanere halten.

Diese Idee einer Kombination verschiedener Musikstile und Musikgattungen


überschneidet sich mit der musikalischen Konzeption von Leverkühns Apocalip-
sis: Es handelt sich in diesem Fall um den Transfer eines in der literarischen

97 Dazu vgl. auch Manzonis Position (5.2.1.1).


98 Boehmer: Apocalipsis (Programmheft), ebd.
99 Ders.: Reihe oder Pop? (1966) In: Ders.: Das böse Ohr. Hrsg. v. Burkhardt Söll.

Köln: Du Mont 1993, S. 96–116, hier: S. 113. Erwähnenswert ist in diesem Kon-
text auch die biographische Information, dass sich Konrad Boehmer in den 1960er und
1970er Jahren gegen Stockhausen, Kagel und andere Komponisten der Zeit positionierte.
Vgl. Sabbe, Herman: Boehmer, Konrad. In: Grove Music Online. Zuerst veröffentlicht
20.01.2001, online veröffentlicht 2001. < https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.art
icle.03375 > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
106 4 Apocalipsis cum figuris

Vorlage durch die Technik des intermedialen telling beschriebenen musikkompo-


sitorischen Verfahrens in das Medium der Musik, also um die Medientransforma-
tion einer intermedialen Bezugnahme des Textes, die selber einer Medientransfor-
mation entspringt. Man könnte in diesem Fall von einer Intermedialität zweiten
Grades oder einfach von einer Rückkehr zum ursprünglichen Medium sprechen:
Der zweite Schritt jedoch der Bezugnahme in Doktor Faustus beeinflusst immer-
hin diese Rückkehr. Nicht nur das fiktive, konstitutive Verfahren von Leverkühns
Komposition wird bei Boehmer in die Musik transferiert, es werden auch die
musikalischen Vorbilder übernommen, da sich sowohl Leverkühn als auch Boe-
hmer auf populäre Musikgattungen stützen. Zugleich lassen sich beide Werke
aufgrund jener der kompositorischen Konzeption zugrunde liegenden „Vermi-
schung der Stimmen, Gattungen und Codes“100 weit über paratextuelle Hinweise
hinaus dem apokalyptischen Diskurs zuordnen: Briese, Faber und Podewski wei-
sen darauf hin, dass Paratexte besonders im Fall von apokalyptischen Texten oft
eines Vergleichs mit der inhaltlichen Ebene bedürfen.101
Boehmers Komposition gliedert sich in vier Ebenen, welche die figurae der
Komposition darstellen. Die erste Ebene bildet „das ,Geheul schreiender Men-
schen‘ im Griff der apokalyptischen Würgengel“102 ab und wird musikalisch
mithilfe von „körperlichen“, konkreten Klängen realisiert. Die zweite präsentiert
apokalyptische Bilder und Visionen, ohne eine Geschichte erzählen zu wollen:
Vielmehr erwähnt sie Textfragmente und wiederholt sie. Es sind selbstverständlich
Teile der Offenbarung des Johannes enthalten, in Boehmers „Resumé aller Ver-
kündigungen des Endes“ (DF: 520) kommt aber auch eine Vielzahl anderer Texte
und Autor*innen vor, die man in Doktor Faustus nicht findet, wie z. B. Barock-
gedichte über das Vanitas-Motiv, Hölderlin, der die Parzen bittet, ihm noch einen
letzten Sommer zu gewähren, Giacomo Leopardi, dessen Aussage „Die Welt ist
Dreck“ eine zentrale Rolle spielt, weil sie das Stück beschließt, und ein Text von
Karl Marx, der den Kapitalismus kritisiert. Die babylonische Hure wird musika-
lisch mithilfe von Szenen aus dem Roman Juliette ou les prospérités du vice des
Marquis de Sade porträtiert. Die Vorlage ist also nicht mehr bzw. nicht nur die
babylonische Hure von Dürer, der sich seinerseits am Porträt einer venezianischen
Kurtisane orientierte.103
Die dritte Ebene ordnet Boehmer ironischerweise der geordneten, zivilisier-
ten Welt zu, die durch die Einführung von Nationalhymnen ins Lächerliche

100 Derrida: Apokalypse, S. 76.


101 Vgl. 4.1.
102 Boehmer: Apocalipsis (Programmheft), S. 24.
103 Vgl. DF: 519.
4.2 Vom Roman zur Musik 107

gezogen wird.104 Diese Ebene der Komposition kann mit der Fortsetzung des
34. Kapitels von Thomas Manns Doktor Faustus in Verbindung gebracht wer-
den, da die Nationalhymnen auf den Nationalismus anspielen: Aufgrund des
Erscheinungsjahres schließt Boehmers Komposition den Bezug auf zeitgenössi-
sche Nationalismen mit ein. Die vierte Ebene wird dem Teufel gewidmet; wie
in Dantes Inferno begegnet man ihm im letzten girone. Die Rolle des Teufels
übernehmen die Pop-Vokalist*innen. Sie sollten die „schändlichen Liederreigen
der Söhne des Pfuhls“ (DF: 545) darstellen. Gegen Ende des Stückes findet sich
eine Mischung aus Choral und Hitsong, die um das tonale Zentrum von C-Dur
kreist.105 Diese „einfache“ Tonalität – ein möglicher Bezug auf die Realisierung
der Hölle durch das Tonale bzw. das Banale in der Komposition Leverkühns –
begleitet den Text „I am a dream – I am God“,106 eine Aussage des russischen
Komponisten Skrjabin, die mit dem Delirium assoziiert werden könnte, das apo-
kalyptische Verkündungen bewirken und dem Adrian Leverkühn selbst zum Opfer
gefallen ist.107 Die Aufnahme des ersten Schreis eines neugeborenen Kindes, den
man ganz am Ende der Komposition zu hören bekommt, wird mit den folgen-
den Worten Leopardis verbunden: „Nur Bitterkeit und Langeweile – Die Welt
ist Dreck“ (S. 56). Ordnet man aber diese letzten Elemente der Komposition
in den apokalyptischen Diskurs ein, so ist nicht nur die scheinbar einfache C-
Dur-Tonart alles andere als erstaunlich. Boehmers Komposition schafft in einem
einzigen Stück, was dem fiktiven Leverkühn erst mit der Weheklag gelingt, näm-
lich den Sprung zur Transzendenz. Die Differenz wird vorläufig vernichtet und
eine einfache Tonart herrscht;108 darüber hinaus ist Skrjabins Aussage, „I am a
dream – I am God“, ein sprachlicher Verweis auf eine Traum-Dimension und auf
Gott selbst. Leopardis Worte erklären die immanente Welt für endgültig geschei-
tert und der erste Schrei des neugeborenen Kindes übernimmt die Funktion jenes
„hohe[n] g eines Cello“ (DF: 711), das den Neubeginn markiert. Alles erreicht
morendo ein Ende, was dem apokalyptischen Diskurs ein vorläufiges Ende setzt
(Abbildung 4.1).

104 Ebd., S. 25.


105 Boehmer: Apocalipsis (Partitur), S. 50–53.
106 Ebd., S. 53.
107 Vgl. Derrida: Apokalypse, S. 33 u. Kap. 6.
108 Das betrifft nur S. 50–53 der Komposition und nicht das Notenbeispiel dieses Unter-

abschnitts; bemerkenswert ist auf S. 50–53, dass im Gegensatz zu Leverkühns Weheklag


das tonale System wieder eingeführt wird, was beweist, dass Boehmers Komposition als
sekundäres intermediales Phänomen aus anderen musikgeschichtlichen Prämissen entstand.
108 4 Apocalipsis cum figuris

Abbildung 4.1 Das Ende des Stückes (S. 56). Mit freundlicher Genehmigung der Konrad
Boehmer Foundation

Dekonstruktivistische Verfahren, besonders die „Dekonstruktion des Gegen-


satzes“109 lassen sich auch hier wie im vorigen Kapitel in Odegards The Calling
of St. Gregory beobachten. Der Pessimismus, welcher Leopardis Zitat zum Aus-
druck bringt, scheint durch den Schrei des neugeborenen Kindes in Hoffnung
umgewertet zu werden.110 Gegensätze werden sowohl in Leverkühns Apocalipsis
als auch in Boehmers gleichnamiger Komposition dekonstruiert. Der Autor erklärt
wie folgt seine Poetik:111

Das Schlechte ist mir gut (ich umarme den Dreck), das Gute ist mir schlecht (ich
verachte Moralisten); Ordnung ist mir Chaos (denn leerer als absolute Ordnung
kann selbst das Chaos nicht sein); Chaos zu schaffen, ist in meinen Kompositionen

109 Derrida: Positionen, S. 66.


110 Allerdings könnte es auch sein, dass der hoffnungsvolle Schrei des Kindes in Pes-
simismus umgewertet wird, was bedeuten würde, dass der apokalyptische Diskurs der
Komposition in eine pessimistische Transzendenz mündet.
111 Ebd., S. 25.
4.2 Vom Roman zur Musik 109

Anlaß zu strengster musikalischer Ordnung; Untergang ist mir Erneuerung (ich bin
fortschrittsgläubig), Erneuerung Untergang (da bin ich Romantiker).

Nach der Analyse von Boehmers Apocalipsis cum figuris wird im Folgenden auf
die Rezeption des Werkes durch die Besprechung einiger Rezensionen und wis-
senschaftlicher Artikel kurz eingegangen. Der Kritiker Ernst Vermeulen, der eine
Aufführung des Stückes im Amsterdams Concertgebouw hörte, sagte, die Kom-
position sei so dämonisch wie wenige andere in der Musikgeschichte.112 Nach
einer sehr kurzen Analyse der Komposition konstatiert der Literaturwissenschaft-
ler Theodore Ziolkowski, dass Boehmer den Beschreibungen in Thomas Manns
Roman nicht präzise folge, aber das Gefühl von Barbarei effektiv vermittle.113
Der Musikwissenschaftler und Komponist Alfred Zimmerlin beschreibt die Apo-
calipsis cum figuris als das extremste Werk Boehmers, „ein fast vierzigminütiges
Pändamonium von einer Radikalität, die gewiss über das hinausgeht, was Tho-
mas Mann seinem Adrian Leverkühn im Doktor Faustus andichtete“.114 Offenbar
treten durch diese Rezensionen Wertungen zutage. Zudem werden voreilige
Schlussfolgerungen über komplexe Dynamiken und Implikationen von interme-
dialen Transpositionen gezogen, die u. a. von medienspezifischen Differenzen
abhängen.115 Nichtsdestotrotz nehmen die letzten erwähnten Zitate Bezug auf
einige Eigenschaften von Intermedialität, die eine Einordnung der Komposition
erlauben. Es handelt sich in diesem Fall um offene bzw. manifeste Intermediali-
tät: Die Komposition enthält mehr als ein Medium und diese Medien sind distinkt
und „in principle separately ,quotable‘“.116 Da sich die elektronische Komposition
an Leverkühns fiktivem Werk orientiert, kann sie als intermediale Transposition
eines literarischen Prätextes in eine Medienkombination eingestuft werden, da
nicht nur ein Medium in der elektronischen Komposition materiell präsent ist.117

112 Zit. im Booklet der CD, S. 8.


113 Ziolkowski: Leverkühn’s Compositions, S. 849.
114 Zit. in Boehmer: Apocalipsis cum figuris. In: Konrad Boehmer Foundation. < https://

www.kboehmer.nl/compositions/apocalipsis-cum-figuris > (letzter Zugriff: 21.08.2020).


115 Aussagen über die Qualität eines Werkes bilden bekanntlich den Kern einer Rezension.
116 Wolf: Musicalized Fiction and Intermediality, S. 243. Vgl. 1.1.5.
117 Hier wird – im Vergleich zur Komposition von Kurz oder von Ruzicka – immerhin

der Begriff der ,intermedialen Transposition‘ verwendet, da die Komposition mehrere


Mikroformen der Vorlage transferiert und transformiert sowie genau denselben Titel
wie Leverkühns fiktives Werk trägt, sodass die Definition ,intermediale Bezugnahme‘
unzureichend erscheint. Die Grenzen zwischen einer ,intermedialen Transposition‘ und
einer ,intermedialen Bezugnahme‘ erweisen sich in der analytischen Praxis manchmal als
fließend.
110 4 Apocalipsis cum figuris

Zudem stellt Boehmers Komposition eine partielles intermediales Produkt dar,


das sich auf ein im Roman beschriebenes Werk konzentriert. Resümierend lässt
sich sagen, dass Boehmers Komposition etwa durch den Rückgriff auf weitere
literarische Texte und Musikstile einen ergänzenden Effekt hat. Sie ist ab und zu
in der Lage, die Vorlage zu verstärken, indem etwa die beschriebene Mischung
von populären und nicht-populären Musikstilen nicht einfach angedeutet, sondern
im musikalischen Text selbst umgesetzt wird.118
Wagt man noch einmal den Versuch, Boehmers Komposition im apokalypti-
schen Diskurs einzuordnen, um sie darin zu verorten, so könnte das Werk als
„inverse Warnapokalypse“ bezeichnet werden. Das Erscheinungsjahr der Kom-
position (1984) spricht ebenfalls für diese Einordnung, da Briese, Faber und
Podewski als Beispiel für eine inverse Warnapokalypse u. a. auch den „Warner
vor der ,atomaren‘ Katastrophe Günther Anders“119 nennen.120 Charakteristisch
für diese Apokalypse ist es, dass „ein unerwünschtes, vernichtendes Ereignis
[…] unweigerlich einzutreten“121 droht, das aber „durch einen grundlegenden
Gesinnungs- und Handlungswandel in der Gegenwart abgewendet werden“122
könnte. In Boehmers Apocalipsis cum figuris könnte durch die Geburt des Kindes
das Eintreten eines apokalyptischen Zustandes verhindert werden. Wie in Dok-
tor Faustus und in apokalyptischen Texten der Weimarer Zeit scheint hier kein
Gott im Spiel zu sein. Dieser wird in Skrjabins Zitat lediglich erwähnt, es ist
aber das menschliche „aktive[] Handeln“,123 welches sich in der Entscheidung
zur Fortpflanzung äußert, das zur Erlösung und Transzendenz führt.
Boehmers elektronische Komposition übernimmt die Bildhaftigkeit von Lever-
kühns Komposition durch die vier Ebenen, lässt sich ebenfalls in den apo-
kalyptischen Diskurs einordnen und interagiert mit populären Musikgattungen.

118 Siehe Gess: Intermedialität reconsidered, S. 141.


119 Ebd.
120 Siehe Anders, Günther: Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen. München: Beck
1981, 3. durch e. Vorw. erw. Aufl. v. „Endzeit und Zeitende“. Zwar setzt sich „Die atomare
Drohung“ aus Schriften von Anders zusammen, die hauptsächlich in den 1960er Jahren
veröffentlicht wurden, im Vorwort zur zweiten Auflage von 1981 widmet der Autor sein
nach seinen Worten „leider niemals alt werdende[s]“ Buch jedoch der jungen Genera-
tion der „Grünen“ und findet daher eine historisch neue Zielgruppe für seine damaligen
Überlegungen. Ebd., S. X. Bemerkenswert ist daneben, dass auch diese Überlegungen im
Untertitel als radikal definiert werden. Zur Deklination des apokalyptischen Diskurses im
Atomzeitalter siehe auch Derrida: Apokalypse, S. 91–132 (2. Aufsatz des Bandes: „No
Apocalypse, not now (full speed ahead, seven missiles, seven missives)“.)
121 Briese, Faber u. Podewski: Aktualität des Apokalyptischen, S. 21.
122 Ebd.
123 Ebd.
4.2 Vom Roman zur Musik 111

Der apokalyptische Diskurs wird dabei um Elemente bereichert, die für die
Apokalypsen der 1980er Jahren als typisch gelten. Zudem wird das Stadium
der Transzendenz erreicht. Insofern ergänzt die Komposition die literarische
Vorlage. Auch Leverkühns Komposition arbeitet mit Umwertungen, da Disso-
nanz und Tonales darin umgewertet werden: Bei Boehmer wird dieser Aspekt
verstärkt und hervorgehoben, denn trotz der scheinbaren Radikalität u. a. der
angewandten musikalischen Mittel profiliert sich sowohl in den immer zu hinter-
fragenden Aussagen der Autorinstanz als auch im Werk selbst eine Umwertung
des Weltuntergangs in Erneuerung.

4.2.2 Konturlosigkeit: die Apocalipsis sine figuris von


Karl-Wieland Kurz

Die Komposition von Karl-Wieland Kurz (*1961), Apocalipsis sine figuris, distan-
ziert sich bereits im Titel von Leverkühns fiktivem Werk. Zwar lässt sie sich
anhand des Paratextes sofort auf Thomas Manns Roman zurückführen, das sine
figuris jedoch macht gleichzeitig deutlich, dass sich das Werk auf den Roman
indirekt bezieht.124 Wie bei Boehmer handelt es sich hier ebenfalls um parti-
elle direct or overt intermediality, also offene bzw. manifeste Intermedialität, die
erneut der Form der Medienkombination zugeordnet werden kann und sich folg-
lich nicht ausschließlich des Mediums der Musik bedient. Das Wort sine im Titel
ist selbstverständlich die Neuheit eines Stückes, in dem die figurae bzw. die Bilder
weniger strukturiert eingesetzt werden und in dem Bildhaftigkeit nicht als form-
bildend konzipiert wird. Nicht zufällig spricht der Autor selbst von „neutralen
Schichten“125 und „Textüberflutungen“,126 die den Musikfluss unterbrechen bzw.
sogar „überfluten“.127 Während die Schichten Boehmers eine präzise Struktur und

124 Vgl. Scherliess, Volker: Zur Musik in Thomas Manns Roman Doktor Faustus. In:
Weber, Hermann (Hrsg.): Literatur, Recht und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg
vom 16. bis 18. September 2005. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2007, S. 126–154,
hier: S. 152 f.
125 Mail vom 08.10.2013 an die Verfasserin.
126 Ebd.
127 Ebd. Da wenig Sekundärliteratur zum Stück vorhanden ist, beruhen die Ausführungen

dieses Abschnitts fast ausschließlich auf einigen E-Mails (insbesondere auf E-Mails von
Kurz an die Verfasserin vom 07.08.2013, 08.10.2013 und 23.10.2013), auf einem persön-
lichen Gespräch der Verfasserin mit ihm, das in der Schwartzschen Villa in Berlin-Steglitz
anlässlich eines Klavierabends (08.12.2013) stattfand, und auf einigen persönlichen nicht
veröffentlichten Materialien, die der Komponist der Verfasserin dankenswerterweise zur
112 4 Apocalipsis cum figuris

Konzeption nachweisen, sind sie bei Kurz neutral und können nicht eindeutig ein-
geordnet werden. Die Apocalipsis sine figuris ist allerdings nicht gänzlich ohne
Bilder: Es werden Kunstwerke gezeigt, das Medium Kunst ist also auch Bestand-
teil dieses plurimedialen Produktes. Der Unterschied liegt jedoch in der Funktion
der benutzten Bilder und Texte: Diese sind neutral, weil sie laut Aussagen des
Autors keine verstärkende Funktion haben. Da sie die Musik überfluten, zielen
sie auf keine Synthese mit der Musik ab: Sie scheinen als reine, unerwartete
Ablenkungen gedacht zu sein, die aber zugleich in der Lage sind, einen Wechsel
im Dominanzverhältnis der Medien zu bewirken.
Boehmers Apocalipsis hat die Komposition von Kurz beeinflusst, denn Kurz
hat in ihr sogar ein Zitat aus Boehmers Doktorarbeit erwähnt.128 Es handelt sich
in diesem Fall um eine intermediale Bezugnahme auf den Roman, die auf eine
weitere Komposition zu Doktor Faustus Bezug nimmt und daher intramedial als
Antwort sowohl auf den Roman als auch auf Boehmers intermediale Transposition
aufzufassen ist.
Die Erstfassung der Apocalipsis sine figuris wurde in den Jahren 1985–1987
fertig gestellt und ihre Uraufführung fand 1987 in Frankfurt am Main statt – in
der Stadt, in der auch Leverkühns Oratorium uraufgeführt wurde. Die Neufassung
mit der Ergänzung des dritten Satzes „Kataleptische Katalekte“ wurde im selben
Jahr veröffentlicht und 1988 ebenfalls in Frankfurt uraufgeführt.129
Die Besetzung ist in zwei Gruppen gegliedert:

1. Vokalstimmen/Darsteller: vier Sprecher (zwei hohe, zwei tiefe, möglichst


männliche Stimmen); vier Sänger: Countertenor, Tenor, Bariton, Bass (alle

Verfügung stellte (z. B. zwei Aufnahmen des Werkes und Erläuterungen). Der Musikver-
lag Ricordi & CO, der eine Kopie der Partitur haben sollte, konnte kein Exemplar finden.
Ein Beispiel kann man aber auf der Webseite des Komponisten finden: Kurz, Karl Wieland:
Apocalipsis sine figuris – Partiturbeispiel. In: Karl-Wieland Kurz. < https://www.karlwiela
ndkurz.de/pdf/partituren/Apocalipsis%20sine%20figuris.pdf > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
Die Ausführungen dieses Abschnitts konnten sich daher nicht auf die ganze Partitur stüt-
zen. Zur Komposition siehe auch Kurz: Hirn neben Kopf. Vor Apocalipsis, während
Apocalipsis und darüber hinaus. In: Musiktheorie 8 (1993) H. 1, S. 37–56.
128 „Denn der Widerstand, den Natur menschlichem Tun leistet, gründet nicht in ihrem

subjektiven Willen. Vielmehr ist seine Kraft Zeichen für die unvollkommene Kenntnis,
die Menschen über Natur bisher sich aneigneten“. Programmheft Frankfurter Feste 1988,
Mensch und Natur, Apocalipsis sine figuris, Alte Oper Frankfurt: 25. September 1988,
S. 16.
129 Vgl. Kurz: Hirn neben Kopf, S. 37.
4.2 Vom Roman zur Musik 113

Vokalstimmen, über Gesangsanlage); ein Concert-Art-Performer (im Publi-


kum; mit demontiertem Pianino).130
2. Orchester: drei Trompeten, drei Hörner, drei Posaunen (Tenor-, Tenor-Bass-,
Kontrabassposaunen), drei Tuben (Tenortuba, Bass- bzw. Doppeltuba, Kontra-
basstuba); zwei Paukengruppen (möglichst 2 × 7 Pauken); Harmonium; Orgel;
Celesta (mit elektrischer Verstärkung, oder Sampler); zwei Flügel mit je drei
Spielern (vierteltönig gegeneinander verstimmt); zwei Harfen (vierteltönig
gegeneinander verstimmt); vier Gitarren (1/2 und 3/4 vierteltönig gegenein-
ander verstimmt; mit Live-Elektronik); vier Bratschen (eine solistisch; alle mit
Pick-up- und Kontaktmikrophonen verstimmt); vier Kontrabässe: der erste in
Solostimmung (viersaitig), der zweite Viersaiter in Normalstimmung und die
anderen zwei Fünfsaiter (alle Kontrabässe mit Pick-up-und Kontaktmikropho-
nen verstärkt); Tonbandzuspielung; Mischpult für Klangregie.131

Diese detaillierte Beschreibung der Besetzung zeigt, dass das Projekt des Kompo-
nisten sehr ambitioniert ist. Noch ambitionierter scheint es, wenn man die riesige
Menge der verwendeten Texte betrachtet. Genau wie Adrian Leverkühn reicht
Kurz die Offenbarung des Johannes als Quelle eines Werkes über die Apokalypse
nicht aus. Für den apokalyptisch-eschatologischen Teil verwendet er Texte, die
in der sumerischen Zeit beginnen und sich bis zu den „Berliner Knastblättern“
der 1980er Jahre des 20. Jahrhunderts spannen.132 Eine zentrale Rolle spielen
die apokryphen und die frühchristlichen religiösen Texte, wie z. B. die Sybillini-
schen Weissagungen, die Apokalypsen des Thomas und Petrus, Flugblätter und
Schriften aus dem Spätmittelalter, teilweise auf Altfranzösisch und Okzitanisch
sowie kasuistische Texte. In Anbetracht der Anzahl an verwendeten Texten wäre
die Frage berechtigt, ob man den von Gess beschriebenen Effekten von Interme-
dialität noch einen Effekt hinzufügen sollte, nämlich den Effekt der Revision.133
Die Vorlage wird zwar ergänzt und verstärkt, es scheint aber ein Konkurrenz-
verhältnis zu ihr zu entstehen: Die Distanzierung im Titel durch das sine deutet
bereits auf eine revidierende Lektüre von Thomas Manns Roman hin. Zweifel-
los lässt sich das Stück von Kurz ebenso wie Leverkühns fiktive Komposition als

130 Auf S. 112 wird erläutert, wieso hier nur die männliche Form verwendet wird.
131 Siehe ebd. und Kurz: Apocalipsis sine figuris – Supplement. In: Karl-Wieland
Kurz. < https://www.karlwielandkurz.de/pdf/ApocalipsisSineFiguris.pdf > (letzter Zugriff:
21.08.2020).
132 Mail vom 08.10.2013.
133 Siehe Gess: Intermedialität reconsidered, S. 141 u. 1.1.5.
114 4 Apocalipsis cum figuris

„Resumé aller Verkündigungen des Endes“ (DF: 520) definieren: Der enzyklopä-
dische Charakter bleibt trotz intermedialer Transformation erhalten. Diese riesige
Menge von Literatur wird mithilfe eines Montage-Prinzips mit der Musik und mit
sich selbst kombiniert: Man erkennt hier das gleiche Prinzip, das in Doktor Faus-
tus identifiziert werden konnte, nämlich die Kombination von Disparatem durch
die Montage-Technik.134
In der Apocalipsis sine figuris findet man drei Hauptthemen bzw. Haupti-
deen, die durch das vorher beschriebene Prozedere, jedoch weniger präzise als
im Roman organisiert werden, was eine weitere Begründung für das sine figu-
ris darstellt.135 Das erste Thema ist selbstverständlich das der Apokalypse, das
der Komponist als „bizarre Revue von ,den letzten Dingen‘, eine Show vom
verschlissenen und beschissenen Ende der Welt“136 beschreibt. Das zweite wird
als „Galerie der Ideen“137 bzw. „Zentralfriedhof der abendländischen Ideen“138
bezeichnet und umfasst hauptsächlich Texte aus dem 19. und dem 20. Jahrhun-
dert, u. a. von Freud, Mallarmé, Lautréamont, Bakunin, Cioran und Plechanow.
Das dritte Thema ist Adrian Leverkühn gewidmet und versucht, „einen fiktiven
Komponisten so zu porträtieren, als ob er sich bei der kompositorischen Arbeit
gerade selbst über die Schulter schaut und sich dabei in einen Bergson’schen
unbegrenzten Raum verliert bzw. verströmt“.139 Dieser Moment lässt sich als
metakompositorisch bezeichnen, da über das Komponieren selbst reflektiert wird.
Des Weiteren führt die Komposition von Kurz durch die Bezugnahme auf Boeh-
mers Schriften zu einer Reflexion über das „Vertonen“ des Romans von Thomas
Mann selbst, was sich als metamedial einstufen lässt. Im Stück herrschen folglich
verschiedene Metaebenen: Der Transfer und die Transformation von Mikroformen
aus einem Roman, der sich mit der kompositorischen Laufbahn eines Künstlers

134 Siehe dazu Kropfinger „Montage“ und „Composition“ im „Faustus“. Vgl. auch TB2:
19.12.1945, S. 287: „Die Nietzsche’schen Symptome, Medikamente und Speisezettel als
Beispiel für das Montage-Prinzip des Buches“.
135 Die Musikwissenschaftlerin Hanne Stricker erläutert im Programmheft der Urauffüh-

rung der zweiten Fassung, was unter der Ergänzung sine figuris zu verstehen ist: „Das
sine figuris gibt einen Hinweis auf die scheinbare Konturlosigkeit der Gestalten: es fehlt
das Rückgrat. Meint aber auch im musikalischen Sinne, daß die Figurationen fehlen,
d. h. die Heterophonie bestimmt weitgehend das Stück. Nur im Rhythmus, der Urge-
bärde musikalischen Ausdrucks, gibt es noch Verbindung untereinander“. Stricker, Hanne:
Dämonenzauber verzerrter Lebensenergien. In: Programmheft Frankfurter Feste, S. 27,
hier: S. 27.
136 Mail vom 08.10.2013.
137 Ebd.
138 Ebd.
139 Ebd.
4.2 Vom Roman zur Musik 115

befasst, führt zu Reflexionen sowohl über diesen Transfer als auch über die Inhalte
selbst, nämlich den Bereich der Komposition. Um die Rolle von Leverkühn bzw.
des im Programmheft genannten „Künstlers“140 zu porträtieren, verwendet der
Autor Zitate von berühmten Komponisten des 20. Jahrhunderts, etwa Busoni,
Schönberg, Varèse und Skrjabin. Exemplarisch sei hier ein im fünften Teil der
Komposition vorkommendes Zitat von Ferruccio Busoni erwähnt:141

Nehmen wir es uns doch vor, die Musik ihrem Urwesen zurückzuführen; befreien
wir sie von architektonischen, akustischen und ästhetischen Dogmen; lassen wir sie
reine Erfindung und Empfindung sein, in Harmonien, in Formen und Klangfarben
[…].

Neben vielen anderen Aspekten lässt sich dieses Zitat auf Leverkühns Kompo-
sitionstendenzen zurückführen, besonders auf diejenigen, die er mit und nach
der Apocalipsis cum figuris verfolgt. Zunächst verfolgt der fiktive Komponist
ebenfalls das Ziel, die „Musik ihrem Urwesen zurückzuführen“, indem er sich
u. a. auch an Kompositionsstilen vor Bach und Händel orientiert. Zweitens will
er ebenso Grenzen und Dogmen sprengen und entwickelt zu diesem Zweck die
Zwölftontechnik, die etwa die Grenzen zwischen Harmonik und Melodik, also
sozusagen dem Horizontalem und dem Vertikalen der Musik nivelliert. „[R]eine
Erfindung und Empfindung“ ist allerdings die Musik Leverkühns nicht, obwohl in
der Weheklag immerhin das Ziel einer Rekonstruktion des Ausdrucks innerhalb
einer strengen Form verfolgt wird.142 Leverkühns Kompositionskriterien werden
durch den Bezug auf Busonis Stellungnahme musiktheoretisch untermauert: Dies
verstärkt die Vorlage.
Wie zu Beginn des vorliegenden Unterabschnitts angedeutet, weckt der Titel
Apocalipsis sine figuris zum Teil falsche Erwartungen, obwohl hier mit der Poly-
semie des Wortes gespielt wird und daher u. a. auch rhythmische Figurationen
in die Gesamtbedeutung des Wortes einbezogen werden.143 Das Werk von Kurz
besteht nicht nur aus Texten und Musik, sondern auch aus Bildern, etwa der Bild-
betrachtung im Teil III 6, in dem die „Offenbarung S. Johannis des Theologen“144
gezeigt wird.
Es gilt, weitere Verknüpfungspunkte mit Boehmers Apocalipsis und mit dem
Roman anzusprechen. Zum Beispiel die explizite Stellungnahme des Autors, dass

140 Programmheft, S. 10.


141 Ebd., S. 15.
142 Vgl. Kap. 5.
143 Vgl. Fußnote 135.
144 Ebd., S. 8 f.
116 4 Apocalipsis cum figuris

seine Komposition keineswegs den Anspruch erhebt, Leverkühns Oratorium nach-


zukomponieren, was durch die Änderung des Titels deutlicher als bei Boehmer
signalisiert wird. Oder auch die politisch-gesellschaftliche Kritik des Stückes:
Diese Kritik wird nicht nur durch die Äußerungen des Autors, er möchte „die
bildungsbürgerliche Haltung von komponierenden Literaturliebhabern zu ihren
Schwarmobjekten“145 mitthematisieren, sondern auch durch textuelle Elemente
sichtbar. Ein Beispiel dafür wäre das folgende Zitat von Varèse, das am Anfang
des Stückes vorkommt: „Die Bourgeoisie heißt Besonnenheit diejenige Feig-
heit, die sie in ihrer dreckigen Glückseligkeit gelähmt hält“.146 Sowohl Zeitblom
durch seine Erzählungen über die Kridwiß-Treffen als auch Adrian Leverkühn
durch sein apokalyptisches Oratorium üben Kritik an der damaligen politischen
Stimmung; Boehmer verwendet darüber hinaus, wie in 4.2.1 bereits angespro-
chen, Texte von Marx, die Kritik an ökonomischen Machtverhältnissen üben. So
kombiniert er die Kritik am Nationalismus und Faschismus mit einer Kritik am
Kapitalismus.
Hanne Stricker bezeichnet das Oratorium von Karl-Wieland Kurz als „Dämo-
nenzauber verzerrter Lebensenergien“147 und betont, jene dialektische Ästhetik –
die in Boehmers Komposition und im apokalyptischen Kapitel von Doktor
Faustus sehr wichtig ist – sei in dieser Komposition keine „formbildende[]
Kraft“:148

Er [Karl-Wieland Kurz] rückt bewußt ab von der Dialektik als formbildender Kraft,
auch von der Koketterie mit der Ästhetik des Häßlichen und deren Gegensatz,
der Schönheit, die als unzuverlässiges Mittel auszuklinken ist. K.-W. Kurz ist
entschieden für die Mischung von Disparatem.

Laut dieser Rezension lässt die Komposition von Kurz die Binäroppositionen
von Leverkühns apokalyptischem Oratorium, die dort bereits einer Umwertung
unterzogen wurden, beiseite und sucht einer poststrukturalistischen Vision ent-
sprechend keine Differenzen zwischen Zeichen mehr: Schönheit und Hässlichkeit
bilden einen einzigen Pol. Die Grenzen zwischen den Medien sind fließend, die
Schichten werden nicht hierarchisch angeordnet und es herrscht wie in Lever-
kühns Komposition und bei Boehmer eine Vermischung von Stimmen: Diese
Vermischung ist an den verschiedenen Zitaten diverser Autoren aber auch an den

145 Mail vom 08.10.2013.


146 Programmheft: S. 4.
147 Stricker: Dämonenzauber, S. 27.
148 Ebd.
4.2 Vom Roman zur Musik 117

Sprecher- und Sängerstimmen zu erkennen. Auch musikalische Stile werden ver-


mischt: z. B. liest man im vierten Teil die Anweisung: „rhythmisch prägnantes
Initial, variiert wiederkehrend; gezacktes, einstimmiges ,Fugato‘, pointillistisch
zerstoben, freie Einschübe, Tonband-Protuberanzen“.149 Formen, Strukturen und
Systeme werden ebenfalls kombiniert: der erste Teil basiert auf Emergenz, der
zweite auf Diskretheit, der dritte auf Fraktalen, der vierte auf einem Modell, der
fünfte auf Prozessualität. Nicht nur aufgrund der verwendeten Texte, sondern auch
aufgrund dieser Mischung disparater musikalischer Mittel, Stile, Kompositionskri-
terien und -konzeptionen lässt sich das Oratorium von Kurz dem apokalyptischen
Diskurs zuordnen. Aus Gender-Perspektive könnte man außerdem ergänzen, dass
die Apokalypse von Kurz stark männlich dominiert ist, da sich diese aus männ-
lichen Stimmen sowie Texten männlicher Autoren zusammensetzt. Es handelt
sich daher um eine geschlechtlich markierte Apokalypse: Die Verkündung der
bevorstehenden Katastrophe erfolgt eindeutig durch männliche Instanzen.
Sowohl Boehmers Apocalipsis cum figuris als auch die Apocalipsis sine figuris
von Kurz stellen eine Erweiterung und Vertiefung des enzyklopädischen Charak-
ters von Manns Kapitel dar, jedoch ist die Wahl der Quellen unterschiedlich und
entspricht je anderen Interpretationen des Romans. Beide Komponisten haben es
sich nicht zum Ziel gesetzt, wie Adrian Leverkühn zu komponieren und passen
den apokalyptischen Diskurs ihrer Epoche an. In beiden Fällen handelt es sich um
eine Medienkombination; bezüglich der Komposition von Kurz wäre es aufgrund
der fließenden Grenzen zwischen Medien durchaus angebracht, den Terminus der
„Medienfusion“150 zu verwenden – obwohl anzumerken ist, dass, wenn die Bil-
der gezeigt werden, die Musik vorläufig unterbrochen wird und folglich also die
Medien nicht wirklich fusioniert werden. Wichtiges Merkmal des Oratoriums von
Kurz scheint die Strukturlosigkeit, die Konturlosigkeit, das sine figuris zu sein,
was zur formbildenden Kraft der Vertonung unter verschiedenen musikalischen
und intermedialen Aspekten wird.

4.2.3 Die Musikalisierbarkeit von Doktor Faustus: Humphrey


Searles Apocalypsis cum figuris

Die dritte und letzte Komposition, die hier präsentiert wird, ist eine Kantate von
Humphrey Searle (Dr. Faustus, im Katalog der British Library The Devil’s Jig

149 Programmheft: S. 10.


150 Rajewsky: Intermedialität, S. 15.
118 4 Apocalipsis cum figuris

genannt), die von der BBC Radio 3 am 9. März 1980 übertragen wurde.151 Diese
Kantate unterscheidet sich wesentlich von den bisher beschriebenen Komposi-
tionen, da sie das Ziel hat, Serenus Zeitbloms Schilderungen von Leverkühns
Stücken präzise zu folgen. Der Komponist (1915–1982) selbst schreibt in sei-
nen Memoiren: „I followed Mann’s indications as far as possible“.152 Außerdem
setzt sich die Kantate nicht nur mit der Apocalipsis cum figuris, sondern auch
mit anderen Kompositionen des Romans, z. B. mit der Dr. Fausti Weheklag,
auseinander.153
Der britische Komponist konnte diese Herausforderung annehmen, weil er
in Wien Privatunterricht bei einem der berühmtesten Vertreter*innen der Neuen
Musik, Anton Webern, genossen hatte und als erster Komponist gilt, der
die 12-Ton-Kompositionstechnik in Großbritannien eingeführt hat.154 In seinen
Memoiren schreibt er:155

I did not particularly want to write a Faust; there have been admirable ones by
Berlioz, Schumann, Liszt and Busoni […]. However when the BBC asked me to
write music for a programme about Thomas Mann’s Dr. Faustus I could not resist
the challenge, especially as Mann’s Adrian Leverkühn is very different from the
Faust of Goethe, Lenau or the medieval puppet play; he uses the supernatural

151 Es existiert eine weitere Komposition von Poul Ruders (Corpus cum figuris für großes
Ensemble, 1985), die aber nur im Titel und nicht im Inhalt Bezug auf das 34. Kapitel von
Doktor Faustus nimmt.
152 Searle, Humphrey: Chapter 19: Faustus and the Oresteia. In: „Quadrille with

a Raven“. < https://www.musicweb-international.com/searle/faustus.htm > (letzter Zugriff:


21.08.2020).
153 In dieser Studie werden die Apocalypsis und die Lamentation analysiert, da sich diese

angesichts des intermedialen Schwerpunktes als besonders aufschlussreich erweisen. Searle


hielt außerdem die beiden Stücke für die wichtigsten seiner Faustus-Kantate. Vgl. ebd. u.
5.2.4. Leider fehlt im Fall dieser Komposition sogar ein Teil der Primärliteratur, da das
Manuskript, das von der British Library oder von der BBC aufbewahrt werden sollte,
nicht mehr gefunden werden konnte. Die vorliegende Analyse basiert hauptsächlich auf
der Aufnahme des Stückes, welche die Verfasserin im Oktober 2013 in der British Library
hörte, auf einem persönlichen Gespräch mit zwei Schüler*innen und Bekannten von Searle
(Herrn Prof. David Sutton-Anderson und Frau Prof. Avril Anderson) und auf den bereits
zitierten Memoiren von Humphrey Searle.
154 Zur Biographie Searles siehe: Mason, Colin, Hugo Cole und David C. F. Wright:

Searle, Humphrey. In: Grove Music Online. Zuerst veröffentlicht 20.01.2001, online
veröffentlicht 2001. < https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.25279 > (letzter
Zugriff: 21.08.2020). Ziolkowski bezeichnet Searle als „British Leverkühn“. Ziolkowski:
Leverkühn’s Compositions, S. 841.
155 Searle: Faustus, ebd.
4.2 Vom Roman zur Musik 119

powers given him by the Devil for the sake of developing himself as a composer
rather than on wine, women or power […].

Sowohl für Boehmer als auch für Searle kommt der Anstoß für die Vertonung
von Leverkühns Apocalipsis von außen; beide setzen sich mit Thomas Manns
Bearbeitung des Faust-Stoffes auseinander, weil dort die Musik eine zentrale Rolle
spielt.
Searle beschreibt sein Projekt nicht als eine Dramatisierung des Romans, son-
dern als eine Diskussion seiner Hauptideen. So handelt sich auch bei ihm, ähnlich
wie bei allen in dieser Studie betrachteten Kompositionen, um kein totales inter-
mediales Produkt, sondern um ein partielles: Trotz des Ziels einer Rekonstruktion
der Vorlage156 beruht die intermediale Transposition auf einer individuellen Aus-
wahl von zu vertonenden Romankapiteln und -zitaten. Die Kantate ist in eine
musikalische Radiosendung eingefügt, in der die Musik manchmal unterbrochen
wird, um Passagen aus dem Roman vorzulesen oder wichtige Momente der Hand-
lung zusammenzufassen bzw. zu erklären. Die Auswahl der Texte sowie das
Schreiben neuer Texte war Aufgabe des Schriftstellers und Dichters Robert Nye.
Am Projekt nahmen auch der Ambrosian Chorus und das New Symphony Orche-
stra mit den Solostimmen von Wendy Eathorne, Paul Esswood, Brian Burrows
und John Gibbs teil. Der Dirigent war Humphrey Searle. Da sowohl das Medium
der Musik als auch durch die Moderation das Medium des gesprochenen Textes
materiell präsent sind, stellt Searles Komposition, ähnlich wie die von Kurz und
Boehmer, eine Form von Medienkombination dar.
Searles Apocalypsis besteht aus zwei Teilen: Der erste ist vom ersten Teil
des 34. Kapitels (DF: 511–525), der zweite vom sogenannten „Schluß“ (DF:
538–550) inspiriert. Die Komposition dauert ca. 20 Minuten und die Texte sind
hauptsächlich in englischer Sprache. Die Verwendung der englischen Sprache
lässt sich nicht als rekonstruktiv bezeichnen. Vielmehr markiert sie einen Unter-
schied zur Vorlage: Ihre Mikroformen werden nicht nur in das Medium der
Musik transferiert, sondern auch sprachlich übersetzt und erhalten somit durch
den Sprachwechsel eine nationale Färbung, auch wenn dieser Aspekt bei Searle
nicht so ausgeprägt wie bei anderen in dieser Studie behandelten intermedialen
Transpositionen, wie z. B. Hagens To Zeitblom, erscheint.157
Vor dem Beginn der Musik wird Zeitbloms Beschreibung im ersten Teil des
apokalyptischen Kapitels vorgelesen: Der Moderator unterstreicht die Verbindung

156 Vgl. dazu (hier und im weiteren Verlauf der Studie): Eibl, Karl: Kritisch-rationale Lite-
raturwissenschaft. Grundlagen zur erklärenden Literaturgeschichte. München: Fink 1976,
S. 68–73.
157 Vgl. 7.2.2.
120 4 Apocalipsis cum figuris

der dort geschilderten apokalyptischen Bilder mit Dante Alighieris Commedia,


indem er eine literarische Vorlage sowohl der Apocalipsis als auch des Romans
selbst (ein Zitat aus Dantes Inferno gehört zu dessen Paratexten) anspricht und
unter anderen Quellen privilegiert.158 Die Musik beginnt mit glissandi der Pau-
ken und der Posaunen, die sich auf Esmeraldas Thema stützen. Dem „testis, […]
Zeugen, […] Erzähler“ (DF: 519) von Searles Apocalypsis wird die Stimme eines
Counter-Tenors gegeben. Mit seinen berühmten, rhetorisch als Chiasmus klassi-
fizierbaren Worten „Das Ende kommt, es kommt das Ende“ (ebd.) fängt er an.
Später, nachdem das Responsorium seine Worte „unvergeßlich wiederholt“ (ebd.)
hat, wird er von dem auch im Roman erwähnten „mocking, bleating bassoon in its
highest register“159 begleitet. Der Chor beginnt, begleitet nur von den Pauken, mit
Gemurmel, dann singen die Chorsänger*innen immer lauter, während die Musik
zu einem Höhepunkt kommt, der durch Fortissimo-Dynamiken und einen massig
wirkenden Klang charakterisiert ist. Dieser Höhepunkt führt zu Jeremias Wor-
ten: „Wir, wir haben gesündigt/Und sind ungehorsam gewesen“ (DF: 523). Die
Chorfuge zeigt in Thomas Manns Roman eine seltsame Form, die Zeitblom so
beschreibt:

Ich nenne das Stück eine Fuge, und fugal mutet es an, doch ohne daß ehrsam
das Thema wiederholt würde, sondern mit der Entwicklung des Ganzen wird die-
ses selber entwickelt, so daß ein Stil aufgelöst und gewissermaßen ad absurdum
geführt wird, dem der Künstler sich zu unterwerfen scheint, – was nicht ohne
Zurückdeutung auf die archaische Fugenform gewisser Canzonen und Ricercaten
der vor-Bach’schen Zeit geschieht, in denen das Fugenthema nicht immer eindeutig
definiert und festgehalten ist. (DF: 523 f.)160

158 „Lo giorno se n’andava e l’aer bruno/toglieva gli animai che sono in terra/dalle fatiche
loro, ed io sol uno/m’apparecchiava a sostener la guerra/sì del cammino e sì della pie-
tate,/che ritrarrà la mente che non erra./O Muse, o alto ingegno, or m’aiutate,/o mente che
scrivesti ciò ch’io vidi,/qui si parrà la tua nobilitate. DANTE, INFERNO, II. GESANG“.
DF: Motto, Herv. i. O. „Der Tag war im Schwinden, und das Dunkel enthob die Lebewe-
sen auf der Erde ihrer Mühen; einzig und allein ich stellte mich darauf ein, den Kampf
– mit dem Weg wie mit der Anfechtung – zu bestehen, der nun aus der Erinnerung, bei
der es kein Abirren gibt, nachgezeichnet werden soll. Ihr Musen, und du, hohe Begabung,
helft mir jetzt! Gedächtnis, das aufgezeichnet hat, was ich sah, hier wird es sich erwei-
sen, wenn du ausgezeichnet bist“. Dante: La commedia, Die göttliche Kömodie, I Inferno
– Hölle. Übers. u. komm. v. Hartmut Köhler. Stuttgart: Reclam 2010, 2. Gesang, V. 1–9,
S. 27.
159 Ebd.
160 Rajewsky zufolge wäre das ein Beispiel für eine Systemerwähnung, eher für eine

explizite als für eine evozierende, da fremd- bzw. altermediale Elemente einfach benannt
werden und keine „Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Elementen und/oder Strukturen des
4.2 Vom Roman zur Musik 121

Searle versucht, diese Struktur in der Komposition zu realisieren, indem er jede


Stimme auf eine unterschiedliche Form seiner Grundreihe (Original, Umkeh-
rung, Krebs, Krebsumkehrung) stützt, obwohl der Rhythmus gleichbleibt. Der
resultierende Effekt wird durch ein Fortissimo des ganzen Orchesters unterstützt.
Der erste Teil von Searles Apocalypsis endet „with a picture of the condem-
ned man looking down into the abyss“,161 eine Anspielung auf Michelangelos
Verdammte.162
Der zweite Teil fängt „more light-heartedly“163 mit der Figur der babylo-
nischen Hure an, für die Leverkühn den „graziösesten Koloratur-Sopran“ (DF:
545) vorschreibt. Die „virtuosen Läufe“ (ebd.) der babylonischen Hure „gehen
zuweilen mit vollkommen flötenhafter Wirkung in den Orchesterklang ein“ (ebd.),
schreibt Zeitblom. Diese Virtuosität realisiert Searle durch spanische Rhythmen
und die Sopran-Stimme, die bis zum hohen g gebracht wird. Danach beginnt die
Parodie verschiedener Musikstile: „Klänge des französischen Impressionismus,
ins Lächerliche gezogen, bürgerliche Salonmusik, Tschaikowsky, Music Hall, die
Synkopen und rhythmischen Purzelbäume des Jazz“ (ebd.). Dieser Moment bietet
dem britischen Komponisten die Möglichkeit, mit verschiedenen Stilen zu spie-
len. Robert Nye schrieb passende Nonsenstexte für die „Teufelsgesänge“ (ebd.),
die den parodistischen Charakter der Passage unterstreichen.
Danach realisiert Searle das „Pandämonium des Lachens“ (DF: 548), das
Zeitblom heftig erschreckt: Genauso erschreckt ihn Leverkühns Neigung zum
Lachen.164 Das Höllengelächter des Chores fängt leise an, verschiedene und viel-
fältige Gelächtervarianten sind hier zu erkennen. Es wird bald zu einem „tornado
of sound“,165 zum Tutti-Fortissimo des „sardonischen Gaudium Gehennas“ (DF:
548), das dem Erzähler von Doktor Faustus das Geheimnis der Musik „offen-
bart“ (DF: 549). Die Wortwahl lässt an die Offenbarung des Johannes denken und
das Oratorium Leverkühns zeigt sich hier als eine musikalische Offenbarung des
Geheimnisses der Musik statt des Gottes. Dem Höllengelächter folgt der Kinder-
chor, dieses „Stück kosmischer Sphärenmusik, eisig, klar, gläsern-durchsichtig“

Textes und dem jeweiligen Bezugssystem bzw. entsprechenden Komponenten desselben


aufgebaut“ wird. Rajewsky: Intermedialität, S. 89.
161 Ebd.
162 Vgl. Buonarroti, Michelangelo: Jüngstes Gericht, 1534–1541. Rom, Vatikanstadt,

Sixtinische Kapelle.
163 Ebd.
164 Sehr ausführlich ist die Analyse des „Lach-Motivs“ in: Kaiser, Gerhard: „… und sogar

eine alberne Ordnung ist immer besser als gar keine.“ Erzählstrategien in Thomas Manns
Doktor Faustus. Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 130–134. Vgl. auch Kap. 6.
165 Ebd.
122 4 Apocalipsis cum figuris

(ebd.), das genau wie in Manns Text auf den Noten des Höllengelächters basiert,
und der Fähigkeit Leverkühns entspricht, das Gleiche zu verungleichen.166 Das
Ende beschreibt Searle als,Abgrundmusik‘ für das ganze Orchester und Orgel.167
Im Kontext einer Medienkombination, besonders von Text und Musik, ist die
Frage nach dem Verhältnis zwischen den beiden Medien zentral. Der Musikkri-
tiker Malcolm Rayment beschreibt Searles Vorgehen wie folgt: „When setting a
text he is inclined to modesty, submerging his own contribution in the interest
of the words“.168 Dies wird auch von zwei Schüler*innen und Bekannten des
Komponisten, Herrn Prof. Sutton-Anderson und Frau Prof. Anderson betont.169
Zwar orientiert sich Searles Apocalypsis stark an der Vorlage, übernimmt jedoch
zugleich durch die Verwendung der englischen Sprache und vor allem durch den
expliziten Einsatz der Zwölftontechnik eine ergänzende Funktion. Programma-
tisch und durchgehend verwendet Leverkühn Schönbergs Kompositionstechnik
lediglich in der Weheklag. Diesbezüglich ergänzt Searles Apocalypsis die Vorlage,
indem Dodekaphonie eindeutig und mit der Präzision eines Traktates zumindest
bei der Realisierung der seltsamen Fugenform angewandt wird.170
Viele Elemente von Leverkühns fiktiver Komposition finden sich in Searles
intermedialer Transposition wieder, etwa die babylonische Hure und das Komm-
Motiv: Searles apokalyptischer Diskurs ist daher derselbe Typ wie der der
Vorlage; worüber sich die Komposition Gedanken macht, das ist der komposito-
rische Stil, mit dem sich die verbal music171 von Doktor Faustus in das Medium
der Musik und in diese spezifische Form von Medienkombination transferieren
lässt. Searles Kantate ist insgesamt eine partielle Vertonung des Romans, aber
die Vertonung der Apocalipsis cum figuris an sich lässt sich als total einstufen,
da kaum ein Element der Vorlage nicht vorkommt. Es handelt sich um direct or
overt intermediality; das intermediale Produkt wählt im Vergleich zu den Werken
von Boehmer und Kurz Zeitbloms Schilderungen von Leverkühns Oratorium als

166 Vgl. DF: 549.


167 Searle: Faustus, ebd.
168 Rayment, Malcolm: Searle. Avant-Garde or Romantic? In: The Musical Times 105

(Juni 1964) H. 1456, S. 430 ff., hier: S. 430.


169 Nochmals anlässlich des eingangs des Abschnitts erwähnten Gesprächs der Verfasserin

mit ihnen. Vgl. Fußnote 153.


170 Um mit Sicherheit feststellen zu können, ob das ganze Stück auf die Zwölftontechnik

zurückgreift, sollte man die Partitur sichten, was in diesem Fall nicht möglich war.
171 Der Begriff, der auf Scher zurückzuführen ist (vgl. Einleitung), wird hier und im weite-

ren Verlauf der Studie im Sinne Werner Wolfs verwendet. Siehe Wolf: „The musicalization
of fiction“, S. 133 (insb. Fußnote 3).
4.3 Fazit 123

alleinige Vorlage, reflektiert über die Möglichkeiten der intermedialen Transposi-


tion, der Musikalisierbarkeit jedes einzelnen Wortes des Textes und versucht, dies
umzusetzen.
Im ersten Teil des vorliegenden Kapitels wird gezeigt, wodurch sich die
Apokalypse als Redeform auszeichnet und wie sie im Roman musikalisch und
politisch dekliniert wird. Diese Verflechtung mit dem Politischen ist sowohl im
Roman als auch in der intermedialen Transposition von Konrad Boehmer zentral:
Seine Apocalipsis cum figuris reflektiert über Nationalismen und Zivilisationssta-
dien. Bezüglich der Transposition des 34. Kapitels aus Doktor Faustus ergeben
sich einige Kontinuitäten und Differenzen. In die erste Kategorie der Kontinuitä-
ten lässt sich die Beobachtung einordnen, dass alle drei Transpositionen sich nicht
nur auf eine apokalyptische Quelle stützen, sondern wie Adrian Leverkühn meh-
rere Texte kombinieren und zusätzlich auch die Bildhaftigkeit der Apokalypse ins
Zentrum stellen, indem sie den Bereich der Kunst einbeziehen. Was die Quellen
angeht, so lässt sich zugleich auch eine erste Differenz feststellen: Sowohl Kurz
als auch Boehmer ergänzen und passen die Quellen der Vorlage an ihre histo-
rische Zeit an. Somit werden Bezüge zum apokalyptischen Diskurs der 1980er
Jahre hergestellt, was bei Boehmer besonders deutlich erscheint. Searle, der den
Roman so präzise wie möglich transponieren möchte, sieht sich vor die Aufgabe
gestellt, einen präzisen Stil für seine Komposition zu wählen und greift auf die
Zwölftontechnik zurück, die Leverkühn in der Apocalipsis noch nicht anwendet.

4.3 Fazit

Das vorliegende Kapitel bereichert die Rekonstruktion der kompositorischen


Rezeptionsgeschichte von Doktor Faustus, indem es eines der Hauptwerke Lever-
kühns, die Apocalipsis cum figuris, sowie drei intermediale Transpositionen bzw.
Bezugnahmen in den Blick nahm. Die Wichtigkeit einer Kontextualisierung des
sekundären intermedialen Produktes wurde noch einmal von der Beobachtung
bestätigt, dass alle drei Musikwerke in den 1980er Jahren entstanden sind und
folglich die apokalyptische Stimmung der letzten Phase des Kalten Krieges in
sich tragen.
Im Prozess des Medienvergleichs konnten in diesem Kapitel weitere Effekte
von Intermedialität und speziell des Medienwechsels beobachtet werden: Erstens
die Ergänzung der Vorlage, etwa bei Boehmer und Kurz durch die Erweiterung
der Quellen, die bei der Beschreibung von Leverkühns Komposition erwähnt wer-
den, was zugleich für ein adaptives Textverständnis spricht. Zweitens eine eher
rekonstruktive Haltung gegenüber der Vorlage, z. B. bei Searle, der Zeitbloms
124 4 Apocalipsis cum figuris

Beschreibung der Apocalipsis, also jenes intermediale telling hörbar zu machen


beabsichtigt. Mediengrenzen erschienen bei diesem Versuch zugleich fließend und
scharf gezogen: Nicht alles kann in Musik gesetzt werden und ausgerechnet das
Medium der Schrift erwies sich aus diesem Blickwinkel als vage. Searle löst die-
ses Problem ebenfalls durch die Ergänzung der Vorlage mittels der Anwendung
der Zwölftontechnik, die im Roman erst in der Weheklag verwendet wird. Mit
dieser Komposition, die es in dieser Untersuchung zudem ermöglicht, die Frage
nach der Erreichung eines transzendentalen Stadiums im apokalyptischen Diskurs
zu beantworten, beschäftigt sich das nächste Kapitel.

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des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Dr. Fausti Weheklag
5

Das vorliegende Kapitel setzt sich aus intra-, inter- und transmedialer Perspektive
nicht nur mit Leverkühns letzter Komposition, wie der Titel verspricht, sondern
darüber hinaus auch mit den letzten Kapiteln des Romans auseinander. Ein erster
Grund für diese Entscheidung ist, dass sich die Kompositionen, die im zweiten
Teil dieses Kapitels behandelt werden, sowohl der Kantate Dr. Fausti Weheklag
als auch dem Ende von Doktor Faustus zuwenden: Dementsprechend scheint eine
Kontextualisierung aller erwähnten Kapitel aus dem Roman für die spätere Ana-
lyse erforderlich.1 Ein zweiter Grund besteht darin, dass die Beschreibung von
Leverkühns Komposition im Medium der Schrift ohne Rückgriff auf Notenzitate
es verunmöglicht, ihre Grenzen zu erkennen, da u. a. auf einer zeichentheoreti-
schen Ebene kein musikalisches Endzeichen zu sehen ist. Das „Pathos der Klage“2
setzt vor der Weheklag ein, zumindest mit Echos Tod und erstreckt sich über alle
darauf folgenden Seiten bis zum Endzeichen, dem Wort „Ende“ (DF: 658), das
die Nachschrift und den Roman selbst beschließt.
Infolgedessen wird im ersten Teil des Kapitels auf das Klage-Motiv in Dok-
tor Faustus und in der Musikgeschichte eingegangen: Der Ausdruck kristallisiert
sich in Leverkühns Dr. Fausti Weheklag, in der zum ersten Mal die Dodekapho-
nie Anwendung findet, als religiös konnotierter Klage-Ausdruck wie im Fall der
Marienklage oder des Stabat Mater heraus. Neben dem Klage-Motiv beschäftigt
sich der erste Teil des Kapitels vor der Analyse der Kompositionen auch mit
einigen intra- und intermedialen Bezügen der letzten Kapitel des Romans. Zu
diesen zählen die Referenzen auf Adornos Musikphilosophie, vor allem was die

1 Eine Ausnahme stellt die Komposition von Searle dar, die Teil einer Radiosendung ist,
die auch von den letzten Jahren Leverkühns handelt und hier isoliert betrachtet wird. Zur
Begründung der Auswahl der BBC Radiosendung vgl. 4.2.3.
2 Albert: „Doktor Faustus“: Schwierigkeiten, S. 107.

© Der/die Autor(en) 2021 125


A. M. Olivari, Doktor Faustus (ver-)stimmen,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62635-1_5
126 5 Dr. Fausti Weheklag

Mythisierung Beethovens, die Auffassung einer Sterilität der Kunst und mögliche
Auswege aus ihr sowie die Ausdrucksfähigkeit der Neuen Musik angeht. Die Idee
einer Rekonstruktion des Ausdrucks innerhalb der strengen Form spielt in T. W.
Adornos Philosophie der neuen Musik eine wichtige Rolle. Des Weiteren stel-
len die letzten Kapitel von Doktor Faustus einige Akteure der Musikgeschichte,
die auch in Adornos Schriften wiederholt erwähnt werden, prominent in den Vor-
dergrund: z. B. Beethoven, dessen Neunte Symphonie Leverkühn zurücknehmen
will und auf den die im zweiten Teil des Kapitels behandelten Kompositionen
ebenfalls Bezug nehmen. Mit der Untersuchung der Funktion der vielen inter-
medialen Einzel- und Systemreferenzen des Textes geht die Absicht einher, die
Analyse des apokalyptischen Diskurses in Thomas Manns Doktor Faustus, die
im Zentrum von Kapitel vier stand, zu vervollständigen: Es wird versucht, eine
Antwort auf die Frage zu geben, wo und mit welchen Mitteln das Stadium B
der Transzendenz bezüglich des musikalisch deklinierten apokalyptischen Diskur-
ses im Roman erreicht werden könnte. Mit den Mitteln der Musik, und speziell
der Neuen Musik, scheint eine Überwindung der Sterilität der Kunst, also des
apokalyptischen Zustandes der Musik, laut Zeitbloms Darstellung kaum möglich:
Die Anwendung der Zwölftontechnik – die intramedialen Bezüge auf Adorno
verstärken diese Auffassung – scheitert im Roman, was sich aber schon durch
das Vorlesen des Textes und noch stärker durch den Transfer in das Medium
der Musik überwinden lässt. Die hier genannten Aspekte verweisen alle auf den
übergeordneten Diskurs der Sterilität der Kunst, auf den die Kompositionen eben-
falls reagieren. Die Anzahl der Musikwerke, die sich mit den letzten Kapiteln
des Romans auseinandergesetzt haben und die im zweiten Teil des vorliegenden
Kapitels behandelt werden, scheint dafür zu sprechen, dass sich diese letzten (kon-
troversen) Kapitel des Romans besonders gut dafür eignen, in das Medium der
Musik oder in die Plurimedialität der Medienkombination transferiert zu werden:
Dadurch werden sie ergänzt, revidiert oder auch in Frage gestellt.
Der zweite Teil des Kapitels beginnt mit einer Kontextualisierung der Oper
Manzonis (1989) und schildert einige Akte und Bilder, die sich der Weheklag,
der Abschiedsrede und dem Tod Leverkühns widmen. Besonders intensiv geht
Manzonis Werk der Frage nach, wie sich Wahnsinn im Medium der Oper rea-
lisieren lässt. Mit dieser Frage beschäftigt sich auch Ránkis Stück Leverkühns
Abschied (1979), das allerdings ein Monodrama ist. Diese intermediale Trans-
position stellt die Dimension des Faust-Romans in den Vordergrund und erhebt
Leverkühn zum absoluten Protagonisten sowie zur autodiegetischen Erzählinstanz
(im weiteren Sinne des Wortes). Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“ (2009) stellt
in dieser Studie als verdeckte Form von Intermedialität eine Ausnahme dar.
Die rein instrumentale Komposition setzt sich aus einer dreifachen Erinnerung
5.1 Leverkühns Abschied 127

zusammen und verstärkt im Medium der Musik das Spannungsverhältnis der Vor-
lage zwischen Vergessen bzw. Zurücknehmen und Erinnern. Die letzte in diesem
Kapitel betrachtete Komposition ist Searles Lamentation aus der im Kapitel vier
bereits vorgestellten BBC Radiosendung, die parodistische Elemente von Zeit-
bloms Beschreibung der fiktiven Kantate verstärkt und den Text des Volksbuches
durch den aus Marlowes Faust ersetzt.

5.1 Leverkühns Abschied

Den vorigen Darlegungen entsprechend wird im Folgenden zunächst auf das


Klage-Motiv im Roman und in Leverkühns Weheklag eingegangen, wobei insbe-
sondere die Quellen für dieses Motiv und die damit verbundene Art des Klagens
beleuchtet werden. Dann werden weitere Merkmale von Leverkühns fiktiver Kan-
tate angesprochen und es wird der Frage nach der möglichen Überwindung der
Sterilität der Kunst nachgegangen. Der Titel des vorliegenden Abschnitts wurde
der später geschilderten Komposition von Ránki entlehnt, um nicht nur eine
Brücke zum zweiten Teil des Kapitels zu schlagen, sondern auch erneut in den
Vordergrund zu stellen, dass die folgenden Ausführungen sowohl von der Kantate
als auch vom Ende des Romans handeln. Demnach wird Leverkühns Abschied
vom musikalischen Schaffen sowie vom Leben selbst thematisiert.

5.1.1 (Marien-)klagen

Der Komposition der Apocalipsis cum figuris und deren Uraufführung in Frank-
furt am Main, an der Adrian Leverkühn nicht teilnimmt,3 – was auf Adornos
Ausführungen zur „gesellschaftliche[n] Isolierung“ (PhnM: 24) der Kunst und
speziell der Neuen Musik verweist – folgt eine Reihe von Katastrophen.4 Zu die-
sen zählen z. B. Clarissa Roddes Suizid, Schwerdtfegers Ermordung in München
und Echos Tod.5 Der apokalyptische Zustand der Immanenz, der in der Kompo-
sition geschildert wird, beschränkt sich nicht nur auf die metadiegetische histoire
von Leverkühns Komposition selbst, sondern wird diskursiv und in der darauf fol-
genden intra- und extradiegetischen histoire bis zu den letzten Seiten des Romans

3 Vgl. DF: 656: „Er hat das Werk […] niemals gehört“.
4 Nicht zufällig findet man genau im ersten Satz des 35. Kapitels das Wort „Katastrophe“
(DF: 550).
5 Vgl. Kap. 9. u. 11.
128 5 Dr. Fausti Weheklag

aufrechterhalten. „In der zweiten Hälfte des Romans“, so Gunilla Bergsten, „wid-
met Mann mehrere Kapitel der Darstellung von Schicksalen […], [denen von] Ines
und Clarissa Rodde und Rudi Schwerdtfeger z. B. Sie alle gehen unter und wer-
den damit zu Figuren der grossen Apokalypse des Romans“.6 Zudem unterbricht
der Erzähler immer öfter die intradiegetische Narration, um auf der extradiege-
tischen Ebene über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs zu berichten, etwa die
Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald.7
Auch Leverkühns Leben nähert sich dem Untergang, d. h. dem Voranschreiten
des Wahnsinns8 und der Rückkehr ins Elternhaus. Sowohl sein Aussehen als auch
sein Verhalten verdeutlichen diesen Prozess durch verschiedene Indizien: die star-
ren blicklosen Augen, die auf Michelangelos Verdammten anspielen und die er
manchmal rollt,9 die merkwürdige Redensart, die reich an mittelhochdeutschen
Worten ist, das „Ecce homo-Antlitz“ (DF: 736), das sowohl imitatio Christi als
auch imitatio Fausti bzw. diaboli sein könnte.10
Auf der lexikalischen Ebene ist auffallend, dass sich Wörter und Ausdrücke
häufen, die zum semantischen Feld der Klage bzw. des Klagens gehören. In
diese Kategorie können etwa die Worte von Echo „O Hauptwehe!“ (DF: 687),
die vielen Achs,11 z. B. „Ach, es soll nicht sein“ (DF: 709) im Text der Weheklag
und „Ach, man glaubte das nicht lange“ (DF: 722) im Kommentar des Erzählers
eingeordnet werden. Zudem findet sich die aus dem Latein stammende Version
des Verbs ,klagen‘: „Lamentieren“ (DF: 688), die darüber hinaus auch direkt auf
Italienisch genannt wird, um u. a. auf Monteverdi Bezug zu nehmen: „Dies rie-
senhafte, Lamento‘“ (DF: 705). Schließlich wird das Substantiv ,Klage‘, z. B.
als Reduplikation und exclamatio: „Klage, Klage!“ (DF: 703), als Kompositum:

6 Bergsten, Gunilla: Thomas Manns Doktor Faustus. Untersuchungen zu den Quellen und
zur Struktur des Romans. Stockholm: Svenska Bokförlaget 1963, S. 250.
7 Vgl. DF: 696: „Unterdessen läßt ein transatlantischer General die Bevölkerung von Wei-

mar vor den Krematorien des dortigen Konzentrationslagers vorbeidefilieren und erklärt
sie – soll man sagen: mit Unrecht? – erklärt diese Bürger, die in scheinbaren Ehren
ihren Geschäften nachgingen und nichts zu wissen versuchten, obgleich der Wind ihnen
den Stank verbrannten Menschenfleisches von dorther in die Nasen blies, – erklärt sie
für mitschuldig an den nun bloßgelegten Greueln, auf die er sie zwingt, die Augen zu
richten.“
8 Laut Derrida führen apokalyptische Diskurse zum Delirium und dieses Delirieren sei mit

dem Verstimmen eng verknüpft. Siehe Derrida: Apokalypse, S. 29 f.


9 Siehe DF: 701 u. Kap. 4.
10 Vgl. DF: 700: „etwas […] Christushaftes“; siehe auch: Giovannini: Il patto col diavolo,

S. 235 f.
11 Dazu vgl. auch Börnchen: Kryptenhall (insb. S. 303 u. 320 f.).
5.1 Leverkühns Abschied 129

„Klage-Ausbruch“ (DF: 708) und in Verbindung mit einem Genitiv: „die Klage
des Höllensohns“ (DF: 702), mehrfach erwähnt.
Die in den letzten Romankapiteln thematisierte Klage stützt sich auf zahlrei-
che intermediale Einzelreferenzen, die zum Teil auch explizit erwähnt werden.
Wie die Apocalipsis nimmt auch die Weheklag auf eine sehr alte musikalische
Tradition Bezug, und zwar auf die der Madrigale und der ersten Opern, wie Clau-
dio Monteverdis L’Orfeo. Monteverdi steht hier stellvertretend für den Anfang der
modernen Musik, die Zeitbloms Meinung nach mit der „Klage der Ariadne“ (DF:
703), also mit dem Lamento d’Arianna und eben in Form einer Klage beginnt.
Diese wird mithilfe der typischen Echo-Wirkung (nicht nur) der Barockmusik
in intensivierter und stilisierter Form vermittelt. Bergsten, die sich auf Kreneks
Music here and now beruft,12 schreibt Monteverdi dieselbe historische Bedeu-
tung wie Schönberg bezüglich seiner harmonischen Errungenschaften zu. Beide
Komponisten seien als „Portalgestalten“13 zu beiden Seiten der tonalen Musik
aufzufassen: Einer linearen und nach Autor*innen angeordneten Darstellung der
Musikgeschichte entsprechend sieht die Forscherin Monteverdi und Schönberg
jeweils als Anfang und Ende der tonalen Musik.14 Eine weitere von Thomas
Mann verwendete Quelle, die in der Forschungsliteratur wiederholt erwähnt wird,
ist Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels: Auch dort wird Barock mit
Modernität assoziiert.15
Zeitbloms These, die Musik sei der Klage entsprungen, als Verzweiflungs-
ausdruck vor dem Tod einer Person, ist nicht ohne Fundament.16 Sie findet
Bestätigung – werkextern – sowohl in der Produktion Monteverdis als auch in

12 Thomas Mann soll das Werk während des Verfassens von Doktor Faustus konsultiert
haben, was einigen Studien zufolge Spuren im Roman hinterlassen haben soll. Vgl. auch
Schmidt: „Unangreifbar nur die Gestalt“ u. 1.2.
13 Bergsten: Untersuchungen, S. 239.
14 Tambling sieht bereits im Werk Monteverdis eine mögliche Verbindung mit weiteren, in

den letzten Seiten des Romans auftretenden Topoi, etwa mit dem Topos des Spätwerks:
Leverkühns Weheklag stellt sein Spätwerk dar und der fiktive Komponist möchte Beetho-
vens Spätwerk, die Neunte Symphonie, zurücknehmen. Auch der Topos der Sterilität der
Kunst könne gut mit Monteverdi in Verbindung gebracht werden: „The birth of opera, in
Monteverdi, is associated with the moment of its end, with its late style, and with the
end of art“. Tambling, Jeremy: Opera and Novel Ending Together: Die Meistersinger and
Doktor Faustus. In: Forum for Modern Language Studies 48 (2012) H. 2, S. 208–221,
hier: S. 212.
15 Dazu siehe: ebd., S. 212 f.; Piccolo: L’onnipotenza imperfetta, S. 302–315; Wisskirchen,

Hans: Die Geschichte als Trauerspiel. Zu Benjamins Rezeption bei Thomas Mann. In:
Euphorion 81 (1987), S. 171–180.
16 Vgl. DF: 703.
130 5 Dr. Fausti Weheklag

der musikalischen Produktion älterer Zivilisationen: emblematisch seien hier die


griechische Klage17 und, im deutschen Raum, die Marienklage genannt.18 Diese
letzte Klageform tritt im Roman nicht in Form einer expliziten Erwähnung, son-
dern in Form einer associative quotation (W. Wolf) auf: Durch das Erwähnen
von Wörtern und Ausdrücken, die für diese musikalischen Formen typisch sind
sowie durch weitere textuelle Hinweise, die im Folgenden aufgezeigt werden,
verbindet die Leser*innenschaft mit den vorher genannten, im Text zitierten und
reproduzierten Elementen auch „die fehlenden medienspezifischen Komponenten
des aufgerufenen Produkts“.19
Gerade in Deutschland übernimmt die Marienklage eine wichtige Funktion im
musikhistorischen Prozess. Sie stellt die Klage Marias unter dem Kreuz Christi
dar und wurde im Mittelalter am Karfreitag in vielen deutschen und italienischen
Kirchen inszeniert. In ihrer einfachsten Form ist sie ein gesungener Monolog,
der von Musik, die dabei eine vordergründige Rolle spielt, begleitet wird. Die
Marienklage war eine extra-liturgische Veranstaltung, jedoch selbstverständlich
religiöser Natur, die in Deutschland in ihrer frühen Phase Texte auf Latein, spä-
ter auf Deutsch verwendet. Da sie Musik, Text und Inszenierung miteinander
kombiniert, kann sie als erste Opernform im deutschen Raum betrachtet wer-
den oder sogar als erstes Gesamtkunstwerk angesichts der gleichwertigen Rolle
aller Komponenten.20 Tief verwandt ist die Marienklage mit dem Stabat Mater.
Inspirationsquelle für die Klage auf den letzten Seiten des Romans könnte daher
nicht nur das „Lasciatemi morire“ (DF: 703) der mythischen Ariadne sein, son-
dern auch die deutsche Form der Marienklage, eine weitere Anspielung auf die
mittelalterliche Musik einerseits und die Verwandtschaft mit der Apocalipsis cum

17 Siehe z. B. Alexiu, Margaret: The Ritual Lament in Greek Tradition. London: Cambridge

University Press 1974.


18 Auch im musikalischen Mythos par excellence, der nicht zufällig Stoff der ersten Flo-

rentiner Opern war und in Monteverdis Schaffen ebenfalls zu finden ist, verknüpft sich
die Musik mit dem Klagen: vgl. DF: 707: „Orpheische Klage-Akzente sind leise erin-
nert, die Faust und Orpheus zu Brüdern machen als Beschwörer des Schattenreichs“. Der
Orpheus-Mythos und die Klage um die Eurydike dürfen selbstverständlich auch in Adornos
Musikphilosophie nicht fehlen: siehe PhnM: 122 und Börnchen: Kryptenhall, S. 303–306.
19 Rajewsky: Intermedialität, S. 150. Zur associative quotation siehe: Wolf, W.: The

Musicalization of Fiction, S. 67–70.


20 Vgl. Schönbach, Anton: Über die Marienklagen. Ein Beitrag zur Geschichte der

geistlichen Dichtung in Deutschland, Graz: Leuschner & Lubensky Universitäts-


Buchhandlung 1874 (insbesondere S. 9 und 51); Stevens, John u. a.: Medieval
Drama. In: Grove Music Online. Zuerst veröffentlicht 20.01.2001, online veröffent-
licht 2001, aktualisiert 25.07.2013. <https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.
41996> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
5.1 Leverkühns Abschied 131

figuris andererseits.21 Darüber hinaus ist bekanntlich Monteverdis Oper über die
mythische Ariadne angesichts der Form und des Sujets keine religiöse Kompo-
sition, während Leverkühns Kantate hingegen als „religiöses Werk“ (DF: 710)
bezeichnet wird, auch wenn es sich um eine „Negativität des Religiösen“ handelt.
Des Weiteren findet sich in den letzten Kapiteln des Romans wiederholt das
Motiv des Faltens der Hände: Echo betet abends, „auf dem Rücken liegend, die
flachen Händchen vor der Brust zusammengefügt“ (DF: 682), faltet dann krank
„die bebenden Händchen […] und stammelt: ‚Echo will herzig sein, Echo will
herzig sein!‘“ (DF: 688), Leverkühn sitzt vor der Abschiedsrede „mit gefalteten
Händen“ (DF: 717) und „ein einsamer Mann“ (Zeitblom bezieht sich hier höchst-
wahrscheinlich auf sich selbst) „faltet seine Hände und spricht: Gott sei euerer
armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland“ (DF: 738).22 Diese letzten
Worte schließen den Roman und verleihen daher dem Klagen ebenfalls eine reli-
giöse Konnotation: Im vorigen Zitat ist es der Erzähler, der klagend betet, kurz
davor versammeln sich die Frauen, die Leverkühn bis zum Tode nah geblieben
sind, vor seinem Grab. Diese sind Jeanette Scheurl, Meta Nackedey, Kunigunde
Rosenstiel und, nicht zuletzt, Leverkühns Mutter, die echte „Maria“ in Doktor
Faustus, da u. a. Leverkühn die letzten Jahre seines Lebens in ihrem Haus ver-
bringt.23 Maria steht auch in vielen Kunstwerken mit gefalteten Händen unter
dem Kreuz Christi: Viele textuelle Indizien, etwa die Gesten der Figuren und
die Beschreibung der Eigenschaften der Kantate Dr. Fausti Weheklag verweisen
auf religiöse Klagen und speziell auf die Marienklage. Leverkühns Abschieds-
rede, bei der Bezüge auf das letzte Abendmahl Christi nicht fehlen, findet in
der gleichen religiösen Periode wie die Marienklage statt, d. h. in der Fastenzeit.
Ähnlich dem Stabat Mater bzw. der Marienklage weist auch Leverkühns Weheklag
den „Charakter eines musikalischen Testaments“24 auf und drückt laut Zeitblom

21 Auch die Form des Madrigals, die im 46. Kapitel erwähnt wird (siehe DF: 704), erfuhr

in der Renaissance bzw. Barockzeit eine substantielle Entwicklung, die ersten Formen
stammen aber aus dem 14. Jahrhundert. Vgl. etwa Fischer, Kurt von: Musica e testo let-
terario nel madrigale trecentesco. In: Borghi, Renato u. Pietro Zappalà (Hrsg.): L’edizione
critica tra testo musicale e testo letterario. Atti del convegno internazionale (Cremona, 4–
8 ottobre 1992). Lucca: LIM 1995, S. 9–15. Weiteres Vorbild der Weheklag könnte auch
Tschaikowskis Symphonie Pathétique sein, insbesondere aufgrund des letzten Satzes der
Symphonie, der „Adagio lamentoso“ genannt wurde und von Celli und Bässen geschlossen
wird. Vgl. Bergsten: Untersuchungen, S. 115.
22 Dazu siehe auch Börnchen: Kryptenhall, S. 312. Dieses letzte Zitat lässt sich selbstver-

ständlich auch als patriotische Rhetorik verstehen.


23 Vgl DF: 671.
24 Albert, C.: Tönende Bilderschrift. ,Musik‘ in der deutschen und französischen Erzähl-

prosa des 18. und 19. Jahrhunderts, Heidelberg: Synchron 2002, S. 22.
132 5 Dr. Fausti Weheklag

Leverkühns Verzweiflung über den Tod des Neffen aus.25 Nicht nur nimmt die
Christus-Metaphorik zu, es häufen sich auch die textuellen Hinweise auf ein Kla-
gen musik-religiöser Natur, das auf das Stabat Mater oder auf die Marienklage
zurückgeführt werden kann.26

5.1.2 Ausdruck in der Strenge, Sterilität der Kunst und


Transzendenz

Die vorher geschilderte Art des Klagens in der Musik entspringt in Leverkühns
Kantate laut Zeitblom der Absicht einer „Rekonstruktion des Ausdrucks“ (DF:
707), sodass Klage und Ausdruck identisch werden. Ein scheinbares Parado-
xon der Kantate Leverkühns ist, dass sie als ein Werk „äußerster Kalkulation“,
zugleich aber „rein expressiv“ beschrieben wird (DF: 707). Zeitblom nennt die-
ses Phänomen „Rekonstruktion des Ausdrucks“ (ebd.): Entweder „innerhalb ihrer
vollkommensten Strenge“ (DF: 706) oder „jenseits des Konstruktiven“ (ebd.)
– hier ist der Erzähler unsicher – wird der Ausdruck wiedergewonnen.27
Wie im ersten Kapitel dieser Arbeit bereits erläutert, ist es nicht Ziel dieser
Untersuchung festzustellen, ob Adorno als Koautor von Doktor Faustus anzuse-
hen ist oder nicht.28 Allerdings gilt es nun – intramedial und zwar im Medium
der Schrift bleibend, aber nicht mehr der fiktionalen – auf Adornos Philosophie
der neuen Musik zurückzugreifen:

Die dramatische Musik, als die wahre musica ficta, bot von Monteverdi bis Verdi
den Ausdruck als stilisiert-vermittelten, den Schein der Passionen.[...]. Ganz anders
bei Schönberg. Das eigentlich umstürzende Moment an ihm ist der Funktions-
wechsel des musikalischen Ausdrucks. Es sind nicht Leidenschaften mehr fingiert,

25 Vgl. DF: 702 und Börnchen: Kryptenhall, S. 304.


26 Bemerkenswert sind auch die lexikalischen Affinitäten zu vielen Stabat-Mater- und
Marienklage-Texten. Dazu siehe Kraß, Andreas: Stabat mater dolorosa. Lateinische Über-
lieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter. München: Fink
1998. Kraß betont auch den eschatologischen Akzent des Stabat Mater (siehe S. 91 f.);
nochmals ein Hinweis auf den apokalyptischen Diskurs von Doktor Faustus.
27 Bergsten ist der Auffassung, dass auch die Schreibweise Manns von dieser „Rekon-

struktion des Ausdrucks“ betroffen sei: „[T]rotz aller Montage und trotz allen Zitierens
ist Doktor Faustus ohne Zweifel die Schöpfung Manns, die am meisten mit Ausdruck
geladen ist und von der tiefsten inneren Anteilnahme zeugt.“ Bergsten: Untersuchungen,
S. 232.
28 Vgl. 1.2.
5.1 Leverkühns Abschied 133

sondern im Medium der Musik unverstellt leibhafte Regungen des Unbewußten,


Schocks, Traumata registriert. (PhnM: 44)29

In Schönbergs Musik geht es Adorno zufolge nicht um den Versuch, menschli-


che Gefühle durch die Anpassung an das Medium der Musik und den Rückgriff
auf vorgefertigte Stilmittel zu reproduzieren, sondern um eine möglichst totale
mimesis der Passionen: Emotionen sollten mit dem größtmöglichen Realitätsan-
spruch nachgeahmt werden. Diesem Versuch setzt sich – so Adorno – die Strenge
der Neuen Musik entgegen, in der „die ,Indifferenz‘ von Harmonik und Melo-
dik“ (PhnM: 64) herrsche und in der „keine Note erscheine, die nicht in der
Konstruktion des Ganzen ihre motivische Funktion erfüllt“ (PhnM: 69): In der
Neuen Musik komme es folglich zu „Eintönigkeit“ (PhnM: 79), also zu einer Art
von Musik, der Adorno eine gewisse Eindimensionalität in der Konzeption und
Faktur vorwirft.
Leverkühns einziges eindeutig zwölftöniges Stück30 entwickelt laut Zeitbloms
Beschreibung „seine Idee eines ,strengen Satzes‘“ (DF: 704) und hat „keine freie
Note mehr“ (ebd.). „Dies riesenhafte ,Lamento‘“ (DF: 705) ist außerdem „recht
eigentlich undynamisch, entwicklungslos, ohne Drama“ (ebd.). Ausdruck repro-
duzieren könne – so die Auffassung des Erzählers – diese Musik nicht. In der
Abschiedsrede wird dieses Konzept prosopoietisch dargestellt, indem Leverkühn,
der seine Komposition aufführen will, einfach einen einzigen Klagelaut produziert
und dann zwölf Stunden lang wie die zwölf Töne der Zwölftontechnik bewusst-
los ist.31 Zeitblom schildert seinen Freund als Opfer des von ihm entwickelten
Kompositionssystems, was zugleich eine gewisse Komik in die Narration hinein-
bringt.32 Gleich nachdem Leverkühn vor allen Gästen ohnmächtig geworden ist,
findet sich die Klage oder, genauer gesagt, die Anklage von Frau Schweigestill

29 Die Bezeichnung der Musikproduktion von Monteverdi bis Verdi als ,musica ficta‘ ver-

liert die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs und wird hier in einem allgemeineren Sinne
verwendet. Siehe Hirshberg, Jehoash u. Peter W. Urquhardt: Art. Musica ficta. In: MGG
Online. Zuerst veröffentlicht 1997, online veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-online.
com/mgg/stable/13658> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
30 Siehe: „,Denn ich sterbe als ein böser und guter Christ‘, bilden das Generalthema des

Variationswerks. Zählt man seine Silben nach, so sind es zwölf, und alle zwölf Töne der
chromatischen Skala sind ihm gegeben, sämtliche denkbaren Intervalle darin verwandt“
(DF: 706).
31 Zwölf ist auch die Zahl der Apostel des letzten Abendmahls, auf das in der

Abschiedsrede ebenfalls angespielt wird.


32 Vgl. DF: 731. Echo stirbt zwölf Stunden nach Leverkühns Ankündigung gegenüber

Zeitblom, die Neunte Symphonie zurücknehmen zu wollen (siehe DF: 694).


134 5 Dr. Fausti Weheklag

auf Bairisch, die das letzte Kapitel vor der Nachschrift schließt und ebenfalls zur
Komik der Narration beiträgt:

Macht’s, daß’ weiter kommt’s alle miteinand! Ihr habt’s ja ka Verständnis net, ihr
Stadtleut, und da k’hert a Verständnis her! Viel hat er von der ewigen Gnaden
g’redt, der arme Mann, und i weißt net, ob die langt. Aber a recht’s a menschlich’s
Verständnis, glaubt’s mir, des langt für all’s! (DF: 729)

Das Streben nach Ausdrucksfähigkeit ist in der Neuen Musik zum Scheitern
verurteilt: In Doktor Faustus wird laut Heimann Adornos wissenschaftliche
Erkenntnis übernommen und symbolisch (und prosopoietisch, da Leverkühns
Ohnmacht eben dieses Scheitern verkörpert) wiedergegeben.33 Im Medium der
fiktionalen Schrift wäre demzufolge das möglich, was im Medium der philosophi-
schen Schrift nicht erreicht werden kann, und zwar ein Gewinn „an symbolische[r]
Prägnanz und Freiheit durch mehrdeutige Bezüge“.34 Dies verknüpft sich mit
einem zentralen Konzept von Adornos Musikphilosophie und einem tragenden
Thema von Doktor Faustus: nämlich mit dem der Sterilität der Kunst und den
Möglichkeiten ihrer Überwindung. Sich auf Adorno stützend, schildert Heimann
die historische Begründung der Zwölftonmusik, die einer Unzufriedenheit mit
der Tonalität und der konventionellen Musik entspringt und eine nicht mehr
durchzuhaltende Erweiterung des „Kanon[] des Verbotenen“35 produziert habe.36
In zusammengefasster Form stellt er drei mögliche Antworten auf diese Situa-
tion vor: „das Verstummen“,37 „das weitere Verbleiben im Konventionellen“38
oder „eine revolutionäre Lösung“.39 Die revolutionäre Lösung lässt sich als die
transzendentale begreifen, da sie die einzige ist, die den immanenten Zustand
zu überwinden vermag. Im Roman korrespondiert sie mit der Entwicklung der
Zwölftontechnik und dem Komponieren der Weheklag.

33 Vgl. Heimann: Thomas Manns ,Doktor Faustus‘ und die Musikphilosophie Adornos,

S. 228.
34 Ebd.
35 Ebd., S. 218.
36 Siehe auch PhnM: 13–35.
37 Heimann: Thomas Manns ,Doktor Faustus‘ und die Musikphilosophie Adornos, ebd.

Siehe auch PhnM: ebd.


38 Ebd.
39 Ebd., S. 219.
5.1 Leverkühns Abschied 135

Der Sprung zur Transzendenz bedarf in der Narration einer Epiphanie,


also eines Augenblicks „geistiger Offenbarung“.40 Diesen Augenblick stellt die
Zurücknahme der Neunten Symphonie dar:

„Ich habe gefunden“, sagte er, „es soll nicht sein.“


„Was Adrian, soll nicht sein?“
„Das Gute und Edle“, antwortete er mir, „was man das Menschliche nennt, obwohl
es gut ist und edel. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen
gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es
wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.“
„Ich verstehe dich, Lieber, nicht ganz. Was willst du zurücknehmen?“
„Die Neunte Symphonie“, erwiderte er. (DF: 692 f.; Herv. i. O.)

Leverkühn identifiziert für seine Absicht einer Zurücknahme und Sub-


version kompositorischer Konventionen einen präzisen Zeitpunkt in der
(Musik-)geschichte und ein präzises Werk: Beide sollen nicht sein und beide will
er zurücknehmen. Die Verflechtung von (zumindest) Musik, Politik, Geschichte
und Religion wird an dem Beispiel noch einmal sichtbar; die Frage von Ange-
lika Corbineau-Hoffmann scheint mehr als berechtigt: „Wäre Doktor Faustus
nicht nur ein Geschichtsroman, sondern eine Reflexion auf Historizität?“41 Diese
Reflexion auf Historizität, vom Spätwerk Beethovens ausgehend, findet sich
auch in Adornos Beethoven-Schriften wieder: Lubkoll zufolge werde die letzte
Kompositionsphase dort mythisiert, der späte Beethoven sei „Überwinder des
Klassizismus“,42 indem er zugleich eine sehr heterogene Musik produziert,
die Barockes, Klassizistisches und Romantisches zusammenfügt und eine Gat-
tungsmischung betreibt. Diesbezüglich sei hier exemplarisch eben die Neunte
Symphonie mit ihrer Einführung eines Chores in einer vorher reinen Instru-
mentalform erwähnt.43 Diese Lösung Beethovens scheint Leverkühn in seiner

40 Berentelg, Wilhelm: Kafkas Parabel Der Kreisel oder Die ver-zweifelte Jagd nach der

Epiphanie. In: Literatur für Leser 25 (2002) H. 2, S. 91–100, hier: S. 96. In diesem Aufsatz
ordnet Berentelg die Epiphanie den bedeutsamen Topoi der literarischen Moderne zu und
listet ihre Merkmale auf (siehe S. 92 u. 95 f.)
41 Corbineau-Hoffmann, Angelika: Umkehrungen. Beethoven, Leverkühn und Thomas

Manns Doktor Faustus. In: Arcadia 30 (Januar 1995) H. 3, S. 225–247, hier: S. 234.
42 Lubkoll, Christine: Beethovens „Spätstil“ und seine Mythisierung bei Adorno und Tho-

mas Mann. In: Neumann, Gerhard (Hrsg.): Altersstile im 19. Jahrhundert. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2014, S. 125–139, hier: S. 134.
43 Siehe ebd.: S. 138. Vgl. auch: Adorno, Theodor W.: Beethoven. Philosophie der Musik.

Fragmente und Texte. In: Ders.: Nachgelassene Schriften Bd. 1.1. Hrsg. v. Rolf Tiedemann.
136 5 Dr. Fausti Weheklag

Epoche ebenso wenig tragfähig zu sein wie die Ideen der bürgerlichen Revo-
lution, die er zusammen mit Beethovens Spätwerk folglich zurücknimmt.44 Auch
in Doktor Faustus wird Beethovens Spätwerk einer Mythisierung unterzogen.45
Das Mittel der Zurücknahme ist die „rationale[] Durchorganisation des gesamten
musikalischen Materials“ (PhnM: 56): Wie Zeitblom zugespitzt formuliert, soll
Leverkühns Weheklag „keine freie Note mehr“ (DF: 704) haben, weil das ganze
Stück von der zwölftönigen Reihe abgeleitet wird, die vor dessen Verschriftli-
chung festgelegt wird. Zwar enthält auch die Weheklag heterogene Elemente, aber
diese Heterogenität findet – so in der Darstellung Zeitbloms – in der Gebundenheit
einen Platz, sprich: in der Vorherbestimmung der Reihe.46 Durch intermedia-
les telling, worauf in Kapitel eins bereits eingehend Bezug genommen wurde,47
werden im Roman die Kontinuitäten und Differenzen zwischen Leverkühns fik-
tiver Kantate und Beethovens Neunter Symphonie hervorgehoben, etwa dieselbe
Dauer48 und die Variationen der Klage anstatt des Jubels, weswegen Zeitblom
von negativer Verwandtschaft mit Beethovens Werk spricht.49
Im vorigen Kapitel über die Apocalipsis cum figuris wurde bereits kurz die
Frage erläutert, wo im Rahmen der musikalischen Deklination des apokalypti-
schen Diskurses des Romans Transzendenz erreicht werde, wo also der Neubeginn
der Musik aus ihrer Krise zu situieren sei.50 Die erste logische Antwort wäre,
wie im vorliegenden Kapitel herausgearbeitet wurde, dass die Sterilität der Musik
durch die Zwölftontechnik repräsentiert wird. Was diese Argumentation jedoch
ins Schwanken bringt, sind die zahlreichen intramedialen Bezüge auf Adornos
Musikphilosophie. Diese heben vor allem das Scheitern von Leverkühns Vorha-
ben einer größeren Ausdrucksfähigkeit der Musik hervor: Seine Kantate kann

Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993; Ders.: Ludwig van Beethoven. Sechs Bagatellen für
Klavier op. 126. In: Ders.: Musikalische Schriften V. In: Ders.: Gesammelte Schriften
Bd. 18. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 185–188; Ders.: Spätstil Beethovens.
In: Musikalische Schriften IV. Moments musicaux; Impromptus. In: Ders.: Gesammelte
Schriften Bd. 17. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 13–17.
44 Nach der Auffassung Tamblings wird die Neunte Symphonie zurückgenommen, denn

„art cannot afford any triumphalism“. Tambling, Jeremy: Opera and Novel Ending
Together: Die Meistersinger and Doktor Faustus. In: Forum for Modern Language Studies
48 (2012) H. 2, S. 208–221, hier: S. 209.
45 Siehe Lubkoll: Beethovens „Spätstil“, S. 139.
46 Vgl. etwa DF: 704 u. 706.
47 Vgl. 1.1.5.
48 „ca. fünf Viertelstunden“ (DF: 705).
49 Vgl. ebd.
50 Vgl. 4.1.1.
5.1 Leverkühns Abschied 137

sich von der strengen Form nicht befreien und vermag im Endeffekt nichts
Anderes als Klage auszudrücken.51 Über den fiktiven Autor dieses Vorhabens
macht sich der Erzähler lustig, da auch die Aufführung des Stückes scheitert
und von der Weheklag im Folgenden nicht mehr die Rede ist. Auf die Frage,
ob sie irgendwo aufgeführt oder publiziert werde, schweigt der Erzähler. Statt-
dessen wird die Leser*innenschaft darüber informiert, dass der (unzuverlässige)
Erzähler nun doch die Entscheidung getroffen hat, seine fiktive Biographie über
Adrian Leverkühn veröffentlichen zu lassen, und zwar bei einem amerikanischen
Verlag.52 Die intramedialen Bezüge auf Adornos Texte dienen also dazu, das
Scheitern hervorzuheben und einen Kontrast zu den mythisierten und als gelungen
dargestellten Versuchen Beethovens zu bilden.
Die Möglichkeit eines Neubeginns, was für die Präsenz einer transzendentalen
Ebene des apokalyptischen Diskurses sprechen würde, räumt Zeitblom vielleicht
nur bezüglich des Endes des Stückes ein:53

Hier, finde ich, gegen das Ende, sind die äußersten Akzente der Trauer erreicht,
ist die letzte Verzweiflung Ausdruck geworden, und – ich will’s nicht sagen, es
hieße die Zugeständnislosigkeit des Werkes, seinen unheilbaren Schmerz verletz-
ten, wenn man sagen wollte, es biete bis zu seiner letzten Note irgend einen anderen
Trost, als den, der im Ausdruck selbst und im Lautwerden, – also darin liegt, daß
der Kreatur für ihr Weh überhaupt eine Stimme gegeben ist. Nein, dies dunkle
Tongedicht läßt bis zuletzt keine Vertröstung, Versöhnung, Verklärung zu. Aber
wie, wenn der künstlerischen Paradoxie, daß aus der totalen Konstruktion sich der

51 Gleichwohl mag man einwenden, dass Zeitblom beim Beschreiben der Weheklag der
Komposition doch Ausdrucksfähigkeit zuschreibt. Der Erzähler spricht etwa von „freie[r]
Sprache des Affekts“ (DF: 704), die sich trotz der Gebundenheit des Werkes vollzieht und
„unendlich komplizierter, unendlich bestürzender und wunderbarer in seiner Logik […] als
zur Zeit der Madrigalisten“ (ebd.) erscheint. Diese Auffassung lässt sich gut auf Adornos
vorher präsentierte These eines Sich-Verabschiedens der Musik Schönbergs vom „Schein
der Passionen“ (PhnM: 44) zurückführen. Nichtsdestotrotz wird im ganzen intermedialen
telling Zeitbloms fast nur von einem einzigen Affekt berichtet: dem der verzweifelten
Klage. Die fiktive Komposition scheint daher vergleichbar mit Adornos Einstellung zu den
Kompositionen Schönbergs ebenfalls von Eintönigkeit geprägt zu sein. Diese Idee einer
mangelnden Ausdrucksfähigkeit verstärkt sich in der Abschiedsrede, in der die Unfähigkeit
Leverkühns gezeigt wird, seine Komposition aufzuführen.
52 Vgl. DF: 664. Die Frage wäre legitim, wieso Zeitblom ausgerechnet in den USA in

englischer Übersetzung publizieren lässt, obwohl er zugleich an der Übersetzbarkeit seines


Textes zweifelt. Dies erweckt den Eindruck, Zeitblom wolle die Biographie dort publizie-
ren lassen, wo niemand seinen Freund kennt und niemand den Wahrheitsgehalt der fiktiven
Schrift beurteilen kann.
53 Bemerkenswert ist, dass eben im letzten Satz der Neunten Symphonie der Chor

eingeführt wird.
138 5 Dr. Fausti Weheklag

Ausdruck – der Ausdruck als Klage – gebiert, das religiöse Paradoxon entsprä-
che, daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung
keimte? Es wäre die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz
der Verzweiflung, – nicht der Verrat an ihr, sondern das Wunder, das über den Glau-
ben geht. Hört nun den Schluß, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach
der anderen tritt zurück, und was übrigbleibt, womit das Werk verklingt, ist das
hohe g eines Cello, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in pianissimo-
Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr. – Schweigen und Nacht. Aber
der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur
die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr,
wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht. (DF: 647 f.; Herv. A. O.)

Das Zitat zeigt, dass Zeitblom in Leverkühns Kantate keine Möglichkeit der
Überwindung des krisenhaften Zustands der Musik sieht, obwohl am Anfang
ein gegensätzlicher Eindruck erweckt wird. Die dort vertretene Idee verneint er
aber schon im zweiten Satz. Mit den Mitteln der totalen Konstruktion ist nur
der Ausdruck der Klage möglich. Die Musik kommt zum Verstummen und dann
ist nichts mehr. Wegen des Versagens der musikalischen Mittel ist die einzige
Transzendenz kraft des religiösen Paradoxons ein Neubeginn aus der Verzweif-
lung:54 Nicht durch Musik erreichbar, sondern durch die Wandlung des letzten
Tons ins Licht („visuelle Metapher“).55 Da jenes Licht zudem einen intramedia-
len Bezug auf Dante darstellt,56 ist vielleicht das Stadium B der Transzendenz
nur im Medium der Literatur möglich. Dieses Verstummen der dort beschriebe-
nen Musik lässt sich dennoch laut Börnchen durch die Lektüre des Textes und die
„,Achs‘ mit der eigenen Stimme“57 überwinden:58

So, und nur so, ist es möglich, daß durch das ,Schweigen‘ […] des Textes hindurch
tatsächlich ein ,Klang der Trauer‘ zu hören ist: Die Elegie, die man vernimmt, ist
das Echo des eigenen ,Achs‘.

