Leseprobe 9783453419353
Leseprobe 9783453419353
Imperium
Roman
12. Auflage
Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 11/2015
Der Titel erschien bereits 2008
mit der ISBN 978-3-453-47083-5
Copyright © 2006 by Robert Harris
Copyright © 2006 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München
in der penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
neumarkter straße 28, 81673 münchen
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik·Design, München
unter Verwendung eines Fotos von © Ched Ehlers/Getty Images
Karten: GeoKarta, Heiner Newe, Altensteig;
Animagic, A. Hancock, Bielefeld
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
printed in Germany
ISBN 978-3-453-41935-3
www.heyne.de
Zum Andenken an
Audrey Harris (1920–2005)
und für Sam
TIRO, M. Tullius, Sekretär von Cicero. Er
war nicht nur der Amanuensis des Redners
und sein Mitarbeiter bei dessen literarischen
Arbeiten, sondern selbst ein nicht zu unter-
schätzender Autor und der Erfinder der Kurz
schrift, welche ES ihm erlaubte, in der Öffent-
lichkeit gehaltene Reden vollständig und
korrekt mitzuschreiben, unabhängig davon,
wie schnell der Redner sprach. Nach Ciceros
Tod zog sich Tiro auf einen Bauernhof in der
Nähe von Puteoli zurück, wo er laut Hierony
mus bis in sein hundertstes Jahr lebte. Asconius
Pedianus (in Milon. 38) bezieht sich auf das vierte
Buch Tiros über Ciceros Leben.
Dictionary of Greek and Roman Biography and Mythology,Vol. III, herausgegeben von
William L. Smith, London 1851
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Da mein Leben nun fast vorüber ist und ich nichts mehr zu
befürchten habe – nicht einmal Folter, würde ich doch in
den Händen des Scharfrichters oder seiner Folterknechte
kaum eine Sekunde durchhalten –, habe ich mich ent-
schlossen, mit dem vorliegenden Bericht eine Antwort dar
auf zu geben. Ich werde mich auf meine Erinnerung und
die meiner Obhut anvertrauten Dokumente stützen. Da
die mir verbleibende Zeit zwangsläufig kurz ist, will ich
mich beeilen. Ich werde den Bericht in meiner Kurzschrift
verfassen, auf einigen Dutzend Rollen feinsten Papyrus –
Hieratica, das Beste vom Besten –, die ich zu diesem Zweck
schon seit Längerem gehortet habe. Im Voraus bitte ich um
Vergebung für stilistische Mängel und Ungeschicklichkei-
ten. Auch bitte ich die Götter, dass sie mich zum Ende
kommen lassen, bevor das Ende mich ereilt. In seinen letz-
ten Worten bat Cicero mich, die Wahrheit über ihn zu er-
zählen, und darum will ich mich bemühen. Sollte er dabei
nicht immer als Muster an Tugend erscheinen, sei’s drum.
Die Macht beschert einem Mann allerlei Annehmlich-
keiten, zwei saubere Hände gehören allerdings nur selten
dazu.
Und von Macht und dem Mann werde ich erzählen. Mit
Macht meine ich die offizielle, die politische Macht – was
wir in der lateinischen Sprache als imperium bezeichnen –,
die Macht über Leben und Tod, wie sie vom Staat auf ein
Individuum übertragen wird. Hunderte von Männern haben
nach dieser Macht gestrebt. Aber Cicero war einzigartig in
der Geschichte der Römischen Republik, weil ihm beim
Griff nach der Macht nichts als sein eigenes Talent zur Ver
fügung stand. Er entstammte nicht, wie Metellus oder Hor-
tensius, einer der bedeutenden, seit Generationen in der
Politik tätigen Adelsfamilien, von deren Reputation er am
Wahltag profitieren konnte. Hinter ihm stand nicht, wie bei
Pompeius oder Caesar, eine mächtige Armee, die seine Kan-
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didatur unterstützte. Er verfügte nicht wie Crassus über ein
gewaltiges Vermögen, das ihm den Weg ebnete. Er hatte nur
eines – seine Stimme. Und mit der schieren Kraft seines Wil-
lens machte er aus dieser die berühmteste Stimme der Welt.
❧
Ich war vierundzwanzig Jahre alt, als ich in Ciceros per-
sönlichen Dienst eintrat, ein auf seinem Familiensitz nahe
Arpinum geborener Haussklave, der Rom nie zuvor gese-
hen hatte. Er war ein junger Rechtsanwalt, der an nervö-
sen Erschöpfungszuständen litt und sich mit jeder Menge
natürlicher Gebrechen herumschlug. Kaum jemand hätte
auf meine und auf seine Zukunftschancen besonders viel
gegeben.
Zu jener Zeit war Ciceros Stimme nicht das Furcht ein-
flößende Organ, zu dem es später wurde. Sie war schroff,
und er neigte zum Stottern. Ich glaube, sein Problem war,
dass die in seinem Kopf brodelnde Menge an Worten sich
bei nervlicher Anspannung in seinem Hals staute, als ob sich
zwei von der nachdrängenden Herde vorwärtsgeschobe-
ne Schafe gleichzeitig durch ein Gatter gequetscht hät-
ten. Wie auch immer, der Inhalt seiner Reden war oft zu
hochtrabend, als dass sein Publikum ihn verstanden hätte.
»Der Gelehrte« oder »der Grieche« wurde er von seinen
unaufmerksamen Zuhörern genannt – was keineswegs als
Kompliment gemeint war. Obwohl niemand sein rhetori-
sches Talent anzweifelte, so war seine Konstitution doch zu
schwächlich, als dass sie seinem Ehrgeiz ebenbürtig gewe-
sen wäre. Mehrstündige Verteidigungsreden – zu jeder Jah-
reszeit, oft unter freiem Himmel – beanspruchten seine
Stimmbänder derart, dass er nicht selten tagelang heiser
und ohne Stimme war. Zudem litt er unter chronischer
Schlaflosigkeit und einer schwachen Verdauung. Kurzum:
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Wollte er, wie es sein sehnlichster Wunsch war, politische
Karriere machen, so benötigte er professionelle Hilfe. Al-
so beschloss Cicero, Rom für einige Zeit zu verlassen und
zu reisen. Erstens, um seine Kräfte aufzufrischen, und zwei-
tens, um die führenden Lehrmeister der Rhetorik zu kon-
sultieren, von denen die meisten in Griechenland und Klein
asien lebten.
Als Verantwortlicher für die kleine Bibliothek seines Vaters
verfügte ich über eine passable Kenntnis des Griechischen,
und deshalb bat Cicero seinen Vater – ganz so, als wollte er
sich ein Buch aus dem Regal nehmen –, ob er mich auslei-
hen und mit in den Osten nehmen könne. Meine Aufgabe
würde unter anderem darin bestehen, mich um seine Ter-
mine zu kümmern,Transportmittel anzuheuern und Lehrer
zu bezahlen, wobei geplant war, dass ich nach einem Jahr
wieder zu meinem alten Herrn zurückkehren sollte. Am
Ende sollte ich, wie so manches nützliches Buch auch, nie
zurückgegeben werden.
