Antropologia
Antropologia
Herausgegeben von
Ottmar Ette
Ottmar Ette
Geburt Leben
Sterben Tod
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell -
Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter
https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/.
Coverabbildung: John Everett Millais: Ophelia, circa 1851. Öl auf Leinwand. London: Tate.
Quelle: Wikimedia Commons: gemeinfrei. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:
John_Everett_Millais_-_Ophelia_-_Google_Art_Project.jpg
Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd.
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
www.degruyter.com
Vorwort
Vorlesungen und Forschungen stehen in engem wechselseitigen Durchdrin-
gungsverhältnis: Was die Forschungen an Ergebnissen zeitigen, fließt direkt in
die Vorlesungen ein; und in den Vorlesungen wird das ausgetestet, was als Er-
gebnis der Forschung publiziert und in die wissenschaftliche Zirkulation gege-
ben werden kann. Für die Studierenden in den Vorlesungen ist es wichtig,
sozusagen an der Bugwelle der Forschung teilzuhaben und durch eigene Anre-
gungen diese Forschungen, ja selbst die Richtung dieser Forschungen verändern
zu können. Das große Interesse der Studierenden an existenziellen Lebensfragen
hat die Richtung meiner Forschungen stets beflügelt. Auf diese Weise bilden Vor-
lesungen die Bühne für Forschungen, die im Werden sind; sie ermöglichen eine
erste Rückmeldung, wie Forschungsrichtungen ‚ankommen‘ bei denen, die im
Labor der Lehrveranstaltungen maßgeblich zur Einheit von Forschung und Lehre
beitragen: also bei den Studierenden. Ihnen sei an dieser Stelle für unendlich
viele Fragen und Anregungen Dank gesagt!
In keiner meiner Vorlesungen dürfte das Wechselverhältnis zwischen For-
schung und Vorlesung – auch in der Verbindung mit Seminaren und Kollo-
quia – intensiver gewesen sein als bei den Vorlesungen über Geburt, Leben,
Sterben und Tod. Die Wissenschaft von den Literaturen der Welt – und auch
die Romanistik in ihrer Gesamtheit – muss sich schon aus Freude an der litera-
rischen Kunst mit existenziellen Grundfragen und Grundbegriffen beschäftigen.
Denn genau dies tun die Literaturen der Welt. Es gibt folglich Fragestellungen,
die vom Objekt der Forschung her direkt vorgegeben sind – und dazu gehören
die Lebensfragen.
Aber nicht allein die Literaturen der Welt und das Interesse der Studieren-
den geben diese Zielstellung und diese Fragehorizonte vor: Es sind auch die
Philologien, die hier bewusst in der Mehrzahl genannt seien. Denn in der Ge-
schichte und Tradition abendländischer Philologie sind Grundfragen des Le-
bens ebenso präsent wie in Tradition und Geschichte nicht-abendländischer
Philologien wie etwa der chinesischen. Wenn wir die unterschiedlichsten Ei-
genlogiken der Literaturen der Welt berücksichtigen wollen, so sollten wir dies
zunehmend auch auf der Ebene philologischer Grundeinstellungen tun. Die mit
diesem neuen, sechsten Band der Reihe „Aula“ vorgelegten Vorlesungen versu-
chen, transareal eine Erweiterung der auf die Romanistik bezogenen und be-
ziehbaren Objekt-Areas ebenso vorzunehmen wie nach Fragestellungen zu
suchen, welche nicht nur der Geschichte der abendländischen Philologie ge-
recht werden.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-202
VI Vorwort
Wie stets wurden die Texte der Vorlesung vor dem wöchentlichen Halten der
Vorlesung erarbeitet und nach den entsprechenden Sitzungen wiederum überar-
beitet. Dabei folgte der Verfasser jener Arbeitsweise, die bislang bei all seinen
Vorlesungsbänden zur Anwendung kam. Für die schriftliche Endredaktion der
unterschiedlichen Bände wurden alle Skripte noch einmal grundlegend ausge-
staltet und selbstverständlich an den jeweiligen Grundfragen überprüft und aus-
gerichtet. Die zwischen Forschungen und Vorlesungen entstehende Vernetzung
ist offenkundig; sie geht im Sinne der Studierenden und der zu erfüllenden Curri-
cula zugleich weit über die thematischen Ausrichtungen meiner Forschungspu-
blikationen hinaus.
Mit der Veröffentlichung der drei Bände Von den historischen Avantgarden bis
nach der Postmoderne. Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der romani-
schen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts, Romantik zwischen zwei Welten.
Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der romanischen Literaturen der Welt
im 19. Jahrhundert sowie Aufklärung zwischen zwei Welten. Potsdamer Vorlesungen
zu den Hauptwerken der romanischen Literaturen des 18. Jahrhundert ist die Reihe
der literarhistorischen Vorlesungen in dem Sinne abgeschlossen, dass in diesen
Bänden zum Ausdruck kommt, was der Verfasser zu diesen literaturgeschichtli-
chen Fragestellungen zu sagen hat. Dass sie keine verkappten Literaturgeschich-
ten darstellen, besagen bereits die Titel dieser Bände. Dass sie zugleich eine
transareale Neuorientierung der Romanistik intendieren, braucht an dieser Stelle
nicht nochmals wiederholt zu werden: Es handelt sich um Bände, die meinen
Überlegungen zur Romanistik als einer Archipel-Wissenschaft entspringen.
Doch nicht allein die literarhistorischen, sondern auch die thematischen
Bände sind transarchipelisch und stets aus der Bewegung aufgebaut. Dies gilt
für den ersten Band der Reihe „Aula“, der sich vordringlich dem Verhältnis von
Reisen und Schreiben wie in einer Art Grundlagenbuch widmete, wie für den
zweiten Band, der die Beziehung zwischen Lieben und Lesen untersuchte. Mit
dem sechsten Band kehren die Vorlesungen wieder zur thematischen Ausrich-
tung zurück, so auch der Titel des vorliegenden Bandes: Geburt Leben Sterben
Tod. Potsdamer Vorlesungen über das Lebenswissen in den romanischen Literaturen
der Welt. Ein freiheitsbasiertes, polylogisches Denken in transarealen Zusam-
menhängen war bei einem gewissen Mut zur Lücke auch bei dieser themenori-
entierten Vorlesung das Ziel.
Inmitten der Vorbereitungen seines eigenen brillanten Habilitationsverfahrens
gilt Markus Alexander Lenz mein herzlicher und freundschaftlicher Dank für die
wie immer stets umsichtige und zielführende redaktionelle Bearbeitung, für kluge
Ideen und viele anregende Gespräche, die wir am Rande der Vorlesungen führten.
Wenn in nicht allzu ferner Zukunft einmal die Arbeit an diesen Vorlesungen zu
Ende gegangen sein wird, werde ich unsere anregenden, nicht selten lustigen Ge-
Vorwort VII
spräche, in denen ein Wort das andere gab und wir immer wieder neue Horizonte
für die Forschung erörterten, sehr vermissen. Für den vorliegenden Band hat Mar-
kus überdies die Illustrationen besorgt, wofür ich ihm ebenfalls sehr dankbar bin.
Mein Dank gilt des weiteren Ulrike Krauss, die sich von Beginn an beim Verlag
Walter de Gruyter für die einzelnen Bände und die Gesamtidee der Reihe „Aula“
eingesetzt hat, sowie Gabrielle Cornefert, die auch diesen Band verlagsseitig und
gemeinsam mit zahlreichen Mitwirkenden wieder bestens betreute. Meiner Frau
Doris gebührt mein Dank für den initialen Anstoß, die Manuskripte meiner Vorle-
sungen in Buchform zu veröffentlichen, und für die liebevollen Ermutigungen,
das Vorhaben der Reihe über die Jahre weiterzuführen.
Ottmar Ette
Potsdam, 28. April 2022
Inhaltsverzeichnis
Vorwort V
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 47
Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes 462
José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft 557
José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht 666
Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno oder ein Ideenreservoir für Tod und
Wiedergeburt Spaniens 740
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 773
Inhaltsverzeichnis XI
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die
Straßenbahn 839
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der
Einsamkeit 866
TEIL 7: Geburt und Tod als Zeichen des Lebens: Von den
Formen und Normen des Zusammenlebens
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 924
Roland Barthes, das Fehlen der Mutter und die Geburt 1024
Abbildungsverzeichnis 1093
Personenregister 1103
Zur Einführung: Lebenswissen als
ÜberLebensWissen – von Transplantationen
und Verpflanzungen
Himmel und Erde kommen in Berührung, und alle Dinge gestalten sich und gewinnen Form.
Das Männliche und Weibliche mischen ihre Samen, und alle Wesen gestalten sich und wer-
den geboren.1
Die Titelillustration dieses Bandes meiner Potsdamer Vorlesungen zeigt uns die
berühmte Ophelia aus William Shakespeares Hamlet in dem nicht weniger be-
rühmten Gemälde von John Everett Millais. Ich habe dieses Gemälde aus dem
Jahre 1851/1852 ausgewählt, weil es aus meiner Sicht – und aus Sicht der nun
beginnenden Vorlesung – in einem fundamentalen Sinne Geburt, Leben, Ster-
ben und Tod zusammenführt und zusammenhält. Das Gemälde zeigt uns Ophe-
lia als leichenblasse Figur, als – wie man sagen könnte – ‚a scheene Leich’‘, als
in ihrem Sterben begriffene, eigentlich schon längst tote, aber zugleich eigen-
willig lebendige und vor allem als gebärende, neues Leben hervorbringende
Frau,2 figural eingebettet in alle Zyklen und Vegetationsstufen der sie umge-
benden, liebevoll rahmenden, sachte von ihr Besitz ergreifenden Natur. Geburt,
Leben, Sterben und Tod: Dies ist keineswegs eine bloße Abfolge, die ein Leben
bezeichnet, keine unilineare Sequenz oder ein in eine einzige Entwicklung füh-
rendes Narrativ, das ein Dasein-zum-Tode versinnbildlicht, sondern ein unter-
einander Verwoben-Sein dieser unterschiedlichen Dimensionen menschlichen
Lebens. Denn selbstverständlich sind alle vier Terme Bestandteile des Lebens.
Ophelia liegt vor uns, mit geöffneten Augen, mit geöffneten Lippen: Sie erzählt
uns ihre Geschichte, berichtet von ihren Visionen, spricht vom Wahnsinn des
Lebens und Mordens, vom Wahnsinnig-Werden am Leben, das den Tod bringt,
das sie und uns zum Wasser, zum Fruchtwasser eines neuen Lebens führt. Sie
berichtet uns von all dem, was nicht mehr ist und doch nicht aufhören kann zu
sein. Sie spricht zu uns vom Leben, von einer unvergänglichen Obsession.
Wir wissen es wohl: Unsere eigene Geburt und unser eigener Tod entziehen
sich unserem reflektierten, gleichsam selbst-bewussten Erleben. Wir wollen den
Augenblick erhaschen, der nicht mehr wiederkehrt: jenen Augenblick, der
1 I Ging. Das Buch der Wandlungen. Übersetzt von Helmut Wilhelm. Köln: Diederich 1972,
S. 316.
2 Vgl. zur figuralen Bedeutung des Gebärens wie des Geburtsvorganges die schöne Potsdamer
Habilitationsschrift von Gwozdz, Patricia: Ecce figura. Anatomie eines Konzepts in Konstellatio-
nen (1500–1900). Habilitationsschrift an der Universität Potsdam 2021.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-001
2 Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen
nicht mehr ist und doch nicht aufhören kann zu sein. Ein Mittel bleibt uns: die
Kunst des Menschen, in allen Kulturen der Welt: Seien es mündliche oder
schriftlich fixierte, seien es phonozentrische oder graphozentrische Kulturen,
sprechen sie zu uns mündlich als Mythos und Erzählung oder als schriftlich fi-
xiertes Epos oder bürgerliche Epopöe. Denn Kunst, denn Literatur ist Wissen
vom Leben, Wissen vom Sterben, Tod und Gebären. Die Literatur bietet uns die
Chance, Zugriff auf Anfang und Ende eines Lebens zu erhalten, Geburt, Leben,
Sterben und Tod zu repräsentieren, zu reflektieren und zu (re)inszenieren.
Welches Wissen vom Leben ist in literarischen und künstlerischen Darstel-
lungen gespeichert? Welche literaturgeschichtlich und ästhetisch relevanten
Aspekte treten in den Geburts- und Sterbeszenen in den romanischen Literatu-
ren der Welt3 hervor? Inwieweit enthalten die Gestaltungsformen von Geburt
und Sterben, von Leben und Tod erzähltechnische Programmierungen, die uns
nicht notwendigerweise den Schlüssel zum eigenen Leben, sicherlich aber den
zum Leben der Literaturen der Welt in die Hand geben? Gibt es Bezüge zu Er-
kenntnissen der Naturwissenschaften oder der sogenannten Life Sciences, zu
denen ich – wie Sie bald bemerken werden – auch die Literaturwissenschaften
zähle?
Der französische Kulturhistoriker Philippe Ariès, mit dessen Thesen wir
uns später eingehender beschäftigen werden, merkte einmal an: „Seit dem
19. Jahrhundert ist alles im Wandel begriffen. Zuvor blieb der Tod auf einige
ihm eigens zugedachte Orte beschränkt […]; der Tod ist nun überall präsent
und eingelassen. Man stellt sich nicht, als fürchtete man ihn, man klagt eher
darüber, in stetiger Gesellschaft mit ihm zusammenleben zu müssen.“4 Ist
unser Leben folglich durch ein Zusammenleben, durch die intime Konvivenz5
mit dem Tod geprägt?
Furchtlos und analytisch, programmatisch, engagiert und distant beobach-
tend soll unsere Vorlesung das Zusammenleben von Tod und Leben, das (literari-
sche) Erleben des Geburtsvorganges oder Gebärens, der Liebe und des Zeugens
von Leben, aber auch das todbringende Morden oder das (literarische) Überleben
des eigenen Todes anhand von Texten aus den romanischen Literaturen der Welt
des 18. bis 21. Jahrhunderts unter anderem mit Blick auf Philippe Ariès’ Feststel-
lung untersuchen, dass die fatalen Dinge und ihre Orte – und gerade auch die
3 Zu Geschichte, Definition und Verständnis des Begriffs „Literaturen der Welt“ vgl. Ette, Ottmar:
WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2017.
4 Ariès, Philippe: Geschichte des Todes. München: dtv 1982, S. 17.
5 Zum Begriff der Konvivenz vgl. den dritten Band von Ette, Ottmar:ZusammenLebensWissen.
List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab (ÜberLebenswissen III). Berlin:
Kulturverlag Kadmos 2010.
Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen 3
vermeintlich fixierten Orte des Todes – in Bewegung geraten sind. Und ich ver-
spreche nicht nur den Studierenden der Allgemeinen und Vergleichenden Litera-
turwissenschaft, dass wir uns nicht auf die Literaturen der Romania beschränken
werden. Im Sinne des großen deutschen Romanisten Erich Auerbach ist man oh-
nehin nur dann ein wirklicher Romanist, wenn man sich nicht allein auf die Lite-
raturen der Romania konzentriert.
Bevor wir uns auf die Welt der literarischen Texte einlassen, sollten wir
uns freilich vergewissern, aus welcher Blickrichtung wir auf jene Phänomene
schauen möchten, mit denen wir es im Verlauf dieser Vorlesung zu tun be-
kommen werden. In diesem Zusammenhang ist es nicht bedeutungslos, dass
wir uns bereits in früheren Vorlesungen, wie jener über LiebeLesen,6 intensiv
mit den Zusammenhängen zwischen Literatur und Leben beschäftigten und
dies aus einer Perspektive taten, die ich mit dem Begriff des Lebenswissens be-
ziehungsweise des Überlebenswissens bezeichnet habe.7 Was ich darunter
genau verstehe, lässt sich in der genannten Trilogie nachlesen, soll aber im
Verlauf unserer aktuellen Vorlesung Stück für Stück entwickelt werden, wobei
ich dies mit Vorliebe anhand literarischer Texte aufzeigen und entwickeln will.
Ein Beispiel für diese Vorgehensweise werden Sie gleich in diesem Einführungs-
teil unseres Vorlesungsbandes kennenlernen.
In jedem Falle steht im Zentrum unserer Überlegungen immer wieder der
entscheidende Begriff des Lebens, der über einen so langen Prozess im Verlauf
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus den Literaturwissenschaften – und
nicht nur aus diesen – förmlich ausgebürgert wurde. Was sollte die Literatur-
wissenschaft, so könnte man polemisch fragen, denn auch mit dem Leben zu
tun haben? Genau hier aber liegt der nicht allein für unsere Literaturwissen-
schaften zentrale Punkt. Denn es wäre ein grob fahrlässiger inhaltlicher wie
wissenschaftsstrategischer Fehler, wollten wir das Feld des Lebens den usurpa-
torisch danach benannten Lebenswissenschaften überlassen. Denn dieses medi-
zinisch-technologische Fächerensemble deckt nur einen Teilbereich dessen ab,
was wir mit „Leben“ bezeichnen. Auch dies möchte ich Ihnen sogleich anhand
eines literarischen Beispiels aufzeigen und plastisch vor Augen führen.
Als ich mich zum ersten Mal in einer Potsdamer Vorlesung mit diesem
Thema beschäftigte, wählte ich einen stark theoretischen Zugang. Die theoreti-
schen Fragestellungen und Herausforderungen werde ich sicherlich auch in
diesen Vorlesungen eingehend erörtern und gezielt weiterentwickeln. Doch ist
6 Vgl. den zweiten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: LiebeLesen. Potsdamer Vorlesungen
zu einem großen Gefühl und dessen Aneignung. Berlin – Boston: Walter de Gruyter 2020.
7 Vgl. hierzu die Trilogie von Ette, Ottmar: ÜberLebensWissen I–III. Drei Bände im Schuber.
Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004–2010.
4 Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen
es mir wichtig, Sie von Beginn an mit den Literaturen der Welt und dem Le-
benswissen und ÜberLebensWissen dieser Literaturen anhand konkreter Texte
bekannt und vertraut zu machen. Denn es geht mir nicht zuletzt darum, dass
Sie eine ganz bestimmte Lektürehaltung gewinnen und für Ihr eigenes Lesen
nutzbar machen. Diese Heranführung soll mit Hilfe eines Textes erfolgen, der
mir besonders spannend und aufschlussreich erscheint, weil er eine Vielzahl
unterschiedlicher Aspekte von Leben und Wissen über Leben bietet, die zu-
gleich auch im Bereich der Medical Humanities von Interesse und Bedeutung
sind. So soll nach diesen kurzen einführenden Überlegungen zu Beginn unserer
Vorlesung ein Text aus der neuesten deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
stehen, der uns mit dem Problem des Lebens und gleichsam einer Neugeburt
des Lebens im Zusammenhang mit einer Transplantation konfrontiert, welche
nicht nur Fragestellungen der Life Sciences aufruft, sondern nach literarischer,
nach künstlerischer, nach ästhetischer Behandlung verlangt.8
Beginnen wir bei der Analyse unseres ersten Textes in dieser Vorlesung
gleich in medias res! In den zentralen Passagen von David Wagners erstmals im
Jahre 2013 erschienenen Prosatext Leben9 stoßen wir in einem Krankenhaus auf
einen Mann, der mit einer attraktiven Frau im Bett liegt. Es handelt sich nicht
um eine Szene, wie sie einem Arzt- oder Krankenschwester-Roman entnommen
sein könnte, sondern um den hundertunddritten von insgesamt zweihundert-
siebenundsiebzig durchnummerierten Kurztexten, welche die mikrotextuelle
Grundstruktur des 2013 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichne-
ten Werkes prägen – Es ist eine erträumte Liebesszene zwischen zwei Men-
schen, die eines verbindet:
103
Die blonde Frau mit den kohlrabenschwarzen Haaren liegt neben mir, die Schwestern
und Pfleger in meinem Zimmer übersehen sie geflissentlich. Ich vermute, sie tun mir
einen Gefallen: Kaum vorstellbar, dass es erlaubt ist, hier mit einer Frau im Bett zu liegen.
In diesem Bett ist es trotzdem nicht eng, La Flaca scheint nicht viel Platz zu brauchen. Sie
küsst mich, also ist sie wirklich da.10
Was auf den ersten Blick wie ein Gemeinplatz und wie die Auffindung einer
zwar trivialen, aber gleichwohl skandalträchtigen Szenerie wirkt, erweist sich
8 Vgl. zu diesem Problemfeld Ette, Ottmar / Wirth, Uwe (Hg.): Nach der Hybridität. Zukünfte
der Kulturtheorie. Berlin: Verlag Walter Frey – edition tranvía 2014; sowie speziell zum Thema
Transplantation dies, Hg.: Kulturwissenschaftliche Konzepte der Transplantation. Unter Mitar-
beit von Carolin Haupt. Berlin – Boston: Walter de Gruyter 2019.
9 Wagner, David: Leben. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013.
10 Ebda., S. 135.
Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen 5
Aus dem Gesagten ergibt sich auch, dass es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen,
was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den
Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschrei-
ber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, dass sich der eine in
Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in
Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne
Verse –; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, dass der eine das wirklich Geschehene
mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres
und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allge-
meine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht
darin, dass ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder
Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut – eben hierauf zielt die Dichtung, obwohl
11 Ebda., S. 5.
6 Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen
sie den Personen Eigennamen gibt. Das besondere besteht in Fragen wie: was hat Alkibia-
des getan oder was ist ihm zugestoßen.12
Halten wir einen Augenblick inne; denn diese berühmte Passage ist oft unvoll-
ständig interpretiert worden. Und so wollen wir versuchen, nicht wieder das zu
überlesen, was stets überlesen worden ist: Die zweifellos als paradox zu be-
zeichnende Denkfigur, der zufolge in der verdichteten Sprache der Dichtkunst
gerade die Brechung eines Ereignisses durch die Perspektive eines Menschen
mit seiner bestimmten, konkreten Ausstattung, Prägung oder Bildung das Allge-
meine hervorzubringen vermag, eröffnet den historisch wie kulturell wandelbaren
ästhetischen Raum, innerhalb dessen das Allgemeine jenseits des Besonderen, jen-
seits des Partikularen, imaginierbar, denkbar, darstellbar und erkennbar wird.
Durch die Fokussierung auf ein bestimmtes Lebenswissen wird ein Wissen vom
Leben repräsentierbar, das mit Bestimmtheit die jeweils gewählte Fokussierung
übersteigt.13 Dieses auf die Literaturen der Welt gemünzte Paradoxon sollten wir
unbedingt im Auge behalten, um besser zu verstehen, wie etwas Allgemeines (und
gleichsam Philosophisches) über Geburt, Leben, Sterben und Tod literarisch ent-
faltet werden kann.
16 Vgl. hierzu White, Hayden: Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimonre –
London: The Johns Hopkins University Press 1982.
17 Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nach-
wort von Franz G. Sieveke. München: W. Fink Verlag 1980, S. 188–197 (1410a – 1412b).
18 Vgl. hierzu Nünning, Vera: Wie überzeugt Literatur? Eine kleine Rhetorik des Erzählens.
In: Chamiotis, A. / Kropp, A. / Steinhoff, C. (Hg.): Überzeugungsstrategien. Berlin – Heidelberg:
Springer-Verlag 2009, S. 93–107.
Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen 9
nicht mit schlichten Trennungen zwischen „facts“ und „fictions“ zufrieden gibt:
Denn Leben ist – lassen Sie es mich so sagen – ein gutes Stück Literatur. Viel-
mehr werden die unterschiedlichsten Diskurse über Wirklichkeit(en) wechselsei-
tig aufeinander bezogen und von der Position des Lebens und Erlebens her
immer wieder neu miteinander verwoben, relationiert und konfiguriert. David
Wagners Leben zielt auf das Leben, die Kunst und eine Lebenskunst, eine ‚Ars
Vivendi‘ im Zeichen des bedrohten Lebens, im Zeichen des eigenen Todes.
Kehren wir also zum Ich zurück, das mit der blonden Frau mit kohlraben-
schwarzem Haar im schmalen Bett seines Krankenzimmers im 1906 von Rudolf
Virchow begründeten Klinikum liegt! Mag sein, dass diese schlanke, ja dünne
Frau (span. „la flaca“) als eine Erfindung des Ich-Erzählers bezeichnet werden
darf, der sich kurze Zeit, nachdem man ihm eine fremde Leber transplantiert
hat, vorstellt, diese könne von einer jungen Spanierin stammen, mit der er nun
auf intimste Weise verbunden sei – durchaus eine sehr eigenwillige, in jedem
Falle außergewöhnliche Variante innerhalb jener literarischen und essayisti-
schen Transplantationsdiskurse,19 in die sich David Wagner bereits 2009 mit
seiner Erzählung Für neue Leben20 einschrieb. Wir haben es folglich mit einem
auf dem Gebiet organischer Konvivenz erfahrenen Schriftsteller zu tun.
19 Vgl. hierzu die Texte von Jean-Luc Nancy, Francisco J. Varela und David Wagner einbeziehende
Studie von Krüger-Fürhoff, Irmela Marei: Die neue Leber spricht Spanisch. Transplantationsnar-
rationen als Auseinandersetzung mit transkulturellen und biopolitischen Hybriditätsdiskursen. In:
Ette, Ottmar / Wirth, Uwe (Hg.): Nach der Hybridität, S. 123–135. Vgl. auch dies.: Verpflanzungsge-
biete. Wissenskulturen und Poetik der Transplantation. München: Fink 2012.
20 Wagner, David: Für neue Leben. Berlin: SuKuLTuR 2009.
10 Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen
spenderin, deren Identität wie bei allen Transplantationen dem Empfänger den
internationalen Regeln gemäß nicht mitgeteilt werden darf, verwandelt sich in
diesem Text gerade nicht in ein beliebiges und austauschbares Ersatzteil, son-
dern verkörpert sich buchstäblich als ein Eigen-Leben, als ein Leben der Ande-
ren im Leben des Ich. Sie wird damit zur Lebens-Partnerin in einer Konvivenz,21
die intimer kaum sein könnte und die in ihrer körperlichen wie leibhaftigen Di-
mension durch den im Eingangszitat in Szene gesetzten Kuss in ihrem wirkli-
chen (und erotischen) Da-Sein hervorgehoben wird. Die Organspenderin ist zu
einem Teil des Lebens des Ich geworden, so wie das Ich das Weiterleben der als
Frau imaginierten Toten garantiert. Beide leben miteinander und ineinander in
einer Verschränkung, die organischer nicht vorstellbar wäre.
Die Präsenz des fremden Organs im eigenen Körper lässt die Grenzen zwi-
schen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘ als fragwürdig, arbiträr und weitgehend
brüchig erscheinen. Denn wo wäre hier eine Trennungslinie zu ziehen? Längst ist
die Fremde im Diskurs des Ich zu einer Anderen geworden, die Teil des Eigenen
ist; gleichviel, ob sie zunächst als Spanierin oder etwas später als Österreicherin
oder Finnin22 – das Ich hatte Jahre zuvor bereits eine finnische Briefpartnerin ge-
habt23 – imaginiert wird. Die Autoimmunhepatitis der Ich-Figur beinhaltet als
Krankheit, dass die eigene Leber als fremdes Organ wahrgenommen und ‚be-
kämpft‘ wird. Ist es da nicht geradezu folgerichtig, der Fremdwerdung des Eigenen
mit Hilfe der Lebertransplantation eine Aneignung des Fremden gegenüberzustel-
len und dadurch einen wechselseitigen Austausch zu bewirken?
In diesem Zusammenhang bleibt sich die Ich-Figur gleichwohl der Tatsache
bewusst, dass „ich mir eine europäische Liebesgeschichte zurechtspinne, eben
weil ich nichts weiß“.24 Das fehlende Faktische wird durch die eigene Fiktion
ausgeglichen, vielleicht auch kompensiert. Aber im Grunde ist es weit mehr:
Der Krankheit wird ein Krank-Sein an die Seite gestellt, das mit den Mitteln ge-
lebter Erfindung Elemente verstärkt, welche die Funktionsweise der Krankheit
weniger bekämpfen als vielmehr friktional25 – zwischen Findung und Erfin-
dung oszillierend – unterlaufen. Das Erfinden ist nicht allein funktional, es
kann auch lebens- und überlebenswichtig werden.
21 Vgl. zu den Dimensionen dieses Begriffs Ette, Ottmar: Konvivenz. Literatur und Leben nach
dem Paradies. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2012.
22 Wagner, David: Leben, S. 179.
23 Ebda., S. 150.
24 Ebda., S. 179.
25 Zum Begriff der Friktion beziehungsweise des Friktionalen vgl. Ette, Ottmar: Roland Bart-
hes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 22007, S. 308–312.
Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen 11
Denn das Erfinden füllt nicht nur einfach die ‚Lücken‘ des Nicht-Wissens, die
Lücken dessen, wo nichts vorgefunden werden kann, sondern entfaltet ein Le-
benswissen und Erlebenswissen, das sich in eine lange abendländische Begriffsge-
schichte des Organischen einschreibt. Wie aber lässt sich ein Organ und wie lässt
sich davon ausgehend Leben definieren? Das Ich versucht, die lange abendländi-
sche Begriffsgeschichte auf die eigene transplantierte Leber zu übertragen:
179
Was ist ein Organ? Was ist das, was dem einen aus dem Leib geschnitten und einem ande-
ren eingepflanzt wird? Eine frühe Definition stammt von Thomas von Aquin, er unterschied
Organe und Instrumente. Während ein Instrument, ein Beil zum Beispiel, unabhängig von
einer bestimmten Seele existiert, sei ein Organ unitum et proprium, weil es bloß einer einzi-
gen Seele zugute komme. So ungefähr steht es im Historischen Wörterbuch der Philosophie,
Band 6. Stichwort Organon. Ich kann das auf meinem Telefon lesen, selbst hier, im Kran-
kenhaus. [...]
Organe sind selbständig und abhängig zugleich. Sie können nicht allein und für sich
sein und haben doch ein Eigenleben, führen das aber ausschließlich innerhalb eines Or-
ganismus. Ihr Leben, ihre vita propia, ist bloß geliehen, deshalb, sagt Schelling, seien Or-
gane Individuen, deren Individualität nur in Abhängigkeit von oder im Verhältnis zu
einem Gesamtorganismus in Erscheinung treten könnte. Wird ein Organ vom Organismus
getrennt, stirbt das Organ; der Organismus stirbt allerdings auch. Es ist ganz einfach: Ich
sterbe ohne Leber, die Leber stirbt ohne mich.
Also ist das, was ich fühle, dieses Leben, das ich noch habe, ein Zusammenspiel
mehrerer Organe. Alles Lebendige tritt nie als Einzahl, sondern immer als Mehrzahl in
Erscheinung. Leben ist die hybride Versammlung verschiedener Organe, gemeinschaftli-
che Praxis, ein Konzert, in dem jedes einzelne Organ Interesse am Überleben hat.26
Was ist Leben im Lichte der Leber? Der über ein Smartphone im Krankenhaus
bezogene philosophische Diskurs aus einem online konsultierten Wörterbuch
der Philosophie ermöglicht es dem Ich-Erzähler, das eigene Leben nicht nur in
eine abendländische Reflexionsgeschichte von Thomas von Aquin bis zur Na-
turphilosophie Schellings zu integrieren, sondern ausgehend von der Frage
nach dem Organ Leber die Organizität des Lebens literarisch zu beleuchten.
Denn die Leber ist nicht nur unverzichtbar für das Leben des Ich, sie besitzt
auch ein Eigen-Leben, das es zu respektieren gilt. Hat nicht das Eigen-Leben
der eigenen Leber das eigene Überleben des Ich schon früh in Frage gestellt?
Und musste nicht die Eigen-Leber durch eine Fremd-Leber ersetzt als neue
Eigen-Leber das eigene Überleben sichern?
27 Zur Sonderstellung von David Wagners Leben gerade auch mit Blick auf das „Verstörungs-
potential des Hybriditätskonzepts“ vgl. Krüger-Fürhoff, Irmela Marei: Die neue Leber spricht
Spanisch, S. 130.
28 Zu weiteren Dimensionen des Begriffs ‚Weiterleben‘ und von Transvivenz vgl. Ette, Ottmar:
Welterleben/Weiterleben. On Vectopia in Georg Forster, Alexander von Humboldt, and Adel-
bert von Chamisso. In: Daphnis (Amsterdam) 45 (2017), S. 343–388; sowie ders.: Juana Borrero:
convivencia y transvivencia. In: Rodríguez Gutiérrez, Milena (Hg.): Casa en la que nunca he sido
Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen 13
extraña. Las poetas hispanoamericanas: identidades, feminismos, poéticas (Siglos XIX – XXI).
New York – Bern – Frankfurt am Main: Peter Lang 2017, S. 268–307.
29 Ortheil, Hanns-Josef: Abschied vom Rhein. Loblied auf David Wagners „Meine nachtblaue
Hose“. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken (München) LV, 628 (Au-
gust 2001), S. 733–738.
30 Kramatschek, Claudia: Pein und Peinlichkeit. Sehnsuchtsgeschichten von Karen Duve und
David Wagner. In: ndl. neue deutsche literatur (Berlin) LI, 547 (Januar – Februar 2003), S. 194.
14 Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen
31 Jens Jessen hat in seiner sehr kritischen Besprechung von Wagners Text diese Distanz als
falsche Coolness und – mehr noch – als innere Leere gedeutet; vgl. Jessen, Jens: Das unbe-
wegte Pokerface. In: Die ZEIT (Hamburg) (28.2.1013).
32 Zur spezifischen Bedeutung von Lachen und Weinen aus der Perspektive der philosophi-
schen Anthropologie Helmuth Plessners vgl. auch Krüger, Hans-Peter: Zwischen Lachen und
Weinen. 2 Bde. Berlin: Akademie Verlag 1999–2001.
Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen 15
Stärke und Lebenskraft vor allem die Tochter des Ich-Erzählers verkörpert. Die un-
bändige Kraft der Kindheit fließt in das Leben ein und lässt es nicht mehr los.
Jenseits dieser Verkörperung von Lebensfreude durchzieht die Frage nach
dem Zusammenleben die Gesamtheit des Textes jedoch nicht allein auf Ebene
des polyphonen Eigen-Lebens der Organe im Individuum und der erotischen
Erfahrungen im heterosexuellen Bereich, sondern auch und gerade auf der
Ebene eines Zusammenlebens in größeren, komplexeren Gemeinschaften. Die
Bettszene mit La Flaca bündelt diese verschiedenen Ebenen des Organischen,
des Erotischen und des Kollektiven insofern auf eine ästhetisch vollkommene
Weise, als die hier inszenierte Liebesszene sich in einem Krankenhauszimmer
abspielt, wo die Schwestern und Pfleger ganz selbstverständlich – und ohne an
der Tür des Kranken und Genesenden anklopfen zu müssen – allgegenwärtig
sind. Die Welt von David Wagners Leben ist die Welt des Krankenhauses. Sie ist
in diesem Prosatext das, was für Giorgio Agamben33 das Lager in seiner abs-
traktesten wie in seiner konkretesten Form ist: Nomos und Paradigma des Le-
bens in der Moderne schlechthin. Wie aber ist diese Welt mit der Welt, mit der
Erde verbunden?
Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir ein klein wenig ausholen und die
Frage nochmals anders stellen. Wie und mit Hilfe welcher Verfahren kann in der
abendländischen Literatur von der Welt erzählt und Welt geschaffen werden?
Wie löst die Literatur die ihr seit ihren Anfängen – seit dem Gilgamesch-Epos wie
seit dem chinesischen Shi-Jing – übertragene Aufgabe ein, auf gleichsam demiur-
gische Weise Welt zu erzeugen?
Gleich im ersten, der „Narbe des Odysseus“ gewidmeten Kapitel seines Haupt-
werks Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur wandte
sich der Romanist Erich Auerbach dieser Problematik zu, die für seinen Entwurf
des Abendlands zumindest aus dem philologischen Blickwinkel von wohl noch
größerer Bedeutung war als die Frage nach den schon zu seiner Zeit so oft in ihren
antiken Tradierungslinien dargestellten Nachahmungskonzeptionen. Folgen wir
also Auerbach bei seiner Suche nach einer Grundlagenforschung, welche zumin-
dest für die abendländischen Literaturen Gültigkeit beanspruchen könnte!
Zur Erhellung dieser Problematik versuchte Auerbach, in seinem zwischen
Mai 1942 und April 1945 in seinem Istanbuler Exil entstandenen und bis heute
immer wieder aufgelegten Grundlagenwerk zwei sicherlich sehr unterschiedli-
che, aber miteinander verschiedenartig verwobene Traditionsstränge nachzu-
weisen, wobei er der Welt Homers auf ebenso komparative wie kontrastive
33 Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem
Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002.
16 Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen
Weise die jüdisch-christliche Welt der Bibel gegenüberstellte. Der „biblische Er-
zählungstext“, so Erich Auerbach, wolle uns
ja nicht nur für einige Stunden unsere eigene Wirklichkeit vergessen lassen wie Homer,
sondern er will sie sich unterwerfen; wir sollen unser eigenes Leben in seine Welt einfügen,
uns als Glieder seines weltgeschichtlichen Aufbaus fühlen. Dies wird immer schwerer, je
weiter sich unsere Lebenswelt von der der biblischen Schriften entfernt [...]. Wird dies aber
durch allzustarke Veränderung der Lebenswelt und durch Erwachen des kritischen Be-
wußtseins untunlich, so gerät der Herrschaftsanspruch in Gefahr [...]. Die homerischen Ge-
dichte geben einen bestimmten, örtlich und zeitlich begrenzten Ereigniszusammenhang;
vor, neben und nach demselben sind andere, von ihm unabhängige Ereigniszusammen-
hänge ohne Konflikt und Schwierigkeit denkbar. Das Alte Testament hingegen gibt Weltge-
schichte; sie beginnt mit dem Beginn der Zeit, mit der Weltschöpfung, und will enden mit
der Endzeit, der Erfüllung der Verheißung, mit der die Welt ihr Ende finden soll. Alles an-
dere, was noch in der Welt geschieht, kann nur vorgestellt werden als Glied dieses Zusam-
menhangs [...].34
Der Begriff des Lebens ist für Auerbachs Philologie zentral, blieb aber lange
Zeit in der literaturwissenschaftlichen Forschung unerkannt. Auch in dieser
Passage fällt die Präsenz des Lexems ‚Leben‘ auf, die sich hier mit der wieder-
holten Nennung des zweifellos soziologisch und kulturtheoretisch eingefärbten
Begriffs der Lebenswelt verbindet. Auerbach entfaltet nicht nur auf der letzten
Seite seines Hauptwerkes Mimesis ein wahres Feuerwerk der Lebens-Begriffe.
Die Tatsache, dass Erich Auerbach, der gewiss bereits zum damaligen Zeit-
punkt seiner Philologie der Weltliteratur35 auf der Spur war, die homerische und
die alttestamentarisch-biblische Welt als die beiden fundamentalen Ausgangs-
und Bezugspunkte begriff, deren Kräftefelder die dargestellte Wirklichkeit in
der abendländischen Literatur bis in die Gegenwart prägen, führte den Philolo-
gen zur Einsicht in eine auf den ersten Blick paradoxe Struktur, die wir aber
begreifen müssen, wollen wir die Komplexität literarischer Darstellungsmuster
von Geburt, Leben, Sterben und Tod adäquat verstehen:
Das Alte Testament ist in seiner Komposition unvergleichlich weniger einheitlich als
die homerischen Gedichte, es ist viel auffälliger zusammengestückt – aber die einzel-
nen Stücke gehören alle in einen weltgeschichtlichen und weltgeschichtsdeutenden
Zusammenhang. Mögen sich auch einzelne, nicht ohne weiteres sich einfügende Ele-
mente erhalten haben, sie werden doch von der Deutung ergriffen; und so fühlt der
Leser jeden Augenblick die religiös-weltgeschichtliche Perspektive, die den einzelnen
Erzählungen ihren Gesamtsinn und ihr Gesamtziel gibt. So viel vereinzelter, horizontal
unverbundener die Erzählungen und Erzählungsgruppen nebeneinander stehen als die
der Ilias und der Odyssee, so viel stärker ist ihre gemeinsame vertikale Bindung, die sie
alle unter einem Zeichen zusammenhält, und die Homer gänzlich fehlt. In jeder einzel-
nen der großen Gestalten des Alten Testaments, von Adam bis zu den Propheten, ist
ein Moment der gedachten vertikalen Verbindung verkörpert.36
Die horizontale und die vertikale Bindung und Verbindung, die man durchaus
mit der Unterscheidung zwischen syntagmatischer und paradigmatischer Ebene
assoziieren könnte, werden nicht nur in ihren erzähltechnischen Möglichkeiten
reflektiert, sondern zugleich in ihrer Macht und Gewalt, die insbesondere letztere
auf ihre Leser*innen auszuüben pflegt. Das alttestamentarische Erzählmodell
zielt auf einen Gesamtsinn, auf einen Gesamtzweck, dem auch und gerade das
Leben der Leserschaft unterzuordnen, ja mehr noch: zu unterwerfen ist. Auer-
bach war sich der Kräfte, ja der Gewalt eines derartigen Erzählmodells sehr
bewusst.
Erich Auerbachs Analyse ist, was den Urgrund abendländischen Erzählens
angeht, von fundamentaler Bedeutung. Der raumzeitlich eng begrenzten Frag-
menthaftigkeit von Ilias und Odyssee entspricht in Auerbachs Sinne eine große
erzählerische (und erzähltechnische) Geschlossenheit, während umgekehrt die
einheitliche „religiös-weltgeschichtliche Perspektive“37 des Alten Testaments
sich auf der Textebene in einer gleichsam zusammengestückelten Fragmentari-
tät niederschlage. Die häufig untersuchte Dialektik von Fragment und Totali-
tät38 wird in diesen Eingangspassagen von Auerbachs Mimesis von einer nicht
minder wirkungsmächtigen Wechselbeziehung zwischen – wie sich formulieren
ließe – raumzeitlicher Begrenztheit und raumzeitlicher Entgrenzung sowie von
41 Zum Begriff des Fraktals vgl. Mandelbrot, Benoît B.: Die fraktale Geometrie der Natur. Her-
ausgegeben von Ulrich Zähle. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhilt Zähle und Ulrich
Zähle. Basel – Boston: Birkhäuser Verlag 1987.
42 Vgl. Agamben, Giorgio: Stato di eccezione. Homo sacer, II, 1. Torino: Bollati Boringhieri
2003.
43 Wagner, David: Leben, S. 170.
44 Ebda.
45 Ebda., S. 171.
20 Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen
wird ihm dramatisch deutlich: „offenbar bin ich tatsächlich auf einem anderen
Planeten gelandet, einem, auf dem die Schwerkraft viel größer ist als auf der
Erde.“46 Die Welt des Ich hat sich in einem fundamentalen Sinne verändert:
Nichts ist wie vorher. Die ganzen Ausmaße dieser Krankenhausanlage des Vir-
chow-Klinikums werden aus der Perspektive des ‚Innenhofs‘ der Mittelallee die-
ser Welt mit ihrem Innenleben erkennbar: „Hier und da Lichthauben aus Glas,
auf dem Klinikgelände ist fast alles unterkellert, eine Unterwelt unter der Unter-
welt.“47 Die Überquerung des Styx beim Eintritt in diese Welt mit ihrem Eigen-
Leben – der nicht „zuzahlungsbefreite“48 Ich-Erzähler muss dem „Fährmann“,49
dem Fahrer des Krankenwagens, einen Fünf-Euro-Schein aushändigen, bevor die
Überfahrt beginnen kann – machte freilich von Beginn an deutlich, dass die Welt
des Krankenhauses nicht eine Welt der Toten ist, sondern dass sie eine höchst
komplexe Lebenswelt darstellt: Nirgendwo sonst wohl ist das Leben, ist der
Wunsch nach Leben intensiver und allgegenwärtiger. Das Leben zählt – und sei
es auf einem anderen Planeten namens Krankenhaus …
Diese Welt, dieser Planet des Krankenhauses ist komplex und so verwir-
rend, dass das Ich sich keine allzu präzisen räumlichen oder architektonischen
Vorstellungen davon machen kann. So ist das Krankenhaus, das alles andere
als eine gleichförmige, homogene Welt darstellt, in unterschiedlichste Statio-
nen aufgeteilt, die nur auf langen Wegen über schier unendliche Gänge mitein-
ander verbunden sind. Die einzelnen Stationen bilden unterschiedliche Inseln,
von denen jede einzelne ihre nicht zuletzt auch disziplinär je eigene Insel-Welt
mit ihrer eigenen Logik (und mit ihren eigenen Ärzten und Ärztinnen) bildet.
Jede Insel-Welt aber ist wiederum Teil und Bestandteil einer archipelischen In-
selwelt, in der die unterschiedlichen Logiken und Inseln untereinander und
miteinander archipelisch wie transarchipelisch verbunden sind. Mit dem Roll-
stuhl oder dem rollenden Krankenhausbett – „Das Krankenhausbett ist eigent-
lich ein Fahrzeug, es hat vier Räder, es ist ein Krankenwagen, ich liege und
gleite dahin, werde über lange Flure gefahren und in einen Aufzug gescho-
ben.“50 – werden die großen Distanzen überwunden, so wie sich Inseln nur mit
spezifischen schwimmfähigen Fahrzeugen ansteuern lassen. Wie mit einem Boot
oder Schiff also können die Wasserflächen zwischen den Inseln, die Gänge und
Flure, durchquert und große Distanzen zurückgelegt werden. Dabei ist alles in
46 Ebda.
47 Ebda., S. 173.
48 Ebda., S. 116.
49 Ebda.
50 Ebda., S. 20.
Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen 21
unablässiger Bewegung: Jede Insel ist multirelational mit allen anderen Inseln
dieser Welt vernetzt.
Die archipelische Welt des Krankenhauses ist ihrerseits über die ständig lan-
denden und wieder startenden Hubschrauber mit anderen Archipelen verbunden,
so dass die Transplantate, die Herzen, Nieren, Lebern oder Bauchspeicheldrüsen
stets auf transarchipelischem Wege ihren Weg ins Innere des Krankenhauses fin-
den, bevor sie selbst zu lebendigen Bestandteilen jener Körper-Leiber werden, für
die sie nach vom Ich nicht durchschaubaren Verfahren ausgesucht worden sind.
Die Insel-Welten überlagern sich und verweisen ihrerseits auf sich wiederum über-
lagernde Inselwelten: Une île peut en cacher une autre. Und stellen diese sich über-
lagernden archipelischen und transarchipelischen Insel-Welten nicht ein Modell
des eigenen Körper-Leibes dar, in welchem sich die Organe auf ähnliche Weise
miteinander vernetzt haben?
Die archipelischen Strukturen des Diskontinuierlichen prägen aus diesem
Blickwinkel nicht nur mit ihrem vielfältigen Eigen-Leben das Innen-Leben des
Körper-Leibs des Ich, sondern auch die Insel-Welt und Inselwelt des Kranken-
hauses, dessen Archipel-Struktur über Ländergrenzen hinweg mit anderen Ar-
chipelen diskontinuierlich, aber relational vielverbunden zusammenhängt. Das
Leben organisiert sich innerhalb wie zwischen diesen Ebenen stets als ein Zu-
sammenleben, als eine Konvivenz von unterschiedlichen Organen, Menschen,
Sprachen, Geschlechtern, Disziplinen, Diskursen, Konzernen und Ökonomien.
Die fraktale Welt des Krankenhauses liefert ein Deutungs- und Erklärungsmo-
dell für die Welt überhaupt. Gerade dadurch, dass sich der in viele Mikrotexte
aufgeteilte Wagner’sche Text auf das Krankenhaus begrenzt, kommt er als
Fraktal dem Auftrag der bürgerlichen Epopöe nach, die Totalität der Welt im
begrenzten Raum eines Buches zu erfassen.
Die Welt des Krankenhauses ist voller Leben: Ständig wechseln die Men-
schen, die neben dem Bett der Ich-Figur im Krankenzimmer erscheinen. Men-
schen aus Berlin, dem Libanon oder Sibirien tauchen auf und verschwinden
wieder, werden geheilt oder mit der Nachricht ihres baldigen Todes entlassen,
zeigen sich mit ihren Ehefrauen, Geliebten, mit ihren Familien oder Arbeitskol-
legen, verweisen auf andere Sozialisationen und Gewohnheiten, auf andere Be-
rufe und Lebenswelten, auf andere Sprachen und Kulturen. Ja, es gibt ein
Außerhalb des Krankenhauses, aber dieses Außerhalb ist im Fraktal des Kran-
kenhauses immer schon präsent. Hinzu kommt eine ganze Population von stets
voneinander unterschiedenen und sich unterscheidenden Krankenschwestern
und Pflegern, Studentinnen und Studenten, Ärztinnen und Ärzten sowie von
Chefärzten, die schon an der Qualität ihrer gepflegten Schuhe mit handgenäh-
ten Ledersohlen erkennbar sind – Distinktionen allerorten …
22 Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen
211
Ich blättere in einem älteren Notizbuch, das in einem Seitenfach meiner braunen Reiseta-
sche lag, offenbar hatte ich es da vergessen. Ich lese, im Krankenhaus liegend, Notizen
übers Krankenhaus, diese Notizen habe wohl ich gemacht, die Schrift sieht aus wie meine.
Immer wieder lese ich das Wort Krankenhaus, eigentlich möchte ich das Wort Krankenhaus
nie wieder hören, schreiben oder lesen, ich möchte es nicht einmal mehr denken – aber
weil ich schon weiß, dass ich das Wort Krankenhaus noch sehr oft werde hören und
sagen müssen, versuche ich, mich abzustumpfen, ich sage leise: Krankenhaus, Kranken-
haus, Krankenhaus, ich versuche, mich zu immunisieren, Krankenhaus, Krankenhaus,
Krankenhaus, ich spreche dieses Wort so oft, bis es gar nichts mehr bedeutet, Kranken-
haus, ach Krankenhaus. Klinik oder Klinikum klingt auch nicht besser.
Im Krankenhaus, so mein Bettnachbar und Zimmerkamerad, er hat mich murmeln
hören, seien wir dazu verdammt, zu liegen und zu warten, bis es besser wird. Oder richtig
krank zu werden. Deshalb heiße es „Krankenhaus“.51
51 Ebda., S. 221 f.
Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen 23
Schon früh wird in David Wagners Leben demonstriert, wie sehr sich irrt,
wer Kranksein und Krankenhaus mit Bewegungslosigkeit verwechselt. Ein Mi-
krotext führt bereits zu Beginn des Prosatextes das Thema der Reise ein und
verbindet es mit dem Thema der Insel:
23
Ich schlafe in einer Außenkabine, in der Bordwand ein Bullauge, ich sehe Wasser, viel
Wasser, manchmal zieht eine Insel vorbei, ein U-Boot taucht auf, ein Eisberg treibt dahin
oder ein einsamer Schwimmer, der fast schon aufgegeben hat. Das muss die Vergangen-
heit sein.
Ich habe mich eingeschifft, ich bin an Bord, es geht einmal durch mein Krankenzim-
mer, vom Kissen zum Nachtschrank, vom Nachtschrank zum Wandschrank, vom Wand-
schrank zum Tisch, auf den Stuhl, ans Fenster, ins Bad, zum Fernseher an der Wand und
weiter. Ich bin unterwegs, im Bett geht es hinaus, der Transport schiebt, die Krankheit ist
die große Reise, le grand tour, einmal in die Unterwelt und vielleicht zurück. Krankheit ist
vakante Zeit, ist, habe ich das nicht irgendwo gelesen, die Reise der Armen.52
Wie bei Xavier de Maistre wohnen wir einem Voyage autour de ma chambre,
einer Reise um die ganze Welt in meinem (Krankenhaus-)Zimmer bei. Es ist
eine Entdeckungsreise in jeglicher Hinsicht, eine Abenteuerreise mit eingebau-
ter Lebensgefahr: eine Reise, die zur Entdeckung des eigenen Lebens, vielleicht
aber auch des eigenen Todes führt. So wie sich das Ich in seinem Krankenzim-
mer von Insel zu Insel hangelt, so wie sich die Krankheit als eine Schifffahrt
von Insel zu Insel verstehen lässt, so wie sich das Leben des Ich als eine Reise
von Krankenhaus zu Krankenhaus – unterbrochen von anderen Reisen in Ber-
lin oder nach Mexiko – begreifen lässt, so ist das Leben eine Reise, die sich in
unterschiedlichen Bewegungsräumen entfaltet. Es handelt sich um eine Aben-
teuerreise des Ich zum Ich in zweihundertundsiebenundsiebzig Textinseln.
Damit aber ist das Krankenhaus alles andere als ein statischer Ort. Es er-
weist sich vielmehr als ein hochgradig vektorisierter Bewegungs-Raum, durch
den sich das Ich ständig bewegt oder unablässig – von Station zu Station, von
Insel zu Insel – transportiert wird. Die Krankheit als „Grand Tour“ erweist sich
als die Reise einer Bildung des Ich, das ohne diese beständigen Reisen nie zu
diesem Ich geworden wäre. Auch wenn es sich nicht selten als ein Schwimmer
zwischen den Inseln versteht, „der fast schon aufgegeben hat“.53
Denn das Krank-Sein des Ich reduziert sich nicht auf die Krankheit, lässt
sich nicht auf jene Parameter zurückschneiden und reduzieren, welche der
52 Ebda., S. 26.
53 Ebda.
24 Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen
54 Ebda., S. 9.
55 Ebda.
56 Ebda., S. 267.
57 Ebda., S. 54.
58 Ebda., S. 55.
Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen 25
das – um es kurz zu sagen – ein Wissen bereithält, wie und auf welche Weise
man überleben kann.
Schreiben und Erzählen sind LebensZeichen, sind Zeichen eines Lebens,
das noch nicht aus-gelebt ist. Schreiben und Erzählen sind damit in David Wag-
ners Leben so etwas wie ein „Lebensgeruch“, den lebende Ameisen an sich
haben, der sich aber bald nach ihrem Tod verflüchtigt.59 Ich schreibe nicht
mehr, also bin ich tot? So lange ich schreibe und – dies wusste auch Schehera-
zade – solange ich erzähle, lebe ich und habe ich überlebt, kann ich auf weiteres
Leben und Überleben hoffen. Die kluge und umsichtige Erzählerin Scheherazade
verkörpert so etwas wie die Ökonomie einer Literatur, die stets um ihren eigenen
prekären Status weiß und eben darum – mit dem Mittel der Schrift – nach Ewig-
keit, nach Unsterblichkeit trachtet.
In der großen Figur von Tausendundeiner Nacht60 haben die Literaturen
der Welt auf Ebene der Rahmenerzählung bereits vor Jahrtausenden eine Figur
geschaffen, die sich nicht nur gegen das Sterben, gegen den Tod auflehnt und
von der Gewalt berichtet, sondern diese Gewalt in einen Schöpfungsakt trans-
formiert, welcher nicht nur der Erzählerin das Leben rettet. Literatur ist in
ihrem Kern weit mehr als ein Erzählen von Gewalt: Sie ist ästhetische Transfor-
mation von Gewalt. Auch im Leben der Literatur ist der Tod stets allgegenwär-
tig – als Bedrohung, als Antrieb, als unverzichtbarer Bestandteil des Lebens.
Das bedrohte Leben in Kreativität zu transformieren: Dies ist die Kraft der Lite-
ratur, die tief aus der Gewalt schöpft.61
David Wagner hat mit Bedacht sein ‚Todesarten‘-Projekt62 in seinen Band
Leben integriert: in lyrischer Form angeordnete gewaltsame Todesfälle, die – Zei-
tungsmeldungen entnommen – von ihrem Tod her schlaglichtartig eine jeweilige
Lebensgeschichte erhellen, ja brutal ausleuchten. Erst vom Tod her werden diese
Leben lesbar (gemacht). Aber nicht nur in diesen ‚Todesarten‘ experimentiert und
operiert David Wagner mit Verdichtungsformen des Erzählens: Man könnte in der
Tat mit Blick auf seine Prosa von einer „Intensivstation des Erzählens“63 sprechen.
59 Ebda., S. 215.
60 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: ZusammenLebensWissen, S. 44–47.
61 Vgl. hierzu die schöne Potsdamer Habilitationsschrift von Lenz, Markus Alexander: Die ver-
letzte Republik – Erzählte Gewalt im Frankreich des 21. Jahrhunderts (2010–2020). Habilitati-
onsschrift Universität Potsdam 2021.
62 Vgl. hierzu den Verweis auf eine 2004 in einen Krankenhausaufenthalt ‚eingeschobene‘ Le-
sung David Wagners im Café Burger in Platthaus, Andreas: David Wagner über sein neues
Buch: Meine eigene Geschichte, wie geht die? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Frankfurt am
Main) (21.2.2013).
63 Böttiger, Helmut: Ein fremdes Flirren. In: Süddeutsche Zeitung (München) (14.3.2013).
26 Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen
In der Literatur, so zeigt sich auch in Leben, geht es um Leben oder Tod – und
auch und vor allem um das Leben des Todes (einschließlich des eigenen Todes:
dessen, der schreibt, dessen, der liest).
Literatur ist stets ein Laboratorium, stets ein Erprobungsraum, bisweilen
aber auch: ein Operationsraum. Wagners Leben ist ein literarisch intensives
Operieren am offenen Leben, das nur zu schnell vom Tod her eine andere Rich-
tung, einen anderen Sinn bekäme. Das Lexem ‚Leben‘ ist ein Substantiv, bei
dem sich hinter dem einen Leben die vielen Leben verbergen: Une vie peut en
cacher une autre. Und es lässt sich durchdeklinieren, als Verlauf erproben, in
seiner Prozessualität testen – so lange, bis das Wort ‚Leben‘ alle Leben leben
und lebendig werden lässt. Es bietet gegen die Gewalt keinen Widerstand auf,
der nur Gegen-Gewalt wäre, sondern Widerständigkeit, die der Gewalt ihre
Kraft abtrotzt.
Doch die vielen Leben, die vielen Geschichten lassen sich immer wieder
auf ein Leben, auf eine Geschichte herunterbrechen. Und eine Geschichte er-
zählen kann nur, wer diese Geschichte selbst (und auch das Erzählen dieser Ge-
schichte) überlebt hat.64 Insofern ist das Erzählen, ist die Literatur mit dem
Überleben – wie uns nicht nur die Literaturen der Shoah und der Konzentrati-
onslager zeigen – auf fundamentale Weise verknüpft. Wir werden uns dies im
Verlauf unserer Vorlesung noch genauer anschauen. Dem mit dem realen Autor
nicht zu verwechselnden Ich-Erzähler von David Wagners friktionalem Prosa-
text – der knapp sieben Jahre nach der 2007 vorgenommenen erfolgreichen
Lebertransplantation beim realen Autor David Wagner erschien65 – wird dies
im Verlauf seines eigenen Weges, seines eigenen Erzählens Schritt für Schritt
klar. Denn er kommt „mit der Zeit dahinter, dass jede Krankheit, welche auch
immer, ihren Patienten eine Geschichte schenkt. Eine Geschichte, die er oder sie
dann gern erzählt, immer wieder, mit Ausschmückungen, Verzögerungen, Ab-
schweifungen und dramatischen Wendungen. Sich selbst erzählen zu hören
heißt, noch zu leben. Zu reden heißt, ich bin nicht tot.“66 Kann es ein klareres
Angehen gegen den Tod geben als dessen textproduktive Herauszögerung im
Über-das-eigene-Leben-Schreiben?
64 Vgl. hierzu ausführlich Ette, Ottmar: ZusammenLebensWissen, S. 44–47. Vgl. hierzu auch
das Interview von Britta Bürger mit David Wagner „In existenzieller Not ‚hilft einem das Er-
zählen‘“ in Deutschlandradio am 15.3.2013, am Tag nach der Preisvergabe der Leipziger
Buchmesse.
65 Vgl. hierzu das von Erik Heier geführte Interview „Der Schriftsteller David Wagner über
sein neues Buch Leben“ in Tip Berlin (Berlin (12.3.2013), S. 1.
66 Wagner, David: Leben, S. 241.
Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen 27
43
Eine Schwester betritt das Zimmer, fühlt mir den Puls, misst meinen Blutdruck. Mir
kommt es vor, als gehöre mein Körper ihr. Ich überlege, wer im Laufe meines Lebens so
alles an meinem Körper herumgefummelt hat: meine Mutter, mein Vater, alle Ärzte und
Zahnärzte, mit denen ich zu tun hatte, alle Friseure und Friseusen, die, mit denen ich ins
Bett gegangen bin, Personen des uneingeschränkten Vertrauens, die mir die Pickel auf
dem Rücken ausgedrückt haben, neben denen ich schlafe, die Physiotherapeutin, die mir
die Schulter massiert, das Kind, mit dem ich auf dem Teppich herumbalge. Das war's
dann aber auch. Die meiste Zeit hatte ich mich ganz für mich allein. Der Körper aber, der
67 Ebda.
28 Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen
hier im Krankenhaus behandelt wird, ist nicht mehr meiner. Ich habe ihn abgegeben, ich
habe unterschrieben, ich lasse andere machen.68
Der Körper-Leib, der wir sind und den wir haben, spaltet sich auf in ein Leib-Sein
und ein Körper-Haben, wobei des letzteren Objekthaftigkeit im Krankenhaus im
Vordergrund steht. Insofern kann dieser Körper als Objekt, als Gegenstand auch
an ein Krankenhaus veräußert oder schlicht nur abgegeben werden. Dieses ‚Ab-
geben‘ des eigenen Körpers ist ein Abgeben des Körpers als Objekt – als Gegen-
stand von Untersuchungen, Messungen, Injektionen, Eingriffen, Operationen,
Transplantationen. Diese Vergegenständlichung des Körpers hat Folgen für die
Selbstwahrnehmung des Ich.
Von diesem Körper-Haben könnten wir im Sinne der philosophischen Anth-
ropologie Helmuth Plessners69 aber ein Leib-Sein unterscheiden, das nicht auf
den Besitz des Körpers (den ich bemalen und verschönern, aber auch zur Be-
handlung abgeben und operieren lassen kann) abzielt. Beim Leib-Sein geht es
vielmehr um jene Dimension gleichsam unveräußerbaren Schmerzes, aber auch
unveräußerbarer Lust, die sich in diesem Leib-Sein jeglicher Objektivierung ent-
gegenstellt und entzieht. Vereinfachend ausgedrückt: Den Leib kann ich im
Krankenhaus nicht abgeben. Und doch ist er im Krankenhaus auch mit dabei –
und nicht nur auf der Ebene der Schmerzstillung. Körper-Haben und Leib-Sein
sind die beiden Seiten ein und desselben Körper-Leibs, der für das Ich und des-
sen Selbstwahrnehmung von zentraler Bedeutung ist.
In David Wagners Leben geht es – dies zeigt sich immer wieder deutlich –
nicht allein um das Körper-Haben, sondern auch um das Leib-Sein. Denn die-
ses steht als Sein dem Ich-Sein des Erzählers deutlich näher. Auch in diesem
Zusammenhang bleibt nichts auf die Logik des Krankenhauses (und der
68 Ebda., S. 49 f.
69 Vgl. u. a. Plessner, Helmuth: Anthropologie der Sinne (1970). In (ders.): Gesammelte Schrif-
ten. Bd. 3: Anthropologie der Sinne. Herausgegeben von Günter Dux, Odo Marquard und Elisa-
beth Ströker. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 317–393. Zur Fruchtbarmachung dieser
erstmals 1970 erschienenen Schrift für eine philosophisch-literaturwissenschaftliche und zu-
gleich lebenswissenschaftliche Textanalyse vgl. Ette, Ottmar: „Unheimlich nahe mir ver-
wandt“: Hand-Schrift und Territorialität bei Hannah Arendt. In: Potsdamer Studien zur Frauen-
und Geschlechterforschung (Potsdam) V, 1–2 (2001), S. 41–54; sowie ders.: Mit Haut und Haar?
Körperliches und Leibhaftiges bei Ramón Gómez de la Serna, Luisa Futoransky und Juan Ma-
nuel de Prada. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Lit-
tératures Romanes (Heidelberg) XXV, 3–4 (2001), S. 429–465. Vgl. zu dieser Dimension der
Philosophie Helmuth Plessners insbesondere Krüger, Hans-Peter: Das Spiel zwischen Leibsein
und Körperhaben. Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie. In: Deutsche Zeitschrift
für Philosophie (Berlin) XLVIII, 2 (2000), S. 289–317.
Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen 29
Text, das ist jener Augenblick, in dem mein Körper seinen eigenen Ideen folgt –
denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich.“71
Barthes’ Lust am Text verdeutlicht uns noch einmal auf einer theoretisch-
sinnlichen Ebene die Unteilbarkeit von Körper-Haben und Leib-Sein im lustvol-
len Erleben gerade auch der Lektüre. David Wagners Experimentaltext Leben
folgt diesen Ideen und macht die Ideen des Körper-Leibs immer wieder leben-
dig und zugänglich, lässt sie uns lustvoll erleben und nacherleben. Der vierzig
Jahre nach Le Plaisir du texte erschienene mikrotextuelle Band ist ganz gewiss
kein Betroffenheitstext, der sich zugleich auf die Dimensionen eines Dankbar-
keitsdiskurses (Dankbarkeit vor allem gegenüber den Organspendern, Dankbar-
keit beispielsweise aber auch gegenüber den Ärzten und Krankenpflegern)
begrenzen ließe. Es handelt sich vielmehr um einen hochgradig experimentel-
len Text, der die Lust am Text als Lust am Leben – als Lust am Lebenschreiben
wie am Lebenlesen – auskundschaftet und uns ganz nebenbei einen panorama-
tischen Blick auf Geburt und Wiedergeburt, auf Leben und ein zweites Leben,
aber auch auf Sterben und den Tod eröffnet. Er nutzt den Experimentierraum
der Literatur, um die unterschiedlichsten Lebensformen und Lebensnormen,
um die verschiedenartigsten Diskurse und Sichtweisen zu Wort kommen zu las-
sen und uns damit gleichsam spielerisch-ernsthaft in die Problematiken des Le-
bens und Erlebens einzuführen.
Wagners Experimentaltext ist aus vielen Diskursen, aus vielen Intertexten
gemacht. Immer wieder wird dabei die Anamnese, die Grundform der medizini-
schen Narration der Krankengeschichte, in kursiver Setzung in den Text einge-
blendet. Und doch hat dieser biowissenschaftliche Diskurs keine Präponderanz,
besitzt keinerlei höhere Erkenntnis mit Blick auf das, was Leben ist. Der biowis-
senschaftliche und biotechnologische Diskurs über das, was Leben ist, erscheint
als eine besondere Diskursformation, als eine besondere ‚Sprache‘, der gleich-
wohl kein höheres Erkenntnispotential zugeschrieben wird. Er ist sehr wohl gra-
phisch hervorgehoben, aber nicht aus der Vielstimmigkeit, der Polyphonie der
Diskurse herausgehoben. Er ist notwendig, um ein vollständiges Panorama des
Schreibens über Geburt, Leben, Sterben und Tod zu bieten, nimmt aber – entge-
gen seines Anspruchs auf Vorherrschaft – keine zentrale Stellung in David Wag-
ners Leben ein.
Was zeichnet diesen Diskurs und seine konkrete Textgestalt aus? Nun, die
Geschichte, die von diesem medizinischen Diskurs erzählt wird, ist eine arme
71 Barthes, Roland: Die Lust am Text. Aus dem Französischen von Ottmar Ette. Kommentar
von Ottmar Ette. Berlin: Suhrkamp Verlag 2010, S. 27. Vgl. dort auch die ausführliche Kom-
mentierung dieser Figur.
Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen 31
Geschichte: Sie erzählt von Symptomen und Befunden, von Diagnosen und
Therapien, von Untersuchungen und Nachuntersuchungen, von Analysen und
Prognosen. Im literarischen Text wird dieser biowissenschaftliche Diskurs mit
vielen anderen Diskursen in eine – wenn man so will – im vollen Sinne lebens-
wissenschaftliche Diskursivität überführt, die sich nicht aus einer einzigen
Logik speist, sondern die unterschiedlichsten Logiken relational miteinander
zu verbinden sucht. Denn die Leserinnen und Leser dieses Experimentaltextes
haben längst begriffen, dass die Problematik der Transplantation nicht monolo-
gisch, sondern nur polylogisch nachzuvollziehen und zu begreifen ist.
Fassen wir also zusammen: Der Fraktaltext David Wagners ist ein Experimen-
taltext in dem Sinne, dass er die Symptome und Zeichen, die Anamnesen und
Krankheitsbilder, die Therapien und Schreibstrategien in eine Viellogik übersetzt,
die sich jedweder monolithischen, kontinentalen Sinnerzeugung widersetzt! Aus
der Widerständigkeit der Ästhetik erzeugt sie eine Diskontinuität, die in ihrer offe-
nen archipelischen Strukturierung das Leben nicht einem einzigen Gesetz, nicht
einem einzigen Verstehen zuführt und unterwirft. Denn wir müssen begreifen,
dass Transplantation Fragen einer organischen Konvivenz aufwirft, die wir kei-
nem medizinisch-biowissenschaftlichen Fächerensemble mit seinen präzisen,
aber letztlich armen Diskursen allein überlassen dürfen.
Bereits die polylogische Anlage der Mikrotexte verweist als literarisches
Strukturelement darauf, dass Leben in seiner fundamentalkomplexen Viellogik
stets auch vielperspektivisch betrachtet sein will. David Wagners Leben kommt
dieser literarischen Strukturierungsanforderung nach, ja übererfüllt sie experi-
mentell. Das von uns gleich zu Beginn ins Auge gefasste Zusammenleben mit
dem Du im Ich öffnet sich auf die unterschiedlichsten Diskurse so, wie sich die
Organe der Spender(in) komplex disseminieren. Das Lebensprinzip von David
Wagners Leben ist nicht der Dialog, sondern der Polylog – und mehr noch: eine
vitale Polylogik.
Die zunächst kindlich erscheinende Sehnsucht des Erzählers nach einem
allumfassenden Wissen tritt in dieser Abfolge von Mikrotexten immer wieder
zutage. Wie aber wäre ein solcher Ort des Wissens – und zwar nicht nur eines
disziplinierten Wissens, sondern eines komplexen Lebenswissens in seiner ra-
dikalsten Form – vorstellbar? In jungen Jahren hatte das Ich einen derartigen
Ort imaginiert; so heißt es zu Beginn von Mikrotext 111:
Als Kind hatte ich die Vorstellung, dass ich eines Tages an einen Ort komme, an dem ich
alles erfahren werde, einen Ort, an dem sich alles klärt, alle Fragen, Rätsel und Probleme.
Einen Ort, an dem sich herausstellt, was es mit diesem Leben auf sich hat, was dieses
Leben überhaupt soll, wozu ich auf der Welt bin und warum was geschieht. Ich dachte,
dass sich dort auch alle weiteren Fragen klären – was es mit den Sternen und dem Welt-
all, den Milchstraßen und Galaxienhaufen auf sich hat, warum das All so groß und wir so
32 Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen
klein sind, wie es mit dem Leben auf der Erde anfing, warum die Dinosaurier ausgestor-
ben sind, wir, die Menschen, aber noch nicht, und wann es für uns soweit ist etc. etc.72
Allumfassender könnten die Fragen kaum sein, die sich das Kind in der Erzäh-
lerfigur in diesem archipelischen Prosatext stellt. Es sind Fragen, von denen
wir längst wissen (oder doch zumindest wissen sollten), dass sich jede endgül-
tige Antwort auf das, was Leben ist, nicht anders ausnimmt als das (vielleicht
durchaus disziplinierte) Stehenbleiben auf einem Weg, der niemals aufhört,
sich weiter und weiter zu verzweigen und auf immer neue Herkünfte wie Zu-
künfte zu verweisen. Wagners Leben wählt als strukturelle Antwort auf diese
Problematik die archipelische und transarchipelische Lösung von kleinen lite-
rarischen Textinseln, in deren Relationalität die unterschiedlichsten Wissens-
fragen beleuchtet werden – selbst die, warum umherschwirrende Mücken nicht
von großen Regentropfen erschlagen werden.
An eben dieser Stelle tritt die Literatur, tritt die literarische Seinsweise von
Textualität in ihr Recht. In einer Wissenskonstellation, die sich wie im Falle der
Literaturen der Welt aus vielen Ursprüngen ableitet und die aus vielen Spra-
chen und Kulturen kommt, die Jahrtausende durchquert hat und stets alle über-
lebte, die sie totgesagt haben, lässt sich die Frage nach dem Leben nicht aus
einer einzigen Disziplin – und wäre es das biowissenschaftliche Fächerensem-
ble – auf adäquate Weise ableiten.
Suchen wir nach Möglichkeiten, die Life Sciences oder Biowissenschaften
in wirkliche Lebenswissenschaften zu überführen, dann werden wir nach Dis-
kursivitäten und nach Aufschreibesystemen suchen müssen, die in der Lage
sind, der Komplexität des Lebens durch den Rückgriff auf die unterschiedlichs-
ten Traditionen, die verschiedenartigsten Blickwinkel, die vielfältigsten Spra-
chen und Diskurse gerecht zu werden. Geht es um die Entfaltung wirklicher
Lebenswissenschaften, die das Kulturelle in gr. ‚bios‘ nicht länger auszuklam-
mern versuchen, dann führt in der Vielfalt sich verzweigender Wege doch kein
Weg an den Literaturen der Welt vorbei. Denn sie – und nur sie allein – verfü-
gen über ein alle Kulturen, alle Räume und Zeiten querendes Lebenswissen,
das uns die unterschiedlichsten Perspektiven auf Gebären und Sterben, auf
Leben und Tod immer wieder neu enthüllt.
Aus all diesen Gründen kann auf das viellogische Wissen der Literaturen
der Welt – dies scheint mir nicht nur mit Blick auf David Wagners Leben evi-
dent – gerade in der aktuellen Phase beschleunigter transarealer Austauschpro-
zesse in keiner Weise verzichtet werden. Literatur ist für unsere Gesellschaften
Wir besitzen, soviel ich weiß, noch keine Versuche zu synthetischer Philologie der Weltli-
teratur, sondern nur einige Ansätze dieser Art innerhalb des abendländischen Kulturkrei-
ses. Aber je mehr die Erde zusammenwächst, um so mehr wird die synthetische und
perspektivistische Tätigkeit sich erweitern müssen. Es ist eine große Aufgabe, die Men-
schen in ihrer eigenen Geschichte ihrer selbst bewußt zu machen; und doch sehr klein,
schon ein Verzicht, wenn man daran denkt, dass wir nicht nur auf der Erde sind, sondern
in der Welt, im Universum. Aber was frühere Epochen wagten, nämlich im Universum
den Ort der Menschen zu bestimmen, das scheint nun ferne.75
73 Vgl. hierzu Ette, Ottmar / Sánchez, Yvette / Sellier, Veronika (Hg.): LebensMittel. Essen und
Trinken in den Künsten und Kulturen. Zürich: diaphanes 2013.
74 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Viellogische Philologie. Die Literaturen der Welt und das Beispiel
einer transarealen peruanischen Literatur. Berlin: Verlag Walter Frey – edition tranvía 2013.
75 Auerbach, Erich: Philologie der Weltliteratur, S. 310.
34 Zur Einführung: Lebenswissen als ÜberLebensWissen
Leben doch am nächsten. Und mit ihnen eine Philologie, die nach dem Leben
fragt, die Literatur und Leben nicht miteinander verwechselt, aber auch beide
Bereiche nicht voneinander abtrennt: eine Philologie, für welche die Frage
nach Geburt und Sterben, nach Leben und Tod eine Frage darstellt, die zutiefst
philologisch ist und auf die wir in unserer Vorlesung eine Vielzahl von Antwor-
ten finden werden.
TEIL 1: Grundlagen eines Wissens vom Leben
und Entwürfe der Geburt von Welten
Von der Zukunft des menschlichen Lebens
Nähern wir uns zunächst in einem zweiten Schritt an die Themenstellung unserer
Vorlesung vom Gebiet der Philosophie und von einem Punkt aus an, der seit der
Wende zum 21. Jahrhundert recht stark diskutiert wird. Ich meine die Debatte um
Eugenik und spreche unter anderem von Jürgen Habermas' Buch Die Zukunft der
menschlichen Natur – auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, das erstmals 2001
erschien und mittlerweile bereits in der mindestens sechsten – und erweiterten –
Auflage vorliegt. Die Frage nach dem Leben ist eine Themenstellung, welche in
besonderem Maße und seit vielen Jahrhunderten die Philosophie angeht. Auch
wenn letztere diese Frage mit Hilfe eines seit dem Beginn der Moderne stark aka-
demisch disziplinierten Diskurses erörtert und nicht über die Freiheiten und Poly-
semien literarischer Diskurse verfügt, so sind die Ergebnisse dieser akademischen
Disziplin doch für unsere Vorlesung von großem Interesse.
Der Eingangstext dieses Bandes, der auf einen Vortrag anlässlich einer
Preisverleihung in Zürich zurückgeht, steht unter dem Titel „Begründete Ent-
haltsamkeit. Gibt es postmetaphysische Antworten auf die Frage nach dem
‚richtigen Leben‘?“ und setzt sich mit einem Problem auseinander, das wir
ebenfalls von Beginn an traktieren wollen: dem Verhältnis der unterschiedli-
chen Disziplinen zum Leben – weit jenseits der Literaturen der Welt. Ich möchte
Ihnen gerne den Auftakt dieses Aufsatzes und dieses ersten Teils von Jürgen Ha-
bermas' Buch ungekürzt vor Augen führen und zu Gehör bringen; jenen beiden
Sinnen, die ich mit unterschiedlichsten Zitaten immer wieder aufs Neue bei
Ihnen anregen möchte. Lassen wir uns also auf die Logik und Argumentation
eines renommierten deutschen Philosophen ein und stellen wir zunächst fest,
dass dieser Philosoph auf ein Beispiel aus der deutschsprachigen Literatur
zurückgreift:
Im Anblick von „Stiller“ läßt Max Frisch den Staatsanwalt fragen: „Was macht der Mensch
mit der Zeit seines Lebens? Die Frage war mir kaum bewusst, sie irritierte mich bloß.“
Frisch stellt die Frage im Indikativ. Der nachdenkliche Leser gibt ihr, in der Sorge um sich
selbst, eine ethische Wendung: „Was soll ich mit der Zeit meines Lebens machen?“ Lange
genug meinten Philosophen, dafür geeignete Ratschläge parat zu haben. Aber heute, nach
der Metaphysik, traut sich die Philosophie verbindliche Antworten auf Fragen der persön-
lichen oder gar der kollektiven Lebensführung nicht mehr zu. Die Minima moralia beginnen
mit einem melancholischen Refrain auf Nietzsches fröhliche Wissenschaft – mit dem Einge-
ständnis eines Unvermögens: „Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinen Freunden ei-
niges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der
eigentliche der Philosophie galt [...] die Lehre vom richtigen Leben.“ Inzwischen ist die
Ethik, wie Adorno meint, zur traurigen Wissenschaft regrediert, weil sie bestenfalls zer-
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-002
38 Von der Zukunft des menschlichen Lebens
Wir sehen, dass Jürgen Habermas auf das Zitat des Schweizer Schriftstellers
Max Frisch wenige Zeilen später ein anderes Zitat aus der Feder des deutschen
Philosophen Theodor W. Adorno folgen lässt. In dieser Eingangspassage wer-
den verschiedene Dinge schnell deutlich: Zum einen wird beklagt, dass die Phi-
losophie einen ganzen Bereich geradezu aufgegeben habe, für den sie früher
zentral zuständig gewesen sei. Es handelt sich um den Bereich der Lebensfüh-
rung, mithin der Frage nach dem richtigen Leben, wie sie von der Moralphilo-
sophie und der Ethik zuvörderst gestellt wurde. Warum aber traut sich die
Philosophie, wenn wir Jürgen Habermas glauben, in diesem Bereich nichts mehr
zu? Vertraut sie ihren eigenen Ratschlägen postnietzscheanisch nicht mehr?
Zugleich wird deutlich, dass Adorno ein halbes Jahrhundert zuvor bereits kons-
tatieren musste, in welch starkem Maße die Philosophie bereits zum damaligen
Zeitpunkt in der Gefahr stand, diese Bereiche immer mehr zu verlieren. Und
doch hatten diese ehedem den Kernbereich der Philosophie und des Philo-
sophierens gebildet…
Jürgen Habermas rückt diese Feststellung selbstverständlich strategisch an
den Beginn seines Buchs, um sich eben diesem Gebiete zuzuwenden. Denn er
wird im weiteren Verlauf des ersten Teils darstellen, in welch starkem Maße an-
dere Disziplinen und Tätigkeiten in diesen Leerraum geschlüpft sind, allen
voran die Psychoanalyse, aber auch – und dies in wachsendem Maße – all jene
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die im Bereich der Genomforschung
und der Gentechnologie tätig sind und die aus der hohen gesellschaftlichen Le-
gitimation, die ihnen zuteilwird, in nicht selten recht unbedarfter, geradezu
naiver Weise Normierungen und Normvorstellungen vom ‚richtigen Leben‘ ent-
1 Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur – auf dem Weg zu einer liberalen Eu-
genik? Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 11.
Von der Zukunft des menschlichen Lebens 39
wickeln und anbieten. Sie stoßen damit gezielt in jenen Leerraum, welchen die
Philosophie – und nicht nur sie – hinterlassen hat.
Des Weiteren scheint es mir in diesem Zusammenhang nicht zufällig zu
sein, dass der Philosoph Jürgen Habermas zunächst den Schweizer Schriftstel-
ler Max Frisch – gewiss auch eine Reverenz gegenüber dem Ort der Preisverlei-
hung – zu Wort kommen lässt. Denn es ist die Literatur, welche ihrerseits zu
keinem Zeitpunkt darauf verzichtet hat, uns immer und immer wieder aufs
Neue vom Leben zu erzählen, uns nach dem Leben zu fragen, uns ihr dichtes
und zugleich diffuses Wissen über das Leben und vom Leben im Lebensprozess
selbst vorzustellen. Die Literatur lebt uns ihre ständig erneuerten Fragen und
Aporien vor, die ihr eigenes Lebenswissen mitgestalten und ihr Sein als ein
künstlerisches Tun präsentieren, das – um mit Roland Barthes zu sprechen –
darauf spezialisiert ist, nicht spezialisiert zu sein.
Wir haben bereits im Einleitungsteil zu dieser Vorlesung gesehen, dass sich
die Literaturen der Welt unablässig mit dem Leben, mit dem Begriff des Lebens,
mit den Fragen des Lebens auseinandersetzen. Wie wir am Beispiel von David
Wagners Experimentaltext Leben gesehen haben, lassen die Literaturen der
Welt die Frage nach dem richtigen Leben nicht unbeantwortet, ja mehr noch:
Sie überschütten uns mit Antworten, die nicht auf einen eindeutigen Nenner zu
bringen sind, sondern vielmehr einen Respons darstellen, der sich auf neue,
nun spezifischere Fragen öffnet.
Die Literatur ist daher für den Philosophen Habermas mit Recht die erste
Anlaufstelle und ein erster Bezugspunkt. Nicht aber die Literaturwissenschaft,
die sich ja professionell mit der Deutung von Literatur beschäftigt. Sie hat sich
im Verlauf ihrer Geschichte während des 20. Jahrhunderts immer stärker vom
Begriff und den Bedeutungen des Lebens entfernt; und man könnte mit guten
Gründen vermuten, dass sie dies zum gleichen Zeitpunkt tat, auf den bereits
Theodor W. Adorno aufmerksam machte, nur dass sie diesen Abschied vom
Leben in einer wesentlich radikaleren Weise vollzog. Wir haben bei unserem
kurzen Rückblick auf die Philologie ja gesehen, wie stark der Lebensbegriff und
das Nachdenken über das Leben beispielsweise noch bei einem Philologen wie
Erich Auerbach war.
Bedeutungsvoll an diesem historischen Prozess ist nicht allein dessen Radi-
kalität, sondern auch die Tatsache, dass ein solcher Rückzug aus dem Leben
nicht einmal ins Bewusstsein der Literaturwissenschaftlerinnen und Literatur-
wissenschaftler gedrungen zu sein scheint; ein Bewusstsein davon, diesen riesi-
gen und genuin literarischen Bereich jemals besessen beziehungsweise den
Begriff und die Problematik des Lebens jemals verlassen und aufgegeben zu
haben. Genau an diesem Punkt aber setzen meine Überlegungen zu unserer ak-
tuellen Vorlesung an. Denn gleichsam zwischen den ‚Grenzen‘ von Geburt und
40 Von der Zukunft des menschlichen Lebens
Tod – und diese ‚Grenzen‘ gehören selbstverständlich dazu – erstreckt sich das
Leben. Letzteres nehmen wir gleichsam von seinen beiden Enden her in An-
griff – so wie die berühmte Wurst, die ja bekanntlich zwei Enden hat und nicht
notwendig vektoriell gerichtet ist. In gewisser, freilich methodologisch verän-
derter Weise erobern wir uns mit dieser Vorlesung einen traditionellen Bereich
der Philologie zurück. Ist dies darum ein Beleg dafür, eine ‚Zukunftsphilologie‘
zu sein? Ich würde nicht zögern, eine solche Frage zu bejahen.
Zweifellos sind sowohl im Bereich der Philosophie als auch der Literatur
gleichsam die Räume für die Reflexion des richtigen Lebens immer enger ge-
worden und die Modelle für ein ethisch fundiertes Leben mit der Zeit abhanden-
gekommen. Dies ließe sich zumindest für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
behaupten. Die Pluralisierung der Lebensverhältnisse und die multi-, inter- und
transkulturellen Bewegungen tun heute ein Übriges, um diesen Prozess Im Kon-
text der zu Ende gegangenen vierten Phase beschleunigter Globalisierung im
Weltmaßstab zu verstärken.2 Doch gerade in einem solchen weltumspannenden
Zusammenhang, so scheint mir, haben die Literaturen der Welt weitaus bessere
Chancen als die Philosophie, lebbare Modelle und Lebensvorstellungen zu disku-
tieren und ästhetisch zu repräsentieren, ohne in den unangenehmen Geruch zu
kommen, normative und kulturell fixierte Lebensentwürfe entwickeln zu wollen.
Nun sind speziell in unserer Zeit die Dinge in Sachen Anfang und Ende des
menschlichen Lebens technologisch sehr in Bewegung gekommen, insoweit
der Mensch immer stärker sowohl den Beginn als auch das Ende des Lebens
nicht nur zu gestalten, sondern zu programmieren und umzukodieren sucht.
Wir haben einen ersten Einblick bereits durch die Problematik der Organtrans-
plantation bekommen, doch lauten wesentliche Stichworte hierzu vor allem
Präimplantationsdiagnostik (PID) sowie Forschung an embryonalen Stammzel-
len. Die daraus resultierenden grundlegenden Veränderungen und Folgewir-
kungen hat Jürgen Habermas in einer weiteren Passage seines Buches über Die
Zukunft der menschlichen Natur recht plastisch dargestellt. Lassen wir den Phi-
losophen also nochmals zu Wort kommen:
Bisher konnte das säkulare Denken der europäischen Moderne ebenso wie der religiöse
Glaube davon ausgehen, dass die genetischen Anlagen des Neugeborenen und damit die
organischen Ausgangsbedingungen für dessen künftige Lebensgeschichte der Program-
mierung und absichtlichen Manipulation durch andere Personen entzogen sind. [...] Un-
sere Lebensgeschichte ist aus einem Stoff gemacht, den wir uns ‚zu Eigen machen‘ und
im Sinne Kierkegaards ‚verantwortlich übernehmen‘ können. Was heute zur Disposition
gestellt wird, ist etwas anderes – die Unverfügbarkeit eines kontingenten Befruchtungs-
vorgangs mit der Folge einer unvorhersehbaren Kombination von zwei verschiedenen
Chromosomensätzen. Diese unscheinbare Kontingenz scheint sich aber – im Augenblick
ihrer Beherrschbarkeit – als eine notwendige Voraussetzung für das Selbstseinkönnen
und die grundsätzlich egalitäre Natur unserer interpersonalen Beziehungen herauszustel-
len. Denn sobald Erwachsene eines Tages die wünschenswerte genetische Ausstattung
von Nachkommen als formbares Produkt betrachten und dafür nach eigenem Gutdünken
ein passendes Design entwerfen würden, übten sie über ihre genetisch manipulierten Er-
zeugnisse eine Art der Verfügung aus, die in die somatischen Grundlagen des spontanen
Selbstverhältnisses und der ethischen Freiheit einer anderen Person eingreift und die,
wie es bisher scheint, nur über Sachen, nicht über Personen ausgeübt werden dürfte.
Dann könnten die Nachgeborenen die Hersteller ihres Genoms zur Rechenschaft ziehen
und für die aus ihrer Sicht unerwünschten Folgen der organischen Ausgangslage ihrer
Lebensgeschichte verantwortlich machen.3
Auf diesen biotechnologisch von den Life Sciences geprägten Gebieten der ‚Le-
bens-Gestaltung‘ zeichnet sich also eine neue Entwicklung ab, die in unseren
Überlegungen, die um Literatur kreisen, nicht unberücksichtigt bleiben darf.
Denn menschliches (und auch tierisches) Leben kann im Zeichen eines biotech-
nologisch-medizinischen Fächerensembles längst zum Gegenstand eines wissen-
schaftlichen ‚Lebens-Designs‘ werden. Die Ausschaltung der Kontingenz und des
Zufalls, der für Balzac bekanntlich im berühmten Vorwort zu seiner Comédie hu-
maine noch „le plus grand romancier du monde“ war, geht die Literaturen der
Welt und deren Lebensbegriff ganz unmittelbar an. Die gewünschte und biotech-
nologisch angestrebte größtmögliche Ausschaltung des Zufalls aber stellt auch
die Philologie im Zeichen des Zusammenspiels von Zufall, Möglichkeit und histo-
rischer Notwendigkeit vor gewaltige Herausforderungen.4
Ich hatte zu Beginn unserer Vorlesung gesagt, dass sich unsere eigene Ge-
burt und unser eigener Tod unserem reflektierten Erleben entziehen. Dies wäre
zwar auch in den Zeiten der Präimplantationsdiagnostik noch immer der Fall.
Doch ist die Unverfügbarkeit über die Programmierung des Lebens – und damit
die rationale Konzeption eines Menschen am Reißbrett der Biowissenschaften –
auf einer sehr zentralen, entscheidenden Ebene aufgebrochen: Sie beginnt,
einer zunehmenden Verfügbarkeit von Lebensvorgängen und Lebensbereichen
Platz zu machen.
wir können auch an dieser Stelle erkennen, dass die Nicht-Verfügbarkeit
bislang ein menschliches Attribut war, die Verfügbarkeit hingegen ein fraglos
göttliches. Auf diesem weiten Feld des Lebens sind die Dinge in Bewegung ge-
raten: Der Mensch greift erstmals nach dem Baum des Lebens im Paradies.5
Gleichzeitig wird deutlich, warum Kunst und insbesondere Literatur als Krea-
tionen von Schöpfern mit demiurgischen Attributen ausgezeichnet wurden, die
im Verlauf des 19. Jahrhunderts aus dem sakralen Bereich der literarischen Kre-
ation zuwuchsen. Denn die Literaturen der Welt verfügen in der Tat gleichsam
über die Möglichkeiten, Geburt und Tod zu programmieren und – aus einer
quasi göttlichen Position, die gentechnologisch gesehen freilich in größere
Nähe gerückt ist – die jeweilige genetische Ausstattung, wie es Jürgen Haber-
mas formulierte, zu definieren. Nicht umsonst verwandelte sich im Verlaufe des
19. Jahrhunderts der „écrivain“ in einen „créateur“, in einen Demiurgen und
allmächtigen Weltenschöpfer.
Vermittels der umfassenden Sinnstiftung eines ganzen Lebens gebieten die
Literaturen der Welt über die Verfügbarkeit von Leben und kommen damit
einem tiefen, jahrtausendealten Traum der Menschheitsgeschichte entgegen:
nicht nur die jeweilige Lebensgeschichte, sondern vielmehr die Lebensprozesse
selbst in den Griff zu bekommen. Dies hat im Übrigen auch Rückwirkungen auf
die Geburt des Lebens selbst. Denn die Verfügbarkeit über Leben bedeutet letzt-
lich, dass die Zeugung gleichsam auf Widerruf erfolgt, insofern zunächst durch
eine medizinische Untersuchung festgestellt wird, ob das gezeugte Leben am
Leben gelassen werden soll oder nicht, ja ob ein Leben also für existenzwürdig
angesehen wird oder nicht. All dies aber ist heute in den Verfügungsbereich
des Menschen gerückt – oder geraten. Klar ist dabei, dass diese biopolitische
Tatsache, so nebensächlich sie auf den ersten Blick auch scheinen mag, unge-
heure Veränderungen auslöst in der Sicht und im Verständnis des Menschen
von sich selbst.
Wir bewegen uns mit diesen Problematiken unzweifelhaft im Bereich bio-
politischer Fragestellungen, wie sie vor allem seit den siebziger Jahren des
20. Jahrhunderts, verstärkt aber um die Jahrtausendwende – seit Michel Fou-
cault6 und insbesondere seit Giorgio Agamben7 – vehement diskutiert werden
und in die verschiedensten Denk- Forschungs- und Tätigkeitsbereiche hinein
5 Zur Wichtigkeit der Paradiesvorstellung vgl. Ette, Ottmar: Konvivenz. Literatur und Leben
nach dem Paradies. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2012.
6 Neben den einschlägigen Schriften Foucaults vgl. Lemm, Vanessa (Hg.): Michel Foucault:
neoliberalismo e biopolítica. Santiago de Chile: Universidad Diego Portales 2010; sowie Kamm-
ler, Clemens / Parr, Rolf / Schneider, Ulrich Johannes (Hg.): Foucault Handbuch. Leben –
Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart – Weimar: Verlag J.B. Metzler 2014.
7 Vgl. neben den einschlägigen Schriften Agambens insbesondere sein Interview Agamben,
Giorgio: Une biopolitique mineure (interview recueilli par Mathieu Potte-Bonneville et Stany
Grelet). In: Vacarme (Paris) III, 10 (1999), S. 4–10.
Von der Zukunft des menschlichen Lebens 43
8 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag
Kadmos 2004.
44 Von der Zukunft des menschlichen Lebens
9 Vgl. hierzu etwa Asholt, Wolfgang / Ette, Ottmar (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswis-
senschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2010.
Von der Zukunft des menschlichen Lebens 45
Nun pflegt man den Geisteswissenschaften ja gern gerade die Frage zu stellen, in wel-
chem Sinne sie Wissenschaft sein wollen, wenn es kein Kriterium für das Verständnis von
Texten oder Worten gibt. Für die Naturwissenschaften und die Verkehrsformen der Tech-
nik ist gewiß richtig, dass Eindeutigkeit der Verständigungsmittel garantiert ist. Aber un-
bestreitbar macht selbst der Apparat einer auf Wissenschaft und Technik gegründeten
Zivilisation lange nicht das Ganze des Miteinanderlebens aus.10
Vorsicht ist also geboten, wenn wir uns mit den Universalansprüchen der Bio-
wissenschaften beschäftigen wollen. Der Begriff der Lebenswissenschaften ist
nicht nur so vieldeutig und schillernd, so umfassend und marktgängig, als
wäre er von Werbestrategen eigens für die Durchsetzung biowissenschaftlich-
naturwissenschaftlicher Interessen in Sozial- wie Forschungsgemeinschaften
konzipiert; er ist überdies ein Verdrängungsbegriff, der nicht nur den Begriff
vom Leben im Vergleich zur abendländischen Antike ungeheuer reduziert, son-
dern durch seine besitzergreifende Tendenz andere Wissenschaften gleichsam
vom Zugang zum Leben fernhält. Das Erreichen dieses Zieles gelingt den soge-
nannten ‚Lebenswissenschaften‘ gerade wegen der geschickten Nutzbarma-
chung einer der Literatur und den Geisteswissenschaften entlehnten Metaphorik.
Nicht nur der genetische Code des Lebens, sondern auch jener der Inszenierung
der Biowissenschaften ist lesbar und entschlüsselbar. Wir werden dies noch ver-
schiedentlich in unserer Vorlesung sehen.
10 Gadamer, Hans-Georg: Über das Hören. In: Vogel, Thomas (Hg.): Über das Hören: Einem
Phänomen auf der Spur. Tübingen: Attempto 1998, S. 197–207, hier S. 202 f.
46 Von der Zukunft des menschlichen Lebens
Die Philosophie hat längst – dies ist aus der Geschichte dieser Disziplin
selbstverständlich – auf diese Herausforderungen durch die von der Gentech-
nologie aufgeworfenen Probleme reagiert und gerade im Bereich der Eugenik
die Frage nach einem Leben ohne „das Bewegende von moralischen Gefühlen
der Verpflichtung und der Schuld, des Vorwurfs und der Verzeihung, ohne das
Befreiende moralischer Achtung, ohne das Beglückende solidarischer Unter-
stützung und ohne das Bedrückende moralischen Versagens, ohne die ‚Freund-
lichkeit‘ eines zivilisierten Umgangs mit Konflikt und Widerspruch“ gestellt –
so Jürgen Habermas in dem bereits zitierten Band über die Natur des Menschen.
Doch ist die Tragweite des biowissenschaftlichen Griffs in die semantische
Trickkiste in jenen Wissenschaften, die sich doch vordringlich mit semanti-
schen Verfahren beschäftigen, noch kaum reflektiert worden; und noch immer
ist man meilenweit davon entfernt, das Problem schwindender Legitimation
des eigenen philologischen Tuns erkannt zu haben.
Denn es geht beim Rekurs auf die Lebensmetapher und den dadurch ausge-
lösten Verwechslungen und Verwirrspielen keineswegs allein um die wohlfeile
Aneignung eines philosophischen Mehrwerts im Kontext einer stillschweigend
von allen Wissenschaften geteilten Metaphorologie. Die rasche, ja blitzschnelle
Verbreitung des Begriffs hat zu vielen Reaktionen und Klagen, aber – wie mir
scheint – noch zu keiner eigentlichen Strategie gerade in jenen Wissenschaften
geführt, die sich im weitesten Sinne mit Literatur auseinandersetzen. Diese Wis-
senschaften wären schlecht beraten, verzichteten sie auf den Begriff des Lebens
und gäben diesen ohne Not und wider besseres Wissen einer hochgradig be-
schränkten Verwendung preis.
Es ist vielmehr notwendig, innerhalb der eigenen Geschichte Verwendungs-
weisen des Begriffs zu untersuchen, um dessen Breite für die eigene Verwendung
wiederzugewinnen. Mit anderen Worten: Blicken wir zurück in die Vergangen-
heit, um Zukunft zu gestalten – und zwar nicht nur die vergangene Zukunft
eines vergangenen Schreibens, sondern eine Zukunft, die sich gerade auch für
die Philologien eröffnen könnte! Dabei soll die Literatur, dabei soll die Dicht-
kunst unsere Lehrmeisterin sein, um Leben nicht länger in akademischen Ein-
engungen und Begriffsdefinitionen zu verstehen, sondern als ein Movens, das
alles durchdringt.
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen
Schöpfungen der Welt
Ich möchte Ihnen gerne einen Dichter aus der weltumspannenden Romania des
20. Jahrhunderts vorstellen, der im Grunde das tat, was Jahrtausende zuvor im
Gilgamesch-Epos entworfen worden war: ein vollständiges Bild der Welt, ein
vollständiges literarisches Portrait unseres Planeten und des Lebens, das sich
allerorten auf ihm findet. Und all dies nicht mehr aus mesopotamischem Blick-
winkel perspektiviert, sondern aus der Perspektive der sogenannten ‚Neuen
Welt‘. Ich spreche vom chilenischen Dichter Pablo Neruda und seinem Canto
General; einem Werk, das man als eine Art Gesang der Welt und Gesang von
der Welt verstehen könnte.1
Blickt man auf das Erscheinen des Canto General aus heutiger Sicht, so ent-
behrt es nicht der Ironie, dass dieser große lyrische Gesang kurz nach Jorge
Luis Borges’ El Aleph erschien, jenem großen literarischen Versuch des Argenti-
niers, die ganze Welt an einem einzigen Punkt und mit allen unterschiedlichen
Geschichtsabläufen in einem „nunc stans“ in Raum und Zeit literarisch festzu-
halten.2 Alle Räume und alle Zeiten sollten an diesem Punkte vereinigt sein
und doch nicht miteinander verschmelzen, sondern in ihrer Eigen-Gesetzlichkeit,
in ihrer Eigen-Logik erkennbar bleiben. Jorge Luis Borges‘ El Aleph ist damit ein
fundamental polylogischer Entwurf der Welt. Pablo Nerudas so ganz anders gear-
teter großer Welt-Entwurf erschien im Jahr 1950 und damit genau in der Mitte
jenes zwanzigsten Jahrhunderts, dessen erste Hälfte von zwei selbstzerstöreri-
schen Weltkriegen und dem Abwurf der ersten Atombomben, damit von jener Er-
fahrung geprägt war, dass die Menschheit den gesamten Planeten, die gesamte
Schöpfung auch in einem einzigen Augenblick vernichten kann. Diese Grunder-
fahrung ist der Menschheit geblieben und wird sie so lange begleiten, wie sie
über die Waffen zur gesamten Auslöschung allen Lebens auf der Erde verfügt.
Doch lassen Sie mich an dieser Stelle – wie in meinen Vorlesungen üblich – ei-
nige wenige Biographeme aus Pablo Nerudas Leben vorstellen; Elemente seiner
Biographie, die für unsere nachfolgende Deutung von Belang sind!
Pablo Neruda erblickte als Ricardo Eliecer Neftalf Reyes am 12. Juli 1904 in
Parral (Chile) das Licht der Welt und starb am 23. September 1973 in Santiago
de Chile, kurz nachdem sich die Militärs unter Pinochet am berüchtigten 11. Sep-
1 Vgl. zu Pablo Neruda auch Pizarro, Ana: Neruda en la transición. In (dies.): Travesías. Santi-
ago de Chile: Editorial Hueders – Editorial Roneo 2021, S. 57–66.
2 Vgl. hierzu den dritten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Von den historischen Avant-
garden bis nach der Postmoderne (2021), S. 494–548.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-003
48 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
tember an die Macht geputscht hatten. Seine Mutter verstarb einen Monat nach
seiner Geburt, doch der Sohn eines Lokomotivführers ging einen sehr eigenen
Weg durchs Leben, der ihn zu Lebzeiten zum sicherlich berühmtesten Dichter
Lateinamerikas machte. Denn Pablo Neruda hatte nicht nur wie Gabriela Mist-
ral einen „nom de plume“, ein Schriftsteller-Pseudonym gewählt, unter dem er
weltberühmt wurde; er trat als Literaturnobelpreisträger des Jahres 1971 auch
die Nachfolge seiner illustren Landsmännin an, die 1945 erstmals für Chile und
ihren Kontinent diese Auszeichnung erhalten hatte.
Da der Vater in den Süden Chiles zog und sich wieder neu verheiratete, wuchs
der Junge in Temuco auf, wo er zwischen 1910 und 1920 die Schulbank drückte.
Aus der Zeit seiner Bekanntschaft mit Gabriela Mistral, die er in der Knaben-
schule in Temuco kennenlernte, stammen die ersten Veröffentlichungen des
jungen Dichters, der 1920 im Gedenken an den tschechischen Dichter Jan Ne-
ruda oder an eine tschechische Geigerin sein Pseudonym Pablo Neruda wählte.
Die Landschaften des Südens und die Lokomotivfahrten mit seinem Vater blie-
ben markante Landschaftselemente in seinem Schreiben. 1921 wechselte er
dann an das Pädagogische Institut der chilenischen Hauptstadt, wo er Franzö-
sisch und Pädagogik studierte und zum ersten Mal mit einem Preis für eines
seiner Gedichte ausgezeichnet wurde.
Das Leben des chilenischen Dichters ist ein Leben voller Reisen, auf denen
er einen großen Teil der Welt kennenlernte. Pablo Neruda trat 1927 in den diplo-
matischen Dienst Chiles ein und verbrachte seine ersten Jahre zwischen 1927 und
1931 in Südostasien unter anderem als Honorarkonsul in Rangun, Colombo, Sin-
gapur und Jakarta, wobei er unter anderem auch Nehru kennenlernte. Seine Tä-
tigkeit führte ihn 1933 nach Buenos Aires und im Folgejahr nach Spanien. Mit
Federico García Lorca, den er in Argentinien kennengelernt hatte, gab er in
freundschaftlicher Verbindung die wichtige Zeitschrift Caballo verde para la poe-
sía heraus. Nachdem Lorca zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs von den Put-
schisten erschossen worden war, wurde die Lyrik Nerudas immer politischer,
auch wenn sein Diplomatenamt ihn zu Neutralität verpflichtete.
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 49
Als die faschistischen Truppen Francos vor den Toren Madrids standen und
die spanische Hauptstadt belagerten, musste er zunächst nach Barcelona und
dann nach Frankreich flüchten, wo er den Gedichtzyklus España en el corazón,
Spanien im Herzen, veröffentlichte. In Paris engagierte er sich unter anderem
mit Pablo Picasso, aber auch César Vallejo (mit dem wir uns noch beschäftigen
werden) für die Spanische Republik, kehrte dann 1938 aber noch vor Ende des
Bürgerkriegs nach Chile zurück, wo er in zahlreichen Artikeln für das Periodi-
kum Aurora vor dem aufkommenden Faschismus in Europa warnte. 1939 erhielt
er die Aufgabe, als chilenischer Konsul in Paris spanische Flüchtlinge anzuwer-
ben und zu betreuen, die nach Chile auswandern wollten. Neruda soll insge-
samt etwa zweitausend spanische, vor dem Bürgerkrieg Geflohene nach Chile
gebracht haben.
Das Leben des chilenischen Dichters war seit seinem unmittelbaren Erleben
der Schrecken des Spanischen Bürgerkriegs stark politisch geprägt. Ein wichti-
ger Schritt wurde Nerudas Beitritt zur Kommunistischen Partei Chiles, was zu-
gleich einen Wandel in seiner Lyrik bedeutete. Nachdem er 1940 Konsul in
Mexiko geworden war, reiste er nach Guatemala und Kuba. Nach der Teilnahme
an einem Schriftstellerkongress in New York stieg er während der Rückreise zu
den Tempelanlagen von Macchu Picchu auf; eine Erfahrung, die mehrfach in
seinem poetischen Werk und nicht zuletzt in seinem Canto General zum Aus-
druck kommt. Die Welt der indigenen Kulturen ist in Nerudas Dichtung sehr
gegenwärtig.
Der Politiker Neruda wurde 1945 in Chile zum Senator gewählt, genoss als
solcher Immunität und wandte sich energisch gegen den damaligen chilenischen
Präsidenten, den er des Verrats am chilenischen Volk bezichtigte. 1948 wurde
Neruda auf Grund angeblicher konspirativer Tätigkeiten für die Kommunisten
aus dem Senat ausgeschlossen und polizeilich gesucht: Präsident González Vi-
dela war nicht gewillt, weitere Angriffe Nerudas zu dulden. Neruda musste in
Chile untertauchen und wechselte ständig seinen Wohnsitz; in dieser bewegten
Zeit entstanden Teile seines Canto General.
Obwohl ihn viele in Chile schützten und ihm Unterschlupf boten, musste er
doch heimlich über die Anden nach Argentinien fliehen, was er später in seiner
Autobiographie Confieso que he vivido eindrucksvoll beschrieb. Über Argentinien,
wo er den späteren guatemaltekischen Literaturnobelpreisträger Miguel Ángel As-
turias traf, gelangte er mit Hilfe von dessen Pass nach Paris, wo er auf die herzliche
Unterstützung durch Pablo Picasso zählen konnte. Stets standen Neruda viele
Freunde und politische Weggefährten zur Seite, die seine Aktivitäten unterstützen.
Die gefährliche Flucht öffnete sich rasch auf weitere Unternehmungen.
Denn Neruda reiste von seinem Exil in Paris unter anderem in die Sowjet-
union sowie in weitere Länder Osteuropas (wie etwa in die DDR, wo er 1951 den
50 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
von allen Ämtern und aus dem öffentlichen Leben zurück. Es gehört zum My-
thos Pablo Neruda, dass der chilenische Dichter nur zwölf Tage nach der Er-
mordung Salvador Allendes durch die chilenischen Putschisten unter Augusto
Pinochet in einer Klinik in Santiago de Chile seiner Krankheit am 23. Septem-
ber 1973 erlag. Die politischen Umstände mögen zur Verschlechterung seines
Gesundheitszustands beigetragen haben. Ich gestehe Ihnen gerne, dass dieser
geradezu symbolische Tod sogar mich als damaligen Schüler der Oberstufe
eines weit entfernten Gymnasiums im Schwarzwald erschütterte. Und ich kann
mich auch noch gut daran erinnern, dass das Begräbnis des gefeierten Dichters
und Literaturnobelpreisträgers damals zum ersten, freilich fruchtlosen Protest
gegen die Militärjunta wurde.
In der literarischen Entwicklung des Poeten, um den es in den vergangenen
Jahrzehnten sehr viel stiller geworden ist, spielten zu Beginn, etwa in seinem
1923 erschienenen Gedichtband Crepusculario, dem Titel gemäß noch manche
Elemente aus der Romantik und vor allem dem hispanoamerikanischen Moder-
nismus eine Rolle. Doch Neruda befreite sich von diesen Anklängen an die lite-
rarische Traditionen Lateinamerikas zweifellos in seinen Veinte poemas de
amor y una canción desperada schon im Jahr 1924. Die zeitgenössischen Kritiker
reagierten noch eher unwillig auf diese Liebeslyrik, welche die erotischen Di-
mensionen geschlechtlicher Liebe mit den Elementen der Erde und der gesamten
kosmischen Schöpfung verband. Doch sein chilenisches und lateinamerikani-
sches Publikum erreichte der bald schon populäre Gedichtband des Dichters aus
Chile fast mühelos.
Für die Thematik unserer Vorlesung hätte sich auch der 1933 erschienene Ge-
dichtband Residencia en la tierra geeignet, der die chaotische Sinnlosigkeit des
Lebens auf der Erde in poetisch gelungene Bilder kleidet. Verfall, Zerstörung und
Tod spielen eine entscheidende Rolle, doch liegen diese Gedichte noch vor dem
geradezu kosmischen Aufgriff des chilenischen Dichters, der an die großen Tradi-
tionen in der Nachfolge des Gilgamesch-Epos anschließt. Auch Nerudas spätere
Distanzierung von den Gedichten der ersten Residencia mag einen weiteren
Grund dafür liefern, uns ebenso wenig auf diese Gedichte zu konzentrieren wie
auf die dramatischen Schöpfungen von España en el corazón, welche 1937 die
emotionale Betroffenheit des Dichters im Angesicht eines siegreich aufsteigenden
Faschismus im Spanischen Bürgerkrieg zum Ausdruck bringen. Doch ist es diese
politische Dimension der Gedichte dieses Zyklus, welche uns zu jenem Band
führt, der im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit stehen soll. Dass letzterer poli-
tisch ausgerichtet ist, braucht uns nicht zu verwundern, entsteht er doch haupt-
sächlich in jenem Jahr, das Neruda noch vor seiner Flucht nach Argentinien im
Untergrund und auf der ständigen Hut vor der nach ihm fahndenden Polizei
verbringt.
52 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
Wenden wir uns im Folgenden also dem Canto General Pablo Nerudas zu!
Es handelt sich um ein Monumentalwerk, das im Jahr 1950 erstmals erschien
und dessen Entstehung bis ins Jahr 1938 zurückreicht, vor allem aber jene Zeit
der politischen Verfolgung und der Flucht aus Chile umfasst, von der gerade
die Rede war und die Neruda in seiner postum erschienenen Autobiographie
Confieso que he vivido witzig, ironisch und ausführlich darstellte.
Sicherlich ist es etwas ungerecht, Nerudas gerade auch im Ausland stark
politisch wahrgenommenes Opus in den Kontext von Borges‘ El Aleph zu stel-
len. Doch wird gerade hieran vielleicht deutlich, wie schwer es der Canto Gene-
ral heute als politisch – im Sinne Sartres – engagierte Dichtung hat, jene
Wirkung zu entfalten, die ihm in den sechziger und siebziger Jahren gerade im
politisch aufgewühlten Europa, aber selbstverständlich früher auch schon in
seiner Heimat zugeschrieben wurde. Man könnte in der Tat dieses Werk auch
mit dem Titel „La Tierra“ versehen, doch deutet der Titel der deutschen Über-
setzung – Der große Gesang – ausreichend an, um welche terrestrischen Dimen-
sionen es sich in diesem Gedicht handelt.
Pablo Nerudas Canto General bildet im Grunde einen Gedichtzyklus aus
über dreihundert Gedichten, die – analog etwa zu Dante Alighieris Weltgedicht
der Commedia – in verschiedene episch-lyrische Gesänge eingeteilt sind. In der
Tat werden wir in diesem chilenischen Welt-Poem den großen Sänger und Dich-
ter seines Volks und seines Kontinents kennenlernen, als den sich Pablo Ne-
ruda immer verstand, eine Rolle, aus der er auch seine politische Legitimation
ableitete und seinen Anspruch, im Namen des Volkes für das Volk sprechen zu
dürfen und mithin in diesem vielfachen Sinne ein Dichter des Volks zu sein.
Wir werden dabei im Verlauf unserer mündlich gehaltenen Vorlesung an-
hand von Selbst-Aufsprachen des Dichters auch akustisch zur Kenntnis neh-
men können, wie sich dieses Sendungsbewusstsein, dieses Sprechen auch für
andere im gehobenen Ton der Worte Pablo Nerudas rhetorisch-körperlich aus-
drückt. Die Selbst-Aufsprachen Nerudas sind freilich auch im Internet relativ
leicht zu finden. Immerhin: Das Neruda’sche Selbstverständnis steht keines-
wegs isoliert innerhalb seines poetischen Kontexts, was es ansonsten leicht lä-
cherlich machen würde. Es ist vielmehr eingebunden in eine breite Akzeptanz
dieser Rolle durch das Publikum, ja selbst jenen Teil des Publikums, der dem
für die Kommunistische Partei Chiles auftretenden Poeten zu Lebzeiten feind-
lich gegenüberstand.
Dies mag eine Episode illustrieren, auf die ich schon anspielte: Als der
große und mit dem Literaturnobelpreis geehrte chilenische Dichter wenige
Tage nach dem erfolgreichen Putsch der Militärs um Pinochet verstarb, kam
man nicht umhin, ihn nicht einfach verscharren zu lassen, sondern eine offizi-
elle Bestattung zu erlauben. Diese aber wurde zur ersten öffentlichen Demonst-
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 53
ration gegen die neuen Machthaber, gegen die Rechts-Diktatur General Augusto
Pinochets. Hierzu passt auch die oft kolportierte Anekdote von jenen Berg- und
Minenarbeitern, die sich nach langem Warten in glühender Sonne nach vielen
mehrstündigen Reden die Häupter entblößten, als Pablo Neruda die Rednertri-
büne erklomm und seine Gedichte vortrug.
Kein Zweifel also: Pablo Neruda war in Chile eine literarische Institution,
deren Rolle und Funktion wir bei unserer Annäherung an seine Lyrik nicht aus
den Augen verlieren dürfen! Sein gegenwärtiges ‚Verschwinden‘ aus den öffentli-
chen Diskussionen ist mit dem ‚Verschwinden‘ Jean-Paul Sartres gleichzusetzen,
der in Frankreich noch immer ein überlanges „Purgatoire“, ein weit über Gebühr
ausgedehntes Fegefeuer durchläuft. Neruda wie Sartre waren die zentralen und
ihre Zeitgenossen an Renommee weit überragenden Figuren von Literatur und
Philosophie in ihren jeweiligen Ländern. Beiden wurde der Nobelpreis für Li-
teratur zuerkannt, den ein Sartre freilich ablehnte. Beide Schriftsteller sind aus
der Öffentlichkeit weitgehend verdrängt. In beiden Fällen bedeutet dies aber
nicht, dass die Werke dieser großen ‚Dichter und Denker‘ dauerhaft verschwun-
den wären.
Eine neue Zeit wird beide neu lesen; und ich bin der festen Überzeugung,
dass Pablo Neruda auch unserer heutigen Zeit viel in verdichteter Form zu
sagen hat. Denn nachdem der Chilene die frühe, noch stark dem Modernismo
verpflichtete Lyrik überwunden hatte, die sich insbesondere in Crepusculario,
aber auch in manch späterem Gedicht manifestierte, verstand er sich selbst in
einer weitgehend politischen Rolle, die seiner Dichtkunst in großem Maße
ihren Stempel aufdrückte. Dies bedeutet keineswegs, dass der frühe Gedicht-
band des Neunzehnjährigen oder die im folgenden Jahr veröffentlichten Veinte
poemas de amor y una canción desesperada etwa wie bei einem Jorge Luis Bor-
ges im Orkus der Vorgeschichte verschwunden wären. Wir finden hier eine
Vielzahl von Elementen, die im gesamten Schaffen des chilenischen Dichters
wiederkehren, und nicht umsonst sind beide Bände bis heute überaus populär
und verbreitet geblieben in Nerudas lateinamerikanischer Heimat.
Doch lassen sich deutliche Veränderungen in der lyrischen Sprache, vor
allem aber auch im Selbstverständnis als Dichter erkennen. Bei kaum einem an-
deren Dichter Lateinamerikas spielt die Art und Weise, wie sich Neruda in der
Dichterrolle öffentlich inszenierte und stilisierte, eine so wichtige und bedeu-
tende Rolle – hat die Figura des Dichters doch stark die Lyrik des chilenischen
Poeten geprägt. Dies gilt nicht nur für die im engeren Sinne politischen, biswei-
len und nicht selten gar agitatorisch-propagandistischen Gedichte Nerudas,
sondern auch und gerade für Konzeption und lyrische Durchführung seines
Canto General. Wir können durchaus der vor langen Jahren geäußerten Ein-
schätzung des Regensburger Romanisten Johannes Hösle zustimmen, dass es
54 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
wohl seit Victor Hugo keinen Dichter gegeben habe, der sich so sehr als Stimme
seines Volks und der Menschheit insgesamt verstand.3 Daher rührt auch das
Monumentale der lyrischen Konstruktionen Nerudas, die in gewisser Weise ver-
suchten, die Linien von Raum und Zeit in ihren Zeilen zu bündeln.
Dabei haftet der Dichtkunst Pablo Nerudas stets etwas geradezu Sakrales
an. Die Geste der chilenischen Minenarbeiter, die sich die Häupter entblößten,
mag dies auch von der Rezeptionsseite bezeugen: Das Feierliche enthält die
Züge einer Religiosität, wenn auch keinesfalls einer Religion. Das liturgische
Element, aber auch der Lobpreis des Elementaren finden sich schon früh in
Nerudas Lyrik und werden auch nach dem Canto General, etwa in den berühm-
ten Odas elementales, eine überragende Bedeutung erhalten. Als Einblendun-
gen in die monumentale Größe des Großen Gesangs aber sind sie konstruktiv
nicht wegzudenken und stimmlich in Selbst-Aufsprachen präsent.
Der Canto General ist in gewisser Weise die Chronik einer späten Geburt
des amerikanischen Kontinents und zugleich ein Hohelied an alles, was diese
Geburt im Rahmen einer ganzen Welt beschleunigt. Wir werden gleich die
Flüsse sehen, die das Fruchtwasser dieses späten Zur-Welt-Kommens darstel-
len. Hymnisch werden Zeugungsakt und Tod, Schöpfung der Welt und Kreation
des Kosmos voller Leidenschaft besungen. Fundamental ist für diesen Band die
politische Erfahrung Nerudas: Der seine Generation prägende Spanische Bür-
gerkrieg, der Aufstieg des europäischen Faschismus, dann die Entstehung des
‚Kalten Krieges‘, den Neruda aus der Sicht der Kommunistischen Partei begriff;
all das, was die Polarisierungen aus der Politik auf das Feld der Literatur über-
trug – sie sind allenthalben mit Händen zu greifen. Spätestens mit dem Canto
General war Pablo Neruda ein politischer Dichter; doch wir werden gleich
sehen, dass er weit davon entfernt war, sich darauf zu beschränken. Denn ge-
rade dem Weltentwurf, dem Vorgang von Geburt und Entstehung von Leben,
wandte sich Neruda in weltumspannender poetischer Diktion zu.
Die fünfzehn Bücher oder Gesänge seines Canto General sind zweifellos
Nerudas ehrgeizigstes literarisches Projekt und stellen den Versuch dar, seine
Heimat Chile und den gesamten Kontinent zu repräsentieren sowie beiden eine
Stimme zu geben. Im Kern handelt es sich um eine Kosmogonie des amerikani-
schen Kontinents, in welcher Nerudas dichterische Stimme jener eines Propheten
gleicht. Im ersten Gesang schon besingt dieses dichterische Ich die Spannbreite
und Geschichte seines Kontinents, führt damit den Protagonisten seines Zyklus
in bewegenden Bildern ein. Das Gedicht entstammt dem ersten Gesang, La lám-
3 Vgl. Hösle, Johannes: Pablo Neruda. In: Eitel, Wolfgang (Hg.): Lateinamerikanische Literatur
der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Stuttgart: Kröner Verlag 1978, S. 184–209.
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 55
para en la tierra, und eröffnet damit den gesamten Zyklus der Weltschöpfung.
Am Rande des Gedichts notierte Neruda eine nähere zeitliche Bestimmung –
Amor América(1400):
Keiner konnte
danach sie erinnern: Der Wind
sie vergaß, die Sprache des Wassers
ward begraben, die Schlüssel verloren
oder überschwemmt vom Schweigen, vom Blut.
Nadie pudo
recordarlas después: el viento
las olvidó, el idioma del agua
fue enterrado, las claves se perdieron
o se inundaron de silencio o sangre.
Leben, dass es bei jedem Körper auf die Bewegungen und auf die Verbindungen
zwischen den einzelnen Bestandteilen sowie auf deren Zusammenleben an-
kommt. Die Flüsse als Arterien des Körpers bilden eine topische Metapher, die
keineswegs originell an sich ist. Doch gibt Neruda ihr die Frische und Ursprüng-
lichkeit zurück, indem er diesen Körper erst sich entwickeln, auf die Welt kom-
men lässt, um ihn dann eben als großen und großartigen Organismus zu feiern.
Aber noch ist alles in Schweigen oder Blut gehüllt …
Neben das Grundelement des Wassers tritt das der Erde, was typisch für Ne-
ruda, aber auch charakteristisch für die vom Dichter entworfene und evozierte
Partie des Globus ist. Denn diesen Teil des Planeten durchziehen die Wellen der
Kordilleren, mithin ein Gebirge aus Stein, aus Mineralien und Kristallen, in
denen bereits all jenes aufgehoben wird, was die Geschichte des Kontinents der-
einst entfalten soll. Doch eben diese Kordilleren erscheinen – geologisch durch-
aus zutreffend – als Wellen, als bewegliche Teile aus Flüssigkeiten, die sich an
der Oberfläche unseres Planeten auch als Laven zeigen. So ist bereits in den ers-
ten Versen des Gedichts auch jener Gegensatz zwischen Wasser und Erde evo-
ziert, der später jene Opposition zwischen den Indianern als Söhnen der Erde,
des Landes einerseits und den Spaniern als Söhnen des Meeres, als Söhnen des
Wassers andererseits darstellen wird. Diese Opposition erscheint freilich nicht
als eine kategorische: Denn schon in den Wellen der Kordilleren deutet sich an,
dass sich die Erde und die Flüssigkeiten miteinander vermischen und verschmel-
zen werden. Ganz so, wie es später auch zu Verbindungen zwischen der bald
schon eroberten indigenen und der über diese hereinbrechenden europäischen
Bevölkerung kommen wird.
Und doch ist diese Welt, die so naturhaft und zivilisationsfern scheint, be-
reits datiert auf das Jahr 1400 und damit auf den Beginn des letzten Jahrhunderts
ohne europäische Vorherrschaft. Bekanntlich brach die Expansion Europas und
damit die erste Phase beschleunigter Globalisierung erst am Ende des 15. Jahr-
hunderts über den Kontinent herein.5 Wir bemerken in diesem Zusammenhang
deutlich, dass das Eröffnungsgedicht bereits zu Beginn grundlegende Oppositio-
nen und semantische Gegensatzpaare aufbaut, die dann im fortlaufenden Zyklus
entfaltet werden. Dazu gehören etwa Wasser und Erde, geschichtslose und ge-
schichtlich gerichtete Zeit, Zivilisation und Natur, Namenlosigkeit und Namens-
gebung, Festes und Flüssiges, Körper und Organismus und vieles mehr.
Geradezu emblematisch wird die Identitätszuweisung für diesen Bereich
der Erde aber um ein weiteres Element erweitert, nämlich um den Kondor und
damit um das Element der Luft, des Windes. Der Kondor ist für den amerikani-
schen Kontinent eine emblematische Markierung, die der gesamten Szenerie
zusammen mit dem Schnee, also dem gefrorenen Wasser in den Kordilleren,
ihren Stempel und ihre Blickrichtung aufdrückt. Damit wird im gleichen Atem-
zug der Blick des Dichters von oben herab über die Dinge vorweggenommen,
also gleichsam der Blick des Schöpfers, des Demiurgen auf seine (literarische)
Schöpfung.
Dieses Ich des Poeten wird schon im ersten Gedicht an zentraler Stelle einge-
führt, gleich zu Beginn eines Verses, der auf die nachfolgend von diesem Ich er-
zählte Geschichte aufmerksam macht. Es ist eine lyrisch entworfene Narration in
epischer Breite, die sich im Canto General vor den Augen der Leserschaft entrollt.
Das lyrische Ich ist ein Geschichtenerzähler und entfaltet für uns vergleichbar mit
der Bibel, mit dem von Auerbach so genannten „biblischen Erzählungstext“,6 alles
in einer Genesis, in einer Schöpfungsgeschichte (vgl. Abb. 6). Diese besitzt mythi-
sche Dimensionen von epischer Breite und sucht uns die gesamte Welt akkumula-
tiv und kontinental zu erzählen. Wenn sich der Dichter auch auf den Südteil
Amerikas und auf Chile konzentriert: Er bemüht sich doch um die Darstellung
einer Totalität, die in diesem Großen Gesang zum Ausdruck gebracht werden soll.
Pablo Nerudas Canto General schreibt sich in die biblische Erzähltradition ein, ve-
rändert die jüdisch-christliche Heilsgeschichte aber insoweit, als diese nun entsa-
kralisiert wird. Gleichwohl weist die Jahreszahl 1400 noch auf Christi Geburt und
deutet zugleich an, dass Reste der christlichen Heilsgeschichte sehr wohl noch vor-
handen sind.
Die reflektierte Einführung des Menschen in einem zweiten Schritt, gleich
zu Beginn der zweiten Strophe, wird sofort rückgebunden an die Erde; eine
Rückbindung, die wir bei Neruda im Übrigen auch in der Konfiguration von
Dichter und Erde finden. Die Wimpern und Augenlider („párpados“), die dem
Urschlamm entsteigen, sind eine weitere biblische Anspielung und verweisen
zugleich auf platonische Vorstellungen, welche etwa auch den Augen der Seele
einen Bezug zur Welt des Schlamms einräumen. Doch scheint alles noch na-
menlos: Weder die weiten Pampas noch die Menschen selbst scheinen einen
Namen zu tragen; eine recht verwirrende Aussage, ist doch diese Szenerie auf
das Jahr 1400 datiert, also auf einen Zeitpunkt, in dem wir es gerade im Bereich
der Kordilleren mit hochentwickelten indigenen Kulturen zu tun haben. Und in
der Tat nennt der Dichter auch die Völker – von den Kariben im Norden bis zu
den Araukanern im Süden – bei ihren jeweiligen Namen.
Gerade bei der Nennung der Völker fällt ab der Erwähnung der Kariben freilich
eine Trennung des gesamten Kontinents auf, insofern die Konzentration des Dich-
ters dem südlichen Teil des Doppelkontinents gilt. So „general“ ist dieser „canto“
also nicht: Er berücksichtigt die bereits geschichtlich gewordene amerikanische
Realität der Lateinamerikaner. Hat dies mit der weitgehenden Auslöschung der Ur-
einwohner im Norden des Kontinents zu tun? Dass es um Kämpfe zwischen den
verschiedenen Völkern und nicht erst um Kämpfe im Zuge der Conquista geht, be-
legt der Verweis auf die Waffen des Menschen. Denn diese Waffen tragen bereits
die Initialen der Erde, die „iniciales de la tierra“, und damit die erste, noch nicht
entzifferte Schrift, welche dieser Welt ihren eigenen Sinn gibt. Dass diese Schrift-
zeichen auf einem Element der Kultur, auf einem zerstörerischen Element von Kul-
tur – nämlich einer Waffe – stehen, mag die Gewalttätigkeit des Menschen mit der
Gewalttätigkeit der Erde verbinden. In jedem Falle beginnt an dieser Stelle der
Weg des Menschen durch die Zeiten – eine Waffe in der Hand; ein Weg, der bis
zur Aktualität des Dichters in der Erzählzeit führt. Zugleich wird damit eine telluri-
sche Dimension betont, die allen Aktivitäten des Menschen in Amerika einge-
schrieben ist: Selbst die Zerstörung und Selbstzerstörung des Menschen trägt noch
die Initialen der Erde. So wird etymologisch von diesen Initialen aus der weitere
Weg des Menschen bis hin zu Zerstörung und Tod dem Gedicht eingeschrieben.
Die Schrift am Griff der Waffe birgt dieses Geheimnis.
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 61
7 Dario, Rubén: ¡Torres de Dios!...In (ders.): Páginas escogidas. Edición de Ricardo Gullón. Ma-
drid: Ediciones Cátedra 1979, S. 105.
62 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
Noch hat die Geschichte nicht begonnen; und damit zugleich die Geschichte
der Menschheit und die Geschichte des Dichterwortes.
Der zweite Gesang des Canto General besteht aus zwölf Gedichten und
stellt – nicht nur im geographischen Sinne des Wortes – den amerikanistischen
Höhepunkt des gesamten Zyklus dar: Alturas de Macchu Picchu. Schon die Zahl
zwölf als magische Zahl der Vollkommenheit belegt, welches Gewicht – auch
wenn die Zahlensymbolik sicherlich nicht an deren Komplexität bei Dante her-
anreicht – diesem zweiten Buch zukommt: ein besonderes Gewicht, das nicht
zuletzt auch durch die separate Selbst-Aufsprache durch Pablo Neruda in sei-
ner lyrisch-ästhetischen Eigenständigkeit bestätigt wurde und zum Ausdruck
kommt. Dieser Zyklus von zwölf Gedichten bezieht sich autobiographisch auf
einen Besuch der berühmten Ruinenstadt in den peruanischen Anden, die
Pablo Neruda 1943 tief beeindruckte, durchaus jenseits aller archäologischen
Wissensbestände. Denn der Aufstieg des Dichters nach Macchu Picchu kam
einem Aufstieg in die Transzendenz und zugleich einem Abstieg tief in das In-
nenleben amerikanischer Kulturen gleich.
Macchu Picchu steht für Neruda gleichsam emblematisch für die zu Stein ge-
ronnene Zeit der indianischen Hochkulturen, hoch oben in den Anden über der
nachfolgenden Geschichte thronend. Es ist nicht ganz einfach, einen Gedichtzy-
klus wie den Canto General oder darin selbst die Alturas de Macchu Picchu sozusa-
gen im Taschenformat didaktisch zu präsentieren. Ich möchte im Folgenden
jedoch versuchen, die im Sinne unserer Vorlesung relevanten und vor allem reprä-
sentativen Passagen herauszusuchen und zu präsentieren; Passagen, die nicht zu-
letzt auch die Sonderstellung Pablo Nerudas gegenüber den lateinamerikanischen
Dichtern der Avantgarde einerseits und den hispanoamerikanischen Dichterinnen
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts andererseits aufmerksam machen.8
Dabei sollten wir vor allem nicht vergessen, dass mit Neruda ein neuer Ton
und ein neuer Bezug zu den indigenen Kulturen Einzug in die Lyrik Hispano-
amerikas hält; ein neuer Bezug zu einem kulturellen Pol, der nicht einfach ent-
weder dem indianistischen oder dem indigenistischen Pol zuzuordnen ist,
sondern von beiden etwas behält, nicht zuletzt auch – wie wir gleich hören
werden – wegen seines Anspruchs, durch den Dichtermund die (vermeintlich)
längst versunkenen indianischen Kulturen sprechen zu lassen. Denn es geht
um den Aufstieg, das Leben und den Abstieg der indigenen Kulturen (Latein-)
Amerikas und damit folglich um einen kompletten kulturellen Lebenszyklus
zwischen Geburt, Leben, Sterben und Tod.
8 Vgl. zu beiden Seiten ausführlich den dritten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Von
den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne (2021), insb. S. 188–289 u. S. 397–606.
64 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
VI
Alsdann stieg ich auf der Leiter der Erde empor
vom grässlichen Dickicht verlorener Urwälder
hinauf zu Dir, Macchu Picchu.
Hohe Stadt von steigenden Steinen,
Aufenthalt zuletzt von dem, der das Irdische
nicht verbarg in der schläfrigen Kleidung.
In dir, zwei parallelen Linien gleich,
wog sich die Wiege des Blitzes und des
Menschen im Dornenwinde.
VIII
Steig auf mit mir, amerikanische Liebe.
VI
Entonces en la escala de la tierra he subido
entre la atroz maraña de las selvas perdidas
hasta ti, Macchu Picchu.
Alta ciudad de piedras escalares,
por fin morada del que lo terrestre
no escondió en las dormidas vestiduras.
En ti, como dos líneas paralelas,
la cuna del relámpago y del hombre
se mecían en un viento de espinas.
66 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
VIII
Sube conmigo, amor americano.
XII
Sube a nacer conmigo, hermano.
[...]
Yo vengo a hablar por vuestra boca muerta.
A través de la tierra juntad todos
los silenciosos labios derramados
y desde el fondo habladme toda esta larga noche
como si yo estuviera con vosotros anclado,
contadme todo, cadena a cadena,
eslabón a eslabón, y paso a paso,
afilad los cuchillos que guardasteis,
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 67
Pablo Neruda entfaltet vor unseren Augen ein lyrisches Gemälde, in welchem
das längst Vergangene wieder zu neuem Leben erweckt wird, in dem die Toten
zu den Lebenden sprechen vom Tod, vom Kampf, von ihrer Geburt und Wieder-
geburt. Denn das Leben ist mit dem Tod nicht zu Ende: Der Dichter wird zum
Träger dieser Wiedergeburt, wird zum Gebärenden, der diese längst verschol-
lene, zu Stein gewordene Vergangenheit erneut zur Welt bringt in seinem
Mund, in seinen Venen und in seinem Blut. Es geht um das lange zuvor schon
vollendete Leben, um den Untergang dessen, was einst über den Wolken thronte,
um das Sterben einer Kultur, die nicht mehr ist und um die Wiedergeburt, für die
der Dichter zum Medium wird. So wird der Dichter zum Sprachrohr dessen, was
nicht mehr ist und doch nicht aufhören kann zu sein.
Unser Rundgang durch die Alturas de Macchu Picchu beginnt also mit dem
Aufstieg des lyrischen Ichs zu den Höhen, gleichsam durch die „selvas perdi-
das“, die dem finsteren Wald in Dantes göttlicher Commedia nicht von unge-
fähr ähneln, bevor die Klarheit, die Transparenz erreicht wird. Von Beginn an
spricht der Dichter die Stadt direkt an; und in dieser Wendung an die tote, zu
Stein erstarrte Stadt sehen wir zugleich auch die Wendung an die Vergangen-
heit und eine Wendung an all jene, die zu den normalen Sterblichen nicht
mehr sprechen können. Wie bei Dante finden wir also eine Situation der Kom-
munikation mit der Vergangenheit vor, nur dass hierzu nicht der Abstieg in die
Hölle, sondern der Aufstieg in die Ruinen der indigenen Stadt gewählt wurde
und damit letztlich auch eine Topologie, die sich mit der Besteigung des Mont
9 Neruda, Pablo: Canto General, Alturas de Macchu Picchu VI, VII, VIII, XII.
68 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
Ventoux durch Petrarca seit dem 14. Jahrhundert durch die europäische und
abendländische Literaturgeschichte zieht.10
In dieser hoch hinauf in die Anden gebauten Kultstätte und Stadt wird zu-
gleich die Wiege des Blitzes und die Wiege des Menschen verortet; eine Verbin-
dung, die die Parallelität von menschlicher und göttlicher wie natürlicher
Geschichte betont. Die Geschichte des Menschen fällt in eins mit der Geschichte
göttlicher Mächte. Der Blitz fährt in diese Geschichte so, wie der Mensch in die
Naturgeschichte des Planeten hineinfährt und sie auf immer verändert. Das Er-
scheinen des Menschen in der Geschichte des Planeten wird mehrfach mit dem
Sonnenaufgang verbunden: Der Mensch erscheint nach seiner Geburt in der
Wiege, der er jedoch bald schon entsteigt, um sich des Planeten in seiner Ge-
samtheit zu bemächtigen. Wäre die Metapher vom Anthropozän nicht so arro-
gant, weil sie den Menschen ins Zentrum aller Dinge und Entwicklungen auf
dem Planeten Erde stellt, obwohl er die von ihm ausgelösten Prozesse in keiner
Weise mehr beherrscht und die Folgen seines Tuns im Griff hat, dann könnten
wir dies als den Anfang vom Ende der Naturgeschichte bezeichnen. Wir könn-
ten den Aufstieg des Menschen hinauf zum Anthropozän akklamieren, zur Erd-
epoche im Zeichen der weltverändernden Aktivitäten des Menschen.
Hier wird also jene Mutter aufgefunden, hier werden jene Kondor-Vögel sicht-
bar, auf deren Suche sich das Ich bereits im ersten Gedicht gemacht hatte. Die
Wiedergeburt der indigenen Kulturen, ebenfalls im Eröffnungsgedicht des
Canto General angemerkt, nimmt konkretere Züge an. Die „espuma“, der Schaum
des großen amerikanischen Kondors, verbindet sich mit den Müttern aus Stein:
eine doppelte Anspielung auf die Geschichte der Natur und die Geschichte des
Menschengeschlechts und damit auf die Anfänge der müttergeborenen Mensch-
heit. Nicht umsonst spricht der Dichter die Ruinenstadt in der Naturmetaphorik
des Riffs und des Sonnenaufgangs des Menschengeschlechts an und insistiert ein-
mal mehr auf der Zugehörigkeit des Menschen jener Zeiten noch zum Reich der
Natur. Damit wird eine kosmologische Einheit evoziert, die als Naturverbundenheit
des Menschen zu umschreiben ausgesprochen verkürzend wäre: Noch ist der
Mensch ein Teil der kosmologischen Ordnung und damit zugleich aller Wesen des
Kosmos, die aus dem Chaos, aus dem Urschlamm geschaffen wurden und Teil der
Schöpfung sind. Denn der Begriff Kosmos steht zum einen für die Ordnung und
zum anderen für die Schönheit; eine ästhetische Dimension, die sie auch heute
noch etwa im Begriff der Kosmetik in unserer Sprache präsent haben.
10 Vgl. hierzu Ritter, Joachim: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1974.
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 69
Am Ende des siebten Gedichts, das der hier zentral gestellten lyrischen Einheit
folgt, stoßen wir zunächst auf Bilder des Todes, auf die Rückverwandlung des
Menschen der Erde in Tonerde, in Natur und Boden. Wieder sind es die Augenli-
der, die „párpados“, die sich diesmal schließen und das Ende eines Lebenszyklus
anzeigen. An dieser Stelle wird Macchu Picchu zum der Geschichte anvertrauten
Überrest der menschlichen Kultur, deren Exaktheit und Präzision im strukturellen
architektonischen Aufbau noch immer sichtbar ist. Die Stadt wird zum „alto sitio
de la aurora humana“; eine Darstellung, die zwar für die gesamte Menschheit
nicht ganz zutreffend ist, zweifellos aber für den inkaischen Kulturbereich gilt. In
diesem Gedicht des Macchu Picchu-Zyklus kehren die Lexeme zurück, die wir im
ersten, den gesamten Zyklus des Canto General eröffnenden Gedicht bereits vorfan-
den: „vasija“, „silencio“, „arcilla“, „madre“, „cóndor“ – all jene Lexeme, die sich
nun in einer erneuten Wendung des poetischen Glücksrads Nerudas zu einer
neuen Konfiguration formieren und zugleich ein steinernes Leben bekräftigen, das
den vielen menschlichen Leben nachfolgt und von diesen für immer kündet.
Im unmittelbaren Anschluss daran wird der „amor americano“ aufgefor-
dert, mit dem lyrischen Ich den Aufstieg zu Macchu Picchu zu unternehmen,
also eine gemeinsame Reise anzutreten – auch dies eine bewegliche Konfigura-
tion, die der Divina Commedia Dantes nicht unbekannt ist. Pablo Neruda schreibt
sich ganz bewusst ein in poetische Traditionen des Abendlandes, die zugleich
grundlegend verändert und gleichsam ‚amerikanisiert‘ werden. Wir sehen, wie
erstaunlich sich Bezüge herstellen lassen nicht nur zu Dante Alighieri, sondern
auch zu Jorge Luis Borges‘ El Aleph, dessen Figur Carlos Argentino Daneri bereits
auf die Präsenz abendländischer Traditionen, die sich von Dante herleiten, in
den zeitgenössischen Kreationen Lateinamerikas aufmerksam gemacht hatte.11
Denn Carlos Argentino Daneris Langgedicht La Tierra hatte eben auch jenes
Übereinander von Zeiten und Zeitschichten gesetzt, das der chilenische Dichter
hier gemeinsam mit der amerikanischen Liebe, mit einer neuen Dante’schen Bea-
trice, durchstreifen will und durchstreifen wird. Die fundamentale Ironie von
Borges lassen wir an dieser Stelle unserer Vorlesung außer Acht.
Die Stein gewordene Kultur der Inkas wird in diesem Gedicht mit der beleb-
ten Natur verbunden, gerinnt zu harten Girlanden und zu steinernen Pflanzen,
welche den Weg des Ich und seiner Begleiterin (wenn wir deren Geschlecht im
Sinne Dantes deuten) säumen. Im Grunde haben wir es hier zusätzlich mit dem
Motiv der Zeitreise zu tun: Denn eine Reise beginnt, welche nicht allein die drei
11 Vgl. hierzu die entsprechende Vorlesung in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden
bis nach der Postmoderne (2021).
70 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
Dimensionen des Raumes, sondern zusätzlich die vierte der Zeit umfasst.12 Er-
neut tritt an dieser Stelle das Element des Wassers hinzu und öffnet in seiner
Wildheit den Blick auf die belebte Natur und das Leben überhaupt. Dessen
fruchtbringende Präsenz hatte sich bereits in der Erwähnung des Flusses Urub-
amba gezeigt, eines Nebenflusses des Amazonas, der wie viele andere Flüsse
und Ströme die „ríos arteriales“ des Eröffnungsgedichts repräsentiert. Diese an-
dine Gebirgs- und inkaische Kulturlandschaft ist es, welche von der Liebe des
Dichters durchdrungen wird; einer Liebe, die sich der Vergangenheit öffnet
und diese in sich aufzunehmen bestrebt ist. Das dichterische Ich verkörpert alle
kulturellen Dimensionen einer Geschichte dieses Raumes der Amerikas.
Im Schlussteil dieses ‚kleinen‘ Zyklus der Alturas de Macchu Picchu, im zwölf-
ten Gedicht dieser Serie also, findet das Ich erneut zu seiner von ihm beanspruch-
ten Rolle als Sprachrohr längst untergegangener Kulturen, denen in der Dichtung
wieder neues Leben eingehaucht wird. Dabei tritt nun ein Bruder an die Seite des
zur steinernen Stadt Aufsteigenden; ein Bruder, der die Solidarität mit den Men-
schen, insbesondere aber mit der indigenen Bevölkerung jener Stadt und damit
mit der eigenen inkaischen Vorgeschichte betont. Auch diese Figur nimmt ein Ele-
ment – nämlich die Hirtenfiguren – des Eröffnungsgedichtes des Canto General
wieder auf. Mit guten Gründen wird dieser Aufstieg in die Metaphorik des Gebo-
ren-Werdens gekleidet, mithin einer doppelten Geburt anvertraut, in welcher der
Bruder zum Zwillingsbruder wird: „Sube a nacer conmigo, hermano.“
Vor diesem poetischen Hintergrund ergreift der Dichter erneut das Wort im
Bewusstsein, durch den Mund der Toten und damit für die und anstelle der
Toten zu sprechen. In seiner hymnischen Stimme – ich verweise noch einmal
auf die im Übrigen durchaus diskutable Selbst-Aufsprache des chilenischen
Dichters – werden die schweigsamen Lippen der Geschlechter zu neuen Worten
wiedererweckt: Die Reise durch die Vergangenheit leitet damit gleichsam über
zu einer Reise der Vergangenheit in die Gegenwart. Die Gegenwart aber füllt
sich in Gegenwart des Dichter-Demiurgen mit Vergangenheit, die vergegenwär-
tigt wird. So können wir sehr wohl von einer Wiedergeburt inkaischer bezie-
hungsweise indigener Kulturelemente sprechen.
Umgekehrt füllt sich die Stimme des Dichters mit neuem, mit fremdem
Leben. Alles sollen ihm die Indigenen der Vergangenheit, die Inkas, die Erbauer
von Macchu Picchu erzählen und anvertrauen: ein Ziel, das schon den eigenen
Anspruch miteinschließt, damit auch wiederum eine geschichtlich-kulturelle To-
talität weiterzugeben. Die Verbindung mit den Brüdern der Vergangenheit beruht
12 Vgl. hierzu die Ausführungen im Theorieteil des ersten „Aula“-Bandes von Ette, Ottmar:
ReiseSchreiben. Potsdamer Vorlesungen zur Reiseliteratur (2020).
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 71
Ich denke, dass der Mensch in seinem Vaterlande leben muss, und ich glaube, dass die
Entwurzelung der Menschen eine Frustration darstellt, welche auf die eine oder die an-
dere Weise die Klarheit der Seele beeinträchtigt. Ich kann nicht anders als in meinem ei-
genen Lande leben [...].
Ich blieb noch in Peru und stieg hinauf zu den Ruinen von Macchu Picchu. Wir kamen
zu Pferde hinauf. Es gab damals noch keine Straße. Von oben sah ich die alten Bauten aus
Stein, die von den allerhöchsten Spitzen der grünen Anden umgeben waren. Von der zerrüt-
teten und vom Gang der Jahrhunderte angenagten Festung herab ergossen sich Sturzbäche.
Massen von weißem Nebel stiegen vom Flusse Wilcamayo auf. Ich fühlte mich unendlich
72 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
klein inmitten dieses Nabels aus Stein; dem Nabel einer entvölkerten, stolzen und eminenten
Welt, der ich auf irgend eine Weise zugehörte. Ich fühlte, dass meine eigenen Hände hier in
einer weit entfernten Periode gearbeitet, Furchen gegraben und Felsen geglättet hatten.
Ich fühlte mich als Chilene, als Peruaner, als Amerikaner. Ich hatte in jenen schwie-
rigen Höhen, unter jenen ruhmreichen und verstreuten Ruinen ein Gelübde zur Fortset-
zung meines Gesanges abgelegt.
Hier kam mein Gedicht „Höhen von Macchu Picchu“ auf die Welt.13
Es ist durchaus kein Zufall, dass Pablo Neruda an diesem traditionsreichen Ort
Metaphern der Körperlichkeit benutzt, wie sie auch seinen Gedichten des Canto
General eingeschrieben sind. Die Stadt hoch oben in den grünen Anden bildet
einen Nabel aus Stein inmitten einer verlassenen Welt, in welcher der Dichter
doch quer durch die Zeitalter, quer durch die Jahrhunderte anwesend war und
am gemeinsamen Vorhaben der indigenen Kulturen mitgearbeitet hat. In der
Imagination des Dichters überlagern sich die Jahrhunderte, überlagern sich die
Welten. Der Nabel dieser inkaischen Welt verweist auf die Geburt dieser Kultur,
von deren Geburtsvorgang noch immer das steinerne Zeugnis – der Körper aus
Stein – spricht. Und parallel dazu bringt der Dichter sein Gedicht Alturas de Mac-
chu Picchu auf die Welt, lässt diesen kleinen Zyklus von zwölf Gedichten in einen
Gebärvorgang übergehen, welcher das Gedicht als lebendiges Wesen hervor-
bringt. Denn dass die Gedichte lebende und lebendige Wesen sind, daran hat der
chilenische Poet niemals gezweifelt!
In dieser Passage seiner Autobiographie macht Neruda nochmals deutlich,
welch fundamentale Wirkung der Aufstieg zu den Ruinen von Macchu Picchu
auf ihn hatte. Und welchen Einfluss gerade auch die überlegene und überlegte,
von oben schauende Perspektive auf die alte Indianerstadt auf sein Selbstver-
ständnis ausübte. Noch im Gedicht findet sich exakt dieser Blickwinkel, jener
Blick von oben, der die Anlage von Macchu Picchu geradezu strukturalistisch
analysiert und vor seiner Leserschaft ausbreitet.
Auch in dieser Passage finden wir eine Verbindung zwischen der Geburt und
dem Kreatürlichen, eine Verbindung zwischen dem Lebendigen, Organischen
und dem Stein, in welchen dieser indigene Körper buchstäblich hineingemeißelt
wurde. Dabei erscheint das Ich als dieser steinernen Welt der Vergangenheit zu-
gehörig: Es findet ein Identifikationsprozess statt, der schließlich in einen Iden-
titätsbildungsprozess überleitet. Der Dichter fühlt sich als Chilene, als Peruaner,
als Amerikaner: Eine kontinentale Zugehörigkeit ist geboren. Und sie drückt sich
literarisch – wenn wir auf Erich Auerbach und sein in Mimesis zum Ausdruck ge-
13 Neruda, Pablo: Confieso que he vivido. Barcelona: Seix Barral 1974. S. 235. Alle Übersetzun-
gen ins Deutsche stammen in diesem Band, wo nicht anders angegeben, vom Verfasser. Die
Prosa-Zitate in der Originalsprache finden die Leser*innen im Anhang des Bandes (O.E.).
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 73
14 Vgl. hierzu das Kapitel in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Post-
moderne (2021), S. 741–772.
74 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
folgenden Teile führen die Geschichte weiter bis weit ins 20. Jahrhundert und
schließen mit der Anrufung des Namens Amerikas ab.
Der siebte Teil des Bandes ist der sogenannte Canto General de Chile, der
im Zentrum des Zyklus steht und dem eine besondere, durchaus nationale und
nationalgeschichtliche Bedeutung zukommt. Die Verankerung Amerikas im chi-
lenischen Volk sowie die autobiographische Dimension des gesamten Gesangs
schließen sich an, daneben Erinnerungen des dichterischen Ich an die Aufent-
halte im Süden, inmitten der südchilenischen Natur, die dem Dichter von Kind-
heit an besonders ans Herz gewachsen war.
Dann setzt der fünfzehnte und letzte Gesang des Zyklus mit dem Titel Yo
soy ein: Es geht nicht mehr um ein „estar“, eine vorübergehende Befindlichkeit,
um einen Zustand, wie wir diesen ganz zu Beginn des Gedichtzyklus vorgefun-
den hatten, sondern um einen Vorstoß zum „ser“, zum Sein, zum Wesen, zum
Wesentlichen und damit auch zum eigenen gesellschaftlichen, gemeinschaftli-
chen und persönlichen Leben des dichterischen Ich. Auch in diesen letzten Teil
ist der politische Standort Nerudas eingeschrieben, bisweilen gar in recht pro-
pagandistischen, uns heute etwas fremd gewordenen Passagen wie im zweit-
letzten Gedicht des Canto General, in dem sich der Dichter an seine Partei
wendet: A mi Partido. Ist dies die obligate Ehrenbezeugung gegenüber der Kom-
munistischen Partei, ja die Unterwerfung unter die kommunistische Führung?
Wir sollten dieses Gedicht freilich zur Kenntnis nehmen, gibt es uns doch
Aufschluss über einen nicht unbeträchtlichen Teil von Nerudas Schreiben.
Denn dieser politisch-propagandistische Aspekt nahm bis in die letzten Lebens-
jahre des chilenischen Dichters im lyrischen Schaffen eher noch zu. All diese
Schöpfungen entstehen unter dem beängstigenden Eindruck einer wachsenden
Einmischung der USA in die chilenische Innenpolitik und gipfeln schließlich
im Gedicht Incitación al Nixonicidio, also im Aufruf des Dichters zum Mord am
damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten.
Es wäre sicherlich ein Leichtes, eine Anthologie mit derartigen bösen Ge-
dichten über die USA und deren Präsidenten aus lateinamerikanischer Sicht
und von lateinamerikanischen Dichtern vorgetragen zusammenzustellen. Von
wesentlich höherer literarischer Qualität wäre in einer solchen das Gedicht an
Roosevelt des nikaraguanischen Poeten Rubén Darío, der den begründeten
Ängsten seiner Epoche aus lateinamerikanischem Blickwinkel verdichteten
poetischen Ausdruck verlieh. Wir werden uns mit diesem Gedicht und dessen
zeitgeschichtlichem Kontext noch ausführlich beschäftigen. Zu nennen wäre
aber ebenso das Gedicht des Argentiniers Ezequiel Martínez Estrada, in wel-
chem anlässlich der von den USA gesteuerten dilettantischen Invasion in der
Schweinebucht vor Kuba eine Hasstirade gegen den damaligen US-Präsidenten
John F. Kennedy vom Stapel gelassen wird; eine Tirade voll aufgestauten Has-
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 75
Mir hast du die Brüderlichkeit gegeben mit jenem, den ich nicht kenne.
Mir hast du die Stärke hinzugefügt von allen, die leben.
Mir hast du das Vaterland wiedergegeben, wie in einer Geburt.
Mir hast du die Freiheit gegeben, die der Einzelgänger nicht besitzt.
Mir zeigtest du, die Güte zu entzünden wie das Feuer.
Mir gabst du das Aufrechte, das der Baum braucht.
Mir zeigtest du, Einheit und Differenz aller Menschen zu sehen.
Mir führtest du vor, wie der Schmerz eines Wesens im Siege aller vergeht.
Mir zeigtest du, auf den harten Betten meiner Brüder zu schlafen.
Mir machtest du klar, auf die Realität wie auf einen Felsen zu bauen.
Mir machtest du abhold, die Übles wollen, Mauer zum Frenetischen.
Mir hast du die Helle der Welt und die mögliche Freude zu sehen gegeben.
Mir hast du Unzerstörbarkeit gegeben, denn mit dir ende ich nicht in mir.
Wir finden hier alle Grundmetaphern Pablo Nerudas wieder, einschließlich der
Geburtsmetaphorik, die von so zentraler Bedeutung für seine Dichtkunst ist. Al-
lerdings könnte man in dieser Lobpreisung der Kommunistischen Partei auch
bemängeln, dass im Gedicht all diese Metaphern zu Klischees geworden sind.
Und in dem Maße, wie sie hier zu Klischees wurden, zu ausdruck- und farblo-
sen Serienbildern, sind sie auch andernorts, gleichsam kotextuell und damit im
selben Gedichtband, von einem Verlust an Prägekraft und Schärfe gezeichnet,
der damit auf dem gesamten Gedichtzyklus lastet.
Ich möchte Ihnen dies gerne an einigen Beispielen vorführen, die ich dazu
aus didaktischen Gründen in Serie schalte: Wenn Macchu Picchu Geburt war,
dann ist auch die Partei Geburt. Wenn das Ich in Macchu Picchu über sich
selbst hinausreicht, dann auch durch die Partei. Wenn es in Macchu Picchu
Brüder findet, dann auch in der Partei. So einfach sind die Dinge in dieser par-
teiischen Litanei, die die Dinge beim Namen, bei der Realität zu nennen vorgibt
und doch nur Klischees, Abziehbilder des vorherigen Gedichtzyklus produziert
und aneinanderreiht!
Man könnte mit guten Gründen in diesen nicht so sehr politischen als viel-
mehr ideologisch-propagandistischen Gedichten Pablo Nerudas einen poeti-
schen Absturz des chilenischen Dichters sehen, der seine Dichtkunst in den
Dienst der Partei und damit auf eine harte Probe stellt. Denn das Erschreckende
dieses Gesangs ist nicht nur die Totalität, in welcher hier die Partei alles, selbst
die intime Metaphorik Nerudas, auszufüllen scheint. Das Erschreckende ist vor
allem darin zu sehen, wie religiös diese Totalität vorgetragen und verabsolutiert
wird: in Form einer Litanei, zu deren Bewegungen die Bewegungen eines Weih-
rauchschwenkers sicherlich gut passen würden. Die Totalität der dichterischen
Welt Nerudas ist in diesem Gedicht an die Kommunistische Partei dem Totali-
tätsanspruch einer Partei gewichen, auf deren Opfertisch alles zuvor poetisch
Entfaltete aufgeopfert wird. Und dankbar strömt der Opferduft nach oben …
Auch dies gehört zum Gesamtbild des chilenischen Dichters Pablo Neruda.
gAber vergessen wir dennoch – trotz dieses Lobgesangs auf die immer richtige
und immer solidarische Parteilinie – nicht, welche lyrische Kraft, welches litera-
rische Urgestein Pablo Neruda darstellt! Es ist diese poetische Stärke, die seine
Schöpfungen auch weit über die Zeit hinausführen und uns weit über jene propa-
gandistischen Gedichte erheben, die der große Dichter eben auch verfertigt hat.
Doch wir müssen mit unserer Beschäftigung mit Pablo Neruda zu einem
Ende kommen! Dazu möchte ich Ihnen einen Auszug aus dem Canto General
präsentieren, und zwar aus dem den „Libertadores“ gewidmeten Teil, von dem
aus sich viele Beziehungen zu vorhandenen Deutungen der ‚großen Männer‘
der hispanoamerikanischen „Independencia“ herstellen ließen. Es sollen uns
hier aber nicht die Bolívar oder San Martín aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts
interessieren, sondern vielmehr eine andere Gestalt aus der zweiten Hälfte des-
selben Jahrhunderts, die zum damaligen Zeitpunkt heiß umkämpft war und in
zunehmendem Maße in die internationale Diskussion und die politischen Dis-
kurse in und über Kuba hineingezogen wurde. Ich spreche vom kubanischen
Dichter und Revolutionär José Martí, dessen Rezeptionsgeschichte speziell in
Lateinamerika faszinierend ist.16
16 Vgl. Ette, Ottmar: José Martí. Teil I: Apostel – Dichter – Revolutionär. Eine Geschichte seiner
Rezeption. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1991.
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 77
[...]
Dies Feuer ganz erschüttert seine Struktur.
Und so aus der liegenden Festung,
aus dem versteckten Samenkorn strömend
brechen die Kämpfer der Insel auf.
[...]
Todo fuego estremece su estructura.
Y así de la yacente fortaleza,
del escondido germen caudaloso
salen los combatientes de la isla.
Dieses José Martí gewidmete Gedicht gehört sicherlich nicht zu den bekanntes-
ten und wohl auch nicht zu den besten des Gedichtzyklus von Nerudas Canto
General. Und doch scheint es mir bedeutungsvoll in vielerlei Hinsicht, waren
jene Jahre doch die eines beginnenden Kampfes gegen die Diktatur Batistas auf
der Insel, die mit dem Triumph Fidel Castros und der Kubanischen Revolution
enden sollten. José Martí hat in diesem Gedicht deutlich an Statur gewonnen,
nicht zuletzt in politischer Hinsicht, wird er doch zur eigentlichen Quelle des
Widerstands gegen die noch herrschende Batista-Diktatur.
Gewiss erreicht das Gedicht nicht die Tiefe und Dichte mancher Martí ge-
widmeter Gedichte des Kubaners José Lezama Lima, der in La expresión ameri-
cana auch in seiner Prosa die aufkommende Widerstandsbewegung poetisch
feierte. Doch auch wenn die Symbolik eher einfach gestrickt ist und der Name
Martís sich selbstverständlich – wie schon so oft, aber bereits bei ihm selbst –
mit dem Begriff des ‚Mártir‘ reimt, so zeigen die Verse doch an, dass der große
kubanische Intellektuelle des ausgehenden 19. Jahrhunderts nun auch in einem
kontinentalen Sinne für die Revolution zu stehen begann. Dass dabei in den
Städten die Kommunistische Partei Kubas eine wichtige Rolle spielte, die später
von den Revolutionären um Fidel Castro aus Machtgründen heruntergespielt
wurde, dürfte mitverantwortlich sein für Pablo Nerudas poetisches, zugleich aber
auch politisch engagiertes Poem.
Die fünfziger Jahre sind sehr spannende Jahre, die um das Jahr 1953 der
Rezeptionsgeschichte José Martís eine interessante Veränderung bringen – und
dies hatte Pablo Neruda sehr richtig erkannt. Im Ausland hatte zuvor – seit der
Würdigung Martís etwa durch den nikaraguanischen Modernisten Rubén Darío –
vor allem der literarische, insbesondere der lyrische Martí dominiert, während im
Inland, also auf der Insel Kuba, fast durchweg der politische Martí die Rezeption
beherrschte. In Nerudas Gedicht zeigt sich, dass nun auch im Ausland der politi-
mehr fern ist. In diesem poetischen Zusammenhang, den das Nerudas Gedicht von
seinen Eingangsversen an nahelegt, könnten wir die Mandel Martís über die marti-
risierte Erde Kubas hinaus mit dem Mandala, der mandelförmigen Erfassung spiri-
tueller Totalität, in Verbindung bringen, insoweit sich alles in Martí findet, alles in
Martí bündelt, alles in Martí verkörpert. José Martí erscheint auf geradezu magi-
sche Weise mit den Grundelementen, mit der Erde, vor allem aber mit dem Wasser
verbunden, welches das Wasser seiner Insel ist, das sich an ihren Gestaden schäu-
mend bricht. In Martí findet Neruda jene Verbindung von politischem Kämpfer
und literarischem Schöpfer, von großem Dichter und weitblickendem Revolutionär
vor, welche in gewisser Weise auch zur „Liberación“ seines eigenen Selbstver-
ständnisses beigetragen haben mag.
Noch ein letzter Verweis auf den Canto General sei mir gestattet! Es handelt
sich dabei um das achtzehnte Gedicht des achten Teils, die beide denselben Titel
tragen: La tierra se llama Juan – die Erde heißt Hans. Auch in diesem Gedicht
wird nochmals eine Totalität erfahrbar, die Totalität einer Verschmelzung der
Erde mit einem Gesicht, mit einem Namen, mit einer Figur, die der Dichter Juan
nennt. Ganz bewusst wählt er damit einen spanischsprachigen Allerweltsnamen:
Auch hier stoßen wir wieder auf die Geburtsmetaphorik, die in Nerudas Canto
General – wie wir bereits sehen konnten – eine zentrale Bedeutung besitzt. Doch
in diesem Gedicht des Zyklus wird das Lexem der Geburt mit dem der Wiederge-
burt verbunden und an eine pflanzliche Denkfigur gekoppelt. Auf diese Weise
geht es um die Wiedergeburt eines Menschen namens Hans als Hans in einem
zweiten, in einem weiteren Leben: Der Tod ist nicht länger das Ende der Existenz,
sondern kann auch einen Neuanfang signalisieren. Denn Neruda nimmt zum in-
dividuellen Menschenleben das kollektive Leben eines Volkes hinzu, in welchem
sich der Zyklus von Geburt, Leben, Sterben und Tod immer wieder auf ein neues
Leben, auf eine Wiedergeburt hin öffnet. Und eben hierzu dient ihm die Figura
des Arbeiters Juan, der zwar einen persönlichen Namen trägt, dessen Züge sich
aber mit den Gesichtern eines ganzen Volkes vermischen und verwischen. Ne-
ruda entwirft auf diese gewiss etwas simple Weise die Grundzüge einer figuralen
Geschichte, in welcher die ‚einfachen‘ Menschen wiedergeboren werden.
In Nerudas Gedicht sehen wir ohne größere Anstrengungen, wie die Kon-
zentration einer Totalität im Gesicht eines einzigen Menschen – eben von Juan,
der einfacher Bauer, Minenarbeiter oder Fischer ist – sich öffnet auf eine grö-
ßere Totalität, die nicht nur das Volk ganz allgemein, sondern das arbeitende,
politisch gelenkte, gute Volk ist. Diesem arbeitsamen Menschen, der männlich
18 Neruda, Pablo: Canto General, La tierra se llama Juan: La tierra se llama Juan, S. 221.
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 83
und nicht weiblich determiniert ist, steht allein noch ein im Sterben liegender
Wolf gegenüber, dessen Bisse freilich noch immer gefährlich sind. Es ist unver-
kennbar, dass der chilenische Dichter mit diesen Bildern auf die Traditionslinie
der Versos sencillos, der Einfachen Verse José Martís zurückgreift und ‚einfache‘
Bilder mit der spezifischen Aufgabe versieht, in diesem Falle die Klassen-
kämpfe nicht allein in Chile, sondern etwa auch in der Sowjetunion darzustel-
len. Dass diese Aufgabenstellung in Übereinstimmung mit den Vorgaben der
Kommunistischen Partei steht, ist offenkundig, beeinträchtigt jedoch nicht
grundlegend die poetische Aussagekraft und Stärke dieses Gedichts.
Gleichzeitig handelt es sich um eine klare Opposition oder – wie wir besser
sagen müssten – um einen ideologischen Manichäismus, der das Gedicht in poli-
tischer Hinsicht willentlich monosemiert. Neruda lässt uns so als Leserinnen und
Leser kaum eine Chance zu kreativen politischen Deutungsversuchen: Seine Ge-
dichte zwingen uns zu Interpretationen, die ideologischer Natur sind und uns
vom Autor vorgegeben werden. Die einfache Sprache bezweckt, ein möglichst
breites und mit der traditionellen Sprache der Dichtung wenig vertrautes Publi-
kum anzusprechen. Es ist, als würde die Generalität des Gesangs zumindest in
politischer Hinsicht keine wirkliche Generalität sein, sondern sich von einer vor-
bestimmten Totalität herleiten, hinter welcher letztlich eine bestimmte Partei
und zugleich autoritäre ideologische Vorstellungen stehen.
Wir sehen somit, dass wir die ideologische Monosemierung keineswegs nur im
Gedicht an die Kommunistische Partei finden. Sie findet sich vielmehr in vielen
der Gedichte des Canto General und zeigt sich besonders in jenen, die auf eine Ge-
genwart und eine Zukunft hin konzipiert sind. Ich meine aber auch, dass es deut-
lich zu weit gehen würde, alle poetischen Strukturierungen der verschiedenen
Gedichte des Canto auf eine Totalität zurückzuführen, also letztlich selbst die Ge-
nesis der amerikanischen Welt mit diesen autoritären politischen Strukturen in
Verbindung zu bringen. Gewiss wäre es ein Leichtes, in verschiedenen Isotopien
des Gedichtzyklus zumindest die Latenz eines parteipolitischen Blickwinkels sowie
ein Liebäugeln mit ideologischen Deutungsansprüchen zu sehen. Doch hieße dies
auch, die spezifische Polysemie der vom chilenischen Dichter evozierten Bilder
und Symbole zu übersehen und damit jene Vieldeutigkeit zu übergehen, die sich
in der poetischen Welt Nerudas ebenfalls so stark manifestiert.
Ich möchte vor dem Hintergrund dieser komplexen poetischen Sachlage
dieses Kapitel abschließend Ihr Augenmerk nochmals auf die literarischen und
poetischen Verfertigungsmöglichkeiten von Totalität lenken und auf Traditio-
nen hinweisen, innerhalb der hispanoamerikanischen Dichtkunst die Totalität
einer ganzen Welt kreativ zu entfalten. Und ich will dies erneut im Angesicht
jener theoretischen Überlegungen tun, wie sie Erich Auerbach zu Beginn seines
Hauptwerks Mimesis für die abendländische Literatur entwickelt hat.
84 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
Denn es gab zu Beginn des 19. Jahrhunderts gleichsam in der Nachfolge der
amerikanischen Reise wie der weltbewussten Reiseveröffentlichungen Alexan-
der von Humboldts19 einen großen und weltumspannenden lyrischen Versuch,
in einer nicht weniger entscheidenden politischen Übergangszeit – und zwar
der zwischen kolonialer Abhängigkeit und postkolonialer Selbstbestimmung –
den amerikanischen Kontinent als eine Totalität zu erfassen, die allein mit
dichterischen Mitteln entworfen werden konnte. Ich spreche vom berühmten
Versuch des ebenfalls tief in der chilenischen Geistesgeschichte verwurzelten
Andrés Bello, der am 29. November 1781 in Caracas das Licht der Welt erblickte
und hochgeehrt am 15. Oktober 1865 in Santiago de Chile verstarb. Sein umfas-
sender poetischer Versuch, die Welt Amerikas literarisch zu entfalten, blieb
zwar gewaltiges Fragment; doch war dieses Fragment in seiner Bedeutung für
die Dichtkunst in den Amerikas von solcher Relevanz, dass ich Ihnen zumin-
dest kurz einige der Aspekte dieses Werks stark resümierend vorstellen darf.
Es wird Sie vielleicht überraschen, dass wir uns im Rahmen unserer Be-
handlung der Lyrik Hispanoamerikas mit einem Manne beschäftigen, der nicht
in erster Linie durch seine Dichtkunst, sondern durch seine politischen, kultur-
politischen und sprachwissenschaftlichen Arbeiten auf sich aufmerksam ge-
macht hat. Andrés Bello ist Ihnen möglicherweise vor allem als Verfasser der
Gramática de la lengua castellana destinada al uso de los americanos bekannt,
die 1841 erschien und die erste Grammatik des Spanischen aus amerikanischer
Sicht und für Amerikaner geschrieben darstellt. Vielleicht kennen Sie Andrés
Bello aber auch als den Begleiter Simón Bolívars 1810 auf seiner Mission nach
London im Dienste der Independencia seiner venezolanischen beziehungsweise
südamerikanischen Heimat. Vielleicht haben Sie davon gehört, dass Bello als
Jurist das Strafgesetzbuch Chiles und vieler anderer Staaten Lateinamerikas we-
sentlich geprägt oder zumindest mitbeeinflusst hat. Oder Sie wissen, dass And-
19 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Weltbewusstsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete
Projekt einer anderen Moderne. Mit einem Vorwort zur zweiten Auflage. Weilerswist: Velbrück
Wissenschaft 2020.
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 85
rés Bello ein paar Jahrzehnte zuvor den jungen Alexander von Humboldt bei
einigen seiner Ausflüge begleitete und vom Denken des preußischen Naturfor-
schers so beeindruckt war, dass er ihm spätere Schriften, Übersetzungen, aber
auch so manche Bezugnahme in seiner Lyrik widmete. Sie werden sich also
wundern, dass wir ausgerechnet Andrés Bello als Vertreter der Dichtkunst her-
anziehen, obwohl dieser doch eben diese Kunst – auch in Bezug auf sein eige-
nes Schaffen – als sekundär, als zweitrangig ansah. Warum also Andrés Bello?
Ganz einfach: Weil er eine lyrische Tradition begründete, in welche Pablo
Neruda sich mit seinem Canto General einschrieb! Andrés Bello hatte mit eini-
gem Erfolg – wenn auch nicht unangefeindet – versucht, die Grundlagen für
eine auch kulturelle Unabhängigkeit zu legen, obwohl (oder gerade weil) er
sich der Tatsache einer engen Verbindung mit Spanien stets bewusst blieb. Er
schrieb seine Grammatik des Spanischen aus amerikanischer Sicht, weil er be-
fürchtete, das Spanische könne in Amerika in etwa so auseinanderbrechen, wie
es das Lateinische am Ende des Römischen Reiches getan hatte: Sie sehen,
Bello war ein historisch denkender Mensch!
Er stand fest auf dem Boden der Aufklärung und war überaus der Geschichte
verbunden, deren Episteme er – um mit Michel Foucault zu sprechen – in unbe-
dingter Weise respektierte. Er war keineswegs – wie ihm dies später nachgesagt
wurde – reaktionär, sondern wertkonservativ in einem aufklärerischen Sinne.
Aufklärerisch auch im Sinne jener internationalen „República de las Letras“, die
er zu gestalten und vor allem aufrechtzuerhalten trachtete. Darin unterschied er
sich im Übrigen auch von anderen großen Lateinamerikanern wie Domingo
Faustino Sarmiento nicht.
Andrés Bello verstand sich selbst als Teil jener internationalen Gelehrtenre-
publik, deren Führungsanspruch er im politischen wie vor allem im kulturpoli-
tischen Bereich stets hervorhob. Als Mittel zur grundlegenden Verbesserung
der künftigen lateinamerikanischen Republiken erschien ihm – wie vielen Zeit-
genossen – Erziehung maßgebend zu sein. Ihr widmete er stets sein Hauptau-
genmerk, indem er sie in einem ganzheitlichen, die gesamte Kultur der „ciudad
letrada“20 einbindenden und umfassenden Sinne verstand. Dabei war es für
ihn selbstverständlich, dass als kulturelle Äußerung nur all jenes akzeptiert
und verstanden wurde, was aus abendländischen Quellen stammte. Dies war
20 Vgl. zum Begriff der gebildeten Stadt, in der sich alle Macht konzentriert, Rama, Angel: La
ciudad letrada. Hanover: Ediciones del Norte 1984. Zum historischen Kontext und zur Bedeu-
tung dieses Konzepts vgl. Herrera Prado, Hugo: Errancias por el laberinto de los signos. En
torno a „La ciudad letrada“ y sus debates. In: Ugalde Quintana, Sergio / Ette, Ottmar (Hg.):
Políticas y estrategias de la crítica II: ideología, historia y actores de los estudios literarios. Mad-
rid – Frankfurt am Main: Iberoamericana – Vervuert 2021, S. 163–185.
86 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
für ihn eine Selbstverständlichkeit, die auf die kulturellen Scheuklappen seiner
Epoche wies.
Zugleich aber war er darauf bedacht, das Sprudelnde all jener Quellen un-
bedingt zu ‚amerikanisieren‘. Er las die europäischen Romantiker, übersetzte
gar einige ihrer prominentesten Vertreter wie etwa Lord Byron oder Victor
Hugo, war seinerseits aber weit davon entfernt, selbst zum Romantiker zu wer-
den, ja machte sich bisweilen recht lustig über diese neue ‚Mode‘ des Schrei-
bens. Am Ende unserer Beschäftigung mit dem Venezolaner werden wir hierfür
ein schönes Beispiel kennenlernen.
Bello war bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts – und dies zeigt seine be-
rühmte Polemik mit Sarmiento sehr deutlich21 – ein Vertreter der Aufklärung
und des Neoklassizismus; und doch hat sein Denken, sein Ziel einer kulturellen
Unabhängigkeit der hispanoamerikanischen Republiken das Denken der Ro-
mantiker grundlegend mitgeprägt. Es geht daher nicht an, die Romantiker
gegen Bello auszuspielen: Zu sehr war der Dichter, den man noch als einen
Universalgelehrten im Stile des 18. Jahrhunderts bezeichnen könnte, in ästheti-
schen Dingen auf der Höhe seiner Zeit.
Im Schaffen des großen, noch im kolonialen Caracas geborenen Venezo-
laners kann man sicherlich drei große Etappen ausmachen: die venezolanische,
die Londoner und die chilenische Etappe. Die venezolanische Etappe umfasst
die Jahre bis 1810 und bildet sozusagen die Lehrjahre des künftigen Dichters,
Gelehrten und Universitätsgründers. Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1800
war Andrés Bello gezwungen, eine Stelle in der Verwaltung anzunehmen und
damit eine politische Arbeit aufzunehmen, die ihn ein Jahrzehnt später in die
Junta Revolucionaria in Caracas geraten ließ. Als deren Vertreter reiste er zu-
sammen mit Simón Bolívar und Luis López Méndez nach London: Sie sehen,
dass Andrés Bello absolut am Puls der Zeit und jener entscheidenden Ereignisse
war, welche die Independencia aufs richtige Gleis setzten!
Zuvor hatte sich der junge Mann grundlegende Kenntnisse der lateinischen
wie der spanischen Klassiker angeeignet; Kenntnisse, die er in den Bibliotheken
Londons vertiefen sollte – nicht zuletzt auch in jener Francisco de Mirandas in
der englischen Hauptstadt. 1797 war er an die Real y Pontificia Universidad de
Caracas gegangen, 1798 schon graduierte er zum Bachiller en Artes. Eine sub-
stanzielle Erweiterung seiner naturgeschichtlichen und naturwissenschaftlichen
Kenntnisse schloss sich an, wobei die Ankunft des Preußen Alexander von Hum-
boldts in Venezuela für sein Leben von großer Bedeutung wurde. Denn Natur als
22 Vgl. hierzu González Boixo, José Carlos: Andrés Bello. In: Iñigo Madrigal, Luis (Hg.): Histo-
ria de la literatura hispanoamericana. Bd. 2: Del neoclasicismo al modernismo. Madrid: Cátedra
1987, S. 297–308.
88 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
23 Vgl. hierzu den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Wel-
ten (2021), passim.
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 89
gen worden war. An der Position von Andrés Bello zugunsten der Unabhängig-
keitsrevolution war nicht zu rütteln, sie stand bei allem Konservatismus nicht
zur Disposition. Ich möchte Ihnen im Folgenden – seien Sie unbesorgt! – nicht
alle der insgesamt achthundertunddreiundvierzig Verse dieser totalen poeti-
schen Schöpfung vorstellen, wohl aber den vielgerühmten Beginn dieses auch
als Lehrgedicht deutbaren Versepos präsentieren, um noch einmal danach zu
fragen, was in den Literaturen der Welt im Sinne eines Lebenszyklus und einer
Weltschöpfung poetisch darstellbar ist. Schauen wir uns also diese Anrufung
an die Dichtkunst genauer an:
Die erste Strophe dieser Silva,25 dieser Anrufung an die Poesie, an die Dicht-
kunst ist berühmt geworden – nicht etwa, weil hier die mythologischen Anspie-
lungen so gelungen wären, weil die Natur als Inspirationsquelle des Dichters
erscheint, weil einzelne Elemente dieser belebten, aber dennoch statischen,
vom Individuum getrennten Natur besungen würden. All dies gehört zum For-
men- und Farbenschatz des Neoklassizismus und ist den Zeitgenossen in tau-
sendfachen Variationen wohlvertraut. Die Strophe ist vor allem berühmt, weil
in ihr der Dichter die besungene Dichtkunst weg von der „culta Europa“ nach
Amerika, auf den Kontinent des Kolumbus holen und damit in die Frische der
Natur oder, wie Alexander von Humboldt in seinem Vorwort zur Relation histo-
rique wenige Jahre zuvor formulierte, in jenes Reich einer scheinbar übermäch-
tigen Natur locken will, in welchem nicht der Mensch, sondern die vielfältig
belebte Natur alles beherrscht. Die Dichtkunst soll also den Atlantik überque-
ren – ein wenig so, wie noch im selben Jahrhundert etwas weiter nördlich die
Vorstellung entsteht, die Weltmacht müsse ihren Weg von Osten nach Westen
fortsetzen und endlich auf den amerikanischen Kontinent überspringen: eine
Translatio Imperii, nur diesmal im Gewand der Poesie und somit eine Art Trans-
latio Studii. Dies ist wahrhaftig eine Anrufung der Poesie Amerikas!
Das für das Gesamtwerk von Andrés Bello so Charakteristische ist der bereits
mehrfach betonte fruchtbare Widerspruch in seinem literarischen Schaffen. Im
Auftakt von Alocución a la poesía bildet er sich insbesondere zwischen der Ver-
wendung der neoklassizistischen Dichtform, ihren standardisierten Metaphern,
ihrer normierten Topik einerseits und andererseits der durchaus neuen, fast revo-
lutionär zu nennenden Wendung, der zufolge die Dichtkunst nun ihre Heimstatt
in der Neuen Welt oder – wie es hier ebenso widersprüchlich heißt – in der Welt
des Kolumbus zu finden habe. Es ist also noch immer die Welt des Kolumbus,
des Europäers, und nicht etwa die des Indigenen, des Cuauthémoc, des Enri-
quillo, der Anacaona.
Die Dichtkunst werde in Amerika nicht nur eine neue Heimstätte finden, son-
dern auch ein neues Leben führen. Die mit immergrünem Lorbeer bekränzte
„Poesia“ werde im Reich der Natur wiedergeboren und zu neuem Leben streben,
das sich fernab des gebildeten, kultivierten Europa entfalten werde. Zephyros
werde seine Winde über die gesamte Pflanzenwelt ausschwärmen lassen, ebenso
über die Wälder wie die Urwälder des Kontinents. Wie bei Neruda stoßen wir
auch beim Venezolaner Bello auf eine kontinentale Konzeption der amerikani-
schen Welt, die gleichwohl nicht von Europa getrennt gedacht werden kann: Eu-
ropa ist stets noch im Gesamtbild vorhanden. Und parallel hierzu findet sich bei
Bello eine Hierarchie der ethnischen Gruppen, welche diesen Kontinent bevöl-
kern: Die europäische Kultur ist für ihn – um es mit einem Wort aus der deut-
schen politischen Debatte zu benennen – die Leitkultur schlechthin. Mit Blick
auf diese Vorstellung sehen wir leicht, wieviel sich diesbezüglich in Nerudas
Canto General geändert hat.
Die Vision des Andrés Bello ist in diesem Gedicht in Bezug auf Amerika nicht
national, sondern kontinental geprägt. Entsprechend ist sein Bild auch nicht dis-
kontinuierlich und nicht viellogisch, sondern akzentuiert – in etwa so, wie er die
spanische Sprache in seinen sprachwissenschaftlichen Arbeiten ‚amerikanisierte‘ –
nicht alles neu: Keine andere Sprache, keine andere Kultur, keine andere Literatur,
keine andere Dichtkunst soll entstehen, sondern eine, die andere, neue Akzente
innerhalb der vorhandenen Strukturen und Muster setzt.
Insbesondere die lateinamerikanische Kritik hat gerade in diesen ersten
Versen eine Art Unabhängigkeitsfahne der amerikanischen beziehungsweise
hispanoamerikanischen Dichtkunst und Literatur gesehen. Man kann diesen
Standpunkt ruhigen Gewissens teilen. In gewisser Weise nimmt Bello in seiner
Alocución a la poesía die romantischen Polemiken vorweg, in denen es um die
Schaffung jeweiliger Nationalliteraturen gehen wird, zugleich aber auch die
Vorstellungen von der Schaffung einer Literatur kontinentalen (beziehungs-
weise subkontinentalen) Zuschnitts, wie sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts
von manchen Modernisten entwickelt und diskutiert werden wird.26 So stoßen
wir in Bellos Gedicht auf eine Reihe von Projekten, welche in nuce das Jahrhun-
dert der Romantik in Amerika vorwegnehmen werden. Nicht umsonst sollte
26 Vgl. hierzu die Ausführungen in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021),
S. 251–492, S. 627–792 u. S. 1010–1075.
92 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
rival Filosofía,
que la virtud a cálculo somete,
de los mortales te ha usurpado el culto;
donde la coronada hidra amenaza
traer de nuevo al pensamiento esclavo
la antigua noche de barbarie y crimen;
donde la libertad vano delirio,
fe la servilidad, grandeza el fasto,
la corrupción cultura se apellida.
[...]
y sobre el vasto Atlántico tendiendo
las vagarosas alas, a otro cielo,
a otro mundo, a otras gentes te encamina,
do viste aún su primitivo traje
la tierra, al hombre sometida apenas;
y las riquezas de los climas todos
América, del Sol joven esposa
del antiguo Océano hija postrera,
en su seno feraz cría y esmera.27
In Andrés Bellos Langgedicht wird die Dichtkunst der griechischen Antike als der
Natur näherstehend gegen die spanische Tyrannei nicht allein politisch, sondern
vor allem kulturell ausgespielt. Dies insoweit, als dass sich die hispanoamerikani-
schen Regionen viel leichter an diese naturräumliche Welt der Antike als an jene
andere Welt anschließen könnten, in der nicht mehr die Direktheit, Natürlichkeit,
Heiligkeit und Naivität der Antike und mit ihr die Dichtkunst herrscht, sondern die
alles kalkulierende Philosophie. Die unverblümte Frontstellung der vieldeutigen
Dichtkunst gegen die der Rationalität und der Berechnung unterworfene Philoso-
phie ist offenkundig.
Neoklassizistische Topoi sind auch in diesen Versen leicht auszumachen,
so etwa auch die falschen, nur scheinbar zutreffenden Bezeichnungen für in
Wirklichkeit ganz andere Phänomene. So wird etwa kritisch angemerkt, dass
man Bestechung und Korruption als ‚Kultur‘ bezeichne. Es handelt sich um
nicht selten gemeinplatzartige Formulierungen, die sich nicht anders etwa in
José Joaquín Fernández de Lizardis El Periquillo Sarniento finden, dem wir uns
in einer früheren Vorlesung bereits aufmerksam zuwandten.28
Die in das Versepos eingestreuten Verweise auf Alexander von Humboldt,
den der junge Bello einst begleitete, konkretisieren sich in der Folge und wer-
den deutlich in der Anrufung jener vier Sterne, die das Kreuz des Südens bil-
den. Alexander von Humboldt hatte dieses Kreuz einst angerufen und sich
dabei auf Dantes Formulierung „Vidi quattro stelle“ bezogen – ein intertextuel-
les Verweisspiel, dessen sich Andrés Bello gewiss sehr bewusst war. Denn seine
eigenen Verse standen in unmittelbarem Zusammenhang mit Dantes Welt-
Gedicht der göttlichen Commedia.
All dies führt uns eindrucksvoll vor Augen: Die Alocución a la poesía ist zu-
gleich – wie es die soeben angeführten Verse suggerieren – eine Anrufung des
Lehrcharakters der Dichtkunst, welche sich hier der Herrschaft anderer Diskursfor-
men und -normen wie etwa der Philosophie entledigt und selbst den Anspruch er-
hebt, in die alte, in der Antike gesicherte heilige Führungsrolle wiedereingesetzt
zu werden. Es handelt sich um die Anrufung einer poetischen Diskursform, welche
nicht die jener anderen Alterität ist, die die Romantiker in der Irrationalität erblick-
ten, welche sie der neoklassizistischen Rationalität entgegenstellten. Bei Andrés
Bello geht es vielmehr um Dichtkunst als Memoria, um die Anrufung der Lyrik als
Mnemosyne, als Archiv und kulturelle Bibliothek, nicht als Behältnis des rational
nicht Fassbaren. Es ist eine Abgrenzung von all dem, was die Romantiker verehr-
ten – von Vagheit, Traum und Melancholie.
In der Alocución a la poesía geht es im Licht der Sonne, im Lichte der Ver-
nunft vielmehr rechtschaffen darum, in Anknüpfung an die abendländische
Antike und möglicherweise auch ihre freilich für Bello nicht gleichwertigen
amerikanischen Äquivalente einen rationalen Traum weiterzuführen, an den
im Grunde bereits die Renaissance und der Humanismus angeknüpft hatten.
Die neoklassizistische Position von Bellos Alocución ist unverkennbar – und
doch öffnet sie sich auf den gesamten amerikanischen Kontinent.
Daher ist die nur wenige Strophen später erfolgende Anrufung der Memoria
nur folgerichtig. Des Dichters Muse und Erinnerung ruft nichts von der indiani-
schen Gegenwart, sondern ihre zum Mythos geronnene Vergangenheit an. Dies
stimmt mit der Tatsache überein, dass sich die „Libertadores“ Amerikas nicht
auf die indigene Bevölkerung beriefen, wohl aber auf deren große Herrscherfi-
guren, in deren Fußstapfen sie zu treten vorgaben. Auch hierfür möchte ich
Ihnen gerne ein Beispiel geben:
Ein komplexes Bild Amerikas entsteht, welches das Weiterleben der alten Herr-
scher und Mythen in den Taten der entstehenden Nationen besingt. Lang schon
ist Montezuma von den spanischen Konquistadoren ermordet. Doch reiht er
sich im Kontext der emergierenden mexikanischen Nation ein in das, was nicht
mehr ist und doch nicht aufhören kann zu sein. Iturbide steht hier als histori-
sche Figur für die alten kolonialen Abhängigkeiten, gegen welche die noch viel
älteren indigenen Herrscher ins Feld geführt werden, um die „bizarre“ mexika-
nische Nation herauszubilden. Das Alte lebt weiter in der Geschichte der Heuti-
gen, die Träger der Unabhängigkeit führen die alten Namen im Munde, die
kreolischen Eliten bemächtigen sich der indigenen Gestalten, aber lassen zu-
gleich die indigene Bevölkerung im Elend verhungern. Leben und Weiterleben
der amerikanischen Antike gehen einher mit dem Sterben der indigenen Völker,
von denen das Gedicht freilich keine Notiz nimmt. Wir begreifen: Das Leben von
Nationen und die Ansprüche bestimmter Trägerschichten und Eliten ist aus vie-
len Leben gemacht. Es sind gerade diese weißen, kreolischen Trägerschichten
der Independencia, die sich des Fort- und Weiterlebens indigener Herrscherge-
stalten bemächtigen, um sich als Führungsschicht zu legitimieren.
Sie bemerken unschwer die fundamentale politische Ambivalenz eines derar-
tigen Programms der Unabhängigkeit. Denn der Rückgriff auf indigene Kämpfer
gegen die spanische Eroberung rechtfertigt den aktuellen Kampf gegen die kolo-
niale Vorherrschaft Spaniens, freilich ohne auch nur im geringsten indigene
Rechte und Werte zu beachten. Es ließe sich sagen, dass die indigenen Namen
der Herrscher weiterleben, dass aber die gesellschaftlichen und kulturellen Sys-
teme, für die sie einstanden, dem Sterben und dem Tod ausgeliefert werden. Das
Neue soll geboren werden und in die Welt kommen; dazu benötigt es ein Weiter-
leben des Alten, der amerikanischen Antike – jedoch nur auf einer ebenso rheto-
rischen wie symbolischen Ebene.
Bei diesem Langgedicht des Venezolaners Andrés Bello handelt es sich um
eine neoklassizistische Anrufung der Muse Memoria und doch zugleich um den
Entwurf einer Beschäftigung mit neuen, mit amerikanischen Themen, mit neuen,
da amerikanischen Orten, mit amerikanischen Legenden und Mythen, mit ameri-
kanischen Figuren und Helden. Dies ist das politisch-literarische Programm, das
noch in Gertrudis Gómez de Avellanedas Guatimozín und in Manuel de Jesús Gal-
váns Enriquillo mitschwingt und Teil eines lateinamerikanischen Identitätsent-
wurfes wird.30 Der Neoklassizismus unter amerikanischen Vorzeichen wird zur
Antriebsfeder einer Kunst, die sich als amerikanisch versteht und ihre Themen
mit einem gewissen ‚Indianismo‘ in ihrer eigenen Sprache amerikanisch behan-
deln will. Die Romantik wird das Programm Andrés Bellos umsetzen und ver-
wirklichen – wenn auch in anderer, seine sprachlichen, literarischen, lyrischen
Mittel überschreitender Weise.
Wir sollten durchaus hervorheben, dass dieses Programm des venezolani-
schen Gelehrten und Dichters zumindest in Einklang mit den, sicherlich aber
auch in Anlehnung an die altamerikanistischen Schriften Alexander von Hum-
boldts steht. Der preußische Kulturforscher und Mitbegründer der Disziplin der
Altamerikanistik hatte etwa in seinen Vues des Cordillères et monumens des peu-
ples indigènes de l’Amérique darauf hingewiesen, dass die griechischen Kolonien
einst vermittels ihre Mythen mit dem Mutterland verbunden waren, zugleich aber
eigene Mythen und Legenden entfalteten, welche ihre eigene Identitätsbestim-
mung sicherstellten. Humboldt hatte dabei auf die staatstragende Funktion derar-
tiger Mythen und Legenden hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht, welch
enorme Bedeutung diese Vorstellungen auch auf dem amerikanischen Kontinent
bereits besaßen beziehungsweise besitzen könnten. Genau dieses fordert nun And-
rés Bello für die in Entstehung befindlichen Nationen des amerikanischen Konti-
nents ein. Es ist nicht die Forderung einer literarischen Unabhängigkeit,
sondern vielmehr die einer kulturellen und literarischen Eigenständigkeit,
30 Vgl. hierzu die entsprechenden Kapitel zu Gertrudis Gómez de Avellaneda sowie zu Manuel
de Jesús Galván in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 425 ff. u. S. 733 ff.
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 97
[...]
Tierra mía sin nombre, sin América,
estambre equinoccial, lanza de púrpura,
tu aroma me trepó por las raíces
hasta la copa que bebía, hasta la más delgada
palabra aún no nacida de mi boca.
Diese kurzen Ausschnitte aus dem Canto General setzen sozusagen die naturge-
schichtlich-poetische Genesis der Neuen Welt, die Zeit der Befreiungskämpfe und
der „Libertadores“ sowie den Protagonisten des Geschehens, das Volk, in Szene.
Sie mögen Ihnen beweisen – wenn es denn eines Beweises bedurfte –, dass die
Vorstellung von einer Amerikanisierung der Dichtkunst und ihrer Beziehung auf
den amerikanischen Subkontinent nicht Gesang aus längst vergangener Zeit ist,
sondern auch für das 20. Jahrhundert noch Aufgabe und Herausforderung darstellt
oder zumindest darstellen kann. Wir können ohne den großen (geplanten) Zyklus
von Andrés Bello den großen Zyklus Nerudas nicht in seinem Entwurf und nicht in
seiner dichterischen Ausführung verstehen. Neruda griff reichlich auf die amerika-
nische Mythologie zurück, entfaltete die weiten Flächen der Erde des Subkonti-
nents, aber stellte – anders als Bello – das Volk und nicht mehr die Vertreter einer
gesellschaftlichen Elite ins Zentrum seines lyrischen Weltentwurfs von Amerika.
Zu dem von Bello geplanten lyrischen Zyklus gehörte auch La agricultura
de la Zona Tórrida, das autobiographisch durch einen Gang Bellos entlang der
dunklen Londoner Hafendocks ausgelöst worden sein soll. Er bemerkte dabei
das Verladen tropischer Früchte und dachte dabei an die Tropen seines Konti-
nents: Dieses Verladen soll sein der Landwirtschaft in der trockenheißen Zone
gewidmete Opus ausgelöst haben. Um welche Früchte es sich im Londoner
Hafen wohl gehandelt haben mag?
Die Grundstruktur dieses Gedichts ist harmonisch in sechs voneinander klar
geschiedene Teile getrennt, die freilich aufeinander bezogen werden. Hören wir
auch hier die erste Strophe, die gefolgt wird von der Aufzählung all jener landwirt-
schaftlichen Produkte, all jener Früchte, die ein schon von Kolumbus besungener
so paradiesischer Boden wie derjenige Amerikas hervorbringt! Erneut erscheint
Amerika als Reich der Sonne; eine Zuschreibung, die trotz der unterschiedlichsten
Klimazonen auf diesem Subkontinent bis heute intakt geblieben ist:
Die Grundstruktur dieses den Anbau in den Tropen umfassenden Gedichts ist
wie erwähnt harmonisch in sechs Teile getrennt, welche freilich eng aufeinan-
der bezogen sind und ein Ganzes bilden. Die erste Strophe wird gefolgt von der
Aufzählung all jener landwirtschaftlichen Produkte, all jener Früchte, die die-
ses Eden in Amerika hervorbringe. Aus dem Blickwinkel seines Lebens im reg-
nerischen London erscheinen dem in Caracas Geborenen die amerikanischen
Tropen als Paradies, in welchem alles gedeiht und alles im Zeichen der Fülle
und des Überflusses steht. Wir wissen heute, dass die Landwirtschaft in den
Tropen keineswegs nur im Zeichen der Fülle, sondern auch der Falle steht, er-
schöpfen sich tropische Böden doch schnell und bedürfen ökologisch größter
Nachhaltigkeit bei der Bewirtschaftung. Die Fruchtbarkeit der Tropen trügt!
Andrés Bello wusste davon aber ebenso wenig wie die allermeisten seiner
Zeitgenossen: Erst mit Alexander von Humboldt gelangte langsam eine Sicht-
weise in die tropische Landwirtschaft, die nach den ökologischen Schäden
und Kosten eines massiven Anbaus fragte – wie etwa innerhalb der Struktu-
ren einer Plantagenökonomie. Für den Venezolaner Andrés Bello waren die
Tropen ganz einfach noch das Reich der Sonne und einer ewigen, höchst pro-
duktiven Tätigkeit der Natur. Eine Welt im Zeichen der Sonne, vielleicht noch
32 Bello, Andrés: La agricultura de la Zona Tórrida. In Ramos, José / Grases, Pedro (Hg.): And-
rés Bello: Antología esencial. Caracas: Biblioteca Ayacucho 1993, S. 25.
102 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
mit einer Palme begrünt: Bis heute ist dies ein Urbild (und Klischee) von ‚La-
teinamerikanizität‘ geblieben.
In jedem Falle ist diese Welt Amerikas eine Welt voller Leben: Ganz seinem
kontinentalen Entwurf und dem Bild als Reich der Natur gemäß, präsentiert sich
uns die Neue Welt im Sinne des Dichters als reicher Garten, in dessen Grün unend-
liche Herden weiden. Lob der Landgebiete und Verachtung der Städte, Beschrei-
bung der landwirtschaftlichen Arbeiten, Lob des Friedens nach den verlustreichen
Unabhängigkeitskriegen und schließlich ein Aufruf an die jungen freien lateiname-
rikanischen Nationen, ihre Energien der Landwirtschaft zuzuwenden, bilden die
grundlegenden Bestandteile dieses Gedichts. In ihm gemahnen nicht nur die neo-
klassizistische Formensprache, sondern auch die physiokratischen Überzeugun-
gen ihres Autors noch an das ausgehende 18. Jahrhundert.
Innerhalb der gesamten Gedichtkonzeption erkennen wir mühelos das Thema
der „Alabanza de la aldea“, des Lobpreises des Dorflebens Horaz’scher und Vergil’-
scher Prägung – im Anschluss an die lateinische Dichtung neoklassizistisch wie-
deraufbereitet. Unverkennbar treten in dieser Herausstellung der Bedeutung der
Landwirtschaft für die künftige Entwicklung Hispanoamerikas die physiokrati-
schen Züge hervor, die gleichsam einen Teil des ideologischen Unterbaus dieses
Zyklus ausmachen. Die Beschreibung der Landschaft ist statisch, ‚literarisch‘, tex-
tuell, keineswegs dynamisch oder realistisch, ungeachtet aller Amerikanismen, die
der gelehrte Autor seinem Lehrgedicht – wohlgemerkt aus dem europäischen
Exil – mit auf den Weg gab. Nein, für die künftige Entfaltung der Literaturen La-
teinamerikas konnte dies kein zukunftsträchtiges literarisches Modell sein!
Bellos Zyklus blieb – anders als Nerudas – Fragment; eines freilich, das für
lange Zeit als gleichsam romantisches Fragment verstanden wurde. Was Alex-
ander von Humboldt in seinem ebenfalls Fragment gebliebenen, insgesamt
dreißig voluminöse Bände umfassenden amerikanischen Reisewerk mit Blick
auf Amerika schuf und später in seinem ebenfalls fragmentarischen, vieltau-
sendseitigen Kosmos noch ein letztes Mal auf alles zwischen Himmel und Erde
erweiterte, das wollte auch Andrés Bello in seinem lyrischen Werk erschaffen.
Er wollte das Leben einer ganzen Welt in Buchform repräsentieren.
Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht ausführlich auf die zweifellos
sehr wichtige und für die amerikanische Kultur folgenreiche chilenische Etappe
Bellos eingehen, die sich von 1829 bis zu seinem Tod im Jahr 1865 erstreckt.
Dies ist ein Zeitraum, den wir in ein Verhältnis zu den großen Werken romanti-
scher Schriftsteller in den Amerikas setzen müssen.33 Denn als Bello stirbt, ist
33 Vgl. dazu nochmals ausführlich den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Roman-
tik zwischen zwei Welten (2021).
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 103
der große romantische Dichter José María Heredia schon dreißig Jahre tot, sind
zwei Jahrzehnte seit Domingo Faustino Sarmientos Erstveröffentlichung des Fa-
cundo in eben dieser Stadt Santiago de Chile verstrichen und immerhin ein
Jahrzehnt seit der Veröffentlichung von José Mármols Roman Amalia vergan-
gen. Andrés Bello war das lebendige Relikt einer anderen Zeit.
Und doch hat sich Bello niemals dem romantischen Geist ergeben, hat
von seiner von ihm selbst errichteten universitären Zitadelle aus die aufkläre-
risch-neoklassizistischen Positionen bisweilen gleichgültig, bisweilen stur
behauptet. Nicht selten spottete er von dieser überalterten, aber unangreifba-
ren Warte aus über die Romantiker, deren Stern in Europa während der vier-
ziger Jahre schon zu sinken begann. Dieser klassische Universalgelehrte des
18. Jahrhunderts hatte dabei durchaus Humor, wenn er von den Dichtern der
Romantik in den Amerikas, aber auch in Europa sprach. Schauen wir uns
zum Abschluss unserer Beschäftigung mit Andrés Bello noch sein Gedicht La
Moda aus dem Jahre 1846 an:
Auch hier haben wir es mit einer Anrufung der Dichtkunst zu tun, auch hier
wird die Muse herbeigerufen – freilich nicht in der Umfänglichkeit eines ganzen
Kontinents, aber immerhin in derjenigen eines ganzen Albums der Schönen
und vom Dichter Angebeteten. Sicher hat der Dichter hier die modischen Ro-
mantiker im Blick – und dennoch: Eine gewisse Selbstironie ist unverkennbar,
kehren doch gewisse Lexeme aus dem Anfangsteil der Alocución a la poesía
überdeutlich wieder!
Wie gesagt: Der Mann hat Humor, und sogar beißenden Spott, den er hier
über die begnadeten, inspirierten Dichter der Romantik und ihre Liebesge-
dichte ausgießt. Doch was ist das alles, wenn wir Andrés Bello folgen? Der Titel
gibt uns die Antwort: Es ist die Mode, die Mode der Romantik, zumindest aus
der Sicht des neoklassizistischen Dichters und Universitätsgründers. Der lor-
beergeschmückte Poet vertritt die Position jenes Literaten, der sich im Besitz
der ewigen Werte wähnt und verächtlich herabblickt auf jene, die den ständig
verfliegenden Gedanken eines kurzen Tages nachhängen. Gewiss ist auch ein
Stückchen Selbstironie dabei. Doch Andrés Bellos Lebensweg, sein literari-
sches, intellektuelles, politisches, wissenschaftliches, linguistisches Schaffen
ist nicht auf kurzfristige Effekte und Moden, sondern auf Langzeit berechnet,
auf die „longue durée“. Dies kommt auch in diesem Spottgedicht über Die
Mode, wenn wir es so nennen wollen, deutlich zum Ausdruck. Auch dies gehört
zum Leben, zum literarischen Leben dazu!
34 Bello, Andrés: La Moda, In (ders.): Obras completas. Edición bajo la dirección del Consejo de
instrucción pública en cumplimiento de la lei de 5 de setiembre de 1872. Bd. 3: Poesías. Santiago
de Chile: Impreso por Pedro G. Ramírez 1883, S. 197.
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 105
Lassen Sie mich daher am Ende dieses Kapitels noch einmal kurz zu Pablo
Neruda zurückkehren! Die Entwicklung seines Gesamtwerks zeigt in deutlicher
Weise, dass für den chilenischen Dichter Literatur in zunehmendem Maße zur
Waffe im politischen Kampf geworden war. Dieser Bewusstwerdungsprozess
Nerudas war an seine politisch-ideologische Arbeit und an sein Engagement,
seinen „compromiso“ mit der Kommunistischen Partei Chiles gebunden. Dar-
aus leitete sich auch sein Anspruch ab, über die Zyklen von Geburt, Leben,
Sterben und Tod in einer umfassenden Weise zu schreiben und zugleich diesen
Kreisläufen einen eigenen Zyklus von Gedichten zur Seite zu stellen, welcher
die Totalität alles Lebendigen in Amerika porträtieren sollte.
Hinzu kommt etwas für die lateinamerikanische Welt Spezifisches: Denn
die Macht über das Wort und die Macht des Wortes sind in Lateinamerika in
weitaus höherem Maße mit einer politischen Dimension verbunden und mit
einem besonderen Gewicht des Intellektuellen in der lateinamerikanischen Ge-
sellschaft verknüpft. Das Verständnis als Intellektueller ist dabei im Fall von
Pablo Neruda – wie bei vielen lateinamerikanischen Intellektuellen jener Zeit –
zugleich mit einem politischen „compromiso“ verbunden. Es geht mithin weit-
aus weniger um ein Engagement für allgemeine, universal gehaltene humanis-
tische Werte wie Freiheit, Menschenrechte, Menschenwürde, als vielmehr um
oftmals politische Ziele, die sich mit parteipolitischen Interessen decken kön-
nen. Gerade die Polarisierung des literarischen Feldes während der sechziger
Jahre in Lateinamerika verstärkte unter dem Eindruck der Ereignisse auf Kuba
diese damalige historische Entwicklung enorm, so dass universale – oder für
solche gehaltene – Werte eher in den Hintergrund rückten. Aus diesem Zusam-
menhang heraus lässt sich das politische Engagement des chilenischen Dich-
ters verstehen, wenn auch nicht immer rechtfertigen.
Diese Überlegungen zum ‚ideologisierten‘ Verhalten Nerudas und zu den
Interferenzen zwischen literarischem und politischem Feld bedeuten aber
nun keineswegs, dass Neruda damit zum Parteifunktionär geworden wäre
oder dass wir ein Recht besäßen, seine Lyrik insgesamt und pauschal als
parteipolitisch inspirierte Dichtung zu verstehen oder besser abzuqualifizie-
ren. Die Macht über das Wort verlieh dem Intellektuellen in Lateinamerika –
zumindest zum damaligen Zeitpunkt – eine innerhalb der Gesellschaft insge-
samt sehr stark wahrgenommene Position im Sinne eines moralischen Ge-
wissens der Nation.
Ohne Zweifel war Pablo Neruda dabei ein „intellectuel de gauche“. Er kam
seiner Rolle als Gewissen der Nation in einer Vielzahl konkreter politischer Fra-
gen und Aktionen nach – und zwar jenseits seiner politischen Ämter und Funk-
tionen. Neruda verstand sich als Sprachrohr sowohl der Politik („la politique“)
als auch des Politischen („le politique“). Auch im Spanischen gibt es die schöne
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 107
Unterscheidung zwischen „la política“ und „lo político“. Und Neruda verstand
sein politisches Leben keineswegs nur als Bestandteil einer Politik und einer
parteipolitischen Linie.
Der Schöpfer des Canto General versuchte zunehmend in seinem literarischen
Schaffen wie in seiner Dichtung, die ganze soziale, ethnische, ethische und kultu-
relle Breite im Leben seines Volkes zu repräsentieren. So könnten wir formulieren,
dass gerade in seinem Canto General die verschiedensten Kulturen zu Wort kom-
men, oder genauer: dass Neruda den verschiedensten Kulturen Amerikas literari-
schen Ausdruck verleiht, ja für sie spricht. Pablo Neruda bemühte sich nachhaltig,
die verschiedensten kulturellen Pole seiner chilenischen Heimat wie auch der ge-
samten lateinamerikanischen Welt zu repräsentieren. Sein Juan ist ebenso indige-
ner Bauer wie schwarzer Fischer oder weißer Zimmermann. Kritisch könnte man
nur anfügen, dass der Dichter in diesem Zusammenhang allein die Männer
repräsentierte.
‚Hans‘ ist in gewissem Sinne aber auch ein homogenes, eindimensionales
Abziehbild. Denn er ist Arbeiter und Bauer – damit Teil des Volkes in einem im
Kontext der fünfziger Jahre durchaus ideologischen Sinne. Der Begriff ‚pueblo‘,
dies hatten wir in La tierra se llama Juan gesehen, ist ideologisch und parteipo-
litisch gedacht und steht in Opposition zum Bürgertum, zur Bourgeoisie, wie
auch zu den herrschenden Klassen insgesamt. Eine Problematik ergibt sich fer-
ner aus der Inanspruchnahme einer vermeintlich übergeordneten Position, von
der herab der erwählte Dichter für alle anderen Kulturen und Klassen sprechen
kann: aus dem Bewusstsein des Intellektuellen, für all jene das Wort ergreifen
zu können, die nicht über das Wort – das öffentliche und das veröffentlichte
Wort – frei verfügen.
Natürlich wissen wir heute – und wir wissen es nicht erst seit dem „Indige-
nismo“ –, dass diese Position eine Fiktion war und ist. Doch es war eine wirk-
same, gerade in Chile selbst überaus wirkungsvolle Fiktion, welche Nerudas
Selbstbild als dichterisches Gewissen der chilenischen Nation, gleichsam als
‚Nationaldichter‘ wie Nicolás Guillén in Kuba, fundierte und ihn in eben dieser
Rolle zu einer Institution innerhalb des intellektuellen und literarischen Feldes
Chiles werden ließ.
Dieses Bild entsprach überaus genau der in der Nachkriegszeit in Europa
verbreiteten Vorstellung vom engagierten Intellektuellen, wie ihn Sartre zwar
nicht erfunden, aber propagiert und zugleich auch mitgeformt und repräsen-
tiert hatte. Insoweit Neruda diesem Bild des „écrivain engagé“ entsprach, wurde
auch sein literarisches Schaffen in diesem Kontext von Europa aus nicht nur ver-
stehbar, sondern entsprach gleichsam den eigenen Projektionen breiter Leser-
kreise auf den lateinamerikanischen Subkontinent. In dieser zeithistorischen
Konstellation ist wohl einer der Hauptgründe dafür zu sehen, dass Pablo Neruda
108 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
auch international zu eben jener großen Figur werden konnte, als die er sich als
Intellektueller Chiles und als Nationaldichter, ja als Dichter Amerikas auch selbst
verstand.
Genau diese Rolle freilich ist es, die für die aktuellen Leserinnen und Leser
problematisch geworden ist. Denn spätestens ein Jahrzehnt nach Nerudas Tod
traten in den USA und in Europa zeitgeschichtliche Veränderungen insbesondere
im kulturellen Bereich auf, welche die Bilder von engagierten Schriftstellern als
längst historisch erscheinen ließen und eine damit verbundene Literatur für ob-
solet erklärten. Die Lyrik Pablo Nerudas fand auf diese Weise immer weniger Für-
sprecher. Und selbst der Erhalt des Nobelpreises für Literatur konnte seine Lyrik
nicht davor bewahren, zwar nicht vergessen, aber deutlich in den Hintergrund
gerückt zu werden.
Wir sollten diese Aspekte seines Schaffens und seiner Rezeption zwar aus
heutiger Sicht problematisieren, Pablo Nerudas literarisches Werk aber nicht
aus dieser Sicht allein beurteilen und schon gar nicht verurteilen! Wir sollten
vielmehr seine Lyrik in ihrer Gesamtheit in ihrem zeitgeschichtlichen kulturel-
len Kontext begreifen und präziser verstehen, warum sie zu einem bestimmten
Zeitpunkt Millionen von Leserinnen und Lesern faszinierte. Pablo Neruda ist
mit seinem poetischen Schaffen zweifellos historisch geworden; und als histori-
sche Figur, als historisch gewordenen Dichter sollten wir ihn und sein Schaffen
wieder neu perspektivieren.
Zu diesem neu zu bestimmenden Blickwinkel auf Neruda und seine Schöp-
fungen zählen viele unterschiedliche Aspekte; so ist seine uns heute vielleicht
seltsam pathetisch erscheinende Vortragsweise nicht zu verstehen, wenn wir
sie nicht mit der von ihm lange Zeit erfolgreich beanspruchten Rolle als Stimme
Chiles und Amerikas in Verbindung bringen. Wir sollten auf Neruda anwenden,
was wir immer als gute Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissen-
schaftler tun: die zeitgeschichtlichen Kontexte rekonstruieren, deren Implika-
tionen erläutern und damit auch die Texte wieder einem neuen Verständnis
aus einer veränderten Perspektive zuführen.
Denn die Texte dieses Autors sind weit davon entfernt, statisch zu sein; sie
bewegen sich, sie entwickeln ihr Eigen-Leben im Zusammenspiel zwischen den
poetischen Artefakten in ihrem historischen Zusammenhang und den heutigen
Fragehorizonten, mit denen wir an Nerudas Gedichte herantreten. So verändern
sich die Lesarten auf eine lebendige Weise und machen anschaulich, dass nicht
nur die in den poetischen Schöpfungen des Chilenen entfalteten Gegenstände
mit den Zyklen von Geburt, Leben, Sterben und Tod zu tun haben, sondern
dass seine Gedichte selbst nicht weniger in diese Zyklen eingebunden sind. Phi-
lologinnen und Philologen sind gewiss keine Geburtshelfer; aber sie können
doch entscheidend dazu beitragen, einem sterbenden literarischen Werk durch
Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt 109
neue Blicke auf eine anders rekonstruierte Vergangenheit wieder neues Leben
einzuhauchen. Diese ‚Wiedergeburt‘ hängst weitgehend davon ab, wie wir
heute, aus unserer aktuellen Perspektive, mit Hilfe der von uns behandelten
Texte eine neue Beziehung zur Vergangenheit herstellen.
So können wir auch Pablo Nerudas Selbst-Aufsprachen neu verstehen: Die
hymnische Vortragsweise, der gehobene, von der Alltagssprache abgehobene
Ton, die in der Stimme selbst zum Ausdruck kommende Dimension eines Lei-
dens, das nicht nur individuelle, sondern vor allem kollektive Züge trägt, stel-
len Charakteristika und Fixpunkte eines dichterischen Selbstverständnisses
dar, das sich selbst als Stimme eines Volkes, eines Kontinents, ja des Kreatürli-
chen und in der Welt Lebenden begreift. Der Dichter war zum Zeitpunkt der
Aufsprache mit seiner historischen Stimme, die wie aus einer anderen Zeit zu
uns spricht, zum Sprachrohr einer heterogenen Welt geworden, die in ihm
ihren Ausdruck und ihre Einheit fand. Wir müssen immer wieder erst lernen,
die Historizität der Stimme neu zu lesen. Denn wenn wir etwa historische Filme
sehen, so werden die Moden und Kostüme, die Frisuren und Perücken, die Häu-
ser, die Möbel oder die Transportmittel stets den historischen Verhältnissen
präzise angepasst, nicht aber die Stimmen, die zu uns sprechen. Wir bemerken
diese Stimmen gar nicht, die wir hören. Denn wir hören die Stimmen aktueller
Schauspielerinnen und Schauspieler, hören Töne und Klänge von Stimmen, die
uns bestens vertraut sind, weil wir gleichsam transparent durch sie hindurch-
hören. Niemals aber werden wir mit den historischen Stimmen konfrontiert
werden – den Stimmen aus einer Zeit, die nicht mehr ist und doch nicht aufhö-
ren kann zu sein.