Der Text in seiner „Aufführungsdimension“ des Vorlesens wehrt sich gegen den
Erzähler und seine Darstellung; auch die Unzuverlässigkeit des Erzählers lässt

54 Dieses Konzept ist in Thomas Manns Reden und Schriften an mehreren Stellen zu

finden, siehe z. B.: „Wenn Verzweiflung begänne, sich in eure Seelen zu schleichen, es
wäre gut, Deutsche, es wäre der Anfang des Guten. Verzweiflung ist gut, sie ist besser als
feige Prahlerei“ (DH: 47). Darüber hinaus findet das auch im Teufelsgespräch Erwähnung:
siehe DF: 331 f.
55 Ebd., S. 149.
56 Siehe ebd.
57 Börnchen: Kryptenhall, S. 321.
58 Ebd.
5.2 Vom Roman zur Musik 139

sich – wie im siebten Kapitel der vorliegenden Studie konstatiert – nur durch
die Lektüre und die Leser*innenschaft überwinden.59 Zu Recht meint Börnchen,
dass „[m]it der Beschreibung der ,Weheklag‘ […] der Doktor-Faustus-Roman
selbst zum Klagetext“60 werde: Etwa durch die Echo-Wirkung der verwende-
ten Wörter sowie durch die sprachlich-lexikalischen Affinitäten simuliert und
(teil-)reproduziert der Text eine (Marien-)Klage.61
Die letzten Kapitel des Romans beinhalten und führen zu vielen metamedialen
Reflexionen, die entweder vom Erzähler selbst explizit formuliert werden oder
durch zahlreiche intermediale Einzel- und Systemreferenzen angeregt werden.62
Die vorigen Ausführungen gingen beispielsweise auf Adornos Musikphiloso-
phie, Beethovens Neunte Symphonie, Monteverdi und die Marienklage ein, um
die Merkmale der Dr. Fausti Weheklag zu veranschaulichen. Zu diesen zählen
die Subversion von musikalischen Konventionen durch eine Art von Musik, die
um eine vordeterminierte, zwölftönige Reihe kreist und dementsprechend Zeit-
blom zufolge den Ausdruck nur als Klage vermitteln kann. Im Roman dient die
Zwölftontechnik als Paradebeispiel für die Sterilität der Kunst: Dieser Auffas-
sung lässt sich vor allem auf der interpretatorischen Ebene der Rezeptions- und
Wirkungsästhetik widersprechen, also vonseiten der Leser*innenschaft. Wie die
Leser*innenschaft auf diese Darstellung der Dodekaphonie reagiert, wenn sich
diese aus Komponist*innen der Neuen Musik zusammensetzt, soll im folgenden
Teil beleuchtet werden.

5.2 Vom Roman zur Musik

Im Folgenden wird auf die Kompositionen eingegangen, die auf die letzten
Kapitel des Romans oder nur auf die Weheklag Bezug nehmen. Diese sind: Gia-
como Manzonis Oper Doktor Faustus, von der einige Bilder behandelt werden,
György Ránkis Leverkühns Abschied, Peter Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“
und Humphrey Searles The Lamentation of Dr. Faustus. Es soll untersucht werden,
wie die vorher beschriebenen Merkmale von Leverkühns Kantate, etwa Ausdruck

59 Siehe auch Barthes’ Begriff des ,lauten Schreibens‘: Barthes: Die Lust am Text, S. 97 f.
Vgl. 7.1.2.
60 Ebd., S. 312.
61 Zur Terminologie sei hier auf Rajewsky verwiesen: Intermedialität, S. 94–113.
62 Vgl. auch ebd., S. 305: „Daß der Doktor Faustus mit der Erzählung der Musik sich selbst

als Text reflektiert, könnte kaum deutlicher werden als in der Beschreibung der ,Weheklag‘.
Sie ist die umfangreichste Musikschilderung in Thomas Manns Œuvre; und sie bildet den
Höhepunkt des Musikromans Doktor Faustus“.
140 5 Dr. Fausti Weheklag

als Klage und durchorganisierte Form vom Medium der fiktionalen Schrift in
das Medium der Musik transferiert werden. Daneben liegt der Fokus der Ana-
lyse darauf, wie diese letzte Phase im kompositorischen Werdegang Leverkühns
in Werken der Neuen Musik dargestellt wird.

5.2.1 Giacomo Manzonis Oper Doktor Faustus

Das erste Werk, das in diesem zweiten Teil des vorliegenden Kapitels näher vor-
gestellt wird, ist vom italienischen Komponisten Giacomo Manzoni (*1932) und
in Opernform. Im Folgenden wird zunächst einmal geschildert, wie Manzoni den
Roman und Adornos Musikphilosophie in seinen Schriften rezipiert. Auch wird
darauf eingegangen, wie das Projekt, eine Oper nach Doktor Faustus zu schreiben,
entstanden ist. Schlussendlich werden einige Szenen, die bei Manzoni allerdings
als Bilder bezeichnet werden, in den Fokus gerückt: Diese setzen sich mit den
Kapiteln aus dem Roman, die im ersten Teil dargelegt wurden, auseinander. Die
Analyse der Bilder folgt der Reihenfolge von Roman und Oper.

5.2.1.1 Entstehung der Oper und Rezeption des Romans sowie


der Texte Adornos in Manzonis Selbstkommentaren
Da Manzonis Oper Eingang in mehrere Kapitel der vorliegenden Studie findet,
bedarf sie zunächst einmal einer Kontextualisierung. Manzonis autobiographi-
sche Schriften dienen dabei lediglich als Hintergrundinformationen für die spätere
Analyse, die wie sonst die Komposition, oder in diesem Fall – genauer gefasst –
die Veroperung, auf der Suche nach Kontinuitäten und Differenzen mit der Vor-
lage vergleicht. Ein weiterer Grund für diese Kontextualisierung von Autor und
Werk liegt darin, dass die meisten Texte von Manzoni, der sein Schaffen und sein
Œuvre beinahe ebenso häufig wie Thomas Mann kommentiert, nie ins Deutsche
übersetzt wurden. Aus diesem Grund möchte die vorliegende Studie einige Auf-
fassungen des Komponisten, insbesondere bezüglich der Oper Doktor Faustus, in
kondensierter Form der deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich machen.63
Giacomo Manzonis Oper Doktor Faustus war eine Auftragskomposition des
Teatro alla Scala in Mailand, in die das berühmte Opernhaus viel investierte:
Für die Uraufführung im Mai 1989 wurden Gary Bertini als Dirigent, Robert
Wilson als Regisseur und Bühnenbildner und Gianni Versace als Kostümbildner
engagiert. Trotz seiner sehr guten Kenntnis der deutschen Sprache – besonders

63 Diesen Zweck verfolgt auch das Interview im Anhang. Zum Umgang der vorliegenden

Arbeit mit Selbstaussagen von Autor*innen und biographischen Daten vgl. 1.2.
5.2 Vom Roman zur Musik 141

interessant in der Biographie von Giacomo Manzoni ist neben dem Studium der
Germanistik die intensive Auseinandersetzung mit den Texten Schönbergs und
Adornos, die er ins Italienische übersetzte –64 entschied sich Manzoni, seine Oper
in italienischer Sprache zu verfassen. Diese basiert primär auf der italienischen
Übertragung von Doktor Faustus von Ervino Pocar.65 Für diese Entscheidung
hatte Manzoni verschiedene Gründe, die er in seinen Schriften erläutert. Erstens
spricht er von einer bewussten und absichtlichen Distanz zum ursprünglichen
Text: „un teatro proprio così obbligato a non confondersi con la propria fonte
letteraria“.66 Zweitens hebt er hervor, dass eine Übersetzung einen größeren Grad
an Freiheit mit sich bringe, denn sogar eine wörtliche Übersetzung biete die Mög-
lichkeit, zwischen unterschiedlichen Ausdrücken zu wählen.67 Drittens spricht
er von einer sogenannten „sgermanizzazione“68 des Romans, wörtlich übersetzt:
eine Entgermanisierung, die er folgendermaßen begründet:69

Dall’altra parte forse c’era anche una voglia istintiva antifilologica, perché non
da oggi l’idea di affrontare un testo che non sia nella lingua originale è sempre
considerata poco seria, non giusta, addirittura scorretta: da questo ho voluto in
qualche modo prendere le distanze, forse anche togliermi di dosso, sempre sul

64 Zum Komponisten siehe auch: Osmond-Smith, David: Manzoni, Giacomo. In: Grove
Music Online. Zuerst veröffentlicht 20.01.2001, online veröffentlicht 2001, Werkver-
zeichnis am 29.05.2002 aktualisiert. < https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.
17692> (letzter Zugriff: 21.08.2020). Manzoni übersetze u. a. auch Adornos Philosophie
der Neuen Musik ins Italienische. Exemplarisch sei hier auf die folgenden zwei Überset-
zungen verwiesen: Adorno, T. W.: Filosofia della musica moderna. Übers. v. G. Manzoni.
Turin: Einaudi 1959; Schoenberg, Arnold: Elementi di composizione musicale. Übers. und
mit einer Einleitung v. G. Manzoni. Mailand: Suvini Zerboni 1969.
65 Vgl. Mann, T.: Doctor Faustus. La vita del compositore tedesco Adrian Leverkühn

narrata da un amico. Übers. v. Ervino Pocar. Mailand: Mondadori 1949.


66 „Eine Art von Theater, die verpflichtet ist, sich nicht mit der literarischen Vorlage zu

verwechseln“ (Übersetzung A. O., wenn nicht anders spezifiziert). Manzoni, Giacomo: Il


linguaggio del Doktor Faustus. Conversazione di Giacomo Manzoni, Luigi Pestalozza e
Giovanni Raboni (1989). In: Musica e progetto civile. Scritti e interviste (1956–2007).
Hrsg. v. Raffaele Pozzi. Mailand: Ricordi LIM 2009, S. 304–316, hier: S. 305.
67 Vgl. Manzoni: Parole per musica. Da Dante a Ginsberg. Palermo: L’Epos 2007, S. 80.
68 Manzoni: Il linguaggio del Doktor Faustus, S. 305.
69 „Andererseits gab es vielleicht einen instinktiven antiphilologischen Willen, weil seit

langer Zeit die Idee, sich mit einem Text nicht in seiner ursprünglichen Sprache zu beschäf-
tigen, für wenig ernst, nicht richtig, sogar unkorrekt gehalten wird: Schon immer wollte
ich irgendwie davon Abstand nehmen, vielleicht auch mich, immer auf der Unterbewusst-
seinsebene, von dieser Etikettierung des Germanisten, des ,tedescomane‘ befreien, die ich
so auch weiterhin hatte, seit den Universitätsjahren, seit der Zeit meiner Übersetzungen“.
Ebd., S. 305 f.
142 5 Dr. Fausti Weheklag

piano del subconscio, questa etichetta del germanista, del tedescomane, che avevo
addosso da sempre, dai tempi universitari, dai tempi delle mie traduzioni.

Dieses Konzept der Italienisierung bzw. Internationalisierung des Romans – inso-


fern Manzoni Faust nicht nur als typisch deutsche Figur, sondern auch als
europäische und universelle interpretiert –70 bringt ihn bei der notwendigen Aus-
wahl von Textpassagen und Figuren zur Reduktion der zwei Zeitebenen des
Romans auf die einzige Zeitebene des Lebens von Leverkühn, wodurch die Ebene
des Zweiten Weltkriegs annähernd eliminiert wird. Der Untertitel „Scene dal
romanzo di Thomas Mann“71 verdeutlicht, dass nicht die ganze Handlung von
Manns Roman berücksichtigt wurde und dass es sich aus Sicht der Intermediali-
tätsforschung um ein partielles intermediales Produkt handelt. Die historische Zeit
der extradiegetischen Narration wird ausgelassen und zur Aufgabe des Szenogra-
phen: In der Mailänder Premiere zeigte das Bühnenbild den Brand des Reichstags
und zwei Landkarten. Wie begründet Manzoni diese Entscheidung? „Perché non è
mio, non è nostro: si ritorna alla questione della lingua“.72 Der Komponist ist der
Auffassung, Italiener*innen könnten gewisse Themen des Romans schwer nach-
vollziehen, etwa die lutheranische Religion oder Aspekte des deutschen Wesens:
Manzonis Lektüre von Thomas Manns Doktor Faustus ist interkulturell deter-
miniert, insofern sie auf kulturell bedingte Grenzen aufmerksam macht, was die

70 „Faust […] è figura storicamente tedesca. […] Ma è forse il caso di ricordare che da
Marlowe a Berlioz, Busoni, Clair, Puskin [sic], Rostand, Smetana e mille altri Faust è
diventato per così dire parte costitutiva della cultura europea? O sottolineare che in esso si
esprime l’esigenza […] profondamente e universalmente umana al superamento del conti-
gente […]?“. „Faust ist, historisch gesehen, eine deutsche Figur. […] Aber soll man daran
erinnern, dass von Marlowe über Berlioz, Busoni, Clair, Puškin, Rostand, Smetana und
vielen anderen Faust sozusagen zum Bestandteil der europäischen Kultur geworden ist?
Oder soll man unterstreichen, dass durch diese Figur das tiefe und universell menschliche
Bedürfnis nach der Überwindung des Zufälligen ausgedrückt wird […]?“. Manzoni: Parole
per musica, S. 81. Hier hat Manzoni Teile eines früheren Aufsatzes veröffentlicht, in dem
er in der dritten Person Singular über die Entstehung seiner Oper sprach. Vgl. Manzoni: Il
lungo cammino del Doktor Faustus (1987). In: Manzoni, Giacomo: Scritti. Hrsg. v. Clau-
dio Tempo. Scandicci (Florenz): La Nuova Italia 1991, S. 113–121. Der Text ist außerdem
im Programmheft der Premiere am Teatro alla Scala veröffentlicht (S. 31–35).
71 „Szenen aus Thomas Manns Roman“. Der Titel spielt auch auf Robert Schumanns

Szenen aus Goethes Faust an.


72 „Weil es mir [Manzoni], uns [Italiener*innen] nicht gehört: So kommt man zur Frage

der Sprache zurück“. Manzoni: Il linguaggio del Doktor Faustus, S. 310. Trotzdem benutzt
Manzoni den deutschen Titel und nicht den italienischen (Doctor Faustus) für seine Oper.
5.2 Vom Roman zur Musik 143

Rezeption des Romans vonseiten des italienischen Publikums angeht.73 Die Pro-
blematik der Sprache und der Kultur spielt in seinem Werk eine zentrale Rolle. In
einem Aufsatz über den italienischen Komponisten Bruno Maderna, der ebenfalls
der Neuen Musik zugeordnet werden kann, führt er aus, warum er die jeweilige
Kultur so stark in den Blick nimmt: „Denn der Mensch […] kann in keinem Fall
außerhalb seiner unmittelbaren Erfahrung, also seines Landes und seiner Kultur,
gedacht werden“.74 Diese Position ist auch mit dem in mehreren Schriften geäu-
ßerten Wunsch Manzonis nach mehr Verständnis für die zeitgenössische Musik
verbunden. Folgerichtig verzichtet Manzonis Doktor Faustus auf die deutsche
Sprache und den Rekurs auf vom ihm als zu deutsch empfundene Motive und
Diskurse.
Worauf Manzoni im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Komponist*innen
nicht verzichtet, ist auf die Form der Oper.75 Oft stellen Manzonis Opern ein
Resümee von Tendenzen dar, die in vereinzelter Form in vorigen Kompositionen
sichtbar werden: Doktor Faustus definiert er beispielsweise als einen „Ankunfts-
punkt“.76 Die Konzeption von Leverkühns letzter Kantate ist Manzonis Schaffen
nicht fremd. Der Komponist beschreibt beispielsweise sein Gesamtwerk in seinen
Schriften ebenfalls als „ein Werk äußerster Kalkulation, zugleich rein expressiv“
(DF: 707):77

73 Siehe ebd.
74 Manzoni: Bruno Maderna. In: Die Reihe – Information über serielle Musik. Junge Kom-
ponisten 4. Hrsg. v. Herbert Eimert unter Mitarbeit v. Karlheinz Stockhausen. Wien (u. a.):
Universal Edition 1958, S. 113–118, hier: S. 113. Daher spricht der Musikwissenschaftler
Joachim Noller von ,italianità‘ in der Produktion Manzonis. Vgl. Noller, Joachim: Enga-
gement und Form. Giacomo Manzonis Werk in kulturtheoretischen und musikhistorischen
Zusammenhängen. Frankfurt am Main (u. a.): Lang 1987, S. 66.
75 Dazu vgl. auch Sorg: Beziehungszauber, S. 165 f.
76 Vgl. Pozzi, Raffaele: Postfazione. Musica nuova per una nuova società. Colloquio con

Giacomo Manzoni di Raffaele Pozzi (2008). In: Musica e progetto civile, S. 437–490,
hier: S. 474.
77 „Es existiert kein Naturzustand, in dem der reine und naive Komponist Meisterwerke

produziert, indem er den Gefühlen freien Lauf lässt. Die Werkstätten der Komponisten
aller Zeiten sind von Blättern überfüllt, die Notizen, Studien, Korrekturen, Ergänzungen,
Überarbeitungen enthalten: Aus der ursprünglichen Idee – die nie ein Gefühl ist! – keimt
progressiv, mit Arbeit, mit Mühe, eine Komposition auf, die eine in die Musik übersetzte
mentale Struktur ist. Sie drückt nur sich selbst aus, und wahrscheinlich produziert sie
so dieses Fühlen, diese ,Gefühle‘, die wir an der Wurzel der Komposition behaupten“.
Manzoni: Il ritorno del rimosso. Il linguaggio della musica come espressione di sentimenti?
(2000). In: Ders. (Hrsg.): Musica e progetto civile, S. 368 f.
144 5 Dr. Fausti Weheklag

Non esiste uno stato di natura in cui il musicista ingenuo e puro crei capolavori
dando la stura ai sentimenti. I laboratori dei compositori di tutti i tempi rigurgitano
di fogli che contengono appunti, studi, correzioni, integrazioni, rifacimenti: dall’
idea primigenia – che non è un sentimento! – germina a poco a poco, con lavoro,
con fatica una composizione che è una struttura mentale tradotta in musica. Essa
esprime solo se stessa, e forse così facendo provoca quel sentire, quei „sentimenti“
che crediamo stiano alla radice della composizione stessa.

Ausgangspunkt des Komponierens sei also nicht ein Gefühl, sondern eine prä-
zise Konzeption: Auch hier taucht Adornos Idee einer rationalen Organisation
des musikalischen Materials auf. Eine weitere Auffassung, die sichtbar wird,
ist die der Selbstreferentialität der Musik, d. h. von solchen – Eco zufolge –
„rein syntaktisch[en]“ Systemen „ohne offensichtliche semantische Dichte“:78
Eine Komposition verweise dem obigen Zitat entsprechend nur auf sich selbst und
nicht auf Konzepte oder Gegenstände, die außerhalb ihrer selbst liegen. Laut Man-
zoni konstruiert außerdem ein Komponist Emotionen:79 An erster Stelle stehe,
weil das Komponieren eng mit der Architektur verbunden sei, immer die Struk-
tur. Ohne eine Skizze, einen Plan oder ein Projekt könne der Komponist mit
keinem Werk anfangen.80 Joachim Noller bezeichnet dies als „Vereinbarkeit von
Rationalität und Intuition“.81
Giacomo Manzoni schwebte schon lange Zeit eine Oper über Doktor Faustus
vor: Er kannte das Werk Thomas Manns sehr gut, da er bereits während seiner Zeit
an der Universität Die Buddenbrooks gelesen und am Ende seines Germanistikstu-
diums eine Arbeit über „Die Rolle der Musik im Werk Thomas Manns“ verfasst
hatte. Wie konnte man aber eine solche Herausforderung annehmen und ca. 700
Seiten vertonen? Die logischste Lösung, so der Komponist, wäre eine Art Kino-
version mit verschiedenen Figuren und Episoden gewesen, wobei jedoch auf diese
Weise Leverkühns Geschichte eine untergeordnete Rolle gespielt hätte.82 Eine
andere Möglichkeit wäre das Verfassen eines selbstständigen Librettos gewesen.
Dafür hätte er jedoch einen guten Librettisten suchen müssen, der den Text für
die Musikbühne adaptiert: Dies hätte eine vergleichsweise stärkere Bearbeitung
des Textes sowie die Zusammenarbeit mit einer anderen Person von Beginn des

78 Eco: Einführung in die Semiotik, S. 106 f.


79 Vgl. Manzoni: Il linguaggio del Doktor Faustus, S. 314.
80 Siehe Manzoni: Su Scene sinfoniche per il Doktor Faustus di Thomas Mann, su Kla-

vieralbum 1956 e Incipit (1986). In: Ders. (Hrsg.): Musica e progetto civile, S. 293–298
(insb. S. 297).
81 Noller: Engagement und Form, S. 66.
82 Vgl. Manzoni: Parole per musica, S. 78 f. Auch hier zitiert Manzoni aus dem bereits

erwähnten Aufsatz (siehe Fußnote 69).


5.2 Vom Roman zur Musik 145

Projektes an implizieren können. Letztendlich traf der Komponist die Entschei-


dung, dem Originaltext zu folgen und gewisse Episoden, etwa die Begegnung
mit Esmeralda, das Teufelsgespräch, die Fitelberg- und die Echo-Episode, Lever-
kühns Abschiedsgespräch und Tod, auszuwählen. Da die wichtigsten Stellen des
Romans in direkter Rede, entweder als Dialog oder als Selbstgespräch, verfasst
sind, mussten diese Romanstellen für sein Opernprojekt lediglich ausgewählt und
nur minimal bearbeitet werden.83 Manzonis Oper konzentriert sich ganz und gar
auf Leverkühn, insbesondere auf den zweiten Teil des Romans, von der Bordell-
szene bis zum Tod Leverküns und dem Epilog Zeitbloms.84 Es handelt sich um
eine – so Sorg – „bewusste episodische Dramaturgie“,85 also um eine Dramatur-
gie, die auf dem Nebeneinander von Bildern basiert.86 Aus dieser Auswahl von
Passagen und Figuren ergibt sich eine Gesamtdauer von zwei Stunden.
Wodurch aber zeichnet sich Manzonis Lektüre von Thomas Manns Roman
anhand einiger von ihm verfassten Kommentare aus? Keineswegs liest der Kom-
ponist das Werk als Hoffnungsroman: Doktor Faustus trage „von Anfang an das
Mal der Katastrophe“.87 Mehr noch, der Roman sei „quasi die Rache, die der
Autor der Buddenbrooks, der bedeutende Interpret der bürgerlichen Dekadenz
und des Endes einer Geschichts-, Kultur- und Kunstepoche an dem nimmt, was
zu seinem Bedauern eintreten MUSS“,88 nämlich eine neue musikalische Ära.
Gegen seinen Willen habe Thomas Mann eine Kunst geschildert, die noch avant-
gardistischer als die seiner oder der postwagnerischen Epoche Leverkühns ist,
denn

[d]ie musikalische Vision […], die er dann am Ende der sinfonischen Kantate über
Faust gibt, enthält viele avantgardistische Anstöße, beinhaltet eine musikalische

83 Siehe ebd., S. 79. Die Wahl der italienischen Sprache erlaubt Manzoni eine gewisse

Distanz zum Text, sodass er im Gegensatz zu Mann die Figur Zeitbloms bis zum Epilog
nicht braucht. Vgl. auch Ent: 28.
84 Ein Vergleich der Handlung von Manzonis Oper mit den entsprechenden Kapiteln von

Doktor Faustus findet sich in der Monographie Sorgs: Beziehungszauber, S. 179.


85 Ebd., S. 180.
86 Siehe Konold, Wulf: Giacomo Puccini. In: Kloiber, Rudolf, Wulf Konold u. Robert

Maschka (Hrsg): Handbuch der Oper. Kassel (u. a.): dtv/Bärenreiter, S. 555–581, hier:
S. 573.
87 Manzoni: Anmerkungen zum Doktor Faustus (1980). Übers. v. Angelika Schweikert. In:

Hoffmann, Heike u. a. (Hrsg.): Die musikalische Welt des Adrian Leverkühn. Ein Projekt
zum ,Faustus‘-Roman von Thomas Mann. Konzerthaus Berlin 1996–97, S. 47–64, hier:
S. 47. Dieser Text stellt die deutsche Übersetzung von Manzonis Vorwort zur Ausgabe
von 1980 von Doktor Faustus bei Mondadori Mailand dar.
88 Ebd., S. 58, Herv. i. O.
146 5 Dr. Fausti Weheklag

Konzeption, die ganz von den Bedingungen des Materials ausgeht. Auf eigen-
tümliche Weise scheinen sie zuweilen direkt mit den experimentellen Werken der
späteren Generation verbunden zu sein.89

In der Definition des strengen Satzes könne man „die Antizipation technischer und
kompositorischer Alternativen“90 erkennen, „die die europäischen Komponisten
zu Beginn der 1950er Jahre bei den Ferienkursen in Darmstadt anstrebten“.91
Zusammengefasst: Laut Manzoni antizipiert Doktor Faustus die musikalischen
Konzeptionen Nonos, Stockhausens und Madernas, um einige Komponisten der
Neuen Musik zu nennen, die in den 1950er Jahren Kurse in Darmstadt angeboten
haben. Zusammen mit den Donaueschinger Musiktagen galten diese Kurse als
eine der wichtigsten Adressen für die zeitgenössische Musik.92
Manzoni zufolge skizziert der Roman mögliche Lösungswege gegen die Ste-
rilität der Kunst bei gleichzeitiger Klage über ihren hoffnungslosen Zustand.
Dies aber in seiner intermedialen Transposition umzusetzen, erscheint dem
Komponisten kaum möglich:93

Es ist sicher nicht leicht, diesen ganzen kulturhistorischen Kontext zu ignorie-


ren, der sich dem Roman angelagert hat; und es ist noch schwieriger, geradezu
abenteuerlich, die Meinungen des Autors über sein Werk gewissermaßen in Par-
enthese zu setzen und auszuprobieren, ob das Werk vielleicht eine andere Leseart
erlaubt, zumal ja bekanntlich der Inhalt eines Kunstwerks genau dort beginnt, wo
die Absicht des Autors aufhört, denn diese wird im Inhalt ausgelöscht.

Manzoni zufolge ist es schwierig, sich von einer hermeneutischen Lesart zu


distanzieren und bei einer intermedialen Transposition die Selbstkommentare des
Autors und den Entstehungskontext vollkommen zu ignorieren; zugleich spricht
er zu Recht eine Interpretationsproblematik an, die zwar nicht ausschließlich
Thomas Manns Roman betrifft, im Fall dieses Werkes jedoch aufgrund der Über-
fülle an Selbstkommentaren des Autors besonders akut erscheint, nämlich die

89 Ebd., S. 53. Das wurde in der vorliegenden Studie auch über die Komposition Apoca-
lipsis cum figuris festgestellt, die einiges mit der Musik der 1970er/1980er Jahre gemein
hat, sowie von Konrad Boehmer, der sich in der Nachkriegszeit mit dem Problem der
Denaturierung des Klanges beschäftigt (vgl. Kap. 4).
90 Ebd., S. 56.
91 Ebd.
92 Vgl. Reißfelder, David u. Andreas Meyer: Art. Darmstadt, 20. und 21. Jahrhundert: Die

Internationalen Ferienkurse für Neue Musik. In: MGG Online. Veröffentlicht September
2019. <https://www.mgg-online.com/mgg/stable/52499> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
93 Manzoni: Anmerkungen, S. 48.
5.2 Vom Roman zur Musik 147

Deutung dieser Überfülle an Selbstkommentaren. Manzoni kritisiert in seinen


Schriften eine gewisse Tendenz zum Negativen bei Mann und Adorno,94 erklärt
sich aber nicht bereit, in seiner Oper im Namen einer von ihm für übergeordnet
erklärten Autorintention eine andere Interpretation zu offerieren. In der folgen-
den Analyse von Manzonis Oper lohnt es sich aber zu untersuchen, ob sich diese
tatsächlich ohne zu hinterfragen an Zeitbloms Kulturpessimismus hält, denn laut
Noller wäre dies für Manzoni atypisch: „Dem […] negativen Denken hält er die
Möglichkeit einer ,positiven‘ Kultur entgegen, die u. a. auch der notwendigen
Vermittlerfunktion zwischen Hörer und neuer Musik gerecht werden kann“.95
Nicht nur rücken seine Schriften vom Kulturpessimismus Adornos ab, sie neh-
men auch Abstand von der Idee eines übertriebenen Drangs zur Konstruktion,
von Überdetermination der Neuen Musik verglichen mit anderen musikalischen
Epochen bzw. Strömungen:96

[L]a musica del Medioevo europeo non è per certi aspetti meno complessa della
dodecafonia dell’inizio del secolo scorso, quella di Bach o Mozart non richiede
diversa applicazione e approfondimento rispetto a quella di ricerca più avanzata.
Non si conosce insomma nelle civiltà del pianeta – salvo qualche fenomeno affatto
marginale e ininfluente – una musica che si produca al di fuori di qualsiasi
conoscenza teorica e artigianale.

In diesem Sinne muss also die Hoffnung auf zukünftige Musik nicht in Dok-
tor Faustus, sondern im Werk der Komponist*innen der Nachkriegsjahre sowie
der heutigen Zeit gesucht werden. Diese seien von der Möglichkeit eines Kul-
turoptimismus bzw. eines Kulturpositiven überzeugt und betrachteten diese als
Grundlage ihrer Arbeit:97

Dieses Neue, an das Thomas Mann nicht glauben konnte, hat ihm quasi gegen den
eigenen Willen die Botschaft einer authentischen Erlösung der Musik der Zukunft
eingegeben. Es ist die Musik derer, die heute trotz der neueren Tragödien der

94 Siehe Manzoni: Adorno e la musica degli anni Cinquanta e Sessanta in Italia (1980).

In: Ders. (Hrsg.): Musica e progetto civile, S. 253–269 (insb. S. 257).


95 Noller: Engagement und Form, S. 78.
96 „Die Musik des europäischen Mittelalters ist unter gewissen Gesichtspunkten nicht weni-

ger komplex als die Dodekaphonie des Anfangs des letzten Jahrhunderts, die Musik Bachs
oder Mozarts verlangt den selben Fleiß und dieselbe Vertiefung wie experimentelle Musik.
Wir kennen also in allen Kulturen der Welt – mit der Ausnahme einiger marginalen Phä-
nomene ohne Einfluss – keine Art von Musik, die ohne theoretische und handwerkliche
Kenntnis produziert wird“. Manzoni: Parole per musica, S. 143.
97 Manzoni: Anmerkungen, S. 59.
148 5 Dr. Fausti Weheklag

Menschheit das Vertrauen nicht verloren haben, sich mit der Stimme der Kunst
ausdrücken zu können.

Diesen Kulturoptimismus verbindet Manzoni nicht selten mit einem gesellschaft-


lichen Optimismus. Dies betrifft auch seine Interpretation von Doktor Faustus:
Dort werde eine Utopie geschildert, „die zu ihrer Verwirklichung das Entstehen
einer anderen Gesellschaft brauch[e]“.98 Manzonis Gesamtwerk ist von poli-
tischen Sujets geprägt. Exemplarisch sei hier auf die Kompositionen Atomtod
(1965), Ombre (alla memoria di Che Guevara) (1968) und Per Massimiliano
Robespierre (1974) verwiesen, die sich auf die politische Geschichte des Kalten
Krieges sowie die Geschichte von Kuba und Frankreich stützen.99 Nicht sel-
ten offenbart Manzoni in seinen Schriften seine Hoffnung auf eine sozialistische
Gesellschaft: Wie das untere Zitat zeigt, glaubte Manzoni an eine radikale Ver-
besserung des Menschen durch den Kommunismus. Jedoch ändert sich ungefähr
um die Zeit, in der er Doktor Faustus komponiert, seine Meinung diesbezüglich:
In Parole per musica, wo Manzoni sein Werk, seine kompositorische Entwicklung
und sein Leben reflektiert, folgt der Schilderung der Opernentstehung das Kapitel
„Una svolta?“.100 In diesem erklärt Manzoni, dass um das Jahr 1989 – als Konse-
quenz des Scheiterns des europäischen Kommunismus – politisches Engagement
keine zentrale Funktion mehr in seinen Werken einnehme.
So blickt Manzoni nach vielen Jahren auf sein politisches Engagement vor
dem Fall der Berliner Mauer zurück:101

98 Ebd., S. 63. Siehe auch Sorg: Beziehungszauber, S. 165. Sorg scheint so tief überzeugt

zu sein, dass sich Manzoni hier auf die sozialistische Gesellschaft bezieht, dass er in
Klammern beim Zitieren dieser Stelle sogar das Adjektiv „sozialistisch“ ergänzt.
99 Der Musikwissenschaftler Luigi Pestalozza betont, bei Manzoni sei das Theater als Ort

der Diskussion über die Probleme der Kunst und der Gesellschaft aufzufassen. Daneben
unterstreicht er auch die Faszination des Komponisten für Sujets, die mit Gerechtigkeit
zu tun haben, wie bei der Oper La sentenza (1960). Siehe Pestalozza, Luigi: Manzoni: Il
teatro come punto d’arrivo. In: Programmheft Teatro alla Scala, S. 37–41, hier: S. 37 f.
100 „Ein Wendepunkt?“. Manzoni: Parole per musica, S. 84–94.
101 „Wie viele andere Leute in meinem Alter sah ich den Kommunismus als radikale

Erneuerung des Menschen, die ihm erlauben würde, seine Instinkte, Impulse, negativen
Bilder zu überwinden, und nur die positiveren Eigenschaften seiner Natur zu entwickeln
[…]. Wir legten nicht viel Wert auf psychische, vererbte Elemente sowie mentale Nei-
gungen, die sogar die perfekteste Gesellschaft – und die Länder des Realen Sozialismus
waren keine solchen – nicht überwinden oder sogar hätten aufheben können“. Manzoni:
Parole per musica, S. 34.
5.2 Vom Roman zur Musik 149

Come tanti miei coetanei vedevo il comunismo come una rigenerazione radicale
dell’uomo, che gli permettesse di superare istinti, pulsioni, concezioni negative,
e di sviluppare soltanto le caratteristiche più positive della sua natura […]. Non
tenevamo nel dovuto conto elementi psichici, ancestrali, predisposizioni mentali
che persino la società più perfetta – e i Paesi del socialismo reale tali non erano –
non avrebbe avuto la possibilità di superare o addirittura annullare.

5.2.1.2 „Quarto quadro“: Die Teilung des Raumes, die Integration


der Neunten Symphonie und das klagende Beten
Nachdem die Entstehung von Manzonis Doktor Faustus kurz angerissen wurde,
beginnt die folgende Analyse der Chronologie von Roman und Oper entspre-
chend mit der Episode der Zurücknahme der Neunten Symphonie. Dieser Episode
widmet sich das vierte Bild des zweiten Aktes, in dem Leverkühn den Teufel
wegen Echos Tod beschimpft und die Zurücknahme der Neunten Symphonie
anspricht.102 Bei Manzoni werden die Szenen lediglich im Untertitel als scene
bezeichnet: In der Partitur tragen sie die Bezeichnung quadri, also Bilder. Obwohl
im Italienischen das Wort ,Szene‘ üblicher ist, wird in der vorliegenden Studie in
Anlehnung an die Partitur von Bildern gesprochen. Diese Bezeichnung sowie die
vagen Raumangaben und weitere textuelle Hinweise zielen darauf ab, der Oper
einen statischen Charakter zu verleihen, was sich im Italienischen durch das unüb-
liche Wort quadro effektiver vermitteln lässt. Im Italienischen Sprachgebrauch
tritt nämlich das Wort scene in Verbindung mit Medien wie dem Theater oder
der Filmkunst auf, die in der Regel größere Dynamik und die Darstellung bzw.
das Erzählen von größeren Zeitspannen erlauben. Das Wort quadro tritt dage-
gen in Verbindung mit dem Medium Kunst auf. Bei Manzoni geht es also um
Momentaufnahmen aus dem Roman: Das Wort quadro unterstützt die vorher prä-
sentierte Zuordnung der Oper zur episodischen Dramaturgie, die sich eher durch
die Nebeneinanderreihung von Bildern und weniger durch den roten Faden einer
vorangetriebenen Handlung realisieren lässt.
Das hier analysierte vierte Bild soll, so die Partitur, „an einem anderen Ort“103
stattfinden: An welchem genau, wird nicht näher erläutert. Timo Sorg hebt hervor,
die einzelnen Orte werden in der Partitur nie konkret benannt.104 Im Fall der
Mailänder Uraufführung wurde das Szenenbild von Echos Tod beibehalten: Die
Vagheit in den Anweisungen wird durch einen geteilten Raum gelöst. Wilson,

102 Vgl. M-DF: 166–199.


103 Vgl. die Angabe „Un altro luogo“ (M-DF: 166).
104 Sorg: Beziehungszauber, S. 181. Die Beschreibung der Uraufführung basiert auf einer

nicht veröffentlichten Aufnahme, die der Komponist der Verfasserin der vorliegenden
Studie zur Verfügung stellte.
150 5 Dr. Fausti Weheklag

der Regisseur der Uraufführung, beschreibt diese Art von Bühnenbild, das aus
mehreren Orten besteht, so:105

L’opera di Manzoni è costituita da scene ricavate da un lungo romanzo, talvolta


sono addirittura quasi dei flash. Ho seguito questa struttura. In passato ho sovente
distrutto il tempo dilatandolo interminabilmente, e contraendo lo spazio. Qui faccio
sovente l’opposto. E l’occhio è talvolta libero di scegliere una scena intera, talaltra,
come nella regìa cinematografica, è „zoomato“ su un dettaglio, ossia su una scelta
che ho fatto io.

Nicht nur ist aufgrund der vagen und knappen Anweisungen zum Bühnenbild
Manzonis Oper von einer großen Freiheit bezüglich der Inszenierung geprägt,
auch die Uraufführung erlaubt den Zuschauer*innen die Freiheit, sich eine der
parallelisierten Szenen auszusuchen und dieser ihre Aufmerksamkeit zu schenken.
Eine Haupthandlung lässt sich zwar erkennen, der Ort der Nebenhandlung kom-
mentiert bzw. ergänzt diese jedoch. Die Haupthandlung wird somit auch ständig
gestört und die Illusion, das Make-Believe permanent durchbrochen. Die Insze-
nierung gleicht – wie bereits die Verwendung des Wortes quadro statt scena im
Libretto und in der Partitur verdeutlicht – einer Ausstellung von Momentaufnah-
men: Zwar spricht der Regisseur im obigen Zitat immerhin von Szenen und nicht
von Bildern, aber diese Szenen beschreibt er als Flashs, als extrem kleine Einhei-
ten, die ausgewählte Stellen des Romans in kondensierter Form wiederzugeben
versuchen.
Nach dem instrumentalen Teil zu Beginn des Bildes, der von lauter Dynamik
über ein Glissando zu einem Piano kommt, ist die Stimme Adrians zu hören.106
Sie wird immer von der off-stage-Stimme von Echo bzw. von Adrians Echo-
Projektion begleitet: Adrian singt „Prendilo, mostro!“, „Nimm ihn, Scheusal!“
(DF: 691), Echo entweder „Aiuto!“, „Hilfe!“ oder „Oh!“ (Abbildung 5.1).
In der Uraufführung wird Echos Tod nicht on-stage inszeniert: Vielmehr
erklingt seine Stimme off-stage und die Zuschauer*innen können lediglich den
Ort sehen, an dem er stirbt. Das Wechselspiel der beiden Klangräume, des on-
stage und des off-stage, mit ihren je entsprechenden Handlungen wird durch das

105 „Die Oper Manzonis besteht aus Szenen aus einem langen Roman, manchmal sind sie
quasi Flashs. Ich bin dieser Struktur gefolgt. In der Vergangenheit habe ich oft die Zeit
zerstört, indem ich sie endlos gedehnt und den Raum eingeschränkt habe. Hier mache ich
oft das Gegenteil. Und das Auge kann manchmal eine ganze Szene frei wählen, manchmal,
wie in der Kinoregie, wird ein Detail herangezoomt, d. h. eine Wahl, die ich getroffen
habe“. Programmheft Teatro alla Scala: S. 16.
106 In Manzonis Oper ist Leverkühn immer mit seinem Vornamen benannt, was als Sym-

pathiebekundung gedeutet werden könnte. Für ihn ist die Bassbaritonstimme vorgesehen.
5.2 Vom Roman zur Musik 151

Abbildung 5.1 M-DF 166, T. 441–449: Adrian und die Projektion Echos

geteilte Bühnenbild, also den geteilten visuellen Raum, erweitert. So Timo Sorg
zu den off-stage- und on-stage-Stimmen:107

Die off-stage erklingenden Stimmen […] könnten als innere Stimmen Leverkühns
verstanden werden, die aufgrund der Schuld, die er sich aufgeladen hat, und der
schrecklichen Konsequenzen, die daraus entstanden sind, nicht zur Ruhe kommen.

Im Medium der Oper werden hier folglich Schuldgefühle realisiert, die zu einer
Form von Wahnsinn zu führen scheinen. Wenn Adrian „Prendi il suo corpo!“ (M-
DF: 173, T. 485–490), „Nimm seinen Leib“ (DF: 691), singt, betritt auch Serenus
Zeitblom – in der Uraufführung spielt Robert Wilson seine Rolle – die Bühne,
der die Handlung bis zum „Epilogo“ beobachtet: Die Ebene der Extradiegese des
Romans wird in der Uraufführung angedeutet, was ein weiteres Detail, dem die
Zuschauer*innen ihre Aufmerksamkeit schenken könnten oder nicht, ist.108
Die lapidaren Worte Adrians: „Ho trovato: non deve essere“ (M-DF: 188 f.,
T. 633–637), „Ich habe gefunden […] es soll nicht sein“ (DF: 692; Herv. i. O.),
fordern durch den Sprechgesang und die kommentierende Funktion des Orches-
ters ein klares Textverständnis und lenken die Aufmerksamkeit auf sich.109 Nach
einer Generalpause singt Adrian allein „Io lo voglio revocare“ (M-DF: 189 f.,
T. 650 ff.), „Ich will es zurücknehmen“ (DF: 692): Die Wiederholung derselben
Note und die absolute Fokussierung auf die Hauptfigur betonen die Irreversibili-
tät der Entscheidung und erlauben den Zuschauer*innen in diesem Fall nicht, sich
auf andere Details zu konzentrieren (Abbildung 5.2).
Die Worte „La Nona Sinfonia“ (M-DF: 190, T. 654 f.), „Die Neunte Sympho-
nie“ (DF: 693) sollten piano und im Falsett gesungen werden, in der Mailänder

107 Vgl. Sorg: Beziehungszauber, S. 182 (Ergänzung A. O.).


108 Zur Realisierung Zeitbloms in der Oper Manzonis vgl. 7.2.3.
109 Sorg betont die „große Vielfalt der Ausdrucksformen im Vokalen, die vom Sprechen

bis zur lyrischen Kantilene reichen kann“. Sorg: Beziehungszauber, S. 186. Vgl. auch die
Hinweise für die Sänger*innen (M-DF: XXVI).
152 5 Dr. Fausti Weheklag

Abbildung 5.2 M-DF: 189 f., T. 650 ff. „Ich will es zurücknehmen“

Uraufführung werden sie aber aus vollem Hals gesungen, sodass die feste Ent-
scheidung noch stärker betont wird (Abbildung 5.3).110 Auch hier handelt es sich
um die Wiederholung derselben Noten, die nicht nur die Irreversibilität der Ent-
scheidung, sondern auch das Voranschreiten des Wahnsinns ausdrückt: Es kommt
also zur Eintönigkeit, die in der Musik durch das Singen eines einzigen Tons kon-
kretisiert wird. Wie im ersten Teil dieses Kapitels dargestellt, spricht auch Adorno
von der Eintönigkeit der Neuen Musik, welche die Vielfalt der Musik, für die die
Neunte Symphonie im Roman steht, annulliert habe.111

Abbildung 5.3 M-DF: 190, T. 654 f. „Die Neunte Symphonie“

In die Musik wird hier als intramedialer Bezug der berühmte dissonante
Akkord von Beethovens Neunter Symphonie eingefügt, der eine Mischung aus
einem verminderten Septakkord und einem d-Moll-Dreiklang ist, was auch als
Schichtung von Terzen aufgefasst werden könnte und dazu führt, dass sich das
Zitat aus der Neunten nicht als ein der Komposition externes Element einstufen
lässt. Noller zufolge handelt es sich hier um keinen Antagonismus zu Beetho-
vens Symphonie.112 Die Neunte Symphonie wird infolgedessen bei Manzoni nicht
wirklich zurückgenommen. Vielmehr wird sie in die Musik integriert: Beethovens

110 Mit freundlicher Genehmigung des Komponisten war der Verfasserin möglich, das Pro-
grammheft der Premiere zu konsultieren, in das Manzoni wahrscheinlich während der
Proben und/oder nach den Aufführungen verschiedene Notizen geschrieben hatte. Dort ist
zu sehen, dass einige Sätze gelöscht oder an anderen Stellen hinzugefügt wurden. Die
Partitur wurde 1991 veröffentlicht und beinhaltet die im Programmheft handgeschriebenen
Änderungen.
111 Siehe PhnM: 79.
112 Siehe Noller: „Sono cose lontane, fuori del linguaggio.“ Osservazioni sulla musica

e sulla drammaturgia del „Doktor Faustus“. In: Programmheft Teatro alla Scala. Übers.
5.2 Vom Roman zur Musik 153

symphonisches Werk und die Neue Musik bilden also keine positiv oder negativ
konnotierten Gegenpole, sondern einen einzigen neutralen Pol.113
Nachdem Adrian seine Absicht geäußert hat, die Neunte Symphonie zurückzu-
nehmen, sagt er leise zu Zeitblom („parlato“, laut der Anweisung für die Stimme):
„Then to the elements. Be free and fare thou well“ (M-DF: 191, T. 660).114
Diese Worte werden von keiner Musik begleitet: Das Shakespeare-Zitat wird
durch die Simulation einer theatralischen Situation, in der das gesprochene
Wort die Hauptrolle spielt, verstärkt. Das Motiv des Abschieds und des Sich-
Verabschiedens, das das Shakespeares-Zitat ausdrückt und in der Abschiedsrede
noch einmal sowie generell in den letzten Kapiteln des Romans wiederholt auf-
taucht, kommt sowohl in der Oper als auch im Roman an exponierter Stelle vor,
und zwar am Ende des Bildes bzw. des Kapitels.115 Wie von Sorg unterstrichen,
bedeutet die Zurücknahme auch Leverkühns Abschiednehmen vom „Leben an
sich“.116
Nach diesen Worten beginnt das Orchester „impetuos[a]“ (M-DF: 191, T. 662),
„heftig“. Nach einigen rein orchestralen Takten singt Adrian „Vegliate meco“ (M-
DF: 193, T. 667 f.), „Wachet mit mir“ (DF: 711) und antizipiert so die spätere
Abschiedsrede: Diese Antizipation ist im Roman an dieser Stelle nicht zu finden,
sondern erst später, nachdem Zeitblom Leverkühns Kantate beschrieben hat.117
Das betrifft auch die darauf folgenden Worte von Adrian: „Statemi vicini quando
sarà giunta la mia ora“ (M-DF: 195 f.), „Verlaßt mich nicht! Seid um mich zu mei-
ner Stunde!“ (DF: 712) und „Pregate per la mia povera anima“ (M-DF: 196 ff.),
„Bete für meine arme Seele“ (DF: 658). Das Klagen beginnt daher bei Manzoni
bereits hier, indem durch die Antizipationen eine Kohärenz geschaffen wird. Der

v. Olimpio Cescatti, S. 42–45 (insb. S. 44). Auch der Musikwissenschaftler Piero Santi
beschreibt den Akkord der Neunten als „den tröstlichsten der ganzen Partitur“. Santi,
Piero: La musica del „Doktor Faustus“. In: Programmheft Teatro alla Scala, S. 23–27,
hier: S. 27.
113 Siehe ebd.
114 Vgl. DF: 694. Dies ist ein Zitat aus William Shakespeares Komödie The Tem-

pest, das nochmals Leverkühns internationale Musik- und Literaturbildung unterstreicht.


Vgl. Shakespeare, William: The Tempest. In: The Complete Works of William Shake-
speare. Project Gutenberg. EBSCOhost. < search.ebscohost.com/login.aspx?direct=true&
db=nlebk&AN=1010500&site=ehost-live> ( letzter Zugriff: 21.08.2020), S. 1322–1350,
hier: Akt 5 Szene 1, S. 1349.
115 Vgl. DF: 694.
116 Vgl. Sorg: Beziehungszauber, S. 227.
117 Vgl. DF: 711.
154 5 Dr. Fausti Weheklag

Rhythmus der Pauke sowie die Imperative in den vorher genannten Zitaten ver-
weisen sowohl auf die Texte musikalischer Klagen (Monteverdi, Stabat Mater,
usw.) als auch auf den apokalyptischen Ton selbst und lassen Adrian daher als
Apokalyptiker erscheinen, der auf die letzte Stunde hinweist und die hier unde-
finierten Rezipient*innen seiner Worte bittet, mit ihm zu warten und für ihn zu
beten: Auch hier handelt es sich um eine klagende Ankündigung religiöser Natur,
in der Klagen und Beten eins werden. Das Orchester schließt das vierte Bild, „tutti
accel. molto gli impulsi“ (M-DF: 199, T. 699), „alle, beschleunigend mit deutlich
betonten Impulsen“, und unterstützt daher den emotional aufgeladenen, klagen-
den Charakter des Bildendes. Erst nach einer langen Note fast aller Instrumente
fällt der Vorhang über der Szene.

5.2.1.3 Die „Weheklag“: das Volksbuch und die kollektive


Dimension der Schuld
Nachdem Leverkühn die Entscheidung getroffen hat, die Neunte Symphonie
zurückzunehmen, schreibt er die Dr. Fausti Weheklag und wendet somit für sie das
dodekaphonische System an. Die Kantate befindet sich im Interludium der Oper
und basiert auf zwei Vorlagen: was den Text angeht, orientiert sich das Werk
an dem Volksbuch und dessen Kapitel „Doctor Fausti Weheklag von der Höl-
len und ihrer unaussprechlichen Pein und Qual“,118 was die Besetzung betrifft,
hingegen an Thomas Manns Roman.119 Der intramediale Bezug auf das Volks-
buch in Zeitbloms Beschreibung der fiktiven Kantate Leverkühns wird somit in
die Oper, also in eine Medienkombination, transferiert und, weil der Bezug eine
zentrale Stellung einnimmt, da er die Vorlage für den Text bildet, verstärkt. Auf-
fällig ist außerdem, dass der Text in diesem Fall nicht übersetzt wird: Dies ruft
die Fiktion hervor, dass tatsächlich Leverkühns Werk aufgeführt wird. Auch die
Bezeichnung dieses Moments der Oper als Interludium trägt dazu bei, den Unter-
schied zu ihren restlichen Teilen zu markieren: Leverkühns Komposition fungiert
als eine Art Gastkomposition im Rahmen der gesamten Oper, was zugleich ihre

118 Vgl. Historia von D. Johann Fausten dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünst-
ler. Mit einem Nachwort hrsg. v. Richard Benz. Stuttgart: Reclam 2006, S. 145 f.: „O ich
armer Verdammter, warum bin ich nit ein Viehe, so ohne Seele stirbet, damit ich nichts
weiters befahren dürfte? […] [W]er will mich Elenden erretten? Wo ist meine Zuflucht, wo
ist mein Schutz, Hülf und Aufenthalt? […] Wessen darf ich mich trösten? […] Ach was
klage ich, daß kein Hülf kommet? Da ich keine Vertröstung der Klage weiß?“. Vgl. auch
Meier, Andreas: Faustlibretti. Geschichte des Fauststoffs auf der europäischen Musikbühne
nebst einer lexikalischen Bibliographie der Faust-Vertonungen. Frankfurt am Main (u. a.):
Lang 1990, S. 541 f.
119 Darüber hinaus findet man in der Oper wie in Leverkühns Werk kein Solo. Siehe Sorg:

Beziehungszauber, S. 236 u. 242; DF: 705 ff.


5.2 Vom Roman zur Musik 155

Einordnung in die Gattung,Oper‘ und speziell der italienischen Oper mit ihren
Intermezzi und sonstigen Digressionen bestätigt.120
Adrian komponiert vor geschlossenem Vorhang an seinem Schreibtisch, der oft
auf der Bühne ist und der den Fokus der Oper auf die Hauptfigur und sein Kom-
ponieren unterstreicht. Die lange orchestrale Einleitung (M-DF: 200 ff., T. 1–19),
etwa zwanzig Takte, erzeugt Spannung durch die sehr langen Noten mit Trillern,
kommt dann zu einem Fortissimo „tenuto“ (M-DF: 202, T. 18), von einem hefti-
gen Schlag der Harfe gekennzeichnet.121 Plötzlich geht das Fortissimo zurück und
der Chor beginnt mit einer Piano-Dynamik: eine typische Behandlung des Orche-
sters am Anfang oder am Ende der Szenen bzw. auch vor der ersten oder nach
der letzten Note des Sängers, die der gesamten Oper zugleich Kohärenz verleiht,
die die Spannung vorantreibt und den apokalyptischen Ton des Romans, speziell
der zweiten Hälfte, unterstützt. Somit wird an den vorher aufgelisteten, exponier-
ten Stellen der Vagheit in den Raumangaben ein präziser klanglicher, und zwar
rein instrumentaler Raum entgegengesetzt. Der am Anfang fünfstimmige, spä-
ter sechsstimmige Chor kann den Angaben in der Partitur zufolge entweder im
Orchestergraben oder hinter dem Vorhang oder auch auf der Bühne singen: Die
Möglichkeiten der Positionierung des Chors sind noch einmal ein Hinweis auf
die Freiheit in der Inszenierung; selbstverständlich werden durch die Wahl einer
bestimmten Positionierung unterschiedliche Effekte erreicht und unterschiedliche
Aspekte der literarischen Vorlage hervorgehoben. Singt etwa der Chor im Orche-
stergraben, so wird in der Medienkombination die „Identität des Vielförmigsten“
(DF: 706), die Rigorosität und Gebundenheit des Werkes unterstrichen, da Orche-
ster und Chor – klanglich und räumlich – eins werden. Befindet sich hingegen
der Chor hinter dem Vorhang, so wird der Eindruck erweckt, dass es sich um
eine Erinnerung handelt. Folglich wird in der Medienkombination betont, dass
Leverkühns Kantate als Erinnerung an das Volksbuch aufzufassen ist: Die ver-
schiedenen Transfers und Transformationen von einem Medium in ein anderes
werden ins Zentrum gestellt. Singt schließlich der Chor auf der Bühne, so lässt
sich der Gesang keineswegs ignorieren und der Fokus liegt auf dem Klagen.
Das mehrmals wiederholte „Warum“, das später auch das Interludium schließt,
drückt das verzweifelte Fragen nach einer Erklärung aus und lässt selbst Manzonis
intermediale Transposition der Weheklag zu einem „riesenhafte[n] Lamento“ (DF:
705) werden. Seit Takt 29 (M-DF: 204), entweder schneller oder heftiger zu spie-
len, überwältigt die Partitur mit verschiedenen Schlagzeugen: ein „Begleitsystem,
das, zusammengesetzt aus zwei Harfen, Cembalo, Klavier, Celesta, Glockenspiel

120 Vgl. Kimbell, David: Italian Opera. Cambridge: Cambridge University Press 1991.
121 „Die Saite heftig gegen die Resonanzdecke schlagen“ (M-DF: 293).
156 5 Dr. Fausti Weheklag

und Schlagzeug, als eine Art von ,Continuo‘ immer wieder auftretend das Werk
durchzieht“ (DF: 709), wie man auch im Roman liest. Bei Manzoni gibt es nur
eine Harfe: Cembalo, Klavier und Celesta sind nicht zu finden. Stattdessen wer-
den in der Oper die Ondes Martenot gewählt, ein monophones elektronisches
Instrument, das Magie evoziert, vielleicht eine musikalische Hommage an „de[n]
weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler“122 des Volksbuches und gleich-
zeitig eine Anspielung auf die „Echo-Wirkung“ (DF: 703) der Klage. Xylofon
und Piccoloflöte tragen zum hohen Register bei (ab T. 35).
Ab Takt 47 singt der Chor allein. Die Fermate im Takt 57, der ein langes
Glissando folgt, bietet eine musikalische Realisierung der Bedeutung des Wortes
„Aufenthalt“ (M-DF: 207): Nach dem schreienden Klagen, worauf die musikali-
schen Paratexte „urlato“, „geschrien“ und die Forte-Dynamik hinweisen, erreicht
die Musik allmählich eine vorläufige Pause (Abbildung 5.4).123

Abbildung 5.4 M-DF: 207, T. 52–57. Musikalische Realisation des Wortes „Aufenthalt“

Der Chor singt 35 Takte lang ohne orchestrale Begleitung, dann kommentiert
das Orchester ab Takt 86 (M-DF: 210) und führt die Musik zu einem Fortis-
simo von höchster Kraft, das auf das Wort „Ach“ (T. 86) fällt, also auf eine

122 Historia: S. 1.
123 Siehe auch Sorg: Beziehungszauber, S. 240
5.2 Vom Roman zur Musik 157

der kleinsten Ausdrucksmöglichkeiten des Klagens in der deutschen Sprache.124


Das Fortissimo dauert aber nur einen Augenblick und das letzte kaum hörbare
Wort wird nicht einem Cello, sondern dem Chor gegeben: Es ist wieder jenes
„[W]arum?“ (T. 88 f.), das im Vergleich zum g des Cello noch eine sprachli-
che Bedeutung mit sich trägt. Bemerkenswert ist auch, dass der letzte Ton nicht
nur ein g ist: Der Schluss ist bei Manzoni polyphonisch. Wenn es eine Schuld
sowohl in Bezug auf die Sterilität der Kunst als auch auf der politisch-historischen
Deutungsebene des Romans gibt – das wiederholte „Warum“ drückt eben dieses
Nicht-Verständnis aus – dann ist sie kollektiv zu tragen (Abbildung 5.5).

5.2.1.4 Dritter Akt (die Abschiedsrede): die Realisierung des


Wahnsinns im Medium der Oper
Kurz nach der Fertigstellung der Weheklag, lädt Leverkühn Freunde und Bekannte
nach Pfeiffering ein, um vor ihnen eine Rede zu halten und die neue Komposi-
tion am Klavier aufzuführen. Diese Episode befindet sich bei Manzoni im dritten
Akt: Dieser besteht „nur aus einem einzigen Bild, der Abschiedsrede Leverkühns,
dem sich der Epilog Zeitbloms anschließt“.125 Die Anweisung für das Bühnen-
bild lautet: „Un interno. Adrian, Serenus Zeitblom. Un gruppo di persone sta in
attesa, formando capannelli“ (M-DF: 211), „Ein Innenraum. Adrian, Serenus Zeit-
blom. Eine Gruppe von Personen wartet auf etwas und bildet kleine Gruppen“.
Im Gegensatz zum Roman verlassen die Gäste, die in der Oper von Statist*innen
dargestellt werden, nicht definitiv den Raum, sondern treten immerzu in bestimm-
ten Momenten der Handlung der Szene ab- und wieder auf. Adrian zeigt genau
wie im Roman eine merkwürdige Sprechweise, die in der italienischen Sprache
durch einen altertümlichen, auf die Sprache der Opernlibretti des 19. Jahrhunderts
anspielenden Wortschatz, realisiert wird und so im Medium der Oper einen intra-
medialen Bezug darstellt. Diese Sprache bringt die Gäste zum Lachen (M-DF:
211) und verhindert die Erzeugung von Illusion: Sie weicht von der restlichen
Sprache der Oper ab und lenkt infolgedessen die Aufmerksamkeit der Zuschau-
enden auf Kosten der dargestellten Geschichte auf sich. Die Gäste können Adrian,
genau wie im Roman, nicht erkennen:

Von Anfang an machte ich [Serenus Zeitblom] die Beobachtung, daß viele gar nicht
bemerkten, daß Adrian längst im Zimmer war, und so sprachen, als ob sie ihn noch
erwarteten, einfach weil sie ihn nicht erkannten. (DF: 715)

124 In anderen Bildern der Oper, in denen das Klagen (aber im Italienischen) Ausdruck
findet, wird das deutsche „Ach“ durch das italienische „Oh“ ersetzt.
125 Sorg: Beziehungszauber, S. 190.
158 5 Dr. Fausti Weheklag

Abbildung 5.5 M-DF: 210, T. 84–89. Das Finale von Manzonis „Weheklag“
5.2 Vom Roman zur Musik 159

Auch Manzonis Adrian sitzt am Tisch und schaut nicht auf die Personen, an
die seine Rede adressiert ist: Dargestellt wird hier durch die Körpersprache des
Sängers sowohl der Wahnsinn als auch das Scheitern der Neuen Musik in der
Kommunikation mit dem Publikum sowie in der Vermittlung von Ausdruck, wie
im Roman und in Adornos Musikphilosophie wiederholt hervorgehoben wird.
Das Orchester lässt Adrian sein Geständnis singen und übernimmt eine kom-
mentierende Funktion. Musikalisch ist Adrians Wahnsinn als Duett der Hauptfigur
mit sich selbst realisiert (Abbildung 5.6):

Abbildung 5.6 M-DF: 216, T. 22 ff. Adrians Duett mit sich selbst

Adrian erzählt vom bunten Schmetterling (M-DF: 224);126 danach singt auch
eine in der Partitur sogenannte „Sopranfigur“ mit, Esmeralda, die später „Guardati
dal mio corpo!“ (M-DF: 231), „Hüte dich vor meinem Körper“127 singt:128 Bei
Manzoni wird daher nicht ausschließlich von ihr erzählt, ihre Stimme ist materi-
ell präsent, verstärkt und stört gleichzeitig die Narration, indem sie noch einmal
das Motiv der Warnung vor dem eigenen Körper auftauchen lässt, das in der
Darstellung Esmeraldas zentral ist. Zugleich verdichtet sich der Eindruck einer
schizophrenen Störung: Der Raum ist nicht nur der Saal in Pfeiffering, wo im
Roman die Abschiedsrede stattfindet, sondern auch Leverkühns Gehirn.129

126 Vgl. auch Sorg: Beziehungszauber, S. 191.


127 Vgl. DF: 225.
128 Vgl. Sorg: Beziehungszauber, ebd.
129 So beschreibt der Regisseur Robert Wilson seine Entscheidungen, was das Bühnenbild

dieser Szene angeht: „Con il Doktor Faustus ho trovato una musica e un libretto che
permettono una notevole libertà al regista: valga per tutte la scena del lungo monologo
di Adrian Leverkühn, nel III atto. Durante la festa, ad esempio, si vede talora la festa
stessa, talaltra ciò che si ,dipinge‘ nel cervello di Adrian, ossia come Adrian vede ciò che
lo circonda“. Programmheft Teatro alla Scala: S. 16. „Mit dem Doktor Faustus habe ich
eine Musik und ein Libretto gefunden, die dem Regisseur viel Freiheit gewähren: Das gilt
160 5 Dr. Fausti Weheklag

Die gesprochenen Worte der Gruppe, „E’ bello!“ (M-DF: 234), „Es ist schön“
(DF: 721), die im Roman nur von Daniel Zur Höhe gesprochen werden, len-
ken zusammen mit dem Gelächter und Ausrufen, die im Laufe der Szene immer
lauter werden, die Aufmerksamkeit von Adrians Narration weg, setzten sich
dem die Narration unterstützenden Orchester entgegen und durchbrechen stän-
dig die Illusion.130 Auch hier liegt der Fokus auf der Kollektivität: Es sind nicht
mehr einzelne, identifizierbare Figuren, sondern eine relativ homogene Masse, die
Leverkühns Rede kommentiert.
Nachdem die Hauptfigur „Egli l’uccise senza pietà“ (M-DF: 239), „[S]o bracht
Er es um“ (DF: 725) gesungen hat, kommt das Orchester zu einem plötzli-
chen Fortissimo, das innerhalb eines Taktes von einer früheren Piano-Dynamik
erzeugt wird und Adrians Verzweiflung vor dem Tod Echos mit musikalischen
Mitteln darstellt. Das Kind ist sofort danach zu hören, seine Stimme markiert mit
ihrer Transparenz einen Kontrast zur allgemeinen, finsteren Atmosphäre. Adrians
Sprechweise ist, wie im Roman, ein wenig stockend, was im Gesang durch
Pausen, Akzente und kurze Töne vermittelt wird (Abbildung 5.7):131

Abbildung 5.7 M-DF: 250, T. 415–418. Adrians stockende Sprechweise

Einer Analyse der Textauswahl von Manzonis Kompositionen kann man ent-
nehmen, dass diese Erkundung der musikalischen Realisierungsmöglichkeiten des
Wahnsinns kein Unikum der Doktor Faustus-Oper ist.132 Nicht selten wird in
Manzonis Œuvre der Wahnsinn durch eine „Phonemisierung der Sprache“133

für die ganze Szene des langen Monologs von Adrian Leverkühn, im dritten Akt. Zum
Beispiel sieht man während der Feier zum Teil die Feier selbst und zum Teil, was sich
Adrian im Kopf vorstellt, d. h. wie Adrian sieht, was ihn umringt“.
130 Vgl. auch Santi: La musica del „Doktor Faustus“, S. 24.
131 Vgl. Sorg: Beziehungszauber, S. 191.
132 Siehe Manzoni: Parole per musica, S. 120.
133 Noller: Engagement und Form, S. 265.
5.2 Vom Roman zur Musik 161

realisiert: Noller bestimmt diesen Begriff als eine enorme Ausdehnung von Pho-
nemen, fast eine Reduktion des Textes auf einzelne Vokale und Konsonanten, die
als musikalisches Material genutzt werden.134
Nach Adrians Erwähnung der Kinder, die ihm Motetten sangen,135 ist ein
Knabenchor zu hören, wahrschlich eine weitere Projektion Leverkühns (M-DF:
257–260). Das Kommen und Gehen der Gäste geschieht nicht zufällig, sondern
korrespondiert mit starken und skandalösen Äußerungen Leverkühns, z. B. der
oben erwähnten, wo er über die surrealen Besuche der Kinder spricht (M-DF:
260, T. 470). So wird das zwiespältige Verhalten der Gäste gezeigt, die auf der
einen Seite schockiert sind und auf der anderen im Gegensatz zum Roman nicht
weggehen können: Das Reden über den Teufel und teuflische Emissäre ist in
einem Spannungsverhältnis zwischen Tabu und Faszination verortet; Manzonis
Faust-Oper reflektiert hier über das Potenzial des Fauststoffes selbst.
Wenn Adrian von seiner Sünde spricht, kann man auch die Stimme des Teu-
fels hören. Bei Manzoni zeichnet sich dieser, wie in Kapitel sechs erläutert, durch
seine drei Verkörperungen aus: zwei männliche und eine weibliche Stimme.136
Hier lautet die Anweisung für die drei Teufel: „Von hinter der Bühne mit Verstär-
kung in den Saal. Mit metallischem Klang (kann auf Band sein)“ (M-DF: 263).
Die Stimmen kommen „[v]on rechts“, „[v]on hinten“ und „[v]on links“ (ebd.).
Der letzte Akt ist ein Resümee aller Figuren, die bis dato auftraten.137
Nach dem lauten Gelächter der Teufelsstimmen wird die Musik äußerst fins-
ter (M-DF: 264). Gegen Takt 540 ist die Stimme Adrians, der in seiner Rede
immer mehr den Faden verliert, durch einen ständigen Wechsel von Piano und
Forte realisiert. Hier wird deutlich, dass er erneut mit sich selbst spricht: Eine
Stimme ist sehr statisch und singt unerschütterlich dieselbe Note weiter, die
andere ist dagegen sehr dynamisch und bewegt. Erneut erkundet die Oper die
Realisierungsmöglichkeiten des Wahnsinns (Abbildung 5.8):
Den Worten „La mia ora“ (M-DF: 271, T. 551), „Meine Stunde“ folgt
ein großes Chaos, das sich aus einer Mischung von Ausrufen der Gäste und
plötzlichen Dynamikwechseln im Orchester zusammensetzt. Adrian spielt einige
Akkorde am Klavier: „Dabei öffnete er den Mund, wie um zu singen, aber nur ein
Klagelaut […] brach zwischen seinen Lippen hervor; er […] fiel plötzlich, wie

134 Siehe Sorg: Beziehungszauber, S. 175. Auch Zeitblom spricht bei der Beschreibung der
Weheklag von „Dehnung von Silben“ (DF: 708).
135 Siehe DF: 726, M-DF: 249 ff.
136 Vgl. 6.2.1.
137 Wie vorher angesprochen, wählt Manzoni für die Oper nur eine kleine Anzahl aller

Romanfiguren aus.
162 5 Dr. Fausti Weheklag

Abbildung 5.8 M-DF: 268, T. 540–544. Zweites Gespräch Adrians mit sich selbst

gestoßen, seitlich vom Sessel hinab zu Boden“ (DF: 728 f.), heißt es im Roman.
Manzoni ergänzt diese Beschreibung Zeitbloms durch das gewaltsame Zuschlagen
des Klavierdeckels. Dies korrespondiert mit dem Vorspielen eines Zitats aus der
letzten Klaviersonate Beethovens op. 111, was noch einmal auf die Mythisierung
Beethovens in Doktor Faustus hinweist und an die Esmeralda-Episode erinnert,
wo Leverkühn ebenfalls einige Akkorde am Klavier spielt und dann rasch weg-
geht.138 Frau Schweigestill schließt die Szene wie im Roman, indem sie die Gäste
bittet, bei Manzoni allerdings nicht auf Bayrisch, den Raum zu verlassen.
Das Auffälligste an diesem Akt ist die intensive Erkundung der Realisierungs-
möglichkeiten des Wahnsinns im Medium der Oper, was durch unterschiedliche
Mittel realisiert wird: durch die Phonemisierung der Sprache, die Duette Adrians
mit sich selbst und den Stimmen, welche die Projektionen Adrians verkörpern
und somit die Zuhörer*innenschaft in einen weiteren Raum transportieren, näm-
lich in den Raum seiner Vorstellungen. Kraft der hier geschilderten Mittel wird
die Präsenz eines Teufels in der literarischen Vorlage in Frage gestellt, da eher die
Symptome einer geistigen Krankheit als die Konsequenzen eines Teufelspaktes
hervorgehoben werden.

5.2.1.5 Epilogo: Leverkühns Tod und der Widerstand der Musik


Im Folgenden werden die letzten Seiten des Romans in den Blick genommen,
nämlich die Darstellung der letzten Tage und des Todes Leverkühns in Manzonis
Oper. Unmittelbar nach der letzten Note des Finales des dritten Aktes beginnt
der Epilog (M-DF: 274–291). Hier spielt Serenus Zeitblom, der zum ersten Mal
nicht nur die Szene beobachtet, sondern spricht und seiner Zuhörer*innenschaft
von Adrians Tod erzählt, die Hauptrolle. Zeitblom/Robert Wilson rezitierte in

138 Vgl.die Angabe „Arietta“ auf der Partitur (M-DF: 272, T. 562). Sorg interpretiert so:
„[S]o nimmt Manzoni die Abschieds- und Endthematik der letzten Klaviersonate Beetho-
vens zurück und demonstriert durch sie und mit ihr einen neuen Weg der modernen
Musik“. Sorg: Beziehungszauber, S. 228.
5.2 Vom Roman zur Musik 163

der Premiere gut skandiert, mit fester, gefühlloser Stimme: Der Einfluss des
epischen Theaters von Brecht, der sonst auch in anderen Werken des Kompo-
nisten eine Rolle spielt, wird hier wie an anderen Stellen der Oper, z. B. selbst
an der episodischen Dramaturgie und der ständigen Illusionsbrechung, sichtbar.
In einem Interview beschreibt Giacomo Manzoni die Wirkung des Brecht’schen
Theaters auf die Komponist*innen der Nachkriegszeit, besonders im italienischen
Raum:139

Brecht ci aiutava ad uscire fuori dall’idea di teatro denso, vischioso, sentimentale,


di una certa tradizione, da Strindberg fino a Pirandello […]. Ci faceva credere
nell’idea di un’arte impegnata in modo didascalico. […] [L]e opere di Brecht,
totalmente diverse dal teatro tradizionale a cui eravamo abituati, erano […] per noi
un bagno purificatore in ogni senso.

Das Bühnenbild, das in der ganzen Uraufführung relativ schmucklos ist, zeigt
wie im Roman einen Lindenbaum,140 der sich nicht lediglich als Symbol für den
Tod interpretieren lässt, sondern auch für das Leben bzw. die Hoffnung steht,
da im Libretto und im Roman zu lesen ist, dass er blüht:141 Inszeniert wird bei
der Uraufführung das von Zeitblom im Roman angesprochene religiöse Parado-
xon einer „Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit“ (DF: 711), der Möglichkeit
einer „Transzendenz der Verzweiflung“ (ebd.), was durch den religiösen Charak-
ter der Musik unterstützt wird. Die Christus-Metaphorik und ganz allgemein die
religiösen Motive des Romanendes werden durch die Präsenz von Elsbeth Lever-
kühn, Adrians Mutter, die gleich Maria am Kreuz um den Tod ihres Kindes weint,
verstärkt.142

139 „Brecht half uns dabei, uns von einer Konzeption des reichhaltigen, stabilen und
sentimentalen Theaters einer gewissen Tradition, von Strindberg bis Pirandello, zu verab-
schieden […]. Er überzeugte uns von der Idee einer engagierten Lehrkunst. […] Brechts
Werke, so unterschiedlich vom traditionellen Theater, an das wir gewöhnt waren, stellten
für uns ein reinigendes Bad in jedem Sinne dar.“ Pozzi: Musica nuova, S. 455.
140 Zum Motiv des Lindenbaumes bei Thomas Mann: Würffel, Stefan Bodo: Vom Linden-

baum zu Doktor Fausti Weheklag. Thomas Mann und die deutsche Krankheit zum Tode.
In: Vom „Zauberberg“ zum „Doktor Faustus“. Die Davoser Literaturtage 1998 (Thomas-
Mann-Studien Band 23, 2000). Hrsg. v. Thomas Sprecher. Frankfurt am Main: Vittorio
Klostermann 2000.
141 Siehe DF: 736: „Die Linde blühte, er saß darunter“.
142 In der Partitur findet man im Gegensatz zum Uraufführungslibretto die folgenden Zeilen

nicht: „Ma durante il viaggio verso il nord ci fu, senza motivo apparente, uno scoppio di
collera da parte del figlio contro la madre, un attacco di furore. Fu un incidente isolato.
Nulla di simile si ripeté più“ (Programmheft Teatro alla Scala: 15). „Während der Reise
aber, nach Norden ins Mitteldeutsche, […] kam es ohne erkennbaren Anlaß zu einem
164 5 Dr. Fausti Weheklag

Nicht nur Elsbeth Leverkühn verabschiedet sich von ihrem Sohn, sondern auch
viele Figuren, denen die Zuhörer*innen im Laufe der Oper begegnet sind, tun
es ihr gleich. In den Noten des Orchesters sind verschiedene Soli zu finden,
als ob sich die einzelnen Instrumente von dem Komponisten Leverkühn ver-
abschieden würden: u. a. auch die Geige, das Instrument Rudi Schwerdtfegers
(M-DF: 276), der in Manzonis Oper nicht vorkommt, aber vielleicht hier Erwäh-
nung findet. Die lange Begleitung der Bratschen betont, dass sich der Freund und
Viola d’amore-Spieler Serenus Zeitblom von Leverkühn verabschiedet (M-DF:
280 ff.); da weiters in der Musik ein Imitationsprozess bemerkt werden kann,
könnte die Passage auf die ersten Musikübungen Leverkühns und Zeitbloms mit
der Stallmagd Hanne Bezug nehmen (Abbildung 5.9):143

Abbildung 5.9 M-DF: 283, T. 660–666. Die Bratschen im Epilogo

Am Anfang des Epilogs ist außerdem das Thema der letzten Klaviersonate
Beethovens zu finden, das in der Partitur dank des paratextuellen Hinweises „Ari-
etta“ leicht zu erkennen ist: Auch das Spätwerk Beethovens „verabschiedet sich“
daher von Leverkühn (M-DF: 274, T. 588 ff.). Die oben geschilderte Bewegung
der Bratschen bereitet Zeitbloms Bericht von Adrians Tod (M-DF: 285), der

Zornesausbruch des Sohnes gegen die Mutter, einem von niemandem erwarteten Wutanfall
[…]. Es war ein einmaliges Vorkommnis. Niemals hat Ähnliches sich wiederholt“ (DF:
735 f.). Das Motiv von Adrians Rebellion gegen die Mutter wurde nach der Premiere
aufgrund der Dauer der Komposition oder einer späteren Überlegung des Komponisten
ausgelassen.
143 Vgl. DF: 47.
5.2 Vom Roman zur Musik 165

visuell vom Erscheinen weiterer Figuren unterstützt wird, vor. Dann hört man
einen Frauenchor off-stage, der „arialior“ singt, eine Erinnerung an Esmeralda,
die gleich danach dasselbe Wort zu singen beginnt (M-DF: 286–289) und an das
weibliche Klagen und Trauern am Ende des Romans. Die Figur wird nicht als
„Esmeralda“, sondern als „verschleierte Frau“ bezeichnet: Wie im Roman bleibt
ihre Interpretation offen. Der Text ist erneut, wie auch in der vorher analysierten
Abschiedsrede, auf einzelne Vokale bzw. Konsonanten reduziert.144
In den letzten Takten sind nur das Schlagzeug, die Klarinette und die Frau
zu hören (M- DF: 291). Die Anweisung über der letzten Note, gesungen von
der verschleierten Frau, lautet: „lunghissima“, „estinguendosi“, „sehr lang“, „er-
löschend“: „Die Stimme ist es also, die über das Alte, Vergangene hinaus in eine
neu musikalische Zukunft weist“, kommentiert Sorg.145 Der Vorhang fällt „len-
tamente“ (ebd.), „langsam“ über der letzten Szene und unterstützt das extrem
langsame Tempo des Endes. Die Oper endet daher nicht wie im Roman mit Zeit-
bloms Gebet, sondern mit der immer leiseren Frauenstimme und ihrem Echo.
Trotz des anfänglichen Eindrucks, die Musik habe versagt und die Oper kehre aus
diesem Grund zur Rezitation zurück, taucht der Gesang erneut auf – wenn auch
wieder auf minimale Elemente reduziert – und überlässt die letzten Worte nicht
Zeitblom, sondern eben der Musik. Erwähnenswert ist im musikalischen Para-
text auch die Verwendung des Wortes „estinguendosi“, also „sich erlöschend“,
anstatt des üblicheren und logischeren „morendo“, „sterbend“, das auf das Licht
in der Nacht am Ende der Beschreibung der Weheklag verweist und Visuelles und
Klangliches miteinander vereint: Die Musik „stirbt“ nicht, sie „erlischt“ gleich
einer Kerze.

5.2.2 György Ránkis Leverkühns Abschied: Leverkühn als


absoluter Protagonist und die Geige des Teufels

György Ránkis (1907–1992) Komposition ist ein weiteres Beispiel für die
Rezeption von Doktor Faustus außerhalb Deutschlands. In seinem Monodrama
nimmt der Roman trotz der Beibehaltung der deutschen Sprache eine leicht
volkstümliche, ungarische Konnotation an.146

144 Vgl.Sorg: Beziehungszauber, S. 193.


145 Sorg: Beziehungszauber, S. 194.
146 Mit freundlicher Genehmigung des Sohnes des Komponisten, András Ránki, durfte

die Verfasserin der vorliegenden Studie das unveröffentlichte Manuskript des Stückes
konsultieren, auf das sich die Analyse bezieht. Unter den Noten des Sängers steht
166 5 Dr. Fausti Weheklag

Das Stück trägt den Titel „Leverkühns Abschied (Monodrama). Nach dem
Roman: ,Doktor Faustus‘ von Thomas Mann (für Tenorstimme und Kammeren-
semble)“ und wurde im August 1979 fertiggestellt. Das Kammerensemble besteht
aus einer Flöte und einer Piccoloflöte, einem Englischhorn, einer Bassklarinette,
einer Harfe, dem Schlagzeug und einem Streichquintett; Leverkühn singt mit
Tenorstimme. Laut Partituranweisung soll das Stück zwischen zwölf und fünf-
zehn Minuten dauern. Bei der Aufnahme jedoch haben sich die Musiker*innen
für ein schnelleres Tempo entschieden, denn dort ist das Stück nur ca. elf Minuten
lang.147
Leverkühns Abschied besteht aus acht Episoden:

1. Fromme Brüder und Schwestern…


2. Es war nur ein Schmetterling…
3. Was zum Teufel will…
4. Ach, Spirochaetae Pallidae!..
5. Eine kleine Seejungfrau…
6. Hatt ich einst gedacht…
7. Nun hört mein Abschiedslied…
8. Tramda, tramdaratta…

Intermedial betrachtet, ist auch Ránkis Monodrama ein Beispiel für ein partiel-
les intermediales Produkt, das sich nur der Abschiedsrede Leverkühns widmet.
Auch handelt es sich bei dem Stück erneut um eine Medienkombination, die
nicht nur aus den Medien Text und Musik besteht, sondern auch aus dem Medium
der Inszenierung: Die Bezeichnung ,Monodrama‘ macht deutlich, dass das Stück
kein Lied für Stimme und Instrumente, sondern eben ein kurzes aus Monologen
einer einzigen Figur bestehendes Drama ist, das als solches einer Inszenierung

auch eine ungarische Übersetzung, sodass einer Aufführung auf Ungarisch nichts
entgegensteht. Zum Komponisten, der Schüler von Kodály war: Breuer, János: Hun-
garian Composers Today: Some Senior Composers. In: Tempo 88 (1969), S. 33–38;
Wilheim, András F.: Ránki, György. In: Grove Music Online. Zuerst veröffentlicht
20.01.2001, online veröffentlicht 2001. <https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.art
icle.22888> (letzter Zugriff: 21.08.2020); Pethő, Csilla: Art. Ránki György. In: MGG
Online. Zuerst veröffentlicht 2005, online veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-online.
com/mgg/stable/27410> (letzter Zugriff: 21.08.2020); Dies.: Ránki György. Budapest:
Mágus 2002.
147 Ránki, György: Leverkühns Abschied. In: Songs by Contemporary Hungarian Compo-

sers. Budapest: Hungaroton 1983. CD.


5.2 Vom Roman zur Musik 167

bedarf.148 Des Weiteren lässt sich Ránkis Leverkühns Abschied der Form der offe-
nen Intermedialität zuordnen, da es, auch wenn das Monodrama nicht tatsächlich
inszeniert wird, immerhin Text und Musik enthält. Der paratextuelle Hinweis des
Titels erlaubt sofort eine Zuordnung zu den intermedialen Transpositionen von
Doktor Faustus.
Der Text, der verschiedene Stellen aus dem Ende des Romans Doktor Faus-
tus kombiniert149 und manchmal auch leicht verändert, präsentiert Leverkühn
als absoluten Protagonisten: Leverkühn kann bei Ránki mit einer autodiegeti-
schen Erzählinstanz, die mit den Musikinstrumenten kommuniziert, verglichen
werden. Die Abschiedsrede, die schon im Roman „im Zeichen einer doppelten
Abwesenheit“150 steht, d. h. der Kantate und der Verbindung Schöpfer – Werk,
steht hier im Zeichen einer dreifachen Abwesenheit, denn auch die Gäste – sonst
würde sich das Werk ja nicht als Monodrama bezeichnen lassen – kommen in der
Komposition Ránkis nicht vor.
Die erste Episode, mit „[t]empo molto sostenuto e rubato“, „sehr gehalte-
nes Tempo mit Rubato“ zu spielen, handelt vom ersten Teil der Abschiedsrede
Leverkühns. Der Text lautet:

Fromme Brüder und Schwestern, ihr wollet mein Fürtragen annehmen. Ich, Adrian
Leverkühn, deutscher Tonsetzer, bin längst verheiratet mit dem Satan. Was ich vor
mich gebracht, ist Teufelswerk. Ja, Teufelslied.151

Im 47. Kapitel ist das Adjektiv „fromm“ nicht zu finden: In Thomas Manns
Roman wird das lauere „lieb[]“ (DF: 721) oder „günstig[]“ (DF: 723) ver-
wendet, bei Ránki hingegen die religiös konnotierte Binäropposition zwischen
dem verdammten Leverkühn und seinem frommen Publikum gleich zu Beginn
der Abschiedsrede markiert. Die emphatische Betonung „Ja, Teufelslied“ findet
sich in Doktor Faustus ebenfalls nicht. Ránkis Komposition hingegen schreibt
Leverkühns fiktiver Kantate sofort Dämonisches zu.
Integriert werden Hommagen an die Zwölftontechnik und ihrer Behandlung
des Materials (z. B. gleich am Anfang, T. 1–4) sowie an Prokofjew oder Scho-
stakowitsch. Das Kammerensemble unterstützt insgesamt Leverkühns Narration,

148 Vgl. Mc Lucas, Anne Dhu: Monodrama. In: Grove Music Online. Zuerst veröffent-
licht 20.01.2001, online veröffentlicht 2001. <https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.
article.18976> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
149 Siehe DF: S. 717–729.
150 Corbineau-Hoffmann: Umkehrungen, S. 239.
151 Vgl. DF: 719 f.
168 5 Dr. Fausti Weheklag

indem es zum Spannungsaufbau oder generell zur Illusionsbildung152 beiträgt.


Das Wort „Teufelswerk“, das noch einmal das Dämonische unterstreicht, wird
durch die enorme Ausdehnung der Silbe „Teu-“ (T. 26 ff.) stark betont (T. 25,
DF: 720): Wie Manzoni mit der Phonemisierung der Sprache verweist die-
ses Verfahren auf Zeitbloms Beschreibung der Dr. Fausti Weheklag, in der er
von der „Dehnung von Silben“ spricht (DF: 708). Die Crescendo-Dynamik
und der sich beschleunigende Rhythmus führen zu einer plötzlichen, lapidaren
Vervollständigung der früheren Silbe mit „[Teu]-felslied“ (T. 28 f.).
Die nächste Episode, als „[a]llegretto grazioso e capriccioso“, „liebliches und
kapriziöses Allegretto“ bezeichnet, handelt von Esmeralda:

Es war nur ein Schmetterling. Hetaera Esmeralda. Die hatte es mir angetan, durch
Berührung. Sie gab mir Gift in der Liebe, da war ich eingeweiht.153

Die weibliche Figur, Esmeralda, wird musikalisch durch den Harfen- und Flö-
tenklang realisiert: Ein Dialog beider Instrumente eröffnet die Episode. Das
Streichquintett soll ebenfalls „flautato“ spielen und auf diese Weise den Klang
der Flöte imitieren; zusammen mit den Mordenten wird hier das Fliegen eines
Schmetterlings in der Musik simuliert (Abbildung 5.10):
Der chromatische Verlauf der ersten Violinstimme samt den vielen Mordenten
könnte ab D auf die Konsequenz der intimen Beziehung mit Esmeralda hinweisen,
die Syphilis, die später auch im Text des Sängers angesprochen wird („Die hatte
es mir angetan“). Dieses Motiv stört den „lieblichen und kapriziösen“ Verlauf der
Flöte und lenkt trotz der Pianissimo-Dynamik die Aufmerksamkeit auf sich: Da
die anderen Instrumente zupfen, lässt es sich nicht überhören. Abgesehen davon,
dass in der Musik von der Ansteckung erzählt wird, stellt dies sicherlich ein
den allgemeinen Musikverlauf störendes Element dar. Zwei Takte später singt
Leverkühn „mezza voce“, als ob er ein Geheimnis erzählen würde: „Es war ein
Schmetterling…“ (T. 41) (Abbildung 5.11):154
Die dritte Episode erweist sich als sehr unterschiedlich zur zweiten, da die
Anweisung „[a]gitato, misterioso“ lautet (T. 56), also „bewegt und geheim-
nisvoll“. Die geheimnisvolle Atmosphäre wird durch das tiefe Register der
Bassklarinette erzeugt; die Tenorstimme singt erregt und betont einige Worte, die
in der Partitur großgeschrieben sind:

152 Hier nicht als fremdmedial bezogen intendiert.


153 Vgl. DF: 721.
154 Vgl. ebd.
5.2 Vom Roman zur Musik 169

Abbildung 5.10 Der Anfang der zweiten Episode (T. 35 f.)

Was zum Teufel will, das lässt sich NICHT aufhalten. Und JENER hat mir Zeit
verkauft für meine Seele. Doch es wurde ausgemacht, dass ich NICHT lieben darf,
und das END ist SEIN.155

Hier werden also das Liebesverbot und Leverkühns Ohnmacht angesichts seiner
verzweifelten Lage thematisiert. Dank des Rallentando und der Stille des Streich-
quintetts wird das Wort „End“ wiederholt deutlich betont, was eine Parallele zu

155 Herv.
i. O. (hier und im Folgenden). Vgl. DF: 723. Eine weitere Entlehnung Thomas
Manns aus dem Volksbuch. Vgl. Historia: S. 7.
170 5 Dr. Fausti Weheklag

Abbildung 5.11 Die Thematisierung der Ansteckung in der zweiten Episode (T. 39 ff.)

Manzonis Realisierung des Wortes „Aufenthalt“ ist.156 Das Motiv der Verabschie-
dung Leverkühns von der Welt bzw. des sich nähernden Endes, das bei Ránki
bereits im Titel enthalten ist, nimmt in beiden intermedialen Transpositionen eine
wichtige Stellung ein (Abbildung 5.12):
Die vierte Episode handelt von der geistigen und physischen Krankheit
Leverkühns, die wie ein Delirium präsentiert wird:

Ach, Spirochaetae Pallidae! Ihr geisselt den müden Geist. Ach, cerebrale Illumina-
tion! Teufels Zauber und höllisch Fieber! Ach, helfet dem Künstler, der der Zukunft
den Marsch schlagen will. Tramda, tram[daratta]!157
Ach, eitler Wahn, bitt’re Schmerzen, ach!158

Diese Episode, in der das Klagen deutlich zum Tragen kommt, ist als „Largo
espressivo (quasi una preghiera)“ (T. 69), als „expressives Largo, fast wie ein

156 Vgl.5.2.1.3.
157 Die in Klammern geschriebenen Buchstaben existieren in der Partitur und in der
Aufnahme, sind aber im „Libretto“ des Manuskripts nicht zu finden.
158 Im Fall dieser Textpassage hat der Komponist unterschiedliche Textstellen aus dem

Roman mit einigen von ihm erfundenen Worten kombiniert, sodass man auf keine genaue
Seite von Doktor Faustus verweisen kann.
5.2 Vom Roman zur Musik 171

Abbildung 5.12 „Das END“ (T. 64 ff.)

Gebet“, bezeichnet. Durch die Tempoanweisung wird vermittelt, was die Musik
bestätigt: Diese Ausdrucksexplosion von Klage nähert sich einem Klagen reli-
giöser Art, das statisch (siehe die Tempoangabe ,Largo‘) wirken soll. Auch
Zeitblom beschreibt Leverkühns Weheklag als „recht eigentlich undynamisch, ent-
wicklungslos, ohne Drama“ (DF: 705). Rhetorisch betrachtet, beinhaltet der Text
eine Fülle von exclamationes und invocationes, wie z. B. „Ach, cerebrale Illu-
mination!“. Die Partikel der Klage, ,ach‘, fehlt hier ebenfalls nicht. Leverkühn
bittet den Teufel um Hilfe, um geniale Werke für die künftigen Generationen
zu schreiben: Das Scheitern seines Projekts wird aber hervorgehoben, indem das
172 5 Dr. Fausti Weheklag

musikalische Tempo dem Textinhalt entgegensetzt ist, folglich kann der dort ange-
sprochene Künstler, „der den Marsch schlagen will“, nur einen langsamen Marsch
schlagen. Auffällig ist zudem, dass die restlichen Instrumente diesen Marsch sehr
schwach unterstützen, was eine Ausnahme im Monodrama darstellt, denn sonst
passt sich die Musik dem Inhalt des Textes an (Abbildung 5.13):

Abbildung 5.13 „Tramda, tramdaratta“ (T. 82 f.)

Die Worte „tramda, tramdaratta“ am Ende des Stückes wiederholen nicht nur
das Motiv der Musik für künftige Generationen und unterstützen nicht nur sprach-
lich den Marsch-Rhythmus, sondern drücken auch das Motiv der Sprachkrise, das
auch bei Manzoni eine zentrale Rolle spielt, aus.
Die fünfte Episode handelt von Echos Tod durch den Teufel:

Eine kleine Seejungfrau, die war meine Schwester und Süsse Braut. Sie hat mir ein
Söhnchen gerehlt, ein holdselig heilig Knäbchen. Doch ER – bracht es um – ohn
Erbarmen.159

Hier ist die erregte Singweise Leverkühns quasi im Sprechgesang zu erken-


nen: Leverkühns Sprachkrise lässt sich durch eine Vielfalt an Gesangstechniken
musikalisch realisieren. Die Piccoloflöte und die Harfe sind mit der Seejung-
frau assoziiert, da sie Leverkühns Bericht von ihr begleiten: Klanglich ist daher
Esmeralda, die wie der Teufel im Roman ebenfalls verschiedene Gestalten
annimmt (Schmetterling, verschleierte Frau, Seejungfrau), in der Komposition

159 Vgl. DF: 723 ff.


5.2 Vom Roman zur Musik 173

immer erkennbar.160 Darüber hinaus lässt sich an der Erwähnung der kleinen
Seejungfrau konstatieren, dass das Motiv des Inzests auch in Ránkis Monodrama
trotz der im Vergleich zur Vorlage starken Textreduktion auftaucht.161 Das Kam-
merensemble unterstützt hier, wie sonst im Monodrama, Leverkühns Narration
durch die Dynamik.
Die darauf folgende Episode, die „agitato e[d] excitato“ [sic], „mit Aufre-
gung“ zu spielen ist, handelt vom Liebesverbot des Teufels sowie von der Zeit,
die Leverkühn bis zum Ende des Teufelspaktes übrig bleibt:

Hatt ich einst gedacht, dass ich auch lieben darf, in Blut und Fleisch, was NICHT
weiblich war. Doch DEN – musste ICH töten. – Ach, meine Sünde ist grösser,
denn dass sie mir könnte verzeihen [sic] werden. Ach, die Zeit ist ausgelaufen, ich
bin verdammt.162

Gerade beim Singen des letzten Satzes, in dem der Klagelaut ,ach‘ wieder auf-
taucht, wird auch passend hierzu die Musik statisch und der Klagelaut selbst
erneut gedehnt (T. 107 f.), zudem lautet die Anweisung für die Tenorstimme
„lamentando“ (T. 104), also „klagend“: Alle diese musikalischen Elemente ver-
weisen auf Leverkühns Weheklag, auch der Schluss selbst im Pianissimo, wie das
g des Cello am Ende der fiktiven Kantate. Im Text wird außerdem angedeutet,
dass Leverkühn nicht nur Figuren weiblichen Geschlechts geliebt hat, was sich in
diesem Fall auf den Neffen bezieht, für dessen Tod er sich verantwortlich erklärt.
Die Anweisung für die siebte Episode lautet „[r]ubato, molto espressivo“,
„mit Rubato, sehr expressiv“ und ihre ersten acht Takte sind rein instrumental
(T. 111–118): Am Anfang spielt das Englischhorn gemeinsam mit dem Streich-
quintett, danach hört man auch Flöte, Bassklarinette, Pauke und später, wenn die
Tenorstimme zu singen beginnt, auch die Harfe.163 Der Text lautet:

Nun höret mein Abschiedslied, wie ich es der SATANS Geige abgehört: „ACH,
FAUSTE, DU VERWEGENES UND NICHTWERDENDES HERZ… ACH…-
VERNUNFT UND VERMESSENHEIT, ACH…FREIER WILL, ACH…“164

160 Siehe auch die erste Abbildung des vorliegenden Abschnitts.


161 Vgl. Kap. 3.
162 Vgl. DF: 727.
163 Flöte und Harfe, die, wie bereits angesprochen, im Stück mit Esmeralda assoziiert sind,

treten vergleichbar zur Klangchiffre Esmeraldas im Roman an verschiedenen Stellen des


Monodramas auf.
164 Vgl. DF: 728.
174 5 Dr. Fausti Weheklag

Das Dämonische wird mithilfe des ,teuflischen‘ Instruments par excellence ins
Zentrum gestellt: Die virtuose, fast komplett auf der G-Saite und in höheren Lagen
Passage der Violine unterstützt den Text. Der Klagelaut tritt zudem wiederholt
auf und stört Leverkühns Erzählen; im Text wird die Sprachkrise Leverkühns
nochmals deutlich.
Die letzte Episode handelt vom gescheiterten Versuch Leverkühns, seine
Komposition aufzuführen. Vor dem letzten Klagelaut sind nochmals die Worte
„[t]ramda, tramdaratta“ zu hören, die Leverkühns Sprachkrise und Kommunika-
tionsunfähigkeit unterstreichen.165 Die Episode beginnt mit derselben Art von
instrumentaler Begleitung, die den Anfang der ersten Episode bestimmt (T. 132–
135): Das Stück besitzt also eine Kreisstruktur. Die Worte des Sängers „tramda,
tramdaratta“ sind in Crescendo und weisen einen Marsch-Rhythmus auf, der vom
Schlagzeug unterstrichen wird (ab M). Dies erzeugt eine große Spannung. Das
nochmals gedehnte Wort „Ach“ wird nur vom Schlagzeug begleitet (N): Die
Dynamik geht vom Piano zu einem plötzlichen Fortissimo und dann „morendo“,
„sterbend“ zu einem plötzlichen Pianissimo. Das Kammerensemble antwortet auf
die letzten Noten der Tenorstimme mit einem Echo im Fortissimo samt Akzenten
und schließt auf diese Weise das Stück: Auch bei Ránki hat wie beim Vorlesen
des letzten Teils der Beschreibung der Weheklag das Echo des Klagens das letzte
Wort.
Ránkis Monodrama verdeutlich noch einmal, was auch in den vorigen Kapi-
teln der vorliegenden Studie konstatiert wurde, nämlich, dass sich trotz sehr
unterschiedlicher Musikstile der behandelten Komponist*innen bisweilen Kon-
tinuitäten feststellen lassen, z. B. in der Art und Weise, wie bestimmte Motive im
Medium der Musik (teil-)reproduziert und wie bestimmte Passagen des Romans
interpretiert werden: Auch hier stehen das Klagen, das quasi religiöser Natur
ist, wie die Tempoangabe der vierten Episode ausdrückt, und die Sprachkrise
im Vordergrund. Was aber das Monodrama verstärkt, ist die Zuordnung der Vor-
lage zur Faust-Tradition: In Ránkis Text ist so oft die Rede vom Teufel, dass sich
diese Zuordnung, die doch im Roman immer noch Anlass für Diskussionen bietet,
kaum in Frage stellen lässt. Es handelt sich sogar um einen musikalischen Teu-
fel, der die Geige spielt. Die Inkongruenzen des Erzählers lassen sich bei Ránki

165 Nichtnur die Musik Leverkühns ist unfähig zur Kommunikation, sondern auch Lever-
kühn in der Abschiedsrede selbst: Die Gäste verstehen zum großen Teil nicht, was er sagt,
und reagieren darauf auf unterschiedliche Art und Weise. Einige, wie etwa der Dichter
Daniel Zur Höhe, denken, dass alles schon Teil des Stückes als theatralischer Teil vor
dem Einsatz der Musik sei, einige verlassen den Raum und werfen Leverkühn vor, den
Verstand verloren zu haben und lediglich wenige nehmen seine Worte ernst und bleiben
bis zum Ende. Vgl. DF: 720 ff. u. 725 f.
5.2 Vom Roman zur Musik 175

durch die Erhebung Leverkühns zum absoluten Protagonisten und zur alleinigen,
autodiegetischen Instanz überwinden.