Am Tag, als wir in See stechen wollten, fanden wir uns im
Hafen von Brundisium ein. Das war im sechshundertfünf-
undsiebzigsten Jahr nach der Gründung Roms, in der Zeit
des Konsulats von Servilius Vatia und Claudius Pulcher. Da-
mals war Cicero noch nicht die imposante Gestalt, zu der
er später wurde und deren Züge so bekannt waren, dass er
nicht einmal durch die ruhigste Straße spazieren konnte,
ohne erkannt zu werden. (Was, so frage ich mich, ist nur
mit den Tausenden seiner Büsten und Porträts geschehen,
die einst so viele Privathäuser und öffentliche Gebäude
geschmückt haben? Sind sie wirklich alle zerstört und ver-
brannt worden?) Der junge Mann, der an jenem Frühlings-
morgen am Kai stand, war schmächtig, hatte einen Rund
rücken und einen unnatürlich langen Hals, in dem ein
Adamsapfel so groß wie eine Kinderfaust auf und ab hüpfte.
Seine Haut war blass, er hatte vorstehende Augen und ein-
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gefallene Wangen; kurz, er war das Abbild eines kränklichen
Mannes. Ich weiß noch, dass ich dachte: Halt dich ran, Tiro,
mach das Beste aus der Reise, lange kann sie nicht dauern.
Zuerst fuhren wir nach Athen, wo er sich das Vergnügen
gönnen wollte, an der Akademie Philosophie zu studieren.
Als ich ihm zum ersten Mal die Tasche in den Vorlesungs-
saal getragen hatte und mich wieder entfernen wollte, rief
er mich zu sich zurück und fragte, wohin ich denn vorhätte
zu gehen.
»In den Schatten zu den anderen Sklaven«, antwortete
ich. »Es sei denn, Ihr benötigt noch meine Dienste.«
»Und ob ich die benötige«, sagte er. »Ich habe eine äußerst
anstrengende Aufgabe für dich. Ich will, dass du hierbleibst
und dir ein klein wenig Philosophie aneignest. Dann habe
ich auf unseren langen Reisen jemanden, mit dem ich mich
unterhalten kann.«
Also blieb ich, und mir wurde die Ehre zuteil, persönlich
Antiochos aus Askalon zu hören, der die drei Grundprinzi
pien des Stoizismus erklärte – dass nur die Tugend zur Glück-
seligkeit führe, dass nichts außer der Tugend gut sei und dass
man den Gefühlen nicht trauen könne. Drei einfache Re-
geln, die, würde der Mensch sie befolgen, die meisten Pro-
bleme der Welt lösen könnten. Später diskutierten Cicero und
ich oft über derartige Fragen, und in der Welt der Gedanken
vergaßen wir immer die Unterschiede unserer gesellschaft-
lichen Stellung. Wir blieben sechs Monate bei Antiochos
und zogen dann weiter, um uns dem eigentlichen Zweck
unserer Reise zuzuwenden.
Die tonangebende Schule der Rhetorik zu jener Zeit
war die sogenannte »asianische« Methode. Eine kunstvolle
und blumige Art des Vortrags, voller pompöser Wendungen
und klingender Versformen, auf und ab schreitend zele-
briert, begleitet von ausladender Gestik. Ihr führender Ver-
treter in Rom war Quintus Hortensius Hortalus, der allge-
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mein als der herausragende Redner seiner Zeit betrachtet
wurde und dessen fantasievolle Beinarbeit ihm den Spitz
namen »der Tanzmeister« eingebracht hatte. Um Horten-
sius’ Methode zu ergründen, legte Cicero besonderen Wert
darauf, all seine Lehrmeister aufzusuchen: Menippos aus
Stratonikeia, Dionysios aus Magnesia, Aischylos aus Kni-
dos, Xenokles aus Adramyttion – allein die Namen geben
eine Ahnung von ihrem Stil. Mit jedem von ihnen ver-
brachte Cicero Wochen. Er studierte ihre Techniken so lan-
ge, bis er glaubte, sie begriffen zu haben.
»Tiro, ich habe genug von diesen gelackten Gockeln«,
sagte er eines Abends, während er in dem gedünsteten Ge-
müse herumstocherte, das er jeden Tag aß. »Kümmere dich
um ein Boot, das uns von Loryma nach Rhodos bringt.Wir
versuchen etwas anderes, wir schreiben uns in der Schule
von Apollonios Molon ein.«
Und so kam es, dass an einem Frühlingsmorgen kurz nach
Sonnenaufgang, als das Karpathische Meer so milchig glatt
wie eine Perle vor uns lag (man muss mir die gelegentlichen
gedrechselten Wendungen verzeihen: Ich habe zu viel grie-
chische Dichtung gelesen, als dass ich den nüchternen latei-
nischen Stil durchhalten könnte), ein Boot uns vom Festland
zu jener altberühmten, zerklüfteten Insel brachte, wo am
Landungssteg die stämmige Gestalt von Molon höchstper-
sönlich wartete.
Molon war ein Rechtsgelehrter, der aus Alabanda stamm-
te und in den Gerichtssälen Roms brilliert hatte. Ihm war
sogar die beispiellose Ehre zuteil geworden, im Senat eine
Rede in griechischer Sprache halten zu dürfen. Danach
hatte er sich nach Rhodos zurückgezogen und seine Rhe-
torikschule gegründet. Seine Theorie der Redekunst, die
das genaue Gegenteil der »asianischen« darstellte, war ein-
fach: Lauf nicht zu viel herum, halt den Kopf gerade, komm
schnell zum Punkt, bring deine Zuhörer zum Lachen, bring
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sie zum Weinen, und wenn du ihre Sympathie gewonnen
hast, dann setz dich wieder hin. »Denn nichts«, so Molon,
»trocknet schneller als eine Träne.« Das war weit mehr nach
Ciceros Geschmack, und so begab er sich ganz und gar in
die Hand von Molon.
Molons erste Handlung an jenem Abend war, dass er
Cicero eine Schüssel hart gekochter Eier mit Sardellensoße
auftischte. Als Cicero fertig gegessen hatte – was nicht ohne
Klagen abging –, servierte er ihm noch ein großes, über
Holzkohle gebratenes Stück Fleisch und einen Becher Zie-
genmilch. »Du brauchst Fleisch auf den Rippen, junger
Mann«, sagte er und klopfte sich auf seinen breiten Brust-
korb. »Aus einer schwächlichen Rohrflöte ist noch nie ein
voller Ton gekommen.« Cicero schaute ihn wütend an, aß
seinen Teller aber pflichtschuldigst bis auf den letzten Bissen
leer. In jener Nacht schlief Cicero zum ersten Mal seit Mo-
naten durch. (Ich weiß das, weil ich immer auf dem Boden
neben seinem Bett schlief.)
Bei Tagesanbruch begannen die Leibesübungen. »Auf dem
Forum zu sprechen ist wie ein Wettlauf«, sagte Molon. »Es
verlangt Durchhaltevermögen und Kraft.« Er täuschte einen
Faustschlag auf Ciceros Brustkorb an, worauf dieser ein lau-
tes Uff! ausstieß, zurückstolperte und fast gestürzt wäre. Mo-
lon ließ ihn mit gespreizten Beinen und durchgedrückten
Knien Aufstellung nehmen und mit den Fingerspitzen zwan-
zig Mal den Boden vor jedem Fuß berühren. Dann musste er
sich mit dem Rücken auf den Boden legen, die Hände hinter
dem Kopf verschränken und, ohne die gestreckten Beine
vom Boden zu heben, den Oberkörper aufrichten und wie-
der senken. Danach befahl er ihm, sich auf den Bauch zu dre-
hen und den Körper ausschließlich mit der Kraft seiner Arme
auf und ab zu hieven, wieder zwanzig Mal und auch hier,
ohne die Knie zu beugen. Das war das Programm des ersten
Tages. An den folgenden Tagen kamen weitere Übungen
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hinzu, und die Dauer der Übungen wurde ausgedehnt. Ci
cero hatte e inen guten Schlaf, und auch die Mahlzeiten ver-
ursachten keine Beschwerden mehr.