Bei Pablo Neruda können wir nur vor dem soeben umschriebenen zeitge-
schichtlichen Hintergrund den geradezu sakralen Ton seiner Stimme verste-
hen: Wir wohnen einer Weihe und Sakralisierung des Dichterwortes bei, in
welchem der Kontinent seine Identität zu finden sucht und doch nur immer
Konstruktionen möglicher Identitätsentwürfe zurückgespiegelt erhält. Diese
Bewegung müssen wir erfassen, denn sie zeigt uns viel vom Leben der Lite-
raturen der Welt. Nerudas Stimme fällt mit ihrem sofort wiedererkennbaren
Ton in eine Epoche, in welcher in der Tat die unterschiedlichsten Identitäts-
konstruktionen und -zuschreibungen den Subkontinent und dessen Völker
in der Mitte des 20. Jahrhunderts umtrieben.
Wollen wir folglich Leben und Sterben in den romanischen Literaturen der
Welt untersuchen und mehr noch adäquat verstehen, so müssen wir diese Lite-
raturen nicht allein auf der Gegenstandsebene analysieren, sondern uns zu-
gleich jener beweglichen Beziehung widmen, welche die Leserinnen und Leser
einer gegebenen Zeit mit bestimmten Texten, ihren unmittelbaren Kotexten
und vor allem den zeitgeschichtlichen Kontexten verbindet. Denn den Literatu-
110 Pablo Neruda, Andrés Bello oder die lebendigen Schöpfungen der Welt
ren der Welt ist das Leben und das Sterben keineswegs nur auf der Inhalts-
ebene, sondern auch auf der Ausdrucksebene und in der mobilen Relation zwi-
schen einem Text und dessen kreativen Anverwandlungen eingeschrieben. Vor
dem Hintergrund dieser Erkenntnisse sollten wir an dieser Stelle unserer Vorle-
sung unsere Suche nach dem Leben und nach dem Sterben, nach dem Tod und
nach der Geburt weiterführen!
Vom Begriff des menschlichen Lebens
Wenn wir uns die zeitgenössische, die aktuelle Behandlung des Lebensbegriffes
im deutschsprachigen Raum, aber auch im Westen insgesamt vor Augen hal-
ten, dann wäre eine Preisgabe des Lebensbegriffs in den Philologien wie in den
Kulturwissenschaften insgesamt für diese Disziplinen selbstmörderisch. Oder
zumindest lebensgefährlich, und zwar in einem doppelten Sinne. Gerade die
explosionsartige Verbreitung des Begriffs ‚Leben‘ in der Öffentlichkeit sollte
uns auf das enorm angestiegene Interesse breiter Bevölkerungsschichten an
Formen wissenschaftlicher Beschäftigung mit Phänomenen des Lebens auf-
merksam machen, zugleich aber auch die Ohren dafür öffnen, welche Chancen
für die künftige Erschließung neuer Wissensräume in einer lebenswissenschaft-
lichen Ausrichtung von Geistes- und Kulturwissenschaften liegen. Diese Chan-
cen gilt es – wo auch immer Sie später als Philologinnen und Philologen
unterkommen: in der Schule, in Kulturinstitutionen, im Wissenschaftsmanage-
ment oder im diplomatischen Dienst – bewusst und für Ihre Aufgabengebiete
förderlich zu nutzen.
Eines sollten Sie sich stets vor Augen halten: Was das Leben ist, bestimmt
nicht eine einzige Blickrichtung, auch nicht eine medizinisch-technologische!
Denn Leben ist auch im wissenschaftlichen Sinne nicht die Beute einer einzigen
Fächergruppe, folgt nicht der Logik eines einzigen Codes. Sind nicht die Natur-
wissenschaften selbst eindrucksvoll in ihrer (über die Metaphorik hinausgehen-
den) vielfältigen Verflechtung mit „moralischen Ökonomien“, mit „kognitiven
Leidenschaften“ beleuchtet worden? So formulierte vor einigen Jahren die
Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston bündig:
Wissenschaft steht in unserer Kultur für Rationalität und Faktizität, und daher klingt es fast
wie ein Paradox, wenn man die These aufstellt, dass die Wissenschaft wesentlich von ganz
spezifischen Konstellationen von Emotionen und Werten abhängt. Emotionen mögen durch
Steigerung der Motivation die wissenschaftliche Arbeit befeuern, Werte können in Form von
Ideologien in wissenschaftliche Ergebnisse eindringen oder als institutionalisierte Normen
die Wissenschaft stützen, aber ins Innerste der Wissenschaft dringen weder Werte noch Emo-
tionen ein – so lauten die gewohnten Gegensätze und die von ihnen diktierten Abgrenzun-
gen. Das Ideal der wissenschaftlichen Objektivität, wie es gegenwärtig vertreten wird, beruht
auf der Existenz und Undurchlässigkeit dieser Grenzziehungen.1
1 Daston, Lorraine: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt
a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2001, S. 157.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-004
112 Vom Begriff des menschlichen Lebens
an einer Vielzahl von Beispielen vorführte – mehr als fraglich. Die besagten Gren-
zen sind dabei nicht durchlässig oder durchlässiger geworden, sie waren es schon
immer. Es mag tröstlich sein, dass die Lebenswissenschaften sicherlich mehr am
Leben partizipieren, als ihnen bewusst oder auch lieb ist. Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler lassen ihre Emotionen, lassen ihr jeweiliges Leben nicht ein-
fach im privaten Haushalt zurück oder geben es beim Zutritt in ihr Labor am Ein-
gang ab. Diese schlichte Erkenntnis entbindet aber nicht von der im Übrigen
ethisch grundlegenden Verpflichtung, Leben und Lebenswissen vor einem (bio-)
wissenschaftlichen Alleinvertretungsanspruch zu schützen, selbst wenn dieser
sich vorerst ‚nur‘ auf der Ebene neuer Begrifflichkeiten – und damit Gegenstands-
konstruktionen – niederschlägt. Sollte man den Begriff der Lebenswissenschaften
nicht besser ablehnen oder allein den Biowissenschaften überlassen?
Diese etwas simplistische Alternative böte keine Lösung. Denn der Rück-
griff von Seiten jener Wissenschaften, die als Kultur- und Geisteswissenschaf-
ten bezeichnet werden, auf den Term „Lebenswissenschaft“ zwingt keineswegs
dazu, sich in eine Traditionslinie zu begeben, die am nachhaltigsten wohl im
19. und beginnenden 20. Jahrhundert mit dem Begriff der Lebensphilosophie
ins öffentliche Bewusstsein trat. Es geht folglich im weiteren Verlauf unserer
Vorlesung nicht um spezifisch lebensphilosophische Fragestellungen. Ebenso
wenig soll „Leben“ hier aus fach- oder fächergruppenspezifischer Sichtweise
bestimmt und gedeutet werden, wie dies in der „Lebensphilosophie“ mit ihrem
nicht selten holistischen Anspruch geschah. Ziel unserer Vorlesung ist es ja,
das Wissen der Literaturen der Welt als ein zutiefst vom Lebenswissen unter-
schiedlichster Zeiten und unterschiedlichster Räume, unterschiedlichster Kul-
turen und unterschiedlichster Sprachen geprägtes Wissen zu begreifen.
Denn die Literaturen der Welt – und ich verstehe den Begriff ‚Literatur‘ hier
in einem weiten Sinne2 – orientieren ihren Lebensbegriff weder vorrangig an
einer Scheidung von Organischem und Anorganischem, weder allein an leibli-
chen oder körperlichen, seelischen oder geistigen Dimensionen von Leben. Sie
verfügen über viele verschiedenartige Codes, über unterschiedlichste Denk- und
Schreibtraditionen, die in ihrer Vielgestaltigkeit, aber auch in ihrer Aussagekraft
mit den Ergebnissen aktueller biowissenschaftlicher Forschungen in Beziehung
gesetzt werden können. Selbst in den traditionellsten Geisteswissenschaften be-
ginnt die Überzeugung Raum zu greifen, dass der menschliche Körper nicht
mehr nur aus motivgeschichtlicher Sicht erforscht und ansonsten als ‚Natur‘ den
medizinisch-naturwissenschaftlichen Fakultäten überlassen werden kann. Die
2 Vgl. Ette, Ottmar: WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart: J.B. Metzler
Verlag 2017.
Vom Begriff des menschlichen Lebens 113
3 Bhabha, Homi K.: DissemiNation: time, narrative, and the margins of the modern nation. In
(ders., Hg.): Nation and Narration. London – New York: Routledge 1990, S. 314.
Vom Begriff des menschlichen Lebens 115
4 Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. München:
W. Fink Verlag 21981.
5 Vgl. Ette, Ottmar: Alexander von Humboldts Briefe aus Russland – Wissenschaft im Zeichen
ihres Erlebens. In: Humboldt, Alexander von: Briefe aus Russland 1829. Herausgegeben von
Eberhard Knobloch, Ingo Schwarz und Christian Suckow. Mit einem einleitenden Essay von
Ottmar Ette. Berlin: Akademie Verlag 2009, S. 13–36.
6 Vgl. Ette, Ottmar: ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im glo-
balen Maßstab (ÜberLebenswissen III). Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010.
7 Vgl. Ette, Ottmar: „Unheimlich nahe mir verwandt“: Hand-Schrift und Territorialität bei
Hannah Arendt. In: Potsdamer Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung (Potsdam) V,
1–2 (2001), S. 41–54.
8 Vgl. hierzu den Sammelband von Asholt, Wolfgang / Ette, Ottmar (Hg.): Literaturwissen-
schaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen: Gunter Narr
Verlag 2010.
116 Vom Begriff des menschlichen Lebens
gisch fundierte, präzisere Beschreibbarkeit jener Prozesse, die das Leben re-
geln – und wohl auch das Leben der Literaturen der Welt:
Deutlich zeichnet sich in diesen Überlegungen eine Entwicklung ab, die auf eine
sehr paradoxe Weise die Naturwissenschaften den Geistes- und Kulturwissen-
schaften annähert: die Problematik der Komplexität. In den Geistes- und Kultur-
wissenschaften sind wir daran gewöhnt, dass wir keine Voraussagen machen
können über bestimmte Entwicklungen auf den von uns bearbeiteten Gebieten.
Wir sind sozusagen mit fundamental-komplexen Systemen vertraut. So lässt
sich – und niemand würde es von Ihnen erwarten – etwa von den Geschichts-
wissenschaftlern die künftige Geschichte ebenso wenig voraussagen wie es
denn möglich wäre oder eingefordert würde, dass Literaturwissenschaftlerin-
nen den nächsten Roman von Umberto Eco oder Marie Redonnet im Voraus
bestimmen könnten oder wüssten, wer die nächsten Nobelpreise für Literatur
in Stockholm entgegennehmen darf. Es gibt Wahrscheinlichkeiten, aber kei-
nerlei Sicherheiten. Grund hierfür ist im Wesentlichen die Komplexität und
bisweilen geradezu Unüberschaubarkeit von Faktoren, die auf Entscheidungs-
prozesse einwirken. Und selbst die Rezeption eines bereits erschienenen Ge-
9 Cramer, Friedrich: Cramer, Friedrich: Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Leben-
digen. Frankfurt am Main – Leipzig: Insel Verlag 1996, S. 222–224.
118 Vom Begriff des menschlichen Lebens
dichtbands oder Romans lässt sich für die nachfolgenden Jahre, Jahrzehnte
oder Jahrhunderte nicht wirklich prognostizieren.
Derlei Voraussagen wurden und werden aber ganz gewohnheitsmäßig den
Naturwissenschaften abverlangt. Wir erleben zwar tagtäglich, mit welchen Risi-
ken Voraussagen nicht selten völlig banaler Dinge behaftet sind und fluchen,
wenn sich der Wetterbericht mal wieder gänzlich geirrt hat und wir im Regen
stehen, wo doch Sonne angekündigt war. Gerade die täglichen Wettervorhersa-
gen zeigen uns mit für uns alle nachvollziehbarer Deutlichkeit, dass wir zwar
die unterschiedlichsten Faktoren analysieren und in ihrer Entwicklung berech-
nen können, nicht aber die Entwicklung und das Zusammenspiel von funda-
mental-komplexen Systemfaktoren vorherzusagen wagen dürfen. Und dort,
wo wir es wie im Wetterbericht dennoch tun, Gefahr laufen, mit den Voraussa-
gen des Bauernkalenders verglichen zu werden – der so schlecht dabei nicht
abschneidet …
Doch noch immer funktioniert trotz alledem, was Friedrich Cramer den
„Mythos der Prognostizierbarkeit“ nennt und was wir den „Mythos der Pro-
gnostizierfähigkeit“ nennen könnten: Wir glauben daran, dass die Naturwissen-
schaften hierzu in der Lage sind. Die Veränderungen unseres Klimas werden von
hochspezialisierten Klimaforscherinnen und Klimaforschern vorausgesagt.
Neuere Forschungen wie auch die lange Verdriftung des Forschungsschiffes „Po-
larstern“ zeigen jedoch, dass die Prozesse noch schneller als bereits vorhergesagt
ablaufen. Und wer vermöchte, die politischen Reaktionen allein schon der Län-
der-‚Gemeinschaft‘ der Europäischen Union vorherzusagen? Wie werden sich
etwa die Emissionen innerhalb der EU entwickeln, wenn einige Länder die selbst-
gesetzten moderaten Normen vielleicht einzuhalten vermögen, andere Länder
aber – wie etwa die osteuropäischen Populismus-Demokraturen – sich völlig fol-
genlos für sie einen Teufel darum scheren? Voraussagen wären hier wie in der
Literatur Fiktionen. Und die Modellbildungen der Klimaforschung lassen sich
durchaus mit jenen sekundären modellbildenden Systemen vergleichen, von
denen Lotman sprach.
Selbst in den sogenannten ‚harten Naturwissenschaften‘ lassen sich die Ab-
läufe komplexer Prozesse – und darauf zielen Cramers Überlegungen ab –
immer weniger vorhersagen. Dort, wo die Newtonsche Physik funktioniert, mag
dies noch immer gelten, aber diesseits von Quantenphysik und Heisenberg-
scher Unschärferelation gilt dies eben nicht mehr so einfach. Die von Cramer in
der zitierten Passage erwähnten Bifurkationen lassen sich beispielsweise in
einem Flussdelta eben nicht im Voraus berechnen; wir können ihren jeweiligen
Verlauf ebenso wenig prognostizieren, wie wir die Verzweigungen eines Bau-
mes, der meinetwegen in einer dem Westwind exponierten Gegend wächst, vor-
aussagen können. Das heißt natürlich, dass wir durchaus Voraussagen und
Vom Begriff des menschlichen Lebens 119
Modelle erstellen können; nur dürfen wir uns nicht sicher sein, dass sich der
Baum an unsere Modelle, Berechnungen und Fiktionen hält.
Bleiben wir noch einen Augenblick bei unserem Beispiel eines Flussdeltas:
Wir können von Bifurkation zu Bifurkation nicht einfach zurückgehen, denn an
jedem Punkt der jeweiligen Bifurkationen liegen komplexe Entscheidungsfaktoren
vor, die nicht reversibel sind. Im Nachhinein können wir sie durchaus errechnen
und berechnen. Im Grunde ist also stets eine ganze Geschichte hochkomplexer
Entscheidungsfaktoren gespeichert in einer späteren Verzweigung, ohne dass wir
uns dessen wirklich bewusst geschweige denn in der Lage wären, klare Vorhersa-
gen zu treffen.
In der Newton‘schen und Descartes‘schen Physik und Denkungsart war
es möglich, ein komplexes Problem in seine Einzelteile zu zerlegen, die Einzelpro-
bleme zu berechnen und daraus wieder Gesamtberechnungen durchzuführen. Die
Berechnung von Teilsystemen setzte sich zur Berechnung des Gesamtsystems zu-
sammen und war schlüssig. Auf diese Weise verfahren unsere Straßenbauämter
und unsere Architekten – und wenn etwas tatsächlich in sich zusammenfällt,
waren entweder die Berechnungen falsch oder die verwendeten Materialien
schlecht. Dann ist es schlicht ein Fall für die Gerichte. Derartige genaue Berech-
nungen aber sind in vielen Bereichen – und insbesondere dort, wo es um Struk-
turen des Lebendigen geht – ganz einfach nicht möglich, ja sogar unsinnig.
Präzise Hochrechnungen der nächsten Gewinner des Literaturnobelpreises ergä-
ben schlicht keinen Sinn.
In dem soeben kurz umrissenen Zusammenhang wäre es aber auch möglich,
etwa die Literaturen der Welt als ein derartiges fundamental-komplexes System
zu verstehen. Und in der Tat gäbe es viele Gründe dafür, das literarische System
als ein lebendiges zu begreifen, dessen Fundamental-Komplexität auf den ver-
schiedensten Ebenen beobachtbar ist. Wir hatten die Lebendigkeit eines solchen
Systems bereits auf Ebene der Rezeption von Pablo Nerudas Werk gesehen. Aus
meiner Sicht käme folglich das Element des Lebens vor allem dann hinzu, wenn
literarische Texte von Leserinnen und Lesern gelesen werden, wenn sie also rezi-
piert, zu einem Teil des Lebensalltags und vielleicht sogar bestimmter Aspekte
der Lebensgestaltung und Lebensführung eines jeweiligen Lesepublikums wer-
den. Freilich wäre auch ohne die Einbeziehung der Rezeption die Komplexität des
Systems Literatur so hoch, dass man es durchaus mit der Struktur des Lebendigen
im Sinne von Friedrich Cramer in Beziehung setzen und vergleichen könnte. Bil-
den die Literaturen der Welt also ein lebendes, ein lebendiges System?
Wir haben bis hierher schon einmal drei Dinge über das Leben gelernt. Drei
Kriterien lassen sich bestimmen: Es handelt sich erstens um einen irreversiblen
Prozess, zweitens bildet die Summe der Teile bildet nicht einfach das Ganze –
oder anders ausgedrückt: Das Ganze lässt sich nicht in eine Summe seiner Teile
120 Vom Begriff des menschlichen Lebens
zerlegen, ohne dass dabei das Leben zerstört würde – und drittens ist eine wirk-
liche Voraussagbarkeit, eine Prognostizierbarkeit weder im kulturwissenschaft-
lichen noch im naturwissenschaftlichen Sinne von vorneherein gegeben.
Lassen Sie uns an dieser Stelle aber auf den Bereich der Literatur aus litera-
turwissenschaftlicher Perspektive zurückkommen! Literatur erschließt Lebens-
wissen narrativ nicht zuletzt als Erlebenswissen. Dieses Erleben ist als Erlebnis
wie als Nacherleben ohne jeden Zweifel wissenschaftlicher Analyse zugänglich,
sei sie produktions- oder rezeptionsästhetischer Ausrichtung. Eine lebenswis-
senschaftlich ausgerichtete Philologie wird sich dabei stets der selbstreflexiven
Logik ihres Tuns gewärtig sein, ist sie doch selbst bestrebt, ihrerseits Lebens-
wissen zu produzieren, mithin lebenswissenschaftlich produktiv zu sein. Viel-
leicht liegt hierin das Vermächtnis der postum veröffentlichten Vorlesung von
Roland Barthes am Collège de France, die der Frage des Zusammenlebens in
Differenz und damit einer zutiefst lebenswissenschaftlichen Problematik gewid-
met ist. Denn in der Tat lässt sich Barthes‘ gesamtes literarisches und zeichen-
theoretisches Werk als LebensZeichen lesen.10
Doch sollen zugleich auch Bereiche eines Lebenswissens erfasst werden, die
sich noch nicht stabilisiert haben und im Grunde noch über keine Diskurse und
folglich keine diskursive Existenz verfügen, auch wenn sie von den Künsten, Li-
teraturen und Medien längst präsentiert und repräsentiert werden. Hierzu zählt
auch und gerade der Bereich der Liebe, dem ich mich bereits in einer eigenen
Vorlesung gewidmet habe,11 aber auch wie in unserer aktuellen Vorlesung der
Bereich der Geburt, des Lebens, des Sterbens und des Todes.
Leben und Lust, Körper und Wissen,12 Spielformen literarischen Schreibens
und Schreibformen literaturwissenschaftlichen Spiels sollen bei der Findung und
Erfindung neuer Wissensräume in die Konstruktion wissenschaftlicher Objekte ein-
gehen und zugleich deren wissenschaftliche Subjekte verändern. Die Aufgabe der
Philologie als treue Freundin des (literarischen) Wortes und als Wissenschaft mag
in Zukunft nicht unwesentlich davon abhängen, wie sie ihr Verhältnis zum
Leben – und damit natürlich auch zum Sterben und zum Tode – bestimmt.
Dass ich damit nicht von einem Leben spreche, das ein ‚Leben zum Tode‘
wäre, haben Sie längst bemerkt!
10 Vgl hierzu Ette, Ottmar: LebensZeichen. Roland Barthes zur Einführung. Zweite, unverän-
derte Auflage. Hamburg: Junius Verlag 2013.
11 Vgl. dazu ausführlich den zweiten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: LiebeLesen (2020).
12 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Körper Wissen Lust. Roland Barthes oder Der Entwurf einer leib-
haftigen Wissenschaft. In: Hülk, Walburga / Renner, Ursula (Hg.): Biologie, Psychologie, Poeto-
logie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften. Würzburg: Königshausen & Neumann
2005, S. 149–170.
Vom Begriff des menschlichen Lebens 121
Nun, diese Überlegungen sollten Sie zunächst einmal mit einer gewissen
wissenschaftsgeschichtlichen, aber auch methodologischen und forschungs-
strategischen Logik konfrontieren, die dem Vorhaben zu Grunde liegt, das wir
mit dieser Vorlesung im Auge haben. Zugleich aber sollte Ihnen auch klarge-
worden sein, dass man den Begriff des Lebens nicht auf biowissenschaftliche
Dimensionen reduzieren darf. Denn sonst wird aus dem Leben, aus der Geburt,
dem Sterben und dem Tod, aber auch mit Blick auf die Liebe das pure Funktio-
nieren eines bestimmten körperlichen Apparats. Ich kann diesen Körper, der al-
lein aus der Perspektive des Körper-Habens perspektiviert wird, mechanistisch
oder gentechnologisch beschreiben oder behandeln.
So ergibt sich ein Körper-Objekt, das sich im Grunde aus der Logik der
abendländischen Wissenschaften heraus als Maschine oder meinetwegen auch
als Programm auffassen lässt, das auf eine genau bestimmte Weise abgespult
werden kann. Dass das kontrollierte Abspulen derartiger Programme wichtig –
und nicht selten auch lebensrettend sein kann, soll an dieser Stelle gewiss
nicht in Frage gestellt werden. Gerade die sogenannte ‚Apparate-Medizin‘ be-
weist dies tagtäglich, ebenso bei der Begleitung der Geburt wie des Todes von
Menschen. Darum soll die Stimme der Schulmedizin beziehungsweise des me-
dizinisch-technologischen Fächerensembles auch immer wieder in unsere Vor-
lesung eingeblendet werden. Doch das Leben, das Sterben, Geburt und Tod
hierauf zu reduzieren, liegt mir sehr fern. Die Literaturen der Welt bieten hier
ein komplexeres, wenn auch auf Grund der Komplexität nicht selten unange-
nehmeres, unübersichtlicheres (da im Sinne Friedrich Cramers fundamental-
komplexes) Bild.
Begeben wir uns im Folgenden in die Diskussion einer Serie von Aspek-
ten, die mit dem Begriff des Lebenswissens verbunden sind! Als Einstieg in
diese Serie habe ich für Sie einen Text ausgewählt, mit dem Sie im Rahmen
dieser Vorlesung vielleicht nicht gerechnet hätten. Es ist ein Text über das
Leben, ein Bild-Text, genauer eine Bilderhandschrift, die ich gerne gemein-
sam mit Ihnen durchgehen möchte. Denn sie führt in gewisser Weise quer
durch verschiedenste Kulturen vor, was man unter Lebenswissen verstehen
kann.
Es geht mir dabei nicht – wie Sie gleich sehen werden – um Situierung und
Besprechung dieser Bilderhandschrift aus anthropologisch-altamerikanistischer
Sicht, sondern um den Versuch, danach zu fragen, was es eigentlich bedeutet,
auf einen einzigen Blick ein ganzes Leben zu überblicken und dabei dieses
Leben nicht zu übersehen. Widmen wir uns also kurz dieser Bilderhandschrift:
122 Vom Begriff des menschlichen Lebens
Abb. 8: Auszüge aus dem Codex Mendoza („Raccolta di Mendoza“): Waschung eines
neugeborenen Babys und Namensgebung.
Vom Begriff des menschlichen Lebens 123
Abb. 9: Codex Mendoza: Erste Lebensjahre und der wachsende Nahrungsbedarf eines Kindes,
geschlechterspezifische Aufgaben (Lasten-Tragen, Spinnen).
124 Vom Begriff des menschlichen Lebens
Abb. 11: Codex Mendoza: Bestrafung für Kapitalverbrechen. Oben rechts: Steinigung nach
begangenem Ehebruch.
126 Vom Begriff des menschlichen Lebens
Ich wähle einen Auszug aus dem sogenannten Codex Mendoza (auch Rac-
colta di Mendoza genannt),13 der mich auf eine eigenartige Weise immer schon
berührt, ja fasziniert hat und dessen Faszinationskraft ich mir heute vielleicht
ein wenig besser erklären kann. Denn im Sinne von Roland Barthes handelt es
sich gleichsam um ein Phantasma, das sicherlich mit dazu beigetragen hat,
dass ich mich mit dem Begriff des Lebenswissens heute auf eine neue und neu-
artige Weise literaturgeschichtlich und lebenswissenschaftlich zugleich nähere.
Doch zunächst einmal einige Informationen zu diesem Bild-Text!
Der Codex Mendoza wurde im Auftrag des ersten, von 1535 bis 1550 herr-
schenden Vizekönigs von Neuspanien, Alfonso de Mendoza, kurz nach der Er-
oberung Mexikos beziehungsweise Anáuacs für Kaiser Karl den Fünften oder
Carlos I. angefertigt. Eigens zu diesem Zweck wurde der Text für einen azteki-
schen Bildschriftmaler, einen „tlacuilo“, in der traditionellen Bildzeichenspra-
che geschrieben. Für den Kaiser im weit entfernten Europa wurde zugleich ein
christlicher Priester mit Kenntnissen des Náhuatl damit beauftragt, eine aus-
führliche Erklärung des Inhalts auf Spanisch niederzuschreiben.
Es braucht uns hier nicht zu interessieren, dass das Schiff, auf dem das Ma-
nuskript nach Spanien transportiert wurde, von einem französischen Kriegs-
schiff wie so oft gekapert wurde, so dass der Codex Mendoza letztlich in den
Händen des berühmten französischen Kosmographen und Reisenden André
Thevet landete. Durch Verkauf und weitere Umwege gelangte er schließlich
1654 in die Bodleian Library. Die Illustrationen und Kommentare des Codex
Mendoza wurden dann in den Jahren 1830 bis 1848 vom englischen Exzentriker
Lord Kingsborough in einem Monumentalwerk unter dem Titel Antiquities of
Mexico veröffentlicht.
Aufgabe dieser Bilderhandschrift war es letztlich, Geschichte und Kultur
einschließlich der Alltagskultur der Azteken in verständlicher Form für eine eu-
ropäische Leserschaft aufzuzeichnen. Besonders spannend und aufschlussreich
ist dabei das direkte inter- und mehr noch transmediale Ineinanderwirken von
Bilderhandschrift und spanischsprachigem Kommentar in Alphabetschrift, der
zum Teil direkt in die Bilderhandschrift eingetragen wurde.
Der Codex Mendoza präsentiert uns eine Kultur und ein Volk, die Azteken,
die zum Zeitpunkt der Eroberung auf dem Höhepunkt ihrer Macht im nord- und
mittelamerikanischen Raum waren. Dies gilt es zu berücksichtigen, wenn wir
uns nun mit dem Wissen vom Leben der Azteken beschäftigen, das hier in zwei
verschiedenen Schriftsystemen und gleichsam aus bikulturellem Blickwinkel
schriftlich gespeichert ist. Allerdings habe ich bei der bildlichen Reproduktion
13 Vgl. Ross, Kurt (Hg.): Codex Mendoza. Aztekische Handschrift. Fribourg: Liber 1978.
128 Vom Begriff des menschlichen Lebens
14 Ich halte mich bei meinen Ausführungen im Wesentlichen an die Deutungen von Kurt
Ross, der den Codex Mendoza edierte.
Vom Begriff des menschlichen Lebens 129
ben auf eineinhalb Maiskuchen zunimmt. Es scheint sich um ein durch und
durch geordnetes Gemeinwesen zu handeln. Die Mädchen wiederum lernen die
Gegenstände im Arbeitskorb zu benennen; und später werden sie im Gebrauch
der Spindel unterrichtet. Die Jungs müssen leichte Lasten tragen, um sich an
körperliche Arbeit und physische Belastbarkeit zu gewöhnen; ab einem Alter
von sechs Jahren werden sie auf den Marktplatz gesandt, um die von den Händ-
lerinnen hinterlassenen Reste aufzusammeln – so zumindest die Deutung des
Herausgebers der von mir herangezogenen Ausgabe. In jedem Fall handelt es
sich um einen Gebrauch nicht benutzter Überreste, was auf eine sehr nachhal-
tige Verwendung von Ressourcen durch diese indigene Gesellschaft im damali-
gen Anáhuac, im Hochtal von Mexiko schließen lässt.
In der dritten Figur (Abb. 10) wiederum sehen wir, wie ein Vater seinen
neunjährigen Sohn an Händen und Füßen gefesselt hat und ihm mit Dornen der
Maguey-Pflanze in die Schultern und andere Körperteile sticht. Ein gleichaltriges
Mädchen wird etwas weniger hart behandelt: Seine Mutter sticht es lediglich in die
Handgelenke. Handelt es sich um eine Abhärtungspraxis der Mexica oder um Stra-
fen für ungehörige Kinder? Faule und unfolgsame Zehnjährige werden jedenfalls
mit dem Stock geschlagen. Sie sehen, wie hart die Sitten der Azteken bei der Kin-
dererziehung waren: Früh wurde der Nachwuchs daran gewöhnt, Entbehrungen
und Schmerzen auszuhalten. Der Codex Mendoza informiert uns über weitere Me-
thoden der Kindererziehung, insofern Abhärtungspraktiken wie etwa das Einat-
men der Dämpfe brennender Axi-Früchte geübt werden. Alles zielte darauf ab, die
Kinder fit für ein an Entbehrungen reiches Leben zu machen.
Doch beschäftigen wir uns nicht nur mit der Kindererziehung, die uns viel
über die Lebenszyklen und die Lebensbedingungen im Reich der Mexica sagen,
sondern auch mit dem Leben von Erwachsenen, so wie es im Codex Mendoza
dargestellt wird! Die vierte Figur (Abb. 11) sieht recht harmlos aus; doch das
Paar unter derselben Decke symbolisiert den Ehebruch und die darauf stehende
Todesstrafe der Beschuldigten durch Steinigung. Auch wenn die Geschlechter-
rollen klar festgelegt waren und es sich beim Reich der Azteken insgesamt um
eine patriarchalisch strukturierte Gesellschaft handelte, so wurde Ehebruch
doch nicht allein der Frau angelastet. Allerdings gab es auch hier geschlechter-
spezifische Unterschiede. Denn das Vergehen wurde äußerst streng bestraft:
Die Frau wurde nicht selten in Anwesenheit ihres Mannes öffentlich gesteinigt.
Wie sehr eine patriarchalische Geschlechterordnung durchschlug, mag zu-
sätzlich die folgende Regelung belegen: Ein verheirateter Mann konnte sich im
Gegensatz zu den Frauen straflos außerehelicher Beziehungen erfreuen, so-
lange sie nicht mit einer verheirateten Frau stattfanden. Den Frauen freilich
war ein derartiges Verhalten nicht gestattet. Einmal mehr stoßen wir auf die
Tatsache, die wir bereits in unserer Vorlesung über das Erlernen und die Prakti-
130 Vom Begriff des menschlichen Lebens
ken der Liebe vielfach studieren konnten:15 Die Liebe gehört zweifellos zu den
zentralen Bestandteilen des Lebenswissens, denn an ihr lassen sich die eine Ge-
sellschaft prägenden und leitenden kulturellen Praktiken ohne größere Mühe
ablesen. In einer sich anschließenden Zeichnung der Bilderhandschrift stoßen
wir auf die Darstellung der beiden unrechtlich miteinander Verbundenen, wie
sie gemeinsam gefesselt auf ihre Bestrafung durch Steinigung warten. Kein
Zweifel: In der aztekischen Kultur waren Strafen nichts, was man mit humanen
Praktiken unserer Zeit vergleichen könnte …
Doch wir lassen nun die Strafen für Kinder wie für Erwachsene außer Acht
und wenden uns den schönen Dingen des Lebens zu! Wir wollen dabei im se-
mantischen Feld der Liebespraktiken und Geschlechterverhältnisse bleiben,
denn – wie erwähnt – sagen sie uns ungeheuer viel über eine Gesellschaft oder
Gemeinschaft aus. Die relativ komplexe fünfte Figur (Abb. 12) zeigt Ihnen eine
Heirat bei den Azteken. Die Braut wird in der Nacht von der ‚Kupplerin‘ ins
Haus des Bräutigams getragen; vier Frauen beleuchten den Weg mit Tannenfa-
ckeln – Sie können diese Zeremonie am unteren Teil der gesamten Darstellung
leicht erkennen. Die gleichsam als Trauzeugen dienenden Alten spenden Weih-
rauch, stellen die Mahlzeit auf und singen endlose Gesänge über die Pflichten
der Eheleute. Bitte lachen Sie nicht, aber bei der Hochzeit meines Bruders war
der Dorfpfarrer von der Kanzel herab mit Lehren und Anweisungen für die
Brautleute ebenfalls nicht sparsam! Er hatte sozusagen jene Rolle inne, welche
den Alten in der Bilderhandschrift der Mexica obliegt. So weit, wie Sie vielleicht
glauben mögen, ist all dies von unseren Gebräuchen und Riten nicht entfernt.
die beiden alten Medizinmänner binden die Kleider des Brautpaars symbo-
lisch zusammen. Die Mahlzeit besteht aus geröstetem Mais in einem Korb und
einem Topf voll Truthahnfleisch – was übrigens auch heute noch in Mexiko
unter der Bezeichnung „Mole de guajalote“ sehr beliebt ist. Darunter sieht man
des Weiteren einen Krug und einen Becher „Pulque“, wobei es sich dabei um
einen starken Schnaps handelt, den es nach wie vor im heutigen Mexiko gibt.
Wenn Sie schon einmal in Mexiko waren, werden Sie ihn sicherlich genossen
haben. Bei den Azteken war der Zugang zu diesem Getränk freilich gesellschaft-
lich geregelt; denn nur den Alten war der Genuss von starkem Alkohol erlaubt.
Der schwarze Fleck auf dem Gesicht der Braut stellt die Schminke dar:
Auch bei den Mexica-Frauen war Kosmetik durchaus angesagt. In der oberen,
in unserem Ausschnitt nicht mehr dargestellten Zeile gibt übrigens ein Vater
seine jugendlichen Söhne in die jeweilige Obhut eines Priesters und eines Leh-
rers. Unten zeichnet sich das Schicksal des Mädchens ab, so dass gleichsam die
15 Vgl. den zweiten Band der Reihe „Aula“ von Ette, Ottmar: LiebeLesen (2020).
Vom Begriff des menschlichen Lebens 131
und von diesem zitiert wurden,16 wiesen darauf hin, dass all diese Darstellun-
gen gleichsam im Imperativ zu lesen seien: Sie seien Vorbilder oder Modelle,
an denen sich alle Azteken auszurichten gehabt hätten. Diese Bilderhandschrif-
ten geben uns folglich wichtige Hinweise dafür, wie wir uns das Alltagsleben
unter aztekischer Herrschaft vorzustellen haben. Aber eben das Leben der Azte-
ken und nicht eines bestimmten Vertreters dieser ethnischen Gruppe: Es ging
im Codex Mendoza in keinem Falle um ein individuelles Leben, das von den
Schreibern dargestellt worden wäre.
Der Codex ist von dominant deskriptiver Natur. Gleichwohl stellt sich eine
Narrativität fast automatisch zwischen den verschiedenen dargestellten Figuren
dar. Deutlich ist, dass eine gewisse Chronologie der Repräsentation aztekischen
Lebens der gesamten künstlerischen Darstellung wie der Anordnung ihrer einzel-
nen Teile zu Grunde liegt. Die Darstellung des Lebens der Azteken erfolgt vom
nur wenige Tage alten Säugling, der gerade gewaschen wird, über verschiedene
Altersstufen von Kindern und Jugendlichen sowie über die wichtigsten Elemente
des Erwachsenenlebens wie Arbeit oder Krieg bis hin zum geradezu biblischen
Alter der beiden Greise, die wir am Ende beim fröhlichen Genuss starken Alko-
hols sehen.
Übrigens ist die räumliche Anordnung der Figuren auf jenen Bildtafeln, die
in Alexander von Humboldt Vues des Cordillères et monumens des peuples indi-
gènes de l’Amérique17 wiedergegeben werden, ganz und gar europäisch, wie
dies dem preußischen Mitbegründer der Altamerikanistik durchaus bewusst
war. Denn wir können sie von oben links nach unten rechts lesen, für Europäer
also ‚ganz natürlich‘, so wie wir auch alphabetische Schrifttexte bis heute
lesen. Noch unsere Malerei, unsere Gemälde und unsere Skizzen funktionieren
nach diesen Gesichtspunkten, die selbstverständlich längst verinnerlicht wur-
den und uns gleichsam ‚natürlich‘ vorkommen.18 Die Azteken freilich lasen ihre
Bilderhandschriften genau anders: von unten nach oben und von rechts nach
links, also der abendländischen Leserichtung gegenüber exakt invers. Doch ist
dies für die Blickrichtung unserer Vorlesung von keiner größeren Relevanz.
16 Vgl. hierzu auch die Ausführungen im fünften Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Auf-
klärung zwischen zwei Welten (2022), S. 267 ff.
17 Vgl. hierzu die deutschsprachige Ausgabe von Humboldt, Alexander von: Ansichten der
Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas. Aus dem Französischen von
Claudia Kalscheuer. Ediert und mit einem Nachwort versehen von Oliver Lubrich und Ottmar
Ette. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag (Die Andere Bibliothek) 2004.
18 Vgl. hierzu den schönen Band von Butor, Michel: Les mots dans la peinture. Genf – Paris:
Skira – Flammarion 1969.
Vom Begriff des menschlichen Lebens 133
Faszinierend aus heutiger Sicht ist, wie stark Leben in dieser so anderen
Kultur und in einer so anderen Zeit mit der in gewisser Weise statisch darge-
stellten Narrativität und mit den repräsentativen Anekdoten verknüpft wird,
welche in den einzelnen Szenen dargestellt werden. In diesen teilweise liebe-
voll ausgemalten, repräsentativen Episoden kommt im Grunde das Lebenswis-
sen einer ganzen Kultur zum Vorschein.
Mindestens ebenso faszinierend aber ist die Tatsache, dass wir hier das
Leben in seiner auf Sitten und Gebräuche bezogenen Gesamtheit dargestellt be-
kommen – von der Wiege bis an den Rand des Grabes, bis an die Betörung der
Sinne am Ende des Lebens, gleichsam mit einem Fuß schon im Grab. Das viel-
leicht Faszinierendste an dieser Darstellung ist jedoch die Tatsache, dass all
das, was wir unter dem Titel dieser Vorlesung behandeln, sorgsam gestreift
wird und zugleich ausgespart bleibt.
Denn es wird keine Geburt dargestellt! Das Kindlein liegt bereits in der
Wiege, im Zentrum der Aufmerksamkeit seiner Eltern, von Lehrer und Priester be-
reits beäugt und in der Obhut der Frauen. Dass diese Frauen, Mutter und Heb-
amme, es aber in die Welt gesetzt beziehungsweise auf die Welt gebracht haben,
erscheint in dieser Bilder-Welt nicht: Der Geburtsvorgang wird ausgespart, er-
scheint in dieser Bilder-Sequenz nicht. ebenso steht es mit dem Sterben und mehr
noch mit dem Tod. Zwar wird der Tod im Codex Mendoza häufig dargestellt, und
zwar vor allem entweder als Opfertod oder als Tod im militärischen Kampf. Doch
in den Bilderhandschriften können wir zwar den Vorgang des Älterwerdens er-
kennen, wie sich unschwer an den Gesichtszügen oder der Körperhaltung ablesen
lässt; aber das Sterben sowie der Tod selbst werden nicht bilder-schriftlich darge-
stellt. Sie bilden gleichsam den unsichtbaren Rahmen, innerhalb dessen sich das
hier gespeicherte und repräsentierte Lebenswissen situiert.
Weder der eigentliche Anfang noch das eigentliche Ende des Lebens wer-
den also den Betrachtern und Betrachterinnen vor Augen geführt. Auch dies ist
ein Stück Lebenswissen, denn im Grunde können wir selbst, in unserem indivi-
duellen Leben, über diese wahrhaft existenziellen Aspekte unseres eigenen Le-
bens selbst keine Auskunft geben. Während wir noch über unsere Zeit in der
Wiege oder im Kinderwagen zumeist reichlich Bildmaterial besitzen, ist unsere
eigene Geburt in der Regel nicht photographisch festgehalten. Bewusst erleben
wir unsere eigene Geburt nicht, selbst wenn unser KörperLeib die Spuren einer
schweren Geburt möglicherweise noch lange trägt. Ebensowenig können wir na-
türlich Bilder von unserem eigenen Tod noch wahrnehmen, sollten sie denn über-
haupt gemacht werden. Bewusst erleben wir auch den Tod nicht mit. Es sind eher
Bilder vom Grab, die wir von unseren Toten haben, also nach dem Eintritt des
Todes: Bilder von Trauer und von Verlust. Wir haben von unseren Eltern aber
nicht selten noch Photographien, die sie gerade beim Feiern, vielleicht auch beim
134 Vom Begriff des menschlichen Lebens
Genuss von Alkohol, in euphorisiertem Zustand gar, zeigen. Anfang und Ende
eines Lebens aber sind ausgespart, sind unserem eigenen Bewusstsein nicht zu-
gänglich, ja sind gleichsam aus ihm getilgt.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welches Wissen gemeint ist,
wenn wir von Lebenswissen sprechen. Dabei ist in jeder Hinsicht klar, dass die-
ses Leben letztlich immer einen Anfang und ein Ende impliziert, ja dass etwa
ein ‚gutes‘ oder ein ‚schlechtes‘ Leben nur dann als gut oder schlecht bezeich-
net werden kann, wenn wir über ein ganzes Leben, einen vollständigen Ablauf
verfügen. Denn wenn etwa unsere Mutter bei unserer Geburt verstarb, werden
wir dann nicht wie Jean-Jacques Rousseau ein ganzes Leben lang damit ha-
dern? Oder wenn wir nach einem erfüllten Leben in irgendeinem Folterkeller
irgendeiner Diktatur für lange Zeit verschwinden, werden wir unser Leben
dann immer noch als ein ‚gutes Leben‘ bezeichnen?
Versuchen wir also genauer zu fassen, was wir unter dem Begriff ‚Lebens-
wissen‘ verstehen! Dieser Begriff meint zunächst in einem ganz allgemeinen
Sinne den Bezug zwischen Wissen und Leben, Leben und Wissen. Es geht
ebenso um ein Wissen vom Leben, ein Wissen zum Leben als auch um ein Wis-
sen im Leben und ein Wissen durch Leben; aber auch ein Leben im Wissen
sowie ein Leben vom Wissen kommen in Betracht, wie es etwa im Idealfall die
Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler führen. Wissen ist in diesem Falle
freilich eine sehr spezielle Art und Weise des Lebensvollzugs.
Lebenswissen meint in diesem Zusammenhang ein Wissen vom Leben im
Vollzug, so wie wir es gerade bei der aztekischen Bilderhandschrift des Codex
Mendoza gesehen haben. Man könnte freilich ebenso darauf verweisen, dass im
Falle des Lebenswissens das Wissen jedoch selbst in dem impliziert ist, was sei-
nen Gegenstand bildet. Lebenswissen kann in dieser Hinsicht auch als eine Le-
bensweise verstanden werden, etwa in der Hinsicht, das eigene Leben bewusst
zu leben. Dies kann – wie in unserem Falle – normativ oder deskriptiv inten-
diert sein, also ein Lebensmodell vorgeben oder eine Lebensweise vor Augen
führen: Beides ist möglich.
In gewisser Weise lässt sich sagen, dass ein Wissen vom Leben immer
schon zur Lebensweise und zur Lebensführung gehört. Denn ohne ein Wissen
von sich selbst kann Leben gar nicht vollzogen werden. Mit anderen Worten:
Lebensvollzug basiert stets auf einem Wissen, das das Leben über sich selbst
besitzt oder zu besitzen glaubt. Man könnte diesen Aspekt sicherlich auch als
Lebenshaltung, als eine auf Wissen und Erfahrungen beruhende Haltung ge-
genüber dem Leben verstehen. Dabei ist deutlich, dass ein derartiges Wissen
hochgradig mobil und dynamisch ist und sich in Raum und Zeit verändert.
Unter den von uns gemachten Erfahrungen – oder ‚Lebenserfahrungen‘ –
könnten wir jenes Wissen verstehen, das wir nur durch und im Vollzug des Le-
Vom Begriff des menschlichen Lebens 135
bens gewinnen können. Aus meiner Sicht ist in diesem Zusammenhang beson-
ders bemerkenswert, dass dieses Wissen freilich auch durch Simulakra und Le-
bensmodelle gewonnen werden kann, also insbesondere durch Literatur, durch
Film und Fernsehen, durch die unterschiedlichsten künstlerischen und nicht-
künstlerischen Medien, die uns zur Verfügung stehen. Gustave Flauberts Emma
Bovary etwa hat ihr ganzes Lebenswissen und ihr ganzes Wissen über die Liebe
aus der Lektüre romantischer Romane gewonnen, so wie der Don Quijote von
Cervantes sein hochdifferenziertes Lebenswissen aus der Lektüre zahlreicher
Ritterromane bezog.
In diesem Kontext stellt sich stets die Frage nach der Geltung des oder eines
bestimmten Lebenswissens und auf welche Weise es legitimiert ist, um seiner-
seits wiederum Handlungen, Haltungen und Aktivitäten zu begründen. Denn
nicht irgendein Lebenswissen stellt für eine bestimmte kulturelle, ethnische oder
Alters-Gruppe ein Lebenswissen zu Verfügung, das innerhalb dieser Gruppe An-
spruch auf Gültigkeit vorweisen kann. Die Lektüre romantischer Liebesromane
hilft Ihnen beim Leben in einer politischen Partei oder Interessengruppe nicht
unbedingt weiter, sehr wohl aber bei einer bestimmten Influencerin in den soge-
nannten ‚sozialen Medien‘, die entsprechende Vorstellungen verbreitet. So mag
es ein Wissen um ein Leben vom Wissen gewesen sein, das Werner Krauss dazu
gebracht hat, sein Lebenswissen noch in der Todeszelle als ein Leben zum Wis-
sen in die Waagschale zu werfen19 – und letztlich zu überleben. All dies berührt
selbstverständlich zutiefst die Pragmatik des Lebenswissens.
In all diesen Dimensionen ist Lebenswissen zum einen überindividuell,
wird tradiert und weitergegeben, ist zugleich aber auch in wachsendem Maße
einer ständigen Veränderung und Neuanpassung ausgesetzt. Lebenswissen ist
ein hochgradig veränderlicher und mobiler Term. In einem individuellen Leben
gibt es bestimmte Kontinuitäten des Lebenswissens, zugleich aber eine Unzahl
an Neuanpassungen, Umformulierungen und Veränderungen. In diesem Zu-
sammenhang von einer wie auch immer gearteten Gebrochenheit von Lebens-
wissen zu sprechen, erscheint mir aus meiner Sicht als absurd.
Ich würde meinerseits eher von der bewussten Vorläufigkeit allen Lebens-
wissens sprechen, da es stets unter dem Eindruck neuer Lernprozesse verändert
werden kann oder verändert werden muss. Menschen passen sich an verän-
derte Situationen oder Lebenskontexte an, indem sie ihr Lebenswissen aktuali-
sieren. So können etwa Flüchtlinge oder Migrantinnen ihr Lebenswissen im
19 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: „Von einer höheren Warte aus“. Werner Krauss – eine Literatur-
wissenschaft der Grundprobleme. In: Ette, Ottmar / Fontius, Martin / Haßler, Gerda / Jehle,
Peter (Hg.): Werner Krauss. Wege – Werke – Wirkungen. Berlin: Berlin Verlag 1999, S. 91–122.
136 Vom Begriff des menschlichen Lebens
neuen Gastland verändern und der neuen Lebenssituation anpassen. Auch die
aufnehmende Bevölkerung muss sich entsprechend auf neue Aspekte des eige-
nen Lebenswissens einstellen beziehungsweise Teile des alten Lebenswissens
transformieren. Denn Lebenswissen kann gerade innerhalb bestimmter Ge-
meinschaften – etwa von Familie, Sippe, Partei, Nation, Religion oder Kultur-
kreis – über eine erstaunliche Langlebigkeit verfügen: Es kann zugleich die
Kontinuität dieser Gruppe absichern und ihr Überleben als Gruppe gewährleis-
ten. Dies schließt selbstverständlich bestimmte Handlungsmuster einschließ-
lich bestimmter Wertezuweisungen mit ein. Vergleichbares gilt im Übrigen
auch für migratorisches Wissen, also ein Lebenswissen, das gerade auf ein
Überleben in der Migration und durch die Migration abzielt. Transformationen
des eigenen Lebenswissens sind hier sehr wahrscheinlich: Das muss nicht so
sein, kann aber so sein. In jedem Falle stehen pragmatische Gesichtspunkte je-
weils im Vordergrund.
Lebenswissen wird von bestimmten Handlungen im Leben entscheidend
mitgeprägt und prägt umgekehrt wiederum bestimmte Handlungen und Hand-
lungsmuster wesentlich mit. Dabei ist der Grad an Beeinflussbarkeit und Verän-
derbarkeit durch Erfahrungen individuell wie kulturell sehr unterschiedlich.
Lebenswissen hat in diesem Sinne mit Lernverhalten und dessen Optimierbar-
keit zu tun. Das Erlernen, insbesondere das Lernen aus Fehlern,20 sowie das
Üben ist zugleich mit dem Erleben der Konsequenzen und unmittelbaren Aus-
wirkungen des eigenen Lebenswissens rückgekoppelt. Es handelt sich im
Grunde um ein Wissen, das mehrfach gebunden ist an soziale und kulturelle
Rahmenbedingungen oder Rahmungen, aber auch an individuelle Lebenser-
fahrungen, weshalb das Lebenswissen einen hohen Grad an Selbstreferentia-
lität besitzt.
Lebenswissen kann in diesem Falle sehr wohl etwa durch Sprichwörter
zum Ausdruck gebracht und vieldeutig diskutiert werden.21 Dabei können diese
Sprichwörter in Bezug zum eigenen Lebenswissen gebracht werden, wobei das
jeweilige individuelle Lebenswissen doch vorrangig an die je eigenen Erfahrun-
gen, Handlungen, Haltungen und Handlungsmuster geknüpft ist. Selbstver-
ständlich ergibt sich gerade aus dieser Interaktion auch die Subjektwerdung in
einem umfassenden pragmatischen Sinne.
20 Vgl. hierzu den Band von Ingold, Felix Philipp / Sánchez, Yvette (Hg.): Fehler im System.
Irrtum, Defizit und Katastrophe als Faktoren kultureller Produktivität. Göttingen: Wallstein Ver-
lag 2008.
21 Vgl. hierzu Krauss, Werner: Die Welt im spanischen Sprichwort. Spanisch und Deutsch.
Leipzig: Verlag Philipp Reclam 1971.
Vom Begriff des menschlichen Lebens 137
Subjektivität kann sich im Grunde nur im Umfeld der Aneignung und Ver-
änderung beziehungsweise Resemantisierung von Lebenswissen bilden, das
kollektiv tradiert und individuell angeeignet wird. In diesem Zusammenhang
scheint mir wichtig, dass weite Bereiche dieses Lebenswissens nicht bewusst
reflektiert, sondern dem einzelnen Individuum gleichsam ‚natürlich‘ erschei-
nen. Sie können dies vielleicht am besten damit vergleichen, dass ein bestimm-
tes Körperwissen existiert, welches unserem Körper gleichsam angeboren zu
sein scheint. Und doch ist es letztlich kulturell geprägt und beruht auf einem
Zusammenspiel von Kultur und Natur, das seine eigene Geschichte sowohl
überindividuell als auch individuell besitzt.
Lebenswissen hat keinen unhintergehbaren normativen Bezug. Vielmehr
enthält Lebenswissen gerade auch die Möglichkeit, in der selbstreferentiellen
Bezüglichkeit diese Normen zur Disposition zu stellen oder aber für andere,
nicht aber für das Ich selbst geltend zu machen. Lebenswissen kann eben auch
darin bestehen, verschiedene Ebenen der Geltung und unterschiedlichen Gül-
tigkeit voneinander zu trennen und beispielsweise auf der offiziellen Ebene
oder in der Öffentlichkeit einzufordern, was in der privaten Sphäre niemals als
Anforderung an sich selbst gestellt werden würde. Einen diesbezüglichen Kon-
flikt zwischen den verschiedenen Ebenen kann das Lebenswissen sodann un-
terbinden: Es unterliegt keiner durchgängigen Logik oder Rationalität.
Daher scheint mir die Tatsache wichtig zu sein, dass es sich beim Lebens-
wissen um einen Wissensbereich handelt, der keineswegs kohärent organisiert
sein muss, sondern in vielfache Fragmente und Muster unterschiedlicher Prag-
matik und Anwendungsfähigkeit aufgeteilt ist. Dabei können dies Fragmente
unterschiedlicher Provenienz sein und aus verschiedenartigen Gültigkeitskon-
texten stammen. Entscheidend ist nicht, dass sie durchgängige Kohärenzen bil-
den, sondern dass das Individuum in der Lage ist, zwischen den einzelnen
Bereichen hin und her zu springen, ohne dabei auf allzu konfliktive Weise die
Widersprüche innerhalb der eigenen Subjektivität und ihres Handelns in einer
gegebenen Gesellschaft zu empfinden.
Dabei können diese Fragmente eines praxisbezogenen Wissens durch eine
ethische Reflexion oder eine moralische Grundhaltung mehr oder minder not-
dürftig miteinander verbunden sein, müssen es aber nicht. Mit anderen Worten:
Ich glaube nicht, dass Lebenswissen im Grunde ethisches Wissen ist. Vielmehr
ist es ein Wissen, das in hohem Maß selbstreferentiell und Ich-konstitutiv ist
und dabei gerade auch Körperwissen – und somit nicht-rationale Elemente – in
sich aufnimmt.
Zum ‚durchschnittlichen‘ Lebenswissen in Mitteleuropa zählt etwa ein kon-
ventionsgemäß angeeignetes Körperwissen, vor dem Überqueren einer Straße
unbewusst nach links zu schauen, während dies in Großbritannien oder auf
138 Vom Begriff des menschlichen Lebens
Malta fatale Konsequenzen hätte. Auch dies ist eine Form des Lebenswissens, ja
des Überlebenswissens, das wir uns als Kinder früh schon aneignen und das uns
etwa im Vereinigten Königreich in brenzlige Situationen bringen kann. Auch jenes
Körperwissen, das etwa in der aztekischen Erziehung durch das Stechen mit einer
Maguey-Pflanze erzeugt wird, zählt zu den später gleichsam renaturalisierten For-
men des Körperwissens, des Schmerzes (oder auch der Lust), die Teil des Lebens-
wissens werden. Der Ehebruch, wie er im Codex Mendoza der Strafe kollektiver
Steinigung zugeführt wird, ist ein normatives Lebenswissen, mit dem von den bei-
den Liebenden bewusst oder unbewusst gebrochen wurde. Die Geschichte von
Paolo und Francesca in Dantes göttlicher Komödie zeigt uns, dass man auch im
christlichen Abendland schwer für diesen Übertritt der Liebe22 bezahlen muss und
in der Hölle landen kann. Auch diese Normvorstellungen sowie die praktischen
Möglichkeiten, sich ihrer Geltung oder doch zumindest der Bestrafung zu entzie-
hen, zählen zum Lebenswissen beziehungsweise Überlebenswissen in einer be-
stimmten Gesellschaft und Kultur.
Allerdings sei an dieser Stelle unserer Überlegungen betont, dass Lebenswis-
sen niemals beim rein Fragmentarischen, also bei einzelnen Bruchstücken von
Lebenswissen, stehenbleiben kann, sondern stets den Versuch unternimmt,
davon ausgehend mehr oder minder umfassendere Entwürfe von Leben zu bil-
den, auch wenn dies nicht notwendig in einem bewussten Akt formuliert werden
muss. Bruchstücke von Lebenswissen sind –vergleichbar mit den Sprichworten
in einer sprachlichen Gemeinschaft – stets auf eine Metaebene bezogen. Diese
Metaebene muss ihrerseits stets auch ein Wissen um die Grenzen von Lebenswis-
sen beinhalten; denn dieses Wissen um die Beschränktheit der Wirksamkeit von
Lebenswissen sichert diesem Lebenswissen gerade den Status und Geltungsbe-
reich, in dem dieses Wissen Gültigkeit beanspruchen darf.
Unstrittig ist, dass das Wissen um die Grenzen des Lebenswissens als Teil
des Lebenswissens selbst von erheblicher Bedeutung ist. Denn nur durch ein
Wissen über die eigenen Grenzen (etwa auch im interkulturellen oder gemein-
schaftsspezifischen Bereich) kann dieses Lebenswissen wirklich von höchstem
Nutzen sein. So könnte sowohl die Literatur eine derartige Grenze markieren,
insofern das anhand des eigenen Lebens erworbene Wissen nicht auf Literatur
applizierbar ist und umgekehrt. Oder denken Sie an ein Lebenswissen speziell
für Fernreisevorgänge, insoweit ein Lebenswissen aus Europa nicht leichtfertig
auf außereuropäische Regionen übertragen werden kann! Das Lebenswissen
kann einem das Tolerieren von Handlungen in der Ferne erlauben, deren Praxis
22 Vgl. zu Paolo und Francesca den zweiten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: LiebeLe-
sen (2020), S. 7 ff.
Vom Begriff des menschlichen Lebens 139
23 Vgl. Barthes, Roland: Comment vivre ensemble. Simulations romanesques de quelques es-
paces quotidiens. Notes de cours et de séminaires au Collège de France, 1976–1977. Texte établi,
annoté et présenté par Claude Coste. Paris: Seuil – IMEC 2002.
24 Zur Definition dieser Begriffe vgl. Ette, Ottmar: ZusammenLebensWissen. List, Last und
Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab (ÜberLebenswissen III). Berlin: Kulturverlag
Kadmos 2010.
140 Vom Begriff des menschlichen Lebens
wohl aber von Teilen einer bundesdeutschen Gesellschaft, die aktiv und proak-
tiv für die Ausübung dieser Rechte innerhalb der Europäischen Union eintritt.
Hier hat sich in weiten Bereichen der westeuropäischen Gesellschaften das Le-
benswissen transformiert. Dass ein solches Lebenswissen längst in den Litera-
turen der Welt erprobt und prospektiv vorweggenommen wurde, ist in jeglicher
Hinsicht hochbedeutsam.
Die unterschiedlichen Formen und Gattungen der Literaturen der Welt kön-
nen uns ein vielgestaltiges Wissen darüber vermitteln, wie man leben kann
(etwa im Roman), wie man gelebt hat (etwa in der Biographie) oder wie man
das eigene Leben in Lebenswissen transformieren kann (etwa in der Autobio-
graphie). Wir werden in dieser Vorlesung auf unterschiedliche Schreibformen
des Autobiographischen gerade mit Blick auf die Formen und Normen von Le-
benswissen noch gesondert eingehen. Vielleicht ließe sich die Autobiographie
weniger als ein Lebenswissen im eigentlichen Sinne, denn als Inszenierung von
Lebenswissen über das eigene Leben einschließlich seiner Herausbildung ver-
stehen. Hinsichtlich der literarischen Gattung der Memoiren wäre dies dann ein
Wissen über das Leben anderer, so wie sie im Blickfeld des schreibenden Sub-
jekts erscheinen.
Selbstverständlich kommt hierbei auch der Darstellung und Inszenierung
von Gefühlskulturen eine zentrale, tragende Rolle zu.25 Lebenswissen in den Li-
teraturen der Welt ist ein Leben modellierendes Wissen, das sich auf die Gestal-
tung der textinternen Figuren und Figurenkonstellationen bezieht, aber auch
an die textexternen Rezipienten und Instanzen richtet. Auf diesem Gebiet kom-
men somit die unterschiedlichen Beziehungen zwischen Literatur und Lebens-
vollzug in der Auseinandersetzung zwischen Lebensnormen und Lebensformen
zum Tragen.
Die Philologie sollte sich dringlich – so meine feste Überzeugung – mit dieser
spezifischen, aber gleichwohl ubiquitären Form des Wissens beschäftigen und un-
terschiedliche Ausprägungsformen, Dimensionen und Traditionen von Lebenswis-
sen untersuchen. In diesem Sinne würde sie ihrerseits wiederum Lebenswissen
erzeugen, das seinerseits gesellschaftlich relevant werden kann, so wie ich dies im
Übrigen auch in meinen Thesen zur im Lande Brandenburg eher beschwichtigend
geführten ‚Toleranz‘-Debatte bei einer gemeinsamen Tagung mit Philolog*innen
und Politiker*innen versucht habe.26 Denn das Wissen, das ich bestimmten Le-
benserfahrungen entnehme, muss nicht grundlegend anderer Natur sein als das
25 Vgl. hierzu Ette, Ottmar / Lehnert, Gertrud (Hg.): Große Gefühle. Ein Kaleidoskop. Berlin:
Kulturverlag Kadmos 2007.
26 Vgl. hierzu das neunte und letzte Kapitel „Differenz Macht Toleranz“ in Ette, Ottmar: Über-
Lebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004, S. 253–277.
142 Vom Begriff des menschlichen Lebens
dabei stets, auf der Analyseebene sehr klar die textinternen von den text-
externen Kommunikationsformen von Lebenswissen zu trennen, auch wenn
diese in den gerade genannten Beispielen sehr stark ineinander geblendet
erscheinen.
Gleichzeitig wird mit diesen Überlegungen deutlich, dass wir es mit einer fun-
damental-komplexen Struktur oder besser noch Strukturiertheit zu tun haben, da
die Dimensionen von Lebenswissen in einem literarischen Text durchaus eine
Komplexität besitzen, die ganz wie im Bereich der Biowissenschaften Voraussa-
gen ungeheuer erschwert oder gar verunmöglicht. Denn zu komplex sind die Bi-
furkationen und irreversiblen Prozesse, die in den Literaturen der Welt auf den
verschiedensten Ebenen ablaufen. Überdies dürfte hinlänglich klargeworden
sein, in welch starkem Maße Lebenswissen in literarischen Texten nicht nur prä-
sent, sondern relevant und entscheidend ist. Diese Dimensionen des Textes muss
die Philologie künftig einbeziehen, will sie nicht ein marginales und marginali-
siertes Schattendasein jenseits jeglicher gesellschaftlicher Relevanz spielen. Aus
dieser Randlage im Schatten sollten wir die Philologien wie – im engeren Sinne –
die Literaturwissenschaften unbedingt wieder herausholen!
Folgen wir den Untersuchungen eines Alexander von Humboldt in seinen
Vues des Cordillères et monumens des peuples indigènes de l’Amérique, so ist für
die Azteken Leben gleich Sprechen, während der Tod dann Verstummen oder
Schweigen ist. Wir haben auf den bildhandschriftlichen Darstellungen des
Codex Mendoza gesehen, wie dieses Sprechen – und damit das Leben – stets
durch die stilisierten Zungen angedeutet wird. Man könnte also sagen, dass der
Säugling beziehungsweise das Kleinkind in der Wiege gleichsam in eine Logos-
phäre eintreten und sofort mit dem Leben als Sprache ihrer Gemeinschaft in Be-
rührung kommen. Sie werden dabei mit ihrem eigenen Namen konfrontiert, mit
dem die anderen Kinder den Neuankömmling rufen: mit einem Namen, dessen
Bedeutungen sich dem Jugendlichen oder jungen Erwachsenen schrittweise
enthüllen werden. Diese Szenerie symbolisiert gleichsam eine Art sozialer Ge-
burt des Menschen: Seine Aufnahme in die sozialen Beziehungen und damit
zugleich auch in eine Sprachgemeinschaft werden deutlich. Diese soziale Ge-
burt des Säuglings erfolgt auf diese Weise – allgemeiner noch formuliert –
nicht nur in die eigene Gemeinschaft, sondern in eine Welt, die spricht, in eine
Welt der Logosphäre. Denn wir bewegen uns nicht nur in jener Sphäre, in wel-
cher wir Luft atmen können, also in der Atmosphäre, sondern auch in einer
Sphäre, in welcher uns unser Leben hindurch die Worte, die wir hören und die
Worte, die wir sprechen, tagtäglich begleiten.
Diese Überlegungen passen sehr gut zu einer Beobachtung oder – wenn Sie
so wollen – zu einem Fragment von Lebenswissen, das aus der Feder des fran-
zösischen Kultur- und Zeichentheoretikers Roland Barthes stammt, der selbst-
Vom Begriff des menschlichen Lebens 145
In diesem – wie ich finde – sehr filigranen Zitat von Roland Barthes, dessen
gesamtes theoretisches und literarisches Schaffen man unter das Zeichen des
Lebens stellen kann,28 wird eine substanzielle und symbolische Verbindung
zwischen der Stimme des Menschen und dessen Leben hergestellt. Innerhalb
dieser sorgsam geknüpften Relation wird die Stimme mit dem Leben identi-
fiziert – fast in einer Art anthropologischer Konstante, sobald wir diese Überle-
gung mit der Überzeugung der Azteken verbinden, welche die Stimme in eine
ursächliche Beziehung zum menschlichen Leben stellte. Denn die Stimme des
Menschen ist höchst fragil und zerbrechlich: Sie signalisiert und kommuniziert
bei weitem nicht bloß semantisch deutbare Sprachäußerungen, sondern gibt
uns mit ihrem Timbre und ihren Schwingungen, mit ihrem Abbrechen oder
ihrer Rauheit Auskunft über die Gefühlswelt oder die Befindlichkeit der Spre-
cherin oder des Sprechers, die zu uns sprechen. Sie erzählt uns viel vom Leben
dieser Personen.
Gleichzeitig wird das Leben im wahrsten Sinne des Wortes gerahmt von
zwei stimmlichen beziehungsweise phonischen Phänomenen und Momenten:
dem Schrei, also dem Geburtsschrei, den ein Mensch bei seiner Geburt und bei
der Umstellung auf die Atmung mit Sauerstoff ausstößt, und dem Schweigen,
das an die Stelle des Sprechens tritt und den Tod bedeutet. Das menschliche
27 Barthes, Roland: La Rature. In (ders. / Marty, Eric, Hg.): Œuvres complètes. Bd. 1:
1942–1965. Paris: Seuil 1993, S. 1437 f.
28 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: LebensZeichen. Roland Barthes zur Einführung. Zweite, unverän-
derte Auflage. Hamburg: Junius Verlag 2013.
146 Vom Begriff des menschlichen Lebens
Leben situiert sich zwischen Schrei und Schweigen. Es gibt, wenn Sie so wol-
len, eine akustische Markierung von Leben, insoweit die beiden Phänomene
und Augenblicke, die das Leben begrenzen und zugleich zum Leben machen,
auf erstaunliche Weise dominant akustischer Natur sind. Und ist der menschli-
che Schrei nicht eine erste Äußerung auf Ebene der Logosphäre? Kündigt er
nicht in der Welt der Sprachäußerungen an, dass das Ich im vollsten, aber auch
im Freud‘schen Sinne des Wortes da ist?
Zwischen Schrei und Schweigen erstreckt sich die nicht nur akustische Fra-
gilität der Stimme und damit des Lebens. Mit dem Schrei werden die Atmo-
sphäre und die Logosphäre miteinander verbunden: Bereits die Umstellung auf
die Lungenatmung beinhaltet ein Auf-die-Welt-Kommen, das sich notwendig
akustisch äußert und auch als Äußerung des Ich verstanden wird: Das Ich ist in
der Welt, ist auf die Welt gekommen. Es besitzt eine Stimme, die es zu Gehör
bringt.
Das Schweigen hingegen steht für den Tod, der für Roland Barthes – wie
er später in seiner friktionalen Autobiographie Roland Barthes par Roland Bart-
hes schrieb – als zutiefst undialektisch erscheint. Denn an diesem Punkt gibt
es keine Dialektik, von diesem Punkt geht keinerlei dialektische Bewegung
mehr aus. Im Tod und durch den Tod ist alles zum Stillstand gekommen: Alles
erstirbt im Schweigen. An ein Leben voller Sprache schließt sich ein langes
Schweigen an …
Bei Roland Barthes finden wir im Übrigen eine interessante Überlegung zu
Geburt und Leben in seinen Vorlesungen von 1977 und 1978 am Collège de
France, die unter dem Titel Comment vivre ensemble stattfanden und veröffent-
licht wurden.29 Dort beschäftigt sich Barthes mit der Figur der „clôture“, des
Sich-Abschließens und Sich-Einschließens, und kommt dort zu folgender Ein-
schätzung: „(Auf der symbolischen Ebene gibt es keinen anderen absoluten
Schutz als den Bauch seiner Mutter). Herauskommen, dies bedeutet den Schutz
aufzugeben: Das ist das Leben selbst.“30
Die psychoanalytischen Hintergründe dieser Passage sind evident und liegen
klar auf der Hand. Und doch gelangen wir in diesen Formulierungen zugleich zu
einer anderen Einsicht in das Leben selbst. Letzteres wird hier definiert als ein
Sich-Preisgeben, als ein Schutzlos-Werden durch den Geburtsakt selbst, durch
das Herauskommen aus dem mütterlichen Körper. Leben heißt folglich, den
29 Vgl. Barthes, Roland: Comment vivre ensemble. Simulations romanesques de quelques es-
paces quotidiens. Notes de cours et de séminaires au Collège de France, 1976–1977. Texte établi,
annoté et présenté par Claude Coste. Paris: Seuil – IMEC 2002.
30 Ebda., S. 96: „(symboliquement, il n’y a pas d’autre protection absolue que le ventre de
sa mère). Sortir, c’est se déprotéger: la vie elle-même.“
Vom Begriff des menschlichen Lebens 147
Schutz durch die Mutter aufgeben, von der Mutter getrennt sein. Die autobi-
ographischen Bezüge zu den Lebensumständen von Roland Barthes, der zeit
seines Lebens und bis zu ihrem Tode mit seiner Mutter zusammenlebte, sind
offenkundig und bedürfen an dieser Stelle keiner weiteren Erläuterung. Wir
könnten aber auch die Perspektive umkehren und folglich sagen: Leben ist
ein Ent-Decken, das mit dem Geburtsvorgang, mit dem Verlassen des Uterus
beginnt und von dort her seinen Ausgang nimmt.
Zum Abschluss unserer theoretischen Annäherung an das Thema Geburt,
Leben, Sterben und Tod – und selbstverständlich werde ich die Ergebnisse unseres
Theoriedurchgangs stets in die nachfolgenden Textanalysen einspeisen, anhand
dieser literarischen Texte überprüfen und gegebenenfalls modifizieren – möchte
ich Sie gerne mit einer während des Zeitraums einer ersten Konzeption dieser Vor-
lesung erschienenen biowissenschaftlichen Arbeit konfrontieren, welche die Frage
nach Leben und Geburt aus gentechnologischer Perspektive stellt. Denn ich habe
Ihnen ja versprochen, das interdisziplinäre Gespräch mit biowissenschaftlichen
Ergebnissen und Einsichten zu pflegen und für unsere Vorlesung lebenswissen-
schaftlich nutzbar zu machen.
Der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung in Hannover lehrende Gentechno-
loge und Stammzellenforscher Christopher Baum versuchte in seinem lesenswer-
ten Beitrag, einer reduktionistischen Haltung entgegenzutreten, der zufolge die
Gene uns auf allen Ebenen prägen würden und uns gleichsam deterministisch
vorgeben, was wir tun oder lassen werden, woran wir erkranken und wohl auch
sterben werden – wie unser gesamtes Leben folglich aus biowissenschaftlicher
Sicht verlaufen wird. Baum wendet sich dabei bewusst auch gegen die allzu ver-
breitete Vorstellung, die Einzigartigkeit eines Menschen beruhe auf der Einzigar-
tigkeit seiner Gene – und dass letztere alles für das weitere Leben vorgäben, der
Mensch also nichts weiter wäre als eine genetisch vorprogrammierte Maschine.
Demgegenüber entwickelt Baum eine Vorstellung von Individuation, in der
wir eine Reihe von Elementen wiederfinden werden, die wir bereits bei unserer
kurzen Beschäftigung mit Friedrich Cramer kennengelernt hatten. Dazu zählen
insbesondere das Thema der Irreversibilität und das der Unvorhersehbarkeit,
denen sich Baum in seinen Überlegungen zuwendet. Denn diese zeichnen auch
für diesen Stammzellenforscher das menschliche Leben aus:
Individuation ist ein fortschreitender und irreversibler Prozeß und hat offenbar etwas mit
multilateraler Kommunikation zu tun. Individuation setzt Freiheit und Kommunikation
voraus; sie integriert die genetische Information als eine von vielen Quellen. Umgekehrt
ist die sogenannte Einmaligkeit der Gene aber nicht definierend für ein Individuum. Ein
menschliches Individuum kann daher sowohl als genetisch reproduzierter Zwilling als
auch als (denkbare, aber noch nicht realisierte) genetisch heterogene Aggregations-
Chimäre ein selbstbestimmtes Leben führen.
148 Vom Begriff des menschlichen Lebens
Der größte Einfluß der Gene findet sich kurz nach der Befruchtung. In den ersten
Teilungsstadien verhält sich das befruchtete Ei nahezu autark, umweltunabhängig. Viel-
leicht aus diesem Grunde kann der frühe Embryo auch so gut in vitro, in der Retorte, ge-
deihen; bis hin zur Formung der Blastozyste, aus der die embryonalen Stammzellen
gewonnen werden. [...]
Noch vor der ersten entscheidenden Differenzierung, die zur Bildung der drei Keim-
blätter führt (Gastrulation), findet die Nidation in der Gebärmutter statt. Dies ist das erste
wirklich kommunikative und soziale Stadium der menschlichen Existenz. Alle nachfol-
genden Schritte finden in Interaktion mit mütterlichem Gewebe statt: Die Plazenta baut
sich auf, ein Mischgewebe aus mütterlichen und kindlichen Anteilen, und die Körperan-
lagen des Embryos bilden sich unter ihrem Einfluß heraus.
Je weiter die Embryogenese und die Fötalentwicklung voranschreiten, desto größer
wird der Umwelteinfluß. Zunächst handelt es sich um eine rein bilaterale Beziehung zur
Mutter; in der späten Fötalzeit entstehen neuronale Vernetzungen, deren spezifischer
Aufbau bereits stark reizabhängig ist. Das Hörvermögen wird intrauterin schon so weit
ausgebildet, dass erste nicht-mütterliche externe Signale aufgenommen werden können.
Mit der Geburt tritt der Mensch erstmals in die erweiterte Umwelt ein. Und wie bekannt,
zeichnet sich das nachgeburtliche Leben durch eine immer buntere multilaterale Kommu-
nikation und Sozialisierung aus, die den Einfluß der Gene zunehmend reduziert und in
der Gewichtung für die Entwicklung zurückdrängt.31
Wir werden uns noch des Öfteren im Verlauf dieser Vorlesung mit Fragen der
Genforschung auseinanderzusetzen haben; denn in der Tat scheint es mir wich-
tig, die Herausforderungen, die seitens der Biowissenschaften in die gesamte
Gesellschaft getragen werden, auch in den Philologien aufzugreifen und unsere
Disziplin den neuen gesellschaftlichen Anforderungen entsprechend zu modifi-
zieren. In der soeben angeführten Stellungnahme von Christopher Baum, die
von Seiten eines Genforschers so ganz anders daherkommt, als die Massenme-
dien mit ihrer deterministischen Hysterie und Heilserwartung uns dies glauben
machen wollen, zeichnet sich freilich ein Menschenbild ab, das nicht von den
Genen her zentriert ist. Vielmehr wird darauf verwiesen, dass bereits pränatal
vom Fötus die ersten Signale aufgenommen werden, die jenseits der Mutter
ausgestrahlt wurden, so dass man bereits im Mutterleib von den Anfängen
einer ersten Sozialisation, einer ersten Einlassung auf die Gesellschaft gespro-
chen werden kann.
31 Baum, Christopher: Vom Sinn der Grenzen. Dialektik in der Gentherapie und Stammzellfor-
schung. In (Albrecht, Stephan / Dierken, Jörg / Freese, Harald / Hößle, Corinna, Hg.): Stamm-
zellforschung – Debatte zwischen Ethik, Politik und Geschäft. Dokumentation der Vorträge aus
der öffentlichen Ringvorlesung „Probleme um die Stammzellforschung und Reproduktionsmedi-
zin – Debatte zwischen Ethik, Politik und Geschäft“ im Rahmen des Allgemeinen Vorlesungswe-
sens der Universität Hamburg aus dem Sommersemester 2002. Hamburg: HUP 2003, S. 77–97,
hier S. 87 f.
Vom Begriff des menschlichen Lebens 149
Doch in die Geschichte des Todes werden wir uns auf einer theoretischen
Ebene erst später einarbeiten. An dieser Stelle unserer Vorlesung soll der Be-
ginn zunächst – anders als bei der Frage der Geburt – von der Seite der Litera-
tur her, durch die literarischen Texte selbst, und daher unter Rückgriff auf das
Lebenswissen der Literaturen der Welt erfolgen. Lassen Sie mich betonen, wie
wichtig es mir ist, die biowissenschaftlichen, aber auch die biopolitischen Di-
mensionen der von uns thematisch gewählten Themenstellung von Geburt,
Leben, Sterben und Tod herauszustellen! Die Thematik der Herrschaft über den
individuellen Körper und dessen Disziplinierung ist fundamental verknüpft mit
der Macht über den Gesellschaftskörper wie über den politischen Körper mit all
seinen soziokulturellen Implikationen.
Halten wir fest: Biopolitische Fragen sind stets Fragen der Macht – sowohl
die Frage nach der Macht bestimmter Traditionen oder kultureller Normen als
auch die Frage nach der Durchsetzung bestimmter Normen oder konkreter Ein-
griffe in das Leben, in die Lebensabläufe der betroffenen Bürger, der Indivi-
duen, ja ganzer Völker! Dies lässt sich nicht mit Hilfe einer rein nationalen oder
areabezogenen Begrenztheit, sondern nur mit Hilfe einer transareal aufgestell-
ten Forschung angehen.32 Das Feld des Biopolitischen reicht von der Geburten-
kontrolle bis hin zu Fragestellungen der Euthanasie, also von der Eugenik bis
zu Fragen der Bevölkerungsexplosion und der Abtreibung. Selbstverständlich
sind auch weltweite Phänomene des europäischen Kolonialismus wie der Skla-
venhandel oder die Verpflanzung von ‚Coolies‘ aus Indien oder China in die
amerikanische Hemisphäre biopolitische Vorgänge von größter Relevanz.
Freilich kann das gesamte biopolitische Themenfeld im Rahmen unserer Vor-
lesung auch nicht annähernd ausgeleuchtet werden. Doch sollten wir selbst bei
der Analyse vermeintlich unscheinbarer Details literarischer Repräsentation immer
im Gedächtnis behalten, dass noch die kleinsten Details und einen sehr weitrei-
chenden Einblick in Biopolitiken vermitteln können und uns ein Wissen vom
Leben und dessen (gesellschaftlich kontrollierten und bestimmten) Grenzen dar-
bieten, das in der Regel im Bereich der Literaturwissenschaften höchstens margi-
nal zur Kenntnis genommen zu werden pflegt. Mit unserer Vorlesung versuchen
wir, daran etwas Entscheidendes zu ändern und die Literaturen der Welt als einen
Erprobungsraum zu begreifen, in welchem wir die unterschiedlichsten Formen
von Lebenswissen, Erlebenswissen, Überlebenswissen und Zusammenlebenswis-
sen in ihrer literarästhetischen wie in ihrer soziopolitischen und kulturellen Wirk-
samkeit sinnlich erfahren und mehr noch erleben können.
Auf unserem bisherigen Weg durch die Vorlesung haben wir uns eine Reihe
von Einsichten erarbeitet. Wir hatten im ersten Teil unserer Veranstaltung bei-
spielsweise festgehalten, dass es drei zentrale Charakteristika des Lebens gibt –
grundsätzliche Erkenntnisse, die wir zunächst aus den Biowissenschaften abge-
leitet hatten. Dazu zählten erstens die Irreversibilität des Lebens und der Le-
bensprozesse; zweitens die Tatsache, dass die Summe der Teile nicht das Ganze
ausmacht und daher sich das Leben nicht einfach in seine Einzelteile zerlegen
lässt, um danach einfach wieder zusammengesetzt werden zu können; und
schließlich drittens die radikale Unvorhersagbarkeit des Lebens, eine Einsicht,
die sich gerade auch im Bereich der Biowissenschaften durchzusetzen beginnt
und daher längst nicht mehr ein beklagenswertes Fehlen von Wissenschaftlich-
keit darstellt. Wir haben damit die Eckpfeiler dessen identifiziert, was alle Le-
bensprozesse zwischen Geburt und Sterben auszeichnet.
Nun aber kommen die Literaturen der Welt ins Spiel. Sie bilden – wie wir ja
bereits wissen – eine Art Labor, einen Experimentierraum des Wissens und ins-
besondere des Lebenswissens, in welchem grundlegende Fragen und Herausfor-
derungen angegangen werden können. Dies gilt selbstverständlich auch für jede
einzelne der von uns festgehaltenen Grundbedingungen von Lebensprozessen.
Was aber geschieht, wenn wir die erste dieser drei Bedingungen verändern? Was
ereignet sich, wenn wir also die beiden anderen Bedingungen aufrechterhalten,
die Irreversibilität des Lebens aber außer Kraft setzen und das Leben umkehren?
Mit anderen Worten: Welches Wissen über Leben und welches Überlebenswissen
können wir erreichen und erhalten, wenn wir das Leben in seinem Ablauf um-
kehren, also mit dem Sterben beginnen und mit dem Verschwinden im Mutter-
bauch enden?
Genau dieser Frage ist Alejo Carpentier in seiner phantastischen Erzäh-
lung Viaje a la semilla nachgegangen. Bei dieser Reise zum Samen handelt es sich
um die titelgebende Geschichte seines gleichnamigen Erzählbandes Viaje a la se-
milla, der im Jahr 1944 erschien. Bevor wir uns mit diesem Text auseinandersetzen,
möchte ich Ihnen wie gewohnt einige wichtige Biographeme zu diesem berühmten
kubanischen Autor an die Hand geben.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-005
154 Alejo Carpentier oder die Reversibilität der Lebensreise
Alejo Carpentier y Valmont1 wurde am 26. Dezember 1904 nicht, wie er selbst
immer wieder kolportierte und verschiedentlich streute, in La Habana, sondern
vielmehr in der Schweiz, in Lausanne geboren und verstarb am 24. April 1980
wiederum nicht auf Kuba, sondern in seinem geliebten Paris. Seine Eltern waren
väterlicherseits ein französischer Architekt namens Georges Julien Carpentier
sowie mütterlicherseits eine gebürtige Russin, Lina Valmont, die in der Schweiz
aufgewachsen war, Medizin studiert hatte und als Sprachlehrerin arbeitete. Car-
pentiers Eltern waren zwei Jahre zuvor (nur einige Monate nach der politischen
Unabhängigkeitserklärung Kubas am 20. Mai 1902) nach Kuba ausgewandert
und hatten sich auf der Karibikinsel niedergelassen.
Der kleine Alejo erhielt in der kubanischen Hauptstadt eine sehr gute Erzie-
hung. In der reich ausgestatteten Bibliothek seines Vaters las er mit Begeisterung
die Werke der französischen Romantiker und der spanischen Modernisten: Ein
weiter Lektürehorizont bildet sich aus und erste Erzählungen sowie frühe Ro-
manversuche entstehen. Zu Hause wurde er auf Französisch erzogen, auf der
Straße sprach er Spanisch; auch seine englische Sprachausbildung war hervorra-
gend. In seiner Jugend begleitete er seine Eltern auf einer Reise nach Russland
sowie in weitere Länder Europas. Nach ihrer Rückkehr verbrachten die Carpen-
tiers längere Zeit in Paris, wo Alejo das Lycée Jason de Sailly besuchte. Aus dieser
Zeit stammt seine Verbundenheit mit Europa und seine Liebe zur französischen
Hauptstadt. Sein Abitur machte er jedoch in La Habana.
In der Absicht, später einmal in das Geschäft seines Vaters einzutreten, begann
er ein Architekturstudium an der dortigen Universität, das er jedoch bald schon
abbrach. Zugleich studierte er Literatur und Musikwissenschaft. Beide Eltern
waren hervorragende Musiker; eine Leidenschaft, die Alejo Carpentier von sei-
nen Eltern erbte, wobei er schon in jungen Jahren musikalische Studien fort-
setzte, die er bereits als Kind begonnen hatte. Diese Leidenschaft wird sich in
der Folge in einer Reihe von Büchern und Aufsätzen über musikalische Themen
niederschlagen. Als der Vater eines Tages die Familie verließ, brach Alejo sein
Studium ab und begann zu arbeiten. Er schrieb für verschiedene Zeitungen und
Zeitschriften der kubanischen Hauptstadt und trat bald der politischen Opposi-
tionsbewegung gegen Diktator Gerardo Machado bei. Dieses politische Engage-
ment sollte ihn prägen.
Seit 1923 gab er die Wochenzeitschrift Carteles heraus. 1927 gründete er au-
ßerdem zusammen mit Nicolás Guillén und anderen die renommierte Revista
de Avance, die bald zum Sprachrohr der intellektuellen Avantgarde in Kuba
wurde. Zahlreiche renommierte kubanische Linksintellektuelle und Künstler
rund um die Minoristen-Gruppe zählten zu seinem Freundeskreis. Gleichzeitig
war er Mitarbeiter bei der konservativen, stets aber mit einem spannenden
Feuilleton aufwartenden Zeitung Diario de la Marina und schrieb Artikel für die
Wochenzeitschrift Social. Seine rebellischen Aktivitäten brachten ihn schließ-
lich unter der Machado-Diktatur für kurze Zeit ins Gefängnis, wo eine erste Ver-
sion seines afrokubanischen Romans Ecué-Yamba-O! entstand, der 1933 in Madrid
erschien. 1928 nutzte er die Veranstaltung eines internationalen Journalistenkon-
gresses, um sich mit der Unterstützung des französischen Dichters Robert
Desnos, der ihm seinen eigenen Pass zur Verfügung stellte, nach Frankreich
einzuschiffen und für elf Jahre freiwillig ins Exil nach Paris zu gehen. Seine
zweite Pariser Periode beginnt.
In Frankreich nahm er zusammen mit Robert Desnos und André Breton, der
Zentralfigur des französischen Surrealismus, an den Aktivitäten dieser Bewegung
teil und knüpfte zahlreiche Kontakte in die zeitgenössische Komponistenszene.
Er lebte von seinen Artikeln und Radioprogrammen und war Mitarbeiter bei zahl-
reichen französischen und spanischen Zeitschriften. Nach dem Tod seiner ersten
Frau, der Schweizerin Marguerite Lessert, heiratete er die Französin Eva Fréja-
ville. 1936 unternahm er eine kurze Reise nach Kuba, um seine Mutter zu besu-
chen. Häufiger aber begab er sich während seiner Pariser Jahre nach Madrid, wo
er für spanische Zeitschriften schrieb und die Elite der spanischen Schriftsteller
und Intellektuellen wie Federico García Lorca, Rafael Alberti, Miguel Hernández
und viele andere kennenlernte.
Erneut engagierte sich Carpentier politisch und bezog klar Position gegen
den in Europa vorrückenden Faschismus. 1937 nahm er am Internationalen
Kongress der antifaschistischen Intellektuellen in Madrid, Valencia, Barcelona
und Paris teil, der zur Unterstützung der Spanischen Republik abgehalten
wurde und zum Kampf gegen die Putschisten unter General Franco aufrief.
Dort lernte er unter anderem den mexikanischen Dichter Octavio Paz kennen.
In Paris trat er mit dem guatemaltekischen Schriftsteller Miguel Ángel Asturias
sowie mit Pablo Picasso in Verbindung und vertiefte seine Beziehungen zum
156 Alejo Carpentier oder die Reversibilität der Lebensreise
und seine Vision der Geschichte Amerikas nicht ohne Verweise auf eine Ge-
schichte der Musik entfaltete.
Um die Mitte der fünfziger Jahre war Alejo Carpentier zweifellos einer der be-
kanntesten Schriftsteller Lateinamerikas. Nach dem Triumph der kubanischen
Revolutionäre um Fidel Castro am 1. Januar 1959 stellte er sich zügig auf die Seite
der Kubanischen Revolution und kehrte 1959 nach Kuba zurück. Von Fidel Castro
wurde er zum Staatsminister ernannt und sogleich mit der Leitung des Verlags
Editorial Nacional betraut, dem eine wichtige Rolle bei der Alphabetisierung der
Inselbevölkerung zukam. Carpentier wurde zu einem wichtigen Mitglied der ku-
banischen Regierung und unternahm diplomatische Reisen in die Sowjetunion
sowie in die osteuropäischen Staaten, später auch nach Vietnam.
1962 erschien sein Roman El Siglo de las Luces, Das Jahrhundert der Aufklä-
rung, dessen Entstehung in die fünfziger Jahre zurückreicht und in dem er die
Übertragung von Prinzipien der Französischen Revolution auf die Karibik schil-
lernd thematisiert. Der historisierende Roman entfaltet ein breites historisches
Fresko, das in einigen Teilen auch als Warnung vor Fehlentwicklungen in der
Revolution gelesen werden kann. In den Folgejahren stand er treu zur Revolu-
tion, suchte jedoch zugleich eine gewisse Distanz zu jenen politischen Entwick-
lungen, die gewiss nicht in einem Sinne waren.
So lebte Alejo Carpentier von 1966 bis zu seinem Tod im Jahr 1980 wieder in
‚seinem‘ Paris als Kulturattaché der kubanischen Regierung für Frankreich und
Europa. Während dieser Jahre rundete er mit mehreren Romanen – etwa Con-
cierto barroco, El acoso, La harpa y la sombra oder La consagración de la prima-
vera – und sehr einflussreichen Essaybänden sein literarisches Gesamtwerk
höchst produktiv ab. 1978 erhielt er den Premio Cervantes, die höchste literari-
sche Auszeichnung der spanischsprachigen Welt, den er der Kommunistischen
Partei Kubas stiftete. Er starb am 24. April 1980, national wie international hoch-
geehrt und mit einer Vielzahl renommierter Literaturpreise ausgezeichnet, fernab
der Revolution in seiner Pariser Wohnung.
Die Erzählung, mit der wir uns in der Folge beschäftigen wollen, ist in drei-
zehn römisch durchnummerierte Abschnitte unterteilt, die ihrerseits immer
recht kurz gehalten sind und selten anderthalb Seiten überschreiten. Da es sich
um eine zusammenhängende Erzählung handelt, würde ich auch nicht von
dreizehn seriellen Mikroerzählungen sprechen, sondern nur von einer Auftei-
lung und Untergliederung, die einen kurzen Kommentar verdient.
Denn die Zahl dreizehn ist bei einem poeta doctus wie Alejo Carpentier nicht
ganz unwichtig. Klar ist, dass er diese Zahl, deren Mittelpunkt bei der Zahl sieben
liegt, nicht nur als Primzahl ausgewählt hat, sondern dass sie – bei einem so sehr
frankophilen Autor wie Carpentier – eine zweifellos literaturgeschichtliche Bedeu-
tung hat. Bei der Zahl dreizehn ergeben sich sofort intertextuelle Beziehungen:
158 Alejo Carpentier oder die Reversibilität der Lebensreise
Einer der berühmtesten Verse der französischen Literaturgeschichte ist von Gérard
de Nerval und stammt aus dem Gedichtzyklus seiner Chimères. Ich möchte
Ihnen – auch wenn es auf den ersten Blick ein wenig hergeholt erscheint – gerne
dieses Sonett mit dem Titel Artémis in voller Länge präsentieren, zumal es sich
(und auch das verberge ich nicht) um eines meiner Lieblingssonette handelt:
Die Dreizehn kehrt wieder... Und ist doch noch die Erste;
Und sie ist stets die einzige,– ist der einzige Moment;
Denn bist, oh Du, Königin!, die letzte oder die erste?
Bist Du, mein König, ihr einzger oder letzter Amant?...
2 Nerval, Gérard de: Artémis. In (ders.): Les Filles du feu – Les Chimères. Paris: Michel Lévy
frères 1856, S. 294.
Alejo Carpentier oder die Reversibilität der Lebensreise 159
Wir haben an dieser Stelle sicherlich nicht die Zeit, eine eingehende Interpreta-
tion Gérard de Nervals Sonett zu entwickeln. Die titelgebende Göttin Artemis
ist, wie Sie sicherlich wissen, eine der populärsten Göttinnen aus der griechi-
schen Welt der Mythen und Sagen und zählt zu den zwölf großen olympischen
Göttern. Sie ist auf der einen Seite die Göttin der Jagd und des Waldes, als wel-
che sie auch im Park von Sanssouci mehrfach dargestellt wird, aber auch der
Geburt, des Mondes und Hüterin der Frauen. Ihre Abkunft könnte höher kaum
sein, denn sie ist die Tochter des Zeus und der Leto sowie Zwillingsschwester
des Apollon.
Artemis ist allgemein in der populären Mythologie die jungfräuliche Jagd-
göttin, doch wurden – wie schon angedeutet – nach und nach weitere Attribute
lokaler Herkunft auf sie übertragen. Dabei wurde sie auch zur Herrin der Tiere
des Waldes und pflegte jene hart zu bestrafen, die sie beleidigt hatten. So ver-
langte sie etwa von Agamemnon zur Strafe für eine Schmähung die Opferung
seiner Tochter Iphigenie – Sie erinnern sich –, als die griechische Flotte auf
dem Weg nach Troja die Häfen nicht verlassen konnte, weil kein Wind aufkom-
men wollte. Wir haben uns schon in einer früheren Vorlesung mit Artemis und
der von ihr entführten Iphigenie im Taurerlande in einer mexikanischen Adap-
tation von Alfonso Reyes beschäftigt, in welcher die griechische Göttin gleich-
sam entkolonisiert und aztekisiert oder mexikanisiert wurde.3 Die literarische
Verwandlungsfähigkeit dieser schönen, aber unnahbaren griechischen Göttin
ist fast unbegrenzt.
Einerseits darf Artemis als Verderben bringend gesehen werden, anderer-
seits aber kann sie auch Linderungen verheißen: So konnte sie eine schmerz-
lose Niederkunft und damit den Gebärenden große Hilfe schenken. Starben
Frauen im Wochenbett, so glaubte man, sie seien von Artemis mit einem Pfeil
getroffen und erlöst worden; und so opferte man der Göttin die Kleider der
Toten. Insbesondere die jungen Mädchen flehten ihren Schutz an, indem sie
der Göttin Artemis vor ihrer Hochzeit Opfer darbrachten und auf eine glückliche
Niederkunft hofften. Aber auch als Vegetations- und Fruchtbarkeitsgöttin tritt
Artemis vielfach im antiken Mythos in Erscheinung. Ihr Kultbild stellte sie bis-
weilen als die ‚Vielbrüstige‘ dar, die überall ihren Reichtum verbreitet und aus
der der Lebensstoff unendlich hervorquillt; zugleich wird auch auf phallische
Tänze zu ihren Ehren verwiesen (Abb. 14). In Kleinasien stand der Kult der Arte-
mis im Grunde dem Kult der Großen Mutter zur Seite und war mit diesem
gleichbedeutend. Später wurde sie sogar mit der Mondgöttin Selene verschmol-
3 Vgl. das Alfonos Reyes’ Ifigenia cruel gewidmete Kapitel im dritten Band der „Aula“-Reihe in
Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne (2021), S. 196 ff.
160 Alejo Carpentier oder die Reversibilität der Lebensreise
zen, als die sie Nacht für Nacht ihren Geliebten Endymion besuchte – eine Epi-
sode des Mythos, auf die wir bei unserer Beschäftigung mit Balzacs Novelle
Sarrasine und dessen Deutung durch Roland Barthes stießen.4
Das Liebesmotiv in Nervals Gedicht verbindet sich im Zeichen der Artemis
mit dem Tod; und von Beginn an zeigt die Zahl 13 an, dass wir es in diesem
Sonett mit einem Zyklus zu tun haben. Denn die dreizehnte Stunde wird –
wenn Sie auf das Zifferblatt Ihrer analogen Uhr schauen, auf dem 13 Uhr gleich
1 Uhr ist – wieder zur ersten, zur einzigen, zusammengeschmolzen in einem
einzigen Moment, einer einzigen Liebe („moment“ – „amant“).
Ein ganzes Leben spannt sich im zweiten Quartett auf: Denn hier erscheint
eine Liebe, die von der Wiege, also von der Geburt, bis zur Bahre reicht, also
zum Tod. Denn das französische Lexem „bière“ meint nicht – wie es einmal im
Doktorandenkolloquium von Erich Köhler in Freiburg hieß, wo ein Doktorand
„bière“ im übertragenen Sinne mit ‚Suff‘ übersetzte – ein beliebtes alkoholi-
sches Getränk, sondern die „Bahre“, auf der eine Lebensreise zu Ende gegan-
4 Vgl. hierzu den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Wel-
ten (2021), S. 794–796.
Alejo Carpentier oder die Reversibilität der Lebensreise 161
gen ist. Das zweite Quartett umfasst mithin den gesamten Vorgang von Geburt,
Leben, Sterben und Tod und stellt diese Gesamtheit in den Zusammenhang
einer beiderseitigen Liebe. Damit aber wird die mütterliche Liebe evoziert und
der Bezug zur Mutter hergestellt, ist sie es doch, die von der Wiege bis zur
Bahre liebt und deren Bild sich zugleich mit dem Tod – der im romanischen
Kulturbereich bekanntlich weiblich ist – und zudem mit der Toten, „la mort“
und „la morte“, verbindet. Das Bild der (toten) Geliebten ist noch immer im
Bild der Mutter präsent – und umgekehrt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht auf die poetische Bewegung
einer Sakralisierung der Geliebten und der Mutter eingehen, die im Zeichen der
neapolitanischen Heiligen in den beiden Terzetten durchgeführt wird. Es sei le-
diglich darauf hingewiesen, dass neben die mütterliche und die geschlechtli-
che, erotische Liebe im Sonett nun auch die göttliche Liebe tritt. Entscheidend
ist für unseren spezifischen Kontext, dass in diesem lange nachhallenden Ge-
dicht Gérard de Nervals – das Alejo Carpentier nach meiner Überzeugung si-
cherlich vor Augen hatte, als er Viaje a la semilla schrieb – die Zahl 13 für die
ewige Wiederkehr und Wiederholung einsteht, für den Zyklus, der zugleich
auch einen Lebenszyklus umfasst und die letzte mit der ersten Stunde, die
letzte mit der ersten Geliebten verschmelzen lässt.
In Carpentiers Erzählung aus dem Jahre 1944 sehen wir uns zunächst mit
dem Abriss eines einst prachtvollen Hauses konfrontiert, das Stück für Stück
von schwarzen Bauarbeitern eingerissen und abgetragen wird. Dabei werden
allerlei an die griechisch-römische Antike, sicherlich aber auch an die kolonial-
spanische Bauweise eines Stadtpalasts gemahnende künstlerische Elemente
und Bauteile für immer zerstört. Die gesamte Szenerie spielt, wie wir bald be-
merken werden, in Havanna, der von Carpentier so genannten Ciudad de las
Columnas, der Stadt der Säulen.5 Und es handelt sich um das Haus oder besser
den Palast des Marqués de Capellanías, mithin ein historisches Gebäude, was
bei einem so gebildeten Schriftsteller wie Alejo Carpentier nicht verwundert.
Ein alter Schwarzer wird von den Bauarbeitern angesprochen, die schon
bald Feierabend machen und den endgültigen Abriss des Hauses auf den näch-
sten Tag verschieben. Gleich zu Beginn des zweiten Kapitels vollführt der unbe-
kannte Alte allerlei merkwürdige Bewegungen und schwingt seine Krücken
über einen Friedhof von Ziegeln und Platten. Wir sind auf Kuba, im Herzen von
La Habana, und selbstverständlich handelt es sich um afrokubanische Be-
schwörungsriten, wie sie in der kubanischen Geschichte bis heute in unter-
5 Vgl. Carpentier, Alejo: La Ciudad de las Columnas. La Habana: Editorial Letras Cubanas
1982.
162 Alejo Carpentier oder die Reversibilität der Lebensreise
schiedlichsten Kulten lebendig geblieben sind. Alejo Carpentier hatte nicht um-
sonst seinen ersten Roman diesen afrokubanischen Riten gewidmet und war
mit dem großen Erforscher dieser afrokubanischen Religionen und ‚Erfinder‘
des im Übrigen vier Jahre zuvor geschaffenen Begriffs der Transkulturation6
bestens bekannt: dem kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz.
Schon bald beginnen wir als Leserinnen und Leser zu begreifen, dass mit
den scheinbar skurrilen Bewegungen des Alten eine Zeit wiedererweckt wird,
die eigentlich unrettbar vergangen ist und die gleichsam mit diesem Hausabriss
definitiv zu Grabe getragen wird. Doch nun hat eine fundamentale Verände-
rung eingesetzt. Denn alles springt wieder zurück, alle bereits heruntergebro-
chenen Balustradenteile und Dachgauben bilden sich wieder neu: Der Palast
des Marqués kehrt in seinen funktionstüchtigen Zustand zurück. Und nun,
nachdem der Alte die Tür des Hauses mit einem Schlüssel wieder geöffnet hat,
beginnt am Übergang zum dritten Kapitel sich das Haus wieder mit Leben, ge-
nauer noch: mit dem langsamen Übergang vom Tod zum Leben zu füllen.
Sehen wir uns dies am Übergang vom zweiten zum dritten Kapitel genauer an:
Don Marcial, Marquis von Capellanías, lag auf dem Totenbett, die Brust medaillengepanzert
und von vier großen Kerzen mit langen Bärten aus geschmolzenem Wachs eskortiert.
III
Die Kerzen wuchsen langsam und nahmen ihre Schweißtropfen wieder auf. Als sie die
volle Größe wiedererlangt hatten, löschte sie die Nonne aus, indem sie ein Licht weg-
nahm. Die Dochte wurden weiß und schleuderten den verkohlten Teil von sich. [...] Als
der Arzt mit professioneller Verzweiflung den Kopf schüttelte, fühlte der Kranke sich bes-
ser. Er schlief einige Stunden und wachte unter dem schwarzen und brauenbeschatteten
Blick von Padre Anastasio auf. Aus der freimütigen, detaillierten und sündenbeladenen
Beichte wurde eine mit plötzlichem Schweigen, peinlichen Worten, zahlreichen Heimlich-
keiten. Und welches Recht hatte der Karmelitermönch im Grunde, sich in sein Leben zu
mischen? Don Marcial fand sich auf einmal in der Mitte des Zimmers wieder. Befreit von
einem Druck auf die Schläfen, erhob er sich überraschend schnell. Die nackte Frau,
die sich in den Brokatstoffen des Bettes räkelte, suchte nach Mieder und Unterrock
und nahm wenig später das Rascheln zerknüllter Seide und den Duft mit sich fort.
Unten in dem geschlossenen Wagen lag auf den Nägeln des Ledersitzes ein Kuvert mit
Goldmünzen.7
6 Vgl. hierzu Ortiz, Fernando: Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar. Prólogo y Cronolo-
gía Julio Le Riverend. Caracas: Biblioteca Ayacucho 1978. Vgl. hierzu auch das entsprechende
Kapitel in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne (2021),
S. 741 ff.
7 Carpentier, Alejo: Reise zum Ursprung. [Übersetzung von Anneliese Botond]. In: Schnelle,
Kurt (Hg.): Reise zum Ursprung. Kubanische Erzählungen. Frankfurt am Main: Röderberg-
Verlag 1973, S. 128–145, hier S. 130.
Alejo Carpentier oder die Reversibilität der Lebensreise 163
Wir haben verstanden: Vor unseren Augen entrollt sich eine Szenerie in umge-
kehrter Abfolge – Alejo Carpentier hat in seiner Erzählung den Zeitpfeil umge-
dreht! Der gerade noch tote Marquis wacht auf, sein Sterben und Tod gehen
gleichsam in eine Geburt, in ein anderes Leben über, das sich nun vor ihm auf-
tut, freilich ohne dass er wüsste, wie es weitergehen soll. Der kubanische
Schriftsteller hat sich seine Erzählung, die kurze Zeit nach seiner Reise nach
Haiti und der ‚Entdeckung‘ des „Real-Wunderbaren“ entstand, nicht leicht
gemacht.
Denn es wird nicht einfach alles umgekehrt erzählt. Vielmehr denken die
handelnden Personen – und insbesondere der Protagonist selbst – in eine um-
gekehrte Richtung und erleben den Lebensablauf gleichsam in umgekehrter
Vektorizität neu. Mit anderen Worten: Sie kennen den weiteren Fortgang ihres
Lebens, ihrer Reise, noch nicht und erleben diese ‚umgedrehte‘ Vektorizität wie
ein neues Leben. Dabei ist vom Titel her der Topos der Lebensreise bereits an-
gekündigt, nur dass dies nicht wie bei Nerval eine Reise von der Wiege bis zur
Bahre, sondern von der Bahre bis zur Wiege wird – doch ausgestattet mit der-
selben Unvorhersehbarkeit des Lebens.
Damit bewegt sich die gesamte Erzählung auf einen Ursprung zu, dessen
genauere Konturen wir erst noch erkennen müssen und nicht schon vom An-
fang der Geschichte her wissen können. Denn auch für uns Leser und Leserin-
nen ist diese Reise zum Ursprung neu und unvorhersehbar. Es würde also zu
kurz greifen, wenn wir behaupten würden, dass die Rahmenerzählung der ku-
banischen Bauarbeiter chronologisch verläuft – sie kehren im dreizehnten Ka-
pitel zurück und wollen den Stadtpalast endgültig abreißen –, während die
Binnenerzählung gleichsam gegen den Uhrzeiger erzählt wird, folglich mit um-
gekehrter Vektorizität.
Diese Beobachtung ist wichtig und beleuchtet ein bedeutungsvolles struk-
turelles Moment des gesamten Aufbaus der Erzählung: Die Relation zwischen
histoire und récit ist nicht einfach umgedreht, indem die einzelnen Elemente
der histoire nun in umgekehrter Reihenfolge angeordnet wären; vielmehr wer-
den das Innenleben aller Personen – und selbst der Gegenstände – an dieser
gleichsam neuen Entwicklung strukturell ausgerichtet. Mit anderen Worten:
Die einzelnen Figuren dieser kunstvollen Erzählung erleben die Entwicklung
ihres Lebens nicht als ein Rückschreiten oder gar als einen Rückschritt, son-
dern als eine Entwicklung, in welcher bis auf den Aspekt der Unumkehrbarkeit
des Lebens alle weiteren definitorischen Aspekte vollgültig durcherlebt werden
können. Viele Geschehnisse und Erlebnisse, die bei der ‚ursprünglichen‘ Vektori-
zität von den handelnden Personen als positiv empfunden wurden, können auch
bei umgekehrter Vektorizität im vollem Umfange als neu und lebenswert erlebt
werden. Das Leben mit umgekehrter Vektorizität kann ebenso genossen werden
164 Alejo Carpentier oder die Reversibilität der Lebensreise
wie das Leben von der Wiege bis zur Bahre. Die Dreizehnte kehrt wieder und ist
noch immer die Erste und die Einzige: Ganz wie bei Nerval geben die Kapitelzah-
len diese zirkuläre Struktur wieder, nur dass die Vektorizität dieser Kreisstruktur
eine doppelte ist, die mit dem Uhrzeiger und gegen den Uhrzeiger läuft.
So erfahren wir etwa im fünften Kapitel, dass die beiden Liebenden, der
Marquis und die zur Marquise gewordene Frau, nach ihrer Hochzeit zu einer
der Plantagen auf dem kubanischen Lande fahren, um dort auf dem eigenen
Gut auszuspannen. Die beiden lassen die schwarzen Sklaven zur eigenen Zer-
streuung ausgelassen tanzen und trommeln. So ließe sich die Geschichte aber
nur aus der umgekehrten Perspektive erzählen. Jene Geschichte aber, welche
uns Alejo Carpentiers Erzählerfigur präsentiert, liest sich anders:
Nach einem Morgengrauen, das von einer anmutlosen Umarmung verlängert wurde,
kehrten beide, vom Nichtverständnis erleichtert und mit geschlossener Wunde, nach der
Stadt zurück. Die Marquise vertauschte ihr Reisekleid mit einem Brautkleid, und die
Brautleute gingen, wie es die Sitte vorschrieb, zur Kirche, um ihre Freiheit wiederzuerlan-
gen. Geschenke wurden an Verwandte und Freunde zurückgegeben, und ein jeder suchte
bei einem von Glocken und prangenden Pferdegeschirren erzeugten Stimmengewirr die
Straße auf, wo seine Wohnung lag. Marcial besuchte María de las Mercedes noch eine
Zeitlang, bis zu dem Tag, da man die Ringe in die Werkstatt des Goldschmiedes brachte,
damit die Gravierung entfernt würde. Für Marcial begann ein neues Leben. In den Haus
mit den hohen Gittern wurde die Ceres durch eine italienische Venus ersetzt, und die
Fratzengesichter des Brunnens schoben fast unmerklich ihre Reliefs weiter vor, als sie
beim Aufglühen der Morgenröte noch das Licht der Öllampen angezündet sahen.8
In dieser Passage wird deutlich, dass sich hier eine Entwicklung hin zur „vita
nova“, zu einem neuen Leben, insoweit anbahnt, als sich die Wunden der Ver-
gangenheit – in diesem Falle die reichlich unromantisch evozierte Hochzeitsnacht
mit ihrer brautgemäßen Entjungferung – wieder schließen. Die Vektorizität wird
umgedreht; und eben darum eröffnen sich völlig neue Lebensperspektiven. Der
rituelle Parcours durch die Kirche führt vom Vermählt-Sein zur ‚Entmählung‘;
und dieser Prozess wird als eine Entwicklung erlebt, durch welche die beiden Ver-
mählten glücklich ihre Freiheit erlangen und getrennte Wohnungen beziehen
können. Erzähltechnisch nicht unproblematisch ist die Tatsache, dass der Erzähler
selbst sehr wohl von „wieder“ und „zurück“ und anderen Formen einer gleichsam
ursprünglichen Vektorizität spricht, welche deutlich machen, dass er selbst sich
des Umkehrungsprozesses bewusst ist. Die handelnden Figuren selbst aber erle-
ben die Geschehnisse auf Ebene der Binnenhandlung ganz ‚natürlich‘ so, als wür-
den sie in der sozusagen richtigen Abfolge aufeinander folgen. So erlangen die
zunächst Vermählten ihre Freiheit, sehen sich noch ein wenig, verlieren sich dann
aus den Augen und gewinnen ihr eigenes unabhängiges Leben. Dass sie zur Feier
dieses Aktes an ihre Freunde Geschenke verteilen, erscheint vollständig sinnvoll.
In der im Bewusstsein des Lesepublikums gehaltenen Gegenläufigkeit von
récit und histoire enthüllen sich aber auch Elemente, die ansonsten in dieser
Erzählung vielleicht im Verborgenen geblieben wären. Sehr lange jedenfalls
scheint Marcial die künftige Marquise nicht umgarnt, nicht allzu lange der Mar-
quis der jungen Frau den Hof gemacht zu haben. Die Hochzeitsnacht selbst
scheint – wenig überraschend – für die Liebenden daher auch keinen eigentli-
chen Höhepunkt dargestellt zu haben. Sie erscheint bestenfalls als die Nacht
einer Verwundung, einer Liebeswunde der Defloration. Im Vorfeld der Liebes-
werbung zeigt sich außerdem, dass im Hause des Marquis einst dessen Vater
lebte, von dem wir später erfahren, dass er im Grunde ähnlich wie sein Sohn im
Bett liegend verstarb. Zugleich erfahren wir, dass in seinem Stadtpalast eine
signifikante Umbesetzung stattgefunden hatte. Denn die blendend schöne Sta-
tue der Göttin Venus war – als Verkörperung der erotischen Liebe – zeitnah zur
angestrebten Hochzeit von einer anderen Göttinnen-Statue ersetzt worden, die
bereits in früheren Kapiteln aufgetaucht war: Ceres, Göttin der Fruchtbarkeit.
Die rasche Umbesetzung hatte durchaus mit der kurzfristig geplanten Hoch-
zeit zu tun. Denn Ceres ist die römische Göttin des Ackerbaus und aller der Ernäh-
rung dienenden Pflanzen, womit sie in die Nachfolge der griechischen Demeter
tritt. Zugleich aber ist sie auch Göttin der Ehe und eine kultische Totengöttin, die
über das Ende des Lebens als Stifterin herrscht. Mit diesem Wissen im Rücken,
das dem poeta doctus Carpentier selbstverständlich bekannt war, verstehen wir
nun besser, warum die Statue der Ceres in dieser doppelten Funktion höchst eifer-
süchtig über die Liebenden und deren Schicksal wacht. Gar nicht zu unserer Ge-
schichte passen will freilich der Aspekt, dass die römische Göttin Ceres
insbesondere eine Göttin der Plebejer war. Eine zentrale Bedeutung in ihrem
Kult kommt der verzweifelten Suche der Mutter nach ihrer verlorenen Toch-
ter zu, der Proserpina oder Persephone. Doch für unsere Erzählung sind die
Aspekte der Ehestifterin wie der Todeshüterin zweifellos bestimmend.
Damit wird zugleich auch verständlich, warum es nicht die Göttin der
Liebe, die schöne Venus ist, sondern die Ehe- und Totengöttin Ceres, welche
die Irrungen und Wirrungen des Palastes bis zuletzt überlebt. Beide Dimensio-
nen sind in Carpentiers Viaje a la semilla aufs Engste miteinander verbunden.
Für die schöne Venus blieb da kein zentraler Ort im Stadtpalast mehr frei.
Wir begleiten nun den jungen und immer jüngeren Protagonisten durch die
verschiedenen Stationen seines Verjüngungsprozesses. Das ‚Aging‘ ist in dieser
Erzählung folglich kein Problem, denn die Uhrzeiger laufen anders herum. Da
gibt es schon eher mancherlei Konflikte mit einer überbordenden Jugendlich-
keit, welche im Leben des Protagonisten breiten Raum einnimmt. Denn er nutzt
166 Alejo Carpentier oder die Reversibilität der Lebensreise
die Privilegien seines Standes in einem von der Sklaverei bestimmten La Ha-
bana und der kubanischen Sklavenhaltergesellschaft weidlich aus.
Doch ich möchte Ihnen an dieser Stelle nicht weiter von dem rassistisch fein
säuberlich getrennten Umgang mit den schwarzen, den mulattischen und den
weißen Mädchen berichten, die gemäß des in der Karibik herrschenden Rassis-
mus-Konzepts für unterschiedliche Tätigkeiten zugunsten der privilegierten Wei-
ßen vorgesehen waren. Die Infantilisierung unseres Protagonisten schreitet
nämlich rasch voran, der Eintritt in die letzte Stufe des „Colegio“ steht kurz
bevor. Bald schon wird Martial von den Worten seiner Lehrer immer weniger
verstehen, bis er am Ende seiner Schulzeit in eine Freiheit entlassen wird, die
er mit einem schwarzen Sklaven, bald aber auch mit einem Hund sehr gerne
teilt. Ich denke, dass Erzählweise und Vektorizität von Carpentiers Erzählung
nun zur Genüge deutlich geworden sind, so dass ich mich am Ende unserer
Beschäftigung mit dieser Reise zum Ursprung einem anderen wichtigen Aspekt
widmen kann.
Wir hatten bereits gesehen, dass der Prozess des Sterbens – beziehungsweise
umgekehrt der des Wiedereintritts ins Leben – reichlich undramatisch vollzogen
wird. Alejo Carpentiers Erzählung verfährt auf der einen Seite (und die vektori-
sierten Abläufe beherrschend) wie eine umgekehrt abgespielte Filmspule. Es wer-
den einfach die Augen aufgeschlagen und die Welt zeigt sich umgekehrt in all
jenen Konventionen und Klischees, wie sie die Gesellschaft beim Prozess eines
langsam ablaufenden Sterbevorgangs verlangt: Wir erleben, wie die Beichte, das
Warten, das Weinen der Freunde oder die Umarmungen des Abschieds vollzogen
werden. Wie aber wäre diese Dimension mit der Problematik einer gleichsam um-
gedrehten Verlaufsform der Geburt in Einklang zu bringen?
Es ist offensichtlich, dass wir im Zusammenhang dieser Fragestellung mit
Blick auf unsere Konzeption des Lebenswissens auf einen wichtigen Problem-
horizont zusteuern. Sehen wir uns daher zunächst die literarische Darstellung
der Geburtsszene näher an, die für den Protagonisten gleichsam ein Aus-der-
Welt-Verschwinden oder eine Art des Sterbens darstellt; eine Szene, die selbst-
verständlich hochgradig interpretationsbedürftig ist! Ich möchte Ihnen gerne
diese Geburt als Sterben oder dieses Sterben als Geburt in einen Auszug aus
dem vorletzten, dem zwölften Kapitel der Reise zum Ursprung vorstellen:
Hunger, Durst, Wärme, Kälte. Kaum hatte Marcial seine Wahrnehmung auf diese grundlegen-
den Wirklichkeiten zurückgeführt, als er auch auf das Licht verzichtete, das ihm schon Hilfs-
mittel war. Er kannte seinen Namen nicht. Als die Taufe mit ihrem unangenehmen Salz
zurückgenommen war, wollte er nicht mehr den Geruch noch das Gehör, ja nicht einmal
mehr die Sehfähigkeit. Seine Hände streiften angenehme Dinge. Er war ein Wesen, das aus-
schließlich auf Gefühls- und Tastsinn angewiesen war. Das Universum drang durch alle
Poren in ihn ein. Dann schloß er die Augen, die nur nebulöse Riesen unterschieden, und
Alejo Carpentier oder die Reversibilität der Lebensreise 167
drang in einen warmen, feuchten Körper voll Finsternis ein, der starb. Als der Körper fühlte,
dass er ihn mit seiner eigenen Substanz umhüllt hatte, glitt er ins Leben hinüber.
Aber nun lief die Zeit schneller ab und ließ seine letzten Stunden zusammen-
schrumpfen. Die Minuten ertönten wie ein Glissando von Spielkarten unter dem Daumen
eines Spielers.9
11 Vgl. hierzu Band 1 der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: ReiseSchreiben. Potsdamer Vorlesungen
über die Reiseliteratur. Berlin – Boston: Walter de Gruyter 2020, S. 210 ff.
Alejo Carpentier oder die Reversibilität der Lebensreise 171
als ein fundamental offener Erzählkern, vielleicht sogar als jener Kern, von dem
aus überhaupt Erzählungen möglich werden: als Kern, zu dem wir unterwegs auf
einer narrativ angelegten Lebens-Reise sind.
Die Semantik des Spiels und eines – wenn Sie so wollen – göttlichen Spie-
lers öffnet am Ende der kurzen Erzählung wieder den Blick auf eine übergeord-
nete, überindividuelle und zugleich transzendente Dimension. Denn es geht im
Kern um die Frage, was Leben ist und was zu leben heißt. Die sich schneller
bewegende Zeit erfasst gegen Ende des Erzähltexts nun wieder die kollektive
Welt, deren Strukturen und von Menschen geschaffene Formen einschließlich
der Architektur des Stadtpalastes in La Habana sich auflösen oder schlicht ab-
gerissen werden.
Ich möchte Ihnen dieses Ende der Binnenerzählung gerne noch nachlie-
fern, weil sich im dreizehnten Kapitel auf dieser Ebene ein Zyklus andeutet, ein
Lebenszyklus gleichsam, der sich auf die vom Menschen geschaffenen Gegen-
stände wie auch auf die Natur hin öffnet und der Geschichte als solcher ein (zu-
mindest vorübergehendes) Ende bereitet:
Die Vögel kehrten unter einem Aufwirbeln von Federn ins Ei zurück. Die Fische füllten
den Rogen auf und hinterließen eine Schneeschicht von Schuppen auf dem Grund des
Beckens. Die Palmen falteten die Blätter zusammen und verschwanden in der Erde wie
geschlossene Fächer. Die Schößlinge saugten ihre Blätter ein, und der Erdboden zog alles
an sich, was ihm gehörte. Der Donner hallte in den Korridoren wider. Haare wuchsen am
Sämischleder der Handschuhe. Die Wolltücher lösten ihre Gewebe und rundeten das
Vlies der Schafe. Die Schränke, die Sekretäre, die Kruzifixe, die Tische, die Jalousien flo-
gen in die Nacht hinaus und suchten ihre alten Ursprünge am Grund der Wälder. Alles,
was durch Nägel zusammengehalten war, stürzte ein. Eine irgendwo verankerte Brigg
trug die Marmorplatten des Fußbodens und des Brunnens eilends nach Italien. Die Waf-
fensammlungen, die Beschläge, die Schlüssel, die Kupferkasserolen, die Zäume in den
Ställen schmolzen und ließen einen Metallfluss fließen, den Galerien ohne Dach zur Erde
hinableiteten. Alles verwandelte sich und kehrte in den Urzustand zurück. Der Lehm
wurde wieder zu Lehm und hinterließ eine Einöde anstelle des Hauses.12
Das Leben erscheint aus Carpentiers inverser Darstellung als ein einziger ex-
pansiver Prozess; als eine Expansion, die auf allen Ebenen des Lebens vor sich
geht. Als Konsequenz daraus sind wir fast wieder im Urschlamm angekommen,
in jenem Lehm, aus dem der christlichen Religion zufolge Gott einst alles
formte. Doch wir brauchen in Viaje a la semilla keinen Schöpfergott, keinen De-
miurgen. Denn die Welt wird wieder zu jener Materie, zu jenem Chaos, aus dem
sich einst der Kosmos bildete.
Die Welt des Kosmos, die geordnete und schöne Welt – denn der Begriff
‚Kosmos‘, den Sie heutzutage etwa im Begriff ‚Kosmetik‘ wiederfinden, meint
Ordnung und Schönheit zugleich – hat sich in die ursprüngliche Einheit des
Chaos zurückgebildet. Was sich aus dem Urschlamm entfaltet, kann auch wie-
der zu Urschlamm werden. Prozesse der Expansion wie der Implosion sind bei-
derseits Lebensprozesse, gleichviel, ob wir sie bei rechtsdrehendem oder bei
linksdrehendem Uhrzeiger anschauen. Wir sind im Samen, im Kern, in den Ur-
sprüngen der Welt angekommen; der Prozess ständig expandierender Teilun-
gen und Bifurkationen innerhalb eines sich (seit dem Big Bang) in ständiger
Expansion befindlichen Universums ist an ein Ende gekommen –oder an einen
Anfang …
Das Leben bewegt sich – wie die Biowissenschaften uns lehren und wie dies
stellvertretend Friedrich Cramer mehrfach betonte – stets auf der Grenze zwi-
schen Kosmos und Chaos, zwischen Urschlamm und Ordnung. Lassen Sie uns in
unserer Vorlesung noch ein wenig in der Welt Lateinamerikas verweilen, bevor
wir uns nach Europa und ins Reich des französischen Sonnenkönigs begeben!
Ohne Alejo Carpentiers „real maravilloso“ – wie dies fälschlich so häufig ge-
schieht – mit dem „Realismo mágico“ eines Gabriel García Márquez gleichzuset-
zen, wollen wir die Experimentierfreudigkeit lateinamerikanischer und speziell
karibischer Erzähler doch nutzen, um noch mehr über das Leben, aber auch über
das Sterben, zu erfahren.
Gabriel García Márquez oder der liebevoll
aufgeschobene Tod
Wir haben uns bereits in unserer Vorlesung über LiebeLesen1 ausführlich mit
einem wunderbaren Roman beschäftigt; dabei konzentrierten wir uns allerdings
auf die Frage der Liebe und haben das Thema des Todes weitgehend ausgeklam-
mert. Wir sahen, dass es sich in El amor en los tiempos del cólera um einen Roman
über die Liebe nach der Liebe und vor diesem Hintergrund in mehrfachem Sinne
um einen postmodernen Liebesroman handelt. Ja, alles scheint schon über die
Liebe gesagt worden zu sein – und auch die Protagonisten selbst scheinen schon
alles über die Liebe in ihrem jeweils sehr unterschiedlichen Leben erfahren zu
haben! Trotz alledem kommt es fast zu einer Art Wunder der Liebe, die so sehr in
das Leben der beiden Alters-Liebenden eingreift, als ginge es darum, das Sterben
und selbst den Tod in seinem verhängnisvollen Laufe noch aufzuhalten. War der
Tod aber nicht – wie wir in unserer Vorlesung über Liebe und Lektüre vor allem
dem Schweizer Essayisten Denis de Rougemont2 entnahmen – schon immer in die
Konzeptionen der Liebe im Abendland eingeschrieben?
Im Zentrum dieses unterhaltsamen karibischen Romans des kolumbiani-
schen Literaturnobelpreisträgers steht zweifellos die Liebe zwischen zwei alt ge-
wordenen Liebenden. Auf die Frage des ‚Aging‘, des Älterwerdens, werde ich
noch zurückkommen. Doch wenn wir uns diesen Roman von García Márquez
näher anschauen, dann sollten wir nicht vergessen, dass dem Sterben und vor
allem dem Tod eine ganz wesentliche, fundamentale Rolle zukommt. Nicht ohne
Grund beginnt die gesamte Romanhandlung mit dem Besuch bei einem Selbst-
mörder, der sich gerade mit Hilfe von Arsen ins Jenseits befördert hat – übrigens
trotz seiner ungeheuren Liebe zu einer jüngeren und natürlich sehr schönen
Frau. Doch den Prozess des langsamen Verfalls seines eigenen Körpers – auch
dies ein Problem des Älterwerdens – wollte er nicht länger mitansehen. Das
„Aging“ wird folglich noch ein in dieser Vorlesung mehrfach vorgestelltes und
diskutiertes Problemfeld werden. Doch bevor wir dies tun, möchte ich Ihnen zu-
mindest einige wenige Biographeme zu diesem Autor aus Kolumbien an die
Hand geben, die für unsere nachfolgende Lektüre von Bedeutung sind.
Gabriel García Márquez wurde am 6. März 1927 in dem kolumbianischen
Dörfchen Aracataca als Ältestes von sechzehn Kindern eines Telegraphisten ge-
boren und verstarb am 7. April 2014 in Mexiko-Stadt. 1928 findet das blutige
1 Vgl. den zweiten Band der „Aula“-Vorlesungen in Ette, Ottmar: LiebeLesen (2020), S. 677 ff.
2 Vgl. die Rougemont gewidmeten Ausführungen in ebda., S. 135 ff.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-006
174 Gabriel García Márquez oder der liebevoll aufgeschobene Tod
Daher trieb Gabriel García Márquez – seiner Erfolge als Journalist zum Trotz –
nun literarische Pläne voran. Er reiste 1957 als Reporter in die Deutsche Demokrati-
sche Republik, in die Sowjetunion und in andere sozialistische Länder, die er be-
reits seit 1955 wie Polen und Ungarn insgeheim besucht hatte. Im März 1958
heiratete er Mercedes Barcha, die er bereits als Dreizehnjährige kennengelernt
hatte und mit der ihn eine innige Liebe verband. Als Journalist arbeitete er für die
Presseagentur Prensa Latina in Bogotá und in New York. Fidel Castro bat ihn, ein
Buch über den Triumph seiner Revolution zu schreiben: Beide Männer wird fortan
eine lange Freundschaft verbinden. Zum Bruch wird es dagegen bald schon mit
einem Freund und Schriftstellerkollegen kommen: dem ebenfalls späteren Litera-
turnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, mit dem wir uns noch auseinandersetzen
werden. Nach dieser politischen ‚Wasserscheide‘ der lateinamerikanischen Litera-
ten, die 1971 mit der sogenannten ‚Padilla-Affäre‘ ihren Höhepunkt erreicht und
das literarische Feld Lateinamerikas grundlegend verändert, wird García Márquez
weiterhin zur sozialistischen Revolution auf Kuba stehen und die Insel häufig als
gern gesehener Gast besuchen.
Schriftstellerisch betätigte sich García Márquez nicht nur mit Reportagen und
Chroniken, sondern verfasste Drehbücher (insbesondere für mexikanische Produ-
zenten), Kurzgeschichten, literarische Erzählungen und bald auch Romane, die
zunächst auf ein eher bescheidenes Echo stoßen. 1967 aber gelingt ihm mit Cien
años de soledad der schriftstellerische Durchbruch mit einem Text, an dem der
Kolumbianer seit den vierziger Jahren gearbeitet hatte. Der Roman wird zu einem
gigantischen Bucherfolg und1969 als bestes ausländisches Buch in Paris ausge-
zeichnet – übrigens gemeinsam mit einem Roman des Kubaners Reinaldo Arenas,
El mundo alucinante, mit dem wir uns ebenfalls noch beschäftigen werden.
Gabriel García Márquez‘ Bestseller zählt gewiss zu den bei der Literaturkritik
wie bei einem internationalen Lesepublikum geschätztesten Romanen des 20. Jahr-
hunderts. Hundert Jahre Einsamkeit machte fast über Nacht – und mit einer Welt-
auflage von heute über 30 Millionen verkaufter Exemplare – García Márquez zum
meistgelesenen Schriftsteller Lateinamerikas. Dass er 1982 mit dem Nobelpreis für
176 Gabriel García Márquez oder der liebevoll aufgeschobene Tod
3 Vgl. hierzu auch das entsprechende Kapitel im dritten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ott-
mar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne (2021), S. 830 ff.
Gabriel García Márquez oder der liebevoll aufgeschobene Tod 177
4 Vgl. zur Reise des in Julie ebenso unsterblich verliebten Saint-Preux um die Welt, die in Zu-
sammenhang mit der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung steht, Ette, Ottmar: Liebe-
Lesen, S. 364 ff.
178 Gabriel García Márquez oder der liebevoll aufgeschobene Tod
Er stieg auf die dritte Sprosse und sodann auf die vierte, doch hatte er sich mit der Höhe
des Zweiges verrechnet und klammerte sich nun mit der linken Hand an die Leiter und
5 Hier wären Alexander von Humboldt, Gustave Flaubert, Julian Barnes, aber auch Gabriel
García Márquez einige der profiliertesten Kandidaten; vgl. hierzu Ette, Ottmar: Papageien,
Schriftsteller und die Suche nach der Identität. Auf den Spuren eines Vogels von Alexander
von Humboldt bis in die Gegenwart. In: Curiosités caraïbes. Für Ulrich Fleischmann. Gießen:
Wieseck 1988, S. 35–40.
Gabriel García Márquez oder der liebevoll aufgeschobene Tod 179
versuchte, den Papagei mit seiner rechten zu fangen. Digna Pardo, die alte Hausange-
stellte, die ihm sagen wollte, dass es für die Beerdigung schon spät geworden sei, sah im
Augenwinkel den Mann hoch oben auf der Leiter und traute ihren Augen nicht, da sie ihn
nur an den grünen Streifen seiner elastischen Hosenträger erkannte.
– Ach du heiliger Bimbam, Sakrament nochmal!, schrie sie, Sie werden sich
umbringen!
Doktor Urbino erwischte den Papagei am Hals und seufzte triumphal auf: ça y est.
Doch er ließ den Papagei sofort wieder los, weil die Leiter unter seinen Füßen rutschte
und er einen Augenblick lang in der Luft hing, in dem ihm plötzlich klar wurde, dass er
ohne die Sterbesakramente der letzten Kommunion sterben würde, dass er nun nichts
mehr beichten und sich von niemandem mehr verabschieden können würde, nachmittags
um 4 Uhr und sieben Minuten an einem Pfingstsonntag.
Fermina Daza war in der Küche und kostete die Suppe für das Abendessen, als sie
den Schreckensschrei von Digna Pardo und die Aufregung der Hausangestellten und bald
darauf die der Nachbarschaft hörte. Sie warf den Löffel weg und versuchte, trotz des un-
besiegbaren Gewichts ihres Alters so schnell sie konnte zu rennen, wobei sie wie eine
Verrückte schrie, ohne noch genau zu wissen, was unter den Zweigen des Mangobaums
vor sich ging, und das Herz zersprang ihr in Stücke, als sie ihren Mann auf dem Rücken
im Schlamm liegen sah, schon tot noch im Leben, doch noch immer eine letzte Minute
dem finalen Peitschenhieb des Todes abringend, damit sie noch Zeit hätte, es zu ihm zu
schaffen. Es gelang ihm, sie in dem ganzen Durcheinander und durch die Tränen des un-
säglichen Schmerzes hindurch, ohne sie sterben zu müssen, sie wiederzuerkennen, und
er schaute sie zum allerletzten Male mit seinen leuchtenden Augen an, die trauriger und
dankbarer waren, als sie es je in einem halben Jahrhundert gemeinsamen Lebens gesehen
hatte, und er konnte ihr schließlich mit seinem letzten Atemzug sagen: – Gott allein
weiß, wie sehr ich Dich liebte.
Es war ein denkwürdiger Tod, und nicht ohne Grund.6
Dies ist eine Sterbeszene, wie sie nur ein Gabriel García Márquez schreiben
kann. Und dieser Tod ist in der Tat höchst denkwürdig, nicht allein seines letzt-
lich urkomischen Charakters wegen, der von der Tollpatschigkeit des Achtzig-
jährigen beim Papageienfangen herrührt. Vielleicht denken Sie, dass es sich
bei dieser Szene um einen eher banalen Tod handelt: Ein Greis stürzt beim Ver-
such, einen Papagei wieder einzufangen, von der Leiter und bricht sich das Ge-
nick auf eine Weise, wie es bei den berüchtigten Unfällen im Haushalt
dutzendweise pro Jahr vorkommt. Genau deshalb habe ich Ihnen aber diesen
Tod ausgesucht, um ihn Ihnen als etwas höchst Banales und doch Einzigar-
tiges vorzuführen, ja als etwas letztlich Endgültiges, auf das man sogar mit
einem gewissen Humor blicken kann. Anders als Gustave Flaubert, der be-
kanntlich behauptete, beim Schreiben der Sterbeszene von Emma Bovary
6 García Márquez, Gabriel: El amor en los tiempos del cólera. Barcelona: Penguin Random
House Grupo Editorial 2015, S. 68 f.
180 Gabriel García Márquez oder der liebevoll aufgeschobene Tod
den Geschmack von Arsen auf den Lippen gespürt zu haben, verspürte Gabriel
García Márquez beim Schreiben dieser Szene sicherlich keinerlei Todesangst.
So ist es gleichsam ein simpler Fehltritt, der Doktor Urbino ein Ende berei-
tet; und es ist das Federvieh, das seine Frau Fermina Daza in Form eines Papa-
geis ins Haus gebracht hatte, das dem Hausherrn höchstpersönlich das Leben
kosten wird. Für uns aufschlussreich sind mehrere Aspekte dieses banalen
Todes – und ich verspreche Ihnen: Wir werden noch weit pathetischere Insze-
nierungen kennenlernen! Doktor Juvenal Urbino ist sich in der Sekunde der Tat-
sache bewusst, dass er unausweichlich in dieser Szene werde sterben müssen. Er
besitzt ein klares Bewusstsein von seinem unmittelbar bevorstehenden und un-
ausweichlichen Tod, hat zugleich aber noch Zeit genug, um es sehr zu bedauern,
dass er ohne die Sterbesakramente – also ohne jenen geistlichen Beistand, der
zumindest einer Emma Bovary noch zuteilwurde –, ohne Beichte und ohne
die Möglichkeit das Leben verlassen muss, etwas von dem dort Getanen zu be-
dauern, oder sich noch verabschieden zu können. So gerne noch würde er sein
Leben bei vollem Bewusstsein und nach allen Regeln der Kunst abschließen…
Mit diesem Wunsch, der ihn noch in den letzten Sekunden seines Lebens
durchzuckt, steht der Doktor in der langen Geschichte des Todes im Abendland
nicht allein. Wir werden im weiteren Verlauf der Vorlesung sehen, dass diese
Todesart – der überraschende Tod – spätestens seit dem Mittelalter die schreck-
lichste und gefürchtetste Todesform ist, reißt sie den gerade noch Lebenden
doch ohne Vorwarnung und damit ohne die Gnade Gottes rücksichtslos aus
dem Leben. Er stirbt nicht von den Seinen umsorgt und verehrt in einem Bett,
das als Sterbebett hergerichtet wurde; und er kann sich nicht von all jenen ver-
abschieden, die ihm im Leben etwas bedeuteten. Nein, er fällt vielmehr von
einer Leiter herunter und liegt am Ende seines Lebens in jenem Schlamm, aus
dem er dem christlichen Glauben nach einst geformt wurde!
Wir werden noch mehrfach mit dieser Todesart konfrontiert werden.
Daher möchte ich Ihnen die mors repentina – denn dies ist der Fachausdruck
für diesen undankbaren, urplötzlichen Tod – zugleich mit der Feder jenes
französischen Forschers vorstellen, der gewiss als der wohl weltweit renom-
mierteste Todesforscher angesehen werden durfte. Es handelt sich um den
französischen Kulturforscher und Mediävisten Philippe Ariès:
Damit der Tod sich [...] ankündigen konnte, durfte er nicht plötzlich eintreten, als mors
repentina. Wenn er sich nämlich nicht im voraus bemerkbar machte, hörte er auf, zwar
furchtbare, aber doch wohl oder übel erwartete und willig hingenommene Notwendigkeit
zu sein. Er setzte dann die Ordnung der Welt, an die jedermann glaubte, außer Kraft, ab-
surdes Instrument eines zuweilen als Zorn Gottes sich verkleidenden Zufalls. Ebendes-
halb wurde die mors repentina als schimpflich und beschämend aufgefasst. [...] In dieser
mit dem Tode so vertrauten Welt war der plötzliche Tod häßlich und gemein; er flößte
Gabriel García Márquez oder der liebevoll aufgeschobene Tod 181
Angst ein – ein fremdartiges und schreckliches Phänomen, über das man nicht zu spre-
chen wagte.
Heute, da wir den Tod aus dem Alltagsleben verbannt haben, wären wir umgekehrt
angesichts eines unerwarteten und absurden tödlichen Unfalls wohl eher bewegt und
würden die sonst gültigen Verbote aus diesem ungewöhnlichen Anlass vielleicht aufhe-
ben. Der häßliche und gemeine Tod ist im Mittelalter nicht nur der plötzliche und absurde
Tod wie der von Gaheris, sondern auch der heimliche Tod ohne Zeugen oder Zeremonien,
der Tod des Reisenden unterwegs, des im Fluss Ertrunkenen, des Unbekannten, dessen
Leichnam am Feldrain aufgefunden wird, oder sogar der des zufällig vom Blitz getroffe-
nen Nachbarn. Es verschlägt wenig, dass er schuldlos war: sein plötzlicher Tod belastet
ihn mit einem Fluch. Das ist eine sehr alte Vorstellung.7
Vor diesem von Ariès aus einer Perspektive der „longue durée“ ausgemalten
Hintergrund können wir leicht ersehen, dass es sich beim Tode von Doktor Ur-
bino um eine Spielart der mors repentina handelt, die im Grunde auf die Antike
zurückgeht, aber im Mittelalter eine ganz besonders scharfe Ablehnung und
Ausgrenzung erfuhr. Denn dieser plötzliche Tod war gefürchtet, ja wurde sogar
als ein Fluch verstanden, der auf einem Menschen lastete. Doktor Urbino wird
sich beim Fallen und bei diesem „Tod noch im Leben“ der Tatsache bewusst,
einem solch plötzlichen Tod ohne Abschied, ohne Zeremonie, ohne Kommu-
nion und ohne Seelenrettung anheimzufallen und damit in gewisser Weise ver-
flucht zu sein. Wenn für ihn auch an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
ein solcher Tod nichts Schimpfliches hat und später auch auf Gemälden wegen
seiner Berühmtheit dargestellt werden sollte, ist diese Todesart doch für den
Betroffenen eine besondere Strafe. Allerdings ließ Gabriel García Márquez huld-
volle Gnade ergehen, gab er doch Doktor Urbino die Möglichkeit, sich ein aller-
letztes Mal gegenüber seiner Frau zu äußern – ein wenig so wie in einer Oper
oder einem schlechten Film, in denen der Tod hinausgezögert wird und wo die
letzten Worte eine zuvor nie gesagte Wahrheit bezeugen. So hat diese Sterbe-
szene zweifellos etwas Melodramatisches.
Wenn wir die angeführte Passage noch einmal Revue passieren lassen, fällt
uns die Häufigkeit des Lexems ‚Leben‘ auf. Besonders bemerkenswert ist die
Formulierung, die von García Márquez in der obigen Passage gewählt wurde:
Doktor Juvenal Urbino gab sich Rechenschaft darüber, dass er gestorben war
und dass er im Schlamm lag, „ya muerto en vida“. Es handelt sich gleichsam
um ein Sprechen von der Seite des Todes aus, fast schon aus einer anderen
Welt, vergleichbar mit Worten aus dem Grabe, die zugleich ewige Wahrheiten
formulieren und die dringliche Frage aufwerfen, wann eigentlich ein Mensch
gänzlich tot ist und wo genau die Grenzen von Leben und Tod verlaufen.
Wir beginnen zu ahnen, dass nicht nur – wie wir bei Alejo Carpentiers
Viaje a la semilla bereits sahen – für die Geburt keine klare Grenzlinie gezogen,
kein eindeutiger Zeitpunkt für den Beginn eines Lebens angegeben werden
kann. Auch der Tod ist, wie wir in dieser kleinen Passage sehen, eine Art Über-
gang, ein Zwischenbereich, denn hier bemerkt einer, dass er tot ist – und
spricht doch noch zu den Lebenden, als ob er lebte. Ist er nun tot oder leben-
dig? Die hellen, leuchtenden Augen Doktor Urbinos deuten im Grunde an, dass
er bereits etwas anderes zu sehen begonnen hat, dass er als „muerto en vida“
die „vida de la muerte“, also nach dem Ende des Lebens ein anderes Leben be-
zeugen kann. Aber lassen Sie uns zunächst genauer der Frage nachgehen,
wann ein Mensch eigentlich tot ist!
Zum Todesbegriff im klinischen Sinne möchte ich Ihnen gerne etwas aus
einem Aufsatz in der Zeitschrift Menschen der „Aktion Mensch“ über die Marburger
Blindenhörbücherei als Impuls kurz vorstellen. Die hier zitierte Passage daraus
lautet: „Ärzte und Wissenschaftler haben den Tod vom Herzen ins Hirn verlagert.
Denn erst das Hirntodkonzept macht die heutige Transplantationspraxis möglich.
Nur wenn das Herz noch schlägt, können die Mediziner frische und dadurch ver-
pflanzbare Organe gewinnen. Nach internationaler Übereinkunft von 1968 gilt der
Hirntod als Tod eines Menschen. Die Bundesärztekammer in Deutschland
hat sich dieser Meinung angeschlossen. 1997 beschloss der Bundestag das
Transplantationsgesetz.“
Wir hatten die Problematik der Grenze von Leben und Tod bereits anhand von
David Wagners Experimentaltext Leben und die damit verbundenen Möglichkeiten
und Grenzen der Transplantationsmedizin diskutiert. Nun, die Frage des Hirntodes
scheint nur auf den ersten Blick eine klare Grenze zwischen Leben und Tod zu zie-
hen. Denn wir sollten nicht vergessen, dass die meisten Klinikärzte den hirntoten
Spendern bei der Organentnahme eine Vollnarkose oder zumindest Beruhigungs-
mittel verabreichen. Warum können sich Hirntote noch – wie häufig beschrieben –
bewegen? Was ist das für ein Tod, bei dem der Mensch sich noch bewegt? Und was
ist mit der jungen Frau, die als Hirntote noch ein Kind gebar? Es gibt also durchaus
Zweifel an einer allzu klaren Position, die das Fehlen jeglicher Hirnfunktion mit
dem Tod des ganzen Menschen gleichsetzt. Zugleich ist der Hirntod ein einschnei-
dender Zeitpunkt im Sterbeprozess, denn es handelt sich um einen unumkehrbaren
Verlaufspunkt: Der Hirntod markiert den Point of no Return. Wissenschaftlich aber
lässt sich, allgemein formuliert, nicht nachweisen, wie viel oder wie wenig Leben in
einem Hirntoten noch steckt. Und natürlich auch, wieviel Bewusstsein in ihm noch
ist: Dazu müssten wir Hirntote befragen können. Die Formulierung „muerto en
vida“ wirft folglich eine ganze Vielzahl an Problemen auf und eröffnet einen ‚Zwi-
schen-Raum‘, in welchem keine klare Grenze zwischen Leben und Tod oder besser
zwischen Leben, Sterben und Tot-Sein gezogen werden kann.
Gabriel García Márquez oder der liebevoll aufgeschobene Tod 183
Auch für diesen Punkt werden wir in den Literaturen der Welt eine Reihe
von Zeugnissen, Beispielen und Variationen finden. In jedem Fall aber ist das
Schrecknis eines anonymen, einsamen, gottvergessenen Todes für Doktor Juve-
nal Urbino in El amor en los tiempos del cólera gebannt. Liebe und Tod gehen
in der Todesszene eine letzte Verbindung ein; und Gott allein weiß, wie oft wir
diese Verbindung zwischen Liebe und Tod in unserer Vorlesung über LiebeLe-
sen konstatieren konnten. Auch dies gehört zum weiten Beziehungs- und Ver-
bindungsfeld zwischen Eros und Thanatos …
Das vorher nie Gesagte macht uns zugleich aber auch auf eine wichtige zu-
sätzliche Dimension aufmerksam: Die Zeit scheint gleichsam außer Kraft gesetzt.
Die linear ablaufende Zeit wird für einen mehr oder minder langen Augenblick
angehalten. Mit anderen Worten: Aus dem letzten Punkt im Leben wird eine
Übersicht über das ganze Leben noch einmal möglich. Überlebende, die eigent-
lich schon klinisch tot waren, berichten von derartigen Einsichten, von Rückbli-
cken ungeheurer Intensität, in denen das ganze Leben noch einmal als Film am
inneren Auge vorüberläuft, so als wäre man selbst der Zuschauer dieses Lebens,
die Zuschauerin dieses Films, der doch das eigene Leben darstellt.
Ich selbst habe einmal als junger Mann eine solche Erfahrung gemacht, als
ich am Steuer eines Autos saß, das auf eine Mauer zuraste. Nie werde ich die
Intensität dieser Lebens-Bilder vergessen, die große Helle und Klarheit der Bil-
der eines Lebens, meines Lebens, das in der kurzen Zeitspanne vor dem Auf-
prall noch einmal an einem vorüberläuft. Nun, wie Sie sehen, habe ich überlebt;
und das Überleben ist immer die Grundbedingung dafür, dass man eine Ge-
schichte überhaupt erzählen und mit-teilen kann. Aber was wir in der Tat auf
Grund der Berichte vieler Fast-Verstorbener festhalten können, ist die Tatsache,
dass es eine Art rückwärtslaufende Bilderspule in unserem Kopf, in unserem Ge-
hirn gibt, die uns zum Zeitpunkt unseres Todes alles noch einmal – und ein aller-
letztes Mal – vor Augen führt und nacherleben lässt. Und ohne eine solche
panoramatische Sichtweise des eigenen Lebens wäre der letzte, pathetische Satz
von Doktor Urbino mit leuchtenden, niemals zuvor von Fermina Daza gesehenen
Augen nicht möglich gewesen.
Wie aber kommt es zum Tod? Wie beginnen wir zu sterben? Und wann be-
ginnt dieser unser Leben abschließende Prozess? Das Älterwerden, das Be-
wusstsein einer wachsenden Gebrechlichkeit, die Einsicht in das eigene ‚Aging‘, in
den derzeit vom Menschen noch kaum zu steuernden Prozess des Älterwerdens,
des körperlichen Verfalls und der Vergreisung bildet einen wichtigen Gegenstand
der Reflexion und der aus vielen Perspektiven vorgenommenen Beleuchtung in El
amor en los tiempos del cólera.
Hunderte von Seiten nach der Darstellung des Todes von Doktor Juvenal
Urbino wird uns dessen Frau Fermina Daza bei einem gefährlichen Fehltritt –
Gabriel García Márquez oder der liebevoll aufgeschobene Tod 185
ähnlich wie später ihr Mann auf der Leiter – präsentiert, zu einem Zeitpunkt,
als das älter gewordene Ehepaar zufällig im Kino Florentino Ariza gegenüber-
stand. Florentino war in Begleitung der Mulattin Leona Cassiani, einer der we-
nigen Frauen, welcher der Charme Florentinos niemals etwas hatte anhaben
können. war sie doch in ihrer Jugend von einem großen Mann vergewaltigt wor-
den, den sie in allen späteren Männern nie mehr hatte wiederfinden können.
Die Verbindung von Erotik und Gewalt wird im Roman wie in allen Erzählwer-
ken von García Márquez vielfach beleuchtet. So zeigte sich die schöne Mulattin
auch Florentino Ariza gegenüber völlig unbeirrbar und eigenständig.
Mithin handelt es sich bei ihr um eine Frau, die nicht in Konkurrenz zur deut-
lich älter gewordenen und in ihrer Physiognomie beschriebenen Fermina Daza
steht. Im Folgenden präsentiere ich Ihnen diese Szene, in der das Älterwerden
sehr schön zum Ausdruck kommt und als Lektion, die das Leben gibt, vorgeführt
wird. Florentino Ariza sieht die Frau, die er liebt, am Arm des anderen weggehen:
Florentino Ariza sah, wie sie sich am Arm ihres Ehemannes in der Menge entfernte, die
aus dem Kino strömte, und war überrascht, sie an einem öffentlichen Ort mit der Mantilla
einer Armen und in Pantöffelchen zu sehen. Was ihn aber am meisten bewegte war die
Tatsache, dass ihr Ehemann sie am Arm nehmen musste, um ihr die richtige Richtung
zum Ausgang zu zeigen, und selbst so verrechnete sie sich noch in der Höhe und stürzte
um ein Haar über die Stufe an der Türe.
Florentino Ariza war sehr empfindsam für diese Fehltritte, die dem Alter geschuldet
waren. Als er noch jung war, unterbrach er in den Parks seine Lektüre von Versen, um
Pärchen von Alten zu beobachten, die sich dabei halfen, die Straße zu überqueren, und
dies waren Lektionen des Lebens, die ihn noch unscharf erkennen ließen, welches die
Gesetze seines eigenen Alters sein würden. In jenem Alter, das Doktor Juvenal Urbino da-
mals in der Nacht in jenem Kino hatte, blühten die Männer in einer Art von herbstlicher
Jugend auf, sie erschienen würdevoller mit ihren ersten weißen Haaren, wurden vor
allem in den Augen junger Frauen erfinderischer und verführerischer, während ihre ver-
blühten Ehefrauen sich an den Armen ihrer Männer festhalten mussten, um nicht selbst
über ihren eigenen Schatten zu stolpern. Viele Jahre später jedoch ergossen sich diesel-
ben Ehemänner urplötzlich in den Abgrund des infamen Altwerdens von Körper und
Seele; und dann waren es ihre wieder stärker gewordenen Ehefrauen, die sie wie Blinde
barmherzig am Arm führen mussten, wobei sie ihnen ins Ohr flüsterten, um ihren Stolz
als Männer nicht zu verletzen, dass sie gut Obacht gäben, weil es drei Stufen seien und
nicht zweie, dass es eine Pfütze mitten auf der Straße gebe, dass dieser große Sack, der
quer über den Gehweg lag, ein toter Bettler war, und so halfen sie ihren Männern mühevoll
über die Straße, so als ob dies die letzte Furt über den letzten Fluss des Lebens wäre. Flo-
rentino Ariza hatte so viele Male in diesen Spiegel geblickt, dass er niemals vor dem Tod
soviel Angst empfand als vor dem infamen Alter, in dem er von einer Frau an den Arm ge-
nommen werden müsste. Er wusste, dass er an diesem Tag, und zwar genau an diesem
Tag, alle Hoffnung auf Fermina Daza würde aufgeben müssen.8
Wieder ist in diesem Zitat die Häufigkeit des kleinen Wörtchens „Leben“ auffäl-
lig. Denn bei der Lektüre dieser Gedanken von Florentino Ariza lernen wir so,
wie durch die Beobachtung der Realität der junge Florentino seine Lektionen
über das Leben lernte, – nur eben aus dem Nacherleben durch das Lesen von
Literatur – wichtige Einsichten über den Verlauf des Lebens und das ungleiche
Altern von Männern und Frauen. Sie verstehen jetzt vielleicht besser, warum
ich mit Blick auf die Literaturen der Welt und deren kreative Aneignung durch
unterschiedlichste Schichten von Leserinnen und Lesern nicht nur von Lebens-
wissen und Überlebenswissen, sondern auch von Nacherlebenswissen spreche,
das wir eben durch die Lektüre von Literatur für uns gewinnen können.
Es gibt übrigens eine schöne Stelle in den Schriften von Roland Barthes, an
welcher der französische Zeichentheoretiker und Lebenswissenschaftler davon
sprach, dass Frauen kontinuierlich älter würden, während die Männer gleich-
sam schleusenartig altern, also von einer Stufe plötzlich auf eine tiefere Stufe
absinken. Etwas Vergleichbares finden wir auch beim kolumbianischen Lite-
raturnobelpreisträger. Denn es ist spannend zu beobachten, dass Gabriel
García Márquez in diesen Gedanken Florentino Arizas ebenfalls mehrfach auf
die Metaphorik des Flusses zurückgreift, der selbstverständlich in der Bedeu-
tung des ‚Lebensflusses‘ als topische Metapher seit Urzeiten den Schriftstel-
lern zur Verfügung steht. Doch das Sich-Ergießen des Flusses in den Abgrund
eines infamen Alters impliziert bei Gabriel García Márquez eine Metaphorolo-
gie, welche der Schriftsteller gegen Ende seines Lebens im Zeichen seiner De-
menz über sich selbst ergehen lassen musste.
In dieser Passage wird sehr schön deutlich, auf welche Weise ein Lebens-
wissen ausgebreitet wird, das sich der junge Florentino Ariza bereits im Park
durch die Beobachtung alter Leute angeeignet hatte. Zum Zeitpunkt der obigen
Passage ist er bereits sechsundfünfzig Jahre alt und sozusagen im besten Man-
nesalter. Doch die Lektionen des Lebens, die er aus der Beobachtung der Wirk-
lichkeit gelernt hat, helfen ihn in seinem jetzigen Lebensabschnitt gerade auch
mit Blick auf die weitere Entwicklung seines Lebens und auf das, was er dort
noch alles erleben sollte. Denn er weiß um das Altern, vor dem er Angst hat;
jenes Altern, das für ihn schlimmer ist als der Tod, da es ihm über einen langen
Zeitraum hinweg die eigene Ohnmacht vor Augen führt.
Sehr schön werden die unterschiedlichen Beschleunigungsphasen des Al-
terns bei Männern und bei Frauen dargestellt, wobei die Frauen – und dies ist
keine Frage der Gleichstellung – bekanntlich statistisch das deutlich längere
Leben besitzen und ihre Männer in der Regel überleben. So auch bei Fermina
Daza, worauf Florentino Ariza ja durchaus spekuliert hatte. Diese Passage aus
El amor en los tiempos del cólera macht zugleich sehr überzeugend deutlich,
was ein explizites Lebenswissen im Roman sein kann. Dabei wird dieses Le-
Gabriel García Márquez oder der liebevoll aufgeschobene Tod 187
benswissen unverkennbar dem die Realität und die Alten im Park beobachten-
den Florentino Ariza untergeschoben; ein Lebenswissen, das aber sogleich zur
auktorialen Erzählerfigur hinüberwächst. Der Blick in den Spiegel und damit
die Spiegelmetapher, welche auch in diesem Roman mit dem Zeitpunkt einer
tiefgreifenden Erkenntnis und Selbsterkenntnis gepaart ist, deutet auf die Prob-
lematik der Angst nicht vor dem Tode selbst hin, sondern vor einem vom Subjekt
unkontrollierbaren Alterungsprozess. Florentino Ariza muss aber wohlbehalten
und kontrolliert ein hohes Alter erreichen, um seine Hoffnungen erfüllt zu sehen
und vielleicht doch noch der Liebe Fermina Dazas teilhaftig werden zu können.
Bevor wir uns aber abschließend mit der glückenden Altersliebe der beiden
Liebenden in García Márquez‘ Roman El amor en los tiempos del cólera ausein-
andersetzen, sollten wir uns mit einigen statistischen Grunddaten des Lebens
und Alterns überhaupt beschäftigen. Vielleicht wäre es an dieser Stelle unserer
Vorlesung sinnvoll, auf Basisdaten in der Darstellung der Struktur des Lebendi-
gen wiederum bei Friedrich Cramer zurückzugreifen. Dort finden wir die fol-
gende Aufstellung zur mittleren Lebenserwartung:
Fliege 0,077
Maus 3–3,5
Ratte 3–3,5
Kaninchen 5–7
Meerschweinchen 8
Katze 9–10
Fuchs 10
Eichhörnchen 10–12
Hund 10–12
Ameise 10–15
Frosch 10–15
Schaf 10–15
Ziege 12–15
Wolf 12–15
188 Gabriel García Márquez oder der liebevoll aufgeschobene Tod
(fortgesetzt)
Hering 16
Hahn 20
Tiger 20
Löwe 20–25
Rind 20–25
Menschenaffen 20–30
Pferd 20–30
Schwein 20–30
Kamel 40–50
Krokodil 50
Karpfen 50–60
Falke 60–70
Rabe 60–70
Mensch 70–74
Elefant 150–2009
9 Mittlere Lebenserwartung verschiedener Spezies von der Fliege bis zum Elefanten. In: Cra-
mer, Friedrich: Chaos und Ordnung, S. 256 f. und 262.
Gabriel García Márquez oder der liebevoll aufgeschobene Tod 189
dieser Szene gewiss der Schalk im Nacken. Denn ein Mensch darf nur zwischen
siebzig und vierundsiebzig Jahre im Schnitt erwarten: Juvenal Urbino zieht fol-
gerichtig den kürzeren. Dabei hat sich freilich die Lebenskurve im Verlauf des
20. Jahrhunderts ganz signifikant verändert. Zum Teil kennen Sie diese Er-
kenntnisse ja aus der aktuellen Rentendiskussion – Ach nein, die wird Sie
wenig interessieren …
Error in transcription by
“Suicide” genes RNA polymerase
Abb. 16: Friedrich Cramer: Network of molecular events that lead to aging and death.
In: Chaos and Order 1993, Fig. 8.5.
Sie können sich dies bei Cramer in einer Grafik anschauen, die zeigt, wie sehr
sich durch die Möglichkeiten medizinischen Eingriffs und die verbesserte hy-
gienische Situation ein mehr oder minder optimales Ausnutzen der biologisch
vorprogrammierten Lebensdauer immer stärker in einem Anstieg der Lebenser-
wartung niederschlägt (Abb. 17). In einem weiteren Schaubild, auf das ich hier
nur verweisen will, hat Friedrich Cramer all jene Faktoren zusammengetragen,
die eine Art Netzwerk des Lebens bilden und zugleich jene Faktoren ausweisen,
welche signifikant zum Altern oder zum Tod beitragen können (Abb. 16). Da es
sich um äußerst komplex aufeinander bezogene und höchste Präzisionsleistun-
gen erbringende Netzwerke handelt, können Störungen in der Tat zum sehr
plötzlichen Zusammenbruch und damit zum Tod führen. Wir haben dies beim
190 Gabriel García Márquez oder der liebevoll aufgeschobene Tod
100000
90000
80000
Number of survivors
70000
60000
50000
40000 1900–1902
1929–1931
30000
1939–1941
20000 Ideal survival curve
10000
10 20 30 40 50 60 70 80 90
Number (years)
Abb. 17: Friedrich Cramer: Number of survivors per 100000 human births in the USA since
the beginnings of modern medicine. In: Chaos and Order 1993, Fig. 8.2.
des Individuum sich den Untergang seines Ichs, seines Geistes, seines Bewußtseins kaum
vorstellen – eher schon den Verfall und Untergang seines Körpers, der Materie, der trägen
Masse.10
Florentino Ariza legte sich rücklings auf das Bett und versuchte, seine Fassung wiederzu-
gewinnen, erneut ohne zu wissen, was er mit dem Fell des Tigers machen sollte, den er
erlegt hatte. Sie sagte ihm: „Schau nicht her.“ Er fragte warum, ohne sein Gesicht von der
Decke abzuwenden.
„Weil es Dir nicht gefallen wird“, sagte sie.
Dann sah er sie an, und er sah sie bis zur Hüfte nackt, ganz so, wie er sie sich vorge-
stellt hatte. Sie hatte faltige Schultern, hängende Brüste und Rippen, die von einer blei-
chen Haut überzogen waren, die so kalt war wie die eines Frosches. Sie bedeckte sich den
Busen mit der Bluse, die sie gerade ausgezogen hatte, und löschte das Licht. Daraufhin
stand er auf und begann, sich in der Dunkelheit auszuziehen, wobei er jedes einzelne
Kleidungsstück auf sie warf, das er sich ausgezogen hatte, und sie warf alles zurück,
halbtot vor Lachen.
Dann blieben sie lange Zeit rücklings auf dem Bett nebeneinander liegen [...]. Sie
sprachen von sich, von ihren verschiedenen Leben, von dem unwahrscheinlichen Zufall,
jetzt in der dunklen Kajüte eines Dampfschiffes nackt zu sein, wo es doch recht war zu
denken, dass ihnen keine andere Zeit mehr blieb, als auf den Tod zu warten.11
Doch Todgeweihte lieben länger. Und so wird aus dem Roman eine lange Refle-
xion über das Herauszögern des Todes durch die Liebe, über den Verfall der
Körper durch ein Altern, das gleichwohl nicht wie bei Jeremiah de Saint-Amour,
dem Freund Doktor Urbinos, aus falscher Scham zum Selbstmord führen muss.
Damit leuchtet zugleich eine biopolitische wie auch eine politische Dimension
auf: Es geht um die Befreiung aus einer Gesellschaft, welche die Alten zum War-
ten auf den Tod und zu einer Lustfeindlichkeit zwingt, die in gewisser Weise die
Vorwegnahme des baldigen eigenen Todes ist. El amor en los tiempos del cólera
ist ein sanfter Aufschrei gegen alle Konventionen, gegen alle Lebensnormen und
Lebensformen, die sich dieser Lustfeindlichkeit unterwerfen und einem Alter den
Weg bereiten, das in der Tat nur noch ein Warten auf den Tod ist. vor diesem
Hintergrund schmerzt es zu denken, dass die letzten Jahre des kolumbianischen
Literaturnobelpreisträgers Jahre einer Altersdemenz waren, während derer ihn
freilich seine Frau Mercedes begleitete.
Die Gesellschaft bleibt angesichts der Übertretung von Normen, die sie für
das Leben ihrer Alten ein für alle Mal gesetzt hat, jedoch nicht untätig. Fermina
Dazas eigener Sohn versucht – wie zuvor seine Schwester – noch in letzter Minute,
die Flucht seiner Mutter aus der Verdammung zum Warten auf den Tod zu hinter-
treiben und Florentino Arizas Vorhaben, sich endlich mit Fermina Daza zu vereini-
gen, in letzter Minute zum Scheitern zu bringen. Viele Gründe sprechen dafür,
dass diese problematische Beziehung zwischen Mutter und Sohn sich schon in der
Szene seiner Geburt andeutete, die ich Ihnen als Beispiel einer keineswegs idylli-
Sie flüchtete sich in den gerade erst geborenen Sohn. Sie hatte ihn aus ihrem Körper mit
der Erleichterung herauskommen sehen, wie man sich von etwas befreit, das nicht zu
einem gehört, und sie hatte an dem Schrecken über sich selbst gelitten, als sie feststellte,
dass sie nicht die geringste Zuneigung zu jenem Stück aus ihrem Bauch empfand, das die
Amme ihr, schmutzig von Talg und Blut, in lebendigem Fleische und mit der Nabelschnur
um den Hals gewickelt zeigte. Doch in der Einsamkeit des Palastes lernte sie es kennen,
lernten sie sich kennen, und sie entdeckte mit einer gewaltigen Freude, dass man die Kin-
der nicht liebt, weil sie Kinder sind, sondern wegen der Freundschaft zur eigenen Auf-
zucht. Am Ende ertrug sie nichts und niemanden außer ihm im Hause ihres Unglücks.12
In dieser aufschlussreichen Passage wird das Baby nicht durch die gemeinsame
körperliche Bindung der Mutter zum Kind, weder durch die Nabelschnur noch
durch die Placenta noch durch das Blut. Der Geburtsvorgang selbst erscheint
vielmehr – und auch hier ergibt sich eine Parallele zur Geburtsszene von Emma
Bovary in Flauberts Roman – als Entfernung von etwas Fremdem aus dem eige-
nen Körper, als Operation, die einen befreienden Charakter für die Mutter be-
sitzt. Denn letztere ist es, die wie von einer Wucherung in ihrem Körper befreit
wird, so als wäre das eigene Kind nichts anderes als ein Fremdkörper, den
man möglichst schnell wieder loswerden will.
Bei Fermina Daza stellt die Mutterliebe zu ihrem Sohn einen sich langsam
herausbildenden Prozess dar. Die Muttergefühle bilden sich erst postnatal her-
aus, in der Einsamkeit einer von der Schwiegermutter noch dominierten Welt,
in der die junge Frau ihren eigenen Platz an der Seite von Doktor Juvenal Ur-
bino noch lange nicht gefunden hat. Der Geburtsvorgang selbst wird keine ein-
schneidende Erfahrung im Leben der jungen Frau darstellen. Denn im Grunde
liebt sie weder ihren Mann noch ihren Sohn, sondern lernt in beiden Fällen
nur mühsam, einen liebeähnlichen Zustand herzustellen.
Daher kann es die Leserschaft auch nicht überraschen, dass sich Fermina
Daza später von dieser Nabelschnur der Bindung zu den Kindern relativ leicht
wieder lösen wird. Und dass sich ihre Kinder später auch rücksichtslos, allein
den gesellschaftlichen Konventionen und ihrem eigenen Ruf gehorchend, in ihr
Leben einmischen werden. Der Geburtsvorgang erscheint als fremder manipu-
lativer Eingriff und Ferminas fehlende Affektivität gegenüber ihrem eigenen
Neugeborenen erschreckt sie selbst. Denn das Ausbleiben einer mütterlichen
Liebe widersprach allen Erwartungen, hatte sie doch längst kulturell vermittelt
bekommen, dass der Geburtsvorgang selbst den Übergang der Liebe von der
Mutter zu ihrem Kind gleichsam automatisch einleitet. Doch Fermina Dazas Ge-
fühle geben eine solche mütterliche Liebe zu ihrem Kind nicht her.
Die wirkliche Geburt des Sohnes erfolgte erst nach dem eigentlichen physi-
schen Geburtsvorgang: nach einer Trennung, die es schließlich erlauben sollte,
dass sich beide – beide Körper – wieder einander annähern konnten und eine
Beziehung zueinander aufnahmen, die einer Liebe zwischen Mutter und Sohn
ähnelte. Diese Beziehung endete mit dem Augenblick, in welchem der Sohn sei-
ner Mutter im Alter ihre große Liebe zu verwehren suchte. Doch dies ist für un-
sere Lesart von El amor en los tiempos del cólera nicht wirklich entscheidend. Für
uns zählt vielmehr die Tatsache, dass die beiden Liebenden ihr Alter so gestal-
ten, dass es nicht länger als ein Warten auf den Tod, als ein Dasein-zum-Tode
erscheint, sondern vielmehr der Liebe und damit dem prallen Leben gewidmet
ist: Der Tod kann noch warten.
Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod
1 Vgl. hierzu die Bände 3, 4 und 5 der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Von den historischen
Avantgarden bis nach der Postmoderne. Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der Roma-
nischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts (2021); Romantik zwischen zwei Welten. Potsda-
mer Vorlesungen zu den Hauptwerken der Romanischen Literaturen des 19. Jahrhunderts (2021);
sowie Aufklärung zwischen zwei Welten. Potsdamer Vorlesungen zu den Hauptwerken der Roma-
nischen Literaturen des 18. Jahrhunderts (2021), allesamt erschienen im Verlag Walter de
Gruyter.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-007
196 Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod
in Paris am Ende eines Lebens verstarb, dessen Länge für das frühe 18. Jahrhun-
dert außerordentlich war. Dies ist kein vernachlässigbares Detail, wenn man
als derjenige französische Schriftsteller in die Annalen einging, welcher das
aristokratische Leben am Hofe von Louis XIV. und unter der Régence wie kein
anderer beschrieb.
Um seine Herkunft zu beschreiben, genügt es, darauf zu verweisen, dass
seine Taufpaten kein Geringerer als Louis XIV. und die Königin Marie-Thérése
höchstselbst waren und dass zu seinen Spielkameraden die sogenannten „En-
fants de France“ zählten, also die Kinder der königlichen Familie, darunter der
spätere Regent Philippe d’Orléans, mit dem er freundschaftlich verbunden war.
Schon beim jungen Knaben legte man größten Wert auf eine hervorragende Bil-
dung, die der junge Mann förmlich in sich aufsog.
Bereits in jungen Jahren hatte Saint-Simon einen Band mit Memoiren gelesen
und träumte seinerseits davon, eines Tages solche Memoiren zu verfassen.
Doch aller Anfang war schwer…
Der Duc de Saint-Simon heiratete 1695 Mademoiselle de Lorge, die aus
einer hochadeligen Familie stammte und über exzellente Beziehungen verfügte.
Er hatte lange und ausführlich nach einer solchen Frau gesucht, doch stand
dieses Kalkül nicht der Liebe im Wege, insofern er mit seiner Frau innig verbun-
den zusammenlebte und mit ihr eine Tochter und zwei Söhne hatte. Bereits
1702 quittierte er nach Ausbruch des Spanischen Erbfolgekrieges seinen Dienst
in der königlichen Armee, da man ihm eine rasche Beförderung verweigerte.
Religiös fühlte er sich zu den Jansenisten hingezogen; doch der französische
König unterstützte die Jesuiten, die gegen die Jansenisten mobil machten. Auch
sonst stand Saint-Simon, dem schon die Zeitgenossen einen gewissen Standes-
dünkel nachsagten, dem König kritisch gegenüber, betraute dieser doch Ange-
hörige des niederen Adels und selbst Bürgerliche mit wichtigen Aufgaben, was
in Saint-Simons Augen unverzeihlich war. Doch immer wieder zerschlugen sich
seine Hoffnungen auf ein Wiedererstarken des Adels in einem von Louis XIV.
radikal zentralisierten Staat.
Mit dem Tod des „Roi-Soleil“ im Jahre 1715 eröffneten sich für Saint-Simon
plötzlich politische Spielräume, die er nicht zuletzt dank seiner Freundschaft
mit Philipp von Orléans (Abb. 19) während der Régence zumindest anfangs
nutzte. Doch schon vor dem Tod des Regenten 1723 war Saint-Simon von ge-
schickteren Diplomaten am französischen Hof de facto politisch kaltgestellt
worden. In der Folge zog er sich auf seine Besitzungen zurück – und das Schrei-
ben nahm fortan für ihn einen immer breiteren Raum ein. Erst im Jahr 1739 be-
sann sich Saint-Simon jedoch auf seine ursprüngliche Idee und wurde zum
Verfasser jenes Werkes, für das er in die Literaturgeschichten nicht nur Frank-
reichs einging. So verwundert es auch nicht, dass der große Romanist Erich Au-
erbach ein wichtiges Kapitel seines im Istanbuler Exil entstandenen Hauptwerks
Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur dem Schreiben
des französischen Herzogs widmete.
Denn in der Folge wurde Saint-Simon zum Verfasser breit angelegter Me-
moiren, die zwischen 1739 und 1752 entstanden und zwischen 1879 und 1928 in
nicht weniger als einundvierzig Bänden publiziert vorlagen. Auf dieser Text-
grundlage wurden seine Mémoires zumindest auszugsweise in verschiedene eu-
ropäische Sprachen übersetzt. Die von Saint-Simon vorgetragene schonungslose
Kritik der letzten Regierungsjahre von Louis XIV. sowie der sich anschließenden
Regentschaft von Philippe d’Orléans stellten wichtige Einblicke in die politischen
wie kulturellen Vorgänge jener Zeit und zugleich eine wichtige Korrektur der da-
198 Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod
schen Schriftstellers anhand einer Vielzahl von Details recht präzise zu fassen.
Denn die Mémoires geben den Menschen Saint-Simon durchaus preis.
Es ist der Forschung zu verdanken, dass wir heute darüber im Bilde sind,
inwieweit der Herzog von Saint-Simon bereits ab 1694 seine täglichen Erleb-
nisse und Einsichten in Tagebuchform niederschrieb. Um 1730 erhielt er des
Weiteren den unveröffentlichten Bericht eines Höflings, der in eher trockenem
Ton vom Hofe berichtete und der ihm Anregung genug war, über den ver-
knöcherten Stil seines unveröffentlichten Vorgängers weit hinauszugehen, kri-
tisierte er doch das Werk in scharfen Worten. Vor diesem Hintergrund arbeitete
Saint-Simon sein eigenes Memoirenwerk aus, wobei er immer wieder auch auf
andere Chroniken, Berichte und Memoiren zurückgriff. Dabei gelang es dem
französischen Autor, sein Werk ebenso durch zahlreiche literarische Personen-
portraits wie durch gelungene Szenen-Schilderungen anzureichern; Konfigura-
tionen, die man nicht mehr vergisst, wenn man sie einmal gelesen hat. In
diesem Zusammenhang diente ihm seine kritische Distanz zur vorherrschenden
Politik als wesentliches Moment einer Distanznahme, die seinem literarischen
Stilwillen zugute kam.
Bittere Kritik übte der Herzog nicht zuletzt an der Verfolgung der Hugenot-
ten und vor allem der Jansenisten durch den unter seiner Feder oft wenig gebil-
deten und intelligenten, dafür aber herrschsüchtigen und von Schmeichlern
umgebenen König der Franzosen. Saint-Simons spitze Feder spießte die Ma-
chenschaften und Komplotte rund um die Zentralfigur des Königs auf, entlarvte
die Machtgelüste einer kleinen Elite, die im Übrigen nicht die Wirtschaft verbes-
sern, sondern das Volk nur stärker auspressen wollte. So entstand das leben-
dige Fresko eines Herrschaftssystems und des französischen Adels, an den sich
immer wieder die Hoffnungen Saint-Simons klammerten. Jedoch stehen in
scharfem Kontrast zu den Bildern der Verkommenheit die Portraits der mit
Saint-Simon befreundeten Personen, die in zum Teil hell leuchtenden Farben
dargestellt werden. Nicht die umfassende Außen- oder Innenpolitik bilden das
Zentrum seines Interesses, sondern die handelnden und leidenden Menschen
bei Hofe: Saint-Simon ging es um das Leben von Menschen, deren Namen den
Zeitgenossen wohlbekannt waren, über deren alltägliches Leben man aber kaum
etwas wusste.
Bürgerliche Literaten wie Racine, La Rochefoucauld oder Voltaire spielen
in der glanzvollen Übergangszeit zwischen dem Siècle Classique und der Früh-
aufklärung für den standesbewussten Herzog keine wesentliche Rolle. Dies tut
dem literarischen Glanz der Memoiren freilich keinen Abbruch, sondern wirft
nur ein Licht auf den Standesdünkel des Verfassers. Bis heute faszinieren je-
doch die Menschen, die Saint-Simon voller Lebendigkeit vor unser Auge stellt
und von denen er unendlich viele Details erspäht. Das Strahlende wie das
200 Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod
Schreckliche finden bei ihm ihren angemessenen Platz. Darin liegt bis heute
die Modernität dieses Schriftstellers, dessen Gesellschaftsvorstellungen man
durchaus als antiquiert bezeichnen kann. Es ist kein Zufall, dass es gerade die
großen französischen Romanciers waren, die auf Grundlage erster fundierter
Ausgaben im 19. Jahrhundert den Duc de Saint-Simon wiederentdeckten.
All diese literarischen Qualitäten wollen wir nun anhand seiner Texte über-
prüfen und näher beleuchten, was er uns über Leben und Sterben, über Geburt
und Tod zu sagen hat. Am Anfang der Memoiren steht die Einführung der eige-
nen Person, jenes Ichs, das uns in der Folge auf Tausenden von Seiten durch
die höfisch-französische Gesellschaft des ausgehenden 17. und der ersten Hälfte
des 18. Jahrhunderts führen wird:
Ich bin in der Nacht vom 15. zum 16. Januar 1675 geboren als einziges Kind aus der Ehe
des Duc de Claude Saint-Simon, Pair von Frankreich, und seiner zweiten Frau, Charlotte
d'Aubespine. Von seiner ersten Frau, Diane de Budos, hatte mein Vater nur eine Tochter
und keinen Sohn gehabt. Diese Tochter hatte er mit dem Duc de Brissac, Pair von Frank-
reich und einzigem Bruder der Duchesse de Villeroy, verheiratet. Sie starb 1684 kinderlos,
schon seit langem getrennt von einem Ehemann, für den sie zu gut gewesen; in ihrem
Testament hatte sie mich als ihren Universalerben eingesetzt.
Ich trug den Titel eines Vidame von Chartres und wurde mit großer Sorgfalt und Auf-
merksamkeit erzogen. Meine Mutter, die viel Seelenkraft und gesunden Menschenver-
stand besaß, war unablässig um meine körperliche und geistige Ausbildung bemüht. [...]
Denn mein Vater, der 1606 geboren war, würde kaum noch so lange leben, um mich vor
diesem Ungemach bewahren zu können. Und meine Mutter prägte mir immer wieder ein,
dass ein junger Mann wie ich, der als Sohn eines Günstlings Ludwigs XIII. über keinerlei
gesellschaftliche Beziehungen verfüge, unbedingt etwas aus sich machen müsse; die
Freunde meines Vaters seien gestorben oder längst außerstande, mir beizustehen, und
sie selbst, meine Mutter, sei von Kind auf bei ihrer Verwandten, der alten Duchesse d'An-
goulême (der Großmutter mütterlicherseits des Duc de Guise), aufgewachsen und dann
mit einem Greis verheiratet worden. [...] Zwar verspürte ich für das Studium und die exak-
ten Wissenschaften nur wenig Neigung, desto stärker aber war meine gleichsam angebo-
rene Leselust und die Vorliebe für die Geschichte; daraus erwuchs das Verlangen, den
Vorbildern, die ich darin fand, nachzueifern und etwas zu leisten, ein Ausgleich für
meine Gleichgültigkeit gegen die Wissenschaften. [...]
Die Lektüre der Geschichtswerke, und besonders die Memoiren aus unserer französi-
schen Geschichte der neueren Zeit von Franz I. an, in die ich mich aus eigenem Antrieb
versenkte, weckte in mir das Verlangen, ebenfalls Memoiren zu schreiben über das, was
ich erleben würde, in der Absicht und in der Hoffnung, die Ereignisse meiner Zeit möglichst
klar zu erkennen und wiederzugeben.2
2 Saint-Simon, Louis de Rouvroy, Duc de: Mémoires. Texte établi par Adolphe Chéruel. Paris:
Hachette 1856, Bd. 1, S. 1–3.
Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod 201
Auf wenigen Seiten erzählt Saint-Simon hier sehr knapp und zugleich präzise, in
welches Leben er hineingeboren wurde und von welch hoher Abkunft er ist. Er fi-
xiert genau den Zeitpunkt seiner Geburt, macht vor allem aber auf die familiäre
Situation und weit mehr noch auf die gesellschaftliche Stellung seiner Familie in-
nerhalb der damaligen Adelsgesellschaft Frankreichs aufmerksam. Geburt er-
scheint hier als soziale Situierung: Man wird in eine stabile, statische Gesellschaft
an einer bestimmten Stelle hineingeboren und hat sich mit den Umständen zu ar-
rangieren, die einem zugefallen sind.
Die Geburt ist das entscheidende Moment der Konstituierung als soziales
Wesen in einer in klare Kasten eingeteilten Feudalgesellschaft. Entscheidend
ist auch mit Blick auf den Vater, welche Kinder er mit welcher Frau hatte und
welche Möglichkeiten sich daraus ergaben. Demgegenüber haben Verheiratun-
gen wenig oder nichts mit Liebe und Zuneigung zu tun, sondern mit den Bezie-
hungen, Reichtümern und Verbindungen, die sich dadurch ergeben können.
Dabei fungieren Familienbeziehungen weniger als affektive Bezugspunkte
denn als gesellschaftliche Markierungen und auch als soziale Marken – ein be-
stimmtes gesellschaftlich-symbolisches Kapital, das durch die Geburt und mit
der Geburt erworben wurde. Zugleich macht Saint-Simon seinen Leserinnen
und Lesern deutlich, dass er in eine hohe gesellschaftliche Stellung hineinge-
boren wurde – immerhin ist sein Vater „Pair de France“ –, dass diese Stellung
aber erst seit relativ kurzer Dauer erworben wurde und gleichsam gesellschaft-
lich prekär ist. Daher ging es sehr wohl darum, etwas aus dieser Stellung zu
machen und einen eigenen Akzent zu setzen.
Denn ein Duc de Saint-Simon – dies war dem Hochwohlgeborenen deut-
lich – konnte bei weitem nicht mit einem Duc de Guise mithalten. Dies ist es,
was im Siècle Classique ein Molière in seinen Komödien als das „se connaître“
bezeichnete und alles dem Lachen preisgab, was sich ‚nicht kannte‘, das heißt,
was unfähig war, den eigenen gesellschaftlichen Platz zu erkennen und zu
akzeptieren.
Überdies war Saint-Simon der einzige männliche Nachkomme seines Va-
ters, der in zweiter Ehe und gegen Ende seines Lebens – er war bereits bei der
Geburt seines Sohnes neunundsechzig Jahre alt – endlich den erhofften Stamm-
halter und Erben zeugen sollte. Denn alle gesellschaftlichen Erb- und Aufstiegs-
möglichkeiten verlaufen in dieser zutiefst patriarchalischen Adelsgesellschaft
‚natürlich‘ patrilinear. Auch auf dieser Ebene ist es die Funktion innerhalb
einer festgefügten, mit wenigen Möglichkeiten des Aufstiegs und Abstiegs ver-
sehenen Feudalgesellschaft, welche ebenfalls mit Blick auf die Geschlechterbe-
ziehungen im Vordergrund steht.
Die Geburt – so sehen wir es deutlich aus der Perspektive eines hochgebo-
renen Mitglieds der Adelsgesellschaft am Hofe von Louis XIV. – ist kein körper-
202 Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod
meint, zum anderen aber auch die Nachahmung der Natur beziehungsweise der
gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Genau diese doppelte Zielrichtung abzubilden und wiederzugeben nimmt
sich Saint-Simon vor. In dieser Hinsicht ist seine literarische Geburt zugleich
mit seiner sozialen Geburt aufs Engste verbunden. Wer wäre berufener als der
Sohn eines „Pair de France“, von dieser aristokratischen Gesellschaft zu berich-
ten? Denn es ist diese ererbte, durch Geburt ihm zugefallene Position, welche
ihm seine Perspektivik auf die Gesellschaft des französischen Hofes eröffnen
wird und selbstverständlich auch die finanziellen Möglichkeiten sichert, um
ein solches Schreiben (von dem Saint-Simon selbstverständlich nicht leben
muss) ins Werk setzen zu können.
Sehen wir uns in der gebotenen Kürze noch andere Geburten an, von
denen Saint-Simon in seinen Memoiren häufig zu berichten weiß und bleiben
wir dabei zunächst im Kreise seiner Familie! Die Geburt seiner Tochter, die na-
mentlich nicht einmal vermerkt wird, wird auf den 8. September datiert, er-
scheint aber nur in einem Nebensatz: „Madame de Saint-Simon hatte ihren
Großvater, Monsieur de Frémont, verloren und war zur selben Zeit, am 8. Sep-
tember mit meiner Tochter niedergekommen.“3 Tod und Geburt liegen in diesen
eher beiläufigen Formulierungen also ganz nahe zusammen. Etwas ausführli-
cher ist Saint-Simon da schon bei der Geburt seines Sohnes, denn diese ‚feinen
Unterschiede‘ verstehen sich in einer phallogozentrischen Gesellschaftsord-
nung von selbst. Vergleichen wir beide Geburten kurz miteinander:
Als die Truppen die Winterquartiere bezogen, gedachte ich mich nach Paris zu begeben;
es war bereits Oktober. Mme. de Saint-Simon hatte ihren Großvater, M. de Frémont, verlo-
ren und war zur selben Zeit, am 8. September, mit meiner Tochter niedergekommen.
[...]
Kurz zuvor, am 29. Mai, war Mme. de Saint-Simon sehr glücklich niedergekommen, Gottes
Gnade schenkte uns einen Sohn. Er führte wie ich seinerzeit den Namen Vidame de Char-
tres. Ich weiß nicht, woher diese besondere Vorliebe für Namen und Titel stammt, aber
sie üben in allen Nationen die gleiche Verführungskraft aus, und selbst jene Leute, die
diesen Hang als Schwäche bezeichnen, ahmen den Brauch nach.4
3 Saint-Simon, Louis de Rouvroy, Duc de: Mémoires. Bd. 1, S. 379 f.: „Mme de Saint-Simon
avoit perdu M. Frémont, père de Mme la maréchale de Lorges, et elle étoit en même temps
heureusement accouchée de ma fille le 8 septembre.“
4 Ebda. u. Bd. 2, S. 174.
204 Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod
sönlich anlasten wollen, weil sie in der damaligen Zeit bei Hofe ganz unbestrit-
ten gemacht werden. Mit der Geburt des Sohnes, der ebenfalls namentlich nicht
genannt wird – was wiederum auf die geringere Bedeutung des Individuums
gegenüber der sozialen Rolle und Funktion verweist –, kommt die Frage der
Titel und vom Vater auf den Sohn übertragenen Ehrentitel ins Spiel. Diese Titel
dienen als gesellschaftliche Visitenkarten der sozialen Herkunft und des Plat-
zes, den ein Mensch in der statischen Kasten-Gesellschaft des damaligen Frank-
reich beanspruchen darf. Mit großem Stolz verweist Saint-Simon in diesem
Zusammenhang darauf, dass sein Sohn denselben Titel trägt, den er selbst als
neugeborener erhalten hatte: Die Filiation, „de père en fils“, ist folglich patrili-
near gesichert und Anlass zu Freude und Dank an einen gnädigen (jansenisti-
schen) Gott.
Es ist auffällig, wie häufig Geburt und Tod zweier Menschen – wie bereits in
dem oben erwähnten Beispiel – in der literarisch in Szene gesetzten Darstellung
bei Saint-Simon sehr nahe beieinanderliegen. Geburt, Sterben und Tod werden
oft im selben Abschnitt behandelt und als letztlich von Gott gesteuerte schicksal-
hafte Ereignisse beleuchtet: Alles ist von Gottes Gnade abhängig! Ich möchte
Ihnen dies am Beispiel der im Jahre 1710 stattgefundenen Geburt des späteren
französischen Königs Ludwigs des Fünfzehnten (Abb. 20) und der sich unmittel-
bar anschließenden Darstellung des Todes von Monsieur le Duc exemplarisch
vor Augen führen. Sehen wir uns die entsprechende Passage also näher an:
Samstag, den 15. Februar, wurde der König um sieben Uhr morgens, eine Stunde früher
als gewöhnlich, geweckt, weil ihm mitgeteilt werden sollte, dass die Duchesse de Bourgo-
gne bereits in den Wehen liege. Er kleidete sich eilig an, um zu ihr zu gehen. Sie ließ ihn
nicht lange warten: drei Minuten und drei Sekunden nach acht Uhr brachte sie zur allge-
meinen Freude einen Duc d'Anjou, den heute regierenden Ludwig XV:, zur Welt. […]
Bald darauf ereignete sich ein Todesfall, der die Gesellschaft gleichermaßen er-
schreckte und erleichterte. Monsieur le Duc wurde schon seit langem von einem seltsa-
men Übel geplagt, das ihn zuweilen in epileptische Zustände und Lähmungen versetzte,
die jedoch nur kurze Zeit dauerten und die er so sorgsam zu verbergen pflegte, dass er
einen seiner Diener davonjagte, weil dieser mit anderem Dienstpersonal darüber gespro-
chen hatte. [...] Am Montagabend ging er ins Hôtel de Bouillon und von dort zum Duc de
Coislin, der seinerseits sehr krank war. Er fuhr in einer unbeleuchteten Karosse mit nur
einem Lakaien auf dem Rücksitz. Als er aus dem Palais Coislin kam und den Pont Royal
überquerte, fühlte er sich so elend, dass er zum Klingelzug griff und seinen Lakaien auf-
forderte, sich neben ihn zu setzen. Er fragte ihn, ob sein Mund verzerrt sei, und ließ dem
Kutscher sagen, er solle vor der Hintertreppe seiner Garderobe halten, denn er wolle ver-
meiden, dass die im Hôtel Condé versammelte Gesellschaft ihn zu sehen bekäme. Doch
schon unterwegs verlor er die Sprache und das Bewusstsein; er stammelte gerade noch
irgendetwas, als sein Lakai und ein Straßenkehrer, der gerade dastand, ihn aus der Ka-
rosse zogen und ihn vor die Tür seiner Garderobe schleppten, die sie jedoch verschlossen
Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod 205
fanden; worauf sie so lange und so heftig klopften, dass die ganze Gesellschaft herbei-
eilte. Man brachte ihn auf der Stelle zu Bett. Die schleunigst hinzugezogenen Ärzte und
Priester walteten vergeblich ihres Amtes. Er gab kein Lebenszeichen mehr von sich, ver-
zog nur noch das Gesicht zu schrecklichen Grimassen, und so starb er um vier Uhr früh
am Fastnachtsdienstag.
Mitten im Festesrausch, umringt von prächtigen Masken, betäubt von Überraschung
und benommen von dem Anblick, der sich ihr plötzlich bot, verlor Madame la Duchesse
dennoch keine Sekunde ihre Geistesgegenwart.5
Im Grunde zieht sich in dieser Passage das gesamte Thema unserer Vorlesung
zusammen: Sie handelt von Geburt, gesellschaftlichem Leben, individuellem
Sterben und Tod. All dies wird fast in einem einzigen Atemzug geschildert.
Dabei werden die verschiedenen Abläufe im Grunde sehr geschickt ineinander
verschränkt. Diese wechselseitigen Verschränkungen könnten wir leicht einer
literaturwissenschaftlichen Analyse unterziehen.
Von entscheidender Bedeutung erscheint mir in diesem Zitat aber die Tat-
sache, dass hier die Maske des Todes gegen die Masken des Karnevals, die Ver-
stöße der Lakaien gegen die Körperbeherrschung der Adligen – in des Wortes
vielfältiger Bedeutung – geführt werden. Der Tod darf keine öffentlich sichtba-
ren Gefühlsregungen auslösen. Wie sehr ein Marcel Proust an derartigen Stellen
lernte, die Ästhetiken adeliger Körperbeherrschung und Gefühlskontrolle etwa
am Beispiel des Todes des Duc de Guermantes in A la recherche du temps perdu
zum Ausdruck zu bringen, ist bei einem Vergleich zwischen entsprechenden
Stellen des Romans mit den Mémoires von Saint-Simon offenkundig. Auch bei
letzterem zeigt die Duchesse keinerlei Gefühlsregung, als sie vom Ableben ihres
Mannes in Kenntnis gesetzt wird.
In alledem äußerst sich deutlich eine Konstellation im Sinne einer festste-
henden, fixierten Gesellschaftsordnung, wie wir dies bereits in den Zitaten
zuvor beobachten konnten. Die Frage der Geburt, des Sterbens und des Todes
ist eine, die sehr viel mit einer bestimmten Kultur, einer bestimmten Gesell-
schaft, einer sozialen Gruppe und einer bestimmten Zeit zu tun hat. Im Hause
des sterbenden, wohl von einem Herzinfarkt betroffenen Duc feiert saisonge-
mäß gerade eine lustige adelige Karnevalsgesellschaft, und deren Feiern darf
auf keinen Fall getrübt werden – auch nicht durch den Tod des Gastgebers! Die
Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod 207
Duchesse muss die „contenance“ bewahren, denn nichts gerät durch den Tod
eines Mitglieds dieses Gesellschaftssystems aus den Fugen: La vie continue!
Zugleich könnte ich an dieser wie an vielen vergleichbaren Stellen darauf
verweisen, dass es einen tiefgreifenden Unterschied zwischen dem Körper-Leib
eines Menschen und dessen Kleidung gibt. Der Körper-Leib steht zumeist für
das Individuum, den Menschen, das Einzigartige, während die Kleidung – und
beim Karnevalsfest auch die Verkleidung – vielmehr einen gesellschaftlichen
Rang, einen sozialen Stand angibt, den dieser Mensch in der Feudalgesellschaft
einnimmt. Wie sehr dies gerade auf Honoré de Balzac und die Erzähler des 19.
und zum Teil auch des 20. Jahrhunderts wie etwa Marcel Proust einwirkte, ist
für die literarische Darstellung der (französischen) Adelsgesellschaft aus bür-
gerlicher Perspektive sehr wichtig geworden.
Leben und Sterben, Fest und Trauer sind im obigen Zitat in so großer Ver-
dichtung nebeneinander gestellt, dass es angesichts dieser Kontiguität keine
Frage sein kann, ob die damit angezielte Wirkung beabsichtigt oder eher zufäl-
lig ist. Der Herzog von Saint-Simon will mit dieser Szenerie ein ganz bestimmtes
Licht auf die ‚Noblesse‘ seiner Zeit werfen und deren Standesbewusstsein unter
Beweis stellen. Alles Handeln der Personen scheint auf die gesellschaftlichen
Auswirkungen, auf die Rezeption durch eine bestimmte Gesellschaft – in wel-
cher natürlich die Lakaien und die Dienerschaft nicht zählen – berechnet und
kalkuliert zu sein. Das Leben des damaligen Adels ist ein Leben in dauerhafter
Inszenierung; und diese endet selbstverständlich auch nicht mit dem Sterben,
das wie die Geburt von seiner sozialen Funktion her verstanden wird.
Wir haben vermerkt, dass Saint-Simon sehr präzise das Jahr, den Tag und
vor allem die Uhrzeit einer Geburt festhält – er tut dies stets oder bemüht sich
zumindest darum. Die exakten Datierungen sind notwendig, gibt doch der ge-
naue Zeitpunkt der Geburt im Kontext der Astrologie später Aufschluss über
den weiteren Lebensweg der soeben auf die Welt Gekommenen. So determiniert
die Geburt im Zeichen der Sterne einen Lebensweg und einen Menschen, der
gleichsam von Beginn an seinen Platz in der Gesellschaft angewiesen bekommt.
Diese göttliche Zuweisung anzunehmen und aus ihr etwas zu machen, ist die
Forderung der Gesellschaft, der sich dieses Individuum unbedingt beugen
muss – gleichviel, ob es der künftige König, ein Sohn Saint-Simons oder aber
seine Tochter sind, die gerade das Licht der Welt erblickt haben. Gebären und
Sterben vollziehen sich in gesellschaftlich genau geregelten Bahnen.
Es mag auf uns heute fast ein wenig lächerlich wirken, dass die französi-
sche Königin nicht einen Sohn mit einem bestimmten individuellen Namen,
sondern einen Duc d’Anjou auf die Welt bringt, der später einmal den Königs-
thron Frankreichs einnehmen wird. Der Zeitpunkt der Geburt und die gesell-
schaftliche Stellung von Vater und Mutter determinieren einen Lebensweg, der
208 Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod
gleichsam in die Wiege gelegt ist und den das so bestimmte Individuum be-
schreiten muss. Die zwischenmenschliche, emotionale und affektive Dimension
ist aus diesen Vorfällen in sehr weitgehendem Maße getilgt. Das spezifische Le-
benswissen, das in derlei Formulierungen von Seiten des Ich-Erzählers einge-
blendet wird, ist deutlich an der sozialen Dimension und Funktion dieser
Geburt – aber auch aller anderen biopolitisch relevanten Ereignisse – ausge-
richtet. Zugleich wird uns deutlich: Bei Geburt und Sterben gibt es eine über
das Individuelle weit hinausreichende biopolitische Dimension, die freilich in
jeder Gesellschaft, Kultur und historischen Epoche verschieden ist.
Auch das Sterben des Duc in der oben angeführten Passage lässt sich vor
diesem zeithistorischen Hintergrund besser einordnen. denn es geht gerade
darum, nicht hinter die Kulissen blicken zu lassen und der Gesellschaft eine
Selbstbeherrschung und Selbstinszenierung zu zeigen, die keinerlei Raum für
epileptische Anfälle, aber – im Falle der Duchesse – auch keinen Raum für Ge-
fühlsausbrüche aufweist. Das Zeigen von Trauer und Schmerz ist als öffentlich
sichtbares Zeichen aus dieser Inszenierung der eigenen Rolle verbannt.
Daher müssen die gesellschaftlichen Rollen in diesem Maskenball weiter-
und bis zum bitteren Ende gespielt werden; allein der Lakai und der Straßen-
kehrer verstoßen dagegen, obwohl der Duc selbst die Gesellschaft durch sein
Unwohlsein, vielleicht aber auch durch seinen Tod nicht im Geringsten stören
wollte. Für die Dienstboten geht es um das Leben des Duc, für den Duc und
dessen Ehefrau geht es um die gesellschaftliche Rolle, die zu spielen ihr Privi-
leg ist. Die Grimassen, die der Tod auf das Gesicht des Herzogs zeichnet, wer-
den folglich auch nicht mehr ihm zugerechnet, sei der Duc – sozial gesehen –
doch schon tot und hat seine gesellschaftliche Rolle ausgespielt. Die Fratzen
gehen nur noch auf das Konto jener Kraft, auf welche die Menschen keinen Ein-
fluss haben, mithin auf das Konto des Todes. Die Sorge des Duc, möglichst
nicht entstellt zu werden, wird also nicht zufällig hier erwähnt. Denn sie weist
voraus auf den Todeskampf, der gleichsam aus dem Leben heraus- und in den
Tod hineindefiniert wird, so dass der Duc keine Verzerrungen, keine Verstellun-
gen mehr zu Lebzeiten erfährt. Er muss seine Rollenmaske, seine Persona, bis
zum Ende spielen: Sie ist zu einem Teil seiner selbst geworden.
In Saint-Simons Memoiren finden sich viele Todesszenen, in denen die Ster-
benden bis in ihren eigenen Tod hinein Haltung bewahren oder zumindest Hal-
tung zu bewahren versuchen. Das Leben muss der eigenen gesellschaftlichen
Stellung entsprechend bis zum Ende gelebt werden, so wie es auch schon von
Geburt an festgelegt war. Denn letztere war schon Teil jenes Spielens einer ge-
sellschaftlichen Rolle, die bis in den Tod hinein möglichst fehlerlos weiterge-
spielt werden muss.
Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod 209
Ich möchte Ihnen unseren kurzen Gang durch die Memoiren Saint-Simons
abschließend eine Stelle präsentieren, die einer der nicht nur aus meiner Sicht
größten Romanisten des 20. Jahrhunderts, Erich Auerbach, in seinem bereits er-
wähnten Buch Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur,
das jeder angehende Romanist und jede Romanistin einmal in die Hand genom-
men haben müsste, interpretiert hat. Es handelt sich dabei um eine Passage im
sechzehnten Kapitel seines zwischen Mai 1942 und April 1945 im Istanbuler Exil
geschriebenen Buches mit dem Titel „Das unterbrochene Abendessen“.6 Inmitten
der Schrecknisse des Zweiten Weltkriegs und der Shoah vertiefte sich Auerbach
dort in den großen Stilisten und Meister der Kunst des Memoirenschreibens, der
ihn vom 20. in das ausgehende 17. und die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts
führte. Die Passage, um die es geht, ist die folgende:
Der völlig niedergeschlagene Dauphin blieb in seinen Gemächern und wollte dort außer
seinem Bruder, seinem Beichtvater und dem Duc de Beauvillier niemanden empfangen.
Letzterer, der seit acht Tagen krank in seinem Stadthaus lag, raffte sich auf und machte
sich auf den Weg, um die Seelengröße seines einstigen Zöglings zu bewundern, die nie-
mals so deutlich hervortrat wie an jenem Schreckenstage. Es war, ohne dass beide es ahn-
ten, das letzte Mal, dass sie einander auf dieser Welt sahen. [...] Der Dauphin kam mir mit
einem Ausdruck sanfter Trauer entgegen, der mich erschütterte, und ich erschrak über
seinen zugleich starren wie scheuen Blick. Die Veränderung seines Antlitzes, die großen,
eher bleichen als rötlichen Flecken, die allenthalben sichtbar waren, fielen nicht nur mir,
sondern jedem Anwesenden auf. [...] Er warf mir einen Blick zu, der mir das Herz zerriss,
dann ging er. [...] Die allgemeine Bestürzung war unbeschreiblich. […] Am Dienstag, dem
16., ging es dem Prinzen noch schlechter; er fühlte sich von einem furchtbaren inneren
Feuer verzehrt, obwohl das Fieber nicht weiter stieg. Aber der Pulsschlag schien sehr be-
drohlich. Die Flecken, die man auf seinem Gesicht gesehen, verbreiteten sich nun über
den ganzen Körper. [...]
Am Mittwoch, dem 17., verschlechterte sich der Zustand ganz merklich. […] Ich hegte
keine Hoffnung mehr, und doch hoffte man wider alle Hoffnung, stets bis zum Ende. Die
Schmerzen und das verzehrende Feuer steigerten sich weiterhin. […] Am Donnerstag,
dem 18., vernahm ich vormittags, der Dauphin habe voller Ungeduld Mitternacht erwar-
tet, alsdann die Messe gehört, die Kommunion empfangen und zwei Stunden in inniger
Gemeinschaft mit Gott verbracht; er habe, wie mir Madame de Saint-Simon mitteilte, die
letzte Ölung erhalten und sei schließlich um halb neun verschieden. Diese Memoiren
sind nicht dazu da, um meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen – wer sie einmal lange
nach meinem Tode liest, wird genug Persönliches darin finden und spüren, in welchem
seelischen Zustand ich und auch Madame de Saint-Simon damals waren. Der Prinz, der
bestimmt war, einmal die Krone zu erben, und der nach dem Tode seines Vaters Thronfol-
6 Vgl. zu Geschichte und Bedeutung dieses Werks auch Ette, Ottmar: Erich Auerbach oder Die
Aufgabe der Philologie. In: Estelmann, Frank / Krügel, Pierre / Müller, Olaf (Hg.): Traditionen
der Entgrenzung. Beiträge zur romanistischen Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt am Main –
Berlin – New York: Peter Lang 2003, S. 21–42.
210 Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod
ger wurde, war als Kind schreckenerregend und ließ, wie ich bereits angedeutet habe,
das Schlimmste befürchten. [...] Frankreich wurde schließlich die härteste Strafe zuteil;
Gott hatte ihm einen Prinzen gezeigt, dessen es nicht wert war. Die Erde war seiner nicht
würdig gewesen, er war schon zur ewigen Seligkeit herangereift.7
7 Saint-Simon, Louis de Rouvroy, Duc de: Mémoires 1857, Bd. 10, S. 92–115.
8 Vgl. Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur.
Bern: A. Francke Verlag1982, S. 387.
9 Ebda., S. 388.
10 Ebda., S. 389.
11 Ebda.
12 Ebda., S. 400.
Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod 211
13 Ebda., S. 390.
14 Ebda., S. 394.
15 Ebda., S. 397.
212 Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod
ihrem offiziellen Titel und Namen anspricht – selbst hier ganz der Hofmann, zu
dem er erzogen wurde.
Blicken wir noch einmal auf die literarische Darstellung des langsamen Ster-
bens des französischen Thronfolgers, so wird deutlich, in welcher semantischen
Ambivalenz, ja mehr noch Polysemie sich die Worte Saint-Simons bewegen und in
welchem Maße sie ebenso ein Licht auf das Sterben des französischen Dauphin
wie auf dessen Beobachter werfen. Dabei wahrt Saint-Simon bei aller Stärke seiner
Empfindungen die Form, orientiert sich an der Etikette bei der Darstellung eines
Todes, der doch schon so lange zurückliegt. Denn vergessen wir nicht: Saint-
Simon schreibt Jahrzehnte nach den von ihm dargestellten Ereignissen bei Hofe!
Das Sterben und der Abschied des Dauphin vom Leben konfigurieren einen
geradezu aus staatsmännischer, ja transzendenter Perspektive geschilderten
Tod, der auf das Schicksal eines Volkes, des französischen Volkes und seines
Staates, aufmerksam macht. der Tod ist in dieser Schilderung in seiner ganzen
überindividuellen Dimension präsent, zugleich aber auch bis in die kleinsten
physiognomischen Details hinein gegenwärtig. Saint-Simon verwendet sein
ganzes Lebenswissen darauf, diesen Tod als das Sterben eines Menschen vor
Gott in seiner gesamten psychologischen Tiefenschärfe darzustellen.
Das individuelle Schicksal steht gleichwohl nicht im Vordergrund: Am Kör-
per des Thronfolgers entwickelt sich nur ein exzellentes Beobachtungs- und
Darstellungsvermögen, das Saint-Simon auszeichnet, weil es in wenigen Wor-
ten ein Menschenleben und dessen gesellschaftliche Position fixiert. Das Indivi-
duum selbst erscheint in einer Vielzahl von Details, doch wird es immer wieder
rückbezogen auf eine soziale, ja hier sogar auf eine transzendente – da von
Gott eigens angelegte – Funktion, in welcher es zugleich eine gesellschaftliche
Rolle spielt.
Auf diese Weise erscheint der Tod eines Menschen in der Memoirenliteratur
als ‚Chronik eines angekündigten Todes‘, den Saint-Simon uns geradezu exem-
plarisch und fast auch in Form einer Chronik mit ihren Datierungen und ihrer
Darstellung des gesellschaftlichen Lebens präsentiert. Hier stirbt einer, der
seine gesellschaftlich vorgesehene Rolle als künftiger König von Frankreich
nicht mehr wird spielen können. Und doch muss er die für ihn vorgesehene
Rolle noch bis zu seinem eigenen Tod erfüllen, muss bis in seinen eigenen Tod
hinein eine gesellschaftliche, sozial determinierte Persona sein.
Zugleich macht diese Stelle aber deutlich, dass es nicht um den Ausdruck
der Gefühle des Ich, nicht um die Konstruktion einer modernen Subjektivität
gleichsam von innen her, nicht um all das geht, was Jean-Jacques Rousseau in
seiner Findung und Erfindung der Autobiographie in der Moderne so folgen-
reich entwickeln wird. Das Lebenswissen eines Saint-Simon ist noch deutlich
vor den Idealen und dem Menschenbild der Aufklärung anzusetzen und ent-
Saint-Simon oder Portraits von Geburt und Tod 213
Der aus Genf stammende Philosoph Jean-Jacques Rousseau, dem wir uns im
Rahmen dieser Vorlesung nicht nochmals ausführlich zuwenden können,1 ver-
stand sein eigenes Leben als eine Abfolge von „malheurs“, die ihn ab seiner
Geburt seine ganze Lebenserfahrung hindurch begleiteten. Die Geburt wird
daher zum Kainszeichen eines Lebens, das sich an diesen prägenden Moment
anschließt und immer weiter in all seinen Verästelungen fortsetzt. Wir wollen
uns in aller Kürze mit diesem Lebenszeichen auseinandersetzen, verstand sich
Rousseau doch als ein von dieser Geburt gezeichneten Menschen, der den dabei
erfolgten Tod seiner Mutter stets als riesige Bürde mit sich herumschleppte und
als Zeichen seines In-der-Welt-Seins begriff.
Gleich nach dem berühmten Incipit, das wir in anderen Vorlesungen inten-
siv besprochen haben, folgt sozusagen auf der nächsten Seite seiner Bekennt-
nisse eine Passage, die für uns von Interesse ist:
Ich bin geboren zu Genf im Jahre 1712 von dem Genfer Bürger Isaac Rousseau und von der
Genfer Bürgerin Suzanne Bernard. Ein höchst bescheidenes Erbe, das es unter fünfzehn
Kindern aufzuteilen galt, hatte den Anteil meines Vaters gleichsam auf nichts zurückge-
führt, und so besaß er zum Überleben nur seinen Beruf als Uhrmacher, in welchem er in
Wahrheit überaus geschickt war. Meine Mutter, die Tochter des Ministers Bernard, war
reicher; sie besaß Weisheit und Schönheit: Nicht ohne Mühe war es meinem Vater gelun-
gen, sie zu erhalten. Ihre Liebesbeziehung hatte fast mit ihrem Leben begonnen: im Alter
von acht oder neun Jahren [...].
Nach der Geburt meines einzigen Bruders brach mein Vater nach Konstantinopel
auf, wohin man ihn gerufen und wo er zum Uhrmacher des Serail ernannt. [...] Meine
Mutter besaß mehr als nur ihre Tugend, um dies durchzustehen, sie liebte ihren Ehemann
zärtlich und übte Druck aus, damit er zurückkäme: Er verließ alles und kehrte zurück. Ich
war die traurige Frucht dieser Rückkehr. Zehn Monate später wurde ich verkrüppelt und
krank geboren; ich kostete meiner Mutter das Leben, und meine Geburt war das erste mei-
ner Unglücke.
Ich habe nie erfahren, wie mein Vater diesen Verlust verschmerzte, aber ich weiß,
dass er nie darüber hinwegkam. Er glaubte sie in mir wiederzusehen, ohne doch verges-
sen zu können, dass ich sie ihm weggenommen; er küsste und umarmte mich niemals,
ohne dass ich nicht an seinen Seufzern, an seinen konvulsiven Umarmungen verspürt
hätte, dass sich bittere Trauer in seine Liebkosungen mischte; sie waren dafür nur umso
zärtlicher. Wenn er mir sagte: Jean-Jacques, sprechen wir von Deiner Mutter, antwortete
ich ihm: Ach, mein Vater, so werden wir denn weinen; und allein dieses Wort zog schon
1 Vgl. die Rousseau gewidmeten Kapitel in den „Aula“-Bänden, Bd. 2: Ette, Ottmar: LiebeLesen
(2020), S. 246 ff., sowie Bd. 5: Ette, Ottmar: Aufklärung zwischen zwei Welten (2022), S. 343 ff.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-008
218 Donatien Alphonse François de Sade
die Tränen an. Ach!, seufzte er aufstöhnend, gib sie mir wieder, tröste mich über sie hin-
weg, fülle die Leere, die sie in meiner Seele hinterlassen hat. Würde ich Dich so lieben,
wenn Du nur mein Sohn wärest? Vierzig Jahre nach ihrem Verlust verstarb er in den
Armen einer zweiten Frau, aber mit dem Namen der ersten auf den Lippen und mit ihrem
Bildnis auf dem Grunde seines Herzens. [...]
Ich wurde fast sterbend geboren; man erhoffte kaum, mich am Leben zu erhalten.
Ich trug den Keim eines Unwohlseins, welches die Jahre noch verstärkten. [...]2
Vergleichen wir diesen Auszug mit Zitaten aus der Feder von Saint-Simon, so
könnte der Unterschied kaum größer sein. Und doch befinden wir uns im selben
18. Jahrhundert und überdies in derselben Sprache und Kultur. Doch wir blicken
nun nicht mehr auf die uns umgebende Welt aus der Perspektive des Hochadels,
sondern erleben diese Welt aus dem Blickwinkel des Bürgertums mit all seinen
Geldnöten und Problemen – eine erzwungene Arbeitsmigration nach Konstanti-
nopel miteingeschlossen. Wir sind nicht länger Zeugen des Lebens am französi-
schen Hof, sondern befinden uns inmitten einer Republik – der stolzen Republik
von Genf. Uns umgeben nicht länger die Werte des Hochadels und des Vertrau-
ens in die Staatsform, die man bald schon als „Ancien Régime“ bezeichnen
sollte, sondern erleben das „Siècle des Lumières“, das „Jahrhundert der Aufklä-
rung“, in seinem ganzen Glanze, den es über Genf, Frankreich, Europa und die
transatlantische Welt auszustrahlen wusste. Und nicht zu allerletzt: Wir erfreuen
uns nicht mehr an der Feder eines Verfassers von Memoiren, in deren Zentrum
die literarische Darstellung anderer berühmter Persönlichkeiten steht, sondern
verfolgen gespannt die Entstehung der ersten Autobiographie der Moderne, in
welcher ein einfacher Bürgerlicher – der Herzog von Saint-Simon hätte sich in
seinem Grabe umgedreht … – die Stimme erhob, um sich selbst zum Mittelpunkt
seines Schreibens zu machen und über sein eigenes Leben zu berichten! Dieses
Leben des Genfer Bürgers Jean-Jacques Rousseau aber begann mit einer Geburt,
die seiner Mutter das Leben kostete; ganz so, wie wir dies in Alejo Carpentiers
Viaje a la semilla bereits gesehen hatten. Geburten waren für jede Frau unter den
damaligen Hygienebedingungen des Wochenbetts ein Wagnis: Das Gebären ging
nur allzu oft mit dem Sterben einher.