5.2.3 Peter Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“: Erinnern,


Vergessen, Verstummen und Zurücknehmen

Nachdem zwei intermediale Transpositionen, nämlich Manzonis Oper und Ránkis


Monodrama analysiert wurden, wird im Folgenden eine intermediale Bezug-
nahme in den Fokus gerückt, die der Definition entsprechend nur auf einige
wenige Mikroformen aus der Vorlage Bezug nimmt.166 Das Werk „…ZURÜCK-
NEHMEN…Erinnerung für großes Orchester“ des deutschen Komponisten Peter
Ruzicka (*1948) war ein Kompositionsauftrag der Wiener Philharmoniker, das
2009 in Wien uraufgeführt wurde.167 Die Orchesterbesetzung ist die folgende:
Streicher (erste und zweite Violinen, Bratschen, Celli und Kontrabässe), drei
Flöten (die dritte auch Piccolo), zwei Oboen, Englischhorn, zwei Klarinetten,
Bassklarinette, zwei Fagotte, Kontrafagott, vier Hörner, drei Trompeten, drei
Posaunen, Basstuba, Kontrabasstuba, Pauken, Schlagwerke, Harfe, elektronische
Orgel, Klavier, Celesta. Im Gegensatz zur vorher betrachteten Komposition hat
man es hier mit einer imponierenden Besetzung zu tun: Es ist zudem anzumerken,
dass die einzelnen Streicherpulte separate Noten haben, was die orchestrale Tex-
tur noch dichter macht. Auch hinsichtlich der Dauer ist dieses Stück im Vergleich
zu Ránkis Leverkühns Abschied etwas länger.
Nicht nur in der Besetzung unterscheidet sich Ruzickas Werk von den meis-
ten in dieser Studie betrachteten Kompositionen, denn in diesem Fall kann man

166 Vgl.1.1.5.
167 Zum Komponisten: Wißmann, F.: Art. Ruzicka, Peter. In: MGG Online. Zuerst
veröffentlicht 2005, online veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-online.com/mgg/stable/
26400> (letzter Zugriff: 21.08.2020). Ruzicka hat sich zeit seines Lebens nicht nur mit
dem Komponieren, sondern auch mit dem Klavier, der Oboe, dem Tonsatz und der
Musiktheorie, der Rechtswissenschaft, der Betriebswirtschaft und der Theater- und Musik-
wissenschaft auseinandergesetzt. Im Jahr 1977 wurde er an der Freien Universität Berlin
in Rechts- und Musikwissenschaft mit einer interdisziplinären Arbeit über das „ewige
Urheberpersönlichkeitsrecht“ promoviert. Siehe Ruzicka: Die Problematik eines „ewigen
Urheberpersönlichkeitsrechts“ unter besonderer Berücksichtigung des Schutzes musikali-
scher Werke. Berlin: Schweitzer 1979. Vgl. auch Traber, Habakuk: Nach-Zeichnung. Peter
Ruzicka. Eine Werkmonographie. Hofheim: Wolke 2013 u. Peter Ruzicka. Komponist –
Dirigent – Intendant: Vita. In: <https://www.peter-ruzicka.de/de/vita.html> (letzter Zugriff:
21.08.2020). Zur Partitur: Ruzicka, Peter: „…ZURÜCKNEHMEN…Erinnerung für großes
Orchester“. Hamburg: Sikorski 2009.
176 5 Dr. Fausti Weheklag

auch nicht von Medienkombination sprechen, weil das einzige materiell prä-
sente Medium die Musik ist. Auch die Definition ,offene Intermedialität‘ wäre
problematisch, da die intermedialen Bezüge keineswegs im musikalischen Text
selbst offen deklariert werden und es sich um eine rein instrumentale Kom-
position handelt. Das im Titel der Komposition erwähnte Zurücknehmen ist
kein eindeutiger Verweis auf Leverkühns Zurücknahme der Neunten Sympho-
nie und dementsprechend auf das Medium der fiktionalen Schrift.168 Ruzickas
…ZURÜCKNEHMEN… ist eher ein in dieser Studie selten vorkommendes Bei-
spiel für verdeckte Intermedialität: Die Präsenz eines einzigen Mediums, nämlich
der Musik, die sich zudem durch ausgeprägte Selbstreferentialität auszeichnet,
erschwert die Nachweisbarkeit intermedialer Bezüge.169
Wie geht denn die folgende Analyse vor? Erstes Mittel dafür können Quel-
len außerhalb der Partitur und der Aufnahme sein, die jedoch bekanntlich alleine
keine ausreichende Aussagekraft besitzen. In der Beschreibung des Werkes im
Booklet der CD schreibt Becker, dass der Titel von Ruzickas Komposition „auf
d a s Skandalon in Thomas Manns Roman Doktor Faustus“170 verweist. Er ver-
steht darunter Leverkühns Absicht, die Neunte Symphonie zurückzunehmen. Das
stelle aber nicht die einzige Erinnerung dar, so Becker, auf die sich der Titel
beziehe: Es sei eine dreifache, und zwar an Manns Doktor Faustus, an Beetho-
vens Neunte Symphonie und an Ruzickas eigenes Schaffen.171 Folglich ließen
sich in der Komposition sowohl intra- als auch intermediale Bezüge indizieren.
Beckers These, die sich u. a. auch auf die Intention des Autors stützt, ist – einer
größeren Aussagekraft wegen – mit einer Analyse des Stückes auf der Suche nach
Kontinuitäten mit Thomas Manns Roman auf den Prüfstand zu stellen.
Zunächst gilt es anhand der Partitur herauszuarbeiten, ob sich intramediale
Bezüge auf Beethovens Spätwerk finden lassen, die somit das im Titel erwähnte
Zurücknehmen in Verbindung mit Leverkühns Zurücknahme von Beethovens
Neunter Symphonie bringen könnten. Die Beispiele dafür sind zahlreich und wer-
den auch anhand einiger publizierter Analysen des Werkes hervorgehoben. Erstens

168 Obwohl der Titel selbst kraft der Anführungszeichen typografisch wie ein Zitat aussieht;
die Auslassungszeichen scheinen des Weiteren auf fehlende Teile des Zitats hinzuwei-
sen, die ausgefüllt werden müssen, und machen die später im vorliegenden Abschnitt
angesprochene Tendenz zum Fragmentarischen im Werk Ruzickas und speziell in dieser
Komposition deutlich.
169 Vgl. 1.1.6.
170 Becker, Peter: „…ein Sehnen über die Dinge der Welt hinaus“. In: Ruzicka: Ein-

schreibung. Bühl/Baden: Thorofon (Bella Musica Edition) 2012 (CD), S. 2–7, hier: S. 5,
Herv. i. O. (im Folgenden als Booklet.)
171 Ebd., S. 6.
5.2 Vom Roman zur Musik 177

der, so nochmals Becker, „,Schreckensakkord‘ vom Beginn des 4. Satzes der


Neunten Symphonie“.172 Zweitens, darauf weist auch Traber hin, „[d]as Schlag-
zeug und die antreibenden Gesten des Alla marcia aus Beethovens Finale“173 und
drittens die Tonart von Beethovens letzter Symphonie. Diese Anspielungen auf
Beethoven interagieren mit dem restlichen musikalischen Material, wie Becker
unterstreicht:174

Das musikalische Material speist sich zunächst auch aus früheren Kompositionen
Ruzickas, die wie Erinnerungen an Vorgedachtes, auch Verworfenes der neuen
Partitur eingeschrieben sind: In diese wie aus tektonischen Verschiebungen und
kosmischen Stürzen fräst sich immer wieder der hochgespannte Eröffnungsakkord
ein, der die Gegenwart Beethovens ebenso beschwört wie die Signale der Klei-
nen Trommel („Alla Marcia!“) oder die auf den Ton d (die Tonart der Neunten)
fokussierten Repetitionsfelder der Streicher und Bläser.

Wie bei Manzoni werden also Elemente aus Beethovens Werk in das eigene
musikalische Material integriert:175 Im Gegensatz zur Oper geht es aber bei
Ruzicka weniger um eine Fusion oder eine Vermischung der Bezüge auf Beetho-
vens Neunte mit dem eigenen musikalischen Material, sondern eher um eine
Markierung und eine Nebeneinanderstellung. Trabert betont, dass der letzte von
Becker erwähnte Punkt, nämlich das Drängen auf die Tonart der Neunten (d-Moll)
sowohl als Hommage an Beethovens Symphonie als auch an andere zwei Neunte
Symphonien interpretiert werden kann, und zwar an die Bruckners, ebenfalls in d-
Moll, und die Mahlers, in D-Dur/Des-Dur.176 So erweitere Ruzicka das „Arsenal
der Erinnerung“177 und der Zurücknahme von Doktor Faustus.
Da aber die Bezüge auf Beethoven sich nicht zwangsläufig auf Thomas Manns
Roman zurückführen lassen, muss in einem nächsten Schritt nach weiteren Indi-
zien für Bezugnahmen auf Doktor Faustus gesucht werden. Aus diesem Grund sei

172 Becker: Booklet, S. 6.


173 Traber: Nach-Zeichnung, S. 236.
174 Becker: Booklet, S. 6, Herv. i. O.
175 Bei Manzoni werden die Bezüge zu Beethovens Werk an manchen Stellen zusätzlich

durch paratextuelle Hinweise markiert, siehe etwa die Angabe „Arietta“. Vgl. 5.2.1.5.
176 Siehe Franklin, Peter: Mahler, Gustav. In: Grove Music Online. Zuerst veröffentlicht

20.01.2001, online veröffentlicht 2001, Bibliographie am 16.09.2010 aktualisiert. <https://


doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.40696> (letzter Zugriff: 21.08.2020); Stein-
beck, Wolfram: Art. Bruckner, Anton, Werke, Instrumentalmusik, Orchesterwerke. In:
MGG Online. Zuerst veröffentlicht 2000, online veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-
online.com/mgg/stable/12548> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
177 Traber: Nach-Zeichnung, S. 237.
178 5 Dr. Fausti Weheklag

die Struktur der Komposition kurz geschildert: „…ZURÜCKNEHMEN…“ kann


in drei Hauptteile gegliedert werden, die einer Kreisstruktur entsprechen. Der
erste Hauptteil erstreckt sich bis Takt 89 und ist von einem Wechsel zwischen
Klangflächen und Verstummen sowie einer rhythmischen Opposition zwischen
den Streichern und den anderen Instrumenten geprägt. Die Realisierung dieser
Klangflächen, die bei der Betrachtung der Partitur sofort zu erkennen sind, ist
hauptsächlich Aufgabe der Streicher, die im Gegensatz zu den anderen Instru-
menten des Orchesters von schnellen rhythmischen Figurationen gekennzeichnet
sind (Abbildung 5.14). Der zweite Hauptteil geht bis Takt 345. In diesem Teil
kommt das Verstummen viel seltener vor, im Takt 280 lautet die Anweisung für
die Streicher „feroce“, „wild“. So Traber:178

Der zweite, heftige Teil von „…ZURÜCKNEHMEN…“ mit dem Auf und Ab sei-
ner Sturz- und Schwungfiguren, dem Orchestersatz, der wie ein vielfältiges Echo
auf virtuos-attackierende Paukensoli wirkt, mit seinen cholerischen Crescendi und
dem Energiestau, der durch die metrische Polyphonie unterschiedlich schneller,
marschartiger Repetitionsmuster entsteht, trägt Züge jenes „Höllengalopps“ und
„Schreckenstanzes“, den Thomas Mann in seinem Roman beschwor.

Gerade die Anweisung „feroce“ erinnert an die „wilde Idee des Niedergeholt-
werdens als Tanz-Furioso“ (DF: 708) und gleichzeitig auch an manche Stellen
aus der Apocalipsis cum figuris, z. B. die des „Tutti-Fortissimo grauenhaft
anschwellenden, überbordenden, sardonischen Gaudium Gehennas“ (DF: 548).179
Der dritte Teil von Ruzickas Komposition weist eine erlöschende Dynamik
auf, die also allmählich leiser wird, und kehrt zum selben Klangverlauf des ersten
Teils zurück. Hier mag man an Zeitbloms Schilderung des Schlusses von Lever-
kühns Weheklag denken: „[E]in symphonischer Adagiosatz, in welchen der nach
dem Höllengalopp mächtig einsetzende Klage-Chor allmählich übergeht“ (DF:
709).180 Im Gegensatz zur Weheklag gibt es in Ruzickas Werk einige Soli. Zudem
findet Traber eine Korrespondenz zu Zeitbloms Beschreibung der „Hauptstimme,
die oft in langen melodischen Bögen verläuft“ (DF: 708) im Flötenmelos im ers-
ten und dritten Teil sowie im Duo der Violine solo mit den Bassinstrumenten
im zweiten Teil.181 Im Stück lässt sich tatsächlich in allen Teilen eine ähnliche

178 Ebd., S. 236. Vgl. DF: 645 f.


179 Auch Traber unterstreicht, dass das Werk „viel Kraft, enorme Energie und bisweilen
eine bedrängende Aggressivität“ sammelt und sich entlädt. Ebd., S. 235.
180 Selbstverständlich findet man in Ruzickas Komposition als rein instrumentales Werk

keinen Chor.
181 Siehe Traber: Nach-Zeichnung, S. 236.
5.2 Vom Roman zur Musik 179

Melodie auffinden: ein selbständiges, singbares Element, das nicht immer gleich
auftaucht, aber einer ähnlichen kompositorischen Konzeption zugeordnet werden
kann. Diese Melodie wirkt wie eine Erinnerung, die an einigen Stellen unbe-
stimmter und vager ist, an anderen deutlicher, dennoch immer erkennbar bleibt.
Der Quintklang a-d der Celesta, der das Stück schließt, ist außerdem als Anspie-
lung sowohl auf Beethovens letzte Symphonie aufzufassen – als „Eingangstor
zur Neunten Symphonie“182 – als auch auf den Roman, denn das Instrument
ist dort Teil der Besetzung. Eine erwähnenswerte Differenz zu Leverkühns Kan-
tate stellt aber das wiederholt auftretende Verstummen dar: Leverkühns Werk
zeichnet sich durch seine Gebundenheit aus, nur der Schluss kommt zum Ver-
stummen. Eine echte Differenz ist das aber – genauer betrachtet – nicht: Wißmann
erläutert in Bezug auf das ganze Schaffen des Komponisten, dass das Verstum-
men bei Ruzicka keine leere Zeit darstelle, sondern als Teil der Komposition
aufzufassen sei.183 Dies erzeuge eine bewusste Tendenz zum Fragmentarischen,
ohne dabei Klarheit und Sprachkraft zu verhindern.184 Vielleicht gelingt Ruzickas
„…ZURÜCKNEHMEN…“ durch jenes kohäsive Fragmentarische eine größere
Ausdrucksfähigkeit und daher durch den Medienwechsel eine Ergänzung der
Vorlage.
In einem dritten Schritt der Analyse wird auf konzeptuelle Ähnlichkeiten
zwischen den letzten Kapiteln von Doktor Faustus und Peter Ruzickas Werk,
ausgehend vom paratextuellen Hinweis des Titels, eingegangen. Die Bezeichnung
der Form eines musikalischen Stückes als Erinnerung ist in der Musikgeschichte
kaum zu finden und weist auf die Darstellung der Zeit im Werk als Zeit des
Erinnerns und Nachdenkens, die man durch den ständigen Wechsel zwischen
Klangflächen und Verstummen wahrnimmt, hin. Zugleich bezieht sich diese Defi-
nition auf die drei Erinnerungsschichten von „…ZURÜCKNEHMEN…“, und
zwar auf Beethovens Neunte, Doktor Faustus und Ruzickas eigenes Schaffen.
Außerdem tauchen zwei zentrale und auf den ersten Blick gegensätzliche Kon-
zepte im Titel auf: Der Akt des Zurücknehmens lässt sich als Amnestie begreifen.
Aleida Assmann, die sich in ihrer Forschung intensiv mit der Erinnerungskultur
auseinandergesetzt hat, definiert die Amnestie als „willentliches Vergessen, eine
Form der Selbstlegung und Diskursbegrenzung, die bestimmte Sachverhalte aus

182 Becker: Booklet, S. 7.


183 Wißmann, F.: Ruzicka, ebd.
184 Siehe ebd.: „Das Schaffen Ruzickas zeugt, obschon von Brüchen und Introversion

gezeichnet, von einer expressiven Sprachkraft und einer ausdrucksstarken Klarheit“.


180 5 Dr. Fausti Weheklag

der gesellschaftlichen Zirkulation verbannt“.185 Diesem setzt sich aber die Erin-
nerung entgegen: Die Klangflächen ihrerseits könnten daher für eine Zeit des
Erinnerns und das Verstummen für eine Zeit des Vergessens stehen. Daraus ergibt
sich ein „Kampf der Erinnerungen“:186 Assmann versteht darunter mit Bezug
auf Shakespeares Dramen eine spannungsreiche Art des Erinnerns, in der die
beiden Pole (das Vergessen und das Erinnern) neutral in einem ausgewogenen
Dominanzverhältnis nebeneinanderstehen. Ruzickas Komposition verfolgt durch
die im Titel explizit deklarierte Absicht des Erinnerns einen quasi historiogra-
phischen Zweck im Medium der Musik.187 Denn das Verstummen kann nicht
nur für das Vergessen stehen: In der ganzen Komposition bildet sich der Prozess
des Erinnerns ab; Assmann weist darauf hin, die Erinnerung sei „alles andere als
eine einheitliche Kraft“188 und gehöre „zum Unzuverlässigsten, was ein Mensch
besitzt“.189 Außerdem macht sie darauf aufmerksam, dass in Erinnerungen „als
Motor des Handelns und der Selbstdeutung“190 ein großes Potenzial liege: „Wir
definieren uns durch das“,191 so Assmann, „was wir gemeinsam erinnern und
vergessen“.192 Auch Leverkühn erinnert sich im Roman an die Neunte Sympho-
nie und nimmt sie gleichzeitig, insbesondere durch die Weheklag, zurück: Die
Erinnerung an jene „Variationen des Jubels“ (DF: 705) stellt im Roman die Vor-
aussetzung für das Handeln in Form des Zurücknehmens und Anwendens der
Zwölftontechnik dar. Jenem Akt des Zurücknehmens wohnt sowohl Vergessen als
auch Erinnerung inne, er dient dem Durchbruch Leverkühns und führt zum epi-
phanischen Moment. Die Weheklag trägt gleichzeitig kraft ihrer Umkehrung der
Variationen des Jubels in Variationen der Trauer zum Vergessen und Erinnern der
Neunten Symphonie bei.
Es ist vor allem dieses, der fiktiven Kantate innewohnende Spannungsver-
hältnis zwischen Erinnern und Zurücknehmen bzw. Vergessen, das Ruzickas
Komposition aus dem literarischen Medium in das musikalische transferiert und
so mit weiteren Elementen des Werkes kombiniert, wobei sich daraus eine Form
von verdeckter Intermedialität ergibt. Da in den letzten Kapiteln des Romans

185 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächt-
nisses. München: Beck 1999, S. 71.
186 Ebd., S. 70.
187 Siehe auch ebd., S. 75.
188 Ebd., S. 82.
189 Ebd., S. 64.
190 Ebd., S. 83.
191 Ebd., S. 62.
192 Ebd.
5.2 Vom Roman zur Musik 181

Abbildung 5.14 Die


erste Seite der Partitur. ©
Mit freundlicher
Genehmigung
MUSIKVERLAG HANS
SIKORSKI GMBH,
Hamburg
182 5 Dr. Fausti Weheklag

das Thema der Sterilität der Kunst, u. a. auch kraft der vielen intramedialen
Bezüge auf Adorno, in den Vordergrund gerückt wird, liefert Ruzickas Werk
auch eine Lösung, die zugleich alle drei von Heimann in Anlehnung an Adorno
präsentierten Kategorien (Verstummen, Verbleiben im Konventionellen und revo-
lutionäre Lösung) unter dem übergeordneten Begriff der Erinnerung subsumiert.
Als Motor des Handelns und der Selbstdeutung erlaubt die memoria nicht nur
das Zurückschauen, sondern auch das Suchen nach Alternativen und Lösungswe-
gen. In allen in diesem Kapitel behandelten Kompositionen scheint beispielsweise
der Lösungsweg nicht wie im Roman über die Zurücknahme der Neunten Sym-
phonie zu führen. Vielmehr unterstreichen sie die Unmöglichkeit dieses Aktes,
nicht zuletzt wegen des Platzes, der die Symphonie im kulturellen Gedächtnis
hat, und integrieren Beethovens Werk in das musikalische Material. Um diesbe-
züglich aber keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, soll zunächst einmal das letzte
Musikwerk dieses Kapitels näher betrachtet werden, das erneut eine intermediale
Transposition ist.

5.2.4 Humphrey Searles The Lamentation of Dr. Faustus:


Marlowe und die Gigue des Teufels

The Lamentation of Dr. Faustus ist das letzte Stück in Searles Kantate. Vor
dem Beginn der Musik erwähnt der Moderator die Merkmale von Leverkühns
Komposition, darunter die Anwendung der Zwölftontechnik: Im Gegensatz zum
Roman, wie bereits in 4.2.3 hervorgehoben, wendet Searle diese Kompositions-
technik bereits in seiner Apocalypsis cum figuris an. Der Komponist kennt sich
damit sehr gut aus, da schon seine ersten Kompositionen laut Lockspeiser eine
„mastery […] of the twelve-note system“193 beweisen. Der Einfluss von Searles
Kompositionslehrer, Anton Webern, taucht nicht selten in seinem Werk auf. So
Lockspeiser:194

[He] acquir[ed] from him [Webern] that power of acute musical analysis combined
with an almost excessively sensitive feeling for the musical phrase which was the
direct legacy of Schoenberg.

193 Lockspeiser,Edward: Humphrey Searle. In: The Musical Times 96 (1955) H. 1351,
S. 468–472, hier: S. 468.
194 Ebd.
5.2 Vom Roman zur Musik 183

The Lamentation of Dr. Faustus ist eine dreiteilige Komposition.195 Der erste
vom Autor als „Faust’s lamentation“196 bezeichnete Teil stützt sich auf das End-
gespräch Fausts aus Christopher Marlowes Theaterstück The Tragicall History
of the Life and Death of Doctor Faustus.197 Vor dem Einsatz des Sängers, der
mit einer Baritonstimme singt, gibt es eine orchestrale Einleitung. Das Register
des Orchesters ist tiefer, wenn die Stimme zu singen beginnt. Der zweite Teil
ist ein chorales Scherzo, „showing the carrying off of Faust to hell as a dance-
furioso“,198 schreibt Searle. Hier wird folglich in der Medienkombination das
realisiert, was Serenus Zeitblom als „gräßliche[s] […] zynische[s] chorische[s]
Scherzo“ beschreibt,

worin „der böse Geist dem betrübten Fausto mit seltsamen spöttischen Scherzreden
und Sprichwörtern zusetzt“, – mit diesem fürchterlichen „Drumb schweig, leid,
meyd und vertrag, dein Unglück keinem Menschen klag, es ist zu spat, an Gott
verzag, dein Unglück läuft herein all Tag“. (DF: 708)

Der scherzhafte, parodistische Charakter dieses Teiles wird durch die Einführung
eines „dance poem in the form of a jig“,199 das den Titel „Devil’s Jig“ trägt und
auf einem Text von Nye sowie auf der Gigue-Form basiert, stark hervorgeho-
ben.200 Fausts Höllenfahrt wird von einem Chor begleitet, der die letzten Zeilen
von Marlowes Theaterstück spielerisch und humorvoll singt.201 Außerdem kann
man Höllengelächter hören, durch das die Verwandtschaft mit der Apocalipsis

195 Siehe auch Searle: Faustus, ebd.


196 Ebd.
197 „Ah Faustus,/Now hast thou but one bare hour to live, /And then thou must be damned
perpetually“. Marlowe, Christopher: Dr Faustus. Hrsg. v. Roma Gill, 2 Aufl. nach dem
A Text (1. Aufl. 1968). London: A & C Black 1989 [1592], S. 66. Vgl. auch ebd. und
Ziolkowski: Leverkühn’s Compositions, S. 844.
198 Ebd. Vgl. DF: 708: „Diese wilde Idee des Niedergeholtwerdens als Tanz-Furioso“.
199 Ebd.
200 Als Devil’s Jig benannte danach Robert Nye, der Autor aller Texte, die ganze Radio-

sendung. Nach Ziolkowskis Auffassung könne das der Grund sein, warum die Kantate
nicht sofort als Doktor Faustus-Vertonung erkannt werden kann und warum sie von der
Faustus-Forschung kaum rezipiert wurde. Er unterstreicht jedoch, dass Searle in seiner
Autobiographie die „Faustus Cantata“ erwähnt und sich so auf seine eigene Komposition
bezieht. Ziolkowski: Leverkühn’s Compositions, S. 844. Dieser letzte Titel verstärkt den
Bezug auf Thomas Manns Roman, da im Titel auf die musikalische Form von Leverkühns
letzter Komposition angespielt wird.
201 Siehe Marlowe: Dr Faustus, S. 68. Vgl. auch Ziolkowski: Leverkühn’s Compositions,

S. 844. Auch bei Marlowe sind diese Worte dem Chor anvertraut.
184 5 Dr. Fausti Weheklag

cum figuris des Romans sowie mit der Apocalypsis cum figuris der Radiosendung
verdeutlicht wird.
Der dritte Teil beginnt nach dem a cappella-Einsatz mit der Fortissimo-
Dynamik des Chores, der Marlowes Worte „Cut is the branch that might have
grown full straight“202 singt. Vom Komponisten wird dieser Moment als „purely
orchestral Adagio, ,the extreme lament‘“203 geschildert. Die Instrumente, denen
im Gegensatz zu Doktor Faustus Soli gegeben werden und die beim Hören am
meisten auffallen, sind zunächst das Violoncello und alle Streicher, dann die
Klarinette, danach die Violine und letztendlich der tiefe Klang der Celli und
Kontrabässe. Anders als im Roman wird das Stück nicht mit dem Cello beendet.
Beim Nachdenken über die Struktur seiner Lamentation sagt Searle:204

I suddenly realised that the three sections of this piece corresponded in some ways
to the first three movements of the Choral Symphony, so I prefaced each of the first
two sections with quotations from the first two movements of the symphony, but
substituting the Esmeralda phrase for Beethoven’s themes. That may not be what
Thomas Mann had in mind but it seemed to work quite well.

Einige Elemente von Searles Vertonung, etwa das fehlende g am Ende, die Ein-
führung von Zitaten aus Beethovens Neunter und die Verwendung von Marlowes
Text, weisen also darauf hin, dass sich diese Komposition aus der Radiosendung
eine größere Distanz zur Vorlage erlaubt. Zeitbloms Beschreibung der Weheklag
wird in The Lamentation von allen ihren Wertungen befreit und parodistisch gele-
sen, was vor allem in „Devil’s Jig“ deutlich wird: Vorlage für die musikalische
Form des Stückes sind keine Lamenti mehr, sondern eine Tanzform, die speziell
der Figur des Teufels gewidmet wird. Zwar war die Gigue in der Renaissance-
bzw. Barockepoche ebenfalls sehr populär, gehörte aber zu einer anderen Dimen-
sion des Musizierens, die ursprünglich kaum religiös zu begreifen war.205 Auch
das Klagen, das in dieser intermedialen Transposition realisiert wird, ist nicht
religiöser Natur. Searles Komposition verstärkt daher parodistische Elemente der
Vorlage und zielt vor allem darauf ab, die Heterogenität des musikalischen Materi-
als, das beispielsweise auf Scherzi, Gigue und Adagi zurückgreift, herauszustellen

202 Ebd.
203 Searle:Faustus, ebd. Vgl. DF: 709.
204 Searle:Faustus, ebd.
205 Siehe Marsh, Carol G.: Art. Gigue. In: MGG Online. Zuerst veröffentlicht

1995, online veröffentlicht 2016. <https://www.mgg-online.com/mgg/stable/15642> (letzter


Zugriff: 21.08.2020).
5.2 Vom Roman zur Musik 185

und gleichzeitig die Idee der Eintönigkeit der Zwölftontechnik durch die Zwölf-
tontechnik selbst zu kritisieren. Die Gebundenheit ist durch die dreiteilige Struktur
und die Beethovens Zitate, die auch in diesem Fall in die Musik integriert wer-
den und kein fremdes, der Komposition äußerliches Element darstellen, immerhin
gewährleistet. Die Themen aus Beethovens Neunter Symphonie ersetzen sogar die
Esmeralda-Chiffre, ein im Roman häufig wiederholtes Motiv, das vor allem auf
die Syphilis-Ansteckung und auf den Teufelspakt verweist; darüber hinaus wird
die Deutungsebene des Faust-Romans parodistisch gelesen: Viele Indizien spre-
chen dafür, dass diese Interpretationsperspektive in Searles Medienkombination
in Frage gestellt wird.
Des Weiteren ergänzt Searles Lamentation die Vorlage, indem sie den eng-
lischsprachigen Faust-Text par excellence verwendet. Diese Ergänzung lässt sich
auf die in dieser Studie wiederholt ausgesprochene Beobachtung zurückführen,
dass das sekundäre intermediale Produkt, das aus anderen geographischen und
historischen Prämissen entsteht, eben diesen unterschiedlichen Entstehungs- und
Rezeptionskontext berücksichtigt. Der intramediale Bezug der Vorlage wird folg-
lich bei Searle in England, wo Marlowe gelebt hat, verstärkt. Denn strukturell und
inhaltlich betrachtet ist der Einfluss des englischen Autors auch an den letzten
Kapiteln von Manns Doktor Faustus zu erkennen. Marlowes Theaterstück endet
mit einem Monolog Fausts, in dem er ebenfalls tief verzweifelt ist und über seine
unüberwindliche Verdammnis spricht. Dem Monolog folgt ein „Epilogue“:206 Der
Chor kommentiert, was geschehen ist, und schließt somit das Stück. Anstelle
des Chores wird im Epilog von Doktor Faustus – dort „Nachschrift“ benannt
– die Figur des Erzählers verwendet, aber die Struktur und zum Teil der Inhalt
zeigen eine frappante Ähnlichkeit zum Theaterstück Marlowes. Folglich wird in
Searles/Nyes Vertonung dieser verdeckte intramediale Bezug der Vorlage verstärkt
und durch die Zitate aus Marlowes Drama explizit gemacht. Nicht zuletzt zwingt
die Verwendung des Marlowe-Textes zu keinem Sprachwechsel oder zu keiner
Übersetzung, indem er gleichzeitig eine Faust-Bearbeitung aus ungefähr dersel-
ben Zeit (1592) wie die des Volksbuches bietet. Resümierend lässt sich sagen,
dass zu den auffälligsten Merkmalen von Searles Vertonung der Weheklag, die
aus einer intermedialen Analyse resultieren, die Verstärkung von parodistischen
Elementen der Vorlage und durch den Marlowe-Text die Berücksichtigung unter-
schiedlicher Entstehungsprämissen und Rezeptionskontexte zählen, mit denen ein
sekundäres intermediales Produkt zwangsläufig konfrontiert ist.
Aus der Auseinandersetzung mit der Dr. Fausti Weheklag sowie den letzten
Kapiteln des Romans im ersten Teil des vorliegenden Kapitels lassen sich zwei

206 Marlowe: Dr Faustus, S. 68.


186 5 Dr. Fausti Weheklag

Hauptschlussfolgerungen ziehen. Erstens, dass die Klage, einziges Ausdrucksmit-


tel von Leverkühns Kantate, religiöser Natur ist und sich somit im musikalischen
Bereich mit Marienklagen und Stabat Mater assoziieren lässt: Durch verschie-
dene intermediale Verfahren evoziert, simuliert und (teil-)reproduziert der Text
eine musikalische (Marien-)klage. Zweitens, dass es im Roman schwer nach-
zuweisen ist, dass durch die neue Kompositionstechnik die Sterilität der Musik
überwunden und folglich im apokalyptischen Diskurs des Romans ein tran-
szendentales Stadium erreicht wird. Vielmehr werden im Roman Lösungswege
vorgeschlagen: Diesen zufolge ist das Stadium B entweder außerhalb des Medi-
ums Musik zu verorten oder durch ein radikales Neudenken über Musik möglich.
Auch aus dem zweiten Teil des Kapitels über die Kompositionen lassen sich nun
einige Schlüsse ziehen: Trotz Unterschiede etwa in der musikalischen Faktur oder
in dem transferierten/transformierten Inhalt aus dem Roman kristallisieren sich
einige Kontinuitäten heraus. Die Neunte Symphonie wird beispielsweise in keiner
Komposition wirklich „zurückgenommen“, sondern positiv in die Komposition,
insbesondere in das musikalische Material integriert: Mit Ausnahme von Rán-
kis Werk, das keinen Bezug auf die Neunte Symphonie nimmt, lässt sich nicht
nur bezüglich Ruzickas Komposition von „Zurücknahme der Zurücknahme“207
und folglich von Revision der Vorlage sprechen. Die in diesem Kapitel behandel-
ten Kompositionen scheinen eher im Erinnern als im Vergessen eine Lösung zur
Sterilität der Kunst zu finden: Alle weisen einen Erinnerungsmodus auf, inner-
halb dessen das im Roman mythisierte Spätwerk Beethovens dazu dient, über
bestimmte Etappen der Musikgeschichte produktiv nachzudenken. Es ist vor allem
die Einstellung der Symphonie Beethovens gegenüber, die in den Kompositionen
revidiert wird, denn die Mikroform des Kompositionsstils wird grundsätzlich im
intermedialen Transfer nicht geändert: Searles Lamentation ist dodekaphonisch
und auch die anderen Kompositionen, obwohl sie einen eigenen Weg gehen, tra-
gen Spuren von Schönbergs Kompositionstechnik. Des Weiteren taucht das Motiv
des Klagens, das jedoch im Gegensatz zum Roman nicht immer religiös, sondern
auch wie z. B. in Searles Lamentation parodistisch gefärbt ist, in fast allen hier
betrachteten Werken auf.

5.3 Fazit

Dieses Kapitel beschließt den zweiten Teil dieser Studie, der sich mit Lever-
kühns fiktiven Werken und den darauf bezogenen Kompositionen befasst. Um

207 Becker: Booklet, S. 7.


5.3 Fazit 187

die Beobachtungen, die im Laufe der Kapitel aufgetaucht sind, aus einer inter-
medialen Perspektive zu abstrahieren und resümieren, lässt sich Folgendes sagen.
Erstens, dass ein weiterer Effekt von Intermedialität die Revision der Vorlage ist,
die vielmehr als eine bloße Infragestellung darstellt. Alle Kompositionen revi-
dieren die Idee, dass Beethovens letztes symphonisches Werk zurückgenommen
werden kann, indem sie nicht einfach diesen Gedanken in Frage stellen, sondern
die Neunte Symphonie selbst in das Material integrieren. Die kompositorische
Rezeptionsgeschichte wies diesbezüglich eine eindeutige Position, die vom Ent-
stehungsjahr und -ort des Werkes unabhängig ist, auf, nämlich, dass Beethoven
aus der Neuen Musik nicht wegzudenken ist. Zweitens fanden sich in diesem
Kapitel noch weitere Indizien für die Relevanz des Systems der Alten Musik, das
von Monteverdi, Stabat Mater und Marienklagen vertreten ist, für die Erzeugung
des Textes. In den nächsten Kapiteln wird diesem Aspekt erneut Aufmerksamkeit
geschenkt, um die Frage beantworten zu können, ob es sich aus intermedialer
Sicht um eine Systemkontamination handelt, was sich nur anhand einer Analyse
des gesamten Romans nachweisen lässt.
Das hier angewandte analytische Prozedere, das aus einer ersten Analyse des
Romans und dann aus einer Analyse der Kompositionen besteht, wird im nächs-
ten Teil fortgesetzt. Dieser befasst sich mit Figuren aus Thomas Manns Doktor
Faustus, die etwa in Opern und Violinkonzerte transferiert und (teil-)reproduziert
werden. Auf diese Weise soll die Rekonstruktion der kompositorischen Rezep-
tionsgeschichte des Romans vervollständigt werden. Zudem werden intermediale
Analysekategorien an die Bedürfnisse dieses leicht unterschiedlichen Fokus dieser
musikliterarischen Untersuchung angepasst.
188 5 Dr. Fausti Weheklag

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des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Teil III
Figuren aus Doktor Faustus
Der Teufel
6

Mit diesem Kapitel beginnt der dritte Teil der vorliegenden Untersuchung, der
sich primär mit der Darstellung ausgewählter Figuren in Doktor Faustus und in
darauf bezogenen Kompositionen befasst. Die folgenden Ausführungen widmen
sich einem interpretatorischen Aspekt von Thomas Manns Doktor Faustus, mit
dem sich die Forschungsliteratur zum Roman seit seiner Publikation immer wie-
der beschäftigt und der kontrovers diskutiert wird, nämlich der Einordnung des
Dämonischen und dementsprechend der Einordnung des Romans. Der erste Teil
des Kapitels wendet sich jenen hier in Anlehnung an Thomas Manns Definition
des modernen Romans sogenannten Teufelsevocations zu, also jenen Symbolen,
Motiven, Figuren und Orten des Romans, die das Dämonische im Text hervor-
rufen. Anschließend wird dem Teufelsgespräch, darunter den drei Gestalten des
Teufels und der Wahl des Ortes, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Schließ-
lich werden einige Positionen aus der Forschungsliteratur vorgestellt, die sich
– allgemein gefasst – den beiden Interpretationspolen des Faust-Romans und
des Nicht-Faust-Romans zuordnen lassen. Im ersten aber auch im zweiten Teil
des Kapitels zeichnet sich Zweideutigkeit als zentrales Merkmal sowohl der in
Palestrina angesiedelten Kapitel als auch der Teufelsproblematik selbst aus. Der
zweite Teil des Kapitels befasst sich mit Giacomo Manzonis Vertonung des Teu-
felsgesprächs, die keine eindeutige Antwort auf die Frage liefert, ob man von einer
Teufelsfigur im Roman ausgehen oder das Teufelsgespräch eher als Leverkühns
Delirium auffassen sollte, und daher die Ambiguität der Vorlage im Medium
der Oper – besonders in Anbetracht der Partitur, weniger bei einer Analyse der
Uraufführung – beibehält. Zugleich werden einige Aspekte des Romans verstärkt,
etwa die Bezüge auf Shakespeare und der musikalische Raum Italiens, der im
Teatro alla Scala „hörbar“ wird. Dieser Raum greift allerdings im Gegensatz
zum Roman nicht auf Palestrinas geistige Musik, sondern auf Stimmtypen und

© Der/die Autor(en) 2021 191


A. M. Olivari, Doktor Faustus (ver-)stimmen,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62635-1_6
192 6 Der Teufel

Konventionen der italienischen opera buffa zurück und bringt somit den parodis-
tischen Charakter der Palestrina-Kapitel aber auch des Romans selbst deutlich
zum Ausdruck.

6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus

Die Figur des Teufels sowie die Rolle des Dämonischen in Doktor Faustus sind
einige der wahrscheinlich am stärksten kontrovers diskutierten Aspekte in der For-
schungsliteratur zu Thomas Manns Roman: Der vorliegende Teil dieses Kapitels
versucht einen kurzen Überblick über die bestehenden Positionen zu geben, was
wiederum eine Positionierung des Kapitels selbst impliziert. Es handelt sich dabei
um keine Festlegung, sondern eher um das Aufzeigen einiger Interpretationswege,
indem das Augenmerk einerseits auf bestimmte textuelle Elemente und anderer-
seits auf intra- und intermediale Bezüge gerichtet wird. Dies bietet einen guten
Ausgangspunkt für die spätere Analyse einiger Bilder aus Manzonis Oper und
trägt dem Roman selbst Rechnung. Die Darlegung des Teufels und des Dämoni-
schen führt zur Auseinandersetzung mit einigen Kernfragen, welche die Doktor
Faustus-Forschung seit jeher beschäftigen, z. B.: „Ist Thomas Manns ,Doktor
Faustus‘ ein Faustroman?“1 (so etwa Käte Hamburger 1969); oder: Kann Adrian
Leverkühn als eine Verkörperung Fausts gesehen werden?; oder grundsätzlich:
Gibt es überhaupt einen Teufel in Doktor Faustus?
Doktor Faustus erweist sich als ein offener Roman im Sinne Ecos.2 Der Autor
selbst kann das Werk nicht der Gattung ,Roman‘ zuordnen und schreibt es daher –
zusammen eben mit Joyces Ulysses, dem Ecos Ausführungen gewidmet sind –
in eine Tradition von ,Nicht-Romanen‘ ein. Deren wichtigste Eigenschaft sei, –
und hier beruft sich Mann auf Levin – dass sie auf „evocation[s]“ (Ent: 73), also
auf Evokationsakten, die Reminiszenzen entspringen, beruhen. Bemerkenswert ist
hier, dass sich Thomas Mann eines Begriffs bedient, des Begriffs der Evokation,
der gerade in der Intermedialitätsforschung eine wichtige Rolle spielt: Auch der
Teufel und das Dämonische werden in Doktor Faustus durch eine vielschich-
tige Symbolik evoziert, denn im Gegensatz etwa zu Goethes Faust oder Eislers
Johann Faustus findet man keine Figur (außer vielleicht im sogenannten ,Teu-
felsgespräch‘), die beispielsweise Mephistopheles heißt und an mehreren Stellen

1 Hamburger, Käte: Anachronistische Symbolik: Fragen an Thomas Manns Faustus-Roman


(1969). In: Dies.: Kleine Schriften zur Literatur und Geistesgeschichte. Stuttgart: Hans-
Dieter Heinz 1986, S. 309–333, hier: S. 310.
2 Eco, U.: Das offene Kunstwerk. Übers. v. Günter Memmert. Frankfurt am Main:

Suhrkamp 2016 [Mailand 1962/1967], 13. Aufl. (insb. S. 27–59, S. 343–434).


6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 193

des Romans auftritt. Folglich ist im vorliegenden Kapitel in Bezug auf dieses
ursprünglich transmediale Motiv des Dämonischen, das aber mit den Mitteln des
jeweiligen Mediums (teil-)reproduziert wird, was bei Manzoni besonders deutlich
wird, von ,Teufelsevocations‘ die Rede. Durch die Verwendung des sprachlich
gemischten Kompositums soll auch die Einordnung des „Nietzsche-Roman[s]“
(Ent: 30) in die europäische Tradition des Romans seit Flaubert und James betont
werden.3
Mit den oben vorgestellten evocations befasst sich der erste Teil des vorliegen-
den Abschnitts, während der zweite Teil eine Analyse des Teufelsgesprächs im
Roman ist und einige Positionen aus der Forschungsliteratur zur Einordnung oder
Nicht-Einordnung von Thomas Manns Roman in die Bearbeitungen des Faust-
Stoffes berücksichtigt. Sowohl durch die Untersuchung der Teufelsevocations
als auch durch die Auswahl einiger Thesen aus der Forschungsliteratur zum
Roman werden produktive Ambiguitäten sichtbar, die unter dem Terminus
,Zweideutigkeit(- en)‘ im zweiten Teil dieses Abschnitts subsumiert werden. Jene
Zweideutigkeit der Musik „als System“ (DF: 74), die Leverkühn im Gespräch
mit Zeitblom u. a. in Bezug auf die Enharmonik anspricht und die zu den
am häufigsten erwähnten Zitaten aus dem Roman zählt, wird in der Narration
(teil-)reproduziert: Dies wird so weit geführt, dass sich die Rezeption selbst als
zweideutig definieren lässt, was mindestens zweidimensionale Interpretationen
vieler der Teufelsproblematik zugehörigen Aspekte ermöglicht.

6.1.1 Teufelsevocations

In diesem Abschnitt soll zunächst einmal auf einige Aspekte der sogenannten
,Teufelssymbolik‘ eingegangen werden, welche Hamburger als „psychologisch-
atmosphärische[] Verkörperung“4 versteht. Die Zweideutigkeit solcher Aspekte –
vergleichbar der Zweideutigkeit eines Tons im temperierten System, die sich z. B.
in der möglichen Benennung eines Tons als cis oder des je nach Tonart äußert –
wird in den Fokus gerückt. Hamburger kritisiert vor allem die Auffassung, nach
der das Künstler*innenleben etwas Unnatürliches sei, und stellt viele Aspekte des
Romans in Frage, die laut Zeitbloms Wiedergabe sowie einigen Beiträgen aus
der Forschungsliteratur, auf die im Folgenden eingegangen wird, als dämonisch

3 Zur Frage der Modernität von Doktor Faustus und seiner Beziehung zum Werk Joyces
siehe: Kaiser: „… und sogar eine alberne Ordnung“, S. 165–178.
4 Hamburger: Anachronistische Symbolik, S. 317.
194 6 Der Teufel

gelten: „Eine Künstlerexistenz“ sei „wohl erlesener und innerlich schwieriger,


doch nicht unnatürlicher, nach außen hin nicht extremistischer Art“.5
Eines der ersten Symptome von Adrian Leverkühns Neigung zum Dämoni-
schen sei seine „Kälte“, – die sich metaphorisch als „Lebenskälte“ (DF: 364)
interpretieren und sich auf einige seiner Charaktereigenschaften wie Einsamkeit,
Indifferenz6 und Hochmut übertragen lässt –7 und die der Kälte des Teufels8
und der Hölle entspricht.9 Diese Kälte ist vom Beginn des Romans an festzu-
stellen: „Um ihn [Leverkühn] war Kälte“ (DF: 15; Herv. i. O.).10 Prosopoietisch
finden sich hier einige Konzepte von Adornos Musikphilosophie wieder: z. B.
jenes gesellschaftliche „Geheimnis der Einsamkeit“ (PhnM: 48), auf das Schön-
berg gestoßen sei sowie die „gesellschaftliche Isolierung“ (PhnM: 24) der Kunst
und die „Arroganz des ästhetischen Subjekts“ (PhnM: 26). Doch diese vermeint-
liche Teufelssymbolik lässt sich auch anders interpretieren, weil gerade diese
Eigenschaft Leverkühn bestimmten politisch-ideologischen Auffassungen der
damaligen Zeit gegenüber „kalt lässt“. Bei einer Diskussion innerhalb des studen-
tischen Winfriedskreises wehrt er sich gegen die nationalistischen Stellungnahmen
seines Kommilitonen Deutschlin, der z. B. deutsche Bürger*innen als „d[ie] ewig
Strebende[n] unter den Völkern“ (DF: 174) ansieht.11 Leverkühn demonstriert
durch seine Argumentationen, welche die europäische Dimension des Kultur-
guts betonen, dass bestimmte Begriffe oder Tugenden nicht ausschließlich dem
deutschen Volk zugeordnet werden können:

5 Ebd., S. 312.
6 Siehe DF: 330: „Uninteressiertheit“.
7 Vgl. DF: 194: Leverkühn sei seiner eigenen Einschätzung nach „zu schamhaft, zu stolz,

zu spröde, zu einsam fürs Virtuosentum“, was er als „Weltscheu“ bezeichnet und als
„Ausdruck des Mangels an Wärme, an Sympathie, an Liebe“ beschreibt.
8 Siehe Ent: 108. Thomas Mann zitiert aus „Über Calderons Tragödie vom wundertätigen

Magus. Ein Beitrag zum Verständnis der Faustischen Fabel von Dr. Karl Rosenkranz,
worin folgende Äußerung aus Franz Baaders Vorlesungen über religiöse Philosophie zitiert
wird“: „,Der wahre Teufel muß die äußerste Erkältung sein‘“.
9 Vgl. DF: 331: „Ich [der Teufel] bin nun einmal so kalt. Wie sollte ich’s sonst auch

aushalten und es wohnlich befinden dort, wo ich wohne?“.


10 Siehe auch Börnchen: Kryptenhall, S. 197.
11 Die Namen, die Thomas Mann für seine Figuren auswählt, tragen eine starke allegorische

Konnotation, denn sowohl Deutschlin als auch Teutleben erweisen sich als Befürworter
des Patriotismus und Präfaschismus und Matthäus Arzt als Befürworter des Sozialismus.
Dies gilt nicht nur für diese Passage, sondern für den ganzen Roman. Vgl. auch TB2:
24.04.1944, S. 47 f.: „Später Vorlesung der Studentengespräche, die das eigentümliche
Deutschtum des Buches neu hervortreten ließen“.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 195

„Ist das so deutsch?“ fragte Adrian. „Wiedergeburt hieß einmal rinascimento und
ging in Italien vor sich. Und ,Zurück zur Natur‘, das wurde zuerst auf französisch
empfohlen“. (DF: 175)

Und:

„Hältst du Religiosität für eine auszeichnend deutsche Gabe?“ (ebd.)12

Die Figur des deutschen Tonsetzers lässt sich den vorigen Zitaten entsprechend
eher mit einem Kosmopolitismus verbinden. Auch Figuren aus seinem Umfeld
tragen zu dieser Sicht bei und beeinflussen ihn, wie etwa sein Musiklehrer Wen-
dell Kretzschmar. Dieser eröffnet „ihm die Reiche der Weltliteratur“ (DF: 108),
verlockt „ihn durch Neugier erwekkende Vorberichte in die ungeheueren Gebreite
des russischen, englischen, französischen Romans“ (ebd.), regt ihn „zur Beschäf-
tigung mit der Lyrik von Keats, Hölderlin und Novalis“ (ebd.) an und gibt ihm
„Manzoni und Goethe, Schopenhauer und Meister Ekkehart zu lesen“ (ebd.).
Auch im musikalischen Bereich fördert Kretzschmar eine internationale Kenntnis
der musikalischen Produktion:

Es freute ihn, und stundenlang hielt er sich dabei auf, seinem Schüler sinnfällig zu
machen, wie Franzosen auf Russen, Italiener auf Deutsche, Deutsche auf Franzosen
gewirkt. Er ließ ihn hören, was Gounod von Schumann hatte, was César Franck
von Liszt, wie Debussy sich auf Mussorgsky stützte, und wo D’Indy und Chabrier
wagnerisierten. (DF: 115)

Leverkühns „Weltscheu“ (DF: 194) besteht nach den Worten Zeitbloms aus „dem
altdeutschen Provinzialismus von Kaisersaschern“ (DF: 240) und „einem aus-
gesprochenen Gesinnungskosmopolitismus“ (ebd.). Seine „Abneigung gegen das
Deutschtum“ (ebd.), die er mit Rüdiger Schildknapp teilt, ist sowohl mit einer
Art Gleichgültigkeit13 gegenüber der Welt als auch mit einem Bedürfnis nach
„Welt und Weite“ (DF: 241) verbunden und führt ihn zur Wahl fremdsprachiger

12 Vgl. auch DF: 117: „Die Deutschen […] wollen immer eins und das andere, sie wollen

alles haben. […] Ein konfuses Volk […] und für die anderen verwirrend“. In Leverkühns
Aussagen erklingen Hölderlins Verse: „[I]ch kann kein Volk mir denken, das zerrißner
wäre, wie die Deutschen“. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Textausgabe
Bd. II. Hyperion. Hrsg. v. D. E. Sattler. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1984, XXIX,
V. 14 f., S. 206.
13 Diese Gleichgültigkeit ist auch charakteristisch für den Teufel: „Er muß…die höchste

Genügsamkeit in sich selbst, die extreme Gleichgültigkeit, sich selbst genießende Vernei-
nung seyn“ (Ent: 108, nochmals von Mann aus Rosenkranz zitiert).
196 6 Der Teufel

Texte für seine Kompositionen. Auch nach dem Teufelsgespräch verliert Lever-
kühn seinen Kosmopolitismus nicht: Er lässt später seine Apocalipsis „bei dem
Fest der ,Internationalen Gesellschaft für neue Musik‘“ (DF: 547) aufführen und
rückt von dem Weg zum Nationalsozialismus durch seine Isolierung in Pfeiffe-
ring ab. Außerdem zeigt er in seiner Musik die Einflüsse einer kosmopolitischen
Musikausbildung, etwa in der apokalyptischen Komposition, die Jazz und franzö-
sischen Impressionismus kombiniert14 und in der Weheklag, die sich u. a. auf die
Musik Monteverdis stützt.15
Aus dieser Sicht bedeutet Leverkühns Kälte nicht nur einen Mangel an Empa-
thie oder übertriebenen Intellektualismus, sondern weist auch auf ein kritisches
Verhalten hin: Diese Tendenz, Dinge zu hinterfragen, erlaubt Leverkühn, sich
von den Ideologien seiner Zeit zu distanzieren und ihnen eine kosmopolitische
Vision der europäischen Kultur und Zivilisation entgegenzuhalten. Rohrmoser
äußert einen ähnlichen Gedanken, allerdings über Leverkühns Krankheit:16

Der Kranke gewinnt gegenüber der modernen Gesellschaft eine privilegierte


Erkenntnissituation, weil er durch die Krankheit aus ihren Zwängen und Funktionen
ausgesondert und zu ihr in Distanz gebracht wird.

Die Vorteile einer Krankheit werden vom „Teufel“ im Teufelsgespräch direkt


angesprochen:

Krankheit, und nun gar anstößige, diskrete, geheime Krankheit, schafft einen gewis-
sen kritischen Gegensatz zur Welt, zum Lebensdurchschnitt, stimmt aufsässig und
ironisch gegen die bürgerliche Ordnung und läßt ihren Mann Schutz suchen beim
freien Geist, bei Büchern, bei Gedanken. (DF: 339)

Diese Distanz, die eine Konsequenz seiner Kälte sowie seiner Krankheit ist, stellt
daher „kein schweres ihn benachteiligendes Schicksal, sondern ein großes Privi-
leg“17 dar und macht folglich Leverkühn zu jenem Apokalyptiker,18 zu jenem
(teuflischen?) „Initiierten“ (DF: 188), der – so nochmals der „Teufel“ – „der
Zukunft den Marsch“ (DF: 355) schlägt.

14 Vgl. DF: 545 ff.


15 Vgl. DF: 703. Vgl. auch TB2: 30.05.1944, S. 61: „Adrians Neigung zum musikalisch
Internationalen, bei persönlicher Scheu davor. Antipathie gegen das Deutschtum“.
16 Rohrmoser: Dekadenz und Apokalypse, S. 125.
17 Ebd, S. 126.
18 Vgl. Kap. 4.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 197

Genauer betrachtet, ist jedoch Leverkühns „Mangel[] an Wärme, an Sympathie,


an Liebe“ (DF: 194) nicht total. Er mag eine bestimmte Art von Musik, etwa die
kontrapunktische,19 und wird später Esmeralda, wenn auch nicht lieben, so doch
ihr nicht völlig gleichgültig gegenüberstehen. Im Laufe dieser Studie wird sich
diese Charaktereigenschaft Leverkühns immer mehr als inkongruentes Element
der Narration profilieren.
Ein weiteres teuflisches Element wäre außerdem die Musik, die als Ursa-
che von Leverkühns Migräne, einem weiteren Teufelsindiz, betrachtet wird.
Der Erzähler verweist bereits auf den ersten Seiten des Romans auf die enge
Verquickung von Musik und Dämonischem:

Und doch ist nicht zu leugnen und ist nie geleugnet worden, daß an dieser strah-
lenden Sphäre das Dämonische und Widervernünftige einen beunruhigenden Anteil
hat [...]. (DF: 13)

Gleichzeitig fehlt Leverkühn jedoch – so der Erzähler – „das Zigeunerblut


des konzertierenden Künstlers“ (DF: 193), sodass der Komponist nicht einer
dämonischen Tradition von teuflischen Musikern wie etwa Paganini oder Tartini
zugeordnet werden kann.20
Darüber hinaus nennt Zeitblom Augustinus als Beispiel für eine jüdisch-
christliche Tradition, die das Lachen mit dem Teufel assoziiert und ebenfalls
zu den Teufelsevocations des Romans zählt.21 Gerade derselbe Augustinus hatte
jedoch der Musik eine wichtige Rolle attestiert: Sie wird in De musica als ein
Weg zum Göttlichen beschrieben. Die Musik lässt sich dementsprechend nicht nur
aufgrund technischer Eigenschaften wie der Enharmonik, sondern auch aufgrund
ihrer doppelten Einordnung in die Sphäre des Dämonischen und des Göttlichen
als zweideutig bezeichnen.22
Es existieren zahlreiche Beiträge, welche die Neigung der Hauptfigur zum
Lachen als teuflische Symbolik interpretieren. Für Werner Röcke beispielsweise
ist das Lachen „teuflischer Herkunft. Es ist ein Lachen der Überlegenheit und des

19 Vgl. DF: 206: „Unter uns gesagt, macht die Harmonielehre mir [Leverkühn] viel

Gähnens, da ich doch bei dem Kontrapunkt sofort lebendig werde“ (Herv. A. O.)
20 Vgl. auch Giovannini: Il patto col diavolo, S. 223 (Fußnote 113) u. Kap. 9.
21 Siehe DF: 128.
22 Vgl. Aurelius Augustinus: De musica. Bücher I und VI. Vom ästhetischen Urteil zur

metaphysischen Erkenntnis. Übers. u. hrsg. v. Frank Hentschel. Hamburg: Felix Meiner


2002.
198 6 Der Teufel

Hochmuts, aber auch ein Lachen der sozialen Kälte und Isolation“.23 Somit macht
Röcke auch auf die interdependente Verflechtung einzelner Teufelsevocations auf-
merksam, in diesem Fall: von Lachen, Kälte, Isolation und Hochmut; des Weiteren
hebt er hervor, dass sich auch Hölle und Teufel „durch ihr satanisch-höhnisches
Gelächter“24 auszeichnen, das sich im „Pandämonium des Lachens“ (DF: 548)
der apokalyptischen Komposition niederschlägt. Auch für Rosemarie Puschmann
ist es als Zeichen von Zwiespältigkeit (daher ist auch das Lachen zweideutig) mit
dem Satanismus verbunden.25 Bei Kaiser wird das Lachen, das nicht nur mit der
Kälte, sondern auch mit der Migräne verknüpft wird, als Leitmotiv der Narra-
tion betrachtet,26 das im Laufe der fiktiven Biographie intensiviert werde: Seinen
teuflischen Ursprung bestätige auch der „Teufel“ selbst.27 Gerade auch Kaisers
Auffassung vom Lachen als „Über-den-Dingen-Stehen[]“28 ermöglicht eine Ver-
knüpfung mit Leverkühns kritischem Verhalten der Gesellschaft gegenüber und
öffnet daher die Tür zu einer anderen Interpretation dieser vermeintlichen Teu-
felssymbolik. Durch das Lachen, zu dem auch die parodistisch gefärbten Werke
Leverkühns anregen, ist kritische Distanz und Reflexion möglich.
Leverkühn habe seine Neigung zum Dämonischen vom Vater, „ein[em] Speku-
lierer und Sinnierer“ (DF: 31), geerbt und Zeitblom behauptet, dieses Spekulieren
habe „mit Hexerei zu tun“ (DF: 32). Diese Überzeugung wird vom Teufel
bestätigt:

O, dein Vater ist in meinem Maule gar nicht so fehl am Ort. Er hatt es hinter den
Ohren, mochte immer gern die elementa spekulieren. Das Hauptwee [...] hast du
doch auch von ihm... (DF: 343)29

23 Röcke, Werner: Teufelsgelächter. Inszenierung des Bösen und des Lachens in der His-
toria von D. Johann Fausten (1587) und in Thomas Manns Doktor Faustus. In: Hans
Richard Brittnacher u. Fabian Stoermer (Hrsg.): Der Schöne Schein der Kunst und seine
Schatten. Bielefeld: Aisthesis 2000, S. 345–365, hier: S. 363. Bemerkenswert ist, dass auch
Dante in der Commedia den Hochmut als Merkmal seiner Persönlichkeit anerkennt. Dieser
intramediale Bezug verstärkt daneben die Auffassung Leverkühns als Apokalyptiker. Vgl.
Alighieri, Dante: La commedia, Die göttliche Kömodie, II Purgatorio – Läuterungsberg.
Übers. u. komm. v. Hartmut Köhler. Stuttgart: Reclam 2011, insb. Canto IX, S. 204–225.
24 Ebd., S. 349.
25 Siehe Puschmann: Magisches Quadrat, S. 172.
26 Vgl. Kaiser: „… und sogar eine alberne Ordnung“, S. 131 f.
27 Siehe ebd., S. 133. Vgl. DF: 344: „[W]er’s von Natur mit dem Versucher zu tun hat,

immer mit den Gefühlen der Leute auf konträrem Fuße steht und immer versucht ist, zu
lachen, wenn sie weinen, und zu weinen, wenn sie lachen“.
28 Ebd., S. 131.
29 Die Entlehnung aus dem Volksbuch ist hier offensichtlich: Vgl. Historia: S. 7 und 15.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 199

Nicht nur die Migräne hat der Protagonist von Jonathan Leverkühn. Sein Vater
zeigt daneben eine Tendenz zum „Lächeln“ (DF: 24); bei Adrian Leverkühn
handelt es sich aber um echtes Lachen und die Migräne ist viel ausgeprägter.
Laut Piccolo wird im Gegensatz zum Vater Leverkühns Mutter als positive
Figur im Roman dargestellt:30 Nicht zufällig ist sie diejenige, die Leverkühn bis
zum Tode nahe bleibt und daher innerhalb der Christus-Metaphorik des Romans,
die u. a. durch die intermedialen Bezüge auf Marienklagen und Stabat Mater
verstärkt wird, für Maria steht.31 Zeitblom beschreibt sie als eine gut aussehende
Frau32 und betont ihr Misstrauen gegenüber der Musik und dem Musiklehrer ihres
Sohnes.33 Dennoch sei gerade Leverkühns Musikalität von der Mutter geerbt:

[I]ch [Zeitblom] spreche von ihrer schlichten, intellektuell durchaus anspruchslosen


Person mit der Ehrerbietung, die die Überzeugung mir einflößt, daß das Genie des
Sohnes der vitalen Wohlschaffenheit dieser Mutter viel zu danken hatte. (DF: 36)34

In Buchel, wo Leverkühns Eltern wohnen, gibt es außerdem zwei weitere Figuren,


die „mephistophelische“ Züge tragen. Eine ist die „Stallmagd namens Han-
ne“ (DF: 39), die gern mit den Kindern singt und sie Kanons lehrt. Sie ist
dafür verantwortlich, Leverkühn „mit einer ,Musik‘ von etwas künstlicherer
Bewegungs-Organisation in Berührung“ (DF: 47) zu bringen. Die andere Figur
ist der „Hofhund Suso“ (DF: 40), der genau wie der Hund Kaschperl in Pfeif-
fering lachen kann.35 Auch in Goethes Faust findet sich die Assoziation eines
Hundes mit dem Teufel, da Mephistopheles zum ersten Mal in der Gestalt eines
Hundes erscheint.36
Unter den Dozenten des deutschen Komponisten gibt es ebenfalls einige,
die dämonische Züge zeigen oder sogar für Teufelsemissäre gehalten werden

30 Siehe Piccolo: L’onnipotenza imperfetta, S. 226 (vgl. auch Fußnote 412).


31 Vgl. Kap. 5.
32 Vgl. DF: 36–40.
33 Vgl. DF: 187: „Dennoch beobachtete ich [Zeitblom] während der zweieinhalb Tage,

die ich einmal gleichzeitig mit ihm [Kretzschmar] und Adrian auf Buchel verbrachte,
eine gewisse, durch Freundlichkeit nicht ganz verhüllte Gezwungenheit, Zurückhaltung,
Ablehnung in ihrem [von Elsbeth Leverkühn] Verhalten gegen den Organisten […]“.
34 Giovannini vertritt daher diesbezüglich eine andere Auffassung: Leverkühns faustischer

Bestandteil sei von der Mutter geerbt worden. Vgl. Giovannini: Il patto col diavolo, S. 254.
35 Siehe DF: 44 f.
36 Siehe Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Texte. Hrsg. v. Albrecht Schöne. Frankfurt am

Main/Leipzig: Insel 2003, V. 1147, S. 58.


200 6 Der Teufel

könnten. Einer davon ist der bereits zitierte Musiklehrer und Organist Wen-
dell Kretzschmar, ein Mann von „deutsch-amerikanischen Eltern“ (DF: 75), „mit
Rundschädel, einem gestutzten Schnurrbärtchen und gern lachenden braunen
Augen“ (DF: 76). Züge, die teuflisch anmuten, sind also der Schnurrbart und
die lachenden Augen.37 Die Vorträge des Dozenten erweisen sich als komisch-
grotesk, was – so der Erzähler – sowohl an den ausgewählten Themen als auch
an seinem ausgeprägten Stottern liegt. Außerdem hat Kretzschmar Leverkühns
Musikstudium zu verantworten und thematisiert in seinen Vorträgen das Versagen
der traditionellen Kompositionsformen, das daher die Dringlichkeit einer revo-
lutionären Lösung in den Vordergrund rückt. Ein Beispiel dafür ist der Vortrag
über die Frage, „,warum Beethoven zu der Klaviersonate opus 111 keinen drit-
ten Satz geschrieben habe‘“ (DF: 79), der zudem wie im Fall der Zurücknahme
der Neunten Symphonie erneut auf die Bedeutung der intramedialen Referenz auf
Beethoven hinweist:38

„Die Sonate“, so meine er [Kretzschmar] nicht diese nur, in c-moll, sondern er


meine die Sonate überhaupt, als Gattung, als überlieferte Kunstform: sie selber sei
hier zu Ende, ans Ende geführt, sie habe ihr Schicksal erfüllt [...]. (DF: 85)

Diese Beobachtung ist wieder ein Bezug auf Adornos Schriften;39 die Figur
Kretzschmar selbst kann für eine Karikatur des Philosophen gehalten werden.40
So Thomas Mann in der Entstehung:

Dann spielte mir Adorno, während ich zuschauend bei ihm am Flügel stand, die
Sonate opus 111 vollständig und auf höchst instruktive Art. Ich war nie aufmerksa-
mer gewesen, stand am nächsten Morgen früh auf und widmete drei Tage einer
eingreifenden Um- und Ausarbeitung des Sonatenvortrags, die eine bedeutende
Bereicherung und Verschönerung des Kapitels, ja des Buches selbst bedeutete.
In die poetisierenden Wort-Unterlegungen, mit denen ich das Arietta-Thema in
seiner ursprünglichen und seiner volleren Schluß-Gestalt versah, gravierte ich,
als versteckte Dankbarkeitsdemonstration, den Namen „Wiesengrund“, Adornos
Vaternamen, mit ein. (Ent: 40)

37 Vgl. auch Piccolo: L’onnipotenza imperfetta, S. 231 ff.


38 Auch Rohrmoser meint, die Krise der Kunst beginne mit dieser Sonate. Vgl. Rohrmoser:
Dekadenz und Apokalypse, S. 148.
39 Vgl. Ent: 39 u. 1.2.
40 Vgl. Börnchen: Kryptenhall, S. 156.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 201

Ob sich das wirklich für eine Dankbarkeitsdemonstration halten lässt, sei hier
aufgrund des karikaturistischen und grotesken Charakters des Erzählens dieser
Musikvorträge in Frage gestellt.
Dämonische Züge tragen auch zwei Dozenten an der Universität in Halle,
wo Leverkühn einige Semester Theologie studiert. Die Entscheidung der Haupt-
figur, sich dem Theologiestudium zu widmen, kommt für Zeitblom und die
Leser*innenschaft unerwartet, insbesondere nach seiner intensiven Beschäftigung
mit der Musik in Kaisersaschern.41 Diese Wahl, die Leverkühn vielleicht aus
Hochmut trifft, wie der Erzähler vermutet,42 erweist sich bald als prekär. Denn
Leverkühn teilt den theologischen und politischen Radikalismus seiner Kommi-
litonen nicht: Kurz nach der Beschreibung der bereits erwähnten Diskussionen
innerhalb des Winfriedskreises ahnt Zeitblom, dass sein Freund „das theologische
Studium noch vor dem ersten Examen“ (DF: 186) abbrechen wird. Der „Teufel“
wird später diese Entscheidung loben:

[A]ber du wolltest dich bald keinen Theologum mehr nennen, sondern legtest
die Hl. Geschrift unter die Bank und hieltest es ganz hinfort mit den figuris,
characteribus und incantationibus der Musik, das gefiel uns nicht wenig. (DF: 362)

Darüber hinaus trägt wahrscheinlich auch die Begegnung mit zwei seltsamen
Dozenten zu dieser Entscheidung bei. Einer ist „der Systematik lesende Professor,
Ehrenfried Kumpf“ (DF: 141), der einen „pittoresk-altertümlichen Sprachstil[]“
(DF: 142) hat und „Vertreter jenes Vermittlungs-Konservativismus mit kritisch-
liberalen Einschlägen“ (ebd.) ist, der für den Erzähler Gefahr läuft, „zur Dämo-
nologie zu werden“ (DF: 135). Zwar sind die Argumentationen des Professors
eher progressiv, da er den Dogmatismus als die „intellektuelle Form des Pha-
risäertums“ (DF: 143) betrachtet, doch auch nationalistisch: Der Professor ist
tatsächlich „ein Bejaher der Kultur, – besonders der deutschen, denn bei jeder
Gelegenheit entpuppte er sich als ein massiver Nationalist lutherischer Prägung“
(ebd.).43 Außerdem stehe er „mit dem Teufel auf sehr vertrautem, wenn auch
natürlich gespanntem, Fuße“ (DF: 144).
Der andere noch „dämonischere“ Dozent ist Eberhard Schleppfuß, „eine kaum
mittelgroße, leibarme Erscheinung, gehüllt in einen schwarzen Umhang, dessen
er sich statt eines Mantels bediente“ (DF: 146). Schleppfuß ist laut Zeitblom eine

41 Vgl. DF: 120.


42 Siehe DF: 121.
43 Für Rohrmoser ist diese Figur geradezu eine „Karikatur Luthers“. Rohrmoser: Dekadenz

und Apokalypse, S. 166.


202 6 Der Teufel

weitere Verkörperung jener Art von Theologie, die dazu neigt, zur Dämonolo-
gie zu werden. Er kennt sich mit der Manipulation von Begriffen sehr gut aus
und spricht gern „von der Macht der Dämonen über das Menschenleben“ (DF:
154). Die Versuchung ist für den Privatdozenten „keine Sünde, sondern […] eine
Prüfung der Tugend“ (DF: 155), und ihr instrumentum44 die Frau. Die Antizipa-
tionen der späteren Ereignisse im Leben der Hauptfigur sind hier offensichtlich;
darüber hinaus bezeichnet sich der Dozent als „Diener“ (DF: 164) Leverkühns
und/oder Zeitbloms,45 was ein weiteres Indiz für die Betrachtung von Schleppfuß
als Teufelsemissär sein könnte. Durch diese beiden Figuren soll Thomas Mann
seinen Worten nach den Teufel „mehr und mehr Gestalt und Gegenwart“ (Ent: 58)
gegeben haben. Jedoch flieht Leverkühn aus dieser nationalistischen, zum Dämo-
nischen neigenden Theologie, um „sich ganz der Musik in die Arme zu werfen“
(DF: 190). Diese Flucht lässt vermuten, dass er mit diesem Bereich nichts mehr zu
tun haben will. In diesem Kontext erscheint die Betrachtung der beiden Dozen-
ten als Teufelsemissäre plausibler als die Leverkühns als Verkörperung Fausts:
Sowohl bei Goethe als auch in der Historia interessiert sich Faust für diese Berei-
che, um den Teufel beschwören zu können, was bei Thomas Mann nicht der Fall
ist. Leverkühn widersteht folglich der Versuchung dieser beiden Dozenten und
seiner Theologie-Kommilitonen.
Um die Liste der Teufelsemissäre zu vervollständigen, muss man auch vom
Leipziger Dienstmann sprechen, der Leverkühn statt zu einem Gasthaus in ein
Bordell führt, wo der Komponist Esmeralda begegnet.46 Er sei

so ein Kerl, einen Strick um den Leib, mit roter Mütze und Messingschild, im
Wetterumhang, teuflisch redend wie alle Welt dahier mit gesträubtem Unterkiefer,
sah meiner [Leverkühns] Meinung nach entfernt unserem Schleppfuß ähnlich von
wegen des Bärtchens. (DF: 207)47

44 Giovannini unterstreicht daneben die musikalische Bedeutung des vom Dozenten ver-

wendeten Wortes. Vgl. Giovannini: Il patto col diavolo, S. 195 (Fußnote 19). Zweifellos
wird durch diese intermediale Markierung die Verbindung zwischen der Musik und dem
Dämonischem verstärkt.
45 Die grammatikalische Struktur dieser Passage trägt zu ihrer Ambiguität bei, da man

vermuten könnte, dass er nur Diener Leverkühns oder Zeitbloms oder Diener von beiden
ist. Dies spricht für Kinzels These, Zeitblom sei ebenfalls ein Agent des Teufels. Siehe
Kinzel, Ulrich: Zweideutigkeit als System. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen der
Vernunft und dem Anderen in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“. Frankfurt am
Main (u. a.): Lang 1988, S. 114.
46 Für eine ausführlichere Analyse dieser Passage vgl. Kap. 8.
47 Kaiser analysiert das Motiv des Lexems ,rot‘, das mit dem Lachen, der Musik und dem

Teufel verknüpft sei. Siehe Kaiser: „… und sogar eine alberne Ordnung“, S. 136–140.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 203

Darüber hinaus kann auch Leverkühns Freund Rüdiger Schildknapp der Figu-
renkonstellation zugeordnet werden, die den Komponisten zum Bösen führt.
Schildknapps Augen haben die gleiche Farbe wie die Leverkühns48 und trotz
des scheinbar gesunden Aussehens neigt er zur Tuberkulose.49 Auch Schildknapp
mag lachen: „Nie habe ich [Zeitblom] ihn so viel lachen, und zwar Tränen lachen,
sehen, wie beim Zusammensein mit Rüdiger Schildknapp“ (DF: 249).50 Als letzte
„teuflische“ Figur sei hier kurz Baptist Spengler erwähnt, den Leverkühn in Mün-
chen im Hause Rodde kennenlernt und mit dem er sich trotz Warnungen von Ines
Rodde, die ihm gegenüber ihr Misstrauen hinsichtlich Spengler offen anspricht,
gern unterhält. Spengler, „aus Mitteldeutschland gebürtig, mit sehr starkem blon-
den Schnurrbart“ (DF: 290), sei „ein skeptischer Weltmann, vermögend, wenig
arbeitend, hypochondrisch, belesen, stets lächelnd im Gespräch und rasch mit
den Augen blinzelnd“ (ebd.). Bereits dieses Zitat reicht aus, um einige teuflische
Züge identifizieren zu können, nämlich den Bart, das Lachen und in diesem Fall
auch die „blinzelnd[en]“ (ebd.) Augen: Es wundert nicht, dass er in Palestrina
vom „Teufel“ selbst als „Esmeraldus“ (DF: 339) und demnach als sein Emissär
bezeichnet wird.
Neben der Auflistung von möglichen Teufelsemissären im Roman, die einige
in die Sphäre des Dämonischen einordbare Motive und äußerliche Figurenmerk-
male wie das Lachen, die Krankheit, den Schnurrbart, den Mantel aufweisen, gibt
es eine zweite Auflistung, nämlich die von Städten: Ihre Beschreibung lässt eben-
falls dämonische Motive sichtbar werden. Zunächst sei die Stadt Leipzig erwähnt,
wo Leverkühn vom „teuflischen“ Dienstmann zu Esmeraldas Bordell gebracht
wird.51 In Leipzig, „[c]entrum musicae, centrum des Druckwesens und der Buch-
gremplerei“ (DF: 205), „reden die Leute überaus teuflisch gemein“ (ebd.). In der
Luft von Kaisersaschern sei dann auch „etwas hängengeblieben von der Ver-
fassung des Menschengemütes in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts,
Hysterie des ausgehenden Mittelalters, etwas von latenter seelischer Epidemie“
(DF: 57 f.): An sie erinnert die Apocalipsis cum figuris52 und auf sie verweist
der „Teufel“ im Teufelsgespräch („Wenn du den Mut hättest, dir zu sagen: ,Wo

48 Vgl. DF: 250.


49 Vgl. DF: 247.
50 Dass Zeitbloms Beschreibung dieser Figur von Eifersucht diktiert ist, wird später auch

in Kap. 7 angesprochen. Siehe auch Giovannini: Il patto col diavolo, S. 222.


51 Siehe Rudloff, Holger: Hetaera esmeralda: Hure, Hexe, Helferin. Anklänge ans Märchen-

hafte und Sagenmäßige in Thomas Manns Roman Doktor Faustus. In: Bluhm, Lothar u.
Heinz Rölleke (Hrsg.): „Weil ich finde, daß man sich nicht ,entziehen‘ soll“. Gesammelte
Aufsätze zu Thomas Mann und seinem Werk. Trier: WVT 2001, S. 400–413.
52 Vgl. DF: 515.
204 6 Der Teufel

ich bin, da ist Kaisersaschern‘“, DF: 330). Der „Teufel“ macht somit deutlich,
dass Kaisersaschern nicht nur eine fiktive Stadt in der Narration, sondern auch
Bestandteil von Leverkühns Identität und ein metaphorisch aufgeladener Raum
ist. Hier intensiviert Leverkühn die Auseinandersetzung mit der Musik. Auch in
München, dem Gründungsort der NSDAP, äußern sich die Teufelsevocations in
Form einer „Gemütskrankheit“, die politisch und musikalisch in der Konvention
verharrt und so auf die Sterilität der Kunst53 verweisen:

Wovon ich [Zeitblom] spreche, ist das München der späten Regentschaft, nur vier
Jahre noch vom Kriege entfernt, dessen Folgen seine Gemütlichkeit in Gemüts-
krankheit verwandeln und eine trübe Groteske nach der anderen darin zeitigen
sollten, – diese perspektivenschöne Hauptstadt, deren politische Problematik sich
auf den launigen Gegensatz zwischen einem halb separatistischen Volkskatholi-
zismus und einem lebfrischen Liberalismus reichsfrommer Observanz beschränkte
[...]; München mit seiner stehengebliebenen Wagnerei [...]. (DF: 295 f.)

Was die Räume angeht, so muss auch das Lexem ,ungarisch‘ erwähnt werden:
Kaiser weist darauf hin, dass es aufgrund der ungarischen Frau von Tolna und
weiterer textueller Indizien, z. B. des Geschlechtsverkehrs von Leverkühn mit
Esmeralda (also des „Teufelspaktes“) in der damals zum Königreich Ungarn
gehörenden Stadt Pressburg (heute: Bratislava), mit dem Dämonischen verknüpft
ist.54
Ein weiterer, wichtiger Raum des Romans, der häufig im Werk Thomas Manns
auftaucht, ist zweifelsohne der italienische. Dass dieser in Doktor Faustus mit
dem Dämonischen verknüpft ist, scheint alleine von der Feststellung bestätigt zu
sein, dass das Teufelsgespräch nahe Rom, und zwar in Palestrina, stattfindet. Die
Analyse dieses Raumes ermöglicht, auf weitere Teufelsevocations sowie auf das
Teufelsgespräch und auf die Darstellung des „Teufels“ selbst einzugehen. Auffäl-
lig scheint zunächst die Wahl des Ortes, wo Leverkühns Gespräch mit dem Teufel
stattfindet. Palestrina ist in der italienischen Kultur dank des Musikers Giovanni
Pierluigi da Palestrina bekannt, jedoch generell ein ungewöhnliches Urlaubsziel.
Innerhalb des Schaffens der Gebrüder Mann spielt die Stadt aber eine bedeutende
Rolle, da Heinrich an diesem Ort den Roman Die Kleine Stadt ansiedelt:55 Dies

53 Vgl. Kap. 5.
54 Vgl. Kaiser: „… und sogar eine alberne Ordnung“, S. 134 f.
55 Siehe Mann, Heinrich: Die kleine Stadt. Leipzig: Insel-Verlag 1909.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 205

kann auf die biographische Reminiszenz zurückgeführt werden, dass die beiden
Brüder 1895–1897 lange Sommermonate in Palestrina verbrachten.56
Im Gegensatz zum Roman seines Bruders scheint Palestrina und im Allge-
meinen Italien im Gesamtwerk Thomas Manns eine ambivalente Konnotation zu
erhalten: Das Land wird nicht wie bei Goethe als Mythos dargestellt, sondern
dämonisiert, denn – so Erwin Koppen – „nicht selten zeigt sich der Tod (oder
ist er der Teufel?) auch italienisch gewandet“.57 Koppen weist zudem darauf hin,
dass Thomas Mann oft eine ikonoklastische Technik der literarischen Darstel-
lung anwendet, die auf der Zerstörung von Klischees, Stereotypen und Mythen
basiert.58 In Doktor Faustus wird diese Verknüpfung von Palestrina mit dem
Dämonischen von einer intramedialen Referenz des Erzählers bekräftigt, dass die
Stadt „von Dante im 27. Gesange des Inferno erwähnt“ (DF: 308) wird und zwar
in Verbindung mit der Geschichte von Guido da Montefeltro.59 Zudem berichtet
Zeitblom von den im Zentrum und Süden Italiens nicht unüblichen schwarzen
Schweinen, die in Palestrina herumlaufen und ebenfalls mit dem Dämonischen
verknüpft sind.60 Während der erneute Bezug auf Dante – ohne Zweifel ein
Hypotext von Doktor Faustus – die Teufelsevocations verstärkt, verlieren diese
durch die intermediale Einzelreferenz auf den Komponisten Palestrina an Bedeu-
tung. Zur Zeit der Gegenreformation bewies er, etwa durch die Missa Papae
Marcelli, dass die kontrapunktische Musik das Verständnis von heiligen Texten

56 Thomas Mann soll tatsächlich wie Leverkühn auch in der Casa Manardi übernach-

tet haben; eine Engländerin soll vom Teufel gesprochen haben und dieses Gespräch die
Ursache einer ähnlichen Vision des Satans seitens des Schriftstellers gewesen sein. Vgl.
Koppen, Erwin: Schönheit, Tod und Teufel. Italienische Schauplätze im erzählenden Werk
Thomas Manns. In: Arcadia 16 (1981) H. 1–3, S. 151–167 (insb. S. 161 u. 165); Kerényi,
Karl: Thomas Mann und der Teufel in Palestrina. In: Die neue Rundschau 73 (1962)
H. 2+3, S. 328–346 (insb. S. 341).
57 Ebd., S. 156. Zum Thema ,Thomas Mann und Italien‘ vgl. auch: Jonas, Ilsedore B.:

Thomas Mann und Italien. Heidelberg: Winter 1969; Ognibene, Fabio: Die Sehnsucht
nach Italien. Thomas Mann und sein ambivalentes Verhältnis zur Welt Italiens. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2008; Mazzetti, Elisabetta: Thomas Mann und die Italiener.
Frankfurt am Main: Lang 2009.
58 Siehe ebd., S. 166.
59 Siehe Alighieri, Dante: Die göttliche Komödie. Nachdichtungen von Felix Zielinski mit

einem Geleitwort von Walter Goetz. Erlangen: Dipax-Verlag 1950, Hölle XXVII, S. 145–
149.
60 Vgl. Kerényi: Thomas Mann und der Teufel in Palestrina, S. 341; Giovannini: Il patto

col diavolo, S. 200 (Fußnote 38).


206 6 Der Teufel

nicht verhinderte.61 Einerseits betont diese Referenz noch einmal die zweideu-
tige Verbindung der Musik nicht nur mit dem Dämonischen, sondern auch mit
dem Himmlischen, andererseits verweist dies erneut auf Leverkühns Faszina-
tion für den Kontrapunkt und stellt daher die Auffassung in Frage, er sei allem
gegenüber gleichgültig.62 Durch die impliziten Referenzen auf die katholische
Kirche, auf die sowohl der intermediale Bezug auf Palestrina (siehe eben die
Missa Papae Marcelli) als auch der intramediale auf Dante63 verweisen, wird der
Raum auch religiös konnotiert: Hier spielt der Katholizismus und nicht mehr der
Lutheranismus die Hauptrolle. Dieser zeichnet sich ebenfalls durch seine Zwei-
deutigkeit aus, zum einen als Mäzen der Kunst, der allerdings keineswegs alles
akzeptiert, und daher Konkurrent des „Teufels“, zum anderen als (bei Dante)
Institution nicht ohne korrupte Oberhäupter. Die Nähe zu Rom konnotiert den
Raum jedoch auch politisch: Auf der Deutungsebene der – so Thomas Mann
in einem Brief an Oppenheimer – „faschistische[n] Intoxikation der Völker“64
wird hier auf die ,Achse Berlin-Rom‘ angespielt, die zwischen den im Roman nie
namentlich erwähnten Diktatoren Italiens und Deutschlands geschlossen wurde.
So wird durch den indirekten Bezug auf den Papst und an anderen Textstellen des
Romans durch den Bezug auf Luther die Schuld beider Konfessionen bezüglich
ihrer Einstellung zum Faschismus betont.65 Es ist eine komplexe Verflechtung

61 Siehe Crawford, Karin L.: Exorcising the Devil from Thomas Mann’s Doktor Faus-
tus. In: German Quarterly 76 (2003) H. 2, S. 168–182, hier: S. 172. Zu Palestrina vgl.
Heinemann, Michael: Giovanni Pierluigi da Palestrina und seine Zeit. Laaber: Laaber
Verlag 1994; Bianchi, Lino: Giovanni Pierluigi da Palestrina. Paris: Fayard 1994. Tho-
mas Mann konsultierte das Buch von Eckstein für die Biographie des Komponisten: vgl.
TB2: 01.09.1945, S. 248 u. Schmidt-Schütz, Eva: Doktor Faustus zwischen Tradition
und Moderne. Eine quellenkritische und rezeptionsgeschichtliche Untersuchung zu Tho-
mas Manns literarischem Selbstbild (Thomas-Mann-Studien Bd. 28). Frankfurt am Main:
Klostermann 2003, S. 165.
62 Kretzschmar lässt Leverkühn im Rahmen seiner Klavierausbildung auch „vierstimmige

Psalmen von Palestrina spielen“. Vgl. DF: 110. Die wiederholte Einzelreferenz auf den
italienischen Komponisten macht deutlich, dass es sich um kein zufälliges Textelement
handelt.
63 Vgl. noch einmal die Geschichte von Guido da Montefeltro im Canto XXVII (siehe

z. B. „Hätt jener Papst“, Alighieri: Die göttliche Komödie, Hölle, V. 70, S. 146).
64 Briefe 3: 591 f., 12.02.1949.
65 Vgl. Piccolo: L’onnipotenza imperfetta, S. 239. Thomas Mann schreibt über das Teu-

felsgespräch: „Das stärkste darin ist wohl die Beschreibung der Hölle (Gestapokeller)“
(TB2: 20.02.1945, S. 165). Die Stadt Palestrina verweist auch auf Hans Pfitzners Oper
Palestrina (1915): Thomas Mann soll Pfitzners Oper mit Bewunderung betrachtet haben,
Pfitzner zählt aber zu den Unterzeichnenden des Briefes Protest der Richard-Wagner-Stadt
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 207

von Religion, Politik und Musik, die sich unter dem Namen der Stadt subsu-
mieren lässt und die zugleich jener deutschen Sehnsucht nach Italien seit Goethe
ebenfalls eine gewisse Zweideutigkeit verleiht: Der „Teufel“, der Leverkühn dazu
auffordert, nur auf Deutsch zu reden, der allerdings gleich danach ursprünglich
aus anderen Sprachen stammenden Wörter wie „Paletot“, „Plaid“ und „Gentle-
man“ (DF: 326) verwendet,66 will auf das „schöne[] Lande Italia“ (DF: 331), wo
er „schöne Geschäfte“ (ebd.) hat, nicht verzichten.
Bereits in Dantes Canto ist die Rede von „teuflischen Gestalten“:67 Im Teu-
felsgespräch hat man es nicht nur mit einem Teufel, sondern mit drei teuflischen
Gestalten zu tun. Die erste Gestalt beschreibt Leverkühn – Zeitblom soll hier ein
nachgelassenes Dokument von ihm abgeschrieben haben – wie folgt:

Ist ein Mann, eher spillerig von Figur, längst nicht so groß wie Sch.,68 aber auch
kleiner als ich – eine Sportmütze übers Ohr gezogen, und auf der andern Seite steht
darunter rötlich Haar von der Schläfe hinauf; rötliche Wimpern auch an geröte-
ten Augen, käsig das Gesicht, mit etwas schief abgebogener Nasenspitze [...]. Ein
Strizzi. Ein Ludewig. Und mit der Stimme, der Artikulation eines Schauspielers.
(DF: 327)

Leverkühn erwähnt hier als Erstes das Geschlecht des „ersten Teufels“, der eine
Mütze wie der Leipziger Dienstmann, allerdings in diesem Fall eine Sportmütze,
trägt. Das „teuflische“ Lexem ,rot‘ tritt mehrfach auf; des Weiteren redet und sieht
der Teufel wie ein Schauspieler aus,69 der vor allem über Zeit spricht und Lever-
kühn Zeit verkaufen will.70 Die zweite Gestalt des Teufels als „Intelligenzler, der
über Kunst, über Musik, für die gemeinen Zeitungen schreibt, ein Theoretiker und
Kritiker, der selbst komponiert“ (DF: 347), lässt sofort an Theodor Wiesengrund
Adorno denken. Der „zweite Teufel“ hat „einen weißen Kragen um und einen
Schleifenschlips, auf der gebogenen Nase eine Brille mit Hornrahmen“ (ebd.)
und „feucht-dunkle, etwas gerötete Augen“ (ebd.), zitiert offensichtlich aus der

München, der Mann zum Exil zwang. Siehe auch Vaget: Seelenzauber, S. 203–237 u.
Lörke: Die Verteidigung der Kultur, S. 97–112 und 150–161.
66 Und später sogar die Notennamen auf Italienisch erwähnt: siehe DF: 363.
67 Alighieri: Die göttliche Komödie, Canto XXVII, V. 112, S. 148.
68 Diese Abkürzung könnte sich auf Schildknapp beziehen, der sich in Palestrina mit Lever-

kühn befindet, aber auch auf Schleppfuß, der auch in der Beschreibung des Leipziger
Dienstmannes erwähnt wird. Auch besteht die Möglichkeit, dass sich hier Leverkühn auf
den „teuflischen“ Geiger Schwerdtfeger bezieht.
69 Siehe auch DF: 328: „ruhig und überzeugend wie ein Schauspieler lachend“.
70 Vgl. etwa DF: 332.
208 6 Der Teufel

Philosophie der Neuen Musik 71 und spricht gerne von Beethoven.72 Die Bezüge
auf Adornos Werk und Biographie sind schwer zu übersehen; es scheint ein ironi-
scher Zufall zu sein, dass gerade die Texte von Adorno, der laut Manzoni in seinen
Schriften einen Teufel sucht,73 in der Rede des zweiten Teufels zitiert werden.74
Den „dritten Teufel“ beschreibt Leverkühn folgendermaßen:

Ein geteiltes Bärtchen am Kinn ging ihm beim Reden auf und ab, und überm
offenen Munde, drin kleine scharfe Zähne sich sehen ließen, stand ihm das
spitzgedrehte Schnurrbärtchen strack dahin.
Mußt ich doch lachen in meiner Frostvermummung ob seiner Metamorphose ins
Altvertraute.
„Ganz ergebener Diener!“ sag ich. (DF: 327)

Die dritte Gestalt des Teufels erinnert Leverkühn an Schleppfuß; der Kompo-
nist redet ihn auch mit seinem typischen Gruß an. Es wundert daher nicht, dass
diese teuflische Gestalt theologische Fragen nach dem Aussehen der Hölle und
den Auswegen aus der Verdammnis mittels der contritio anspricht.75 Kurz bevor

71 Siehe z. B.: „wie in der vorliberalen Ära hängt die Möglichkeit der Produktion weithin
vom Zufall der Mäzenatengunst ab“ (DF: 349). Vgl. PhnM: 29. Zum Thema siehe auch:
Valk, Thorsten: Literarische Musikästhetik. Eine Diskursgeschichte von 1800 bis 1950.
Frankfurt am Main: Klostermann 2008.
72 Michael Maar sieht in der Figur des Teufels aufgrund des Kragens, des Schleifenschlips

und des Grübchens auch Gustav Mahler. Siehe Maar, Michael: Der Teufel in Palestrina.
Neues zum Doktor Faustus und zur Position Gustav Mahlers im Werk Thomas Manns.
In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 30 (1989), S. 211–247, hier: S. 214. Maar unter-
streicht auch die Ähnlichkeit zwischen Leverkühn und Mahler (S. 237) und Kretzschmar
und Mahler (S. 236).
73 Siehe dazu Manzoni: Adorno e la musica negli anni Cinquanta e Sessanta in Italia,

S. 257.
74 Vgl. Pfleger, Karl: Thomas Mann, der Teufel und Theodor W. Adorno. In: Ders.: Nur

das Mysterium tröstet. Frankfurt am Main: Josef Knecht 1957, S. 285–291. Adornos Philo-
sophie stellt jedoch nicht die einzige Quelle des Teufelsgesprächs in Palestrina dar. Adrian
Del Caro unterstreicht u. a. die Zusammenhänge mit Fjodor Dostojewskis Roman Die
Brüder Karamasow, in dem Iwan ebenfalls auf einem Sofa gegenüber dem Teufel sitzt,
nicht zugeben will, dass er mit ihm spricht, und von ihm angeekelt ist. Vgl. Del Caro,
Adrian: The Devil as Advocate in the Last Novels of Thomas Mann and Dostoevsky.
In: Orbis Litterarum 43 (1988) H. 2, S. 129–152, hier: S. 134 f. Erwin macht daneben
auf die „Nietzschean undertones“ des Gesprächs aufmerksam: In seiner Analyse ist der
Teufel Befürworter des Dionysischen auf dem Weg über die Barbarei. Erwin: Rethinking
Nietzsche, S. 290.
75 Siehe DF: 357–361.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 209

Leverkühn fast ohnmächtig wird und dann auf dem Sofa den Freund Schild-
knapp sitzen sieht, erscheint wieder „das Mannsluder, der käsige Ludewig in der
Kappe, mit roten Augen“ (DF: 362), also der erste, pragmatische Teufel, der die
Bedingungen des durch den Geschlechtsverkehr mit Esmeralda unterschriebenen
Paktes, darunter das Liebesverbot, bespricht.
Die vorigen Ausführungen konnten zeigen, dass sich Teufelsevocations auf
verschiedenen Ebenen der Analysen identifizieren lassen, z. B. in Bezug auf
Figuren, Motive und Städte. Diese Indizien sprechen zugleich für und gegen
die Präsenz eines Teufels im Roman und sind folglich zweideutig. Solche
Zweideutigkeiten soll der folgende Teil näher beleuchten.

6.1.2 Zweideutigkeit(-en)

Zunächst einmal sei hier der Beobachtung Aufmerksamkeit geschenkt, dass in


den in Palestrina angesiedelten Kapiteln die Zahl zwei dominiert. Lexikalisch-
rhetorisch lässt sich das an geminationes wie „endlich, endlich“ (DF: 324) oder an
den Ausrufen von Mitgliedern der Familie Manardi, etwa „Bevi, bevi!“ (DF: 325),
feststellen. Auch in Zeitbloms Beschreibung von Leverkühns Dokument taucht die
Zahl zwei mehrfach auf. Es handele sich um ein „Zwiegespräch“ (DF: 323), das
Leverkühn auf ein Stück Notenpapier niedergeschrieben haben soll, das wie folgt
aussieht: „Es fallen immer zwei Zeilen auf das obere Fünfliniensystem und zwei
auf das Baß-System; aber auch der weiße Raum dazwischen ist durchweg mit je
zwei Schreibzeilen ausgefüllt“ (DF: 324). Weiters wird die Zahl in Leverkühns
Beschreibung des Raumes, wo mit großer Wahrscheinlichkeit das Teufelsgespräch
stattfand, genannt: dies sei ein „zweifenstrige[r] Wohnraum“ (DF: 308).76 Darüber
hinaus kristallisieren sich im Roman und in den Ausführungen der vorliegenden
Studie verschiedene Binäroppositionen, etwa die Kälte des Teufels und der Hölle
vs. die Wärme der Hölle und der „Flammen der Produktion“ (DF: 335) sowie die
himmlische vs. die teuflische Musik. Man könnte denken, die herrschenden Zwei-
deutigkeiten der in Palestrina angesiedelten Kapitel (Walter Benjamin verbindet
Zweideutigkeiten mit dem Dämonischen)77 seien in der Gestalt des Teufels nicht

76 Vgl. auch Alighieri: Die göttliche Komödie, Hölle, Canto XXVII: „sinds doch der

Schlüssel zwei, / Die Coelestin sich beinah ließ entwinden“, V. 104 f., S 147.
77 Vgl. Axer, Eva: Alldeutig, zweideutig, undeutig. Walter Benjamins ,Bezwingung‘ dämo-

nischer Zweideutigkeit im Kraus-Essay. In: Friedrich, Lars (Hrsg.): Das Dämonische.


Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe. München: Fink 2014, S. 325–
343, hier: S. 326. Auch Rohrmoser betrachtet Dämonen als „ambivalente Mächte, die
210 6 Der Teufel

berücksichtigt worden, da sich dieser durch seine drei Gestalten auszeichnet. Den-
noch kehrt am Ende des Gesprächs die erste Gestalt zurück und stellt folglich
die Zahl vier, das Vielfache von zwei, in den Vordergrund; allerdings interagiert
Leverkühn im Kapitel insgesamt mit vier Figuren bzw. mit vier unterschiedlichen
Stimmen, da am Ende des Gesprächs Schildknapp auf dem Sofa sitzt und mit
Leverkühn redet. Auf vielen Ebenen der narratologischen Analyse versucht das
Medium der fiktionalen Schrift, die Zweideutigkeit des temperierten musiktonalen
Systems zu reproduzieren.
Aufgrund dieser Zweideutigkeiten lässt sich das Teufelsgespräch und Thomas
Manns Roman im Allgemeinen keineswegs eindeutig interpretieren. Wie ist der
„Teufel“, der aus diesem Grund in dieser Studie oft in Anführungszeichen angege-
ben wird, zu klassifizieren: Als Figur? Als Symbolik? Als beides? Weder als Figur
noch als Symbolik? Diese Fragen verknüpfen sich mit Fragen nach der Klassifi-
kation des Romans selbst. Sieht man den Teufel nicht als Romanfigur, dann wird
die Definition des Werkes als Bearbeitung des Faust-Stoffes in Frage gestellt;
im umgekehrten Fall kann Manns Roman unproblematisch der Faust-Tradition
zugeordnet werden. Auch in den Interpretationen des Werkes zeigt sich eine
gewisse Zweideutigkeit, obwohl besonders in puncto Teufelsproblematik zahlrei-
che Auslegungen vorliegen, die sich nicht so dichotomisch etikettieren lassen. Im
Folgenden sei auf einige Positionen eingegangen. Hannum, die Doktor Faustus
als den letzten Faust-Roman betrachtet, stellt 1974 die These ins Zentrum ihrer
Analyse, der Teufelspakt stelle die Selbst-Opferung Leverkühns dar.78 Impliziert
sei dies im Befehl des Teufels „Du darfst nicht lieben“ (DF: 363); Leverkühn
erscheine auf verschiedenen Ebenen als ein Selbstopfer, da er seine psychische
und physische Gesundheit sowie sein Glück opfert.79 Hannum verbindet diese
Selbstopferung mit Nietzsches Konzept vom Übermenschen, denn Leverkühn, der
gegenwärtige Mensch, mache Platz für den zukünftigen.80 Diese Position könnte
man auch mit Deleuzes und Guattaris Auffassung, der Teufelspaktes sei ein maso-
chistischer Vertrag, in Verbindung bringen.81 Auch Rohrmoser interpretiert 2005

auf rational nicht nachvollziehbare Art und Weise zwischen teuflischem und göttlichem
,Wesen‘ changieren“. Rohrmoser: Dekadenz und Apokalypse, S. 102.
78 Siehe Hannum, Hildegarde: Self-Sacrifice in Doktor Faustus. Thomas Mann’s Con-

tribution to the Faust Legend. In: Modern Language Quarterly 35 (1974) H. 3,


S. 289–301.
79 Vgl. ebd., S. 293.
80 Siehe ebd., S. 294.
81 Vgl. Deleuze u. Guattari: Kafka, S. 91.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 211

die Figur Leverkühns als Opfer: „Das Schicksal Adrian Leverkühns ist ein Stell-
vertreterschicksal. Er steht für die Not und das Leiden der Zeit“;82 zudem ist
Corbineau-Hoffmann zufolge (1995) Leverkühn nicht Urheber seiner Werke, son-
dern ihr Opfer.83 Diese Interpretationen verweisen auf die Deutungsperspektive
der imitatio Christi.84
Gegen diese Perspektive spricht aber die Tatsache, dass sich Leverkühn „mit
voller Absicht“85 infiziert. Dies kommt etwa in der Oper Giacomo Manzo-
nis durch Esmeraldas insistente Wiederholung der Worte „Guardati dal mio
corpo“86 – „Hüte dich vor meinem Körper“ –87 deutlich zum Ausdruck. Die Ver-
suchung Satans sei also im Roman nicht gescheitert und die Begegnung mit dem
Bösen die Konsequenz einer „Wunschdisposition“88 Leverkühns – so Röcke 2000
im in Unterabschnitt 6.1.1 erwähnten Aufsatz zum Lach-Motiv in Doktor Faustus.
Del Caro untersucht 1988 die Wichtigkeit der Rolle des Teufels: „[W]hat
makes the devil useful to an author is the impunity with which the devil is allowed
to speak“.89 Da Del Caro den Satan für einen Advokaten hält, könne der Autor –
eine gewisse biographical fallacy der Untersuchung lässt sich hier nicht überse-
hen – durch diese Figur auch die von ihm nicht geteilten Ansichten verteidigen.90
Die Originalität dieser These besteht aber darin, dass der Satan als ein dialek-
tisches Mittel angesehen und dementsprechend die alternative Bezeichnung des
Teufelsgesprächs als Teufelsprozess vorgeschlagen wird.
Die bisher vorgestellten Positionen gehen von der Annahme aus, der Teufel
sei eine Figur von Doktor Faustus. Auch Thomas Mann leugnet dies in seinen
Schriften nicht: In den Tagebüchern bezieht er sich beispielsweise explizit auf
diese Figur91 und betont die Bedeutung der Motive aus der Faustsage für die
Montage-Technik des Werkes.92
Es gibt einige Argumente, die für eine gewisse Skepsis gegenüber der mög-
lichen Definition als Faust-Roman sprechen. Das erste ist, dass die Art von

82 Rohrmoser: Dekadenz und Apokalypse, S. 110.


83 Corbineau-Hoffmann: Umkehrungen, S. 239.
84 Vgl. Kap. 5.
85 Rohrmoser: Dekadenz und Apokalypse, S. 129.
86 Vgl. M-DF: 16–25.
87 Vgl. DF: 225.
88 Röcke: Teufelsgelächter, S. 348.
89 Del Caro: The Devil as Advocate, S. 130.
90 Siehe ebd., S. 131.
91 Vgl. z. B. TB2: 05.08.1944, S. 88.
92 Vgl. TB2: 31.01.1944, S. 16.
212 6 Der Teufel

Syphilis, an der die Hauptfigur leidet, zur Demenz führen kann. Thomas Mann
hatte sich über die Spirochaeta pallida informiert: „Gelesen in ,Syphilis des Zen-
tralnervensystems‘“,93 liest man in den Tagebüchern. Infolgedessen könnte Satans
Vision in Palestrina eine Konsequenz des mit der Krankheit verbundenen Deli-
riums sein, da die Ansteckung schon stattgefunden hat. Dies vermutet Adrian
Leverkühn selbst im Teufelsgespräch:

Viel wahrscheinlicher ist es, daß eine Krankheit bei mir im Ausbruch ist und ich den
Fieberfrost, gegen den ich mich einhülle, in meiner Benommenheit hinausverlege
auf eure Person und euch sehe, nur um in euch seine Quelle zu sehen. (DF: 328)94

Viele weitere textuelle Indizien weisen auf eine Art Rollenspiel hin, bei dem am
Ende die Person „nicht mehr weiß, wer oder was das Ich ist“95 und das Vietta
unter dem Begriff der „Subjektdissoziation“96 subsumiert.97 Auch in Leverkühns
Abschiedsrede, die ihn ebenfalls mit der Figur Fausts assoziieren soll, häufen
sich die textuellen Indizien für ein psychisches Delirium.98 Maar plädiert 1989
wie Vietta für die Idee eines Rollenspiels im Teufelsgespräch und definiert den
Teufel wie folgt:99

Reflektierte Präsenz, wie wir annehmen dürfen, wenn wir nicht daran, daß Thomas
Mann im Ernst an den Leibhaftigen glaubte, unsererseits ernsthaft glauben wollen,
sondern eher überlegen: ob er nicht im fünfundzwanzigsten Kapitel einen dreiteili-
gen Spiegel aufklappt, der Leverkühn wenig schmeichelhafte Aspekte seiner Person
entgegenwirft, in dessen Mittelfeld der Gespiegelte sich aber noch am wenigsten
entstellt finden wird?

