Die Chinesische Schrift Und Ihre Mythen
Die Chinesische Schrift Und Ihre Mythen
Das Chinesische als Teil einer .exotischen' Kultur des fernen Ostens hat schon
immer den europäischen Geist zu allerlei Phantasien und Spekulationen
angeregt. Chinesische Schrift und Kalligraphie, Taiji und Yijing, Konfuzius und
Laotse - all dies sind Chiffren aus einem Reich der Zeichen, wie es Roland
Barthes für die japanische Kultur aufgezeichnet hat und in dem der Mythos
eines von dem europäischen differierenden Symbolsystems gefeiert wird. Häufig
dient dabei das Prinzip des sprachlichen Relativismus' - auch als Sapir-Whorf-
Hypothese bekannt - als Argumentationsfolie: „Ein Kapitel von Sapir oder
Whorf über die Chinook-, Nootka- oder Hopisprache, von Granet 2 über das
Chinesische, der Vortrag eines Freundes über das Japanische eröffnen das ganze
Spektrum des Romanhaften (...), weil sie uns eine Landschaft wahrnehmen
lassen, die unsere Sprache (die Sprache, deren Besitzer wir sind) um keinen Preis
erahnen oder entdecken könnte" (Barthes 1970: 19-20). Ein Teil dieser
mythischen Landschaft ist die ,Symbolsprache' der Chinesen, die direkt an die
Kodifizierung in Schriftzeichen gekoppelt ist und die, wie Eberhard (1987: 6) in
seinem Lexikon chinesischer Symbole feststellt, „höher zu stellen [ist] als die
einfache Sprache".
Die Mythologisierung und Mystifizierung der chinesischen Kultur und
Sprache und der alten Philosophie haben ihren Anfang nicht erst seit Beginn der
Krise der instrumentellen Vernunft in der westlichen Zivilisation, sondern
hängen zusammen mit dem jahrhundertealten Blick eines eurozentristischen
Weltbildes und der passenden Brille der lateinischen Grammatik auf eine fremde
Kultur und Sprache. Hieraus erklärt sich, dass selbst ein Kenner vieler Sprachen
und Kulturen wie Wilhelm von Humboldt die chinesische Sprache gegenüber
flektierenden als reduziert begreift, wenn er 1826 ,Ueber den grammatischen
Bau der chinesischen Sprache' schreibt: „Die Chinesische (Sprache, P.S.)
überhebt sich einer genauen, ja im Grunde aller Bezeichnung der grammatischen
1 Für Hinweise und Kommentare danke ich Klaus Bayer, Hans Bickes, Christa
Dürscheid, Andreas Guder-Manitius, Nicole Haferlandt, Markus Hernig, Olaf Krause,
Martin Lang, Otto Ludwig, Utz Maas, Ingo Plag sowie den mir unbekannten Gutachtern
der ZS.
2 Siehe Granets (1988) Buch über die chinesische Zivilisation, P.S.
F o r m e n " (von Humboldt 1968: 321), weshalb die Wörter „mehr den Übergang
eines Theils des Gedanken zum andern anzeigen" (ibid., S. 318). Das, was nicht
mit dem klassischen Grammatikkonzept aus der Indogermanistik und der
Lateintradition in Einklang zu bringen ist, hat demnach keine Grammatik. Das
Fehlen von Kasus, Tempus, Person und Numerus als Flexionskategorien wie im
(klassischen) Chinesischen wird als generelles Fehlen grammatischer Kategorien
interpretiert. Von Humboldt, für den die Sprache das bildende Organ des
Gedankens ist, knüpft den grammatischen Formenbau an das Denksystem:
„Der Gedanke, der in dem Kopfe eine ununterbrochene Einheit bildet, findet in
einer, alle Wörter organisch verknüpfenden Sprache dieselbe Stetigkeit wieder.
Durch beides verbindet ein vollendet grammatischer Formenbau den zweifa-
chen Vortheil, dem Gedanken mehr Umfang, Feinheit und Farbe zu geben und
ihn genauer und treuer darzustellen" (ibid., S. 322). Das Chinesische befinde sich
nun gegenüber „mit vollkommener Formenbezeichnung versehenen Sprachen
(...) im entgegengesetzten Fall" (ibid., S. 322). Der,Mangel' an grammatischem
Formenbau, an morphosyntaktischer Komplexität wird in der Folge auf der
Basis der Humboldtschen Klassifikation der Sprachen als isolierende, aggluti-
nierende und flektierende derart historisiert, dass das Chinesische als Fortfüh-
rung einer primitiven und alten Sprachform gesehen wird. Dass das Chinesische
indes nicht so primitiv und grammatiklos ist, wie lange Zeit behauptet wurde,
hat bereits 1881 von der Gabelentz (1952) in seiner Grammatik zum klassischen
Chinesisch 3 in überzeugender Weise demonstriert; doch trotz dieser und vieler
weiterer Arbeiten zum Chinesischen wie den herausragenden Analysen zur
philosophischen Grammatik des Altchinesischen von Harbsmeier (1979) sowie
der paradigmenbildenden Grammatik zum modernen Chinesisch von Chao
(1968) haben viele Mythen wie der des Monosyllabismus oder der einer
,grammatiklosen' Sprache überlebt.
Ein ethnozentristischer Ansatz, in dem das Prinzip des sprachlichen Relativis-
mus auf Schriftsysteme a tergo übertragen wird, findet sich in Stetters (1999)
Buch Schrift und Sprache. Dort wird der chinesische Schrifttyp mit dem System
der Alphabetschrift (der Griechen) kontrastiert und die Hypothese aufgestellt,
dass das Chinesische eine ideographische Schrift sei 4 (Stetter 1999:456) und dass
- dies ist die eigentliche provokante These - „es sicher kein Zufall [ist], d a ß sich
im Kulturkreis der chinesischen Schrift weder Grammatik noch formale Logik
entwickelt haben" (ibid., S. 13). Und: „Es hat sich also bei mir - in vielen
Begegnungen und Diskussionen mit japanischen wie chinesischen Kollegen
ebenso wie beim Einkaufen im Supermarkt von Hiyoshi - der Eindruck
3 Unter klassischem Chinesisch wird jene mehr als 2000 Jahre tradierte Literatur-
sprache verstanden, wie sie in den Werken des klassischen Altertums Chinas zwischen dem
5. und 3. Jahrhundert v.Chr. verwendet wurde.
4 Eine Position, die auch von chinesischen Linguisten vertreten wird, siehe z. B. Wang
(2000: 75).
FORUM 119
befestigt, daß mit dem fremden Typ von Schriftzeichen ein andersartiger Typ
von Denken einhergeht. Dieser Eindruck mag natürlich täuschen, nicht mehr
reflektieren als die zivilisatorischen Differenzen, denen man jenseits der
heimischen Lebensform unablässig ausgesetzt ist. Ein Faktum ist indessen, daß
sich im Kulturkreis der chinesischen Schrift weder eine formale Logik noch eine
Grammatik in ,unserem' westlichen Sinn ausgebildet hat" (ibid., S. 12). Stetter
vertritt hier eine an prominenter Stelle publizierte Position, die zum einen zwei
sich hartnäckig haltende Mythen, den Ideographie-Mythos und den Mythos der
nicht vorhandenen Logiktradition in China aufnimmt und diese Mythen
zugleich verschränkt auf der Folie des Prinzips des linguistischen Relativismus.