Im ersten Abschnitt des obigen Zitats wird zunächst jene Formel des „Ich
wurde geboren“, des „Je suis né“ gebraucht, die uns ganz selbstverständlich ist
und mit der jeder Lebenslauf, jedes Curriculum Vitae beginnt. Allerdings ist of-
fensichtlich, dass in dieser Formel im Französischen etwas weniger Passivität
steckt als in der deutschen Ausdrucksweise; und doch ist völlig deutlich, dass
das Fehlen von Hinweisen auf den Geburtsvorgang selbst darauf verweist, dass
2 Rousseau, Jean-Jacques: Les Confessions. Illustrations par Maurice Leloir. 2 Bde. Paris: Lau-
nette 1889, Bd. 1, S. 2–4.
Donatien Alphonse François de Sade 219
das nun im Mittelpunkt stehende Subjekt lediglich ein Objekt war. Man muss
nicht von Martin Heideggers existenzphilosophischer Rede vom In-die-Welt-
geworfen-Sein ausgehen, um konstatieren zu können, dass die Geburt als Vor-
gang oder narrativ zu erfassender Prozess deshalb so formelhaft erschlafft ist,
weil das Ich darüber im Grunde keine näheren Aussagen zu machen weiß. Im
Falle von Jean-Jacques Rousseau werden wir diese Feststellung freilich gleich
modifizieren müssen.
Sie sehen, dass auch Rousseau zu Beginn seines Schreibens auf den gesell-
schaftlichen Stand seiner Eltern verweisen muss – und dies durchaus sehr affir-
mativ. Denn bei seinen Eltern handelt es sich zwar nicht um Adelige, aber
immerhin um einen Bürger und eine Bürgerin der berühmten Genfer Republik.
Sein ganzes Leben hindurch sollte Rousseau auf diese Herkunft stolz sein,
nicht einem monarchistischen – und aus seiner Sicht tyrannischen – Staatssys-
tem wie dem französischen zu entstammen. Dies beinhaltet einiges an Einbil-
dung nicht auf eine hochadelige Abkunft, wohl aber auf eine republikanische
Bürgertradition. Wie durchlässig freilich auch in der damaligen Schweiz die
noch immer scharf trennenden Standesgrenzen waren, stellte nicht zuletzt
Jean-Jacques Rousseau selbst in seinem Briefroman Julie ou la Nouvelle Héloïse
anhand einer vorromantische Konzeptionen implizierenden Liebesgeschichte
220 Donatien Alphonse François de Sade
dar, die wir uns wie erwähnt bereits in früheren Vorlesungen näher angesehen
hatten …
Zugleich werden Hinweise auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie
gegeben, wobei Rousseaus Vater unter nicht weniger als fünfzehn Kindern auf-
wuchs, unter denen das elterliche Vermögen aufgeteilt werden musste. Armut
ist nur ein anderer Name für Teile des Genfer Bürgertums. Rousseau ist also –
wie andere große Aufklärer auch – ein Handwerkersohn, entstammt mithin
dem niederen Bürgertum, für das ein Saint-Simon höchstens ein spöttisches Lä-
cheln übrig gehabt haben dürfte. Seine Mutter freilich ist die Tochter eines Gen-
fer Patriziers; ein soziales Faktum, das die tatsächliche Liebesheirat von Mutter
und Vater ja dann erschwert haben soll. Doch jene Liebe der beiden war größer
als die Kluft zwischen Genfer Bürgertum und Patriziertum; und damit führt
Rousseau in seine eigene Familie und letztlich in seine eigene Geburt bereits
dieses für sein Denken so wichtige Element einer über die Standesgrenzen hin-
aus sich etablierenden Konvivenz ein. Jean-Jacques ist nichts anderes als das
Produkt – oder wie er sich ausdrückt: die Frucht – dieser Liebe, wenn wir auch
im weiteren Verlauf dieser Passage sehen, dass dies mit fatalen Folgen für die
Mutter einherging. Doch die Liebe der Eltern, die tiefe Trauer um die jung ver-
storbene Mutter wie die Liebe des Vaters zu seinem Sohn prägen trotz aller Vor-
würfe die Kinderjahre des Genfer Philosophen. Dass sich bei diesem Kind tiefe
Schuldkomplexe mit Blick auf die bei seiner Geburt verstorbene Mutter bilde-
ten, ist angesichts des Verhaltens des Vaters gleichwohl unstrittig.
Wir erfahren im Kontext der Erörterungen zur Geburt des Ich, dass der
Vater Rousseaus nach Konstantinopel ging, um dort als Uhrmacher in einem
Serail zu arbeiten. Die wirtschaftlichen Grundlagen der väterlichen Familie
waren sehr prekär – und wie Sie sehen, ist die Arbeitsmigration durchaus keine
Erfindung der aktuellen Globalisierungsphase! Genfer Uhrmacher waren im
Orient sehr gesucht, denn man war nicht zuletzt an einem Anschluss an tech-
nologische Standards in Europa bemüht. Zweifellos ging es bei dieser Anstel-
lung mithin auch um einen Technologietransfer auf der Höhe der Zeit. Aber
warum gerade in einem Serail?
Ob Rousseau in diesem Zusammenhang die seiner Epoche gemäße orienta-
listische Karte zog und seinen Vater gleich zum ‚Uhrmacher im Serail‘ werden
ließ, oder ob diese Angaben wirklich den Tatsachen entsprachen, vermag ich
Ihnen nicht zu sagen. In der in unserem Auszug ausgelassenen Passage habe
ich Ihnen die Verlockungen erspart, denen die schöne und weise Mutter von
Seiten anderer Prätendenten während der Abwesenheit ihres Mannes ausge-
setzt war. Doch stets obsiegt die Liebe; und Rousseau bezeichnet sich explizit
Donatien Alphonse François de Sade 221
als ein Kind dieser Liebe, gleichsam eine Frucht der Rückkehr seines Vaters zu
seiner Mutter.
Die entsprechenden Monate später kam das Ich zur Welt. Doch zeigte sich
nach dessen Angaben rasch, dass das Kind krank und behindert auf die Welt
kam; eine Behinderung, unter der Rousseau offenkundig unter anderem sein
oft beklagtes Blasenleiden verstand. Traumatisch aber war für letzteren die ihn
ein Leben lang verfolgende Tatsache, dass seine Geburt seiner Mutter das
Leben kostete, dass seine Geburt also gleichbedeutend mit ihrem Tod und der
Zerstörung der liebevollen Ganzheit der Familie war.
Dergestalt haben wir es erneut mit einer Verschränkung von Geburt und
Tod zu tun – ein wenig so, wie wir bei Alejo Carpentier am Ende den Marqués
im Bauch seiner Mutter verschwinden sahen. Dieser Vorgang schenkte letzterer
das Leben, so dass dieses Verschwinden zu einer anderen, lebensspendenden
Geburt werden konnte. Damit ist die Geburt zugleich ein anderer Tod; eine Tat-
sache, die Rousseau zeit seines Lebens im Übrigen auch nach seiner Mutter su-
chen ließ. Er fand sie, nebenbei bemerkt, zunächst in Madame de Warens,
jener gläubigen Gönnerin, die ihm zum Katholizismus bekehrte, bald aber auch
zu seiner mütterlichen Geliebten avancierte. Mit ihr fand Rousseau einen Teil
seiner schmerzhaft vermissten Mutter-Figura wieder.
In seiner Gesamtheit steht das Leben von Jean-Jacques Rousseau also im
Zeichen des Todes seiner Mutter: Er betrachtete seine Geburt und ihren Tod als
den ersten seiner Unglücksfälle. Schuld an letzterem kann er nicht tragen –
und doch fühlt er sich schuldig. Dieser diffuse Schuldkomplex zieht sich durch
das Leben und auch das Denken des Genfer Philosophen. In diesem doppelten
Vorgang des Geborenwerdens und Sterbens werden gleichsam zwei verschie-
dene Leben semantisiert: zum einen das der insgeheim idealisierten und sakra-
lisierten Mutter, zum anderen das des jungen Mannes, der vom Vater stets an
seine Verantwortung als Muttermörder, der keiner war, erinnert wurde. Denn in
allen körperlichen Berührungen des Vaters ist für das Ich die Mutter gleichsam
anwesend: Sie überwacht durch ihre Allgegenwart ihre Familie, welche das Ich
bald schon verlassen wird.
Für den Vater ist das Leben seiner Frau in der Geburt auf das Kind überge-
sprungen. Im jüngsten Sohn sieht er die Gestalt der Mutter, der Junge selbst
wird also zum Repräsentanten einer Mutterfigur, für die er aber nicht einstehen
kann. Von ihm verlangt der Vater, dass er ihm die Mutter wiedergebe, ein
Vater, der seinem Sohn bekennt, dass seine Liebe zu ihm mehr ist als eine reine
Vaterliebe. Dies erfüllt, juristisch gesprochen, den Tatbestand einer Anklage
des Vaters gegen den Sohn, eine Anklage, gegen welche sich letzterer im
Grunde nicht zur Wehr setzten kann. Denn im Sohn sieht und liebt der Vater
noch immer zugleich auch dessen Mutter, seine verstorbene Frau.
222 Donatien Alphonse François de Sade
Wenn wir uns dem Marquis widmen, so sollten wir zunächst also bedenken, dass
eine derartige Beschäftigung während langer Phasen selbst noch des 20. Jahrhun-
derts keineswegs selbstverständlich war. Noch Ende der sechziger Jahre wurden
die Professoren an der als revolutionär geltenden Heidelberger Universität von
ihren Romanistikstudenten ausgebuht, wenn sie es – wie Erich Köhler – wagen
wollten, sich in ihren Vorlesungen und Seminaren mit diesem verruchten Autor
zu beschäftigen. Das Trauma, das Köhler davontrug, habe ich selbst noch als jun-
ger Freiburger Student (so sagte man damals) wahrgenommen. Der Marquis de
Sade galt lange (und gilt zum Teil heute noch) als ein verruchter Autor, dessen
Schriften in den obersten, nur mit Hilfe von Leitern erreichbaren Regalen der Bi-
bliotheken aufbewahrt werden. Und doch war deren Lektüre im 19. Jahrhundert
prägend für Autoren wie Honoré de Balzac, Charles Baudelaire, Gustave Flaubert
6 Auf diese Entwicklung hat Michel Delon 1985 in einem Vortrag beim Deutschen Romanisten-
tag zum Thema „La normalisation scolaire: Sade dans les manuels français“ aufmerksam ge-
macht. Mit einigen Veränderungen abgedruckt in Delon, Michel: La normalisation scolaire:
Sade dans les manuels français (1960–1985). In: Berger, Günter / Lüsebrink, Hans-Jürgen
(Hg.): Literarische Kanonbildung in der Romania. Beiträge aus dem Deutschen Romanistentag
1985. Rheinfelden: Schäuble Verlag 1987, S. 225–246.
226 Donatien Alphonse François de Sade
oder Joris-Karl Huysmans. Denn gerade für Schriftsteller und Dichter, die gegen
die vorherrschende bürgerliche Ordnung anschrieben, war Sade ein wichtiger
Orientierungspunkt.
Gewiss, es war ein langer Weg aus der Pathologie und den Giftschränkchen
der Bibliotheken in die Vorlesungen, Seminare, Anthologien und Schulbücher!
Und ich würde auch nicht leichtfertig behaupten, dass dieser Weg nicht unum-
kehrbar wäre, gibt es doch viele Länder auf der Erde, in denen eine Lektüre des
Marquis de Sade noch immer verboten ist. Doch war Sade eine wichtige Unterströ-
mung der Literaturen des 19. Jahrhunderts, so wurde er seit der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts zu einem Autor, über den man unbehelligt schreiben und
dessen Theorien und philosophische Denkanstöße man doch diskutieren kann –
auch wenn ich selbst an der Universität einmal ein weniger tolerantes Verhalten
erfuhr …
Auf dem langen Weg der „normalisation“ kommt Denis de Rougemont zwei-
fellos eine Zwischenstellung zu. Wir haben uns ja mit seinen Theorien in der
Vorlesung über die Liebe und deren Beziehung zum Lesen ausführlich ausein-
andergesetzt.7 In einem Abschnitt seines Buchs über die Liebe im Abendland
kommt er auf den Marquis de Sade sowie auf den Sadismus zu sprechen, wobei
er sich philosophisch auf den französischen Denker Pierre Klossowski bezieht8
und damit auch diskursiv absichert. Denn letzterer hatte bei Sade eine Verbin-
dung von Lebensprinzip und Todesprinzip diagnostiziert; eine Verbindung, die
uns in besonderem Maße interessiert. Auch wenn wir bei Klossowski weniger
eine Analyse von Sades Texten als vielmehr eine ‚behandelnde‘ Analyse des Au-
tors selbst erleben, wird aus Sicht des französischen Philosophen doch eine Ver-
bindung mit einer Sichtweise der Natur beim Göttlichen Marquis hergestellt, die
sich gegen Rousseau wendet und durch die kalkulierte Ausschweifung selbst das
im Sinne Sades sinnlich-gefährliche Treiben der Natur begrenzen will.
Am 12. Juni 1791 schrieb der Marquis de Sade an seinen Anwalt, man dru-
cke derzeit einen Roman von ihm – er habe Geld gebraucht und man habe
einen Roman von ihm verlangt, der „bien poivré“ sei.9 Er habe ihn gemacht,
„capable d’empester le diable“: Bei diesem Roman handelt es sich um Justine
ou les malheurs de la vertu.10 Die Bestellung des Romans war eine vorgebliche,
denn Sade hatte an diesem Manuskript bereits seit 1788 gearbeitet. Der 1791 in
Paris veröffentlichte Roman war der erste zu Lebzeiten Sades veröffentlichte Er-
zähltext und geeignet, nicht unbedingt auf Grund seiner neuartigen narrativen
Struktur die Zensur auf den Plan zu rufen. Die Erstausgabe erschien freilich
ohne Autorangabe und unter Verweis auf einen holländischen Verlag. Dies war
eine im Siècle des Lumières in Frankreich übliche Vorgehensweise, um sich vor
Verfolgungen durch staatliche Instanzen zu schützen. Zahlreiche Neuauflagen
bezeugen den Erfolg dieses literarischen Debuts.
Mit Justine ou les malheurs de la vertu wendet sich der Marquis unverkennbar
vom Fortschrittsoptimismus der Aufklärungsphilosophie ab. Sein Folgeroman,
die Nouvelle Justine, erschien 1797 und verzichtete auf manche der Kautelen und
Vorsichtsmaßnahmen, die für den Erstlingsroman ergriffen worden waren. Sade
hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Werke veröffentlicht und konnte frag-
los auf eine kleine, aber begierige Leserschaft zählen. Wiederholt erweist sich
Sades Justine als eine Abrechnung mit Jean-Jacques Rousseaus Bestseller der Lu-
mières, seinem Briefroman Julie ou la Nouvelle Héloïse, und greift auch sonst eine
Vielzahl aufklärerischer Philosopheme auf und an.
Das Romanschaffen des Marquis de Sade ist zutiefst eingebettet in das Den-
ken des Aufklärungszeitalters und selbstverständlich ein nicht unwesentlicher
Teil desselben. Antithetisch wird in dieser Romanfolge rund um die tugend-
hafte Justine das Schicksal zweier Schwestern dargestellt, von denen eine ver-
rucht und von einem lasterhaften Leben erfüllt ist, das sie zum Erfolg führt,
während ihre tugendhafte Schwester, eben Justine, in vielerlei Hinsicht das
Leben als beständiges Leiden erfahren muss. Viele der Schriften des Marquis de
Sade sind binär strukturiert und verfügen, wie Roland Barthes gezeigt hat, über
klar auffindbare Strukturmerkmale. Doch anders als in Sades Theaterstücken
siegt in seinen Romanen nie die Tugend, sondern das Laster.
Der Marquis inszeniert insbesondere in seinen Romanen eine radikale Abkehr
von den gültigen Moralvorstellungen der französischen Gesellschaft. Seine Schrif-
ten erscheinen als ‚Blumen des Bösen‘, sind eine „Apologie du mal“, welche die
andere Seite der Aufklärung zeigt. Doch zugleich gibt es zahlreiche Übereinstim-
mungen mit dem Mainstream der Aufklärungsphilosophie, etwa hinsichtlich der
Verwendung des Motivs der „vertu persécutée“, ist die verfolgte Unschuld
doch stets – so wie dies viele Aufklärungsphilosophen auf beiden Seiten des
Atlantik11 für sich als Opfer der Tyrannei in Anspruch nahmen – den Verbre-
chen des Bösen ausgesetzt. Justine wird zum Opfer unvorstellbarer Misshand-
lungen und Foltergräuel, bezeugt zugleich aber durch ihr Leiden deren Existenz.
11 Vgl. zu diesem Motiv auch ausführlich den fünften Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar:
Aufklärung zwischen zwei Welten (2022), passim.
228 Donatien Alphonse François de Sade
Damit eröffnet sie einen Bereich für die Literatur, der zuvor tabuisiert und ver-
schlossen gewesen war.
Die Multiplikation der Leiden und der Ungerechtigkeit ins Ungeheuerliche
zeigt eine Welt auf, die der Fortschrittsoptimismus vieler Aufklärer nur notdürf-
tig verkleidet: Tyrannei ist Trumpf! Nicht nur einzelne große Gestalten des Ver-
brechens und der Korruption aller Werte, auch die Vertreter von Staat und Kirche
sind hochrangige Verbrecherfiguren, die das Böse inkarnieren. Nicht in seinen
Theaterstücken, wohl aber in seinen Romanen inszeniert der Marquis de Sade ein
wahres „Theater der Grausamkeit“ mit einer Struktur, die auf die Vorstellungsfor-
men des 20. Jahrhundert und das „Théâtre de la cruauté“ Antonin Artauds vor-
ausweist. Die Libertinage des 18. Jahrhunderts wird an ihre psychischen,
psychologischen wie psychoanalytisch deutbaren Grenzen geführt. Sades Vor-
stellungswelten wirkten nicht allein auf die schwarze Romantik, auf das Fin de
siècle oder die Surrealisten stark ein, sondern eröffnete dem Lebenswissen wie
dem Zusammenlebenswissen der Literaturen der Welt zuvor nicht darstellbare
Bereiche. Was noch im 19. Jahrhundert eine vielgelesene literarische Unterströ-
mung war, verwandelte sich im 20. Jahrhundert in eine starke ästhetische Prä-
gung, die andere Formen der Gewalt darstellbar machte.12
Nicht nur gegen Rousseaus philosophisches Zusammenlebenswissen, nicht
nur gegen den Fortschrittsglauben vieler Vertreter der Aufklärung, sondern auch
gegen alle Formen der Philanthropie und des christlichen Humanismus ist diese
fundamentale Dialektik der Aufklärung im Sinne Max Horkheimers und Theodor
W. Adornos gerichtet. Wie der hemmungslose Kolonialismus und die damit ein-
hergehende Sklaverei, die mit immer stärker rationalen Mitteln eine möglichst ef-
fiziente Ausbeutung menschlicher Körper intendiert, verkörpert die Welt des
Marquis de Sade eben jene Dialektik der Aufklärung, von der viele Wege – wie
wir noch sehen werden – in die Konzentrationslager des ausgehenden 19. Jahr-
hunderts und vor allem der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts führen. Rationa-
lismus und Totalitarismus werden im Werk des Marquis körpernah enggeführt.
Wenden wir uns nun der literaturwissenschaftlichen Textanalyse zu, um
die mit Sades Werk verbundenen Querverbindungen zu Fragen von Geburt und
Sterben, von Leben und Tod in diesen Narrativen des Aufklärungszeitalters kri-
tisch zu beleuchten! In dem bereits 1788 abgeschlossenen Roman Justine ou les
malheurs de la vertu entwickelt Sade nach einer kurzen philosophischen Ein-
führung, in welcher er antagonistisch die Laster den Tugenden gegenüberstellt
Die Gräfin von Lorsange hatte gleichwohl die beste Erziehung genossen: Als Tochter
eines steinreichen Bankiers von Paris war sie zusammen mit ihrer drei Jahre jüngeren
Schwester namens Justine in einer der berühmtesten Abteien dieser Hauptstadt erzogen
worden, wo weder der einen noch der anderen beider Schwestern bis zum Alter von zwölf
und von fünfzehn Jahren kein Rat, kein Lehrmeister, kein Buch, kein Talent verweigert
worden waren.
In dieser für die Tugend beider jungen Mädchen fatalen Epoche ging ihnen alles an
einem einzigen Tage verloren: Ein plötzlicher Bankrott stürzte ihren Vater in eine so grau-
same Situation, dass er an Kummer darüber verstarb. Seine Frau folgte ihm einen Monat
später ins Grab. Zwei kalte und weit entfernte Verwandte beratschlagten darüber, wie
man mit den jungen Waisenkindern verfahren solle; ihr von den Gläubigern sichergestell-
ter Anteil belief sich für jede auf gerade einmal hundert Taler. Da sich niemand damit
belasten wollte, öffnete man ihnen die Türe zum Kloster, gab ihnen ihre Mitgift und ließ
ihnen frei, was sie werden wollten.
Frau von Lorsange, die sich damals Juliette nannte und deren Charakter und deren
Geist in etwa genauso ausgebildet waren wie im Alter von dreißig Jahren – einem Alter,
das sie zum Zeitpunkt der Geschichte besaß, die wir jetzt erzählen –, schien nur für die
Lust empfänglich, frei zu sein, ohne auch nur einen Augenblick lang über die grausamen
Umstände nachzudenken, welche ihre Ketten zerbrochen hatten. Justine wiederum, die,
wie wir schon erwähnten, zwölf Jahre alt war, besaß einen dunklen und melancholischen
Charakter, der sie die ganze Schrecklichkeit ihrer Lage fühlen ließ. Anders als ihre
Schwester nicht mit Künstlichkeit und Finesse, sondern mit einer überraschenden Zärt-
lichkeit und Empfindsamkeit ausgestattet, besaß sie nichts als Naivität und Herzensgüte,
welche sie in vielerlei Fallen tappen ließen.13
Bis zu diesem Punkt der Romanhandlung unterscheidet sich Justine ou les mal-
heurs de la vertu in nichts von ähnlichen Romanen, wie sie etwa aus der Feder von
Samuel Richardson stammten und wie sie von ihm und seinen zahlreichen Epigo-
Juliette war bezaubert davon, ihre eigene Herrin zu sein, und wollte einen Augenblick lang
die Tränen von Justine trocknen, doch sah sie ein, dass ihr dies nicht gelingen würde, und
so machte sie sich daran, ihr zu grollen, anstatt sie zu trösten; sie warf ihr ihre Empfind-
samkeit vor; sie sagte ihr mit einer sehr über ihr Alter hinausgehenden Philosophie, dass
sie in dieser Welt nur über das betrübt sein dürfe, was uns rein persönlich betreffe; dass
es möglich sei, in sich selbst physische Empfindungen von einer recht pikanten Wollust zu
finden, um alle moralischen Empfindungen auszulöschen, deren Zusammenstoß schmerz-
haft sein könnte; dass eine solche Vorgehensweise umso essentieller in Gebrauch zu setzen
sei, als die wahrhaftige Weisheit darin bestünde, die Summe an Lüsten unendlich zu ver-
doppeln, als vielmehr die Zahl seiner Leiden zu vervielfachen; dass es mit einem Wort
nichts gebe, was einen davon abhalten dürfe, jene perfide Empfindsamkeit zu ersticken,
von welcher nur die anderen profitierten, während sie uns selbst nichts als Kummer be-
reite. Doch man verhärtet ein gutes Herz nur schwerlich, denn es wehrt sich hartnäckig
gegen alle Vernunftgründe, während seine Freuden es über die falschen Brillanten eines
Schöngeists hinwegtrösten.
Juliette griff noch auf andere Kunstkniffe zurück und sagte dann zu ihrer Schwester,
dass es mit dem Alter und dem Aussehen, dass sie die eine wie die andere hätten, unmög-
lich wäre, dass sie an Hunger sterben könnten. [...]
Justine graute vor solchen Reden. Sie sagte, dass sie einer solchen Schmach jederzeit
den Tod vorziehen würde [...].14
Ich habe Ihnen mit dem obigen Ausschnitt eine zensierte Fassung in der Ta-
schenbuchausgabe vorgeführt, denn hier fehlt eine Szene, die die Möglichkeiten
unterstreicht, wie sich die schöne Juliette ihre eigenen Lüste selbst verschaffen
kann: indem sie ihre Röcke hochreißt und zu masturbieren beginnt. Justine, die
Gerechte, wendet sich mit Grausen von ihrer Schwester – von deren Diskurs wie
von deren schändlichem Tun – ab. Juliette ist über das plötzliche Hinscheiden
ihrer Eltern schnell getröstet und auch darüber, dass sie keinerlei größere Geld-
summen zu ihrer Verfügung hat. Sie weint ihrem Vater oder ihrer Mutter keine
Träne nach, sondern versucht, binnen kürzester Zeit ihren schönen Körper einzu-
setzen, um ihre gesellschaftliche Position zu verbessern. Dies gelingt ihr rasch,
während die arme und herzensgute, aber naive Justine von einer Verlegenheit
und Zwangssituation in die andere taumelt. Sie wird schon bald zum Opfer aller
Bösewichter und Libertins, die an einem schönen Frauenkörper ihre Lust ausle-
ben wollen.
Im gleichen Atemzug wird deutlich, dass sich Justines Leben fortan zwischen
zwei Toden abspielen wird: auf der einen Seite dem Tod der Eltern, die auf der
symbolischen Ebene erst den Aufbruch in ein neues Leben ermöglichen, und
zum anderen ihr eigener Tod, der stets die Grenze dessen markiert, was sich Jus-
tine selbst zuzumuten in der Lage und willens ist. Der Tod von Vater und Mutter
ist wie eine Geburt in ein völlig anderes, im Zeichen ständiger Gewaltanwendun-
gen an ihrem Körper-Leib stehenden Leben. Das Leben und die „malheurs“ der
schönen Zwölfjährigen sind folglich von dieser zweiten Geburt und vom eigenen
Tod begrenzt. Und all ihre Abenteuer, die sie gegen ihren Willen bestehen muss,
führen sie stets an die Grenze zum Tod, wobei wir als Leserinnen und Leser nach
einiger Zeit begreifen, dass diese Grenze immer weiter hinausgeschoben wird
und es gleichsam eine ganze Reihe von Todeslinien gibt, zwischen denen sich
fortan das Leben der Justine entfalten muss. Denn in der Tat wird dessen weiterer
Verlauf ständig von unterschiedlichsten Formen der Gewalt und Vergewaltigung,
von Missbrauch, Einsperrungen und Folter beherrscht sein. Alles zielt auf die
fremde Beherrschung ihres Körper-Leibes, der zum eigentlichen Gegenstand ob-
jektiviert wird und dessen verschiedene Formen jeweils verschiedenartigen Zwe-
cken zugeführt werden: Das weibliche Subjekt wird zum Objekt degradiert.
Ich hatte Sie bereits darauf aufmerksam gemacht, dass der französische Zei-
chen- und Kulturtheoretiker Roland Barthes mit seinen Arbeiten viel zur ‚Norma-
lisierung‘ der Schriften des Marquis de Sade beitrug. Das ‚enfant terrible‘ der
französischen Theorieszene beschäftigte sich bereits seit Anfang der sechziger
Jahre mit dem wohl berühmtesten Libertin der französischen Literaturgeschichte.
Im Jahre 1967 endlich publizierte Barthes dann einen ersten öffentlichkeitswirk-
Donatien Alphonse François de Sade 233
samen und Sade gewidmeten Text, der 1971 wiederum in seinen einflussreichen
Band Sade, Fourier, Loyola aufgenommen wurde.15
In diesem Essay oder Versuch über den Marquis de Sade, der als Vorwort
für eine Werkausgabe entstand und unter dem Titel Der Baum des Verbre-
chens ebenfalls 1967 in der neoavantgardistischen Theoriezeitschrift Tel Quel er-
schien, richtete Barthes, ähnlich wie im ersten Teil von Sur Racine,16 seinen Blick
auf die Konstruktion des Raums durch den literarischen Text. Und ähnlich wie in
jenem Vorwort zu Racine entwarf Barthes eine Art Anthropologie des Sade‘schen
Menschen, untersuchte seine Nahrung (welche die körperlichen Anstrengungen
ausgleichen müsse), seine Kleidung (die stets funktional sei) oder sein Alter (die
„Rasse der Libertins“ beginnt erst mit 35 Jahren).17 Diese originelle Herangehens-
weise erschloss eine ganze Vielzahl an Möglichkeiten, sich auch künftig Sades
Schriften zu nähern.
All diesen innovativen Teiluntersuchungen folgt geradezu eine Soziologie der
Population in dessen Texten, eine Untersuchung der sozialen Herkunft der Liber-
tins und ihrer Opfer sowie der hierarchischen Strukturen der Sade’schen Stadt.18
Die Analyse der verschiedenen Körperstellungen sowie der Regeln ihrer Kombina-
tion und Komposition manifestiert sich als strukturalistisch zu untersuchende Ab-
folge von Relationen, welche in die Bäumchen-Schemata der Linguisten – Barthes
denkt offensichtlich an die Klassenstammbäume etwa der Konstituentenstruktur-
grammatik beziehungsweise der Dependenzgrammatik – übersetzbar sei. Es be-
ginnt das, was man als die Textualisierung der Schriften des Marquis de Sade
bezeichnen könnte. Diese bewusste Ablösung vom körperlich-sexuellen Gewaltsze-
nario war die Eintrittstür, die es ermöglichte, Sade für ein breiteres Lesepublikum
‚aufzubereiten‘. So konnte Barthes auch vom „Baum des Verbrechens“ sprechen.19
Den wie in der Casanova-Forschung häufig von der Kritik geäußerten (und oft
vorgeschobenen) ästhetischen Vorwurf der Monotonie von Sades Darstellungen
ließ Barthes nicht gelten, könne sich ein solcher Eindruck doch nur einstellen,
wenn man diese Beschreibungen auf die Realität beziehe; das einzige Universum
Sades aber sei das „Universum des Diskurses“. In der Bezeichnung der Reden Juli-
ettes durch Justine war der Ausdruck „discours“ mit Recht von Sade selbst – wie
wir sahen – eingeführt worden. Als Schriftsteller platziere sich Sade immer auf der
Seite der Semiosis, nicht aber der Mimesis.20
Damit kappte Barthes ganz bewusst die bislang oft direkt hergestellte Bezie-
hung zwischen Signifikant und außersprachlichem Referenten – also genau jene
Relation, die er zum selben Zeitpunkt in seiner Untersuchung des historiographi-
schen Diskurses für den „Realitätseffekt“, die ‚referentielle Illusion‘, verantwort-
lich gemacht hatte.21 Innerhalb des so geschaffenen Universums des Diskurses
wird verständlich, dass Barthes mit Erzähltextgrammatik und Rhetorik eben jene
Analysemethoden in Anschlag brachte, die sich schon am Ende seines Bataille
gewidmeten Essays als Vorgehensweisen abgezeichnet hatten. Roland Barthes
ist in diesen literaturwissenschaftlich-texttheoretischen Gefilden noch ganz der
Strukturalist, als welcher er in der französischen Öffentlichkeit galt und als wel-
cher er sein damals bereits hohes symbolisches Kapital als Forscher erwarb.
Diese strukturalistischen Methoden, die Barthes auch dem Bereich der Trans-
linguistik zuordnete, insoweit sie die Grenze des Einzelsatzes überspringen, sollen
an dieser Stelle unserer Vorlesung nicht weiterverfolgt werden, könnte man diese
strukturalistische Anlage doch ebenso in ihrer Anwendung auf verschiedenste,
Barthes‘ Semiologie der sechziger Jahre zugängliche Bereiche (wie Mode, Nahrung,
Werbung und vieles mehr) anwenden. Eine derartige Untersuchung würde uns
aber von unserem Thema Gebären und Sterben, Leben und Tod entfernen.
So verschieden auch das Verhältnis zwischen einer durch Exerzitien zu unter-
werfenden Körperlichkeit (wie etwa bei Ignatius von Loyola) und einem an sehr
unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen orientierten Schreiben sein mag: Im
Diskursuniversum Sades bildet sich eine geschlossene Sprache (und „écriture“),
die sich in ihrer eigenen Regelhaftigkeit vom Außersprachlich-Referentiellen ab-
koppelt – oder zumindest doch abkoppeln lässt. Dies aber war die Öffnung,
durch die Roland Barthes in den Text-Körper des Marquis de Sade eindrang.
Sprachbeherrschung steht, so ließe sich formulieren, in engem Verbund mit Kör-
per-Beherrschung. Es ging für Barthes folglich wesentlich um eine Untersuchung
der Sprache wie der Textualität in den Schriften des „Divin Marquis“.
Dies bedeutet freilich nicht, dass die Körper und damit das Körperliche aus
Barthes‘ Analyse ausgeblendet worden wären. Sie werden nur anders, auf neue
Weise, perspektiviert und positioniert. Die verschiedenen Stellungen der Körper in
Sades Texten lassen sich für Barthes in die verschiedenen Figuren der antiken Rhe-
torik übersetzen – eine recht ingeniöse Eingebung des französischen Kulturtheore-
20 Ebda., Bd. 2, S. 1065. Barthes versteht Mimesis in dieser Formulierung offenbar nur als Dar-
stellung bzw. Nachahmung einer außersprachlichen Wirklichkeit, nicht aber vorgängiger Texte.
21 Vgl. Ette, Ottmar: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie (2012).
Donatien Alphonse François de Sade 235
Abb. 23 und 24: Erté: Alphabet. Die Buchstaben „E“ und „O“.
22 Barthes widmet Ertés Buchstaben und Zahlen eine intelligente Studie, die 1971 in einer Erté-
Ausgabe zunächst in Italien erschien; vgl. hierzu die Ausgabe der Œuvres complètes, Bd. 2,
S. 1222–1240.
23 Ebda., Bd. 2, S. 1143.
24 Ebda.
25 Ebda., Bd. 2, S. 1153.
26 Ebda., Bd. 2, S. 1157 f.
236 Donatien Alphonse François de Sade
nen. In seinem erwähnten Essay über das Alphabet Ertés macht Barthes explizit
auf die Verbindung seiner Beschäftigung mit der Materialität des Buchstabens
und Derridas Grammatologie aufmerksam.27 Die Beziehung zwischen Körper und
Schreiben, vor allem aber zwischen Körper und Schrift war 1970 eine der grundle-
genden Bedeutungsebenen in L’Empire des signes, wo Barthes ikonotextuelle Be-
ziehungen nicht nur zwischen Photographie und Druckerschrift, sondern auch
zwischen Kalligraphie und Zeichnung, Handschrift und Gemälde entfaltet hatte.
Die Bedeutung dieser Beziehungen hervorgehoben zu haben, gehört nicht zu den
geringsten Verdiensten von Barthes‘ Beschäftigungen mit dem Marquis de Sade.
Lassen Sie mich zur Erläuterung der Überlegungen von Roland Barthes an
dieser Stelle zwei kurze Zitate aus dem zweiten, aus dem Jahr 1971 stammenden
Essay in Sade, Fourier, Loyola anführen. Der erste Text steht unter der Über-
schrift „Rhetorische Figuren“ und liest sich wie folgt:
Die Lustpraxis ist bei Sade ein wirklicher Text – so dass man bei ihm von Pornographie spre-
chen muss, was bedeutet: kein Diskurs über Liebesverhalten, sondern jenes Geflecht von ero-
tischen Figuren, die wie die rhetorischen Figuren der geschriebenen Rede aufgeteilt und
miteinander kombiniert werden. In den Liebesszenen findet man Konfigurationen von Perso-
nen, Aktionsfolgen, die den von der klassischen Rhetorik gefundenen und benannten „Aus-
schmückungen“ entsprechen. An erster Stelle die Metapher, die unterschiedslos einem
gleichen Paradigma, dem der Verletzung, folgend, ein Subjekt dem anderen substituiert.
Dann zum Beispiel das Asyndeton, eine erprobte Folge von Ausschweifungen („Ich beging
Vatermord, Inzest, Totschlag, Prostitution, Sodomie“, sagt Saint-Fond und geht mit den Ein-
heiten des Verbrechens genauso um wie Cäsar mit denen der Eroberung: veni, vidi, vici), das
Anakoluth, der Bruch der Satzkonstruktion, womit der Stilist die Grammatik (die Nase der
Cleopatra, wäre sie kürzer gewesen...) und der Libertin die Konstruktion der erotischen Kon-
junktionen herausfordert („Nichts amüsiert mich mehr, als in einem Hintern den Vorgang zu
beginnen, den ich in einem anderen zu beenden gedenke“). Und ebenso wie sich ein kühner
Schriftsteller eine unglaubliche Stilfigur ausdenken kann, so statten Rombeau und Rodin
den erotischen Diskurs mit einer neuen Figur aus (schnell und der Reihe nach die aufgereih-
ten Hintern von vier Mädchen ausloten), der sie dann als gewissenhafte Grammatiker auch
einen Namen geben (die Windmühle).28
An dieser Stelle von Barthes‘ Sade-Versuch wird sehr schön erkennbar, inwieweit
hier der Strukturalist Maß genommen hat und die Einheiten des Diskurses von
ihren Bewegungsfiguren her sozusagen strukturalistisch-rhetorisch übersetzte in
die Figuren der antiken Rhetorik. Barthes, der sich auch mit ihr ausführlich ausein-
andersetzte, verwandelt den Sade’schen Text in einen Bewegungs-Text, der nach
den Regeln dieser Rhetorik funktioniert und alle konkreten und denkbaren Körper
zueinander in Bewegung setzt.
Damit wird im Grunde zugleich der Diskurs abgelöst vom konkreten Körper,
situiert sich im unbestimmten Jenseits einer Körperlichkeit, die nicht länger mi-
metisch verstanden werden kann. Justine wird gleichsam auf eine andere Art ob-
jektiviert und erscheint als Abfolge rhetorischer Figuren, deren Choreographie
Sade bestimmt. Auf diese Weise ergeben sich immer neue Konfigurationen.29
Im folgenden Abschnitt kehrt unter dem Titel „Pornogramm“ gleichsam der
Körper zurück in die Schrift, verschmilzt mit dem Diskurs unter geregelter Zufüh-
rung von Hitze und verkörpert eine mit Hilfe der erotisierten Körper geschaffene
Textualität, die für Barthes zum damaligen Zeitpunkt, im bereits poststrukturalisti-
schen Orbit von Tel Quel, so entscheidend war. Alles schien in unterschiedlichste
Textualitäten auflösbar zu sein – im Grunde so, wie eine Erzähltextgrammatik aller
Erzählformen auf diesem Planeten noch wenige Jahre zuvor erträumt worden war.
Nach dieser unmittelbar folgenden Passage folgt der kürzeste Abschnitt des
gesamten Buches. Er gilt nicht von ungefähr dem Begriff des Sadismus, womit
Barthes frontal die psychopathologischen Erwartungen seiner Leserschaft an-
ging. Wir erleben an dieser Stelle, dass als Sadismus ganz einfach alles verab-
schiedet wird, was sich eher dümmlich allein auf den Inhalt der Schriften des
„Göttlichen Marquis“ bezieht:
Sade produziert Pornogramme. Das Pornogramm ist nicht nur die geschriebene Spur
einer erotischen Praxis und nicht einmal das Produkt einer Aufteilung dieser Praxis, die
wie eine Grammatik von Plätzen und Operationen behandelt wird. Eine neue Chemie des
Textes ergibt die Fusion (wie unter der Einwirkung glühender Hitze) von Diskurs und Kör-
per („Hier bin ich ganz nackt, sagt Eugénie zu ihren Lehrern, schreiben Sie Abhandlun-
gen über mich so viel Sie wollen“), so dass, wenn dieser Punkt erreicht ist, das Schreiben
zu dem wird, was den Austausch von Logos und Eros regelt, und es möglich ist, von der
Erotik als Grammatiker und von der Sprache als Pornograph zu sprechen. [...]
SADISMUS: Der Sadismus ist nur der grobe (vulgäre) Inhalt des Sade‘schen Textes.30
Damit erklärt Barthes den Sadismus gleichsam zur groben Oberfläche der Schrif-
ten Sades, also zu dem, was ins Auge springt, aber nicht analytisch gelesen
wurde. Als grobes Oberflächenphänomen ist dieses Verständnis von Sadismus
für den französischen Zeichentheoretiker und Rhetoriker nicht weiter interessant,
drücke all dies doch nur auf den ersten Blick aus, was Sade inhaltlich geschrie-
ben habe. Roland Barthes aber ging es um den Austausch von Logos und Eros,
war es um die so ganz andere Chemie in den Texten des Marquis de Sade zu tun,
um deren strukturalistisch-poststrukturalistische Analyse er sich bemühte.
29 Vgl. hierzu die auf die gesamte Breite des Figura-Begriffs eingehende Potsdamer Habilitati-
onsschrift von Gwozdz, Patricia: Ecce figura. Anatomie eines Konzepts in Konstellationen
(1500–1900). Habilitationsschrift Universität Potsdam 2021.
30 Barthes, Roland: Sade, Fourier, Loyola, S. 180 und 193.
Donatien Alphonse François de Sade 239
Doch kehren wir wieder konkret zu Justine ou les malheurs de la vertu zu-
rück! Wir hatten die unbestreitbare Tatsache vermerkt, dass sich das Leben Jus-
tines im Grunde zwischen zwei Toden, jenem ihrer Eltern und jenem anderen
ihrer selbst, ansiedelt und vollzieht. Justine ist nicht nur die ständig von Verge-
waltigung, Sodomie, Schändung oder Folter Bedrohte, sie ist vor allem die stän-
dig auf der Schwelle zum Tod Lebende: eine tote Lebendige oder eine lebendig
Tote und damit vergleichbar mit dem, was man in den Konzentrationslagern
des 20. Jahrhunderts als „Muselmann“ bezeichnete.31 Sie lebt und bewegt sich
und ist zugleich doch schon tot. Im Grunde lebt sie im Grenzland des Todes,
ohne doch – zumindest in diesem Werk des Marquis de Sade – die endgültige
Grenze definitiv zu überschreiten. Wir werden uns im Anschluss an unsere
Überlegungen zu Sade mit der Problematik des Konzentrationslagers noch ein-
gehend beschäftigen und bereits in diesem Kapitel unseres Bandes die Bezie-
hungen zum Totalitarismus beleuchten.
Ich möchte Ihnen in der Folge zwei Zitate aus Sades Roman vorstellen, die
diese Situation auf verschiedene Weise reflektieren. Beim ersten Zitat handelt
es sich um eine für Sade typische Szene der vielfachen Körperbeherrschung,
wobei sich die Protagonistin gegen die von allen Seiten eindringenden nicht
wehren kann und diesen hilflos preisgegeben ist. Wir sind immer noch in der
Szenerie der Verfolgung der Unschuld, die sich nicht aus ihrer Opferrolle flüch-
ten kann:
Das Delirium bemächtigt sich schließlich meines Verfolgers, seine grässlichen Schreie
kündigen die Vervollständigung seines Verbrechens an; ich bin überschwemmt, man löst
meine Fesseln.
– Auf geht's meine Freunde, sagte Cardoville zu den beiden jungen Leuten, bemäch-
tigt Euch dieser Nutte und genießt sie nach Eurem Gelüste; sie gehört Euch, wir überlas-
sen sie Euch.
Die beiden Libertins ergreifen mich. Während der eine mich von vorne genießt,
dringt der andere in meinen Hintern ein; dann wechseln sie sich ab und wechseln erneut:
ich werde mehr von ihrer erstaunlichen Dicke zerrissen als ich es zuvor von der Öffnung
der kunstvollen Barrikaden von Saint-Florent gewesen war; und jener und Cardoville
amüsieren sich über diese jungen Leute, während sich diese an mir zu schaffen machen.
Saint-Florent sodomisiert La Rose, während mich dieser auf dieselbe Weise behandelt,
und Cardoville tut dasselbe mit Julien, der sich in mir an einem dezenteren Orte erregt.
Ich bin der Mittelpunkt dieser schauerlichen Orgien, ich bin deren Fixpunkt und deren
Feder; viermal schon haben ebenso La Rose wie Julien ihren Kultus in meinem Tempel
verrichtet, während sich Cardoville und Saint-Florent, die weniger stark und erschöpfter
31 Vgl. hierzu Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus
dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 194 f.
240 Donatien Alphonse François de Sade
waren, mit einer Opferung an meine Geliebten begnügen. Doch nun ist's das letzte Mal,
es wurde auch Zeit, ich stand im Begriffe, das Bewusstsein zu verlieren.32
Entschuldigen Sie tausendmal, Madame, sagte dieses unglückselige Mädchen, als sie hier
ihre Abenteuer beendete; tausend Vergebungen dafür, ihren Geist mit so vielen Obszönitä-
ten beschmutzt und, mit einem Worte, so lange ihre Geduld missbraucht zu haben. Ich
habe vielleicht den Himmel mit so vielen unreinen Erzählungen beleidigt, ich habe meine
Wunden von neuem geöffnet, habe ihre Seelenruhe gestört. Adieu, Madame, Adieu; das Ge-
stirn erhebt sich, meine Wachen rufen, lassen Sie mich meinem Schicksal entgegengehen,
ich fürchte es nicht länger, es wird meine Qualen verkürzen. Dieser letzte Augenblick des
Menschen ist nur schrecklich für ein glückliches Wesen, dessen Tage ohne alle Wolken da-
hinflogen; aber die unglückliche Kreatur, welche nur den Wind der Schlangen verspürt
und deren schwankende Schritte sich nur auf Dornen bewegten, welche die Flamme des
Tages nur wie der vom Wege abgekommene Reisende sieht, der zitternd die Furchen der
Blitze erblickt; jene aber, der grausame Schicksalsschläge die Eltern, die Freunde, das Ver-
mögen, den Schutz und die Rettung geraubt; jene, die in der Welt nur noch Tränen besitzt,
um sich zu benetzen, und nur noch Drangsale, um sich zu nähren; jene also, sage ich,
sieht, wie der Tod näher kommt, ohne ihn noch zu fürchten, sie erhofft ihn sich sogar wie
einen sicheren Hafen, in dem ihr die Ruhe wieder geboren wird, für sie, im Schoße eines zu
gerechten Gottes, als dass er erlauben könnte, dass die auf Erden geschändete Unschuld in
einer anderen Welt nicht ihren Lohn für so viele Übel erhielte.33
Auffällig ist in diesem Zitat, wie die Metaphorik des Geborenwerdens und jene
des Sterbens gegenseitig enggeführt werden und das Sterben mit einer Wie-
dergeburt in eins gesetzt wird. Sicherlich lassen sich in derlei Stellen die zu
Grunde liegenden christlichen Vorstellungen von einem besseren Leben nach
dem Tode erkennen; sie werden in dieser Konfiguration aber so verändert,
dass der Tod zum Lohn eines von Foltern und Qualen getränkten Lebens wer-
den kann. Auf der Ebene der Lebens-Reise und der Seefahrt wird er zu einem
sicheren Hafen, in welchem das von Stürmen durchschüttelte Schiff endlich
Sicherheit und Ruhe finden kann. Und in diesem sicheren Hafen vertraut Jus-
tine noch immer auf ihren gerechten Christen-Gott, der sie für ihre Folterqua-
len entschädigen werde.
Bevor nun an dieser Stelle der philosophisch-moralisierende Diskurs des
Romanbeginns wieder aufgenommen wird und – jenseits einer unüberhörbar
ironischen Einfärbung – letztlich noch berichten kann, dass sich selbst Juliette
noch zu einem besseren Leben im Kloster entschlossen hat, möchte ich mich
mit Ihnen nach der Funktion des Todes in diesem Text und nach den Grenzen
des Todes in Justines Diskurs fragen. Wie viele Tode stirbt der Mensch? Welche
Tode kann ein Mensch nacheinander sterben? Auf welche Weise kann ein
Mensch an einen Punkt gebracht werden, an dem er nicht mehr in der Lage ist,
sich noch das Leben, ein Weiterleben zu wünschen, zugleich aber auch nicht
bereit oder fähig ist – wie es im Deutschen so schön heißt –, sich das Leben zu
nehmen?
Es ist zweifellos so, dass der Marquis de Sade im Diskurs des „libertinage“
eine Situation durchspielt, die stets von einer unverdienten Gewaltanwendung
am immer selben Opfer und von der absoluten Hilflosigkeit dieses Opfers geprägt
ist. Dabei finden diese Gewaltanwendungen, Folterungen, sexuellen Missbrauchs-
taten, Inzeste und so vieles mehr stets an einem abgeschlossenen, gefängnis-
artigen Ort statt, der das Opfer von jeglicher Hilfe, ja vom Wissen der Täter
abschneidet. Denn die Täter gehen stets systematisch vor, spulen geradezu
ein Programm herunter, teilen ihr Herrschaftswissen aber niemals mit ihrem
Opfer, das sich in völliger Abhängigkeit von ihnen befindet.
Geradezu unendlich sind jene geschlossenen Orte, an denen der Marquis
de Sade seine Szenen ansiedelt. Selten einmal gibt es ein offenes Gelände wie
etwa einen dunklen Wald, fast immer aber dunkle Schlösser oder Klöster, egal
ob in der Provence oder im Schwarzwald, die von dicken Mauern umgeben
sind. Ich habe Ihnen einen derartigen Ort der Vergewaltigungen und Folterun-
gen einmal in seinem schematischen Aufbau vor Augen führen wollen; er
stammt von Roland Barthes, in der deutschsprachigen Ausgabe von Sade, Fou-
rier, Loyola auf Seite 169 (Abb. 25).
Man könnte sich keinen von der Außenwelt abgeschlosseneren Ort mit vie-
len Wächtern vorstellen, welche die Opfer bewachen und quälen. Es handelt
sich um eine scharf voneinander getrennte Gemeinschaft von Tätern und Op-
fern, die doch auf schier unauflösbare Weise zusammengehören.
Von diesem Punkt aus ist es gar nicht weit zu jenen Überlegungen, die Han-
nah Arendt vordringlich mit Blick auf die Konzentrations- und Vernichtungslager
der Nationalsozialisten, aber auch auf die Gulags der Sowjetunion in ihrem zu-
nächst in englischer Sprache erschienen Buch Elemente und Ursprünge totaler
Donatien Alphonse François de Sade 243
Abb. 25: Roland Barthes: Schematische Skizze eines Folterkellers in Sade, Fourier, Loyola.
Herrschaft entwickelt hat.34 Dabei ist die Beziehung zwischen den Folterräumen
des Marquis de Sade und den Konzentrationslagern so willkürlich nicht, wie es
bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht scheinen mag. Denn mit guten Grün-
den hatte Giorgio Agamben darauf hingewiesen, dass das Lager das biopolitische
Paradigma der Moderne schlechthin sei.35 Und den Beginn der Moderne siedle
ich – wie ich in allen meinen Vorlesungen betone – im letzten Drittel des 18. Jahr-
hunderts an.
Mit anderen Worten: Es gibt eine tiefgehende strukturelle Beziehung zwi-
schen der europäischen Moderne, dem Sade’schen Gefängnis- wie Folterort
und den Konzentrationslagern, die seit den mit dem europäischen Kolonialis-
mus verbundenen „campos de concentraciones“ und „Concentration Camps“
auf Kuba und in Südafrika am Ende des 19. Jahrhunderts eine neue funktionale
34 Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Aus dem Englischen
übersetzt von der Verfasserin. München – Zürich: Piper Verlag 1991.
35 Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem
Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002.
244 Donatien Alphonse François de Sade
Qualität erreichten. Dazu kommt die evidente Beziehung zwischen den Grund-
strukturen der abgesicherten Sklavenbaracken in der Plantagenwirtschaft, die
allesamt über einen Gleisanschluss verfügten, und den ‚modernen‘ Konzentrati-
onslagern der deutschen Nazis, in welchen die Opfer ebenfalls völlig von der
Außenwelt abgeschnitten und auf Gedeih und Verderb den Allmachtsphanta-
sien der Täter ausgeliefert waren. Es gilt, zusätzlich zu den Überlegungen von
Hannah Arendt diese strukturelle Relation zwischen europäischer Aufklärung,
europäischer Moderne und europäischem Kolonialismus beim Denken der Ge-
samtstruktur von Konzentrationslagern im Gedächtnis zu behalten.
Beginnen wir zunächst mit der Ausgangsüberlegung von Arendt zur Funk-
tionsweise der Konzentrations- und Vernichtungslager, die sie zum Teil – mit
Blick auf ihre kurze Zeit in einem südfranzösischen Konzentrationslager, aus
dem sie fliehen konnte – ja auch aus eigener Erfahrung kannte. Dabei faszi-
niert – wie stets beim Denken dieser Philosophin – die große Klarheit und
Transparenz, mit der die in Königsberg Geborene ihren Gegenstand beschreibt:
Das Lager wird damit zum Laboratorium einer totalen Beherrschung von belie-
big vielen unterschiedlichen Menschen, zum Labor einer totalen Herrschaft, die
selbstverständlich auch eine Körperbeherrschung im Sinne einer Beherrschung
der Körper anderer ist. Jegliche Art von Differenz wird dabei erbarmungslos
ausgemerzt. Damit erblickt Hannah Arendt den eigentlichen Sinn von Konzen-
trations- und Vernichtungslagern gerade nicht in der Produktion von Gütern, in
der Bereithaltung von Arbeitssklaven oder in billigen Arbeitskräften für die le-
bensgefährliche Herstellung von Kriegswaffen, sondern in einem gleichsam im-
materiellen Ziel: der Erprobung einer totalen Beherrschbarkeit des Menschen.
36 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München: Piper 2009, S. 907.
Donatien Alphonse François de Sade 245
a. Der erste entscheidende Schritt auf dem Wege zur totalen Herrschaft ist nichtsdestowe-
niger die Tötung der juristischen Person, die im Falle der Staatenlosigkeit automatisch
dadurch erfolgt, dass der Staatenlose außerhalb allen geltenden Rechtes zu stehen
kommt. Im Falle der totalen Herrschaft wird aus dieser automatischen Tötung ein
geplanter Mord, der dadurch eintritt, dass die Konzentrationslager immer außer-
halb des normalen Strafvollzugs gestellt werden und die Insassen niemals „zur
Ahndung von strafbaren oder sonst verwerflichen Taten“ eingeliefert werden durf-
ten. Unter allen Umständen achtet die totale Herrschaft darauf, in den Lagern Men-
schen zu versammeln, die nur noch sind – Juden, Bazillenträger, Exponenten
absterbender Klassen -, aber ihre Fähigkeit zu handeln, zur Tat wie zur Missetat,
bereits verloren haben. […]
b. Der nächste entscheidende Schritt in der Präparierung lebender Leichname ist die
Ermordung der moralischen Person. Dies geschieht wesentlich dadurch, dass zum
ersten Male in der Geschichte Märtyrertum unmöglich gemacht worden ist. Denn die
Lager und der Mord des politischen Gegners sind nur Teile eines Systems des Verges-
sens, das sich nicht nur auf die Mittel öffentlicher Meinungsbildung wie das gedruckte
und gesprochene Wort erstreckt, sondern bis in die Familien und Freundeskreise des
Betroffenen greift, wo es Trauer und Erinnerung unmittelbar verhindert. Die Frauen,
die in der Sowjetunion sich sofort nach der Verhaftung des Mannes scheiden lassen,
um ihren Kindern das Leben zu sichern, und den eventuell Zurückkehrenden verzwei-
felt, ja empört aus dem Hause weisen, gehören wohl mit zu den furchtbarsten Zeichen
dessen, was Menschen aus Menschen machen können. […] Indem die Konzentrations-
lager den Tod selbst anonym machen – in der Sowjetunion ist es nahezu unmöglich,
auch nur festzustellen, ob einer schon tot oder noch lebendig ist -, nahmen sie dem
Sterben den Sinn, den es immer hatte haben können. Sie schlugen gewissermaßen
dem einzelnen seinen eigenen Tod aus der Hand […].
Das eigentlich Grauenhafte der Lager jedoch ist gerade, dass diese spontane Ver-
tiertheit in den deutschen Lagern mehr und mehr zurücktrat, nachdem die SS ihre Ver-
waltung übernommen hatte, und von einer absolut kalten, absolut berechneten und
systematischen Zerstörung der menschlichen Körper zum Zwecke der Zerstörung der
menschlichen Würde abgelöst wurde, die sich genug in der Gewalt hatte, den Tod zu
verhindern oder auf unabsehbar lange Zeit hinauszuschieben. […]
246 Donatien Alphonse François de Sade
c. Dass die Zerstörung der Individualität nach Ermordung der moralischen und Ver-
nichtung der juristischen Person in nahezu allen Fällen gelingt, geht am klarsten
aus dem Verhalten der Inhaftierten selbst hervor. Es mag noch aus irgendwelchen
Gesetzen der Massenpsychologie erklärlich sein, dass die Millionen von Menschen
sich widerstandslos in den Gastod haben abkommandieren lassen […]. Wesentlicher
in diesem Zusammenhang ist es, dass auch einzeln zum Tode Verurteilte nur sehr
selten versucht haben, einen ihrer Henker mitzunehmen […].37
37 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 923, 929 f. und S. 932–934.
Donatien Alphonse François de Sade 247
Opfer förmlich herbeigesehnt. Die zuletzt zitierte Passage aus Justine ou les
malheurs de la vertu macht deutlich, dass in einer solchen Lebenssituation
der Tod keine Gefahr, keine Bedrohung darstellt, sondern in gewisser Weise
eine Erlösung ist, die keinen Groll, keine Wut, keinen Widerstand gegen die
Folterer und Henker auslöst. Allerdings wird im Grunde nicht mehr das Indi-
viduum durch den Tod erlöst, sondern nur noch ein entindividualisierter
Mensch, der zu keinerlei Aktionen mehr in der Lage ist.
Im Grunde können wir die Schriften des Marquis de Sade neben vielen an-
deren Aspekten als immenses Laboratorium begreifen, in dem aufgezeigt wird,
was menschenmöglich ist und was Menschen anderen Menschen antun kön-
nen. In diesem Sinne bilden sie ein literarisches Labor, das mit den realen Ver-
suchsanlagen des europäischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert oder den
Konzentrationslagern in Deutschland, Frankreich oder Russland im 20. Jahr-
hundert strukturell vergleichbar ist. Mit Roland Barthes und Hannah Arendt
werfen wir auf diese Weise zwei sehr unterschiedliche Blicke auf des göttlichen
Marquis ungeheures und ungeheuerliches Werk, wobei wir zugleich verstanden
haben, dass den Texten de Sades eine enorme Polysemie und Vieldeutigkeit
eignet, die sie aus jeglicher Reduktion auf psychopathologische Aspekte weit-
gehend befreien. Wir dürfen die Schriften de Sades als das wahrnehmen, was
248 Donatien Alphonse François de Sade
sie sind: literarische Texte. Diese Schriften des „Göttlichen Marquis“ bilden –
und dies ist der Kernbereich aller Literaturen der Welt – einen ästhetischen Ex-
perimentierraum, in welchem ein Lebenswissen als Wissen vom Leben im
Leben, aber auch ein Erlebenswissen und ein Überlebenswissen mit den Mitteln
der Literatur erprobt werden.
Aus dieser Perspektive ist es letztlich nur konsequent, wenn der Marquis de
Sade – anders als in der ersten Fassung seiner Justine, in der Nouvelle Justine,
nach Tausenden von Seiten die Protagonistin letztlich sterben lässt, genauer:
vom Blitz erschlagen lässt. Justine wird gleichsam von einem göttlichen, in
jedem Falle transzendenten Schlag getroffen, wodurch die Vertreterin der Tu-
gend und der „vertu persécutée“ ein für alle Mal niedergestreckt wird. Sie hatte
lange auf diesen von ihr so ersehnten Tod warten müssen. Und ich meine, dass
hierin nicht nur die Dimension des unvermittelten Gottesurteils, sondern zu-
gleich auch eine sehr lange Tradition innerhalb der abendländischen Literaturge-
schichte des Todes steckt. Denn wir haben es hier mit nicht mehr und nicht
weniger als dem gewaltsamen und verabscheuungswürdigen Tod zu tun, mit der
mors repentina, einer Todesart, die wir bereits kennengelernt haben. So erscheint
selbst der Tod jener Vertreterin der Unschuld noch als eine Strafe Gottes.
Aus den unterschiedlichen Perspektiven hat sich das literarische Werk des
Marquis de Sade als ein literarisches Denkmal erwiesen, das charakteristisch
für das Jahrhundert der Aufklärung ist. Vielleicht geben uns Max Horkheimer
und Theodor W. Adorno in ihrer so einflussreichen Dialektik der Aufklärung
noch einen weiteren Hinweis darauf, in welchem Verhältnis wir uns den Mar-
quis de Sade und die Gesellschaft der Moderne vorstellen und denken können.
In einem längeren Exkurs, der unter dem Titel „Juliette oder Aufklärung und
Moral“ steht und mit der Definition der Aufklärung durch Immanuel Kant als
dem „Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ ein-
setzt, versuchen die beiden Philosophen, Sade – und mit ihm auch Friedrich
Nietzsche – in die von ihnen herauspräparierte Dialektik der Aufklärung mit-
einzubeziehen. Schauen wir uns ihre unmittelbar vor dem Ende dieses längeren
Exkurses befindlichen Zeilen einmal näher an:
Das Wesen der Vorgeschichte ist die Erscheinung des äußersten Grauens im Einzelnen.
Hinter der statistischen Erfassung der im Pogrom Geschlachteten, die auch die barmher-
zig Erschossenen einschließt, verschwindet das Wesen, das an der genauen Darstellung
der Ausnahme, der schlimmsten Folterung, allein zutage tritt. Das glückliche Dasein in
der Welt des Grauens wird durch deren bloße Existenz als ruchlos widerlegt. Diese wird
damit zum Wesen, jenes zum Nichtigen. Zur Tötung der eigenen Kinder und Gattinnen,
zur Prostitution und Sodomie, ist es bei den Oberen gewiss in der bürgerlichen Ära selte-
ner gekommen als bei den Regierten, von denen die Sitten der Herren aus früheren Tagen
übernommen wurden. Dafür haben diese, wenn es um die Macht ging, selbst in späten
Donatien Alphonse François de Sade 249
Jahrhunderten Berge von Leichen getürmt. Vor der Gesinnung und den Taten der Herren
im Faschismus, in dem die Herrschaft zu sich selbst gekommen ist, sinkt die enthusiasti-
sche Schilderung des Lebens Brisa-Testas, an dem jene freilich sich erkennen lassen, zu
familiärer Harmlosigkeit herab. Die privaten Laster sind bei Sade wie schon bei Mande-
ville die vorwegnehmende Geschichtsschreibung der öffentlichen Tugenden der tota-
litären Ära. Die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen
den Mord vorzubringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrien zu haben, hat
den Hass entzündet, mit dem gerade die Progressiven Sade und Nietzsche heute noch ver-
folgen. Anders als der logische Positivismus nahmen beide die Wissenschaft beim Wort.38
In dieser Passage aus der Dialektik der Aufklärung stoßen wir noch einmal auf ein
ganz grundsätzliches Problem, mit dem unsere abendländische Gesellschaft und
insbesondere das Projekt der europäischen Moderne verbunden sind. Denn es
geht im Kern um die Frage, inwieweit der totalitäre Staat, wie wir ihn im 20. Jahr-
hundert kennengelernt haben, die logische Konsequenz aus der Aufklärung und
der Herrschaft der Ratio, der Vernunft, darstellt. Denn für eine auf die Ratio ge-
gründete Gesellschaftsordnung gibt es keinen guten, triftigen Grund mehr, den
Mord nicht zuzulassen, da doch keinerlei transzendente Bindungen als „religio“
den Menschen in einer moralischen und ethischen Position verankern. Denn im
Totalitarismus, beispielsweise im Deutschland der Nationalsozialisten, beschreibt
sich nur noch eine geringe Minderheit überhaupt als gottgläubig oder als gottes-
fürchtig. Nichts schützt den Menschen mehr vor Autoritarismus und Totalitaris-
mus – so die historische Erfahrung von Horkheimer und Adorno am Ausgang des
Zeiten Weltkriegs, als ihr Band über die andere Seite von Vernunft und Aufklä-
rung gemeinschaftlich entstand.
Im Grunde lassen sich, vereinfacht gesagt, zwei gegensätzliche Positionen
ausmachen: Auf der einen Seite ist dies die Position von Jürgen Habermas, der
das Projekt der Aufklärung für noch immer unvollendet ansieht und im Grunde
nach mehr Aufklärung und mehr Rationalität ruft, um ein Aufkommen des Fa-
schismus, Nationalsozialismus und anderer Totalitarismen dauerhaft nicht
mehr zuzulassen.39 Und auf der anderen Seite steht die französische Denktradi-
tion, für die unter anderem Jacques Derrida oder Julia Kristeva Repräsentanten
sind, die gerade in der Tradition der Aufklärungsphilosophie und sich daran
anschließend im deutschen Idealismus jene autoritären Wurzeln ausmachten,
die letztlich dazu geführt hätten, dass der Nationalsozialismus in absolut logi-
scher Konsequenz die Bühne der Geschichte betrat und übernahm.
38 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. Main: Suhr-
kamp1981, S. 126 f.
39 Vgl. hierzu Habermas, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (1980). In (ders.):
Kleine Politische Schriften (I–IV). Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 444–466.
250 Donatien Alphonse François de Sade
40 Vgl. den fünften Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Aufklärung zwischen zwei Welten,
S. 587 ff.
Donatien Alphonse François de Sade 251
fentlich zugänglich geworden ist! Dabei ist Les cent-vingt journées de Sodome ou
l’Ecole du libertinage ein Romanfragment, das 1785 entstand und ein klassisches
Beispiel für Kerker- oder Gefängnisliteratur ist. Und dies in einem doppelten
Sinne: Denn der Autor saß zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht nur bereits
lange in Haft, er erträumte sich auch literarisch ein Gefängnis, das freilich die ver-
schiedenartigsten Lüste beinhalten sollte.
Nicht umsonst hat der Marquis de Sade paratextuell sein mögliches Lesepubli-
kum vor der Lektüre dieses Romanfragments gewarnt, das wohl erst 1904 im
Druck erschien. Denn nicht weniger als zweiundvierzig Frauen und Knaben wer-
den in der befestigten Burg des Herzogs von Blangis gefangen gehalten, der abso-
luten Willkür dieses Mannes und dreien seiner Mittäter vollständig ausgeliefert. Zu
Beginn dieses Romans sind diese Frauen und Knaben bereits den juristischen Tod
im Sinne Hannah Arendts gestorben: Sie besitzen keinerlei Rechte mehr und kön-
nen im Grunde nichts mehr für ihre eigenen Personen geltend machen. Es gilt al-
lein das Gesetz des Terrors, der freilich mit großer Rationalität vorgeht und alles,
bis in die kleinsten Details, systematisch arrangiert. Denn niemand weiß von einer
der zweiundvierzig Personen, die sich in dieser von der Außenwelt abgeriegelten
Zitadelle wie in einem Konzentrationslager befinden. Sie sind – mit anderen Wor-
ten – bereits für die Welt gestorben und daher lebendige Tote.
Vor dem Hintergrund unserer Überlegungen zu Hannah Arendt, aber auch zu
Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung ist die Nähe
von Sades fiktionalen Entwürfen zu totalitären Theorien unübersehbar. Er setzt
alles daran, ein perfekt durchorganisiertes Spektakel von sexuellem Missbrauch,
Folter und Qualen vor den Augen seiner Leserschaft zu entrollen – und dies mit
einer rationalen Konsequenz, die bis zum heutigen Tag verblüfft. Auf einer schma-
len Papierrolle niedergeschrieben, die den Gefängniswärtern Sades verborgen
blieb, entstand eines der rätselhaftesten Manuskripte der französischen Literatur-
geschichte. Geradezu obsessiv mit dieser Niederschrift beschäftigt, arbeitete dieser
Philosoph der Spätaufklärung unermüdlich am Programm unsäglicher Grausam-
keiten, die im weiteren Verlauf des Romans buchstäblich entrollt werden. Heute
freilich müssen Sie keine Papierrolle mehr entrollen: Es gibt eine sehr genaue kri-
tische Ausgabe der 120 Tage von Sodom, welche die Grundlage der wissenschaftli-
chen Auseinandersetzung mit diesem Werk aus Sades Feder darstellt.
Auch wenn sich die Rezeption dieses Werks immer wieder gegen eine ver-
eindeutigende Lektüre im Zeichen der Sexualpathologie wehren musste, zeigt
sich bei einer genaueren Analyse der textuellen Genese deutlich, wie sehr der
Marquis die Zusammenhänge zwischen totaler Herrschaft, sexueller Lusterfah-
rung und gnadenloser Grausamkeit ins Zentrum seines Romans zu rücken
suchte. Es ist diese komplexe Dimension von Sades Text aus dem Frühwerk,
welche Pier Paolo Pasolini in seiner Verfilmung der 120 Tage von Sodom her-
252 Donatien Alphonse François de Sade
Nun musst Du, lieber Freund und Leser, Dein Herz und Deinen Geist auf die unreinste
Erzählung vorbereiten, die jemals, seit die Welt existiert, verfasst wurde, insoweit sich
ein vergleichbares Buch weder in der Antike noch bei den Modernen finden lässt. Stelle
Dir vor, dass alle ehrsame oder von dieser tierischen Kraft vorgeschriebene Wollust, von
der Du ohne Unterlass und ohne sie zu kennen sprichst und welche Du Natur nennst,
dass also diese Wollust, sage ich, ausdrücklich aus dieser Sammlung ausgeschlossen ist,
und dass es für den Fall, dass Du eher abenteuerlich auf sie träfest, dies immer nur zu
einem Zeitpunkt geschähe, an dem sie von irgend einem Verbrechen begleitet oder irgend-
einer infamen Tat farbig beleuchtet würde. Zweifellos werden Dir viele von all den Abwei-
chungen, die Du gemalt sehen wirst, höchlichst missfallen, doch werden sich welche finden
lassen, welche Dich so erregen werden, dass sie Dich einen Erguss kosten, und dies ist alles,
was es für uns braucht. Hätten wir nicht alles gesagt, alles analysiert, wie wolltest Du dann,
dass wir vermutet hätten, wonach Dir der Sinn steht? Nun ist es an Dir, das Übrige zu neh-
men oder wegzulassen [...].41
41 Sade, Marquis de: Les cent-vingt journées de Sodome. In: Œuvres complètes du marquis de
Sade. Édition définitive. 16 Bde. Paris: Tête de feuilles 1973, Bd. 8, S. 60 f.
Donatien Alphonse François de Sade 253
Was in diesem Zitat zunächst sehr deutlich vor Augen geführt wird, ist der An-
spruch auf absolute Vorbildlosigkeit: Les cent-vingt journées de Sodome ou l’Ecole
du libertinage sieht sich nicht minder als Jean-Jacques Rousseaus Les Confessions
als völlig außergewöhnliches Buchprojekt, das weder bei antiken noch bei moder-
nen Autoren vergleichbare Modelle kennt und das weder Vorläufer besitzt noch
Nachahmer finden werde. Bemerkenswert ist bei der Berufung auf die Einzigartig-
keit die gleichsam doppelte Abgrenzung von den „Anciens“ wie von den „Moder-
nes“, eine – wenn Sie so wollen – letzte Referenz gegenüber jener Querelle des
anciens et des modernes, die im Grunde zu einer Art Vorstufe oder fast schon Sat-
telzeit der Moderne wurde und letztlich die absolute Offenheit der künftigen Ent-
wicklungen wie der Zukunft überhaupt zum Fluchtpunkt haben sollte.42 Es gibt
bei den „Anciens“ also nichts nachzuahmen und bei den „Modernes“ nichts, was
diese prospektiv von Sade übernehmen könnten, denn dessen Werk ist absolut
neuartig und absolut schonungslos. Sade begreift sein eigenes Schreiben als vor-
bildlos; und vorbildlos ist es gegen die Natur gerichtet. Denn es setzt ganz auf
pure Rationalität, auf kaltes Kalkül und Berechnung.
Daneben tritt als zweites Element ein Totalitätsanspruch, der im 18. Jahrhundert
keineswegs einzigartig ist. Die nicht weniger in Rousseaus Bekenntnissen zu beob-
achtende Behauptung, alles und auch wirklich alles sagen zu wollen und sagen
zu müssen, bildet die zentrale Achse des Vorgebrachten, könne doch sonst keine
wirkliche Erkenntnis, keine den Leser körperlich ergreifende Darstellung stattfin-
den. Das Insistieren auf dem „tout“, auf dem „tout dire“, ist ebenso für Rousseau
wie für Sade charakteristisch. Zudem war sich der Marquis de Sade zweifellos der
Tatsache bewusst, ein Buch verfasst zu haben, das unmittelbar die körperliche Prä-
senz des Lesepublikums ergreift: Zu deutlich sind die Anspielungen auf die im Fa-
denkreuz seines Schreibens stehende Männlichkeit des expliziten Lesers.
Doch Sade durchkreuzt zugleich die erwartbaren Erwartungshorizonte. Die
von der Natur vorgesehenen Wollüste, die „jouissances“, gebe es in diesem
„récit“ und in diesem „recueil“ gar nicht im quasi-natürlichen Reinzustand zu
genießen, würden sie doch stets von einem Verbrechen oder einer Infamie be-
gleitet, welche ihnen ihre eigentliche Beleuchtung verschafften. Bei Sade kann
man sich nicht einfach zurücklehnen und die Lektüre konsumieren: Seine Bücher
gehören nicht zu jener Klasse, von der eine ingeniöse Leserin des 18. Jahrhunderts
einmal sagte, es gebe eben eine Sorte von Büchern, die man nur mit einer Hand
lesen könne. Nur die Radikalität des Verfahrens und die Radikalität aller Darstel-
lungsmuster, dies wird hier deutlich, scheint es überhaupt erst möglich zu ma-
42 Vgl. zur Querelle des Anciens et des Modernes die Ausführungen in Ette, Ottmar: Aufklärung
zwischen zwei Welten, S. 111 ff.
254 Donatien Alphonse François de Sade
chen, die ganze Breite potentieller Erfahrungen in den Griff zu bekommen und
damit vielleicht auch auf den (philosophischen) Begriff zu bringen.
Ich möchte an dieser Stelle unserer Auseinandersetzung mit Sade aber zu-
mindest noch kurz den Bogen zurück zu Hannah Arendt und zur Dialektik der
Aufklärung im Sinne Horkheimers und Adornos schlagen. Vielleicht wird in den
„Règlements“ – also gleichsam der Lagerordnung der Welt der 120 Tage von
Sodom – am besten deutlich, was es erlaubt, die Verbindung zwischen dem
Marquis de Sade und dem Totalitarismus bis hin zu jenem biopolitischen Para-
digma der Moderne zu ziehen, als das Giorgio Agamben die Konzentrationsla-
ger und den Homo sacer, den als juristische Person nicht mehr existierenden
Vogelfreien, begriff. In diesen Passagen wird überdies deutlich, welch gnaden-
lose Ordnung in diesen Kerkermauern eingehalten werden musste:
Lagerordnung:
Jeden Tag wird um 10 Uhr morgens aufgestanden. Zu diesem Zeitpunkt kommen die vier
Ficker, die nachts nicht im Dienst waren, zu Besuch bei den Freunden vorbei, wobei jeder
von ihnen einen kleinen Jungen mitbringen wird; sie werden nach der Reihe von einem
Zimmer zum nächsten gehen. Sie werden nach dem Willen und dem Begehren der
Freunde vorgehen, doch zu Beginn werden die kleinen Jungs, die sie mit sich führen, nur
als Perspektive dienen, denn es ist beschlossen und arrangiert, dass die acht Entjungfe-
rungen der Mädchen erst im Monat Dezember angegangen werden, während die Weitung
ihrer Ärsche und jener der acht kleinen Jungen ihrerseits erst im Laufe des Monats Januar
vorgenommen werden, und dies, um die Wollust durch die Vergrößerung eines pausenlos
entflammten und niemals befriedigten Begehrens zu reizen, so dass ein Zustand erreicht
wird, der notwendig zu einer gewissen lustvollen Wut führen muss, an der die Freunde
arbeiten, um eine der wundervollsten Situationen der Geilheit hervorzurufen. [...]
Jeder Untertan, der auf irgendeine Weise Dinge verweigert, die ihm abverlangt wer-
den, selbst wenn sie ihm unmöglich sind, wird auf die strengste Weise bestraft: Denn der
Untertan hatte dies vorherzusehen und Vorsorge dafür zu treffen. Das geringste Lachen
oder das geringste Fehlen von Aufmerksamkeit oder Respekt und Unterwerfung werden
in den durchgeführten Orgien als eine der schlimmsten und am grausamsten zu bestra-
fenden Verfehlungen erachtet. Jeder Mann, der in flagranti mit einer Frau ertappt wird,
wird mit dem Verlust eines Gliedes bestraft, sollte er nicht vorab die Genehmigung zum
Genusse dieser Frau erhalten haben. Die kleinste religiöse Handlung von Seiten eines der
Untertanen, welche auch immer diese Handlung sein möge, wird mit dem Tode bestraft.
Es ist ausdrücklich den Freunden vorbehalten, in allen Versammlungen nur die wollüs-
tigsten, die orgiastischsten Reden zu halten und die dreckigsten, die stärksten und die
blasphemischsten Ausdrücke zu gebrauchen. [...] Sollte irgendein Untertan einen Flucht-
versuch während der Versammlungen unternehmen, wird er augenblicklich – wer auch
immer es sei – mit dem Tode bestraft.43
Hier hätte die rationale Ordnung (und Anordnung) aller furchtbaren Gescheh-
nisse, Vergewaltigungen, Kindesmissbräuche und Sexualfolterungen nicht über-
zeugender ausgedrückt werden können als in diesen „Règlements“. Denn selbst
die Wut, die „fureur“, ist das Ergebnis eines kalten Kalküls rund um die Aufstau-
ung von Lust und deren gezielter Nicht-Befriedigung. Sehr aufschlussreich ist in
der angeführten Passage die Verwendung von Begriffen wie „fureur lubrique“ und
„lubricité“, also der stets noch zu übertreffenden Geilheit und Lüsternheit, die
durch eine Reihe von monatelangen Verfahren immer weiter gesteigert werden.
In diesem Zitat wird sehr schön deutlich, in welch umfangreichem Maße alles
in dieser totalitären Lager-Herrschaft bis ins kleinste, nebensächlichste Detail gere-
gelt ist. Das Leben der „sujets“, die zu reinen „objets“ geworden sind, spielt über-
haupt keine Rolle: Sie sind ihren juristischen wie ihren moralischen Tod längst
gestorben. Es gilt allein noch die Ordnung des Lagers – wen kümmert da der Tod
von einigen ohnehin aus der Gesellschaft spurlos verschwundenen Menschen?
Die Regelungen sind dabei von einem Höchstmaß an Rationalität durchdrun-
gen, um ein Höchstmaß an sexueller Lust sowie an sexueller Verausgabung zu
erzielen. Wir verstehen, warum sich ein Roland Barthes dafür interessierte,
wovon sich die Täter, aber auch ihre Opfer ernähren. Die Durchrationalisierung
der Perversion endet in einer Ordnung, die absolut ist und die jeweils durch Ver-
stümmelungen oder durch den Tod sanktioniert werden muss. Der Tod ist die ei-
gentliche Grenze dieser Ordnung, doch unmittelbar an den Tod stoßen alle
Lüste: Eros und Thanatos werden enggeführt.
Dabei sind die diskursiven Lüste – also die Blasphemien, Verfluchungen und
obszönen Redensarten – genau vorgeschrieben: Es geht nicht an, gleichsam einen
neutralen Diskurs zu halten. Vor diesem Hintergrund wird ebenfalls verständlich,
warum Roland Barthes in seiner berühmten Antrittsvorlesung am Collège de France
in einer umstrittenen Formulierung die Sprache als faschistisch brandmarkte,
zwinge sie doch zum Sprechen.44 Und dass Pier Paolo Pasolini die raumzeitliche
Diegese seiner 120 Tage von Sodom in den italienischen Faschismus verlegte.
Eine wichtige Rolle in der Ökonomie der Lüste spielt auch der Aufschub
der Lust, eine Verzögerung, die letztlich die Begierde auf Grund der wochen-
und monatelangen Nicht-Erfüllung kalkuliert weiter anstacheln soll. Dazu sind
monatelange Planungen im Voraus nötig. Das Liebesobjekt und der völlig objek-
tivierte Körper werden perspektivisch gezeigt, aber nicht sofort zur Befriedigung
freigegeben und zugänglich gemacht. Alles zielt auf die rationale Objektivierung
des Körpers der Anderen und zugleich auf die Lust des eigenen Leibes.
44 Vgl. Barthes, Roland: Leçon. Leçon inaugurale de la Chaire de sémiologie littéraire au Col-
lège de France, prononcée le 7 janvier 1977. Paris: Seuil 1978.
256 Donatien Alphonse François de Sade
sperrung und die Aussperrung durch Einsperrung unterliegen dem Gesetz einer
durchrationalisierten Gewalt, für die der Tod keinen Schrecken – und auch keine
Grenze mehr – besitzt und darstellt. Er ist zum Bestandteil eines durchrationali-
sierten Lebens geworden, dessen Grenzen er zugleich doch noch immer markiert.
Wie im Konzentrationslager Hannah Arendts hat der Tod selbst keine Würde
mehr: Ihm eignet keinerlei Sinn, noch nicht einmal der eines Märtyrertums. Im
Tod erfüllt sich nicht mehr das Leben: Der Tod ist bestenfalls das physische Ende
eines länger anhaltenden und durchgeplanten Ablaufs eines Lebens zum Tode.
Er ist zum alltäglichen Begleiter geworden und betrachtet ungerührt das gesamte
Geschehen aus der Distanz.
Vielleicht könnte man den Tod damit in jene Rolle heben, in welcher er in
einem Gedicht der heute weitgehend vergessenen deutschen Lyrikerin Emma
Kann erschien. Es handelt sich um ein Gedicht, das sie 1940 im südfranzösischen
Konzentrationslager von Gurs schrieb, wo sie einige Monate zusammen mit Han-
nah Arendt eingesperrt war und aus dem sie wie diese fliehen konnte; ein Ge-
dicht aus dem Konzentrationslager selbst, das ich Ihnen zum Ende unserer
Beschäftigung mit dem Marquis de Sade nicht vorenthalten möchte. Allerdings
erscheint am Ende dieser Verse noch jene Möglichkeit, die den langjährigen In-
sassen der Konzentrations- und Vernichtungslager – ähnlich wie den Insassen in
Sades Sodom – im Sinne von Hannah Arendt aus der Hand geschlagen wurde;
die Möglichkeit nämlich, sich wieder in den Besitz des eigenen Lebens zu brin-
gen und sich dieses in aller Freiheit zu nehmen:
45 Kann, Emma: Der Tod ist mir ein Kamerad… (1940). In: Mnemosyne (Klagenfurt) 24 (1998), S. 13.
258 Donatien Alphonse François de Sade
Dieses von einer jüdischen Autorin, die aus dem Konzentrationslager über den At-
lantik nach Kuba und später in die Vereinigten Staaten von Amerika fliehen
konnte, stammende Gedicht über den Tod dient uns als Überleitung zum Themen-
komplex des Antisemitismus und der Judenverfolgung durch die Nationalsozialis-
ten und damit zu jener Problematik, mit der wir am Beispiel der Theorien Hannah
Arendts bereits in Berührung gekommen waren. Dieser Spur wollen wir im Folgen-
den weiter nachgehen, um andere Aspekte von Geburt und Leben, Sterben und
Tod in den Literaturen der Welt näher herauszuarbeiten.
Albert Cohen oder der Geburts-Tag
im Miniatur-Konzentrationslager
Stürzen wir uns sogleich in einen der berühmtesten Romane von Albert Cohen,
Belle du Seigneur, der diesem auf Korfu geborenen und in die französische Litera-
tur ‚eingewanderten‘ Schriftsteller die Nominierung für den Literaturnobelpreis
eintrug. Benedetti, der Direktor der Informationsabteilung beim Sekretariat des
Völkerbundes hat eine halbe Hundertschaft ‚guter Freunde‘ zu seinem monatlich
stattfindenden Cocktail eingeladen. In einer gepflegten, kultivierten Atmosphäre
plaudern die Gäste angeregt miteinander, sprechen über die internationale Poli-
tik, die hohe Diplomatie und selbstverständlich auch über die anderen Anwesen-
den. Nur ein einziger Gast spricht mit niemandem und wird von niemandem
angesprochen:
Von allen übersehen und in Ermangelung von Artgenossen spielte der arme Leprakranke
den Eiligen, um sich eine gewisse Contenance zu verschaffen, und so bestand seine Teil-
nahme am Cocktail darin, die laut plappernde Menge wacker und in regelmäßigen Ab-
ständen zu durchqueren. Mit gesenktem Kopf, so als ob ihn die Nase nach unten zöge,
durchlief er eiligst und von einem Ende zum anderen den riesigen Salon, wobei er biswei-
len die Gäste anstieß und sich, stets ohne jede Reaktion, dafür entschuldigte. Indem er
auf diese Weise brillante Diagonalen hinlegte, tarnte er seine eigene Isolierung, wobei er
so tat, als müsse er dringlich einen Bekannten erreichen, der ihn dort hinten, am anderen
Ende des Salons, erwartete. Sein Getue konnte im Übrigen niemanden täuschen. [...] Ein-
mal mehr setzte sich der in Sozialwissenschaften promovierte und laufstarke Ewige Jude
in Bewegung und nahm im Lande des Exils eine seiner unnützen Reisen wieder auf,
wobei er sich mit derselben Eile dem Buffet zuwandte, wo ihn ein trostreiches Sandwich
erwartete, das sein einziger Sozialkontakt und sein einziges Recht bei diesem Cocktail
war. Zwei volle Stunden lang, von sechs Uhr bis acht Uhr, zwang sich so der unglückse-
lige Finkelstein zu einem Gewaltmarsch von mehreren Kilometern, den er gegenüber sei-
ner Frau, wenn er wieder zuhause war, nicht eingestand.1
1 Cohen, Albert: Belle du Seigneur. Edition établie par Christel Peyrefitte et Bella Cohen, Paris:
Gallimard 1986, S. 274.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-009
260 Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager
ist der „Juif errant“, der Ewige Jude, unausgesprochen aber erbarmungslos aus
der Gesellschaft exkludiert. Sein Leben ist notgedrungen vektorisiert!
Was aber bedeutet diese Vektorisierung im Kontext einer Exklusion inner-
halb einer Inklusion? Im Rahmen des hier geschilderten gesellschaftlichen Er-
eignisses der Société des Nations kommt ihm innerhalb des bunten Wirrwarrs
der internationalen Diplomaten- und Funktionärswelt im Genf der dreißiger
Jahre kein eigener Ort, sondern nur eine Bewegung zu. Seine Bewegungen be-
ziehen sich auf eine „terre d’exil“: Er besitzt nicht wie die anderen irgendein
Land, das er repräsentieren könnte, verfügt über keinen festen Wohnsitz. Die
ihn und keinen anderen auszeichnende Vektorisierung ist eine Bewegung ohne
jeden festen Wohnsitz, der sein Eigen wäre.
Finkelsteins Bewegungsmuster ist für Albert Cohen ein Modell: In ihm ist
ein ganzes Schicksal gespeichert, das Schicksal eines ganzen Lebens, welches
die individuelle Dimension aber weit übersteigt. Von Benedetti einmal jährlich
nur eingeladen, weil der Völkerbundbeamte – wie uns der Erzähler erläutert2 –
„wie alle Antisemiten“ den Einfluss der Juden in den USA bei weitem über-
schätzt, gibt sich der Korrespondent einer zionistischen Presseagentur vergeb-
lich (da für alle anderen Gäste durchschaubar) den Anschein, ‚pressieren‘
zu müssen, um einen Gesprächspartner am anderen Ende des Salons rechtzei-
tig zu erreichen. Doch da gibt es im Völkerbund niemanden, der auf ihn warten
oder mit ihm sprechen würde; und auch Finkelstein schweigt, will seiner Frau
nichts von dem erzählen, was ihn zwei Stunden lang in Bewegung hielt: sein
eigenes Ausgeschlossensein als Jude in einer zutiefst antisemitischen Gesellschaft.
Der promovierte Jude Finkelstein gerät damit zum tragischen Zerrbild und
Gegenmodell der Erfolgreichen, die innerhalb der streng hierarchisierten Hack-
ordnung des Völkerbunds und ihrer Unterteilung in „importants“, „surimportants“
und „sursurimportants“ stets auf der Suche nach ‚dicken Fischen‘ zirkulieren,
deren Bekanntschaft sich später auszahlen könnte und die daher in diesem
Gesellschaftsspiel möglichst rasch ‚harpuniert‘ werden müssen. Die Pression,
unter welcher Jacob Finkelstein steht und gegen deren Implodieren als De-
pression der sozialwissenschaftlich geschulte Jude wacker und unter Täuschung
auch seiner Frau anzukämpfen versucht, ist der Druck einer Weltgemeinschaft,
die wohl international organisiert, aber nicht interkulturell orientiert ist. Die ge-
samte Société des Nations, der gesamte „Bund der Völker“, ist unausgesprochen
antisemitisch eingestellt.
Alle kennen die Spielregeln dieses Gesellschaftsspiels einer Exklusion durch
Inklusion. Denn diese Spielregeln der Cocktail-Party, denen sich alle Gäste – von
2 Ebda.
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 261
Seine Völkerbundkarriere ist freilich ein gesellschaftlicher Aufstieg, für den der
zwischen Orient und Okzident Hin- und Hergerissene einen hohen Preis kultu-
reller und menschlicher Entfremdung zahlen muss. Es ist ein Aufstieg, der ihn
schließlich wieder auf die Ebene einer sozialen Null zurückführen wird, der er
nur aufgrund seiner Schönheit, seiner Intelligenz und seines absoluten Liebes-
willens hatte entkommen können. Die Figur des zwischen Orient und Okzident
pendelnden, vor allem aber auch vermittelnden Juden findet sich nicht nur –
3 Vgl. zu diesem Begriff und seiner Anwendung auf die Literaturen der Welt Ette, Ottmar:
WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2017.
262 Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager
4 Vgl. hierzu auch Valbert, Gérard: Albert Cohen, le seigneur, Paris: Grasset 1990, S. 276 f.
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 263
5 Vgl. hierzu die Thesen des Schlusskapitels „Differenz Macht Toleranz“ in Ette, Ottmar: Über-
Lebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004, S. 253–277.
6 Cohen, Albert: Belle du Seigneur, S. 275.
7 Ebda.: „Cher Finkelstein, inoffensif et si prêt à aimer, Juif de mon cœur, je t’espère en Israël
maintenant, parmi les tiens, parmi les nôtres, désirable enfin.“
8 Vgl. etwa eine Auflistung von Romanpassagen, die in der Folge als Aussagen Albert Cohens
gedeutet werden, in Peyrefitte, Christel: Préface. In: Cohen, Albert: Belle du Seigneur, S. XXXII.
264 Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager
Sie sehen, wie wichtig der Ort der Geburt ist. Doch diese Nativität macht bezüg-
lich der Nationalität – und nicht umsonst hat der Begriff ‚Nation‘ etwas mit der
Geburt zu tun – bei weitem nicht alles aus. Denn auch der Tod kann nachträg-
lich eine Geburt hinsichtlich ihres rechtlichen Status verändern, zumindest
dann, wenn man von Land zu Land getrieben wird und keinen festen Wohnsitz
hat.
Doch wir sollten uns nicht wie Scipion dem weiteren Verlauf einer jüdischen
Familiengeschichte im Bund der Nationen durch Flucht entziehen, sondern ver-
suchen, uns der hier gewiss literarisch überzeichneten Problematik von Raum
und Bewegung zu stellen und im Folgenden dieser in der Forschung bislang un-
terschätzten spatialen Dynamik (zumindest perspektivisch) im Gesamtwerk die-
ses Schriftstellers nachzugehen. Cohen stammte von einer kleinen griechischen
Insel im Ionischen Meer und ist im venezianischen Dialekt der Juden Korfus auf-
gewachsen. Bei der (aus Angst vor weiteren Pogromen erfolgten) Übersiedelung
mit seinen Eltern nach Marseille besaß er einen ottomanischen Pass, bevor er
nach seinem Studium in Genf die Schweizer Staatsbürgerschaft erwarb. Sie ermög-
lichte es ihm, nicht nur problemlos einen Teil seiner Familie in Alexandria (wo er
zum Proust-Leser wurde) zu besuchen und in Genf beim Bureau International du
Travail zu arbeiten, sondern auch als französisch schreibender Autor von einem
britischen Konsul in Bordeaux als Verfasser von Solal erkannt zu werden. Dies wie-
derum ermöglichte ihm die Flucht vor den Deutschen und die Einreise nach Eng-
land, wonach es ihm gelang, als Diplomat im internationalen Auftrag jenen
Reisepass für Staatenlose zu entwerfen und international durchzusetzen, auf den
er nicht weniger stolz war als auf die nicht in seiner Muttersprache abgefassten
Romane. Letztere unterzeichnete er mit jenem Namen, dem er erst bei seiner Ein-
bürgerung in die Schweiz (der in Genf Wohnende war zum Bürger von Mellingen
im Kanton Aargau geworden) ein kleines „h“ hinzugefügt hatte.12
Albert Cohens Lebensweg weist ihn zweifellos als einen Schriftsteller ohne
festen Wohnsitz aus. Zwar wurden seine Schriften in zwei Bänden in die Pléi-
ade-Ausgabe aufgenommen, doch sollte uns diese Konsekration als französisch
schreibender Autor jedoch nicht vergessen lassen, dass Cohen weder der Litera-
tur Frankreichs noch der Frankophonie eindeutig zugeordnet werden kann.
Jérémie führt uns vor, wie die binäre Logik nationaler Zuschreibung und Identi-
tät unterlaufen werden kann, ohne dass damit notwendig die Aufgabe einer
komplexen Identitätskonstruktion verbunden wäre. Wir sollten uns also einlas-
sen auf die andere Logik einer Literatur ohne festen Wohnsitz, die ihre Kon-
zepte und Verfahren der Transkulturalität und Transarealität im Sinne eines
Polylogs zwischen verschiedenen Kulturen, Sprachen und Zugehörigkeiten ver-
pflichtet weiß. Ob mit diesem viellogischen Spiel von Zugehörigkeiten eine Auf-
hebung binärer, dichotomischer Denkstrukturen und Zuweisungsmuster – Was
bist Du denn eigentlich? Woher kommst Du denn eigentlich? – zugunsten von Dif-
ferenzmerkmalen verbunden ist, wird unsere Analyse andeuten. Aber erst die
Zukunft wird zeigen können, inwiefern derartige Entwürfe gleichzeitig vielfa-
cher Zuweisungsmuster von großen Teilen unserer Gesellschaften akzeptiert
und respektiert werden können.
12 Zur Biographie Cohens vgl. nochmals die Monographie des dem Schriftsteller freundschaft-
lich verbundenen Valbert, Gérard (1990): Albert Cohen, le seigneur.
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 267
werden dies auf der Ebene der Bewegungsfiguren sogleich am Beispiel eines
Textes Albert Cohens buchstäblich nachvollziehen. Das beschimpfte Kind wird
gleichsam auf abrupte Weise deterritorialisiert, in einer zweiten Bewegung
dann aber sogleich als Jude reterritorialisiert. Damit sind grundlegende Verän-
derungen des individuellen Lebenswissens verbunden, das an ein anderes kollek-
tives Lebenswissen angeschlossen wird, ausgelöst durch eine von Finkielkraut
beschriebene Inklusion durch Exklusion.
Ist diese so oft pathetisch erzählte Geschichte eines jüdischen Individuati-
onsprozesses tragisch? Alain Finkielkraut verweigert sich der so einfachen und
naheliegenden Bejahung dieser Frage. Wie viele andere, so der 1949 geborene
französische Intellektuelle, habe er auch in seinem eigenen Leben Vorteile aus
jener radikalen Trennung zwischen den anderen und ihm selbst gezogen und
jenen Roman gelebt, der es ihm erlaubt habe, sich nicht zuletzt auch in Rück-
griff auf die Sartre‘schen Réflexions sur la question juive als Rebell und Unter-
drückter, als Vertreter eines leidenden Volkes und Besitzer einer ausgeprägteren
Sensibilität, einer „sensibilité supérieure“,15 zu fühlen.
Die Geschichte des Judentums und der Verfolgung, des Auserwähltseins
und des Genozids habe nicht nur in keiner Weise auf ihm gelastet, so der fran-
zösische Philosoph und Intellektuelle, sondern ihm ein quasi angeborenes
Selbstverständnis verschafft, von dem die anderen – ohne dass er dafür etwas
hätte leisten müssen – umgekehrt ihrerseits ausgeschlossen waren. Das jüdi-
sche Kind war wie viele andere Nachkriegsjuden, und ohne es recht zu merken,
zu einem ‚eingebildeten Juden‘ geworden: „Diese hypnotisierten jungen Leute
gehen qua Identifikation voran: Sie haben es sich in der Fabel bequem ge-
macht; das Judentum, das sie für sich beanspruchen, entreißt sie ihrer selbst
und transportiert sie auf magische Weise auf eine Bühne, welche sie erhebt
und verstärkt. Ich schlage vor, diese Bewohner des Irrealen, die zahlreicher
sind als man denkt, künftig als imaginäre Juden zu bezeichnen.“16
Kein Zweifel: Alain Finkielkrauts Versuch, den Essentialismus einer jüdi-
schen Identität, die Statik einer ein für alle Mal gegebenen religiösen, kulturel-
len und historischen Alterität in der Kippfigur des Marginalisiert-Seins wie des
Auserwählt-Seins zu dekonstruieren, verdankt sich, von den philosophischen
15 ebda., S. 16.
16 Ebda., S. 23: „Ces jeunes gens hypnotisés procèdent par identification: ils ont pris pension
dans la fable; le judaïsme dont ils se réclament les ravit à eux-mêmes et les transporte magi-
quement sur une scène qui les élève et qui les sanctifie. Ces habitants de l’irréel, plus nom-
breux qu’on ne le pense, je propose de les nommer Juifs imaginaires.“ Zur Problematik von
Exil, Auserwähltsein und étrangeté vgl. auch Kristeva, Julia: Etrangers à nous-mêmes, Paris:
Gallimard 1991, S. 95 ff.
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 269
gen macht? Im Folgenden soll versucht werden, den kulturellen Räumen und Be-
wegungsmustern bei Cohen nachzugehen, ausgehend von dieser (auch Cohen’-
schen) Geburtsszene als Jude, und zugleich zu begreifen, in welcher Weise diese
Bewegungen mit dem Prozess des Schreibens, aber auch mit jenem des Verste-
hens wie des Lesens verbunden ist und auf welche Weise eine Engführung von
Geburt des Juden mit dem Sterben als Jude literarisch erfolgt.
Dieser Text, der zu einem Zeitpunkt verfasst wurde, als der Schöpfer des
großen Romanzyklus – wie der Ich-Erzähler prophetisch anmerkt – keine zehn
Jahre mehr zu leben hatte,18 ist in der Cohen-Forschung mehrfach in seiner
Wichtigkeit und Repräsentativität für das Cohen’sche Gesamtwerk hervorgeho-
ben worden. So markiert Ô vous, frères humains etwa für Denise R. Goitein-
Galperin, die diesem Spätwerk den Auftakt ihrer Cohen-Monographie widmete,
die Geburt des „juif-poète“,19 insoweit diese existentielle Erfahrung das Schrei-
ben des jüdischen Schriftstellers überhaupt erst ermöglicht habe. Man kann
diese Szene sehr wohl als die eigentliche Geburt des Schriftstellers Albert
Cohen erachten, so wie er in die Literaturgeschichten einging und noch heute
vor uns steht. Es habe, so führt die Autorin aus, dieser Geburt des Juden in ihm
bedurft, um die Berufung zum Dichter und Schriftsteller erkennen zu können.20
Diese gleichsam zweite Geburt Albert Cohens ist für die Perspektivik unserer
Vorlesung von großer Relevanz.
Judentum und Schreiben, verbunden mit dem Komplex der Liebe,21 erschei-
nen so in ihrer unauflösbaren Einheit bei Cohen vor dem Hintergrund einer
Kindheitserfahrung, die unverkennbar revelatorischen Charakter besaß. Ô vous,
frères humains vollzieht aus einer solchen Sicht nur nach, was die Geschichte
dem jüdischen Jungen an seinem zehnten Geburtstag als Lebensaufgabe (wie es
explizit heißt: als „Geschenk“) mitgab. Angesichts der fast ausschließlich autobi-
ographischen Lesart dieses Buches überrascht allerdings die Tatsache, dass auf
die Beziehung des 1972 publizierten Textes zu dem erstmals 1945 erschienenen
Jour de mes dix ans wohl hingewiesen, dieser letztgenannte Text aber im selben
18 Cohen, Albert: Ô vous, frères humains. In (ders.): Œuvres. Paris: Gallimard 1993, S. 1045:
„Drôle, je serai un mort dans quatre ou cinq ans, ou dix ans au plus, un mort déconfit et
ankylosé.“
19 Goitein-Galperin, Denise R.: Visage de mon peuple. Essai sur Albert Cohen. Paris: Nizet
1982, S. 17; die Autorin hatte diese These bereits kurze Zeit nach Veröffentlichung von Ô vous,
frères humains vertreten in (dies.): Albert Cohen: la naissance du juif-poète. In: Les Nouveaux
Cahiers 42 (automne 1975), S. 62–71.
20 Goitein-Galperin, Denise R.: Visage de mon peuple, S. 24.
21 Vgl. hierzu die Potsdamer Dissertation von Fröhlich, Melanie: Liebe und Judentum im Werk
Albert Cohens. Facetten eines Zwiegesprächs. Berlin – Boston: Walter de Gruyter 2017.
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 271
Atemzug als eine „notation sans plus“22 abgewertet wurde, deren tieferer Sinn
erst mit Hilfe des siebenundzwanzig Jahre später veröffentlichten Buches vor
Augen geführt werden könne. Auf eben diesen Text wollen wir uns aber in unse-
rer Vorlesung über Geburt und Tod, Leben und Sterben konzentrieren.
Die von Goitein-Galperin zurecht und überzeugend herausgearbeitete in-
nige Verbindung von jüdischem Bewusstwerdungsprozess und Schreiben sollte
uns freilich nicht vergessen lassen, dass es sich bei Jour de mes dix ans und ‚a
fortiori‘ bei der Buchveröffentlichung von Ô vous, frères humains um literarisch
durchgefeilte Texte handelt, deren komplexer Aufbau uns unter keinen Um-
ständen erlaubt, einen Kurzschluss zwischen der Erzählerfigur und dem realen
Autor Albert Cohen herzustellen. Nicht umsonst hatte Cohen bei der „réécri-
ture“ seines 1945 erstmals veröffentlichten Textes eine nachträgliche Einteilung
in römisch durchnummerierte Kapitel bevorzugt, so wie sie auch die fiktionalen
Texte seiner Tetralogie charakterisiert. Schon auf der paratextuellen wie intra-
textuellen Ebene ist Jour de mes dix ans weit davon entfernt, eine bloße „nota-
tion“ zu sein.
Ähnlich sieht es mit der Frage nach dem Dokumentarischen beziehungs-
weise nach der Fiktionalität aus. Wir werden die Frage, was auf einem Bürger-
steig in Marseille an jenem 16. August 1905, an dem der Ich-Erzähler, aber auch
Albert Cohen selbst, ihren zehnten Geburtstag begingen, nicht mit einem simp-
len Hinweis auf die im Text dargestellten Ereignisse beantworten können.
Vielmehr müssen wir stets bedenken, dass wir es mit einer literarischen Form-
gebung zu tun haben, die gerade in ihrer Tendenz zur Verknappung und Ver-
dichtung bereits in Jour de mes dix ans vollständig ausgeprägt ist. Denn es geht
nicht um einen simplen Geburtstag, sondern um eine wirkliche Geburt mit
ihren Schmerzen, ihren Wehen und ihrem Erleben von Leben.
Es kommt ein weiterer Punkt hinzu: Wir sollten nicht vergessen, dass Al-
bert Cohen mit zunehmendem Alter immer stärker daran interessiert war, die
Grenzen zwischen seinem literarischen Kunstwerk und insbesondere dessen
Zentralfigur Solal und seiner eigenen Existenz mit Hilfe einer Vielzahl von
Radio- und Fernsehinterviews, aber auch Photographien und Kommentaren
epitextuell zu verschieben und aufzulösen. So wurde dem Leser ein autobiogra-
phischer Pakt mit dem gegen Ende seines Lebens die Massenmedien zuneh-
mend für seine Zwecke instrumentalisierenden Autor förmlich aufgezwungen.
Die bewusst intendierte Rückbindung an die Autorbiographie sollte wohl in
unser Verständnis des Werks, nicht aber unreflektiert in unsere Analyse der
konkreten Texte Albert Cohens einfließen. Denn Jour de mes dix ans ist ein
hochliterarischer „récit“.
Mit anderen Worten: Wir sollten unsere Lektüre von letztgenanntem Text
oder auch von Ô vous, frères humains nicht so sehr vom Modell historisch-
dokumentarischer Rekonstruktion als von jenem einer literarischen Konstruk-
tion leiten lassen, ohne uns freilich der Gefahr auszuliefern, beide Sichtweisen
radikal voneinander zu trennen. Allein die Einsicht in den konstruktiv-kreativen
Charakter dieser Texte, in den Aspekt der literarischen Konstruktion einer Ge-
burts- und Urszene aber kann uns erlauben, die operative Funktion dieser 1945
und 1972 veröffentlichten Schriften innerhalb des Gesamtwerks zu erfassen. In
beiden Texten wurden auf friktionale Weise die Grenzziehungen zwischen fiktio-
nalem und autobiographischem Status zunehmend und wohlkalkuliert außer
Kraft gesetzt. Dies wird auch dadurch erhellt, dass gerade die intratextuellen Be-
ziehungen von Jour de mes dix ans und Ô vous, frères humains zu Cohens Roman-
Tetralogie von großer Bedeutung für unser Verständnis des gesamten Oeuvre
sein werden und nicht aus unserer an Jour de mes dix ans orientierten Betrach-
tung ausgeblendet werden dürfen.
Jour de mes dix ans erschien wenige Monate nach Kriegsende 1945 zweitei-
lig in La France libre.23 Der Text ist Paul-Henri Spaak (1899–1972) gewidmet, dem
mit Cohen seit der Londoner Exilzeit freundschaftlich verbundenen belgischen
Außenminister und späteren sozialistischen Ministerpräsidenten. Unterzeichnet
wurde er nicht mehr mit dem während der Kriegsjahre zumeist von Cohen ver-
wendeten Pseudonym Jean Mahan, sondern mit dem Autornamen. Er ist in insge-
samt 37 kurze, jeweils mit einem Titel versehene Abschnitte aufgeteilt, deren
erster die Überschrift „Souvenir d’enfance“ trägt. Bereits die ersten Sätze unter-
streichen in durchaus ambivalenter Form den Anspruch auf die Wahrheit dessen,
was hier aus der eigenen Kindheit des Autors ‚berichtet‘ werden soll:
Weiße Seite, Du mein Trost, meine intime Freundin, wenn ich vom bösen Draußen zu-
rückkomme, das mich jeden Tag tötet, ohne dass sie sich dessen gewahr würden, ich will
Dir erzählen und mir erzählen von einer leider wahren Geschichte aus meiner Kindheit.
Du, meine treue goldene Feder, von der ich will, dass man Dich mit mir begräbt, errichte
hier ein flüchtiges Denkmal, das recht drollig ist. Ja, eine Kindheitserinnerung.24
23 Cohen, Albert: Jour de mes dix ans. In: La France libre (16 juillet), S. 193–200 / (15 août
1945), S. 287–294; eine verkürzte Fassung erschien noch im September desselben Jahres in der
Zeitschrift Esprit. Schon 1940, kurz nach seiner Flucht nach England, kam Cohen mit La
France libre, dieser wichtigen Exilzeitschrift unter Federführung Raymond Arons, in Berüh-
rung, deren Redaktionsmitglied er bald schon wurde; vgl. hierzu Valbert, Gérard: Albert
Cohen, le seigneur, S. 348.
24 Cohen, Albert: Jour de mes dix ans, S. 193.
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 273
Dieser erste Abschnitt endet nach einer langen Aufzählung vom Erzähler pole-
misch ausgegrenzter literarischer beziehungsweise trivialer, vom Publikum ge-
meinhin goutierter, geschätzter und schöner Kindheitserinnerungen wie folgt:
Nein, es handelt sich um eine jüdische Kindheitserinnerung. Es handelt sich um den Tag,
an dem ich zehn Jahre alt wurde. Meine Damen und Herren, hören Sie und bereiten Sie
sich aufs Lachen vor. Oh fälschlich lächelndes Grinsen meiner Schmerzen. Oh Traurigkeit
dieses Mannes im Spiegel, den ich betrachte.25
Cohen hat Anfang und Ende dieses soeben zitierten ersten Abschnitts in Ô vous,
frères humains enger zusammengerückt und dadurch gerade die noch zu bespre-
chende wechselseitige Spiegelung stärker akzentuiert: „cet homme qui me regarde
dans cette glace que je regarde.“26 Es ist freilich im Rahmen unserer Vorlesung un-
möglich, eine detaillierte textkritische Aufarbeitung der „réécriture“ Cohens zu
leisten, die schon zu Beginn des Textes wichtige Akzentverschiebungen vornahm:
So wird aus „assez drôle“ 1972 „peu drôle“, Zeitmarkierungen werden auf Ebene
der Erzählzeit eingeführt, bestimmte im Text von 1945 angelegte Elemente werden
narrativ entfaltet und durchsetzen in beeindruckender Proliferation den Text. Wei-
tere Beispiele für diese spannenden Umschreibungen und Umakzentuierungen lie-
ßen sich leicht häufen, doch wollen wir hierauf nicht unser Augenmerk richten.
In den wenigen Sätzen dieses gelungenen Incipit sind die literarischen
Grundstrukturen des gesamten Textes bereits angelegt. Das Ich wendet sich un-
mittelbar und explizit an mehrere Adressaten: die als intime Freundin apostro-
phierte weiße Seite Papier, die goldene Feder, die dem Ich als Schreibwerkzeug
dient, und – jenseits der schriftkulturellen Ebene – in mündlicher Kommunikati-
onssituation eine Zuhörerschaft, die offenkundig über das lachen kann, woran
das Ich so leidet. In der unmittelbaren Reaktion geht der Blick des Ich in den
Spiegel, wo es kontrastiv mit der „Traurigkeit dieses Mannes“ konfrontiert wird,
dem es die nachfolgende Geschichte ebenfalls erzählen will. Der Blick in den
Spiegel ist wie in Flauberts Madame Bovary der Blick in eine Erkenntnis über das
Ich, über dessen gesamtes Leben und dessen prekäres Überleben in einer Gesell-
schaft, die als böse charakterisiert wird.
Implizit ist auf dieser Ebene des Adressatenkreises bereits die jüdische
Kindheit mit einer antisemitischen Zuhörerschaft verbunden, welcher nicht von
ungefähr der letzte Satz des Textes gilt: Was einen Antisemiten zum Lachen
brächte, „De quoi faire rigoler un antisémite“.27 Die bereits erwähnte Auffüh-
25 Ebda.
26 Cohen, Albert: Ô vous, frères humain. In (ders.): Œuvres, S. 1041.
27 Cohen, Albert: Jour de mes dix ans, S. 194.
274 Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager
Wertvollen, zugleich auch die Leichtigkeit der Feder und die Schwere des Me-
talls miteinander verbinden, gehen ihrerseits ein in das Bild des Mannes im
Spiegel, das uns gleichsam als „miroir d’encre“28 entgegentritt und auf die Di-
mension des Autobiographischen wie des mimetisch Gespiegelten aufmerksam
macht. Die Spiegelung der Blicke weist uns auf den bereits erwähnten Erkennt-
nisprozess, aber auch auf das nachfolgende Auseinandertreten des Ich in eine
erste und dritte Person Singular hin, die sich von einer von der dritten Person
Plural beherrschten Außenwelt abgrenzt und zugleich den für diesen Text cha-
rakteristischen Wechsel zwischen erster und dritter Person Singular und damit
zwischen Innenschau und Spiegelschau, zwischen Identitätskonstruktion und
Ganzheitserfahrung einerseits sowie Narzissmus und Vervielfachung anderer-
seits vorbereitet. Die Rückbindung dieses im englischen Exil verfassten Texts
an komplexe Schreib- und Reflexionsprozesse ist damit von Beginn an nicht
nur gegenwärtig, sondern signalisiert. Albert Cohen hat diesen Text, der in der
unmittelbaren Nachkriegszeit in einer wenig zugänglichen Zeitschrift erschien
und daher auch nur ein kleines Lesepublikum erreichen konnte, mit äußerster
literarischer Sorgfalt geschrieben.
All dies relativiert den Gestus des Geständnisses, der Confessiones, mit dem
sich die ersten Seiten dieser Erzählung präsentieren. Von Beginn des Erinne-
rungsprozesses an wird im zweiten Abschnitt unter dem Titel „Début d’aveu“
gerade die kollektive und paradigmatische Dimension des Erinnerten und noch
zu Schreibenden hervorgehoben. Nicht nur das Ich, nicht nur das vereinzelte
Individuum wird erinnert; es werden viele Juden an ihrem zehnten Geburtstag
imaginiert, wie sie sich jenem Straßenhändler eines Universal-Fleckenmittels
nähern, der den kleinen, gerade aus der Schule kommenden Juden nach sorg-
fältiger Musterung seines Äußeren aus seinem Zuhörerkreis verbannt: „Du da,
Du bist ein Judd, nicht […], Du bist ein dreckiger Jude, bist ein Habgieriger,
nicht, Dein Vater ist in der internationalen Finanz, nicht, Du kommst hierher,
um das Brot der Franzosen zu essen, nicht, aber nichts da, wir lieben die dre-
ckigen Juden hier nicht, das ist ‘ne dreckige Rasse.“29
Der kollektiven Einführung der Opfer im zweiten folgt und entspricht die
kollektive Verurteilung der Juden im dritten Abschnitt, der ausschließlich die
diskriminierende Rede des französischen Straßenhändlers in Marseille enthält.
Aufschlussreich dabei ist, dass sich diese Situation auf offener Straße ereignet,
in einer Öffentlichkeit also, in der sich keine Stimme zur Verteidigung des Kin-
des rührt. Es ist vielmehr eine Öffentlichkeit, die grundlegend von der damali-
gen antisemitischen Propaganda in Frankreich, aber auch in ganz Europa ge-
prägt ist.
Die wohl erfolgreichste literarische Ausgestaltung der in der Rede des
Fleckenmittelverkäufers, des „camelot“, anklingenden These von der Weltver-
schwörung des Judentums, die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion,
werden in Jour de mes dix ans explizit erwähnt.30 Die Spuren dieser Weltver-
schwörungsideologie sind längst historisch geklärt, gehen sie doch auf ein
1864 anonym in Brüssel erschienenes Pamphlets des französischen Autors
Maurice Joly zurück.31 Doch den Höhepunkt ihrer Wirkungsgeschichte sollten
die Protocoles des Sages de Sion, die Grundbausteine des antisemitischen Diskur-
ses bereitstellten und weiter popularisierten, zwischen den Weltkriegen erreichen.
Wir können in der heutigen Epoche, in welcher Weltverschwörungsideologen
wieder eine starke Ausstrahlungskraft besitzen und die Köpfe vieler ‚Gläubi-
ger‘ nachhaltig verwirren, diese popularisierte Funktionsweise unbewiesener
Behauptungen, alternativer Fakten sowie erlogener Szenarien in der aktuellen
rechtsradikalen Szene sehr gut nachvollziehen. Selbst bei den professionellen
und finanziell übrigens sehr erfolgreichen Leugnern des Coronavirus sind an-
tisemitische Töne nicht zu überhören, haben Weltverschwörungen doch nicht
nur in Europa vornehmlich mit Juden ‚aus der internationalen Finanz‘ zu tun –
daran hat sich wenig geändert …
In Cohens Erzählung freilich haben wir keine offene Kommunikationssi-
tuation vor uns, wie diese zumindest theoretisch die sogenannten ‚sozialen Netz-
werke‘ bieten. Im Raum um den „camelot“ gibt es keinen Gegendiskurs, das Ich
ist dem – selbstverständlich – blonden Aggressor schutzlos preisgegeben. Die
historischen Hintergründe dieses Ereignisses, das den Kern des zum fünfzigsten
Geburtstag Albert Cohens erschienenen Jour de mes dix ans bildet, sind in den
Text eingeblendet und vermitteln ein antisemitisches Stimmungsbild jenes Mar-
seille, das sich im Jahr 1905 noch immer im ganz Frankreich erfassenden Strudel
der Dreyfus-Affäre befand. Der französische Fleckenmittelverkäufer vergisst in-
mitten der Gemeinplätze des antisemitischen Diskurses nicht, auf diese Tatsache
wirkungsvoll anzuspielen. Diese historische und mehr noch mentalitätsgeschicht-
liche Dimension wird in Ô vous, frères humains durch zusätzliche Details aus dem
damaligen Alltagsleben und Alltagsdiskurs noch verstärkt.
30 Ebda., S. 198.
31 Vgl. Battenberg, Friedrich: Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Min-
derheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas. Teilband 2. Darmstadt: Wissenschaftliche Buch-
gesellschaft 1990, S. 234 ff.
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 277
Für das Ich verändert die direkte Ansprache durch den „camelot“ mit
einem Schlag die Welt. Es ist die eigentliche Geburtsszene, die das Ich von
einem behüteten Drinnen in ein feindliches Draußen führt, das mit dem Hin-
und Her- Geworfen-Sein im Leben gleichgesetzt werden kann. Denn für den
völlig unvermittelt aus dem Kreis potentieller Käufer ausgeschlossenen Jungen
beginnt nun eine Bewegung, die durch mehrere Ruhepausen oder Haltestellen
zwar rhythmisiert wird, ihr (vorläufiges) Ende aber erst im letzten Abschnitt der
Erzählung („Allegro ma non troppo“) im Hause der Eltern finden wird.
Vor dem Zusammenstoß auf der Straße hatte der Ich-Erzähler an einem
Nachhilfekurs in der Schule teilgenommen, kam also aus einem geschlossenen,
geschützten und zugleich öffentlich-nationalen Raum, dessen Gemeinschafts-
struktur im Gegensatz zur offenen Straße nicht rein zufällig, sondern im Sinne
des republikanischen Bildungssystems von bestimmten Kriterien (wie Alter, Ge-
schlecht, Wohnort, Wissenstand, nicht aber von der Zugehörigkeit zu Religions-
gemeinschaften oder ethnischen Gruppen) bestimmt wird. Nun aber befindet
sich der Ich-Erzähler mitten im Leben und dem antisemitischen Fleckenmittel-
verkäufer ausgesetzt: Keine Mutter ist mehr da, die ihn vor den Angriffen des
„camelot“ schützen könnte.
Der Bewegung hin zu jenem Kreis, der sich um den Straßenhändler gebildet
hatte, folgt die entgegengesetzte Bewegung, die fremdbestimmt ist und den Jun-
gen aus der Gemeinschaft in die Gesellschaft wirft. Angelockt und verführt von
der Sprache des „camelot wird der des Französischen noch nicht ganz Mächtige
in eben dieser Sprache verjagt, die er so liebt und in welcher der Ich-Erzähler auf
der Ebene der Erzählzeit auch seinen literarischen Text verfasst. Die Sprache des
blonden Verkäufers ist auch die Sprache, deren sich erzähltes (oder erlebendes)
wie erzählendes Ich bedienen. Damit bildet sich im Französischen selbst eine
Bruchlinie aus, ist sie doch die Sprache des Eigenen und des Fremden zugleich;
jene Sprache, in welcher der von einer griechischen Insel nach Frankreich Im-
migrierte eine Gemeinschaft jenseits des Familienkreises aufzubauen geglaubt
hatte. Doch auch aus dieser schützenden sprachlichen Umgebung wird der
kleine zehnjährige Junge hinausgeschleudert in die ihm feindlich und ablehnend
begegnende Gesellschaft.
Das Französische selbst erweist sich als nicht homogen, sondern entpuppt
sich als von starken Rissen durchzogen. Der mündlichen beziehungsweise münd-
lich stilisierten Sprache des Straßenhändlers steht freilich eine andere Sprache
gegenüber, jene der französischen Literatur, die in ihrer Schriftlichkeit in Op-
position zur gefährlichen mündlichen Kommunikationssituation der Außen-
welt steht. Dies war bereits im ersten Abschnitt hinsichtlich des Gegensatzes
zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu beobachten gewesen. Die Lite-
ratursprache wird damit potentiell zur eigenen Ausdrucksform eines imaginä-
278 Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager
ren Innenraums, während das Französische der realen Außenwelt zur tenden-
ziell gefährlichen Fremd-Sprache wird, die in den Händen anderer liegt.
Die Reaktion des Protagonisten auf den verbalen (und nachfolgend auch
handgreiflichen) Angriff des blonden Franzosen mit Oberlippenbart ist ein
ebenso sprach- wie hilfloses Lächeln. Ihm steht das Lachen jener Menschen ge-
genüber, die unverzüglich eine Lücke bilden, um den ‚kleinen Aussätzigen‘,
den „lépreux“, wie es in Belle du Seigneur hieß, aus ihrer Gemeinschaft auszu-
stoßen. Augenblicklich findet eine sogar körperliche Veränderung statt, ver-
wandelt sich doch das „sourire d’enfant“ schlagartig in ein „sourire de bossu“,
das die antisemitischen Vorurteile, die sich an einem bestimmten Phänotyp
festmachen („je vois ça à ta gueule“) in eine neue, ‚jüdische‘ Körperlichkeit
übersetzen, indem der Junge spontan einen imaginären „Judenbuckel“ ausbil-
det. Die Metamorphose, die Verwandlung in einen Juden hat unter der Pression
der Anderen begonnen: Das Ich ist ins Leben und damit in die Gesellschaft ein-
getaucht und muss mit den antisemitischen Vorurteilen fertig werden.
Der Mythos setzt sich in Bewegung: Straßenhändler und Kind – beide greifen
sie auf Versatzstücke des kollektiven Gedächtnisses, auf das „imaginaire juif“
aus jeweils heterostereotyper und autostereotyper Perspektive zurück. Fremd-
und Selbstbild des Ausgestoßenen suchen in der interkulturellen Konfliktsitua-
tion nach neuen Räumen jenseits der an einem Zentrum orientierten Kreisstruk-
tur nur scheinbarer Gemeinschaft. Welche alternativen Räume kann das Kind
diesem Raumverlust entgegensetzen? Welche Räume der Gemeinschaft kann es
erzeugen, in welchen sich ein Wissen vom Überleben inmitten einer feindlichen
Gesellschaft verkörpern kann?
Der kleine Junge irrt durch die Straßen Marseilles und läuft wie ein Hund
die Mauern entlang, die seine Bewegungsrichtung vorgeben und von deren
Oberfläche der Zehnjährige abgewiesen wird. Es ist die ziellose Bewegung des
Einsamen in der Menge, die wir anhand Finkelsteins Herumirren im Salon be-
obachten konnten. Doch auf welche Weise konkretisiert sich in diesem Text das
Bewegungsbild des „juif errant“?
Ein erster Halt an einer Mauer zeigt, dass die Verwandlung nicht nur das
zehnjährige Kind, sondern auch seine Umgebung ‚infiziert‘, verwandelt sich
diese Mauer doch in seine erste Klagemauer – „mon premier mur des pleurs“.32
Damit setzt nicht nur eine Historisierung, sondern eine grundlegende Reseman-
tisierung der Umwelt ein, des ‚Außen‘, des Lebens in der Gesellschaft. Die Welt
wird von nun an vom Zehnjährigen mit neuen Augen gesehen: Es ist die Geburt
eines neuen Blicks auf die Dinge, die nicht mehr vertraut sind, sondern ihre
33 Ebda., S. 194.
280 Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager
sel zwischen dritter und erster Person bringt auch in diesem Abschnitt unter
dem Titel „Youpin, me répétais-je“ keine Aussicht auf Lösung. Ein inneres
Zwiegespräch tritt an die Stelle dieses Wechsels, ohne jedoch der gesuchten
‚Wahrheit‘ näherzukommen. Dem Spielen mit den eigenen Haarlocken, dem
stupiden Wiederholen der Anklage des blonden Franzosen, aber auch eines
„Vive la France“ oder Schokoladewerbespruchs folgen schließlich „de petites
comédies funèbres“:34 kleine Trauerkomödien, die der Junge mit den fünf Fin-
gern einer Hand aufführt.
Ich greife im Folgenden zurück auf die Textfassung von Ô vous, frères hu-
mains, also die Umarbeitung von Jour de mes dix ans, um ihnen jene Szene dar-
zustellen, in welcher der Junge – auf dem Zementboden des Bahnhofsklos
eingeschlossen – in dem, was er sein Konzentrationslager en miniature nennt,
gegen den Schock anzukämpfen sucht. Ich übersetze Ihnen diese Passage
gleich:
Um die Zeit totzuschlagen oder um mir selbst Gesellschaft zu leisten, führte ich kleine
Trauerkomödien (comédies funèbres) auf, mit den Fingern meiner rechten Hand, meinen
fünf Marionetten. So vollführt man kleine Absurditäten während eines Unglücks, das
habe ich an meinem zehnten Geburtstag gelernt. [...]
Ja, die Menschen brauchen das, sich während eines Unglücks ein wenig zu beschäf-
tigen. Während eines Unglücks, wenn sie ganz alleine sind, haben die Menschen, die
armen Menschen, seltsame kleine Beschäftigungen, haben ein Bedürfnis danach, wun-
derliche Worte zu sagen oder ein Stückchen eines Gedichts ständig wiederzukäuen [...],
vielleicht um das Unglück mit Worten oder Gesten zu verdecken, um es mit einem Vor-
hang aus kleinen unnützen Beschäftigungen zu verdecken, um nicht den Abgrund des
Unglücks zu erblicken, vielleicht um die Existenz des Unglücks zu leugnen, um es mit
Worten oder Gesten zu leugnen, die einfach und normal sind, um es mit dem Gewohnten
und nicht Katastrophalen zu leugnen, vielleicht um eine Magie zu vollführen, um ein klei-
nes Holocaust am Unglück zu vollziehen und es zu beschwören, vielleicht um das Un-
glück mit Worten oder Gesten zu täuschen [...].35
Damit erfolgt erstmals ein Übergang von der Repetition zur Repräsentation, die
einen neuen Raum des Verstehens, einen neuen hermeneutisch-literarischen
Raum für den Jungen eröffnet. Auch wenn im Erzählerdiskurs dieser Übergang
überspielt wird – diene all dies doch nur dazu, sich mit Hilfe einiger Worte und
Gesten zu beruhigen und einzulullen –, so taucht in dieser Schlüsselpassage
gleichwohl die Kernformel einer Begründung schöpferischen Tuns auf, die wir
gleich im ersten Satz des Textes („Page blanche, ma consolation“) kennenge-
lernt hatten. Diese Kernformel lautet: „peut-être simplement et piteusement
34 Ebda., S. 196.
35 Cohen, Albert: Ô vous, frères humains. Paris: Gallimard 1980, S. 56 f.
282 Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager
Ging ich ans Ufer des Meeres, so war ich sicher, dass dieses Mittelmeer, das ich sah, sich
auch in meinem Kopf befand, nicht das Bild des Mittelmeeres, sondern dieses Mittelmeer
selbst, winzig und salzig, in meinem Kopf, miniaturartig aber wahr und mit all seinen
Fischen, wenn auch ganz kleinen, mit all seinen Wellen und einer kleinen sengenden
Sonne, ein wahres Meer mit all seinen Felsen und all seinen Schiffen absolut vollständig
in meinem Kopf, mit Kohlen und lebendigen Matrosen, jedes Schiff mit demselben Kapi-
tän wie das große Schiff da draußen, derselbe Kapitän aber sehr zwergenhaft, und man
könnte ihn berühren, hätte man Finger, die fein und klein genug wären. Ich war sicher,
dass es in meinem Kopf, dem Zirkus der Welt, die wahre Erde mit ihren Wäldern gab, mit
allen Pferden der Erde, aber so klein, allen Königen in Fleisch und Blut, allen Toten, den
ganzen Himmel mit seinen Sternen und sogar Gott, extrem klein und zierlich. Und all das
glaube ich noch immer ein bisschen, aber pssst.38
Die Verlagerung der Außenwelt in den Innenraum des Kopfes erzeugt eine Ver-
doppelung der Welt, die im schreibenden Ich selbst en miniature verortet wird.
Diese Welt im Miniaturformat erinnert ebenso an Vorstellungen der christlichen
36 Ebda.
37 Cohen, Albert: Mangeclous, S. 672.
38 Cohen, Albert: Jour de mes dix ans, S. 196 f.
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 283
Mystik und jüdischen Kabbala wie – in neuerer Zeit – an die Fiktionen und El
Aleph eines Jorge Luis Borges, der sich ebenfalls beider Quellen bediente. Es
gibt meines Wissens freilich keinerlei Hinweise, die darauf deuten könnten,
dass Albert Cohen den großen argentinischen Schriftsteller gekannt und gele-
sen haben könnte.
Alles ist im Innenraum des Ich präsent und allgegenwärtig. Und das Motiv
des Spiegels oder der Spiegelung öffnet sich auf diesen Innenraum, in welchem
ein Fingerspiel die einzelnen Figuren zu berühren und zu bewegen vermag. Zu-
gleich ist dieser Innenraum wie schon der Bahnhofsabort eine Miniaturwelt,
die überdies den Schöpfergott enthält. Damit ist Gott – „extrêmement petit et
mignon“ – unschädlich gemacht. Er wird zu einer harmlosen Fingerpuppenfi-
gur im Innenraum des menschlichen Demiurgen.
Gleichzeitig öffnet sich der Raum auf das Mittelmeer hin und schließt unter
Vermittlung der Schiffe und ihrer Bewegungen implizit auch jene Inselwelt mit
ein, der das Ich entstammt. In der Endlichkeit des körperlichen Innenraums ist
die Unendlichkeit des kosmischen Außenraums enthalten, kleiner zwar, aber
nicht weniger ‚wahr‘. Der Vergleich mit einem Buch drängt sich auf, das in sei-
ner räumlich begrenzten Endlichkeit ebenfalls die Unendlichkeit allein schon
an intertextuellen Relationen enthält. Die außerhalbbefindliche Realität kann
keinen übergeordneten Wahrheitsanspruch geltend machen, sind ihre Gegen-
stände und Kreaturen, ja ist selbst ihre transzendente Begründung doch alle-
samt im Kopf eines Kindes enthalten und aufgehoben – einschließlich einer
kleinen, aber sengenden Sonne, die über diesem Mittelmeer brennt.
Albert Cohen hat die oben zitierte Passage mit minimalen Veränderungen
in das fünfte Kapitel seines Buchs Le livre de ma mère einmontiert,39 mit dem er
1954, ein gutes Jahrzehnt nach ihrem Tod in Marseille, seiner Mutter wie seiner
Mutterliebe ein literarisches Denkmal setzte. Wir dürfen daraus einerseits ablei-
ten, dass das in den Innenraum des eigenen Kopfes übernommene Meer („la
mer“) sehr wohl mit der Mutter („la mère“) in Verbindung gebracht werden
darf, war sie es doch, die zumindest als literarische Figur dem Jungen am Ufer
riet, nur immer kräftig die Meeresluft einzuatmen40 und – so dürfen wir hinzu-
fügen – damit in sich aufzunehmen. Andererseits aber macht diese von Cohen
39 Cohen, Albert: Le livre de ma mère, in (ders.): Œuvres, S. 714 f; hierauf macht auch Denise
Goitein-Galperin: Visage de mon peuple, S. 18 f. aufmerksam.
40 Cohen, Albert: Le livre de ma mère, S. 718: „elle me disait de bien respirer l’air de la mer,
de faire une provision d’air pur pour toute la semaine. J’obéissais, tout aussi nigaud qu’elle.
Les consommateurs regardaient ce petit imbécile qui ouvrait consciencieusement la bouche
toute grande pour bien avaler l’air de la Méditerranée.“
284 Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager
Epos findet.41 Jour de mes dix ans ist der eigentliche Brennspiegel eines großar-
tigen literarischen Oeuvre, dessen Energielinien sich in diesem kleinen, am
Ausgang einer schrecklichen historischen Erfahrung verfassten friktionalen42
Text bündeln.
In der Rückschau des Ich-Erzählers tut sich gleich im nachfolgenden Ab-
schnitt „Mon petit autel à la France“ ein weiterer Innenraum auf, den Cohen im
Übrigen ebenfalls in das fünfte Kapitel von Le livre de ma mère aufnehmen
sollte, womit die autobiographischen, literarischen und intratextuellen Bezie-
hungen zwischen Mutter und Sohn zusätzlich gestärkt wurden. In seinem Kin-
derzimmer in der elterlichen Wohnung hat der Junge in einem abschließbaren
Schrank einen Frankreich gewidmeten Altar eingerichtet, „une sainte exposi-
tion enfantine“, „un reposoir, une crèche patriotique, une sorte de reliquaire
des gloires de la France“.43
Dies ist der sakrosankte Ort einer patriotischen Verherrlichung Frankreichs
inmitten all der Bedrohungen, denen der Junge doch in und von der französi-
schen Gesellschaft in den Zeiten der Dreyfus-Affäre ausgesetzt ist. Seine Vereh-
rung für das von ihm glorifizierte Land ist trotz allem ungebrochen. Wem aber
gilt diese Verehrung eines kleinen jüdischen Jungen? Neben allerlei patrioti-
schen Ikonen und heroischen Erinnerungen enthält dieser Altar auch eine
Reihe von Reliquien: „Die Reliquien bestanden ganz durcheinander aus Por-
traits von Racine, von La Fontaine, von Corneille, von Jeanne d’Arc, von Du-
guesclin, von Napoleon, von Pasteur, von Montaigne, natürlich von Jules Verne
und selbst von Louis Boussenard.“44
Hier sollen uns weniger die Namen interessieren als die Struktur dieses An-
betungsraumes, der für die kindliche Imagination des Jungen so wichtig ist. In
diesem zweifachen Innenraum wird gleichsam ein kulturelles Gedächtnis aufbe-
wahrt. Es erlaubt dem Kind, das diesen Raum selbst vor seinen Eltern schützt,
nur bei abgeschlossener Zimmertür betrachtet und ansonsten doppelt abschließt,
sich das Fremde anzueignen und in das Eigene zu verwandeln, indem dieses
Fremde sakralisiert und damit unantastbar gemacht wird. Das für das Geburts-
41 Vgl. hierzu die Trilogie von Ette, Ottmar: ÜberLebensWissen I–III. Drei Bände im Schuber.
Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004–2010.
42 Zum Begriff des zwischen Fiktion und Diktion unaufhörlich oszillierenden friktionalen Text
vgl. Ette, Ottmar: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Verlag 22007, S. 308–312.
43 Cohen, Albert: Jour de mes dix ans, S. 197.
44 Ebda.: „Les reliques étaient hétéroclitement des portraits de Racine, de La Fontaine, de
Corneille, de Jeanne d’Arc, de Duguesclin, de Napoléon, de Pasteur, de Montaigne, de Jules
Verne naturellement et même de Louis Boussenard.“
286 Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager
tagskind Allerheiligste kann mit niemandem geteilt werden und wird selbst vor
den Eltern verborgen.
Angesichts der damaligen französischen Schulausbildung dominiert kei-
neswegs überraschend unter den Reliquien offenkundig der Anteil der Litera-
ten, die eine literarische, schriftkulturelle Tradition verkörpern, in welche sich
der jüdische Erzähler später einschreiben wird. Der Mangel eines eigenen natio-
nalen Gedächtnisses macht die Proliferation nationalkultureller Zeichen not-
wendig. Deren heteroklite Zusammensetzung täuscht nicht darüber hinweg,
dass sie dem Assimilationsgebot einer sich als homogen darstellenden Natio-
nalkultur gehorchen und für eine territorial errichtete Identität als Nation ein-
stehen, der sich der Junge zugehörig fühlt. Dies belegen auch die kleinen
Säckchen, die er von einem französischen Mitschüler abkaufte und die Erde
aus den französischen Kolonien beinhalten sollen. Auch sie bilden Bestandteile
dieses vaterländischen Altars, der selbstverständlich auch die französischen
Kolonialgebiete noch in das Territoriale miteinschließt.
Die religiöse Sprache verweist dabei ohne Zweifel auf die Tatsache, dass
der kleine Junge die ursprüngliche religiöse Prägung durch eine Sakralisierung
des Profanen zu überdecken sucht, so dass die identifikatorische Ausrichtung
an Frankreich, jenem Land, in das sich die Familie geflüchtet hatte, unantast-
bar wird. Der Ausschluss der Eltern deutet an, dass die familiär ererbte, gleich-
sam genetisch vermittelte kulturelle Tradition auf dem Altar der Kultur einer
anderen nationalen Gemeinschaft geopfert werden soll.
Auch mit Blick auf diesen Zusammenhang ist der Innenraum, der Reliqui-
enschrein, vorwiegend literarisch und schriftkulturell geprägt. Es verwundert
nicht, dass im Herzen dieses Schreins sich auch ein Gedicht des Erzählers fin-
det, ebenfalls in Miniaturausführung: „Contre un tout petit coquetier orné d’un
poussin funèbre et de vague aspect rabbinique, il y avait une poésie naine de
moi à la France.“45 Damit schreibt sich das Ich prospektiv als Schriftsteller in
eine Auflistung großer Autorennamen Frankreichs ein, ganz so, wie Albert
Cohen später in die Reihe großer französischer Autoren integriert wurde, seine
Pléiade-Ausgabe erhielt und sogar von Staatspräsident Mitterrand persönlich
für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen wurde.
Neben den nicht völlig ausgelöschten Spuren einer südlichen Inselwelt
und der eigenen jüdischen Herkunft findet sich zugleich ein erstes literarisches
(Er-) Zeugnis des künftigen Dichters und Erzählers in französischer Sprache –
jener Sprache, die im Hause Coen nicht gesprochen wurde. Es steht für eine li-
terarische Aktivität im Kontext einer kulturellen Assimilation, die neue Werte-
45 Ebda., S. 198.
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 287
hierarchien aufzurichten bestrebt ist und die darauf abzielt, sich möglichst voll-
ständig zu integrieren.
Zwei weitere Raumstrukturen schließen die Erinnerungen des Ich-Erzählers
an die Zeit vor dem „jour du camelot“ ab. Es sind Erinnerungen an eine Epoche,
die nun schon bald weit entrückt scheint, die gleichsam vor der erneuten Ge-
burt des Jungen liegt. Beide Erinnerungsfragmente sind eng miteinander ver-
bunden. Denn der damals Sechsjährige, dessen Eltern arm waren und schon
frühmorgens zur Arbeit gingen, musste immer alleine aufstehen, um wiederum
alleine in eine „petite école de sœurs catholiques“, in eine kleine Schule katho-
lischer Nonnen zu gehen, in der ihn seine Eltern untergebracht hatten.46 Dieses
Detail ist durchaus repräsentativ für viele jüdische Eltern, die zur Zeit der Drey-
fus-Affäre oftmals versuchten, ihre Kinder in katholischen Institutionen und In-
stituten ‚sicher‘ unterzubringen und dadurch vor jeglichen Verfolgungen zu
schützen.
Doch die Einsamkeit geht stets mit dem Gefühl des Ungeschütztseins ein-
her. Der Junge besitzt für die Wohnung noch keinen Schlüssel und legt sich auf
seine Eltern wartend abends vor die Wohnungstür, wobei ihm die unfreundli-
chen Mitbewohner des Hauses mit ihren Flüchen und Beschimpfungen Angst
einflößen. Diesem letztlich nicht frei zugänglichen Innenraum ist auch der In-
nenraum der Schule zugeordnet, die im Gegensatz zur laizistischen Schule weni-
ger die Nationalkultur als eine katholisch fundierte Kultur des guten Benehmens
und der (etwa beim Gehen des Jungen von Schülern anderer Schulen bemerkten)
Körperkontrolle zu vermitteln sucht. Hier wird das Kind vielleicht zum ersten Mal
mit der Problematik einer als essentiell und unveränderbar verstandenen Anders-
heit des eigenen Ich konfrontiert.
Denn die „Mère Supérieure“ – eine Anekdote, die noch der alte Cohen bei
Interviews genüsslich und fast wortidentisch zu erzählen liebte – hatte eine
sehr ambivalente Vorliebe für den Jungen, in welcher bereits die Kippfigur von
Auserwähltsein und Ausgestoßensein zum Ausdruck kommt: „Oh, die Schwes-
ter Oberin, für die ich eine respektvolle Flamme nährte, seufzte, wenn sie
meine braunen Locken sah, und murmelte, wie schade es doch sei, womit sie
auf meine jüdische Abkunft und Stammeszugehörigkeit anspielte.“47
In dieser Szene wird zugleich erstmals das Thema Liebe zwischen einem
jüdischen Mann und einer christlichen Frau eingeführt, das für alle Romane Al-
bert Cohens (und auch für einen großen Teil seiner eigenen Biographie) grund-
46 Ebda.
47 Ebda., S. 199: „Oui, la Mère Supérieure, pour laquelle je nourrissais une respectueuse
flamme, soupirait en regardant mes boucles brunes et murmurait que c’était dommage, faisant
allusion à ma juive ascendance et tribu.“
288 Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager
legend war. Diesen Aspekt wird Cohen in Ô vous, frères humains mit Hilfe der
Figur der Viviane deutlich verstärken und akzentuieren. Mit diesem hübschen
christlichen Mädchen ist das Ich nach einem Erdbeben in einem Keller in Mar-
seille eingeschlossen. So führt das Paar ein von der Außenwelt völlig abgeschlos-
senes Leben, in das Cohen nicht nur charakteristische Züge des Zusammenlebens
von Solal und Ariane, sondern auch der in einem Keller Berlins vor den Nazi-
Schergen verborgenen jüdischen Zwergin Rachel einbaut. Die Problematik einer
heterosexuellen und interkulturellen Liebesbeziehung,48 die schon in Solal meis-
terhaft ausgeführt worden war, findet sich in Jour de mes dix ans zusätzlich rück-
gebunden an die Figur einer Oberin, einer Übermutter, einer „Mère Supérieure“.
Von ihr ist der kleine Junge jedoch unwiderruflich wie durch ein Inzesttabu ge-
trennt: Es ist eine Liebe, die nicht zur Erfüllung führen kann.
Nicht alle Innenräume sind – wie wir sehen – geeignet, dem kleinen Jun-
gen einen eigenen Platz innerhalb eines komplexen interkulturellen Geflechts
zur eigenen Ausgestaltung in Harmonie mit einer größeren sozialen Gruppe,
den überwiegend katholischen Franzosen, anzubieten. Auch die Bahnhofstoi-
lette hatte für teures Geld nur einen vorübergehenden Schutz geboten: Von
einer über die lange Aufenthaltsdauer erbosten Toilettenfrau wurde der Junge
bald wieder vertrieben. Zuvor aber verwandelte er die Wände dieses Innenrau-
mes in Schreibflächen, in Projektionsflächen seiner Wünsche nach Integration
und Harmonie: „Mort à la haine“, „Vive la bonté“ oder „Aimez-vous les uns les
autres“ werden zum hilflosen Ausdruck seines verzweifelten Willens, die Idee
der Gemeinschaft nicht aufzugeben, über die jeweiligen Einzelkulturen hinaus-
reichende Werte zu finden und diese nicht nur zu versprachlichen, sondern
schriftlich festzuhalten: Tod dem Hass! Es lebe die Großherzigkeit! Liebet Euch!
Dies schreibt der kleine zehnjährige Junge an die Wände seines Miniatur-
Konzentrationslagers.
Das Transitorische dieses Innenraums wird zur Voraussetzung für eine mög-
liche Lektüre durch andere Menschen, für eine zeitversetzte schriftliche Kommu-
nikation, die an die Stelle einer „Communion“ tritt, eines Gesprächs von Angesicht
zu Angesicht. An sie knüpft das erzählende Ich freilich ebenso wenig Hoffnun-
gen auf eine menschenverbessernde Wirkung wie hinsichtlich der Rezeption
des von ihm verfassten Textes Jour de mes dix ans selbst. Das Transitorische
dieses „schwarzen Lochs“, wie der Erzähler die Toilette zunächst nennt, unter-
streicht aber umgekehrt einmal mehr, dass dieser Raum nicht zu einem Ort des
48 Auch aus dieser Perspektive erweist sich die Position des assimilierten Juden in Bene-
dettis Salon als diagonal entgegengesetzt: Seine Liebesbeziehungen sind homosexuell und
monokulturell.
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 289
Eigenen werden, vom Eigenen folglich positiv nicht besetzt werden kann. Eine
Vertreibung ist im Übrigen unausweichlich.
So muss der kleine jüdische Junge die Bahnhofstoilette wieder verlassen.
Damit setzt eine ziellose Bewegung ein, die vom Erzähler historisch überhöht
und – wie schon im Falle der „Klagemauer“ – in eine kollektive Geschichte
überführt und dergestalt kulturell umkodiert wird. Die kleine Geschichte wird
damit zum Teil der Geschichte, deren Kollektivsingular dem Geschehen aus
Sicht des erzählenden Ich einen unverkennbaren, eindeutigen Sinn gibt: „Ich
lief. Mein ererbtes Umherirren hatte begonnen.“49 Dem Erben wird nicht ein
Erbe zuteil, er wird von diesem Erbe offenkundig geerbt.
Damit gewinnen zumindest auf Ebene des Erzählerkommentars die ererb-
ten kulturellen Traditionen die Oberhand über die nicht zuletzt literarisch ver-
mittelten Traditionslinien einer erhofften Assimilation. Es scheint, als ob die
ererbte Kultur und Gemeinschaft erst durch die konfrontative Auseinanderset-
zung mit der Kultur der Anderen aktualisiert und ins eigene Bewusstsein gehoben
würde. Der Verwandlung in den „juif“, der Geburt als Jude, folgt die Metamor-
phose in einen „juif errant“ buchstäblich auf dem Fuße. Und das Ich setzt sich
bald schon nach seiner zweiten Geburt in Bewegung, beginnt seine lange Reise
als Jude und wird sich der jüdischen Dimensionen eines Lebenswissens gewahr,
das nun auf ihn einströmt. Es wird vom Erbe geerbt.
Charakteristischerweise wird erst jetzt, in Umkehrung des eigenen liebesu-
chenden Schreibens auf die Wand, die hasserfüllte Schrift auf den Mauern
sichtbar, die von nun an den Ewigen Juden verfolgt: „Mort aux Juifs.“ Das
Thema der eigenen Geburt, des Jour de mes dix ans, wird kontrapunktisch mit
dem Todeswunsch der Anderen verbunden und leitmotivisch mit der Geburt
zum Juden vermittelt. In Cohens Roman Mangeclous wird der gesellschaftlich
so erfolgreiche Solal selbst als Untergeneralsekretär des Völkerbundes ständig
von dieser Inschrift verfolgt, so etwa auch auf dem Weg des Erfolgverwöhnten
in sein glamouröses Genfer Appartement im Ritz: „Mit den Haaren im Wind
ging er rasch die traurige Rue des Pâquis entlang, die von bleichen Lampen,
die an einem Draht baumelten, in eine milchige Gipsfarbe getaucht wurde.
Nach einem messerscharfen Blick auf eine Mauer, wo mit Kreide eine Beleidi-
gung für die Juden geschmiert war, ging er in eine Bar. Am Tresen stehend
stürzte er rasch hintereinander und voller Abscheu vier Gläser in sich hinein.“50
49 Cohen, Albert: Jour de mes dix ans, S. 287: „J’allai. Mon héréditaire errance avait commencé.“
50 Cohen, Albert: Mangeclous, S. 583: „Cheveux au vent, il allait rapidement le long de la
triste rue des Pâquis que de pâles ampoules, pendues à un fil, badigeonnaient de lait frelaté.
Après un coup d’œil en stylet sur un mur où était tracée à la craie une injure aux Juifs, il entra
dans un bar. Debout devant le comptoir, il but quatre verres, coup sur coup et avec dégoût.“
290 Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager
Schon den kleinen Jungen springt diese Inschrift urplötzlich und dann immer
wieder von neuem an: Der Kampf um das geschriebene Wort hat begonnen.
Alle in der Folge unternommenen Versuche mündlicher Kommunikation
mit den ‚Anderen‘, mit jenen, die ihren Platz in der Gesellschaft haben, schei-
tern und unterbrechen nur kurzfristig ein nunmehr zielloses Herumirren im Ge-
wirr der Straßen Marseilles. Die Stadt wird zum Ort der „errance“. Wahrhaft
menschliche Kommunikation scheint auf offener Straße unmöglich: Eine Kluft
hat sich zwischen dem umherirrenden Ich und den ‚Anderen‘ aufgetan. Diese
Kluft zum „Nonjuif“,51 zum Nichtjuden, scheint unüberbrückbar, essentiell und
für jedermann erkennbar zu sein.
Auch die Lektüre eines Dreigroschenromans oder einer Zeitung kann die
Einsamkeit und Kommunikationslosigkeit nicht dauerhaft aufheben: nicht ein-
mal in seiner „errance“ hält das beim Gehen lesende Ich inne, es ist unaufhör-
lich in Bewegung. Einzig ein altes Pferd wird dem herumirrenden Jungen
Verständnis signalisieren und als Verkörperung kreatürlicher Weisheit ein of-
fenes Ohr für seine sich bald schon äußernden messianischen Vorstellungen
haben. Ausgeschlossensein und Auserwähltsein gehen ihre ererbte Verbin-
dung ein: Das Ich ist nicht von seiner physischen, ersten Geburt an ein Jude,
aber wird es definitiv mit der zweiten. In Abwandlung eines berühmten Sat-
zes, der seine damalige existenzielle Wirkung nicht verfehlte, könnte man for-
mulieren: Man wird nicht als Jude geboren, man wird es.
Das Ich ist in unterschiedliche Kommunikationsbereiche eingespannt. Die
zentrale Problematik der Kommunikationssuche verlagert sich zunehmend von
der Ebene der erzählten Zeit auf die Ebene der Erzählzeit. Immer wieder werden
direkte Appelle an einen Teil der schon im ersten Abschnitt eingeführten Zuhö-
rerschaft eingebaut – an die Antisemiten. Ihnen schließen sich weitere Apelle,
ja Drohungen an die „générations européennes“ an, die der Erzähler mit der
Geste des in der dritten Person Singular evozierten Kindes konfrontiert, das
hilflos und prophetisch zugleich mit dem ausgestrecktem „index accusateur“,
dem anklagenden Zeigefinger (mit dem der Junge zuvor selbst den Todes-
wunsch der Antisemiten in die Luft gemalt hatte) auf die Schrift an der Wand,
auf das „Mort aux Juifs“ an der Mauer weist52.
Der Geste des Anklagens antwortet keine Formulierung einer Begründung.
Alles versteht sich wie von selbst. Auf Ebene der erzählten Zeit erzeugt die Un-
möglichkeit menschlicher, brüderlicher Kommunikation die Übernahme des anti-
semitischen Todeswunsches, der zum Gedanken an Selbstmord beziehungsweise
51 Ebda., S. 290.
52 Ebda., S. 291.
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 291
die Hoffnung darauf gerinnt, sein Vater könne ihm längeres Leiden durch mensch-
liches Töten ersparen, und schließlich im Wunsch nach einem Freitod in Gemein-
schaft mit seinen Eltern gipfelt. Damit ist der antisemitische Mechanismus seinem
Ziel schon nahe gekommen: Das Konzentrationslager hat, so scheint es, auch als
Miniatur-KZ seine Wirkung erreicht – das kollektive Verschwinden der Juden zu
bewerkstelligen.
Genau an dieser Stelle kippt Cohens literarisch raffiniert gestaltete Erzäh-
lung. Denn aus dem Ausgestoßenen wird endgültig der Auserwählte. Es ist der
eher beiläufige, dann bewusst wiederholte, ja zelebrierte Blick in den Spiegel
eines Juweliers – und wieder wird der Blick in den Spiegel zum Auslöser eines
Erkenntnisprozesses: „Plötzlich erkannte ich mich im Spiegel eines Juwelierla-
dens wieder, und ich hielt an und blickte mich erneut an, und ich verspürte ein
Erzittern, und als eine Ehrung meiner selbst führte ich meine Hand an meine
Lippen und ich hatte ein flüchtiges und bizarres Lächeln, das scheu war und
verschlagen, leicht, zitternd, ruhmreich.“53 Das Element des in der Handgeste
verkörperten Rituell-Religiösen ist an dieser Stelle des „récit“ unverkennbar,
war aber in der gesamten Narration bereits durch das Motiv der Kerzen des Ge-
burtstagsfestes oder auch durch den patriotischen Altar des Jungen latent in
den Text eingeführt worden. Es ist eine Geste, die sich selbst zum sakrosankten
Ausdruck einer anderen, nicht-christlichen Religion stilisiert und das eben
noch verfolgte jüdische Ich über seine Umgebung hebt.
Eine dritte Verwandlung hat stattgefunden: War aus dem unbewusst die
kulturelle Assimilation suchenden Schuljungen zunächst ein Jude in den Augen
der anderen und danach ein Topos in Bewegung geworden, ein „juif errant“, so
wird aus diesem von fremden Augen diskriminierten Juden, der sich selbst mit
eigenen Augen betrachtet und als Jude (wieder-)erkennt und anerkennt, ein Aus-
erwählter. Damit wird die Spiegelung auf Ebene der Erzählzeit – gleich zu Beginn
der Erzählung hatten wir „cet homme dans la glace que je regarde“ kennenge-
lernt – eine Spiegelung auf der Ebene der erzählten Zeit gegenübergestellt. In
diesem Sinne könnten wir formulieren, dass Cohens Erzähltext buchstäblich
spiegelsymmetrisch wird. Das Ich erfährt sich selbst als Ganzheit und sieht sich
nicht mehr nur in fremden, abweisenden Augen, in den Pupillen der Anderen als
„kleine Puppe“ gespiegelt. Nichts anderes will der sprachliche Ausdruck „Pu-
pille“ sagen.
Dieses Ich gibt sich messianische Züge, imaginiert sich als „prince de
l’exil“,54 als Prinz des Exils, womit just jene Formulierung aufgenommen wird,
mit der sich Solal im ersten, fünfzehn Jahre zuvor erschienenen Roman des Zy-
klus identifizierte. Ging ein mythischer Solal mit seinem Schimmel am Ende
des Romans von 1930 „vers demain et sa merveilleuse défaite“,55 also dem Mor-
gen und seiner wunderbaren Niederlage entgegen, so geht das zehnjährige
Kind gefolgt von seinem Schimmel und wie Solal von den Menschen verspottet
in der Manier eines Königs seiner Niederlage entgegen: „promis à la défaite,
royal.“56
Die intratextuellen Zitate und Verweissysteme sind evident und häufen
sich gerade in den Schlusspassagen von Jour de mes dix ans. Daraus resultiert
nicht nur die bereits beobachtete positive Umwertung des Ich-Erzählers, son-
dern zugleich auch auf der intratextuellen Ebene eine Hommage an das bereits
publizierte Werk unseres Autors, der sich gleichsam im Spiegel seiner Schriften
wiedererkennt und grüßt. Im Spiegel des Narziss spiegeln sich die verschiede-
nen Roman- und Autorfiguren, die Albert Cohen bis zu diesem Zeitpunkt ge-
schaffen hat: Die Passage ist offenkundig stark autoreferentiell. Eine Identität
ist gefunden, doch ist sie vielfältig in sich gebrochen, heterogen und bizarr wie
das Lächeln des Ich, wie das Lächeln von Solal, wie das Lächeln Albert Cohens.
Damit ist gewiss keine Atmosphäre des Ausgleichs, keine dialektische Vermitt-
lung von ‚Innen‘ und ‚Außen‘, kein Zustand von Harmonie und Integration er-
reicht. Die Erzählung ist noch nicht zu ihrem Ende gekommen.
Der Ausgestoßene ist zum Auserwählten geworden, ohne jedoch seinen
Status als Ausgestoßener zu verlieren. Das französische Schulkind ist zum
Juden geworden, das sich ein eigenes Hebräisch erfinden muss, um seine Peini-
ger im Namen Israels und mit der Geste des Erlösers segnen zu können. Dabei
wird für den eigentlich seinen zehnten Geburtstag feiernden Jungen seine
Schulmappe wie einst für Moses zur Gesetzestafel, zum Verzeichnis der wich-
tigsten Werte des eigenen Glaubens. Plötzlich ist Jesus an seiner Seite: „Jesus,
der geborene Jude, der wie ich ist und der es mir wiederholte, Jesus von meiner
Rasse, und seine Getreuen feierten noch den Jahrestag seiner Beschneidung am
ersten Januartage.“57
Eines der wichtigsten Argumente jüdischen Glaubens in der Auseinander-
setzung mit dem Christentum wird deutlich erkennbar. Die radikale Grenzzie-
54 Ebda., S. 292.
55 Cohen, Albert: Solal. In (ders.): Œuvres, S. 360.
56 Cohen, Albert: Jour de mes dix ans, S. 293.
57 Ebda., S. 294: „Jésus né Juif comme moi et qui me le répétait, Jésus de ma race, et Ses fidè-
les fêtaient encore l’anniversaire de Sa circoncision le premier jour de janvier.“
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 293
hung, die Christen und Juden klar zu trennen scheint, erweist sich als durchläs-
sig, in der christlichen Erlöserfigur selbst erscheint (wieder) der Jude: Die Hyb-
ridität der Kulturen und Religionen wird sichtbar. Damit ergibt sich aber auch
ein gemeinsamer Raum, der am Ende dieser autobiographischen Erzählung
steht; ein Raum, der be-schrieben werden kann, weil er die Glätte der vertikalen
Oberfläche einer Mauer, auf der „Mort aux juifs“ steht, verloren hat. Ein imagi-
närer Moses, die Zehn Gebote in die Höhe haltend, geht beiden Erlöserfiguren
voraus, bis eine Prostituierte den kleinen Jungen anspricht und nach Hause
schickt: Mitternacht ist vorbei und damit auch der zehnte Geburtstag des Kin-
des. Der Geburtsvorgang ist abgeschlossen.
Der letzte Abschnitt des Textes bleibt dem Ende der „errance“ und der
Rückkehr in die elterliche Wohnung vorbehalten: „ô doux ghetto privé de mon
enfance morte“58 – oh du süßes privates Ghetto meiner toten Kindheit. Mit die-
sen Worten kehrt das Ich, dessen Geburtstag zugleich für den Tod der eigenen
Kindheit und die Geburt einer gewiss prekären, hybriden jüdischen Identitäts-
konstruktion steht, in die elterliche Wohnung, in einen schützenden Innenraum
zurück. Dieser schützende elterliche und vor allem mütterliche Innenraum
spannt in Opposition zum feindlichen Außen, aber auch zum „champ de con-
centration en miniature“ einen kulturellen Raum auf, der ein Hort der eigenen
jüdischen Kultur ist und jenen Raum vorwegnimmt, in dem der Ich-Erzähler
im Angesicht seines Spiegelbildes die soeben gelesene Geschichte seiner indi-
viduellen wie kollektiven Identitätsbildung niedergeschrieben hat.
Dabei lässt der Ich-Erzähler keinen Zweifel daran, dass es sich bei dieser
Erzählung um keine Geschichte aus einem Konzentrationslager handelt:
Gewiss, Ihr Antisemiten und zarten Seelen, gewiss, die Geschichte, die ich erzählt habe,
ist keine Geschichte aus einem Konzentrationslager, und ich habe auch nicht körperlich
gelitten an meinem zehnten Geburtstag, am Tag meiner ersten zehn Jahre. Gewiss, man
hat seitdem Fortschritte gemacht. Gewiss, der Fleckenverkäufer hat lediglich dafür ge-
sorgt, dass ein kleines Kind sich schämte, hat es nur in Kenntnis seines infamen Zustands
gesetzt. Gewiss, er hat es nur von seiner Sünde überzeugt, überhaupt geboren zu sein,
einer Sünde, die alle Verdächtigungen und allen Hass verdient.59
Mit diesen Aussagen wird freilich nichts relativiert. Denn ohne diesen Fleckenver-
käufer und seine Angehörigen im Geiste, so der Erzähler, hätte es die Gaskammern
in Deutschland nicht gegeben, wären die Konzentrations- und Vernichtungslager
nicht gebaut und betrieben worden. Der Ich-Erzähler kann hiergegen nur seine Ge-
schichte setzen – und seinen abschließenden feierlichen Appell, keine Bruderliebe
58 Ebda.
59 Cohen, Albert: O vous, frères humains, S. 201.
294 Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager
vorzugaukeln, weil diese stets falsch sei, aber zumindest die Juden nicht länger zu
hassen, seien doch alle Menschen gleichermaßen zum Leiden und zum Tode be-
stimmt. Denn vor diesem erscheinen alle Menschen gleich, unabhängig von ihren
jeweiligen komplexen Zugehörigkeiten.
Die Verknüpfung von Innenraum und Schreiben verbindet das Gesamtwerk
Albert Cohens mit jenem Marcel Prousts. In den Texten des auf Korfu gebore-
nen Juden findet sich eine Vielzahl expliziter wie impliziter Verweise und An-
spielungen auf jenen Autor, dessen Romanzyklus den jungen Cohen früh in
seinen Bann schlug.60 Nicht nur die jüdische Herkunft, die Liebe zur Literatur
oder die bei beiden stark ausgeprägte Mutterliebe verbinden die beiden Schrift-
steller miteinander. Der Rückgriff auf die Zeit der Kindheit als Quelle des eigenen
Schreibens, die Entfaltung insgesamt eher handlungsarmer Romanstrukturen
mit obsessiv wiederkehrenden Grundszenen, aber auch die Suche nach einem di-
stanzierten, abgeschirmten Innenraum als Voraussetzung des Entwurfs einer To-
talitätsanspruch erhebenden Romanwelt bilden bei allen Unterschieden derart
viele Überschneidungen und Gemeinsamkeiten, dass Prousts Worte zu Beginn
von Les plaisirs et les jours auch diejenigen Albert Cohens hätten sein können:
„Da verstand ich, dass Noah niemals die Welt so gut sehen konnte als aus dem
Blickwinkel der Arche, obwohl sie geschlossen und es Nacht ward auf Erden.“61
Konnte Bernard de Fallois von Marcel Proust sagen, er sei der Schriftsteller
eines einzigen Buchs gewesen, „l’homme d’un seul livre“, so ließe sich dies
von Albert Cohen ebenso sagen. In Cohens wie in Prousts Gesamtwerk wird die
gesamte literarische Produktion stets auf das sogenannte ‚Hauptwerk‘ bezogen,
die umfangreichen Romanzyklen, in deren Schatten die sogenannten ‚kleineren
Schriften‘ verblassen. Beide Schriftsteller haben jedoch auf unterschiedliche
Weise kleinere Texte hinterlassen, in welchen wie in einem Weltfraktal eine To-
talität zum Ausdruck kommt.62
Ein grundlegender Unterschied zwischen ihnen besteht freilich darin, dass
Cohen im Gegensatz zu Proust die interkulturellen Spannungen, Probleme und
60 Valbert entwarf die Entdeckung von Prousts A l’ombre des jeunes filles en fleurs durch
Cohen in einer Buchhandlung Alexandrias als Szene einer „illumination“ (Albert Cohen, le seig-
neur, S. 166). Nach seiner Rückkehr nach Genf gab Cohen 1923 an der Universität einen Marcel
Proust gewidmeten Kurs (ebda., S. 182), was zusätzlich von seiner intensiven Beschäftigung mit
dem Verfasser der Recherche zeugen mag.
61 Proust, Marcel: Les plaisirs et les jours. Préface d’Anatole France, Paris: Gallimard 1980,
S. 11: « Je compris alors que jamais Noé ne put si bien voir le monde que de l’arche, malgré
qu’elle fût close et qu’il fût nuit sur la terre.“
62 Zum literarischen Begriff des Fraktals vgl. Ette, Ottmar: WeltFraktale. Wege durch die Lite-
raturen der Welt. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2017.
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 295
Erfahrungen ins Zentrum seines literarischen Schreibens stellt und etwa das ge-
sellschaftlich zum damaligen Zeitpunkt relevante Verhältnis zwischen Adel
und Bürgertum nur am Rande streift. Er tut dies mit eben jener Heftigkeit, mit
welcher der Erzähler in Benedettis Salon Partei gegen den assimilierten und für
den ausgeschlossenen, umherirrenden Zionisten ergriffen hatte. Vieles in jener
Anklage gegen den „Juif converti et homosexuel“ erinnert daran, mit welcher
Inbrunst Solal in einem langen „Stream of Consciousness“ in Belle du Seigneur
die berühmte Madeleine-Episode in Prousts A la recherche du temps perdu als
typische Erfindung eines Homosexuellen abqualifiziert, der allein auf den Ge-
danken verfallen sein könne, ein süßes Gebäck in eine Tasse mit süßlichem
Lindenblütentee einzutauchen.63 Wenn man bei einem Schriftsteller mit Harold
Bloom von einer Anxiety of Influence64 sprechen kann, dann bei Cohen mit
Blick auf Proust: Anders sind diese Ausfälle des auf Korfu geborenen Autors
nicht zu begreifen.
Selbst in Jour de mes dix ans spricht vieles dafür, dass die Abgrenzung der
eigenen Kindheitserinnerungen des Erzählers von jenen eines „mignon petit ca-
pitaliste“,65 dem man eines Tages die Locken abgeschnitten habe, auf Proust
gemünzt ist, gegen dessen Verehrung der Comtesse de Noailles Cohen selten zu
polemisieren vergaß.66 In Prousts wiederholtem Lob für die adelige Lyrikerin
manifestierte sich für den Autor von Mangeclous ein Verrat an Ethik und Auf-
gabe der Literatur, die nicht zum Zwecke sozialen Vorankommens und gesell-
schaftlicher Anerkennung missbraucht werden dürfe. Mit der Literatur verbundene
unlautere Methoden gesellschaftlichen Aufstiegs waren Cohen im Übrigen ver-
63 Cohen, Albert: Belle du Seigneur, S. 878: „Proust cette perversité de tremper une madeleine
dans du tilleul ces deux goûts douceâtres le goût épouvantable de la madeleine mêlé au goût
pire du tilleul féminité perverse qui me le donne autant que ses hystériques flatteries à la
Noailles en réalité il ne l’admirait pas ne pouvait pas l’admirer il la flattait pour des motifs
sociaux non pas le lui dire ça la peinerait elle aime la petite phrase de Vinteuil les clochers de
Martinville la Vivonne les aubépines de Méséglise et autres exquiseries […].“ Auch die hier an-
gesprochene Ariane, die ihrem Solal bisweilen Passagen aus der Recherche nicht immer in de-
zenter Haltung vorliest (S. 828), hat bei aller Bewunderung selbst eine ähnlich formulierte
Kritik an Proust vorzubringen: „Proust c’est vraiment bien mais quel affreux snobinet ses flat-
teries hystériques à la Noailles et puis ravi charmé par des prénoms aristos genre Oriane Basin
Palamède respectueux de ces prénoms il les suce il les lèche […]“ (S. 606).
64 Vgl. Bloom, Harold: The Anxiety of Influence, New York: Oxford UP 1973.
65 Cohen, Albert: Jour de mes dix ans, S. 193.
66 In seinem Roman Mangeclous (S. 669 f.) lässt Cohen ausgerechnet die unbarmherzige Ma-
dame Deume zuhause den Vortrag des Gedichts Les Pauvres üben, mit dem sie als Schatzmeis-
terin des belgischen Frauenvereins der Dames Belges in Genf die Herzen ihrer Zuhörerinnen in
christlicher Nächstenliebe höher schlagen lassen will.
296 Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager
67 Zu dessen literarischer Verarbeitung in Jean Santeuil und der Recherche vgl. Jurt, Joseph:
Politisches Handeln und ästhetische Transposition. Proust und die Dreyfus-Affäre. In: Mass,
Edgar / Roloff, Volker (Hg.): Marcel Proust. Lesen und Schreiben. Frankfurt am Main: Insel Ver-
lag 1983, S. 85–107; zu Cohens Interesse an Proust, das sich auch in der Tatsache nieder-
schlug, dass er in seiner Revue juive einen unveröffentlichten Text des Autors der Recherche
brachte, aber auch zur Abneigung gegenüber dem mondain, die sich möglicherweise zu jenem
Zeitpunkt einstellte, als der Bruder des Schriftstellers ihm Einblick in die unveröffentlichte
Korrespondenz Marcel Prousts gewährte, vgl. Valbert, Gérard (1990): Albert Cohen, le seigneur,
S. 202.
68 Ein weiteres Beispiel eines anderen jüdischen Autors aus der Sicht Arianes in Belle du Seig-
neur (S. 606) mag dies belegen: „Monsieur Kafka on a compris votre cheval c’est la culpabilité
sans faute mais vous le montez un peu trop c’est monotone en somme la culpabilité sans faute
c’est le thème juif c’est la tragédie du Juif […].“
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 297
und weniger den realen Albert Cohen als „cet homme dans la glace que je re-
garde“69 betreffen.
Dieses für Albert Cohens Schreiben zentrale Motiv findet sich ebenfalls in
der Transposition der räumlichen Grundstruktur von Marseille nach Paris und
vom Ich auf Solal in Kapitel XCIII von Belle du Seigneur in überaus deutlicher
Weise. Cohen arbeitete häufig mit derartigen ‚Deterritorialisierungen‘ und ‚Re-
territorialisierungen‘ von Elementen seines Schreibens, die er in die verschie-
densten Diegesen und historischen Kontexte einstellte und ihnen damit stets
neue Semantiken erschloss. Zu der von Cohen selbst so bezeichneten „krebsar-
tigen Proliferation“ als Grundtendenz seines Schreibens wäre viel zu sagen;
doch kann dies im Zusammenhang mit der Themenstellung unserer Vorlesung
leider nicht weiterverfolgt werden. Denn jeder Text Cohens ruft stets einen wei-
teren Text hervor,70 wobei man freilich nicht notwendig von ‚Krebsgeschwüren‘
ausgehen muss, sondern sich ein strukturelles Proliferieren als Vorstellung
vielleicht besser eignet.
Beschäftigen wir uns jedoch noch ein letztes Mal mit der textuellen Mobili-
tät, mit den Bewegungsfiguren in diesem Schlüsseltext von Albert Cohen! Die
Orte und Bewegungen zwischen den verschiedenen Räumen in Jour de mes dix
ans erzeugen eine Dynamik, welcher das Lesepublikum in seinen Verstehens-
bewegungen nachfolgt. Der Weg von der Schule zum Straßenhändler und von
dort aus quer durch die Stadt zum Bahnhofsabort; nach der dortigen Vertrei-
bung die „errance“ durch die Straßen einer feindlich gewordenen Stadt und
schließlich – nachdem zuvor mehrere schützende Innenräume evoziert worden
waren – in das Haus der jüdischen Eltern: dieser Weg, der nach langen Phasen
zielloser Unruhe den Protagonisten schließlich in das jüdische Haus führt und
wieder mit Vater und Mutter vereinigt, lässt sich als hermeneutische Bewegung
von der äußeren zur inneren Welt lesen.
Diese Cohens Erzählung zu Grunde liegende räumliche Bewegung ist zu-
gleich ein Weg von einfachen Strukturen einer angenommenen Gemeinschaft
zu komplexen Strukturen ineinander verzahnter kultureller Systeme: Er ist kei-
neswegs eine bloße ‚Rückkehr‘ nach Hause. Denn mit dem zehnten Geburtstag
ist die Kindheit für immer tot und kann nicht wieder zurückgeholt werden. In
der offenen Welt der Großstadt geht das liebgewonnene „private Ghetto“ verlo-
ren. Es hat einem geschärften Bewusstsein für ein Leben als Jude in einer euro-
päischen Gesellschaft Platz gemacht.
Trotz aller Zugehörigkeit zur jüdischen Kultur und ihren Traditionen ist im
Protagonisten die Einsicht in die Hybridität kultureller Systeme gewachsen, er-
wies sich doch gerade die ihn ausschließende, sich homogen gebärdende,
christlich fundierte Nationalkultur des blonden Straßenhändlers als simple
Projektion eines französischen Antisemiten. Sie wurde spätestens mit der Er-
scheinung Jesu als Jude für immer entlarvt, ohne doch ihre mörderische Ge-
fährlichkeit zu verlieren. Doch das Kind weiß seit seiner zweiten Geburt nun
um die vielfältigen Beziehungen zwischen Judentum und Christentum, ohne
freilich auch nur im Geringsten an eine Aufgabe des Judentums zu denken.
Die antisemitische Gefahr – die für den Cohen des Jahres 1945 noch immer
allgegenwärtig war – erwuchs gleichwohl gerade aus jener vorgetäuschten Ho-
mogenität („eh ben nous, on aime pas les sales Juifs par ici“),71) aus jener Ge-
genüberstellung von einem französischen ‚Wir‘, das sich an seinem eigenen,
richtigen Platz glaubt, und einem ‚Ihr‘, das eine Gruppe darstellt, die nicht hier-
her gehöre. Diese Gegenüberstellung zweier scheinbar homogener Gruppen
glaubt sich zu Ausschluss und Vernichtung des Anderen legitimiert, sucht letzt-
lich aber nur nach einer Tarnung der eigenen Hybridität und nach einer Rechtfer-
tigung für jene Hassreden, deren Transformation vom Diskursiven ins Militante
Albert Cohen so oft beobachten musste. Daher ist die große Wichtigkeit, welche
Cohen der Episode des Camelot für sein eigenes Leben beimaß, auch mehr als
begründet.
Vieles deutet darauf hin, dass unser in Europa aus der Antike übernomme-
ner, tradierter und modifizierter Kulturbegriff noch immer letztlich agrikulturel-
len Vorstellungen verpflichtet ist. Diese ketten den Begriff, den wir uns von
Kultur machen, an den Übergang vom Nomaden zum sesshaften Leben und er-
klären damit räumlich und zeitlich stabile Strukturen zur Voraussetzung jedwe-
der Kultur. Eine raumschaffende und raumsichernde Territorialisierung72 könnte
aus dieser Perspektive in der Tat als Grundvoraussetzung von Kultur verstanden
71 Der Zusammenhang zwischen dem Verkauf eines Universalfleckenmittels und der Rede
von der „sale race“ muss hier nicht eigens betont werden.
72 Vgl. den lesenswerten, aber ausschließlich am griechisch-römischen Kulturparadigma ausge-
richteten Aufsatz von Böhme, Hartmut: Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft). Zur historischen Se-
mantik des Kulturbegriffs. In: Glaser, Renate / Luserke, Matthias (Hg.): Literaturwissenschaft –
Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 53.
Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager 299
werden, die durch die Stetigkeit einer Bearbeitung und Kultivierung des besiedel-
ten Territoriums ergänzt wird. Man darf freilich mit guten Gründen bezweifeln,
dass eine derartige Definition die historische Semantik des abendländischen Kul-
turbegriffs – geschweige denn des Kulturbegriffs in einem planetarischen Maß-
stab – ausschöpft. Denn weder die altchinesische noch die altjapanische Kultur
etwa kennen die Opposition von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘, die für das Abendland selbst
so charakteristisch ist.73
Denn in dessen Kultur und Vorstellungswelt sind jenseits der griechisch-
römischen Antike und ihrer Filiationen über lange Jahrhunderte und bis heute
Vorstellungen von Kultur eingegangen, die – erwähnt seien nur etwa die jüdi-
sche oder arabische Kultur in ihrer Vielfalt – ebenfalls nicht in dieses seit der
Antike tradierte Schema passen wollen. Nicht umsonst ergreift Scipion die
Flucht, als ihm in Cohens angeführtem Theaterstück von Jérémie auf einfache,
wenn auch ein wenig umständliche Weise erklärt wird, „was er denn sei“.
Auf eine agrikulturelle Begriffstradition reduziert, erfüllten Jérémie, seine
Genealogie und seine Kultur wohl das Kriterium der Stetigkeit (ja übererfüllt es
im Verhältnis zur Entwicklung in Europa, was Cohen und seine Erzählerfiguren
zu betonen niemals müde werden); doch das Kriterium räumlicher Kontinuität
und Ständigkeit bleibt völlig unerfüllt. Der ‚nomadisierende‘, staaten- und
passlose Jérémie lässt sich nicht vom Schema territorialer Zugehörigkeit her be-
greifen: Er will und lässt sich nicht mit einem Territorium identifizieren, son-
dern trägt seine kulturellen Zugehörigkeiten als Repräsentant seines Volkes in
sich. Die wertende Unterscheidung zwischen Menschen, die über einen festen
Wohnsitz verfügen, und Menschen, die keinen festen Wohnsitz besitzen, ist bis
heute für die abendländische Kulturvorstellung charakteristisch. Lassen Sie
mich in aller Kürze anmerken, dass diese impliziten Wertungen auch auf dem
Gebiet der Literaturen eine hohe und erstaunliche Beständigkeit besitzen, sind
doch die Literaturen ohne festen Wohnsitz74 auch und gerade in ihrer translin-
gualen Ausprägung vielfältigen Vorurteilen ausgesetzt!
Jérémies Zugehörigkeiten und Identitätszuschreibungen aber sind in ihrer
Vielgestaltigkeit nicht an einen territorialen Außenraum gekoppelt, sondern
einem Innenraum verpflichtet, der gewiss nicht homogener und bruchloser ist
als der von ihm stets mitgeführte Koffer eines „juif errant“. Die ständigen Pole-
miken zwischen Aschkenasim und Sephardim, zwischen Juden des Ostens und
73 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Natur und Kultur: Lebenswissenschaftliche Perspektiven Hum-
boldtscher Wissenschaft. In: Ette, Ottmar / Drews, Julian (Hg.): Horizonte der Humboldt-Forschung.
Natur, Kultur, Schreiben. Hildesheim – Zürich – New York: Georg Olms Verlag 2016, S. 13–51.
74 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz (Über-
Lebenswissen II). Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005.
300 Albert Cohen oder der Geburts-Tag im Miniatur-Konzentrationslager
Juden des Mittelmeers in Cohens Gesamtwerk mögen hierfür ein stets liebevoll
inszeniertes Beispiel sein: Cohen sah das Judentum nicht als eine territoriale
Entität.
Entzieht sich Scipion diesem Rätsel durch Flucht, so entzieht sich ihm der
Völkerbund – in dessen französischsprachiger Bezeichnung als „Société des
Nations“ die Dimension nationaler Territorialität unverstellter hervortritt –
durch Verweigerung, Nichtbeachtung und unausgesprochenen Ausschluss. An-
gesichts dieser Tatsache ist es nicht überraschend, dass die zionistische ‚Reter-
ritorialisierung‘ aus der historischen Erfahrung der Pogrome und Verfolgungen
bis hin zur Dreyfus-Affäre vom Okzident ausging und an dessen Logik orientiert
blieb. Der Zionismus war aus dieser Perspektive eine logische Konsequenz.
Und welches war die Position von Albert Cohen? Der auf Korfu geborene
Schriftsteller, der in seinen Texten immer wieder auch das Erleben der Affaire
Dreyfus miteinbezog, setzte sich in seiner politischen Arbeit aktiv für die Ver-
wirklichung der zionistischen Idee ein, siedelte aber selbst nicht auf das Territo-
rium des jungen Staates Israel über. Die Liebesbeziehung zwischen der Christin
Ariane und dem Juden Solal, die des Öfteren als „Treibhausliebe“75 bezeichnet
wurde, findet in von außen hermetisch abgeriegelten Innenräumen statt, die
immer wieder mit denen einer Karavelle verglichen werden. Sie war das bevor-
zugte und emblematische Transportmittel der ersten Phase beschleunigter Globa-
lisierung76 und steht in diesem Zusammenhang sicherlich für eine weltweite
Expansion. Die Skorbut-kranken Liebenden erscheinen damit implizit als Schiffs-
reisende auf dem Weg nach der Insel Kythera („là-bas“), wo sie freilich – soweit
wir wissen – niemals ankommen werden.77
Die Geschichte war daran nicht unbeteiligt, sondern hat auch in Cohens
Romanwelt kräftig nachgeholfen: Denn Solal hat sich – wie das Lesepublikum
erst spät erfährt – als Untergeneralsekretär des Völkerbundes vehement für die
Aufnahme deutscher Juden in andere Länder eingesetzt und war entlassen wor-
den, als er die Staaten, welche die Juden in Deutschland aus Angst vor einem
Anstieg des Antisemitismus in ihren eigenen Ländern aufzunehmen nicht be-
reit waren, öffentlich anzuprangern versuchte. Im Bund der Völker war für his-
torisch deterritorialisierte Menschen keinerlei Platz vorgesehen.
Auch Cohens deterritorialisierte Juden aus dem Ghetto ihrer Insel Kephalo-
nia waren nicht gewillt, sich nach ihren Erfahrungen in Kfar-Saltiel im Land
ihrer Vorväter dauerhaft anzusiedeln und damit gleichsam zu reterritorialisie-
ren.78 Ihre mittelmeerische Inselwelt ist der Heterotopie eines Schiffs, von dem
sie aus orientalischer Entfernung das europäische Leben betrachten, sehr ver-
wandt. Ihrer eigenen Kultur gehen sie dadurch keineswegs verlustig – ganz im
Gegenteil.
Entwickeln wir aus dieser Perspektive Marcel Prousts Gedankengang wei-
ter, so könnten wir sein Zitat aus Les plaisirs et les jours insoweit ergänzen, als
Stammvater Noah die Welt aus der Arche vielleicht nicht nur besser sah, ob-
wohl sie geschlossen und es Nacht war auf der Erde, sondern weil das Land ver-
schwunden war. So bliebe die Welt im Kopf des Kindes mit ihrem Mittelmeer,
all ihren Inseln, Schiffen und Kapitänen nicht nur intakt: Sie wäre in ihrer
Dichte und Vielverbundenheit der Außenwelt überlegen. Als Fraktal einer Tota-
lität, als Mise en abyme einer ganzen Welt stellt sie sich Cohens Konzentrati-
onslager en miniature vehement entgegen und steht für die lebenserhaltende
Kraft einer Kreation, die sich mit literarischen Mitteln eines Überlebenswissens
bedient, wie es die Literaturen der Welt seit Jahrtausenden transportieren und
wie es in Cohens Erzählwelt in der Geburt des kleinen zehnjährigen Kindes zum
Juden an diesem Geburts-Tag zum Ausdruck kommt.
78 Nicht umsonst steht die Abreise des capitaine des vents Mangeclous aus Palästina nicht
nur im Zeichen der Trauer, sondern der Freiheit: „Le soir même, Mangeclous quitta Kfar-
Saltiel et se dirigea vers la côte. Sur la grand-route et sous la lune, son ombre violente s’allon-
geait. Seul et libre, le grotesque rêvait ou nasillait un air de liberté.“ Cohen, Albert: Mange-
clous, S. 342.
Max Aub oder das Konzentrationslager aus
der Vogelperspektive
Kehren wir noch einmal zu Hannah Arendt und ihren philosophischen Refle-
xionen zurück, die aus meiner Sicht mit das Klügste darstellen, was über tota-
litäre Herrschaft jemals geschrieben wurde! Ihre Texte werfen ein erhellendes
Licht gerade auch auf jene Schöpfungen der Literaturen der Welt, die sich der
schwierigen und gleichwohl unausweichlichen Aufgabe des „Schreibens nach
Auschwitz“ gewidmet haben und sich keinem Verdikt beugten, ein „Schreiben
nach Auschwitz“ sei nicht mehr möglich. Denn ein solches Schreiben war in
der Tat nicht nur möglich, sondern bitter notwendig und in mehr als einem
Sinne lebensrettend.
Im letzten, den Konzentrationslagern gewidmeten Teil des zwölften Kapitels
ihrer umfangreichen Schrift Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft beschäf-
tigte sich Hannah Arendt mehrfach mit einem Problem, das für ein „Schreiben
nach Auschwitz“ von entscheidender Bedeutung war:
Die Berichte der Überlebenden von Konzentrations- und Vernichtungslagern sind außeror-
dentlich zahlreich und von auffallender Monotonie. Je echter diese Zeugnisse sind, desto
kommunikationsloser sind sie, desto klagloser berichten sie, was sich menschlicher Fas-
sungskraft und menschlicher Erfahrung entzieht. Sie lassen den Leser kalt, stoßen ihn,
wenn er sich ihnen wirklich überlässt, in das gleiche apathische Nicht-mehr-Begreifen, in
dem sich der Berichterstatter bewegt, und sie lösen fast niemals jene Leidenschaften des
empörten Mitleidens aus, durch die von jeher Menschen für die Gerechtigkeit mobilisiert
wurden. Trotz überwältigender Beweise haftet das Odium der Unglaubwürdigkeit, mit dem
Berichte aus Konzentrationslagern zuerst aufgenommen wurden, immer noch jedem an,
der davon berichtet; und je entschlossener der Berichterstatter in die Welt der Lebenden
zurückgekehrt ist, desto stärker wird ihn selbst der Zweifel an seiner eigenen Wahrhaftig-
keit ergreifen, als verwechsele er einen Alptraum mit der Wirklichkeit.1
Hannah Arendt spricht hier ein zentrales Problem allen zeugnishaften Schreibens
über die Konzentrationslager unvermittelt an. In dieser Passage ihres ursprünglich
unter dem Titel The Origins of Totalitarianism 1951 in New York erschienenen und
von der Autorin selbst ins Deutsche übertragenen großangelegten Versuchs,
die (eigenen) Erfahrungen mit dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts aus his-
torisch-philosophischer Perspektive zu verstehen, wirft Hannah Arendt ein
Grundproblem der Literatur wie auch der Literaturwissenschaft auf: Wie ist das
Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit, von Wahrheitsanspruch
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-010
Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive 303
2 Ebda., S. 909.
3 Aub, Max: Diario de Djelfa. In (ders.): Obras completas. Bd. 1: Obra poética completa. Di-
rección de la edición Joan Oleza Simó. Edición crítica, estudio introductorio y notas Arcadio
López Casanova u. a. Valencia: Biblioteca Valenciana 2001, S. 93: „Fueron escritas estas
poesías en el campo de concentración de Djelfa, en las altiplanicies del Atlas sahariano; les
debo quizá la vida porque al parirlas cobraba fuerza para resistir el día siguiente: todo cuanto
en ellas se narra es real sucedido. Versos inimaginados o inimaginables, se les podría llamar,
sin que me llamara a engaño.“
304 Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive
Max Aubs Argumentation ist geradlinig: Aus dem realen Leben und Erleben
entstanden, ist in diesen Versen aus Djelfa ein Wissen über Leben gespeichert,
welches vom Widerstand gegen dessen Auslöschung zeugt. Der Dichter habe in
ihnen nicht auf den „engaño“ zurückgegriffen, auf die Täuschung oder Fiktion.
So enthielt der 1944 im mexikanischen Exil veröffentlichte Diario de Djelfa die
Zeugnisse der Dichtkunst eines durch Gedichte über Leben und Tod im Lager
Überlebenden. Hierbei scheint sich die beunruhigende Frage nach einer Ästhe-
tisierung des Grauens nicht zu stellen: Das Tagebuch von Djelfa enthält nicht
die Zeugnisse einer „Lyrik nach Auschwitz“, sondern vielmehr einer Lyrik in
Auschwitz.4 Und diese ist lebens- und überlebenswichtig, elaboriert sie doch
ein Wissen vom Leben im Leben, das kraft zum Überleben verleiht.
Was aber ist mit dem Schreiben nach dem Überleben? Wie lässt sich über ein
namenloses Grauen schreiben, ohne in dessen Ästhetisierung oder in die
Kommunikationslosigkeit einer – wenn das Oxymoron gestattet ist – ungläu-
big wahrgenommenen Augenzeugenschaft zu verfallen? Gibt es eine Theorie
des kommunikativen literarischen Handelns im Angesicht der Konzentrations-
und Vernichtungslager? Und nicht zuletzt: Wie lässt sich all dies in der Prozes-
sualität von Gebären und Sterben, von Leben und Tod literarisch darstellen?
Man könnte mit guten Gründen das gesamte literarische Schaffen Max
Aubs nach dem Verlassen ‚seines‘ letzten Konzentrationslagers im Sommer
19425 bis zu seinem Tod in Mexiko im Sommer 1972 im Zeichen dieser Leitfragen
(und Leidfragen) lesen. Denn im Zentrum des polyzentrischen Werks von Max
Aub steht ein einziges, vieldeutiges, aber doch letztlich immer an die Lagerer-
fahrung zurückgebundenes Wort: „campo“! Es verleiht der gesamten literari-
4 Zu dieser Problematik vgl. auch Ugarte, Michael: Testimonios de exilio: desde el campo de
concentración a América. In: Naharro Calderón, José María (Hg.): El Exilio de las Españas en
las Américas. Barcelona: Anthropos 1990, S. 45.
5 Zu den genaueren Umständen vgl. Soldevila Durante, Ignacio: El compromiso de la imagina-
ción. Vida y obra de Max Aub. Segorbe: Fundación Max Aub 1999, S. 43.
Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive 305
Was aber ist diese Historia de Jacobo: eine von Jacobo erzählte oder von
ihm erzählende Geschichte, ein Genitivus subiectivus, ein Genitivus obiectivus
oder gar ein Genitivus possessivus? All diese Möglichkeiten sind – zusätzlich
zur Bezugnahme auf Geschichte schlechthin – in der vieldeutigen Gestaltung
des Textes realisiert, wenn auch das Element des Titelkupfers nahelegt, dass es
sich hierbei um den Autor dieser Schrift handeln dürfte. Max Aub ist ein mit
allen Wassern literarischer Versteckspiele gewaschener Autor, so dass es zu-
nächst einmal gilt, die Regeln dieses erfundenen literarischen Spiels zu erfas-
sen und zu begreifen.
Die Vermutung, dass es sich bei Jacobo um den Verfasser der gesamten
Schrift und damit des Rabenmanuskripts handeln könnte, wird durch die wei-
tere Gestaltung der Titelseite wie des gesamten paratextuellen Apparats bestä-
tigt, wobei die neuzeitlich-abendländische Tradition, das Autorenprofil als
Frontispiz separat dem Titelblatt beizustellen, hier insoweit abgewandelt ist,
als der Rabe unmittelbar auf der Titelseite prangt und stolz seine Autorschaft
kundtut. Er ist nicht nur ‚corvus in fabula‘, sondern auch deren auctor: Urheber
und Gewährsmann in einem. Sein Blick – und damit die Perspektive eines für-
wahr unwahrscheinlichen Erzählers – prägt Aubs Text vom Titelkupfer an.
Doch der unwahrscheinliche Erzähler erzählt uns keine unvorgestellte oder un-
vorstellbare Geschichte. Aub hat aus dem Diario de Djelfa die Lehren gezogen
und einen anderen Geburtsprozess gefunden beziehungsweise erfunden.
Die Titelseite verrät uns des Weiteren, dass dieses „Rabenmanuskript“ von
J.R. Bululú, „Cronista de su país y visitador de algunos más“8 herausgegeben, mit
einem Vorwort und Anmerkungen versehen sowie von Aben Máximo Albarrón
erstmals aus dem „idioma cuervo“9 ins Kastilische übertragen wurde. Schließlich
8 Ich greife auf die als siebter Band in der verdienstvollen Reihe Biblioteca Max Aub der Aub-
Stiftung in Segorbe erschienene Ausgabe zurück, die ebenfalls von zwei Gelehrten dem Publi-
kum präsentiert wird: Aub, Max: Manuscrito Cuervo. Historia de Jacobo. Introducción, edición
y notas de José Antonio Pérez Bowie con un Epílogo de José María Naharro-Calderón. Segorbe –
Alcalá de Henares: Fundación Max Aub – Universidad de Alcalá de Henares 1999, hier S. 45.
9 Ebda.
Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive 307
enthält sie eine – ebenfalls nicht separat angeordnete, sondern auf die erste Seite
projizierte – Widmung, die ein fünftes Mal das Element des Raben bemüht: „Dedi-
cado a los que conocieron al mismísimo Jacobo, en el campo de Vernete, que no
son pocos.“10 Damit wird durch die Hintertür und vorsichtig trotz aller fiktionalen
Vorkehrungen ein gewisser mimetischer Abbildanspruch erhoben, welchen der Text
an verschiedenen Stellen seines narrativen Ablaufs für sich beansprucht. Zugleich
erscheint nicht nur das Schlüsselwort „campo“ an etwas ‚versteckter‘ Stelle bereits
auf dem Titelblatt selbst, sondern erneut unser Rabe, der als Autor, Gegenstand und
Protagonist des Textes, als Konterfei, als Repräsentant des Rabentums und Sprecher
einer übersetzbaren Rabensprache und endlich als ein Wesen erscheint, das viele
im Lager von Vernete – und damit in einer angeblichen außersprachlichen Wirk-
lichkeit – selbst kennengelernt hätten. Jacobo existiert oder existierte.
Die Titelseite hat es folglich in sich, sie ist semantisch hochkonzentriert: In
ihr schneiden und verdichten sich – wie zu zeigen sein wird – die zentralen Iso-
topien des gesamten Textes. Überdies verweist eine Fußnote Bululús höhnisch
auf die Semantik des Begriffs ‚Konzentration‘: „Concentración, es decir: Lo más
aquilatado, la médula, lo más enjundioso.“11 Der Begriff der Konzentration wird
in dieses Beispiel der Lagerliteratur also gleichbedeutend mit ‚essentiell‘ einge-
führt. Und eben dies darf für diesen Begriff auch gelten.
Bereits der erste Satz des sich anschließenden Vorworts von Bululú präzisiert
die Wendung „campo de Vernete“ insoweit, als es sich um das „campo de con-
centración de Vernete“12 und – genauer noch – um ein Konzentrationslager im
Süden Frankreichs handeln soll, das der Herausgeber Ende 1940 verlassen habe,
ähnlich wie der reale Autor Max Aub. Er habe dabei zu seiner Überraschung
ein in der Rabensprache abgefasstes Manuskript in seinem Koffer gefunden.
Es stamme zweifellos von Jacobo, der wenige Tage zuvor auf Nimmerwieder-
sehen verschwunden und von dem nichts weiter bekannt geworden sei. Wir
haben es folglich mit einem Text aus der langen Filiation der Herausgeberfik-
tionen zu tun.
Die sich anschließenden, akademische Gepflogenheiten offenkundig par-
odierenden Ausführungen zur Rabensprache und ihren Schriftzeichen stellen
eine unübersehbare Verbindung zum Erfundenen, zum Unglaubwürdigen, zum
Pol der Fiktion her.13 Demgegenüber erheben die in den Paratext eingearbeiteten
10 Ebda.
11 Ebda., S. 96.
12 Ebda., S. 46.
13 Vgl. hierzu Pérez Bowie, José Antonio: Estudio introductorio. In: Aub, Max: Manuscrito
Cuervo, S. 15: Dort ist die Rede von „estrategias desrealizadoras“, die zugleich eine Distanzie-
rung von den Geschehnissen mit sich brächten.
308 Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive
Präzisierungen zum Lager wie auch zu Jacobo selbst, den viele ja gekannt hätten,
Anspruch auf außersprachliche Referentialität, Faktizität und Glaubwürdigkeit.
Max Aub weiß sich hier im Verbund mit anderen literarischen Zeugnissen
aus jener dunklen Epoche seines Lebens. Denn in der Tat hinterließ dieser
wohlbekannte Rabe Jacobo Spuren nicht nur im Gedächtnis damaliger Lagerin-
sassen, sondern auch in der Literatur jener Jahre. So lesen wir in Gustav Reglers
Das Ohr des Malchus:
Am nächsten Morgen meldete sich Walter freiwillig zum Ausleeren der Latrinen. [...] Der
Rabe Jakob, den ein Gefangener ans Lager gewöhnt hatte, saß auf seiner Schulter und
schlug mit den Flügeln. [...] Dann öffnete sich das Tor aus Stacheldraht, und wir fuhren
auf kleinen Loren die Pappelallee hinunter zum Fluß. Der Rabe schwankte noch immer
auf Walters Schulter. Die Loren rollten langsam den Wiesenhang hinunter. Plötzlich zog
Walter einen Brief aus der Tasche. „Kräh“, sagte der Rabe und hackte danach. Aber Wal-
ter verwarnte ihn und zeigte in den Schmutzkübel. Der Rabe schwieg. [...]
Die Wächter schrien vorne schon Befehle für die ersten Wagen. Jakob, der Rabe,
spannte weit die Flügel und flatterte zu den Flußpappeln hinauf, um die schmutzige Ar-
beit aus der Adlerperspektive zu überwachen. Ich weiß noch, dass ich in dem Gestank
unter einem Baum saß und an den Tränen würgte, die aufsteigen wollten.
Walter leerte seine Kübel, half den anderen, ging immer wieder zurück zur Grube. Er
wollte den Kathedralen alles abbitten, er hatte sich wohl an die Stanzen von Rilke erinnert.
Die Poesie war wie ein mahnender Engel zu ihm gekommen. Ich zitierte die Stanze nun vor
mich hin, und sah dabei auf die fernen Pyrenäen, die wie ein weißes Paradies schimmer-
ten: Und staunte nur noch, dass sie dies ertrüge – die schwankende gewaltige Genüge...14
Die geschilderte zeugnishafte Szene zielt auf den Alltag in einem Konzentrations-
lager. Es ist Alltag im Lager von Le Vernet d’Ariège im Südwesten Frankreichs,
am Fuße der Pyrenäen, die das damalige Frankreich von Franco-Spanien schei-
den. Gustav Regler berichtet von der Tätigkeit des Latrinenleerens, von der auch
Max Aub mehrfach zu erzählen wusste: Er war nach seiner ersten Festnahme in
Paris am 5. April 1940 zweimal – vom 30. Mai bis 30. November 1940 und vom
6. September bis 24. November 1941 – im selben Lager (wenn auch in unter-
schiedlichen Abteilungen und Baracken) interniert worden. Max Aub wusste also,
wovon er sprach und schrieb, wenn er aus den Lagern in Südfrankreich wie im
nordafrikanischen Djelfa berichtete.
14 Regler, Gustav: Das Ohr des Malchus. Eine Lebensgeschichte. Köln – Berlin: Kiepenheuer &
Witsch 1958, S. 453–455. Albrecht Buschmann hat erstmals auf die Anwesenheit des Raben
Jakob in Gustav Reglers Erinnerungen aufmerksam gemacht im „Nachwort“ zu seiner und Ste-
fanie Gerholds schöner Übersetzung des Manuscrito Cuervo in Aub, Max: Der Mann aus Stroh.
Erzählungen. Aus dem Spanischen von Hildegart Baumgart, Albrecht Buschmann, Susanne
Felkau, Stefanie Gerhold, Gustav Siebenmann. Frankfurt am Main: Gatza bei Eichborn 1997,
S. 277.
Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive 309
Gustav Regler zählte zu den Abertausenden, die als Kämpfer der Internatio-
nalen Brigaden geschlagen die Pyrenäen überquerten, um in den Konzentrati-
onslagern Frankreichs auf-gefangen zu werden, konnte später aber wie Aub –
wenn auch auf anderen Wegen – nach Mexiko entkommen. Er weist nicht nur
auf die Rolle der Lyrik im Konzentrationslager hin, sondern stellt uns auch
jenen Raben Jakob vor, der laut Widmung im Manuscrito Cuervo mit so vielen
(Internierten) bekannt war. Der Rabe war sozusagen eine öffentliche Figur und
den Lagerinsassen bekannt. Jacobo war also keine literarische Erfindung eines
Schriftstellers, sondern ein real existierendes Wesen am Rande des Lagers.
Noch vor der Veröffentlichung der Lebensgeschichte aber hatte jener nach dem
Brief eines Häftlings hackende Rabe längst selbst zur Feder gegriffen und war –
unter tätiger Mithilfe Aubs, der sich in diesem Sinne gerne mit fremden Federn
schmückte – zum Autor eines Manuskripts geworden, das seinen Namen als
Verfasser trug. Das Rabenmanuskript ist folglich kein Manuskript über einen
Raben: Es stammt vielmehr aus der Feder des Raben Jacobo selbst.
Diese auctoritas und die mit ihr verbundene Kommunikationssituation sind
innerhalb der Literaturgeschichte des Raben – soweit ich sehe – höchst origi-
nell, auch wenn schreibende Tiere in der Welt der Literatur und ihrer Bestiarien
nicht unbekannt sind. Der Rabe ist als literarische Figur durchaus beliebt,
wobei seine Spannbreite uns von Wilhelm Buschs Hans Huckebein, der Un-
glücksrabe bis zu den eher düsteren Gestalten führt, die in Edgar Allan Poes
The Raven wohl ihr größtes literarisches Denkmal gefunden haben. Sein unheil-
verkündendes „Nevermore“ ertönt bis heute krächzend durch alle Bilder des
Raben hindurch. Noch in Pier Paolo Pasolinis Film Uccellacci e uccellini aus
dem Jahr 1966 ist ein Rabe der treue Begleiter des Menschen, ganz wie Jacobo
als ‚Vogelfreier‘ aktiv am Lagerleben teilnahm.
In den durch explizite Anspielungen gebildeten literarischen Raum von Ma-
nuscrito Cuervo wird freilich an herausgehobener Stelle jener Rabe einbezogen,
der laut Jacobo das verachtenswerte Produkt eines „fatuo francés, de peluca y
pantalón corto“,15 also eines Franzosen mit kurzen Hosen und Perücke sei. Der
namentlich nicht genannte, einer breiten Leserschaft aber bekannte Jean de La
Fontaine behandelte in seinen Fabeln mehrfach den Raben, der es vergeblich
anderen Tieren (und insbesondere dem Adler, wie etwa in Le Corbeau voulant
imiter l’Aigle) gleichzutun suche. Am berühmtesten aber ist seine Fabel vom
Raben und vom Fuchs, Le Corbeau et le Renard, deren Eingangsvers in Aubs Ra-
benmanuskript zitiert wird.16
Jenseits der „mala prensa“17 und der vielen spanischen Sprichwörter und Re-
dewendungen, die den Raben (gewiss nicht nur in Spanien) im Spanischen in
schlechtem Licht erscheinen lassen, schreibt die unmittelbare Bezugnahme auf
Jean de La Fontaines Fables fraglos Manuscrito Cuervo in eine Literaturgeschichte
sprechender Tiere und mehr noch in eine moralistische Tradition ein, die im Ver-
lauf des gesamten Textes immer wieder intertextuell spürbar wird. Das schwarze
Gefieder verleiht Jacobo daher nicht nur vieles, was explizit mit dem schwarzen
Gehrock der Priester oder den Talaren von Professoren oder Richtern in Verbin-
dung gebracht wird; er ist nicht nur das Kind von Rabeneltern oder jener unheil-
verheißende Unglücksrabe, der das schreckliche Wort ausspricht, dass das
Leiden der Menschen wohl niemals ein Ende nehmen werde: „que la desdicha
de los hombres no conocerá fin“.18 Er ist zugleich eine schillernde Figur, in der
sich eine Vielzahl literarischer und spezifisch moralistischer Traditionen verkör-
pern und mit dem real existierenden Raben am Rande des Lagers verbinden.
Spannt der Rabe Jacobo seine Flügel, so spiegeln sich auf dem schwarzen Hin-
tergrund die unterschiedlichsten wahren und erfundenen Geschichten.
Doch kehren wir ein letztes Mal auf die Titelseite des Rabenmanuskripts zu-
rück! Dort wird mit der Einführung der Figur des Herausgebers Bululú nicht
nur eine universitär-akademische Tradition verhohnepiepelt, welcher Max Aub
(der trotz Talent und Neigung nie eine Universitätskarriere einschlug) stets in
(selbst-)ironischer Distanziertheit gegenüberstand. Denn zugleich wird mit dem
Verweis auf den zufälligen Fund eines Manuskripts und die sich daran an-
schließende notwendige Übersetzung desselben für spanische Leser unüber-
sehbar ein augenzwinkernder Verweis auf Miguel de Cervantes’ Don Quijote
eingebaut, jenen ersten modernen Roman der abendländischen Literaturge-
schichte, der sich als in arabischer Sprache abgefasstes Manuskript eines Cide
Hamete Benengeli ausgab.19 Mit seiner Herausgeberfiktion knüpfte der spani-
sche Schriftsteller mit dem deutschen Namen folglich an die herausragende
und bekannteste Tradition spanischen Erzählens an.
Darüber hinaus stellt der Zusatz, bei Bululú handele es sich um einen ausge-
wiesenen Chronisten seines Landes und Besucher einiger weiterer Länder, einen
direkten Hinweis auf das der Titelseite unmittelbar folgende und dem Chronisten
José de Acosta zugeschriebene Motto dar, in welchem die ästhetische Dimension
17 Ebda., S. 70.
18 Ebda., S. 110.
19 Vgl. zu dieser intertextuellen Beziehung u. a. Marco, Valeria de: Historia de Jacobo: la im-
posibilidad de narrar. In: Alonso, Cecilio (Hg.): Actas del Congreso Internacional «Max Aub y el
laberinto español (Valencia y Segorbe, 13–17 diciembre 1993). Valencia: Ayuntamiento de Va-
lencia 1996, S. 564–565.
Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive 311
und das Spiel zwischen Kunst und Wirklichkeit vieldeutig beleuchtet werden:
„Wahrhaftig besitzen die Werke der göttlichen Kunst ich weiß nicht was an ver-
borgener und geheimer Schönheit, wodurch sie, betrachtet man sie einmal und
viele andere Male, einen immer wieder neuen Geschmack erzeugen.“20
Damit werden das je ne sais quoi,21 das nicht auf den Begriff zu bringende
sinnliche Moment des Kunstwerks, der Rätselcharakter von Kunst sowie die ge-
rade in der Rezeption aufscheinende ästhetische Dimension ebenso in den Text
Max Aubs eingeblendet wie die Tatsache, dass es sich beim Jesuiten Acosta,
dem Verfasser der berühmten Historia natural y moral de las Indias, um einen
der großen Chronisten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts handelt, der als
jüngerer Zeitgenosse von Cervantes Spaniens Kolonien und deren indigene Be-
wohner in Amerika porträtierte und sich mit seinen Schriften großen nicht nur
literarischen Ruhm erwarb. Als „cronista“ und „visitador“ vieler Länder stellte
er die Neue Welt als Augenzeuge und als distanzierter Chronist dar, wobei er
bei der Repräsentation des „Mundus Novus“ gegenüber den Indianern als Spa-
nier und als Weißer trotz seiner Augenzeugenschaft eine doppelte Außenper-
spektive einnahm. Die intertextuelle Vernetzung des Rabenmanuskripts ist von
Beginn an daher höchst intensiv und verweist auf die großen Traditionen spa-
nischer Prosa im klassischen Zeitalter.
Wie Acosta nehmen Jacobo und Bululú den Status universitär gebildeter
Augenzeugen für sich in Anspruch, wobei der Rabe – der mit dem Forschungs-
stand an den „universidades corvinas“,22 also den Rabenuniversitäten seines
Landes bestens vertraut ist – gegenüber der Spezies Mensch zugleich jene Au-
ßerhalbbefindlichkeit aufweist, die den Spanier gegenüber der indigenen Welt
in Amerika charakterisierte. So kann Jacobo in den seinen Untersuchungen vor-
angestellten Überlegungen aus zweifacher Sicht den Wahrheitsanspruch seines
Textes begründen und wie folgt argumentieren:
All das, was ich beschreibe oder erzähle, wurde von meinen eigenen Augen gesehen und
beobachtet und auf meinen Karteikarten täglich festgehalten. Nichts habe ich der Phanta-
sie – dieser Feindin der Politik – oder der Einbildungskraft – dieser Feindin der Kultur –
überlassen.
20 Aub, Max: Manuscrito Cuervo, S. 46: „Realmente tienen las obras de la divina arte no sé
qué de primor como escondido y secreto, con que, miradas unas y otras muchas veces, causan
siempre un nuevo gusto.“
21 Vgl. hierzu den schönen Aufsatz von Köhler, Erich: „Je ne sais quoi“. Ein Kapitel aus der
Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen. In (ders.): Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus
der Welt der Romania. Frankfurt am Main: Athenäum 1966, S. 230–286.
22 Aub, Max: Manuscrito Cuervo, S. 58.
312 Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive
Alle hier berichteten Tatsachen wurden nicht kraft meines Willens herangezogen,
sondern weil sie sich so ereigneten. Ich habe alle Berichte abgelehnt, die mir verdächtig
erschienen, selbst wenn der Informant mir glaubwürdig schien. Ich habe die strengst-
mögliche Vorgehensweise befolgt.23
23 Ebda.
24 So die Anmerkung von José Antonio Pérez Bowie in ebda., S. 173.
25 Aub, Max: Manuscrito Cuervo, S. 72.
26 Vgl. hierzu Pérez Bowie, José Antonio: Estudio introductorio, S. 24–28.
Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive 313
27 Aub, Max: Manuscrito Cuervo, S. 75. Man könnte das Sprichwort wie folgt verdeutschen:
„Ist der Wahnsinn gut, geht er nicht kaputt.“
314 Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive
gung, Vertreibung und Vernichtung Max Aub ebenso wie Werner Krauss mit
dem ungeheuer reichen Schatz spanischer Sprichwörter intensiv beschäftigten.28
Max Aub zog genauso wie Werner Krauss die Konsequenzen aus einer Di-
alektik der Aufklärung, die Tod und Vernichtung aus einem Höchstmaß an
Rationalität hervorbrachte. Denn er wusste sehr wohl: Dem Irrationalen ist
mit rationalen Mitteln allein nicht beizukommen. Damit löst sich das Fakti-
sche nicht im alptraumartig Fiktionalen auf; vielmehr erhebt das Fiktionale fun-
damentalen Anspruch auf die Schaffung einer (Erzähl-)Welt, welche die von
Arendt beklagte Kommunikationslosigkeit der Augenzeugenberichte überwindet
und eine komplexe kommunikative Situation herstellt, die zwischen Faktizität
und Fiktionalität pendelt. Man könnte all dies als Max Aubs Theorie des kommu-
nikativen Raben bezeichnen, in welcher der reale Autor im Hintergrund, als fi-
gura jedoch allgegenwärtig bleibt. Aber es gilt: Tal cuervo, tal huevo.29
Aus dieser Perspektive lässt sich verstehen, warum die selbstbezügliche Pa-
rodie des Autornamens gerade auf die Funktion des Übersetzers aus der Ra-
bensprache zielt. Denn dies ist die Instanz, welche die Verbindung zwischen
zwei oder mehreren sprachlichen und kulturellen Welten herstellt und zwi-
schen beiden pendelt. Im Translatorischen – und nicht im Testimonialen –
scheint jene zentrale Aufgabe des Übersetzers auf, die im Manuscrito Cuervo be-
herzt angegangen wird. Denn es geht im Kern darum, das Erlebte und Erfah-
rene sinnlich – das heißt ästhetisch – erfahrbar und nacherlebbar zu machen.
Das Oszillieren zwischen zwei korrespondierenden Welten, das es im Au-
genzeugenbericht aus den Konzentrationslagern mit dem höchst unerwünsch-
ten Effekt einer unkontrollierbaren, alptraumartigen ‚Fiktionalisierung‘ zu tun
bekam, wird hier bewusst und kontrolliert dazu verwendet, Fiktionalität und
Faktizität intensiv miteinander in Austausch und Wechselwirkung zu setzen.
Dieses Aubs Rabenmanuskript auszeichnende Pendeln zwischen jenen Polen,
die man auf der Textebene als Fiktion und Diktion verstehen darf, lässt sich am
besten wohl als Friktionalität30 bezeichnen: Hier wird das außersprachlich Re-
ferentialisierbare mit dem Fiktionalen unauflösbar verwoben.
28 Vgl. hierzu den erstmals 1946 veröffentlichten Band von Krauss, Werner: Die Welt im spani-
schen Sprichwort – spanisch und deutsch. Leipzig: Verlag Philipp Reclam 21971. Auch Werner
Krauss weiß vom Raben: „Der Rabe kann nicht schwärzer sein als seine Flügel / No puede ser
el cuervo más negro que sus alas“ (S. 99). Diese Spruchweisheit figuriert auch in der kleinen
Sammlung von Rabensprüchen, die der Sammler Max Aub unter der Überschrift „De nosotros
para con ellos“ zusammentrug (Manuscrito Cuervo, S. 70).
29 Ebda.
30 Vgl. zu diesem Begriff das Kapitel „Fiktion, Diktion: Friktion“ in Ette, Ottmar: Roland Bart-
hes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 308–312.
Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive 315
Chroniken der Neuen Welt wird das Eigene zum universalen Maßstab, das An-
dere aber zur Abweichung, zur Devianz, die als inferior stigmatisiert wird.31
Und doch erlaubt diese rabenschwarze Einfärbung vielfache Perspektivenwech-
sel, welche der Erzähltext mit seinen Leserinnen und Lesern mit immer neuen
Überraschungen durchspielt.
Die Gesamtheit des Textes von Manuscrito Cuervo besteht zunächst – wie wir
sahen – aus einem komplex aufgebauten Paratext, der sich im Wesentlichen aus
einer wohldurchdachten Titelseite, einem Vorwort des Herausgebers nebst Motto,
einem Inhaltsverzeichnis, das vielfältige Parallelen zu Acostas Historia natural y
moral de las Indias, aber nur wenige Entsprechungen zum Rabenmanuskript
selbst aufweist, und einem kurzen Einleitungstext Jacobos zusammensetzt, der
seinerseits als „Schwellentext“ mit Blick auf die nachfolgenden Texte bezeichnet
werden kann. Zum Paratext sind aber auch die Fußnoten und Anmerkungen von
Herausgeber und Übersetzer wie auch die Überschriften der – unter Einschluss
der „Consideraciones preliminares de mí“ – insgesamt neunundfünfzig mehr oder
minder kurzen Texte zu zählen, in die sich Manuscrito Cuervo gliedert.
Daraus ergibt sich eine recht auffällige Gesamtstruktur. Erst die sorgfältige
Einbettung dieser Kurztexte führt vor Augen, dass die Anlage des Gesamttextes
auf einem fragmentarischen, in viele verschiedene Teile zerfallenden Schreiben be-
ruht, das durch eine große Zahl an Diskontinuitäten und Brüchen geprägt ist. Da-
raus ergibt sich eine archipelische Strukturierung mit unzähligen Text-Inseln
und Inselchen, die untereinander in Beziehung stehen. Dies erlaubt zwar stellen-
weise eine inhaltliche und thematische Bündelung, wie sie in den jeweiligen
Überschriften der Kurztexte zum Ausdruck kommt, induziert vor allem aber eine
hohe Mobilität beim Springen von Textinsel zu Textinsel, von Perspektive zu Per-
spektive, was durch den heterogenitätsschaffenden Einbau von Dialogen, Defini-
tionen, Sprichwörtersammlungen,32 eines Gedichts33 oder anderer Textbausteine
verstärkt wird.
