SCHMALZRIEDT, Egidius. Peri Physeos (Περὶ φύσεως) - Zur Frühgeschichte der Buchtitel (1970)
SCHMALZRIEDT, Egidius. Peri Physeos (Περὶ φύσεως) - Zur Frühgeschichte der Buchtitel (1970)
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EGIDIUS SCHMALZRIEDT
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ZUR FRüHGESCHICHTE
DER BUCHTITEL
1970
Als Teil einer Habilitationssmrift auf Empfehlung des Fambereims Neuphilologie der Universität
Tübingen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinsmaft
INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung . . . . . . . . . . . 9
2. Titelsetzung generell durch den Autor? . . 20
3. Die frühesten Titel-Zitate (Herodot und Aristophanes) 23
4. Vorformen der Prosa-Titel . . 32
5. Technische Vorbedingungen 51
6. Die frühesten Original-Prosatitel? 64
7. Philosophen-Bibliotheken 73
8. Die Formel ,,3tEQI. qrU<1EW~" 83
9. Der übergang der 31:EQL q>u<1Ew~-Formel in die Doxographie 108
10. Der q>u<1L~-Begriff der 3tEQI. q>u<1Ew~-Formel 113
11. Vorsokratiker-Titel 120
Literaturnachweise 129
Register 135
DEM ANDENKEN
JOSEF BLINZLERS
VORWORT
9
Ein sehr anschauliches Beispiel für diesen Sachverhalt bietet der
Fragenkomplex der frühgriechischen Buchtitel3 • Schon ein oberfläch-
licher Blick in einschlägige Fragmentsammlungen - etwa die jüngst
neu aufgelegten Kyklos-Restevol1 Erich Bethe4 oder die Vorsokratiker-
ausgabe von Hermann Diels und Walther Kranz 5 - zeigt, daß die
Titelangaben um so reicher und (scheinbar) exakter werden, je weiter
10
der jeweilige "Gewährsmann" von den Zeiten der betreffenden Auto-
ren und Werke entfernt ist und je mehr literarische Zwisdlenstufen
in Form von Handbüchern, ExzerptenschriA:en und "Geschichten"
zwischen ihm und den Originaltexten liegen. Man kann daraus gerade-
zu ein methodologisches Gesetz ableiten, das den Interpreten zu gene-
reller Skepsis verpflichtet: die Existenz eines Buchtitels darf nicht als
prinzipiell gegeben vorausgesetzt werden, sondern muß, um glaubhaft
zu sein, in jedem Fall nachgewiesen werden.
Ausnahmen - von denen zu sprechen sein wird - bestätigen diese
Beobachtung: zum einen durch das Alter der Testimonien, zum anderen
durch ihre sachliche Begründbarkeit.
Bei dem Buchtitel IIeQt qJuoeoo~, von dem im folgenden speziell die Rede
sein soll, ist sich die antike Tradition - auf den ersten Blick wenigstens
- darin einig, daß er einen von den alten Autoren selbst gewählten und
so in die Tradition gekommenen, also authentischen Titel darstellt.
In geradezu klassischer Form wird das von Galen (IIeQt .OOv itu{l' '!n:rw-
itQ(l'tllV O.OLXeLoov 1,9 = 1,487 Kühn) formuliert: "Die Werke der
Alten sind alle IIeQt <puoeooc; betitelt, die Werke des Melissos, Parme-
nides, Empedokles, Alkmaion, Gorgias, Prodikos und aller anderen."
(.u YUQ .OOv :1tUAULOOV Muvm II e Q t <p u 0 e 00 C; E:JtLYEYQU:!t'tUL, .U MeAtooo'U,
.U IIuQ!LevL~o'U, .U 'E!L:1te~OitAEOUC;, ' Ah!LULOOVOC; .e itut rOQYLOU itut IIQoM-
ito'U itut .OOv <lA1,oov U:JtlXv.oov, VS 24 A 2).
Sieht man freilidl näher zu, so scheint man bemerken zu können,
daß die doxographischen Gewährsmänner über den Ursprung dieses
Titels doch nicht so einhellig berichten, wie man zunächst meinen
möchte. Zwar kam es ihnen offenbar nidlt in den Sinn, die Authenti-
zität des Titels zu bezweifeln. Wohl aber fragten sie in der für den
griechischen "Historismus" typischen personalisierenden Form narn
dem Urheber, dem :1tQOOwC; eUQEnlc;. Und in dieser Frage begegnen wir
nun verschiedenen Antworten. So sagt beispielsweise Themistios in
seiner 36. Rede (p. 317): "Anaximander hatte als erster Grieche, von
dem wir wissen, die Kühnheit, eine Abhandlung zu veröffentlichen,
die von der ,Natur' handelte. « (E-8uQQlloe :1tQOO.oc; (l)v 'iO'!Lev 'En~voov
Myov E~eveYitei:v :1tEQL <puoeooc; O'UYYEYQU!L!LEVOV, VS 12 A 7). Zwar
meint Themistios in diesem Satz mit :1tEQL <pUOEOOC; nur den Gegenstand
der Untersuchung 6, des oUYYQU!-l!LU, aber indem er sich im Kontext des
üblichen terminus technicus für die Buchpublikation bedient - h<pE-
6 V gl. unten S. 30 f.
11
'EtV7 - , gibt er zu erkennen, daß er unter :71:E(lL <pU(JE«)~ zumindest das
"hema eines Buches versteht. Und da das Werk des Milesiers anschei-
Lend auch unter dem Titel IIE(>L <p{,(JE«)~ geläufig war (vgl. Suda s. v.
Avu~tf.l(lVlI(>o~; VS 12 A 2), liegt es nahe zu vermuten, daß Themistios
lie summierende Themaangabe der geläufigen Zitierweise des Titels
mtnommen hat. Doch wie dem auch sei - soviel zumindest behauptet
fhemistios: daß Anaximander als erster Grieche eine Abhandlung m:(>L
P{,(JE«)~ publizierte.
Genau dao;selbe aber wurde, wie Diogenes Laertios 1,24 berichtet,
wch über Thales behauptet, wenngleich nicht von allen Gewährsleuten
:"Er hat auch als erster, wie manche [sagen], Erörterungen über die
,Natur' angestellt", :71:(lörro~ I\E XUL :71:E(> L <pU(JE«)~ IIlEAExihl, oo~ n"G~,
VS 11 A 1)8. Dabei ist zwar wiederum nicht vom Titel einer Schrift die
Rede; IIwAEyof.luL ist vielmehr generalisierendes Kennwort der philo-
sophischen Diskussion im allgemeinen, :71:E(lt <pU(JE«)~ gibt also wiederum
lediglich den Gegenstand der Untersuchung an. Daß aber diese n"E~,
von denen Diogenes berichtet, eine spezielle Abhandlung :71:E(>t <PUOE«)~
meinen, geht aus dem Zusammenhang bei Diogenes deutlich hervor,
wenn zunächst einmal kategorisch festgestell t wird, daß "Thales nach
Meinung einiger überhaupt keine Schrift hinterlassen hat" (xu't<l nvu~
f.lEv oUYY(>Uf.lf.lU XU-rE].t:n:EV ovl\Ev, 1, 23), und wenn anschließend in ziem-
lich stereotyp formulierter Weise Berichte referiert werden, die diese
These relativieren (KUAAtf.lUXO~ 11 > • • • , xu-ra nvu~ 11 E .•. , lIoxEL 11 E xara
nvu~ ... , EVLOL I\E ... , 1t(>iirro~ IIE ... , 1t(>iil-ro~ H ... , 1, 23f.). Da
Diogenes - oder seine Vorlage - diese Berichte offensichtlich recht
1 Vgl. Liddell-Scott s. V., 11/3, wobei besonders die Stellen Isokrates 9,74 (-tOUe;
ÖE Myoue; e!;EvExiHivat ~. olbv -r;' EO"dv Ete; -r;Tjv • EAMöa) und Aristoteles Poetik I,
1447 b17 «(iv la-r;QLxov 1\ IlOUO'LXbv -r;L ÖtlX -r;öiv !1E-r:Qwv exq>EQwO'LV) als früheste
Bezeugungen Interesse verdienen. Im Passiv wird meist EXö[ÖW!1L verwendet, s.
Liddell-Scott, s. v., I17, wobei wiederum als frühe Testimonien Isokrates (5,11)
und Aristoteles (Poetik 15, 1454 bIS) auftauchen. Vgl. auch die unten S. 20 f.
besprochenen Zitate.
S Eine Stelle wie Diogenes Laertios 1, 116 ("Dieser [Pherekydes aus Syros] hat, wie
Theopomp sagt, zum erstenmal über die ,Natur' und die Götter geschrieben",
-r;oü-cbv q>1']O'L 0Ebitof,Utoe; itQöi'tov itEQL q>UO'EWe; xaL ~Eöiv YQ<x,paL, VS 7 Al;
FGH 115 F 71) muß außer Betracht bleiben, da die überlieferung wahrscheinlich
korrupt ist und mit Gomperz nach Aponius, In Canticum Canticorum 5, 96 (5.
VS 7 A 5, Bd. 1, S. 45, Z. 20; vgl. A 2, Bd. 1, S. 44, Z. 24) zu lesen ist nEQL
<pUO'EWe; xaL YEVEO'EWe; ~Eöiv, "über Wesen und Werden der Götter". In dieser
attributiv spezifizierten Bedeutung "über die Natur von ... " soll der Begriff
itEl'L q>UO'EWe; jedoch im folgenden nicht untersucht werden, sondern nur in der
pointiert attributlosen Form, d. h. dann, wenn er im Sinne der lateinischen Formel
De rerum natura gebraucht wird: denn gerade in diesem absoluten Sinn ist nEl'l
q>UO'EWe; zum Titelsignum der "vorsokratischen Naturphilosophie" geworden.
12
schematisch exzerpiert und aneinanderreiht, werden bei den verschie-
denen Gewährsleuten Themen erwähnt, die man durchaus ebenfalls
unter dem Titel 3tEQL <pUOEWt;' subsumieren könnte - dies neben den
parallelisierenden Wendungen XUTU nvu<; usw. der zweite Hinweis
darauf, daß in der Wendung 3tQcino<; 3tEQL <pUOEW<; ~hEIcEX{)1'j eine schrift-
liche .Kußerung des Thales impliziert ist.
Anders liegen die Dinge dagegen, wenn Simplikios in seinem
Physikkommentar (S. 23, 29ff. Diels) die Reihenfolge der Notizen
umkehrt: er erwähnt zunächst, Theophrast folgend, unter Verwendung
einer schon zu Platons Zeit charakteristischen Formulierung9 , "Thales
habe, wie überliefert, als erster bei den Griechen die ,Nature-Erfor-
schung ans Licht gebracht (E>u},'i'j<; BE 3tQWTO<; 3tUQUI)EBOTUL T~V 3tEQl.
CC
<pUOEW<; LOTOQlUV TOi:<; "E},A1'jOLV h<p'i'jVUL, VS 11 B 1), und fügt erst dann
an, es werde behauptet, er habe - von einem astronomischen Werk ab-
gesehen - nichts Schriftliches hinterlassen. Diese Simplikianische Form
der Tradition gibt den entscheidenden Hinweis, in welchem Licht aum
die beiden Aussagen des Diogenes über Thales und Anaximander
eigentlim zu verstehen sind: die doxographische Diskrepanz geht offen-
sichtlich gar nicht darum, wer der 3tQWTO<; EUQET1W des Titels "IIEQl.
<pUOEW<;cc ist, sondern darum, wer als der lnaugurator der Philosophie
3tEQl. <pUOEW<; (,,3tEQl. <pUOEW<; LOTOQlU") zu gelten hat; und diese Frage
konkretisierte sich für einen Teil der Doxographen in dem Problem,
wer als erster eine Schrift über den Gegenstand ,,<pUOL<;cc (Abyo<; oder
oUYYQuf.lf.lu 3tEQl. <pUOEW<;) verfaßte.
Dieser Sachverhalt bestätigt sich auch darin, daß die Diskussion über
den 3tQWTO<; EUQETij<; verstummt, sobald es um spätere <puoL<;-Philosophen
geht; die Nachrichten lauten dann ohne jede Einschränkung jeweils
fast unisono "er verfaßte ein Werk unter dem Titel IIEQl. <pUOEW<;",
wobei in der durch die Galen- und Diogenes-Zitate repräsentierten Art
durchgängig der Leitgedanke zugrunde lag: wer 3tEQl <pUOEW<; philo-
sophiert, sdlreibt IIEQl. <pUOEW<;.
Aus der Fülle der antiken Titelangaben seien nur noch einige wenige,
besonders charakteristische angeführt, nämlich solche, die entweder
expressis verbis dokumentieren, daß man sich den Titel als vom Autor
selbst stammend dachte, oder die reale Existenz eines Buches mit dem
Titel IIEQl. <pUOEW<; bezeugen1o :
• s. unten S. 89 ff.
10 Weitere Testimonien findet man bei Diels-Kranz im Index, VS Bd. 3, S. 465 s. v.
cpu(nc;. Die Galen-Stelle wird im Index nur zu Alkmaion genannt; in den Testi-
monien (A) ist sie aber auch bei Melissos und Prodikos erwähnt, während sie bei
13
(1) So steht beispielsweise für Simplikios (Kommentar zu I1E(>L
ou(>avo'Ü, S. 556, 25 Heiberg) fest, daß "sowohl Melissos als auch Par-
menides ihre Abhandlungen I1E(>L epucrEW~ betitelt haben" (I1E(>L epucrEW~
EltEy(>aq:>ov Ta <ruYY(>U/-l/-laTa ;taL MEAtcroO~ xal I1a(>/-lEVLÖl']~, VS 28 A 14),
ja er räsoniert sogar darüber, weshalb sie ihrem Werk diesen streng
genommen nur zum Teil zutreffenden Titel gaben (... IIta Toiho LcrW~
OUlta(>UToüVLO I1E(>L epucrEW~ Eltty(>Uq:>Etv).
(2) Ober Melissos wird noch an zwei weiteren Stellen von Sim-
plikios ausdrücklich behauptet, der Philosoph habe seiner "Schrift den
Titel I1E(>L q:>ucrEW~ 11ltE(>L TOÜ OVLO~ gegeben" (0 ME]'tcroO~ ;taL n)v Em-
y(>aq:>11v OÜTW~ Eltot{lcraTo TO'Ü cruYY(>U/-l/-lCtLO; I1E(>L epucrEW; 11ltE(>L TOÜ OVLO~,
Physikkommentar, S. 70, 16 Diels; d I1E(>L q:>ucrEW~ ~ ltE(>l TO'Ü OVTO~
EltEY(>UljlE MEAWcrO~, ÖljAOV ön T~V q:>ucrtV Ev6/-lt~EV EiVat TO OV, Kommentar
zu I1E(>L oU(>uvou, S. 557, 10 Heiberg, VS 30 A 4).
(3) An einer anderen Stelle äußert sich derselbe Autor (Physikkom-
mentar, S. 25, 1 Diels) über das Werk des Diogenes aus Apollonia und
nennt es "seine auf mich gekommene, I1E(>L q:>UcrEW; betitelte Schrift" (TO
d~ E/-lE eA{}Qv cruYY(>U/-l/-lu IIE(>L ep{,crEW~ Eltt YEY(>U/-l/-lEVOV, VS 64 A 5; vgl.
A 4): Simplikios hatte also ein Büchlein des Diogenes in der Hand, das
den Titel I1E(>L epucrEW~ trug.
(4) Auch Philon bekennt in Von der Unvergänglichkeit der Welt
expressis verbis: "Ich habe von Okellos eine Schrift gesehen, die den
Titel trug IIE(>l Tii~ TOÜ :n:UVLO~ epucrEW~" (eyw IIE ;tul 'Ü;tEAAOU cruyy(>u/-l-
/-lun ElttY(>UepO/-lEvqJ I1E(>L Tlj; TOÜ :n:UVTO~ epucrEw~ hE-ruxoV ... 3, 13 Cohn,
VS 48 A 3)11.
Das alles sind recht eindeutige Zeugnisse dafür, daß man in der
Parmenides (28 A), Empedokles (31 A) und Gorgias (82 A) seltsamerweise fehlt
(und entsprechend dann auch in M. Untersteiners Sophisten-Ausgabe [Sofisti.
Testimonianze e frammenti, Bd. 2, Florenz 21961, Nachdruck 1967], obwohl
Untersteiner anderwärts Ergänzungen gegenüber Diels-Kranz bringt).
11 Hinzufügen könnte man - die Richtigkeit der Dielsschen Ergänzung voraus-
gesetzt - Diogenes Laertios 8,85: -roihov [sc. cfIL)..o)..aov] cp1](n ~1]f.Li]-rQLO~ Ev
'0f.LOlVUf.LOL~ 1t(liii-rov ExlloüvaL -riiiv IIlJihlYOQLXiiiv (ßLßHa xaL E1tLY(luljJaL) ITE(lL
CPU(JEOl~ (so jetzt H. S. Long in seiner Diogenes-Ausgabe, Bd. 2, Oxford 1964,
S. 433, Z. 20). Die Handschriften bieten nur -rwv ITuitayo(lLxiiiv n:EQL CPU(JEOl~;
Diels schreibt seltsamerweise -riiiv IIuitayoQLxiiiv (ßLßÄLa xal En:LY(luljJaL ITE(ll),
was Kranz in den neueren Auflagen beibehielt und was auch Gigante (Diogene
Laerzio, Vite dei Filosofi, Bari 1962, S. 418, Anm. 136) und Cardini (Pitagorici.
Testimonianze e frammenti, Bd. 2, Florenz 1962, S. 112) übernahmen; vermutlich
handelt es sich aber bei Diels nur um ein Versehen: denn das 1t8(11 fehlt zwar in
der 1533 bei Frobenius in Basel erschienenen editio princeps, aber die späteren
Diogenes-Ausgaben (z. ß. Hübner, Leipzig 1831) boten, wie auch jetzt wieder
Long, den Handschriftenbefund mit 1tE(lL.
14
Antike die sdlriftliche Hinterlassenschaft der vorsokratischen Natur-
philosophen anscheinend generell jeweils unter dem Titel IIEeL IjlUOEWC;
kannte, wobei in den technisdlen Aspekten der Titelgebung die späte-
ren Gewährsleute, dem - wie wir floch sehen werden - Usus ihrer Zeit
folgend, unbedenklidl die Verhältnisse ihrer eigenen Epodle auf jene
früheren Jahrhunderte zurückprojizierten.
Anderseits: audl weml die Prämisse der Doxographen stimmen
würde, bliebe es doch merkwürdig, daß der Brauch, naturphilosophische
Sdlriften IIEet IjlUOEWC; zu betiteln, ganz plötzlich, wie es sdleint, aus der
Mode kam (und erst später, in ganz begründeten Einzelfällen, wie z. B.
bei Epikur, Lukrez usw. wieder aufgenommen wurde): Werke Platons
oder des Aristoteles, die sich mit naturphilosophischen Themen befas-
sen, tragen sämtlich andere Titel, und so gut wie niemand ist offenbar
auf die Idee gekommen, eines von ihnen oder alle zusammen mit dem
vagen, generalisierenden Signum IIE(lt IjlUOEWC; zu bezeichnen 12 • Das ist
nicht von ungefähr so, wie sich zeigen soll, und auch der Zeitpunkt des
Wandels hat, wie wir sehen werden, seine durchaus erklärbaren Kom-
ponenten.
12 Von dieser Regel gibt es eine - sehr aufschlußreiche - große und eine kleine
Ausnahme. Die große Ausnahme ist Aristoteies selbst, der seine "naturphilo-
sophischen" Schriften unter anderem mit der Wendung ,0. :1tEQL qJl\OEffi~ Zu zitie-
ren pflegt (s. unten S. 103 ff.), ohne dabei allerdings immer speziell die <IIUOLx~
ay.Q6uoL~ zu meinen. Das Auffällige aber ist, daß diese Form des Selbstzitates
in der Nachwelt gerade keine Spur hinterließ: zwar gab es Titelvarianten der
Physik, aber unter diesen ist IIEQL q>1\OEffi~ offenbar nie ernsthaft als Konkurrent
aufgetreten, wie das Prooirnion des Simplikianischen Physikkommentars (S. 4,
8 ff. Diels; vgl. auch die übrigen ebenda, S. 1459 im Index angeführten Titel-
stellen) lehrt (ferner könnte man Simplikios S. 1233, 30 ff. Diels zu einem
argumentum e silentio heranziehen). Eine Ausnahme hiervon ist die genannte
"kleine Ausnahme": Epikur zitien die Aristotelische Physik tatsächlich unter
dem Titel IIEQL CPUOEffi;: s. W. Crönen, Kolotes und MeIledemos, Leipzig 1906,
S. 174, Nachtrag zur 'Emo,o/..ll :1tEQi niiv Em'TjÖEU!,Ul"tffiV ('AQLo,o,Ei,ou~ ,u ,E
'A"u/..uny.o. XUL ,0. IIEQL CPUOEffi~, in der Lesung von Crönen); vgl. jetzt die
Ausgabe von G. Arighetti, Epicuro. Opere, Turin 1960, frg. 118 ('AQlO'O'I\]'ou~
" avu),uny.o. Y.UL ,0. :1tEQi cpUOEffit;).
15
Proben stellvertretend vorgeführte antike Tradition. "Sein [Anaxi-
manders] Buch IIEQL qnJOEWC; (dem aber vielleicht 13 erst Spätere diesen
Titel gegeben haben) wird als die erste philosophische Schrif\: der
Griechen bezeichnet." (Eduard Zeller)14 "One fails to see why a man
like Parmenides should have refrained from placing over bis work
some indication of its subject ... Whatever the original meaning of
CPU<JlC; may have been, it seems fairly certain, that the Eleatics used the
word as tide of their work in the sense of ,the essence of realityc."
(W. J. Verdenius)15 "Sextus and Diogenes give IIEQL CPUOEWC; as the tide
of Heraclitus' book and there is no reason why this evidence should be
questioned." (Verdenius )16
Demgegenüber nennt WerDer Jaeger den "Streit um den Titel [des
Heraklit-Buches] ... müßig, da es keinen gab. "17 .i\hnlich urteilen bei-
spielsweise Hans Diller (" ... die später durchgehende Gewohnheit ...,
die Werke der alten Naturphilosophen IIEQL CPUOEWC; zu betiteln, was für
deren Zeit weder zur Geschichte des Buchwesens noch zur Entwicklung
des Physisbegriffes paßt")18, Hans Leisegang ("Büchertitel gab es zu
ihrer [der Vorsokratiker] Zeit noch nicht")19 und Ernst Nachmanson2o
("Im Allgemeinen haben die älteren Philosophen, die Vorsokratiker,
auch nicht im entferntesten daran gedacht, die Erzeugnisse ihres Geistes
zu benennen")21.
Nur ganz vereinzelt wird genauer differenziert zwischen verschiede-
nen Epochen - so etwa von W. K. C. Guthrie2 2 - , ohne daß es freilich
zu einer exakten Analyse des" Wann" und "Wie", des "Weshalb" und
"Wozu" käme: in der Regel begnügt man sich mit einem vagen Hin-
weis auf "spätere" Zeiten. Auch die markante und durch keinerlei
kritische typographische Bezeichnung relativierte Setzung des Titels
16
in der noch immer wichtigsten Textsammlung (Diels-Kranz: 21 [Xeno-
phanes], B 23 ff.; 22 [Heraklit], B 1 ff.; 24 [Alkmaion], B 1 ff.; 28 [Par-
menides], B 1 ff.; 29 [Zenon], B 1 ff.; 30 [Melissos], B 1 ff.; 31 [Empe-
dokles], B 1 ff.; 44 [Philolaos], B 1 ff.; 59 [AnaxagorasJ, B 1 ff.; 64
[Diogenes aus Apollonia], B 1 ff.; 70 [Metrodoros aus Chios], B 1 ff.;
82 [Gorgias], B 1ff.; 84 [Prodikos], B 3f. 23 ) gehört in diesen Zusam-
menhang 24 •
Dieser Mangel an einer Durchleuchtung der näheren Umstände ist
der eigentliche Grund dafür, daß die Frage einerseits immer wieder als
erledigt angesehen wird25 , während andererseits die Klagen über die
Undurchsichtigkeit des Problems nicht verstummen 26 • Chronologische
Fixierungen sind jedoch so gut wie nirgends zu finden, und wenn sie
einmal vermutungsweise gewagt werden27 , so fehlt es an einleuchten-
den und detaillierten Begründungen.
Was not tut, ist eine allgemeine Besinnung (a) auf die Bedingungen,
d. h. die Möglichkeiten wie die Grenzen unserer Einsicht in diesen
ganzen Fragenkomplex, (b) auf die Gesamtheit der materialen und
historischen Komponenten der fraglichen Sache. Nur durch die behut-
same Abwägung der hierbei relevanten Aspekte kann es gelingen, mit
einigermaßen begründeter Plausibilität zu sagen, was zu welcher Zeit
als sicher, was als denkbar und was als unwahrscheinlich oder unmög-
lich zu gelten hat.
Versucht man diese Aspekte zu sammeln, so ist zunächst von den
einfachsten Gesichtspunkten auszugehen, die für das Phänomen eines
literarischen Werkes bestimmend sind. Dies sind: einmal der Autor,
zum anderen der, für den der Autor tätig wird - sein Adressat oder
23 Korrekt 68 (Demokrit), B 5c/d, wo die Herkunft des Titels aus der angeblich
Thrasyllischen (in Wirklichkeit alexandrinischen: vgl. Diels-Kranz, Anm. zu
68 A 33, Bd. 2, S. 90, Z. 17) Tetralogienordnung angegeben ist.
24 Ähnlich verwirrend wirkt das im deutschen Sprachraum mindestens ebenso weit
wie die Diels-Kranzsche Fragmentsammlung verbreitete philosophiegeschichtlühe
Handbuch von K. Praechter, Die Philosophie des Altertums, Nachdruck zuletzt
Darmstadt 1967 (= 12 1926): teils begnügt sich Praechter mit der Feststellung,
der Titel IIEQL qruC1EW<; stamme» wahrscheinlich" aus späterer Zeit (so S. 48 zu
Anaximander, S. 82 zu Parmenides, ähnlich S. 99 zu Anaxagoras), teils spricht er
ihn dem Autor dezidiert ab (so S. 55 zu Heraklit), teils setzt er ihn ohne kritische
Einschränkung - woraus der Leser auf Authentizität schließen muß (so S. 52 zu
Diogenes aus Apollonia, S. 72 zu Alkmaion, S. 75 zu Xenophanes, S. 92 zu
Empedokles, S. 120 zu Gorgias).
25 Vgl. Wilamowitz, Einleitung in die griechische Tragödie, Berlin 31921 [Nach-
druck zuletzt Darmstadt 1969], S. 125.
26 Vgl. Guthrie, a. a. O.
27 Vgl. unten S. 106, Anm. 40; S. 108, Anm. 1.
17
sein Publikum28 - , und drittens schließlich das W' erk, das sich auf dem
Weg zwischen beiden befindet.
Unter dem Blickwinkel "Autor" sind die nächstliegenden Aspekte
Gmnd und Absicht seiner literarischen Tätigkeit. Beim "Publikum"
wäre zu unterscheiden zwischen dem unmittelbaren, zeitgenössischen
Gegenüber, an das der Autor denkt, und den erst mittelbar ange-
sprochenen Lesern und "Benützern" des Werkes (Traditionsprobleme);
in beiden Fällen ist zu berücksichtigen, daß dieses Publikum seinerseits
in ganz bestimmten Traditions- und Konventionsbezügen lebt. Bei den
"Werken" wiederum kann man die Momente der äußeren und der
inneren Form voneinander abheben: einerseits Fragen wie die, ob ein
"Manuskript" oder ein "Buch" vorliegt - um hypothetisch von moder-
nen Begriffen und Vorstellungen ausgehen -, wie die äußere "Auf-
machung" eines Textes aussah, dazu Editions- und Oberlieferungs-
momente usw., andererseits von Inhalt und Tendenz eines Werkes
geprägte Fragen wie die nach thematischen Prämissen, Gattungs-
bedingtheiten und ähnliches.
Es liegt dabei in der Natur der Sache, daß die genannten Fragen nur
komplex zu lösen sind, d. h. sich vielfach überschneiden und wechsel-
weise voneinander abhängen. Die genannte Zergliederung ist jedoch
angebracht als analytischer "Leitfaden", an dem sich die zu unter-
suchenden Einzelmotive aufreihen lassen. Konkret führt dieser Leit-
faden zu einer ganzen Reihe von Grundfragen - sei es zu den Buch-
titeln generell, sei es im besonderen zu TIB(lt qn"oBw~ -, durch deren
Beantwortung man sich der Klärung des kontroversen Problems nähern
zu können hoffen darf:
(1) Bestand für den Autor der Wunsch oder die Notwendigkeit,
seinem Werk einen Titel zu geben?
28 Daß ein Autor nur "für sich" oder nur für die »Schublade", d. h. ausschließlich
im Hinblick auf den Nachruhm schreibt, ist, wenn überhaupt, so jedenfalls nicht
für das Griechentum denkbar. (Exzerpte oder Notizen als Gedächtnisstütze -
griechisch U1t0fLvtlf1a"ta - für den Privatgebrauch sind ein Sonderfall, der nur be-
dingt unter den Oberbegriff eines »literarischen Werkes" fällt, freilich gerade in
der Geschichte der Buchtitel seine Rolle spielen wird [siehe unten S. 74 ff.].)
Selbst die "intimsten" Formen der Literatur, religiöse und philosophische Geheim-
literatur, haben ihr "Publikum": jene in Gestalt der Gottheit oder wenigstens
der Priester kaste und der "Eingeweihten", diese im esoterischen Kreis der ver-
trauten Sdlüler. Der in der Neuzeit privateste Literaturtypus, die Lyrik, war im
griechischen Bereich soziologisch streng gebunden: man denke an den Sappho-
schen Thiasos, die Alkaiossche Hetairie, die Anakreontik und die theognideische
Symposienpoesie, die politische Elegie eines Tyrtaios, Kallinos, Solon (allerdings
zählte die Elegie für die Griechen nicht zur Lyrik).
18
(2) Hat das vom Autor angesprochene Publikum bei dessen Werk
einen Titel erwartet oder für notwendig gehalten?
(3) Welcher kulturhistorische Hintergrund wäre anzunehmen, der
beim Problem der Buchtitel mitspielen könnte (Fragen des Sd1Ulwesens,
der Bildungskonventionen u. ä.)?
(4) Treten im Lauf der literarhistorischen Entwicklung Verände-
rungen bei der Verwendung oder Nichtverwendung der Titel auf?
(5) Wie ist die Traditionslage speziell bei der fraglichen Titelgruppe
IIE(lL epUC1EWI,;? Welche Testimonien köIll1en als die frühesten und damit
am ehesten authentischen gelten?
(6) Welche Vorstellung von epUC1ll,; steht hinter der Formulierung
"IIE(lL epUC1EWI,;"? Wessen epllC1ll,;-Begriff ist in diesem Zusammen-
hang von Relevanz, falls der Titel nicht vom Autor stammt - der
epuC1l~-Begritf des Autors oder der epuC1l~-Begriff dessen, der den Titel
"erfindet" oder verwendet?
(7) Machten buchtechnische oder ähnliche sachliche Zwänge - wie
etwa bibliothekarische Gebräuche - die Setzung eines Buchtitels erfor-
derlich?
(8) Gibt es gattungsbedingte Unterschiede in der Behandlung von
Buchtiteln?
Falls es gelingt, alle diese Fragen in ihrer Relevanz für das vor-
liegende Problem zu durchleuchten, so kann eine solche Analyse gerade
aufgrund der überlagerung und wechselseitigen Abhängigkeit der
einzelnen Aspekte zugleich ein literatursoziologisdl höchst interessantes
Modell liefern: ein Modell nämlim, an dem sichtbar werden kann, in
welcher Weise "äußere" und "innere" Momente, d. h. die sogenannten
"werkimmanenten" Phänomene und soziologische oder kulturgesdlimt-
liche Bedingtheiten zusammenwirken, um eine bestimmte, auf den
ersten Blick scheinbar autonom literarische Ersmeinung entstehen zu
lassen.
19
2. TITELSETZUNG GENERELL DURCH DEN AUTOR?
20
dabei ein Konsensus herausbildete, hängt nicht mehr vom Willen des
Autors ab.
Die Außerungen Galens hätten für sich allein noch keine auf andere
Bereiche und Epochen der antiken Literatur übertragbare Beweiskraft
(es könnte sich unter Umständen um nicht mehr als um eine persönliche
"Marotte" dieses Mannes handeln), ließe sich dieselbe Erscheinung nicht
bei einem Autor des folgenden Jahrhunderts gleichfalls beobachten. So
berichtet Porphyrios3, der Schüler, Herausgeber und Biograph Plotins,
da der Philosoph seine Schriften ohne Titel gelassen habe, habe ihnen
später der eine den, der andere jenen Titel gegeben (lila TO fnl aUTOV
bnYQuepeLV aUo<; aJ.10 EXUOT<fl TOUlTLYQaf.lfla ElTLYQUepELV, 4, 17); um Miß-
verständnisse zu vermeiden und bei den an die öffentlichkeit gedrun-
genen Werken die Identifikation zu erleichtern, wolle er, Porphyrios,
außer den - von ihm gesetzten - Titeln zusätzlich den Beginn der
Texte angeben (al, Il' o'Öv x.QaT~oaoaL ElTLYQaepaL dOLV aHlE· {l{low llE xat
Tae; aQxae; TWV ßLß],LWV de; TO eUElTLYvWOTOV eiVaL alTo TWV aQXwv ihmoTov
TWV 1ll'J]'OVf.lEVWV ßtß],lwv, 4, 18). Wiederum also - und zwar im Gegen-
satz zu Galen sogar für ein ganzes CEuvre - kein Titel durch den
Autor, sondern erst durch Leser und Benützer der Werke sowie durch
den Herausgeber. Wenn in diesem Fall Porphyrios als Editor Titel für
unerläßlich hält, so deutet das wiederum auf einen Publikationsusus
jener Zeit. Interessant ist die Beifügung der Textanfänge - der schon
von Kallimachos in die bibliographischen Gepflogenheiten eingeführte
Usus' erinnert an den in mittelalterlichen Handschriften üblichen und
im Anschluß daran auch in Frühdrucken begegnenden Brauch der
incipit-Anfänge und explicit-Schlüsse und wird uns in einer Vorform
auch bei frühgriechischen Prosatexten wieder begegnen5 •
Zugegeben: es handelt sich beide Male um späte Autoren, die von
den Zeiten der Vorsokratiker um Jahrhunderte getrennt sind. Aber bei
der Kontinuität des antiken Literaturbetriebes wird man doch einige
übertragbare Schlüsse daraus ziehen dürfen, Schlüsse, denen deshalb
besondere Signifikanz zukommt, weil es in bei den genannten Fällen um
Texte geht, die typologisch auf der gleichen Stufe stehen wie die vor-
sokratischen Schriften: naturwissenschaftliche und philosophische Prosa-
texte, die zunächst einmal ein relativ eng zu umgrenzendes Publikum
ansprechen wollen.
21
Zu den auf die Frühzeit der griemismen Prosaliteratur übertrag-
baren Gegebenheiten gehört zweifellos die Möglimkeit der Titellosig-
keit derartiger Prosawerke: denn wenn sm on in einer Epome, in der
es ein ausgeprägtes "Bumwesen" gab (wie ja aum die zitierten Passagen
andeuten) für einen Autor keine Notwendigkeit bestand, bei der Kon-
zeption eines Werkes sozusagen "automatism" dessen Titel mitzukon-
zipieren, so dürfte dies erst recht für eine Zeit gelten, in der nach allem,
was wir wissen, sowohl die Prosaliteratur selbst als auch das Buchwesen
nom in den Anfängen steckten.
Es ist also methodisch falsch zu sagen, es sei nimt einzusehen, warum
ein vorsokratismer Philosoph auf die Wahl eines den Inhalt seiner
Schrift anzeigenden Titel verzimtet haben sollte (Verdenius 6 ). Die
Blickrimtung muß vielmehr umgekehrt sein: es ist zu fragen, was ihn
bewogen haben könnte, einen solchen Titel zu setzen.
Für eine solme Wahl eines Titels ließen sim verschiedene Gründe
denken: etwa, daß es zu einer gewissen Zeit bereits allgemeiner Usus
geworden ist, oder daß der Autor einen in einem anderen literarismen
Genos üblimen Braum auf seine Smrift(en) überträgt, oder daß er - so
entstünde gewissermaßen ein genetism sekundärer Titel - mit der
Wahl seines Titels auf den Titel eines anderen Autors repliziert, oder
daß er aus ganz freien Stücken smlagwortartig vorab ein Programm
verkünden will. Vorbedingung wäre allerdings jeweils, daß es über-
haupt schon so etwas wie "selbständige", d. h. vom syntaktischen Kon-
text der einzelnen Schrift losgelöste "übersmriften" gibt, daß ein "auy-
yQUf.lf.lU"7 überhaupt eine "E:n:tYQU<jl~" oder ein " EntyQUf.lf.lU" , d. h. einen
Titel im heutigen Sinn, tragen kann.
22
3. DIE FRüHESTEN TITELZITATE (HERODOT UND
ARISTOPHANES)
23
ganz so entschieden ist 4, 32 Homers Verfasserschaft für die Epigonoi
in Frage gestellt (Eou öe xut [~.c. ElQllIlEVU] 'OllllQCfI h 'Emy6voLoL, EI. öll
t0 EOVU YE "Ollll(lOC; tUUtU tU bw bWt1l0E).
An diesen Zitaten Herodots ist nicht nur das Faktum der Erwäh-
nung von Titeln bedeutsam, sondern auch der Verständigungsbereich,
in dem dies geschieht. Man stelle sich einmal das Gegenteil vor - es
hätte für die apostrophierten Werke keine Titel gegeben oder Herodot
hätte auf ihre Angabe verzichtct -: dann hätte sich zwar bei den beiden
ersten Stellen keine "Störung" im Kontext ergeben (aus welchem Werk
Homers die von Herodot erwähnten Verse stammen, ist für den Zu-
sammenhang von untergeordneter Bedeutung), in den beiden folgen-
den Fällen dagegen wäre die ganze Aussage unmöglich gewesen. Die
Diskussion über die Authentizität eines bestimmten Werkes setzt eine
Vorverständigung über dessen Identität voraus: es wäre paradox
annehmen zu wollen, man habe über die Verfasserschaft diskutiert,
ohne sich zuvor des Charakters der Einzelabschnitte des Kyklos als
literarischer Eigengebilde bewußt geworden zu sein. Etwas allgemeiner
formuliert, ergibt sich daraus wieder eine Art Regel: nach Gattung,
Inhalt, Form und Tendenz gleichartige und eng verwandte Werke des-
selben Genres müssen in irgend einer Form gekennzeichnet werden, will
man sie voneinander unterscheiden; bei verschiedenen Werken liegt
dabei die Verwendung einer titelähnlichen Chiffrierung nahe. Gilt dies
schon für ein einfaches Zitat, etwa in gewöhnlicher Konversation, so
erst recht für literarhistorisd?e Erärterungen3 •
Nicht weniger aufschlußreich als die Homer- und Kyklos-Zitate
3 Als Entstehungszeit des Titels .Ilias" nimmt Wilhelm Schmid (Geschichte der
griechischen Literatur, Bd. 111, München 1929, S. 93, Anm. 5) die Epoche an, in
der der Epische Zyklus ausgearbeitet wurde. Dafür könnte immerhin die über-
legung sprechen, daß die parallele und supplementäre Funktion der Einzel-
epen des Zyklus Unterscheidungs- und Differenzierungsmöglichkeiten verlangte.
Beweisen läßt sich davon aber - das sollte man sich immer vor Augen halten-
nichts mehr. Ebensogut können die zunächst titellos umlaufenden Werke ihren
heute bekannten Titel erst mit dem Aufkommen der frühen Homerkritik, von
der Herodot Zeugnis gibt, erhalten haben. Kenntlich gemacht waren die Epen ja
aller Wahrscheinlichkeit nach durch den Topos der rhapsodischen Themaankün-
digung zu Beginn (vgl. E. Lohan, a. a. O. [so o. S. 10, Anm. 3], 5.5 f.; ferner unten
S. 39). Wenn Schmid meint, "welchen Namen der Verfasser der großen Ilias
seinem Werk gegeben hat, wissen wir nicht - JliiVL~ 'AXL/,HOl~ - wäre der pas-
sende gewesen", so ist diese Fragestellung schon im Ansatz schief: denn einen
Titel hat der Dichter der Ilias st·jnem Werk vermutlich überhaupt nicht gegeben,
da er als Rhapsode und nicht als Publizist wirkte und für seine mündlichen
Rezitationen das im ersten Vers genannte Stichwort "f.liiVL~ ,AXLA'J,.EOl~" Kenn-
zeichnung genug war (vgl. unten S. 38).
24
sind Herodots Auslassungen über das Werk des Aristeas aus Prokon-
nesos (4,14,3): dieser habe in seiner Heimatstadt "diese Epen verfaßt,
die jetzt von den Griechen Arimaspea genannt werden" (-ra EJtEa m'iha
Ta vüv im;' 'EAA~VWV 'Ael!.t<leJ1tEa )taAEETm). Die Stelle impliziert unmiß-
verständlich einen Hinweis auf die Genese eines Werletitels: das vüv
erweist, daß Herodot - sei es aus eigener Kenntnis oder aufgrund einer
Folgerung oder einer literarischen (auch mündlichen) Quelle - der
Ansicht ist, daß dieser Titel nicht ursprünglich vom Autor gesetzt
wurde, sondern dem Werk später durch Gebrauchskonsens beigelegt
wurde 4 •
Soweit zu Herodots epischen Titeln5• Bei seinen Lyrikerzitaten sind
die Verhältnisse insofern einfacher, als hier offensichtlich keine Titel
existieren: "Sappho in einem Lied" (ht !.tEAEL, 2, 135,6) heißt es, ebenso
"Alkaios in einem Lied" (5, 95, 2). Sieht man über Gattungsprobleme
hinweg, so liegen auf derselben Ebene das Archilochos-Zitat "in einem
iambischen Trimeter" (Ev tUflß0.l Te ll.1 ET ecp , 1, 12,2) und das Solon-
Zitat "in einem epischen Gedicht" (h e1tECJl, 5, 113, 2, was unter dem
Aspekt des Versmaßes auch den Sinn "in [elegischen] Distichen" haben
kann)6. Wesentlich komplizierter ist die vielumstrittene Stelle über den
Delphinreiter Arion, der, wie Herodot berichtet, "als erster, von dem
wir wissen, einen Dithyrambos verfaßt und benannt und in Korinth
einstudiert" habe7 (lll-3veaflßOV ... 1tOl~eJaVTU TE )tat oVOflUeJaVTa )tat
25
lhM!;uvta Ev KOQLVilql, 1,23). Der Streitpunkt in diesem Satz ist das
OVO[!clOuVta, das entweder meint, Arion habe den Dithyrambos als
erster "Dithyrambos" genannt, oder, er habe als der erste Dithyram-
bendichter seinen Werken zugleich auch als erster einen Titel gegeben.
Die erste Möglichkeit ist nicht mit Sicherheit von der Hand zu weisen:
wenn Herodot unter "Dithyrambos" pointiert ein Chorlied verstanden
hat, ist der Hinweis auf Archilochos frg. 77 D. (wo vielleicht nur vom
Einzellied eines Zechers8 die Rede ist) nicht stichhaltig, ganz abgesehen
von der unbewiesenen Prämisse, daß Herodot sich das chronologische
Verhältnis von Archilochos und Arion tatsächlich im heute üblichen
Sinn vorgestellt haben sollte ( zudem relativiert das MyO'\JOL Herodots
Angaben insgesamt als Referat von Berichten). Es kann daher keines-
wegs als so gesichert gelten, wie man häufig liest9 , daß der Historiker
bei Arion wirklich an präzise Werktitel gedacht hat: falls dem jedoch
so wäre, so würde die Form der übrigen Lyrikerzitate Herodots ein-
deutig bekunden, daß es sich hierbei um eine Ausnahme handelt - um
eine Ausnahme, die nach allem, was wir im folgenden sehen werden,
ganz unwahrscheinlich ist10 •
26
Für die beiden restlichen - und jüngsten - Gattungen, Drama und
Prosaliteratur, sind Herodots Testimonien nicht ganz so zahlreich wie
für Epos und Lyrik. Immerhin nennt er einmal ein Drama, die l\1ürrtou
äJ,OOOtC; des Phrynichos aus dem Jahr 492 mit präziser Titelangabe
(nOtllOaV'tl <P(lUVtXql öQiif·ux Mt],{rtoU faoootv '>tal. ötM~av'tl, 6, 21, 2). Man
kann aus der selbstverständlichen Art, in der zitiert wird (Gegensatz
etwa: die 'A(ll~tCLOnEa), schließen, daß damals bei den Tragödien Titel
allgemein üblich waren, und wiederum ist dies, wie bei den Homer- und
Kyklostiteln, durch allgenleine Erwägungen plausibel zu machen: die
Vielzahl der Tragödien im ganzen und einzelner Dichter im besonderen
hätte eine summarische Bezeichnung wie "das Werk des ... " (etwa TO
TOÜ <!J(luvtxou [ö(läfW], parallel zu TU Mouoatou 7,6,3) gar nicht erlaubt;
eine solche Zitierweise wäre viel zu vage gewesen. Dies gilt natürlich
erst recht von der Zeit an, seit es offizielle Agone gab, für die mehrere
Didlter ihre Stüdre einreichten: eine solche durchorganisierte Form der
Literaturproduktion und Literaturkritik ersmeint ohne Differenzie-
rung in der Kennzeichnung der Literaturwerke undenkbar. Dabei ist
es im Fall des Herodoteischen Phrynichos-Zitates wie auch bei den
späteren Tragödien im Prinzip gleichgültig, ob der "Titel" vom Autor
- was das Gegebene war - oder ex officio oder vom Publikum geprägt
wurde: entscheidend ist, daß er geprägt werden mußte - und daß er
aufgrund der Einmaligkeit der Aufführung vermutlich nicht erst Jahre,
Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später unter literarhistorischen
Auspizien gewählt wurde, sondern unmittelbar im Konnex mit Ent-
stehung und Aufführungl l •
wechsel annehmen wollte, wäre darüber genauso zu urteilen wie über die schein-
bar so präzisen späten IIEQL q:)1J(fEOJ~-Titelzitate - man muß mit bedenkenloser
übertragung des in der Epoche des betreffenden Kommentators üblichen Usus
rechnen. Last not least ist auch überhaupt kein Grund einzusehen, warum die
alten Lyriker - falls sie wirklich selbst eine Buchedition ihrer Lieder veranstaltet
haben sollten (was gar nicht ausgemacht ist) - dabei nur die Dithyramben einzeln
betitelt haben sollten und nicht auch Epinikien, Paiane (vgI. U. v. Wilamowitz-
Moellendorff, Die Textgeschichte der griechischen Lyriker, Berlin 1900 [Abhand-
lungen der KgI. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, phiI.-hist. Klasse
4/3], S. 34 zu den "mythischen Titeln" der Stesichoros-Paiane: »so farblos und
ersichtlich secundär wie bei Bakchylides"), Hyporchemata usw. Für die »münd-
liche" Aufführung der Werke jedenfalls war eine Titulierung ebenso sinnlos
wie etwa bei den Rhapsodenhymnen (vgI. unten S. 39; 44 L, Anm. 25).