Dies ist eine neue Qualität im Rahmen sprachrelativistischer Ansätze, da bislang
das Chinesische als isolierender Sprachtyp in Verbindung mit vorgeblich nicht
vorhandener Logiktradition in China gebracht wurde.
Ich möchte nun im Folgenden Stetters Thesen und die Argumente dafür einer
kritischen Prüfung unterziehen, und in einem zweiten Schritt die Argumentation
auf der Folie des Prinzips des sprachlichen Relativismus und aus einem breiteren
Blickwinkel, als Stetter ihn explizit einnimmt, diskutieren. Ich werde zunächst
kurz das Prinzip des sprachlichen Relativismus rekapitulieren und anschließend
Stetters Argumente bezüglich seiner Grundannahmen wiedergeben (1). Nach
einigen Anmerkungen zur chinesischen Sprache und Grammatik (2) möchte ich
vor diesem Hintergrund zeigen, dass die chinesische Schrift weder ideographisch
ist (3) noch (4) die Annahme einer mangelnden Logik- und Grammatiktradition
gerechtfertigt ist und folglich die Ansicht, „daß erst durch die Erfindung des
griechischen Alphabets die Basis des modernen Denkens gelegt werden konnte,
(...) heute in dieser Form nicht mehr haltbar [ist]" (Guder-Manitius 1999:
24-25). Zum Abschluss werde ich die geführte Diskussion auf dem Hintergrund
relativistisch angelegter Schriftauffassungen reflektieren (5).
5 So auch Weisgerber, der die Frage stellt, „ob die aristotelische Logistik tatsächlich
Allgemeingültigkeit beanspruchen könne, oder ob sie nicht im Grunde eine indogermani-
sche, auf den Grundzügen des indogermanischen Sprachbaues ruhende Logik sei (womit
zugleich die Frage verbunden ist, wieweit es andere, jeweils charakteristischen Sprach-
stämmen zugeordnete Logiken gibt)" (Weisgerber 1964: 26).
6 Weiterführend hierzu Habermas (1999).
FORUM 121
Das Chinesische ist der Prototyp einer analytischen Sprache und sprachtypolo-
gisch dem Tai, Vietnamesischen und den Miao-Yao-Sprachen wesentlich näher
als dem Japanischen und Koreanischen, die als agglutinierende Sprachen den
Altai-Sprachen zugeordnet werden. Das, was als modernes Standardchinesisch
(Putonghua) klassifiziert wird, ist eine Koine, die auf dem Beijing-Dialekt
basiert und in Nord- und Mittelchina gesprochen wird. In China selbst gibt es 55
Minderheiten und insbesondere im Süden Chinas verschiedene, stark vom
Standardchinesischen abweichende Regiolektgruppen wie den Yue-Regiolekt,
der als Kantonesisch bekannt ist, oder die in Shanghai und im Yangtse-Delta
gesprochenen Wu-Dialekte (vgl. im Einzelnen Ramsey 1989).
Das Chinesische ist eine Tonsprache mit vier Tönen: Hochton, Steigton,
Fall-Steig-Ton und Fallton sowie ein sog. Nullton. Die Silbenstruktur ist
(C)V(C), wobei der Endrand konsonantisch allein durch den dentalen oder
velaren Nasal [η, η] gebildet werden kann. Für die Anzahl der Töne im
klassischen Chinesisch gibt es unterschiedliche Positionen, man nimmt an, dass
einer der Töne an Silben mit plosivem Endrand (p, t, k) gekoppelt war. Wörter
sind im heutigen Chinesisch poly-, vorwiegend bisyllabisch, während das
klassische Chinesisch überwiegend eine monosyllabische Sprache 9 war. Gegen-
9 „Ob das klassische Chinesisch (das erst noch zu definieren wäre) tatsächlich
monosyllabisch war oder nur monosyllabisch verschriftet wurde (weil das Schriftzeichen
eben eindeutiger war als seine Lautung), ist die Frage, die hier m. E. noch zu stellen ist. Ob
(und wann) es überhaupt je eine Zeit gab, zu der man in China tatsächlich so sprach wie
man schrieb, halte ich für fraglich" (Guder-Manitius, persönliche Mitteilung).
FORUM 123
3. Der Ideographie-Mythos
Die chinesische Schrift ist die einzige der alten Schriften der Hochkulturen, die
bis zu den Anfangen zurückverfolgt werden kann und die gleichzeitig heute noch
geschrieben wird - diese ungebrochene Tradition über 3500 Jahre hinweg bis in
die Jetztzeit macht neben der Andersartigkeit gegenüber einer Alphabetschrift
wohl die Faszination aus, die von der chinesischen Schrift ausgeht, und dies
macht sie für die Schriftforschung auch besonders interessant. Als Vorläufer der
chinesischen Schrift werden zum einen Felsinschriften angesehen, die bis zu
10000 v.Chr. eingeordnet werden können (vgl. Chen 1989), zum anderen die
Bildmotive der Yangshao-Kultur (4115-2965 v.Chr.) und der Longshan-
Kultur (1725-1695 v. Chr). Als früheste Schriftform wird die sog. Orakelkno-
chenschrift angesetzt, die auf die Zeit der Shang-Dynastie (ca. 14.-11. Jh.
FORUM 125
technik, die sog. Skapulamantie, ist noch heute bei verschiedenen Minderheiten
in China üblich.
Der in Abb. 1 gezeigte, auf das frühe 13. Jh. v. Chr. datierte Bauchpanzer einer
Schildkröte weist auf der Vorderseite eine Reihe von Schriftzeichen auf, die in
acht Feldern links und rechts der Mittellinie des Bauchpanzers so angeordnet
sind, dass die Gravuren jeweils innen an der Mittellinie beginnen, auf der
Rückseite befinden sich etwa dreißig Bohrungen für das Erhitzen. Die insgesamt
acht Inschriften beziehen sich auf Jagdexkursionen, die erste Divination (rechts
oben) lautet: ,Divination (bü) am Tag yiyöu (22. Tag des Sechzigtagezyklus):
Der Prinz (zi) begibt sich (zü) in die Hügel (qiü) von AB (nicht identifizierbarer
Ortsname), um mit dem Netz (wàng) Schweine (shï) zu fangen. Er wird welche
(Zahlenangaben: 2, 3, 4, 5) fangen 1 . In Abb. 2 sind die identifizierten und
rekonstruierten Zeichen dieses Orakeltextes zusammengestellt. In der ersten
Zeile findet sich die Orakelknochenschrift (vgl. Abb. 1 und 2), in der zweiten
Zeile die sog. Bronzeschrift (ca. 11.Jh. bis 3.Jh. v.Chr.). Bronzeinschriften
finden sich auf Glocken, Opfer- und Kochgefäßen etc. Die ,kleine Siegelschrift'
in Zeile 3 entwickelte sich aus der ,großen Siegelschrift' und wurde ca. 214-210
v.Chr. in der Qin-Dynastie vereinheitlicht. Die ,kleine Siegelschrift' als
standardisierte Form der Schrift hat für die Normierung der chinesischen Schrift
und die Vereinigung eines zentralistischen Chinas eine wichtige Rolle gespielt.