Das zweite Argument verknüpft die Forschungsliteratur mit der säkularisierten


Perspektive von Doktor Faustus100 und mit der Religiosität Thomas Manns: In

93 TB2: 17.01.1944, S. 10.


94 Siehe auch Petersen: Der unzuverlässige Narrator, S. 175.
95 Vietta, Silvio: Zweideutigkeit der Moderne: Nietzsches Kulturkritik, Expressionismus

und literarische Moderne. In: Anz, Thomas (Hrsg.): Die Modernität des Expressionismus.
Stuttgart (u. a.): Metzler 1994, S. 9–20, hier: S. 15.
96 Ebd. (allerdings in Bezug auf die literarische Frühmoderne).
97 Vgl. auch DF: 328: „Ihr sagt lauter Dinge, die in mir sind und aus mir kommen, aber

nicht aus euch“.


98 Vgl. Kap. 5, insb. Manzonis Vertonung (5.2.1.4), in der dieser Aspekt besonders deutlich

zum Ausdruck kommt.


99 Maar: Der Teufel in Palestrina, S. 237.
100 Vgl. Kap. 4.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 213

Piccolos Monographie, L’onnipotenza imperfetta (2010), wird Thomas Mann


für den laizistischen Humanisten par excellence101 gehalten; auch Crawford
ist in ihrem Aufsatz (2003) der Auffassung, der Schriftsteller überwinde in
Doktor Faustus die Mythen und Symbole der literarischen Vergangenheit dank
eines „secular modernism“.102 Dies scheint auch Manns Auffassung von Nietz-
sches Religiosität zu entsprechen, auf die sich der Nietzsche-Roman beziehen
könnte:103

Die überkonfessionelle Religiosität, von der er spricht, kann ich mir nicht anders
vorstellen als gebunden an die Idee des Menschen, als einen religiös fundierten und
getönten Humanismus, der vielerfahren, durch vieles hindurchgegangen, alles Wis-
sen ums Untere und Dämonische hineinnähme in seine Ehrung des menschlichen
Geheimnisses.

Auch der Begriff der Zweideutigkeit könnte wohl ein intramedialer Bezug auf
Nietzsche sein, der in seinem Werk – so Vietta – „den Begriff der ,Zweideutigkeit‘
der Moderne exponiert“.104
Diese Säkularisierung des Faust-Stoffes werde in Doktor Faustus so weit
geführt, dass es sich für Crawford überhaupt nicht lohnt, einen Teufel hineinzu-
deuten: „[I]t is time we exorcise the devil from Mann’s Doktor Faustus because
there is no devil in the novel“,105 stellt sie lapidar fest. Pfleger war bereits
1957 der gleichen Auffassung: „Der Teufel und sein metaphysisches Korrelat“106
glänze im Roman „durch vollkommene Abwesenheit“.107 Käte Hamburger ver-
sucht, eine Erklärung zu liefern, wieso es so schwierig sei, den Roman als eine
Bearbeitung des Faust-Stoffes zu lesen:108

In der Tat bietet der Roman das eigentümliche Phänomen dar, daß wir den moder-
nen Komponisten Adrian Leverkühn keineswegs als einen Faust erleben, seine

101 Siehe Piccolo: L’onnipotenza imperfetta, S. 269.


102 Crawford: Exorcising the Devil, S. 180. Ganz anderer Auffassung ist Rohrmoser:
Doktor Faustus sei „eines der christlisten und theologischsten Werke des zwanzigsten
Jahrhunderts“. Rohrmoser: Dekadenz und Apokalypse, S. 178.
103 GW 19.1: 225. Vgl. auch TB3: 04.06.1946, S. 7: „Über Nietzsches Atheismus, der eine

religiöse Sonderform“.
104 Vietta: Zweideutigkeit der Moderne, S. 9.
105 Crawford: Exorcising the Devil, S. 168.
106 Pfleger: Der Teufel und Adorno, S. 287.
107 Ebd.
108 Hamburger: Anachronistische Symbolik, S. 311.
214 6 Der Teufel

menschliche Existenz und künstlerische Situation durchaus unabhängig von einem


Faustmuster verstehen können.

Die Leser*innenschaft neigt Hamburger zufolge nicht nur dazu, einen Gegen-
entwurf zu Zeitbloms unzuverlässiger Darstellung der Ereignisse zu erstellen,
sondern stellt auch Paratexte des Romans (vor allem den Titel selbst) und
Kommentare des Autors automatisch in Frage.
Wie aber soll man das Teufelsgespräch interpretieren, wenn man es mit kei-
nem Faust-Roman zu tun hat? Laut Hamburger als eine „dichterische Produktion
Leverkühns“;109 Crawford stimmt dieser Interpretation zu und glaubt, das Teu-
felsgespräch sei in der Tat ein Fragment für die Weheklag:110 Im Kapitel vor dem
Teufelsgespräch erfährt die Leser*innenschaft durch Zeitblom, dass Leverkühn
an der Vertonung von Shakespeares Komödie Love’s Labour’s Lost in Palestrina
arbeitet. Dabei werden nicht nur inhaltliche Entsprechungen zum Teufelsgespräch
sichtbar, etwa die Präsenz eines Königs und dreier Gefährten, die sich mit den drei
Teufelsgestalten vergleichen lassen, oder der Verzicht auf die Liebe, bei Shake-
speare zugunsten der intensiven Beschäftigung mit der Philosophie, in Doktor
Faustus hingegen mit der Musik.111 Vielmehr ähnelt das Teufelsgespräch auch
dem komisch-grotesken Charakter von Shakespeares Stück, der in Manns Roman
ebenfalls erkennbar wird, z. B. an der Tatsache, dass der eine Sportmütze (!) tra-
gende Teufel seinem Gegenüber dazu auffordert, auf Deutsch zu reden, obwohl er
selbst ständig die Sprache wechselt. Gleichwohl könnte das Teufelsgespräch eine
reine Erfindung des unzuverlässigen Erzählers sein: Beispiele seiner Unzuverläs-
sigkeit sind allemal zu finden, man braucht nur daran zu denken, dass Zeitblom
wieder nicht anwesend war und dass er das Dokument mit zitternder Hand aus
einem undatierten Notenpapier abschreibt.112 Börnchen spricht 2006 sogar von
einer „geheime[n] Identität“113 zwischen Zeitblom und Leverkühn, was – zusam-
men mit Kinzels Betrachtung von Zeitblom als Agenten des Teufels – die Tür
zu folgenden Fragen öffnet: Sind denn Zeitblom und Leverkühn etwa dieselbe
Figur? Erzählt Zeitblom doch von sich selbst? Ist Zeitblom der eigentliche Faust
des Romans?
Börnchen weist in seiner Monographie mehrfach darauf hin, dass das Schrei-
ben einer Biographie die Bewältigung eines Paradoxons impliziere, nämlich das

109 Ebd, S. 321.


110 Vgl. Crawford: Exorcising the Devil, S. 172.
111 Obwohl der Text bekanntlich mehrfach auf Adornos Musikphilosophie verweist.
112 Vgl. DF: 324.
113 Börnchen: Kryptenhall, S. 206.
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 215

des Erzählens vom Leben im toten Zeichenkörper der Buchstaben, was in Doktor
Faustus durch die „musikalische“ Faktur des Textes, der durch das Vorlesen neue
Interpretationen ermögliche, aufgehoben wird.114 Dieses Schwingen der Spra-
che ist, genau gesehen, im Fall von Thomas Manns „Musiker-Roman“ (Ent: 25)
ein (verstimmtes) Mit-Schwingen vergleichbar zur Aufführungspraxis des Instru-
ments, das der Erzähler spielt und das sich ebenfalls kraft der Präsenz von Spiel-
und Resonanzsaiten, der möglichen Anwendung der Scordatura und, nicht zuletzt,
der Praxis der Verzierung durch Zweideutigkeit auszeichnet: Der Roman muss
vorgelesen und – wie (nicht nur) in der Aufführungspraxis barocker Musik –
mehrfach wiedergelesen werden, denn jedes Vorlesen und Wiederlesen verleiht
der Interpretation neue Konnotationen.115
Doktor Faustus ist nicht nur von Teufelsevocations geprägt, sondern auch (ver-
gleichbar zum oben erwähnten Stück Shakespeares) von Komik und Humor nicht
selten grotesker Natur: Börnchen betont unter Bezug auf Thomas Manns Selbst-
kommentare, Paul de Man und Friedrich Schlegel eben diese Eigenschaft des
Textes, indem er zugleich darauf hinweist, dass es sich „um eine Entscheidung
[handle], Komik oder Humor und Allegorizität zu sehen“.116 Das komische Poten-
zial von Doktor Faustus tritt auch in den in Palestrina angesiedelten Kapiteln
zutage, etwa in der Charakterisierung der Familie Manardi. Signora Manardi bei-
spielsweise, „von den Ihren Nella genannt – ich glaube, sie hieß Peronella“ (DF:
309), sei „eine stattliche Matrone römischen Typs“ (ebd.). Nicht weniger grotesk
wirkt daneben die Figur Amelias,

ein leicht zum Närrischen geneigtes Kind, das die Gewohnheit hatte, bei Tische den
Löffel oder die Gabel vor ihren Augen hin und her zu bewegen und dabei irgend
ein Wort, das ihr im Sinn hängen geblieben, mit fragender Betonung wiederholt
vor sich hin zu sprechen. (ebd.)

So wiederholte sie nach dem Aufenthalt eines Gespenstersehers „Spiriti? Spi-


riti?“ und nach dem eines deutschen Touristen, der „nach deutschem Muster“ das
Wort melone „als weiblich behandelt hatte“, „La melona? La melona?“ (DF: 310).
Auch bei der Charakterisierung der männlichen Familienmitglieder wird nicht
auf Komik verzichtet: der Advokat Ercolano wird „meist kurz und mit Genugtu-
ung l’avvocato genannt“ (ebd.), während Sor Alfonso, „der Jüngere, etwa Mitte
vierzig, von den Seinen vertraulich ,Alfo‘ angeredet“ wird, da er ein einfacher

114 Siehe etwa S. 182–202. Vgl. Kap. 5, insbesondere die Echo-Wirkung von Zeitbloms
Beschreibung der fiktiven Kantate Leverkühns (5.1.2).
115 Zur Viola d’amore und Scordatura vgl. Kap. 7.
116 Börnchen: Kryptenhall, S. 90. Siehe dort auch S. 81–91.
216 6 Der Teufel

„Landmann“ (ebd.) ist. Der Advokat darf den nicht nur damaligen und nicht
ausschließlich italienischen Höflichkeitsvorschriften gemäß, welche die gesell-
schaftlichen Verhältnisse widerspiegeln, nicht mit einem liebevollen Spitznamen
angesprochen werden. An erster Stelle muss immer sein prestigevoller Beruf
stehen. Nichts ist ihm verboten:

Der Advokat übte allem Anschein nach seinen Beruf nicht mehr aus, sondern las
nur noch die Zeitung, – dies allerdings unausgesetzt, wobei er sich an heißen Tagen
erlaubte, in seinem Zimmer bei offener Tür in Unterhosen zu sitzen. (DF: 310 f.)

Der einzige, der sich über dieses Verhalten beschwert, ist der Landmann Alfo,
wobei Privilegien, die vom sozialen Status abhängig sind, erneut durch die Komik
der Narration zutage treten.
Eine Schilderung der opulenten Mahlzeiten darf natürlich nicht fehlen: „eine
gehaltvolle Minestra, Singvögelchen mit Polenta, Scaloppini in Marsala, ein
Hammelgericht oder Wildschwein mit süßer Zukost, auch viel Salat, Käse und
Früchte“ (DF: 312) werden aufgezählt und am Ende gibt es Kaffee und Zigaretten.
Signora Manardi kann selbst nach einer solchen Mahlzeit fragen, ob die Gäste satt
sind und ob sie vielleicht noch ein bisschen Fisch essen möchten. Wichtig für sie
ist, dass die Gäste viel Wein trinken, denn „[f]a sangue il vino“ (ebd.). In diesem
falsch zitierten Sprichwort finden sich die zwei koexistierenden Deutungsperspek-
tiven. Erstens verweist das Blut auf den Teufel, und speziell auf den Teufelspakt
– es handelt sich zudem in diesem Fall um kein gutes Blut, da das Sprichwort in
der Regel: Il vino fa buon sangue lautet. Zweitens wird dies von einer komisch-
grotesken Figur geäußert und verweist auch auf eine gewisse Genussfähigkeit
sowie zugleich auf einen gewissen italienischen Aberglauben, was zu den wieder-
kehrenden Topoi in den Narrationen über Italien zählt.117 Der intramediale Bezug
auf Heinrich Manns Die kleine Stadt wird hier deutlich, da bestimmte Mikrofor-
men des Romans erwähnt und reproduziert werden;118 darüber hinaus profiliert
sich auch in der literarischen Narration über Italien eine signifikante Zweideu-
tigkeit: Italien als Land der Kultur119 vs. Italien als Land des Aberglauben, der
Genussfähigkeit und der Volkstümlichkeit.120

117 Vgl. auch Goethe, Johann Wolfgang von: Italienische Reise. Hrsg. v. Jochen Holz.
Berlin: Rütten & Loening 1983 [1813–17], 3. Aufl., S. 221 f. (19.03.1787, Neapel).
118 Darüber hinaus erinnern diese Beschreibungen auch an das Werk Giovanni Vergas.
119 In diesen Kapiteln aus dem Roman z. B.: Dante für die Literatur, Palestrina für die

Musik, „die Ruinen eines antiken Theaters“ (DF: 308) für die Kunst.
120 Das Thema ist immer noch aktuell: siehe z. B. den mehrfach ausgezeichneten Film La

grande bellezza von Paolo Sorrentino (2013). Berühmt ist auch Federico Fellinis La dolce
6.1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus 217

Coincidentiae oppositorum lassen sich im gesamten Roman indizieren: Auch


die Weheklag ist beispielsweise zugleich expressiv und streng in der Form.121
Diese coincidentiae finden sich auch in der Zwölftontechnik, nämlich in jener
„,Indifferenz‘ von Harmonik und Melodik“ (PhnM: 64), die Leverkühn proso-
poietisch verkörpert und Adorno so erörtert:

In einfachen Fällen wird die Reihe zwischen Vertikale und Horizontale verteilt und,
sobald die zwölf Töne vollständig sind, wiederholt oder durch eines der Derivate
ersetzt [...]. (PhnM: 64)

In diesem Kontext verwundert kaum, dass die in der Dodekaphonie zentrale Zahl
zwölf ebenfalls ein Vielfaches von zwei ist und somit wieder auf die Zweideu-
tigkeit hinweist: Die vorliegenden Ausführungen begannen mit der lexikalischen
Bedeutung der Zahl zwei und wurden dann auf weiteren Ebenen der literatur-
wissenschaftlichen Analyse fortgeführt. Darüber hinaus findet sich das Wesen der
Neuen Musik Adorno zufolge „einzig in den Extremen“ (PhnM: 14) ausgeprägt,
was mit sich bringt, dass er diese Werke nicht einmal als ,Werk‘ bezeich-
nen würde.122 Ein verwandtes Konzept drückt Thomas Mann in Bezug auf die
Literatur, und speziell auf den Roman seiner Zeit, in der Entstehung aus:

Mein Vorurteil war, daß neben Joyces exzentrischem Avantgardismus mein Werk
wie flauer Traditionalismus wirken müsse. Daran ist wahr, daß traditionelle Gebun-
denheit, sei sie selbst schon parodistisch gefärbt, leichtere Zugänglichkeit bewirkt,
die Möglichkeit einer gewissen Popularität in sich trägt. Doch ist sie mehr eine
Sache der Haltung als des Wesens. „As his subject-matter reveals the decompo-
sition of the middle class“, schreibt Levin, „Joyce’s technique passes beyond the
limit of realistic fiction. Neither the Portrait of the Artist nor Finnegan’s Wake is a
novel, strictly speaking, and Ulysses is a novel to end all novels.“ Das trifft wohl
auf den Zauberberg, den Joseph und Doktor Faustus nicht weniger zu, und T. S.
Eliots Frage „whether the novel had not outlived its function since Flaubert and

vita (1960). Beide Filme wurden in Rom gedreht, also in derselben Region wie Palestrina
(Lazio). Die Region, Zentrum des römischen Reiches, übernimmt also eine prototypische
Funktion sowohl in der Literatur als auch in der Filmkunst.
121 Siehe Börnchen: Kryptenhall, S. 180 (auch Fußnote 672). Zur Dialektik von Doktor

Faustus existieren in der Forschungsliteratur zahlreiche Beiträge. Lörke, T.: Ambitiöse


Zweideutigkeit. Die demokratische Faktur des Doktor Faustus. In: Ewen, Jens, Tim Lörke
u. Regine Zeller (Hrsg.): Im Schatten des Lindenbaumes. Thomas Mann und die Romantik.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 219–231. So auch Mann in den Tagebü-
chern: „Die Dialektik des Humanen und Chthonischen (Barbarischen) Thema des ,Dr.
Faust‘“ (TB1: 04.10.1943, S. 634).
122 Siehe PhnM: 37.
218 6 Der Teufel

James [...]“ korrespondiert genau mit meiner eigenen Frage, ob es nicht aussähe,
als käme auf dem Gebiet des Romans heute nur noch das in Betracht, was kein
Roman mehr sei. (Ent: 73; Herv. i. O.)

Der Autor selbst betrachtet einige seiner Werke, darunter auch Doktor Faustus,
zusammen mit Werken von Joyce als „Nicht-Romane“, weil sie mit Konventio-
nen der vorigen Epochen gebrochen haben – mit der reservatio, dass Thomas
Mann dem obigen Zitat entsprechend Joyces Romanen Avantgardismus und sei-
nen eher Traditionalismus zuschreibt.123 Die Kategorie des Romans selbst sei
seiner Meinung nach in der Moderne zweideutig geworden und bedürfe einer
Infragestellung, die also nicht nur die Einordnung von Doktor Faustus in die
Bearbeitungen des Faust-Stoffes, sondern im Allgemeinen die Gattung ,Roman‘
selbst betrifft. Durch jene evocations und Zweideutigkeiten verweise der Roman
der Moderne im Endeffekt auf sich selbst, ähnlich der Neuen Musik, die zugleich
von Selbstreferentialität und Zweideutigkeit geprägt ist.124
Umberto Eco definiert die ästhetische Botschaft sui generis als zweideutig und
autoreflexiv:125

Die Botschaft hat eine ästhetische Funktion, wenn sie sich als zweideutig struk-
turiert darstellt und wenn sie als sich auf sich selbst beziehend (autoreflexiv)
erscheint, d. h. wenn sie die Aufmerksamkeit des Empfängers vor allem auf ihre
eigene Form lenken will. [...]
Eine völlig zweideutige Botschaft erscheint als äußerst informativ, weil sie mich
auf zahlreiche interpretative Wahlen einstellt, aber sie kann an das Geräusch
angrenzen, d. h. sie kann sich auf bloßes Geräusch reduzieren. Eine produk-
tive Ambiguität ist die, welche meine Aufmerksamkeit erregt und mich zu einer
Interpretationsanstrengung anspornt. [...]
[E]ine Botschaft, die mich in der Schwebe zwischen Information und Redundanz
hält, die mich zu der Frage treibt, was das denn heißen soll, während ich im Nebel
der Ambiguität etwas erblicke, was auf dem Grunde meiner Decodierung leitet,
eine solche Botschaft beginne ich zu beobachten, um zu sehen, wie sie gemacht ist.

Auch Thomas Manns Roman stellt die Leser*innenschaft, wie dies auch das vor-
liegende Kapitel belegt, auf zahlreiche interpretative Optionen ein und erzeugt
viele produktive Ambiguitäten. Er kann, um mit Eco weiter zu argumentieren, im

123 Und die Erzählinstanz von Doktor Faustus selbst, darauf weist Börnchen hin, wiederholt
mehrfach, sie schreibe doch keinen Roman. Siehe Börnchen: Kryptenhall, S. 196.
124 Vgl. auch 1.1.6 u. Bernhart, Walter u. Werner Wolf (Hrsg.): Self-Reference in Literature

and Music. Amsterdam/New York: Rodopi 2010.


125 Eco: Einführung in die Semiotik, S. 145 ff., Herv. i. O.
6.2 Vom Roman zur Musik 219

Deutungsprozess jedoch auch nur auf die Oberfläche des Textes reduziert wer-
den und daher die Aufmerksamkeit lediglich auf seine Form lenken. Als Vorbild
für dieses Phänomen von gleichzeitiger Autoreflexivität und Zweideutigkeit dient
in Doktor Faustus die Zweideutigkeit der Musik: Der Thomas Mann zufolge
hybride, schwer definierbare Nicht-Roman, der sich mit dem Adorno zufolge
hybriden, schwer definierbaren Nicht-Werk der Neuen Musik vergleichen lässt,
versucht diese Zweideutigkeit der Musik zu reproduzieren.
Obwohl lediglich der zweite Teil des vorliegenden Abschnitts den Titel
„Zweideutigkeit(-en)“ trägt, gibt es auch im ersten Teil Doppeldeutigkeiten, die
folglich als roter Faden der präsentierten Argumentationen dienen: Die Frage
nach der Präsenz eines Teufels bzw. einer Teufelssymbolik im Roman lässt sich
aufgrund der vielen Ambiguitäten des Textes nicht pauschal beantworten. Dies
ergibt sich aus einer Analyse, die sich von der Untersuchung der Motive bis hin
zur Berücksichtigung von Stoff und Form erstreckte. Doktor Faustus versucht
eher, die im Text erwähnte Zweideutigkeit der Musik im Medium der fiktionalen
Schrift zu reproduzieren. Im folgenden Abschnitt wird untersucht, ob und wie
in Manzonis Oper dieser Eigenschaft des Textes und folglich diesen produktiven
Ambiguitäten Rechnung getragen wird und wie grundsätzlich der Transfer des
Teufelsgesprächs in das neue Medium geschieht.

6.2 Vom Roman zur Musik

In diesem letzten Abschnitt wird auf die Rezeption der Teufelsproblematik, vor
allem durch die Analyse von Manzonis Teufelsgespräch in der Doktor Faustus-
Oper eingegangen. Mit der Teufelsproblematik beschäftigt sich mehr oder weniger
die Mehrheit der in dieser Studie behandelten Kompositionen: Die Komponis-
tin Fine, deren Werk im nächsten Kapitel behandelt wird, macht etwa darauf
aufmerksam, dass die Auseinandersetzung mit bestimmten interpretatorischen
Fragen, z. B. mit Zeitbloms Zuverlässigkeit und eben mit dem Teufel, funda-
mentale Voraussetzung für das Transferieren/Transformieren von Mikroformen
der Vorlage ist.126 Jedoch zählt Manzonis Oper zu den wenigen existierenden
Transpositionen des Romans, die nicht nur eine Antwort auf die Frage, ob es
einen Teufel in Doktor Faustus gebe, zu liefern versuchen, sondern auch das
Teufelsgespräch selbst vertonen.

126 Vgl. 7.2.1.


220 6 Der Teufel

6.2.1 Gender troubles der italienischen Operntradition:


Giacomo Manzonis Teufelsgespräch

Im Folgenden soll die Aufmerksamkeit auf das sechste Bild aus Manzonis Oper,
deren Entstehung und Eigenschaften im fünften Kapitel dieser Arbeit bereits the-
matisiert wurden,127 gerichtet werden. Das Teufelsgespräch im sechsten Bild stellt
den wichtigsten und längsten Teil des ersten Aktes von Manzonis Oper dar (M-
DF: 59–106). Die Anweisung für das Bühnenbild ist erneut vage: „Un luogo o più
luoghi“ (M-DF: 59), also „ein Ort oder mehrere“.128 Das Bühnenbild ist schlicht
und dunkel. Bei Thomas Mann ruft Leverkühn, als er eine Person im Zimmer
fühlt: „Chi è costà!“ (DF: 326), in der italienischen Übersetzung ergänzt Pocar
„grido in italiano“ (I-DF: 259), „Ich rufe auf Italienisch“, um den Sprachwechsel
zu verdeutlichen. Da dies im Medium der Oper nur im Libretto, und zwar im
Nebentext, möglich wäre, wird hier die Entscheidung getroffen, den Sprachwech-
sel auch bei der Aufführung beizubehalten, daher die Übersetzung ins Englische:
„Who’s there?“ (M-DF: 59, T. 486 f.). Durch diese auf den ersten Blick wenig
bedeutende Beobachtung tauchen einige relevante Aspekte der Veroperung auf:
Manzoni hätte das Zitat auch etwa ins Französische übertragen können. Die Ver-
wendung der englischen Sprache erlaubt der Oper, sich indirekt auf die bei der
Auswahl der Figur ausgelassene Figur Schildknapp zu beziehen, der sich zum
Zeitpunkt der histoire ebenfalls in Palestrina befand und beruflich eben Texte ins
Englische übersetzte.129 Auch antizipiert das die spätere Vertonung von Shakes-
peares The Tempest bei der Echo-Episode, da bei Manzoni die fiktive Vertonung
Leverkühns wie die Weheklag transponiert wird130 sowie den späteren, im vori-
gen Kapitel bereits erwähnten intermedialen Bezug noch einmal auf Shakespeares
The Tempest gleich nach der Entscheidung, die Neunte Symphonie zurückzuneh-
men („Then to the elements. Be free, and fare thou well!“, DF: 694, M-DF: 191,
T. 660). Zugleich wird somit indirekt auf eine weitere Vertonung verwiesen, mit
der sich Leverkühn zum Zeitpunkt des Teufelsgesprächs in Palestrina beschäf-
tigt, nämlich die von Love’s Labour’s Lost, also ebenfalls eine Vertonung nach
Shakespeare. Die Bezüge des Romans auf Shakespeare werden in der interme-
dialen Transposition hervorgehoben, indem sie gleichzeitig das Augenmerk auf
Leverkühns Kosmopolitismus und sein Interesse nicht nur an deutschsprachigen
Vorlagen richten.

127 Vgl. 5.2.1.1.


128 Zur Vagheit der Raumangaben in Manzonis Oper vgl. 5.2.1.2.
129 Vgl. DF: 245.
130 Vgl. 11.2.3.
6.2 Vom Roman zur Musik 221

Der Teufel fordert Adrian auf, in seiner Sprache zu sprechen, die in diesem
Fall nicht Deutsch ist, da das Gespräch auf Italienisch geführt wird. Er sei da,
„per trattare d’affari“ (M-DF: 59, T. 493), also „um die Geschäfte mit […] [ihm]
zu besprechen“ (DF: 327). Nachdem Adrian wegen der Kälte des Teufels Mantel
und Hut angezogen hat, sagt er: „Siete qui ancora? Mi assale il sospetto che non
ci siate affatto“ (M-DF: 60, T. 498 f.; „Ihr seid noch da […]. Das wundert mich.
Denn nach meiner starken Vermutung seid ihr nicht da“, DF: 328). So werden bei
Manzoni wie auch in Manns Roman sofort die Zweifel Adrians thematisiert, was
er sieht und fühlt. Manzoni interpretiert in seinen Schriften den Teufel als eine
bloße Projektion des kranken Leverkühn: Die venerische Ansteckung, deren Opfer
Adrian geworden ist, verursache Veränderungen in der Zellstruktur des Gehirns,
was Auswirkungen auf die mentalen Prozesse des Protagonisten hätte.131 Im
Interview, welches im Zuge dieser Arbeit geführt wurde, sagt Manzoni, dass ein
Komponist doch nicht auf die Figur des Teufels verzichten könne.132 Abgesehen
von den Widersprüchlichkeiten, die oft in den Selbstäußerungen eines Autors auf-
tauchen, steht tatsächlich die gesamte Oper – wie auch Thomas Manns Roman –
im Zeichen eines zwiespältigen Verhältnisses zwischen der Deutungsebene des
Faust-Romans und dem Eindruck eines Deliriums, wie im Folgenden aufgezeigt
wird.
Leverkühn wiederholt mehrmals „Taci, taci!“ (z. B. M-DF: 66, T. 533 f.),133
als ob er diese Visionen stoppen wolle. Durch diese Aufforderung zum Schwei-
gen tritt auch in der intermedialen Transposition das Motiv des Schweigens in
den Vordergrund, das etwa Frau Schweigestill prosopoietisch verkörpert, die nicht
zufällig mit ihren bayerischen Worten Leverkühns Abschiedsrede zum Schwei-
gen bringt.134 Darüber hinaus personifiziert der Teufel jenen Ausweg aus der
Sterilität der Kunst durch eine revolutionäre Lösung, der im fünften Kapitel
der vorliegenden Studie angesprochen wurde: Diese Lösung setzt sich der ande-
ren Möglichkeit, der des Verstummens, also des Schweigens, entgegen.135 Zwar

131 Siehe Manzoni: Il duplice volto di Faust. In: Ferruccio Busoni Website. < https://www.

rodoni.ch/busoni/flusso/manzoni.html > (letzter Zugriff: 21.08.2020). Bemerkenswert ist,


dass auch im Titel dieses Textes von Manzoni Zweideutigkeit angesprochen wird.
132 Siehe das Interview im Anhang.
133 „Schweig, schweig!“.
134 Vgl. 5.1.2 u. Kinzel: Zweideutigkeit als System, S. 111.
135 Vgl. 5.1.2.
222 6 Der Teufel

erscheint im Roman die Aufforderung zum Schweigen nicht als rhetorische gemi-
natio,136 das Motiv taucht jedoch an exponierter Stelle auf, und zwar gleich in
den ersten Zeilen von Leverkühns Schrift: „,Weistu was so schweig. Werde schon
schweigen‘“ (DF: 324). Weiters wird es in Verbindung mit der Musik genannt,
und zwar wieder durch einen Vergleich zwischen dem Schreiben eines sprachlich
fixierten Textes und dem Schreiben einer musikalischen Komposition: „Schweige
es alles hier aufs Musikpapier nieder“ (DF: 325). Manzonis Oper, die nur aus
Zitaten in direkter Rede aus dem Roman besteht, rückt das Motiv des Schwei-
gens durch die geminatio in den Vordergrund, was in der Komposition auch mit
dem dort zentralen Motiv der Sprachkrise verknüpft ist.137
Die Worte „Taci, taci!“ begleiten die Erklärungen des ersten Aussehens des
Teufels, als „Lui I“, „Er I“ in der Partitur benannt: In diesem Fall präzisiert der
Satan die Dauer des Paktes. Der erste Teil dieses Bildes konzentriert sich haupt-
sächlich auf das Gespräch zwischen Adrian und Lui I, der mit einer Bassstimme
singt. Dem Orchester wird eine Begleitfunktion zugewiesen (Abbildung 6.1):

Abbildung 6.1 Lui I spricht mit Adrian. M-DF: S. 65 f., T. 530–535. Vgl. DF: 332

An dem obigen Notenbeispiel wird ein weiteres Motiv sichtbar, das auch in
dem Teufelsgespräch von Doktor Faustus eine zentrale Rolle spielt, nämlich das
der Zeit.138 Das Erste, was der Teufel Leverkühn anbietet, ist eben Zeit: Im Ver-
gleich zu Gott kann der Teufel keine Unendlichkeit anbieten, dementsprechend

136 Die Wiederholung erinnert in der Oper an Frau Manardis „Bevi, bevi!“ (DF: 300):
Diese Worte werden noch einmal zu Beginn von Leverkühns fiktivem Dokument erwähnt.
Vgl. auch DF: 334.
137 Siehe auch nochmals Dantes Canto XXVII: „Und Schweigen wollt mir länger nicht

gefallen“. Alighieri: Die göttliche Komödie, Hölle, Canto XXVII, V. 107, S. 147.
138 Das Motiv taucht auch in Dantes Canto XVII auf: „Es ist zu spät“, Alighieri: Die

göttliche Komödie, Hölle, Canto XXVII, V. 122, S. 148.


6.2 Vom Roman zur Musik 223

wird hier – darauf weist auch Kinzel hin – „befristete Zeit und ein gesetztes
Ende“139 angeboten. Das Ende wird bei Manzoni im Gegensatz zum Roman
sofort erwähnt: „ventiquattr’anni“, also vierundzwanzig Jahre. Diese Zeit ist eben-
falls zweideutig, denn die Disziplinierung der Frist – so Kinzel – ermögliche die
Produktion. Die Zeit ist daher Ausdruck der Enge und Breite zugleich und erfülle
eine doppelte Funktion als „Medium der Produktion“140 einerseits und „als Maß
des Tauschs“141 andererseits. Dieses Konzept findet sich in den Worten des ers-
ten Teufels wieder, der im Roman feststellt: „und […] so eine Zeit [ist] auch eine
Ewigkeit“ (DF: 363), sprich: begrenzte Zeit erlaube unbegrenzte Produktion.
In den Paratexten der Oper wird der Teufel nicht einmal als solcher bezeich-
net: Auch im fiktiven Dialog des Romans werden die Äußerungen des Teufels
durch die Angabe „Er:“ (z. B. DF: 361; Herv. i. O.) angekündigt. Im Medium
der Oper wird der dialogische Charakter des Textes verstärkt, der kraft dessen für
einen Entwurf einer vokalen Komposition Leverkühns gehalten werden könnte.
Bei Manzoni wird zudem jedes Mal spezifiziert, um welche Gestalt des Teu-
fels es sich handelt (Lui I, Lui II und Lui III): Die Oper zielt auf eine größere
Präzision und Klarheit in einigen Details der histoire ab, was auch durch die
unmittelbar explizit genannte Frist (24 Jahre) zum Ausdruck kommt und dar-
über hinaus durch die Auslassung von Zeitbloms ständigen Digressionen möglich
ist.142 Die präzisen Angaben zur jeweils singenden Gestalt des Teufels, dem auch
jeweils eine unterschiedliche Stimmlage gegeben wird (Bass, tenore leggero und
Sopran), erweckt wie in der Abschiedsrede den Eindruck einer Persönlichkeitss-
paltung, die in Manzonis Oper mit der Präzision eines Arztberichts erfasst wird.
Adrian befindet sich aber noch in diesem Schwebezustand zwischen Wahnsinn
und Rationalität und begreift nicht, dass die Stimmen bzw. Projektionen aus ihm
selbst kommen: Deswegen werden sie in der Oper als ,Lui‘ bezeichnet und nicht
etwa als ,Io‘, ,Ich‘ oder ,Adrian‘, was auch dafür sprechen könnte, dass es sich
doch nicht um eine Form von Persönlichkeitsspaltung handelt, denn Manzoni
hätte sie auch als Adrian I, II und III bezeichnen können. Bei der Urauffüh-
rung wird Leverkühns Entfremdung und infolgedessen die Deutungsebene des
Deliriums noch deutlicher als in der Partitur betont, indem Adrian nie auf Lui
schaut.

139 Kinzel: Zweideutigkeit als System, S. 113.


140 Ebd.
141 Ebd.
142 Das betrifft selbstverständlich nicht etwa Raumangaben, die bei Manzoni extrem vage
bleiben.
224 6 Der Teufel

Das Wort „patto“, „Pakt“, das die Deutungsebene des Faust-Romans sowie das
zeitgebundene Motiv der Endlichkeit erneut in den Mittelpunkt rückt, wird durch
ein Crescendo, die Forte-Dynamik und eine darauf folgende Fermate besonders
hervorgehoben (Abbildung 6.2):

Abbildung 6.2 „Der Pakt“. M-DF: 67, T. 541 f.

Dank der Verwendung der italienischen Sprache bewirkt Manzonis Oper


anders als der Roman eine noch explizitere Anspielung auf Dantes Commedia:
„Ma intanto si scende in basso, fra nausee e dolori“ (M-DF: 69, T. 550 ff.).143 Im
Roman liest man:

Und entsprechend tief, ehrenvoll tief, geht’s zwischendurch denn auch hinab, – nicht
nur in Leere und Öde und unvermögende Traurigkeit, sondern auch in Schmerzen
und Übelkeiten. (DF: 337)

Die Verwandlung von Lui I in Lui II ist, auch im Fall der nächsten Verwandlung
in Lui III, von erregter Orchestermusik gekennzeichnet. Wenn Lui II singt, über-
nimmt das Orchester im Allgemeinen eine deutlichere kommentierende Funktion
im Vergleich zum Part von Lui I: Besonders dramatisch wirkt die orchestrale
Begleitung bei der Erklärung der Krankheit Adrians durch Lui II (M-DF: 74–
77). Dies kann einerseits daran liegen, dass das Gespräch mehr ins Detail geht,
da Leverkühns Art von Krankheit und seine musikalische Inspiration thematisiert
werden. Andererseits könnte es auch sein, dass der zweite Teufel mit dem „Mu-
sikintelligenzler“ (DF: 327) korrespondiert. Dementsprechend wird ihm auch eine

143 InPocars Übersetzung ist die Konnotation nicht zu finden. Vgl. Mann: Doctor Faustus,
S. 267. In Dantes Inferno sind die Wörter „dolore“, „basso“ und „scendere“ mehrmals
wiederholt. Siehe z. B. „PER ME SI VA NELLA CITTÀ DOLENTE PER ME SI VA
NELL’ETTERNO DOLORE“, „DURCH MICH GEHT’S EIN ZUR STADT DES JAM-
MERS, DURCH MICH GEHT’S EIN ZUR ENDLOSEN QUAL“; „Mentre ch’i’ ruvinava
in basso loco“, „Während ich so hinuntertaumelte“; „Così scendemmo nella quarta lac-
ca“, „Darüber kletterten wir nun in die vierte Aussparung“. Alighieri, D.: La commedia.
Inferno, Canto III V. 1 f. S. 42 f., Canto I V. 61 f. S. 16 f.; Canto VII V. 16 f. S. 104 f.
6.2 Vom Roman zur Musik 225

besondere Stimme, die des tenore leggero, gegeben und der musikalische Verlauf
erweist sich, wenn er mit dem von Lui I verglichen wird, als deutlich virtuoser
(Abbildung 6.3):

Abbildung 6.3 Virtuoser Verlauf von Lui II. M-DF: 77, T. 594 ff.

Wenn Lui II „Dovrà ben il diavolo intendersi di musica“144 singt, lautet die
Anweisung „liberamente“, „frei“, als ob er sein musikalisches Talent durch eine
Art kleiner Improvisation beweisen wollte (Abbildung 6.4):

Abbildung 6.4 Lui II als Musikintelligenzler. M-DF: 80, T. 627 f.

Der zweite Lui spielt mit der Musik; darüber hinaus wäre der Stimmtypus des
tenore leggero145 für eine Oper mit tragischer Handlung, besonders im Teatro
alla Scala, ungeeignet:146 Manzonis Oper zeigt hier ihr komisches Potenzial und
spielt mit der Oper selbst, und zwar speziell mit der italienischen, in einem der
wahrscheinlich renommiertesten Opernhäuser der Welt.147
Noch merkwürdiger könnte auf den ersten Blick die Wahl einer Sopranstimme
für Lui III erscheinen: Warum wurde diese Teufelin nicht als ,Lei I‘ bezeichnet?
Die weibliche Darstellung des Bösen unter einem männlichen Namen führt in
der Oper zu einer Zweideutigkeit, welche die Kategorie des Geschlechts betrifft.
Auch scheint sich hier ein gender trouble zu profilieren, der die traditionellen

144 Vgl. DF: 353: „Es sollte der Teufel wohl was von Musik verstehen“.
145 Im älteren Italienischen auch mit der Schreibweise tenore leggiero bekannt.
146 Siehe Seedorf, Thomas: Art. Stimmengattungen, Stimmtypen und Rollenfächer. In:

MGG Online. Zuerst veröffentlicht 1998, online veröffentlicht 2016. < https://www.mgg-
online.com/mgg/stable/11182 > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
147 Vgl. auch Noller: „Sono cose lontane“, S. 42. Dies passiert auch in der Fitelberg-

Episode: vgl. 10.2.1.


226 6 Der Teufel

Geschlechterklassifikationen (selbst die grammatikalischen) in Frage stellt und


subvertiert.148 Solche gender troubles kennt allerdings die italienische Oper seit
jeher, da in ihrem Rahmen Kastraten und die Interpretation männlicher Rollen
durch weibliche Sängerinnen nicht unüblich sind: Manzonis Oper erweist sich
als sekundäres intermediales Produkt, das sich der italienischen Sprache statt
der deutschen bedient und auf die musikalische Tradition Italiens zurückgreift.
Der Vagheit in den Raumangaben – es mag beispielsweise erstaunen, dass aus-
gerechnet Manzonis Oper nicht Palestrina als Ort im Nebentext angibt – wird
eine größere Präzision in der musikalischen Faktur entgegengestellt, die sich dem
musikalischen Raum der italienischen Oper zuordnet und somit indirekt auf den
Raum der Vorlage, Palestrina, verweist.
Zentrale Stellung nehmen die Worte von Lui III ein, da sie vom Orchester nicht
begleitet werden und folglich die Aufmerksamkeit der Zuhörer*innen auf sich len-
ken: „[Q]uesti estremi devono piacerti“ (M-DF: 88, T. 673), „Das Extreme daran
muß dir gefallen“.149 Damit hebt Lui hervor, dass der fehlende Mittelweg ein
Merkmal der Persönlichkeit Adrians schon vor dem Teufelspakt und -gespräch
war. Er kann von Beginn der Romanhandlung an für eine exzentrische Figur
gehalten werden, auch ohne die Hilfe des Teufels. Dementsprechend betont der
Teufel im Roman, dass die Hölle für Leverkühn „nichts wahrhaft Neues, […] im
Grunde nur eine Fortsetzung des extravaganten Daseins“ (DF: 360) sein wird.
Ab Takt 676 singt nochmals Lui I; im Takt 704 werden die Worte „a te non è
lecito amare“ (M-DF: 94, T. 704), „Du darfst nicht lieben“,150 wesentlich betont.
Für Manzoni handelt es sich in Doktor Faustus um eine doppelte Strafe: Lever-
kühn muss nicht nur seine Seele dem Teufel geben, sondern darf auch keinen
Menschen lieben.151 Der Komponist scheint also der Deutungsperspektive zuzu-
stimmen, die Leverkühn als Opfer sieht. Er sei verpflichtet, die Bedingungen eines
ungewollten Teufelspaktes zu akzeptieren; zugleich – wie im vorigen Kapitel
angesprochen152 – hebt Manzoni mehrfach in seinen Selbstkommentaren hervor,
dass durch den Teufelspakt Leverkühns Komponieren enorm an Kreativität und

148 Siehe Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New
York/London: Routledge 2007 [1990]. Die Beobachtung ist auch legitim, dass wiederum
eine weibliche Stimme unter einem männlichen Namen erscheint, was zu einer gewis-
sen Namenlosigkeit des Weiblichen führt. Die Rolle, in die aber die weibliche Sängerin
schlüpft, ist die des Inbegriffs des Bösen.
149 Vgl. DF: 360.
150 Vgl. DF: 363.
151 Manzoni: Il duplice volto, ebd.
152 Vgl. 5.2.1.1.
6.2 Vom Roman zur Musik 227

Innovationspotenzial gewinnt: Die Bedingungen des Teufelspakts selbst kristal-


lisieren sich in Manzonis Schriften als zweideutig heraus, da sie Selbstopferung
aber auch Belohnung implizieren.
Während Adrian, Ungläubigkeit ausdrückend, „Non amare!“ (M-DF: 94, T.
705), „Nicht lieben!“,153 im Forte und dramatisch singt, betritt Serenus Zeitblom
die Bühne, der dank seiner Viola d’amore und seiner Zuneigung für Leverkühn
mit dem Liebesmotiv assoziiert ist und die Szene still beobachtet. Es scheint
jedoch, dass Adrian seine Präsenz nicht wahrnimmt. Am Ende des Bildes betre-
ten auch andere Figuren die Bühne: Sind sie andere Teufel? Symbolisieren sie
die Verwirrung im Kopf Adrians, da nun die drei Lui-Projektionen bzw. Figu-
ren begonnen haben, gleichzeitig zu singen? Man gewinnt den Eindruck, sich in
Adrians Unterbewusstsein zu befinden, in dem das Chaos des Wahnsinns herrscht.
Die Lui singen nun zu zweit, dann singt nur ein Lui solo, danach alle drei
zusammen; ihre Worte können kaum verstanden werden, da ihnen verschiedene
Textstellen aus dem Teufelsgespräch des Romans anvertraut sind.154 Vielleicht
hängt die Wahl der gleichzeitigen Präsenz der drei Teufel davon ab, dass viele
Sätze die erste Person Plural verwenden, etwa „Freddo ti vogliamo“ (M-DF: 103,
T. 738 f.), „Kalt wollen wir dich“.155
Dieses Chaos führt zu einem schallenden Gelächter, das die Illusion durch-
bricht und nach dem die Teufel verschwinden und Adrian ohnmächtig wird. In
Doktor Faustus sieht Leverkühn danach Rüdiger Schildknapp, der auf dem Sofa
sitzt: Dieser Teil fehlt bei Manzoni, da Schildknapp wie auch Schwerdtfeger bei
der Auswahl der Figuren ausgelassen wurde.156 Während und nach dem Bewusst-
seinsverlust Adrians hört man einen off-stage singenden Chor, der einige als
semantisches Feld der Hölle und der Verdammnis klassifizierbare Wörter singt
(„inferno, carcer, exitium, pernicies, condemnatio“, M-DF: 104 f., T. 743–747)
und daher die Deutungsperspektive des Faust-Romans wieder in den Vordergrund
rückt. Dieser Chor setzt sich aus männlichen Stimmen (Bariton und Bass) zusam-
men und soll laut der Partituranweisung mit einem leicht metallischen Klang
verstärkt werden:157 Der Teufel firmiert bei Manzoni vor allem unter männlichem
Namen. Diese geschlechtliche Markierung überwindet nur die Inszenierung, die

153 Vgl. DF: 363.


154 Vgl. M-DF: 97–104.
155 Vgl. DF: 364.
156 Vgl. DF: 365 u. 5.2.1.1.
157 Sorg betont außerdem, dass die Klangexperimente Instrument/Geräusch mit denjenigen

Bildern verbunden sind, „in denen entweder der Teufel selbst oder seine Abgesandten
vorkommen, oder es um die Verletzung des Liebesverbotes geht, das ebenfalls auf den
Teufel hinweist“. Sorg: Beziehungszauber, S. 198.
228 6 Der Teufel

kein genderneutrales Kostüm für die weiblichen Teufelinnen vorsieht und zugleich
der Tatsache Rechnung trägt, dass in Doktor Faustus die Kleidung des Teufels
eine wichtige Rolle spielt, da sie detailliert wiedergegeben wird (Abbildung 6.5):

Abbildung 6.5 Die Skizze Versaces für eine Teufelin. Programmheft Teatro alla Scala,
S. 57 Mit freundlicher Genehmigung der Fondazione Teatro alla Scala, Mailand

Die diesbezüglichen Entscheidungen werden folgendermaßen erläutert: „I dia-


voli con la coda non mi piacciono, i diavoli vestiti da diavoli non mi interessano,
perché il diavolo è dentro di noi“.158 Bei der Uraufführung wird also die interpre-
tatorische Entscheidung getroffen, Teufelsgestalten zu zeigen, die wie Menschen

158 „Teufelsfiguren mit dem Schwanz gefallen mir nicht; Teufelsfiguren, die wie Teufel
angezogen sind, interessieren mich nicht, weil der Teufel in uns ist“. Programmheft Teatro
alla Scala: S. 57. Dieses Zitat ist wahrscheinlich von Gianni Versace, da auf diesen Seiten
des Programmhefts Skizzen von ihm für die Kostüme abgebildet sind, dennoch findet man
keine Information darüber, wer diese Texte verfasst hat. Siehe ebd., S. 56 f.
6.3 Fazit 229

aussehen, auf die Adrian jedoch niemals schaut: Einerseits wird die „Normali-
tät“ des Teufels hervorgehoben, andererseits das Spannungsverhältnis zwischen
der Deutungsperspektive des Faust-Romans und der des Nicht-Faust-Romans ein
wenig ins Schwanken gebracht, indem der Aspekt des Deliriums mit verschiede-
nen Mitteln der Oper realisiert wird.159 Wer also in Manzonis Oper eine deutliche
Antwort auf die Kontroverse um den Teufel im Roman sucht, mag – besonders in
Anbetracht der Partitur – enttäuscht sein, da dort viele kontroverse und interpre-
tatorisch ambivalente Aspekte kaum an Klarheit gewinnen und lediglich in das
plurimediale Medium der Oper transferiert und mit seinen Mitteln wiedergegeben
werden. Es sind weitere Aspekte, die bei Manzoni verstärkt werden und die das
Medium Oper durch die nötige Reduktion des Ursprungstextes besonders hervor-
hebt: Zu diesen zählen die Bezüge auf Shakespeare und der musikalische Raum
Italiens. Diesen letzten Punkt betreffend, wird jedoch in der Oper auf Palestrinas
geistige Musik verzichtet und die Entscheidung getroffen, ganz im Bereich der
profanen Musik, auch in dem der opera buffa, zu bleiben, was den parodistischen
Charakter der Vorlage verstärkt.

6.3 Fazit

Im vorliegenden Kapitel wurden insbesondere die Zweideutigkeiten, also die


produktiven Ambiguitäten, die zutage treten, wenn man sich mit der Teufels-
problematik in Doktor Faustus aus verschiedenen Blickwinkeln, etwa durch eine
textimmanente Analyse oder ein Resümee bestehender Forschungspositionen,
befasst, in den Blick genommen. Manzonis Werk behält diese Ambiguitäten, die
im Medium der Oper zusätzlich auch durch Ambiguitäten, die die Kategorie des
Geschlechts betreffen, ergänzt werden. Aus intermedialer Sicht ist anzumerken,
dass ein Teil der kompositorischen Rezeptionsgeschichte von Doktor Faustus dar-
auf aufmerksam macht, dass Zweideutigkeit bei der Darstellung der faustischen
Elemente des Romans so wichtig ist, dass sie auch im neuen Medium beibehalten
werden muss. Die Oper ist in der Lage, Ambiguität auf die Bühne zu bringen,
indem sie mit Stimmtypen aber auch mit typischen nationalbedingten Traditionen
und Anspielungen spielt. Für den Zweck einer Analyse sowohl des Romans als
auch der intermedialen Transpositionen gilt es demnach diese Zweideutigkeiten
aufrechtzuerhalten, ohne sie auflösen zu wollen.

159 Sorgbetont außerdem, dass andere Opernfiguren die gleiche Stimme wie Lui besitzen.
Vgl. Sorg: Beziehungszauber, S. 185.
230 6 Der Teufel

Die Betrachtung der Teufelsproblematik ist mit diesem Kapitel keineswegs


beendet: Alle Werke der vorliegenden Studie konfrontieren sich mit dieser zen-
tralen Deutungsfrage, auch wenn sie die Mikroform des Teufelsgesprächs doch
nicht in das neue Medium transferieren. Daher werden die im ersten Teil des vor-
liegenden Kapitels dargelegten Positionen aus der Forschungsliteratur, die sich
primär mit der Frage nach der Präsenz eines Teufels und folglich mit der Einord-
nung des Romans auseinandersetzten, die Analyse in den nächsten Kapiteln weiter
begleiten. Die dort geschilderten Auffassungen, z. B. bezüglich der Selbstop-
ferung Leverkühns oder der Infragestellung der Definition des Faust-Romans,
scheinen sich nämlich in vielen Kompositionen niederzuschlagen und verbinden
so die wissenschaftliche mit der kompositorischen Rezeption von Thomas Manns
Werk.

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Zeitblom und die Viola d’amore
7

Die Viola d’amore ist, so soll in diesem Kapitel aufgezeigt werden, viel mehr
als eine bloße intermediale Systemerwähnung. Das Streichinstrument zeichnet
sich durch die Präsenz von Spiel- und Resonanzsaiten aus, die beim Vorspielen
mitschwingen. Klanglich ähnelt es sowohl einer Bratsche als auch einer Geige:
Demnach verwundert es nicht, dass die deutsche Bezeichnung, die jedoch selten
verwendet wird „Liebesgeige“ lautet. Der erste Abschnitt des vorliegenden Kapi-
tels informiert über das Instrument und dessen Relevanz für die Familie Mann.
Im zweiten Abschnitt steht Zeitbloms Unzuverlässigkeit, die sich mit der Technik
der Scordatura beim Spielen der Liebesgeige vergleichen lässt, im Vordergrund.
Zeitblom manipuliert Leverkühns Biographie: Anhand verschiedener Modelle und
Textindizien wird im Folgenden seine Unzuverlässigkeit auf den Prüfstand und
anschließend unter Beweis gestellt. Der dritte Abschnitt befasst sich mit zwei
Stücken aus Fines Four pieces from Doktor Faustus (2010) für Viola d’amore
und Klavier. Auch dort wird – etwa mittels ausgeschriebener Verzierungen in
der Stimme der Liebesgeige – die Manipulation von histoire und discours von-
seiten der Erzählinstanz im Medium der Instrumentalmusik betont. Auf Hagens
Werk To Zeitblom (2011) für Hardangerfiedel und Orchester konzentriert sich der
vierte Abschnitt des vorliegenden Kapitels. Die Komposition profiliert sich als
mehrdimensionale Reflexion über einige Thematiken, die auch in Doktor Faustus
vorhanden sind, etwa nationale Identität, Erinnerung und subjektives, unzuverläs-
siges Erzählen. Darüber hinaus sieht die Partitur Autorinszenierung vor, was zu
medial und konzeptuell bedingten Ähnlichkeiten und Differenzen zur Autorinsze-
nierung in Thomas Manns Entstehung des „Doktor Faustus“ führt. Der letzte
Abschnitt widmet sich der Zeitblom-Figur in Manzonis Oper: Auch dort kann er
mit einer Erzählinstanz, jedoch eher mit einer extern fokalisierten, verglichen wer-
den. Lediglich hier lässt sich die Frage aufwerfen, ob Zeitbloms Unzuverlässigkeit
durch das Medium der Oper und Manzonis spezifische Adaption überwunden

© Der/die Autor(en) 2021 231


A. M. Olivari, Doktor Faustus (ver-)stimmen,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62635-1_7
232 7 Zeitblom und die Viola d’amore

wird. Das vorliegende Kapitel konzentriert sich den vorigen Darlegungen entspre-
chend vor allem auf die Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz, die durch den Rekurs
auf die Viola d’amore (oder auf die Hardangerfiedel bei Lars Petter Hagen) im
Roman und in den Kompositionen verstärkt wird.

7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus

Viele Beiträge über Thomas Manns Doktor Faustus haben die Figur Zeitblom
ausführlich untersucht, nur wenige haben hingegen ihr Augenmerk auf das Instru-
ment gerichtet, das er spielt.1 Der Aufsatz von Ford B. Parkes-Perrett stellt zwar
einen ersten Versuch in dieser Richtung dar, lässt aber Raum für weitere Vertie-
fungen des Themas.2 Die Funktion der Viola d’amore im Text lässt sich nicht
nur auf das Liebesmotiv beschränken, sondern übt, intermedial betrachtet, einen
verstärkenden Effekt von narrativen Strategien aus.
Die Wahl der Viola d’amore für die Erzählinstanz Zeitblom ist kein zufälliges
Textelement, was sich sowohl anhand biographischer Daten über den Autor und
seinen Sohn als auch durch textuelle Indizien bestätigen lässt.3 Bezüglich die-
ses letzten Aspekts gilt es auf einer Abstraktionsebene, die mediale Differenzen
beachtet, Textpassagen und narratologische Strategien mit den Eigenschaften der
Viola d’amore und des Viola d’amore-Spielens zu vergleichen. Ein erstes Beispiel
bietet die folgende Präsentation des Erzählers auf den ersten Seiten des Romans
mittels Anwendung vieler loci a persona:

Ich bin eine durchaus gemäßigte und, ich darf wohl sagen, gesunde, human tem-
perierte, auf das Harmonische und Vernünftige gerichtete Natur, ein Gelehrter und
conjuratus des „Lateinischen Heeres“, nicht ohne Beziehung zu den Schönen Küns-
ten (ich spiele die Viola d’amore), aber ein Musensohn im akademischen Sinne des
Wortes, welcher sich gern als Nachfahre der deutschen Humanisten aus der Zeit
der „Briefe der Dunkelmänner“, eines Reuchlin, Crotus von Dornheim, Mutianus
und Eoban Hesse betrachtet. (DF: 12; Herv. A. O.)

1 Unter den aktuellen Beiträgen zum Erzähler von Doktor Faustus sei hier auf die folgenden
verwiesen: Baier, Christian: Die „Vita Adriani“ des Dr. Serenus Zeitblom: Hagiographische
Elemente in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“. In: Thomas-Mann-Jahrbuch 25
(2012), S. 75–98; Joy, Stephen: Melancholy Echo and the Case of Serenus Zeitblom. In:
Cosgrove, Mary u. Anna Richards (Hrsg.): Sadness and Melancholy in German-Language
Literature and Culture. Rochester/NY: Camden House 2012, S. 135–150.
2 Siehe Parkes-Perrett, Ford B.: Thomas Mann’s Silvery Voice of Self-Parody in Doktor

Faustus. In: The Germanic Review 64 (1989) H. 1, S. 20–30.


3 Vgl. auch ebd., S. 20.
7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus 233

Zeitblom ordnet hier seine Kenntnisse hauptsächlich dem Trivium der Sieben
Freien Künste zu. Jedoch ist ihm die „dämonische Sphäre“ (Ent: 82) der Musik,
also eine Disziplin des Quadriviums, nicht fremd. Gleich am Anfang des Romans
erweist sich seine Rhetorik als nicht frei von Widersprüchen, denn trotz seiner
„auf das Harmonische und Vernünftige gerichtete[n] Natur“ (DF: 12) beschäf-
tigt er sich gerne mit Musik, der er zugleich durch den ganzen Roman hindurch
Dämonisches zuschreibt. Außerdem fühlt er sofort das Bedürfnis, in Klammern
zu spezifizieren, welches Instrument er spielt. Ob er wirklich behaupten darf,
eine „gesunde, human temperierte4 […] Natur“ (DF: 12) zu sein, gewinnt im
Laufe der Narration an Fragwürdigkeit, da er der Leser*innenschaft eine verzerrte,
kaum wertungsfreie Darstellung der Ereignisse liefert. Die in diesem Kapitel kon-
statierte Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz führt zur These, dass ihre Berichte
jederzeit in Frage gestellt werden dürfen und können.5
Durch das gespielte Instrument offenbart sich das „Geheimnis der Identi-
tät“ (DF: 549) Zeitbloms, der „alles andere als Serenus“6 ist. Im Folgenden
soll zunächst einmal die Viola d’amore vorgestellt werden, da es sich um ein
Instrument handelt, das man heutzutage sehr selten in Konzertsälen hört. Das
Vorwissen über Eigenschaften der Liebesgeige ist zudem fundamentale Voraus-
setzung für den Medienvergleich, der im zweiten Teil des vorliegenden Abschnitts
durchgeführt wird und narrative Strategien mit Aufführungspraktiken vergleicht.

7.1.1 Die Viola d’amore und ihre Bedeutung für die Familie
Mann

Dieser Unterabschnitt verfolgt nicht das Ziel eines hermeneutischen Biographis-


mus, sondern das einer u. a. musikhistorischen Kontextualisierung des Instruments
samt Erwähnung biographischer Details über die Familie Mann. Diese wurden in

4 In diesem Fall verzichtet Zeitblom durch die Verwendung des Adjektivs „temperiert“
nicht auf einen intermedialen Bezug, der sich sowohl als ,Einzelreferenz‘ auf J. S. Bachs
Das Wohltemperierte Klavier als auch als ,Systemreferenz‘ auf die temperierte Stimmung
einstufen lässt. Der intermediale Bezug rückt die musikalische Stimmung in den Vorder-
grund. Zu den hier verwendeten Begriffen aus der Intermedialitätsforschung siehe etwa
Rajewsky: Intermedialität, S. 72 f.
5 Zur Unzuverlässigkeit Zeitbloms vgl. auch Petersen, Jürgen H.: Faustus lesen. Eine Streit-

schrift über Thomas Manns späten Roman. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007,
S. 47–63.
6 Steinby, Liisa: Kultur als Differenzierung: Die Funktion der Klöpfgeißel-Geschichte in

Thomas Manns Doktor Faustus. In: Interlitteraria 14 (2009) H. 2, S. 273–289, hier: S. 276.
234 7 Zeitblom und die Viola d’amore

der Forschungsliteratur kaum berücksichtigt und dienen als Hintergrundinforma-


tionen für die darauf folgende Analyse, die sonst hauptsächlich auf textuellen
Indizien basiert.
Die ersten spontanen Fragen, welche durch die Erwähnung des Instruments
im Roman aufgeworfen werden, könnten die folgenden sein: Warum die Viola
d’amore und nicht etwa die Violine oder die Flöte? Wieso kennt Thomas Mann
das Repertoire der Liebesgeige?7 In der Familie gab es einen Spieler der Viola
d’amore, und zwar Michael Mann, den jüngsten Sohn von Katia und Thomas. Das
Instrument Michael Manns, eine im Jahr 1772 von Eberle gebaute Liebesgeige,
besitzt jetzt Rachel Scott, ebenfalls Spielerin des Instruments. Sie berichtet, sie
habe das Instrument von einem Kollegen Michael Manns gekauft, der auch in der
Pittsburgh Symphony spielte und der im Instrumentenkasten zusammen mit ande-
ren Partituren auch Zeitbloms Repertoire gefunden habe, etwa Milandre, Ariosti
und Haydn.8
Die Hypothese, Thomas Mann wäre in der Darstellung des Instruments
und seines Repertoires im Roman vom Sohn unterstützt worden, wird auch in
den Tagebüchern bestätigt: „Geschrieben an […] Bibi9 wegen Viola d’Amore-
Literatur“.10 Michael fungiert während der gesamten Zeit, in der sein Vater den
Roman schreibt, als Berater: „Bibi angetan von der Aktualität des Musikali-
schen“,11 schreibt beispielsweise der Autor nach einer Vorlesung von Doktor
Faustus. Auch ein Blick in die Literatur für die Viola d’amore des Sohnes bestä-
tigt sein Interesse für zeitgenössische Kompositionen, worin er sich vom Vater

7 Diese Fragen stellt sich auch der Viola d’amore-Spieler David Troutman nach der Lektüre
von Doktor Faustus. Zitiert in Scott, Rachel: Thomas Mann. The Viola d’Amore in Thomas
Mann’s novel Doctor Faustus, a literary connection for my 1772 Eberle viola d’amore.
In: Viola d’amore. Music & Instruments. < https://violadamore.com/index.php/dr-faustus.
html > (letzter Zugriff: 21.08.2020). Der Newsletter 1993 der International Viola d’Amore
Society enthielt den originalen Text Troutmans („The Viola d’amore in Doctor Faus-
tus“), den die Verfasserin dank des Präsidenten derselben Gesellschaft, Hans Lauerer, lesen
durfte. Die International Viola d’Amore Society hat sich intensiv auf diversen Kongressen
mit dem Thema beschäftigt: 2014 wurden z. B. die im Roman erwähnten Kompositionen
für das Instrument auf einem Kongress in Ungarn von Carlos Maria Solare vorgespielt
und erläutert. Hier sei auf die Webseite „Viola d’amore society“ verwiesen: < https://violad
amoresociety.org/ > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
8 Ebd.
9 Bibi war der Spitzname Michaels.
10 TB2: 17.05.1945, S. 206.
11 TB2: 21.07.1944, S. 79.
7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus 235

zu unterscheiden scheint: In der Liste Scotts, die sich auf das im Geigenkasten
gefundene Repertoire bezieht, kommen auch Hindemith und Casadesus vor.12
Die Viola d’amore wird in einer der ersten Untersuchungen des 20. Jahr-
hunderts zum Instrument als eine „Abart der Alt-Viola da braccio mit 5 bis 7
Spielsaiten und ebenso vielen Resonanzsaiten“13 beschrieben. Zeitbloms Viola
hat sieben Saiten und stammt aus der Parochialstraße, also aus dem Instrumenten-
Magazin Kaisersascherns.14 Dieses Instrument – wie die italienische und die
deutsche Bezeichnung ausdrücken – trägt Züge sowohl der Geige als auch der
Bratsche. Klanglich betrachtet ist aber laut Koehler die Viola d’Amore eher mit
der Bratsche zu vergleichen.15 Außerdem meinte Leopold Mozart, der Klang der
Liebesgeige eigne sich für Abendkonzerte,16 und nicht zufällig spielt Zeitblom in
Münchener Abendkreisen gern vor:

Bei Roddes sowohl wie im Schlaginhaufen’schen Säulen-Salon hörte man gern


mein Viola d’amore-Spiel, das allerdings der gesellschaftliche Beitrag war, den ich,
der schlichte und in der Konversation niemals sehr vive Gelehrte und Schulmann,
vornehmlich zu bieten hatte. (DF: 401)17

Leopold Mozart war auch überzeugt, die Viola d’amore sei leider oft ver-
stimmt.18 Harry Danks, Spezialist im Bereich der Viola d’amore, weist diese
Behauptung jedoch zurück: Es sei möglich, obwohl äußerst kompliziert, das
Instrument zu stimmen, „and often a suggested tuning or scordatura is added
by the composer“.19

12 Vgl. Scott, Rachel: Michael Mann’s library. Michael Mann’s sheet music.

In: Viola d’amore. < https://violadamore.com/index.php/dr-faustus/michael-mann-s-sheet-


music.html > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
13 Koehler, Werner Eginhard: Beiträge zur Geschichte und Literatur der Viola d’amore.

Berlin: Funk 1938, S. 7. Danks betont, die Zahl der Saiten könne nicht festgestellt werden,
denn in den Museen Europas gibt es sehr unterschiedliche Instrumente. Danks, Harry: The
Viola d’Amore. In: Music & Letters 38 (1957) H. 1, S. 14–20, hier: S. 14.
14 Vgl. DF: 62 ff.
15 Vgl. Koehler: Beiträge, ebd.
16 Zitiert in Danks: The Viola d’Amore, S. 14.
17 Nochmals scheint die Erklärung Zeitbloms widersprüchlich: Am Anfang des Romans

bezeichnet er sich als deutschen Humanisten, dennoch bevorzugt er hier das Spielen vor
dem Reden.
18 Zitiert in Danks: ebd.
19 Ebd.
236 7 Zeitblom und die Viola d’amore

Eine wichtige Rolle spielen die Resonanzsaiten, die zum typischen Klang
beitragen:20

These strings are not touched by the bow but vibrate sympathetically when the
upper strings are played and give a resonance to the small but lovely and distinctive
tone-quality that is characteristic of the viola d’amore.

Zu den berühmtesten Meistern der Viola d’amore, etwa Gagliano, Stainer und
Tielke, zählt auch Eberle. Michael Mann, der eine von Eberle gebaute Liebesgeige
besaß, spielte daher ein sehr bedeutendes Instrument. Anfang des 20. Jahrhunderts
erfuhr die Liebesgeige ein echtes Revival – eine Folge der vielen Untersuchungen
dieser Zeit im Bereich der Musikinstrumente; die zahlreichen Studien von Curt
Sachs21 sowie die erwähnte Doktorarbeit Koehlers sind Beispiele dafür. Dieses
Revival spiegelte sich in den Werken vieler Komponist*innen wider, die entwe-
der ein Stück für das Instrument komponierten (z. B. Paul Hindemith) oder es
in orchestrale Werke einfügten (z. B. Richard Strauss).22 Auch die Besetzung
von Pfitzners Oper Palestrina enthält die Viola d’amore: All diese biographi-
schen und historischen Zusammenhänge scheinen in den Roman Doktor Faustus
eingeflossen zu sein.23

7.1.2 Zeitbloms Scordatura der Narration

Das Instrument, das Zeitblom spielt, verstärkt diverse Aspekte des discours
von Thomas Manns Doktor Faustus. Die Verstärkung des Liebesmotivs lässt
sich beispielsweise nicht übersehen. Dass Zeitblom Leverkühn liebt, sollte kein
Geheimnis sein: „[I]ch habe ihn geliebt“ (DF: 15), stellt er im ersten Kapitel des
Romans fest. „As the biography of Leverkuehn is a labor of love24 by Zeitblom,

20 Ebd.
21 Exemplarisch sei hier auf die folgende Publikation verwiesen: Curt, Sachs: Real-Lexikon

der Musikinstrumente zugleich ein Polyglossar für das gesamte Instrumentengebiet. Mit
200 Abbildungen. Berlin: Bard 1913.
22 Vgl. Danks: The Viola d’Amore, S. 19.
23 Siehe Parkes-Perrett: Silvery Voice, S. 29 (Fußnote 10).
24 Dass Zeitbloms Biographie für eine Liebesaufgabe gehalten werden kann, wird im

Folgenden in Frage gestellt.


7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus 237

is it not appropriate that he plays the instrument ,of love‘?“,25 fragt sich Trout-
man. Bezüglich homoerotischer Aspekte, welche die Figur Zeitblom betreffen,
liegen unterschiedliche Interpretationen vor. Parkes-Perrett findet viele Indizien
für Zeitbloms Liebe zu Leverkühn im Roman und interpretiert sogar seine Auf-
fassung der Musik als eine erotische: Wenn er Leverkühn beim Üben entdeckt,
halte der Erzähler dies für eine heimliche sexuelle Aktivität.26 Hingegen meint
Hans Hilgers, die Homoerotik werde bei der Charakterisierung Zeitbloms von
Thomas Mann ausgespart, nicht aber bei der Leverkühns.27 Allein das italienische
mit dem Musikinstrument verbundene Substantiv ,amore‘ scheint diese These in
Frage zu stellen, denn (nicht nur) im italienischen Sprachgebrauch lässt es sich
kaum mit ,Freundschaft‘ verwechseln. Eine latente Homoerotik ist fast im gan-
zen literarischen Schaffen Thomas Manns zu bemerken; u. a. auch in der Novelle
Der Tod in Venedig, deren Einfluss auf den Faustus auch vom Autor selbst aner-
kannt wird.28 Darüber hinaus bedarf der Erzähler ständig der Nähe zu seinem
geliebten Freund29 und oft gewinnt man sogar den Eindruck, dass er Leverkühn
überwacht. So rechtfertigt er beispielsweise seine Entscheidung, in Halle mit ihm
zu studieren:

[I]ch leugne natürlich nicht, daß der persönliche Grund seiner Anwesenheit stark,
ja entscheidend mitgespielt hatte bei meinem Entschluß. [...] Mein eigener Wunsch,
ihm nahe zu sein, zu sehen, wie er es trieb, welche Fortschritte er machte und wie
seine Gaben sich in der Luft akademischer Freiheit entfalteten; dieser Wunsch, in
täglichem Austausch mit ihm zu leben, ihn zu überwachen, von nahebei ein Auge
auf ihn zu haben – hätte wahrscheinlich von sich aus genügt, mich zu ihm zu
führen. (DF: 129f.; Herv. A. O.)30

25 Troutman: The Viola d’amore in Doctor Faustus, Newsletter 1993 der International

Viola d’amore Society. Zitiert auch in Scott: The Viola d’Amore in Thomas Mann’s novel
Doctor Faustus, ebd.
26 Siehe Parkes-Perrett: Silvery Voice, S. 22.
27 Vgl. Hilgers, Hans: Serenus Zeitblom. Der Erzähler als Romanfigur in Thomas Manns

Doktor Faustus. Frankfurt am Main (u. a.): Lang 1995, S. 36.


28 Vgl. Ent: 111. Zur Homosexualität bei Thomas Mann siehe etwa: Härle, Gerhard: Män-

nerweiblichkeit. Zur Homosexualität bei Klaus und Thomas Mann. Frankfurt am Main:
Athenäum 1988.
29 Vgl. dazu auch Hilgers: Serenus Zeitblom, S. 21–27; Metzler, Ilse: Dämonie und Huma-

nismus. Funktion und Bedeutung der Zeitblomgestalt in Thomas Manns „Doktor Faustus“.
Essen: Rohden 1960, S. 31.
30 Vgl. auch DF: 151: „Ich tat es aus vollkommen freien Stücken, nur aus dem unabweis-

lichen Wunsche, zu hören, was er hörte, zu wissen, was er aufnahm, kurz: auf ihn acht zu
haben […]“ (Herv. i. O.).
238 7 Zeitblom und die Viola d’amore

Die ,explizite Systemerwähnung‘ „ich spiele die Viola d’amore“ (DF: 12) in der
Selbstvorstellung des overt narrator 31 auf den ersten Seiten des Romans ver-
stärkt als „Intermedialitätssignal“32 auch die diegetischen Ebenen des Romans.
Einerseits ist im Roman die Ebene der extradiegetischen Narration zu finden, die
vergleichbar zum Resonieren einer Resonanzsaite der Viola d’amore vor allem
eine kommentierende und ergänzende Funktion erfüllt, in der Zeitblom als extra-
diegetischer Erzähler die Biographie seines Freundes niederschreibt und seine
Leser*innenschaft über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs informiert. Ande-
rerseits besteht Thomas Manns Roman auch aus der intradiegetischen Ebene
von Leverkühns Leben, die chronologisch vor der extradiegetischen zu situie-
ren ist und in der Zeitblom eine Figur der Diegese darstellt: Dieser Ebene lässt
sich aufgrund der Handlungsgewichtung keine rein kommentierende Funktion
zuschreiben, weswegen sie eher mit dem Streichen einer Spielsaite der Viola
d’amore in Verbindung zu bringen ist. Der Rekurs auf die Liebesgeige verschärft
gleichzeitig auch den Blick auf mediale Differenzen, welche die Kategorie der
Zeit betreffen. Die Gleichzeitigkeit des Streichens der Spiel- und Resonanzsaiten
in der musikalischen Aufführung ist in der Situation des Erzählens – bezüglich
der extra- und intradiegetischen Ebene – nicht gegeben.33 Der Rückgriff auf die
Viola d’amore verstärkt aber auch die Homodiegese selbst, also Zeitbloms dop-
pelte Funktion als Erzähler und Figur auf der intradiegetischen Ebene von Doktor
Faustus. In diesem Fall ist ein höherer Grad an Gleichzeitigkeit auch im Erzähltext
möglich, da die homodiegetische Erzählinstanz wiedergibt und erlebt.
Der intermediale Bezug auf die Viola d’amore verstärkt aufgrund der mögli-
chen Anwendung der Scordatura vor dem Spielen eine weitere narrative Strategie
des Romans, nämlich die des unzuverlässigen Erzählens. Wayne C. Booth,

31 Dazu siehe Chatman, Seymour: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and

Film. Ithaca/London: Cornell University Press 1978, S. 196–262.


32 Rajewsky: Intermedialität, S. 82.
33 Diese Gleichzeitigkeit verknüpft sich allerdings in der Musik nicht nur mit der Auf-

führung eines Stückes, sondern auch mit dem Lesen eines Stückes selbst – es sei denn,
es handelt sich um eine Komposition, die für ein ausschließlich monodisches Instrument
komponiert wurde. Im Fall von Werken für die Viola d’amore ist die Gleichzeitigkeit des
Spielens und Resonierens implizit im musikalischen Text durch die paratextuelle Angabe
„Viola d’amore“ im Untertitel der Komposition und/oder neben dem Notenliniensystem
und nicht etwa durch die Präsenz zweier Notenliniensysteme gegeben. Exemplarisch sei
hier auf die folgende Sonate von Huberty verwiesen: Huberty, Anton: Sonata for Viola
d’amore No. 1 in E major. In: IMSLP. < https://imslp.org/wiki/Sonata_for_Viola_d%27a
more_No.1_in_E_major_(Huberty%2C_Anton) > (letzter Zugriff: 21.08.2020). Bei dieser
Version der Sonate findet man außerdem eine Anweisung zur Stimmung des Instruments.
7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus 239

Diskursbegründer unzuverlässigen Erzählens, verwendet die Termini „mere reflec-


tor“34 und „flawed reflector“,35 um sich auf zuverlässige und unzuverlässige
Erzähler*innen zu beziehen. Diese optisch-physikalische Metaphorik wird in
Manns „Musiker-Roman“ (Ent: 25) durch eine musikalisch-akustische ersetzt, die
aber immerhin auf unzuverlässige Narration verweist. An den Details seiner Bio-
graphie zu zweifeln, scheint aus einigen Gründen durchaus angemessen: Bereits
die starke Liebe Zeitbloms zu Leverkühn und die daraus resultierende Eifersucht
auf weitere Bewerber*innen stellt die Objektivität seiner Berichte in Frage. Der
Erzähler selbst gibt zu: „Ich vermute, daß es mir nicht gelungen ist, dem Leser
eine gewisse Eifersucht auf das Verhältnis des Schlesiers [Schildknapp] zu Adrian
zu verbergen“ (DF: 321).36 Zeitblom selbst zweifelt an seinen Fähigkeiten als
Biographen: „[A] reflector whose own jealousy affects the action is no longer a
mere reflector“,37 konstatiert Booth.38 Auch in Publikationen jüngeren Datums
zum unzuverlässigen Erzählen, wie etwa in einem Aufsatz Vera Nünnings, ist zu
lesen:39

Since fictional homodiegetic unreliable narrators are often deeply emotional invol-
ved, obsessed or disturbed monologists, they can frequently be recognized by
features like exclamations, ellipses, rhetorical questions, any number of repetiti-
ons and the tempo of their narration. In trying to convince readers of the truth of
their story, they often appeal to the reader by direct address and explanation.

Alle drei Eigenschaften, die Vera Nünning in Bezug auf unzuverlässige, homo-
diegetische Erzähler*innen nennt, lassen sich auf Zeitblom übertragen. Aufgrund
seiner Gefühle zu Leverkühn ist er beispielsweise stark emotional beteiligt.
Zudem zeigt das auf S. 216 angeführte Zitat aus dem Roman über das Über-
wachungsbedürfnis des Erzählers, dass er von seinem Freund besessen ist. Nicht

34 Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction. Chicago/London: University of Chicago Press

1983 [1961], 2. Aufl., S. 341.


35 Ebd., S. 340 (im Original großgeschrieben im Titel des Abschnitts).
36 Vgl. auch Crawford: Exorcising the Devil, S. 169 ff.
37 Siehe Booth; The Rhetoric of Fiction, S. 341.
38 Zeitbloms „Zweifeln an der eigenen Erzählkompetenz“ ist ein wiederholtes Motiv in

Manns Doktor Faustus. Petersen: Der unzuverlässige Narrator, S. 174.


39 Nünning, Vera: Conceptualizing (Un)reliable Narration and (Un)trustworthiness. In:

Dies. (Hrsg.): Unreliable Narration and Trustworthiness. Intermedial and Interdisciplinary


Perspectives. Berlin: de Gruyter 2015, S. 1–28, hier: S. 10. Vera Nünnings Erläuterung
beruht u. a. auf der folgenden Publikation Ansgar Nünnings: Nünning, Ansgar: „But why
will you say that I am mad?“ On the Theory, History, and Signals of Unreliable Narration
in British Fiction. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 22 (1997) H. 1, S. 83–105.
240 7 Zeitblom und die Viola d’amore

zuletzt haben die in diesem Kapitel genannten Textindizien ergeben, dass Zeit-
blom als gestörter Monologist anzusehen ist, der im Laufe der Narration auf alle
von Vera Nünning aufgelisteten rhetorischen Mittel zurückgreift, nämlich Aus-
rufe, Ellipsen, rhetorische Fragen und Wiederholungen, und sich, wie im Zitat
über Schildknapp, direkt an seine Leser*innenschaft wendet, um sein Erzählen zu
rechtfertigen oder zusätzliche Erklärungen zu liefern.
Ein weiteres, relevantes Detail ist, dass Zeitbloms Liebe zu Leverkühn nicht
erwidert wird:

[I]ch habe ihn geliebt – mit Entsetzen und Zärtlichkeit, mit Erbarmen und hin-
gebender Bewunderung – und wenig dabei gefragt, ob er im mindesten mir das
Gefühl zurückgäbe.
Das hat er nicht getan, o nein. (DF: 15)

Die Narration scheint daher nicht nur von Eifersucht, sondern auch von einem
Rachebedürfnis des abgelehnten Erzählers diktiert zu sein.
Es stellt sich nun die Frage: Aus welchen Gründen schenkt man einer Erzählin-
stanz das eigene Vertrauen und einer anderen, wie Zeitblom, nicht? In Anlehnung
an Studien jeweils von Möllering sowie von Schweer und Thies listet Vera Nün-
ning einige Voraussetzungen auf, die erfüllt werden müssen, um einem Menschen
zu vertrauen:40

Reliability – ,engagement‘ (the expectation that speakers will act according to their
words and manifest intentions)
Sincerity – the belief that someone is giving a truthful account of his or her beliefs,
knowledge, feelings and motives
Competence – the belief in the ability of the speaker to do what he or she intends.

Diese Voraussetzung müssen laut Vera Nünning um folgende Aspekte ergänzt


werden, wenn unzuverlässige Erzähler*innen definiert werden: Konsistenz, Exper-
tise, Moral und Ethik.41 Versucht man, diese Aspekte auf die Erzählinstanz
Zeitblom zu übertragen, so scheint es schwer (wenn auch nicht unmöglich) ihn mit
dem Etikett des zuverlässigen Erzählers zu versehen. Diesbezüglich sei im Fol-
genden auf die einzelnen Punkte aus Vera Nünnings Liste sowie auf Textindizien
aus Manns Roman schrittweise eingegangen.

40 Nünning, V.: Conceptualizing (Un)reliable Narration, S. 7.


41 Vgl. ebd.
7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus 241

Leser*innen werden von Zeitblom schnell enttäuscht, wenn sie erwarten, dass
er nach seinen Worten und manifesten Absichten handelt. Gleich in den ersten
Kapiteln des Romans will er etwa seiner Leser*innenschaft von der dämonischen
Natur der Musik überzeugen, kann aber selbst nicht auf sie verzichten. Zudem
hilft sein Vater Leverkühns Vater, dem „Spekulierer und Sinnierer“ (DF: 31),
indem er ihm „Stoffe[] aus seinem Laboratorium“ (DF: 25) für seine Studien
besorgt. Darüber hinaus verurteilt er sehr streng Leverkühns Geschlechtsverkehr
mit der Prostituierten Esmeralda, leugnet aber zugleich nicht, selber eine rein
sexuelle Beziehung „zu einem Mädchen aus dem Volk“ (DF: 215) unterhalten zu
haben. Was Ehrlichkeit, also „sincerity“ angeht, so kann man zudem auf das vor-
her erwähnte Zitat über Schildknapp zurückgreifen, in dem der Erzähler bedauert,
kein ehrliches und objektives Bild der Ereignisse liefern zu können.42
Der Aspekt der Kompetenz lässt sich angesichts der Affinität der beiden Kon-
zepte zusammen mit dem der Expertise behandeln. Selbstverständlich ist Zeitblom
durch seine Bereitschaft, Leverkühns Biographie zu erzählen, vor eine große Her-
ausforderung gestellt. Nicht nur wird von ihm verlangt, über das Leben seines
geliebten Freundes, der ihn nicht liebte, zu berichten, sondern auch als Amateur-
Spieler komplexe Themen wie Dodekaphonie und Denaturierung des Klanges
zu beherrschen. Zeitblom löst dieses Problem durch alles andere als wertungs-
freie und objektive Schilderungen der Stücke Leverkühns und Stellungnahmen zu
musikalischen Themen. So beschreibt er seine Auffassung des Glissandos, indem
er zugleich die Grenzen seiner Musikrezeption signalisiert:

In ihr stehengeblieben, sozusagen als ein naturalistischer Atavismus, als ein


barbarisches Rudiment aus vormusikalischen Tagen, ist der Gleitklang, das
Glissando, – ein aus tief kulturellen Gründen mit größter Vorsicht zu behandeln-
des Mittel, dem ich immer eine anti-kulturelle, ja anti-humane Dämonie abzuhören
geneigt war [...]. (DF: 543)

Der emotionale und akustische Effekt eines Glissandos hängt sowohl vom persön-
lichen Empfinden als auch von vielen kompositorischen und musikhistorischen
Faktoren ab (Tonart, Stil, Epoche, usw.), sodass keine pauschale und allge-
meine Definition seiner Wirkung möglich erscheint. Außerdem könnte man sich
fragen, wo denn Zeitblom gelesen oder gehört habe, das Glissando sei „aus
tief kulturellen Gründen mit größter Vorsicht“ zu behandeln. Aus kulturwissen-
schaftlicher Perspektive könnte nun die Frage aufkommen, welche Aspekte zu

42 Zwar könnte man einwenden, Zeitblom sei hier eben ehrlich, weil er zugibt, auf Schild-

knapp eifersüchtig zu sein. Es ist aber sein Erzählen, dem er selbst aufgrund fehlender
Selbstbeherrschung keine Ehrlichkeit zuschreibt.
242 7 Zeitblom und die Viola d’amore

Zeitbloms Kulturauffassung gehören. Hier greift er zudem nochmals auf sein


Lieblingsthema zurück, die Musik als etwas Dämonisches. Er präsentiert kom-
plexe Sachverhalte so, „als sei jedermann mit ihm einer Meinung“,43 vereinfacht
anspruchsvolle musikalische Themen, um sie durch fragwürdige kulturelle und
politische Kategorien zu erläutern.
Die im obigen Zitat benutzten Wörter, etwa „Barbarei“, „anti-human[]“ und
„anti-kulturell[]“ bringen uns zur Analyse der Moral und Ethik des homodiegeti-
schen Erzählers von Doktor Faustus. Auch in diesem Fall kommt der Analyse ein
Rekurs auf die Viola d’amore zugute. Die Viola d’amore eignet sich für Zeitblom,
weil sie mit Konzepten wie Tradition, kulturellem Erbe und historischer Auffüh-
rungspraxis in Verbindung gebracht werden kann. Wäre es möglich gewesen, sich
den „Dr. phil. Serenus Zeitblom“ (DF: 16), der sich als „Nachfahre der deutschen
Humanisten“ (DF: 12) betrachtet, mit einer Geige aus dem 20. Jahrhundert in den
Händen vorzustellen? Wohl eher nicht. Auch die Barockvioline wäre zu populär
und banal gewesen und hätte Zeitblom nicht ausreichend charakterisieren kön-
nen. Unter diesem Gesichtspunkt ist Zeitblom nicht widersprüchlich, obwohl er
zugleich der Musik etwas Dämonisches zuschreibt, selber jedoch das Bedürfnis
empfindet, musizieren zu wollen.
Der Erzähler repräsentiert die Tradition bzw. er versucht, seiner
Leser*innenschaft davon zu überzeugen:

Ich bin ein altmodischer Mensch, stehen geblieben bei gewissen, mir lieben romanti-
schen Anschauungen, zu denen auch der pathetisierende Gegensatz von Künstlertum
und Bürgerlichkeit gehört. (DF: 42)44

Zeitblom könnte wohl für eine „Parodie des Stils und der Haltung des bürgerli-
chen Humanismus“45 gehalten werden, wie es Ilse Metzler in ihrer Dissertation
zum Ausdruck bringt. Petersen bezeichnet außerdem Zeitbloms Sprachstil als „be-
tulich[]“,46 indem er u. a. hervorhebt, dass der Erzähler noch den alten Dativ
verwendet, z. B.: „seine[] Begegnung mit Marien“ (DF: 610).47
Dieser Aspekt lässt sich auch aus einer anderen Perspektive betrachten. Wie
im ersten Abschnitt dieses Kapitels erläutert, ist der Anfang des 20. Jahrhunderts

43 Petersen: Der unzuverlässige Narrator, S. 172.


44 Vgl. auch Crawford: Exorcising the Devil, S. 168.
45 Metzler: Dämonie und Humanismus, S. 35.
46 Petersen: Der unzuverlässige Narrator, S. 171.
47 Die Bezeichnung „betulich“ lässt sich auch auf den Stil der fiktiven Schriften Leverkühns

übertragen, die aber nicht von ihm, sondern immerhin vom unzuverlässigen Erzähler hätten
geschrieben werden können. Vgl. Kap. 8.
7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus 243

von einem Revival alter Musikinstrumente geprägt. Schon im 19. Jahrhundert


waren Kompositionen aus der Vergangenheit wiederentdeckt worden, das Inter-
esse an der historischen Aufführungspraxis aber begann mit Zeitbloms Epoche.
Er ist also nicht so altmodisch, wie er vielleicht erscheinen will. Er und Lever-
kühn stehen sinnbildlich für ihre Epoche, die auf einer Seite von Modernität
und Experimentieren, auf der anderen von historischen Interessen und Tradition
gekennzeichnet war.48 Darf demnach der Spieler der Viola d’amore Leverkühns
Musik wegen ihrer „blutlosen Intellektualität“ (DF: 542) kritisieren? Auch seine
Liebesgeige ist kein Masseninstrument und wird von ihm selbst vor elitären
Abendsalons bzw. Studentenkreisen gespielt.49 Dieses Revival der Barockmusik
und -instrumente könnte genauer betrachtet als eine Art ,konservative Revolution‘
im musikalischen Bereich angesehen werden und auch Leverkühns Apocalipsis
cum figuris kombiniert „Rückschritt und Fortschritt, das Alte und Neue, Vergan-
genheit und Zukunft“ (DF: 540). Dieses musikalische Revival entspricht ebenfalls
dem Bedürfnis nach neuen Anlässen für die instrumentale Praxis. Es ist ebenfalls
zugleich alt und neu, denn eine alte Musik darf mit denselben Klängen und Eigen-
schaften von damals in neuen historischen Kontexten wiederaufleben. Zeitblom
und Leverkühn verkörpern also zwei Auswege aus der empfundenen Sterilität
der Kunst, „das weitere Verbleiben im Konventionellen“50 einerseits und die „re-
volutionäre Lösung“51 andererseits, die im heutigen Musikbetrieb immer noch
koexistieren.52
Die vorigen Ausführungen zeigen, dass sich die Beweise für Zeitbloms Inkon-
sistenz häufen; mit Recht meint Booth, „[t]he reader may sympathize or deplore,
but he never accepts the narrator as a reliable guide“.53 Die Analyse des Namens
des Erzählers gibt weitere, aufschlussreiche Anstöße. Hilgers weist darauf hin,

48 Ähnliche Tendenzen lassen sich allerdings auch in der literarischen Moderne wiederfin-

den. Siehe etwa: Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache – Ästhetik
– Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München: Beck 2004 u. Kap. 6.
49 Hilgers weist außerdem darauf hin, dass Zeitbloms humanistisches Ideal ebenfalls

elitärer Natur ist. Siehe Hilgers: Serenus Zeitblom, S. 132.


50 Ebd.
51 Ebd., S. 219.
52 Vgl. Kap. 5.
53 Booth: The Rhetoric of Fiction, S. 300; siehe auch Olson, Greta: Reconsidering Unre-

liability: Fallible and Untrustworthy Narrators. In: Narrative 11 (2003) H. 1, S. 93–109,


hier: S. 95. Die von Booth benutzten Verben („sympathize“ und „deplore“) bereiten den
Boden für eine spätere Studie Phelans zur „estranging“ und „bonding unreliability“, die
am Ende dieses Abschnitts aufgegriffen wird.
244 7 Zeitblom und die Viola d’amore

dass ,Zeitblom‘ von ,Zeitblume‘ kommt.54 ,Zeitblume‘ sei ein anderer Name
für die ‚Herbstzeitlose‘, eine hochgiftige Pflanze. Dass der Erzähler nicht frei
von Vergiftung ist, sollte nicht mehr überraschen.55 Jacques Darmaun liefert
der Doktor Faustus-Forschung eine andere, ebenfalls aufschlussreiche Interpre-
tation. ,Zeitblom‘ bedeute zwar ,Blume der Zeit‘, aber damit impliziere man
seine Verkörperung des Zeitgeistes.56 Der Erzähler ist tatsächlich unter vielen
Gesichtspunkten kein altmodischer Mensch, sondern ein „Kind seiner Zeit“,57
etwa bezüglich der Judenfrage.58 Seine Gefühle gegenüber den Juden „schwanken
[…] zwischen Hochachtung und Antipathie“.59 Zum einen sagt er:

Es mag mit an dieser Jugenderfahrung liegen, aber auch an der spürsinnigen Aufge-
schlossenheit jüdischer Kreise für das Schaffen Leverkühns, daß ich gerade in der
Judenfrage und ihrer Behandlung unserem Führer und seinen Paladinen niemals
voll habe zustimmen können, was nicht ohne Einfluß auf meine Resignation vom
Lehramte war. (DF: 17)

Zum anderen ergänzt er gleich danach:

Freilich haben auch Exemplare jenes Geblütes meinen Weg gekreuzt – ich brauche
nur an den Privatgelehrten Breisacher in München zu denken –, auf deren ver-
wirrend antipathisches Gepräge ich an gehörigem Ort einiges Licht zu werfen mir
vornehme. (DF: 17; Herv. A. O.)

Zeitbloms Rhetorik verzichtet nicht auf eine rassistische Konnotation wie „Exem-
plare jenes Geblütes“, die alles andere als Toleranz zeigt. Nicht nur hier kann
man den Einfluss der nationalsozialistischen Propaganda auf die Schreibweise
des Erzählers bemerken. Er spricht beispielsweise an anderer Stelle auch von der
„glorreichen Kultur des deutschen Kunstliedes“ (DF: 117) sowie von der „Inva-
sion unseres schönen Siziliens“ (DF: 255; Herv. A. O.): Das Adjektiv ,unser‘

54 Vgl. ebd., S. 11.


55 Zum Thema vgl. auch Durrani: The Tearful Teacher, S. 653 f.
56 Vgl. Darmaun, Jacques: Thomas Mann, Deutschland und die Juden. Tübingen: Niemeyer

2003, S. 228.
57 Hilgers: Serenus Zeitblom, S. 65.
58 Dazu siehe auch Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne, S. 74–84.
59 Darmaun: Thomas Mann, Deutschland und die Juden, ebd. (siehe auch S. 230–233).

Vgl. Kap. 10.


7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus 245

könnte darauf hinweisen, dass Zeitblom die Insel dem deutschen Reich zuordnet
oder sich auf die Allianz der faschistischen Länder bezieht.60
Die hier erwähnten Zitate aus dem Roman sind aber nicht ausschließlich auf
die Nazi-Propaganda, sondern auch auf ältere Diskurse und rhetorische Stil-
mittel zurückzuführen: um einige exemplarisch zu nennen, sei hier auf den
George-Kreis,61 auf Goethes Italienische Reise und auf den pluralis modestiae
der Gelehrten und der antiken Rhetorik verwiesen. Der Erzähler kann hauptsäch-
lich für einen sehr passiven inneren Emigranten gehalten werden.62 Er lehnt die
Sprachmanipulation des Dritten Reiches ab:

Ich liebe es nicht, wenn Einer Alles haben will, dem Gegner das Wort aus dem
Munde nimmt, es umdreht und Begriffsverwirrung damit treibt. Das geschieht heute
mit größter Kühnheit, und es ist die Hauptursache meiner Zurückgezogenheit. (DF:
150f.)63

Seine Stellungnahme gegenüber dem Zweiten Weltkrieg ist jedoch sehr vage:

Ich wage kaum, mich zu fragen, zu welcher dieser beiden Kategorien64 ich gehöre.
Vielleicht zu einer dritten, in der man die Niederlage zwar dauernd und klaren
Bewußtseins, aber auch eben unter dauernden Gewissensqualen ersehnt. (DF: 50)

60 Des Weiteren, wie u. a. von Jens Ewen hervorgehoben, spricht Zeitblom im ersten Zitat

auf dieser Seite von „unserem Führer“. Vgl. Ewen, Jens: Deutungsangebote durch Sym-
pathiepunkte. Zur Strategie der narrativen Unzuverlässigkeit in Thomas Manns Roman
Doktor Faustus. In: Hillebrandt, Claudia u. Elisabeth Kampmann (Hrsg.): Sympathie und
Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft. Berlin:
Schmidt 2014, S. 270–283, hier: S. 282. Interessant ist Giovanninis Bemerkung, dass Hit-
ler im Roman nie mit seinem Namen genannt wird, sondern im Allgemeinen als Führer
oder mit ähnlichen Appellativen bezeichnet wird. Damit werden die gemeinsame Dimen-
sion sowie der breite Konsens des Nationalsozialismus betont. Dasselbe könne auch für
Mussolini gesagt werden. Siehe Giovannini: Il patto col diavolo, S. 229 (Fußnote 129).
61 Nicht zufällig erinnert der Kridwiß-Kreis an den George-Kreis.
62 Thomas Manns Einschätzung der inneren Emigration war nicht positiv: „Die ,innere

Emigration‘ unerträglich!“ (TB3: 22.06.1946, S. 12). Vgl. auch Ewen: Deutungsangebote,


S. 270–277.
63 Auffällig ist hier (als weiterer Beweis für Zeitbloms Inkohärenz), dass sich der Erzähler

mit der Biographie seines Freundes doch auf ähnliche Art und Weise verhält.
64 D. h.: Zu der Kategorie von Menschen, die auf Deutschlands Sieg, oder zu der von

denjenigen, die auf Deutschlands Niederlage hoffen.


246 7 Zeitblom und die Viola d’amore

Zeitbloms Passivität zeigt sich durch seine stille Teilnahme am präfaschistischen


Kridwiß-Kreis.65 Außerdem kann er nicht vermeiden, dass seine Söhne im Krieg
auf Seiten der Deutschen kämpfen.66 Osman Durrani betont, dass der Erzähler
genau dann, wenn sein Humanismus nutzen könnte, nicht mehr unterrichtet.67
Sein Widerstand ist also viel zu schwach und beschränkt sich fast nur auf das
letzte Gebet68 sowie auf das Verfassen des Romans. Auch moralisch und ethisch
gesehen, ist Zeitblom also keine vorbildliche Figur. In seinen Stellungnahmen,
Meinungen und in seinem narrativen Verfahren ist er zudem höchst inkonsis-
tent. Verschiedene Modelle69 wurden entworfen, um Unzuverlässigkeitsarten zu
erfassen: Bezüglich Manns Romans lässt sich konstatieren, dass die Erzählin-
stanz Zeitblom den Leser*innen eine verzerrte und äußerst subjektive Version
der Biographie Leverkühns samt falschen Einschätzungen und fragwürdigen
moralisch-ethischen Stellungnahmen liefert.70 Ein Gegenentwurf zur Darstellung
Zeitbloms lässt sich in den meisten Fällen rekonstruieren und stellt ein Ziel die-
ser Studie dar; die Bereitwilligkeit der Leser*innenschaft, zur Interpretation des
Textes beizutragen,71 spielt zugleich eine wichtige und herausfordernde Rolle. So
Petersen:72

65 Vgl. DF: 525–538.


66 Vgl. DF: 21: „Meine beiden Söhne dienen heute, der eine auf zivilem Posten, der andere
in der bewaffneten Macht, ihrem Führer“ (Herv. A. O.) Das im Zitat kursivgeschriebene
Wort signalisiert aber zugleich Zeitbloms Ablehnung der politischen Situation seines Lan-
des, obwohl er an anderen Textstellen doch von „unserem Führer“ spricht (siehe Fußnote
60). Vgl. auch Metzler: Dämonie und Humanismus, S. 28 f.
67 Vgl. Durrani: The Tearful Teacher, S. 657.
68 „Gott sei euerer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland“ (DF: 738).
69 Vgl. Olson: Reconsidering Unreliability, S. 100 f. Siehe auch Phelan, James u. Mary

Patricia Martin: The Lessons of „Weymouth“: Homodiegesis, Unreliability, Ethics, and


The Remains of the Day. In: Herman, David (Hrsg.): Narratologies. New perspectives
on Narrative Analysis. Columbus: Ohio State University Press 1999, S. 88–109, hier:
S. 93–96.
70 Zur Moral und Ethik Zeitbloms, etwa bezüglich des Themas Jungfräulichkeit, vgl. auch

Petersen: Der unzuverlässige Narrator, S. 171.