11 Schon W. Hippenstiel, a. a. O. (s. oben S. 10, Anm. 3), geht davon aus, daß die
Tragädientitel im allgemeinen vom Autor gewählt werden; Ausnahmen von
dieser Regel bilden beispielsweise erweiterte Titel wie bei Aischylos IIQOfJ:il{)EU~
ÖE(ffUi)1;l1~, IIQo!J.l1{)EU~ i..\J6!J.E"O~, IIQo!J.l1ilEu~ Jt1JQ<p6Qo~ (a. a. 0., S. 17 f.): der
Dichter gab nur der Gesamttrilogie einen Titel, nämlich IIQofll1{}Ei)~, die Erweite-
rung ist Grammatikerelaborat. Dasselbe gilt für Bildungen wie OtÖUto\J~ (0) bd
27
Das lehren übrigens auch die Titelzitate bei Aristophanes: so spricht
er in der zwischen 421 und 417 entstandenen überarbeitung der Wol-
ken davon, Eupolis habe in seinem Marikas (421 aufgeführt) die Ritter
(424 aufgeführt) ausgeschlachtet (-tÜV Mueuulv :n:eWLlO'-rov :n:uedJ,X'UO'EV
ExO'-rehlJa~ WU~ f]flEl"EeO'U~ <Ij[j[Eu~, V. 553 f.) In den Thesmophoriazusen
von 411 spricht Mnesilochos von einem Einfall, den er "aus dem
Palamedes" des Euripides (innerhalb der Troertrilogie 415 aufgeführt)
habe (h wu I1aAa!A#lo'U~, V. 770); und wenig später heißt es, Euripides
schäme sich seines frostigen Palamedes (-rüv I1uAuflNi1'Jv 1jJ'Uxeü1' o1'-r'
atox,vvEl"m, V. 848) und solle durch eine Mimesis der neuen Helena
herbeigelockt werden (nlv xmv~v <EAEv1'JV flLfl~OOflaL, V. 850 12, womit
sowohl TitelheIdin als auch Titel gemeint sein kann). Und in den
Fröschen vom Jahr 405 erzählt Dionysos, er habe auf dem Schiff die
Andromeda des Euripides (412 in der Helena-Trilogie aufgeführt)
gelesen (E:n:l-rii~ VEW~ avuYLyvwO'xov-rl flOL -r~v ' AvöeOflHlav, V. 52 fP;
schon in den Thesmophoriazusen wird V. 1010ff. gegen dieses Stück
gewitzelt, allerdings unter Nennung der Namen Perseus und Andro-
meda, nicht des Titels). Der Scherz des Dionysos gibt auch den auf-
schlußreichen Hinweis, daß die Dramen nach ihrer Aufführung in
Athen offenbar in Leseexemplaren greifbar waren, die bei der Vielzahl
von Stücken dann doch wohl den Titel in irgendeiner Form als Auf-
schrift getragen haben müssen.
Doch kehren wir zu Herodot zurück und fragen nach seiner Zitier-
weise bei der letzten - und für das Problem der :n:Ee1 <pvcrE(o~-Titel wich-
KoÄmvrp usw. Zum Durchbruch verholfen hat der Ansicht Wilamowitz, Einleitung
in die griechische Tragödie, Berlin 81921 (Nachdruck zuletzt Darmstadt 1969),
S. 124 ff.: "Es tritt aber auch das Drama wirklich als Buch auf. Vorab hat es
einen Titel, den ihm sein Verfasser gegeben hat." Grund: Anmeldung zum Agon.
Auch Wilhelm Schmid (Geschichte der griechischen Literatur, Bd. 1/2, München
1934) geht davon aus, daß der Tragiker den Titel seines Stückes selbst wählt,
wenngleich mit Grammatiker-Zusätzen zum Zweck der Differenzierung ähnlich
betitelter Stücke zu rechnen ist, s. S. 89, Anm. 8; 122; 208, Anm. 9; 227; 281;
328, Anm. 3; 361, Anm. 3 Ende; vgl. aber S. 194, Anm. 5; ähnlich Bd. 1/3, Mün-
chen 1940, S. 354, Anm. 7; 573, Anm. 3 Ende. über Komödientitel vgl. Bd. 1/4,
München 1946, S. 139, Anm. 6 und Bd. 1/5, München 1948, Register s. v. "Titel
von Komödien". Vgl. C. Wendel, a. a. O. (s. oben S. 10, Anm. 2), S. 30; A. Lesky,
Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen '1964, S. 54; A. Pickard-
Cambridge, The Dramatic Festivals of Athens, Oxford '1968, Hg. J. Gould und
D. M. Lewis, S. 67.
12 Vgl. hierzu Euripides, Helena, herausgegeben und erklärt von R. Kannicht, Bd. 1,
Heidelberg 1969, S. 21 ff.; 79 ff.
13 Die Stelle wird meist mit V. 1109ff. und dem Problem der Intelligenz des
Theaterpublikums in Zusammenhang gebracht, s. die unten S. 58, Anm. 21 ge-
nannten Arbeiten.
28
tigsten - Gattung: der Prosaliteratur. Hier findet sich wie bei den
Tragödientiteln nur ein "Titelzitat" im eigentlichen Sinn - und be-
merkenswerterweise ist dabei überhaupt kein Titel, sondern nur der
vage Oberbegriff des Genos genannt: Hekataios sage "in seinen Erzäh-
lungen"l4, die Pelasger seien von den Athenern unrechtmäßig aus
Attika vertrieben worden CExuniioc; flEV 0 'HY1l()"(lvB(>ou E<Pll<TE Ev 1:0L<TL
AbYOL<TL ],EYWV &Bb@c;, 6,137,1). Man wird nicht gerade von einem
"Beweis" sprechen dürfen, aber doch von einem sehr markanten
Zeugnis dafür, daß Herodot das betreffende Werk seines bedeutend-
sten Vorgängers, den er selbst als "den ],oY01l:oLOC;"15 bezeichnet (2,143,
1; 5,36,2; 5,125), ohne Titel gelesen hat: hätte Hekataios 16 selbst
oder seine Leserschafl: dem Werk einen Titel gegeben, so hätte für
Herodot keine Veranlassung bestanden, ihn im Gegensatz zu den
Tragödien- und Epentiteln nicht zu gebrauchen; aus dem Aristeas-Zitat
(4,14,3) kann, mit gebührender Vorsicht, sogar gefolgert werden, daß
Herodot es nicht verschwiegen hätte, wenn die Schrifl: des Hekataios
postum einen Titel erhalten hätte. Ja, man kann sogar noch einen
Schritt weiter gehen und die begründete Vermutung wagen, daß es zu
Herodots Zeiten überhaupt noch nicht üblich war, daß Prosawerke
einen signifikanten Titel trugen. Der Titel IIEQtoBoc; oder IIEQbtÄouc;
jedenfalls, den wir später der geographischen Schrifl: des Hekataios bei-
gelegt finden, ist Herodot fremd: für ihn haben diese Vokabeln noch
ganz konkrete Bedeutung von "Umgehung", "Umfang", "Weg um
etwas herum" usw. (7,219,1; 7,229,1; 7,223,1; 1,93,5 u. a.) bzw.
"Umschiffung" (6,95,2); auch an den Stellen, wo 1tE(>toBoc; geographi-
scher Terminus zu sein scheint (EXWV XUÄXEOV 1ttvuxu EV n'i\ yijc; cl1tU<TllC;
1tE(>LOBoc; EVELE1:flll1:0 xat {}W,U<T<TU 1:E 1tÜ<TU xat 1t01:Uflot 1tUV1:EC;, 5,49, 1;
YEAW BE O(lWV y~C; 1tE(>lOBouC; yQU'ljJuvmc; 1to]",o-uC; ilBll, 4,36,2) zeigt die
Parallelität der Ausdrücke, daß es um die geographische Darstellung
der Erde und ihres Umfanges geht - y~C; 1tEQlOBouC; Y(lu<pELV heißt "den
Erdkreis aufzeichnen", nicht "Bücher mit dem Titel rijc; 1tEQLOBoC; ver-
fassen".
14 Vielleicht auch: -"in seinem Werk", "seinen Schriften" oder "in den Büchern
seines Werkes" (vgl. den unten S. 37 zitierten Eingang des Antiochos).
15 "Prosaiker", wie auch das von Thukydides 1,21, 1 geprägte AOYOY(lU<po; (vgl.
W. Schmid, Geschichte der griechischen Literatur, Bd. 1/1, S. 691; Liddell-Scott,
s. vv.).
18 Zu Hekataios vgl. jetzt K. v. Fritz, a. a. O. (s. oben S. 23, Anm_ 1), Textband
S. 48 ff., Anmerkungsband S. 32 ff. v. Fritz geht auf die Titelfrage nicht im einzel-
nen ein, möchte aber aus terminologischen Gründen 3tE(llol\o<; yi'j; für die Erd-
karte und 3tE(lL1lY1]CH<; yi'jc; für die Erdbeschreibung reserviert wissen, die jedoch
nach seiner Meinung beide eng zusammengehört haben dürften.
29
Man braucht wohl kaum zu betonen, daß eine solch summarische
Zitierweise wie 'E~a,,[(lLoc; Ev -.:oLOl MYOIOl nur unter bestimmten Vor-
aussetzungen brauchbar ist: zum einen muß der Autorenname bekannt
sein; zum anderen muß der Gattungstitel die Identifikation des Einzel-
werks ermöglichen, d. h. wenn ein Einzelwerk in dieser Form zitiert
werden soll, dürfen vom Autor nicht mehrere Werke desselben Genres
existieren, es sei denn, der Zitierende verzichtet auf präzise Fixierung
des Einzelwerkes. Nun gab es aber von Hekataios neben der geographi-
schen auch noch die genealogische Schrift, auf die die Charakteristik Ev
TOtOl 1.6yotOl mit dem gleichen Recht angewandt werden konnte - also
ist diese Form der Kennzeichnung ganz unpräzise (es sei denn, man
wollte annehmen, Herodot habe Genealogien und Geographie als ein
einziges einheitliches Werk gelesen). Bedenkt man die zahlreichen
Titelangaben Herodots in anderen Fällen, so muß man auch unter
diesem Gesichtspunkt mit Sicherheit folgern, daß Herodot in der Tat
keinen Hekataios-Titel kannte.
Was aber geschieht bei einer anonymen Schrift, oder wenn aus
irgendeinem Grund der zitierte Autor nicht genannt werden soll? Auch
für ein derartiges anonymes Zitat gibt Herodot ein Beispiel: 2,23
spricht er von einem Autor, der im Zusammenhang mit der Nilschwelle
vom Okeanos gesprochen habe und dabei in unbeweisbare Spekula-
tionen verfallen sei (8 aB m:(>\. TO'U 'Qx.wvou AE;ac; tc; u'PavBC; TOV /Lu{}ov
uVEvü"ac; ou~ EXEL EAEYXOV). Daß es sich hierbei um eine schriftliche
Außerung - sehr wahrscheinlich doch wohl in Prosaform - handelt l7 ,
ist nach dem Kontext unbestreitbar. Das hebt die Stelle von ähnlichen
Formulierungen ab, in denen MYELV :!tEQL ... im buchstäblichen Sinn ein
Gesprächsthema oder den Gegenstand einer Beurteilung oder Auskunft
angibt (etwa 1, 8,2; 1,24,7; 2,20,1; 2, 32, 3; 2, 34, 1; 4, 32; 4, 33,1;
7,6,4; 7,9 ß, 1; 8,77,2)18. Andererseits ist nicht zu bestreiten, daß
der einzige Unterschied zwischen der Formulierung 2, 23 und den übri-
gen Stellen tatsächlich nur in der anderen Kommunikationsform dieses
MYELV liegt: Bedeutung und Funktion von :!tE(>\. sind jeweils dieselben-
Angabe des Gegenstandes der Außerung. Das heißt aber, daß :!tE(>\. TOU
'Q~wvou nicht den Charakter eines Titels hat, sondern im Rahmen
30
einer Inhaltsangabe bleibt; allgemeiner gewendet: das anonyme Zitat
wird in Gestalt einer gewöhnlichen Inhaltsumschreibung gegeben.
Faßt man kurz zusammen, welches Bild das Werk Herodots vom
Gebrauch der Buchtitel in der Mitte des 5. Jahrhunderts entwirft, so
zeigt sich: in Epos und Drama gibt es festgeprägte Titelformen, Lyrik19
und Verwandtes kennen offenbar keine Titel, desgleidlen erscheint bei
den erwähnten Prosawerken ein Titelzitat mangels Existenz eines
Titels für Herodot unmöglich gewesen zu sein: EV I1EAE'L und EV 'tOLOL
MYOWL stehen morphologisch auf der gleichen Stufe. Letzteres wird
dadurch unterstrichen, daß Herodot im epischen Bereich bei Gelegen-
heit ausdrücklich auf die historische Genese eines Titels eingeht. Die
Umstände, die zur Prägung der von Herodot zitierten vorhandenen
Einzeltitel geführt haben, können noch erschlossen werden: auf einer
gewissen Stufe der literarästhetischen, literarhistorischen und litera-
risdl-technischen Entwicklung stellt sich zwangsläufig die Notwendig-
keit ein, das einzelne Werk durch ein präzise, möglichst kurze und ein-
deutige Charakteristik differenziert von ähnlidlen Werken unterschei-
den zu können. Daraus ist weiter zu folgern, daß Autoren nur dann
sich selbst zur Formulierung eines Titels genötigt sehen werden, wenn
sie zu einer Zeit leben, die diese Entwicklungsstufe erreicht hat
(Tragödie!20).
19 Daß Einzelgedichte einen Titel haben, scheint erst nach Ovid Sitte geworden zu
sein, vg!. Birt, a. a. O. (s. oben S. 10, Anm. 2), S. 12 f.; dagegen sind die Titel von
Gedichtzyklen, zumindest seit hellenistischer Zeit (Hermesianax' Leontion,
Phanokles "EQOJ1:E~ 1] KUAOi usw.), wahrscheinlich vom Autor gewählt.
20 Ähnliches dürfte für die Komödie gelten. Dort sind vor allem die Doppelnamen-
Titel gewichtige Hinweise auf Authentizität: Bildungen wie Aiolosikon, Dionys-
alexandros usw. (vg!. Comicorum Graecorum fragmenta, Hg. Th. Kodr, Bd. 1,
Leipzig 1880, S. 392; R. Helm, Lukian und Menipp, Leipzig/Berlin 1906, S. 110 f.
anläßlich des Ikaromenipp; G. Meyer, Die stilistische Verwendung der Nominal-
komposition im Griechischen, Phi!. Supp!. 16/3, 1923, S. 176ff.; W. Schmid,
Geschichte der griechischen Literatur, 1/4, München 1946, S. 76, Anm. 10) können
als eine den Inhalt des Stüdres gleichsam in einer komischen Spitze pointiert resü-
mierende Charakteristik nur vom Autor selbst erfunden worden sein. Nicht zu
verwechseln mit den Doppelnamen-Titeln sind die durch ein "oder" gekennzeidl-
neten Doppeltitel - Beispiel: Aristophanes L'lQUf.lUTU 1] KEvTUUQO~: sie sind in
dieser Form, wie G. Bender, a. a. O. (s. oben S. 10, Anm. 3), ·zeigte, in der Regel
alexandrinischen Grammatikern zuzuschreiben (eine Ausnahme bilden lediglich
Titel, die in eben dieser Doppelform pointiert den Inhalt resümieren, wie einiges
von Epicharm: disjunktiv 'Ebl; 1\ IIAoüTo~ - d. h. "Wem von beiden gebührt
der Vorrang?" -, parallel dazu, additiv, ra )Lut 0UAUUUU). Ob Menander die
zahlreichen überlieferten Doppel- oder Alternativtitel selbst gewählt hat oder
ob sie von Grammatikern usw. stammen, ist bei ihm so wenig auszumachen wie
bei anderen Didltern der Nea (vg!. dazu K. Gaiser, Eine neu erschlossene Menan-
der-Komödie, Poetica 1, 1967, S. 439); wo es sich um Alternativ-Benennungen
nach verschiedenen Dramengestalten handelt, ist die Authentizität sehr fraglich.
31
4. VORFORMEN DER PROSA-TITEL
32
boxEt UAT]{}€a dvat· oi '(ag 'EAAl}VWV Myot n:OAAOt n: )tat YEAOLot, w~ Eflot
cputvovrUt, El,aLV, FGH 1 F 1, von Pseudo-Demetrios IIEgL EQfl11vEtac;
2,12 als "Anfang der Historie" des Hekataios zitiert). An der paralle-
len Struktur der beiden Anfänge dürfte kein Zweifel bestehen: offen-
simtlim gab es zu Beginn des semsten Jahrhunderts für Prosasmriften
"famwissensmaftlimen" Charakter ein festes Arsenal von Eingangs-
topoi, die in einem zweigliedrigen syntaktismen Gebilde vorgetragen
wurden: zunämst Name und Herkunft des Autors, gegebenenfalls
Adressat der Schrift, sodann eine Art methodischer Präambel, in der
sich der Autor jeweils in eine bestimmte Tradition einordnet, um so die
Eigenart seiner Schrift zu umreißen und ihren Wahrheitsanspruch zu
legitimieren3 •
Diese Topik ist freilich nimt erst von den Prosasmriftstellern ge-
schaffen worden, sondern stammt aus einer bestimmten Tradition, wie
die Berufungsgeschichte Hesiods in der Theogonie lehrt:
(V. 22ff., übersetzt von Th. v. Smeffer). Aum hier smon die gleimen
Elemente: Name CHaLolloc;), Herkunft (in Form eines szenischenBildes:
der Schafhirt am 'EJ.txwv), methodische Standortbestimmung (Wahr-
heit-Schein-Lüge-Diskussion).
Wenn diese Selbstvorstellung bei Hesiod sowohl äußerlich dem Musen-
anruf (V. 1 ff.) untergeordnet ist als aum innerlim durch die Einklei-
dung der Wahrheitslegitimation des Dimters in ein Musenwort
3 Wie die weiteren Beispiele zeigen werden, ist die Charakteristik F. Jacobys,
FGH 1 F 1, Kommentar - "die Selbstvorstellung des Autors im Prooimion blieb
Stilgesetz der Historie" - zu eng: die Topik geht weit über die historische
Gattung hinaus.
33
mythisch gebunden bleibt, so deutet dies auf eine noch weiter zurück-
liegende Vorstufe: den ganz unreflektierten - weil der Wahrheit siche-
ren - Musenanruf des Rhapsodendichters zu Beginn seines Vortrags,
wie ihn das Homerische Epos zeigt.
Dazwischen liegt morphologisch die Sphragis des Dichters im Deli-
schenApollonhymnos 4 (V. 165-178): zwar findet sich in ihr noch keine
Namensnennung und noch keine kritische Wahrheitsreflexion - zudem
ist das "Siegel" ans Ende der Dichtung gerückt -, doch der stolze Hin-
weis auf den "blinden Mann" (Namensersatz, der einst die Identifika-
tion ermöglichte) aus dem "felsigen Chios" (Herkunft) dokumentiert
gleichermaßen den Ansatz der späteren Topik wie die nachdrückliche
Betonung von seiten des Rhapsoden, seine Gesänge seien die besten, und
das sei wahr (h~T1J~lOV, V. 177, vgl. hVllounv Theogonie V. 27): der
Iliasdichter hatte es nicht für notwendig gehalten, den von den Musen
garantierten, selbstverständlichen Wahrheitscharakter seiner Worte
eigens zu betonen.
• Beheimatet war die Sphragis ursprünglim ansmeinend in der Gattung des kithar-
odischen Nomos, in der sie Terpander (1. Hälfte des 7. Jahrhunderts) eingeführt
haben soll (vgl. W. Aly, Art. Sphragis, in: RE 3 Al2, 1929, Sp. 1757 f.).
5 Vgl. W. Jens, Das Begreifen der Wahrheit im frühen Griechentum, Studium
Generale 4, 1951, S. 240ff.; H. Fränkel, Dimtung und Philosophie des frühen
Griementums, Münmen 21962, S. 119, Anm. 30; S. 589: "Die Geschimte der
griemischen Philosophie als Literatur beginnt nicht mit Anaximander, sondern
mit Hesiod."
o Die a<p!.>ayL~ des Theognis (V. 19-26) ist wesentlim differenzierter als das
Hesiod-Prooimion; sie steht typologism mindestens auf der Alkmaion-Hekataios-
Stufe. Genannt werden Autor, Herkun/l (eEUYVLIl6~ Eanv E:n:l] 'toü MEya!.>€O~,
V. 22 f.), Adressat ({{U(>VE, V. 19); der Topos» Wahrheitsre/lexion" ist ersetzt
durm den Hinweis auf die eigene Berühmtheit und Vortrefflichkeit ('toum'tA.oü,
V. 21; :n:aV'ta~ ... "a't' (lvi}!.>ro:n:OU~ övoflaa'to~, V. 23) sowie den aus Solon 5,11
bekannten "Resignationstopos" (aa'totaLv ö' oü:n:OJ :n:ämv UöEtV MvafluL, V. 24).
Anders als der Hymnendichter und Hesiod nennt Theognis seinen Namen voll
Stolz und in eigener Verantwortung. Mit Hesiod verbunden zeigt sim das Theo-
gnis-Bum dagegen, wenigstens in seiner heutigen Gestalt, durch die Einreihung
der Selbstvorstellung hinter den das Werk einleitenden Götteranruf. Dabei spielt
34
Ansatz genügte den ältesten Prosa schriftstellern offensichtlich vollauf:
war erst der letzte kleine Schritt noch getan - Name, Herkunft, even-
tuell Adressat sowie methodische Prothesis ganz an den Anfang ge-
rückt -, so war mit den gegebenen topischen Elementen ein Werk in
für die damaligen Autoren offenbar befriedigender Weise kenntlich
gemacht.
Noch aber fehlt die in unserem Zusammenhang wichtigste Chiffre:
eine das Wesentliche des Werkes ankündigende Kurzcharakteristik, ein
titel artiges Kennwort. Bereits wenige Jahrzehnte nach Alkmaion und
Hekataios finden wir dieses Moment, und zwar, wie zu erwarten, am
Beginn eines Werkes, als Bestandteil der Eingangstopik: "Folgendes
ist die Darlegung der Erkundung des Herodot aus Halikarnassos."
CHQo06Tou <A/'ly.aQ"ll(J(J€O~ taToQhl~ a:n:65€~l~ ll(\€, 1 Prooimion)1. Die
beiden ersten von Alkmaion und Hekataios her bekannten Topoi sind
- in der traditionellen Reihenfolge - die gleichen: Name und Her-
kunft des Autors. An die Stelle des vagen und summarischen "so
spricht", "dies sagt" ist dagegen eine präzisere Form der Ankündigung
35
getreten, "die Darlegung der Erkundung". Das ist noch keine Inhalts-
angabe im strengen Sinn - wie eine solche aussehen müßte, lehren die
folgenden Beispiele -, aber doch schon eine pointierte Kurzcharak-
teristik des auf diese Weise im Eingang signierten Werkes. Wo aber ist
die methodische Präambel, der zweite Teil des alten Eingangs geblie-
ben? Das ist wohl das Verblüffendste an dieser Herodoteischen Ein-
gangsformel: die Kurzcharakteristik impliziert die methodische
Reflexion des Autors auf seine Stellung in der Tradition - eben die
eigene Nachforschung ist der Garant für den Wahrheitsgehalt der fol-
genden Darstellung.
Bedeutsam erscheint die Art, wie dieser Implikationsvorgang sich
bei Herodot vollzogen hat, zumal im Kontrast zu Hekataios: was dort
selbstbewußte, aber doch eben darin auf das Subjekt des Schreibers
relativierte (w~ /lOL ÖOXEL a}'11{}EU ElVUL, w~ E/lot cputvovruL) Kußerung
erscheint, ist hier selbstverständliche, ihren Erkenntniswert "absolut"
in sich tragende Ankündigung eines faktischen Sachverhalts ([(JroQtT)~
a1C6öE~l~). Die komprimierende Umsetzung des Topos aus der verbalen
in die substantivische TerminologieB dokumentiert weit mehr als nur
einen sprach- oder begriffsgeschichtlichell Wandel - sie markiert die
Gewinnung einer geistesgeschichtlich neuen Dimension: dort das for-
sche Ringen um die Selbstbehauptung "subjektiver" Einsicht, hier die
Demonstration (a1C6öE~L~) "subjektiver" Einsicht unter dem apodik-
tischen Anspruch auf allgemeinverbindliche, "objektive" Gültigkeit
([(JroQ[T)~). Der Wahrheitsappell ist derselbe geblieben, aber der Grad
der Verbindlichkeit der vorgetragenen "Wahrheit" ist um eine Dimen-
sion gewachsen.
Auch der dritte Eingangstopos ist also bei Herodot, in einer neuen,
komprimierten Form, noch vorhanden, und nichts bekundet das schla-
gender als ein scheinbar ganz nebensächliches Element all dieser Prosa-
anfänge, das wir bisher außer acht gelassen haben, das aber gleichfalls
topisch verwendet worden zu sein scheint: das den eigentlichen Bericht
ankündigende Demonstrativpronomen - raÖE 9 bei Alkmaion, (ME
und raÖE bei Hekataios, l1öE bei Herodot.
8 Zu dieser gerade für Herodot und von Herodot an (zuvor erstmals bei Heraklit)
typischen Substantivierung des Stils - die sim unter anderem in der häufigen
Bildung von Verbalsubstantiven auf -(JL~ äußert - s. G. Röttger, Studien zur
platonisdlen Substantivbildung, Würzburg 1937 (Diss. Kiel 1936; Kieler Arbeiten
zur klassismen Philologie 3), S. 4 f.
• Dieses -rallE entspricht ziemlich genau dem später üblichen »incipit". Vgl. audl
Theognis, V. 19 f.: a<pQ1]yl~ E1tLXELa(lro -roLa/)' f:7tEcrLV.
36
überlegt man, an welcher Stelle dieses topisch-traditionellen Ein-
gangs sich am ehesten eine den folgenden Inhalt umreißende Angabe
kristallisiert haben könnte, so zeigt sich, daß hierfür eben die Demon-
strativpronomina den organischen Ansatzpunkt liefern konnten: die
Pronomina nehmen in der Eingangsformel stellvertretend die Gesamt-
heitder folgenden Ausführungen vorweg. Das heißt: es ist zu erwarten,
daß sie in dem Augenblick aus der Zahl der Eingangstopoi aussmeiden,
wo eine pointierte Form der Inhaltsangabe in den Bumeingang auf-
genommen wird. Daß dies in der Tat geschieht, zeigen zwei weitere
Beispiele. Das erste stammt aus der Italischen Urgeschichte des syraku-
sanischen Logographen Antiochos, der vermutlich ein Zeitgenosse
Herodots, auf jeden Fall aber ein Vorläufer des Thukydides war. Seine
Schrift beginnt mit den Worten: "Antiomos, der Sohn des Xenophanes,
hat dies über Italien geschrieben, aus den alten Schriften das Glaub-
würdigste und Sicherste." ('AVTtoxo~ 3E"O<pUVf:O~ TUÖE cruVEYQU'l'E :i(EQl
'ITUÄlTJ~, E'X. TWV CtQxutwv Mywv Ta 1tLO"TOTUTU xul crU<pEcrTUTU, FGH 555
F 2). Name, Abstammung, Wahrheitsreflexion (hier als Frühform der
Quellenkritik) stehen wie üblich, und zwar in einer Form, die eigent-
lich noch vorherodoteisch anmutet; an Stelle der die Methodenreflexion
implizierenden Kurzcharakteristik des Werkes ist jedoch die Thema-
angabe getreten, wobei besonders zweierlei bemerkenswert erscheint:
(a) daß die Themenangabe in einer 1tEQl-Formel erfolgt 1o, (b) daß diese
Themaangabe das stereotype Demonstrativum hier noch nicht zu ver-
drängen vermocht hat.
Dies ist erst in unserem nächsten Beispiel der Fall, wie der - leider
nicht exakt zu datierende - Beginnl l des Thukydideismen Werkes
37
lehrt: "Thukydides aus Athen hat den Krieg der Peloponnesier und
Athener beschrieben, wie sie einander bekriegten ... " (eouxuM5ll~
•A{}llvalo~ l;uvEYQa1\JE "tov ltOAEflOV "toov IIEAoltOVVll0-LWV 'Kat ' A6ljvaLwv,
w~ EltOAEf!llOav ltQo~ ai'AijAou~, 1,1)12. Mit dieser Formulierung ist an
die Stelle der Trias der Haupttopoi des Eingangs "Name des Autors -
Herkunft des Autors - Wahrheitslegitimation" endgültig die neue
Trias "Name-Herkunft-Inhaltsangabe" getreten13 • VonderThuky-
dideischen Position aus tritt die Zwischenstellung des Herodot-Ein-
gangs nochmals besonders deutlich hervor: pointierte begriffliche
Kurzcharakteristik des Werkes, aber noch ganz unter dem Aspekt der
methodischen Reflexion, nidlt der Ankündigung des Inhalts14 • Der
12 Daß es sich bei diesem Prooimion um einen "Titelersatz" handelt, ist in der
Thukydides-Literatur communis opinio (vgl. z. B. den Kommentar von A. W.
Gomme, Bd. 1, Oxford 21950, S. 89; O. Luschnat, a. a. O. [so vorige Anm.] , Sp.
3076).
13 Auf die strukturelle Parallelität des Thukydides-Eingangs mit den Buchanfängen
von Alkmaion, Hekataios, Herodot und Antiochos hat, wenn ich recht sehe, erst-
mals Max Pohlenz im Zusammenhang mit dem ähnlich strukturierten "zweiten
Prooimion" des Thukydides (5,26) aufmerksam gemacht (Thukydidesstudien II,
Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen,
phil.-hist. Klasse, 1920/1, S. 57ff.; auf die allgemeine Ähnlichkeit dieser Ein-
gänge wies schon H. Diels, Herodot und Hekataios, Hermes 22, 1887, S. 436,
Anm. 1, hin). Pohlenz, der auch auf Theognis verweist, verkennt freilich die
genetische Abfolge, wenn er Herodot "durch bewußten Anschluß an das Epos auf
andere Wege geführt" worden sein läßt und aus der Entwicklung des Reflexions-
topos herausnimmt: nicht allein, weil der Topos ja in dem "lO'"toQbl~ o.1t6öd;I~"
enthalten ist, sondern vor altem, weil diese ganze Form der Siegelung mit Namen
und Wahrheitsbekundung sich bis in die Rhapsodenzeit zurückverfolgen läßt -
gerade im Bereich des Epos sind die Wurzeln dieser ganzen Topik zu finden.
Dagegen ist die andere von Pohlenz herangezogene Entwicklungslinie bedenkens-
wert, die sich aus der Verwandtschaft der frühesten Prosaeingänge mit den For-
meln des Briefeingangs ergibt (z. B. Herodot 3, 40, 1 "AfJ.IlO'I~ IIoAuKQ6."tE1 (böe
HyeL; Thukydides 1, 129,3 (bÖE HYEL ßaO'LAEU~ :a:EQ1;fJ~ IIlluO'llvlq.). Pohlenz
nimmt bei Alkmaion eine bewußte Anlehnung an den Briefstil an; später, als man
den Adressaten der Widmung wegließ, sei von den Topen des Briefeingangs
außer dem Namenssiegel nur noch das (bÖE oder "t6.1lE übriggeblieben. Da freilich
die Briefbeispiele alle aus einer Zeit stammen, in der es, wie wir sahen, bereits
topologisch verfestigte Prosaeingänge gab, könnten diese Briefe möglicherweise
auch nach den damals üblichen Anfängen von Prosaschriften stilisie'rt sein, was
aber nicht eben wahrscheinlich erscheint. Für die Priorität der Brief topik sprechen
allgemein literarhistorische Gesichtspunkte: denn Briefe gab es längst, ehe es eine
Prosaschriftstellerei im eigentlichen Sinn gab - sie dürften typologisch zu den
frühesten schriftlichen Literaturprodukten gehören -; insofern ist die Entwick-
lung vom Brief zum literarisch konzipierten Prosawerk wahrscheinlicher als die
umgekehrte Annahme (vgl. auch unten S. 42, Anm. 21; S. 75, Anm. 7).
14 Bei Pohlenz, a. a. O. (s. vorige Anmerkung), S. 58 ff.; 68 ff. wird diese Diffe-
renz überspielt aufgrund der Betonung der Strukturparaltelität. - Ob diese Um-
gestaltung des Eingangs damit zusammenhängt, daß Thukydides im Gegensatz zu
38
Reflexionstopos geht freilich bei Thukydides nicht verloren, er ver-
schwindet nur aus der Eingangsformel. Schon bei Herodot leitet sich
aus der schlagwortartigen Methodenformel des Eingangs eine das ganze
Werk durchziehende Auseinandersetzung des Autors mit seinen Vor-
gängern und Gewährsmännern ab. Bei Thukydides erscheint dann die
Reflexion auf Methode und Wahrheitsgehalt verselbständigt als auto-
nomer Teil der Darstellung in einem eigenen Methodenkapitel, das von
Beginn des Werkes ein gutes Stück entfernt ist (1,22, ergänzt durch
1,20/21 und 1,23).
Was Herodot, Antiochos und Thukydides - oder wer immer der
:n:QGnot; E'UQE'tTjt; der Sache gewesen ist - dazu veranlaßt haben mag, die
von Autoren wie Alkmaion und Hekataios verwendete traditionelle
zweiteilige Eingangsformel begrifflich zu einer vorweggenommenen
Kurzcharakteristik zu komprimieren, wissen wir nicht. Wohl aber läßt
sich sagen, daß diese Neuerung so revolutionär nicht war, wie sie auf
den ersten Blick vielleicht aussieht. Denn daß am Beginn eines Werkes
gesagt wird, wovon im folgenden die Rede sein soll, ist schon in der
epischen Dichtung üblich gewesen: bereits der erste Vers, ja das erste
Wort nennt in Ilias und Odyssee das Thema der Dichtung, die fliiVLt;
Achills, die Geschicke des (ivTJQ :n:OAU'tQO:n:Ot;, und ebenso ist es bei den
"homerischen" Hymnendichtern Usus, im ersten Vers, ja in der Mehr-
zahl der Fälle (Nr. 2; 4; 8; 9; 10; 11; 12; 13; 14; 15; 17; 18; 20; 21;
23; 24; 25; 27; 28; 29; 30; 31; 32) sogar mit dem ersten Wort den im
Hymnos besungenen Gott zu apostrophieren 15 •
Die umgekehrte Erwägung - was die frühesten Prosa-Autoren dazu
bewogen haben könnte, sich diesem Vorbild nicht anzuschließen 16 - ist
ungleich interessanter. Vermutlich haben dabei mehrere Komponenten
mitgespielt, deren wichtigste darauf hinauslaufen, daß jene Autoren
eine Nennung des Themas einfach nicht für notwendig hielten. Wesent-
lich war offensichtlich der Autor, und wesentlich war die Begründung,
weshalb dieser Autor unter seinem Namen an die öffentlichkeit zu
Herodot dezidiert für ein Leserpublikum schreibt (vgl. die unten S. 75, Anm. 6
genannten Arbeiten von R. Harder und R. Muth), ist denkbar, läßt sich aber
kaum bündig beweisen.
15 Das ist auch noch in späterer Zeit eine beliebte Form des Eingangs, vgl. Nachman-
son, a. a. O. (s. oben S. 10, Anm. 3), S. 7, der auf den Beginn von Theokrits
Dioskuren (22, V. 1 f.) und von Bions Adonis verweist. Auch in der römischen
Literatur gibt es Verwandtes: man denke etwa an Horaz, Carmen 1,1. Vgl.
auch C. Wendel, a. a. O. (s. oben S. 10, Anm. 2), S. 29 mit Anm. 167.
16 Vorausgesetzt, die zufällig überlieferten Beispiele sind repräsentativ - was wir
nur aus der bis Thukydides reichenden Kontinuität schließen können.
39
treten wagte. Der Rhapsodendichter blieb anonym, und das nicht nur
etwa für die Nachwelt aufgrund ungünstiger überlieferung, sondern
genuinerweise vor allem innerhalb des Werkes, das der Rhapsoden-
dichter ja nur als "Sprachrohr" der Gottheit vorträgt (den Zerfall
dieser Abhängigkeit zeigt die Sphragis des Apollonhymnos). Der
Prosa-Autor dagegen versteht sich weder als ein anonymes Sprachrohr
- er spricht sua sponte -, noch ist sein Werk wie das des Rhapsoden-
dichters primär für den Vortrag komponiert: er ist Schriftsteller, der
die Ergebnisse seines Denkens oder Forschens "zu Papier" bringt, um
sie in dieser Weise anderen mitzuteilen, für andere festzuhalten - die
zitierten Einleitungsformeln sind insgesamt spezifische Eingänge von
Schriftwerken (wenn es hierfür neben der literargenetischen Folgerung
eines zusätzlichen "materialen" Beweises bedarf, so liefern ihn das
YQuq>oo des Hekataios und das O'UVEyQU'ljJ€ des Antiochos und des Thuky-
dides). Um ein solches Schriftwerk für das Publikum zu signieren, ist
fürs erste nur der Name des Autors nötig17 •
Was geschieht jedoch, wenn der Autor anonym bleiben will oder muß
(alle bisher erörterten Eingänge gehören ja zu Werken, deren Verfasser
sich zu Beginn als Urheber zu erkennen geben)? Leider- vielleimt auch
bezeichnenderweise - sind uns für diesen Fall keine frühen Beispiele
erhalten: die ältesten anonymen Prosatexte, deren Eingang überliefert
ist, führen frühestens etwa in die Zeit um 430 v. Chr. zurück, also in
die Epoche des Herodoteischen Geschimtswerks - so die Oligarchen-
Flugschrift, die als 'A{l1'\valoov :rcoÄL"rda im Xenophontischen CEuvre
tradiert worden ist, und so vermutlich auch die ältesten Schriften des
Corpus Hippocraticum18 •
Unter die frühen hippokratischen Schriften19 rechnet man beispiels-
40
weise die Abhandlungen über die alte Medizin20 und über die heilige
Krankheit. Beide weisen einen verwandten Beginn auf: "So viele es
unternommen haben, sich über die Medizin zu äußern oder zu schrei-
ben ... sie haben sich in vielem, was sie sagen, offensichtlich geirrt, und
vor allem verdienen sie Tadel, weil ... " CO:n:O<TOL ftEV Em;xEtQ'l'}crav :n:EQI.
L1ltQL/tijr; MYEtV 1\ YQU<PELV ... EV :n:oAAOL<Tt ftEV xal. ot<Tt Myoucrt xa"ta<pavEEr;
EL<TI. CtftaQ"tuvOV"tEr;, ftUAt<TLa lIE ü~wv ftEft'\jJaO"{}m, ön ... , IIEQI. &QXal'l'}t;
Lll"tQLXijr;); "Ober die sogenannte heilige Krankheit ist folgendes zu
sagen: sie scheint mir überhaupt nicht göttlicher oder heiliger zu sein
als die anderen Krankheiten, sondern hat (wie sie) ein bestimmtes
Wesen und eine Ursache; aber die Menschen haben aus Unkenntnis und
Staunen geglaubt, sie sei eine göttliche Sache, weil sie anderen in nichts
gleicht ... " (IIEQI. "tijr; lEQijr; VO<TOU /taAE0ftEV'l'}r; d)/)E EXEL' ou/)ev Tl ftot /)oxEL
"twv ÜAAWV {}ELO"tEQ'l'} ElVat VOU<TWV oullE lEQW"tEQ'l'}, &AJ..a <pU<Ttv ftEV EXEt /tal.
:n:QoqJacrtV20., Ol /)' üV{}Qw:n:ot EvOftt<TaV {}ELov n :n:Qijyfta Elvat u:n:o &:n:EtQl'l'}r;
xat {}auftU<TLOLllLOr;, ön OUÖEV EOLXEV E"tEQOL<Tt ..• , IIEQI. lEQijr; vocrou). Die
auffälligste Gemeinsamkeit der beiden Eingänge besteht in ihrem
parallelen Ziel: von vornherein die Meinung des Autors gegenüber
bisherigen Versuchen über das Thema abzugrenzen. Diese kritische
Definition des eigenen, in der Regel sogleich auch begründeten (ön)
Standpunkts korrespondiert genau mit jener in den frühesten erhalte-
41
nen Prosa-Eingängen, bei Alkmaion und Hekataios, ja noch bei Hero-
dot und Antiochos anzutreffenden Reflexion auf die Wahrheitskriterien
der eigenen Darstellung.
Daß es sich dabei auch im Bereich der medizinischen Fachliteratur
(deren Archeget für uns übrigens ja eben Alkmaion ist) um einen
Topos handelt, dokumentieren noch mehrere andere Traktate des
Hippokratischen Corpus, etwa der Beginn des Werkes über die Lebens-
weise (Et !lEV !lOt n~ EMxEL ,ÖlV rrQo,EQoV oUYYQa'lj)(IV'toov nEQL thahl')~
avilQoontvl'}~ ,-i'j~ nQo~ uYELl'}V OQi}Öl~ EYVooXW~ OUYYEYQmpEvaL mlv,a lha
mlV'to~, öoa I)uva,ov avilQoonLVn l'VWflll nEQLAl'}<jlilfivllL, txavöi~ €lXEv Civ !l0L
CiAAooV hnovl'}ouV'toov YVOVTa ,a oQi}öi~ exovTa wlnowL XQ-i'joilaL, xailon
Exao'tOv ai,-r:Ölv EMxEL XQ~OLflOV dVUL. vuv I)E nOAAoL !lEV 111>11 ouvEYQa'ljJllV,
o"'l)d~ I)E noo EYVoo oQilöi~ xail6n fl"ai,-r:oi:~ oUYYQam;Eov ... , TIEQL I)Lahl1~)
oder der Schrift Ober die Natur des Menschen ("Oon~ !lEV o'Öv Eloo{lEv
axouELv AEYOV'tooV a!l<jlL ,-i'j~ <jlUOlO~ ,ii~ av{lQoond11~ nQoooo,EQq> 11 öoov
a"''t-i'j~ E~ tl'}'tQLK~V a<jl~xEL, ,ou'tq> ~lEV 01,.X Em,~I)ELO~ öllE 0 A6yo~ axouELv ...
[folgt Abgrenzung gegenüber Philosophen, die den Menschen aus MQ,
nUQ, 'ÜlIooQ oder y-i'j bestehen lassen], TIEQL <pUOLO~ avilQwnou).
In anderen Stücken ist der Topos etwas abgewandelt: die direkte
Polemik fehlt, sie ist indirekt aufgehoben in einem einleitenden
Postulat, dessen allgemeinste Form lautet: "Wer das und das Gebiet
richtig beherrschen will, der muß . .. " (so etwa in TIE(lL aEQoov uM,oov
,onoov: 'Il'}'QLxtlV öon~ ßOUAETal oeilöi~ tl'},ELV, ,UlIE21 XQtl nOLELv ... ;
oder im TIQoyvooonxov: Tov tl'}'tQov 1I0xeL !l0L CiQLO'tOV €lvllL nQovOLav Em-
21 Das Demonstrativum im Einleitungssatz - wie auch das rollE in IIEQL lEQij!; "Voaou
(s. oben) oder in IIEQl IlLUL't1']!; UYlELVij!;: Tou!; tIlLoo"tU!; rollE XQi) öLunüaitUL -
erinnert an die Eingänge der vom Autor gesiegelten Werke. Eine charakteristische
Mittelstellung nimmt der Autor der Sduifl: IIEQL yuvULxd1']!; <puawt; ein (hinter
dem man Hippokrates' knidischen Zeitgenossen Euryphon vermutet hat): er
bleibt anonym, verwendet aber die seit Alkmaion bekannte Formel in der ersten
Person Singular - IIEQL IlE 'tijt; YUVULXELI1t; <puaw!; xul "Voal1fl.ll'tOlV 't6.IlE J...EyOl.
Ganz ähnlich der Anfang von IIEQl YU\lULXELOl"V "VouaOl"V, dessen richtige Lesung
H. Diels wiedergefunden hat (Herodot und Hekataios, Hermes 22, 1887, S. 436,
Anm. 1): T6.IlE <lfl<PL YU"VULXELOl"V \,ouaOlv <P1']flL. Diels erinnert in diesem Zusam-
menhang an die topischen Eingänge epigraphischer Urkunden. Vgl. dazu Sylloge
inscriptionum Graecarum, Hg. W. Dittenberger, Bd. 1, Leipzig 81915, Nr. 22:
ßuaLAEU!; ßuaLAEOlv 6.UQELO!; Ö 'Y o"tua1tEOl rull6.'t~ lloUAq> 't6.IlE J...EYEL ("Brief"
aus dem Jahr 494 v. ehr., zu dem Dittenberger auf Parallelen wie Herodot 1,69;
3,40; 3, 122; 5,24; 7, 150; 8, 140 und Thukydides I, 129, 3 verweist; das stützt
die oben S. 38, Anm. 13 genannte Annahme von Pohlenz, zum al dieses Steindoku-
ment dem Alkmaion-Eingang bis ins Detail entspricht); 't6.IlE {, aUAhoyo!; eßouAEu-
oU'to ... , Dittenberger Nr. 45, aus der Zeit vor 454/453; 'tUllE auvEYQa'ljluv ol
otxLo'tuL xaL Ello;E 'tq. öUflq>, Dittenberger Nr. 141, etwa aus dem Jahr 385 (die
bei den ersten Inschriften auch bei M. N. Tod [Hg.], A Selection of Greek Histo-
rical Inscriptions, Bd. I, Oxford 21951, Nr. 10 und 25).
42
'[T)lkUELv' lt(J0YLVWaXWV ya(J xUL lt(Jo'AEywv... ma,[EUo~'[Q av llanOV
y~vwaxELV '[0. '[WV voaEUV'[WV 1t(Jl1YIlU'[(l; ähnlich, wieder mit dem charak-
teristischen Superlativ, IIE(JL UYIlWV: 'EX(Jl1v '[ov 1l1'[(JOV '[WV Eit1t'[waLwv
'[E xUL xu'[u),IlIl'tWV (hC; Wumm '[ac; XU'[(l'[(l<JLUC; 1tO~Ei:a{}u~' UÜ'[T) ya(J 11
lhxuw'[u'[T) cpua~c;).