Auf diese kunstvolle und ingeniöse Weise zeichnet sich eine Form experi-
mentellen Schreibens ab, wie sie Max Aub wenige Jahre später in Jusep Torres
Campalans, dem von vielen lange Zeit für glaubwürdig gehaltenen Portrait eines
von ihm erfundenen Malers der katalanischen Avantgarde, in einer gleichsam
kubistischen, multiperspektivischen Weise in die Praxis umsetzen sollte.34 Max
31 Vgl. Todorov, Tzvetan: La conquête de l’Amérique. La question de l’autre. Paris: Seuil 1982.
32 Vgl. Aub, Max: Manuscrito Cuervo, u. a. S. 88.
33 Ebda., S. 143–145.
34 Vgl. zu diesem wichtigen Scharniertext zwischen Avantgarde und postavantgardistischer
Ästhetik das diesem Roman Max Aubs gewidmete Kapitel in Ette, Ottmar: Von den historischen
Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 549 ff.
Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive 317
Aubs Schreiben bewegt sich unaufhörlich zwischen den Ästhetiken der Avant-
garde sowie der Postavantgarde und damit auf dem Weg in experimentelle
Schreibformen der Postmoderne, die sich hier ihren kreativen Weg bahnen.
Eine solchermaßen zwischen den verschiedenen Text-Inseln hin- und her-
springende, diskontinuierliche Strukturierung – im Sinne einer offenen Struk-
tur – vervielfacht die Möglichkeiten friktionalen Schreibens, da die Wechsel
zwischen dominant narrativen oder deskriptiven, lyrischen oder diskursiven
Modi abrupt gestaltet werden können. Schreibformen des Gedichts wie der wis-
senschaftlichen Abhandlung, des Prologs wie einer aktentypischen Datenerhe-
bung, der literarischen Erzählung oder einer heimatgeschichtlichen Auflistung
bilden ein hochgradig heterogenes Textkorpus, das durch ständige Sprünge
und Abbrüche gekennzeichnet ist. So wie die Konzentrationslager in Europa
von Italien, Spanien und Frankreich über Deutschland und Polen bis in die
Lager der Sowjetunion Archipele von Inseln bilden – nicht umsonst ist mit
Blick auf die sowjetischen Lager vom „Archipel GULAG“ die Rede –, so bilden
die Text-Inseln Max Aubs ein System mobiler Relationen und Archipele, die
miteinander in lebhaftem Austausch stehen.
Dabei kommt der gezielten Auslassung von Informationen, vor allem aber der
Hinzufügung oft unscheinbarer Elemente eine große Bedeutung zu. So erscheint
das Lager von Le Vernet ab der Titelseite unter der Bezeichnung „Vernete“, so
dass – wie schon beim Übersetzernamen – die Hinzufügung auf das einer referen-
tialisierbaren Wirklichkeit künstlich und nicht selten kunstvoll ‚Hinzugefügte‘ auf-
merksam macht und auf dieser Grundlage eine eigene, markierte Wirklichkeit
schafft. „Vernete“ ist – wie viele andere erweiterte Textelemente auch – weder al-
lein dem Pol des Faktischen noch allein jenem des Fiktionalen zuzuweisen: Es ist
das Lager von Le Vernet, in dem Max Aub zweimal interniert wurde, bevor man
ihn nach Djelfa deportierte, und zugleich mehr: „algo más.“ Dies macht – um mit
den Acosta zugeschriebenen Worten zu sprechen – wahrhaftig die Besonder-
heit und den Rätselcharakter der „obras de la divina arte“35 aus. Denn sie sind
anderes und weit mehr als eine simple ‚Widerspiegelung‘ von Realität, um es
mit einem vielfach vulgärmarxistisch gebrauchten Ausdruck zu sagen.
So verwundert es auch nicht, dass Max Aub nicht umhin konnte, dem Wap-
pen von Foix ein kleines, unscheinbares, aber den Charakter des Friktionalen
betonendes Element hinzuzufügen: einen Dreizack;36 seien die Ursprünge der
Focenses, der Gründer des nahegelegenen Foix, doch maritimer Natur. Die
35 Ebda., S. 46.
36 Ebda., S. 64. Vgl. hierzu Naharro-Calderón, José María: Epílogo: De „Cadahalso 34“ a Ma-
nuscrito Cuervo: el retorno de las alambradas. In: Aub, Max: Manuscrito Cuervo, S. 227.
318 Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive
leichte Abweichung, die Differenz durch Hinzufügung, erzeugt zwar nicht die
Friktion, markiert sie aber – abhängig vom Kenntnisstand der jeweiligen Lese-
rinnen und Leser – mehr oder minder deutlich. Durch das Einschmuggeln au-
ßersprachlich nicht referentialisierbarer Details, durch die Einführung leichter
Veränderungen entsteht gleichsam ein – wie sich mit Jorge Luis Borges sagen
ließe – Orbis Tertius37 der Literatur und damit jenes „algo más“, jenes „etwas
mehr“, das im Sinne von Max Aub die Literaturen der Welt auszeichnet.
Diese diskreten Grenzüberschreitungen zwischen „fictions“ und „facts“ wer-
den durch die Infragestellungen von Territorialisierungen jeglicher Art verstärkt.
Schon in seinen Vorüberlegungen verweist Jacobo aus rabenzentrischer und für
die Raben schreibender Perspektive auf die unter den Menschen übliche Koppe-
lung von Nativität und Nationalität, auf die wir in unserer Vorlesung im Zusam-
menhang mit der Funktion der Geburt schon mehrfach gestoßen waren:
Es ist nun einmal so, dass ich nicht weiß, wo ich geboren wurde. Ich halte diesen Aspekt
für wichtig, weil die Menschen sich entschieden haben, dass der Ort, wo sie zum ersten
Male das Licht der Welt erblicken, von höchster Transzendenz für ihre Zukunft ist. Mit
anderen Worten: Anstatt in einem Nest A geboren zu werden, wird man im Nest B gebo-
ren, und damit verändern sich die Lebensbedingungen voll und ganz. Wenn Sie in Peking
geboren wurden, so werden sie gütlich zu einem Chinesen erklärt; wenn sie auf die sel-
bige Weise ein Bewohner von Buenos Aires aber sind, werden sie zum Argentinier, und
dabei ist es gleich, ob sie weiß, schwarz, gelb oder kupferfarben aussehen. Zur größeren
Klarheit kommen die Reisepässe noch hinzu. Könnt Ihr Euch einen französischen Raben
oder einen spanischen Raben vorstellen, und dies allein auf Grund der Tatsache, auf der
einen oder der anderen Seite der Pyrenäen geboren worden zu sein? [...] Das heißt, dass
sie die Vaterschaft mit dem Boden verbinden, was das Resultat sehr alter Riten sein
muss. Ihre Territorien symbolisieren sie mit bunten Flaggen. Diese verändern sich mit
den Zeiten und mit den Beflaggungen.38
An dieser wie an vielen anderen Stellen erweist sich die Perspektive des Raben
auf die menschlichen Gesellschaften als höchst produktiv. Denn die Weltsicht
eines Raben, dem nichts Menschliches fremd ist, erlaubt dank ihrer Außenper-
spektive eine fundamentale Infragestellung von Gepflogenheiten, Gesetzen und
Grenzziehungen unter den Menschen, die zwar – wie etwa die Verbindung von
Territorialität und Identität – von den Menschen als ‚natürlich‘ dargestellt wer-
den, sich aus der Außenperspektive aber rasch als völlig arbiträr und damit kul-
turell bedingt zu erkennen geben. Grenzen erweisen sich als Fiktionen, die
gleichwohl höchst real sind und das Leben und Zusammenleben der Menschen
37 Vgl. Borges, Jorge Luis: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. In (ders.): Obras Completas. Bd. 1. Barce-
lona: Emecé Editores 1996, S. 431–443.
38 Aub, Max: Manuscrito Cuervo, S. 53 f.
Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive 319
beherrschen. Doch sind sie ebenso veränderlich wie die Fahnen, welche sie be-
zeichnen und voneinander abgrenzen. Die für Jacobo unbegreifliche Territoria-
lisierung des Denkens und Handelns löst sich nicht in Luft auf, verliert aber
gerade dadurch an Solidität, dass sie von Natur in Geschichte umgewandelt
und durch ihre Rückverwandlung in das Ergebnis eines geschichtlichen Prozes-
ses entmythologisiert wird.39 Aus der Vogelperspektive wird vieles klarer!
Max Aub greift überdies auf eine literarische Tradition zurück, die sich in der
französischen Literatur bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert entwickelte, im
aufklärerischen Projekt von Montesquieus Lettres persanes, aber dann ihren bis
heute vielleicht prägnantesten und literarisch überzeugendsten Ausdruck fand.40
Die Außensicht imaginierter Perser auf eine ihnen fremde Pariser Welt erlaubte
es dem jungen Montesquieu, in der multiperspektivischen Form des Briefromans
nicht nur die Formen inter- beziehungsweise transkultureller Wahrnehmung zu
reflektieren. Vielmehr beleuchtete er auch die so natürlich scheinenden Selbst-
verständlichkeiten, Riten und Mythen – von der in Stände gegliederten Kleidung
über das Verhalten in Opernhäusern (für das sich auch Jacobo interessiert) bis
hin zum hierarchischen Aufbau von Klerus und Staat – als arbiträre kulturelle
Setzungen und interessegeleitete Klassifizierungen. Mit Hilfe dieses im Grunde
simplen Verfahrens wird ‚Natur‘ in der Menschheitsgeschichte in ‚Kultur‘ zurück-
verwandelt: Die Riten menschlichen Zusammenlebens erscheinen als kulturelle
Setzungen und damit als veränderbar.
Damit stehen sich nicht länger das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ unversöhn-
lich gegenüber. Im Verfahren der Verfremdung und dem dadurch erzeugten
Fremdwerden des Eigenen wird im ernsthaften Spiel das Eigene wie das Fremde
neu perspektiviert: Fremdes und Eigenes stehen sich nicht mehr als ‚natürliche‘
Wesenheiten fremd gegenüber, sondern erweisen sich als aufs Engste miteinan-
der verflochtene kulturelle Zuschreibungen, die verändert werden können.41 Aus
Jacobos nicht weniger imaginierter Rabenperspektive schreibt sich Max Aub in
diese philosophisch-aufklärerische Tradition ein, wobei ihm der Rückgriff auf die
Sichtweise eines der Menschheit fremd und verfremdend gegenüberstehenden
Tieres ermöglicht, zusätzlich zur lokalen südwestfranzösischen und regional
westeuropäischen auch eine weltumspannende, weltpolitische und die gesamte
Menschheit erfassende Sichtweise zu entwickeln. Max Aubs literarisches Projekt
hat nicht allein einen moralistischen, sondern auch einen bisweilen stark ver-
fremdeten aufklärerischen Grundzug, in welchem einige der zentralen Elemente
Welch ein Schaden war es für mich, in unserer vernagelten Welt von nirgendwoher zu
sein! So zu heißen, wie ich nun einmal heiße, mit einem Vor- und einem Nachnamen, die
aus dem einen wie dem anderen Land stammen könnten... Im gegenwärtigen Klima eines
vernagelten Nationalismus in Paris geboren und Spanier zu sein, einen in Deutschland
geborenen spanischen Vater und eine Pariser Mutter mit ebenfalls deutscher Herkunft,
aber slawischem Nachnamen zu haben und mit diesem französischen Akzent zu spre-
chen, der mein Kastilisch zerreißt – welch ein Schaden war all dies für mich! Der Agnosti-
zismus meiner freidenkerischen Eltern, in einem katholischen Land wie Spanien, oder
ihre jüdische Abstammung in einem antisemitischen Land wie Frankreich – wieviel Ver-
druss, wieviel Erniedrigung hat mir all dies eingetragen! Welch eine Schmach! Manches
von meiner Kraft – von meinen Kräften – habe ich darauf verwandt, gegen solch schänd-
liches Denken anzukämpfen.
Doch sei trotz alledem und zum Ruhme seiner Größe festgehalten, dass es Spanien
ist, wo am wenigsten dieser feige Nationalismus, dieser rohe Bodensatz unserer Epoche,
floriert – auch wenn dies unglaublich erscheinen mag. Dort musste ich niemals hören,
was ich andernorts, hier und dort, als Lohn dafür zu hören bekam, ein Mensch zu sein,
ein Mensch wie jeder andere.42
Die Abfolge seiner Verfolgungen führte Max Aub nicht zuletzt auf seine Geburt
und auf seine Namensgebung mit Vor- und Nachnamen zurück, die von überall
sein konnten, aber nicht leicht territorialisierbar waren. Die schmerzhafte Auf-
zählung all jener Grenzziehungen, die ihn seit seiner Geburt immer wieder mar-
ginalisierten und ausgrenzten, ihn – im Sinne Hannah Arendts – überall in
Europa zum Paria werden ließen, leitet über zur Konturierung des Menschen an
und für sich, eines Menschen, der als un „hombre como cualquiera“ nicht nur
toleriert, sondern in seiner Differenz anerkannt und respektiert werden will.
Doch bei aller Liebe zu Spanien, die in so vielen seiner Texte immer wieder her-
vortritt – trotz all der Grausamkeiten, die er dort miterleben musste –, wollte
42 Aub, Max: Diarios (1939–1972). Edición de Manuel Aznar Soler. Barcelona: Alba Editorial
1998, S. 128 f.
Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive 321
Max Aub nicht als Spanier und nicht als Franzose, nicht als Deutscher und
nicht als Mexikaner, nicht als Jude und nicht als Agnostiker, sondern als ein
Mensch in seiner vollen geistigen und kulturellen Entfaltung verstanden wer-
den. Innerhalb jenes Zeitraums, den Max Aub im 20. Jahrhundert erlebte, war
dieser Wunsch für ihn aber unendlich schwer zu erfüllen.
Der kreative Ort, die ersehnte Heterotopie für diese Wunscherfüllung aber
war für ihn die Literatur. Jacobos Rabenperspektive auf die Menschen und die
Menschheit erlaubt es Aub, von außen her die Frage nach den Bedingungen
des menschlichen Lebens und nach den Mechanismen von Eingrenzung und
Ausgrenzung auf spielerische Weise und mit den Mitteln der Literatur gleichsam
experimentell zu stellen. Literatur wurde spätestens seit der Erfahrung der
Konzentrationslager zum Versuchslabor seines Lebens, zu jenem Experimen-
tierraum, in welchem er sich als Mensch voll entfalten konnte.
Wie aber richtet sich Aub dieses literarische Versuchslabor seines Lebens
ein? Wie gestaltet er diesen Experimentierraum literarisch? Es verwundert
nicht, dass er sich in seiner Literatur die unterschiedlichsten Namen gab und
die verschiedenartigsten Identitätszuschreibungen verlieh. Dabei handelt es
sich um Namensveränderungen, die wir auch im paratextuellen Apparat dieses
Manuscrito Cuervo wie schon in einer anderen Vorlesung in seinem Jussep Torres
Campalans konstatieren konnten. Das offene Spiel mit literarischen Pseudony-
men und mit unterschiedlichen „noms de plume“ manipuliert die eigene Geburt
und vor allem die mit ihr einhergehende Namensgebung: Mit einem Federstrich
schafft sich Aub eine andere Welt und ein anderes literarisches Gefieder.
Doch ein weiteres43 kommt hinzu: Das Spiel zwischen Vorfinden und Erfin-
den, zwischen fiktional erzeugter Realität und real fundierter Fiktionalität lässt
eine Friktionalität entstehen, deren hohe Reibungsenergie es dem ‚homo lu-
dens‘ Max Aub gestattet, ebenso die Grenzziehungen zwischen Fiktion und Re-
alität als auch jene zwischen Spiel und Ernst literarisch außer Kraft zu setzen.
Die Auseinandersetzung mit den Totalitarismen seiner Zeit lässt Aub die Ele-
mente und Ursprünge einer totalen Friktion entwickeln, die freilich – wie wir
noch sehen werden – ihrerseits an spezifische Grenzen stößt.
Dabei wird ihm das Konzentrationslager nicht nur zu einem wichtigen
Ausgangspunkt bei der Untersuchung von Mechanismen der Ausgrenzung und
Eingrenzung, sondern zum Paradigma menschlichen Lebens (und wohl auch
Sterbens) überhaupt. Das Konzentrationslager ist folglich kein ‚Betriebsunfall‘
43 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Weiter denken. Viellogisches denken / viellogisches Denken und
die Wege zu einer Epistemologie der Erweiterung. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturge-
schichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XL, 1–4 (2016), S. 331–355.
322 Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive
der Geschichte, sondern steht für ein Zusammenleben, für eine Konvivenz zwi-
schen den Menschen ein, die es im Folgenden zu untersuchen gilt. Denn wir nä-
hern uns hier zweifellos einer der für die literarische Kreation entscheidenden
Konfigurationen im Universum des Max Aub.
Fassen wir an dieser Stelle unserer Vorlesung die Ergebnisse unserer bishe-
rigen Auseinandersetzung mit Max Aubs ‚kleinem‘ Welt-Fraktal zusammen:
Wie in einem Brennspiegel laufen die semantischen Grundlinien von Manu-
scrito Cuervo auf dessen hochgradig verdichteter Titelseite zusammen. Ähnlich
bildet das Konzentrationslager von Vernete, welches das Lager von Le Vernet,
aber zugleich „algo más“ – viele andere Lager ist –, jenen Brennpunkt, von
dem aus paradigmatisch das Leben der Menschen an sich und für sich aufge-
stellt, dargestellt und zur Schau gestellt werden kann. Denn das Rabenmanu-
skript ist sicherlich einer der spielerischsten, aber auch philosophischsten
Texte aus der Schreibwerkstatt von Aub. Erst mit der Schaffung der mobilen,
aus Sicht der Menschen exzentrischen und territorial grenzüberschreitenden
Beobachterperspektive Jacobos gelingt es dem in Frankreich geborenen, in Spa-
nien aufgewachsenen sowie zum Schriftsteller gewordenen und später in Me-
xiko exilierten Aub, von höherer Warte aus das Lager zu überblicken und in
größter Verdichtung mit der Frage nach dem Leben des Menschen zu verknüp-
fen. So entsteht gleichsam aus der Vogelperspektive eine Anthropologie in prag-
matischer Hinsicht – und aus der Sicht eines sich mit seinen eigenen wie mit
anderen Federn schmückenden Raben.
In seinem mexikanischen Exil sehnte sich Aub danach, von Zeit zu Zeit wie-
der nach Europa zurückkehren zu können. Seine den unterschiedlichen euro-
päischen Ländern gegenüber kritische Haltung verlor er dabei keineswegs. In
einem Brief vom 22. Februar 1951 aus Mexiko an den damaligen französischen
Staatspräsidenten Vincent Auriol protestierte Max Aub gegen die Ablehnung
seines Antrags auf ein Visum, das ihm erstmals wieder den Besuch im Frank-
reich der Nachkriegszeit ermöglicht hätte. Dabei verwahrte er sich energisch
gegen jene anonyme Denunzierung und Anschuldigung, ein gefährlicher Kom-
munist zu sein, welche ihm Verfolgung, Gefängnis und Lageraufenthalte im
Stade Roland Garros, in Le Vernet und Djelfa eingebracht hatte, und beschrieb
seinen Lebensweg ebenso lapidar wie bitter:
Ich bin Schriftsteller, Spanier und war 1936 und 1937 Kulturattaché der Botschaft Spani-
ens in Frankreich. Lassen wir beiseite, dass ich in Paris auf die Welt kam, was der ganzen
Situation nur etwas Tragikomisches verleihen könnte. Im März 1940 wurde ich auf Grund
einer möglicherweise anonymen Denunzierung festgenommen, weil ich – wie ich erst
später erfuhr – Kommunist sei. Ich lernte Konzentrationslager – in Paris, Vernet, Djelfa –,
Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive 323
44 Aub, Max: Carta al Presidente Vicente Auriol. In (ders.): Hablo como hombre. Edición, int-
roducción y notas de Gonzalo Sobejano. Segorbe: Fundación Max Aub 2002, S. 112.
45 Aub, Max: Hablo como hombre, S. 34. Vgl. die Übersetzung von Römer 3, 5: „Ich rede nach
menschlicher Weise.“ In: Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Nach den
Grundtexten übersetzt und herausgegeben von Vinzenz Hamp, Meinrad Stenzel und Josef
Kürzinger. Aschaffenburg: Paul Pattloch Verlag 1969, S. 200.
46 Soldevila Durante, Ignacio: La obra narrativa de Max Aub (1929–1969). Madrid: Gredos
1973, S. 120 f.
324 Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive
ist kein simples Missverständnis eines mit der Menschheit nicht allzu gut ver-
trauten Rabenhirns, das nicht zwischen ‚Freiheit‘ und ‚Gefangenschaft‘ unter-
scheiden könnte, sondern kreativer Ausfluss jenes dramatischen Erlebens von
Konzentrations- und Arbeitslagern, in die Max Aub auf Grund einer anonymen
Denunzierung nicht als Jude, sondern als vermeintlicher Kommunist, als spani-
scher „Rojo“ erstmals eingeliefert worden war.
In der Tat ist die überwiegende Mehrzahl der Aussagen, die Jacobo über die
Menschen trifft, genereller Natur und geht weit über die Grenzen des „campo de
Vernete“, des südfranzösischen Konzentrationslagers, hinaus. Die Bruchstücke
des Lagerlebens sind stets eingebettet in Fragen menschlicher Gemeinschaft,
der Möglichkeiten einer Konvivenz unter den Menschen und der Wirksamkeit in-
ternationaler Beziehungen überhaupt.
Im Konzentrationslager konzentrieren sich für den französischen Mutter-
sprachler jene Elemente, die für Leben und Zusammenleben der Menschheit
insgesamt charakteristisch sind. Der gelehrte Universitätsrabe hat sich weder
die Beschreibung eines konkreten Konzentrationslagers noch des Lagers an
sich, sondern des Lebens der Menschen zum Ziel gesetzt, als wäre das Leben
im Lager mit dem Leben der Menschen gleichzusetzen. Daher rührt auch das
wiederholt im Manuscrito Cuervo auftauchende Spiel mit der Polysemie des
Wörtchens „campo“, welches mit dem für Aub so charakteristischen raben-
schwarzen Humor das Lagerleben mit dem Landleben zu verwechseln scheint
und die Gänge im Lager mit Spaziergängen auf dem Land in Verbindung bringt.
Am hintergründigsten und treffendsten aber ist jener Vers aus dem am 11. Novem-
ber 1941 verfassten Gedicht Entierro en Vernet, in dem auch das Krächzen der
Raben nicht fehlen darf: „campo de campos cercado.“47 Wo hört das Lager auf?
Was wie ein grundsätzlicher methodologischer Irrtum in Jacobos lebens-
wissenschaftlichem Forschungsprojekt über die Spezies Mensch daherkommt,
ist die eigentliche Crux des Textes. Denn hat das Lager überhaupt Grenzen? Wir
erkennen zwar die Konturen des in der sogenannten „Zone libre“ liegenden La-
gers im Frankreich des Vichy-Regimes, doch macht uns schon die trockene An-
merkung in der Fußnote des Herausgebers J.R. Bululú hellhörig, wisse er doch
nicht, was mit ‚freier Zone‘ eigentlich gemeint sei.48 Denn die Freiheit dieser
Zone ist nichts anderes als ein sprachlicher, auf Macht und Gewalt basierender
Euphemismus.
Im Rabenmanuskript stehen sich nicht eine Zone der Freiheit und eine Zone
der Gefangenschaft, eine Zone des Rechts und eine des Unrechts, eine Zone der
Menschlichkeit und eine der Unmenschlichkeit, des Lebens und des Todes ge-
genüber. Vielmehr bildet das Konzentrationslager in Aubs Manuscrito Cuervo den
Brennspiegel, den konzentrischen und konzentrierenden Reflektor der mensch-
lichen Gesellschaft dieser Epoche überhaupt: ein „campo de concentración“ der
Literatur, in dem „Lo más aquilatado, la médula, lo más enjundioso“,49 also das
Wesentliche der menschlichen Existenz zum Vorschein kommt.
Hannah Arendt hatte – wie wir sahen – in ihrer Theorie totaler Herrschaft
das Konzentrationslager als Laboratorium, als Experimentierstätte verstanden, in
der die Möglichkeiten totaler Beherrschung der menschlichen Spezies erforscht
und erprobt werden. Von der Forschung und Erprobung ist es oft nur ein kleiner,
wenn auch nicht immer leichter Schritt bis zur Massenproduktion und industriel-
len Nutzbarmachung. An die Stelle eines zweckorientierten Herstellens von Gü-
tern (wie etwa im Arbeitslager) tritt im Konzentrations- und Vernichtungslager –
ohne die Zwangsarbeit völlig auszuschalten – die Produktion und Selbstrepro-
duktion nackter Macht, ein selbstzweckhaftes Handeln,50 dessen Ziel Arendt
freilich an die Expansion und Intensivierung totaler Herrschaft zurückbindet.
Innerhalb dieses Experimentier- und Produktionsprozesses in den Lagern von
Hitlers Naziregime wie von Stalins Sowjetregime unterschied Hannah Arendt
verschiedene Phasen, die sich – wie wir bereits gesehen haben – von der Tö-
tung des juristischen Menschen über die Tötung des moralischen bis hin zu
Tötung des physischen Menschen erstrecken.51
Diese unbarmherzige Logik des Lagers, die sich hinter offensichtlicher Will-
kür und scheinbarer Absurdität verbirgt und ihre Verankerung in der Rationali-
tät einer Dialektik der Aufklärung offenbart, zeichnet sich auf den Seiten des
Rabenmanuskripts ab, auch wenn Jacobo die Realität der Vernichtungslager im
unmittelbaren Herrschaftsbereich der Nazis nur vom Hörensagen bekannt sein
konnte. Im Abschnitt „Über den Tod“ berichtet der Rabe darüber, dass die Men-
schen ihre Mitmenschen früher an Bäumen aufgehängt hätten als Opfer zu
Ehren der Raben und ihres Gottes, des „Gran Cuervo“. Der Nachfahre der Gal-
genvögel bezieht sich dabei auf die Tradition des Rabensteins, der Kultstätte
unter dem Galgen, an dem die Gehängten zur Freude der schwarzen Vögel bau-
melten. Noch der Unfalltod von Wilhelm Buschs Unglücksrabe Hans Hucke-
49 Ebda., S. 96.
50 Auf die Nähe dieser Überlegungen zur Luhmann‘schen Systemtheorie und die „Selbstproduk-
tion von Funktionssystemen“ hat hingewiesen Brunkhorst, Hauke: Hannah Arendt. München:
Beck 1999, S. 76.
51 Vgl. hierzu Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 907–943.
326 Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive
bein, der sich im Rausch an der Schlinge von Tante Lottes Tischtuch aufhängt,
verweist in der Umkehrung auf diese traditionelle Beziehung des Raben zum
plötzlichen Tod, zur „mors repentina“, am Galgen. Max Aub dürften aber auch
jene deutschen Kinderverse nicht unbekannt gewesen sein, die auf den Raben
als Aasvogel verweisen: „Fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben!“
Diese – aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts wohl als vormodern zu be-
zeichnenden – Zeiten, in denen die Leichen der Verurteilten auch noch auf
hohen Türmen der Verwesung und den Raben preisgegeben waren, seien aber
nun endgültig vorbei und hätten den Zeichen einer anderen Epoche in der
Menschheitsgeschichte endgültig Platz gemacht:
In allerjüngster Zeit, seit das Abschlachten besser organisiert wurde, haben sie unerhörte
Extreme erreicht, die Ausgeburten ihrer Verzweiflung sind. Um uns zu beleidigen, verbren-
nen sie das Fleisch, nachdem sie es in speziellen Kammern mit Hilfe von Gas desinfiziert
haben. Ich nehme an, dass die in Genf anhängige Beschwerde unseres Botschafters über
dieses ungebührliche Betragen nicht folgenlos bleiben wird. Wenn der Holocaust nicht zu
unserer Ehre stattfindet – wozu dann die Kriege? Wozu so viele Leichen? Und, oh Gipfel
der Dummheit, sie wählen noch nicht einmal jene aus, die am besten gemästet sind!52
54 Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italie-
nischen von Hubert Thüring. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 127.
55 Ebda., S. 179.
56 Ebda.
57 Ebda., S. 75.
58 Aub, Max: Manuscrito Cuervo, S. 96.
59 Ebda. Der Rabe kommentiert zumindest die englischen Ursprünge mit beißendem Spott:
„Los ingleses inventaron los campos de concentración, pero para los demás: razón de su at-
raso.“ Manuscrito Cuervo, S. 121.
328 Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive
Die Flüchtlinge hatten nichts als das nackte Leben über die Pyrenäengrenze
gerettet.
Die Figur des Flüchtlings, des Heimatlosen und Staatenlosen, des Verbann-
ten und außerhalb des Gesetzes lebenden Outlaws sowie buchstäblich Vogel-
freien leitet sich – wie Giorgio Agamben nachwies – vom homo sacer der Antike
her. Er ist derjenige, „der getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf“,63
den jeder „erschlagen kann, ohne einen Mord zu begehen“,64 und dessen „ganze
Existenz auf ein nacktes, aller Rechte entkleidetes Leben reduziert“ ist, „das er
nur auf der endlosen Flucht oder in der Zuflucht eines fremden Landes retten
kann“.65 Der homo sacer ist gleichwohl noch auf seiner Flucht mit jener souverä-
nen Macht verbunden, die ihn verbannt hat, und jenen ausgeliefert, die ihn straf-
frei töten, aber nicht opfern dürfen.
Des Raben Jacobo tiefgründige Einsicht in diesen grundlegenden Mechanis-
mus, der dazu führt, dass die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern
in einem genau berechneten, absichtsvoll quälenden Verfahren zu Tode Ge-
brachten außerhalb jeglichen Gesetzes straffrei getötet werden, ohne geopfert
werden zu dürfen, macht auf die ökonomische, juridische und politische Über-
flüssigkeit dieser Vertreterinnen und Vertreter des homo sacer in der Moderne
aufmerksam. Hannah Arendt hat dies zeitgleich mit Aubs Rabenmanuskript –
und diese Koinzidenz ist bemerkenswert – in aller Deutlichkeit festgestellt:
Der ‚Konzentrationär‘ hat keinen Preis, weil er jederzeit ersetzt werden kann, und er gehört
niemandem zu eigen. Er ist, was das Leben der normalen Gesellschaft angeht, vollkommen
überflüssig, obwohl er wegen der großen Knappheit an Arbeitskräften in Deutschland wäh-
rend des Krieges zur Arbeit verwendet wurde und obwohl das russische System die Einrich-
tung der Läger und das ungeheure in ihnen konzentrierte Menschenmaterial auch dazu
benutzt, Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu regeln. Diese Regelung erfolgt
durch eine planmäßige Regelung der Todesrate in den Lagern.66
Max Aubs Galgenvogel der Literatur scheint all dies zu wissen oder doch zu-
mindest zu erahnen. Die Fiktion in der Historia de Jacobo erweist sich als tod-
ernstes Übersetzungsspiel des homo ludens Aben Máximo Albarrón mit dem
homo sacer Max Aub – und belegt ganz nebenbei die prospektive, Entwicklun-
gen vorzeichnende Fähigkeit und Kraft der Literaturen der Welt. Zwischen bei-
den Figurae Aubs entsteht jene Friktion, die spielerisch eine ernste Einsicht
vorantreibt: Das Konzentrationslager ist nicht die Ausnahme, die Anomalie,
63 Ebda., S. 18.
64 Ebda., S. 192.
65 Ebda.
66 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 917.
330 Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive
sondern jenes Paradigma, welches das Leben wie das Zusammenleben der Men-
schen in der Moderne regelt. Es verkörpert gleichsam dieses Leben des Menschen
in der Moderne. Was die Rationalität des Diskurses von Hannah Arendt uns viel-
leicht nicht nahe genug bringt, löst die Fiktion von Max Aubs Rabenmanuskript
ein: Es bringt uns das Grauen und Entsetzen der Konzentrations- und Vernich-
tungslager sinnlich und nacherlebbar nahe. Es verkörpert ein Lebenswissen, das
sich aus dem Erleben und Überleben der Konzentrationslager speist.
Aber gehört nicht all dies längst der Vergangenheit an? Ist dies nicht le-
diglich der verständliche Versuch einer Hannah Arendt oder eines Max Aub,
das Erleben des Grauens geschichts- und existenzphilosophisch beziehungs-
weise ästhetisch und autobiographisch zu ‚verarbeiten‘ und zu ‚meistern‘? Bu-
lulú, stets ein Echo politisch und akademisch anscheinend korrekter Stimmen,
könnte uns diesen Schluss nahelegen, betont er doch, er veröffentliche dieses
Manuskript „únicamente como curiosidad bibliográfica y recuerdo de un tiempo
pasado que, a lo que dicen, no ha de volver, ya que es de todos bien sabido que
se acabaron las guerras y los campos de concentración.“67 Alles sei also längst
vorüber, die Phase der Kriege und der Konzentrationslager lange schon über-
wunden und gehöre einer anderen, definitiv in die Vor-Geschichte verabschiede-
ten Vergangenheit der Menschheit an.
Die bittere Ironie, die aus diesen Zeilen spricht, kristallisiert sich überdeut-
lich in der Aussage, dass es mit den Kriegen endgültig vorbei sei. Wenn dem
aber leicht nachprüfbar nicht so ist, dann gilt das Andauern des nur scheinbar
Vergangenen – so legt uns der Text nahe – nicht weniger für die Konzentrati-
onslager. Das Fortdauern der Lager wiederum ist je nach Land unterschiedlich
im Bewusstsein verschiedener Bevölkerungssegmente verankert. Doch kann es
keinen Zweifel daran geben, dass Bululús Behauptung invers die fortgeführte
Existenz von Lagern unterstreicht.
An eben dieser Stelle setzt jenes Lebenswissen an, das in Max Aubs Manu-
scrito Cuervo – ganz im Sinne des erwähnten Mottos – ‚versteckt‘ ist. Dieses vi-
tale Wissen beruht auf der Erfahrung des homo sacer, auf dem Erleben des
nackten Lebens. Es ist ein Überlebenswissen im Angesicht der nackten Macht
und im Bewusstsein eines Lebens, das in der Literatur – analog zum Konzentra-
tionslager – einen eigenen, souveränen Raum in konzentrierter Form erbaut.
Mithin bildet die Literatur jenen von Aub im Diario de Djelfa bedeuteten le-
bensrettenden Ort eines souveränen Lebens, das sich der nackten Gewalt in der
Geburt des schöpferischen Aktes entgegenstemmt. Schreiben ist an diesem Ort
mehr als nur Lebenszeichen: Es beinhaltet in Aubs Worten ein In-die-Welt-
Setzen und verstetigt sich im Raum der Literatur zum Lebenswissen und Über-
lebenswissen, im Lager selbst sogar zum Zusammenlebenswissen. Im „Hablo
como hombre“ des Manuscrito Cuervo hat der homo sacer zur Feder des ‚corvus
in fabula‘ gegriffen und im Schutze des Rabengefieders mehr als nur seine
nackte Haut gerettet. Denn der Konzentrationär hat sich in einem schöpferisch
wiederholten Geburtsprozess dem eigenen Sterben entgegengestellt.
Auf diese Weise entfaltet Jacobo mit seinen rabenschwarzen Federn vor un-
seren Augen nicht allein ein Konzentrationslager, sondern eine ganze Welt, die
in den Kategorien des Konzentrationslagers darstellbar und lesbar wird. Die
von Hannah Arendt untersuchte Tötung des Menschen in drei Stufen stellt den
im Manuscrito Cuervo in kurzen, verdichteten Bildern fragmentarisch beleuch-
teten Menschenversuch am homo sacer in der engagierten, analytischen, wenn
auch bisweilen bitteren Sprache der Philosophin dar. Max Aubs Schreiben je-
doch sucht, diesem Menschenversuch einen eigenen experimentellen Text ent-
gegenzustellen, eine literarische Experimentierstätte, deren Voraussetzung ein
komplexes Kommunikationssystem ist. Dieses Kommunikationssystem ist das
der Literaturen der Welt.
Dabei bedient sich der Schriftsteller nicht zuletzt jener literarischen Verfah-
ren, die ihm aus einer nun aus postavantgardistischer Perspektive gesehenen
historischen Avantgarde zu Gebote standen.68 Manuscrito Cuervo markiert wie
wohl kein anderer Text Max Aubs die Fundierung einer Entwicklung hin zu
postmodernen Schreibformen, die freilich grundlegend im Bewusstsein einer
ethischen Verpflichtung der eigenen „écriture“ verankert sind. Ethik und Äs-
thetik verbinden sich im Kontext moralistischer und aufklärerischer Traditio-
nen zu einem Schreiben, in dem sich das Lebenswissen und Überlebenswissen
mit dem Wissen um das eigene Überleben in der Literatur und durch die Litera-
tur verbindet. Es ist diese Konfiguration, die sich dem Sterben und dem Tod in
den Konzentrationslagern aktiv entgegenstellt.
Die Erfahrung des Ich im Lager, mithin das physische und psychische Erleben
jenes Ortes, an dem sich im Sinne Hannah Arendts bei der „Präparation lebender
Leichname“69 Leben und Tod nicht mehr länger voneinander unterscheiden lassen
und an dem man laut Giorgio Agamben weniger von Leben als von einem „Tod in
Bewegung“70 sprechen müsse, macht bei Aub – und später, wie wir sehen werden,
auch bei Jorge Semprún – die Projektion des eigenen Überlebenswissens auf das
literarische Tun fast unumgänglich. Denn das Schreiben ist jene Aktivität, die
noch vom Leben kündet, wenn das eigene Leben längst vergangen ist. Die Frage,
warum er über die Menschen schreibe, beantwortet der Rabe Jacobo nicht nur mit
einem gekrächzten „porque me da la corvina gana“,71 weil es also meine Raben-
lust ist, und mit dem Argument, dass seine Forschungen allen Raben dieser Welt
zum Nutzen gereichen würden. Er fügt diesen hinlänglichen Gründen ohne zu
zögern hinzu: „por la gloria que, seguramente, he de sacar de esta empresa“.72
Denn für Jacobo übersteigt der Ruhm, den er aus dem Schreiben gewinnt, alle
anderen denkbaren Vorteile.
Der reale Autor Max Aub hätte diese Frage kaum anders beantwortet, ver-
wies er doch in seinen Tagebüchern – so etwa in einem Eintrag vom 10. Novem-
ber 1943 – darauf, dass er mit seinem Schreiben sein Weiterleben nach dem
Tode sichern wolle: „¿Yo, contesté, para salvarme y ser famoso. Si miro muy a
mis adentros no han cambiado en nada las razones de mi empuje de escritor.“73
Er schreibe also, um berühmt zu werden, sei zum Schriftsteller geworden, um
etwas Überzeitliches zu schaffen. Die Literatur ist für Aub auch nach der Erfah-
rung des „universo concentracionario“ von Le Vernet und Djelfa stets eine
Form der Lebensrettung – und zugleich ein Überlebenswissen: ein Wissen vom
Überleben im konzentrierten Raum der Literatur und ihrer Geschichte, das ihn
nicht allein vor einem sofortigen physischen Tod bewahrt, sondern auch seinen
Namen und sein Angedenken vor dem (endgültigen) Tod durch Vergessenwer-
den retten wird. So heißt es noch am 12. Februar 1954 mit der für Aub so charak-
teristischen Ironie: „escribo para permanecer en los manuales de literatura, para
estar ahí, para vivir cuando haya muerto.“74 Er schreibe, um in die Literaturge-
schichten aufgenommen zu werden, um dort noch am Leben zu sein, wenn er
längst gestorben sei. Aub weiß um diese Stärke der Literatur, das in die Welt
zu setzen, was über die Zeit hinausgeht.75
Die literarischen und zugleich ludischen Elemente finden sich in Aubs Ra-
benmanuskript zuhauf. So wird etwa das Manuskript der Historia de Jacobo
vom Herausgeber nach dem Verlassen des Lagers von Vernete in einem Koffer
gefunden. Es ist, als ob neben allen literarischen Anspielungen und bereits er-
wähnten Verweisen mit den Mitteln der Fiktion der schmerzliche Verlust eines
Koffers voller Manuskripte Max Aubs76 im damaligen Frankreich wettgemacht
werden sollte. Manuscrito Cuervo entstand nach dem Verlassen der Alten in der
Neuen Welt, nach jenen Erfahrungen, die Max Aub in französischen Gefängnis-
sen und Konzentrationslagern machen musste. Ist der Text daher ein Schreiben
nach dem Lager?
Vor dem Hintergrund der hier vorgestellten Überlegungen sind Zweifel an
einer derartigen Einschätzung angebracht. Denn die Historia de Jacobo ent-
stand gewiss nach dem Aufenthalt im Lager, nicht aber nach dem Lager als sol-
chem. Anders als Theodor W. Adorno, dessen berühmtes Diktum das Schreiben
von Lyrik nach Auschwitz als barbarisch brandmarkte, hat Hannah Arendt die
Dichtung in deutscher Sprache nicht nur im Zeichen des heraufziehenden Nati-
onalsozialismus, sondern gerade mit Blick auf die Erfahrung von Auschwitz für
unverzichtbar gehalten.77 So schrieb die Königsberger Philosophin in einem
Brief vom 1. Januar 1933 an ihren verehrten Lehrer Karl Jaspers: „Für mich ist
Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung. Für all das
kann und muß ich einstehen.“78 Nur mit viel Glück und Geistesgegenwart war sie
im Chaos der französischen Niederlage am Ende der „drôle de guerre“ aus dem
südwestfranzösischen Lager von Gurs entkommen,79 dessen Überlebende spä-
ter – wie sie in New York erfuhr – nach Auschwitz deportiert wurden.80
Max Aub hat sein Verhältnis zum Lager mehrfach – und auch in seinem
Rabenmanuskript – präzise bestimmt. Die ironisch gespiegelte Äußerung Bulu-
lús macht deutlich, dass Max Aub sein eigenes Schreiben in Lyrik, Epik und
Dramatik nicht in einer Zeit ansiedelt, in der die Kriege und die Lager längst
der Vergangenheit angehören. Das Konzentrationslager von Le Vernet d’Ariège
mochte aufgelöst sein. In seinem Denken und Schreiben aber bestand das
Lager im Sinne Giorgio Agambens als Matrix und Grundstruktur der abendlän-
dischen Gesellschaft fort. Eben dies hat der Rabe Jacobo sehr genau erkannt.
Nur vor diesem Hintergrund lässt sich wohl verstehen, warum Max Aub
ans Ende seines Rabenmanuskripts jene Betrachtungen des Vogels über die für
ihn letztlich unbegreiflichen menschlichen Widersprüche, die „contradicciones
del hombre“,81 stellt. Die auf den letzten Seiten des Manuskripts zum Ausdruck
gebrachte Bewunderung Jacobos für die Kommunisten, die sich anders als alle
anderen weder durch arbiträre nationale Grenzziehungen noch durch das Geld
von ihrer Solidarität und ihrer Hingabe für ihre Überzeugungen abbringen lie-
ßen, schlägt urplötzlich um in Entsetzen angesichts der auch bei ihnen beob-
achteten Logik des Ausschlusses:
Aber in dem Augenblick, in dem einer aus der Gruppe nicht mit der Meinung der Mehr-
heit übereinstimmt, verstoßen sie ihn unter den schlimmsten Anschuldigungen; sie mei-
den ihn, als hätte er die Pest; was allesamt mit dem nichts zu tun hat, was sie öffentlich
verkünden: der Mensch zuerst. Starrköpfig und sektiererisch sind sie, vom Misstrauen
zerfressen. Wer nicht wie sie denkt, ist ein Verräter. [...] Nie und nimmer lassen sie zu,
dass jemand die Dinge von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, der nicht der ihre
ist, obwohl sie selbst sich den Luxus gönnen, ihn häufig zu wechseln. [...] Sie vertreten
die Auffassung, dass der Mensch das Produkt seiner Umgebung ist; aber wenn er nicht
denkt wie sie, liquidieren sie ihn, ohne zu berücksichtigen, dass er – nach ihrer eigenen
Theorie – keine Schuld daran trägt. Das Schlimme ist: Die anderen sind noch schlimmer,
des Geldes wegen.
Es muss noch etwas anderes geben.82
An dieser Stelle also, ganz am Ende des Rabenmanuskripts, kommt das be-
rühmte Aub’sche Diktum, es müsse noch etwas Anderes geben: „Debe haber
algo más.“ Die Abrechnung Jacobos mit den Kommunisten skizziert die Grund-
strukturen eines totalitären Denkens, das jenseits der Solidarität innerhalb
einer gleichgeschalteten Gruppe nur die Mechanismen von Ausschließen und
Liquidieren, von Ausgrenzung und Vernichtung kennt. Aus dieser Ausschlie-
ßungs-Logik – und hierin liegt ein zentrales Gnosem des Überlebenswissens
und Zusammenlebenswissens dieses Schriftstellers – versucht das Schreiben
Max Aubs definitiv auszubrechen.
Und wieder ergibt sich eine Parallele zwischen dem in Paris geborenen spa-
nischen Autor und der in Königsberg geborenen New Yorker Philosophin. Wie
83 In seinem Vorwort zu dieser Sammlung fasste Gonzalo Sobejano diese Werte bündig zusam-
men: „Sinceridad, humanismo, dignidad, solidaridad, moral, esperanza, libertad, hombría, ent-
usiasmo, tolerancia, humanidad, fe en el hombre.“ Sobejano, Gonzalo: Estudio introductorio.
In: Aub, Max: Hablo como hombre, S. 25.
84 Aub, Max: Manuscrito Cuervo, S. 169.
336 Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive
härenten Analyse entfernte und jene Sicherheit eines Beobachters von außen ver-
lor, wie sie Chronisten fremder Welten – und neben José de Acosta wären hier
noch ganz andere zu nennen gewesen – zu entwickeln pflegen.
Denn am Ende der letzten Text-Insel seines Archipels ist der ‚auctor corvi-
nus‘ – so scheint es – mit seinem Rabenlatein am Ende. Dort aber hatte laut
Inhaltsverzeichnis das vierzehnte und letzte Kapitel seiner geplanten For-
schungsarbeit behandelt werden sollen: „De cómo para ser de verdad hombre
hay que estar a la altura de las circunstancias, de lo difícil que resulta sin alas.“85
Die conditio humana, dies lässt sich nicht bestreiten, beinhaltet ein Leben ohne
Flügel. Wie aber kann der Mensch dann auf der Höhe der Dinge, auf der Höhe
seiner Zeitumstände sein?
Doch die Frage nach der conditio humana und den aus der Rabenperspek-
tive verständlichen Schwierigkeiten des Menschen, ohne Flügel und Blick von
oben zu leben, blieb keineswegs ausgespart. Jacobos Scheitern ist von langer
Hand vorbereitet und in Szene gesetzt, es stößt an die Grenzen dessen, was aus
seiner Perspektive verstehbar ist und noch verständlich oder kommunizierbar
gemacht werden kann.
Die Grenze, an die Jacobo stößt, ist die Grenze des Lagers. Das Problem sei-
ner Darstellung besteht jedoch gerade nicht darin, die Welt der Menschen mit
dem Innenraum des Lagers verwechselt zu haben. Denn dort hat der Rabe kon-
zentriert vorgefunden, was die Gesellschaft und das Denken der Menschen im
„Massenzeitalter“86 der Moderne bestimmt. Die Einsichten Hannah Arendts,
der Zeitgenossin seines Schöpfers Max Aub, könnten die seinen sein: „Der Ver-
such der totalen Herrschaft, in den Laboratorien der Konzentrationslager das
Überflüssigwerden von Menschen herauszuexperimentieren, entspricht aufs ge-
naueste den Erfahrungen moderner Massen von ihrer eigenen Überflüssigkeit
in einer übervölkerten Welt und der Sinnlosigkeit dieser Welt selbst.“87
Gegen diese Vermassung der willkürlich ausgewählten ‚Überflüssigen‘ der
Konzentrationslager setzt das Manuscrito Cuervo den zufällig ausgewählten Ka-
talog der internierten Individuen, die als Spanier, Deutsche, Belgier, Polen oder
Franzosen, als Republikaner, Kommunisten, Faschisten und Apolitische, als
Künstler und Handwerker, Choleriker, Nasenbohrer und Schachspieler mit
ihrer je eigenen singulären Lebensgeschichte und ihren individuellen Ticks er-
85 Ebda., S. 51. Das Thema des flügellosen Menschen wurde bereits im Inhaltsverzeichnis durch
eine Fußnote des Herausgebers problematisiert, die intertextuell auf Eugene O’Neills Theater-
stück All God’s Chillun Got Wings von 1923 aufmerksam macht; vgl. ebda., S. 51 sowie S. 174.
86 Vgl. hierzu Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 907.
87 Ebda., S. 938.
Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive 337
scheinen. Sie alle sind liebevoll und mit vielen Details gestaltet. In diesem
unter den Titel „Algunos hombres“ gestellten Katalog scheitert das Projekt des
Wissenschaftlers Jacobo, der die Spezies Mensch und nicht deren Individuen
erforschen wollte: Es zerplatzt in eine im Grunde unendliche Vielfalt jener, die
im Lager als Menschen der Vernichtung ihrer juristischen, moralischen und
physischen Individualität preisgegeben werden, vor unseren Augen aber noch
einmal in ihrer irreduktiblen Verschiedenheit als Menschen erscheinen. In die-
sem Mensch-Sein sind sie irreduzibel.
Jede dieser einzelnen Figuren besitzt seinen eigenen Blick auf die Welt, ent-
wickelt seine eigene Logik, die im literarischen Spiel des Manuscrito Cuervo zu
einer Polylogik zusammengefügt wird. Stellvertretend für viele andere werden
sie uns allesamt vor-gestellt. Mit all ihren Vorstellungen bricht über die wissen-
schaftliche Konzeption eine Datenflut herein, die begrifflich nicht mehr aufge-
löst werden kann – und zugleich mit der Rabenperspektive bricht, ist Jacobo
hier doch bestenfalls noch ‚compilator‘, aber nicht mehr (expliziter und fikti-
ver) ‚auctor‘ seines Textes. In diesem Sinne lässt sich nicht vom ‚Scheitern‘ des
Manuscrito Cuervo in seiner Gänze sprechen: Es demonstriert weder die Unzu-
länglichkeit von Sprache88 noch die „imposibilidad de escribir“,89 die Unmög-
lichkeit des Schreibens an sich. Das Scheitern des Raben enthält ein Gelingen:
Der explizite Autor macht dem Lebenswissen, Erlebenswissen, Überlebenswis-
sen und Zusammenlebenswissen des realen Autors Platz.
Jacobos Grundproblem besteht darin, die Tatsache nachzuvollziehen, dass
sich innerhalb des Lagers ständig neue Lager bilden, die – von solidarischen
Menschen eingerichtet – ihrerseits auf Ausgrenzung und Vernichtung abzielen.
Ist dies ein Wesenszug des Menschen, eine Grundhaltung seines aus Rabensicht
eher verachteten Mensch-Seins? Die Grenze Jacobos ist der homo sacer, jener
Mensch, der getötet, aber nicht geopfert werden darf, jenes Individuum, das im
ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert in den Lagern Kubas, Mexi-
kos oder Nordkoreas, Chiles oder Chinas, Ruandas oder Russlands, im US-Lager
von Guantánamo oder in den Lagern des ehemaligen Jugoslawien, an den italie-
nischen und spanischen Küsten und nordafrikanischen oder kleinasiatischen Ge-
genküsten der Europäischen Union, am Zugang zum Eurotunnel oder in den
„zones d’attente“ unserer Flughäfen, en miniature in der Verfolgung von Ed-
ward Snowden oder in der isolierten Inhaftierung von Julian Assange existiert.
88 Vgl. José Antonio Pérez Bowie, der in seinem „Estudio introductorio“ (S. 22) von „la con-
statación del fracaso de la escritura, de la impotencia del lenguaje para dar cuenta de determi-
nadas realidades“ spricht.
89 Naharro-Calderón, José María: Epílogo, S. 220.
338 Max Aub oder das Konzentrationslager aus der Vogelperspektive
Die Vervielfachung der Lager ist auch aus der Vogelperspektive längst nicht
mehr zu überblicken!
Die Strukturen des Lagers – und die verschiedensten Formen des Lagerden-
kens – finden sich überall. Jacobo hat die todbringenden Mechanismen des La-
gers erkannt und weiß um jene „entortende Verortung“ als „Matrix der Politik,
in der wir auch heute noch leben und die wir durch alle Metamorphosen hin-
durch zu erkennen lernen müssen“.90 Seine Verzweiflung ist die Verzweiflung
der (akademischen) Philosophie angesichts ihrer Analysen des Lagers und des
homo sacer. Doch die Mittel der Literatur gehen über diese akademischen Her-
angehensweisen hinaus und beinhalten jenes „algo más“, auf dessen Suche
sich Max Aub nach seinem Diario de Djelfa begeben hat.
Max Aubs Manuscrito Cuervo teilt diese Verzweiflung, überträgt ihre Ana-
lyse aber der krähenden Stimme einer akademisch disziplinierten Wissen-
schaft, deren Verfahren er literarisch parodiert und persifliert. Seine Antwort
auf Jacobos „Debe haber algo más“ – und auf das von Hannah Arendt im Ein-
gangszitat beklagte „apathische Nicht-mehr-Begreifen“91 – ist jene Friktion, die
sich in seinem Text zwischen homo sacer und homo ludens einstellt.
Wo die Wissenschaft – gerade auch bei Giorgio Agamben92 – in eine mono-
perspektivische Sichtweise zu verfallen droht, bildet die archipelisierte, polyper-
spektivische Sprache der Aub’schen Literatur jene friktionale Experimentierstätte,
die nicht nur das Lager zu simulieren und zu subvertieren, sondern zugleich in
einer Pendelbewegung spielerischen Ernstes semantisch und existentiell zu kon-
zentrieren und wieder zu dekonzentrieren versteht. Das ernste Spiel mit der Logik
der Vernichtung schafft einen Spielraum, in dem Gemeinschaft wieder denkbar
und lebbar wird. Und so mag es seinen Sinn haben, dass der homo sacer Max Aub
nicht nur ganz wie Hannah Arendt im Kreis von Freunden, sondern darüber hin-
aus als homo ludens seinen Tod beim Kartenspiel93 – dem er ein wunderbar viel-
deutiges Text- und Bildspiel widmete94 – fand. Und auch dieses Karten-Spiel war
ein Spiel mit dem Tod, denn das gemeinsame Thema der „cartas“ (als Briefe und
von keinem Geringeren als Jusep Torres Campalans höchstselbst entworfenen
Wenden wir uns nun dem Überlebenden eines Konzentrations- und Vernich-
tungslager zu, der – wie der Schriftsteller Christoph Hein es anlässlich der Verlei-
hung der Ehrendoktorwürde an diesen Autor an der Universität Potsdam am
25. Mai 2007 formulierte – vielleicht wie kein anderer das Gesicht des 20. Jahrhun-
derts repräsentiert: Ich spreche von keinem anderen als dem in Spanien gebore-
nen und überwiegend in französischer Sprache schreibenden Jorge Semprún!
Dieser behandelte in einer Vielzahl herausragender literarischer Werke seine De-
portation nach Deutschland und seinen langen ‚Aufenthalt‘ im berüchtigten
Konzentrationslager Buchenwald.
Ich darf Ihnen verraten, dass meine erste persönliche Begegnung mit die-
sem herausragenden Schriftsteller vor langen Jahren am Instituto Cervantes in
Berlin stattfand. Ich unterhielt mich gerade mit dem Direktor des Museums
Konzentrationslager Buchenwald, als endlich die Türe aufging und Jorge Sem-
prún zu unserer Gruppe stieß. Er kam herein, erblickte den Museumsdirektor
und wünschte nicht „Guten Tag“ oder „Guten Abend“: Seine ersten Worte rich-
teten sich mit einer einfachen Frage an ihn: „Wie geht’s zuhause?“ Und damit
meinte er ‚sein‘ Konzentrationslager, das er nur mit sehr viel Glück und tatkräf-
tigem Geschick überlebt hatte.
Dies war mein erster persönlicher Eindruck von Jorge Semprún. Ich habe
das Glück gehabt, diesen Schriftsteller in der Folge noch jahrelang wiederzuse-
hen, habe ihn bei allen meinen Paris-Aufenthalten unweit der Seine in der Rue
de l’Université besucht und auch damals am Flughafen Tegel abgeholt, als er
zum Empfang seiner ehrendoktorwürde für zweieinhalb Tage nach Potsdam
kam, wobei er sich auch mit den Doktorandinnen und Doktoranden meines
Kolloquiums traf. Es war die erste Ehrendoktorwürde, die Semprún in Deutsch-
land zuteilwurde, und sie war etwas Besonderes für ihn.1
Ich erinnere mich noch gut, wie Jorge Semprún am Flughafen durch die
Kontrolle ging und leichtfüßig ohne Koffer auf mich zukam. Er hatte in Tegel
kein Gepäck bei sich, sondern nur eine kleine abgegriffene Aktentasche aus
Leder, in welcher sich eine Zahnbürste, etwas zum Rasieren, ein frisches Hemd,
1 Dieses Kapitel meiner Vorlesung geht weit über meine Laudatio auf Jorge Semprún anläss-
lich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Pots-
dam an Jorge Semprún am 25. Mai 2007 hinaus. Die Laudatio findet sich in Ette, Ottmar:
Lebensfuge oder Eine Philosophie des ÜberLebenSchreibens. Laudatio für Jorge Semprún. In:
Lendemains (Tübingen) XXXII, 126–127 (2007), S. 193–207.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-011
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 341
eine Krawatte und etwas zum Lesen befand. Das war alles! Ich gestehe Ihnen
offen, dass für mich der Festakt zur Verleihung der Ehrendoktorwürde, um den
sich manche Anekdoten ranken, der eigentliche Höhepunkt des Lebens der Phi-
losophischen Fakultät an dieser Universität war. Es waren wunderbare Stunden
mit einem der Schriftsteller, die mich in meinem beruflichen wie in meinem pri-
vaten Leben am tiefsten beeindruckt haben.
Doch steigen wir direkt ein in unsere Lektüre von Jorge Semprún, der auf
Französisch Jorge Semprun heißt! Wir tun dies mit einem Text, der Schreiben,
Leben und Sterben auf intime Weise aufeinander bezieht:
Ich betrachte den blauen Himmel über dem Grab von César Vallejo auf dem Friedhof von
Montparnasse. Vallejo hatte recht. Ich besitze nichts anderes als meinen Tod, meine Er-
fahrung des Todes, um mein Leben zu sagen, um es auszudrücken, um es nach vorne zu
stellen. Es muss sein, dass ich mit all diesem Tod Leben fabriziere. Und die beste Art, dies
erfolgreich zu tun, ist das Schreiben. Aber das Schreiben führt mich zum Tod zurück,
schließt mich ein, dreht mir die Luft ab. Genau dort bin ich jetzt: Ich kann nur noch
leben, indem ich durch das Schreiben diesen Tod annehme, aber das Schreiben verbietet
mir buchstäblich zu leben.2
In dieser poetischen Passage, die sich exakt im Zentrum von Jorge Semprúns
erstmals 1994 erschienenen Band L’écriture ou la vie befindet, entwickelt der
Ich-Erzähler das den gesamten Text, letztlich aber auch das Gesamtwerk des
am 10. Dezember 1923 in Madrid geborenen und am 7. Juni 2011 in Paris verstor-
benen Autors strukturierende Paradox von Schreiben und Sterben, Leben und
Tod. Der keineswegs zufällig gewählte Ausgangspunkt für diese Überlegungen
ist das Grabmal des peruanischen Dichters César Vallejo in Paris und damit ein
„lieu de mémoire“, ein Gedächtnisort, von dem aus nicht nur die ganz selbst-
verständlich nationale Grenzen überschreitende Dimension spanischsprachiger
Lyrik, sondern auch die Situation des Exils und vor allem die Allgegenwart des
Todes als Produktivkraft für die Literatur eingeblendet werden. Wir werden auf
César Vallejo, mit dessen Lyrik und Engagement im Spanischen Bürgerkrieg ich
mich in einer anderen Vorlesung bereits beschäftigt habe,3 noch an späterer
Stelle in dieser Vorlesung zurückkommen.
Der am Grabmal Vallejos vollzogene Rückgriff auf das Wissen der Literatur –
das im Sinne Semprúns zum Lebenswissen und Überlebenswissen erst dadurch
werden kann, dass es dem Tod die künstlerische Schöpfung entgegenstellt, die
als solche die Präsenz über den eigenen physischen Tod hinaus in Aussicht
stellt – bildet einen genialen Kunstgriff des Erzählers wie seines Autors. Sem-
prún gibt dem Blick vom Friedhof auf Paris, der spätestens seit Balzacs Père
Goriot zum Topos existentieller Entscheidungen wurde, eine neue Richtung,
indem er dem Tod wie dem Schreiben von Literatur entgegenruft: A nous deux
maintenant!
Denn Jorge Semprún, jener Schriftsteller, den wir den translingualen Litera-
turen ohne festen Wohnsitz zurechnen dürfen,4 tut dies, indem er den Tod
nicht als einen End-, sondern buchstäblich als einen Ausgangspunkt markiert:
Von hier aus verkörpert sich ein Überlebenswillen und ein Überlebenswissen,
das vom Überleben der Literatur wie des Schreibenden kündet. Nur Schriftstel-
ler vermögen es, so Semprún in seiner Ansprache am 10. April 2005 in Weimar
aus Anlass des sechzigsten Jahrestages der Befreiung der nationalsozialisti-
schen Konzentrationslager, „die lebendige und vitale Erinnerung wieder zum
Leben [zu] erwecken“.5
Im Zentrum des gesamten literarischen und philosophischen Schaffens von
Jorge Semprún, der als Schriftsteller, Essayist und Intellektueller zu den heraus-
ragendsten und weltweit renommiertesten Stimmen des europäischen Denkens
und Schreibens zählt, steht ohne jeden Zweifel der immer wieder neu, immer
wieder anders perspektivierte Begriff des Lebens. Und wie ein Max Aub verbin-
det er mit diesem Zentralbegriff den Begriff des Lagers und des Schreibens, der
„écriture“ dessen, was durch das Leben im Lager zum Schreiben drängt, zu-
gleich aber noch immer mit dem Tode verbunden ist. Denn anders als Max Aub
musste Semprún im Konzentrations- und Vernichtungslager Buchenwald den
vieltausendfachen Tod zahlloser Mitgefangener erleben, der nach der Befreiung
das eigene Überleben immer wieder mit dem Tod in Verbindung brachte.
4 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz (Über-
Lebenswissen II). Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005.
5 Semprún, Jorge: Rede am 10. April 2005 im Weimarer Nationaltheater anlässlich der zentra-
len Gedenkveranstaltung aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung der nationalsozialisti-
schen Konzentrationslager. Internet-Ausdruck http://landesarbeitsgericht.thueringen.de/de/
politisch.veranstaltungen (11.12.2006), S. 2.
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 343
6 Ebda.
7 Semprún, Jorge: L’écriture ou la vie, S. 304 f.
344 Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens
Al fin de la batalla,
y muerto el combatiente, vino hacia él un hombre
y le dijo: „No mueras, te amo tanto!“
Pero el cadáver ¡ay! siguió muriendo...10
8 Ebda., S. 190.
9 Ebda., S. 219.
10 Ebda., S. 251.
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 345
Das Wissen der Literatur vom Leben wird gerade im Augenblick und im Ange-
sicht des Todes zu einem Wissen im Leben und für das Leben, auch wenn Val-
lejos utopische Vision eines Leichnams, der dank der Bemühungen aller wieder
ins Leben zurückkehrt,11 nicht einfach realiter in Erfüllung gehen kann. Doch
die Präsenz, die sinnlich erfahrbare Gegenwart der Literatur verleiht einem
Tod, der sinn- und würdelos gestorben wird, jenen Sinn, der das Sterben trans-
figuriert und den physischen Tod transzendiert. Das Leben und mehr noch das
Sterben erhalten ihre menschliche Würde zurück und verwandeln sich auf
diese Weise – und auch für das Gedächtnis an den soeben verstorbenen ‚Rot-
spanier‘ selbst – in sinnvolle, einem gesamten kämpferischen Leben Sinn ver-
leihende Akte.
Nicht anders hatte der Erzähler Maurice Halbwachs, der einst Lehrer des
Philosophiestudenten Jorge Semprún an der Sorbonne gewesen war und dessen
posthum erschienenes und bis heute wegweisendes Buch La mémoire collec-
tive12 vielfältig ins Schaffen seines früheren Schülers Eingang gefunden hat,
kurz vor dessen Tod in Buchenwald Verse von Baudelaire ins Ohr geraunt: „Ô
mort, vieux capitaine, il est temps / levons l’ancre …“13 – „Tod, Du alter Kapi-
tän, Es ist an der Zeit, lichten wir die Anker!“ Das Gedicht Baudelaires, so der
Erzähler, habe als Sterbegebet seine Wirkung nicht verfehlt: „son regard avait
brillé d’une terrible fierté.“14 Denn der Blick von Maurice Halbwachs „habe von
einem schrecklichen Stolz geglänzt“. Es ist die Literatur, es ist die vom Men-
schen bewusst geformte und verdichtete Sprache, die selbst dem Sterbenden
noch Würde verleiht und seinem sinnlosen Tod im Konzentrationslager doch
noch Sinn verleiht.
Wie Hannah Arendt in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herr-
schaft – wie wir sahen – ausführt, soll den Konzentrationären alle Würde, alle
Funktion, ja ihr gesamtes Menschsein noch vor ihrem Tod genommen werden.
Die dem Konzentrations- und Vernichtungslager Ausgelieferten sterben ver-
schiedene Tode, die ihnen nach und nach alles Menschliche nehmen: Ihr Ster-
ben vollzieht sich in verschiedenen Schritten, die von einer kalten Rationalität
gesteuert alles Humane auslöschen. Doch die Literatur und deren Lebenswissen
stellen sich dieser Unmenschlichkeit entgegen, setzen weit über die Zeit hinaus-
gehende Zeichen einer Menschlichkeit, die auch im Lager noch von höchster Be-
11 Vgl. Vallejo, César: Masa. In (ders.): Obra poética completa. Introducción de Américo Fer-
rari. Madrid: Alianza Editorial 1983, S. 300.
12 Vgl. Halbwachs, Maurice: La mémoire collective. Ouvrage posthume publ. par Jeanne Alex-
andre née Halbwachs. Paris: Presses Universitaires de France 1950.
13 Semprún, Jorge: L’écriture ou la vie, S. 250.
14 Ebda.
346 Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens
deutung sind: nicht, weil sie den Menschen Hoffnung auf das eigene Überleben
machten, sondern weil sie diesen Menschen ihre Würde, ihren Stolz und ihr
Menschsein zurückgeben, die ihnen vom gnadenlosen Regime eines rationalen
Totalitarismus geraubt wurden.
Noch stärker akzentuierte Semprún die Wirkung der Verse Baudelaires in
seinen Reflexionen über Mal et Modernité, wo es heißt: „un mince frémissement
s’esquisse sur les lèvres de Maurice Halbwachs. / Il sourit, mourant, son regard
sur moi, fraternel.“15 – „Ein leichtes Zittern zeichnet sich auf den Lippen von
Maurice Halbwachs ab. / Sterbend lächelt er, seinen Blick auf mich geheftet,
brüderlich.“ Hier wird mit literarischen Mitteln ‚demonstriert‘, in welchem
Maße das Lebenswissen der Literatur gerade auch den Tod herauszufordern
vermag, wird aufgezeigt, über welche Macht die Literatur verfügt.
Betrachten wir die unterschiedlichen Inszenierungsweisen dieses Abschieds,
so wird deutlich: Wir befinden uns im Reich der Zeichen, im Reich der Literatur,
und wir sollten uns vor dem so häufig begangenen Fehler hüten, den Ich-
Erzähler mit dem realen Autor Jorge Semprún gleichzusetzen! Denn so oft diese
Szene auch in L’écriture ou la vie wie in anderen Texten Semprúns geradezu ob-
sessiv wiederkehrt: In L’évanouissement wird von Maurice Halbwachs’ Tod auf
andere, gleichsam komplementäre Weise berichtet, erfährt hier der Erzähler
doch vom Tod ‚seines‘ Soziologieprofessors an der Sorbonne durch die Sterbelis-
ten in der ‚Arbeitsstatistik‘ des KZ Buchenwald.16
Jorge Semprúns Schreiben findet seinen Sitz im Leben nicht durch den Re-
kurs auf Augenzeugenschaft: Es nutzt die testimoniale Dimension vielmehr für
die Spiel-Räume, die allein die Kunst der Literatur bietet. Denn die Lüge der
Fiktion erzeugt die höhere Wahrheit der Kunst. Anders als das testimoniale
Schreiben findet sich die Literatur dabei auf der Seite des Lebens wieder und
bildet – bezieht man die in den Text eingeblendeten Frauenbeziehungen mit
ein – ein geradezu magisches Dreieck aus Lesen, Leben und Lieben. Genau an
dieser Stelle öffnet sich für den Schriftsteller Semprún jene Türe, welche das
Schreiben jenseits von Primo Levis Selbstmord aus der Sphäre des Todes befreit
und dank des Lebenswissens der Literatur auf das Leben hin perspektiviert.
Denn Schreiben ist nicht gleich Schreiben!
Das Lesen ist dabei sehr häufig selbstbezüglich und höchst produktiv.
Immer wieder entfaltet Jorge Semprún als Leser seiner eigenen Texte bestimmte
15 Semprún, Jorge: Mal et Modernité: le Travail de l’Histoire, suivi de „… vous avez une tombe
dans les nuages …“. Marseille: Editions Climats 1995, S. 47.
16 Vgl. hierzu Schoeller, Wilfried F.: Jorge Semprún. Der Roman der Erinnerung. München: edi-
tion text&kritik 2006, S. 188. Freilich findet sich in dieser Untersuchung sehr häufig die direkte
Gleichsetzung von textinterner Erzählerfigur und textexternem Schriftsteller.
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 347
17 Kann, Emma: Im Anblick des Anderen. Gedichte 1989. Konstanz: Hartung-Gorre Verlag
1990, S. 31. Vgl. hierzu auch Ette, Ottmar: „Ein stets sich erneuerndes Buch“. Warum es an der
Zeit ist, Emma Kann zu entdecken. In: Orientierung (Zürich) LXXI, 8 (April 2007), S. 93–96.
18 Semprún, Jorge: L’écriture ou la vie, S. 217.
348 Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens
gelebter Erfahrung und dem fiktionalen Entwurf eines Erlebens, das weit über
das Gelebte, das Erlittene hinausreicht und sich von diesem Leiden ein Stück
weit frei macht. In dieser zutiefst befreienden friktionalen Bewegung entsteht
aus dem Erfahrungswissen des Gelebten und dem Lebenswissen des Gelesenen
ein Erlebenswissen und Überlebenswissen, das den Tod ins eigene Erleben holt
und zum Ausgangspunkt einer Literatur des ÜberLebenSchreibens macht.
Auf den fulminanten Seiten von L’écriture ou la vie gelingt Jorge Semprún
eine ebenso ethisch wie ästhetisch beeindruckende Auseinandersetzung mit dem
„univers concentrationnaire“, in das der 1942 in die Résistance-Organisation
„Franc-Tireurs et Partisans“ eingetretene und seit Sommer 1943 für das Netz
„Jean-Marie Action“ arbeitende junge Philosophiestudent an der Sorbonne ge-
riet, nachdem er infolge von Verhaftung und Folterung durch die Gestapo im Ja-
nuar 1944 ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert worden war. Wie für
Max Aub das allgegenwärtige Wörtchen „campo“ in sich alle literarischen und
vitalen Bedeutungsebenen bündelte, so wurde das Lager für Jorge Semprún
gleichsam zur Matrix des gesamten Schaffens, zum eigentlichen Schlüsselbegriff,
in dem sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts konzentrierte. Es ist beeindru-
ckend, diese Erkenntnis gleichermaßen bei Aub wie bei Semprún und Hannah
Arendt zu konstatieren.
Seit Le grand voyage, Semprúns Romandebüt aus dem Jahre 1963, in dem
sich bereits alle großen Themen der literarischen Lebensreise des 1964 mit dem
Prix Formentor ausgezeichneten Schriftstellers finden lassen, entfaltet sich eine
Beziehung zwischen den Sprachen und Ausdrucksformen der Literatur und der
Philosophie. Dieses Verhältnis hat eine Philosophie des ÜberLebenSchreibens
entstehen lassen, die in der Literaturgeschichte des „univers concentrationnaire“
vielfältige Verbindungen aufweist und doch singulär für sich steht. Es ist nicht
eine unter vielen Geschichten um Konzentrations- und Vernichtungslager, son-
dern die hautnah durcherlebte und gleichwohl literarisch gestaltete Geschichte
dieser Lager, wie sie sich eine Hannah Arendt nur hatte erträumen können.
Dabei werden aus der Perspektivik eines bestimmten Menschen, den wir –
und ich betone dies erneut – nicht mit Jorge Semprún verwechseln oder gar
gleichsetzen dürfen, Philosopheme im Bereich und mit den Mitteln der Literatur
erprobt und umgekehrt die Sprachen der Literatur in die Philosophie übersetzt.
Dieses Verfahren führt viel-logische, unterschiedliche Logiken gleichzeitig entwi-
ckelnde Strukturen in ihrer Simultaneität ästhetisch verlebendigend vor Augen.
Semprúns literarische Kunst – soweit dürfen wir unserem Fazit schon vorgrei-
fen – verkörpert buchstäblich die grundlegenden Antworten, die ein Überlebens-
wissen und ein Überlebenswille auf die Herausforderungen einer Geschichte
totalitärer Barbarei und Lebensvernichtung zu geben vermögen.
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 349
In L’écriture ou la vie lässt sich vor dem Hintergrund unserer bisherigen Un-
tersuchungen ein wesentlicher Ausgangspunkt des Semprún’schen Oeuvre aus-
machen: Das Zeugnishafte, Testimoniale allein – als „écriture“ nicht mit der
„littérature“ zu verwechseln – vermag es nicht, aus der Erfahrung des Todes
jenen Funken des Lebens zu schlagen, der nicht zuletzt deshalb überlebens-
wichtig ist, weil er sich der lebensbedrohenden Falle von Schreiben oder Leben
zu entziehen weiß. So stellt der Ich-Erzähler am Ende einer Diskussion um
die Möglichkeiten, von den Konzentrationslagern später erzählen zu können
und dabei von Menschen verstanden zu werden, die diese menschenverach-
tende Erfahrung nicht in ihrem eigenen Leben erleben mussten, eindeutig die
Notwendigkeit des Hinausgehens über die Darstellung des ‚Faktischen‘ fest:
Was soll das heißen, ‚gut erzählt‘?, empört sich jemand. Man muss die Dinge sagen wie
sie sind, ohne jede Kunstfertigkeit!
Dies ist eine zwingende Behauptung, die von der Mehrheit der Anwesenden gutgehei-
ßen wird, die künftig repatriiert werden sollen. Möglicher künftiger Erzähler. Daher zeige ich
auf, um zu sagen, was mir evident erscheint.
Gut erzählen, das heißt: Dies so zu tun, dass es verstanden wird. Ohne etwas Kunstfer-
tigkeit wird dies nicht gelingen. Genügend Kunstfertigkeit, damit es zu Kunst wird!19
Wenn es folglich gilt, vom Tod in einer dem Leben zugewandten und verleben-
digenden Kunstform zu berichten, dann vermag allein der Rekurs auf die Kraft
einer ästhetisch fundierten Erkenntnis jenes Verständnis, jenes Verstehen her-
aufzuführen, das es erlaubt, die Grenzen des je Besonderen auf die Erfahrung
eines Allgemeinen hin zu transzendieren. Die Antwort auf die (erfolgreiche)
Suche Max Aubs nach dem „algo más“ ist das „un peu d’artifice“ des Jorge
Semprún. Damit aber werden die traditionellen Grenzziehungen zwischen ‚Rea-
lität‘ und ‚Fiktion‘, zwischen ‚Wirklichkeit‘ und ‚Literatur‘ nicht nur in ihrer
Brüchigkeit vorgeführt, sondern an entscheidender Stelle durchbrochen. Denn
die Kunst kann es im Sinne des Semprún’schen Erzählers schaffen, dass die Er-
zählungen aus dem Konzentrationslager verstanden und geglaubt werden. Die
Kunst des Erzählens verleiht der Erzählung eine höhere, vor allem für die Zuhö-
rer und Leser nachvollziehbare, nacherlebbare Wahrheit.
An die Stelle der überkommenen Grenzziehung zwischen Wahrheit und
Fiktion tritt das Spannungsfeld von Erleben und Erfinden, von gelebter/n und
erfundener/n Geschichte/n, von erfundenem Leben und gelebter Erfindung. Es
handelt sich um ein mobiles narratives Netzwerk, das stets auf der Gleichzeitig-
keit vieler Logiken beruht, die – von einem scheinbar singulären Leben her ge-
bündelt – sich ganz im Sinne der Aristotelischen Poetik auf das Allgemeine hin
öffnen. Denn gerade mit Blick auf die Wirkung, mit Blick auf das Erleben von Lite-
ratur durch eine Leserschaft ließe sich sagen: Auch und gerade das erfundene
Leben ist als gelesenes ein erlebtes Leben und damit sinnlich nachvollziehbar.
Damit ist längst auch die Scheidung zwischen Leben und Fiktion brüchig
geworden: Beide sind in einen wechselseitigen Verweisungszusammenhang
eingetreten, so dass Erleben und Erfinden nicht ein Gegensatzpaar im Sinne
von ‚Realität‘ und ‚Fiktion‘ bilden, sondern sich wechselseitig durchdringen,
ohne sich doch je im Selben aufzulösen. Es gehört gewiss zu den vornehmsten
Aufgaben der Literaturen der Welt, den Raum der Freiheit zu eröffnen, um das
Leben neu zu erproben, neu zu erfinden und das erfundene Leben in gelebte
Erfindung zu übersetzen und dadurch intensiver erlebbar zu machen. Die Kraft,
die von diesen Bewegungen der Literatur ausgeht, wurde von Jorge Semprún,
Max Aub und vielen anderen Autorinnen und Autoren vielfach herausgestellt.
Entscheidend für diese hohe Intensität der Literatur als Lebenswissen und
Erlebenswissen ist freilich eine möglichst große Komplexität und Offenheit des
Lebensbegriffs und Lebensverständnisses. Indem uns die Literatur ermöglicht,
in verdichteter Form unterschiedliche Logiken gleichzeitig zu erleben und zu
durchleben, gibt sie uns den Schlüssel in die Hand, uns aus der Herrschaft einer
einzigen Logik, einer einzigen Geschichtsschreibung zu befreien. Sie vermag es,
jeglicher Reduktion des Lebens entgegenzutreten – auch jenen Reduktionen,
wie sie die Biowissenschaften vornehmen.
Das Semprún’sche Erzählmodell, das sich immer wieder aufs Neue aus dem
Erleben und Überleben des Konzentrationslagers Buchenwald speist und das ei-
gene Leben immer wieder anders erfindet und erzählt, eröffnet so den Freiraum
für eine Literatur, die sich nicht auf die Logik des Testimonialen reduzieren lässt,
sondern die Spannung zwischen Erlebtem und Erfundenem verschiedenartig ent-
faltet und intensiviert. Literatur ist ein Erprobungsraum sinnlich erfahrbarer
Komplexität. Und dieser Raum ist zugleich derjenige einer menschlich zu gestal-
tenden Freiheit.
Von dieser gleichsam unendlichen Bewegung zwischen Erleben und Er-
finden werden auch die Grenzen zwischen Leben und Tod erfasst, so dass das
eigene Leben nur aus der Erfahrung des Todes und der eigene Tod nur aus
dem Erleben des Lebens gedacht werden kann – ganz so, wie dies in L’écriture
ou la vie im Rückgriff auf César Vallejo vom Erzähler vorgetragen wird. Dabei
rückt die nicht weniger paradoxe Beziehung zwischen Leben und Wissen ins
Zentrum, die in Semprúns L’écriture ou la vie mit einer bemerkenswerten Formu-
lierung auf den Punkt gebracht wird: „Zweifellos ist der Tod die Erschöpfung jeg-
lichen Begehrens, darunter auch des Begehrens zu sterben. Nur ausgehend vom
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 351
Leben, vom Wissen des Lebens, kann man das Begehren haben, nun zu sterben.
Auch dieses todbringende Begehren ist noch immer ein Reflex des Lebens.“20
Das immer wieder anders von Semprún perspektivierte Sterben seines ehe-
maligen Lehrers an der Sorbonne, jenes Maurice Halbwachs, dessen Überlegun-
gen grundlegend waren für die Entfaltung der Memoria-Problematik in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, öffnet sich hier auf ein Lebenswissen,
das selbst im Todeswunsch noch einen letzten Lebensreflex und eine damit
verbundene fundamentale Lebensreflexion zu erkennen vermag. Denn ist es
nicht ein ganz spezifisches „savoir de la vie“, das es dem Ich überhaupt erst
ermöglicht, das Konzentrationslager von Buchenwald nicht nur zu überleben,
sondern das eigene Erleben in eine Literatur zu übersetzen, die sich nicht län-
ger in Form einer simplen „écriture“ (der Todeserfahrung als einer tödlichen
Bedrohung) dem eigenen Leben-Wollen entgegenstellt?
Nun erst kann jenes Rätsel gelöst werden, dem sich die Erzählerfigur über
einen so langen Zeitraum fast hilflos ausgeliefert fühlte. Denn es geht für das
Ich darum, aus all dem Erleben des Todes ein Leben herzustellen, ein Leben zu
schaffen, das lebenswert ist.21 Dies aber kann nur durch ein Schreiben bewerk-
stelligt werden, das nicht allein dem Testimonialen, dem Augenzeugenhaften,
verpflichtet ist, sondern das sich viellogisch entfaltet und einen neuen Raum
der Freiheit und des Lebens schafft.
So ließe sich als zentrales Lebens- und Überlebens-Gnosem des Semprún’-
schen Erzählmodells jene Einsicht herausarbeiten, dass ein Lebenswissen nur
dann zu einem Überlebenswissen werden kann, wenn es die statischen Grenzzie-
hungen zwischen Leben und Tod, zwischen ‚Realität‘ und ‚Fiktion‘ unterläuft,
um viel-logische Verstehens- und Lebensstrukturen zu entwerfen, in denen sich
Erleben und Erfinden miteinander verbinden, ohne doch miteinander zu ver-
schmelzen. Wie aber lässt sich dieses Gnosem, diese grundlegende Wissensein-
heit des Semprún‘schen „savoir de la vie“ genauer fassen?
Gleich auf den ersten Seiten von dessen Le grand voyage entsteht im Dialog
auf dem Weg nach Weimar und ins Konzentrationslager Buchenwald gleichsam
eine Kartographie der Lager in Europa, ein Wissen, das zu diesem Zeitpunkt zu-
meist heimlich zirkuliert und in der Bevölkerung anfänglich noch ungleich ver-
teilt ist:
20 Semprún, Jorge: L’écriture ou la vie, S. 61 (Kursivierung O.E.): „Sans doute la mort est-
elle l’épuisement de tout désir, y compris celui de mourir. Ce n’est qu’à partir de la vie, du
savoir de la vie, que l’on peut avoir le désir de mourir. C’est encore un réflexe de vie que ce
désir mortifère.“
21 Ebda., S. 215.
352 Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens
Er hatte die Zeit, es zu wissen. Es war die Epoche der Massenaufbrüche in die Lager. Unspezi-
fische Informationen sickerten durch. Die Lager in Polen waren die schrecklichsten, die deut-
schen Wachleute sprachen darüber, so scheint es, wenn sie leiser wurden. Es gab einanderes
Lager in Österreich, wohin man ebenfalls hoffentlich nicht geschickt wurde. Im Übrigen
gab es einen Haufen von Lagern, auch in Deutschland, die mehr oder minder gleich waren.
Am Abend vor der Abfahrt hatte man erfahren, dass unser Konvoi zu einem der letztgenannten
in der Nähe von Weimar ging. [...]
„Gibt es Lager auch in Frankreich?“
Er schaut mich verdutzt an.
„Natürlich.“
„Französische Lager, in Frankreich?“
„Natürlich“, sagte ich ihm noch einmal, „das sind doch keine japanischen Lager. Franzö-
sische Lager, in Frankreich.“
„Da gibt es Compiègne, das ist wahr. Aber das nenne ich kein französisches Lager.“
„Da gibt es Compiègne, was ein französisches Lager in Frankreich war, bevor es ein deut-
sches Lager in Frankreich wurde. Aber es gibt andere, die niemals etwas anderes waren
als französische Lager in Frankreich.“
Ich erzähle ihm von Argelès, Saint-Cyprien, Gurs, Chateaubriand. „So eine Scheiße“, rief
er aus.22
Diese Passage des großen Debütromans von 1963 spielt nicht nur mit der Tatsa-
che, dass das Wissen um französische Lager in Frankreich bei Franzosen nicht
immer sehr verbreitet war (und womöglich noch immer nicht ist), sondern ent-
wirft auch eine Ubiquität von Lagerstrukturen. Sie differenziert einerseits zwi-
schen verschiedenen Lagertypen und macht andererseits darauf aufmerksam,
dass es Lager vor jenen der Nationalsozialisten gab. Dabei bedarf es nicht ein-
mal des Verweises auf die „campos de concentraciones“ der Spanier auf Cuba
oder auf die „Concentration Camps“ der Briten in Südafrika, um zu belegen, dass
die Deutschen nicht die Erfinder der Konzentrationslager waren. Die ‚Quellen‘
der Konzentrationslager speisen sich – übrigens auch manch andere Erfindung
wie etwa der polizeiliche Fingerabdruck – aus dem europäischen Kolonialismus.
Vor dem Hintergrund der ästhetischen Implikationen des Spannungsfeldes
zwischen Erleben und Erfinden, wie wir es vorhin anhand von L’écriture ou la
vie entwickelt haben, war es nur folgerichtig, dass sich der in Spanien geborene
Schriftsteller, der in seiner Jugend mit seiner Familie im Spanischen Bürger-
krieg sein Geburtsland hatte verlassen müssen und seine politisch-ideologische
Sozialisation in Frankreich erfuhr, mit den französischen Lagern in Frankreich
auseinandersetzte. Seine eigene Lagererfahrung war jedoch die des deutschen
Konzentrationslagers rund um Goethes Eiche auf dem Ettersberg. Doch wie
hätte Jorge Semprún, der translinguale Autor einer Literatur ohne festen Wohn-
sitz, der auf der spanischen wie der französischen Seite der Pyrenäen sein stets
prekäres Zuhause besaß, jenen Lagern ausweichen können, welche nicht nur die
Geschichte Spaniens und Frankreichs im 20. Jahrhundert auf so tragische Weise
miteinander verbinden? Wie hätte er nicht verstehen sollen, dass das System der
Lager die Grenzen in Europa überspannte und – ganz wie es Hannah Arendt in
Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft analysierte – keineswegs nur eine be-
sonders grauenhafte Erfindung der Deutschen und des Nationalsozialismus war?
Daher beschäftigte sich Jorge Semprún nicht nur in Le grand voyage, son-
dern auch in anderen Texten speziell mit Geschichte und Spezifik französischer
Konzentrationslager in Frankreich. Sein Theaterstück GURS: une Tragédie eu-
ropéenne,23 das vom Centro Andaluz de Teatro in Sevilla, dem Kapuzinertheater
in Luxemburg und dem Théâtre National de Nice als Auftragsarbeit der Europäi-
schen Theaterkonvention vergeben und in Sevilla 2004 uraufgeführt wurde,24
rückt dabei auf verschiedenen Zeitebenen die Problematik von Flucht, Vertrei-
bung und Migration in den Fokus. Wenden wir uns daher kurz diesem Theater-
stück zu, um die für das Schreiben Semprúns charakteristischen Beziehungen
zum Verhältnis von Leben und Tod herauszuarbeiten!
Daniel Benoin, unter dessen Regie das Stück in Nizza im Dezember 2004 auf-
geführt wurde, hielt die guten Gründe fest, wegen derer man sofort an Semprún
gedacht hatte, als es im Rahmen der Convention Théâtrale Européenne zum Be-
schluss kam, gemeinsam am Thema „Le théâtre en Europe: miroir des popula-
tions déplacées“, zu arbeiten: „Semprún ist der Mann der Migration, der
Mann der Querung der Sprachen, der Mann einer wahrhaft europäischen Vi-
sion, geboren aus dem Leiden und dem Krieg. Seine Kenntnisse des Spani-
schen, des Französischen und des Deutschen machen ihn zum erträumten
Schriftsteller für das Schreiben eines Stückes, das von Beginn an drei große
Sprachen des heutigen Europa beinhalten sollte. Dies ist der Sinn des ‚Auf-
trags‘, den wir ihm erteilt haben.“25
23 Vgl. Semprún, Jorge: GURS: une Tragédie européenne. Das Stück ist nach meinem Kennt-
nisstand noch unveröffentlicht; mir liegt eine auf April 2006 datierte Manuskriptfassung vor,
die auf die Inszenierung von Daniel Benoin verweist.
24 Vgl. hierzu Semprún, Jorge: Die kulturelle Vielfalt leben. Eröffnungsvortrag des Ersten Euro-
päischen Kulturforums in Luxemburg am 24. Mai 2004 Internet-Ausdruck, S. 4. Gastspiele der
verschiedenen beteiligten Theater lassen sich ebenso nachweisen wie eine von Hanns Zischler
angefertigte Übersetzung des Stücks ins Deutsche. Am 17. und 18. August 2006 gastierte etwa
das Théâtre National de Nice im Rahmen des Brecht-Fests am Berliner Ensemble. Vgl. hierzu
auch Neuhofer, Monika: „Ecrire un seul livre, sans cesse renouvelé“: Jorge Semprúns literarische
Auseinandersetzung mit Buchenwald. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2006, S. 18.
25 „C’est l’homme du déplacement, l’homme du croisement des langues, l’homme d’une véri-
table vision européenne, née dans la souffrance et la guerre. Sa maîtrise de l’espagnol, du
354 Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens
Ich bin es, die all das geerbt hat. Als die Verfolgungen begannen, wollte mein Vater, dass
sich die Familie zerstreue, damit es zumindest einen Überlebenden gebe... Ich habe mich
für Frankreich entschieden. „Du behältst die Schlüssel von Sefarad“, sagte mein Vater...
„In Frankreich wirst Du überleben.“ Der kleine goldene Schlüssel öffnet sicherlich eine
verborgene Schublade...26
Mit dem großen Schlüssel für das Haus, das die sephardische Familie bei ihrer
Vertreibung 1492 in der für seine drei Kulturen berühmten Stadt Toledo zurück-
lassen musste, und dem kleinen goldenen Schlüssel, über dessen Schloss sich
über die Jahrhunderte kein Wissen mehr in der Familie erhalten hat, ererbte
Myriam auch ein Überlebenswissen. Dieses erblickte bei Verfolgungen in der
Zerstreuung der Familienmitglieder das beste Mittel zum genealogischen Fort-
bestehen – wenn auch nicht aller Familienmitglieder. Es ist ein Überlebenswis-
sen, das über den Tod Einzelner hinausgeht und genealogisch gedacht ist.
Das über Jahrhunderte tradierte Überlebens-Gnosem ist angesichts der Mas-
senverfolgungen freilich ebenso in die Krise geraten wie das Vertrauen, durch
eine Flucht nach Frankreich das eigene Leben retten zu können. Denn längst war
Frankreich als Zufluchtsort nicht mehr sicher, wie die spanischen Bürgerkriegs-
flüchtlinge schmerzhaft am eigenen Leib erfahren mussten, als man sie in eigens
für sie errichteten Lagern entlang der Pyrenäengrenze ‚auffing‘.
Doch die Situation änderte sich weiter dramatisch. Bald schon sollte Gurs
auch für die verfolgten Juden mit seiner Geschichte für die Existenz französischer
Lager in Frankreich einstehen – und das südfranzösische Lager bildet gleichsam
das Gegenmodell zum längst verlassenen Garten der Familie im Toledo der Ju-
dengassen. Myriam erinnert sich an die Erzählungen ihrer Familie, an das über
Jahrhunderte gespeicherte Lebenswissen der Sepharden, das sich in ihr inkorpo-
riert. Dabei verknüpft sich die Erinnerung an das verlassene Toledo mit dem Bild
des Gartens mit seinen Blumen, mit seinen plätschernden Brunnen: „In der an-
steigenden Straße, der Judenstraße … das war ihr Name. Ich bin nie dort gewe-
français et de l’allemand en fait d’autre part l’écrivain rêvé pour tenter l’écriture d’une pièce
qui comporterait dès l’origine trois grandes langues de l’Europe d’aujourd’hui. C’est le sens de
la ‚commande‘ que nous lui avons faite.“ Ich danke Tobias Kraft für den Hinweis auf diese
Quelle: http://www.theatre-contemporain.net.
26 Semprún, Jorge: GURS: une Tragédie européenne, S. 5.
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 355
sen: Ich kenne sie nur vom Hörensagen … Die Blumen in den Gärten, die Brun-
nen, die Synagogen, das kleinste Detail der Straße: Alles war in dem, was man
sich in der Familie erzählte …“27
Die sehr bewusst europäische Dimension des in seiner Anlage mehrsprachi-
gen Stücks wird bereits paratextuell im Titel markiert. Semprún konzentriert hier
in wenigen Szenen, aber mit großer historischer Tiefenschärfe die tragische Ge-
schichte Europas im 20. Jahrhundert von einem Konzentrationslager aus; ein
Verfahren, wie wir es aus der besten ästhetischen Tradition der Lagerliteratur
kennen, arbeitete doch etwa ein Max Aub – wie wir sahen – in seinem wunder-
baren Manuscrito Cuervo immer wieder heraus, in welchem Maße sich die ganze
Geschichte von Verfolgung und Unterdrückung der Menschheit wie der Mensch-
lichkeit in einem einzigen „campo“, ‚seinem‘ Lager von Le Vernet d’Ariège, kon-
zentrieren lasse.28 Als Fraktal-Struktur eignet sich das Lager in besonderer
Weise, um gleichsam als Mise en abyme die Totalität des Totalitarismus kon-
zentriert zur ästhetisch überzeugenden Anschauung zu bringen.
Immer wieder werden die harten Fakten des Lagers Gurs eingeblendet,29
wird etwa in einem Dialog mit dem Lagerkommandanten darauf verwiesen,
dass es noch im Sommer 1940 insgesamt 1640 hier zumeist seit dem Ende des
Bürgerkrieges internierte Spanier gegeben habe, dazu etwa 1000 unerwünschte
Ausländer, „des Juives apatrides“,30 für die wir in Emma Kann und Hannah
Arendt bereits zwei historische Beispiele kennengelernt haben. Binnen weniger
Tage seien im Oktober 1940 zehntausendneunhundertfünfundvierzig Juden aus
ganz Europa nach Gurs geschafft worden, so dass es – wie der Lagerkomman-
dant im Gespräch mit dem „Inspecteur général“ und der Delegierten einer pro-
testantischen Hilfsorganisation leidenschaftslos vorrechnet – nunmehr nicht
weniger als zwölftausend Internierte im Lager gebe.31 Inmitten des Grauens
herrscht eine rational fundierte bürokratische Ordnung.
Längst sei alles zur Routine geworden, auch wenn US-amerikanische Jour-
nalisten, die das Lager vor kurzem besuchten, die Zustände in Gurs ange-
prangert hätten. Es wird deutlich, dass sich die Lagerleitung von einem Konzert
27 Ebda., S. 4: „Dans la rue qui monte, rue des juifs … c’était son nom. Je n’y ai jamais été:
c’est par ouï-dire … Les fleurs dans les jardins, les fontaines, les synagogues, le moindre détail
de la rue: c’était dans les récits de famille …“
28 Vgl. hierzu auch Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, S. 189–225.
29 Vgl. hierzu die Potsdamer Dissertation von Nickel, Claudia: Spanische Bürgerkriegsflücht-
linge in südfranzösischen Lagern. Räume – Texte – Perspektiven. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft 2012.
30 Semprún, Jorge: GURS, S. 7.
31 Ebda., S. 8.
356 Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens
mit der Geigenvirtuosin Myriam – und auch die Namen anderer großer Künstler
wie Alfred Nathan, Kurt Leval oder vor allem Ernst Busch werden genannt – am
französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli des Jahres 1941, eine Verbesserung
der Berichterstattung erhofft.32 Ein Konzert oder eine Theateraufführung in Gurs
sollen – mehr noch als gemeinsame Fußballspiele – eine Normalität des dortigen
Lagerlebens vortäuschen. Um mit Giorgio Agamben zu sprechen: Es ist die Nor-
malität des Ausnahmezustandes.
Die zu Beginn des zweiten Aktes im Zeichen des „Souvenez-vous“ aufgeliste-
ten nackten Zahlen des „camp de concentration français de Gurs“ nennen 23000
republikanische Spanier, 7000 Angehörige der Internationalen Brigaden, 120
französische Patrioten und Widerstandskämpfer, 12860 immigrierte und inter-
nierte Juden, 6500 deutsche Juden aus Baden sowie 12000 im Vichy-Frankreich
festgenommene Juden.33 Diese Zahlen leiten nicht nur die für Semprúns Stück
charakteristischen Szenenwechsel, sondern auch Zeitsprünge ein, die gerade das
Verfahren des Theaters im Theater vor Augen führen. Auch die Namen anderer
französischer Lager wie Le Vernet oder Saint-Cyprien, die von 1939 bis 1944
existierten, werden eingeblendet: Eine Kartographie französischer Lager in Frank-
reich entsteht und damit das, was zu Beginn von Le grand voyage ungläubig hin-
terfragt worden war.
Jenseits der Fragmente einer totalitären Geschichte, deren Gegenwart alle
Handlungen des Semprún‘schen Stücks durchzieht, zeichnet sich bereits ein
neues Europa ab, das sich auf Vielsprachigkeit gründet: So soll das Theaterstück
im Theaterstück zumindest in den drei (Semprún‘schen) Sprachen Spanisch,
Französisch und Deutsch aufgeführt werden.34 Und die Figur des Regisseurs er-
innert – nicht zufällig unter Rückgriff auf den von Maurice Halbwachs geprägten
Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ – alle Mitspieler daran: „Nous sommes
dans le domaine de la mémoire collective, du devoir de mémoire …“35 Eine der
Memoria verpflichtete Literatur stemmt sich dem sich ausbreitenden Vergessen –
auch der stalinistischen Lager36 – entgegen und knüpft an literarische Traditio-
nen aus unterschiedlichen europäischen Ländern – für die die Namen von André
Malraux, Bert Brecht oder die Dichter des Siglo de Oro stehen – sehr bewusst an.
Ist diese Literatur aber alleine der Memoria, mithin Erinnerung und Gedächtnis,
verpflichtet?
32 Ebda., S. 9.
33 Ebda., S. 12.
34 Ebda., S. 20.
35 Ebda., S. 23.
36 Ebda., S. 13.
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 357
37 Ebda., S. 17.
38 Ebda., S. 20.
358 Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens
Damit aber zeigt sich, dass die Semprún’sche Erinnerungskultur nicht nur
rückwärtsgewandt, sondern dezidiert zukunftsbezogen angelegt ist: Die Konzent-
rationslager werden zum Schmelztiegel einer neuen und vielversprechenden, da
viellogischen europäischen Kultur, deren Schöpfungskraft fraglos in der Erfah-
rung des „univers concentrationnaire“ wurzelt und jeglichem Totalitarismus ab-
geschworen hat, sei er stalinistischer, nationalsozialistischer, frankistischer oder
kommunistischer Prägung. Die Hannah Arendt der Elemente und Ursprünge tota-
ler Herrschaft,39 die wie Emma Kann das Lager von Gurs selbst durchlaufen hat,
hätte sich in der in Semprúns Theaterstück aufscheinenden Konzeption eines
künftigen Europa gewiss wiedergefunden. Wir sollten uns davor hüten, an
eine Verharmlosung der Brutalität der Konzentrationslager zu denken, die
Semprún oft genug in ihren menschenverachtendsten Aspekten freigelegt hat.
Die Literaturen der Welt eröffnen vielmehr den Raum und das Potential einer
Freiheit, die sich ebenso experimentierfreudig wie zukunftsorientiert den Zwän-
gen und Begrenzungen des historiographischen Diskurses entzieht.
In einer so verstandenen Verpflichtung zur „mémoire collective“ scheint
in diesem Stück wie in allen Texten des europäischen Autors etwas von der
Suche nach Gemeinschaft, jener Suche nach Brüderlichkeit auf, die das Über-
lebenswissen der Semprún’schen Texte hin auf ein prospektives Zusammenle-
benswissen öffnet. Die gemeinsamen vielsprachigen Theaterproben in Gurs
werden wie die Sonntage in der Baracke 56 des Kleinen Lagers von Buchen-
wald,40 die Gespräche mit Maurice Halbwachs und vielen anderen der von
den Nationalsozialisten Verschleppten, zur Keimzelle des Künftigen: einer auf
der Achtung des Anderen basierenden Gemeinschaft, die sich dem Grauen
und der massifizierten Vernichtung entschlossen widersetzt und die autori-
tären monologischen Strukturen durch offene viellogische Strukturierungen
ersetzt.
Es geht in diesem Lehrstück gewiss um Gurs und es geht um viel mehr:
Wie ein Zusammenleben in einem künftigen Europa organisiert werden kann
und möglich wird, in dem auch „les jeunes beurs des cités“,41 welche die Ver-
nichtung der Juden Europas nicht als Teil ihrer eigenen Geschichte begreifen,
sondern sich auf die gewalttätigsten Sätze des großen postkolonialen Denkers
Frantz Fanon berufen,42 in die Gemeinschaft eines vielsprachigen Europa integ-
riert werden können. Jenseits des Überlebenswissens geht es um ein Zusammen-
39 Vgl. die englischsprachige Originalausgabe von Arendt, Hannah: The Origins of Totalitaria-
nism. New York: Harcourt Brace Jovanovich 1951.
40 Vgl. Semprún, Jorge: Adieu, vive clarté … Paris: Gallimard 1998.
41 Semprún, Jorge: GURS, S. 23.
42 Ebda.
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 359
43 Ebda.
44 Vgl. hierzu Maalouf, Amin: Les Identités meurtrières. Paris: Editions Grasset & Fasquelle
1998.
45 Vgl. hierzu auch Ette, Ottmar: Konvivenz. Literatur und Leben nach dem Paradies. Berlin:
Kulturverlag Kadmos 2012.
360 Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens
46 Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In (ders.):
Werke in vier Bänden. Mit einem Nachwort von Alfred Baeumler. Stuttgart: Alfred Kröner Ver-
lag 1955, S. 97.
47 Ebda.
48 Ebda., S. 223.
49 Ebda., S. 225.
50 Ebda.
51 Ebda.
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 361
kompetenz enormen Gewinn zu ziehen. Dass Jorge Semprún von 1946 bis 1952
als Übersetzer bei der UNESCO und seit 1950 als Leiter der spanischen Über-
setzungsabteilung arbeitete, machte den späteren Romancier gewiss für derartige
Problematiken sensibel und mag darauf verweisen, welch zentrale Rolle die trans-
lingualen Übersetzungsprozesse in seinem literarischen Gesamtwerk spielen.
Das soeben nur angedeutete Verfahren der Übersetzungsprobe ist daher für
Semprúns Schreib- und Denkstil charakteristisch: Dem transnationalen Lebens-
weg entspricht ein translationales Weltbewusstsein. Wie viele andere Texte des
nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs mit seiner Familie ins Exil geflohe-
nen Schriftstellers bietet L’écriture ou la vie Passagen und Zitate in spanischer
und deutscher, aber auch in italienischer oder englischer Sprache. Diese Viel-
sprachigkeit ist dabei keine wohlfeile Staffage, sondern Programm. Denn die
Sprache Semprúns ist eine nicht nur durch interlinguale Übersetzungsvor-
gänge, sondern mehr noch durch translinguale Prozesse geformte Sprache, in
der ‚hinter‘ der einen immer auch andere Sprachen hörbar werden. Alles, was
auf Französisch niedergeschrieben ist, wurde auch von anderen europäischen
Sprachen her durchdacht. Gewiss hat der gebürtige Madrilene – von seinen
spanischsprachigen Veröffentlichungen einmal abgesehen – das Französische,
die Sprache seines Exils, zu seiner dominanten Literatursprache gemacht; doch
ist in seinem Schreiben jenseits der Muttersprache stets die Sprache seiner ge-
liebten, aber bereits 1932 verstorbenen Mutter vernehmbar.
An diesem fragilen Punkt seiner Biographie setzt das Deutsche ein. Denn
an die Stelle der Mutter waren früh schon deutschsprachige Gouvernanten ge-
treten. Eine von ihnen sollte zu seiner ungeliebten Stiefmutter werden. Durch
die deutschsprachigen Kindermädchen wurde das Deutsche zur ersten Fremd-
sprache Semprúns; ein Geschenk für den späteren Philosophiestudenten, der
Hegel und Marx, Kant und Schelling, Heidegger, Husserl oder Jaspers im Origi-
nal zu lesen wusste. So ist es vor allem die deutschsprachige Philosophie, die
Semprúns Arbeit an und mit der Sprache eine sprachphilosophische Dimension
und seinem Schreiben stets eine geradezu übersetzungstheoretische Sensibilität
mitgegeben hat. Kein Zufall also, dass die Relevanz des Übersetzens gerade an
Wittgenstein, gerade am Beispiel der Philosophie und konkret am Lexem „Leben“
vorgeführt wird. Das Semprún’sche „savoir de la vie“ ist allgegenwärtig.
In seinem Eröffnungsvortrag zum Ersten Europäischen Kulturforum in Lu-
xemburg am 24. Mai 2004 hat Jorge Semprún in seiner humorvollen Art darauf
hingewiesen, auf seinem Tagungsausweis habe man etwas unsicher „Spanien –
Frankreich“ vermerkt. Doch man hätte gerne noch „Deutschland“ hinzufügen
können, was der (auch damals anwesenden) Jutta Limbach gewiss nur recht
362 Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens
sein könne.52 Der Titel von Semprúns Ansprache, Die kulturelle Vielfalt leben,
weist auf sein Verständnis Europas und auf „dieses tiefe Bewusstsein [hin],
dass Europa vor allem diese Vielfalt ist“.53 Die sogenannte Repatriierung aus
Buchenwald war für Semprún, wie er des Öfteren betonte, eine Rückkehr nach
Frankreich und damit aus spanischer Sicht ins Exil. All dies hatte folglich
nichts mit einer wirklichen Repatriierung in eine „patrie“ oder „patria“ zu tun.
Jorge Semprún war sich der Tatsache bewusst, im Grunde ohne festen Wohnsitz
zu sein – er machte daraus seine „raison d’être“.
Der Erzähler nimmt dies in L’écriture ou la vie zum Anlass, darüber nachzu-
denken „que je ne pourrais plus jamais revenir dans aucune patrie. Il n’y avait
plus de patrie pour moi.“54 So gibt es für das Ich kein Vaterland mehr: Eine
Rückkehr dorthin sei unmöglich. Der Vervielfachung des Vaterlands in Vater-
länder aber entspricht nicht nur die Einsicht, entspringt nicht nur der Gedanke,
dass man nicht für zwei Vaterländer sterben könne.55 Weit mehr noch entsteht
das Bewusstsein, für lange Zeit, vielleicht ein ganzes Leben lang, einem Zwi-
schenbereich anzugehören, der im Grunde (abhängig von der jeweiligen politi-
schen Entwicklung) in ständiger Bewegung war.
Dies kommt sehr deutlich in seinem 1998 erschienenen Band Adieu, vive
clarté … zum Ausdruck, wo von einem Grab genau auf der Grenze zwischen Spa-
nien und Frankreich die Rede ist, einem Grab in einem Grenzort als möglicher
Heimat der Heimatlosen.56 Dieses Oszillieren wird in diesem Roman in eine Be-
ziehung zur Zwischenposition zwischen Literatur und Leben gestellt und zu-
gleich bekräftigt, dass das Leben als solches keineswegs den höchsten Wert
darstellt:
Wenn der Sinn des Lebens ihm insgesamt immanent ist, dann ist ihm sein Wert transzen-
dent. Das Leben wird von Werten transzendiert, die es übersteigen: Selbst ist es nicht der
höchste Wert. Im Übrigen wäre es desaströs, wenn das Leben dies wäre. Es war immer ein
geschichtliches Desaster, wenn man das Leben in der historischen Praxis für einen höchs-
ten Wert hielt. Die reale Welt wäre ständig in die Sklaverei, die gesellschaftliche Entfrem-
dung oder den glückseligen Konformismus zurückgefallen, hätten die Menschen beständig
das Leben als einen höchsten Wert angesehen.
Das Leben an sich und für sich ist nicht heilig: Man muss sich sehr wohl an diese
schreckliche metaphysische Nacktheit gewöhnen, an die moralische Forderung, die sich
daraus ableitet, um daraus die Konsequenzen zu ziehen. Das Leben ist bloß in abgeleite-
52 Vgl. Semprún, Jorge: Die kulturelle Vielfalt leben. Eröffnungsvortrag des Ersten Europäi-
schen Kulturforums in Luxemburg am 24. Mai 2004, Internet-Ausdruck, S. 1.
53 Ebda., S. 2.
54 Semprún, Jorge: L’écriture ou la vie, S. 153.
55 Ebda., S. 154.
56 Vgl. hierzu Schoeller, Wilfried F.: Jorge Semprún, S. 4.
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 363
ter, behelfsmäßiger Form heilig: Wenn es die Freiheit, die Autonomie, die Würde des
menschlichen Wesens garantiert, welche höhere Werte darstellen als das Leben an sich
und für sich selbst, also das gänzlich nackte Leben. Die mithin Werte darstellen, die es
transzendieren.57
Fiktion durch einen literarischen Trick diesen Schriftsteller davor, vom angst-
voll erwarteten Tod selbst heimgesucht zu werden:
Daher warf sich Juan Larrea, eine Figur aus La montagne blanche, in der Nähe von Fre-
neuse in die Seine, im Morgengrauen, nachdem er nicht länger der brutalen Rückkehr der
Erinnerungen an das Krematorium von Buchenwald widerstehen konnte. Und Artigas
wurde von einer Bande junger Schurken ermordet, auf den letzten Seiten von L'Algarabie.
Ich wusste sehr gut, welche Rolle diese fiktiven Todesfälle in meinem realen Leben
spielten: Es waren Lockzeichen, die ich vor der Schnauze des schwarzen Stieres meines
eigenen Todes hin- und herschwenkte, jenes Todes, zu dem ich jederzeit bestimmt bin.
Damit, mit diesem Spiel im Sinne eines Ausweichmanövers, lenkte ich seine Auf-
merksamkeit ab. Die Zeit, welche der Tod – ebenso wacker und stupide wie ein Kampf-
stier – für das Erahnen der Tatsache bräuchte, ein weiteres Mal einem Simulakrum
aufgesessen zu sein, war schon wieder gewonnene Zeit.58
58 Ebda., S. 53 f.
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 365
rin, zumindest aus der Sicht von Jorge Semprún, eine der Möglichkeiten, wie Lite-
ratur zum Überlebenswissen eines Autors avancieren kann, der sich seit seiner
Verhaftung durch die Gestapo und seine Verbringung in das Konzentrationslager
von Buchenwald dem Tod ausgeliefert fühlt. Diese Angst vor dem Tod, diese
Angst auch vor dem Selbstmord wie in Primo Levis Fall, weicht auch nach dem
Überleben des Lagers nicht von der Seite des Ich. Es geht darum, die Literatur
nicht einfach als eine Art Analogie zum Leben zu verstehen, das dieses abbilden
oder ‚widerspiegeln‘ würde. Nein, in der Literatur geht es vielmehr darum, gerade
in der Fiktion Antworten zu finden auf Probleme, die das reale Leben stellt! Das
Erzähler-Ich sucht nach Möglichkeiten, Antworten auf Probleme des Lebens nicht
etwa durch den Nachbau von Wirklichkeit zu finden, sondern eigene Freiräume
für das Kreative und damit für die Gestaltung des Lebenswissens zu schaffen.
In Adieu, vive clarte … gibt es noch eine weitere Art und Weise, die Literatur
utilitaristisch für pragmatische Ziele einzusetzen. Dies betrifft etwa die Hoff-
nung des Ich, durch einige Sätze aus einem wichtigen Erzähltext von André
Gide, Paludes, ein junges Mädchen, eine schöne Frau begeistern zu können. Es
ist der Traum von einer „belle inconnue blonde“ mit hellen Augen; ein Traum,
der sich jedoch niemals in Wirklichkeit verwandelt. Man sollte also Literatur
nicht mit dem Leben verwechseln und sie allzu zielgerichtet für eigene Absichten
einsetzen. Doch die Bestandsaufnahme des Erzählers ist eher eine Kippfigur:
Das Leben aber ist kein Roman, so scheint es. Kommen wir zum Roman des Lebens
zurück.
Zum Beispiel und zu Ehren des Beispiels wäre es im Gegenzug nicht dazu gekom-
men, wenn ich nicht Le sang noir von Louis Guilloux gelesen hätte. Abgesehen davon,
dass dies einer der größten französischen Romane dieses Jahrhunderts ist – seltsam miss-
verstanden, nach meiner Ansicht: es muss Gründe dafür geben; gewiss sind diese nicht
einzugestehen und mindestens skandalös –, habe ich darin wesentliche Dinge gelernt:
über die Dichte des Lebens, über das Böse und das Gute, über die Elendigkeiten der
Liebe, über den Mut und die Feigheit der Menschen, über Hoffnung und Verzweiflung.59
Zum einen warnt uns der Erzähler Semprúns also davor, den Roman mit dem
Leben zu verwechseln: denn beides sei nicht dasselbe. Zum anderen aber wendet
er sich bewusst dem Roman des Lebens zu. Das Leben ist nicht von der Literatur
abzutrennen, kann nicht klar vom Lesen von Literatur geschieden werden:60
Beide sind untrennbar miteinander verwoben. So enthält der Roman ein Wissen
vom Leben und zugleich auch ein Lebenswissen im Leben über und für das
59 Ebda., S. 126.
60 Vgl. zu dieser Fragestellung den zweiten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: LiebeLe-
sen (2020), passim.
366 Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens
Leben, was ihm selbst durch die Lektüre von Romanen von Guilloux, aber auch
von Malraux, von Giraudoux oder von Kafka und vielen anderen bei der Bewälti-
gung des realen Lebens wiederholt geholfen habe. Der Erzähler wäre ein anderer
geworden, hätte er nicht diese Romane, hätte er nicht diese Literatur gelesen
und in sich aufgesogen.
Wie sehr man ein Anderer werden kann, wenn man intensiv Romane liest,
wurde uns bereits ganz am Anfang der Geschichte des modernen europäischen
Romans als augenzwinkernde Warnung vor Augen gehalten. Denn Don Quijote,
anders als Sancho Pansa, der sein Wissen nicht aus Romanen, sondern aus
Volksweisheiten und „Proverbios“ bezieht, orientiert sich in seinem Wissen
vom Leben an den Ritterromanen, die er eins zu eins auf die ihn umgebende
Wirklichkeit überträgt. Was daraus entsteht, berichtet uns der Roman selbst: Er
erzählt uns von der Unübersetzbarkeit der Literatur direkt in das wirkliche
Leben, einer Unübersetzbarkeit, die nach so vielen überstandenen Abenteuern
und zahlreichen Lektionen letztlich in den Tod des Protagonisten führt. Densel-
ben Weg geht – um mit José Joaquín Fernández de Lizardi zu sprechen – die
„Quijotita“ der Literatur: Auch die Titelheldin von Gustave Flauberts Madame
Bovary geht bei diesem großen französischen Romancier im Wesentlichen des-
halb zugrunde, weil sie in ihrer Kindheit und Jugend die falschen Romane las.
Anders als bei Cervantes sind dies nicht länger Ritterromane, sondern romanti-
sche Romane, welche der jungen Frau eine Vision des eigenen Lebens vorgau-
kelten, die sie niemals erreichen konnte. Auch in diesem Falle rächt der Tod
erbarmungslos die Lesesünden.
Doch kommen wir von der für die Literaturen der Welt zentralen Frage des
Lebenswissens wieder zurück zur Frage, inwieweit sich Jorge Semprún im Zwi-
schenbereich zwischen Spanien und Frankreich, zwischen dem Spanischen
und dem Französischen, aber durch seine Deportation ins Konzentrationslager
Buchenwald auch im „univers concentrationnaire“ als quasi ‚Heimatloser‘ be-
wegt. In Adieu, vive clarté … hatte sein Erzähler davon gesprochen, wie gerne er
an einem Ort unweit der Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien bestattet
werden würde.
Von diesem Ort aus lässt sich Semprúns Literatur – nicht in der Mutterspra-
che, sondern in der Sprache des Exils verfasst – in ihrer fundamentalen Unge-
borgenheit als eine Literatur ohne festen Wohnsitz begreifen und zugleich als
Literatur, die dank ihrer Heimatlosigkeit, dank der Vervielfachung ihrer Vater-
länder in einem fundamentalen Sinne europäisch ist, insofern sie sich zu meh-
reren Zugehörigkeiten bekennt. In seiner Friedenspreis-Rede von 1994 gestand
Semprún, dass er eine Zeitlang gedacht habe, in der französischen Sprache
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 367
„ein neues Vaterland“ gefunden zu haben.61 Doch davon war er nun abgerückt.
Schon Friedrich Nietzsche skizzierte in Die Fröhliche Wissenschaft gegen alle
nationalistische Kleingeisterei die Heimatlosigkeit als jene Situation, welche
„gute Europäer“62 auszeichne. So könnte Jorge Semprúns eigene „gaya scienza“
mit dem Autor von Ecce homo sagen: „Es fehlt unter den Europäern von heute
nicht an solchen, die ein Recht haben, sich in einem abhebenden und ehrenden
Sinne Heimatlose zu nennen, ihnen gerade sei meine geheime Weisheit und
gaya scienza ausdrücklich an’s Herz gelegt!“63
Jorge Semprúns Literatur ist in diesem Sinne eine zutiefst europäische Lite-
ratur, die im Übrigen – die Bezugnahme auf den peruanischen Dichter César
Vallejo zeigte es deutlich – eine wirklich europäische nur sein kann, wenn sie
sich ihrer außereuropäischen Beziehungsgeflechte bewusst ist. Nur eine solche
Literatur kann im Sinne Semprúns jenes Europa der verschiedensten Sprachen,
Kulturen und Nationen heraufführen, für das sich der Intellektuelle – immer
wieder seinem philosophischen Vorbild Edmund Husserl und dessen Wiener
Vortrag von 1935 folgend64 – seit Jahrzehnten bis zum heutigen Tage unermüd-
lich einsetzt. Es ist die Idee von einem Europa, das sich seiner supranationalen
Zukunft mutig stellt und die Achtung vor der Differenz als wesentlichen Reich-
tum begreift. Verstehen Sie, warum man manchmal an der gegenwärtigen euro-
päischen Sprachenpolitik und mehr noch an jenem Geist verzweifeln kann, der
ohne Zweifel dahintersteht? Die translinguale, verschiedenste europäische Spra-
chen integrierende Literatur Jorge Semprúns lässt vor diesem Hintergrund den
Schluss zu, dass sein Werk gleichsam auf Europäisch geschrieben ist. Es nimmt
in jedem Falle eine Vorbildfunktion für ganz Europa ein.
Exilerfahrung und Widerstand, Deportation und Zwangsarbeit, aber auch die
Verwandlung einer zunächst fremden Sprache in die Sprache des eigenen Schrei-
bens, die Umformung der eigenen Lebenserfahrung von Vielsprachigkeit in die
Entwicklung einer sehr eigenen kraftvollen, dynamischen Literatursprache sowie
die Entbindung der Möglichkeit, die unterschiedlichsten Formen menschlichen
61 Semprún, Jorge: Blick auf Deutschland. Aus dem Spanischen und dem Französischen über-
setzt von Michi Strausfeld u. a. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 62.
62 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft („La Gaya Scienza“). In (ders.): Sämtliche
Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und
Mazzino Montinari. Bd. 3. München – Berlin: Deutscher Taschenbuch Verlag – Walter de Gruy-
ter 31988, S. 631.
63 Ebda., S. 628.
64 Vgl. Semprún Jorge: Commémorer deux destins européens. Dankesrede anlässlich der Ent-
gegennahme der Ehrendoktorwürde der Université Catholique de Louvain: <www.ucl.ac.be/ac
tualites/dhc2005/dSemprún.html> (11.12.2006), S. 2.
368 Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens
Wissens – von den Diskursen der Politik wie der Literatur bis hin zu jenen der
Wissenschaften – für den Entwurf einer im Schreiben und Handeln bezie-
hungsweise im Schreiben als Handeln Gestalt annehmenden konkreten Uto-
pie fruchtbar zu machen: Dies alles durchzieht das Gesamtwerk dieses großen
europäischen Schriftstellers. Jorge Semprún hat die Bewegungsspielräume
zwischen den Sprachen, zwischen den Vaterländern entschlossen für sich ge-
nutzt. Sie bilden die Voraussetzung für seine stets ethisch fundierte Ästhetik
wie für sein politisches Handeln.
Die beständige Übersetzungsarbeit Jorge Semprúns bezieht sich aber nicht
allein auf verschiedene Sprachen Europas; er übersetzte vor allem auch zwi-
schen den Sprachen der Philosophie und der Literatur. Die Philosophie ist im
Gesamtwerk des Verfassers von Le grand voyage (1963), seines im Folgejahr
mit dem internationalen Prix Formentor ausgezeichneten fulminanten Erst-
lingswerks, allgegenwärtig. Dies verwundert nicht: Denn noch bevor Semprún
das Studium der Philosophie an der Sorbonne aufnahm, war er als angehender
Absolvent des renommierten Pariser Lycée Henri IV in einem nationalen Wettbe-
werb für eine Arbeit über Edmund Husserl mit dem Preis für Philosophie ausge-
zeichnet worden. Sie ist die stete Begleiterin des madrilenischen Schriftstellers.
Semprún, der sich 1941 der französischen Résistance anschloss (und im da-
rauf folgenden Jahr der Kommunistischen Partei beitrat), konnte wegen seiner
Verhaftung durch die Gestapo und seiner anschließenden Verschleppung ins
Konzentrationslager Buchenwald sein Philosophiestudium niemals abschlie-
ßen. Doch selbst im „univers concentrationnaire“ – wo er sich bei der Registrie-
rung als Philosophiestudent bezeichnete – war neben der Welt der Literatur die
Welt der Philosophie von ungeheurer Wichtigkeit. Dies sollte sich auch in den
Jahrzehnten nach der Befreiung des Konzentrationslagers sowie nach seiner Ab-
berufung von der Koordination der Untergrundarbeit für die Kommunistische
Partei Spaniens in Madrid 1963 (und der damit einhergehenden Entscheidung für
die Schriftstellerkarriere) nicht ändern: Kant und Schelling, Hegel und Marx,
Husserl und Heidegger bilden kontinuierliche Bezugspunkte eines literarischen
Schreibens, das sich stets zugleich auch der Philosophie verschrieben hat.
So folgte der eingangs zitierten Passage aus L’écriture ou la vie ganz selbst-
verständlich eine Reflexion des Erzählers zu Immanuel Kants Überlegungen
zum radikal Bösen oder Schellings idealistischer Naturphilosophie;65 Reflexio-
nen, die an dieser wie an anderen Stellen des Gesamtwerks häufig zur Frage
nach den Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Freiheit überleiten.
Dabei ist es Semprún stets gelungen, die Philosophie dadurch in den Raum der
scher Prozesse in ganz Europa noch weiter zu. Ihren konzisesten und wohl
prägnantesten Ausdruck fand jene jahrzehntelange Entwicklung sicherlich in
Mal et Modernité, dem philosophisch-literarischen Versuch, der ursprünglich
im Rahmen der Conférences Marc Bloch an der Pariser Sorbonne und damit an
jener Alma Mater gehalten wurde, an welcher der junge Student sich einst be-
geistert dem Studium der Philosophie und auch den Vorlesungen von Maurice
Halbwachs gewidmet hatte.
Die Reflexion Semprúns über das radikal Böse orientiert sich dabei an den
Bezugspunkten von Immanuel Kants bekannter, 1793 erschienener Schrift Die
Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, an Hermann Broch – den er
nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als großen „penseur politique“ und
„philosophe de l’histoire“ versteht66 –, an Schelling, Heidegger und Jaspers,
aber auch an Marc Bloch und Léon Blum, sowie nicht zuletzt an Jacques Mari-
tain und Paul Ricoeur. Es handelt sich bei diesem Text um eine spannende
Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus, die sich im interkulturellen
Dialog auf weitere grundlegende Positionen der deutschen und französischen
Philosophie im 20. Jahrhundert hin öffnet. In welchem Maße die philosophische
Reflexion Jorge Semprúns sich immer wieder um Rolle und Bedeutung Deutsch-
lands dreht, mag die abschließende Passage aus Mal et Modernité belegen:
In diesem Augenblick, in dem Deutschland „den Riss, der sein Herz zerreißt“, auslöscht, in
welchem es dies in der Ausweitung der demokratischen Vernunft tut, in dem die Mächte des
Ostens als solche zusammenbrechen, in dem die apokalyptischen Vorhersagen Heideggers
von der Arbeit der Geschichte der Lüge überführt werden, ist es tröstlich, jenes deutsche
Denken in Erinnerung zu rufen, welches von Herbert Marcuse 1935 über das unermessliche
Werk von Karl Jaspers bis zu Jürgen Habermas heute die zerreisende Hellsichtigkeit der Ver-
nunft aufrecht erhalten hat.67
69 Ebda., S. 67.
70 Ebda., S. 87.
71 Vgl. hierzu Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus
dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002; sowie ders.: Was
von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III). Aus dem Italienischen von
Stefan Monhardt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.
72 Semprún, Jorge: L’écriture ou la vie, S. 61 (Kursivierung O.E.): „Ce n’est qu’à partir de la
vie, du savoir de la vie, que l’on peut avoir le désir de mourir. C’est encore un réflexe de vie
que ce désir mortifère.“
372 Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens
73 Vgl. zu dieser Fragestellung Barthes, Roland: Comment vivre ensemble. Simulations roma-
nesques de quelques espaces quotidiens. Notes de cours et de séminaires au Collège de France,
1976–1977. Texte établi, annoté et présenté par Claude Coste. Paris: Seuil – IMEC 2002.
74 Vgl. hierzu u. a. die bereits zitierte, 2003 erschienene wichtige Textsammlung von Sem-
prún, Jorge: Blick auf Deutschland.
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 373
wirft aus dem Spannungsfeld von Literatur und Philosophie, von Politik und
Wissenschaft den entschlossenen Versuch, im Rückgriff auf die Traditions-
stränge deutschsprachiger Philosophie und Literatur aus einer gleichsam doppel-
ten Perspektivik – vom Ettersberg der Spaziergänge Goethes und Eckermanns
sowie vom Ettersberg des Konzentrationslagers Buchenwald aus – das spezifi-
sche Gewicht und die besondere Verantwortung Deutschlands in einem und für
ein humanes Europa herauszuarbeiten, das vor Totalitarismen jeglicher Couleur
geschützt ist.75
Nicht umsonst hat Jorge Semprún daher wiederholt den Vorschlag unterbrei-
tet, Weimar-Buchenwald zu einem „lieu de mémoire et de culture internationale
de la Raison démocratique“,76 zu einem internationalen Gedächtnisort für die
Kultur demokratischer Vernunft zu machen. Auf literarischer Ebene hat Semprún
diesem Gedächtnisort in jüngster Zeit einen zweiten „lieu de mémoire“ an die
Seite gestellt: Ich meine damit sein Theaterstück GURS und das südfranzösische
Lager selbst, das er – wie wir sahen – als Keimzelle einer künftigen europäischen
Gesellschaft verstand. Flucht, Vertreibung und Migration werden so ins Zentrum
einer Kultur gestellt, die nicht mehr von einem statischen, ‚sesshaften‘ Kulturbe-
griff allein ausgeht, sondern Kulturen als ebenso mobile wie räumlich und intel-
lektuell dynamische Ensembles versteht. Wie wir sahen, konzentrierte Semprún in
GURS nicht nur die tragische Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern entwarf
zugleich die Leitlinien für eine demokratische Kultur des Zusammenlebens, einer
Konvivenz, welche die Entstehung von Kriegen unmöglich machen sollte. Der spa-
nisch-französische Schriftsteller griff damit auf ein konzentrierendes Verfahren zu-
rück, wie wir es aus der besten ästhetischen Tradition der Lagerliteratur kennen.77
Denn jenseits der Splitter dieser europäischen Geschichte totalitärer Ideolo-
gien zeichnet sich bei Semprún ein neues Europa ab, das sich auf Vielsprachigkeit
gründet.78 Semprún‘sche Erinnerungskultur ist freilich nicht nur rückwärtsge-
wandt, sondern dezidiert zukunftsbezogen angelegt: Die Konzentrationslager wer-
den zum Schmelztiegel einer neuen europäischen Kultur, deren Schöpfungskraft
fraglos in der Erfahrung des „univers concentrationnaire“ wurzelt und jeglichem
Totalitarismus – ganz wie bei Max Aub auch dem kommunistischen – abgeschwo-
ren hat. Die Hannah Arendt der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft hätte
gewiss einer solchen Konzeption eines künftigen Europa begeistert zugestimmt.
75 Vgl. zum Europa-Gedanken auch Semprún, Jorge / Villepin, Dominique de: Was es heißt,
Europäer zu sein. Aus dem Französischen von Michael Hein. Hamburg: Murmann Verlag 2006.
76 Vgl. u. a. Semprún, Jorge: L’écriture ou la vie, S. 392.
77 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag
Kadmos 2004, insb. S. 189–225.
78 Ebda., S. 20.
374 Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens
Sie hätte wie Aub und Semprún Hoffnungen gehegt, dass derartige tragische Er-
eignisse nie mehr in der Menschheitsgeschichte vorkommen sollten. Der Fortgang
dieser Geschichte hat freilich gezeigt, dass wir im Osten wie im Westen nur be-
dingt aus dieser Geschichte gelernt haben. Jene Gnoseme, welche die Lagerlitera-
tur – und an ihrer Spitze Max Aub und Jorge Semprún – entwickelt hat, sind nur
bedingt politisch zur Kenntnis genommen worden.
In der Verpflichtung zur „mémoire collective“ scheint in diesem Stück wie in
allen Texten des europäischen Autors etwas von der Suche nach Gemeinschaft,
jener Suche nach Brüderlichkeit (und Geschwisterlichkeit) auf, die das Überle-
benswissen der Semprún‘schen Texte hin auf ein prospektives Zusammenlebens-
wissen ausrichtet. Dass ausgerechnet das „univers concentrationnaire“ zu jenem
Ort wird, an dem sich ein neues Europa, eine künftige Gemeinschaft herauskris-
tallisiert, die zwischen den Kulturen, zwischen den Muttersprachen und zwi-
schen den Vaterländern ihre eigene Dynamik, ihre eigene Bewegung entwickelt,
gehört zu den faszinierenden Einsichten, die das Werk dieses wahrhaft europäi-
schen Autors auch für eine künftige Leserschaft bereithält. Diese wird in Ge-
sellschaften leben, welche vor populistischem Totalitarismus und orthodoxer
autoritärer Manipulation nicht geschützt sind.
Jenseits aller nationalen Zuordnungen konstruiert sich diese Literatur einen
Bewegungsraum, der Europa in Bewegung79 weiß und als Bewegung80 versteht.
In diesem doppelten Sinne haben wir es so mit einem Oeuvre zu tun, das auf ganz
fundamentale Weise europäische Literatur ist, da es Europa mit seinen Migratio-
nen als Bewegung begreift. Man könnte schon im doppelten Autornamen diese
vektorielle und translinguale Dimension aufleuchten sehen: Es genügt eine kleine
Akzentuierung, um den französischen „nom de plume“ Jorge Semprun in den spa-
nischen Herkunftsnamen Jorge Semprún zu verwandeln. Es geht dem Verfasser
von Mal et Modernité um multiple Zugehörigkeiten jenseits aller mörderischen
Identitäten81 und um das Bewusstsein für eine Kultur, die nicht an den Boden, die
nicht ans Territorium gefesselt ist.82
79 Vgl. Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur
Gegenwart. München: C.H. Beck 2000.
80 Vgl. Ette, Ottmar: Europa als Bewegung. Zur literarischen Konstruktion eines Faszinosum.
In: Holtmann, Dieter / Riemer, Peter (Hg.): Europa: Einheit und Vielfalt. Eine interdisziplinäre
Betrachtung. Münster – Hamburg – Berlin – London: LIT Verlag 2001, S. 15–44.
81 Verwiesen sei hier nochmals auf den wichtigen Essay von Maalouf, Amin: Les Identités
meurtrières. Paris: Editions Grasset & Fasquelle 1998.
82 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Europa transarchipelisch denken. Entwürfe für eine neue Land-
schaft der Theorie (und Praxis). In: Lendemains (Tübingen) XXXIX, 154–155 (2014), S. 228–242.
Jorge Semprún oder eine Philosophie des Überlebenschreibens 375
des Überlebens, das für ein breites Lesepublikum die Gnoseme seines Überle-
benswissens zur Verfügung stellt.
Nur aus dieser spezifischen Konstellation heraus ist die politische Dimen-
sion im Schaffen Semprúns wirklich verstehbar als auf die Spitze getriebener
Versuch, die conditio humana mit den Mitteln der Literatur, der Philosophie
und der Politik auf ihre Möglichkeiten hin zu befragen und zu erproben, wie
eine Welt geschaffen werden kann, in deren Mittelpunkt ein menschenwürdi-
ges Leben in Frieden und Differenz steht. Mit seinem Leben wie mit seinem
Werk verkörpert Jorge Semprún wie kein anderer die kritische Reflexion der eu-
ropäischen Geschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts – und die
Antworten, welche die Kunst als ÜberLebenSchreiben auf das Gelebte zu geben
vermag. Der Imperativ des „raconter bien“,86 des guten Erzählens, nimmt jene
Haltung der Scheherazade wieder auf, von deren gutem Erzählen in den Ge-
schichten von Tausendundeiner Nacht Leben und Tod abhingen.
In L’écriture ou la vie werden die Grenzen, aber auch die immensen Mög-
lichkeiten der Literatur vor Augen geführt, vom Tod in einer dem Leben zuge-
wandten Kunstform zu berichten. Gerade weil sich die Kunst in Semprúns
Lebenswerk dem Erleben des Todes stellt und aus diesem ein ums andere Mal
(Nach-)Erlebten den Funken des Lebens schlägt, musste L’écriture ou la vie eine
besonders kunstvolle Gestaltung erfahren. Die sich ständig verändernden, aber
gleichwohl insistierend vorgetragenen Wiederholungsstrukturen lassen eine
geradezu musikalische Anlage des Textes erkennen, deren Komplexität auf der
Ebene der narrativen wie der semantischen Verfahren wohl am besten mit einer
Kunst der Fuge verglichen werden könnte.
Nicht zufällig quert der Name Paul Celans ein ums andere Mal die Seiten
von L’écriture ou la vie, wird seine berühmte Todesfuge in den Text eingeblen-
det.87 Aber anders als bei dem von Semprúns Erzählerfigur realitätsnah in
Szene gesetzten Treffen Celans mit Heidegger im Schwarzwald88 – ein Treffen,
das bekanntlich ergebnislos blieb und in den Augen Semprúns die Philosophie
Heideggers endgültig entwertete – steht hier kein Selbstmord eines Schriftstel-
lers am Ende. Nicht die Freitode von Primo Levi oder von Maurice Halbwachs’
Sohn, sondern die Seite(n) des Lebens behält die Oberhand. Semprúns Kunst
der Fuge hat gleichsam kontrapunktisch zu Celan aus L’écriture ou la vie eine
So könnte der Erzähler – und mit ihm wohl auch sein Schöpfer – in die zitierten
Verse von César Vallejo einstimmen:
89 Ebda., S. 220.
Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik
der Abwesenheit
Lassen Sie uns an dieser Stelle unserer Vorlesung über Geburt und Tod, über
Leben und Sterben nach den Texten vor dem Konzentrationslager bei Albert
Cohen und aus dem Konzentrationslager wie bei Max Aub und Jorge Semprún
nun zu einem Werk kommen, das nach dem Konzentrationslager entstand und
in vielfacher Weise die europäische Gegenwartsliteratur geprägt hat. Wir gelan-
gen damit zu einem literarischen Oeuvre, das zweifellos in seiner Gesamtheit
nach der Postmoderne1 anzusiedeln ist: Ich spreche von dem umfang- und fa-
cettenreichen Schaffen der französischen Schriftstellerin Cécile Wajsbrot.
Sicherlich ist das erste, was nicht nur deutschen Leserinnen und Lesern auf-
fällt, wenn sie Cécile Wajsbrots 2002 erschienenen Erzähltext Caspar-Friedrich-
Strasse in die Hand nehmen, der Titel dieses Bandes. Dabei ist es wohl weniger
die Tatsache, dass auf der Umschlagseite – zweifellos aus Gründen der Lesbar-
keit – auf die Bindestriche verzichtet wurde, die den ‚eigentlichen‘ Titel auf der
Titelseite gleichsam in eine semantische Einheit verwandeln (Abb. 31). Denn vor
allem springt ins Auge, dass der Name des sicherlich berühmtesten deutschen
Malers der Romantik unvollständig ist. So stellt sich zunächst die Frage nach den
Gründen für diese Auslassung.
Eine erste Erklärung für diese Lücke könnte darin bestehen, dass ein deutschspra-
chiger Titel in solcher Länge einem französischsprachigen Publikum nicht zu-
zumuten und daher auch nicht verkaufsfördernd sein kann – nicht umsonst
haben Verlage bei der Wahl des Titels ein gewichtiges Wort mitzusprechen, ja
nicht selten das alleinige Entscheidungsrecht. Wie schwierig selbst noch die
verkürzte und von Bindestrichen befreite Fassung des Titels für eine franzö-
1 Vgl. hierzu das Cécile Wajsbrot gewidmete Teilkapitel im dritten Band der Reihe „Aula“ in
Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 989 ff.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-012
Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit 379
2 Malherbe, Delphine de: Nocturnes, de Cécile Wajsbrot. Caspar Friedrich Strass, de Cécile
Wajsbrot. In: Magazine littéraire (Paris) 410 (2002), S. 63.
3 Ebda.
380 Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit
4 Vgl. hierzu das erste und achte Kapitel in Ette, Ottmar: ZwischenWeltenSchreiben. Literatu-
ren ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005.
Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit 381
Abb. 33: Jacques-Louis David (1748–1825): Bonaparte beim Überschreiten der Alpen am
Großen Sankt Bernhard, 1800.
5 Wajsbrot, Cécile: Caspar-Friedrich-Strasse. Paris: Zulma 2002, S. 24: „les visages pétrifiés
des habitants de Weimar que les Américains ont fait défiler à Buchenwald, leur stupeur quand
ils découvrent les charniers, les visages et les corps squelettiques.“
382 Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit
Semprúns gesehen, dass dieser Autor einer translingualen Literatur ohne festen
Wohnsitz, der in einem Gespräch Buchenwald als sein „Zuhause“ bezeichnete,
wie kein anderer in mehreren seiner Werke, vor allem aber in seinem 1994 er-
schienenen L’écriture ou la vie, diese Szenerien literarisch eindrucksvoll und er-
greifend entfaltete.6
Auf diese Weise werden die Konzentrationäre von Buchenwald, aber auch
die schutzlos der Kälte ausgesetzten nackten Männer, Frauen und Kinder ge-
genwärtig, die sich „entlang der Barackenfluchten, welche die unermesslichen
Ebenen Polens bedeckten“,7 aufreihen, um in den nationalsozialistischen Ver-
nichtungslagern auf bestialischste Weise zum Verschwinden gebracht zu wer-
den. Die nach dem Fall der Berliner Mauer von der Erzählerfigur, einem aus der
Deutschen Demokratischen Republik stammenden Schriftsteller, vorgenom-
mene Einweihung einer neuen Straße, die den Namen des großen Malers der
Romantik tragen soll, verweist aus der Perspektive eines ‚wiedervereinigten‘
Deutschlands darauf, dass in Cécile Wajsbrots Text mit der Tilgung des jüdi-
schen Namens David immer auch die versuchte und nicht mehr gut zu ma-
chende Tilgung der jüdischen Bevölkerung Berlins, Deutschlands und Europas
markiert wird. Zugleich markiert dieser Titel das Fehlen all dieser Menschen, die
brutal und verwaltungstechnisch präzise aus der Mitte der Gesellschaft gerissen
wurden, und mehr noch die Sprachlosigkeit, die sich nach diesen bestialischen
Morden an Unschuldigen beim Besuch eines historischen Konzentrationslagers
einstellt.
Der Name Davids, einer der großen Figuren der jüdisch-christlichen Über-
lieferung, glänzt im Titel durch seine Abwesenheit und wird durch eben dieses
Verfahren der Aussparung, der Absenz ins Bewusstsein gehoben, ja ins leere
Zentrum (des Davidsterns) gerückt. Damit aber verwandelt sich die Absenz des
aus der Kette herausgebrochenen jüdischen Namens in eine Omnipräsenz, die
den Text von seinem Titel bis zu seiner letzten Seite in seiner Gesamtheit durch-
zieht: eine Allgegenwart, die alles prägt und umdeutend erfasst. Es wird daher in
der Folge unserer Analyse nicht zuletzt darauf ankommen, die Funktionsweisen
sowie die (Be-)Deutungsmöglichkeiten dieses Verfahrens der Aussparung, der
Abwesenheit am Beispiel von Caspar-Friedrich-Strasse genauer zu untersuchen.
Denn daran, dass es sich um ein sehr bewusst gewähltes und von Beginn
an in Szene gesetztes literarisches Verfahren handelt, kann kein Zweifel beste-
hen. Die Differenz zwischen Caspar Friedrich und Caspar David Friedrich wird
8 Vgl. zu den Landschaften Friedrichs u. a. Zacharias, Kyllikki: Landschaften: Rügen, der Tet-
schener Altar, Riesengebirge, Böhmen. In: Gaßner, Hubertus (Hg.): Caspar David Friedrich: Die
Erfindung der Romantik. Museum Folkwang Essen, Hamburger Kunsthalle. München: Hirmer
Verlag 2006, S. 195–205.
384 Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit
Und gleichwohl bilden diese Talungen unsere inneren Erschütterungen und unsere Stö-
rungen, bilden diese fortschreitenden Lichtungen unser Zögern und unser langsames
Zum-Licht-Kommen, bis zu diesem Himmel schließlich, der gleichzeitig rein und leicht ver-
schleiert ist – ganz so, wie unser Glück niemals ohne Beimischungen scheint –, bis zu die-
sem Gelb, das gleichzeitig hell und tief ist, von Strähnchen mit langen, ausgefransten
mauvefarbenen Inselchen durchzogen, die unsere Erinnerungen sind, wie die Spur, welche
sie hinterlassen, wenn die Störung durch das Ereignis sich erst einmal beruhigt hat, bis zu
diesem Gelb, das sich ebenfalls langsam in einer braunen Immaterialität verliert, die weder
mauve- noch rosafarben noch weiß ist, sondern an der Überkreuzung dieser sich auflösen-
den Färbungen steht, wie dies bisweilen auch unsere Gefühle sein können, eine Auflösung,
die keinen Verlust, sondern eine Öffnung darstellt, welche Platz lässt für das Kommende.9
Die sich in diesem Spätwerk Caspar David Friedrichs im Kosmos eines transzen-
denten Landschaftsentwurfs auftuende Lücke wird von der Erzählerstimme als
eine ständig changierende Abfolge von Farbschattierungen gedeutet, die mit
ihren weit über die Proportionen einer Seelenlandschaft hinausgreifenden Be-
wegungen eine Öffnung entstehen lassen, in die sich das Kommende, das Künf-
tige einschreiben wird. Die Einschreibungen dieses noch nicht Sichtbaren, aber
doch schon Erahnbaren entfalten sich in Farbschattierungen, welche sich nie-
mals klar und eindeutig, doch bestimmbar und nachvollziehbar zu einer Land-
schaft anordnen, welche im besten Sinne eine Landschaft der Theorie ist.10
Denn aus dem bestimmten Unbestimmten schält sich langsam heraus, was in
den Künsten Licht auf das Künftige wirft und ebenso das erscheinen lässt, was
ist, als auch das, was nicht mehr ist oder auch noch nicht sein kann.
Wie in Caspar David Friedrichs Gemälde strukturieren Öffnungen, Lichtungen,
Leerräume und Abwesenheiten das gesamte Textgewebe. Dessen konkreter
Ausgangspunkt aber war – so eine kursiv gesetzte und mit den Initialen der Au-
torin signierte Erläuterung am Ende des Bandes – die Anwesenheit Cécile Wajs-
brots im Herbst 2000 in Berlin, ein Aufenthalt, der von der Maison des écrivains
und den Amis du roi des Aulnes in Paris sowie dem Berlin-Brandenburgischen
Institut in Genshagen ermöglicht worden war.11 Dies mag erklären, warum nicht
das Gesamtwerk, sondern eine Auswahl aus jenen Gemälden Friedrichs, die der
Am 8. Dezember 1787 ist in Greifswald ein zwölfjähriger Junge zu Tode gekommen, als er
seinen Bruder vor dem Ertrinken retten wollte. Dieser Bruder hieß Caspar David Friedrich.
Wenn man sein Leben dem Tode von jemandem verdankt, der einem lieb ist, einem Bruder,
der ein Jahr jünger ist, wenn man sein Leben der Aufopferung eines anderen verdankt,
wenn das Ältestenrecht mit Todesfolge ausgeübt wird, dann stellen Sie sich vor, was das
386 Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit
bedeuten kann, aller Tröstungen zum Trotz, denen man sich hingibt, stellen Sie sich vor,
was das danach für ein Leben ist, um diese Aufopferung zu rechtfertigen. Ist es in diesem
Augenblick gewesen, dass er zu malen begann, oder war es zuvor, hat er auf diese Weise
versucht, die Angst, die Verzweiflung zu exorzisieren, hat dieser innere Bruch andere Brüche
bestimmt, die Diskontinuität der Familiengeschichte befehligt, die Entscheidung nahegelegt,
kein Handwerker zu werden wie sein Vater, seine Zeit nicht in den Seidenwerkstätten oder in
Kerzenfabriken zu verbringen wie seine Brüder, sondern sein Leben anders aufzubauen und
Künstler zu werden, sein eigenes Atelier zu haben? In jedem Bruch gibt es eine Kontinuität,
und es ist faszinierend, an die Kerzenfabrik zu denken – an das handmodellierte Wachs und
an die harte Arbeit – und an die Rolle des Lichts in den Gemälden von Caspar Friedrich.12
schen der familiären Tradition eines Handwerkers („artisan“) und der Lebens-
geschichte eines Künstlers („artiste“) – eine terminologische Scheidung, die
zum damaligen Zeitpunkt erst wenige Jahrzehnte zuvor begrifflich entstand –
aufmerksam macht. Für Caspar David Friedrich jedenfalls war der Weg vom
„artisan“ zum „artiste“ eine fundamentale Veränderung, die sein gesamtes
Leben radikal umgestaltete.
Der furchtbare Verlust, die Selbstaufopferung des jüngeren Bruders, wird
daher nicht nur als individuelles Trauma in der Lebensgeschichte Caspar David
Friedrichs verstanden. Die Erzählerstimme legt durchaus die Deutung nahe,
dass es das Ertrinken seines eigenen Retters, seines Christophorus war, was
Friedrichs Kreativität mit dem Zeichen des Verlusts und der Melancholie brand-
markte – und auch später auf die Symbolsprache seiner Kunst durchschlug.
Die durch die Aussparung im Titel geschaffene Leerstelle eröffnet ihrerseits
die Möglichkeit, dies ebenso im Kontext der politischen wie der ästhetischen
Entwicklungen mit der Rebellion gegen den Einfluss eines David und damit
einer an Macht und Größe, an antiker Plastizität und klassizistischer Propor-
tion ausgerichteten Malerei zu verbinden. Die ‚Unterdrückung‘ von David hat
damit evidente kunsthistorische wie kunstpolitische Motive im Kontext einer
Rivalität, die sich zwischen französischer Aufklärung und deutscher Roman-
tik ansiedelt.
Für die Fragestellung unserer Vorlesung aber dürfte es noch entscheiden-
der sein, dass es der Tod eines sich aufopfernden (und damit zugleich geopferten)
Bruders ist, der hier vom Erzähler als biographischer Schock eines Künstlerle-
bens identifiziert wird. Denn dieses Künstlerleben des großen deutschen Roman-
tikers ist eines, das sich aus diesem traumatischen Fortleben eines Todes und
eines Toten gleichsam speist. Wir finden auf diese Weise eine Engführung von
Tod und Leben vor, so dass sich das Leben des Künstlers gleichsam aus dem
Tod des Bruders nährt und damit des einen Tod zur Geburt des anderen, zu
jenem „Zum-Licht-Kommen“ wird, von dem die Erzählerstimme in unserem
ersten Zitat spricht.
Dieser Leben hervorbringende Tod erzeugt zugleich eine Schöpferkraft, die
sich aus dem Abwesenden, aus dem Toten und doch nicht Toten alimentiert.
Damit wird der Tod in einer ebenso paradoxen wie kreativen Konfiguration
zum Lebensmittel, das die künstlerische Arbeit intensiviert, ja vielleicht erst als
Lebens- und Überlebensform eröffnet. Zugleich stellt der Tod des Anderen dem
eigenen Leben und Überleben immer wieder die Sinnfrage, die Frage nach Be-
deutung und Sinnhaftigkeit eines Lebens, das sich der Opferung des Anderen
verdankt: „devoir la vie au sacrifice d’un autre“ – das ist die Macht, der sich
die Kunst Friedrichs gemäß dieser Deutung verdankt.
388 Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit
In einem fundamentalen Sinne ist diese Deutung des Todes, der das Leben
ist, christlich geprägt, ist das Kreuz doch Symbol eines Todes, der das Leben
schenkt. Aber entsteht daraus auch Kunst, selbst wenn diese Kunst im Zeichen
des Lichts der Kerzen steht? Gewiss führt diese Konfiguration, die in einem tie-
fen Sinne trostlos ist, weil sie die Aufopferung des Anderen nur mit einem sich
ständig für den abwesenden (und gerade dadurch umso präsenteren) Toten
aufopfernden Leben – das doch nur immer Aufschub des Todes ist – ‚beglei-
chen‘ kann, nicht notwendig zur künstlerischen Kreativität.
Dies macht auf einer anderen diegetischen Ebene die vermeintlich große,
aber unerfüllt gebliebene Liebe des Ich-Erzählers deutlich. Nicht zufällig lernte
er die junge Frau auf einem Friedhof kennen, wo sie – auf immer untröstlich –
am Grabe ihrer Schwester trauerte, die bei einem Autounfall ums Leben kam.
Die zwei Jahre jüngere Schwester hatte vorne im Wagen gesessen und war ums
Leben gekommen, während die „survivante“16 im Fonds des Wagens mit eini-
gen Brüchen davongekommen war. Diese „Überlebende“ aber sollte sich vom
Schock eines solchen Verlusts niemals befreien. Denn er bildet eine tiefe Er-
schütterung, von dem sich die Unschuldig-Schuldige niemals mehr erholt –
und ohne dass ihr durch diesen Verlust unerwartete Kreativkräfte zuwüchsen.
Die Überlebende hält sich für mitschuldig am Tode ihrer Schwester. So
hatte der Körper der jüngeren den der älteren Schwester geschützt, hatte sich
gleichsam für die Überlebende aufgeopfert und sein Leben hingegeben. Der
Ich-Erzähler spürt, dass er diese Überlebende niemals wird trösten können: „Je
disais ce qu’on dit dans ces cas-là, sans grande conviction“17 – das Ich sagt,
was man in solchen Fällen zu sagen pflegt, ohne große Überzeugung. Doch der
Ich-Erzähler sucht die Nähe des Mädchens, die Präsenz ihrer Stimme, die er
rasch wieder verlieren wird, da sein kurzer Besuch im Westteil Berlins zu Ende
geht: „Damit ich weitersprechen könnte, damit sie nicht aufbräche, damit sie
bei mir bleibt, damit ich sie anschauen und ihre Stimme hören kann.“18
Diese ebenso behutsam wie präzise gestaltete Szene findet sich am Ende
jenes fünften und zentralen Kapitels und damit in eben jenem Teil des Ro-
mans, an dessen Beginn die Selbstaufopferung von Caspar David Friedrichs
Bruder platziert worden war. Es handelt sich um eine analoge Figuration, die
freilich in inverser Darstellung modelliert wurde: ein „chassé-croisé“ der Überle-
benden und ihrer Toten. Hier stehen sich zwar zwei durchaus vergleichbar tragi-
sche Ereignisse gegenüber, bei denen das jeweils jüngere Geschwisterkind zu
19 Ebda., S. 77.
20 Ebda., S. 78.
21 Ebda.
22 Ebda.
390 Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit
gen als Überschriften die Titel berühmter Gemälde Caspar David Friedrichs, so
dass gleichsam ein literarischer Gang durch die Bilder einer Ausstellung entsteht.
Ich hatte das Glück, Cécile Wajsbrot bei einer Lesung im Neuen Museum auf der
Berliner Museumsinsel inmitten der Gemälde Caspar David Friedrichs zu erleben,
ein literarisch-künstlerisches Ereignis, das – wie es schon das erste Zitat aus Cas-
par-Friedrich-Strasse vermuten lässt – überaus beeindruckend war, stellte sich
doch augenblicklich ein intensives poetisches Verhältnis zwischen der Malerei des
Romantikers und der Stimme wie den Texten der französischen Autorin ein.
Auch wenn die musikalischen Elemente dieses Bandes – wie in allen Tex-
ten Cécile Wajsbrots – gewiss nicht zu überhören sind, da die klanglich-
rhythmischen Strukturierungen alle literarischen ‚Bilder‘ prägen, sollen im
Rahmen unserer Vorlesung doch innerhalb der synästhetischen Relationen
auf der inter- und transmedialen Ebene die ikonotextuellen Beziehungen stär-
ker ins Blickfeld genommen werden. Doch geschieht dies stets im Horizont
von Fragen, welche Leben und Sterben betreffen.
In der Tat spielen die Beziehungen zwischen Friedrichs Gemälden und den
Texten Cécile Wajsbrots eine entscheidende Rolle für das Verständnis des Ban-
des. Wie stark diese die Medien von Bild und Text querende transmediale Ver-
klammerung ist und wie sehr diese auch von der Autorin selbst bewusst gewichtet
wird, zeigte die bereits erwähnte und kurz nach dem Erscheinen des Bandes veran-
staltete öffentliche Lesung von Caspar-Friedrich-Strasse in der Alten Nationalgale-
rie zu Berlin im März 2003, bei der die Zuhörer zugleich zu Zuschauern wurden,
fand die Lesung doch inmitten der vom Text explizit erwähnten Werke des Malers
aus Greifswald statt. Die gleichfalls erwähnte Tatsache, dass die weit überwie-
gende Zahl der explizit genannten Gemälde Caspar David Friedrichs der Samm-
lung der Nationalgalerie Berlin entstammt,23 wird innerhalb der Diegese des
Erzähltexts durch die Herkunft der Erzählerfigur aus Berlin und einem Besuch
dieser Figur im Museum motiviert. So ergibt sich leicht die offene Strukturierung
eines Gangs durch die Ausstellung im Sinne eines Parcours, der freilich weder
einer festen chronologischen, räumlichen oder thematischen Anordnung ge-
horcht noch die Möglichkeiten verletzt, wie beim Besuch einer Ausstellung kurz
einmal zurückzugehen und ein Bild nochmals zu betrachten.
Damit ist der Text in seinem Grundaufbau unverkennbar einer Wege- und
Bewegungsmetaphorik zugeordnet, die ja im Titel selbst schon anhand der
„Strasse“ deutlich markiert ist. Die Wahrnehmungen erfolgen aus einer mobilen,
23 Vgl. etwa den Katalog Caspar David Friedrich. Das Werk aus der Nationalgalerie Berlin
Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz. Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart 4. April –
26. Mai 1985. Berlin: Frölich & Kaufmann 1985.
Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit 391
sich hin- und herbewegenden Perspektive. Dabei ist es wie beim Gang durch die
Bilder einer Ausstellung möglich, den Parcours zu verändern, zwischen verschie-
denen Bildern zu pendeln oder andere, alternative Bewegungsfiguren und Cho-
reographien auszuführen. Es geht nicht um einen zielgerichteten, von Zahlen,
Fakten und dem „sens commun“ geleiteten Rundgang, wie ihn gleich zu Beginn
des Textes behänden Schrittes ein Touristenführer mit seiner Gruppe absolviert
und professionell ‚abspult‘, sondern vielmehr um jederzeit offene Bewegungen.
Ich möchte daher den hier vorgeschlagenen Parcours durch die ikonotextuellen
Beziehungen auch nicht mit dem ersten Bild, den Ruines du monastère Eldena près
de Greifswald – also der 1824/1825 geschaffenen Vision der Klosterruine Eldena bei
Greifswald – beginnen (Abb. 38), sondern als Ausgangspunkt das fünfte Bild wäh-
len, das numerisch – wie wir sahen – eine Zentralstellung einnimmt. Dieses fünfte
Kapitel trägt den Titel La côte de la mer au clair de lune und bezieht sich auf Fried-
richs um 1830 entstandenes Gemälde Meeresküste bei Mondschein, das seinerseits
auf die mit Saßnitz beschriftete Studie aus dem Jahre 1826 zurückgeht (Abb. 36).24
Das Gemälde entfaltet eine Geschichte nach dem eigentlichen Ereignis.
Seine visionäre Kraft entsteht aus einer Spannung, die sich bereits zuvor in
einem Unwetter entladen und zwei Schiffbrüchige mit ihrem Segelschiff an
Land gespült hat. Der Mast des Schiffs quert die horizontale Trennlinie zwi-
schen den Elementen, bildet eine gleichsam transzendente Verbindung zwi-
schen Himmel, Meer und Erde, die durch das vierte Element, das Feuer, das die
beiden Überlebenden entfacht haben, komplettiert wird. Caspar David Fried-
richs Malerei zielt stets auf das Kosmische der Schöpfung ab – als Ordnung und
Schönheit, als das Allumfassende in jedem Schöpfungsakt. Diese kosmische Di-
mension ist auch im literarischen Text enthalten.
Die ikonisch evozierte Szenerie ist an der Ostsee, offenkundig vor Rügen und
damit unweit von Friedrichs unmittelbarer Heimat angesiedelt, wobei das so oft
gedeutete Gemälde nun gleichsam von Cécile Wajsbrots Text semantisch aufgela-
den, umkodiert und in das Spiel der Erzählung selbst miteinbezogen wird. Denn
wie sollte man diese Darstellung, das Schiff mit seinen beiden winzigen Gestal-
ten in einer von der Natur beherrschten Welt mit ihren düsteren Farben, nicht
auf die das Kapitel eröffnende Szene des ertrinkenden Bruders beziehen? Das Ge-
mälde erscheint wie eine Antwort auf diese textuelle Konfiguration, haben sich
hier doch zwei Männer – und damit beide – gerettet und ein Feuer entfacht, das
gleichsam dem über den Wolken sich abzeichnenden Schimmer des Mondes ant-
wortet. Die Transzendenz einer kosmischen Ordnung scheint gewahrt.
24 Ebda., S. 48. Vgl. zu diesem Themenkreis: Kulturstiftung der Länder / Hamburger Kunst-
halle (Hg.): Caspar David Friedrich: Meeresufer im Mondschein. Berlin: Kulturstiftung 1992.
392 Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit
Abb. 36: Caspar David Friedrich (1774–1840): Meeresküste bei Mondschein, ca. 1830.
Der Wajsbrot’sche Schrifttext erzeugt auf diese Weise eine Rekodierung und
Resemantisierung, welche die tödlichen Unfälle des Brüder- wie des Schwestern-
paares einbeziehen und weder das Bild auf die Funktion einer Illustration des
Textes noch den Text auf die Funktion einer Illustration des Bildes reduzieren.
Die eingeführten historischen wie erfundenen Biographeme kreuzen die geome-
trische Anlage des Gemäldes und lassen den Schiffbruch mit Zuschauer25 in seiner
ganzen philosophischen Dimension einer Selbstreflexion der Kunst wie des Le-
bens erscheinen. Leben und Tod, Ertrinken und Überleben sind gleichsam haut-
nah aufeinander bezogen.
Bevor wir diesen Aspekt im folgenden Abschnitt weiterentwickeln, sollten
wir uns jedoch eine nur auf den ersten Blick allzu evidente Tatsache vor Augen
halten: Cécile Wajsbrots Text ist nicht ‚illustriert‘, verzichtet bewusst auf jegliche
25 Vgl. hierzu Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. Zum Thema des Schiffbruchs bei Friedrich vgl. Zschoche,
Herrmann: Caspar David Friedrich auf Rügen. Amsterdam – Dresden: Verlag der Kunst 1998,
S. 136–140.
Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit 393
26 Zu diesen Bildpaaren vgl. ausführlich Busch, Werner: Friedrichs Bildverständnis. In: Gaß-
ner, Hubertus (Hg.): Caspar David Friedrich: Die Erfindung der Romantik, S. 32–47. Zur Bedeu-
tung der Winterlandschaften im Gesamtwerk vgl. Friedrich, Caspar David: Winterlandschaften.
Herausgegeben von Kurt Wettengl. Dortmund: Edition Braus o.J.
27 Vgl. zur Bedeutung der Friedhöfe in seinem Schaffen insbes. Kluge, Hans Joachim: Caspar
David Friedrich. Entwürfe für Grabmäler und Denkmäler. Berlin: Deutscher Verein für Kunstwis-
senschaft 1993.
28 Wajsbrot, Cécile: Caspar-Friedrich-Strasse, S. 86.
29 Ebda.
394 Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit
Abb. 37: Caspar David Friedrich (1774–1840): Abtei im Eichenwald, zwischen 1809 und 1910.
Die Ruinen sind überall um uns herum, wenn man sie nur sehen will, gewiss, ihr Schick-
sal ist es, unter den Konstruktionen und Rekonstruktionen zu verschwinden, haben wir
es doch gelernt, zu schminken und zu maskieren, die Zukunft ausgehend von dem, was
existiert, zu modellieren, und wenn sich unsere entwurzelten Glastürme zum Künftigen
hochrecken, wobei sie glauben, sich zum Himmel zu erheben, dann werden jene, die uns
nachfolgen, darin die Spur einer Vergangenheit lesen. Die Plätze, die Arterien, die wir
schaffen, die Stadt, auf die wir uns zubewegen, ist die Kopie unserer alten Stadt, anstatt
in die Zukunft zu sehen, wenden wir uns der Vergangenheit zu, wobei wir die Klammern
verflossener Dekaden schließen, um den Lauf wieder aufzunehmen.30
Jenseits einer illustrativen, aber auch jenseits einer nur intermedialen Dimen-
sion, bei der sich wie in einem Dialog Text-Bild und Bild-Text wechselseitig be-
leuchten, ohne sich zu durchdringen, entsteht eine Bilderwelt, die von der
30 Ebda., S. 9.
Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit 395
Allgegenwart von Ruinen geprägt ist – gerade auch dann, wenn sie unter den
Türmen aus Glas nicht sichtbar zu sein scheint. Hatten sich nicht die stolzen
Glastürme der neuen Nationalbibliothek Frankreichs just an jene Stelle gesetzt,
von der aus die Züge der ihrer ganzen Habe entkleideten Juden nur einige De-
kaden zuvor in die Konzentrations- und Vernichtungslager nach Polen abgefah-
ren waren? Hatten sich nicht gerade dort die Türme des Wissens in die Höhe
geschraubt, wo kurz zuvor noch die Ruinen vergangener Katastrophen sichtbar
waren?
Diese gleichsam anagrammatische, die Stadt unter der Stadt herauspräpa-
rierende Strukturierung, bei der Friedrichs komplexe, aus Versatzstücken un-
terschiedlichster Provenienz und unterschiedlichen Alters zusammengestellte
Vision der Klosterruine Eldena bei Greifswald als Titelgebung des Auftaktkapi-
tels ins Incipit eingreift, führt programmatisch die Stoßrichtung des gesamten
Textes und dessen Funktionsweise vor. Denn so, wie Friedrich selbst auf die
Fragmente von Ruinen unterschiedlichster Räume und Zeiten zurückgriff, um
heteroklite Ruinenlandschaften zu schaffen, die weit über die topische Veran-
schaulichung der Vergänglichkeit alles Menschlichen hinausreichen, konstru-
iert der Text im Diskurs der Erzählerstimme eine Vision, die die Allgegenwart
der Ruinen in einem Berlin des Bau-Booms gerade aus deren scheinbarer Abwe-
senheit bezieht. So werden in diesem Falle die Ruinen eines 1199 gegründeten
und bereits seit dem 17. Jahrhundert verfallenden Zisterzienserklosters31 mit der
Ruine der Berliner Mauer,32 den Ruinen des Berlin der zwanziger Jahre, im Bom-
benhagel des Zweiten Weltkriegs und jenem Berlin des sozialistischen Wieder-
aufbaus in der Deutschen Demokratischen Republik miteinander verschränkt,
ohne doch miteinander zu verschmelzen. Wir leben inmitten von Ruinen, die
sich unter und hinter den glänzenden Fassaden unserer Neubauten verbergen.
Was für die Städte gilt, gilt auch für ihre Bewohner – und damit auch für die
Protagonisten dieses Erzähltexts. Überall sind unter ihren Bauten, unter ihren
Konstruktionen die Ruinen spürbar, die „ruines de nos vies“,33 sind die Ruinen un-
seres vergangenen Lebens im gegenwärtigen noch immer zu fühlen. Doch wie der
Titel von Caspar David Friedrichs Meeresküste bei Mondschein die Anwesen-
heit des Schiffswracks übergeht, das doch im Zentrum der romantischen Bild
komposition steht, so garantiert auch bei den Figuren dieses „récit“ die Abwe-
senheit von Wracks, die auf den ersten Blick sichtbar wären, die Präsenz des
„naufrage“: Schiffbruch überall!
Auch in dieser Szene wohnen wir einem Schiffbruch mit Zuschauer bei, der frei-
lich – anders als bei Caspar David Friedrich – weder konstruktiv in die Kunst
noch ins Leben übersetzbar ist. Wie die Protagonistin ihrem eigenen Leben das
Urteil sprach, so lässt sie auch gegenüber dem Ich-Erzähler keine Gnade wal-
ten. Denn ihr Urteil, er wisse nicht zu leben, gibt einem möglichen Wider-
spruch, einer möglichen Berufung keinerlei Raum.
Es ist der Vorwurf nicht nur eines fehlenden Savoir-vivre, sondern eines
fehlenden Lebenswissens, das sich nicht mit dem Verweis auf die Geschichte
zu entschuldigen und zu rechtfertigen vermag. Längst ist die Berliner Mauer
keine unüberwindliche, das ‚Paar‘ trennende Grenze mehr. Während er mit einer
Frau verheiratet ist (und Kinder hat), die er nicht liebt, ist der Begleiter der Prota-
gonistin ein Mann, der für sie offenkundig nur interessant ist, weil er über Geld
verfügt. Beide trennt und verbindet zugleich ihre gemeinsame Unfähigkeit, ein
Überlebt-Haben, das allein der Vergangenheit verpflichtet ist, in ein der Zukunft
zugewandtes Lebenswissen und Zusammenlebenswissen zu verwandeln.
Beide Partner vermögen es nicht, sich aufeinander einzulassen und aus
ihren bisherigen Beziehungen auszubrechen. Die Abwesenheit dieser Art von
Lebenswissen, das man auch als ein Wissen von der Liebe ansehen muss, ist
allgegenwärtig: Beide können sich nicht auf ihre Liebe einlassen und scheitern
an der unsichtbaren Mauer, die sie trennt. Zumindest für die Protagonistin ist
letztlich auch die Kunst – anders als für Friedrich – nicht zu einem neuen Le-
34 Ebda., S. 86.
Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit 397
bensweg geworden, der aus der Trostlosigkeit des vergangenen Unglücks noch
hätte herausführen können. Der Vorwurf an die Adresse des Ich-Erzählers, über
kein Lebenswissen zu verfügen, fällt auch auf die „survivante“ und Liebende
selbst zurück. Sie vermag es nicht, über den Schatten des Todes ihrer Schwester
zu springen und ein Leben im vollen Sinne zu führen, das mehr wäre als bloßes
Überleben.
Doch der Tod hält auch in einem kollektiven Sinne – und im Sinne eines
kollektiven Gedächtnisses, im Sinne von Maurice Halbwachs – Vergangenheiten
bereit, die für die Nachgeborenen ein Leben in vollem Sinne verhindern. Für
die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, nach der Shoah, nach
dem Ende des Zweiten Weltkriegs Geborenen ergibt sich das existenzielle Prob-
lem, mit einer Vergangenheit leben zu müssen, die biographisch gesehen nicht
die ihre ist und doch nicht von ihnen abgetrennt werden kann. Denn auch sie
leben inmitten dieser Ruinen, die überall an frühere Katastrophen erinnern.
Der Ich-Erzähler reflektiert diese Problematik intensiv. Es ist nicht so sehr eine
Arbeit am Mythos,35 sondern weit mehr eine Arbeit an der Erinnerung der Anderen,
die zur anderen eigenen Erinnerung geworden ist, welche im Verlauf der letzten
Jahrzehnte für diese Generation – glauben wir der Erzählerfigur des ostdeutschen
Schriftstellers – zur entscheidenden Schicksals- und Lebensfrage wurde. Denn:
„notre destin est de nous souvenir, même de ce que nous n’avons pas connu.“36 Es
ist die Erinnerung an das, was man selbst nicht erlebt und gelebt hat. Wie aber mit
dieser Erinnerung der Anderen, mit dieser Erinnerung an frühere Katastrophen, in-
mitten all der Ruinen aus der Vergangenheit in der Gegenwart umgehen?
Daher bildet weniger die Geschichte als die Erinnerung einen zentralen
Bezugspunkt für eine Generation, die sich – ein in den Texten Cécile Wajs-
brots häufig wiederkehrendes Motiv – darum bemüht, Eurydike zum Licht,
zum Leben zurückzuführen:
Wir sind Orpheus, und niemals werden wir Eurydike treffen, wir wissen dies seit ewigen
Zeiten, gleichwohl werden wir nicht damit aufhören, in die Unterwelt abzusteigen, ja, wir
steigen hinab, unsere Straße ist ein Weg, der unter die Erde führt, unser Parcours ein ver-
geblicher Versuch, zum Licht zurückzukehren, wie sollen wir es anstellen, um unsere Ge-
genwart zu leben, wenn es doch ihre Vergangenheit gab, wie weitermachen nach einem
Bruch, von dem man sagt, dass er nicht in die Geschichte integriert werden kann, von
dem man sagt, dass er die schreckliche und unbenennbare Ausnahme bildet, welche
gleichwohl einen Namen trägt – und bezüglich dessen wir keine andere Wahl haben als
ihn zu integrieren, wir, die wir danach kommen, wenn wir doch leben wollen?37
38 Ebda., S. 88.
39 Ebda., S. 13.
40 Ebda.
Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit 399
Abb. 38: Caspar David Friedrich (1774–1840): Klosterruine Eldena bei Greifswald.
Öl auf Leinwand, ca. 1825.
41 Ebda., S. 48.
400 Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit
Zwar erscheint es als durchaus möglich, vermittels der Lektüre – also inter-
textuell – an der literarisierten Lebenserfahrung großer Autorinnen und Autoren
teilzuhaben und deren Werk der Menschlichkeit („leur humanité“)42 fortzusetzen.
Man kann durch Lektüre zweifellos aus diesen großen Texten für das eigene Leben
lernen. Doch entscheidend ist dabei die Tatsache, dass Literatur vom Leben her an-
dere Verständnismuster (und Bewegungsmuster) entwirft, als dies vom Stand-
punkt einer abstrakten Geschichte aus möglich wäre. Der Maßstab ist folglich das
je eigene Leben, dessen Geschichte niemals in der ‚großen‘ Geschichte aufgeht. Li-
teratur, so ließe sich sagen, ist jener Diskurs, der Geschichte aus der Perspektive
des Lebens und konkreter Lebensprozesse aus wahrnimmt und re-präsentiert;
vor allem aber ist Literatur ein diskursiver Kosmos, der Geschichte in Leben
übersetzt und die einander oft widersprechenden Blickwinkel verschiedenar-
tigster Lebensgeschichten inszeniert. Dieses Lebenswissen ist viellogisch,
weil auch unser Leben selbst viellogisch ist. In diesem Sinne ist Literatur ein
sich ständig verändernder und zugleich interaktiver, veränderbarer Speicher
von Lebenswissen, in welchem das Leben niemals auf einen Punkt gebracht
werden kann.
Die Zeit scheint für die Generation nach der Shoah, für die Generation, die
im Zeichen der allgegenwärtigen Abwesenheit Davids, der Absenz großer Teile
des Judentums in Europa lebt, still zu stehen und eine gefrorene, versteinerte
Zeit zu sein. Erst wenn es möglich ist, sie wieder in Bewegung zu setzen, sich
nicht an einer einzigen Vergangenheit der Anderen, sondern zugleich viello-
gisch auch an anderen und vor allem weiteren Vergangenheiten auszurichten,
werde man – so der Ich-Erzähler im abschließenden Kapitel – wieder die Fähigkeit
entfalten, „[être] à nouveau vivants, et vivre ainsi la vie que nous avons désormais
le droit de vivre“.43 Denn nur auf diese Weise werden wir wieder lebendig und
können unser Recht, nach der Shoah zu leben, im vollumfänglichsten Sinne leben.
Dabei ist die Abwesenheit Davids die Allgegenwart einer vermissten Präsenz.
Die im gesamten Text beobachtbare hohe Frequenz und Insistenz einer Le-
bensbegrifflichkeit macht deutlich, in welch starkem Maße in den Worten des
Schriftstellers die vitale Dimension von Literatur immer wieder neu überdacht,
immer wieder neu als Lebenswissen perspektiviert wird und werden muss. Zu-
gleich wird unübersehbar (und vielleicht auch warnend) hervorgehoben, dass
ein Wissen vom Leben und über das Leben nicht gleichbedeutend ist mit einem
Wissen im Leben, einem Wissen als konkrete Lebenspraxis und – vielleicht
mehr noch – als ein dem Anderen gegenüber offenes und dynamisches Zusam-
42 Ebda.
43 Ebda., S. 111.
Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit 401
44 Ebda.
402 Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit
45 Ebda., S. 16.
46 Ebda., S. 12.
47 Zur Interpretation dieses sehr erfolgreichen Romans der Autorin vgl. das letzte Kapitel in
Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 999 ff.
Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit 403
rikers – auch wenn beide derselben Generation angehören – mit denen der rea-
len Autorin Cécile Wajsbrot zu verwechseln oder gar in eins zu setzen.
Denn die Doppelung der Gestalten, ja vor allem die Aufspaltung in die
jüngeren oder älteren Paare, die wir in den Gemälden Caspar David Fried-
richs so häufig beobachten können, standen gewiss Pate bei der Anlage die-
ses sorgfältig konstruierten Erzähltexts. Daher sollte diese Doppelung als
erzähltechnische Möglichkeit verstanden werden, eine einseitige Sichtweise
von Geschichte zu unterlaufen, ohne der naheliegenden Versuchung nach-
zugeben, sie als simple Projektion einer Autor-Figur misszuverstehen. Denn
nicht umsonst steht der ostdeutsche Lyriker mit seiner Präsenz für ein Fort-
dauern der auf Ebene der Geschichte längst historisch gewordenen, auf
Ebene des Lebens aber noch allgegenwärtigen Deutschen Demokratischen
Republik, die lange Zeit – ein halbes Menschenleben lang – vor der eigenen
Vergangenheit der Anderen durch eine Mauer geschützt war. Auch sie ge-
hört zu all jenen Ruinen, in deren Gesellschaft wir gerade auch hier in Pots-
dam leben, wo man doch so gerne an den ‚Alten Fritz‘ und an ein Zeitalter
aufklärerischer Toleranz erinnert.
Doch jene Epoche war nicht nur eine der Toleranz und des Vernunftdenkens,
sondern auch einer Dialektik der Aufklärung, deren Rationalität – wie wir sahen –
nicht nur aufklärerische Effekte zeitigte. Denn die Herrschaft dieser Rationalität
führte auch zur Optimierung kolonialer Plantagenwirtschaft, zur Ausprägung von
„Concentration Camps“ in den Kolonien und schließlich zu Menschen wie Eich-
mann, anhand dessen Prozess in Jerusalem eine Hannah Arendt die Banalität des
Bösen im Bewusstsein einer rationalen Präzision und Akkuratesse aufzuzeigen
vermochte.
Der Weg war lang von diesen Grundbedingungen aufklärerischer Rationali-
tät über die Ausbeutung versklavter und deportierter Menschen in den Kolo-
nien oder die sexuelle Ausbeutung entrechteter menschlicher Körper beim
Marquis de Sade bis in die Zeit des Antisemitismus vor der Epoche nationalso-
zialistischer Konzentrationslager bei Albert Cohen, in die Zeit in den südfranzö-
sischen und nordafrikanischen Konzentrationslagern bei Max Aub, in die Zeit
der nationalsozialistischen Vernichtungslager bei Jorge Semprún oder in die
Zeit nach der Shoah in den Erzähltexten Cécile Wajsbrots. Doch dieser Weg hat
uns neue historische Zusammenhänge aufgezeigt und neue Beziehungen zwi-
schen Leben und Sterben, zwischen dem Tod im Leben sowie einem Leben im
Tod erkennen lassen. Er hat damit unser Verständnis lebenswissenschaftlich
grundlegender Relationen im Kontext einer Dialektik der Aufklärung bereichert.
Vor diesem Hintergrund scheint es mir daher wichtig zu sein, der Anwesen-
heit der Autorin bei der Lesung aus Caspar-Friedrich-Strasse im Berliner Neuen
Museum ihre Abwesenheit auf textinterner Ebene an die Seite zu stellen und
404 Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit
gleichzeitig zu betonen, in welch starkem Maße sich ihr gesamtes Schaffen auf
Grund seiner (auch musikalischen) Stimmigkeit und Kohärenz, aber auch eines
dichten Gewebes intratextueller Verweise zu einem einzigen Buch entwickelt,
an dem sie mit Hilfe immer wieder neuer Erzähler- und Künstlerfiguren weiter-
arbeitet. Noch in ihrer sorgsamen und deutungsreichen Arbeit an und mit Virgi-
nia Woolf in Nevermore48 wird diese anwesende Abwesenheit deutlich.
Die autobiographische Dimension der Texte Cécile Wajsbrots sollte dabei –
entgegen einer zumindest in deutschsprachigen Rezensionen beobachtbaren
Tendenz – nicht überbetont werden. Auch in Caspar-Friedrich-Strasse ist die
Abwesenheit der realen Autorin – wie jene Davids – sehr deutlich markiert:
nicht zuletzt dadurch, dass die ein historisch gewordenes Staatswesen reprä-
sentierende Schriftstellerfigur in diesem faszinierenden Text ihrem Schreiben
ein Ende gesetzt hat und nur noch von den Tantiemen früherer Veröffentli-
chungen lebt.
Cécile Wajsbrot hingegen arbeitet mit hoher Intensität an der langfristigen
Ausgestaltung eines in sich verwobenen literarischen Oeuvres, dessen Ästhetik
der Abwesenheit nicht nur für ein französischsprachiges Lesepublikum unver-
zichtbar ist. Denn dieses sich unverkennbar nach der Shoah ansiedelnde Ge-
samtwerk entwirft nicht zuletzt eine sich aus dem präsenten Abwesenden
speisende Schöpferkraft als einen notwendigen kreativen Weg in eine Zukunft,
welche sich der Ruinen der Vergangenheit, in denen wir unentwegt leben, be-
wusst ist und bewusst bleibt. Die Abwesenheit, das Fehlen, die historische Ver-
nichtung von David und damit des europäischen Judentums ist aus der deutschen,
ist aus der europäischen Geschichte nicht tilgbar, aber dennoch lebbar in einem
schöpferischen Sinne, welcher die Grundlagen für die neue Präsenz und die neuen
Entfaltungen Davids nach der Shoah in Deutschland und Europa schafft.
48 Vgl. Wajsbrot, Cécile: Nevermore. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Anne
Weber. Göttingen: Wallstein Verlag 2021.
TEIL 4: Vom Leben und Sterben in autoritären
Systemen: Vom Diktatorenroman, seinen
Anfängen und Widerständigkeiten
Mario Vargas Llosa oder das Fest
des Ziegenbocks
An dieser Stelle unserer Vorlesung über Geburt und Sterben, Leben und Tod
wollen wir den europäischen Kontinent und seine Literaturen wieder verlassen.
Wir wenden uns den Literaturen Lateinamerikas zu, die im vorliegenden Vorle-
sungsband auf Grund der dichten und komplexen transarealen Beziehungen
eine vollkommen gleichberechtigte Rolle spielen. Dabei wollen wir uns nicht
länger mit der Literatur der Konzentrationslager auseinandersetzen, sondern
uns allgemeiner fragen, wie ein Leben (und Sterben) in autoritären Gesell-
schaftssystemen literarisch gestaltet werden kann.
Gewalt und Diktatur sind zentrale Themen in den Literaturen Lateinameri-
kas. Haben wir uns in unserer Vorlesung über die Literaturen im 20. und
21. Jahrhundert mit Gabriel García Márquez, seiner Chronik eines angekündigten
Todes und deren transarealen Verstrebungen mit libanesischen Texten aus der
Feder eines Elias Khoury beschäftigt,1 so wollen wir uns in der Folge mit dem
in Peru geborenen Mario Vargas Llosa auseinandersetzen, der wie sein kolum-
bianischer Antipode mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Beide Autoren repräsentieren an erster Stelle die sogenannten Boom-Autoren,2
welche die lateinamerikanischen Literaturen definitiv auf den Karten der ‚Weltli-
teratur‘ verankerten, aber zugleich dem viellogischen System der Literaturen der
Welt zum Durchbruch verhalfen.3 Beide Autoren stehen aber auch für zwei gegen-
läufige ideologische Ausrichtungen, insofern sie die große Wasserscheide in der
lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts buchstäblich verkörpern.
Rund um die berüchtigte Padilla-Affäre und den entsprechenden politischen Op-
tionen für oder gegen die Kubanische Revolution am Ausgang der sechziger Jahre
stand Gabriel García Márquez für eine solidarische Haltung gegenüber dem kuba-
nischen Regime, Mario Vargas Llosa für eine zunehmend neoliberale und konser-
vative Position innerhalb der lateinamerikanischen Schriftstellerschaft. Aus den
einstigen Freunden wurden erbitterte Gegner, die aber in eben dieser Gegner-
schaft die gesamte politische Breite international angesehener lateinamerikani-
scher Schriftstellerinnen und Schriftsteller repräsentierten. Auf die von beiden
1 Vgl. das entsprechende Kapitel in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach
der Postmoderne, S. 830–879.
2 Vgl. hierzu Müller, Gesine: Die Boom-Autoren heute: García Márquez, Fuentes, Vargas Llosa,
Donoso und ihr Abschied von den großen identitätsstiftenden Entwürfen. Frankfurt am Main:
Vervuert 2004.
3 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Literatures of the World. Beyond World Literature. Leiden: Brill 2021.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-013
408 Mario Vargas Llosa oder das Fest des Ziegenbocks
Abb. 39: Mario Vargas Llosa (Arequipe, 1936) am 10. Mai 2019.
Dieser Roman4 erschien im Jahr 2000 und war in weiten Teilen auf Grundlage
von Recherchen des in Peru geborenen Autors im Ibero-Amerikanischen Insti-
tut zu Berlin entstanden, wo sich Vargas Llosa dank eines Künstlerstipendiums
des Deutschen Akademischen Austauschdienstes aufhielt. Wie in El otoño del
patriarca geht es auch in diesem Diktatorenroman um die Spätzeit eines patriar-
chalischen Diktators in Lateinamerika. Doch anders als bei Gabriel García Márquez
handelt es sich dabei nicht um eine Figur, die bewusst aus den Versatzstücken un-
terschiedlicher historischer Vorbilder des Subkontinents gefertigt wurde, also
nicht um einen Gewaltherrscher, der mehrere historische Diktatorenfiguren in sich
vereint, sondern um die Spätzeit der Diktatur von Rafael Leónidas Trujillo. Letzte-
rer wurde 1961 nach einer einunddreißigjährigen Gewaltherrschaft über die Domi-
4 Zu einer ausführlichen Studie des Romans im Zeichen der Konvivenz vgl. Ette, Ottmar: Auf
der Suche nach dem verlorenen Zusammenleben. Vom Wissen der Literatur um Konvivenz in
„La Fiesta del Chivo“ von Mario Vargas Llosa. In: Brink, Margot / Pritsch, Sylvia (Hg.): Gemein-
schaft in der Literatur. Zur Aktualität poetisch-politischer Interventionen. Würzburg: Königshau-
sen & Neumann 2013, S. 307–319.
Mario Vargas Llosa oder das Fest des Ziegenbocks 409
nikanische Republik ermordet. Trujillo gilt als Verkörperung einer der blutrünstigs-
ten Diktaturen der lateinamerikanischen Geschichte; und die Nähe von La Fiesta
del Chivo zum historischen Roman mag uns darauf aufmerksam machen, dass sich
der –wie sein Vorbild Gustave Flaubert – höchst recherchefreudige und dokumen-
tenbasiert schreibende Autor ausführlich mit dieser historischen Figur und ihrer
menschenverachtenden Geschichte befasst hat.
Damit wählte der peruanische Autor, der 1981 mit La guerra del fin del
mundo die hispanoamerikanische Welt erstmals in Richtung Brasilien überschrit-
ten hatte, einen karibischen Schauplatz und erweiterte somit die Diegese sei-
ner Romane um die karibische Welt. Damit schuf er Stück für Stück eine
hemisphärische Konstruktion der Amerikas, die sein gesamtes Romanschaffen
charakterisiert und die er zunehmend um die afrikanische wie die asiatische
Welt erweiterte – eine romandiegetische Entwicklung, für die ich etwas wirk-
lich Vergleichbares zumindest in der spanischamerikanischen Literatur nicht
zu finden vermag.
In der Tat steht Trujillos Diktatur zugleich für einen Typus brutaler Gewalt-
herrschaft, wie er eben nicht allein für die Dominikanische Republik, sondern
für die lateinamerikanische Welt leider immer wieder charakteristisch ist. In
der Figura5 des Diktators Trujillo spürt der spätere Literaturnobelpreisträger die
Mechanismen autoritärer Gewaltherrscher6 in Lateinamerika auf und ver-
sucht, die Strukturen dieser barbarischen Systeme zu durchleuchten. Insofern
ließe sich formulieren, dass das Verfahren von Mario Vargas Llosa umgekehrt
angelegt ist wie das von Gabriel García Márquez in El otoño del patriarca: Er
geht von einer ganz konkreten historischen Gestalt aus, um den Typus des
Diktators als solchen entfalten zu können. Dabei dürfen kleine Seitenblicke
auf andere lateinamerikanische Diktatorenromane selbstverständlich nicht
fehlen.
Gewiss darf man in Esteban Echeverrías Roman El matadero7 und damit in
der Porträtierung der Rosas-Diktatur einen Ursprung dieser Subgattung des Ro-
mans erkennen. Wir werden auf diesen Sachverhalt noch ausführlich zurück-
kommen. Die schillernde Figur von Rosas, die für Domingo Faustino Sarmientos
Facundo – civilización y barbarie eine ebenso zentrale Rolle spielte wie für
5 Vgl. hierzu die Potsdamer Habilitationsschrift von Gwozdz, Patricia: Ecce figura. Anatomie eines
Konzepts in Konstellationen (1500–1900). Habilitationsschrift an der Universität Potsdam 2021.
6 Zum Thema der literarischen Darstellung von Gewalt in der Gegenwartsliteratur vgl. die Pots-
damer Habilitationsschrift von Lenz, Markus Alexander: Die verletzte Republik – Erzählte Gewalt
im Frankreich des 21. Jahrhunderts (2010–2020). Habilitationsschrift Universität Potsdam 2021.
7 Echeverría, Esteban: El Matadero. La Cautiva. Edición de Leonor Fleming. Madrid: Ediciones
Cátedra 1986.
410 Mario Vargas Llosa oder das Fest des Ziegenbocks
José Mármols Amalia,8 darf als eine der produktivsten und literaturträchtigsten
historischen Figurae verstanden werden. Insofern ist die Bearbeitung einer konkre-
ten historischen Diktatorenfigur mit einer in Hispanoamerika sehr langen literar-
historischen Tradition versehen, mit der wir uns noch ausführlich beschäftigen
werden. Allerdings darf auch Ramón del Valle-Incláns Roman Tirano Banderas zu
den Initialzündungen dieser Gattung gerechnet werden, die im weiteren Verlauf
des 20. Jahrhunderts so fundamentale Werke wie El Señor Presidente des guate-
maltekischen Literaturnobelpreisträgers Miguel Ángel Asturias oder Yo el Supremo
des großen Paraguayers Augusto Roa Bastos hervorgebracht hat. Diese literaturge-
schichtliche Tradition, die am Übergang zum 21. Jahrhundert in gewisser Weise
mit Mario Vargas Llosas Roman La Fiesta del Chivo einen (krönenden) Abschluss
gefunden hat, ist so überaus reichhaltig und komplex, dass man ihr eigentlich
eine eigene Vorlesung widmen müsste.
Wer Mario Vargas Llosa und seine akribische Vorbereitung eines neuen Ro-
mans mit einer beeindruckenden Unzahl von Lektüren und speziellen Recherchen
kennt – und ich durfte einmal eine ganze Woche an seiner Seite die bodenlose
Neugier dieses Schriftstellers auf alle möglichen historischen und kulturellen De-
tails einschließlich seines allmorgendlich frühen Aufstehens bewundern –, der
weiß, in welch stattlichem Maße die Historiographie die Patin der Literatur gerade
bei derartigen historischen Romanen des Peruaners mit der doppelten Staatsbür-
gerschaft ist. Es ist ein ungeheures historisches und historiographisches Wissen in
diesen Roman geflossen, der uns aus der Perspektive eines entscheidenden
Tages im Leben des Diktators Trujillo – nämlich seines letzten Tages, mithin
jenes Maitages des Jahres 1961, an dem er ermordet werden sollte – die ganze
Geschichte nicht allein der Dominikanischen Republik, sondern auch eines ge-
wichtigen Teils der Geschichte Lateinamerikas im 20. Jahrhundert in Form eines
Fraktals vor Augen führt.
8 Vgl. hierzu die entsprechenden Kapitel im vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar:
Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 659 ff.
Mario Vargas Llosa oder das Fest des Ziegenbocks 411
Weltbank und in einer New Yorker Kanzlei machen. Dabei beantwortete sie kei-
nen einzigen der zahlreichen Briefe, die ihr verzweifelter Vater ihr aus ‚Ciudad
Trujillo‘, dem dann wieder zurückbenannten Santo Domingo, schrieb. Denn sie
hat sich geschworen, mit dieser Vergangenheit ein für alle Mal zu brechen, nie
mehr auf die Karibikinsel zurückzukehren und auch mit ihren Verwandten kei-
nerlei Kontakt mehr zu pflegen.
Doch die Dinge auf ihrer Heimatinsel verändern sich. Als sie erfährt, dass
ihr Vater von einem Hirnschlag in einen Invaliden verwandelt wurde, der dau-
ernder Pflege bedarf, wird sie zunächst noch nichts an diesem Entschluss än-
dern, ihn allerdings durch monatliche Zahlungen unterstützen, so wie ihr Vater
einst das Stipendium der „Sisters“ in den USA aufgebessert hatte. Urania ist je-
doch nicht gewillt, ihren Vater und mit ihm ihre Verwandten sowie die Welt der
heimatlichen Karibik noch einmal wiederzusehen.
Und doch taucht sie eines Tages wieder in Santo Domingo auf, kehrt ihrer
neuen Heimat USA für kurze Zeit den Rücken und nimmt sich für eine Woche
Urlaub, den sie im Hotel Jaragua – also nicht in ihrem Elternhaus – antritt. Wie
bei Gabriel García Márquez’ Crónica de una muerte anunciada steht auch in die-
sem Roman ein Augenblick vor Sonnenaufgang am Anfang des spannenden Er-
zähltexts und beschreibt auf poetische Weise einen beginnenden Tag, ein
Licht-Werden, das Licht in das Dunkel einer Jahrzehnte zurückliegenden Ver-
gangenheit bringen soll.
Wie durch Zufall gelangt Urania schließlich beim Joggen zu ihrem Eltern-
haus, wobei sie ihre Schritte und nicht so sehr ihr Wille dorthin führen. Nach
längerem Zögern tritt sie ein. Mittlerweile ist dies ein Haus, das allein noch von
der Krankenschwester und ihrem zum Pflegefall gewordenen Vater bewohnt
wird. So geht sie schließlich in das Zimmer dieses Vaters, der ihr ebenso zusam-
mengeschrumpft erscheint wie das gesamte Anwesen.
Der früher so stattliche und beeindruckende Mann ist – wie das früher so
repräsentative Haus – zu einem kleinen, vom Leben zerzausten Individuum ge-
worden, das in schäbiger Kleidung, ohne Gebiss, in seinem Ledersessel sitzt
und Urania stumm und mit offenen Augen, die irgendwie trotz des Hirnschlags
zu verstehen scheinen, gegenübersitzt. Ich möchte Ihnen gerne diese literarisch
überzeugende Gestaltung einer Szene vorführen, in der sich die beruflich in
den Vereinigten Staaten höchst erfolgreiche Tochter und der heruntergekom-
mene Vertreter einer historisch gewordenen, längst nicht mehr existierenden
Diktatur zum ersten Mal nach fünfunddreißig Jahren – denn die ehemals kleine
Uranita ist mittlerweile neunundvierzig Jahre alt geworden – wiedersehen:
Ein lebendiges, gleißendes Licht empfängt sie, das durch das offene Fenster gleichmäßig
hereinbricht. Die Sonnenstrahlung blendet sie für einige Sekunden; danach kann sie das
Mario Vargas Llosa oder das Fest des Ziegenbocks 413
Bett ausmachen, das von einer grauen Decke eingehüllt wird, die alte Kommode mit
ihrem ovalen Spiegel, die Photographien an den Wänden – wie hat er wohl das Foto von
ihrem Abschluss in Harvard gekriegt? – und zuletzt, im alten, weitarmigen Ledersessel
sitzend, der zusammengesunkene Greis, in einem blauen Pyjama und in Pantoffeln. Er
wirkt verloren an seinem Platz. Er ist wie aus Pergament und geschrumpft, genauso wie
das Haus. Ein weißer Gegenstand lenkt sie ab, zu Füßen ihres Vaters: ein Töpfchen, halb-
voll mit Urin.
Damals hatte er noch schwarze Haare, abgesehen von den eleganten graumelierten
Schläfen; jetzt sind seine dünnen Strähnen auf der Glatze gelblich, schmutzig. Seine
Augen waren groß, selbstsicher, weltbeherrschend (wenn der Chef nicht in der Nähe
war); doch diese beiden Rillen, die sie starr anschauen, sind klein, mäuseartig und ver-
ängstigt. Damals hatte er Zähne, aber jetzt keine mehr; man dürfte ihm wohl den Zahner-
satz herausgenommen haben (sie bezahlte vor einigen Jahren die Rechnung), da er
verschrumpelte Lippen hatte und seine Wangen so eingefallen waren, dass sie sich fast
berührten. Er hat sich aufgestützt, seine Füße berühren kaum noch den Boden. Um ihn
anzuschauen, musste sie den Kopf heben, den Nacken recken; wenn er jetzt aufstünde,
würde er ihr gerade bis zur Schulter reichen.
– Ich bin's, Urania, murmelte sie, als sie näherkam. Sie setzte sich aufs Bett,
einen Meter von ihrem Vater entfernt. Weißt Du noch, dass Du eine Tochter hast?
In dem Alten gibt es eine innere Erregung, Bewegungen seiner knochigen, bleichen
Händchen, seiner spitzen Finger, die auf seinen Beinen ruhen. Aber die winzigen Äug-
chen bleiben, auch wenn sie nicht von Urania lassen, ausdruckslos.
– Ich erkenne Dich auch nicht wieder, murmelt Urania. Ich weiß nicht, warum ich
gekommen bin, was ich hier mache.9
Wir haben in dieser Szene eine Anagnorisis vor uns, eine Szene des Wieder-
erkennens und der Wiederbegegnung: eines Sich-wechselseitig-Erkennens von
zwei Menschen, die lange voneinander getrennt waren. Hier treffen also zwei
Welten aufeinander, die ehedem als Vater und Tochter eine einzige gewesen
waren. Doch viel Zeit ist vergangen: Aus dem kleinen Mädchen ist eine erfah-
rene und erfolgreiche Frau und aus dem einst beherrschenden Vater ein Greis
geworden, dessen kognitive Fähigkeiten nach einem Hirnschlag in Frage ste-
hen und offen bleiben. Längst ist er nicht mehr der zweitwichtigste Mann in der
dominikanischen Diktatur, die nach dem Tode Trujillos in eine Phase scheinba-
rer Demokratie übergegangen ist.10
Der einst mächtige und durchaus liebevolle Vater, der – wie es an einer ande-
ren Stelle des Romans heißt – nach dem Tod von Uranias Mutter für das Mädchen
Vater und Mutter zugleich gewesen war, zu dem sie stets aufschaute, wird nun
von der in Manhattan lebenden Urania, seiner schönen und ohne alle Liebesbezie-
auf ein solches Verhalten das Verschwinden im Gefängnis oder der direkte
Mord gewesen. Pedro Henríquez Ureña und seine Frau kamen zum damaligen
Zeitpunkt jedoch noch mit dem Leben davon: Eine große Karriere als Intellektu-
eller im Exil konnte beginnen. Wie aber war es – und diese Frage treibt Urania
um – mit ihrer schönen, aber jung verstorbenen Mutter gewesen? Die Tochter
phantasiert als Antwort auf ihre Fragen und Befürchtungen eine Szene, in der
die bildhübsche Mutter Trujillo den Zutritt zum Haus verweigert. Aber war es
wirklich so gewesen? Und hatte ihr Vater davon gewusst? Bei klarem Verstand
eröffnet sich sogar noch eine weitere Denkmöglichkeit: Könnte nicht Urania
selbst die Tochter des Diktators und seiner womöglich erzwungenen Schäfer-
stündchen mit der Mutter sein? Kann ihr Vater darauf eine Antwort geben?
Urania gegenüber sitzt ein menschliches Wrack. Dass Cerebrito Cabral, also
dem Schlauköpfchen oder Gehirnchen, wie sein Spitzname einst lautete, gerade
ein Hirnschlag getroffen hat, liegt in der Logik der Dinge. Denn Cabral wird just
an jenem Ort getroffen, der ihn einst machtvoll hatte werden lassen. Das Töch-
terchen war sein ganzer Stolz gewesen. Er hatte verbissen versucht, sie vor den
Nachstellungen der Diktatur und insbesondere des unverschämten Sohnes Tru-
jillos, Ramfis Trujillo, zu schützen. Diesem war bei einer Truppenparade und
bei anderen Festivitäten durchaus die Schönheit des jungen Mädchens ins
Auge gefallen.
Wie gefährlich derartige Situationen werden konnten, hatte Uranita in der
Schule miterlebt, als eine ihrer Mitschülerinnen von Ramfis eingeladen und in
der Folge von ihm und seinen Kumpanen vergewaltigt wurde. Sie war – dem
Verbluten nahe – in letzter Minute noch vor das Portal eines Krankenhauses
gefahren worden. Auch sie war nichts anderes als die Tochter eines Mächtigen
unter Trujillo, eines Generals, der aber nicht gegen derartig unmenschliche,
menschenverachtende Verbrechen gegen seine eigene Familie aufbegehren
konnte, wäre er sonst doch mit dem Tode bestraft worden. Im Zeichen autoritä-
rer und brutaler Todesdrohungen gleicht das Leben in einer Diktatur für viele
eher einem ständig bedrohten Überleben. Eben daraus aber entstand das große
Rätsel, das Urania bei aller Lektüre von Geschichtsbüchern nicht zu lösen ver-
mochte: Wie war es möglich, ein derart entmenschlichtes Leben zu akzeptieren
und zu führen, nicht aufzubegehren, sondern alles auszuhalten und die Bestia-
lität an der Macht zu lassen? Urania forscht mithin nach den Gründen dafür,
dass und wie sich Gewaltherrschaft zu etablieren und zu festigen vermag.
Als renommierte Juristin der Weltbank kam Urania in New York lange nach
der Ermordung Trujillos einmal mit dem Botschafter der Dominikanischen Re-
publik bei einem Empfang in Berührung: mit Chirinos, der einstigen rechten
Hand und dem Wirtschaftsberater Trujillos, der es wie so viele geschafft hatte,
als echter Wendehals nun als lupenreiner Demokrat aufzutreten und Botschaf-
416 Mario Vargas Llosa oder das Fest des Ziegenbocks
Ich bin ein überaus geliebter Mann gewesen. Ein Mann, der in seinen Armen die schönsten
Frauen dieses Landes hielt. Sie haben mir die Energie geschenkt, es geradewegs zu führen.
Ohne sie hätte ich niemals das geschafft, was ich geschafft habe. (Er hob sein Glas ins Licht,
betrachtete die Flüssigkeit, prüfte ihre Transparenz, die Helle ihrer Farbe.) Wissen Sie, wer
die beste all der Weiber war, die ich genommen habe? („Entschuldigen Sie, meine Freunde,
das ungeschickte Verb“, entschuldigte sich der Diplomat, „ich zitiere Trujillo wortgetreu“.)
(Er machte eine weitere Pause, saugte das Aroma seines Brandy-Glases ein. Sein Kopf mit
den silberfarbenen Haaren suchte und fand im Kreise der Männer, die zuhörten, das fahle
und rundliche Gesicht des Ministers. Und er schloss ab:) Die Frau von Froilán!
Urania macht ein angeekeltes Gesicht, wie damals in jener Nacht, in der sie den Bot-
schafter Chirinos hinzufügen hörte, dass Don Froilán heroisch gelächelt, gelacht, mit den
anderen den spaßigen Einfall des Chefs gefeiert hatte. „Weiß wie ein Blatt Papier, ohne in
Ohnmacht zu fallen, ohne von einem Herzinfarkt zu Boden gestreckt zu werden“, fügte
der Diplomat präzisierend hinzu.
– Wie war dies möglich, Papa? Dass ein Mann wie Froilán Arala, gebildet, kultiviert,
intelligent, so etwas akzeptieren konnte. Was tat er ihnen an? Was gab er ihnen, um Don
Froilán, um Chirinos, um Manuel Alfonso, um Dich, um alle seine rechten und linken
Arme in dreckigen Lumpen gehen zu lassen?
Du verstehst es nicht, Urania. Es gibt viele Dinge aus der Ära Trujillo, von denen Du
gehört hast; einige schienen Dir anfangs unerklärlich, aber das viele Lesen, Zuhören, Ver-
gleichen und Nachdenken hat dich verstehen lassen, dass so viele Millionen von Personen,
die von der Propaganda, den Mangel an Information kleingehackt, von der Indoktrinie-
11 Zum Verhalten eines ehemaligen ranghohen Mitglieds der Waffen-SS in der deutschen Ro-
manistik und den schützenden Reaktionen von Kollegen vgl. die in unterschiedlichste Spra-
chen übersetzte Studie von Ette, Ottmar: Der Fall Jauss. Wege des Verstehens in eine Zukunft
der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016.
Mario Vargas Llosa oder das Fest des Ziegenbocks 417
rung, von der Isolierung verdummt, von ihrem freien Urteilsvermögen, ihrem Willen und
sogar ihrer Neugier gesäubert wurden dank der Angst und der gewohnten Ergebenheit und
der Unterwürfigkeit, dass so viele also Trujillo vergötterten. Sie fürchteten ihn nicht nur,
sondern liebten ihn, wie Kinder ihre autoritären Eltern lieben, überzeugt davon, dass Peit-
schenhiebe und Bestrafungen zu ihrem Besten sind.12
Die in New York aus dem Munde des dominikanischen Botschafters und einsti-
gen Vertrauten Trujillos gehörte Anekdote wirft ein bezeichnendes Licht auf die
Entourage des Diktators und dessen Herrschaftsgebaren, aber auch auf die Me-
chanismen einer totalitären Macht. Urania ist auf der verzweifelten Suche nach
einem Verstehen, auf der Suche nach einem Wissen, das ihr die Geschichts-
werke über die lange Ära Trujillo allein nicht zu geben vermögen. Sie ist auf
der Suche nach einem Lebenswissen, das ihr die Beschäftigung mit den jeweili-
gen Lebensverhältnissen allein verschaffen kann, gleichsam mit dem Mikro-
klima innerhalb der Diktatur. Es handelt sich um ein Wissen, wie man damals
gelebt hat, wie man damals leben konnte, wie man sich einer brutalen Diktatur
anpasste und sich selbst verleugnete. Aber musste man sich selbst verleugnen?
Urania muss die Geschichte gleichsam nacherleben und fragt ihren Vater,
der ihr wegen seines Hirnschlages nicht mehr antworten kann. In diese Bresche
springt der Roman, springt auch der Erzähler, der sich hier – und nicht etwa
ihr stummer Vater – an Urania in der zweiten Person Singular wendet. Urania
hat sich auf die Suche nach diesem Lebenswissen gemacht, denn es ist letztlich
ein Wissen, das ihr das eigene Überleben sichern kann – jenseits dieser Schutz-
und Trutzburg, zu der sie ihre eigene Arbeit wie ihre quasi-wissenschaftliche
Beschäftigung mit der dominikanischen Historie ausgebaut hat. Sie arbeitet
mehr oder minder ununterbrochen – so wie auch Trujillo selbst, der dafür be-
kannt und legendär war, bis zu zwanzig Stunden am Stück arbeiten zu können.
Jenes Wissen aber, auf dessen Suche sich Urania macht, wird vom Roman,
wird vom fiktionalen Erzähltext Vargas Llosas entfaltet. Daher auch die direkte An-
rede durch eine Erzählerfigur, die laut Vargas Llosa immer das wichtigste struktu-
relle Element eines Romans darstellt. Der Roman entfaltet jenes Wissen, das sich
Urania mühsam in Form eines Erlebenswissens zusammensucht. Man darf in die-
sem Zusammenhang durchaus von der unbestreitbaren Meisterschaft von Mario
Vargas Llosa sprechen, das historische Wissen über die Trujillo-Diktatur, welches
sich der peruanische Schriftsteller durch eine Vielzahl von Recherchen selbst an-
geeignet und dazu die große Bibliothek des Ibero-Amerikanischen Instituts zu Ber-
lin genutzt hat, auf stimulierend lebendige Weise in ein Erlebenswissen für die
Leserschaft umgewandelt zu haben.
13 Vgl. Vargas Llosa, Mario: La verdad de las mentiras. Ensayos sobre la novela moderna.
Lima: Promoción editorial Inca 1993 (auch Barcelona: Seix Barral 1990).
14 Vgl. hierzu meine Programmschrift zur Literatur als Lebenswissen und die wichtigen Diskus-
sionsbeiträge zu dieser Debatte in Asholt, Wolfgang / Ette, Ottmar (Hg.): Literaturwissenschaft
als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2010.
Mario Vargas Llosa oder das Fest des Ziegenbocks 419
15 Vgl. hierzu u. a. White, Hayden: Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Balti-
more – London: The Johns Hopkins University Press 1982.
420 Mario Vargas Llosa oder das Fest des Ziegenbocks
licher wie auf individueller Ebene zu geben. Im selben Maße ist der Roman von
Mario Vargas Llosa die Antwort auf das Rätsel, an dessen Lösung sich Urania
gemacht hat, ganz so – wie wir in diesem Teil unserer Vorlesung noch sehen
werden – wie Domingo Faustino Sarmientos Facundo gleich zu Beginn jenes
Rätsel des Caudillo, des Gewaltherrschers, zu lösen verspricht, das nur die Lite-
ratur lösen kann. Dies zumindest behauptet die Erzählerstimme des zum dama-
ligen Zeitpunkt aus dem Argentinien der Rosas-Diktatur verbannten Sarmiento.
Dabei geht in das Erfundene zweifellos das Gefundene, also die Dokumen-
tation, die Quellenarbeit, die Recherche und damit auch der historiographische
beziehungsweise akademisch disziplinierte Diskurs ein. Gleichzeitig entsteht
etwas Neues, ein Verstehens-Modell, das es erlaubt, unterschiedliche Logiken
zugleich zu begreifen, hochkonzentriert und nacherlebbar nachzuvollziehen.
Hieraus erklärt sich die Faszinationskraft der Literatur – wenn man sie denn
als Experimentierfeld und Erprobungsraum von Wissen versteht. Und genau
dies wollen wir tun!
Der mit dem neuen Jahrtausend erschienene Roman Das Fest des Ziegenbocks
vermag es, die Ära Trujillo aus unterschiedlichsten Perspektiven zu beleuchten
und lebenswissenschaftlich zu befragen. Quer durch den Roman ziehen sich Erin-
nerungen derer, die auf den Diktator in einem geparkten Auto warten, um ihn –
dem sie oft über lange Jahre dienten – im Kugelhagel ihrer Gewehre sterben zu
lassen. Jeder von ihnen hat eine andere Vision jener Grausamkeiten, deren Kom-
plizen sie alle doch über lange Jahre waren. Jeder von ihnen besitzt seine eigene
Wahrheit, seine eigene Sicht auf jene Dinge, die ihn dazu veranlassten, sich gegen
die Trujillo-Diktatur aufzulehnen und zu erheben, zum Attentäter zu werden.
Auch Urania muss erst noch lernen, dass sie, die sich ihrem Vater gegen-
über so selbstsicher und kritisch verhält, ihrerseits von jenen Verwandten kriti-
siert wird, die bei ihrem Vater blieben und die Ära Trujillo aus Sicht derer
beurteilen, die damals unter der Diktatur im Großen und Ganzen gut lebten
und vom autoritären System profitierten. Doch nach dem gewaltsamen Macht-
wechsel verloren sie ihre gesicherten Posten und Pöstchen und mussten lernen,
mit den veränderten gesellschaftlichen und politischen Bedingungen eines Sys-
tems klarzukommen, das sich noch für lange Jahre im Übergang befand, in
dem sich Trujillos Helfershelfer zunehmend geschickter neu als gesellschaftli-
che Elite konstituierten.
So haben Uranias Verwandte eine gänzlich andere Sichtweise auf die politi-
schen und historischen Entwicklungen entfaltet und eine völlig differente Beur-
teilung der gesellschaftlichen Veränderungen entwickelt; Perspektiven, die mit
Uranias Anspruch auf historische Wahrheit in Konkurrenz zu dem von außer-
halb, von New York aus entwickelten Einsichten treten. Der Roman orchestriert
diese polyphone, vielstimmige Anlage meisterhaft und lässt nacherleben, wie
Mario Vargas Llosa oder das Fest des Ziegenbocks 421
– Ich weiß nicht, warum Du das mit den Monstrositäten sagst, murmelt sie verwundert.
vielleicht hat sich mein Onkel geirrt, als er ein Anhänger Trujillos wurde. Jetzt sagen sie,
dass der ein Diktator war und so. Dein Papa diente ihm in gutem Glauben. Obwohl er so
hohe Ämter bekleidete, hat er dies nie ausgenutzt. Oder hat er es vielleicht getan? Seine
letzten Jahre verbringt er jedenfalls so arm wie ein Hund, und ohne Dich wäre er in einem
Altersheim.
Lucinda versucht, ihre Abscheu zu kontrollieren, die sich ihrer bemächtigt hat. […]
– Ich weiß sehr wohl, dass mein Papa Trujillo nicht aus Eigennutz diente. Urania
kann einen sarkastischen Tonfall nicht vermeiden. Das scheinen mir aber keine mildern-
den Umstände zu sein. Das macht alles vielmehr noch schlimmer.
Ihre Kusine betrachtet sie, ohne zu verstehen.
– Gut, vielleicht hat er sich getäuscht, wiederholt die Kusine, wobei sie mit dem
Blick darum bat, das Thema zu wechseln. Erkenn’ zumindest an, dass er sehr anständig
war. Er ging auch nicht damit konform, wie so viele andere ein großspuriges Leben unter
allen Regierungen, vor allem unter den drei Regierungen Balaguer, zu führen.16
Wir werden auf diese Weise in Dialogform mit verschiedenen Logiken konfron-
tiert, die wir genauer noch als Logiken des Erlebens klassifizieren können, eines
gänzlich differierenden Erlebens, das narrativ und diskursiv unterschiedlich ein-
geführt wird. Die Figuren des Romans werden nicht nur mit unterschiedlichem
Lebenswissen ausgestattet, sondern zugleich auch mit unterschiedlichem Erle-
benswissen, also mit einem Wissen, das das voneinander abweichende Erleben
derselben Situationen zugleich entfaltet und nachvollziehbar macht. In dieser
Doppelfunktion scheint mir der eigentliche Kern des Erlebenswissens zu liegen,
wie es die Literaturen der Welt seit Tausenden von Jahren quer durch die Kultu-
ren und die Sprachen entfalten.
wie sein Spitzname schon besagt. Ohne seinen Herrn und Meister Trujillo aber
ist Cerebrito verlassen und hilflos – und verzweifelt, da er nicht weiß, wie er
die Gunst Trujillos wiedergewinnen könnte…
Wenn wir alle Indizien, die uns der Roman an die Hand gibt, zusammen-
rechnen, dann ist es keineswegs unwahrscheinlich, dass dieser Cabral schon
früher seine Frau zugunsten seiner eigenen Karriere in der Diktatur dem Ge-
walthaber Trujillo aufgeopfert haben dürfte. Der frühe Tod der Mutter Uranias
mag hierfür ein weiteres Indiz sein. Im selben Sinne ist es nicht nur sehr wahr-
scheinlich, sondern offenkundig und sicher, dass Cabral auch seine vierzehn-
jährige Tochter Uranita den Gelüsten des Diktators preisgab. Denn diese wird
kurz nach der Entscheidung ihres Vaters, der vorsichtshalber im Badezimmer
verschwindet und sich von seiner Tochter nicht mehr verabschieden will, abge-
holt und in das Landhaus des Diktators verbracht. Mit allen Ehren selbstverständ-
lich, um sie auf ihr unentrinnbares Schicksal als Opfer eines quasi offiziellen
sexuellen Missbrauchs einzustimmen.