Zur eigentlichen Vortragsschulung verließ Molon mit
seinem eifrigen Schüler den schattigen Innenhof, ließ ihn
in der Mittagshitze ohne Pause einen steilen Hügel hinauf-
gehen und dabei Übungspassagen rezitieren – üblicherwei-
se eine Gerichtsszene oder einen Monolog von Menander.
Ciceros stampfende Schritte verscheuchten die Eidechsen,
und die zirpenden Zikaden in den Olivenbäumen waren sein
einziges Publikum, während er seine Lunge kräftigte und
lernte, aus einem einzigen Atemzug das Maximum an Wor-
ten herauszuholen. »Halte die Tonhöhe im mittleren Be-
reich«, wies ihn Molon an. »Da sitzt die Kraft. Nicht zu hoch
und nicht zu tief.« Nachmittags ging Molon mit ihm hin-
unter an den Kiesstrand, postierte sich achtzig Schritt von
Cicero entfernt (die maximale Reichweite der menschlichen
Stimme) und ließ ihn zur Ausbildung des Stimmvolumens
gegen das Donnern und Brausen der Brandung anreden –
das komme, so sagte er, dem Gemurmel von dreitausend
Menschen unter freiem Himmel oder dem Hintergrundge-
räusch von ein paar hundert schwatzenden Menschen im Se-
nat am nächsten. An derlei störende Geräusche müsse Cicero
sich gewöhnen.
»Und was ist mit dem Inhalt?«, fragte Cicero. »Soll nicht
in erster Linie die Kraft meiner Argumente zum Zuhören
zwingen?«
Molon zuckte mit den Achseln. »Inhalt geht mich nichts
an. Denk an Demosthenes: ›Bei der Redekunst zählen nur
drei Dinge. Der Vortrag, der Vortrag und noch einmal der
Vortrag.‹«
»Und mein Stottern?«
»Auch dein St-stottern intere-ressiert mich nicht«, er
widerte Molon grinsend und zwinkerte mit den Augen.
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»Nein, im Ernst, Stottern ist interessant, es vermittelt den
Eindruck von Ehrlichkeit, das ist von Nutzen. Demosthenes
hat selbst leicht gelispelt. Das Publikum identifiziert sich
mit solchen Unzulänglichkeiten. Das einzig Öde ist Per
fektion. Also, geh jetzt ein Stück den Strand hinunter, und
lass hören, ob ich dich noch verstehen kann.«
Und so hatte ich die Ehre, von Anfang an miterleben zu
dürfen, wie der eine Meister der Redekunst dem anderen
seine Kunstgriffe beibrachte. »Möglichst nicht den Kopf
neigen, das macht einen unmännlichen Eindruck. Nicht
mit den Fingern schlenkern und immer die Schultern still
halten.Wenn du für eine Geste deine Finger brauchst, dann
versuch, den gekrümmten Mittelfinger auf die Daumenspit-
ze zu legen und die drei restlichen Finger gerade aus
zustrecken – genau, so ist es gut. Natürlich muss der Blick
immer den Bewegungen der Geste folgen, außer bei einer
zurückweisenden Bemerkung: ›Die Götter mögen uns von
dieser Plage verschonen‹ oder ›ich glaube nicht, dass ich
diese Ehre verdiene‹.«
Alles Schriftliche war verboten. Kein Redner, der diesen
Namen verdiente, würde im Traum daran denken, einen Text
vorzulesen oder sich mit einem Stapel Notizen zu behelfen.
Molon bevorzugte die Standardmethode, um eine Rede ein-
zustudieren: die des imaginären Rundgangs durch das Haus
des Redners. »Stell dir den ersten Punkt, den du vortragen
willst, im Eingangsbereich vor, den zweiten im Atrium und
so weiter. Du wanderst, wie du es gewohnt bist, durchs Haus
und weist nicht nur jedem Raum, sondern jeder Nische und
jeder Statue einen bestimmten Abschnitt der Rede zu. Ach-
te darauf, dass jede dieser Stellen gut beleuchtet ist, klar um-
rissen und unterscheidbar. Sonst wirst du herumtappen wie
ein Betrunkener, der nach einem Fest sein Bett sucht.«
Cicero war nicht Molons einziger Schüler in jenem Früh-
ling und Sommer. Nach und nach stießen Ciceros jüngerer
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Bruder Quintus, sein Vetter Lucius und zwei seiner Freunde
zu uns: Servius, ein penibler Rechtsanwalt, der Richter wer-
den wollte, und Atticus – der elegante, charmante Titus Pom-
ponius Atticus –, den die Redekunst nicht interessierte, da
er in Athen lebte und ganz sicher keine politische Karriere
anstrebte, sondern sich einfach gern in Ciceros Gesellschaft
aufhielt. Alle staunten über die Veränderungen, die Cice-
ros Gesundheit und Auftreten erfahren hatten, und an ihrem
letzten gemeinsamen Abend – es war inzwischen Herbst
geworden und Zeit, nach Rom zurückzukehren – kamen
sie zusammen, um mit eigenen Ohren zu hören, wie sich
Molons Bemühungen auf Ciceros Redekunst ausgewirkt
hatten.
Ich wünschte, ich könnte mich erinnern, worüber Cicero
an jenem Abend nach Tisch gesprochen hat, aber leider
bin ich der lebende Beweis für Demosthenes’ zynische Be-
hauptung, dass – verglichen mit der Art des Vortrags – der
Inhalt nichts zähle. Ich stand diskret im Schatten, außer
Sichtweite, und entsinne mich nur noch an die Motten, die
wie Aschepartikel um die Fackeln herumwirbelten, an die
glitzernden Sterne am Himmel über dem Innenhof und an
die Cicero zugewandten, vom Feuerschein geröteten Ge-
sichter der hingerissenen jungen Männer. Allerdings erin
nere ich mich noch genau an die Worte Molons, nachdem
sich sein Schüler mit einer abschließenden Verbeugung zur
imaginären Geschworenenbank wieder gesetzt hatte. Nach
langem Schweigen erhob er sich und sagte mit heiserer
Stimme: »Ich gratuliere dir, Cicero, du hast mich in Stau-
nen versetzt. Was ich bedauere, ist Griechenland, das
Schicksal Griechenlands. Der uns einzig verbliebene Ruhm
war der überlegene Rang unserer Rhetorik, und diesen
hast du uns jetzt auch genommen. Geh zurück.« Er deu-
tete mit jenen drei ausgestreckten Fingern über die vom
Fackelschein erleuchtete Terrasse in Richtung des fernen,
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dunklen Meeres. »Geh zurück, mein junger Freund, und
erobere Rom.«
❧
Na schön. Leicht gesagt. Aber wie stellt man das an? Wie er-
obert man Rom, wenn einem als einzige Waffe nur seine
Stimme zur Verfügung steht?
Der erste Schritt ist naheliegend: Man muss Senator wer-
den.