Die in der Han-Zeit (206 v. Chr. - 220 n. Chr.) sich entwickelnden Schriften
χ f r $ Ì % & η }
ι § l· f ì $ * * J
ñ
ι 3 ι- Ψ ι ξ Uli 5¡
Κ 2 ¿L Jt il fl &
Abb.2: Zeichen der 1. Divination und ihre historische Entwicklung
(zusammengestellt nach Li 1993)
FORUM 127
(Zeilen 4 , 5 und 6), insbesondere die Normalschrift in der späten Han-Zeit (Zeile
5), führten zu einer weiteren Standardisierung und Schreibung, wie sie noch
heute in China in Gebrauch ist. In Zeile 7 findet sich eine Schreibschrift, wie sie
seit dem 3. Jh. nach Chr. benutzt wurde.
Die in Abb. 1 und 2 dargestellten Zeichen zeigen, dass die früheste Stufe der
chinesischen Schrift aus Piktogrammen und Ideogrammen bestand, die ansatz-
weise in den heute gebrauchten Zeichen direkt erkannt werden können - so
haben sich die Zeichen für ,bú' mit der heutigen Bedeutung ,Weissagung,
Vorhersage' und ,wäng' mit der heutigen Bedeutung ,Netz' kaum verändert, und
auch das Zeichen für ,yöu' ist leicht erkennbar. Diese offensichtliche Parallelität
zwischen Pikto- bzw. Ideogramm und Strichstruktur im modernen Zeichen ist
es, die den Schluss nahe legt, das chinesische Schriftsystem bewahre in sich ,,in
einem Kernbestand seiner Ideogramme, den Ursprung einer jeden Schrift:
bilderschriftliche Elemente" (Stetter 1999:49). Das Chinesische sei folglich eine
„ideographische Schrift" (Stetter 1999:456), denn: „Ihre Zeichen stellen Wörter
mehr oder weniger unabhängig vom Lautsystem der korrespondierenden
Sprache d a r " (ibid.). Verfolgen wir diesen Gedanken am Zeichen 1 0 M ,Wein,
alkoholische Getränke': Das moderne Schriftzeichen besteht aus zwei Kompo-
nenten, die linke ist die Kurzform für das selbstständig vorkommende Zeichen
für ,Wasser' Tfc. Die rechte Komponente (vgl. Abb. 2) stellt ursprünglich einen
(Wein)Krug dar. Die Assoziation ,Wasser, Flüssigkeit' und ,(Wein)Krug' zu
,Wein' ist semantisch über Analogiebildung und Prinzip der Kompositionalität
motivierbar. Bei der Analyse des Divinationstextes erwies sich das Zeichen für
yöu - ursprünglich ein Piktogramm - als Datumsbezeichnung und somit als
Ideogramm. In einem modernen Wörterbuch finden wir unter dem Zeichen M
den Eintrag „der zehnte der zwölf Erdzweige mit dem Tierkreiszeichen ,Huhn' "
(Xin H a n De cidian, 1985: 989); die Ableitung aus dem Piktogramm ist aus der
heutigen Perspektive nicht direkt möglich. Auf der anderen Seite wird das
Zeichen j i ü ' mit dem gleichen Diphthong [ou] 11 und im gleichen Ton
ausgesprochen wie ,yöu'. Die rechte Komponente gibt uns also einen Hinweis
auf die Aussprache des Zeichens. Zeichen mit einem phonetischen Indikator
werden in China traditionell als ,xiéshëng' (Harmonisierung des Lautes)
bezeichnet, in westlicher Tradition als Phonogramme. Phonogramme, die heute
einen Großteil aller Zeichen ausmachen, haben sich sehr frühzeitig entwickelt,
„als es notwendig wurde, für tausende von Wörtern Schriftzeichen zu schaffen"
(Karlgren 1974:43). Die Zeichenanzahl für vollständig oder partiell h o m o p h o n e
Wörter, für die zunächst nur ein Zeichen zur Verfügung stand, wurde dadurch
erweitert, dass einem Zeichen ein Determinativ zugeordet und in das Zeichen
integriert wurde. Verdeutlichen wird dies an den Zeichen Ñ ,Haus, Zimmer' und
2fr ,Garn spinnen' (vgl. auch Karlgren 1974: 44 ff.), die im modernen Chinesisch
12 Stetter (1999: 153) spricht hier von ,semantischen Radikalen', „für die es in der
Alphabetschrift kein Analogon gibt." Die trifft für die heutigen Alphabetschriften zu, aber
es ist bemerkenswert und für die Stettersche Relativitätsthese erklärungsbedürftig, dass in
der Entwicklung der altägyptischen und der sumerischen Schrift das Prinzip der
Determination angewandt wurde, wobei die altägyptische Schrift bereits als Konsonan-
tenschrift voll entwickelt war. Zum Chinesischen sei angemerkt, dass sich (neben der
Klassifikation über die das Sinographem inkorporierte Determinative) ein komplexes
System der Nominalklassifikation entwickelt und dieses bis heute Bestand hat.
13 Etymonische Sinographeme sind solche, deren vermeintlich phonetischer Bestand-
teil auch semantischen Bezug zu seinem Sinographem zeigt.
FORUM 129
14 Was das Lernen betrifft, geht Stetter von europäischen Lernkonzepten aus, vgl.
hingegen Lehker (1997: 55 ff.). In der von Stetter angegebenen Referenzliteratur heißt es:
„Zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß sogar gebildete Chinesen keine Ahnung von
den Wurzeln ihrer Sprache hatten. Von der Grundschule bis zur Universität wird das
Lernen der Zeichen rein mechanisch betrieben, ohne unterstützende Erklärung." (Lind-
qvist 1990: 7).
130 Peter Schlobinski
These 5
Dinge, die mehr gemeinsam haben, sind verschieden von Dingen, die weniger
gemeinsam haben; das heißt kleines Verschieden-Sein. Alle Dinge sind sämtlich
gleich und sämtlich verschieden; das heißt großes Verschieden-Sein (nach
Harbsmeier 1998: 294).
Großes Gleich-Sein ist von kleinem Gleich-Sein verschieden; das heißt kleines
Gleich-Sein und kleines Verschieden-Sein. Die zehntausend Dinge ( = alle
Wesen) sind sämtlich gleich und sämtlich verschieden; das heißt großes Gleich-
Sein und großes Verschieden-Sein (Moritz 1990: 157).
These 1
Das Größte hat nichts außerhalb seiner selbst, es heißt das große Eine. Das
Kleinste hat nichts in sich, es heißt das kleine Eine.