71 Dies ist allerdings eine übliche Implikation unzuverlässiger Narration, siehe Nün-

ning, A.: Reconceptualizing Unreliable Narration: Synthesizing Cognitive and Rhetorical


Approaches. In: Phelan, James u. Peter J. Rabinowitz (Hrsg.): A Companion to Narrative
Theory. Malden (u. a.): Blackwell 2005, S. 89–107, hier: S. 95.
72 Petersen: Der unzuverlässige Narrator, S. 181. Im letzten Satz bezieht sich Petersen auf

den seltsamen Heiratsantrag Leverkühns durch Schwerdtfeger, vgl. Kap. 9.


7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus 247

Der Leser sieht sich also vom Erzähler vor die Aufgabe gestellt, selbst zu entschei-
den, was es mit dem Dämonischen in dieser Welt, was es mit dem Teufel, mit dem
Ursprünglich Elementaren in der Politik, der Kunst, der musikalischen Sphäre auf
sich hat, denn der Narrator ist eine schillernde Figur mit wechselnden Darstellun-
gen, Bewertungen, Einordnungen und wirkt daher unzuverlässig: Er führt den Leser
weniger, als dass er ihn verunsichert und ins Schwanken bringt. Diese Unzuverläs-
sigkeit des Figuren-Erzählers73 kommt schließlich dadurch auf ihren Höhepunkt,
dass er von Begebenheiten, Szenen, Dialogen berichtet, die er gar nicht kennen
kann.

Petersen betrachtet allerdings Zeitblom als „erzählinkompetentes Medium“,74 was


indirekt auf Olsons Unterscheidung zwischen „fallible“ und „untrustworthy nar-
rators“75 verweist. Im Fall der Erzählinstanz von Doktor Faustus scheint die
Trennlinie zwischen dem einen und dem anderen Typ nicht besonders scharf
zu sein, da man wohl die Auffassung vertreten könnte, der Amateur-Spieler
Zeitblom sei einfach nicht in der Lage, das Leben eines Komponisten höchst-
komplexer Musik wiederzugeben. Es gibt aber viele textuelle Indizien, die eher
dafür sprechen, dass Zeitblom kein „fallible“, also erzählinkompetenter, sondern
ein „untrustworthy narrator“ ist, also ein unzuverlässiger Erzähler ist. Es scheint
schwer zu behaupten, ein Doktor der Philosophie habe überhaupt kein erzähleri-
sches Talent bzw. keine erzählerische Kompetenz und liefere den Leser*innen eine
solche verzerrte Darstellung, weil er nicht in der Lage sei, das zu begreifen, wovon
er erzählt. Die Satire von Swift aus Gulliver’s Travels über die Vereinfachung
komplexer Konzepte eben durch Gelehrte, die von Zeitblom im Apocalipsis-
Kapitel erwähnt wird,76 um den Ansatz einiger Mitglieder des präfaschistischen
Kridwiß-Kreises zu beschreiben, lässt sich auch auf sein Verhalten etwa der Musik
gegenüber übertragen, da er komplexe musikalische Themen durch den gesam-
ten Roman hindurch wesentlich vereinfacht und voreilige Schlussfolgerungen

73 In seinem Aufsatz verzichtet Petersen auf gängige narratologische Begrifflichkeiten (z. B.

die von Genette bezüglich Fokalisierungen, siehe Genette: Die Erzählung, S. 134–138)
und führt einen neuen narratologischen Begriff ein, den des Figuren-Erzählens. Dieser
erlaube ihm einen doppelten Blick auf die Erzählinstanz Zeitblom, der zugleich Er- und
Ich-Erzähler sei. Der Verzicht auf Genettes Kategorien und die Einführung einer neuen
schwammigen Bezeichnung scheinen so irreführend wie die Auffassung zu sein, Er-
Erzählen sei per definitionem zuverlässig. Diesem Punkt lässt sich anhand vieler Studien
zum unzuverlässigen Erzählen widersprechen, vgl. u. a. Nünning, V. (Hrsg.): Unreliable
Narration and Trustworthiness. Intermedial and Interdisciplinary Perspectives. Berlin: de
Gruyter 2015.
74 Ebd., S. 174.
75 Olson: Reconsidering Unreliability, S. 93.
76 Vgl. 4.1.2.
248 7 Zeitblom und die Viola d’amore

zieht. Außerdem spielt Zeitblom ein Instrument, das bestimmte Kenntnisse vor-
aussetzt, auch wenn es auf einem Amateur-Niveau gespielt wird. Darüber hinaus
ist die Scordatura, die ein Spieler der Viola d’amore anwendet oder die von einer
Komponistin bzw. von einem Komponisten für die Aufführung eines bestimmten
Stückes vorgeschrieben wird, ein vor dem Spielen bewusst eingesetztes Mittel.
Als unzuverlässiger, aber nicht inkompetenter Erzähler entscheidet sich Zeitblom
dafür, absichtlich unzuverlässig zu erzählen. Würde man dieses Verfahren aus
Sicht der Intermedialitätsforschung bezeichnen, so könnte diese Verstimmung der
Narration als Simulation einer instrumentalen Aufführungspraxis eingestuft wer-
den, die eine verstärkende Funktion narrativer Strategien aufweist.77 Die Viola
d’amore und das Spielen der Viola d’amore werden im Text nicht nur thematisiert,
sondern auch inszeniert.78
Zeitbloms Charakterisierung ist nicht frei von Ironie: Ilse Metzler betrach-
tet den Erzähler von Doktor Faustus als „Parodie des Stils und der Haltung
des bürgerlichen Humanismus“79 und Börnchen macht darauf aufmerksam, dass
Zeitblom den Ironiebegriff von Cicero „in seiner Erzählweise bewahrt“.80 Dies
wäre ein weiterer Beweis für die Unzuverlässigkeit des Erzählers: Booths The-
sen zufolge ist Unzuverlässigkeit eine Funktion von Ironie.81 Innerhalb von
Booths Auffassung spielt die Kategorie der impliziten Autorin bzw. des impli-
ziten Autors eine große Rolle, wird sogar zum Maßstab für die Unzuverlässigkeit
einer Erzählinstanz. Wenn deren Wahrnehmungen und Werte zu stark von denen
der impliziten Autorin bzw. des impliziten Autors abweichen, liegt Unzuverläs-
sigkeit vor.82 Spätere Studien kritisieren Booths Definition des implied author.
Ansgar Nünning hebt beispielsweise hervor: „the implied author provides a ter-
minologically acceptable way of talking about the author and his or her intention,
under the guise of talking about textual phenomena“.83 Dem Terminus liegt dem
Zitat entsprechend der Versuch zugrunde, indirekt auf die Autor*innenintention

77 Vgl. Gess: Intermedialität reconsidered, S. 159 u. 152. Bei Rajewsky eine „simulierende
Systemerwähnung“. Siehe etwa Rajewsky: Intermedialität, S. 94.
78 Vgl. Wolf: „The musicalization of fiction“, S. 133 u. Rajewskys Analyse von Tabucchis

Kurzgeschichte Piccoli equivoci senza importanza: Rajewsky: Intermedialität, S. 97–103.


79 Metzler: Dämonie und Humanismus, S. 35.
80 Börnchen: Kryptenhall, S. 92. Vgl. auch Börnchens Ausführungen zum Vornamen

Zeitbloms als Bezug auf die „Serenissimus“-Witzsammlungen: ebd., S. 92 f.


81 Siehe Booth: The Rhetoric of Fiction, S. 304. Vgl. auch Olson: Reconsidering

Unreliability, S. 94.
82 Siehe Booth: The Rhetoric of Fiction, S. 158 f.
83 Nünning, A.: Reconceptualizing Unreliable Narration, S. 92.
7.1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus 249

einzugehen. Die Inkohärenz des Begriffs macht ihn folglich zu einer unangemes-
senen Grundlage zur Erschließung von Unzuverlässigkeit: Aus diesem Grund wird
in diesem Abschnitt der Rückgriff auf textuelle Indizien bevorzugt und lediglich
undifferenziert von Autor bzw. Autorin geredet.
Gerade Thomas Mann ist der Auffassung, Zeitblom stehe „in einem fast
komischen Gegensatz“84 zu Leverkühn. Unzuverlässigkeit lässt sich in der Cha-
rakterisierung Zeitbloms durch Booths Modell, das sich auf die drei Instanzen
der Erzählinstanz, der Leser*innenschaft und des*r implied author stützt, wohl
nachweisen. Noch aussagekräftiger, da man nicht Gefahr läuft, wegen Booths
kontroverser Definition des*r implied author in eine hermeneutische Rekonstruk-
tion von Autor*innenintention zu geraten, bietet Ansgar Nünnings Modell, das
der implizite Autor bzw. die implizite Autorin durch textuelle Indizien ersetzt,
einen anwendbaren Orientierungsrahmen für die Analyse.85 In diesem Abschnitt
lag der Fokus eher auf Thomas Manns Text, aber gerade das u. a. von Claudia
Albert konstatierte „Mißverhältnis[] von Textgestalt und behaupteter ästhetischer
Intention“86 weist auf Booths Modell hin: „I have called a narrator reliable when
he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to
say, the implied author’s norms), unreliable when he does not“.87 Booths Spe-
zifizierung in Klammern reduziert die Normen eines Werkes auf diejenigen der
impliziten Autorin bzw. des impliziten Autors: Eine Faust-Adaption orientiert sich
aber auch an den Normen des Faust-Stoffes und eben die Zuordnung des Werkes
zur Faust-Tradition wurde in der Forschungsliteratur in Frage gestellt.88 Diese
Inkonsistenz wird schon durch den Verweis auf paratextuelle Hinweise89 deut-
lich: Bereits im Untertitel muss Zeitblom seinen Leser*innen mitteilen, dass er
derjenige ist, der über das Leben seines Freundes berichtet. Dadurch wird deut-
lich, dass er für das Geschriebene verantwortlich ist. Aus diesem Grund ist es
nicht verwunderlich, dass die Textgestalt mit dem Titel und dem entsprechenden
literarischen Stoff wenig übereinstimmt.
Im Laufe der Narration wird Zeitblom als „the pathetic perfectionist, the
platonic adulterer, the weeping schoolmaster“90 enttarnt, also als extrem wider-
sprüchliche und inkonsistente Erzählinstanz, der man kein Vertrauen schenken

84 GkFA 19.1: 261.


85 Siehe Olson: Reconsidering Unreliability, S. 99.
86 Albert: Schwierigkeiten, S. 104.
87 Booth: The Rhetoric of Fiction, S. 158 f., Herv. i. O.
88 Vgl. Kap. 6.
89 Dazu siehe auch ebd., S. 97.
90 Durrani: The Tearful Teacher, S. 658.
250 7 Zeitblom und die Viola d’amore

möchte. Es handelt sich im Fall des Erzählers von Doktor Faustus um keine
„bonding“,91 sondern um eine „estranging unreliability“.92 Zeitblom erregt kein
Mitleid, Leser*innen, darunter auch die in dieser Studie betrachteten Kompo-
nist*innen, bleiben seiner Wiedergabe gegenüber skeptisch, nehmen ihm gegen-
über eine eher ablehnende Haltung ein.93 Als Konsequenz sympathisieren die
meisten Komponist*innen dieser Studie mit Adrian Leverkühn: Laut Jens Ewen
geschieht das, weil Zeitblom Sympathie für seinen Freund hegt.94 Dieser These
scheint schwer zuzustimmen, angesichts dessen, dass er der Leser*innenschaft
eine höchst manipulierte Version der Biographie Leverkühns liefert, indem er
etwa alles dämonisiert und von Eifersucht getrieben berichtet. Es ist eher diese
estranging unreliability, die die Leser*innen dazu ermutigt, sich von Zeitbloms
Scordatura der Narration zu distanzieren. Der intermediale Bezug auf die Viola
d’amore, zum Teil in Form einer expliziten, zum größeren Teil aber als simu-
lierende Systemerwähnung, verstärkt die discours-spezifischen Eigenschaften des
Romans.
Die Unzuverlässigkeit Zeitbloms im Roman konnte durch verschiedene Mit-
tel der narratologischen und intermedialen Analyse nachgewiesen werden, z. B.
durch die Modelle Booths und Nünnings, durch die Stilmittelanalyse sowie durch
den Medienvergleich, und zwar mit den Eigenschaften der Viola d’amore und der
Aufführungspraxis des Instruments. Wie lässt sich aber diese narrative Strategie
im Medium der Musik realisieren? Ist das die Mikroform aus dem Roman, die
Komponist*innen in das neue Medium transferieren? Diesen Fragen widmet sich
u. a. der darauf folgende Abschnitt zu den Kompositionen.

7.2 Vom Roman zur Musik

Im Folgenden sollen drei Kompositionen analysiert werden. Die ersten beiden


Werke, nämlich Four pieces from „Doktor Faustus“ für Viola d’amore und Kla-
vier von Elaine Fine (2010) und Lars Petter Hagens To Zeitblom (2011), gehören
sozusagen zur letzten Phase der Rezeption von Thomas Manns Doktor Faustus
und sind hauptsächlich instrumental. Abschließend wird die Rolle Zeitbloms in

91 Phelan, James: Estranging Unreliability, Bonding Unreliability, and the Ethics of Lolita.
In: Narrative 15 (2007), S. 222–238, hier: S. 223.
92 Ebd.
93 Vielleicht nur im Fall der von Phelan sogenannten „flesh and blood readers“ könnte

Zeitbloms Unzuverlässigkeit bindend sein. Ebd., S. 237.


94 Vgl. Ewen: Deutungsangebote, S. 281.
7.2 Vom Roman zur Musik 251

Manzonis Oper untersucht, die in dieser Studie einen roten Faden darstellt und
die für die relativ breite kompositorische Rezeption des Romans in den 1980er
Jahren, welche etwa auch die Werke von Boehmer, Kurz und Searle beweisen,
steht.

7.2.1 Zeitbloms musikalisches Talent: Elaine Fines Four pieces


from „Doktor Faustus“: „Abendmusik“ und „Interlude“

Four pieces from „Doktor Faustus“ for Viola d’amore and Piano entstanden
im Jahr 2010 nach der Teilnahme der Komponistin und Viola d’amore-Spielerin
Elaine Fine (*1959) an einer internationalen Tagung von Spezialist*innen in Illi-
nois.95 Die Komposition ist Carlos Maria Solare gewidmet, der dieses Instrument
ebenfalls spielt, und dauert ungefähr zwölf Minuten. Sie besteht aus vier Stücken:
1. Abendmusik (Moderato)
2. Hetaere [sic] Esmeralda (Waltz tempo)
3. Interlude (Moderato)
4. Echo (Moderato).
Es handelt sich hier aufgrund der materiellen Präsenz eines einzigen Mediums
um verdeckte Intermedialität, aber aufgrund der paratextuellen Hinweise und der
Verwendung der Viola d’amore ist der Bezug zu Thomas Manns Roman deutlich,
sodass sich die Komposition – trotz der Vagheit instrumentaler Musik – immer
noch der Kategorie der intermedialen Transposition zuordnen lässt. Da das Werk
außerdem speziell für die Viola d’amore gedacht wurde, ist die Hommage an
Zeitblom ebenfalls deutlich. Zwei Stücke sind zwar Esmeralda und Echo gewid-
met, aber das Ganze wird durch den narrativen Faden des Erzählers miteinander
verbunden. In Abendmusik und Interlude ist die Simulation einer Erzählstimme
so auffällig, dass sie in diesem Kapitel analysiert werden: Im Zentrum der beiden
Stücke steht also eher das Wie der Darstellung als die Geschichte selbst.96
Zwar betont Fine, dass es nicht ihre Intention gewesen sei, durch die Musik
eine Stellungnahme zu kontroversen Thematiken des Romans zu nehmen, etwa
zur Unzuverlässigkeit Zeitbloms,97 aber der musikalische Text spricht für sich
selbst: Die Viola d’amore übernimmt im Stück nicht nur eine Begleitfunktion,

95 Die Komposition darf kostenlos von der Webseite IMSLP heruntergeladen werden: Fine,

Elaine: Four pieces from Doktor Faustus. In: IMSLP. < https://imslp.org/wiki/4_Pieces_
from_Doktor_Faustus_(Fine,_Elaine) > letzter Zugriff: 21.08.2020).
96 „Heteare Esmeralda“ und „Echo“ werden jeweils in Kap. 8 u. 11 vorgestellt.
97 E-Mail der Komponistin an die Verfasserin (05.07.2014).
252 7 Zeitblom und die Viola d’amore

sondern sie ist im ganzen Stück durchgängig zu hören. Sie steht wie das Klavier
für Leverkühn innerhalb des Stückes stellvertretend für Zeitblom. Das Klavier eig-
net sich für Leverkühn aus vielen Gründen. Erstens, weil sein erstes heimliches
Musizieren mit dem Harmonium beginnt, also ebenfalls mit einem Tasteninstru-
ment.98 Bei dieser Aktivität wird er nicht nur vom Onkel, der ihm empfiehlt,
„Klavierstunden [zu] nehmen“ (DF: 75), sondern auch von Zeitblom entdeckt,
der sich ständig in das Leben des Freundes einmischt. Ein zweiter Grund ist
der, dass gerade Leverkühns Musiklehrer die Wichtigkeit des Instruments für
Komponist*innen präzisiert:

Es gebe aber ein Instrument, das heißt: ein musikalisches Verwirklichungsmittel,


durch das die Musik zwar hörbar, aber auf eine halb unsinnliche, fast abstrakte und
darum ihrer geistigen Natur eigentümlich gemäße Weise hörbar werde, und das sei
das Klavier [...]. (DF: 95)

Das Klavier erlaubt in der Tat, sich beispielsweise in Abwesenheit eines echten
Orchesters ein orchestrales Werk grob vorzustellen, und ist noch heutzutage oft
wichtiges Nebenfach (nicht nur) eines Kompositionsstudiums. Der dritte Grund,
warum sich das Klavier für Leverkühn eignet, ist, dass das Zusammenspiel eines
historischen Instruments mit einem modernen mit der vorherigen These der zwei
musikalischen Seiten einer Epoche in Verbindung gebracht werden kann. Fine
hätte das Cembalo wählen können, was im Vergleich zum Klavier aus der Per-
spektive der historischen Aufführungspraxis ein kohärenteres Pendant zur Viola
d’amore darstellt. Leverkühn und Zeitblom werden folglich in der Komposition
wie im Roman in ihrer Komplementarität widergespiegelt.
Das erste Stück, Abendmusik, „is kind of a fantasy on,Oh how lovely is the
evening‘, a piece that Zeitblom identifies as an early influence on Leverkuehn“,99
so die Komponistin. O, wie wohl ist mir am Abend wird im Roman unter den Kan-
ons erwähnt, welche die Stallmagd Hanne die Kinder lehrt.100 Zeitblom erinnert
sich an diese Gesangsübungen so:

[D]ie Erinnerung daran hat später eine erhöhte Bedeutung angenommen, weil sie
es waren, die, soweit meine Zeugenschaft reicht, meinen Freund zuerst mit einer

98 Vgl. DF: 72.


99 E-Mail der Komponistin an die Verfasserin (02.07.2013). Das Stück dauert etwa vier
Minuten.
100 Vgl. DF: 47. Das erwähnt auch Fine in ihren E-Mails.
7.2 Vom Roman zur Musik 253

„Musik“ von etwas künstlicherer Bewegungs-Organisation in Berührung brachten,


als das bloße einhellige Absingen von Liedern sie aufweist. (DF: 47)101

Fines Stück ist jedoch kein Kanon, obwohl man einen Imitationsprozess erken-
nen kann. Ohne Zweifel passt allerdings die Viola d’amore hervorragend zu einer
Abendmusik.102 Der Titel des Stückes verweist auf Zeitbloms Musizieren in den
Münchener Abendkreisen: Somit wird einerseits durch die Wahl der Besetzung
und die musikalische Gestalt auf Leverkühns erste Auseinandersetzung mit kon-
trapunktischer Musik, andererseits mittels paratextueller Hinweise auf Zeitbloms
Vorspielen Bezug genommen. Die Komposition folgt einer ordo naturalis103 und
beginnt mit der musikalischen Wiedergabe durch „das Medium,des Freundes‘“
(Ent: 27) der Jugendzeit Leverkühns bzw. seines ersten Kontakts mit kontrapunkti-
scher Musik. Zeitblom drückt sich musikalisch durch Pizzicati aus. Am folgenden
Notenbeispiel ist außerdem abzulesen, dass die Viola d’amore, alias Zeitblom, den
harmonischen Verlauf eben mittels Pizzicati stört, denn auf jeden Ton des Kla-
viers, alias Leverkühn, folgt ein gezupfter Ton der Viola. Des Weiteren muss der
Tempoaufgabe (Moderato) Aufmerksamkeit geschenkt werden, die zur „durchaus
gemäßigte[n]“ (DF: 12) Figur Zeitbloms sehr gut past (Abbildung 7.1).

Abbildung 7.1 Der Anfang von „Abendmusik“

101 Der Nebensatz „soweit meine Zeugenschaft reicht“ ist ein weiteres Beispiel für Zeit-
bloms Tendenz, an den eigenen Erzählfähigkeiten zu zweifeln, weil er Vielem nicht
beigewohnt hat. Vgl. 7.1.2.
102 Dieser Auffassung war auch Leopold Mozart. Vgl. 7.1.1.
103 Dazu siehe Haßler, Gerda u. Cordula Nels (Hrsg.): Lexikon sprachtheoretischer

Grundbegriffe des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin/New York: de Gruyter 2009, S. 1134 f.
254 7 Zeitblom und die Viola d’amore

Ab Takt 22 hört man zum ersten Mal das Thema bzw. den Refrain: Die Viola
d’amore zupft und interagiert aktiv mit der Klavierstimme und trägt zum gesam-
ten, melancholischen Charakter des Stückes bei. Musikalisch gesehen, ist dies auf
Tonalität und Intervallsprünge zurückzuführen; intermedial betrachtet, spielt das
auf Zeitbloms aktive Rolle in der Wiedergabe von Leverkühns Leben an, dem er
eine eigene Interpretation verleiht (Abbildung 7.2).

Abbildung 7.2 Das Thema von „Abendmusik“ (T. 22–29)

Dann wird das Thema mittels eines nichtaufgelösten Tritonus und einer kleinen
Coda leicht variiert: Hier ist aber das Klavier das Instrument, welches das letzte
Wort hat, indem es das Thema beendet. Da Zeitblom vielen zentralen Ereignissen
im Leben des Freundes nicht beigewohnt hat, kann er sie – wenn überhaupt – nur
partiell wiedergeben.104 Anders als Leverkühn im Roman erlaubt sich aber hier
die Klavierstimme den musikalischen Satz zu beenden: Konstante fast aller in die-
ser Studie betrachteten Kompositionen ist, dass Leverkühn eine Stimme gegeben
wird, deren er sich bedient, um – mehr oder weniger – einen Widerstand gegen
Zeitbloms Manipulation zu leisten (Abbildung 7.3).
Was den musikalischen Stil von „Abendmusik“ angeht, so meint Fine: „I made
it kind of Mahlerian to reflect the feeling of the time and the place, and used
some Stravinsky-like fourths (since that’s how the viola d’amore is built)“.105
Zwar passt der Bezug auf Gustav Mahler zum Zeitpunkt der Geschichte, auf den
das Stück zurückgeführt werden kann, aber nicht wirklich zum Ort, denn die
Gesangsübungen finden im Roman „im Herzen der Luther-Gegend“ (DF: 18) und
das abendliche Musizieren Zeitbloms in München statt. Strawinskys Musik stellt

104 Siehe Petersen: Der unzuverlässige Narrator, S. 181.


105 E-Mail vom 02.07.2013.
7.2 Vom Roman zur Musik 255

Abbildung 7.3 Variation des Themas (T. 58–63)

zweifellos ein Vorbild in Leverkühns musikalischer Ausbildung und in seinem


Schaffen dar, aber eher zu einem späteren Zeitpunkt der histoire.106
Das dritte Stück von Four pieces,107 Interlude, handelt von „Leverkuehn’s
encounter with whatever it is that he encounters, as reported by the viola d’amore-
playing Zeitblom“.108 Fine scheint also keine Lösung zur Kontroverse über das
Teufelsgespräch vorschlagen zu wollen. Vielmehr wiederholt sie in ihren E-Mails
ihre Absicht, nämlich „keeping that determination in the abstract“.109 Darüber
hinaus lässt sich Fines Präzisierung, „as reported by the viola d’amore-playing
Zeitblom“, mit dem Untertitel von Doktor Faustus gut verknüpfen: „Das Leben
des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“. Beide
Sätze rücken die Anwesenheit einer Erzählinstanz in den Vordergrund, wobei
Fines Aussage dem musikalischen Talent des Erzählers Aufmerksamkeit schenkt,
indem sie sogar das von ihm gespielte Instrument spezifiziert.
Das Klavier spielt im ersten Teil des Stückes (T. 1–34) eine bedeutende Rolle:
Sein musikalischer Verlauf erweist sich als stark chromatisch. Im Gegensatz zum
Klavier ist der Viola d’amore eine untergeordnete Rolle zugewiesen: Ihr Verlauf
besteht aus langen Noten (Abbildung 7.4). Die Begegnung mit dem Teufel ent-
nimmt Zeitblom im Roman einem Dokument Leverkühns, das er nach seinem
Tod findet und in seiner fiktiven Biographie vollständig wiedergibt. Dies spiegelt
sich in Fines Stück wider.
Ab Takt 35 sind viele Arpeggien der Viola d’amore zu finden, die metapho-
risch als die Schnörkel von Zeitbloms unzuverlässiger Wiedergabe des Ereignisses
aufgefasst werden könnten. Hilgers weist darauf hin, dass die Lebensaufgabe
dieser Figur die „Entfaltung […] [ihres] schriftstellerischen Talents“110 sei. In

106 Dazu vgl. 3.3.1.


107 Das zweite aber, das in diesem Kapitel vorgestellt wird.
108 Ebd. Das Stück dauert etwa zwei Minuten.
109 E-Mail von 05.07.2014.
110 Hilgers: Serenus Zeitblom, S. 27.
256 7 Zeitblom und die Viola d’amore

Abbildung 7.4 Der Anfang von „Interlude“ (T. 1–4)

diesen Takten scheint es, dass er sein virtuoses Talent als Viola d’amore-Spieler
zeigen möchte: In Fines Komposition besteht Zeitbloms Aufgabe darin, sein
musikalisches Talent zu entfalten. Nicht zufällig sagt Fine: „The arpeggios […]
represent the way I feel Zeitblom would have musically expressed whatever it
is that Leverkuehn encountered“.111 Auch im Roman schreibt Zeitblom Lever-
kühns fiktives Dokument nicht einfach ab, sondern man findet vor und nach der
autobiographischen Schrift seine gewöhnlichen sprachlichen Verzierungen und
Kommentare. Des Weiteren erinnert diese Passage an Musikübungen, was gut
zum Gymnasialdozenten Zeitblom passt (Abbildung 7.5) :

Abbildung 7.5 Die Arpeggien in „Interlude“ (T. 35 ff.)

Die Komponistin beabsichtigt, die Eigenschaften des Instruments bewusst


auszunutzen: „The arpeggios here are singular to the viola d’amore. No other

111 E-Mail von 05.07.2014.


7.2 Vom Roman zur Musik 257

instrument can make the other-worldly strange resonance that draws you in that
particular way“.112 In Fines Komposition wird anders als im Roman eher eine
bindende Unzuverlässigkeit113 erreicht: Zwar darf sich Leverkühn ausdrücken,
aber weder durch eine imposante Begleitung noch ein wenig bekanntes Instru-
ment, sodass Hörer*innen aus Neugierde dazu geneigt sind, mit der virtuosen
und merkwürdig widerhallenden Viola d’amore zu sympathisieren. Es ist eher
Zeitblom, dem großes musikalisches Talent zugeschrieben wird.
Wie im Roman wird in den beiden betrachteten Stücken aus Fines Four pieces
die Manipulation der Biographie durch Zeitblom betont, die jedoch eher eine
bindende Wirkung auf die Hörer*innenschaft hat. Zeitblom wird nicht nur als
Erzähler, sondern auch als musikalisch interessierte Romanfigur porträtiert, die
sogar größeres Talent als Leverkühn besitzt. Was außerdem ein Unikum darstellt,
ist die Transposition von Leverkühns und Zeitbloms Jugendzeit, denn das kommt
in den Kompositionen dieser Studie kaum vor.

7.2.2 Simulierte Gleichzeitigkeit, Archivkunst114 und


Autorinszenierung: Lars Petter Hagens To Zeitblom

Nachdem nun ein Stück für genau das Instrument besprochen wurde, das Zeitblom
im Roman spielt, wird im Folgenden ein Werk für die Hardangerfiedel, die in
mancherlei Hinsicht mit der Viola d’amore verwandt ist, vorgestellt. To Zeitblom
für Hardangerfiedel und Orchester vom norwegischen Komponisten Lars Petter
Hagen (*1975) war eine Auftragskomposition des Südwestrundfunks, die 2011
anlässlich der Donaueschinger Musiktage uraufgeführt wurde. Die Besetzung
umfasst neben der Solo-Hardangerfiedel zwei Flöten, eine Piccoloflöte, zwei Kla-
rinetten in B, ein Fagott, drei Trompeten, vier Hörner, drei Posaunen, Schlagzeug
(Vibraphon, Crotales, Choir Chimes, Röhrenglocken), zwei Harfen und Streicher.
Der Komponist, so die Partitur, ist „on stage (operating ghettoblaster and giving
lecture)“.115

112 E-Mail von 02.07.2013.


113 Die vorliegende Übersetzung von Phelans Begriff der „bonding unreliability“ wird hier
der folgenden Publikation entnommen: Lahn, Silke u. Jan Cristoph Meister: Einführung
in die Erzähltextanalyse. Stuttgart: Metzler 2016, 3. aktual. u. erw. Aufl., S. 192.
114 Der Begriff wurde dem folgenden Aufsatz von Eivind Buene entnommen: Buene,

Eivind: Posthume Leidenschaften. Über Lars Petter Hagens Verzweiflung. In: MusikTexte
140 (2014), S. 11–16, hier: S. 14.
115 Partitur S. 3; mit freundlicher Genehmigung des Komponisten durfte die Verfasserin der

vorliegenden Studie eine Kopie des Autografs konsultieren. Zur Aufnahme: Hagen, Lars
258 7 Zeitblom und die Viola d’amore

To Zeitblom charakterisiert sich durch lange Noten und eine vorherrschende


Pianissimo-Dynamik: Die Stille und die Unbeweglichkeit der Zeit im Sinne
einer Simulation unendlicher Gleichzeitigkeit stellen die kompositorischen Haupt-
merkmale von To Zeitblom dar, was als Versuch aufgefasst werden kann, im
Medium der Musik das Tempo norwegischer Landschaften zu reproduzieren.116
Eine weitere Eigenschaft dieses Stückes liegt in der direkten Konfrontation des
Komponisten mit dem Publikum. Auf Seite 16 der Partitur liest man: „The com-
poser, who has been sitting on stage all the time in a helpless attempt to write
himself into the tradition, gives a lecture on the Hardanger fiddle. Illustrated by
the soloist“. Für ca. drei Minuten stellt der Komponist mithilfe eines Modera-
tors bzw. eines Übersetzers das solistische Instrument vor. Der Moderator führt
außerdem einige Konzepte von Adornos Musikphilosophie ein. Man sollte dabei
jedoch nicht wirklich von Zitaten sprechen, wie der Komponist präzisiert:117

Der Text ist kein Zitat. Wieland Hoban [Übersetzer und Moderator] ist so ein guter
Übersetzer, dass wir Adornosche Texte geschrieben haben, die Adornos Ansichten
zusammenfassen, aber auch weiterentwickeln.

Laut Aussage des Komponisten sei das Stück nur sehr lose mit dem Roman Dok-
tor Faustus verbunden.118 Jedoch ist dessen intermedialer Charakter bereits an
der Werkoberfläche abzulesen: Der Titel erfüllt nicht nur eine Titel-, sondern
auch eine Widmungsfunktion, die paratextuellen Elemente des Werkes verwei-
sen eindeutig auf den Erzähler des Romans. Zeitblom wird wie bei Fine durch
das solistische Instrument musikalisch dargestellt: „Hardanger fiddle solo part is
a close collaboration with the soloist and entirely in oral tradition“ (S. 2), liest
man im Autograf. Was also To Zeitblom thematisiert, ist das subjektive Erzäh-
len mündlicher oder tönender Natur, was sich gut mit dem Roman verknüpfen

Petter, Oslo Philarmonic Orchestra, Rolf Gupta (Dirigent), Gjermund Larsen (Hardanger-
fiedel), Oslo: Aurora 2013. Es existiert auch eine Ensemble-Version des Stückes, die für
das Ensemble Modern bearbeitet wurde (2013). Hier sei auf die Webseite des Komponisten
verwiesen: „Lars Petter Hagen“. < https://www.lphagen.no/ > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
Eivind Buene, norwegischer Komponist und Bekannter von Hagen, erklärt, der Ghet-
toblaster sei für ihn „so etwas wie ein Markenzeichen“ geworden. Damit erzeuge er
Distanz. Buene, Eivind: Posthume Leidenschaften. Über Lars Petter Hagens Verzweiflung.
In: MusikTexte 140 (2014), S. 11–16, hier: S. 13 f.
116 „In Lars Petter Hagens Musik ist es die Zeit, die oft beinahe unbeweglich auf der

Stelle steht wie eingefrorene Augenblicke“, erläutert Martina Seeber. Seeber, Martina:
Komponieren für das Hier und Jetzt. In: MusikTexte 140 (2014), S. 6–11, hier: S. 6.
117 Seeber: Komponieren, S. 9.
118 Skype-Interview der Verfasserin mit dem Komponisten (September 2014).
7.2 Vom Roman zur Musik 259

lässt, denn Zeitblom berichtet auf sehr subjektive Art und Weise und ähnelt somit
einer mündlichen Erzählinstanz. Vergleichbar mit der Wiedergabe der Ereignisse
durch Zeitblom im Roman, der als „obsessed or disturbed monologist[]“119 an
einen schriftlich inszenierten oralen Erzähler denken lässt,120 kann die mündlich
überlieferte Musiktradition für unzuverlässig, inkohärent und subjektiv gehalten
werden. Darüber hinaus nimmt auch die Komposition To Zeitblom wie der Roman
Doktor Faustus Bezug auf Adornos Schriften, die bei Hagen nicht in das Medium
der fiktionalen Schrift, sondern in eine Medienkombination integriert und wie bei
Thomas Mann dort auch weiterentwickelt werden. Es handelt sich also in diesem
Fall um die direct or ,overt‘ intermediality, die sich durch die Präsenz mehre-
rer Medien auszeichnet. Diese Form von Intermedialität ist allerdings als partiell
einzustufen, da der Fokus auf einer Figur liegt.
Die Hardangerfiedel, auf Norwegisch hardingfela/hardingfele genannt, ist eine
Volksgeige aus Westnorwegen, die in der Regel vier Spielsaiten über dem
Fingerbrett und vier oder fünf Resonanzsaiten unter dem Fingerbrett sowie
typische nationale Dekorationen besitzt.121 Das Instrument hat darüber hin-
aus Resonanzsaiten wie die Viola d’amore; zudem weisen die Liebesgeige und
die Hardangerfiedel eine parallele Herkunft auf, die an Volkstraditionen und
mündlich-improvisierte musikliterarische Praktiken gebunden ist.122 Während
sich aber das Repertoire der Viola d’amore bereits im 17. Jahrhundert stark ausdif-
ferenzierte und sich zum großen Teil von der Volksmusik verabschiedete, besteht
das Repertoire der Hardangerfiedel hauptsächlich aus Volksliedern und -tänzen,
die in der ersten Lage gespielt werden.123

119 Nünning, V.: Conceptualizing (Un)reliable Narration, S. 10.


120 Siehe etwa DF: 409: „Gewohnt zu lehren und zu reden, bin ich, einige Erwärmung
meines Gemütes vorausgesetzt, kein schlechter Sprecher; ich höre mich sogar nicht ungern
und habe eine gewisse Freude daran, wie das Wort sich mir zu Gebote hält“.
121 Vgl. Remnant, Mary u. Chris Goertzen: Hardanger Fiddle [Harding Fiddle] (Nor. har-

dingfela, hardingfele). In: Grove Music Online. Zuerst veröffentlicht 20.01.2001, online
veröffentlicht 2001. < https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.12361 > (letzter
Zugriff: 21.08.2020).
122 Siehe Rosenblum, Myron: Viola d’amore (Fr. Viole d’amour, Ger. Liebesgeige). In:

ebd. Zuerst veröffentlicht 20.01.2001, online veröffentlicht 2001. < https://doi.org/10.1093/


gmo/9781561592630.article.29448 > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
123 Vgl. ebd. u. Remnant u. Goertzen: Hardanger Fiddle, ebd.
260 7 Zeitblom und die Viola d’amore

Auch der Klang der hardingfele, der als „whispery and nasal“124 beschrieben
wird, erinnert an den der Liebesgeige. Bereits die Dekorationen auf dem Instru-
ment verweisen auf die enge Verbindung des Instruments mit nationaler Identität:
Die Hardangerfiedel ist seit der Unabhängigkeit Norwegens zu einem Natio-
nalsymbol geworden, noch heutzutage werden regelmäßig Wettbewerbe für das
Instrument organisiert. Goertzen bezeichnet die Anhänger*innen der Volksmusik,
die in den 1940er und 1950er Jahren über sie schrieben, als „ardent romantic
nationalists“.125
In Hagens Komposition erfolgt daher eine doppelte Adaption. Die erste betrifft
die Vorlage, d. h. Thomas Manns Roman, der durch ein plurimediales Kunstpro-
dukt zu Wort kommt. Der zweiten liegt eine Neuinterpretation des Instruments
zugrunde. Nicht nur, weil statt der Viola d’amore die Hardangerfiedel gewählt
wird, sondern auch, weil 2011 das norwegische Instrument an andere Praktiken
der Musik angepasst wird. To Zeitblom wird weder in Norwegen noch bei einem
Volksfest uraufgeführt, die Komposition wird im Rahmen eines Festivals präsen-
tiert, das als das erste weltweit gilt, das sich vollständig der zeitgenössischen
Musik widmete.126
Hagens Schaffen beschäftigt sich intensiv mit der Frage: „Woher komme ich,
historisch, traditionell als Komponist und Mensch?“,127 also mit der Frage nach
der eigenen und kollektiven Identität einer Generation, die „mit amerikanischem
Fernsehen aufgewachsen“128 ist. Auf der Suche nach seiner nationalen Identität
verbringt Hagen, der klassisch ausgebildete Komponist, viel Zeit an den Orten, wo
Volksmusik produziert und gelehrt wird. Orte also, die jenseits von globalisierten
Städten liegen.129
Buene definiert Hagens Kompositionen als „Archivkunst“: „Einzelne Elemente
werden aus den Tiefenschichten des persönlichen Gedächtnisses, aus dem Archiv,
das wir alle mit uns herumtragen, ausgegraben“.130 Diese Metapher verweist

124 Goertzen, Chris: Fiddling for Norway. Revival and Identity. Chicago: The University
of Chicago Press 1997, S. xi.
125 Ebd., S. 35. Auch Hagen selbst ist der Auffassung, norwegische Musik habe viel mit

Nationalromantik zu tun. Siehe Seeber: Komponieren, S. 10.


126 Siehe Häusler, Josef: Donaueschingen. In: Grove Music Online. Zuerst veröffent-

licht 20.01.2001, online veröffentlicht 2001. < https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.


article.07994 > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
127 Seeber: Komponieren, S. 7.
128 Ebd.; siehe auch Assmann: Erinnerungsräume, S. 62.
129 Skype-Interview.
130 Buene: Posthume Leidenschaften, S. 14.
7.2 Vom Roman zur Musik 261

auf den Erinnerungsraum des Archivs nach Aleida Assmann. In Hagens Schaf-
fen fungiert also die musikalische Schrift als „kollektiver Wissensspeicher“.131
Dieser dient im Fall von To Zeitblom der Konservierung einer kulturellen, natio-
nalen Tradition und wird etwa durch Aufführungen und Aufnahmen zugänglich
gemacht; darüber hinaus liegt diesem Wissensspeicher nach persönlicher Aus-
einandersetzung mit der norwegischen Musikpraxis eine Auswahl zugrunde, die
beispielsweise bereits an der Wahl des Instruments sichtbar wird.132
To Zeitblom möchte als Archivkomposition diese musikalische Tradition auch
der jungen Generation zugänglich machen. Bei einem ersten Blick in die Parti-
tur fällt die Widmung des Stückes auf: „Dedicated to my children Petra, Anton
und Agnes and all their friends in Oslo“ (S. 1). Zunächst lässt sich dies mit dem
Roman verknüpfen, und zwar wieder mit der Figur Zeitbloms, der drei Kinder
hat (obwohl dieser Aspekt im Roman spiegelbildlich erscheint, da der Erzähler
von Doktor Faustus zwei Söhne und eine Tochter hat).133 Das mag die Frage
aufwerfen, warum eine Komposition, die „speziell für das Donaueschinger Publi-
kum“134 entstand und stilistisch schwer mit einigen Kinderkompositionen aus
dem 20. Jahrhundert verglichen werden kann, etwa die Hans Werner Henzes,
um auf einen in dieser Studie behandelten Komponisten Bezug zu nehmen,135
ausgerechnet einem Kinderpublikum gewidmet wird.
Es gilt, wieder auf die Metapher des Archivs zurückzugreifen, um diese Frage
zu beantworten. Die Vorarbeiten an To Zeitblom lassen sich mittels Buenes Zitats
beschreiben: Ein Element der norwegischen, nationalen Identität, d. h. das Spielen
der Hardangerfiedel, wird „ausgegraben“.136 Hier rekurriert Buene erneut auf eine
Erinnerungsmetapher, die auch in Freuds Schriften zu finden ist und die dort mit
dem psychoanalytischen Erraten und Rekonstruieren des Vergessenen in Verbin-
dung gebracht wird.137 Wird außerdem das Gedächtnis wie bei Walter Benjamin
als Medium „für die Erkundung des Vergangnen“138 aufgefasst, so ist Hagens
Medienkombination noch plurimedialer als anfänglich gedacht. Die Komposition
als plurimediales Medium fungiert als Archiv dieses Ausgrabens: „Kontrolle des

131 Assmann: Erinnerungsräume, S. 344.


132 Vgl. ebd., S. 344 f.
133 Siehe DF: 16.
134 Seeber: Komponieren, S. 8.
135 Vgl. 8.2.2.
136 Buene: Posthume Leidenschaften, ebd.
137 Vgl. Assmann: Erinnerungsräume, S. 162.
138 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. IV.1. Hrsg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt

am Main: Suhrkamp 1991, S. 400. Siehe auch ebd., S. 164.


262 7 Zeitblom und die Viola d’amore

Archivs ist Kontrolle des Gedächtnisses“,139 erörtert Aleida Assmann. Diese Kon-
trolle wird in Hagens Werk weitergegeben: Zum einen – auf einer fiktionalen
Ebene – dem Erzähler von Doktor Faustus durch den Titel, der gleichzeitig eine
Widmungsfunktion erfüllt, zum anderen – auf einer nicht-fiktionalen Ebene – der
jungen Generation durch die Widmung, damit sie eine Tradition nicht vergisst
und eventuell fortsetzt.
Auch Zeitbloms fiktives Verfassen der Biographie Leverkühns ist eine fiktive
Archivarbeit, die der Konservierung biographischer Daten dient, eine Auswahl
impliziert und durch das fiktive Buch zugänglich gemacht wird. Zeitblom hat
als nullfokalisierter Erzähler die komplette Kontrolle über das Archiv, wovon er
in seiner Unzuverlässigkeit profitiert. Des Weiteren denkt auch der Erzähler von
Doktor Faustus mehrfach über die Zukunft seiner Kinder und der seines Lan-
des nach: Im Prozess der Archivarbeit wird durch die simultane Betrachtung von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Gleichzeitigkeit simuliert.140
Nicht nur reflektiert To Zeitblom über die Subjektivität des Erzählens und
über Erinnerung, es kombiniert auch ein modernes Orchester mit einem Instru-
ment der Volksmusik. So werden in der Komposition wie in Doktor Faustus
die zwei musikalischen Seiten einer Epoche dargestellt: Die Hardangerfiedel
symbolisiert zugleich das Revival alter Instrumente und der Volkstraditionen.141
Sie passt hervorragend zu Zeitblom, der sich als „altmodischer Mensch“ defi-
niert, der „bei gewissen, […] [ihm] lieben romantischen Anschauungen“ (DF:
42) stehen geblieben ist. Die Kombination eines Instruments, das keinen Noten,
sondern Improvisationsparametern folgt, mit einem Orchester ist – komposito-
risch betrachtet – eine schwierige Aufgabe. Zuhörer*innen nehmen aber diese
Schwierigkeit nicht wahr, weil sich die Gegenpole integrieren.
Hagens Komposition ist nicht nur vom Vorhandensein improvisierter und
nicht-improvisierter Musik, sondern auch von der Autorinszenierung gekenn-
zeichnet. Franzen definiert sie als die „öffentliche Handlung[] eines Autors“,142
„die ein kulturell vorgeprägtes Rollenmuster vermitteln“143 soll. Der*Die
Autor*in, der*die somit zum Subjekt der Kommunikation werde, mische sich

139 Assmann: Erinnerungsräume, S. 344.


140 Auch durch die musikalische Faktur des Werkes (Tempo und Dynamiken) wird
Gleichzeitigkeit simuliert, wie eingangs des Unterabschnitts erläutert.
141 Die erste Hardangerfiedel stammt wahrscheinlich aus dem Jahr 1651. Siehe Remnant:

Hardanger Fiddle, ebd.


142 Franzen, Johannes: Autorinszenierung. Leistungsfähigkeit und Probleme autorzentrier-

ter Forschung am Beispiel der Studie Posierende Poeten von Alexander M. Fischer. In:
Philologie im Netz 80 (2017), S. 87–100, hier: S. 91.
143 Ebd.
7.2 Vom Roman zur Musik 263

„in den Vermittlungsprozess seiner [*ihrer] Werke“144 ein. Um dies zu ver-


anschaulichen, gilt es nun, auf die bereits erwähnte Anweisung auf Seite 16
der Partitur einzugehen, also auf den Teil, in welchem der Komponist mithilfe
eines*einer Moderator*in bzw. Übersetzer*in dem Donaueschinger Publikum die
Hardangerfiedel und eine eigene Interpretation von Zitaten aus Adornos Schriften
vorstellt.145
Dieser Moment der Komposition zielt durch eine Illusionsbrechung zum einen
auf eine Annäherung der Musik an das Theater, zum anderen auf eine direkte
Konfrontation mit dem Publikum ab.146 So Hagen:147

[I]ch versuche, die Barriere zwischen Publikum und Bühne aufzuheben oder
zumindest eine dynamische, direkte Beziehung zum Hörer oder zum Publikum
aufzubauen.

Die direkte Beziehung zum Publikum widerlegt Adornos Betrachtung der Neuen
Musik als eine, die „auf dem Papier ausgerechnet“ (PhnM: 20) ist. Gleichwohl
scheint der experimentelle Charakter des Werkes und seiner Aufführung hingegen
Adornos Auffassung zu bestätigen, dass „[d]ie einzigen Werke heute, die zählen,
[…] die [sind], welche keine Werke mehr sind“ (PhnM: 37). Die Form dieses
Werkes lässt sich nämlich kaum definieren. Rajewsky zufolge würde man Hagens
Komposition dem Phänomen der Medienkombination zuordnen, dass die Forsche-
rin als „die Kombination bzw. das Resultat der Kombination mindestens zweier,
konventionell als distinkt wahrgenommener Medien“148 definiert, die „in ihrer
Materialität präsent sind und jeweils auf ihre eigene, medienspezifische Weise zur
(Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtprodukts beitragen“.149 Was die Verwir-
rung beim Versuch einer Formbezeichnung des Werkes betrifft, so hebt Rajewsky
hervor, dass150

144 Ebd., S. 88. Siehe auch Kyora, Sabine: Subjektform ,Autor‘? Einleitende Überlegun-
gen. In: Dies. (Hrsg.): Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der
Subjektivierung. Bielefeld: transcript 2014, S. 11–20 (insb. S. 11–16).
145 „The composer, who has been sitting on stage all the time in a helpless attempt to

write himself into the tradition, gives a lecture on the Hardanger fiddle. Illustrated by the
soloist“.
146 Seeber: Komponieren, S. 8.
147 Ebd.
148 Rajewsky: Intermedialität, S. 15.
149 Ebd.
150 Ebd. Siehe auch Wolf: Musicalized Fiction, ebd.
264 7 Zeitblom und die Viola d’amore

eine Kombination unterschiedlicher Medien häufig zur Herausbildung eigenstän-


diger Kunst- oder Mediengattungen führt oder führen kann, bei denen dann die
plurimediale Grundstruktur zu einem Spezifikum des neu entstandenen (Einzel-)
Mediums wird.

Es scheint durchaus berechtigt, sich zu fragen, ob tatsächlich eine Konfrontation


mit dem Publikum stattfindet oder ob man eher von unidirektionaler Kommunika-
tion sprechen sollte. Zwar könnte das Publikum zu diesem Punkt der Aufführung
lachen, wer jedoch wirklich zu Wort kommt, ist der Komponist, „who has been
sitting on stage all the time in a helpless attempt to write himself into the
tradition“.151 Es handelt sich – betrachtet man u. a. dieses Zitat – eher um
Autorinszenierung: Im Zentrum der Kommunikation steht ein klassisch ausgebil-
deter Komponist, der versucht, sich mit einer nationalen Tradition identifizieren
zu lassen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Hagens Verhalten nicht zu stark
von dem Thomas Manns, der sich knapp zwei Jahre nach Veröffentlichung von
Doktor Faustus durch Die Entstehung des „Doktor Faustus“ ebenfalls in den
Vermittlungsprozess seines Romans öffentlich einmischt. Bei Hagen ist aber
dieser Moment von Autorinszenierung im Rahmen dieser Medienkombination
fester Bestandteil seines Werkes, dem Interpret*innen und Rezipient*innen kaum
entgehen können.152

7.2.3 Fokalisierungswechsel und Überwindung der


Unzuverlässigkeit? – Serenus Zeitblom in Manzonis
Oper

Nachdem zwei Werke vorgestellt wurden, die Zeitblom überwiegend durch instru-
mentale Musik darstellen, soll nun auf die (Teil-)reproduktion der Erzählinstanz
von Doktor Faustus durch die vielfältigen Mittel der Oper eingegangen wer-
den. Serenus Zeitblom ist bei Manzoni an drei Stellen zu finden. Zunächst im
Teufelsgespräch (im sechsten Bild des ersten Aktes): Dort betritt er die Bühne,
nachdem Lui I das Liebesverbot zum ersten Mal erwähnt hat (M-DF: 94, T. 705).
Er beobachtet die Szene, ohne etwas zu sagen. Dadurch wird die Verbindung
Zeitbloms mit dem Liebesmotiv hervorgehoben. Dann ist er im vierten Bild des

151 Partitur,ebd. Aus dieser Angabe geht hervor, dass vielleicht nicht lediglich dieser Teil,
sondern auch die ganze Komposition als Autorinszenierung zu werten ist.
152 Was die Nähe des Werkes zum Theater ebenfalls unterstreicht, dazu siehe auch: Fluder-

nik, Monika: Narrative and Drama. In: Pier, J. u. J. A. García Landa (Hrsg.): Theorizing
Narrativity. Berlin: de Gruyter, S. 353–381, hier: S. 365.
7.2 Vom Roman zur Musik 265

zweiten Aktes zu finden, wenn Adrian kurz nach Echos Tod von der Zurücknahme
der Neunten Symphonie spricht. Auch im Roman erfährt nur Zeitblom von der
Absicht des Freundes, Beethovens letztes symphonisches Werk zurückzunehmen.
Wie im Roman sagt ihm Adrian danach (die Anweisung für den Sänger lautet
„parlato, lentamente“, also gesprochen und langsam: M-DF: 191, T. 660): „Then
to the elements. Be free, and fare thou well!“153 Für einen Augenblick scheint
es, dass der fiktive Komponist Zeitbloms Präsenz wahrnimmt. Letztendlich betritt
Zeitblom im „Epilogo“ die Bühne (M-DF: 285–288). Da erzählt er wie der Kom-
mentator am Ende eines Films von den letzten Tagen Leverkühns und vom letzten,
strengen Blick, den der sterbende Adrian auf ihn richtete.
Ursprünglich wollte Giacomo Manzoni die Figur Zeitbloms auslassen, wie
man dem Aufsatz Il lungo cammino del „Doktor Faustus“ entnehmen kann, um
dadurch die extradiegetische Ebene der Narration, d. h. die des Erzählens und
des zweiten Weltkriegs, drastisch zu reduzieren.154 Seine ersten Pläne beschreibt
Manzoni wie folgt:155

Il professore rimarrà nel „libretto“156 appunto come ombra muta, presenza austera,
talora di impotente conforto, non più narratore ma per così dire osservatore a futura
memoria; cadenza alcuni passaggi essenziali della vicenda di Adrian ma non gli
è dato parlare; delinea acutamente aspetti e caratteri della personalità dell’amico
compositore, ma non gli è dato penetrarne realmente il mondo fantastico.

Aus dieser Aussage geht die Absicht hervor, Zeitblom am Rande der Oper zu
lassen, insofern es im Roman fast niemals so scheint, als dass Leverkühn seine
Präsenz explizit will. Die Endfassung der Oper weist aber einige Veränderung der
ursprünglichen Zeitblom-Konzeption auf, denn der Erzähler157 darf im Epilogo

153 Vgl. 5.2.1.2.


154 Siehe Manzoni: Il lungo cammino, S. 117.
155 „Der Professor wird im Libretto als stummer Schatten, einfache Präsenz, manchmal

von machtloser Tröstung, bleiben. Er ist nicht mehr Erzähler, sondern Beobachter für die
künftigen Generationen: Er kadenziert einige Hauptmomente der Geschichte Adrians, darf
aber nicht sprechen; er beschreibt scharfsinnig Aspekte und Eigenschaften der Persön-
lichkeit seines Freundes, darf aber in seine fantastische Welt nicht wirklich eindringen“,
ebd.
156 Zu bemerken ist hier aus typografischer Sicht die Verwendung von Anführungszeichen

für das Wort ,Libretto‘: Manzoni betont hier nochmals, dass der Begriff für seinen Opern-
text zum Teil unangebracht ist, da dieser lediglich aus ausgewählten Stellen in direkter
Rede aus der italienischen Übertragung von Thomas Manns Roman besteht. Vgl. 5.2.1.1.
157 Mit dem Satz „Er ist nicht mehr Erzähler“ (Fußnote 155) mag sich Manzoni darauf

bezogen haben, dass sein ursprünglicher Plan nicht vorsah, dass Zeitblom in der Oper eine
266 7 Zeitblom und die Viola d’amore

sprechen. Seine Stimme ist gefühllos; bei Manzoni wirkt er wie ein Reporter oder
ein Journalist, der das Leben Leverkühns still beobachtet und am Ende von des-
sen Verfall und Tod berichtet.158 Dort erfahren die Zuhörer*innen wie in einem
Krimiroman, dass die Figur, die sonst die ganze Oper lang alles lediglich beobach-
tet, Leverkühn kennengelernt hat. Auch das Kostüm, das er bei der Uraufführung
trägt, kann sowohl an einen Journalisten als auch an einen Detektiv denken lassen
(Abbildung 7.6) :
Daher könnte man sagen, dass erst am Ende der Versuch sichtbar wird, die
zwei Ebenen der Extra- und Intradiegese – wenn auch in reduzierter Form – in
der Oper zu reproduzieren. In der intermedialen Transposition herrscht aber –
will man Thomas Manns Roman und Manzonis Oper unter dem Aspekt der
Fokalisierung vergleichen – keine Nullfokalisierung wie im Roman, sondern
eine externe Fokalisierung. Introspektion wird Zeitblom verboten, er ist auf ein
eingeschränktes showing angewiesen.159
Auch in der Endfassung erweist sich Zeitblom – bis zum Epilogo – als
„Beobachter für die künftigen Generationen“.160 Aleida Assmann macht darauf
aufmerksam, dass „Beobachten […] Distanz und Entkörperung [impliziert]. Der
Ertrag solcher Disziplin ist kognitive Sicherheit und rationale Kontrolle“.161 Man-
zonis Zeitblom wirkt distanziert und entkörpert; man könnte sich fragen, ob er im
Libretto an rationaler Kontrolle gewinnt und dementsprechend als zuverlässiger
Erzähler eingestuft werden kann. Zwar wird er mit dem Liebesmotiv assoziiert,
aber er betritt nie die Bühne mit seiner Viola d’amore, die als verstärkendes
Element seines inkongruenten Erzählens zu bewerten ist. Darüber hinaus erfüllt
Zeitblom – Manzonis Worten zufolge – auch eine Erinnerungsfunktion, indem
er für künftige Generationen beobachtet. Dass sich seine Rolle aber nicht nur auf
eine Beobachtungsfunktion reduzieren lässt, wird auch dadurch bestätigt, dass er –
im Vergleich zu allen anderen Figuren der Oper – nicht singt, sondern rezitiert.
Insofern lässt sich die Funktion von Zeitblom in der Oper auch durch Pfisters
epische Kommunikationsstrukturen veranschaulichen: Diesen zufolge handelt es

Art auktorialer Erzähler darstellen sollte, denn der Rest des Zitats weist immerhin auf eine
Erzählfunktion Zeitbloms hin.
158 Zur genaueren Schilderung dieses Bildes vgl. 5.2.1.5.
159 Der englische Begriff ist hier in seiner narratologischen Bedeutung zu verstehen und

nicht im Sinne eines intermedialen showing und telling nach Werner Wolf. Vgl. Wolf:
„The musicalization of fiction“, S. 133. Zum Begriff in der Erzähltextanalyse: Lubbock,
Percy: The Craft of Fiction. London: Cape 1972 [1921]; Hansen, Per Krogh: Karakterens
rolle. Aspekter af en litterær karakterologi. Holte: Medusa 2000, S. 117–155.
160 Fußnote 155.
161 Assmann: Erinnerungsräume, S. 95.
7.2 Vom Roman zur Musik 267

Abbildung 7.6 Die


Skizze Versaces für
Serenus Zeitblom
(Programmheft: 62). Mit
freundlicher Genehmigung
der Fondazione Teatro alla
Scala, Mailand
268 7 Zeitblom und die Viola d’amore

sich um eine sprachliche, figurenbezogene epische Kommunikationsstruktur, die


auf eine spielexterne Figur (eine Erzähl- bzw. Spielleiterfigur) zurückgreift.162
Anlässlich der Uraufführungen im Teatro alla Scala spielte Robert Wilson die
Rolle des Serenus Zeitblom. Vergleichbar mit Hagens Autorinszenierung liegt hier
eine Art Regisseurinszenierung vor, was darauf hinweisen könnte, dass Zeitblom
trotz der Absenz der Liebesgeige und der Simulation einer externen Fokalisierung
als Regisseur von Leverkühns Lebensgeschichte immerhin die absolute Kontrolle
über die Biographie seines Freundes hat. Dies ist jedoch eine interpretatorische
Entscheidung anlässlich einer Inszenierung und keine explizite Anweisung in der
Partitur. Versucht man außerdem die Zeitblom-Figur bei Manzoni sowohl mit
narratologischen als auch mit dramentheoretischen Kategorien zu vergleichen, so
wird deutlich, dass die Fiktion, er sei für das Dargestellte verantwortlich, trotzdem
hervorgerufen wird.

7.3 Fazit

Das vorliegende Kapitel widmete sich vor allem der Frage nach den Realisie-
rungsmöglichkeiten von Unzuverlässigkeit im Medium der fiktionalen Schrift und
im Medium der Musik. Der erste Teil untersuchte die Indizien, die dafür spre-
chen, dass Zeitblom ein unzuverlässiger Erzähler ist, was durch die Viola d’amore
aus intermedialer Sicht verstärkt wird. Der zweite Teil hat gezeigt, dass alle drei
Kompositionen auf das unzuverlässige Erzählen Zeitbloms eingehen und, grund-
sätzlich, wie sich Unzuverlässigkeit im Medium der Musik realisieren lässt: z. B.
durch Verzierungen bei Fine, die Einbeziehung der mündlichen Musiktradition bei
Hagen und die vorwiegend beobachtende Funktion Zeitbloms bei Manzoni, die
darauf abzielen könnte, seine Unzuverlässigkeit zu überwinden, aber auch darauf,
diese in einem indirekten, weniger expliziten Modus zu realisieren. Resümierend
lässt sich sagen, dass dieses Kapitel gezeigt hat, dass der Medienvergleich noch
mehr ins Detail gehen kann, wenn stets ein doppelter Blick, in diesem Fall: ein
literatur- und einen musikwissenschaftlicher, angewandt wird. Ausgangspunkt der
Analyse war in den vorigen Ausführungen sowie in vielen intermedial angelegten
Untersuchungen eine einzige Textstelle, wo das Instrument Zeitbloms Erwähnung
findet. In der Intermedialitätsforschung wird dieser Beleg als explizite Systemer-
wähnung bezeichnet: Bereits dort wird betont, dass sie eine wichtige Rolle spielt,

162 Pfister,
Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. München: Fink 1997 [1977], 9.
Aufl., S. 123.
7.3 Fazit 269

indem sie intermediale Analysen in Gang setzt.163 Das konnte dieses Kapitel
beweisen und somit die in Einleitung und Kapitel eins beabsichtigte Anwendung
der Theorie auf konkrete Beispiele umsetzen.
In Bezug auf die Forschungsfragen dieser Arbeit hob das vorliegende Kapi-
tel zudem hervor, dass eine gründliche intermediale und narratologische Analyse
des Vorlagetextes, also die werkinterne Intermedialität, eine ergiebige Grundlage
für die Untersuchung von kompositorischen Reaktionen auf die Vorlage, also von
werkexterner Intermedialität, bietet. Vor allem Manzonis Oper zwang daneben
auch zu einem Blick auf den Roman zurück, denn sie provoziert die Frage – die
wohl auch Erzähltexte betrifft – nach dem Grad an unzuverlässigem Erzählen je
nach Darstellungsmodus. Im folgenden Kapitel wird die Erzählinstanz von Dok-
tor Faustus erneut eine wichtige Rolle spielen, weil es primär darum geht, wie
Hetaera Esmeralda durch Zeitblom charakterisiert wird.

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163 Vgl. 1.1.5.


Hetaera Esmeralda
8

Der Name ,Hetaera Esmeralda‘ wird zum ersten Mal im dritten Kapitel des
Romans erwähnt. Er bezieht sich auf einen Schmetterling aus einem der „farbig
illustrierten Bücher über exotische Falter und Meergetier“ (DF: 26) von Jonathan
Leverkühn. Die Schmetterlinge werden als „Insekten [bezeichnet], die in phantas-
tisch übertriebener Schönheit ein ephemeres Leben fristen, und von denen einige
den Eingeborenen als böse Geister gelten, die die Malaria bringen“ (ebd.; Herv.
A. O). Schon diese kurze Beschreibung fasst die Eigenschaften dieser Insekten
zusammen: die Schönheit, das vergängliche Leben, ihre Betrachtung als dämo-
nische Tiere, die Krankheiten hervorrufen. ,Hetaera Esmeralda‘, eine Art von
Schmetterling „in durchsichtiger Nacktheit den dämmernden Laubschatten lie-
bend“ (DF: 27), hat „nur einen dunklen Farbfleck in Violett und Rosa“ (ebd.) auf
ihren Flügeln, „der sie, da man sonst nichts von ihr sieht, im Flug einem windge-
führten Blütenblatt gleichen läßt“ (ebd.). Eine weitere Eigenschaft von einigen
Arten dieser Tiere ist, dass sie in der Lage sind, sich unsichtbar zu machen.
Gerade deswegen besäßen sie etwas Schwermütiges: Astrid Roffmann vertritt in
ihrer Untersuchung, die sich mit der Natur im Werk Thomas Manns befasst, die
Auffassung, Schmetterlinge seien von Melancholie gekennzeichnet, weil sie an
ihrer Isolation leiden.1
Die Erwähnung der im Roman genannten Eigenschaften dieses Schmetterlings
bzw. anderer Schmetterlinge sowie weiterer Eigenschaften von Tieren und Natur-
phänomenen im dritten Kapitel findet eine Entsprechung in einer wichtigen Figur
des Romans, nämlich Hetaera Esmeralda.2 Leverkühn nennt die Prostituierte im

1 Siehe Roffmann, Astrid: „Keine freie Note mehr“. Natur im Werk Thomas Manns.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 191. Vgl. DF: 28.
2 Vgl. auch Börnchen: Kryptenhall, S. 212–215.

© Der/die Autor(en) 2021 271


A. M. Olivari, Doktor Faustus (ver-)stimmen,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62635-1_8
272 8 Hetaera Esmeralda

Leipziger Bordell, die ihm mit dem Arm die Wange streichelt, bei eben die-
sem Namen, den er durch die Bücher des Vaters kennengelernt hatte.3 Wie ihr
tatsächlicher Vorname lautet, erfährt die Leser*innenschaft nicht.
Anhand von Studien über einen bekannten Weiblichkeitstypus des fin de
siècle, des der Femme fatale, von sexuellen Metaphern des Romans sowie von
Freuds Schriften wird im vorliegenden Kapitel Zeitbloms Verhalten dem weibli-
chen Geschlecht, und speziell Esmeralda, gegenüber ausgelotet. Die Darstellung
der Erzählinstanz bezüglich dieser Figur stellt dann den Ausgangspunkt für die
Analyse der Kompositionen dar, die Hetaera Esmeralda ins Zentrum stellen.

8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus

Der Name ,Hetaera Esmeralda‘ verweist nicht nur auf die gleichnamigen Schmet-
terlinge im eingangs erwähnten Buch von Adrian Leverkühns Vater, sondern
prägt als musikalische Chiffre auch viele Werke des Komponisten und stellt
folglich eine Erinnerung an die Begegnung sowie die intime Beziehung mit
der Prostituierten aus dem Leipziger Bordell dar.4 Darüber hinaus verweist die
Esmeralda-Episode sowie die durch den Geschlechtsverkehr mit ihr auf Lever-
kühn übertragene Syphilis auf die Deutungsperspektive „Nietzsche-Roman“ (Ent:
30), die in der Forschungsliteratur zu Doktor Faustus verschiedentlich erörtert
wird.5 Ebenfalls weit rezipiert wurde die Erläuterung Thomas Manns, warum in
Doktor Faustus der Name des Philosophen expressis verbis vergebens zu suchen
ist und was dennoch seiner Biographie entlehnt wurde:

Da ist die Verflechtung der Tragödie Leverkühns mit derjenigen Nietzsches, dessen
Name wohlweislich in dem ganzen Buch nicht erscheint, eben weil der euphorische
Musiker an seine Stelle gesetzt ist, so daß es ihn nun nicht mehr geben darf; die
wörtliche Übernahme von Nietzsches Kölner Bordell-Erlebnis und seiner Krank-
heitssymptomatik, die Ecce-Homo-Zitate des Teufels, das – kaum einem Leser
bemerkliche – Zitat von Diät-Menus nach Briefen Nietzches aus Nizza, oder das
ebenfalls unauffällige Zitat von Deussens letztem Besuch mit dem Blumenstrauß
bei dem in geistige Nacht Versunkenen. (Ent: 29)6

3 Siehe DF: 209.


4 Am 27. Juni 1944 schreibt Thomas Mann in seinem Tagebuch: „Gearbeitet an XIX (h e
a e es)“ (TB2: 27.06.1944, S. 70).
5 Vgl. Ent: 13.
6 Zu Nietzsches Bordell-Erlebnis vgl. auch GkFA: 19.1, S. 189. Andere Ähnlichkei-

ten zwischen dem Leben Leverkühns und dem Nietzsches (etwa die Paralyse, die
8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus 273

Des Weiteren schreibt Thomas Mann in den Tagebüchern: „Nietzsche gelesen.


Befehlshaberisches über das Geschlechtsleben. (Er hat 2 mal im Leben Verkehr
gehabt.)“.7 Eben dieses letzte Zitat bietet eine gute Überleitung zu den folgen-
den Darlegungen, jedoch nicht weil sich das vorliegende Kapitel der bereits
gut erforschten Perspektive des Nietzsche-Romans widmet.8 Vielmehr ist es das
im Zitat angesprochene sexuelle Leben Nietzsches, das sich mit Beobachtungen
zur Darstellung von Hetaera Esmeralda im Roman gut verknüpfen lässt. Diese
konzentrieren sich auf ihre sexualisierte Charakterisierung, die vor allem von Zeit-
bloms Misogynie, was mehrere Stellen des Romans belegen, diktiert ist. Im ersten
Teil soll untersucht werden, inwieweit Esmeralda dem Typus der Femme fatale
entspricht. Der zweite Teil befasst sich noch näher mit Zeitbloms misogyner Dar-
stellung, indem u. a. ihre Tonchiffre in die Analyse einbezogen wird. Primär liegt
folglich der Fokus dieses Abschnitts und im Allgemeinen dieses Kapitels auf der
Darstellung von Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus.

8.1.1 Femmes fatales

Als Ergänzung zum sechsten Kapitel dieser Arbeit über den „Teufel“ soll durch
die Analyse der Charakterisierung von Esmeralda im Roman zugleich diskutiert
werden, inwieweit sie neben etwa Kretzschmar und Spengler als Teufelsemissärin
gesehen werden kann. Leverkühn lernt diese Figur durch Vermittlung eines weite-
ren Teufelsemissärs kennen, nämlich durch den Leipziger Dienstmann, mit dem er
die Stadt Leipzig besichtigt (es handelt sich wie im Fall des Teufelsgesprächs um
ein fiktives Dokument des Komponisten an Zeitblom, diesmal in Form eines auf
das Jahr 1905 datierten Briefes). Am Ende des Tages ist Leverkühn erschöpft und
hungrig. Der Dienstmann bringt ihn zu einem Gasthaus, das in der Tat ein Bordell
ist, und wünscht ihm einen „Guten Appetit“ (DF: 208). Dem verwirrten und betro-
genen Leverkühn kommen einige Prostituierte entgegen, die er folgendermaßen
beschreibt:

totale Geisteskrankheit, usw.) wurden u. a. von Bergsten hervorgehoben: Siehe Bergsten:


Untersuchungen, S. 72.
7 TB2: 16.04.1944, S. 45
8 Siehe z. B. Saariluoma, Liisa: Nietzsche als Roman. Über die Sinnkonstituierung in

Thomas Manns „Doktor Faustus“. Tübingen: Niemeyer 1996; Klugkist, Thomas: Sehn-
suchtskosmogonie. Thomas Manns „Doktor Faustus“ im Umkreis seiner Schopenhauer-,
Nietzsche- und Wagner-Rezeption. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000.
274 8 Hetaera Esmeralda

Nymphen und Töchter der Wüste, sechs oder sieben, wie soll ich sagen, Morphos,
Glasflügler, Esmeralden, wenig gekleidet, durchsichtig gekleidet, in Tüll, Gaze und
Glitzerwerk, das Haar lang offen, kurzlockig das Haar, gepuderte Halbkugeln, Arme
mit Spangen, und sehen dich mit erwartungsvollen, vom Lüster gleißenden Augen
an. (DF: 208 f.)

Leverkühn bezeichnet sie sofort mit dem Namen der Schmetterlinge aus dem
Buch seines Vaters, ist verwirrt und sucht Schutz in der Musik, und zwar an
einem offenen Klavier:

[Ich] schlage im Stehen zwei, drei Akkorde an, weiß noch, was es war, weil mir das
Klangphänomen gerade im Sinne lag. Modulation von H- nach C-dur, aufhellender
Halbton-Abstand wie im Gebet des Eremiten im Freischütz-Finale, bei dem Eintritt
von Pauke, Trompeten und Oboen auf dem Quartsextakkord von C. (DF: 209)

Gleich danach nähert sich ihm „eine Bräunliche, in spanischem Jäckchen, mit
großem Mund, Stumpfnase und Mandelaugen“ (DF: 209), die ihm mit dem Arm
die Wange streichelt und die er Esmeralda nennt (Leverkühns Bezeichnung für
alle Prostituierten des Bordells). Noch verwirrter verlässt Leverkühn den Ort so
schnell wie möglich. Der Bericht der Begegnung mit Esmeralda, zentraler Aus-
gangspunkt vieler Beiträge zu Thomas Manns Doktor Faustus, umfasst im Roman
nur eine Seite. Die Kommentare des Erzählers umrahmen diesen Bericht: Vor
der Wiedergabe von Leverkühns Brief präzisiert etwa Zeitblom, dass er ihn „mit
Empfindungen las, wie sie wohl eine Mutter bei solchen Mitteilungen eines Kin-
des bewegen mögen“ (DF: 203). Der Sprachstil ist – wie nicht selten im Fall
von Leverkühns fiktiven Dokumenten oder Reden –9 reich an Attributen und
wirkt exzentrisch, wie die anfängliche Anredeformel „Ehrbar, hochgelahrter, lie-
ber, günstiger Herr Magister und Ballisticus!“ (DF: 204) zeigt. Im letzten Teil des
Briefes stellt Leverkühn seine Gedanken bezüglich verschiedener Komponisten,
Künstler und Schriftsteller vor, die insgesamt mehr Platz als die Erzählung vom
Bordell-Erlebnis einnehmen.10
Zusätzlich zu den kurzen Kommentaren vor und nach Leverkühns Brief
widmet sich Zeitblom im darauf folgenden ca. sechsseitigen Kapitel noch ausführ-
licher der Bordell-Episode: Vergleichbar einer Briefausgabe mit Erläuterungen
liefert der Erzähler seiner Leser*innenschaft sämtliche Ausführungen zum Inhalt,
Sprachstil und zur korrekten Interpretation des Briefes seines Freundes:

9 Dies trifft allerdings oft auch auf Zeitbloms Narrationsstil zu. Vgl. Kap. 7.
10 Vgl. DF: 210 f.
8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus 275

Alles übrige war Zutat, Einhüllung, Vorwand, Aufschub und, nachher, ein gesprä-
chiges Wiederzudecken mit musikkritischen Aperçus, als ob es nichts gewesen
wäre. Auf die Anekdote, um ein sehr sachliches Wort zu gebrauchen, steuert alles
zu [...]. (DF: 211 f.; Herv. i. O.)

Zeitblom suggeriert, dass „die Betrachtungen über Schumann, die Romantik, Cho-
pin“ (DF: 212), die den zweiten Teil des Briefes bilden, „offenbar den Zweck“
(ebd.) verfolgen, der sogenannten Anekdote „das Gewicht zu nehmen […] [und]
sie wieder in Vergessenheit zu bringen“ (ebd.). Die Unzuverlässigkeit der Erzäh-
linstanz lässt sich zu Beginn des Kapitels erneut feststellen: „Der kategorischen
Weisung, diesen Brief zu vernichten, bin ich nicht gefolgt“ (DF: 211). Nicht nur
kommentiert Zeitblom wieder Ereignisse, bei denen er nicht anwesend war, mit
großer Sicherheit und Ausführlichkeit, nicht nur gibt er zu, den Brief wie eine
besorgte Mutter gelesen und ihn mit zitternden Händen abgeschrieben zu haben,
er verrät seiner Leser*innenschaft darüber hinaus, den Willen seines Freundes auf-
grund des „dokumentarischen Charakter[s]“ (DF: 194), den der Text hat, ignoriert
zu haben. Noch komischer wirkt es zudem, dass er seiner Leser*innenschaft eine
Analyse des Briefes liefert, deren Grenzen er jedoch zugleich deklariert: „Analyse
hat notwendig den Anschein der Kühle, auch wenn sie im Zustande tiefer Erschüt-
terung geübt wird. Erschüttert aber war ich, mehr noch, ich war außer mir“ (DF:
213).11 Seine Analyse entspricht seiner eigenen Definition zufolge aufgrund ihres
emotionalen Charakters nicht der Kategorie einer objektiven Interpretation.
Zeitbloms Erschütterung lässt sich dadurch begründen, dass Esmeralda seine
erste Konkurrentin in Sachen Liebe und Sexualität darstellt. Dass Leverkühn sexu-
ell begehrt, darüber hat der Erzähler den Leser*innen gegenüber noch nichts
verlauten lassen: „Es war, um mich emphatisch auszudrücken, wie wenn man
einen Engel über die Sünde sich ergehen hörte“ (ebd.). Der Dogmatismus des
katholischen Zeitblom setzt einen einmaligen Bordellbesuch mit einer Sünde
gleich. Provoziert vom Bericht des Freundes, gesteht er, eine fast rein sexu-
elle Beziehung „zu einem Mädchen aus dem Volk“ (DF: 215) unterhalten zu
haben. Dann äußert er seine tiefe Eifersucht, indem er zugleich Indizien für sein
Verhalten Frauen gegenüber liefert:

Ich hatte Lust, die Hexe mit dem Knie von ihm wegzustoßen, wie er den Schemel
beiseite stieß, um den Weg ins Freie zu gewinnen. Tagelang spürte ich die Berüh-
rung ihres Fleisches auf meiner eigenen Wange und wußte dabei mit Widerwillen,
mit Schrekken, daß sie seither auf der seinen brannte. (DF: 217)

11 Noch ein Beweis dafür, dass Zeitblom ein unzuverlässiger, aber doch kein inkompetenter

Erzähler ist. Vgl. 7.1.2.


276 8 Hetaera Esmeralda

Nach dem ersten Treffen mit Esmeralda im Leipziger Bordell, fährt Leverkühn im
Mai 1906 nach Graz, um „die österreichische Première der ,Salome‘“ (DF: 224)
zu hören. Dies ist zumindest das, was er seinen Freunden und seinem Lehrer
Kretzschmar erzählt. Es bleibt jedoch unklar, ob er an der Aufführung überhaupt
teilgenommen oder lediglich Esmeralda besucht hat. Die Prostituierte, die krank
ist und sich in Pressburg befindet, erinnert sich noch an Leverkühn und warnt
ihn vor ihrem Körper; Leverkühn „verschmäht[]“ (DF: 226) aber die Warnung
und besteht „auf dem Besitz dieses Fleisches“ (ebd.). So soll Leverkühn zum
ersten Mal Beischlaf mit einer Frau gehabt und sich folglich mit Syphilis infiziert
haben.12
Die Wahl der Oper geht Hand in Hand mit Esmeraldas Charakterisierung
im Roman.13 Denn Salome ist Stefan Wurz zufolge „geradezu der Inbegriff der
Femme fatale“;14 Silvia Volckmann fügt hinzu, ihr Phantasma sei für viele Künst-
ler*innen und Schriftsteller*innen zur Verkörperung „einer blutigen Bedrohung
durch das Weib und seine verführerische Potenz“15 geworden. Das Motiv der
Versuchung durch die Frau antizipierte schon Privatdozent Schleppfuß in seinen
Theologie-Sitzungen.16 Darüber hinaus wurde die Figur Salome in der Literatur

12 Die Stadien dieser Krankheit werden im folgenden Beitrag beschrieben: Lahmann, Claas:
Die Bedeutung der Krankheit für die Kunst in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“.
Frankfurt am Main: Fischer 1995.
13 Vorausgesetzt selbstverständlich, dass man davon ausgeht, dass sie nicht Zeitbloms

Phantasie entspringen. Auch der junge Adolf Hitler soll laut Wimmer an der Premiere
teilgenommen haben. Vgl. GkFA 10.2: 426 f.
14 Wurz, Stefan: Kundry, Salome, Lulu. Femmes fatales im Musikdrama (Magisterarbeit

Karlsruhe 1999, Karlsruher Beiträge zur Musikwissenschaft Bd. 4). Frankfurt am Main
(u. a.): Lang 2000, S. 84. Zur Femme fatale vgl. auch Bronfen, Elisabeth: Liebestod
und Femme fatale. Der Austausch sozialer Energien zwischen Oper, Literatur und Film.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004; Hoffmann-Curtius, Kathrin: Constructing the „femme
fatale“: A Dialogue between Sexology and the Visual Arts in Germany around 1900.
In: Fronius, Helen (Hrsg.): Representation of female victims and perpetrators in German
culture 1500–2000. Rochester/NY: Camden House 2008, S. 157–185. Zu Femmes fatales
bei Thomas Mann siehe: Galvan, Elisabeth: Femme fatale und Allegorie. Thomas Manns
Renaissancedrama „Fiorenza“ und das München der Jahrhundertwende. In: Koopmann,
Helmut (Hrsg.): Die Wiederkehr der Renaissance im 19. und 20. Jahrhundert. Münster:
mentis 2013, S. 181–193.
15 Volckmann, Silvia: Die Frau mit zwei Köpfen. Der Mythos Salomé. In: Kreuzer, Helmut

(Hrsg.): Don Juan und Femme fatale. München: Fink 1994, S. 127–142, hier: S. 128.
16 Vgl. DF: 155 u. 6.1.1.
8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus 277

auch mit der Syphilis verbunden, da der Teufel durch sie in dem (von Tho-
mas Mann selbst kritisierten) Drama Das Liebeskonzil von Oskar Panizza die
Krankheit verbreitet.17
Wie lassen sich Femmes fatales definieren? Helmut Kreuzer bezeichnet sie
als „Typus der kollektiven Phantasie“18 und hält sie für „mythische Figuren,
für fiktive Figuren, für ideologieträchtige Symbolfiguren der Erotik, die das eine
gemeinsam haben, daß sie dem Mann zum Verhängnis zu werden drohen, der in
ihren weiblichen Bannkreis gerät“.19 Auch für Wurz ist die Femme fatale eine

verhängnisvolle Frau [...], die meist unter Einsatz weiblicher Reize einen Mann ins
Unglück stürzt, bzw. zu stürzen versucht. Dieser kommt dabei häufig zu Tode, ver-
liert aber mindestens seine Gesundheit, seinen Verstand, seinen gesellschaftlichen
Status oder seine Familie.20

Beide Definitionen lassen an Doktor Faustus denken. Esmeralda muss wenig


weibliche Reize einsetzen, um Leverkühn zu erregen und zu verwirren: ihre las-
zive Bekleidung, die in ihrer Durchsichtigkeit den Körper zugleich kleidet und
zeigt21 sowie die Berührung mit dem Arm.22 Zeitblom spricht bezüglich der
Liebe seines Freundes zu ihr von einer „kruden Fixierung der Begierde auf ein
bestimmtes und individuelles Ziel; ich sehe sie in dem Moment der Wahl, sei
diese auch unfreiwillig und von ihrem Gegenstande dreist provoziert“ (DF: 224;
Herv. i. O.). Die Folgen der Ansteckung sind gesundheitliche Probleme sowie der
Wahnsinn, die beide zum definitiven Verlust von Leverkühns gesellschaftlichem
Status und zum Tod führen. Nur wenige Bekannte und Freund*innen nehmen an

17 In demselben Drama gibt es außerdem eine andere Femme fatale, und zwar Lucrezia

Borgia. Panizza, Oskar: Das Liebeskonzil: Eine Himmelstragödie in 5 Aufzügen, Zürich:


Schabelitz 1894. Die Kritik Thomas Manns an dem Stück findet sich in: Mann, Thomas:
Das Liebeskonzil [Rez.]. In: Das zwanzigste Jahrhundert 5 (1895) H. 5, S. 522. Des Wei-
teren wird Esmeralda in der Forschungsliteratur auch mit Wagners Kundry assoziiert, der
Dienerin des Grals, die Esmeralda laut Puschmann in dieser Doppelrolle von Verführung
und „selbstloser Hilfsbereitschaft“ gleiche. Puschmann: Magisches Quadrat, S. 144. Siehe
auch Börnchen: Kryptenhall, S. 254.
18 Kreuzer, Helmut: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Don Juan und Femme fatale, S. 7–16,

hier: S. 9.
19 Ebd.
20 Wurz: Kundry, Salome, Lulu, S. 17.
21 Siehe Börnchen: Kryptenhall, S. 249–252.
22 Vgl. DF: 209.
278 8 Hetaera Esmeralda

seiner Beerdigung teil: lediglich Zeitblom, Schildknapp, Jeanette Scheurl, Kuni-


gunde Rosenstiel, Meta Nackedey und eine „unkenntlich verschleierte Fremde“
(DF: 738).
Der Typus – oder mit Nieberle genauer gefasst: das „kulturelle[] Stereo-
typ[]“23 – ,Femme fatale‘ lässt sich nicht eindeutig beschreiben, jedoch seien im
Folgenden drei Konstanten erwähnt: Sie ist exotisch, eine Tänzerin bzw. eine Sän-
gerin und steril.24 Auch in Doktor Faustus kommt es nicht zwecks der Reproduk-
tion zum Geschlechtsverkehr mit Esmeralda. Der Hinweis in der Abschiedsrede
auf das Kind, das Leverkühn mit Hyphialta gehabt habe und das man häufig
mit Echo assoziiert, scheint eine Erfindung des wahnsinnigen Komponisten zu
sein; es sollte zudem geklärt werden, ob die These plausibel ist, dass Hyphi-
alta und Esmeralda dieselbe Figur sind.25 Man weiß selbstverständlich nicht, ob
Esmeralda tatsächlich an Sterilität leidet, jedoch lässt sich der Intimverkehr zwi-
schen Leverkühn und ihr auf einer nicht metaphorischen Ebene (denn auf dieser
Ebene ist er doch die Quelle erneuter künstlerischer Inspiration) als steril begrei-
fen; auch bezüglich Leverkühns unverheirateter oder verwitweter Verehrerinnen
(Frau von Tolna, Nackedey, Rosenstiel, Scheurl) ist festzustellen, dass im Roman
nur beiläufig die Rede von ihren Kindern ist.26
Darüber hinaus stellt Esmeralda eine exotische Figur dar (das Adjektiv wird
hier in seiner ursprünglichen, Fremdländisches bzw. Ausländisches bezeichnen-
den Bedeutung verwendet). Die Übersetzung des deutschen Wortes ,Smaragd‘ ins
Spanische lautet ,Esmeralda‘.27 Dies ist aber nicht das einzige Element, das die
Prostituierte mit Spanien verbindet. Sie wird von Leverkühn als „eine Bräunliche,
in spanischem Jäckchen, mit großem Mund, Stumpfnase und Mandelaugen“ (DF:
209) beschrieben. Des Weiteren begegnet er der Frau zum zweiten Mal in Press-
burg, dem heutigen Bratislava, also in einer Stadt, die damals ebenfalls außerhalb
Deutschlands lag. Esmeralda singt und tanzt nicht. Dennoch nähert sie sich Lever-
kühn im Leipziger Freudenhaus, nachdem er völlig verwirrt einige Akkorde am
Klavier angeschlagen hat:28 Damit entsteht ein Zusammenhang mit der Musik.

23 Nieberle, Sigrid: Gender Studies und Literatur: Eine Einführung. Darmstadt: Wissen-

schaftliche Buchgesellschaft 2013, S. 58.


24 Siehe Wurz: Kundry, Salome, Lulu, S. 34.
25 Vgl. DF: 725. Siehe dazu auch die Frage nach der Identität von Frau von Tolna in

10.1.2.
26 Scheurl betreffend, siehe etwa DF: 294.
27 Siehe Oswald, Victor A. Jr.: Thomas Mann’s Doktor Faustus: The Enigma of Frau von

Tolna. In: Germanic Review 23 (1948) H. 4, S. 249–253, hier: S. 252.


28 Vgl. DF: ebd.
8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus 279

Die Femme fatale repräsentiert Carola Hilmes zufolge eine „männliche[]


Wunsch-Angst-Projektion“.29 Das heißt, so erläutert das Ulrich Meier, die Bedro-
hung komme nicht wirklich von außen, sondern es finde eine „Verteufelung der
Frau“30 statt: „Man wirft dem Weib die Urheberschaft ungestümer Regungen,
allgemein ein Bündnis mit unterirdischen Kräften vor“.31 Dies scheint genau
in Thomas Manns Roman der Fall zu sein: Zeitblom spricht bezüglich des
Geschlechtsverkehrs von „Verlangen nach dämonischer Empfängnis“ (DF: 226)
und er betrachtet die Frau u. a. im Teufelsgespräch als Teufelsemissärin.32
Der Typus der Femme fatale stellt als Reaktion auf die Emanzipation und das
1918 eingeführte Wahlrecht für die Frau ein typisches Kunstprodukt der Jahr-
hundertwende dar.33 Nicht selten hat sie die Rolle der Prostituierten inne oder
wird als solche porträtiert: „Die dämonische Verführerin“, so Hilmes, „ist Heilige
und Hure in einer Person und verkörpert als gefallener Engel einen verteufelten
Eros“.34 Rudloffs Analyse scheint zu einem ähnlichen Schluss zu kommen: Dort
sei Doktor Faustus ein „Zwei-Brüder-Märchen“;35 in diesem Kontext lasse sich
Leipzig, Stadt des Bordellbesuchs, mit einem „Zauberwald“36 vergleichen, „in
dem sich der Fremde verirrt“37 und in dem Esmeralda die doppelte Funktion von
Hexe und Helferin übernimmt. Sie könne für eine Hexe gehalten werden, da sie
durch Verzauberung die Krankheit auf einen Helden überträgt, aber auch für eine
Helferin, weil der Held danach innovativer komponieren kann.38

29 Hilmes, Carola: Kleopatra. Das versteinerte Frauenbild und die Geschichten eines

verteufelten Eros. In: Kreuzer (Hrsg.): Don Juan und Femme fatale, S. 99–116, hier:
S. 100.
30 Meier, Ulrich: Verführerinnen der Jahrhundertwende. Kunst – Literatur – Film. In:

Kreuzer (Hrsg.): Don Juan und Femme fatale, S. 155–163, hier: S. 156.
31 Ebd., S. 159.
32 Vgl. DF: 341. Darmaun findet, Esmeralda sei eine Art Mephistophela. Siehe Darmaun:

Thomas Mann, Deutschland und die Juden, S. 269.


33 Vgl. Meier: Verführerinnen, S. 156.
34 Hilmes: Kleopatra, S. 105.
35 Rudloff: Hetaera Esmeralda, S. 404.
36 Ebd.
37 Ebd.
38 Vgl. ebd., S. 404.
280 8 Hetaera Esmeralda

8.1.2 Unvollständige Tonchiffren und Zeitbloms Misogynie

Es gilt nun, die Verteufelung von Esmeralda und vielen anderen Figuren weib-
lichen Geschlechts durch die Erzählinstanz näher auszuloten. Laut Börnchen
gliedern sich die weiblichen Figuren von Doktor Faustus in sexualisierte und
desexualisierte Gestalten.39 Es zeichnen sich folglich zwei Darstellungsarten im
Roman ab: Entweder erfüllen Frauen im Roman Reproduktionszwecke bzw. sie
bedienen einfach das Verlangen nach sexueller Befriedigung des Mannes oder sie
bieten ihm Schutz und sind unattraktiv. Das wahrscheinlich beste Beispiel aus
dem Roman, das im Rahmen von Börnchens Studie eine wichtige Rolle spielt, ist
Zeitbloms Ehefrau, Helene, die nicht nur den Namen des mythischen Inbegriffs
der Frau, die aus trojanischer Sicht ins Unglück bringt, trägt, sondern viele weib-
liche Tugenden verkörpert.40 Exemplarisch sei hier ein Zitat aus dem zweiten
Kapitel von Doktor Faustus erwähnt, in dem der Erzähler, nachdem er Leverkühn
kurz vorgestellt hat, sich selbst präsentiert:

Frühzeitig, bald schon nach meiner Bestallung in Kaisersaschern, habe ich mich
vermählt – Ordnungsbedürfnis und der Wunsch nach sittlicher Einfügung ins Men-
schenleben leiteten mich bei diesem Schritt. Helene, geb. Ölhafen, mein treffliches
Weib, das noch heute meine sich neigenden Jahre betreut, war die Tochter eines
älteren Fakultäts- und Amtskollegen zu Zwickau im Königreich Sachsen, und auf
die Gefahr hin, das Lächeln des Lesers hervorzurufen, will ich nur gestehen, daß
der Vorname des frischen Kindes, Helene, dieser teure Laut, bei meiner Wahl nicht
die letzte Rolle spielte. Ein solcher Name bedeutete eine Weihe, deren reinem Zau-
ber man nicht seine Wirkung verwehrt, sollte auch das Äußere der Trägerin seine
hohen Ansprüche nur in bürgerlich bescheidenem Maß, und auch dies nur vorüber-
gehend, vermöge rasch entweichenden Jugendreizes erfüllen. Auch unsere Tochter,
die sich längst einem braven Manne, Prokuristen an der Filiale der Bayerischen
Effektenbank in Regensburg, verbunden hat, haben wir Helene genannt. Außer ihr
schenkte meine liebe Frau mir noch zwei Söhne, so daß ich die Freuden und Sorgen
der Vaterschaft nach Menschengebühr, wenn auch in nüchternen Grenzen erfahren
habe. (DF: 20 f.)41

„Perfekter“ könnte Zeitbloms Frau nicht sein: Sie ist kein „Mädchen aus dem
Volke“ (DF: 215) wie das, mit dem er in Halle eine rein sexuelle Beziehung

39 Siehe Börnchen: Kryptenhall, S. 314.


40 Vgl. ebd., S. 204 ff.; Ní Dhuíll, Caitríona: Biographie von ,er‘ bis ,sie‘. Möglichkeiten
und Grenzen relationaler Biographik. In: Fetz, Bernhard (Hrsg.): Die Biographie – Zur
Grundlegung ihrer Theorie. Berlin (u. a.): de Gruyter 2009, S. 199–226, hier: S. 212.
41 Vgl. auch DF: 251: „Heute morgen, während Helene, meine gute Frau, uns den

Morgentrank bereitete […]“.


8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus 281

unterhalten hatte, sie betreut ihn und hat ihm darüber hinaus auch männliche
Erben geschenkt. Kein Wunder, dass sich das Ehepaar für denselben Namen bei
der Wahl des Tochternamens entschieden hat, der sich – sittlich-bürgerlichen Ver-
hältnissen gemäß – als erfolgsversprechend erwiesen hat. Des Weiteren wird im
obigen Zitat nochmals die mitberücksichtigte klangliche Qualität der von Zeit-
bloms verwendeten Wörter betont.42 Zeitbloms Frau kommt aus Sachsen, was für
Börnchens These einer „Helena Esmeralda“,43 also einer Identität von Helene und
Esmeralda, sprechen könnte, da in Leipzig der Bordellbesuch angesiedelt ist.
Was für intellektuelle Fähigkeiten Zeitbloms Ehefrau und Tochter besitzen,
erfährt die Leser*innenschaft nicht. Dies ist aber kein Einzelfall im Roman, denn,
auch wenn weiblichen Gestalten Intelligenz oder im geistigen Bereich liegende
Talente zugesprochen werden, geraten diese wegen der detaillierten, oft zugespitz-
ten Beschreibung von Körpermerkmalen in den Hintergrund; das gilt insbesondere
für die sexualisierten weiblichen Figuren von nicht selten niedrigem sozialen
Status. Nicht nur wird auf den großen Mund und die Stumpfnase Esmeraldas
hingewiesen,44 auch die Stallmagd Hanne, die den Kindern das Singen von Kan-
ons beibringt, ist Zeitblom zufolge so ein „tierisch duftende[s] Geschöpf“ (DF:
39), dass sie an manchen Stellen der Narration sogar den Namen „Stall-Hanne“
(DF: 47) bekommt.45 Auch in Pfeiffering soll es eine Stallmagd „mit Waberbu-
sen und emsig mistigen Barfüßen“ (DF: 46) gegeben haben, die „der Hanne von
Buchel so ähnlich“ (ebd.) sieht. Der Körper weiblicher Figuren steht im Roman
stets im Vordergrund, auch der nackte Körper, wie nicht nur an der Beschreibung
der Prostituierten im Leipziger Bordell, sondern auch anhand des Namens von
Leverkühns Verehrerin Meta Nackedey deutlich wird.46
Andererseits gebe es – so z. B. Börnchen – desexualisierte weibliche Figuren
in Doktor Faustus, die Leverkühn verehren und ihm auch Schutz bieten. Frau von
Tolna ist beispielsweise Leverkühns Mäzenin: Sie finanziert sein Werk, ist bei
allen Uraufführungen unsichtbar dabei und ihre Körpermerkmale werden kaum
beschrieben.47 Sie lässt an einige berühmte weibliche Mäzeninnen der Musikge-
schichte denken, z. B. an Frau von Meck, die Mäzenin Tschaikowskis.48 Eine

42 Vgl. Kap. 5.
43 Bornchen: Kryptenhall, S. 262.
44 Zudem sollte diese Beschreibung von Leverkühn stammen.
45 Siehe ebd., S. 266.
46 Vgl. ebd., S. 268.
47 Auf diese Figur geht 10.1.2. ein.
48 Vgl. ebd.
282 8 Hetaera Esmeralda

weitere desexualisierte Figur wäre Kunigunde Rosenstiel, die Leverkühn in Pfeif-


fering regelmäßig besucht: Zeitblom spricht von „Huldigungsbesuch[en]“ (DF:
456), Rosenstiel konkurriert mit einer anderen Verehrerin Leverkühns, nämlich
mit der bereits erwähnten Meta Nackedey, die schon durch ihren Nacktheit aus-
drückenden Namen den sexualisierten weiblichen Figuren zugeordnet werden
kann. Börnchens dichotomischer Untergliederung in sexualisierte und desexuali-
sierte weibliche Figuren lässt sich auch anhand der folgenden textuellen Indizien
widersprechen: Das Erste, was Zeitblom über Rosenstiel sagt, ist, dass sie
einerseits „Mit-Inhaberin eines Darmgeschäftes“ (DF: 455), andererseits „jüng-
ferlich[]“ (ebd.) wie die Nackedey ist. Der Erzähler stellt auch hier, ähnlich wie
bei der Beschreibung der Stallmägde, Aspekte und Körpermerkmale weiblicher
Figuren, die zu einem impliziten Vergleich zwischen der Tierwelt und Frauen
führen, in den Vordergrund49 und spricht sofort die sexuelle Sphäre an.50 Zwar
präzisiert er gleich danach, was er mit „Darmgeschäft“ (DF: 455) meint („will
sagen: eines Betriebes zur Herstellung von Wursthüllen“, ebd.), zuvor werden
jedoch innere Organe angesprochen, die nicht weit entfernt von den Reprodukti-
onsorganen liegen. Durch die explizite Erwähnung, dass sie eine Jungfrau ist, wird
die sexuell-konnotierte Rezeptionslenkung aufrechterhalten.51 Diese taucht auch
in den Äußerungen Rosenstiels auf, von denen Zeitblom kurz danach berichtet,
denn das „Ach“, mit dem sie alle Sätze anfängt,52 ist ja Klagelaut und verweist
auf die Weheklag, kann aber auch mit dem Ächzen beim Geschlechtsverkehr
in Verbindung gebracht werden und kommt in den Äußerungen des wohl „se-
xualisierten“, androgyne Züge tragenden Schwerdtfegers ebenfalls vor.53 Diese
Beobachtung verleiht dem durchgehenden Klagen im Text eine neue Konnotation
und macht noch einmal deutlich, dass Frauen für Zeitblom zwar andere Tugenden
besitzen, Rosenstiel sei etwa sehr musikalisch und könne sich ausgezeichnet in

49 Das gibt Zeitblom selbst zu: „[D]enn eine Wurstdarmfabrik hat entschieden etwas

Derbes“ (DF: 456).


50 Dazu siehe auch: Stephan, Inge: „Da werden Weiber zu Hyänen …“: Amazonen und

Amazonenmythen bei Schiller und Kleist. In: Stephan, Inge u. Sigrid Weigel (Hrsg.):
Feministische Literaturwissenschaft. Dokumentation der Tagung in Hamburg vom Mai
1983. Berlin: Argument 1984, S. 23–42.
51 Zur Figur vgl. auch Elsaghe, Yahya: Kunigunde Rosenstiel. Thomas Manns späte Alle-

gorie des jüdischen „Volks“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. Neue Folge 51


(2001) Heft 2, S. 159–172 u. Ders.: Die Jüdinnen in Thomas Manns Erzählwerk. In:
Monatshefte 93 (2001) H. 2, S. 169–175.
52 Siehe DF: 456. Vgl. auch Börnchen: Kryptenhall, S. 313.
53 Vgl. DF: 429 u. Kap. 9.
8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus 283

der deutschen Sprache ausdrücken,54 hauptsächlich aber der Reproduktion bzw.