Um in den Senat zu gelangen, musste man mindestens
einunddreißig Jahre alt und Millionär sein. Genauer gesagt:
Wenn alljährlich im Quintilis zwanzig neue Senatoren ge-
wählt wurden, die die im abgelaufenen Jahr gestorbenen oder
inzwischen zu arm gewordenen ersetzten, hatte man sogar
nur für die Kandidatur den Behörden Vermögen im Wert
von einer Million Sesterzen nachzuweisen.Aber woher soll-
te Cicero eine Million nehmen? Sein Vater jedenfalls hatte
nicht so viel Geld: Das Anwesen der Familie war klein und
mit hohen Hypotheken belastet. Ihm blieben deshalb nur
die drei üblichen Optionen: sich die Million zu verdienen,
was zu lange dauern würde; sie zu stehlen, was zu riskant
war; oder sie zu heiraten, was Cicero kurz nach seiner
Rückkehr aus Rhodos tat. Terentia war siebzehn, jun-
genhaft flachbrüstig, und ihren Kopf zierten kurze, dich-
te schwarze Locken. Ihre Halbschwester war eine Vesta-
Priesterin, Beleg für die hohe gesellschaftliche Stellung
ihrer Familie. Wichtiger war, dass ihr zwei Straßenzüge mit
Mietwohnungen in den Elendsvierteln von Rom, einige
Waldgebiete vor den Toren der Stadt und dazu ein Landgut
gehörten. Gesamtwert: eineinviertel Millionen Sesterze.
(Ach ja, Terentia: schlicht, distinguiert und reich – was war
sie doch für ein Früchtchen! Erst vor ein paar Monaten ha-
be ich sie gesehen, auf der Küstenstraße nach Neapel. Sie saß
in einer offenen Sänfte und kreischte ihre Träger an, dass sie
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sich etwas beeilen sollten. Ihr Haar war weiß und die Haut
walnussfarben, aber sonst schien sie sich nicht verändert zu
haben.)
Und so wurde Cicero zur gegebenen Zeit in den Senat
gewählt – tatsächlich erzielte er, der inzwischen allgemein als
zweitbester Rechtsanwalt Roms nach Hortensius betrachtet
wurde, das beste Stimmenergebnis. Bevor er seinen Sitz im
Senat einnehmen konnte, musste er das obligatorische Jahr
Regierungsdienst außerhalb Roms ableisten, was in seinem
Fall die Provinz Sizilien war. Sein offizieller Titel war der
eines Quästors, der die unterste Stufe in der Ämterlaufbahn
darstellte. Frauen war es verboten, ihre Ehemänner auf die-
sen Dienstreisen zu begleiten, sodass Terentia – sicher zur
großen Erleichterung Ciceros – zu Hause blieb. Ich a ller-
dings ging mit ihm, denn inzwischen war ich für ihn zu
einer Art verlängertem Arm geworden, den er, ohne darüber
nachzudenken, wie seinen eigenen benutzte. Ein Grund für
meine Unverzichtbarkeit war, dass ich eine Technik ent
wickelt hatte, die es mir erlaubte, seine Worte so schnell
niederzuschreiben, wie er sie aussprach. Aus kleinen Anfän-
gen – ich kann in aller Bescheidenheit behaupten, das Et-
Zeichen erfunden zu haben – schwoll mein System schließ-
lich zu einem Handbuch mit etwa viertausend Symbolen an.
Ich fand zum Beispiel heraus, dass Cicero bestimmte Wen-
dungen immer wieder benutzte. Diese reduzierte ich auf
einen Strich oder ein paar Pünktchen und erbrachte somit
den Beweis für etwas, was die meisten Menschen ohnehin
schon wissen – dass nämlich Politiker im Wesentlichen im-
mer wieder das Gleiche sagen. Er diktierte mir, während er
in der Badewanne oder auf dem Sofa lag, in einer schaukeln-
den Karosse oder auf Landspaziergängen. Ihm gingen nie die
Worte aus, und mir fehlte es nie an Symbolen, um seine
durch die Luft wirbelnden Worte einzufangen und festzuhal-
ten. Wir waren wie füreinander geschaffen.
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Doch zurück zu Sizilien. Keine Angst: Ich werde über un-
sere Arbeit jetzt nicht in allen Einzelheiten berichten. Wie
so oft in der Politik war die Tätigkeit nicht nur im Rück-
blick, nach über siebzig Jahren, sondern auch schon damals
langweilig. Der Erinnerung wert und von Bedeutung war
die Rückreise nach Rom. Um sicherzugehen, dass er genau
in den Senatsferien die Bucht von Neapel erreichte, wenn
sich die versammelte Politprominenz in den Mineralbädern
Puteolis vergnügte, verschob Cicero unsere Abreise extra
um einen Monat, von März auf April. Er wies mich an, ein
Boot mit zwölf Ruderern anzumieten, das prächtigste, das
ich auftreiben könnte, damit er stilvoll – zum ersten Mal
würde er die Toga mit dem purpurfarbenen Saum des Se
nators der Römischen Republik tragen – in den Hafen ein-
laufen konnte.
Cicero war davon überzeugt gewesen, in Sizilien derart
erfolgreiche Arbeit geleistet zu haben, dass er zu Hause in
Rom unausweichlich im Mittelpunkt allen Interesses stehen
würde. Auf Hundert stickigen Marktplätzen, unter Tausend
staubigen, von Wespen wimmelnden Platanen hatte er un-
parteiisch und würdevoll römisches Recht gesprochen. Er
hatte eine einmalig große Menge Getreide zu einem ein-
malig niedrigen Preis gekauft und für das Wahlvolk nach
Rom transportieren lassen. Seine Reden bei Regierungs
zeremonien waren Meisterwerke an Taktgefühl gewesen.
Er hatte sogar Interesse an den Gesprächen der einheimi-
schen Bevölkerung geheuchelt. Er wusste, dass er gute Ar-
beit geleistet hatte, und brüstete sich mit seinen Errungen-
schaften in einem Strom von Berichten an den Senat. Ich
muss gestehen, dass ich den Ton seiner Berichte gelegentlich
etwas abmilderte, bevor ich sie dem offiziellen Boten über-
gab, und dass ich ihn darauf hinzuweisen versuchte, dass
nicht jeder Sizilien für den Mittelpunkt der Welt hielt. Er
nahm jedoch keine Notiz davon.
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Ich sehe ihn noch vor mir, wie er bei unserer Rückkehr
nach Italien am Bug stand und angestrengt zur Anlegestelle
von Puteoli blickte. Was hatte er erwartet? Eine Musik
kapelle, die ihn an Land geleitete? Eine Abordnung der
Konsuln, die ihm einen Lorbeerkranz überreichte? Sicher,
an Land war eine Menschenmenge zu sehen, aber die war
nicht seinetwegen gekommen. Hortensius, der schon das
Konsulat ins Auge gefasst hatte, veranstaltete auf mehreren
farbenprächtig geschmückten Vergnügungsschiffen, die ganz
in der Nähe festgemacht hatten, ein Bankett. Die an der
Anlegestelle Versammelten waren seine Gäste, die darauf
warteten, übergesetzt zu werden. Cicero ging an Land –
gänzlich unbeachtet.Verwirrt schaute er sich um, als einigen
der Festgäste sein makellos leuchtendes Senatorengewand
auffiel. Sie liefen auf ihn zu, und er straffte in freudiger Er-
wartung die Schultern.
»Senator«, rief einer. »Was gibt’s Neues in Rom?«
Cicero schaffte es irgendwie, sein Lächeln zu bewahren.
»Ich komme nicht aus Rom, guter Mann. Ich bin auf dem
Rückweg aus meiner Provinz.«
Ein rothaariger, eindeutig schon betrunkener Mann sag-
te: »Hört, hört, guter Mann! Er ist auf dem Rückweg aus sei-
ner Provinz …«
Der Mann machte sich kaum die Mühe, sein Lachen im
Zaum zu halten.
»Was ist so lustig daran?«, fragte ein Dritter, der die
Wogen glätten wollte. »Hast du das etwa nicht gewusst?