These 2
Was ohne Dicke ist, kann nicht angehäuft werden. Doch misst seine Größe
1 000 Ii.
18 Ich stütze mich hier in erster Linie auf die Arbeiten von Forke (1964), Moritz (1990),
Zhou (1978) und insbesondere auf die äußerst materialreiche und hervorragende Arbeit
von Harbsmeier (1998).
134 Peter Schlobinski
These 3
Himmel und Erde sind gleich niedrig. Berg (Konvexes) und See (Konkaves) sind
auf der gleichen Ebene (sind gleich flach).
These 7
Ich gehe heute nach Yue, bin aber gestern dort angekommen.
These 5 besagt zunächst, dass es Dinge in der Welt gibt, die mehr gemeinsame
Merkmale haben, und solche, die weniger gemeinsame Merkmale haben. In der
Interpretation von Moritz (s.o.) besteht zwischen ersteren die Relation des
großen Gleich-Seins, zwischen letzteren die des kleinen Gleich-Seins. Unabhän-
gig davon, ob es sich um großes oder kleines Gleich-Sein zwischen den Dingen
handelt, bleibt es für Hui Shi kleines Gleich-Sein und kleines Verschieden-Sein,
da es sich um Beziehungen zwischen einzelnen Dingen handelt. Im zweiten Teil
der These wird gesagt, dass alle Dinge gleich und verschieden sind. Indem nicht
die einzelnen Dinge betrachtet werden, sondern die Gesamtheit aller Dinge,
besteht gegenüber dem kleinen Gleich- und Verschieden-Sein das große
Gleich-Sein und große Verschieden-Sein. „Die einzelnen Dinge mögen mehr
oder weniger gleich oder verschieden erscheinen - vom Standpunkt der
Gesamtheit der Dingwelt wird der Unterschied zwischen Gleich-Sein und
Verschieden-Sein absolut relativ, er löst sich a u f (Moritz 1990: 158). In These 1
werden zwei Definitionen gegeben, nach denen das Größte und Kleinste
zusammenfallen. These 2 ist eine Anwendung von These 1. Da das kleine Eine
kein Innen hat, hat es keine Dicke; das, was keine Dicke hat, ist die Fläche. „ Yet
things of size must presumably be thought of as composed of micro-ones. Thus
something which does not have size, when added to other things which also have
no size, adds up to something that has size. This is a paradoxical thought.
However, it does seem to follow the assumption that the smallest unit has no
parts or size, and that sized things are compounds of the smallest units"
(Harbsmeier 1998: 294). Das, was für das Verhältnis von groß und klein gilt,
trifft auch auf die Beziehung von hoch und niedrig (These 3) und gestern und
heute zu (These 7). Lokale und temporale Beziehungen werden relativiert und
aufgelöst.
Die erste These von Hui Shi ist interessant im Hinblick auf einen Vergleich mit
der Argumentation des Zenon nach Aristoteles. Zum Verhältnis von groß und
klein als äußersten Punkten des Wechsels heißt es: „[...] äußerster Punkt des
Wachsens ist die Grenze bei der nach Maßgabe der eigenen Naturveranlagung
vollständigen Größe, (äußerster Punkt) des Schwindens ist das Heraustreten aus
dieser" (Aristoteles, Phys. VI-10, 241b, 1995: 168). Bemerkenswert ist auch die
eingangs zitierte Parallelität hinsichtlich der Relativität von Bewegung an Hand
des fliegenden Pfeils. Aristoteles argumentiert im Hinblick auf Zenons Para-
doxon, dass Zeit nicht aus Momenten bestehe, sondern ein Kontinuum aus
Unteilbaren bildet. Die Fehlannahme, wonach der fliegende Pfeil stehenbleibt,
FORUM 135
ergibt sich dadurch, „ d a ß die Zeit aus Jetzten sich zusammensetze; gibt man das
nämlich nicht zu, so ergibt sich auch nicht der Schluß" (Aristoteles, Phys. VI-10,
239b, 1995: 164). Moritz zeigt an weiteren Vergleichen, dass „Hui Shi und
Zenon zu gleichen philosophischen Schlußfolgerungen [gelangen]. Die Form der
Beweisführung ist analog, zum Teil benutzten sie die gleichen Argumente. Es ist
für komparatives Denken ein hochinteressantes Phänomen, d a ß in unterschied-
lichen. durch Tausende von Kilometern getrennten Kulturen unabhängig
voneinander analoge Philosopheme entstanden sind. Dieses Phänomen der
Übereinstimmung beruht offensichtlich auf der im Prinzip gleichen Konfronta-
tion von Logik und Dialektik, die wiederum verbunden ist mit der allgemeinen
Tendenz des Denkens, von der unmittelbaren Anschauung zur logischen
Begründung von Zusammenhängen überzugehen" (Moritz 1990: 164).
Eine weiterführende Konfrontation von Logik und Dialektik auf einem
hohen Abstraktionsniveau findet sich in Gongsun Longs berühmten Dialog 1 9 ,
der in dem Satz mündet, dass ein weißes Pferd kein Pferd ist (Ë3 ^ # ,bái
mä fei m ä ' = weiß Pferd nicht-sein Pferd), wobei er an die Paradoxien von Hui
Shi a n k n ü p f t und zuspitzt auf die Konfrontation von Begriffs- und Dingwelt
sowie von semantischen Klassen und Eigenschaften:
A: Kann man sagen, ein weißes Pferd ist nicht ein Pferd?
B: Das kann m a n sagen.
A: Wieso das in aller Welt?
B: M i t , P f e r d ' wird die F o r m bezeichnet, mit ,weiß' bezeichnen wir die Farbe.
Die F a r b e bezeichnen ist nicht dasselbe wie die Form bezeichnen. D a r u m
sage ich, ein weißes Pferd ist nicht ein Pferd.
A: Aber wenn m a n ein weißes Pferd hat, so kann man doch nicht sagen, dass
m a n kein Pferd hat, und wenn m a n nicht sagen kann, dass man kein Pferd hat
- wie kann d a n n das Pferd kein Pferd sein? Wenn ein weißes Pferd haben also
heißt, ein Pferd zu haben, wieso ist d a n n ein weißes Pferd kein Pferd?
Protagonist Β (Gongsun Long) wird gefragt, o b ein weißes Pferd nicht ein Pferd
sei. Da ,weißes Pferd' sowohl F a r b e als auch Form/Gestalt bezeichne, kann es
nicht das Gleiche sein wie ,Pferd', das eben die Farbe nicht bezeichne.