Neben diesem Topos der "kritischen Reflexion" ist im Eingang all
dieser medizinischen Schriften noch eine zweite Eigentümlichkeit nicht
zu übersehen: die Tatsache, daß der Autor ganz offensichtlich bemüht
ist, bereits mit den ersten Worten den Gegenstand der folgenden Dar-
legung zu nennen, wobei in unserem Zusammenhang natürlich beson-
ders bemerkenswert erscheint, daß dies häufig in einer 1tE(JL-Formel
geschieht, wie sie uns schon bei dem sizilischen Historiker Antiochos
begegnet ist (in der Reihenfolge der Zitate: 1tE(JL tT)'[(J~y.lic; /.EYELV 1\ Y(JuCPELV
- 1tE(JL '[Y)C; lE(llic; voaou "KU/,EO!lEVT)C; - '[WV 1t(JO'[E(JOV aUYY(Ju'ljJuV'[wv 1tE(lL
ötaL'[T)C; UV{}(JW1tLVT)C; '[lic; 1t(JOC; -uyElT)V - AEYOV'[WV UIlCPL '[Y)C; cpuawc;22 '[11C;
UV{}(JW1tLVT)C; - tT)'[(J~Y.llV ... ~T),[Ei:V - 1t(Jovo~uv E1tmlÖEuE~V - '[WV EX1t"tW-
aLWV '[E xUL Y.U'[UYIl(ltWV ... '[ac; XU'[(l'[(laLUC; 1tOlEi:a{}u~). Die Stereotypie,
mit der das Phänomen begegnet23 , ist zu eklatant, als daß sie auf Zufall
22 ' AtJ.<pL zur Bezeichnung des literarischen Gegenstandes vorgeprägt Odyssee 8, 267;
ähnlich, nur mit Akkusativ konstruiert, im Eingang der "homerischen" Hymnen
7; 19; 22; 33. VgJ. auch den in der vorigen Anmerkung genannten Anfang von
IIEQL YUVaL'l.EIWV VOUOWV.
23 Ganz parallel zu diesen hippokratischen Schriften - Themanennung zu Beginn
in einer ltEQL-Formel, erkenntniskritisches Postulat mit "man muß" - ist der
Beginn des erhaltenen Stüdtes der hippologischen Schrift des Xenophon-Vorgän-
gers Simon: ßOKEt tJ.OL ltEQL lliEue; lmtLKije; ÖEtV 1tQöi"t:ov EtötVUL KUAiiie; Toih:o TO
tJ.aitl1tJ.u, TiJV ltUTQLÖU YLYV!OOKELV roe; EOTLV KUTa YE TiJV <EÄÄaöu X!OQuv KQUTloTl1
i] 0ETTUÄlU (Text nach K. Widdra, 8EVO<piiivTOe; IIEQL l.n:ltLKije;, Leipzig 1964). Aus
dieser Parallele lassen sich mehrere Schlüsse ziehen: (a) daß zumindest dieser erste
Satz des überlieferten aus dem Beginn des Werkes stammt (vgl. auch das tradi-
tionelle ÖOKEt tJ.OL mit Hekataios und dem Beginn von IIEQL tEQ;;e; vooou, IIEQL
ÖLulTl1e;, IIQo"Yl'wOTL'l.ov); (b) daß sich die Abfassungszeit des Simonschen Trakta-
tes insofern enger als bisher (vgl. zuletzt Xenophon, Reitkunst, griechisch und
deutsch von K. Widdra, Berlin 1965, S. 9 ff., "Xenophon und sein Vorgänger
Simon") eingrenzen läßt, als der Eingang der Schrift offensichtlich die im letzten
Viertel des 5. Jahrhunderts übliche Struktur übernimmt, wobei die recht banale,
nämlich rein inhaltsbezogene Form des "Methoäen"-Postulats ("man muß
wissen, daß das beste Pferdegebiet Thessalien ist") auf ziemlich späte Datierung
deutet - der Topos wird klischeehaft auf etwas angewandt, was mit methodo-
logischer Reflexion nichts mehr zu tun hat; (c) daß der tradierte Titel IIEQL Etöoue;
KUL EltLÄOY;;, "Gmwv kaum als original gelten darf, sondern, eben in der Gestalt
des tradierten Einleitungssatzes, höchstwahrscheinlich IIEQL tliEue; lmtLKijC; lauten
muß (falls dem so ist, d. h. falls der einleitende Satz des Fragments tatsächlich
der einleitende Satz der ganzen Abhandlung war, dann sehen wir aus dem
"Zitat" bei Xenophon, IIEQL iltltLK;;C; 1, 1 - ouvtYQu"\jlE tJ.Ev ouv KUL l:ltJ.wv ltEQL
lmtLx;;C; - wie daraus via Formelkürzung alsbald eine "kurztitelartige" Themen-
43
beruhen könnte. Der abrupte Beginn des gleichfalls recht früh entstan-
denen ersten Epidemien-Buches ist kein Gegenbeispiel, sondern eine
unbestreitbare Ausnahme, deren Erklärung auf der Hand liegt: die
'EmÖ'l1ftlaL stellen private ärztliche Tagebudmotizen dar, "Krankheits-
journale"24, die in keiner Weise für eine Publikation zurechtgemacht
sind. Das bedeutet auf der anderen Seite: die prononcierte Nennung
des Themas zu Beginn anderer Schriften hängt von ganz bestimmten
Bedingungen ab, die mit der Veröffentlichung dieser Werke oder zu-
mindest mit der Hinwendung an ihr besonderes "Publikum" (in diesem
Fall an die Zunftgenossen) zu tun haben müssen.
Nun lassen sich für die Existenz eines solchen Topos eigentlich nur
zwei Gründe denken: literarische im engeren Sinn oder technische -
entweder es galt als ein verpflichtendes Kompositionsschema, daß man
in für eine "öffentlichkeit" (und seien dies auch lediglich die Fach-
kollegen) bestimmten Werken gleich zu Beginn das Thema ansprach,
oder äußere, mit der Art und Weise der" Veröffentlichung" zusammen-
hängende Gegebenheiten machten eine derartige Prozedur unumgäng-
lich. Die Alternative definitiv entscheiden zu wollen, würde zu einer
vermutlich endlosen Diskussion über die qualitative und chronologische
Priorität der beiden Momente führen, zumal nicht zu bestreiten sein
wird, daß der andere Haupttopos, die "kritische Standortbestim-
mung" , nach Herkunft und Eigenart spezifisch literarischer Natur ist.
Man muß sich daher mit der allgemeinen überlegung begnügen, daß
auch ein Topos irgendwann aus irgendwelchen Gründen entstanden ist
oder aus eben diesen Gründen sich jeweils neu aufdrängt. Beim
Reflexionstopos ist die in der erstmals bei Hesiod sichtbar werdenden
"Wahrheits- oder Erkenntniskrise" liegende Ursache noch zu greifen.
Beim Topos "Themastichwort zu Beginn des ersten Satzes" aber liegt
es am nächsten, den Grund darin zu suchen, daß ein Autor zunächst gar
keine andere Möglichkeit sah, sein Thema "anzubringen", als innerhalb
des ersten Satzes, mit anderen Worten: daß es noch keinen vom Kon-
text gelösten Titel in Form einer "überschrift", "Aufschrift" oder wes-
sen auch immer gab 25 .
angabe wird). Xenophon selbst hat die traditionelle Form der nEingangstitelei"
offensichtlich nicht mehr nötig - er kann mit einem ganz persönlichen Prooimion
beginnen, wohl weil er als Titel eine bnYl.laq>Yt über sein Werk setzt.
24 H. Diller, a. a. O. (s. oben S. 41, Anm. 19), S. 279 f., K. Deichgräber referierend.
Die frühesten Teile der Epidemien, Buch 1 und 3, datiert man in die Zeit um
410 v. ehr.
26 Bei den einleitenden Rhapsoden-Floskeln ist der Grund für den nThema"-Topos
unmittelbar einsichtig: es wäre ein radikaler und unvorstellbarer Stilbruch, wenn
44
Natürlich ist die Verwendung des "Thema"-Topos auch später- zu
einem Zeitpunkt, wo Titel üblich geworden sind - nicht ausgeschlos-
sen 26 : doch dann ist er zu einem ebenfalls aus rein literarischen Gesichts-
punkten resultierenden Topos geworden und von seinem primären
Ursprung losgelöst27 • In unserem Fall hat das zur Folge, daß auch diese
hippokratischen Schriften sich nur bedingt als Zeugnisse für die Lösung
der Frage nach den Buchtiteln, zumindest in deren chronologischen
Aspekten, heranziehen lassen. Denn zu behaupten, daß die Nennung
der jeweiligen Themen zu Beginn dieser Texte in der Tat auf tech-
nischem Zwang beruht, wäre ohne weitere zwingende Hinweise eine
petitio principii.
Einen dieser Hinweise liefert mit einiger Wahrscheinlichkeit der
Anfang der pseudoxenophontischen ' Ail'Y}vatwv nOArtda28 : "Hinsicht-
lich der Verfassung der Athener - daß sie sidl für diese Form der Ver-
fassung entschieden haben, lobe ich deswegen nicht, weil sie durch diese
Entscheidung entschieden haben, daß es den Schlechten besser geht als
den Rechtschaffenen ... " (TIE(lt öE Til~ , A-lt'Y}vatwv nOALTEta~, ön IlEV
ElAOVTO TO'ÜTOV Tav T(lOnOV Til~ nOALTda~ oux Enaww llUI TOllE, Sn Ta'Ü{l'
SAOIlEVOt ElAOVTO TOiJ~ nov'Y}(loiJ~ (l/LELVOV n(l(l-r:TELV 1\ TOiJ~ X(ll'\aTOlJ~ ... ,
1, 1). Was diesen Beginn von allen besprochenen Eingängen des Corpus
Hippocraticum unterscheidet, ist die syntaktische Konstruktion, die
den Themabegriff geradezu aus dem Einleitungssatz verbannt, um ihn
proleptisch an die Spitze des Traktats stellen zu können. Zwar bringt
auch TIE(lt M(lwv iJMTWV Tonwv am Anfang eine Inversion zur antizipie-
renden Hervorhebung des Themabegriffs ('I'Y}T(lLY..TjV San~ ßOUAETaL ... ,
vgl. die parallele, aber "glatte" Formulierung in TIE(lt a(lxat'Y)~ i.'Y}T(lLY..il~
der Rhapsode beim feierlichen Vortrag seiner Gesänge und Hymnen seinem
Publikum zunächst in einer prosaischen Einleitung mitteilen würde, worüber er
seinen Vortrag zu halten gedenkt.
26 Daß jedoch die unten S. 69; 85 f., Anm. 7; 124, Anm. 13 genannten Eingänge von
Schriften des Protagoras, Philolaos (?) und Demokrit, die auffälIigerweise nach
Art des von den anonymen Schriften gebotenen Typus mit einer Themaangabe
einsetzen, zu dieser Kategorie gehört haben sollten, ist nicht zu beweisen. Es
könnte, zumal es sich um relativ späte Autoren handelt, auch an eine Weiterent-
wicklung der Eingangstopik von der Art gedacht werden, daß beide Formen, die
der Namenssiegelung und die der anonymen Thema-Einleitung, verschmolzen
sind: auf das - heute verlorene - traditionelle namentliche Siegel wäre dann
das durch Themaangabe und Wahrheitsreflexion gekennzeichnete sachliche Siegel
gefolgt. Eine einfache Vorform dieser Weiterentwicklung könnte man beispiels-
weise in dem Antiochos-Eingang sehen (s. oben S. 37).
27 Vgl. oben S. 39, Anm. 15.
28 Vgl. dazu E. Kalinka, Die pseudoxenophontische 'A{}ljva(wv nOAL"tELa, Leipzig/
Berlin 1913, S. 84 ff.
45
und I1Eet CPUCHOS" av{teomou), doch bleibt die Konstruktion dort im Rah-
men grammatikalischer Konzinnität. In der Oligarchen schrift dagegen
wird durch die Prolepse der Themaformel JtEet 'tilS" 'Afu}vatwv JtoAl'tdaS"
die Syntax des Einleitungssatzes anakoluthisch gestört, ja, wenn in dem
Satz selbst nicht das Subjekt'A{)ljVaLol fehlen würde, könnte man so-
gar versucht sein, die Eröffnungsformel textkritisch als erst sekundär
"heruntergerutschte" Emyeacp~ zu erklären. Falls die Schrift ursprüng-
lich von ihrem Verfasser einen Titel in Form einer "überschrift" erhal-
ten haben sollte, dann wäre nicht einzusehen, was diesen Autor - auch
wenn er literarisch ein ausgemachter Stümper gewesen wäre - bewogen
haben könnte, dieselbe überschrift gleich in der folgenden Zeile noch-
mals zu wiederholen und sich so seinen ganzen Einleitungssatz zu ver-
unstalten (dasselbe gilt, wenn man annimmt, es sei damals schon üblich
gewesen, die E:7nyeacp~ auf die Außenseite der Buchrolle oder einen
"Sillybos"29 zu schreiben). Auch einer archaischen Prosa wird man
solche Ungeschicklichkeit nur zögernd zutrauen wollen80, und bei einem
zwangsläufig auf schlagworthaft-direkten Effekt31 zielenden politi-
schen Pamphlet fällt diese Annahme doppelt schwer. So bleibt als
plausibelste Hypothese tatsächlich nur, daß es sich bei der JtEet-Ein-
leitungsformel dieser Schrift um einen dezidierten »Titelersatz CC32
handelt.
20 S. unten S. 52.
80 Daher kann man K. I. Gelzer, Die Schrift vorn Staate der Athener, Berlin 1937
(Hermes Einzelschriften 3), S. 100 ff., nicht zustimmen, wenn er gegen Kalinka
(a. a. 0., S. 84ff.) das öe als Mittel respondierender Wiederaufnahme des darüber
stehenden Titels versteht. Es müßte doch als barer Unsinn erscheinen, wenn in
einem Text, in dem nach Gelzers eigenen Worten ndie überschrift nicht gelöst
(ist) vorn eigentlichen Text wie in heutigen Ausgaben", der Anfang lauten würde:
"Hinsichtlich der Verfassung der Athener (sage ich folgendes (oder: sagt der
Athener Xenophon folgendes»: hinsichtlich der Verfassung der Athener - daß
sie sich für diese Form der Verfassung entschieden haben, lobe ich deswegen nicht,
weil ... " Und genau so sollte es mit den Anfängen der Hippokratischen Schriften
ursprünglich gewesen sein? Gelzer übersieht den hermeneutischen Unterschied,
der bei der Interpretation zwischen den anonymen und den von einem Autor
namentlich gesiegelten Werken zu machen ist, auch wenn man den Umstand be-
rü<ksichtigt, daß Gelzer einen Autor namhaft machen zu können glaubt, der sein
Werk zu Beginn siegelte wie vermutlich vor ihm Heraklit und Ion oder Antiochos
(vgI. oben S. 37; unten S. 120f., Anm. 2; S. 122, Anm. 7). Ganz und gar nicht ein-
zusehen ist schließlich, wie Gelzer es verantworten kann, trotz alledem wenig
später vorn .. überschriftartigen Beginn ItEPL öE 'tij,; 'A~TJVaLCOV lto]..L1:ELa,;" zu
reden.
81 Man beachte die plakative ltovTJpot-XPTJO''tol-Antithese gleich zu Beginn; vgI.
KaI inka, a. a. 0., S. 46; 88.
32 Der Begriff .. Titelersatz" ist im vorliegenden Zusammenhang - terminologisch
nicht ganz exakt (streng genommen könnte man von nErsatz" nur reden, wenn
46
Fassen wir an dieser Stelle kurz zusammen, in welcher Weise die
frühesten uns faßbaren Prosa-Autoren ihre Werke gekennzeichnet
haben, so ergibt sich: es ist ein fester Topos, daß der Autor sich zu
Beginn mit seinem Namen und seiner Herkunft zu erkennen gibt; bei
anonym konzipierten Prosawerken - deren Tradition für uns aller-
dings wesentlich später einsetzt - ist, wie schon in der Rhapsoden-
dichtung, zu Beginn des Textes eine ziemlich exakte thematische Kurz-
definition des Gegenstands der Darstellung üblich, meist in der Gestalt
einer .1IE(lt-Formel; bei den unter dem Namen des Autors laufenden
Werken scheint sich dies in derselben Zeit, aus der unsere anonymen
Zeugnisse stammen, eingebürgert zu haben; anonymen und nichtano-
nymen Werken gemeinsam ist der Topos der "kritischen Wahrheits-
reflexion" zu Beginn, die alletdings später von dieser Stelle verdrängt
und durch eine thematische Kurzcharakteristik ersetzt erscheint.
An keinem Punkt in dieser Entwicklung ergibt sich ein Hinweis auf
die Notwendigkeit det Existenz eines Buchtitels, im Gegenteil: sowohl
die pointierte namentliche Selbstvorstellung des Autors zu Beginn als
auch die stereotype Angabe des Themas im Einleitungssatz der ano-
nymen Werke deuten darauf, daß nicht zusätzlich auch noch " Titel "
vorhanden waren 33 ; die markante Einleitungsformel der Oligarchen-
schrift erhebt diese Deutung fast zur Evidenz. Nimmt man noch hinzu,
daß auch die Zitierweise Herodots mit einem hohen Grad an Wahr-
scheinlichkeit darauf hindeutet, daß zu seiner Zeit Prosawetke keinen
"Titel" trugen, so wird man dem Bemühen, bei den vorsokratischen
Philosophen Werktitel finden zu wollen, nur noch geringe Aussicht auf
Erfolg einräumen können - zumal in Anbetracht der Tatsache, daß
nach Galens und Porphyrios' Zeugnis ein antiker Autor keineswegs die
Gewohnheit hatte, seinen Schriften bei der Abfassung "automatisch"
einen Titel beizulegen34 •
etwas bereits Existierendes sekundär durch etwas anderes "ersetzt" wird) - immer
in dem Sinne verwandt, daß ·die Einleitungstopoi stellvertretend die Funktion
haben, die später die EmY(lu.qJij-Titel übernehmen.
83 Irreführend und sachlich ganz und gar unzutreffend ist es daher, a11 diese den
erst später aufkommenden Titel ersetzenden Eingangssiegel trotzdem als "über-
schrift" zu bezeichnen (so z. B. E. Kalinka, 3,. a. O. [so oben S. 45, Anm. 28], S. 85 f.
m. Anm.; F. Jacoby FGH, Bd. IUb, Leiden 1955, Nr. 392, Komm. zu Frg.
24-26). Auch H. Diels (Herodot und Hekataios, Hermes 22, 1887, S. 436,
Anm. 1) "verschlimmbessert", wenn er im gleichen Zusammenhang sagt, "diese
Prooemien (richtiger Titel)" : es sind Prooimien, nicht Titel.
34 Für den erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts wirkenden Logographen
Hellanikos aus Mytilene nimmt Wilhe1m Schmid (Geschichte der griechischen
47
An dieser Stelle mag ein Ausblick auf wenig spätere Zeiten, in denen
sich - wie noch zu sehen sein wird - die Verhältnisse in entscheidenden
Punkten gewandelt haben, von Nutzen sein. Bei zwei gegen Ende des
5. Jahrhunderts sich zu entfalten beginnenden Prosagattungen - der
Beredsamkeit und der Dialogschriftstellerei- ist von Anfang an zu
beobachten, daß die Einzelwerke ohne Rücksicht auf den technischen
Vorgang der Publikation verfaßt werden. Das zeigt sich ganz markant
daran, daß sie von allem Anfang an auf den, wie wir sahen, topisch
verfestigten spezifischen Eingang von Schriftwerken verzichten (einige
beliebige Beispiele: "Ihr habt es verdient, von vielen bewundert zu
werden, Männer aus Griechenland", Gorgias Olympikos, VS 82 B 7;
"Es fehlt nicht viel, hoher Rat, und ich wäre meinem Ankläger dank-
bar, daß er mir diesen Prozeß angehängt hat", Lysias Krüppelrede;
"Wir waren am Vortag abends aus dem Heerlager vor Poteidaia zu-
rückgekommen", Platon Charmides; "Grüß dich, Ion. Woher bist du
diesmal zu uns gekommen? Von zu Hause aus Ephesos? - Keineswegs,
Sokrates, sondern aus Epidauros vom Asklepiosfest", Platon Ion).
Diese Eigenart ist natürlich zunächst einmal gattungsbedingt: in
beiden Fällen handelt es sich um genuin mündliche Formen von Litera-
tur, in wörtlichem Sinne bei den Produkten der Beredsamkeit, in lite-
rarisch-fiktivem Sinn bei den Versuchen dichterischer Gesprächs-
mimeSIS.
Andererseits ist aber zu bedenken, daß diese primär mündlichen
oder fiktiv mündlichen Prosaformen ja sekundär dennoch schriftliche
Literatur darstellen - sie wurden schriftlich fixiert und publik ge-
macht3 5 • Daß sie auch auf dieser sekundären Stufe keine den typisch
schriftlichen "siegelnden" Eingangsformeln ähnliche Erweiterung des
Textes erfuhren, verdient Beachtung: der Umstand erscheint als ein
Literatur, Bd. 1/2, Mümhen 1934, S. 681 und 685) an, daß er die Titel seiner
zahlreichen Prosawerke selbst gewählt habe. Das wäre für die Spätzeit des
5. Jahrhunderts immerhin noch gerade denkbar (vgl. unten S. 64 ff.). Daß bereits
ältere Logographen wie Charon aus Lampsakos, Dionysios aus Milet und Xanthos
aus Sardes ihren Werken selbst die Titel auf -L1Ul gegeben hätten, wie Schmid,
S. 685, Anm. 3 (ähnlich im Anhang zu: E. Rohde, Der griechische Roman, Leipzig
81914 [Nachdruck Darmstadt 1960], S. 617f.), meint, ist dagegen nach allem
bisher Ausgeführten ganz unwahrscheinlich: die Bucheingänge ihrer Fachkollegen
Hekataios und Herodot sprechen eindeutig dagegen.
35 Man vgl. etwa als markante frühe Testimonien die oben S. 12, Anm. 7 genannten
Isokrates-Stellen, deren erste zeigt, mit welch weiter Verbreitung seiner Werke
der Rhetor rechnen konnte. Vgl. auch E. G. Turner, a. a. O. (s. oben S.10, Anm.2),
5.19.
48
Hinweis darauf, daß eine solche titulierende Kennzeichnung bei der
Veröffentlichung der betreffenden "Bücher" von Reden und Dialogen
gesondert hinzukam - falls man nicht annehmen wollte, diese "Bücher"
seien ohne differenzierende äußere Kennzeichen verbreitet worden,
was angesichts der reichen Produktion gleichartiger Stücke überaus un-
praktisch gewesen wäre 36 •
Immerhin - das sollte man festhalten - weisen auch diese von Hause
aus mündlichen Prosaformen teilweise noch Rudimente der alten Ein-
gangstopik auf: ähnlich den Rhapsodenerzeugnissen (die ja ebenfalls
auf der Mündlichkeit basieren) wird bei den Platonischen Dialogen das
Bemühen sichtbar, dem "Publikum" möglichst früh eine wenn auch
kurze Information zu geben: durch die regelmäßig auftauchende ge-
genseitige Anrede der Gesprächsteilnehmer in den ersten Sätzen, wo-
mit, wenn schon nicht das Thema, so doch wenigstens die gewisser-
maßen den Autor ersetzenden "Sprecher" des Textes bekannt sind. Ein
ähnlicher Fall ist es beispielsweise, wenn Gorgias seine Rede an die
Eleier sofort3i mit dem thematischen Stichwort beginnt: "Elis - eine
glückliche Stadt" CHJ'l~ Jt6AL~ EullaLf!C1lv, VS 82 B 10). Doch stellt das
bereits wieder eine SpeziaIfom1 dar, die sich wohl bei symbuleutischen
und epideiktischen, aber keinesfalls bei dikanischen 38 Reden anwenden
36 Daß sie aber Titel im heutigen Sinne hatten, zeigt nicht nur ein Selbstzitat wie
Politikos 284 b (ev 'tl{i ~oc:pur"tfl, vgl. 286 b), sondern auch die Platon-Zitate des
Aristoteles. Allerdings läßt Aristoteles, wenn er die Platonischen Werke zitiert,
häufig den Titel weg, und wo er mit Titel zitiert, zeigen sich Schwankungen, die
aber nicht so extrem sind wie bei den Aristotelischen Selbstzitaten (s. unten S. 103,
Anm. 36). VgI. den Index Aristotelicus von H. Bonitz, Berlin 1870 (mehrfach
nachgedruckt), S. 598 a9 ff.; E. Nachmanson (s. oben S. 10, Anm. 3), S. 11.
37 oUöev 3t(lOE~uyx{J)vl(Ju~ oUöi; 3t(lOUvUxLv~au~ EUtlU~ ä(lXE'tUL, wie Aristoteles Rhe-
torik 3,14 = 1416 a 1 ff. in lässiger Sportlermetaphorik ("ohne Einsparren und
Aufwärmen") sagt. Die doppelte Betonung des "oUöev 3t(lo-" macht es fast un-
möglich, dieses Gorgias-Zitat als ein Beispiel des Aristoteles für das 3t(loolfiLOV
xoafiou XCt(lL'V aufzufassen (wie V. Buchheit, Untersuchungen zur Theorie des
Genos epideiktikon von Gorgias bis Aristoteles, München 1960, S. 181 f. will). Es
dürfte sich statt dessen eher um ein tadelnd gemeintes Beispiel für das "w~
mhoxaßöu/,u c:palVE"tUL, Mv fiT) EX'll (sc. ein 3t(loolfiLOV)" handeln - dem fiT) Exn
im Vordersatz entspricht das zweimalige oUöev 3t(lO- im Nachsatz (in diesem
Sinne übersetzt M. Untersteiner, Sofisti. Testimonianze e frammenti, Bd. 2,
Florenz 21961 [Nachdruck 1967], S. 87: "Si breve esordio ha I'Encomio degli Elei
di Gorgia").
38 Hier sind die Adressaten der Rede, nämlich die Richter usw., sowohl mit der
Sache als auch mit den beteiligten Redenden längst bekannt - eine Vorstellung
des Sprechers oder Ankündigung des Themas ist völlig überflüssig (wie schon
Aristoteies, Rhetorik 3, 14, 12 = 1415 b 33 ff. betont).
49
läßt. Als »Titelersatz" könnten diese alten Rudimente der alten
Thematopik des Eingangs freilich in keinem Fall fungieren: hierzu
müssen in all diesen Fällen andere, vom Text losgelöste Formulie-
rungen entwickelt werden 39 •
50
5. TECHNISCHE VORBEDINGUNGEN
1 Vgl. zu diesem Kapitel von den oben S. 10, Anm. 2, genannten Werken besonders
Schubart, Birt, Wendel, Widman, Platthy (Einleitung) und Pfeiffer (Kap. 2).
2 Eine Ausnahme bilden lediglich vereinzelte Vasenbilder, vgl. Turner, a. a. O.
(s. oben S.10, Anm.2), S.13 ff.; H. R. Immerwahr, Book RoHs on Attic Va ses, in:
Classical, Mediaeval and Renaissance Studies in Honor of B. L. Ul!mann, Bd. 1,
Rom 1964, S. 17-48; Pfeiffer, a. a. O. (s. oben S. 10, Anm. 2), S. 27 m. Anm.
3 S. hierzu z. B. Dziatzko, a. a. O. (s. oben S. 10, Anm. 2), Kapitel 1-3; Schubart,
a. a. 0., S. 1 ff.; Birt, a. a. 0., S. 277 f. (Birt setzt sogar den Beginn der Prosa-
literatur in ursächlichen Zusammenhang mit dem Aufkommen des Papyrosbuches
im griechischen Raum); F. G. Kenyon, a. a. 0., S. 44 ff.; H. Widmann, Herstellung
und Vertrieb des Buches ..., Sp. 551 ff.
4 Das dokumentiert auch Xenophon, Apomnemoneumata 1, 6, 14 (xat 'tou<;
{l11crauQOU<; niiv ruli.cu croepÜJv avöQwv, oü<; ExELVOL ;<U,E/,LitDV Ev ßLßi,OL<; YQa.1jJC\v-
51
und vermutlich auch schon geraume Zeit vorher, denn es ist nicht an-
zunehmen daß Herodot es in diesem Zusammenhang verschwiegen
hätte, we~n ihm bei seinen Erkundungen alte Jonier noch als Augen-
zeugen den früheren Gebrauch von "Häutebüchern" bezeugt hätten.
Ein Rückschluß bis auf den Anfang des 7. Jahrhunderts bleibt aber
dennoch ein Risiko. Eine klare Antwort wäre für unser Titelproblem,
so scheint es, deshalb wichtig, weil wir für die hellenistisdle Zeit ge-
nauere Kunde über das Aussehen der Papyrosbücher, d. h. -rollen,
haben und die dort noch kenntliche Gewohnheit, die Rollen oben mit
einem heraushängenden Fähnchen (crLAAUßOt;) zu versehen, das die
Identifikation des Inhalts der Rolle ermöglichteS, den Gebrauch von
Buchtiteln in irgendeiner Form voraussetzt. Genaueres Zusehen zeigt
indes, daß auch die hypothetisch angenommene Existenz solcher crLA-
AUßOL in älterer Zeit für unser Problem nicht weiterhilft: denn der er-
haltene crO'AUßOt; "Dithyramben desBakchylides" (BuxxuW'loußdhJ(luf!-
ßOL, Pap. Ox. VIII, 1911, Nr. 1091)6 beispielsweise zeigt eindeutig,
daß die Tatsache der Existenz eines solchen Identifikationszettels noch
gar nichts über Existenz und Gestalt eines individuellen Werktitels
aussagt - wo kein Einzeltitel vorhanden oder üblich ist, fügt auch der
Abschreiber keinen hinzu, sondern begnügt sich mit der geläufigen
Gattungsbezeichnung7 •
Das bedeutet: die archäologischen Zeugnisse geben prinzipiell, d. h.
solange kein materiales Einzelindiz für einen frühen Prosatitel gefun-
den ist, nicht mehr her, als schon Herodot bekundet: sie spiegeln nur
den Usus der Epoche des Schreibers. Und genau das gleiche gilt für
alle anderen Arten, auf der Papyrosrolle eine Kennzeichnung des In-
halts anzubringen, etwa auf der Außenseite des zusammengerollten
Buches8 : solange man nicht weiß, wie der Autor selbst vorgegangen ist
oder wer zu welcher Zeit später welchen Usus begründet hat, ist man
der Lösung des Titelproblems noch keinen Schritt nähergekommen.
n;, QVEAl"t1:WV XOLVn auv 'tot; <plAOL; ÖLEQX0f.l.UL, xul (iv 'tL OQW!J.EV ayuitov f:X.J,eyo-
f.l.EitU); der hier zweifelsohne die Verhältnisse, wie sie sich in seiner Jugend, am
Ende des 5. Jahrhunderts, darboten, historisch getreu spiegelt. (Vgl. W. Schubart,
a. a. 0., S. 37.)
6 Vgl. z. B. Birt, a. a. O. (s. oben S. 10, Anm. 2), S. 328.
e Vgl. W. Schubart, a. a. 0., S. 104 und 183.
7 Vgl. die von Schubart, a. a. 0., S. 182 f. erwähnten Titelangaben aus Papyros-
handschriften.
8 Beispiel: Schubart, a. a. 0., S. 102; vgl. Birt, a. a. 0., S. 328 (Datierung des Usus
unbestimmt: in der voralexandrinischen Zeit), unter Hinweis auf das Alexis-
Fragment (5. unten S. 54, Anm. 13).
52
Wir sind also methodisch wieder auf die bereits erörterten Original-.
zeugnisse von Alkmaion bis Thukydides zurückverwiesen.
Gänzlich nutzlos ist das Beispiel der Papyrosrollen mit den OÜAUßOL
allerdings für uns trotzdem nicht, und zwar aus ·zwei einander ergän-
zenden Gründen. Zum einen geben die genügend gut erhaltenen Rollen
in einer beachtlichen Anzahl Y011 Beispielen den interessanten Hinweis,
daß diese Kennzeichnung des Inhalts auf der Außenseite der Rolle nur
eine supplementäre, zusätzliche Titulierung darstellte, während die
eigentliche. Titelbezeichnung, sofern sie von den AbsdlCeibern über-
haupt gegeben wurde, am Ende des Textes, also im innersten, "ge-
schütztesten" Teiles der Rolle stand 9 • Letzteres setzt freilich eine aus
intensiver Praxis im Umgang mit solchen Papyrosrollen gewonnene
Erfahrung voraus und ist als Dokument eines differenzierten "Buch-
wesens" wiederum nicht ohne weiteres auf frühere Epochen übertrag-
bar10 •
Andererseits - das ist das Zweite und ungleich Wichtigere, was uns
der Gebrauch der OÜAußOL lehrt - setzt die äußere Kennzeichnung der
Buchrolle unzweifelhaft voraus, daß diese Identifikationsmöglichk.eit
für notwendig erachtet wurde, d. h. ihre Einführung basiert auf biblio-
thekarisehen oder bud,händlerischen Erfordernissen ll . Große Biblio-
theken wie die alexandrinische mit ihren angeblich über 500000
9 Schub art, a. a. 0., S. 98 ff. und 182 f., dazu die Abb. 21 (in der 3. Auflage S. 85;
Schluß von Platons Symposion, Pap. Ox. V, Nr. 843, Tafel VI), 22 (in der 3. Auf-
lage S. 89; Schluß eines Demosthenes-Kommentars des Didymos), 26 (Schluß
der Symmorienrede des Demosthenes in einer Pergamenthandsduift). Vgl. jetzt
H. Widmann, Herstellung und Vertrieb des Buches ... (s. oben S. 10, Anm. 2),
Abb. 3 (Schluß von Platons Symposion) und Abb. 4 (Schluß von Isokrates' Rede
über den Frieden). Das neueste Beispiel findet sich in: Papyrus Bodmer XXV.
Menandre: La Samienne, Hg. R. Kasser u. C. Austin, Cologny/Genf 1969, Tafel
18 (~af.tla MEvavÖllou - Schluß des Codex).
10 Ob die eigentümliche Sitte des Thukydides, den Bericht über einzelne Kriegsjahre
jeweils mit seinem Namen zu siegeln (2,70,5; 2, 103,2; 3,25,2; 3,88,4; 3,116,
2; 4,51; 4, 135,2; 5,26,1; 6,7,4; 6,93,4; 7, 18,4; 8,6,5; 8,60,3) mit einer uns
nicht mehr faßbaren Tradition zusammenhängt, am Schluß eines Prosawerkes in
Wiederaufnahme des Beginns zur Sicherheit nochmals zu siegeln, ist mangels
anderweitigen überlieferungsmaterials nicht auszumachen. Daher läßt sich audl
keine Verbindung von Thukydides zu dem späteren Usus ziehen, den Titel in
den innersten Teil der Buchrollen zu setzen. Daß das "Schlußsiegel" unter einzel-
nen Büchern als regelrechte subscriptio ("signature finale") zu verstehen ist, ver-
mutet B. Hemmerdinger, La division en livres de l'reuvre de Thucydide, Revue
des Etudes Grecques 61, 1948, S. 104-117, und Essai sur l'histoire du texte de
Thucydide, Paris 1955, S. 17ff. ("Je considere ces mentions comme des titres",
S. 18); vgl. Turner (s. oben S.10, Anm. 2), S. 15.
U Vgl. C. Wendel, a. a. O. (s. oben S. 10, Anm. 2), S. 30ff.
53
Rollen12 oder die pergamenische sind ohne derartige Hilfsmittel un-
denkbar. Wer hingegen nur einige wenige Buchrollen besitzt, in denen
zudem jeweils der Textbeginn, wie wir sahen, die Identifikation des
Inhalts garantiert, kann auf eine zusätzliche Kennzeichnung an der
Außenseite der Rolle verzichten. Erst in dem Augenblick., wo eine
Bibliothek entsteht, die viele Rollen umfaßt, kommt man um derartige
Unterscheidungsmerkmale nicht mehr herum. Dasselbe gilt für den
Budlhandel: erst in dem Moment, wo "Sortimenter" eine mehr oder
minder reiche Auswahl versdliedener Werke von verschiedenen Auto-
ren zum Verkauf anbieten, erscheint eine äußere Kennzeichnung der
Rollen geboten13 • (Das ist im Grunde das nämliche Phänomen, das
schon bei den angeführten Herodot-Testimonien zu beobachten war:
Einzeltitel tauchen in dem Augenblick. auf, wo man unter Aspekten des
technischen Literaturbetriebes - Dramen - oder der literarischen Kri-
tik im weitesten Sinn - Epos - differenzierte Identifikationsmöglich-
keiten für das individuelle Werk braucht.)
Beides nun, Buchhandel wie Bibliothekswesen, treten nach allem,
ltav"tollaml ..•
HERAKLES: "tou"tt l,a!1ßuvOJ.
LINOS: IlEil;ov, Ö"tL EO'"tt ltQÖl"tOV. HERAKLES: o1jJaQ"tuO'la,
W,,; cP 1] 0' L"t 0 Ult l y Q(l!1!1 a. LINOS: cpLÄbO'ocp6,,; n,,; 61,
EUIl'lÄOV, ö<; ltaQd<; "toO'aii"ta YQu!1!1a"ta
~l!1ou "tEXV1]V naßE<;. (frg. 135 Kock)
Daß Buchhändler die Titel auf ihre Verkaufsexemplare schreiben, weiß man aus
späterer Zeit ziemlich sicher (vgl. K. Dziatzko, a. a. o. [so oben S. 10, Anm. 2],
S. 157 f.). Da die Gründe hierfür auch schon früher dieselben waren, darf man
einen Rückschluß nicht von vornherein abweisen.
54
was wir wissen, erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts in nen-
nenswerter Größenordnung auf, und zwar ganz offensichtlich des-
wegen, weil erst zu dieser Zeit ein "Publikum" vorhanden war, das
Bildung und Geld gleicherweise in hinreichendem Ausmaß sein eigen
nannte, um Bücher zu "konsumieren" oder gar in Bibliotheken sam-
meln zu können.
Zwar hören wir gelegentlich, daß es schon in wesentlich früherer
Zeit Bibliotheken gegeben haben soll14: so galt anscheinend in der spä-
teren Antike, wie Gellius (7,17,1; ihm folgend Isidor, Origines 6,3
[de bibliothecisJ, 3) und Athenaios (1, 3a/b) berichten, der Tyrann
Peisistratos als der erste, der eine Bibliothek einrichtete; ob diese Nach-
richten aber auf authentischer überlieferung beruhen, erscheint frag-
lich - es kann ebensogut antike Philologenspekulation dahinterstecken,
vielleicht in Zusammenhang mit der sogenannten Peisistratischen
Homer-Rezension, vielleicht auch einfach (wie die Erwähnung des
Polykrates aus Samos durch Athenaios andeuten könnte) aufgrund des
Rufes, den jene Herrschergestalten des 7./6. Jahrhunderts als reiche
und kunstsinnige Mäzene genossen. Auf jeden Fall handelte es sich bei
diesen "Büchersammlern" um Ausnahmeerscheinungen, und ihre "Bi-
bliotheken" - so es sie wirklich gab - haben zudem gewiß einen recht
bescheidenen Umfang gehabt (in der Hauptsache Epik und Lyrik) und
einen solchen Namen noch kaum verdient15 .
"Literaturkonsum", "Buchproduktion" und "literarisches Bewuß-
sein" - die voneinander abhängig sind - setzen dagegen eine entspre-
chend konstituierte öffentlichkeit voraus: und sie gab es erst nach der
großen Bildungsrevolution, die sich im Zuge der Urbanisierung nach
den Perserkriegen im Athen des 5. Jahrhunderts vollzog. Erst damals
begann sich die vordem noch ganz aristokratisch orientierte und mili-
tärisch-praktisch intendierte Erziehung auch äußerlich zu verbürger-
lichen - die !!01J<1tK~ ersetzte die Kriegskunst, und die jungen Leute
55
liefen nicht mehr mit dem Schwert an der Seite herum, sondern mit
Büchern unter dem Arm 16 •
Aristophanes hat diesem Wandel in den Wolken von 423 im Agon
zwischen dem Logos dikaios und dem Logos adikos szenisch-witzigen
Ausdruck verliehen (V. 961ff.): auf der einen Seite die alte Erziehung
(ri]v uex.alav :Tlmödav, 961) der Marathonkämpfer 17 (uexaiu ... , E~
cDV ävöea~ Maea-ltwvOf.l(lx.a~ 1~1f!l) nalÖElJat~ E-lteE'/JEV, 984 ff.), auf der
anderen Seite die neue "Stubenhockermethode", die anstelle von Gym-
nasion-Athleten Marktschreier hervorbringt:
56
Einen wesentlichen Anteil an dieser Bildungsrevolution hatte - wie
die Karikatur des Komödiendichters zeigt - die Aufklärungsbewegung,
die man mit dem Namen der sogenannten Sophisten verbindet, die
jedoch keineswegs allein von diesen ausging und promulgiert wurde -
Männer wie, auf seiten der Philosophie, der Periklesfreund Anaxagoras
oder, auf seiten der Dichtung, Euripides dokumentieren, daß es sich
dabei um eine Erneuerung handelte, die von breiteren Schichten getra-
gen wurde und auch breite Schichten umfaßte.
Welche Breitenwirkung diese neue, literarisch-rhetorische Form der
Bildung gehabt haben muß, läßt sich zum einen an dem hohen Ent-
wicldungsstand, den die re ipsa auf Massenwirkung angelegte Theater-
dichtung zu jener Zeit erlangte, ablesen, zum anderen ist sie aus den
profunden literarischen Kenntnissen zu erschließen, die Komiker wie
Aristophanes bei ihrem publikum voraussetzten19 : Mythentravestie
und Tragikerpersiflage setzen einen nicht geringen Standard literari-
scher Bildung voraus - und da kaum anzunehmen ist, daß beispiels-
weise die äußerst detaillierten Euripidesparodien des Aristophanes als
ein esoterisches Spiel unter eingeweihten Kennern gedacht waren, muß
man angesichts der im Vergleich zu heute sehr geringen Zahl von Auf-
führungen der einzelnen Dramen20 fast zwingend folgern, daß die
Tragödientexte nach der Aufführung jeweils in einer Anzahl von
Kopien in Umlauf kamen20•• So kann Aristophanes selbst in den Frö-
57
schen von 405 über die Bildung des richtenden Theaterpublikums witzeln:
heutzutage sei es nicht mehr wie früher, sondern jetzt habe man es mit
gebildeten Leuten (Wt; ov"tOJv oocpwv, V. 1118) zu tun, von denen jeder
sein Buch besitze und daher versiert zu urteilen wisse (ßtßA,LOV "t' ~XOJv
EXUO"tOt; f.!uvMvu "tu I\€~l(i, 1114)21. (Das bestätigt die anläßlich des
Andromeda-Zitats in den Fröschen gemachte Beobachtung22 .)
Nach all dem dürfte es kein Zufall sein, wenn wir in eben dieser
zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts auch erstmals auf literarische Zeug-
nisse über die Existenz von "Buchläden" und Büchersammlungen
stoßen 23 • Den frühesten erhaltenen Hinweis auf den Buchhandel im
alten Athen liefert Pollux (9,47) mit einem Fragment aus einer un-
bekannten Komödie des Eupolis, der von 446 bis kurz nach 412 lebte:
"Ich ging herum ... auch bei den Trödelläden und dort, wo die Bücher
käuflich sind" (n€QtiiMtov .•. XUL nEQL "tu YEAY1! xoi'i "tU ßtßA,L' WVLU, frg.
304 Kock). Das Auffälligste an diesem Bruchstück ist, daß zur Zeit,
als sein Verfasser es zu Papier brachte, Bücher offenbar nicht mehr zu
den teueren Preziosen gehörten, sondern bereits wohlfeil waren, so daß
ohne alle Zweifel auch der Durchschnittsbürger sie sich leisten konnte.
Das bezeugt expressis verbis wenige Jahre später auch Platon in
der Apologie, wo Sokrates seinem Ankläger Meletos entgegenhält:
"Hältst du diese Männer hier für so ungebildet in literarischen Dingen
(unElQout; YQuf.!f.!(lrOJv), daß sie nicht wüßten, daß dieBücher des Anaxa-
goras aus Klazomenai {-ru 'Ava~ay6Qou ßtßA,lu LO'Ü KJ,UtOf.!EVLOU) voll
sind solcher Worte? Und so lernen auch die jungen Leute wohl das von
58
mir, was sie sich gelegentlich für - wenn es hoch kommt - eine Drach-
me2 4 in der Orchestra kaufen können (a E~E(J'nv EVLOTE el. 3tavu 3tOAAOU
öeuxfl'iit; Ex, T'iit; OeX~(J'TeUt; JtelUflEvolt;) und hernach den Sokrates aus-
lachen, wenn er es für seine eigene Weisheit ausgibt?" (26d 7ff.) Hier
wird ausdrücklich betont, wie billig die Bücher in jenen Jahren um die
Jahrhundertwende gewesen sind - selbst bei philosophischen Texten.
Allerdings scheint es sich, wie das EvLoTE andeutet, um ein "Stoß-
geschäfl" ohne ausgedehnte Lagerhaltung gehandelt zu haben. Wahr-
scheinlich kam immer eine gewisse Zahl von Abschriflen auf einmal
auf den Markt; waren sie ausverkaufl, mußten die Interessenten auf
die nächste Lieferung warten; das dürfle nicht nur bei den Philosophica
so gewesen sein (die Apologie-Stelle ist das früheste Testimonium da-
für, daß auch philosophische Werke im regulären Buchhandel vertrie-
ben wurden)25, sondern ebenso bei Epen, Lyrik und Tragödien, wenn-
gleich man vermuten darf, daß auch damals schon das Gesetz der
Nachfrage bestimmend war und gefragtere Texte wie etwa Homer
leichter und rascher zu bekommen waren als, sagen wir, Heraklit.
Noch etwas anderes erscheint in dem Apologie-Zitat bemerkens-
wert: daß Bücher "in der Orchestra" verkaufl werden, und zwar
keineswegs nur Kopien dramatischer Werke. Das könnte indirekt dar-
auf hindeuten, daß in der Tat die Vervie1fältigung und der "Vertrieb"
der Tragiker- und vielleicht auch Komikertexte den Ansatzpunkt für
den Buchhandel im eigentlichen Sinn gebildet haben26 •
Wer diesen Buchhandel mit Ware versorgte, wissen wir nicht 27 : bei
den Tragikern und Komikern ließ möglicherweise der Autor - oder
24 über den relativen Wert einer solchen Summe vgl. A. Böckh, Die Staatshaus-
haltung der Athener, Berlin 31886, Hg. M. Fränkel, S. 141 ff.
25 Vgl. auch unten S. 121 f., Anm. 6 Ende.
26 Die von Platon genannte "Orchestra" war freilich nicht die Orchestra des Thea-
ters, sondern eine "oQx~o'Qa" genannte (vgl. Photios, Lexikon, s. v.) Lokalität
auf der Agora (vgl. A. Pickard-Cambridge, The Dramatic Festivals of Athens,
Oxford 21968, Hg. J. Gould und D. M. Lewis, S. 29; 37 f., m. Anm.). Aber wenn
man diesen Umstand (mit Pi<kard-Cambridge) zu Recht als Hinweis auf ur-
sprüngliche Theateraufführungen auf der Agora verstehen darf, ist die Möglich-
keit einer wie immer gearteten Verbindung von Theateraufführung und »Buch-
vertrieb" durchaus naheliegend.
27 Nicht zum Buchhandel gehört es natürlich, wenn der literarisch Interessierte für
sich selbst oder seine Freunde private Abschriß:en anfertigt (man vgl. etwa die
von Lukian in seiner Schriß: An den ungebildeten Büchersammler [IIQo~ ,ov
una[ÖEu,oV )tai noVl.o. ßLßHa OOVOlJIlEVOV 4] berichtete Anekdote über Demo-
sthenes, der achtmal den ganzen Thukydides abgeschrieben haben soll; vgl.