Spätestens an dieser Stelle von La Fiesta del Chivo beginnt das Lesepubli-
kum zu begreifen, was Uranias fundamentalstes und zugleich intimstes Prob-
lem ebenso mit der Diktatur wie mit ihrem einst so generösen und liebevollen
Vater ist: Dass sie von ihrem eigenen Papa einem siebzigjährigen Mann zum
Fraß vorgeworfen wurde, allein um die politische Laufbahn des Cerebrito Cabral
wiederherzustellen. Dass Urania mithin einem sexuellen Missbrauch zugeführt
wird, der möglicherweise durch ihren eigenen leiblichen Vater, den Diktator Tru-
jillo, vollzogen werden soll.
Von dieser genealogischen Verbindung wissen zum Zeitpunkt dieser Ereig-
nisse freilich weder Trujillo noch die kleine Uranita, die jedoch bange ahnt,
was an ihr vollzogen werden wird. Gleichzeitig beginnt man zu begreifen, dass
die spindeldürre, körperlich noch nicht sehr entwickelte, aber blendend schöne
Urania jenes dürre Skelett ist, das bereits zu Beginn des Romans als Alptraum
Trujillos aufscheint. Dieser sinniert voller Wut jener Szene nach, als er das
dürre Skelett eines Mädchens in seiner Casa de Caoba unter sich hatte, im Bett
seines luxuriösen Mahagony-Hauses. Alptraumartig durchlebt er immer wieder
diese Szene, wie er im Angesicht der Verängstigten impotent wird und diese
junge Frau nicht wie all die anderen nehmen kann. Dies signalisiert einen Ver-
lust an männlicher Potenz, welcher der Ermordung des Ziegenbockes vorausgeht
und bereits das erfolgreiche Attentat auf den dominikanischen Gewaltherrscher
ankündigt.
Die schreckliche Szenerie wird in Vargas Llosas Roman in allen Einzelhei-
ten beschrieben. Dass Trujillo in seiner Grausamkeit und Rachsucht die Jung-
fräulichkeit des Mädchens dabei mit seinen Händen zerstört, ist hier nur ein
Detail. So sehen wir ganz am Ende von La Fiesta del Chivo den Diktator plötz-
Mario Vargas Llosa oder das Fest des Ziegenbocks 425
lich nackt und impotent vor uns liegen in einer Szene, die wir nicht nur aus
dem Blickwinkel von Urania erleben und nacherleben, sondern in einer inti-
men Erzählung, mit der sich Urania im Familienkreis endlich – zum ersten
Mal in ihrem Leben – erleichtert und Luft verschafft. Auf diese Weise werden
kunstvoll die verschiedensten Ebenen von Raum und Zeit im Roman mitein-
ander verwoben und Formen des Erlebens miteinander konfrontiert, welche
die ganze erzählerische Virtuosität des peruanischen Literaturnobelpreis-
trägers demonstrieren. Wenden wir uns folglich diesem Zitat zu, das in gewis-
ser Weise den gesamten Roman krönt und die verschiedensten Isotopien von
La Fiesta del Chivo zusammenführt:
Urania faszinierte diese Brust, die sich hob und senkte. Sie versuchte, seinen Körper
nicht anzuschauen, doch ihre Augen liefen bisweilen über seinen etwas schlaffen Bauch,
seine weiß gewordenen Schamhaare, das kleine tote Geschlechtsteil und die unbehaarten
Beine. Das also war der Generalissimus, der Wohltäter des Vaterlandes, der Vater des
Neuen Vaterlandes, der Restaurator der Finanziellen Unabhängigkeit. Dies war der Chef,
dem Papa über einen Zeitraum von dreißig Jahren voller Hingabe und Loyalität gedient
und dem er das delikateste Geschenk gemacht hatte: seine vierzehnjährige Tochter. Doch
die Dinge ereigneten sich nicht so, wie es der Senator erhofft hatte. So dass er – und dies
freute Urania im Herzen – Papa nicht rehabilitieren würde; vielleicht würde er ihn ins
Gefängnis werfen, vielleicht sogar ermorden lassen.
– Plötzlich hob er den Arm und schaute mich mit seinen roten, geschwollenen
Augen an. Ich bin jetzt neunundvierzig Jahre alt und zittere doch noch immer. Ich habe
seit diesem Augenblick fünfunddreißig Jahre lang gezittert.
Sie streckt ihre Hände vor, und ihre Tante, ihre Kusine und ihre Nichte können es
bezeugen: Sie zittern.
Überrascht und hasserfüllt schaute er sie an, wie eine bösartige Erscheinung.
Seine Augen waren rot, feurig, starr und froren sie fest. Sie konnte sich nicht bewegen.
Der Blick von Trujillo musterte sie, ging hinab bis zu ihren Schenkeln, sprang auf die
Decke mit kleinen Blutflecken und traf sie erneut wie ein Blitz. Vom Ekel erstickt, be-
fahl er ihr:
– Auf, wasch Dich, siehst du, wie Du das Bett zugerichtet hast? Los, hau ab hier!
– Es war ein Wunder, dass er mich gehen ließ, überlegte Urania. Nachdem sie ihn
verzweifelt, weinend, sich beklagend und über sich selbst erbarmend gesehen hatte. Ein
Wunder der Schutzpatronin, Tante.
Sie erhob sich, sprang vom Bett auf, raffte die über den Boden verstreuten Kleider
zusammen, rammte eine Schublade, stand würgend im Badezimmer. […] sie hielt sich
nicht damit auf, sich sauberzumachen; er könnte seine Meinung ändern. Loslaufen, raus
aus dem Mahagoni-Haus, entfliehen.17
In dieser Passage fallen die häufigen Perspektivenwechsel auf. Zum einen ist es
Urania, die ihren Verwandten von den Vorkommnissen in der Casa de Caoba
berichtet, zum anderen aber auch zumindest eine Erzählerstimme, die unver-
kennbar eine andere Perspektive einnimmt und zugleich in der Lage ist, Ura-
nias Erzählposition zu reflektieren. Das gesamte letzte Kapitel von La Fiesta del
Chivo ist durchsetzt von derartigen Perspektivwechseln, die das ungeheuerliche
Geschehen, in welchem sich alle Sinn- und Verständnisebenen des Romans
bündeln, unterschiedlich beleuchten.
Bereits die Erzählerposition von Urania muss zumindest aufgespalten und
damit verdoppelt gedacht werden. Da ist zum einen die Perspektive der jungen,
vierzehnjährigen Uranita, die den nackten Diktator betrachtet und kaum ihre
Augen von dessen altem Körper abzuwenden vermag. Wo an diesem Körper
kann all die Macht lokalisiert werden, die dieser Gewaltherrscher besitzt, wo
die Angst, die selbst noch die mächtigsten Dominikaner durchzuckt, wenn sie
an die von der Propaganda errichtete heldenhafte Gestalt Trujillos denken?
Zum anderen ist da die Perspektive der Neunundvierzigjährigen, der beim Ge-
danken an diese Szene noch immer die Hände zittern und die doch nicht von
diesem Bild im Schlafzimmer des Landhauses lassen kann, das sich ihr einge-
brannt hat. Es ist die Perspektive einer Frau, die ihren Verwandten zu erklären
versucht, was sie nach all den Jahren noch immer umtreibt und warum sie
ihrem todkranken Vater nicht verzeihen kann.
Es gibt aber auch die Perspektiven von Uranias Tante Adelina, die Perspek-
tive ihrer Kusine sowie der kleinen, liebgewonnenen Nichte, die sie in der obi-
gen Passage auch als Tante anspricht. Daneben spricht zumindest eine hier
identifizierbare Erzählerstimme, deren Aufgabe es ist, die unterschiedlichen
Perspektivwechsel zu koordinieren und zu orchestrieren. Es gehört zu den
wichtigen Kräften und zum bissweilen magisch zu nennenden Vermögen der
Literatur, durch komplexe Verfahren des Erzählens nicht nur die Erzählenden
selbst in immer neue Perspektivwechsel einzubinden. Denn es sind vor allem
auch die angesprochenen Leserinnen und Leser des Romans, die in diese Per-
spektivenvielfalt eingetaucht sind, ohne sich doch stets all der Blickpunkte be-
wusst zu sein, mit denen sie konfrontiert werden.
Bedeutungsvoll sind vor allem die Wechsel zwischen erlebendem und er-
zählendem Ich, wobei das zuletzt genannte selbstverständlich zugleich auch
ein nacherlebendes und damit neu erlebendes Ich ist, welches uns von seinen
Empfindungen und Reflexionen berichtet und uns an seinem inneren Leben
teilhaben lässt. Gleichzeitig werden romanintern Reaktionen einer Zuhörer-
schaft oder einer Leserschaft eingebaut, die sie als eigenes Erlebenswissen kon-
figurieren. Denn alle Figuren erleben die Erzählung Uranias auf andere Weise.
Vielleicht am eindrucksvollsten bleibt das Erleben der kleinen Nichte Uranias,
die am Ende dieser Szene, beim Abschied, ihren kleinen schmächtigen Körper, der
an den kleinen schmächtigen Körper der vierzehnjährigen Uranita erinnert, an die
Mario Vargas Llosa oder das Fest des Ziegenbocks 427
Tante aus dem fernen New York drückt. Mit dieser verständnisvollen und von der
Diktatur nicht mehr geprägten Nichte wird der Kontakt zwischen der Insel Man-
hattan und der Heimatinsel von Cerebritos Tochter sicherlich aufrechterhalten
werden. Dies zumindest nimmt sich Urania vor, die am Ende des Romans – ganz
wie zu Anfang – wieder aus ihrem Hotelzimmerfenster aufs Meer der Karibik
blickt. Diesmal freilich nicht auf ein Meer vor, sondern auf ein Meer nach dem
Sonnenuntergang. Der Kreis ist geschlossen, die Erzählung ist zu Ende… und mit
ihr fast auch schon die heutige Vorlesung!
Denn es gibt nur noch wenig hinzuzufügen: Der Kreislauf des Lebens hat
sich geschlossen und öffnet sich wieder auf neue Kreisläufe von Geburt, Leben,
Sterben und Tod. An die Stelle der Tochter Cabrals wird die kleine Nichte treten
und mit demselben Vertrauen in ihre Verwandten, mit denselben Hoffnungen
auf die Zukunft wie einst Urania in das Leben treten. Das Fest des Ziegenbocks
ist für sie nur noch eine Erzählung, wie sie die Älteren vortragen, eine Erzählung
von Macht und Gewalt – und vor allem von den Strukturen eines autoritären Sys-
tems, das die Leben aller auf dieser Karibikinsel geprägt und modelliert hat. Es
ist die sich unendlich wiederholende Geschichte von Menschen – und Sie brau-
chen nur einmal kurz die Liste gegenwärtiger Potentaten auf diesem Planeten im
Geiste durchzugehen –, die sich in den Netzen eines Gewaltherrschers verfingen
und verstrickten. Sie taten dies, weil sie nicht mehr – wie die vierzehnjährige
Uranita – ihren Blick auf den nackten Körper der Macht werfen konnten, sondern
nur noch den bedrohlichen, von der Propaganda aufgeblasenen Körper nackter
Gewalt zu sehen vermochten.
Esteban Echeverría oder das christologische
Martyrium der Aufopferung
Machen wir an dieser Stelle unserer Vorlesung wie angekündigt einen Sprung
aus dem Jahr 2000 an den Beginn des 19. Jahrhunderts, von der Dominikani-
schen Republik nach Argentinien, um die literarischen Ursprünge und ‚Her-
künfte‘ des lateinamerikanischen Schreibens über autoritäre Systeme besser
kennenzulernen. Dieser Sprung ist nur auf den ersten Blick ein recht großer,
denn wir werden – wie Sie gleich sehen – eine ganze Reihe historischer Konti-
nuitäten erleben. Die erste davon – in einem Jahrhundert, das von der Desakra-
lisierung des Sakralen und der Resakralisierung des Profanen lebt1 und daraus
eine wichtige Quelle der Inspiration zieht – betrifft gleich im ersten unserer
Texte die durchaus als mobil zu verstehende Raumstruktur.
Denn in Esteban Echeverrías Novelle2 El Matadero, zu Deutsch: Das Schlacht-
haus, werden wir es mit einer geschlossenen Raumstruktur zu tun haben, inner-
halb derer die nackte Gewalt herrscht. Ich darf Ihnen schon jetzt verraten, dass
diese geschlossene Struktur wie ein Labor oder Experimentalraum funktioniert,
in welchem die Mechanismen brutaler Autorität bis hin zum Gewaltexzess, ja bis
zum Blutrausch genauestens erforscht werden können. Wieder also ist die Fik-
tion als eine Erfindung zu verstehen, die im Dienste der Forschung und Erfor-
schung steht. Die historischen, sozialen, kulturellen und politischen Kontexte
freilich haben sich gegenüber Mario Vargas Llosas La Fiesta del Chivo sehr stark
gewandelt. Doch sehen wir uns diese erzählerische Konfiguration an den Ur-
sprüngen des lateinamerikanischen Diktatorenromans nun etwas näher an!
Auch wenn wir uns bereits in unserer Romantik-Vorlesung sehr ausführlich
mit Esteban Echeverría beschäftigt haben, müssen wir gleichwohl auch in un-
serer aktuellen Vorlesung in der gebotenen Kürze bestimmte Kontexte rekonst-
ruieren, um ein Verständnis der gesamten Novelle zu erleichtern. Folgt man
nicht allein den Spuren des Diktatorenromans in Lateinamerika, sondern auch
des lateinamerikanischen Romans im Allgemeinen zurück ins 19. Jahrhundert,
dann ist eine Auseinandersetzung mit El Matadero unausweichlich. Auch wenn
diese Novelle 1839 und 1840 in einer Art innerem Exil des argentinischen Au-
tors entstand, war auf Grund der späten, posthumen Veröffentlichung von Das
Schlachthaus die Wirkung auf die frühen Ursprünge der Literatur in Argentinien
1 Vgl. zu dieser Problematik den gesamten vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Ro-
mantik zwischen zwei Welten.
2 Vgl. zur Begründung dieser literarischen Gattungszuordnung das Esteban Echeverría gewid-
mete Kapitel in ebda., S. 383 ff.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-014
Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung 429
doch begrenzt. Umso stärker wurde sie nach Publikation der Novelle, die sicher-
lich zum Beeindruckendsten zu zählen ist, was die Literatur Argentiniens im
Jahrhundert der Independencia, aber auch im Jahrhundert der langen Rosas-
Diktatur hervorgebracht hat.
Es handelt sich bei diesem Erzähltext um eine Novelle, die in ihrem Um-
fang zweifellos limitiert ist, zugleich aber die Größe einer einfachen Erzählung
tendenziell übersteigt. Dabei wird im Gegensatz zum Roman ein räumlich und
sachlich eingegrenztes Geschehen dargestellt, welches nicht nur im Sinne Goe-
thes eine „unerhörte Begebenheit“ zur literarischen Darstellung bringt, sondern
auch auf eine allgemeine Bedeutungsrelevanz abzielt. Denn anders als im
„cuento“, in der Erzählung, wird wie in der Gattung „novela“ eine gesellschaftli-
che Totalität impliziert, mit der wir uns im Folgenden beschäftigen. El Matadero
hat weder auf die Geschichte des „cuento“ noch der Novelle, der „noveleta“, star-
ken Einfluss genommen, sondern auf die Geschichte des lateinamerikanischen
Romans. Daher wurde dieser packende Erzähltext auch lange – und wird biswei-
len noch immer – als ‚Romanskizze‘ verstanden und bezeichnet. Es ist mir wich-
tig, dass sie diese literarhistorische Einordnung und deren Gründe verstehen!
El Matadero erzählt und berichtet uns recht geradlinig und ohne narrative
Schnörkel von einer Begebenheit, die wie im Brennglas die Charakteristika der
Diktatur von Juan Manuel de Rosas einfängt und zugleich vorführt, wie Gewalt
entstehen kann – wie sie durch ideologische Verblendung ins reine Abschlachten,
buchstäblich in eine Schlächterei also, gesteigert werden oder abgleiten kann. Der
argentinische Autor hat sich ganz auf eine zentrale Handlung konzentriert, die
wie eine Achse die gesamte Narration durchquert. Und diese Achse der Gewalt,
die in ein Abschlachten Unschuldiger übergeht, bildet das eigentlich Unerhörte,
die unerhörte Begebenheit in dieser Novelle des argentinischen Schriftstellers.
El Matadero präsentiert sich von Beginn an als „historia“, die sich „por los
años de Cristo de 183..“ ereignet habe, also in den dreißiger Jahren während
der Rosas-Diktatur. Damit erhebt er zugleich Anspruch darauf, mimetisch von
einer Geschichte zu erzählen, die sich wirklich in der Heimat des Schriftstellers
ereignet habe. Der Autor hatte sich damals von Buenos Aires aufs Land zu-
rückgezogen, da die Repressionen in der argentinischen Hauptstadt enorm
zugenommen hatten und vor allem auf Intellektuelle zielten, die wie er wenig
Gefallen an der immer radikaleren Diktatur verspürten. Parallel zum Abbild-
anspruch der Novelle wird von Beginn an eine christliche Isotopie eingeführt,
insoweit nicht nur der Name Christi, sondern eine Vielzahl an biblischen und
christlichen Elementen über den Text verstreut sind. Diese Isotopie ist gerade
im Kontext einer Desakralisierung des Sakralen und einer Resakralisierung
des Profanen – wie erwähnt charakteristische Merkmale des 19. Jahrhunderts –
von großer Bedeutung.
430 Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung
Es ist Fastenzeit und ein unablässiger Regen geht auf Buenos Aires nieder.
Es ist ein Regen, der die Naturgewalten aufruft, wie wir sie aus der Bibel unter
der Bezeichnung der Sintflut kennen, einer Strafe Gottes, welche in die jüdi-
schen beziehungsweise christlichen Texte freilich auf intertextuellem Wege aus
dem Gilgamesch-Epos gelangte. Wir haben diese kosmischen Kräfte der Natur,
vor allem aber auch den Regen, der in der lateinamerikanischen Literatur eine
so große Rolle spielt, bereits in der Lyrik Pablo Nerudas kennengelernt. An
diese Atmosphäre einer Genesis, einer Entstehung der Welt, appelliert die No-
velle, wenn sie mit diesem biblischen Szenario einsetzt.
Es geht dabei – zumindest auf den ersten Blick – jedoch weniger um die
Kräfte des Kosmos als um die schlichte Tatsache, dass in diesem Dauerregen
die Versorgung der Hauptstadt mit Lebensmitteln und insbesondere mit Fleisch
völlig zusammenbricht. Dies gefährdet auch die Grundlagen der Diktatur, so
wie jedes Staatswesen durch Versorgungsengpässe ins Wanken gebracht und
destabilisiert werden kann. Insofern kommt dem Wüten der Naturgewalten
eine politische Dimension zu.
Abb. 41: Fernando García del Molino: Portrait des Diktators Juan Manuel
de Rosas (1793–1877), ca. 1850.
Die Diktatur von Juan Manuel de Rosas dauerte von 1829 bis 1852, wobei der
künftige Diktator zunächst als „Gobernador“ gewählt wurde und seinen Macht-
bereich Schritt um Schritt ausweitete. Wir kennen so etwas ja nicht nur aus der
lateinamerikanischen, sondern auch aus der deutschen Geschichte – und wir
wollen sehr hoffen, dass sich diese Geschichte nicht wiederholt und die Wölfe
im Schafspelz auf demokratischem Wege an die Macht gelangen, ohne doch –
wie etwa die sogenannte ‚Alternative für Deutschland‘ – auch nur das ge-
ringste Interesse an einer demokratischen Staatsform zu besitzen! Wir werden
in der Folge bei Domingo Faustino Sarmiento sehen, wie in dessen Hauptwerk
Facundo den Gründen für diese argentinische Diktatur nachgeforscht wird.
Denn die Literaturen der Welt bemühen sich seit langen geschichtlichen Zei-
ten, das unter den Menschen immer nach sehr ähnlichen Verfahren aufkom-
mende Problem der Gewalt zu analysieren, um dadurch in Zukunft Schaden von
der Menschheit abzuhalten. So ist es auch in diesem Text der argentinischen
Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung 431
„Proscritos“ (zu denen ebenso Sarmiento wie Echeverría zählten) das Ziel,
Funktionsweise wie Mechanismen autoritärer Herrschaftsformen zu erken-
nen und herauszuarbeiten. Und just an dieser Stelle stoßen wir auf die Ur-
sprünge des lateinamerikanischen Diktatorenromans, der im Grunde nichts
anderes versucht als die Frage zu beantworten, wie es zu autoritären Gewalt-
systemen kommen kann und wie man sie verhindern könnte. Eine funda-
mentale Frage – nicht nur, wenn wir das 19. Jahrhundert, sondern auch das
20. oder 21. Jahrhundert betrachten.
Angetreten unter dem Banner des Föderalismus gegen eine Zentralisie-
rung und von der eigenen Interessenbasis der großen Viehzüchter und „Ha-
cenderos“ der argentinischen Pampa ausgehend, führte Rosas‘ Regierung
sehr wohl zu einer massiven Zentralisierung, die geradezu als natürliche
Folge einer auf eine einzige Person und deren Kult zugeschnittene Diktatur
angesehen werden muss. So zeitigten die bürgerkriegsähnlichen Zustände
und Auseinandersetzungen, die sich unmittelbar an die siegreiche Inde-
pendencia im Bereich des heutigen Argentinien anschlossen, die ständigen
bewaffneten Kämpfe und Kleinkriege zwischen verschiedenen Caudillos im
Hinterland und zwischen diesen und der wachsenden Rolle des Hafen von
Buenos Aires, dessen Bewohner bis heute als „Porteños“ bezeichnet werden, zu
katastrophalen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhält-
nissen. Sie mündeten in die Herrschaft des Viehzüchters Rosas und im Exil
vieler Intellektueller. Zu diesen argentinischen „Proscriptos“ (wie sie später
Ricardo Rojas nannte) zählten neben Sarmiento und Echeverría eine ganze
Generation, zu der auch der Romancier José Mármol gehörte, der durch seinen
Roman Amalia berühmt wurde.3
Wir haben uns bereits an anderer Stelle ausführlicher mit dem Leben von
Esteban Echeverría beschäftigt. Der künftige Denker und Schriftsteller wurde
1805 in Buenos Aires geboren, war also gerade einmal fünf Jahre alt, als die so-
genannte „Revolución de Mayo“ den Unabhängigkeitswillen von Buenos Aires
und Argentinien demonstrierte. Die Werte der Independencia waren Echeverría
stets heilig; er sah sie durch die Rosas-Diktatur verraten. Der junge Mann, der
unter dem frühen Verlust seines Vaters wie seiner Mutter sowie unter chronischen
Herzproblemen litt, profitierte von einem Stipendium Rivadavias, der schon vor
seiner Zeit als erster Präsident Argentiniens 1826 und 1827 junge Intellektuelle da-
durch fördern wollte, dass er ihnen einen Aufenthalt in Paris beziehungsweise
3 Interpretationen von José Mármols Amalia finden sich ebenso in den meinen Vorlesungen
zu LiebeLesen (S. 496 ff.) wie zur Romantik zwischen zwei Welten (S. 659 ff.).
432 Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung
Cautiva erleben können.4 Wie viele seiner romantischen Idole, wie ein Lord
Byron, Victor Hugo oder Chateaubriand, verband er das literarische Schreiben
mit starkem politischen Engagement, das sich auf die Verhältnisse vor Ort im
postkolonialen Argentinien bezog.
Damit war eine Frontstellung Echeverrías gegen die am Río de la Plata herr-
schende Rosas-Diktatur schon vorprogrammiert. Die Beziehung zwischen Schrei-
ben und Macht sowie der Anspruch des Schreibenden auf politische Macht
werden zentrale Themen von Echeverrías rastloser Tätigkeit sein, zugleich aber
die gesamte Generation der Proskribierten im Exil umtreiben. Nicht nur die „Fe-
derales“, sondern auch die politisch lange Zeit unterlegenen „Unitarios“ werden
politische Diskurse entwickeln, die von schroffen Gegensätzen geprägt und nie-
mals auf Konsens hin angelegt sind. In den unmittelbar postkolonialen Zeiten
bilden sich überall im künftigen Lateinamerika politische Systeme heraus, wel-
che entweder die Herrschaft der einen oder der anderen Partei mit Hilfe demokra-
tischer oder auch autoritärer Mittel begünstigen. Eine Konsensbildung, wie wir
sie etwa in der demokratischen Ordnung der bundesrepublikanischen Nachkriegs-
zeit verankert und entwickelt sehen, ist nicht das Ziel politischer Willensbildung
in den jungen lateinamerikanischen Staaten. Vielmehr ist es ein Entweder-Oder,
das oft genug in blutige Auseinandersetzungen einmündet – ein gravierendes
Problem, das sich seit der Independencia durch die politische Geschichte der
allermeisten lateinamerikanischen Länder zieht. Eine Lösung dieses Problems ist
angesichts einer unter den lateinamerikanischen Eliten weit verbreiteten Korrup-
tion nicht in Sicht.
Wir müssen diese grundlegende und zumeist aus den ersten Jahrzehnten
nach der Unabhängigkeit ererbte Grundstruktur verstehen, um begreifen zu
können, dass Echeverrías Novelle keineswegs eine kühle, distant analysierende
Laborsituation simulieren will, in welcher die Diktatur von Juan Manuel de
Rosas auf den Prüfstand gestellt wird. Vielmehr ist El Matadero wie das ge-
samte Schreiben Echeverrías in die politischen Kämpfe seiner Zeit eingebunden
und ergreift sehr wohl Partei in den Auseinandersetzungen um die Macht in Ar-
gentinien. Als die politische Repression der Rosas-Diktatur zunehmend blut-
rünstiger wurde, löste sich ein von Echeverría mitbegründeter offener Zirkel
von Schriftstellern auf. Doch Echeverría versammelte konspirativ eine Gruppe
junger Intellektueller im Sommer 1837 um sich, gerade drei Monate vor Erschei-
nen seines erwähnten Langgedichts La Cautiva, das großen Einfluss auf die ro-
mantische Generation der argentinischen Literaturgeschichte ausüben sollte.
4 Vgl. zu einer Interpretation dieses Gedichts das Kapitel in Ette, Ottmar: Romantik zwischen
zwei Welten, S. 404 ff.
434 Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung
5 Echeverría, Esteban: El Matadero. In (Gutiérrez, Juan María, Hg.): Obras completas de Este-
ban Echeverría. Buenos Aires: Antonio Zamora 1951, S. 310–324, hier S. 310.
6 Ebda., S. 312.
436 Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung
nen hatte im Übrigen handfeste Gründe, waren die Unitarier der ersten Stunde
wie Rivadavia doch überzeugte Antiklerikale, welche die Macht der Kirche be-
schränkt wissen wollten. Juan Manuel de Rosas als Gegner der Unitarier bot
sich hier als Bundesgenosse an – ganz so, wie auch Trujillo in der Dominikani-
schen Republik die Katholische Kirche auf seiner Seite wusste.
Die starken Regenfälle und Überschwemmungen setzen zu Beginn von El
Matadero alles in Buenos Aires und Umgebung unter Wasser. In Echeverrías
Text wird die Naturgewalt des Wassers, gleichsam naheliegend am Río de la
Plata, in den sich die Wassermassen eines halben Kontinents ergießen, in eine
literarische Symbolik umgedeutet, in welcher die biblischen Elemente auf die
Dimensionen einer Menschheitsgeschichte weisen. Die sintflutartigen Regen-
fälle demonstrieren die Macht der Natur und lassen alles Menschliche, alle Kul-
tur als begrenzt und beschränkt, ja als ohnmächtig erscheinen. Die nichts
Gutes verheißende Symbolik des fließenden, strudelnden, alles mit sich fort-
reißenden Wassers wird im weiteren Verlauf von El Matadero im Schlachthaus
in Form des in Strömen fließenden Blutes fortgesetzt: Alles und alle werden in
einem wahrhaftigen Blutrausch mitgerissen. Doch greifen wir nicht vor, sondern
schauen wir uns das bereits erwähnte Incipit der Novelle einmal genauer an:
Obwohl das, was ich erzählen will, Geschichte ist, werde ich sie nicht mit der Arche Noah
und dem Stammbaum ihrer Abkömmlinge beginnen lassen, wie dies die alten spanischen
Geschichtsschreiber Amerikas, die unsere Vorbilder sein müssen, zu tun pflegten. Ich
habe viele Gründe dafür, nicht diesem Beispiele zu folgen, Gründe, die ich verschweige,
um nicht weitschweifig zu werden. Ich werde nur sagen, dass die Ereignisse meiner
Erzählung Anno Domini 183... stattfanden. Wir waren zudem in der Fastenzeit, jener Jahres-
zeit, in welcher das Fleisch in Buenos Aires rar wird, weil die Kirche die Regel des Epiktet,
sustine, abstine (leide und enthalte Dich) anwendet und den Bäuchen der Gläubigen Fas-
tenruhe und Abstinenz verordnet, da das Fleisch sündig ist und das Fleisch, wie das
Sprichwort sagt, nach Fleisch sucht.7
Dies ist ein in vielerlei Hinsicht denkwürdiges Incipit, da sich uns der Erzähler
gleich zu Beginn in der ersten Person Singular präsentiert und seinen Gegen-
stand als „historia“, später aber auch als „narración“ charakterisiert. Von Be-
ginn an wird die Arche Noah und damit die Sintflut aufgerufen, von der sich
aus biblischer Sicht bekanntlich alle Menschen und Tiere ableiten. Die Genealo-
gie dieser Wesen ist also die Geschichte der Menschheit, aber auch der Tierwelt
selbst, die wir in dieser Geschichte, die mit dem Titel Das Schlachthaus über-
schrieben ist, nicht vergessen wollen.
7 Ebda., S. 310.
Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung 437
Dass der Erzähler gleich zu Beginn das Vorbild oder den Prototyp der alten
spanischen Geschichtsschreiber Amerikas aufruft, ist gewiss kein Zufall, han-
delt es sich doch um einen Verweis auf die Geschichte jener spanischen Koloni-
alzeit, aus der sich die jungen Republiken Amerikas gerade erst befreit haben.
Dieser Fingerzeig ist zweifelsohne ironisch eingefärbt, sind diese Geschichts-
schreiber Amerikas für einen postkolonialen Schriftsteller doch weder von ihrer
spanischen Herkunft noch ihrer Zunft der Historiographie her Vorbilder für
einen Autor und Erzähler, der seine Geschichte in einem Buenos Aires nach der
Unabhängigkeit in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ansiedelt.
Unverkennbar ist in dieser Novellen-Eröffnung der Erzählerdiskurs nicht
nur ironisch eingefärbt, sondern die gesamte Narration in den Zusammenhang
eines alt- wie neutestamentarischen, christlichen Diskurses gestellt. Nicht al-
lein die Arche Noah wird bemüht, sondern auch explizit die Jahreszahl nach
der Geburt Christi gezählt: Anno Domini. Von der Sintflut bis zur Kreuzigung
und zur katholischen Fastenzeit haben wir gleich auf den ersten Zeilen der No-
velle einen wahren Brennspiegel christlicher Glaubenslehren vor uns – freilich
jeweils gebrochen durch die Ironie des Erzählers, welche sich dieser Isotopie
hinzufügt. Das Fleisch, so werden wir sogleich belehrt, ist schwach und sündig,
es sucht sprichwörtlich nach Fleisch und versucht, gerade in der Fastenzeit
nicht auf die Abstinenz zu achten, welche doch durch die heilige Kirche verord-
net ist. Dass diese Kirche eine elende Rolle bei der Unterstützung der Diktatur
spielt, wird an dieser Stelle des Erzählerdiskurses gleichwohl noch nicht gesagt.
Doch von Beginn an werden zwei Diskurse in ein ironisches Licht getaucht: der
Diskurs des spanischen Kolonialismus und derjenige der Katholischen Kirche.
Unter Wirkung der enormen Regenfälle spitzen sich die historischen Ereig-
nisse zu: Die dramatische Verschlechterung der Versorgungslage führt – ausge-
rechnet während der Fastenzeit – zu einer beginnenden Hungersnot, in der
schon erste Opfer zu beklagen sind. Im Schlachthaus, das am Rande der Stadt
gelegen diese mit Fleisch versorgen soll, sind lange schon keine Fleischtrans-
porte mehr eingetroffen; selbst die früher dort so zahlreich versammelten Rat-
ten sind ersoffen oder haben das Weite gesucht.8 Es muss etwas geschehen!
Und es geschieht etwas: Ausgerechnet an einem Gründonnerstag der aller-
heiligsten Karwoche gelingt es, erstmals einen Viehtransport mit fünfzig Tieren
zum Matadero durchzubringen, was freilich angesichts eines Tagesbedarfs von
zweihundertfünfzig bis dreihundert Tieren für die Stadt bei weitem nicht aus-
reicht. Denn der Fleischkonsum der Großstadt Buenos Aires ist – ungeachtet
8 Ebda., S. 313.
438 Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung
9 Vgl. ebda., S. 315. Auf die Funktion des Tieropfers hat hingewiesen Briesemeister, Dietrich:
Esteban Echeverría: „El Matadero“. In: Roloff, Volker / Wentzlaff-Eggebert, Harald (Hg.): Der
hispanoamerikanische Roman. Bd. 1: Von den Anfängen bis Carpentier. Darmstadt: Wissen-
schaftliche Buchgesellschaft 1992, S. 51.
Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung 439
sind die Parallelen zwischen der Analyse des Argentiniers und jenen des peruani-
schen Autors Vargas Llosa bezüglich der Trujillo-Diktatur frappierend. Ganz im
Sinne der oft missverstandenen Sprachkritik von Roland Barthes unterdrückt ein
faschistischer Autoritarismus nicht die Sprache, sondern zwingt dazu, die vorgege-
bene Sprache zu sprechen und so den großen „Restaurator“ hochleben zu lassen –
und dies selbst dann noch, wenn dieser die eigene Frau vergewaltigt hat…
Zur Literatur gehört bei aller Darstellung des gelebten Lebens unter der
Diktatur aber auch ein Lesepublikum, das die entsprechenden Schlüsse aus
dem Gelesenen zu ziehen vermag. In jedem Falle deutet sich in El Matadero be-
reits jene etwa auch am Bolívar-Mythos10 aufzuzeigende Sakralisierung des gro-
ßen Caudillo oder Warlords an, die sich im Bereich politischer Symbolfiguren
besonders schön im entstehenden Lateinamerika nachweisen lässt.
Diese Sakralisierung kann je nach Ausprägung der Diktatur auch die Fami-
lie des Diktators umfassen. In der Zwischenzeit sind in der Handlungsstruktur
der Novelle die Schutzbefohlenen der verstorbenen, aber geheiligten Patronin
Doña Encarnación Ezcurra – und auch an dieser Stelle verweist der realhisto-
rische Vorname geschickt auf die Fleischwerdung, die „Encarnación“! – an
die Arbeit und damit ans Schlachten der zur Verfügung stehenden Tiere ge-
gangen. Bald schon überschwemmt das Blut geschlachteter Rinder den Boden
des Schlachthofs: Das Blut tritt als Flüssigkeit an die Stelle des Wassers und
wird diese Rolle bis zum Ende der Novelle nicht mehr abgeben. Wir werden in
der Novelle einer wahren blutigen Sintflut beiwohnen.
Die hungrigen Zuschauer – in ihrer Mehrzahl Schwarze und Angehörige
der städtischen Unterschicht – beginnen, sich um Fleischreste und Eingeweide,
um alles irgendwie Essbare zu balgen. Echeverría liefert eine Soziologie der
politischen Anhängerschaft der argentinischen Diktatur gleich mit. Es kommt
zu Szenen, die man sehr wohl als kostumbristisch bezeichnen könnte, wird
an diesen Stellen doch die Sprache dieser sozialen Gruppen eingeblendet und
zu Ohren gebracht. Die literarische Ausgestaltung dieser Sprache der Unter-
schicht könnte man mit dem russischen Formalismus als „skaz“ bezeichnen.
All dies geschieht ganz im Sinne jener Redevielfalt, die laut Michail Bachtin
der Traditionslinie des Romans von Cervantes‘ Don Quijote an mitgegeben
wurde11 und ein Erbe der gesamteuropäischen Romantradition darstellt. Der
10 Vgl. hierzu Zeuske, Michael: Simón Bolívar, Befreier Südamerikas. Geschichte und Mythos.
Berlin: Rotbuch Verlag 2011.
11 Vgl. Bachtin, Michail M.: Das Wort im Roman. In (ders.): Die Ästhetik des Wortes. Herausge-
geben von Rainer Grübel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 154–300.
440 Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung
Auf der einen Seite übten sich zwei Jungs im Umgang mit Messern, wobei sie sich große
Batzen Fleisches stückweise zuwarfen; auf der anderen Seite organisierten vier Erwach-
sene mit Hilfe von Messerhieben das Recht auf ein dickes Stück Eingeweide und auf ein
Gekröse, die sie einem Fleischer geraubt hatten; und nicht weit von ihnen wandten einige
durch die erzwungene Abstinenz abgemagerte Hunde dasselbe Mittel an, um herauszube-
kommen, wer eine Leber voller Dreck ergattern würde. Dies verkörperte im kleinen Maß-
stab die barbarische Art und Weise, mit der in unserem Land die großen Fragen und die
individuellen wie sozialen Rechte geregelt wurden. Nun gut, letztlich war die Szene, die
im Schlachthaus aufgeführt wurde, etwas fürs Auge und weniger für die Feder.12
Diese Passage ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich und für den Schreibstil
Echeverrías charakteristisch. Denn er visualisiert die von ihm entworfenen Sze-
nerien dergestalt, dass deren Ausführung im Grunde der Leserschaft überant-
wortet wird; Echeverría arbeitet, um es anders zu formulieren, mit dem Mittel
der Hypotypose, also dem Evozieren von Bildern im Kopf seiner Leserinnen und
Leser, welche jeweils individuell die sprachlich anklingenden Bilder vor ihrem
eigenen Auge und mit eigenen Gestalten ‚ausführen‘.
Der argentinische Autor spricht direkt auch den ‚Maßstab‘ des von ihm Dar-
gestellten an. Das auf den ersten Blick Menschlich-Allzumenschliche, mithin
die Auseinandersetzungen um das ersehnte Fleisch, wird nicht nur mit dem
Tierischen in Beziehung gesetzt, was die Verrohung all dieser Menschen unab-
hängig von ihrem Alter zeigt, sondern zugleich gesamtgesellschaftlich perspek-
tiviert. Die gesamte Szene wird als Simulakrum der argentinischen Gesellschaft
bezeichnet; und wir könnten diese kleinmaßstäbliche literarische Vorgehens-
weise vielleicht am besten mit dem Begriff eines Fraktals belegen, das die
gesamte Struktur gesellschaftlicher Verfahren und Verteilungskämpfe modellartig
vor Augen führt. So also, wie sich die Hunde um Abfälle streiten und dabei allein
auf das Recht des Stärkeren vertrauen, ist das Leben unter der argentinischen Dik-
tatur angelegt. In ihr gelten keine Rechte und keine Werte: Es gilt allein das Recht
dessen, der sich uneingeschränkt durchzusetzen vermag.
Das Schlachthaus ist nichts anderes als ein geradezu soziologisch konzi-
piertes Fraktal der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse im Argentinien unter
der Rosas-Diktatur. Oder mit anderen Worten: Die gesamte argentinische Ge-
sellschaft ist nichts anderes als ein immenses Schlachthaus, in welchem keiner-
lei republikanische Rechtsstaatlichkeit, sondern nur Gewalt regiert. Ein jeder
versucht, sich seine jeweiligen Fleischstücke zu sichern und die anderen weg-
zubeißen. All dies zeigt die tierische Verrohung der gesamten Gesellschaft, die
stets gesetzlose und gewalttätige ‚Lösung‘ aller Konflikte, die barbarische Vertei-
lungsproblematik mit ihrem Dschungelgesetz des Stärkeren, die völlige Rechts-
unsicherheit im sozialen wie im individuellen Bereich. Wir befinden uns in
einem autoritären Regime nackter und roher Gewalt.
Die von Echeverría meisterhaft entworfene kleine Szenerie führt uns den
„modo bárbaro“ vor, jene Barbarei also, die in Argentinien Einzug gehalten hat
und in diesem literarischen Stück denunziert werden soll. Die Diktatur und
deren Unterstützer verkörpern diese Barbarei, sind ihr aber ebenso schutzlos
ausgeliefert. Wir hatten diese Mechanismen autoritärer Macht bereits in La Fi-
esta del Chivo aus der Nähe gesehen, wo selbst einer der großen Repräsentan-
ten der Macht, Cerebrito Cabral, plötzlich und unverschuldet in Ungnade fallen
konnte und mit allem, was ihm gehört und angehört, auf Gedeih und Verderb
dem Diktator ausgeliefert ist, dem er eben noch in seiner Machtfülle diente.
Denn es ist eines der Prinzipien totalitärer Macht, dass selbst die Vertreter
hoher Regierungsämter über Nacht ausgewechselt werden können, auch wenn
sie selbst stets der Ansicht sind – und darauf beruht das Funktionieren einer
derartigen Gesellschaft –, dass sie von derlei ‚Schicksalsschlägen‘ nicht getrof-
fen werden können.
Darüber hinaus zeichnet sich in dieser Passage auch die Aufgabe der Lite-
ratur ab, gleichsam synekdochisch – als pars pro toto – Zeugnis abzulegen von
der Verfassung, Verfasstheit und Lage eines Staatswesens, vom Leiden der
Menschen, von der Gewalttätigkeit ihrer Lebenssituation. Und eben dies leistet
El Matadero, ohne dabei allzu sehr in Parteilichkeit zu versinken. Denn selbst-
verständlich ist Echeverría als realer Autor politisch engagiert und aktiv; sein
literarisches Versuchslabor der Novelle aber entfaltet ungeachtet dieser Partei-
lichkeit modellhaft und im kleinen Maßstab die Vergesellschaftungsformen
eines auf nackter Gewalt basierenden Systems. Die von ihm beschriebenen Me-
chanismen der Gewaltherrschaft in Argentinien können sehr wohl auch auf au-
toritäre Systeme in anderen Ländern übertragen werden.
So ist es die Aufgabe der Literatur, ganz im Sinne der Poetik des Aristoteles
aus einer partikularen Perspektive das Allgemeine – gerade auch in seiner par-
tikularen Besonderheit – hervorzutreiben und just das aufscheinen zu lassen,
was an allgemeinen Strukturen und Mechanismen verallgemeinert werden
kann. Gleichzeitig und damit verbunden ist es die Aufgabe der Literatur, eine
dargestellte Wirklichkeit als erlebte und gelebte zu präsentieren sowie zu re-
präsentieren. Sie entfaltet dabei ein Lebenswissen, welches uns ein Wissen
vom Leben unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen, vom Zusammenle-
ben in einer bestimmten Gemeinschaft, aber auch vom Überleben auf sozialer
442 Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung
Ebene vermittelt.13 Denn anders als in der Historiographie, anders als in der Ge-
schichtsschreibung geht es nicht um die Darstellung einer Wirklichkeit, son-
dern um die gelebten oder erlebbaren wie lebbaren Wirklichkeiten, welche aus
verschiedenen Perspektiven, aus unterschiedlichen Blickwinkeln entworfen
und eingefangen werden.
Literatur als künstlerisches Modell gesellschaftlicher Verhältnisse im Klei-
nen: hier ist ein Gedanke des „Roman expérimental“, des literarischen Naturalis-
mus vorweggenommen, der in Zolas Romanentwurf in deutlich radikalisierter
Form dazu führen sollte, den Roman als gesamtgesellschaftliches Experimentier-
feld, als soziales Laboratorium aufzufassen, das zu wissenschaftlich abgesicher-
ten Ergebnissen bezüglich gesellschaftlicher Prozesse kommen soll. Ebenso im
Bereich soziologisch ausdifferenzierter Gesellschaften wie im Bereich autoritärer
Machtsysteme, wie sie zu Beginn eines postkolonialen Zeitalters und damit nach
dem Zusammenbruch kolonialer Machtstrukturen relativ häufig vorkommen.
Dies war – unter anderen gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen –
ein ganzes Jahrhundert später nicht anders auf der Insel Kuba, als diese den Ko-
lonialismus Spaniens nach aufzehrenden Kriegen endlich abzuschütteln ver-
mochte. Denn der Aufbau komplexer, partizipatorischer Gesellschaftssysteme
benötigt Zeit.
Ganz so, wie dies der spätere lateinamerikanische Diktatorenroman unter-
nimmt, für den wir beispielhaft Mario Vargas Llosas La Fiesta del Chivo heran-
zogen haben, wird El Matadero sehr wohl zu einem Modell der Rosas-Diktatur:
mit ihren Befehlshabern, ihren Schergen, der johlenden Menge, der all diesen
anonymen Tätern ausgelieferten Opfer, die im Nirgendwo verschwinden. Es
wird die Sprache der Diktatur analysiert und ihre Mechanismen, Zwang, Gewalt
und Unterordnung, Hierarchie und Verantwortung, ja das gesamte Spannungs-
feld von – im Sinne Hannah Arendts – Macht und Gewalt ausgeleuchtet, um bes-
ser zu begreifen, wie sich barbarische Gewalt überall einzunisten versteht. Im
Grunde ist El Matadero Modell und mehr noch Fraktal von Diktatur überhaupt –
eben darin besteht der überzeitliche Wert dieser literarisch geschilderten ‚unerhör-
ten Begebenheit‘.
Gestatten Sie mir noch ein kurzes Wort zu den implizierten literarischen
Genres, auf die wir bereits vorhin zu sprechen gekommen waren! Diese Novelle
stößt zum einen an die Gattungsgrenze des Romans, da gattungsspezifisch vom
Roman als dem „bürgerlichen Epos“ der Anspruch erhoben wird, eine gesamt-
gesellschaftliche Realität und Totalität abzubilden. Zum anderen begibt sie sich
aber auch in unmittelbare Nähe zur Allegorie und vor allem zur Parabel, welche
gleichnishaft ihre Bedeutungsfülle anhand von Beispielen vor Augen zu führen
suchen.
Überaus signifikant ist dabei die visuelle Dimension, welche auch in der
Novelle vorherrscht. Ihr Erzähler selbst hat – wie wir bereits sahen – auf diesen
Umstand aufmerksam gemacht und seinen Text hypotypotisch seiner Leserschaft
anvertraut. El Matadero ist eine Abfolge sich der Leserschaft stark einprägender
Bilder und damit in gewisser Weise ein Bilder-Bogen, welcher bisweilen einen
fast alogischen, ja halluzinatorischen Charakter annimmt. Gewiss fügt sich der
Erzählerdiskurs immer wieder ordnend und sinngebend zwischen die einzelnen
Bildfolgen ein, doch bleibt deren Kraft und polyseme Bedeutungsfülle ungebro-
chen. Es ist sicherlich nicht zu weit gegriffen, vergleicht man die Bildfolgen Eche-
verrías zeitgenössisch etwa mit Goyas Bilderwelt, insbesondere seinen Caprichos
und mehr noch den Desastres de la Guerra, wo Gewalttätigkeit, Brutalität und
Barbarei auf grausam einfache Bildkompositionen reduziert werden. Esteban
Echeverría lässt sich so als der literarische Francisco de Goya begreifen, der tief
im Innern seiner Zuschauer schlummernde alptraumhafte Welten tagtraumartig
anzuregen und anzusprechen verstand.
Allerdings interessiert sich Esteban Echeverría in seiner Novelle im Gegen-
satz zu Francisco de Goya weniger für die Tiefen der menschlichen Seele, in
deren Abgründe wir mit dem spanischen Maler blicken dürfen, als für die poli-
tische Problematik und Tragweite der von ihm literarisch dargestellten Hand-
lungen. Bei beiden Künstlern können wir jedoch das spezifisch Barbarische der
menschlichen Natur betrachten, die uns ebenso in den Desastres de la Guerra
wie in El Matadero ungeschminkt entgegenleuchtet. Was der eine in den ent-
setzlichen Grausamkeiten des Kampfs zwischen Spaniern und Franzosen in der
Alten Welt visionär gestaltete, beleuchtete der andere in den lebendigen Farben
strömenden Bluts im Schlachthaus einer Neuen Welt, die sich gerade erst vom
Joch des alten Spanien befreit hatte.
In Echeverrías Schlachthaus sind die starken Regenfälle längst schon in
blutige Ströme übergegangen. Es überrascht daher nicht, wenn die Beziehung
zwischen dem sich anbahnenden Blutbad und der Rosas-Diktatur farblich ver-
ankert und politisch semantisiert wird, taucht doch kurz nach dieser Szene ein
„pañuelo punzó“,14 ein tiefrotes Taschentuch, sowie die Farbe „colorado“ auf –
beides Farbadjektive, die in der Rosas-Diktatur zu den Farben der Föderalisten
und Anhänger des Regimes zählten. So wird die Farbe Rot – wie später auch in
Sarmientos Facundo, den wir uns im Folgenden noch näher anschauen – poli-
Innerhalb dieser blitzartig sich abspielenden Szene, bei der zunächst dem Stier
der Ausbruch aus dem Schlachthaus zu gelingen scheint, kommt es zu einer
versehentlichen Köpfung eines kleinen, an den Ereignissen völlig unbeteiligten
Kindes, das brutal auf seinem Holzpferdchen enthauptet wird. Die Schrecklich-
keit des Ereignisses geht unter im allgemeinen Geschrei und Gejohle der rasen-
den, den Stier durch die Straßen von Buenos Aires verfolgenden Menge. Dieser
‚Jubel‘ steht sinnbildlich für eine Situation, in welcher ein barbarischer Akt gar
nicht mehr als solcher wahrgenommen werden kann, sondern einfach inmitten
aller anderen blutigen Ereignisse untergeht. In einer Diktatur ist kein Raum
und keine Zeit für Mitmenschlichkeit: Alles geht im Getümmel einer lärmenden,
fanatischen Masse unter.
Und doch ist in dieser Passage erstmals ein Mensch, ein unschuldiges
Kind, zum Opfer des sich im Schlachthaus unkontrolliert abspielenden Blutba-
15 Ebda., S. 319.
Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung 445
des geworden. Das Schlachten ist vom Bereich der Tiere auf den der Menschen
zunächst unbeabsichtigt übergesprungen. Der Tod des Kindes erfolgt zufällig,
doch wird diese Enthauptung auch nicht gesühnt: Niemand muss für diese un-
beabsichtigte Tötung die Verantwortung übernehmen. Das Kind ist gleichsam
ein schuldloses Opfer der Verhältnisse geworden, die im Schlachthaus, in Bue-
nos Aires beziehungsweise in Argentinien herrschen: Sein Blut mischt sich mit
dem der geschlachteten Stiere.
Erneut stoßen wir an dieser Stelle auf eine religiös konnotierte Situation,
die der ‚Unschuldigen Kindlein‘, welche in das Geschehen der Novelle einge-
blendet wird. An die Stelle der Tieropfer ist nun erstmals in der Novelle ein
Menschenopfer getreten. Aus dem sauber abgetrennten Rumpf des Kinderkör-
pers quillt das Blut, das gleichsam zum Himmel aufsteigt. Die blutdurstige
Menge nimmt dies kaum zur Kenntnis – und doch haben wir hier ein Bild des
unschuldigen, des schuldlosen Todes, der zugleich völlig sinnlos ist. Doch alles
geht im Getöse der Menge unter, die letztlich nur an zwei Dingen interessiert
ist: am Fleisch und den blutigen Spielen, die zu seiner Unterhaltung dienen.
Für den entsprungenen Stier, der seinem Schicksal zu entkommen versucht
und sich gegen seinen Tod mit all seinen Kräften wehrt, gibt es freilich keine
Chance, kein Entrinnen. Ihm bleibt kein Ausweg: Er wird erneut eingefangen
und in den Schlachthof zurückgeschleift, wo man ihn alsbald tötet. Vom „niño
degollado“, dem enthaupteten Kind, ist in der Zwischenzeit nur mehr ein gro-
ßer Blutfleck übrig; und das Abtrennen des Kopfes ist für den weiteren Verlauf
der Novelle prospektiv von grässlicher Bedeutung.
Einer der Schlächter mit dem sprechenden Namen Matasiete (zu Deutsch
„Siebentöter“), einer der fanatischsten Fleischhauer, bringt den Stier endgültig
um, indem er ihm ein langes Messer in den Hals stößt.16 Der männliche Stier,
das „soberbio animal“,17 bricht zusammen und verwandelt sich in einen Hau-
fen Fleisch, aus dem Blut quillt. Sein Widerstand war zwecklos gewesen: Die
Fleischer und Schlächter obsiegen und entmannen das Tier, dessen Hoden (die
für die „dignidad del toro“ stehen) als Zeichen des Triumphs abgeschnitten
und der Menge gezeigt werden. Denn es geht keineswegs allein um eine Ernäh-
rung der Menge in der Fastenzeit (mit Fleisch), sondern vor allem um die Ent-
würdigung der Feinde und Gegner, die sich der Macht der Schlächter, der
Macht der Diktatur entgegenstellen. Wie bereits in La Fiesta del Chivo zeigt
sich, dass eines der Grundprinzipien der Diktatur darin besteht, ihren Feinden
16 Ebda.
17 Ebda.
446 Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung
die Würde, die Dignität zu nehmen. Vom Tod des kleinen Jungen nimmt ohne-
hin niemand Notiz.
Raserei und Blutrausch sind damit nicht mehr nur zufällig und unabsicht-
lich, sondern absichtsvoll und rücksichtslos-barbarisch in die menschliche
Welt übergesprungen, wie sich nur wenige Zeilen später zeigt. Denn als ein wie-
derum zufällig vorbeikommender und an den Ereignissen in keiner Weise betei-
ligter Reiter vorbeikommt, an dessen Kleidung die Zeichen der Föderalisten
und damit der Diktatur nicht erkennbar sind, tritt erneut der vom Blut des Stie-
res noch ganz berauschte Matasiete in Aktion. Ohne jede Vorwarnung wird der
Reiter von „Siebentöter“ angegriffen, der an diesem wiederum unschuldigen
‚Objekt‘ seine Mordlust erproben will. Dazu bedarf es keines wirklichen Grun-
des – wir hatten ja bereits in Vargas Llosas Diktatorenroman gesehen, dass An-
griffe selbst auf Mittäter und führende Köpfe der Diktatur ohne jede Legitimation
und ohne jeden Grund erfolgen.
Matasiete wird zu seinem Angriff allerdings von der anonymen Menge auf-
gefordert, die gnadenlos den Tod des völlig überraschten jungen Mannes for-
dert. Es gibt für dieses Verlangen nach Menschenfleisch keinerlei Gründe:
abgesehen von der ungehemmten Lust am blutigen Schauspiel. Die Ereignisse
überschlagen sich, denn es bedarf weder einer Anklage noch einer Verurtei-
lung: Schon kniet Matasiete auf dem vollständig überraschten und vom Lasso
zu Boden geworfenen Reiter, drückt seine Brust mit dem Knie nieder, ergreift
den Haarschopf und zückt nun das Messer, um seinem Opfer – wie gerade noch
dem Stier – den Hals aufzuschneiden: „Deguéllalo, Matasiete“ („enthaupte
ihn!“) fordert die Masse ihn auf. Und als sich der Unschuldige, dessen Namen
wir nie erfahren werden, zu wehren versucht: „Deguéllalo como al toro.“18 Das
Stieropfer ist endgültig zum Menschenopfer geworden. Spätestens hier ist die
Verbindung zwischen Stier und (vermeintlichem) Unitarier, zwischen dem ent-
mannten Tier und dem bald schon entehrten jungen Mann offenkundig. Und wie
der Stier wird auch der Unitarier keine Chance bekommen, keinerlei Möglichkeit
zur Flucht erhalten. In einer Diktatur wird der Einzelne mit den brutalen Forde-
rungen einer anonymen Masse konfrontiert, die ihm feindlich gegenübersteht
und Lust am grausamen Spiel besitzt – ohne daran zu denken, dass jedes Indivi-
duum aus dieser Masse selbst zum möglichen nächsten Opfer werden könnte.
Man darf an dieser Stelle Parallelen zu den verschiedenen Stufen der Tötung
ziehen, welche Hannah Arendt im Bereich des Konzentrationslagers beobachtet
und analysiert hatte; Tötungsstufen, die wir im vorangehenden Teil unserer
Vorlesung möglichst präzise nachzuvollziehen suchten. Mit der überraschenden
18 Ebda., S. 320.
Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung 447
Gefangennahme ohne jeden Grund und ohne jede Anhörung wird folglich bereits
der juristische Mensch getötet, gibt es doch keinerlei Möglichkeit für den Verur-
teilten, gegen seine eigene Gefangennahme ein Gericht anzurufen oder ein recht-
liches Verfahren einzuleiten. Aber auch die zweite Stufe der Tötung lässt sich
unschwer beobachten, wird der Gefangene und in das Schlachthaus Verbrachte
doch seiner Würde und Menschlichkeit entkleidet. Die physische Tötung des
Gefangenen ist nach dieser Stufe eine geradezu notwendige Konsequenz. Das
Schlachthaus funktioniert wie ein Konzentrationslager, das es als staatliche
Institution zum damaligen Zeitpunkt freilich noch nicht gab, da es erst gegen
Ende des 19. Jahrhunderts auf der Bühne der Historie erschien – in den süd-
afrikanischen „Concentration Camps“ oder auf Kuba.
Der dritte Schritt, die Ermordung des physischen Menschen, lässt noch
etwas auf sich warten, wenn auch nicht aus humanitären Gründen. Auf Befehl
des Schlachtrichters wird der Unbekannte nicht sogleich von Matasiete hinge-
mordet, sondern muss zunächst ein entwürdigendes Verfahren über sich erge-
hen lassen, dessen Einzelheiten mitsamt der Folterungen ich uns ersparen will.
Beim jungen Unitarier, der sich verzweifelt wehrt und keineswegs klein beigibt,
zeigt sich im Verlauf des entwürdigenden Verfahrens körperlich die Erregung,
das „movimiento convulsivo de su corazón“ – ein Vorzeichen des Kommenden,
wie sich schon bald zeigen wird.19 Doch seine Möglichkeiten, sich erfolgreich
gegen die Übermacht seiner Feinde zur Wehr zu setzen, sind kaum höher als die
des zuvor geschlachteten Stieres. Aus dem Konzentrationslager des Schlachthau-
ses mit seinen dicken Mauern gibt es kein entkommen.
Immerhin kommt es zu einer offiziellen Anschuldigung, ohne dass freilich
auch nur im Geringsten ein rechtliches Verfahren gegen den jungen Mann zu-
stande käme. Dem brutal Misshandelten wird vorgeworfen, nicht die vorge-
schriebenen „divisas“ zu tragen, die Abzeichen des Herrschers und Diktators;
auch sei der Trauerflor für Doña Encarnación Ezcurra nicht an seinem Hut an-
gebracht, so dass er öffentlich gegen den Befehl des Diktators verstoßen habe.
Kühn aber antwortet der junge Mann, er trage die Trauer um sein Vaterland
nicht an seinem Hut, sondern in seinem Herze – eine Antwort, die ihn als Feind
der Diktatur ausweist.
Die Trauer um das argentinische Vaterland wird somit im Herzen lokali-
siert, dem Sitz der Gefühle, aber eben auch des Motors aller Bewegungen des
Blutkreislaufs und damit jenes Blutes, das für Leben, aber auch für Tod stehen
kann. Der Gefolterte wird ausgezogen und wie Christus – erinnern wir uns: Der
Karfreitag steht unmittelbar bevor! – nackt in eine Kreuzesstellung oder Kreuzi-
19 Ebda., S. 322.
448 Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung
In einem einzigen Augenblick fesselten sie seine Beine im Winkel an die vier Tischbeine,
wobei sie seinen Körper mit dem Mund nach unten legten. Es war notwendig, dieselbe
Operation mit den Händen zu machen, wozu sie die Fesseln lockerten, welche sie auf sei-
nem Rücken zusammenschnürten. Als er sie frei fühlte, richtete sich der junge Mann mit
einer ruckartigen Bewegung, in der sich all seine Kraft und Vitalität zu erschöpfen schien,
zunächst auf seine Arme, dann auf seine Knie auf, wobei er sofort wieder in sich zusam-
menfiel und murmelte: Lieber erstechen als nackt ausziehen, ihr infamen Kanaillen.
Seine Kräfte hatten sich erschöpft; sofort wurde er in Kreuzesform festgebunden,
und man begann damit, ihn zu entkleiden. Dann aber brach ein Strom von Blut sprudelnd
aus Mund und Nase des jungen Mannes, dehnte sich aus und begann, auf beiden Seiten
des Tisches herunterzuströmen. Die Schergen erstarrten und die Zuschauer waren wie
vom Blitze getroffen.21
Ein Blutsturz setzt dem Leben des sich verzweifelt gegen seine Entehrung Wehren-
den ein Ende. Er stirbt wie Christus am Kreuz und bezeugt mit seinem Märtyrertod
seinen ungebrochenen Glauben. Die Barbarei aber hat ihr Opfer zu Tode gequält.
Diesmal ist es ganz bewusst nicht mehr nur ein Stieropfer, sondern ein Menschen-
opfer, das letztlich der Diktatur dargebracht wird. Kulturgeschichtlich gehen wir
dabei den Weg vom rationalen Abschlachten der Tiere über das Tieropfer zurück
bis zum Menschenopfer, dem Inbegriff jener Barbarei, die sich noch in der Bibel
20 Verwiesen sei hier nochmals auf den Beitrag von Briesemeister, Dietrich: Esteban Echever-
ría: „El Matadero“, S. 51.
21 Echeverría, Esteban: El Matadero, S. 113 f.
Esteban Echeverría oder das christologische Martyrium der Aufopferung 449
oder in der geplanten Opferung Iphigenies auf Aulis zeigt. Doch in der Diktatur
erscheint sie inmitten der Zivilisation, setzt deren Werte außer Kraft und ent-
menschlicht eine ganze Gesellschaft.
Die Barbarei ist damit in die Mitte der Gesellschaft, in die Mitte der Zivilisa-
tion zurückgekehrt. Sie findet Genugtuung und ist erst dann zufrieden, wenn
nicht nur Tier-, sondern Menschenblut vergossen wird – wenn auch nicht mehr
zu Ehren eines Gottes, sondern des Diktators, dessen äußere Zeichen der junge
Mann zu tragen sich geweigert hatte. Wieder verbietet die Diktatur nicht, son-
dern zwingt jeden Einzelnen ihrer Untertanen, ihre Zeichen zu tragen und zur
Schau zu stellen.
Der junge Mann aber wird zum Vertreter jener Menschlichkeit und Zivilisa-
tion der Unitarier, die von ihren Gegnern in der diktatorialen Sprechform stets
als „salvajes unitarios“ beschimpft werden. Immer und immer wieder wird der
offizielle Diskurs, die verordnete Sprachregelung der Diktatur, eingeblendet
und mit dem Geschehen kontrastiert, demaskiert und ad absurdum geführt. Die
Diktatur ist als gemeinschaftliche Praxis des Zusammenlebens stets eine be-
ständige Übung in Sprachnormierung: Sie kann nicht existieren, ohne dass sie
für ihre Feinde absolut gleichlautende Sprachbeschimpfungen in Umlauf setzt;
ein diskursiver Zwang, an dem sich alle Bürger, alle Untertanen zu beteiligen
haben.
Macht und Gewalt jedoch sind nicht auf Seiten des Schriftstellers, auf Sei-
ten des Erzählers, sondern auf Seiten des Diktators und seiner Schergen. Selbst
für die Unbeteiligten und Unschuldigen gibt es – wie zuvor für den Stier –
keine Fluchtmöglichkeit: Alle sind der Diktatur ausgeliefert, ihren blutrünsti-
gen Helfershelfern und Schlächtern. Der Schlusssatz der Novelle unterstreicht
die ‚Moral‘, welche der Text seinem Lesepublikum an die Hand geben will. Er
deutet einmal mehr auf die Abbildfunktion der Literatur: „y por el suceso ante-
rior puede verse a las claras que el foco de la federación estaba en el Mata-
dero.“22 Aus all diesen geschilderten Ereignissen mögen die Leserinnen und
Leser ableiten, dass der Brennspiegel der Diktatur im Schlachthaus liegt. Der
Erzähler könnte nicht deutlicher werden: Das Schlachthaus ist das Fraktal der
gesamten Diktatur, in seinen Mauern umfasst es die Gesamtheit des autoritären
Rosas-Systems – und die Grundzüge diktatorischer Systeme überhaupt.
In El Matadero treffen wir auf einen Tod, der letztlich nichts anderes als ein
zufällig ausgelöster politischer Mord ist. Dabei ist es faszinierend, in dieser No-
velle nicht nur die Konzentration und Verdichtung eines autoritären Systems
zu beobachten, sondern auch dessen symbolische Überhöhung. Es geht folglich
Ich möchte Ihnen gerne diese andere Seite einer Desakralisierung des Sakralen
kurz am Beispiel eines berühmten Textes aus dem französischen 19. Jahrhun-
dert aufzeigen. Queren wir also für einen Augenblick den Atlantik! Es handelt
sich dabei um den Text eines französischen Religionswissenschaftlers, Schrift-
stellers und Historikers, der nicht nur in Frankreich und Europa, sondern auch
im Lateinamerika der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine treue Anhänger-
schaft besaß. Um seine Reflexionen rund um das Leben Christi besser kontextu-
alisieren und verstehen zu können, müssen wir an dieser Stelle einige für uns
wichtige Biographeme erarbeiten,1 die uns mit den Spuren eines der einfluss-
reichsten Orientalisten Europas vertraut machen sollen.
Joseph-Ernest Renan wurde am 28. Februar 1823 in Tréguier in der Breta-
gne, deren mystizistischer Religiosität er stets verbunden blieb, geboren und
starb am 2. Oktober 1892 in jenem Paris, das für ihn stets existenzielle Herausfor-
derung war, aber auch seinen kometenhaften Aufstieg gesehen hatte. Er studierte
zunächst katholische Theologie, ging ab 1838 an das Seminar Saint-Nicolas-du-
Chardonnet, ab 1841 an das Seminar von Issy und schließlich 1843 an das Grand
Séminaire de Saint-Sulpice, wonach er 1844 die Niederen Weihen erhielt. Auf-
grund seiner wissenschaftlichen Studien ereilten ihn aber Zweifel an einer Pries-
terlaufbahn, so dass er bereits 1845 das Seminar verließ. Ausgelöst wurde diese
Krise durch kritische Bedenken gegenüber jener historischen Wahrheit, welche
die Heilige Schrift gerade auch mit Blick auf das Leben Christi laut Lehrmeinung
der Kirche verkündete. Die wissenschaftliche Arbeit bewegte Renan schließlich
zur Aufgabe des zunächst ins Auge gefassten Priesterberufs. Es ist gewiss: Wis-
senschaft basiert darauf, Zweifel zu säen – und Renan konnte in seiner Krise
nicht erkennen, wie er all dies mit seinem Glauben sowie mehr noch dem katho-
lischen Dogma, der Lehre der Katholischen Kirche, vereinen können würde. Folg-
lich wurde er nicht Priester, sondern Wissenschaftler.
Zunächst arbeitete Ernest Renan im Brotberuf als „Répétiteur“ an einem
Collège. Zugleich führte er im Lichte des zeitgenössischen Positivismus inten-
sive philologische Forschungen auf dem Gebiet der Religionsgeschichte und
der semitischen Kultur durch. Er bereitete so seine spätere wissenschaftliche
Karriere vor, welche ihn im letzten Abschnitt seines Lebens als Schriftsteller in
die Höhen der Académie Française führen sollte. Bereits im Revolutionsjahr
1848 erlangte er die „Aggrégation“ in Philosophie. Von Oktober 1849 bis Juni
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-015
Ernest Renan oder die Desakralisierung Christi 453
1850 reiste er im Auftrag der Akademie nach Italien, eine Reise, die ihm auch
Material für seine These über Averroës und die „philosophie orientale“ bezie-
hungsweise die Aristoteles-Rezeption lieferte. Nach der Rückkehr lebte er ge-
meinsam mit seiner Schwester in Paris. Renan machte sich in der Wissenschaft
rasch einen Namen: Ab 1850 wurde er Mitarbeiter mehrerer bedeutender Zeit-
schriften im Forschungsbereich seiner Studien.
Der bretonische Autor verfasste zahlreiche religionswissenschaftliche Arti-
kel sowie seine Histoire générale et système comparée des langues sémitiques
und arbeitete sich damit ein hohes Ansehen als französischer Orientalist. Im
Jahr 1851 erhielt er eine Anstellung in der lateinischen Handschriftenabteilung
der Pariser Bibliothèque Nationale. Kommentierte Übersetzungen aus dem He-
bräischen folgten. Sehr rasch stellten sich weitere wissenschaftliche Erfolge, ja
ein gewisser Ruhm auf internationaler Ebene ein: Renan wurde nicht nur Mitglied
der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, sondern 1859 auch korrespon-
dierendes Mitglied der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften
sowie 1860 auswärtiges Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaf-
ten. Bereits in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre hatte er seine programma-
tische und kulturoptimistische Schrift L’Avenir de la Science verfasst, die
freilich erst 1890, kurze Zeit vor seinem Tod, veröffentlicht wurde. Diese lange
Zeit nicht publizierte Schrift dürfte seinem Gesamtwerk Kohärenz und Konti-
nuität, „de la suite dans les idées“, verliehen haben.
In den Jahren 1860 und 1861 forschte Renan im Nahen Osten, verlor jedoch
tragischerweise seine ihn auf der Reise begleitende Schwester, die an Malaria
erkrankt war. Er veröffentlichte seine Forschungsergebnisse in zwei Bänden
1864 und 1874 unter dem Titel La Mission de Phénice. 1862 erhielt er den Lehr-
stuhl für Hebräisch, Syrisch und Chaldäisch am hochrenommierten Pariser Col-
lège de France. Am 21. Februar hielt er dort seine Antrittsvorlesung unter dem
Titel De la part des peuples sémitiques dans l’histoire de la civilisation, in wel-
cher er Jesus als „un homme incomparable“, als unvergleichlichen Menschen,
bezeichnete. Der dadurch ausgelöste Aufruhr war gewaltig. Es kam zu einem
großen Skandal rund um den Vorwurf der Gotteslästerung und Blasphemie, in
dessen Verlauf die Proteste insbesondere des Klerus dazu führten, dass Renans
Vorlesung verboten wurde.
Sein Hauptwerk sollte die Histoire des origines du Christianisme werden,
dessen erster Band 1863 in romanesker Form erschien und unter dem Titel Vie
de Jésus sogleich Furore machte. Er löste ebenso enthusiastische Zustimmung
wie erbitterte Ablehnung aus. Allein in Deutschland erschienen binnen kürzes-
ter Zeit mehr als ein Dutzend Übersetzungen des französischen Bestsellers, der
die Debatten um den Verfasser in Frankreich noch zusätzlich anheizte. 1864 er-
folgte auf Druck des Episkopats die Relegation vom Lehrstuhl am Collège de
454 Ernest Renan oder die Desakralisierung Christi
France, den Renan erst 1870 wieder einnehmen durfte. Renan unternahm dar-
aufhin von Ende 1864 bis Juli 1865 seine zweite Orientreise, die ihn unter ande-
rem nach Ägypten, Kleinasien und Griechenland führte. Berühmt wurde sein
Aufenthalt 1865 in Athen, wo er dichterisch auf der Akropolis eine Offenbarung
des Göttlichen umschrieb. Unter Eindruck der Reise entstanden nach 1866 wei-
tere Bände der Histoire des origines du Christianisme.
Ich kann an dieser Stelle weder auf Renans weitere orientalistische Forschun-
gen noch auf seine staatspolitischen Schriften eingehen, von denen viele ge-
rade auf dem amerikanischen Kontinent ein breites Echo fanden. Noch in José
Enrique Rodós Ariel aus dem Jahr 1900 ist Ernest Renan höchst präsent und aus
dem Ideenreservoir des uruguayischen Schriftstellers nicht wegzudenken, hatte
sich der französische Autor doch – für Rodó beispielhaft – an die Jugend Frank-
reichs gewandt. Auch die autobiographischen Schriften des Orientalisten und
Religionsphilosophen, darunter auch seine Briefe an die Schwester Henriette,
sind von großer Wichtigkeit, können an dieser Stelle unserer Vorlesung jedoch
keine Berücksichtigung finden. Nach längerer Krankheit starb Ernest Renan
hochgeehrt am 2. Oktober 1892 in Paris, nachdem er autobiographisch verlauten
ließ, er würde an seinem Leben kaum etwas ändern, sei er doch vollauf zufrieden
mit der Art und Weise, wie dieses abgelaufen sei. Glücklich, wer solches von sich
sagen kann …
In den Schriften Renans verbinden sich eklektizistisch positivistische Ge-
radlinigkeit und poetische Emanation, aber auch romantischer Enthusiasmus
und spekulative Imagination zu einer sehr eigenen Mischung,2 die weit über
den Bereich der Religionsphilosophie hinaus wirksam wurde. In seinem Ge-
samtwerk beeindrucken die klaren Grundlinien, denen der Orientalist im Ver-
lauf seines Lebens stets treu blieb; Vorstellungen, die in ihrer thesenartigen
2 Vgl. hierzu Schuh, Hans-Manfred: Ernest Renan. In: Lange, Wolf-Dieter (Hg.): Französische
Literatur des 19. Jahrhunderts. Band III: Naturalismus und Symbolismus. Heidelberg: Quelle &
Meyer 1980, S. 43–66.
Ernest Renan oder die Desakralisierung Christi 455
In diesen Eröffnungssätzen des zweiten Kapitels von Ernest Renans Vie de Jésus
ist aufschlussreich, dass zunächst die Frage des Geburtsortes thematisiert und
zugleich auch einer entmythologisierenden Kritik unterzogen wird. Denn Renan
verdächtigt die ‚Legende‘ vom Messias Jesus, dessen Geburtsort aus politisch-
hagiographischen Gründen verändert und Bethlehem hinzugefügt zu haben.
Man habe ihn bewusst an einen Ort verlegt, welcher der Legendenbildung dienli-
cher war, weil man auf diese Weise die Außerordentlichkeit des ‚heiligen‘ Ge-
schehens stärker herausstellen konnte. Denn vom Ort der Geburt – soviel haben
wir in dieser Vorlesung bereits gelernt – hängt mit Blick auf die Semantisierung
eines ganzen Lebens Entscheidendes ab.
Die zweite Nahtstelle, die als grundlegende Koordinate zugleich auch in
Frage gestellt wird, betrifft nach dem Ort den genauen Zeitpunkt der Geburt.
Nun wissen wir in der Tat, dass es auf Grund der Kalenderumstellungen, astro-
nomischen Verschiebungen und Veränderungen im Verlauf der beiden zurück-
liegenden Jahrtausende keineswegs so ist, dass Jesus Christus als historische
Figur wirklich in einer Dezembernacht vor zweitausendundeinundzwanzig Jah-
ren auf die Welt kam. So kommt auch dieses im Grunde essentielle Datum nicht
ungeschoren davon, das nicht allein für die Bestimmung und Bedeutung eines
Menschen, sondern in diesem Falle für eine heute weltumspannende Zeitrech-
nung und einen gesamten Kulturraum von zentraler Bedeutung ist. Zwar wird
von Renan kein anderes Datum genannt; doch das sozusagen ‚unhinterfragte‘
Geburtsdatum wird gleichsam ausradiert.
Auf diese Weise verändert Ernest Renan von Beginn seiner Beschäftigung
mit dem Leben Jesu an die grundlegenden Koordinaten des Religionsgründers
in Raum und Zeit. Dabei tritt in diesen Passagen der Diskurs von Sachlichkeit
und Wissenschaftlichkeit an die Stelle eines Diskurses, den wir mit religiöser
Legendenbildung und vielleicht mehr noch christlicher Hagiographie verbun-
den wissen. Dieser Diskurs der Wissenschaftlichkeit, der mit vielen ihn stützen-
den Fußnoten, die ich im obigen Zitat nicht mitabgedruckt habe, gespickt ist,
verdrängt gleichsam denjenigen der Religion, von dem sich Renan in seinem
eigenen Leben abgewandt hatte. Diese Vorgehensweise macht deutlich, auf
welche Weise der französische Religionsphilosoph und Historiker eine ‚Entrüm-
pelung‘ der Legendenbildung um Jesus Christus in seinen Schriften ins Werk
setzt und die ‚Ursprünge des Christentums‘ völlig neu ausrichtet.
Vor diesem Hintergrund wird aber noch ein drittes bestimmendes Element
verändert: die Namensgebung, die nach der Geburt (noch heute) ein entschei-
dender Vorgang ist. So, what’s in a name? Der Name Jesu wird all seiner Beson-
derheit entkleidet, handele es sich hier doch lediglich um eine Sonderform
eines völlig gewöhnlichen und häufigen Namens. Im jenem des Herrn schwingt
daher nicht von Beginn an die Rolle des Messias mit. Bemerkenswert ist dabei,
dass die die Semantisierung zu einem zentralen Punkt avanciert, insoweit eine
Gesellschaft oder Kultur, aber auch der einzelne selbst eben diesen Elementen
einen unschätzbaren Wert beimessen kann. Denn in der Namensgebung deutet
sich womöglich bereits das künftige Schicksal und die Bedeutung der gerade
erst auf die Welt gekommenen Person an. Von einem einzigen Punkt aus – wie
458 Ernest Renan oder die Desakralisierung Christi
wir schon im Laufe unserer Vorlesung gelernt haben –, mithin von einem einzi-
gen Moment der Geburt aus wird das gesamte Leben des jeweiligen Individuums
wie auch dasjenige seiner Gemeinschaft semantisiert, also mit weitreichenden
Bedeutungen versehen. Ernest Renan versucht, sich auch auf dieser Ebene allein
an Fakten sowie historische Kontexte zu halten und alle Formen von Legenden-
bildungen abzuwehren – selbst dann, wenn sie vom Religionsstifter selbst stam-
men könnten. Denn Jesus sei ein Mystiker gewesen; und Mystiker hätten zu allen
Zeiten ihrem eigenen Namen eine prospektive, ihr ganzes Leben ankündigende
Bedeutung gegeben. Von solchen Mystifikationen aber distanziert sich der fran-
zösische Religions- und Glaubensforscher.
Der schon vom Schriftbild her ins Auge fallende Diskurs der Wissenschaft-
lichkeit führt letztlich dazu, dass die Figura Christi all ihrer Heiligkeit entkleidet
wird. Die sprachliche Formel, die Renan hierbei benutzt, ist berühmt geworden
und deutet auf die Vorsicht und zugleich Entschlossenheit, mit welcher der His-
toriker zu Werke ging. Denn vor dem Hintergrund all der vielen Einzelheiten,
die wir bereits kennen und die von Renan in der Folge entfaltet wurden, kann
es kaum überraschen, dass er Jesus zu einem äußerst faszinierenden Menschen,
aber eben zu einem Menschen werden lassen musste. Hier also nun der berühmte
Satz aus Renans Leçon am Collège de France: „Ein unvergleichlicher Mensch, der
so groß war, dass ich nicht jenen widersprechen wollte, die vom außergewöhn-
lichen Charakter seines Werkes frappiert waren und ihn Gott nannten.“ / „Un
homme incomparable, si grand que je ne voudrais pas contredire ceux qui, frap-
pés du caractère exceptionnel de son œuvre, l’appellent Dieu“.8
Diese von Renan bereits vor der Veröffentlichung seiner Vie de Jésus konzi-
pierte sprachliche Formel, die wohlüberlegt war – Renan konnte nicht an der
erwartbaren Reaktion des Klerus zweifeln –, gab die Leitlinie für jenen Lebens-
entwurf Jesu Christi vor, wie ihn der französische Orientalist im ersten Band sei-
ner Ursprünge des Christentums skizzierte. So beschreibt er möglichst präzise
als Geschichtsschreiber die Fakten, die sich bezüglich der Geburt Jesu ermitteln
lassen, um daraus diejenige eines Menschen abzuleiten.
Die Geburtsszene selbst ist dabei von Renan nicht in Frage gestellt oder port-
rätiert worden. Sie ist uns allen wohlvertraut, samt Ochs und Eselein – und doch
wissen wir durch einen Blick auf andere Nationen und Kulturen, dass gerade
auch diese Elemente höchst regionalen Ursprungs sind und andernorts sehr un-
terschiedlich gestaltet wurden. Christi Geburt besitzt in Bethlehem eine andere
Ausprägung und Ausgestaltung als in Mexiko, im Schwarzwald oder in Togo.
8 Renan, Ernest: La Chaire d’hébreu au Collège de France. Explication à mes collègues. Paris:
Michel Lévy 1862, S. 13.
Ernest Renan oder die Desakralisierung Christi 459
Die Desakralisierung des Sakralen bringt es also mit sich, dass Jesus zu einem
außergewöhnlichen Wesen, aber eben zu einem Menschen werden musste, bevor
wieder der umgekehrte Entwicklungsgang einsetzen kann und wir es am Ende
mit einem scharf von anderen Menschen abstechenden Wesen zu tun haben, das
wir als Gott verehren können oder nicht. Entscheidend dabei ist, dass dafür die
hagiographischen Elemente ihres Sinnes beraubt werden müssen, um die Gestalt
Jesu leibhaftig vor uns treten zu lassen.
Dieser Prozess muss mit der Geburt beginnen; denn sonst könnte es keine
Resemantisierung der gesamten Vie de Jésus und der Lebensgeschichte von
Jesus Christus geben. Die Geburt ist der Schlüssel zum Verständnis eines Men-
schen; und aus eben diesem Grunde empfiehlt es sich, höchst vorsichtig zu
sein, wenn wir von bestimmten äußerst wichtigen Geburten hören, von denen
selbstverständlich keine im Christentum an die Geburt des Jesuskindes heran-
reichen darf. Deshalb zeigt sich just an dieser Stelle die entscheidende textuelle
Zugriffsmöglichkeit, zugleich aber auch eine Reflexionsmöglichkeit bezüglich
der Formen, Funktionen und Bedingungen der Geburt, die wir im Verlauf eines
liturgischen Jahres stets wieder neu überdenken sollen. Renan war es mit sei-
nem Werk keineswegs um Gotteslästerung oder gar die Zerstörung des Christen-
tums zu tun: Sein Ziel war es vielmehr, es von allem blendenden sowie den
wahren Glauben behindernden Beiwerk zu befreien und zu den historischen
Fakten zurückzukehren.
Dieses Ziel des französischen Historikers lässt sich sehr deutlich in einem
der letzten Kapitel des Bandes erkennen, welches dem Tod Christi gewidmet
ist. Dieses Kapitel beginnt wie folgt:
Obwohl das wirkliche Motiv für den Tod von Jesus gänzlich religiös war, hatten seine
Feinde doch beim Prätor erwirkt, ihn wie wegen eines Staatsverbrechens schuldig zu
sprechen; sie hätten vom skeptischen Pilatus keine Verurteilung wegen Ketzertum erhal-
ten. Infolge dieser Vorstellung gingen die Priester daran, für Jesus durch die Menge den
Tod am Kreuze zu fordern. Diese Todesart war keineswegs jüdischen Ursprungs; wäre die
Verurteilung von Jesus rein nach mosaischem Gesetze erfolgt, so hätte man ihn die Steini-
gung erleiden lassen. Das Kreuz war eine römische Todesart, welche den Sklaven und
jenen Fällen vorbehalten blieb, in denen man dem Tode noch die Verschärfung durch die
Schmach hinzufügen wollte. Indem man dies auf Jesus anwandte, behandelte man ihn
wie einfache Räuber, wie Briganten, wie Banditen oder jene Feinde niederer Herkunft,
denen die Römer nicht die Ehren eines Todes durch das Schwert zukommen ließen. Es
war der chimärische „König der Juden“ und nicht der dogmatische Ketzer, den man so
bestrafte.9
Ernest Renan ist sichtlich bemüht, in dieser Passage die historischen Kontexte
der Verurteilung Jesu und die Hintergründe für die Wahl der Todesart präzise
auszuleuchten. Auch an dieser Stelle habe ich wieder die umfangreichen Fuß-
noten ausgelassen, welche den hier abgedruckten Fließtext begleiten und die
wissenschaftliche Absicherung auf dem damaligen Stand der Forschung bele-
gen. Dabei erläutert Renan vor allem die Semantik der für Jesus gewählten und
geforderten Todesart, um seinem Lesepublikum zu vermitteln, welches die his-
torischen Kontextualisierungen seines Todes waren und wie sehr man ver-
suchte, diesen Menschen noch bei seiner Tötung wie einen elenden Räuber
aussehen zu lassen. Dabei geht es dem französischen Forscher nicht um heils-
geschichtliche Argumente oder religiöse Aspekte, sondern um die Erklärung
eines historisch korrekt geschilderten Ablaufs. Dort, wo Esteban Echeverría sei-
nen Unitarier wie Christus am Kreuze sterben lässt, um diesen profanen Gegner
der Rosas-Diktatur zu sakralisieren, behält sich Ernest Renan das Recht vor, den
Tod von Jesus Christus, der weit mehr als ein christlicher Heiliger nach christli-
cher Lehre Teil der göttlichen Dreifaltigkeit ist, nach den jeweiligen profanen Ge-
setzlichkeiten der Menschen sterben zu lassen und damit zu desakralisieren.
Gegen Ende dieses Kapitels vermerkt der französische Historiker noch ei-
nige Besonderheiten des Kreuzestodes, den Jesus erlitt. Auch in diesem Zusam-
menhang versucht er, aller Legendenbildung entgegenzuwirken und Jesus als
Mensch in seinem Tode ganz so zu schildern, wie es jedweder andere Sterbliche
am Kreuze gewesen wäre. Führen wir noch ein letztes Zitat aus Renans Vie de
Jésus an, um – erneut ohne die Angabe von Fußnoten – zu ermessen, wie sehr
Renan seiner Linie treu blieb:
Die besondere Grässlichkeit dieser Todesart am Kreuze liegt darin begründet, dass man
drei, ja vier Tage in diesem schrecklichen Zustand auf diesem Schmerzensgerüste noch
leben konnte. Die Blutung der Hände kam rasch zum Stillstand und wirkte keineswegs
tödlich. Der wahre Grund für den Tod lag in der unnatürlichen Position des Körpers, wel-
che eine furchtbare Störung im Blutkreislauf, schlimme Schmerzen im Kopf und am Her-
zen sowie schließlich die Steifheit der Glieder nach sich zog. Gekreuzigte mit starker
körperlicher Verfassung konnten schlafen und starben an Hunger.10
Die genaue Beschreibung des Todes von Jesus am Kreuz wird in solchen Wen-
dungen in den Zusammenhang einer Todesart gestellt, die im Sinne der römi-
schen Kolonialherrschaft eine unehrenhafte Strafe für Verbrecher und Gesindel
darstellte. Es war Renan in erster Linie darum zu tun, seiner Leserschaft nicht
nur die rechtlichen und semantischen Aspekte dieses Todes am Kreuz, sondern
ebenso die medizinischen Gründe und Hintergründe für das langsame, grau-
10 Ebda., S. 402.
Ernest Renan oder die Desakralisierung Christi 461
Kehren wir an dieser Stelle unserer Vorlesung wieder nach Lateinamerika zu-
rück und beschäftigen wir uns mit einem jener argentinischen Schriftsteller,
die vielleicht am tiefschürfendsten über das Entstehen von Gewalt, über die
Macht regionaler Caudillos oder Warlords und das Aufblühen autoritärer Sys-
teme im Cono Sur des Kontinents, am Río de la Plata, nachgedacht und ge-
schrieben haben! Denn wie für Esteban Echeverría war auch für Domingo
Faustino Sarmiento die Literatur jenes Erprobungsfeld, in welchem experimen-
tell die gesellschaftlichen Gewaltsituationen in modellartiger Weise nachge-
stellt und auf ihre Bedeutung hinsichtlich autoritärer Systeme erprobt werden
konnten. Wie gesagt: Diese Erprobungen der Literatur tragen eher selten dazu
bei, dass autoritäre Systeme direkt wieder verschwinden; aber sie ermöglichen
doch ihren Leserinnen und Lesern, besser deren Mechanismen zu verstehen
und gegen die Entstehung autoritärer Strukturen anzugehen. Denn sie vermit-
teln ein Wissen über ein gesellschaftliches beziehungsweise gemeinschaftliches
Zusammenleben, welches hilft, die Ausgangspunkte autoritärer Diskurse und
Systeme zu unterlaufen; und sie stellt Gnoseme dafür bereit, wie diktatorischen
Strukturen der Boden unter den Füßen entzogen werden kann.
Domingo Faustino Sarmiento hat aber keinen Diktatorenroman verfasst
oder eine Frühform desselben entwickelt. Wir können ihn daher auf den ersten
Blick nicht in die Reihe jener literarischen Autoren einreihen, welche sich un-
mittelbar auf die Genealogie des lateinamerikanischen Diktatorenromans bezie-
hen lassen. Sein Blickpunkt war vielmehr umfassenderer Art: Es ging ihm
darum, gesellschaftliche Systeme überhaupt in ihrer Gänze besser zu verstehen.
Dies gelang Sarmiento zumindest bezüglich seiner eigenen Laufbahn recht gut,
wurde er später doch Präsident der post-diktatorialen argentinischen Republik.
Dazu aber musste er sich notwendig mit den autoritären Auswüchsen beschäfti-
gen, die sich nach der Befreiung vom spanischen Kolonialismus überall in sei-
nem Heimatland breit gemacht hatten.
Sarmiento kann für die argentinische Literatur als das bezeichnet werden,
was Goethe für die deutsche darstellt: Die jeweilige Literatur ist schlicht un-
denkbar ohne diese Schriftsteller und Autornamen. Denn Sarmiento gelang es,
literarische wie gesellschaftliche Begrifflichkeiten zu definieren, um welche die
Geisteswelt in Argentinien wie auch in anderen Teilen Lateinamerikas kreisen
sollte und – zumindest mit Blick auf Argentinien – zum Teil bis heute kreist.
Dazu gehörten zweifellos seine Deutungen von argentinischen Figuren wie dem
Gaucho oder dem „Rastreador“, dem Fährtenleser in den Weiten der Pampa,
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-016
Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes 463
1 Vgl. hierzu das Sarmiento gewidmete Kapitel im vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ott-
mar: Romantik zwischen zwei Welten (2021), S. 627 ff.
2 Vgl. Sarmiento, Domingo Faustino: Facundo o Civilización y Barbarie. Mexico, D.F.: SEP/
UNAM 1982, S. 326.
Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes 465
dass dieser dynamische Prozess nicht zum Erliegen kommt. Facundo ist also ein
Stück Exilliteratur, eine Art vertriebene, besser noch ausgetriebene Literatur, die
sich zugleich auf intensivste Weise mit der Gewalt im eigenen Herkunftsland be-
schäftigt. Es ist daher alles andere als ein Zufall, dass sich diese Literaturen mit
der Entstehung politischer Gewalt und der Festigung autoritärer gesellschaftlicher
Strukturen von jeher kreativ auseinandersetzten.
Doch noch einmal zur Außerhalbbefindlichkeit des Textes: Diese ist Grund-
lage der Konstituierung, der gesamten Konstruktion des literarischen Kunst-
werks. Sie verweist auf das Exil wie auf das Schreiben nicht nur außerhalb
Argentiniens, sondern auch außerhalb Europas. Das Faszinierende an Sarmi-
entos Text besteht darin, dass er sich mit beiden ‚Exilierungen‘ höchst kreativ
auseinandersetzt und die Frage der transatlantischen Transplantation von Wis-
sens- und Schreibformen gerade auch aus Europa immer wieder zum Thema
macht.3 Sarmiento ist – wie es die Motti der einzelnen Kapitel in seinem Fa-
cundo dokumentieren – an den Literaturen Europas ausgerichtet, ja hängst von
diesen ab; zugleich aber schreibt er von außerhalb Europas und transformiert
jene Modelle, an welchen er sein eigenes Schreiben ausrichtet. Diese doppelte
Außerhalbbefindlichkeit gilt es im Folgenden nicht zu vergessen.
Ein weiteres wichtiges Element tritt hinzu: Das Ich hat aus der exterritoria-
len Position in Chile heraus die Möglichkeit erkannt, die Strahlen der Freiheit
über alle Grenzziehungen hinweg in Buchform auszustrahlen und damit auch
in seinem Heimatland für die Ideen der Freiheit zu werben. Dies bedeutet nicht
allein, dass das Argentinien der Rosas-Diktatur mit der Finsternis von Tyrannei
und Barbarei konnotiert wird, sondern dass die Möglichkeit einer sich auf
Druckerzeugnisse stützenden Aufklärung von außen her gegeben ist und auf
Erfolg hoffen darf. Sarmiento glaubt an die gesellschaftsverändernde Kraft und
Macht der Literatur sowie an ihr Vermögen, das Bessere im Menschen zum Vor-
schein zu bringen. Ist die Pressefreiheit in Argentinien auch außer Kraft gesetzt,
so ist es doch möglich, über die Presse Chiles zu agitieren und der Diktatur von
Juan Manuel de Rosas Schaden zuzufügen. Von diesem Grundvertrauen in den
Fortschritt4 und in die Ideale der Aufklärung, welche die Führer der Inde-
pendencia beflügelten,5 werden Domingo Faustino Sarmientos Texte getragen.
Wenige Monate vor Erscheinen des Facundo war ein Rosas-Gesandter im
Jahr 1845 nach Santiago de Chile gekommen, um unter anderem die Überstel-
3 Vgl. zur Transplantation u. a. Ette, Ottmar / Wirth, Uwe (Hg.): Kulturwissenschaftliche Konzepte
der Transplantation. Unter Mitarbeit von Carolin Haupt. Berlin – Boston: Walter de Gruyter 2019.
4 Vgl. hierzu Rodríguez Pérsico, Adriana: Un huracán llamado progreso. Utopía y autobiogra-
fía en Sarmiento y Alberdi. Washington, D.C.: OEA 1996.
5 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Aufklärung zwischen zwei Welten, S. 241 ff.
466 Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes
6 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden
Schreibens in Europa und Amerika. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001.
7 Vgl. zur literarischen Darstellung der Gewalt die gelungene Potsdamer Habilitationsschrift
von Lenz, Markus Alexander: Die verletzte Republik – Erzählte Gewalt im Frankreich des
21. Jahrhunderts (2010–2020). Habilitationsschrift Universität Potsdam 2021.
Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes 467
Du schrecklicher Schatten, Facundo, ich rufe Dich auf, damit Du den blutigen Staub, der
Deine Asche bedeckt, abschüttelst und Dich erhebst, damit du uns das geheime Leben
und die inneren Konvulsionen erklärst, welche die Eingeweide eines edlen Volkes zerrei-
ßen! Du besitzt das Geheimnis: Decke es uns auf! Zehn Jahre noch nach Deinem tragi-
schen Tode sagten der Mensch der Städte und der Gaucho der argentinischen Ebenen
beim Einschlagen unterschiedlicher Wege durch menschenleere Gebiete: „Nein!; er ist
nicht tot! Er lebt noch immer! Er wird kommen!“ Gewiss! Facundo ist nicht tot; in den
Traditionen des Volkes, in der Politik und den Revolutionen Argentiniens ist er lebendig;
in Rosas, seinem Erben, seiner Ergänzung; seine Seele ist in diese andere, vollendetere,
vervollkommnete Form übergegangen, und was bei ihm bloßer Instinkt, Initiation, Ten-
denz war, verwandelte sich bei Rosas in System, in Wirkung und Endzweck. Die ländli-
che, koloniale und barbarische Natur verwandelte sich in dieser Metamorphose in Kunst,
in System und reguläre Politik, fähig dazu, sich vor dem Antlitz der Welt als Seinsweise
eines Volkes zu präsentieren, das sich in einem Manne verkörpert, welcher die Züge eines
Genies anzunehmen strebte, das die Ereignisse, die Menschen und die Dinge beherrscht.
Facundo war provinzlerisch, barbarisch, mutig, kühn und ward ersetzt durch Rosas, den
Sohn des gebildeten Buenos Aires, ohne selbst gebildet zu sein [...].8
Mit dieser Passage haben wir einen der berühmtesten Anfänge eines literari-
schen Meisterwerks in Lateinamerika vor uns. Dieses Incipit macht auf das zen-
trale Geheimnis, auf das zu lösende Rätsel aufmerksam, dem sich der Text
zuwenden wird. Zugleich gibt es auf dieses enigmatische Problem auch schon
eine erste Antwort. Diese ist der Verweis auf eine figurale Deutung9 der argenti-
nischen Geschichte, in welcher sich die Figura des Caudillo immer wieder
durchpaust und sich noch in seinen Erben zu erkennen gibt.
An diesem Incipit beeindruckt nicht zuletzt die Sprache und das Sprachre-
gister, welches Sarmiento für seinen Textanfang bewusst wählt. Denn in weni-
gen Zeilen hat Domingo Faustino Sarmiento meisterhaft die Konzeption seines
Hauptwerks angelegt in einer Sprache, die der Gewalttätigkeit der von ihm dar-
gestellten Szenen in nichts nachsteht. Die trotzige Anrufung des schon ein gan-
zes Jahrzehnt lang toten Caudillo, der laute Ruf ins Totenreich gilt einer Gestalt,
die im Besitz eines Rätsels und seiner Lösung ist. Denn Facundo sei nicht gestor-
ben, sei nicht tot: Er lebt und wirke noch immer stark auf die argentinische Ge-
schichte ein. Das Rätsel des argentinischen Volkes erscheint dann als lösbar,
wenn man Facundo als den Schlüssel zu einer wahrlich verzwickten Geschichte
ansieht, die freilich Wiederholungscharakter besitzt. Es handelt sich um eine Ge-
schichte politischer Verführungen – so meine ich –, die in vielerlei Hinsicht auch
heute noch immer nicht zu Ende ist. Denn auf rätselhafte Weise bleibt die Figura
des Gewaltherrschers in Argentinien geschichtlich präsent.
Facundo ist vordergründig die zentrale Figur des Textes – und doch nur ein
Stellvertreter. Dem gesamten polymorphen, vielgestaltigen Text liegt eine in
ihren Bann ziehende Rätselstruktur zugrunde, die den Spannungsbogen von
diesen ersten Zeilen der Einleitung her bis zum Ende des Bandes spannt. Fa-
cundo besitzt das Geheimnis; doch allein der Ich-Erzähler kann ihn zum Spre-
chen bringen. Aber wird dieser Gewaltherrscher, wird dieser ‚kleine‘ Diktator
sich auch zum Sprechen bringen lassen?
Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes 469
Eben hierin liegt die Aufgabe dieses erzählenden Ich, das gerade aus der
räumlichen Entfernung des Exils wie der zeitlichen Entfernung zum toten War-
lord jene Konzeptionen entwickeln will, die Licht in die Finsternis der argentini-
schen Geschichte zu bringen versprechen. Denn ohne eine genaue Kenntnis
dieser Geschichte, so der Erzähler, kann Argentinien sein Rätsel nicht lösen und
sich aus seiner eigenen Historie befreien. Nur wer das Rätsel zu lösen versteht,
kann aus dieser figuralen Vergangenheit ausbrechen. Und eben hier liegt die
Aufgabe der Literatur: Sie muss jenes Experimentierfeld, jenes Labor bilden, in
welchem der Bann gelockert und gelöst werden kann. Sarmiento traut dies der
Literatur zu – aber hat es Argentinien jemals geschafft? Hat es in Perón, in Evita,
in Maradona nicht immer die Heilsbringer gesehen? Es gibt Völker – und ich
nehme das deutsche nicht aus –, die immer wieder gegen ihre eigene Geschichte
ankämpfen müssen. Argentinien bildet da sicherlich keine Ausnahme…
Doch welche Rolle spielt Facundo? Er ist gestorben, dies ist für Sarmiento
gewiss, doch gleichzeitig lebt er weiter – in den Legenden und Erzählungen des
Volkes, jenen „tradiciones populares“, als seinen ‚tragischen Tod‘ überlebender
‚Held‘. Während sich Esteban Echeverría als Romantiker nur vorsichtig hin auf
diese volkskulturellen Traditionen öffnet, geht Sarmiento schon zu Beginn auf
sie ein, da sie ihm als Anknüpfungspunkt seines für die argentinische Ge-
schichte und Literatur so wichtigen Bandes dienen. Hieran lässt sich die spezi-
fische Sensibilität der Romantiker – auch Domingo Faustino Sarmiento zählt zu
ihnen – für die „tradiciones populares“ erkennen. Es sind bei den Romantikern
in Amerika nicht allein europäische Märchen, Legenden oder Sagen, sondern
auch eigene, amerikanische Formen von „Leyendas“ und „Tradiciones“, auf
denen die literarische Bearbeitung aufbaut und aus denen sich diese romanti-
sche Literatur in den Amerikas speist. Sarmientos Erzähler kann und darf die
volkskulturellen Aspekte nicht aus dem Blick verlieren, will er das Rätsel um
die Gewalt in Argentinien einer Lösung zuführen. Sein Vertrauen in die Macht
der Literatur ist groß.
Die Biographie eines Mannes und Caudillos ist für Sarmiento folglich kein
Selbstzweck; sie soll vielmehr die Geschichte eines ganzen Volkes erhellen. Die
literarische Erforschung von Facundos Biographie ist notwendig, und doch be-
sitzt sie ihr Ziel nicht in sich selbst: Sie ist in Ermangelung einer eigenen argen-
tinischen Geschichtsschreibung auf die politischen Zusammenhänge gerichtet,
welche die Geschicke des Landes bestimmten und bestimmen. In diesem größe-
ren historisch-kulturellen Zusammenhang ist Facundo nur eine Gestalt, hinter
der sich eine andere verbirgt: Hinter dem Caudillo der argentinischen Llanos,
der argentinischen Pampa, verbirgt sich der Diktator, der in der Stadt Buenos
Aires Einzug gehalten und seine Diktatur errichtet hat. Im Aufstieg eines einzel-
nen Warlords lässt sich der systematische Aufstieg der Rosas-Diktatur im gan-
470 Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes
zen Land studieren. Zwischen Facundo und Rosas besteht auf den ersten Blick
ein synekdochisches Verhältnis. Und allein mit Hilfe der Literatur kann es ge-
lingen, diesem figuralen Verhältnis näherzukommen.
Zugleich liegt dem Text eine grundlegende Metonymie, eine Verschiebung
zu Grunde: Wenn von Facundo die Rede ist, ist stets auch Rosas mitgemeint.
Eine politische und historische Entwicklung hat stattgefunden, welche in der
Struktur der argentinischen Gesellschaft selbst angelegt ist: Die Instinkte Fa-
cundos sind zum kühlen Kalkül von Rosas geworden, aus der planlosen Ge-
waltherrschaft ist ein System geplanter Unterdrückung und Ausplünderung
entstanden. So ist es im Grunde Juan Manuel de Rosas, dem die kraftvoll-
gewaltige Sprache dieses großen argentinischen Schriftstellers gilt. Denn was
bei Facundo Instinkt war, sei nun bei Rosas System. Und dieses System der Ge-
walt soll in seiner Entstehung und vor dem Hintergrund der historischen Ent-
wicklung mit den Mitteln der Literatur analysiert werden.
Gerade die historische Entwicklung der Gewalt wird zu einer Obsession des
argentinischen Schriftstellers. Die Beziehung zwischen Facundo Quiroga und
Juan Manuel de Rosas ist geschichtlich betrachtet jene des Übergangs zwischen
der Kolonialzeit unter spanischer Herrschaft und der politisch unabhängigen
argentinischen Republik – allerdings nicht im Sinne eines dialektischen Über-
gangs, sondern eher im Sinne eines Fortlebens des Kolonialen in der Inde-
pendencia und den neugeschaffenen politischen Strukturen. Man darf sich den
Beginn der argentinischen Republik nicht – wie er in manchen Geschichtswer-
ken und Schulbüchern dargestellt wird – als strahlenden Neuanfang im Zeichen
der Unabhängigkeit vorstellen, sondern als blutigen, von inneren Kämpfen zer-
rissenen Nationenbildungsprozess, der lange Jahrzehnte gewalttätiger Ausein-
andersetzungen beinhaltete.10 Das koloniale Erbe, so darf man die Passage aus
Sarmientos Facundo sehr wohl deuten, lebt in der Gegenwart, in der Rosas-
Diktatur fort und ist keineswegs ausgerottet. Damit gibt es selbstverständlich
auch eine Verantwortung für diese Gewalt bei der ehemaligen Kolonialmacht
Spanien.
Wir haben es mithin deutlich mit einer postkolonialen Problematik zu
tun – wohlgemerkt nicht in der zweiten Hälfte des 20., sondern im entstehen-
den Lateinamerika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die große Mehrzahl
der Postcolonial Studies nimmt diesen zeitlichen Unterschied kaum zur Kennt-
nis. Ich beziehe mich daher auch weniger auf jene Studien, wie sie in den Ver-
einigten Staaten von Amerika institutionalisiert wurden und übrigens kaum
10 Vgl. zur Geschichte Argentiniens u. a. Bodemer, Klaus / Oagni, Andrea / Waldmann, Peter
(Hg.): Argentinien heute. Politik – Wirtschaft – Kultur. Frankfurt am Main: Vervuert 2002.
Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes 471
einmal die neokoloniale Rolle der USA selbst kritisch beleuchten. Vielmehr
greife ich auf lateinamerikanische Theoretikerinnen und Theoretiker zurück,
die anders als etwa Walter Mignolo – der freilich aus den Postcolonial Critics in
den USA deutlich herausragt – in Lateinamerika geblieben sind. Im mexikani-
schen Exil Néstor García Canclinis, im Argentinien einer Beatriz Sarlo oder im
Chile der Ana Pizarro – um nur diese drei großen Figuren lateinamerikanischer
Theoriebildungen herauszugreifen – haben sie ihre wichtigen Untersuchungen
vorgelegt.
In den an seine Leserschaft gerichteten, den Band begleitenden Erläuterun-
gen betont Domingo Faustino Sarmiento, dass er das Werk zwar in Eile ge-
schrieben habe, die dargestellten Gegenstände aber anhand von Dokumenten
nachprüfbar seien. Sein Text gibt dazu selbst wichtige intertextuelle Hinweise.
Einmal mehr übernimmt die Literatur Funktionen, die sie in Ermangelung einer
ausgebildeten, institutionalisierten und verantwortlichen Geschichtswissen-
schaft ausüben muss. Damit wird – was geradezu selbstverständlich wirkt –
Abbildanspruch, ja fast dokumentenhafte Treue gegenüber dem Gegenstand
behauptet: Für seine experimentelle Laboruntersuchung zur Entstehung von
Gewalt zieht Sarmiento alle ihm verfügbaren relevanten Dokumente heran. Ist
Sarmientos Facundo nicht allein die Biographie eines Caudillo sondern mehr
noch ein Geschichtswerk über das Ende der Kolonialzeit und den Beginn einer
politischen Unabhängigkeit am Río de la Plata?
Fassen wir einige der bislang berührten Punkte zusammen, so ist Sarmientos
Facundo zweifellos eine Biographie des Titelhelden, besitzt aber auch autobio-
graphische Elemente, die auf den ins Exil geflüchteten Autor selbst verweisen.
Diese autobiographischen Details und Aspekte hat Sarmiento bisweilen liebevoll
ausgestaltet. Es handelt sich zudem um die mit literarischen Mitteln durchge-
führte Auferweckung eines Toten aus dem Jenseits und eine nur so – auf detail-
lierte Weise – zu entwirrende Rätselstruktur. Beim Toten handelt es sich freilich
um einen, der nicht wirklich tot ist, sondern fortlebt in all den Strukturen, die
sich aus seinem Leben, die sich aus seinem Handeln heraus bildeten. Auch die-
ser Fokus auf einen gleichsam lebendigen Toten darf man mit guten Gründen als
eine Obsession Sarmientos – und vielleicht seine größte – bezeichnen. Denn
nicht immer, so Sarmientos Gedanke, beendet der plötzliche Tod, die „mors
repentina“, das Werk eines Menschen.
Doch versuchen wir, in Fortführung dieser Anmerkungen weitere literarische
Gattungsmerkmale dieses Textes herauszuarbeiten! Denn gleichzeitig handelt es
sich um einen Text mit fast dokumentarischem Anspruch, der mimetisch be-
stimmte Funktionen einer historiographischen Darstellung erfüllt. Facundo ist
keineswegs nur die Geschichte eines Menschen, sondern die einer in Entstehung
befindlichen und emergierenden Nation. Noch in den beigefügten Anmerkungen
472 Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes
wird auf einen späteren Zeitpunkt verwiesen, zu dem dieses Werk in einen neuen
Plan umgeschmolzen werden solle, innerhalb dessen die zahlreichen Digressio-
nen und Abschweifungen verschwinden sollten und offizielle, dereinst zugängli-
che Dokumente eingeblendet würden. Diese genrespezifische Zuordnung zur
Gattung der Historiographie ist folglich gerade mit Blick auf die weitere Entfal-
tung des Textes wichtig.
Noch aber sei der Zeitpunkt, so der argentinische Verfasser aus dem Exil,
nicht reif für ein solches geschichtsphilosophisch und realgeschichtlich unter-
mauertes Werk; noch sei die Rosas-Diktatur zu nahe, zu präsent, als dass man
sie aus der distanzierten Beobachterperspektive des Historikers betrachten
könnte. José Mármol wird in seinem für die Zeit grundlegenden Roman Amalia
die narrative Position des Erzählers in eine um Dekaden spätere Zukunft verle-
gen, um aus dieser fiktional erzeugten Distanz das Geschehen der Rosas-Diktatur
so portraitieren zu können, als handle es sich um eine längst abgeschlossene
Vergangenheit.11 Man könnte in diesem Fall nicht von einer vergangenen Zu-
kunft,12 sondern historisch wie erzähltechnisch von künftiger Vergangenheit
sprechen.
Domingo Faustino Sarmiento selbst konnte sich auf eine solch distanzierte
Beobachterperspektive nicht zurückziehen und war vielmehr direkt betroffen.
Daher nahm er eine militante Teilnehmerposition ein, welche diesen Text zur
Waffe im Kampf gegen die Diktatur in Argentinien machte. Letztere sah Sarmi-
ento auch im Ausland als gefährlichen Feind des an der Macht befindlichen
Diktators an; und als solchen verstand sich auch der Schriftsteller selbst. Die
Rosas-Diktatur täuschte sich nicht, als sie der chilenischen Regierung ihr Aus-
lieferungsgesuch unterbreitete: Sarmiento wuchs in der Tat im Exil zu einem
der gefährlichsten Gegner dieses autoritären Systems heran.
Der „Libertador“ Simón Bolívar hatte die Einzigartigkeit des in den spani-
schen Kolonien ausgebrochenen Kampfes um die Unabhängigkeit und zugleich
die absolute Vorbildlosigkeit wie Zukunftsoffenheit dieses Kampfes um die In-
dependencia betont. Auch in der Einleitung zum Facundo wird darauf verwie-
sen, dass all diese Voraussetzungen Elemente für eine ‚neue Welt‘ darstellten.
In diesem komplexen literarischen Werk wird jene neue Welt also nicht als
Erbe der Vergangenheit, sondern als in die Zukunft projizierte, sich in ihren
Umrissen noch nicht klar abzeichnende und an keinem Modell, keinem Vorbild
orientierte Welt verstanden; ein generationelles Epochengefühl, das wir bei vie-
11 Vgl. hierzu das José Mármol gewidmete Kapitel im vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette,
Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 659 ff.
12 Vgl. hierzu Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 21984.
Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes 473
len Zeitgenossen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem Subkonti-
nent beobachten können. Auch Sarmientos Facundo ist dieser Aufbruch zu
einer Reise ins Ungewisse eingeschrieben: Es ist die lateinamerikanische Vari-
ante des gerade erst entstandenen Zeitgefühls einer Moderne, welche nach dem
bitteren Triumph der Französischen Revolution, aber auch der Revolutionen in
den USA und auf Haiti die bisherigen geschichtlichen und gesellschaftlichen
Strukturen verlassen hat und keinem Vorbild mehr verpflichtet ist.
Sarmiento steht damit stellvertretend für seine Zeit – die Zeit, wie sie im
Westen abläuft, wie sie für das Abendland charakteristisch ist. Denn Latein-
amerika – und dies wird Sie vielleicht überraschen – zählt zum Westen, ist ein
Teil des Westens, zu dem wir doch die Vereinigten Staaten von Amerika so
selbstverständlich rechnen. Facundo drückt dieses generationell im Westen ver-
breitete neue Zeitgefühl hervorragend aus: Die Zukunft ist radikal offen: Es gibt
keine historischen Vorbilder, die Geschichte ist nicht länger „magistra vitae“:13
Alles muss von den Menschen selbst völlig neu gestaltet werden. So wie auch
Sie sich und wir alle uns angesichts der sich abzeichnenden und von Menschen
gemachten Klimakatastrophe fragen, was uns in Zukunft erwartet und welche
Mittel wir politisch und gesellschaftlich, wirtschaftlich und technologisch, kul-
turell und konvivenziell entwickeln müssen, um im Zeichen des Klimawandels
das Leben auf dieser Erde weiterhin lebenswert zu gestalten.
Es überrascht daher nicht, dass es wenig später im weiteren Fortgang des
Facundo heißt, der argentinischen Republik habe ein Alexis de Tocqueville ge-
fehlt, hatte der französische Essayist mit seiner 1831 unternommenen Reise
doch gerade versucht, die Zukunft der Demokratie in Frankreich dadurch auf-
zuhellen, dass er ihre Gegenwart in den Vereinigten Staaten untersuchte.14
Wenn es auch keine Vorbilder für die politische Entwicklung gibt, so geht Sar-
mientos Blick doch immer wieder nach Europa, mit dessen Schriftstellern sich
ein fein gesponnenes intertextuelles Netzwerk transatlantischen Zuschnitts er-
gibt. Europa ist keineswegs mehr Vorbild für die politische Entwicklung – da
kommen schon eher die Vereinigten Staaten von Amerika in Betracht; aber lite-
rarisch bleiben die Literaturen Europas für einen Schriftsteller wie Sarmiento
das Maß aller Dinge, auch wenn er gerade mit seinem Facundo in vielfältiger
Weise literarisches Neuland betrat.
13 Vgl hierzu Koselleck, Reinhart: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im
Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In (ders.): Vergangene Zukunft. Zur Semantik ge-
schichtlicher Zeiten, S. 38–66.
14 Vgl. hierzu ausführlich das entsprechende Kapitel in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei
Welten, S. 470 ff.
474 Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes
17 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 490 ff.
18 Vgl. hierzu Rodríguez Pérsico, Adriana: Un huracán llamado progreso. Utopía y autobiogra-
fía en Sarmiento y Alberdi. Washington, D.C.: OEA – OAS 1993.
476 Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes
Die politische Ausrichtung der Unitarier am Zentrum Buenos Aires wird aus
der gesamten Anlage des Landes abgeleitet. Alle schiffbaren Ströme und Flüsse
streben dem Río de la Plata zu. Daher leitet Sarmiento aus der naturräumlichen
Anlage Argentiniens eine zentralisierte Regierungsstruktur ab und bedient sich
somit geodeterministischer Argumentationsschemata, welche selbstverständlich
gegen die Föderalisten und die Rosas-Diktatur gerichtet sind. Im ersten Kapitel
prophezeit er Buenos Aires, dereinst die gigantischste Stadt beider Amerikas zu
sein und sich aus der „gran aldea“ in eine Metropole zu verwandeln, was im
Übergang zum 20. Jahrhundert dann tatsächlich als Vorstellung eingelöst wurde.
Das künftige Leben des gesamten Landes, so Sarmiento, hänge davon ab, die
auch für Transatlantiksegler schiffbaren Flüsse zu Leitlinien einer aufzubauen-
den Industrie zu machen.
Auch wenn Sarmientos Facundo in aller Eile geschrieben wurde: Sein gro-
ßer Versuch über die argentinische Identitätskonstruktion besitzt eine auf den
ersten Blick klare und stringente Grundstruktur, mit der wir uns kurz auseinan-
dersetzen wollen. Dabei steht die naturräumliche Ausstattung des Landes zu
Beginn seines Hauptwerks im Vordergrund. Die unermessliche Weite ist – wie
wäre es auch anders zu erwarten – das charakteristische Merkmal Argentiniens.
Die „Pampas“ bilden sein Kernstück; und daher sind deren Bewohner für seine
Konzeptionen auch so wichtig, hängt von ihnen doch das künftige Leben der
argentinischen Republik ab. Doch diese Weite ist zugleich Argentiniens Prob-
lem, ist das Land doch von allen Seiten vom „desierto“ umgeben: von men-
schenleeren Gebieten. Dass in diesen Weiten auch zahlreiche indigene Stämme
angesiedelt waren, interessiert den künftigen Präsidenten des Landes nicht:
Ihm geht es nicht um Integration und Konvivenz, sondern um möglichst rasche
Erschließung und Besiedelung.
Doch noch überall lauere in diesen Weiten der Tod: Der gewaltsame Tod
sei, so der Erzähler Sarmientos, fast zu einer Normalität im Leben, aber auch
im stoischen Charakter der Argentinier geworden. Ein gewaltvolles Ende sei
daher nichts Außergewöhnliches für Argentinier, die den Tod zu empfangen,
aber auch zu geben gewohnt seien. Der Gaucho verachte aber nicht nur den
Tod, sondern auch die Flüsse, die doch die wichtigste Gabe der Vorsehung für
eine Nation seien. Und nicht umsonst sind es gerade in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts europäische Reisende, die sich entlang der argentinischen
Flüsse einen Weg in die unbekannten Weiten des Kontinents zu bahnen versu-
chen; Unternehmungen, von denen Sarmiento ohne Zweifel wusste und die er
teilweise auch anführte. Diese zumeist europäischen, bisweilen aber auch US-
amerikanischen Reisenden sind die Vorboten einer Erschließung des Landes
und seines künftigen Lebens.
Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes 477
Das Landesinnere sei geprägt von einer deutlich asiatischen Färbung; ein
Thema, das im weiteren Verlauf des Buches immer wieder anklingt und die
Weiten Amerikas mit den asiatischen Weiten, die Gauchos mit den asiatischen
Reitervölkern in Beziehung setzt. Wie könnte man solchen Menschen die künf-
tige Entwicklung des Landes überlassen? Die argentinischen Weiten seien nicht
der Hort eines zivilisierten republikanischen Regierungssystems, sondern einer
Despotie nach asiatischem Vorbild.
Diese Abwertung des Ostens gehört zum Orientalismus, den Sarmiento aus
den europäischen Literaturen seiner Zeit entnahm.19 Es ist, als bewegten wir
uns mit Gustave Flaubert durch den Norden Afrikas oder mit Ernest Renan durch
die kleinasiatische Welt: Sarmiento orientalisiert die amerikanische ‚Wüste‘ nach
französischem Vorbild. Als Gegenbild zu dieser orientalisierenden Vision führt
der Erzähler des Facundo die schottischen und deutschen Einwandererdörfer ins
Feld, in denen alles geordnet zugehe, die Kühe beständig gemolken sowie Milch
und Käse produziert würden. Solche Einwanderer gelte es nach Argentinien zu
verpflanzen. Der Faulheit der Indianer, Spanier und Mestizen, der Zambos und
Mulatten wird der Fleiß und die Tüchtigkeit nord- und mitteleuropäischer Ein-
wanderer gegenübergestellt, die – so zeigt die Beschreibung – ihre europäischen
Erfahrungen in Amerika einbringen und das ganze Land voranbringen können.
Dies ist die Begründung der späteren Einwanderungspolitik, die Argentinien für
Millionen dem Hunger ausgesetzter Europäer zum Land der Träume machte.
Auch dies ist im Facundo schon angelegt.
Von den barbarischen Binnenräumen des Landes setzt sich umso deutlicher
die Stadt als Gegenbild ab: Sie ist das Zentrum der Zivilisation und beherbergt in
ihrer regelmäßigen Anlage alles, was die „pueblos cultos“ ausmache, die kulti-
vierten Völker. Sie müsste nur vor einer barbarischen Invasion durch Vertreter
des Landes – wie Facundo, aber auch Rosas – geschützt werden. Alle Attribute
der europäischen Zivilisation, von den Schulen bis zum Frack, seien an die
Städte, an die Stadtzentren gebunden. Die Gegensätze zwischen Stadt und Land
erscheinen dem Beobachter als so stark, dass er glauben könnte, es handle sich
um zwei verschiedene Völker, die nichts miteinander zu tun hätten. Denn der Zi-
vilisation der Stadt steht die Barbarei des Landes nahezu unvermittelt gegenüber.
Domingo Faustino Sarmientos These von der – um mit Ernst Bloch zu spre-
chen – Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und den zwei Zivilisationen auf ar-
gentinischem Boden wird im Facundo zeitlich zurückverfolgt, habe es vor 1810
in Argentinien doch zwei davon gegeben: Die eine sei spanisch-europäisch und
„culta“ gewesen, die andere barbarisch, amerikanisch und fast indigen. Das
19 Vgl. hierzu das Standardwerk von Said, Edward W.: Orientalism. New York: Vintage Books 1979.
478 Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes
Element des Barbarischen, des Gaucho, der sich zum Caudillo entwickelt, er-
scheint demzufolge in geradezu natürlicher Fatalität zu Beginn der Unabhän-
gigkeitskämpfe etwa im Gaucho und Heerführer Artigas, der die Frontstellung
zwischen Amerikanern und Spaniern bereits 1811 über den Haufen geworfen
und seinen eigenen Krieg mit eigenen, von ihm selbst gesetzten Zielen begon-
nen habe. Die Schlussfolgerung des Sarmiento’schen Textes ist eindeutig: Die
Städte triumphieren über die Spanier, aber das Land triumphiert über die
Städte. Dies macht es so schwierig, den Unabhängigkeitsprozess zu verstehen.
Denn mit dieser Argumentation wird ein dialektischer Prozess angedeutet,
aus dem zugleich hervorgeht, dass für den Erzähler – und wohl auch für Sarmi-
ento – die Independencia ein andauernder historischer Vorgang ist, der noch
nicht zu seinem wahren Ziel gefunden und noch nicht zu Ende gebracht ist. Der
erste Schuss, so heißt es im vierten und letzten Kapitel des ersten Teils, sei 1810
zu Beginn der argentinischen Revolution, ihr letzter aber noch nicht gefallen.
Damit wird der Kampf gegen Rosas zum notwendig siegreichen Kampf für die
Vollendung der Unabhängigkeit stilisiert: Die neue Generation trete gleichsam
in die Fußstapfen der Generation der Gründerväter und bekämpfe all jene, die
an die Stelle der alten Feinde getreten seien. Dies ist einer der zentralen Punkte
der Selbstlegitimation Sarmientos, aber auch der jungen argentinischen Gene-
ration der „Proscriptos“ überhaupt.
Die übermächtige Barbarisierung trifft aber laut der in Facundo angestell-
ten Überlegungen nicht nur Buenos Aires, sondern viel härter noch die Städte
des Landesinneren. In einer aufschlussreichen Passage des vierten Kapitels
wird fragebogenartig die Situation in La Rioja erfasst, wobei nicht nur die Ant-
worten eines gerade erst ins Exil Geflohenen, sondern vielleicht mehr noch die
Fragen Aufschluss über die ideologischen, geschichtsphilosophischen und kul-
turtheoretischen Prämissen Sarmientos geben. Gleichzeitig deutet sich ein wei-
teres Mal die gattungsmäßige, genrespezifische Vielfalt und Heterogenität des
Facundo an, wird im Folgenden doch eine soziologische Untersuchungsform
eingeblendet, welche Biographie, Autobiographie, geschichtsphilosophische
Abhandlung, Essay oder politisches Manifest ergänzt:
Die Ergebnisse der Fragen sind für den Fragesteller niederschmetternd. Zu-
gleich fühlt er sich in seiner Analyse bestätigt. All dies wird als Zeichen einer
ungemein rasch um sich greifenden Barbarisierung gedeutet. Dabei ist in die-
sem Fragebogen bemerkenswert, dass neben bestimmten sozialen und bil-
dungsspezifischen Indikatoren auch Aspekte bezüglich der Kleidung abgefragt
werden, so dass das Tragen eines nach europäischen Vorstellungen gefertigten
Fracks zum (An-)Zeichen europäischer Zivilisation wird. Das Ausbleiben von
Frackträgern wird dagegen als Symptom der Barbarisierung gedeutet.
Der „Sanjuanino“ Sarmiento kann dabei nicht umhin, auch seine Heimat-
stadt in dieses Panorama miteinzubeziehen, sei San Juan doch noch vor zwanzig
Jahren eine der gebildetsten, kultiviertesten Städte des Landesinneren gewesen.
Bereits 1831 aber seien viele nach Chile emigriert – zu diesen „nobles proscrip-
tos“ zählte auch Sarmiento selbst –, eine Emigrationswelle, die 1840 von einer
zweiten ergänzt wurde, der sich Sarmiento ein weiteres Mal zurechnen durfte.
In San Juan jedoch gebe es heute kein ständiges Theater mehr, auch gute Biblio-
theken seien sehr selten geworden. Der Erzähler streift auf diese eher beiläufige
Weise nicht nur autobiographische Details, die auf den textexternen Autor zu-
rückverweisen, er führt direkt als Ich-Erzähler bestimmte Elemente seiner eige-
nen Bildung und Erziehung ein, indem er diese Bibliotheken als jene Quellen
benennt, die ihn bis zum Jahre 1836 zur Verfügung gestanden und vorzugsweise
seine Bildung geprägt hätten.
Damit wird autobiographisch das Profil eines Autodidakten deutlich, der im
Übrigen sein Leben lang – auch noch als angesehener Literat – jenes Minderwer-
tigkeitsgefühl, jenes Gefühl der Unsicherheit zu verlieren trachtete, aus der Provinz
zu stammen und keine grundlegende festgefügte Erziehung genossen, sondern
sich als Autodidakt alles mehr oder minder zufällig und planlos angeeignet zu
haben. Denn „esas ricas, aunque truncas bibliotecas“21 bilden jene Folie, auf die
sich Sarmientos Facundo einschreibt, jenen Rahmen, innerhalb dessen der eigene
literarische Ort des argentinischen Literaten, Politikers und Kulturtheoretikers
sichtbar und beschreibbar wird.
Domingo Faustino Sarmiento ist nicht im kultivierten Buenos Aires aufge-
wachsen, er hat nicht jene Erziehung in Paris genossen, wie sie Esteban Echeverría
zwischen 1825 und 1830 zuteil geworden war. Er schreibt aus dem Landesinneren;
und er schreibt mit jenem „exceso de vida“, mit jenem Überschuss an Leben, den
er beim Eingreifen der Gauchos und Caudillos des „Interior“ in den Unabhängig-
keitskampf empfand. Sarmiento ist daher eine ganz besondere Figur innerhalb der
langen Reihe von Autodidakten, die bis zum Ende des Jahrhunderts, bis hin zu
José Enrique Rodó, das Rückgrat der hispanoamerikanischen Literaturen nicht nur
am Río de la Plata bilden.
Vor diesem autodidaktischen Hintergrund dürfen wir auch die literarische
Form sehen, die sein Schreiben sich schuf: keiner klaren Gattung folgend, kei-
ner von der europäischen Tradition sanktionierten Form huldigend, sondern an
den eigenen Zwecken orientiert. So schafft er jene literarische Form, die den ei-
genen Bedürfnissen und jenen seiner Leserschaft wohl am ehesten entsprach.
Facundo Quiroga ist laut Sarmiento ein Produkt der amerikanischen Barbarei,
aber Sarmientos Facundo selbst, sein Buch also, ist nicht weniger ein Produkt
jener Ungezügeltheit, jener alles Klassische, Homogene fliehenden Prägungen,
die dem Autodidakten Sarmiento seine Stärke, seine Faszinationskraft vermit-
telten. Sarmiento ist auch in dieser Hinsicht wie sein Erzähler die Fortsetzung
des von ihm so mit Hassliebe betrachteten „Cantor“, des volkskulturellen Sän-
gers und Gauchos.
Beeindruckend ist, mit welchen Worten der Erzähler Samientos die Größe
dieser auf dem Land angesiedelten (und vom Lande kommenden) Barbarei fei-
ert. Dies erinnert an jene poetischen Parameter und das dichterische Pathos,
mit denen der Chilene Pablo Neruda die Entstehung der amerikanischen Welt
in seinem Canto General beschwor. Hier zeigt sich die Widersprüchlichkeit
eines Denkens, das von der Größe der amerikanischen Natur und der in ihr auf-
keimenden Menschheit zutiefst fasziniert ist. Im Jahr 1838 will der Ich-Erzähler
an einer Szenerie beteiligt gewesen sein, die ihn an die primitiven Zeiten der
Welt noch vor Institutionalisierung einer Priesterkaste erinnert habe. Denn
1838 erlebt er – und dies ist ein weiteres autobiographisches Element – ein
gleichsam prähistorisches Gebet, das ihn ob seiner Vollkommenheit zum Wei-
nen gebracht habe, wurde doch vom Himmel ergiebiger Regen, Fruchtbarkeit
für die Herden und Schutz ihrer Bestände erfleht. Dies wirkt wie eine transhis-
torische Präsenz der Geburt einer Menschheit, die von allen Anfängen her in
diesen Weiten, dieser Natur Amerikas heimisch war und die Entstehung einer
Welt der Flüsse und des fruchtbaren Wassers bezeugte.
Die Reise ins Landesinnere ist für den Ich-Erzähler also eine Reise in die
Vergangenheit, nicht nur in diejenige des Ichs, sondern der Menschheit insge-
samt. Es ist wie in Alejo Carpentiers Los pasos perdidos eine Reise zu den An-
fängen, zu den Ursprüngen der Schöpfung wie der Zivilisation, die in den
Flussgabelungen einer vom Menschen noch nicht beherrschten Welt liegen
könnten – nur dass es diesmal nicht die Tiefebenen am Orinoco, sondern an
den Strömen sind, die zum Río de la Plata führen. Dies sind die „Arterien“, von
denen Pablo Nerudas Dichtung sprach. Reisen wird hier zur bewegbaren Zeit-
maschine, welche die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen erlebbar macht:
Prähistorie, Mittelalter, Moderne leben im selben Land miteinander vereint und
in unmittelbarer Nähe zu den Wilden, den „salvajes“. Es ist eine Welt, wie sie
auch ein Andrés Bello beschwor, in welcher die tropische Landwirtschaft ihren
Anfang nahm und in der alles von Fruchtbarkeit geprägt und erfüllt ist. So sehr
sich Sarmiento auch dem Fortschritt und allen Fortschrittsutopien der europä-
isch geprägten Zivilisation verschrieben haben mag: Fasziniert ist er doch von
der Größe einer Barbarei, die sich seit allen Zeiten noch immer in den Weiten
Argentiniens, in den Weiten Amerikas finden lässt.
Innerhalb dieser Welt der unermesslichen Pampa lebt der Gaucho, gleich-
sam ein ‚Landschaftselement‘, das sich noch über lange Jahrzehnte bis in die
zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein finden lässt – etwa in den Erzählun-
gen und Romanen von João Guimarães Rosa22 aus dem brasilianischen Sertão.
Seine Erziehung ist ganz auf körperliche Tüchtigkeit und Geschicklichkeit hin
ausgerichtet, sein Leben bewegt sich im Rhythmus der Herden, für die er Sorge
tragen muss. Er ist in dieser Welt der Herden Herr über Leben und Tod. Sarmi-
ento liefert in seinem Facundo ein beeindruckendes und das ganze Jahrhundert
prägendes Bild des Gaucho, in welchem keineswegs nur die Verachtung alles
Barbarischen, sondern auch ein Gutteil Bewunderung des in der Provinz aufge-
wachsenen „Sanjuanino“ mitschwingt. Hierin liegt der fundamentale und leben-
dige, dynamische Widerspruch der großen literarischen Schöpfung Sarmientos.
22 Vgl. hierzu Ette, Ottmar / Soethe, Paulo Astor (Hg.): Guimarães Rosa und Meyer-Clason. Li-
teratur, Demokratie, ZusammenLebenswissen. Berlin – Boston: Walter de Gruyter 2020; sowie
das dem brasilianischen Autor gewidmete Kapitel in Ette, Ottmar: Von den historischen Avant-
garden bis nach der Postmoderne, S. 773 ff.
482 Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes
Es ist diese Faszination für den Gaucho und speziell den „Gaucho malo“,
die noch in der Biographie des Facundo Quiroga zu spüren ist, welche den Kern
dieses nach dem argentinischen Caudillo benannten Hauptwerkes ausmacht.
Deren Held wird keineswegs nach einem chronologischen Schema mit seiner Ge-
burt eingeführt, sondern erscheint wahrlich spektakulär auf der Bühne des Ge-
schehens in einer Szene, die ihm selbst als ihn zutiefst prägend erschien. Denn
ein Gaucho rettet sich vor den Verfolgungen der Justiz ins „desierto“, in eine
menschenleere, menschenfeindliche Landstrecke zwischen San Juan und San
Luis. Er tut dies in der Hoffnung, bald von seinen Kumpanen erreicht zu werden,
die ihm das für die Flucht notwendige Pferd mitbringen sollen. Bald schon hört
man das schreckliche Brüllen eines furchterregenden Tigers, der seit längerem
die Gegend unsicher macht. Rasch wird aus der Flucht vor der Justiz die wesent-
lich gefahrvollere Flucht vor dem hungrigen Raubtier. Der Mann beginnt, um
sein Leben zu rennen…
In höchster Not rettet sich der Gaucho auf einen einzeln stehenden Baum,
in dessen schwankender Krone er zwar den Augen des herannahenden Raub-
tiers zwar nicht verborgen, wohl aber vor dessen Angriffen vorübergehend ge-
schützt bleibt. Der Tiger blickt den Gaucho mit blutunterlaufenen Augen, mit
seiner „mirada sanguinaria“, so intensiv an, dass die faszinierende Anzie-
hungskraft dieses Blickes den Geflüchteten schwächt. Zwischen Tiger und
Mensch ist ein Zweikampf entbrannt, in welchem zunächst die Vorteile auf der
Seite des ersteren liegen. Mensch und Tier, Auge in Auge, Tod oder Leben: hier
herrscht allein das Gesetz des Stärkeren!
Zum Glück für den Gaucho finden seine Kumpane nicht nur seine Spur und
jene des Tigers, sondern auch die beiden selbst vor, noch bevor es zum ent-
scheidenden Zweikampf zwischen dem Menschen und dem ihn verfolgenden
Raubtier gekommen ist. Unser nächstes Zitat mag erklären, warum das Buch so
attraktiv für zeitgenössische wie für spätere Leserschichten war und ist:
Das Raubtier versuchte einen ohnmächtigen Sprung: Es strich um den Baum herum, maß
dessen Höhe mit aus Blutdurst blutunterlaufenen Augen, brüllte schließlich aus Wut und
ließ sich dann auf dem Boden nieder, wobei es ununterbrochen mit seinem Schwanze
schlug und seine Augen fest auf seine Beute gerichtet hatte, während sein Maul leicht
geöffnet und trocken war. Diese grässliche Szene dauerte bereits zwei tödliche Stunden
lang; die mit Gewalt erzwungene Haltung des Gaucho sowie die erschreckende Faszina-
tion, welche der blutunterlaufene, unbewegliche Blick des Tigers auf ihn ausübte, von
dessen unbesiegbarer Anziehungskraft er seine Augen nicht abwenden konnte, hatten
angefangen, seine Kräfte zu schwächen, und so sah er den Augenblick schon nahe, in
dem sein erschöpfter Körper in das breite Maul des Tigers fallen würde, als ein noch weit
entferntes Geräusch galoppierender Pferde ihm die Hoffnung einflößte, sich doch noch
zu retten.
Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes 483
In der Tat hatten seine Freunde die Spur des Tigers gesehen und waren ohne Hoff-
nung, ihn noch zu retten, in die Richtung gerannt. Das verstreute Zaumzeug enthüllte
ihnen den Ort der Szene, und zu ihm hinzueilen, die Lassos zu entrollen, diese über den
Tiger zu werfen, der verpackt und verblendet vor Wut war, war das Werk von Sekunden.
Das von zwei Lassos niedergestreckte Raubtier konnte den wiederholten Messerstichen
nicht mehr entweichen, mit denen ihn aus Rache für seine lange Agonie jener durch-
bohrte, der das Opfer des Raubtiers hätte sein sollen. „Damals habe ich erfahren, was
Angst ist“, sagte General Don Juan Facundo Quiroga, als er einer Gruppe von Offizieren
diese Begebenheit erzählte.
So nannten sie ihn den Tiger der Ebenen, und dieser Ehrentitel stand ihm wahrlich
nicht schlecht zu Gesicht. [...]
Facundo Quiroga war das Kind eines Mannes aus San Juan von niederer Herkunft,
der als Anrainer der Ebenen von San Juan durch das Weiden seiner Tiere freilich ein ge-
wisses Vermögen aufgehäuft hatte.23
Wie Sie bei der Lektüre unschwer bemerken, wird uns in dieser Passage von
zwei Geburten erzählt. Sarmiento ordnet kunstvoll die Plots seiner Story so an,
dass er mit der zweiten Geburt seines Gaucho beginnt, von dem wir noch nicht
den Namen erfahren haben. Diese zweite Geburt ist eine Art Wiedererweckung
zum Leben, ja der Beginn eines zweiten Lebens, nachdem der Mann unter dem
Tigerblick mit seinem Leben fast schon abgeschlossen hatte. Die erste Geburt
wiederum wird – im Gegensatz zur Körperlichkeit der zweiten – auf ganz cha-
rakteristische Weise völlig unkörperlich als soziale Geburt präsentiert: Sie ist
letztlich eine Situierung in einer Herkunft, einer Genealogie, einer beruflichen
und finanziellen Filiation, die für den weiteren Werdegang des künftigen Cau-
dillo sicherlich wichtig ist. Die zweite Geburt aber wird die Dimension des Blu-
tes und des Blutdurstes in sein Leben bringen. Sie ist die Geburt der Gewalt,
eines Überlebenswissens, das in der oben dargestellten Szene auf eine harte
Probe gestellt wurde, aber schließlich mit der Ermordung des Feindes endete,
auf eine nicht weniger körperliche Art. Dass weder in der ersten noch in der
zweiten Geburt von einer Frau die Rede ist, scheint kein Zufall: Facundo, auf
den sich die Raubtierhaftigkeit des Tigers übertragen hat und der diesen Ehren-
titel mit Recht trägt, agiert in einer reinen Männerwelt, in welcher die Frauen
bestenfalls schöne Gegenstände oder Accessoires sind.
So also vermag Domingo Faustino Sarmiento zu schreiben! Der Autodidakt
steigert die Spannungsmomente seines Textes stets bis zum Höhepunkt. Der
„Gaucho malo“, der im Übrigen wie Sarmiento selbst aus San Juan kommt,
wird gerettet und gleichzeitig erstmals namhaft gemacht und mit seinem Rang
genannt: Es ist Facundo, der von nun an in das Geschehen dieses Textes tritt.
Aus der Stimme des Erzählers ist kunstvoll dessen Stimme geworden, der sei-
nen Offizieren von der sein Leben bedrohenden Anekdote erzählt. Aus dem von
der Justiz verfolgten Außenseiter wurde offiziell ein General, der die Geschicke
des Landes prägt und bestimmt. Bereits sein erster Auftritt ist verbunden mit
den Semen Feindschaft gegenüber der Zivilisation, Brutalität, Blut, Messer,
Kampf auf Leben und Tod, Zustechen ohne jedes Erbarmen.
Jedes Detail der Szenerie besitzt eine politische Bedeutung. Facundo tötet
den Tiger so, wie die Fleischhauer in Echeverrías El Matadero den Stier getötet
hatten: in körperlichem Kontakt und mit dem Dolch, dem Messer, dürstend
nach Blut. Dabei springt das Grausame des Raubtiers über auf die Grausamkeit
des Menschen – ganz so, wie der Name des Tigers auf Facundo übergeht. So
wie später der Blick Facundos jenem blutrünstigen Blick des Tigers gleichen
wird, der sein Leben einst bedrohte, wird er selbst gegenüber seinen Mitmen-
schen zu jenem Tiger, der blutrünstig immer neue Opfer fordert. Facundo reprä-
sentiert das Tierische, Animalische in Menschengestalt: Wie ein Tiger ist er
Herr über Leben und Tod.
Facundo verkörpert also den Tiger – auch sein Schädel gleiche dem der
Raubkatze –, verkörpert die amerikanische, die zivilisationsfeindliche Natur
und deren Prinzip von Kampf und Gewalt sowie das Recht des Stärkeren, der
sich überall gewissenlos durchsetzt. Die Biographie Facundos wird diese se-
mantische Ebene, diese Isotopie fortführen: Das vermeintliche Opfer wird selbst
zum Schlächter, bevor es seinerseits in diesem Kreislauf der Gewalt wieder zum
Opfer wird. Lässt sich ein derartiger Kreislauf überhaupt unterbrechen?
Facundos Aufstieg scheint unaufhaltsam. Durch militärische Erfolge, ge-
lungene Mordanschläge und geschicktes Taktieren gelingt es dem aufstreben-
den Heerführer, sich 1835 zum Herrscher über die Stadt La Rioja und ihre
gesamte Region zu machen. Er kämpft in einer Welt, in welcher noch die Ge-
schlechterkämpfe des italienischen 12. Jahrhunderts toben. Dem Kampf für die
Independencia schließt er sich an, aber ohne deren Ideale zu teilen. Zerstörung
und ungebremste Habsucht sind neben Gewalttätigkeit die Merkmale seiner au-
tokratischen Herrschaft: Insoweit kann man auch nicht davon sprechen, dass
Facundo regiert. Er verwandelt vielmehr in der Folge La Rioja in eine Kriegsma-
schinerie für die Durchsetzung seiner eigenen autokratischen Ziele. In einem
politischen Argentinien, das bald in Federales und Unitarios zerfallen wird,
wählt er sich selbst und die von ihm ausgehende Gewalt als Ziel. Das Leben
dient nicht dazu, Freundschaften zu knüpfen und Liebe zu empfinden: Es dient
allein dazu, das Recht des Stärkeren durchzusetzen und Gewalt an die Stelle
der Konvivenz treten zu lassen. Das eigene Leben ist aus dem Sterben der Ande-
ren gemacht.
Ich sollte vielleicht noch einmal daran erinnern: Sarmientos Text heißt
nicht im Untertitel „Civilización o Barbarie“, sondern Civilización y Barbarie!
Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes 485
Wir haben es nicht mit einem simplen Gegensatz zwischen Zivilisation und Bar-
barei, sondern mit einer wechselseitigen Überlappung zu tun, in der zivilisato-
rische Elemente abrupt in Barbarei umschlagen können und die Barbarei auf
dem Land eine Zivilisation hervorbringt, die in ihrer volkskulturellen Bestim-
mung den aus der Provinz stammenden Erzähler noch immer in ihren Bann
schlägt. So ist es ein Bild von Zivilisation und Barbarei, das sich der Leserschaft
Facundos bietet: Beide Terme sind in einen dialektischen Prozess eingebunden,
der sich seit dem Beginn des Kampfs um die Unabhängigkeit der ehemals spa-
nischen Kolonien gewalttätig zugespitzt hat.
Facundo ist ohne jeden Zweifel ein literarisches Lehrstück über die Formen
und Normen autoritärer und totalitärer Herrschaft. Daher gehört dieser Text
auch in eine Geschichte des lateinamerikanischen Diktatorenromans. In den
narrativen Ablauf, die Lebensgeschichte Facundo Quirogas, sind mit schöner
Regelmäßigkeit extensive Passagen diskursiver Prägung eingeschaltet, die es
dem Erzähler erlauben, die dargestellten Ereignisse zu kommentieren, einzu-
ordnen, auf die damalige Aktualität und den eigenen politischen Kampf zu be-
ziehen. Zugleich wird so aber auch ein Geschichtsmodell entworfen, das von
der Ebene der kleinen Geschichte her ständig wieder neu angestoßen wird. Die
Nation wird zur Narration,24 die ihrerseits eine Diskursivität schafft, welche Ge-
schichte als in Bewegung befindliches Objekt vorführt. Ebenso der politische
Diskurs wie die erzählerische Narration sind aufs Engste mit der argentinischen
Nation und ihrem historischen und zeitgenössischen Nationenbildungsprozess
verbunden.
Die gesamte Geschichte des Río de la Plata wird in die historische Figur
Facundo Quiroga und deren Biographie eingeblendet. In ihr erscheinen aber
nicht allein markante Elemente der Vergangenheit, sondern auch mögliche
Orientierungspunkte einer möglichen Zukunft. Die „sombra terrible de Fa-
cundo“ schwebt seit dem Eingangsteil des Textes über allem Geschehen und
befragt nicht allein Vergangenheit und Gegenwart, sondern prospektiv auch
die Zukunft der argentinischen Nation. Die Figur Facundos wächst so über
ihre konkrete historische Bedeutung hinaus: Sie wird zu einer mythischen Ge-
stalt und zu einer Figura, in welcher sich die figurale Deutung der argentini-
schen Gewaltgeschichte konkretisiert.
Folgen wir Sarmientos Analyse, so findet sich der Gaucho nicht nur auf Seiten
der Federales, sondern auch bei den Unitarios, nicht nur auf dem Lande, sondern
auch in der Stadt. Auch wenn sich der Erzähler immer wieder bemüht, Gegensätze
als diskurssteuerndes Prinzip einzuführen und damit mehr diskursive Klarheit zu
24 Vgl. Bhabha, Homi K. (Hg.): Nation and Narration. London – New York: Routledge 1990.
486 Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes
schaffen, erscheint gerade in den narrativen Passagen des Facundo doch immer
deutlich das Ineinanderwirken der Gegensätze, die dialektische Verknüpfung
aller Terme. Der Gaucho macht letztlich auch nicht vor Sarmientos Erzähler-
stimme Halt: Wie ein „Cantor“ beschwört er die argentinische Geschichte, die
er in unzähligen Anekdoten in erzählte, ja mehr noch in erlebte oder erlebbare,
nacherlebbare Geschichte verwandelt. Die zahlreichen Erzählungen, die in den
gesamten Text einmontiert sind, wirken wie Teile eines Diktatorenromans, von
dem uns stellvertretend und beispielhaft nur einzelne Episoden vorgestellt
werden.
Ich habe in meiner Vorlesung über die Romantik zwischen zwei Welten eine
derartige Episode analysiert,25 in welcher die romantisierende Darstellung einer
tropischen Natur in Tucumán mit einer kaltblütigen Erschießungsszene kon-
trastiert. Bei dieser genau kalkulierten Hinrichtung auf dem Hauptplatz von Tu-
cumán hält Facundo die Frauen der im Hintergrund exekutierten Männer bis
zum Ertönen der Salven mit harmlosen Worten hin und kostet diese Situation
im Grunde auf dieselbe Weise aus, wie in Mario Vargas Llosas La fiesta del
chivo Trujillo sich immer wieder seiner guten Umgangsformen bedient, um sich
von ihm begehrte Frauen gefügig zu machen. In diesen narrativen Passagen
sind die Formen und Normen des lateinamerikanischen Diktatorenromans be-
reits vorgeprägt.
Ich kann an dieser Stelle unserer Vorlesung nicht noch einmal auf jene Sze-
nerie eingehen, in welcher wir sicherlich einen der Höhepunkte von Sarmientos
Erzählkunst vor uns haben. Die wunderbare Tropennatur wird in ihrer Schön-
heit und Unschuld erst ausführlich beschrieben, bevor dann die Gewalt mit
aller Brutalität in die Schilderung einbricht26 und alles im Blut erstickt. Fa-
cundo inszeniert den Tod seiner Gegner als sicheres Katz-und-Maus-Spiel,
wobei er selbst die Rolle der Katze und damit des Tigers, des Raubtieres spielt,
das sich seiner Beute sicher ist. Und diese blutrünstige Gewalt ereignet sich
mitten in einer Welt, die als ein Eden dargestellt wird und in ihren exotisierend
beschriebenen Details paradiesisch wirkt. Doch mit dem Einbruch Facundos,
des „Gaucho malo“, ja des Teufels, wird dieses irdische Paradies zerstört.27 Die
Kontrasttechnik, die wir hier bei Sarmiento studieren können, wird auch jene
des lateinamerikanischen Diktatorenromans sein.
25 Vgl. hierzu den Abschluss des Sarmiento gewidmeten Kapitels im vierten Band der Reihe
„Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 653 ff.
26 Vgl. hierzu Sarmiento, Domingo Faustino: Facundo, S. 204 ff.
27 Vgl. zu dieser Thematik Ette, Ottmar: Konvivenz. Literatur und Leben nach dem Paradies.
Berlin: Kulturverlag Kadmos 2012.
Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes 487
sierenden First Nations. Dabei griffen sie bevorzugt auf die Gauchos zurück, die
in diesen Indianerkriegen als menschliches Brennmaterial und Kanonenfutter
verheizt wurden. Diese Form des kollektiven Todes und Völkermordes entwickelt
sich also aus der Kritik an der Gestalt von Facundo alias Rosas. Tatsächlich aber
führten die Gegner der Rosas-Diktatur die Indianer-Politik der Vorgängerregie-
rung nur noch mit größerer Anstrengung und wohl auch mit noch größerer Perfi-
die durch. Bezüglich dieses Genozids an der indigenen Bevölkerung gab es im
größten Teil des 19. Jahrhunderts eine bruchlose argentinische Politik.
Das Ende des zweiten Teils des Facundo erzählt von der Ausweitung der
Machtbefugnisse von Rosas, vom Verblassen des Einflusses von Quiroga und
schließlich vom grausamen Tod des ehedem so machtbewussten und siegessiche-
ren Caudillo. Dieser glaubt, seinem Mörder noch befehlen zu können, erhält aber
als einzige Antwort von seinem nicht weniger grausamen und ‚gauchesken‘ Mörder
eine Kugel ins Auge. Die eindrucksvolle Inszenierung dieses gewaltsamen Todes ist
im Buch von langer Hand vorbereitet und beginnt mit dem Abschied des Todge-
weihten Ende Dezember 1834 von der Stadt Buenos Aires, die Facundo nicht mehr
lebendig wiedersehen sollte.
Die Szenerie wird bewusst in einen historischen Rahmen gestellt und mit
dem Hinweis garniert, Facundo habe ähnlich wie Napoleon ein Vorgefühl des
Kommenden gehabt, als einst der französische Kaiser die Tuilerien in Richtung
Waterloo verließ. Der Erzähler bestreitet Facundo keineswegs geschichtliche
Größe. Erstmals seit der Episode mit dem Tiger taucht das Element der Angst,
genauer: der Todesangst Facundos auf, das in einem Selbstgespräch des Gau-
cho – vom Erzähler selbstverständlich mitgehört – zum Ausdruck kommt. Das
vektoriell nach vorne gerichtete Element der Angst,28 das in der Eingangsszene
des zweiten Teils bei der Verfolgung durch den Tiger in den Text gelangte, er-
scheint also noch einmal ganz am Ende von Quirogas Leben und rahmt gleich-
sam dessen zumindest literarische Existenz. Die narrativen Details des Plots
sind von Sarmiento höchst bewusst gestaltet.
Facundo Quiroga eilt seinem vorgegebenen Schicksal entgegen: Jedermann
habe in Córdoba gewusst, dass ein Anschlag auf den ehemals so mächtigen
Caudillo geplant sei. Auch Facundo weiß von diesen Absichten, weiß vom ge-
planten Mordanschlag, der in Barranca Yaco (nördlich von Córdoba) gegen ihn
ausgeführt werden soll. Doch verändert er selbstsicher seine Fahrtroute nicht,
verlangt nur immer nach neuen Pferden. Nichts kann ihn mehr aufhalten: nicht
28 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Angst und Katastrophe / Angst vor Katastrophen. Zur Ökonomie
der Angst im Angesicht des Todes. In: Ette, Ottmar / Kasper, Judith (Hg.): Unfälle der Sprache.
Literarische und philologische Erkundungen der Katastrophe. Wien – Berlin: Verlag Turia + Kant
2014, S. 233–270.
Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes 489
Er gelangt zum fatalen Ort, und zwei Salven durchbohren die Kutsche auf beiden Seiten,
ohne jedoch jemanden zu verletzten; die Soldaten werfen sich mit bloßen Säbeln auf sie,
und in einem einzigen Augenblick machen sie die Pferde unbrauchbar und hauen den
Pferdekutschenführer mitsamt seiner Gehilfen in Stücke. Jetzt streckt Quiroga seinen
Kopf heraus, und für einen Augenblick zögert die Horde. Er fragt nach dem Kommandan-
ten der Abteilung, sie lassen diesen sich nähern, und auf die Frage von Quiroga, „Was
hat das zu bedeuten?“, erhält dieser als einzige Antwort eine Kugel ins Auge, die ihn tot
niederstreckt.
Daraufhin durchbohrt Santos Pérez mit seinem Schwert mehrfach den unglückseli-
gen Sekretär und befielt nach erfolgter Hinrichtung, die ganze Kutsche voller Leichen
Richtung Wald zu kippen, zusammen mit den in Stücke gehauenen Pferden und dem Kut-
schenlenker, der sich mit gespaltenem Schädel noch immer auf dem Pferde hält. „Was ist
das für ein Junge?“, fragt er, als er den Postjungen erblickt, den einzigen, der noch am
Leben ist. „Das ist einer meiner Neffen“, antwortet der Sergeant der Abteilung; „ich hafte
für ihn mit meinem Leben.“ Santos Pérez geht zum Sergeanten und durchbohrt dessen
Herz mit einem Schuss, um danach vom Pferde zu steigen und mit einem Arm sofort den
Jungen zu ergreifen, zu Boden zu werfen und trotz des Wimmern des Kindes, das sich in
Gefahr sieht, zu köpfen.29
So also endet das Leben Facundo Quirogas: in einem Blutbad, das ein noch
grausamerer, noch unmenschlicherer, in kühler, rationaler Überlegung han-
delnder Gaucho anrichtet. In diesem gnadenlosen Tod des Facundo und aller,
die ihn begleiten, kommt bereits das Rationale, das Systemhafte der Diktatur
von Juan Manuel de Rosas zum Ausdruck. Aus Blickrichtung des Erzählers ist
all dies nur eine logische Folge, eine Konsequenz jener Wissensstruktur über
das Leben, die das eigentliche Rätsel von Facundo Quiroga und zugleich der
argentinischen Nation darstellt. Die brutale Gewalt, die vom Lande, von den
Gauchos, aber auch von der kolonialspanischen Vorgeschichte stammt, ergreift
Besitz von der ganzen Nation. Nicht ein einziger Mann vermag sich zu retten:
Selbst die Schergen dieser Mordtat werden sofort hingerichtet, sobald sie auch
nur aufmucken. Und wieder, wie schon bei Esteban Echeverría, ist auch ein
Kind unter den Hingemetzelten.
Mit dem Tod des Caudillo Facundo Quiroga am 18. Februar 1835 geht das
blutige Drama keineswegs zu Ende. Denn die Szene exzessiver Gewalt bildet le-
diglich den Auftakt für das Kommende. Es folgt die noch siebzehn weitere
lange Jahre andauernde Schreckensherrschaft von Juan Manuel de Rosas, der
neuen Verkörperung der Figura des Facundo.
So leitet der Erzählerdiskurs organisch vom zweiten über in den dritten Teil
des Facundo, mithin von dessen Biographie zum prospektiven politischen Dis-
kurs über das „Gobierno Unitario“, wie das erste Kapitel des dritten Teils über-
schrieben ist. Sarmientos Erzähler spannt den Bogen des von ihm Berichteten
bis zur Gegenwart, bis zur Forderung des im Auftrag von Rosas nach Chile ge-
reisten Baldomero García, der die Auslieferung der argentinischen Exilanten
und deren Überstellung fordert.
Der Aufbau des Machtapparats und des Terrorregimes, der „Mazorca“ und
der blutroten politischen Symbolik verrät viel über jene Mechanismen, die im
Verlauf des 20. Jahrhunderts im lateinamerikanischen Diktatorenroman fröhli-
che Urstände feiern werden. Sarmientos Analyse der Gewalt und deren Entste-
hung ist interessegeleitet, aber zutreffend und klug. Er nutzt alle Möglichkeiten
zur Erforschung des ‚Rätsels‘, welche die Literatur ihm bietet. In seinen ge-
schichtsphilosophischen Exkursen greift der Erzähler immer wieder auf franzö-
sische Historiker zurück, etwa in Bezug auf die erwähnte „Mazorca“, die mit
den Fleischhauern sowie ihrer Rolle in den Kämpfen zwischen den Herren von
Burgund und jenen von Armagnac und damit mit dem europäischen Mittelalter
verglichen wird. Sarmiento bleibt seiner Linie treu, die Brutalität und Men-
schenverachtung der aktuellen argentinischen Diktatur mit dem europäischen
Mittelalter in Verbindung zu bringen.
Die Nähe dieser diskursiven Ausführungen, die auf Passagen beruhen, wel-
che Sarmiento in der französischen Geschichtsschreibung fand, zu den Fiktio-
nen in Echeverrías El Matadero ist auffällig und zweifellos bemerkenswert. Ein
weiteres, wiederum mittelalterliches Beispiel für derartige Verknüpfungen zwi-
schen der argentinischen Gegenwart und dem mittelalterlichen oder frühneu-
zeitlichen Europa ist die Institution der Inquisition, die in den politischen
Registern fortlebt, die Rosas von jedem Bürger anlegen ließ. Alle Elemente des
Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes 491
Grauens – und vor allem das Messer, das ständige „degollar“ – werden aufge-
boten, um den Leserinnen und Lesern das passende Hintergrundgemälde für
die sich anschließenden Zukunftsvisionen zu liefern.
Einen Augenblick lang scheint es, als ob der Erzähler mit einer neuen Bi-
ographie, diesmal jener von Rosas, einsetzen wollte, dessen Kindheit in der
Folge in einigen wenigen Zügen entworfen wird. Autorität und Knechtschaft
unter der hochfahrenden Mutter sind dabei prägende Elemente für das weitere
Leben des künftigen Diktators. Über Rosas und zwei seiner Schwestern liege
gleichsam der Geist einer herrschsüchtigen Mutter. Die spätere Grausamkeit
und das teuflische Kalkül von Rosas gehen soweit, den öffentlich bedauerten
Mord an Facundo Quiroga dazu zu benutzen, Missliebige zu verdächtigen und –
wenn notwendig – umbringen zu lassen.
Letztlich aber, so die Erzählerfigur, führe die Rosas-Regierung nur zur Durch-
setzung der nationalstaatlichen Einheitsvorstellungen der Unitarier: Rosas selbst
schaffe die Voraussetzungen für das „Gobierno Unitario“ der Zukunft. Es erschei-
nen sogar Rosas‘ Pläne, das alte Vizekönigreich von Buenos Aires am Río de la
Plata mit Buenos Aires als Hauptstadt wieder aufleben zu lassen und dafür andere
Länder eingliedern zu wollen. Längst habe er sein begehrliches Auge auf Bolivien,
Paraguay oder die Banda Oriental geworfen, wobei gerade im letztgenannten Uru-
guay sein Einfluss recht gefährlich geworden sei – mit den entsprechenden Bedro-
hungen für die dortigen argentinischen Exilanten.
Diese amerikanischen Erörterungen leiten über zu allgemeinen weltpoliti-
schen Überlegungen des Erzählers, zu seiner Kritik an Frankreich, das teilweise
ohne „elevación de ideas“ handle, ohne ideelle Größe. Im zweiten und letzten
Kapitel des dritten Teils unterscheidet der Erzähler etwas später sogar deutlich
zwischen einem Frankreich der Macht und Regierung einerseits und einem
idealen und schönen Frankreich, das man in seinen Philosophen und Büchern
liebe. Der französische „bloqueo“ habe Rosas dazu gedient, sich zum Verteidi-
ger der amerikanischen Unabhängigkeit aufzuwerfen: ausgerechnet er, der laut
Erzähler Argentinien doch gerade aus der „gran familia europea“ ausgeschlos-
sen habe. Die dümmliche französische Blockade habe erstmals das ausgelöst,
was man als das eigentliche Gefühl des „Americanismo“ bezeichnen dürfe:
Alles, was barbarisch sei, alles, was uns vom kultivierten Europa trenne, sei
hier – so der Erzähler – zum Vorschein gekommen. Wir stellen also – vielleicht
nicht allzu überrascht – fest, dass der Begriff des „Americanismo“ in Sarmi-
entos Werk durchaus negative Züge tragen kann und nicht selten abfällig ge-
meint ist.
Sarmientos Erzähler konstatiert ein völliges intellektuelles Ausbluten unter
der Rosas-Diktatur. Jene Stadt, die sich einmal selbst als das amerikanische
Athen bezeichnete, Buenos Aires nämlich, sei längst ohne Forum, ohne Presse
492 Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes
Sich selbst zum Trotze wird sich dieser Staat erheben, auch wenn seine Schösslinge in
jedem Jahr folgen, weil die Größe des Staates in den Weidegründen der Pampa liegt; in
den tropischen Erzeugnissen des Nordens und im großartigen System schiffbarer Flüsse,
Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes 493
deren Aorta der Río de la Plata ist. Andererseits sind wir Spanier weder Seefahrer noch
Industrielle, und Europa wird uns noch für lange Jahrhunderte im Austausch mit unseren
Rohstoffen mit seinen Erzeugnissen versorgen; sie wie wir werden in diesem Austausche
gewinnen; Europa wird uns das Steuerruder an die Hand geben und uns solange flussauf-
wärts bringen, bis wir Geschmack an der Schifffahrt gefunden haben.30
In dieser Passage ist eine Vielzahl an Aspekten für uns von größtem Interesse:
Zum einen macht der Erzähler klar, dass er von der künftigen Größe seines
Landes, in welches er die Leserschaft miteinbezieht („nosotros“), zutiefst über-
zeugt ist. Diese Größe beruht nicht zuletzt auf der Pampa, dem eigentlich zivili-
sationsfeindlichen Element, wenn auch die beständige Idee der aufblühenden
Flussschiffahrt wiederum breitesten Raum erhält und die Ströme und Flüsse als
Leitbahnen künftiger Industrialisierung verstanden werden. Mit Leichtigkeit
ließen sich hier Verbindungen zu Alexander von Humboldts Vorstellungen her-
stellen, und zwar ebenso hinsichtlich der Wichtigkeit der Flussschiffahrt wie
auch bezüglich des künftigen Gleichgewichts zwischen dem europäischen und
dem amerikanischen Handel innerhalb des Systems eines sich herausbildenden
Welthandels.31
Domingo Faustino Sarmiento denkt wie der preußische Globalisierungs-
theoretiker an einen gleichgewichtigen transatlantischen Warenaustausch, bei
welchem die amerikanischen Rohstoffe mit europäischen Fertigprodukten aus-
getauscht werden und Europa den Argentiniern dabei hilft, ihr eigenes Land
zum Vorteil aller zu entwickeln. Der daraus beim Autor des Facundo resultie-
rende Fortschrittsoptimismus ist ungetrübt und übersieht zweifellos jene Ab-
hängigkeitsverhältnisse, die sich notwendig aus einem Handel allein auf der
Basis von Rohstoffen und Naturprodukten gegen Fertigwaren ergeben. Bei Sar-
miento trägt diese Vorstellung – aus politischen Gründen freilich nicht uninter-
essiert – deutlich utopischere Züge eines auf Jahrhunderte hinaus gesicherten
Austauschs europäischer Fertigprodukte und amerikanischer Rohstoffe; eine
Vorstellung, die sich bereits wenige Jahrzehnte später als irreführend erweisen
sollte, brachte diese Handelsasymmetrie doch neue Abhängigkeitsverhältnisse
hervor, welche den Weg Argentiniens und aller lateinamerikanischen Länder
durch das zurückliegende Jahrhundert begleiten sollten. Denn noch heute sind
letztere aufgrund ihrer Abhängigkeit von Rohstoffen wie Erdöl, Kupfer, Selte-
nen Erden oder Silber und trotz Erzeugung von Naturprodukten wie tropischen
Früchten, Kaffee oder Fleisch höchst verwundbar, da sie in ihrem Außenhandel
darum, deren Erfolge und Erfahrungen für das eigene Land fruchtbar zu ma-
chen. Dem Exil wird auf diese Weise eine überaus positive Leitfunktion für den
Aufbau der künftigen Gesellschaft zugeschrieben. Diese Vorstellung zeugt an-
gesichts der bereits zum damaligen Zeitpunkt so langen und schmerzlichen
Verbannung zahlreicher Argentinier von einer ungeheuren Willenskraft und
Überzeugungsstärke, das erträumte Argentinien der Rosas-Diktatur zum Trotz
künftig doch noch aufbauen zu können.
Ein zuversichtlicher, optimistischer Grundton ist es, der die letzten, auf ein
baldiges Ende der Diktatur hoffenden Seiten von Facundo prägt. Doch sollte es
noch sieben lange Jahre dauern, bis es tatsächlich zum gewaltsamen Sturz von
Juan Manuel de Rosas kam. Die Hoffnungen Sarmientos auf eigenen Machtge-
winn und die Lenkung des Landes erfüllten sich. Unerfüllt aber blieb sein
Wunsch, dass die figurale Konzeption der Geschichte, welche Facundo Quiroga
als Figura des Juan Manuel de Rosas in die Entwicklung Argentiniens einge-
speist hatte, mit der Niederschlagung der Rosas-Diktatur durchbrochen werden
konnte. Mit diesem Hinweis aber will ich unseren Durchgang durch die blut-
rünstige Geschichte Argentiniens und die literarischen Darstellungsformen von
Geburt und Tod in den Texten jener Region im 19. Jahrhundert abschließen. Fa-
cundo Quiroga, jenes Rätsel der argentinischen Geschichte, so steht zu befürch-
ten, ist noch immer nicht gänzlich gestorben und unter der Erde.
Rückblickend auf die Darstellung des Todes in jenen argentinischen Tex-
ten, mit denen wir uns in diesem Teil unserer Vorlesung näher auseinanderge-
setzt haben, könnten wir formulieren, dass der Tod zwar in seiner ganzen
Schrecklichkeit literarisch re-präsentiert und gerade mit Blick auf die unschul-
digen Opfer in seiner ganzen Absurdität als gewaltvoller, abrupter, plötzlicher
Tod (mors repentina) gezeichnet wurde. Selbst der Tod des Facundo gehorcht
letztlich diesem Paradigma, denn sein Leben endet mit einer letzten unbedarf-
ten Frage, auf welche die Kugel seines Mörders selbst die Antwort bildet – Dies
lässt keine weitere Diskussion mehr zu! Am Ende seines Lebens steht damit das
Enigma, die Frage, die am Anfang seiner Biographie stand, nur dass wir durch
den biographisch-literarischen Durchgang eine Reihe von Einsichten gewonnen
haben, warum diese Gewalttätigkeit in Argentinien eine so zentrale gesell-
schaftliche Rolle spielt. Domingo Faustino Sarmiento ist es mit seinem Facundo
gelungen, mit Hilfe literarischer Mittel auf die Spur der Gewalt in seinem Heimat-
land zu kommen und Aspekte dessen herauszuarbeiten, was man als Gründe für
den Gewaltdiskurs angeben muss. Gemeinsam mit Esteban Echeverrías El Mata-
dero bildet Facundo ein ausgezeichnetes Versuchsfeld für die schwierige Proble-
matik, wie eine Gewaltherrschaft in Argentinien entstehen konnte.
Vor diesem historischen Hintergrund aber könnten wir zugleich mit guten
Gründen behaupten, dass der Tod auch als etwas ungeheuer Vertrautes er-
496 Domingo Faustino Sarmiento oder das blutige Regime des Todes
scheint: dass den Tod zu geben heißt, eine geradezu vertraute, zumindest aber
gezähmte Handlung zu begehen, welche das Leben eines anderen Menschen
beendet. In beiden untersuchten Texten gibt es eine gewisse ‚Normalisierung‘
des Todes inmitten eines literarisch entfalteten Gewaltexzesses, der zu einem
wahren Blutbad führt. Auch wenn dies gewiss nicht für das Empfangen des
Todes gilt, könnten wir hierin jenen „gezähmten Tod“ erkennen, von dem Phil-
ippe Ariès in seiner Geschichte des Todes sprach. Ich möchte daher erneut den
französischen Kulturhistoriker und Todesforscher zu Wort kommen lassen:
Der Tod hat jedoch während nahezu zweier Jahrtausende allen Entwicklungsschüben wi-
derstanden. In einer von Veränderung geprägten Welt wie der unseren bietet die traditio-
nelle Einstellung zum Tode den Eindruck eines Walles von Trägheit und Kontinuität.
Unsere Alltagswirklichkeit hat diesen Wall inzwischen derart abgetragen, dass wir
sogar Mühe haben, ihn uns auch nur vorzustellen und begreiflich zu machen. Die alte
Einstellung, für die der Tod nah und vertraut und zugleich abgeschwächt und kaum fühl-
bar war, steht in schroffem Gegensatz zur unsrigen, für die er so angsteinflößend ist, dass
wir ihn kaum beim Namen zu nennen wagen.
Aus diesem Grunde meinen wir, wenn wir diesen vertrauten Tod den gezähmten
nennen, damit nicht, dass er früher wild war und inzwischen domestiziert worden ist.
Wir wollen im Gegenteil sagen, dass er heute wild geworden ist, während er es vordem
nicht war. Der älteste Tod war der gezähmte.32
Aus dieser Perspektive – und in Verbindung mit anderen Zitaten von Philippe
Ariès, die ich Ihnen im Verlauf der Vorlesung bereits angeführt habe – würde
Sarmientos Facundo mit Blick auf den Tod eine Art Scharnier- oder Übergangs-
stellung einnehmen. Wir finden in diesem autodidaktisch verfassten Text näm-
lich deutliche Spuren des gezähmten, des geradezu selbstverständlichen Todes
auf Seiten derer, die den Tod scheinbar erbarmungslos geben, als auch die wilde
Fratze des Todes, die Präsentation des angsteinflößenden Todes, wie er sich bei
Sarmiento vor allem bei jenen findet, die den Tod empfangen. Der gezähmte Tod
ist eine Sichtweise und mehr noch eine Praxis des Todes, wie ihn bei Sarmiento
die Gauchos geben, die vom argentinischen Autor ohnedies einer Welt des euro-
päischen Mittelalters in Amerika zugerechnet werden. Es überrascht im Zusam-
menhang mit einer solchen Logik nicht, dass sie – die im Umgang mit Vieh
Vertrauten – ebenso leicht den Tod geben können, so wie sie auch ihren eigenen
Tod akzeptieren.
Dies freilich ist die Sichtweise eines Argentiniers, der sicherlich nicht als
Gaucho zu bezeichnen ist. Es ist vielmehr der Blick von außen auf eine Tö-
tungs- und Todespraxis, die keineswegs dem eigenen Verständnis des Todes
entspricht. Wir dürfen daher festhalten, das in ein und derselben Gesellschaft
An dieser Stelle unserer Vorlesung will ich mit Ihnen gerne wieder auf die Zeit-
ebene von Mario Vargas Llosas La fiesta del chivo und auch in denselben diege-
tischen Kontext zurückkehren – in die Karibik! Auf den Antilleninseln hat es im
Verlauf der beiden letzten Jahrhunderte zahlreiche politische Systeme gegeben,
die autoritären Zuschnitts waren und welche die Geschicke ihrer jeweiligen In-
seln zum Teil nachhaltig geprägt haben. Zu diesen Inseln gehört zweifellos
auch die größte der Antillen, die Insel Kuba, wo 1959 eine Revolution erfolg-
reich abgeschlossen wurde, die ein Staatssystem autoritärer Ausrichtung schuf,
das sich auch heute noch – selbst nach dem Tod seines Revolutionsführers
Fidel Castro – erfolgreich an der Macht hält. Denn in diesem Sommer konnte
die Kubanische Revolution den immerhin zweiundsechzigsten Jahrestag ihres
Sieges über die Diktatur Fulgencio Batistas feiern und allen Protesten und Dis-
sidenten zum Trotz die repressiven Teile ihres Staatssystems weiter ausbauen.
Dass die Kubanische Revolution zugleich allen sehr konkreten Versuchen
der USA trotzte, sie seit langen Jahrzehnten durch ein umfassendes Embargo in
die Knie zu zwingen, gehört auch zur historischen Wahrheit und in den Kontext
der Geschichte einer Insel, die in einer Art Gegenbewegung zum Rhythmus des
Rests lateinamerikanischer Staaten lebt. Ich habe in meiner wissenschaftlichen
Arbeit seit meiner Dissertation über den Kubaner José Martí stets die Kontakte
zu Kuba offen gehalten und derzeit gemeinsam mit meinem an der Berlin-
Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten Akademien-
Vorhaben sowie verschiedenen kubanischen Stellen rund um die Casa Humboldt
gemeinsam mit Tobias Kraft ein Projekt auf den Weg gebracht, das jungen kuba-
nischen Forscherinnen und Forschern die Chance bieten soll, sich auf wissen-
schaftlichem Gebiet international weiterentwickeln zu können.
Dies sei unserer Beschäftigung mit einem Autor vorangestellt, der im Allge-
meinen als einer der heftigsten Widersacher des kubanischen Regimes gilt und
zu jenen Schriftstellern zu zählen ist, die niemals ihren Frieden mit dem autori-
tären System auf Kuba machten. Auch dies gehört zur ganzen Wahrheit um
Kuba und die Kubanische Revolution dazu; und mir scheint es unbedingt not-
wendig und erforderlich zu sein, das Regime auf Kuba aus verschiedensten
Blickwinkeln viellogisch zu betrachten und keinem politischen Alleinvertre-
tungsanspruch zu glauben.
So führt uns der Weg unserer Vorlesung denn zu einem der großen Schrift-
steller nicht nur der kubanischen, sondern der hispanoamerikanischen Litera-
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-017
Reinaldo Arenas oder die Freiheit des Freitods 499
Reinaldo Arenas Fuentes wurde am 16. Juli 1943 – das Datum kann ich mir
wegen des Geburtstages unserer Tochter Judith Thamar leicht merken; dafür
hat unser Sohn Emanuel Yanick am Ehrentag von Max Aub seinen Geburtstag –
in einem kleinen Ort zwischen Holguin und Gibara im Osten Kubas geboren. Er
1 Vgl. zu den unterschiedlichsten Aspekten von Leben und Werk dieses Autors Ette, Ottmar
(Hg.): La escritura de la memoria. Reinaldo Arenas: Textos, estudios y documentación. Frankfurt
am Main: Vervuert Verlag 1992.
2 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Entrevista con Reinaldo Arenas (Nueva York, 29 de noviembre de
1985). In: Heydenreich, Titus (Hg.): Der Umgang mit dem Fremden. Beiträge zur Literatur aus
und über Lateinamerika. [= Lateinamerika-Studien, Bd. 22] München: Wilhelm Fink Verlag
1986, S. 177–195; sowie (ders.): Los colores de la libertad. Nueva York, 14 de enero de 1990. In
(ders., Hg.): La escritura de la memoria. Reinaldo Arenas: Textos, estudios y documentación.
Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 1992, S. 75–91.
500 Reinaldo Arenas oder die Freiheit des Freitods
starb am 7. Dezember 1990 durch Freitod in seiner zweiten Heimat New York.
Da sein Vater kurz nach der Geburt die Familie verließ, wuchs der Junge unter
der Obhut der Mutter im Hause der Großeltern auf und verbrachte seine von
ihm immer wieder mythisch beschriebene Kindheit auf dem Land. Nach dem
Schulbesuch in Holguin schloss er sich – „aus Langeweile und Ermüdung“ –
1958 der revolutionären Bewegung Fidel Castros an. Die vom Großvater stark
eingeschränkte Zeit auf dem Lande im „Oriente“ Kubas ging damit zu Ende.
Der Sieg der Kubanischen Revolution ermöglichte Reinaldo Arenas eine
Ausbildung zum landwirtschaftlichen Buchhalter; 1962 kam er schließlich nach
Havanna, wo er zunächst Wirtschafts- und später Literaturwissenschaften stu-
dierte. Ohne sein Studium abzuschließen, arbeitete er als Bibliothekar an der
Nationalbibliothek José Martí in La Habana, widmete sich intensiver Lektüre
und nahm sein schon in früher Jugend begonnenes Schreiben wieder auf – nun
in Kontakt insbesondere mit Mitgliedern der Origenes-Gruppe rund um den
Dichter José Lezama Lima.3 Die Schriftstellerei wird zu seinem Lebenselement,
auf das er nie mehr verzichten kann.
Arenas versucht, sich literarisch in Kuba durchzuschlagen. Über seine zeit-
weilige Tätigkeit am Instituto del Libro hinaus arbeitete er an den kubanischen
Zeitschriften La Gaceta de Cuba, Unión, El Caimán Barbudo und Casa de las
Américas mit. Arenas wird zu einem Teil der jungen Literaten- wie auch der
Homosexuellenszene in Havanna zu einem Zeitpunkt, als Homosexualität vom
immer autoritärer werdenden Regime streng verfolgt wurde. Er wird in ein Um-
erziehungslager der UMAP (Unidades Militares para la Ayuda de la Producción)
verbracht und lernt schmerzhaft das Leben in diesen militärisch geführten Ein-
richtungen der kubanischen Regierung kennen.
Seit 1970 war Reinaldo Arenas de facto in Kuba mit Veröffentlichungsver-
bot belegt. Im Januar 1974, mitten im ‚grauen Jahrfünft‘ der Revolution, wurde
er schließlich verhaftet und im Morro eingekerkert, Havannas geschichtsträchti-
gem Gefängnis. Sieben Jahre zuvor hatte er in seinem international erfolgreichsten
Roman El mundo alucinante4 – dieser experimentelle Erzähltext wurde gemeinsam
mit Gabriel García Márquez' Cien años de soledad in Frankreich als bester auslän-
discher Roman ausgezeichnet – seinen historischen Helden Fray Servando Teresa
de Mier noch fiktional in dieses Gefängnis begleitet. Wegen Immoralität, konterre-
volutionären Verhaltens und der ungenehmigten Veröffentlichung dreier Bücher
im Ausland wurde Arenas zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Nach
3 Vgl. zu Lezama Lima das ihm gewidmete Kapitel im dritten Band der Reihe „Aula“ in Ette,
Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 741 ff.
4 Vgl. hierzu ebda., S. 811 ff.
Reinaldo Arenas oder die Freiheit des Freitods 501
5 Vgl. zur Wichtigkeit dieser Zeitschrift Ette, Ottmar: La revista “Mariel” (1983–1985): acerca del
campo literario y político cubano. In: Bremer, Thomas / Peñate Rivero, Julio (Hg.): Hacia una his-
toria social de la literatura latinoamericana. Tomo II. Actas de AELSAL 1985. Giessen – Neuchâtel
1986, S. 81–95.
502 Reinaldo Arenas oder die Freiheit des Freitods
nas with Arenas hatte der kubanische Schriftsteller gerade einen längeren Kran-
kenhausaufenthalt hinter sich, den er vor seinem in Massen gekommenen Pub-
likum sorgsam zu verbergen suchte. Schon zuvor war der Autor dem Tode nahe
gewesen, so etwa unmittelbar vor einer wichtigen Fernsehsendung in Frank-
reich, wo ihn Bernard Pivot in seine damals berühmten Apostrophes eingeladen
hatte und Arenas bereits vom Tode gezeichnet war. Aber weder auf Sendung
noch in der Sektion von Washington war ihm dieser Zustand – hatte er erst ein-
mal die öffentliche Bühne betreten – in irgendeiner Weise anzumerken. Er
schauspielerte sehr professionell alles weg und machte dem Titel der Sektion,
also seinem Humor und seinem ansteckenden Lachen, alle Ehre.
Tatsächlich aber hatte er sich unmittelbar vor Eröffnung unserer Sektion,
die mit einem längeren Kommentar des Schriftstellers beginnen sollte, einen
unfreiwilligen Kurzhaarschnitt verpassen müssen, über den er zugleich weinte
und lachte. In der Nacht hatte er häufig geschrien, wie aus den Nebenzimmern
des Hotels zu hören war. Doch Arenas war noch nicht mit seinem verschiede-
nen Erzählzyklen fertig; er wollte eisern durchhalten, bis er zumindest die
wichtigsten Texte vollendet haben würde. Die Energie dieses todgeweihten
Mannes war unbeschreiblich: Arenas gelang es, die wichtigsten Werke noch abzu-
schließen. Und so konnte er auch die Arbeit an seiner Autobiographie beenden,
die er mit Hilfe eines Kassettenrecorders aufsprach, korrigierte und diktierte. Es
handelt sich um die Endredaktion von Antes que anochezca, jener Autobiographie,
von deren Verfilmung ich eingangs sprach.
Man könnte vermuten, Reinaldo Arenas' Autobiographie würde in ihrem
Titel darauf anspielen, dass die Beendigung der Niederschrift unmittelbar sei-
nem Tode vorausgegangen wäre. Aber dies war nicht der Fall! Der Titel spielt
vielmehr auf die Tatsache an, dass er über einen langen Zeitraum im Parque
Lenín unweit der Hauptstadt Havanna buchstäblich solange schrieb, bis die
Sonne untergegangen war und er nicht mehr weiterschreiben konnte. Dies war
ein im Untergrund verortetes Schreiben „antes que anochezca“, bevor es Nacht
wurde. Über Monate hielt sich der Schriftsteller in diesem weiten Park ver-
steckt, um den Fängen der Staatssicherheit zu entgehen und seine Romane, die
aus ihm herausmussten, vollenden zu können. Aber davon später mehr!
Bevor wir uns der Autobiographie nähern, würde ich Ihnen gerne die Stimme
dieses todkranken Menschen zumindest kurz zu Gehör bringen. Denn in ihr
schwingt vieles mit, was nicht nur auf inhaltlicher Ebene für sein Leben und
Schreiben, aber auch für sein Sterben, Kämpfen und Deuten ganz charakteris-
tisch ist. Das folgende Zitat ist in der Buchform der Vorlesung nicht mit Stimme
hinterlegbar, doch möchte ich es Ihnen als Auszug aus der Sektion auf Spanisch
und in deutscher Übersetzung dennoch vorstellen:
Reinaldo Arenas oder die Freiheit des Freitods 503
Ich habe schon immer gedacht, dass Widersprüche in der Schöpfung fundamental sind.
Denn wären wir erstens in Frieden und mit der Welt versöhnt, so würden wir gar nichts
hervorbringen. Zweitens erlauben uns diese Widersprüche, die Realität aus verschiede-
nen Blickwinkeln und von unterschiedlichen Standpunkten aus zu sehen; bis zu einem
gewissen Punkt können sie die literarische Vision dieser Realität bereichern. Ich glaube,
dass alles, was ich geschrieben habe, in Wirklichkeit so etwas wie ein Teil eines einzigen
Buches ist, eines Buches, von dem ich selbstverständlich hoffe, dass Sie alle niemals das
Unglück haben werden, es vollständig zu lesen, und ich niemals das Glück, es abzu-
schließen. In Wirklichkeit bildet alles ein und denselben Kontext. Wenn man so will ein
Kontext innerhalb verschiedener infernalischer Kategorien, unterschiedlicher Epochen,
die allesamt natürlich furchterregend waren, von der Epoche eines Batista oder sogar
noch früher, vor Batista, als meine Kindheit in den vierziger Jahren verlief, dann die Epo-
che der Diktatur von Fidel Castro und die Hoffnungslosigkeit, die Entwurzelung sowie die
grässliche Grausamkeit des Exils, das heißt die Hölle, zu der Dante nahezu alle seine
Feinde mit viel Intelligenz und viel Treffsicherheit verurteilte.6
In dieser kurzen Passage bemerken sie zum einen sehr anschaulich, wie sehr es
aus Reinaldo Arenas – und dies war auch stets in seinen Interviews der Fall –
geradezu heraussprudelte, wie er immer einen Satz mit dem anderen ver-
knüpfte und es bisweilen schwierig war, seinen nicht versiegenden Redefluss
zu unterbrechen, um eine Frage an den Autor zu platzieren. Denn alles, was er
sagte, war im Grunde höchst relevant und aufschlussreich für all jene, die sich
mit seinem Werk, seinem rastlosen Schaffen beschäftigten und literaturwissen-
schaftlich auseinandersetzten. Vielleicht ist dies in diesem Auszug von Ende
des Jahres 1989 noch in wesentlich stärkerem Maße der Fall.
Denn Reinaldo Arenas fürchtete zu Recht, nicht mehr allzu viel Zeit zur
Verfügung zu haben, um sich mitteilen und sein ganzes Schaffen erläutern zu
können. Und so ahnte er auch, dass ihm die Monate, die er brauchen würde
und tatsächlich auch brauchte, um die wichtigsten seiner in Arbeit befindli-
chen Bücher abzuschließen, am Ende seines Lebens doch noch fehlen würden.
In der Tat sollte ihm lediglich ein knappes, von Krankenhausaufenthalten zu-
sätzlich verkürztes Jahr verbleiben, um sein Schaffen an einem einzigen Buch,
einem einzigen Werk zu Ende zu bringen.
Zum zweiten ist es offenkundig, dass Reinaldo Arenas eine Vielzahl von
Texten publizierte, die letztlich in ihren verschiedenen Zyklen ein zusammen-
hängendes literarisches Werk bildeten.7 Der kubanische Schriftsteller arbeitete
8 Vgl. zum Begriff der Friktion vgl. Ette, Ottmar: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie.
Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 22007, S. 308–312.
Reinaldo Arenas oder die Freiheit des Freitods 505
gen Zitat, dass ein Künstler, der mit der Welt in Frieden und Einvernehmen lebte,
sogleich aufhören müsste, kreativ zu sein. Denn für Arenas war der Schriftsteller –
der richtige, wahrhaftige Schriftsteller – immer ein Dissident, ein Abweichler, je-
mand, der anderer Meinung ist und aus dieser Spannung die kreativen Energien
für sein Leben zieht.
Ohne an dieser Stelle genauer auf die verschiedenen Zyklen im Erzählwerk,
aber auch in Lyrik und Theater des Reinaldo Arenas eingehen zu wollen, möchte
ich Ihnen in erster Linie die Problematik des Todes und des Selbstmords anhand
der Autobiographie Antes que anochezca in ihrer Komplexität erläutern. Denn
der Freitod besaß für den kubanischen Schriftsteller etwas von einer Befreiung
und stand mit seinem Konzept der Freiheit in Zusammenhang. Im Grunde han-
delt es sich bei seiner in den letzten Lebensmonaten entstandenen Autobiographie
um Mémoires d'outre-tombe, erschien Bevor es Nacht wird – und ich werde im Fol-
genden aus der deutschen Übersetzung von Klaus Laabs und Thomas Brovot zitie-
ren – doch nach dem Tode des Autors.9 Gerne füge ich natürlich hinzu, dass die
Erstveröffentlichung des spanischsprachigen Beginns von Antes que anochezca in
dem von mir herausgegebenen Band La escritura de la memoria erschien10 – der
Autor hatte mir diese Seiten vorab persönlich für meinen Band zugesandt.
Im auf August 1990 datierten Auftaktkapitel, das signifikanterweise unter
dem Titel „Das Ende“ steht, hat Reinaldo Arenas sozusagen das Ende seiner
Autobiographie, aber auch seines Lebens an den Anfang gestellt und auf diese
Weise einen Zyklus, eine Kreisstruktur – geradezu einen ‚Kreis der Hölle‘ – ge-
schaffen, aus dem es – so eine oft von ihm gebrauchte Formulierung – kein
Entrinnen für ihn zu geben schien. Dieses Kapitel beginnt wie folgt; und ich
stelle Ihnen die ursprüngliche spanische Fassung der Erstveröffentlichung an
die Seite:
Im Winter 1987 dachte ich daran, zu sterben. Seit Monaten hatte ich furchtbares Fieber.
Ich ging zum Arzt, und die Diagnose war Aids. Da ich mich mit jedem Tag schlechter
fühlte, kaufte ich mir ein Ticket nach Miami und beschloß, am Meer zu sterben. Nicht in
Miami direkt, sondern am Strand. Aber ein teuflischer Bürokratismus scheint dafür zu
sorgen, dass sich alles, was wir uns wünschen, hinzieht, selbst der Tod.
Ich will nicht sagen, dass ich wirklich sterben wollte, aber ich finde, wenn einem
keine andere Wahl bleibt, als zu leiden und Schmerzen zu ertragen, ohne jede Hoffnung,
dann ist der Tod tausendmal besser. Außerdem war ich ein paar Monate vorher in einem
9 Arenas, Reinaldo: Bevor es Nacht wird. Autobiographie. Aus dem Spanischen von Thomas
Brovot und Klaus Laabs. Berlin: Edition diá 1993.
10 Vgl. Arenas, Reinaldo: “Antes que anochezca”. Extractos de la autobiografía de Reinaldo
Arenas terminada en Nueva York, agosto de 1990. In: Ette, Ottmar: La escritura de la memoria,
S. 13–26.
506 Reinaldo Arenas oder die Freiheit des Freitods
öffentlichen Pissoir gewesen, und es hatte sich nicht dieses Gefühl von verschwörerischer
Erwartung eingestellt, das sonst immer da war. Niemand hatte mich beachtet, alle mach-
ten sie mit ihren Sexspielen einfach weiter. Mich gab es schon nicht mehr. Ich war nicht
mehr jung. Dort kam mir der Gedanke, das beste wäre der Tod. Ich fand es immer erbärm-
lich, um das Leben zu betteln wie um einen Gefallen. Entweder man lebt, wie man es sich
wünscht, oder es ist besser, nicht weiterzuleben. [...]
Nach dreieinhalb Monaten wurde ich entlassen. Ich konnte kaum laufen [...]; ich
fing an, wenigstens ein bißchen Staub zu wischen. Dabei entdeckte ich auf dem Nacht-
tisch einen Briefumschlag, der ein Rattengift namens Troquemichel enthielt. Darüber
bekam ich eine unglaubliche Wut, denn offensichtlich hatte das jemand da hingelegt,
damit ich es nahm. Jetzt war ich fest entschlossen, meinen Selbstmord, den ich im stillen
schon geplant hatte, erst einmal aufzuschieben. Wer immer mir diesen Umschlag ins Zim-
mer gelegt hatte, diesen Gefallen würde ich ihm nicht tun.11
Eine zweite Isotopie schiebt sich bei diesem Beginn der Autobiographie
von Reinaldo Arenas quer zu den Reflexionen über den Freitod plötzlich in den
Vordergrund, wobei sie die vorgängige Suizid-Isotopie gleichsam zu resemanti-
sieren und zu durchbrechen scheint. Dabei geht es um die eigene Sexualität,
die Homosexualität, die Suche nach sexuellen Partnern und die Attraktivität
des eigenen Körpers, der für andere Partner noch von erotischem Interesse sein
und Begehren auslösen will. Diese erotische Lust ist ein wesentlicher Antrieb
für die Lebenslust des Ich, das sich freilich nicht mehr jung und daher nicht mehr
anziehend fühlt. Die erotischen Spiele anderer Männer lassen das Ich, das diese
Isotopie entfaltet, weitgehend unbeachtet: Es ist, als wäre es bereits tot.
Bei der Lektüre dieser Passage bietet sich eine Opposition an zwischen ge-
meinsamer sexueller Lust, wie sie das Ich im Verlauf von Antes que anochezca
mit Hunderten von Männern empfindet, und einem Alleinsein, bei dem es auf
sich selbst zurückgeworfen und aus der erotischen Gemeinschaft ausgegrenzt
ist. In einem öffentlichen Pissoir in New York benutzt das Ich sein Geschlechts-
teil alleine zum Urinieren und konstruiert zugleich einen Gegensatz zu jenen
erotischen Spielen, wie sie andere Männer im selben Raum ausführen. Das Ich
fühlt sich aus dieser Gruppe miteinander erotisch beschäftigter Männer ausge-
schlossen, da es sich nicht mehr als jung versteht und von den Anderen bereits
als alt angesehen zu werden fürchtet. So kommt zur Diagnose eines baldigen
Todes – denn dies bedeutete zum damaligen Zeitpunkt die Krankheit AIDS –
noch die Erfahrung des eigenen erotischen Todes, einer körperlichen Unattrak-
tivität, wie sie dem Lebensstil des Ich gänzlich zuwiderläuft.
Was auf den ersten Blick wie ein wechselseitig sich verstärkendes Zusam-
menspiel von Faktoren aussieht, das den eigenen physischen Tod mit dem vor-
weggenommenen sexuellen Tod kombiniert und daran den Selbstmordwunsch
des Ich knüpft, wird wenige Zeilen später auf das Leben dieses Subjekts in all
seinen Facetten bezogen. Dabei wird dieses Leben zunächst mit sexueller Lust
und einer frei sich auslebenden Jugend verbunden, während alle anderen Dimen-
sionen dem Pol des ‚Aging‘, des Alters und der zum Tode führenden Krankheit zu-
geordnet werden. Doch sehr bald schon verändert sich diese Konfiguration durch
das Auftauchen einer dritten Isotopie.
Diese entsteht mit dem eher zufälligen Fund eines Gifts, mit dessen Hilfe dem
Ich – davon ist es sofort überzeugt – der Selbstmord nahegelegt werden soll. Dabei
wird diese dritte, anonyme, überindividuelle und letztlich – wie der weitere Ver-
lauf der Autobiographie zeigen wird – politische Isotopie wiederum angebunden
an die erste, und zwar an den erwähnten diskursiven Gegensatz zwischen Selbst-
und Fremdbestimmung. Denn nun erscheint urplötzlich die Möglichkeit, dass das
scheinbar selbstbestimmte Handeln sich als ein letztlich fremdbestimmtes erwei-
508 Reinaldo Arenas oder die Freiheit des Freitods
sen könnte. Denn es gibt Kräfte – und das Ich ist davon fest überzeugt –, welche
ihm einen baldigen Tod wünschen.
Die unmittelbare Reaktion des Ich ist „coraje“, Mut zum Widerstand gegen
alle Pläne von Menschen, die das Ich lieber heute als morgen aus dem Weg räu-
men würden. Es ist diese dritte Isotopie, die eine Wendung auf der Handlungs-
ebene einläutet und dazu führen wird, das Ich zu einem anderen Handeln zu
bewegen. Denn nun wird der Ich-Erzähler beschließen, seine bereits fertigen
Selbstmordpläne zu verschieben und Widerstand gegen all jene zu leisten, die
ihm den sofortigen Tod wünschen. Und zu diesen Widerstandsformen gehört
an ganz zentraler Stelle das eigene Schreiben, die Fertigstellung all der Projekte
und Pläne, welche Reinaldo Arenas im obigen Zitat aus der Sektion von 1989
erwähnte, in erster Linie aber die Abfassung der Autobiographie selbst, also
jenes Textes, den die Leserinnen und Leser vor Augen haben. Die Autobiogra-
phie wird damit zu einer Form des politischen Widerstands gegen all jene, die
der kubanische Autor rasch ausgemacht hat: die Vertreter der kubanischen
Staatssicherheit, die das Ich verdächtigt, das Rattengift auf seinem Nachttisch-
chen deponiert zu haben, und das autoritäre System Fidel Castros generell.
Damit revidiert das Erzähler-Ich seine Entscheidung für den Freitod; eine Ent-
scheidung, die auf einer rein individuellen Ebene längst getroffen war und ebenso
durch den bald bevorstehenden physischen Tod wie den erotischen Tod begründet
wurde. Es sind damit nicht jene Ängste, durch den Selbstmord bei engen Freunden
viel Schmerz und Trauer auszulösen, sondern politische Gründe, die beim Ich den
Entschluss zum Weiterleben wecken. Mit seiner Entscheidung zugunsten eines
Aufschubs seines Suizids erweist sich das Ich als zoon politicon, als politisches
und politisch handelndes Wesen. Es handelt sich also nicht allein um einen Men-
schen, der nach ganz bestimmten Lebensnormen und Handlungsschemata selbst-
gewählt und in freier Entscheidung individuell handelt. Der Selbstmord wird im
Zeichen der Diktatur zum Politikum.
Vor diesem Hintergrund wird es zu einem essentiellen Teil der Autobiogra-
phie, dass Reinaldo Arenas wenige Jahre später, nach dem Abschluss all seiner
schriftstellerischen Pläne, bei seinem tatsächlich im Dezember 1990 verübten
Selbstmord in New York einen Abschiedsbrief hinterließ. Er hatte ihn wohl ei-
nige Tage zuvor niedergeschrieben und der Brief wurde in der – wie ich schon
sagte – posthumen Ausgabe seiner Autobiographie am Ende abgedruckt. Da-
durch schließt sich der Kreis einer Autobiographie, die eben nicht nur eine Art
intimes Tagebuch, sondern zugleich auch – wie der Untertitel es andeutet – Me-
moiren, „Memorias“ sind. Ich möchte Ihnen zumindest kurz aus diesem Ab-
schiedsbrief zitieren:
Reinaldo Arenas oder die Freiheit des Freitods 509
Liebe Freunde,
angesichts meines kritischen Gesundheitszustands und der furchtbaren Ohnmacht, die
ich verspüre, weil ich nicht mehr schreiben und für die Freiheit Kubas kämpfen kann,
setze ich meinem Leben ein Ende. In den letzten Jahren konnte ich, obwohl ich mich sehr
krank fühlte, mein literarisches Werk abschließen, an dem ich fast dreißig Jahre lang ge-
arbeitet habe. Ich vermache euch all meine Ängste, aber auch die Hoffnung, dass Kuba
schon bald frei sein wird. [...] Ich setze meinem Leben freiwillig ein Ende, weil ich nicht
mehr weiterarbeiten kann. Keiner der Menschen, die mich umgeben, hat an dieser Ent-
scheidung irgendeinen Anteil. Es gibt nur einen Verantwortlichen: Fidel Castro. Die Lei-
den des Exils, der Schmerz der Verbannung, die Einsamkeit und die Krankheiten, die ich
mir nur in der Verbannung zuziehen konnte, hätte ich sicherlich nicht erlitten, wenn ich
frei in meinem Land gelebt hätte.
Das kubanische Volk, im Exil und auf der Insel, rufe ich auf, weiter für die Freiheit
zu kämpfen. Meine Botschaft ist keine Botschaft der Niederlage, sondern des Kampfes
und der Hoffnung.
Kuba wird frei sein. Ich bin es schon. Reinaldo Arenas12
Dies ist der kämpferische Abschiedsbrief eines der sicherlich wichtigsten kuba-
nischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Wie mit Hilfe einer Stimme aus dem
Grab wird der literarische Zyklus und zugleich derjenige des literarischen Ge-
samtwerks geschlossen. Und natürlich auch jener des Lebens. Denn es gelang
Arenas noch, in der ihm verbleibenden Zeit seine wichtigsten literarischen
Texte für den Druck freizugeben. Mit dem Abschluss seiner Arbeit sah er auch
denjenigen seines Lebens gekommen und setzte diesem aus freier Entschei-
dung ein Ende, um seine Asche später im Meer zwischen Florida und seiner Ge-
burtsinsel Kuba von treuen Freunden verstreuen zu lassen.
Viele aus der Generation jener Schriftsteller von Mariel starben an AIDS. Auf
meinen damals angefertigten Karteikarten verzeichnete ich alle Schriftstellerin-
nen und Schriftsteller, die in dieser Zeitschrift publizierten; und diese Kartei
wurde zur traurigsten innerhalb meiner Bestände, da ich am Ende der meisten
Karteikarten den Vermerk „gestorben an AIDS“ machen musste. Einige dieser
Autoren, dieser sogenannten „Marielitos“, wählten wie Reinaldo Arenas den
Freitod als letzten Akt des Widerstands gegen das autoritäre System, vor dessen
Nachstellungen sie ins Exil geflohen waren.
Entscheidend am zitierten Abschiedsbrief ist sicherlich, dass nicht das indi-
viduelle Schicksal und das individuelle Lebenswerk, sondern der kollektive
Kampf des kubanischen Volks in den Vordergrund dieser letzten veröffentlich-
ten Zeilen aus der Feder des kubanischen Autors gestellt werden. Dabei ist die
Grundopposition jene zwischen Freiheit und Abhängigkeit, zwischen Selbstbe-
stimmung und Fremdbestimmung, wobei auch die Todesart selbst dieser Frei-
heitssemantik gehorcht.
Der Diskurs, der in diesem Abschiedsbrief zu Tage tritt, ist freilich ein poli-
tischer Diskurs, den wir aus ungeheuer vielen öffentlichen Reden und insbe-
sondere auch aus denen jenes Mannes kennen, der als einziger hier namentlich
genannt wird: Fidel Castro. Er wird für alles verantwortlich gemacht. Es berührt
eigenartig, dass ausgerechnet sein Name am Ende der Autobiographie steht: als
der allein an allem individuellen und kollektiven Leiden Schuldige oder zumin-
dest dafür doch schuldig Gesprochene. Doch bleibt er präsent bis in die letzten
Feinheiten des Diskurses von Reinaldo Arenas selbst. Der Diktator ist überall!
Die politische Dimension hat nicht nur die Oberhand gewonnen. Denn im
Grunde kommt noch in diesem Abschiedsbrief eine Biopolitik zum Zuge, die
den Slogan der Revolution um Fidel Castro aufgreift und mit in den Tod nimmt:
„Patria o Muerte!“ War dies Reinaldo Arenas bewusst? Sicherlich nicht. Er
wollte einen kämpferischen Abschied von der Welt verfassen. Und doch ist das
Diskursuniversum, in dem er sich in seinen letzten Zeilen bewegt, überdeutlich
ein grundlegend von Fidel Castro geprägtes. Er scheint noch am Ende der Auto-
biographie die Fäden aller Geschichten wie auch der Geschichte selbst zu zie-
hen. Dies war in Antes que anochezca sicherlich nicht beabsichtigt!
Es handelt sich dabei lediglich um den Schlusspunkt der Autobiographie,
um den Versuch, den Freitod für die Freiheit eines Landes sprechen zu lassen.
Doch diese Autobiographie erschöpft sich sicherlich nicht in jenem Versuch,
sondern vermag, das gesamte Leben des Kubaners von seiner Geburt bis in sein
Sterben hinein literarisch und bisweilen hyperbolisch darzustellen.
Im Folgenden möchte ich Ihnen zumindest einige wenige Einblicke in die
spezifisch literarische Qualität eines Schreibens geben, das sich jenseits der
Umkehrung und zugleich Anverwandlung eines politischen Diskurses situiert
und den Autor in die vielleicht schillerndste Figur der kubanischen Literaturge-
schichte verwandelte. Dazu führe ich Sie noch einmal an das ‚eigentliche‘ Ende
des Textes, ist der Abschiedsbrief doch nur ein Addendum, das alle bisherigen
Textausgaben von Antes que anochezca prägt. Es ist jener Punkt, an welchem
nach vielen Ankündigungen die Nacht tatsächlich hereingebrochen ist, der Au-
genblick, in dem ein Wasserglas zerspringt. Mit diesem Ereignis zerspringt
auch das Leben des Ich in tausend Stücke, da es keine Hoffnung, keine Rettung
für die erzählende Instanz mehr gibt. Denn der Mond, „la luna“, also eigentlich
‚die Möndin‘, hat sich vom Ich abgewandt, ist am Ende des letzten Kapitels
„Los sueños“, „Die Träume“, für immer verschwunden:
Reinaldo Arenas oder die Freiheit des Freitods 511
Was war dieses Wasserglas, das zersprungen war? Es war der Gott, der mich beschützte, es
war die Göttin, die mir immer beigestanden hatte, es war der Mond, der meine Mutter war, in
den Mond verwandelt.
Ach Mond! Du warst immer an meiner Seite, dein Licht hat mir in den schlimmsten
Augenblicken geleuchtet; seit meiner Kindheit warst du das Geheimnis, das über meinem
Schrecken wachte, du warst mein Trost in den verzweifeltsten Nächten, du warst meine
Mutter und hast mir eine Wärme geschenkt, die sie mir wohl nie geben konnte; mitten im
Wald, an den düstersten Orten, im Meer; dort warst du und hast mich begleitet; du warst
mein Trost; du warst es, der mir in den schwersten Augenblicken den Weg gewiesen hat.
Meine große Göttin, meine wahrhafte Göttin, du hast mich vor soviel Unheil beschützt; zu
dir über dem Meer, zu dir vor der Küste, zu dir zwischen den Klippen meiner trostlosen
Insel, zu dir habe ich den Blick gehoben, und ich habe dich angesehen; immer derselbe;
in deinem Gesicht habe ich einen Ausdruck von Schmerz gesehen, von Bitterkeit, von Mit-
leid mit mir, deinem Sohn. Und jetzt, plötzlich, Mond, zerspringst du vor meinem Bett in
tausend Stücke. Ich bin allein. Es ist Nacht.13
In dieser poetischen Szene ist von Selbstmord keine Rede. Es erscheint viel-
mehr die Anrufung des Mondes, der Mondgöttin, welche das Ich auf all seinen
Wegen, in allen schwierigen Augenblicken, an Land wie im Wasser, im Walde
wie im Meer, kontinuierlich beschützt hat und immer für es da war. Doch nun
ist alles zu Ende: Das Erzählte wie das erzählende Ich sehen die Splitter einer
Mondgöttin, die für immer verschwunden ist, und gehen mit dieser in einer
Nacht ohne Mond auf.
Das Licht der ‚Möndin‘ ist verschwunden und damit das Beschützt-Sein,
die Präsenz der Mutter, die kosmische, die galaktische, die unverrückbare Si-
cherheit des Ich, sich an einem Gegenstand außerhalb der Welt, außerhalb der
ihn so sehr bedrohenden Erde orientieren, ausrichten zu können – all dies ist
in einem einzigen Augenblick zerplatzt! Dieser Schlussabschnitt, in welchem
viel an die lyrischsten Passagen des Romans Otra vez el mar erinnert, ist eine
letzte Anrufung jenes Gestirns, das mit der Mutter identifiziert wird, gleichsam
Arenas' Muttergestirn. Es ist eine Anrufung an die ‚Mutter-Möndin‘, die ihre Zy-
klen auslöst, sie selbst in ihren besten Seiten verkörpert, jene Mutter, mit der
Arenas eine Hass-Liebe verband, die ihn mit ihrem Blick und Licht jedoch immer
wärmend umgab. Sie verhinderte, dass es tatsächlich in vollem Sinne Nacht wer-
den konnte – eine Mutter, deren Photographie auch über dem Schreibtisch des
Schriftstellers wachte.
Solange die ‚Möndin‘ erschien, der Mond da war, gab es immer eine stillge-
stellte Zeit, bevor die Nacht kommen konnte – eine auf kontinuierliche Dauer
gestellte Zeit, in der kein Ende drohte. Nun aber zerspringt diese Zeit als Zeit-
13 Ebda., S. 295.
512 Reinaldo Arenas oder die Freiheit des Freitods
Dauer urplötzlich; eine Symbolik, die mit dem zersprungenen Wasserglas eine
korrespondierende Konstellation herstellt und die Kontinuität des andauernden
Lebens zerstört. Der Tod ist ein urplötzliches Allein-Sein: Das Da-Sein ist ver-
wandelt in ein Allein-Sein auf einem wüsten Planeten, einer wüsten Erde, die
kein Licht eines mitleidenden Gestirns mehr erhellt.
Die enge Verbundenheit mit der Erde aber zeigt sich im ‚eigentlichen‘ An-
fangskapitel, überschrieben mit dem Titel „Las Piedras“, „Die Steine“. Dieses
Kapitel präsentiert eine Szenerie, die an den Debütroman Celestino antes del
alba erinnert, an den Beginn des Romanzyklus, den Arenas kurz vor seinem
Tod noch zu Ende bringen konnte. Es ist der Rückgriff auf die ersten Erinnerun-
gen in der frühesten Kindheit; und diese ersten Erinnerungen des Kindes sind
auf Tiefste mit der Erde verbunden.
Das erzählte Ich ist an jener „tierra“ ausgerichtet, jener Insel mitten im Ka-
ribischen Meer, mit der auch das Geschick, das Schicksal des Ich-Erzählers ver-
bunden ist. Dieses Land, diese Insel, diese Erde werden irgendwo im „Oriente“,
(wie im Eingangszitat) in den vierziger Jahren, in einem landwirtschaftlich ge-
prägten Teil Kubas verortet und gleichsam inkorporiert:
Ich war zwei Jahre alt. Ich stand da, nackt; ich bückte mich und leckte mit der Zunge
über die Erde. Der erste Geschmack, an den ich mich erinnere, ist der Geschmack der
Erde. Ich aß Erde zusammen mit meiner Cousine Dulce Ofelia, die auch zwei Jahre alt
war. Ich war ein mageres Kind, aber mit einem ganz dicken Bauch; das kam von den Wür-
mern, die in meinem Magen gewachsen waren, weil ich soviel Erde aß. Wir aßen die Erde
im Rancho des Hauses; der Rancho war der Ort, wo die Tiere schliefen, das heißt die
Pferde, Kühe, Schweine, Hühner und Schafe. Der Rancho stand gleich neben dem Haus.
Irgendwer schimpfte mit uns, weil wir Erde aßen. Wer war das, der da mit uns
schimpfte? Meine Mutter, meine Großmutter, eine meiner Tanten, mein Großvater? Eines
Tages hatte ich fürchterliche Bauchschmerzen; ich schaffte es nicht mehr, aufs Klo hinter
dem Haus zu gehen, und benutzte den Nachttopf, der unter dem Bett stand, wo ich zu-
sammen mit meiner Mutter schlief. Das erste, was herauskam, war ein riesiger Wurm, ein
rotes Tier mit vielen Füßen, wie ein Tausendfüßler, und er sprang im Nachttopf herum;
bestimmt raste er vor Wut, weil ich ihn auf so gewaltsame Weise aus seinem Element ver-
stoßen hatte. Dieser Wurm machte mir große Angst, und seitdem erschien er mir jede
Nacht und versuchte, sich in meinen Bauch zu bohren, während ich mich an meine Mut-
ter klammerte.
Meine Mutter war eine sehr schöne, sehr einsame Frau. Sie hatte nur einen Mann
kennengelernt: meinen Vater. Seine Liebe gehörte ihr nur wenige Monate.14
Am Anfang war die Erde, und die Erde schmeckte! Mit ihrer Inkorporierung ge-
langt auch allerlei Getier in den Bauch des Ich, der anschwillt und den Zweijäh-
14 Ebda., S. 15.
Reinaldo Arenas oder die Freiheit des Freitods 513
rigen plagt. Wir sehen den Kleinen in seiner Angst vor dem Wurm, vor einem
eindringen des Wurmes in den eigenen Körper, fest an seine Mutter gedrückt,
nach Schutz und Liebe suchend.
Von Beginn an ist diese Figur der Mutter da, in gewisser Weise präfiguriert
von der kleinen Cousine Dulce Ofelia – welch eine Anspielung auf Shake-
speares Ophelia! –, die ebenfalls der Leidenschaft des Erdeessens frönt. Die hy-
gienischen Verhältnisse auf dem kleinen Bauernhof im „Oriente“ lassen sehr zu
wünschen übrig und entsprechen den Bedingungen, denen die kubanische
Landbevölkerung über weite Strecken des 20. Jahrhunderts unterworfen war.
Neben die Vertrautheit mit der Erde und den Pflanzen tritt hier diejenige mit
den Tieren und – wie sich später noch zeigen wird – mit ihren sexuellen Prakti-
ken, die dem kleinen Jungen nicht lange verborgen bleiben.
Bald schon wird die Sodomie vorgeführt, eine – wie es heißt – in den Land-
gebieten Lateinamerikas, aber auch anderer Landstriche dieses Planeten nicht
ganz seltene Praxis. Die Sexualsymbolik ist von Beginn an im Text präsent.
Denn die Erde, die der kleine Junge sich einverleibt, ist wurmstichig, von klei-
nen Würmern durchsetzt, die im Inneren des menschlichen Körpers heranrei-
fen. Daraufhin erfolgt eine Austreibungsphase, die wie eine Art Geburt – als
grausame, schreckliche Geburt – geschildert wird, bei welcher der Junge sich
bei seiner Mutter Trost und Liebe holen muss. Ihr Bild ist allgegenwärtig, das
des Vaters jedoch diffus: Er ist und bleibt ein Fremder, der kurz einmal auf-
taucht, dem Jungen ein Geldstück zusteckt, um sich unter dem lebensgefährli-
chen Steinhagel seiner Ex-Frau rasch wieder in Sicherheit zu bringen und zu
verschwinden – Allein die kurze Liebe dieses Mannes hat die Mutter genossen.
Die Symbolik von Reinaldo Arenas‘ Schreiben, dieser „escritura de la memo-
ria“,15 ist einfach, grundlegend, an fundamentale Erfahrungen und Sinneswahr-
nehmungen sowie an all die natürlichen und kosmischen Kräfte gebunden, in
deren Geflecht sich das Leben des Menschen entfaltet. Der Tod ist dann ein He-
rausreißen aus all diesen Zusammenhängen: ein Alleinsein, ein Von-Angesicht-
zu-Angesicht-Sein mit dem Nichts, der Nacht ohne Mond, der sich freilich erst
zurückzieht, als das Ich des Schutzes nicht mehr bedarf, als das Werk vollendet
ist. Denn dieses Ich hat schreibt nicht mehr. Und ich meine dies in vielfacher Hin-
sicht: Was im individuellen und vor allem politischen Diskurs als Freiheit er-
scheint, ist im lyrisch-existenziellen Diskurs eine Erfahrung des Abgrunds, der
Nacht ohne eine Mutter- und Mondgöttin, die liebevoll über allem ihr reflektiertes
Licht ausbreitet.
15 Vgl. auch die umfangreiche Bibliographie in Ette, Ottmar (Hg.): La escritura de la memoria,
S. 177–231.
514 Reinaldo Arenas oder die Freiheit des Freitods
Wenn die schöne Mutter nur kurze Zeit die Liebe eines Mannes genießen
konnte, so gilt dies für ihren Sohn nicht, auch wenn die hyperbolische Aufzäh-
lung Hunderter erotischer Begegnungen mit immer anderen Männern wohl der
Hyperbolik der Schreibweise des kubanischen Autors zu verdanken ist. Sein
ganzes Leben war der Ich-Erzähler auf der Suche nach Liebe, einer Liebe, die
mit ihren erotischen Praktiken für den Kubaner die Chiffre des Lebens darstellte.