Antagonist A hält ein empirisches Argument dagegen: Wenn man annimmt,
dass ein weißes Pferd kein Pferd sei, und man habe ein weißes Pferd, so müsste
man schlussfolgern, m a n habe kein Pferd. Aber wenn man ein weißes Pferd hat,
so hat man doch ein Pferd. Folglich, reductio ad absurdum, kann die Aussage
,Ein weißes Pferd ist nicht ein Pferd' nicht wahr sein, das heißt, ein weißes Pferd
ist ein Pferd. Nach diesem Grundschema ist der weitere Dialog aufgebaut:
B: Sucht jemand ein Pferd, so kann man ihm auch ein braunes oder schwarzes
Pferd geben. Sucht hingegen jemand ein weißes Pferd, so kann man ihm kein
braunes oder schwarzes geben. Wenn ein weißes Pferd nun nichts anderes als
ein Pferd ist, so ist das, was man sucht, gleich. Wenn aber das, was man sucht,
gleich ist, so ist ein weißes Pferd nicht von einem Pferd verschieden. Wenn
aber das, was man sucht, nicht verschieden ist, wieso kommt dann ein
braunes und schwarzes Pferd einmal in Frage und einmal nicht? Es ist
evident, dass In-Frage-Kommen und Nicht-in-Frage-Kommen sich gegen-
seitig ausschließen. So kann man braunes und schwarzes Pferd als gleich
betrachten, aber solange man sagen kann, man hat ein Pferd, kann man nicht
behaupten, dass man ein weißes Pferd hat. Deshalb ist bewiesen, dass ein
weißes Pferd kein Pferd ist.
A: Wenn man annimmt, dass ein Pferd, das eine Farbe hat, kein Pferd ist, es aber
doch auf der Welt kein Pferd ohne Farbe gibt, dann hieße das, dass es auf der
Welt keine Pferde gibt. Kann man dies sagen?
B: Pferde haben sicherlich eine Farbe, deshalb gibt es auch weiße Pferde. Hätte
ein Pferd keine Farbe, dann wäre es einfach Pferd, nichts weiter. Wie sollte
man da von einem weißen Pferd sprechen? So ist das Weiße (nicht das
Gleiche) wie Pferd. Weißes Pferd ist,Pferd' vereint mit ,weiß' . Aber ,Pferd'
vereint mit ,weiß' ist nicht (das Gleiche wie),Pferd'. Deshalb bleibe ich dabei:
Ein weißes Pferd ist nicht ein Pferd.
A: Pferd, das noch nicht mit weiß vereint ist, heißt nur Pferd. Weiß, noch nicht
mit Pferd vereint, heißt nur weiß. Pferd zusammen mit weiß - das ergibt den
zusammengesetzten Namen ,weißes Pferd'. So aber wird das Getrennte
genommen, um das Vereinte zu benennen. Deshalb ist es falsch zu sagen, dass
ein weißes Pferd kein Pferd ist.
B: Wenn du meinst, dass ein weißes Pferd ein Pferd ist, bedeutet dies, dass ein
Pferd als ein braunes gilt?
A: Das kann man nicht sagen.
B: Wenn ein Pferd etwas anderes ist als ein braunes Pferd, dann ist ein braunes
Pferd von einem Pferd verschieden. Ist ein braunes Pferd etwas anderes als
ein Pferd, dann gilt ein braunes Pferd nicht (als das Gleiche wie) als ein Pferd.
Zu sagen, ein braunes Pferd ist nicht ein Pferd, zugleich aber zu behaupten,
ein weißes Pferd ist ein Pferd, das ist, als wenn man sagt, fliegende Dinge
bewegen sich in einem Teich oder innerer und äußerer Sarg wechseln den Ort.
Das sind äußerst widersprüchliche Worte und wirre Formulierungen. [...]
Dieser (hier als Ausschnitt wiedergegebene) Dialog ist einer der meist diskutier-
ten Texte in der Philosophiegeschichte Chinas, und seine Interpretationen sind
u.a. abhängig von der grammatischen Analyse des altchinesischen Textes, was
sich auch in unterschiedlichen Übersetzungen widerspiegelt. Unabhängig
davon, wie man den Text im Einzelnen analysiert, gibt es zentrale Aspekte einer
FORUM 137
20 „»Weiß-sein« (als Begriff) und »als Gegenstand ,weiß' an sich haben« ist immer noch
zu unterscheiden. Und es wird neben dem, was da weiß ist, nichts Für-sich-Bestehendes
geben; denn »weiß« und »weißer Gegenstand« sind nicht als Für-sich-Bestehende, sondern
der Seinsart nach voneinander verschieden." (Aristoteles, Phys. 1-3, 186a, 1995: 6).
21 Vgl. weiterführend Tugendhat (1976:176-211). Einen ausgezeichneten historischen
und systematischen Überblick über das Universalienproblem gibt Stegmüller (1956,
1957), Searle (1997: 159-206) setzt sich meiner Ansicht nach in überzeugender Weise mit
dem Realismus-Problem auseinander.
22 Generell stellt sich hier neben dem Problem der Übersetzung die Frage, wie
sprachliche Form einer natürlichen Sprache und ,eine der arithmetischen nachgebildete
Formelsprache des reinen Denkens' aufeinanderbezogen sind.
138 Peter Schlobinski
(3) Es geht ferner um die Denotation in Bezug auf Einzellexeme versus in Bezug
auf Ausdrücke, die aus einzelnen Lexemen zusammengesetzt sind. Gegenüber
der Position, dass die Denotation von ,weißes Pferd' enger ist als die von ,weiß'
und die von ,Pferd', steht die Annahme, dass Denotate von Einzellexemen nicht
durch logische Konjunktion bzw. Disjunktion verbunden werden können. Dies
hängt zusammen mit der Unterscheidung zwischen Extension und Intension
eines Ausdrucks.
(4) Die Extension von,Pferd' ist die Klasse aller Pferde (bzw. ein Element dieser
Klasse), seine Intension hingegen die Eigenschaft, Pferd zu sein; die ,Extension
von ,weiß' ist die Klasse aller weißen Objekte, seine Intension hingegen die
Eigenschaft, weiß zu sein. Während A auf die Extension der Ausdrücke abhebt,
verweist Β auf ihre Intension. Da A auf die Klasse der Pferde abhebt, können
weiße Pferde als eine Teilklasse begriffen werden; Β hingegen verweist auf die
Eigenschaften, demnach unterscheidet sich die Eigenschaft ,weiß sein' von der
Eigenschaft,Pferd sein' und nach (2) von der Eigenschaft,weißes Pferd sein', alle
drei Ausdrücke seien intensional verschieden.
Der Argumentation liegt eine logische Struktur zu Grunde, die sich entspre-
chend formulieren lässt. Den Ausgangspunkt bildet die Hypothese, dass es
richtig (wahr) ist, dass ein weißes Pferd kein Pferd ist. Dazu wird die
Gegenhypothese gebildet, dass diese Aussage falsch ist. In Bezug auf die
Quaestio werden Argumente entwickelt, die durch Schlussverfahren (modus
tollens) die jeweilige These stützen. Im sechsten Dialogbeitrag findet sich eine
typisch mathematische Beweisführung, nämlich die des indirekten Beweises:
nach (i) der Festlegung von Voraussetzungen wird (ii) eine Annahme gesetzt,
und (iii) führt die Annahme durch Schlussverfahren zum Widerspruch, und (iv)
wird aus dem Widerspruch die gegenteilige Annahme gefolgert.