Befriedigung männlichen Begehrens dienen.
Kaum anzuzweifeln ist die Sexualisierung Esmeraldas: Sexuelle Metaphern
und erotische Motive prägen bereits das dritte Kapitel von Doktor Faustus, in
dem der gleichnamige Schmetterling präsentiert wird. Dort ist nicht nur von die-
sen Insekten die Rede, sondern auch von Muscheln und Schnecken: Die Formen
beider Tiere sind nicht selten mit weiblichen Intimorganen assoziiert worden;
zudem wird der „Giftbiss[]“ (DF: 30) einer besonderen Art von Schnecken im
Kapitel beschrieben, der sich mit der späteren Übertragung der Syphilis durch
den Geschlechtsverkehr in Verbindung bringen lässt.55 Außerdem stellt Lever-
kühn in der kompositorischen Phase der Gesta romanorum seine Absicht eines
„Durchbruch[s] […] aus geistiger Kälte in eine Wagniswelt neuen Gefühls“ (DF:
468; Herv. i. O.) vor und antizipiert somit die spätere revolutionäre Lösung der
Zwölftontechnik als Ausweg aus der Sterilität der Kunst, indem er auf die sexuelle
Penetration anspielt, was typographisch durch die Kursivierung auch hervorgeho-
ben wird.56 Dies führt zu metamedialen Reflexionen, die – darauf weist Börnchen
hin – vom „topologischen Hintergrund des ,Wahrheits‘ begriffes“57 ausgehen:
Dieser werde z. B. bei Heidegger und Derrida allegorisch mit dem Frauenkörper
und mit der Ausübung einer gewissen Gewalt zwecks Entkleidens der Oberflä-
che des Textes verbunden.58 Auch der Topos der Sterilität der Musik zielt auf
die Reproduktionsunfähigkeit der Musik und rekurriert auf sexuelle Metaphern:
In dieser Hinsicht soll auch die Musik „durchdrungen“ werden; der Durchbruch,
den Leverkühn zur Zeit der Gesta beabsichtigt, ermöglicht ihm laut Zeitblom zum
„Geheimnis der Musik“ (DF: 549) in der Apocalipsis cum figuris zu gelangen.
Diese so entdeckte „Wahrheit der Musik“ soll dann Leverkühn in der Weheklag
umgesetzt haben; kein Wunder, dass sich der Erzähler dort folgende Fragen stellt:

Bedeutet es nicht den „Durchbruch“, von dem zwischen uns, wenn wir das Schick-
sal der Kunst, Stand und Stunde derselben, besannen und erörterten, so oft als
von einem Problem, einer paradoxen Möglichkeit die Rede war, – die Wiederge-
winnung, ich möchte nicht sagen und sage es der Genauigkeit willen doch: die
Rekonstruktion des Ausdrucks, der höchsten und tiefsten Ansprechung des Gefühls

54 Siehe DF: 457.


55 Vgl. Börnchen: Kryptenhall, S. 215.
56 Wörter, die eine sexuelle Konnotation besitzen, erscheinen im Roman oft kursiv, wie an

den Romanzitaten des vorliegenden Kapitels festzustellen ist.


57 Börnchen: Kryptenhall, S. 264.
58 Siehe ebd. u. Derrida: Grammatologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016 [Paris 1967],

13. Aufl., S. 23–35.


284 8 Hetaera Esmeralda

auf einer Stufe der Geistigkeit und der Formenstrenge, die erreicht werden mußte,
damit dieses Umschlagen kalkulatorischer Kälte in den expressiven Seelenlaut und
kreatürlich sich anvertrauende Herzlichkeit Ereignis werden könnte?
Ich kleide in Fragen, was nichts weiter als die Beschreibung eines Tatbestandes, der
seine Erklärung im Gegenständlichen sowohl wie im Künstlerisch-Formalen findet.
(DF: 703)

Lexikalisch tauchen hier wieder Wörter auf, die auch Leverkühn zum Beschrei-
ben seines künstlerischen Vorhabens verwendet hatte (,Durchbruch‘, ,geistig‘,
,Gefühl‘, ,Kälte‘); durch das Verb ,müssen‘ wird darauf hingewiesen, dass es
sich hier um keine optionale, sondern um eine „obligatorische Alternative“59
handelt.60 Diese erlaube die Überwindung der Sterilität der Kunst und die Auf-
deckung ihres wahren Wesens, das die Sprache nur in Fragen zu kleiden vermag.
Daher auch die Wiederholung der Motive der Durchsichtigkeit (etwa die Kleider
der Prostituierten in Leipzig) und der Verschleierung (etwa die verschleierte Frau
bei Leverkühns Trauerfeier): Börnchen spricht diesbezüglich von einem „topi-
sche[n] Schleier, der durchsichtig gemacht, aufgehoben oder gar zerrissen werden
muß, um zur ,Wahrheit‘ dessen zu gelangen, was sich dahinter befindet“61 –
dieser Schleier gehöre eindeutig einer Frau.62 Die Präsenz dieser allegorischen
Motive im Roman, die mit dem Topos der Sterilität der Kunst einhergehen,63
stellen die auch von Adorno angesprochenen Vorwürfe eines übertriebenen Intel-
lektualismus der Neuen Musik in Frage.64 Die Entwicklung der Dodekaphonie
wird metaphorisch mit einem Geschlechtsakt assoziiert, der mit einem gewissen
Widerstand vollzogen wird: Zwar soll Esmeralda Leverkühn „alle Süßigkeiten
ihres Weibtums“ (DF: 226) aufgeboten haben, „um ihn zu entschädigen für das,
was er für sie wagte“ (ebd.), aber die Prostituierte wirft sich nicht in die Arme des
Komponisten, sondern warnt ihn „vor ihrem Körper“ (DF: 225; Herv. i. O.).65

59 Manzoni: Anmerkungen, S. 56.


60 So auch Manzoni in seinen Schriften bezüglich Leverkühns Umsetzung der Zwölfton-
technik. Vgl. 5.2.1.1.
61 Börnchen: Kryptenhall, S. 263.
62 Siehe ebd.
63 Börnchen weist darauf hin, der Transparenz- und Diaphaniebegriff sei die Trope für die

Durchdringung. Siehe ebd., S. 250.


64 Siehe PhnM: 21 f. Auch Adorno verknüpft die Idee eines Durchbruchs mit der einer

(gesellschaftlichen) Wahrheit. Siehe ebd., S. 24.


65 Daher die These in der Forschungsliteratur, Leverkühn infiziere sich absichtlich.

Vgl. 6.1.2 Hier steht wieder die sexuelle Dimension im Zentrum und die Textstelle wird
typographisch durch die Kursivierungen erneut hervorgehoben.
8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus 285

Esmeraldas Warnung lässt sich auch mit jenem von Freud in Jenseits des
Lustprinzips beschriebenen Reizschutz in Verbindung bringen. Zur Beschäfti-
gung mit diesem Text motiviert einerseits das chronotopische textuelle Indiz des
Geschlechtsaktes mit Esmeralda – Leverkühn reist 1906 nach Graz, um dann wei-
ter nach Pressburg zu fahren, der Schauplatz ist die Monarchie Österreich-Ungarn
– andererseits die Notwendigkeit, sich mit den damaligen die Sexualität betref-
fenden psychoanalytischen Theorien auseinanderzusetzen. Dies verbindet sich mit
der Absicht zu prüfen, ob auch lediglich auf lexikalischer Ebene ähnliche Begriffe
auftauchen, die die sexuelle Metaphorik des Textes noch deutlicher machen.66
In Bezug auf den Reizschutz spricht Freud von einer „besondere[n] Hülle oder
Membran“,67 die „reizabhaltend wirkt […] bis nicht Reize von solcher Stärke her-
ankommen, daß sie den Reizschutz durchbrechen“.68 Dieser Reizschutz kommt
im Roman sowohl durch die Warnung Esmeraldas als auch durch das Motiv der
Verschleierung zum Tragen: Dieser kann Freud zufolge durchbrochen werden,
wobei die Folge dieses Durchbruchs „die gemeine traumatische Neurose“69 sei.
Des Weiteren schildert Freud die Sexualtriebe als Lebenstriebe,70 die sich gegen
die Ich-Triebe, also die Todestriebe, opponieren:71 Diese seien zugleich „lebens-
erhaltend und verjüngend“72 und könnten „narzißtisch“,73 insbesondere wenn die
„Libido vom Objekt abgezogen und aufs Ich gerichtet wird“,74 sadistisch, wenn

66 Die hier betrachtete Schrift von Freud erschien 1920, als die Monarchie Österreich-

Ungarn nicht mehr bestand. Der Erzähler Zeitblom berichtet aber retrospektiv während des
Zweiten Weltkriegs und der Roman selbst wurde 1947 veröffentlicht, sodass man von einer
Rezeption von Freuds Theorien wohl ausgehen kann. Zum Einfluss von Freuds Schiften
auf Thomas Manns Roman siehe: Ceppo, Anna Maria: Freud nel „Doctor Faustus“ di
Thomas Mann. In: Nuova Rivista Storica 64 (1980) H. 5, S. 637–652; Straus, Nina Pelikan:
„Why Must Everything Seem Like Its Own Parody?“: Thomas Mann’s Parody of Sigmund
Freud in Doctor Faustus. In: Literature and Psychology 33 (1987) H. 3–4, S. 59–75.
67 Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips. Leipzig (u. a.): Internationaler Psychoanaly-

tischer Verlag 1921 [1920], 2. durchgesehene Aufl., S. 24.


68 Ebd.
69 Ebd., S. 28 Auf derselben Seite taucht auch direkt das Substantiv ,Durchbruch‘ auf.

Es wundert daher in diesem Kontext nicht, dass die Konsequenz jenes Durchbruchs von
Leverkühn, der sowohl der Geschlechtsverkehr mit Esmeralda als auch die Entdeckung
der Zwölftontechnik sein könnte, eben das Delirium ist.
70 Siehe z. B. ebd., S. 38 f.
71 Vgl. etwa ebd., S. 43.
72 Ebd., S. 49.
73 Ebd.
74 Ebd., S. 51.
286 8 Hetaera Esmeralda

der Trieb, „auf die Schädigung des Objektes zielt“,75 aber auch masochistisch
„als eine Rückwendung des Sadismus gegen das eigene Ich“76 gewendet werden.
In den Romankapiteln, die auf die Bordell-Episode folgen, häufen sich Wör-
ter und Ausdrücke, die auch in Freuds Text zu finden sind und die auch der
sexuell-konnotierten Deutungsebene des Durchbruchs- und Verschleierungsmotivs
zugeordnet werden können. So taucht beispielsweise mehrfach das Wort „Trieb“
auf (z. B. DF: 226, auch „nackte[r] Triebe“, was wieder auf das Motiv der Nackt-
heit hinweist, DF: 224). Das Wort „Begierde“ (DF: 224) ist ebenfalls zu finden;
des Weiteren vergleicht Zeitblom Leverkühns Bericht vom Bordell-Erlebnis mit
einer „Durchbrechung einer sonst unbedingten und von mir stets respektierten
Verschlossenheit“ (DF: 214; Herv. A. O.). Der Erzähler definiert diesen Trieb als
eine „krude Fixierung der Begierde auf ein bestimmtes und individuelles Ziel“
(DF: 224; Herv. i. O.), was also der Auffassung Freuds folgend für einen narziss-
tischen Trieb sprechen könnte. Sexualität kombiniere sich hier mit dem Bereich
des Dämonischen:

Und, gütiger Himmel, war es nicht Liebe auch, oder was war es, welche Verses-
senheit, welcher Wille zum gottversuchenden Wagnis, welcher Trieb, die Strafe in
die Sünde einzubeziehen, endlich: welches tief geheimste Verlangen nach dämoni-
scher Empfängnis, nach einer tödlich entfesselnden chymischen Veränderung seiner
Natur wirkte dahin, daß der Gewarnte die Warnung verschmähte und auf dem Besitz
dieses Fleisches bestand? (DF: 226)

Der Ausdruck „Besitz dieses Fleisches“ weist noch einmal darauf hin, dass es
sich um einen narzisstischen Trieb handelt: Ob die Frau dem Geschlechtsakt
zustimmt, scheint hier und an anderen Stellen der Esmeralda-Kapitel irrelevant
zu sein, nicht zuletzt, weil gar keine Frau erwähnt wird, denn Esmeralda wird
hinter dem Wort „Fleisch“ verborgen. Das weibliche Geschlecht erfüllt daher
lediglich Reproduktionszwecke und wird in der Narration zum sexuellen Objekt
eines begehrenden Mannes gemacht.77 Eine gewisse Misogynie Zeitbloms lässt
sich auch anhand eines Vergleichs der Tonchiffren von Leverkühn und Esmeralda
konstatieren. Dass die Tonchiffre Esmeraldas in mehreren Kompositionen Lever-
kühns auftaucht oder sogar zum Ausgangsmaterial des Komponierens gemacht

75 Ebd., S. 53.
76 Ebd., S. 54.
77 Leicht unterschiedlich profiliert sich aber im Roman die Figur Ines Rodde, der sich u. a.

Kap. 9 widmet.
8.1 Weiblichkeit und Sexualität in Doktor Faustus 287

wird,78 ist wohl bekannt.79 In der Tat ist diese musikalische Chiffre falsch oder –
genauer gesagt – unvollständig. Hetaera Esmeralda wäre: h e a e a es e a d a. Man
könnte aufgrund der Wiederholung der Töne auch schreiben: h e a e (a) es (e) (a)
d (a) und dementsprechend vier Töne eliminieren. Die wiederholten Töne dazwi-
schen sollen laut Zeitblom in einigen Kompositionen Leverkühns vorkommen,
von dieser vergessenen Note d ist aber nie die Rede: Der Name lautete – über-
setzt in Buchstaben – ,Hetaera Es‘.80 Esmeraldas Tonchiffre ist daher defizitär
und stellt ihren sozialen Status in den Vordergrund; es mag auch nicht erstaunen,
dass die Intervalle, aus denen Leverkühns und Esmeraldas Tonchiffren bestehen,
zum großen Teil vergleichbar sind, bis auf jene verminderte Prime, die nur in der
Tonchiffre der weiblichen Figur zu finden ist (Abbildung 8.1):

Abbildung 8.1 Die Tonchiffren Leverkühns und Esmeraldas

Die explizite Erwähnung der Tonchiffre Esmeraldas regt zu diesem Vergleich


mit nicht explizit benannten Tonchiffren an. Zeitbloms oft misogyne Darstellung
von weiblichen Figuren wird durch die beiden vorher genannten Elemente, die
Auslassung der Note d sowie die Präsenz einer verminderten Prime (die – wie
der Name selbst sagt – ein Intervall vermindert, sprich: kleiner macht), weiter

78 Siehe etwa den Brentano-Zyklus, DF: 279.


79 Vgl. z. B. Weiher, Frank: Die literarische ,Wiedergabe‘ fiktiver Musik, S. 83.
80 Siehe auch Manzoni: Su Scene sinfoniche, S. 295.
288 8 Hetaera Esmeralda

verstärkt.81 Die Misogynie der Erzählinstanz kristallisiert sich bereits aus tex-
timmanenter sowie intra- und intermedialer Perspektive heraus; diese Haltung
des Erzählers dem weiblichen Geschlecht gegenüber kommt in ihrer Darstellung
als Femme fatale und in der Darstellung der Frau als Objekt, welches sexuelle
Wünsche erfüllt, zum Tragen. Im Roman wird ihr zudem eine unvollständige
Tonchiffre gegeben.

8.2 Vom Roman zur Musik

Nachdem im ersten Teil des Kapitels untersucht wurde, wie Esmeralda im Roman
durch die Erzählinstanz Zeitblom dargestellt wird, soll im Folgenden auf die Dar-
stellung dieser Figur in vier Kompositionen eingegangen werden, nämlich im
zweiten Stück von Elaines Fines Four pieces from „Doktor Faustus“, in Hen-
zes Violinkonzert, in Hetaera Esmeralda von Claude Lenners und in Manzonis
Oper.

8.2.1 Walzer und h e a e es d: Elaine Fines Esmeralda

Das zweite Stück von Elaine Fines Four pieces from „Doktor Faustus“ (für Viola
d’amore und Klavier)82 konzentriert sich, wie der paratextuelle Hinweis des Titels
deutlich macht, auf die Figur Esmeraldas. Die Komponistin beschreibt ihr Werk
so:83

Hetaere [sic] esmeralda is a waltz that has a tone row as its main melody. It is not
a 12-tone piece, but it still has obvious connections to the time and place of the
book.

81 Dies könnte zu den Versehen des Romans zählen; diese Frage lässt sich wahrscheinlich

lediglich anhand des Kriteriums der Intentionalität sowie einer genauen Rekonstruktion
der tatsächlichen Interventionen Adornos beantworten, was den Rahmen und die Methode
dieser Arbeit sprengen würde. Börnchen hebt des Weiteren hervor, dass sich in den Aus-
führungen Leverkühns, die auf die Bordell-Episode folgen, Chopin als männliche, positive
Gegenfigur profiliert. Siehe DF: 192 ff. u. Börnchen: Kryptenhall, S. 254.
82 Zwei Stücke aus der Komposition wurden in 7.2.1 analysiert.
83 E-Mail an die Verfasserin (02.07.2013).
8.2 Vom Roman zur Musik 289

Raum und Zeit des Romans sollen also laut der Komponistin Ausgangspunkt des
Vertonens gewesen sein. Ob sich Fine in „Hetaere esmeralda“ auf das Bordell-
Erlebnis in Leipzig oder auf den Geschlechtsakt in Pressburg bezieht, bleibt
unklar. Die Musikform des Stückes, die der paratextuelle Hinweis „Waltz Tem-
po“ zu Beginn der Komposition offen deklariert, scheint mehr mit der Monarchie
Österreich-Ungarn als mit Leipzig zu tun zu haben. Folglich könnte man zur
Auffassung tendieren, hier werde Esmeraldas Geschlechtsverkehr mit Leverkühn
geschildert. Von Leverkühn ist aber, zumindest in den paratextuellen Hinweisen
der Komposition, gar nicht die Rede:84 Fines Stück stellt Esmeralda ins Zen-
trum. Die Viola d’amore scheint hier nicht mehr für Zeitblom, sondern für sie
zu stehen, nicht zuletzt, weil ihre Stimme eben mit der Tonchiffre h e a e es
beginnt. Alles könnte jedoch auch immerhin von Zeitblom, dem Viola d’amore-
Spieler des Romans, erzählt werden. Die Vagheit von Elementen, die Narrativität
induzieren, in der instrumentalen Musik lässt zugleich Ambiguitäten und Inter-
pretationspotenziale erscheinen. Jedenfalls hat die Komponistin nicht übersehen,
dass die Tonchiffre Esmeraldas im Roman unvollständig ist: „Hetaere Esme-
ralda“ ergänzt hier den Roman, indem Esmeralda die Note d im letzten Teil ihrer
Tonfolge zurückgegeben wird.
Da Pressburg, wie bereits erläutert, 1906 ebenso zur Monarchie Österreich-
Ungarn gehörte wie Graz, die Stadt, in der Leverkühn auf dem Weg nach
Pressburg Salome gehört haben soll, liegt nahe, dass die Komposition eine sehr
passende Tanzform zur musikalischen Darstellung dieser Figur gewählt hat. Damit
unterstreicht sie auch eine weitere Eigenschaft der Femme fatale, die in Doktor
Faustus durch Esmeraldas Annäherung an Leverkühn beim Anschlagen einiger
Akkorde am Klavier lediglich angedeutet wird: Das Tanzen als typische Aus-
drucksform dieses Frauentypus. Der Walzer hat aber keinen Unterhaltungscha-
rakter, sondern erinnert eher an eine valse triste und an die Schwermütigkeit der
gleichnamigen Schmetterlinge in Jonathan Leverkühns Bücher (Abbildung 8.2):
Die musikalischen Eigenschaften von „Hetaere esmeralda“ rufen die Musik
verschiedener Komponisten aus Leverkühns Zeit ins Gedächtnis: Tschaikowski
mit einigen spätromantischen Stellen, Schönberg, Zemlinsky und die ersten Dis-
sonanzen sowie die „exotischen“ Klänge Debussys, die gut zur „exotischen“
Esmeralda passen. Die Tatsache, dass Fine hier keine dodekaphonische Musik
komponiert hat, muss keinen Kontrast zum Roman bilden, denn in dieser Phase

84 Das betrifft allerdings die gesamte Komposition Fines, die Leverkühn, zumindest in den

Paratexten, nie erwähnt.


290 8 Hetaera Esmeralda

Abbildung 8.2 Der Anfang des Stückes (T. 1–21)

komponiert Leverkühn noch nicht dodekaphonisch. Die instrumentale Komposi-


tion ist hier trotz ihres – im Vergleich zu anderen Erzählmedien und -formaten –
vagen Erzählens in der Lage, Esmeralda als exotisch und musikaffin zu cha-
rakterisieren und Raum und Zeit der intradiegetischen histoire wiederzugeben.
Diese Aspekte verlieren vielleicht im Medium der instrumentalen Musik an visu-
ellen, gewinnen aber bestimmt an klanglichen Qualitäten, nicht zuletzt weil die
Tonchiffre vollständig erscheint.
8.2 Vom Roman zur Musik 291

8.2.2 Tango, Flageoletts und Figurencharakterisierung: Hans


Werner Henzes 3. Violinkonzert: Drei Porträts aus dem
Roman „Dr. Faustus“ von Thomas Mann – 1. Satz:
Esmeralda

Das dritte Violinkonzert Hans Werner Henzes (1926–2012) ist dem Geiger
Michael Erxleben und dem Berliner Sinfonie-Orchester gewidmet und wurde
am 12. September 1997 unter der Leitung von Michael Schønwandt in Berlin
uraufgeführt. Es existieren zwei Fassungen des Konzerts: Der ersten von 1997
folgte im Jahr 2002 eine Revision, die aber keine wesentlichen Veränderungen
zur ersten Version aufweist.85 Die Orchesterbesetzung besteht aus zwei Flöten
(die zweite auch Piccolo- und Altflöte), zwei Oboen (die zweite auch Englisch-
horn), zwei Klarinetten in B (die zweite auch Bassklarinette in B), zwei Fagotten
(das zweite auch Kontrafagott), vier Hörnern in F, zwei Trompeten in C, einer
Tenorposaune, einer Tuba, Pauken, Schlagzeug (Fingerzimbeln, zwei hängende
Becken, zwei Tamtams, Bronzeplatte, große und kleine Trommel, Holzblock, Kas-
tagnetten, Peitsche, Vibraphon und Marimbaphon), Harfe, Celesta, Klavier und
Streichern. Es handelt sich in diesem Fall wie auch bei Ruzicka oder bei Fine um
verdeckte Intermedialität, da die Komposition auf einem einzigen Medium basiert:
Die explizite Systemerwähnung im Titel verweist allerdings unmittelbar auf Tho-
mas Manns Roman, wodurch Henzes Komposition als intermediale Transposition
zu werten ist.
Die Musikwissenschaftlerin Elisabeth Schmierer ordnet das Konzert aufgrund
der Wahl eines literarischen Themas dem Genre der sinfonischen Dichtung zu.86
Das Interesse des Komponisten an der Literatur spielte in seiner gesamten Produk-
tion eine zentrale Rolle: Henze vertonte nicht nur zahlreiche Werke von diversen
Autor*innen, sondern arbeitete auch mit ihnen zusammen, u. a. mit Ingeborg
Bachmann.87

85 Vgl. Sorg: Beziehungszauber, S. 255. Die revidierte Fassung, auf die sich die Ana-

lyse bezieht, erschien 2002 bei Schott, Mainz, die erste 1997 bei demselben Verlag. Die
drei Violinkonzerte Henzes findet man in der folgenden Aufnahme: Henze, Hans Werner:
Violin Concertos Nr. 1–3, Torsten Janicke (Geige), Magdeburger Philarmonie, MDG 2005.
86 Siehe Schmierer, Elisabeth: Musik als Sprache. Zu Henzes Instrumentalkonzerten auf

literarische Themen. In: Abels, Norbert u. Elisabeth Schmierer (Hrsg.): Hans Werner
Henze und seine Zeit. Regensburg: Laaber 2013, S. 279–304, hier: S. 295.
87 Zur Biographie bzw. Autobiographie Henzes siehe auch: Rosteck, Jens: Hans Werner

Henze. Rosen und Revolutionen. Berlin: Propyläen 2009; Henze: Reiselieder mit böhmi-
schen Quinten. Autobiographische Mitteilungen 1926–1995. Frankfurt am Main: Fischer
1996. Vgl. auch Bielefeldt, Christian: Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann:
292 8 Hetaera Esmeralda

Bevor der Esmeralda gewidmete Satz aus dem Violinkonzert analysiert wird,
gilt es – insbesondere im Rahmen einer intermedial angelegten Studie – auf
Henzes Auffassungen zum Verhältnis von Musik und Sprache einzugehen. Diese
stellen nämlich eine weitere Positionierung in der Intermedialitätsforschung dar,
selbstverständlich mit der reservatio, dass es sich hier um keine wissenschaftliche
Positionierung, sondern um die eines Komponisten handelt. So Henze bezüg-
lich des Verhältnisses von Musik und Sprache in seinen autobiographischen
Schriften:88

Wir sind darin geübt, Musik als Sprache zu verstehen, wir möchten nun etwas
mehr über ihre Eigentümlichkeiten wissen als zuvor, das Mythische in ihr ver-
stehen, das Geheimnis durchleuchten, wollen verhindern, daß das Sprachliche der
Musik nicht noch weiter ins Leere gestoßen wird, von den Menschen weg: um
dieses Sprachliche zu vertiefen, es zugänglich machen [sic] und nützlich und
es als eine notwendige Erweiterung des menschlichen Bewußtseins und seines
Ausdrucksvermögens zu begreifen.

Jens Brockmeier erläutert dieses Konzept folgendermaßen:89

Musik wie Sprache zu verstehen. Gleichsam auf Augenhöhe. Und das heißt, Musik
bemisst sich nach den gleichen Standards der Verständlichkeit, Empathie und poe-
tischen Präzision – und das schließt Mehrdeutigkeit, Vagheit und Offenheit mit ein
[...].

Henze scheint im obigen Zitat, wie Brockmeier ebenfalls unterstreicht, auf Ador-
nos Auffassung in Fragment über Musik und Sprache (1956/57) zu reagieren,
denn Adorno sagt diesbezüglich:90

Musik ist sprachähnlich. Ausdrücke wie musikalisches Idiom, musikalischer Ton-


fall, sind keine Metaphern. Aber Musik ist nicht Sprache. Ihre Sprachähnlichkeit
weist den Weg ins Innere, doch auch ins Vage. Wer Musik wörtlich als Sprache
nimmt, den führt sie irre.

die gemeinsamen Werke. Beobachtungen zur Intermedialität von Musik und Dichtung.
Bielefeld: transcript 2003.
88 Henze: Reiselieder, S. 403 f.
89 Brockmeier, Jens: Eine Sprache in harter Währung. Die Idee musikalischer Sprachlich-

keit bei Hans Werner Henze. In: Hans Werner Henze. Musik und Sprache. Musik-Konzepte
132 (2006), S. 5–25, hier: S. 19, Herv. i. O. Siehe auch Bielefeldt: Hans Werner Henze
und Ingeborg Bachmann, S. 37–43.
90 Adorno: Fragment über Musik und Sprache, S. 71.
8.2 Vom Roman zur Musik 293

Bereits 1956/57 weist Adorno auf die medialen Differenzen zwischen dem
Medium der Musik und dem der Sprache hin, indem er zugleich Überschnei-
dungsfelder, beispielsweise Fachbegriffe wie Tonfall oder Idiom, anführt. Mit
der Bezugnahme auf die Vagheit der Musik, speziell der instrumentalen Musik,
erscheint Adorno somit als Vorreiter der Intermedialitätsforschung. Henze schlägt
vor, die Aufmerksamkeit auf produktive Interdependenzen zwischen Musik und
Sprache zu lenken, anstatt sich mit Differenzen zu befassen. Dies setzt voraus,
dass man Adornos „Weg ins Innere“ der Musik verfolgt, d. h., dass man sich
stärker auf die innere Struktur der Musik konzentriert. Henze scheint im genann-
ten Zitat nicht wirklich dafür zu plädieren, dass Musik wie Sprache verstanden
werden könne.91 Vielmehr befürwortet er den Blick auf Grenzüberschreitungen
und erklärt den Blick auf Grenzziehungen für zweitrangig, weil dieser weniger
produktiv sei.92 Es mag in diesem Kontext nicht verwundern, dass die große
Ausdrucksfähigkeit von Henzes Musik in der Forschungsliteratur immer wie-
der thematisiert wird. Ausgangspunkt des Komponierens ist Brockmeier zufolge
immerhin das musikalische Zeichen, wobei die anderen Zeichensysteme eine inte-
grierende Rolle spielen und das Ziel zu verfolgen scheinen, „die Imagination des
Hörers szenisch-performativ zu organisieren“.93 Dies stellt Bielefeldt in Frage,
der die Intermedialität als Ausgangspunkt nimmt, was sich mit jener von Wolf
als primär bezeichneten Intermedialität in Verbindung bringen lässt, die somit
Teil des Werkkonzeptes wäre.94 Für die vorliegende Untersuchung ist dies beson-
ders interessant, weil es bedeuten würde, dass sich Henzes Violinkonzert zugleich
aufgrund der Konzeption als primäre und zusätzlich, da es sich um eine Transpo-
sition von Doktor Faustus handelt, auch als sekundäre Intermedialität bezeichnen
lässt. Gleichwohl könnte man auch argumentieren, dass die Analyse von Ein-
zelfällen bestimmte intermediale Kategorien ins Schwanken bringt, was anhand
dieser (oder vielleicht aller) Kompositionen Henzes deutlich wird.
Den ersten Kontakt mit Thomas Manns Werk hatte Henze bereits im natio-
nalsozialistischen Deutschland. Zusammen mit einem Freund soll er in Bielefeld
heimlich die verbotenen Bücher einer Bibliothek, darunter die der Brüder Mann
gelesen haben.95 Später wählt der Komponist u. a. aufgrund seiner deklarier-
ten Homosexualität und seiner politischen Haltung, Marino, eine Stadt in der

91 Andere Äußerungen und Kommentare des Komponisten scheinen aber dieser Auffassung

zu widersprechen. Siehe Bielefeldt: Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann, S. 42.
92 Vgl. Kap. 1.
93 Brockmeier: Eine Sprache in harter Währung, S. 24.
94 Vgl. 1.1.5.
95 Vgl. Henze: Reiselieder, S. 37.
294 8 Hetaera Esmeralda

Nähe von Rom, als Wohnort. Als Komponist stellt sich Henze gegen die Expe-
rimente Nonos und Stockhausens: Seine Musik ist – so Bielefeldt – von einer
„(Quasi)tonalität“96 geprägt.97
Der erste Satz des Violinkonzerts, der ca. sieben Minuten dauert, ist der
Figur Esmeralda gewidmet. Die Tanzkonnotation dieses Satzes stellt ein zentrales
Merkmal dar: Die „Sphäre der Unterhaltungsmusik“98 ist durch die zweimal wie-
derholte Angabe „nicht eilen, tänzerisch gemütvoll“ (VK: 1, T. 2 und 19, T. 89),
die Bezeichnung des zweiten Teiles als „Wiener Lied“ (VK: 11, T. 42) und des
dritten als „Tango“ (VK: 13, T. 49) gegeben. Durch das Wiener Lied – die einzige
Form, die nicht auf den Tanz zurückgreift – wird bei Henze, ähnlich wie bei Fine,
eine Verbindung mit der Monarchie Österreich-Ungarn hergestellt. Der Tango ist
laut Schmierer „reine Augenmusik“:99 Der Rhythmus erscheine zwar in Harfe
und Tuba, werde aber kaum wahrgenommen. Durch diese Tanzform kommt Sorg
zufolge das Exotische Esmeraldas als „Prostituierte südländischen Typs“100 zum
Ausdruck.
Wie in Fines Komposition wird Esmeralda zur tanzenden Femme fatale; die
Unterhaltungsmusik eignet sich außerdem in beiden Kompositionen für die Schil-
derung des Bordells. Sorg sieht in diesem Stück den Charakter eines Totentanzes,
was Klangqualität und Partiturangaben jedoch nicht bestätigen:101 Es herrschen
Dynamikanweisungen wie „soave“, „dolce“ (VK: 9), „dolcissimo“ (VK: 11) und
„con grazia“ (VK: 14), also „lieblich“, „süß“, „sehr süß“ und „anmutig“, die bei
einer danse macabre ungewöhnlich wären. Die vorherrschende Atmosphäre ist
dank der Harfe und der Celesta sowie der „Flageolett-Quintklänge, die aus einer
anderen Welt zu kommen scheinen“,102 nicht so dramatisch wie bei Fine; die
isolierten dramatisch wirkenden Momente könnten im Prozess des Erzählens im
Medium der instrumentalen Musik auf die Infizierung anspielen.
Der Satz fängt mit einem Rezitativ der Violine solo an, das keine stabile
Dynamik aufweist und Stellen im Forte oder sogar im Fortissimo mit solchen

96 Bielefeldt: Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann, S. 40. Brockmeier spricht dies-

bezüglich von einer „Spannung von Tonalität und Atonalität“. Brockmeier: Eine Sprache
in harter Währung, S. 11.
97 Timo Sorg unterstreicht biographische und poetologische Parallelen zwischen Thomas

Mann und H. W. Henze (insbesondere in Bezug auf das Traditionsverständnis und das
Parodieverfahren). Vgl. ebd., S. 260–266.
98 Schmierer: Musik als Sprache, S. 296.
99 Ebd.
100 Sorg: Beziehungszauber, S. 272.
101 Siehe ebd.
102 Schmierer: Musik als Sprache, S. 295.
8.2 Vom Roman zur Musik 295

im Piano und mit Flageolett-Tönen alterniert. Hier finden sich in kondensierter,


akustischer Form zwei Motive der Esmeralda-Kapitel wieder. Das erste Motiv
ist das Begehren und die mit ihm einhergehenden Sexualtriebe, die Leverkühn
dazu zwingen, nach der Prostituierten zu suchen: Ihre Dringlichkeit kommt
auch hier zum Tragen, denn die Notenwerte werden immer kürzer, die Triolen
werden zu Sextolen und Septolen und die anfängliche Metronomangabe macht
deutlich, dass das nicht zu langsam gespielt werden soll. An vereinzelten Stel-
len, die mit Piano-Dynamiken und manchmal Flageolett-Tönen korrespondieren,
wird das Tempo langsamer (siehe „meno mosso“ und „nicht eilen, tänzerisch
gemütvoll“). Ein zweites Motiv ist die Durchsichtigkeit, welche auch eine Eigen-
schaft des gleichnamigen Schmetterlings und der Kleider der Prostituierten im
Leipziger-Bordell darstellt, das in Henzes Instrumentation durch Flageolett-Töne
realisiert wird (Abbildung 8.3)“. Im Geigenspiel können diese Töne nur durch eine
leichte Berührung der Saiten erzeugt werden und sind von einem – so Marianne
Rônez – „flötenartigen, etwas gläsernen Klang“103 charakterisiert:

Abbildung 8.3 Der Anfang des Violinkonzerts (VK: 1)

Darüber hinaus können Flageolett-Töne als eine Tonchiffre des Geigenspiels


aufgefasst werden, denn sie bedürfen einer Dekodierung: Sehr selten haben sich
in der Musikgeschichte Komponist*innen für die als unpraktisch empfundene
„Notation von Flageoletts nach dem tatsächlichen Klang“104 entschieden. Das

103 Rônez, Marianne: Art. Violine, Violinspiel, Technik, Technik der linken Hand, Flageo-
lett. In: MGG Online. Veröffentlicht 14.09.2015. <https://www.mgg-online.com/mgg/sta
ble/49510> (letzter Zugriff: 21.08.2020).
104 Ebd.
296 8 Hetaera Esmeralda

bedeutet, der graphisch angegebene Ton ist nicht genau der Ton, den man in
der Aufführungssituation hört: Auch wenn beispielsweise tatsächlich ein a klingt,
korrespondiert dieses nicht mit der graphisch angegebenen Oktave. Flageoletts
bedürfen daher einer notationsbedingten Kodierung und einer aufführungsbe-
dingten Dekodierung: Dies kann mit der Kodierung und Dekodierung einer
Tonchiffre verglichen werden, die sich aus einem Namen ableitet. Gerade in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehen viele Violinkonzerte (etwa von Pro-
kof’ev und Schönberg), die auf diese Klänge zurückgreifen und die heute aus
zeitgenössischen Kompositionen kaum wegzudenken sind.105
Nach dem Einsatz des Orchesters erklingen in Takt 9 Kastagnetten, die deutlich
zu hören sind und die die spanischen Eigenschaften der Prostituierten betonen.
Im Takt 26 (VK: 8) ist der Einsatz des Klaviers eine deutliche Reproduktion des
handlungsbezogenen Moments von Leverkühns Anschlagen einiger Akkorde im
Freudenhaus – es ist aber nur der Akt, den die Musik reproduziert, und nicht die
im Roman erwähnten Akkorde (Abbildung 8.4):106

Abbildung 8.4 Die Klavierakkorde im Freudenhaus

Einige Töne der Tonchiffre Esmeraldas, vor allem e und es, sind hier aber zu
finden.
Das folgende musikalische Motiv, das sich im Tango-Teil befindet und „flau-
tando“ zu spielen ist, verweist wieder, auch graphisch, auf jene Leichtigkeit eines
Schmetterlings und seiner Art zu fliegen (Abbildung 8.5):
Die Seiten 17 bis 19 der Partitur sind als Höhepunkt des Satzes aufzufassen.
Etwas geschieht hier, wahrscheinlich die intime Beziehung mit der Prostitu-
ierten, oder lediglich die Berührung, die auch im Roman den Höhepunkt der
Esmeralda-Episode darstellt. Die Dynamik ist im Crescendo (f , ff , und fff );
die Tamtams tragen zur bedrohlich-wirkenden Atmosphäre bei. Die Spannung

105 Paradebeispielhierfür sind die Werke von Salvatore Sciarrino, siehe etwa die 6 Capricci
(1975/76) für Violine solo.
106 Vgl. auch Sorg: Beziehungszauber, S. 270.
8.2 Vom Roman zur Musik 297

Abbildung 8.5 Der Schmetterling Esmeralda (VK: 14 f., T. 58–61)

wird bis Takt 89 (VK: 19) aufrecht gehalten. Dann spielt die Violine solo eine
Kadenz, welche die musikalischen Hauptmotive des Satzes zusammenfasst. Die
hier wiederholte Anweisung „nicht eilen, tänzerisch gemütvoll“ (VK: 19, T. 89)
belegt die Kreisstruktur des Stückes. Ab T. 90 (VK: 20) ist die Dynamik im
Decrescendo, morendo (pp, ppp und pppp). Die letzten Takte setzen sich aus
Flageoletts der Violine solo, einer loopartigen, chromatischen Struktur der Strei-
cher und rhythmischen Figurationen der Kastagnetten zusammen: Sie bilden eine
Zusammenfassung von Eigenschaften und Motiven, die man mit Esmeralda, dem
gleichnamigen Schmetterling oder im Allgemeinen den Esmeralda-Kapiteln ver-
bindet (die Durchsichtigkeit, die Berührung, die Infizierung, das Exotische, das
Fliegen im Kreis eines Schmetterlings).
Schmierer behauptet, Henze verkürze die Tonfolge Hetaera Esmeraldas (h
e es), während Ziolkowski zufolge sie nicht benutzt wird. Dieser Auffassung
schließt sich auch die vorliegende Studie an, weil die Chiffre in der Komposi-
tion kaum identifiziert werden kann und keineswegs programmatisch verwendet
wird.107 Sucht man im Roman nach einem Vorbild für den musikalischen Stil
dieses Satzes von Henze, so ist es vielleicht in „der symphonischen Phanta-
sie ,Meerleuchten‘“ (DF: 221) mit jener „ausgesuchter Tonmalerei“ (DF: 221)
und den „unenträtselbare[n] Klangmischungen“ (ebd.) zu suchen, die auch wohl
diesen Satz aus dem Violinkonzert beschreiben könnten. Berücksichtigt werden
muss, dass ein Unterschied zwischen einer Transposition, die sich an den fiktiven
Werken Leverkühns orientiert, und einer Transposition, die bestimmte Figuren
und Textstellen des Romans in der Musik zu reproduzieren versucht, besteht,

107 Vgl. Schmierer: Musik als Sprache, S. 296; Ziolkowski: Leverkühn’s Compositions,
S. 850.
298 8 Hetaera Esmeralda

sodass es sich in den meisten Fällen nicht lohnt, nach Vorlagen des Komponie-
rens im Roman zu suchen. Dass dies nicht das Hauptvorhaben des Violinkonzerts
ist, deklariert bereits der Titel selbst: Dort ist die Rede von Porträts. Der Fokus,
der spezifischer als der von Fine mit dem Wort pieces ist, liegt daher in der Figu-
rencharakterisierung und eher in der Beschreibung als im Erzählen bzw. – genauer
gefasst – in der Induktion von Narrativität. Die Komposition ruft einzelne Töne
aus ihrer Chiffre, ihre durchsichtige Kleidung und den Verweis auf Spanien (im
Roman vor allem durch das spanische Jäckchen und ihren spanischen Namen
gegeben) klanglich und graphisch in Erinnerung, verweist auf den gleichnami-
gen Schmetterling und verstärkt wie bei Fine durch den tänzerischen Charakter
der Satzteile ihre Assoziation zur musikalischen Welt. Man könnte sagen, dass
Zeitbloms Darstellung der weiblichen Figur als Femme fatale hier durch die
Wahl verschiedener Tanzformen deutlich unterstützt wird. Die kulturelle Geo-
graphie der Monarchie Österreich-Ungarns, auf die lediglich ein Teil in Form
eines Wiener Lieds anspielt, ist hier weniger signifikant. Des Weiteren bietet sich
musikstilistisch ein Vergleich dieses Violinkonzerts mit denen von Pizzetti und
Wolf-Ferrari aus den 1930er/1940er Jahren an.108
Der Tango verleiht Esmeralda eine nicht ausschließlich eurozentrische exo-
tische Konnotation, was erneut die Auffassung bestätigt, dass das sekundäre
intermediale Produkt aus unterschiedlichen geographischen und historischen Prä-
missen entsteht, die daher andere Mittel etwa zur Unterstreichung des Exotischen
erforderlich machen. Dieser Satz (das gilt allerdings für das ganze Konzert von
Henze) bietet ein Beispiel dafür, wie sich Figurencharakteristika im Medium der
instrumentalen Musik realisieren lassen. Ob sich Musik, speziell instrumentale
Musik, wie Sprache verstehen lässt, kristallisiert sich aus der vorigen Analyse als
eine sehr problematische Auffassung heraus, wie auch mit Verweis auf Adornos
Zitat deutlich wird. Dieses Bewusstsein für mediale Differenzen, das als Voraus-
setzung für die Analyse dient, stellt aber keine Einschränkung dar, sondern führt
sowohl bei Henze als auch bei Fine zur gezielten Identifikation von Möglichkeiten
zur Grenzüberschreitung.109

108 Henze hörte Wolf-Ferraris Musik schon in den Bielefelder Jahren. Siehe Henze: Reise-
lieder, S. 36. Vgl. auch Hamann, Peter: Ermanno Wolf-Ferrari. Tutzing: Schneider 1983.
Viagrande, Riccardo: Ildebrando Pizzetti. Compositore, poeta, critico. Monza: Eco 2013.
109 Siehe Rajewsky: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln, S. 39.
8.2 Vom Roman zur Musik 299

8.2.3 Sichtbare Musik und Zahlensymbolik: Hetaera


Esmeralda von Claude Lenners

Nachdem zwei rein instrumentale Werke vorgestellt wurden, die Esmeralda


u. a. durch Flageolett-Töne und Tanzformen charakterisieren, soll im Folgen-
den auf ein Werk eingegangen werden, das sich zur Darstellung Esmeraldas und
der Esmeralda-Episode verschiedener Medien bedient. Hetaera Esmeralda von
Claude Lenners (*1956) ist eine Auftragskomposition des Goethe Instituts in
Luxemburg, wo sie 1998 aufgeführt wurde. Sie gehört zum Projekt „WORT &
KLANG“, das sich mit den „Dreiecksverhältnisse[n] zwischen Literatur, Musik
und bildender Kunst“110 auseinandersetzt, und ist dem ehemaligen Direktor des
Goethe Instituts in Luxemburg, Dr. Paul Eubel, gewidmet. Während der Auf-
führung wurden einige Stellen aus Doktor Faustus vorgelesen: die Experimente
Jonathan Leverkühns, der Bordell-Besuch, die Episode der intimen Beziehung
mit Esmeralda, das Teufelsgespräch, die Echo-Episode und die Abschiedsrede.
Der Lektüre einer Textpassage folgte ein Musikabschnitt, der sich auf den Inhalt
des Gelesenen bezog. Beim Vorlesen wurden einige zentrale Wörter von einem
oder mehreren Instrumenten des Ensembles mittels rhythmischer Figurationen
oder Klänge betont.111 Darüber hinaus sind die verschiedenen Abschnitte, aus
denen die Komposition besteht, nicht als separate Elemente aufzufassen, sondern
als Teile des Ganzen. Dies ist an der Taktnummerierung sowie am Wiederauftre-
ten einiger musikalischer Motive zu erkennen, die der Komposition Einheitlichkeit
verleihen.
Auch waren die Installationen der Künstlerin Margret Lafontaine Teil dieses
Projektes, das sich zum Ziel gesetzt hatte, „den geistigen und kognitiven Kosmos
des dichterischen Werkes ins Sichtbare und Hörbare zu verwandeln, doch nicht
um Illustrationen geht es hierbei, sondern um Metamorphose: Die Wirklichkeit
des Werkes entsteht im Kunstwerk und in der Musik neu“,112 erläutert Eubel.
Der Roman wurde also in diesem Fall nicht nur musikalisch, sondern auch künst-
lerisch neu interpretiert: Es handelt sich, da mehrere Medien vorhanden sind, um
offene Intermedialität und infolgedessen um eine Medienkombination. Ziel des
Werkes ist Eubel zufolge, Doktor Faustus sichtbar und hörbar zu machen. Da sich

110 Eubel, Paul (Hrsg.): Thomas Mann, Claude Lenners, Margret Lafontaine: Hetaera
Esmeralda. Luxemburg: Goethe Institut 1998 (Serie Wort & Klang: Begegnungen von
Literatur, Kunst und Musik).
111 Die Partitur wurde nicht veröffentlicht. Mit freundlicher Genehmigung des Komponisten

war es möglich eine Kopie des Manuskripts einzusehen.


112 Eubel: Thomas Mann, Claude Lenners, Margret Lafontaine, S. 21.
300 8 Hetaera Esmeralda

die vorliegende Arbeit in der musikliterarischen Intermedialität verortet, wird das


Hauptaugenmerk auf der Musik liegen.
Hetaera Esmeralda wird vom Komponisten als „Destillat des bedeutenden und
vielschichtigen Romans ,Dr. Faustus‘ von Thomas Mann“113 beschrieben:114 Der
Komponist weist mit dem Wort „Destillat“ darauf hin, dass es sich um ein par-
tielles intermediales Produkt handelt, das das Resultat einer Auswahl ist. Große
Aufmerksamkeit schenkt Lenners der Zahlenmagie:115

In diesem Zusammenhang ist auch die Besetzung mit Sopran, 2 Harfen, Glasharfe
und Streichtrio zu verstehen, die absichtlich die ungerade 7 in den Vorder-
grund stellt. Hierbei spielen die beiden Harfen eine zentrale Rolle, weil durch
ihre symetrische [sic] Gegenüberstellung die Vision des Glasflüglers zur Geltung
kommt.

Auch in diesem Fall ist also die vorherrschende Atmosphäre magisch konno-
tiert, was nicht nur durch die Zahlensymbolik betont wird, sondern auch durch
die Anwendung eines höchst seltenen Instruments wie der Glasharfe. „Insofern
soll die Musik den Zuhörer größtenteils in eine geheimnisvolle Stimmung ver-
setzen, die dem Zeitstillstand nahekommt“,116 so der Komponist. Zeitstillstand
und Geheimnis sollten also die zwei Leitgedanken des Komponierens sein. Die
Zahlensymbolik, die auch im Roman eine bedeutende Rolle spielt, etwa kraft
des Wiederauftretens der Zahl zwei (bei Lenners mittels der zwei Harfen eben-
falls vorhanden), übernimmt auch hier eine wichtige Funktion, insbesondere in
der Gestaltung der Besetzung. Die Sopranstimme steht für Esmeralda: Ihr ist der
Schluss des Stückes vorbehalten. Eine Konzentration auf diese Figur lässt sich
bereits dem paratextuellen Hinweis des Titels entnehmen, was durch die Beset-
zung, die um die Sopranstimme kreist, bekräftigt wird. Am Schluss rezitiert die
Sopranstimme den in Doktor Faustus erwähnten Text von Clemens Brentano O
lieb Mädel, wie schlecht bist du!:117 Esmeralda soll – so Lenners – „dabei ihr

113 Zit. in ebd., S. 10.


114 Zur Biographie von Claude Lenners sei hier auf Weber, Loll: Lenners, Claude. In:
Grove Music Online. Zuerst veröffentlicht 20.01.2001, online veröffentlicht 2001. <https://
doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.45620> (letzter Zugriff: 21.08.2020); Claude
Lenners. <https://www.claudelenners.lu/> (letzter Zugriff: 21.08.2020) verwiesen.
115 Zit. in Eubel: Thomas Mann, S. 10. Die Besetzung enthält außerdem ein rei-

ches perkussives Instrumentarium (Gong, Claves, Waterphone, Vibraphon, Glas Chimes,


Rahmentrommel, usw.). Die Glas Chimes sind ebenfalls ein „durchsichtiges“ Instrument.
116 Ebd.
117 Vgl. DF: 266. Dieser Text wird auch von Leverkühn vertont.
8.2 Vom Roman zur Musik 301

wahres Gesicht“118 zeigen. Der Inhalt des Textes verweist wieder auf „schlech-
te“ Frauen, die den Mann ins Unglück treiben; das weibliche Geschlecht verbirgt
sich jedoch nicht hinter Tonchiffren oder (misogynen) Darstellungen des Erzäh-
lers, sondern kommt direkt zu Wort. Die Sopranstimme Esmeraldas ist auch im
Echo gewidmeten Abschnitt zu hören. Auffällig ist, dass die Komponist*innen,
welche die Figur der Prostituierten ins Zentrum ihres Stückes rücken, oft auch die
des Kindes behandeln: Bei Henze wird ihm der zweite Satz gewidmet, bei Fine
das vierte Stück. Gemeinsamer Nenner beider Figuren ist laut Zeitblom, dass
sie von Leverkühn geliebt werden und dass diese Liebe sowohl Auswirkungen
auf Leverkühns Schaffen als auch seine physische sowie psychische Gesundheit
haben.
Wie bei Manzoni herrscht auch bei Lenners eine große Varietät in den
Ausdrucksweisen der Stimme (Abbildung 8.6):119
Wie in der ersten Beschreibung von Esmeralda im Roman steht auch hier
der Mund der Sängerin im Zentrum; die Reichweite der Ausdrucksmöglichkeiten
erstreckt sich vom lautlosen Sprechen bis hin zum sehr hohen Schreien: Während
Esmeralda im Roman nie direkt zu Wort kommt, wird sie hier zur Hauptfigur,
die von ihren Emotionen erzählt. Das Motiv der Verschleierung kommt auch hier
zum Tragen, denn die Sängerin soll einen Schleier tragen: Auch wenn sie „mit
unverdecktem Gesicht“ spricht, soll dieses Sprechen so lautlos sein, dass „man
[…] auf den Lippen ablesen können [soll] was gesagt wird, ohne es zu hören“ (S.
III s. obige Abbildung). Dies lenkt die Aufmerksamkeit wieder auf den Mund der
Sängerin und kann zugleich als eine Art gesangliche Verschleierung aufgefasst
werden, also als eine Realisierung des Motivs mit den Mitteln des Gesanges: Das
Gesagte wird vergleichbar dem Topos der nackten Wahrheit gleichzeitig ent- und
bekleidet, also mitgeteilt und verdeckt gehalten. Auditiv bleibt die Mitteilung ver-
deckt, da man sie nicht hören soll, sie wird optisch durch jenes Ablesen auf den
Lippen mitgeteilt. Die metaphorische Verknüpfung von Mund und Wahrheit ist
auch in der römischen Kunst zu finden (siehe etwa den sogenannten „Mund der
Wahrheit“, Bocca della verità, in Rom, was allerdings kein weibliches Gesicht
ist). Darüber hinaus findet sich die Idee einer verschleierten Wahrheit auch im
mythischen Topos der verschleierten Isis, in diesem Fall eher in Bezug auf die
Wahrheit der Natur als auf die des Textes.120

118 Zit.in Eubel: Thomas Mann, Claude Lenners, Margret Lafontaine, S. 10.
119 So der Musikjournalist Loll Weber über die Werke Lenners’: „His works display a
notable sensitivity to musical colour, and are mostly written for chamber ensembles or
orchestra“. Weber: Lenners, ebd.
120 Dies passt auch sehr gut zum dritten Kapitel von Doktor Faustus, in dem Tiere (darunter

auch der Schmetterling Hetaera Esmeralda) und Naturphänomene im Vordergrund stehen,


302 8 Hetaera Esmeralda

Abbildung 8.6 Anweisungen für die Sängerin (S. III). Mit freundlicher Genehmigung
des Autors

und zu dieser Komposition, die nach einer Imitation von Naturklängen strebt. Dazu siehe
Assmann, Jan: Immanuel Kant und Friedrich Schiller über Isis und das Erhabene. In:
Anselm, Sigrun (Hrsg.): Talismane. Klaus Heinrich zum 70. Geburtstag. Basel (u. a.):
Stroemfeld 1998, S. 102–113.
8.2 Vom Roman zur Musik 303

Die Aufführung beginnt mit der Lektüre einiger Textpassagen aus dem dritten
Kapitel des Romans, die vom Inhalt der Bücher Jonathan Leverkühns handeln.
Die von den Instrumenten betonten Worte sind: „böse Geister“, „Malaria“, „Trug“,
„Hetaera Esmeralda“ und „auf ihren Flügeln“.121 Die letzten beiden Worte werden
durch den Klang der Harfe, die mit dem Schmetterling assoziiert wird, unterstri-
chen. Der Fokus liegt also auf der trügerischen Schönheit der Natur. Der Lektüre
folgt ein Musikabschnitt für zwei Harfen (eine ist links vom restlichen Ensem-
ble, die andere rechts positioniert) und die Glasharfe. Dieser Abschnitt ist „ben
articolato“, „gut artikuliert“ und „misterioso“ (T.1), „geheimnisvoll“ zu spielen:
Die vorherrschende Atmosphäre, die dadurch erzeugt wird, ist, genau wie das
„misterioso“ aussagt, geheimnisvoll. Der Fokus liegt dabei auf jedem einzelnen
gespielten Ton und nicht auf ganzen musikalischen Phrasen. Nicht zufällig ist
dieser Abschnitt von einer minimalistischen Musik geprägt: Es gibt nur wenige
Elemente, die sich wiederholen. Der Abschnitt basiert auf Esmeraldas Tonfolge,
die in der zweiten Hälfte umgekehrt präsentiert wird (ab T. 14). Die Musik ist
erneut sowohl akustische als auch optische Musik, was die Positionierung der
Harfen, die klanglich und optisch einen Schmetterling reproduzieren sollen, zeigt.
Das nächste Thema sind die Experimente Jonathan Leverkühns: Das der „sicht-
baren Musik“ (DF: 32) und das des „Fressende[n] Tropfen[s]“ (DF: 33). Das erste
Experiment scheint in der Komposition von Lenners nicht nur durch die Lektüre
explizit thematisiert, sondern auch durch musikalische Mittel (teil-)reproduziert
zu werden, denn ein Leitgedanke von Hetaera Esmeralda ist zweifelsohne der
Versuch, Musik auch sichtbar zu machen. Der darauf folgende Musikabschnitt ist
reich an Glissandi, die auf den ersten Musikversuch anspielen. Ab T. 46 werden
„die Crotales von den Streichern gespielt, welche sich an 3 verschiedenen Punk-
ten im Raum befinden“: Sowohl optisch als auch musikalisch wirkt es so, als
wollten die Spieler*innen die Akustik des Raumes testen. Ab T. 62 imitiert das
Waterphone die Wassertropfen, die ihr eigenes Tempo haben. Lenners’ Kompo-
sition zielt darauf ab, Naturphänomene im Medium der Musik zu reproduzieren
(Abbildung 8.7):
Der dritte Abschnitt der Lektüre handelt vom Bordell-Erlebnis.122 Hier wer-
den die Wörter nicht von den Instrumenten betont. Die Musik am Beginn dieses
Abschnitts besteht aus großen Kontrasten: Die Dynamik reicht von einem Forte
„so laut wie möglich“123 bis zu einem Pianissimo, das den Zeitstillstand (siehe
die Angabe „statico“) erreicht (Abbildung 8.8):

121 Vgl. DF: 26.


122 Vgl. DF: 201–211.
123 Vgl. die allgemeinen Dynamikanweisungen auf S. II des Manuskripts.
304 8 Hetaera Esmeralda

Abbildung 8.7 Die Wassertropfen. Mit freundlicher Genehmigung des Autors

Abbildung 8.8 Der Anfang der Bordell-Episode (T. 74)

Einen ähnlichen musikalischen Verlauf der Glasharfe wie im ersten Abschnitt


findet man –leicht variiert – auch hier: Dies stellt das verbindende Element von
Hetaera Esmeralda dar. Ab T. 89 beginnt die Sopranistin, „beängstigend verführe-
risch“ „Komm, komm“ zu singen. Auch hier wird das Motiv der Verführung durch
die Frau aufgenommen, verstärkt durch die Wiederholung „Komm, komm“: Bei
Lenners ermutigt Esmeralda Leverkühn auch durch das wiederholte, gesungene
Wort und nicht nur durch die Berührung mit dem Arm, sich ihr anzunähern. Der
Höhepunkt ist ab T. 101 zu finden: Der Rhythmus beschleunigt sich, die Dyna-
mik ist reich an Fortissimi und Sforzati und die Noten der Streicher enthalten
zahlreiche Glissandi. Die Sängerin soll „seufzend“ singen. Hier wird entweder
8.2 Vom Roman zur Musik 305

die Berührung Leverkühns durch Esmeralda oder die Verwirrung des Komponis-
ten nach der Berührung musikalisch illustriert, was die Angabe „überstürzt“ zu
bestätigen scheint (Abbildung 8.9). Zu bemerken ist auch, dass sich ein Glissando
bei Saiteninstrumenten eben durch eine gleitende Berührung der Saite bzw. der
Saiten erzeugen lässt:

Abbildung 8.9 Die Begegnung mit Esmeralda (T. 101 ff.)

Die Bratsche und das Violoncello schließen diesen Abschnitt mit einem Triller
und einem Glissando.
Die vierte Lektüre handelt von der intimen Beziehung in Pressburg. Beim
Vorlesen der Wörter „Person“ und „Weib“ ist die Sopranstimme aus der Ferne
zu hören. Die Wörter „Streicheln“ und „Trieb“ werden vom Schlagzeug betont
und ihre Bedeutung musikalisch (teil-)reproduziert:124 Das Motiv des sexuellen
Begehrens ist aus der Darstellung dieser Kapitel nicht wegzudenken. Die darauf
bezogene Musik schafft Destabilisierung, wie man anhand des ständigen Wechsels
der Metronomangaben und Fermaten sowie des unabhängigen Rhythmus der links
positionierten Harfe feststellen kann. Ab T. 117 lautet die Dynamikanweisung
„con melencolia“, „melancholisch“. Dies bedarf auch einer Inszenierung: „Die

124 Vgl. DF: 224 ff.


306 8 Hetaera Esmeralda

Sängerin erscheint jetzt zwischen den zwei symetrisch [sic] aufgestellten Harfen:
Esmeralda, der Glasflügler“ (T. 127). Lenners’ Partitur sieht eine Inszenierung
vor, zu der nicht nur die Sängerin, sondern auch die Musiker*innen des Ensem-
bles, etwa durch die Glissandi, welche die Berührung zu inszenieren versuchen,
beitragen.
Die Warnung Esmeraldas ab T. 145 besteht anfänglich nur aus Vokalen und
wird erst im T. 156 zu einem verzweifelten „Geh“ (Abbildung 8.10):

Abbildung 8.10 Die Warnung Esmeraldas (T. 156)

Das imperative „Geh“ ist mehr als Warnung denn als Befehl, der die Auf-
forderung wegzugehen impliziert, aufzufassen und setzt sich daher dem „Komm,
komm“ der Bordell-Episode entgegen. Anfänglich weist also Esmeralda Lever-
kühn zurück.
Danach wird die Passage vorgelesen, in der es um Zeitbloms Auffassung von
„Liebe und Gift“ (DF: 225) geht. Auf Zeitbloms telling und dementsprechend
auf seine Wertungen verzichtet Hetaera Esmeralda nicht komplett: Zwar macht
sie Esmeralda zur Hauptfigur, jedoch lässt sie durch die Lektüre Zeitbloms Wie-
dergabe zu Wort kommen und schafft somit einen kommentierenden/diegetischen
8.2 Vom Roman zur Musik 307

Rahmen im Werk. Der darauf folgende Musikabschnitt beginnt mit der Rahmen-
trommel und einen Takt danach folgt der Sprechgesang der Sopranstimme. In
T. 180 wiederholt die Sängerin: „Komm, komm“. Diesmal soll sie „lautlos spre-
chen mit unverdecktem Gesicht“ (S. 3), was in der Partitur präzisiert wird: „Man
soll auf den Lippen ablesen können, was gesagt wird, ohne es zu hören“ (ebd.).
Hier weist Esmeralda Leverkühn nun nicht mehr zurück und so besteht bei Len-
ners sowohl durch das „Komm, komm“ als auch durch das unverdeckte Gesicht
jene Ambiguität des Romans nicht mehr, da Esmeralda als Teufelsemissärin bzw.
Femme fatale porträtiert, die Leverkühn zu ihrem Opfer macht, wird. Den dar-
auf folgenden Geschlechtsverkehr sieht man auch grafisch kraft der plötzlichen
Intervallsprünge (Abbildung 8.11):

Abbildung 8.11 Die intime Beziehung (T. 192–196). Mit freundlicher Genehmigung des
Autors

Die Passage, die danach vorgelesen wird, ist dem Teufelsgespräch gewid-
met. Die Komposition versucht, die Kälte des Teufels mittels des Waterphones
zu reproduzieren (T. 206). Das Ende dieses Abschnitts wird als „diabolico“,
„teuflisch“ (T. 244) bezeichnet und von den Streichern sowie ab T. 247 auch
308 8 Hetaera Esmeralda

vom Waterphone „più animato“, „erregter“ gespielt.125 Bereits im vorigen Musi-


kabschnitt wurde Esmeralda als Teufelsemissärin charakterisiert und in der
Komposition hier gewinnt die Deutungsperspektive des Faust-Romans nicht nur
durch die Angabe „diabolico“, sondern vor allem durch die Realisierung des
Teufelsgesprächs an Bedeutung.
Dem Teufelsgespräch folgt die Echo-Episode: Die Musik soll anfänglich „leb-
los“ (T. 248) wirken, dann wird sie „wehklagend, fast weinend“ (T. 265) und spielt
so wörtlich und musikalisch auf die Weheklag an. Danach ist sie „energic[a]“,
„kraftvoll“ (T. 275): Hier wird die feste Entscheidung Leverkühns thematisiert,
die Neunte Symphonie zurückzunehmen. Das Finale des Echo-Abschnitts soll
„molto calmo“, „sehr ruhig“ (T. 292) gespielt werden: Das von Leverkühn tief
geliebte Kind ist gestorben.
Auf diese dramatische Episode folgt die Abschiedsrede. In T. 323 beginnt auch
Esmeralda „noch instinktiv verführerisch“ zu singen: Wie in der Oper Manzonis
könnte sie hier als Projektion des wahnsinnigen Leverkühn aufgefasst werden.
Dieser Eindruck wird von der Beobachtung bestätigt, dass Esmeralda nur Vokale
singt. Das Motiv der Sprachkrise ist daher auch bei Lenners nicht unbedeutend:
Zugleich ist die Palette der Ausdrucksmöglichkeiten der Stimme besonders groß,
es herrscht ein Spannungsverhältnis zwischen Sprachkrise und Ausdruck. Erste-
res lässt sich etwa an den Vokalen, die vergleichbar zu Noten fast nur auf sich
selbst verweisen sowie an den kaum zu hörenden Worten der Sängerin, Letzte-
res am verzweifelten Schreien und den klangvollen Buchstaben festmachen. Hier
findet man außerdem das anfängliche Element der Glasharfe wieder. Ab T. 335
werden der Rhythmus und die Dynamik „più agitato“, „erregter“ und ab T. 340
„sempre più agitato“, „noch erregter“: Der Musikverlauf der Glasharfe ist reich
an Dissonanzen und der der Streicher an Trillern. Dieser Höhepunkt endet mit
einer Kadenz der Glasharfe und dem Schrei der Sängerin: Der Sopran übernimmt
neben der Rolle Esmeraldas auch die Rolle Leverkühns, der seine Komposition
nicht aufführen kann und ohnmächtig wird. Die „fatalen“ Auswirkungen auf „eine
in die Krise geratene Männlichkeit“126 erzählt und zeigt Esmeralda selbst.127
Ab T. 348 findet man dasselbe Musikelement wie am Anfang, sowohl im Ver-
lauf der links positionierten Harfe als auch im Verlauf der Glasharfe: Man kann

125 Die vorliegende Analyse konzentriert sich hauptsächlich auf jene Episoden, die mit
der Figur Esmeralda direkt verbunden sind, und thematisiert nur kurz weitere im Stück
behandelte Episoden.
126 Bronfen: Liebestod und Femme fatale, S. 15.
127 Vgl. DF: 729.
8.2 Vom Roman zur Musik 309

nicht wirklich von einer Kreisstruktur sprechen, aber ohne Zweifel von einer Ten-
denz zur Kohäsion der verschiedenen Abschnitte. Am Ende nimmt die Sängerin,
so das Manuskript, „den Schleier ab und trägt den von Thomas Mann im Dr. Faus-
tus erwähnten Text von Clemens Brentano vor“ (S. 44). Der Anweisung kann man
entnehmen, dass die Sängerin offenbar während der gesamten Aufführung einen
Schleier trägt, den sie nur an exponierten Stellen abnimmt (Abbildung 8.12). O
lieb Mädel, wie schlecht bist du! ist ebenfalls mit dem Motiv der Versuchung
durch die Frau verbunden. Wenn noch Zweifel bestanden, dass dies die Rezepti-
onslenkung des Stückes sei, werden diese durch die Anweisung zur Interpretation
der Passage sofort aus dem Weg geräumt. Die Männerwelt wird zum Opfer der
Femme fatale:

Abbildung 8.12 Die erste Strophe des Gedichts von Brentano (S. 45). Mit freundlicher
Genehmigung des Autors

Esmeralda soll durch das Rezitieren in den ersten drei Strophen Ironie –
in der dritten singt die Sängerin beispielsweise die Melodie von Stille Nacht,
was an Mahlers kompositorisches Verfahren erinnert und einen destabilisierenden
Effekt erzeugt – und in der sechsten und letzten dagegen tiefen Hass ausdrücken
(Abbildung 8.13).
Nicht nur kommentiert der Chor kontinuierlich, was die Sängerin sagt, auch
auf der Ebene der Partitur bleibt kein Vers unkommentiert: So wie Doktor Faus-
tus zeigt auch Lenners’ Stück einen „Hang zum exzessiven Selbstkommentar“.128
Dies erlaubt der Figur Esmeralda einerseits, von sich selbst zu erzählen, was
andererseits jedoch durch die vielen Anweisungen in der Partitur eingeschränkt
wird, denn die Sängerin soll beim Singen bestimmte, vorgegebene Emotionen
ausdrücken.

128 Börnchen: Kryptenhall, S. 68.


310 8 Hetaera Esmeralda

Abbildung 8.13 Die letzte Strophe (S. 46). Mit freundlicher Genehmigung des Autors

Im Roman spielt die Vertonung des Gedichts aus dem Brentano-Zyklus eine
wichtige Rolle: Es ist dasjenige, in dem er „einem strengen Satz am nächsten
war“ (DF: 279) – so Leverkühn dort:

Das ist ganz aus einer Grundgestalt, einer vielfach variablen Intervallreihe, den fünf
Tönen h-e-a-e-es abgeleitet, Horizontale und Vertikale sind davon bestimmt und
beherrscht, soweit das eben bei einem Grundmotiv von so beschränkter Notenzahl
möglich ist. Es ist wie ein Wort, ein Schlüsselwort, dessen Zeichen überall in dem
Lied zu finden sind und es gänzlich determinieren möchten. (DF: 279)

Diese Komposition Leverkühns macht daher Esmeraldas Tonchiffre zu seinem


kompositorischen Hauptmaterial und versucht bereits wie die Zwölftontechnik,
jene Unterschiede zwischen Melodik und Harmonik zu annullieren. Der Verweis
auf diese Stelle des Romans durch die Vertonung des Brentano-Gedichts, also
der werkexterne Blick, widersetzt sich hier den interpretatorischen Anmerkungen
und hebt doch hervor, dass die Begegnung mit Esmeralda im Leben Leverkühns
nicht nur Krankheit, sondern auch „Vitaldifferenzen“129 und erneute Inspiration
hervorbringt. Nur so wird das Motiv der Femme fatale, der Versuchung durch die
Frau, das sonst in Lenners’ Hetaera Esmeralda herrscht, in Frage gestellt.

129 Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 55, im Original hervorgehoben.


8.2 Vom Roman zur Musik 311

8.2.4 h e a e es d und die Wahrheit der Musik: Hetaera


Esmeralda in der Oper Manzonis

In Manzonis Oper spielt Esmeralda eine wichtige Rolle, sie ist sogar wichtiger als
Zeitblom.130 Die Oper beginnt mit der Bordell-Episode und das erste gesungene
Wort ist: „Esmeralda!“ (M-DF: 16, T. 87–90). Außerdem wird die Tonchiffre der
Prostituierten durch die gesamte Oper geführt.131 Bei Manzoni wird nicht die
verkürzte Tonfolge, sondern die vollständige, h e a (e) es d, benutzt. Das erste
Bild des ersten Aktes, das vom Erlebnis im Freudenhaus handelt, ist durch Farb-
und Lichteffekte charakterisiert: Das Bühnenbild der Uraufführungen ist anfäng-
lich grau-grün, dann blau und am Ende der Szene rot. Musikalisch betrachtet,
dominiert der Dialog zwischen Blasinstrumenten und Streichern. Die Linie der
Streicher basiert hauptsächlich auf langen Tönen, die der Blasinstrumente sowie
des Schlagzeugs auf schnelleren rhythmischen Figurationen.
Adrian betritt die Bühne völlig verwirrt, er weiß nicht mehr, wo er sich befin-
det und bewegt sich, als ob er blind wäre. Er schlägt am Klavier einige Akkorde
an (M-DF: 10, T. 59 ff.), die aber wie bei Henze nicht denen des Romans entspre-
chen: „Das romantische ,Vokabular‘“,132 meint Sorg, „ist in Manzonis Oper nicht
möglich“.133 Man sieht tatsächlich kein Klavier auf der Bühne: Das Publikum
ist darauf angewiesen, sich das Instrument wie etwa in den Aufführungen des
elisabethanischen Theaters, wo kaum Requisiten verwendet wurden, vorzustellen.
Am Ende des ersten Bildes zieht Esmeralda die Jacke aus (sie trägt also wie im
Roman eine Jacke) und bewegt sich mit Sinnlichkeit, es ist aber kein echter Tanz:
Manzonis Oper schreibt sich nochmals in die Tradition einer im Vergleich zur
französischen Oper Tanzelemente ablehnenden Operntradition ein und orientiert

130 Vgl. Manzoni: Parole per musica, S. 82. Siehe auch Wißmann, F.: Faust im
Musiktheater, S. 168 f.
131 Vgl. ebd. und Sorg: Beziehungszauber, S. 197.
132 Sorg: Beziehungszauber, ebd. Im Roman spielt Leverkühn drei Akkorde, die an den

Freischütz erinnern. Vgl. DF: 209. Das romantische Vokabular scheint aber auch in Henzes
Musik trotz seines – so Manzoni bezüglich Henzes Musik – „denso sinfonismo d’impronta
romantica“ nicht möglich zu sein. „Eine reichhaltige Sinfonik romantischer Prägung“.
Manzoni: Le novità della Rassegna di musica contemporanea (1959). In: Ders. (Hrsg.):
Musica e progetto civile, S. 55 ff., hier: S. 56.
133 Ebd.
312 8 Hetaera Esmeralda

sich diesbezüglich ganz an dem Roman.134 Nicht nur durch die Berührung, son-
dern auch durch dieses performative Entkleiden versucht Esmeralda Leverkühns
Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Kurz danach beginnt das zweite Bild, das von der intimen Beziehung handelt.
Die Konnotation des Ortes, die im Fall der vorher präsentierten Kompositionen
eine wichtige Rolle spielte, fehlt im Gegensatz dazu bei Manzoni: Die Bühnenan-
weisung lautet nur „[u]n altro luogo. Incontro con la prostituta del primo quadro“
(M-DF: 16).135
Adrian und Esmeralda singen fast die ganze Szene lang. Die im Werk des
Komponisten typische Reduktion des Gesungenen auf einzelne Buchstaben ist
auch hier zu sehen (Abbildung 8.14):136

Abbildung 8.14 Adrian und Esmeralda (T. 128–137)

Adrian versucht, sich Esmeralda anzunähern, sie nimmt aber Abstand von ihm
und singt entweder „Guardati dal mio corpo“ (M-DF: 18) oder „Non devi amar-
mi“ (M-DF: 21), also „Hüte dich vor meinem Körper“ oder „Du darfst mich
nicht lieben“.137 Bei Manzoni ist es daher nicht nur der Teufel, der das Liebes-
verbot ausspricht: Es wird auch von Esmeralda ausgesprochen und das Motiv der
Warnung kommt sowohl hier als auch an anderen Stellen der Oper deutlich zum
Tragen. Somit wird betont, dass Adrian Esmeralda geliebt und sich absichtlich
infiziert hat.
Kurz vor der intimen Beziehung wird das Bühnenbild feurig rot und dann
nochmals grau-grün wie am Anfang des ersten Bildes: Das Ende der Esmeralda-
Episode ist damit signalisiert. Im Medium der Oper werden auf diese Weise
Emotionen bzw. Affekte farblich vermittelt.

134 Siehe auch Burney, Charles: The Present State of Music in France and Italy, or: The
Journal of a Tour Through Those Countries, Undertaken to Collect Materials for a General
History of Music. London: Becket 1773, S. 346–350.
135 „Ein anderer Ort. Begegnung mit der Prostituierten des ersten Bildes“. Zur Vagheit der

Raumangaben in der Oper vgl. 5.2.1.


136 Vgl. Sorg: Beziehungszauber, S. 175; Noller: Engagement und Form, S. 265.
137 Vgl. DF: 225.
8.2 Vom Roman zur Musik 313

Ein „Soprano interno“, also off-stage, singt während der Abschiedsrede eben-
falls „Guardati dal mio corpo“ (M-DF: 231; T. 230–237) und eine „donna velata“,
also eine verschleierte Frau im Epilog singt „a…r…a…i…a…l…i…o…r“ (M-
DF: 289. T. 715–742).138 Diese Stimmen wurden in der Premiere der Sängerin
zugewiesen, die auch die Rolle der Esmeralda spielt: In den Bezeichnungen
bleibt daher das Geheimnis bezüglich dieser Figur ungelöst, jedoch nicht unter
gesanglich-musikalischen Gesichtspunkten, denn Esmeralda und die verschleierte
Frau teilen denselben Stimmtypus. Nicht selten lässt sich bei Manzoni feststellen,
dass der Vagheit in den paratextuellen Angaben eine Genauigkeit in der musikali-
schen Faktur entgegengesetzt wird: Die Musik umgeht ihre Selbstreferentialität
und erreicht sogar eine größere Eindeutigkeit als die schriftlich fixierte Spra-
che. Hinter dem Schleier steht also die Wahrheit der Musik: Das metaphorisch
konnotierte Motiv der Verschleierung kommt auch in der Oper vor, ebenfalls
in Verbindung mit Wahrheit und Musik. Abgesehen vom Namen der Prostitu-
ierten, wird die Herkunft Esmeraldas nicht thematisiert: historisch-geographische
Angaben finden in Manzonis Oper kaum Berücksichtigung; trotz der Verwendung
der italienischen Sprache gewinnt Leverkühns Geschichte an Universalität, wird
abstrahiert von ihrem historisch-geographischen Kontext. Zeitbloms Darstellung
von Esmeralda als Femme fatale bzw. als Figur, die Leverkühn ins Unglück bringt,
scheint hier keine wichtige Rolle zu spielen: Ihre Tonchiffre ist nicht unvollstän-
dig und das erste gesungene Wort lautet nicht „Hetaera Esmeralda“, was ihren
Status als Prostituierte unterstrichen hätte, sondern einfach „Esmeralda“. Diese
Information zu Esmeraldas sozialem Status lässt sich lediglich der Inszenierung
und einigen Paratexten entnehmen: Primat hat bei Manzoni die Handlung und die
fiktive Musik Leverkühns, Identitätskategorien wie Nationalität und Klasse sind
zweitrangig.
Zusammenfassend ergeben sich einige Gemeinsamkeiten in der komposito-
rischen Rezeption der Figur Esmeralda sowie der ihr gewidmeten Kapitel, die
hier, bevor aus dem gesamten Kapitel ein Fazit gezogen wird, resümiert werden
sollen. Erstens übersehen sowohl Manzoni als auch Fine nicht, dass die Tonchif-
fre im Roman unvollständig ist und ergänzen sie in ihren Kompositionen. Im
Gegensatz zu Henze, der durch den Verzicht auf die Tonchiffre ihre Bedeutung
abschwächt, spielt sie jedoch bei Manzoni und Fine immerhin eine zentrale Rolle.
Zweitens unterstreichen alle Kompositionen die Verbindung von Esmeralda mit
der Musik, die typisch für das kulturelle Stereotyp der Femme fatale ist. Um diese
Verbindung im Medium der Musik noch ausdrücklicher hervorzuheben, greifen

138 Vgl. Abschn. 5.2.1.5 u. 11.2.3.


314 8 Hetaera Esmeralda

die meisten Kompositionen auf Tanzformen wie Tango und Walzer zurück. Drit-
tens orientieren sich die behandelten Musikwerke zum großen Teil an Zeitbloms
misogyner Darstellung von Esmeralda, was bei Lenners durch die Anweisungen
sowie den Rückgriff auf Brentanos Text deutlich wird.

8.3 Fazit

Der erste Teil des vorliegenden Kapitels konzentrierte sich auf die Darstellung der
Figur Esmeralda durch Leverkühn auf der metadiegetischen Ebene der Narration
und durch Zeitblom auf der intra- und extradiegetischen. Diese Charakterisie-
rung weist viele Aspekte des kulturellen Stereotyps der Femme fatale auf und bot
Anlass, über Zeitbloms nicht selten misogyne Darstellung weiblicher Figuren im
Roman zu reflektieren. Die Analyse sexuell konnotierter metaphorischer Motive
der Esmeralda-Kapitel, untermauert vom intramedialen Verweis auf Freuds Schrift
Jenseits des Lustprinzips, brachte nicht nur die sexualisierte Charakterisierung der
Prostituierten ans Licht, sondern auch von vielen weiblichen Figuren von Doktor
Faustus. Viele dieser Motive – die Nacktheit, die Durchsichtigkeit, der Durch-
bruch – tauchen auch in Verbindung mit den Topoi der Sterilität der Kunst und
der (nackten) Wahrheit des Textes und der Musik auf. Die in diesem Kapitel
behandelten Kompositionen unterstützen oft die Zuordnung Esmeraldas zum kul-
turellen Stereotyp der Femme fatale, indem sie auf Tanzformen zurückgreifen
(den Walzer bei Fine, den Tango bei Henze) oder das Motiv der Versuchung
durch die Frau ins Zentrum rücken (Lenners). Dass die Tonchiffre der Prostituier-
ten im Roman unvollständig ist, was ihre misogyne Darstellung noch deutlicher
hervorhebt, übersehen die Kompositionen von Fine und Manzoni jedoch nicht
und ergänzen sie um die Note d. Die Analyse zweier verdeckter intermedialer
Produkte (Fine und Henze) bot außerdem die Möglichkeit, über Grenzen und
Potenziale der Figurencharakterisierung im Medium der instrumentalen Musik
nachzudenken. Beispielsweise ermöglicht die Vagheit, die diesbezüglich auffällig
wird, keine klare Darstellung wie im Medium des Romans. Somit wird jedoch
sowohl die Vorstellungskraft von Rezipient*innen angeregt als auch die emotio-
nale Welt der Figur effektiver gezeigt bzw. hörbar gemacht. In Hinblick auf die
Forschungsfragen der Arbeit lässt sich demnach Folgendes sagen: Indem dieses
Kapitel noch ein Stück kompositorischer Rezeptionsgeschichte von Doktor Faus-
tus beleuchtet hat, ist es auch im Prozess des Medienvergleichs der Frage nach
den Möglichkeiten der Figurencharakterisierung sowohl im Medium der Literatur
als auch der Musik, selbst in dem der instrumentalen Musik, nachgegangen.
8.3 Fazit 315

Im nächsten Kapitel wird sich die intermedial angelegte Untersuchung erneut


mit einer Figur aus Thomas Manns Roman befassen, und zwar mit dem Geiger
Rudolf Schwerdtfeger. Dabei wird nochmals über die Darstellung einer Musiker-
figur in der Literatur und in der Musik reflektiert. Anhand des Konzerts von Hans
Werner Henze soll außerdem die in diesem Kapitel bereits angerissene Frage nach
den Möglichkeiten der Figurencharakterisierung im Medium der instrumentalen
Musik vertieft werden.

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Rudolf Schwerdtfeger
9

Im Rahmen dieser Studie wurde Schwerdtfeger schon beiläufig erwähnt. Im vori-


gen Kapitel wurde z. B. angedeutet, dass er eine sexualisierte Figur von Doktor
Faustus ist.1 Viele Indizien sprechen dafür: Seine Neigung zum Flirten, seine
ehebrecherische Liaison mit Ines Rodde und seine intime Beziehung zu Lever-
kühn. Schwerdtfeger ist jedoch nicht nur ein anziehender Mann, sondern auch ein
talentierter Geigenvirtuose. Der erste Teil des vorliegenden Kapitels beschäftigt
sich mit Schwerdtfegers Darstellung im Roman, die dem Mythos des dämoni-
schen Geigers entspricht. Sowohl dieser Mythos, der vor allem in der Form des
Paganini-Mythos auftaucht, als auch seine Relevanz in der deutschsprachigen
Literatur werden parallel zur Analyse der Figurencharakterisierung des fiktiven
Geigers von Doktor Faustus beleuchtet; die Analyse umrahmen Roland Barthes’
theoretische Darlegungen zum Mythos und zur Mythenlektüre. Der zweite Teil
des Kapitels widmet sich dem dritten Satz von Henzes Violinkonzert, der den
Titel „Rudi S.“ trägt. Eher als das Violinkonzert selbst, stehen hier inhaltli-
che Mikroformen des Romans und die Figurencharakterisierung Schwerdtfegers
im Vordergrund: Das Verhältnis der Transposition zur Vorlage lässt sich hier
als dezidiert verstärkend definieren. Beide Abschnitte zeigen, um mit Barthes
zu argumentieren, dass der Mythos des dämonischen Geigers in vielen Medien
immer noch präsent ist, wo er stets neuen Deformationen unterzogen wird.

1 Vgl. 8.1.2.

© Der/die Autor(en) 2021 317


A. M. Olivari, Doktor Faustus (ver-)stimmen,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62635-1_9
318 9 Rudolf Schwerdtfeger

9.1 Schwerdtfeger in Doktor Faustus

Die Figur Rudolf Schwerdtfeger ist Teil vieler Kapitel von Doktor Faustus2 und
ist eine der allerersten Figuren, die Thomas Mann zu Beginn seines Schaffenspro-
zesses am Roman skizziert haben soll: „Figur des Rud. Schwerdtfeger, Geigers
aus dem Münchener Zapfenstösser-Orchester“3 heißt es in den Tagebüchern. Die
Leser*innenschaft begegnet dem Musiker erst im 23. Kapitel, als Leverkühn nach
München umzieht und Schwerdtfeger als Gast des gesellschaftlichen Kreises um
die Familie Rodde kennenlernt. Er sei

ein begabter junger Geiger, Mitglied des Zapfenstößer-Orchesters, das neben der
Hofkapelle eine bedeutende Rolle im musikalischen Leben der Stadt spielte, und
in welchem er unter den ersten Violinen arbeitete. (DF: 290)4

In der Forschungsliteratur zum Roman bleibt diese Romanfigur, bis auf wenige
Ausnahmen, jedoch relativ unbeachtet.5 Seit Beginn seiner Freundschaft zu
Adrian Leverkühn möchte der talentierte Geiger, der nicht nur dem Musizieren,
sondern auch – so Zeitblom – „dem Flirt mit dem schönen Geschlecht, jungen
Mädchen sowohl wie reiferen Frauen, selig hingegeben“ (DF: 290) ist, dass der
Komponist für ihn ein Violinkonzert schreibt, „mit dem er sich in der Provinz
hören lassen kann“ (DF: 298). Dieses Konzert, das laut der Erzählinstanz „nicht
zu Leverkühns höchsten und stolzesten“ (DF: 573) gehört, wird der Komponist für
ihn schließlich komponieren; nicht nur das, Leverkühn wird auch bei allen seinen

2 Ab Kapitel XXII bis zum Kapitel XLII taucht Schwerdtfeger bis auf wenige Ausnahmen
(z. B. das Teufelsgespräch) immer auf.
3 TB1: 29.04.1943, S. 568.
4 Später wird er die Stelle des Konzertmeisters besetzen: vgl. DF: 506. Laut Dirk Heißerer

korrespondiert das von Thomas Mann erfundene Münchener Orchester mit dem Kaim-
Orchester. Vgl. Heißerer, Dirk: Unterwegs im „Lebensbuch“. München in Thomas Manns
Roman Doktor Faustus. In: Hirmer, Simone u. Marcel Schellong (Hrsg.): München lesen.
Beobachtungen einer erzählten Stadt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 109–
125, hier: S. 117.
5 Siehe z. B. Riggs, Robert: Violins and Violinists in Literature. In: Ders. (Hrsg.): The

Violin. Rochester: University of Rochester Press 2016, S. 36–59 (insb. S. 56 f.); Grim-
stad, Kirsten J.: The Modern Revival of Gnosticism and Thomas Mann’s Doktor Faustus.
Rochester/New York: Camden House 2002; Luft, Klaus Peter: Erscheinungsformen des
Androgynen bei Thomas Mann. New York (u. a.): Lang 1998, S. 114 ff.; Dill, H. J.:
Zur Erklärung des Namens „Pfeiffering“ in Thomas Manns Doktor Faustus. In: Germanic
Notes 2 (1971), S. 34 ff.
9.1 Schwerdtfeger in Doktor Faustus 319

Aufführungen anders als sonst anwesend sein.6 Im Laufe der Arbeit an dem Kon-
zert nimmt die Intimität zwischen Schwerdtfeger und Leverkühn zu: Die beiden
umarmen sich,7 nennen „einander Du“ (DF: 603) und nach einer schweizerischen
Aufführung des Konzerts erscheinen sie „Hand in Hand“ (DF: 604). Nach der
Uraufführung in Wien hatten Geiger und Komponist einige Tage im Schloss Tolna
zusammen verbracht, weswegen die Forschungsliteratur unter anderen textuellen
Indizien zwischen der Auffassung einer homosexuellen und der einer platonischen
Liebe oszilliert – Letzteres scheint u. a. Schwerdtfegers Bezeichnung des Violin-
konzerts als „platonisches Kind“ (DF: 510) zu bestätigen.8 Zweifelsohne sind die
Romankapitel, die vom Komponieren und der Aufführung des Konzerts handeln,
reich an homoerotisch-konnotierten textuellen Hinweisen. Schwerdtfeger ist eine
höchst sexualisierte Figur in Doktor Faustus: Mit ihm begeht Ines Rodde – eine
der beiden Töchter der Senatorin, bei der Leverkühn in München Schwerdtfeger
kennenlernt – kurz nach der Eheschließung mit Dr. Helmut Institoris, „Ästhetiker
und Kunsthistoriker [sowie] Privatdozent an der Technischen Hochschule“ (DF:
417), einen langjährigen Ehebruch.9 Ines Institoris soll aber nach Schwerdtfegers
Meinung, der dem Komponisten die ehebrecherische Beziehung folgendermaßen
schildert, alleine die Schuld tragen:

„Ich kann nichts dafür, Adrian, glaube – glauben Sie mir! Ich habe sie nicht ver-
führt, sondern sie mich, und die Hörner des kleinen Institoris, um diesen dummen
Ausdruck zu gebrauchen, sind ausschließlich ihr Werk, nicht meines“. (DF: 508)10

6 Das Violinkonzert wird vom Autor in der Entstehung als „Adrians hybrides Geschenk an
die Zutraulichkeit“ (Ent: 158) beschrieben.
7 Vgl. DF: 466 f.
8 Vgl. DF: 574 f. Siehe Grimstad: The Modern Revival of Gnosticism, S. 197. Auch

Riggs betrachtet die Beziehung als nicht platonisch. Vgl. Riggs: Violins and Violinists in
Literature, S. 57.
9 Es wurde in der Forschungsliteratur bereits mehrfach hervorgehoben, dass Institoris der

Name eines der beiden Verfasser des Malleus Maleficarum ist. Vgl. z. B. Müller, Maria
E.: Die Gnadenwahl Satans. Der Rückgriff auf vormoderne Pakttraditionen bei Thomas
Mann, Alfred Döblin und Elisabeth Langgässer. In: Röcke, W. (Hrsg.): Thomas Mann.
Doktor Faustus 1947–1997. Bern (u. a.): Lang 2001, S. 145–165, hier: S. 155.
10 Im selben Zugeständnis betont Schwerdtfeger auch, sie nie geliebt, sondern einfach

„brüderlich-kameradschaftliche Empfindungen für sie“ (DF: 509) gehabt zu haben. Er


spricht zudem von einem „Übergewicht der Frau in der Liebe, so, daß er sagen müsse,
Ines gehe mit seiner Person, seinem Körper um, wie eigentlich und richtigerweise der
Mann umgehe mit dem einer Frau – wozu noch ihre krankhafte und krampfhafte, dabei
ganz ungerechtfertigte Eifersucht komme auf den Alleinbesitz seiner Person“ (ebd.).
320 9 Rudolf Schwerdtfeger

Von Anfang an ahnt Leverkühn die möglichen, fatalen Konsequenzen einer sol-
chen Beziehung.11 Schwerdtfeger findet den Mut, Frau Institoris zu verlassen.
Diese kann anfänglich dank des Morphiums, das sie sehr wahrscheinlich von
Natalie Knöterich bekommt, das Leben wieder ertragen.12
Das Violinkonzert stellt zweifelsohne den Höhepunkt der Beziehung zwischen
Leverkühn und Schwerdtfeger dar.13 Diese Beziehung findet jedoch gleich nach
der Aufführung des Stückes in der Schweiz ihr Ende, da die beiden Marie Godeau
kennenlernen. Diese „französische Schweizerin“ (DF: 606) hat „die schönsten
schwarzen Augen von der Welt“ (DF: 607), teilt Zeitblom seinen Leser*innen mit.
Sie sei Zeichnerin und arbeite „für kleinere Pariser Opern- und Singspielbühnen“
(DF: 608). Schwerdtfeger und Leverkühn verlieben sich auf den ersten Blick in
sie und Leverkühn will sie nach kurzer Zeit heiraten.14 Daher die Idee, den Geiger
zu ihr zu schicken, um sie von seinen Gefühlen in Kenntnis zu setzen. Es handelt
sich demnach um einen Vorheiratsantrag:

Bringst du mir soviel zurück, daß der Gedanke, mein Leben mit mir zu teilen, ihr
nicht ganz und gar zuwider, nicht ungeheuerlich ist, – dann kommt meine Stunde,
dann will ich selber mit ihr und ihrem Tantchen reden. (DF: 635 f.)15

11 „Übrigens ist das kein Spaß für ihn. – Er soll zusehen, daß er heil aus der Sache
davonkommt“ (DF: 435).
12 Als Ergänzung zu Börnchens Ausführungen über das dritte Kapitel von Doktor Faustus

und Esmeralda sei hier am Rande erwähnt, dass Natalia Knöterich auch Esmeralda in
Erinnerung ruft, einerseits weil sie „spanisch-exotisch von Ansehen“ (DF: 475) ist, ande-
rerseits weil sie Ines Institoris mit einer Art Gift, nämlich mit Morphium, versorgt. Vgl.
Börnchen: Kryptenhall, S. 215.
13 Vgl. Luft: Erscheinungsformen des Androgynen, S. 115.
14 Laut Heißerer korrespondiert das Dreieck Leverkühn – Marie – Schwerdtfeger zu dem

Thomas Mann – Katia Pringsheim – Paul Ehrenberg. Katia Mann habe die gleichen
schwarzen Augen wie Marie gehabt. Siehe Heißerer: Unterwegs im „Lebensbuch“, S. 116.
Zu Paul Ehrenberg siehe auch Riggs: Violins and Violinists in Literature, S. 59, Fußnote
9.
15 Thomas Mann erklärt diesen Plan Leverkühns so: „Adrian schickt den Reinen, Glückli-

chen, Gewinnenden, teils um durch ihn besser zu werben, teils um ihn zu opfern“ (TB2:
25.10.1945, S. 268; Herv. A. O.). Hannum bestätigt und erläutert diese Auffassung: „[T]he
sacrifice is called for outright by Leverkühn, who asks Rudi to propose to Marie Godeau
on his behalf“. Hannum: Self-Sacrifice, S. 299. Das Motiv von Schwerdtfegers Opferung
wird auch in 11.2.2 angesprochen.
9.1 Schwerdtfeger in Doktor Faustus 321

Leverkühns exzentrischer Plan, den Zeitblom heftig kritisiert,16 ist zum Schei-
tern verurteilt und führt nicht zur Verlobung Leverkühns mit Godeau, sondern zu
ihrer Verlobung mit Schwerdtfeger. Nach dem letzten Konzert für das Münchner
Orchester – der Geiger will nämlich mit seiner Verlobten nach Paris ziehen, wo er
die Stelle des Konzertmeisters im „Orchestre Symphonique“ (DF: 646) antreten
soll – wird er von einer rachsüchtigen Frau Institoris in einer Tram erschossen.17
In diesem Kapitel steht diese Musikerfigur von Doktor Faustus, die mit dem
Mythos des dämonischen Geigers in Verbindung gebracht wird, im Zentrum. Als
theoretische Untermauerung der folgenden Analyse dienen die Ausführungen von
Roland Barthes in Mythen des Alltags.

9.1.1 Der (alltägliche) Mythos des dämonischen Geigers

Der Mythos des dämonischen Geigers lässt sich als Modifikation oder mit Barthes
als Deformation des ursprünglichen Mythos der Geige als dämonisches Instru-
ment verstehen. Zu den ersten literarischen und künstlerischen Zeugnissen der
Assoziation von Geige und Teufel bzw. auch von Geige und Tod zählen Texte
und Manuskriptabbildungen zum Todestanz, die von einem Geige spielenden Tod
erzählen oder ihn direkt abbilden sowie Zitate aus Shakespeares Dramen.18 Dass
dieser Mythos, der vor Paganini in der Barockepoche bereits mit den real exis-
tierenden Violinisten Tartini und Strunck in Verbindung gebracht wurde, sehr
geeignet für die Rezeption im Medium der literarischen Schrift zu sein scheint,
mag schon die Beobachtung bestätigen, dass ein aktueller Sammelband zur Vio-
line überraschenderweise nicht mit ihrer Geschichte oder mit Informationen zum
Geigenbau, sondern mit dem im Titel einer rhetorischen Frage tragenden Teil „An
Instrument oder a Metaphor?“ beginnt.19 In diesem Teil des Buches wird zunächst
die Verbindung von Geige und Tod bzw. von Geige und Teufel in künstlerischen
und literarischen Werken ausgelotet, danach wird der Fokus auf Violinist*innen

16 Siehe DF: 642: „Wie bekennt man einer Frau die Liebe eines andern? Neigt man sich

zu ihr? Blickt man ihr ins Auge? Nimmt man bittend ihre Hand, die man gern in die des
Dritten legen zu wollen erklärt?“
17 Vgl. DF: Kap. XLII.
18 Vgl. Berger, Robert W.: The Devil, the Violin, and Paganini: The Myth of the Violin

as Satan’s Instrument. In: Religion and the Arts 16 (2012), S. 305–327, hier: S. 309;
Shakespeare, W.: Henry VIII. In: Ders.: The Complete Works, Part 2, Akt 1 Szene 3,
714–752, hier: S. 721; Riggs, R.: Association with Death and the Devil. In: Ders. (Hrsg.):
The Violin, S. 3–35.
19 Riggs (Hrsg.): The Violin, S. vii.
322 9 Rudolf Schwerdtfeger

und das Instrument in der Literatur gelegt, wobei die meisten Geiger*innenfiguren
dämonische Züge tragen und so auch Schwerdtfeger aus Thomas Manns Roman
selbstverständlich nicht fehlt.20 In der vorliegenden Studie wird nicht wie bei
Riggs von Metaphern, sondern von Mythen gesprochen, denn speziell die Ver-
flechtung mit real existierten Musikern wie Paganini oder Tartini macht dieses
zweite semiologische System sichtbar, das auf einem Signifikanten beruht, der
zugleich Sinn und Form ist. Nicht zufällig weist Barthes darauf hin, dass ein
Mythos wohl deformieren kann, jedoch nichts verbirgt:21 Obwohl real existierte
Musiker vom Mythos deformiert werden können, bleiben die Vorlagen erkennbar.
Die Bezeichnung ,Metapher‘ scheint daher für ein Phänomen, das Fakten und
Persönlichkeiten des Musiklebens sowie u. a. literarische und anekdotische Texte
über die Epochen hinweg einschließt und deformiert, unzureichend.
Laut Riggs ist Schwerdtfeger „a demonic character“22 und auch Zeitblom
spricht im Roman von seiner „kindischen Dämonie“ (DF: 604): Sein Talent für
den Flirt und das Geigenspiel verbindet sich mit einer gewissen Naivität, was der
Erzähler einem dämonischen Ursprung zuschreibt. Inwieweit sich Schwerdtfeger,
der wohl auch für eine Opferfigur von Doktor Faustus gehalten werden kann,
als Verkörperung des Mythos des dämonischen Geigers auffassen lässt, sei im
Folgenden aufgezeigt. Bei der Erwähnung seines Repertoires taucht Paganini nie
auf, Tartini wird jedoch explizit benannt.23 Des Weiteren spielt Schwerdtfeger das
typische Repertoire eines Geigenvirtuosen, etwa Bachs Partita in E-Dur, Vivaldi,
Spohr, Vieuxtemps, Grieg, Beethovens Kreutzer-Sonate und Dvořáks Humo-
reske.24 Dass auf Tartini explizit verwiesen wird, spricht auch wieder für jene
Kontamination des Romans durch das System der Barockmusik, mit dem sich der
Viola d’amore-Spieler Zeitblom gut auskennt;25 dass hingegen Paganini nament-
lich nicht erwähnt wird, ist in Bezug auf Doktor Faustus, wo etwa die Namen

20 Vgl. Riggs: Association with Death and the Devil u. Ders.: Violins and Violinists in

Literature.
21 Barthes: Mythen des Alltags, S. 268 u. 277.
22 Riggs: Violins and Violinists in Literature, S. 57.
23 Siehe DF: 506 u. 291.
24 Vgl. DF: 506 u. 622; zur Geschichte und zum Repertoire des Instruments: Nardolillo, Jo:

The Canon of Violin Literature: a Performer’s Resource. Lanham, Md. (u. a.): Scarecrow
Press 2011; Menuhin, Yehudi: The Violin. Paris: Flammarion 1996.
25 Vgl. 11.1.2. In Bergers Aufsatz wird außerdem eine Anekdote erwähnt, die ein Treffen

Struncks mit Corelli betrifft und das virtuose Spielen mittels Anwendung der Scorda-
tura ebenfalls mit dem Dämonischen verknüpft. Vgl. Berger: The Devil, the Violin, and
Paganini, S. 313. Hier sei zudem erwähnt, dass auch Paganini auf die Scordatura zurück-
gegriffen haben soll. Vgl. Grisley, Roberto: Art. Paganini, Nicolò, Würdigung. In: MGG
9.1 Schwerdtfeger in Doktor Faustus 323

Schönberg oder Nietzsche nie auftauchen, kein Beweis dafür, dass der Mythos des
dämonischen Geigers hier ausnahmsweise nicht auf den Paganini-Mythos zurück-
greift.26 Einzelheiten aus Anekdoten über den italienischen Violinisten, Autor der
Ventiquattro Capricci für Violine solo, die als Meilenstein des Geigenvirtuosen-
tums gelten, finden im 19. Jahrhundert Eingang u. a. in Texte von Grillparzer
und Heine. In vielen literarischen und nicht-literarischen Texten stellt Paganini
aufgrund seiner Biographie, die im Folgenden dargelegt wird und seines meister-
haften, virtuosen Geigenspiels die Verkörperung par excellence des Mythos des
dämonischen Geigers dar.27
Auch die folgende Analyse stützt sich vor allem auf den Paganini-Mythos, um
die Darstellung von Schwerdtfeger als Paganini von Doktor Faustus zu beleuch-
ten. Der italienische Geiger sei Anekdoten der Zeit zufolge nicht nur für sein
unerreichbar virtuoses Geigenspiel, sondern auch für seine Fähigkeit berühmt
gewesen, Tiergeräusche, das Seufzen und Stöhnen von Liebenden und das Wei-
nen alter Frauen zu imitieren.28 Schwerdtfeger kann ebenfalls das traditionelle
Violinrepertoire meisterhaft spielen und zudem hervorragend pfeifen:

Ich [Zeitblom] habe das später auch bei Roddes und Schlaginhaufens gehört und
mir von ihm erzählen lassen, wie er schon als ganz kleiner Junge, bevor er Violinun-
terricht bekam, diese Technik auszubilden begonnen und sich im reinen Nachpfeifen
vernommener Musikstücke, fast wo er ging und stand, geübt, auch später an dem
Erworbenen immer fortentwickelt hatte. Es war glänzend, – eine kabarettreife Fer-
tigkeit, die fast mehr imponierte als sein Geigenspiel, und für die er organisch
besonders glücklich angelegt sein mußte. (DF: 380)

Dieses Talent von Schwerdtfeger ist so ausgeprägt, dass Zeitblom ihn nach dieser
ersten Erwähnung immer häufiger als „Geiger und Pfeifer“ (DF: 401) anredet.
Auch das Pfeifen lässt sich mit Paganini in Verbindung bringen, und zwar mit
seinem Imitationstalent, denn durch das Pfeifen ahmt der Geiger musikalische
Kompositionen, die ursprünglich etwa für Violine, Flöte und Harfe geschrieben
wurden, nach.29

Online. Zuerst veröffentlicht 2004, online veröffentlicht 2016. < https://www.mgg-online.


com/mgg/stable/49503 > (letzter Zugriff: 21.08.2020) u. Kap. 7.
26 Vgl. 8.1.
27 Vgl. Cersowsky, Peter: „Mehr als Musik“. Paganini in der deutschen Literatur seiner

Zeit. In: Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen 156 (2004) H. 1,
S. 157–167.
28 Siehe Berger: The Devil, the Violin, and Paganini, S. 318.
29 Vgl. DF: 507 f. Wahrscheinlich ist es auch kein zufälliges Textelement, dass zu den

Gästen der Familie Institoris auch ein Maler gehört, der „für die lustige Imitation von
324 9 Rudolf Schwerdtfeger

Verschiedene Skandalgeschichten verknüpfen sich außerdem mit Paganini:


Manche Anekdoten und literarische Texte, z. B. von Grillparzer und Heine, erzäh-
len von einem Mord an einer Liebhaberin, manche von der Vergewaltigung einer
Minderjährigen; darüber hinaus soll Paganini in einem Friedhof konzertiert haben,
was ihm später verboten wurde. Nach seinem Tod in Nizza soll dort aufgrund
des Vergewaltigungsskandals seine kirchliche Bestattung nicht erlaubt gewesen
sein.30 Die Assoziation mit dem Teufel lässt sich u. a. einer Anekdote der Zeit ent-
nehmen, von der Paganini selbst in der Revue Musicale berichtet: Ein Zuschauer
soll bei einer Aufführung den Teufel gesehen haben, der seinen Bogen leitete.31
Dies lässt zugleich an die Anekdote über Tartinis Sonate Le trille du diable, da der
Teufel dem Geiger im Traum die Sonate diktiert haben soll,32 und an Shakespeare
denken: Hier diktiert der Teufel keine Sonate, leitet aber selbst Paganinis Bogen.
Dies alles sind Adaptionen ein und desselben Mythos, der speziell den Bogen als
Teufelswaffe ansieht. Schenkt man dem Nachnamen der Geigerfigur von Doktor
Faustus Aufmerksamkeit, so wird man feststellen, dass dieser aus zwei Wörtern
besteht: Das erste Wort, ,Schwerdt‘, bezeichnet eine Waffe, die optisch nicht
zuletzt auch aufgrund der Präsenz eines Handgriffs einem Bogen ähnelt. Das
zweite Wort, ,Feger‘, kann auf einen – so im Duden – „freche[n] Bursche[n]“33
bzw. auf einen – so im Schweizerischen Idiotikon – „tüchtige[n] Kämpfer“34 bzw.