Der Senator kommt aus Africa.«
Ciceros Lächeln war heldenhaft. »Nun ja, eigentlich aus
Sizilien.«
Gut möglich, dass es noch eine Weile in diesem Ton wei-
terging. Ich kann mich nicht erinnern. Als die Leute merk-
ten, dass es hier keine Klatschgeschichten aufzuschnappen
gab, trollten sie sich wieder. Kurz darauf erschien Horten-
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sius und geleitete die restlichen Gäste zu ihren Fährbooten.
Er hatte zumindest die Höflichkeit, Cicero mit einem kur-
zen Nicken zu begrüßen, war aber eindeutig nicht gewillt,
ihn ebenfalls zu seinem Fest zu bitten.Wir blieben allein zu
rück.
Ein unbedeutender Vorfall, könnte man meinen, doch
Cicero selbst pflegte später zu sagen, dass dies der Augen-
blick war, in dem sein Ehrgeiz so hart wie Stein geworden
sei. Er war gedemütigt worden – gedemütigt von der eige-
nen Eitelkeit – und hatte auf brutale Art erkennen müssen,
wie gering seine Stellung in der Welt war. Lange Zeit blieb
er am Ufer stehen, beobachtete das festliche Treiben von
Hortensius und seinen Freunden und lauschte den heiteren
Flötenklängen, die über das Wasser wehten. Als er sich
schließlich abwandte, war er ein anderer Mensch. Ich über-
treibe nicht, ich habe es in seinen Augen gesehen. Na schön,
schien sein Gesichtsausdruck zu sagen, albert nur rum, ihr
Idioten, ich werde mich an die Arbeit machen.
»Ich bin geneigt zu behaupten, meine Herren, dass diese
Erfahrung von größerem Wert für mich war, als wenn man
mich mit Beifallsstürmen begrüßt hätte. Fortan kümmerte
ich mich nicht mehr darum, was die Welt wohl von mir zu
hören bekäme: Seit jenem Tag achtete ich darauf, dass man
mich täglich zu Gesicht bekam. Ich lebte im Licht der Öf-
fentlichkeit. Ich ging regelmäßig zum Forum. Weder mein
Türwächter noch mein Schlaf hinderten irgendwen daran,
mich in meinem Haus zu besuchen und mit mir zu spre-
chen. Auch wenn ich nichts zu tun hatte, hieß das nicht, dass
ich nichts tat. Zeit vollkommener Muße war etwas, was ich
nicht kannte.«
Erst kürzlich stolperte ich bei der Lektüre einer seiner
Reden über diese Passage, für deren Richtigkeit ich mich
verbürge. Wie im Dämmerzustand verließ er den Hafen,
ging bergauf durch Puteoli und hinaus auf die Überland-
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straße, ohne sich noch einmal umzublicken. Ich hechelte
hinter ihm her, wobei ich so viel Gepäck mitschleppte, wie
ich konnte. Schritt er anfangs noch langsam und voller Ge-
danken dahin, so ging er nach und nach immer schneller,
bis er schließlich mit so großen Schritten auf Rom zumar-
schierte, dass ich kaum mithalten konnte.
Und damit endet meine erste Rolle und beginnt gleich-
zeitig die eigentliche Geschichte von Marcus Tullius Cicero.
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KAPITEL II
27
Koch, einem Diener und einem Türwächter. Dann gab es da
noch einen alten blinden Philosophen, den Stoiker Diodo-
tos, der sich gelegentlich aus seinem Zimmer heraustastete
und Cicero, wenn es diesem nach einem Disput verlangte,
beim Abendessen Gesellschaft leistete. Macht insgesamt fünf-
zehn Haushaltsmitglieder. Terentia beklagte sich zwar stän-
dig über die beengten Verhältnisse, aber Cicero wollte nicht
umziehen, weil er zu jener Zeit immer noch ganz in seiner
Rolle als Mann des Volkes aufging und das Haus perfekt zu
seinem Ruf passte.
Wie an jedem Tag, so streifte ich mir auch an jenem
Morgen als Erstes eine Kordel über mein linkes Handge-
lenk, an der ein kleines, von mir selbst entworfenes Notiz-
buch hing. Es bestand nicht aus den üblichen ein oder
zwei, sondern aus vier Wachstafeln in Buchenholzrahmen,
die sehr dünn und auf beiden Seiten beschreibbar waren
und über Scharniere verfügten, sodass ich das Notizbuch
auf- und zuklappen konnte. Somit konnte ich während
eines Diktats weitaus mehr Text aufnehmen als ein durch-
schnittlicher Sekretär, dennoch steckte ich mir angesichts
Ciceros gewaltigen Redeflusses immer noch ein paar No-
tizbücher zur Reserve ein. Dann zog ich den Vorhang des
Fensters in meinem winzigen Raum auf, ging durch den
Innenhof ins Tablinum, zündete die Lampen an und über-
prüfte, ob alles an seinem Platz war. Auf dem einzigen Mö-
belstück im Raum, einer Anrichte, stand eine Schale mit
Kichererbsen. (Ciceros Name war vom Wort cicer abge-
leitet, was Kichererbse bedeutet, und da Cicero glaubte,
dass in der Politik ein ungewöhnlicher Name von Vorteil
sei, achtete er sehr darauf, die Aufmerksamkeit darauf zu
lenken.) Wenn alles zu meiner Zufriedenheit war, ging
ich durch das Atrium in den Empfangsraum, wo der Tür-
wächter auf mich wartete. Seine Hand lag schon auf dem
großen eisernen Türriegel. Mit einem Blick durch ein
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schmales Fenster überprüfte ich, ob es schon hell genug
war. Wenn ja, gab ich dem Türwächter mit einem Nicken
das Zeichen zum Öffnen.
Draußen in der Kälte wartete schon die übliche Menge an
Unglücksraben und Verzweifelten. Während sie eintraten,
notierte ich mir die Namen. Die meisten waren mir bekannt.
Fremde fragte ich nach dem Namen. Die üblichen Versager
schickte ich wieder weg. Die unumstößliche Anweisung lau-
tete: »Wenn er wählen darf, lass ihn rein.« Folglich füllte sich
das Tablinum schnell mit nervösen Klienten, von denen jeder
seinen Teil an des Senators Zeit beanspruchte. Ich blieb an der
Tür stehen, bis ich glaubte, dass alle Wartenden hereinge
kommen waren, und machte gerade den ersten Schritt zu-
rück ins Haus, als ein Mann in Trauerkleidung bedrohlich im
Türrahmen auftauchte. Ich scheue mich nicht, zu gestehen,
dass er mir mit seinem verstaubten Gewand, den zerzausten
Haaren und seinem unrasierten Gesicht Angst einjagte.
»Tiro!«, sagte er. »Den Göttern sei Dank!« Er sank er-
schöpft gegen den Türrahmen und schaute mich aus blassen,
leblosen Augen an. Ich schätze, er muss damals so um die
fünfzig gewesen sein. Im ersten Augenblick wusste ich nicht,
wer er war, aber da es zu den Aufgaben eines politischen
Sekretärs gehört, Gesichtern Namen zuordnen zu können,
fügten sich vor meinem geistigen Auge trotz seines Zustan-
des nach und nach die Teile eines Bildes zusammen: ein
großes Haus mit Blick aufs Meer, ein kunstvoll angelegter
Garten, eine Sammlung Bronzestatuen, eine Stadt irgendwo
in Sizilien, im Norden – richtig, Thermae.