Den Höhepunkt des logischen Reflektierens und der Reflexion über Logik im
klassischen China stellt der späte Mohismus dar (ab der 2. Hälfte des 4.
Jahrhunderts v. Chr.), in dem 1. die Logik weitgehend von der Ethik getrennt
wird, 2. Logik als Teil einer Erkenntnistheorie begriffen wird, 3. Logik und
Argumentationstheorie integriert werden und 4. der Übergang von der Logik
zur naturwissenschaftlichen Analyse vollzogen wird 2 3 . Es entwickelt sich eine
Epistemologie, in der zum einen drei Typen des Wissens unterschieden werden:
Wissen durch Hören-Sagen, Wissen durch Erklärung und Wissen durch
persönliche Erfahrung (Beobachtung), zum anderen vier Gegenstände des
Wissens: Wissen über Namen (Begriffe), Wissen über Fakten (Dinge), Wissen
über die Relationierung von Namen und Objekten sowie Wissen über das
Verhalten. Im Buch Mozi heißt es: „Mit Namen (ming) werden Fakten (shi)
23 Insbesondere in den Bereichen Geometrie, Optik und Mechanik. Z.B. ,Der Kreis hat
stets gleiche Entfernung zu seinem Mittelpunkt' oder ,Die vier Ecken eines Quadrats
bilden einen Kreis'.
FORUM 139
erfaßt, durch Sätze (ci) Gedanken (yi) ausgedrückt, durch Erklärung (shuo)
G r ü n d e (gu) aufgezeigt; mit den Mitteln der Analogie wird akzeptiert und
behauptet. Was man selbst präsentiert, kann man nicht bei anderen verneinen.
Was der eigenen Sache nicht zukommt, kann man nicht von der anderer Leute
fordern" (Mozi, Kap. 45, zitiert nach Moritz 1990: 172). Die im letzten Satz
formulierte Erkenntnis entspricht dem Satz des Aristoteles vom ausgeschlosse-
nen Widerspruch: Wenn man A verneint, kann man nicht von Β verlangen, dass
er A anerkenne. Wenn A bzw. Nicht-A wahr ist, kann nicht zugleich Nicht-A
bzw. A wahr sein. Die Mohisten knüpfen an die nominalistische Position der
Mingjia an, unterscheiden aber Name/Begriff einerseits und Satz/Aussage
andererseits und entwickeln über das In-Beziehung-Setzen von Namen und
Fakten ein Regelwissen des Argumentierens, das in Form strikter logischer
Analyse expliziert wird. Bei der Argumentation geht es den Mohisten um wahre
oder falsche Aussagen, wobei u.a. die Konzepte der Negation, Quantifikation
{alle, einige), Kontradiktion, Notwendigkeit, notwendiger und hinreichender
Bedingungen, Referenz und Inferenz ausgearbeitet werden (vgl. Harbsmeier
1998: 330ff.). Ansatzpunkt der logischen Analyse im engeren Sinne bilden
kontradiktorische Propositionen, wie sie in Kapitel 73 und 74 von Mozi
dargestellt ist und hier in der (um chinesische Ausdrücke reduzierten) Überset-
zung von Harbsmeier (1998: 3 3 0 - 3 1 ) wiedergegeben werden:
Die Geschichte der Schriftanalyse und der Entzifferung von Schriften ist eine
Geschichte hartnäckig bestehender Vorurteile. Dies zeigt sich nicht nur - wie
oben dargestellt wurde - hinsichtlich der chinesischen Schrift, sondern systema-
tisch d a n n , wenn piktographische Elemente in einem Schriftsystem enthalten
sind. Der Versuch der Entzifferung der altägyptischen Segmentalschrift, die sich
aus einer logographischen Vorstufe entwickelt hat, ist bis zur Entzifferung der
Hieroglyphenschrift seitens Champoillon 1822 durch systematische Irrtümer
und Fehlannahmen hinsichtlich des piktographischen Charakters gekennzeich-
net: Von der absurden Behauptung, in der ägyptischen Bilderschrift den 100.
Psalm des alten Testaments lesen zu können, bis hin zu dem Vorschlag, die
Psalmen Davids in modernes Chinesisch zu übersetzen, diesen Text in altchinesi-
sche Schriftzeichen zu transformieren, um so eine Reproduktion der ägypti-
FORUM 141
sehen Papyri zu erhalten, findet sich eine Reihe linguistisch wenig plausibler
Entzifferungsversuche, in denen der Bildcharakter als Folie der Interpretation
gesehen wurde. Wir wissen heute, dass die Phonetisierung der hieroglyphischen
Symbole zu Beginn des 3. vorchristlichen Jahrtausends erfolgte, neueste
Forschungen belegen, dass bereits 3300 v. Chr. neben Semogrammen Phono-
gramme und phonetische Komplemente und Determinative verwendet wurden
(vgl. Dreyer 1998: 130ff. und 181-182). Ungeachtet der Lehren, die sich aus der
Geschichte der Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen ziehen lassen,
dauerte die grundlegende Entzifferung der Maya-Glyphen über 100 Jahre bis
zur Mitte des 20. Jahrhunderts, als Knorosov die lautliche Basis der Glyphen
entschlüsseln konnte (vgl. im Einzelnen Coe 1992). Wie bei der Entschlüsselung
der altägyptischen Hieroglyphen stellte sich für die Entschlüsselung der
Maya-Glyphen die Fixierung auf den bildlichen Gehalt der Glyphen (insbeson-
dere bei Eric T h o m p s o n ) als äußerst kontraproduktiv d a r 2 4 .
Interessant im Z u s a m m e n h a n g der Phonetizität von Schriftzeichen ist die
Tatsache, dass selbst für Petroglyphen, die als Vorläufer im Entwicklungspro-
zess der Schriftentwicklung gesehen werden, Archäologen den Bezug zur
gesprochenen Sprache herstellen: „Die prähistorischen Zeichen auf Höhlen-
wänden und beweglichen Gegenständen entsprechen wahrscheinlich bestimm-
ten Worten, Handlungen oder Situationen, die in den archaischen Sprachen
paläolithischer Stämme durch artikulierte Laute zum Ausdruck gebracht
wurden. Wenn sie für uns ein unergründliches Geheimnis darstellen, so war das
für den Menschen im Magdalenien bestimmt ganz anders. Eine Punktlinie, ein
Viereck oder ein geweihförmiges Zeichen, die unter der Erde im Schein der
Fettlampe in einer bestimmten Konstellation mit den Tierfiguren, a m A n f a n g
oder Ende eines Höhlenabschnittes, an der Schnittstelle von Hallen und
Galerien oder in Verbindung mit bildlichen Zusammenhängen auftauchten,
konnten in gesprochene Sprache umgesetzt werden" (Ruspoli 1998: 160).