Liebe und Sex ließen sich in der literarischen Darstellungsweise der Autobiogra-
phie nicht immer voneinander trennen; es dominierte aber eine sexuelle Freiheit,
die für den Ich-Erzähler Inbegriff der Freiheit überhaupt war. So heißt es in einem
Abschnitt des Kapitels mit dem Titel „Der Sex“16 – und mit diesem Zitat möchte
ich unsere Beschäftigung mit Reinaldo Arenas abschließen – stellvertretend:
So etwas erlebte ich immer wieder. Ich erinnere mich noch an einen charmanten, braunge-
brannten und sehr männlichen Jungen, der immer, wenn er zu mir kam, der Passive sein
wollte. Ich gebe zu, es machte mir Spaß, diesen Typ Jungs zu bumsen, die extrem männlich
wirken. Der Reiz mochte sich mit der Zeit vielleicht ein bißchen abnutzen, aber am Anfang
war es aufregend. Und für diesen Jungen war die Lust noch größer als für mich. Danach zog
er sich an, drückte mir kraftvoll die Hand und sagte: „Ich geh jetzt, ich muß noch zu meiner
Braut.“ Ich glaube tatsächlich nicht, dass er mir etwas vormachte; er war ein bildhübscher
Kerl, und auch seine Freundinnen waren bezaubernd.17
16 Im spanischen Original heißt der Titel „El erotismo“ und macht auf die Problematik der
hier gewählten Übersetzung aufmerksam.
17 Arenas, Reinaldo: Bevor es Nacht wird, S. 115.
Werner Krauss oder vom Überleben
einer Diktatur
Ich wollte das Reinaldo Arenas gewidmete Kapitel nicht mit dem Selbstmord des
kubanischen Schriftstellers ausklingen lassen und auf diese Weise quasi mit dem
Sieg eines autoritären Systems über das Individuum enden. Und dies sollte auch
nicht der Schlusspunkt dieses Teils der Vorlesung werden, welcher den Lebens-
bedingungen in diktatorischen Systemen gewidmet ist. Es soll nämlich kein ne-
gativer, defaitistischer Eindruck bei Ihnen zurückbleiben! Ich möchte Ihnen
vielmehr als Ausklang einen Schriftsteller vorstellen, den Sie vielleicht als Litera-
turwissenschaftler kennengelernt haben, als einen Romanisten, der sich mit den
Grundproblemen unseres Faches intensiv auseinandergesetzt hat.1
Werner Krauss ist ohne Zweifel eine von dessen großen Figuren.2 Und dies
ebenso aus fachlichen wie aus menschlichen und politischen Gründen. Wollte
man eine Geschichte der deutschen Romanistik beziehungsweise der Romanis-
tik im Deutschland des 20. Jahrhunderts gemäß ihres Verhältnisses zu autori-
tären Systemen verfassen, so müsste diese notwendig in zwei höchst ungleiche
Teile zerfallen: in einen kleineren Teil von Romanisten, die wie Erich Auerbach
ins Exil gingen oder wie Werner Krauss der Hitler-Diktatur Widerstand entge-
gensetzten und dafür zum Teil (wie Krauss) zum Tode verurteilt wurden; und in
einen weitaus größeren Teil von Romanisten, die sich wie Hugo Friedrich mit
dem Regime gut arrangierten oder sich wie der junge Hans Robert Jauss3 aktiv
für die deutschen Nationalsozialisten engagierten. Wie Jauss konnten letztere
einen raschen Aufstieg innerhalb der Waffen-SS für sich verbuchen und saßen
bis zum Ende der Herrschaft des Nationalsozialismus an den Nahtstellen der
Macht.
1 Vgl. hierzu den Aufsatz von Ette, Ottmar: „Von einer höheren Warte aus“. Werner Krauss –
eine Literaturwissenschaft der Grundprobleme. In: Ette, Ottmar / Fontius, Martin / Haßler,
Gerda / Jehle, Peter (Hg.): Werner Krauss. Wege – Werke – Wirkungen. Berlin: Berlin Verlag
1999, S. 91–122.
2 Vgl. hierzu den Krauss gewidmeten Artikel in Gumbrecht, Hans Ulrich: Vom Leben und Ster-
ben der großen Romanisten. Karl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Wer-
ner Krauss. München – Wien: Carl Hanser Verlag 2002.
3 Vgl. die in verschiedene Sprachen übersetzte Studie von Ette, Ottmar: Der Fall Jauss. Wege
des Verstehens in eine Zukunft der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016. Vgl. zu diesem
Band auch die verschiedenen Reaktionen aus ganz Lateinamerika in Buj, Joseba / Ugalde, Ser-
gio (Hg.): Jauss nacionalsocialista: una recepción de la „Estética de la recepción“. México: Uni-
versidad Iberoamericana 2021.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-018
516 Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur
Daran änderte sich auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs nur in den sel-
tensten Fällen etwas. Dass sich die Mitglieder der weitaus größeren zweiten
Gruppe nach 1945 sehr rasch in die entstehende bundesrepublikanische Gesell-
schaft einpassten, ‚Gras über die Sache wachsen ließen‘ und ansonsten in vie-
lerlei Hinsicht ihr vorheriges Leben mitsamt eines nur wenig modifizierten
Lebenswissens weiterführten, ist nicht weiter überraschend. Dass derjenige,
der wohl den schnellsten Aufstieg innerhalb der Waffen-SS hingelegt hatte,
hochdekoriert und mit zahlreichen Orden versehen, und später einen nicht we-
niger fulminanten Aufstieg innerhalb der Romanistik feiern konnte, ist ebenso
wenig verwunderlich. Dass sich eine große Schar männlicher Jünger um ihn bil-
dete, denen er – wie bei der Waffen-SS, nur mit etwas anders gewählten Wor-
ten – eintrichterte, sie seien die Elite des Fachs, ist ein Faktum, das für die
Geschichte der Literaturwissenschaften spätestens seit der zweiten Hälfte der
sechziger Jahre von größter Bedeutung war.
Dese akademischen Netzwerke leben auch heute noch munter fort, was Sie
nicht zu verblüffen braucht, haben sich doch mehrere Generationen von Schü-
lern entwickelt. Sie halten das Erbe ihres Meisters, His Master’s Voice hoch.
Dass mir aber eine andere Filiation der Romanistik, die in der NS-Diktatur ins
Exil ging oder sich gegen diese Herrschaft engagierte, wesentlich lieber ist,
stand für mich bereits als junger Romanistik-Student an der Universität Frei-
burg im Breisgau nie in Frage – auch wenn ich damals von den nationalsozia-
listischen Umtrieben des Hans Robert Jauss nur gerüchtehalber gehört hatte. Es
gab noch ein diffuses Wissen, das aber aus guten Gründen tunlichst vermied,
an die Oberfläche oder gar an die Öffentlichkeit zu gelangen.
Zahlreiche Traditionen aus der Zeit des Nationalsozialismus lebten in der
Bundesrepublik Deutschland, aber auch in der Deutschen Demokratischen Re-
publik fort. Ich will Ihnen gerne ein Beispiel dafür geben: Postleitzahlen sind
für uns heute ebenso nützliche und präzise wie selbstverständliche und harm-
lose Elemente der Alltagskultur. Sie sind zu einem nicht weiter reflektierten Be-
standteil unserer Welt sowie unserer Kommunikation und Verortung geworden,
auch wenn sich das digitale Datennetz längst über diese noch analog verorteten
Koordinaten gelegt hat.
In der bundesdeutschen Nachkriegszeit warb die Post für ihre Verwendung
mit einem Spruch, der noch vielen geläufig sein dürfte: „Vergiß mein nicht –
die Postleitzahl!“ Schrieb man Briefe ins Ausland, so setzte man noch den
Namen des betreffenden Empfängerlandes in einer eigenen Zeile hinzu oder
stellte – etwas später – ein Länderkürzel unmittelbar vor die betreffende Post-
leitzahl. Briefe zwischen den beiden Teilen Deutschlands pflegten etwa mit den
Kürzeln DDR und BRD versehen zu werden, wobei man zur größeren Sicher-
heit – und auch, um bestehende Empfindlichkeiten postalischen Sendungsbe-
Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur 517
Politische Veränderungen, so dürfen wir festhalten, schlagen sich auch auf der
Ebene von Postleitzahlen und Kodierungssystemen durch. Postleitzahlen sind
nicht harmlos! Es mag vor diesem Hintergrund folglich nicht mehr ganz so
überraschend sein, dass sich Werner Krauss in seinem Roman PLN. Die Passio-
nen der halykonischen Seele vom ersten Satz an mit einer nur auf den ersten
Blick so nebensächlichen Erscheinung auseinandersetzte und die Frage der
„Postleitnummer“ ins Zentrum seines Erzähltextes stellte. So begann das erste
Kapitel des erstmals 1946 veröffentlichten Romans mit den folgenden, eines sa-
tirischen Zungenschlags nicht entbehrenden Worten:
Im Jahre der Zeitrechnung unseres Heiles … wurde das großhalykonische Volk mitsamt
seinen neuerworbenen Nebenländern, Schutz-, Trutz- und Nutzgebieten inmitten eines
Weltkampfs (worin sich die krisenhafte Veranlagung dieser Nation in regelmäßigen Zeit-
abständen auszugären pflegte) durch eine gänzlich unkriegerische Maßnahme in die
langanhaltendste Bewegung versetzt. Die sogenannte POSTLEITNUMMER war damals ge-
schaffen und allen Halykoniern zur Auflage für ihren gesamten Briefverkehr gemacht
worden. Über die innere Tragweite dieser Vorschrift konnte eigentlich von vornherein
kein Zweifel bestehen.7
Dieses recht raffinierte Incipit spielt ganz offenkundig auf die Einführung der Post-
leitzahl in Verbindung mit den zugehörigen Postleitgebieten durch das NS-Regime
seit Oktober 1943 und auf deren Propagierung seit Anfang des Jahres 1944 an.8
6 Ebda., S. 5.
7 Krauss, Werner: PLN. Die Passionen der halykonischen Seele. Roman. 2., durchgesehene Auf-
lage. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1983, S. 7.
8 Vgl. hierzu die präzise recherchierte Arbeit von Fillmann, Elisabeth: Realsatire und Lebens-
bewältigung. Studien zu Entstehung und Leistung von Werner Krauss’ antifaschistischem Roman
„PLN. Die Passionen der halykonischen Seele“. Frankfurt am Main – Berlin – Bern: Peter Lang
1996, S. 89 sowie S. 430–437. Unter den dort abgedruckten Dokumenten findet sich u. a. ein
Aufruf zur Einführung der Postleitzahl vom Januar 1944 sowie eine kartographische Übersicht
der Postleitgebiete und der Gaueinteilung des damaligen sogenannten Dritten Reiches.
Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur 519
Und mehr noch: Es setzt zugleich ein Spiel in Gang, in dem mit den Mitteln des
Romans die Beziehungen zwischen Raum und Zeit und mehr noch zwischen
Raum, Macht und Chiffrierung ein ums andere Mal vorgeführt werden konnten.
Für den Romanisten war die Postleitnummer nicht harmlos.
Zweifellos warf die Einführung der Postleitzahl für Werner Krauss „ein be-
zeichnendes Licht auf die politische und psychische Verfassung der Deutschen“
und erlaubte es ihm, „die Darstellung und Wertung verschiedener Widerstandsop-
tionen zu verknüpfen und in eine Form einzubinden, in der auch ganz Individuel-
les aufgehoben wurde“.9 Zugleich aber gab die Postleitzahl (beziehungsweise im
Roman die „Postleitnummer“) dem Marburger Romanisten die Möglichkeit, in
buchstäblich chiffrierter Form die Frage einer von menschlichen Dimensionen
weit entfernten Beherrschung des eigenen Bewegungs- und Kommunikationsrau-
mes vorzuführen. Darin steckte Sprengstoff, wie Krauss in seiner Zelle sehr wohl
wusste.
Denn PLN ist Gefängnisliteratur – und der Roman wurde von einem ver-
fasst, der in Todesangst schrieb. Werner Krauss wies in einer kurzen Einfüh-
rung ohne Titel auf diese Umstände hin:
Die Niederschrift begann 1943 im Zuchthaus Plötzensee (Abt. VIII) und kam 1944 zum Ab-
schluß im Wehrmachtsgefängnis der Lehrter Straße 61, von wo sie Alfred Kothe, ein jun-
ger Mitgefangener, nicht ohne sich ernstlich zu gefährden, in die Freiheit schmuggelte.
PLN ist dem natürlichen Wunsch eines zum Tod Verurteilten entsprungen, die ihm ver-
bleibende Wartezeit zu benützen, um seine nicht alltäglichen Widerfahrnisse in den Ab-
stand einer geordneten Darstellung zu verbringen.10
Werner Krauss gab seinem Roman das kurze, anderthalb Seiten umfassende
Vorwort seit der 1948 in Potsdam bei Rütten & Loening erschienenen Ausgabe
mit auf den Weg. In der 1946 bei Klostermann in Frankfurt am Main unter dem
identischen Titel erschienenen Erstausgabe findet sich ein noch kürzeres, eben-
falls auf jegliche Überschrift verzichtendes Geleitwort des Verfassers, in dem
PLN als der „Versuch eines Verurteilten“, bezeichnet wird, „die Erfahrung
Deutschland für seinen Teil zu bewältigen. Der Zwang der Umstände forderte
aber eine Darstellung in Chiffren, die nach dem Gesetz ihres eigenen Lebens
den Ansatz der ersten Besinnung überdeckten“, wie es auf Seite sieben dieser
Frankfurter Ausgabe hieß.
Raum und Zeit sind dem wegen seiner aktiven Mitgliedschaft in der Wider-
standsgruppe Schulze-Boysen/Harnack zum Tode Verurteilten von noch herr-
schenden Nationalsozialisten in fundamentaler Weise begrenzt worden. Die
9 Ebda., S. 85.
10 Krauss, Werner: PLN, S. 5.
520 Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur
Erwartung einer Vollstreckung des Todesurteils und die Kostbarkeit der ihm ver-
bleibenden Stunden prägten auch die wenigen Gedichte von Werner Krauss, die
uns aus der Zeit im Zuchthaus überliefert sind: „Mir ist der nahe Tod ins Herz
gezeichnet / Versiegt ist schon der Strom der Bilder und / Zurückgefangen in die
Urkraft meines Gottes / Die furchtbare Empörung aller Triebe […]. So lieg ich still.
Die Zeit ist umgewendet. / In jeder Stunde find ich ein Geschenk.“11
Postleitzahlen waren eine späte Erfindung des ‚Dritten Reiches‘. Werner
Krauss’ Marburger Adressen kannten sie noch nicht, auch für Plötzensee scheint
eine derartige Angabe nicht notwendig gewesen zu sein. Doch Berlin SW 11 be-
zeichnete das Reichssicherheitshauptamt in der Prinz-Albrecht-Straße 8, Berlin
NW 40 die Untersuchungshaftanstalt Altmoabit. Nach der Befreiung, der Rück-
kehr nach Marburg in die Rotenbergstraße 28a und nach dem Überwechseln in
die neue Leipziger Wohnung in der Gletschersteinstraße 53 führt dann die neue
Postleitzahl O 27 (ausgerechnet der Buchstabe O) die Koordinaten und Bewegun-
gen der deutsch-deutschen Geschichte eines Philologen und Intellektuellen vor
Augen.
11 Krauss, Werner: Vor gefallenem Vorhang. Aufzeichnungen eines Kronzeugen des Jahrhun-
derts. Herausgegeben von Manfred Naumann. Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 164.
12 Ich danke Karin Preisigke vom Werner-Krauss-Nachlass für die freundliche Recherche die-
ser Angaben.
Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur 521
In der Berliner Ausgabe der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 4. Mai 1944 findet
sich ein Artikel von Dieter Korodi. Dieser feierte unter dem Titel „Die freundliche
Leitzahl“ die idyllische Volkstümlichkeit und Harmlosigkeit dieser administrati-
ven Errungenschaft der Reichspost. Von Krauss wurde er als „papier collé“ ins
Manuskript, aber leider lediglich in zitierter Form in den Roman übernommen.
Darin heißt es: „Das freundliche Verhältnis zwischen Post und Publikum kommt
auch der Postleitzahl zugute, gegen deren Einführung sich nirgends ein Wider-
stand regte. Nicht immer wurde eine behördliche Maßregel mit solchem Verständ-
nis aufgenommen. Als hätte man insgeheim schon lange auf sie gewartet, ebnete
man ihr den Weg zur Volkstümlichkeit, die sie unzweifelhaft in hohem Maße
genießt.“13
War hier tatsächlich von möglichem „Widerstand“ die Rede? Noch war es
ein Jahr bis zum Zusammenbruch der Nazi-Diktatur, ein für Werner Krauss un-
endlich langes Jahr. Erstaunlich ist nicht, dass sich hinter der in PLN als Quelle
angegebenen „Großhalykonischen Allgemeinen Zeitung“ die Deutsche Allge-
meine Zeitung verbirgt, wohl aber die Tatsache, dass bislang nicht darüber nach-
gedacht wurde, warum Krauss nicht bei der Begrifflichkeit der „Postleitzahl“
blieb, wie sie in diesem Zeitungsausschnitt auch benutzt wurde, und warum der
in Stuttgart geborene Romanist seinem Roman daher auch nicht den Titel PLZ,
sondern PLN gab. Genau hierüber aber möchte ich mit Ihnen nachdenken, um
die Schreibweise des Marburger Romanisten präziser zu erfassen.
Die Antwort auf die Frage, warum sich bislang niemand über die Verände-
rung von PLZ zu PLN philologische Gedanken gemacht hat, ist so schwer nicht
zu finden. Sie dürfte zum einen wohl darin bestehen, dass der Autor schon im
Titel jene Grenze markieren wollte, welche die sprachliche Realität seines
Kunstwerks von der (nicht zuletzt auch sprachlichen) Wirklichkeit Deutsch-
lands trennte. So markiert bereits der Titel eine jener Grenzziehungen, an
denen sich Krauss’ erster Roman abarbeiten sollte. PLN schafft eine eigene
sprachliche, textuelle Welt, die mit der Realität Nazideutschlands freilich in vi-
talem Austausch steht, jedoch nicht mit dieser gleichzusetzen ist.
Fragen wir nach dem Verfahren, dessen sich der Autor bedient, um diese ‚ei-
gene‘ Welt zu schaffen und seine Erlebnisse „in den Abstand einer geordneten
Darstellung zu verbringen“,14 so fällt die Antwort auf diese zweite Frage womög-
lich noch einfacher – wenn auch gewiss nicht simpel – aus: Der Romantitel ent-
steht durch eine schlichte mechanische Drehung. Krauss nutzt einen einfachen,
13 Krauss, Werner: PLN, S. 8. Die Kopie des Originalbeitrages der DAZ findet sich in Fillmann,
Elisabeth: Realsatire und Lebensbewältigung, S. 586.
14 Krauss, Werner: PLN, S. 5.
522 Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur
für jede Leserin und jeden Leser sofort einsichtigen Trick. Das Z wird um neunzig
Grad gedreht und durch diese kleine Verstellung in ein N verwandelt, das nicht
nur für die Nummer, sondern auch für jenes Nazitum steht, das alles in Nummern
verwandelt zu haben scheint: von den territorialen Räumen des (postalisch neu-
geordneten) Reiches bis hin zu den Nummern seiner KZ-Insassen, aber auch jener
Gefängniszellen, die Werner Krauss seit seiner Verhaftung am 24. November 1942
durchlief. Die Nazis hatten die Welt höchst rational in Nummern verwandelt; ihr
Reich war, wie wir im vorigen Teil sahen, keines blanker Irrationalität, sondern
einer rationalen Vernunft, wie sie in Max Horkheimers und Theodor W. Adornos
Dialektik der Aufklärung zutreffend beschrieben wurde.
Das Verfahren der Verwandlung von Z in N gibt uns zugleich einen Schlüs-
sel zur Ästhetik dieses Schlüsselromans in die Hand: Die Lettern von PLN füh-
ren vor, wie sich der gesamte Text auf Grundlage einer Technik und mehr noch
einer Ästhetik der Verstellung entfaltet. Dieser sollten wir nachspüren!
Die Postleitnummer des Titels unterstreicht von Beginn an mehrere für den
gesamten Roman konstitutive Dimensionen und Isotopien: Sie verweist zum
einen auf die Zielsetzung einer Kommunikation, eines Austausches zwischen
Sender und Empfänger der von Werner Krauss als Autor zu verantwortenden
‚Sendung‘. Zum anderen macht sie aber auch auf die Tatsache aufmerksam,
dass es sich bei dieser Botschaft um chiffrierte Kommunikation handelt, die
vom Empfänger adäquat dechiffriert werden muss. Das kleine ‚Rätsel der Um-
wandlung von „Postleitzahl“ in „Postleitnummer“ führt im Titel bereits vor, in
welcher Weise die Ent-Zifferung, die Dechiffrierung erfolgen kann: durch einen
Dreh, eine Technik einfacher Verstellung. Doch dies gilt auch für das zweite
Element des zweigliedrigen Titels, das dem Lesepublikum bereits beim ersten
Blick ‚rätselhaft‘ scheinen dürfte. Denn was ist mit der „halykonischen Seele“
gemeint?
Die in den bislang aufgeführten Zitaten erkennbare Verwendung lässt un-
schwer darauf schließen, dass das ‚Halykonische‘ gleichsam als Deckname an
die Stelle des ‚Deutschen‘ tritt. So wird die Deutsche Allgemeine Zeitung zur
„Großhalykonischen Allgemeinen Zeitung“, das „großdeutsche“ zum „groß-
halykonischen“ Reich, „Großdeutschland“ entsprechend zu „Großhalykonien“.
Was aber ist dieses Halykonien? Man kann in jedem Falle den Umstand schwer-
lich übersehen, dass die Tarnung so gering ist, dass ihr eine Schutzfunktion –
etwa für den Häftling Werner Krauss – nicht zugesprochen werden kann. Als
Tarnung taugt diese Bezeichnung nicht, wohl aber als semantischer Sammel-
punkt verschiedener Isotopien.
Nach wenigen Zeilen glaubt ein alphabetisierter Leser nicht nur zu wissen,
dass sich hinter „PLN“ die Postleitnummer und hinter der „halykonischen“ die
deutsche Seele ‚verstecken‘. Die Chiffrierung dient – entgegen aller gutgemein-
Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur 523
ten Beteuerungen in einer Vielzahl von Studien – weder Tarnung noch Schutz,
sondern lässt durch ihre unmittelbare Ersetzbarkeit das auf den ersten Blick ‚Ge-
meinte‘ nur umso deutlicher durchscheinen. Gleichzeitig wird jedoch sprachlich
die Differenz markiert, welche die Romanwelt von der Welt des ‚Dritten Reiches‘
scheidet. Beide Bereiche werden nicht in eins gesetzt.
Damit wird in diesem Roman, der in der Todeszelle entstand, die ästhetische
Vermittlung einer paradoxen Situation bezweckt: Gerade weil eine hohe Transpa-
renz und Übersetzbarkeit der textinternen in textexterne Elemente gegeben ist,
wird eine einfache Gleichsetzung, eine unmittelbare Identifikation unterlaufen.
Die Transparenz impliziert Differenz. Großhalykonien verweist auf das Großdeut-
sche Reich, geht aber nicht in diesem auf und fällt nicht mit ihm zusammen. Die
Veröffentlichung des Romans im Jahre 1946 hätte sich allein aus Gründen des
Schutzes keiner Tarnung, keiner Chiffrierung mehr bedienen müssen; doch hätte
PLN ungeheuer an Bedeutungsvielfalt verloren, wäre „Großhalykonien“ durch
„Großdeutschland“ ersetzt worden. Krauss wusste sehr wohl um die ästhetische
Bedeutsamkeit seines Verfahrens. Und es ist faszinierend zu sehen, dass er sich
selbst in jener existenziellen Grenzsituation, in einer von Todesangst geprägten
Lage, nicht auf simplere Darstellungsmuster verließ, sondern jener semantischen
Komplexität und Vielfalt treu blieb, wie er sie später nicht nur in seinen literatur-
wissenschaftlichen Analysen zur Geltung bringen, sondern auch in der Welt des
spanischen Sprichwortes15 entdecken sollte.
Des Weiteren wird auch an diesem zweiten ‚rätselhaften‘ Titelelement das
literarische Verfahren der Verstellung vorgeführt. Denn welche Deutung man
auch immer für den etwas sperrigen Ausdruck „halykonisch“ vorschlagen mag:
Unverkennbar ist doch, dass er aus einer Metathese, der Verstellung zweier
Buchstaben hervorgegangen ist: Aus dem Halkyonischen ist das Halykonische
geworden; auch hier haben wir es also mit einem kleinen Dreh zu tun.
Die bereits erwähnte Elisabeth Fillmann hat auf eine Reihe bisheriger Deu-
tungen der Chiffre „halykonisch“ aufmerksam gemacht,16 denen man sicherlich
den Hinweis auf Robert Musils Schöpfung von „Kaukanien“ und des „Kaukani-
schen“ – als literarisch gelungene Verballhornung des habsburgischen k.u.k.-
Reiches – in seinem Mann ohne Eigenschaften hinzufügen darf. Halykonien ist
wie Kaukanien ein eigenes literarisches (Zwischen-) Reich. Der Rückgriff auf
den griechischen Mythos von Alkyone, der sich gemeinsam mit vielen weiteren
mythologischen Anspielungen einer den gesamten Roman durchziehenden an-
15 Vgl. Werner Krauss Die Welt im spanischen Sprichwort. Spanisch und deutsch. Leipzig: Ver-
lag Philipp Reclam jun. 21971.
16 Vgl. Fillmann, Elisabeth: Realsatire und Lebensbewältigung, S. 371–374.
524 Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur
tiken Isotopie zuordnen lässt, führt das Element der Totenklage, aber auch
jener „halkyonischen Tage“ ein, in welcher die Stürme aus Respekt vor der
Trauer Alkyones um die Zeit der Wintersonnenwende nicht blasen und damit
gleichsam die Ruhe vor dem Sturm aufrufen. Denn Großhalkyonien sollte, des-
sen war sich Werner Krauss gewiss, nach dem Sturm zu Recht untergehen.
Gleichzeitig ist PLN gewiss auch der Roman von Passionen einer Seele in
der Ruhe vor dem Sturm, in der tödlichen Ruhe der Gefängnis- und Todeszelle.
Werner Krauss mag durch seine gleichzeitige Arbeit an Graciáns Criticón – auf
die noch zurückzukommen sein wird – an diesen Mythos erinnert worden sein.
Entscheidend für unsere Fragestellung ist aber die Tatsache, dass die Meta-
these, die absichtsvolle Vertauschung der Buchstaben, welche Heinrich Böll
sehr zutreffend einmal als „Dissimilation“ bezeichnete,17 ein zweites Mal be-
reits im Titel das Verfahren der Verstellung unterstreicht. Gewiss wären auch
andere Lösungen der Verstellung denkbar gewesen, so etwa ein den Hitlergruß
persiflierendes ‚haylkonisch‘ oder ein ‚hakylonisch‘, das gleichsam ein babylo-
nisches Zeitalter hätte miteinblenden können. Krauss führt uns auf all diese
Spuren seines schreibenden Widerstandes gegen das Unrechts-Regime der Hit-
ler-Diktatur – noch von seiner Todeszelle aus.
Der literarisch doppelt markierte Abstand zwischen außersprachlicher Rea-
lität und fiktionaler Welt eröffnet zugleich den Spielraum, den PLN für sein ro-
manhaftes Spiel – und Krauss für sein Spiel mit den Masken des Romanciers
und des Romanisten – nutzt. Die nicht nur romantechnisch in einer mensch-
lichen Grenzsituation, sondern auch existenziell notwendige Distanzierung von
den Ereignissen, auf die der aus Schwaben stammende Philologe in seinem
Vorwort aufmerksam machte, wird im Sinne eines Verstellens und einer Ver-
stellung eingeleitet. Der Titel funktioniert wie eine Mise en abyme, die freilich
zu den kürzesten und dichtesten der Literaturgeschichte zählen dürfte. Viel-
leicht bedurfte es dazu eines Philologen, eines Romanisten, der in einer exis-
tenziellen Grenzsituation zum Romancier mutierte.
In seiner in der alten Bundesrepublik nach eigenem Eingeständnis kaum zur
Kenntnis genommenen Rezension des Romans fragte Peter Härtling mit Blick auf
Die Passionen der halykonischen Seele gerade aus der Erfahrung einer großen
zeitlichen Distanz zu Recht: „Wie beschreibt man Diktaturen, wie schreibt man
gegen sie, wenn man ihnen ausgeliefert ist? Sieht man die Mordwerkzeuge noch,
17 Vgl. Böll, Heinrich: Deutscher Narrenspiegel. Werner Krauss: „PLN – Die Passionen der
halykonischen Seele“. In: Die Zeit (Hamburg) (14.10.1983), S. 9. Elisabeth Fillmann verweist
auf diese Deutung und betont zugleich, der „Schönheitsfehler der Metathese von k und y“ drü-
cke den von ihr aufgelisteten Deutungen „einen Zug von Entstellung“ auf (Realsatire und Le-
bensbewältigung, S. 373).
Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur 525
wenn man sie am eigenen Leibe spürt?“18 Dies ist zweifellos eine der Grundfra-
gen, die sich quer durch diesen Teil unserer Vorlesung ziehen und auf die Wer-
ner Krauss eine ästhetisch überragende Antwort gab.
Denn trotz aller Widersprüche und Inkongruenzen hat der romanistische
Romancier in seiner existenziellen Bedrohung auf diese in der Tat entschei-
dende Frage nach der Distanz, nach dem Abstand eine überzeugende ästheti-
sche Antwort gegeben. Diese setzt mit den ersten Zeilen seines der Potsdamer
Ausgabe von 1948 vorangestellten und allen späteren Ausgaben beigefügten
Vorworts ein und enthält zunächst eine Leseanweisung: „Bei der Lektüre dieses
Buches muß das Datum und die Bedingung seines Entstehens beachtet werden.
PLN wurde in Fesseln geschrieben und ist ein gefesseltes Buch.“19
In der Metaphorik der Fesselung (aber nicht Knebelung), die bereits in der
Erstausgabe mit dem Verweis auf die „in vinculis eng und flüchtig beschriebenen
Zettel“20 auftauchte, legt uns der von Vossler und Auerbach geprägte Textwis-
senschaftler eine Leseweise nahe, welche die – ganz den Grundüberzeugungen
des Wissenschaftlers entsprechend – von Zeit und Umständen der Niederschrift
gesetzten Bedingungen ins Auge fasst. Dies sollte man nicht als Aufruf zur Iden-
tifikation oder zum semantischen Determinismus missverstehen. Denn zugleich
scheint mir das mehrfache Insistieren auf der Fesselung dem Lesepublikum na-
hezulegen, diese nicht allein historisch zu rekonstruieren, sondern darüber hin-
aus auch zu lösen. Das Buch stellt damit seinem Leser eine doppelte Aufgabe:
jene einer Kontextualisierung und einer gezielten Entfesselung. PLN ist nicht nur
als Gefängnis-, sondern auch als Widerstandsliteratur erst noch zu entfesseln,
wird in diesem Roman, von dem Krauss in seiner Todeszelle nicht ahnen konnte,
ob sein Manuskript jemals das Licht der Welt erblicken würde, doch vorgeführt,
wie Widerstand gegen ein totalitäres, mörderisches und menschenverachtendes
Regime selbst in Fesseln noch geleistet werden kann.
Erhellung der historischen Zusammenhänge und Entfesselung sind gewiss
keine gegensätzlichen, sondern komplementäre Begriffe und Zielstellungen.
Doch sollte man sich vor der Ansicht hüten, mit einer Kontextualisierung dürfe
zugleich auch die Aufgabe der Entfesselung als erfüllt gelten. PLN versucht,
beide Bewegungen miteinander zu verbinden: Grenzsetzung und Entgrenzung.
Beide sollen folglich in der hier unternommenen Lektüre auch aufeinander be-
zogen und wechselseitig fruchtbar gemacht werden.
18 Härtling, Peter: Werner Krauss: PLN. In: Die Welt der Literatur 2 (1965), S. 29; hier zitiert
nach dem Selbstzitat Härtlings in seinem aus Anlass der bereits aufgeführten, 1983 erschie-
nenen Neuauflage von PLN verfassten Text „Ein Nachwort in einem Nachwort“ (PLN S. 315).
19 Krauss, Werner: PLN, S. 5.
20 Ebda., S. 7.
526 Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur
Die Erfahrung der Grenze ist in diesem Roman eines Romanisten allgegenwär-
tig: am Ort des Schreibens selbst, in der Zelle des zum Tode Verurteilten im Zucht-
haus Plötzensee und später in anderen Gefängnissen; in der ständigen Möglichkeit
eines abrupten Endes eines Schreibens, das den Schlusspunkt fürchtet und sich
der „rettende[n] Verzögerung des vollstreckbar gewordenen Urteils“21 verdankt. Es
ist die Metaphorik eines Schreibens in vinculis, das beständig auf die Begrenzung
seiner Bewegungsfreiheit verweist und nicht zuletzt in der verbindenden Trennung
von romanistischem und romanhaftem Schreiben zum Ausdruck kommt, in dem
sich Graciáns Lebenslehre dialogisch mit jener des Aloys Ritter von Schnipfmeier
in PLN buchstäblich ‚auseinander-setzt‘. Philologie und Logophilie greifen bestän-
dig ineinander ein. PLN ist nicht zuletzt ein Dokument des Widerstandes gegen die
dumpfe, alles Denken erstickende Sprache der Diktatur.
Wenn auch bis heute rätselhaft und weitgehend ungeklärt geblieben ist, wie
es möglich war, dass Krauss ein so umfangreiches Manuskript aufbewahren und
von Gefängnis zu Gefängnis mitnehmen konnte, so ist doch mit dem Heraus-
schmuggeln des Textes, von dem bereits im Vorwort die Rede ist, eine erste Grenze
überwunden: jene zwischen Gefängnis und Gesellschaft, die sicherlich nicht
gleichgesetzt werden kann mit jener zwischen Kerker und Freiheit. An dieser
Grenze scheitert der in Haft verbleibende Körper des Gefangenen, während sein
Schreiben die Möglichkeit erhält, in dieser Außenwelt eine Öffentlichkeit – und
sei sie auch die einer Nachwelt – zu erreichen. Krauss nutzte alle Möglichkeiten,
sich sein Mensch-Sein auch unter der tödlichen Bedrohung zu bewahren und
eben damit Widerstand gegen den Hitler-Faschismus zu leisten.
So beruht die angestrebte Kommunikation, für welche die Lettern des Ro-
mantitels stehen, zunächst auf der Überwindung dieser ersten Grenze, die das
Manuskript an den Körper und den Körper an die Materialität der Mauern bin-
det. Diese fundamentale Grenzziehung erscheint mehrfach im Roman, beson-
ders eindrücklich aber auf jenen Seiten, die sich einem Schreiben zuwenden,
das den Innenraum dieser Mauern nicht verlässt. Die Hauptfigur des Romans,
Aloys Ritter von Schnipfmeier, der anders als Krauss die Zeit in der Haft nicht
zum Schreiben nutzt, wendet sich den Unheil verkündenden Zeichen an der
Wand seiner Zelle zu:
Hier hatte jemand Tagebuch geführt und in dramatischen Abständen die ihm beschiede-
nen richterlichen Verhöre, Anwaltsbesuche und Paketzuwendungen aufgezeichnet und
dazwischen zwei „verschärfte Verhöre“ mit dicken, vielsagenden Zitterstrichen unter-
malt. Das jähe Abreißen der Eintragungen ließ mit Schaudern die Endstation dieser
schwer geprüften Existenz vermuten. Ein anderer hatte noch Zeit und Kraft genug beses-
21 Ebda., S. 5.
Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur 527
sen, um offenbar kurz vor dem Schrecken des Aufbruchs den abschließenden Eintrag an-
zubringen. Tag X, L. ins Konzentrationslager überführt. Dieser letzte und liebevolle Um-
gang mit sich selbst, den die Initiale bekundete, rührte Schnipfmeier jedesmal von
neuem, wenn er den imaginären Namen zu ergänzen versuchte.22
Schreiben ist auch in diesen Fällen ein Schreiben als Widerstand, als Doku-
ment, hier gewesen und gelitten zu haben. Und doch ist dieses Schreiben als
Widerstand fundamental ohnmächtig, bezeugt noch die Allmacht der Henker
und Schergen der Diktatur. Die weitere Abfolge unterschiedlicher schriftlicher
Zeugnisse, die in diesem vielsagend mit dem Titel „Die Besiegung der Zeit“ ver-
sehenen Kapitel aufgeführt sind, verweist auf die letztlich allen gemeinsame
Tatsache, dass ihr Schreiben bestenfalls eine (nicht selten postume) Kommuni-
kation innerhalb der Grenzen des Zuchthauses (nicht zuletzt als Menetekel an
der Wand) ermöglicht, die Grenze zur Außenwelt aber nicht zu überspringen
vermag. So ist denn ein anderes Schreiben notwendig!
Wer auch immer sich hinter der Initiale L., die ja auch im Zentrum von PLN
steht, verbergen mag – und jede namentliche Zuweisung könnte nichts daran än-
dern, dass hier ein individuelles und ein kollektives Schicksal zugleich gemeint
sind –, entscheidend ist hier die im Verhältnis zum Autor radikal entgegenge-
setzte Beziehung von Körper und Schrift. Denn während L‘s Schrift innerhalb der
Gefängnismauern zurückbleibt und sein Körper zum baldigen Tod abtranspor-
tiert wird, bleibt der Körper des realen Autors Werner Krauss im Zuchthaus zu-
rück. Seine Schrift aber überschreitet die Grenze zur Außenwelt und entgeht
dadurch jenem Schicksal einer Abgeschlossenheit des Schreibens, das sich in sei-
ner Funktion als existenzielles Zeugnis, als Dokument der „Endstation“ einer
„schwer geprüften Existenz“ erschöpft. Letzteres ist ein Schreiben, das im Zeug-
nishaften endet – ein Schreiben, das wir bereits in der Literatur der Konzentrati-
onslager vorgefunden hatten und mit dem sich ebenso Albert Cohen wie vor
allem auch Max Aub und Jorge Semprún kritisch auseinandersetzten. Denn
ihnen ging es nicht um ein bloßes Zeugnis-Ablegen, sondern um ein ästhetisches
Artefakt, um die Schöpfung des Kreativen, das als von Menschenhand Geschaffe-
nes dennoch über die Zeit hinausgeht.
Allein diese Konstellation macht verständlich, warum Werner Krauss’ Schrei-
ben weder jäh abbrechen noch zu einem Ende kommen durfte, warum das Ende
seines Romans notwendig ‚offen‘, vieldeutig auslegbar und somit fortführbar
bleiben musste. Denn hinter allen Grenzen und Grenzüberschreitungen, hinter
allen Fesseln und Entfesselungen lauert in und über diesem Roman die Grenze
vom Leben zum Tod. Diese Grenze ist eine, die zwischen dem Leben und dem
22 Ebda., S. 282.
528 Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur
Tod das Sterben als Prozess einführt, in dem doch immer noch eine minimale
Chance auf Schöpfung besteht. Werner Krauss wusste dies; und er versuchte,
diese Chance zur Kreation zu nutzen. Daher rührt sicherlich sein Entschluss,
etwas in die Welt zu setzen, mit anderen Worten: etwas zu Gebären, was nicht
an die schiere Materialität des Körpers gebunden ist – mithin ein Kunstwerk
hervorzubringen.
Es gibt gute Gründe dafür, das Kapitel „Die Besiegung der Zeit“ zu jenen
narrativen Kernen zu zählen, die möglicherweise am Beginn der Niederschrift
des Romans standen. Dieser begann erst spät – und sicherlich nie in seiner Ge-
samtheit – sich zu einer durchgängigen, kontinuierlichen Form zu fügen.23 Das
Kapitel „Ein Priester des Todes und ein Exkurs“ signalisiert bereits mit seinem
Titel eine gewisse Eigenständigkeit, die durch eine genauere Analyse zweifellos
bestätigt werden könnte. Eine solche soll etwas mehr Licht in die Genese und
Strukturierung des Romans bringen.
Situieren wir kurz das Kapitel in seinem romanesken Kotext. Es ist das fünfte
von insgesamt siebenundfünfzig mehr oder minder kurzen Kapiteln, die durch
kein Inhaltsverzeichnis ‚erschlossen‘ werden, und es wirft die Leserschaft von
Beginn an in ein Labyrinth. Über ihm könnte als Auftakt das Dantes Göttlicher
Commedia entnommene Titelmotto des ersten Kapitels stehen: „Che la diritta via
era smarrita“ (und eben nicht „Lasciate ogni speranza“). Denn es bildet einen
wichtigen, früh platzierten Zugang zum Verständnis des gesamten Romans,
indem es die Grenze zwischen Leben und Tod in ihrer wohl aus Sicht eines Häft-
lings brutalsten Form vorführt – anhand der ausführlichen Darstellung einer
Hinrichtungsszene. Immer wieder scheinen diese Visionen den Autor heimge-
sucht zu haben. Das Schreiben über sie und mehr noch ihre ästhetische Ausge-
staltung dürften ihren Verfasser entlastet haben.
Die schonungslose Detailversessenheit dieses Kapitels mag uns plastisch
vor Augen führen, wie sehr die Imagination des Häftlings ein ums andere Mal
neue Einzelheiten hinzugefügt und zu einem Gesamtbild von ungeheurer exis-
tenzieller wie reflexiver Schärfe und Intensität geformt haben mag. Der zum
Tode Verurteilte umging diese Bilder nicht, sondern gestaltete sie mit großer
Sorgfalt aus – ein Zeichen zweifellos der Stärke, aber auch der Hoffnung. Doch
zeigt gerade der letzte Abschnitt dieses Kapitels eine Distanz, die eine von meh-
reren Antworten auf Peter Härtlings eingangs zitierte Frage gibt, ob man die
„Mordwerkzeuge“ noch sehe, „wenn man sie am eigenen Leibe spürt“:
23 Auf die Möglichkeit älterer ‚Bausteine‘ hat bereits Elisabeth Fillmann (Realsatire und Le-
bensbewältigung, S. 88) hingewiesen.
Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur 529
Man hat sich manchmal gefragt, ob nicht in irgendwelchen Gewitterwolken ein Philo-
soph, vielleicht auch ein Deus malignus, über der halykonischen Staatsführung wache
oder im Haupt seines Großlenkers Platz genommen habe. Aber in Wahrheit war es nur
die lückenlose Folgerichtigkeit des Verhaltens, die jede Handlung bis zu einem metaphy-
sischen Schnittpunkt vortrieb. Volk und Führung waren sich keineswegs uneinig; aber
ihre Einigkeit bestand in der hemmungslosen Aktivität der einen und in der allbereiten
Passivität der anderen Seite. Die wenigen, bei denen die Lehren des Staates fruchteten,
wurden zu seinen Feinden. (Wir werden sie später kennenlernen.) Nur die vollständige
Inkonsequenz der ungeheuren Mehrzahl des Volkes, sein Festhalten an einem ererbten
Richtmaß aus früherer Zeit bewahrte es vor dem Zwang einer unliebsamen Stellung-
nahme. Denn wenn die Schranken von Recht und Unrecht in der Unberechenbarkeit
einer Staatsräson aufgehoben waren und damit alle Lagen des Daseins unter den drohen-
den Schatten eines Verbotes gerieten, war dann nicht das gefährliche Leben selbst nur im
Trotz gegen jedes Gesetz zu bestehen?24
In dieser Schlusspassage des fünften Kapitels nimmt eine Erzählerfigur die Fäden
in die Hand, die ihrerseits mit den Zeichen ebenso der narrativen Macht – so im
Hinweis auf die noch nicht eingeführten Romanfiguren – wie der Diskursmächtig-
keit ausgestattet ist. Eine gewisse Holprigkeit des literarischen Verfahrens mag
uns dabei durchaus auffallen: Zusammen mit der Tatsache einer Feingliederung
in zahlreiche Kapitel, die einfacher niederzuschreiben waren und auch größere
Zeiträume eines Nicht-Schreiben-Könnens tolerierten, mag sich hierin die Tatsa-
che niederschlagen, dass PLN nicht nur ein in Fesseln verfasstes, sondern ein
stets von der Hinrichtung seines zum Tode verurteilten Verfassers bedrohtes
Buchmanuskript war.
Die Vielzahl schrecklicher, mehr als nur bewegender Details, die bisweilen
die Eindringlichkeit bestimmter Szenen in Peter Weiss’ Ästhetik des Wider-
stands noch übertrifft, wird aufgehoben in einem übergreifenden Diskurs, in
einem umfassenden Erklärungsmuster, das sich am Ende nur deshalb noch zu
einer rhetorischen Frage öffnet, weil in den mehr als fünfzig nachfolgenden Ka-
piteln so viel noch zu erzählen bleibt. So viel ist noch offen an Fragen und Re-
flexionen, die ebenso den Autor wie seine Erzählerfigur mit Blick auf das
Großhalykonische Reich und dessen Beziehung zwischen Führer und Volk
umtreiben.
Die Erzählerfigur aber begibt sich in eine Höhe theoretischer Reflexion, die
ohne Zweifel mit jener „höheren Warte“25 identifiziert werden darf, von der aus
richtung zugeführten Gefangenen, dem die Knie auf seinem letzten Weg den
Dienst versagen: „er wird fast fühllos in ein Nichts geschleppt. Jetzt plötzlich öff-
net ihm eine Fülle des Lichts die Augen der Seele.“29 Mit dem Verweis auf „die-
sen einzigen, alles aufsaugenden Blick“30 und mit dem Rückgriff auf die für den
Romanisten Krauss aus der spanischen Mystik, aber auch aus seiner Gracián-
Lektüre31 vertraute topische Metapher von den Augen der Seele verbindet sich
unmittelbar vor dem Vollzug der Hinrichtung eine gleichsam traumartig erfah-
rene, vom Häftling wohl erträumte Epiphanie. Für den belesenen Krauss standen
diese Visionen wohl oft vor seinen Augen der Seele.
Fülle und Simultaneität von Wahrnehmung und Erkenntnis weisen voraus
auf das Ende des letzten Kapitels, in dem es von der zentralen Figur, dem mitt-
lerweile von seinem Posten entfernten Reichspostminister und Briefmarken-
sammler Aloys Ritter von Schnipfmeier, heißt:
Ob die Entführer seine Befreier waren oder die Mörder, diese Frage versank in dem unab-
lässigen Wachstum des Lichtes, zu dem ihn der Motor in einem Aufstieg ohne Ende em-
porriß. Arthur, immer drohend und zornig, in der gebietenden Entschlossenheit seines
Wesens, war wie ein Drache am Horizont erschienen, während die Erde brannte und Hek-
atomben von Menschen vor ihrem vergeblichen Opfer sich krümmten.32
Alles in dieser Passage erinnert an Dantes geführte Reise durch die Kreise sei-
nes Inferno. Nicht umsonst stehen diese Schlusssätze des Romans unter der letz-
ten Kapitelüberschrift „Der unendliche Augenblick oder Die große Reise, die
dieses Buch nicht beendet“, sondern es auf Schreckensvisionen des Künftigen
hin öffnet. Diesem offenen Ausgang des Romans stünde als Titel „Apocalypse
Now!“ schlecht zu Gesicht. Die Grenze zwischen Leben und Tod, die den gesamten
Roman durchzieht, bricht im apokalyptisch eingefärbten Schlussbild ein letztes
Mal auf, um doch zugleich die Grenzen zwischen Leben und Tod, zwischen
Mördern und Befreiern, zwischen Unendlichkeit und Augenblick durchlässig,
unbestimmbar, allgegenwärtig zu machen. Der Tod ist nicht das Ende, denn
es gibt auch noch einen Tod nach dem Tod, der im grellsten Licht erstrahlt!
Epiphanie und Apokalypse, Weltenlicht und Weltenbrand vereinigen sich
in diesem polysemen, auf eindeutige Lösungen nicht reduzierbaren großartigen
Romanschluss, der die Reisebewegung dieses Buches fürwahr nicht beendet.
Ein romanesker Schlusspunkt ist damit nicht gesetzt, eher das Zeichen für die
Hoffnung auf einen Neuanfang, auf eine neue Gesellschaft, ein neues Zusammen-
29 Ebda., S. 31.
30 Ebda.
31 Vgl. Jiménez Moreno, Luis: Baltasar Gracián (1601–1658). Madrid: Ediciones del Orto 2001.
32 Krauss, Werner: PLN, S. 299.
Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur 533
leben. Überdies könnte man sehr wohl die These wagen, dass die Unabschließbar-
keit dieses Schlusses eine simple Klassifizierung des Romans verhindern sollte.
Denn PLN mag mit guten Gründen als Gefängnisliteratur, als Zeugnis und Doku-
ment oder als antifaschistischer Widerstandsroman bezeichnet werden: Er ist es
und ist unendlich viel mehr. PLN ist eine Literatur der Grenze, die vor ihrem Ver-
stummen, ja noch in ihrem Verstummen Fülle und Erfüllung sucht; ein Roman als
Erkundung der Grenzen von Leben und Tod, der auch nach einem möglichen
Tode des Verfassers an dessen Stelle für eine bessere Welt eintreten soll.
In seinem kurzen, aber aufschlussreichen Vorwort zur ersten Potsdamer
Ausgabe von PLN sprach Werner Krauss davon, dass die „Befürchtung einer
vorzeitigen Entdeckung“ zum „Anlaß der romanhaften Einkleidung“ geworden
sei.33 Angesichts der Transparenz dieser Einkleidung, bei der gerade der naive
Blick Großhalykonien mit Großdeutschland oder den Großlenker Muphti I. mit
dem Führer Adolf Hitler zu identifizieren versucht ist, fällt dieser Erklärungs-
versuch – wie wir sahen – wenig überzeugend aus. Dies gilt auch angesichts
der Tatsache, dass er mit dem Hinweis auf die „beamtete[r] Neugier der mehr
oder weniger lesekundigen Wächter und Kriegsgerichtsräte des Dritten Rei-
ches“34 kokettiert. Werner Krauss goss Hohn und Spott über die beflissenen
Diener der Nazi-Diktatur aus.
Der Topos von den stets dummen Schergen des Naziregimes, der in der deut-
schen Geschichte noch immer zu einer längst automatisierten Unterschätzung der
Rechten geführt hat und auch in unserer Zeit noch immer führt, mag dazu bei-
getragen haben, dass man Krauss diese mit geringem Nachdruck vorgebrachte
oder eher nachgeschobene Rechtfertigung gerne abnahm. Die extreme Rechte hat
noch immer über gerissene Führer verfügt, die stets mit der Unterschätzung der
von ihnen kontrollierten Bewegungen kalkulierten. Wir sollten diesen ewig glei-
chen Fehler einer Unterschätzung heute nicht wieder machen und auch im Lande
Brandenburg, wo sich bei den letzten Landtagswahlen ein knappes Viertel der Be-
völkerung als gefügiges Wahlvolk zum rechtsradikalen Flügel der sogenannten
‚Alternative für Deutschland‘ bekannt hat, auf der Hut sein vor der Intelligenz
einer Bewegung, die nach den Dummen fischt.
PLN ist nicht in Geheimschrift geschrieben: Noch dem leseunkundigsten
Reichsgerichtsrat wären die überdeutlichen Parallelen sofort ins Auge gesprun-
gen. Zu offenkundig waren doch die ständigen Grenzüberschreitungen zwischen
literarischer Fiktion und außersprachlicher Wirklichkeit. Dass die gewählten
Chiffren „ihr eigenes wucherndes Leben begannen“ und die „Darstellungsweise in
tieferen Lagen der darzustellenden Sache“ gründeten, versuchte Krauss mit der
„Romanform“ selbst zu begründen, in der „das vereinzelte Bewußtsein mit einer
sonst niemals wahrgenommenen, beinahe seismographischen Genauigkeit“ re-
agiere.35 Bei einer derartigen Argumentationsweise kam der Forschung zumeist
nicht der Gedanke, dass Krauss im selben Paratext sehr wohl andere Gründe für
die Gattungswahl ins Feld geführt hatte: „In der Philosophie steckt noch ein epi-
scher Vorsatz, eine epische Würde und ein epischer Ernst. Daher gibt es wohl eine
Philosophie des Humors, aber eine humoristische Philosophie kann es nach ein-
schlägiger Auskunft nicht geben. PLN greift also nach den Bewußtseinsformen des
Romans, ohne sich selber die Achtung als Roman verdienen zu wollen.“36
Die Metaphorik der Einkleidung bringt PLN in einen Zusammenhang mit der
Travestie: Die Abgrenzung von der Philosophie, die in dreifacher Wiederholung –
wie einst bei der Leugnung des Petrus – an einem nicht näher bestimmten ‚Epi-
schen‘ ausgerichtet ist, wird in der Folge sogleich wieder zurückgenommen. Als
letztes klassifikatorisches Element führt Krauss den „Charakter des Dokumentes“37
ins Feld, wobei er zugleich wider besseres Wissen betont, dass 1946 „die Abschrift
fast unverändert zum Abdruck gelangt“ und in der Fassung von 1948 „nur die
sprachlichen Linien der am flüchtigsten ausgeführten Stellen nachgezogen“ wor-
den seien.38 Doch einen wichtigen Eingriff in die ursprüngliche Textgestalt stellen
die im Manuskript noch nicht vorhandenen Zwischenüberschriften dar, die dem
Roman nachträglich eine andere Gliederung und Struktur verschafften.39
Bewältigung der Erfahrung Deutschland, Wunsch nach geordneter Darstel-
lung, romanhafte Einkleidung, wuchernde Chiffren, aber auch Roman, Philoso-
phie und Dokument: Werner Krauss geht bei der Verwendung klassifikatorischer
Begriffe und deren Begründung nicht gerade sparsam zu Werke.40 Trug die Frank-
furter Erstausgabe von 1946 noch keine Gattungsbezeichnung auf ihrem Titelblatt,
so ist bedeutungsvoll, dass seit der Ausgabe von 1948, in deren Vorwort Krauss die
Klassifikationen häufte, die Bezeichnung „Roman“ auf den Titelseiten aller Ausga-
35 Ebda.
36 Ebda., S. 6.
37 Ebda.
38 Ebda.
39 Vgl. hierzu wie auch zu anderen Veränderungen u. a. Scheibe, Siegfried: Nachbemerkung.
Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von „PLN“. In: Krauss, Werner: PLN. Die Passionen
der halykonischen Seele. Roman. 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main: Vittorio Klos-
termann 1983, S. 306 u. 308.
40 Dabei ist interessant, dass die Relativierung des ‚Romanhaften‘ im Vorwort gerade jener
Ausgabe von 1948 erfolgt, die erstmals die Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ – wie fortan in allen
späteren Ausgaben – auf der Titelseite trägt.
Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur 535
ben von PLN prangt. Eine bloße Laune des Verfassers? Oder eine Entscheidung
des Verlegers? Gerade auf die letzte Frage muss eine Antwort wohl offen bleiben.
Vergessen wir nicht: Mit PLN war in den Augen vieler der Romanist zum
Romancier geworden, ohne dass dieser doch aufgehört hätte, weiterhin als Ro-
manist tätig zu sein. Nicht umsonst wurden in der bei Vittorio Klostermann in
Frankfurt am Main erschienenen Ausgabe von 1946 auf der letzten Seite drei
Buchpublikationen von Werner Krauss genannt, die allesamt seinem Schaffen
als Romanist zu verdanken waren: Corneille als politischer Dichter 1936, Die Le-
benslehre des Gracián 1946 sowie Spanische Sprichwörter 1946. Damit wurden
für das Erscheinungsjahr von PLN unter Einschluss des Romans allein drei
Werke genannt, auch wenn das Gracián-Buch tatsächlich erst 1947 unter dem
definitiven Titel Graciáns Lebenslehre wiederum bei Klostermann herauskam.
Damit war die paratextuelle Sachlage klar: Krauss erschien zugleich als Roma-
nist, als Romancier sowie als Sammler und Übersetzer einer sehr individuell
ausgelegten Kollektion von Sprichwörtern, die stets seine Spanien- und Welt-
sicht, aber auch die spezifischen literaturwissenschaftlichen und literarischen
Schreibformen schon des Doktoranden bei Vossler durchzogen. Denn es war
gerade diese Welt im spanischen Sprichwort, die dem Marburger Philologen oft-
mals als Ergänzung seines eigenen Lebenswissens diente.
Wenn es denn wahr wäre, dass es wohl eine Philosophie des Humors, aber
keine humoristische Philosophie gebe, dann stellt sich zumindest für einen Ro-
manisten die Frage, ob Gleiches dann auch für die Romanistik gilt. Dass Untersu-
chungen des Humors in der Romania möglich, wenn auch nicht allzu zahlreich
sind, mag niemand bezweifeln; aber ist eine humoristische Romanistik denkbar?
Man mag die Frage verneinen oder – nicht zuletzt auch mit dem Hinweis auf das
unterhaltsame Bändchen Die Welt im spanischen Sprichwort – bejahen, gleich-
viel: Für unsere Fragestellung entscheidend ist, in welcher Weise Werner Krauss
die Grenzen zwischen seinem Schreiben als Romanist und jenem als Romancier
zog und wie beide Pole mit seiner gesamten Existenz, aber auch mit seinen Er-
fahrungen mit dem eigenen Leben, Sterben und Tod zusammenhängen.
Das wissenschaftliche Tun ist für Werner Krauss niemals eine von anderen
menschlichen Tätigkeiten abgeschlossene Aktivität gewesen. Die Wissenschaft
weiß sich mit Gesellschaft, Geschichte und Politik aufs Engste verzahnt: Sie ist
für ihn – wie zu Recht betont wurde – „notwendig politisch, so wie umgekehrt
die Politik wissenschaftlich kritisierbar sein muß. Politik muß wissenschaftlich,
Wissenschaft politisch betrieben werden“.41 Dies läuft im Sinne von Krauss
41 Jehle, Peter: Werner Krauss und die Romanistik im NS-Staat. Hamburg – Berlin: Argument-
Verlag 1996, S. 181.
536 Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur
nicht auf eine politische Steuerung von Wissenschaft hinaus, die er nach der ers-
ten Naivität seiner Leipziger Zeit in der Deutschen Demokratischen Republik wie-
derholt ablehnte. Eine solche Gängelung durch ein totalitäres System, aber auch
eine solche Hörigkeit gegenüber autoritären Staatsformen hatte er bereits in sei-
nem PLN aufs Korn genommen und einer hemmungslosen Parodie ausgesetzt.
Denn als das Reichspostministerium zur Unterstützung seiner Stiftung HILILO-
POTOE, dessen „Kryptogramm“ für das von Schnipfmeier in seiner Eigenschaft als
Reichspostminister ins Leben gerufene „Hilfswerks zur Linderung des Loses unver-
heirateter Postbeamtentöchter“ steht, unter anderem Känguru-Marken ausgibt,
lässt die wissenschaftliche Legitimation nicht lange auf sich warten. So wird in
PLN ein Aufsatz „aus der Feder des bekannten Ethnologen und Völkerpsycholo-
gen, Professor Eugen Widehopf“,42 eingerückt, der in seiner – wie wir heute sagen
würden – intermedial angelegten Briefmarkenstudie unter besonderer Berücksich-
tigung von Völkerseele und Volksgeist zu der Einsicht gelangt, dass „das Kängu-
ruh durch kühne Geistestat zum Symbol einer neuen, von Großhalykonien
geführten, gerechteren und besseren Weltordnung geworden“ sei43. Nein,
Werner Krauss ermangelte es nicht an ernstzunehmendem Galgenhumor!
Die ironischen und zugleich didaktischen Kommentare der Erzählerfigur
konnten hier nicht ausbleiben, wird an diesen Ausführungen doch „bewundert,
wie auf dem Boden echter Wissenschaftlichkeit, die sich in strenger Sachbezo-
genheit nichts zu vergeben brauchte, doch dieselben Einsichten reiften, wie sie
durch die Stichworte der führenden Staatsmänner dem in den Krieg verwickel-
ten Volk unablässig eingehämmert wurden“.44 Ist dies allein auf die Wissen-
schaft im NS-Staat gemünzt? Parodie und Kommentar zielen unmittelbar auf
eine der großhalykonischen Gewaltherrschaft dienstbare Wissenschaft, be-
schränken sich aber keineswegs auf die dem Faschismus hörige universitäre
Forschung. Die Wissenschaftskritik in PLN ist allgemeiner und vor allem grund-
sätzlicher Natur: Sie trifft die zeitgeschichtlichen Kontexte, ist aber nicht an
diese gefesselt. Man könnte durchaus formulieren, dass sie die Wissenschaft im
Nazi-Reich, aber auch in der Deutschen Demokratischen Republik betrifft; und
dass auch in unserer Zeit und in unserem Gesellschaftssystem Krauss’ Kritik
sehr wohl hörbar bleiben muss. Denn ihr eignet etwas zutiefst Überzeitliches.
Diese allgemeingültige Dimension, die den ‚entfesselten‘ Humor, aber auch
die ernsthafte Ermahnung durch den Verfasser zeigt, hatte nicht zuletzt Rück-
wirkungen auf im Roman verwendete literarische Techniken und Verfahren, auf
die erneut und ausführlich zurückzukommen sein wird. Werner Krauss betonte
aber auch an anderer Stelle, seine Vorwürfe richteten sich nicht dagegen, „dass
die deutschen Wissenschaftler zu wenig Wissenschaftler, sondern dass sie außer
diesem Beruf, ihren Beruf als Menschen zu reagieren, überhaupt nicht begrif-
fen“.45 Diese tiefergehende Wissenschaftskritik blieb nicht beim Grundsätzlichen
stehen, sondern versuchte Konzeptionen zu entwickeln, welche jene Wissen-
schaft, die Krauss betrieb, bei aller notwendigen fachlichen und sachlichen Spe-
zialisierung zu einer Literaturwissenschaft der Grundprobleme werden ließen.46
Ein guter Wissenschaftler war für Werner Krauss niemals einer, der nur ein guter
Wissenschaftler war. Wissenschaft war im Krauss’schen Sinne ethische Verant-
wortung gegenüber der gesamten Gesellschaft.
Damit mag zusammenhängen, dass Werner Krauss Autoren besonders
schätzte, die in der Lage waren, die unterschiedlichsten Bereiche menschlichen
Denkens und Handelns in differenzierten Formen des Schreibens zu repräsentie-
ren. So schrieb er in einem bis heute anregenden Versucht, die spanische „Genera-
tion der Niederlage“ nicht allein aus historischer Distanz zu betrachten, sondern
für die Gegenwart fruchtbar zu machen, über den von ihm gewiss niemals kritiklos
bewunderten Verfasser von Del sentimiento trágico de la vida: „Unamuno repräsen-
tiert in der Einheit seines Wesens die Verbindung des Literarischen und des Wis-
senschaftlichen, der Poesie und der Philosophie.“47
Krauss erblickte in dieser Kombination das Heraufkommen eines neuen
Menschentyps: „Ein neuer Typus des geistigen Menschen ist in der Generation
98 erschienen. In ihm vermischen sich Philosophie und Politik, Poesie und
Ökonomie.“48 Doch nicht erst der ihm zeitlich nähere Unamuno, sondern be-
reits Gracián hatte dem im Zuchthaus Plötzensee Einsitzenden gerade aus die-
sem Grunde Bewunderung und den nachfolgend zitierten Ausruf abgerungen:
So vollständig hat Graciáns Moralismus die Scheidewand zwischen Wissenschaft und Dich-
tung abgetragen! Hier, an der Grenze der weltlichen und der sie bekrönenden geistlichen
Wissenschaft, wagt er, der ihm am Herzen liegenden „politischen“ Wissenschaft eine über-
ragende Stellung zuzuweisen. Und zwar mit dieser den Kern einer Wissenschaftsgesinnung
bloßlegenden Begründung: „Sie ist das wichtigste Wissen, weil sie die Lebenskunst lehrt!“49
45 Zit. nach Jehle, Peter: Werner Krauss und die Romanistik im NS-Staat, S. 256.
46 Vgl. Ette, Ottmar: „Von einer höheren Warte aus“. Werner Krauss – eine Literaturwissen-
schaft der Grundprobleme.
47 Krauss, Werner: Eine Generation der Niederlage. In (ders.): Spanien 1900–1965. Beitrag zu
einer modernen Ideologiegeschichte. München – Salzburg: Fink 1972, S. 66.
48 Ebda., S. 57.
49 Krauss, Werner: Graciáns Lebenslehre. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1947,
S. 106.
538 Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur
Und das schreibt einer im Zuchthaus, der wegen Widerstands gegen die Hit-
ler-Diktatur zum Tode verurteilt ist! In dieser verdichteten Passage seines
Gracián-Buches liegt ein Gutteil der Lebenslehre von PLN verborgen. Gracián
und Unamuno werden so zu Wegmarken einer Traditionslinie, die Krauss’
Schreiben selbst fortzuführen bestrebt war.
Der Autor von Corneille als politischer Dichter wusste zwar, dass sich Deutsch-
land im Gegensatz zu Spanien, wo das wissenschaftliche Spezialistentum seit
jeher nur schwach entwickelt gewesen sei, auch künftig in einem beschleunigten
Prozess wissenschaftlicher Ausdifferenzierung befand, der im Verlauf des 20. Jahr-
hunderts das Literarische und das Wissenschaftliche, Poesie und Philosophie
immer weiter voneinander entfernte. Doch blieb er stets bemüht, sein eigenes
Schreiben offenzuhalten für die verschiedensten Ausdrucksformen dessen, was er
in seiner bereits angeführten Wendung als den „Beruf des Menschen“ bezeichnete.
Und man darf hinzufügen: den Beruf des schreibenden Menschen, der den Kern
des Wissens, die Lehre der Lebenskunst entdeckt hat. Denn diese ist eine ars vi-
vendi, die im Lebenswissen wie dem Überlebenswissen ebenso der Literatur wie
der Philologie wurzelt.
Krauss’ literarische wie philologische Texte aus dem Zuchthaus bringen
dieses Lebens- und Überlebenswissen in verdichteter Form zum Ausdruck. Dies
betrifft ebenso die Gestaltung der einzelnen Texte wie auch deren bei Krauss
stets beobachtbare intratextuelle (also Verbindungen zwischen seinen unter-
schiedlichen Texten herstellende) Verzahnung. Es gibt kaum eine Schrift des
Verfassers der Grundprobleme der Literaturwissenschaft, in der nicht augen-
zwinkernd jenseits der Verweise in Fußnoten Bezüge zu anderen Texten aus ei-
gener Feder hergestellt würden.
Krauss’ Roman PLN ist zweifellos ein hochkomplexes Buch, in dem sich
philosophische Abhandlung, fundierte Wissenschaftskritik und literarische Pa-
rodie, aber auch die Charakteristika des Dokuments, des Zeugnishaften und der
Lebensbewältigung mit den Schreibformen von Essay, Erzählung und Politsa-
tire unter dem Dach der Hybridgattung Roman zu einem polyphonen Text ver-
einigen. Krauss wusste die offene Form des Romans für sich zu nutzen.
Darüber hinaus aber entstanden diese Passionen der halykonischen Seele in
einer bezeichnenden Komplementarität zur gleichfalls ‚in Fesseln‘ oder – wie
Krauss in seinem ebenfalls sehr kurzen Vorwort formulierte – „unter besonderen
Verhältnissen“50 geschriebenen philologischen Studie Graciáns Lebenslehre, die
1943 in den Gefängnissen und Zuchthäusern des NS-Staates alternierend bezie-
hungsweise zeitlich synchron mit PLN niedergeschrieben wurde. Für beide Manu-
skripte hätte Krauss jene Losung wählen können, die er dem letztgenannten
Buch mit dem Jean Paul entnommenen Motto mitgab: „… und ein Plan macht ein
Leben unterhaltend, man mag es lesen oder führen.“51
Beide Bücher ergänzten sich nicht nur mit Blick auf jene Selbsterhaltungs-
kräfte, die Krauss ein physisches und geistiges Überleben in ständiger existenziel-
ler Bedrohung erst ermöglichten – wie selbst Krauss’ Antipode Jauss einsehen
musste, der die Gelegenheit der Kommentierung nicht beim Schopfe packte, um
seine eigenen Verfehlungen gegenüber diesem totalitären Regime einzugestehen,
das seinen Kollegen zum Tode verurteilt hatte.52 Stattdessen übte sich Jauss, der
immer höher auf der Karriereleiter in der Waffen-SS kletterte, während Krauss in
seiner Todeszelle saß, in kühler Distanz zum schriftstellerischen Tun des Autors
von PLN, aber mehr noch zu seiner eigenen tiefbraunen Vergangenheit, die er ver-
leugnete. Vielmehr stellen sie weit mehr noch eine widerspruchsvolle Einheit des
Denkens und Schreibens dar, wie dies in einer Reihe von Studien bereits herausge-
arbeitet werden konnte.53 Es wäre daher nicht übertrieben, fügten wir dem Gra-
cián-Buch den Untertitel ‚Die Passionen der europäischen Seele‘ und PLN den
Untertitel ‚Eine Lebenslehre‘ bei.
Vergessen wir nicht, dass Krauss gleich im ersten, Leben und Werk Graciáns
gewidmeten Kapitel den großen Spanier europäisch definierte: „Gracián ist der
erste spanische Geist von wahrhaft und bewußt europäischer Orientierung – darin
ein Vorläufer der Aufklärung, dass er das Nationale als besonderen Umstand der
Veranlagung würdigt und in eine höhere Synthese des geistigen Lebens ein-
führt.“54 Solche Sätze wirken angesichts der nationalistischen Hetzpropaganda
wie Fanale einer Selbstbehauptung, weisen aber zugleich auf einen wichtigen Zu-
gang des Romanisten zur Aufklärungsforschung, der er sich schon wenige Jahre
später, freilich vor allem im französischsprachigen Bereich, zuwenden sollte. Gra-
ciáns Lebenslehre gibt uns aber auch einen Wink, warum Krauss sich in PLN ge-
rade der halykonischen Seele zuwandte. Denn in einer von Krauss übersetzten
Passage Graciáns heißt es: „Wie sollte auch so ein deutscher Riesenkörper ohne
51 Ebda., S. 5.
52 Vgl. hierzu Jauss, Hans Robert: Ein Kronzeuge unseres Jahrhunderts. In: Krauss, Werner:
Vor gefallenem Vorhang. Aufzeichnungen eines Kronzeugen des Jahrhunderts, S. 16.
53 Ich beziehe mich auf die Beiträge des Potsdamer Krauss-Symposions und insbesondere auf
Barck, Karlheinz: Gracián-Lektüre in Plötzensee. Werner Krauss’ „gleichnishafte Zeugenschaft“.
In: Ette, Ottmar / Fontius, Martin / Haßler, Gerda / Jehle, Peter (Hg.): Werner Krauss. Wege –
Werke – Wirkungen, S. 141–152.
54 Krauss, Werner: Graciáns Lebenslehre, S. 14.
540 Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur
Wein auskommen? Es wäre dann wirklich ein Körper ohne Seele. Der Wein gibt ihm
die Seele und das Leben.“55
Die ‚Doppelbegabung‘ von Werner Krauss, von der im Rahmen des Potsdamer
Krauss-Kolloquiums im März 1998 auffallend häufig die Rede war, bildete sicher-
lich die Voraussetzung für ein Schreiben, das sich in der Grenzsituation äußerster
Bedrohung erst der Fülle seiner Fähigkeiten gewiss werden konnte. Krauss be-
schäftigte sich mit Schreibformen, die gemeinhin als ‚nicht-wissenschaftlich‘
gelten, von ihm aber stets gerade auch in seine wissenschaftlichen Arbeiten
einmontiert und integriert wurden. Dies mag ein Licht darauf werfen, wie
auch jenseits einer unmittelbaren existenziellen Bedrohung, jenseits einer
Gefängnisliteratur, zu der nicht nur PLN sondern auch Graciáns Lebenslehre
recht besehen zu zählen wäre, das Krauss’sche Schreiben und sein Wissen-
schaftsverständnis offen blieben für hybride Ausdrucksformen und für eine
unakademische Sichtweise dessen, was Literatur und Philologie ausmacht.
Tagebuch und Erzählung, Brief und Roman stellen von der wissenschaftli-
chen Arbeit nicht abtrennbare Schreibformen dar. Krauss’ Schreiben ist ohne
eine ständige Arbeit, ein unermüdliches Abarbeiten an den traditionellen Gren-
zen der Gattungen nicht zu verstehen – weder mit Blick auf PLN noch auf Gra-
ciáns Lebenslehre. Wie sehr dies mit seiner Konzeption des Wissenschaftlers als
eines Menschen verbunden ist, der sich gerade nicht durch die herkömmlichen
Grenzen der Wissenschaft beengen lässt, liegt sprichwörtlich auf der Hand. Hie-
rin mag ein gut Teil seiner Bedeutung für uns Heutige, insbesondere aber auch
für die Romanistik liegen. Krauss steht für eine Traditionslinie seines Fachge-
biets, die im Osten wie im Westen ihre Schüler fand.
Werner Krauss selbst stand in einer Tradition, die sich nicht allein an Erich
Auerbach, sondern auch an einem großen Münchner Romanisten orientierte. In
einem Brief an seinen Doktorvater Karl Vossler klagte Krauss über den ihm
durch die herrschenden Verhältnisse auferlegten „Zustand einer immer längli-
cher werdenden Verurteilung zu einer Kryptophilologie“.56 Diese Formulierung
lässt sich leicht mit jenen literaturwissenschaftlichen, also wissenschaftlichen
und literarischen Verfahren in Verbindung bringen, die Krauss später, nach sei-
ner Verhaftung am 24. November 1942 und seiner Verurteilung zum Tode durch
das Reichskriegsgericht am 18. Januar 1943, ebenso in seinem Gracián-Buch
wie in seinem – um auf den im Roman selbst benutzten Ausdruck zurückzu-
greifen – „Kryptogramm“ PLN anwandte. Was aber meinte der Marburger Philo-
loge mit Ausdrücken wie „Kryptophilologie“ oder „Kryptogramm“?
55 Ebda., S. 63.
56 Zit. nach Jehle, Peter: Werner Krauss und die Romanistik im NS-Staat, S. 136.
Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur 541
Zwischen dem 18. April 1943, an dem das Todesurteil rechtskräftig und voll-
streckbar wurde, und dem glücklichen Ausgang des Wiederaufnahmeverfahrens,
an dessen Ende es am 14. September 1944 aufgehoben und in eine fünfjährige
Zuchthausstrafe umgewandelt wurde, musste Krauss fürchten, aus der von ihm
kryptophilologisch und kryptographisch geschaffenen Welt unvermittelt herausge-
rissen zu werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die Arbeit an
PLN – deren intensivste Phase laut Elisabeth Fillmann zwischen Januar und Juli
1944 fällt – entsprechend der Angaben von Werner Krauss im Vorwort zur Aus-
gabe von 1948 genau in der Zeit seiner extremsten existenziellen Bedrohung ansie-
delt. Ein Schreiben im Zeichen des Widerstands – aber auch der Widerständigkeit!
Denn die passioniert, mit Leiden und Leidenschaft gestaltete innere Welt ist
eine wirkliche Welt des Widerstands, weit mehr vielleicht als seine eher lose Zu-
gehörigkeit zur Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack57 oder jene Flug-
blattaktion, die er in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai 1942 gemeinsam mit der
ihm freundschaftlich verbundenen Studentin Ursula Goetze58 durchführte und
die der wesentlich stärker in Widerstandsaktionen involvierten jungen Frau zum
tödlichen Verhängnis wurde. Krauss, der diese Aktion offenkundig missbilligt
hatte,59 entging nicht anders als sein Buch selbst nur aufgrund „der Verkettung
freundlicher Umstände“60 dem brutalen, durch eine willfährige ‚Rechtsprechung‘
ermöglichten Vernichtungsschlag der NS-Justiz; er kann als Widerstandskämpfer
aber bestenfalls zu jenen minores und minimi gezählt werden, für die er im Be-
57 Diese Gruppe darf als überaus groß und weitverzweigt gelten; Krauss war sicherlich weit
davon entfernt, einen Überblick über ihre Struktur zu besitzen, welche die unterschiedlichsten
Teile des kommunistischen wie des sozialdemokratischen, des proletarischen wie des bürgerli-
chen, des christlichen wie des atheistischen Widerstandes band. Vgl. hierzu neben den zahl-
reichen Gesamtdarstellungen mit Bezug zu Krauss vor allem Fillmann, Elisabeth: Realsatire
und Lebensbewältigung, S. 172–190 sowie Jehle, Peter: Werner Krauss und die Romanistik im
NS-Staat, S. 150: „Denkwürdige Dialektik: Der Fall der Mauer veränderte das Schwarzweißbild
der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe, die auch in der DDR als rein kommunistische Wider-
standsorganisation – mit positivem Vorzeichen – figurierte.“ Nicht weniger interessant der
Hinweis, dass Ende 1992 die „Ursula-Goetze-Schule“ in Quedlinburg umbenannt wurde: „Be-
gründung: Die Schüler haben keinen Bezug zur Person dieses Namens“ (ebda.).
58 Für Elisabeth Fillmann (Realsatire und Lebensbewältigung, S. 23) „ist klar, daß seine Wider-
standsarbeit eng mit der von Ursula Goetze zusammenhing, an die ihn eine wieder einmal
asymmetrische Liebesbeziehung band“.
59 Die von Elisabeth Fillmann vertretene These (Realsatire und Lebensbewältigung, S. 191),
der Einsatz „verdeckter Schreibweise“ in einem Flugblatt, das von Napoleon sprach und Hitler
meinte, habe einen tieferen Einfluss auf die Schreibweise von PLN gehabt, dürfte angesichts
der Komplexität der Krauss‘schen Schreibstrategien und seiner Belesenheit wohl kaum zu hal-
ten sein.
60 Krauss, Werner: PLN, S. 5.
542 Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur
Großhalykonien sehr wohl affiziert.65 Bereits die Benennung der Gruppe als „Bund
für unentwegte Lebensfreude“ ist von einer grundlegenden, gewiss auch unerns-
ten, humoristischen Ambivalenz geprägt. Dient diese karnevalesk anmutende Be-
zeichnung innerhalb der Romandiegese zweifellos als Tarnname, der auch zu
vielen anderen derartigen Bezeichnungen und als „BFUL“66 zu vergleichbaren Sig-
len-Bildungen der Sprache des Dritten Reiches, der Lingua Tertii Imperii passt, so
können wir an dieser Stelle doch Einblick in das Denken des Verfassers erlan-
gen. In seiner Rede weist Arthur, der Kopf der Gruppe, gleich zu Anfang darauf
hin, eines der ersten Ziele sei gewesen, eine „Katakombengeselligkeit unseres un-
eingeschriebenen Vereins“67 zu bewerkstelligen. Katakombenwendungen haben
bei Krauss ansonsten einen deutlich abwertenden Beigeschmack: So spricht er
etwa in seinem programmatischen Aufsatz von 1950, Literaturgeschichte als ge-
schichtlicher Auftrag, in Bezug auf Ernst Robert Curtius vom „Typus des ‚Kata-
kombengelehrten‘“ und an anderer Stelle vom „Katakombendasein“ vieler
Wissenschaftler und Intellektueller während der Hitlerzeit.68
Zugleich geht es Krauss in ganz grundlegender Weise um die Sprache, die
das Großhalykonische Reich und alle seine Bewohner prägt. Nicht umsonst
machte Victor Klemperer, der Verfasser von LTI, in einem Brief vom März 1948
an Werner Krauss, den Verfasser von PLN, auf die „Kuriose Titelähnlichkeit“ auf-
merksam, „wo einer nichts vom anderen wußte. Aber das lag eben in der Luft“.69
Die Titelähnlichkeit beider Werke brachte die beiden deutschen Sprach-Gelehrten
einander freilich nicht näher, waren sie doch Romanisten, die beide in der Deut-
schen Demokratischen Republik unterschiedlich schulbildend wurden und zuein-
ander eher als schwierig zu bezeichnende persönliche Beziehungen pflegten.70
Doch lassen wir diese ‚Zweiteilung‘ der ostdeutschen Romanistik hier beiseite, die
sich selbstverständlich auch in einer entsprechenden Lagerbildung niederschlug!
Entscheidend ist, dass sowohl LTI als auch PLN auf komplementäre Weise die
Sprache totalitärer Herrschaft eingehend analysierten.
65 Hier ließe sich sicherlich auch eine Verbindung mit der historischen Situation herstellen
und begründen; zur Widersprüchlichkeit von Harro Schulze-Boysen vgl. auch Fillmann, Elisa-
beth: Realsatire und Lebensbewältigung, S. 176 f.
66 Krauss, Werner: PLN, S. 129.
67 Ebda., S. 153.
68 Krauss, Werner: Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag, S. 9 u. 49.
69 Vgl. die von Horst F. Müller edierte „Korrespondenz Klemperer – Krauss“. In: Lendemains
(Berlin) XXI, 82–83 (1996), S. 190.
70 Naumann, Manfred: PLN und LTI. Gespräche zwischen Krauss und Klemperer. In: Dill,
Hans-Otto (Hg.): Geschichte und Text in der Literatur Frankreichs, der Romania und der Litera-
turwissenschaft. Rita Schober zum 80. Geburtstag. Berlin: Trafo Verlag 2000, S. 173–178.
Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur 545
71 So die Ansicht von Fillmann, Elisabeth: Formen und Funktionen der literarischen Umset-
zung biografischen Erlebens bei Werner Krauss. In: Ette, Ottmar / Fontius, Martin / Haßler,
Gerda / Jehle, Peter (Hg.): Werner Krauss. Wege – Werke – Wirkungen, S. 130.
72 Krauss, Werner: PLN, S. 229.
73 Ebda.
74 Ebda.
546 Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur
75 Ebda., S. 117.
76 Ebda., S. 122–124.
Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur 547
Reime fordern aber nicht nur den Staat heraus, indem sie ihn zwingen, den
Postdienst zu militarisieren, eventuelle ‚Postfrevler‘ hinzurichten und damit
„die zündenden Embleme der geballten Lebenskraft des Staates“ auch in die-
sem so harmlosen Bereich vorzuführen.77 Sie belegen auch eindrucksvoll Funk-
tionsweise und Wirkmächtigkeit dieses im Grunde einfachen, aber ingeniösen
Verfahrens.
Dieses humoristische Schreiben dürfte die unentwegte Lebensfreude von
Werner Krauss sehr gestärkt haben, könnte aber auch in einem Zusammenhang
stehen mit jener Verstellung, welcher der Romanist gewiss sein Leben verdankte.
Denn Krauss’ Überlebenswissen setzte auf Tarnung, setzte auf Verstellung. Nach-
dem ihm der Gerichtsmediziner Dr. Müller-Heß nach Krauss’ Überführung zur
psychiatrischen Untersuchung nach Alt-Moabit „absolute Nichtzurechnungsfähig-
keit“78 bescheinigte, kam ein zweites Gutachten zu einem gegenteiligen Schluss,
so dass ein Drittgutachten im Rahmen des Wideraufnahmeverfahrens zumindest
mitentscheidende Bedeutung erlangt haben dürfte. Es diagnostizierte „eine tem-
porär auftretende Defizienz, eine sogenannte ‚Verbalhalluzinose‘“.79 Dass Krauss
keineswegs unter ‚Verbalhalluzinosen‘ litt, bezeugt seine klare Sprachmeister-
schaft in einem Roman, der gleichwohl in einer existenziellen Grenzsituation nie-
dergeschrieben worden war.
So aber erwies sich neben vielen anderen zusätzlich unterstützenden Fakto-
ren, darunter auch die flankierende Hilfe durch Karl Vossler80 und vielleicht
mehr noch durch Hans-Georg Gadamer, in einem ganz konkreten Sinne die Ver-
stellung für Werner Krauss als lebensrettend. Besonders geschickt war Gadamers
Stellungnahme, der Krauss nicht nur seelische Depressionen, Menschenscheu,
Verfolgungswahn, Willenlosigkeit und dergleichen mehr attestierte, sondern zu-
gleich anmerkte: „Das Erstaunliche war mir immer, dass diese Störungen völlig
spurlos verschwanden.“81
Auch wenn PLN daher sicherlich nicht im Zeichen der behaupteten ‚Verbal-
halluzinose‘ gelesen werden sollte, stellt sich doch die Frage, ob sich Krauss
durch seine Argumentationsstrategie gegenüber dem Reichskriegsgericht nicht
auch gleichzeitig jene ‚Narrenfreiheit‘ erstritt, die ihm die Arbeit an PLN und
Graciáns Lebenslehre erlaubt haben könnte und seine Manuskripte die Zeit in
verschiedenen Gefängnissen letztlich physisch unbeschadet überstehen ließ.
Dies böte einen Erklärungsansatz für die bislang zwar festgestellte, aber nicht
77 Ebda., S. 171.
78 Zit. nach Jehle, Peter: Werner Krauss und die Romanistik im NS-Staat, S. 144.
79 Ebda., S. 244.
80 Vgl. zu vielfältigen Hilfestellungen das Unterkapitel „Wer hilft?“. In: Ebda., S. 145–149.
81 Zit. nach ebda., S. 245.
548 Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur
82 Vgl. hierzu Elisabeth Fillmann: „Auf jeden Fall hat Krauss sein Manuskript sehr gehütet.
Es ist erstaunlich, daß es ihm gelungen ist, die wachsende Blättermenge immer mit sich in die
verschiedenen Gefängnisse zu schmuggeln.“ (Realsatire und Lebensbewältigung, S. 92).
83 Vgl. hierzu Fillmann, Elisabeth: Formen und Funktionen der literarischen Umsetzung bio-
grafischen Erlebens bei Werner Krauss, S. 126, wo etwas vereindeutigend von einer „gelingen-
den Entwicklung Schnipfmeiers (PLN) zum Widerstandshandeln“ die Rede ist.
Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur 549
Problem: „mit welchem Recht will man die Meinungen eines Autors aus den Mei-
nungen seiner Gestalten vernehmen, und wenn ein solches Recht besteht, wo
wäre dann im Kreuzfeuer so vieler Meinungen die Stellung seiner übergreifenden
Wahrheit zu gewahren?“84
Krauss hat sich dieser Frage nicht allein literaturtheoretisch, sondern
auch in der Romanpraxis von PLN gestellt und seine eigene romantechnische
Lösung gefunden. Gewiss sind in der Form autobiographischer Fenster –
ähnlich wie in Krauss’ literaturwissenschaftlichen Schriften – einzelne Aspekte,
Erfahrungen und Einsichten auf Romanfiguren projiziert worden. Der Romancier
konnte an dieser Stelle den Erfahrungswerten des Romanisten nicht widerstehen.
Diese Biographeme lassen aber niemals eine Biographie, sondern bestenfalls eine
Fülle möglicher Biographie-Fragmente ihres Verfassers entstehen. Der Versuch
bliebe vergeblich, Aloys Ritter von Schnipfmeier, Arthur, Eurylos oder andere Mit-
glieder des „Bundes für unentwegte Lebensfreude“ als Identifikationsfiguren oder
gar das eigentliche Sprachrohr des realen Autors auszumachen. Krauss hat all die-
sen Simplifikationen vorgebaut.
Ein anderes Bild bietet sich uns jedoch, wenn wir die sicherlich variable,
aber stets kohärente Modellierung der Erzählerfigur in PLN betrachten. Denn
hier zeigen sich weitgehende Übereinstimmungen mit jener Konstituierung wis-
senschaftlicher Subjektivität, wie sie die literaturwissenschaftlichen Arbeiten
von Werner Krauss ins Werk setzten. Eine erhöhte Beobachterposition, der ge-
schickte Einbau autobiographischer Fenster, die Integration von Aphorismen,
Sprichwörtern oder Ramón Gómez de la Sernas Greguerías nachempfundenen85
sprichwortartigen Wendungen, die mitunter auch auf die Romanfiguren über-
springen, schaffen eine Textur, die jener einer Verbindung von wissenschaftli-
cher, autobiographischer und volkskultureller Instanzen86 bei der Konstruktion
des wissenschaftlichen Ich sehr nahe kommt.
84 Krauss, Werner: Graciáns Lebenslehre, S. 36. Zugleich betont Krauss, wie „einleuchtend“
es sei, „daß die Wahrheit unter so verschiedenen Konstellationen auch verschiedene Aspekte
aufweist“ (ebda.). Damit redet er keiner Beliebigkeit das Wort, sondern der Notwendigkeit, mit
Hilfe verschiedener Figurenkonstellationen ein differenzierteres Bild entstehen zu lassen, als
es ein monologischer Diskurs zu entwerfen vermag.
85 Die Beziehung zwischen Krauss’ Schreibtechniken als Literat und Wissenschaftler zu dem
spanischen Avantgardisten Ramón Gómez de la Serna machen aufgrund ihrer Vielschichtig-
keit eine Einzeluntersuchung lohnenswert; zu Ramón Gómez de la Serna vgl. auch das diesem
Autor gewidmete Kapitel im dritten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Von den histori-
schen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S 290 ff.
86 Vgl. Ette, Ottmar: „Von einer höheren Warte aus“. Werner Krauss – eine Literaturwissen-
schaft der Grundprobleme, S. 112 f.
550 Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur
87 Vgl. zum Begriff der Literaturwissenschaft Ette, Ottmar: Laudatio: Mario Vargas Llosa oder
die Praxis einer lebenswissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft. In: Ette, Ottmar /
Ingenschay, Dieter / Maihold, Günther (Hg.): EuropAmerikas. Transatlantische Beziehungen.
Frankfurt am Main – Madrid: Vervuert – Iberoamericana 2008, S. 9–23.
88 Barck, Karlheinz: Gracián-Lektüre in Plötzensee, S. 143.
89 Zur Definition des Friktionalen als unablässige Bewegung zwischen den von Gérard Ge-
nette unterschiedenen Polen von Fiktion und Diktion vgl. Ette, Ottmar: Roland Barthes. Eine
intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 308–312.
Werner Krauss oder vom Überleben einer Diktatur 551
deutsche Reich‘ verbirgt, dass unter Muphti Hitler, unter Oleander Göring, unter
Koben Goebbels zu verstehen ist“.90 Doch weist PLN über derartige identifikatori-
sche, vereindeutigende Festlegungen weit hinaus: Es handelt sich nicht um einen
simplen Schlüsselroman. Die friktionale Dimension, das ständige ‚Abreiben‘ zwi-
schen ‚Imagination‘ und ‚Realität‘, Sprachenvielfalt und Ambivalenz, aber nicht
zuletzt auch die allegorische Dimension dieses Romans von Werner Krauss ma-
chen PLN nicht nur zu einem Buch des Widerstands gegen den Hitler-Faschismus,
sondern auch der Widerständigkeit gegen Machtwillkür und Unrechtsherrschaft
überhaupt. PLN ist eine Schule im Kampf gegen Machtmissbrauch.
Mit feinem Gespür für die Schreibweise von Werner Krauss, in der – wie
dieser selber von Azorín sagte – die „empfindsamen Sätze“ wie „Antennen, auf
die eine neue Wirklichkeit einstrahlt“, fungieren,91 hat Peter Härtling bereits
darauf hingewiesen, dass „Arthur, der Kopf der Muphtigegner“, „eine der merk-
würdigsten Gestalten der Erzählung sei“:
Manches, was er und seine Anhänger leidenschaftlich bedenken als Ziel, entspricht schil-
lernd der großhalykonischen Propaganda. Nähert sich an, was sich unvereinbar haßt?
Bindet Verachtung? Hier bricht Dämonie in das Buch, ein Zwischenreich wird sichtbar,
zähneknirschender Hoffnung abgetrotzt, dem der Mord so nah ist wie das frei atmende
Glück. Der schreibende Häftling ist einer furchtbaren Wahrheit auf der Spur; er entläßt
seinen Aloys zögernd in sie, denn die Wahrheit liegt hinter seinem wechselreichen, mori-
tatenhaften Lebenslauf.92
In der Tat: Werner Krauss war einer furchtbaren Wahrheit auf die Spur gekom-
men, in der sich die Grenzen zwischen Macht und Gegenmacht oder – wie es
die letzten Sätze des Romans formulieren – zwischen Befreiern und Mördern93
aufzulösen beginnen, gerade weil sie die reinen Antagonismen eines blutigen
Spiels nicht voneinander trennen. PLN ist die Literatur auch dieser Grenze,
deren Überschreiten weder für den Häftling noch für den ‚Sonderling‘ Werner
Krauss94 – wie dieser von der jeweiligen etablierten Macht vor und nach Plöt-
zensee nicht ohne eigenes Zutun genannt wurde – opportun war. Dass Krauss
mit nahezu denselben Worten durch die Geheimdienste der Nazis wie der DDR
beurteilt wurde, zeigt deutlich an, dass sich die Widerständigkeit des schwäbi-
schen Romanisten gegen jegliche Art autoritären Systems wandte. Werner Krauss’
Wir hatten bei unserer Beschäftigung mit den Anfängen des Diktatorenromans
in Argentinien gesehen, welch wichtige Rolle das Exil für die Literatur der
Proscritos spielte. Viele funktionale Impulse gingen auf die Schriftsteller der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von ihrer Verbannung aus Argentinien aus.
Wenden wir uns der Area der Karibik zu, so ist die Geschichte dieses Teils von
Lateinamerika eine gänzlich andere: Der angeschlagenen, aber noch längst
nicht ausgeschalteten Kolonialmacht Spanien gelang es, mit Blick auf ‚seine‘
Inseln seine koloniale Herrschaft zu sichern und die ‚immer treue‘ Insel Kuba –
so der spanische Ehrentitel der „siempre fiel isla de Cuba“ – sowie die ‚Schwes-
terinsel‘ Puerto Rico, aber auch streckenweise einen Teil der Insel Hispaniola
bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts in seinem Besitz zu halten.
Daher spielte das Exil auch in dieser Area für Menschen, die sich für die
politische Unabhängigkeit ihrer Heimatländer einsetzten, eine wichtige Rolle;
auch wenn die politischen Hintergründe für die jeweiligen Verbannungen ganz
andere als im Rest Lateinamerikas waren, wo längst politisch unabhängige Re-
gierungen an die Macht gelangen konnten. So entstand auf der kolonialspani-
schen Insel Kuba eine politische Situation, in welcher mit dem Wiedererstarken
der Kolonialmacht eine Exilierung die einzige Möglichkeit für Menschen bil-
dete, für ihre Überzeugung von einer notwendigen Unabhängigkeit Kubas aktiv
einzutreten.
Als der große Dichter dieser frühen Phase des kubanischen Exils gilt ge-
meinhin José María Heredia. Doch ist es nicht übertrieben, den am 31. Dezember
1803 in Santiago de Cuba geborenen und am 7. Mai 1839 im mexikanischen To-
luca verstorbenen Heredia in den kontinentalen Kontext Amerikas zu rücken
und gar als den Dichter des Exils zu bezeichnen? Ist er nicht vielmehr der kuba-
nische Dichter, derjenige, der die künftige Independencia der Insel besingen
und die kommende Unabhängigkeitsbewegung schüren sollte? Ist er nicht eben
jener, der von José Martí in den höchsten Tönen gelobt, aber auch mit der Be-
merkung abgestempelt wurde, ihm habe Welt, also Welterfahrung, gefehlt: „Le
faltó mundo“, wie sich der große kubanische Exilant und Revolutionär zu Ende
des 19. Jahrhunderts ausdrückte?
Es ist gewiss nicht übertrieben, José María Heredia als den großen exilierten
kubanischen Dichter des beginnenden 19. Jahrhunderts und als einen der großen
lateinamerikanischen Stimmen eines poetischen Amerika zu bezeichnen. Denn
Heredia war durchaus ein Lyriker, der sehr wohl auch gesamtamerikanische,
über das Kubanische hinausgehende Erfahrungen in sein dichterisches Schaffen
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-019
558 José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft
einbringen konnte. Beschäftigen wir uns zunächst einmal mit einigen seiner
wichtigsten Biographeme! Sie sollen uns verraten, warum José María Heredia
zum großen Exilanten werden konnte, der er für die späteren Generationen der
kubanischen Literatur war und bis hin in unsere Gegenwart blieb. Denn Heredia
war zweifellos das dichterische Emblem der Unabhängigkeit Kubas, ein Emblem,
das allein von José Martí als Dichter und Architekt der Independencia gegen
Ende eines langen Jahrhunderts noch in den Schatten gestellt wurde.
Der im „Oriente“ Kubas, in Santiago de Cuba, 1803 als erstes Kind Gebo-
rene war von Beginn an dem karibischen und zirkumkaribischen Raum in be-
sonderem Maße zugewandt. Seine Eltern waren nach damaligem Verständnis
Spanier, die aus der heutigen Dominikanischen Republik stammten. Bereits
1806 kam sein Vater innerhalb der kolonialspanischen Administration nach
Pensacola, nach Florida also, wobei bis heute umstritten ist, ob der kleine
Junge seinen Vater wirklich begleitete. Im Jahre 1810 zog die Familie zunächst
nach La Habana und von dort nach Santo Domingo; auch dies ein Wechsel in-
nerhalb der spanischsprachigen Karibik, eine räumliche Bewegung, wie sie zu
Zeiten des kolonialspanischen Reiches keineswegs ungewöhnlich war.
1 Vgl. Pérez Firmat, Gustavo: The Cuban Condition. Translation and identity in modern Cuban
literature. Cambridge: Cambridge University Press 1989.
2 Vgl. hierzu Arias, Salvador: Nuestro primer gran poema (Estudio de „En el Teocalli de Cho-
lula“ de José María Heredia). In: Prats Sariol, José (Hg.): Nuevos críticos cubanos. Selección y
prólogo José Prats Sariol. La Habana: Editorial Letras Cubanas 1983, S. 51–104.
560 José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft
wir uns noch einen Augenblick, bevor wir uns dieser großen lyrischen Schöp-
fung des kubanischen Poeten in Mexiko zuwenden!
Nach der Ermordung seines Vaters kehrte Heredia aus Mexiko nach Kuba zu-
rück, wo er von seinem Onkel unterstützt wurde und für eine begrenzte Zeit –
wie später José Martí – in einer Anwaltskanzlei arbeitete. Doch auf Grund seiner
Vorstellungen von einer möglichst bald zu erreichenden kubanischen Unabhän-
gigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer Freimaurerloge sowie seiner Verwicklung
in eine mögliche Verschwörung musste er 1823 ins Exil zunächst in die USA und
ab 1825 in das unabhängig gewordene Mexiko fliehen. Dort wurde der noch
junge Mann Offizier, mexikanischer Abgeordneter und seit 1833 Professor für Li-
teratur und Geschichte. Er brachte es sogar zum Minister im ehemaligen Neuspa-
nien. Doch die politischen Verhältnisse in Mexiko trübten sich bald ein: Wie
nahezu überall im künftigen Lateinamerika brachen auch hier Auseinanderset-
zungen zwischen miteinander verfeindeten Parteien aus.
Heredia war auf Grund seiner Unabhängigkeitsbestrebungen 1831 in Abwe-
senheit von einem spanischen Gericht auf Kuba zum Tode verurteilt worden.
Erst als er der Unabhängigkeit öffentlich abschwor, durfte er 1836 auf die Insel
zurückkehren, wo er sich aber rasch wieder mit Gesinnungsgenossen traf.
Seine Beziehungen zur wichtigen Literatengruppe um Domingo del Monte ver-
liefen nicht spannungsfrei, da man ihm die öffentliche Abkehr von den Idealen
der Independencia übelnahm. Bereits nach vier Monaten sahen die kolonial-
spanischen Behörden den jungen Dichter als mögliche Bedrohung. So musste
er seine Heimatinsel wieder verlassen und machte sich 1837 schwerkrank nach
Mexiko auf, wo er schließlich im Mai 1839 im schönen Toluca an Tuberkulose
verstarb. Heredia ist heute wie eh und je ein in Kuba hochverehrter Dichter:
Sein Geburtshaus in Santiago de Cuba ist zu einem kleinen und sehr kubani-
schen Museum geworden.
Kommen wir nun wie versprochen zu unserer Analyse von En el Teocalli de
Cholula, dem ersten ‚großen Gedicht‘ in der Literaturgeschichte Kubas – ginge
es nach manchem kubanischen Kritiker! Man kann in diesem Gedicht deutlich
und unverkennbar die Einflüsse der präromantischen Dichter Spaniens ausma-
chen, der „Prerrománticos“, aber auch feststellen, dass Volneys Ruines einen
starken Einfluss auf die Imagination des Dichters ausübten. Das Gedicht stammt
aus einer Zeit, in welcher Heredia seine ideologischen und politischen Positionen
veränderte und von nun an entschieden gegen jegliche Art von Tyrannei heftigen
Widerspruch artikulierte.
Versuchen wir bei unserer Analyse herauszufinden, warum José Martí sei-
nen Landsmann als den ersten großen Dichter Amerikas feierte! Es handelt sich
um einen Ausspruch, der vor Martí bereits von Cánovas del Castillo für Heredia
verwendet worden war, und warum man En el Teocalli de Cholula als erstes gro-
José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft 561
ßes amerikanisches Gedicht bezeichnen konnte. Wenden wir uns in einem ers-
ten Schritt der ersten Strophe des Gedichts zu, das im Übrigen in drei Fassungen
von 1820, 1825 und 1832 vorliegt, wobei wir im Folgenden auf die letztgültige Fas-
sung zurückgreifen wollen:
3 Heredia, José María: En el Teocalli de Cholula. In (ders. / Laurencio, Ángel Aparicio, Hg.): Poesías
completas. Miami: Ed. Universal 1970, S. 191.
562 José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft
Es ist, als hätte der junge Kubaner den Aufruf des venezolanischen Universalge-
lehrten und Dichters Andrés Bello gehört und beginne nun, die Welt Amerikas
zu besingen. Die erste Strophe von En el Teocalli de Cholula ist ganz nach dem
neoklassischen Vorbild einer Beschreibung des amerikanischen Reichs der Na-
tura ausgerichtet: eine Hymne an das Leben, wie es in seiner ganzen Vielfalt auf
engstem Raum in den Gefilden Mexikos zusammengedrängt ist. Der kubanische
Barde folgt auf den ersten Blick den Spuren des konservativen Romantik-Gegners
Bello und entwirft ein breites Gemälde des Lebens, wie es nur in den Tropen
Amerikas, allein in den Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents, möglich
ist. Damit ist der Bogen zum Beginn unserer Vorlesung gespannt.
José María Heredia befleißigt sich dabei einer durchaus neoklassizistischen
Diktion, indem er die verschiedenen Erzeugnisse tropischer Landwirtschaft, der
äquinoktialen Gegenden also, beschreibt und hymnisch zur Geltung bringt. In
diesen Wendungen spielt wesentlich der Stolz des amerikanischen Kreolen auf
die naturräumliche Ausstattung seines amerikanischen Kontinents mit. Es ist
eine bewusste Wendung hin zu „Unserem Amerika“, zu „nuestra Amerika“, wie
es im Glanz der sich erfolgreich durchsetzenden hispanoamerikanischen Unab-
hängigkeitsbewegung von Neuem erstrahlte. Die karibischen Landschaften
Kubas stehen – auch wenn die weiten Zuckerrohrfelder Erwähnung finden –
deutlich hinter der Beschreibung des „Landes der Azteken“ zurück. Das erste
große Gedicht der kubanischen Literaturgeschichte gilt nicht den karibischen
Küsten, gilt nicht der Insel Kuba.
Zu diesem neoklassizistischen Rahmen passt die unmittelbare Anrufung
einer personifizierten Natur sowie die gleichzeitige Wendung an antike Gotthei-
ten beziehungsweise Mythen der abendländischen, griechisch-römischen Kultur,
die hier – gegenüber den Stätten der amerikanischen Antike – dezidiert ins Feld
geführt werden. Amerika erstrahlt im Lichte des Westens, des Okzidents, und be-
greift sich als einen Teil dieser westlichen Welt – gerade auch dann, wenn der
erste Mensch, der diese Bühne betritt, ein Indio ist, ein im Kontext einer bearbei-
teten Natur vorgestellter Bewohner der „tierras aztecas“. Die indigene Bevölke-
rung wird gleichsam auf Ebene der Natur in die poetische Szenerie eingeführt.
José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft 563
José María Heredia erweist sich als gelehriger Schüler der spanischsprachi-
gen amerikanischen Literaturtradition. Die lyrischen Kataloge und Listen dieser
ersten Strophe entsprechen ganz den neoklassizistischen Formen und Normen,
ist in ihnen doch jedwede innere Erregung aufgehoben in einer Sprache, deren
marmorne Glätte stets das Gesehene, die Empfindung einbringt in die Konzep-
tualität, in das Auf-den-Begriff-gebracht-Sein der schöpferischen Energie, die
voller Wärme das Leben spendet.
Bemerkenswert ist, wie der junge kubanische Dichter zunächst den großen
Kontext entwirft, indem er die Epoche der Azteken und deren Land sowie die
Klimazonen dieser Region zeichnet. Seine genaue Position innerhalb der Rui-
nen des Tempels beziehungsweise der gewaltigen Pyramide von Cholula wurde
zwar im Titel bereits eingespielt, ist in dieser ersten Strophe aber noch nicht in
den Versen präsent. Dabei reicht sein Blick geographisch zutreffend von den
Höhen des Iztaccíhuatl bis hinüber zum Orizaba, der sich am Rande der karibi-
schen Welt erhebt: Dies war der erste jener Schneevulkane, die ein Hernán Cor-
tés bei der Eroberung des Aztekenlandes von der karibischen Area kommend
zuerst erblickte und – was Alexander von Humboldt in Staunen versetzte – geo-
graphisch erkundete.
Damit wird der Dichter zum einen in eine historische Dimension und zum
zweiten in einen räumlichen Kontext eingebaut, der durch Weite und Umfäng-
lichkeit charakterisiert ist: Von Cholula aus kann man hinauf zu den Höhen des
Hochtales von Mexiko schauen, aber ebenso zum schroffen Abfall des Hochlan-
des hin zur Küste der Karibik. Es ist – und verzeihen Sie diese persönliche Re-
miniszenz! – in der Tat etwas unglaublich Schönes, auf der Spitze der riesigen
Pyramide von Cholula zu stehen und zugleich auf den rauchenden Iztaccíhuatl
und den fernen, schneebedeckten Orizaba zu blicken. Denn es handelt sich in
der Tat um eine ganze Welt („tierra“), die alle Klimastufen in ihrem Raum ent-
hält: Sie ist also bereits konzentrierte, verdichtete Welt, noch bevor der Dichter
sie besingt.
Alles das, was sich zwischen Pol und Äquator befindet, ist zwischen den
engen Grenzen Mexikos angehäuft. Man könnte sagen, dass diese Welt ebenso
ein Welt-Fraktal4 der gesamten Erde darstellt, wie dies Ecuador mit seinen
schneebedeckten Vulkanriesen Chimborazo und Cotopaxi für Alexander von
Humboldt und dessen Naturgemälde5 von der Tropenwelt in derselben Epoche
4 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart:
J.B. Metzler Verlag 2017.
5 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Die Listen Alexander von Humboldts. Zur Epistemologie einer Wis-
senschaftspraxis. In: HiN – Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien (Berlin – Potsdam)
XXI, 41 (2020), S. 43–61 <http://www.hin-online.de>.
564 José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft
zwischen Aufklärung und Romantik gewesen war. Genau so, wie die Zeit und
damit die historische Dimension die Jahrhunderte überspannend in den Ruinen
des Tempels sowie in der gesamtem Pyramidenanlage von Cholula eingefangen
wurde (Abb. 49 u. 50), ist auch der geographische Raum in deren weitem Um-
kreis erfasst. Dabei ist es nicht weiter von Interesse, dass der Kubaner Heredia
diese Tempelanlage den Azteken fälschlich zuzuschreiben scheint: Die Azte-
ken, die Mexica, stehen gleichsam stellvertretend für die amerikanische Welt
der Vergangenheit, für das vergangene, das versunkene Amerika insgesamt.
Die indigene Bevölkerung ist keineswegs verschwunden, doch Reich und Herr-
schaft dieser ‚Indios‘ sind seit langen Jahrhunderten spanischer Kolonialherrschaft
aus der Gegenwart geschieden und längst den geschichtlichen Tod gestorben.
Das gesamte Gedicht lässt sich leicht in insgesamt drei Teile zergliedern,
wobei der erste Teil die Beschreibung der Natur und deren naturräumliche Aus-
stattung – die wir gerade kennengelernt haben – darstellt und insgesamt drei-
undsiebzig Verse umfasst. Ein zweiter Teil beinhaltet grosso modo die Meditation
des lyrischen Ich und beinhaltet insgesamt siebzig Verse. Demgegenüber bilden
die übrigen elf Verse am Ende von En el Teocalli de Cholula einen dritten, rekapi-
tulierenden, zusammenfassenden Teil. Auf diese Weise öffnet sich der klassische
Gegensatz zwischen Natur und Kultur, wie er die erste Strophe unseres Gedichts
bereits beherrscht, in einem zweiten Schritt auf einen bestimmten Menschen hin,
eben den Dichter, der innerhalb des zunächst entfalteten raum-zeitlichen Kon-
texts Platz nimmt und die Außenwelt in eine Innenwelt verwandelt. Sehen wir
uns diese Gesamtstruktur des Langgedichts von Heredia etwas genauer an!
Die metrische Analyse zeigt uns zunächst, dass es sich beim spanischspra-
chigen Original um eine Silva handelt, die insgesamt vorwiegend aus Elfsilblern
gebildet wird. Dazu aber kommen insgesamt acht „Heptasílabos“ und fünf „Pen-
tasílabos“ hinzu. Eine Silva, so lehrt uns ein Blick in den Diccionario de métrica
española6 von Domínguez Caparrós, setzt sich in der Tat aus der asymmetrischen
Kombination von „Endecasílabos“ oder auch von Elfsilblern plus Siebensilblern
zusammen, „con rima consonante libremente dispuesta“, wie es heißt, und stets
auch mit der Möglichkeit, einige Verse offenzulassen. Dabei ist es unmöglich, die
Silva in symmetrische Strophen einzuteilen.
Der Vorzug dieser lyrischen Form liegt darin, dass sie sich den verschie-
densten Themen und Stoffen gegenüber als poetische Ausdrucksform eignet.
Analysieren wir die Gesamtheit des Langgedichts, so zeigt sich rasch, dass in
6 Vgl. Domínguez Caparrós, José: Diccionario de métrica española. Madrid: Paraninfo 21992.
José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft 565
ihm mit gut 28 Prozent der sogenannte heroische Elfsilbler dominiert.7 Wir wol-
len an dieser Stelle unserer Vorlesung nicht die feinen Unterschiede zwischen
dem heroischen und dem gemäßigten „Endecasílabo“ untersuchen, sondern
festhalten, dass sich Heredia bei Abfassung seines Gedichts insgesamt sehr
wohl an klassische Versformen und Reimschemata hielt.
Man darf ohne alle Einschränkungen festhalten, dass der damals siebzehn-
jährige Heredia die literarischen und spezifisch poetischen Regeln seiner Zeit ta-
dellos beherrschte. Er gab seiner Komposition innerhalb der neoklassizistischen
Ordnung auch jene Flexibilität mit, die ihm die Silva erlaubte. Auch sonst scheint
sich Heredia im ersten Teil seines Poems an die Formen neoklassizistischer Tra-
dition gehalten zu haben, was auch seine Adjektive einschließt, die oft als typen-
haft beschrieben werden können: Denn die Rebe ist belaubt, die Sonne strahlt,
der Baum der Minerva majestätisch und die Ebenen sind weit …
Dabei ist klar, dass diese neoklassizistischen Formen insoweit in eine ge-
wisse Amerikanisierung übergeführt werden, als die Namen und Bezeichnungen
indianisch-aztekischer Herkunft die Rhythmik des Náhuatl und dessen Phonetik
mit in den Text einblenden. Damit ergeben sich im Spanischen neue poetische
Effekte. Dass es möglich wäre, auch die Semantik hierauf zu beziehen – der Izt-
accíhuatl als liegende Frau, der Orizaba als Berg des Sterns oder der Popocaté-
petl als rauchender Berg – kann hier nur erwähnt, aber nicht eigens analysiert
werden. Bis zu diesem Punkt des Langgedichts wäre es zweifellos möglich, En el
Teocalli de Cholula als eine Art ‚amerikanische Silva‘ im Sinne Andrés Bellos zu
verstehen und zu lesen. Doch darin erschöpft sich Heredias Gedicht keineswegs.
Halten wir uns daher nicht allzu lange mit diesen Fragestellungen – bezo-
gen auf eine Analyse der ersten Strophe des Gedichts – auf, sondern betrachten
wir, wie der Kontrast zum zweiten Teil von En el Teocalli de Cholula künstle-
risch hergestellt wird! Denn nun sind es der Dichter und seine Meditation, die
der Beschreibung der Natur, der räumlichen und zeitlichen Kontextualisierung,
kontrastiv gegenübergestellt werden:
7 Vgl. mit Blick auf Heredia Arias, Salvador: Nuestro primer gran poema (Estudio de “En el
Teocalli de Cholula” de José María Heredia), S. 51–104.
566 José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft
scher Melancholie10 an sich vorbeiziehen lässt. Die sich vor ihm ausbreitende
Seelenlandschaft ist eine Korrespondenznatur. Und die Geschichte öffnet sich
mit Schrecken auf Bilder blinder Unterdrückung und Ermordung.
Zum einen ist in diesem Szenario der einsame Dichter der weiten, grausamen
Welt gegenübergestellt; zum anderen wird dieser Kontrast zwischen Natur und
Kultur, zwischen äußerer Grausamkeit und innerlicher Subjektivität noch ins
Kosmische ausgeweitet, indem die Szenerie eines Sonnenuntergangs evoziert
wird. Die Sphären werden für das Ich bereits erkennbar; und am Himmel wer-
den bald die Sterne funkeln.
Auf diese kunstvolle Weise wird der zu Beginn des Gedichts eingeführte Ge-
gensatz unverkennbar subjektiviert, in eine Perspektive des einsam sitzenden
Dichters überführt, die es Heredia dann erlaubt, den Gegensatz zwischen Natur
und Kultur in einen zwischen Individuum und geschichtlichem Kontext, zwi-
schen Ich und Welt umzudeuten; ein Übergang, der sich epochenspezifisch
durchaus mit demjenigen vom Neoklassizismus zur Romantik namhaft machen
ließe. Das Ich sieht sich in Opposition zur „bárbara opresión“, die keineswegs –
wie an anderer Stelle im Gedicht – gemeinplatzartig auf die Menschenopfer der
Azteken allein verweist, sondern auch auf Aufstände wie denjenigen Hidalgos
10 Vgl. zum Komplex der Melancholie den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Ro-
mantik zwischen zwei Welten, S. 177 ff.
568 José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft
gegen die kolonialspanische Herrschaft gemünzt ist. Stets ist die Geschichte eine
Flut vergossenen Blutes, das auch den historischen Hintergrund von Heredias
Heimatinsel Kuba keineswegs ausspart. Denn noch immer – und noch für lange
Zeit – wird dort der Kolonialismus Spaniens alles unterdrücken, was nach politi-
scher Unabhängigkeit strebt.
Doch Gedichte sind polyseme Artefakte; daher fiele es nicht allzu schwer,
diese Passage – wie es der Dichter später sicherlich getan hätte – vor allem auf
die barbarische Unterdrückung gerade durch die spanischen Kolonialherren
umzumünzen. Sie waren es, die ihn später, nach der ersten Fassung des Ge-
dichts, ins mexikanische Exil und in die Verbannung trieben. Auch wäre es
durchaus möglich, dass bei der ersten Abfassung des Gedichts der junge Here-
dia – zwei Monate nach dem Tod beziehungsweise der Ermordung seines Va-
ters, der in kolonialspanischen Diensten arbeitete – den Bruch mit dem
Kolonialregime auch als Bruch mit dem Vater empfunden hätte. Doch dies
kann man zu diesem Zeitpunkt noch nicht annehmen.
Die zentrale ideologische Achse des Gedichts dreht sich zweifellos um die
Verse 95 und 96; sie sind durchaus in eine neoklassizistische Tradition zu stel-
len: „que fuiste negarán … / Todo perece / por ley universal.“ Denn alles geht
zu Grunde, alles geht unausweichlich dem Tod entgegen, der das Leben, der
alles Lebendige unbarmherzig beendet. Die eigene Welt erscheint als Kadaver
des Gestern; das Heute ist in einem Leichnam des Gestrigen beschlossen: Das
Weltgesetz verurteilt alles zum Verderben, zur Verderbnis. Hierin ist die tiefe
Melancholie beschlossen, mit welcher der Dichter, das melancholische Subjekt,
von der Spitze der Pyramide herab auf diese Welt schaut und in ihr immer nur
das Gesetz des Sterbens und Vergehens erkennen kann.
Gerade dieser fundamentale Bruch im Vers ist in einem Weltgesetz, einer
„ley universal“, aufgehoben und damit gleichsam gekittet. Diese Einsicht bildet
auch in ihrer Symmetrie das noch als neoklassizistisch zu bezeichnende Ele-
ment des Gedichts, welches wohlverstanden seine Wirkung freilich aus eben
jenem anderen Element in wechselseitiger Spannung bezieht. Heredias Zeitge-
nossen verstanden diese Spannung zu würdigen, wie dies Reaktionen von And-
rés Bello, Antonio Saco oder Antonio Cánovas del Castillo zeigen, die auch
später immer wieder En el Teocalli de Cholula erwähnen, wenn es um die Wert-
schätzung des kubanischen Dichters geht. Diese Schöpfung bildet zweifellos
den literarischen Durchbruch des kubanischen Lyrikers. Sie beinhaltete als ers-
tes großes Gedicht noch genügend neoklassizistische Elemente, um selbst das
Gefallen eines der Romantik – wie wir im ersten Teil unserer Vorlesung sahen –
kritisch gegenüberstehenden Andrés Bello zu erregen.
Die in Mexiko stattfindende Wendung des Kubaners José María Heredia zur
amerikanischen, zur indigenen Vergangenheit ist in zumindest zweifacher Hin-
José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft 569
sicht bedeutsam: Es handelt sich zum einen um die bewusste Wahrnehmung die-
ser vormals ausgeblendeten Vor-Geschichte der spanischen Herrschaft, die aber
jetzt, mitten im Kampfe gegen die spanische Kolonialmacht, gerne evoziert wird.
Zum anderen scheint gerade in der interkulturellen Beziehung zwischen Kuba
und Mexiko eine gesamtamerikanische Dimension auf, welche die Gemeinsam-
keit hispanoamerikanischer Geschichte unter Einschluss ihrer ‚Vorgeschichte‘ er-
fasst. Die indigenen Hochkulturen Mexikos bilden zwar keine Elemente der
Geschichte Kubas, schließen aber auch die indigenen Wurzeln der kubanischen
Geschichte mit ein.
Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz einen anderen kubanischen Dichter
zu Wort kommen, der die Geburt des Amerikanischen in seinem auf einer Reihe
von Vorträgen basierenden Essayband La expresión americana verdichtet und
komplex zum Ausdruck brachte.11 Denn wir können die hispanoamerikanische
Romantik in ihrer schillernden Widersprüchlichkeit nicht verstehen, wenn wir
nicht auf die spezifischen Übergänge vom 18. zum 19. Jahrhundert zurückgrei-
fen und dabei auch eine Figur wie Fray Servando Teresa de Mier12 streifen,
bevor wir uns dem „Libertador“ Simón Bolívar und wieder José María Heredia
zuwenden.
Für José Lezama Lima war Fray Servando eine der Schlüsselfiguren zum
Verständnis des Jahrhunderts der Romantik und des Modernismo. In ihm kon-
zentrierten sich auf kreative Weise die zahlreichen Widersprüchlichkeiten His-
panoamerikas. Vergessen wir dabei nicht, dass Fray Servando zeitlebens ein
Gehetzter war: zunächst über lange Jahre von der Inquisition als gefährlich de-
nunziert und verfolgt, gegen Ende seines Lebens dann in die politischen Gegen-
sätze der mexikanischen Independencia verstrickt! Ein kurzes Zitat aus La
expresión americana soll uns genügen, um diese Figur in der gebotenen Kürze
einzublenden: „Fray Servando war der erste Entflohene, ausgestattet mit der not-
wendigen Kraft, um zu einem Ende zu gelangen, welches alles klärt, von der baro-
cken Herrlichkeit an, vom Herren, der den wollüstigen Dialog mit der Landschaft
durchquert. Er war der Verfolgte, welcher aus seiner Verfolgung eine Art der Inte-
gration macht.“13
11 Vgl. zu José Lezama Lima das dem Dichter gewidmete Kapitel im dritten Band der Reihe
„Aula“ in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 741 ff.
12 Vgl. das Fray Servando gewidmete Kapitel im fünften Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ott-
mar: Aufklärung zwischen zwei Welten, S. 516 ff.
13 Lezama Lima, José: La expresión americana. Madrid: Alianza Editorial 1969, S. 97: „Fray
Servando fue el primer escapado, con la necesaria fuerza para llegar al final que todo lo
aclara, del señorío barroco, del señor que transcurre el voluptuoso diálogo con el paisaje. Fue
el perseguido, que hace de la persecución un modo de integrarse.“
570 José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft
Wie José María Heredia in seiner Exilierung, aber auch wie Simón Bolívar in
seinem Kampf gegen eine spanische Kolonialmacht, die ihn bekämpfte und ver-
folgte, hatte der neuspanische Dominikanermönch Fray Servando Teresa de Mier
aus seiner Verfolgung und Exilierung seine Heimat gemacht. Der verfolgte Mönch
hatte in Übersee, insbesondere in Paris und London Kontakte zu einer Vielzahl
von Hispanoamerikanern, aber auch Spaniern geknüpft, die aktiv am Prozess der
Independencia beteiligt waren und als Vordenker, Kämpfer oder Gestalter den
Unabhängigkeitsprozess der spanischen Kolonien in Amerika beförderten.
So hatte Fray Servando nicht nur den Spanier Blanco White, mit dem er man-
chen intellektuellen Strauß ausfocht, sondern auch Figuren vom Kaliber eines
Andrés Bello kennengelernt, mit dem wir uns im Rahmen dieser Vorlesung aus-
führlich beschäftigten. Doch verkehrte er auch mit einem so wichtigen Intellektu-
ellen wie Simón Rodríguez, den Lehrmeister Bolívars, mit dem ihn eine herzliche
Freundschaft verband. Man darf Fray Servando daher trotz mancher Eigenwillig-
keiten und immer wieder überraschender Wendungen sehr wohl jener Gruppe
zurechnen, welche die Ideen insbesondere der novo-hispanischen Aufklärung in
die Tat umzusetzen versuchten. Er gehörte jener intellektuellen Gemeinschaft an,
die quer zu den verschiedenen Areas des sich herausbildenden postkolonialen
Lateinamerika Vorstellungen der „Ilustración“ wie des Neoklassizismus in die
neue Epoche der Unabhängigkeit und einer aufblühenden Romantik einbrachte.
Vor dem Hintergrund dieser Gemeinschaft an Ideen und Vorstellungen ge-
langen wir schon zu jener Figur des großen „Libertador“, dessen Gestalt Sie
wohl eher in einer Vorlesung über die Geschichte und Politik Lateinamerikas,
vielleicht weniger aber in einer Vorlesung über die literarischen Ausdrucksfor-
men von Geburt, Leben, Sterben und Tod erwartet hätten. Und doch ist Simón
Bolívar nicht nur für die Bereiche Geschichte und Politik eine der großen her-
ausragenden Figuren der Independencia, sondern auch ein wichtiger Vertreter
der entstehenden hispanoamerikanischen Romantik. Als solcher wurde er auch
in einem neueren Roman des Kolumbianers Gabriel García Márquez mit dem
Titel El general en su laberinto porträtiert. Denn gerade im Bereich seiner Reden,
aber auch des Essays und vor allem des Briefes ist Bolívar literarisch stilbildend
geworden; eine Tatsache, die man nur allzu gerne übersehen hat, wenn man
sich mit dem großen Befreier des spanischen Amerika beschäftigte.
Zweifellos war Bolívar einer jener Männer, die sich zu Beginn des 19. Jahr-
hunderts mit der größten Luzidität die komplexe Frage nicht nur der politi-
schen Zukunft, sondern auch der kulturellen Perspektiven der ehemaligen
spanischen Kolonien stellten. Als Kreole dachte er wie Fray Servando Teresa de
Mier nicht primär an die indigene Bevölkerung Amerikas und wandte sich in
seinen Reden und Schriften in erster Linie an die kreolische Ober- und Träger-
schicht der Unabhängigkeitsbewegung. Doch war eine entschlossene Abkehr
José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft 571
von Spanien – dies wusste Bolívar sehr genau – nur um den Preis einer partiel-
len Identifizierung mit dem historischen Widerstand der indigenen Bevölke-
rung zu haben. Daher ist es ungeheuer aufschlussreich, diese Positionen mit
jenen Heredias zu vergleichen und zugleich zu fragen, wie das Verschwinden
der historischen Indios und ihr ‚geschichtlicher Tod‘ in eine ‚Wiedergeburt‘ von
Figuren der „pueblos originarios“ überführt werden konnte.
Dabei wollen wir nicht so tun, als könnten wir dies von einer souveränen,
überlegenen Position aus beurteilen, ist der ‚Tod‘ indigener Kulturen doch seit
jener Epoche der Unabhängigkeit nur sporadisch in Literaturgeschichten La-
teinamerikas hinterfragt und auf eine unbedingt notwendige Geschichte der in-
digenen Literaturen hin geöffnet worden. Denn erst in neuerer und neuester
Zeit hat man entschlossen versucht, die Länder Lateinamerikas als plurikultu-
relle und gerade nicht einsprachige Einheiten zu verstehen, so dass in nicht
allzu ferner Zukunft eine Geschichte der indigenen literarischen Ausdrucksfor-
men unbedingt eine der spanischsprachigen Literaturen ergänzen muss.14 Mit
der Einbeziehung einer solchen würden wir freilich den Bereich einer romanis-
tischen Vorlesung verlassen.
Hinsichtlich der Figur Simón Bolívars und des gesellschaftlichen wie kultu-
rellen Wirkens seiner Generation gilt es, sich vor Augen zu halten, dass sich
niemals in der Geschichte der Menschheit ein geographisch größerer Raum in
kürzerer Zeit von althergebrachten Gesellschaftsstrukturen hat befreien kön-
nen – in diesem Falle dem kolonialspanischen System. Dies sollte man stets be-
denken, auch wenn man der Independencia beispielsweise hinsichtlich ihrer
politischen und wirtschaftlichen, aber auch gesellschaftlichen und kulturellen
Konsequenzen kritisch oder skeptisch gegenüberstehen mag.
Mit Recht verwies Simón Bolívar mehrfach auf die riesige Ausdehnung der
Hemisphäre und beurteilte die Entwicklung des Unabhängigkeitskampfes in
den verschiedenen Regionen der hispanoamerikanischen Welt sehr differen-
ziert. Sein Hauptaugenmerk richtete er besonders auf den Río de la Plata, auf
das Reino de Chile, das Virreinato del Perú sowie auf Nueva Granada und
Nueva España, ohne freilich die Antillen und vor allem „la heroica y des-
dichada Venezuela“ zu vergessen, seine eigene heroische Heimatregion. Das
Wissen Bolívars über Amerika war bemerkenswert und seine Weitsicht schlicht
14 Vgl. hierzu in neuester Zeit etwa den Beitrag von Quijano Velasco, Mónica: La historia de
las literaturas en lenguas indígenas en México. Una revisión. In: Ugalde Quintana, Sergio /
Ette, Ottmar (Hg.): Políticas y estrategias de la crítica II: ideología, historia y actores de los estu-
dios literarios. Madrid – Frankfurt am Main: Iberoamericana – Vervuert 2021, S. 73–96. Der Bei-
trag bietet beschränkt auf den mexikanischen Raum einen sehr guten Überblick über alle
bisherigen Versuche, zu einer solchen Literaturgeschichte zu gelangen.
572 José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft
bewundernswert. Was aber würde das Schicksal der Neuen Welt sein, sobald
sie erst einmal frei wäre? Bolívar versuchte in seiner berühmten, gerade einmal
ein Jahrfünft vor Heredias großem Gedicht entstandenen Carta de jamaica auf
diese Frage eine vorläufige Antwort zu geben:
Es ist noch schwieriger, das künftige Schicksal der Neuen Welt vorherzusagen, Prinzipien
bezüglich seiner Politik zu etablieren und gleichsam die Natur seiner Regierung zu pro-
phezeien, welche es einmal übernehmen wird. Jede auf die Zukunft dieses Landes gerichtete
Idee scheint mir gewagt. Konnte man es denn vorhersehen, als das Menschengeschlecht sich
noch in seiner Kindheit befand und von so viel Unsicherheit, so viel Ignoranz und so vielen
Irrtümern umgeben war, welches die Regierungsform sein könnte, die es für seine Selbstbe-
wahrung einmal wählen würde? Wer hätte es damals gewagt zu sagen, welche Nation eine
Republik und welche eine Monarchie, ja dass dieses Land einmal klein und jenes andere
groß sein werde? Nach meinem Dafürhalten ist dies aber das Bild unserer Situation. Wir sind
ein kleines Menschengeschlecht; wir besitzen eine eigene Welt; wir sind von weiten Meeren
umgeben, neu in fast allen Künsten und Wissenschaften, und doch auf eine gewisse Art alt
in den Gebräuchen der Zivilgesellschaft. Ich halte den aktuellen Zustand von Amerika für
vergleichbar mit jenem Augenblick, als das Römische Reich zusammengebrochen war und
jede Abspaltung ein politisches System ergab, in Übereinstimmung mit den jeweiligen Inter-
essen und der Lage, aber auch in Abhängigkeit von den besonderen Ambitionen mancher
ihrer jeweiligen politischen Führer, Familien oder Korporationen; mit dem bemerkenswerten
Unterschied freilich, dass jene verstreuten Glieder ihre alten Nationen mit jenen Veränderun-
gen wiederherstellten, welche die Dinge oder die Ereignisse erforderlich machten; wir aber,
die wir kaum noch die Trümmer dessen bewahren, was in einer anderen Zeit einmal war,
und die wir auf der anderen Seite weder Indianer noch Europäer sind, sondern eine mittlere
Spezies zwischen den legitimen Eigentümern des Landes und den spanischen Usurpatoren
darstellen: Wenn wir alles zusammengenommen folglich Amerikaner durch Geburt und un-
sere Rechte die von Europa sind, so müssen wir diese mit jenen des Landes konfrontieren
und gegen die Invasion der Invasoren aufrecht erhalten; so befinden wir uns in dem außer-
ordentlichsten und kompliziertesten Falle; dessen ungeachtet ist es eine Art Weissagung,
wollte man angeben, welches das Ergebnis der politischen Linie sein könnte, welche Ame-
rika einschlagen wird, und doch will ich es wagen, einige Vermutungen zu äußern, welche
ich selbstverständlich für arbiträr halte, sind sie doch von einem rationalen Wunsche und
nicht von einer Wahrscheinlichkeitsrechnung diktiert.15
Wie José María Heredia sitzt Bolívar gleichsam auf den Überresten dessen, was ein-
mal war, nur dass der Kubaner nicht mehr die Ruinen des Römischen Reiches be-
trachtete, sondern diejenigen des Aztekenreiches und anderer indigener Mächte,
die vor der Eroberung durch Hernán Cortés oder Francisco Pizarro die politische
Geschichte dieser Weltregion bestimmten. In dieser langen und zugleich rhetorisch
sehr verdichteten Passage der 1815 verfassten Carta de Jamaica finden sich ent-
15 Bolívar, Simón: Carta de Jamaica, The Jamaica Letter. Lettre à un Habitant de la Jamaïque.
Caracas: Ediciones del Ministerio de Educación 1965, S. 69 f.
José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft 573
16 Vgl. hierzu den Einführungsteil von Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 45 ff.
574 José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft
pen zum damaligen Zeitpunkt – und sicherlich auch heute noch – nicht möglich
war. Ideologisch aber setzten sich die neuen Herren, die gegen die Spanier aufbe-
gehrten, an die Stelle der indigenen Bevölkerungen in Amerika und pochten auf
ihre Rechte, die sie aus der Zeit vor der Eroberung dieser Reiche durch die Spa-
nier ableiteten.
Die Formulierung „especie media“ ist freilich recht paradox: Handelt es
sich um eine Vermischung, wie der Begriff „media“ nahelegen könnte? Oder
dominiert vielmehr die Abgrenzung sowohl gegenüber der indigenen Bevölke-
rung als auch gegenüber den spanischen Eroberern? Klar ist in dieser Passage
vor allem, dass Bolívar für die Amerikaner gleichsam einen eigenen Bereich er-
öffnet, eine eigene Spezies einführt, die in sich wiederum als homogen begrif-
fen wird und an deren Spitze er sich stellt. Diese Amerikaner sind freilich de
facto Söhne und Töchter der Spanier sowie anderer europäischer Einwanderer
und keineswegs Nachfahren der Indianer, die sie über Jahrhunderte unter-
drückten. Doch sie erheben Anspruch auf das Erbe der indigenen Bevölkerung
und betrachten die Spanier, gleichsam ihre Eltern, als pure Invasoren. Diesen
Widerspruch gilt es zu verstehen, will man einen großen Teil jener Probleme
begreifen, welche die aus einer solchen Unabhängigkeitsrevolution entstande-
nen Gesellschaften bis heute mit sich herumschleppen.
Wir können nun besser die ideologischen Hintergründe verstehen, die den
Kubaner José María Heredia dazu brachten, sich als Kubaner, als Sohn spani-
scher Eltern, als Kreole doch in einen unmittelbaren Bezug zu den Erbauern der
riesigen Pyramide von Cholula zu setzen. Zugleich begriff er nach dem Tod seines
Vaters, der als hoher Beamter des spanischen Kolonialreichs verstarb, die Spa-
nier zunehmend als unrechtmäßige Invasoren, denen gegenüber die alten Rechte
der indigenen Bevölkerung geltend gemacht wurden. Simón Bolívar war nichts
anderes als das Sprachrohr einer (kreolischen) Trägerschicht, welche sich gegen
die kolonialen Vorrechte der Spanier erhoben und gute Gründe dafür benötigten,
sich vom verhassten Spanien endgültig unabhängig zu machen.
In diesem Kampf spielten Symbole eine ganz entscheidende ideologische
Rolle, die weit in die Zeit vor der spanischen Eroberung zurückgriffen. Fray Ser-
vando Teresa de Mier beispielsweise war in die Kette seiner Verfolgungen (und
seiner Verfolger) eingetreten, als er auf die Erscheinung der Jungfrau von Guada-
lupe zurückgriff und die Evangelisierung Amerikas in eine Zeit vor der Conquista
verlegte. Er sprach den spanischen Eroberern damit jegliche heilsgeschichtliche
Bedeutung ab. Bekannt ist, welch ungeheuren Einfluss das Symbol der Jungfrau
von Guadalupe im Unabhängigkeitskamp Neuspaniens ausübte und welche
volksreligiöse wie politische Bedeutung es im heutigen Mexiko noch immer be-
sitzt. Die Funktionalisierung von Mythen und Legenden für genau umrissene po-
litische Ziele musste daher gerade auch für die Generation der Independencia
José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft 575
von großer Wichtigkeit sein, war es doch auf diese Weise möglich, über be-
stimmte volkskulturelle Elemente die Wirkung politischer Äußerungen und Posi-
tionen bei einer breiten Bevölkerung zu vervielfachen.
Zweifellos hat die Funktionalisierung von Mythen für bestimmte politische
oder militärische Zwecke eine lange Tradition in Lateinamerika und setzt spä-
testens mit der Conquista17 und – im Reich der Azteken – mit dem Auftauchen
des Hernán Cortés ein. Aber auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es zahl-
reiche Versuche, bestimmte indigene beziehungsweise volkskulturelle Mythen
und Vorstellungen für politische Zwecke einzusetzen und auf diese Weise ideo-
logisch zu funktionalisieren. Hier machte Simón Bolívar keine Ausnahme, er-
kannte er doch die Chancen, die sich ihm auf diesem Gebiet boten.
In seiner Carta de Jamaica etwa diskutierte Bolívar offen die Frage, wie
sinnvoll eine politische Funktionalisierung des Quetzalcóatl-Mythos für die In-
dependencia wäre.18 Dabei wog er kühl ab, dass „Quetzalcóatl, el Hermes o
Buda de la América del Sur“, eher bei Geschichtsschreibern und Literaten als
beim einfachen mexikanischen Volk bekannt sei. Die Diskussion um die wahre
Bedeutung des Gottes erschien ihm daher als zweitrangig, da es ein viel zug-
kräftigeres und erfolgversprechenderes Symbol kreolischer Einheit gebe:
Glücklicherweise haben die Führer der Unabhängigkeit in Mexiko den Fanatismus höchst ziel-
sicher genutzt, indem sie die berühmte Jungfrau von Guadalupe zur Königin der Patrioten aus-
riefen; in allen hitzigen Fällen riefen sie sie an und trugen sie auf ihren Fahnen. Dergestalt hat
der politische Enthusiasmus eine Mischung mit der Religion erzeugt, was zu einem vehemen-
ten Erglühen für die heilige Sache der Freiheit führte. Die Verehrung dieses Bildes in Mexiko
ist sogar noch jener überlegen, welche selbst der geschickteste Prophet inspirieren könnte.19
Dieses Zitat verdeutlicht eindrucksvoll, wie Bolívar – selbst von keiner eigenen
Glaubensbindung an derlei Vorstellungen belastet – bestimmte Mythen und Le-
genden auf ihre Durchschlagskraft beim gläubigen Volk hin untersuchte und
deren gezielte Verwendung empfahl. Ich wollte Ihnen an diesem Beispiel deut-
lich vor Augen führen, dass der Rückgriff auf Symbole und Baudenkmäler der
indigenen Reiche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts politischen Mecha-
nismen entsprach, die sich bruchlos in die Vorstellungswelt der kreolischen Eli-
ten, ihrer politischen Führer wie ihrer Dichter und Denker, einfügten.
17 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Funktionen von Mythen und Legenden in Texten des 16. und
17. Jahrhunderts über die Neue Welt. In: Kohut, Karl (Hg.): Der eroberte Kontinent. Historische
Realität, Rechtfertigung und literarische Darstellung der Kolonisation Amerikas. Frankfurt am
Main: Vervuert Verlag 1991, S. 161–182.
18 Bolívar, Simón: Carta de Jamaica, S. 82 f.
19 Ebda., S. 83.
576 José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft
Abb. 51: José Gil de Castro: Portrait von Simón Bolívar (1783–1830), ca. 1923.
20 Vgl. zu Atala das entsprechende Kapitel in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten,
S. 151 ff.
José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft 577
den, betrachtete er doch gerade auch das Spanische als vorrangiges, prägendes
Element des Eigenen. Ähnlich wie seine kubanische Landsfrau Gertrudis Gómez
de Avellaneda, die sich mit ihrem Roman Guatimocín ebenfalls dem Themenge-
biet indigener Reiche näherte und damit diesen kulturellen Pol ihrem Schreiben
einverleibte,21 war Heredia weder gegenüber den indigenen Kulturen noch ge-
genüber volkskulturellen Ausdrucksformen besonders empfänglich.
Doch ist die Wahl dieses lyrischen Schauplatzes für sein langes Gedicht
überaus aussagekräftig. Denn die indianisch-amerikanische Dimension war ein
wesentlicher Aspekt der Differenzierung gerade gegenüber dem gemeinsamen
spanischen Erbe und wurde vor diesem Hintergrund zum wichtigen Ansatz-
punkt für eigene amerikanische Identitätsentwürfe. Dass derlei Identitätskonzepte
keineswegs notwendig – zumindest nicht zum damaligen Zeitpunkt – in die Vor-
stellung einer politischen Unabhängigkeit einmünden mussten, scheint das Ge-
dicht von 1820 sehr wohl zu belegen.
Mit dem Ausdruck „ley universal“ brach die Fassung des Gedichts von 1825
ab. Dies bedeutet freilich nicht, dass wir an dieser Stelle unsere Interpretation
abbrechen müssten. Wir können feststellen, dass die gesamte thematische Ent-
faltung wie auch die grundlegende Spannung zwischen Ich und Welt innerhalb
eines romantischen Settings angelegt ist und zugleich zurückgebogen und auf-
gehoben wird im Topos einer neoklassizistischen Prägung, wie sie noch deut-
lich den Orientierungen eines Andrés Bello entsprach. Die Bewegung wird
gleichsam topisch fixiert, erstarrt in ihrer Schlusspirouette. Letztlich ist selbst
im Schlussteil, welcher der Ausgabe von 1832 hinzugefügt wurde, der Lehrcha-
rakter des Gedichts noch einmal hervorgehoben.
Aufschlussreich scheint mir in En el Teocalli de Cholula insbesondere eine
Passage zu sein, welche ein bedeutsames Licht auf die amerikanische Vergan-
genheit wirft und zugleich in vielerlei Hinsicht die weitere Entwicklung der
hispanoamerikanischen Lyrik im 19. Jahrhundert andeutet. Mit Hilfe eines
Traumes, einem Requisit unzweifelhaft romantischer Prägung, wird die Er-
kenntnis der „ley universal“ fortgeführt in einer Szenerie, welche diese roman-
tische Ausrichtung des kubanischen Barden noch weiter zuspitzt.
Dabei ist es der Traum, der die Entwicklung der Verinnerlichung ins Innere
des lyrischen Ich hinein fortsetzt. Er tut dies gleichsam in einer dreistufigen An-
lage, welche den Gegensatz zwischen Natur und Kultur auf der ersten in den
zwischen Individuum und Gesellschaft auf der zweiten Stufe, schließlich zwi-
schen Realität und Traum innerhalb des Individuellen auf der dritten Stufe mit
poetischen Mitteln weiterspinnt:
Diese visionäre, von bunten Traumbildern erfüllte Passage zeigt uns also
nicht nur eine zweifellos romantische Sensibilität für jene amerikanischen
Wilden, die nicht im Kontext überall hervorquellender „bons sauvages“, son-
dern einer über dem versklavten Volk stattfindenden Grausamkeit dargestellt
werden. Der Tod zahlloser menschlicher Opfer ist die Konsequenz einer zu-
tiefst ungerechten, despotischen Gesellschaftsordnung, in welcher die Hohe-
priester stets auf Seiten der Macht stehen – ganz so, wie die Katholische
Kirche auf Seiten der „muy católicos Reyes“, der Könige von Spanien. Zu-
gleich ist das Interesse des Dichters ausgehend von einem Symbol der Macht,
eben jener Pyramide von Cholula als Verbindung von weltlicher und religiöser
Macht, auf die Machtproblematik und die Machtfrage gerichtet. Es gilt dies kei-
neswegs allein in Bezug auf eine längst verflossene Zeit in Anáhuac, sondern
ebenso in Bezug auf eine von der Kolonialmacht Spanien noch bedrohte Gegen-
wart in den Amerikas.
So ist die längst vergangene Vergangenheit noch immer nicht wirklich vor-
über, noch immer nicht endgültig tot. Wie Sarmiento mit Blick auf den Tod von
Facundo Quiroga seinen Erzähler sagen ließ, dass Facundo nicht tot sei, son-
dern noch immer lebe, so erscheint zwischen den Zeilen dieser Vision von der
blutigen und grausamen Herrschaft der Azteken die Einsicht, dass mit dem Tod
keineswegs ein völliges Verschwinden einhergeht. Die alten Machtstrukturen
pausen sich figural immer weiter in den Machtstrukturen der Gegenwart durch
und leben weiter. Durch seine Traumvision versucht der Dichter, mit den poeti-
schen Mitteln der Lyrik seinen Leserinnen und Lesern sinnlichen Zugang zu
dieser geschichtlichen Einsicht zu gewähren.
Die Konfrontation mit der alles beherrschenden Macht, die Trennung zwi-
schen Ich und Welt, die Ohnmacht des Individuums angesichts der Machtent-
faltung des Barbarischen und das Aufbegehren dieses Ich gegen eine ungerechte
Gesellschaftsordnung werden bei José María Heredia bald patriotisch-kubanische
Züge erhalten und sich in einer Folge später berühmt gewordener Gedichte entla-
den. Diese werden Heredia für die Kubaner zum Dichter der kommenden
Nation und des Heilsversprechens einer künftig selbstverantwortlichen Be-
stimmung der Insel machen. Gedichte wie La estrella de Cuba von 1823, A
Emilia von 1824 und eine Vielzahl anderer poetischer Schöpfungen wirkten
im Verlauf der Geschichte Kubas im 19. Jahrhundert immer wieder als Kata-
lysatoren eines von den Spaniern unterdrückten Nationalbewusstseins, das
erst mit dem Ende dieses langen Jahrhunderts zu einer erfolgreichen Natio-
nenbildung führen sollte.
Wie sehr Kuba nun im Gegensatz zur Independencia und ihren erfolgrei-
chen Kämpfen auf dem Subkontinent steht, wie aussichtslos die Situation des
Kampfes gegen eine übermächtige Kolonialmacht erscheint, wird bereits an der
José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft 581
ersten Strophe von La estrella de Cuba deutlich; jenem Gesang an die „estrella
solitaria“, die sich in der kubanischen Nationalflagge findet und mit allerlei an-
deren Sternen in Zusammenhang gebracht worden ist:
23 Heredia, José María: La Estrella de Cuba. In (ders. / Laurencio, Ángel Aparicio, Hg.): Poesías
completas. Miami: Ed. Universal 1970, S. 287.
582 José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft
heraus, wo er bereits angekündigt worden war, sondern in New York. Das kubani-
sche Exil hat seinen ersten großen Poeten und konstituiert sich vornehmlich in Flo-
rida und New York. Selbst noch ein Reinaldo Arenas wird die Infrastruktur dieses
Exils in Miami wie in New York für sich nutzen.
José María Heredia war nun zu ständigem Auslandsaufenthalt verurteilt.
An ein Schwächeln der auf die Antillen zurückgeworfenen spanischen Militär-
macht war nicht zu denken. Bereits im August 1825 trat er, diesmal nicht von
Kuba, sondern von New York aus, eine Reise nach Mexiko an, das er bereits
gut kannte. Die Schiffsreise soll literarisch äußerst produktiv gewesen sein,
sagt man doch, dass er während dieser Zeit im August 1825 seinen Sonnen-
hymnus Himno al Sol, seine Vuelta al Sur sowie den trotzigen Himno del
Desterrado verfasst habe.
In diesen Gedichten ist die Scheidung von Individuum und Welt in politi-
scher Weise konkretisiert und – das hatten Sie vielleicht schon vermutet bei
einem karibischen Dichter – mit der Metaphorik des Schiffes und insbesondere
des Meeres gekoppelt. Schauen wir uns daraufhin den Himno del Desterrado
am Beispiel seiner ersten Strophen in gebotener Kürze etwas genauer an! Denn
es handelt sich gleichsam um den Hymnus des kubanischen Exils:
Heredias Hymnus ist ein Hymnus aus der Bewegung, aus einer unsteten Mobili-
tät, welcher am Ende des Gedichts der feste Boden Kubas entgegengesetzt wird.
Aus diesem Gegensatz zwischen Meer und Land, zwischen freier Beweglichkeit
und festem Boden unter den Füßen, lebt das Gedicht, das zunächst mit einer
Anrufung der Sonne und des noch heiteren Meeres einsetzt. Noch bricht das
Schiff triumphal die Wellen für ein Ich auf großer Fahrt, weit weg von allem,
was ihm lieb und teuer ist. Doch das Schiff führt den Verbannten weg von der
Heimat, die er am Horizont noch ein letztes Mal erkennt. Es ist der feste Umriss
eines Berges, der all das Folgende, all das schmerzlich Vermisste im lyrischen
Ich evozieren wird. Denn dieses Ich ist ein Des-terrado, ein vom Boden seines
Herkunftslandes Verbannter, ein Entwurzelter, der sich dem beweglichen Ele-
ment des Meeres anvertrauen muss.
24 Heredia, José María Heredia: Himno del Desterrado. In (ders. / Laurencio, Ángel Aparicio,
Hg.): Poesías completas. Miami: Ed. Universal 1970, S. 310.
584 José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft
Der Hymnus geht von der beweglichen Position des lyrischen Ich inmitten
des Meeres aus, doch besitzt diese ‚Kreuzfahrt durch die Karibik‘ nichts, was
Ruhe und Erholung verspricht. Das Meer mit seinen vielen Wellen ist nicht das
Element der Verbindung, sondern – wie sich im weiteren Verlauf zeigt – der
Trennung, jener Distanz, die das Ich von seinen Lieben, von seinen Schwestern,
seiner Geliebten – die er im Versteck in Matanzas kennenlernte – und seiner
Mutter unumstößlich fortreißt. Gerade diese Mutter wird er, nach langen Jahren
im Exil, in Matanzas noch einmal besuchen und in seine Arme schließen wol-
len; ein Plan, der gegen Ende seines Lebens gelingen wird, aber nur auf Kosten
eines unterwürfigen Briefes an den damaligen spanischen „Capitán General“,
der dem Verbannten und später in Abwesenheit zum Tode Verurteilten den Zu-
tritt zur Insel erlauben musste. Der exilierte Dichter schrieb diesen Brief, doch
trug man Heredia diese Unterwürfigkeit lange Zeit (und sogar bis heute) nach,
habe er doch genau mit dieser Geste den Hymnus des Verbannten verraten.
Doch davon weiß das auf dem Schiff verfasste Gedicht noch nichts …
Das alle zwischenmenschlichen Beziehungen Trennende des Meeres wird
am Ende ein weiteres, ein letztes Mal umgedeutet, in einer Stelle, die unver-
kennbar an die berühmte Carta de Jamaica Simón Bolívars erinnert. in diesem
Brief aus Jamaika sprach der „Libertador“ davon, dass der Hass der Amerikaner
auf die Spanier noch größer sei als das Meer, das sie von jenen trenne: „más
grande es el odio que nos ha inspirado la Península, que el mar que nos separa de
ella.“25 Dies waren die Worte Bolívars aus dem Jahr 1815, zu einem Zeitpunkt, als
gerade auch aus der Perspektive einer Karibikinsel der Kampf gegen Spanien als
ungeheuer schwierig erscheinen musste und sich Spanien bereits wieder im Besitz
seiner hispanoamerikanischen Kolonien wähnte. Noch waren die Unabhängig-
keitskriege weit davon entfernt, zu einem definitiven Ende gelangt zu sein.
Eine ähnliche Formulierung finden wir, nun freilich auf die Situation der
Insel Kuba bezogen, zehn Jahre später in der nachfolgenden Kampfansage aus
der Feder des kubanischen Kreolen an die Adresse des spanischen Löwen:
26 Heredia, José María Heredia: Himno del Desterrado. In (ders. / Laurencio, Ángel Aparicio,
Hg.): Poesías completas. Miami: Ed. Universal 1970 S. 313 f.
586 José María Heredia oder Visionen des Vergangenen für die Zukunft
Die Anrufung Kubas antwortet mit diesem Ausblick auf die zweifache Evo-
kation der Insel zu Anfang des Gedichts: Der Kreislauf der Wellen- und der
Meeresmetaphorik wird geschlossen und öffnet sich auf neue Horizonte. Die
unverminderte Hoffnung auf politische Freiheit und Unabhängigkeit wird
endlich in eine nahe Zukunft projiziert: Das lyrische Ich ist zum Bannerträger
des militanten Widerstands geworden gegen die alte, ererbte Abhängigkeit;
und José María Heredia zugleich zu jenem Dichter, der vielleicht am besten
und ästhetisch überzeugendsten den Übergang von einer kolonialen Ordnung
in eine postkoloniale Unabhängigkeit, von einer neoklassizistischen zu einer
romantischen Ästhetik in Hispanoamerika vor Augen führte.
Dass er wie – unter anderen politischen Vorzeichen – die argentinischen
„Proscriptos“ Echeverría, Mármol oder Sarmiento in die Verbannung musste
und erst durch seine Reisen, durch seine Bewegungen im Exil jene Bewegungs-
freiheit erfuhr, die er auch literarisch umzusetzen verstand, darf als Konstante
hispanoamerikanischer literarischer Schöpfung verstanden werden. Heredia ist
auch in diesem Sinne – und nicht nur durch die Anrufung Washingtons – Ame-
rikaner in einem vollen, kontinentalen Wortsinne. Dass die alte koloniale Ord-
nung zwar besiegt, aber nicht für immer tot ist, gehört zum kolonialen Trauma
einer Situation, die gerade auch mit Blick auf die kubanische Geschichte gewiss
nicht mehr ist, aber doch nicht aufhören kann zu sein.
José Martís mexikanische Lyrik oder
der Lebendig-Tote
Bleiben wir noch in der spannenden Entfaltung der Lyrik innerhalb der kubani-
schen Literatur und bei einem Dichter, den wir im Zusammenhang mit José
María Heredia bereits genannt hatten: José Martí! Dabei verlassen wir keines-
wegs die Hauptentwicklungslinien der hispanoamerikanischen Literatur. Zwar
war Kuba im 19. Jahrhundert noch keineswegs eine Nation oder gar ein unab-
hängiger Staat, zählte aber auf dem Gebiet der Literatur dennoch zu den treiben-
den Kräften, welche in den spanischsprachigen Ländern Amerikas Entwicklungen
in Lyrik und Prosa vorantrieben und die Romantik nicht nur querten, sondern auf
neue Formen des Schreibens in der Dichtkunst wie im Essay, im Roman wie in der
Erzählung oder in der Chronik öffneten.
Den Übergang von der romantischen zur modernistischen Ästhetik könnten
wir auch im Bereich des Romans untersuchen – ich selbst habe dies zu Beginn
meines Weges durch die Romanistik einmal anhand von José Martís Amistad
funesta beziehungsweise Lucía Jerez getan.1 Doch wollen wir in diesem Teil un-
serer Vorlesung bei der Lyrik bleiben, die uns in verdichteter Form für diese li-
terarhistorischen Übergänge sensibilisiert.
Dabei wird im weiten Feld der Dichtkunst deutlich, dass sich auf der ästhe-
tischen Entwicklungslinie zum Modernismo insbesondere jener Bereich in den
Vordergrund schiebt, der in der regionalistischen „Poesía gauchesca“ in den
Hintergrund gedrängt wurde oder doch vernachlässigt blieb: die sozioökonomi-
sche Modernisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften. Wir wollen uns
nachfolgend noch kurz mit dieser ‚Gaucho-Lyrik‘ auseinandersetzen, so dass
ich mir an dieser Stelle weitere Erläuterungen diesbezüglich versagen kann.
Sicherlich – so werden Sie mit Recht einwenden – hat auch die Intensivie-
rung der Indianerkriege und das biopolitisch bewusste Ausschalten der Gau-
chos mit der angestrebten Homogenisierung des argentinischen Nationalstaats
und somit der Neugestaltung einer modernisierten, an europäischen Vorbildern
ausgerichteten und dennoch eigenständigen Entwicklung zu tun. Ich räume
Ihnen dies gerne ein! Doch darf darüber nicht vergessen werden, dass die ei-
1 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: „Cierto indio que sabe francés“: Intertextualität und literarischer Raum
in José Martís „Amistad funesta“. In: Iberoamericana (Frankfurt am Main) IX, 25–26 (1985),
S. 42–52; sowie (ders.): „Cecilia Valdés“ und „Lucía Jerez“: Veränderungen des literarischen Rau-
mes in zwei kubanischen Exilromanen des 19. Jahrhunderts. In: Berger, Günter / Lüsebrink, Hans-
Jürgen (Hg.): Literarische Kanonbildung in der Romania. Beiträge aus dem deutschen Romanisten-
tag 1985. Rheinfelden: Schäuble Verlag 1987, S. 199–224.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-020
588 José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote
gentlichen, durch etwas Neues – und nicht etwa durch den Verlust des Traditio-
nellen – ausgelösten und hervortretenden Bereiche und Phänomene sozioökono-
mischer Modernisierung im Hintergrund bleiben. Von der „Poesía gauchesca“
führte folglich kein Weg zum hispanoamerikanischen Modernismo, wohl aber
von der romantischen Lyrik, die spätestens seit Mitte der siebziger Jahre im spa-
nischsprachigen Amerika einem starken Veränderungsdruck ausgesetzt war.2
Ich möchte dies gerne am Beispiel der mexikanischen Lyrik von José Martí auf-
zeigen, um den kubanischen Dichter und politischen Revolutionär zu einem spä-
teren Zeitpunkt im Dialog mit dem Nikaraguaner Rubén Darío als Überwinder
der romantischen Lyriktradition in den Amerikas porträtieren zu können.
Vor etwa sieben langen Jahrzehnten schrieb der damals noch junge uru-
guayische Kritiker und Literaturtheoretiker Angel Rama in einem Artikel mit
dem bezeichnenden Titel Martí, poeta visionario anlässlich der Hundertjahr-
feiern der Geburt José Martís: „Wenn wir heute aus der Perspektive, die uns
diese Jahrhundertfeier gewährt, das Werk José Martís betrachten, das seit
dem Tode des Helden in Dos Ríos 1895 zu wachsen nicht aufgehört hat, so
überrascht uns sein unveränderlicher und tiefer poetischer Akzent, der es von
anderen unterscheidet.“3
Mit sicherem Blick konstatierte der junge Kritiker eine Geschichte der Re-
zeption des kubanischen Dichters, die in der Tat seit 1895, aber mit erneuerter
Kraft gerade auch seit 1953 an Komplexität und überraschender Vielfalt gewann
und in Lateinamerika – nehmen wir die Rezeptionsgeschichte von Simón Bolí-
var einmal aus – wohl nicht ihresgleichen hat.4 In den Jahrzehnten seit dem
zweiten „Centenario“ Martís im 20. Jahrhundert im Jahre 1995 ist die Auseinan-
dersetzung mit den Texten des großen kubanischen Lyrikers und Essayisten
vielfach durch neuerliche ideologische Inanspruchnahmen und antagonisti-
sche Instrumentalisierungen überschattet worden. Doch sein Gesamtwerk in
Vers wie in Prosa ist von einer so durchgängigen poetischen Kraft durchzogen,
dass es sich auch in Zukunft vor simplen Reduktionismen ideologischer Art
schützen wird. Eine heute kaum noch zu überblickende Vielzahl von Arbeiten
2 Vgl. hierzu die literarhistorische Darstellung in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Wel-
ten, S. 923 ff.
3 Rama, Angel: Martí, poeta visionario. In: Entregas de la Licorne (Montevideo) I, 1–2 (1953),
S. 157: „Cuando observamos ahora, con la perspectiva que nos concede este centenario, la obra
de José Martí, que no ha dejado de crecer desde la muerte del héroe en Dos Ríos el año 1895, nos
sorprende el invariable y profundo acento poético que la distingue.“
4 Zur Rezeptionsgeschichte des kubanischen Schriftstellers und Politikers vgl. Ette, Ottmar:
José Martí. Teil I: Apostel – Dichter – Revolutionär. Eine Geschichte seiner Rezeption. Tübingen:
Max Niemeyer Verlag (Reihe mimesis, Bd. 10) 1991.
José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote 589
Wenn das Interesse am Werk dieses großen kubanischen Autors seit 1953 und
rund um das Jahr 1995 auch weltweit beeindruckend zugenommen hat, so lässt
sich dies gewiss nur sehr eingeschränkt für den Bereich von Martís Lyrik jenseits
der beherrschenden Gedichtsammlungen behaupten. Denn innerhalb der poeti-
schen Produktion blieben die Verse des jungen Martí gänzlich im Schatten der Ge-
dichte seines Ismaelillo, seiner Versos libres oder seiner Versos sencillos, welche
das Hauptaugenmerk der kubanischen wie der internationalen Kritik beanspruch-
ten. Es erscheint vor dem Hintergrund der Fragestellung unserer Vorlesung als
umso verlockender, sich einmal auf die frühe Lyrik seiner mexikanischen Zeit zu
konzentrieren; einer Zeit also, für welche die Martí-Forschung immer wieder die
sogenannten Boletines, die Martí unter dem Pseudonym „Orestes“6 für die Revista
Universal verfasste, für repräsentativ hielt und demzufolge noch verhältnismäßig
häufig untersuchte. Dabei vernachlässigte sie aber andere literarische Ausdrucks-
5 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 1010 ff.
6 Vgl. hierzu auch die frühe Studie von Ette, Ottmar: Apuntes para una orestiada americana.
José Martí y el diálogo intercultural entre Europa y América latina. In: Revista de crítica litera-
ria latinoamericana (Lima, Peru) XI, 24 (2° semestre 1986), S. 137–146; sowie (ders.): Orest und
Iphigenie in Mexico. Exilsituation und Identitätssuche bei José Martís und Alfonso Reyes’ Be-
schäftigung mit dem Mythos. In: Komparatistische Hefte (Bayreuth) 14 (1986), S. 71–90.
590 José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote
formen dieses Zeitraums. Widmen wir uns also der poetischen Produktion Martís
während seines Exils in Mexiko!
In der Revista Universal veröffentlichte Martí am 26. Januar 1876 seine
fünfte und letzte „ojeada“ zur Exposición Nacional de México, die ihre Tore
dem Publikum der Hauptstadt bereits am 1. Dezember des Vorjahres geöffnet
hatte. In diesem kurzen Text schreibt der seit einem knappen Jahr in Mexiko im
Exil lebende junge Redakteur nicht ohne Stolz auf sein Exilland:
Gestern gingen wir zum Palast und fürchteten, dort nur Dürftiges von Neuheitswert vorzu-
finden, doch empfanden wir zugleich Überraschung, Befriedigung und Stolz, in diesem
Lande Mexiko zu leben, angesichts der Vielzahl an Zeugnissen des Reichtums, mit dem
sich die Schaubereiche, das Zentrum, alle verschiedenen Orte der Ausstellung geschmückt
haben. Hier findet sich reiches Holz; dort Fortschritte bei Maschinen und in der Industrie:
zusammen mit dem trügerischen Produkt des Bergbaus, den vielversprechenden Instru-
menten der Arbeit: Ein an sich kleiner Staat erscheint als respektabel, reich und groß: Man
sieht die aufblühende Industrie sowie eine Vielzahl überquellender Produkte; und insofern
man sich allem mit Engagement widmet, werden die Märkte in unserem Lande wie im Aus-
land überfließen..7
Mitte der siebziger Jahre sind in Mexiko zur Überraschung des Redakteurs be-
reits eine Aufbruchstimmung in der Industrie und ein Beginn sozioökonomi-
scher Modernisierung spürbar. Mit wenigen, aber wohlkalkuliert verdichteten
Worten entwirft José Martí für seine Leser das Panorama einer noch in den An-
fängen steckenden, zögerlichen industriellen Entwicklung Mexikos, von den
nachwachsenden Rohstoffen (den Hölzern) über die noch ausbeutbaren Lagers-
tätten an Edelmetallen. Dabei warnte Martí stets davor, die künftige Industriali-
sierung auf den nach seiner Ansicht trügerischen Reichtum der Bodenschätze
zu gründen, der darüber hinaus auch noch unliebsam an das extraktive Wirt-
schaftssystem der Kolonialzeit erinnerte – bis hin zu den Industriegütern, für wel-
che die „adelantos de la maquinaria“ oder die „instrumentos prometedores del
trabajo“ stellvertretend stehen. Auf diese Weise entsteht das Bild eines Modernisie-
rungsprozesses, der auch nach Ansicht Martís das Land in eine leuchtende,
prosperierende Zukunft führen werde. Martí versprach sich davon wachsen-
den Wohlstand nicht allein in Mexiko, sondern auch in vielen anderen freien
Ländern der lateinamerikanischen Welt.
Diese auf menschlicher Arbeit und einem modernisierten Maschinenpark
aufbauende Zukunft verkörpert sich in diesem wichtigen Text in einer Reihe
symbolhafter Objekte, welche zugleich Überraschung und Befriedigung im Be-
sucher hervorrufen, der nicht damit rechnete, so vieler Schätze, so vieler Reich-
7 Martí, José: Una ojeada a la Exposición (V). In (ders.): Obras Completas. Edición crítica.
Tomo II. La Habana: Casa de las Américas y Centro de Estudios Martianos 1985, S. 245.
José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote 591
tümer gewahr zu werden. Im Folgenden möchte ich wie Martí einen wenig be-
kannten Bereich aufsuchen und eine noch wenig untersuchte Phase seines
Schaffens analysieren. Ich tue dies in der Hoffnung, vielleicht auch hierbei
überraschende Entdeckungen im reichen Schaffen des Kubaners zu machen –
Entdeckungen, die nicht nur unsere Vorstellungen von Martís Jugendwerk, son-
dern seines literarischen Schaffens insgesamt bereichern könnten. Denn dass
Martí bei seinen frühen Chroniken und Berichten aus der Alltagswelt seines Exil-
landes noch auf der Suche nach neuen stilistischen und sprachlichen Möglichkei-
ten war, dürfte die oben angeführte Passage deutlich gezeigt haben.
Dass dieser breite Bereich seines Oeuvre bislang noch so selten analysiert
wurde, geht zumindest teilweise auf Martís eigene Haltung zurück. In seinem
berühmten Brief vom 1. April 1895 an seinen Vertrauten Gonzalo de Quesada y
Aróstegui, der bekanntlich auch als ‚literarisches Testament‘ des Kubaners gilt,
verurteilt er gnadenlos sein gesamtes lyrisches Schaffen vor 1882: „Von meinen
Versen veröffentlichen Sie keine vor dem Ismaelillo; keiner ist einen Pfifferling
wert. Danach sind sie einheitlich und ehrlich.“8 Diese rasche Verdammung in
toto hatte Folgen!
Allerdings nicht auf Ebene seiner mit Hingabe gesammelten Werke und
nachfolgenden Werkausgaben. Wenn keiner der Verse, die Martí vor der Publi-
kation seines ersten Gedichtbandes verfasste, vor diesem überstrengen Urteil
Bestand hat, so haben sich zum Glück nicht alle Martí-Forscher, vor allem aber
nicht seine Herausgeber, diesem wie ich meine ungerechten Spruch gebeugt.
Schon Quesada y Aróstegui missachtete Martís Anweisungen und rettete damit
die Mehrzahl dieser Texte vor dem Vergessen. Andere, wie etwa der kubanische
Lyriker Eugenio Florit9 oder der Mexikaner Alfonso Herrera Franyutti, stellten
die Kriterien der Selbstbeurteilung Martís in Frage und bezogen die frühe Lyrik
in ihre Untersuchungen durchaus mit ein. Für uns ist dies wichtig, wollen wir
die Lyrik des Kubaners doch nicht ausschließlich auf die Ästhetik des Moder-
nismo reduziert wissen, sondern in ihrer gesamten Entwicklung überblicken.
So widmete Herrera Franyutti vor Jahrzehnten, anlässlich der wichtigen
Martí-Tagung von Bordeaux, sein Augenmerk jenen Texten, die er als „la sen-
cilla poesía de Martí en México“ bezeichnete,10 die einfache Poesie Martís in
8 Martí, José: Carta a Gonzalo de Quesada y Aróstegui. In (ders.): Obras Completas. Tomo 1. La
Habana: Editorial de Ciencias Sociales 1975, S. 26: „Versos míos, no publique ninguno antes
del Ismaelillo; ninguno vale un ápice. Los de después, al fin, ya son unos y sinceros.“
9 Florit, Eugenio: Versos. In: José Martí (1853–1895). Vida y obra – Bibliografía – Antología.
New York – Río Piedras: Hispanic Institute 1953, pp. 27 f.
10 Herrera Franyutti, Alfonso: La sencilla poesía de Martí en México. In: En torno a José Martí.
Coloquio Internacional. Bordeaux: Editions Bière 1974, S. 341–363.
592 José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote
Mexiko. Kommt auf diese Weise auch ein bescheidenes, aber wachsendes Inter-
esse an seiner frühen Lyrik zum Ausdruck, so stellt sich doch hinsichtlich der
Ausrichtung der bislang zu diesem Thema publizierten Studien ein doppeltes
Problem: Zum einen werden die frühen Gedichte häufig auf die späteren poeti-
schen Arbeiten hin perspektiviert und diesen (schon von Martí selbst kanoni-
sierten) Texten hierarchisch zu- und untergeordnet, so dass die Produktion
gerade der mexikanischen Zeit ihres eigenen Wertes, ihres eigenen Ortes inner-
halb des Gesamtwerks beraubt wird.
Zum anderen wird immer wieder auf verschiedenste, aber nie konkretisierte
‚Mängel‘ dieser frühen Arbeiten hingewiesen, wobei die eigene Beschäftigung mit
diesen Versen immer wieder damit begründet wird, dass sie von vorrangig biogra-
phischem Interesse seien: „Sie dienen dem Biographen wie dem Psychologen, der
in das Leben des Helden vordringen möchte, insofern sie uns an die Hand nehmen
und mit ihren Zeilen durch die biographische wie gefühlsmäßige Chronologie des
Martí jener Jahre führen, ihn uns mit seinem gesamten Körper zeigen.“11
Trotz der nicht gänzlich zu bestreitenden Legitimation und Verdienste der-
artiger autobiographischer Lektüren soll in der vorliegenden Arbeit weit weni-
ger der Körper des damals zweiundzwanzigjährigen Martí, als vielmehr die
Beziehung zwischen jenem Körper und demjenigen der Lyrik herausgearbeitet
werden; eine Relation, wie sie die Verse jener Zeit entfalteten. Denn sie erschließt
uns die Komplexität der Beziehungen zwischen Geburt und Schreiben, zwischen
Leben und Dichten, zwischen Sterben und agonaler lyrischer Schöpfung.
Um dieser Zielsetzung innerhalb eines nur beschränkt zur Verfügung stehen-
den Raumes in dieser Vorlesung gerecht werden zu können, konzentrieren wir uns
im Wesentlichen auf ein Werk aus der Serie mexikanischer Gedichte Martís: De
noche, en la imprenta. Dabei soll dieser bislang zweifellos unterschätzte Text frei-
lich nicht nur in den Kontext der mexikanischen Lyrik insgesamt, sondern mehr
noch der gesamten literarischen beziehungsweise journalistischen Produktion
Martís zum damaligen Zeitpunkt gestellt werden. In diesem intratextuellen Verwei-
sungszusammenhang darf nicht übersehen werden, dass dieses wie auch die an-
deren Gedichte der mexikanischen Zeit – im Gegensatz zu vielen der späteren
Verse – von Martí selbst veröffentlicht wurden. Zusammen mit anderen, ebenfalls
in der mexikanischen Revista Universal abgedruckten Texten bildet sich auf diese
Weise ein gut erkennbares und abgrenzbares Textkorpus heraus, dem wir uns nun
widmen sollten.
11 Ebda., S. 346: „sirven al biógrafo y al psicólogo que quiera penetrar en la vida del héroe, ya
que estos nos llevan de la mano a través de cada una de su líneas en la cronología biográfica y
sentimental del Martí de esos años, y nos lo muestran de cuerpo entero.“
José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote 593
Das ins Zentrum unserer Überlegungen gestellte Gedicht – das gerade auf-
grund seiner poetologischen Dimension nach meiner Ansicht eine grundle-
gende Zugangsmöglichkeit zum poetischen Schaffen des späteren Verfassers
von Nuestra América bietet – wurde in eben dieser Revista Universal am 10. Ok-
tober 1875 erstmals abgedruckt. Es stammt daher mitten aus der Zeit im mexika-
nischen Exil, aus einer Epoche großer Hoffnungen und mancher Rückschläge
für den jungen Kubaner.
In De noche, en la imprenta führt uns der Autor, den der junge Angel Rama
als Dichter des Lichts, der Transparenz und Klarheit begriff, in die Nacht, zu
einer Druckerei und damit an jenen Ort und Augenblick, an dem das Schreiben
sich in einen Gegenstand industrieller Produktion verwandelt – bevor der dann
gedruckte Text zu einem öffentlichen ‚Ereignis‘ wird, das sich der Vielfalt der
Lektüren und Deutungen öffnen muss und öffnet. In diesem Augenblick fließen
Produktion, Distribution und Rezeption bereits zusammen: Der prozesshafte
Charakter einer Produktion wird zumindest auf technischer und industrieller
Ebene in ein abgeschlossenes Produkt überführt. Innerhalb einer so im Kommu-
nikationsraum des Kulturellen und damit gerade auch in ihrer sozialen Dimen-
sion verankerten Literatur markiert das Gedicht De noche, en la imprenta einen
für das gesamte literarische Schaffen Martís überaus wichtigen Aspekt, dessen
vorrangig poetologische Konsequenzen im Folgenden überdacht und entfaltet
werden sollen. Denn anhand dieses Gedichts wird es möglich sein, nicht allein
die Übergänge von einer romantischen zu einer binnen weniger Jahre moder-
nistischen Ästhetik zu untersuchen, sondern den jungen Intellektuellen José
Martí bei seiner Entwicklung als Schriftsteller und Denker zu begleiten und
dabei die Körperlichkeit seines Schreibens näher in Augenschein zu nehmen.
De noche, en la imprenta ist aus intratextueller Perspektive Teil einer Serie
in der Revista Universal veröffentlichter Gedichte, die mit einer lyrischen Refle-
xion der Trauer über den Tod von Martís Lieblingsschwester „Ana“ einsetzt.
Mariana Matilde war am 5. Januar 1875 gestorben, also nur wenige Wochen vor
Ankunft des Exilierten in seinem ersten lateinamerikanischen Gastland im
Hafen von Veracruz am 8. Februar desselben Jahres. Mit der Publikation dieses
Gedichts am 7. März in der Sektion „Variedades“ setzen Martís Beiträge für die
liberale, an den Positionen des damaligen mexikanischen Präsidenten Lerdo de
Tejada orientierte Zeitung ein.
Wenige Monate später, zum Zeitpunkt des Erscheinens von De noche, en la
imprenta, erfreut sich der kubanische Exilant bereits einer wirtschaftlich recht
gesicherten Position: Längst ist er auch offiziell zu einem der fest angestellten
Redakteure der Revista Universal aufgestiegen. Als am 7. Mai das erste Boletín
594 José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote
unter dem Pseudonym „Orestes“ abgedruckt wurde,12 erschien zugleich sein Name
erstmals auf der Redakteursliste des liberalen mexikanischen Blattes. Schon kurz
nach seiner Erstveröffentlichung wird das Gedicht erneut – am 20. Dezember
1875 – abgedruckt, diesmal aber nicht in der mexikanischen, sondern in der venezo-
lanischen Hauptstadt. Dies geschah unter bis heute wenig geklärten Begleitumstän-
den in der dortigen (und für Martís späteres Schaffen so wichtigen) Tageszeitung La
Opinión Nacional. Die wiederholte Veröffentlichung dieses Gedichts verweist auf die
große Bedeutung, die der noch junge Dichter seinem Poem beimaß. Die den „versos
del poeta mexicano José Martí“ beigefügte „Aclaración“ ist bemerkenswert: „Ob-
wohl in ihnen literarische Mängel sichtbar sein mögen und in ihnen das sie unter-
scheidende romantische Kolorit offenkundig ist, drucken wir diese Verse erneut ab,
in denen der Dichter es vermochte, die harte und raue Aufgabe der Arbeiter in der
Druckerei zu deuten, sind sie doch wahre Märtyrer, die stets für die Erlangung der
erhabensten Ideen kämpfen, sich für den menschlichen Fortschritt aufopfern und
dabei am Ende ihrer Laufbahn noch den Dolch des Hasses und das Gift des Elends
erhalten. Trotz allem aber liest man diese Verse mit Freude.“13
Diese Worte, die zweifellos aus der Feder des kubanischen Lyrikers stam-
men, sprechen bereits mit einer gewissen Einschränkung vom romantischen
Charakter und Kolorit der Verse von De noche, en la imprenta. Dieses Zeugnis
einer frühen Lektüre des Martí‘schen Gedichts zumindest teilweise wohl durch
den Dichter selbst, die vom künftigen Ruhm des Modernisten noch nichts
ahnen kann, kehrt die soziale und politische Dimension dieses Textes hervor.
Die bewusste Betonung der thematischen Ebene, die Herausstellung des schwe-
ren Loses der Arbeiterschaft und ihres ruhelosen Einsatzes als Märtyrer für den
Fortschritt der Menschen, geht einher mit der Kritik an einer in Lateinamerika
schon verbrauchten Romantik sowie an einer Reihe nicht näher erläuterter
literarischer Mängel, für die Martí gleichwohl keine Abhilfe schuf. Der Kubaner
hatte sich in Mexiko wiederholt für die Situation der mexikanischen Arbeiter-
12 Zu Funktion und Bedeutung dieses Pseudonyms vgl. nochmals Ette, Ottmar: Apuntes para
una orestiada americana.
13 Zitiert nach Ripoll, Carlos: Un poema de Martí proletario. In (ders.): José Martí. Letras y
Huellas Desconocidas. New York: Eliseo Torres & Sons 1976, S. 31 f: „A pesar de que no carecen
de defectos literarios, y del colorido fuertemente romántico que los distingue, reproducimos
estos versos en que el poeta ha sabido interpretar el ímprobo y rudo afán de los obreros de la
prensa, verdaderos mártires que luchando siempre por las ideas más sublimes y sacrificándose
por el progreso humano sólo recogen al fin de su carrera el puñal del odio y el veneno de la
miseria. A pesar de todo, esos versos serán leídos con agrado.“
José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote 595
14 Ebda, S. 34.
15 Vgl. Discusión. In: En torno a José Martí, S. 362.
16 Herrera Franyutti, Alfonso: Una poesía desconocida de José Martí. In: Casa de las Américas
(La Habana) XVI, 93 (noviembre – diciembre 1975), S. 87.
596 José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote
Diese aber verweist auf eine Qualität, die jenseits des bloß Autobiographi-
schen liegt: auf eine ästhetische Kraft, die unauslöschliche (visuelle) Spuren im
Gedächtnis der Leser dieses Gedichts zu hinterlassen vermag. Bereits mit den
ersten beiden Versen schafft Martí jenen Spannungsraum, der das gesamte Ge-
dicht beherrschen wird; doch möchte ich es Ihnen im Folgenden gleich in sei-
ner Gänze vorstellen. Es handelt sich um ein Poem, das schon im Titel in der
Nacht angesiedelt ist und damit in jenem bevorzugten Projektionsraum der Ro-
mantiker, in dem deren Bilderwelt eine besondere Kraft erlangte:
17 Martí, José: De noche en la imprenta. In (ders.): Poesía completa. Edición crítica. La Ha-
bana: Letras Cubanas 1993, S. 101–103.
José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote 599
In den ersten beiden „endecasílabos“ der ersten, aus zehn Versen bestehenden
Strophe des spanischsprachigen Originals ist der vermittelte Sinneseindruck
akustischer Natur. Die Antithese von Lärm und Stille löst ihrerseits sekundäre
Oppositionen aus, etwa zwischen Dichter und akustisch-räumlichem Kontext
oder zwischen der Arbeit als Symbol des Lebens und der Ankündigung des na-
henden Todes. Alles ist in tiefe Nacht gehüllt, die ebenso wie der Traum das
Element einer ‚klassisch‘ romantischen Szenerie bildet. Denn erst in der Nacht
und im Traum erhellen schwankende Lichter und Elmsfeuer eine Seelenland-
schaft, in welcher der Lebendige sich als tot und der Tote sich als lebendig er-
weist. Schnell wird der Tanz zum Totentanz, in welchem eine Trauergemeinde
sich um einen lebendig fast schon Begrabenen schart. Es sind Bilder einer
schwarzen Romantik, die eindrucksvoll die Nacht erhellen. An deren Ende frei-
lich – und auch dies ist charakteristisch für einen stets um die soziale Dimen-
sion bemühten Martí – steht wie so oft eine moralische Sentenz, mit welcher
das Gedicht sein Lesepublikum entlässt.
Wir befinden uns unzweifelhaft in einem Arbeitermilieu. Die Schaffung
eines spezifischen Raumes, der „casa del trabajo“, wird verbal im dritten Vers
konkretisiert, im Ausdruck der Tätigkeit: „Trabajan; hacen libros.“ Wir sind in
einer Druckerei. Gleich zu Beginn des Gedichts werden die Seme ‚Raum‘, ‚Ar-
beit‘, ‚Hören‘, ‚Leben‘ und ‚Tod‘ eingeführt und komplex miteinander so ver-
schaltet, dass die Welt der Bücher und diejenige der außersprachlichen Realität
ineinander übergehen. Sie beherrschen die semantische Strukturierung des ge-
samten lyrischen Textes und bilden einen poetischen Bewegungs-Raum, wel-
cher ebenso die gesellschaftliche Dimension der Arbeit wie die körperliche
Dimension des Ich mit starken Bildwerten umgreift.
Das Schreiben Martís erfolgt während der Zeit im mexikanischen Exil – aber
auch in späteren Jahren – häufig inmitten von Getriebe und Lärm, wie uns dies
José Martís „Orestes“ etwa in seinem Boletín vom 15. Juli 1875 mitteilt: „Eine an-
spruchsvolle Aufgabe ist es, zwischen dem Lärmen der Presse, dem Redefluss
des hinausgehenden Abgeordneten, der glänzenden Profanität des gerade Her-
einkommenden und dem gravitätischen und sentenzenhaften Sprechen dessen,
der hinausgeht, zu schreiben.“18 Der Ort des Schreibens ist kein ruhiger, zurück-
gezogener Ort, sondern ein Kreuzungspunkt mitten im Getriebe der Welt, an dem
sich alle Stimmen überschneiden.
18 Martí, José: Obras Completas Edición Crítica, Bd. 2, S. 129: „Es afanosa tarea esta, escribir
entre el bullicio de las prensas, la conversación del diputado saliente, la brillante facundia del
que viene, el habla grave y sentenciosa del que se va.“
José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote 601
Der Raum dieses Schreibens am Tage aber verwandelt sich nachts im Ge-
dicht in einen Raum, der von fast übernatürlichen Bildern, Erscheinungen und
Visionen beherrscht wird. Diese gehen im Gedicht von Las lámparas fugaces de
San Telmo aus, dem in der Romantik häufig verwendeten Motiv des Elmsfeuers,
das mit der eingeführten Todesthematik verknüpft wird: „Trabajan; hacen li-
bros: –se diría / Que están haciendo para un hombre un féretro.“ (V. 3–4) Das
Irrlichtern des Sankt-Elms-Feuers bildet zusammen mit den Lichtern und Lampen
der Maschinen eine visuelle Kulisse, welche die Grenzen zwischen Nacht und Tag,
zwischen Traum und Realität, zwischen Tod und Leben durchlässig macht. Es gibt
keine klaren Scheidungen, keine eindeutigen Antagonismen mehr.
Die in diesem Verwirrspiel beobachtbaren Veränderungen auf rhythmi-
scher Ebene weisen bereits auf die „luces vacilantes“ (V. 7) voraus, welche das
Thema des Todes mit dem Übernatürlichen verknüpfen; eine semantische Fu-
sion, die zweifellos eine der Konstanten in der Lyrik Martís darstellt. Die Todes-
thematik ist Teil seiner Bilderwelt und einer grundlegenden Symbolik, der die
einzelnen Symbole zugeordnet sind. Das ‚Haus der Arbeit‘, wo die Arbeiter im
Höllenlärm der Maschinen Bücher herstellen, wird zum ‚Haus des Todes‘, in
dem wir später zur „alcoba feliz del moribundo“ (V. 57) gelangen. Schon von
Beginn des Gedichts an aber ist das Schweigen, ist die Stille des Todes präsent.
Wie sich auf akustischer Ebene Lärm in Stille verwandelt, so wird auf der
wichtigen Ebene optischer Phänomene aus dem Licht, das die Szenerie der Dru-
cker und ihrer Maschinen beleuchtet, die Erscheinung der „lámparas fugaces
de San Telmo“ beherrschend. Ebenso die akustischen wie die visuellen Sinnes-
eindrücke des Dichters werden in eine Irrealität düsterer und geradezu apoka-
lyptischer Vorahnungen getaucht. Denn sind es Bücher, die hier gedruckt
werden – oder beschäftigen sich die Arbeiter mit der Herstellung eines Sarges?
Das Ende der ersten Strophe mit der durch Wiederholungen betonten Einfüh-
rung des toten Herzens projiziert die (prekäre) Trennung zwischen innerer und
äußerer Realität und kündigt zugleich die Einheit derer auf, die zusammen im
‚Haus der Arbeit‘ beschäftigt sind. Aus der Gemeinschaft entsteht die Erfahrung
von Einsamkeit (welche sich nach einer neuen Gemeinschaft sehnt); zugleich
wird – im Bild des toten Herzens – das semantische Leitthema des zerstückelten
Körpers eingeführt, eines Körpers, der sich als Körper-Leib, als Körper-Haben
und Leib-Sein, besser verstehen lässt.19 Wir hatten uns in dieser Vorlesung ja be-
reits mit dem Ineinander-verwoben-Sein von Körper und Leib beschäftigt, so
19 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Mit Haut und Haar? Körperliches und Leibhaftiges bei Ramón
Gómez de la Serna, Luisa Futoransky und Juan Manuel de Prada. In: Romanistische Zeit-
schrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XXV,
3–4 (2001), S. 429–465.
602 José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote
dass ich auf diese aus der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners
übernommene Begrifflichkeit nicht nochmals eingehen muss.
Die grundlegende Dualität von Leben und Tod, die in der ersten Strophe be-
reits erscheint, wird in der zweiten aufgenommen und erreicht in deren Zentrum
ihren Höhepunkt mit der im selben Vers vorgenommenen prononciert antitheti-
schen Gegenüberstellung von „ser“ und „parecer“, von Sein und Schein: „Es la
imprenta la vida, y me parece / Este taller un vasto cementerio“ (V. 17–18). In der
kritischen Werkausgabe – die nicht immer nur in einem philologischen Sinne kri-
tisch ist – fehlt der zwanzigste Vers, der sowohl in der von Herrera Franyutti kon-
trollierten Fassung als auch in der von Ripoll zitierten Version von La Opinión
Nacional sehr wohl vorhanden ist. Dieser wohl durch ein Versehen verloren ge-
gangene Vers, den ich in der angeführten spanischen Fassung ergänzt und auch
ins Deutsche übersetzt habe, lautet: „Y la mano me oprime con sus huesos.“ Es
handelt sich damit um eine Strophe von vierzehn und nicht dreizehn Versen,
welche die Strophenform des Gedichts wesentlich beeinträchtigt hätte. Auf die-
sen gravierenden Fehler ließen sich im Übrigen die Verse eben dieser zweiten
Strophe beziehen, wo „la labor de la imprenta“ ebenso dem Ruhm wie „Al Error
que nos prueba“ (V. 13) offensteht. Unnötig zu sagen, dass unsere Verszählung
selbstverständlich den in der Edición crítica fehlenden Vers berücksichtigt. Bitte
ziehen Sie auch im Folgenden ebenso die spanisch- wie die deutschsprachige
Fassung von Martís Gedicht hinzu!
Vor dem bedrohlichen Hintergrund dieses ‚Hauses des Todes‘ erscheint die
Gleichsetzung von Druckerei und Druckerpresse mit dem Leben selbst nur
dann als gültig „Cuando el deber con honradez se cumple, / Cuando el amor se
reproduce inmenso“ (V. 15–16). Wird die Pflicht in der mühseligen Arbeit auch
erfüllt, so bleibt die Liebe doch unerfüllt – das Herz des Dichters ist bereits tot
und mit ihm jene Kraft der Liebe, die in ihm ihren Sitz hatte. In der romanti-
schen Körper-Topik nimmt das Herz eine zentrale Stellung ein, da in ihm der
Sitz aller Gefühle verortet wird. Hier bleibt seine Stelle leer und mit ihr die
Liebe, die ebenso in der Philosophie Martís wie auch in seiner Lyrik die zentrale
Kraft darstellt und überhaupt erst Grundlage und Voraussetzung jeglicher im
vollen Sinne menschlichen Tätigkeit bildet. Darf ich Ihnen verraten, dass an
meinem Schreibtisch ein kleines Faksimile aus einem Brief José Martís steht, in
dem es abschließend heißt: „No se canse de amar─“?
Auf diese Weise entsteht eine (auf den ersten Blick recht konventionell an-
mutende) Topographie des menschlichen Körpers, wobei der Körper des Dich-
ters von einer klaffenden, blutenden Wunde gekennzeichnet, markiert ist; einer
Wunde, die sich nicht mehr zu schließen vermag. Ich darf Sie an die entspre-
chende Strophe erinnern:
José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote 603
Auf diese Weise wird die Isotopie des Körpers nicht nur mit dem (auf Liebe beru-
henden) Akt des Schreibens verbunden; sie wird zugleich mit einer Art doppelter
Lektüre verknüpft, wobei sich an diesem Lesevorgang sowohl der Dichter als auch
andere Leserinnen und Leser beteiligen. Denn der zweite Teil dieser zweigeteilten
Strophe wird erst an den Rändern der klaffenden Wunde lesbar, die somit zum Ort
des Schreibens wie des Lesens wird. Ebenso der Körper-Leib wie dessen Verstüm-
melung werden lesbar und durch das Gedicht kommunizierbar. Der Körper wird
zur Fläche, auf der sich die Schrift einschreibt und lesbar ist, er dient damit als
Objekt, als ein Körper-Haben ebenso für das Schreiben wie für die verdoppelte
Lektüre der am Rande der klaffenden, blutenden Wunde eingeschriebenen Verse.
Zugleich wird das Gelesene graphisch durch die Anführungszeichen als
gleichsam fremder Text markiert, als wäre dort etwas eingeschrieben, das nicht
autograph, sondern allograph und damit von fremder Hand verfasst ist. Dieses
‚Fremdsein‘ akzentuiert noch zusätzlich Grausamkeit und Brutalität des (zum
Lesen) dargebotenen Körperbildes, in welchem sich Körper-Haben und Leib-Sein,
der Körper als Schreibfläche der Schrift und der Körper als Ort des Schmerzes und
Erleidens überschneiden. Der Körper-Leib des Dichters erscheint damit nicht nur
als märtyrerhaft gequält und verstümmelt; denn gleichzeitig dient er auch als ma-
terieller Träger einer ‚fremden‘ Schrift, die sich an den Rändern der Wunde zeigt.
Eine zusätzliche, intratextuell verankerte Bedeutung erhält die Folterung des
Körpers durch die Tatsache, dass sich gerade in den poetologischen Gedichten
Martís mit besonderer Gewalt Bilder von Folter und körperlicher Zerstückelung
häufen. An dieser Stelle kann ich leider – doch wir kommen ja nochmals auf
Martí zurück – nur auf ein einziges dieser recht zahlreichen poetologischen Ge-
dichte, vielleicht aber auf das der hier behandelten Thematik zugänglichste und
604 José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote
20 Martí, José: Crin hirsuta. In: Poesie der Welt. Lateinamerika. Herausgegeben von Hartmut
Köhler. Berlin: Edition Stichnote im Propyläen Verlag 1986, S. 49.
21 Martí, José: Crin hirsuta. In (ders.): Poesía Completa. Edición Crítica, Bd. 1, S. 99.
José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote 605
tät und Gewalt der poetologischen Bilder auf Körper projiziert – wenn auch
hier auf Körper von Tieren, die einem dichterischen, an der Transzendenz aus-
gerichteten Opferritual unterzogen werden. Im Gegensatz hierzu erfolgt dieses
‚Opfer‘ in De noche, en la imprenta am Körper des Dichters selbst – wo sich das
Herz befindet beziehungsweise einst befand. Von dort fließt in Strömen das
Blut, jene lebensspendende Flüssigkeit, die Martí – wie auch in Crin hirsuta –
stets mit seinem eigenen Schreiben in Verbindung brachte.
Eben dies wird er am Ende seines Lebens auch im bereits erwähnten Brief
an seinen späteren Herausgeber und literarischen Erbverwalter Quesada y
Aróstegui tun, dem er kurz vor seiner Einschiffung nach Kuba schrieb, kurz vor
seinem Aufbruch in die nach ihm benannte „Guerra de Martí“ von 1895. Wenige
Wochen vor seinem Tod überdenkt Martí vielleicht ein letztes Mal die Vielzahl
seiner Texte und formt dabei retrospektiv das Korpus seines Werkes, wobei es
sich deutlich um eine Konstruktion und keineswegs um eine Rekonstruktion
handelt: allzu deutlich sind schon die abgetrennten Teile dieses Textkörpers
markiert. Seine von Martí miteinbezogenen Teile sind zweifellos von großer
Wichtigkeit, sollten uns aber nicht daran hindern, das Gesamtwerk des kubani-
schen Literaten zu rekonstruieren und in seinen ästhetischen Wechselbezie-
hungen wiederherzustellen.
Auch in diesem Brief an seinen Vertrauten stellt José Martí sich die Frage,
was er denn geschrieben habe, ohne dabei zu bluten, was er gemalt habe, ohne
es zuvor mit eigenen Augen gesehen zu haben: „¿Qué habré escrito sin sangrar,
ni pintado sin haberlo visto antes con mis ojos?“22 Diese enge semantische Be-
ziehung zwischen dem Blut des eigenen Körpers, der Ebene visueller Wahrneh-
mung und dem Schreiben bei Martí führt uns zum Herzen der Martí’schen
Poetik und zu seiner Sichtweise vom Körper der Dichtkunst. Nicht allein mit
Hilfe bestimmter verstechnischer Verfahren, die nicht auf Reimen sondern auf
Rekurrenzen syntaktischer, semantischer oder phonischer Natur (insbesondere
der Rekurrenz von Endvokalen) basieren, sondern weit mehr noch aufgrund
der poetologischen und damit verbunden körperlichen, ‚leibhaftigen‘ Dimen-
sion steckt De noche, en la imprenta ein weites Experimentierfeld ab, in wel-
chem viele Bedeutungsebenen der später entstandenen Versos libres bereits
angelegt, mitunter aber auch schon deutlich entfaltet sind. Denn Martís Lyrik
ist eine Lyrik der Körperlichkeit wie der Leibhaftigkeit: Sie übersetzt künstle-
risch ein Schreiben, das sich des Körpers als Erkenntnis- und Schöpfungsin-
strument bedient.
Eines jener ästhetischen Zentren, in denen sich eine Reihe von Isotopien
bündeln, bildet also der menschliche Körper. Zur Fundierung der bereits darge-
legten Antithese, die in der Mitte der zweiten Strophe kulminiert, wird vom lyri-
schen Ich eine Kausalverbindung zu den unmittelbar folgenden Versen hergestellt.
Ich rufe Ihnen diese Verse kurz in Erinnerung:
Das Erscheinen beziehungsweise die Erscheinung des „Cadáver“, der bei Martí mit
dem in der späteren Lyrik so wichtigen Thema des „doble“ – des Doppelgängers
oder des doppelten Ich – verbunden ist, und die Fusion der wichtigen Bedeutungs-
ebenen von Körperlichkeit, Tod und Übernatürlichem führt eine Entwicklung ein,
deren narrative Gestaltung erst in der bereits zitierten vorletzten Strophe endet.
Auch die Thematik des Doppelgängers bildet eines jener Motive, die in der Roman-
tik höchst populär wurden, die Martí aber auch noch in seiner modernistischen
Poesie weiterhin pflegte. Denn der „doble“ gestattete ihm, wie in zwei entgegenge-
setzten Ansichten Leben und Tod, Sterben und Zeugen oder Gebären je nach Blick-
winkel oszillierend darzustellen.
Zu Beginn dieser im Gedicht entfalteten Handlung ergreift der Kadaver, der
Leichnam die Hand des Dichters und unterdrückt („oprime“) damit genau
jenen Teil des Körpers, der dem Schreiben, der Niederschrift dient. Diese Berüh-
rung greift aber rasch auf das Herz über („el amor con que amaría“) und erfasst
schließlich das Gehirn, den Ort des Denkens.. Die Kälte des Kadavers, die dem
wallenden Blut des lyrischen Ich entgegenwirkt, setzt einen Prozess in Gang,
der den Körper des lyrischen Ich beziehungsweise des Dichters in einen „Vivo
cadáver“ verwandeln wird, der der Bestattung seines eigenen Herzens bei-
wohnt; ein Oxymoron, das den Gegensatz zwischen Leben und Tod in Frage
stellt und zugleich potenziert. Die von den ersten Strophen des Gedichts an er-
kennbare Bewegung des Oszillierens zwischen den Gegensätzen kommt auch
in diesen Versen deutlich zum Ausdruck.
In diesem Zusammenhang ist von größter Bedeutung, dass dieser Transforma-
tionsprozess gerade an jenen drei Stellen des (zerstückelten) Körpers einsetzt, die
im gesamten literarischen Werk Martís mit dem Schreiben aufs engste verbunden
sind: Hand, Herz und Gehirn. Sie bilden das magische Dreieck, in welchem die
José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote 607
„escritura“ zustande kommt. Nur in einer auf die Lyrik Martís oder den hispano-
amerikanischen Modernismo spezialisierten Vorlesung wäre es möglich zu zeigen,
dass diese drei Teile des Körpers bei Martí mit drei sehr unterschiedlichen Orten
des Schreibens und – in überaus komplexer und origineller Weise – mit den ver-
schiedenen, von ihm jeweils bevorzugten literarischen Gattungen verbunden sind.
Mir ist es an dieser Stelle aber weitaus wichtiger, bei unserem Thema von Geburt
und Sterben, Leben und Tod zu bleiben und der Deutung des Gedichts De noche,
en la imprenta noch weitere und wesentliche Akzente hinzuzufügen.
Für die weitere Interpretation dieses faszinierenden Gedichts mag einstwei-
len die Feststellung genügen, das der durch die Berührung mit dem „Cadáver“
am meisten in Mitleidenschaft gezogene Teil des Körpers die Brust und in ihr
das Herz ist, mit dessen Blut gleichsam die Lyrik Martís geschrieben wird. Die-
ser Ursprung der erkalteten Herzensschrift ist für Martí – in durchaus romanti-
scher Tradition – Ort der Lyrik, Ort der Poesie. So sind es auch Verse, die am
Rande der blutenden Wunde in der Brust des Dichters zu lesen sind.
Eine wichtige, aber – soweit ich sehe – gleichwohl nie zitierte Passage
eines Textes Martís vom 29. August 1875 zu den Versos de Pedro Castera belegt,
dass dies der Ort nicht nur der Dichtkunst, sondern auch ihrer Leserschaft ist:
„La poesía es una e idéntica, y duerme escondida en el fondo del más miserable
corazón“23 – Die Dichtkunst ist einig und identisch, sie schläft verborgen am
Grunde selbst des elendesten Herzens.
Aus dieser Perspektive erklären sich auch Martís häufige Attacken gegen jene
Lyrik, die er als „poesía cerebral“ abtat:24 Diese zerebrale Dichtkunst unterbinde
einen direkten Kontakt zwischen Dichter und Publikum, jenen Kontakt, den Martí
stets anstrebte, ja – denken wir nur an seine gebieterischen, keinen Widerspruch
duldenden Einladungen etwa zur ersten (privaten) Lesung seiner Versos sencillos
in New York – obsessiv und mit sanfter Gewalt suchte. So schrieb er auch in seiner
ebenso herzlichen wie programmatischen Carta-prólogo zu den Poesías von José
Joaquín Palma: „Es gibt Verse, die im Hirn gemacht werden:– Doch diese zerbre-
chen über der Seele: Sie verletzen sie, aber dringen nicht in sie ein. Andere
gibt’s, die im Herzen entstehen. Von ihm gehen sie aus, ihm fliegen sie zu. Allein
das, was in der Seele an Kriegerischem, an Beredtem, an Poetischem sprießt,
kommt in der Seele an.“25
Der Wunde des Dichters entspricht diejenige des Lesers und der Leserin.
Nur was – in einem ganz körperlichen Sinne – der Dichter aus sich herausholt,
aus der Tiefe seines Herzens an die Oberfläche bringt, dringt auch in die Leser-
schaft ein: in deren Seele und in deren Herz. Das körperliche Organ dichterischer
Schöpfung und das körperliche Organ literarischer Aufnahme entsprechen sich.
Im Vordergrund dieser Vorlesung soll freilich der Körper des Schreibenden stehen.
Doch vergessen wir dabei nicht, dass er sich gemeinsam mit der Figur des Lesers
über die Wunde beugt und an der offenen Wunde des Herzens gemeinsam mit
diesem Leser die poetischen Verse zu dechiffrieren vermag! Es gibt eine di-
rekte körperliche Wechselbeziehung zwischen Produzenten und Rezipienten
von Dichtkunst: Bei Martí sind beide miteinander aufs Engste verbunden.
In der dritten Strophe entflieht die Seele dem Körper des Dichters – auch
dies ein Motiv, das Martí der romantischen Tradition entlehnte und mehrfach in
seiner mexikanischen Lyrik verwendete. So wird beispielsweise in dem Gedicht Pa-
tria y mujer, dessen Publikation in der Revista Universal unmittelbar jener von De
noche, en la imprenta folgte, die schon im Titel deutliche Aufspaltung fortgeführt:
„Podría encender tu beso mi mejilla, / Pero lejos de aquí mi alma me espera.“26 –
Dein Kuss könnte meine Wange wohl entzünden, / doch weit von hier erwartet
meine Seele mich. Auf die enge Beziehung zwischen der Seele des Dichters und
der weit entfernten Heimat des Exilierten werden wir noch zurückkommen.
All dies verstärkt die bereits erwähnte Aufspaltung zwischen der äußeren
Realität und jener inneren Realität des lyrischen Ich. Dem in der vorangehen-
den Strophe zweifach verwendeten „amor“ antwortet in der dritten Strophe, in der
Art eines Echos, fast eines Schreis, das ebenfalls wiederholte „dolor“, wodurch
gleichsam eine Art Binnenreim zwischen den jeweiligen Versen und Strophen ent-
steht. Diese Echowirkungen sind bewusst und verstärken die Aufspaltungen des
dichterischen Ich weiter: Das lebendige Tot-Sein und das tote Lebendig-Sein oszil-
lieren in der Gespaltenheit des Dichter-Ichs.
Gleichzeitig wird in diesen Versen die semantische, thematische und narrative
Entwicklung des Gedichtes deutlich: Bereits in seinen vor dem Aufenthalt in Me-
xiko verfassten Texten hatte Martí den „dolor“ zu einem zentralen Konzept seiner
noch stark von der spanischen wie kubanischen Romantik bestimmten Ästhetik
gemacht. So findet sich etwa in der ersten Fassung seines Dramas Adúltera von
1874 eine Definition des Dichters, der den Worten der bezeichnenderweise Gütter-
mann genannten Figur zufolge jener Mensch sei, der an den Schmerzen der ande-
ren leide, an „los dolores ajenos“; und Güttermanns Gegenüber Grössermann
antwortet ihm: „A más, que si a mí me preguntan qué es vivir, yo diría el dolor; –
el dolor es la vida–.“27 Der Schmerz also ist das Leben, das Leben ist Schmerz!
Sehr früh in Martís Schreiben erscheint ein agonales Element, das sich durch sein
gesamtes Schaffen in Lyrik und Prosa zieht.
Schmerz ist daher für Martí keineswegs eine gänzlich oder auch nur über-
wiegend subjektive, auf das eigene Ich beschränkte Kategorie, sondern enthält
vielmehr eine wesentliche gesellschaftliche Dimension, die etwa auch in Martís
Rückgriff auf den Prometheus-Mythos deutlich wird. Denn mit Prometheus
identifiziert der junge Kubaner – auch hier in unverkennbarer Anlehnung an
die romantische Tradition in Lateinamerika – den schöpferischen Menschen,
den Dichter in seiner Rolle unendlichen Wiederbeginnens und unabschließba-
rer Arbeit.28 Leben steht für Martí nicht im Zeichen der Freude, sondern der un-
ablässigen Anstrengung. Und in einem seiner gelungensten Texte aus der Serie
in der Revista Universal veröffentlichter Gedichte, dem am 1. Juni 1875 abge-
druckten Haschisch, heißt es:
Die narrative Entwicklung des Eingangsbildes ist hier deutlich. Denn auf diese
die langsamen Bewegungen akzentuierende Weise wird die Bewegung der
zweiten Strophe („La frente inclino sobre la ancha mesa“) fortgeführt, indem
zugleich die aufrechte Körperhaltung in eine zunehmend horizontale Position
überführt wird. Es ist eine Überführung aus dem Leben in das Sterben, hin zum
Tod. Mit dem Herabsinken der Stirne, des Ortes des Denkens beziehungsweise
des Kognitiven (so wie die Brust der Ort des Herzens wie der Seele ist), mit dem
stets von den spanischen Mystikern akzentuierten Schließen der Augen setzt
eine Bewegung ein, die zunächst den Arbeitstisch unter sich begräbt und dann
den Körper des Dichters immer mehr der endgültigen Position des Sterbenden
der fünften Strophe und schließlich des (lebendigen) Leichnams annähert. Er
wird in der sechsten Strophe sein eigenes Herz zu Grabe tragen. Die agonale
Isotopie wird in dieser Bewegung langsamer Selbsttransformation als eine the-
matische Leitlinie Martí’scher Dichtkunst deutlich.
Parallel hierzu wird die soziale (und gesellschaftspolitische) Dimension
ausgeführt, die seit der ersten Strophe von De noche, en la imprenta präsent
war und in welcher sich frühzeitig eine Trennung zwischen den Arbeitern an
der Druckerpresse und dem einsamen Ich am Schreibtisch abzeichnete. Denn
dieses Ich ist keineswegs ein Arbeiter in diesem „Haus der Arbeit“. In immer
komplexerer Weise gelangt dieser deutliche Gegensatz zwischen den Arbeitern
in der Druckerei und dem Dichter-Ich zu einem Höhepunkt in den beiden
Schlussversen der vierten Strophe: „Trabaja el impresor haciendo un libro; /
Trabajo yo en la vida haciendo un muerto“ (V. 43–44). Leben und Tod werden in
diesen agonalen Versen enggeführt. Das semantische Feld, das die Arbeiter mit
dem Dichter verbindet, ist die Armut, das alle um die Druckerpresse Versammel-
ten gleichermaßen bedrohende soziale Elend: die ökonomische „miseria“.
In seinen im Exilland Mexiko verfassten journalistischen Texten hatte Martí
einen bedeutenden Teil seiner Aufmerksamkeit auf die soziale Frage verwandt.
Es sind für die mexikanischen Arbeiter wichtige, wenn auch – denken wir an die
kommende porfiristische Diktatur – noch nicht entscheidende Jahre, in denen sie
versuchen, ihre gewerkschaftlichen Organisationen zu gründen beziehungsweise
dieselben schlagkräftiger auszugestalten. Der erste bundesweite mexikanische
Arbeiterkongress fand 1876 statt. Der verdienstvolle französische Martí-Forscher
Paul Estrade charakterisierte diese Zeit, während derer Martí in Mexiko lebte,
sehr zutreffend: „El bienio 1875–1876 aparece como el auge del movimiento
José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote 611
obrero mexicano en el siglo XIX.“30 Der Aufenthalt José Martís in Mexiko fällt
folglich mit dem Höhepunkt der mexikanischen Arbeiterbewegung zusammen.
José Martí bezieht in diesen heraufziehenden Auseinandersetzungen Posi-
tion als Delegierter eines Gewerkschaftskongresses wie vor allem auch als Re-
dakteur der Revista Universal und nimmt keine Rücksicht auf seinen eigenen
prekären Status als kubanischer Exilant. So beginnt er sein Boletín vom 10. Juni
1875 über den Streik der Hutmacher mit einem für seine ethische Haltung be-
zeichnenden Satz: „La fraternidad no es una concesión, es un deber“31 – Brü-
derlichkeit ist folglich keine Konzession, sondern schlicht eine Pflicht.
Er begrüßt die Entwicklung des „artesano que comienza a tener conciencia
de su propio valer, se rebela contra el capitalista dominante“,32 womit Martí
einen Gegensatz zwischen den sich ihrer Funktion immer bewussteren Hand-
werkern und den herrschenden Kapitalisten konstatiert. Eine gänzlich andere
Haltung aber nimmt er ein, als vier Wochen später ein Druckerstreik gleichsam
sein eigenes ‚Haus der Arbeit‘ betrifft: „Nosotros hemos defendido la huelga de
los sombrereros, y defenderíamos la de los impresores, si éstos tuvieran igual
razón que aquéllos.“33 Denn in Martís Sichtweise hätten die Drucker in diesem
Konflikt nicht jenes Recht, das Martí den Hutmachern eingeräumt hatte, son-
dern verhielten sich schädlich und negativ. Der Direktor der Revista Universal
hatte fristlos jene Drucker entlassen, die bei der Arbeit fehlten, weil sie gerade
an einer gewerkschaftlichen Versammlung teilnahmen, einer „reunión de tipo
sindical“.34 Und Martí verteidigte diese Position des Direktors seiner Zeitung
unzweideutig: „Wir sahen uns gezwungen, sie aus unserer Einrichtung zu ent-
lassen: Sie wussten sehr gut, was sie taten, und aus wohlüberlegtem Vorsatz
erfüllten sie nicht ihre Pflicht.“35 Sah sich Martí in dieser Frage als einfacher
Redakteur und Angestellter gezwungen, pro domo zu argumentieren? Oder sah
er die Pflicht verletzt, welche die Arbeiter in einer Druckerei auf sich genom-
men hatten?
Barsch kritisierte er jedenfalls die Undankbaren („no agradecidos operarios“)
und erklärte jene Streiks für ungerecht, die von einem „odio injusto al capital“,36
einem ungerechten Hass auf das Kapital, ausgelöst worden seien. Dieselbe Prob-
30 Estrade, Paul: Un ‘socialista’ mexicano: José Martí. In: En torno a José Martí, S. 234.
31 Martí, José: Obras Completas Edición Crítica, Bd. 2, S. 68.
32 Ebda., S. 69.
33 Ebda., S. 121.
34 Ebda., S. 237.
35 Ebda., S. 122: „Nos hemos visto obligados a despedirlos de nuestro establecimiento: sabían
bien lo que hacían, y con propósito deliberado han faltado a su deber.“
36 Ebda., S. 123.
612 José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote
lematik sah „Orestes“ auch in seinem bereits zitierten Boletín vom 15. Juli 1875:
„Das Recht des Arbeiters darf niemals der Hass auf das Kapital sein: Es ist vielmehr
die Harmonie, die Versöhnung, die gegenseitige Annäherung beider Seiten.“37 José
Martí in diesen Auseinandersetzungen in Mexiko ein klassenkämpferisches Be-
wusstsein zu unterstellen, wie dies bisweilen versucht wurde, scheint mir letztlich
irreführend. Der sozialen Frage aber stand der Kubaner in seinem Exilland höchst
aufmerksam gegenüber.
Innerhalb des Kontexts unserer Vorlesung interessiert die sich an solchen
Positionen entzündende kurze Polemik mit El Socialista nur wenig. Von großer
Wichtigkeit für die Interpretation von De noche, en la imprenta jedoch ist, dass
sich Martí in diesem Artikel, in welchem er vom Lärm berichtete, der ihn beim
Schreiben in der Redaktion umgab, mit dem politischen Leben („Como que se
siente crecer un hombre con la representación de los demás“), mit dem Streik
der Drucker (die seiner Ansicht nach die Erfüllung der „comunes deberes“38
vernachlässigten) sowie den sozialen Problemen der Arbeiter intensiv ausein-
andersetzte. Dies gilt insbesondere für die „medios de procurar el adelanto y
bienestar de los obreros del ramo“, wobei dies stets „en armonía justa con los
elementos y estado presente del capital“39 zu geschehen habe.
Die obigen Zitate zeigen: Martí blieb bei seiner Linie und war sich auch be-
züglich seiner einmal eingeschlagenen Argumentation selbst treu: Er betonte
Harmonie und Ausgleich, Pflicht und Arbeit. All diese Themen werden wenige
Wochen später40 in der lyrischen Modellierung von De noche en la imprenta wie-
derkehren, so dass man hier geradezu von einem Prätext in Prosa sprechen
könnte: Der junge Kubaner verdichtete seine jüngsten Erfahrungen und Ausein-
andersetzungen nun in poetischer Form, mit den Mitteln einer romantischen Äs-
thetik, die doch in vielerlei Hinsicht auf die künftige Entwicklung des Poeten
vorausweist. Wie sollte man nicht im 15. Vers des Gedichts („Cuando el deber
con honradez se cumple“) eine intratextuelle Anspielung auf Probleme und Pole-
miken im Umfeld des nur kurz zurückliegenden Druckerstreiks bei der Revista
Universal erblicken?
Die soziale Dimension des Gedichtes ist aber – im Gegensatz zu Einschät-
zungen, wie sie sich schon im frühesten Kommentar in La Opinión Nacional
37 Ebda., S. 133: „El derecho del obrero no puede ser nunca el odio al capital: es la armonía,
la conciliación, el acercamiento común de uno y de otro.“
38 Ebda., S. 130.
39 Ebda., S. 131.
40 In Herrera Franyuttis Fassung erscheint am Ende des Gedichts eine Datierung auf den
29. September; in der (wie betont nicht unproblematischen) kritischen Werkausgabe fehlt
nicht nur dieses Datum, sondern auch jeglicher Hinweis darauf in einer etwaigen Fußnote.
José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote 613
(Caracas) finden lassen – keineswegs auf Armut und soziales Elend beschränkt,
die als drohende Gefahren den Schlussteil dieses Textes beherrschen. Mit Be-
ginn der fünften Strophe wird eine Problematik ausgeführt, die bis zu diesem
Zeitpunkt nur unterschwellig, implizit enthalten war. Sie erlangt nun eine ent-
scheidende Bedeutung, die es erst ermöglicht, das Gedicht in seiner ganzen
poetologischen Dimension zu erfassen. Ich rufe Ihnen die Verse in Erinnerung:
41 In der Fassung des Gedichts, wie es La Opinión Nacional in Caracas abdruckte – und die im
Übrigen auch die Lesart „oh rey de la tiniebla“ (V. 51) (und nicht wie in der wirklich kritischen
Ausgabe „hoy rey de la tiniebla“) zu bestätigen scheint – erscheint die fünfte Strophe zweige-
teilt: eine neue Strophe setzt mit Vers 53 ein. Da dieser, von der Interpunktion einmal abgese-
hen, den fünften Vers der ersten Strophe wiederaufnimmt, erscheint eine solche Gliederung
keineswegs als unwahrscheinlich. Vgl. diese Fassung des Gedichts in Ripoll, Carlos: Un poema
de Martí proletario, S. 33.
614 José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote
dessen Bild in der Vision des lyrischen Ich die Konturen eines Sarges annimmt.
Das Bild dieses (doppelten) Sarges löst im Dichter einen Schrecken aus, der in
den rhythmischen Wechseln jener beiden Verse zum Ausdruck kommt, welche
mit dem proparoxytonischen „féretro“ enden (V. 4 u. 62). Kann das Leben sich
aber in einem solchen Erzeugnis, in einer derartigen Ware vergegenständlichen?