»Sthenius aus Thermae«, sagte ich und streckte die Hand
aus. »Herzlich willkommen.«
Es stand mir nicht zu, sein Äußeres zu kommentieren
oder ihn danach zu fragen, was er Hunderte von Meilen
entfernt von zu Hause zu tun habe, und das unter so offen-
sichtlich üblen Umständen. Ich ließ ihn im Tablinum war-
29
ten und ging in Ciceros Arbeitszimmer. Der Senator, der an
jenem Morgen bei Gericht einen des Vatermordes ange
klagten Jugendlichen zu verteidigen hatte und außerdem
zur Nachmittagssitzung im Senat erwartet wurde, knetete
zur Kräftigung seiner Fingermuskeln einen kleinen Leder-
ball, während ihm sein Diener die Toga anlegte. Er hörte
dem jungen Sositheus zu, der ihm einen Brief vorlas, und
diktierte gleichzeitig Laurea, dem ich die Grundzüge mei-
ner Kurzschrift beigebracht hatte, eine Botschaft. Als ich
eintrat, warf er mir den Ball zu, den ich reflexartig auffing,
und bedeutete mir, ihm die Besucherliste zu geben. Er las sie
begierig durch, wie jeden Morgen.Wer war ihm über Nacht
ins Netz gegangen? Etwa irgendein prominenter Bürger aus
einem nützlichen Wahlbezirk? Einer aus Sabatina vielleicht?
Oder Pomptina? Oder ein Geschäftsmann, der so reich war,
dass er bei den Konsulatswahlen zu den ersten stimmbe
rechtigten Zenturien gehörte? Aber heute handelte es sich
nur um die üblichen kleinen Fische, sodass sein Gesicht im-
mer länger wurde, je näher er dem Ende der Liste kam.
»Sthenius?« Er unterbrach das Diktat. »Das ist doch die-
ser Sizilier, oder? Der Reiche mit den Bronzestatuen? Schät-
ze, wir hören uns mal an, was er will.«
»Sizilier dürfen nicht wählen«, bemerkte ich.
»Pro bono«, sagte er mit unbewegtem Gesicht. »Außerdem
hat er Bronzestatuen. Lass ihn als Ersten rein.«
Also holte ich Sthenius, dem Ciceros Standardbegrüßung
zuteil wurde – ein Lächeln, das schon zu seinem Marken-
zeichen geworden war; der männlich kräftige Händedruck
mit beiden Händen; der lange, ernste Blick in die Augen.
Dann bat er ihn, Platz zu nehmen, und fragte, was ihn nach
Rom führe. Nach und nach wurden meine Erinnerungen
an Sthenius wieder wach. Zwei Mal, als Cicero zur Anhö-
rung von Streitsachen nach Thermae gereist war, hatten wir
in seinem Haus übernachtet. Er war einer der führenden
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Bürger der Provinz gewesen, doch von der Vitalität und dem
Selbstvertrauen von damals war nichts mehr zu spüren. Er
brauche Hilfe, sagte er. Er stehe vor dem Ruin. Sein Leben
sei in ernster Gefahr. Man habe ihn ausgeraubt.
»Tatsächlich?«, sagte Cicero.Während er mit halbem Ohr
zuhörte, schaute er auf eine Urkunde, die vor ihm auf dem
Schreibpult lag. Elendsgeschichten wie diese waren für e inen
beschäftigten Anwalt nichts Besonderes. »Du hast mein Mit-
gefühl. Ausgeraubt von wem?«
»Vom Statthalter in Sizilien, Gaius Verres.«
Der Senator schaute augenblicklich auf.
Danach war Sthenius nicht mehr zu bremsen. Während
es nur so aus ihm heraussprudelte, bedeutete mir Cicero
mit einer unauffälligen Handbewegung, dass ich mitschrei-
ben solle. Als Sthenius seinen Redefluss kurz unterbrechen
musste, um Luft zu holen, bat Cicero ihn behutsam, doch
ein bisschen zurückzugehen, etwa drei Monate, bis zu dem
Tag, an dem er den ersten Brief von Verres erhalten habe.
»Wie hast du darauf reagiert?«
»Ich war natürlich etwas beunruhigt. Er hat schließlich
einen gewissen Ruf. Verres heißt ja Eber, und die Leute
nennen ihn den Eber mit der blutverschmierten Schnauze.
Ich konnte mich kaum widersetzen.«
»Hast du den Brief noch?«
»Ja.«
»Und in dem Brief hat Verres deine Kunstsammlung
explizit erwähnt?«
»Ja, sicher. Er hat geschrieben, dass er davon gehört hätte
und dass er sie sich gern anschauen würde.«
»Und wann ist er dann gekommen und hat sich bei dir
eingenistet?«
»Schon bald, höchstens eine Woche später.«
»War er allein?«
»Nein, er war in Begleitung seiner Liktoren. Die musste
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ich auch unterbringen. Leibwächter sind ja immer grobe
Burschen, aber so üble Schläger wie die hatte ich noch nie
gesehen. Ihr Anführer Sextius ist der offizielle Scharfrichter
für ganz Sizilien. Er presst seinen Opfern Bestechungsgel-
der ab. Wenn sie nicht wollen, dass er pfuscht – sie also vor
der Exekution übel zurichtet –, dann müssen sie ihn beste-
chen.« Sthenius schluckte und atmete schwer.Wir warteten.
»Lass dir ruhig Zeit«, sagte Cicero.
»Ich hatte gedacht, dass er nach der Reise vielleicht erst
ein Bad nehmen wollte und dass wir danach zu Abend essen
würden, aber keine Rede davon, er wollte auf der Stelle die
Sammlung sehen.«
»Ich kann mich an einige außergewöhnliche Stücke er-
innern.«
»Die Sammlung war mein Leben, Senator, ganz einfach.
Dreißig Jahre Herumreisen und Feilschen. Korinthische
und delische Bronzestatuen, Gemälde, Silberzeug – jedes
einzelne Stück habe ich selbst begutachtet und ausgesucht.
Ich hatte Myrons Diskuswerfer und den Speerträger von Poly-
klet. Und ein paar Silberbecher von Mentor.Verres hat mir
geschmeichelt. Er hat gesagt, dass die Sammlung ein größe-
res Publikum verdient hätte, sie wäre so gut, dass man sie öf
fentlich ausstellen sollte. Ich habe mir nichts dabei g edacht,
bis ich plötzlich, als wir zusammen auf der Terrasse beim
Abendessen saßen, aus dem Innenhof Geräusche gehört
habe. Mein Verwalter hat mir ins Ohr geflüstert, dass ein
Ochsengespann gekommen sei und Verres’ Liktoren dabei
wären, alles aufzuladen.«
Sthenius verstummte. Es war nicht schwer, sich die
Schmach für diesen so stolzen Mann vorzustellen: die in
Tränen aufgelöste Frau, die verängstigte Familie, die Staub
ränder an den Stellen, wo einst die Statuen gestanden hat-
ten. Das einzig hörbare Geräusch in Ciceros Arbeitszimmer
war das meines kratzenden Griffels auf der Wachstafel.
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»Und du hast keinen Einspruch erhoben?«, fragte Cicero.
»Bei wem denn? Beim Statthalter?« Sthenius lachte. »Nein,
Senator. Ich war am Leben, oder? Wenn es dabei geblieben
wäre, hätte ich den Schmerz über den Verlust herunterge-
schluckt, und du hättest nie einen Muckser von mir gehört.