Aus einem linguistischen Blickwinkel lassen sich hinsichtlich der Schriften der
Welt, sofern sie in Relation zu gesprochenen Sprachen stehen bzw. standen, ihrer
Strukturen und Funktionen einige grundlegende Aspekte formulieren. Ver-
gleicht man die Schriften der alten Hochkulturen, die altägyptische, die
sumerische und die chinesische Schrift (sowie die Indus-Schrift, von der m a n
relativ wenig weiß), von denen die ersten drei für die Entwicklung der Schriften
der Welt prägend waren, so zeigt sich, dass zum einen alle Schriften zu Beginn
Semogramme, speziell Piktogramme, aufweisen, im historischen Prozess jedoch
zunehmend und mehr oder minder stark phonetisiert wurden: Die altägyptische
Konsonantenschrift ist in hohem M a ß e und frühzeitig phonetisiert, die m o r p h o -
syllabische chinesische Schrift demgegenüber weniger stark. Eine rein pikto-
24 Thompsons „role in cracking the Maya script was an entirely negative one, as
stultifying and wrong as had been Athanasius Kircher's in holding back decipherment of
ancient Egyptain for almost two centuries" (Coe 1992: 124).
142 Peter Schlobinski
¡ pikto- / m
! logographisch i
(morphosyllabischj s
c
syllabisch h
f
(alphabetosyllabischj o
r
m
KV-Schrift e
η
alphabetisch
K-Schrift
Abb.3: A r t e n schriftlicher K o d i e r u n g s s y s t e m e n a t ü r l i c h e r S p r a c h e n
Die Entwicklung des jeweiligen Schriftsystems ist abhängig von den konkre-
ten sprachlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen. Es ist sicherlich kein
Zufall, dass sich eine Konsonantenschrift bei einer wurzelflektierenden Sprache
und eine morphosyllabische Schrift bei einem isolierenden Sprachtyp entwickelt
hat, und es ist kaum vorstellbar, dass eine Konsonantenschrift auf das
chinesische Sprachsystem angewendet werden kann wie umgekehrt eine mor-
phosyllabische Schrift auf eine wurzelflektierende Sprache. Allerdings lassen
sich auf der Grundlage linguistischer Voraussetzungen keine eindeutigen
Prognosen für die Schriftentwicklung erstellen. Obwohl man lange Zeit der
Meinung war (und viele noch heute dieser Meinung sind), das Chinesische sei
nicht durch eine Alphabetschrift kodierbar, zeigt sich, dass das seit 1958
etablierte Alphabetsystem (PInyln) in seinen Anwendungskontexten hervorra-
gend funktioniert. Und: Bereits im 17. Jahrhundert hat sich unter dem Einfluss
portugiesischer Missionare für das Vietnamesische, eine isolierende Sprache mit
sechs Tönen, eine Alphabetschrift auf der Basis lateinischer Buchstaben
entwickelt.
Neben den sprachlichen Voraussetzungen sind für die Entwicklung einer
Schrift die gesellschaftlichen Bedingungen wesentlich und vorrangig. Die
Ausbildung der altägyptischen, der sumerischen und der chinesischen Schrift
(sowie der anderen Kulturschriften) erfolgte auf der Folie komplexer arbeitstei-
liger Gesellschaftsformen. Im Vergleich zur Sprachentwicklung ist die Schrift-
en twicklung relativ j u n g (4. Jahrtausend v. Chr.) und in Zusammenhang zu
sehen mit spezifischen ökonomischen, sozialen, kulturellen und technischen
Faktoren einer sich komplex entwickelnden Kommunikationsgemeinschaft. So
zeigt Schmandt-Besserat (1978) für die altsumerischen Schriftsymbole, dass
diese im R a h m e n eines ,Buchhaltungssytems' verwendet wurden, den Ausgangs-
punkt der Schriftentwicklung stellen hier also Handelsprozesse und Verwal-
tungsakte dar. Gleiches gilt f ü r das Altägyptische: „Primär ist die Schrift in
Wirtschaft und Verwaltung benutzt und wohl auch entwickelt worden, als mit
der Ausweitung eines einheitlichen Herrschaftsgebietes die Erfassung und
Lenkung von Warenströmen erforderlich wurde" (Dreyer 1998: 181).
Ein Schriftsystem beginnt sich d a n n zu entwickeln oder wird von einer
Geberkultur übernommen, wenn ein gesellschaftliches Erfordernis besteht, das
Gedächtnis einer K o m m u n i k a t i o n unabhängig von den Interaktionsteilneh-
mern zu fixieren: „ D u r c h Schrift wird Kommunikation aufbewahrbar, unab-
hängig von dem lebenden Gedächtnis der Interaktionsteilnehmer, j a sogar
unabhängig von Interaktion ü b e r h a u p t " (Luhmann 1984: 127). Es findet eine
Entsituierung vom Hier und Jetzt der Interaktionsteilnehmer statt, die K o m m u -
nikation wird (im Bühlerschen Sinne) von der primären Origo abgelöst, indem
Produktions- und Rezeptionssituation entkoppelt sind. „Kommunikation wird,
obwohl sie nach wie vor Handeln erfordert, in ihren sozialen Effekten vom
Zeitpunkt ihres Erstauftretens, ihrer Formulierung abgelöst. [...] M a n formu-
liert f ü r unabsehbare soziale Situationen, in denen man nicht anwesend zu sein
144 Peter Schlobinski
6. Literatur
Abel-Rémusat, Jean-Pierre (1987): Élémens de la grammaire chinoise. Paris ['1822,
reediert 1857 von L. Léon de Rosny und Grundlage dieser Ausgabe],
Aristoteles (1995): Physik. Vorlesung über die Natur. In: ders.: Philosophische Schriften,
Band 6. Übers, von Hans Günther Zekl. Hamburg, 1 - 2 5 8 .
Barthes, Roland (1970): Im Reich der Zeichen. Frankfurt am Main.
Beth, E. Willem (1957): Über Lockes Allgemeines Dreieck'. In: Kant-Studien 57,361-80.
Chen, Zhao Fu (1989): China. Prähistorische Feldbilder. Zürich.
Chao, Yuen Ren (1968): A Grammar of Spoken Chinese. Berkeley.
Coe, Michael D. (1992): Breaking the Maya Code. New York.
Das alte China. Menschen und Götter im Reich der Mitte, 5000 v . C h r . - 2 2 0 n.Chr.
(1995). Ausstellungskatalog der Hypo-Kulturstiftung Ruhr. München.
DeFrancis, John (1984): The Chinese Language. Fact and Fantasy. Honolulu.
Dreyer. Günter (1998): Umm El-Qaab I. Das prädynastische Königsgrab U-j und seine
frühen Schriftzeugnisse. Mainz.
Eberhard, Wolfram (1987): Lexikon chinesischer Symbole. Die Bildsprache der Chinesen.
Köln.
Fei, Jinchang und Manyun Sun (1988): Xingshingzi xingpang biaoyidu qiantan. In: Hanzi
wenti xueshu taolunhui lunwenji. Yuwen Chubanshe, 5 8 - 6 8 [zitiert nach Guder-
Maniiius 1999].
Forke. Alfred (1964): Geschichte der alten chinesischen Philosophie. Hamburg [Ί927].