Schauspielern, Tieren, Musikinstrumenten und Professoren“ (DF: 477) sehr begabt ist.
Obwohl sich dies auf eine andere Figur bezieht, verstärkt es indirekt den Bezug auf
den Paganini-Mythos, da Schwerdtfeger Liebhaber von Ines Institoris ist und wenige Sei-
ten später vom Ehebruch erzählt wird. Zu Schwerdtfegers Pfeifen vgl. auch: Dill: Zur
Erklärung des Namens „Pfeiffering“.
30 Vgl. Berger: The Devil, the Violin, and Paganini, S. 319 f.; Cersowsky: „Mehr als

Musik“, S. 158 u. 162.


31 Zit. in Berger: The Devil, the Violin, and Paganini, S. 322.
32 Siehe ebd., S. 314 f.
33 „Feger“. In: Duden Online. < https://www.duden.de/rechtschreibung/Feger > (letzter

Zugriff: 21.08.2020).
34 „Feger“. In: Schweizerisches Idiotikon. < https://digital.idiotikon.ch/idtkn/id1.htm#!page/

10685/mode/1up > (letzter Zugriff: 21.08.2020). Des Weiteren könnte das Komposi-
tum ,Schwerdtfeger‘ bzw. ,Schwertfeger‘ auf die handwerkliche Qualität des Spielens
hinweisen und daher die mittelalterliche Einteilung von Musiker*innen in musici theorici
und musici practici in Erinnerung rufen. Ersteres lässt sich auf Leverkühn als Komponisten
und Kompositionstheoretiker, Letzteres auf Schwerdtfeger als Geigenvirtuosen übertragen.
Siehe auch „Schwertfeger“. In: Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd.
15 Sp. 2587 bis 2588. < https://www.woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=
DWB&lemid=GS22166 > (letzter Zugriff: 21.08.2020) u. Salmen, Walter: Art. Musiker,
Zum Terminus. In: MGG Online. Veröffentlicht November 2016. < https://www.mgg-onl
ine.com/mgg/stable/12883 > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
9.1 Schwerdtfeger in Doktor Faustus 325

„starke[n] Mann“35 hinweisen, was Schwerdtfeger zweifelsohne ist. Zeitblom


beschreibt ihn als „eifrige[n] Salonbesucher, der jeden freien Abend in mindes-
tens einer, meistens aber zwei bis drei Gesellschaften verbrachte“ (DF: 290) und
sich „dem Flirt mit dem schönen Geschlecht, jungen Mädchen sowohl wie reife-
ren Frauen, selig hingegeben“ (ebd.) hatte. Nicht nur, Schwerdtfeger macht auch
Leverkühn den Hof und ist vergleichbar zur Darstellung Paganinis in diversen
Texten sowohl bei Frauen als auch bei Männern beliebt.36 Was Schwerdtfegers
Skandalgeschichten angeht, so seien hier nochmals – um nur einige Beispiele zu
nennen – die ehebrecherische Liaison mit Ines Institoris und die homosexuelle
Beziehung zu Leverkühn erwähnt. Wichtige Modifikation des Mythos stellt die
Tatsache dar, dass Schwerdtfeger selbst ermordet wird, was sich als umgekehrte
Version des Paganini-Mythos lesen lässt. Die Verbindung von Geige und Tod ist
aber somit gegeben; nicht zufällig erwähnt Zeitblom, dass Schwerdtfeger in der
Tram „seinen Geigenkasten aufgestellt zwischen den Knien“ (DF: 649) sitzt.
Erstaunlicherweise wird in Anekdoten und sonstigen Texten zu Paganini eher
als das Spielen das Aussehen des Geigers detailliert beschrieben, weswegen Cer-
sowsky von einem „Vorrang des Optischen“37 spricht.38 Zeitbloms Darstellung
lässt sich zwar in dieser Hinsicht als ausgewogener werten, da auch sein Spie-
len und Pfeifen ausführlich geschildert werden. Er verzichtet jedoch auch nicht
darauf, seine Leser*innenschaft wiederholt über die Kleidung des Geigers zu
informieren: So erscheint Schwerdtfeger in jenen Münchner Abendkreisen „als
Bauernbursch gekleidet oder in der Tracht des florentinischen 15. Jahrhunderts,
die seinen hübschen Beinen zustatten kam und ihn Botticellis Jünglingsportrait
mit der roten Mütze nicht unähnlich machte“ (DF: 296).39
Hinsichtlich eines Vergleichs der Umstände des Todes der beiden Geiger sei
Folgendes erwähnt: Paganini stirbt in Nizza und soll nach seinem letzten Konzert
in München mit Lorbeer gekrönt worden sein;40 Schwerdtfeger will ebenfalls
nach seinem letzten Konzert in München nach Frankreich, und zwar nach Paris
umziehen, wird jedoch kurz nach dem Konzert von Ines Institoris ermordet.

35 Ebd.
36 Vgl. DF: 291 f.; Cersowsky: „Mehr als Musik“, S. 160 u. 166.
37 Cersowsky: „Mehr als Musik“, S. 166.
38 Vgl. auch Berger: The Devil, the Violin, and Paganini, S. 323.
39 Und (wieder vermutlich nicht zufällig) liegt Florenz in derselben Region wie Lucca, der

Geburtsstadt Paganinis. Darüber hinaus verknüpft die rote Mütze Schwerdtfeger mit dem
„teuflischen“ Leipziger Dienstmann. Vgl. 6.1.1.
40 Zit. in Cersowsky: „Mehr als Musik“, S. 164.
326 9 Rudolf Schwerdtfeger

Der bisher geschilderte Vergleich zwischen Schwerdtfeger und Paganini ver-


folgt keine hermeneutisch-positivistischen Zwecke, sondern nimmt auf den durch
Texte und Bilder verschiedener Art verbreiteten Paganini-Mythos Bezug, der als
Subkategorie des Mythos des dämonischen Geigers gilt, der selbst der Assozia-
tion von Geige und Teufel entspringt. Roland Barthes zufolge kann „alles Mythos
werden, was in einen Diskurs eingeht […], denn das Universum ist unendlich sug-
gestiv“.41 Gleichzeitig gebe es aber keine ewigen Mythen, denn die Geschichte
allein „bestimmt über Leben und Tod der mythischen Sprache“.42 Der Mythos
umfasse außerdem „zwei semiologische Systeme, von denen das eine gegenüber
dem anderen ausschert“:43 eine ,Objektsprache‘, „deren sich der Mythos bemäch-
tigt, um sein eigenes System zu konstruieren“44 und eine ,Metasprache‘, „in der
man von der ersten spricht“.45 Grundlegendes Merkmal des mythischen Begriffs
besteht für Barthes darin, „angepaßt zu sein“:46 „Ihm steht eine unbegrenzte
Menge von Signifikanten zur Verfügung“.47 Dies bestätigt die Beobachtung der
vielen Signifikanten des Mythos des dämonischen Geigers (Tartini, Paganini,
Schwerdtfeger): Auch hier bemächtigt sich die mythische Sprache durch „eine
vorübergehende kleine Dieberei“48 der Objektsprache, z. B. der Biographien von
real existierten Geigern, um sie dann in nicht identischer Form beispielsweise
durch Anekdoten, Gedichte und Romane zurückzugeben.49 Nichtsdestotrotz ver-
birgt aber der Mythos, wie bereits antizipiert, nichts und lässt etwa in Bezug
auf Doktor Faustus Anekdoten über Tartini, Strunck, Paganini sowie auch ihre
Biographien hinter Zeitbloms Darstellung der Figur Schwerdtfeger erscheinen; zu
Recht ist Christine Lubkoll der Auffassung, dass die Thematisierung von Musi-
ker*innen in der Literatur „als Projektionsfläche“50 dienen und „zum Mythos
narrativiert“51 werden könne. Dass der Mythos des dämonischen Geigers immer

41 Barthes: Mythen des Alltags, S. 251.


42 Ebd., S. 252.
43 Ebd., S. 259.
44 Ebd.
45 Ebd., Herv. i. O.
46 Ebd., S. 265, Herv. i. O.
47 Ebd.
48 Ebd., S. 273.
49 Vgl. ebd. 274.
50 Lubkoll: Musik in Literatur: Telling, S. 84.
51 Ebd.
9.2 Vom Roman zur Musik 327

noch aktuell ist, bestätigen etwa journalistische Darstellungen von heutigen Gei-
genvirtuos*innen, die von Teufelsgeigern reden und deren Aussehen ins Zentrum
rücken.52

9.2 Vom Roman zur Musik

Der vorliegende Abschnitt widmet sich dem letzten Satz von Henzes Violin-
konzert, der sich zugleich als partielle intermediale Transposition des fiktiven
Konzerts und als Darstellung mit musikalischen Mitteln einer Romanfigur und
der mit ihr verbundenen Kapitel begreifen lässt. Auch Henzes Violinkonzert setzt
sich mit dem Mythos des dämonischen Geigers auseinander.

9.2.1 Möglichkeiten der Verstärkung einer literarischen


Vorlage: Henzes Rudi S.

Der dritte Satz des im vorigen Kapitel bereits betrachteten Violinkonzerts von
H. W. Henze ist dem Geiger Rudolf Schwerdtfeger gewidmet. Die erste Frage,
die spontan in Bezug auf den Titel gestellt werden könnte, ist: Warum verwen-
det Henze den abgekürzten Namen als Titel des Satzes? Timo Sorg behauptet,
die Identität Schwerdtfegers werde auf diese Weise geschützt, „wie etwa in
einem Zeitungsbericht“.53 Die Musik behält tatsächlich die Spannung sowie den
Krimi-Charakter der Schwerdtfeger-Kapitel von Doktor Faustus bei. „Ein anderer
Grund“,54 fügt der Musikwissenschaftler hinzu, „könnte im vertrauten Verhält-
nis zwischen Rudi und Leverkühn liegen“.55 Die Komposition spricht aus diesem
Grund direkt im Titel Leverkühns enges Verhältnis zu Schwerdtfeger an, darauf
weist auch die anfängliche Angabe auf den Noten der Violine solo – „canto dol-
cissimo“ (VK: 45, T. 2), „sehr süßer Gesang“ – hin.56 Diese Angabe verdeutlicht
zudem, dass sich hier die Instrumentalkomposition dem Gesang annähern möchte.

52 Vgl. z. B. zu David Garrett: Krause, Tilman: Teufelsgeiger müssen einfach sexy

sein. In: Welt, 08.06.2016. < https://www.welt.de/kultur/article156072126/Teufelsgeiger-


muessen-einfach-sexy-sein.html > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
53 Sorg: Beziehungszauber, S. 281.
54 Ebd.
55 Ebd.
56 Jens Rosteck nennt außerdem ein biographisches Ereignis: Ein im Gegensatz zu Doktor

Faustus nicht tödliches Attentat auf einen Freund Henzes, der ebenfalls Rudi hieß. Siehe
Rosteck: Hans Werner Henze, S. 319.
328 9 Rudolf Schwerdtfeger

Die zweite Frage, die sich die Leser*innen von Doktor Faustus stellen könn-
ten, hat mit der Reihenfolge der Konzertsätze zu tun: Der zweite Satz ist Echo
gewidmet, aber sein Ankommen in Pfeiffering findet nach dem Tod des Geigers
statt. Schmierer begründet diese Entscheidung so: „Er [der dritte Satz] ist jedoch
als nochmals übersteigerter Schicksalsschlag in doppeltem Sinne auskomponiert
und steht deshalb am Schluss“.57
In Bezug auf die Vorlage folgt daher die intermediale Transposition einer ande-
ren „Anordnung der Ereignisse oder zeitlichen Segmente“.58 Henzes dritter Satz
stellt nicht nur einen Versuch dar, im Medium der instrumentalen Musik die Figur
Schwerdtfegers zu charakterisieren, sondern lässt sich auch als Transposition des
Violinkonzerts begreifen und hätte wohl auch dem zweiten Teil der vorliegenden
Studie, der sich mit einigen fiktiven Kompositionen Leverkühns befasst, zugeord-
net werden können. Zeitbloms Darstellung des Musikstils des Werkes scheint mit
dem Gesamtstil von Henzes Kompositionen, den der Autor als musica impura
bezeichnet,59 gut vereinbar zu sein: Die Erzählinstanz beschreibt Leverkühns
Komposition als eine, die „durch eine gewisse verbindliche virtuos-konzertante
Willfährigkeit der musikalischen Haltung ein wenig aus dem Rahmen von Lever-
kühns unerbittlich radikalem und zugeständnislosem Gesamtwerk“ (DF: 592 f.)
fällt. Leverkühn selbst erkennt eine gewisse, in seinem Schaffen selten vorhandene
„Menschlichkeit“ in seinem Violinkonzert, das er einer Person gewidmet habe, bei
der er „zum erstenmal in [s]einem Leben menschliche Wärme fand“ (DF: 633).
Diese durch das Violinkonzert vermittelte „Menschlichkeit“ spricht Henzes Satz
im paratextuellen Hinweis des Titels sofort an, der zudem darauf aufmerksam
macht, dass Schwerdtfeger Leverkühn „zum Du bekehrte“ (ebd.). Im Medium der
instrumentalen Musik, wo eine gewisse Vagheit des Erzählens herrscht, lässt sich
die Frage, wie die Art der Beziehung zwischen Leverkühn und Schwerdtfeger
dargestellt wird, anhand viel weniger Indizien als in einem Erzähltext beantwor-
ten. Der Titel und die Angabe „canto dolcissimo“, welche die intime Beziehung
zwischen Leverkühn und Schwerdtfeger in den Mittelpunkt rücken, deuten auf ein
mehr als professionelles Verhältnis hin, das also weit über die Zusammenarbeit
für die Entstehung des Violinkonzerts geht.60

57 Schmierer:Musik als Sprache, S. 299.


58 Genette:Die Erzählung, S. 22.
59 Vgl. Schmidt, Stephan Sebastian: Opera impura. Formen engagierter Oper in England.

Trier: WVT 2002, S. 243–246, hier: S. 243 (Interview des Autors mit Henze).
60 Wie Manzoni war Henze zeit seines Lebens auch sehr politisch engagiert; die Thema-

tik der Homosexualität lag ihm besonders am Herzen: „Ich denunziere die bürgerliche
Gesellschaft und unter anderem, nebenbei bemerkt, auch die Leute, Spießer z. B., die
sich über die Schwulen mokieren. Da gibt es doch häufig so einen gewaltsamen Hohn.
9.2 Vom Roman zur Musik 329

Der Satz (teil-)reproduziert zwei Mikroformen: Zum einen Schwerdtfegers


Darstellung im Roman durch Zeitblom, sprich: die Figurencharakterisierung
durch telling und showing der Erzählinstanz, und zum anderen seine Beschreibung
des fiktiven Violinkonzerts, sprich: das dieses Musikwerk betreffende intermediale
telling. Zum einen bietet der Satz der Violine solo „große Gelegenheit zum ,Flirt‘“
(DF: 594) wie das Konzert Leverkühns:61 Es gibt viele virtuose Passagen, die
wie ein „canto dolcissimo“ (VK: 45), „con grazia“ (VK: 49 und 51), also „an-
mutig“, oder „con bravura“ (VK: 57), also „mit Bravur“ zu spielen sind sowie
eine Kadenz, die etwa zwei Minuten dauert und daher einen wichtigen Teil der
Komposition darstellt.62 Nicht nur an dem Virtuosentum à la Paganini, sondern
auch an der „an der Grenze des Spottes gehaltenen Süße und Zärtlichkeit“ (DF:
593) von Leverkühns Werk scheint sich Henzes Satz zu orientieren. Die Kadenz,
der Inbegriff des Virtuosentums, beinhaltet auch melancholische Töne. Andere
Passagen des Satzes wirken zugleich spielerisch und bedrohlich, lassen das drama-
tische Schicksal Schwerdtfegers erahnen. Henzes dritter Satz versucht, Zeitbloms
Erzählweise zu simulieren, die immer wieder den Tod des Geigers antizipiert.63
So Schmierer:64

Die Tragik kündigt sich [...] bereits nach den ersten Takten an: Der ,Canto
dolcissimo‘ auf sattem Streicherklang wird durch pochende, hintergründige Holz-
bläserakkorde gestört, die kantable Linie zerfällt, die Schläge der großen Trommel
und der Blechbläserklang kündigten den schicksalhaften Schlag an, der am Schluss
des Satzes durch knallende Peitschenklänge unterstrichen wird – die Schüsse aus
dem Revolver wiedergebend.

Die Musik wird tatsächlich immer erregter und der Peitschenklang bringt die
Sologeige zum Schweigen, was innerhalb der Handlungslogik der instrumenta-
len Komposition zu bedeuten scheint, dass Schwerdtfeger an dieser Stelle seine
Seele aushaucht (Abbildung 9.1) :

Ich wehre mich schon mit meiner ersten Note gegen solchen eventuellen Hohn“. Ebd.,
S. 245. Sorg interpretiert das Violinkonzert Henzes als „Deutschlandbild“: In dieser Hin-
sicht stehe Rudi symbolisch für die Situation der Homosexuellen im Dritten Reich. Vgl.
Sorg: Beziehungszauber, S. 303.
61 Vgl. auch Sorg: Beziehungszauber, S. 284 f.
62 Der ganze Satz dauert ca. sieben Minuten.
63 Siehe z. B. DF: 574 f.: „Nicht ich war ihm dabei zur Seite und hätt’es nicht sein können,

selbst wenn er mich dazu aufgefordert hätte. Schwerdtfeger war es, er könnte berichten.
Aber er ist tot. – “
64 Schmierer: Musik als Sprache, S. 299.
330 9 Rudolf Schwerdtfeger

Abbildung 9.1 Der Tod Rudis (VK: 62) (Das Zeichen (…) bedeutet, dass nur eine
Auswahl der Orchesterbesetzung wiedergegeben wird.)

Die Violine solo ist nach den kurzen, geseufzten Noten im Sforzato, die man
in der Abbildung sieht, nicht mehr zu hören, jedoch zwei Mal noch die Peitsche,
die für die wiederholten Schüsse durch Ines steht.65 Und dann das Tamtam, das
laut Sorg „idiofone[] Klangsymbol des Todes“.66
Der Satz schließt mit einer kurzen, akzentuierten Note im ffff des ganzen
Orchesters (Abbildung 9.2) :
Die instrumentale Komposition ist in der Lage sowohl die Spannung als auch
die inhaltlichen Aspekte der Schwerdtfeger-Kapitel partiell zu reproduzieren,
indem sie etwa Erzählstrategien und sonstige Mittel durch bestimmte Musikin-
strumente, Rhythmen und Dynamiken ersetzt, die gewisse Klangeffekte erzielen.
Diese Elemente rufen zusammen mit den paratextuellen Angaben die Episode in
Erinnerung; die Spannung bleibt bis zum letzten, im vierfachen Forte zu spielen-
den Ton aufrecht erhalten, nur der Applaus des Publikums kann hier die Illusion
durchbrechen.
Was die Transposition von Leverkühns Violinkonzert angeht, lässt sich sagen,
dass Henzes dritter Satz zum großen Teil einen eigenen Weg geht: Er versucht

65 Vgl. DF: 650.


66 Sorg: Beziehungszauber, S. 286.
9.2 Vom Roman zur Musik 331

Abbildung 9.2 Das Ende des Satzes (VK: 63 f.)

nicht, die dreiteilige Struktur des fiktiven Werkes zu reproduzieren, das sich aus
einem „Andante amoroso“ (DF: 593), einem virtuosen, „ein Zitat aus Tartinis
Teufelstriller-Sonate“ (DF: 594) enthaltenden Scherzo und einem dritten Satz mit
Variationen zusammensetzt, obwohl sich vereinzelte Eigenschaften wiederfinden
lassen. Anders als die anderen Sätzen gibt es hier nur ein Andante (abgese-
hen selbstverständlich von der frei zu spielenden Kadenz).67 Dementsprechend
ist die Einordnung von Henzes Satz in dieses Kapitel durchaus angemessen,
weil das, was er vor allem (teil-)reproduziert, inhaltliche Substrate des Romans
sind, z. B. Eigenschaften von Schwerdtfeger oder seinem Geigenspiel, seine Auf-
führung von Leverkühns Violinkonzert, seine Beziehung zu ihm sowie seine
Ermordung in München. Das ausgeprägte Virtuosentum des Satzes ermöglicht
ebenfalls eine Zuordnung Schwerdtfegers zum Paganini-Mythos, nicht zuletzt,
weil der Musikstil auch auf den von Paganinis Violinkonzerten verweist.
Die Betrachtung des dritten Satzes von Henzes Violinkonzert macht außer-
dem den Nutzen einer Studie, die auch mit werkexterner Intermedialität arbeitet,
sichtbar: Eine in der Forschungsliteratur sonst relativ vernachlässigte Roman-
figur gewinnt in der Transposition an Bedeutung und bietet den Anlass zu

67 Vgl. VK: 45 u. 54.


332 9 Rudolf Schwerdtfeger

neuen Interpretationen eines bereits weit rezipierten literarischen Werkes. Dass


Henzes Konzert auf diesen letzten Satz abzielt, mag sowohl die Position des
Schwerdtfeger gewidmeten Satzes als auch die Form des Werkes und die Wahl
des solistischen Instruments bestätigen, das eben ein Violinkonzert wie das für
Schwerdtfeger von Leverkühn geschriebene ist. Um im Forschungsparadigma der
Intermedialität einen Schritt weiter zu gehen und zugleich ein Fazit aus dieser
Analyse zu ziehen, lässt sich sagen, dass der intermediale Effekt der Verstärkung
einer skalaren Auffassung bedarf. Geht man dementsprechend von Graden der
Verstärkung von Mikroformen einer literarischen Vorlage durch Medienwechsel
bzw. Medientransformation aus, sprich: untersucht man, wie schwach oder wie
stark etwa bestimmte Passagen des Romans im sekundären intermedialen Pro-
dukt hervorgehoben werden können, so ist dieser dritte Satz aus Henzes Konzert
einem hohen Grad zuzuordnen.

9.3 Fazit

Dieses Kapitel hat im kleinen Rahmen noch einmal gezeigt, was dieser gesamte
dritte Teil zu den Figuren aus dem Roman herausstellen sollte: Der Fokus der
Untersuchung ist leicht unterschiedlich, wenn man sich auf den Transfer von
Romanfiguren in das Medium der Musik konzentriert. Anhand des Satzes von
Henze konnte über viele Untersuchungsobjekte dieser Studie reflektiert wer-
den, da der hier behandelte dritte Satz sowohl die Schwerdtfeger-Kapitel und
folglich seine Charakterisierung im Roman als auch Leverkühns Violinkonzert
transferiert. Im ersten Fall handelt es sich um die Evokation, Simulation oder
(Teil-)reproduktion von handlungsbezogenen Passagen oder Figurencharakteris-
tika, die in einem Erzähltext vorwiegend durch telling und/oder showing vonseiten
der Erzählinstanz zum Tragen kommen. Im zweiten Fall wird im neuen Medium
versucht, das intermediale telling des Romans, also die Beschreibung von Faktur
und Wirkung fiktiver Musikstücke, umzusetzen. Die Gegenstände der Unter-
suchung und folglich die erzähltheoretischen sowie intermedialen Kategorien,
mit denen sich die Analyse auseinandersetzt, sind nicht komplett miteinander
vergleichbar.
Ebenfalls konnte dieses Kapitel zeigen, dass der Effekt der Verstärkung, den
Gess einführt,68 analytisch vertieft und erweitert werden kann, indem man ihn
qualitativ ausdifferenziert und dementsprechend skalar auffasst. Henze beispiels-
weise rückt eine Figur aus dem Roman, auf die sonst wenige Beiträge zu Doktor

68 Vgl. 1.1.5.
9.3 Fazit 333

Faustus eingehen, ins Zentrum und erreicht somit einen hohen Verstärkungsgrad.
Daran wird noch einmal deutlich, was bereits in der Einleitung dieser Studie ange-
sprochen wurde: Die Auseinandersetzung mit den kompositorischen Reaktionen
auf Thomas Manns Roman bewirkt eine neue Lektüre des Werkes, in diesem Fall
z. B. wird einer Figur und ihrer Mythisierung mehr Aufmerksamkeit geschenkt.
Im nächsten Kapitel soll sich die Untersuchung auf eine*n Akteur*in im Musik-
bereich, nämlich den Impresario bzw. die Impresaria, konzentrieren, was durch
die Analyse des jüdischen Musikagenten Saul Fitelberg möglich ist.

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Saul Fitelberg
10

Fitelberg ist ein Impresario jüdischer Herkunft aus Paris, der nach Pfeiffering
kommt, um Leverkühn anzubieten, seinen Musikagenten zu sein. Der erste Teil
des vorliegenden Kapitels konzentriert sich auf die Darstellung des jüdischen
Impresarios Saul Fitelberg in Thomas Manns Doktor Faustus, indem für eine
intersektionale Analyse dieser Figur plädiert und diese dementsprechend durch-
geführt wird. Zugleich wird Saul Fitelberg mit der Mäzenin Frau von Tolna
kontrastiert: Beide Figuren stehen für zwei Formen der Musikfinanzierung, nur
die zweite, d. h. das Mäzenatentum, scheint sowohl im Roman als auch in Ador-
nos Philosophie für die Neue Musik besser geeignet zu sein. Allerdings hat auch
das Mäzenatentum seine Nachteile, da es beispielsweise nur eine scheinbare Auto-
nomie ermöglicht. Über Formen der Musikfinanzierung und die Zukunft der Oper
reflektiert auch Manzonis Doktor Faustus: Der Veroperung widmet sich der zweite
Teil des vorliegenden Kapitels. Gegen eine exzessive Vermarktung des Musik-
werkes scheint sich Manzonis Oper zu wehren, indem der Musikagent durch das
Falsett als Lügner und durch den verstärkten monologischen Charakter seiner
Rede vom Hauptgeschehen isoliert wird – und zugleich zu Reflexionen über die
Bedingungen des Opernbetriebes anregt.

10.1 Intersektionale Analyse der Figur

Der „internationale[] Musik-Gewerbmann[] und Konzert-Unternehmer[]“ (DF:


575) Saul Fitelberg kommt im Jahr 1923 nach Pfeiffering. Ihm begegnet die

© Der/die Autor(en) 2021 335


A. M. Olivari, Doktor Faustus (ver-)stimmen,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62635-1_10
336 10 Saul Fitelberg

Leser*innenschaft im 37. Kapitel: Das vorherige Kapitel schließt mit der Erwäh-
nung von Schwerdtfegers und Leverkühns Aufenthalt im Schloss Tolna.1 Doktor
Faustus als „Musiker-Roman“ (Ent: 25) übersieht kaum einen Aspekt des Lebens
eines*r Komponist*in und geht folglich auch auf die Finanzierung und Ver-
breitung des künstlerischen Schaffens ein. Diesbezüglich finden sich sowohl in
diesem Kapitel als auch in dem Kapitel über Frau von Tolna in prosopoietischer
Form Auffassungen aus Adornos Musikphilosophie über die Finanzierung des
Musikwerkes: Saul Fitelberg steht für die Welt der Impresari, Frau von Tolna für
das Mäzenatentum. Beide verkörpern jeweils eine Seite der Welt außerhalb der
„Einsamkeit“ (PhnM: 48) von Pfeiffering und des Kunstwerkes: Nicht zufällig
unterstreicht Zeitblom, dass Frau von Tolna und Fitelberg zum „Kapitel ,Welt‘“

1 Vgl. DF: 573 ff. Die Thomas Mann-Forschung hat sich lange Zeit bemüht, ein rea-
les Vorbild für den jüdischen Impresario zu finden. Der Autor spricht in der Entstehung
des „Doktor Faustus“ von einem „ehemals in Paris tätigen Literatur- und Theateragenten
S.C.“ (Ent: 156). Den vollständigen Nachnamen erwähnt seine Frau, die ihm auch die
Person vorgeschlagen hatte, in ihren Memoiren: Collin. Collin steht „freilich der Musik
ferne“ (Ent: 156): Er dient Thomas Mann dazu, „für den ,Weltmann‘ ein Gesicht zu
haben“ (ebd.). Laut Schmidt-Schütz wurden die Figur des jüdischen Impresarios und
ihr Umfeld nicht nur vom Theateragenten inspiriert, sondern auch von den Memoiren
Strawinskys, deren deutsche Ausgabe der Autor von Doktor Faustus konsultierte. Der in
Russland geborene Komponist wird im Roman genauso wie Nietzsche und Schönberg
nie explizit erwähnt. Dies spricht immerhin für seine Bedeutung, denn die nie genannten
Personen spielen in Doktor Faustus eine wichtige Rolle, wie Thomas Mann am Beispiel
von Nietzsche erläutert. Darüber hinaus widmet sich Adorno im zweiten Teil seiner Phi-
losophie der Neuen Musik gerade Strawinsky (siehe PhnM: 127–200). Paris, wo Fitelberg
lebt und arbeitet, war auch Strawinskys jahrelanger Lebens- und Arbeitsmittelpunkt. Dar-
über hinaus beschreibt der Impresario Premieren in der französischen Hauptstadt, die den
Premieren Strawinskys ähnlich waren: „[W]ährend des Abends [springt] alles von den
Plätzen […] und die Majorität brüllt: ,Insulte! Impudence! Bouffonnerie ignominieuse!‘,
während sechs, sieben initiés, Erik Satie, einige Surrealisten, Virgil Thomson, aus den
Logen rufen:,Quelle précision! Quel esprit! C’est divin! C’est suprême! Bravo! Bravo!‘“
(DF: 582). Die Fitelberg-Episode hat weiters dem Autor zufolge „etwas von der munte-
ren Zweideutigkeit und Theaterwirksamkeit einer Riccaut de la Marlinière-Szene“ (Ent:
156): Harry L. Stout unterstreicht in seinem Aufsatz die Ähnlichkeiten zwischen Les-
sings Darstellung von de la Marlinière in Minna von Barnhelm und der Thomas Manns
vom exzentrischen Impresario. Siehe Mann, Katia: Meine ungeschriebenen Memoiren.
Hrsg. v. Elisabeth Plessen und Michael Mann. Frankfurt am Main: Fischer 1976, S. 83;
Schmidt-Schütz: Doktor Faustus zwischen Tradition und Moderne, S. 151 u. 156–159;
Strawinsky, Igor: Erinnerungen. Übers. v. Richard Tüngel. Zürich/Berlin: Atlantis 1937
[Paris 1935]; Stout, Harry L.: Lessing’s Riccaut and Thomas Mann’s Fitelberg. In: The
German Quarterly 36 (1963) H. 1, S. 24–30; Ent: 29.
10.1 Intersektionale Analyse der Figur 337

(DF: 575) seiner Biographie gehören.2 Die Art und Weise, wie Fitelberg und Frau
von Tolna Leverkühn jeweils anbieten, sich um die Verbreitung und Finanzierung
seines Werkes zu kümmern, ist jedoch unterschiedlich. Unterschiedlich sind auch
die Bedingungen des jeweiligen Unterstützungsverhältnisses, denn Fitelberg for-
dert z. B. die körperliche Präsenz Leverkühns bei den Aufführungen seiner Werke,
während das Mäzenatentum à la Frau von Tolna zur Einsamkeit zwingt und folg-
lich für die Popularität des*r Komponist*in ein Hindernis darstellt. Mit diesen
zwei Formen der Musikfinanzierung – die Darstellung von Fitelberg und Frau
von Tolna regt zu ihrer Reflexion an – beschäftigt sich das vorliegende Kapitel:
Das intermediale telling von Doktor Faustus beschränkt sich nicht nur auf die
Beschreibung von Musikstücken und Musikerfiguren, sondern schließt auch die
finanziellen Bedingungen der Musikproduktion und seiner Akteur*innen ein.3

10.1.1 Der jüdische Impresario

Saul Fitelberg wird im Roman zugleich als Jude und als Impresario dargestellt.
Leverkühn und Zeitblom gegenüber stellt er sich mit folgenden Worten vor:
„[I]ch bin Jude, müssen Sie wissen: Fitelberg, das ist ein ausgesprochen mie-
ser, polnisch-deutsch-jüdischer Name“ (DF: 580), sagt er und ergänzt eine Seite
danach: „[D]enn wie Sie mich da sehen, bin ich Impresario, bin es von Geblüt, bin
es notwendiger Weise“ (DF: 581). Bereits diese Zitate eröffnen die Möglichkeit
einer narratologisch-intersektionalen Analyse dieser Figur, da in der Darstellung
die beiden Identitätskategorien der Ethnizität und der Klasse bzw. des beruflichen
Status kaum voneinander zu trennen sind: In der Narration werden „sozio-
kulturelle[] Differenzen“4 konstruiert, Interdependenzen von Identitätskategorien
werden erzählt und der literarische Text als „Laboratorium der Gesellschaft“5

2 Zu Frau von Tolna siehe DF: 567: „[D]a es sich um eine Frau von Welt handelte, welche
dem Einsiedler von Pfeiffering auch wirklich die Welt repräsentierte“.
3 Siehe Lubkoll: Musik in Literatur: Telling.
4 Nünning, Vera u. Ansgar Nünning: ,Gender‘-orientierte Erzähltextanalyse als Modell

für die Schnittstelle von Narratologie und intersektioneller Forschung? Wissenschafts-


geschichtliche Entwicklung, Schlüsselkonzepte und Anwendungsperspektiven. In: Klein,
Christian u. Falko Schnicke (Hrsg.): Intersektionalität und Narratologie. Methoden –
Konzepte – Analysen. Trier: WVT 2014, S. 33–60, hier: S. 46.
5 Blome, Eva: Erzählte Interdependenzen. Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen

Intersektionalitätsforschung. In: Pohl, Peter C. u. Hania Siebenpfeiffer (Hrsg.): Diversity


Trouble. Vielfalt – Gender – Gegenwartskultur. Berlin: Kadmos 2016, S. 45–67, hier:
S. 60.
338 10 Saul Fitelberg

eröffnet „ein[en] Raum der Reflexion“6 über die damalige politische und kultu-
relle Situation sowie die damaligen sozialen Kategorien im europäischen Raum,
wie es im Folgenden aufgezeigt wird.
Fitelberg hat an alles gedacht, um auf Leverkühn den besten Eindruck zu
machen: Zu Leverkühns Wohnort fährt er in einem Auto „samt Chauffeur“ (DF:
576), gibt Frau Schweigestill eine „Besuchskarte“ (DF: 576) und erscheint „som-
merlich elegant“ (DF: 578) gekleidet, „in einen auf Taille gearbeiteten, bläulich
gestreiften Flanellanzug, zu dem er Schuhe aus Leinen und gelbem Leder trug“
(DF: 578). Zeitblom beschreibt ihn als

ein[en] wohl vierzigjährige[n] fette[n] Mann, nicht bauchig, aber fett und weich von
Gliedern, mit weißen, gepolsterten Händen, glattrasiert, vollgesichtig, mit Doppel-
kinn, stark gezeichneten, bogenförmigen Brauen und lustigen Mandelaugen voll
mittelmeerischen Schmelzes hinter der Hornbrille. (ebd.)

Die Erzählinstanz präsentiert ihn dem obigen Zitat entsprechend als gepflegten,
vielleicht wohlhabenden Geschäftsmann und die antisemitischen Stereotypen sind
in diesem Zusammenhang nur schwer zu leugnen.7 Mehr noch, Zeitblom und Frau
Schweigestill bezeichnen Fitelberg in kurzer Zeit als „Dummkopf“ (DF: 579) und
„,spinnerten Uhu‘“ (DF: 576): Der Erzähler lässt hier Wertungen in die Narra-
tion einfließen, die zweifellos nicht darauf abzielen, Sympathie für Fitelberg zu
hegen. Aufgrund der gleichzeitigen Darstellung von Fitelberg als Impresario und
als Jude bleibt unklar, welche der beiden Kategorien Zeitblom zu diesen Wer-
tungen führt. Intersektional betrachtet scheint eine Trennung auch nicht sinnvoll,
denn es sind eben die „Überkreuzungen, Überlappungen bzw. Interdependenzen
von Identitätskategorien“,8 die auch hier zu einer gewissen Unsichtbarkeit von
sozialen Ungleichheiten und Diskriminierungsprozessen beitragen.9 Bevor Fitel-
berg die Möglichkeit hat, sich selbst zu präsentieren, werden zwei Aspekte durch
die Erzählinstanz angedeutet: Es handelt sich bei ihm um keinen Künstler, son-
dern um eine Figur, die mit Geld arbeitet und wahrscheinlich jüdischer Herkunft

6 Ebd.
7 Zum möglichen Antisemitismus Zeitbloms vgl. 7.1.2.
8 Blome: Erzählte Interdependenzen, S. 46, Herv. i. O.
9 Siehe ebd. 49; Crenshaw, Kimberle: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex:

A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Anti-


racist Politics. In: University of Chicago Legal Forum (1989), S. 139–167; zum Begriff
,soziale Ungleichheit‘ siehe Schnicke, Falko: Terminologie, Erkenntnisinteresse, Methode
und Kategorien – Grundfragen intersektionaler Forschung. In: Klein u. Schnicke (Hrsg.):
Intersektionalität und Narratologie, S. 1–32, hier: S. 4 Fußnote 10.
10.1 Intersektionale Analyse der Figur 339

ist. Zeitblom und Frau Schweigestill sehen in Fitelberg eine potentielle Gefahr
für ihr alltägliches Leben und ihre moralischen Sitten: Frau Schweigestill schließt
die Tochter in ihrem Zimmer ein, Zeitblom ist froh, „zu Adrians Bedeckung zur
Stelle zu sein“ (DF: 577).10
Die Fitelberg-Episode ist quasi ein Monolog, denn – so Stout – „[d]uring the
ensuing conversation the visitor does most or all of the talking, much of which is
about himself“,11 was die Nähe zum möglichen dramatischen Hypotext (Lessing)
noch weiter betonen könnte.
Wodurch zeichnet sich ein Impresario bzw. eine Impresaria aus?12 Jutta Toelle
listet unter den Eigenschaften einer Musikagentin bzw. eines Musikagenten „Ri-
sikobereitschaft, Überredungskünste, hohes Selbstvertrauen“13 auf. Eine schnelle
Lektüre dieser Episode reicht, um dem Impresario aus Paris diese Eigenschaften

10 Thomas Mann schreibt in der Entstehung, „daß die Gefahr einer antisemitischen Miß-
deutung meiner jüdischen Riccaut-Figur, bei aller sympathischen Drolerie […], nicht ganz
von der Hand zu weisen ist“ (Ent: 156). Diese Episode hat zusammen mit der Schilde-
rung des Dr. Chaim Breisacher in Doktor Faustus und u. a. der Novelle Wälsungenblut
zu einer heftigen Kontroverse über den möglicherweise versteckten Antisemitismus des
Autors geführt. Die Polemik begann kurz nach der Veröffentlichung von Doktor Faustus
und dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Siehe Manns Eintrag am 31. Dezember 1948 in
den Tagebüchern: „Der Angriff auf mich wegen Antisemitismus im Faustus u. anderwärts
nicht in ,Commentary‘, sondern in einem Washingtoner ,Congressional Weekly‘. Dumm
und harmlos“ (TB 3: S. 348). Todd Kontje glaubt beispielsweise, Manns Ambivalenz
gegenüber den Juden spiegle seine „ambivalence towards himself“ wider: Als Kind einer
nicht rein deutschen Familie und Mensch unklarer sexueller Orientierung sind für ihn
die Juden „people with whom he clandestinely identifies“. Kontje, Todd: Thomas Mann’s
Wälsungenblut: The Married Artist and the „Jewish Question“. In: PMLA 123 (2008) H.
1, S. 109–124, hier: S. 120. Diese Polemik lässt eine gewisse biographical fallacy nicht
übersehen.
11 Stout: Lessing’s Riccaut, S. 24. Siehe auch Fußnote 1.
12 Rosselli erläutert, Impresari seien selten weiblichen Geschlechts gewesen, jedoch ist in

dem Grove-Eintrag nicht zu lesen, dass es keinerlei Beweise für die Existenz weiblicher
Musikagentinnen gibt. Daher werden auch diesbezüglich genderneutrale Formulierungen
präferiert; die Pluralform des Wortes hat im heutigen Sprachgebrauch des Italienischen
jedoch nur Männer im Blick. An dieser Stelle sei allerdings erwähnt, dass die vor-
liegende Arbeit keineswegs den Zweck einer musikhistorischen Rekonstruierung unter
gender-Aspekten des Impresario/Impresaria-Berufs verfolgt. Siehe Rosselli, John: Impresa-
rio (Ger. Schauspieldirektor). In: Grove Music Online. Zuerst veröffentlicht 01.12.1992,
online veröffentlicht 2002. < https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.O007223
> (letzter Zugriff: 21.08.2020); Toelle: Oper als Geschäft; Rosselli, John: The Opera Indus-
try in Italy from Cimarosa to Verdi: The Role of the Impresario. Cambridge: Cambridge
University Press 1984.
13 Toelle, Jutta: Oper als Geschäft. Impresari an italienischen Opernhäusern 1860–1900.

Kassel: Bärenreiter 2007, S. 21.


340 10 Saul Fitelberg

zuordnen zu können. Seine Risikobereitschaft äußert sich z. B. dadurch, dass er


sein Geld riskieren würde, um die Verbreitung von Leverkühns Musik zu unter-
stützen, obwohl diese nicht besonders zugänglich ist. In der Vergangenheit trug
Fitelberg bereits das finanzielle Risiko eines „exklusive[n] Boulevard-Theater[s]“
(DF: 580) namens „Théâtre des fourberies gracieuses“ (ebd.). Das Projekt war
gescheitert, denn – wie er im Roman erklärt – „[m]it James Joyce, Picasso,
Ezra Pound und der Duchesse de Clermont-Tonnère als Publikum allein kommt
man nicht aus“ (ebd.). Toelle berichtet zudem davon, dass Musikagent*innen
Theaterkonten zu ihren Gunsten verfälschten.14
Was Fitelbergs Überredungskünste angeht, so sind diese schwer zu leugnen:
Er ist sowohl „a name dropper“,15 wie die Erzählung von dem Boulevard-Theater
deutlich macht als auch „a skilful flattere[r]“.16 Es könnte wohl sein, dass er
mit dem Auto und elegant gekleidet kommt, weil er den Eindruck verstärken
will, dank seiner Arbeit reich geworden zu sein. Sein Monolog, in dem er sich
als Selfmademan vorstellt, zeugt von seinem großen Selbstvertrauen.17 Geboren
ist er in „Ljublin mitten in Polen, von wirklich ganz kleinen jüdischen Eltern“
(DF: 530), lebt aber seit zwanzig Jahren in Paris und hat auch „an der Sor-
bonne philosophische Vorlesungen gehört“ (DF: 580). Schnell lernte er, sich „eine
Smoking-Schleife zu binden“ (DF: 581) und „unter der crème de la crème zu
bewegen“ (DF: 581). Dass er aus keiner wohlhabenden Familie stammt, ent-
spricht dem Lebenslauf verschiedener Impresari.18 Sein Selbstvertrauen geht aus
den bisher erwähnten Passagen des Romans deutlich hervor.
Nun lohnt es sich zu untersuchen, welchen Stellenwert Impresari im musi-
kalischen Bereich hatten. Die berühmte Satire auf die italienische Oper von

14 Vgl. ebd., S. 13.


15 Stout: Lessing’s Riccaut, S. 25.
16 Ebd., S. 26.
17 Marquardt ist der Auffassung, Fitelberg sei ein assimilierter Ostjude. Vgl. Marquardt,

Franka: Der Manager als Sündenbock. Zur Funktion des jüdischen Impresario Saul Fitel-
berg in Thomas Manns „Doktor Faustus“. In: Zeitschrift für Germanistik 14 (2004) H. 3,
S. 564–580, hier: S. 573.
18 Siehe Toelle: Oper als Geschäft, S. 21.
10.1 Intersektionale Analyse der Figur 341

Benedetto Marcello stellt sie als Lügner und Scharlatanen vor.19 Im Kapitel
„Agl’Impresari“20 liest man:21

Pagherà i Viaggi l’Impresario alle Virtuose forastiere, perché vengano sicuramente,


promettendogli buon Alloggio vicino al Teatro, Cibarie, Biancaria, etc. e le allog-
gerà poi in qualche picciola cucinetta (pur che sia vicina al Teatro) ripiena però di
tutte le suddette cose [...].

Der*die Musikagent*in hält also seine Versprechen nicht ein: Lügen sind Bestand-
teil seiner bzw. ihrer Marketingstrategie. Tatsächlich etablierte sich diese Vor-
stellung so sehr, dass oft die Impresari als Sündenböcke für „die Misere der
Opernindustrie“22 fungierten. Ende des 19. Jahrhunderts, als die Welt der ita-
lienischen Oper in eine Krise geraten war, hielt man sie für die „Ausbeuter der
Kunst und der Künstler“23 par excellence. In der Tat starben sie aber nicht selten
bankrott, weil sie sich so sehr für Musik einsetzten, dass sie Geldaspekte nicht
ausreichend berücksichtigten.24
In Doktor Faustus passiert nichts anderes: „Im Verlauf seines buchstäblich
pausenlosen ,Geplappers‘ wird aus dem Teufel mit Zaubermantel ein veritabler
Sündenbock“,25 erklärt Marquardt. Im ersten Teil des Gesprächs stellt sich Fitel-
berg vor und versucht, Leverkühn davon zu überzeugen, ihn als Musikagenten zu
engagieren.26 Sein Angebot erweckt jedoch kein Interesse bei dem Komponisten.

19 Benedetto Marcello (1686 Venedig – 1739 Brescia) war Komponist, Dichter und Theo-
retiker: „1720 gab Marcello anonym die beißende Satire Il teatro alla moda in den Druck,
ein Angriff gegen die Unsitten an den Opernhäusern […]“. Bizzarini, Marco: Art. Mar-
cello, Benedetto. In: MGG Online. Zuerst veröffentlicht 2004, online veröffentlicht
2016. < https://www.mgg-online.com/mgg/stable/51086 > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
20 Marcello, Benedetto: Il teatro alla moda. Rom: Castelvecchi 1993 [Venedig 1720], S. 66.
21 Ebd., S. 69, Herv. i. O. Die Übersetzung lautet: „Auswärtigen Sängerinnen zahle der

Intendant die Anreise, damit diese auch wirklich kommen. Er verspreche ihnen eine gute
Unterkunft unweit des Theaters, diverse Leckereien, Wäsche etc. und quartiere sie dann
(auf jeden Fall in Theaternähe) in einer winzigen Besenkammer ein, die allerdings mit
o. g. Aufmerksamkeiten vollgestopft ist“. Marcello, Benedetto: Das neumodische Theater.
Übers. u. hrsg. v. Sabine Radermacher. Heidelberg: mkverlag 2001. Die Übersetzung ist
leider nicht sehr präzise (siehe z. B. die Verwechslung zwischen Intendanten und Impresa-
rio und die Übersetzung von „cucinetta“, also einer Art winzige Einzimmerwohnung, als
„Besenkammer“).
22 Toelle: Oper als Geschäft, S. 64.
23 Ebd.
24 Siehe ebd.
25 Marquardt: Der Manager als Sündenbock, S. 580.
26 Vgl. DF: 576–585.
342 10 Saul Fitelberg

Vor allem ist Leverkühn nicht bereit, die Bedingungen einer solchen Zusammen-
arbeit, auf die im Folgenden noch näher eingegangen wird, zu akzeptieren: Zwar
kann sich Fitelberg damit abfinden, dass Leverkühn seine Kompositionen nicht
dirigieren und am Klavier begleiten möchte, die conditio sine qua non besteht
aber darin, dass er bei den Aufführungen seiner Werke anwesend ist.27 „Dies aller-
dings ist Bedingung“ (DF: 584), sagt Fitelberg: „particulièrement à Paris“ (ebd.)
sei Leverkühns „persönliches Erscheinen […] unerläßlich“ (ebd.). Im Laufe sei-
nes Monologs wird sich Fitelberg aufgrund der zurückhaltenden Reaktionen des
Komponisten seines Scheiterns bewusst.
Statt sich gleich zu verabschieden, erlaubt er sich eine kleine „Rache“. Zuerst
kritisiert er das Verhalten Leverkühns, der nichts von anderen Künstler*innen wis-
sen und an den Aufführungen seiner Werke nicht teilnehmen will, indem er es als
„personalistischen Einsamkeitshochmut“ (DF: 587) bezeichnet. Dann überlegt er
laut, ob das Scheitern seines Besuchs überhaupt eine Enttäuschung für ihn sei.28
Danach reflektiert er darüber hinaus noch über den „deutschen Charakter“ (DF:
590) und die Vorteile einer Mediation durch die Juden. Fitelberg hat als Ost-
jude Mut gezeigt, weil er – darauf weist Marquardt hin – an einem Schabbat,
im Krisenjahr 1923, in Bayern aufgetaucht ist.29 Aus Paris ist er mutig gekom-
men, hat aber in Deutschland nichts anderes als Skeptizismus gefunden: Er war
an der Musik Leverkühns auch deswegen interessiert, weil sie seiner Meinung
nach eine bestimmte „qualité d’Allemand“ (DF: 583) aufweist, die im Rahmen
von Konzerten o. Ä. mit neuer, internationaler Musik ein erfolgsversprechendes
Alleinstellungsmerkmal darstellen könnte. Seiner Auffassung nach reiche es für
Leverkühn nicht aus, dass seine Musik bei solchen Konzerten aufgeführt werde:
Als Vertreter der deutschen, neuen Musik sei seine Anwesenheit ausschlaggebend.
Identitätskategorien spielen in den Äußerungen von Fitelberg eine zentrale Rolle,
sowohl in Bezug auf seine Selbstdarstellung als auch auf Leverkühn und dessen
Musik sowie auf seine Vorstellung davon, wie er Leverkühns Musik dem Pariser
Publikum präsentieren möchte.
Im zweiten Teil des Kapitels – d. h.: sobald klar wird, dass sein Angebot keine
Aussichten auf Erfolg hat – kritisiert Fitelberg den Komponisten hemmungslos
und äußert sich daneben über den aufkeimenden Antisemitismus, indem er selbst
nationale bzw. ethnische Stereotypen anspricht:

27 Siehe DF: 584.


28 Vgl. DF: 589.
29 Siehe Marquardt: Der Manager als Sündenbock, S. 573.
10.1 Intersektionale Analyse der Figur 343

Sie wissen wohl gar nicht, maître, wie deutsch Ihre répugnance ist, die sich, wenn
Sie mir erlauben, en psychologue zu sprechen, aus Hochmut und Inferioritätsge-
fühlen charakteristisch zusammensetzt, aus Verachtung und Furcht [...]. Zwar ist es
ein deutscher Aberglaube, daß es draußen nur Valse brillante gibt und Ernst nur in
Deutschland. [...] Wir Juden haben alles zu fürchten vom deutschen Charakter, qui
est essentiellement anti-sémitique. (DF: 589f.)

Und später:

Die Deutschen sollten es den Juden überlassen, pro-deutsch zu sein. Sie werden
sich mit ihrem Nationalismus, ihrem Hochmut, ihrer Unvergleichlichkeitspuschel,
ihrem Haß auf Einreihung und Gleichstellung [...] – sie werden sich damit ins
Unglück bringen [...]. Die Deutschen sollten dem Juden erlauben, den médiateur zu
machen zwischen ihnen und der Gesellschaft [...]. (DF: 591f.)

Fitelberg scheint hier Leverkühn aus mindestens zwei Gründen „den médiateur“
machen zu wollen: Einerseits als Impresario, um sich für die Verbreitung von
Leverkühns Werk in der Gesellschaft einzusetzen (und somit auch selbst zu profi-
tieren), andererseits aus politischen Gründen, um zu zeigen, dass eine Kooperation
zwischen einem Deutschen und einem Juden doch noch möglich ist. Es mag nicht
wundern, dass er hinsichtlich der politischen Situation Deutschlands von „Valse
brillante“ spricht und so zugleich auf seine Kenntnisse im musikalischen Bereich
hinweist: Aus dem ganzen Fitelberg-Kapitel kristallisiert sich die starke Verflech-
tung ethnisch-nationaler und beruflicher Identitätskategorien heraus. Auch der
ständige Sprachwechsel verdeutlicht das: In Fitelbergs Worten profiliert sich der
Versuch einer produktiven Mediation zwischen der deutschen und der französi-
schen Sprache, es geht auch um die Beziehung zwischen der deutschen und der
französischen Bevölkerung, die in dieser Zeit (1923) ebenfalls angespannt war.30
Um zu Marquardts Auffassung zurückzukehren, könnte aus Fitelberg in der
Narration ein Sündenbock sowohl aufgrund seiner jüdischen Herkunft als auch
aufgrund seines Berufs, der – wie das Zitat aus Marcello zeigt – ebenfalls Ste-
reotypen ausgesetzt war, werden. Er handelt, obwohl er natürlich mit Leverkühns
Musik Geld verdienen möchte, immer noch im Interesse der Musik. „Es gibt
zwei Seelen in Fitelbergs Brust: den Geschäftsmann und den Kunstkenner“,31
meint Darmaun. Er bezieht sich damit auf das Wesen eines Impresario bzw.

30 Zu einer intersektional angelegten Analyse von Sprachdifferenz siehe auch: Radaelli,

Giulia: „Worte des Fremden“. Stimme und Sprachdifferenz in Elias Canettis Die Stim-
men von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise. In: Klein u. Schnicke (Hrsg.):
Intersektionalität und Narratologie, S. 185–204.
31 Darmaun: Thomas Mann, Deutschland und die Juden, S. 245.
344 10 Saul Fitelberg

einer Impresaria: Ein Musikagent bzw. eine Musikagentin hat mit Konten sicher-
lich viel zu tun, ist aber zugleich sehr bewandert im musikalischen Bereich,32
sodass er oder sie manchmal für die „Durchsetzung echter Kunst“33 bankrott
stirbt. Fitelberg leugnet nicht, dass sein erstes Projekt, das „Théâtre des fourberies
gracieuses“ (DF: 580), gescheitert ist. Man könnte zudem an seinen Kompeten-
zen zweifeln und sich fragen, ob ein Jahr an der Sorbonne34 und die Kenntnisse
berühmter Persönlichkeiten des damaligen Pariser Kulturlebens ausreichend seien,
um als Kunstkenner bezeichnet zu werden.
Ein Teil der Doktor Faustus-Forschung betrachtet Fitelberg als Verführer.
So vertritt beispielsweise Schmidt-Schütz anhand des Mantel-Zitats die Auffas-
sung,35 dass die Diktion „bereits klar [mache], daß der Konzertagent sich in die
Gruppe der ,Verführer‘-Gestalten“36 einreihe. Und Evelyn Cobley fügt hinzu: Der
Komponist „cannot be tempted by the world when it visits him in the guise of
Saul Fitelberg“. Wie bereits antizipiert, gehört allerdings auch Frau von Tolna zum
„Kapitel ,Welt‘“ (DF: 575) von Leverkühns Biographie und von der lässt sich der
fiktive Komponist doch finanzieren. Und zwar schon vor Fitelbergs Erscheinen in
Pfeiffering: Das Angebot des Impresarios anzunehmen, wäre ein Verstoß gegen
die Bedingungen des Finanzierungsverhältnisses. In dieser Hinsicht kann Fitel-
berg also als Verführer betrachtet werden. Dem Vergleich zwischen Fitelberg und
Frau von Tolna widmet sich der nächste Unterabschnitt.

10.1.2 Die ungarische Mäzenin und die Frage nach der


Finanzierung des Musikwerkes

Es gilt nun, die beiden Figuren, Saul Fitelberg und Frau von Tolna, näher zu ana-
lysieren und auf ihre Funktion im Roman einzugehen. Innerhalb der Ordnung des

32 Toelle erklärt, die berühmtesten Impresari in Mailand, Venedig oder Parma seien oft

ausgebildete Tänzer*innen oder Sänger*innen gewesen. Siehe Toelle: Oper als Geschäft,
S. 20 ff.
33 Ebd.
34 Siehe DF: 580.
35 „Und dennoch, figurez-vous, bin ich gekommen, Sie zu entführen, Sie zu vorübergehen-

der Untreue zu verführen, Sie auf meinem Mantel durch die Lüfte zu führen und Ihnen
die Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeit zu zeigen, mehr noch, sie Ihnen zu Füßen zu
legen…“ (DF: 579). Man sieht hier die Anspielung auf die Versuchung Christi durch den
Teufel.
36 Schmidt-Schütz: Doktor Faustus zwischen Tradition und Moderne, S. 145. Siehe auch

Bergsten: Untersuchungen, S. 32.


10.1 Intersektionale Analyse der Figur 345

Romans scheint es kein Zufall zu sein, dass der Musikagent gleich nach dem 36.
Kapitel vorgestellt wird, das von der reichen Mäzenin handelt.37 Die Identität der
Frau von Tolna stellt bis heute ein Rätsel für die Doktor Faustus-Forschung dar –
obwohl der Großteil der Forscher*innen sie für Hetaera Esmeralda hält, wofür es
auch diverse Argumente gibt:38 Zunächst die im Esmeralda-Kapitel dieser Arbeit
genannten Eigenschaften einiger Schmetterlinge, nämlich die Unsichtbarkeit und
die Flüchtigkeit.39 Frau von Tolna ist eine große Verehrerin Leverkühns, die
sein Werk und die Aufführungen seiner Kompositionen finanziell unterstützt und
seine Wirkungsstätte besichtigt, ohne jemals von ihm gesehen zu werden.40 Die
Unsichtbarkeit41 ist sowohl die Haupteigenschaft dieser Figur als auch Bedingung
für das Unterstützungsverhältnis zu Leverkühn: So entsteht eine Verbindung mit
den Schmetterlingen in Jonathan Leverkühns Büchern, die so gut getarnt waren,
dass man sie für Blätter halten könnte. Ein anderes Argument wäre die ange-
griffene Gesundheit Frau von Tolnas, die auf die Syphilis Esmeraldas anspielen
könnte:

Sie lebte in Paris, Neapel, Ägypten, im Engadin, von Ort zu Ort begleitet von einer
Jungfer, einem männlichen Angestellten, der etwas wie einen Quartiermacher und
Reisemarschall abgab, und einem allein ihren Diensten gewidmeten Arzt, was auf
delikate Gesundheit schließen ließ. (DF: 568)42

Aus dem obigen Zitat geht auch der flüchtige und mondäne Charakter von Frau
von Tolnas Lebensstil hervor. So Zeitblom:

37 Vgl. auch Marquardt: Der Manager als Sündenbock, S. 567.


38 Das Hauptvorbild für diese Figur sei, so der Autor, Frau von Meck, die unsichtbare
Freundin und Mäzenin Tschaikowskis. Puschmann schlägt ein weiteres Vorbild vor: Irene
Hirsch-Hatvany, eine ungarische Aristokratin.Die Hatvanys seien Gründer der ungarischen
Zuckerindustrie gewesen und sollen auch Thomas Mann kennengelernt haben; Zeitblom
berichtet von den „Zuckerrüben-Pflanzungen“ (DF: 568) in Frau von Tolnas Villa am Bala-
ton. Vgl. Ent: 30; TB2: 31.01.1944, S. 16; Bergsten: Untersuchungen, S. 82 f.; Puschmann:
Magisches Quadrat, S. 142.
39 Vgl. Kap. 8 u. Börnchen: Kryptenhall, S. 205.
40 Vgl. DF: 566–570.
41 Vgl. DF: 566: „Frau von Tolna aber ist eine unsichtbare Figur. Ich [Zeitblom] kann sie

dem Leser nicht vor Augen stellen, von ihrem Äußeren nicht das kleinste Zeugnis geben,
denn ich habe sie nicht gesehen und nie eine Beschreibung von ihr empfangen […]“.
42 Dies allerdings ist die Schlussfolgerung Zeitbloms, denn Frau von Tolna könnte auch

hypochondrisch sein oder fremden Ärzten nicht vertrauen.


346 10 Saul Fitelberg

Keinen dieser Aufenthalte, Stadthaus, Gutsschloß und Sommervilla, benutzte die


Eigentümerin für irgend längere Zeit. Ganz vorwiegend, man kann sagen: fast
immer, war sie auf Reisen, indem sie die Heimstätten, an denen sie offenbar nicht
hing, von denen Unruhe oder peinliche Erinnerungen sie vertrieben, der Obsorge
von Verwaltern und Hausmeistern überließ. (DF: 568)

Weiters werden der Ring aus „hellgrüne[m] Ural-Smaragd“ (DF: 569), den Lever-
kühn zusammen mit dem ersten Brief bekommt43 sowie die ungarische Herkunft
der Mäzenin erwähnt. Zeitblom präzisiert die Übersetzung des Namens ,Press-
burg‘, „Poszony“ (DF: 225), ins Ungarische, wo die intime Begegnung mit der
Prostituierten stattfindet. Auf diese Weise schafft er einen symbolischen Zusam-
menhang, der sich auf die Bedeutung des Namens ,Esmeralda‘ sowie auf das Land
Ungarn stützt.44 Schließlich hätte Esmeralda (und das könnte eine Erklärung für
den Nachnamen bieten) einen reichen Aristokraten heiraten können, Herrn von
Tolna, der jedoch beim Pferderennen tödlich verunglückt war.45
Es gibt auch Argumente, die gegen diese Identifikation sprechen. Was die
Anspielung auf den Schmetterling angeht, könnte man darauf hinweisen, dass
diese Insekten „ein ephemeres Leben fristen“ (DF: 26). Die intime Begegnung
mit Esmeralda lässt sich auf Mai 1906 datieren,46 wo sie bereits krank ist. 1927
– zur Zeit der Uraufführung der Apocalipsis cum figuris sowie der ersten Schil-
derung der Figur Frau von Tolnas –47 müsste sie also aus einer zeitlogischen, die
Intradiegese berücksichtigenden Perspektive schon längst tot sein. Darüber hinaus
trägt der geschenkte Ring – laut Zeitblom „Symbol der Bindung, der Fessel, ja der
Hörigkeit“ (DF: 570) – „die Anfangsworte eines Apollon-Hymnus des Kallima-
chos“ (DF: 570). Der Verweis auf den Gott Apoll, Schützer der Künste, bestätigt
die Auffassung eines Verhältnisses „im rein Geistigen“ (DF: 571) zwischen dem
Komponisten und der Verehrerin, das wenig Dionysisches enthält. Unter diesem
Aspekt ist die Verbindung Frau von Tolnas mit Esmeralda fragwürdig, denn im
Fall der Prostituierten handelt es sich um eine andere Art von Beziehung. Ein letz-
tes zu betrachtendes Element hat mit der Darstellung Esmeraldas als Femme fatale
durch Zeitblom zu tun. Oft wird diese symbolische Figur, nicht selten im Namen
der Kunst, geopfert.48 Wenn also die verschleierte Frau, die bei der Beerdigung

43 Vgl. Oswald: The Enigma, S. 252.


44 Siehe auch ebd., S. 251.
45 Vgl. DF: 567.
46 Vgl. DF: 224.
47 Die Briefe Frau von Tolnas hatte Leverkühn schon vor der Uraufführung erhalten, aber

sie ist zu diesem Zeitpunkt sicherlich noch lebendig.


48 Vgl. Hilmes: Kleopatra, S. 115 f.; Wurz: Kundry, Salome, Lulu, S. 38.
10.1 Intersektionale Analyse der Figur 347

Leverkühns erscheint, zugleich Esmeralda und Frau von Tolna ist, wäre daraus
zu schließen, dass in Doktor Faustus die Femme fatale nicht geopfert wurde.
Dies wäre im Sinne einer Erneuerung des Typus durchaus möglich; zweifelsohne
wird allerdings Frau von Tolna nicht als Femme fatale, sondern vielleicht eher als
Femme fragile dargestellt.
Abgesehen von der Identitätsproblematik verkörpern Saul Fitelberg und die
ungarische Witwe zwei antithetische Formen und Konzeptionen des Musikbe-
triebs, die in Adornos Philosophie geschildert werden. Der Philosoph schreibt
dazu:

Die nicht konformierende Musik ist vor solcher Vergleichgültigung des Geistes,
der des Mittels ohne Zweck, nicht geschützt. Wohl bewahrt sie ihre gesellschaft-
liche Wahrheit kraft der Antithese zur Gesellschaft, durch Isolierung, aber diese
läßt wiederum auch sie selber verdorren. Es ist, als wäre ihr der Stimulus zur
Produktion, ja die raison d’être entzogen. [...] Unter den Symptomen solcher Läh-
mung ist das sonderbarste vielleicht, daß die fortgeschrittene Musik, welche durch
Autonomie eben jenes demokratisch breite Publikum von sich stieß, das sie einmal
durch Autonomie erobert hatte, nun an die Ära vor der bürgerlichen Revolution
zugehörige und in ihrem Wesen Autonomie gerade ausschließende Einrichtung der
Auftragskomposition sich erinnert. [...] Fast alle exponierten Stücke, die überhaupt
noch fertig werden, sind nicht auf dem Markt verkäuflich, sondern von Mäzenen
oder Institutionen bezahlt. Der Konflikt zwischen Auftrag und Autonomie kommt
in widerwilliger, stockender Produktion an den Tag. Denn weit mehr noch als in der
absolutistischen Ära sind heute der Mäzen und der Künstler, die immer schon in
prekärem Verhältnis standen, einander fremd. Der Mäzen hat keinerlei Beziehung
zum Werk, sondern bestellt es als einen Sonderfall jener „kulturellen Verpflich-
tung“, die selber bloß die Neutralisierung der Kultur bekundet; für den Künstler
aber reicht die Festlegung auf Termine und bestimmte Gelegenheiten schon hin,
um die Unwillkürlichkeit, deren das emanzipierte Ausdrucksvermögen bedürfte,
zu tilgen. Es herrscht historisch prästabilierte Harmonie zwischen der materiellen
Nötigung zur Auftragskomposition durch Unverkäuflichkeit und einem Nachlassen
der inneren Spannung, das zwar den Komponisten dazu befähigt, mit der in unbe-
schreiblicher Anstrengung errungenen Technik des autonomen Werkes heteronome
Aufgaben zu erfüllen, dafür aber vom autonomen Werk ablenkt“. (PhnM: 28f.)

Der „Konflikt zwischen Auftrag und Autonomie“ kommt auch in Doktor Faustus
durch die zwei Figuren zum Tragen. Fitelberg bietet Leverkühn Reichtum und
Popularität an. Laut Adorno ist aber die radikale Musik „die Antithese gegen die
Ausbreitung der Kulturindustrie über ihr [sic] Bereich“ (PhnM: 15), sie macht
„spröde gegen die ratio der Verkäuflichkeit“ (ebd.): Die Welt der Impresari lässt
sich folglich schwer mit ihr vereinbaren, denn diese Form der Musikfinanzie-
rung ist vom Geschmack des Publikums nie komplett unabhängig. Auch wenn
Impresari wie Fitelberg für keine bekannten Operntheater arbeiten, sondern sich
348 10 Saul Fitelberg

für die Neue Musik einsetzen, müssen sie sich bestimmten Bedingungen des
Marktes beugen: Die bloße Aufführung des Werkes in Abwesenheit seines*seiner
Urheber*in ist beispielsweise nicht erfolgsversprechend, die Isolierung des*der
Künstler*in kann diese Form der Musikfinanzierung nicht gewährleisten. Die
Impresari wissen als Geschäftsmänner und- frauen und ebenso als Kunstkennende,
wie weit sie gehen dürfen – so Toelle:49

Er[*Sie] musste das Schicksal berechnen können und möglichst alle Zufälle
ausschalten, die Erfolg oder Misserfolg einer Produktion oder eines Abends beein-
flussen konnten, und er[*sie] musste die Reputation, die Qualität, den Wert und die
Erfolgsaussichten des zu erwartenden spettacolo mit der Situation am Theater und
in der Stadt und den Erwartungen des Publikums in Beziehung setzen.

Adorno vertritt außerdem die These, Mäzen*innen und Künstler*innen seien


„weit mehr noch als in der absolutistischen Ära […] einander fremd“ (PhnM:
29). Dieses Konzept wird im Roman prosopoietisch durch die unsichtbare Vereh-
rerin Leverkühns realisiert, die diese neue Form des distanzierten Mäzenatentums
verkörpert. Dennoch zeichnet sie nicht in toto Adornos Idee nach: Frau von Tolna
scheint aus keiner „kulturellen Verpflichtung“ heraus Leverkühns Schaffen zu
finanzieren, da sie sein Werk sehr genau kennt und alle Aufführungen besucht.
Die Auffassung aber einer scheinbar größeren Autonomie kraft der Wahl des
Mäzenatentums könnte durch den Ring kaum deutlicher werden: Künstler und
Mäzenin, nicht zufällig jeweils männlichen und weiblichen Geschlechts, schließen
einen künstlerischen Vertrag ab, der an einen Ehevertrag mit seinen Implikationen
ewiger Treue denken lässt. Komplett frei ist Leverkühn somit nicht, auch wenn
im Roman nie erwähnt wird, dass Frau von Tolna auf irgendeine Art und Weise
Stil und Sujets seiner Produktion zu beeinflussen versucht: Als Zeichen seiner
Dankbarkeit gegenüber und zugleich aufgrund der Bindung an die Mäzenin trägt
Leverkühn während der Komposition der Apocalipsis den Ring die ganze Zeit
über.50
Obwohl Zeitblom versucht, Frau von Tolna als „dienende Frau“ Leverkühns
und zugleich auch unter gewissen Aspekten als Femme fragile (z. B.: die delikate
Gesundheit, die Unsichtbarkeit) darzustellen, wird deutlich, dass es in Doktor
Faustus wahrscheinlich keine mächtigere weibliche Figur als sie gibt. Sie hat
sowohl das Geld als auch verfügt sie über die richtigen Kontakte zu Verlagen
und Konzertveranstalter*innen, um Leverkühns Werk ökonomisch fördern zu kön-
nen. Es liegt diesbezüglich eine Subversion von Geschlechterverhältnissen vor, die

49 Toelle: Oper als Geschäft, S. 30.


50 Siehe DF: 570.
10.1 Intersektionale Analyse der Figur 349

dadurch noch deutlicher wird, dass die Mäzenin, also die Frau, dem Komponis-
ten, also dem Mann, den Ring schenkt. Leverkühn ist sich über die Bedingungen
eines solchen exklusiven Verhältnisses im Klaren und lässt sich von Fitelberg
nicht verführen.
Schließlich gilt es an dieser Stelle auf eine Dichotomie einzugehen, die sich im
Roman profiliert, nämlich die Dichotomie Frankreich – Ungarn. Es mag bereits
aufgefallen sein, dass Frankreich, und insbesondere Paris, einen unrealisierba-
ren Traum darstellt. Marie Godeau lebt in der französischen Hauptstadt, will
aber Leverkühn nicht heiraten. Schwerdtfeger wird, kurz bevor er nach Paris
umziehen soll, getötet. Und der Impresario aus Paris beabsichtigt, Leverkühns
Musik in diversen Städten zu präsentieren – u. a. auch in Paris – und den
Komponisten in die dortigen Zirkel von Intellektuellen einzuführen. Sein Ange-
bot wird abgelehnt.51 Ganz im Gegenteil dazu stellt Ungarn einen erfüllbaren
Traum dar. Leverkühn begegnet der Prostituierten in Leipzig, findet sie dann in
der (damals: Monarchie Österreich-Ungarn) ungarischen Stadt Pressburg wieder.
Frau von Tolna kommt aus demselben Land wie Esmeralda: In ihrem Schloss
verbringt Leverkühn zwölf Tage (wieder die Zahl zwölf, die an die Zwölfton-
technik und an die Zahl zwei erinnert)52 mit Schwerdtfeger, was Zeitblom als
„leicht exzentrische[] Episode“ (DF: 574) bezeichnet. Nationalbedingte Formen
des kulturellen Lebens, das liberale Paris vs. das traditionsgebundene Ungarn,
treten durch die zwei Figuren Frau von Tolna und Saul Fitelberg zutage; zudem
wird, worauf Schmidt-Schütz hinweist, im Fitelberg-Kapitel die Stadt Paris auch
mit Pfeiffering kontrastiert.53 Das bayerische Dorf, das der Impresario wohl mit
Absicht unzutreffend als „Idyll“ (DF: 578) bezeichnet, hat mit der französischen
Metropole in den 1920er Jahren, wahrscheinlich das damalige kulturelle Zen-
trum Europas, wo man Veranstaltungen aller Art besuchen und auf Picasso, Satie,
Joyce, Miller, usw. treffen konnte, wenig gemein, auch unter politischen Gesichts-
punkten nicht. Zusammenfassend liegt es nahe, dass Fitelberg hauptsächlich vor
der Unverkäuflichkeit des Musikwerkes der Neuen Musik und vor dem in Pfeif-
fering geäußerten Misstrauen flieht. Selbst die Begründung für diese Flucht ist
in einem intersektionalen Denkparadigma angesiedelt, denn sie vereint beruf-
liche und politisch-ethnische Aspekte und weist folglich noch einmal auf die
Notwendigkeit hin, diese Figur aus dieser Forschungsperspektive zu untersuchen.

51 Siehe auch Darmaun: Thomas Mann, Deutschland und die Juden, S. 249.
52 Vgl. 6.1.2.
53 Vgl. Schmidt-Schütz: Doktor Faustus zwischen Tradition und Moderne, S. 174.
350 10 Saul Fitelberg

10.2 Vom Roman zur Musik

Über Formen der Musikfinanzierung reflektieren nicht nur die Fitelberg-Kapitel


von Doktor Faustus, sondern auch Manzonis Oper durch die Impresario-Figur
Fitelberg gerade in einem der bekanntesten Operntheater der Welt: Dieser zweite
Teil des Kapitels untersucht die Konsequenzen des Transfers dieser inhaltlichen
Mikroform in ein anderes Medium und in einen anderen Kontext.

10.2.1 Saul Fitelberg in Manzonis Oper: Eine Reflexion über


Finanzierungsmöglichkeiten und die Zukunft der Oper

Der Figur des jüdischen Impresarios ist in Manzonis Doktor Faustus das dritte
Bild des zweiten Aktes gewidmet. In diesem Abschnitt sei zuerst der Frage nach-
gegangen, warum die Oper nicht alle Romanfiguren übernimmt, Saul Fitelberg
aber beibehält. Sogar Serenus Zeitblom, die Erzählinstanz, bleibt am Rande von
Manzonis Werk; ganz zu schweigen von Schwerdtfeger, der nicht einmal erwähnt
wird. Im Gegensatz dazu lässt Manzonis Doktor Faustus Fitelberg eine ganze ca.
siebenminütige Episode hindurch Adrian Leverkühn ohne Erfolg sein Angebot
vorstellen. Durch ihn wagt die Oper in einem der renommiertesten Operntheater
der Welt über die Möglichkeit zu reflektieren, wie man sie ökonomisch fördern
könnte, und zwar zusammen mit denjenigen, die noch in die Oper gehen und
sie somit auch finanzieren. Das Bild lässt sich darüber hinaus auch als Refle-
xion über die Musikgattung und ihre Zukunft begreifen, denn die Oper ist im
Rahmen der Neuen Musik, die zum Teil der Idee der absoluten, rein instrumenta-
len Musik verpflichtet ist, zweifelsohne eine kontroverse Gattung.54 Sorg erklärt:
„Mit Fitelberg zieht am offensichtlichsten Manzonis Kritik an einem marktori-
entierten Kunstbegriff in die Oper ein“.55 Der Impresario sei seiner Auffassung
nach als kapitalistischer Versucher porträtiert und in diesem Bild kritisiere die
Oper die exzessive Vermarktung der Musik.56 Die wiederholte Verwendung des
Falsetts konnotiert den Musikagenten als Lügner noch deutlicher: Das italienische
Wort falsetto ist der Diminutiv vom Adjektiv falso (,falsch/unehrlich‘); darüber
hinaus erzeugt diese Art von Gesang einen Eindruck von Künstlichkeit. Nicht

54 Die Frage nach der Zukunft der Oper ist immer noch aktuell: Vgl. Beyer, Barbara,

Kogler, Susanne u. Roman Lemberg (Hrsg.): Die Zukunft der Oper. Zwischen Hermeneutik
und Performativität. Berlin: Theater der Zeit 2014.
55 Sorg: Beziehungszauber, S. 206.
56 Vgl. ebd., S. 205.
10.2 Vom Roman zur Musik 351

selten findet diese Gesangstechnik dann Verwendung, wenn Fitelberg die Namen
berühmter Persönlichkeiten zitiert. Es wirkt so, als wolle die Oper unterstreichen,
dass hier der Impresario den Höhepunkt seiner Lügen und Überredungsstrategien
erreicht (Abbildung 10.1) :

Abbildung 10.1 Die Verwendung des Falsetts – grafisch durch Punkte auf den ent-
sprechenden Tönen signalisiert – bei der Erwähnung von Eigennamen (M-DF: 142 f., T.
275–279)

Dennoch ist die Figur des jüdischen Impresarios, der allerdings bei Manzoni
lediglich als Impresario inszeniert wird (andere Identitätskategorien spielen in
der Oper selten eine Rolle), auch eine komische: „Mit der Verführungsabsicht
geht auch eine Komik einher“,57 präzisiert Sorg. Manzonis Fitelberg scheint aus
einer opera buffa zu stammen, da er sich in der Aufnahme der Uraufführung auf
der Bühne ständig bewegt und sogar Leute aus Paris imitiert, wie das folgende
Textbeispiel zeigt:

SF: (parlato, con un timbro di voce diverso; come mimando un altro ipotetico
personaggio; con tono molto salottiero) Madame, oh madame! Que pensez vous,
madame? On me dit, madame, que vous êtes fanatique de musique; tout le monde
sait, madame, que votre jugement musical est infaillible!“. (M-DF: 144, T. 290)58

Genauer gesagt hat diese Szene eine Intermezzo-Qualität, weil sie sich zwi-
schen den Echo-Bildern befindet: „Die Komik dieses dritten Bildes hellt für einen
Moment die tragisch-düstere Geschichte um Leverkühns Neffen auf und besitzt
damit auch eine retardierende Funktion“,59 unterstreicht Sorg.60 Daher lässt sie
eher an ein komisches Zwischenspiel vor dem tragischen Ende eines italienischen
dramma per musica aus dem 18. Jahrhundert denken.

57 Ebd., S. 208.
58 „(gesprochen,mit einem anderen Timbre der Stimme; als ob er eine andere hypothetische
Figur imitieren würde; mit starkem Salonton)“. Für den restlichen Text vgl. DF: 581 und
584 f.
59 Sorg: Beziehungszauber, S. 208.
60 Vgl. 11.2.3.
352 10 Saul Fitelberg

Was die Sprache von Manzonis Fitelberg angeht, kann man einige kleine
Unterschiede zu Manns Roman bemerken. Zum Beispiel die Dominanz des Fran-
zösischen. In der Oper wird zu einem Großteil auf die Mischung zweier Sprachen,
was hingegen den Roman prägt, verzichtet: Der Impresario hätte teils auf Ita-
lienisch, teils auf Französisch sprechen können. Vielleicht thematisiert die Oper
aufgrund der programmatisch deklarierten „sgermanizzazione“61 des Romans die
Problematik des Antisemitismus, der im Roman durch Fitelberg wahrscheinlich
am deutlichsten hervortritt, kaum und lässt Fitelberg weder Deutsch noch Italie-
nisch sprechen. An vereinzelten Stellen wird darauf hingewiesen, etwa „ça c’est
bien allemand!“ (M-DF: 147, T. 306), „Une confusion tragique – Wagner…“ (M-
DF: 155, T. 361 ff.) und „Deutschland…Deutschland!“ (M-DF: 158, T. 385 ff.).
Durch das Französische gewinnt aber der Bezug auf das kulturelle Leben in
Frankreich an Bedeutung und Fitelberg wird eher als jüdischer Impresario denn
als französischer dargestellt.62
Formal betrachtet ist außerdem Fitelbergs Episode in der Oper ein echter
Monolog vom Anfang bis Ende, oder, genauer gesagt, ein Solo des Sängers: Nie-
mand stellt den Agenten vor, er betritt plötzlich die Bühne und präsentiert sich.
Und niemand kommentiert, was er sagt. Ein Grund dafür ist, dass sich Man-
zoni für die Verwendung der Romanpassagen in der direkten Rede entscheidet
und im entsprechenden Kapitel ist er die einzige Figur, die sich auf diese Weise
ausdrückt.63
Sorg unterstreicht, dass Manzoni hier mit Klangmöglichkeiten experimentiert,
„indem Geräusch und Klang zusammengeführt werden“.64 Er behauptet außer-
dem, die Musiksprache stehe „gegen die Verführungsversuche Saul Fitelbergs“.65
Es scheint aber, dass die „abgerissene[n] Motive der Streicher“66 sowie der ganze
Musikverlauf hervorragend zur tragikomischen Figur passen und ihre Besonder-
heit noch deutlicher unterstreichen. Ein Beweis dafür ist, dass seine Rede nie vom
Orchester zugedeckt, sondern einfach begleitet wird. Die Zusammenführung von
Klang und Geräusch könnte sich zudem im Medium der Musik auf Fitelbergs

61 Manzoni: Il linguaggio del Doktor Faustus, S. 305. Vgl. auch 5.2.1.1.


62 Somit verweist die Oper aufgrund des Aufführungskontextes indirekt auf die Unter-
schiede zwischen italienischer und französischer Oper.
63 Vgl. (sowohl für die Auswahl der Textstellen aus dem Roman als auch für die

„sgermanizzazione“) 5.2.1.1.
64 Sorg: Beziehungszauber, S. 205.
65 Ebd.
66 Ebd., S. 208.
10.3 Fazit 353

Versuch beziehen, die Neue Musik an die Welt der Impresari anzupassen, sie ver-
käuflicher und mondäner zu machen. Fitelbergs Angebot wird aber in der Oper
komplett ignoriert: Eher als die Einsamkeit des Kunstwerkes wird hier die Ein-
samkeit der Welt der Impresari, die – wie Adorno in der Philosophie der Neuen
Musik darlegt – mit der neuen musikalischen Situation nicht kommunizieren kann
und folglich für lächerlich erklärt wird. In Manzonis Oper treten Adornos Auffas-
sungen in umgekehrter Form auf: Nicht mit der Neuen Musik will keine*r „etwas
zu tun haben […], die Individuellen so wenig wie die Kollektiven“ (PhnM: 126).
Vielmehr „verhallt“ (ebd.) das Angebot des Impresarios Saul Fitelberg in der Oper
und im Roman „ungehört, ohne Echo“ (ebd.) und wird dann schnell vergessen.

10.3 Fazit

In diesem Kapitel wurde der narratologisch-intermediale Akzent der Untersu-


chung um das Forschungsparadigma der Intersektionalität erweitert. Die drei
Bereiche Intersektionalität, Intermedialität und Narratologie werden kombiniert,
um die sozialen Ungleichheiten darzustellen, die im Roman anhand der Figur des
jüdischen Impresarios Fitelberg konstruiert werden. Während in Manzonis Oper
der Bezug auf Fitelbergs Herkunft, ähnlich wie im Fall von Esmeralda, in den
Hintergrund rückt, so wird jedoch hier die sozial-politische Kritik der Fitelberg-
Kapitel in das neue Medium transferiert. Der Impresario dient dazu, über die
Finanzierung des Musikwerkes zu reflektieren. Um sich der Analyse des inter-
medialen Effekts der Verstärkung des vorigen Kapitels anzuschließen, kann zu
Manzonis Doktor Faustus gesagt werden, dass in dieser Oper die Verstärkung der
sozial-politischen Kritik vor allem kontextuell bedingt ist: Sie thematisiert diesen
Aspekt in einem der renommiertesten Operntheater der Welt und zielt folglich
noch ausdrücklicher als der Roman auf eine Reflexion durch das Publikum ab.
Wie Henze verstärkt auch Manzoni eine Figur aus Doktor Faustus, die sonst in
der Forschungsliteratur kaum behandelt wird, was dementsprechend noch ein-
mal ein Beweis dafür ist, dass die Auseinandersetzung mit der kompositorischen
Rezeptionsgeschichte von Thomas Manns Roman eine neue Lektüre des Werkes
bewirkt.
354 10 Saul Fitelberg

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Echo
11

Nepomuk Schneidewein ist das vierte Kind von Leverkühns Schwester Ursula. Es
kommt im Jahr 1928 nach Pfeiffering, da sich seine Mutter um ihn nicht kümmern
kann, weil ihr der Arzt einen Anstaltsaufenthalt verschrieben hat. Er kommt aber
auch, um sich „in oberbayrischer Landluft“ (DF: 666) von den Masern zu erholen.
Nepomuk nennt sich selber Echo und ist ein sehr liebreizendes Kind, von dem
eine enorme Anziehungskraft ausgeht und das den Eindruck vermittelt, aus einer
anderen Welt zu stammen. Als Echo in Pfeiffering ankommt, beugen sich z. B. die
Frauen „mit gerungenen Händen zu dem Männlein herab […] und r[u]fen Jesus,
Maria und Joseph“ (DF: 667). Er hat blondes Haar und Augen „vom klarsten
Blau“ (ebd.). Wenn er spricht ist aufgrund seines Akzents und einiger Redens-
arten die schweizerische Herkunft seines Vaters zu erkennen.1 Zugleich spricht
er auf altertümliche Weise, denn er benutzt mittelhochdeutsche Wörter.2 Er ist
also ein sehr merkwürdiges, „fast überirdisch[es]“3 Kind.4 Auch die Darstellung

1 Vgl. DF: 668.


2 Vgl. DF: 679 und Winkler, Angela: Das romantische Kind. Ein poetischer Typus von
Goethe bis Thomas Mann. Frankfurt am Main: Lang 2000, S. 150.
3 Briefe 3: 16.01.1947, S. 326, an Meyer.
4 Das Modell für Nepomuk soll Frido Mann, der Sohn Michael Manns und der Schwei-

zerin Gret Moser, gewesen sein: „Wählte mir Bilder von Frido für die Nepomuk-Episode
aus“ (TB 1: 04.07.1943, S. 596), schreibt der Autor in seinem Tagebuch. Nicht nur das
Aussehen soll er seinem Enkel entliehen haben, sondern auch die Ausdrucksweise: „Mit-
tags mit dem kleinen Fridolin auf der Promenade. Wenn es vorüber ist, sagt er ,habt‘.
Dies für Nepomuk Schneidewein’“ (Ent: 25). Tschechne spricht diesbezüglich von „Lie-
beserklärung großväterlicherseits“. Frido Mann äußerte sich lange Zeit nicht über die
Echo-Episode, erst 1997 hielt er einen Vortrag über die Beziehung des Modells zur
literarischen Figur in der Heimatstadt des Großvaters. Sehr groß soll die Wirkung der
Echo-Episode auf die ersten, vor allem weiblichen Leser*innen des Romans, gewesen
sein, wie man der Entstehung des „Doktor Faustus“ entnehmen kann. Erika Mann „hatte

© Der/die Autor(en) 2021 355


A. M. Olivari, Doktor Faustus (ver-)stimmen,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62635-1_11
356 11 Echo

des Erzählers verstärkt den Eindruck, Echo stamme aus einer anderen Welt: Sein
Aussehen lasse zugleich an ein „Elfenprinzchen“ (DF: 667) und – so Winkler –
an einen Engel, eine Art Gotteskind denken.5 Es scheint kein zufälliges Text-
element zu sein, dass sowohl das Wort ,Echo‘ als auch ,Elfen‘ oder ,Engel‘ mit
dem Buchstaben E beginnen. Auch ist mit dem realen Namen des Kindes eine
religiöse Symbolik verbunden, insofern Johannes von Nepomuk ein böhmischer
Märtyrer war.6 Der Verweis auf Johannes von Nepomuk verstärkt die christliche
Symbolik, indem diese um das Motiv des Opfers bereichert wird: Der Pfarrer von
Pfeiffering schenkt Echo „ein buntes Bild des Lammes“ (DF: 672).7
Das Kind bringt in Pfeiffering als eine Art Erzengel oder – so Börnchen –
„kleiner Hermes“8 eine Botschaft von Liebe, Zärtlichkeit und „Transparenz“ (Ent:
168), die der Autor in der Entstehung des „Doktor Faustus“ folgendermaßen
beschreibt:

Ich schilderte den zarten Kömmling im Elfenreiz, steigerte eine Zärtlichkeit meines
eigenen Herzens ins nicht mehr ganz Rationale, zu einer Lieblichkeit, welche die
Leute heimlich an Göttliches, an ein von hoch- und weither zu Besuch Kommendes,
eine Epiphanie glauben läßt. Vor allen Dingen: ich ließ den kleinen Boten seine
wunderlichen Sprüche machen, wobei ich Stimme und Akzent des Enkelknäbchens
im Ohr hatte. (Ent: 168)

sich nämlich, dem Jahreswechsel zu Ehren, nach durchlesener Nacht in die Pflege eines
,beauty shop‘ begeben, und nachmittags, beim Lesen der Echo-Kapitel, war das ganze
kunstvolle make-up, Wimperntusche und alles, von Tränen verschwemmt, ihr schwärzlich
übers Gesicht geflossen“ (Ent: 174). Die Frau Alfred Neumanns habe „die Nacht nicht
schlafen können und nur an das Kind immer denken müssen“ (Ent: 179). Und die Über-
setzerin in London soll Mann gefragt haben: „How could you do it?“ (Ent: 169). Die
Kapitel, so Mann in der Entstehung, mussten auf diese Weise beendet werden. Tschechne,
Wolfgang: Vorwort. In: Mann, Frido: „Echo“ zwischen Tod und Leben. Betrachtungen
zum Verhältnis von Figur und Modell in Thomas Manns „Doktor Faustus“. Hrsg. v. Lisa
Dräger und Wolfgang Tschechne. Lübeck: DrägerDruck 1998, S. 9–19; vgl. Mann, F.:
„Echo“ zwischen Tod und Leben. u. Ent: 169.
5 Vgl. Winkler: Das romantische Kind, S. 151 u. Kaufmann, Fritz: „Dr. Fausti Weheklag“.

In: Archiv für Philosophie 3 (1949) H. 1, S. 5–28, hier: S. 17.


6 Man kann davon ausgehen, dass dies dem Autor bekannt war, denn eine Statue des

Heiligen befindet sich in München an der Praterwehrbrücke. Siehe auch Bergsten:


Untersuchungen, S. 233.
7 Friedhelm Marx weist außerdem darauf hin, dass „es der inneren Dynamik des Romans“

entspricht, „daß sich Leverkühns christomorphe Züge in dem Moment verstärken, wo das
Bild des seligen Kindes zurückgenommen und in ein Bild unschuldigen Leidens verkehrt
wird“. Marx, Friedhelm: „Ich aber sage Ihnen…“. Christusfigurationen im Werk Thomas
Manns. Frankfurt am Main: Klostermann 2002, S. 279.
8 Börnchen: Kryptenhall, S. 295.
11.1 Echo und das Echo-Motiv 357

Diese Botschaft, die das Kind auf der intradiegetischen Ebene der histoire 1928
mit sich bringt, „soll nicht sein“ (DF: 692; Herv. i. O.): Das Kind stirbt nach einer
qualvollen Krankheit an Meningitis.
Wird die Figur Echo im Roman in den Blick genommen, so muss auch
die komplexe Verflechtung von Musik-, Zeichentheorie, Rhetorik und Mytholo-
gie berücksichtigt werden, die sich mit dem Spitznamen des Kindes verbindet
und die hauptsächlich vom intramedialen Bezug auf Ovids Metamorphosen aus-
geht, besonders im Rahmen einer intermedial angelegten Studie. In Anlehnung
vor allem an Börnchens Studie wird diese Deutungsebene des Romans, deren
Untersuchungsgegenstand phono- und prosopoietische Elemente sowie intra- und
intermediale Bezüge bilden, vor allem im ersten Abschnitt ausgelotet.9 Vor dem
Hintergrund des Interpretationsvorschlags von Börnchen, der zu Recht die Rolle
des intramedialen Bezugs auf Ovids Metamorphosen unterstreicht,10 geht dann
der erste Abschnitt des vorliegenden Kapitels einen eigenen Weg: Er bezieht auch
den ebenfalls mit Echo verbundenen intermedialen Bezug auf Beethovens Sonate
opus 111 in die Analyse ein und schaut schließlich mithilfe von Kategorien aus
der Intermedialitätsforschung auf die Analyse als Ganzes zurück. Zweck dieser
Rückschau am Ende des ersten Abschnitts ist eine Definition der Funktion des
Echo-Motivs aus intermedialer Sicht für die Bedeutungskonstitution von Doktor
Faustus. Im zweiten Teil des Kapitels liegt der Fokus auf der Charakterisierung
der Figur Echo in den Kompositionen von Fine, Henze und Manzoni: Ihrer Ana-
lyse lässt sich nicht nur entnehmen, wie das Kind im jeweiligen Werk dargestellt
wird und wie dies im Medium der instrumentalen Musik oder der Oper überhaupt
möglich ist, sondern auch, wie sich die Werke mit dem transmedialen, jedoch –
zumindest implizit – immer auf akustische Phänomene verweisenden Motiv des
Echos auseinandersetzen.

11.1 Echo und das Echo-Motiv

In diesem Abschnitt sei das Echo-Motiv von Doktor Faustus zunächst aus
handlungs- und figurenbezogener Perspektive behandelt, um dann Figuren und
Inhalte zu abstrahieren und ihrer phono- und prosopoietischen Funktion – oder,
allgemeiner gefasst ihrer allegorischen Funktion – nachzugehen. In diesem zwei-
ten Schritt wird das Augenmerk sowohl auf die Echo-Kapitel als auch auf das
achte Kapitel von Thomas Manns Doktor Faustus samt seinem intermedialen

9 Vgl. ebd., S. 285–322.


10 Siehe ebd., S. 298.
358 11 Echo

Bezug auf Beethovens Klaviersonate opus 111 sowie erneut auf den bedeu-
tenden intramedialen Bezug auf Adornos musikphilosophisches Werk gerichtet.
Der letzte Teil des Abschnitts widmet sich der intermedialen Kategorie der Sys-
temkontamination nach Rajewsky und legt dementsprechend den Fokus auf den
gesamten Roman. Dabei werden auch musikwissenschaftliche Definitionen des
Echos und der barocken Echo-Wirkung miteinbezogen.