A. Schaefer, Demosthenes und seine Zeit, Bd. 1, Leipzig 21885, S. 315; W. Schu-
bart, a. a. 0., S. 149).
59
der Chorege - Abschriften der Texte anfertigen; bei anderen, wie etwa
den für die Erziehung elementaren Epen (vgI. Xenophon, Symposion
3,5), möc.1.te man in Anbetracht der Vielzahl benötigter Exemplare am
liebsten an regelredne Schreibbüros denken, obwohl darüber flir diese
redlt frühe Zeit nichts überliefert ist28 • Darauf weist auch eine Notiz in
Xenophons Anabasis, die besagt, der Heereszug der Griechen habe in
der Nähe von Salmydessos am Schwarzen Meer unter dem Strandgut
neben vielem anderen, was die Schiffsherren in Holzbehältern mit sich
geführt hatten, auch eine Menge beschriebener Buchrollen gefunden
(Evmü{)u lluQloxov-ro ... no/.I.at ÖE ßlß/.OL YEYQUJ.l!lI;VUL 'i.ul T&I\I.a nona
äou EV ~u/,lvOIl; TfUXEOt vaux/'llQOluyoUOtv, 7,5, 14): es gab also in der
Zeit um 400 bereits einen ausgedehnten (noJ.Jal!) Buchhandel nach
übersee (ob vom Mutterland oder von den kleinasiatischen Städten, ist
dabei von sekundärer Bedeutung), und ein solcher Umfang des Buch-
handels erscheint ohne gewerbsmäßige, organisierte Kopierung der
Texte schwer denkbar.
60
(gemeint sind wohl Werke der Sophisten und Rhetoren 31), aus denen
er seine Tragödien destilliert. Daß Aristophanes damit zugleich sein
eigenes Stück triffi, das ja seinerseits ein Cento von Aischylos- und
Euripideszitaten und -reminiszenzen darstellt, scheint ihn nicht zu
bekümmern. Jedenfalls bekundet der eine wie der andere Aspekt, daß
der "poeta doctus" am Ende des 5. Jahrhunderts ohne einen bestimm-
ten, nicht zu geringen Bestand an Büchern nicht mehr auskommen
konnte32 •
Doch auch Leute, die sich nicht von Berufs wegen 33 mit Literatur
beschäftigen, begannen in jener Zeit oder wenig später - wie eines der
Sokratesgespräche in den Xenophontischen Apomnemoneumata (4,2,
1. 8 ff.) lehrt - Bücher zu sammeln. "Sokrates hatte erfahren, der
schöne Euthydemos habe viele Schriften der berühmtesten Dichter und
Sophisten gesammelt (YQu~l~tara rrolc1.u a1JVEt}'EY~lEVOV JTOll']TWV TE ')tUl
aocptaTwV T(OV EVÖOXl~IWT(hwv); er glaube, sdlOn dadurch seine Zeit-
genossen an Weisheit zu übertreffen, und hege große Erwartungen, sich
durch seine Fähigkeiten in Worten und Taten vor allen anderen aus-
zuzeichnen ... ,Sag' mir', sprach er [Sokrates], ,Euthydemos, stimmt
es, wie idl höre, daß du von den Männern, die angeblidl weise gewor-
den sind, viele Sduiften gesammelt hast (rro11a YQUfll!UTa auviixuc; TWV
1EYOflEVWV aocpwv avögwv YEYOVEvat)?' Und Euthydemos antwortete:
,Beim Zeus, ja; und ich sammle immer nodl (En YE a1Jvayw), solange,
bis ich so viele wie möglich erworben habe' ... ,Wenn du aber Bücher
sammelst (au:UEYElC; Tll Y(?CtflflUTU), Euthydemos', sagte er [Sokrates],
,worin willst du dann gut werden?' Als Euthydemos schwieg und über-
legte, was er antworten solle, fuhr Sokrates fort: ,Etwa Arzt? Es gibt
ja auch viele Abhandlungen von Ärzten (rroUu YUQ ,mL l.UTQWV Ean
61
01JYY(Ja~lllaTU).' Und Euthydemos antwortete: ,Nein, beim Zeus, ich
wenigstens nicht.' ,Dann aber Architekt? ... Landvermesser? ... Astro-
loge? ... Oder aber Rhapsode', sagte er [Sokrates], ,denn man be-
hauptet ja, du besitzest alle Epen Homers (ra 'ÜIl1W01J OE <paGLV EJtl']
j[(lvTU xEY."ri'joitm)?' ,Nein, beim Zeus" erwiderte er ... Und Sokrates
sagte: ,Strebst du nicht nach der Tüchtigkeit, durch welche die Menschen
Politiker und Verwalter und fähige Herrscher werden ... ?C« Es ist in
unserem Zusammenhang gleichgültig, ob dieser auf Bildung versessene
Euthydemos eine historische Persönlichkeit ist oder nicht und ob die in
diesem Gespräch vorausgesetzten Verhältnisse historischen oder ana-
chronistischen (d. h. die Epoche der Niederschrift, also wohl die sech-
ziger Jahre des 4. Jahrhunderts, spiegelnden) Charakter haben: ent-
scheidend ist, daß es im letzten Viertel des 5. oder im ersten Viertel des
4. Jahrhunderts nichts Außergewöhnliches war, daß ein interessierter
Privatmann alle Bücher, ausgenommen vielleicht spezielle Fachliteratur
wie medizinische Schriften usw., zusammenkaufte, deren er habhaft
werden konnte, und zwar aus einer, wie der Dialog zeigt, mehr oder
weniger banausischen Besitzgier und Sammelleidenschaft.
Sehr aufschlußreich für unser Problem der Philosophentitel ist die
Zusammensetzung dieser Bibliothek: sie enthält die Werke der Did1ter
und "Sophisten". Daß hierbei mit den OO<pLOTUL definitiv die sogenann-
ten Sophisten des 5. Jahrhunderts gemeint sind, lehrt nicht nur die
parallele Stelle Apomnemoneumata 1, 6, 13 ('tllV oo<ptav woautw~ tOV~
IlEV U(JY1J(JL01J tip ß01J},OIlEV<P JtW},OUVTU~ ooqlL<1ta~ uJtoxaJ,ouoLV), sondern
aud1 das von Euthydemos erstrebte Bildungsziel - Politik, Verwal-
tung, Macht im Staat. Daß unter diesem Gesichtspunkt zur Sophistik
nicht nur die Werke eines Gorgias, Protagoras, Prodikos usw. gehört
haben dürften, sondern ebenso politisch-historische Literatur oder der
Sophistik verwandtes philosophisches Schrifttum, ist wohl kaum zu
bestreiten.
Damit wird an einem anschaulichen Beispiel evident, wie die Sophi-
stik durch ihre "aufklärerischen" Bestrebungen nicht nur wesentlich die
Bildungsrevolution des 5. Jahrhunderts gefördert und geprägt hat und
damit indirekt zu einem wichtigen Teil erst die Voraussetzungen für
das Entstehen eines Buchmarktes und von Bibliotheken schaffen half,
sondern daß ihre Vertreter darüber hinaus auch selbst durch ihre litera-
rische Tätigkeit in erheblichem Maß zur Belebung und Ausweitung des
Buchwesens beitrugen34 und zugleich den Absatz" verwandter" Litera-
34 Vgl. Wendel, a. a. O. (s. oben S. 10, Anm. 2), S. 30; Turner, a. a. O. (s. oben S 10,
Anm. 2), S 23.
62
tur förderten. Und falls unsere Ausgangshypothese35 richtig ist -
nämlich daß die regelmäßige Verwendung von Buchtiteln auf dem
Vorhandensein entsprechender buchhändlerischer und bibliotheka-
rischer Erfordernisse beruht -, so wäre nach dem inzwischen Gesagten
anzunehmen, daß unter den mit diesen technischen Notwendigkeiten
vertrauten sophistischen Prosa-Autoren sich vielleicht auch Männer
finden lassen müßten, die ihren Opera bereits bei der Veröffentlichung
Titel gegeben haben, oder sagen wir es aufgrund unserer Sichtung der
erhaltenen Prosaeingänge vorsichtiger: die ihre Werke vermutlich
bereits im ersten Satz mit einer Kurzcharakteristik des Inhalts von der
Art versehen haben, daß sie ohne Schwierigkeit auf dem Buchmarkt
dann als bnYQa<p~ oder EntYQa~lf-la fungieren konnte.
35 S. oben S. 53.
63
6. DIE FRüHESTEN ORIGINAL-PROSATITEL?
1 S. oben S. 32.
2 S. E. Nachmanson, a. a. O. (v gl. oben S. 10, Anm. 3), S. 9 f., und F. Heinimann,
Nomos und Physis, Basel 1945 (Schweizerische Beiträge zur Altertumswissen-
smaft 1), s. 117, Anm. 18 (Wilamowitz, Platon, Bd. 1 [zuletzt Berlin 51959, Hg.
B. Snell], S. 80, Anm. 1, folgend). Daß die Theaitet-Stelle auf einen Protago-
reismen Originaltitel deute, meinte in Nachfolge von J. Bernays schon H. Usener,
Lectiones Graecae, Rheinisches Museum 23, 1868, S. 161 f., der KU"tußaAi,ov'tEc;
als gemeinsamen Obertitel von 'AA~{}ELU und IIE!.>L -!tEÖJV auffaßte. Widersprochen
wurde dem von E. Lohan, a. a. O. (s. oben S. 10, Anm. 3), S. 33 f. Ob allerdings
Lohans Präferenz für KU"tußaUov1:EC; mit dem Hinweis auf Euripides Bakchen
V. 200 ff. (oUö' EvaoqJLt,o~lEall CI. "toLal öut~oal. / IIu"t!.>touc; :n:u!.>ul'loxac; IXc; ll'
Ofl1jAlXUC; X!.>ov<jl / XEX"t{j~E{}', oUödC; uU"tu xa"tußuAEL MyoC;) genügend ge-
stützt ist, ersmeint ebenfalls fraglich. Immerhin wird man mit den Euripides-
Kommentatoren (z. B. E. R. Dodds, Euripides. Bacmae, Oxford 21960, S. 95,
der die Obertitelthese wiederaufgreift; H. Gregoire und J. Meunier in ihrer Aus-
gabe, Paris 1961, S. 250) soviel zugeben müssen, daß Euripides hier wieder einmal
Smlagwortmaterial seiner Zeit in die Argumentation seiner Figuren hat einfließen
lassen. Einen Protagoreischen Originaltitel kann man daraus aber auf keinen Fall
ableiten (so schon Lohan; aum Dodds ist skeptisch); jedodl ist darüber hinaus die
Beziehung der Euripides-Stelle auf Protagoras auch überhaupt in Frage zu stellen,
64
Titel KanxßanOVTEC;, Die Niederboxer, zitIert (tvapxoIlEvOC; yoüv tWV
ICataßaH6vtwv aVE<pwv110E· ]UIVfWV XP1lllUtWV IlEtpov ... , Adversus
mathematicos 7,60)3. Dazu Nachmanson4 : "Wer diese Stelle und
Theait. 161 c zusammen betrachtet, kann m. E. unmöglich darüber im
Zweifel bleiben, daß, wie Sextus den einen, später gesetzten Buchtitel
zitiert, so Platon bewußt den Titel anführt, den Protagoras selbst
gegeben hat oder, seien wir vorsichtiger, den Titel, der bereits zu
Platons Zeit gang und gäbe war. "5
Es ist die Frage, ob man so skeptisch sein muß wie Nachmanson und
den Titel 'A],ll1'lELa oder (sofern es sich bei 'A]3rllEla nur um eine Kurz-
form handelt) I1EPL U]'ll{ldac;G als Emypa<pll einer Buchrolle erst für die
Zeit um oder kurz nach 370 als endgültig gesichert annehmen darf.
Zwei unbestreitbare Tatsachen stehen einander gegenüber: einmal
die überwältigende Mehrheit aller erhaltenen Prosaeingänge bis zum
Ende des 5. Jahrhunderts, die ein ganz starres und topisch festgefügtes
Schema - mit Autorname, Herkunft, Hinweis auf "das Folgende",
Wahrheitslegitimation und, später, Kurzcharakteristik des Inhalts,
oder, bei anonym tradierten Werken, Themaangabe (als Titelersatz)
und Wahrheitslegitimation - aufweisen; auf der anderen Seite die
gleichfalls topische Formulierung "UPXOPEVOC; ... " (als terminus teclmi-
c/ts für die Zitierung eines Bucheingangs). Beide Fakten zu harmoni-
solange nidlt geklärt ist, wie das Werk zu dieser Titelvariante kam: denn dies
kann ja auch so geschehen sein, daß eben die Diskussionstradition, die Euripides
spiegelt, erst die Anregung dazu gegeben hat, der Sd,rift des Protagoras sekundär
diesen Titel beizulegen. Was Th. Bergk in seiner Griechischen Literaturgeschichte,
Bd. 1, Berlin 1872, S. 223 über Originaltitel ('A}.{lilnu) und Populärritel
(KUTlXßo.nO"TE~) sagt, ist reine Spekulation, wie er überhaupt sein bestimmtes
Urteil über die Existenz der Buchtitel ("Seit dem Anfange des Peleponnesischen
Krieges ... wird wohl nur selten ein Buch ohne regelmäßigen Titel veröffentlidlt
worden sein", S. 222) mit keinem einzigen Indiz stÜtzt.
3 Hinzu kommt Diogenes Laertios 9,51: llQ;u,o lCOU ,oiho" 'QOlCO"· lCo.",oo" ...
(Diels-Kranz, Bd. 2, S. 253, Z. 25 f. = 80 A 1).
4 A. a. 0., S. 10.
S Das dritte von Nachmanson herangezogene Testimonium für den Titel 'AJ.ililElu
(aus dem anonymen Theaitet-Kommentar, Hg. H. Diels und W. SdlUbart [Ber-
liner Klassikertexte i], 2, 3: 0 öE etat "l'o~ hnuyxu"E" ,il'
cruYYQU[!f.UHI Tl()
IIQoowyoQou np lCEQL a.}"1ilElu~) sdleidet als beweiskräftiges Zeugnis aus: wenn
der Kommentator tatsächlich, wie Nachmanson - Diels und SdlUbart folgend -
sagt, seine gesamten Protagoraskenntnisse aus Platon und aus VOn ihm abhängigen
späteren Akademikern hat, kann man ihn nicht zur Stützung der Platonischen
Aussagen heranziehen. - Weniger vorsichtig als Nadlmanson urteilt Wendel, der
'AMlilnu als den frühestbezeugten Originaltitel bezeichnet, a. a. o. (s. oben S. 10,
Anm. 2), S. 30.
B Entsprechend der Schrift IIEQL {lEW", deren Beginn gleichfalls überliefert ist (s.
unten S. 68 ff.).
65
sieren ist im Falle der Protagoras-Schrift unmöglich: denn entweder ist
der Autor tatsächlich gleich zu Beginn mit den Worten "Aller Dinge
Maß ist der Mensch" herausgeplatzt (avE<pWVT]OE, wie Sextus schreibt)1
- dann muß auf irgendeine Weise das topische Eingangsschema durch-
brochen oder entscheidend variiert worden sein -, oder aber Protagoras
hat das traditionelle Eingangsschema bewahrt - dann müssen sowohl
Platon als auch Sextus die stereotype Zitierformel aexO!J.EVO~ beim
Zitat des Protagoras-Eingangs in atypischer Weise verwendet haben.
Für eine solche atypische Verwendung des aQxo!J.Evo;-Formel gibt es
zwar keinen begründeten Anhaltspunkt; mit Sicherheit ausschließen
kann man diese Möglichkeit aber nicht: dann wäre dem "Beginn der
Abhandlung" im weiteren Sinn des Begriffs noch eine heute verlorene
Einleitungsformel von der Art "Protagoras aus Abdera sagt folgendes
über die Wahrheit" vorausgegangen (IIQootayoQ(l~ 0 ' AßfiT]Qtnl~ 3tEQI
aAT]{}et(l~ nll'>E J..EYEL· 3tavrOOV XeT]!J.Il1"OOV !J.ErQov EorLV liv{}Qoo3to; ... )8. Die
andere, nicht weniger wahrscheinliche - oder unwahrscheinliche -
Möglichkeit wäre eine Variation der Eingangstopik durch Protagoras:
der Autor hätte dann - entgegen dem anderwärts von ihm befolgten
Usus 9 - unmittelbar mit seiner schockierenden These begonnen, d. h.
mit der Wahrheitslegitimation, die seine eigenen Ausführungen von
den Meinungen früherer Philosophen - speziell der Eleaten1o, wie die
7 Falls sein Berimt wirklim auf Autopsie beruht und nimt auf doxographisme
Tradition zurückgeht, die er literarism aussmmückt.
8 Khnlim Diels-Kranz zu VS 80 B 1: "Vor diesem Anfang hat vielleimt der Titel
gestanden, wie es damals Sitte war: IIQw'tuyoQlje; Ö 'AßöljQL'tlje; 'taöe Aeye~, we;
tlA1)teu ot öoxeL elvu~' :n:av't(J)v X'tA."), unter Hinweis auf B. Lier, Topica Carmi-
num Sepulcralium Latinorum, Diss. Greifswald, Tübingen 1902, S. 31 (IIQ(J)'t-
uyoQue; 'AßöljQL.lje; :n:eQL 'tOÜ öV'toe; <Pljol. 'tT]v ltA~teLaV [vix tlA1)teLljv] oih(J)e;
~xe~v' :n:aV't(J)v). Daß man in diesem Fall allerdings nimt von Titel im strengen
Sinn reden kann, sondern hömstens von einem" Titelersatz" , hat die Betramtung
der erhaltenen Eingänge, zumal der Oligarmensmrift, gezeigt (s. oben S. 45 f.).
In der von Diels vorgesmlagenen Form "we; tl~.ljteu ol öoxe! eLvm" wäre aber
aum der Ausdruck" Titelersatz" zu viel: eine solme Formulierung ist nom reine
Wahrheitsreflexion, die in nimts über die Hekataios-Stufe ({Oe; !40~ öoxeL uAljtea
eIvaL, s. oben S. 32f.) hinausgeht: wie daraus sim der Titel 'AA~teLa oder IIeQL
tlA1)teLue; kristallisieren soll, ist nimt einzusehen - dann müßte aum das Werk
des Hekataios unter dem Titel 'AAl1tELU laufen. Wenn sim ein solmer Titel aus
dem Einleitungssatz des Protagoras heraus entwickelt haben soll, dann muß - das
ist aus den Parallelbeispielen zu erfolgern - (vg!. oben S. 37ff.) der Begriff
"tlA~tELU" pointiert genannt gewesen sein.
9 S. unten S. 68 ff.
</0 Daß der 'AA~teLu-Titel "Parmenideism" inspiriert ist, wird immer wieder be-
tont, vg!. z. B. VS 80 B 1 Anm. (S. 263); W. Aly, Formprobleme der frühen
griemismen Literatur, Phi!. Supp!. 21/3, 1929, S. 115; Wilhelm Nestle, Platon.
Protagoras (Kommentar), LeipziglBeriin 71931, S. 14; F. Heinimann, a. a. O.
Fortsetzung Tro" f!Ev OVTWV cOC; fonv, TWV 5E oux. OVTWV cOC; oux fonv an-
deutet - abhebt. Das hätte zwei Konsequenzen haben können: ent-
weder eine Umstellung der einzelnen Eingangstopoi, so daß Namens-
und Inhaltssiegel dem Legitimationstopos an zweiter Stelle folgen l l ,
oder aber eine völlige Ablösung der Autor- und Inhaltsnennung vorn
Eingangstext der Abhandlung und ihre ausschließliche Erwähnung in
einer vorn Text selbst unabhängigen btLY()(x<p~ - es wäre der erste uns
faßbare autonome Titel eines Prosawerkes, etwa von der Form I1QWTa-
Y0(lou TOU 'AßlhWLTOU :7tEQL &l'l'J{}dac;. Von diesem Augenblick an könnte
man wirklich von Buchtiteln im heutigen Sinn sprechen.
Freilich: Sicherheit ist in dieser Frage nicht zu gewinnen. Es gibt aber
einige bedenkenswerte Argumente. Wenn wir hier tatsächlich einen der
ersten typischen tmYQa<pll-Titel vor uns hätten - dessen Einführung
man sich, wie gesagt, nur aus publikationstechnischen, d. h. "verlegeri-
schen" oder "buchhändlerischen" Gesichtspunkten erklären könnte -, so
müßte sich diese umwälzende Neugestaltung chronologisch in irgend-
einer Weise in die oben12 skizzierte Entwicklung der Bucheingänge ein-
ordnen lassen. Die Oligarchenschrift, deren anakoluthischer Eingang
die am weitesten entwickelte Form einer spezifisch als" Titelersatz" fun-
gierenden Inhaltsangabe aufweist13, gehört wohl in die Anfangszeit
des Peloponnesischen Krieges, in die Jahre zwischen 431 und 424 14 •
Protagoras karn bei einern Schiffsunglück ums Leben, nachdem er wegen
seiner Schrift I1EQL {}EWV - wahrscheinlich während der Herrschaft der
Vierhundert (411 v. ehr.) - in Athen verurteilt worden war und nach
Sizilien fliehen wollte 15 • Das ergäbe eine Spanne von etwa fünfzehn
(s. oben S. 64, Anm. 2), S. 116f.; E. Heitsch, Ein Buchtitel des Protagoras, Her-
mes 97, 1969, S. 292 ff.
11 Daß der Autorenname ganz gefehlt haben sollte, ist aus mehreren Gründen un-
denkbar: es wäre mit der revolutionär-selbstbewußten Art der Sophisten ebenso
unvereinbar wie mit ihrem bildungspolitischen Drang zur Offentlichkeit; außer-
dem müßte dann, wie die Parallele der erhaltenen anonymen Werke lehrt, in den
ersten Satz unbedingt das Themastichwort eingebaut sein und wäre aus diesem
Verbund nicht herauszubrechen; das unterstreicht das einzige erhaltene frühe
Beispiel, in dem die einleitende Inhaltscharakteristik fehlt, die Epidemienschrifl:
- sie ist eine von Hause aus nicht einmal zur Publikation unter den Zunfl:genos-
sen bestimmte Privataufzeichnung, was man von der Abhandlung des Protagoras
gewiß nicht wird sagen können.
12 S. 32 ff.
13 S. oben S. 45 f.
H über den derzeitigen Stand des Datierungsproblems informiert in knapper Form
A. Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, Bern/München 21963, S. 495.
15 Vgl. K. Praechter, Die Philosophie des Altertums, Darmstadt 1967 (= 12 1926),
S. 115. Seine Schrifl:en sollen damals, wie Diogenes Laertios 9,52 berichtet, all-
gemein konfisziert und öffentlich auf der Athener Agora verbrannt worden sein.
67
Jahren - wobei man einmal ohne weitere Begründung annehmen
müßte, daß die 'AJ..ir(}ELa unter die allerletzten Arbeiten des Autors zu
zählen ist. Daß sich in diesen anderthalb oder zwei Jahrzehnten gewisse
buchtechnische Neuerungen angeb~hnt oder eingebürgert haben könn-
ten, erscheint durchaus denkbar; die Vorbedingungen, was Lesepubli-
kum und Verbre{tungsmöglichkeiten betraf, waren jedenfalls zu dieser
Zeit erfüllt (vgl. das Eupolis-Fragment über die "Bücherbuden ").
Andererseits gibt es nun doch Indizien, die darauf hindeuten, daß
die Protagoreische 'AA.1l'(}ELa gerade nicht aus den letzten Lebensjahren
des Autors stammt, sondern zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt
entstanden ist. Das wichtigste Argument liefert Antiphons ebenfalls
unter dem Titel 'AJ..lti}ELa tradierte Schrift: wenn dieses Werk, wofür
manche Gründe sprechen10 , tatsächlich vor Beginn des Peloponnesischen
Krieges verfaßt ist, also der' Aihlvalwv noJ.rrda vorausliegt, und wenn
Antiphon, was bisher gleichfalls noch nicht widerlegt ist, die Schrift
des Protagoras bei der Abfassung seiner eigenen 'AJ..lti}ELa vor Augen
hatte, dann muß die Protagoreische 'AJ..lti}ELa in einer Zeit entstanden
sein, in der nach dem Stand der buchgeschichtlichen Entwicklung die
Setzung eines vom Text losgelösten Buchtitels durch den Autor ganz
und gar unwahrscheinlich ist17•
Natürlich brauchte eine solche Neuerung - falls Protagoras sie doch
vollzogen hätte - nimt sogleich für alle Prosa-Autoren verpflichtend
geworden und von allen übernommen worden zu sein: aber diese Revo-
lution des Buchwesens hätte sim dieser hypothetischen Annahme zu-
folge immerhin noch zur Zeit Herodots vollzogen, ganz zu schweigen
vom Beginn des Thukydideischen Werkes, dessen Eingang - auch unter
Berücksichtigung der fehlenden Datierung, der Andersartigkeit der
literarischen Gattung und des unvollendeten Zustandes des Werkes -
lange Zeit nach Herodot nom genau dieselbe titellose Tradition fort-
führt.
Bedauerlicherweise wird das ganze Problem dadurch noch mehr
kompliziert, daß auch der zweite überlieferte Eingang einer Schrift des
Protagoras seine Besonderheiten aufweist. Diogenes Laertios (9,51 f.)
und Eusebios (Praeparatio evangelica 14, 3, 7) zitieren den Anfang des
Werkes Ober die Götter, und zwar ausdrücklich mit Hinweis, daß es
sich um den Eingang handle (&Haxou LOUTOV llQ~aTo TOV TQonov' nEQL
IlEV {lEWV ... öUl Ta{rt'I'JV T~V &QX~v TOU <11JYYQullllaTOl;, Diogenes Laertios,
16 S. W. AIy, a. a. O. (5. oben S. 66, Anm. 10), S. 69 f.; 153 ff. Vgl. auch unten
S. 126 f., Anm. 21.
17 In diesem Sinne auch Wilamowitz, Platon, Bd. 1 (s. oben S. 64, Anm. 2), S. 80.
68
VS 80 A 1 [vgl. Diogenes 9, 54, 't11V clQX'lv] ; 1EYE'tUl yoüv "tOlQöe XEXQ'ii-
O{lUl eloßo},ii Ev .<p XEQt {lewv oUYYQu,.q.lUn, Eusebios VS 80 B 4)18: "über
Götter kann idl nimt wissen: weder daß sie sind, nom daß sie nimt
sind, nom wie sie von Gestalt sind; denn vieles hindert das Wissen, die
Unklarheit und die Kürze des menschlimen Lebens (XEQt fl€V {lewv o\,x
exw eiöEvm, olh'l' w~ dotv oih'l' w~ o\,x dotv 0'Ü{l' OXOLOl nve~ iöEllV' XOAAU
YUQ .U XWA-UOVLIl EtöEvm, 11 T' clöl]MTl]~ Xllt ßQIlXU~ WV 0 ß(o~ TOÜ clv{lQW-
xou, frg. B 4). Das Eigenartige dieses Eingangs liegt darin, daß er aufs
genaueste der Topik der bespromenen anonymen Werke entsprimt19,
dagegen nimt der Topik der von den Autoren "signierten" Schriften:
bereits mit den ersten Worten wird der Gegenstand der folgenden Dar-
legungen genannt, und zwar in einer xeQi-Formel, unlösbar verschmol-
zen mit dem Reflexionstopos, der - wie in vielen der hippokratismen
Werke und in der Oligarchensmrift - mit einer kausalen Begründung
endet; nimts dagegen von Name und Herkunft des Autors, nichts von
einer <1öe-, llöe-, Tuöe-Formel.
Wiederum stehen wir vor den gleimen Schwierigkeiten wie beim
'AH1{lElIl-Eingang: entweder ist die Zitierweise der Gewährsleute, hier
also Diogenes und Eusebios, ungenau und dem von ihnen so benannten
"Eingang" fehlt der allererste Satz mit der Verfasser-Sphragis20 , oder
es ist die traditionelle Topik durchbromen - wobei in diesem Fall nur
die Möglimkeit der autonomen EmYQIl<jlTJ übrigbleibt (denn am Ende
des Einleitungssatzes von xeQi {lewv steckt der Autor smon so tief in der
Argumentation, daß er mit einem namgezogenen "Das sagt Protagoras
aus Abdera" den Zusammenhang in unannehmbarer Weise zerreißen
würde21). Letzteres gälte übrigens auch in dem Fall, wenn es sich bei
ITeQi {lewv oder bei der 'AATJ{leLIl - worüber indes nimts überliefert
ist22 - , um eine Rede handeln würde: selbstverständlim würde der
18 Daß Eusebios das Original so wenig gelesen hat wie Diogenes, ist klar, aber im
Gegensatz zu diesem ist er ehrlich genug, dies durch ein "J..EYE"tUL" zu bekennen.
Aus welcher doxographischen Quelle seine Kenntnis stammt, ist nicht mehr fest-
zustellen (vgl. K. Mras in der Ausgabe der Praeparatio evangelica, Bd. 1 (Die
griechischen christlichen Schriftsteller der .ersten Jahrhunderte 8/1), Berlin 1954,
S. LVff.
19 Vgl. oben S. 40ff.; dazu C. W. Müller, Protagoras über die Götter, Hermes 95,
1967, S.140ff., zur Titelfrage besonders S. 144f.
20 Etwa von der Form "II(lw"tuy6(1lJ~ 'AßölJ(lt"tlJ~ "taÖE J..EYEL" (C. W. Müller, a. a. O.
[siehe vorige Anm.], S. 145, Anm. 3).
21 Das gilt, wenngleich nicht so stark, auch für den 'AJ..i)itELu-Beginn, weshalb diese
Variationsmöglichkeit für jenes Werk gleichfalls ziemlich unwahrscheinlich wird.
22 Zwar sagt Diogenes Laertios 9,54 Jt(lw"to'V öe "tw'V J..6yw'V Euu"toii U'VEY'VW IIE(l1
itEW'V, doch muß (a) i.Oyo~ nicht unbedingt "Rede" heißen, und (b) wäre es für
die gesamte Antike eine unerhörte contradictio in adiecto gewesen, eine Rede
69
Verfasser hierbei nicht im Einleitungssatz seinen Namen usw. nennen,
sondern mitten ins Thema gehen (wie die oben erwähnten Rhapsoden
zum Beispiel); die topisch-fonnelhafte E3tLy(?<X<p~ "II(?w1"<XYo(?OU 1"OU
'Aßörwb:ou JtE(?L {}EWV" käme dann eben erst bei der Publikation - hier
wohl durch den Autor selbst - hinzu 23 •
Daß Protagoras in seiner Abhandlung über die Wahrheit program-
matisch gerade den Begriff ' AA~{}El<X wählte, hängt mit seiner Eleatis-
mus-Replik zusammen: seine eigene These stellt ja eine direkte Um-
kehrung24 der Parmenideischen Grundkonstellation von "aJ\~{}El<X
gegen M~<x" (VS 28 B 1, 29ff.; 2, 4; 8, SOff.; 19) dar25 • Das bedeutet
aber, daß sowohl der eventuelle Titel als auch der im vermutlich ver-
lorenen Einleitungssatz das Thema ankündigende "Titelersatz" vom
Autor selbst gewählt worden sein müssen: eine derart pointierte Anti-
these zur These eines Gegners kann nicht sekundär oder postum von
Buchhändlern, Kritikern oder Literar- oder Philosophiehistorikern
(beispielsweise Platon) als Titel erfunden werden, er kann nur vom
"abzulesen". Man wird also, sofern die Nachricht überhaupt auf historischen
Tatsachen fußt, an eine Art privater Vorlesung im kleinen Kreis denken wie ihn
etwa der Platonische Protagoras schildert; die von Diogenes anschließend refe-
ri~rten Mutmaßungen über den Ort dieser Vorlesungen dürften reine Spekulation
sem.
23 Daß IIEQL itEiiiv und 'AAi)itEI.« eine einzige Schrift waren oder zu derselben Schrift
gehört haben könnten, ist aufgrund der mit Sicherheit doppelten Eingänge ausge-
schlossen (anders K. von Fritz, Art. Protagoras, RE 23/1, 1957, Sp. 920; vgl.
C. W. Müller, a. a. O. [so oben S. 69, Anm. 19], S. 140 f.). Bei den anderen über-
lieferten Protagoras-Titeln läßt sich das nicht mit solcher Sicherheit sagen, im
Gegenteil: schon J. Bernays, Die Ka-raßaAAovTE~ des Protagoras, Rheinisches
Museum 7,1850, S. 464ff. (erneut in: Gesammelte Abhandlungen, Hg. H. Usener,
Bd. 1, Berlin 1885, S. 117ff.) hat vermutet, daß 'AAi)itELaIKaTaßaAAovTE~ und
'AVTLAOyluL (B 5) identisch sind, ebenso der von Porphyrios erwähnte Myo~ :rtEQL
TOÜ ÖVTO~ (B 2); auch der von einem Anonymus tradierte Titel MEYU~ A6yo~
(B 3) soll mit der' AAi)hLU gleichzusetzen sein (Diels zur Stelle). Die Liste mit
Spezialtiteln bei Diogenes Laertios 9,55 ist ohnehin suspekt (vgl. Diels-Kranz
zu B 7 und B 8/8 h). Die Bernayssche These hat sich aber nicht allgemein durch-
gesetzt (vgl. z. B. Praechter, a. a. O. [so oben S. 17, Anm. 24], S. 115; O. Gigon,
Art. Protagoras, in: Lexikon der Alten Welt, ZürichlStuttgart 1965, Sp. 2457;
anders E. Heitsch, a. a. O. [so oben S. 66 f., Anm. 10]), wohl nicht zuletzt des-
wegen, weil sein einziges gewimtiges Argument die Hypothese vom "innigen
Zusammenhang der Protagoreischen Fundamentalsätze" war, derzufolge "im
Wesentlichen beide Sdlriften [hätten] dasselbe enthalten müssen" - was für die
noch keineswegs sdueibselige Zeit des Protagoras unwahrscheinlich wäre. Vgl.
zum Problem auch A. Capizzi [Hg.], Protagora. Le testimonianze e i frammenti,
Florenz 1955, S. 89 ff.; K. von Fritz, a. a. 0., Sp. 919 ff.; M. Untersteiner, Sofisti.
Testimonianze e frammenti, Bd. 1, Florenz 21961 (Nachdruck 1967), S. 22ff.
24 Vgl. oben S. 66 f., Anm. 10.
25 Vgl. hierzu Verfasser, Antithesis. Zu den Stil- und Denkformen der Vorsokra-
tiker (in Vorbereitung).
70
Verfasser selbst ausgegangen sein26 (und zwar am ehesten, wie gesagt,
in Gestalt eines einleitenden" Titelersatzes"27).
Diese Beobachtung könnte nun insofern von Bedeutung werden, als
wir ungefähr zur seI ben Zeit noch bei einem anderen "sophistischen"
Autor möglicherweise eine ähnlid1e Titelpointe feststellen können: im
philosophischen Hauptwerk des Gorgias. Eine der überlieferten Titel-
versionen dieser Schrift, in der Gorgias stark gegen die Eleaten und ins-
besondere Melissos polemisiert28 , lautet IIE(lt 'tO'Ü 1-1.11 oV'tO~ 1\ JtE(lt
ql1JaEW~, und von Melissos wiederum ist unter anderem der Titel IIE(lt
cpuaEw~ 1\ JtE(lL mü o\"to~ überliefert. Angenommen, die überlieferung sei
glaubwürdig, so wäre die Folgerung unumstößlich, daß die zugespitzte
Formulierung "IIE(lt 'tO'Ü '111 ov'to~ 11 JtE(lt cpuaEw~" von Gorgias stammt,
sei sie nun pointierter Titel oder effektvolle Themaangabe im Einlei-
20 Es kann also nicht so sein, wie zuletzt M. Untersteiner (The Sophists, übersetzung
von K. Freeman, Oxford 1954, S. 15; Sofisti. Testimoruanze e frammenti, Florenz
21961 [Nachdruck 1967], S. 72; beides nach E. Zeller, Die Philosophie der Grie-
chen, Bd. 1/2, Hg. Wilhelm Nestle, Leipzig 81920, S. 1354, Anm. 2) meint, daß
dieser Titel dem Werk erst von Platon beigelegt worden ist. Wenn Untersteiner
dann im selben Zusammenhang, J. Mewaldt (Kulturkampf der Sophisten, Tübin-
gen 1928, S. 14, Anm. 2) folgend, doch davon spricht, der Terminus clATJitWJ.
müsse in dem den Platz des Titels einnehmenden Schrifteingang von Protagoras
genannt worden sein, so stiftet das ernste Begriffsverwirrung: denn wenn der
Autor im »Titelersatz" den Terminus clATJitELa oder XE{lL clAlJitElas verwendet, so
ist klar, daß dieser» Titelersatz" sozusagen automatisch zum Titel wird in dem
Augenblidt, wo es Titel im Sinne der selbständigen bnY{lmpTJ gibt. Wenn Platon
also den Titel als Titel verwendet, so kann er das nur tun, wenn oder weil es
Titel bereits gibt, nicht, weil er sie schaffl:.
Daß der Titel 'AATJitELa oder IIE{lL &AlJitElas auch für andere Autoren überliefert
ist (außer bei Antiphon später bei Antisthenes und Simmias; vgl. unten S. 126 f.,
Anm. 21), kann in diesem Zusammenhang nicht als Argument herangezogen wer-
. den: für das buchtechnische Problem der Entwicklung ist es gleichgültig, wer als
erster seine Abhandlung als »XE{lL clAlJitEtaS" handelnd charakterisierte und wer
dann dieses Beispiel wiederaufnahm. In Frage kommen ohnehin nur Protagoras
und Antiphon, und bei beiden zielt die Spitze gegen die Eleaten (Diels, Anm. zu
VS 87 BI), so daß hinsichtlich der pointierten Erfindung des Titels oder" Titel-
ersatzes" prinzipiell für Antiphon dasselbe gilt wie für Protagoras.
27 Es ist natürlich nicht rundweg auszuschließen, daß es auch nur in mündlichem
Gespräch oder in irgendeiner Form am Ende des Traktats (Beispiel: i:ßoUA'llllJv
Y{l(x,paL 'tov J..Oyov 'EAEV11S flEv EYXcOflLOV, EfloV Ile xa[yvLOv, der Schluß des
Helena-Enkomions von Gorgias, VS 82 B 11,21) erfolgt sein könnte. Doch das
erste ist eine völlig aus der Luft gegriffene Annahme, das zweite erscheint aufgrund
der zahlreichen Gegenbeispiele traditionell-topischer Prosaeingänge nicht eben
wahrscheinlich (die Helena des Gorgias ist trotz der Formulierung Y{l(l1paL - was
hier einfach »verfassen" heißt - als Rede konzipiert, für die besondere Gesetze
gelten, s. oben S. 48 ff.).
28 Das hat H.- J. Newiger in seiner noch ungedruckten Habilitationsschrift dargelegt
(Untersuchungen über Gorgias' Schrift "über das Nichtseiende", Kiel 1967).
71
tungssatz gewesen. Dies kann auch dann gelten, wenn der Melissos-
Titel erst von der späteren doxographischen Tradition erfunden wor-
den ist -allerdings nur unter der Voraussetzung, daß Gorgias in diesem
Fall Vorsokratikertexte unter dem Titel IIE(lL qnJ(}EW~ vorgelegen
haben: seine Attacke war dann eben statt speziell gegen Melissos gegen
die q),u(}L~-Philosophen generell gerichtet.
Doch damit sind wir zunächst wiederum auf unser Hauptproblem
zurückverwiesen: die Klärung der Genese des Titels IIE(lL <PU(}EW~.
72
7. PHILOSOPHEN-BIBLIOTHEKEN
Auch wenn wir einmal das Unbeweisbare als erwiesen setzen und an-
nehmen, Autoren wie Protagoras hätten selbst ihren Werken Titel im
Sinn von EmYQa<pat gegeben, nachdem äußere Verhältnisse wie ein
differenziertes Buchhandels- und Bibliothekswesen das geboten erschei-
nen ließen, so ist damit noch immer nicht das Problem gelöst, wie denn
nun die von ihrem Autor nicht mit einem Titel versehenen Prosawerke
sowohl früherer Epochen als auch der gleichen Zeit zu ihrem nach der
Entstehung von Buchhandel und Bibliotheken erforderlichen Titel
kamen. Nur soviel scheint nach den aus Herodot und Aristophanes
bekannten unbestreitbaren Beispielen einer Verwendung von Einzel-
titeln1 nahezuliegen: auch die Titel der fraglichen Prosawerke müssen
in einem Bereich entstanden sein, wo man das Bedürfnis nach differen-
zierenden Unterscheidungsmöglichkeiten hatte - sei es etwa anläßlich
kritischer Auseinandersetzung mit den Werken, sei es aufgrund tech-
nischer Zwänge wie eben Buchhandels- und Bibliothekserfordernisse.
Es ist also jetzt zu fragen, wann im Falle der vorsokratischen Philo-
sophen vermutlim mit diesem Entwicklungsstadium zu re<hnen ist.
Beim ersten der genannten Punkte, der kritischen Auseinander-
setzung, wäre der Beginn der Entwicklung sehr früh anzusetzen, ja,
dieser fällt geradezu mit dem Beginn des frühgriechischen Philosophie-
rens überhaupt zusammen. Denn nach allem, was wir noch sehen
können, waren bereits die allerersten Ansätze der grie<hismen Philo-
sophie dadurm gekennzeichnet, daß sie aus der Auseinandersetzung mit
bisherigen, vorgegebenen Ansichten hervorgingen - eines der Beispiele
ist die erwähnte (lÄ~{h:La-Reflexion Hesiods, ein anderes, vom selben
Autor stammend, etwa die "analytisch-genetische" Betrachtung des
griechismen Pantheons, die sich scharf vom ahistorischen Götterver-
ständnis Homers abhebt und zum erstenmal den für die frühe Philo-
sophie typischen Ansatz der Frage nach der uQxf] zeigt. Das Verhältnis
Hesiods zur Homerischen Position wiederholt sich hernach bei den
1 S. oben S. 23 ff.
73
Philosophen im engeren Sinn: Anaximander bezieht seine Stellung in
der ötxTJ-Diskussion, Heraklit setzt sich mit Anaximander auseinander,
Parmenides bekämpft Heraklit, Empedokles korrigiert Parmenides
und Heraklit, Anaxagoras greift auf Anaximander und Empedokles
zurück usw. Dabei werden die Beziehungen der Repliken und Gegen-
positionen um so reicher, je weiter die Entwicklung fortschreitet, bis sich
schließlich im Denkansatz der Sophistik der radikale Umbruch von der
kosmologisch und ontologisch ausgerichteten Prinzipien-Philosophie
zur anthropologisch orientierten "politischen" Philosophie vollzieht.
Unter dem Aspekt des Buchwesens ist an dieser Entfaltung des Den-
kens vor allem von Bedeutung, in welcher Weise die frühen Philo-
sophen ihren Gedanken zur Verbreitung verhalfen. "Jeder Philosoph
machte eine einzige, in sich geschlossene Aussage über das Wesen der
Dinge überhaupt. Falls er schrieb, verfaßte er ein kurzes Buch, das
später, als die Bücher Titel erhielten, den monumentalen Titel ,über
die Natur' empfing[2] ... Es scheint, daß diese Bücher in erster Linie nicht
zur stillen Lektüre bestimmt waren, sondern sie wurden vorgelesen,
und dann Stück für Stück erklärt und durchgesprochen[3]; der reiche
Gehalt jener gedrängt knappen Werke konnte nur dann recht verstan-
den und gewürdigt werden, wenn die zunächst befremdenden Ideen
eingehend hin und her mit den Hörern diskutiert wurden. So nimmt
Heraklit im Eingang seines Werkes ... auf Gespräche mit anderen über
seinen Logos Bezug (freilich mit der charakteristischen Bemerkung, daß
für die Hörer die Belehrung fruchtlos geblieben ist). Wenn dem so war,
konnten wiederum andererseits dem Verfasser seine Auseinander-
setzungen mit seinem Publikum zu einer weiteren Klärung seiner
Gedanken und Verbesserung seines Schriftwerkes verhelfen."4 Das
Primäre dürfte also die mündliche Darlegung gewesen sein - daß sich
dies gerade am Beispiel von Heraklits aphoristisch gefeiltem, durch und
durch literarisch-pointiertem Werk zeigen läßt, macht die Beobachtung
doppelt wertvoll. Die Niederschrift war sekundär, ihr Zweck war nicht
2 Wo in einem .solchen Fall mehrere Titel überliefert sind, geht dies auf die allge-
meine Unsicherheit in der Titelgebung zurück; oder Teile eines Werkes laufen
unter Sondertiteln.
a Vgl. dazu etwa die unten S.'121, Anm. 6 zitierte Stelle aus PlatonsPhaidon 97 b/c
(über Anaxagoras, also aus der Mitte des 5. Jahrhunderts - das zeigt die Kon-
stanz der Sitte). Vgl. über diese Art der "Vorlesung" als ursprüngliche Publi-
kationsform auch R. Harder, Bemerkungen zur griechischen Schriftlichkeit, Die
Antike 19, 1943, S. 86ff.; erneut in: Kleine Schriften, Hg. W. Marg, München
1960, S. 57 ff., bes. S. 78 f.
4 S. H. Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München
21962, S. 294f. mit Anm. 9.
74
die Verkündigung der neuen philosophischen Gedanken, sondern deren
Fixierung, und zwar vermutlich zunächst in erster Linie für den enge-
ren Hörer- und Schülerkreis (der sicherlich recht klein war)5.