Aber die Sammelleidenschaft kann sich zu einer Krankheit
auswachsen, und eins kann ich dir sagen: Euren Statthalter
Verres hat es schwer erwischt. Erinnerst du dich an die Sta-
tuen auf dem Stadtplatz?«
»Und ob ich mich erinnere. Drei exquisite Bronzesta
tuen. Willst du etwa behaupten, dass er die auch gestohlen
hat?«
»Er hat es versucht. Das war am dritten Tag, als er mich ge-
fragt hat, wem die gehören. Ich habe ihm gesagt, dass sie der
Stadt gehörten, schon seit Jahrhunderten. Hast du gewusst,
dass die Statuen vierhundert Jahre alt sind? Er hat gesagt, dass
er gern die Erlaubnis hätte, sie mit in seinen Amtssitz nach
Syracusae zu nehmen, natürlich ebenfalls als Leihgabe, und
er hat mich gebeten, seinen Wunsch dem Stadtrat vorzutra-
gen. Da habe ich gewusst, was für einen Menschen ich vor
mir hatte. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm diesen Gefallen –
bei aller Hochachtung – nicht tun könne. Er ist dann noch
am selben Abend abgereist, und ein paar Tage später habe ich
eine Vorladung für den fünften Oktober bekommen, weil ich
der Fälschung beschuldigt worden sei.«
»Von wem kam die Anzeige?«
»Von einem meiner Feinde, Agathinus. Er ist ein Klient
von Verres. Mein erster Gedanke war, dass ich das ausfech-
te. Was meine Ehre angeht, habe ich nichts zu befürchten.
Nie in meinem Leben habe ich ein Dokument gefälscht.
Aber dann habe ich gehört, dass Verres selbst der Richter
sein würde und dass er die Strafe schon festgesetzt hätte. Für
meine Dreistigkeit sollte ich vor den Augen der ganzen Stadt
ausgepeitscht werden.«
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»Und dann bist du geflohen.«
»Noch in derselben Nacht mit einem Boot an der Küste
entlang nach Messana.«
Cicero stützte sein Kinn auf die Hand und schaute Sthe
nius nachdenklich an. Mir war diese Geste bekannt. Er ta-
xierte die Glaubwürdigkeit des Zeugen. »Du sagst, dass die
Verhandlung am fünften des letzten Monats war? Hast du in
Erfahrung bringen können, was an dem Tag passiert ist?«
»Deshalb bin ich hier. Ich bin in Abwesenheit zu öffent-
licher Auspeitschung und fünftausend Sesterzen Strafe ver-
urteilt worden. Aber das ist nicht das Schlimmste. Bei der
Verhandlung hat Verres behauptet, dass es neues Beweis
material gegen mich gebe, diesmal wegen Spionage für die
Rebellen in Spanien. Er hat für den ersten Dezember eine
neue Verhandlung in Syracusae angesetzt.«
»Aber Spionage ist ein Kapitalverbrechen.«
»Du musst mir glauben, Senator, er will mich ans Kreuz
schlagen lassen. Er posaunt das schon überall herum. Ich
wäre ja nicht der Erste. Ich brauche Hilfe. Ich flehe dich an,
bitte hilf mir!«
Ich hatte den Eindruck, er würde jeden Augenblick auf
die Knie fallen und die Füße des Senators küssen. Die glei-
che Ahnung hatte wohl auch Cicero, denn er stand hastig auf
und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich glaube,
Sthenius, dein Fall hat zwei verschiedene Aspekte. Bei dem
ersten, dem Diebstahl deines Eigentums, kann man ehrlich
gesagt wohl nichts machen. Was glaubst du denn, warum
Männer wie Verres den Statthalterposten anstreben? Weil
sie wissen, dass sie sich im Rahmen gewisser Grenzen alles
unter den Nagel reißen können, was sie wollen. Der zweite
Aspekt, Missachtung des Rechtsweges, sieht da schon viel-
versprechender aus.
Ich kenne in Sizilien mehrere Männer mit exzellenten ju
ristischen Fähigkeiten – richtig, einer lebt sogar in Syracusae.
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Ich werde ihm noch heute schreiben und ihn dringend bit-
ten, mir zuliebe deinen Fall zu übernehmen. Ich werde ihm
außerdem darlegen, was meiner Meinung nach zu tun ist. Er
soll bei Gericht den Antrag stellen, die anstehende Klage für
unwirksam zu erklären mit der Begründung, dass du dich
nicht persönlich verteidigen kannst. Sollte das fehlschlagen
und Verres das Verfahren durchziehen, soll dein Anwalt nach
Rom kommen und die Verurteilung anfechten.«
Aber der Sizilier schüttelte den Kopf. »Wenn ich nur
einen Anwalt in Syracusae brauchte, Senator, hätte ich nicht
den weiten Weg bis nach Rom gemacht.«
Ich konnte sehen, dass Cicero nicht erfreut darüber war,
in welche Richtung sich das Gespräch bewegte. Ein der
artiger Fall könnte seine Praxis für Tage lahmlegen, und Si-
zilier waren – worauf ich ihn hingewiesen hatte – in Rom
nicht wahlberechtigt. Pro bono – wie wahr!
»Hör zu«, sagte er mit besänftigender Stimme. »Deine
Erfolgsaussichten sind gut.Verres ist offensichtlich korrupt.
Er missbraucht deine Gastfreundschaft, er stiehlt, er bringt
falsche Beschuldigungen vor. Er plant einen Justizmord.
Seine Position ist unhaltbar. Ein Anwalt in Syracusae wird
damit leicht fertig – ganz sicher, glaub mir. Wenn du mich
jetzt entschuldigen würdest, auf mich warten jede Menge
Klienten, außerdem habe ich in einer knappen Stunde e inen
Termin bei Gericht.«
Cicero nickte mir zu. Ich trat vor und legte eine Hand auf
Sthenius’ Arm, um ihn nach draußen zu geleiten. Der Sizi-
lier schüttelte meine Hand ab. »Aber ich brauche dich«, sag-
te er hartnäckig.
»Warum?«
»Weil ich nur in Rom eine Aussicht auf Gerechtigkeit
habe, nicht in Sizilien. Da kontrolliert Verres die Gerichte.
Und alle Leute sagen, dass du, Marcus Tullius Cicero, der
zweitbeste Anwalt Roms bist.«
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»Ach ja, tun das die Leute?« Ciceros Stimme nahm einen
sarkastischen Ton an. Er hasste dieses Attribut. »Wenn dem
so ist, warum gibst du dich dann mit dem Zweitbesten zu-
frieden? Warum nimmst du nicht gleich Hortensius?«
»Das wollte ich ja«, sagte Sthenius arglos. »Aber er hat ab-
gelehnt. Er vertritt Verres.«
❧
Ich begleitete den Sizilier nach draußen und ging wieder
in Ciceros Arbeitszimmer. Er war allein. Zurückgelehnt
saß er auf seinem Stuhl, starrte an die Wand und warf den
Lederball von einer Hand in die andere. Juristische Fach-
bücher lagen unordentlich auf seinem Schreibpult herum.
Eins, das er aufgeschlagen hatte, hieß Juristische Verfahrens
regeln und war von Hostilius. Ein anderes war Manilius’
Kauf- und Verkaufsverträge.
»Erinnerst du dich an den Besoffenen am Pier von Pu-
teoli? Den mit den roten Haaren? Als wir gerade aus Sizilien
eingelaufen waren? ›Hört, hört, guter Mann! Er ist auf dem
Rückweg aus seiner Provinz …‹«
Ich nickte.