11.1.1 Echo-Wirkungen

Doktor Faustus könnte nicht nur den Faust-Mythos, sondern auch den Echo-
und Narziss-Mythos neu erzählen. Der Spitzname des Kindes stellt eine expli-
zite Referenz auf die Figur aus Ovids Mythos dar, die im Sinne einer associative
quotation einer Komplettierung bedarf: Aus Ovids Mythos ist die Figur Narziss
nicht mehr wegzudenken, weil die mythische Echo ihre Funktion in der Hand-
lung nur in Bezug auf Narziss erhält. Dass Adrian Leverkühn im Rahmen von
Zeitbloms Darstellung im Roman Narziss verkörpern könnte, bestätigen Charak-
tereigenschaften wie seine Indifferenz, seine Kälte und seine Liebe nur für sich
selbst und für seine Musik, obwohl er doch wie Narziss von Männern und Frauen
geliebt wird.11 Zwar soll Narziss im Gegensatz zu Leverkühn weder von einem
Mann noch von einer Frau jemals „gerührt“12 worden sein: Wird aber der Mythos
als Deformationsverhältnisse voraussetzendes System angesehen, so sollte diese
Modifikation bei Thomas Mann kaum überraschen.13 Die Berührung durch Esme-
ralda, die zusammen mit den anderen Prostituierten des Leipziger-Bordells als
„Nymphe der Wüste“ (DF: 208) bezeichnet wird (und die Mutter von Narziss ist
eben eine Nymphe, genauer eine Wassernymphe),14 führt aber zu einem steri-
len, selbstbefriedigenden Geschlechtsakt. Weitere Modifikation des Mythos wäre
zudem, dass das Kind Echo keine Nymphe, immerhin aber ein kleiner Elf ist, der
gänzlich oder teilweise wiederholt, was er hört oder wahrscheinlich irgendwo ein-
mal gehört hat.15 Adrian Leverkühn versucht, das Kind, das ihn liebt, ebenfalls zu

11 Siehe Naso, Publius Ovidius: Metamorphosen (im Folgenden als Ovid: Metamorphosen).

Hrsg. u. übers. v. Gerhard Fink. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2004, Liber III,
S. 104, V. 351–355.
12 Ebd., S. 105.
13 Barthes: Mythen des Alltags, S. 268.
14 Vgl. Ovid: Metamorphosen, S. 104, V. 341 f.
15 Vgl. DF: 684: „,Übrigens sprechen wir von ihm‘, fuhr ich [Zeitblom] fort, ,als hätte er

selbst sich diese Dinge ausgedacht. Hast du ihn je gefragt, woher er sie hat? Von seinem
Vater oder von wem?‘
11.1 Echo und das Echo-Motiv 359

lieben: Der Komponist ähnelt somit Narziss, der herausfinden will, wer ihn liebt
und seine Worte wiederholt.16 Vielleicht aufgrund des Verbots des Teufels oder
seiner Unfähigkeit, andere Menschen als sich selbst zu lieben, kann Leverkühn
Echos Liebe, die, weitere Modifikation, eine andere Art von Liebe im Vergleich
zu der der mythischen Echo zu Narziss ist, nicht immer erwidern: Manchmal
erlaubt er ihm, seinem Komponieren beizuwohnen, manchmal sieht er ihn ganze
Tage nicht, scheint „ihn zu meiden und sich den zweifellos geliebten Anblick zu
verbieten“ (DF: 678). Dieses letzte Verhalten kulminiert dann in der Äußerung „es
soll nicht sein“ (DF: 692; Herv. i. O.): Leverkühn beschäftigt sich länger als Nar-
ziss mit der Frage, ob er doch einen anderen Menschen lieben soll, verneint dies
jedoch im Endeffekt ebenfalls.17 Kurz nach dieser Entscheidung stirbt der schon
sehr kranke Echo oder zumindest stirbt sein Leib wie die mythische Figur: Was in
ihm noch lebt, „ist der Klang nur“,18 der sich etwa in jener „Echo-Wirkung“ (DF:
703) der Weheklag wieder äußert, die vielleicht auch für das Klagen von Narziss
und später der Dryaden („planxerunt dryades: plangentibus adsonat Echo“19 ) ste-
hen könnte.20 Die exzessive Liebe zu sich selbst führt zum Tod: Das Einzige,
was von Narziss bleibt, ist eine Blume „foliis medium cingentibus albis“,21 von
Leverkühn bleiben ebenfalls die Blätter der Biographie seines Freundes Zeitblom:

Die Antwort war:


,Oh nein, ich ziehe es vor, die Frage auf sich beruhen zu lassen, und nehme an, er
wüßte mir keinen Bescheid‘.
Es schien, die Schweigestillschen Frauen hielten es ebenso. Auch sie haben, meines
Wissens, niemals das Kind befragt, wie es zu seinen Abendsprüchlein gekommen sei“.
Siehe auch Börnchen: Kryptenhall, S. 296.
16 Vgl. Ovid: Metamorphosen, S. 106 f.
17 Es besteht in der Forschungsliteratur zum Roman auch die Auffassung, dass Leverkühn

das Kind doch liebt und dass dies einen Verstoß gegen das Verbot des Teufels – „Du darfst
nicht lieben“ (DF: 363) – darstellt. Vgl. u. a. von Rohr Scaff, Susan: The Duplicity of the
Devil’s Pact: Intimations of Redemption in Mann’s Doktor Faustus. In: Monatshefte 87
(1995) H. 2, S. 151–169, hier: S. 152. Jedenfalls scheint der „Teufel“ diese Liebe nicht
zu erlauben.
18 Ebd., S. 109.
19 „Auch die Dryaden klagen, es klagt mit den Klagenden Echo“. Ebd., S. 112, V. 507

(Übers. S. 113).
20 Dazu vgl. auch Voß, Torsten: Von der Stimme zur Schrift. Mythologisch-metaphorische

Grundierung eines schmerzhaft-medialen Wechsels: „Philomela“, „Echo“ und ihre Schwes-


tern. In: Text & Kontext: Jahrbuch für germanistische Literaturforschung in Skandinavien
34 (2012), S. 7–33, hier: S. 15.
21 „die mit weißen Blättern umhüllt das Herz ihrer Blüte“. Ebd., V. 510 (Übers. ebd.).
360 11 Echo

Die Gattung der Biographie entspricht dem Topos „vom ,toten Buchstaben‘, der
dennoch das Leben bewahrt“.22
Nun sei der Frage nachgegangen, wie Doktor Faustus – nochmals Börn-
chen zufolge – „seine Musiktheorie mit der impliziten Text- und Zeichentheorie
des Echo-Mythos“23 überblendet: In diesem Fall liegt der Fokus eher auf
musiktheoretisch-bezogenen Aspekten des Romans. Denn Echo ist – vergleichbar
zu Ovids Mythos selbst, der als „Ätiologie der Prosopopöie“24 aufgefasst werden
kann – nicht nur eine Figur von Doktor Faustus, sondern auch Personifikation
des natürlichen Phänomens des Widerhalls. Als Erstes sei hier auf Brinkempers
Definition des Echos in Abgrenzung zur Spiegelung (und teilweise in Anlehnung
an Roland Barthes) verwiesen:25

Das Echo beruht nicht in der Ineinanderspiegelung von Formkomponenten, sondern


auf der scheinbar unveränderten, syntaktisch konstanten und zeitlich versetzten Wie-
derkehr von Motiven und Themen. Die entscheidende transformatorische Differenz
des Echos beruht vor allem auf dem zeitlichen Abstand seines Erklingens und der
räumlichen Tiefenwirkung seines Widerhalls, der zugleich die mediale Brechung,
Umfärbung und Filterung der Produktion und Artikulation der Signifikanten, eine
räumlich-materiale Rauheit indirekt reflektierter Klänge transportiert.

Die Begegnung mit Nepomuk kommt für die Leser*innenschaft nicht völlig
unerwartet, denn sowohl die Figur als auch das Motiv des Widerhalls werden
in früheren Kapiteln mithilfe lexikalischer und semantischer Anspielungen anti-
zipiert. Aus der musikalischen Realisierung des Namens ergibt sich, dass der
Spitzname Echo geradezu das Echo von ,Nepomuk Schneidewein‘ ist. In diesem
Fall hallt nicht das ganze Wort, sondern nur ein Teil davon, wider, was im Fall der
musikalischen Stilisierung des Echos doch nicht unüblich ist (Abbildung 11.1):26

22 Börnchen: Kryptenhall, S. 302.


23 Ebd., S. 308.
24 Ebd., S. 298.
25 Brinkemper, Peter V.: Spiegel & Echo. Intermedialität und Musikphilosophie im „Doktor

Faustus“. Würzburg: Königshausen & Neumann 1997, S. 84. Siehe auch Barthes, R.: Die
Rauheit der Stimme. In: Ders.: Was singt mir, der ich höre in meinem Körper das Lied.
Berlin: Merve 1979 [Paris 1972], S. 19–36.
26 Braun, Werner: Art. Echo. In: MGG Online. Zuerst veröffentlicht 1995, online veröffent-

licht 2016. < https://www.mgg-online.com/mgg/stable/12027 > (letzter Zugriff: 21.08.2020).


Vgl. auch Campbell, Murray u. Mary Térey-Smith: Echo. In: Grove Music Online. Zuerst
veröffentlicht 20.01.2001, online veröffentlicht 2001. < https://doi.org/10.1093/gmo/978156
1592630.article.44237 > (letzter Zugriff: 21.08.2020).
11.1 Echo und das Echo-Motiv 361

Abbildung 11.1 Die musikalische Chiffre Echos.

Das spätere Erscheinen Echos wird außerdem im achten Kapitel angedeutet,


das vom Lehrer Kretzschmar und seinen Vorträgen handelt. So beschreibt der
Organist27 das Arietta-Thema von Beethovens Klaviersonate opus 111:

Das Arietta-Thema, zu Abenteuern und Schicksalen bestimmt, für die es in seiner


idyllischen Unschuld keineswegs geboren scheint, ist ja sogleich auf dem Plan und
spricht sich in sechszehn Takten aus, auf ein Motiv reduzierbar, das am Schluß
seiner ersten Hälfte, einem kurzen, seelenvollen Rufe gleich, hervortritt, – drei Töne
nur, eine Achtel-, eine Sechszehntel- und eine punktierte Viertelnote, nicht anders
skandiert als etwa: „Him-melsblau“ oder: „Lie-besleid“ oder „Leb’-mir wohl“ oder:
„Der-maleinst“ oder „Wie-sengrund“, – und das ist alles.28 (DF: 83; Herv. A. O.)

Die Eigenschaften des Arietta-Themas deuten auf die Figur Echo. Das unschul-
dige Kind ist selber „zu Abenteuern und Schicksalen bestimmt“, für die es
keineswegs geboren scheint: Hier sowie mit der Aussage „Leb’-mir wohl“ wird
auf seinen frühen Tod angespielt.29 Seine vollständige Klangchiffre lässt sich
ebenfalls auf ein dreitöniges Motiv reduzieren, welches der Klangchiffre sei-
nes Spitznamens entspricht und als Echo ebenfalls „einem kurzen, seelenvollen
Rufe“ gleicht.30 Wenn noch Zweifel bestehen, dass hier zugleich auf die Figur
des Kindes und auf Ovids Mythos angespielt wird, so seien noch die Wörter
„Him-melsblau“ (die Augenfarbe des Kindes) und „Lie-besleid“ (die nicht erwi-
derte Liebe der mythischen Echo zu Narziss und die des Kindes zu Leverkühn)
erwähnt. Das Wort „Wiesengrund“ wird in der Forschungsliteratur oft als eine
Karikatur Adornos gesehen, was in der Entstehung des „Doktor Faustus“ eine

27 An dieser Stelle sei außerdem auf die Wichtigkeit des Echos für das Orgelspielen

hingewiesen: Eine wichtige Gattung ist in der Musikgeschichte das Orgel-Echo. Siehe
ebd.
28 Vgl. Bergsten: Untersuchungen, S. 234 ff.
29 Laut Bergsten wird Echo „allmählich zu einem Symbol des Kindes und der unschuldig

leidenden Schöpfung“. Ebd., S. 236. Auch Angela Winkler interpretiert das Sterben Echos
als „Akt der Opferung“, „der den Menschen Erlösung von ihren Sünden bringt“. Winkler:
Das romantische Kind, S. 152. Siehe auch Kaufmann: „Dr. Fausti Weheklag“, ebd.
30 Vgl. auch Börnchen: Kryptenhall, S. 303–306.
362 11 Echo

Bestätigung findet.31 „Wiesengrund“ ist ebenfalls eine explizite intramediale Ein-


zelreferenz auf die Ausführungen Adornos zu Beethoven und speziell auch zum
musikalischen Echo, wie dies auch bei der Weheklag der Fall ist.32
Betrachtet man die Noten von Beethovens Klaviersonate, so wird man fest-
stellen müssen, dass die Töne, aus denen die Klangchiffre Echos besteht (e c h)
mehrfach auftauchen (Abbildung 11.2):

Abbildung 11.2 Auszug aus Beethovens Klaviersonate opus 111

Wird das Kind Echo als Prosopopöie des Klangphänomens aufgefasst, so


entsteht aus Ovids zweiteiliger Struktur (die mythische Figur Echo wird zum
Klang) eine dreiteilige Struktur (der Klang wird zum Kind, das dann wieder zum
Klang wird). Der Mythos muss aber durch die Figur von Narziss komplettiert
werden, der, wie bereits gesagt, Adrian Leverkühn sein könnte. Prosopoietisch
steht der Komponist zugleich auch für die Neue Musik, so wie Echo nicht
eine beliebige Echo-Wirkung, sondern die Echo-Wirkung der Renaissance- und
Barockmusik (und speziell von Monteverdis Musik) verkörpern könnte, wie die
Leser*innenschaft durch die Beschreibung der einzigen zwölftönigen Komposi-
tion Leverkühns erfährt. Wieso ausgerechnet die Neue Musik als narzisstisch
dargestellt wird, erklärt ein weiterer Blick in Adornos Schriften. Ein Beispiel
unter vielen für jenen Selbstzweck der Neuen Musik ist das folgende:

Die Zwölftonmusik hat ein Moment von streamline. In der Realität soll die Technik
Zwecken dienen, die jenseits ihres eigenen Zusammenhangs liegen. Hier, wo solche
Zwecke entfallen, wird sie zum Selbstzweck und surrogiert die substantielle Einheit
des Kunstwerks durch eine bloße des „Aufgehens“. (PhnM: 70)

Die Frage wäre berechtigt, ob nicht nur im Fall der Dodekaphonie aufgrund die-
ser Selbstreferentialität der Musik eine Assoziation zum Narzissmus nahe liegt;

31 Vgl. 6.1.1.
32 Vgl. Kapitel 5.
11.1 Echo und das Echo-Motiv 363

jedenfalls sieht Adorno hier als prägendes Merkmal die Tatsache, dass sie keine
anderen Zwecke als die technisch-musikalischen erfüllen kann bzw. zu erfüllen
beabsichtigt. Folglich erscheint die Neue Musik in Adornos Musikphilosophie als
narzisstisch.33
So wie das Kind Echo Einblick nimmt in die Skizzenbücher Leverkühns, so
versucht auch das Klangphänomen des Echos sich in die Weheklag, sprich: in die
Zwölftontechnik, zu integrieren und zeigt somit seine „Einsamkeit“ (PhnM: 48),
sprich: seine Selbstreferentialität:

Das Echo, das Zurückgeben des Menschenlautes als Naturlaut und seine Enthüllung
als Naturlaut, ist wesentlich Klage, das wehmutsvolle „Ach, ja!“ der Natur über den
Menschen und die versuchende Kundgebung seiner Einsamkeit, – wie umgekehrt
die Nymphen-Klage ihrerseits dem Echo verwandt ist. In Leverkühns letzter und
höchster Schöpfung aber ist dieses Lieblingsdessin [sic] des Barock, das Echo,
oftmals mit unsäglich schwermütiger Wirkung verwendet. (DF: 703f.; Herv. i. O.)

Diese widerhallende Klage spiegelt also, da Widerhall und Widerschein ver-


wandte Begriffspaare sind,34 den narzisstischen Charakter der Neuen Musik
wider: Im obigen Zitat aus der Philosophie der Neuen Musik wird auch die
Dodekaphonie als Kompositionstechnik porträtiert, die zwar – wie der mythische
Narziss – beabsichtigt, Zwecken außerhalb sich selbst zu dienen, im Endeffekt
doch nur Selbstzwecke erfüllt.35 Dies führt zum metaphorischen „Tod“ der Neuen
Musik, wofür jenes g eines Cello am Ende der Weheklag steht, das dann zu
einem – so Zeitblom – „nachschwingend im Schweigen hängende[n] Ton“ (DF:
711) wird, der dann „denn Sinn“ (ebd.) wandelt und sich im schriftlich fixierten
Text in ein „Licht in der Nacht“ (ebd.) transformiert, was wieder die Affinität von
Spiegel- und Echo-Effekten bestätigt; dieser Ton bleibt aber im Akt des Vorlesens
des Textes als Klang (die Ach-Echos mit der Stimme) erhalten.36 Jenes g des
Cello ist selbst ein Echo der dreitönigen motivischen Struktur des Arietta-Satzes
(c g g/d g g in den ersten Takten), das sich dementsprechend über die zeiträum-
liche Ebene (zumindest) der intradiegetischen Narration erstreckt:37 Der erneute

33 Dazu siehe auch Börnchen: Kryptenhall, S. 305 f.


34 Siehe etwa Schulze, Sebastian: Metamorphosen des Echos. Lektüren der gehörten
Stimme in Barock, Romantik und Gegenwart. Paderborn: Fink 2015, S. 79; Brinkemper:
Spiegel & Echo, ebd.
35 Brinkemper widmet sich außerdem in seiner Studie jener vertikalen und horizontalen

Spiegelung in der Zwölftontechnik. Siehe Brinkemper: Spiegel & Echo, S. 82 f.


36 Vgl. 5.1.2.
37 Zu den zeitlichen und räumlichen Aspekten des Echos vgl. Brinkemper: Spiegel & Echo,

S. 84.
364 11 Echo

Blick in das obige Notenbeispiel aus Beethovens Klaviersonate zeigt eine gewisse
Insistenz auf den Ton g, der nicht nur in den ersten Takten die dreitönige, motivi-
sche Struktur beschließt, sondern in der dritten Stimme wiederholt zu finden ist.
Die Beschreibung der Weheklag durch Zeitblom kann zudem für ein Echo (und
auch für eine Spiegelung) der Beschreibung von Beethovens Arietta-Satz durch
Kretzschmar gehalten werden:

[…] – und das ist alles. (DF: 83) Dann ist nichts mehr, – […] (DF: 711)

Diese Struktur aus Echo und Spiegelung lässt sich sowohl aus typografischer –
was auch an der Position der Gedankenstriche zu erkennen ist – als auch aus
struktureller und semantischer Sicht konstatieren: Ein Echo ist, so Börnchen, „eine
nie identische Wiederholung“,38 beide Sätze drücken eine sehr ähnliche Bedeu-
tung aus und befinden sich am Ende einer Beschreibung des jeweiligen Stückes,
die kurz vor den hier erwähnten Sätzen ins Detail geht und sogar Motive und
Töne explizit erwähnt. Beide Sätze bestehen aus vier kurzen Wörtern, die in einem
ähnlichen Tempo vorgelesen werden.
Zudem komme die Sonate laut Kretzschmar auch bei Beethoven zu einem als
irreversibel dargestellten Ende: „Die Sonate“ (DF: 85), so der Musiklehrer im
Roman, „selber sei hier zu Ende, ans Ende geführt, sie habe ihr Schicksal erfüllt,
ihr Ziel erreicht, über das hinaus es nicht gehe, sie hebe und löse sich auf, sie
nehme Abschied“ (ebd.). Demnach fehlt der Sonate ein außerhalb ihrer selbst
liegendes Ziel: Auch Beethovens Sonate profiliert sich in Kretzschmars Vorträgen
als narzisstisch, was sie wie die Weheklag zum Verzicht auf einen dritten Satz
und folglich zum Verstummen führt. Dieses Verstummen wird auch dort, also
im proposta-Teil dieser Echo-Struktur, eben durch das Echo überwunden: Die
Zuhörer*innen verlassen am Ende des Vortrags das Haus und – so Zeitblom im
Roman

noch längere Zeit hörte man aus entfernteren Gassen, in die die Zuhörer sich
zerstreuten, nächtlich stillen und widerhallenden Gassen der Kleinstadt, das
„Leb’-mir-wohl“, „Leb’-mir-ewig-wohl“, „Groß – war Gott in uns“ echohaft
herüberschallen. – (DF: 86)

Als letztes Element dieser Analyse ausgewählter Echos von Doktor Faustus sei
an dieser Stelle erwähnt, dass das Kind Echo, Prosopopöie des Widerhalls, beim
Sprechen selbst Echos produziert:

38 Börnchen: Kryptenhall, S. 303.


11.1 Echo und das Echo-Motiv 365

Echo freute sich wohl über diese Gaben, sagte aber doch bald „’habt“, wenn er
damit gespielt hatte, und zog es bei Weitem vor, wenn der Onkel ihm die Gegen-
stände seines eigenen Gebrauches zeigte und erklärte – immer dieselben und immer
aufs neue, denn Beharrlichkeit und Wiederholungsverlangen der Kinder sind groß
in Dingen der Unterhaltung. (DF: 679 f.)

Dieses „’habt“ des Kindes ist Echo seiner Gedanken und könnte zum Beispiel
als risposta von „genug gehabt“ stehen. Ein Gegenstand, mit dem das Kind
gerne spielt, ist auch die „Spieldose“ (DF: 680), die ihm Zeitblom geschenkt
hat und die drei „Biedermeier-Melodien“ (ebd.) spielt, „denen Echo in immer
gleichem Gebanntsein lauschte“ (ebd.). So entsteht ein Zusammenhang zwischen
dem Kind, der Personifikation des Widerhalls, und der Musik. Dieses Spielen
geschieht – so die Erzählinstanz im vorigen Zitat – mit einem gewissen Verlan-
gen nach Wiederholung, das nicht nur typisch für Kinder ist, wie Freud in der im
Esmeralda-Kapitel erwähnten Schrift Jenseits des Lustprinzips bemerkt,39 sondern
auch den Widerhall selbst ausmacht.

11.1.2 Systemkontaminationen

Die Behandlung der Echos des Romans öffnet die Tür zu vielfältigen interdiszipli-
nären Reflexionen, denn das Phänomen kann sowohl in der Natur als auch in der
Literatur und in der Musik beobachtet werden, und ist dementsprechend durchaus
als transmediales Motiv zu werten.40 Wendet man aber eine eher in die Katego-
rie der Intermedialität fallende Perspektive an, und zieht man folglich die in der
Beschreibung der Weheklag angesprochene barocke Echo-Wirkung in Betracht, so
kann man einige Schlussfolgerungen ziehen, die sich auf den gesamten Roman
beziehen. Gleichzeitig können einige im Laufe der Studie behandelten Aspekte
bereits hier vor dem Schlusskapitel resümiert und weiterentwickelt werden. Zu
diesem Zweck sei auf die Kategorie der intermedialen Systemkontamination
rekurriert. Zweifelsohne ist Doktor Faustus vom musikalischen System geprägt,

39 SieheFreud: Jenseits des Lustprinzips, S. 33.


40 Auch aus diesem Grund sind Echo und Esmeralda als Figuren verwandt: Im drit-
ten Kapitel von Doktor Faustus werden nicht nur Tiere wie Schmetterlinge, Muscheln
und Schnecken, sondern auch Naturphänomene beschrieben. Zwar wird das Echo nicht
erwähnt, es ist aber naheliegend eine Assoziation zu jenen dort geschilderten, zum Teil
auch musikbezogenen Naturphänomenen, die zusammen mit weiteren Aspekten (z. B.
der Transparenz) die beiden Figuren ähnlich erscheinen lassen. Siehe auch Börnchen:
Kryptenhall, S. 316 u. Schulze: Metamorphosen des Echos, S. 76.
366 11 Echo

was jedoch eine sehr allgemeine Beobachtung ist. Genauer betrachtet ist das spe-
zifische musikalische System, dessen Regeln bzw. Prinzipien in das Medium der
fiktionalen Schrift übertragen werden, nicht nur das der Zwölftontechnik, wie
viele Publikationen hervorheben.41 Vielmehr ist für die Bedeutungskonstitution
des Romans das System der Renaissance- und Barockmusik, da in jener Zeit
die meisten Kompositionen für Viola d’amore geschrieben wurden, sehr wich-
tig. Mit diesem Musiksystem ist die Erzählinstanz sehr vertraut. Die ständige
Beschreibung der Kompositionen Leverkühns, die sich in andere Musiksysteme
bzw. -tendenzen (z. B.: Spätromantik, Expressionismus, Neue Musik) einordnen
lassen, führt dazu, dass man das Musiksystem, mit dem sich Zeitblom gut aus-
kennt, übersieht.42 Tatsächlich aber häufen sich im Text die Systemerwähnungen,
die auf die Musik der Renaissance und des Barocks verweisen. Es handelt sich
dabei zum großen Teil um eine Systemkontamination, die sich dem Typ ,qua
Translation‘ zuordnen lässt: Regeln und Prinzipien der Barockmusik, wie die
Scordatura und die musikspezifische Echo-Wirkung, werden auf den Romantext
von Thomas Manns Doktor Faustus übertragen. Zum Teil lässt sich die Art der
Systemkontamination auch als teilaktualisierend begreifen, besonders bezüglich
medienunspezifischer bzw. medial deckungsgleicher Elemente wie des Echos und
der Echo-Wirkung, die nicht nur in der barocken Musik, sondern auch in der
barocken Lyrik zu finden sind.43 Die Interdependenz beider Systeme, das der
Neuen Musik und das der Barockmusik, die die Erzählinstanz oft betont,44 wird
im Roman auch diskursiv hergestellt, d. h. sowohl auf der Ebene des Was als auch
auf der Ebene des Wie des Erzählens.
In diesem Abschnitt wurden schon viele Beispiele aufgezählt, wo und wie
das Echo-Motiv und die Echo-Wirkung im Roman dargestellt werden; dazu sei
ergänzt, dass die Figur Echo in zwei Kapiteln auftritt, die ebenfalls eine zwei-
teilige, dialogische Struktur vergleichbar zu der des Typs ,proposta – risposta‘
vieler Kompositionen, die auf Echo-Strukturen beruhen, aufweist.45 Zugleich

41 Siehe z. B. Brinkemper: Spiegel & Echo; Valk: Literarische Musikästhetik, S. 299–442.


42 Die Frage wäre legitim, ob Zeitbloms Nähe zu seinem Freund ausreicht, um sich nicht
nur über ein komplexes System wie die Komposition mit zwölf aufeinander bezogenen
Tönen zu äußern, sondern dies auch in seiner Narration simulieren bzw. reproduzieren zu
können. Vielleicht lässt sich die Frage nur unter Berücksichtigung der Kategorie des*der
(impliziten) Autor*in beantworten. Vgl. 7.1.2.
43 Siehe Schulze: Metamorphosen des Echos, S. 113–124.
44 Vgl. z. B. DF: 403: „so unecht und steril muß die Liebe zum Alten bleiben,

wenn man sich dem Neuen verschließt, das mit geschichtlicher Notwendigkeit daraus
hervorgegangen“.
45 Siehe Braun: Echo, ebd.
11.1 Echo und das Echo-Motiv 367

erlauben die Kapitel auch eine Verknüpfung zur Terrassendynamik des Barocks,
denn, wenn das erste Kapitel sich tatsächlich einem „Allegretto moderato“ nähern
soll, wie Bruno Walter Thomas Mann in einem Brief empfiehlt,46 so kann das
für das zweite Kapitel, das von Echos Tod handelt, schwer behauptet werden:
Eine fröhlich-wirkende Dynamik dominiert das erste Kapitel, während das zweite
eher von einer dramatisch-wirkenden geprägt scheint. Des Weiteren lassen sich
die Echo-Kapitel auch als Antwort auf das achte Kapitel mit seiner Darstellung
der Vorträge Kretzschmars und speziell des Vortrags zu Beethovens Klavierso-
nate opus 111 begreifen.47 Echoeffekte sind insbesondere in Kompositionen, die
zwischen 1550 und 1750 ca. entstanden sind, zu finden (sowohl in vokalen als
auch in instrumentalen Werken), ab 1800 werden sie deutlich weniger benutzt.48
Der Viola d’amore-Spieler kennt sich mit diesem Repertoire aus;49 des Weite-
ren spielt er ein Instrument, das von sich selbst ständig kraft der Resonanzsaite
einen dem Echo verwandten Klangeffekt erzeugt. Auch in dieser Hinsicht werden
einige Techniken und Mechanismen des Spielens der Viola d’amore narrativ simu-
liert. Ausgehend von der Überlieferung des Mythos bei Ovid,50 kristallisiert sich
aus intra, inter- und transmedialer Perspektive die Vielschichtigkeit der Behand-
lung des Echo-Mythos und des Echo-Motivs in Doktor Faustus heraus, die sich
nicht nur auf die Figur des Kindes beschränkt, sondern auch zur Simulation der
barocken Echo-Wirkung im Textmodus führt.

46 Vgl. Ent: 25: „Ein Brief an Bruno Walter nach New York fiel in diese Zeit, […] voll
von Geschichten und Anekdoten aus dem Zusammenleben mit dem reizenden Kind. Seine
Antwort bekundete freudiges Interesse an dem Plan eines ,Musiker-Romans‘ […], und
schloß ein, was ich, ich weiß nicht mit welchen Gefühlen, ,eine bemerkenswerte Anregung‘
nannte, nämlich den Vorschlag, Frido solle darin eine Rolle spielen – er denke sich die
Episode als ein ,Allegretto moderato‘“.
47 Auch ein Kanon beruht auf Echos, daher könnte man auch wohl der Meinung sein, dass

das Echo-Motiv bereits mit der Erwähnung des Singens von Kanons durch die Stallmagd
Hanne in den Roman eingeführt wird.
48 Braun: Echo, ebd.
49 Siehe z. B. DF: 402: Dort erzählt Zeitblom davon, was er vor einer geschlossenen

Gesellschaft gespielt hat, darunter „eine[] Chaconne oder Sarabande aus dem 17ten Jahr-
hundert, einem ,Plaisir d’Amour‘ aus dem 18ten […] oder […] eine Sonate von Ariosti,
dem Freunde Händels, oder eines der von Haydn für die Viola di Bordone geschriebenen,
aber auf der Viola d’amore wohl spielbaren Stücke“.
50 Auf die Metamorphosen könnte auch das folgende Zitat aus der Beschreibung der Wehe-

klag anspielen: „Orpheische Klage-Akzente sind leise erinnert, die Faust und Orpheus
zu Brüdern machen als Beschwörer des Schattenreichs […]“ (DF: 707). Siehe Ovid:
Metamorphosen, Liber X, S. 478–527.
368 11 Echo

11.2 Vom Roman zur Musik

Im vorliegenden Abschnitt sollen drei Kompositionen analysiert werden: das Echo


gewidmete Stück aus Fine Four pieces from „Doktor Faustus“, der zweite Satz
aus Henzes Violinkonzert und einige Bilder aus Manzonis Oper. Wie in den rest-
lichen Kapiteln dieses dritten Teils liegt der Fokus auf der Charakterisierung der
Figur des Kindes mit den Mitteln der instrumentalen Musik und der Oper. Zudem
steht die Stilisierung des Echo-Phänomens im Medium der Musik im Zentrum.

11.2.1 Echohafte Resonanzen der Viola d’amore: Elaine Fines


„Echo“

Echo ist das vierte und letzte Stück von Elaine Fines Four pieces from „Doktor
Faustus“ und dauert etwa drei Minuten. Die Komponistin beschreibt das Stück
folgendermaßen:51

Echo is a play on words in a way. The viola d’amore generates a strange kind of
echo because of the sympathetic strings. It is most prominent on the open A string,
because you have three bowed A strings resonating with it, and then you have four
sympathetic strings buzzing along. The open F string is also very resonant, and the
parallel fourths (the viola d’amore is tuned in fourths) give it a far-away feeling.
Poor Echo.

Die Komponistin unterstreicht hier, was im vorigen Abschnitt bereits betont


wurde, nämlich die echohaften Resonanzmöglichkeiten des Instruments. Dieser
Effekt wird im Stück durch das Beharren auf der oben angesprochenen Saite A
sowie durch das in der Komposition realisierte Echo hervorgehoben, was bereits
die ersten Takte des Stückes deutlich zeigen (Abbildung 11.3):
Echo ist eine Art Kinderlied: Sich wiederholende, fröhlich wirkende Elemente,
wie in den pizzicato zu spielenden Takten 11 und 12, und traurig wirkende Inter-
valle, wie im Takt 9, alternieren; somit werden im Medium der instrumentalen
Musik einerseits die Heiterkeit und Lieblichkeit des Kindes, das „etwas wie
Glückseligkeit, eine beständige heitere und zärtliche Erwärmung der Herzen“
(DF: 671) nach Pfeiffering bringt, andererseits seine und Leverkühns Verzweif-
lung im Moment der Krankheit evoziert. Es wird hier der Versuch gewagt, sowohl
Emotionen und Charaktereigenschaften des Kindes als auch inhaltliche Mikrofor-
men der Echo-Kapitel, seine Ankunft in Pfeiffering, seine Krankheit, sein Tod,

51 E-Mail an die Verfasserin (02.07.2013).


11.2 Vom Roman zur Musik 369

Abbildung 11.3 Der Anfang des Stückes (S. 16)

allerdings nicht in zwei Stücken oder in zwei Sätzen, sondern in zusammen-


gefasster Form in einem einzigen Stück zu evozieren bzw. auch teilweise zu
reproduzieren.
Des Weiteren könnte sich dieser Kinderlied-Charakter des Stückes sowohl auf
das Alter der dort dargestellten Figur als auch auf die Musikstunden des Kindes
mit dem Onkel beziehen: Nepomuk – so Zeitblom im Roman – „durfte ,Ein-
blick‘ nehmen in die Partiturskizze von Ariels Liedern aus dem ,Tempest‘, an
denen Leverkühn damals heimlich arbeitete“ (DF: 681). Diese fiktive Kompo-
sition scheint für ein jüngeres Publikum gedacht zu sein und könnte für eine
Fortsetzung des Stils der Gesta gehalten werden: „Echo wollte immer wieder
in den Noten die Stellen sehen, wo der Hund ,Bowgh, wowgh‘ und der Hahn
,Cock-a-doodle-doo‘ macht“ (ebd.). Nach dem Tod des Kindes aber wird die-
ses Werk nicht mehr erwähnt: Sehr wahrscheinlich wird es zusammen mit der
Neunten Symphonie und der Botschaft des Kindes zurückgezogen. Shakespeares
Werk gehört zu den intramedialen Bezügen des Romans52 und auch einige Trans-
positionen transferieren diese Referenz:53 Bei Fine wird sie lediglich durch den
Kinderspiel-Charakter der Komposition in Erinnerung gerufen.
Schließlich ist die Angabe „Moderato“ zu Beginn des Stückes relevant: Der
„Allegro moderato“-Charakter der Echo-Episode, den Bruno Walter Thomas

52 Zur Rezeption des Werkes von Shakespeare in Doktor Faustus sei hier auf: Cerf, Steven
R.: Thomas Mann, England, and English Literature: The Role of Britain and English
Literature in the Writings of Thomas Mann. Yale University 1975, S. 156–226 verwiesen.
53 Besonders wichtig ist dieser Bezug in Manzonis Oper: vgl. 5.2.1.2 u. 11.2.3.
370 11 Echo

Mann vorgeschlagen hat und den man im Roman mit dem ersten Kapitel in Ver-
bindung bringen könnte, dominiert die Komposition, allerdings nur in reduzierter
Form als langsameres und weniger fröhlich-wirkendes „Moderato“. In Fines Stück
verliert folglich das Pathos am Ende des zweiten Echo-Kapitels, das in dem „es
soll nicht sein“ (DF: 692; Herv. i. O.) gipfelt, zum Teil an Bedeutung, während
sowohl die Charaktereigenschaften des Kindes als auch die Echo-Wirkungen des
Romans mit musikalischen Mitteln (teil-)reproduziert werden.

11.2.2 Nachhall, Montage und Kinderlieder: Henzes Das Kind


Echo

Der zweite Satz von Hans Werner Henzes Violinkonzert ist Echo gewidmet
und dauert gut acht Minuten. In der instrumentalen Komposition wird die
Echo-Episode mit großer Genauigkeit erzählt: In derselben chronologischen Rei-
henfolge wie im Roman beinhaltet Henzes Satz alle wichtigen inhaltlichen
Mikroformen von Doktor Faustus.
Zunächst sei hier auf den Titel hingewiesen, und zwar auf die Ergänzung „[d]as
Kind“ (VK: 22). Diese könnte als Versuch interpretiert werden, ein sprachliches
Missverständnis im Medium der Musik zu vermeiden, denn nicht selten werden
dort musikalische Echo-Strukturen eben von der Angabe „Echo“ angeleitet;54
folglich wäre der Titel ohne Ergänzung kein eindeutiger Verweis auf die Figur
des Kindes in Thomas Manns Roman. Eine gewisse Beeinflussung hinsichtlich
der Entwicklung von Sympathie für die Figuren des Romans lässt sich auch im
dritten Satz des Konzerts feststellen, der – vergleichbar zu Manzonis „Adrian“
– nicht den Titel „Rudolf Schwerdtfeger“, sondern den Titel „Rudi S.“ (VK: 45)
trägt: Die Ergänzung „Das Kind“ in diesem Satz stellt die Unschuld des Kindes
sofort in den Vordergrund und evoziert Sympathie.
Der Satz beginnt mit gedämpften Klängen der Violine solo und macht
dann im Orchesterverlauf sichtbar, dass hier wie bei Fine musikalisch mit dem
Klangphänomen des Widerhalls gespielt wird (Abbildung 11.4):55
Das Kind Echo zeigt eine ständige Alternanz von zarten Passagen, die für
das Kind stehen, und erregteren Tutti-Teilen, die vom Schicksal erzählen, das –
so Timo Sorg – „über ihn hereinbricht“.56 Diese Momente unterscheiden sich

54 Siehe z. B. das Notenbeispiel aus de’ Cavalieris Rappresentatione di anima, et di corpo

in Braun: Echo, ebd.


55 Vgl. Sorg: Beziehungszauber, S. 275.
56 Ebd., S. 278.
11.2 Vom Roman zur Musik 371

Abbildung 11.4 Der Beginn des Satzes (VK: 22)

auch hinsichtlich der Besetzung: In den Echo-Passagen findet man beispielsweise


die Celesta, in den erregteren die Trommel, die kleine und die große, die den
entsprechenden Abschnitten einen Marschcharakter, quasi den Eindruck von Mili-
tärmusik, verleiht.57 Nur am Ende spielt die Violine solo auch im Tutti-Teil, in
der restlichen Komposition ist sie an solchen Stellen nicht zu hören, was Timo
Sorg folgendermaßen interpretiert:58

Offenbar musizieren die Solovioline und das Orchester nicht gemeinsam, sondern
stellen getrennte musikalische Welten dar, so wie die unschuldige, reine Welt Nepo-
muks der teuflischen Leverkühns gegenübersteht, die aber schließlich über jene
hereinbricht.

Der narzisstische Leverkühn, der nicht in der Lage ist, das Kind zu lieben und
selten Zeit mit ihm verbringt, wird hier durch das getrennte Musizieren von
Orchester und Violine solo deutlich hervorgehoben; diese Beobachtung sei durch
den Hinweis ergänzt, dass im Violinkonzert Leverkühn kein Satz explizit gewid-
met wird. Henzes Komposition konzentriert sich auf Figuren, die Leverkühn
zunächst geliebt haben und ihm dann zum Opfer gefallen sind: Esmeralda ist

57 Siehe auch ebd.


58 Ebd., S. 279.
372 11 Echo

Opfer von Leverkühns narzisstischem Sexualtrieb, Echo Opfer seiner Unfähig-


keit zu lieben und Schwerdtfegers Mord soll nach Auffassung des Autors „ein
prämeditierter, vom Teufel verlangter Mord“ (Ent: 31) sein, der nicht von Ines
Rodde, sondern von Leverkühn verübt wird. Im Vergleich zum dritten Satz, wo
die Violine solo auch mit Rudolf Schwerdtfeger, dem Geiger, verbunden werden
könnte, betont Schmierer bezüglich dieses Satzes, dass sie Leverkühn musikalisch
repräsentiert.59 Die gedämpften Töne der Violine solo, zusammen mit der Angabe
„Adagio“, versuchen, die Atmosphäre zu Beginn der Echo-Episode zu reprodu-
zieren. Darüber hinaus wird hier wie auch bei Fine die Affinität von Widerhall
und Nachhall hervorgehoben, denn der Nachhall war in der Renaissance- und
Barockmusik Braun zufolge auch „durch Dämpfung zu erzielen“.60
Auf die „Cadenza“ (VK: 31) – diesmal ohne Dämpfer zu spielen – folgt ein
sogenanntes „Kinderlied“ (VK: 32): Der Rückgriff auf Musikformen für das jün-
gere Publikum stellt eine Konstante der hier präsentierten Kompositionen dar.
Sorg weist darauf hin, dass das Kinderlied nicht auf einer echten Kindermelodie
basiert, sondern auf J. S. Bachs Präludium XXII in b-Moll aus dem zweiten Band
des Wohltemperierten Klaviers:61 Dadurch wird auf die Blütezeit musikalischer
Echo-Effekte und Echo-Gedichte angespielt.
Der darauf folgende Musikabschnitt wird als „Lentino dolcissimo“ (VK: 33),
„kleiner langsamer und sehr süßer Satz“ bezeichnet: Auch die paratextuellen
Angaben werden der oft Diminutive verwendenden Kindersprache angepasst.
Unklar ist hier der Handlungsbezug. Da auf diesen Teil eine Kadenz der Vio-
line solo mit dem Titel „Große Klage I“ folgt, könnte man vermuten, dass hier
von Echos Krankheit erzählt oder dass diese hier geschildert wird: Die Heiterkeit
des Kindes wird durch die Krankheit geschwächt, daher die Angabe „Lentino“.
Gleichwohl könnte man einwenden, dass diese These durch die Ergänzung „dol-
cissimo“ und die Beobachtung, dass auch der erste Teil kein schnelles Tempo hat,
nicht haltbar ist. Die Vagheit des Erzählens im Medium der instrumentalen Musik
bzw. ihre Selbstreferentialität lässt sich hier nicht umgehen. Nach einem neuen
Tutti-Teil kommt die zweite Kadenz der Violine solo, die allerdings – wie schon

59 Siehe Schmierer: Musik als Sprache, S. 298.


60 Braun: Echo, ebd.
61 Vgl. Sorg: Beziehungszauber, S. 276. In seiner Autobiographie betrachtet Henze die

Musik Bachs als seine musikalische Kindheit: „Die Bachsche Musik war für mich so
etwas wie ein Licht in der Düsternis meiner Gegenwart, das sie mit feierlichem Ernst,
aber auch mit Optimismus versah; es war das Gerechte und das Wahrhaftige, das Richtige
und das Tröstende, das Heilbringende“. Henze: Reiselieder, S. 25. Des Weiteren setzte
sich der Komponist in seiner Produktion auch mit dem jüngeren Publikum auseinander,
wie an der Kinderoper Pollicino (Montepulciano, 1980) abzulesen ist.
11.2 Vom Roman zur Musik 373

angedeutet – nicht als solche, sondern als „Große Klage I“ (VK: 38) bezeichnet
wird. Sorg ist der Auffassung, die explizite Bezeichnung ,Kadenz‘ fehle, weil sie
mehr im expressiven als im virtuosen Sinne konzipiert sei: Diese Kadenz nähert
sich einer Opernarie, die in der Regel die Handlung nicht vorantreibt, weil sie
den Emotionen der Figuren einen Ehrenplatz zuweist. Hauptziel dieser Kadenz
scheint eher die Vermittlung von Gefühlen als das Zeigen von Virtuosität zu sein:
Sorg zufolge korrespondiert sie mit dem Klagen Echos vor seinem Tod, der –
wenn man davon ausgeht, dass die Geige für den fiktiven Komponisten steht
– durch Leverkühn in der Musik mitgeteilt wird.62 Die Kadenz soll „con furo-
re“, „wütend“ (VK: ebd.) gespielt werden und erinnert somit an jenes Klagen
Echos, das „das Herz zerreiß[t]“ (DF: 692) an seine Konvulsionen, an sein Zäh-
neknirschen, das laut Zeitblom „einen Eindruck von Besessenheit verleiht“ (ebd.).
Nach der „Große[n] Klage II“ (VK: 39), die sich als Leverkühns risposta auf die
erste Klage begreifen lässt – nicht zuletzt, weil sie ebenfalls drei Zeilen umfasst –
nimmt auch das solistische Instrument an der erregten Tutti-Passage teil, als wolle
Leverkühn das erbarmungslose Schicksal beschimpfen. Der Satz schließt mit einer
langen Note der Streicher von ppp „al niente“, „zum Nichts“ (VK: 44) sehr leise
zu spielen (die Anweisung lautet „sul tasto“, also auf dem Griffbrett) mit einem
Nachhall-Effekt.
Wie bei dem Esmeralda-Satz des Konzerts lässt sich hier (und auch in Dok-
tor Faustus) ebenfalls ein ,Montage-Prinzip‘ erkennen: Jeder Satz besteht aus
verschiedenen Abschnitten, denen unterschiedliche Musikformen zugeschrieben
werden, in diesem zweiten Satz z. B. das Kinderlied und die Klagen und im ersten
Esmeralda gewidmeten Satz das Wienerlied und der Tango. Henzes Violinkonzert
(teil-)reproduziert Erzähltechniken von Thomas Manns Roman im Medium der
instrumentalen Musik: Verschiedene Mikroformen der Vorlage tauchen in diesem
Satz und im gesamten Konzert auf.

11.2.3 Cluster und off-stage-Echos: Echo in Manzonis Oper

Die Figur Echo findet man im zweiten Akt von Giacomo Manzonis Doktor
Faustus (im ersten, zweiten und vierten Bild) sowie im dritten Akt bei der musi-
kalischen Schilderung der Abschiedsrede Leverkühns, in der man die Stimme
des Kindes hinter der Bühne hört. Die Echo-Kapitel werden bei Manzoni fast
vollständig vertont: Nepomuk spielt in der Oper eine bedeutende Rolle.

62 Siehe Sorg: Beziehungszauber, S. 281.


374 11 Echo

Im ersten Echo gewidmeten Bild warten viele Leute auf die Ankunft des Kin-
des. Die idyllisch-wirkende Landschaft sowie die „musica dietro il sipario“, die
Musik hinter dem Vorhang (M-DF: 107), vermitteln den Eindruck, dass ein über-
irdisches Wesen erscheinen wird. Das Kind springt dann, was seine anfängliche
Lebendigkeit betont, über die Bühne. Versace kleidet es mit volkstümlicher, baye-
rischer Kleidung ein, die sich von Zeitbloms Beschreibung im Roman distanziert.
Dort trägt Echo „ein weißbaumwollenes Hemd-Jäckchen mit kurzen Ärmeln,
ganz kurze Leinenhöschen und ausgetretene Lederschuhe“, DF: 667). Durch die
Kleidung wird folglich die Vagheit in den Raumangaben der Oper überwunden
(Abbildung 11.5):
Echo spricht gleich danach von sich selbst in der dritten Person Singular wie
im Roman: „A Echo non pare che è bene rimanere qui fuori. E’ meglio entrare a
salutare lo zio“ (M-DF: 109 f., T. 28–32).63 Dadurch erscheint Nepomuk als ein
extrem diszipliniertes Kind, das sich bereits einer komplizierten Sprache bedient.
Nachdem Leverkühn seine Freude über die Ankunft Echos geäußert hat, singt
er: „Allora possiamo cominciare“, „Dann können wir beginnen“ (M-DF: 110,
T. 35 f.). In der Uraufführung wird der Eindruck vermittelt, als hätte Adrian
Leverkühn auf den „Elfenprinz“ (DF: 676) gewartet, um mit dem Komponieren
der Tempest-Vertonung zu beginnen. Diese behält viele Eigenschaften der Skizze
Leverkühns bei, etwa die Besetzung „für Sopran, Celesta, sordinierte Geige, eine
Oboe, eine gedämpfte Trompete und die Flageolett-Töne der Harfe“ (DF: 681),
auch werden der originale Text auf Englisch sowie die lustigen Stellen, die Echo
amüsieren, übernommen.64 Das „Bowgh, wowgh“ (DF: 681) des Hundes und
das „Cock-a-doodle-doo“ (ebd.) des Hahns – in der Oper mit „Chicchirichì“
(M-DF: 114, T. 81) ausgedrückt – ergänzt Manzonis Oper durch den Glocken-
klang „din don“ (M-DF: 113). Es soll hier auf eine Melodie Purcells aus The
Tempest angespielt werden,65 die aber laut Sorg „ziemlich unkenntlich“66 bleibt:
So soll Manzonis Werk „parallel dazu seine Ideen einer neuen Musiksprache“67
präsentieren, welche „die Musikgeschichte in sich aufnimmt und auf ihre Weise
weiterschreibt“.68 Die Musikgeschichte, die Manzonis Doktor Faustus in sich auf-
nimmt, ist insbesondere – wie bereits im sechsten Kapitel zum „Teufel“ gezeigt

63 Vgl. DF: 669: „Echo dünkt es nicht wohlanständig, länger noch außer Dach zu bleiben.

Es ziemt sich, daß er ins Hüsli geht, den Oheim zu grüßen“.


64 Vgl. Sorg: Beziehungszauber: S. 221.
65 Siehe Manzoni: Parole per musica, S. 82.
66 Sorg: Beziehungszauber, S. 222.
67 Ebd., S. 215.
68 Ebd.
11.2 Vom Roman zur Musik 375

Abbildung 11.5 Die


Skizze Versaces für das
Kostüm Echos
(Programmheft S. 63). Mit
freundlicher Genehmigung
der Fondazione Teatro alla
Scala, Mailand
376 11 Echo

werden konnte – die der italienischen Oper. Das Werk greift etwa auf Stimm-
typen und gender troubles der italienischen opera buffa zurück, stellt Fitelberg
als typischen Impresario dar und verstärkt hier den im Roman bereits vorhande-
nen Bezug auf Shakespeares Schaffen, womit indirekt auf die große Rolle der
Texte Shakespeares etwa im Werk Giuseppe Verdis verwiesen wird.69 Das Ver-
hältnis der Oper zur literarischen Vorlage lässt sich daher als adaptiv begreifen:
Es wird weitestgehend bis auf den Titel und auf die Weheklag auf die deutsche
Sprache verzichtet und der musikgeschichtliche Raum ist oft der italienische, der
zwar im Roman bereits vertreten ist, hier aber deutlich in den Vordergrund gerückt
wird. Zugleich stellt die Vertonung durch die Einbeziehung von etwa Shakespeare,
Purcell, Beethoven, dem Volksbuch und der italienischen Oper die internatio-
nale Ausbildung Leverkühns und die vielen intra- und intermedialen Bezüge des
Romans, die nicht nur dem deutschsprachigen Raum zugeordnet werden können,
heraus.
Das erste Bild entspricht dem Inhalt des ersten Echo-Kapitels (des 44.). Dieser
wird jedoch in einer anderen Reihenfolge wiedergegeben: Nach der Realisierung
der Ariel-Lieder wirkt die Musik trauriger und das Kind singt ein kurzes Gedicht,
das auch im Roman vorkommt:70

Chi del concerto poté udir la fine


fu soltanto un cagnetto,
che quando se ne tornò a casa
ahimé! si mise a letto.71 (M-DF: 114 f.)

Dieses Gedicht wird als melancholisches Kinderlied mit Refrain vertont. Danach
wirkt die Musik bedrohlich und erregt (M-DF: 116 ff.): Durch die „Klangflächen
aus Tonclustern“72 antizipiert die Oper wie im Roman durch Zeitblom oder auch
durch den Inhalt des obigen Gedichts73 das dramatische Schicksal Nepomuks:
Wie der Hund konnte nur das Kind die Ariel-Lieder sehen, starb aber kurz danach.

69 Vgl. 6.2.1 u. 10.2.1; siehe Klein, Holger (Hrsg.): The opera and Shakespeare.

Lewiston/NY: Mellen 1994.


70 Im Roman taucht es allerdings vor der Schilderung der Tempest-Vertonung auf.
71 „Wer das Konzert zu End’ gehört,/das war ein junger Hund,/und als der Hund nach

Hause kam, / da war er nicht gesund“ (DF: 674).


72 Sorg: Beziehungszauber, S. 213.
73 Vgl. DF: 684.
11.2 Vom Roman zur Musik 377

Vielleicht ist die Musik für seinen Tod verantwortlich, eine Mutmaßung, die den
sterilen Zustand der Musik noch unterstreicht.
In der Oper verliert die Figur des Kindes ihre religiöse Konnotation: Es gibt
keine Bezugnahme auf sein engelhaftes Aussehen und keine Erwähnung der
Abendgebete. Dennoch wird die außerirdische Dimension durch die Musik des
Bildanfangs und die Shakespeare-Vertonung besonders hervorgehoben.
Das zweite Bild des zweiten Aktes beginnt mit einem neuen Bühnenbild.
Anlässlich der ersten Aufführungen im Teatro alla Scala entscheidet sich der
Regisseur Robert Wilson für die gleichzeitige Präsenz von zwei Orten: Echos
Zimmer und Leverkühns Arbeitszimmer. Durch diese Parallele wird das enge
Verhältnis zwischen Kind und Onkel unterstrichen: Der Tod des Kindes treibt
Leverkühn in den Wahnsinn und paralysiert ihn. Das Publikum kann also sowohl
die Reaktionen des Onkels als auch das Sterben Echos sehen. Zugleich wird auf
diese Weise Leverkühns Narzissmus und seine Liebesunfähigkeit in den Vorder-
grund gestellt, denn er ist zwar verzweifelt, bleibt aber in seinem Studienzimmer
und besucht das kranke Kind nicht.
Die Musik wirkt sehr dramatisch und ist nochmals reich an Clustern: Für
Sorg sind diese Klänge „Ausdruck des anhaltenden Kopfschmerzes, insbeson-
dere von Nepomuk, aber auch von den Schmerzen, die Leverkühn durch den Tod
seines Neffen erfährt“.74 Zweifelsohne können sie sowohl mit dem physischen
und psychischen Leiden beider Figuren als auch mit der herrschenden Atmo-
sphäre assoziiert werden und antizipieren die innovative Kompositionstechnik der
Weheklag.75
Bei der Auswahl der Figuren werden in Manzonis Oper zwar wichtige Figu-
ren wie Schwerdtfeger oder Schildknapp ausgelassen und es wird Zeitblom eine
marginale Rolle zugewiesen, es werden aber überraschenderweise die Ärzte bei-
behalten. Nach der intimen Begegnung mit Esmeralda betritt „Dott. Erasmi“
(M-DF: 35) die Bühne und am Ende des hier präsentierten Bildes wird Echo
von einem Kinderarzt untersucht (M-DF: 125–130). Die Ärzte stellen jedes-
mal eine präzise Diagnose: Leverkühn leidet an „il morbus gallicus…spirochaeta
pallida…la sifilide…“ (M-DF: 35, T. 245),76 Nepomuk an „[m]eningite cere-
brospinale“ (M-DF: 125, T. 174 ff.).77 Auch in dieser Hinsicht weist Manzonis

74 Sorg:Beziehungszauber, S. 210.
75 Nicht zuletzt, weil bei Manzoni die Apocalipsis, die Leverkühn im Roman allerdings
vor Echos Ankunft in Pfeiffering komponiert, nicht vertont wird.
76 „Der morbus gallicus…die Spirochaeta pallida…die Syphilis“. Zur Episode vgl. DF:

228 f.
77 „Cerebrospinal-Meningitis“ (DF: 687).
378 11 Echo

Doktor Faustus eine Genauigkeit auf, die gegenüber der Vagheit der Raumanga-
ben einen Kontrast bildet. Die Dimension der Krankheit verweist auf den Teufel,
der im Teufelsgespräch auf seine Verantwortung verweist, obwohl die Exis-
tenz dieser Figur aufgrund von Leverkühns Krankheit zugleich in Frage gestellt
wird. Sowohl der Tod Nepomuks als auch der Tod Leverkühns können außer-
halb der Deutungsebene des Faust-Romans auf präzise medizinische Ursachen
zurückgeführt werden, die in der Oper explizite Benennung finden.78
Das dritte Bild des zweiten Aktes handelt vom Besuch des jüdischen Impresa-
rios Saul Fitelberg, der in Doktor Faustus vor der Ankunft des Kindes stattfindet
und in Manzonis Transposition ein eher komisches Intermezzo vor dem Tod
Nepomuks darstellt.79 Das Bühnenbild bleibt allerdings in der Uraufführung
unverändert: Der Impresario macht seine Vorschläge, während das Publikum
zugleich auf das Sterbebett Echos schauen kann. Es handelt sich um eine
Digression im Medium der Oper, was auch dadurch deutlich wird, dass die Zuhö-
rer*innenschaft im vierten Bild erneut in die dramatische Atmosphäre des zweiten
Bildes versetzt wird. Leverkühn beschimpft den „Teufel“: „Prendilo, mostro!
Prendilo, cane fottuto, ma spicciati, spicciati se non hai voluto ammettere nem-
meno questo, infame che sei!“ (M-DF: 166–169), „Nimm ihn, Scheusal! […]
Nimm ihn, Hundsfott, aber beeil dich nach Kräften, wenn du denn, Schubjack,
auch dies nicht dulden wolltest!“.80 Um den Hals des Kindes sieht man eine
Schnur: Es verlässt langsam die Bühne wie erhängt. „Es wurde uns genommen,
das seltsam-holde Wesen wurde von dieser Erde genommen“ (DF: 684), so Zeit-
blom im Roman: Dieses Konzept wird in der Oper optisch realisiert. Besonders
betont werden zudem die Worte Leverkühns: „La sua anima dolce dovrai mio caro
lasciarla in pace: questa è la tua impotenza“ (M-DF: 175–179).81 Diese Aussage
hebt hervor, dass Echo unschuldig stirbt und daher der „Teufel“ seine Seele nicht
nehmen darf. Die Opfer-Konnotation wird durch Echos Verlassen der Bühne und
die Auswahl der Worte deutlich illustriert: Zeitblom betont im obigen Zitat durch
die Wiederholung, dass Echo, das außerirdische Züge tragende Kind, von ihnen
genommen wird. Diese Aussage bildet ein lexikalisches und gedankliches Pen-
dant zu Leverkühns Zurücknahme der Neunten Symphonie. Zwar werden diese
Worte in der Oper nicht erwähnt, da Zeitblom bei Manzoni bis zum Epilogo nicht
zu Wort kommt, die Idee einer Zurücknahme der Figur Echo wird aber optisch

78 Vgl. Kapitel 6
79 Siehe Sorg: Beziehungszauber, S. 213.
80 Vgl. DF: 691.
81 Vgl. DF: 691: „Wirst mir seine süße Seele doch hübsch zufrieden lassen müssen, und

das ist deine Ohnmacht“.


11.3 Fazit 379

durch die Schnur und das Verlassen der Bühne realisiert, was indirekt auf die
extradiegetische Ebene der Romannarration und insbesondere auf die unschul-
digen Opfer des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs verweist. Zudem wird
gleich danach Leverkühns Absicht einer Zurücknahme der Neunten Symphonie
thematisiert, was die Ähnlichkeit beider Zurücknahmen unterstreicht. Hier wird
also die Reihenfolge der Ereignisse leicht geändert: Im Roman stirbt Echo nach
Leverkühns Entscheidung, bei Manzoni davor.82 Das Bild endet mit Leverkühns
verzweifeltem Ruf: „Pregate per la mia povera anima“ (M-DF: 196 ff.), „Bete für
meine arme Seele!“.83
Die Stimme Echos ist dann im ersten Bild des dritten Aktes, also bei der
Abschiedsrede, hinter der Bühne zu hören (M-DF: 241 ff.). Da singt er noch-
mals das bereits erwähnte Gedicht über den Hund, der nach dem Konzert stirbt.
Die off-stage klingenden Stimmen Echos an anderen Stellen der Oper können
wohl für eine Projektion des wahnsinnigen Leverkühn, aber auch für Echos, also
für Widerhalle, gehalten werden: Keine in diesem Abschnitt behandelte Kompo-
sition verzichtet auf die Realisierung der Figur des Kindes und von Echos mit
musikalischen Mitteln.
In diesem Abschnitt konnte bestätigt werden, dass die Kompositionen nicht nur
Eigenschaften des Kindes Echo, sondern auch die Echo-Wirkung des Romans
(teil- )reproduzieren. Ersteres wird etwa am Rückgriff auf Kinderlieder deut-
lich, Letzteres an den vielfältigen Realisierungen von Echo-Effekten durch etwa
Resonanzen und off-stage-Echos.

11.3 Fazit

Auch dieses letzte Kapitel von Teil drei konnte – wie beinahe alle Kapitel –
diverse Annahmen und Kategorien aus der Intermedialitätsforschung an konkreten
Beispielen erproben. Zunächst einmal wurde auf eine wichtige Systemkonta-
mination hingewiesen, nämlich die Kontamination mit dem System der Alten
Musik. Diese Beobachtung war nicht nur dank der spezifischen Analyse der
Echo-Kapitel, sondern auch dank der Position des Kapitels möglich. So konnten
Schlussfolgerungen gezogen, die auf den Ergebnissen voriger Analysen aufbauen,
und nachgewiesen werden, wie wichtig das System der Renaissance- und Barock-
musik neben dem der Neuen Musik für die Bedeutungskonstitution von Thomas

82 Vgl. Kapitel 5.
83 Vgl. DF: 658.
380 11 Echo

Manns Roman ist. Der Erzähler, der von Adrian Leverkühns Biographie berich-
tet, spielt ein Instrument aus der historischen Aufführungspraxis und lässt folglich
Scordatura und Echo-Wirkungen in seine Narration einfließen.
Des Weiteren zeigten die Analysen der Werke von Fine und Henze noch ein-
mal, dass instrumentale Musik durch etwa paratextuelle Angaben, die Wahl präzi-
ser Musikformen und bestimmte Klangeffekte ihre Selbstreferentialität umgehen
und somit sogar Eigenschaften von Romanfiguren (teil-)reproduzieren kann.84 Die
hier knapp dargelegten Ergebnisse sollen im Schlusskapitel noch ausführlicher
veranschaulicht werden.

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Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften
erlaubt ist, ist auch für die oben aufgeführten nicht-kommerziellen Weiterverwendungen
des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.

84 Vgl. 1.1.6.
Schlusswort

Über Themen und Diskurse wie Apokalypse, Inzest, Unzuverlässigkeit, religiöse


Klagen, Viola d’amore, Echo-Wirkungen und Narrativität in der instrumentalen
Musik ist diese Studie zu einem Ende gelangt. Ihr Ziel war es, sich der For-
schungslücke in der Literatur zu Thomas Manns Doktor Faustus, einem sonst breit
erforschten Werk, anzunehmen: Dies geschieht anhand eines Korpus von dreizehn
unterschiedlichen Kompositionen nach dem Roman (z. B. Oper, Monodrama,
instrumentale Kompositionen sowie Musik für den Rundfunk und das Fernse-
hen), die diese Arbeit der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich machen
möchte.
Die Forschungsfrage bestand darin zu untersuchen, wodurch sich die kom-
positorische Rezeptionsgeschichte auszeichnet, also welche neuen Sichtweisen
sich durch die Analyse der Musikwerke auf Thomas Manns Roman eröffnen.
Wie in der Einleitung erläutert, liest jede*r Komponist*in Doktor Faustus, etwa
Zeitbloms Beschreibungen von Leverkühns Umsetzung der Zwölftontechnik, mit
dem Vorwissen eines*r professionell ausgebildeten Komponist*in der Neuen
Musik. Es ist also nicht nur ein profundes Wissen in Bezug auf die Komposi-
tion, sondern auch auf Kompositionstendenzen, die der Neuen Musik zugeordnet
werden können, vorauszusetzen. Das jeweilige Musikwerk nach dem Roman
zeigt diese Rezeption, beschränkt sich aber nicht lediglich darauf. Vielmehr
regt es zu Reflexionen über die Möglichkeiten der intermedialen Transposition
des „Musiker-Roman[s]“ (Ent: 25) Doktor Faustus an und führt zu einer neuen
Lektüre des Textes, allerdings aus einem neuen Bewusstsein heraus.
Der Medienvergleich, der in dieser Studie durchgeführt wird, ist innerhalb
des Forschungsparadigmas der Intermedialität angesiedelt: Durch die Analyse
konkreter Beispiele werden Annahmen und Kategorien aus der Intermedialitäts-
forschung erprobt, erweitert und aktualisiert. Diese werden zunächst in Teil eins

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en) 2021 381


A. M. Olivari, Doktor Faustus (ver-)stimmen,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62635-1
382 Schlusswort

der vorliegenden Studie vorgestellt. Teil zwei befasst sich mit Transpositionen
von Leverkühns fiktiven Werken, während Teil drei von den Figuren des Romans
und ihrer (Teil-)Reproduktion im Medium der Musik handelt. Ausgehend von
einer Untersuchung des Romans werden im zweiten und dritten Teil Kompositio-
nen analysiert, die zwischen 1952 und 2011 in verschiedenen Ländern entstanden
sind. Die Methode ist genuin interdisziplinär, da sie literatur- und musikzentrierte
Intermedialität, also grundsätzlich Literatur- und Musikwissenschaft miteinander
verbindet: Der Blick auf den Roman und auf die Musikwerke geschieht aus dieser
doppelten Perspektive.
Im Folgenden sei auf die Ergebnisse der Arbeit anhand exemplarischer Bei-
spiele eingegangen, um veranschaulichen zu können, welche neuen Lesarten
des Romans die vorliegende Untersuchung und ein solches analytisches Proze-
dere ermöglicht. Was die Erprobung intermedialer Kategorien angeht, so kann
ausgesagt werden, dass Funktionen und Effekte in dieser Untersuchung im Vor-
dergrund stehen. Noch 2018 betont Rajewsky, dass der Anwendungsbereich von
Intermedialität nicht lediglich auf die Analyse möglicher intermedialer Formen
beschränkt werden soll. Vielmehr sollen die Funktionen intermedialer Phäno-
mene in der analytischen Praxis in den Mittelpunkt gerückt werden.1 Gess hatte
2010 der intermedialen Forschung bereits ein Repertoire an Begriffen für die-
ses Vorhaben, etwa Verstärkung, Infragestellung, Ergänzung und Verfremdung zur
Verfügung gestellt.2 Bezüglich des erst genannten Effekts, der Verstärkung, wurde
anhand des Violinkonzerts von Hans Werner Henze, das in Kapitel neun dieser
Studie behandelt wird, festgestellt, dass dieser Begriff einer Ausdifferenzierung
bedarf.3 Der dritte Satz, welcher der Geigerfigur Rudolf Schwerdtfeger gewidmet
ist, übt aus verschiedenen Gründen einen hohen verstärkenden Effekt aus. Ers-
tens, weil Schwerdtfegers Talent als Virtuose durch die Mittel der Musik, speziell
des Konzerts für Violine solo und Orchester (teil-)reproduziert wird, was infol-
gedessen sein Talent auch hörbar macht. Zweitens, weil im Satz versucht wird,
das Violinkonzert, das Leverkühn für ihn schreibt, (teil-)zureproduzieren. Drit-
tens, weil Charakteristika der Geigerfigur aus Doktor Faustus im Satz ebenfalls
evoziert werden. Eine skalare Auffassung nach Graden des Verstärkungseffekts
ermöglicht eine innere Differenzierung sekundärer intermedialer Produkte.
Zudem führt die vorliegende Arbeit einen neuen Effekt ein: die Revision
der Vorlage. Einige Kompositionen, die in Kapitel fünf analysiert werden, näm-
lich Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“, Manzonis Oper Doktor Faustus und

1 SieheRajewsky: Percorsi transmediali, S. 8 (Fußnote 14) u. 1.1.5.


2 Vgl. 1.1.5.
3 Vgl. 9.2.1.
Schlusswort 383

Humphrey Searles The Lamentation of Dr. Faustus, gehen auf Leverkühns


Zurücknahme der Neunten Symphonie, die im Roman als Voraussetzung für die
Anwendung der Zwölftontechnik dient, ein.4 Hierbei stellen sie diesen Akt nicht
lediglich in Frage, sondern sie revidieren ihn, indem sie Zitate aus Beethovens
letztem symphonischen Werk in das eigene Material integrieren. Somit weisen
sie ausdrücklich auf den Konnex zwischen Beethoven und der Neuen Musik hin.
An den vorher genannten Effekten, Verstärkung, Ergänzung und Revision, ist
bereits abzulesen, dass Komponist*innen gewisse Mikroformen deutlicher bzw.
weniger deutlich erscheinen lassen können. Die Echo-Wirkung des Barocks kann
z. B. im Medium der Musik auf verschiedene Art und Weise, also nicht nur durch
das Vorlesen des Textes, „hörbar“ werden.5 Auch die Dodekaphonie verlässt den
Text, um in der Musik, etwa bei Searle, zu erklingen.6 Dieses „Hörbar-Werden“
ist ebenfalls als intermedialer Effekt zu werten, der wie die Verstärkung einer
skalaren Auffassung bedarf: Instrumentalmusik muss sich beispielsweise beim
Versuch einer Wiedergabe der Romanpassagen, z. B. Schwerdtfegers Ermordung
in Henzes Violinkonzert, mit extremer Vagheit und Klangsymbolen begnügen.7
Diesem intermedialen Effekt sind in diesem Fall durch die gewählte Musikform
Grenzen gesetzt. Hingegen können in intermedialen Transpositionen und Bezug-
nahmen zum Roman Glissandi, Atonalität und Dodekaphonie nahezu problemlos
reproduziert werden: Jene in Doktor Faustus beschriebenen Mittel, die Lever-
kühn in seinen Kompositionen verwendet, werden noch effektiver als durch das
intermediale telling und showing des Romans im Medium der Musik hörbar.
In einer intermedialen Transposition bzw. Bezugnahme treten die hier vor-
gestellten Effekte kaum isoliert auf. Beispielsweise lässt sich die Ergänzung der
Tonchiffre Esmeraldas um die Note d bei Fine und Manzoni sowohl als Ergänzung
als auch als Infragestellung und Revision einstufen.8 Die misogyne Darstellung
von Esmeralda ist im Roman u. a. daran zu erkennen, dass ihr eine unvollständige,
defizitäre Tonfolge gegeben wird (h e a e es): Der Name lautet so,Hetaera Es‘. Im
Fokus steht folglich eher als ihr Name ihr sozialer Status, der den ersten Teil des
Namens bildet. Fine und Manzoni stellen durch die Verwendung der vollständigen
Tonfolge diese Darstellung in Frage und revidieren sie: Sehr deutlich erscheint
diese Revision bei Manzoni, der nicht nur die Tonchiffre um die fehlende Note d
ergänzt, sondern auch Zeitblom eine untergeordnete Rolle in seiner Oper zuweist,

4 Vgl. 5.2.1.3, 5.2.3 u. 5.2.4.


5 Vgl. 11.1.1.
6 Vgl. 4.2.3 u. 5.2.4.
7 Vgl. 9.2.1.
8 Vgl. 8.2.1 u. 8.2.4.
384 Schlusswort

während Esmeralda hingegen viel mehr Platz eingeräumt und ihr sozialer Status
in den Hintergrund gerückt wird. Bezüglich der Effekte von Intermedialität kann
des Weiteren nicht pauschal gesagt werden, dass eine Komposition den Roman
im Ganzen verstärkt oder erweitert. Vielmehr müssen Effekte auf präzise Mikro-
formen der Vorlage jeweils zurückgeführt und entsprechend beschrieben werden.
Im spezifischen Fall der intermedialen Transpositionen und Bezugnahmen auf
Doktor Faustus spielt die Beobachtung eine Rolle, dass sie alle partiell sind, da
kein Musikwerk, nicht mal Manzonis Oper, den Roman als Ganzes in die Musik
transferiert. Auf diese Weise konzentrieren sich die Werke auf einige ausgewählte
Mikroformen aus dem Roman. Diesbezüglich ist der Begriff der Reduktion nur
eingeschränkt zu verwenden: Obwohl die Komponist*innen nicht den gesam-
ten Roman vertonen, wird die Mikroform an sich, z. B. die Geschichte Gregors
aus Adrian Leverkühns Puppenspiel nach den Gesta romanorum bei Beyer und
Odegard wohl erweitert.9
Den vorigen Ausführungen lässt sich entnehmen, dass zwar Effekte von
Intermedialität einen Ehrenplatz in dieser Studie bekommen, jedoch auch die
Benennung intermedialer Phänomene eine ebenso wichtige Rolle spielt. Beson-
dere Aufmerksamkeit schenkt die Arbeit z. B. der Systemkontamination, die sich
beobachten lässt, wenn Regeln und Prinzipien, die dem Medium nicht inhärent
sind, durchgehend auftreten und auf diese Weise eine fremdmedial bezogene
Illusionsbildung hervorrufen.10 Zahlreiche Studien zu Doktor Faustus betonen
diesbezüglich die Wichtigkeit des Systems der Zwölftontechnik, das zweifelsohne
für die Konstitution des Textes zentral ist. Diese Studie weist aber auch auf die
Notwendigkeit einer stärkeren Berücksichtigung des Systems der Alten Musik
hin. Der Erzähler von Doktor Faustus, der Viola d’amore-Spieler Zeitblom, kennt
sich damit aus: Kein Wunder, dass infolgedessen die Narration vom religiösen
Klagen vergleichbar zur Marienklage oder zum Stabat Mater, von Scordature,
also Verstimmungen sowie Echo-Wirkungen kontaminiert wird. Dieses Fazit lässt
sich erst in Kapitel elf ziehen,11 nachdem Kapitel fünf auf die Verwandtschaft des
Klagens in der Weheklag mit mittelalterlichen Klageformen sowie auf die baro-
cke Echo-Wirkung der Kantate,12 Kapitel sieben auf die Eigenschaften der Viola
d’amore und ihrer Aufführungspraxis, was die narratologische Kategorie des
unzuverlässigen Erzählens verstärkt,13 und Kapitel elf auf die Echo-Wirkungen

9 Vgl. 3.3.
10 Vgl. 1.1.5.
11 Vgl. 11.1.2.
12 Vgl. 5.1.
13 Vgl. 7.1.
Schlusswort 385

des Textes eingegangen sind.14 Eine Systemkontamination betrifft die Erzeugung


des gesamten Textes und bedarf folglich umfassender und durchgehend auftreten-
der Indizien. Auch die Kompositionen integrieren Elemente aus der Alten Musik
sowie im Allgemeinen aus dem Kulturgut des Mittelalters, der Renaissance und
des Barocks in ihr Material: Fine schreibt ihre Komposition gerade für die Viola
d’amore,15 Manzoni benutzt eine Melodie von Purcell in seiner Vertonung von
The Tempest 16 und das Faust-Volksbuch für seine Weheklag,17 Kurz verwendet
u. a. auch mittelalterliche Texte für seine Apocalipsis18 und Odegard und Beyer
widmen sich dem spätmittelalterlichen Exempel des Papstes Gregor.19
Diese knappe Schilderung der Effekte und Typen von Intermedialität, die im
Fokus der Untersuchung stehen, gibt vor allem über die medial bedingte Rezep-
tion des Romans Auskunft, die sich anhand eines medial bewussten Blicks auf
die jeweilige Adaption bzw. Bezugnahme auf Thomas Manns Roman rekonstru-
ieren lässt.20 Wie in der Einleitung dieser Studie bereits hervorgehoben, gibt es
auch Lesarten, die sich anders einordnen lassen: Selbst die vorher beschriebenen
Aspekte sind aus anderen Blickwinkeln interpretierbar. Als sehr ergiebig erweist
sich beispielsweise die Berücksichtigung des Entstehungskontextes. Die Analyse
zeigt, wie Doktor Faustus 1989 in Italien von Manzoni oder 1980 in Großbri-
tannien von Searle rezipiert wurde, indem sie neue, zum Teil auch interkulturell
bedingte Zugänge zu Thomas Manns Text eröffnet. Das wird an mehreren Stellen
der Untersuchung deutlich: Der norwegische Komponist Hagen verknüpft münd-
liches, subjektives Erzählen mit der Hardangerfiedel, einem Instrument aus der
norwegischen Volksmusik21 und Manzoni erweitert die Zweideutigkeit des Dämo-
nischen in Doktor Faustus durch geschlechtsspezifische Ambiguitäten, welche die
italienische Operntradition zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert in Erin-
nerung rufen.22 Der italienische Komponist stellt auch seine Absicht klar, die in

14 Vgl. 11.1.1.
15 Vgl. 7.2.1.
16 Vgl. 11.2.3.
17 Vgl. 5.2.1.3.
18 Vgl. 4.2.2.
19 Vgl. 3.3.
20 Zur media awareness/media consciousness siehe u. a.: Rajewsky: Percorsi transmediali,

S. 20 u. Ryan, Marie-Laure u. Jan-Noël Thon (Hrsg.): Storyworlds across Media. Towards


a Media-Conscious Narratology. Lincoln: University of Nebraska Press 2014.
21 Vgl. 7.2.2.
22 Vgl. 6.2.1. In diesem Kapitel wird ebenfalls die Wichtigkeit des Systems der Alten

Musik in den Vordergrund gerückt.


386 Schlusswort

einer „sgermanizzazione“, also Entgermanisierung des Romans besteht.23 Selbst


wenn ein Komponist hingegen die Absicht äußert, sich so präzise wie möglich
an der Vorlage zu orientieren, beeinflusst der Entstehungskontext das Werk: Dies
geschieht beispielsweise bei Searle durch die verstärkten Bezüge auf Marlowes
Faust-Text.24 Um eine größere Zugänglichkeit der Musik zu erreichen, was eben-
falls ein Ziel von Leverkühns Puppenspiel Gesta romanorum war, greift darüber
hinaus Beyer beim Transponieren des fiktiven Werkes auf das Medium des Fern-
sehens, das in den 1990er Jahren die Erreichung dieses Ziels viel mehr als ein
Puppenspiel ermöglicht, zurück.25 Das sekundäre intermediale Produkt passt sich
also an die Bedingungen seiner Zeit und seines Aufführungskontextes an, was
der Analyse wertvolle Hinweise zur interkulturell bedingten Interpretation von
Thomas Manns Roman liefert.
Die neuen Sichtweisen auf den Roman sind zudem, wie in der Einleitung
bereits antizipiert, das Resultat der Lektüre des Werkes durch professionell aus-
gebildete Komponist*innen, die der Szene der Neuen Musik zugeordnet werden
können. Trotz aller Unterschiede lassen sich diesbezüglich einige Tendenzen bzw.
Konstanten feststellen, die im Folgenden resümiert werden sollen. Zunächst, dass
Leverkühns frühe Werke sehr selten als Vorlage gewählt werden. Eine erste
Begründung dafür könnte darin liegen, dass sie im Vergleich zu anderen Kom-
positionen Leverkühns ausführlicher beschrieben werden. Zieht man jedoch eine
zweite festgestellte Konstante in Betracht, nämlich dass sich die intermedialen
Transpositionen bzw. Bezugnahmen auf die letzten Kapitel des Romans kon-
zentrieren, so wird eine zweite, wahrscheinlich plausiblere Begründung für die
Wahl der späten Werke Leverkühns erkennbar: Die Neue Musik, zu der auch
die Experimentierfreudigkeit gehört, geht auf die wahrscheinlich avantgardisti-
scheren Kompositionen Leverkühns ein und reagiert somit auf die Wertungen des
Erzählers sowie die Assoziation von Neuer Musik und Dämonischem. Infolge-
dessen überrascht eine dritte Konsequenz dieser Wahl der letzten Kapitel des
Romans und der späten Kompositionen Leverkühns, die auf eine Revision der
Auffassungen des Erzählers gegenüber der Neuen Musik abzielt, kaum: Sowohl
Zeitblom als auch der Teufel spielen in den in dieser Studie betrachteten Musik-
werken eine nahezu marginale Rolle, was sich als dritte Konstante einstufen

23 Vgl. 5.2.1.1.
24 Vgl. 5.2.4.
25 Vgl. 3.3.1.
Schlusswort 387

lässt.26 Nur Manzoni und Lenners vertonen das Teufelsgespräch.27 Was Zeitblom
angeht, so widmen sich lediglich Fine, Hagen und Manzoni der Erzählerfigur
von Doktor Faustus und heben sein unzuverlässiges Erzählen hervor.28 An die
Stelle von Zeitbloms Berichten, welche die Verknüpfung von Musik und Dämo-
nischem in den Vordergrund stellen, tritt alleine die Musik: Durch etwa vielfältige
Gesangstechniken, die sich z. B. bei Lenners vom lautlosen Sprechen bis hin zum
hohen Schreien erstrecken29 sowie Klang- und Aufführungsmöglichkeiten, etwa
die off-stage und on-stage-Stimmen in Manzonis Oper,30 beweist das musikali-
sche Medium doch große Ausdruckskraft. Diese Beobachtung lässt sich als die
vierte Konstante einordnen, mit der eine fünfte unmittelbar verknüpft ist: Die
Musik reagiert somit nicht nur auf Doktor Faustus, sondern auch auf Adornos
Auffassungen, denn sowohl in Manns Roman als auch in der Philosophie der
Neuen Musik wird der Neuen Musik Ausdrucksfähigkeit abgesprochen. Mehr
oder weniger explizit nehmen die Kompositionen Abstand oder verstärken die
vielen Bezüge des Romans auf Adorno: Sehr deutlich wird diese letzte Konstante
in Hagens To Zeitblom, der Zitate aus Schriften des Philosophen mitten in der
Komposition parodiert.31
Im Prozess der Untersuchung der Musikwerke wurden alle Typen von Les-
arten, medial oder kontextuell bedingten Lektüren sowie Interpretationen, die
der Bedingung entspringen, dass sich ein*e professionell ausgebildete*r Kom-
ponist*in Thomas Manns „Musiker-Roman“ (Ent: 25) zuwendet, zugleich in den
Blick genommen: Nur so kommt man zu umfassenden Beobachtungen bezüglich
der Rezeption des Romans im Medium der Musik.
Bereits in der Einleitung wurde angedeutet, dass die Rekonstruktion der kom-
positorischen Rezeptionsgeschichte von Doktor Faustus nicht nur die jeweilige
Adaption beleuchtet, sondern auch den Roman selbst neu lesen lässt. Zwar besteht
jedes Kapitel aus einer Untergliederung in Analyse des Romans und Analyse der
Kompositionen, sprich: literaturzentrierte und musikzentrierte Intermedialität. Im
Laufe der Studie konnte jedoch beobachtet werden, dass es oft zu Rückkopplungs-
effekten kommt, welche die Grenzen dieser Trennung sprengen. Beispielsweise

26 Eine Ausnahme stellt Manzonis Oper dar, wobei den teuflischen Gestalten immerhin der

Name „Lui“ gegeben wird. Zum Reiz der Teufelsfigur im Medium Oper siehe auch das
Interview mit Manzoni im Anhang.
27 Vgl. 6.2.1. u. 8.2.3.
28 Vgl. 7.2.
29 Vgl. 8.2.3.
30 Vgl. z. B. 11.2.3.
31 Vgl. 7.2.2.
388 Schlusswort

kann eine intermediale Transposition gewisse Mikroformen der Vorlage, etwa


intramediale Bezüge des Romans auf die englischsprachige Literatur (Marlowe
bei Searle,32 Shakespeare bei Manzoni)33 oder Figuren wie Schwerdtfeger34 und
Fitelberg,35 die in der Forschungsliteratur kaum berücksichtigt wurden, in den
Vordergrund stellen. Auch im ersten Teil jedes Kapitels konnte die Analyse von
Verweisen auf die Kompositionen profitieren: Um zeigen zu können, dass das
intermediale telling des Romans an einigen Stellen auf Kompositionstendenzen
hinweist, die weit über Schönbergs kompositorische Anliegen hinaus gehen, half
die Auseinandersetzung mit einigen Rezeptionen des Romans, z. B. mit der Boeh-
mers, der in der Nachkriegszeit eine erste Lösung zum Problem der Denaturierung
des Klanges eben in Doktor Faustus sieht.36 Hilfreich war in dieser Hinsicht
auch Manzonis Rezeption, der von einer – wahrscheinlich vom Autor ungewoll-
ten – Modernität im Roman spricht, die er mit kompositorischen Anliegen bei
den Darmstädter Ferienkursen in Verbindung bringt.37
Die vorigen Ausführungen heben hervor, dass sich methodisch die Position
des Dazwischen als besonders produktiv erweist, denn ohne sie wäre es im
Laufe der Studie kaum möglich gewesen, zu den beschriebenen Ergebnissen zu
gelangen. Diese Studie plädiert für eine Kombination aus werkinterner und wer-
kexterner Intermedialität, selbst im Fall ausschließlich literaturzentrierter bzw.
ausschließlich musikzentrierter Untersuchungen. Die Positionierung im Raum des
Dazwischen ermöglicht eine größere Aufmerksamkeit auf die innere Dynamik des
jeweiligen Mediums, auf seine Potentialitäten, weg von einer Perspektive, die von
verbalen Texten ausgeht. So könnte etwa in Bezug auf instrumentale Komposi-
tionen wie Fines Four pieces from „Doktor Faustus“ oder Henzes Violinkonzert
beobachtet werden, wo und wie Instrumentalmusik ihre Selbstreferentialität über-
winden und somit Narrativität induzieren kann. Rückblickend auf die Einleitung
und auf das erste Kapitel der vorliegenden Studie, lässt sich nun sagen, dass aus
dieser Studie der Mehrwert des Austausches zwischen den beiden Feldern der
Literatur und Musik hervorgeht. Dieser Mehrwert kann entstehen und produktiv
für die Analyse gemacht werden, weil die vorliegende Arbeit von einem Konzept

32 Vgl. 5.2.4.
33 Vgl. 5.2.1.2 u. 11.2.3.
34 Vgl. Kapitel 9.
35 Vgl. Kapitel 10.
36 Vgl. 4.2.1.
37 Vgl. 5.2.1.1.
Schlusswort 389

von Mediengrenze ausgeht, das in Anlehnung an Rajewsky als dynamisch auf-


gefasst wird und dementsprechend Mediendifferenzen beachtet.38 Dabei werden
Grenzüberschreitungen in den Fokus gerückt: In englischsprachigen Publikatio-
nen wird dieses analytische Verhalten als media awareness/media consciousness
bezeichnet.39 Dieser Begriff weist darauf hin, dass die analytische Praxis weder
Mediendifferenzen nivelliert noch verbale Texte privilegiert. Im Grunde genom-
men drückt der Terminus ,Intermedialität‘ diese Haltung und diese Position des
Dazwischen bereits aus, was diese Untersuchung so weit wie möglich umzusetzen
versucht.
Nicht nur Postulate aus Intermedialitätstheorien sollten in der Praxis erweitert,
revidiert oder auch in Frage gestellt werden, sondern auch diese Studie selbst, und
zwar durch weitere Analysen. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Impuls
für neue Untersuchungen zu weiteren intermedialen Transpositionen von Musi-
ker*innenromanen oder auch erneut zu den hier behandelten Primärwerken. Um
zum Begriff der Grenze zurückzukehren, kann an dieser Stelle die Parallele gezo-
gen werden, dass mit dem Ende dieser Untersuchung nur eine formale Grenze
erreicht ist.

Interview mit Giacomo Manzoni40

AO: Sie schreiben in einem Aufsatz, 41 dass Sie denken, „Doktor Faustus“ sei
quasi Thomas Manns Rache an der Modernität, die er prinzipiell gut verstanden
hatte, jedoch nicht lieben konnte.
GM: Ja, die Modernität passte nicht zu Thomas Mann. Doktor Faustus ist
sicherlich keine Visitenkarte für die Neue Musik.
AO: Sie denken aber auch, Thomas Mann habe trotzdem gefühlt, dass im
Bereich der Kunst und der Musik Innovationen notwendig seien.
GM: Ja, das stimmt. Thomas Mann sah keine Zukunft für die Neue Musik,
aber er wusste ganz genau, dass sich die Musik entwickeln musste. Er spielte
die Geige als Amateur und interessierte sich sehr für die Kunst, wie viele andere
Deutsche seiner Generation, die zum Großbürgertum gehörten. Im Gegensatz zu

38 Vgl. 1.1.7.
39 Vgl.Fußnote 20.
40 Der vorliegende Text ist eine Zusammensetzung zweier Interviews, die am 16.05.2013

und am 26.06.2015 in Mailand mit dem Komponisten geführt wurden. Beide wurden von
der Verfasserin aus dem Italienischen übersetzt.
41 Manzoni: Anmerkungen zum Doktor Faustus, S. 58.
390 Schlusswort

jener Epoche beschäftigen sich unsere heutigen Literat*innen deutlich weniger


mit Musik. Thomas Mann folgte mit großem Interesse den neuen Entdeckungen
auf dem Gebiet der Kompositionstechnik und schrieb auch Aufsätze über Kom-
ponist*innen und Musikwerke, z. B. über Wagner.42 Die Neuheit von Doktor
Faustus besteht darin, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Faust-Mythos
die Hauptfigur ein Komponist ist. Die Musik, die gleichzeitig faszinierend,
geheimnisvoll, verwirrend und gefährlich sein kann, stellt für Mann die perfekte
Kunst für eine eigene Interpretation des Mythos dar.
Thomas Mann war von der Notwendigkeit einer Entwicklung in der Musik
vollkommen überzeugt. Dennoch: Auch als Schriftsteller stellen seine Werke das
Ende einer Zeit dar, weil er – meiner Meinung nach – der letzte Schriftsteller im
Stil Tolstois ist. Thomas Mann hielt die Neue Musik keineswegs für etwas, das
die Tür zu einem positiven Fortschritt öffnen konnte. Ihre Verbindung mit dem
Teufel ist eine heimliche Rache, als ob er den Komponist*innen seiner Zeit hätte
mitteilen wollen, dass sie zwar Recht hatten, er jedoch ihre Musik nur schwer
verstehen konnte.
AO: Thomas Mann schreibt in der Tat: „Ich verstehe mich auf die Neue Musik
sehr theoretisch. Ich weiß wohl etwas davon, aber genießen und lieben kann ich
sie eigentlich nicht“ (SK: 326).
GM: Aus diesem Grund assoziiert er die Neue Musik mit dem Teufel.
AO: Sprechen wir jetzt über Ihre Oper nach Manns „Doktor Faustus“?
GM: Ich habe an der Universität Bocconi in Mailand Germanistik studiert. So
begann meine Liebe zur deutschen Sprache und Kultur. Es mag erstaunen, dass
noch 30 Jahre nach Manns Tod kein*e Komponist*in auf der ganzen Welt gedacht
hatte, eine Oper zu schreiben, die auf Doktor Faustus basierte. Es gab selbst-
verständlich Probleme hinsichtlich der Autorenrechte: Ich schrieb einen Brief an
Katia Mann und sie erteilte mir die Erlaubnis für mein Projekt.
AO: Haben Sie den Text selbst ins Italienische übersetzt?
GM: Zum Teil ja, zum Teil habe ich die Übersetzung von Ervino Pocar ver-
wendet.43 Die Übertragung ins Italienische war auch eine Frage der kulturellen
Distanz: Ich wollte mich mit der deutschen Kultur und Bevölkerung nicht völlig
identifizieren, da ich Italiener bin. Faust ist eine typisch deutsche Figur. In der
Literatur anderer europäischer Länder gibt es nur wenige Beispiele für die Adap-
tion des Stoffes: grundsätzlich Marlowe, Gounod und Boito. Ich bin dem Text von
Mann aufmerksam gefolgt. Wenn ich ihn auf Deutsch verwendet hätte, wäre ich
wahrscheinlich von der deutschen Kultur völlig „verschluckt“ worden. Ich wollte

42 Siehe etwa Mann, T.: Leiden und Größe Richard Wagners. In: GW. Bd. 9, S. 363–427.
43 Siehe Mann: Doctor Faustus.
Schlusswort 391

jedoch meine eigene schützen: Die deutsche Kultur ist für mich eine Ergänzung
zur italienischen, kein Ersatz. Aus diesem Grund habe ich die Übersetzung ins
Italienische von Pocar gewählt, die ich aber leicht geändert habe. Außerdem habe
ich die Konzeption und die Aussagen von Thomas Manns Doktor Faustus bei-
behalten: Ich hätte vielleicht einen moralischen Schluss der Geschichte ergänzen
können, wie in Mozarts Don Giovanni, das habe ich jedoch für inadäquat gehal-
ten. Ich hätte zudem vielleicht am Ende der Oper unterstreichen können, dass die
dodekaphonische Musik nicht so negativ ist, wie sie im Roman geschildert wird,
aber das wäre meiner Meinung nach sinnlos gewesen, weil es zu stark von der
Vorlage abgewichen wäre.
AO: Denken Sie, dass die Komponist*innen der Nachkriegsjahre von Manns
„Doktor Faustus“ beeinflusst wurden?
GM: Nein, das denke ich nicht. Die Ferienkurse in Darmstadt sind ein Beispiel
für die extreme musikalische Rationalität der Nachkriegsjahre. Zudem glaube ich,
dass viele italienische bzw. europäische Komponist*innen Doktor Faustus leider
nie gelesen haben. Beweis dafür ist, dass noch in den 1980er Jahren kein*e Kom-
ponist*in eine Oper nach dem Roman geschrieben hatte. Hingegen glaube ich,
dass Adorno einen viel größeren Einfluss als Thomas Mann auf Komponist*innen
ausgeübt hat, auch weil er direkter und spezifischer sprach.
AO: Kommen wir nun zu den Figuren Ihrer Oper. Warum haben Sie viele
ausgelassen, jedoch nicht Saul Fitelberg, den jüdischen Impresario?
GM: Aufgrund der Dramaturgie. Zum einen war es nötig, nicht zuletzt aus
einem narrativen Grund, klar zu machen, wie berühmt Leverkühn als Komponist
geworden war. Zum anderen ist das Fitelberg-Bild das einzige Intermezzo der
Oper, das vielleicht nicht wirklich komisch, aber bestimmt humoristisch wirkt.
Es unterscheidet sich von anderen Episoden und besitzt einen leichten Charak-
ter. Aus dem Roman habe ich nur Satzfragmente auf Französisch verwendet, um
der Szene eben diese humoristische Qualität zu verleihen. Man versteht auch,
dass sich Leverkühn weigert, die Vermittlung des Impresarios zu akzeptieren. Die
grundlegende Idee ist also sowohl dramaturgisch, weil sie die Gesamtstruktur
des Werkes in Betracht zieht als auch musikalisch, weil sie darauf zielt, einen
spannungsgeladenen Moment der Oper durch eine nahezu komische Szene zu
unterbrechen.
AO: Nicht zufällig setzt das Fitelberg-Bild vor Echos Tod ein.
GM: Genau und dann fängt plötzlich die dunkle Atmosphäre wieder an.
AO: In der Aufnahme, die Sie mir gegeben haben, kann man tatsächlich
die beiden Orte zugleich sehen: Echos Bett und Leverkühns Arbeitszimmer. Das
Publikum behält den Blick auf das Kind.
392 Schlusswort

GM: Ich glaube, diese Idee stammte von Wilson, der vermeiden wollte, dass
das Publikum den Faden der Handlung verliert.
AO: In meiner Arbeit bin ich der Frage nachgegangen, warum Sie viele Figu-
ren aus Thomas Manns „Doktor Faustus“ ausgelassen, jedoch dem Impresario
ein siebenminütiges Bild gewidmet haben.
GM: Die anfängliche Idee war, durch „Flashs“ den Roman nachzuerzählen,
wie ich das auch in meinen Schriften erläutert habe.44 Einige von mir aus-
gelassene Episoden waren aus dramaturgischer Sicht ebenfalls wichtig, etwa
Leverkühns Kinderzeit, die Treffen und die Salons in München, Schwerdtfegers
Tod usw. Ich habe mir das gründlich überlegt und bin zu der Schlussfolgerung
gekommen, dass eine so umfassende und ambitionierte Idee nicht funktioniert
hätte. Ich könnte nun vielleicht eine zweite Oper nach Doktor Faustus schreiben,
die alle Episoden, die in der Oper von 1989 keinen Platz gefunden haben, enthält!
AO: Haben Sie bei der Schilderung Fitelbergs an Benedetto Marcello und an
seine Satire „Il teatro alla moda“, „Das neumodische Theater“ gedacht? Mir fiel
das ein, weil auch dort Impresari*e als exzentrische Menschen präsentiert und
leicht zu Sündenböcken gemacht werden.
GM: Nein, daran habe ich nicht gedacht, obwohl tatsächlich Parallelen
gezogen werden können, was die Figur des Impresarios angeht.
AO: Bleiben wir noch beim Thema der Figurenwahl. Warum behalten Sie in
Ihrer Oper die Ärzte bei?
GM: Den ersten Arzt kann man schwer auslassen, weil er die Syphilis-
Infektion diagnostiziert, die in der Handlung eine zentrale Rolle einnimmt. Ich
habe das als präzises biographisches Detail behandelt. Dasselbe gilt für den Arzt,
der Echo untersucht: Er lässt uns klar verstehen, dass die Krankheit des Kin-
des nicht heilbar ist. Gerade die Diagnose des Arztes führt Leverkühn zu der
Entscheidung, die Neunte Symphonie, und damit also das Schöne und das Gute,
zurückzunehmen. Die beiden Arztbesuche waren für mich Schlüsselereignisse des
Romans: Die Diagnosen sind Fakten (selbstverständlich innerhalb einer fiktiven
Geschichte) und folglich keine beliebigen oder subjektiven Interpretationen.
AO: Sie wissen natürlich, dass der Teufel in „Doktor Faustus“ lediglich als
Projektion Leverkühns aufgefasst werden kann…
GM: Ja, das weiß ich sehr gut. Auf die Figur des Teufels, sei sie nur im
Allgemeinen als Dämonisches aufgefasst, kann aber ein Opernkomponist schwer
verzichten: Sie hat einen viel zu großen Reiz; ohne sie verliert die Handlung
ihren Sinn und ihr Gewicht. Der Teufel zeichnet sich auch bei mir durch seine drei
Gestalten aus. Die drei Teufel wechseln sich aber nicht ab, sondern sie überlagern

44 Siehe Manzoni: Parole per musica, S. 78.


Schlusswort 393

einander: Der zweite Teufel ersetzt nicht den ersten, er kommt hinzu. Und später
der dritte zum zweiten und zum ersten, sodass am Ende ein Trio entsteht. Die
Idee des Romans habe ich in meiner Oper durch eine komplexere, reichere Form
realisiert.
AO: Warum haben Sie für den dritten Teufel eine weibliche Stimme gewählt?
Und warum haben Sie diese als Lui III bezeichnet und nicht beispielsweise als
Lei I?
GM: Diese Stimme ist wie die beiden anderen eine Inkarnation des Dämo-
nischen und soll wie das Dämonische selbst geschlechtsneutral sein. Sie ist böse
und beißend und passt deshalb gut zu ihrem Zweck. Wenn die italienische Sprache
das Neutrum besitzen würde, dann hätte ich die drei Teufelsstimmen wahrschein-
lich mit dem Pronomen „Es“ bezeichnet. „Lui“ ist also als geschlechtsneutraler
„demoniaco“ zu verstehen45 und die dritte weibliche Stimme ist eine weitere Ver-
wandlung des Teuflischen par excellence. In der Uraufführung war das Kostüm
von Lui III ein weibliches. Wir hätten vielleicht noch mehr Verwirrung stiften
können, wenn wir für den Sopran an ein männliches Kostüm gedacht hätten…
Wilson kam aber sogar auf die Idee eines riesigen Schuhs, auf dem der Sopran
singt. Das ist leider in der DVD kaum zu sehen.
AO: Was ist Ihrer Auffassung nach das Dämonische in „Doktor Faustus“?
GM: Aus einer logischen und analytischen Perspektive ist die Musik die am
wenigsten verständliche Kunst. Wenn wir eine Komposition analysieren, fällt uns
auf, dass sie oft eine feste Struktur hat. Es gibt keine Stücke, die wirklich frei und
„anarchisch“ sind. Von Machaut bis hin zu Schönberg gibt es immer eine musika-
lische Struktur oder Form, z. B. die Symphonie, die Sonatenform usw. Die Musik
ist mit der Mathematik tief verbunden. Wenn wir aber Musik hören, entsteht
nicht der Eindruck, dass sie eine feste Struktur besitzt: Im Gegensatz zu einem
Mosaik oder einer Architektur können wir vielleicht nur einzelne Themen erken-
nen. Dieser Bruch zwischen dem Komponieren und dem Hören ist unbegreiflich.
Wie kann man sagen, dass eine Komposition besser als eine andere funktioniert?
Das ist sehr subjektiv. Aber man versteht viel einfacher, dass beispielsweise ein
bestimmtes Gedicht besser als ein anderes funktioniert. Die Unbegreiflichkeit ist
in der Musik total – eine Auffassung, die auch Mann in den Schriften zu Wag-
ner unterstreicht.46 Dieser Aspekt kann gleichzeitig sowohl mit dem Dämonischen
als auch mit dem Himmlischen assoziiert werden und ist Thomas Mann sicherlich
aufgefallen.

45 Auf Italienisch: il demoniaco, mask.


46 Siehe Fußnote 3.
394 Schlusswort

AO: In Ihrem Interview mit Francesco Degrada habe ich gelesen, dass Ihre
Opern ein Resümee Ihres vorigen musikalischen Schaffens darstellen. 47 Gilt das
auch für „Doktor Faustus“?
GM: Ja, auch Doktor Faustus ist eine Synthese der symphonischen und
musikalischen Erfahrungen, die ich in den zwölf Jahren vor Beginn der Nieder-
schrift des Musikwerkes gemacht hatte. Selbstverständlich spiegelt eine Oper oft
zahlreiche Entdeckungen und Ideen wider. In meinem Faustus gibt es sowohl
Kammermusik- als auch reichhaltige, symphonische Momente. Auch heute noch,
falls ich nochmals eine Oper schreiben würde, wäre sie ein Resümee meiner
aktuellsten Konzeptionen und Erfahrungen, weil die Form der Oper eben dies
ermöglicht.

Verzeichnis der Siglen und Abkürzungen

Briefe 3: Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. Bd. 3 (1944–
1950). Hrsg. v. Hans Bürgin u. Hans-Otto Meyer, unter Mitarbeit
v. Yvonne Schmidlin. Frankfurt am Main: Fischer 1982.
DF: Mann, T.: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers
Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Hrsg. u. text-
kritisch durchgesehen v. Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von
Stephan Stachorski. In: Große kommentierte Frankfurter Aus-
gabe. Werke – Briefe – Tagebücher (GkFA). Hrsg. v. Heinrich
Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed,
Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusam-
menarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH, Zürich, Bd.
10.1. Frankfurt am Main: Fischer 2007 [Stockholm 1947].
DH: Mann, T.: Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland
aus den Jahren 1940–1945. Frankfurt am Main: Fischer 2013
[Frankfurt am Main 1987], 5. Aufl.
Ent: Mann, T.: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines
Romans. In der Fassung der Großen kommentierten Frankfurter
Ausgabe. Frankfurt am Main: Fischer 2009 [1949].
GW: Mann, T.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Oldenburg:
Fischer 1960.

47 Vgl. Manzoni: Doppia prospettiva di fuga (autobiografica). Interview mit Francesco

Degrada (1980). In: Ders.: Tradizione e utopia. Scritti di musica e altro. Hrsg. u. mit
einem Vorwort v. Antonio De Lisa. Mailand: Feltrinelli 1994, S. 150–159, hier: S. 156 f.
Schlusswort 395

JF: Eisler, Hanns: Johann Faustus. Leipzig: Faber & Faber 1996
[Berlin 1952].
M-DF: Manzoni, Giacomo: Doktor Faustus. Mailand: Ricordi 1991.
MGG Online. Hrsg. von Laurenz Lütteken. Kassel u. a.: 2016ff.
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