Diese Beobachtung ist von entscheidender Wichtigkeit im weiteren
Rahmen der äußeren Präsentationsform der frühen Prosa schriften
überhaupt: denn sie deutet darauf hin, daß diese ersten Prosa-"Schrif-
ten" zunächst einmal eine Art {m:oflVl']!-Ul waren, eine Formulierungs-
und Gedächtnisstütze für den Autor selbst, notwendig aufgrund der
neuartigen und schwierigen Gedankenmaterien, die man vortragen
wollte. Sie stehen also morphologisch und literargenetisch auf derselben
Stufe wie das epische Schrifttum, das man sich seinem Ursprung nach
ja gleichfalls lediglich als Hilfsmittel der in ihrem Wesen mündlichen
Rhapsodik zu denken hat, oder wie die Platonischen Dialoge nach der
Selbsteinschätzung ihres Autors, der im Phaidros zum erstenmal diesen
{JJt0flVl']!Hl-Charakter von Schriftwerken reflektiert (iJnoflv~oEW<; CPclQflU-
xov, 275 a5; Euur0 unoflv1lflU -lhlOU'\JQL~oflEVO<;, 276 d3)6, Vom UnoflVl']flU-
Charakter der frühen philosophischen Prosawerke aus wird auch der
Eingangstopos der individuellen persönlichen Anrede eines Adressaten
(beispielsweise Brotinos, Leon und Bathyllos bei Alkmaion; ähnlich
Pausanias bei Empedokles, VS 31 Bi) genetisch plausibel: dieser
Adressat ist die erste Instanz des Publikums, ihm wird gewissermaßen
das "Handexemplar" , anband dessen der primäre mündliche Vortrag
erfolgte, übereignet? Später - das ist das Auffällige - fällt diese per-
75
sönliche Dedikation weg, wie Hekataios zeigt: der übergang vom {m;6-
f.lVllf.lU zur Publikation ist auch in der äußeren Form vollzogen8•
Man wird also in der Annahme nicht fehlgehen, daß ein Philo-
sophenmanuskript anfangs nur in ganz wenigen Abschriften zirku-
lierte9 • Von Publikation im Sinn einer Verbreitung in der öffentlich-
keit kann schwerlich die Rede sein. Damit steht vielleicht auch die
eigenartige regionale Begrenztheit der frühen Philosophie in Zusam-
menhang: die frühesten Philosophen lebten und wirkten alle in einigen
wenigen, verhältnismäßig nahe benachbarten Städten des ionischen
Kleinasien - Milet (Thales, Anaximander, Anaximenes), Kolophon
(Xenophanes), Samos (Pythagoras), Ephesos (Heraklit) -, und ähnlich
hat die "zweite Welle" der vorsokratischen Philosophie ihren Schwer-
punkt ganz ausgeprägt in der Magna Graecia im Westen - in Süd-
italien Kroton (Pythagoreerbund, Alkmaion) und Elea (Parmenides),
später in Sizilien Akragas (Empedokles). Eine Verbindung der beiden
Zentren ergibt sich in Gestalten wie Pythagoras, dessen Weg von Samos
nach Kroton führte, und Xenophanes, der von Kleinasien nach Sizilien
auswanderte. Doch nicht nur die lokale Schwerpunktbildung, sondern
ebenso auch die markante Verlagerung der Zentren vom Osten in den
Westen dürfte mit der genannten eigentümlichen "Publikationsform"
der frühen philosophischen Werke - die gar keine "Publikation" im
wörtlichen Sinn war - zusammenhängen: wenn sich die philosophische
Diskussion vornehmlich im Gespräch der kleinen Hörergemeinde voll-
zog und wenn die Werke der Meister lediglich in einigen wenigen
"Schülerabschriften " zirkulierten, so ist in jener frühen Zeit, wo noch
weder eine allgemeine literarische Bildung noch ein Buchhandel existier-
ten, eine Verbreitung oder Wanderung des philosophischen Gedanken-
gutes nur auf persönlichem Weg vorstellbar, nämlich so, daß ein Philo-
soph oder einer seiner Schüler sozusagen als Wanderprediger selbst sein
8 Man könnte - unter Annahme dieser Voraussetzung - sogar geneigt sein, eine
regelrechte Vorgeschichte des Prosaeingangs zu extrapolieren: zunächst reines
U1t(Jl1vTJl1a ohne" Titelersatz"-Einleitung, dann Eingänge mit persönlicher Adresse
- Typ Alkmaion oder Empedokles (eventuell unter Beeinflussung durch Brief-
topik und lyrische Apostrophe, s. vorige Anm.) -, dann Eingänge ohne Adresse,
d. h. an ein allgemeines Publikum gerichtet - Typ Hekataios (eine Mittelstellung
in der Adressierung hätte etwa der Beginn der Empedokleischen Katharmoi -
<1i q>lAOL, ot I1E"{a üo'tU xa,;u ;avitoü ' AXQa."{av'to~ / valE';' .. '. / XalQE';" E"{cO ö'
UI1LV {}EO~ üI1ßQo,;o~, miXEn itvTJ,;6~ / m.oAEül1aL, VS 31 B 112, 1 ff.: hier wird
anonym der Kreis der ganzen Schüler-Gemeinde als Adressat apostrophiert). -
Natürlich blieb die "Gattung" un:611VTJl1a auch später erhalten, das zeigen die
Platon-Stellen ebenso wie die oben S. 20 zitierten Sätze des Galen.
9 Vgl. H. Erbse, a. a. O. (s. oben S. 9, Anm. 2), S. 217.
76
Werk an einem anderen Ort bekannt machte und dort wieder schul-
bildend wirkte.
Dieser - auf jeder Ebene - personale Status der philosophischen
Diskussion bringt es mit sich, daß die Philosophen bei der Auseinander-
setzung mit den Gedanken Früherer ihre Kritik nicht in erster Linie
gegen das Werk ihrer philosophischen Vorgänger, sondern gegen diese
selbst richteten (vgl. Heraklit B 40: "Vielwisserei lehrt nicht Verstand
haben: sonst hätte sie es Hesiod gelehrt und Pythagoras und auch
Xenophanes und Hekataios."), was natürlich äußerlich erleichtert wird,
wenn sich dessen Denken in einem einzigen Werk niedergeschlagen hat.
Anders ausgedrückt: es genügte, zu sagen "Anaximander" oder "Hera-
klit" oder "Xenophanes" oder "Parmenides" oder "Empedokles", man
brauchte nicht hinzuzufügen "in seinem so und so betitelten Werk";
wo es von einem Mann mehr als eine Schrift gab - wie etwa bei Empe-
dokles neben dem philosophischen Gedicht die Katharmoi -, wird in
aller Regel der Kontext der Zitierung die Identifikation ermöglicht
haben 1o •
Das ändert sich erst in dem Moment, wo Philosophen ihre Gedanken
nicht mehr in nur einem Werk vortragen, sondern über die verschie-
denen Aspekte ihrer Lehre verschiedene Schriften verfassen. Dies aber
scheint wiederum eine Eigentümlichkeit zu sein, die in nennenswertem
Umfang (man vergleiche Xenophanes oder Empedokles) erst im Lauf
des 5. Jahrhunderts, zum al in dessen zweiter Hälfte auftritt: der erste
Philosoph mit literarischer "Großproduktion" ist anscheinend Demo-
krit gewesen (etwa 460-370), dessen Nachlaß angeblichl l Thrasyllos
in dreizehn Tetralogien geordnet hat. Dabei ist allerdings zu bedenken,
daß unter diesen 52 Titeln sich diverse Titeldubletten, manches Unechte
sowie eine nicht näher bestimmbare Anzahl von Schriften befinden
dürften, die ihre Entstehung anderen Mitgliedern der atomistischen
Schule verdanken 12 : aber daß Demokrit eine schriftstellerische Schaf-
fenskraft entfaltete wie nach ihm erst wieder Platon und Aristoteles,
ist trotzdem nicht zu bestreiten. Zur selben Zeit wie Demokrit haben
auch, wie bereits erwähnt, die Sophisten entsprechend der Vielfalt ihrer
Interessen eine gewisse Vielfalt ihrer literarischen Wirksamkeit erstrebt;
dies dürfte insbesondere für die Rhetoren unter ihnen zutreffen, wie
deren Archeget Gorgias dokumentieren kann, von dem neben der onto-
logisch-erkenntniskritischen Schrift eine ganze Reihe von Reden entwe-
10 Vgl. das unten S. 100ff. über die Zitierweise des AristoteIes Gesagte.
11 VgJ. dazu VS 68 A 33 Anm. (Bd. 2, S. 90) mit weiterer Literatur.
12 VS 68 B Vorbemerkung.
77
der erhalten oder fragmentarisch belegt ist. Ebenso ist Protagoras mit
mehreren Werken hervorgetreten 1S•
Daß der Beginn einer derart ausgedehnten philosophischen Schrift-·
. stellerei, wie sie von Demokrit, manchen Sophisten und Platon an in
übung kam, gleichfalls mit dem sich wandelnden geistigen Niveau
eines auf breiter Basis entstehenden Bildungsbürgertums und den im
Verein damit aufblühenden infonnationstechnischen Möglichkeiten in
engem Zusammenhang steht, liegt auf der Hand14 • Und es ist auch ein-
sichtig, daß von dieser Zeit an die kritische Auseinandersetzung mit
anderen Meinungen ungleich differenzierter und komplizierter werden
mußte als zuvor, wo der Autor und sein Werk - d. h. in der Regel:
seine Schrift - nahezu synonym waren.
Das bedeutet auf der anderen Seite: der Philosoph kann von nun
an nicht mehr auf eine ausgedehnte Bibliothek verzichten. Die frühe-
sten Philosophen des 6. Jahrhunderts dürften nur einige wenige Buch-
rollen besessen haben, darunter jeweils - soweit ihnen erreichbar - das
philosophische Werk ihrer Vorgänger und Zeitgenossen; je weiter die
Entwicklung der Philosophie voranschritt, desto mehr Schriften mußte
der einzelne Denker zur Verfügung haben, um in seinen Erörterungen
auf dem Stand der Zeit zu sein.
Bei einem Mann wie Heraklit, der immerhin schon an der Schwelle
zum 5. Jahrhundert steht, läßt sich der Besitz an Büchern - soweit man
ihn aus den Zitaten rekonstruieren kann - noch einigermaßen über-
schauen: er kennt (vgl. frg. B 38; 39; 40; 42; 56; 57; 80; 81; 105; 106)
Homer (das dürfte etwa 24 Buchrollen ausmachen15), Hesiod (vielleicht
4 Rollen), Xenophanes (2 oder 3 Rollen), Hekataios (4 Rollen Genea-
logien, 2 Rollen Geographie), Pythagoras (eventuell 1-2 Rollen, falls
er überhaupt geschrieben hat16) und Thales (1 Rolle, falls es eine Schrift
von ihm gab), dazu Anaximander (1 Rolle), vennutlich Anaximenes
(1 Rolle), Archilochos (vielleicht 5 Rollen); nimmt man hinzu, daß
Heraklit als ein Mann auf der Höhe der Epoche neben Archilochos
auch noch andere politische und lyrische Dichter gekannt haben wird,
zumindest die kleinasiatischen (vielleicht 10 Rollen), daß er wohl
13 Die hippokratische Schule haben wir bereits oben S. 61, Anm. 33 erwähnt.
14 Der Vorgang bleibt keineswegs auf die Philosophie beschränkt, sondern umfaßt
vom Beginn des 4. Jahrhunderts an auch andere Zweige der Prosaliteratur: man
denke an Xenophon, die Redner, an Historiker wie Ephoros und Theopomp usw.
15 Wenn man etwa 2 Bücher von Ilias und Odyssee auf eine Rolle rechnet.
16 Was aber offenkundig ganz unwahrscheinlich ist, vgl. W. Burkert, Weisheit und
Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg 1962,
S. 105 ff.; 203 ff.
78
Werke des Epischen Zyklus oder Rhapsodenhymnen besaß (vielleicht
30 Rollen), dazu eventuell - falls er wirklich eine Zeitlang das Amt
des "Priesterkönigs" von Ephesos bekleidete - eine Reihe von kulti-
schen Büchern (vielleicht 5-10 Rollen): so kommen wir, eine rechne-
rische Toleranz von etwa 10 Prozent hinzugenommen, auf einen
Gesamtbestand von rund 100 Buchrollen. Läßt man erzählende Epik
sowie kultische und lyrische Literatur außer Betracht und zählt allein
philosophisch (und politisch) relevante Werke, so verbleiben kaum
mehr als 30 Rollen von ungefähr zehn einschlägigen Autoren - wobei
noch zu berücksichtigen ist, daß Heraklit in seiner allseitigen Aufge-
schlossenheit (Bias, Archilochos!) den Rahmen eines "Fachphilosophen"
auch für damalige Verhältnisse bei weitem sprengt (man vgl. etwa
Parmenides): seine "Bibliothek" ist also vermutlich überdurchschnitt-
lich gut bestückt. Dennoch ist sie, wie die Zitate lehren, immer noch so
überschaubar, daß Heraklit bei seiner Polemik auf die Nennung von
Einzelwerken verzichten kann: entweder er polemisiert indirekt, d. h.
ohne Zitatangabe, wie anhand der Anaximander-Replik noch zu beob-
achten ist (frg. B 80), oder er nennt metonymisch den Autor anstelle
seines Werkes (vgl. die oben angeführten Stellen)17.
Im Lauf des 5. Jahrhunderts erlebte nun allerdings nicht nur die
Philosophie einen weiteren Aufschwung, zumal gegen Ende, als neben
dem Eleatismus und der sogenannten jüngeren Naturphilosophie die
sophistische RichtWlg auf breiter Basis an Boden gewann, sondern es
revolutionierten sich, wie wir sahen, ebenso die äußeren, technischen
Kommunikationsbedingungen; zudem begannen sich nun auch Fach-
wissenschaften, die für die Philosophen von Bedeutung werden konn-
ten - vor allem Medizin und Mathematik -, in bislang nicht bekannten
Maßen zu entfalten. Das heißt: die Bibliothek eines Philosophen
dürfte hundert Jahre nach Heraklit ein Vielfaches von dessen Bücher-
beständen umfaßt haben (sofern der Philosoph Mittel und Möglich-
keiten hatte, sich die Texte zu beschaffen)-, und gleichzeitig dürfte auch
die Notwendigkeit gewachsen sein, diese Bestände organisatorisch zu
ordnen, nach bestimmten Sachgruppen zu gliedern, systematisch zu
rubrizieren.
Wie das im einzelnen geschehen sein könnte, entzieht sich unserer
Kenntnis. Soviel jedoch wird man sagen können: dort, wo sich für
einzelne Werke oder Gruppen von Werken bereits feste Titelbezeich-
79
nungen eingebürgert hatten - und daß dies für zahlreiche Gattungen
und Werke der Fall war, bezeugen Herodot und Aristophanes -, dort
wird man bei der "systematischen" Ordnung einer solchen Bibliothek
auch darauf zurückgegriffen haben. Und weiter wird man annehmen
können, daß dort, wo der Einleitungssatz einer Schrift eine kurze
Charakteristik des Inhalts, also einen" Titelersatz" enthielt, dieser nach
Erfordernis herausgelöst und zu einem Titel verselbständigt wurde, sei
es, daß man die Außenseite der Rolle oder das "Regal" oder den Behäl-
ter, der die Rolle(n) enthielt, entsprechend beschriftete.
Wer aber besaß derartig "umfangreiche" Bibliotheken philoso-
phischer Provenienz? Leider fließen darüber die antiken Nachrichten
nur sehr spärlich. So ist, um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen,
überhaupt nichts davon überliefert, ob der schriftstellerisch so frucht-
bare Demokrit in seiner "Schule" - wie man doch vermuten möchte -
auch einen seiner literarischen Produktion vergleichbaren Besitz an
fremden Texten zur Verfügung hatte. Die erste zweifelsfrei nachweis-
bare philosophische "Großbibliothek" ist die Bibliothek der Platoni-
schen Akademie gewesen 18 ; das geht aus zahlreichen Hinweisen und
Erwägungen hervor. In der Akademie trieb man nicht nur die mathe-
matisch orientierten Wissenschaften, die Platon selbst zur Propädeutik
im System seiner Dialektik heranzieht- Arithmetik, Geometrie, Musik,
Astronomie -, sondern auch Fächer wie Geographie, Zoologie, Botanik,
Medizin; dazu kamen politologische, historische und philologisch-
literarkritische Studien im weitesten Umfang, ganz zu schweigen von
der Philosophie im eigentlichen Sinn 19 • Das alles setzte die Beschaffung
möglichst des gesamten jeweils vorhandenen literarischen Materials zu
den einzelnen Themen voraus: "Die Sammlung eines wissenschaft-
lichen Apparates für diese Fächer stellt sich als Gründung einer Biblio-
thek dar. "20
18 Die Zeugnisse sind jetzt gesammelt von J. Platthy, Sources on the Earliest Greek
Libraries, Amsterdam 1968 (zu Platon: S. 121ff.; zu Aristoteles: S. 124 ff.);
Platthy beginnt seine Liste der »Privatbibliotheken " mit Platon; Rekonstruk-
tionen aufgrund von Namenszitaten fehlen allerdings.
1. Die Platonherausgeber sparen sidt in der Regel die mühselige Arbeit eines
Namensregisters, aus dem man eine Liste der von dem Philosophen zitierten
Autoren erstellen könnte. Am leidttesten greifbar sind zur Zeit die Indices in der
zehnbändigen Loeb-Ausgabe von H. N. Fowler, W. R. M. Lamb und R. G. Bury,
1914-1929, die immer wieder nadtgedrudu wird.
20 U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Antigonos von Karystos, Berlin 1881, S. 285
(Philologische Untersudtungen 4); vgl. H. Usener, Organisation der wissenschaft-
lichen Arbeit. Bilder aus der Geschidtte der Wissensdtaft [1884], in: Vorträge
und Aufsätze, LeipzigIBeriin 1907, S. 82 ff. Zu dem vieldiskutierten, aber in
80
Welchen Umfang diese Bibliothek gehabt haben dürfte, erhellt sich
schon daraus, daß sie mit größter Wahrscheinlichkeit auch die Texte
der Lyriker und vor allem der Tragiker und Komiker enthalten hat,
soweit sie greifbar waren. Wie zielbewußt Platon bei der Erweiterung
seines Bücherschatzes vorgegangen sein muß, wird - an einer ganz
nebensächlichen Ecke - durch ein zufällig erhaltenes antikes Zeugnis
beleuchtet: Proklos gibt in seinem Timaios-Kommentar (1,21 c) eine
Notiz des Platonschülers Herakleides Pontikos wieder, die besagt,
Platon habe ihn, Herakleides, dazu überredet, bei Gelegenheit einer
Reise ins kleinasiatische Kolophon21 dort die Dichtungen des Anti-
machos zu "sammeln", d. h. wohl, Abschriften davon ausfindig zu ma-
chen und aufzukaufen CHQay.AeLÖTJ; yoüv 0 IIoVTLxo; <jlTJO"LV, ÖTL TWV
XOLQLAO'U TOTE Ev8oXLflOUVTWV IIMTwv TU ' A VTLflUX0'U 1lQoVTLfl11OE xaL
aVTov E1lW1E 'HQaxAd8TJv d; KOAo<jlwva E1IöOVTa TU :n:OtllflaTa o'UAAE~aL
TOÜ av8Qo;). Wie groß der - natürlich von Jahr zu Jahr wachsende
(man denke nur an das Aufblühen der Beredsamkeit) - Bücherbestand
der Akademie in einzelnen war, ist schwer abzuschätzen: tausend Rol-
len dürften aber kaum zu niedrig gegriffen sein.
Noch umfassender als die akademische Bibliothek war die vermut-
lich nach deren Vorbild installierte Bibliothek des Peripatos, wie wie-
derum ein verhältnismäßig peripher liegendes Beispiel stellvertretend
illustrieren kann. Parallel zu den Politika des Aristoteles entstand
innerhalb der Schule das supplementäre Sammelwerk der Politien, die
umfassende historische und methodische Aufarbeitung der Verfassun-
gen von 158 griechischen Stadtstaaten; dabei wuchs die Bibliothek nicht
nur automatisch um die 158 neuentstandenen Bücher (von deren Ge-
stalt uns die 1891 wiedergefundene' A.frl1VaLwv 1l0AmLa einen Eindruck
gibt), sondern zugleich noch um ein Mehrfaches durch die Beschaffung
81
der für die Abfassung der einzelnen Politien benötigten Quellen an
Primär- und Sekundärliteratur (Sammlungen der lokalen Inschriften,
Spezialhistoriographien wie Atthidographen usw.). In der Nachwelt
gewann diese von Aristoteles an seinen Schüler und Nachfolger Theo-
phrast vererbte Bibliothek - wohl nicht zuletzt aufgrund ihrer legen-
dären Geschicke, die sie schließlich unter Sulla nach Rom gelangen
ließ - einen solchen Ruhm, daß Strabon (13, 1, 54, p. 608/609; vgl.
Plutarch, Sulla 26, 1/2) irrigerweise sogar davon sprechen kOlUlte, Ari-
stoteles habe als erster, von dem man wisse, Bücher gesammelt (a'Uv-
ayaywv ßLßJ.ta) und die Könige in Kgypten (!) die Aufstellung und
Organisation einer Bibliothek (ßLßALO{}~r.'lC; auVta~LV) gelehrt. Im letz-
teren steckt immerhin ein wahrer Kern: denn seit ungefähr 297 hielt
sich der Peripatosschüler Demetrios aus Phaleron am Hof Ptole-
mai os' I. in Alexandria auf und wirkte an der Errichtung des Museions
und seiner Bibliothek mit; daß dabei Erfahrungen des Peripatos Pate
standen, ist kaum zu bezweifeln22 •
Die Organisationsformen einer Bibliothek samt ihren verzweigten
technischen Implikationen dürften also, das ist nach all dem ziemlich
sicher zu vermuten, erstmals in den Bibliotheken der Akademie und
d('s Lykeions in großem Umfang erprobt und durchgeführt worden
sein. Wenn aber dem so ist, dann dürften spätestens bei dieser Gelegen-
heit die bis dahin noch nicht mit einem Titel, gleich welcher Art, ver-
sehenen Schriftwerke eine signifikante, in Form einer Emyea<p~ ver-
wendbare Titelbezeichnung erhalten haben23•
22 Zu Demetrios' Tätigkeit in Alexandria vgl. frg. 63 ff. Wehrli (Die Schule des
Aristoteies. Demetrios von Phaleron, Text und Kommentar, Basel!Stuttgart
21968), mit Kommentar, S. 54 f.; dazu E. Bayer, Demetrios Phalereus der Athener,
StuttgartiBerlin 1942 (Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft 36), S. 97
und 107 f. Vgl. auch E. S. Parsons, The Alexandrian Library, Amsterdam/Londonl
New York 1952, S. 83 ff. sowie jetzt F. Wehrli, Art. Demetrios von Phaleron,
RE Suppl. 11, 1968, Sp. 518.
23 V gl. das oben S. 48 ff. über die Reden und Dialoge Gesagte.
82
8. DIE FORMEL "I1EPI cI>Y~EQ~"
1 Philolaos, vgl. unten S. 8Sf., Anm. 7; 86f., Anm. 8; 119, Anm. 22; 126. Aller-
dings liegt Philolaos an der Grenze dessen, was man als" Vorsokratik" bezeichnen
kann.
2 V gl. unten S. 113 ff.
3 Die unten S. 94 ff. erwähnten Passagen aus der Hippokratikerschrifi IIEQL aQ;r.at,,~
t"-';QL"ij~ sind vermutlich noch früher anzusetzen; das ist jedoch nicht unbestritten,
so daß es angesichts der generellen Problematik, von der die Frage der Entstehung
der Hippokratikerschrifien gekennzeichnet ist (vgl. oben S. 40 f., Anm. 19),
geraten erscheint, die Stelle bei der historisch-genetischen Betrachtung der llEQL
ql1jIJEOJ~-Testimonien zunächst außer Betracht zu lassen und sie hernach haupt-
sächlich unter den typologischen Aspekten heranzuziehen.
83
Stück der sogenannten tltereroL AbYOt, einer in der Protagoras-Nachfolge
stehenden Schrift, die man sich kurz vor dem Jahr 400 entstanden
denkt 4 • "Es gehört meiner Meinung nach zu den Aufgaben ein und des-
selben Mannes und ein und derselben Kunst, sich in Kürze unterreden
und die Wahrheit der Dinge verstehen zu können, in richtiger Weise
Recht zu spredlen zu verstehen und vor dem Volk zu reden imstande
zu sein, die Kunst der Rede zu verstehen und über die Natur aller
Dinge [oder: des Alls] lehren zu können, wie sie beschaffen und wie sie
entstanden sind. Denn erstens: wie sollte der, der über die Natur aller
Dinge [oder: des Alls] Bescheid weiß, nicht auch in allem richtig han-
deln können ... ?"5 «('tW UlJl:W) avlIQo~ ')tUL .a~ Ul),(U~ .EXVU~ VOf-ltl;w
')tu.a ßQUXv 'E lIVV(l(1{tUt lItUAEYW{l(lt ML (.uv) aAu{lELuv .Wv nQuYf-lllTWV
EnLer.uer{tUt ')tUL lIt')ta~Ev EnLer.uer{tUt oQ{lw~ ')tUL lluf-luyoQELV oI6v .' ~f-lEV
')tuL Abywv .EXVU~ EnLer.uer{tUt ')tuL nE Q L !In) er t 0 ~ • Wv an a v • W v W~ TE
EXE t ')tu LW~ EY Ev ETO IltMerxEv. 'X.uL nQw.ov f-lEv /) nE Q L cpver t 0 ~ .Wv
an a v. w v d 11 cb ~ nw~ 0"lIuvUOEL'Ut nEQL nav.wv oQ{tw~ ')tuL nQaooEv;
VS 90, 8, 1 f.). Als bedeutsam an diesem Zitat ist zunächst einmal zu
vermerken, daß der Ausdruck nEQL cpvertO~ nicht absolut gebraucht ist,
sondern mit einem verdeutlichenden Attribut versehen wird: nEQL
cpvertO~ .Wv anaV'twv. Daß dies auch bei der Wiederaufnahme der Wen-
dung in /) nEQL cpVOtO~ .Wv anaV'twv döch~ geschieht, zeigt, daß der ab-
solute Gebrauch von 3tEQL cpUOtO~ dem Autor offenbar nicht präzis genug
gewesen wäre. Außerdem braucht er den Zusatz, um hernach mit den
Wörtern "spielen" zu können (nEQL cpuertO~ .Wv anav.wv ... 3tEQL nav-
.wv oQ{tw~ XUL 3tQaererEv [oder: oQ{tw~ XUL 'tUV 3t6AtV IltMer')tEV nQuererEv]) -
wobei wir, da es sich um unser frühestes Zitat handelt, die Frage, ob
ihm nicht vielleicht ein bereits vorgegebener stereotyper Sprachgebrauch
das Wortspiel überhaupt erst ermöglicht hat, hier fürs erste ausklam-
mern müssen. Das zweite, was in dem Zitat festgehalten zu werden
verdient, ist der Inhalt dieser Lehre 3tEQL cpvertO~ .Wv anuv~wv; der Ver-
fasser drückt diesen Inhalt in der Wendung w~ 'tE EXEt ')tuL w~ EyEvE'O,
"wie es beschaffen und wie es entstanden ist", aus. Die Darlegung der
cpuert~ .Wv anav.wv zielt also auf zwei Komponenten der cpveru;: die Er-
örterung ihres gegenwärtigen Zustandes und die Erklärung ihrer in
84
die Vergangenheit hineinreichenden Genese. Diese Formulierung des
Doppelaspekts der <puaL~-Diskussion ist, wie wir sehen werden, ein
topisches Element in dem hierbei apostrophierten <puaL~-Begriff6.
Die nächsten einigermaßen datierbaren Zeugnisse' für die j(EQL
<puaEO)~-Formel stammen aus Platonischen Dialogen. Das erste liegt
G Der Doppelaspekt liegt, wie man neuerdings gesehen hat, bereits im Begriff ql\JCW;
selbst, vgl. D. Mannsperger, Physis bei Platon, Berlin 1969, S. 38ff.: insofern
wäre also an der vorliegenden Explikation des ql\JO'Lc;-Begriffes zunächst noch
nichts Auffälliges. Bemerkenswert wird diese Tatsache aber durch die offensicht-
lich daraus sich entwickelnde Topik übereinstimmender Vorstellungen und Formu-
lierungen. übrigens begegnet der eine der beiden Aspekte in wörtlicher Paral-
lelität bereits in einer der frühesten überhaupt noch faßbaren Eußerungen über
CPUO'LC;: bei Heraklit frg. B 1 (s. unten S. 114 f.).
7 Das Fragment B 6 des Pythagoreers Philolaos (VS 44), der gegen Ende des
5. Jahrhunderts schrieb (vgl. W. Burkert, Weisheit und Wissenschaft, Nürnberg
1962, S. 218: "um oder kurz vor 400 v. ehr."), muß hier ausgeklammert werden,
obwohl die Athetese E. Franks (Plato und die sogenannten Pythagoreer, Halle,
S. 1923 [Nachdruck Darmstadt 1962]), der die Bruchstücke insgesamt der Mitte
des 4. Jahrhunderts zuweist, inzwischen stark erschüttert worden ist (vgl. z. B.
W. Burkert, a. a. 0., S. 203 ff.; 222 ff., bes. 232 ff.; K. v. Fritz, Art. Philolaos im
Lexikon der Alten Welt, ZürichJStuttgart 1965, Sp. 2301). Das Fragment beginnt
mit einem typischen Eingang vom Typus der Anonyma: "Hinsichtlich ,Natur'
und ,Harmonie' verhält es sich so •.. " (:n:El'lllf: cpuO'WC; ?tul o.l'Jl.ovluC; mÖE EXEL ...).
Unverkennbar also die stereotypen Topoi" Themaangabe" und "ankündigendes
Demonstrativum" (was dafür sprechen würde, Fragment 6 als Fragment 1 zu
zählen). Auch was auf diesen Einleitungssatz folgt, steht mit der traditionellen
Topik in Verbindung: es ist eine Reflexion über den Grad der Relevanz mensch-
licher Erkenntnismöglichkeit hinsichtlich der CPUO'LC; 'tiiiv :n:l'uyJl.Cl'tOOV, in der Grund-
tendenz - Gegenüber-Stellung göttlicher und menschlicher Erkenntnis - der
Alkmaionschen Reflexion (s. oben S. 32; vgl. auch den Eingang von Protagoras
Schrift 1lEl'litEiiiv", VS 80 B 4, oben S. 68 f.) verwandt (0. Jl.8V ~O''tch 'tiiiv :n:l'UYJl.Il'tOOV
a
alöwc; EO'O'u ?tul ulmx Jl.EV CPUO'LC; ~Eluv yu ?tul o"?t aV~l'oo:n:lvTJv hI:\EXE'tUL yviiiO'w
:n:J...Eov yu 1\ lSn o"X oI6v 't' 1tv OM8V 'tiiiv Eöv'toov ?tul YLYVOOO'?tOJl.EVOOV ucp' o.Jl.iiiv
yu YEVEO'~Ut Jl.~ uJtUl'XouO'UC; 'tiic; EO''toiic; 'tiiiv :n:l'UYJl.Il'tOOV, EI; mv Q'UVEO''tU /)
?t60'Jl.0C;, ?tul 'tiiiv JtEl'uLV6noov ?tul 'tiiiv cJ.:n:Ell'OOV. e:n:El ÖE ...). Einer Umstel-
lung des Fragments B 6 steht nun freilich das ausdrückliche Zitat des Diogenes
Laertios im Weg, der Fragment B 1 - in dem kein einziger der bekannten Topoi
auftaucht - expressis verbis als "Anfang" bezeichnet (mv cil'X~ 1\ÖE' 0. cpuO'tC; ...
o.l'Jl.6X~TJ EI; ...). Wollte man dieser überlieferung trauen, so gäbe es nur eine
Möglichkeit: Fragment B 6 müßte an anderer Stelle des Werkes gestanden haben -
das könnte aber angesichts der "Massierung" von Eingangstopoi nicht irgendeine
beliebige, sondern nur eine durch die Disposition ausgezeichnete Stelle gewesen,
also bei einem thematischen Neueinsatz (etwa zu Beginn von Buch 2 oder 3, falls
das Werk tatsächlich aus drei Büchern bestand).
Viel wahrscheinlicher erscheint indes, daß bei Diogenes ein schlampiges Zitat
vorliegt, sei es, weil schon sein Gewährsmann (Demetrios von Magnesia h
'OJl.oovuJl.0tC;) flüchtig arbeitete, sei es, weil er dessen Angaben mißverstanden hat;
daß er das Werk des Philolaos selbst gelesen hat, erscheint nach seinem Abriß
ganz ausgeschlossen. Burkert geht auf die Frage der Umstellung nicht ein, obwohl
er S. 237, Anm. 64 a, auf den parallelen Eingang von IIEl'L tEl'Tic; v60'0u verweist,
85
dem Anonymus, der uns die ~tOOOL 'A6yot erhalten hat, zeitlich noch
recht nahe; es dürfte etwa in der Mitte der neunziger Jahre des 4. Jahr-
hunderts zu lokalisieren sein: Protagoras 315 c. Dort erzählt Sokrates,
er habe im Haus des Kallias unter den daselbst Hof haltenden Sophi-
sten auch Hippias aus Elis gesehen, der, auf einem Thron sitzend, einer
Schar wißbegieriger Zuhörer Fragen beantwortete: "Sie schienen dem
Hippias über die ,Natur' und die Himmelserscheinungen verschiedene
astronomische Fragen vorzulegen, und er ... ging mit einem jeden das
Gefragte durch und zergliederte es." (Ec:patvOVto M 3tEQL C:PVOEWC; tE
y.at nllv ~lEtEWQWV UOtQOVOfltKU ana ötEQwtiiv tOV cI3t3ttav, {) ö' Ev
{}Q6vql xa{}1]flEvoc; EKUOtOlC; a'Ötwv ÖtE'KQtvEV 'Kat ÖtE~ÜEt 'tu EQw'twflEva).
Hier begegnet zum erstenmal die :1tEQt c:puoEwc;-Formel ohne attribu-
tiven Zusatz, freilich immerhin mit einem Kontext, der den Umkreis
des Begriffes C:PUOtC; in einen Zusammenhang mit der Erklärung von
Himmelserscheinungen bringt, also in der Tat in eine in prägnantem
Sinn "naturphilosophische" Richtung weist. Bedauerlicherweise läßt
aber die Stelle keine eindeutige Schlußfolgerung darüber zu, in wel-
chem Verhältnis C:PUOtC; einerseits und 'tu flE'tEwQa andererseits zueinan-
der stehen: sind beide gleichrangig, d. h. zwei voneinander unabhängige
"Disziplinen", oder ist die Erforschung 'tWV flE'tEWQWV als Teil der
c:puotc;-Erforschung gedacht? Jedenfalls steht soviel fest, daß auch in
einer Erörterung 3tEQL C:PUOEWC; astronomische Fragen zu beantworten
sind8 •
sondern hält an Fragment B 1 als Beginn fest, unter Hinweis auf das auffallende
altertümliche ÖE (S. 234 m. Anm. 73) in B 1, das aber, wie er selbst meint, auch
an ein roÖE in einem verlorenen Einleitungssatz angeschlossen haben könnte: eine
Abwägung der Gründe für oder gegen B 1 oder B 6 als Anfang zeigt jedoch ein-
deutig das übergewicht für B 6.
Von Interesse in unserem Zusammenhang bleibt der Text also auf jeden Fall,
zumal auch die Verfechter der Unechtheit den "Philolaos"-Bruchstüdt.en attestie-
ren, sie machten stilistisch einen altertümlichen Eindrudt. (Wilamowitz, Platon,
Bd. 2, Berlin 31962, Hg. R. Stark, S. 90; E. Frank, a. a. 0., S. 306): entweder hat
ein Autor um 400 v. ehr. im Stil seiner Zeit geschrieben, oder ein Adept aus der
Mitte des 4. Jahrhunderts hat sich den Stil einer vergangenen Epoche zu eigen
gemacht. Das zweite wäre ein nicht unverächdicher Hinweis dafür, wie stark
sich die Eingangstopik der Titelersatzformen als typisch für die buchgeschichdich
frühe Epoche dem literarhistorischen Bewußtsein eingeprägt hatte.
S Das in der vorigen Anmerkung genannte Philolaosfragment (VS 44 B 6) nimmt
eine ähnlich eigenartige Zwischenstellung ein: einerseits ist qnjoL'; absolut ge-
braucht, andererseits steht sie aber doch in so engem Konnex mit d E01:W 1:ÖJV
3tQaYllunov, daß der Gedanke an "synonymische" Xquivalenz, gepaart mit dem
Stilphänomen der "Versparung", nicht ungerechtfertigt erscheint; dafür spricht
auch die folgende Explikation 1:ii,; E01:oii,; 1:ÖJV 3tQaYIl(J.,;oov, EI; rov 0 Uv E0 1: a
o xoollo,;: OUVL01:ao{taL als definitorischer Teilaspekt der !pUOL'; begegnet wieder
86
Das folgende Testimonium, ein Abschnitt des Lysis-Dialogs, ist
chronologisch kaum weit von dem Passus aus dem Protagoras entfernt.
Im Verlauf des zweiten Versudles einer q>lAlu-Definition sagt Sokrates:
"Hast du nidlt auch schon Sdlriften der weisesten Männer angetroffen,
die dasselbe sagen, nämlich daß notwendigerweise immer das Gleiche
dem Gleichen befreundet ist? Das sind ungefähr die, die über die
,Natur< und das All reden und schreiben." (ouxoüv XUL 'to'Le; 'tWV ooq>w-
't(!'tWV o'UYY(la~I~IUoLV Evn:nJxrpme; 'tUÜtu uu'tu AtYO'UOlV, ön 'to Ö~OLOv 't<p
o~ot<p uvayxl] UEL q>t7,ov EtvUl' dOLV M :1tOU Oii'tOl 0 t :1t EQL q>v 0 EWe; 'tE
')tUL 'tov ÖAO'U ÖlUAEy6~EVOl XUL YQCtq>OV'tEe;, 214b). Diese Stelle
erinnert in zweifacher Hinsicht an den sophistischen Anonymus: ein-
mal, weil sie q>UOle;- und All-Begriff miteinander in Verbindung bringt,
zum anderen, weil sie ausdrücklich von auf dieses Gebiet "spezialisier-
ten" Männem spricht (vgl. 0 JtEQL q>UOLOe; 'twv u:1tav"twv dowe;). In beiden
Fällen geht aber das in den Sätzen Platons Gesagte über die Angabe
des anonymen Autors hinaus. Zum einen ist dort von der "q>VOle; aller
Dinge (oder: des Alls)" die Rede, hier dagegen von "q>VOle; und All";
wiederum also, wie schon in der Protagoras-Stelle, ist q>vme; als "abso-
luter", selbständiger Begriff gebraudlt, der keiner näheren attributiven
Erläuterung bedarf, und wiederum ist der Terminus mit einem Kom-
plementärbegriff gekoppelt, wobei wiederum prima vista nicht zu ent-
scheiden ist, wie sich beide Begriffe und Vorstellungen zueinander ver-
halten. Zum anderen ist hier im Lysis zum erstenmal definitiv bekundet,
daß es Prosaschriften (o'UYY(lU~~u'tu) gibt, die sich eben mit diesem
Thema :1tEQL q>VOEwe; 'tE Y.UL 'toü öAOU befassen (ot.. . OlUAEY6~EVOl XUL
YQUq>OV"tEe;) - beim Anonymus hingegen ist die q>VOle; 'tWV U:1t<IV'tWV
lediglich als Gegenstand der geistigen Aneignung, nicht der literari-
schen Außerung betrachtet.
Die für uns entscheidende Frage lautet nun: Ist mit der Wendung
ot :1tEQL q>UOEWe; 'tE XUL "tov öAou ... WUq>OV'tEe; schon implizit ausgedrückt,
daß zur Zeit der Abfassung des Lysis Prosaschriften mit dem Titel
IIEQL q>UOEWe; im Umlauf waren? Um die Gefahr einer übereilten posi-
tiven Antwort zu vermeiden, tut man gut daran, sich an die Herodot-
Stelle zu erinnern.(2, 23), an der vom 0 :1tEQL 'tov 'Qxwvov At~ue; die
Rede ist 9 : beide Formulierungen stehen auf derselben Stufe, denn mit
87
Ä€~a~ 1St zweifelsohne ebenfalls schrifHiche Außerung gemeint; und
schon bei der Besprechung der Herodot-Stelle war zu bemerken, daß
nicht das mindeste darauf hindeutet, daß mit der JtE(lL-Formel der
Rahmen einer gewöhnlichen Inhaltsumschreibung gesprengt würde10 •
Etwas anderes kommt hinzu: der von Platon möglicherweise zitierte
Titel müßte, da es sich um eine ganze Reihe von Autoren handelt, für
alle gleichermaßen JtE(l1. qnJOE(J)~ '>tal. TOU OAOU gelautet haben. Das ist
aber ganz unwahrscheinlich, da ein solcher Doppeltitel nicht einmal für
einen einzigen Autor bezeugt ist - bei dem Reichtum an antiken Titel-
spekulationen ein geradezu unumstößliches Indiz. Oder aber Platon
müßte zwei Titel, einen IIE(lL qnJ(JE(J)~ und einen IIE(lL TOU OAOU im Auge
gehabt haben: dagegen spricht erstens, daß IIE(lt TOU OAOU von der anti-
ken doxographischen Tradition überhaupt nur einmal als Titel genannt
wird, und das relativ spät und innerhalb der ohnehin suspekten über-
lieferungs geschichte des Pythagoras (Diogenes Laertios 8, 7 hat die
Nachricht von Herakleides Lembos, der unter Ptolemaios VI. Philo-
metor [reg. 181-145] die Philosophiegeschichte des Sotion epito-
mierte); zweitens spricht dagegen, daß das "TE '>tat" gerade das Gegen-
teil einer disjunktiven Beziehung, nämlich eine besonders enge Zusam-
mengehörigkeit, auszudrücken pflegt. Eben diese enge Kopulierung
VOn <p"(Jt~ und TO OAOV ist aber nach all dem der stärkste Hinweis dar-
auf, daß wir es in der Formulierung JtE(lL <p"(JEro~ TE '>tat .OU OM" nicht
mit einem Titelzitat, sondern mit einer pleonastisch gefüllten Thema-
angabe zu tun haben - was sich schließlich unter einem letzten Ge-
sichtspunkt bestätigt, nämlich in der Wendung BtaAeyO!lEVOL '>tal. Y(la-
<pOV"tE~: denn BtaAEY0!lEVOL meint eindeutig "gesprächsweise", "in der
mündlichen Erörterung"l1, und für einen solchen Fall ist eine Titel-
angabe eo ipso sinnlos.
Andererseits kann man natürlich die Möglichkeit nicht von der
Hand weisen, daß die von Platon angesprochenen oUYY(la!l!la"ta die
88
Begriffe nE(l1. <pucrEffie; oder nE(ll. 'tOÜ ÖAOU, wenn schon nicht im Titel, so
doch wenigstens vielleicht innerhalb des Textes programmatisch an
profilierter Stelle - etwa nach bewährtem Muster als" Titelsurrogat" -
verwendet haben könnten12 • Oder allgemeiner gesagt: es erhebt sich
an dieser Stelle die Frage, ob Platon den Terminus "nE(l1. <pUcrEffiC;" in
dem vorliegenden absoluten, d. h. attributiv nicht näher erklärten
Sinn selbst geprägt hat oder ob er einen bereits vorgeprägten, in der
philosophischen Diskussion üblichen Begriff übernimmt.
Darauf gibt ein dritter Passus, an dem in einem von Platons Dia-
logen die nE(l1. <pucrEffie;-Formel begegnet, ziemlich eindeutig Aufschluß.
In dem Rückblick auf die eigene philosophische Entwicklung, der dem
Sokrates im Phaidon (Mitte bis Ende der achtziger Jahre, vielleicht
auch erst in den siebziger Jahren entstanden) in den Mund gelegt ist,
bekennt Sokrates: "Wir müssen also ganz allgemein die Ursache von
Werden und Vergehen untersuchen ... Als ich jung war, verspürte ich
einen seltsam starken Drang nach diesem Wissen, das sie bekanntlich
die Erkundung über die ,Natur' nennen; denn es schien mir etwas
Außerordentliches zu sein, von jedem (Ding) die Ursachen zu kennen,
zu wissen, weswegen jedes einzelne entsteht und weswegen es vergeht
und weswegen es existiert." (ÖAffiC; YU(l ÖE'i: nE (l 1. YEVe cr Effi e; xa I.
<p ~ 0 (l ä e; • it v at.t a v lhan(laYf.la.Eucracr~aL... EYW ya(l. .. veoc; wv
~auf.lacr.&c; wc; EnE~fl1'jcra .aut1'jC; .1')e; O'o<pLae; flv ö~ XCXAOÜcrL nE (l I.
<pUO'Effie; LO'to(llcxv· "nE(l~<pcxvOC; ya(l flOL EMxEL ELvCXL, döEvCXL .ae; CXhLCXe;
Exacr'tOlJ, ÖLU tL Y(YVEtCXL ExcxcrtOV xcxl. ÖLU .t Un6AAlJtaL xcxl. ÖLU
tl EO'.L, 95e/96a). Hier bestätigt sich nicht nur, daß für Platon das
attributlose "nE(ll. <pVO'EffiC;" offenbar schon stereotyp ist, sondern dar-
über hinaus wird ausdrücklich gesagt, daß dahinter ein geläufiger Aus-
druck steht, der ganz allgemein und verbreitet (ö~) auf die natur-
philosophischen Bemühungen angewandt wird: man nennt sie die
LO'tO(lLCX nE(l1. <pucrEffie;. Gegenstand dieser "Naturforschung" ist die Er-
gründung (a) der Ursachen von Werden und Vergehen der Dinge und
damit (b) der Ursachen ihrer Existenz. Wir erinnern uns, einer ähn-
lichen Formulierung schon einmal im Zusammenhang mit einer "nE(ll.
<puO'Effie;"-Formel begegnet zu sein: vom Anonymus der IhcrO'ol. A6yOL
wurde das Bildungsideal des MVCXC1~CXL nE(l1. <pUcrLOC; .&V änavtffiV WC; tE
EXEL xal. WC; EYEvE'tO ÖLMO'XEV aufgestellt. "we; EyeVEtO" - das entspricht
genau der etwas fülligeren Platonischen Wendung nE(l1. YEvecrEffiC; (xal.
12 Was freilich für alle diese ouyygalllla,;a generell voraussetzen oder postulieren
zu wollen unsinnig wäre.
89
qr6oQii;) 'tlJV ahtav und /lul 'tt ytYVE'tUL (Kat /lUI 'tt UltOAA:lJ'tUL), und ebenso
korrespondiert ,,00; EXEL" mit dem Platonischen /lul 'tt Eanv: beide Male
geht es um die Erklärung des gegenwärtigen Zustands der Dinge in
Verbindung mit einer Aufdeckung ihrer Genese.
Eine ganze Reihe weiterer "ltEQt ql1)aEro;"-Stellen begegnet im Pla-
tonischen Spätwerk, also in Dialogen aus der Zeit nach 365. Besonders
eng mit den bisher besprochenen Abschnitten verwandt zeigt sich ein
Satz aus dem Philebos: "Und wenn einer glaubt, eine Untersuchung über
die ,Natur< anzustellen, so weißt du ja, daß er sein Leben lang immer
Untersuchungen anstellt über die Verhältnisse in diesem Kosmos hier,
wie er geworden ist und wie er etwas erleidet und wie er es bewirkt.«
(Et 'tE Kat ltEQt q)'l)aEro; lJYEL'tUt n; tlj'tELV, ota{}' on 'ta ltE(lt 'tOV
Koa~lOV 'tOV/lE, o:rcu 'tE I' E1'0 VE v Kat o:rcU :rc!l aXEL n Kat o:rcu Jt 0 LEi:,
'tUii'ta tlj'tEL /lLa ßtOlJ; 59 a). Auch hier wird wiederum die Erfor-
schung der - attributlos absolut verstandenen - <puaL; unter dem
Doppelaspekt "Werden in der Vergangenheit" (oJtU YEYOVEV) und
"Sein in der Gegenwart", aufgespalten in eine aktive und eine passive
Komponente (oJtU Jt!laXEL, oJtU JtOLEL) gefaßt; statt von [a'tO(lta ist dabei
im Philebos mit leichter Synonymverschiebung von tlj'tELV die Rede,
genau wie an einer Stelle in den Nomoi (891 c), wo über Leute gespro-
chen wird, die Feuer, Wasser, Erde und Luft: für die Grundprinzipien
des Alls (Jt(lCina 'tmv :1tclV'troV) halten und dies dann die ,Natur< nennen
('t1)V <puaLV OvollcltELV), was zu dem verächtlichen Resümee Anlaß gibt:
"Haben wir nun nicht, beim Zeus, sozusagen die Quelle der unsinnigen
Vorstellung all derer gefunden, die sich jemals mit den Untersuchungen
über die ,Natur< abgaben?" (d(l' oi'iv :1tQo; ß.LO; oIov :1tljY~v nva uvolj'tOlJ
öO;lj; aVlJlJ(I~KallEv tlv{}(lW:1trov O:1tOaOL :1twJton; 't mv :1t EQ t <p u a Ero;
E<p~'ljJaV'to tlj'tljllcl'troV). Wie Sokrates im Phaidon bekennt, daß er
schließlich über die [a'tO(lta :1tE(lt <puaEro; hinausgewachsen ist, so werden
auch in den Sätzen aus Philebos und Nomoi die tlj't~lla'tU :1tE(lt <puaEro;
offensichtlich als etwas behandelt, von dem sich Platon deutlich distan-
zieren möchte: im Philebos gibt der Kontext zu verstehen, daß Philo-
sophen dieser Art nur den Bereich des Scheins ('ta :1tE(lt l\O;av)13 unter-
suchen, in den Nomoi wird ihre Bemühung in unverhüllten Worten
abqualifiziert. Man darf also beide Abschnitte parallel verstehen: und
das ist im Hinblick auf die genannte Phaidon-Stelle insofern bedeut-
sam, als auch Nomoi 891c zu erkennen gibt, daß die Charakterisierung
13 Die M!;u ist für Platon der Kardinalantipode der cl1..T)1'tELU, um die er sich bemüht;
vgl. Verfasser, Platon. Der Schriftsteller und die Wahrheit, München 1969, passim.