Gabelentz, Georg von der (1952): Chinesische Grammatik. Mit Ausschluß des niederen
Stils und der heutigen Umgangssprache. Halle (Saale) [' 1881].
Graham. A. C. (1970): On seeing things as equal. In: History of Religions 9 - 2 / 3 , 1 3 7 - 1 6 0 .
Granet. Marcel (1920): Etudes sociologiques sur la Chine. Paris.
Granet. Marcel (1988): Die chinesische Zivilisation: Familie, Gesellschaft. Herrschaft;
von den Anfangen bis zur Kaiserzeit. Frankfurt am Main [Ί929],
Guder-Manitius, Andreas (1999): Sinographemdidaktik. Aspekte einer systematischen
Vermittlung der chinesischen Schrift im Unterricht Chinesisch als Fremdsprache. Mit
einer Komponentenanalyse der häufigsten 3867 Schriftzeichen. Heidelberg.
Guo, Bonan (1995): Einführung in die chinesische Kalligraphie. Beijing.
Habermas, Jürgen (1999): Hermeneutische und analytische Philosophie. Zwei komple-
mentäre Spielarten der linguistischen Wende. In: ders.: Wahrheit und Rechtfertigung.
Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main, 65-101.
Harbsmeier, Christoph (1979): Zur philosophischen Grammatik des Altchinesischen im
Anschluß an Humboldts Brief an Abel-Rémusat. In: Grammatica Universalis 17.
Meisterwerke der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie. Hg. von Herbert E.
Brekle. Stuttgart-Bad Cannstatt, 89-297.
Harbsmeier, Christoph (1998): Language and Logic. Cambridge. ( = Joseph Needham,
Science and Civilisation in China, Vol. 7, Part I).
Havelock, Eric A. (1976): The Literature Revolution in Greece and Its Cultural
Consequences. Princeton.
Humboldt, Wilhelm von (1968): Ueber den Bau der Chinesischen Sprache. In: ders.:
Gesammelte Schriften. Band 5. Berlin, 309-324 [Ί826].
Karl, Ilse et al. (1993): Wörterbuch der chinesischen Wortbildung. Chinesisch - Deutsch.
Berlin.
Karlgren, Bernhard (1975): Schrift und Sprache der Chinesen. Berlin.
Lehker, Marianne (1997): Texte im chinesischen Aufsatzunterricht. Heidelberg.
Lenneberg, Eric H: (1953): Cognition in ethnolinguistics. In: Language 29, 463-471.
Li, Charles N. und Sandra A. Thompson (1981): Mandarin Chinese. A Functional
Reference Grammar. Berkeley.
Li, Leyi (1993): Entwicklung der chinesischen Schrift am Beispiel von 500 Schriftzeichen.
Beijing.
Lindqvist, Cecilia (1990): Das Reich der Zeichen. Über die Chinesen und ihre Schrift.
München.
Liu, Guojun und Zheng Rusi (1988): Die Geschichte des chinesischen Buches. Beijing.
Logan, Robert (1986): The Alphabet Effect. The Impact of the Phonetic Alphabet on the
Development of Western Civilization. New York.
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frank-
furt am Main.
Malotki, Ekkehart (1979): Hopi-Raum. Eine sprachwissenschaftliche Analyse der
Raumvorstellungen in der Hopi-Sprache. Tübingen.
Malotki, Ekkehart (1983): Hopi Time. A Linguistic Analysis of the Temporal Concepts in
the Hopi Language. Berlin.
Moritz, Ra3f (1990): Die Philosophie im alten China. Berlin.
146 Peter Schlobinski
Needham, Joseph (1988): Wissenschaft und Zivilisation in China. Band I der von Colin A.
Ronan bearbeiteten Ausgabe. Frankfurt am Main [englisch 1978].
Ramsey, Robert S. (1989): The Languages of China. Princeton, New Jersey.
Reichardt, Manfred und Shuxin Reichardt (1990): Grammatik des modernen Chinesisch.
Leipzig.
Ruspoli, Mario (1998): Die Höhlenmalerei von Lascaux. Auf den Spuren des frühen
Menschen. Augsburg.
Saenger, Paul (1997): Space between Words. The Origin of Silent Reading. Stanford.
Schlobinski, Peter (1994): Über Reduplikation im Chinesischen und südchinesischen
Minderheitensprachen. In: Zeitschrift für Sprachtypologie und Universalienforschung
47/4,239-261.
Schmandt-Besserat, D. (1978): Les plus anciens précurseurs de l'Écriture. In: Pour la
Science 10: 12-22.
Searle, John R. (1997): Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur
Ontologie sozialer Tatsachen. Reinbek bei Hamburg [englisch Ί995],
Stegmüller, Wolfgang (1956): Das Universalienproblem einst und jetzt. [Teil 1], In: Archiv
für Philosophie 6, 192-225.
Stegmüller, Wolfgang (1957): Das Universalienproblem einst und jetzt. [Teil 2]. In: Archiv
für Philosophie 7, 4 5 - 8 1 .
Stetter, Christian (1999): Schrift und Sprache. Frankfurt am Main ['1997],
Taylor, Insup und M. Martin Taylor (1995): Writing and Literacy in Chinese, Korean and
Japanese. Amsterdam ( = Studies in Written Language and Literacy 3).
Tugendhat, Ernst (1976): Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philoso-
phie. Frankfurt am Main.
Wang, William (2000): Die chinesische Sprache. In: Spektrum der Wissenschaft. Dossier:
Sprache, 72-78.
Weisgerber, Leo (1964): Das Menschheitsgesetz der Sprache als Grundlage der Sprachwis-
senschaft. Heidelberg [Ί950].
Whorf, Benjamin Lee (1956a): Science and linguistics. In: Language, Thought, and
Reality. Selected Writings of Benjamin Lee Whorf. Hg. von John B. Carroll.
Cambridge, Massachusetts, 207-219 [Ί940].
Whorf, Benjamin Lee (1956b): Language, mind, and reality. In: Language, Thought, and
Reality. Selected Writings of Benjamin Lee Whorf. Hg. von John B. Carroll.
Cambridge, Massachusetts, S. 246-270 [Ί941],
Whorf, Benjamin Lee (1956c): An American Indian model of the universe. In: Language,
Thought, and Reality. Selected Writings of Benjamin Lee Whorf. Hg. von John B.
Carroll. Cambridge, Massachusetts, 5 7 - 6 4 ['1950, Ms. vermutlich 1936].
Winkler, Roland (1999): Gelehrte Worte über leere Wörter. Das XUZI S H U O von Yuan
Renlin (ca. 1710) und die Partikeln in der traditionellen chinesischen Philologie, Stilistik
und Sprachwissenschaft. Heidelberg.
Xin Han De cidian. Das neue chinesisch-deutsche Wörterbuch (1985). Beijing.
Zhou, Wen Ying (1978): Zhongguo luoji sixiang shigao. Beijing.
Eingereicht: 26.4.2000.
Überarbeitete Fassung eingereicht: 15.7.2000.