»Das war Verres.« Der Ball hüpfte von der linken in die
rechte, von der rechten in die linke Hand. »Der Bursche
bringt noch die gute alte Korruption inVerruf.«
»Mich überrascht, dass Hortensius sich mit ihm einlässt.«
»Das überrascht dich? Mich nicht.« Er hörte auf, mit
dem Ball zu spielen. Nachdenklich betrachtete er die Leder-
kugel, die auf seiner ausgestreckten Hand lag. »Der Tanz-
meister und der Eber …« Eine Zeit lang brütete er vor sich
hin. »Ein Mann in meiner Lage müsste verrückt sein, wenn
er sich in ein Scharmützel mit dem Duo Hortensius/Verres
einließe. Und das auch noch wegen einem Sizilier, der nicht
mal Bürger Roms ist.«
36
»Wie wahr.«
»Wie wahr«, wiederholte er. Wegen der seltsam zögern-
den Art, wie er diese beiden Worte aussprach, frage ich
mich allerdings noch heute manchmal, ob er nicht genau
in dieser Sekunde eine Ahnung von der Tragweite des Fal-
les bekommen hatte, von der außerordentlichen Palette
an Möglichkeiten und daraus resultierenden Folgen, die
sich plötzlich in seinem Kopf wie zu einem Mosaik zu
sammensetzten. Wenn ja, so habe ich es zumindest nie er-
fahren, denn in diesem Augenblick platzte noch im Nacht-
hemd seine Tochter Tullia herein, um ihm eine ihrer
kindlichen Zeichnungen zu zeigen. Sofort gehörte seine
ganze Aufmerksamkeit ihr. Er hob sie hoch und setzte sie
sich auf den Schoß. »Hast du das gezeichnet? Hast du das
wirklich selbst gemacht …?«
Ich ließ die beiden allein und ging ins Tablinum, um den
Wartenden mitzuteilen, dass der Senator auf dem Weg ins
Gericht sei und jetzt keine Zeit mehr habe. Der immer noch
jämmerlich dreinblickende Sthenius fragte mich, wann er
mit einer Antwort rechnen könne, worauf ich ihm nur sagen
konnte, er müsse sich gedulden wie jeder andere auch. Kurz
darauf erschien Cicero mit der kleinen Tullia an der Hand
und begrüßte jeden mit Namen (»Die wichtigste Regel in
der Politik, Tiro:Vergiss nie ein Gesicht!«). Wie immer war
seine Erscheinung makellos: pomadisiertes, glatt zurückge-
kämmtes Haar, parfümierte Haut, die Toga frisch gewaschen
und gebügelt, kein Staubkörnchen auf den rot glänzenden
Lederschuhen, das Gesicht braun gebrannt vom jahrelangen
Plädieren unter freiem Himmel. Gepflegt, schlank, fit. Kurz:
ein glänzender Auftritt. Seine Gäste folgten ihm in den Flur,
wo er sein kleines strahlendes Mädchen hochhob und den
Anwesenden präsentierte. Dann drehte er Tullias Gesicht
zu sich und küsste sie zum Abschied laut schmatzend auf
die Lippen. Ein lang gezogenes Ah, vereinzeltes Klatschen
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war zu hören. Der Abschiedskuss war nicht nur Inszenie-
rung – wenn er allein gewesen wäre, hätte er es nicht anders
gemacht, denn sein Leben lang hat er nie jemanden mehr
geliebt als seinen Liebling Tulliola. Aber er wusste auch, dass
das römische Wahlvolk ein sentimentaler Haufen war, und
wenn sich seine väterliche Hingabe herumsprach, würde
ihm das jedenfalls nicht schaden.
Und so traten wir an diesem vielversprechenden No-
vembermorgen hinaus in die zum Leben erwachende Stadt.
Cicero ging voraus, ich an seiner Seite, die Wachstafel ein-
satzbereit; hinter uns Sositheus und Laurea mit den Körben,
die die Beweismittel für Ciceros Auftritt bei Gericht ent
hielten; und um uns herum ein bunt zusammengewürfelter
Haufen von etwa zwei Dutzend Bittstellern und Anhän-
gern, darunter Sthenius, die die Aufmerksamkeit des Sena-
tors zu erregen versuchten, aber auch schon damit zufrieden
waren, sich nur in seiner Nähe aufhalten zu dürfen.Von den
Höhen des schattigen, vornehmen Esquilin tauchten wir
in den lärmenden, dunstigen Gestank von Subura ein. Die
Mietshäuser waren so hoch, dass kein Sonnenstrahl den Bo-
den erreichte, und die schiebenden Menschenmengen rissen
immer wieder Lücken in die Schar unserer Begleiter, die es
jedoch irgendwie schafften, nie den Anschluss zu verlieren.
Cicero war ein bekannter Mann in diesem Viertel, er war ein
Held für die Ladenbesitzer und Händler, deren Interessen
er vertreten hatte und die ihn schon seit Jahren durch ihre
Straßen gehen sahen. Nicht ein einziges Mal verlangsamte
er seinen schnellen Schritt, und doch registrierten seine
wachsamen blauen Augen jeden geneigten Kopf, jede grü-
ßende Hand, und nie musste ich ihm einen Namen ins Ohr
flüstern – er kannte seine Wähler weit besser als ich.
Ich weiß nicht, wie es heute ist, aber damals gab es sechs
oder sieben Gerichtshöfe, die fast immer tagten, jeder in
einem anderen Teil des Forums. Zur Stunde, wenn sie alle
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gleichzeitig ihre Sitzungen eröffneten, konnte man sich des-
halb kaum rühren, so viele Anwälte und Gerichtsbedienstete
eilten geschäftig herum. Das Gedränge wurde noch da-
durch verschlimmert, dass dem Prätor jedes Gerichtshofes
von seinem Wohnhaus bis zum Forum ein halbes Dutzend
Liktoren voranging, die ihm den Weg bahnten, und so woll-
te es der Zufall, dass an jenem Tag unser kleines Gefolge ge-
nau zu jenem Zeitpunkt auf dem Forum einzog, als auch
Hortensius, der damals selbst Prätor war, mit seinem Tross
dem Senat zustrebte. Wir wurden von seinen Wachen zu-
rückgehalten, damit der große Mann passieren konnte, und
bis heute glaube ich nicht, dass Hortensius Cicero mit Vor-
satz ignorierte, denn er war ein Mann mit kultivierten, fast
femininen Umgangsformen. Ich glaube, er hat uns einfach
nicht gesehen. Die Folge war jedoch, dass dem sogenannten
zweitbesten Advokaten Roms der freundliche Gruß auf den
Lippen erstarb und er dem sich entfernenden Rücken des
sogenannten besten Advokaten mit derart tiefer Verachtung
hinterherschaute, dass ich mich wunderte, warum Horten-
sius nicht den Arm hob und sich zwischen seinen Schulter-
blättern kratzte.
Unser Fall an diesem Morgen wurde vor dem obersten
Strafgericht verhandelt, das vor der Basilica Aemilia zu
sammentrat. Der fünfzehnjährige Gaius Popillius Laenas
war angeklagt, seinen Vater getötet zu haben, indem er ihm
einen Schreibgriffel aus Metall ins Auge gerammt hatte. Das
Podium wurde schon von einer großen Menschenmenge
umringt. Ciceros Schlussrede für die Verteidigung stand auf
der Tagesordnung. Das war Attraktion genug. Sollte Cicero
es nicht schaffen, die Geschworenen zu überzeugen, würde
Popillius als Vatermörder verurteilt. Man würde ihn nackt
ausziehen, blutig peitschen und dann zusammen mit einem
Hund, einem Hahn und einer Schlange in einen Sack ein-
nähen und in den Tiber werfen. Ein Hauch Gier nach Blut
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