90
dieser " Untersuchungen " mit dem Begriff der "cpuoL~-Erforschung"
eine nicht von Platon stammende Benennung darstellt14 .
Der Terminus "m:QL CPUOE(o~", mit dem im Protagoras der Sophist
Hippias, in den Nomoi Männer wie Empedokles (der seiner Kosmolo-
gie ja eben die vier von Platon erwähnten Elemente zugrunde legte)
definitorisch umschrieben werden, ist demnach bei Platon gewisser-
maßen immer als in Anführungsstrichen gesagt zu hören. Das unter-
streichen auch Sätze wie Philebos 44 b, wo es heißt, es gäbe in Fragen
über die ,Natur' angesehene Leute, die die Existenz der Lust leugneten
('KaI. !luÄa ÖELVOU~ ÄEYO!lEVOV~ TU :n: EQ l. cp U0' LV, OL TO 3taQu:n:av lWOVU~ 011
cpaoLV EiVaL); oder Phaidros15 26geff., wo Sokrates ironisch äußert, in
allen großen Disziplinen müsse man zwangsläufig immer auch recht
hochtrabend von der ,Natur' reden (3tiioaL GaaL !lEYUÄaL TWV TEX,VWV
:n:QOOMOVTaL aöoÄEOx.ta~ 'KaI. !lETE(OQoÄoyta~ <puaE(o~ :n:E Q L), was er dann
anschließend auch seinerseits tut, indem er sich eine Außerung des Arz-
tes Hippokrates über die ,Natur' zu eigen macht ('l/Jvrr]<; o'Öv CPUOLV
a~t(O~ ÄOyov 'KamvoytaaL O'LEL övvaTOV EivaL aVElJ Tyt~ Toil BÄov cpu-
aE(O~16; - Et !ltV 'I3t:n:O'KQUTEL YE TCi> TWV 'Ao'KÄT}:n:wöwv 8EL TL 3tdtEo{taL,
ouM 3tEQl. (1(O!laTO~ aVEv Tyt~ !lE{tOöOV ·taUTT}~ ... - To TotVlJV 3tEQl. cpu-
OE (0 ~ O'K6:n:EL Tt 3tOTE MYEL 'I3tlto'KQUTT}~ TE 'KaL 0 aÄT}{}-~<; ÄOyo~. aQ' oux.
<ME öEL öLavoEla{taL 3tEQl. oTovoilv cpuaE(o~' 3tQWTOV !lEV ... , 270c).
Und diese reservierte Haltung gegenüber Diskussionen 3tEQl. CPUOE(o~
ist schließlich auch an den ganz wenigen Stellen noch zu spüren, in
denen Platon Aspekte seines eigenen Denkens in den Umkreis der
cpuOL~-Philosophie einbezieht: Timaios 57d ("Sie [die Vielfalt der
14 In diesem Sinn auch D. Mannsperger, a. a. O. (s. oben S. 85, Anm. 6), der die
Platonischen ztE(lL qJ1jaEOJ~-Stellen S. 57 ff. bespricht.
16 Daß der Phaidros zum Platonischen Spätwerk gehört, ist heute communis opinio,
vgl. Verfasser, Der Umfahrtsmythos des Phaidros, Der altsprachliche Unter-
richt 9/5, 1966, S. 60ff. (erneut in: Platon. Der Sduiftsteller und die Wahrheit,
S. 308 ff.), mit weiterer Literatur.
18 Es ist eine alte Streitfrage, ob hier die "Natur des Alls" oder "das Wesen des
Ganzen" gemeint ist: im ersten Fall hätte Hippokrates eine Einbettung der Medi-
zin in die .. Naturphilosophie" postuliert, im zweiten Fall wäre er als Vertreter
einer psychosomatischen Ganzheitsmedizin angesprochen (vgl. auch das unten
S. 94 ff. vorgeführte Zitat aus IIE(lL Q(lxatT]~ tT]'t(ltxii~). Vgl. zu den gegensätz-
lichen Positionen etwa W. Kranz, Platon über Hippokrates, Philologus 96, 1944,
S. 193 ff. (" Wesenheit des Ganzen"); H. Diller, a. a. O. (s. oben S. 40 f., Anm. 19),
S. 275 f. ("das Ganze" umschrieben als "Gegenstand der Behandlung zusammen
mit all dem, was zu ihm in einem aktiven oder passiven Wirkungsverhältnis
steht"); D. Mannsperger (s oben S. 85, Anm. 6), S. 255 ff. ("Allphysis als Zu-
sammenhang aller Dinge"). Weitere Literatur in der Platonbibliographie von
H. Cherniss, Lustrum 4, 1959, S. 139 f.
91
Grunddreiecke] muß betrachten, wer über die ,Natur< in einer wahr-
scheinlichen Rede reden wiIr', ~t; ÖTJ ÖEL {}EWQout; ytYVEO{}at mut; /tEJ..-
'A.ovtat; 1C EQt qn) 0' EW t; El,,,on 'A.oYOJ XQ~O'IlO'{}at, in unüberhörbarer An-
lehnung an den vom Charakter der ö6~a geprägten Begriff des El,"Wt;
/tii{}ot; aus dem Proimion des Dialogs, 29 cl) und 7.Brief 344 d ("ob ~un
Dionysios über die höchsten und ersten Dinge hinsichtlich der ,Natur<
etwas geschrieben hat oder ein Geringerer oder Größerer", Eh> oiiv
~LOVUO'LOt; EYQa1jJEv n 1:00V 1CEQt <pUO'EWt; l:iY.Qwv "at 1CQonwv ELtE nt;
EAUnwv EhE /tEt~WV).
Nimmt man alles das zusammen, vor allem die Abschnitte aus Lysis,
Phaidon, Phaidros, Philebos und Nomoi, so erkennt man: Platon ent-
lehnt nicht nur die Formulierung ,,1CEQt <pUO'EWt;" einer weit verbreiteten
Tradition, sondern schließt sich auch im Inhalt der Formel, in der Defi-
nition der LO'1:oQta 1tEQt <pUO'EWt;, bis hinein in wörtliche Details des Aus-
drucks einem gängigen Gebrauch an. Daß dem tatsächlich so ist (und
daß Platon keineswegs, wie man vielleicht mutmaßen könnte, von
dem Anonymus oder dessen Vorlage abhängt), läßt sich durch einen
Seitenblick auf zwei Stellen aus anderen Werken der Literatur um die
Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert belegen.
Der eine Passus ist eines der berühmtesten Euripidesfragmente: der
Preis des ßtOt; {}EwQlln"Ot; gegenüber dem ßtOt; 1tQa"1:t"ot;, den man mit
einiger Wahrscheinlichkeit der zwischen 412 und 408 aufgeführten
Antiope zuschreibt17• "Glücklich, wer die Kenntnis des Wissens erlangt
hat, wen es weder zum leidvollen Treiben der Bürger noch zu ungerech-
ten Taten drängt, sondern wer die alterslose Ordnung der unsterblichen
,Natur< betrachtet, wie sie entstanden ist und woher und auf welche
Weise. Bei solchen Menschen wird niemals die Sorge sitzen, die böse
Taten bereiten." (O'A.ßLOt; oO'nt; 1:ltt; LO'1:oQlat; / fO'XE /ta{}llO'tv, / /tlj1:E
1to'A.t1:00V E1tt 1t1)/t0O'uvllv / /tlj1:' El,t; &öt"OUt; 1tQa~Ett; 0Q/toov, / &A'A.> Mavatou
"a{}oQoov <p UO' EW t; J "00' /t °v &Y~Qwv, 1tfl 1: E O'uv E0' 1(1) / "a t 0{} EV18
"at 01tWt;. / tOLt; ÖE 1:0LOU1:0Lt; oMe1to't' alO'XQoov / fQyWV /tEAeÖ1)/ta
1tQOO't~EL,
frg. 910 Nauck). Viererlei erscheint unter unserem Gesichts-
winkel an diesen Versen wichtig: erstens der absolute Gebrauch von
17 Vgl. A. Lesky, Die tragische Didltung der Hellenen, Göttingen 21964, S. 188 f.;
B. Gladigow, Zum Makarismos des Weisen, Hermes 95, 1967, S. 420 f.
18 überliefert ist Ölt'!], was aber angesichts des kurz vorausgehenden lt'ii kaum mög-
lich ist; Meineke konjiziert ÖltOU; Öi}EV - das, wie sich in unserem Zusammenhang
zeigt, am besten in die q:,(J(JLS-Topik paßt - wurde von Wilamowitz vorgeschla-
gen, gebilligt von Wilhe1m Nestle, Euripides. Der Dichter der Aufklärung, Stutt-
gart 1901, S. 393, Anm. 75 (ohne Hinweis auf topische Parallelen).
92
CPUcrL~,zweitens die Verbindung von "CPUcrL~« mit dem Begriff ",'Kocr-
f.tO~"19(man vergleiche die Philebos-Stelle 59a), drittens die Explika-
tion des "absoluten" cpucrL~-Begriffs durch die aitiologisch-genetischen
Momente des "Woher" und des "Wie", viertens schließlich - und das
ist im Vergleich zu der um mindestens dreißig Jahre jüngeren Phaidon-
Stelle das Bemerkenswerteste - die Charakterisierung dieser CPUcrL~
Betrachtung als einer "Erforschung", eines "wissenschaftlichen" Wis-
sens, einer LcrTo(>ta. Der erste und der dritte Punkt unterstreichen, was
die Parallelen von ~LcrcrOL MYOL und Phaidon schon nahelegten: daß die
Grundaspekte dieses cpucrL~-Begriffs - nämlich die Erklärung des Seins
durch das Werden, der Gegenwart durch die Herkunft aus der Vergan-
genheit, des Wesens der Dinge aus ihrer ursächlichen Genese - in der
Tat topische Elemente der philosophischen Diskussion sind. Der vierte
Punkt erweist, daß auch der von Platon als zu seiner Zeit allgemein
üblich bezeichnete Ausdruck LcrTo(>La 3tE(>L cpucrEw~ für die "Natur"-
Erforschung im Phaidon schon auf eine mindestens dreißigjährige
Tradition zurückblicken kann 20 : er muß sogar bereits zu Euripides'
Zeiten in dieser oder einer ähnlichen Form als stereotype Bezeichnung
für Beschäftigung und Thematik der "Naturphilosophen" verwendet
worden sein, denn fraglos arbeitet der Tragiker mit Schlagworten21
seiner Epoche (andernfalls wäre die von ihm diskutierte Antithese für
das Publikum apokryph geblieben).
Eines besagt das Fragment des Euripides für sich genommen freilich
noch nicht: daß die Formulierung zu seiner Zeit schon ebenfalls genau
"tcrTo(>ta 3tE(>L cpucrEW~" gelautet hat. Seine Worte verraten uns zwar die
schlagworthaften Chiffren, aber nicht deren übliche Kombination. Es ist
daher nicht richtig zu behaupten, der Titel IIE(>L CPUcrEW~ "finde sich zum
erstenmal bei Euripides erwähnt"22, und zwar aus einem doppelten
19 Der Begriff 'X60'flOC; als Umsmreibung für das All smeint sim bei den Sophisten
großer Beliebtheit erfreut zu haben (vgl. Xenophon Apomnemoneumata 1, 1, 11
o 'XIXAOUflEVOC; uno -rc:iiv O'O<jllO'1:c:iiV y.60'floc;). Dom geprägt haben sie ihn nimt
(vgl. etwa Heraklit B 30 u. a.; s. VS, Bd. 3, Index s. v.).
20 Allerdings sollte man in Remnung stellen, daß vielleicht eine Rückprojektion ins
Todesjahr des Sokrates vorliegt: die Stelle würde dann die Situation um die
Jahrhundertwende spiegeln.
21 Aum 'XOO'flOC; gehört dazu, wie die oben in Anm. 19 erwähnte Xenophon-Stelle
zeigt.
'2 Diese Formulierung stammt von W. A. Heidel, llEpt <jlUO'EWC;. A Study in the
conception of nature among the Pre-Socratics, Proceedings of ehe American
Academy of Ares and Sciences 45,1910, S. 131, der sie fälsmlimerweise J. Burnet
(Early Greek Philosophy, London 21908, S. 14; deutsch: Die Anfänge der griemi-
smen Philosophie, LeipziglBerlin 1913, S. 11, Anm. 1) in den Mund legt: Burnet
verweist lediglim auf die parallele Diktion von Euripides frg. 910 und Phaidon
93
Grund: einmal, weil der Tragiker die Formel ,,3tEQL q)1JOEoo~" gar nicht
gebraucht, und zum anderen, weil selbst dann, wenn er sie gebraucht
hätte, noch nicht erwiesen wäre, daß er sie aus einem speziellen Buch-
titel abgezogen hätte - vorausgesetzt dazuhin, es gab diesen Titel über-
haupt bereits.
Daß aber zur Zeit des Euripides die Formel "tO'toQtll 3tEQL cpUOEoo~"
tatsächlich sehr wohl denkbar ist, lehrt die andere soeben angekündigte
Stelle. Sie stammt aus der hippokratischen Schrift Ober die alte Medizin
und enthält unter anderem auch den wichtigen Hinweis darauf, daß
diese Schlagwörter wie "mQL CPUOEoo~" usw. offenbar besonders in den
als "Sophisten" apostrophierten Kreisen beliebt waren: "Es behaupten
aber einige Arzte und Sophisten, man könne keine Kenntnis von der
Medizin haben, wenn man nicht wisse, was ein Mensch eigentlich ist ...
Die Behauptung dieser Männer erstreckt sich auf das Gebiet der Philo-
sophie, wie etwa Empedokles oder andere, die über die ,Natur' von
Grund auf geschrieben haben, was ein Mensch eigentlich ist und wie er
zum erstenmal entstanden ist und woraus er zusammengesetzt ist. Ich
aber meine dies: Was von irgendeinem Sophisten oder Arzt über die
,Natur' gesagt oder geschrieben worden ist, gehört weniger zur Medizin
als zur Schriftstellerei. Ich meine, über die ,Natur' etwas Sicheres zu
wissen komme nirgendwo anders her als aus der Medizin ... und ich
behaupte, von dieser Kunde genaue Kenntnis zu haben, was ein Mensch
ist und aus welchem Grund er entsteht und auch das übrige. Daher, so
scheint es mir wenigstens, muß ein Arzt notwendigerweise über die
,Natur' dies wissen und sidl von Grund auf zu wissen bemühen ... :
was ein Mensch eigentlich ist in Beziehung auf die Nahrung und die
Getränke und in Beziehung auf die anderen Gewohnheiten und wel-
chen Einfluß ein jedes von ihnen auf jeden Menschen ausübt ... "
(MYOllOL öE nVE~ hp:QOL ?tIlL OOCPLO'tllt, w~ ou?t EL1'] ÖllVIl'tOV L1']'tQL'Y.i)v dMvllL
öon~ !Li) OiÖEV ö 'tL Eonv av{lQoo3to~ ••. 'tdVEL M IlU'tOi:~ 0 Myo~ E~ CPLAO-
OOCPL1']V, ?t1l{hl3tEQ 'E!L3tEÖO?tAfi~ ;1 aA].OL OL 3tEQL CPUOLO~ YEYQclCPIlOLV E~
aQxij~ Ö 't L E0 'tL V av{lQoo3to~ ?tIlL ö 3t 00 ~ Ey Ev E't 0 3tQ<l)'tOV ?tIlL 0 3t 0 {I EV
OllVE3tcl Y1']. EYOO ÖE 'tO'ii'to !LEV, ÖOIl nVL ELQ1']'t1lL f] oocpLo'tfl f] L1']'tQ<P f]
YEYQIl3t'tllL 3t EQL cP U0 L0 ~, ~ooov VO!LLtoo 'tfl Ll]'tQL?tÜ 'tEXVU 3tQooi]?tELv f] 'tfl
YQllcpL?tfl. VO!LLtoo llE 3t EQL cp U0 L0 ~ YVWVIlL n OIlCPE~ OUÖIl!Lo{lEV aAAo{lEv
EiVIlL f] E~ L1']'tQL?tij~ ... Myoo ÖE 'tIlu'tl]V nl v t 0 't 0 QLl] V dMvllL, av{lQoo3to~
96 a, spricht aber nicht davon, daß Euripides hier einen Titel zitiere. Die frühest
bezeugte Verwendung von RE(lt q:ruO'ECJ)'Ö als einem naturphilosophischen Terminus
ist, wenn man Philolaos vorsichtshalber ausklammert, nach wie vor ßLO'O'Ot MYOL
8, 1 oder, wie das Folgende zeigt, der Anonymus TIE(lt o.(lXUL1]'Ö L1]'t(lLXii'Ö 20.
94
tL €OtLV 'KaL 1h' OLa~ at'tL<l~ YLV€1:aL 'KaL 1:&H.a a'KQLßEW~' E3td
1:01J1:0 YE !L0L ÖOY.€L &Vay:~aLOV EtV<lL LTJ1:(Iij} 3t€(IL <pVOLO~ dÖEV<lL 'KaL nuV'U
03tOUöUO<lL ffi~ €LO€1:<lL . . . 0 1: L T; E E0 H v (lV{}(IW3tO~ 3t(lO~ T;U EO{}LO!L€VU 1:€
y.aL mvo!L€va /taL 0 n 3t(lO~ TU (lAAa E3tLT;llÖEU!LaT;a 'KaL 0 n a<p' f'KUOT;OU
Exaonp OU!LßTJOET;<lL ... , II€(IL a(lxaLTJ~ LTJT;(ILY.ii~ 20). Die Bedeutsamkeit
dieses Abschnitts beruht auf mehreren Ursachen: zum einen stellt er das
früheste außerplatonische Zeugnis dar für den absoluten, d. h. nicht
attributiv mit T;mv <'bruvtwv, T;01J OAOU oder ähnlichem erweiterten
Gebrauch der Formel 3tE(lL <pUOEWC:;; zum anderen wird hier zum ersten-
mal außerhalb Platonischer Schriften philosophische Literatur (YE'YQU-
<paOLV, YEY(lant<lL) dezidiert als "Naturphilosophie" mit ebendiesem
Terminus 3tE(lL <pUOEW~ charakterisiert (daß damit allerdings nicht
Bücher mit dem Titel IIE(lL <pUOEW~ gemeint sind23 , wird aus dem
Textzusammenhang ebenso klar wie bei den ähnlich formulierten
Platon-Stellen); zum dritten verrät die Art der Explikation des <pUOL~
Begriffs wiederum deutlich ihre Bindung an die traditionelle Topik
(Doppelaspekt "Sein" und "Herkunft": hier: 0 TL Eonv, T;L Eonv, dort
03twc:; EYEVEtO, 03to{}€V ouvmuYTJ, ÖL' OLa~ ahLa~ yLv€t<lL); viertens schließ-
lich fällt auch hier anläßlich der 3t€(IL <Puo€wc:;-Diskussion wieder das
Stichwort I.OtO(lLa, wobei in der Wendung 1:<lutTJV TiJV l.oto(lLav das
Demonstrativpronomen durch die Kopulierung mit den kurz zuvor als
Explikation der <pUOL~ aufgetretenen Komponenten 1:L Eonv und ÖL' OLa~
ahLa~ mit größter Wahrscheinlichkeit darauf hindeutet, daß dahinter
als Folie eben die Formell.oto(lLa 3t€(IL <PUO€wc:; steht. Diese vier Momente
erhalten nun dadurch noch ein besonderes Gewicht, daß der Autor das,
was er über diese 3t€(IL <PUO€W~ I.01:O(lLa zu sagen hat, gar nicht als seine
ursprünglich eigene Ansicht äußert: denn er polemisiert ja offensichtlich
(wie der etwas gereizte Ton zeigt), und zwar mit großer und geschickter
rhetorischer Verve, indern er zunächst - im Vokabular (AEYOUOLV, 'Ka{}u-
3t€(1 ... Y€')'(Iu<paoLV, ooa ... YEY(I<XnTaL) der Sophistik und der Natur-
philosophen ("Empedokles oder andere") - die Gegenposition detail-
liert vorführt, um sie so dann mit ihrer eigenen Terminologie von seiner
Position aus ad absurdum zu führen ("Naturphilosophie heißt, die
Natur von Speisen und Getränken zu kennen").
Das bedeutet also: auch der Autor von IIE(lL a(lx.attl~ LTJT(lLY.ii~ zitiert,
23 Wie H. Diller, Der griechische Naturbegriff (vgl. oben S. 16, Anm. 18). S. 249,
glaubt, der den entscheidenden Unterschied zwischen den attributiv spezifizierten
Ausdrücken wie ItEQl ql1j(JLO~ clV{}QOOltOU usw. einerseits und der attributlosen
Form ItEQL qru(JE(J}~ andererseits verkennt (s. unten S. 107, Anrn. 44 und S. 113 ff.).
Xhnlich schon W. A. HeideI, a. a. O. (s. vorige Anm.), S. 81.
95
wie Platon und Euripides, di~ zeitgenössische Diskussion der l<J1:o(lta
3tEQI. <pUOEW; mit dem stereotypen topischen Schlagwortarsenal seiner
sophistischen oder iatrosophistischen Zeitgenossen. Im Gegensatz zu
Euripides freilich läßt sich bedauerlicherweise nur ungenau angeben,
welches zeitliche Stadium der 3tEQI. <puoEw;-Diskussion der Autor von
IIEQI. cl(lXalTJ; tTJTQLltii; mit seinen Außerungen repräsentiert: im allge-
meinen rechnet man diese Schrift, wie schon erwähnt24, zu den ältesten
des Corpus Hippocraticum, doch werden neuerdings auch Argumente
vorgebracht25, die dafür zu sprechen scheinen, daß dem Verfasser der
medizinischen Schrift entsprechende Platonische Gedankengänge ver-
traut gewesen sind. Die Frage kann im vorliegenden Rahmen nicht ent-
schieden werden; wohl aber ist die Erwägung am Platz, daß in bezug
auf das Verhältnis des Anonymus IIE(l1. clQXatTJ; tTJTQLltii; zu Platon die
Parallelität in der Formulierung der <puoL;-Anschauungen als chrono-
logisches Indiz ganz ausfällt26 : denn sowohl Platon als auch der Ver-
fasser der hippokratischen Schrift zitieren, wie als unabhängiger Zeuge
Euripides und bis zu einem gewissen Grad auch der Autor der ßLOOOI.
J..6YOL dokumentieren, erwiesenermaßen fremde Anschauungen, die
offensichtlich zur Zeit des späten Euripides schon genauso gängige
philosophische Münze waren wie noch für den späten Platon.
Wie immer die Chronologie von ITEQI. cl(lXatTJ; hJTQLltii; zu beurteilen
sein mag (vom Standpunkt der 3tEQI. <puoEw;-Diskussion spricht nichts
gegen eine Datierung ins letzte Viertel des 5. Jahrhunderts), so viel
steht jedenfalls aufgrund der einander ergänzenden Nachrichten von
Euripides, ßLOOOI. J..6YOL, IIEQI. clQXatTJ; tTJTQLltTi; und Platon fest: späte-
stens seit dem letzten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts ist die Termino-
logie der Charakteristik der <puoL;-Philosophie derart verfestigt, daß
,,3tEQI. <pUOEW;" von da an pointiert als Bezeichnung der Thematik der
Naturphilosophie dient.
96
Am Anfang der Apomnemoneumata umreißt Xenophon die Besonder-
heit des Sokratischen Philosophierens aus dem Gegensatz zu den natur-
philosophischen Bemühungen; und wiederum erscheint dabei der schon
als stereotyp bekannte Katalog charakteristischer Details der qru<Ju;-
Philosophie: "Er [Sokrates] sprach auch nicht über die ,Natur' des
Alls, wie die meisten der anderen, indem er betrachtete, wie der von
den Sophisten so genannte Kosmos beschaffen sei und aufgrund welcher
Notwendigkeiten die einzelnen Himmelserscheinungen entstehen, son-
dern er erwies im Gegenteil die, die über solche Dinge grübeln, als
Narren." (o'ÖöE YUQ JtE Q L "(1'jc; "( WV :n:a V"((0 V qJu <J EW C;, U:n:EQ "(WV
aAAwv OL :n:AEL<J"(OL, I)LEMYE"(O <JXo:rtWV ö:rt WC; 0 x <X A0 Ufl EV 0 C; -u:n:o "(WV
<JOqJL<J"(ÖW XO <J flO C; EJe EL x<XL "( ta Lv a va yx<x LC; h,<X<J"(<X YLYV E"(<X L
"(WV O'ÖQ<XVlWV, o.''I-],u x<XL "(ovc; qJQOv"(L~Ov"(<XC; "(U "(oL<Xlh<X flWQ<XLVOVWC;
97
durch das zugehörige Adjektiv ersetzt. Dasselbe findet man auch Meta-
physik r 3,1005 a32f. (f.l.OVOL yaQ lbovto :rn:QL tE t1i~ öAl'J~ CP{,(JE(()~
(J%OnELV xaL nEQL to'Ü OVtO~ [sc. trov q)1J(JLxiöv EVLOL]), wo durch die
Parallele von nEQL t'ii~ ÖAl'J~ CP{,(JE(()~ und nEQl to'Ü OvtO~ deutlich klar
wird, daß mQl tij~ ÖAl'J~ CP{,(JE(()~ im Sinn von nEQl tij~ to'Ü naVto~ CP{,(JE(()~
gemeint ist (vgl. die ganz genau so strukturierte Formulierung nEQl tij~
~(()LXij~ q>{,(JEW~ im Sinn von nEQl tii~ tiöv ~cPwv q>{,(JEW~, IIEQl ~cPwv f.J.OQLWV
1,5 = 645 a5 f.), einer Wendung, die Aristoteles, ähnlich dem Anony-
mus der ßL(J(Jol A6YOL und Xenophon, an anderem Ort exakt so ge-
braucht (nEQl f.J.€V o-ov 'tij~ 't0'Ü :T[avt'o~ <p{,(JEW~ ... üOtEQOV
€JtLO%E:T['tEOV, IIEQL o-uQavo'Ü 1, 2 = 268 bll ff.).
In der Verwendung der nEQL q>{,(JEw~-Formel durchaus verwandt mit
diesen Stellen sind zwei Außerungen in der Aristotelischen Physik, die
sich aber von den eben zitierten darin unterscheiden, daß die Formel
attributlos gebraucht ist: "Zu untersuchen, ob das Seiende eines und
unvergänglich ist, gehört nicht zur Untersuchung der ,Natur'" ('to f.J.Ev
O-oveLEvxalaxLVl'J'tov'toövoxonELvo-u nEQl q>{,(JEW~ €(JLLoxonELv, 1,2
= 184 b25 ff.); "nachdem sie [die Eleaten] sich zwar nicht über die
,Natur', aber doch zu ,Natur'-Problemen äußern ... " (ou f.J.11V aAA'
EnEL/)~ nE Q 1. <p {, (J' EW~ f.J.Ev ou, <pU(J'L%a~ /)' anoQLa~ (Juf.J.ßaLVEL AEYELV au'toL~,
1,2 = 185 a17ff.). BeideMale geht es um dieEiläuterung der Thematik
der Aristotelischen CP{,(J'L~-Philosophie, und zwar, wie die Erwähnung
des Eleatismus zeigt, vor dem Hintergrund jenes Philosophierens, das
wir summarisch als die vorsokratische "Naturphilosophie" bezeichnen.
Das ist sichtlich der gleiche Ansatzpunkt wie in den zuvor genannten
Metaphysik-Stellen, wo die Gestalt des Sokrates von dieser ganzen
Richtung abgehoben wurde oder einige der "Naturphilosophen" näher
charakterisiert werden sollten: eine Parallelität, die zeigt, daß auch
für Aristoteles, wie schon für Platon, offenbar kein wesentlicher Unter-
schied mehr besteht zwischen der attributiv gefüllten und der attribut-
losen nEQ1. <pu(J'E(()~-Formel: es sind jeweils Chiffren für den nämlichen
Verständigungsbereich.
Hält man hier einen Augenblick inne, so ersieht man schon aus diesen
wenigen Zitaten, daß. Aristoteles in seiner Begrifflichkeit in einem -
ihm bewußten - festen Traditionskonnex steht, in den er auch seine
eigenen naturphilosophischen Anschauungen einordnet. Das wird be-
sonders eklatant, wenn man nun jene Stellen ins Auge faßt, an denen
der Philosoph die schon durch Euripides, den Autor von TIEQ1. aQxaLl'J~
bFQLXij~ und dann durch Platon als gängiges Kennwort der philo-
sophiehistorischen Rubrizierung bezeugte Formel von der L(J'toQLa nEQl
q:I1J(JEW~ wieder aufnimmt, sei es wörtlich, wie in IIeQl OUQCLVO'Ü 3, 1
98
298 b 1 ff. (... <pu"€()()" on 1:11V :n:J,da1:11V (1'U~lßUL"ft 1: ij ~ :n: q~ L <p Ua EW~
ta1:O(lLa~ :n:EQt ow~uhwv EIvuL) oder in IIE(lt tcbw" IWQLWV 1,1 = 639
a12ff. (... Wa1:E ()ijAoV on xat 1:ij~ :n:EQL <puaLV t0"1:0(lLU~ OEi: nvu~
V:1tII(lXELV O(lOV~ 1:0W{J1:0V~ :n:(l0~ O{)~ aVU<pE(lWV &:n:OI\E~E1:UL TOV 1:(lo:n:OV 1:WV
()ftXVVf!EvW"), sei es, in der den eigenen Erkenntrlisansatz und -anspruch
unterstreichenden Variante ~ :n:E(lL <puaEw~ Ema1:1jf!TJ wie in IIEQl oUQu"ou
1,1 = 268 a1 ff. (1'1 :n:EQl <pUOEW~ E:n:LaTijf!11 aXEoov 11 :n:J,do1:11 <pULVE-
1:aL TLEQL 1:E OWf!U1:a xat f!EyHhj XUL 1:U 1:0U1:WV O{;OU :1tI1-3TJ 'Kut TU~ XLV ~UE~,
En O€ :n:E(ll 1:U~ a(lxa~, OOUL 1:il~ 1:0LUU1:TJ~ ouaLU~ EtalV· 1:WV YU(l <puaft
OVVW1:(01:W" 1:U f!E" Ea1:L OWf!U1:a xut f!Ey{;-31j, 1:U 1)' EXEL aWf!u xut
f!EYE{l-O~, 1:U 1)' U(lXUL 1:WV Exonwv EtaL") oder Physik 1, 1 = 184 a14ff.
(l)ijAov on xut Tij~ rrE(lt <puaEw~ E:n:LOTljf!l]~ :n:EL(lUTEO" I)w(lLaua{)uL
:n:QW1:OV 1:11 rrE(lt 1:U~ uQxa~) oder Physik 3,4 = 202 b30ff. (E:n:d 0' €a"tLV
11 :n: E(l t <p {, a EW~ E:n: L0 dW11 JtE(lL f!EYE{l-TJ 'KUL 'KLvl]aL" xut XQovo" ...
:n:(loaY)'Kov av Er11 1:0" :n: E(l i <p u a EW~ :n:(lUWa1:EVOf!EVOV {}EW(lijauL :n:E(lt
a:n:EL(lOV .•. ).
Was bei Platon aus dem Mund des Sokrates fast wie abschätzig
klingt (1:U{,1:11~ 1:Y)~ ao<pLu~ iJ" I)~ x.uAOUat :n:E(lL IjlUOEW~ t01:O(lLUV), das ent-
faltet sich bei AristoteIes als neues, reformerisches Diskussions- und
Forschungsprogramm. Das zeigt sich zumal in der "Definition" der
EmoTijf!l] :n:EQL <p{,aEw~, die der Philosoph TIEQL oueuvou 1, 1 = 268 a1 ff.
gibt: die topisch-traditionellen, bei Euripides, dem Verfasser von TIEet
aeXULTJ~ Ll]1:(lL'KY)~, dem Anonymus der ßwaOL AOYOt, Platon und Xeno-
phon auftauchenden komprimierten Formeln der LaToQLu :n:EQt <pUOEW~
Charakteristik (&~ 1:E EXEL ~mt w~ EYEvETO, :n:EeL YEvEaEw~ XUL
<p{l-o (lii~, () ta 1:1. Y LYVETU t E'KUa1:OV'KaL I) tU T t u:n:o n VTa t XUL I) LU
T t Ea"CL", rrfl 1:E avv Ean1 X.UL O{l-E V 'Kat o:n:w~, 0 TL Ea"CL V 'KaL
o:n:w ~ EY Ev HO :n: (l W1:01' x.ut o:n:6{l-E V avv Exa Y'll, Tl Ea"tL V 'KUL
()L' o'(a~ uhta~ YL"ETUt, orrw~ 0 'K6af!0~ EXEL 'Kat 1:LatV uvay-
x a L~ E'KaU1:U Y t Y VH aL TW" OUQUVLW") werden in ihre "konkreten"
Aspekte differenziert (UWf!U, f!EYE-3o~, :n:a{}TJ, 'Ktvl]aL~, aQxat), wobei
jedoch allenthalben die gängigen Prirpärformeln durchscheinen -
"uQxij" und ,,'K(v11at~" nehmen den Gesichtspunkt "YEvWL~" auf29 , in
ouutu ist der Gedanke.des "we; EXft" gefaßt, in dem "SXEW" und vor
allem in ,,1:W" fjHJUEL UVVW1:I01:WV" klingen wörtlich das "w~, o:n:we; SXft"
und das ,,:n:O UUVEa1:11" nach.
Dies alles zeigt, in welch weitem Umfang in der Aristotelischen
99
qJlJcrL~-Diskussion nicht nur die traditionelle 1CEQL q.nJcrEw~-Thematik,
sondern auch die traditionelle sprachliche 1CEQL qJlJcrEw~-Motivik weiter-
wirkt: es handelt sich um eine variable und überaus lebendige Adaption
auf breiter Basis. Für unser Problem der 1CEQL <pucrEw~-Buchtitel ist dieses
Faktum freilich weniger an sich bedeutsam, als vielmehr der Konse-
quenzen wegen, die die vielfältige Auseinandersetzung mit der alten
<pucrL~-Philosophie im Hinblick auf die Charakteristik der alten <pucrL~
Philosophen zeitigt: denn das ständige Umgehen mit den Anschau-
ungen (und den Schriften) der alten "Naturphilosophen" führt im
Sprachgebrauch des Aristoteles - und damit gewiß auch generell bei
den Diskussionen seiner um ihn versammelten Schüler - zu ganz be-
stimmten Begriffen und Wendungen, mit denen stereotyp Wesen und
Wirken der Naturphilosophen wie auch des Autors selbst, insoweit er
deren Themen wiederaufnimmt, bezeichnet werden. Diese Bezeichnun-
gen sind " <p'UcrLOAOYOL ", "<p'Ucruwt" und - als in unserem Zusammenhang
Wichtigstes - ,,01. 1CEQL <pucrEW~"30.
Dabei ist wiederum, wie schon bei den 1CEQL <pucrEw~-Formeln im allge-
meinen, gegenüber dem sprachlichen Usus seiner Vorgänger bei Aristo-
teles eine Weiterentwicklung der vorgegebenen Elemente zu beobach-
ten: bei Platon ist die verkürzte Form "ot 1CEQL <pUcrEW~" noch nicht
üblich, er sagt, entsprechend dem Herodoteischen <> 1CEQL "toi) 'QXEavoii
M;u~ oder Ausdrücken wie 1CEQL L11"tQLxii~ AEYELV ~ YQu<PELV, "tWV cr'UYYQU-
tjJuV"twv 1CEQL öLut"tTl~ UV-3QW1CtVlJ~, AEYOV"tWV U!J.<pL "t1i~ <pUcrLO~ "t1i~ av-3Qw-
1CtVlJ~, 3tEQL <pucrLO~ YEYQU<PUcrLV im Corpus Hippocraticum, detailliert
,,01. 3tEQL <pucrEW~ ÖlUAEy0!J.EVOl xaL YQu<povw;" u. ä. Bei Aristoteles da-
gegen stellt die partizipial ergänzte volle Form die Ausnahme dar (ot
1CEQL <pucrEW~"tL MYOV"tE~ Physik 8, 1 = 250 b15 f.)31, während die Kurz-
form die überwältigend bezeugte Regel ist ("t WV 3t EQ L <p Ucr EW~ 01.
°
1CAELcr"tPl, flEQL ui.cr%crEW~ 1, 436 a19 f. [vgl. <p'Ucrlxoii a17]; t ÖE :n: EQL
<pucrEW~ oLov 'E!J.1CEBoxA1i~, Metaphysik B 4, 1001 a12f.; 1COAAOL XUL "tWV
;tEQ L<pucrEW~, r 4,1006 a2f.; °t 1CEQ L<pucrEW~, 0 8, 1050 b24; XOLVOV
MYf!u "tWV 1CEQL <pucrEw~, K6, 1062 b25f. [vgl. EvtOL~ EX "t1i~ "tWV
100
qlUOWAOYOOV ö6~'Y]c; b21 f. 32 ]; dOL M xaL 1:WV nEQL CPUOLV OL ... , IIEQL 1:(1
°
~epa L<f1:oQLat3, 5 = 513 a9; L nE Q L cpuo EOO c;, Physik 1, 4 = 187 a35.
2,2 = 193 b29. 3,4 = 203 a16; vgI. 1:ep nEQL cP UOEOOC; {}EOOQ'Y]LlXep,
IIEQL ~<poov IlOQLOOV 1, 1 = 641 a29). Der Grund dafür, daß Aristoteles
so einhellig die knappere Ausdrucksweise bevorzugt - bei der durch:"
weg auch die attributive Erweiterung mü nanoc; oder 1:WV nunoov weg-
fällt -, ist der gleiche, der auch die Differenzierung in den Einzel-
aspekten der nEQL cpuoEooc;-Erörterung hervorgerufen hat, nur daß er
hier mit noch größerer Evidenz ans Licht kommt: es ist die ständige
Beschäftigung mit dem Gegenstand, die sich in den "Pragmatien", den
die Verhältnisse des mündlichen Unterrichtsdialogs relativ "ungebro-
chen" wiedergebenden" Vorlesungsskripten ", natürlich besonders ekla-
tant gespiegelt findet.
Daß die nur aus den Gegebenheiten häufiger und reger mündlicher
Diskussion verständliche, etwas saloppe brachylogische Formulierung
"OL nEQL CPUOEOOC;" eine Wortschöpfung des Aristoteles - oder sagen wir
genauer: des Aristotelischen Schulbetriebs - ist, wird man in Anbe-
tracht der überraschend reichen Zahl von Belegen bei Aristoteles und
der durchgängig anders lautenden, vom Corpus Hippocraticum über
den Anonymus bis zu Platon reichenden Gegenbeispiele mit einiger
Wahrscheinlichkeit annehmen dürfen. Als weitere Möglichkeit käme
wohl nur der mündliche Lehrbetrieb der Akademie in Betracht, von
dem es dann Aristoteles übernommen hätte. Dagegen spricht aber ein-
mal, daß dann doch wohl auch die Kurzformel "OL nEQL CPUOEOOC;" in die
Platonischen Dialoge Eingang gefunden hätte (was freilich wieder
durch den Hinweis einzuschränken wäre, daß Platon selbst in dem
Fall, wenn man im Schülerkreis von "OL nEQL CPUOEOOC;" sprach, in den
Dialogen den im gewöhnlichen Gespräch gebrauchten Ausdruck der
Umgangssprache durch den literarisch anspruchsvolleren "OL nEQL
CPUOEOOC; YQUCPOV1:EC;" ersetzt haben kann 38 : die Aristotelische Verwen-
32 Die weiteren Belege für <jlUO'WAOYOL und <jlUl1LXOL s. im Index Aristotelicus von
H. Bonitz, Berlin 1870 (mehrfach nachgedruckt).
33 Zwar enthalten zwei der zitierten späten Platon-Stellen ähnliche substantivierte
Präpositionalausdrücke: Phaidros 270 c und Philebos 44 b. An der ersten Stelle
ist ,0 :tEQt <jlUIJEOl'; <JXO:tEL ,l :ton AtYEL 'I:t:toxQ,,:t1]'; jedoch offenkundig ganz
vom Kontext bestimmt: das ",6" resümiert als Kurzformel die vorangegangenen
Ausführungen über die rechte Methode in <jluIJL.;-Fragen - "was sagt Hippokrates
in Zusammenhang mit dem erwähnten Problem der <jlU<JLC;". So bleibt als einzige
selbständige substantivierte Präpositionalformel bei Platon das singuläre öuvou.;
... ,a :tEQt <jlU<JLV: und gerade hier macht der Kontrast deutlich, daß man bei
Platon im Gegensatz zu AristoteIes nicht von salopp komprimierender Ver-
kürzung einer ursprünglich ausführlicheren Wendung sprechen kann, sondern nur
101
dung stammt ja aus "akroamatismen Smriften"). Zweitens und vor
~llem aber sprimt dagegen, daß Platon dieser ganzen Art von qnJ<1L~
Philosophie skeptism gegenüberstand, weil sie ihm zu wenig onto-
logism-prinzipiell ersmien; als Folie einer ständigen Auseinander-
setzung kamen für ihn daher die alten Naturphilosophen, mit der
einen bezeimnenden Ausnahme des Parmenideismen Eleatismus, viel
weniger in Betramt als für Aristoteles, der sim mit Bewußtsein in
deren Tradition stellt. Allerdings ist denkbar, daß sim einzelne Mit-
glieder der Akademie - vielleimt aum Aristoteles selbst - dennom
intensiv mit jenen Philosophen besmäftigten: um dies eindeutig negie-
ren oder bejahen zu können, sind aber unsere Kenntnisse vorn Plato-
nismen Smulbetrieb viel zu dürftig.
Die Annahme, daß die Kurzformel "oi. :n:EQL q)\J<1EW~" tatsämlim von
Aristoteles stammt, wird fast zur Gewißheit, wenn man nun zum
Smluß jene Aristoteles-Stellen ins Auge faßt, an denen nimt, wie zu-
vor, nur die Vertreter der <pu<1L~-Philosophie mit einer substantivierten
Präpositionalkurzforrnel marakterisiert werden, sondern darüber aum
deren philosophismer Gegenstand und schließlim sogar deren Werk.
So ist in dem bereits oben erwähnten Passus aus IIEQL (li.<1-1hl<1EW~
1,436 a20ff. davon die Rede, daß die meisten <pu<1L~-Forsmer (tö)v
:n:€QL <pV<1€W~ oi. :n:ÄEi:<1TOL) sim am Ende aum mit der Medizin befas-
sen (tE1..EvTö)<1LV ti.~ Ta :n:€QL i.(lTQLX'i\~), während umgekehrt die philoso-
phischeren unter den Arzten die <pu<1L~-Erforschung zur Grundlage
ihrer Disziplin machen (Ex Tö)V :n:EQL <pU<1EOO~ äQJ(ovTm): Aristoteles
verwendet hier also den Ausdruck Ta :n: EQ L <p U<1 EW~, parallel zu Ta
:n:EQL i.(lTQLX'i\~, zur Bezeichnung des Fachgebiets <pu<1L~-Forschung.
Auf derselben Linie liegt es, wenn Aristoteles in IIEQL scpwv 1l0QLOOV
unter leimter Abwandlung des schon bekannten stereotypen Urteils
über Sokrates34 sagt, zu dessen Zeit sei die "Erforschung der ,Natur'"
in den Hintergrund getreten zugunsten von praktischer Ethik und
politisch orientierter Philosophie (E:n:L ~ooxQ(hov~... ,<> ö E STJ H i: v
,a :n:EQL <pV<1€W~ 61....,1;€, 1, 1 = 642 a28f.)35.
102
Die Formel -ra 1[E(>L q),lllJ"EO)e; begegnet wieder an einer ganzen Reihe
anderer Stellen, und dort bezeichnet sie nun unzweifelhaft ein schrift-
lich ausgearbeitetes Werk. "Davon ist in den Büchern über die qJ{J(ne;
die Rede" ist eine Floskel, die mehrfach in der Metaphysik auftaucht
(-rEÖEW(>l")-rUL /-lEV o;';v Lxuvroe; 1[E(>L u',.rov ll/-liv Sv -roie; 1[E(>L qJUCJ"f,O)e;
A 3, 983 a33f.; cDv llflEie; SLo)(>lerUf-lEv Sv -roie; 1[E(>L qJuerEO)e;, A 4,985
al1f.; 1l~0) -rro" Sv -ro ie; 1[E (> 1 qJuerE 0) e; llf.lLv SLo)(>W~lEVO)v,A7, 988 a21f.;
E'l(>l")LaL Sv -roie; 1[E(>l qJuerEO)e; 1[E(>L ulhrov, A 8,989 a24; -ra /-lEV Sv
LO i e; 1[ E(> LqJ u er E0) e; E'l(>llTaL, M 9, 1086 a23 f.), und zwar immer im Sinn
eines Selbstzitates des Aristoteles 36 • Dies sind nun in der Tat die frü-
hesten Testimonien dafür, daß die 1[E(>L qn'l«1EO)e;-Formel verselbständigt
als Werkzitat - wenngleich zunächst nur für Werke des Aristoteles -
verwendet wird. Und wiederum liegt zusätzlich eine Besonderheit
darin, daß es sidl um eine Kurzformel handelt (nur gelegentlich wird
daneben noch die ausführliche Wendung -r 0 i e; :n: E(> LqJ Uer E0) e; A() Y0 Le;37
gebraucht, A 8,990 a7), die ihre Verwendung, wie man deutlich sehen
kann, dem häufigen Gebrauch verdankt.
den Terminus 1cn:opta variierenden Begriffes l;1J1:ELV aus Philebos 59 a und Nomoi
891 c), wo allerdings der Begriff charakteristischerweise noch "offener", .sum-
marischer" gedacht erscheint, also generell "die Beschäftigung mit Fragen der
IpUC1LI;" bedeutet, nicht pointiert "lpu<1Le;-Kunde" als genau umreißbarer Sektor
in der Gesamtheit der Wissenschaften. Auch hier also die Zuspitzung des Terminus
durch Aristoteles, die natürlich vor dem Hintergrund des Aristotelischen Wissen-
schaftssystems zu sehen ist, in das der Stagirit auch sein eigenes lpu<1Le;-Denken
einordnet.
38 Die Hinweise zielen nicht etwa nur auf unsere "Physik" des Aristoteles, sondern
ebenso auf ITEpt oupavoü und ITEpt YEVE<1EOOe; xat Ipitopiie;, vgl. die Nachweise
in den Kommentaren von W. D. Ross (Aristotle's Metaphysics, 2 Bde., Oxford
1924; Aristotle's Physics, Oxford 1932) zu den Stellen, wo auch auf die genau
parallele Zitierweise Ev 'tOLe; lpuoLxoie; ELp1J'taL verwiesen wird. In welch viel-
·fähigen Variationen Aristoteles seine "naturphilosophischen" Schriften zitiert,
zeigt der Index Aristotelicus von H. Bonitz, Sp. 98 a 27ff.; vgl. dazu auch
E. Nachmanson, a. a. O. (s. oben S. 10, Anm. 3), S. 13 f. - Einen kurzen über-
blick über die verschiedenen Aristotelischen Zitierformeln gibt E. Lohan, a. a. O.
(s. oben S. 10, Anm. 3), S. 34ff.
37 Von dieser ausführlichen Wendung aus betrachtet, könnte man natürlich auch
für die Formel Ev 'tOLe; :7tEpt IpUOEOOe; den Nominativ 01 mpl IpUOEOOe; (sc. Ä6YOL)
postulieren. Doch ist dies angesichts der durchweg personalen Verwendung der
ebenfalls recht häufigen Formel 01 :7tEpt qJUOEOOe; nicht eben wahrscheinlich. Das
griechische Ohr wird vermutlich, wenn beide Formeln unmittelbar benachbart
waren, bei Ev 'toie; :7tEpl qJUOEOOe; automatisch auf Neutrum "umgeschaltet" haben.
103
Lassen wir die besprochenen Zeugnisse noch einmal Revue passie-
ren.Euripides, die Autoren von LlLoooi Mym und IIEQi uQxutf]C; Lf]TQLXllC;,
Platon und Xenophon bekunden, daß es gegen Ende des 5. und am
Anfang des 4. Jahrhunderts üblich war, den Gegenstand der Natur-
philosophie mit der Formel zu umreißen, dieses Denken handle nEQi
qJ1JOEWC; oder nEQi <pUOEWC; Tmv amlV'twv. Ferner zeigen IIEQi uQxutf]C;
Lf]TQLXljC; und die Phaidon-Stelle, daß mit dieser Formulierung nicht
nur das Thema der philosophischen Betrachtung, sondern gleicher-
maßen das Thema der philosophisch-literarischen Außerung bezeichnet
wurde. Aristoteies übernimmt diese Ausdrucksweise, verkürzt jedoch
gleichzeitig die bis dahin in der Regel syntaktisch-ausführlichen Wen-
dungen zu charakteristisch "umgangssprachlichen" Kurzsiglen ohne
attributive Ergänzung - OL nEQi <pUOEWC;, Tel nEQi <pUOEWC; (bzw. h Tote;
nEQi <pUOEWC; [Mymc;]) -, mit denen schlagworthaft-summarisch die
Autoren, die nEQ1. <pUOEWC; schreiben, ihre Disziplin und ihre Schriften
apostrophiert werden können. ("Chronologisch-statistisch" betrachtet
zeigt sich also eine zunehmende Komprimierung und Straffung der
Ausdrucksweise, was vor allem darin anschaulich wird, daß die attri-
butive Ergänzung der Formel "nEQL <pUOEWC;" durch »Tmv amlvtWV"
u. ä. allmählich hinfällig wird - die attributlose Form besagt schon
bald dasselbe wie früher die ausführliche Wendung.)
Bei keinem der fraglichen alten Autoren jedoch - und das muß an-
gesichts des Ausmaßes der Beschäftigung mit diesen Dingen auffällig
erscheinen - erwähnt Aristoteles (wie bei sich selbst), er habe eine
Schrift mit dem Titel IIEQ1. <pUOEWC; geschrieben (was zum Beispiel an
der zitierten Stelle Metaphysik B 4, 1001 a12 ff. nahegelegen hätte,
etwa: OL ÖE nEQ1. <pUOEWC; olov 'E,l3tEÖOXÄ1lC; h .0 IIEQL <pUOEWC; EnLyQU<PO-
!LEvlp x.Ä.), ja er sagt nicht einmal ausdrücklich, dieser oder jener habe
eine Schrift mit dem Inhalt »nEQL <pUOEWC;" verfaßt (etwa: "h .0 nEQ1.
<pUOEWC;"). Wenn er sie zitiert, so zitiert er sie in den weitaus meisten
Fällen einfach mit dem Namen, wie er es auch bei Platon tut, von dem
er ja die Werke samt ihren Titeln kennt38 • Von dieser Gewohnheit
weicht er bei den »Vorsokratikern" nur an ganz wenigen Stellen -
alle Empedokles betreffend - ab, und gerade diese wenigen Stellen
zeigen seltsamerweise ausgerechnet nicht die Formulierung .el nEQL
<pUOEWC;, mit der Aristoteles die eigenen naturphilosophischen Werke zu
zitieren pflegt: "Er sagt in seiner Kosmopoiie ... [folgt frg. B 53]"
(J..EYEL yoüv Ev .ft xoo!Lonmt~ wC; ... , Physik 2, 4 = 196 a22); "wie schon
104
Empedokles in seinem naturphilosophischen Werk sagt ... " [folgt frg.
B 34] (WC1:JtE(l xaL 'Efl:JtEÖOXAii~ .•. Ev -roi:~ <pUC1U(Oi:~, Meteorologika 4, 4 =
381 b32 f.; ziemlich wörtlich wiederaufgenommen in den pseudoaristo-
telischen Problemata 21, 22 = 929 bIS f. WC13tEll xaL 'Efl3tEÖOxAii~
flE-ritVEY'KEV Ev -rOt~ qJUC1L'KOt~ Emo>v .•• [folgt frg. B 34]). Einmal also
Umschreibung durch das Sujet, d. h. durch Angabe des thematischen
Vorwurfs (XOC1flO3tOLia), das andere Mal durch die - gleichfalls thema-
tisch orientierte - Einordnung in die Gattung (<pUC1L'KCt oder qJUC1L'KOL
MYOL).
Im zweiten Fall sind wir nun in der Tat ganz nahe an dem späteren
Standardtitel IIE(lL <p{,C1E(o~, zumal wenn man bedenkt, daß Aristoteles
bei seinen Selbstzitaten die Formel Ta 3tEllL qrUC1E{J)~ eben mit diesem
Begriff <pUC1L'KCt zu variieren pflegt39: es hätte ohne weiteres geschehen
können, daß er auch beim Zitieren des Vorsokratikers gesagt hätte
'Efl3tEÖOKAii~ Ev TOi:~ (np) 3tEllL <p{,C1E(o~. Aber gerade daß er dies in diesem
Fall nicht getan hat, verrät, daß die in der späteren Doxographie so
stereotype Titulierung der Vorsokratikerwerke bis zu seiner Zeit noch
in keiner Weise verfestigt war.
Das alles zeigt: die sprachlichen Formeln, durch die die Schrifl:en der
Naturphilosophen zitierbar wurden, waren in der Aristotelischen
Schule auf jeden Fall vorhanden, ja sie sind - anders kann man die
überwältigende Zahl von Testimonien kaum deuten - aller Wahr-
scheinlichkeit nach dort entstanden. Schließlich ist auch kein Grund zu
erkennen, warum diese Formeln qJUC1L'KCt und Ta 3tEllL <p{,C1E(o~ - gege-
benenfalls sogar singularisch TO 3tEllL <p{,C1E(o~ - in den Schuldiskussionen
oder verlorenen Werken des MeisterS, wo erforderlich, nicht ebenso auf
alle vorsokratischen Schriften angewandt worden sein sollten wie
<pUC1L'KCt auf das naturphilosophische Gedicht des Empedokles und beide
Ausdrücke auf die entsprechenden Bücher des Aristoteies selbst. Ande-
rerseits zeigen gerade die Form und die Variabilität der Zitate, daß es
sich bei Wendungen wie Ta :JtEllL <p{,C1E(o~, TO 3tEllL <p{,C1E(o~ oder Ta qJUC1LKCt
nicht nur um eine Art von Titelzitat, sondern nach wie vor um eine
Inhalts-, odergenauer: um eine generalisierende Themaangabe handelt.
Damit sind wir aber nun auf den entscheidenden Punkt gestoßen:
denn ein Werk durch eine signifikante Themaangabe zu zitieren an-
statt mit seinem Titel ist nur notwendig und sinnvoll, wo ein Titel
nicht existiert: bei den Schriften des Corpus Aristotelicum, die weithin
vielschichtige Vorlesungsmaterialien darstellen, ist diese Vorausset-
105
zung sicherlich gegeben (zudem ist EV "toie; :7tEQL cpUO"EWe; ja summarisch
gemeint und zielt auf verschiedene Teile des naturphilosophischen
Corpus). Wenn nun die fraglichen Werke der vorsokratischen Natur-
philosophen, wie wir sahen, vor der Zeit Platons und Aristoteles' ver-
mutlich noch keine Titel trugen, wenn ferner mit nicht geringer Wahr-
scheinlichkeit die präzise Kurzformel OL :7tE(JL qJUO"EWe; / 1:(lrtE(JL qJUO"EWe;
erst von Aristoteles oder seinem Kreis geprägt wurde und wenn drit-
tens schließlich, wie im vorigen Abschnitt gezeigt, wohl erst in den
Bibliotheken von Akademie und Lykeion aus technischen Gründen das
Bedürfnis nach Titeln dieser Werke entstanden ist, dann wird man die
Annahme kaum mehr von der Hand weisen können, daß - um es zu-
nächst einmal vorsichtig zu formulieren - der Ursprung der :7tE(JL
qJuO"Ewe;-Titel im Raum der Schule des Aristoteles zu suchen ist;4°.
Dabei spielt es letztlich keine Rolle, ob man die Formulierung ,,"[(1
:7tEeL qJU<1EWe;" als Themaangabe oder als Titel auffaßt. Es ist im Griechi-
schen wie im Deutschen: ob man "seine Schrift über die Natur" sagt
oder "seine Schrift ,über die Natur"', das ergibt eine Nuance, die man
akustisch überhaupt nicht wahrnimmt, die also in der mündlichen
Diskussion gänzlich irrelevant bleibt und die daher erst in dem Augen-
blick Sinn hat, wo man sich schriftlich über ein Werk äußert - und in
diesem Fall wiederum müßte man als Prämisse die Existenz des Titels
als vorgegeben voraussetzen. Doch auch bei schriftlicher Außerung ist
die Nuance für den Griechen so gut wie nicht wahrnehmbar, solange
nicht durch einen präzisierenden Zusatz wie h nV ... E:7tLYQUqJO-
!!EvfP Klarheit geschaffen wird: bei scriptura continua und fehlenden
Differenzierungsmöglichkeiten durch Groß- und Kleinschreibung gibt
es keinerlei Unterschied zwischen den Formeln ,,1:(1 rtEQL qJUO"EWe;" und
,,"tel IIE(JL cpUO"EWe;". Die Konsequenz: ein absolut schlüssiger Beweis da-
für, daß der dezidierte Buchtitel IIE(JL qJUO"EWe; von Aristoteles auch
erfunden - und nicht nur inauguriert worden ist - läßt sich auf der
Grundlage des überlieferten Materials gar nicht führen.
Was sich dagegen begründet behaupten läßt, ist dies:
(1) Aristoteles ·oder sein Schulzirkel haben mit einem hohen Grad
an Wahrscheinlichkeit die Kurzformein OL :7tEQL qJUO"EWe; und "tel:7tE(JL
106
cpum::w<; als Kennzeichnung der Vertreter, der Disziplin und der Grund-
thematik der "Naturphilosophie" geschaffen.
(2) Aristoteles hat mit der Formel ta :n:EQ1. cpU<TEW<;, unter Umstän-
den -co :n:EQ1. CPV<TEW<; auch die Außerungen der einzelnen Naturphilo-
sophen individuell zitierbar gemacht, wenn nicht als Titelangabe, so
jedenfalls zumindest als Themaangabe der betreffenden Werke.
(3) Wenn Aristoteles die in seiner nachgewiesenermaßen großen
Bibliothek vorhandenen einzelnen Werke äußerlich durch irgendeine
Art von EmyQuqnl kennzeichnen ließ - und das Gegenteil ist eigent-
lich nur schwer vorstellbar -, so spricht nach den beiden vorgenannten
Punkten alles dafür, daß diese Kennzeichnung mit Hilfe des Gattungs-
titels I1EQ1. CPU<TEOJ<; geschah, etwa in der Form EMI1EL10KAEOY~
I1EPI (jlY~EQ~ oder, ausführlicher und den oben besprochenen 41
Modellen des früher üblichen "Titelersatzes" folgend, EMI1EL10KAE-
OY~ AKPArANTINOY TO / TA I1EPI (jlY~EQ~.
(4) Falls die Schriftenbetitelung tatsächlich erstmals im Lykeion
vollzogen wurde, würde dies auch erklären, warum im Kreis des alten
Peripatos selbst - wie die alten Zeugnisse lehren 42 - meist mit dem
Namen des Autors und nur selten (etwa bei Platonischen Dialogen)
mit dem Titel des Werkes zitiert wurde: man hielt sich an die bis dahin
übliche und vertraute (und bei Autoren mit nur einem Thema des be-
treffenden Werkes unzweideutige) Zitierweise, die bibliothekarisch
genauere Form war noch nicht "in Fleisch und Blut" übergegangen.
(5) Gleichfalls möglich - wenngleich weit weniger wahrschein-
lich43 - wäre eventuell, daß sich die drei vorgenannten Phänomene
bereits innerhalb der Platonischen Akademie angebahnt haben. Aller-
dings spricht keines der Platonischen Testimonien für diese Möglich-
keit, während die große Zahl von Belegen aus Aristoteles viel eher das
Gegenteil unterstreicht 44 •
41 s. 35 ff.
42 VgL die im Index Aristotelicus von Bonitz unter dem Namen der einzelnen Vor-
sokratiker angegebenen Stellen; ferner E. Lohan, a. a. O. (5. oben S. 10, Anm. 3),
S. 34ff.
43 S. oben S. 101 f.
44 Man braucht wohl kaum zu betonen, daß unter das generelle skeptische Verdikt
der IIEQl 1j11JCJEOOe;-Titel alle jene Titelformen nicht fallen, in denen nicht die
"Allphysis", sondern irgendeine "Individualphysis" apostrophiert wird, also
etwa das hippokratische IIEQl </JUCJLOC; (iv~Qom:ou (s. oben S. 42) oder der
Kritias-Titel IIEQt </JUCJEOOC; EQOO'toe; 1\ uQE'tiiiv. Diese Titelformen sind zumindest
als mögliche Themaangaben aus dem Eingang der jeweiligen Schrift nicht suspekt
- was allerdings natürlich nicht heißen kann, sie seien als authentisch, d. h. vom
Autor gewählte Buchtitel im strengen Sinn, gesichert.
107
9. DER üBERGANG DER ITEPI ~Y~EQ~-FORMEL IN DIE
DOXOGRAPHIE
Stimmt die Annahme, daß Aristoteles und sein Kreis als Urheber der
Titelsigle ITE(lt <pUOEOO<; zu gelten haben, dann ist natürlich zu fragen,
wie es kommt, daß diese Kennzeichnung eine solme Verbreitung finden
und geradezu stereotype Verbindlichkeit erlangen konnte. Dies im
einzelnen zu verfolgen kann im vorliegenden Rahmen nicht die Auf-
gabe sein; wohl aber sind einige kurze Hinweise auf wichtige "Schalt-
stellen" am Platz, die für die fast einhellige communis opinio der spä-
teren Doxographie verantwortlich sein dürften.
Die erste dieser Smaltstellen war Theophrast1 mit seiner "Philo-
sophiegeschimte", den monumentalen (JlUOLKWV M~UL in 18 Büchern.
Von diesem Werk hat, wie einst Hermann Diels gezeigt hat2 , ein gro-
ßer und entsmeidender Teil jener weitverstreuten philosophiehistori-
schen Nachrimten seinen Ausgang genommen, anhand derer wir heute
die vorsokratische Naturphilosophie zu rekonstruieren gezwungen
sind. Die ~UOLKWV M~aL aber sind innerhalb der Arbeit des Peripatos
konzipiert worden, als wesentlicher Bestandteil der von Aristoteles
angeregten universalwissenschaftlichen Bemühungen, denen auch Un-
ternehmen wie die genannten Politien oder wie die Mathematiker-
geschichte des Eudemos und die Medizingesmimte Menons ihren Ur-
sprung verdanken. Schon aufgrund der Umstände ihrer Entstehung
ist also zu vermuten, daß die ~UOLKWV M~aL in ihrer Darstellung und
Terminologie jenen Status repräsentieren, den wir im vorigen Ab-
schnitt als für Aristoteles und seine Schule typism erkannt haben.
Daß dies in der Tat der Fall ist, beweisen einige der wenigen in ver-
hältnismäßig ursprünglicher Textform erhaltenen Fragmente aus dem
Werk. So berichtet Diogenes Laertios (8,55): "Theophrast sagt, er
1 Smon von W. A. Heidel, a. a. O. (s. oben S. 93 f., Anm. 22), S. 80, Anm. 7, ver-
mutet, unter Hinweis auf das unten S. 110 genannte Theophrast-Zitat über
Thales.
• Doxographi Graeci, Hg. H. Diels, Berlin 1879, S. 102 ff.; vg!. auch H. Diels,
Leukippos und Diogenes von Apollonia, Rheinismes Museum 42, 1887, S. 7 ff.;
O. Regenbogen, Art. Theophrast, RE Supp!. 7, 1940, Sp. 1535 ff.
108
[Empedokles] habe dem Parmenides nachgeeifert und ihn in seinen
Gedichten nachgeahmt; denn auch jener habe seine Abhandlung über
die ,Natur' in epischen Versen veröffentlicht.« ('0 ÖE 8EoIJlQao"[o~
IIaQfl.EvLBou <pT]OL ~TJA{J)"[~V alm)v YEvEo{taL xaL fJ.LfJ.TJ"[~V EV "[OL~ :l1:oLllfJ.aOLs.
Kat YclQ EXELVOV EV ibtEOL "[ov nE(lL lJl"OEc.o~ E~EVEYXELV 'Aoyov, VS 28
A 9). Theophrast gebraucht hierbei die gleiche Formulierung, der wir
schon in der Aristotelischen Metaphysik (A 8, 990 a7: "tOL~ nE(lL IJl{,OEc.o~
MyOL~) begegnet sind, allerdings mit einem in unserem Zusammenhang
bedeutsamen Unterschied: bei Theophrast steht die Formel im Singular
und wird auf das einzelne Werk eines einzelnen Naturphilosophen an-
gewandt - die Stelle ist der erste doxographische Beleg dieser Art. Es
ist freilich ein Beleg, der wiederum bestätigt, daß nE(lL lJl"OEc.o~ lange
Zeit reine Themaangabe geblieben ist: auch in der Wendung "[OV nEQL
IJl{,OEc.o~ Myov deutet nichts darauf hin, daß mit nEQL lJl"OEc.o~ der Buch-
titel gemeint sein könnte, die syntaktische Logik läßt nur ein Verständ-
nis im Sinn von "Abhandlung über die ,Natur'" zu 4 • Theophrast be-
hauptet mit dieser Stelle also nicht, die beiden genannten Philosophen
hätten ihre Schrift jeweils IIEQl. lJl"OEc.o~ betitelt; aber er bekundet
implizit, daß es zu seiner Zeit möglich oder üblich war, von den später
mit dem uniformen Titel IIEQL q>VOEc.o~ ausgestatteten naturphilosophi-
schen Werken - offenbar durchweg - zu sagen, sie handelten "nE(lL
lJl"OEc.o~", "über die Natur". Das bestätigt die anläßlich der Aristote-
lischen Formel OL nEQL lJl"OEc.o~ / "[u nEQl. lJl"OEc.o~ aufgestellte Vermutung,
daß man in den Kreisen der Schule, wo erforderlich, sicher auch das
individuelle naturphilosophische Werk mit einer geeigneten J'tE(lL
lJl{,oEc.o~-Wendung bezeichnet hat. Das bestätigt zugleich aber auch, daß
die von Theophrast zitierten Werke keinen von ihrem Autor gewähl-
ten Titel trugen: denn dann hätte Theophrast statt mit der vermutlich
erst im Peripatos geprägten summarischen nEQLIJl"oEc.o~-Formel mit dem
Originaltitel zitiert5 •
109
Ein anderes in unserem Zusammenhang wichtiges Zeugnis hat sich
im Physikkommentar des Simplikios (S. 22, 27 ff. Diels) erhalten. Dort
wird als .Kußerung Theophrasts referiert, das, was von den Anschau-
ungen des Xenophanes bekannt geblieben sei, liege mehr auf anderem
Gebiet als dem der "Naturforschung" (hE(lU~ EiVUL J.liiAAOV 1\ 'tij~ 3tE (l t
qll)OECO~ LO'tO(lLU~ 't'~v J.lV~flTJV 'tij~ 'tou'tO'u M~TJ~, VS 21 A31). Auch
hier, wie im vorgenannten Fall, zeigt die Art des Referats (indirekte
Rede), daß wir es mit einem so gut wie wortgetreuen Zitat zu tun
haben. Dasselbe gilt für eine Stelle, wo wiederum von der LO'tO(lLU
<pUOECO~ geredet wird, wie Simplikios (Physikkommentar S. 26,21 ff.
Diels) bezeugt: "Nachdem Theophrast die übrigen (Philosophen) abge-
handelt hat, sagt er: ,Ihr Nachfolger war Platon ..., der sich zwar
hauptsächlich mit der ,ersten Philosophie' beschäftigte, sich aber auch
den Erscheinungen zuwandte und Erkundung der ,Natur' betrieb, wo-
bei er zwei anfängliche Prinzipien aufstellte ...'" (0 flEV'tOL eEO<p(lUO'to~
'tOv~ liÄÄolJ~ 3t(lOLO'tO(l{lOU~ 'tOU'tOL~ <PTJOLv t3tLYEVOflEVO~ IIÄcl'tcov •.. ~ut 'tllV
3t],do'tTJv 3t(lUYflU'tELUV 3tE(lt 'tli~ 3t(lw'tTJ~ <pLÄOOO<pLU~ 3tOLTJOUflEVO~ E3tllbCO~EV
EUlJ'tOV ~ut 'tOL~ <PULVOflEvOL~ &'ljJUflEVO~ 'tij ~ 3t E(l L <pu 0 ECO ~ LO't 0 (l LU~ ,
Ev TI Mo 'tcl~ a(lXcl~ ßOUÄE'tUL 3tOELV ••• , clllJOL~roV M~UL frg. 9 Diels). Auch
die im Simplikianischen Physikkommentar (S. 23, 29ff. Diels) über-
lieferte, bereits erwähnte6 Passage über Thales gehört in diesen Zu-
sammenhang: "Thales hat, so wird überliefert, bei den Griechen als
erster die ,Naturforschung' ans Licht gebracht, wobei er allerdings viele
Vorläufer hatte, wie es auch Theophrast scheint" (euÄij~ be 3t(lro'to~
3tu(luMbo'tUL 'tllV 3tE(l L <pUOECO~ LO'tO(l LUV 'tOL~ "EÄÄTJOLV E~<plivUL, 3toÄ-
'Arov flev ~ut liÄ'Acov 3t(lOYEYOVO'tcov, ffi~ ~UL 'tip eEO<p(lUO't<V bO~EL, cll1JOL~roV
M~UL frg. 1 Diels; VS 11 B 1). Wiederum also der bekannte Terminus
lj 3tE(lL <pUOECO~ LO'tO(lLU als Kennzeichnung der vorplatonischen "Natur-
philosophie" .
Das bedeutet: an der Tatsache, daß Theophrast sich in den cll1JOL~roV
M~UL auf genau dieselbe schlagworthafte Charakteristik der Natur-
philosophie -lj 3tE(lL <pUOECO~ LO'tO(ltU - stützt, die sich schon gegen Ende
des 5. Jahrhunderts aus Euripides und IIE(lL ci(lXULTJ~ i.TJ't(lLKij~ erschließen
läßt und die darin die erwähnten Platon- und Aristoteleszitate als
gängige Kategorie bekunden, ist nicht zu deuteln. Und wenngleich die
zuletzt genannten Fragmente keine neuen Gesichtspunkte zum Problem
der Entwicklung des Buchtitels IIE(lL <pUOECO~ liefern, so dokumentieren
hat - wobei stillschweigend zu ergänzen ist, daß Schrifl:en J'tEQt ql1JGEW'; in der
Regel Prosawerke waren.
6 S. oben S. 13.
110
sie doch im Verein mit dem erstgenannten Bruchstück Theophrasts die
terminologische Konstanz in der philosophiegeschichtlichen Diskussion
und erhärten die Schlußfolgerung, daß wir bei Theophrast auch dort,
wo die entsprechende Überlieferung fehlt, prinzipiell mit dem gleichen
doxographischen Gedanken- und Formelgut rechnen dürfen wie im
Corpus Aristotelicum.
Aufgrund dieser Voraussetzung kann man nun sogar - mit aller
gebührenden Vorsicht - das die doxographiehistorische Entwicklung
umkehrende Argument wagen und folgern, daß eben die Einheitlich-
keit, mit der die späteren Doxographen die frühgriechischen Natur-
philosophen unter dem Titel I1EQL CPU<1EW~ zitieren, ihrerseits darauf
hinweist, das sich diese von Theophrast tradierte Formel im Rahmen
des alten Peripatos kristallisiert oder zumindest fixiert hat.
111
daß in der hellenistischen Philologie offenbar das historische Bewußt-
sein lebendig war, daß es sich bei der antiken Titelgebung um einen
fluktuierenden Prozeß handelt und daß die überlieferten Titel nicht
fixiert, sondern variabel waren8 • Bemerkenswert ist aber noch ein
Zweites: daß Kallimachos zur Kennzeichnung der Werke neben dem
Titel gerade ihren Eingang heranzog - er hätte ja stattdessen ebenso-
gut zwei, drei Worte über den Inhalt oder über die Hauptgestalten
eines Buches sagen können; wenn er das nicht tat, sondern sich lieber an
das mechanische Verfahren des Aushebens der ersten Textzeile hielt, so
mag man das natürlich auf eine dem Bibliothekswesen schon damals
und gleichsam von Natur aus eigentümliche penible Pedanterie zurück-
führen: es ist indes weitaus wahrscheinlicher, daß Kallimachos sich zu
diesem Vorgehen aufgrund philologischer Erkenntnisse entschloß, d. h.
weil auch er oder einer seiner gelehrten Vorgänger bereits bemerkt
hatte, daß in den Literaturwerken der älteren Zeit (wie oben9 ausge-
führt) eben der Bucheingang von den Autoren als "Titelersatz" formu-
liert worden war10 • In welchem Grad nun freilich Kallimachos tatsäch-
lich für die Durchsetzung des Titels "llEQt <pU(JE(J)~" als Kennzeichnung
der einzelnen Schriften der vorsokratischen Naturphilosophen verant-
wortlich ist, läßt sich nicht mehr ausmachen. Daß er traditionsgeschicht-
lich - "stemmatism" gesehen - gegenüber Theophrast nur eine über-
lieferungsschicht sekundären Ranges darstellt, ist durchaus denkbar,
wenn nicht gar sehr wahrscheinlich: denn er stützte sich ja bei seiner
Registriertätigkeit zweifelsohne auf jede nur irgend greifbare Vor-
arbeit - und diese dürfte, wie gesagt, für die Abteilung der Philosophen
im entscheidenden Ausmaß von Theophrast geleistet worden sein. Und
welch wichtige Fäden vom Peripatos nach Alexandria liefen, haben wir
gesehenl l •
8 Vgl. oben S. 21 das Porphyrios-Zitat. Die Zitierung des Werkeingangs als Iden-
tifikationshilfe blieb also bis in späteste Zeiten üblich; vgl. neben Porphyrios
etwa auch Augustins Zitierweise in den Retraktationen.
• S. 32ff.
10 üb Kallirnachos im Falle der frühen Prosaschriften bei seiner Katalogisierung als
"Anfang" des Werkes jeweils den tatsächlichen Beginn der Darlegungen des
Autors setzte und das namentliche "Siegel" zu Beginn wegließ, ist nicht mehr
auszumachen, erscheint aber denkbar: denn wenn er ohnehin als erstes den Namen
(sicher einschließlich Herkunftsbezeichnung) erwähnte, war es eine unnötige Du-
blette, dieselben Angaben sofort anschließend im Zitat des Autors zu wiederholen.
Falls diese Annahme zutriff\:, könnte man in diesem Vorgehen einen Ansatzpunkt
für die verschiedentlich zu bemerkende Ungenauigkeit in der &l'XOf1Evo~-Formel
der Doxographen sehen (vgl. oben S. 64ff. und unten S. 120ff.).
11 Vgl. oben S. 82.
112
10. DER cpY}:I}:-BEGRIFF DER llEPI cpY}:EQ}:-FORMEL
Denken wir von hier aus noch einmal zurück an unseren eingangs 1
aufgestellten Fragenkatalog - wir nannten die Punkte Autor, Publi-
kum, kulturhistorischer Hintergrund, literarhistorische Entwicklung,
llE(>L CPUOE(j)~- Testimonien, cpuoL~-Begriff, buchtechnische Gegebenheiten,
Gattungsbedingtheiten -, so ergibt sich, daß bisher nach und nach alle
Probleme in ihrer historischen Entwicklung und ihrer wechselseitigen
Abhängigkeit zur Sprache gekommen sind, mit Ausnahme eines Fra-
genkomplexes: des cpuoL~-Begriffs, der der 3tE(>L cpuoEw~-Formel im
ganzen zugrunde liegt.
Nachdem sich gezeigt hat, daß die antiken Autoren von sich aus
einen Buchtitel nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen zu
formulieren brauchten, daß die Prosaschriften bis weit in die zweite
Hälfte des 5. Jahrhunderts hinein durchweg statt eines Titels einen
"Titelersatz" im Texteingang aufweisen, daß Buchtitel vielfach erst
aufgrund literarkritischer Auseinandersetzung und vor allem erst
aufgrund technischer Bedingungen erforderlich werden, daß diese
Bedingungen teils erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts
gegeben waren (allgemeiner Bildungsstand, Buchhandel), teils nach
gewissen Vorstadien sogar erst im vierten Jahrhundert ("wissenschaft-
liche" Bibliotheken), kurz: nachdem alles darauf hindeutet, daß der
Buchtitel "llE(lL CPUOEW~" ein aus dem Bereich des frühen Peripatos oder
allenfalls der Akademie stammendes, auf ein in sophistischer Zeit
geprägtes philosophiegeschichtliches Schlagwortarsenal zurückgehendes
Phänomen darstellt, kommt der Klärung der Frage, wer denn nun für
den hinter der ltE(>L cpuoEw;-Formel stehenden cpuoLt;-Begriff verantwort-
lich ist, eine entscheidende Bedeutung zu: denn die Antwort auf diese
Frage muß erweisen, ob die soeben noch einmal kurz resümierte mut-
maßliche Genesis des Titels tatsächlich Anspruch auf Wahrscheinlichkeit
hat, ob also die schon erwähnte2 Eigentümlichkeit, daß die Wendung
,,3tE(>L cpUOEWt;" bei den "Naturphilosophen" selbst nicht begegnet, mehr
1 S. 18 f.
• S. oben S. 83.
113
als reiner Zufall ist, oder ob nicht vielleicht doch eine wenn auch nur
winzige Möglichkeit besteht, daß das gegen Ende des 5. Jahrhunderts
begegnende Schlagwort hrroeLa JtEeL <pUOEooS" oder verwandte Bildungen
ihrerseits auf eine Prägung durch einen der betroffenen "Naturphilo-
sophen" selbst zurückgehen, d. h. daß aum der Buchtitel IIEeL <pUOEooS"
letztlich aus der alten Naturphilosophie selbst und nicht aus der Doxo-
graphie stammt.
Die frühesten uns noch greifbaren Originalzeugnisse für das Wort
<puaL<; gehören Heraklit und Pannenides, spiegeln also den Sprach-
gebrauch etwa der Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert8 • Die für unser
Problem auffälligste Erscheinung an den recht zahlreichen <pUOLS"-
Stellen dieser beiden Philosophen ist der Umstand, daß <pUalS" für sie
immer die <pUalS" eines bestimmten, explizit oder implizit genannten
Einzelwesens oder Einzeldings ist, nie dagegen die umfassende All-
physis 4 • Das wird bereits in der Einleitung von Heraklits Werk deut-
lich, wo der Begriff <pUalS" zur definierenden Erläuterung der Eigenart
des Heraklitschen Logos herangezogen wird: " ... wie im es darlege,
indem ich jedes einzelne nach seiner <pUalS" zerlege und erkläre, wie es
mit ihm steht" (CIiWLooV EYro ÖL'I']YE'Üf.laL K a 1: a <p U 0 LV ÖLaLeEooV E·l.aOmV
itaL <peutoov 0 Koo S" EX E L, VS 22 B 1). Daß an dieser Stelle von einer
summarischen Allvorstellung, die in den Terminus <pUalS" ge faßt wäre,
nicht die Rede sein kann, ist unmittelbar evident: <pUOLS" ist vielmehr das
"eigentliche Wesen"5 des individuellen vom Philosophen betrachteten
"Dinges", bei dem es - nach der, wie wir sahen6 , später stereotyp
gewordenen Formel - zu ergründen gilt, oJtooS" EXEL. Dieses "wie es
damit steht", "wie es eigentlich ist" - der aspektreiche und unübersetz-
bare Ausdruck <pUalS" bezeichnet ein als "Gewordensein" verstandenes
wesenhaftes Sein7 - zielt aber auch in Wendungen, wo das individuie-
rende Attribut nicht genannt wird, zunächst spezifisch auf das Einzel-
ding, so in dem bekannten Fragment B 123 - "Die <pUalS" pflegt verbor-
gen zu sein" (<pUULS" y.QUJt1:w{}aL <pLAEL) - oder im Zusammenhang von
3 Auf die relative Chronologie der beiden Philosophen kann hier nicht eingegangen
werden - die Priorität Heraklits dürfte aus verschiedenen Erwägungen näher
liegen -, sie ist im vorliegenden Zusammenhang auch irrelevant; vgl. dazu in
Kürze die Abhandlung Antithesis. Zu den Stil- und Denkformen der Vorsokra-
tiker.
4 Vgl. D. Mannsperger, a. a. O. (s. oben S. 85, Anm. 6), 287 ff. Im selben Sinn
schon G. S. Kirk, Heraclitus. The Cosmic Fragments, Cambridge 1954, S. 229, der
diese Tatsache ebenfalls als Argument gegen den "IIEQt q>uO'Ecoc;"-Titel heranzieht.
5 Mannsperger, a. a. 0., S. 287.
a S. 83 ff.
7 V gl. Mannsperger, a. a. 0., passim, bes. S. 38 ff.
114
Fragment B 112 - " ... das Wahre zu sagen und handeln nach der
q)\)OL~, indem man sie vernimmt" (... &Ä1'J{lEa 'J...EytLV ~at :l1:oLtLV ~ata
CPUOLV btatovta~). Daß auch in diesen Fällen nicht gemeint sein kann
"das Wesen oder die Natur des Alls, d. h. der kosmisch-globalen
Gesamtheit der Dinge", wie es dem lateinischen rerum natura ent-
spräche, sondern das " Wesen", das den Dingen generell jeweils zu-
grunde liegt, verrät besonders B 112, das man fast als Periphrase von
Fragment Blauffassen kann: denn daß und wie die kosmische "All-
natur" zur Norm des menschlichen Handelns werden könnte, ist nach
allem, was wir von Heraklit wissen, nicht einzusehen: "Die CPUOll;
Heraklits ist ... das in den Dingen selbst liegende Wesen. "8
Andererseits weisen jedoch alle drei genannten Fragmente bereits in
die Richtung auf einen solchen allumfassenden cpuoL~-Begriff: indem
nämlich die zu durchschauende CPUOt~ des einzelnen in einem die Summe
der Einzeldinge umfassenden Zusammenhang steht (vgl. etwa auch die
Fragmente B 50/51), wie zumal die Vorstellung des "Zergliederns"
(ÖLaLQEWV) bekundet. Von einer solchen die cpuou; der €~((Ota summie-
renden cpuoL~-Auffassung führt begrifflich eine direkte Linie zu Wen-
dungen wie CPUOL~ tWV amlvtwv, "die cpuaL~ aller Dinge", was dann
seinerseits - da der Plural des Neutrums im Griechischen häufig Kollek-
tivbegriffe ersetzt - ohne weiteres in "enharmonischer Verwechslung"
als "cpuaL~ des Alls", gleich cpuat~ toü :Jtavt6~ oder toü ÖAOU, verstanden
werden kann.
Dazu aber bedurfte es noch einiger Zeit9 • Für Parmenides jedenfalls
ist CPUOL~ wie für Heraklit immer die CPUOL~ eines Einzel-"Dings", sei es
des Aithers (VS 28 B 10, 1), sei es des Mondes (B 10, 4f.)1°, sei es der
einzelnen Glieder des Menschen (B 16, 3). Gerade bei diesem Philo-
sophen kommt der Individualcharakter der CPUOL~- Vorstellung noch
besonders einprägsam zum Vorschein, einmal deswegen, weil der
Begriff CPUOL~ für ihn offenbar nur im zweiten Teil seines Gedichts, der
Darstellung der " Werde-Weit", brauchbar istl l , also offensichtlich als
Kennzeichnung für den Gesamtentwurf seines Denkens ausgeschlossen
115
bleiben muß, zum anderen, weil er eben die " Werde-Welt" nicht mit
dem nach späterer Auffassung so treffenden All-Terminus <puou; belegt,
sondern den Begriff pointiert nur auf ihre Einzeldinge anwendet. Auch
in dem auf dem Boden des Individualgebrauchs abstrahierenden, gene-
ralisierenden Sinn, den Heraklit gelegentlich aufweist, begegnet der
Begriff bei Parmenides nicht.
Das gleiche gilt auch noch für Empedokles, der für den Stand der
Diskussion etwa um die Mitte des 5. Jahrhunderts repräsentativ sein
mag: auch er spricht von der spezifischen wesenhaaen Art des Einzel-
menschen (önlj <pUOL<; Eo·dv €'Xuo'np, VS 31 B 110, 5) und der einzelnen
Glieder des Menschen (B 63, vielleicht in Anlehnung an Parmenides
13 16, 3); an einer anderen Stelle bringt er den Begriff <pUOL<; im Sinn des
"genetischen Werdens" als Gegensatz zum "Tod" - was er als falsche
Charakteristik des wahren Sachverhalts ablehnt -, und zwar wiederum
in direktem Bezug zum betroffenen Einzelobjekt (<pUOL<; OUÖEVO<; Eonv
cmuvnllv {)Vlj.&v, B 8, 1 ff.).
Man sieht aus all diesen Beispielen: <pUOL<; ist zwar ein häufig
genanntes und besprochenes Thema der frühen Philosophie, zumindest
seit Heraklit12 ; doch immer wurde darunter zunächst eine "Individual-
physis" verstanden, niemals die "Allphysis" . Die einzige Ausnahme,
die wir kennen, scheint ein Bruchstück des sizilischen Komikers Epi-
charm (etwa 550-460 v. Chr.) zu sein, in dem es heißt, Verständigkeit
(.0 oo<pov) begegne bei allen Lebewesen, wie man etwa an den ziel-
bewußt ihre Eier ausbrütenden Hühnern ersehen könnte: "Aber was
es mit dieser Verständigkeit auf sich hat, weiß die <pUOL<; allein; denn
sie ist von sidl selbst unterrichtet" (.0 ÖE oo<pov &. <pUOL<; .Oö· OiÖEV w<;
(tEL / J.lova· nmalÖEtltClL YUQ au.autCl<; uno, VS 23 B 4). Hier sieht es in
der Tat so aus, als sei <pUOL<; so etwas wie die mythische Mutter Natur,
in der alles seinen einheitlichen Ursprung hat und die alles aus gerade-
zu göttlimer Weisheit lenkt und ordnet. Indes ist zweierlei zu beden-
ken: zum einen, daß es sich um einen poetismen Text handelt, in dem
nicht zugespitzte philosophisme Begrifflichkeit, sondern dichterisch-
metaphorische Bildhaaigkeit das Sinngefüge prägt; zum anderen aber,
daß gerade die Singularität der Ausdrucksweise dem Interpreten beson-
dere Behutsamkeit anrät, zumal bei einem, wie sim zeigte, so kom-
plexen Begriff, der auch in anderen Fällen seine prägnante Bedeutung
nur aus einem bei dem Autor jeweils mitschwingenden semasiologischen
116
Kontext erhält. Es spricht ja schließlich - eben mangels erläuternder
Parallelen zu diesem metaphorischen futa~ AEY"!!EVOV Epicharms -
nichts dagegen, daß man versucht, den Begriff hier ebenfalls in dem bei
anderen Autoren anzutreffenden Sinn - das "gewordene Sein" eines
Dings, sein ihm kraft spezifischer Artung angeborenes und innewoh-
nendes "Wesen" oder der Prozeß seines "Werdens" zum individuellen
"Sein" - aufzufassen, auch wenn dieser Versuch prima vista nicht so
glatt aufgeht wie eine Hypostasierung der uns geläufigen Naturvor-
stellung. Will man die henneneutische Berechtigung eines solchen Ver-
suchs nicht grundsätzlich ablehnen, so müßte man die der metapho-
rischen Personalisierung zugrunde liegende Bedeutung des Wortes etwa
als das der Entfaltung der einzelnen Dinge (oder hier: Lebewesen) zu
ihrer ausgeprägten Individualität innewohnende Lebensprinzip um-
schreiben, als die nonnative Kraft, die sie das tun läßt (ihnen die "Ver-
ständigkeit", TO OOq>"V, gibt), was aufgrund ihrer jeweils besonderen
Art zu ihrem eigentlichen Wesen gehört. Daß dies immerhin eine mög-
liche Deutung ist, wird man zumindest so lange nicht bestreiten können,
bis sie durdl die Entdeckung anderer q>{,oL~-Fragmente Epichanns
widerlegt ist; zu einer vorschnellen Athetese des Fragments B 4, wie sie
Heinimann vornimmt13 , besteht jedenfalls kein Anlaß14.
Weder also bei Heraklit und Pannenides noch bei Epichann und
Empedokles läßt sich eine "Allphysis" von der des umfassenden rerum
natura-Begriffs feststellen. Das heißt: bis zur zweiten Hälfte des
5. Jahrhunderts blieb der Ausdruck q>UOL~ stets an die Diskussion der
"Natur" der Einzeldinge gebunden.
Machen wir nun zeitlich einen Sprung um ein paar Jahrzehnte und
fragen, wo denn dann zum erstenmal die Vorstellung einer die Dinge
übergreifenden "Allphysis" begegnet, so stoßen wir auf das merk-
würdige Phänomen, daß dies genau in jenem Bereich der Fall ist, in
dem auch die frühesten Zeugnisse der J'tE(>L q>{,oEO)~-Formel und des
"toTO(>ta J'tE(>L q>{,oEO)~"-Schlagworts zuhause waren 15 •
Eine dieser frühen Stellen ist das bereits erörterte Euripidesfragment
910 N.: "Glücklich ... wer die alters lose Ordnung der unsterblichen
,Natur betrachtet" (OAßLO~ ö(Jn~ .. : ldlavuTOU xa{)-o(>wv q>" 0 E0) ~
C
X"O!!OV ay~(>O)v). Eine zweite verwandte Stelle findet sich in den nur
117
wenige Jahre vor der Antiope aufgeführten Troades (415 v. Chr.) in
einem Gebet der Hekabe: "Zeus, wer du auch bist, ob Naturnotwendig-
keit oder Menschengeist" (ö<1ne; :n:o"(' d <1U ••• ZEUe;, Eh' <1 v 6. Y 'X Tl
!pU<1EWe; EhE votie; ßQO"(WV, V. 885f.; vgl. VS 64 C 2)16. Eine weitere
Stelle, die man anführen kann, stammt aus der nicht datierbaren, aber
vermutlich auch dem letzten Viertel des 5., wenn nicht gar erst dem
ersten Viertel des 4. Jahrhunderts zugehörenden Palamedes-Rede des
Gorgias 17 : "Zum Tod hat die ,Natur' mit ihrem deutlichen Urteil alle
Sterblichen verurteilt" (-Mv<l"(ov I1EV YUQ 11 !pU<1Le; !pavEQ~ "(TI 'ljJf}!P41 :n:6.v-
"(wv %<l"(E'ljJTl!PL<1<l"(O "(mv {lvTl"(mv, VS 82 B 11a, 1)18. Allerdings ist bei der
Formulierung des Gorgias Vorsicht geboten, da der Kontext bei ihm
ohne weiteres auch noch eine Deutung im Sinne der "Individualphysis"
zuläßt: daß nämlich die Menschen aufgrund ihrer jeweiligen !pU<1Le; als
Sterbliche dem Tod ausgeliefert sind 19 •
16 Vgl. Wilhelm Nestle, Euripides. Der Dichter der griechischen Aufklärung, Stutt-
gart 1901, S.146f. mit Anm.; Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1942, S. 500f.;
523 f. Nestle denkt bei &Vel1'xT] qJUO'EOl~ (mit H. Diels, Leukippos und Diogenes
von Apollonia, Rheinisches Museum 42, 1887, S. 12, Anm. 2) an die Atomisten
und verweist auf Leukipp frg. B 2 aus der Schrift IIEel voü: oUtlAv xeiif.Lu f.Lel'tT]V
1'[VE'tUL, i11..Au nelv'tu EX A01'0U 'tE xul un' dVel1'xT]~, sowie auf den damit ver-
wandten Satz aus Aristoteles IIEel oueuvoü 1,4 = 271 a33 0 ÖE ~EO<; xul TJ qJUO'L<;
oUtlh !Lel'tT]V nowÜO'LV. Eine Parallele zu Troades 886 bringt Thukydides 5, 105,
2: die Verteidigung des Rechts des Stärkeren im Melierdialog als Ausfluß einer
"natürlichen Notwendigkeit": TJ1'OU!LEitU 1'ae 't0 'tE ~Eiov Ml;n 'to dviteomEtOV
TE O'uqJiii~ Öta nuno<; uno qJUO'EOl~ &VU1'xu[u~, 00 ll:v xeu'tfj, aeXELV. Dieses Recht
des Stärkeren scheint nun aber ein Prinzip, das vor allem gewisse der Sophistik
nahestehende politische Kreise propagiert haben, man denke an die Argumen-
tation des Polos und insbesondere des Kallikles im Platonischen Gorgias (z. B.
483 e xU'ta VO!L0V 'tov 'tii~ qJUO'EOl<;, vgl. E. R. Dodds in seinem Kommentar, Ox-
ford 21966, S. 268 zur Stelle). Das scheint viel eher auf sophistische Kreise als
Inauguratoren von Formeln wie dVel1'xT] qJUO'EOl~ oder vO!Lo<; qJUO'EOl<; zu deuten
(vgl. Antiphon, VS 87 B 44, col. 1, 25 ff. 'ta öe 'tii<; qJUO'EOl<; dvu1'xuiu), wobei
allerdings zu bedenken ist, daß auch die Medizin jener Zeit mit ähnlichen Begrif-
fen arbeitete (vgl. uno "tij<; Ötxu[T]~ qJuO'WC; &vU1'XU1;0!LEVOC;, IIEel d1'!Liiiv 1), was
freilich ebenfalls unter sophistischem Einfluß geschehen sein kann. Auch Heini-
mann, a. a. 0., S. 125 ff., bes. 131 denkt bei diesen Wendungen an sophistisch-
populäre Prägungen.
17 Ob es mehr als Zufall ist, daß die Troades-Stelle im Rahmen einer Trilogie begeg-
net, die ebenfalls einen Palamedes enthielt, muß dahingestellt bleiben.
18 Zu TJ qJuO't~ XU'tE'i'T]qJ[O'U'to findet sich eine wörtliche Parallele in einer von
Diogenes Laertios (2, 13) überlieferten Anaxagoras-Anekdote (VS 59 A 1). Da-
nach soll der Philosoph auf die Nachricht von seiner Verurteilung hin gesagt
haben: "Sowohl jene [die Richter] als auch mich hat die ,Natur' schon vor langer
Zeit verurteilt" (X<E[VOlV ltd!LoÜ nelÄut TJ qJuO't~ ltUTE'i'T]<P[O'u'to). Wie diese gewiß
nicht zufällige Koinzidenz zustandekommt, wird kaum eindeutig zu lösen sein.
.. Diese Möglichkeit gilt auch für das Bonmot des Anaxagoras (5. vorige Anm.):
auch dort kann man verstehen "meine (bzw. "ihre") eigene qJUO'LC;" (was das deut-
sche 1I.quivalent "Natur" ja gleichfalls offen läßt).
118
So bleiben als sicher verwertbare Zeugnisse vornehmlich die bei den
Euripides-Zitate. Und daß in ihnen trotz des dichterischen Zusammen-
hangs aktuelles philosophisches Schlagwortmaterial sophistischer Pro-
venienz verarbeitet wird, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Dabei ist
für unsere Frage gleichgültig, ob die Sophisten diese Vorstellungen und
Termini selbst geschaffen oder ob sie lediglich Gedankengut yon Zeit-
genossen oder unmittelbaren Vorläufern - wie etwa Anaxagoras20
oder Diogenes aus Apollonia oder den Medizinerschulen - zur gängi-
gen Münze eines Klischeevokabulars um geprägt haben21 • Entscheidend
ist für uns vielmehr die unbestreitbare Beobachtung, daß sich die prin-
zipielle Umstrukturierung des <Jlvotc;-Begriffs erst in der zweiten Hälfte
des 5. JahrhundertS (d. h. nach Empedokles) vollzogen hat und daß sie
erstmals im letzten Viertel des Jahrhunderts sich als verbreitetes Allge-
meingut der philosophischen Diskussion dokumentarisch belegen läßt22 :
denn damit bestätigt sich auch von dieser Seite, daß die Wurzeln der
ltE(>L <JlvoEC.tl<;-Formel nicht weiter als ins letzte Viertel des 5. Jahrhun-
derts hineinreichen können.
20 Heinimann, a. a. 0., S. 106, Anm. 50 hält es für denkbar, daß der "absolute"
Physisbegriff sich eventuell von Anaxagoras herleitet. Beweisbar scheint dies aber
nicht.
21 Vgl. oben S. 118, Anm.16.
22 Auch der «jJ1JO'Ie;-Begriff der Philolaos-Fragmente B 6 und B 1 (s. oben S. 85 f.,
Anm. 7), steht auf der Seite der Allphysis (m:et ÖE cpUO'LOe; xat ae!1ovtae; ... ; a
!1EV EO'1:00 1:öiv n:eaY!1'l1:COV alöLOe; EO'O'a xat ml1:a fJlv a cpUO'Ie; itEtav ya xal oux
avfrecon:lVIJv höEXE1:at yvöiO'lv ... ; !1fJ un:aexouO'ae; 1:äe; EO'1:0ÜC; 1:iiiv neaY!1(l1:COV,
U; rov auvEO'1:a Ö xOO'!1oe;, xal1:öiv n:EOatVOV1:COV xat 1:öiv MELPOlV, B 6; a CPUO'IC;
EV 1:<1> xOO'!1{fl ae!1oxihJ Es a1tEteOlv 1:E xal n:EeaIVOV1:OlV, B '1). Aber es ist doch
auffällig, daß seine Herkunft aus dem Bereich "Individualphysis" noch deutlich
durchscheint, auch wenn die Position des Begriffs .Individualphysis" jetzt a EO'1:00
(1:iiiv neaY!1(l1:OlV) einnimmt; man braucht nur die offenkundig parallelen Aus-
sagen nebeneinanderzuhalten:
1:äC; EO'1:0ÜC; 1:öiv n:eaY!1(l1:COV, ES rov 0' \I VE 0' 1: a Ö x 0 0'!1 0 C;, x a 1 1: iii v n: E e a 1-
VOV1:OlV xal1:öiv an:EleOlv
a CPUO'IC; EV 1:<1> xOO'!1{fl ae!1oxfrT] ES an:Elecov 1:E xal n:EeaLVOV1:OlV,
um die genetische Wurzel dieses "Allphysis"-Begriffs zu erkennen: a CPUO'LC;
(= "Allphysis") vertritt die Position der Summe der "Individualphyseis" (a EO'1:W
1:öiv n:eaY!1a1:Olv) im All (xoO'!10C;). (Von dieser Seite aus spricht also nichts gegen
eine Datierung der Fragmente ins letzte Viertel des 5. Jahrhunderts - aber
keinesfalls früher; vgl. W. Burken, a. a. O. [so oben S. 85 f., Anm. 7], S. 233,
Anm.64).
119
13. VORSOKRATIKER-TITEL
120
Zenon aus Elea (Eingang nicht überliefert)3;
Anaxagoras (frg. B 1 durch Aetios 1, 3, 5 [vgl. VS 59 A 46] -
ä(lXELaL M OÜLC.tl~ -, Diogenes Laertios 2, 6 [vgl. VS
59 Al] - a(l~af.lEvO~ oünJl LOU o'\JYY(laf.lf.laLO~ - und
Simplikios Physikkommentar S. 155, 26 Diels und
460, 26 Diels - AEYOOV cbt' &(lxij~" OÜLOO~ T\(l~aLO Loii
oUYY(laf.lf.laLO~ - als zum Eingang gehörig erwiesen;
da die Eingangstopik einschließlich Wahrheitsrefle-
xion fehlt, liegt der Verdachts auf Verlust des Prooi-
mions nahe)6;
3], S. 102; vgl. G. S. Kirk, Heraclitus. The Cosmic Fragments, Cambridge 1954,
S. 7 und 10 f. m. Anm., gegen die oben S. 16 zitierten Ansichten von Verdenius).
3 Bei einem anderen Eleaten, Melissos, smeint es zwar, als sei der Eingang erhalten;
dom was Simplikios in seinem Physikkommentar S. 103, 13 ff. Diels der Wendung
ITEpt YEvEO'Emo; xat q>ftopüo; äPXE'taL 1:0Ü O'uyypaf.lf.la-r:oo; olhmo; folgen läßt, ist
lediglim eine lockere Paraphrase des Originaltextes: ein seltener, unmittelbarer
Hinweis darauf, daß man die stereotypen apx6f.lEvoo;-Formeln nimt in allen
Fällen unbedingt beim Wort nehmen kann, zumal nimt bei späten Gewährsleuten,
bei denen die autoptisme Kenntnis der Originaltexte Zweifeln unterliegt.
4 Zu an' apxijo; vgl. VS 59, B 1 die Anm. zur Stelle.
S Auf keinen Fall kann man wohl aus der Zitierweise des Diogenes Laertios bündig
auf den Originalzustand der Manuskripte smließen, also etwa aufgrund der
Tatsame, daß er den Alkmaion-Eingang komplett in der topism vollen Form
bringt, folgern, in allen anderen Fällen, wo er mit der o.PX6f.lEvoo;-Formel o. ä.
zitiert, müsse er gleimfalls den kompletten ursprünglimen Textbestand wieder-
gegeben haben (was in der Regel hieße, ohne DNamenssiegel", gelegentlich aum
ohne "Wahrheitssiegel"). Diogenes referiert, was er in seinen Quellen vorfindet,
und das ist meist durm viele Hände gegangen, aum dann, wenn er so tut, als
stammten seine Zitate aus eigener Lektüre.
6 Da Anaxagoras 428 in Lampsakos gestorben ist, wird man ihn - und damit
sein(e) Werk(e) - kaum in die unten genannte dritte Gruppe einreihen können.
Daß seine Smrift keinen siegelnden Eingang gehabt haben sollte, ist kaum denk-
bar (es sei denn, man wollte unbeweisbare Spekulationen über eine eventuelle
Edition aus dem Namlaß o. ä. anstellen). Daß der Eingang, wenn er vorhanden
war, nom remt unsmarf gewesen ist, d. h. nom nicht auf der Stufe der seit der
Zeit Herodots üblimen methodologismen oder gar inhaltlichen Kurzcharakteristik
stand, könnte man vielleimt mit der vagen Zitierweise in Platons Apologie 26 d
untermauern (vorausgesetzt, unter ßLßALa ist wirklich nur eine einzige auf mehrere
Bumrollen verteilte Smrift gemeint; vgl. W. Schmid, Gesmimte der griechismen
Literatur, Bd. 1/2, S. 712, m. Anm. 5; vgl. auch im Phaidon 97b/c die Wendung
axouO'ao; f.lEV non EX ßLßALOU '(Lvi!o; 'Ava!;ay6pou avaYLyvooO'XOV1:00; xat AEYOV1:00;
wo; ...). - Daß Anaxagoras, wie Clemens Alexandrinus (VS 59 A 36; vgl.
AI, 11) aus einer uns nimt mehr faßbaren Quelle wissen will, als erster ein Buch
veröffentlicht hat (vgl. Nammanson, a. a. O. [so oben S. 10, Anm. 3], S. 8,Anm. 2),
kann in irgendeiner Form einen historischen Kern haben: worin er freilich be-
steht, kann man ni mt mehr simer sagen - in der vorliegenden dezidierten Form
ist die Behauptung jedenfalls nicht glaubhaft; vielleicht hat er in Athen, wo ja
unter Umständen die Wiege des Bumhandels stand (s. oben S. 58 f.), sein Werk
als erster Prosaautor in den Handel gebracht (zu dem Clemens-Testimonium
121
Diogenes aus Apollonia (frg. B 1 durch Diogenes Laertios 6, 81 [aus
dem Homonymenwerk des Cicero-Zeitgenos-
sen Demetrios aus Magnesia; VS 64 A 2] und
9, 57 als zum Eingang gehörig erwiesen: &QX~
llE a,,.rql TOU (J"YYQcl!L!LaTo~ Tjbe; enthält die
methodische Reflexion, auffälligerweise ge-
koppelt mit einer Stil-Reflexion, doch fehlt
das namentliche Siegel zu Beginn)1.
Allerdings ist bei dieser Gruppe von Schriften, was den "Titelersatz"
im Eingang angeht, insofern eine Einschränkung zu machen, als immer-
hin denkbar ist, daß die allerfrühesten Prosaschriften unter Umständen
überhaupt keinen spezifischen Eingang hatten, sondern sofort mit der
Diskussion ihres Themas begannen. Denn es läßt sich zwar aus dem
vorhandenen Oberlieferungsmaterial, wie sim gezeigt hatB, in der
"Siegelungstopik" eine organische geschichtlime Linie vom Homeri-
schen Epos über den Dichter des Apollonhymnos und Hesiod zu den
frühesten faßbaren Prosaautoren feststellen; aber es ist weder mehr
auszumachen, welcher Autor denn nun den letzten Schritt in dieser
Linie getan und das Namens- und Wahrheitssiegel pointiert an den
122
Eingang des Werkes gerüdn hat, noch kann man nachweisen, daß der
Usus des "Siegelns" bei den Prosaschriften von Anfang an gehandhabt
wurde: zwischen den ersten erhaltenen Beispielen topisch geprägter
Eingänge und den ältesten philosophischen Prosaschriftstellern liegt
immerhin mindestens noch ein halbes Jahrhundert. Man denke nur an
das Werk des angeblich ersten Prosaautors (so die Suda), Pherekydes
aus Syros, von dem Diogenes Laertios, wie er 1, 119 sagt, "den An-
fang" zitiert ((fW~€"t1lL öE TOÜ ~'\JQto'\J TO TE ßtßAlov, 0 (fUveYQIl'ljJEv, o{i "
aQX:~ ... ): das Zitierte beginnt sofort mit der Darlegung der ganz
hesiodeisch anmutenden Pherekydischen Theogonie; selbst der Wahr-
heitstopos fehlt. (Letzteres gilt freilich z. B. auch für Anaxagoras, was
diese ganze Einschränkung wiederum relativiert9 .)
123
Beginn, wie die Alkmaion-Parallele, VS 24 B 112,
unterstreicht; dagegen wird der bei Diogenes Laenios
8, 54 und 62 überlieferte Beginn der Katharmoi mit
der Anrede an die Freunde in Akragas von Diogenes
ausdrücklich als Anfang bezeichnet: hUQXOf.lEVOC; "tOOV
Ku{}uQf.loov).
12 S. oben S. 32; skeptischer J. Bollack, Empedocle, Bd. 3, Paris 1969, S. 3 zur Stelle.
13 Von Demokrit ist ein Kurzzitat erhalten, das bezeugtermaßen von einern Schrift-
eingang (vielleicht dem MLXQO~ öLaxooflo~) stammt: "tabE nEQL "töiv ;uf1nanwv
(Aiyw) (VS 68 B 165; vgl. Diels, Herodot und Hekataios, Hermes 22, 1887,
S. 436, Anm. 1). Ob dies aber tatsächlich die ersten Worte des Textes waren oder
ob der Kontext eine heute verlorene namentliche Siegelung enthielt, ist nicht mehr
auszumachen. Von einer anderen Schrift Demokrits, deren Titel in der überliefe-
rung mit IIEQL EMufll1j~ angegeben wird (VS 68 B 2eff.), kennen wir aus mehre-
ren Quellen den Anfang (ita eoepisse, Seneea De tranquillitate animi 13,1): .ov
EuhflELoitaL flEAAona XQY! fL1) noUa nQT)OOELV, ftT)n Ultn flT)n ~uvfi ... Tt yaQ
Euoyxl1j QmpaAso"tEQOV .ij~ flEyaAoyxt1j~. Die Struktur des Satzes erinnert an den
Eingang mancher anonymer Schriften des Corpus Hippocratieum sowie des
Oligarchenflugblattes (vgl. oben S. 40ff.), vor allem in der pointiert vorangestell-
ten Nennung eines thematischen Hauptbegriffs, dem Herausstreichen eines Postu-
lats (XQiJ) mit anschließender Begründung (yaQ). Wieder aber läßt sich daraus
nicht ersehen, ob dem Ganzen ein später verlorengegangenes "technisches·
Prooirnion mit "Siegel" voranging, oder ob bereits die authentische Setzung eines
autonomen Titels angenommen werden darf, der es dem Autor ermöglichte, mit
dem Text gleich medias in res zu gehen. Vgl. W. Aly, a. a. O. (s. oben S. 66 f.,
Anm. 10), S. 55, der den Satz in Zusammenhang bringt mit hippokratischen Ein-
gängen und dem Beginn der Schriften des Anaxagoras (s. oben S. 121), Protagoras
(s. oben S. 64ft) Antiphon (s. unten S. 126f., Anm. 21) und des Diogenes aus
Apollonia (5. oben S. 122). - Bei dem der überlieferung nach gleichfalls vorn
"Beginn" (ciQxoflEVO~) eines Werkes, nämlich den 'YnoitijxuL, stammenden frg.
B 119 ist der Text mangels Kontext viel zu vage, als daß man mit auch nur
einiger Wahrscheinlichkeit den Topos "Wahrheitsreflexion" herauslesen könnte
(wie es P. Friedländer, YII00HKAI, Hermes 48, 1913, S. 604ff. tut); doch
unterliegt die Authentizität dieser 'YnoitijxuL zudem so starken Zweifeln, daß
selbst unter der Voraussetzung eines echt Demokriteisches Gut kompilierenden
späteren Redaktors (vgl. R. Philippson, Demokrits Sittensprüche, Hermes 59,
1924, S. 369 ff.) für die Typologie alter Scbrifteingänge nichts zu gewinnen ist.
Viel eher macht frg. B 35 den Eindruck eines archaischen Einganges (YVOlftEWV
ftEU ,;öiVÖE Ei: n~ i\natoL ;UV vocp ...), zumal durch das Demonstrativpronomen
und die stark an Heraklit frg. B 1 und 2 erinnernde Reflexion auf die Wirkung
des vorgelegten Werkes; doch dies definitiv behaupten zu wollen würde eine den
124
jüngere Adepten älterer Schulen wie Eleaten und Anaxagoreer usw.
zu zählen.
Bei all diesen Autoren ist es in der Frage der Buchtitel fürs erste nur
möglich, gewisse Grenzen abzustecken: auf der einen Seite wäre die
Grenze durch die Tatsache gezogen, daß man mit der prinzipiellen
Möglichkeit der Titelsetzung durch den Autor rechnen kann, wie sich
am Beispiel des Protagoreischen ' AAijÖElU-Titels gezeigt hatl4 , für des-
sen Authentizität man immerhin einige Argumente beibringen könnte;
die Grenze auf der anderen Seite würde durch die Beobachtung be-
stimmt, daß erst im Raum der Akademie und besonders des Peripatos
die Wendung ,,1tEQL qJUOEW~" jene formelhafte Kürze gewinnt (OL 1tEQL
qJUOEW~, -ca 1tEQL qJUOEW~), die sie als Buchtitelschablone für eine ganze
Gruppe von Werken geeignet erscheinen läßt, d. h. daß ein generali-
sierter Buchtitel IIEQt qJUOEW~ eigentlich vor dem 4. Jahrhundert
kaum denkbar ist, zumindest der Erwartung zuwiderlaufen würde.
Freilich hat auch diese Erwartung wiederum ihre Grenzen: denn
wenn im letzten Viertel des 5. Jahrhunderts sowohl die Titelsetzung
durch den Autor prinzipiell möglich als auch der der 1tEQL qJUOEW~
Formel zugrunde liegende qJuoL~-Begriff entwickelt ist, kann man nicht
mit Sicherheit ausschließen, daß ein Autor nicht doch das Thema einer
Schrift mit ,,1tEQL qJUOEW~" umschrieben haben könnte. Dies müßte ja
nicht unbedingt in einem Titel geschehen sein, sondern kann auch die
Form des bekannten einleitenden "Titelersatzes" gehabt haben: denn
die Entwicklung zum inhaltsanzeigenden "Titelersatz" zu Beginn
eines Werkes kam, wie Herodot, Antiochos, Thukydides und die Ano-
nyma dokumentieren, gleichfalls im letzten Viertel des 5. Jahrhunderts
zum Abschluß15. Wie die erwähnte16 Einleitung der Protagoreischen
Schrift über die Götter gleich zu Beginn das thematische Stichwort
1tEQL öEmv oder Demokrit in frg. B 2 cl3 sofort den Kernbegriff EUÖU-
[U:"iOitUL nennt, so wäre auch ein "1tEQL qJUOEW~" oder - was zunächst
noch wahrscheinlicher wäre17 - ,,1tEQL qJUOECIl<; -cmv a1tClv'twv (bzw.
bUlo'tou)" - theoretisch durchaus denkbar. Nur würde dies nach allem,
was wir über die Entwicklung dieser Formel beobachtet haben l8 , eine
125
eindeutige Ausnahme darstellen: d. h. die Existenz dieses Titels gegen
Ende des 5. Jahrhunderts müßte im individuellen Fall als Besonderheit
erwiesen, nicht generell postuliert werden.
Von einer solchen Besonderheit könnte man nach allem, was wir
wissen, einzig und allein im Fall des umstrittenen Philolaos reden: falls
seine Schrift tatsächlich, wie die neuere Forschung glaubt19, echt ist und
falls der Autor kurz vor oder um 400 v. ehr. schrieb und falls sein
Fragment B 6, wie wir meinen, als Fragment 1 zu zählen ist und vom
Anfang der Schrift stammt - falls all das der Fall ist, dann haben wir
hier ein solches exzeptionelles Beispiel eines :1tE(lL <p{,O'EWI:;-" Titelersatzes"
in der Einleitung vor uns, freilich in der bei den Anonyma vorgegebe-
nen Form 20 und - auch das verdient betont zu werden - in einer Art,
die den <puO'~I:;-Begriff immer noch nicht ganz absolut verwendet, son-
dern an ein Gefüge der Individual-Wesenheiten gebunden sein läßt
(:1tE(lL l\E <puO'WI:; xaL u(l/lovtal:; . . . U /lEv EO'"t(1) 1:(OV :1t(laY/lutwv . .. ou-ltEv
tmv Mvtwv ... täl:; EO'toUI:; .mv :1t(laY/lutwv E~ @v O''Uv~O'ta 0 xOO'/lOI:;).
Bei allen anderen in Frage kommenden Autoren und Werken fehlt
es aber für die Erbringung eines solchen Beweises am sachlichen Mate-
rial, das die für die Folgerungen unerläßlichen informativen Anhalts-
punkte böte: so ist, um nur ein Beispiel herauszugreifen, über die
Authentizität der Vielzahl Demokriteischer Werktitel einfach des-
wegen keine Aussage möglich, weil mit einer Ausnahme in keinem ein-
zigen Fall der zum überlieferten Titel gehörige Texteingang erhalten
ist, aus dessen Vergleich mit dem tradierten Titel man Rückschlüsse
über die für Demokrit maßgebenden publikationstechnischen Bedin-
gungen und Usancen ziehen könnte (und wie schwierig eine endgültige
Entscheidung selbst in diesem Fall wäre, zeigen die Beispiele aus der
ersten Gruppe, bei denen unter der u(lXO/lEvol:;-Formel Eingänge über-
liefert sind, deren Vollständigkeit ihrerseits wiederum nicht erwiesen
ist). Die wenigen scheinbaren Ausnahmen - etwa 'AÄTj-ltE~a21 und
126
IIEQL {JEWV von Protagoras - beleuchten die desolate Situation bei der
Masse gänzlich unklarer Fälle nur um so greller22 •
Wir werden also auch künftig in aller Regel bei den Titelproblemen
dieser dritten Gruppe auf verhältnismäßig "substanzlose" philologi-
sche Kombinationen und Mutmaßungen angewiesen bleiben, bei denen
als einziger heuristischer Fingerzeig vielleicht die überlegung hilfreich
sein kann, daß ein Titel um so eher den Eindruck der Originalität er-
Titel erklärt. über den Eingang der Schrift ist nichts Sicheres mehr ausmachen:
Diels schlug vor, den sehr verderbt überlieferten Anfang von frg. B1 so zu
heilen: EV .iji My~ ltav· .&.IIE yvour; ... Das ergäbe einen Beginn, der sich mit ver-
schiedenen hippokratischen Eingängen vergleichen ließe (s. oben S. 40 ff. .&.IIE
XQf) ltOLEtv u. ä.), worauf schon W. Aly, a. a. O. (s. oben S. 66 f., Anm. 10), S. 55
unter Billigung der Dielsschen Korrektur hingewiesen hat. Freilich übersieht Aly,
daß die Eingangstopologie bei anonymen und nicht anonym veröffentlichten
Schriften nicht ohne weiteres harmonisierbar ist: wenn also das Antiphontische
Werk tatsächlich, wie Aly S. 115 meint, keinen Titel im heutigen Sinn trug, son-
dern wenn der Titel AÄ.i]-DELU oder IIEQt aÄ.llltELur; "offenbar nach den Eingangs-
worten " sich sekundär kristallisiert hat, dann ist ein Eingang von der Art voraus-
zusetzen, wie ihn Diels und Lier (vgl. oben S. 66, Anm. 8) für Protagoras
postulierten. Dann verliert aber auch die Dielssche Antiphon-Konjektur ihren
Sinn und ihre Notwendigkeit und kann, selbst ihre Richtigkeit angcnom:nen,
nicht mehr in unmittelbare Parallele zur Eingangstopik anonymer Schriften
gesetzt werden.
Wenn Diogenes Laertios den richtigen Sachverhalt wiedergibt, dann gab es auch
von Antisthenes eine 'AÄ.i]ih:LU (Diogenes Laertios 6,16) und von Simmias einen
Dialog IIEQL &Ä.ll-DELur; (2, 124). Dodt ist uns von deren Eingang nidtts erhalten,
so daß man nichts darüber ausmadten kann, ob diese Titel auf den Autor - ver-
mutlich via Eingangstopik - oder auf spätere Philologen(re)konstruktionen (bei
Simmias etwa ähnlidt wie die Untertitel der Platonisdten Dialoge) zurü<kgehen
(H. Sauppe, De Antiphonte sophista, in: Ausgewaehlte Schriften, Berlin 1896,
S. 508 ff., urteilt auf jeden Fall zu unreflektiert und optimistisch, wenn er be-
hauptet, S. 513 f., "hune quidem titulum [sc. 'AÄ.i]-DELU] etiam alii eomplures libris
suis feeerunt") .
•• Die Eingänge von Reden lassen sich zur Klärung des Problems bei philosophisdten
Prosatexten nidtt verwerten: die (J.E.&.ßuaLr; Eir; aÄ.Ä.o YEVOr; wäre augenfällig,
wie ein Bli<k auf Gorgias lehrt, von dem vier Redeanfänge erhalten sind. Die -
möglicherweise in den Rahmen einer Rhetorik-dxvll gehörenden - Modellreden
Helena und Palamedes haben ihren individuellen Eingang, aus dem sich kein
Titelstichwort herauslösen läßt; und bei den zwei von Aristoteies in der Rhetorik
überlieferten Anfängen von Festreden, Olympikos (VS 82 B 7) und Eleierrede
(B 10), enthält nur der zweite gleidt zu Beginn das Stidtwort "Elis" (vgl. oben
S. 49). über den Anfang und den originalen Titel der angeblidt IIEQL .OÜ (J.f)
5v1:O<; t\ ltEQL cpuaEOOr; überschriebenen philosophischen Schrift läßt sich daraus
nichts gewinnen, zumal die Tatsache, daß Reden ihren Titel erst bei der Publika-
tion erhalten, wie sdton bemerkt (s. oben S. 48 ff.), gattungsbedingt ist. - Das
äQr.O~laL in dem zu Kritias' Abhandlung über die Verfassung der Lakedaimonier
gehörenden Fragment (VS 88 B 32) leitet nicht die Erörterung im ganzen ein,
sondern ist wahrscheinlich der übergang vom Prooimion zur Darlegung im ein-
zelnen.
127
weckt, je "origineller", "ausgefallener", profilierter, einem bewußt
formulierenden Autor "gemäßer" er sich gibt: eine antieleatische
'AA:fr3EU1, mit mythischen Allusionen werbende 'lQ(lUL, schon im kenn-
zeichnenden Schlagwort prononciert zugespitzte ' AVtLAOYLaL, der ein
von Grund auf neu geordnetes Weltbild versprechende MEYu~ ÖUl,)(OO-
!L0~ und ähnliches dürfen als weniger suspekt gelten als die spätere
Allerweltschiffre IIE(lL q),UOEW~, wenngleich auch sie allein aufgrund
ihrer pointierten Form ebenfalls noch keineswegs gesichert sind 23 •
Andererseits - und damit kommen wir zum Schluß nochmals auf
einen Einzelfa1l24 zu sprechen, der aufs nachdrücklichste die Diffizilität
eines solchen "bodenlosen" Argurnentierens illustriert - waren ja
schon der antiken Doxographie die Individualitäten der alten Philo-
sophen vertraut, und zwar sicher weit besser als uns: und einem als
notorischer "Widerspruchsgeist" bekannten Autor einen anti-natur-
philosophischen Titel von der Art "IIE(lL 'tO'Ü !Li} oV'to~ ~ rtE(lL <pUOEW~"
anzudichten ist ein Einfall, den man selbst mittelmäßigen Handbuch-
schreibern zutrauen möchte. Falls dieser pointierte Doppeltitel der
Gorgias-Schrift aber als Replik auf "IIE(lL <pUOEW~" -Titel anderer Auto-
ren zu verstehen sein sollte, so setzt er ein doxographisches Stadium
voraus, das, wie zu sehen war, mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit erst
im alten Peripatos erreicht ist: er wäre also nicht authentisch. So bliebe
für die Originalität dieses Gorgias-Titels als einziges Argument die
Replik auf den Melissos-Titel IIE(lL <pUOEW~ ~ nEQL 'tO'Ü oV'to~ übrig: und
daß Melissos in spontaner Selbständigkeit - d. h. ohne die (damals
110ch gar nicht mögliche) IIE(lL <puoEw~-Tradition - auf diesen Titel
(oder einleitenden Titelersatz) verfallen sein könnte, ist so wenig zu
beweisen wie zu widerlegen. Will man sich nicht mit einem unbefrie-
digenden non liquet begnügen, so wird man sich angesichts der keines-
wegs einheitlichen überlieferung dieser Titel, der grundsätzlich anzu-
ratenden Skepsis bei allzu genauen späten Titelangaben25 (hier: durch
Sextus und Simplikios) und der erst nach Melissos sichtbar einsetzenden
Entwicklung der nE(lL <puoEw~-Formel eher negativ entscheiden müssen.
23Man denke beispielsweise an die von J. Bernays angeregte Diskussion über die
Identität von 'A).,iji}ELa und 'Av.~).,oyla~ (siehe oben S. 70, Anm. 23).
24 V gl. oben S. 71 f.
2" Vgl. oben S. 10f.
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- s. aud!. oben unter E. Kuhnert
u. von Wilamowitz-MoellendorJJ, Antigonos von Karystos, Berlin 1881 (Philolo-
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- Die Textgeschid!.te der griechisd!.en Lyriker, Berlin 1900 (Abhandlungen der Kgl.
Gesellsd!.aft der Wissensd!.aften zu Göttingen, phil.-hist. Klasse 4/3)
- Einleitung in die gried!.ische Tragödie, Berlin 81921 (Nachdruck zuletzt Darmstadt
1969)
- Platon, Bd. 1, Hg. B. Snell, zuletzt Berlin 51959; Bd. 2, Hg. R. Stark, zuletzt
Berlin 81962
E. Zelter, Die Philosophie der Griechen, Bd. 1/1, Hg. F. Lortzing und Wilh. Nestle,
Leipzig 71923; Bd. 1/2, Hg. Wilh. Nestle, Leipzig 81920
H. Zilliakus, Boktiteln i antik literatur, Eranos 36, 1938, S. 1 ff.
134
REGISTER
135
1, 1 = 641 a29: 101 1,1: 44, 67
1,1 = 642 a28: 97 3: 44
1,1 = 642 al8f.: 102 IIepl aYl1iiiv 1: 43, 118
1,5 = 645 a5f.: 98 IIepl utpwv Uölhwv .01tWV 1: 42f., 45
[IIepl 1'OO"l1ou]: 115 IIept apxalfl~ tfl.pL1'i')~ 1: 41, 43, 45
IIepl oupavoü: 103 20: 83, 87, 91, 94-96,98 f., 104, 110
1, 1 = 268 alff.: 99 IIepl yuvaL1'Elflt; tpUO"LO~ 1: 42
1,2 = 268 b11 ff.: 98 IIEpl YUVat1'etwv vouO"wv 1, 1: 42 f.
1,4 = 271 a33: 118 IIEe1 ÖLalTf]~ 1, 1: 4H.
3,1 = 298 blff.: 98f. IIEpl ÖLaL-tflt; öf;swv 1: 41
IIepl 1:11 ~ii>a LO"1:0pLaL 3, 5 = 513 a9: IIEpl ÖLaL-tfl~ UYLELvi')~ 1: 42
101 IIEpl LEpi')t; vOO"OlJ 1, 1: 41-43, 85
Physik: 14, 103 2,1: 41
1,1 = 184 a14ff.: 99 IIEpl tpUO"LOt; uvilpol1tou: 107
1,2 = 185 a17ff.: 98 1: 42 f., 46
1,2 = 184 b25 ff.: 98 IIpoyvwO'"tL1'OV 1: 42 f.
1,4 = 187 a35: 101
2,2 = 193 b29: 101 Demetrios Phalereus 82
2,4 = 196a22: 104 [IIEpl tPl1flvElat;] 2, 12: 33
3,4 = 202 b30ff.: 99 Demetrios von Magnesia 14, 85, 122
3,4= 202 b35: 97 Demokrit 45, 77 f., 80, 124-126
3,4 = 203 a16: 101 A 33: 77
8, 1 = 250 b15 f.: 100 B 2c /f. (IIept EUillJI1Lfl~): 124 f.
8,1 = 250 b16ff.: 99 [?] B 4b (Mlyat; ölAi1'oO'I10t;): 128
Poetik 1, 1447 b17: 12 B 5c/d: 17
15, 1454 b18: 12 B 35 (Gnomen): 41, 124f.
Politien: 81 f., 108 B 119 ('Y1toili')xat): 124
Politika: 81 B 165 (ML1'POt; ÖLß1'OO'I10t;?): 124
[Problemata] 10, 13 = 892 a25: 100 Demosthenes 59
21, 22 = 929 b15 f.: 105 Symmorienrede: 53
Rhetorik: 127 Didymos
3,5 = 1407 b16: 120 Demostbeneskommentar: 53
3, 14, 12 = 1415 b33 ff.: 49 Diogenes Laertios 16
3,14,12 = 1416 al ff.: 49 1, 23f.: 12f.
Athenaios 1,116: 12
1, 3atb: 55 1, 119: 123
Augustin 2,6: 121
Retraktationen: 112 2,13: 118
2, 124: 127
Bakchylides 26 f. 6,16: 127
Pap. Ox. 1091: 52 6,17: 100
Kommentar Pap. Ox. 2368: 26 6,81: 122
Bias 79 8,7: 88
Bion 8,54: 124
Adonis 1 f.: 39 8,55: 108f.
8,60 f.: 123
Charon von Lampsakos 48 8,62: 124
Choirilos 54, 81 8,83: 32
Cicero 122 8,85: 14,85
Academica 2 (Lucullus), 23, 73: 122 9,22f.: 111
Clemens Alexandrinus 121 f. 9,51:65
Corpus Hippocraticum 23, 40-47, 61, 9,51 f.: 68 f.
69,78,83,96, 100f., 124f., 127 9,52: 67
'E1tLÖllI1Lat 1: 44 9,54: 69f.
136
9, 55: 70 IIe(li -rmv xalt' 'I1t1tox(la-rf)v O-rOL"elWV
9,57: 122 1,9 = 1,487 Kühn: 11, 13
Diogenes von Apollonia 14, 119, 122,124 Gellius
A 2: 122 7, 17, 1: 55
A 5: 14 Gorgias 11,14,17,62, 77f., 127f.
B 1: 122 B 1 ff. (IIe(li -roü 111) ov-ro~ 1\ 1te(l1
B 1 ff.: 17 ql1)oew~): 17,71 f., 127 f.
Dionysios von Milet 48 B 7: 48, 127
~toooi Myot 8, 1 f.: 84-87, 89 f., 92-94, BIO: 49,127
96, 98 f., 101, 104 B 11 (Helena): 127
8,6: 84 B 11 (Helena), 21: 71
B l1a (Palamedes), 1: 118, 127
Empedokles 11, 14, 74, 76 f., 91, 9H.,
100, lOH., 109, 116f., 119, 123f. Hekataios 29 f., 32, 77 f.
B 1: 75 f. FGH 1 F 1: 32-36, 38-40, 42 f., 48,
B 1 ff.: 17 66,76,120
B 8,1 ff.: 116, 123 Hellanikos von Mytilene 47
B 34: 105 Herakleides Lembos 88
B 53: 104 Herakleides Pontikos 81
B 63: 116 Heraklit 16 f., 36, 46, 59, 74, 76, 78 f.,
B 110, 5: 116 114--117, 120
Katharmoi: 77 B 1: 85, 114 f., 120, 124
B 112 (Katharmoi), 1 ff.: 76,124 B 2: 124
Ephoros 78 B 10: 115
Epidlarm 54 B 30: 93
B 4: 116f. B 38: 78
ra xai 8ut,aooa: 31 B 39: 78
'EA1ti~ iJ InoiiTo~: 31 B 40: 77f.
Epigonoi 24 B 42: 78
Epikur 15 B 50/51: 115
'Emo-roAT) 1te(li -rmv t1tL-rT)lleul1u-rwv: B 56: 78
15 B 57: 78
Eudemos B 80: 78f.
Mathematikgeschichte: 108 B 81: 78
Eupolis B 105: 78
Marikas: 28 B 106: 78, 115
jrg. 304 Kode 58, 68 BI12:115
Euripides 57, 60 f. B 123:114
Andromeda: 28 Hermesianax
Antiope (?) frg. 910 Nauck: 56, 86 f., Leontion: 31
92-94,96-99,104,110,117-119 Herodot 23-31, 32, 37, 40, 47, 52, 54,
Bakd?en 200ff.: 6H. 68,73,79 f., 116, 121
Helena: 28 1, Prooimion: 35 f., 38 f., 42, 48, 125
Herakles: 26 1,8,2: 30
Palamedes: 28 1,12,2: 25
Troades 885 f.: 118 f. 1,23: 25f.
Euryphon 42 1,24,7: 30
Eusebios 1,69: 42
Praeparatio evangelica 14, 3, 7: 68 f. 1,93,5: 29
14,19,8:122 2,20,1:30
2,23: 30 f., 32, 87 f., 100
Galen 2,32,3: 30
IIe(li -rmv Llllwv ßtßi,LWV 92, 13 ff. Mül- 2,34, 1: 30
ler: 20 f., 47, 76 2, 116, 2: 23
137
2,116,3: 25 8,1: 39
2,117: 2H. 9,1: 39
2, 135, 6: 25,31 10,1: 39
2, 143, 1: 29 11, 1: 39
3,40: 42 12, 1: 39
3,40,1: 38 13, 1: 39
3, 122: 42 14,1: 39
4,14,3: 25, 29 15, 1: 39
4,29: 23 17,1:39
4,32: 24,30 18,1:39
4,33, 1: 30 19, 1: 43
4,36,2: 29 20,1: 39
5,24: 42 21, 1: 39
5,36,2: 29 22,1: 43
5,49,1: 29 23, 1: 39
5,58,3: 51f. 24,1: 39
5,95,2: 25,31 25, 1: 39
5, 113,2: 25 27, 1: 39
5,125:29 28, 1: 39
6,21,2: 27 29, 1: 39
6,95,2: 29 30, 1: 39
6, 137, 1: 29-31, 32 31,1:39
7,6,3: 25,27 32,1: 39
7,6,4: 30 33,1:43
7, 9ß, 1: 30 Horaz
7,150:42 Carmen 1, 1: 39
7,219,1: 29
7,223,1: 29 Inscriptiones Graecae
7,229,1: 29 Dittenberger Nr. 22 (= Tod Nr. 10):
8,77,2: 30 42
8,140: 42 Dittenberger Nr. 45 (= Tod Nr. 25):
Hesiod 54, 77 f., 123 42
Theogonie: 73 Dittenberger Nr. 141: 42
1 ff.: 33 Ion von Chios 46, 122
22 ff.: 33-35, 44, 73, 122f. B 1 = FG H 392 F 24 (TQlaYfLo~ =
27:34 IIeQl l1e-.:eooQoov = KOal1oAoYlX6~):
Hippias 86, 91 122
Hippokrates (s. auch Corpus Hippocra- FGH 392 F 24-26 (Triagmos): 47
ticum) 42, 91, 101 Isidor
Hipponax 75 Origines 6,3,3,: 55
Homer 23 f., 27, 30, 34, 54 f., 59,62, 73, Isokrates
78, 122 9 (Euagoras), 74: 12, 48
!lias: 23 f., 34, 78 8 (IIeQl "tf)~ etQi!"'I]~): 53
1,1: 39 5 (Philippos), 11: 12, 48
6, 289ff.: 25
Odyssee: 23,78 Kallimachos 21, 111 f.
1,1: 39 IItvaxe~: 111 f.
8,267: 43 jrg. 442 Pfeiffer: 111
»Homerische" Hymnen 27, 79 jrg. 453 Pfeiffer: 111
2,1: 39 Kallinos 18
3 (Apollonhymnos), 165 ff.: 34, 40, 122 Kratinos
177:34 Dionysalexandros: 31
4,1: 39 Kritias
7,1: 43 B 32 (IIoAl-.:Eta AaxeÖmI10VLoov): 127
138
B 42 (IIEQl (jn)OEOle; EQOl'tOe; ~ UQE'tÖlV): Phrynichos
107 MLAi)'tOU äAOlOLe;: 27
Kyklos 23 f., 27, 79 Pindar 26
Kyprien 23 Pap. Ox. 1604: 26
Platon 15, 65, 75, 77 f., 8G-82, 85-104,
Leukipp 124 106[., 110, 120, 127
B 2 (IIEQl voü): 118 Apologie 26 d7 ff.: 58 f., 121
Lukian 7. Brief 344 d: 92
Ikaromenipp 31 Charmides 153 a: 48
IIQoe; 'tov UltaiöEu'toV ... 4: 59 Gorgias 483 e: 118
Lukrez 15 Ion 530 a: 48
Lysias Lysis 214 b: 87-89, 92
24, 1: 48 Nomoi 891 c: 90-92, 103
Phaidon: 26
Melissos 11, 13 f., 17, 121
95 e-96 a: 13, 89 f., 92-94, 99, 104
IIEQl (jn)OEOle; 111tEQl 'toü oV"tOC;: 71 f.,
97b/c: 74,121
128
Phaidros 269 e ff.: 91 f.
Menander 31
270 c: 101
Samia: 53
275 a5: 7Sf.
Metrodoros von Chios
276 d3: 75 f.
B 1: 17, 122
Philebos 44 b: 91 f., 97, 101 f.
Menon
59 a: 90,92 f., 97, 103
Medizingeschichte: 108
Politik os 284 b: 49
Mimnermos 26
286 b: 49
Musaios 25, 27
Protagoras: 70
Okellos 14 315 c: 86 f., 91, 122
Orpheus 54 Sophistes: 49
Ovid 31 Symposion (Pap. Ox. 843): 52
Theaitet 161 c2 ff.: 64-66, 70 f.
Parmenides 11, 14, 16f., 66, 70, 74, 76f., Timaios 29 d: 92
79, 102, 109, 114-117, 123 57 d: 91 f.
A 1: 111 Plotin 21
A 4: 14 Plutarch
A 9: 109 Sulla 26, 1/2: 82
B 1: 123 Pollux 9, 47: 58
B 1, 29ff.: 70, 123 Porphyrios 70
B 2,4: 70 Vita Plotini 4,17ff.: 21,47,112
B 8, Soff.: 70 Prodikos 11, 13,62
B 10,1: 115 B 1/2 (Horen): 88,128
B 10, H.: 115 B3/.:17
B16,3:115f. Proklos
B 19: 70 Timaioskommentar 1,21 c: 81
Phanokles Protagoras 45,62, 73, 78, 84, 124-128
Erotes: 31 Al: 65,68 f.
Pherekydes von Syros 12, 123 B 1 ('AAi){lELa): 64-71, 125-128
A 7: 12 B 2 (hoyoe; ItEQl 'toü oV'tOC;): 70
Philodern 100 B 3 (Meyac; A6yoc;): 70
Philolaos B 4 (IIEQl {lEÖlV): 67-71, 85, 125, 127
BI: 85 f., 119, 126 f. B 5 ('AV'tLAoylaL): 70, 128
B 1 ff.: 14, 17 B 7: 70
B 6: 45,83,85-87,94, 119, 126 f. B 8/8 h: 70
Philon Ptolemaios I. 82
De aeternitate mundi 3, 13 Cohn: 14 Ptolemaios VI. Philometor 88
Photios 59 Pythagoras 76-78, 88
139
Sappho 18, 25, 26, 75 19 fF.: 25, 34, 38, 75
Seneca Theokrit 22 (Dioskuren), 1 f.: 39
De tranquillitate animi 13, 1: 124 Theophrast 13, 82
Servius <I1uO'Lxiiiv Ml;m: 108-112
Aeneiskommentar 6, 21: 26 frg. 1: 110
Sextus Empiricus 16, 128 frg. 9: 110
Adversus mathematicos 7, 60: 64-66 Theopomp 12, 78
7,111:123 FGH 115 F 71: 12
Simmias Thrasyllos 17,77
'AAT)ftELU: 71, 127 Thukydides 37, 59
Simon 1, 1: 37-40, 53,68, 125
IIEQL tllEu~ i.rutLxij~ 1: 43, 88 1,20-23: 39
Simos 1, 21, 1: 29
'O'l'uQ'tuO'lu: 54 1,22: 123
Simplikios 128 1,22,4: 75
Kommentar zu IIEQL oUQuvoü 556, 25 1, 129, 3: 38, 42
Heiberg: 14 2,70,5: 53
557, 10 Heiberg: 14 2, 103,2: 53
Physikkommentar 4, 8 ff. Diels: 15 3,25,2: 53
22, 27 ff. Diels: 110 3, 88,4: 53
23, 29ff. Diels: 13, 110 3, 116,2: 53
25, 1 Diels: 14 4,51: 53
26,21 ff. Diels: 110 4,135,2: 53
70, 16 Diels: 14 5,26: 38
103, 13 ff. Diels: 121 5,26, 1: 53
155,26 Diels: 121 5, 105,2: 118
460,26 Diels: 121 6, 7,4: 53
1233, 30ff. Diels: 15 6,93,4: 53
Sokrates 58 f., 89, 93, 97 f. 7,18,4: 53
Solon 18,25 8,6,5: 53
5,11: 34 8,60,3: 53
Sophokles Tyrtaios 18
Oidipus auf Kolonos: 27 f.
Sotion Xanthos von Sardes 48
Philosophiegeschichte: 88 Xenophanes 76-78, 123
StesidlOros 27 A 31: 110
Strabon B 23: 17
13, 1, 54, p. 608/609: 82 Xenophon 78, 96 f.
Suda 12, 123 Anabasis 7,5, 14: 60
Sulla 82 Apomnemoneumata 1,1,11: 93,97-
99,104
Terpander 34 1,6,13: 62
Thales 76, 78 1,6,14: 51 f.
Al: 12 2,1,21:88
Bl:13,110 4,2, 1. 8 ff.: 61 f.
Theaitetkommentar (anonym) 2,3 Diels- ['AftT]vutoov l'tOAL'tEtU]: 40, 68, 124 f.
Schubart: 65 1, 1: 45-47, 66 f., 69
Themistios IIEQL i.nnLxij~ 1, 1: 43 f., 88
or. 36, p. 317: 11 f. Symposion 3,5: 60
Theognis 18
19f.: 36 Zenon von Elea 17, 121
140
B. Moderne Gelehrte
141