Das technische Medium, das diese zugleich kommunikative und kommerzi-
elle, menschliche Erkenntnis verbreitende und menschliche Arbeit ausbeutende
Dimension erst ermöglicht, ist die Druckerpresse, die im Zentrum dieses „Hauses
der Arbeit“ steht. In einem am 4. Juni 1875 veröffentlichten Artikel unterstreicht
Martí die Zunahme an nützlichen Kenntnissen („útiles conocimientos“) bei der
breiten Bevölkerung, beklagt aber auch eine wachsende Nivellierung: „Escasean
o se ocultan aquellas cumbres altas del talento, que antes reunían en un cerebro
los destinos y el porvenir de una nación.“42 So wundert er sich darüber, dass sich
nicht mehr in einem einzigen Hirn die Gesamtheit aller Fähigkeiten eines Volkes
vereinigt, wobei der Kubaner dies in das Landschaftsbild eines hohen Berges
übersetzt, in dem gleichsam alle Linien und alle anderen Erhebungen zusam-
menlaufen. Träumte Martí von einem patriarchalischen System, in welchem ein
großer Mann an der Spitze des von ihm geleiteten Staates stehen sollte? Steckte
auch in seinem Denken der Keim jener Verehrung für einen großen Caudillo, der
in ganz Lateinamerika im Verlauf des Jahrhunderts der Romantik schon so große
Schäden verursacht hatte?
Wir sollten dieses Landschaftsbild, in dem ganz gewiss eine Landschaft der
Theorie43 auf den Punkt gebracht wird, nicht zu sehr auf eine politische Seman-
tik reduzieren. Denn zweifellos handelt es sich hier um Überlegungen, die be-
reits auf die brillanten Formulierungen Martís in seinem berühmten Prólogo al
Poema del Niágara von Pérez Bonalde vorausweisen, auf eine Schrift, die als
das große Manifest einer neuen hispanoamerikanischen Lyrik verstanden wer-
den kann. Sie bildete das Manifest einer Dichtkunst, die sich der modernen Zeit
und ihrer Herausforderungen, aber auch ihrer eigenen Modernisierungen be-
wusst sein wollte: einer Modernisierung nicht allein im sozioökonomischen
Sinne, sondern vor allem auf künstlerischer, ästhetischer Ebene einer poeti-
schen Ausdrucksweise, die neue Formen, aber auch neue Normen zu schaffen
beabsichtigte. Dort wird Martí von jener ‚schon nahen‘ Epoche sprechen „en
que todas las llanuras serán cumbres“: einer Zeit, in welcher alle Ebenen Gipfel
sein sollten; in dieser nicht mehr weit entfernten Epoche sollte eine Art Dezent-
Das Genie geht Stück für Stück vom Individuum auf das Kollektiv über. Der Mensch verliert
zugunsten der Menschen. Die Qualitäten der Privilegierten lösen sich auf, weiten sich aus
auf die Masse; den Privilegierten von niederer Seele wird dies nicht gefallen, wohl aber
jenen von forschem und großzügigem Herzen, welche wissen, dass es, so groß man als Ge-
schöpf auch sein mag, nichts auf der Erde gibt als Sandkörner aus Gold, die zum herrlichen
goldenen Brunnen, einem Reflex des Blickes unseres Schöpfers, zurückkehren.44
Es ist hier nicht der Ort, sich mit der Ästhetik des Modernismo auseinanderzu-
setzen: Ich darf Sie auf die baldige Beschäftigung mit den Poetiken von José
Martí und Rubén Darío im Rahmen dieser Vorlesung vertrösten. Aber in diesen
die modernistische Ästhetik bereits gestaltenden Formulierungen zeigen sich
die Nähe wie auch manche Unterschiede zwischen den Texten von 1875 und
1882, dem Jahr der Veröffentlichung des ersten modernistischen Gedichtbandes
Ismaelillo. Schon in dem zitierten Artikel vom 4. Juni 1875 schloss Martí jedoch
auf eine künftig noch größere Verbreitung des Wissens: „Todo va diseminán-
dose en justicia e igualdades; es buena hija de la libertad esta vulgarización y
frecuencia del talento.“45 Alles, so Martí, disseminiere sich in Gerechtigkeit und
Gleichheit; die Vulgarisierung und Vervielfachung des Talents sei eine gute
Tochter der Freiheit. José Martí hielt an seiner Grundidee von 1875 fest und wei-
tete diese im mexikanischen Exil entwickelte Vorstellung lediglich zu einem
Leitprinzip des gesellschaftlichen wie des künstlerischen Lebens in der Gegen-
wart aus.
Die Druckerpresse als Medium dieser Dissemination, Vulgarisierung und
Dezentralisierung kann bei dem kubanischen Denker zu jenem Ort werden, an
dem – wie es in der zweiten Strophe des Gedichts heißt – „el amor se reproduce
inmenso“ (V. 16). Aus dieser Perspektive erscheint die Druckerei als privilegierter
Ort eines Nachdenkens über Funktion, Rolle und Bedingungen des Schriftstellers
innerhalb einer Gesellschaft, die einem freilich gerade erst einsetzenden wirt-
schaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozess unterworfen ist. Sie
ist aber auch der Ort, an dem der Körper-Leib des Dichters eliminiert wird, wo
der Schreibprozess gleichsam in einem kalten Produkt gerinnt, das vom Blut von
der Kälte des „Cadáver“ erfasst wird. So wird die Druckerei, das „Haus der Ar-
beit“, zum Schauplatz eines ungleichen Kampfes zwischen Körper-Leib und Dru-
44 Martí, José: Prólogo al Poema del Niágara. In (ders.): Obras Completas, Bd. 7, S. 228.
45 Martí, José: Obras Completas, Bd. 6, S. 222.
616 José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote
46 Vgl. hierzu Gumbrecht, Hans Ulrich: The body versus the printing press: media in the
early modern period, mentalities in the reign of Castile and another history of literary forms.
In: Poetics. International Review for the Theory of Literature XIV, 3–4 (august 1985), S. 209–228.
José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote 617
klanglichen Rekurrenzen die letzte Strophe des Gedichts fast harmonisch be-
schließen, ist das „quien a mí se acerque“ zu einem Du geworden:
Damit sollte deutlich geworden sein, dass die im Gedicht entfaltete soziale Di-
mension keineswegs auf die gesellschaftliche Lage der Arbeiterschaft beschränkt
bleibt, wenn eine solche Einschätzung auch durch den didaktischen, etwas be-
lehrenden Ton der letzten Verse erzeugt worden sein mag, der sich so häufig in
den Schriften Martís nicht nur der mexikanischen Jahre findet. Das Gedicht kann
als poetische und poetologische Meditation über den Ort des Schreibens, ja mehr
noch: der Dichtkunst überhaupt in einer Modernisierungsprozessen unterworfe-
nen Gesellschaft gelesen werden. Dabei muss hinsichtlich dieser Prozesse zu-
recht von einer für Lateinamerika charakteristischen „modernidad periférica“47
gesprochen werden. Die eingangs angeführten Textbeispiele hatten gezeigt, dass
Martí – zu seiner eigenen Überraschung – eine einsetzende Modernisierung auf
industriellem beziehungsweise allgemein wirtschaftlichem Gebiet in Mexiko
hatte konstatieren können. Diese sozioökonomische Modernisierung aber er-
zwang literarische und ästhetische Konsequenzen, an denen sich die entste-
hende neue Poetik Martís in den folgenden Jahren abarbeitete.
Gewiss ist die mexikanische „casa del trabajo“, wie sie De noche, en la im-
prenta zeichnet, noch längst nicht auf jenem Entwicklungsstand, der etwa ein
Jahrzehnt später ein anderes Periodikum, La Nación in Buenos Aires, für das
Martí dann als Korrespondent von New York aus arbeiten sollte, in die mo-
dernste, alle damaligen technologischen Möglichkeiten ausschöpfende Zeitung
Lateinamerikas verwandeln wird.48 Die in Martís Gedicht evozierte Druckerei
trägt noch deutliche Züge eines „taller“ geradezu handwerklichen Typs, einer
Werkstatt, die noch weit entfernt von industriellen Fertigungsprozessen ist.
47 Vgl. hierzu insbesondere Sarlo, Beatriz: Una modernidad periférica: Buenos Aires 1920 y
1930. Buenos Aires: Ediciones Nueva Visión 1988, sowie Ramos, Julio: Desencuentros de la mo-
dernidad en América Latina. Literatura y política en el siglo XIX. México: Fondo de Cultura Eco-
nómica 1989.
48 Ebda., S. 95 ff.
618 José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote
49 Marti, José: Obras Completas, Bd. 22, S. 156: „Debe ser cada párrafo dispuesto como excelente
máquina, y cada una de sus partes ajustar, encajar con tal perfección entre las otras, que si se la
saca de entre ellas, éstas quedan como pájaros sin ala, y no funcionan, o como edificio al cual se
saca una pared de las paredes. Lo complicado de la máquina indica lo perfecto del trabajo.“
50 Es handelt sich um das Fragment No. 258, das Ángel Rama in einem seiner überzeugends-
ten Essays kommentierte; vgl. Rama, Angel: José Martí en el eje de la modernización poética:
Whitman, Lautréamont, Rimbaud. In: Nueva Revista de Filología Hispánica (Madrid) XXXII, 1
(1983), S. 102.
José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote 619
wärtiger Körper. Das noch tief in einer romantischen Ästhetik verwurzelte Gedicht
endet mit dieser verzweifelt hoffnungsvollen, aber gleichwohl aporetischen Suche
nach der Präsenz des Anderen im Gedicht, des „tú“ – eine Suche nach dem ethisch
fundierten lebendigen Wort,51 so wie das Poem selbst durch die Lexemrekurrenz
von „vida“ und „vivir“ diese lebendige Interaktion immer wieder erstrebt.
Es ist der lyrische Versuch einer Annäherung an eine direkte, unvermittelte
Kommunikation, welche José Martí als großer Freund des Theaters vielleicht
mit mehr Nachdruck noch in einer anderen literarischen Gattung unternahm,
die daher wohl auch nicht zufällig den Höhepunkt seines literarischen Erfolgs
in Mexiko markiert. Gemeint ist hier die überaus erfolgreiche Aufführung seines
„proverbio en un acto“ Amor con amor se paga am 19. Dezember 1875 im Teatro
Principal der mexikanischen Hauptstadt. Auch hier sind es die letzten Verse,
die den dialogischen Bezug zum Publikum herausstellen und mit einer das ge-
samte Stück zusammenfassenden Sentenz enden: „Nichts Besseres vermag zu
geben / Wer ohne Vaterland muss leben, / Ohne Frau, für die zu sterben, / Wen
der Hochmut immer reut, / Leidet, schwankt und sich erfreut / Dass ein gutes Pub-
likum spürt, / wie alles zu dem Spruche führt: / Liebe wird mit Lieb beglichen.“52
Die bereits angedeutete intratextuelle Beziehung zu Patria y mujer, das in
der Serie der in der Revista Universal publizierten Gedichte unmittelbar auf De
noche, en la imprenta folgte, könnte belegen, dass auch im letztgenannten Ge-
dicht die politisch-autobiographische Dimension des im Exil Leidenden und für
die Unabhängigkeit seiner Heimat Kämpfenden nicht fehlt. Die spezifisch poli-
tische Isotopie ist in der gesamten „escritura“ Martís allgegenwärtig, ebenso in
der Lyrik wie in der Prosa oder im Theater.
Darüber hinaus dürfte es keineswegs ein Zufall sein, dass De noche, en la
imprenta an einem 10. Oktober abgedruckt wurde, einem für Martí geradezu
sakrosankten Tag, der an den Beginn des damals noch immer fortdauernden
militärischen Kampfes erinnerte, der als „Guerra de los Diez Años“, als der
Zehnjährige Krieg in die kubanische Geschichte eingehen sollte. Vergessen
wir dabei nicht, dass Martí diesem Tag in seiner alles andere als weit zurück-
liegenden frühen Jugend eines seiner seltenen Sonette gewidmet hatte: ¡10 de
Octubre! Und genauso wenig war es Zufall, dass José Martí in einer Hommage
51 Zurecht wies Angel Rama darauf hin, dass Martí es vermocht habe, eine „escritura que re-
fleja, con exactitud, la entonación de su voz“ zu schaffen; vgl. Rama, Angel: Martí, poeta visio-
nario, S. 158.
52 Martí, José: Amor con amor se paga. In (ders.): Obras Completas, Bd. 18, S. 126 f.: „Nada
mejor puede dar / Quien sin patria en que vivir, / Ni mujer por quien morir, / Ni soberbia que
tentar, / Sufre, y vacila, y se halaga / Imaginando que al menos / Entre los públicos buenos /
Amor con amor se paga.“
620 José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote
53 Martí, José: Obras Completas, Bd. 6, S. 376: „¡El respeto a una hospitalidad que pudiéramos
turbar, cierra nuestros labios; pero no haya bendición de madre, cielo de Cuba, ni calma de
conciencia, aquel de nosotros que en este día sagrado no venere, no ame, no se cubra la frente
con ceniza, no gima y no llore!“
54 Vgl. meine Übersetzung des Gedichts „Zwei Vaterländer“ in Poesie der Welt, S. 51. Das Ori-
ginal von „Dos patrias“ lautet: „Está vacío / Mi pecho, destrozado está y vacío / En donde es-
taba el corazón. Ya es hora / De empezar a morir. La noche es buena / Para decir adiós.“ Martí,
José: Poesía Completa Edición Crítica, Bd. 1, S. 127.
José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote 621
ters im 19. Jahrhundert entgegen:55 Martí ging als junger Schriftsteller durchaus
konform mit den epochenspezifischen Umbrüchen und Umbesetzungen seiner
Zeit.
Wirkt dieses Bildnis des Dichters auch romantisch geprägt, insoweit es –
wie wir gerade sahen – in einer Tradition der De- und Resakralisierung christli-
cher Symbolik steht, so darf darüber nicht vergessen werden, dass die zum da-
maligen Zeitpunkt in Mexiko als ‚sozialistisch‘ bezeichneten Vorstellungen eine
überaus starke und bestimmende religiöse Ausprägung besaßen, wobei Begriff-
lichkeit und Ausdrucksweise dieses Diskurses wesentlich von einem Vokabular
christlicher Herkunft bestimmt waren,56 mit welchem Martí im Übrigen seit sei-
nen frühesten Texten überaus geschickt umzugehen verstand. Weiterhin sollte
nicht übersehen werden – wie dies schon so oft geschah –, dass auch im Vorwort
zum Poema del Niágara, das sich (wie bereits betont) als Manifest des hispano-
amerikanischen Modernismus lesen lässt, das Bild Jesu, des „Cristo crucificado,
perdonador, cautivador, al de los pies desnudos y los brazos abiertos“,57 also des
Gekreuzigten, der mit seinen offenen Armen alles verzeiht, jenseits aller Sozialro-
mantik ständig präsent ist. Und selbst noch in Martís sogenanntem literarischen
Testament finden wir diese Sakralisierung des Profanen als durchgängige Leitli-
nie Martí’schen Schreibens: „Am Kreuze starb der Mensch an einem Tage: Doch
es gilt zu lernen, alle Tage am Kreuze zu sterben.“58
Die Bewegung der Martí’schen Lyrik folgt gleichsam derjenigen des Publi-
zierens und beschreibt damit einen Weg, der von einem ‚Drinnen‘ nach einem
‚Draußen‘ strebt. Martí freilich formuliert diese Bewegung um und radikalisiert
sie. Dass er dabei im Anklang an seinen Familiennamen das Märtyrertum her-
vorkehrt und der Dichter Martí zum Märtyrer wird – in Vorwegnahme einer
Linie der Rezeption, die sich über lange Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bis in
die Gegenwart hinein verfolgen lässt59 – entspricht der in seiner Lyrik einge-
schlagenen Linie und Symbolik. Wenn in De noche, en la imprenta das Blut aus
der Herzenswunde strömt, wenn die Seele in einem (von Rivera-Rodas60 analy-
sierten) Fragment mit der Leber des Prometheus verglichen wird, wenn ein Ge-
55 Vgl. hierzu auch den vierten Band von Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten.
56 Vgl. Estrade, Paul: Un ‚socialista‘ mexicano, S. 252 ff.
57 Martí, José: Obras Completas Bd. 7, S. 226.
58 Martí, José: Obras Completas Bd. 1, S. 28: „En la cruz murió el hombre en un día: pero se
ha de aprender a morir en la cruz todos los días.“
59 Vgl. zur enormen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des kubanischen Nationalhelden
Ette, Ottmar: José Martí. Teil I: Apostel – Dichter – Revolutionär. Eine Geschichte seiner Rezep-
tion. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1991.
60 Vgl. Rivera-Rodas, Oscar: Martí y su concepto de poesía, S. 843–856.
622 José Martís mexikanische Lyrik oder der Lebendig-Tote
dicht der Versos libres mit dem Vers „Yo sacaré lo que en el pecho tengo“ be-
ginnt, und wenn schließlich in den Versos sencillos das lyrische Ich seine Verse
förmlich aus sich herausschleudern will („echar mis versos del alma“), dann
zeigt dies an, dass für Martí die Lyrik immer – wie es an anderer Stelle heißt –
„pedazo de nuestras entrañas“61 ist: ein Stück aus unseren Eingeweiden.
Auch wenn sich die Augen des Dichters in De noche, en la imprenta schließen
(V. 39), so erhöht dies wie in der Tradition der spanischen Mystik, mit welcher José
Martí bestens vertraut war, nur die visuelle, ja visionäre Kraft. Ganz wie „Orestes“
dies am 21. September 1875, also acht Tage vor der im Gedicht angegebenen Datie-
rung, einem „Freunde“ in den Mund legte: „Man fühlt sehr wohl das Unendliche,
innerhalb des endlichen Körpers: Wie man seltsame Dinge sieht, wenn man die
Augen schließt. Mit geschlossenen Augen sehe ich; und in mir selbst eingeschlos-
sen, empfange und konzipiere ich, was nicht eingeschlossen ist.“62
Die Lyrik Martís ist stets ein Hervorbrechen, ein oft abrupt wirkendes Heraus-
schleudern, in eben jener Form, in der Martí in einem seiner mexikanischen Es-
says die kommende lateinamerikanische Literatur erahnte: „la América es el
exabrupto, la brotación, las revelaciones, la vehemencia“:63 Lateinamerika als
Vehemenz, als Aufbrechen, als plötzliche Enthüllung. Martís mexikanische Lyrik
versuchte, die ästhetischen Konzeptionen des Essayisten und Dichters einzulö-
sen und nicht hinter diesen zurückzustehen – selbst wenn ihr dies nicht immer
und in allen Gedichten gelungen sein mag.
De noche, en la imprenta ist eine dichte, schmerzhafte Meditation und Refle-
xion über die vielfältigen Beziehungen zwischen Körper und Schreiben innerhalb
des Kontexts einer Gesellschaft, die von einem fremdgesteuerten Modernisie-
rungsprozess bestimmt wird, der seinerseits die Entwicklung eines beschränkten,
aber erstmals existenten literarischen Marktes für Texte lateinamerikanischer Au-
toren in Lateinamerika möglich machte. Er situiert sich an dem zum damaligen
Zeitpunkt noch kaum zu erahnenden Beginn einer neuen Phase beschleunigter
Globalisierung, die auch den Literaturen Lateinamerikas im 20. Jahrhundert
neue und vielversprechende Horizonte eröffnen sollte.
Der erwähnte didaktische Grundton der letzten Strophe des Gedichts mag
belegen, dass Martí am Ende dieser Meditation das Ethische mit dem Ästheti-
schen noch nicht völlig zu verschmelzen vermochte. Dies kann ein Vergleich
mit seinen späteren Gedichten, die Martí in seinem ‚literarischen Testament‘ als
„unos y sinceros“ ansah, deutlich machen. Daher werden wir uns mit Martís
modernistischer Lyrik schon bald auseinandersetzen. Die für uns spannende
Frage aber ist, ob nicht Einheit, Ehrlichkeit und nicht zuletzt der Reiz der mexi-
kanischen Lyrik Martís nicht gerade in der Heterogenität einer Stimme zu suchen
wären, die sich ihrer eigenen spannungsgeladenen Körperlichkeit bewusst zu
werden begann.
Angesichts der bevorstehenden Machtübernahme und Diktatur von Porfirio
Díaz – eines weiteren ‚starken Mannes‘ in der an autoritären Herrschern reichen
Geschichte Lateinamerikas – wird Martí, kurz vor dem Verlassen Mexikos zu
einem Zeitpunkt, als die liberale Revista Universal ihr Erscheinen bereits einge-
stellt hatte, in einem letzten Artikel, der am 10. Dezember 1876 in El Federalista
erschien, das menschliche Denken als etwas stets Kommunikatives kennzeich-
nen. Es sei an einen spontanen Impuls geknüpft, welcher nach außen dränge:
„hacia fuera, fuera de nosotros.“64 Für Martí war das Denken (wie auch das
Schreiben) immer eine Form sozialer Praxis, der möglichst direkten Berührung
mit seinem Lesepublikum. Für den fast durchweg im Exil lebenden Kubaner, den
man zurecht als „poeta de la emigración“65 bezeichnete, schien das Denken nicht
von ungefähr als etwas, das dem bindenden Bezug zum Boden, zum Körperli-
chen entzogen war; es zeigte sich ihm als unkörperlich, als „incorpóreo, porque
está hecho para la reflexión hacia la eterna vida, para el esparcimiento, anchura
y ascensión“66 – Denken sei gemacht für eine Reflexion in Richtung auf das
ewige Leben, für ein Aufsteigen des Geistes gen Himmel, jenseits des Irdischen
und mehr noch Territorialen.
Dies aber galt in der Vorstellungswelt des kubanischen Exilanten niemals
für die Lyrik, die für José Martí stets einen Körper-Leib, ja etwas Leibhaftiges
besaß. In seinem dichterischen Schaffen ist der Körper der Lyrik stets ein zum
Leiden, zum Leben, zum Anderen hin geöffneter: Der Körper ist der Ort der
eigenen Märtyrerschaft, in welcher sich der Kubaner stets als Blutzeuge fühlte,
wie der eigenen Transzendenz. Doch zugleich ist dieser Ort auch ein Körper,
der den Körper des Anderen sucht.
Dies verändert sich auch nicht mit der Schaffung von Grundlagen einer moder-
nistischen Ästhetik. Selbst in Martís Vorwort zu Ismaelillo heißt es, an den Sohn
gerichtet: „Esos riachuelos han pasado por mi corazón. ¡Lleguen al tuyo!“67 – Die-
ses Strömen ging durch mein Herz, möge es zu dem Deinen gelangen. In seinen
Briefen suchte die schreibende Hand die Hand des Lesenden – wie etwa in jenem
letzten Brief an Gonzalo Quesada y Aróstegui, in dem der Kubaner seine frühen
Verse (wie wir sahen) verurteilte. Nachdem er dort das Korpus seiner Texte – einen
Körper, dem er bestimmte Formen gab, andere Formen oder Glieder aber negierte
oder abtrennte – und damit sein literarisches Oeuvre gebildet hatte, das ihn überle-
ben sollte, verabschiedete er sich von seinem Freund und späteren Editor mit den
folgenden, in einem auch körperlichen Sinne ergreifenden Worten: „Ich wollte
nicht meine Hand von diesem Papier heben, als hätte ich die Ihre in meinen Hän-
den; doch höre ich nun auf, aus Angst davor, der Versuchung zu erliegen, in meine
Worte Dinge zu geben, welche nicht in sie gehören.“68 Es ist eine Hand, die sich
zum Abschiedsgruße hebt, eine Hand, mit der sich der kubanische Dichter von sei-
nem Vertrauten für immer verabschiedete, eine Hand, die in der Niederschrift einer
Lyrik, welche stets von einem agonalen Zug gekennzeichnet blieb, doch immer die
Nähe zum Lesepublikum suchte und fand.
68 Martí, José: Obras Completas, Bd. 1, S. 28: „No quisiera levantar la mano del papel, como si
tuviera la de Vd. en las mías; pero acabo, de miedo de caer en la tentación de poner en pala-
bras cosas que no caben en ellas.“
José Hernández oder Leben und Tod
von Marginalisierten
1 Vgl. hierzu das Plácido gewidmete Kapitel in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten,
S. 864 ff.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-021
626 José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten
haben wir in unserer aktuellen Vorlesung ja bereits den Typus des „Rastreador“
wie besonders des „Gaucho malo“ bei Sarmiento als eine todbringende, für die
gesellschaftlichen Verhältnisse am Río de la Plata fatale Gestalt und Figura ken-
nengelernt. Im Letztgenannten erblickte der Autor des Facundo die geheimen
Wurzeln eines autoritären, diktatorialen Herrschaftssystems in Argentinien. Was
hat ein solcher Gaucho also mit der Dichtkunst, mit der Poesie rund um den Río
de la Plata zu tun?
Zur korrekten Beantwortung dieser Frage muss ich ein wenig ausholen.
Während wir Plácido in unserer Romantik-Vorlesung bereits indirekt über den
Roman Sab von Gertrudis Gómez de Avellaneda kennengelernt hatten, stellte
uns Domingo Faustino Sarmiento vor wenigen Sitzungen und fast zum selben
historischen Zeitpunkt in seinem romantischen Hauptwerk von 1845 die Exis-
tenz jener Literatur und ihrer oralen Performanz und Rezeption vor, der wir uns
nun widmen wollen: der „Literatura gauchesca“ und genauer noch der „Poesía
gauchesca“. Die Präsenz beider literarischer Ausdrucksformen im zeitgenössi-
schen Roman oder Essay mag uns auf die gesteigerte Sensibilität hinweisen,
die derartigen deutlich regionalen, an volkskulturellen Formen teilhabenden
oder an solchen zumindest orientierten Ausdrucksweisen in jener Literatur zu-
erkannt wurde. Diese hätte sich selbst gemäß des in der Romantik-Vorlesung
eingeführten kulturellen Schemas überwiegend dem ersten Pol der hochkultu-
rellen Tradition abendländischer Filiation zugeordnet.
Denn wir haben es bei diesen regionalen Ausdrucksformen hispanoameri-
kanischer Lyrik zweifellos mit literarischen Phänomenen zu tun, die volkskul-
turelle Elemente aufnehmen und derartige Aspekte in inhaltlicher, struktureller
oder rezeptionsspezifischer Form verwenden und inkorporieren. Dies lässt sich
bereits auf Ebene des ursprünglich anvisierten Publikums erkennen. Vielleicht
mag hierin ein Grund dafür liegen, warum Plácido in der kulturellen Area der
Karibik trotz guter Angebote seine Heimatinsel niemals verließ. Denn es han-
delt sich um Literaturen, Gattungen und Schreibformen, welche sich zumindest
originär oder anfänglich an einen regional begrenzten Leser- oder Zuhörerkreis
wandten, der nicht ohne weiteres überschritten werden konnte. Das Exil hätte
in der Karibik – anders als bei José Martí und seiner Dichtkunst in Mexiko – die
radikale Abtrennung von diesem Lesepublikum bedeutet.
Diese Problematik hinsichtlich eine volkskulturellen Kreativität scheint mir
gerade für den Bereich der Lyrik in besonderer Weise zu gelten. Weder ein
Plácido noch ein Hilario Ascasubi konnten und durften damit rechnen, eines
Tages von Leserinnen und Lesern in ganz Lateinamerika oder gar in Nordame-
rika oder Europa gelesen zu werden. Eine solche Beobachtung ist keineswegs
wertend, wohl aber rezeptionsgeographisch gemeint. Die Zuhörerschaft, das Le-
sepublikum, war bei diesen volkskulturellen Autoren regional definiert und in-
José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten 627
nerhalb einer regionalen Area begrenzt. Genau hierauf beruhte der Erfolg ein-
schließlich einer identitätsstiftenden oder besser Identifizierungen jeglicher Art
erlaubenden Rolle dieser Literaturen und Lyrik.
Wenden wir uns ausgehend von diesen kulturellen Zusammenhängen und
literaturtheoretischen Erläuterungsmustern der „Poesía gauchesca“ zu, so be-
merken wir rasch, dass sie sowohl in einer hochkulturell gebildeten als auch in
einer volkskulturell sozialisierten Traditionslinie steht. Sie trachtet danach,
diese zwei kulturellen Pole und gesellschaftliche Niveaus miteinander zu ver-
binden. Rodolfo A. Borello2 hat in einem lesenswerten Artikel über die „Poesía
gauchesca“ diese als eigene literarische Gattung bezeichnet und als solche un-
tersucht. Dabei grenzte er sie zum einen von der „Poesía tradicional“ und zum
anderen von der Dichtung der Gauchos ab. Dies scheint mir in die eben aufge-
zeigte Richtung zu weisen, da aus einem solchen Blickwinkel die Abgrenzung
von eben jenen Bereichen erfolgt, die zugleich auch eine grundlegende Rolle
für die ‚eigentliche‘ Gaucho-Lyrik spielen. Allerdings dürfen wir unter der „Poe-
sía tradicional“ jene Dichtung verstehen, die die spanischen Kolonisten des
sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts mit in ihre neue amerikanische Hei-
mat brachten. Sie behandelt keineswegs Themen auf dem Lande, sondern ge-
bildete und urbane Gegenstände, wie sie dem abendländischen Pol kultivierter
Literaturbetätigung in Europa adäquat sind.
Die Entstehung einer „Poesía de los gauchos“ kann bis in die zweite Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Ihre Autoren stammen
aus dem Litoral oder aus den Weiten des Uruguay, ursprünglich schienen sie
jedoch aus der städtischen Kultur zu kommen. Ihre Texte sind von Archaismen
und der besonderen Phonetik dieser gesellschaftlichen Gruppe durchsetzt.3
Greift diese Lyrik auch wie die traditionelle Lyrik auf den populären Achtsilbler
der spanischen Verskunst zurück, so sind doch Strophen und Reimanordnung
deutlich von jener traditionellen Lyrik unterschieden.
Über diese Unterschiede hinaus ist ein gewichtiges Unterscheidungsmerk-
mal darin zu sehen, dass die gaucheske Lyrik – und an dieser Stelle ergibt
sich eine Vielzahl an Verbindungen zum Begriff des Volkskulturellen bei
Michail M. Bachtin – hochgradig narrativ und dialogisch ist.4 Ihren Texten
unterliegt fast immer ein autobiographischer Hintergrund; und manche gehen
2 Vgl. Borello, Rodolfo A.: La poesía gauchesca. In: Iñigo Madrigal, Öios (Hg.): Historia de la
Literatura Hispanoamericana. Bd. 2: Del neoclasicismo al modernismo. Madrid: Ediciones Cáte-
dra 1987, S. 345–358.
3 Ebda.
4 Vgl. Bachtin, Michail M.: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Herausgege-
ben von Renate Lachmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.
628 José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten
5 Vgl. hierzu u. a. den Band Poesía gauchesca. Caracas: Biblioteca Ayacucho 1977.
José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten 629
Abb. 53: Carlos Morel (1813–1894): Gauchos bei einer Payada. Rote Kleidungsstücke weisen
sie als Anhänger der „Federales“ aus.
Hidalgo entwickelte bereits eine Vielzahl von Formen und Themen gauches-
ker Lyrik, so auf der thematischen Ebene etwa die Verwunderung gegenüber
dem Treiben in der Stadt, an mündlichen Formen orientierte Ausdrucksweisen,
die Thematik der Landarbeit im Großgrundbesitz auf der „Estancia“, aber auch
Ungerechtigkeit, Armut und Todesverachtung, die zu Grundthemen dieser Li-
teratur beziehungsweise literarischen Gattung avancieren.6 Das Fehlen des
weiblichen Elements ist zugleich gekoppelt mit dem höheren Wert, welcher
der männerbündnerischen Freundschaft im Vergleich zur heterosexuellen
Liebe zugewiesen wird. Auch noch in Sarmientos Facundo war den Frauen –
ganz im Gegensatz zur Lyrik eines Esteban Echeverría – eine sekundäre, über-
wiegend dekorative Rolle zugekommen.
So entstand gemeinsam mit anderen Autoren eine politische Lyrik, die zum
Zeitpunkt der „Guerra Grande“, also zwischen 1838 und 1852, ihren Höhepunkt
erreichte. Rafael Pérez, der in den dreißiger Jahren ebenfalls in Montevideo eine
sich für Juan Manuel de Rosas einsetzende Gaucho-Zeitung veröffentlichte, kann
seinerseits als ein Vorläufer der Lyrik des am 14. Januar 1807 auf dem Weg nach
Buenos Aires geborenen, lange Zeit als Bücker in Montevideo arbeitenden und
am 17. November 1875 in Buenos Aires verstorbenen Hilario Ascasubi betrachtet
werden. Dabei hinterließ Ascasubi mit insgesamt dreißigtausend Versen das in-
nerhalb dieser Gattung umfangreichste Werk.
Es ist aufschlussreich, dass Ascasubi wie Plácido ebenfalls einen Hand-
werksberuf ausübte, so dass seine Verse gleichsam – bitte entschuldigen Sie
den Ausdruck – neben dem Brezelbacken entstanden. Nehmen Sie diese eher
didaktisch gemeinte Bemerkung nicht ernst, wohl aber die Lyrik Ascasubis, die
sich wie jene eines Plácido auf Kuba lange Zeit gegen die Vorbehalte und Vor-
urteile gegenüber einem dichtenden Handwerker zur Wehr setzen musste! Die
Hälfte dieses gewaltigen Oeuvres besteht aus literarischen Angriffen gegen
Juan Manuel de Rosas – mit dem er zunächst gegen die Spanier gekämpft
hatte, dann aber nach Montevideo ins Exil geflohen war – sowie später gegen
Justo José de Urquiza, den verfassungsmäßigen Präsidenten Argentiniens. Man
könnte angesichts dieser Lyrik auch von einer Art des anklagenden, aggressi-
ven Journalismus in Versen sprechen.
An dieser Stelle begegnen wir erneut jenen Textelementen, die wir in der
aktuellen wie in der Romantik-Vorlesung schon in Esteban Echeverrías El Mata-
dero, in Domingo Faustino Sarmientos Facundo oder in José Mármols Amalia
vorgefunden hatten: so insbesondere der Tötungsart des Halsaufschlitzens, des
„Degüello“, der bei dem „Proscrito“ Ascasubi auch aus der Perspektive einer
Rosas-Anhängerin geschildert wird. Gerade der mazorquistisch-federalistischen
Rosas-Anhängerin widmete Ascasubi manche Texte, so insbesondere sein Ge-
dicht Isidora. In diesem Kontext zeigt sich auch jene geradezu aristokratische
Verachtung, welche die Gegner des argentinischen Diktators Rosas gegenüber
demonstrierten.
Der Verweis auf die Gemeinschaft der argentinischen „Proscritos“ in Mon-
tevideo erlaubt uns, ein weiteres Mal kurz auf die Romantik zurückzublicken
und noch einmal das Werk Esteban Echeverrías in Hinblick auf die Ausbildung
der „Poesía gauchesca“ aufzurufen und kurz zu befragen. Wir hatten bereits ge-
sehen, dass dieser ‚Importeur der Romantik zwischen zwei Welten‘,7 wie wir
7 Vgl. hierzu das Esteban Echeverría und speziell „La Cautiva“ gewidmete Kapitel in Ette, Ott-
mar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 393 ff.
José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten 631
ihn auch nennen könnten, die Romantik an den Río de la Plata brachte, und
zwar – frisch aus Paris mit einem großen Koffer voller Bücher zurückgekehrt –
nicht nur im Bereich der Prosa, sondern gerade auch der Lyrik.
Hier ist nicht der Ort, noch einmal auf eine generelle Interpretation seines
Langgedichts La Cautiva zurückzukommen; ein Gedicht, das eine Reihe roman-
tischer Elemente enthält: so etwa die literarische Repräsentation einer nicht
mehr abstrakten, sondern ortsgebundenen Landschaft, die geographische Er-
kundung des nationalen Binnenraumes, die Verlagerung und das Interesse an
den Rändern der Gesellschaft oder auch den Einbau einer idealisierten Liebes-
geschichte, um es bei diesen vier Elementen zu belassen. Diese präsentiert es
dem Lesepublikum in verdichteter lyrischer Form. La Cautiva geht, autobiogra-
phisch betrachtet, auf ein Erlebnis des jungen Echeverría in der Pampa zurück:
auf eine Begegnung mit einer Frau, einer „Pastora“ namens María, deren Ge-
liebter und Bruder in die Indianerkriege gepresst worden waren sowie dort ihr
Leben verloren hatten. Für die Kriegszüge gegen die nomadisierenden indige-
nen Gruppen war die argentinische Regierung gleich welcher Couleur bei der
Rekrutierung von Truppen nicht zimperlich und wählte als ‚Kanonenfutter‘ vor
allem die Gauchos der Pampa.
Die poetische Szenerie wie die Diegese sind also grundsätzlich übereinstim-
mend, auch wenn sich Echeverría sowohl hinsichtlich der Aufnahme oraler Ele-
mente wie auch spezifisch lyrischer Gedichtformen stark von den Beispielen
gauchesker Lyrik abhebt. Seine zentral gestellte Liebesgeschichte zwischen
María und Brian wie auch besonders die aktive Haltung der Frau signalisieren
grundsätzliche Unterschiede. Und doch zeigt sich so manche Gemeinsamkeit,
was wir anhand eines kurzen Zitats aufzeigen können. Wir befinden uns im
dritten Gesang, „El puñal“, und soeben hat die furchtlose María damit begon-
nen, inmitten der schlafenden Horde betrunkener Indianer sich selbst und
ihren Geliebten Brian zu befreien:
In dieser romantisch finsteren Szenerie sehen wir eine Frau mit langen Haaren,
die sich wie eine Indianerin anschleicht, aber doch von den ‚Wilden‘, den „sal-
vajes“, durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt ist. Denn diese Frau ist eine
Weiße, die sich – und dies ist ein Thema, das bereits im 19. Jahrhundert und
nicht erst in den Western des 20. Jahrhunderts höchst populär war – aus der
Gewalt der ‚Wilden‘ befreien und zurück zur ‚Zivilisation‘ will.9 Es interessiert
diese Sakralisierung die politische Schlagkraft gerade nicht unterbindet, dass mit-
hin der Lyrik zugleich politische, ja doktrinäre und propagandistische Ziele und
Zwecke anvertraut werden, auch wenn oder gerade weil sie sich im sakrosankten
Bereich einer verdichteten Sprache bewegt. Das romantische Werk wächst – und
dies ist romantisches Credo10 – aus seinem physischen und sozialen Kontext
heraus und ist mit diesem gleichsam genetisch verbunden: La Cautiva ist mit
der argentinischen Pampa, der weiten, noch von Indianern durchzogenen
Landgebiete, zu Füßen der erhabenen Anden wesensmäßig verwoben.
Allerdings erscheint die Pampa zugleich als feindliches Medium, als eine
feindliche Um-Welt: Sie wird dem Liebespaar zum unausweichlichen, unent-
rinnbaren, unendlichen Gefängnis, ist also keineswegs das angestammte Milieu
der beiden Protagonisten, wie dies in der Gaucho-Lyrik oder der „Literatura
gauchesca“ der Fall ist. Die starken Wirkungen und Kontraste, die bisweilen
durch den Wechsel vom „Octosílabo“ zum „Hexasílabo“ markiert sind, verwei-
sen andererseits aber wieder auf Gemeinsamkeiten mit der „Poesía gauchesca“
bis hin zu José Hernández und seinem Martín Fierro, mit dem wir uns sogleich
beschäftigen werden.
Die Pampa ist in Echeverrías Gedicht freilich nur zu Beginn für die Lie-
benden ein Medium der Freiheit, verwandelt sie sich doch schnell in eben
jenes Element, das todbringend sein wird und die romantische in eine tra-
gisch endende Liebe verwandelt. Es braucht hier nicht eigens betont zu wer-
den, dass Esteban Echeverría als überzeugter Romantiker ganz in der Schule
der französischen Romantik keineswegs mehr bereit war, die Gattungstren-
nung zu respektieren, die klar zwischen „Poesía culta“ und „Poesía popular“
unterschied. Der Mechanismus des Gedichts beruht doch gerade auf einer be-
hutsamen Gattungsmischung, die es erlaubte, volkstümliche, kostumbristi-
sche Züge in die gebildete, in die hohe Literatur zu inkorporieren und zu
integrieren.
In La Cautiva herrschen daher auch die „Metros de arte menor“ vor, ins-
besondere Acht- und Sechssilbler sowie deren Kombinationen in „Décimas“,
„Romances“ und „Sextinas“. Echeverría äußerte sich hierzu auch ganz expli-
zit im Vorwort, habe er doch auf den Achtsilbler zurückgegriffen, weil er ihn
für den flexibelsten der spanischen Sprache halte. Er wolle diesen gesunke-
nen Vers daher auch wieder zu seinem alten Glanz, zu seiner alten Höhe zu-
rückführen, eine Zielsetzung, die eindeutig auf die „Poesía culta“ verweist.
Auch in diesem Zusammenhang zeigt sich die Gemeinsamkeit, aber auch der
10 Vgl. hierzu Fleming, Leonor: Introducción. In: Echeverría, Esteban: El Matadero. La Cau-
tiva. Madrid: Ediciones Cátedra 1986, S. 9–88.
José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten 635
Unterschied zur „Poesía gauchesca“, die auf denselben Vers, aber mit ande-
rer Intention zurückgriff.
Kehren wir an dieser Stelle wieder unmittelbar zur „Poesía gauchesca“ zu-
rück! Unser kurzer Ausflug in die argentinische Romantik und die mit allem So-
zialprestige ausgestattete hohe Literatur eines Echeverría hat uns gezeigt, dass
es evidente Beziehungen zwischen dieser hohen Literatur und der regionalen,
populären und tendenziell volkstümlichen Lyrik gibt, die sich auf die Gauchos
bezieht und bei diesen ihr primäres Zielpublikum findet. Ich kann an dieser
Stelle nur auf andere Vertreter dieser Dichtkunst neben Hilario Ascasubi ver-
weisen, nämlich etwa auf Estanislao del Campo, der eine Rekontextualisierung
des Faust vom französischen Komponisten Charles François Gounod in der
Pampa gewagt hat; oder auf Antonio Lussich, dessen Hauptwerke zu Beginn
der siebziger Jahre erschienen und von José Hernández intensiv analysiert
wurden.
Wir müssen unseren Durchgang durch die „Poesía gauchesca“ auf das
Notwendigste und damit auf jenes unbestrittene Hauptwerk beschränken,
das José Hernández zu Beginn und gegen Ende der siebziger Jahre – die Ver-
öffentlichung des ersten Teils erfolgte 1872, jene des zweiten Teils 1879 –
schuf: den bis heute vielberufenen Martín Fierro. Dabei sei gleich zu Beginn
unserer Untersuchung auf einen grundlegenden Unterschied zu Echeverrías
La Cautiva anhand des Textes selbst verwiesen, einer Passage aus dem neun-
ten Gesang:
636 José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten
Su esperanza es el coraje,
Su guarida es la precaución
Su pingo es la salvación,
Y pasa uno en su desvelo
Sin más amparo que el cielo
Ni otro amigo que el facón.
In diesen wenigen Strophen des neunten Gesangs des Martín Fierro sind auf
der inhaltlichen Ebene deutliche Abgrenzungen gegenüber der Cautiva zu er-
kennen, einer Thematik, die freilich auch in der gauchesken Lyrik von José
Hernández nicht fehlt. Es handelt sich in der zitierten Passage eindeutig um
eine Absage an jeglichen Händel, jegliche Auseinandersetzung mit Frauen:
José Hernández konstruiert die Männerwelt des Gaucho, eine patriarchalisch
geprägte Welt, in welcher Frauen eine nur dekorative Rolle spielen. Bereits
an dieser Stelle wird deutlich, dass dieses große Gedicht der argentinischen
Literatur nicht auf der Liebe als treibender Kraft basiert. Bei Esteban Echeverría
war es in La Cautiva gerade diese Liebe gewesen, welche Brian und María – vor
allem letztere – immer wieder vorantrieb, weg aus dem Lager der Barbarei und
zurück in die Zivilisation. José Hernández hingegen rückt den einsamen Gaucho
in den Vordergrund, seinen Mut, seinen Freiheitswillen, seine Unabhängigkeit.
Die bei Echeverría zu konstatierende Bewegung der Helden von der Barbarei
zurück in die Zivilisation ist im Martín Fierro – zumindest in dessen erstem Teil,
auf den zweiten komme ich noch zu sprechen – nicht ausgeprägt. Es lässt sich
vielmehr wie in der hier gezeigten Passage eine Richtung weg von der Siedlung,
von der Zivilisation, hinaus in die Weite und Einsamkeit der Natur beobachten,
fernab jeglicher behördlicher Überwachung. Damit erscheint ein weiterer wesent-
licher Unterschied zur „Poesía culta“ eines Echeverría: Im Gegensatz zu La Cau-
tiva ist die Pampa im Martín Fierro nicht das unendliche Gefängnis, sondern
genau jener Bewegungs-Raum, der es dem Gaucho erlaubt, den Behörden zu ent-
gehen und nicht im tatsächlichen Gefängnis der „autoridá“ zu landen.
Die Pampa ist sicherlich kein ungefährlicher Raum: Daher wird sie im Ge-
dicht auch nicht ausschließlich positiv semantisiert, birgt sie doch eine Viel-
zahl an Gefahren. Doch ist sie, in der nur die Sterne den Gaucho auf seinem
Weg leiten und begleiten, eben der Bewegungs-Raum dieses die Unabhängig-
keit allem anderen vorziehenden Menschen, seine weite Wohnstätte, sein
638 José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten
Eigen. Genau daher hat der nomadisierende Gaucho auch keine feste, keine
vorgegebene Richtung, sondern zieht umher, ohne Ziel und festen Punkt, al-
lein auf seine Wehrhaftigkeit und seinen Mut vertrauend (Abb. 54). Seit der
abendländischen Antike wissen wir, dass der Kultur-Begriff an den Ackerbau
und damit an die Sesshaftigkeit gebunden ist; der nomadisierende Gaucho
zieht dieser Kultur aber wie die ebenfalls umherziehenden indigenen Gruppen
das ungebundene Nomadentum vor. Noch im 20. Jahrhundert stoßen wir in
der wunderbaren Prosa des Brasilianers João Guimarães Rosa auf diese der
Sesshaftigkeit entgegengestellte Auffassung einer – wie wir formulieren könn-
ten – gauchesken Gegenkultur.12
Wir können an dieser Stelle festhalten, dass es eine Vielzahl von Beziehungen
einerseits zwischen der „Poesía gauchesca“ im Allgemeinen und dem Martín Fierro
im Besonderen sowie der romantischen Lyrik Esteban Echeverrías andererseits
gibt. Die unbezweifelbare Idealisierung des Gaucho verknüpft die Welt des Martín
Fierro mit beiden Polen ganz so, wie sie die volkskulturellen Traditionen und die
abendländisch-gebildeten Filiationen miteinander in Verbindung setzt. Doch zeigt
sich auch am verwendeten Wortmaterial dieser Passage sowie anhand bestimmter
Endungen und Morphem-Strukturen, dass wir den Bereich der ‚hohen‘ Lyrik ver-
lassen haben und uns unverkennbar in einer engen Relation mit der „Poesía popu-
lar“ und volkstümlichen Formen wiederfinden. Genau in dieser Spannung
zwischen diesen beiden Polen platziert sich der Martín Fierro des José Hernán-
dez; und um diese Spannung sowie die Besonderheit dieses zweifellos größten
Werkes regionaler Lyrik in der Area des Río de la Plata und im hispanoamerika-
nischen 19. Jahrhundert zu verstehen, müssen wir uns eingehender mit Gedicht
und Autor beschäftigen. Einige wenige Biographeme mögen uns hierbei genügen.
José Rafael Hernández y Pueyrredón wurde am 10. November 1834 in Villa
Ballester in der Provinz Buenos Aires geboren und starb am 21. Oktober 1886 in
Belgrano, einem damaligen Vorort von Buenos Aires. Er verbrachte einen gro-
ßen Teil seiner Kindheit und Jugend in den Landgebieten des Südens der Pro-
vinz Buenos Aires, wo er mit den Sitten der Gauchos sehr eng und intensiv in
Berührung kam. Wie viele Argentinier stammte er aus einer Familie, die aus
Spanien, Irland und Frankreich eingewandert war; sein Vater arbeitete als Vor-
arbeiter auf einer Reihe von Rinder-Estancias, so dass der Jugendliche zeitweise
als junger Gaucho leben konnte.
12 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Sagenhafte WeltFraktale. João Guimarães Rosa, „Sagarana“ und die Li-
teraturen der Welt. In: Ette, Ottmar / Soethe, Paulo Astor (Hg.): Guimarães Rosa und Meyer-Clason.
Literatur, Demokratie, ZusammenLebenswissen. Berlin – Boston: Walter de Gruyter 2020, S. 25–52.
José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten 639
Doch beschränkte sich sein Dasein keineswegs auf diesen ländlichen Kreis,
führte Hernández doch ein äußerst reges öffentliches Leben, wie es für das
19. Jahrhundert in Hispanoamerika recht charakteristisch war. In den Bürgerkrie-
gen am Río de la Plata stand er auf Seiten der argentinischen Federales; er war
Journalist, Militär und Politiker, trat 1856 in den Partido Federal Reformista ein
und intervenierte zwischen 1853 und 1886 immer wieder in den das Land nach
der Rosas-Diktatur heimsuchenden Auseinandersetzungen und politischen Ge-
fechten. José Hernández gründete die Zeitschrift El Río de la Plata, die sich für
die Schaffung autonomer Gemeinden in Argentinien und für ein Ende gezielter
Immigration einsetzte, gründete politische Parteien, nahm an blutigen Schlach-
ten teil und starb schließlich als Senator der argentinischen Republik. Hernández
spielte folglich eine hochaktive Rolle in der Politik und vertrat politisch die Über-
zeugung einer „Confederación Argentina“, welche die Viehzüchter-Oligarchie
von Buenos Aires attackierte und das Recht der anderen Provinzen betonte, die
Vorrangstellung der Hauptstadt in Frage zu stellen. Dabei entwickelte Hernández
in einigen seiner Zeitungen Überzeugungen, wie sie später auf Ebene seines be-
rühmtesten Gedichts sein Martín Fierro vertreten sollte. Auch wenn er Domingo
Faustino Sarmiento kritisch bis ablehnend gegenüberstand, ergriff Hernández
auch nicht für Juan Manuel de Rosas Partei, den er – obwohl aus der Viehzüch-
ter-Kaste stammend – mit guten Gründen für einen Despoten hielt.
José Hernández war ein aufmerksamer Leser nicht nur seiner Vorgänger im
Bereich gauchesker Lyrik, sondern auch der hispanoamerikanischen Romantik
insgesamt. Wir haben es nicht mit einem ungebildeten Autor zu tun, sondern mit
einem der vielen argentinischen Politiker, die höchst belesen waren und sich als
Schriftsteller betätigten. Sitten und Gewohnheiten der Pampas-Indianer kannte er
übrigens nicht nur vom Hörensagen oder aus seiner konkreten Erfahrung in Kind-
heit und Jugend, sondern auch aus ihm zugänglichen Texten über diese nomadi-
sierenden indigenen Gruppen. Daher wurde mehrfach bereits mit Recht darauf
verwiesen, dass in El Gaucho Martín Fierro eine Vielzahl literarischer Strömungen
ihren gauchesken Gipfelpunkt erreichen.
Ich sage Ihnen all dies, um Ihnen wie schon bei Gabriel de la Concepción Val-
dés alias Plácido vor Augen zu führen, dass diese Lyrik der Regionalität keines-
wegs eine Lyrik der Provinzialität ist. Denn jene Dichtkunst nimmt sehr wohl eine
Vielzahl überregionaler und internationaler literarischer Anstöße auf, bezieht
diese aber auf einen bestimmten Raum, für den sie eigene Charakteristika und
Identitätszeichen literarisch entwickelt. Wir hatten in unserem ersten Zitat aus
dem Martín Fierro bereits gesehen, dass dies auch eine Sprache und Lexeme mit-
einschließt, die regionaler oder arealer Herkunft und im Übrigen nicht immer
leicht zu übersetzen sind.
640 José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten
Dieser Identifizierung mit einem regionalen Raum dient gerade auch die Figur
des Gaucho Martín Fierro, die auf ein Publikum eine ungeheure Wirkung entfal-
tete, das zuvor mehr oder minder außerhalb der von den Romantikern anvisier-
ten Leserschaft geblieben war: die ländliche Bevölkerung und vielleicht sogar
ganz allgemein einfachere Schichten des Volkes. Mit dem Martín Fierro lässt sich
daher eine Ausweitung des Lesepublikums verbinden, wobei die mündliche
Übermittlung etwa durch Vorleser nicht aus den Augen verloren werden darf.
Dies verhält sich auch in anderen Areas des vormals spanischen Amerika nicht
anders. So spielten etwa Vorleser unter den kubanischen Tabakarbeitern eine
ebenso literarisch wie politisch wichtige Rolle, insofern sie den während des Lek-
türeaktes mit ihrer Arbeit beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeitern ebenso poli-
tische Nachrichten wie Zeitungsmeldungen oder Romane und Gedichte vorlasen.
Sie waren damit an der ebenso ästhetischen wie politischen Bewusstseinsbildung
breiter ArbeiterInnenkreise wesentlich beteiligt.
Doch zurück zum Río de la Plata und zu unserem Gedichtband! Der Gaucho
Martín Fierro steht für eine bestimmte soziale Gruppe, repräsentiert diese aber
nicht nur, sondern verteidigt sie zugleich. José Hernández bezeichnete diese
Gruppe als die „clase desheredada de nuestro país“, als die Enterbten und
Unterprivilegierten Argentiniens. Vor diesem Hintergrund darf der Versuch von
Hernández, mit seinem Martín Fierro Sprachrohr und Zielpublikum in der Figur
seines Gaucho zusammenzubinden, in der Tat als wertvollstes Experiment der
„Literatura popular“ seiner Zeit verstanden werden, auch wenn man den Martín
Fierro selbst vielleicht nicht allzu einfach dieser populären, volkstümlichen
Literaturtradition zuschlagen sollte. Aber Sprache, Bilder und Weltsicht dieser
sozialen Gruppe werden im Martín Fierro – darüber ist sich die einschlägige
Forschung wohl einig – auf komplexe Weise reflektiert.
Der erste Teil des Textes, der auch als die „Ida“ bekannt wurde, wurde im
Jahre 1872 veröffentlicht, während der zweite Teil, die „Vuelta“, erst 1879 er-
schien. Es gibt folglich einen ‚Aufbruch‘ und eine ‚Rückkehr‘ des Gaucho Martín
Fierro. Und noch ein wenig Zahlenmaterial: Die auf insgesamt dreizehn Gesänge
verteilten gut zweitausenddreihundert Verse werden zunächst von den ersten
neun Gesängen eröffnet, die autobiographischen Charakter aus der Sicht Martín
José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten 641
Fierros tragen. Ich möchte Ihnen zunächst die ersten Strophen des ersten Gesan-
ges darbieten. Die Graphie ist hier, in Anschluss an meine spanische Ausgabe,
zur besseren Lesbarkeit leicht modernisiert:
So also beginnt der berühmte erste Gesang des Martín Fierro; und lassen Sie mich
zunächst darauf hinweisen, dass bereits in der ersten Strophe das lyrische Ich, der
Dichter oder „Cantor“, mit einem einsamen Vogel verglichen wird! Das ist übrigens
auch bei Plácido der Fall, sei aber nur nebenbei bemerkt. Was daneben jedoch lite-
rarisch deutlich evoziert wird, ist eine Kopräsenz von Sänger und Publikum, eine
direkte, nicht durch verschriftlichte Literatur vermittelte Beziehung also, bei der
sich der Sänger selbst auf seinem Instrument begleitet. Für die sprachliche Nähe
zwischen dem „Cantor“ und seinem Publikum sorgt die Sprache des Ich, sorgen
dessen Worte, die oftmals der Alltagssprache mit ihren Regionalismen entlehnt
sind. Dieser Sänger also beginnt mit seinem Gesang und führt seine Stimme, aber
auch seine Geschichte und deren Gegenstand ein – und dies in einem Hier und
Jetzt, in einem Raum und zu einer Zeit, welche er mit seinem Publikum teilt.
José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten 643
14 Ebda., S. 14 ff.
646 José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten
Y atiendan la relación
Que hace un gaucho perseguido,
Que padre y marido ha sido
Empeñoso y diligente.
Y sin embargo la gente
Lo tiene por un bandido.
[…]
Ay comienzan sus desgracias,
Ay principia el pericón;
Porque ya no hay salvación
Y que uesté quiera o no quiera,
Lo mandan a la frontera
O lo echan a un batallón.
Bereits im ersten Vers führt uns das lyrische Ich vor Augen, dass es sich um
keinen „letrado“, keinen Gebildeten handelt, der in den gelehrten Dichtkünsten
belesen wäre und im Folgenden zu uns spricht. Man könnte in gewisser Weise
sagen, dass dieser Sänger nicht zur Ciudad letrada15 gehört, nicht zur Stadt der
Gebildeten, die in der Kolonialzeit entstand und auch in postkolonialen Zeiten
noch immer alle Macht konzentriert. Dieser „Cantor“ entstammt vielmehr dem
weiten Binnenbereich Argentiniens.
Die erste Strophe suggeriert uns im Gegensatz zu einer kunstvollen Ästhetik
die Natürlichkeit dieser Lyrik, die aus dem Dichter, dem Sänger geradezu wie ein
Quell hervorbricht. Es ist eine Dichtkunst in der Maske des Natürlichen: der ro-
mantische Entwurf einer natürlichen Dichtung, die sich freilich einer Vielzahl
poetischer Regelungen unterwirft. In dieser ersten Vorstellung wird deutlich die
Zugehörigkeit des Sängers zu der erwähnten sozialen Gruppe unterstrichen,
wobei der „Cantor“ die Position von „uno de tantos“ einnimmt: Denn ihm ist das-
selbe ungerechte Schicksal, in die Armee gepresst und an die Grenze geschickt
zu werden, widerfahren wie so vielen seiner argentinischen Genossen. Die Gau-
chos dienten der herrschenden Großgrundbesitzer- und Viehzüchterelite nur
dazu, die indigenen Gruppen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch gefährli-
15 Vgl. hierzu Rama, Ángel: La ciudad letrada. Hannover (N.H.): Ediciones del Norte 1984.
José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten 647
16 Vgl. hierzu die Anmerkungen in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 638 f.
17 Vgl. Rodríguez Pérsico, Adriana: Un huracán llamado progreso. Utopía y autobiografía en
Sarmiento y Alberdi. Washington, D.C.: OEA 1996.
18 Vgl. die wichtige Studie von Ludmer, Josefina: El género gauchesco. Un tratado sobre la pa-
tria. Buenos Aires: Sudamericana 1988.
648 José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten
Gaucho nicht auskömmlich. Ein derartiges Bild als Selbst- und Fremdbild hätte
ohne die „Poesía gauchesca“ und insbesondere den großen Erfolg des Martín
Fierro jedoch nicht entstehen können. Die gesellschaftliche Wirkkraft dieser
Dichtkunst war ebenso überraschend wie ungeheuer.
Martín Fierro sagt von sich selbst, dass seine Geburt gleichsam in den Tiefen
des Meeres stattfand: Diese Tiefen des Meeres sind fraglos die des Volkes. Wie
ein Lazarillo de Tormes, der als Urvater der langen Tradition des Schelmenro-
mans, der „novela picaresca“, angesehen werden kann, ist er keineswegs von
hoher Abkunft, sondern wurde ebenso wie der „Pícaro“ gleichsam im Wasser des
Flusses Tormes geboren. Anders als die Mächtigen seines Landes entstammt er
nicht den großen Viehzüchterdynastien, verfügt damit über keine ihn qualifizie-
rende und sein weiteres Leben erleichternde Geburt, sondern weiß sich ‚geburt-
lich‘ ein wenig so wie ein Hilario Ascasubi gleichsam auf einem Fuhrwerk in
Bewegung geboren. Es ist kein Zufall, dass José Hernández dieser Geburt und Ab-
kunft seines Martín Fierro gleich zu Anfang eine Strophe widmet.
Die zuletzt angeführten Strophen des Gedichts machen deutlich, dass die
Klage des Gaucho Martín Fierro zugleich in eine Anklage einmündet, dass der
Gaucho also seine Unterdrücker in der Folge namhaft machen und die von
ihnen ausgelöste Ungerechtigkeit, den „mal trato“, anklagen wird. Der Gaucho
erscheint – ein wenig so wie der Philosoph in der Aufklärungsliteratur des
18. Jahrhunderts19 – im Martín Fierro als unschuldiges Opfer, das aufgrund von
Missetaten verfolgt wird, die allein aus gesellschaftlichem Zwang entstanden
und eigentlich von der Gesellschaft zu verantworten wären.
So ist er jener gesellschaftliche Außenseiter, der von der Justiz gehetzt wird
und gerade aus dieser Rolle heraus zur Identifikationsfigur einer ganzen Nation
avancieren kann. Wir sollten uns in diesem Zusammenhang die paradoxe Situa-
tion vor Augen halten, dass es gerade dieser Außenseiter ist, der sich in der Folge
als Außenseiter in eine nationale Identifikationsfigur transformiert. Es ist sozusa-
gen das ‚Amerikanische‘, das sich gegen eben jene ‚Zivilisation‘ zur Wehr setzt,
welche die Sarmientos gegen die Barbarei der Rosas-Diktatur ins Feld geführt hat-
ten. Die Geschichte der argentinischen Nation ist nicht nur mit Blick auf das
Schicksal der verfolgten indigenen Bevölkerung keine Geschichte, deren Parteien
sich fein säuberlich in Weiß und Schwarz aufteilen lassen. die argentinischen Gau-
chos hatten das Pech, zwischen die Fronten geraten zu sein. Anders als die indi-
gene Bevölkerung aber eigneten sie sich trotz oder wegen ihres tendenziellen
Untergangs hervorragend als Identifikationsfiguren der entstehenden Nation.
19 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Aufklärung zwischen zwei Welten, S. 86 ff. u. S. 528 ff.
José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten 649
[…]
Le llaman “gaucho mamao”
Si lo pillan divertido
Y que es mal entretenido
Si en un baile lo sorprienden;
Hace mal si se defiende
Y si no, se ve … fundido.
Su casa es el pajonal,
Su guarida es el desierto;
Y si de hambre medio muerto
Le echa el lazo a algún mamón,
Lo persiguen como a pleito
Porque es un “gaucho ladrón”.
[…]
Si uno aguanta, es gaucho bruto;
Si no aguanta, es gaucho malo.
¡Déle azote, déle palo,
Porque es lo que él necesita!
De todo el que nació gaucho
Esta es la suerte maldita.
Dieser Weg wird den Gaucho im ersten Teil aus der zivilisierten Gesellschaft he-
rausführen und zu den umherstreifenden Indianern leiten. Das Gedicht macht
uns unmissverständlich klar, dass der Gaucho ein Vogelfreier,21 ein Outlaw, ein
außerhalb des Gesetzes Stehender ist, der geschlagen, gepeitscht, wohl auch
getötet werden kann, ohne dass das Gesetz einschritte. Denn letzteres und die
21 Vgl. zu diesem Status Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte
Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002.
652 José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten
souveräne Macht existieren für den Gaucho nicht. Er ist ein Vogelfreier, der sei-
nen Unterschlupf, der sein Nest mit den Vögeln teilt.
Doch diese Freiheit ergreift er und versucht, sie zu seinen Gunsten zu wen-
den, gleichsam sein Lebensglück zu ergreifen. Es ist in der Tat das Leben, das
aus diesen Versen in aller Unmittelbarkeit spricht. Die Frequenz des Lebens-
Lexems ist in den Versen des Martín Fierro beachtlich und macht uns darauf
aufmerksam, dass es im Grunde um den Lebensentwurf des Gaucho als Gegen-
entwurf zum bürgerlichen Leben geht. Wieder wird in diesen Versen auf seine
Geburt angespielt, eine Geburt, der er nicht entfliehen kann, die sein Leben de-
terminiert und zu der er sich letztlich bekennt.
Klar ist, dass all dies vor dem Hintergrund der Kriminalisierung des Gau-
cho durch die ansässige und sesshafte kreolische Bevölkerung geschieht. Die
Schimpfnamen, mit denen man ihn benennt, sind in den Text als Zitate einge-
blendet: Er ist und bleibt ein „Gaucho malo“, ganz in dem Sinne, in dem ihn
Sarmiento in seinem Facundo in Szene setzte. Doch er ist keinesfalls der Urhe-
ber kollektiven Unglücks. An dieser Stelle wendet sich der Gaucho des José
Hernández gegen sein Zerrbild im vielleicht wichtigsten und einflussreichsten
Werk der argentinischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Mag sein, dass der Gaucho
den Sesshaften als Bandit erscheint; mag sein, dass er bereit ist, jedem, der sich
ihm in den Weg stellt und seinem Messer nicht ausweicht, den Tod zu geben. Aber
er muss selbst in jedem Augenblick damit rechnen, aus dem Leben in den Tod be-
fördert und damit getötet zu werden.
Die ständige Verfolgung, die in diesen Versen in klaren Worten dargestellt
wird und dem Gaucho keine Auswege mehr offen lässt, zeigt die Bedingungen
eines Lebens am Rande der Gesellschaft auf, ohne dieses Leben doch zu sehr zu
romantisieren. Dieselben textuellen Elemente und Lexeme wie in Esteban Echever-
rías La Cautiva tauchen auf, so etwa der „pajonal“, das menschenleere „desierto“,
das „cuchillo“; und doch erscheinen sie hier nur mehr als Ausdruck eines Lebens,
das diese Elemente notwendig zu den seinen gemacht hat: Weil dem Gaucho als
Vogelfreiem, als aus der Gesellschaft Ausgestoßenem keine andere Wahl blieb.
Alldem stellt sich die sesshafte Gesellschaft entgegen, verurteilt den Gau-
cho, für den – wie es in den ausgelassenen Strophen heißt – weder Frieden
noch Krieg bessere Lebensumstände schaffen. Schon sein Vater wurde in die
Armee gepresst und war schutzlos allem und allen ausgeliefert. So muss der
Gaucho dieser ‚Zivilisation‘ geradezu notwendig den Rücken kehren, gibt es in
ihr doch keinen Platz, an welchem er in Frieden leben könnte.
Folgerichtig bleibt Martín Fierro und seinem Kumpanen Cruz nur der Weg in
die ‚Barbarei‘, von einem sesshaften in ein nomadisches Leben. Ein gut sichtbares
Abbrechen aller Brücken zur ‚Zivilisation‘ ist die Tatsache, dass Martín Fierro seine
geliebte Gitarre in tausend Stücke schlägt; und dies nicht nur, weil er sie bei den
José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten 653
Indios nicht mehr benötigt (er hat aufgehört, „Cantor“ zu sein), sondern auch, weil
er nicht möchte, dass sie von einem anderen gespielt oder gleichsam berührt
(„tocar“) werde. Das Zerschlagen der Gitarre steht hier für das Verlassen des zivili-
sierten Kulturraums und damit auch aller Formen abendländisch-tradierter Kunst-
formen. Der Bereich einer Gegen-Kultur wird erkennbar und wird sich in der Folge
herauskristallisieren.
Kein Wunder also, dass wenig später das Gedicht zunächst einmal abbricht.
Sicherlich könnte man hinzufügen, dass der Körper der Gitarre zugleich auch der-
jenige der eigenen Stimme wie auch der semantisch, vielleicht auch erotisch aufge-
ladene Körper des Anderen überhaupt ist. Zweifellos verhandelte José Hernández
den Gaucho in Begrifflichkeiten einer sich abzeichnenden (barbarischen) Alterität.
Doch vielleicht sollten wir aus heutiger Perspektive lernen, Martín Fierros Weg in
die Weite als einen Weg zu nicht notwendig anderen, sondern weiteren zivilisato-
risch-kulturellen Möglichkeiten zu sehen.22 Er bildet eine literarische Versuchsper-
son, mit deren Hilfe José Hernández die gesellschaftlichen Möglichkeiten weiterer,
zusätzlicher kultureller Ausdrucksformen erprobte und dafür die literarischen Nor-
men gauchesker Lyrik erweiterte.
Nachdem Martín Fierro im dreizehnten Gesang – nach einem Intermezzo
von Cruz – seinen Gesang wieder aufgenommen hat, endet der erste Teil des
Gedichts mit den Versen eines unbekannten Erzählers (und nicht etwa schlicht
des Autors, wie uns die spanische Ausgabe in einer kritischen Fußnote glauben
machen will): Denn in diesen Versen wird dargestellt, wie Cruz und Fierro die
letzten „Poblaciones“ verlassen und so zu den Indianern überwechseln. Damit
ist der entscheidende Schritt von den festen, unbeweglichen Ansiedlungen –
nicht umsonst spricht man mit Blick auf Gebäude von Immobilien – zu den un-
steten, nomadisierenden Lebensformen getan.
Die Vuelta de Martín Fierro, mithin der später veröffentlichte zweite und
längere Teil von José Hernández’ Gedicht, stellt eine aus dem Gefühl des gro-
ßen Erfolgs des ersten Teils verfasste, wahrhaftige „continuation“ (im klassi-
schen Sinne Gérard Genettes) 23 dar. Dies machen bereits die ersten beiden
Strophen des ersten Gesangs von La vuelta de Martín Fierro deutlich:
22 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Weiter denken. Viellogisches denken / viellogisches Denken und
die Wege zu einer Epistemologie der Erweiterung. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturge-
schichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XL, 1–4 (2016), S. 331–355.
23 Vgl. hierzu Genette, Gérard: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris: Seuil 1982.
654 José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten
Beachten Sie auch hier, wie zu Beginn des ersten Teiles des Martín Fierro,
gleich eingangs die Anrufung der „Memoria“! Sie ist nicht weiter verwunderlich
innerhalb der Praxis einer Kunst, die auf das Gedächtnis angewiesen ist. Auch
die Gitarre taucht wieder auf: Martín Fierro geriert sich wieder als unser „Can-
tor“; und klar ist, dass er noch bevor es losgehen kann einen kräftigen Schluck
aus der mitgebrachten Flasche nehmen muss. Denn es folgt nun das, was von
Beginn an als das beste dieser Geschichte bezeichnet wird. Und das Beste ist
immer das, was noch kommt, so wie nach dem ersten nun endlich der zweite,
1879 veröffentlichte Teil angegangen wird. Die „continuation“ kann beginnen!
Der „Cantor“ muss als einen kräftigen Schluck aus der Pulle nehmen, denn
es folgen nun dreiunddreißig Gesänge mit insgesamt (glücklicherweise von mir
nicht gezählten) viertausendachthundertvierundneunzig Versen, also knapp
fünftausend Versen insgesamt. Man könnte diesen zweiten Teil griffig und
knapp auf den Punkt bringen: Denn Martín Fierro wird in seiner „Vuelta“ zum
Vertreter der Zivilisation gegenüber der indigenen Barbarei. Damit aber bekräf-
tigt er in gewisser Weise den Sieg der Stadt in Argentinien über das weite Land,
über die Pampa.
Eine derartige Sichtweise, die den Handlungsbogen dieses episch-narrativen
Gedichts im Spannungsfeld von Zivilisation und Barbarei als Rückkehr in die Zi-
vilisation zu beschreiben versuchte, ließe sich bekräftigen, wenn es uns gelänge,
eine Darstellung der Indianer als negatives Gegenbild einer zivilisierten Mensch-
heit und Menschlichkeit zu finden. Nun, um es kurz zu machen: Dies fällt nicht
schwer! Denn der argentinische Gaucho grenzt sich scharf vom Leben der India-
ner ab. So findet sich etwa am Ende des vierten Gesangs, als unser Martín Fierro
gerade mit der Darstellung des Lebens bei den Indianern beschäftigt ist, die fol-
gende Skizzierung der nomadisierenden Pampa-Indianer – und wir können hin-
ter dieser interessegeleiteten und einseitigen Darstellung letztlich noch immer
Verse aus La Cautiva von Esteban Echeverría erahnen, die wir in unserer Vorle-
sung über die Romantik zwischen zwei Welten untersuchten:
Es tenaz en su barbarie,
No esperen verlo cambiar:
El deseo de mejorar
25 Ebda., S. 82.
José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten 657
En su rudeza no cabe:
El bárbaro sólo sabe
Emborracharse y pelear.
schaft, die der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau26 mit einem wichtigen
und folgenreichen Neologismus als Perfektibilität beschrieb: die Fähigkeit näm-
lich, sich weiter und höher zu entwickeln und beständig weiter zu vervoll-
kommnen. Schon allein diese beiden Distinktiva grenzen den Indianer nicht
nur aus der Zivilisation, sondern auch – und eben dies ist die perfide Strategie
letztlich auch des Verfassers – aus dem Humanen aus. In Bevölkerungskarten
Argentiniens gab es weite Landstriche, die als weiß und damit als vom Men-
schen unbesiedelt erschienen. Denn man rechnete die indigene Bevölkerung
ganz einfach nicht der Menschheit zu und versuchte, Indios wie Tiere aus die-
sen ‚Wüsten‘ – also offiziell menschenleeren Gebieten im Norden und vor allem
im Süden des Landes – zu vertreiben und wie Tiere zu jagen.
Demgegenüber wirkt es fast schon wie ein milderer Vorwurf, wenn die India-
ner wie bereits erwähnt als geborene Diebe und Räuber bezeichnet werden, die
diese conditio von der Wiege bis zur Bahre mit sich durch ihr ganzes Leben schlep-
pen. Dass derartige Vorwürfe und die damit verbundene Kriminalisierung anders-
kultureller Phänomene vom vermeintlich sicheren Boden der abendländischen
Zivilisation aus wortwörtlich gegen ‚die Anderen‘, die einer anderen Kultur Ange-
hörigen, ins Feld geführt werden, brauche ich Ihnen an dieser Stelle nicht noch-
mals zu erläutern.
Der Indigene, so heißt es in dieser ‚Charakterisierung‘ der Indianer, ist auch
nicht fähig zum Mitleid als einer weiteren Grundbedingung des zivilisierten Men-
schen, die laut Jean-Jacques Rousseau aber auch eine Grundbedingung des Men-
schen unter Einschluss des „homme naturel“ überhaupt ist. Wenn wir diese auf
den ersten Blick vielleicht spontan wirkenden Qualifizierungen und Abqualifizie-
rungen der indigenen Bevölkerung zu einem komplexen Tableau zusammenfügen,
dann bemerken wir rasch, dass sich in dieser angeführten Passage ein ganzes
theoretisches Framework verbirgt und in sie eingearbeitet ist. Dieses theoretische
Konstrukt bildet den Hintergrund dafür, den Indianer vom Pol des Menschen und
des Menschlichen auszuschließen, ja es bildete die Rechtfertigung dafür, ihn wie
andere Tiere auch zu jagen: Der Indianer erscheint letztlich als Variante des Tieres,
das im Gegensatz zum Christenmenschen nicht gewohnt und bereit ist, die Arbeit
(und den Schweiß der Arbeit) als christlich sanktioniertes, seit dem biblischen
Sündenfall für alle Menschen festgelegtes Dogma menschlichen Lebens anzuer-
kennen und zur Grundlage seiner eigenen conditio humana zu machen.
26 Zu diesem für die Aufklärungsepoche und weit darüber hinaus grundlegenden Denker
vgl. das entsprechende Kapitel im fünften Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Aufklärung
zwischen zwei Welten (2021), S. 318 ff.
660 José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten
Es kann kein Zweifel bestehen: Dieses Gedicht, das sich zunächst an einfa-
che Hörerkreise wendet, wo komplexe Theoriebildungen nicht erwartet werden
können, bezieht sich doch implizit auf den zeitgenössischen Wissensstand und
jene anthropologischen Theoriebildungen als Intertexte, welche den gebilde-
ten, städtischen Zeitgenossen und „Letrados“ damals zur Verfügung standen.
Auch hieran wird die Verfahrensweise des Martín Fierro deutlich: Es handelt
sich um recht komplexe Hintergründe, die aber auf solche Weise in den literari-
schen Text eingearbeitet wurden, dass sie beim Lesepublikum nicht vorausge-
setzt werden müssen.
Dieses Verfahren, diese Vorgehensweise scheint mir eine der wesentlichen
Voraussetzungen und Grundlagen für den immensen Erfolg des Martín Fierro in
Argentinien zu sein. Doch bleiben wir bei der aufgespannten Problematik der
indigenen Bevölkerung! Denn wir finden hier den vielleicht überhaupt schärfs-
ten Ausdruck ihrer pauschalen Verurteilung – und zwar aus dem Munde gerade
eines Gaucho, einer sozialen Gruppe also, die von der weißen kreolischen Ober-
schicht dazu benutzt wurde, die indianische Bevölkerung in langen, zähen und
blutreichen Kriegen aus der Pampa zu vertreiben und auszurotten.
Ich würde sogar so weit gehen, in der soeben angeführten Passage mit all
ihren Erläuterungen eine Rechtfertigung des Genozids an der indigenen Bevöl-
kerung zu erblicken. Denn wozu sonst bemüht sich hier die literarische Figur
des Martín Fierro, die indigene Bevölkerung nicht als Teil der Menschheit dar-
zustellen? In diesem Zusammenhang sei aber nicht vergessen, dass es nicht der
reale Autor José Hernández ist, der hier mit uns und zu uns spricht, sondern der
Titelheld des epischen Gedichts, der Gaucho Martín Fierro. Ihm müssen wir in
erster Linie diese Charakterisierungen zurechnen, ohne darüber freilich zu ver-
schweigen, dass derartige Ansichten die Leitlinien bildeten für eine Politik des
Genozids an der indianischen Bevölkerung, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts
in Argentinien biopolitisch brutal in die Tat umgesetzt wurden.
Wir können uns im Rahmen unserer Analyse des Martín Fierro nicht mit so vie-
len anderen wichtigen, teilweise ‚eingebauten‘ Erzählungen beschäftigen, etwa
jener von der „Cautiva“, die an die Stelle des Erzählers oder „Cantor“ aufrückt und
selbst ihre Geschichte im achten Gesang erzählt. Dass ein solches Thema auch im
Martín Fierro nicht fehlen durfte, ist offenkundig, gehört die Erzählung von der
schönen weißen Gefangenen in der Hand schrecklicher Indianer doch zu den zen-
tralen Topoi argentinischer Literatur im 19. Jahrhundert. Es ist – nebenbei bemerkt –
auch ein wichtiger Stoff im US-amerikanischen Western, wo Sie das Thema der wei-
ßen Gefangenen beispielsweise von John Ford in einem berühmten Film von 1956 –
übrigens ein guter Jahrgang – mit dem Titel The Searchers finden können.
Für unsere Fragestellung entscheidend ist zweifellos die Rückkehr des Gau-
cho in die Zivilisation in ihrer Verbindung mit der Zurechnung des Indio zur
José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten 661
Wir haben es vielmehr mit einer absichtsvoll gefärbten und durchweg rassis-
tischen Auseinandersetzung mit dem kulturellen Pol indigener Kulturen zu tun,
die man offen ansprechen muss. Es ist eine interessegeleitete Darstellung, die
dem Bereich indigener Kulturen nicht nur die Zuordnung zu den Bereichen Kultur
und Zivilisation verwehrt, sondern überhaupt jegliche Zugehörigkeit der Indios
zum Bereich des Menschlichen leugnet. Sie leistet damit genau einer Genozid-
Politik Vorschub, welche in jenen Jahren in Argentinien in die Tat umgesetzt
wurde. Der Gaucho – wenn auch nicht José Hernández – wird zum Totengräber
der Kulturen der Pampas-Indianer und keineswegs zum Dokumentaristen und ob-
jektiven Berichterstatter über die Charakteristika indigener Kultur.
Martín Fierro, der Gaucho, verkörpert zweifellos nicht allein eine Figur, son-
dern – wie betont – eine ganze soziale Gruppe. Es verwundert daher nicht, dass
eine Beschreibung seiner eigenen Person kaum ins Blickfeld rückt. Es fehlen ihm
Gesicht und physische Gestalt; sein Leben sei das, was die Umstände über seinen
individuellen Willen hinweg beschließen.28 So ist es angesichts einer Figur, die
eher unscharfe Konturen aufweist, mehr als verständlich, dass die Darstellung
der Ungerechtigkeiten identifikatorisch auf ein bestimmtes Publikum wirken und
eine derart breite und langanhaltende Wirkung erzielen konnte.
Man könnte in diesem Zusammenhang formulieren, dass es vielleicht weni-
ger die deutliche Identifikation mit dem Gaucho war als mit dessen Zustand als
Marginalisiertem und Ausgestoßenem. Er erschien als solcher innerhalb einer
gerade erst aus der Kolonialepoche entlassenen postkolonialen Gesellschaft,
die kaum Zugänge zur Macht oder auch nur zur Selbstbestimmung eröffnete,
ganz zu schweigen von wirklicher politischer Partizipation. Offenkundig sagten
sich viele Argentinier im letzten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhun-
derts (wenn man eine berühmte Formel des französischen Mai ‘68 übernimmt):
‚Wir sind alle irgendwie Martín Fierros.‘ Dies mag uns nochmals erklären,
warum der in Argentinien gesellschaftlich geächtete Gaucho zur nationalen
Identifikationsfigur allererster Ordnung aufsteigen konnte.
Diese soziale Relation könnte gleichzeitig die spätere Folklorisierung be-
stimmter Passagen des Martín Fierro erklären helfen. Jedenfalls dürfen wir bei
der Einschätzung dieses prominenten Beispiels gauchesker Dichtung nicht ver-
gessen, dass sich jene Lyrik grundsätzlich von einem zentralen Aspekt der ro-
28 Ebda., S. 352.
José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten 663
mantischen Lyrik in Lateinamerika unterschied: Sie zielte anders als die „Poesía
culta“ ab auf eine direkte orale Aufnahme, war an der mündlichen Rezitation
ihrer Strophen orientiert.
Dieser Aspekt unterscheidet José Hernández’ Martín Fierro andererseits
auch von der Tradition des Schelmenromans, der „Novela picaresca“, mit der
ihn die in die Vergangenheit mitunter melancholisch zurückblickende Erzähl-
weise sowie die episodenhaft vorgehende Erzählstruktur durchaus verbindet.
Wie Periquillo Sarniento, die Titelfigur von José Joaquín Fernández de Lizardis
sicherlich berühmtesten Roman,29 ist der Gaucho Martín Fierro zweifellos ein
Ausgestoßener, der in gewisser Weise heimkehrt in den Schoß der Gesellschaft
und mit dieser seinen Frieden macht. Doch wollen wir die Parallelen zum neu-
spanischen beziehungsweise mexikanischen Schelmenroman aus dem Anfang
des 19. Jahrhunderts nicht zu stark betonen!
Denn der argentinische Gaucho verkörpert nicht nur eine individuelle „trayec-
toria“, wie repräsentativ diese auch immer sein mag im Roman von Fernández de
Lizardi, sondern steht stellvertretend für eine ganze soziale Gruppe, die systema-
tisch marginalisiert, verunglimpft und ausgeschlossen wurde – ja dezimiert und
beseitigt werden sollte. Der Gaucho Martín Fierro steht damit für eine wichtige
Phase innerhalb der argentinischen Geschichte, welche er wie keine andere litera-
rische Gestalt sinnlich vor Augen führt und markiert.
So erweist sich die „Poesía gauchesca“ im Allgemeinen und José Hernán-
dez’ Martín Fierro im Besonderen innerhalb der kulturellen Area des Río de la
Plata als eine Variante regionaler Lyrik, die überaus erfolgreich gerade vor dem
Hintergrund einer spezifischen historischen Epoche und Übergangszeit war.
Man muss dabei sicherlich betonen, dass der ungeheure Erfolg des Gaucho
eben jene Kräfte entband und freisetzte, die dem Martín Fierro für den Verlauf
seiner nachfolgenden Rezeptionsgeschichte jene Deutungsmuster mitgaben –
man könnte zeitweise sogar von einer Deutungshoheit sprechen –, die das
Werk auch über diese Übergangsepoche hinaus als kollektiven Sinnstiftungs-
prozessen gegenüber offenen literarischen Text auswiesen.
An diesem Punkt verbindet sich eine regional und bestenfalls areal entstan-
dene Lyrik mit dem Bedürfnis einer regional bestimmten und sozial eingrenzba-
ren, marginalisierten Bevölkerung. Diese ließ gerade im Zusammenklang von
regionaler Verortung und gesellschaftlicher Marginalisierung jene sinnstiften-
29 Vgl. zu El Periquillo Sarniento den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik
zwischen zwei Welten (2021), S. 285 ff.
664 José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten
den und identifikatorischen Elemente erkennen, die auf Ebene des literarischen
Artefakts von einer der „Poesía popular“ und ihren Formen recht nahestehen-
den Formgebung angeboten wurde. Hier zahlte sich das von José Hernández
gewählte literarische Verfahren aus, der sich spürbar bemühte, die Weltsicht
eines analphabetischen Publikums in seinen nicht nur lyrisch verdichteten
Text miteinzuarbeiten.
José Hernandez gelang es damit, aus einer bestimmten regionalen und so-
zialen Perspektive heraus einen Blick und eine literarische Form weiterzuentwi-
ckeln, ohne dabei auf andere literarische Traditionen gerade auch innerhalb
der hispanoamerikanischen Literatur und Lyrik der Romantik zu verzichten. Es
glückte ihm dabei, sowohl aus der Perspektive des Gaucho wie aus der des
Indio den gewaltsamen Tod nicht als etwas völlig Außerordentliches, sondern
als einen ebenso bestimmenden und ‚natürlichen‘ Teil des Lebens zu porträtie-
ren wie die Geburt, die über alle weiteren Entwicklungsbahnen des Individu-
ums wie der kulturellen oder sozialen Gruppe entscheidet.
Kein anderer Autor populärer Literatur vermochte in Argentinien den Erfolg
des José Hernández zu überbieten. Es wäre hier sicherlich sinnvoll, eine Verbin-
dung zur Figur des Gaucho im rioplatensischen Theater zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts zu ziehen und die konfliktreiche Beziehung zwischen der sozialen
Gruppe der Gauchos und jener der eingewanderten Bevölkerung am Río de la
Plata nachzuzeichnen. Zwischen dem Martín Fierro und Juan Moreira etwa
ließe sich ohne Frage eine Vielzahl von Verbindungen herstellen, die uns tief in
die Sozialgeschichte Argentiniens im 20. Jahrhundert hineinführen würden.
Doch entfernt uns dies vom Thema unserer Vorlesung …
Halten wir fest, dass die soziale Gefahr, die von den Gauchos ausging, im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum größten Teil gebannt war, so dass diese
Gruppe nun auch gefahrlos idealisiert und semantisch positiv aufgeladen wer-
den konnte! Erst einmal gesellschaftlich unschädlich gemacht, konnte also
diese Gruppe als ideale Projektionsfläche dienen: Ihr gesellschaftlicher Tod be-
deutete ihren definitiven symbolischen Aufstieg.
In diesem Sinne kann man hinsichtlich der weiteren Rezeptionsgeschichte
des Martín Fierro mit einigem Recht davon sprechen, dass der Gaucho bald
schon zu einem ahistorischen Mythos oder – mit anderen Worten – zu einem
nationalen Archetyp werden konnte, der innerhalb des kollektiven Imaginären
Argentiniens, aber auch als heterostereotypes Element bei Argentiniens nähe-
ren und ferneren Nachbarn bis heute eine ungehemmte Bedeutung entfalten
konnte. Vergessen wir dabei nicht, dass es genau vor diesem Hintergrund ar-
José Hernández oder Leben und Tod von Marginalisierten 665
chetypischer und zugleich regional begrenzter Elemente ist, dass Jorge Luis
Borges seine Erzählliteratur, aber auch einen Teil seiner Lyrik in eine Tradition
der „Argentinidad“ einbettete, die keineswegs volkskulturell ist, aber meister-
haft mit volkskulturellen Elementen zu spielen versteht! Dem gesellschaftlichen
Tod des Gaucho entsprach die symbolische, aber auch die literarische Geburt
eines Mythos, an dem bis heute weiter gearbeitet wird.30
30 Vgl. zu dieser Arbeit Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp
4
1986.
José Martí oder der poetische Kampf gegen
eine Übermacht
Wir hatten uns mit dem José Martí der siebziger Jahre vorwiegend in Mexiko
beschäftigt und die Suche des kubanischen Dichters nach neuen ästhetischen
Ausdrucksformen, aber auch nach Möglichkeiten gesehen, die politischen Ver-
hältnisse nicht allein auf seiner Heimatinsel Kuba, sondern auch in seinem me-
xikanischen Gastland wie in ganz Lateinamerika zu verändern. War all dies in
den siebziger Jahren für den kubanischen Migranten noch ein ferner Traum, so
stoßen wir Ende der achtziger Jahre auf einen José Martí, der während des zu-
rückliegenden Jahrzehnts auf allen Ebenen gereift war. Im Bereich der Ästhetik
verfügte er über die Ausdrucksformen des von ihm begründeten hispanoameri-
kanischen Modernismo, auf dem Feld der Politik komplettierte er seinen Kampf
gegen Spanien, der mit der sogenannten „Guerra de Martí“ seinen Höhepunkt
erreichen sollte, durch einen Fokus auf alle Länder Lateinamerikas. In der Mar-
tí’schen Prosa findet sich die Dichte der Lyrik und in der Organisation seines
kubanischen Unabhängigkeitskampfes gegen Spanien die Überzeugung von
einem notwendigen Strategiewechsel mit Blick auf die große (Über-)Macht der
Vereinigten Staaten von Amerika im Norden. Martí hatte im Exil in anderen
lateinamerikanischen Ländern, vor allem aber in den USA auf eine erstaunlich
eigenständige und originelle Weise gelernt, die politischen Veränderungen in
einem weltweiten Maßstab zu analysieren.
Kein anderer Schriftsteller und Philosoph hat den Zusammenbruch jedwe-
den selbstbezogenen, provinziellen Denkens angesichts einer sich beschleuni-
genden, alles mit sich fortreißenden Globalisierung eindrucksvoller formuliert
als José Martí im Incipit seines sicherlich berühmtesten Essays Nuestra Amé-
rica. Wir haben uns in einer anderen Vorlesung über die Romantik zwischen
zwei Welten ausführlich mit diesem für Martís Schreiben so charakteristischen
Essay beschäftigt.1 Ich möchte auf unsere Analyse nicht zurückkommen, Sie
gleichwohl aber auf den Stand der Einschätzung dieses herausragenden kuba-
nischen Globalisierungstheoretikers bringen:
Es glaubt der selbstgefällige Dörfler, dass die ganze Welt sein Dorf sei, und schon billigt
er die Weltordnung, wenn er Bürgermeister wird, seinen Rivalen demütigt, der ihm die
Braut stahl, oder wenn die Ersparnisse in seinem Sparstrumpf anwachsen; doch er weiß
weder von den Riesen, die Siebenmeilenstiefel tragen, mit denen sie ihm den Stiefel auf-
drücken können, noch vom Kampf der Kometen im Himmel, die durch die schläfrige Luft
1 Vgl. das entsprechende Kapitel in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 1010 ff.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-022
José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht 667
ziehen und Welten verschlingen. Was von solchem Dörflergeist noch in Amerika geblie-
ben ist, muß erwachen. Dies sind nicht die Zeiten, sich mit einem Tuch auf dem Kopf hin-
zulegen; es gilt vielmehr, wie die Männer von Juan de Castellanos zu handeln, deren Kopf
nur auf Waffen ruhte – auf den Waffen der Vernunft, die andere Waffen besiegen. Schüt-
zengräben aus Ideen sind denen aus Stein überlegen.2
2 Vgl. Martí, José: Unser Amerika. In: Rama, Angel (Hg.): Der lange Kampf Lateinamerikas.
Texte und Dokumente von José Martí bis Salvador Allende. Frankfurt am Main: Suhrkamp Ver-
lag 1982, S. 56 (Übers. O.E.).
3 Vgl. zur Theorie der verschiedenen Phasen beschleunigter Globalisierung Ette, Ottmar:
TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte. Berlin – Boston: Walter de Gruyter 2012.
668 José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht
4 Vgl. zur Unterscheidung zwischen Insel-Welt und Inselwelt Ette, Ottmar: Von Inseln, Gren-
zen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik. In: Braig, Marianne / Ette,
Ottmar / Ingenschay, Dieter / Maihold, Günther (Hg.): Grenzen der Macht – Macht der Grenzen.
Lateinamerika im globalen Kontext. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 2005, S. 135–180.
5 Vgl. zur Bedeutung des ‚philippinischen Martí‘ und Nationalhelden Ette, Ottmar: Romantik
zwischen zwei Welten, S. 1037 ff.
José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht 669
tern. Und ich möchte dies am Beispiel eines Romans tun, der als der erste
Roman der Moderne gilt: Miguel de Cervantes’ Don Quijote de la Mancha.
Bisweilen ist José Martís Schaffen mit dem eines kubanischen Don Quijote
verglichen worden, womit nicht selten der Vorwurf gepaart war, dass sich Martí
in imaginären, von ihm bloß vorgestellten Szenarien allseits drohender Gefahren
verrannt hätte.6 Aber der Schöpfer von Nuestra América lässt sich aus heutiger
Perspektive nicht nur denkbar schlecht mit Miguel de Cervantes‘ Romanfigur ver-
gleichen, er beschäftigte sich vielmehr selbst und höchst kreativ mit dieser literari-
schen Gestalt. Seine literarischen Auseinandersetzungen mit dem Quijote mögen
uns weit über seine politischen Zielsetzungen und Einsichten hinaus sehr viel von
jenen kulturellen Relationen verraten, welche den Kubaner trotz oder vielleicht
auch wegen seines Unabhängigkeitskampfes gegen die alte Kolonialmacht mit
Spanien und dessen Kultur verbanden.
Auf jenen Listen, die hispanoamerikanische Autoren verzeichnen, welche
sich mit dem Quijote beschäftigten, finden sich stets die Namen von Juan Mon-
talvo oder Rubén Darío, von Jorge Luis Borges oder Gabriel García Márquez,
von Carlos Fuentes oder Mario Vargas Llosa7 – Martí jedoch figuriert auf ihnen
nicht. Und doch findet sich über das Martí’sche Gesamtwerk verstreut eine Viel-
zahl von (Lese-)Spuren, die sich ebenso auf Cervantes wie auf dessen Don Qui-
jote beziehen. Diese Zeugnisse der Präsenz des Quijote tauchen beim Autor von
Nuestra América freilich nicht selten gerade dort auf, wo man sie am wenigsten
erwarten würde.
Dies zeigt schon unser erstes Beispiel aus dem reichen Schaffenskreis Martís.
So ging der kubanische Autor in seiner im Juni 1891 in der Sociedad Literaria His-
panoamericana von New York gehaltenen Rede zunächst aus der Perspektive
eines Pilgers und schmerzerfüllten Passagiers, eines „pasajero doloroso“ und
„peregrino“,8 in höchst lyrischer Weise auf die Landschaften und Länder Zentral-
amerikas ein, um dann aus einer nur kurz skizzierten Kosmologie die Geschichte
der Unterwerfung der indianischen Völker Mittelamerikas und den langen Weg
dieser so oft vergessenen Region zur politischen Unabhängigkeit zu entwickeln.
In Formulierungen, die an Martís eigenen Aufenthalt in Guatemala und speziell
6 Vgl. hierzu seine Rezeptions- und Wirkungsgeschichte in Ette, Ottmar: José Martí. Teil
I: Apostel – Dichter – Revolutionär. Eine Geschichte seiner Rezeption. Tübingen: Max Niemeyer
Verlag 1991.
7 Vgl. etwa Correa-Díaz, Luis: América como Dulcinea: la ‘salida’ transatlántica de Cervantes.
In: Hispanic Journal (Bloomington, Indiana) XXI, 2 (fall 2000), S. 460.
8 Martí, José: Discurso pronunciado en la velada en honor de Centroamérica de la Sociedad
Literaria Hispanoamericana. In (ders.): Obras Completas. 28 Bde. La Habana: Editorial de Cien-
cias Sociales 1975, Bd. 8, S. 113.
670 José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht
Und das Leben ward Leuchte und Prozessionen, wie in jener des Wettbewerbs der Univer-
sität, in welchem es um den ‚Liebeshändel zwischen Italien, Frankreich und Spanien‘
ging, als die Trommler vorausgingen und ihnen auf Mauleseln die Studenten und die Hi-
dalgos folgten, danach die Doctores und die Kleriker, danach ein gewichtiger Standarten-
träger mit dem von Gemälden gezierten und blumengeschmückten Thema, danach die
livrierten Diener, danach Soldaten – und sodann betrat die Stadt zur rechten Zeit die
lange Abfolge der Indios, mit ihrer Stirne schon im Tragegurt des Lasttieres, und der Min-
nesänger nahm einen Kreolen gefangen, weil dieser den Quijote las.
Es bewegte sich die Welt; es lebte Carlos III; in die Führung drang die Enzyklopädie
ein, noch unter dem spanischen Mantel; und vom Tische eines andalusischen Canonicus
sprang die Jugend der Herrschaft, um den Willen des spanischen Generals für die Unab-
hängigkeit zu gewinnen; und so ist in Zentralamerika heute noch immer jener Tag
im September ein Gala-Tag, ein Tag des reinsten und erhabensten Vergnügens!9
Ich habe Ihnen bewusst diese hochpoetische und nicht ganz einfach zu verste-
hende Passage ausgewählt, um Ihnen zu zeigen, in welchem Maße Martí an der
Wende zu den neunziger Jahren längst auch in der Prosa die dichterische Spra-
che gefunden hatte, in deren komplexen Bildern er selbst große Teile eines ge-
schichtlichen Fresko auf kleinstem Raum entfalten konnte. Schwer zu verstehen?
Gewiss! Niemand verfügte zu diesem Zeitpunkt in der spanischsprachigen Welt
über eine derartige sprachliche Ausdruckskraft, die mit jener des kubanischen
Modernisten zu vergleichen gewesen wäre. Und bedenken Sie: Dies war die Spra-
che, die Martí bei seinen Reden und Ansprachen benutzte, eine Sprache, von der
die Zuhörerschaft sicherlich nicht immer alles verstand, deren Metaphorik und
Bilderreichtum aber alle Anwesenden nach einer Vielzahl von Rezeptionszeug-
nissen förmlich zu fesseln verstand!
In dieser Prozession einer poetisch verdichteten Geschichte zieht wie im
Zeitraffer eine Zeitenwende vorbei, deren Scharnier – zwischen beiden Zeiten
wie beiden Absätzen – die Lektüre des Quijote bildet. Es ist ein Detail, das von
Martí ganz bewusst an diese Stelle gesetzt wurde. Was wollte uns der Dichter
damit sagen? Wegen seiner Lektüre von Cervantes’ Don Quijote de la Mancha
wird ein Kreole ins Gefängnis der Kolonialmacht geworfen, ein Akt der Unter-
drückung, der im Umkehrschluss den Quijote als Botschaft der Freiheit zu iden-
tifizieren erlaubt. Denn dieser Leseakt öffnet sich im neuen Abschnitt auf
weitere Leseakte (etwa der Encyclopédie Diderots und d’Alemberts), aber auch
auf den Befreiungsakt einer Independencia, die das Jahrhundert eröffnet hatte,
an dessen Ende Martí stand – wie stets im schmerzhaften Bewusstsein der kolo-
nialen Abhängigkeit seines Kuba. Am Anfang einer Abfolge von Lektüren, welche
in diese Ehrung Zentralamerikas eingefügt wurden, steht für Martí der Quijote;
ein Roman der spanischen Literatur, der den Freiheitswillen des Menschen, unge-
achtet aller Unterdrückung durch die Spanier, zum Ausdruck bringt.
Im Zentrum dieser Passage situiert sich folglich der koloniale Leser des Qui-
jote und seine Lektüre: ein Leseakt, der den amerikanischen Kreolen – als erüb-
rigte sich jegliche Begründung – direkt in den kolonialspanischen Kerker führt.
Angemerkt sei, dass eine erstaunlich hohe Zahl an Exemplaren des Don Quijote
de la Mancha den transatlantischen Weg in die spanischen Kolonien und zu
einer kreolischen Leserschaft fand: An Lesern, dies wusste Martí, hatte das
Buch in den spanischen Kolonien Amerikas von Beginn an keinerlei Mangel.
Zumal der Schmuggel mit Büchern während der gesamten Kolonialzeit ein ein-
trägliches Geschäft war.
Gestatten Sie mir hierzu einen winzigen Exkurs! Schon 1531 hatte eine „Real Cé-
dula“ unter Androhung von Strafe verboten, „libros de romances, de historias
vanas o de profanidad“ in die Kolonien auszuführen:10 Fiktionen waren, wie
Sie sehen, gefährlich! Und ein weiteres Dekret von 1543 präzisierte, man müsse
besonders darauf achten, dass dergleichen Bücher nicht in die Hände von lese-
kundigen Indianern fielen, würden sie diese doch von der Heiligen Schrift ent-
fremden und zu schlechten Gewohnheiten und Lastern verleiten.11 Freilich
verhinderten diese Dekrete nicht, dass sich gerade auch die Ritterromane in
Neuspanien und anderen Vizekönigreichen größter Beliebtheit erfreuten. Dies
mag auch erklären, warum der Quijote auf das Interesse gerade einer überseei-
schen Leserschaft stieß, die mit dem dort parodierten Genre bereits bestens ver-
traut war. Gleichviel, ob man in der Figur des Quijote auch die Gestalten der
spanischen Konquistadoren erkennen und gleichfalls parodiert sehen will
(Abb. 56):12 Cervantes’ Roman hatte aller Verbote zum Trotz von Beginn an
den Sprung über den Atlantik geschafft und begeisterte Leserschichten gefun-
den. Und Martí erblickte – im Übrigen wie die spanische Zensur – in dieser
romanesken Fiktion alle Dimensionen einer Freiheit des Denkens, dessen an-
tikoloniales Unabhängigkeitsstreben er ebenso hoch veranschlagte wie die
Wirkungen der französischen Encyclopédie.
Glücklicherweise fand sich nicht jeder dieser Leser später im Gefängnis
wieder. In Martís Rede wird der Lektüre des Quijote eine staatsgefährdende,
subversive Funktion zugeschrieben. Die Gründe, die der Kubaner hierfür ins
Feld führen konnte, werden in seinem Diskurs nicht thematisiert. Bekannt ist
immerhin, dass die zeitgenössischen Leser noch zumindest bis weit ins 18. Jahr-
hundert Cervantes‘ Roman vor allem als ein die Lachmuskeln strapazierendes
Buch verstanden und sich einer derartigen Lektüre auch gerne in der Öffent-
lichkeit hingaben. Verwiesen sei hier auf die häufiger angeführte Anekdote des
spanischen Königs Felipe III, der einen Studenten ein Buch lesen und so hem-
mungslos lachen sah, dass er sich sicher war, dieser sei entweder verrückt oder
lese den Don Quijote de la Mancha.13 Martí jedoch war Erbe eines historisch
längst gewandelten Verständnisses dieses cervantinischen Romans und unter-
stellte der Lektüre des Quijote eine nicht nur die Lachmuskeln, sondern vor
allem den Geist anregende und in jeglicher Hinsicht befreiende Wirkung.
Eine solche Auffassung von der befreienden Wirkungsweise der Fiktion
lässt sich gerade in Lateinamerika bis heute sehr kontinuierlich nachweisen. So
formulierte etwa der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa in seiner Be-
schäftigung mit jenem Roman, der für ihn im Bereich dieser Gattung noch
immer das Maß aller Dinge darstellte, die Fiktion in der direkten Nachfolge des
Quijote übe eine zutiefst befreiende Wirkung aus: „Dank der Fiktion sind wir
mehr und sind wir andere, ohne doch aufzuhören, dieselben zu sein. In ihr
lösen wir uns auf, vervielfachen wir uns und leben viele Leben mehr als die,
die wir haben oder die wir leben könnten, wenn wir auf das Wahrhafte be-
schränkt blieben und aus dem Gefängnis der Geschichte nicht ausbrechen
12 Auf die enge Verflechtung des Romans mit der spanischen Expansion macht aufmerksam
u. a. Armas Wilson, Diana de: Cervantes and the New World. Oxford: Oxford University Press
2000, S. 221.
13 Vgl. Albistur, Jorge: Cervantes y América, S. 72 sowie Elizalde, Ignacio: El Quijote y la no-
vela moderna. In: Criado de Val, Manuel (Hg.): Cervantes. Su mundo y su obra. Actas del I Con-
greso internacional sobre Cervantes. Madrid: EDI 61981, S. 949.
José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht 673
könnten.“14 So hilft der Quijote, so hilft die Fiktion dem Menschen dabei, aus dem
auszubrechen, wozu ihn die Geschichte, wozu ihn die Realität verurteilt hatten.
Führt bei José Martí die in die Kolonialzeit projizierte Lektüre des Quijote ins
historische Gefängnis hinein, so führt die Lektüre fiktionaler Literatur in der Nach-
folge von Cervantes laut Mario Vargas Llosa aus dem Gefängnis der Geschichte he-
raus. Die vom Autor von La casa verde betonte lebenswichtige Funktion der
Fiktion eröffnet einen Raum der Freiheit, den Diktaturen und Totalitarismen jegli-
cher Couleur stets zu unterdrücken versuchen. Wir hatten diese Tatsache bereits
bei unserer Beschäftigung mit autoritären gesellschaftlichen Systemen gesehen
und verstanden, inwieweit selbst für einen Werner Krauss das Abfassen seines Ro-
mans PLN in der Todeszelle die einzige ihm verbliebene Möglichkeit bildete, aus
dem Gefängnis der Nationalsozialisten auszubrechen und sich vermittels der Fik-
tion eine eigene Welt einzurichten. Auch ein Werner Krauß schätzte übrigens Cer-
vantes’ Don Quijote sehr hoch ein und beschäftigte sich wiederholt mit diesem
ersten Roman der abendländischen Moderne.15
Halten wir fest: Literatur – und vor allem der Roman – als Ort der Freiheit,
an dem der Mensch ein anderes Leben zu führen vermag als das, was ihm in
der ihn umgebenden Wirklichkeit aufgezwungen ist, entspricht folglich nicht
allein der Auffassung eines Vargas Llosa! Es handelt sich vielmehr um eines
der Grundthemen von Cervantes’ ‚Lektüreroman‘ Don Quijote de la Mancha,
jenes Romans über einen „caballero andante“, der dieses Reich der Fiktion im
wahrsten Sinne in sein eigentlichstes Leben verwandelt. Dies machte auch für
den Modernisten José Martí den Kern des Quijote aus.
Es ist faszinierend, dass sich diese Thematik einer vom Gefängnis der Ge-
schichte befreienden Lektüre im historischen, geschichtsphilosophischen Rück-
blick bei Martí findet. Und nicht zufällig geht es dabei just um ein Lesen, das
sich dem Quijote im Gefängnis zuwendet. Denn in einer anderen Rede vor der
Sociedad Literaria Hispanoamericana in New York, die uns nur in Bruchstücken
erhalten blieb, machte Martí ohne Namensnennung auf einen Freund aufmerk-
sam, der von „los dueños de un país vecino, de cuyo nombre no quiero acordarme“
ins Gefängnis geworfen worden war und dem ein Soldat mit spitzen Fingern – „en
14 Vargas Llosa, Mario: Cervantes y la ficción, en: Mejías López, William (ed.): Morada de la
palabra. Homenaje a Luce y Mercedes López-Baralt. Encuentro Hispánico Internacional, vol. II,
Areciba, Puerto Rico: Universidad de Puerto Rico 2002, S. 1668. „Gracias a ella somos más y
somos otros sin dejar de ser los mismos. En ella nos disolvemos y multiplicamos, viviendo
muchas más vidas de la que tenemos y de las que podríamos vivir si permaneciéramos confi-
nados en lo verídico, sin salir de la cárcel de la historia.“
15 Vgl. beispielsweise Krauss, Werner: Cervantes und seine Zeit. Herausgegeben von Werner
Bahner. Berlin: Akademie-Verlag 1990.
674 José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht
las puntas de los dedos“ – auf mehrfache Bitte hin ein Buch gereicht habe: eben
das Buch über den Ritter von der traurigen Gestalt.16 Die autobiographischen An-
spielungen dieser Formulierungen sind offenkundig.
Auch in diesem Falle bildet die politisch motivierte Kerkerhaft – die in Mar-
tís Leben, aber auch in seinem Schreiben schon früh eine so zentrale Bedeu-
tung erhielt – den Rahmen für eine Lektüreerfahrung, die ein bezeichnendes
Licht auf jenes Land wirft, an dessen Namen sich Martí – wie vor ihm der mehr-
fach ins Gefängnis geworfene Cervantes – ebenso wenig erinnern will wie der
Erzähler des Don Quijote. Einmal mehr steht der Quijote für einen unbändigen
Freiheitswillen und die Gewissheit, gerade auch im Gefängnis für jene Unab-
hängigkeit und Freiheit des Geistes einzustehen, die Cervantes’ Jahrhunderte
zuvor zu Grabe getragener „caballero andante“ emblematisch verkörpert. Die
beiden ersten Beispiele zeigen unverkennbar: Der Quijote ist für Martí ein Buch
der Sehnsucht des Menschen nach Freiheit. Und die Figur des Ritters von der
traurigen Gestalt ist weit jenseits ihres fiktionalen Sterbens wie des realen
Todes ihres spanischen Verfassers eine Gestalt, die im realen Leben verlebendi-
gend wirkt.
Bei diesen Beispielen für den Rückgriff Martís auf Cervantes und seinen be-
rühmtesten Roman fällt auf, dass Don Quijote de la Mancha für den kubani-
schen Modernisten nicht – wie dies vielleicht zu erwarten gewesen wäre – in
erster Linie eine Inkarnation des Spanischen, der vom kubanischen Unabhän-
gigkeitskämpfer vielleicht eher negativ beleuchteten „Hispanidad“ darstellt.
War die noch immer in Kuba herrschende Kolonialmacht Spanien einfach ein
Land, an dessen Namen sich Martí nicht erinnern wollte? Die Gründe für Martís
Deutung und Situierung des Quijote reichen wesentlich tiefer. Um dies zu präzi-
sieren, ist eine Analyse weiterer Beispiele unumgänglich. Wir werden dabei ver-
stehen, dass José Martí sehr trennscharf zwischen der alten Kolonialmacht
Spanien und der spanischen Kultur unterschied, welche für den Schöpfer des
Ismaelillo von ungeheurer Bedeutung war.
Die Komplexität der Martí’schen Vorstellungen zeigt sich deutlich in einem
auf den 13. Januar 1890 in New York datierten und am 12. März desselben Jahres
in La Nación in Buenos Aires veröffentlichten Korrespondentenbericht, in dem
Martí seinen hispanoamerikanischen Leserinnen und Lesern vorwiegend von
neuen literarischen und gesellschaftlichen Ereignissen in seinem Exilland be-
richtet – den USA. In diesem Artikel hielt er zunächst ein flammendes Plädoyer
für das Studium nicht der toten, sondern der modernen, ‚lebenden‘ Fremdspra-
chen: „Pero para vivir, apréndase lo vivo en las lenguas vivas, donde se conti-
16 Martí, José: Fragmentos de un discurso. In (ders.): Obras Completas, Bd. 19, S. 455.
José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht 675
ene hoy lo nuevo y lo viejo“17 – denn um heute leben zu können, sei das Neue
wie das Alte nicht länger in den toten Sprachen zu suchen, sondern sei leben-
dig vorhanden in lebendigen Fremdsprachen. Die von Martí bewusst herbeige-
führte Rekurrenz des Lebens-Lexems verdeutlicht, dass es dem Kubaner um
eine Bildungsreform in den hispanoamerikanischen Ländern ging, die sich
nicht länger an den toten Fremdsprachen des europäischen Abendlandes orien-
tieren sollte.
Danach aber ging Martí auf die Notwendigkeit ein, sich nicht auf eine einzige
(National-)Literatur samt ihrer „ramajes y renacimientos“18 zu beschränken, son-
dern „ponerse fuera de ellas, y estudiarlas con mente judicial a todas“.19 Das
Studium möglichst vieler verschiedener Literaturen war das Ziel des kubanischen
Modernisten; eine Einstellung, die zeigt, dass es durchaus Bezüge zwischen dem
hispanoamerikanischen Modernismo und der Position eines Jorge Luis Borges
gibt, der in El escritor argentino y la tradición bekanntermaßen betonen sollte,
dass allein die Argentinier (und vielleicht auch die Lateinamerikaner insgesamt)
eine Vorstellung davon hätten, was die europäische Literatur sei, da ihre Kennt-
nisse sich nicht – wie die der Europäer – auf eine oder zwei Nationalliteraturen
beschränkten.20 Doch bleiben wir bei José Martí:
Die von literarischer Berufung mögen alles lernen, weil es kein vergleichbares Vergnügen
gibt, als Homer im Original zu lesen, was so ist, als ob man die Augen auf den Morgen
der Welt öffnete, und keine Lektüre, welche einem mehr nutzt als die des eleganten Ca-
tull, bei dem alles geordnet und genau ist, oder die eines Horaz, des Meisters der Ruhe-
pause. Um aber zu leben, lerne man das Lebendige in den lebendigen Sprachen, in denen
heute das Neue wie das Alte enthalten ist, anders als in den toten Sprachen, in denen
man nur auf das Alte stößt, was weniger ist von dem, was man lernen muss und daher
weniger wichtig ist, insofern außerhalb der Kuriositäten jener Zeiten von Lesbias und
Phalamos und jener Gewissheit, dass der Mensch sich immer gleich war und heute nicht
weniger ist und sicher auch nicht viel mehr als die Römer, zu fragen bleibt: Was lernt
man, wenn man den ganzen Plinius und den ganzen Quintus Ennius lernt? Vergleicht
man es unparteiisch, beobachtet man für sich selbst und spricht man mit Ordnung,
Strenge und Musik, so ist es dies, was es zu lernen gilt; und dies kommt nicht von einer
Literatur allein oder von ihr und ihren Verzweigungen und Wiedergeburten, sondern von
der Notwendigkeit, sich aus ihnen heraus zu begeben und sie alle mit klugem Kopfe zu
17 Martí, José: En los Estados Unidos. In (ders.): Obras Completas, Bd. 13, S. 458.
18 Ebda.
19 Ebda.
20 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Die Literaturen der Welt. Transkulturelle Bedingungen und poly-
logische Herausforderungen eines prospektiven Konzepts. In: Lamping, Dieter / Tihanov,
Galin (Hg.): Vergleichende Weltliteraturen / Comparative World Literatures. DFG-Symposion
2018. Unter Mitwirkung von Mathias Bormuth. Stuttgart: J.B. Metzler – Springer 2019,
S. 115–130.
676 José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht
studieren. Präzision: Wo lernte man sie besser als im Englischen? Die Grazie und Sauber-
keit des Französischen, finden sie sich hier nicht am besten? Und wenn man, ohne Ver-
künstelungen und allen Blumenschmuck, ohne Schellengeläut und ohne alle hübschen
Zutaten, mit Wahrheit das sagt, was man denkt: Welche Sprache lehrt da mehr und diszi-
pliniert besser als die eigene?21
José Martí fordert in dieser Passage, die uns einen charakteristischen Eindruck
seiner modernistischen Sprachgewalt verschaffen kann, eine zwischen verschie-
denen Literaturen und Sprachen vergleichende und die jeweiligen Qualitäten nut-
zende Position ein, ohne die vertiefte Beschäftigung mit der eigenen Sprache und
Literatur zu vernachlässigen. Wie sehr man auch immer die inhaltlichen Zuord-
nungen Martís als Stereotypen ansehen mag: Ein vielsprachiges, freilich an den
europäischen Weltsprachen orientiertes literarisches System wird skizziert, inner-
halb dessen sich die einzelnen Literaturen wechselseitig als Korrektiv benutzen
lassen und erst in ihrer Gesamtheit das Denken und Schreiben der Menschheit
vor Augen führen. Keine dieser unterschiedlichen Sprachen, keine dieser Literatu-
ren hat für sich allein Ästhetik und Wahrheit gepachtet: Das Bild einer Vielzahl
von Literaturen und Logiken entsteht, in welchem sich José Martí nicht für eine
einzige, sondern für viele Logiken gleichzeitig auszusprechen scheint.
Damit bezieht Martí einen Standpunkt, den er bereits 1882 in einem für die
Entwicklung des hispanoamerikanischen Modernismo wegweisenden Essay über
Oscar Wilde eingenommen hatte. Dort versuchte er von der ersten Zeile an, sich
aus einer monolingualen, gleichsam monologischen Literaturwelt zu befreien:
Der kubanische Dichter forderte daher in diesem im Januar 1882 in El Almendares
in Havanna und im Dezember desselben Jahres in La Nación in Buenos Aires ver-
öffentlichten Artikel eine dezidiert komparatistische Position ein. Es geht – wie
sie bemerkt haben – um die spezifische Verknüpfung der Romanischen Literatu-
ren der Welt in ihrer internen wie in ihrer externen Relationalität mit anderen
Literaturen wie beispielsweise der englischsprachigen Literatur.
Im obigen Zitat ist das Plädoyer für insgesamt zumindest drei Sprachen auf-
fällig. Dies ist eine Reaktion auf die dritte Phase beschleunigter Globalisierung,
insofern Martí die zeitgenössische Dominanz des Englischen, aber auch das
Französische wie das Spanische als vorherige Sprachen früherer Globalisie-
rungsphasen präsent halten will. Martí hatte spätestens Ende der achtziger
Jahre verstanden, dass sich eine neue Phase der Beschleunigung konstatieren
ließ, war stets aber darum bemüht, die aktuellen Phänomene im Kontext ihrer
geschichtlichen Entwicklung darzustellen und zu begreifen. Aus diesem Grunde
dürfte er wohl diese drei Sprachen ausgewählt haben.
Ich kann an dieser Stelle der Versuchung nicht widerstehen, all dies direkt
mit einer frühen Reaktion auf die vierte Phase beschleunigter Globalisierung in
Verbindung zu bringen, die im Auftrag der Europäischen Union von Amin
Maalouf und anderen in ihrem Text Un défi salutaire ausgearbeitet wurde.
Dies war ein sprachenpolitischer Vorschlag, der zu Beginn der vierten Phase
beschleunigter Globalisierung davon ausging, dass jede Bürgerin und jeder
Bürger in der Europäischen Union zusätzlich zur ersten Sprache, also der Mut-
tersprache, eine internationale Kommunikationssprache (also etwa das Engli-
sche) und zusätzlich als dritte Sprache eine „langue personnelle adoptive“
lernen solle, wobei diese Adoptivsprache jede mögliche kleine oder große
Sprache sein könne – selbstverständlich auch von außerhalb Europas. Die
großen europäischen Länder haben allesamt diese Sprachenpolitik ratifiziert.
Doch nach dem Ende der vierten Phase beschleunigter Globalisierung können
wir ernüchtert feststellen: Nichts davon wurde umgesetzt. Das Erlernen von
Fremdsprachen geht in der Europäischen Union grosso modo stetig zurück.
Großbritannien hat dieser Vereinbarung schon lange Zeit den Rücken gekehrt
und rückt an den Schulen vom Fremdsprachenlernen gänzlich ab; und zwar
schon lange vor dem Brexit. Die jungen Britinnen und Briten, die einsprachig
aufwachsen, tun mir leid!
Man kann an diesem Beispiel sehr gut erkennen, dass Phasen beschleunig-
ter Globalisierung immer wieder Vorgehensweisen herausfordern, die sich doch
über Jahrhunderte auch recht stark ähneln. Denn im Text von Martí werden im
Grunde ähnliche Vorschläge gemacht – allerdings nur auf Ebene globalisierter
europäischer Sprachen. Ziehen wir dazu noch einen weiteren Martí’schen Text-
auszug heran:
All diejenigen, die wir Kastilisch sprechen, leben voll von Horaz und Vergil, und es
scheint, dass die Grenzen unseres Geistes die Grenzen unserer Sprache sind. Warum soll-
ten für uns die ausländischen Literaturen, die heute aus dieser natürlichen Umgebung
herausfallen, eine geradezu verbotene Frucht sein, sind sie doch aufrichtige Kraft und ak-
tueller Geist, die in der modernen spanischen Literatur fehlen?
[...]
Die Kenntnis verschiedener Literaturen ist das beste Mittel, um sich von der Tyrannei ei-
niger weniger zu befreien; so wie es keine andere Art gibt, sich vor dem Risiko zu schüt-
zen, blind einem bestimmten philosophischen System zu gehorchen, als die, sich von
allen zu nähren [...].22
José Martí macht in diesen Überlegungen, die eigentlich dem englischen Schrift-
steller Oscar Wilde gewidmet sind, unmissverständlich klar, dass es nicht an-
gehe, sich einer einzigen Sprache und Literatur anzuvertrauen und sich damit
22 Martí, José: Oscar Wilde. In (ders.): Obras Completas, Bd. 15, S. 361.
678 José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht
der Tyrannei dieser einzigen Sprache auszusetzen. Dies war eine klare Absage an
jegliche nationalliterarische Betrachtung und nationalphilologische Sichtweise,
sei es doch vielmehr notwendig, möglichst viele verschiedene Literaturen (und
Sprachen) zu kennen, um sich nicht einer einzigen Logik zu überlassen. Da es
der damaligen spanischen Literatur an bestimmten ästhetischen Merkmalen
mangele und Martí nicht bereit war, die Grenzen seines Geistes mit den Grenzen
seiner Sprache und damit des Spanischen gleichzusetzen, war es ihm ein grund-
legendes Anliegen, sich ebenso zugunsten einer Literaturen- wie einer Sprachen-
vielfalt auszusprechen. Und dies tat er in seinem Essay über Oscar Wilde und die
Literatur der Moderne.
Denn der kubanische Schriftsteller zweifelte nicht daran, in seinen Sätzen
noch immer Horaz und Vergil zu spüren und damit einen antiken Geist in sich zu
transportieren, der ihm mit und durch seine eigene Sprache geradezu natürlich
gegeben sei. Doch es gelte, diese Einsprachigkeit der Ausrichtung und die damit
verbundenen Grenzen des Geistes hinter sich zu lassen und einer möglichst welt-
umspannenden, sicherlich aber transarealen Literaturenvielfalt das Wort zu
reden. Darin bestand für Martí im Kern die Entwicklung einer eigenen lateiname-
rikanischen Modernität: nicht auf das abendländische Erbe zu verzichten, aber
sich zugleich die neuesten Entwicklungen durch die Kenntnis der unterschied-
lichsten Literaturen auch aus nicht-europäischen Ländern einzuverleiben. Nicht
umsonst wurden in seinem Roman Amistad funesta beziehungsweise Lucía Jerez
erstmals nicht nur europäische, sondern auch lateinamerikanische Romane an-
geführt und in Szene gesetzt.23
Von diesem selbst- und zugleich weltbewussten Standpunkt einer spanisch-
sprachigen Literatur aus, die sich ihrer Herkunft und Traditionen, aber auch ihrer
eigenen transatlantischen Vielfalt bewusst ist, ordnete Martí in seinem Korrespon-
dentenbericht En los Estados Unidos von Januar 1890 auch den Quijote in ein mul-
tilinguales und einzelne Nationalliteraturen übergreifendes Literatursystem ein,
indem er Cervantes’ Roman mit einem damals vielbesprochenen, erstmals 1889
erschienenen Roman von Mark Twain in Beziehung setzte: A Connecticut Yankee
in King Arthur’s Court. Seiner Begeisterung für den Roman des US-amerikanischen
Autors gab er dabei wie folgt Ausdruck: „In den Bibliotheken ist der ‚Quijote‘ gut
und der ‚Yankee‘ gleich daneben. In beiden gibt es allerlei Schilde und Visiere,
und sie ähneln sich in ihrer großartigen Parodie; aber der ‚Quijote‘ bleibt, was er
ist: ein weises und schmerzhaftes Gemälde vom Leben des Menschen, und der
23 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: „Cierto indio que sabe francés“: Intertextualität und literarischer
Raum in José Martís „Amistad funesta“. In: Iberoamericana (Frankfurt am Main) IX, 25–26
(1985), S. 42–52.
José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht 679
‚Yankee‘ eine Schlacht auf Cowboy-Art, von der Indignation diktiert […].“24 Martí
war es darum zu tun, intertextuelle Beziehungen zwischen Romanen unterschied-
licher Sprachen und Zeiten herzustellen und fruchtbar zu machen.
Es ist gerade nicht die Hispanität – und auch nicht die Großartigkeit der
Parodie, der „burla“ –, sondern das überragende Vermögen des Quijote, das
Leben des Menschen, die conditio humana zu porträtieren, welche Cervantes’
Roman für Martí zu einem kanonischen Text macht, der in keiner Bibliothek25
fehlen dürfe. In diesem Sinne äußerte er sich schon in seinen Grüßen zum
Neuen Jahr 1890 an seinen Vertrauten im Kampf gegen Spanien, den schon er-
wähnten Gonzalo de Quesada, dem er Mark Twains Yankee ans Herz legte, weil
er so wie der Quijote das Menschliche befördere. Neben der Freiheit steht Cer-
vantes’ Roman in den Augen des Kubaners für den literarischen Ausdruck einer
fundamentalen Humanität auf höchstem ästhetischen Niveau; eine Quelle, aus
der man immer und jederzeit schöpfen könne.
Im Licht dieser zweifellos weltliterarischen, freilich auf dem Weg zu den Li-
teraturen der Welt befindlichen26 Dimension zeichnet sich eine doppelte Per-
spektivik des kubanischen Autors ab. José Martí sah den Quijote zugleich von
innen und von außen: aus der Perspektive der Zugehörigkeit zum gleichen
Haus – oder Gefängnis – der Sprache wie von jener gleichzeitigen Außerhalb-
befindlichkeit aus, die schon für den kubanischen Intellektuellen und Politiker
Juan Marinello27 jene Situation charakterisiert, die wir als postkolonial bezeich-
nen können. Für Martí bliebe daher eine simple Zurechnung des wohl berühm-
testen Romans der Weltliteratur zu Spanien gänzlich unbefriedigend, reicht der
Don Quijote doch weit über die Grenzen dieses Landes und der spanischen Nati-
onalliteratur hinaus.
Denn für den kubanischen Modernisten ist der Text ein spanisches Werk von
zugleich weltliterarischer und allgemein menschlicher Dimension, ein absoluter
Vergleichspunkt, an dem sich letztlich jeder Roman messen lassen müsse. Nicht
umsonst hielt Martí – wie er im Januar 1888 in einem Beitrag für El Economista
Americano in New York schrieb – Miguel de Cervantes für einen „temprano amigo
24 Martí, José: En los Estados Unidos, Bd. 13, S. 460: „En las bibliotecas, el ‘Quijote’ estará
bien, y el ‘Yanqui’ junto. Hay adargas y viseras en los dos, y se parecen en la burla magnífica;
pero el ‘Quijote’ es lo que es, pintura sabia y dolorosa de la vida del hombre, y el ‘Yanqui’,
esforzado por la indignación, es una batalla a lo vaquero […].“
25 Ähnlich auch in einem Fragment von Martí, José: Obras Completas, Bd. 22, S. 147.
26 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart:
J.B. Metzler Verlag 2017.
27 Vgl. Marinello, Juan: Españolidad literaria de José Martí. In (ders.): Ensayos. La Habana:
Editorial Arte y Literatura 1977, S. 101–127.
680 José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht
del hombre que vivió en tiempos aciagos para la libertad y el decoro“,28 also für
einen frühen Freund des Menschen, der in für die Freiheit schwierigen Zeiten ge-
lebt habe. Cervantes und sein Quijote seien die Zierde der Literatur und zugleich
zu den schönsten Charakteren in der Geschichte zu zählen: „a la vez deleite de
las letras y uno de los caracteres más bellos de la historia.“29 Neben Freiheit und
Humanität tritt eine künstlerische Perfektion, bei der sich ästhetische und mora-
lisch-ethische Schönheit miteinander verbinden. Diese Verbindung von Ethik und
Ästhetik zählte zweifellos zu José Martís Idealvorstellung eines menschlich ver-
antwortlichen Schreibens auf höchstem Niveau.
Ethik und Ästhetik, Literatur und Freiheitsdrang, die Martí in Cervantes‘
Oeuvre als verbundene Ideale erkennt, sind daher wichtige Bestandteile seiner
eigenen Vorstellung bezüglich der Rolle der Literatur wie des Literaten in der
heraufziehenden modernen Gesellschaft. Für José Martí wie für den uruguay-
ischen Modernisten José Enrique Rodó30 machte diese Verbindung den Kern
einer Kunst und Literatur der Moderne aus. Miguel de Cervantes erscheint in
diesem Zusammenhang trotz aller zeitlichen Distanz als Modellcharakter, als
Vorbild eines Schriftstellers, dem auch die Widerwärtigkeiten des Lebens (und
so mancher Gefängnisaufenthalt) nicht jenen Freiheitswillen nehmen konnten,
den sein Roman als Lebenswissen enthält und an seine Leser – und säßen sie im
Gefängnis – weitergibt. Cervantes ist für Martí daher nicht tot, nicht unter der
Erde: Er war für den Kubaner auch als Spanier ein lebendiges Vorbild. Die große
Literatur wie die große Philosophie müssen für Martí –wie er in seinem Essay
über Oscar Wilde formulierte – jene „noble inconformidad con ser lo que es“31 re-
präsentieren, die für den Kubaner den Kern menschlicher Freiheit und sein Stre-
ben nach ständiger Verbesserung ausmachten: sich niemals mit der gegebenen
Situation abzufinden, sondern stets für klare Verbesserungen zu kämpfen.
Literatur wird folglich zur ästhetisch gelingenden und ethisch verpflichten-
den Ausdrucksform dieses Sich-nicht-zufrieden-Gebens mit dem Bestehenden.
Denn eben diese „inconformidad“ sieht Martí in Cervantes’ Meisterwerk ver-
wirklicht. Der Quijote und sein Autor stehen bei Martí für ein Lebenswissen,
das in der Literatur seinen verdichteten und zugleich höchsten Ausdruck findet
sowie ein Wissen vom Leben – aber auch ein Wissen des Lebens von sich
selbst – transportiert, wie es keinem philosophischen System(denken) gelingt.
Auch wenn Martí nicht ständig auf Cervantes’ Oeuvre rekurriert: Don Quijote de
la Mancha ist in diesen Bereichen für den kubanischen Revolutionär ein abso-
luter Maßstab, an dem er sich orientierte.
Es ist aufschlussreich, wie früh Martí die Kraft des Quijote hervorhebt,
nicht die Menschen, sondern den Menschen schlechthin zu repräsentieren, und
sie für seine eigenen Literaturinterpretationen nutzt. So zieht er in einem seiner
ersten englischsprachigen Beiträge für die New Yorker Zeitung The Sun eine
Verbindung zwischen Flauberts Bouvard et Pécuchet und Cervantes’ Don Qui-
jote. Martí bemerkt zu den Protagonisten von Flauberts letztem großen Roman:
They do not represent men, they represent man – possibly the bourgeois Don Quixote. The
hero of La Mancha crossed the desolate plains with lance under his arm, helmet on his head,
and a hand gloved in iron, seeking wrongs to right, widows to defend, and the unfortunate
to aid. Bouvard and Pécuchet pass through the life of the nineteenth century, by no means a
plain, seeking that repose of soul, and that happiness which cannot exist in great cities. Alas!
happiness is not the fruit of time! They return, bruised and torn, and die like Quixote.32
Schon der kubanische Romancier Alejo Carpentier, den wir in unserer Vorle-
sung bereits kennengelernt haben und der sehr wohl von Martís Begeisterung
für den Quijote wusste, wunderte sich über die Tatsache, dass Martís Artikel am
8. Juli 1880 zu einem Zeitpunkt in The Sun abgedruckt wurde, als der unvollen-
det gebliebene Roman des am 8. Mai 1880 verstorbenen Gustave Flaubert noch
gar nicht erschienen war. Und doch habe Martí, so Carpentier voller Bewunde-
rung, den nachgelassenen Text „con asombrosa sagacidad“33 analysiert und
seine Protagonisten auf ihrem mühevollen Weg „a través del vasto laberinto de
los Conocimientos“ klug mit Don Quijote und Sancho Panza verglichen. José
Martí zog damit nicht den allenthalben betonten Vergleich von Gustave Flau-
berts Madame Bovary mit dem cervantinischen Don Quijote, sondern sah eine
Beziehungen vor allem mit dem nachgelassenen Roman Bouvard et Pécuchet;
eine Sichtweise, die bis zum heutigen Tag nichts von ihrer überraschenden Ori-
ginalität verloren hat.
Umgekehrt ist es aber nicht weniger überraschend, dass Martí gerade Bou-
vard und Pécuchet, nicht aber Emma Bovary, diesen zugleich weltlichen und
weiblichen Quijote, mit den Helden des cervantinischen Romans verglich.34
32 Martí, José: Flaubert’s Last Work. In (ders.): Obras Completas, Bd. 15, S. 207.
33 Carpentier, Alejo: Martí y Francia. In (ders.): La novela latinoamericana en vísperas de un
nuevo siglo y otros ensayos. México: Siglo XXI 1981, S. 241.
34 Vgl. hierzu Schulz-Buschhaus, Ulrich: Stendhal, Balzac, Flaubert. In: Brockmeier, Peter /
Wetzel, Hermann H. (Hg.): Französische Literatur in Einzeldarstellungen. Bd. 2: Von Stendhal
bis Zola. Stuttgart: Metzler 1982, S. 7 ff.; sowie Fox, Soledad Carmen: Cervantes, Flaubert, and
the Quixotic counter-genre. Ph.D. City University of New York 2001.
682 José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht
Man könnte mit guten Gründen die These wagen, dass der Autor von Nuestra
América den Kern von Cervantes’ Meisterwerk weniger in der „burla magnífica“
des Verwirrspiels mit der Literatur als in der bedingungslosen Suche nach einer
Wahrheit sah, die ihr Freiheitsversprechen nicht aufzugeben gewillt war.
Die für Martís Schreiben sehr charakteristische und über sein Gesamtwerk
verstreute diskrete Präsenz des Quijote mag ein wenig mit dazu beigetragen
haben, dass der Gründer des Partido Revolucionario Cubano nach seinem Tode
selbst für viele zum Quijote wurde. So bezeichnete ihn – und es seien hier nur
wenige Beispiele genannt – kein Geringerer als Juan Ramón Jiménez in seinem
aus dem Jahre 1940 stammenden Prosatext José Martí (1895) als „un caballero
andante enamorado, de todos los tiempos y países, presentes y futuros“,35 also
als verliebten fahrenden Ritter, der in allen Ländern und allen Zeiten zuhause
gewesen sei. Und der spanische definierte den kubanischen Schriftsteller bün-
dig: „Quijote cubano, compendia lo espiritual eterno, y lo ideal español.“36
Martí erschien damit in Juan Ramón Jiménez’ Augen als ein kubanischer Qui-
jote, der – auch wenn er den Krieg gegen die Kolonialmacht Spanien entzündet
und geleitet habe – doch das spanische Ideal verkörperte. So erscheint aus spa-
nischer Sicht im kubanischen Quijote doch immer noch das Spanische; ein von
uns bereits signalisiertes Ineinandergreifen von Zugehörigkeit und Außerhalb-
befindlichkeit, das mit Blick auf Martí in der Feder des Autors von Españoles de
tres mundos37 wie selbstverständlich auftaucht. José Julián Martí y Pérez, ein
spanischer Quijote in einer zweiten oder dritten Welt?
Aus gänzlich anderer Perspektive hatte bereits 1938 Alfonso Bernal del Riesgo
während einer Ansprache anlässlich einer der berühmten und bisweilen berüch-
tigten „Cenas Martianas“ in Guanabacoa den Freiheitskämpfer in die Nähe von
Don Quijote gerückt und versucht, vom Körperbau Martís auf dessen Psyche zu-
rückzuschließen, die er dem „tipo suprahormónico de marcado acento tiroideo“
zuordnete.38 Lassen wir diese hormonale Sichtweise einmal unübersetzt! Martí er-
scheint hier in teilweise quijotesker Pathologie; ein ‚Befund‘, auf den man vor der
35 Jiménez, Juan Ramón: José Martí (1895). In (ders.): Juan Ramón Jiménez en Cuba. Compila-
ción, prólogo y notas de Cintio Vitier. La Habana: Editorial Arte y Literatura 1981, S. 33; der
Text des großen Autors erschien erstmals in Repertorio americano (San José, Costa Rica) am
6.4.1940 und wurde verschiedentlich wieder abgedruckt.
36 Ebda.
37 In diese einflussreiche Sammlung nahm Jiménez sein Portrait Martís kurze Zeit später (Bue-
nos Aires: Losada 1942) auch auf.
38 Bernal del Riesgo, Alfonso: Estampa psíquica de Martí. In: Revista bimestre cubana (La Ha-
bana) XLI (1er semestre 1938), S. 235. Vgl. zum zeitgeschichtlichen Kontext derartiger biogra-
phischer Versuche das Kapitel 5.6 in Ette, Ottmar: José Martí. Teil I: Apostel – Dichter –
Revolutionär. Eine Geschichte seiner Rezeption. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1991.
José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht 683
kubanischen Revolution auf der Insel immer wieder stoßen konnte. Und bis heute
ist dieses Bild nicht gänzlich verschwunden.
Gerade im Bereich der Literaturwissenschaft finden sich nicht selten Ver-
gleiche Martís mit Don Quijote. So zögerte beispielsweise der innerhalb der
Rezeptionsgeschichte Martís einflussreiche Manuel Pedro González in einem
1967 verfassten Aufsatz nicht, den kubanischen Schriftsteller und Revolutionär
mit dem Ritter von der traurigen Gestalt zu vergleichen.39 In Rückgriff auf Eze-
quiel Martínez Estradas monumentale Studie Martí revolucionario, in der mit es-
sayistischen und philologischen, aber auch charakterologischen und selbst
graphologischen Mitteln die Psyche Martís untersucht und seine Einsamkeit
kommentiert wurde, sprach González von jenem „otro Quijote americano“,40
von jenem anderen amerikanischen Quijote, der – von den ‚Sancho Panzas‘ der
kubanischen Tabakarbeiter einmal abgesehen – von seinen Zeitgenossen nicht
wirklich verstanden worden sei.
So wurde José Martí zu einem Don Quijote stilisiert, der für die einen das spa-
nische Erbe, für die anderen eine höchst unterschiedlich bestimmbare Pathologie
und für dritte schließlich die Einsamkeit eines illusionären revolutionären Denkers
verkörperte. José Martí, der amerikanische Leser des Quijote, wurde im 20. Jahrhun-
dert selbst in einen amerikanischen und kubanischen Don Quijote transfiguriert;
eine Transfiguration, von der sich selbst in unserem Jahrhundert der illustre Kuba-
ner unter den Fittichen der Kubanischen Revolution nie gänzlich erholt hat.
Dies ist beileibe kein Zufall: Martí verstand sich selbst nicht zuletzt als
‚poeta en actos‘, als Dichter, der durch seine Handlungen die Welt ebenso poe-
tisch wie revolutionär verändern und zum Besseren wandeln wollte.41 Sein lite-
rarisches Schreiben zielte stets auf das Leben, suchte den „calor de la vida“,42
eine zugleich lebensgesättigte und lebensverändernde literarische Form. Vor
diesem Hintergrund sollten wir nicht vergessen, dass der von Cervantes erfun-
dene Mann aus der Mancha nicht umsonst zu einem Schutzpatron der Revolu-
tionäre werden konnte.
Denn seit den Unabhängigkeitskriegen gegen Spanien – und wir hatten gese-
hen, dass Martí selbst auf diese Tatsache im ersten der hier zitierten Beispielstexte
zurückgriff – war der Quijote zum Sinnbild eines Aufbegehrens und Freiheitswil-
39 González, Manuel Pedro: Radiografía espiritual de José Martí. In: Anuario Martiano (La Ha-
bana) 2 (1970), S. 501.
40 Ebda.
41 Vgl. hierzu Ramos, Julio: Desencuentros de la modernidad en América Latina. Literatura y
política en el siglo XIX. México: Fondo de Cultura Económica 1989, S. 77.
42 Vitier, Cintio: Prólogo. In (ders., Hg.): La crítica literaria y estética en el siglo XIX cubano. Pró-
logo y selección de Cintio Vitier. Bd. 2. La Habana: Biblioteca Nacional José Martí 1970, S. 47.
684 José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht
lens geworden, mit dem sich seither in Hispanoamerika viele Revolutionäre ver-
bunden fühlten. Nicht nur Che Guevara, Fidel Castro oder der Subcomandante
Marcos,43 sondern schon Simón Bolívar und manche seiner Weggefährten hatten
‚ihren‘ Don Quijote intensiv gelesen und wiedergelesen. Der „Libertador“ freilich –
so wird erzählt – identifizierte sich am Ende seiner Wege auf eher bittere Weise
mit dem „caballero andante“, habe er doch – wie der Peruaner Ricardo Palma
später schrieb – auf seinem Totenbett gesagt: „Los tres grandísimos majaderos
hemos sido Jesucristo, Don Quijote y … yo.“44 Die total Bekloppten seien also
Jesus Christus, der Don Quijote und Simón Bolívar höchstselbst gewesen.
Sah sich Martí selbst als Quijote? Auf diese Frage wird noch zurückzukom-
men sein! Entscheidend aber ist, dass sein ganzes Streben darauf gerichtet war,
das Gefängnis der Sprache in ein Haus der Sprache im Heidegger’schen Sinne –
in der Wahrheit des Seins – zu verwandeln; eine Transformation, die nur mit
den Mitteln einer Kunst gelingen kann, die sich der Freiheit verpflichtet weiß.
Cervantes’ Don Quijote de la Mancha, in „dunklen Zeiten“ (und dies hieß für
Martí nicht zuletzt: in Zeiten kolonialer Unterdrückung) entstanden, verkör-
perte für den Autor von Ismaelillo eine derartige auf das Leben bezogene und
das Leben verändernde Kunst. José Martí bezog damit eine gegenüber der Qui-
jote-Sicht der spanischen „Noventaiochistas“ und der hispanoamerikanischen
„Modernistas“ – die den Idealismus, den humanitären Geist, die religiöse Sen-
sibilität und das Künstlertum45 ins Zentrum rückten – sehr eigenständige Posi-
tion. Seinem Bild des Don Quijote kommt sehr wohl etwas Revolutionäres zu!
Zweifellos verfügte kein anderer der hispanoamerikanischen Modernisten
über eine mit José Martí vergleichbar ausgeprägte und kenntnisreiche Verwur-
zelung des eigenen Schreibens in der spanischen Literatur.46 Er verkörpert den
spanischen Pol innerhalb der breiten Palette eines Modernismo, der als kom-
plexe und spannungsvolle, bisweilen auseinanderstrebende Ästhetik, die auf
enorme sozioökonomische Modernisierungsprozesse reagiert, nicht ohne eine
47 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: “Cecilia Valdés” y “Lucía Jerez”: cambios del espacio literario en
dos novelas cubanas del siglo XIX. In: Balderston, Daniel (ed.): The Historical Novel in Latin
America. A Symposium. Gaithersburgh: Hispamérica 1986, S. 85–96.
686 José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht
guren, der unglückliche Manuelillo, ist nicht umsonst „comido de aquellas an-
sias de redención y evangélica quijotería que le habían enfermado el corazón al
padre, y acelerado su muerte“.48 Er ist also von jenem quijotesken Begehren
nach quasi-religiöser Erlösung zerfressen, das auch José Martí, den ‚Apostel‘
Kubas, heimsuchte.
Damit erscheint auch bei José Martí jene „quijotería“ oder „quijotez“, auf
die in der soeben zitierten Anekdote um Simón Bolívar angespielt wurde, und
die in Hispanoamerika wohl erstmals mit Fernández de Lizardis La Educación
de las Mujeres o La Quijotita y su prima 1818/1819 ganz im Zentrum eines
hispanoamerikanischen (Erziehungs-)Romans stand. Auch der mit der neuspa-
nisch-mexikanischen Literatur gut vertraute Martí war sich folglich dieser Di-
mension des Quijote-Bildes nicht nur in Hispanoamerika bewusst; mehr noch:
Er legte in der Gestaltung ‚seines‘ Manuelillo eine Spur, die diskret zumindest
zu einem Teil seines eigenen idealistischen Selbstverständnisses führte. Wie
bei Bolívar findet sich zumindest in dieser Passage seines Romans jene Sakrali-
sierung eines revolutionären Quijotismus, den wir von der Independencia bis
zu Che Guevara in Hispanoamerika als literarisch-politische Spur revolutio-
nären Tuns verfolgen können.49 Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass sich Martí
zum Quijote stilisiert hätte; zumal dies für den späteren Gründer des Partido
Revolucionario Cubano auch einem Selbstmord innerhalb des politischen Fel-
des Kubas – auf der Insel wie im Exil – gleichgekommen wäre.
Wir hatten gesehen, in welch auffallend starkem Maße José Martí bei seiner
wiederholten Beschäftigung mit Don Quijote versuchte, sich trotz seiner Ausrich-
tung gerade an der spanischen Literatur des Siglo de Oro von der spezifisch spa-
nischen, emblematisch für die „Hispanidad“ stehenden Bedeutungsebene des
‚fahrenden Ritters‘ zu lösen. Wir sollten jedoch an dieser Stelle möglichst klar
zwischen der Auseinandersetzung mit dem Quijote, dem Roman Miguel de Cer-
vantes’, und einem „Quijotismo“ unterscheiden, welche historisch und rezepti-
onsgeschichtlich sicherlich eng miteinander verbunden, ja verflochten sind,
gleichwohl aber eine unterschiedliche Diskursivität entfaltet haben. Denn anders
als die Beschäftigung mit dem Quijote ist der Quijotismo in Hispanoamerika in
einer Diskurstradition verwurzelt, die (oft diffus) kulturgeschichtlich argumentie-
rend eine Rückbindung des hispanoamerikanischen Seins an die Hispanität be-
tont. Martí aber war es vorrangig darum zu tun, die Freiheitspotentiale der
cervantinischen Figur am Leben zu erhalten beziehungsweise neu zu beleben.
48 Martí, José: Amistad funesta. In (ders.): Obras Completas, Bd. 18, S. 220.
49 Zu den semantischen Wandlungen des ‚Quijotesken‘ vgl. u. a. Armas Wilson, Diana de:
Cervantes and the New World, S. 218.
José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht 687
50 Mañach, Jorge: Examen del quijotismo. Buenos Aires: Editorial Sudamericana 1950, S. 152.
51 Ebda., S. 155: „Todo eso, pues, incitación natural e impronta histórica, lo heredamos los
hispanoamericanos. Y lo hemos gozado y padecido en la proporción de nuestra sangre espa-
ñola, pero también hasta donde un nuevo ámbito físico y cultural lo permitía.“
52 Ebda., S. 162.
688 José Martí oder der poetische Kampf gegen eine Übermacht
Kuba längst in den Sog der Vereinigten Staaten von Amerika geraten. Dass der
kubanische Dichter und Revolutionär selbst in einem der ersten Scharmützel
des nach ihm benannten Krieges den Tod fand, behinderte aber – wie er selbst
vorausgesehen hatte – nicht seine Absicht, einem Quijote gleich weit über sei-
nen eigenen physischen Tod hinaus zu wirken. Denn er schrieb mit einer noch
heute erstaunlichen Treffsicherheit, dass er noch unter dem Grase wachsen
würde: „Mi verso crecerá: bajo la yerba / Yo también creceré.“53 Die Geschichte
sollte ihn freisprechen und ihm Recht geben.
53 Martí, José: Antes de trabajar. In (ders.): Poesía completa. Edición crítica. Edición Centro de
Estudios Martianos. La Habana: Ed. Letras Cubanas 1985, Bd. 1, S. 126.
Rubén Darío oder das drohende Sterben
des Spanischen
Mit einigem Recht könnte man die These wagen, dass Rubén Daríos lange Zeit
unbekannt gebliebene poetische Erzählung D.Q. den während des 19. Jahrhun-
derts latent vorhandenen Identitätsdiskurs des Quijotismo zu einem Zeitpunkt
literarisch in Szene setzt, als die dramatischen militärischen und politischen Er-
eignisse und Veränderungen im „Fin de siglo“ ein Überdenken der kulturellen
Beziehungen zwischen den politisch unabhängigen Nationen Hispanoamerikas
und der scheidenden Kolonialmacht Spanien als dringend geboten erscheinen
ließen. Denn das Absterben dieser Macht und die Übernahme einer imperialen
und neokolonialen Rolle durch die Vereinigten Staaten stellten mit aller Dring-
lichkeit die Frage nach dem Spanischen in ihrer Doppelheit: nach der Zukunft
der Hispanität wie nach der künftigen Rolle der spanischen Sprache.
Ohne eine Einbeziehung der historischen Hintergründe und Ereignisse im
letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wäre es nicht möglich zu erklären,
warum der große nikaraguanische Dichter Rubén Darío, der in weit stärkerem
Maße als Martí gerade die französischen Traditionslinien in seiner Auffassung
des Modernismo hervorhob, auf ein längst obsolet geglaubtes identitäres Dis-
kurselement der Hispanität zurückgriff. Doch gilt es anhand dieser Erzählung
ebenfalls zu klären, in welchem Verhältnis die Beschäftigung mit dem Quijote
und der Rückgriff auf den Quijotismo bei Rubén Darío stehen. Denn der am
18. Januar 1867 in einer heute nach ihm benannten Kleinstadt in Nikaragua ge-
borene und am 6. Februar 1916 im nikaraguanischen León verstorbene Dichter
hatte in seiner großen literarischen Karriere bis zu diesem Zeitpunkt deutlich
die französische Tradition bevorzugt und im Gegensatz zu José Martí der spani-
schen Literatur trotz seiner zahlreichen Freundschaften mit spanischen Litera-
ten einen unverkennbar nachgeordneten Rang zugewiesen.
Der aus dem Kleinbürgertum stammende Dichter und Erzähler, der bereits
ab 1880 erste Gedichte veröffentlichte, lernte in El Salvador den Dichter Fran-
cisco Antonio Gavidia Guandique kennen, der ihn früh schon in Sprache und
Literatur Frankreichs einführte. Wie Martí war er weitgereist, kam über Mittel-
amerika nach Chile, schrieb dort wie Martí für die große argentinische Zeitung
La Nación und kam 1892 erstmals nach Spanien. Das Land beeindruckte ihn
weit weniger als Frankreich oder auch die USA, wo er 1893 den etwas älteren
José Martí kennenlernte, der in einer oft gedeuteten Wendung „hijo“, mein
Sohn, zu ihm gesagt haben soll.
An der Jahrhundertwende, in für Spanien entscheidenden Jahren, schickte
ihn La Nación in die „Madre Patria“, wo er kurz nach dem für Spanien erniedri-
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-023
690 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
genden Frieden von Paris mit den USA eintraf: Ein Aufenthalt im nicht länger
kolonialen Mutterland Spanien mit intensiven Freundschaften im literarischen
Milieu begann, den Darío freilich auch zu ausgedehnten Reisen durch Europa
nutzte. Rubén Darío, der die politischen und geokulturellen Veränderungen in
Spanien hautnah miterlebte, wurde später auch Botschafter seines Landes in
Madrid. In seiner Lyrik blieb er freilich seinen Bezugspunkten innerhalb der
französischen Literaturtradition treu.
Auch wenn Rubén Darío in heutigen Literaturgeschichten mit Verweis auf
seinen Band Azul … aus dem Jahr 1888 oft als Begründer des hispanoamerikani-
schen Modernismo gefeiert wird, sollten wir doch eine Dreipoligkeit dieser funda-
mentalen literarischen Bewegung in Dichtkunst und Prosa konstatieren, die neben
dem nikaraguanischen Dichter vom Kubaner José Martí und dem Uruguayer José
Enrique Rodó gebildet wurde. Mit seinem Band Los Raros von 1896 setzte Rubén
Darío vielen seiner französischen Vorbilder ein literarisches Denkmal, vergaß aber
auch José Martí nicht, der ein Jahr zuvor im Krieg gegen Spanien gefallen war und
mit seinem Gedichtband Ismaelillo bereits 1882 die modernistische Lyrik inaugu-
riert hatte. Sie sollte drei Jahrzehnte lang in der spanischsprachigen Literatur und
Dichtkunst dominieren.
1 Noch im selben Jahr erschien der Text ebenfalls in Buenos Aires in der Zeitschrift Fray Mocho;
vgl. hierzu die textkritischen Fußnoten der Ausgabe von Darío, Rubén: D.Q. In (ders.): Don Qui-
jote no debe ni puede morir (Páginas cervantinas). Prólogo de Jorge Eduardo Arellano. Anotacio-
nes de Günther Schmigalle. Managua: Academia Nicaragüense de la Lengua 2002, S. 21.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 691
der „escaso valor literario“,2 Immerhin aber könne von einem „incuestionable in-
terés como obra social“ gesprochen werden: Der Text erlaube „una clara visión
del autor como ente histórico“.3 So gebe es folglich eine autobiographische, aber
auch eine gesellschaftliche Dimension in diesem Erzähltext. Eine solch reduzierte
Lesart soll im Folgenden in Frage gestellt und die Aufmerksamkeit auf die litera-
rischen Qualitäten dieses Cuento des sicherlich weltläufigsten der hispanoameri-
kanischen Modernisten gerichtet werden. Denn Rubén Darío, soviel sei bereits
vorausgeschickt, reagierte mit seiner Erzählung auf geradezu seismographische
Weise auf die grundlegenden geokulturellen Veränderungen, die sich mit dem
Eingreifen der Vereinigten Staaten von Amerika in den kubanisch-spanischen
Krieg und dem Ende der langen Kolonialherrschaft Spaniens ergaben.
Die vorherrschende Geringschätzung des literarischen Wertes bei gleichzei-
tiger Konzentration auf den historischen, ja dokumentarischen Charakter der
Erzählung ging in der Regel einher mit einer eher sorglosen Gleichsetzung der
textinternen Erzählerfigur mit dem textexternen realen Autor namens Rubén
Darío. Doch nichts wäre irreführender; und vor derlei literaturwissenschaftli-
chen und interpretatorischen Kurzschlüssen sollten wir uns hüten, wenn wir
uns mit diesem erst seit 1966 durch einen Artikel von Ernesto Mejía Sánchez4
und vor allem 1970 durch die Ausgabe der Páginas desconocidas de Rubén
Darío5 wieder leichter zugänglichen Text beschäftigen!
Daríos Cuento ist in der Tat mitten in den historischen Ereignissen des Ein-
greifens der USA in den kubanisch-spanischen Krieg situiert, die „Guerra de
Martí“. Die in vier römisch durchnummerierte Teile zerfallende Erzählung setzt
mit dem Bericht eines spanischen Soldaten ein, der mit seiner Garnison in der
Nähe von Santiago de Cuba auf dringend benötigten Nachschub wartet. Von
Beginn an wird so das historische Setting jenes Krieges entfaltet, den José Martí
entfesselt und in dem er gleich zu Beginn im Mai 1895 sein Leben verloren hatte.
Ob es sich dabei um einen tragischen Unglücksfall oder um einen selbstmord-
ähnlichen Zwischenfall handelte, wollen wir an dieser Stelle offenlassen.
Nichts in diesem Cuento weist freilich auf die Spuren des kubanischen Moder-
nisten, der – wie bereits erwähnt – Darío in einer denkwürdigen Formulierung ein-
2 Palau de Nemes, Graciela: «D.Q.»: un cuento fantástico de Rubén Darío. In: Criado de Val,
Manuel (Hg.): Cervantes. Su mundo y su obra, S. 943.
3 Ebda.
4 Mejía Sánchez, Ernesto: Un cuento desconocido de Rubén Darío. In: Gaceta del Fondo de
Cultura Económica (México) XIII, 140 (abril de 1966), S. 8–9 (einschließlich Abdruck der Erzäh-
lung „D.Q.“).
5 Darío, Rubén: Páginas desconocidas de Rubén Darío. Edición Roberto Ibáñez. Montevideo:
Marcha 1970, S. 142–146.
692 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
mal als seinen literarischen ‚Sohn‘ bezeichnet hatte.6 Im Mittelpunkt situieren sich
vielmehr jene Ereignisse, die in Zusammenhang mit der lange geplanten mili-
tärischen Intervention der Vereinigten Staaten im Spanisch-Kubanischen Krieg ste-
hen, in den die USA 1898 unter einem wie stets bei vergleichbaren Anlässen selbst
geschaffenen Vorwand eingriffen. Sehen wir uns einmal das Incipit dieser Erzäh-
lung an:
Wir sind in einer Garnison in der Nähe von Santiago de Cuba. In jener Nacht hatte es ge-
regnet; gleichwohl war die Hitze unerträglich. Wir warteten auf die Ankunft einer Kompa-
gnie neuer Kräfte aus Spanien, um endlich jene Landschaft verlassen zu können, in
welcher wir an Hunger starben, wo wir voller Verzweiflung und voller Wut nicht kämpfen
konnten. Die Kompagnie sollte, wie uns mitgeteilt wurde, noch in dieser Nacht eintreffen.
Da die Hitze noch zunahm und der Schlaf mir keine Ruhe gönnen wollte, ging ich aus
dem Lager, um etwas frische Luft zu schnappen. Nach dem Regen hatte sich der Himmel
etwas aufgeklärt und im Dunklen funkelten einige Sterne. Ich ließ die Wolke von trauri-
gen Ideen los, die sich in meinem Hirn angesammelt hatten. Ich dachte an so viele Dinge,
die weit von hier entfernt waren; an das Hundeelend, das uns verfolgte; daran, dass Gott
seiner Peitsche vielleicht eine neue Richtung gäbe und wir in rascher Revanche einen
neuen Weg beschreiten könnten. An so vieles dachte ich...7
Rubén Daríos Erzählung konfrontiert uns bewusst mit einer Zeitenwende: Die
spanische Herrschaft über Kuba und Puerto Rico geht zu Ende; und der Unter-
gang der Kolonialmacht Spanien fällt mit dem imperialen Aufstieg der strate-
gisch auf ihre Seestreitkräfte vertrauenden künftigen Weltmacht USA zusammen.
Der von José Martí vorbereitete und geprägte Unabhängigkeitskampf Kubas endet
in einer politischen Ambivalenz, insoweit die Insel zwar 1902 ihre politische Unab-
hängigkeit erreichen, zugleich aber in völliger Abhängigkeit von der neuen Hege-
monialmacht, den Vereinigten Staaten, verbleiben wird. Rubén Darío lässt sich
vom Vorwand für das Eingreifen der USA nicht blenden und beirren: Er reflektiert
in seiner Erzählung aus der Position eines spanischen Ich-Erzählers, der die Nie-
derlage Spaniens, das sogenannte „Desastre“, hautnah miterlebt.
Die historischen Ereignisse von 1898 sind wegweisend. Denn mit ihnen hat
das spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestehende Dreiecksverhältnis
zwischen Kuba, seinem politischen Zentrum Spanien und seinem wirtschaftli-
chen Absatzmarkt USA neue, auf die künftige Entwicklung vorausweisende
weltpolitische Vorzeichen erhalten. Am Ausgang jenes Jahrhunderts, das mit
der Independencia im spanischsprachigen Raum Amerikas begann, steht nun
6 Zu dieser vieldiskutierten Bezeichnung im Kontext der Rezeption José Martís vgl. u. a. Gon-
zález, Manuel Pedro: Evolución de la estimativa martiana. In: Schulman, Iván A. / González,
Manuel Pedro: Martí, Darío y el Modernismo. Madrid: Editorial Gredos 1969, S. 82.
7 Darío, Rubén: D.Q., S. 21.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 693
Die Rätselstruktur ist im Cuento angelegt, zugleich aber nicht allzu schwie-
rig zu enthüllen. Sehen wir uns auch diese Passage an, denn der angekündigte
Nachschub ist nunmehr eingetroffen:
Sie brachten uns Nachrichten aus dem Vaterlande. Sie kannten die schlimmen Ausgänge
der letzten Schlachten. Wie wir waren sie verzweifelt, aber von dem brennenden Wun-
sche beseelt, zu kämpfen, sich wütend in Rache zu ereifern, dem Feinde allen möglichen
Schaden beizubringen. Alle waren wir jung und bizarr, außer einem; alle suchten uns
auf, um mit uns zu kommunizieren oder mit uns zu sprechen; außer einem. Sie brachten
uns Vorräte mit, die verteilt wurden. Zur Vesperzeit fingen wir alle an, unsere kärgliche
Armenspeisung zu verschlingen, außer einem. Er dürfte wohl fünfzig Jahre alt sein,
konnte aber auch dreihundert auf dem Buckel haben. Sein trauriger Blick schien selbst
die Tiefen unserer Seelen zu durchdringen, und wir sagten Dinge von Jahrhunderten.
Wurde bisweilen das Wort an ihn gerichtet, so antwortete er fast nicht, lächelte melan-
cholisch; er isolierte sich, suchte die Einsamkeit; er blickte in die Tiefe des Horizonts, auf
der Seite des Meeres. Er war der Standartenträger. Welchen Namen er trug? Seinen
Namen hörte ich nie.14
Die spanischen Truppen leben in großer Ungewissheit, die durch den katastro-
phalen Ausgang bisheriger Gefechte mit den US-amerikanischen Soldaten noch
verstärkt wird. Die im Zentrum des zweiten Teils stehende Ansprache des Feld-
geistlichen an die Soldaten lässt zwei Tage später Zweifel daran aufkommen,
ob sich die Fahne Spaniens, die Fahne des Fahnenträgers, „nuestra pobre y
santa bandera“15 je wieder mit Ruhm bedecken werde. Was würde das Schick-
sal Spaniens sein? Würde es sich als Kolonialmacht behaupten? Oder würde es
als Nation untergehen und sich auflösen?
Im Diskurs des Geistlichen erscheint der „abanderado“, der Standartenträger,
als wundertätig und edel von Herzen, als „milagroso y extraño“ und „nobilísimo
de corazón“, verfolgt von nicht zu verwirklichenden Träumen, stünden nach sei-
ner Ansicht die Truppen Spaniens doch bald – ganz wie er es von einem spani-
schen Bischof gehört hatte – schon in Washington und würden ihre Fahne auf
dem Kapitol hissen.16 Der wie zufällig aus der Mancha stammende, tiefgläubige
und des Nachts dichtende Fahnenträger glaubt – vor den Toren Santiago de
Cubas – an Santiago, an Jakobus, also den Schutzheiligen der Reconquista, und
an die Gerechtigkeit der spanischen Sache. Doch längst ist er zum Gegenstand der
Scherze und „burlas“ anderer geworden, die sich über ihn lustig machen, trägt er
doch – wie behauptet wird – eine alte Rüstung unter der Uniform; und auf all sei-
14 Ebda.
15 Ebda.
16 Ebda., S. 23.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 695
nen Habseligkeiten die Initialen D.Q.17 Hier kämpft das überalterte Spanien des
16. Jahrhunderts gegen eine hochgerüstete moderne Armee.
Der dritte Teil setzt mit dem Marschbefehl und der Hoffnung der Spanier auf
eine siegreiche Schlacht gegen die „tropas yanquis“18 ein: An die Stelle des trau-
rigen Morgenweckens ist das güldene Zeichen getreten, das „signo de oro“ der
Fanfarenstöße des Aufbruchs.19 Es weckt alle Hoffnungen auf einen großartigen
Sieg. Doch diese Hoffnungen täuschen, erweisen sich als Truggebilde, als inte-
ressegeleitete Fiktionen. Plötzlich bricht für das Ich eine Welt zusammen, als
hätte man vor den Augen des Soldaten die eigene Mutter ermordet: Die Nachricht
vom Untergang der spanischen Flotte ist eingetroffen, die Kapitulation der Trup-
pen beschlossene Sache: „Cervera estaba en poder del yanqui.“20 Die Yankees
hatten sich des Oberbefehlshabers der spanischen Truppen bemächtigt.
Die namentliche Nennung des Admirals Pascual Cervera y Topete, der jene
Flotte befehligte, die am 3. Juli 1898 von der weit überlegenen Feuerkraft einer
hochgerüsteten US-Flotte buchstäblich zerfetzt und versenkt wurde, verleiht dem
Text eine historische, ja dokumentarisch-referentielle Bedeutungsebene. Denn
die Formulierungen des Cuento entsprechen buchstäblich den zeitgenössischen
Berichten, die Rubén Darío als Korrespondent der argentinischen Nación sehr
wohl kannte: Die spanischen Schiffe wurden von den Kanonen der USA zerfetzt,
„la habían despedazado los cañones de Norte América“.21
Es ist wichtig, an dieser Stelle auf die Tatsache zu verweisen, dass es sich bei
diesem Krieg um den ersten ‚transatlantischen Medienkrieg‘ im modernen Sinne
handelte, der in nicht geringem Maße von den damaligen Medien und den Reak-
tionen des Publikums in Spanien und in den USA mitentschieden wurde.22 Die
„neueste Technologie des Seekrieges“23 hatte über Cerveras tollkühne Manöver
gesiegt und alles entschieden: Schon am 17. Juli 1898 ergaben sich die spani-
schen Truppen in Santiago de Cuba; eine Kapitulation, die Rubén Darío in einer
Art „téléscopage historique“ in seine Erzählung einblendet. Es ist unschwer zu
bemerken, dass sich der nikaraguanische Dichter und Erzähler in diesem Zusam-
menhang als getreuer lateinamerikanischer Zeitungskorrespondent erweist.
17 Ebda.
18 Ebda.
19 Ebda., S. 24.
20 Ebda.
21 Ebda.
22 Zu den Konsequenzen dieser massenmedialen Dimension des Desastre vgl. u. a. Ette, Ott-
mar: Visiones de la guerra / guerra de las visiones. El desastre, la función de los intelectuales
y la Generación del 98. In: Iberoamericana (Frankfurt am Main) XXII, 71–72 (1998), S. 44–76.
23 Zeuske, Michael: Insel der Extreme. Kuba im 20. Jahrhundert. Zürich: Rotpunktverlag 2000,
S. 34.
696 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
Plötzlich glaubte ich das Rätsel zu enthüllen. Denn jene Physiognomie war mir sicherlich
nicht unbekannt.
D. Q., sagte ich ihm, ist in diesem alten Buch porträtiert: Hört zu. „Das Alter unseres
Hidalgo mag bei fünfzig Jahren gelegen haben; er war von steifer Figur, ausgetrockneten
Gliedern, knochigem Antlitz, ein Frühaufsteher und Freund der Jagd. Sie sagen, dass er
den Spitznamen Quijada oder Quesada trug – darin bestehen einige Differenzen unter
den Autoren, die über diesen Fall schrieben –, obwohl man durch wahrscheinliche Kon-
jekturen vermuten darf, dass er Quijano hieß.“27
So löst sich mithin ein Rätsel, das wohl für einige Leserinnen und Leser von
Beginn an keines war – und hierin könnte der Grund dafür liegen, dass Rubén
Darío seine Erzählung nicht noch stärker in das Licht der Öffentlichkeit rückte.
Denn im vierten und letzten Teil glaubt das Ich, das Rätsel um die Initialen
‚D.Q.‘ gelöst zu haben, sei ihm doch auch die Physiognomie des Unbekannten
nicht wirklich unbekannt.28
Rubén Daríos Erzählung endet abrupt mit dem obigen Zitat aus einem „viejo
libro“,29 in dem die Physiognomie des Ritters von der traurigen Gestalt beschrie-
ben wird. Don Quijote, so gibt uns dieses Ende des Cuento zu verstehen, war
beim Verlust der letzten spanischen Kolonie in Amerika höchstpersönlich zuge-
gen. Der historische Diskurs hat die Züge einer phantastischen Erzählung30
‚freigegeben‘.
Der Freitod des „abanderado“ mit seinem Jahrhundertblick, seiner „mirada
de siglos“,31 öffnet sich auf unterschiedlichste Möglichkeiten der Deutung. Zum
einen steht das Verschwinden des Fahnenträgers sicherlich für das Verschwin-
den der spanischen Flagge von der Landkarte Amerikas, eine sich abzeich-
nende geopolitische Situation, auf die Rubén Darío – noch vor Rodós mit dem
neuen Jahrhundert erschienenen Ariel (1900) – in seinem am 20. Mai 1898 in El
Tiempo (Buenos Aires) veröffentlichten Essay El triunfo de Calibán mit dem
Rückgriff auf Shakespeares The Tempest reagiert hatte.32 Diese historische Iso-
topie stellt das Ende der spanischen Kolonialherrschaft in den Zusammenhang
einer suizidalen Haltung, einer (oft als ‚quijotesk‘ bezeichneten) Politik,33 in
der noch immer die scheppernden Rüstungen der spanischen Conquista aus
der ersten Phase beschleunigter Globalisierung hörbar waren. Denn Miguel de
Cervantes’ Don Quijote ist nicht nur über die biographischen Irrwege seines
Schöpfers, der sich Hoffnungen auf eine führende Stellung in den expandieren-
den spanischen Kolonien machte, mit der Neuen Welt verbunden.
Auf einer zweiten, geokulturellen Bedeutungsebene steht das Verschwinden
des spanischen Fahnenträgers für die Ohnmacht einer spanisch geprägten Welt
gegenüber dem Vordringen der Vereinigten Staaten von Amerika, die nicht nur
mit der Herrschaft Spaniens, sondern auch mit den spanisch geprägten Werten,
für die der Fahnenträger steht, kurzen Prozess machen wollten. Selbst die spa-
nische Sprache schien auf dem amerikanischen Kontinent in Gefahr, wie Darío in
seinem berühmten, den Cantos de vida y esperanza zugerechneten Gedicht A Roo-
29 Ebda.
30 Die von Tzvetan Todorov gesetzten Kernbedingungen sind im Wesentlichen erfüllt; vgl. To-
dorov, Tzvetan: Introduction à la littérature fantastique. Paris: Seuil 1970, S. 37 f. Mejía Sánchez
sprach 1966 von einem „tema realista tocado de misterio (¿antecedentes del realismo mágico
de hoy?)“ sowie vom „efecto críptico del relato“; vgl. Mejía Sánchez, Ernesto: Un cuento des-
conocido de Rubén Darío, S. 8.
31 Darío, Rubén: D.Q., S. 24.
32 Vgl. hierzu u. a. Gullón, Ricardo: Introducción. In: Darío, Rubén: Páginas escogidas. Mad-
rid: Cátedra 1979, S. 25 f.
33 Vgl. hierzu u. a. Litvak, Lily: Latinos y anglosajones. Una polémica de la España de fin de
siglo. In (dies.): España 1900. Modernismo, anarquismo y fin de siglo. Barcelona: Anthropos
1990, S. 169.
698 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
sevelt (der spätere Präsident der Vereinigten Staaten hatte mit seinen „Rough Ri-
ders“ am Krieg von 1898 teilgenommen) formulierte. Sehen wir uns dieses be-
rühmte Gedicht, von dem der nikaraguanische Dichter sich später aus eher
opportunen Gründen distanzierte, einmal näher an:
Mit der Stimme der Bibel, mit den Versen Walt Whitmans
sollte ich kommen zu Dir, oh Jäger,
primitiv und modern, einfach und komplex,
mit 'nem bisschen Washington und vier Teilen Nemrod.
Du bist die Vereinigten Staaten,
Du stehst für die künftigen Invasoren
des naiven Amerika, das indigenes Blut besitzt,
das noch immer Jesuschristus anbetet, noch immer Spanisch spricht.er
34 Darío, Rubén: A Roosevelt. In (ders.): Obras Completas. Madrid: Afrodisio Aguado 1953,
Bd. 5, S. 878.
700 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
Dieses an die Adresse des US-amerikanischen Präsidenten, des ‚Rough Rider‘ ge-
schleuderte Ode teilt den Kontinent bewusst in zwei Teile: Auf der einen Seite das
spanischsprachige Amerika, das in seinen indigenen und spanischen Traditionen
lebt und Spanisch spricht; auf der anderen Seite die Vereinigten Staaten, die an
den Mammon glauben und für den Fortschritt stehen. Dabei tauchen dieselben an-
gelsächsischen Züge wieder auf, die wir bereits in D.Q. kennengelernt hatten. Dem
blonden und großen Amerika steht ein dunkles, schwarzhaariges Amerika gegen-
über, das indigene Züge besitzt, wie sie auch das Antlitz des nikaraguanischen
Dichters selbst zieren. Doch die Stunde des ‚Besuches‘, vor der José Martí in Nues-
tra América gewarnt hatte, die Stunde der Invasion durch Truppen der USA ist
nahe: Sie ist in Kuba schon gekommen! Rubén Darío war sich der Tatsache be-
wusst, an einer Zeitenwende zu stehen, in der sich das Schicksal seines Amerika
entscheiden würde.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 701
35 Vgl. die entsprechenden Ausführungen in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten,
S. 942 ff.
36 Vgl. das José Rizal gewidmete Kapitel im vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar:
Romantik zwischen zwei Welten, S. 1038 ff.
702 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
mit dem derzeitigen Tempo an, dann wird die dortige Spanisch sprechende Be-
völkerung schon in wenigen Jahrzehnten die Englisch sprechende ein- und
überholt haben. Die Ängste also, die einen Rubén Darío an der Wende zum
20. Jahrhundert heimsuchten, sind im 21. Jahrhundert jenen gewichen, welche
eine englischsprachige Bevölkerung vor dem weiteren Vordringen des Spani-
schen hat: Das Empire schlägt zurück.
Sicherlich enthält diese Ode auch mancherlei Autostereotype wie Hetero-
stereotype, die sich auf die ‚beiden Amerikas‘ beziehen. Doch wollen wir diese
zweifellos interessanten Aspekte wie auch die Tatsache, dass der Dichter eine
Kontinuität zwischen den indigenen Kulturen und der spanischen Kolonialherr-
schaft sah, an dieser Stelle unserer Vorlesung nicht weiter untersuchen. Viel-
mehr sollten wir festhalten, dass Rubén Darío am Ausgang des 19. Jahrhunderts
mit dem Untergang, mit dem Tod der spanischen Sprache auf dem amerikani-
schen Kontinent vielleicht nicht rechnete, eine solche sprachliche Katastrophe
aber doch ernsthaft befürchtete. In gewisser Weise hätte der Tod des Spanischen,
der kastilischen Sprache, auch den Untergang seiner eigenen Lyrik bedeutet –
vergleichbar mit dem Schicksal der Lyrik eines Nezahualcóyotl, dessen Poesie im
Náhuatl von Mexiko freilich eine (wenn auch noch minoritäre) Wiedergeburt er-
fahren hat.
Rubén Darío gab auch in anderen seiner Gedichte seiner tiefen Sorge Aus-
druck, dass es zu einem Tod des Spanischen in Amerika kommen könnte. In
seinem Que signo haces, oh Cisne (Welches Zeichen machst Du, oh Schwan) wen-
det er sich direkt an das von ihm spätestens seit Azul … gestaltete emblemati-
sche ‚Wappentier‘ des hispanoamerikanischen Modernismo, den Schwan, um
ihm eben diese Sorge kundzutun. Das bange Fragezeichen war dem modernisti-
schen Schwan buchstäblich auf den weißen Leib geschrieben: „¿Seremos entre-
gados a los bárbaros fieros? / ¿Tantos millones de hombres hablaremos inglés?“37
„Werden wir den wilden Barbaren übergeben? / Millionen von Menschen, werden
wir Englisch sprechen?“
In letzten Abschnitt seines mit den Initialen ‚R.D.‘ unterzeichneten Vor-
worts zu seinen für die Geschichte des hispanoamerikanischen Modernismo so
wichtigen Cantos de vida y esperanza hatte der nikaraguanische Lyriker un-
missverständlich festgehalten: „Wenn es in diesen Gesängen Politik gibt, dann
weil sie universell ist. Und wenn Ihr hier Verse an einen Präsidenten findet,
dann weil der Aufschrei kontinental ist. Morgen schon könnten wir Yankees
sein (und dies ist das wahrscheinlichste); auf jeden Fall ist mein Protest auf
37 Darío, Rubén: Qué signo haces, oh Cisne. In (ders.): Obras Completas, S. 890.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 703
die Flügel der unbefleckten Schwäne geschrieben, die so berühmt sind wie
Jupiter.“38
Auf einer dritten, transtemporal-symbolischen Bedeutungsebene schließlich
steht jener Fahnenträger, der mit den Initialen ‚D.Q.‘ bezeichnet wird, für eine
die Geschichte querende Präsenz, die in seinem Jahrhunderte spiegelnden Blick
aufscheint und mit dem Selbstmord in Santiago de Cuba nur vordergründig ein
Ende findet. Dachte Darío dabei auch an den möglichen Selbstmord von José
Martí – ebenfalls im Oriente Kubas? Wohl eher nicht, auch wenn es schon früh
Gerüchte um diesen Tod in einem eher beiläufigen Scharmützel gab. Denn am
Ausgang des Cuento steht nicht der Freitod eines Fahnenträgers, der vor den
Truppen der Vereinigten Staaten zu kapitulieren nicht bereit ist: D.Q. schließt
vielmehr mit den Worten jenes alten Buches, in denen Kraft der Lektüre die Ge-
stalt des Don Quijote von Neuem ersteht und in ihrer Überzeitlichkeit erstrahlt.
Daher hat auch kein anderer als Don Quijote de la Mancha das letzte Wort in die-
ser Erzählung.
Dieses Verfahren des abschließenden Zitats aus Cervantes’ großem Roman
hat Darío auch am Ende seiner Prosatexte En tierra de D. Quijote und La cuna
del manco praktiziert. Mit guten Gründen protestierte der modernistische Erzäh-
ler und Korrespondent der größten argentinischen Tageszeitung in einem erst-
mals am 2. Februar 1899 in La Nación von Buenos Aires veröffentlichten Artikel
vehement gegen den spanischen Essayisten und Romancier Miguel de Unamuno,
mit dem wir uns in der Folge ebenfalls noch beschäftigen werden. Letzterer hatte
unter dem Eindruck der spanischen Niederlage bereits am 26. Juli 1898 den Tod
des Don Quijote gefordert und sein „¡Muera Don Quijote!“ in der madrilenischen
Zeitschrift Vida nueva publikumswirksam veröffentlicht. Rubén Darío bezog hier-
gegen unmissverständlich Position:
Ich glaube, dass der starke Baske Unamuno mit Blick auf die Katastrophe in einer madri-
lenischen Zeitung so feste schrie, damit sein Schrei auch gehört würde: Tod dem Don Qui-
jote! Das ist nach meinem Dafürhalten ungerecht. Don Quijote kann und sollte nicht
sterben; in seinem Tun verändert er sein Aussehen, doch er ist's, der das Salz zum Ruhm,
das Gold des Ideals, die Seele der Welt ist. Zu einer bestimmten Zeit nannte er sich El Cid,
und war er auch schon tot, so gewann er noch Schlachten. Dann wieder war er Christoph
Columbus und seine Dulcinea Amerika [...].39
38 Ebda., S. 860: „Si en estos cantos hay política, es porque aparece universal. Y si encontráis
versos a un presidente, es porque son un clamor continental. Mañana podremos ser yanquis (y
es lo más probable); de todas maneras, mi protesta queda escrita sobre las alas de los inmacu-
lados cisnes, tan ilustres como Júpiter.“
39 Darío, Rubén: Cyrano en casa de Lope (en España Contemporánea). In (ders.): Obras com-
pletas. Bd. 3.: Viajes y crónicas. Madrid: Afrodisio Aguado 1950, S. 73.
704 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
Aus dieser Perspektive und in Kenntnis anderer Schriften Rubén Daríos wird
deutlich, dass der Suizid, dass der Tod des Fahnenträgers auf der symbolischen
Ebene des Cuento nur ein temporäres Verschwinden meint, das an der überzeit-
lichen, transhistorischen Präsenz eines letztlich unsterblichen Quijote nichts zu
ändern vermag. Entscheidend für diese sterbliche Unsterblichkeit, für dieses
Weiterleben nach dem Tod ist – wie das Zitat am Ende dieser Erzählung ver-
deutlicht – die Präsenz des Buches und damit die Kraft einer Literatur, die in
der Lage ist, Gestalten und Figuren zu schaffen, die über ein längeres Leben
verfügen als jene historischen Heroen, die – wie der Cid oder Kolumbus – letzt-
lich nur ankündigen, was in Miguel de Cervantes’ Romanfigur überzeitlich fest-
gehalten wurde. Dies ist das Leben der Literatur! Und aus heutiger Sicht ließe
sich hinzufügen: Dies ist das Leben, aber auch das Lebenswissen der Literatu-
ren der Welt.
Entscheidend für die Analyse und Interpretation von D.Q. scheint mir aber
auch ein in bisherigen Deutungen übersehenes Detail zu sein: das vollständige
Fehlen von Kubanern beziehungsweise Hispanoamerikanern in einer Szenerie,
die doch auf der Insel Kuba, in Hispanoamerika angesiedelt ist. Sollte es sich
hier um ein Versehen, um eine bloße Unterlassung Daríos handeln? Ja viel-
leicht, aber um eine höchst absichtsreiche! Denn die Erzählerperspektive des
spanischen Soldaten schließt – so ließe sich der historischen Situation zum
Trotz sagen – den hispanoamerikanischen Blickwinkel mit ein. Ganz so, wie
José Martí in seinem berühmten Manifiesto de Montecristi zum Kampf gegen
Spanien, aber nicht zum Kampf gegen die Spanier aufrief.40 Nirgendwo ist vom
kubanischen Freiheitskampf gegen die Spanier die Rede.
Dabei befindet sich Kuba seit nahezu dreißig Jahren im Krieg gegen die Ko-
lonialmacht. Denn die 1868 entbrannte „Guerra de los Diez Años“, der Zehnjäh-
rige Krieg der „Mambises“ gegen die spanischen Besatzungstruppen, ist noch
längst nicht vergessen. Dieser letztlich dreißigjährige Krieg findet – und in die-
sem Kontext zeigt sich das Ideologem der Hispanität bei Darío in aller Deutlich-
keit – in der spanischen Niederlage gegen die USA seine Aufhebung insofern,
als unter dem Eindruck des „Desastre“ eine Identifikation nicht mit der (kolo-
nialistischen) spanischen Sache, wohl aber mit der spanischen Kultur stattfindet.
Denn aus panlateinischer Sicht stehen die Völker im Zeichen der lateinischen
40 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Worldwide: Living in Transarchipelagic Worlds. In: Ette, Ottmar
/ Müller, Gesine (Hg.): Worldwide. Archipels de la mondialisation. Archipiélagos de la globaliza-
ción. A TransArea Symposium. Madrid – Frankfurt am Main: Iberoamericana – Vervuert 2012,
S. 21–59.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 705
Herkunft und des katholischen Glaubens zusammen gegen die Barbaren des Nor-
dens, gegen die materialistisch ausgerichteten Angelsachsen. Dies sind Positio-
nen, wie sie auch der uruguayische Modernist José Enrique Rodó in seinem Ariel
mit dem neuen Jahrhundert vertrat.
In gewisser Weise deutete sich diese Verbindung selbst in jener bis heute be-
eindruckenden und kurz erwähnten Kriegserklärung an, die der eigentliche Kopf
des später auch als „Guerra de Martí“ bezeichneten Unabhängigkeitskrieges we-
nige Wochen vor seinem eigenen Tod verfasst hatte. So heißt es in dem von José
Martí und Máximo Gómez auf das dominikanische „Montecristi, 25 de Marzo de
1895“41 datierten Manifiesto de Montecristi:
Der Krieg richtet sich nicht gegen den Spanier, der in der Sicherheit seiner Kinder und im
Bekenntnis zum von ihnen gewonnenen Vaterlande den Respekt und sogar die Liebe der
Freiheit genießen kann, welche nur jene überwältigt, die ihr ohne jede Voraussicht in
den Weg treten. [...] Bei den spanischen Bewohnern von Kuba hofft die Revolution, die
weder schmeichelt noch fürchtet, anstelle des unehrenhaften Zornes des ersten Krieges
eine so zugeneigte Neutralität oder so wahrhaftige Hilfe zu finden, dass der Krieg dadurch
kürzer und seine Zerstörung geringer und der Frieden umso leichter und freundschaftli-
cher ist, in welchem Väter und Söhne zusammenleben werden.42
41 Ich zitiere nach der eindrucksvollen Faksimile-Ausgabe von Martí, José: Manifiesto de Mon-
tecristi. El Partido Revolucionario Cubano a Cuba. La Habana: Editorial de Ciencias Sociales
1985, S. 30.
42 Ebda., S. 6 u. 16.
43 Ebda.: „sin odio.“
44 Darío, Rubén: D.Q., S. 24.
706 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
Doch zurück zu Rubén Daríos D.Q. und dem signifikanten Fehlen einer Un-
terscheidung zwischen Spaniern und Kubanern. Wie weit diese hispanische
Identifikation reicht, mag das Fehlen einer textintern markierten hispanoameri-
kanischen Stimme in dieser Erzählung eines Hispanoamerikaners ebenso still-
schweigend wie eindrucksvoll zeigen. Ob dies einen Punkt markiert, an dem
sich die Initialen von R.D. mit jenen von D.Q. überkreuzen, mag hierbei eine
offene Frage bleiben; doch die großen Sympathien von Rubén Darío für die
Figur des Quijote dürften deutlich geworden sein.
Kein anderer hispanoamerikanischer Modernist hat sich wohl so häufig und
intensiv wie Rubén Darío mit Miguel de Cervantes und seinem Don Quijote de la
Mancha beschäftigt, einer literarischen Figur, die er als Figura immer wieder
unter anderen Namen in der Geschichte Spaniens erscheinen sah. Nicht von un-
gefähr nennt der Autor von Azul … im vierten Kapitel seiner Autobiografía von
1912 den Roman von Cervantes an erster Stelle unter jenen Büchern, die dem klei-
nen Jungen in einem alten Schrank, einem „viejo armario“ seines Elternhauses,
als früheste Lesebücher in die Hände gefallen seien.45 Cervantes’ Don Quijote be-
gleitete den nikaraguanischen Erzähler und Dichter ein Leben lang.
Denn seit dieser frühen Entdeckung habe er ihn nach eigenem Geständnis
nicht mehr verlassen und wurde neben einem Nachschlagewerk zur griechisch-
römischen Mythologie und der Bibel zu einem der drei zeitlebens konsultierten
und mitgeführten Bücher des nikaraguanischen Dichters.46 So begleitete ihn
Quijote sicherlich auch nach Spanien, wo D.Q. vermutlich entstand. Zahlreiche
Texte – Gedichte, Essays, Erzählungen, Chroniken, Reiseberichte und verschie-
denste Anmerkungen – zeugen von dieser lebenslangen (und in unserer Vorle-
sung nur ausschnitthaft darstellbaren) Wertschätzung und ‚Begleitung durch
Miguel de Cervantes’ Ritter von der traurigen Gestalt. So heißt es in seinem
1903 entstandenen und 1905 in seine Ausgabe der Cantos de vida y esperanza
aufgenommenen Gedicht Un soneto a Cervantes dankbar: „Horas de pesad-
umbre y tristeza / paso en mi soledad. Pero Cervantes / es buen amigo. Endulza
mis instantes / ásperos, y reposa mi cabeza. // El es la vida y la naturaleza
[…].“47 Mit anderen Worten: „Stunden von Unglück und Trauer / Verbringe ich
einsam. Aber Cervantes / Ist guter Freund. Er versüßt mir / Selbst schwerste
Momente, erholt mein Hirn. // Er ist das Leben, die Natur […].“
45 Darío, Rubén: Autobiografía. In (ders.): Obras Completas. Bd. 1: Crítica y ensayo. Madrid:
Afrodisio Aguado 1950, S. 24.
46 Vgl. Arellano, Jorge Eduardo: Prólogo. In: Darío, Rubén: Don Quijote no debe ni puede
morir, S. 11.
47 Darío, Rubén: Un soneto a Cervantes. In (ders.): Obras Completas, S. 917.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 707
Rubén Darío, der sich 1905 – aus Anlass der Dreihundertjahrfeier von Cer-
vantes’ Quijote – in seiner Letanía de nuestro señor Don Quijote humorvoll und
kritisch mit manch oberflächlicher Verehrung des „Caballero andante“ auseinan-
dersetzte, entfaltete eine höchst komplexe Sichtweise seines Lieblingsbuches. Sie
zeugt von einer gleichzeitigen Zugehörigkeit und Außerhalbbefindlichkeit, jener
Doppelperspektive, die das hispanoamerikanische Lesepublikum – folgen wir
den zuvor zitierten Überzeugungen Juan Marinellos – gegenüber der spanischen
Leserschaft auszeichnen sollte.
Fraglos steht Cervantes’ Figura – wie es in der Letanía heißt – für „das Wesen
der Mancha, / für Großzügigkeit und das spanische Wesen“, also für „el ser de la
Mancha, / el ser generoso y el ser español“.48 Dieses „spanische Wesen“ aber er-
scheint in einem doppelten Licht. Denn als der Ich-Erzähler in Daríos Reisebericht
En tierra de D. Quijote aus Madrid mit dem Zug kommend in Ciudad Real eintrifft,
vermerkt er überrascht: „Mein erster Eindruck war der, mich in einer dieser alten
Städte wiederzufinden, die uns die Kolonialzeit hinterließ und die noch immer
ihre verehrungswürdige Altertümlichkeit im Zentrum unserer Republiken zur
Schau stellen.“49
Beim Anblick von Ciudad Real fühlt sich der Nikaraguaner folglich zurückver-
setzt in eine kolonialspanische Welt, wie er sie an vielen Orten auf seinen Reisen
durch Zentral- oder Südamerika erlebte. Geschickt wird in diesem ebenfalls aus
Anlass der Dreihundertjahrfeiern verfassten und auf Argamasilla de Alba im Feb-
ruar 1905 datierten Text die europäische beziehungsweise spanische Beobachter-
perspektive insoweit umgekehrt, als nicht die kolonialspanischen Städte
Amerikas – wie etwa León, die Stadt, in der Darío sein Leben beschließen sollte –
der Stadt in der Mancha gleichen, sondern diese den Reisenden auf alte koloniale
Zentren zurückverweist, die in „unseren Republiken“ von der Kolonialzeit zeugen.
So ergibt sich eine transareale, transkontinentale Bewegung, die Amerika nach
Spanien projiziert und in der europäischen wundersamerweise die hispanoameri-
kanische Stadt zum Vorschein bringt. Spanien gleicht den Kolonien, die es schuf.
Diese zunächst unscheinbare und doch so bedeutungsvolle transareale Be-
wegung verstärkt sich im weiteren Fortgang des Reiseberichts, wird die Mancha
doch nicht nur mit den weiten afrikanischen Wüsten, den „vastos desiertos afri-
canos“,50 verglichen, sondern zugleich auch – „un tanto nostálgico“,51 etwas
48 Darío, Rubén: Letanía a nuestro señor Don Quijote. In (ders.): Obras Completas, S. 938.
49 Darío, Rubén: En tierra de D. Quijote. In (ders.): Don Quijote no debe ni puede morir, S. 36:
„Mi primera impresión fué la de encontrarme en una de esas viejas ciudades que nos dejó la
colonia y que aun ostentan su vetustez venerable en el centro de nuestras repúblicas.“
50 Ebda., S. 40.
51 Ebda.
708 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
52 Ebda.
53 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz (Über-
Lebenswissen II). Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005.
54 Darío, Rubén: En tierra de D. Quijote, S. 38.
55 Günther Schmigalle wies darauf hin, dass sich Darío hier von einem vier Jahre zuvor in
Frankreich publizierten Band inspirieren ließ: Au Pays de Don Quichotte. Souvenirs rapportés
par Auguste-F. Jaccaci, préface d’Arsène Alexandre, illustrés par Daniel Vierge. Paris: Hachette
1901; Vgl. hierzu die Anmerkungen in Darío, Rubén: Don Quijote no debe ni puede morir, S. 35
u. 40 f.
56 Darío, Rubén: En tierra de D. Quijote, S. 41.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 709
In Argamasilla de Alba existiert kein Hotel oder etwas Vergleichbares. Man muss mit den
Maultiertreibern zur Posada gehen oder von einer Privatperson untergebracht werden.
Mir empfahl man die Mutter des ansässigen Schneiders, die wie die Frau von Sokrates
Jantipa und wie halb Spanien Parera heißt. Wie soll ich Euch die Kargheit ihrer Mittel
und die Revolution beschreiben, die von meiner Anwesenheit in jenem Hause ausgelöst
wurde, welches so unterhalten wird, wie man vor drei oder vier Jahrhunderten Häuser
unterhielt?57
Das historische und alltagskulturelle Ambiente des Quijote ist damit geschaffen.
Doch damit nicht genug. Ab diesem ‚Zeit-Punkt‘ gelangen eingeschmuggelte
Bruchstücke sowie kürzere oder längere ‚Anleihen‘ aus Cervantes’ Quijote in Dar-
íos literarischen Reisebericht. So ergibt sich eine doppelte Räumlichkeit und Zeit-
lichkeit, die Amerika mit Europa, den Modernismo mit dem Siglo de Oro, und
damit den Ich-Erzähler mit Don Quijote in eine oszillierende Beziehung setzt:
Nicht zufällig bittet der Ich-Erzähler die Hausherrin um ein Essen, wie es einst
Cervantes’ Romanheld zu sich genommen hatte.58 Rubén Darío taucht ganz und
gar vermittels seiner Reise in die Zeit von Miguel de Cervantes’ Ritter von der
traurigen Gestalt ein.
Einmal mehr avanciert der literarische Reisebericht zu einer Maschine des
Reisens in Raum und Zeit, aber auch in den anderen Dimensionen reiseliterari-
scher Schöpfung.59 Auf Cervantes’ Spuren im Land des Quijote deutet sich auf
sehr diskrete Weise eine Identifikation an, die jedoch gegen Ende der Chronik
dezidiert wieder durchkreuzt wird. Denn das durch vielfache intertextuelle Be-
ziehungen literarisch aufgeladene Ich wird – anders als Jorge Luis Borges’ Pi-
erre Menard – nicht zum Verfasser des Quijote; es sucht vielmehr nach jenem
Gefängnis, in dem – glaubt man den Bewohnern von Argamasilla – der Don
Quijote de la Mancha niedergeschrieben worden sei.
So wird die Trennung zwischen Autor und Leser des Quijote am Ende des
Textes wieder zementiert. Denn auf den letzten Zeilen dieses Reiseberichts, der
immer mehr zur Chronik gerät, vertieft sich das Ich beim Klang einer alten Glo-
cke, deren „voz antigua“ wie aus einer anderen Zeit herüberklingt, in die Lektüre
des berühmten Romans, „releyendo las famosas aventuras del Caballero“.60
Darío liest Cervantes gleichsam an Ort und Stelle. Am Ende dieses Textes steht
zwar kein Zitat, wohl aber die wiederholte Lektüre des Don Quijote, der ‚seinen‘
Text und den Tag so beschließt, als wären dies Les Plaisirs et les Jours von Marcel
Proust.
57 Ebda., S. 40.
58 Ebda., S. 41.
59 Vgl. hierzu den ersten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: ReiseSchreiben (2020).
60 Darío, Rubén: En tierra de D. Quijote, S. 47.
710 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
Der Nikaraguaner Rubén Darío, der nicht nur die unterschiedlichen Strö-
mungen und Entwicklungen,61 sondern auch die amerikanische und die europäi-
sche Seite des Modernismo wie kein anderer miteinander verband, entfaltet in
seiner Beschäftigung mit Cervantes’ berühmtestem Roman ein komplexes, schil-
lerndes Bild, in dem Don Quijote de la Mancha als ein Zeichen der „Hispanidad“
zugleich von innen – aus der Perspektive der spanischsprachigen Welt – und
von außen – aus einem amerikanischen, der Kolonialgeschichte sehr wohl be-
wussten Blickwinkel – erscheint. Der in diesem Sinne eines ZwischenWelten-
Schreibens spanisch-amerikanische Schriftsteller oszilliert im Dreieck zwischen
Europa, Hispanoamerika und den USA zwischen verschiedenen Positionen. Sie
setzen im Zeichen des spanischen „Desastre“ von 1898 die Gemeinsamkeit mit
Spanien und – wenige Jahre später im Kontext des „III Centenario“ – eine geteilte
Perspektivik gekonnt in Szene. Nicht ohne Grund bezeichnete sich Rubén Darío
als „español de América y americano de España“,62 als Spanier aus Amerika und
Amerikaner aus Spanien. Und bitte verwechseln Sie dabei niemals den Begriff
‚Amerikaner‘ mit ‚US-Amerikaner‘, was auch immer die Sprache unserer Massen-
medien dazu sagen mag!
Weit mehr als für den Kubaner José Martí, für den Cervantes’ Meisterwerk
ein wesentlicher Orientierungspunkt innerhalb einer weltliterarischen Land-
karte und einer fundamentalen Beziehung zwischen Literatur und Leben war,
steht der Quijote für Darío in einem essentiellen Zusammenhang mit Spanien
und der spanischen Literatur. An der Hispanität des Quijote hat auch der nika-
raguanische Dichter noch immer teil. Ganz so, wie er als Zentralamerikaner in
einen Raum und in eine Zeit einzutauchen vermag, die jene des spanischen
„Caballero andante“ sind.
Für Rubén Darío ist der Don Quijote ein weitaus stärkerer Bezugspunkt sei-
nes eigenen Schreibens, das sich seiner (kolonialen) Ursprünge versichert und
zugleich doch weiß, dass die spanische Literatur – gerade auch mit Blick auf
die französische – ihre Vormachtstellung innerhalb der spanischsprachigen
Welt lange schon eingebüßt hat. Zugleich aber war die spanisch-amerikanische
Literatur, dies wusste Darío ebenso wie Martí, auf dem Sprung, im internationa-
len Maßstab im Sinne Baudelaires ‚absolut modern‘ zu werden. Denn im Moder-
nismo wurden die Grundlagen dafür gelegt, dass sich die Literaturen des
spanischsprachigen Amerika im 20. Jahrhundert international durchsetzen
konnten. Vielleicht hat ihn deshalb jener verbissen geführte Streit um die
Frage so belustigt, in welcher spanischen Stadt denn die Wiege von Miguel de
Cervantes y Saavedra stand.63
Mit dem hispanoamerikanischen Modernismo beginnt definitiv eine neue
Phase der literarischen Beziehungen zwischen Hispanoamerika, ja Lateiname-
rika und Europa. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, also parallel zur dritten
Phase beschleunigter Globalisierung, lassen sich die Anfänge dessen beobachten,
was man einen wechselseitigen, mithin einen im vollen Wortsinne verstandenen
Polylog zwischen den Literaturen beiderseits des Atlantik nennen könnte. Erst seit
diesem Zeitpunkt zeichnet sich eine literarische Entwicklung im transarealen Maß-
stab ab, die ein Einwirken der lateinamerikanischen auf die europäischen Litera-
turen ermöglicht, welches schon bald über rein punktuelle Kulturberührungen
hinausging.
Auf Grund der deutlich beobachtbaren wachsenden Präsenz Lateinameri-
kas im Bewusstsein des spanisch- und portugiesischsprachigen Europa zeigt
sich dies zunächst im Verhältnis zwischen den lateinamerikanischen Literatu-
ren einerseits, der spanischen und bald auch portugiesischen Literatur anderer-
seits. Sicherlich war es der reisefreudige Nikaraguaner Rubén Darío, der unter
allen literarischen Vertretern des Modernismo in Spanien die größte Aufmerk-
samkeit erregte: José Martí war zu sehr in den militärischen Kampf gegen Spa-
nien verwickelt und starb zu früh, um sogleich in der Madre Patria wirken zu
können. Doch auch José Enrique Rodó fand seit der Veröffentlichung seines
Ariel im Jahre 1900 ein großes Interesse bei den profiliertesten spanischen
Schriftstellern seiner Zeit – genannt seien hier nur Miguel de Unamuno, Leo-
poldo Alas (‚Clarín‘) oder Juan Valera – und trat mit vielen von ihnen in einen
für uns heute aufschlussreichen brieflichen Dialog. Mit José Enrique Rodó
haben wir uns bereits im Rahmen unserer Vorlesung zum 19. Jahrhundert be-
schäftigt;64 und ich verspreche Ihnen, nochmals auf ihn aus einem anderen
Blickwinkel in einer weiteren Vorlesung zurückzukommen!
Den zeitgeschichtlichen Hintergrund für das ansteigende Interesse bestimmter
spanischer Intellektueller und Künstler an den Werken ihrer lateinamerikanischen
Kollegen bildete die diesen Intellektuellen gemeinsame ohnmächtige Erfahrung
des Eingreifens der USA in den Spanisch-Kubanischen Krieg im Jahr 1898. Das so-
genannte „Desastre“ zeitigte sehr wohl veränderte kulturelle und literarische Be-
ziehungsgeflechte zwischen den iberischen Ländern und ihren ehemaligen
63 Vgl. hierzu seine auf März 1905 datierte Chronik „La cuna del manco“ in Darío, Rubén:
Don Quijote no debe ni puede morir, S. 49–60. Auch diesen Text beendete Darío mit einem Zitat
aus dem Quijote.
64 Vgl. hierzu das Rodó gewidmete Kapitel in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten,
S. 1053 ff.
712 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
Kolonien in Amerika. Der Verlust der letzten spanischen Kolonien in der Ka-
ribik wie im Pazifik löste nicht nur in Spanien eine tiefe Bewusstseinskrise
aus, sondern führte auch in den längst politisch unabhängig gewordenen
lateinamerikanischen Staaten zu einem Sturm der Entrüstung gegenüber
dem expansiven Vordringen der USA und letztlich zu einem kulturellen Um-
denken. Eine der berühmtesten literarischen Reaktionen auf die nordameri-
kanischen Interventionen um die Jahrhundertwende war Rubén Daríos 1903
entstandenes Gedicht An Theodore Roosevelt, in dem sich die Stimme des
modernistischen Dichters – wie wir sahen – pathetisch an den Präsidenten
der mächtigen Nation im Norden wandte.
Diese unverblümte poetische ‚Anrufung‘ Roosevelts, darf sie auch nicht
einseitig ideologisch ausgelegt werden, gab sehr wohl die Vehemenz des Echos
auf zeitgeschichtliche Entwicklungen am Fin de siècle in den Zirkeln der sich
nun langsam stärker an Spanien und Portugal orientierenden lateinamerikani-
schen Intellektuellen wieder. Das zitierte und bereits analysierte Gedicht mar-
kierte eine Entwicklung von großer kultureller wie literarischer Bedeutung, die
vor dem Hintergrund panlatinistischer Überzeugungen zu einem wachsenden
gegenseitigen Interesse iberischer und lateinamerikanischer Schriftsteller, zur
Überwindung dessen führte, was der mexikanische Essayist Alfonso Reyes zu
Beginn der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts treffend als ein hundertjähri-
ges gegenseitiges Vergessen umschrieb.65 Dieses Interesse stand nun deutlich
im Zeichen des Postkolonialen.
Es war gepaart mit dem Gefühl, einer gemeinsamen kulturellen Tradition im
Zeichen einer panlateinischen Verbundenheit anzugehören und ließe sich mit
einer These des kubanischen Literaturtheoretikers Fernández Retamar verknüp-
fen. Letzterer sah diese Entwicklung in Zusammenhang mit dem Bewusstsein der
hispanischen Welt beiderseits des Atlantik, gegenüber den führenden Mächten
und den von ihnen gelenkten gesellschaftspolitischen wie ökonomischen Ent-
wicklungen in eine marginale und abhängige Rolle geraten zu sein.66
Zum geokulturellen Kontext dieser literarischen Entwicklungen zählen zwei-
fellos zwei langfristig ablaufende historische Prozesse, die miteinander in enger
65 Vgl. Reyes, Alfonso: Obras Completas. México: Fondo de Cultura Económica 1956, Bd. 4,
S. 572 f. sowie S. 566–571.
66 Vgl. Fernández Retamar, Roberto: Modernismo, Noventiocho, Subdesarrollo. In (ders.):
Para una teoría de la literatura hispanoamericana y otras aproximaciones. La Habana: Casa de
las Américas 1975, S. 97–106. Zur historischen Einbettung von Fernández Retamar vgl. den
Aufsatz zu ihm in Ugalde Quintana, Sergio / Ette, Ottmar (Hg.): Políticas y estrategias de la
crítica II: ideología, historia y actores de los estudios literarios. Madrid – Frankfurt am Main:
Iberoamericana – Vervuert 2021.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 713
67 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Litera-
turen Lateinamerikas und Europas. In: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika denken. Kultur-
714 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erstmals ein noch kleiner eigener Markt
für Texte lateinamerikanischer Romanciers, Essayisten und Lyriker beiderlei Ge-
schlechts in den spanisch- und portugiesischsprachigen Ländern Amerikas, die
im Jahrhundert der Romantik in ihre postkoloniale Phase eingetreten waren.
Aus der Erfahrung der in unserer Vorlesung nur kurz zu skizzierenden his-
torischen Prozesse wird die Frage nach der Identität zu einem zentralen Cha-
rakteristikum eines wichtigen Bereichs der lateinamerikanischen Literaturen
der Jahrhundertwende.68 Bei aller Problematik des politisch so oft missbrauch-
ten Identitätsbegriffs69 gilt es doch festzuhalten, dass diese Identitätsentwürfe
und -konstruktionen über lange Jahrzehnte nicht nur die lateinamerikanische
Essayistik stark beschäftigten und prägten. Der Kubaner José Martí, der Nikara-
guaner Rubén Darío und der Uruguayer José Enrique Rodó stellten mit ihren
Werken ein neues Reflexionsniveau lateinamerikanischer Identitätskonstruktio-
nen her, das weit über den Bereich Lateinamerikas hinaus strahlte.
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der unzweifelhaften Problematik des Iden-
titätsbegriffs ist nicht die Beantwortung der Identitätsfrage, sondern die Frage als
solche von zentraler Bedeutung, stellt sie doch ein selbstreflexives Moment dar,
das sowohl im Selbst- als auch im Fremdbild Lateinamerika als geistig-kulturelle
Entität neu erstehen lässt. In einer kritischen Literaturwissenschaft scheint es mir
wichtig, die Verwendung des Identitätsbegriffs durch Schriftstellerinnen und
Schriftsteller zu analysieren, ohne dabei selbst den Term als Begriff zu benut-
zen und damit in eine ebenso tautologische wie politische Falle zu tappen. Es
gilt, Diskurse über Identität zu untersuchen, ohne dabei den wissenschaftlich
nicht haltbaren, da statischen, unbeweglichen und einstimmig festlegenden
Begriff auch nur anzurühren. Dieser Leitlinie bin ich auch in unserer aktuellen
Vorlesung gefolgt.
Mit den durchaus differierenden Identitätsdiskursen des hispanoamerikani-
schen Modernismo wird nicht zuletzt nach außen nicht die Heterogenität meh-
theoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag
1994, S. 297–326.
68 Zur Problematik der Jahrhundertwenden vgl. Ette, Ottmar: „Tres fines de siglo“ (Teil I).
Kulturelle Räume Hispanoamerikas zwischen Homogenität und Heterogenität. In: Iberoroma-
nia (Tübingen) 49 (1999), S. 97–122; sowie ders.: „Tres fines de siglo“ (Teil II). Der Modernismo
und die Heterogenität von Moderne und Postmoderne. In: Iberoromania (Tübingen) 50 (1999),
S. 122–151.
69 Ich habe mich seit nunmehr zwei Jahrzehnten gegen eine wissenschaftliche Verwendung
dieses Identitätsbegriffes ausgesprochen; vgl. hierzu das Kapitel Die Logik des Weder-Noch
und die Zeit der „Täten“. In: Ette, Ottmar: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenz-
überschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001,
S. 467–475.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 715
70 Vgl. hierzu auch Müller, Gesine (Hg.): Verlag Macht Weltliteratur. Lateinamerikanisch-
deutsche Kulturtransfers zwischen internationalem Literaturbetrieb und Übersetzungspolitik.
Berlin: Verlag Walter Frey – edition tranvía 2014.
716 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
71 Martí, José: Dos patrias / Zwei Vaterländer (Übers. O.E.). In: Poesie der Welt. Lateinamerika.
Herausgegeben von Hartmut Köhler. Berlin: Edition Stichnote im Propyläen Verlag 1986, S. 51.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 717
Das Gedicht Zwei Vaterländer von José Martí stellt ein herausragendes Beispiel
der agonalen Lyrik des kubanischen Dichters dar, die wir bereits in unserer
Auseinandersetzung mit De noche, en la imprenta in ihrer früheren, romanti-
schen Variante in Mexiko kennengelernt hatten. Durch das gesamte Gedicht
zieht sich der dunkle Faden des Todes, der sich von einem redundant betonten
verwitweten Kuba bis hinein in das eigene Sterben des lyrischen Ich erstreckt,
das sich nun auf den Abschied und damit auf den eigenen Tod vorbereitet.
Zugleich weist die doppelte Verortung des dichterischen Vaterlandes als das
Terrain einer territorialisierbaren Insel und als einer nicht-territorialisierbaren
Nacht auf eine doppelte Zugehörigkeit des Ich zu einer Literatur, die sich nicht
mehr nur im nationalliterarischen Bereich ansiedelt – denn die kubanische Nati-
onalliteratur ist wie die deutsche eine Literatur, die sich einer Kulturnation noch
vor Schaffung eines Nationalstaates zurechnet –, sondern deutlich einer Situie-
rung innerhalb der Literaturen ohne festen Wohnsitz zugehört.72 José Martí ver-
brachte nach seiner Kindheit und Jugend nur äußerst kurze Zeitspannen auf
seiner Heimatinsel, bevor er in den letzten wenigen Wochen vor seinem Tod
nach Kuba zurückkehrte, wo er – wie bereits erwähnt – in einem eher belanglo-
sen Scharmützel mit spanischen Truppen fiel.
Martís Dichtkunst siedelt sich daher ebenso im Raum der entstehenden ku-
banischen Nationalliteratur, aber auch im Raum einer hispanoamerikanischen
Literatur und darüber hinaus in einer Literatur ohne festen Wohnsitz an, die
seinem Schreiben den spezifischen Hintergrund bot. Die agonalen Züge seiner
Lyrik stehen im Verbund mit einem Schreiben, das den eigenen Tod als Ele-
ment einer erhöhten Wirkkraft der eigenen Literatur einkalkuliert und zugleich
die Gestalt des mit dem Tode vertrauten Poeten der Romantik in eine Ästhetik
übersetzt, welche nicht mehr die der hispanoamerikanischen Romantik, son-
dern einer modernistischen Arbeit am eigenen Leben, an der eigenen Biogra-
phie, an der eigenen Figura zum Ziel hat. Martí arbeitete nicht nur pausenlos
an seinem Schreiben, sondern auch an seinem eigenen Bild – im Übrigen auch
in einem wortwörtlichen Sinne, war er sich doch der Macht der Bilder in einer
sich sozioökonomisch modernisierenden und in Entstehung begriffenen Medi-
72 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: „Partidos en dos“: zum Verhältnis zwischen insel- und exilkubani-
scher Literatur. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Lit-
tératures Romanes (Heidelberg) 13 (1989), S. 440–453.
718 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
engesellschaft höchst bewusst.73 Bei der Betrachtung dieses Gedichts ist es aus
diesen Gründen wichtig, sich vor Augen zu halten, dass es José Martí gelang,
in einer komplexen und wirkungsvollen Rezeptionsgeschichte die eigene Per-
son in der Tat in eine Figura74 zu verwandeln, deren figurale geschichtliche Be-
deutung die kubanische Geschichte bis heute prägt. Nicht umsonst hat sich
etwa ein Fidel Castro ganz in der Nähe der monumentalen Grabstätte José Mar-
tís beisetzen lassen.
Doch kehren wir von diesen politisch durchdachten Spielarten des Todes
im kubanischen Kontext zur Entwicklung der Literaturen im kontinentalen
Maßstab zurück! Für ein Verständnis der selbstreflexiven Funktion der Literatur
im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist aufschlussreich, dass die Schriftsteller
nun nicht mehr ‚nur‘ nach Europa und insbesondere in die „Ville-lumière“
Paris reisen, sondern die Vereinigten Staaten von Amerika zu einem wichtigen
Bezugspunkt machen. Gewiss gibt es noch immer die kulturelle Weihe der Pa-
risreise; und gewiss sehnte sich gerade ein José Enrique Rodó danach, den
Boden Europas zu betreten und von dort nach Lateinamerika berichten zu kön-
nen. Diese ersehnte Reise, von der Rodó nicht mehr lebend in seine Heimat zu-
rückkehren sollte – starb er doch in einem Hotelzimmer in Palermo –, wirft
auch dank der Korrespondententätigkeit des Uruguayers ein Licht auf die ver-
änderten Kommunikationsströme zwischen Europa und Lateinamerika.
Viele der Autorinnen und Autoren des Fin de siècle lernten durch ausge-
dehnte Aufenthalte andere Regionen des amerikanischen Kontinents kennen:
Denken wir nur an Rubén Daríos Zeit in Santiago de Chile beziehungsweise
Buenos Aires oder an die strapaziösen und für die Zeit bemerkenswert weitläu-
figen Reisen Martís durch den gesamten karibischen Raum sowie seine Aufent-
halte in Mexiko, Guatemala oder Venezuela! Eine Clorinda Matto de Turner
etwa floh aus ihrem Heimatland Peru in ein argentinisches Exil, so wie im
20. Jahrhundert während der Zeit der Militärdiktaturen im Süden des Konti-
nents viele Intellektuelle aus Argentinien, Chile oder Uruguay eine neue Hei-
mat in Mexiko oder Venezuela fanden. Doch mit dieser resoluten peruanischen
Schriftstellerin, die in ihrem argentinischen Exil vehement für die Rechte der
73 Vgl. hierzu auch Ette, Ottmar: Imagen y poder – poder de la imagen: acerca de la iconogra-
fía martiana. In: Ette, Ottmar / Heydenreich, Titus (Hg.): José Martí 1895 / 1995. Literatura –
Política – Filosofía – Estética. 10° Coloquio interdisciplinario de la Sección Latinoamérica del
Instituto Central de la Universidad de Erlangen-Nürnberg. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag
1994, S. 225–297.
74 Vgl. zum Begriff der Figura ausgehend von Erich Auerbach Gwozdz, Patricia: Ecce figura.
Anatomie eines Konzepts in Konstellationen (1500–1900). Habilitationsschrift an der Universi-
tät Potsdam 2021.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 719
Frauen eintrat und als erste Frau 1895 in das Ateneo de Buenos Aires aufgenom-
men wurde, wollen wir uns in einer nachfolgenden Vorlesung beschäftigen.
Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller begannen, sich mit ihrem eigenen
kontinentalen Raum zu konfrontieren. Zeitungen wie La Nación in Buenos Aires
oder El Partido Liberal in Mexiko öffneten ihre Seiten für Korrespondentenbe-
richte und Chroniken, durch die der modernistische Chronist und Literat noch
immer vorwiegend männlichen Geschlechts als Konkurrent des aufkommenden
Reporters ein breites Publikum zu erreichen vermochte. Auch dies waren Ent-
wicklungen und Aspekte einer raschen Internationalisierung in vielen Bereichen
von Gesellschaft und Literatur, welche ohne den globalgeschichtlichen Rahmen
der dritten Phase beschleunigter Globalisierung nicht befriedigend beschrieben
und erklärt werden können. Die verschärfte Konkurrenzsituation in den Peri-
odika prägte im Übrigen die stilistische Entwicklung der modernistischen Au-
toren, wurde doch nun eine neue Abgrenzung des literarischen Feldes innerhalb
schriftlicher Kommunikationsformen, die ein Massenpublikum bedienen konn-
ten, dringlich notwendig.75
Auf diese Weise entstand zum ersten Male in Lateinamerika ein gemeinsa-
mer Kulturraum, der sich über regionale Prozesse hinaus oftmals vergleichbaren
Fragen und Herausforderungen zuwandte. Insbesondere den unterschiedlichen
Antworten auf verschiedenste Identitätskonstruktionen von Seiten der großen
lateinamerikanischen Intellektuellen kam dabei eine übergeordnete, die gesamte
iberisch geprägte Welt der Amerikas erfassende Bedeutung zu. Im Laufe dieser
Entwicklung waren nun die jeweiligen Areas und Regionen und ihre städtischen
Zentren nicht mehr einzeln an die (ehemalige) Metropole angeschlossen, sondern
kommunizierten in zunehmendem Maße direkt miteinander. Erst vor dem Hinter-
grund dieser neuen Gegebenheiten, dieser neuen Chancen wird verständlich,
was bei aller Kontinuität, bei allem bewussten Traditionswillen den Amerikanis-
mus eines Martí oder Rodó vom Amerikanismus eines Bolívar unterschied und
was die neuen kontinentalen Zusammenhänge des Schreibens in Lateinamerika
am Ende des 19. Jahrhunderts ausmachte.
Greifen wir ein besonders markantes Beispiel heraus, dem wir uns in dieser
Vorlesung nicht gesondert zuwenden wollen! In José Enrique Rodós Ariel aus
dem Epochenjahr 1900 ist Prósperos Rede von der zu schaffenden geistigen
Einheit Lateinamerikas (als Vorstufe einer von Rodó auch konzipierten politi-
schen Einheit) für diese ideen- und literaturgeschichtliche Entwicklung reprä-
sentativ. Ein gewandeltes Selbstbewusstsein von Literaten, die sich einen eigenen
Bereich geschaffen hatten, von dem aus sie die geistige (und nicht selten auch po-
litische) Führerschaft beanspruchten, machte es erst möglich, dass die veränderten
Bedingungen des Buchwesens und der (literarischen) Kommunikation zum Tragen
kamen und nach ‚außen‘, nach Europa abstrahlen konnten. Mit großer Schnellig-
keit konstituierte sich feldsoziologisch gesehen ein literarisches Feld in den einzel-
nen Ländern Lateinamerikas, zugleich aber auch in einem subkontinentalen
Zusammenhang: Das uns noch heute vertraute Lateinamerika bildete sich heraus.
Auch in dieser Phase des Literaturbetriebes waren Produktion, Rezeption
und Distribution an die großen Städte Lateinamerikas gebunden. Nur über jene
Städte als kulturelle Vermittlungszentren zwischen Europa und Lateinamerika
wurde lateinamerikanisches Schreiben als urbanes Phänomen transatlantisch
und transareal vermittelbar. Ein Alfonso Reyes wie ein Leopoldo Lugones konn-
ten als Mexikaner und Argentinier in Europa als Lateinamerikaner verstanden
werden. Auch dies wirft ein bezeichnendes Licht auf die mobile Strukturierung
des Raumes, wie sie sich in Rodós Ariel darbietet: Im achten und letzten Kapitel
des Werkes treten die Schüler Prosperos aus dem Studiersaal heraus und werden
mit der modernen Großstadt und der ‚großen Zahl‘ an Menschen, der Menge und
Masse ihrer Bewohner, konfrontiert. Allein in der Stadt, und sei sie auch einge-
bettet in kosmische Dimensionen, kann das Neue, können die Hoffnungen La-
teinamerikas auf den Weg gebracht werden. Der alte Gegensatz zwischen Stadt
und Land findet sich so in der lateinamerikanischen Moderne in verändertem
Kontext wieder.
Die traditionelle Asymmetrie der europäisch-lateinamerikanischen Litera-
turbeziehungen wurde dabei erstmals im Kontext eines modernisierten Litera-
turbetriebs, der durch einen engen Austausch zwischen den lateinamerikanischen
Zentren untereinander gekennzeichnet war, zumindest tendenziell in Frage gestellt.
Der gleichzeitig stattfindende Aufbau neuer transatlantischer Kommunikationsmög-
lichkeiten betraf in einem ersten Moment gewiss nur deren technologische Dimen-
sion. Die Schaffung direkter Telegraphenverbindungen zwischen Lateinamerika und
Europa machte es immerhin möglich, dass eine chilenische Zeitung 1874 erstmals
per Telegraph direkt aus Europa übermittelte Korrespondentenberichte einrücken
konnte. Darüber hinaus aber markierten derartige Verbindungen im literarischen Be-
reich auch den Beginn einer neuen Qualität internationaler und interkultureller
Kommunikationsmöglichkeiten.
Die frühen Zeitschriftenprojekte Martís belegten den noch immer vorherr-
schenden Informationsfluss von Ost nach West, also von Europa nach Latein-
amerika; doch demonstrierten gerade Martís Schriften auch, wie sich dieser
Informationsfluss dank neuer Kommunikationsnetze und Informationsbedürf-
nisse nun auch in nord-südlicher Richtung innerhalb Amerikas einpendelte.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 721
ropa insgesamt orientierte, hatte – wie wir sahen – durchaus konkrete historische
und politische Hintergründe. José Martí hatte die Zeichen der Zeit und den drohen-
den Ausgriff der Vereinigten Staaten auf Länder von Martís Nuestra América früh-
zeitig erkannt.
Der bisweilen erhobene Vorwurf, eine derartige Selbstbestimmung über die
Projektion einer positiven Entwicklung in die Zukunft erfülle eine ‚kompensato-
rische Funktion‘, diene dazu, das eigene Scheitern im Vergleich zu den erfolg-
reicheren USA nicht anerkennen zu müssen, und sei letztlich einer auf spanische
Wurzeln zurückgehenden „lateinamerikanischen Tradition der Selbstüberhöhung“
verpflichtet,76 übersieht nicht nur in sträflich irreführender Weise, welche soziale
Funktion die Texte der hispanoamerikanischen Modernisten in ihren Gesellschaf-
ten übernahmen. Wer solches behauptet, verkennt darüber hinaus in eurozentri-
scher Befangenheit, dass diese Entwürfe gerade aus der geschichtlichen Erfahrung
des vehementen und ungleichmäßig verlaufenden Modernisierungsprozesses, in
den die lateinamerikanischen Staaten eingetreten waren, entsprangen und im
Sinne einer konkreten Utopie Entwicklungslinien vorzeichnen wollten, die jenseits
der Abhängigkeit von fremden Modellbildungen eigene Wege für Lateinamerika
aufzeigen sollten. Ziel war es dabei, kulturelle ebenso wie politische oder wirt-
schaftliche Asymmetrien abzubauen und Lateinamerika aus der Außenabhängig-
keit herauszuführen, ohne die historischen Wurzeln der eigenen Geschichte und
Kultur zu verleugnen. Dass José Martí mehr als andere Modernisten dabei die indi-
genen Traditionen der amerikanischen Welt miteinbezog und berücksichtigte,
kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden.
Doch kehren wir zur zentralen Frage der literarischen Beziehungen im Span-
nungsfeld zwischen Europa und Lateinamerika zurück und fragen wir auf diese
Weise nach den Herkünften und Kontexten der agonalen Haltung des Lyrikers
wie des Menschen Martí! Denn zweifellos hatte er ja immerhin als erster latein-
amerikanischer Intellektueller diese historischen Entwicklungen und Bedrohun-
gen im Kontext der dritten Phase beschleunigter Globalisierung erkannt. Warum
also sorgte sich der kubanische Dichter und Revolutionär um die Zukunft der
von ihm unter dem Begriff Nuestra América zusammengefassten Länder?
Die einfachste Antwort auf diese Frage wäre wohl der Verweis darauf, dass
Martí die Situation Lateinamerikas angesichts der Expansion der USA höchst
realistisch einschätzte. Dabei sollte man nicht vergessen, dass die Überlegun-
gen der führenden Modernisten dialektisch durchdacht und wesentlich diffe-
renzierter waren als die Jubelrufe jener anderen Kritiker, die im Nachhinein
Auch ich bin ein Modernist; ich gehöre mit ganzer Seele der großen Reaktion an, die der
Evolution des Denkens am Ende dieses Jahrhunderts Charakter und Sinn verleiht; jener
Reaktion, die vom literarischen Naturalismus und vom philosophischen Positivismus aus-
gehend beide in höhere Vorstellungen überführt, ohne das Fruchtbare in ihnen zu schwä-
chen. Und es gibt keinen Zweifel daran, dass das Werk Rubén Daríos, wie viele andere
Manifestationen auch, diesem höheren Sinne entspricht; es ist in der Kunst eine der per-
sönlichen Formen unseres zeitgenössischen anarchischen Idealismus; auch wenn dies –
weil es keine Intensität zu etwas Ernsthaftem besitzt – nicht gelten mag für das frivole
77 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: „Así habló Próspero“. Nietzsche, Rodó y la modernidad filosófica
de „Ariel“. In: Cuadernos Hispanoamericanos (Madrid) 528 (junio 1994), S. 48–62.
78 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: „Cecilia Valdés“ und „Lucía Jerez“: Veränderungen des literari-
schen Raumes in zwei kubanischen Exilromanen des 19. Jahrhunderts. In: Berger, Günter / Lü-
sebrink, Hans-Jürgen (Hg.): Literarische Kanonbildung in der Romania. Beiträge aus dem
deutschen Romanistentag 1985. Rheinfelden: Schäuble Verlag 1987, S. 199–224.
724 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
und flüchtige Werk derer, die ihn imitieren im eitlen Produzieren des größten Teiles der
Jugend, die heute in Amerika kindisch das literarische Spiel mit den Farben spielt.79
Naturalismus und Positivismus, von denen man vielleicht erwartet hätte, dass ein
Modernist sie nicht nur ablehnen, sondern auch bekämpfen würde, werden in die-
sem modernistischen Credo Rodós in die Kontinuität des Denkens und Schreibens
bewusst miteinbezogen. Dies ist ein für die lateinamerikanischen Literaturen seit
dem Ausgang des 18. Jahrhunderts charakteristischer Vorgang, wie wir ihn literar-
historisch in seinen transatlantischen Verästelungen sehr gut nachweisen kön-
nen,80 hat er doch mit der Re-Funktionalisierung literarischer und philosophischer
Strömungen aus Europa in Lateinamerika zu tun. Der hispanoamerikanische Mo-
dernismus bedeutet zumindest im Verständnis eines Rodó keinen scharfen Bruch,
keine Abkehr von der literarischen Tradition, sondern deren Weiter- oder (wie
Rodó es ausdrückt) Höherentwicklung. Diese Vermeidung eines scharfen Bruches
gilt selbst wenige Jahrzehnte später für die Auseinandersetzung lateinamerikani-
scher Autorinnen und Autoren mit den historischen Avantgarden und dem, was in
Europa als eine ‚Ästhetik des Bruches‘ bezeichnet worden ist.81
In den Äußerungen des uruguayischen Modernisten José Enrique Rodó klingt
dies deutlich an: Was in Europa oftmals konträr als sich wechselseitig bekämp-
fende Bewegungen positioniert ist, wird in Lateinamerika zu einem kreativen
Verweisungszusammenhang refunktionalisiert und mit spezifisch amerikanischen
Aspekten schöpferisch ausgestaltet. Also: keine Ästhetik des Bruchs! Denken wir
zurück an die neuspanischen Geschichtsschreiber der ersten Phase beschleunig-
ter Globalisierung im 16. Jahrhundert oder voraus an die literarischen Avantgar-
den in Lateinamerika in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dann drängt sich
die Vermutung auf, dass den oft radikalen Brüchen in der Geschichte des Subkon-
tinents ein Kontinuum im Bereich des Schreibens gegenübersteht, das sich in
einem umfassenderen Sinne als eigenständige literarische und ästhetische Ent-
wicklungsgeschichte seit dem hispanoamerikanischen Modernismo wie etwas
später dem avantgardistischen brasilianischen Modernismo lesen lässt. Wir wer-
den in diesem Teil unserer Vorlesung noch Beispiele für diese Eigenständigkeit
und Kreativität lateinamerikanischer Lyrik kennenlernen.
79 Rodó, José Enrique: Rubén Darío. Su personalidad literaria, su última obra. En (id.): Obras
Completas. Editadas con introducción por Emir Rodríguez Monegal. Madrid: Aguilar 1957,
S. 187.
80 Vgl. hierzu die Bände vier und fünf der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Aufklärung zwischen
zwei Welten (2021) sowie Romantik zwischen zwei Welten (2021).
81 Vgl. hierzu den dritten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Von den historischen Avant-
garden bis nach der Postmoderne (2021).
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 725
82 Vgl. hierzu die beiden Bände von Ette, Ottmar: TransArea. Eine literarische Globalisierungs-
geschichte. Berlin – Boston: Walter de Gruyter 2012; sowie WeltFraktale. Wege durch die Litera-
turen der Welt. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2017.
726 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
83 Vgl. hierzu Mejía Sánchez, Ernesto: Las relaciones literarias interamericanas. El Caso
Martí – Whitman – Darío. In: Casa de las Américas (La Habana) 42 (1967), S. 52–57.
84 Vgl. hierzu die entsprechenden Kapitel in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden
bis nach der Postmoderne, S. 440 ff. u. 423 ff.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 727
Azul; doch zitieren wir diese Kreation Daríos aus der in Madrid im Jahre 1905 er-
schienenen Ausgabe der Cantos de vida y esperanza, die sicherlich einen der Höhe-
punkte modernistischen Schreibens im Bereich Lyrik darstellen. Hier also Rubén
Daríos Gedicht Leda in der deutschen Übersetzung von Wenzel Goldbaum:
85 Rubén Darío: Leda (Übers. Wenzel Goldbaum). In: Poesie der Welt. Lateinamerika. Heraus-
gegeben von Hartmut Köhler. Berlin: Edition Stichnote im Propyläen Verlag 1986, S. 67.
728 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
Dies ist in der Tat ein Gedicht, das pausenlos in den stärksten Farben schwelgt.
Wir verstehen jetzt besser, warum José Enrique Rodó nicht Rubén Darío, wohl
aber dessen Nachahmer dafür schalt, in ihren poetischen Werken ein pures lite-
rarisches Farbenspiel in Szene gesetzt zu haben. Denn Silber, Weiß und Blau,
die charakteristischen modernistischen Farben, aber auch Bernstein, Blassrot
oder Grün folgen einander in dichter Frequenz und färben ein Poem, das in sei-
ner kühlen, skulpturalen Plastizität an die Parnassiens denken lässt.
Das erste Element des Gedichts, das seinem Betrachter ins Auge springt, ist
zweifellos der Titel. Dies klingt banal, erweist sich aber vor dem Hintergrund der
Entwicklung dieser lyrischen Konstruktion als aufschlussreich. Denn das paratex-
tuelle Element der Titelgebung gibt dem Lesepublikum zunächst einmal zu verste-
hen, dass die nachfolgenden Verse in irgendeiner Weise an den Leda-Mythos
anschließen und sozusagen im Sinne von Hans Blumenberg Arbeit am Mythos ver-
richten.86 Rubén Darío wird in der Tat diese kreative Arbeit am Mythos leisten, ver-
knüpft er doch mit den uns allen bekannten Varianten des antiken Mythos seinen
eigenen „mythe personnel“, seine eigenen, auch in vorgängigen Gedichten ge-
wachsenen Vorstellungen und Bilder, die vor allem in den Schlussteil des Gedichts
Eingang fanden. Denn mit dessen letzter Silbe in spanischer Sprache, in der Figur
des Pan, wird noch einmal die gesamte erotische Aufladung signiert.
Das Grundgerüst des Mythos, auf das auch Rubén Darío zurückgriff, besteht
in der übergroßen Liebe des Göttervaters Zeus zur schönen Leda, Tochter des Kö-
nigs Thestios von Aitolien und der Eurythemis. Nun, die schöne Leda gebar meh-
rere Kinder, die zum Teil von ihrem Gatten Tyndareos, zum Teil aber auch von
Zeus stammten, der sich ihr – wie es so schön heißt – in Gestalt eines Schwanes
näherte (Abb. 58). Sie kennen ja die Liebesverliebtheit des Zeus, die ihrerseits das
Wasserzeichen einer zutiefst patriarchalischen Gesellschaft darstellt. Der griechi-
schen Sage nach gebar Leda zwei Eier, aus denen die schöne Helena sowie die
Dioskuroi schlüpften, die Dioskuren.
Auf Helenas Geschichte, die ja so manche nicht unbekannte kriegerische
Auseinandersetzung ausgelöst haben soll, darf ich an dieser Stelle verzichten,
und auch die Dioskuren brauchen uns hier nicht zu interessieren. Sehr wohl aber
interessiert uns die im Zentrum stehende Liebesgeschichte Ledas, deren Objekt –
und weniger Subjekt – die schöne junge Frau ist. Denn Zeus nähert sich ihr zwar
in der Gestalt eines Tieres, zugleich aber als ein Gott, dem sie keinen Widerstand
entgegenzusetzen vermag. Anders als die deutsche Übersetzung lässt Daríos Ge-
dicht über den Charakter der Gewalt keine Zweifel aufkommen: Das von ihm ver-
wendete Verb ist „violar“.
Wir haben es im Grunde mit einer handfesten Vergewaltigungsszene zu tun!
Erinnern Sie sich noch an unsere Auseinandersetzung mit Eugenio Cambaceres’
Roman Sin rumbo in unserer Vorlesung über die Romantik zwischen zwei Wel-
ten?87 Im Zentrum seines sorgsam ausgestatteten finisekulären Innenraums, in sei-
nem Verführungskabinett oder auch ‚Garçonnière‘, wo der junge Andrés junge
Frauen mit seinen Verführungskünsten traktierte, steht nicht von ungefähr eine
Skulptur, welche sich bildhauerisch der schönen Leda mit ihrem Schwan an-
nimmt. Auch bei Eugenio Cambaceres hatte die männliche Gewalt am weiblichen
Objekt der Liebe, sorgsam kaschiert unter der Verkleidung des ästhetisch Schönen,
die eigentliche Hauptrolle gespielt. Leda und der Schwan stehen so in ihren un-
endlich zahlreichen Gestaltungen für eine männlich bestimmte Erotik, die sich
rücksichtslos Bahn bricht.
Nicht nur im Fin de siècle der verschiedenen europäischen Länder, sondern
auch in Lateinamerika ist der Leda-Mythos im Fin de siglo überaus beliebt und
stellt hier nicht zufällig gerade in seiner Mischung aus Sinnlichkeit, Gewalt, Kör-
perlichkeit und künstlerischer wie künstlicher Metamorphose eine interessante
Verbindung zwischen Naturalismo und Modernismo im Zeichen des Jahrhun-
dertendes dar. Rubén Darío konnte auf diesem Gebiet auf literarische Entwicklun-
87 Vgl. das entsprechende Kapitel in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 984 ff.
730 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
gen zurückgreifen, die in ganz Lateinamerika sichtbar waren, gab diesen künstleri-
schen Ausarbeitungen zugleich aber neue Anstöße.
Wenn wir uns diesem modernistischen Gedicht nähern, dann müssen wir bis
zur dritten Strophe warten, bis endlich die schöne Leda in den Versen erscheint.
Und sie erscheint gerade nicht als selbstbestimmtes und selbstbewusstes Subjekt,
sondern als missbrauchtes, geschändetes Objekt des göttlichen und männlichen
Begehrens. Darüber hinaus dürfen wir festhalten, dass der Name des Gottes selbst
nicht auftaucht, also nur durch die Erwähnung der mythologischen Figur Leda im
Leser evoziert wird. Die einzige direkte Anspielung auf die göttliche Herkunft des
Schwans bleibt die Rede vom ‚olympischen Vogel‘ in eben jener dritten Strophe, in
welcher sich offenkundig die Handlungselemente des Mythos konkretisieren und
bündeln. Nur durch die Erwähnung des Namens Leda und das Auftauchen eines
Schwans wird der Gott Zeus evoziert, auch wenn der „Olympiervogel“ dem gebil-
deten zeitgenössischen Lesepublikum die Präsenz des griechischen Götterchefs
signalisierte.
Umgekehrt ist es zumindest auf den ersten Blick überraschend, dass der Name
einer anderen Gottheit, des Hirtengottes Pan, ganz am Ende des Gedichts erscheint,
in der Vers- und Strophen-Endstellung, obwohl in keiner der antiken Fassungen
des Leda-Mythos irgendwo auch nur andeutungsweise von Pan die Rede war. Dies
allein ist schon ein Indiz dafür, dass in diesem Gedicht ein Dichter den Leda-
Mythos nicht nur als Grundmuster, sondern zugleich als dialogisches oder polylogi-
sches Spiel, ja vielleicht sogar als Ausgangspunkt für eine Mythen-Bricolage im
Sinne von Lévi-Strauss verwendet.
Im Rahmen dieser Vorlesung können wir keine detaillierte und ausführliche
Analyse des Gedichts auf der syntaktischen, rhythmischen, metrischen, verstechni-
schen, semantischen, mythologischen, klanglichen, literarhistorischen oder my-
then- und ideologiekritischen Ebene vornehmen, würden wir damit doch bei einem
so dichten Poem wie Daríos Leda mehrere Sitzungen damit zubringen. Doch sollten
wir uns bei diesem Gedicht des nikaraguanischen Modernisten anders als in seiner
Ode A Roosevelt nicht zuletzt auch mit den spezifisch literarischen und verstechni-
schen, metrischen und rhythmischen Verfahren beschäftigen, da sie uns einen gro-
ßen Einblick in die Schaffenskraft Daríos, vor allem aber auch in die Ästhetik
modernistischer Lyrik gewähren. Denn eine literaturwissenschaftliche Analyse der
lyrischen Beschreibung der erotischen Potenz des Olympiers kann nur gelingen,
wenn wir das Gemacht-Sein dieses modernistischen Gedichts verstanden haben.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 731
Wir haben es also zunächst mit vier Strophen a jeweils vier Versen, also Quar-
tetten zu tun,88 die nicht nur rhythmisch und verstechnisch, sondern auch syntak-
tisch abgeschlossen sind, findet sich doch am Ende jeder Strophe ein Punkt, so
dass wir syntaktisch motivierte Formen des Übergreifens – Enjambement – aus-
schließen können. Das ist in der deutschen Übersetzung nicht immer der Fall, aber
auf diese Problematik brauche ich nicht einzugehen: Sie sollten sich am spanisch-
sprachigen Original orientieren!
Versuchen wir, in unserer verstechnischen Analyse einen Schritt weiter zu
gehen: Die vier harmonischen Quartette werden gebildet von jeweils vier fast
durchweg regelmäßigen symmetrischen daktylischen Zwölfsilbern, die – wie
Darío sehr wohl wusste – in der hohen Tradition des mittelalterlichen verso de
arte mayor stehen. Symmetrisch meint in der Terminologie Baehrs, dass jeder
Alexandriner von zwei metrisch selbständigen Sechsilbern gebildet wird, die je-
weils mit einem einsilbigen Auftakt beginnen, dem dann – und deshalb die
Rede von Daktylus – Betonungen auf der zweiten und fünften Silbe folgen, so
dass sich von der zweiten Silbe an zusammen mit den beiden unbetonten Sil-
ben ein Daktylos herausbildet. Das Gedicht ist rhythmisch durchkomponiert
und die einzelnen Verse weisen durchgängig diese Struktur auf.
Mit anderen Worten: Die Alexandriner oder Zwölfsilber sind durchgängig als
Zusammensetzung zweier symmetrischer Halbverse ausgebildet, die durch eine
mehr oder minder stark ausgeprägte Zäsur akzentuiert sind. Das verwendete Reim-
schema ist das des Kreuzreims, wie Sie leicht schon anhand der ersten Strophe
feststellen können: „nieve“ – „breve“, „trasluz“ – „luz“, also a b a b. Zugleich be-
merken Sie einen Wechsel zwischen in der Vers-End-Position stehenden Wörtern
oder besser Lexemen, die auf einer betonten Silbe enden (wie etwa „luz“) und sol-
chen, die auf einer unbetonten Silbe enden (wie etwa „nieve“). Die ersteren be-
zeichnet man als rima aguda, die zweite als rima llana. Auch dies ist innerhalb des
Gedichts durchgängig und harmonisch durchgeführt, so ausgeglichen harmo-
nisch, dass diese Verfahren uns fast ‚natürlich‘ scheinen könnten. Und doch sind
sie ‚gemacht‘, sind Teile eines poetischen Verfahrens.
In der Zäsur-Stellung der Halbverse stehen Lexeme mit der Betonung auf der
vorletzten Silbe, mit Ausnahme der Verse 3 und 10, wo mit „crepúsculo“ und
„pájaro“ zweimal eine palabra esdrújula, folglich Proparoxytona verwendet wer-
den. Sie geben eine leichte rhythmische und rhythmisierende Abweichung für
ihre jeweiligen Verse vor, rhythmisieren unser Gedicht also zusätzlich. Ebenso
88 Vgl. zu diesem Gedicht auch die schöne Analyse von Wentzlaff-Eggebert, Harald: Rubén
Darío, „Leda“. In: Tietz, Manfred (Hg.): Die Spanische Lyrik der Moderne. Frankfurt am Main:
Vervuert 1990, S. 80–96.
732 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
wie bei den zahlreichen Synaloephen stellt dies gemäß der spanischen Verslehre
jedoch keinen Regelverstoß dar, sondern ist ein erlaubtes künstlerisches Aus-
drucksmittel zur Gestaltung und Rhythmisierung der Verse. Rubén Darío bewegt
sich hier voll und ganz innerhalb der zeitgenössischen poetischen Strukturen.
Betrachten wir die Strophen nun als Ganzes und in ihrem wechselseitigen Zu-
sammenspiel, so bemerken wir rasch, dass sich Vers 1 und 8, also der erste Vers
der ersten Strophe und der letzte Vers der zweiten Strophe, gegenseitig entspre-
chen, ja eine bewusste Parallelstellung aufweisen. Dies stellt eine gewisse abge-
schlossene Einheit dar, die von den ersten beiden Strophen gebildet wird; eine
Tatsache, die zweifellos inhaltlich motiviert ist: Es geht hier um die poetische Dar-
stellung des göttlichen Schwans. Dass dies zwar eine Einheit, aber keine Isolierung
bedeutet, legt das in Vers 9 folgende „Tal es“ nahe, das ja gerade die beiden voran-
gehenden Strophen in die dritte Strophe projiziert, also in eben jene Strophe, von
der wir bereits vermuten dürfen, dass sie die mythologischen Handlungselemente
am besten repräsentiert und kondensiert. Denn diese mythologischen Elemente
sind in den beiden ersten Strophen nur latent vorhanden, werden aber noch nicht
wirklich manifest. Schon diese erste formale Untersuchung erweist das Gedicht als
klar strukturierte und zugleich durchgängig konzipierte Einheit, welche Darío
zweifellos als großen Künstler ausweist. Sehen wir uns nun die einzelnen Strophen
etwas genauer an und beginnen wir mit dem ersten Teil, also den beiden ersten
Strophen, die – wie wir sahen – eine Einheit bilden!
Diese beiden ersten Strophen gelten nicht etwa der Titelfigur des Gedichts,
also Leda; im Mittelpunkt ihrer poetischen Darstellungen steht vielmehr der
Schwan, der gleichsam in zwei verschiedenen Augenblicksaufnahmen gezeigt
wird, welche durch ein „Y luego“ in eine klare zeitliche Abfolge gebracht werden.
Wir erblicken zum einen den Schwan zuerst im noch morgendlichen Schatten
der aufgehenden Sonne, um ihn danach im starken Licht der Sonne („sol“) zu
sehen, deren männliche Kraft – die Sonne ist im Spanischen ja männlich – den
Abschluss des achten Verses bildet und damit gleichsam natürlich den Übergang
zur männlichen Kraft des Schwans in der mythologischen Aktion der dritten Stro-
phe leistet. Hier wird folglich an der männlichen Potenz des Olympiers gefeilt.
Im ersten Vers erscheint der göttliche Schwan aus Schnee: Und dass der
exotisch wirkende Schnee gerade bei den tropischen Modernisten eine große
Rolle spielt wie etwa in einem so großartigen Gedicht wie Nieve von dem oft in
zweiter Reihe stehenden Modernisten Julián del Casal, ließe sich leicht zeigen.
Der (im Gedicht eine so große Rolle spielende) Farbwert verändert sich leicht in
der Mittagssonne, denn dann ist unser Schwan aus Silber. In gewisser Weise ist
hier der Schnee in Silber umgeschmolzen worden und hat eine feste, stabile,
harte Form gewonnen.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 733
Schon der Schnabel des Schwans aber ist im zweiten Vers relativ hart, aus
Bernstein – auch wenn dies nicht gerade der härteste Stein ist –, wiederholt sich
aber in dem fordernden Schnabel des dritten Verses (wiederum „pico“) und spie-
gelt sich akustisch ebenfalls in der auf Zeus bezogenen Charakterisierung des Vo-
gels als „olímpico“. Noch sind die Flügel dieses Schwans ruhig im Morgenlicht
gerötet, bevor sie – mit anderer mythologischer Reminiszenz – dann in der drit-
ten Strophe zu schäumen beginnen („esponja“). Wir müssen sogleich an die
schaumgeborene Aphrodite denken und wissen, dass wir einer Zeugungs- und
vielleicht auch Geburtsszene beiwohnen.
Innerhalb der Farbkonstellation erscheinen neben dem Weiß und dem bereits
erwähnten Silber und Bernstein insbesondere die Bläue des Sees sowie die rötlich
färbende Morgensonne, deren anfänglich zartes Licht sich freilich bald schon ver-
ändert. Denn der rote Schein der Aurora geht bald verloren: die Flügel werden nun
straff („tendidas“) und der lange Hals versteift sich, kurz: die männlichen, beherr-
schenden, harten Elemente gewinnen im Schwan die Oberhand, so dass sich in
diesem doppelten Bild des Schwans bereits eine Entwicklung abzeichnet, die klar
auf den Liebesakt der dritten Strophe zielt. Doch dies bleibt bei einer ersten Lek-
türe des Gedichts noch in der Latenz.
Die Stärke des olympischen Vogels beruht nicht allein auf dem göttlichen Ur-
sprung, sondern auf der aus der mystischen Literatur sattsam bekannten Liebes-
wunde („herido de amor“), eine Verletzung des Subjekts Schwan, welche bereits
die Verletzung des Liebesobjekts Leda andeutet. Dies geschieht dann im elften
Vers, in dem das mythologische Geschehen nach der bisher verwendeten Verrätse-
lungs-Struktur in das Gegenteil umschlägt, erscheint doch der schöne Schwan, in
dem sich Zeus der Leda annähert, als Vergewaltiger des unschuldigen Mädchens:
„y viola en las linfas sonoras a Leda.“ Der Dichter wird hier explizit und spricht
von den anderen Lippen („labios“) der jungen Frau, denen sich das Geschlechtsteil
des Gottes annähert und die nackte Leda niederdrückt. Die deutschsprachige Über-
setzung ist diese Offenheit des nikaraguanischen Dichters nicht mitgegangen und
spricht deutlich verschämter und verklausulierter von der Vergewaltigungsszene.
Erotik und Gewalt, männliche Aktivität und weibliche Passivität werden hier
in der von antiker, aber auch ikonischer Bildtradition verbürgter Geschlechterauf-
teilung zu jenem Liebesakt geführt, der später zur Geburt der schönen Helena
führt. Diese wird, wie Sie wissen, dank ihrer strahlenden Schönheit zur Auslöserin
des Trojanischen Krieges, insofern die Frage des Besitzes einer Frau in einer patri-
archalischen Gesellschaft gewaltauslösend und als Kriegsgrund wirken kann. Sie
sehen: Diese Vergewaltigung hat Folgen! Der Bildtradition der Leda-Darstellungen
entspricht der zwölfte Vers, der freilich auf der Ambivalenz aufbaut und die Verei-
nigung von Tier und Mensch ausspielt, sucht doch ein männlicher „pico“ die weib-
lichen „labios en flor“. Die sinnliche, erotisch aufgeladene Atmosphäre des Fin de
734 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
siècle bricht sich hier Bahn und findet fernab aller romantischen Ästhetik in die-
sem modernistischen Gedicht ihren künstlerischen Ausdruck.
Erst in der vierten und letzten Strophe verwandelt sich Leda, immerhin die Ti-
telfigur des Gedichts, in eine Protagonistin, wenn auch nur für die erste Hälfte die-
ser letzten Strophe. Sie ist die Inkarnation der Schönheit, ist die ästhetisch Schöne
(„la bella“), deren Handeln freilich ebenso sinnlich wie ambivalent ist: Ihre Nackt-
heit (sie ist „desnuda“) wird mit dem „suspirar“ gekoppelt, das ein Seufzen auf-
grund eines Schmerzes wie auch ein Stöhnen während des Liebesaktes sein kann.
Dieses Stöhnen der jungen Frau wird mit der Metapher des Besiegt-Seins verbun-
den; eine Sprache der Liebe,89 die ihrerseits ebenso die physische Besiegtheit wie
auch das Besiegt-Sein von der Liebe des Zeus signalisieren kann. Die körperliche
Liebe wird in diesem verdichteten Liebesdiskurs zweifellos geschlechterspezifisch
durchbuchstabiert.
Das Klagen und Stöhnen, die „quejas“ der jungen Frau, sind ebenso Klagen
wie Liebesklagen, so dass Leda letztlich noch immer im Banne des göttlichen
Beischlafs und des Ereignisses steht, das sie freilich nicht begreifen kann. Doch
eine weitere mythologische Figur steht ebenfalls im Banne des Geschehenen
wie auch des Gesehenen: der sinnliche Hirtengott Pan, der Zeus’ Handeln an
Leda mit funkelnden Augen mitverfolgt hat. Der fünfzehnte Vers ist klanglich
ganz anders strukturiert und betont die o-Laute sowie die dunklen u-Vokale,
wobei auch noch die Farbe Grün erstmals die modernistische Farbenpalette er-
weitert. Hier funkeln also verwirrt angesichts des Gesehenen die Augen des
Pan, womit einmal mehr die optische, visuelle Vorherrschaft innerhalb des Ge-
dichts herausgestellt wird.
Mit Pan aber tritt ein Gott der Sinnlichkeit und physischen Inbesitznahme auf
den Plan, wobei er in diesem Zusammenhang keineswegs in Opposition zum Götter-
vater Zeus steht, dem es bei aller Liebe ebenfalls um den Vollzug des Geschlechtsak-
tes geht. Gewiss ist Pan Sinnbild für eine derbe Erotik; doch die Handlungsweise
von Zeus im Gedicht wird explizit als Vergewaltigung der Leda bezeichnet, so
dass die Liebe des Olympiers keineswegs im harmonischen Einklang mit der
Natur steht90 und auch nicht von ästhetischen Reizen allein getragen ist.
Denn immerhin vergewaltigt der Olympier wortlos die schöne Jungfrau, im-
merhin wird aus seinem sanften rosarot getönten Bild das Bild eines sich auf-
richtenden fordernden rücksichtslosen Gottes, der sich die junge Schöne holt.
Pans Welt ist sicherlich das Grüne, das Laubwerk, der Erdboden seiner Schaf-
89 Vgl. hierzu ausführlich den zweiten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: LiebeLesen
(2020).
90 Vgl. hingegen die Deutung von Harald Wentzlaff-Eggebert.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 735
herden, während die Welt des Zeus die Bläue des Sees ist, die an die Bläue des
Himmlischen und Ätherischen gemahnt. Insofern lässt sich zwischen dem erd-
verbundenen Pan und dem ätherischen Zeus sehr wohl ein klarer Gegensatz er-
kennen. Doch ist gerade auch dies eine Opposition, in deren Zentrum das
Weibliche als objekthaft auslösender Reiz steht.
Der mächtige Zeus, dessen Schwanenflügel die Wasseroberfläche zum Schäu-
men bringen, sorgt seinerseits dafür, dass Helena – die nicht hier, aber in anderen
Gedichten Rubén Daríos auftaucht – wohl keine Schaumgeborene, wohl aber eine
Schaumgezeugte sein wird. Ihrer Zeugung wohnen gleichsam zwei Götter als Ver-
treter diametral entgegengesetzter Zugehörigkeiten innerhalb der griechischen Göt-
terwelt bei, ganz so, wie Helena eine überaus komplexe und ambivalent sinnliche
Rolle innerhalb der sich anbahnenden Geschichte der griechischen Expansion
spielen wird. Sie ist als Mensch das Produkt eines mächtigen Übergriffs durch
einen Gott. Halten wir an dieser Stelle aber fest: Die ästhetischen Linien und Far-
ben wie auch die verschiedenen Bestandteile des schönen Schwans beschränken
sich nicht auf eine Schönheit und Ästhetik der Vision, sondern dringen jenseits
aller Farbenspiele mit aller Gewalt in die Sphäre des eigentlich Verbotenen ein!
Die Metamorphosen des Gottes führen nur bedingt zu einer Ars amatoria: Denn
eigentlich übt sich der in einen Schwan verwandelte Gott in brutaler männlicher
Gewalt.
Es gibt daher durchaus eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen der
schwül-sinnlichen Szenerie des erotisch aufgeladenen Innenraums, wie wir sie
in den Werken des europäischen wie des amerikanischen Fin de siècle so häu-
fig vorfinden,91 und der Atmosphäre des am antiken Mythos arbeitenden mo-
dernistischen Gedichts Leda des allem Sinnlichen zugewandten Rubén Darío.
Seine Leda ist zweifellos keine Femme fatale, die durch die Romane vor allem
des späten 19. Jahrhunderts allenthalben geistert. Doch hat auch die jungfräu-
liche Schönheit der Leda ihre Wunden im männlichen Herzen geschlagen,
auch wenn dieses das Herz eines olympischen Vogels sein mag. Daríos Leda ist
zweifellos eine antik geheiligte und jungfräulich unschuldige, aber dennoch
eine im Zeichen des Fin de siglo wahrgenommene Schöne, die den Trieb
der Männer auf sich lenkt.
Rubén Daríos Lyrik aber – dies hören wir unverkennbar – ist eine von den
Erfahrungen der Plastizität der französischen Parnassiens geprägte Dichtkunst,
die in den ersten beiden Strophen dominiert, es dann aber auch versteht, die
Sinnlichkeit anschaulich werden und verschiedene Gegensätze (wie männlich
91 Vgl. hierzu die entsprechenden Kapitel in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten,
S. 963 ff., S. 984 ff.
736 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
vs. weiblich, unschuldig vs. lustvoll, gewalttätig vs. passiv und vieles mehr) aufei-
nanderprallen zu lassen, ohne dabei doch die geordnete Schönheit des Gedichts
preiszugeben. Sinnlichkeit wie erotische Gewalt sind damit in einer höheren Form-
gebung aufgehoben, die sich innerhalb einer jahrtausendelangen literarischen
und philosophischen Tradition weiß, aber auch nicht davor zurückschreckt, dieser
abendländischen Tradition aus lateinamerikanischer Sicht neue Elemente hinzu-
zufügen. Daríos Lyrik schreibt sich damit in die abendländischen Traditions-
stränge ein, bewahrt zugleich aber schon auf Ebene der Chromatik ihren eigenen
modernistischen Standpunkt hispanoamerikanischer Ästhetik.
Wir verstehen nun besser, warum eine solche Lyrik den zunächst spani-
schen, später aber auch europäischen Intellektuellen in deren Arbeit am My-
thos als ungeheuer anziehend und attraktiv erscheinen musste, gelang doch
Darío eben jene Versöhnung zwischen Antike und Modernität, welche die Lite-
raturen der Jahrhundertwende wie auch der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten
Jahrhunderts besonders prägte. Rubén Daríos Arbeit am Mythos sollte sich
schon bald in Werken wie Alfonso Reyes’ Theaterstück Ifigenia cruel fortsetzen,
indem das griechische Ambiente durch einen amerikanischen, ja eigentlich me-
xikanischen Kontext ersetzt wird, der Iphigenie nicht mehr nach Tauris und ins
Taurerland, sondern in die Welt der Azteken transportierte.92 Dies wäre ohne
die modernistische Vorarbeit am griechischen Mythos wohl kaum möglich
gewesen.
Zwischen 1896, dem erstmaligen Erscheinen des Gedichts, und 1905, mithin
seiner Aufnahme in die Gedichtsammlung Cantos de vida y esperanza, befand
sich Rubén Darío nicht nur auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Schaf-
fens, sondern auch seiner Bedeutung und seiner Strahlkraft innerhalb des lite-
rarischen Feldes, das – zusammengesetzt aus verschiedenen Teilbereichen –
das Feld der spanischsprachigen Literaturen bildete. Dieses Feld war ohne
jeden Zweifel transareal und transatlantisch und sicherlich längst nicht mehr
nationalliterarisch erfassbar. Dies gilt es nicht zu vergessen, wenn wir uns mit
dem Modernismo im Kontext der damaligen Epoche von Jahrhundertende und
Jahrhundertwende beschäftigen.
Noch ein Wort zu dieser modernistischen Epoche, die sich nach den Ameri-
kas bald auch auf den europäischen Kontext ausdehnte. Die zeitliche Begren-
zung des Modernismo ist ebenso umstritten wie seine eigentliche Definition,
welche zu den bis heute am kontroversesten diskutierten literarischen Bewe-
gungen zählt. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass wir innerhalb des Fin de
92 Vgl. das Alfonos Reyes gewidmete Kapitel in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgar-
den bis nach der Postmoderne, S. 196 ff.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 737
93 Vgl. hierzu die Bände zwei und vier der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: LiebeLesen, S. 552 ff.;
sowie Romantik zwischen zwei Welten, S. 1038 ff.
738 Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen
Modernismo bis in die Lyrik der dreißiger Jahre vernehmen, doch scheint es
mir auch hier zutreffender, den Modernismo in der Mitte des zweiten Jahr-
zehnts des 20. Jahrhunderts abebben und in andere literarische und ästhetische
Bewegungen und Positionen eingehen zu lassen. Denn es handelt sich um die
bewegte Zeit der bereits vor sich gehenden Mexikanischen Revolution wie auch
des Ersten Weltkriegs, der Lateinamerika militärisch nicht, wirtschaftlich aber
teilweise sehr stark berührte. Dies also wäre mein literaturgeschichtlicher Vor-
schlag, um Ihnen eine zeitliche Periodisierung und Eingrenzung des Moder-
nismo leichter zu machen.
In der Tradition von Federico de Onís taucht der Begriff des Postmodernis-
mus erstmals in der hispanoamerikanischen Theoriebildung im Zusammenhang
mit dem Modernismo auf. Er meint einen Zwischenraum zwischen einem ersten,
noch moderaten Modernismo, und einem späten, gesteigerten und vielleicht gar
übersteigerten Modernismus. In jedem Falle ist zum einen interessant, dass noch
Jahrzehnte vor der Postmoderne-Diskussion94 ein terminologischer Vorläufer,
vielleicht auch nur Querschläger die Frage des Postmodernismus an die des Mo-
dernismus in Hispanoamerika anknüpfte, und dass zum anderen die Frage der
nachfolgenden Abgrenzung überaus weit von Onís ausgelegt wurde, was darauf
hindeuten mag, wie unklar die Grenzen zwischen Modernismo und den histori-
schen Avantgarden in Hispanoamerika verlaufen. Wieder stoßen wir auf das Phä-
nomen, dass wir auch im Umfeld der historischen Avantgarden in Lateinamerika
auf keine Ästhetik des Bruches treffen.
Gerade am Beispiel von Alfonso Reyes ließen sich ohne Zweifel sehr schön
die Kontinuitäten benennen, welche eine vom Modernismus geprägte Sprache
mit den rebellischen Positionen avantgardistischen Schreibens verbinden. Es
ist in diesem Zusammenhang höchst aufschlussreich, wie zuvor schon ein Dich-
ter wie Rubén Darío praktisch zeitgleich und synkretistisch die verschiedensten
Elemente aus Parnasse, Symbolismus, aber auch aus den vorangehenden frü-
hen hispanoamerikanischen Modernisten beziehungsweise modernistischen
Vorläufern bezog und rezipierte, während ein José Enrique Rodó nicht allein
auf William Shakespeare, sondern auf viele französische Literaten unterschied-
lichster ästhetischer Ausrichtung, aber auch auf Philosophen wie Ernest Renan
und gleichzeitig Friedrich Nietzsche zurückgreifen konnte. Er suchte damit sei-
nen Traum von einer Literatur zu verwirklichen, der vielleicht in seinen Motivos
94 An dieser Stelle verweise ich auf die ausführliche Diskussion dieser Thematik in Ette, Ott-
mar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 399 ff.
Rubén Darío oder das drohende Sterben des Spanischen 739
95 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Archipelisches Schreiben und Konvivenz. José Enrique Rodó und
seine „Motivos de Proteo“. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’His-
toire des Littératures Romanes (Heidelberg) XLII, 1–2 (2018), S. 173–201.
Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno oder
ein Ideenreservoir für Tod und Wiedergeburt
Spaniens
Will man die geistige Entwicklung Spaniens im ausgehenden 19. Jahrhundert er-
fassen und die Möglichkeiten beleuchten, die dort mit Blick auf neue Orientierun-
gen diskutiert wurden, so ist der Weg zu Ángel Ganivet unverzichtbar. Bevor wir
uns mit einem Ausschnitt des für das spanische Denken der Jahrhundertwende
wichtigen, ja prägenden Schreibens von Ángel Ganivet beschäftigen, möchte ich
Ihnen als Einstimmung einen freilich kurz gehaltenen Überblick über einige Bio-
grapheme und Werke dieses Essayisten, Romanciers, Diplomaten und Kulturkriti-
kers geben, der mit seinem Ideárium español so etwas wie die kulturkritische Bibel
nicht wie Joris-Karl Huysmans der Dekadenten, wohl aber der sogenannten spani-
schen Generation von 1898 und der Erneuerer Spaniens verfasste.
Der für die ‚98er‘ also so wichtige Ángel Ganivet wurde am 13. Dezember
1865 im spanischen Granada geboren und schied am 29. November 1898 im let-
tischen Riga durch Freitod aus dem Leben. Was es an Biographemen aus dem
Leben des Granadiners zu berichten gibt, steht unter keinem glücklichen Stern,
was schon mit dem frühen Krebstod seines Vaters begann, als der kleine Junge
gerade einmal neun Jahre alt war. Fast hätte er nach einem Beinbruch im Folge-
jahr ein Bein durch Amputation verloren, doch konnte er durch aufwendige
Pflege und fleißiges Training diesem Schicksal entgehen. Er studierte Recht,
Philosophie und Literaturwissenschaften an der Universität von Granada und
begann 1888 ein Promotionsstudium in Madrid. Nachdem sein ursprüngliches
Thema España filosófica contemporánea – das bereits seine Denkrichtung an-
zeigte – abgelehnt worden war, promovierte er 1890 mit einer Arbeit über die
Bedeutung des Sanskrit; eine Dissertation, die mit einer Auszeichnung verse-
hen wurde.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-024
Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno 741
Er fand in einem Ministerium eine Stelle bei den Archiveros. Seine Hoffnung,
einen Lehrstuhl für Griechisch an der Universität von Granada zu bekleiden, er-
füllte sich jedoch nicht. Ganivet widmete sich hierauf einer diplomatischen Karri-
ere, die er beherzt antrat. Noch in Madrid lernte er eine Reihe wichtiger spanischer
Schriftsteller kennen, darunter Miguel de Unamuno, mit dem ihn bald eine inten-
sive Freundschaft verband. Seine beiden Kinder wurden in Paris geboren, wo
seine älteste Tochter verstarb. Der Tod blieb Ganivets Begleiter.
Bereits 1892 wurde er zum Vize-Konsul in Antwerpen ernannt, wo er vier
Jahre lang lebte und im diplomatischen Dienst arbeitete. 1895 wurde er spani-
scher Konsul in Helsinki, wo er im Verlauf zweier Jahre in seiner produktivsten
Periode seine wichtigsten literarischen und philosophischen Werke verfasste.
Doch da die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern stagnierten,
schloss Spanien das finnische Konsulat und versetzte Ganivet 1898 nach Riga,
wo der Intellektuelle in eine tiefe Depression verfiel. Nach einem gescheiterten
Selbstmordversuch stürzte er sich am 29. November 1898 von einem Schiff in
die Düna, wurde gerettet, riss sich danach aber wieder los und stürzte sich er-
neut in den Fluss, womit sein tragisches Leben endete.
Fand sein physisches Leben damit auch ein Ende, so begann mit seinem
Tod ein intensives Nachleben oder Weiterleben, das den spanischen Denker in
eine nationale Symbolfigur verwandelte. Zu Lebzeiten arbeitete Ganivet unter
anderem für El defensor de Granada, wo einige seiner Werke veröffentlicht wur-
den. Sein ursprüngliches Dissertationsthema war zuvor schon unter dem Titel
España filosófica contemporánea in Essayform erschienen. Ganivet blieb sich
zeit seines Lebens treu. Diese politische Ausrichtung an Spaniens Gegenwart
und Zukunft wurde durch seine stark moralischen, aber auch ästhetischen In-
teressen angereichert und komplettiert. Ángel Ganivet besaß eine solide litera-
rische und philosophische Bildung, kannte die griechische Philosophie sowie
die nordischen Literaturen sehr gut. Es ist sicherlich nicht übertrieben, wenn
man ihn zusammen mit Miguel de Unamuno als den umfassend gebildetsten
Autor seiner Epoche in Spanien bezeichnet.
Sein Granada la bella von 1896 war idealisierende Liebeserklärung an seine
Heimatstadt und zugleich eine literarisch nicht ungeschickte Vermischung
nostalgischer Rückschau mit Philosophemen aus der griechischen Philosophie.
Sein Hauptwerk aber bildet das Ideárium español, das 1898 erschien und frontal
die Gründe für die damalige Dekadenz Spaniens anging. Der Titel der deut-
schen Übersetzung Spaniens Weltanschauung und Weltstellung1 mag Ihnen be-
reits einen ersten Eindruck von der Zielstellung Ganivets geben, der mit der
spanischen Gegenwart schonungslos umging und Kräfte dafür sammelte, um
Spanien zu erneuern.
Die scharfe Kritik an den spanischen Sitten gegen Ende des 19. Jahrhunderts
formulierte Ángel Ganivet auch in anderen seiner Werke; doch keines kann
sich mit der umfassenden gesellschaftlichen Wirkung seines Ideárium español
vergleichen. In seinen Cartas finlandesas etwa versuchte er, die Sitten Finn-
lands darzustellen und durch treffsichere Vergleiche mit Spanien seinem spani-
schen Lesepublikum neue Denkanstöße zu geben. Auch seine literarischen
Porträts nordischer Schriftsteller stellen eine Besonderheit innerhalb der spani-
schen Literatur dar und zeigen die große Belesenheit und Aufgeschlossenheit
des iberischen Autors. Erst 1912 erschien sein Briefwechsel mit Miguel de Una-
muno unter dem Titel El Porvenir de España und dokumentiert, wofür Ángel Ga-
nivet in seinem Vaterland längst stand. Denn bereits unmittelbar nach seinem
Tod war ein wahrer Ganivet-Kult entstanden, der in einem depressiven Spanien
jenen Autor, der für Spanien Wege in die Zukunft wies, zum politisch-literarischen
Vorbild machte, das zu seiner Zeit – so die gängige Meinung – zu einem Opfer der
nationalen Depression geworden war. Ángel Ganivet war zum spanischen Märtyrer
geworden. Kein Wunder also, dass man später den Leichnam dieses Blutzeugen –
übrigens während der Diktatur Primo de Riveras – nach Granada überführte.
Wir wollen uns bei Ángel Ganivet vor allem auf sein Hauptwerk und damit
auf die Bibel der 98er Generation konzentrieren, also Ganivets Ideárium espa-
ñol. Im bürgerlich-katholischen Ambiente der Provinzstadt Granada aufge-
wachsen, war Ganivet mit den Problemen Spaniens aus eigener Anschauung
wohlvertraut. Durch seine Auslandsposten in Antwerpen, später in Helsinki
und zuletzt in Riga war er gerade auch durch die Außenperspektive und die Re-
präsentation seines Landes mit einer Vielzahl von Problemen vertraut, die ihm
auch bei der Abfassung seiner kulturkritischen Essays wesentlich halfen. Mar-
tin Franzbach betonte in seiner umfassenden Darstellung des spanischen „No-
ventayocho“,2 Ganivets zentrale Frage sei es gewesen, wie sich Spanien durch
eine Neubesinnung auf die eigene Tradition erneuern könne. Dies scheint mir
eine nach wie vor zutreffende generelle Beschreibung seines Denkens zu sein.
Tagsüber ging Ganivet beruflichen Verpflichtungen nach, hielt sich möglichst
die Abende frei und schrieb dann nachts wie besessen an seinem umfangrei-
chen Werk.
2 Vgl. hierzu Franzbach, Martin: Die Hinwendung Spaniens nach Europa. Die Generación del
98. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988.
Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno 743
Sein Ideárium español ist ein binnen weniger Monate abgefasster und im Ok-
tober 1896 abgeschlossener kulturkritischer Essay, in dem das Verhältnis zwi-
schen Tradition und Fortschritt von besonderer Bedeutung ist. Zentral ist dabei
seine Äußerung des „noli foras ire“, weil im Innern Spaniens die Wahrheit liege.
Ganivet knüpft dabei an die lange Tradition kulturkritischer und politischer Ver-
suche über den problematischen Zustands Spaniens an, die im letzten Drittel des
Jahrhunderts zu einer Reihe von Arbeiten führten, die sich als „Regeneracio-
nismo“ verstehen lassen. Diese Widerbelebung Spaniens fand zweifellos in Joa-
quín Costa ihren wichtigsten Vertreter. Vorrangiges Ziel Ganivets ist es dabei, zur
Genesung des kranken spanischen Volkskörpers beizutragen.
Kurz zum Gesamtaufbau von Ganivets Ideárium español! Das Werk besteht
aus insgesamt drei Teilen: Im ersten Teil wird der Stoizismus Senecas für das
Temperament herangezogen, eine Rückbesinnung auf die Stoa, die sich für Ga-
nivet reduzieren könnte auf ein ‚Lass’ Dich durch nichts besiegen, was Deinem
Geiste fremd ist‘, ‚Was auch immer Dir geschieht, halte dich stets aufrecht, so
dass man in allen Lebensfällen von Dir sagen kann, dass Du ein Mann bist‘. Zu
diesen philosophischen Maßregeln des Seneca kam die christliche Lehre hinzu,
welche für Ganivet – ganz der Tradition des Panlatinismus folgend – zu den
unverzichtbaren Grundlagen Spaniens gehörte. Sie wissen vielleicht, dass dies
noch unter der Diktatur des Generalísimo Franco zur festgefügten ‚spanischen
Identität‘ als Bollwerk des Christentums gehörte.
Im zweiten Teil des Ideárium wird schonungslos die Politik Spaniens analy-
siert; ihre Dekadenz und ihr letztlicher Zusammenbruch liegen für Ganivet darin
begründet, dass man sich zu sehr den außenbezogenen Unternehmungen gewid-
met und sich nicht auf die Entfaltung des Eigenen besonnen habe. Es sei daher
unumgänglich, dass sich Spanien auf sich selbst konzentrieren und auf den
Grundlagen der eigenen Tradition eine innere Rekonstruktion spanischen Seins in
die Wege leiten müsse. Als schlimmste Beeinträchtigung des gesunden spanischen
Körpers wird im dritten Teil des Werkes die Schwächung des Willens angesehen,
die charakteristische Willensschwäche Spaniens. Das Land müsse baldmöglichst
wieder zu seinen ureigenen Traditionen und zu seinem individualistischen Geist
zurückfinden, welcher es stets ausgezeichnet habe. Sie bemerken leicht, wie
sehr – um mit Rubén Darío zu sprechen – der Geist von D.Q., wie sehr die Figura
des Don Quijote hier in den Lüften spukt.
Im ersten Teil seines umfangreichen Essays ging Ganivet folglich vom Stoi-
zismus Senecas aus, der zwar kein Spanier gewesen, wohl aber „español por
esencia“ gewesen sei. Als zweites Element komme dann die christliche Moral
hinzu, die allerdings das Terrain schon durch den Stoizismus gut vorbereitet
vorgefunden habe. Ganivet betont dabei die entscheidende Bedeutung des
Christentums, das den tiefsten Eindruck in Spanien hinterlassen habe, sei es
744 Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno
doch von ganz oben herab, vom Himmel, auf das iberische Land gefallen. Die
christlichen Philosophen, so Ganivet weiter, hätten später auf die antiken Phi-
losophen zurückgegriffen, so dass sich auf diesem Gebiet gerade in Spanien
eine gewisse geistig-weltanschauliche Kontinuität herausgebildet habe.
Dies habe letztlich zur Schöpfung und Herausbildung eines originelleren
Christentums in Spanien geführt. Ganivet stellt fest, dass in der Geschichte Spa-
niens die Philosophie gegenüber anderen Äußerungsformen des Geistes zu-
rückgetreten sei und dass die auch aus seiner Sicht so wichtige spanische
Mystik, bei der er sich etwa auf Santa Teresa de Jesús bezieht, durchaus starke
Wurzeln im arabischen Fanatismus besitze. Wie auch bei anderen Angehörigen
der nachfolgenden „Generación del 98“ fundiert Ganivet seine Spaniensicht
nicht zuletzt in der spanischen Mystik einer Santa Teresa de Jesús.
All dies verbindet Ganivet durchaus mit einer Kritik an der Moderne, würden
doch Telegraph und Telefon nicht dazu führen, dass sich Ideen schneller bilden,
sondern nur, dass sie schneller zirkulieren.3 Dadurch ergibt sich bei ihm ein
deutlich antimodernistischer, gegen die Modernisierung gerichteter Grundzug,
der sein gesamtes Denken prägt. Durchaus problematisch sieht er die gesell-
schaftliche Rolle der Erfinder, die er einer ironischen Spiegelung unterzieht:
Ihre Arbeiten, wenn sie denn einen wirklichen Einfluss auf die Erfindungen ausübten, auf
die unser Jahrhundert so stolz ist, waren nützlich gewesen; sie haben dem Menschen nicht
gänzlich unangenehme Annehmlichkeiten verschafft wie etwa das schnelle Reisen, auch
wenn man unglücklicherweise eben dort ankommt, wohin man auch durch langsames Rei-
sen gekommen wäre. Aber ihr ideeller Wert ist gleich null, und anstatt die Metaphysik zu
entthronen, haben sie ihr letztlich gedient und sie vielleicht gar begünstigt; sie wollten Her-
ren sein und sind doch kaum Knechte. Wer sich unter Verachtung von Glaube und Vernunft
den Experimenten widmet und den Telegraphen oder das Telefon entdeckt, möge nicht
glauben, dass er die alten Ideen zerstört habe; was er getan hat, war daran zu arbeiten, dass
sie mit größerer Schnelligkeit zirkulieren, um sich in einem weiteren Kreis zu verteilen.
[...]
Ich applaudiere den gelehrten und vorausschauenden Männern, die uns das Teleskop
und das Mikroskop, die Eisenbahn und die Dampfschifffahrt, den Telegraphen und das
Telefon, den Phonographen, den Blitzableiter, das elektrische Licht und die Röntgen-
strahlen herbeischafften; allen muss man für die schlechten Momente, die sie einem be-
scherten, danken, so wie ich meinem Hausmädchen für die gute Absicht danke, mir
einen Regenschirm zu bringen; doch ich sage auch, dass wenn es mir gelingt, mich zwei
Handbreit hoch über die mich umgebenden routinemäßigen Vulgaritäten zu erheben,
und so die Wärme wie das Licht irgendeiner großen und reinen Idee verspüre, dann die-
nen mir all diese schönen Erfindungen zu rein gar nichts.4
3 Ganivet, Ángel: Ideárium español. In (ders.): Obras Completas. Prólogo de Melchor Fernán-
dez Almagro. Madrid: Aguilar 1961, Bd. 1, S. 147–305, hier S. 165.
4 Ganivet, Ángel: Ideárium español, S. 165 f.
Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno 745
Angel Ganivet lässt seinem Spott in dieser Passage freien Lauf. Es ist im Grunde
ein Lächerlich-Machen aller Modernisierung und damit der Moderne insge-
samt – und dies aus einer Sicht, die sich uneingeschränkt zu Spanien bekennt.
Dieser Verhohnepiepelung des technischen Fortschritts und der Weiterentwick-
lung der materiellen Welt liegt der Glaube zugrunde, dass die Dinge des Geistes
und die Spiritualität hiervon letztlich nicht in grundlegender Weise berührt
werden. Aus dem materiellen und technologischen Rückstand Spaniens macht
der Intellektuelle aus Granada sogar noch einen Vorteil für sein Heimatland.
Seine Regenerierung Spaniens findet folglich nicht auf dem Terrain des materi-
ellen Fortschritts statt.
Vergessen wir nicht, dass Spanien zum Zeitpunkt der Abfassung und des Er-
scheinens dieses Essays noch nicht in die Katastrophe von 1898 geschliddert
war; Ganivet konnte also die Vorführung einer auch in kriegstechnischen Dingen
nicht ganz unwesentlichen Unterlegenheit und deren Folgen sicherlich noch
nicht in aller Schärfe erkennen. Gleichwohl zeigen diese Seiten über die Meister-
schaft eines literarischen Diskurses hinaus, dass der Schwerpunkt – wie der Titel
auch schon vermuten lassen konnte – auf den Ideen liegen werde, die zur Be-
handlung des spanischen Problems notwendig und sinnvoll waren. Ángel Gani-
vet stimmte mit einem José Enrique Rodó überein, der einen rein materiellen
Fortschritt ebenfalls stark relativierte und sich an einer „moderna literatura de
ideas“ ausrichtete: Der spanischsprachige Kosmos reagierte mit der Betonung
geistiger und ideeller Werte auf die Herausforderung durch eine stark angelsäch-
sisch geprägte Welt. Dies war, das sei hier angemerkt, mit Sicherheit nicht die
Reaktion, die sich José Martí auf den nach seiner Befürchtung schon bald bevor-
stehenden ‚Besuch‘ durch die USA vorstellte.
Die Wiedergenesung Spaniens bleibt damit von Beginn an einer Art Ideen-
behandlung überantwortet; ein gewisser idealistischer Grundzug, der durchaus
mit der idealistischen Grundlinie der Philosophie in Spanien in Verbindung zu
bringen ist. Denn diese stand seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Vermitt-
lung von Julián Sanz del Río und anderer unter dem Einfluss einer nach Spa-
nien übersetzten deutschen Philosophie, die als „Krausismo“ – benannt nach
dem deutschen Philosophen Karl Christian Friedrich Krause – bezeichnet wor-
den ist und in ihrer Wirkung nicht nur in Spanien, sondern auch in anderen
spanischsprachigen Ländern sowohl philosophiegeschichtlich als auch bil-
dungspolitisch kaum überschätzt werden kann. Der spanische Krausismo bot
die Möglichkeit, die christlich-katholische Lehre mit den Überzeugungen einer
idealistischen Philosophie zu vereinigen und daraus auch ein idealistisches Po-
litikverständnis abzuleiten.
Auch bei Ángel Ganivet gibt es wie bei dem Uruguayer José Enrique Rodó
den festen Glauben an die höheren Menschen, freilich anders als bei Friedrich
746 Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno
Nietzsche in einer kollektiven Weise, die auf die Basis eines ganz bestimmten
Verständnisses von Christentum rekurriert. Im Mittelpunkt steht bei Ganivet
wie bei Rodó nicht das Materielle, sondern das Geistige. Gerne möchte ich Ihnen
eine entsprechende Passage aus dem Ideárium español exemplarisch zeigen, weil
sie uns nicht nur Einblick gibt in ein humanistisch überformtes und rassistisch
fundiertes kulturelles Überlegenheitsgefühl, das sich mit einer Missionierungsle-
gitimation umgibt, sondern auch, weil uns diese Fragestellung – unmittelbar vor
dem Zusammenbruch des spanischen Kolonialreiches in Übersee – den Blick öff-
net für die inter- und transkulturelle Dimension, die insbesondere die spanisch-
sprachige Welt fruchtbar machen könne. Ganivets Diktion ist in diesem kurzen
Auszug bemerkenswert:
Das wahre Christentum ist, nicht als ein philanthropisches Streben zugunsten niederer
Rassen, sondern als ein bewusstes Bekenntnis zum Glauben, völlig ungeeignet für primi-
tive Völker und bildet bei diesen nur Wurzeln, wenn es vom beständigen tätigen Handeln
einer höheren Rasse begleitet wird; dies heißt, wenn sich dieses primitive Volk mit dem
Alltagsleben oder durch die Kreuzung mit einem zivilisierten Volk vermischt, das es be-
herrscht und erzieht, wie dies bei den von Spanien entdeckten und unterworfenen Völ-
kern der Fall war. die Universalität oder Katholizität des Christentums stellt sich dieser
Idee nicht entgegen.5
6 Auf diese finisekuläre Stimmung bin ich im letzten Teil der vorausgehenden Vorlesung im
Rahmen einer Annäherung an die Jahrhundertenden eingegangen in Ette, Ottmar: Romantik
zwischen zwei Welten, S. 899 ff.
7 Ganivet, Angel: Ideárium español, S. 231.
748 Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno
führt habe. Damit aber sei man einem fatalen Irrtum aufgesessen, den es schleu-
nigst aus der Welt zu schaffen gelte.
Ángel Ganivet sah in all diesen Faktoren in erster Linie den Ansatzpunkt
für eine grundlegende Regenerierung seines Landes. Denn die genannten
Faktoren hatten zuvor die Ausgangspunkte eines unbestreitbaren Nieder-
gangs gebildet, der in Spanien bereits seit Jahrhunderten anhalte, ungeachtet
der enormen Möglichkeiten, die in der spanischen Nation verborgen lägen.
Der Dekadenzgedanke wird hier also mit dem Gedanken eines künftigen Wieder-
aufstiegs und der Forderung verbunden, in die alten Rechte einer bestimmenden
Weltmacht wieder eingesetzt zu werden. Dies hört sich aus heutiger Sicht gera-
dezu absurd an; doch ist der Gedanke an ein ehemaliges Kolonialreich – wie spe-
ziell die englischen Debatten um den Brexit und ein ‚Rule Britannia‘ zeigen –
jederzeit leicht zu entfachen, sind derartige residuale Vorstellungen doch in
allen ehemaligen Kolonialmächten latent vorhanden. Nichts ist auf dieser Ebene
wirklich tot!
Ganivet situiert Spanien im Kontext der europäischen Mächte. Dabei sei die
Vereinigung der deutschen Länder zu einem einzigen starken Land ein Kinder-
spiel im Vergleich zu den tiefgreifenden Schwierigkeiten, die sich für die Heraus-
bildung einer starken Einheit auf der iberischen Halbinsel ausmachen lassen.8 In
diesem Zusammenhang ist für Ganivet die Frage der Nationenbildung ein längst
nicht abgeschlossener Prozess, wobei im Übrigen seine eigene Vision durchaus
die ‚große spanische Familie‘ – und damit die ehemaligen Überseekolonien –
ganz selbstverständlich im Blick hatte:
Eine Nation ist nicht wie ein Mensch; sie braucht mehrere Jahrhunderte, um sich zu ent-
wickeln. Die hispanoamerikanischen Nationen sind nicht über die Kindheit hinausge-
kommen, während die Vereinigten Staaten in das Männeralter eingetreten sind. Warum?
Weil die einen, als sie den Einfluss ihrer Territorien empfingen, zurückgewichen sind und
ihre Evolution als junge Völker begonnen haben, und dies Schritt für Schritt, strauchelnd
an jenen Stolpersteinen, an denen die neuen Gesellschaften hängenbleiben, denen es an
einer genauen Kenntnis des Weges, den sie einschlagen müssen, gebricht; und weil die
anderen mit einem künstlichen, aus Europa importierten Leben so weitergelebt haben,
wie sie auch auf jedem anderen Territorium, etwa in Australien, hätten leben können. [...]
Also stand der Verteidiger der Vereinigten Staaten, auf den ich zuvor anspielte und der
sehr stark der Musik zugeneigt ist, im Begriff, mit mir darin übereinzustimmen, dass die
Habanera ganz allein die gesamte Produktion der Vereinigten Staaten wert ist, und zwar
ohne davon die Nähmaschinen und die Telefonapparate auszunehmen; und die Haba-
nera ist eine Schöpfung des territorialen Geistes der Insel Kuba, welche bei unserer Rasse
diese tiefen Gefühle unendlicher Melancholie und einer Lust zeugt, welche sich in den
8 Ebda., S. 243.
Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno 749
Stromschnellen der Bitterkeit löst und die in jener Rasse, zu der die Untertanen der Union
gehören, nicht die kleinste Delle erzeugt.
Dieser Charakter, den wir unseren politischen Schöpfungen einzuflößen wissen und
in den wir die Waffe der Rebellion hineingeben und die Kraft, mit der wir später bekämpft
werden, ist ein Juwel von unschätzbarem Wert im Leben der Nationalitäten, doch ist er
auch ein schweres Hindernis für die Ausübung unseres Einflusses.9
Hier haben wir ihn wieder, den stabilen Gegensatz zwischen den Ländern des Nor-
dens – insbesondere denen der Angelsachsen – und den Ländern des Südens! Für
letztere steht stellvertretend nun Spanien mit seiner ‚allzeit treuen‘ Insel Kuba. Vom
Materialismus und Fortschritt des Nordens – und präziser der USA – zeugen die
zahlreichen Erfolge im politischen und wirtschaftlichen Bereich, aber auch die ge-
sellschaftliche und materielle Entwicklung überhaupt, wobei Nähmaschinen – wie
etwa zeitgleich auch bei einem Franzosen wie Anatole France10 – gleichsam zum
Sinnbild der technischen und technologischen Entwicklung und deren Vermark-
tung werden. Denn längst waren die panlateinischen Länder Amerikas einschließ-
lich Spaniens hinter den wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technologischen
Erfolgen der Vereinigten Staaten von Amerika zurückgeblieben.
All dies wird in der angeführten Passage jedoch aufgewogen durch die kultu-
rellen Schöpfungen der romanischen und hier insbesondere der spanischen Völ-
ker, wobei Ganivet interessanterweise das Beispiel Kubas und der Habaneras
sowie der Havanna-Zigarre auswählt. Es bekräftigt die Verbundenheit der Spanier
mit der „siempre fiel isla de Cuba“. Doch nur wenige Monate später – der Spa-
nisch-kubanische Unabhängigkeitskrieg lief ja bereits – sollte die größte Insel der
Karibik nicht mehr zum Territorium Spaniens zählen. Das Beispiel war folglich
denkbar schlecht gewählt, auch wenn Ganivet laut obigem Zitat selbst noch die
Kraft der Rebellion dem Erfolg des spanischen Kolonialmodells zurechnen wollte.
An dieser Stelle mögen einige Habaneras in unserer Vorlesung erklingen –
Sie könnten zuhause bei Ihrer Lektüre vielleicht im Internet auf diese wunder-
bar melancholische Musik zugreifen. Übrigens können Sie dort auch auf einige
nicht weniger melancholische katalanische Habaneres stoßen, die den kastili-
schen in nichts nachstehen. Allerdings würde auch die Schönheit dieser Musik
uns nicht davon überzeugen können, dass diese spanischen Habaneras die
ganze tatsächliche materielle Produktion der USA einfach aufwiegen könnten.
Erneut reduziert Ángel Ganivet ganz bewusst die Güter des technologischen
Fortschritts und stellt das Immaterielle, das Geistige in den Mittelpunkt seiner
Betrachtung.
9 Ebda., S. 247.
10 Vgl. das entsprechende Zitat von Anatole France zu den Nähmaschinen der USA in Ette,
Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 952.
750 Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno
Wir haben es in diesen Passagen sicherlich zum nicht geringsten Teil mit
einem Kompensationsdenken zu tun, indem vorgegebene kulturelle Güter Spa-
niens einfach in eine Gleichung mit materiellen Gütern der angelsächsischen
Völker gebracht werden. Das ist sicherlich eine etwas abwegige Gleichung, die
dem Verfasser aber rhetorische Spielfelder eröffnet. Gleichzeitig wird bei aller
rhetorischen Verve unübersehbar, dass auf der Seite Spaniens auf ökonomi-
schem, technologischem und politischem Gebiet eine deutliche Lücke gegen-
über den USA klafft, zumal Ganivet kaum einmal konkrete Vorschläge zur
Verbesserung der politischen oder sozialen Situation Spaniens beziehungs-
weise der hispanoamerikanischen Länder vorzulegen vermag.
Darüber hinaus geht sein Denken – ausgehend von einer bereits angeklun-
genen Theorie des Territoriums, die ich hier aus Zeitgründen nicht erläutern
kann – davon aus, dass der Geist Spaniens durch seine geographische Situation
als Halbinsel geprägt ist und nach einer Independencia strebt, die nicht durch
Eroberungen im Äußeren erreicht werden kann. Diese Unabhängigkeit müsse
vielmehr dem Geiste einer Halbinsel entsprechend durch Veränderungen im In-
neren bewerkstelligt werden. Das tellurische Element ist bei Ganivet äußerst
stark ausgeprägt und hat sicherlich mit dem Denken der „integridad territorial“
zu tun, welches von der Einheit der iberischen Halbinsel und darüber hinaus
der Verbundenheit mit den Überseekolonien ausgeht.
Die Vorstellung der peninsulären Einheit findet sich bei Ganivet verschie-
dentlich, nicht zuletzt im Ideárium español, wo er darauf verweist, wie störend
es doch sei, dass Portugal nicht zu Spanien gehöre und mit diesem eine Einheit
bilde. Derlei Vorstellungen sind zweifellos sehr schematisch und nehmen auf
historische und kulturelle Entwicklungen nur dann Bezug, wenn sie ins Bild
passen. Umso weniger kann sich Ganivet vorstellen, von der Idee einer Einheit
der spanischen Nation abzugehen, welche trotz aller Autonomiebestrebungen
Kataloniens, Galiziens oder des Baskenlandes ganz im Sinne des späteren Mot-
tos Francisco Francos als „una e indivisible“ gedacht wird. Nichts dürfe diese
Einheit, die auch in unseren Tagen wieder zur Disposition steht, erschüttern.
Derlei Einheitsvorstellungen bilden sich bei Ganivet freilich aus dem Ge-
fühl einer über die Jahrhunderte zunehmenden und in den letzten Jahren
sich verschärfenden Dekadenz, gegen die er verzweifelt versucht, Dämme
einer neu zu belebenden Tradition zu errichten. Daher rührt auch seine For-
derung, Spanien müsse sich auf seine ursprünglichen Werte, insbesondere
auf den Stoizismus und das Christentum, zurückbesinnen und diese Werte in
konkrete, handfeste Politik übersetzen. Von dieser hohen Warte aus begrün-
dete er auch seine Vorstellung von der geistigen Überlegenheit Spaniens ge-
genüber anderen Völkern, die Ganivet – wie wir sahen – rassistisch als
minderwertig diffamiert. Dies war der geistige Wall, der gegen die Dekadenz
Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno 751
Spaniens zu errichten war, und nicht etwa die Orientierung an anderen Völ-
kern, insbesondere an den erfolgreichen angelsächsischen Nationen. Ángel
Ganivet stand allen Moderne-Projekten ablehnend gegenüber.
Die Kritik an Ganivet insbesondere aus linksliberaler oder sozialistischer
Perspektive zeigte sich stellvertretend – wie schon Martin Franzbach betonte –
in den Äußerungen von Manuel Azaña, des späteren Präsidenten der Zweiten
Spanischen Republik, der davon sprach, dass Ganivet häufig ein Gefühl mit
einem Urteil verwechselt habe. Er beklagte Ganivets Mystizismus und Irrationa-
lismus, die sich jedweder historisch stringenten und vernunftbetonten Argu-
mentation entzögen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Ángel Ganivet
ebenso Spuren bei José Antonio Primo de Rivera wie auch bei Giménez Cabal-
lero hinterließ, der dereinst der erste Kultusminister des „Caudillo de España“,
des Diktators General Franco werden sollte. So wurde der Leichnam des grana-
dinischen Denkers keineswegs zufällig während der Diktatur Primo de Riveras
nach Spanien repatriiert.
Es gibt im Denken Angel Ganivets zweifellos eine ganze Reihe von Ideologe-
men, die sich leicht in die faschistische Ideologie Spaniens einbinden lassen.
Gleichwohl konnte Ganivet nicht ahnen, dass man ihn dereinst aus dieser Pers-
pektive vereinnahmen würde. Zu diesen sehr einfach von der „Falange“ zu inte-
grierenden Elementen zählt letztlich ebenso die Vision der Geschichte Spaniens
wie das prophetische Wunschdenken einer raschen Wiedergeburt des Landes;
Vorstellungen und Elemente, die sich später in die herrschende Ideologie typisch
spanischer Provenienz einbauen ließen.
Gleichwohl gab es später auch Kritik von einem Vordenker faschistischer Um-
setzungen wie Giménez Caballero an manchen Überlegungen und Vorstellungen
in den Schriften Ganivets. Dessen nationalistische Position mag das Urteil des bri-
tischen Historikers Ramsden verständlich machen, Ganivets Schriften seien ein
Schlafmittel gewesen für die sich anbahnende nationale Katastrophe Spaniens in
Form des Zusammenbruchs in der kriegerischen Auseinandersetzung mit den
USA. Ganivet freilich, so scheint mir, kann man hierfür nicht verantwortlich ma-
chen. Er war vor allem bestrebt, dem spanischen Geist – den er aus der Geschichte
herauszudestillieren versuchte – neue Kräfte einzuhauchen. Dass dies ein Denken
darstellte, das keineswegs zielführend war, lässt sich aus einer distanten histori-
schen Perspektive wie der unsrigen leicht konstatieren. Wir sollten uns jedoch
stets darum bemühen, die geschichtliche Offenheit vergangener Zeiten und ver-
gangener Zukünfte11 in der Beurteilung damaligen Schrifttums zu rekonstruieren!
11 Vgl. hierzu Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 21984.
752 Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno
Interessant und bemerkenswert ist, dass Ganivet auch in der Frage des
geistigen Eigentums – das in unserem digitalen Universum ja wieder ein großes
Thema ist – eher ein wenig rückschrittlich dachte. Die Ideen, so argumentiert
der Denker aus Granada, gehören nicht dem einzelnen Menschen, sondern der
Spezies Mensch. Daher verurteilte er auch die Vorstellung vom geistigen Eigen-
tum. Abgewertet wurden von Ganivet aber auch für die Moderne so wichtige
Elemente wie die fortschreitende Arbeitsteilung oder die industrielle Serienfer-
tigung,12 was einmal mehr belegt, dass er als Antwort auf die Dekadenz Spani-
ens nicht etwa für eine sozioökonomische Modernisierung eintrat, sondern
eher für eine klare Rückbesinnung auf den Bereich des Geistigen und der Ideen
plädierte.
Spanien müsse heute, so Ganivet weiter, sein eigenes „prestigio intelectual“
wiederherstellen, sich von jenen Ansteckungen und Kinderkrankheiten fernhal-
ten sowie befreien, die es vor allem von Frankreich her bedrohen. Aufschlussreich
ist aber wiederum, dass Ganivet Spanien ohne Portugal als Mittelmeernation be-
griff und sich daher dafür aussprach, dass die spanische Mittelmeerflotte ausge-
baut werden müsste; Vorstellungen, wie sie wenig später D’Annunzio auch für
die italienische Flotte in seinen Prosatexten wie in den Odi Navali einfordern
sollte. Auf Gabriele D’Annunzio werden wir im abschließenden Teil unserer Vorle-
sung zurückkommen.
Ganivet plädierte vor allem für eine Bündelung der inneren materiellen
und eine Stärkung der ideellen Kräfte in Spanien, der „fuerza ideal“; denn
davon versprach er sich eine Stärkung des Prestiges bei den Völkern von spani-
scher Herkunft.13 Er unterstützte weiterhin den Kolonialismus Spaniens, be-
tonte aber zugleich, dass Spanien die „colonización utilitaria“ anderen Völkern
überlassen solle. Spaniens eigentliche Größe liege in seiner Mission, in seiner
kulturellen Aufgabe und nicht etwa in der wirtschaftlichen Gewinnschöpfung
aus abhängigen Kolonien, wie dies die Angelsachsen taten.
Aus all diesen Gründen könne Spanien sehr wohl mit seinem Kolonialsys-
tem fortfahren; eine Einschätzung, die gerade auch während des Krieges in den
verbliebenen Kolonien – in Kuba, Puerto Rico und auf den Philippinen war ein
rücksichtsloser Krieg schon seit mehr als einem Jahr entbrannt – doch etwas
verwundert und die schon bald von den sich überstürzenden historischen
Ereignissen ad absurdum geführt werden sollte. Spanien habe – und in diesem
Punkt lag Ganivet nicht falsch – niemals einen rechten Begriff davon entwi-
ckeln können, was moderne Kolonisierung bedeutet. Beeindruckend aber war
schon, dass Ganivet nach allem Kolonialismus-Schimpf die Stirn hatte und die
zivilisatorische Mission und Aufgabe Spaniens bei der Kolonisierung anderer
Regionen der Erde als oberstes Ziel einer Regenerierung aufrecht erhielt.
Die nach dem Dafürhalten Ganivets größte Sorge Spaniens bestand darin,
dass sich der spanische Geist in alle vier Himmelsrichtungen verflüchtigen
könnte, ohne Dauerhaftes geschaffen zu haben. Mit den Worten Rubén Daríos
würde so ein Don Quijote wie in der Schlussszene seines D.Q. mitsamt seiner
Rüstung einfach in den Abgrund gleiten und klangvoll zerscheppern. Daher
plädierte Ganivet dafür, sich auf das Innere Spaniens, auf das eigene Territo-
rium, zu konzentrieren und dieses ideell zu durchdringen.
Wenige Jahre später schon sollte Spanien nach dem verlorenen Kolonial-
krieg zu einer solchen Haltung gezwungen sein, auch wenn man zeitweilig ver-
suchte, durch eine militärische Ausweitung nach Süden, zur nordafrikanischen
Gegenküste hin Ausgleich für die in Amerika und im Pazifik verlorenen Kolo-
nialgebiete zu schaffen – ein unverantwortliches militärisches Abenteuer frei-
lich, das eine Vielzahl noch heute ungelöster politischer Probleme auslöste.
Angel Ganivet hätte dieses Abenteuer wohl kaum befürwortet; sein großes
Motto lautete ganz logisch: Noli foras ire, in interiore Hispaniae habitat veritas –
Spanien dürfe sich nicht nach außen wenden, sondern müsse die Wahrheit in
seinem Inneren suchen.
Das für Ganivet herausragende Symptom der Dekadenz Spaniens war die
anhaltende Willensschwäche, jene berüchtigte „abulia“,14 von der auch sein
Freund Miguel de Unamuno des Öfteren sprach. Die spanische Nation, so Gani-
vet, interessiere sich heute für rein gar nichts mehr: Nichts bewege sie heute
noch! Ganivet stellte bei seinen spanischen Zeitgenossen einen fehlenden intel-
lektuellen Appetit fest, wofür der andalusische Denker vor allem die Schwä-
chung des „sentido sintético“ in Spanien verantwortlich machte.15 Es ging ihm
dabei um die geistige Fähigkeit, die verschiedensten Bereiche miteinander zu
verknüpfen, mithin um eine intellektuelle Kombinatorik, die er in Spanien
nicht zu finden vermochte. Es sei aber völlig falsch zu denken, so Ganivet wei-
ter, dass Spanien seine Gesundheit durch eine Form des äußeren Handelns wie-
dererlangen könne. Es gelte daher, so rasch als möglich das geistige Leben in
Spanien wiederherzustellen.
Auch Ganivet nimmt in seinen Schriften und besonders im Ideárium espa-
ñol – und auf dieser Ebene ergibt sich erneut eine klare Parallele zum Urugua-
yer José Enrique Rodó in seinem Ariel – die Position eines „Maestro“ ein, die
14 Ebda., S. 287.
15 Ebda., S. 291.
754 Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno
Position eines Lehrers und Meisters, der seinen Schülern sagt, wo es lang geht.
Daher nahm er in der Tradition der krausistischen Ausrichtung besonders die
Bildungsinstitutionen aufs Korn, die für ihn natürlich bei der Formung des
künftigen Spanien eine ganz gewichtige Rolle spielen sollten. Ganivet unter-
schied zwischen den Ideen, die zum Kampfe beflügeln und die als Instrumente
des Kampfes benutzt werden sollen, Vorstellungen, die er als „ideas picudas“
bezeichnete, und jenen anderen Ideen, die Liebe zum Frieden bereiten sollten.
Diese „ideas redondas“ allein enthalte sein Buch, so dass sein Essay dazu füh-
ren könne, dass es weniger „combatientes“, aber mehr „trabajadores“ geben
werde:16 weniger Kämpfer und mehr Arbeiter für das spanische Vaterland.
Wer seine Ideen mit Gewalt durchsetzen wolle, zeige damit nur, dass er
kein Vertrauen in die geistige Durchsetzung seiner Ideen habe – eine Vorstel-
lung, die kaum in ein faschistisches oder totalitäres Denken passen dürfte und
die für uns ein Beleg dafür ist, dass man Ganivet an vielen Stellen zusammen-
zwängen musste, um ihn für faschistische Ideologien passfähig zu machen.
Ausgehend von seiner Grundüberzeugung, dass die Kraft der Ideen die Dinge
zum Guten bewegen könne und werde, entwickelte Ángel Ganivet am Ende sei-
nes Werkes auch eine trotz aller Skepsis und Kritik optimistische Sichtweise auf
Spaniens weiteren Weg in die Zukunft. Doch lassen wir ihn selbst zu Wort
kommen:
Ich glaube fest an die spirituelle Zukunft Spaniens; darin bin ich vielleicht übertrieben
optimistisch. Unsere materielle Vergrößerung wird uns nie dazu führen, die Vergangen-
heit zu verdunkeln; unser intellektuelles Aufblühen wird das Goldene Zeitalter unserer
Künste in eine einfache Äußerung dieses Goldenen Zeitalters verwandeln, von dessen
Heraufkunft ich überzeugt bin. Weil wir in unseren Arbeiten unsererseits eine unbe-
kannte Kraft erhalten werden, welche in unserer Nation in latentem Zustande lebt [...].17
Es war nicht zuletzt diese optimistische Seite im Denken Ganivets, welche diesen
Essay zu einem Kultbuch und zu einer Orientierung für alle an der Zukunft Spani-
ens interessierten Spanier und Hispanoamerikaner machte: Der Band wurde zu
einer wahren Bibel. Am Ende seines Ideárium español kommt Ganivet auf be-
stimmte Beziehungen zwischen dem, was er die ‚Rassen‘ nannte und deren intel-
lektuellem Leben zu sprechen, wobei er für die Arier als Typus Odysseus wählt,
während die Semiten – wie etwa die arabischen Völker – zwar keine Ideen ver-
mittelten, gleichwohl aber für die kulturelle Entwicklung Spaniens wichtig gewor-
den seien. Wenn wir Odysseus mit einem germanischen Führer vergleichen, so
sehen wir deutlich – meint Ganivet –, welches Gewicht der semitischen Seite zu-
16 Ebda., S. 297.
17 Ebda., S. 300.
Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno 755
komme. Unser spanischer Odysseus aber sei der Don Quijote, womit Ganivet die
spanische Kultfigur nicht zuletzt der Jahrhundertwende aufgriff, die sicherlich
lange zuvor schon zu einem Inbegriff Spaniens stilisiert worden war. Es ist faszi-
nierend zu beobachten, dass sich in der Hervorhebung der Bedeutung eines figu-
ralen Don Quijote die Spanierinnen und Spanier, aber auch die Intellektuellen der
ehemals spanischen Kolonien überschneiden. Für die Bewohner beider Seiten des
Atlantik repräsentiert die Figura des Ritters von der traurigen Gestalt das tiefe,
das ‚eigentliche‘ Spanien: jenes Spanien, das niemals untergehen werde.
Die spanischen Quijote-Deutungen gerade in der Epoche von Jahrhundertende
und Jahrhundertwende gewannen mit Ganivet und Unamuno, aber auch mit Ra-
miro de Maeztu und vor allem José Ortega y Gasset der Figur des Miguel de Cervan-
tes völlig neue Züge ab, welche sich beim Verfasser des Ideárium español gleichsam
ontologisch auf die Verkörperung des Typus und Wesens Spaniens richteten. Ohne
die Araber, so Ganivet, wären Don Quijote und Sancho Panza immer nur ein einzi-
ger Mensch gewesen.18 Der angelsächsische Odysseus sei Robinson Crusoe, der ita-
lienische Odysseus hingegen ein Theologe: kein anderer als Dante Alighieri. Der
deutsche Odysseus sei ein philosophischer Odysseus, der Doktor Faustus. Doch
keine all dieser Figuren des Odysseus sei ein Odysseus aus Fleisch und Blut, womit
er das Thema des „hombre de carne y hueso“ einführte, welches der ihm freund-
schaftlich verbundene Baske Miguel de Unamuno weiterdenken sollte.
Wieder gibt es eine Vielzahl von Parallelen zu José Enrique Rodós Ariel und
den Rückgriff des uruguayischen Essayisten auf die Figurenwelt William Shake-
speares. Ángel Ganivets Ideárium español war ein wahres Ideenreservoir für die
spanischsprachige Welt. Der angelsächsische Robinson Crusoe sei – ähnlich wie
ein Caliban – im Gegensatz zum spanischen Don Quijote nur fähig, eine materi-
elle Zivilisation aufzubauen beziehungsweise zu rekonstruieren. Am Ende des
auf Helsingfors im Oktober 1896 datierten Essays gibt Ganivet noch einmal einen
letzten Ausblick auf eine künftige Entwicklung, in der diesmal der spanische
Geist – und nicht die spanischen Waffen – die Macht und den Geist Spaniens in
die Welt tragen würden:
Wir müssen einen kollektiven Reue-Akt ablegen, müssen uns verdoppeln, selbst wenn
viele von uns einer so riskanten Operation anheimfielen; denn so werden wir spirituelles
Brot für uns gewinnen und für unsere Familie, die es überall in der Welt erbettelt, und
unsere materiellen Eroberungen werden noch immer fruchtbar sein, weil wir bei unserer
Wiedergeburt eine Unermesslichkeit an Brudervölkern vorfinden werden, um sie mit dem
Stempel unseres Geistes zu prägen.19
18 Ebda., S. 304.
19 Ebda., S. 306.
756 Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno
Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um eine Wiedergeburt, um ein
„renacer“ der spanischen Nation und mehr noch des spanischen Geistes, das
sich Ángel Ganivet in seinem Ideárium español so wortreich erträumte. So
endet dieses Buch, dieser kulturkritische Essay, mit einer expansiven Geste, die
erfüllt ist von einem auf die eigene Wiedergeburt setzenden Sendungsbewusst-
sein, das trotz des Konstatierens einer starken Dekadenz nicht von der Grund-
überzeugung einer geistigen Überlegenheit Spaniens ablassen will.
Das Bild der Familie und das Bild des Stempelaufdrückens aber zeigen uns
an, dass hier nicht nur die Metaphorik, sondern auch der dahinterstehende
Geist durchaus Züge aufweisen, die wir als patriarchalisch und als autoritär be-
ziehungsweise autoritätsgläubig einstufen müssen. So wurde Ángel Ganivet
auch folgerichtig nicht für die spanische Linke, sondern für die kommende
Rechte zur einer nationalen Identifikationsfigur, wie sie später in Spanien nur
noch Ramiro de Maeztu als Intellektueller – sehen wir einmal von Primo de Ri-
vera ab – sein konnte. Ganivets Freund Miguel de Unamuno war für eine derar-
tige Rolle nicht geeignet.
Wenn wir in einem zweiten Schritt nicht länger im Vorfeld der Katastrophe
von 1898 auf die spanischen Antworten der Literatur auf ein historisches Ge-
schehen eingehen wollen, das die lateinamerikanischen Modernisten Rubén
Darío und José Enrique Rodó im Anschluss an José Martí so eindrucksvoll be-
gleiteten, dann müssen wir uns der spanischen Generación del 98 zuwenden,
die in der Tat in ihren Reaktionen auf den Untergang der spanischen Flotte vor
Santiago de Cuba und vor Manila, in Folge des Untergangs Spaniens als Koloni-
almacht zwar kein neues Goldenes Zeitalter, wohl aber ein sogenanntes ‚Silber-
nes Zeitalter‘ der spanischen Literatur heraufführte. Ich möchte dies in unserer
Vorlesung nur am Beispiel einer einzigen literarischen Gestalt tun, die mit
Ángel Ganivet überdies befreundet war. Andere, auch mediengeschichtlich
wichtige Aspekte sollen in der Folge mit Blick auf das Thema unserer Vorlesung
nicht berücksichtigt werden.20
Zu den wichtigsten, zugleich vielschichtigsten und schillerndsten Figuren
der Generación del 98 zählt zweifellos der Baske Miguel de Unamuno, der in
seiner politischen Entwicklung alle möglichen Positionen zwischen Sozialis-
mus, Anarchismus, bürgerlichem Individualismus und autoritärem Faschismus
ausmaß. Anders als Ángel Ganivet eignete er sich daher für keine dieser politi-
schen Ideologien als Identifikationsfigur. Mir kommt es an dieser Stelle weniger
20 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Visiones de la guerra / guerra de las visiones. El desastre, la fun-
ción de los intelectuales y la Generación del 98. In: Iberoamericana (Frankfurt am Main) XXII,
71–72 (1998), S. 44–76.
Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno 757
auf den politischen Werdegang, der uns auf eine weitere Verbindung zwischen Fin
de siglo und Faschismus aufmerksam machen würde, und auch weniger auf die
Erfahrung der spanischen Niederlage im Kubanisch-Spanisch-US-Amerikanischen
Krieg von 1898 an als vielmehr auf jene spezifische Gedankenwelt, die als Grund-
strömung in der Folge auch die Aufnahme des Desastre von 1898 in Spanien vor-
bereitete. Zum besseren Verständnis des baskischen Philosophen, Philologen und
Schriftstellers darf ich Ihnen einige wenige Biographeme mit auf den Weg geben,
die zugleich den weiteren Weg Spaniens ins 20. Jahrhundert skizzieren.
Zeit, in der wohl niemand sein Leben damals so sehr auf der nationalen Bühne
lebte und ausbreitete wie der zugleich unterschiedlichste literarische Projekte an-
steuernde Unamuno. Man nannte ihn bald schon „donquijotesco“, was durchaus
zutrifft angesichts seines festen Willens und der geradezu Ganivet’schen Absicht,
Spanien zu transformieren und zu sich selbst kommen zu lassen. „Excitator His-
paniae“ nannte ihn hintergründig der elsässische Romanist Ernst Robert Curtius;
denn im Anregen und Stimulieren in Spanien verging sein Leben, in dem bestän-
digen Bestreben, seine Zeitgenossen aufzurütteln und in Bewegung zu setzen.
Der Moderne und deren technologischen Erneuerungen und Erfindungen aller-
dings stand Unamuno mit ähnlicher Reserviertheit gegenüber wie sein lang
schon aus dem Leben geschiedener Freund Ángel Ganivet.
Da er Rektor der Universität von Salamanca ohne die Entscheidung seines
zuständigen Ministers Bergamín geworden war, setzte dieser ihn nach seinem
vehementen Einsatz für die Landbevölkerung und gegen den ultrakonservati-
ven Latifundismus kurzerhand ab. In verschiedenen politischen Ämtern und
Funktionen hörte Unamuno jedoch nicht auf, gegen die spanische Monarchie
zu agitieren und zu schreiben, was ihm wiederholte Verfolgungen, aber auch
hilfreiche Initiativen gleichgesinnter spanischer Intellektueller eintrug. Längst
war Unamuno zu einer öffentlichen Figur in Spanien geworden.
Während der faschistischen Diktatur des Generals Primo de Rivera, der sich
am 23. September 1923 an die Macht geputscht hatte, wurde er als Parteigänger
sozialistischer Ideen und seiner öffentlichen Forderung nach Wiedereinsetzung
der verfassungsmäßigen Ordnung 1924 nach Fuerteventura und damit auf die
Kanaren verbannt, die noch keine touristische Destination, sondern vielmehr
das abgelegenste und zugleich konservativste Eckchen des spanischen Mutter-
landes darstellten. Noch heute erinnern einige Bildungseinrichtungen und Hör-
säle auf der Insel an diese Zeit Unamunos im ‚kanarischen Exil‘.
Trotz Zensur und Verbannung hörte Miguel de Unamuno nicht auf, wie ein
anderer Don Quijote gegen die herrschende Ordnung in Spanien zu kämpfen.
Angebote, ihn nach Argentinien ins Exil ausreisen zu lassen, lehnte er ebenso
ab wie Begnadigungen; und wie einst Victor Hugo auf seiner Verbannungsinsel
im Ärmelkanal sorgte er geschickt dafür, für die Spanier als unbeirrbarer Intel-
lektueller sichtbar zu bleiben. Zwei wie ich finde ergreifende Gedichtbände, De
Fuerteventura a París von 1925 und Romancero del destierro von 1928 erschie-
nen jeweils in Paris und Buenos Aires; die Meta-Erzählung Como se hace una
novela erschien 1926 im angesehenen Mercure de France in der Übersetzung
von Jean Cassou: All diese Schriften legten Zeugnis davon ab, dass seine Schöp-
ferkraft durch die Verbannung nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war.
1925 zog Unamuno ins schöne Hendaye, ins französische Baskenland unmittel-
bar an der Grenze zu Spanien, von wo ihn die Diktatur vergeblich zu verdrän-
760 Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno
gen suchte. Dort schrieb er unter anderem eine lange Artikelserie gegen den
spanischen König und die Diktatur, die deren Verbreitung in Spanien nicht zu
verhindern vermochte.
Nachdem Primo de Rivera unter öffentlichem Druck im Januar 1930 alle
Ämter niedergelegt und Unamuno triumphal in seine Heimat zurückgekehrt
war, verkündete er offiziell die Zweite Spanische Republik auf der wunderschö-
nen Plaza Mayor von Salamanca und setzte sich zunächst in verschiedenen
Funktionen für die spanische Republik ein. Unamuno wurde zum Rektor der
Universität von Salamanca auf Lebenszeit ernannt.
Doch schon bald begann Unamuno, sich auch mit den neuen Regierenden
anzulegen, die ihn lieber ehren als ihm zuhören wollten. Er setzte sich als Ab-
geordneter in den Cortes für eine Reform des Heeres, für eine grundlegende Ag-
rarreform sowie eine nicht weniger grundsätzliche Bildungsreform ein, und
dies mit aller Kraft. Weder seine Ratschläge noch die von José Ortega y Gasset
wurden gehört; doch Unamuno erwies sich als ebenso hartnäckiger Kämpfer
wie in früheren Jahren und distanzierte sich ab 1932 deutlich vom damaligen
Regierungschef Manuel Azaña und dessen Religionspolitik, die ihm deutlich zu
weit ging und zu radikal war.
Für die Tatsache, dass sich Miguel de Unamuno beim Ausbruch des Spani-
schen Bürgerkriegs am 18. Juli 1936 zugunsten der Putschisten unter General
Francisco Franco entschied, kann man zumindest vier Gründe anführen: ers-
tens die starke persönliche Antipathie, mit der er Manuel Azaña und dessen ra-
dikalen Reformen gegenüberstand; zweitens die wachsende Ablehnung des
herrschenden Sektors der Sozialistischen Partei; drittens die Furcht vor den
Konsequenzen einer gegen die Einheit Spaniens und gegen die Einheit des
christlichen Glaubens gerichteten Politik; und viertens sein Irrglaube, dass Ge-
neral Franco das Land lediglich befrieden wolle. Dies waren wesentliche Mo-
tive, die Unamuno ins Lager der Gegner der legitimen Spanischen Republik
trieben, die er wenige Jahre zuvor selbst mit in den Sattel gehoben hatte.
Doch schon am Tage der Eröffnung des Studienjahres 1936–1937 im Oktober
1936 kam es zum öffentlichen Bruch mit dem Franquismus und der heraufziehen-
den Diktatur. Der Zeitpunkt hierfür war ebenso geschickt gewählt wie lebensge-
fährlich. Beim Festakt hatte Unamuno neben Francos Frau gesessen, Salamanca
war bereits zum Hauptquartier der Putschisten geworden. Nachdem Unamuno in
seiner Ansprache seinen berühmten Satz „Vencer no es convencer“ gesprochen
hatte, kam es zum Eklat und zu Tumulten, in deren Verlauf General José Millán
„¡Muera la inteligencia! ¡Viva la muerte!“ rief und das Leben des Rektors unmittel-
bar bedroht war. Es dürfte die Anwesenheit von Francos Frau Carmen Polo gewe-
sen sein, die das Leben des allzu wagemutigen Rektors rettete: Viele Intellektuelle,
darunter auch Freunde Unamunos, waren zuvor schon Opfer der rücksichtslosen
Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno 761
Putschisten oder der von ihnen gedungenen Mörderbanden geworden. Bis zu sei-
nem Tod lebte der Rektor auf Lebenszeit daraufhin in relativer Einsamkeit. Der
Tod kam plötzlich an einem späten Dezembernachmittag zuhause im Gespräch
mit einem Freund, wobei Unamuno zu schlafen schien: So schied einer friedlich
aus dem Leben, der gegen dies und gegen das gekämpft und stets seinen eigenen
Überzeugungen rücksichtslos gefolgt war.
So breit das politische Spektrum war, für das Unamuno zu Lebzeiten ein-
trat, so stark gefächert war auch das literarische Werk dieses Philologen, Ro-
manciers, Essayisten, Dichters und Philosophen, mit dessen philosophischem
Hauptwerk Del sentimiento trágico de la vida ich mich in einer anderen Vorle-
sung bereits auseinandergesetzt habe.21 Wie man die literarische Varianzbreite
auch immer drehen und wenden mag: Die poetische Dimension des Miguel de
Unamuno schlägt in allen seinen Prosaschriften durch; und es ist mir unmög-
lich, Ihnen an dieser Stelle einen Gesamtüberblick zu bieten.
Dass er jedoch in der ersten Promoción, der ersten Gruppe der Intellektuellen
der Generación del 98, ähnlich wie José Ortega y Gasset in deren letzter Promo-
ción die herausragende Figur war, ist unbestreitbar. Als junger Student an der
madrilenischen Universidad Complutense war der erste spanische Text, den ich
damals abgeschottet in meinem Studentenzimmer im Colegio Mayor Pío XII las,
an dem ich nur wenige Tage und Nächte verbrachte, mit guten Gründen Miguel
de Unamunos Roman Nívola: So nannte der Baske einen komplexen, verdichte-
ten, handlungsarmen Roman, der sich der Gattungsbezeichnung „Novela“ be-
wusst entzog. Es handelt sich um einen wunderbar selbstreflexiven Erzähltext,
der mich herzerfrischend weit von der nur wenige Tage andauernden Situation
im Colegio Mayor einer katholischen Organisation wegführte, die ich bis zu die-
sem Zeitpunkt noch nicht kannte, und die mir eine wichtige intellektuelle Pause
gewährte, bevor mich eine studentische Wohngemeinschaft in die verborgenen
Künste der hispanischen Männerküche einführte. Unamunos Roman, Sie werden
das verstehen, habe ich nie mehr vergessen …
Ich möchte mich jedoch im Folgenden mit einer Sammlung von Essays be-
schäftigen, die Miguel de Unamuno seit Mitte der neunziger Jahre separat ver-
fasst und später unter dem Titel En torno al casticismo veröffentlicht hat. Schon
der Titel des ersten in die Sammlung aufgenommenen Essays, Die ewige Tradi-
tion oder La tradición eterna (datiert auf Februar 1895), macht auf das aufmerk-
sam, was für Unamuno die Grundlage jedweden geschichtlichen Handelns,
aber auch der Geschichte der Völker zu sein hat: eine Kontinuität kultureller
21 Vgl. hierzu das Jorge Luis Borges gewidmete Kapitel in Ette, Ottmar: Von den historischen
Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 494 ff.
762 Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno
Prozesses, welche in diesem Falle das spanische Volk jenseits einer evenemen-
tiellen, an Ereignissen orientierten Geschichte geprägt hat und weiter prägt.
Wie das Ideárium español Ganivets ist auch dieser Essay noch deutlich vor den
für Spanien einschneidenden Ereignissen von 1898 geschrieben und steht noch
nicht im Sog von dessen Untergang als Kolonialmacht.
In diesem Essay geht Miguel de Unamuno unter anderem von der allgemei-
nen Klage aus, dass die internationale Kultur das eigentlich Spanische, den
„Casticismo“, hinwegspülen und die ‚eigentliche‘ spanische Kultur vernichten
werde. Aus diesen Gründen habe man schon seit geraumer Zeit damit begon-
nen, von einer wahren europäischen Invasion in Spanien zu sprechen in dem
Sinne, dass Europa immer mehr Spanien besetze und die ursprünglichen Tradi-
tionen des Landes auslösche. Die Europäisierung Spaniens, so Unamuno, habe
sich in der Tat im Verlaufe der letzten Jahre erheblich beschleunigt und gera-
dezu überschlagen.
Daher setzt sich Unamuno mit den möglichen Reaktionsweisen auf einen
interkulturellen „Desafío“ auseinander; eine Herausforderung, die uns auch in
Deutschland im Verlauf der vierten Phase beschleunigter Globalisierung und
an deren Ende vor allem mit der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015 im Zei-
chen inter- und transkultureller Entwicklungen in den öffentlichen Diskussio-
nen und zum Teil scharf geführter Debatten nicht ganz fremd ist. Doch hören
wir den spanischen Intellektuellen vor mehr als einem guten Jahrhundert ange-
sichts der für ihn bedrohlichen Europäisierung seines Landes:
Ebenso diejenigen, die fordern, wir müssten unsere Grenzen schließen oder Ähnliches,
wir müssten folglich für unsere offenen Felder Türen schaffen, als jene anderen, die mehr
oder minder explizit fordern, dass man uns endlich erobern möge, weichen in Wahrheit
weit von der Realität der Dinge ab, wobei sie vom Geist der Anarchie fortgerissen werden,
den wir alle im Rückenmark unserer Seele mit uns führen, was die Erbsünde der mensch-
lichen Gesellschaft ist, eine Sünde, die nicht von der langen Blutstaufe so vieler Kriege
weggewaschen wurde. Diejenigen, die vor den Bomben des Anarchismus zittern und den
bewaffneten Frieden aufrecht erhalten, fordern einen neuen Napoleon, einen großen
Anarchisten, als dessen Quell.22
Wie bekannt uns diese Situationen und diese Forderungen vorkommen! Ebenso
in der Flüchtlingskrise wie während der Corona-Pandemie haben wir die Forde-
rungen nach einer sofortigen Schließung der Grenzen noch im Ohr! Miguel de Un-
amuno spielt hier mit der spanischen Redewendung „poner puertas al campo“,
also Eingangstüren für offene Felder auf dem Lande zu bauen – für jeden Spanier
und jede Spanierin der Inbegriff des Absurden schlechthin. Doch sehen wir uns
seine Überlegungen eingangs etwas genauer an!
Der gebürtige Baske Unamuno zeigt in dieser Passage deutlich auf, dass es
weder möglich ist, die Türen gegenüber anderen Kulturen völlig zu verschlie-
ßen, sich also monokulturell abzuschotten, noch dass die Vorstellung denkbar
sein könnte, dass sich ein Volk wie das spanische einfach kulturell erobern las-
sen würde. Zugleich wird in verdichteter Form von Unamuno ein grundlegen-
des Thema angesprochen, das einer anarchistischen Grundströmung, das er in
diesem Auszug auf die ganze Menschheit als Erbsünde auszuweiten scheint, im
Grunde aber wie in anderen Passagen vor allem auf das spanische Volk ange-
wandt wissen will. Unamuno hat seinerseits nicht zu Unrecht bei sich selbst
immer wieder anarchistische Tendenzen konstatiert, die er mit seinem spani-
schen Wesen in Verbindung brachte, radikal individualistisch und ohne jede
Absprache mit anderen vorzugehen. Wir haben diese Tendenzen bereits in eini-
gen Biographemen bei ihm aufleuchten sehen.
Aus derlei radikalen Positionen ergibt sich für ihn die Forderung nach der
Figur eines zweiten Napoleon, eines absoluten Gewaltherrschers, der auf Grund-
lage der skizzierten radikalen Positionen einmal mit allem aufräumen sollte, eine
Vorstellung, die dem jungen Miguel de Unamuno nicht als gangbarer Weg, son-
dern als Versuchung eines in die Irre geleiteten Denkens erscheint. Wenn wir
uns vergegenwärtigen, dass sich im nachfolgenden Jahrhundert über lange Stre-
cken Gewaltherrscher an die Spitze des spanischen Staates setzten, dann wird
deutlich, dass derartige Vorstellungen bei dem baskischen Intellektuellen nicht
aus der Luft gegriffen waren, sondern einer realen Gefahr für das spanische
Staatswesen entsprachen.
Der ungezügelte Individualismus, so Unamuno weiter, werde letztlich nur
zum Ruin des Individualismus führen. Zugleich stellt er die Vorstellung einer
rein spanischen Wissenschaft oder Literatur in Frage. Als absurd kommt es ihm
auch vor, dass Wissenschaft als solche ‚rein‘ sein sollte, trage sie doch stets –
selbst im Falle der Naturwissenschaften – etwas Präwissenschaftliches und
Subwissenschaftliches in sich und mit sich. Der klassische Philologe Unamuno
geht in seinen Überlegungen immer wieder von der Sprache aus, zeigt aber zu-
gleich, dass die damals überhand nehmenden Gallizismen und Germanismen
im Spanien des ausgehenden 19. Jahrhunderts letztlich auf das zurück verwei-
sen, was die spanische Sprache an Hebraismen, Italianismen oder Latinismen
etwa in der Literatur des Siglo de Oro in früheren Jahrhunderten aufgenommen
habe. Er erblickte darin folglich keinen Grund zur Aufregung wegen einer be-
fürchteten Überfremdung.
Es sollte uns an dieser Stelle nicht beschäftigen, dass sich Unamuno in die-
sem frühen Essay auf der Suche nach der „Regeneración“ Spaniens nicht auf
764 Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno
die Seite von Don Quijote, sondern auf jene von Alonso Quijano el Buenos
schlug. Wichtig sind für uns vielleicht weniger die Lösungen, welche Unamuno
für das „Problema de España“ vorschlägt, als dessen durchdachte literarische
Konstituierung an sich. Immerhin ist es bezeichnend, dass Unamuno in diesem
Essay nur das letzte Kapitel des Don Quijote als „göttlich“ bezeichnet und zum
„Evangelium unserer nationalen Regeneration“ erhebt.23
Dann aber stößt Miguel de Unamuno zu seiner zentralen Idee und Vorstel-
lung der „tradición eterna“, der ewigen, unverbrüchlichen Tradition vor, die
grundlegend für seine geschichtliche Konzeption ist und letztlich Unamunos
Antwort auf die Frage darstellt, was denn innerhalb einer von negativen Entwick-
lungen gekennzeichneten Welt die ‚Identität‘ Spaniens und der spanischsprachi-
gen Völker ausmache oder sein könne. Denn gerade im spanischsprachigen
Raum – aus durchaus unterschiedlichen, aber nicht voneinander unabhängigen
Gründen – stehe das Fin de siglo im Zeichen einer grundlegenden Frage nach
der eigenen Identität, so der baskische Intellektuelle.
Erneut könnten wir geltend machen, dass es weniger die Antwort oder die
Lösung als konstruktive Reaktion auf diese Frage, als vielmehr die Frage selbst
ist, die ungeheuer produktiv und kreativ wirkte. Sehen wir uns dazu eine wich-
tige Passage aus Unamunos Essay von 1895 an:
Die Wellen der Geschichte bewegen sich mit ihrem Rauschen und ihrem Schaum, der in
der Sonne glitzert, auf einem kontinuierlichen Meere, das tief, unendlich tiefer ist als eine
Schicht, die sich in Wellen fortpflanzt, auf einem stillen Meer, zu dessen letzten Grunde
die Sonne niemals vordringt. All das, was die Zeitungen Tag für Tag erzählen, die ganze
Geschichte vom „gegenwärtigen historischen Zeitpunkt“, ist nichts anderes als die Ober-
fläche des Meeres, eine Oberfläche, die gefriert und in den Büchern und Registern kristal-
lisiert, und wenn sie so erst einmal auskristallisiert ist und eine harte Schicht bildet, die
nicht dicker als das intrahistorische Leben ist, zu dieser armen Rinde wird, in der wir im
Verhältnis zum darin befindlichen unermesslichen Brennpunkt leben. Die Zeitungen
sagen nichts über das stille Leben von Millionen von Menschen ohne Geschichte, die zu
allen Stunden des Tages und in allen Ländern des Globus auf den Befehl der Sonne hin
aufstehen und zu ihren Feldern gehen, um die dunkle und stille, tägliche und ewige Ar-
beit fortzuführen, eine Arbeit, welche wie die der untermeerischen Madreporen oder Ko-
rallen die Grundlagen legt, auf denen sich die Inselchen der Geschichte erheben. Auf der
erhabenen Stille, sagte ich, stützt sich ab und lebt der Klang; auf der immensen stillen
Menschheit erheben sich diejenigen, die Lärm in die Geschichte geben. Dieses intrahisto-
rische Leben, still und kontinuierlich wie der Urgrund des Meeres, ist die Substanz des
Fortschritts, die wahre Tradition, die ewige Tradition, nicht die lügnerische Tradition, die
man in der in Büchern und Papieren und Denkmälern und Steinen bestatteten Vergan-
genheit zu suchen pflegt.24
23 Ebda., S. 26.
24 Ebda., S. 27 f.
Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno 765
verbindet sich eine gewisse Kunstkritik:25 Denn wir ziehen, so Unamuno, dem
Leben die Kunst vor, wo doch das Leben selbst unendlich viel mehr wert sei als
jede Kunst.26 Paradoxerweise ist für Unamuno die Tradition nicht in der Vergan-
genheit, sondern eben in der Gegenwart aufzusuchen, sei die ewige Tradition
doch eher intrahistorisch in der Gegenwart als historisch in der Vergangenheit
präsent. Daraus können wir die weitreichende Schlussfolgerung ziehen, dass
Vergangenheit in der Gegenwart gegenwärtig ist und an Phänomenen kristalli-
siert, die nicht mehr sind und doch nicht aufhören können zu sein. Für Miguel
de Unamuno entscheidend ist dabei aber das Zurückgehen zur „ewigen Tradi-
tion“ als Mutter und Matrix der Oberflächengeschichte.
Innerhalb dieser Geschichte Spaniens, so der Baske Unamuno in dem
auf März 1895 datierten zweiten Essay La casta histórica Castilla aus demselben
Essayband En torno al casticismo, komme der Rolle Kastiliens die entscheidende
Bedeutung zu. Unamuno hebt dabei die Funktion einer Zentralisierung der Macht
hervor, welche diesem ‚universalsten‘ aller Völker der iberischen Halbinsel zuge-
kommen sei. Von Kastilien aus sei die Einheit desselben und Spaniens ausgegan-
gen und zugleich die Eroberung der Kolonien in Amerika bewerkstelligt worden,
so dass die Reconquista geschichtlich in die Conquista übergegangen sei; ein Pro-
zess, den Ángel Ganivet seinerseits stark kritisiert und als ein Abweichen aus der
eigentlich vorgegebenen Linie der spanischen Geschichte begriffen hatte … nicht
aber Unamuno!
25 Daraus ergibt sich eine medientechnische Fragestellung, die bereits im Umfeld des Kuba-
nisch-Spanisch-US-amerikanischen Krieges voll zur Geltung kam; vgl. hierzu den bereits er-
wähnten Artikel des Verfs. Visiones de la guerra / guerra de las visiones. El desastre, la
función de los intelectuales y la Generación del 98, S. 44–76.
26 Unamuno, Miguel de: En torno al casticismo, S. 30.
768 Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno
die vom Rande aus im zweiten Teil dieses Essays durchgeführt und als Aufstieg
zur zentralen Hochfläche in Szene gesetzt wird. Es mutet eigenartig an, an die-
ser Stelle einzuräumen, dass erst der barometrische Mess-Zug eines Alexander
von Humboldt, der Spanien 1799 auf seinem Weg in die Kolonien nur kurze Zeit
durchquerte, die tatsächliche Höhe dieser durchgängigen Hochfläche wissen-
schaftlich ins Bewusstsein der Spanier gerufen hatte.
Bei Unamuno sorgt diese Hochfläche für den Charakter der Kastilier. Die
Intrahistoria wird – so zeigt sich deutlich – vom ‚Seher‘ und Intellektuellen,
aber auch vom Literaten Unamuno über die Landschaft erschlossen, die eben-
falls in der Metaphorik des Meeres erscheint. Unamuno entwickelt am Beispiel
der kastilischen Meseta eine wahre Landschaft der Theorie.27
Ich möchte daher abschließend auf diese historisch semantisierte und mehr-
fach kodierte Darstellung der kastilischen Landschaft eingehen, die in der Tat
den Zugang zur Intrahistoria und zugleich zum tiefen Spanien, zur eigentlichen
‚Identität‘ des Landes, zu geben versucht; eine wahre Suche nach Identität, die
eigentlich mehr Identitäts-Sehnsucht und nicht weniger Sehnsucht nach einer
festen, immobilen, unverrückbaren Zugehörigkeit ist. Für eine solche visionäre,
aber notwendig illusorische Auffassung steht die Landschaft Kastiliens:
Weit ist Kastilien! Und wie schön ist die gesetzte Traurigkeit dieses versteinerten Meeres
voller Himmel! Es ist eine gleichförmige und monotone Landschaft in ihren Kontrasten
von Licht und Schatten, in ihren auseinandergezogenen und an Schattierungen armen
Farbgebungen. Die Landstriche präsentieren sich wie unermessliche Mosaikflächen von
ärmlichster Variation, über denen sich das intensivste Blau des Himmels ausbreitet. Es
fehlt an sanften Übergängen, und es gibt keine andere harmonische Kontinuität als die
der unermesslichen Ebene und des kompakten Blau, welches sie bedeckt und beleuchtet.
Diese Landschaft erweckt keine wollüstigen Gefühle einer Freude am Leben, sie sug-
geriert keine Empfindungen von Bequemlichkeit und freiem Umgang mit ihren Begehr-
lichkeiten: Es ist kein grünes und sattes Feld, in dem es einem Lust machte, sich wälzen
zu können, noch gibt es darin Bereiche, die einen wie ins Nest locken. [...]
Sie löst uns eher vom kargen Boden, indem sie uns in einen reinen, nackten und
gleichförmigen Himmel bettet. Hier gibt es keine Verbindung mit der Natur, wenn diese
uns in ihren exuberanten Schönheiten absorbiert; sie ist, wenn man dies so sagen kann,
mehr als pantheistisch, eine monotheistische Landschaft in diesem unendlichen Feld, in
welchem der Mensch, ohne sich zu verlieren, klein wird, und in der er inmitten der Aridi-
tät der Felder Trockenheiten der Seele fühlt. Derselbe tiefe Geisteszustand wie diese Land-
schaft ruft in mir jener Gesang hervor, in welchem die getriebene Seele von Leopardi uns
dem umherirrenden Hirten vorstellt, der in den asiatischen Steppen den Mond nach sei-
nem Schicksal befragt.28
27 Vgl. zu diesem Begriff Ette, Ottmar: Roland Barthes. Landschaften der Theorie. Konstanz:
Konstanz University Press 2013.
28 Unamuno, Miguel de: En torno al casticismo, S. 54.
Ángel Ganivet, Miguel de Unamuno 769
Es ist kein Zufall, dass Miguel de Unamuno am Ende seiner Evokation der Land-
schaften Kastiliens auf den romantischen Dichter Giacomo Leopardi verweist,29
der in seiner Lyrik häufig die Meeresmetaphorik und die Landschaften des Mee-
res verdichtete und eine Welt der Kontraste schuf, welche den schroffen Gegen-
sätzen in Unamunos Kastilien in nichts nachstehen. Der poetisch aufgeladene
Verweis auf die Kunst verhindert zudem jede Möglichkeit, dass das Lesepubli-
kum diese Darstellung der Weite Kastiliens als einen Ausdruck der Naturver-
bundenheit (miss-)verstehen könnte. Denn es geht hier nicht um Natur: Diese
Landschaft der Theorie entfaltet eine Landschaft der Philosophie, welche die
Grundlage für Unamunos gesamtes literarisches und philosophisches Lebens-
werk bildet.
In dieser semantisch hochverdichteten Passage springt die Landschaftsdar-
stellung – von einer Landschaftsbeschreibung mag ich gar nicht sprechen –
um in eine Sicht des tiefen Kastilien, des tiefen Spanien, verwandelt sich folg-
lich in eine Seelenlandschaft, die sich ins Innere des Schriftstellers, ins Innere
des Dichters hinein verlagert. Ein wenig wie Jean-Jacques Rousseaus „Je sens
mon coeur et je connais les hommes“, dem wir uns in unserer Vorlesung über
die Romantik ausführlich gewidmet haben,30 braucht Miguel de Unamuno nur
in die Landschaften Kastiliens zu blicken, um die Seele seiner spanischen Hei-
mat glasklar in sich zu erspüren. Der „vidente“ kann in sich selbst die Tiefe der
Seele einer Nation fühlen.
Aus der wechselseitigen Beziehung zwischen Mensch und Landschaft, zwi-
schen Monotonie und Uniformität des Landes, zwischen Monotheismus und Ziel-
gerichtetheit des kastilischen Menschen ergeben sich jene Verbindungen, welche
für die Leserinnen und Leser den tiefen Charakter Spaniens aufschließen. Mit der
bewussten Einführung der ersten Person Singular und der damit verbundenen
Konzentration auf die innere Gefühlswelt wird eine der zentralen Linien des Fin de
siglo in Spanien erkennbar: die Rückbesinnung auf eine individuelle und kollek-
tive Identitätskonstruktion, welche sich im eigenen landschaftlichen Raum des
zentralen Iberien ihre Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung holt inmitten
einer sozioökonomischen Modernisierung, deren gesellschaftliche und politische
Konsequenzen sie möglichst stark auszublenden versucht. Das zu Stein gewordene
Meer Kastiliens steht sinnbildlich für jene Intrahistoria, welche nicht die laut
schreiende Geschichte verkörpert, sondern einen ruhigen, stillen, von äußeren Ge-
schehnissen unberührten Rhythmus, in welchem sich eine nationale Geschichte
konfiguriert (Abb. 61). Dass dies nur bruchstückhaft über die rasant beschleunigte
Globalgeschichte der dritten Phase hinwegtäuschen und hinwegtrösten konnte, in
welcher mit allen auch literarischen Konsequenzen31 der Untergang Spaniens als
Kolonialmacht besiegelt wurde, steht außerhalb dieses Wunschbildes einer zur
endgültigen Stille und Ruhe gekommenen Geschichtsvorstellung, die sich in den
Landschaften Kastiliens verkörpert.
So entfaltet das Fin de siécle in Spanien in der Tat eine Literatur, die an ihr
eigenes Ende gekommen zu sein scheint, die ihren eigenen kollektiven Tod be-
singt und dabei die unsterbliche Größe Spaniens mit ihrer zu Stein gewordenen
Macht landschaftstheoretisch feiert. Und zugleich begründet diese Literatur aus
der Rückbeziehung auf das Innere im Kollektiven und Nationalen, aber auch
im Singulären und Individuellen paradoxerweise einen Neuanfang, ja eine Wie-
dergeburt, wodurch sich die spanische Literatur ihr sogenanntes „Siglo de
Plata“ erschreiben sollte, ihr zweites Goldenes Zeitalter. Spanien war tot und
dadurch bald schon wiedergeboren: Unamunos Konzept der Intrahistoria ver-
mag uns den Schlüssel zu dieser paradoxen Vorstellung an die Hand zu geben.
Damit war freilich nicht die „histoire événémentielle“, die im Sinne Unamu-
nos laut plärrende Ereignisgeschichte außer Kraft und außer Vollzug gesetzt.
Denn es gab eine Vielzahl historischer Subjekte, die sich nicht damit zufrieden-
gaben, die stille, schweigsame Arbeit der Tiefengeschichte weiterhin anonym
und (größtenteils zu Arbeitsinstrumenten) objektiviert auszuführen. Gerade in
der bis zuletzt, bis zum „desastre“ von 1898 getreuen spanischen Kolonie Kuba
sollten sich die Stimmen dieser Arbeiter, dieser Sklaven der Intrahistoria, zu
Gehör bringen und ihre Rolle als Subjekte der Geschichte einnehmen.
Bevor wir uns in dieser Vorlesung mit der Stimme der zuvor Ungehörten beschäf-
tigen können, müssen wir zunächst nach der Natur der Stimme und ihrer Bedeu-
tung für die Dichtkunst in der Moderne fragen. Als hochgradig intermediales
Phänomen müsste die Lyrik in einer Welt, die von der komplexen wechselseiti-
gen Verschränkung und Durchdringung unterschiedlichster Medien geprägt ist,
innerhalb des Gattungssystems eigentlich eine wichtige wenn nicht beherr-
schende Stellung einnehmen. Denn in ihrer etymologischen Abkunft vom griech.
„lyra“, aber auch in ihrer gesamten Gattungsgeschichte im Abendland erweist
sie sich als jenes literarische Genre, in dem wohl am stärksten verdichtet und
selbstbezüglich semantisiert unterschiedlichste Sinne des Menschen einerseits
ihren ästhetischen Ausdruck finden und andererseits unmittelbar angesprochen
werden. In diesem Teil unserer Vorlesung beschäftigen wir uns vorrangig mit
Lyrik und poetischen Ausdrucksformen, die sich mit Leben und Sterben, mit Ge-
burt und Tod auseinandersetzen. Die Frage wird also dringlich: Was leistet die
Dichtkunst?
Als synästhetische Kunstform par excellence unterhält Lyrik eine privile-
gierte Beziehung zum Klang im Allgemeinen und zur Musik im Besonderen,
verfügt dadurch aber zugleich über deren akustomotorische Dimension, wie
diese in Rhythmus und Atmung, in Tanz und Bewegung den Dichter oder die
Dichterin mit ihrem Publikum verbinden. In der Kopräsenz von Produzenten
und Rezipienten kann gerade in der Performanz von Dichtung durch die Au-
tor*in selbst ein Höchstmaß an Intensität und Intermedialität erreicht werden,
wie dies in anderen traditionellen literarischen Gattungen in solch verdichteter
Form nur selten erreichbar ist und die Ausnahme bleibt. Man kann folglich von
einer Sonderstellung der Dichtkunst im literarischen Gattungsgefüge sprechen.
Die potentielle Intensität ästhetischer Erfahrung im Horizont synästhetisch-
intermedialer Hervorbringungs- und Wahrnehmungsstrukturen hat freilich kei-
neswegs dazu geführt, der Lyrik auf ihren angestammten hohen Platz innerhalb
der Gattungshierarchie zurück zu verhelfen. Dies zeigt ein Blick auf die je nach
Sprachen zwar unterschiedliche, aber insgesamt doch unverkennbar schwin-
dende Auflagenhöhe von Lyrik nicht nur in westeuropäischen Gesellschaften.
Wenn sich auch die Dichtkunst zumindest teilweise in anderen Areas der Lite-
raturen der Welt – und darunter nicht zuletzt in Lateinamerika und gerade
auch in Kuba – ihre angesehene Stellung bewahren konnte, so zeigt sich doch,
dass sich die Dominanz des Romans und mit ihm korrespondierender Prosafor-
men im Verlauf der letzten Jahrzehnte eher verstärkt als abgeschwächt hat. Der
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-025
774 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
Roman, die bürgerliche Epopöe, scheint alles andere zu erdrücken; ein wenig
so, wie es der Krimi und die unendlichen Serien von Tatort, Polizeiruf – und
wie diese Publikumsschlager sonst noch heißen mögen – mit anderen Program-
men im öffentlichen Fernsehen tun.
Dafür mögen verschiedenste Motive ausschlaggebend sein, deren genauere
Erforschung freilich nicht im Mittelpunkt der sich anschließenden Überlegungen
zur Lyrik von Nicolás Guillén stehen soll. Die Komplexität der Beziehungen zwi-
schen Gattungssystem und Gesellschaftssystem legt nahe, dass sich auch jenseits
der Rahmenbedingungen eines zunehmend globalisierten literarischen Marktes –
innerhalb dessen der literarischen Translation eine aller automatisierten digita-
len Übersetzungsprogramme zum Trotz große Bedeutung zukommt – für die
Übersetzungen gegenüber eher sperrige Lyrik ein Umfeld herausgebildet hat, das
die Gattungswahl nicht positiv beeinflusst haben dürfte.1
Aus Gründen, die möglicherweise viel mit der veränderten Stellung des
Subjekts in den hochentwickelten westlichen Gesellschaften des ausgehenden
20. und beginnenden 21.Jahrhunderts zu tun haben, wirkte sich die Dialektik
zwischen Gattungs- und Gesellschaftssystem sicherlich nachteilig für den Ort
der Lyrik innerhalb beider Systeme aus. Doch wäre gewiss eine nicht weniger
langfristige Entwicklung in unsere Überlegungen miteinzubeziehen, welche die
unmittelbare und für die Lyrik konstitutive Beziehung zwischen Text und Klang
betrifft. Denn die in der abendländischen Moderne zunehmende Ausblendung
der Stimme von Autor*innen und Leser*innen aus dem Text sowie die in der
schulischen Unterweisung konsequent angestrebte Praxis des leisen Lesens
raubten der Lyrik jene tiefe und privilegierte Beziehung, die sie zu Stimme und
Klang, zu Atmung und Körperlichkeit seit der Antike unterhielt und im Kern
noch heute unterhält.
Die Praxis der stillen Lektüre aber kappte und kappt jene Relation zwischen
Lyrik und Körper, die den Körper in das Klanginstrument von Lyrik verwandelt2
– oder sie beeinträchtigt diese Beziehung zumindest nachhaltig. Müßig zu fra-
gen, ob sich jemals die Lippen von Paolo und Francesca in Dantes Göttlicher
Commedia gefunden hätten, wären ihre Körper nicht – wie in der damaligen
Lektürepraxis üblich – durch das gemeinsame laute Lesen bereits in Schwin-
gung versetzt und damit zum Klingen gebracht worden. Doch lassen wir Paolo
1 Vgl. die aus literatursoziologischer Sicht noch immer grundlegende Studie von Köhler,
Erich: Gattungssystem und Gesellschaftssystem. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturge-
schichte (Heidelberg) 1 (1977), S. 7–22.
2 Vgl. hierzu u. a. Kittler, Friedrich A.: Autorschaft und Liebe. In (ders., Hg.): Austreibung des Geis-
tes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus. Paderborn – München –
Wien – Zürich: Schöningh 1980, S. 142–173.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 775
3 Vgl. hierzu den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Wel-
ten, S. 680, 733, 798, 1047.
4 Weitere Überlegungen hierzu in Ette, Ottmar: El cuerpo de la poesía. La búsqueda del otro y
el lugar de la escritura en el poema „De noche, en la imprenta“ de José Martí. In: Val Julián,
Carmen (Hg.): Soy el amor: soy el verso! José Martí créateur. Paris: Ecole Normale Supérieure
de Fontenay / St-Cloud 1995, S. 97–111.
776 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
sung bilden, haben zweifellos zum Niedergang der Dichtung innerhalb des Gat-
tungssystems in den abendländischen Gesellschaften beigetragen. Sie ließen aus
der faszinierenden Intermedialität der Dichtkunst einen Nachteil, ein Handicap
werden, das eine paradoxerweise gerade in der Mediengesellschaft doppelt am-
putierte, vom Körper getrennte intermediale Lyrik mit sich herumschleppt. dies
war lange Zeit ein unbestreitbarer Nachteil, könnte sich eines Tages, unter ver-
änderten medientechnischen Bedingungen, aber als unschätzbarer Vorteil des
verdichteten Wortes erweisen.
Doch bleiben wir in der Gegenwart! Die Ausblendung von Körper und Leib
sowie hierbei vor allem von Klang und Stimme hat die Perzeption von Lyrik in
den westlichen Gesellschaften, aber auch in der Wissenschaft folgenreich be-
hindert und eingeschränkt. Dies betrifft gerade die Performanz von Lyrik und
insbesondere deren laute Lektüre im öffentlichen Raum. Nicht bloß im Kontext
der Rezeptionsästhetik wurde dem Phänomen des Lesens in seinen unter-
schiedlichsten Zusammenhängen größte Aufmerksamkeit zuteil, doch blieb
und bleibt bisher die Praxis des Vorlesens „merkwürdig marginal, als handelte
es sich um ein Epiphänomen, das zwar auch irgendwie existiert, aber den ge-
naueren Blick nicht wert ist“.5
Dieser auffälligen Wahrnehmungslücke, die bislang nur wenigen Kriti-
kerinnen und Kritikern aufgefallen zu sein scheint und – wenn wir hier von
‚Blick‘ sprechen wollen – gleichsam den blinden Fleck gerade der wissenschaft-
lichen Perzeption von Lyrik bildet, gilt es folglich entgegenzuwirken. Denn Wis-
senschaft benutzt das Medium der Schrift und weist bisweilen Schwierigkeiten
auf, wenn es um die Einbeziehung und Interaktion unterschiedlicher anderer
Medien und Kommunikationskanäle geht.
Dabei war – wie bereits anklang – die Praxis des lauten Vorlesens bis weit
in die Moderne hinein von größter Bedeutung, bildete sie doch einen gewichti-
gen Teil sozialer, politischer wie kultureller und literarischer Kommunikation
ab, wofür das Vorlesen in den literarischen Salons des 18. Jahrhunderts oder
bei Hofe noch im 19. Jahrhundert repräsentativ stehen mag: Das Vorlesen von
Texten gehörte zu den nicht unbedingt geliebten, aber doch stets ausgeführten
Aufgaben des Kammerherrn Alexander von Humboldt am preußischen Königs-
hofe. Zur Praxis des lauten Rezitierens zählen auch die unserem Gegenstand
näherliegenden und bis heute fortbestehenden Formen des (von den Arbeite-
rinnen und Arbeitern bezahlten) lauten Vorlesens in kubanischen Tabakfabri-
ken. Nicht zuletzt zirkulierten auf diese Weise viele Essays, politische Artikel
und Gedichte eines José Martí unter jenen Arbeitern, welche die von ihm ge-
5 Scheerer, Monika M. / Scheerer, Thomas M.: Vorlesen. In: Konkret 12 (1992), S. 48.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 777
6 Ebda.
7 Ebda., S. 49.
8 Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. 5., verbesserte und erweiterte Auflage.
Stuttgart: Kröner 51969, S. 457.
9 Vgl. Plessner, Helmuth: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes.
In (ders.): Gesammelte Schriften. Bd. 3: Anthropologie der Sinne. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1980, S. 7–315.
778 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
per als Körper-Haben, folglich der Körper als ein Objekt, das ich unterschied-
lich bekleiden, bemalen und objektivieren kann, nicht aber das Leib-Sein, die
Dimension des Leibhaftigen, die gerade in der gesprochenen Sprache, in At-
mung und Rhythmus, im Mitschwingen des Körpers, zum hörbaren Ausdruck
kommt. Auch auf dieser Ebene kann uns die Plessner’sche Philosophie also
wichtige Hinweise geben.
In seinem Versuch einer Ästhesiologie des Hörens10 hat Plessner den Men-
schen als „lautproduzierende[s] Lebewesen“ gekennzeichnet und die akusto-
motorische Basis der menschlichen Sprache hervorgehoben.11 Unter Betonung
des Zusammenspiels akustomotorischer und propriozeptiver Elemente12 ver-
suchte Plessner seine Überlegungen zum Ohr als vom Auge sehr verschiedenem
Fernsinn durch Rückgriff auf Johann Gottfried Herder zusätzlich zu fundieren,
wobei er vor allem auf dessen Abhandlung über den Ursprung der Sprache zu-
rückgriff, in der Herder das Gehör als den mittleren der menschlichen Sinne
und zugleich als das „Verbindungsband der übrigen Sinne“13 bezeichnete.
Wenden wir uns dem auch schon in unserer Vorlesung zur Aufklärung zwi-
schen zwei Welten herangezogenen Herder zu:
Das Gehör ist der Mittlere der Menschlichen Sinne, an Sphäre der Empfindbarkeit von
außen. Gefühl empfindet Alles nur in sich, und in seinem Organ; das Gesicht wirft uns
große Strecken weit aus uns hinaus: das Gehör steht an Grad der Mittheilbarkeit in der
Mitte. Was das für die Sprache thut? Setzet ein Geschöpf, selbst ein vernünftiges Ge-
schöpf, dem das Gefühl Hauptsinn wäre (im Fall dies möglich ist!) wie klein ist seine
Welt! und da es diese nicht durchs Gehör empfindet, so wird es sich wohl vielleicht, wie
das Insekt ein Gewebe, aber nicht durch Töne eine Sprache bauen! Wiederum ein Ge-
schöpf, ganz Auge – wie unerschöpflich ist die Welt seiner Beschauungen! wie unermeß-
lich weit wird es aus sich geworfen! in welche unendliche Mannichfaltigkeit zerstreuet!
Seine Sprache, (wir haben davon keinen Begriff!) würde eine Art unendlich feiner Panto-
mime; seine Schrift eine Algebra durch Farben und Striche werden – aber tönende Spra-
che nie! Wir hörende Geschöpfe stehn in der Mitte: wir sehen, wir fühlen; aber die
gesehene, gefühlte Natur tönet! Sie wird Lehrmeisterin zur Sprache durch Töne! Wir wer-
den gleichsam Gehör durch alle Sinne!14
10 Vgl. Plessner, Helmuth: Anthropologie der Sinne. In (ders.): Gesammelte Schriften, Bd. 3,
S. 317–393.
11 Ebda., S. 344.
12 Ebda., S. 346.
13 Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In (ders.): Sämtli-
che Werke. Herausgegeben von Bernhard Suphan. Bd. 5. Berlin 1891, S. 64.
14 Ebda., S. 64 f.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 779
Das Hören wird für Herder damit zwischen absoluter Nähe und absoluter Ferne
zum vermittelnden Sinn par excellence und zum selbstverständlichen Bezugs-
punkt menschlicher Sprache überhaupt. Im Umfeld unserer Überlegungen ist
nicht nur bemerkenswert, dass für Herder die Poesie im Zentrum aller künstleri-
schen Aktivitäten und Hervorbringungen stand, sondern dass Plessner in die-
sem Zusammenhang die Herauslösung der Frage nach Ursprung und Wesen
der Sprache aus dem Bannkreis des rationalen Erkennens als bleibendes Ver-
dienst des Autors und Übersetzers der Stimmen der Völker in Liedern bezeich-
nete.15 Dem Ohr, das wir anders als das Auge nicht schließen können, kommt
damit eine entscheidende Verbindungsfunktion zum menschlichen Körper und
zur Körperlichkeit zu – auch im Barthes‘schen Sinne der „corporéité“, die in
engster Verbindung zur „théâtralité“ steht.16 Lassen Sie uns diese Spur in Kürze
weiterverfolgen!
Diese Reflexion über die Präsenz des Körper-Leibes in der von Helmuth
Plessner angestrebten Ästhesiologie des Hörens ließe sich durchaus mit einer
auf den ersten Blick ganz anderen Überlegung verbinden, die Hans-Georg Ga-
damer in seinem Versuch anstellte, Grundzüge einer möglichen „Philosophie
des Hörens“17 zu entwerfen. Denn Gadamer betonte aus einer hermeneutischen
Perspektive wohl die „Einheit und Untrennbarkeit von Hören und Verstehen“,18
wies aber zugleich darauf hin, dass Verstehen letztlich „Mitgehen mit dem An-
deren“ ist und somit „immer Mitgehen mit dem, was gesagt wird, auch wenn es
keineswegs notwendig Zustimmung bedeutet“.19 Dabei rückte er das Hören der
Worte des Anderen in die Nähe des „Mitgehen[s] mit der Musik, das wohl über-
haupt im Grunde ein Mitsingen“20 sei. Diese Hermeneutik des Hör-Verstehens
wird uns noch beschäftigen.
Mitgehen – Mitsingen – Mitschwingen: Die Verbindung zur Klang- und
Hörkunst der Lyrik liegt folglich nahe. Hören schließt eine Ankoppelung der
gesprochenen Sprache an nicht-sprachliche (oder auch vor-sprachliche) Aus-
drucksformen und Bewegungen mit ein, die den Kontakt zwischen den Spre-
chenden oder Singenden und den Hörenden prägen. Dies unterscheidet ein
akustisches von einem rein optisch gesteuerten Lesen, in dem als Schwund-
21 Vgl. hierzu besonders die Auftaktkapitel in Pohl, Karl-Heinz: Ästhetik und Literaturtheorie
in China. Von der Tradition bis zur Moderne. München: K.G. Saur 2007 [= Band 5 von Kubin,
Wolfgang: Geschichte der chinesischen Literatur].
22 Gadamer, Hans-Georg: Über das Hören, S. 205.
23 Ebda.
24 Dieser Thematik war beispielsweise die Leipziger Buchmesse 2001 gewidmet, die einen
guten Überblick über die aktuellen Entwicklungen in diesem Bereich bot.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 781
Haushalt oder auf der Reise, gleichsam ‚im Hintergrund‘ mitgehört werden kön-
nen. Hier soll vielmehr der Versuch unternommen werden, am Beispiel akusti-
scher Aufführung lyrischer Texte durch den Dichter selbst buchstäblich das
Hören zu lernen, vorbereitende Überlegungen zu einer Ästhetik des Hörens an-
zustellen und die Philologie als Freundin des Wortes dort zu einem genaueren
Hinhören zu bewegen, wo sie zwar von der musikalischen, rhythmischen oder
lautmalerischen Dimension von Lyrik spricht, nicht aber danach fragt, wie
diese akustische Dimension tatsächlich vom Dichter oder der Dichterin selbst
realisiert wurde.
Es soll mithin um spezifisch phonotextuelle Fragestellungen25 gehen, welche
die oftmals ausgeblendeten klang-textlichen Beziehungen als fundamentale Be-
standteile eines poetischen Textes ins Zentrum der Untersuchung rücken. Dies
bedeutet zugleich, einer fast ausschließlichen Ausrichtung am geschriebenen
Wort, am Schrifttext und damit auch jenem Textualitätsdogma entgegenzuwir-
ken, wie es sich – in hohem Maße von den Überlegungen Jacques Derridas und
seiner Kritik am Phonozentrismus geprägt26 – seit der zweiten Hälfte der sechzi-
ger Jahre zunächst in Frankreich im Kontext neoavantgardistischer Gruppen wie
Tel Quel ausgebildet und die Theorien des ausgehenden 20. Jahrhunderts weit
über Frankreichs Grenzen hinaus imprägniert und gegen die Präsenz des Akusti-
schen immunisiert hat. In Deutschland konnte ein Jürgen Wertheimer zu Recht
davon sprechen, dass die Literaturwissenschaft der Frage des Hörens in der
Nachfolge Derridas „eher skeptisch-problematisierend gegenüber“ stehe.27
Dies kommt – wie man von Seiten des Antiphonozentrismus Derrida’scher
Prägung etwa einwenden könnte – keiner Rückkehr zur ‚Hörigkeit‘ gegenüber
der Autorität des gesprochenen Wortes gleich, die sich vielleicht doch nicht zu-
fällig am Ende von Hans-Georg Gadamers Überlegungen andeutete.28 Zwischen
Horchen und Gehorchen gibt es keine Einbahnstraße – und schon gar nicht in
der Poesie. Vielmehr lässt sich eine Verbindung zu jener Reflexion über die
25 Vgl. zu diesem in Anlehnung an das Konzept der Ikonotextualität entworfenen Begriff Ette,
Ottmar: Dimensiones de la obra: iconotextualidad, fonotextualidad, intermedialidad. In: Spil-
ler, Roland (Hg.): Culturas del Río de la Plata (1973–1995). Transgresión e intercambio. Frank-
furt am Main: Vervuert Verlag 1995, S. 13–35.
26 Vgl. u. a. Derrida, Jacques: L’écriture et la différence. Paris: Seuil 1967, bis hin zu (ders.):
Politique de l’amitié, suivi de L’Oreille de Heidegger. Paris: Seuil 1994.
27 Wertheimer, Jürgen: Hörstürze und Klangbilder. Akustische Wahrnehmung in der Poetik
der Moderne. In: Vogel, Thomas (Hg.): Über das Hören, S. 133.
28 Gadamer, Hans-Georg: Über das Hören, S. 205: „Wir müssen sogar horchen lernen, um die
leiseren Töne des Wissenswerten nicht zu überhören – und vielleicht gehört auch gehorchen
dazu. Aber darüber sollte ein jeder allein weiter nachdenken.“
782 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
„écriture à haute voix“ herstellen, die den Schriftbegriff am Ende von Le Plaisir
du texte gerade für das laute Lesen öffnete und damit versuchte, die Dimension
des Körperlichen und (im Plessner’schen Sinne) des Leiblichen im Zeichen der
Lust in die Schrift einzuführen:
Wäre es möglich, sich eine Ästhetik der textuellen Lust vorzustellen, dann müsste in sie
eingehen: das Schreiben mit lauter Stimme. Dieses vokale Schreiben (das keinesfalls das
Sprechen meint) wird nicht geübt, doch ist es sicher das, was Artaud empfahl und Sollers
fordert. Sprechen wir davon, als ob sie existierte!
In der Antike umfasste die Rhetorik einen heute vergessenen, von den klassischen
Kommentatoren zensierten Teil: die actio, eine Gesamtheit von Leitlinien zur körperlichen
Veräußerlichung des Diskurses: Es handelte sich um ein Theater des Ausdrucks, in dem
der Redner-Schauspieler seine Entrüstung, sein Mitleid usw. ‚ausdrückte‘. Das Schreiben
mit lauter Stimme ist hingegen nicht expressiv; es überlässt die Expression dem Phäno-
Text, dem regulären Code der Kommunikation; es selbst gehört jedoch zum Geno-Text,
zur Signifianz; es wird nicht von den dramatischen Modulationen, den boshaften Intona-
tionen, den gefälligen Akzenten getragen, sondern vom Korn der Stimme, das eine eroti-
sche Mischung von Timbre und Sprache darstellt und daher seinerseits, der Diktion
gleich, das Material einer Kunst sein kann: der Kunst, seinen Körper zu führen (daher
seine Wichtigkeit für die fernöstlichen Theater). Bezüglich der Klänge der Sprache ist das
Schreiben mit lauter Stimme nicht phonologisch, sondern phonetisch; sein Ziel ist nicht
die Klarheit der Botschaften, das Theater der Emotionen; es sucht vielmehr (aus einer Per-
spektive der Wollust) nach triebbedingten Zwischenfällen, nach von Haut überzogener
Sprache, nach einem Text, in dem man das Korn der Kehle, die Patina der Konsonanten,
die Lüsternheit der Vokale, eine ganze Stereophonie, die tief ins Fleisch reicht, hören
kann: das Artikulieren von Körper und Sprache, nicht von Sinn, von Sprachweise. Eine
bestimmte Kunst der Melodie kann eine Vorstellung von diesem vokalen Schreiben
geben; da aber die Melodie tot ist, findet man sie heute wohl am ehesten noch im Kino. In
der Tat genügt es schon, wenn das Kino den Klang des Sprechens aus größter Nähe auf-
nimmt (dies ist im Grunde die generelle Definition des ‚Korns‘ des Schreibens) und in
ihrer ganzen Materialität, in ihrer Sinnlichkeit, den Atem, die Rauheit, die Fleischlichkeit
der Lippen, die ganze Präsenz der menschlichen Schnauze hören lässt (die Stimme, das
Schreiben, sie müssen nur frisch, schmiegsam, eingefettet, fein gekörnt und vibrierend
sein wie die Schnauze eines Tieres), und schon gelingt es ihm, das Signifikat in weite
Ferne zu rücken und den anonymen Körper des Schauspielers sozusagen in mein Ohr zu
werfen: Das körnt, das knistert, das streichelt, das schabt, das schneidet: das lüstet.29
Anders als Roland Barthes sollten wir die Existenz eines derartigen klanglichen
Schreibens nicht aus taktischen Überlegungen in Form eines Als-Ob anneh-
men, sondern die tatsächliche Existenz dieser „écriture à haute voix“, dieser
29 Barthes, Roland: Die Lust am Text. Aus dem Französischen von Ottmar Ette. Kommentar
von Ottmar Ette. Berlin: Suhrkamp Verlag 2010, S. 82–84. Dort findet sich auch ein ausführli-
cher Kommentar des Herausgebers ebenso von dieser Figur 46, die den Band beschließt, wie
von den anderen Figuren von Barthes’ Le Plaisir du texte.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 783
30 Barthes, Roland: Le Plaisir du texte. In (ders.): Œuvres complètes. Edition établie et présen-
tée par Eric Marty. 3 Bde. Paris: Seuil 1993–1995, Bd. 2, S. 1529.
31 Ebda.
32 Vgl. das Manuel de Jesús Galván gewidmete Kapitel in Ette, Ottmar: Romantik zwischen
zwei Welten, S. 733 ff.
784 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
33 Vgl. den dritten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden
bis nach der Postmoderne, S. 741 ff.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 785
schätzen könnten und die ihn im öffentlichen Leben nach Christoph Kolumbus
und Alexander von Humboldt zum ‚dritten Entdecker Kubas‘ machte.
Seine eigentliche Entdeckung der Insel ist – wenn Sie dies auch zunächst
überraschen mag – die Entdeckung der Welt der Schwarzen und ihrer Kultur,
die zuvor über lange Jahrhunderte verachtet und geleugnet worden war. Fer-
nando Ortiz ging zu Beginn im Anschluss an Cesare Lombroso mit durchaus
rassistischen Untertönen34 zunächst von einem kriminologischen Standpunkt
aus, doch war dies eine Blickrichtung, die er bald überwinden und revidieren
sollte. Seine Untersuchungen der Alltagskultur der städtischen suburbanen
schwarzen Bevölkerung, der ehemaligen Plantagensklaven auf dem Land, der
Riten der „Brujería“ oder der Soziologie der „Hampa cubana“ haben so stark
auf die kubanischen Intellektuellen der ersten Jahrzehnte, eben jene Generatio-
nen der historischen Avantgarden gewirkt,35 dass man von ihm in der Tat als
einem der Väter nicht nur der Anthropologie, sondern auch der literarisch-
ästhetischen Avantgarden sprechen könnte.
Fernando Ortiz hat ohne jeden Zweifel beide Seiten in dem bereits genannten
Contrapunteo de la cultura cubana von 1940 zusammengeführt, doch gilt es für
uns mehr noch zu bedenken, dass die Gesamtheit seiner Veröffentlichungen eine
Langzeitwirkung entfaltete. Denn Ortiz hatte durch mehrere Zeitschriftengrün-
dungen, seine ständige publizistische Präsenz und die wichtige Rolle als Essayist
zwei Generationen kubanischer Künstlerinnen und Künstler zu den bislang ver-
nachlässigten schwarzen Kulturen, zum afrikanischen und transkulturierten Erbe
der Insel geführt. Zu den großen Figuren, die sich von ihm inspirieren ließen, zäh-
len im Bereich der Literatur Alejo Carpentier oder Nicolás Guillén, im Bereich der
Anthropologie und anthropologischen Literatur Lydia Cabrera, aber auch im Be-
reich der Musik Komponisten wie Amadeo Roldán oder Alejandro García Caturla.
Dass in den zwanziger Jahren im Bereich der Lyrik Kubas eine „poesía
negra“ im Rahmen einer „literatura negrista“ entstehen konnte, eine Dicht-
kunst, die ihren Höhepunkt zwischen dem Ende der 20er Jahre und in etwa
dem Jahr 1937 erlebte, hat mit einer Reihe von Faktoren zu tun, die wir kurz
auflisten wollen. Erstens waren dies die Forschungen und Publikationen von
Fernando Ortiz und einer von ihm geprägten entstehenden kubanischen Anth-
ropologie selbst, zu der wir bereits einiges angemerkt haben. Zweitens bildete
einen wichtigen Faktor der Kontext indigenistischer Überlegungen, die in sehr
unterschiedlichen, zum Teil sogar gegenläufigen Varianten das Denken und die
34 Zu Lombroso vgl. hierzu Lenz, Markus Alexander: Genie und Blut. Rassedenken in der italieni-
schen Philologie des neunzehnten Jahrhunderts. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014, S. 297–302.
35 Zur Entstehung der historischen Avantgarden in Lateinamerika vgl. Ette, Ottmar: Von den
historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne, insb. S. 188 ff.
786 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
36 Vgl. Eßer, Torsten / Fröhlich, Patrick (Hg.): Alles in meinem Dasein ist Musik. Kubanische
Musik von Rumba bis Techno. Frankfurt am Main: Vervuert 2004.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 787
37 Vgl. Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 151 ff. und 191 ff.
788 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
Bald schon war der Son nicht mehr nur eine Touristenattraktion, sondern auch
ein Exportschlager.
Diese rasante Entwicklung fällt mit der Entwicklung der historischen Avant-
garden auf Kuba zusammen, und Berührungspunkte gab es – wie wir sahen –
viele. Als Nicolás Guilléns Motivos de son 1930 erschienen, war der Son auf dem
ersten Höhepunkt seiner Karriere. Guilléns Motivos sind also aus unterschied-
lichster Sicht überaus interessante literarische Kleinformen, die nicht nur inter-
textuell, sondern gerade auch phonotextuell von größter Bedeutung sind. Lassen
Sie uns nun aber einen kühnen Sprung in die Rhythmen der Karibik machen! Ich
darf Ihnen an dieser Stelle eine in Kuba recht bekannte Aufnahme der Gruppe
Los Papines mit dem Titel „Tasca Tasca“ des Komponisten Luis Abréu zu Gehör
bringen, die Sie auch übers Internet anhören können.
Diese Aufnahme wird uns zusätzlich zu Rhythmik und Percussion vor
allem mit zwei Dingen bekanntmachen, die wesentliche Aspekte auch der „Poe-
sía negra“ eines Nicolás Guillén darstellen. Zum einen handelt es sich dabei um
das Wechselspiel zwischen Chor und Vorsänger oder Solostimme (beziehungs-
weise auch abwechselnden Solostimmen), welche ein Grundelement vieler afri-
kanischer Gesänge und Musikformen bilden. Und zum anderen zeigt diese
Aufnahme jenes Phänomen, das im Bereich der Lyrik mit dem Begriff „Jitanjá-
fora“ bezeichnet wird; ein Terminus, der wohl auf den kubanischen Avantgar-
disten Mariano Brull zurückgeht, dann aber von dem Mexikaner Alfonso Reyes
theoretisch weiterentwickelt wurde. Bei der Jitanjáfora handelt es sich – verein-
facht gesagt – um die Lust am reinen Klang, um das Vergnügen an Wörtern,
die keine klar umrissenen semantischen Bedeutungen tragen und als onomato-
poetische Elemente nicht hinlänglich erklärt werden können. Es sind, wenn Sie
so wollen, Lexeme mit entbundener Semantik, die bisweilen ein Eigenleben –
und damit auch wieder eine sekundäre Semantik – entwickeln können, keines-
falls aber mit festgelegten Klangbildern und Lautmalereien wie beispielsweise
„Peng“, „Uff“, „Zack“ oder „Kuckuck“ verwechselt werden dürfen. Hören Sie
sich dieses Klangbild also bitte einmal mit gespitzten Ohren an!
So, jetzt sind sie sicherlich genügend aufgewärmt für die nachfolgende Be-
schäftigung mit der afrokubanischen Lyrik, ja geradezu heiß auf die ersten Ge-
dichte, die ich Ihnen in der Folge vorstellen darf! Aber wie kam der am 10. Juli
1902 in Camagüey geborene Kubaner Nicolás Guillén, der Sohn eines in dieser
Provinzhauptstadt recht berühmten Zeitungsverlegers, der später aus politi-
schen Motiven erschossen wurde, überhaupt zu dieser Art von Lyrik? Und wie
konnte der am 16. Juli 1989 in Havanna verstorbene „Poeta Nacional“ eine so
ganz andere Dichtung schaffen?
Kaum etwas ließ nur wenige Jahre zuvor vermuten, dass Nicolás Guillén
während seines zweiten Aufenthalts in Havanna jene Motivos de son im Jahr
1930 veröffentlichen sollte, welche die kubanische und hispanische Literatur-
790 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
Es ist kurios. Denn ich muss sagen, dass die Geburt dieser Gedichte mit einer Traumerfah-
rung verbunden ist, von der ich niemals in der Öffentlichkeit gesprochen habe, aber die
in mir den lebhaftesten Eindruck hinterließ. Eines Nachts – es war im Monat April 1930 –
hatte ich mich schon hingelegt und befand mich an dieser unentscheidbaren Linie zwi-
schen Schlafen und Wachen, die das Schlafwachen ist, wo einen Kobolde und andere Er-
scheinungen gerne heimsuchen, als eine Stimme, ich weiß nicht woher, deutlich und
präzise an meinem Ohr diese beiden Worte, negro bembón, aussprach.
Was war das gewesen? Natürlich konnte ich mir keine befriedigende Antwort darauf
geben, aber ich konnte nicht mehr schlafen. Der Satz, mit einem speziellen Rhythmus un-
terlegt, war neu in mir und hielt mich den Rest der Nacht in Atem, war er doch jedes Mal
tiefer und beherrschender:
Negro bembón,
Negro bembón,
Negro bembón...
Ich stand früh auf und begann zu schreiben. Als ob ich mich an etwas früher schon
Gewusstes erinnert hätte, verfasste ich mit einem Rutsch ein Gedicht, in welchem jene
Worte als Hilfe und Stütze für den Rest der Verse erschienen [...].
Ich schrieb, ich schrieb den ganzen Tag und war mir dieses Fundes bewusst. Nach-
mittags hatte ich schon eine Handvoll Gedichte – acht oder zehn –, denen ich auf eher
generelle Weise den Titel Motivos de son gab. [...] Ich gab sie Urrutia für seine Seite, und
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 791
dort erschienen sie eines Sonntags, ich glaube am 20. April 1930, nur wenige Tage nach
ihrer Niederschrift.38
Sollen wir das glauben, was Guillén da anderthalb Jahrzehnte später – im Jahre
1945 – bei einem öffentlichen Vortrag erzählte? Se non è vero, è ben trovato. Wie
dem auch sei: Dies also ist die schillernde Geburtsszene der Motivos de son, der
inspirierte Augenblick, in dem diese Gedichte auf die Welt kamen und rasch,
als würde ihre Geburt juristisch beglaubigt, das Licht der Welt in Form ihres
Erscheinens im Druck erblickten. Aus einem Abstand von immerhin fünfzehn
Jahren schilderte und inszenierte Nicolás Guillén jene Initialzündung, die ihm
zwischen Traum und Tagtraum gleichsam zufiel und – wie bei einem Fund
(„hallazgo“) – den Schlüssel für jene spezifische Schreibform in die Hand gab,
die später als „poema-son“ eine lange und wirkungsvolle Entwicklung in sei-
nem Gesamtwerk nehmen sollte.39
Es war ganz offensichtlich keine schwere Geburt: Denn es gab eine Stimme,
die von irgendwoher Metrik und Rhythmik und Lexik klar vorgab. Gleichviel,
ob wir diese Erzählung als Bekenntnis oder als Selbstinszenierung verstehen
wollen: Sie zielt nicht nur auf Bedeutungsebenen des Unbewussten und des Zu-
fallsfundes, die beide in die bewusste Schöpfung eingehen; Elemente also, die
wenige Jahre zuvor in den historischen Avantgarden und insbesondere im fran-
zösischen Surrealismus zu Zentralbegriffen künstlerischer Schöpfung avanciert
waren.40 Sie führen gleichzeitig den Schreibakt selbst auf die Präsenz einer
Stimme zurück, die fremd und nah zugleich unmittelbar am Ohr des Dichters
erklang und in ihren Worten einen Rhythmus enthielt, der dem Erzähler als völ-
lig neu und doch seit langer Zeit seltsam vertraut erschien.41
Diese Stimme, über deren Herkunft Guillén im Zweifel ist, erschallt einer-
seits aus immer größerer Tiefe („cada vez más profunda“), wird andererseits
aber immer beherrschender und machtvoller („imperiosa“). Es ist eine geradezu
biblische Stimme, die Stimme eines Gottes, die in der Heiligen Schrift keinen
38 Guillén, Nicolás: Charla en el Lyceum. In (ders.): Prosa de prisa 1929–1972. 2 Bde. La Ha-
bana: Editorial Arte y Literatura 1975, Bd. 1, S. 294 f.
39 Vgl. zu dieser Entwicklung Augier, Angel: Hallazgo y apoteosis del poema-son de Nicolás
Guillén. In: Casa de las Américas (La Habana) XXII, 132 (mayo – junio 1982), S. 35–53.
40 Vgl. hierzu das Kapitel über den Surrealismus in Ette, Ottmar: Von den historischen Avant-
garden bis nach der Postmoderne, S. 336 ff.
41 Zur Bedeutung nicht nur bildhafter, sondern auch klanglicher Elemente in der Lyrik der histo-
rischen Avantgarden vgl. Wentzlaff-Eggebert, Harald: Textbilder und Klangtexte. Vicente Huido-
bro als Initiator der visuellen / phonetischen Poesie in Lateinamerika. In: Heydenreich, Titus
(Hg.): Der Umgang mit dem Fremden. Beiträge zur Literatur aus und über Lateinamerika. München:
Fink 1986, S. 91–122.
792 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
Widerspruch duldet. Der Erzähler hört und gehorcht dieser Stimme (des Herrn)
und wandelt sich durch dieses Erlebnis akustischer Illumination endgültig zu
jenem Dichter, als der er in die Literaturgeschichten eingehen sollte. So war
diese Szene, vom kubanischen Dichter sorgsam inszeniert, mehr als die Ge-
burtsszene eines einzigen Gedichts.
Die auch bei vielen anderen avantgardistischen Lyrikerinnen und Lyrikern
nachweisbare Wendung weg von den Wurzeln im Postmodernismo und hin zu
Verfahren und Schreibweisen einer für Lateinamerika spezifischen historischen
Avantgarde war geglückt – dies wusste Guillén 1945, zum Zeitpunkt dieser ‚Er-
zählung‘. Was für eine Bewandtnis aber hatte es mit der fremden Stimme?
Wäre dieses Gehorchen nicht ein Fall von Hörigkeit, ganz im Sinne Jacques Der-
ridas, der hinter der so nahen Stimme stets jene Autorität fürchtete, die Macht
über das Ich ergreift? Wäre der Dichter – wie der poststrukturalistische franzö-
sische Philosoph der Grammatologie im Zeichen seines Antiphonozentrismus
befürchtete42 – am Ende nicht jenem Hündchen gleich, das vor dem Trichter
des Grammophons die Ohren spitzt und die Stimme seines Herrn erkennt: His
Master’s Voice?
Dieses Hündchen durfte auch in den Memoiren Nicolás Guilléns nicht feh-
len, bezog sich aber selbstverständlich nicht auf die eigene künstlerische Pro-
duktion. Es stand vielmehr mit jener Musik in Zusammenhang, die von der in
Entstehung begriffenen Musikindustrie mit Hilfe von Grammophon und Schall-
platte verbreitet wurde und während der Jugendjahre des Dichters auch in Ca-
magüey, der Heimat Guilléns, längst zirkulierte und sich von einem volks- in
ein massenkulturelles Phänomen im Zeichen des Grammophontrichters ver-
wandelt hatte. In seinen Memoiren erzählte Guillén von „uno de los primeros
fonógrafos que llegaron a Camagüey, de enorme bocina y voz gangosa, sin que
faltara el perrito simbólico ‘oyendo la voz del amo’.“ Guillén schilderte so die
Ankunft eines der ersten Phonographen oder Vorläufer der für uns längst histo-
rischen Grammophone in seiner Geburtsstadt Camagüey und sprach explizit
von His Master’s Voice. Und weiter: „Todas las noches, grandes y pequeños del
barrio se juntaban en el comercio de Don Manuel, que les brindaba un con-
cierto gratis: discos de Regino López, la Chelito, Hortensia Valerón, Floro y
Cruz … “43 Die ganzen Stars der damaligen Tonaufführungen versammelten
sich, um in einem der Geschäfte von Camagüey für Jung und Alt jene Melodien
Ich gestehe, dass ich mich ein bisschen besorgt fühlte, als ich die Motivos gedruckt sah.
Ich hatte sie zwei oder drei Wochen zuvor an Urrutia übergeben, hatte ihn jedoch darum
gebeten, dass er sie nicht ohne meine Zustimmung veröffentlichen solle. Im Vorüberge-
hen merke ich an, dass eine solche Vorgehensweise mir von der in der Tat recht kindi-
schen Angst eingeflößt wurde, dass diese Verse nicht mir gehörten und ich nur derjenige
wäre, der sie aus dem Mysterium des Unterbewusstseins erinnert hatte. Klar war dies ein
Unsinn, doch war ich stets bis zur Erschöpfung pingelig und bisweilen bis zur Absurdität
kapriziös, und die besagte Angst hatte mich gepackt. In Wirklichkeit hatte ich allein, bis
zum damaligen Zeitpunkt, das heißt bis zum Erscheinen der Sones, von dem, was man
später als „poesía negra“ bezeichnete, nur ein Gedicht mit dem Titel „Ode an Kid Choco-
late“ (1929), dessen Titel ich später in „Ode an einen schwarzen kubanischen Boxer“ ab-
wandelte, geschrieben. Als ich Urrutia meine Bedenken mitteilte, musste er laut lachen
und sagte mir: „Aber Du spinnst, was für eine Dummheit; sie sind und bleiben Deine;
und jetzt halte aus, was da kommen wird.“47
Nun, der Geburtsprozess der Motivos de son war doch nicht so einfach, wie der
Dichter zunächst schilderte: Es war eine Geburt, in welcher sich die männliche
Gebärende ihrer Vaterschaft nicht sicher war. Die angeführte Passage um-
schreibt den schwierigen Prozess der Einverleibung jener Stimme, die fremd
und nahe zugleich jenen Schaffensprozess ausgelöst hatte, der es Guillén spä-
ter erlaubte, ohne Zögern von einer klaren Trennung zwischen einem ‚Vorher‘
und einem ‚Nachher‘ in seiner poetischen Produktion zu sprechen: „una pro-
funda zanja divisoria entre mis primeros tanteos poéticos y el camino que iba a
seguir después.“48 Waren beim poetischen Geburtsprozess vielleicht doch zwei
Seiten und nicht nur eine beteiligt? Dabei ist aufschlussreich, dass die fremde
Stimme der Eingebung erst dann zur eigenen wird, als eine andere fremde
Stimme, die seines Ratgebers und Freundes Gustavo E. Urrutia, ihm versichert,
bei den Gedichten handele es sich sehr wohl um Texte, die unter dem Namen
Nicolás Guilléns erscheinen dürften, seien sie doch „tuyos y bien tuyos“. Die
poetische Vaterschaft wird damit von dritter Seite authentifiziert.
Für Urrutia, der die acht Gedichte auf seiner immer wieder Fragen der
Rassendiskriminierung thematisierenden Seite im konservativen Diario de la
Marina unterbrachte, hatte Nicolás Guillén bereits seit mehr als einem Jahr Bei-
träge geschrieben – ein Vertrauensverhältnis war entstanden. Doch zeigte sich
der kubanische Poet nun verunsichert, ob es sich denn bei diesen kurzen lyri-
schen Texten, die fundamental mit seinen bisher wesentlich vom hispanoame-
rikanischen Postmodernismo geprägten Schreibformen brachen, tatsächlich
um seine ‚eigene‘ dichterische Stimme handelte. Denn in den Augen des Dich-
ters war die Autorschaft, die Vaterschaft durchaus fragwürdig, was freilich mit
jener Infragestellung des schreibenden Subjekts und somit der Autorität über-
einstimmt, wie sie im französisch geprägten Surrealismus vorgenommen wurde
und später in den Neoavantgarden wieder aufblitzte.49 Die Frage Friedrich
Nietzsches war buchstäblich gegenwärtig: Wer spricht?
Folgen wir den Erläuterungen der Memoiren, dann führte nicht die – an-
geblich ohne die vereinbarte letzte Billigung Guilléns erfolgte – Veröffentli-
chung der Motivos de son, sondern erst die beruhigende Versicherung Urrutias
dazu, dass der kubanische Poet die an einem einzigen Tag verfassten Texte als
die Seinen anerkannte. Erst die Autorität einer anderen fremden Stimme schaffte
es folglich, dass Guillén seine ihm nachträglich als ‚kindisch‘ erscheinenden Be-
denken bezüglich der eigenen Autorschaft fallenließ. Er war sich nun seiner Va-
terschaft sicher oder behauptete dies zumindest. Hätte nicht alles auch ein Spiel,
ein Trick einer „écriture automatique“ sein können? Doch von einer fremden
Stimme initiiert, wurden die Motivos de son auch erst von einer anderen fremden
Stimme autorisiert. Mit anderen Worten: Der Dichter hört nicht nur Stimmen, er
horcht auch auf diese Stimmen und gehorcht ihnen. Fremde Stimmen queren Ge-
nese wie Publikation der Motivos de son. Lassen sie sich aber auch in den Gedich-
ten selbst finden?
Die Infragestellung der eigenen Autorschaft verweist uns auf die Problema-
tik der Präsenz des ‚Fremden‘ im ‚Eigenen‘.50 Die bewusste dichterische Arbeit,
die sich an den Zufallsfund – ganz im Sinne von André Bretons „hasard objec-
tif“ – anschloss, löste das ‚Fremde‘ im ‚Eigenen‘ keineswegs auf: Die Koexistenz
verschiedener Stimmen und Rhythmen bestand und besteht – wie noch zu zei-
gen sein wird – fort. Herkunft und Identität der Stimme(n) in diesen Gedichten
bleiben in ihrer Hybridität erhalten und scheinen sich der Zuordnung zu einer
einzigen personalen ‚Identität‘ des Dichters Nicolás Guillén, dessen Autorname
seit dem Erstabdruck dieser ‚Motive‘ im Diario de la Marina für die Autorschaft
steht, nur widerstrebend fügen zu wollen. Wie aber lassen sich die Stimmen be-
stimmen, welche die Motivos de son durchziehen?
Diese erste Serie von Gedichten sollte Guillén ein Jahr später in veränderter
Zusammenstellung und kotextueller Anordnung in seinen Gedichtband Sóngoro
cosongo aufnehmen. Versucht man, sie in systematischer Weise auf jene sechs
Pole zu beziehen, die das kulturelle Spannungsfeld der lateinamerikanischen
Literaturen bilden,51 so zeigt sich, dass sich bereits Guilléns frühe Gedichte
49 Vgl. hierzu den dritten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Von den historischen Avant-
garden bis nach der Postmoderne, passim.
50 Vgl. hierzu Kristeva, Julia: Etrangers à nous-mêmes, Paris: Gallimard 1991.
51 Vgl. Ette, Ottmar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Literaturen
Lateinamerikas und Europas. In: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika denken. Kulturtheoreti-
796 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
ebenso in die iberische Kultur (die Geschichte der spanischen Lyrik) im Kontext
ihrer abendländischen Traditionsstränge einschreiben wie in Formen und Tra-
ditionen der verschiedenen schwarzen Kulturen, die auf Kuba heimisch wurden
und sich dort weiterentwickelten. Aber auch die iberischen Volkskulturen klin-
gen mit ihren Sprichwörtern und ihrem Sprachwitz immer wieder an. Ebenso
erscheinen aus einem langen Prozess der Vermischung, der Hybridisierung und
der Transkulturation hervorgegangene kulturelle Ausdrucksformen sowie jener
Pol, dem seit Ende des 19. Jahrhunderts (etwa in den Chroniken Martís) gerade
auch in der kubanischen Literatur eine wachsende Bedeutung zukam: der Pol
symbolischer Güter der Massenkultur und Massenkommunikation. Dieser Pol
kam beispielsweise im kubanischen Son zum Ausdruck, dessen große Erfolge
in jenen wie auch in späteren Jahren ohne die internationalisierte Schallplat-
tenindustrie nicht denkbar gewesen wären.
Bedenkt man die Zugehörigkeit dieser Gedichte Nicolás Guilléns zu äußerst
verschiedenen kulturellen Polen in Lateinamerika, so wird die zentrale Bedeutung
seiner lyrischen Schöpfungen innerhalb des gegebenen kulturellen Spannungs-
felds schnell deutlich. Die Kopräsenz dieser verschiedenen Pole in Gedichten, die
Guillén bald als „poesía negra“, als „poemas mulatos“ oder als „versos mulatos“
bezeichnen sollte,52 verdeutlicht die Komplexität von lyrischen Formen, in denen
sich nicht allein auf der orthographischen, lexikalischen, morphosyntaktischen
oder semantischen, sondern auch auf der phonischen, metrischen beziehungs-
weise ‚rhythmischen‘ Ebene unterschiedlichste Traditionslinien überlagern und
aufeinander stoßen. Auf einen einzigen dieser Pole sind diese Gedichte nicht
sche Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1994,
S. 297–326; sowie in leicht veränderter Form in ders.: Von den historischen Avantgarden bis
nach der Postmoderne, S. 188 ff.
52 So schrieb er in der Einleitung zu seinem im Oktober 1931 erschienenen Gedichtband
Sóngoro cosongo nachdrücklich: „Diré finalmente que éstos son unos versos mulatos. Partici-
pan acaso de los mismos elementos que entran en la composición étnica de Cuba, donde
todos somos un poco níspero. ¿Duele? No lo creo. En todo caso, precisa decirlo antes de que lo
vaymos a olvidar.“ Guillén, Nicolás: Sóngoro Cosongo. In (ders.): Las grandes elegías y otros
poemas. Selección, prólogo, notas y cronología Ángel Augier. Caracas: Biblioteca Ayacucho
1984, S. 52; vgl. hierzu auch Iñigo Madrigal, Luis: Introducción. In: Guillén, Nicolás: Summa
poética. Edición de Luis Iñigo Madrigal. Madrid: Cátedra 41980, S. 39 f. Zum Problem der von
Guillén selbst nicht unkritisch behandelten Frage der „poesía negra“ vgl. auch Armbruster,
Claudius: Poesía Negra? Zur Lyrik von Jorge de Lima aus Brasilien und Nicolás Guillén aus
Kuba. In: Armbruster, Claudius / Hopfe, Karin (Hg.): Horizont-Verschiebungen. Interkulturelles
Verstehen und Heterogenität in der Romania. Festschrift für Karsten Garscha zum 60. Geburts-
tag. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1998, S. 519–536.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 797
zu reduzieren und aus dem Blickwinkel eines einzigen kulturellen Pols auch
nicht adäquat zu verstehen.
Dies wird bereits in der ersten Strophe jenes Gedichts deutlich, das wohl
als erstes entstand und den Zyklus der Motivos de son eröffnete:
Te queja todabía,
negro bembón;
sin pega y con harina,
negro bembón,
Die Musikalität dieses ersten, dieses Ur-Typs der Sones von Nicolás Guillén
steht außer Zweifel. Ganz ohne Vorgänger war dies in der Literaturgeschichte
kubanischer Dichtkunst freilich nicht, denken wir dabei vor allem an Plácido
53 Guillén, Nicolás: Negro bembón. In (ders.): El libro de los sones, S. 53. Ein von Gabriele Bati-
nic unternommener Übersetzungsversuch dieses nicht einfach ins Deutsche zu übersetzenden
Gedichts findet sich in Köhler, Hartmut (Hg.): Poesie der Welt. Lateinamerika. Berlin: Propyläen
Verlag – Edition Stichnote 1986, S. 275: „Warum wirst du so wütend, / wenn sie dich Negro
Bembón nennen, / wo du doch mit heiligem Mund redest, / Negro Bermbón? // Bemon so wie
Du bist, / hast du von allem; / die Nächstenliebe hält dich aufrecht, / sie gibt dir alles. // Du
beklagst dich immer noch, / Neger Bembón; / ohe Prügel und mit Mehl, / Negro Bembón, /
Hanfbau für den weißen Drillich, / Negro Bembón; / Schuhe zweifarbig, / Negro Bermbón. //
Bembón, so wie du bist, / hast du von allem; / die Nächstenliebe hält dich aufrecht, / sie gibt
dir alles!“
798 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
54 Vgl. zu Plácido Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 880 ff.
55 Vgl. diese Ausgabe und das aufschlussreiche Vorwort in Aguirre, Mirta: El cincuentenario
de Motivos de son. In: Guillén, Nicolás: Motivos de son. La Habana: Editorial Letras Cubanas
1980, S. 5–24.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 799
„tiene de to.“ Dieses Alles-Besitzen erweist sich als ein Alles-Erhalten im letz-
ten Vers dieses Quartetts („te lo da to“), wobei zugleich eine weibliche Prota-
gonistin eingeführt wird, die nicht zufällig den Namen „Caridá“ trägt. Sie
sehen, dass ich an dieser Stelle einer anderen Deutung als der deutsche Über-
setzer den Vorzug gebe. Denn „Caridad“ kann selbstverständlich die Barmher-
zigkeit sein, aber auch ein Frauenname.
In jedem Falle hält diese „Caridad“ den Schwarzen aus und versorgt ihn
mit allem, was kontrapunktisch in der abschließenden vierten Strophe noch-
mals aufgezählt und bestätigt wird: Diese vierte Strophe ist mit der zweiten
identisch und lässt sich somit verstehen – auch musikalisch-vokalisch gewen-
det – als ein Estribillo, als Refrain dieses Son. Dabei besteht dieser Refrain aus
einem Wechsel von Acht- beziehungsweise Sechssilbern mit zwischengeschal-
teten Viersilbern, die echoartig untereinander, aber auch zum Viersilber „Negro
bembón“ gestellt sind.
Die dritte Strophe unseres Gedichts kontrastiert nun den sich beklagenden
Schwarzen mit all den Elementen und Gegenständen, mit denen er ausgestattet
ist; Elemente, die bis hin zu Kleidungsstücken aus weißem Drill und zweifarbi-
gen Schuhen, „sapato de do tono“, reichen. Der Begriff „majagua“ übrigens ist
indianischer Herkunft und meint nach Auskunft eines Wörterbuchs der Kuba-
nismen, das aus derselben Zeit wie unser Gedicht stammt, zunächst einen be-
stimmten Baum, der auf Kuba an Flussläufen sehr verbreitet sei. Ein kleines
Rätsel bleibt hier bestehen. Oder sollte gar die aus Majagua gefertigte „soga“,
also ein Strick gemeint sein?
Wohl kaum. Ich denke mehr an eine Art weißen Anzug, den der „Negro
bembón“ zusammen mit seinen auffälligen, zweifarbigen Schuhen trägt: zwei-
fellos ein Element des „Estridentismo“. Diese Kontrastierung wird durchgeführt
ebenso auf der inhaltlichen wie der strukturellen und klanglich-rhythmischen
Ebene, wird der kurze sich anschließende Katalog von Gegenständen – in Sechs-
silbern gehalten – mit unserem leitmotivischen Viersilber „Negro bembón“ doch
durchgängig konfrontiert.
Besondere Beachtung verdient natürlich – und dies ist das erste Element,
das dem Lesepublikum förmlich ins Auge oder besser ins Ohr springt – die
Sprache, die deutlich der Sprache der Schwarzen auf Kuba nachempfunden ist.
Wir könnten dies als literarisches Verfahren mit einem Begriff der russischen
Formalisten als „skaz“ bezeichnen. Dabei handelt es sich zweifellos um eine
zunächst einmal diatopische Varietät des Spanischen, die durch ihre semanti-
schen, vor allem aber Lexik und Morphologie betreffenden Charakteristika
auffällt.
Die lautliche Realisierung dieser diatopischen Variante wird im Gedicht
verschriftlicht und betrifft sowohl die Indifferenz von Spanisch „z“ und „s“
800 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
(wie in „sapato“) als auch das Wegfallen von Endungen und Schlusskonsonan-
ten sowie von intervokalischen Konsonanten (etwa bei „todo“, das zu „to“
wird. Zugleich handelt es sich – am schwarzen Protagonisten orientiert, den
das Gedicht anspricht – natürlich auch um eine diastratische Varietät des Spa-
nischen, in welcher bestimmte Elemente, die bereits genannt wurden, charakte-
ristisch sind. Zum Diastratischen kommt zweifellos auch noch eine ethnische
Komponente, wird doch vom Sujet her deutlich gemacht, dass es sich bei die-
sem Motivo de Son um eine Phonetik des Kubanischen schwarzer Sprecher han-
delt. Zweifellos sind die Protagonisten dieses Gedichts Schwarze; und zu ihnen
gehört auch der Sprecher selbst, denn er ist es ja, der die konkrete Realisierung
dieser Varietät des kubanischen Spanisch vorträgt und verschriftlicht. Damit
kommen wir zugleich zu einem Spiel zwischen Mündlichkeit und Schriftlich-
keit, die sich als verschriftlichte Mündlichkeit zugleich auch wieder zur Musik
im Sinne eines Liedtextes mit Refrain öffnet. Negro bembón kann zweifellos ge-
sungen und musikalisch aufgeführt werden.
Das Motiv dieses Son in musikalischer Hinsicht ist also klar, das Motiv in se-
mantisch-poetologischer Hinsicht noch nicht. Zweifellos ist auf inhaltlicher Ebene
eine spezifische Situation des schwarzen Protagonisten angesprochen, die von
einer Geschlechterbeziehung dominiert wird. Sie betrifft die Beziehung zwischen
dem sich beklagenden Mann und einer Frau, von der wir nur erfahren, dass sie
Caridad heißt und ihn mit allem versorgt, was er braucht und will. Unser „Negro
bembón“ lebt also auf ihre Kosten, eine geschlechterspezifisch keineswegs seltene
Konstellation. Wie diese Beziehung zwischen dem Mann und der ihn aushaltenden
Frau genau aussieht, wird aber bewusst offengehalten.
Denn Caridad kann seine Mutter sein, sie könnte aber auch seine junge Ge-
liebte und/oder auch eine junge Prostituierte sein, die für ihn anschafft. Die
letztgenannte Möglichkeit wird noch dadurch wahrscheinlicher, dass zu den
von ihr angeschafften Gegenständen seines Gebrauchs feine weiße Kleidung
gehört sowie dazu passende zweifarbige Schuhe: die typische Kleidung des
weißgekleideten schwarzen Dandys und Zuhälters im vorrevolutionären Kuba.
Er stellt einen Typus dar, der im Übrigen auch nach der Kubanischen Revolu-
tion nicht ausgestorben ist. Es gibt also gute Gründe dafür, hinter dem sich be-
klagenden Schwarzen, der wütend wird, wenn man ihn als „Negro bembón“
bezeichnet und damit an seine Rassenzugehörigkeit erinnert, einen schwarzen
Zuhälter zu vermuten, der in Guilléns Son porträtiert wird. Damit werden aber
unverkennbar die sozialen Probleme der damals noch sehr jungen, gerade erst
einmal knapp dreißig Jahre unabhängigen kubanischen Republik dargestellt
oder rücken doch zumindest hintergründig ins Blickfeld.
Diese soziale Isotopie wird sich in der künftigen poetischen Produktion des
kubanischen Dichters verstärken. Es ist hier nicht der Ort, um das lyrische Ge-
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 801
samtwerk des kubanischen Dichters zu würdigen, der über mehr als ein halbes
Jahrhundert lang Verse schrieb und von der Kubanischen Revolution zum
„Poeta Nacional“ ausgerufen sowie mit hohen Würden und Auszeichnungen
bedacht wurde. Als diplomatischer Vertreter des revolutionären Kuba, aber
auch als erster Präsident der neugegründeten UNEAC, des mächtigen kubani-
schen Schriftsteller- und Künstlerverbandes, besaß Guillén Macht und Einfluss;
eine Macht, die massiv einzusetzen der überzeugte Kommunist sich auch nie
scheute. In der berühmten Padilla-Affäre, einer Art ideologischer Wasserscheide
der Kubanischen Revolution in den späten sechziger und frühen siebziger Jah-
ren, verstand es Guillén allerdings, sich einigermaßen geschickt aus der Affäre
zu ziehen. Dies gelang ihm, indem er sich als Präsident der UNEAC rechtzeitig
krankmeldete, die gesamte Zeit im Krankenhaus verbrachte und erst dann wieder
ins Rampenlicht trat, als in seinem Haus die unliebsame Dreckarbeit der Bezich-
tigung und Anklage von Kollegen bereits von anderen gemacht worden war.
Von dieser politisch nur schwer anzugreifenden Stellung eines „Poeta Na-
cional“ aber ist Nicolás Guillén 1930 noch meilenweit entfernt. Seine politische
Radikalisierung allerdings folgt der politischen Entwicklung der kubanischen
Republik vor und nach der Diktatur Gerardo Machados und dessen Sturz 1933
durch eine Art Volksbewegung, die freilich nicht definitiv in ein demokratisches
System überleiten sollte. Dadurch war eine Verschärfung der innenpolitischen Si-
tuation eingetreten, welche nicht zuletzt zu einer Polarisierung der politisch-
ideologischen Positionen innerhalb der kubanischen Gesellschaft führte. Nicolás
Guillén wurde als überzeugter Kommunist zu einem militanten Wortführer nicht
nur der gesellschaftlich diskriminierten Schwarzen und Kubaner „de color“, son-
dern der sozial und ökonomisch Marginalisierten überhaupt. Damit ist – ähnlich
wie in Peru für José Carlos Mariátegui das ‚Indioproblem‘ – das Problem der
Schwarzen auf Kuba letztlich ein politisches und soziales Problem, das für Guil-
lén nur durch eine fundamentale Umwälzung der politischen Verhältnisse gelöst
werden konnte. Dies schlug sich auch in seinen Gedichten nieder.
Zur Problematik von Son und Politisierung sollten Sie sich einmal das Mu-
sikbeispiel von Carlos Puebla anhören, den Son de la alfabetización! Auch an-
hand dieses Beispiels ließe sich die Verknüpfung verschiedener kultureller Pole
untersuchen, wobei der Pol internationaler Massenkommunikation in diesem
Falle insoweit umgepolt wurde, als nun an die Stelle des Konsums symboli-
scher Güter jetzt der revolutionäre Konsum und Export symbolischer Güter trat.
Dies weist auf die weitere Entwicklung der Lyrik von Nicolás Guillén voraus.
Doch nochmals zurück zu unserem ‚Geburts-Gedicht‘ von Guilléns Motivos
de son! Die für diesen Zyklus insgesamt charakteristische Sprecherposition
eines lyrischen Ich im Dialog mit einem Du, das als „Schwarzer mit wulstigen
Lippen“ erscheint, wird erweitert durch eine Gemeinschaft nicht näher bezeich-
802 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
neter Sprecher, die im Gedicht die titelgebende Wendung erstmals auf das Du
des lyrischen Ich projizieren. Für unsere Fragestellung ist folglich bedeutungs-
voll, dass jene Worte, welche die fremde Stimme dem Dichter eingab, nun zu-
nächst einer dritten Person Plural zugeordnet werden.
Ihr Zuruf „Negro bembón“ wird vom „Du“, vom Dialogpartner des Dichters,
als abwertende, disqualifizierende und diskriminierende Äußerung wahrge-
nommen: Es handelt sich zweifellos um einen Rassismus, einen rassistischen
Anwurf, wie ihn der Verfasser dieses Gedichts selbst auch des Öfteren gehört
haben könnte. Doch hinterfragt das lyrische Ich – das wir nicht mit Nicolás
Guillén identifizieren sollten – die daraus resultierende Erregung, das ‚Wütend-
Werden‘ des so Angesprochenen, gerade dadurch, dass es diese einer fremden
kollektiven Stimme entnommene Wendung übernimmt und zur eigenen macht.
Wir haben es mit Formen und Normen des Umgangs mit rassistischen Interjek-
tionen zu tun, wie sie auch in der deutschen Sprache und besonders in unserer
Gegenwart und ihrem spezifischen Sprachbewusstsein vorkommen.
Der Kubaner Nicolás Guillén unterdrückt in seiner Lyrik diese Rassismen
jedoch nicht, erteilt ihnen keinen Platzverweis und schließt sie nicht sprachpo-
lizeilich aus. Die fremde Stimme wird allerdings nur insoweit zur eigenen, als
diese Aneignung zugleich eine semantische Appropriation beinhaltet, wird das
diskriminierende Element nun doch (selbst-)affirmativ gebraucht und im ersten
Vers der zweiten Strophe sogleich wieder aufgenommen: „Bembón así como
ere, / tiene de to.“56 Die Mehrstimmigkeit wird damit aber keineswegs in eine
lyrische Einstimmigkeit überführt: Die Polylogik wird nicht auf eine Monologik
reduziert. Denn die Stimmen der ‚Anderen‘ sind nicht verschwunden, was auch
auf der Ebene der literarischen Gattungsmerkmale Guillén’scher Dichtkunst
deutlich wird.
Zweifellos steht die Aneignung des fremden Wortes und der fremden Stimme
im Vordergrund dieses Gedichts, das sich seinerseits die sich aus afrikanischen
Quellen und Traditionen speisende Form des Wechselgesangs angeeignet und in
eine originelle poetische Form gebracht hat. Dieser Wechsel zwischen Copla und
Estribillo würde freilich beinhalten, dass im Wechselspiel zwischen dem Einzelsän-
ger und dem Chor, welchem der Refrain zufällt, die zweite Strophe, die identisch
als vierte und abschließende Strophe wiederkehrt, von einer kollektiven Stimme
gesungen werden müsste, die nicht mit jener des lyrischen Ich übereinstimmt.
Als rhythmisierendes Element würde die Wendung „Negro bembón“ in die-
sem Klanggedicht dann aber sowohl der Einzelstimme als auch jener des Chores
zuzuordnen sein, was Rückwirkungen auf die Deutung haben müsste, bestünden
nandersetzung mit den Alltagsrassismen seiner Zeit gelernt und seine Strategien
fraglos verändert.
Aus all diesen Gründen hieß es aus der Perspektive eines wesentlich pro-
noncierteren politischen Engagements, wie es spätestens seit 1934 mit der Ge-
dichtsammlung West Indies, Ltd. auch ästhetisch zum Ausdruck kam, in der
bereits erwähnten „Charla“ von 1945 selbstkritisch:
Abgesehen von dem einen oder anderen Gedicht („Llegada“, „La canción del bongó“)
fehlt ihnen eine transzendente menschliche Besorgnis. Da der Dichter noch ganz betrun-
ken vom kürzlich entdeckten Rhythmus war, wirft er seine Gedichte wie Münzen in die
Luft aus der Lust daran, sie sonnenverwundet glänzen zu sehen. Erst als er an innerer
Größe wuchs, erst als sein Körper hart mit dem Leben zusammenstieß, erst als er litt und
weinte und um sich herum leiden und weinen sah, konnte er in seinem Schiffchen Kurs
auf die hohe See nehmen, schwang sich leicht und unschuldig in den Mantel des Windes
unter dem blauen Himmel.57
beherrschend, als dass er ihr eine andere, seine eigene Stimme an die Seite
hätte stellen können? Oder war die aus seiner Sicht fehlende menschliche Tran-
szendenz, unter der in erster Linie eine politisch-ideologische Standortbestim-
mung zu verstehen sein dürfte, ein wesentlicher Grund dafür, dieses Spiel mit
der fremden (und zum Teil rassistischen) Rede sich selbst nicht einzuverleiben
und in einem akustischen Speichermedium festzuhalten? Und was hätte eine
Laut-Schrift des Dichters verändert?
Zweifellos ist das gesprochene Wort – und mehr noch, wenn es um ein für
alle Zeiten gespeichertes gesprochenes Wort geht – ganz im Sinne Hans-Georg
Gadamers – „nicht mehr meines, sondern dem Hören preisgegeben“.60 Anders
als das „innere Wort“, das „nicht in die jeweilige Sprache eingekörpert ist“,61
kann „ein gesprochenes Wort sozusagen nicht zurückgerufen werden“,62 denn:
„Das gesprochene Wort gehört jedem, der es hört.“63 Eben hieraus ergibt sich
die Problematik dessen, der nicht nur die ‚eigene‘, sondern auch die ‚fremde‘
Stimme – einem Bauchredner gleich – zu Gehör bringt und verkörpert.
Die Verkörperung des eigenen oder fremden Wortes durch die eigene Stimme,
durch den Klang-Körper des eigenen Körpers, aber hat Folgen: Sie ist als eine auf
Dauer, auf Speicherung und Wiederholbarkeit gestellte Selbstdeutung und Perfor-
mance des eigenen Textes den Hörern, den Rezipient*innen und deren Deutungen
‚ausgeliefert‘. Dies könnte der vielleicht entscheidende Grund dafür sein, warum
der kubanische Dichter, der Stimmen hörte, es bei diesen hochgradig polysemen
Gedichtformen, in denen Fragmente eines Diskurses der Rassendiskriminierung
hörbar wurden, beließ und ihnen keine eigene Laut-Schrift, keine eigene Verkör-
perung an die Seite stellen wollte. Er tat dies erst mit jenen Gedichten und poeti-
schen Schöpfungen, deren Deutung ihm zu festgefügt schien, als dass sie den
sozialrevolutionären Intentionen ihres Sprechers noch hätte entgleiten können.
Der Avantgardist in der Poesie war politisch bewusster, entschiedener und viel-
leicht auch vorsichtiger geworden.
Dass es „ein leichtes wäre“, unter Autorinnen und Autoren „die guten Vorle-
ser von jenen zu trennen, die es besser anderen überließen“,64 darf man getrost
bezweifeln: Zu unterschiedlich sind die jeweils kultur- und sprachabhängigen
Traditionen des Vorlesens, zu vielfältig die Formen der Performanz, als dass man
einfache Werturteile treffen könnte. Selbst vermeintlich klare Wertungen fallen –
wie ich am Beispiel vieler eigener Vorlesungen, in die ich Selbstaufsprachen von
65 Vgl. neben vielen anderen Einschätzungen das Zeugnis eines kubanischen Regisseurs, der
gleichsam als Fachmann die schauspielerischen Qualitäten Guilléns beurteilte: Bernaza, Luis
Felipe: Sonó mejor que nunca. In: Unión (La Habana) 2 (1982), S. 174.
66 Depestre, René: Palabra de noche sobre Nicolás Guillén. In: Encuentro (Madrid) 3 (invierno
1996–1997), S. 66: „Fue una fiesta conocerlo y oírlo recitar algunos de sus poemas. Tal vez
nadie en este siglo ha interpretado poemas – los suyos y los de otros poetas – con tanta gracia
y vigor viril.“
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 807
gerade dieses Gedicht in die Reihe nicht nur der von ihm selbst vorgetragenen,
sondern auch zur Veröffentlichung auf Tonträgern freigegebenen lyrischen
Texte aufnahm. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Tonaufnahme we-
sentlich später erfolgte und das Gedicht aus seiner ursprünglichen Kotextuali-
tät – an zweiter Stelle hinter dem Gedicht Llegada innerhalb des Zyklus von
Sóngoro cosongo – herausgerissen und in eine neue Kotextualität eingestellt
wurde.
Denn es findet sich als erstes aufgesprochenes Gedicht auf einer Schall-
platte, die in der renommierten Reihe Palabra de esta América von der Casa de
las Américas in technischer Zusammenarbeit mit der kubanischen EGREM (Em-
presa de Grabaciones y Ediciones Musicales) veröffentlicht wurde.67 Die Begleit-
texte von Schallplatten, Kassetten und anderen Tonträgern verzeichnen in der
überwiegenden Mehrzahl leider weder den Zeitpunkt der jeweiligen Aufnahme
noch jenen der Veröffentlichung des Tonträgers. Dies erschwert eine kritische
philologische Auseinandersetzung mit diesen Hörtexten ungemein und erfor-
dert zwingend für künftige spezialisierte Untersuchungen umfangreiche Ar-
chivarbeiten. Die sorglose Edition von Hörtexten macht im Übrigen auf den
Umstand aufmerksam, dass dieses Medium weder für wissenschaftliche Arbei-
ten vorgesehen war noch bisher in größerem Umfang wissenschaftlich erforscht
wurde. Es wäre zweifellos ein wichtiges Desideratum aktueller philologischer
Forschung, auf diesem Gebiet der Phonotextualität oder akustischen Philologie
neue Wege zu beschreiten.
Doch zurück zu unserem Gedicht, das als solches gleichsam das Incipit der
Schallplattenaufnahme darstellt! Auf diese Weise verwandelte sich der erste
Vers des Gedichts gleichsam in den Eröffnungsvers der gesamten Hörtextsamm-
lung – „Dies ist das Lied des Bongó“:
67 Guillén, Nicolás: Poesía (en la voz del autor). La Habana: Grabaciones Egrem, Casa de las
Américas – Palabra de esta América 1994.
808 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
68 Guillén, Nicolás: La canción del bongó. In (ders.): Las grandes elegías y otros poemas, S. 54 f.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 809
zuvor gegründeten jungen kubanischen Republik zu geben. Dies ist die Frage
nach einer integrativen kubanischen Identität oder besser einem Identitätsent-
wurf, in welchem all diese Gegensätze aufeinander bezogen sein sollen.
Das Gedicht wurde im historischen Kontext des „Machadato“, der „semi-
parlamentarisch-caudillistische[n] Diktatur“69 Gerardo Machados verfasst;
eines verschärften politischen Kampfes, für den die Ermordung des führenden
Kommunisten Julio Antonio Mella am 10. Januar 1929, der Generalstreik und
die Schließung der Universität im Jahre 1930 sowie die revolutionäre Bewe-
gung, die am 12. August 1933 zum endgültigen Sturz des Diktators führte, als
Orientierungsdaten dienen mögen. Innerhalb einer noch immer ungelösten Pro-
blematik sozialer, kultureller und rassistischer Diskriminierung unternahm es
dieses Poem, in Fortführung und Weiterentwicklung wichtiger Ansätze afro-
amerikanischer Lyriker wie derjenigen des US-Amerikaners Langston Hughes,70
des Puertorikaners Luis Palés Matos oder der Kubaner Ramón Guirao, José
Z. Tallet oder Emilio Ballagas, auf verschiedensten Ebenen die These der „Mula-
tez“ vorzuführen: einer mulattischen Identität Kubas. Daher auch die Anrede
an die Mulattin zu Beginn der zweiten Strophe des Gedichts.
Auf eine kontrapunktische, an Fernando Ortiz gemahnende Weise wird den
strukturierenden Gegensatzpaaren eine Reihe von Vereinigungsmetaphern ent-
gegengestellt: Schwarze und Weiße tanzen denselben Son, besitzen ‚weiße‘
und ‚schwarze‘ Anteile und Charakteristika, bewohnen ein mulattisches Land,
sind mit synkretistischen Religionen vertraut und essen denselben „Ajiaco“ –
nicht umsonst die Lieblingsmetapher des kubanischen Anthropologen Fer-
nando Ortiz, der in dieser spezifisch kubanischen Form eines Eintopfgerichts
die gastronomische Entsprechung seiner Transkulturationsthese erblickte.71
Wie Ortiz ein knappes Jahrzehnt später in seinem Contrapunteo cubano del
Tabaco y el Azúcar (1940) das Gegensatzpaar Tabak und Zucker sich wechsel-
seitig durchdringen ließ und in die „Trinidad cubana: tabaco, azúcar y alco-
hol“72 überführte, um seinen Kontrapunkt mit Alkohol im Kopf zu beenden,73
69 Zeuske, Michael: Insel der Extreme. Kuba im 20. Jahrhundert. Zürich: Rotpunktverlag 2000,
S. 49.
70 Vgl. hierzu Kutzinski, Vera M.: The world of Langston Hughes. Modernism and Translation
in the Americas. Ithaca – London: Cornell University Press 2012.
71 Vgl. hierzu u. a. Ortiz, Fernando: América es un ajiaco. In: La Nueva Democracia (La Ha-
bana) XXI, 11 (1940), S. 20–24.
72 Ortiz, Fernando: Contrapunteo cubano del Tabaco y el Azúcar. Prólogo y Cronología Julio
Le Riverend. Caracas: Biblioteca Ayacucho 1978, S. 88.
73 Ebda.: „Y con el alcohol en las mentes terminará el contrapunteo.“ Anders als bei Nicolás
Guillén geht freilich Ortiz’ Contrapunteo und seine Transkulturationsthese nicht in einer simp-
len Verschmelzung und Fusion auf.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 811
so griff auch Nicolás Guillén 1931 auf ein musikalisches Element zurück, um die
aufgestellten Gegensätze letztlich in einer Fusions-Rhetorik der „Mulatez“ kol-
labieren zu lassen. An einer derartigen Fusion war der Mulatte Nicolás Guillén
als Dichter wie als Politiker interessiert.
In seinem Gedicht La canción del bongó entwickelte Guillén erstmals ein spä-
ter von ihm noch häufig angewandtes poetisches Verfahren,74 indem er einem
Musikinstrument eine Stimme verlieh und es zum Sprecher eines umfassenden
kulturellen, sozialen und politischen Prozesses machte. Bildete der Eröffnungs-
vers hierfür die semantische Schwelle, so führen die beiden sich anschließenden
Verse den Estribillo ein, der das Gedicht – oder ‚Lied‘ – in drei Teile teilt. Die im
Titel bereits angelegte semantische Überkreuzstellung von Rhythmusinstrument
und Gesang schafft eine Isotopie, die den Verlauf des gesamten Gedichts durch-
zieht und in der Lexemrekurrenz von „voz“ zum Ausdruck kommt: Die Trommel
besitzt eine Stimme, sie singt ein Lied, und dieses Lied ist ein kubanischer
Gesang.
Aber umgekehrt kann auch die Stimme zur Trommel werden. So akzentu-
iert die Selbstaufsprache Guilléns den zugrundeliegenden Rhythmus, wobei –
parallel zum Titel und zum ersten Vers – eine Vorliebe für Oxytona, für Beto-
nungen auf der letzten Silbe, beobachtbar wird. Zugleich variieren synkopische
Akzentuierungen von Beginn an die Stimme der Trommel als Trommel der
Stimme, der „profunda voz“ (V. 7). In der Aufsprache Guilléns dominieren
neben den dynamischen Ausdrucksmitteln, die vor allem Betonung und Beto-
nungsart betreffen, die temporalen Ausdrucksmittel, wobei Tempi-Wechseln
eine besondere Bedeutung zukommt. Das Gedicht imitiert oder emuliert auf
diese Weise das Erklingen der Trommel im synkopischen Rhythmus.
Dabei lässt sich als Grundmuster und gestalterisches Verfahren ein Accele-
rando gegen Versende und ein mit starker Betonung gekoppeltes Ritardando zu
Beginn vieler Verse ausmachen. Die eingefügten Pausen trennen – analog zum
Schriftbild – den Titel sowie den Eingangsvers, aber auch die einzelnen Stro-
phen einschließlich des Refrains voneinander ab: Die Grundopposition Stille /
Stimme signalisiert Syntax und Strophengrenzen, aber auch die Semantik die-
ses stark rhythmisierten ‚Liedes‘. Semantik und Rhythmik sind nicht voneinan-
der zu trennen.
Es ergibt sich auf diese Weise strukturell eine hohe Übereinstimmung von
Schrift- und Klangbild, innerhalb derer den dynamischen und temporalen Aus-
74 Vgl. Martínez Andrade, Marina: „Tengo“. Una cala en la poesía social de Nicolás Guillén.
In: Signos. Anuario de Humanidades (México) VII, 2 (1993), S. 205.
812 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
allem in der darauf folgenden Sammlung West Indies, Ltd., der 1934 ebenfalls
in der kubanischen Hauptstadt veröffentlicht wurde. Schon im Titel dieses Ge-
dichtbandes ist die Anklage gegen die Ausbeutung der Westindischen Inseln
durch das vorherrschende Wirtschaftssystem, sprich durch den Imperialismus
der Vereinigten Staaten von Amerika, tonangebend. Ich möchte Ihnen aus die-
sem Zyklus nur ein einziges Gedicht vorstellen, das wiederum ein Son ist und
damit die inhaltlich-ideologische Entwicklung wie auch jene der poetischen
Formen aufzeigen kann. Hören wir zunächst das Gedicht in der Aufsprache des
Autors selbst und analysieren wir es in der Folge:
Ach,
meine Beine werden so schwer,
ich laufe;
die Augen sehn bloß noch von weitem,
ich laufe;
die Hand ergreift, lässt nicht los,
ich laufe.
ich laufe,
ich laufe...75
Caminando, caminando,
¡caminando!
Voy sin rumbo caminando,
caminando;
voy sin plata caminando,
caminando;
voy muy triste caminando,
caminando.
Ay,
las piernas se ponen duras,
caminando;
los ojos ven desde lejos,
Caminando;
la mano agarra y no suelta,
caminando.
Mit dieser Art lyrischer Dichtung schafft Nicolás Guillén Raum für die Stimmen
derer, die bislang ungehört blieben oder nur wenig zur Kenntnis der Allgemein-
heit vorstießen. Mit Miguel de Unamuno könnte man in diesen Versen den Ver-
lauf der Tiefengeschichte heraushören, der Intrahistoria, die sich in diesem Bei-
spiel der Figur eines namen- und arbeitslosen Tagelöhners annimmt und diese
Gestalt, gleichviel ob Weißer oder Schwarzer, zum Subjekt der Rede macht.
Denn es ist dieses Subjekt, das in seinem rationalen Verhalten beim Laufen auf
der Suche nach Arbeit wie in seinem irrationalen Verhalten mit der Tötung ir-
gend eines ‚Herrn‘ das dichterische Wort ergreift und die Grenzen zwischen Ratio-
nalität und Irrationalität in einem Kontinuum der Bewegung verschwimmen
lässt. Die Gewalt dieses Subjekts im Zeichen geradezu anthropophager Handlun-
gen macht deutlich, wie sehr sich angestaute Wut in eine Rachehaltung verwan-
deln kann und in eine Kontinuität an intrahistorischen Bewegungen umgesetzt
wird.
Der Titel dieses Gedichts gibt bereits die durchlaufende Struktur einer im
wirklichen Sinne Verlaufsform vor, die man sich übrigens gesungen sehr wohl
vorstellen könnte als ein chorisch vorgetragenes Gestaltungs- und Dichtungsele-
ment, dem sich die Einzelstimme des Ich entgegenstellt. In diesem Zusammen-
hang wird die Protagonisten-Rolle dieses namenlosen Ich insoweit gestärkt, als
dieses paradoxerweise in der gleichbleibenden Entwicklung des „caminando“
eine Entwicklung zunehmender Radikalisierung durchlebt, die von der ersten
Strophe, dem „Voy sin rumbo caminando“, hin zur Radikalität eines Rachege-
dankens und – zumindest prospektiv – dessen Verwirklichung führt. Dabei ist es
gleichgültig, an wem diese Rache verübt wird: Denn dieser Andere soll für alles
und für alle bezahlen!
Die so beschreibbare Entwicklung führt über bestimmte Stadien, beginnend
mit der noch wegrückenden Abhängigkeit von anderen – das Ich wird von nie-
mandem mehr vermisst, schon lange wartet niemand auf den Protagonisten –
hin zu einer Zerstückelung des eigenen Körpers, der aufgelöst erscheint in die
Wahrnehmung der Beine, der Augen und der Hand. Dabei handelt es sich um
Körperteile, die sehr wohl nach außen gerichtet sind beziehungsweise Extremitä-
ten des Menschen markieren, die zu dessen Kontaktpunkten mit seiner Umwelt
wie mit anderen Menschen avancieren. Eben hierdurch ergeben sich in der Folge
die Äußerungsformen direkter Gewalt.
Denn die Abhängigkeit von den Anderen schlägt um in die Abhängigkeit der
Anderen vom Ich, das zufällig ein ebenso zufälliges Opfer sucht, welches für alle
anderen bezahlen muss und von der Gnade des Protagonisten abhängig ist; einer
Gnade, die in der Machtphantasie des Ichs freilich nicht mehr als gegeben er-
scheint, sondern sadistischen Gewaltvorstellungen weicht. Diese schließlich füh-
ren hin zur doppelt betonten abschließenden kannibalistischen Vorstellung der
Einverleibung des Anderen, des Auffressens und Auftrinkens dieses Anderen,
welche die wohl einzigen Indizien für eine mögliche schwarze Herkunft des Pro-
tagonisten innerhalb eines rassistischen Diskurses abgeben. Aber deutlich wird
816 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
nicht diese Zugehörigkeit zur Gruppe der Schwarzen, sondern zu einer sozial
marginalisierten, an den Rändern der Gesellschaft sich ziellos bewegenden und
ausgebeuteten Klasse betont. Eben jener Marginalisierten und Namenlosen, wel-
che laut Unamuno die Geschichte der Intrahistoria in den Tiefen der Gesellschaft
vorantreiben.
Als sozial und ökonomisch Marginalisierter, Umhergetriebener und Umher-
irrender sucht der Protagonist nicht länger nach einer möglichen Integration in
die ihn ausplündernde und wegwerfende Gesellschaft, sondern nur nach deren
symbolischer Zerstörung in Gestalt eines Sündenbocks. Eine völlige, gar revolu-
tionäre Umgestaltung der verhassten Gesellschaft kommt dabei nicht einmal
utopisch in Betracht: Es geht vielmehr um eine individuelle Rache, die zufällig
zuschlägt und zufällig trifft.
Und doch scheint in der stetig fortgeführten Bewegung auch ein Prozess auf,
der die Bewegung als solche kontinuierlich weiterführt und damit auch zu bis-
lang unbekannten Ufern hin öffnet. Dies wird nicht zuletzt durch die fortgesetzte
und durchgehaltene, fast mechanisch erscheinende Rhythmik betont, die den
Wechsel zwischen zumeist zweigeteilten Achtsilbern und Viersilbern durchhält,
wobei sich durch die Trennung der Achtsilber in Hemistiquios, also Halbverse,
letztlich eine Abfolge von Viersilbern herauspräpariert, die in den Dreiergruppen
des „caminando“ bereits zu Anfang wie am Ende des Gedichts erscheinen. Damit
aber werden – wenn Sie so wollen – Solostimme und Chor wieder innig mitein-
ander verbunden und nicht etwa, wie es zuerst scheinen mochte, gegeneinander
abgesetzt oder gar ausgespielt. Individuum und Kollektiv sind keineswegs vonei-
nander getrennt, auch wenn ein gemeinsames Handeln in diesem Gedicht nicht
erscheint.
Mit den Gedichten des 1934 erschienenen Bandes West Indies, Ltd. war die
Magie des kubanischen Son in den Gedichten von Nicolás Guillén noch nicht
ausgeschöpft oder gar erschöpft. Vielmehr erschien mit El son entero 1947 jener
Gedichtband, den wir als den kreativen Höhepunkt des dichterischen Schaffens
von Nicolás Guillén auf diesem Gebiet bezeichnen können. Dieser Band wurde
lange nach der endgültigen politischen Positionierung des Dichters und seinem
Eintritt in die Kommunistische Partei Kubas sowie weltweiten Reisen als Bot-
schafter dieser Partei veröffentlich; zu einem Zeitpunkt, als Guillén zum politi-
schen Dichter schlechthin avanciert war. Ich möchte Ihnen daraus nur ein
einziges Gedicht, nur einen besonders aufschlussreichen Son wieder in der
Selbstaufsprache des Kubaners präsentieren. Guillén verdichtete in diesen Ver-
sen poetologisch seine Position zu einer Schöpfung, welche gleichsam den
Schlüssel für die anderen Gedichte des Bandes enthält. Denn bei dem Poem
Guitarra handelt es sich um ein zutiefst poetologisches Gedicht.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 817
Tendida en la madrugada,
la firme guitarra espera:
voz de profunda madera
desesperada.
Su clamorosa cintura,
en la que el pueblo suspira,
preñada de son, estira
la carne dura.
76 Guillén, Nicolás: Guitarra. In (ders.): Las grandes elegías y otros poemas, S. 107 f.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 819
Dieses Gedicht ist in gewisser Weise eine Antwort auf La canción del bongó, nur
dass diesmal das Poem nicht aus Perspektive des Musikinstruments entfaltet
wird. In La guitarra findet die Strophenform der Quartette, die durchgängig aus
Rimas llanas gebildet sind, erst am Ende zum – wie es heißt – ‚reifen‘ Gesang,
in welchem der Refrain in die Wiederholungsstruktur eingeht und zugleich sei-
nen letzten Vers als kontrapunktisch aufgebautes Element in die zweitletzte
Strophe einbringt. In diesem Ergreifen und Berühren, Spielen der Gitarre erst
kommt Musik in das Gedicht, das vorher eine unverkennbare Statik besaß.
Dies zeigt sich auch am Reimschema der ersten drei Strophen, die stets a-a-
a-a lautet. Dann erst gerät das Gedicht in Bewegung mit dem Reimschema b-c-
c-b, das – mit Ausnahme der fünften Strophe – schließlich vorherrscht. Die
vierte Strophe ist die Strophe der Entfernung vom bisherigen Tun, bei dem der
„Guitarrero“ – im Gegensatz zum spanischen „Guitarrista“ ein auch in Kuba ge-
bräuchlicher Ausdruck – das Instrument erst noch mit Alkohol vom Alkohol
reinigen muss.
Die Gitarre verlässt in dieser Strophe die dunkle, finstere Welt der Kaba-
retts, des Alkohols der Betrunkenen, der Drogen und Drogenabhängigen, der
ständigen nächtlichen Monotonie einer käuflichen Preisgabe. Die vierte Strophe
ist syntaktisch nicht von der fünften Strophe abgetrennt, mit der sie derselbe
Satz, nicht aber das Reimschema verbindet, das hier wieder zur alten Form der
rima continua zurückkehrt. Es scheint sich hierbei aber nicht um einen Rück-
fall, sondern eher um eine Rückkehr zu einer Zugehörigkeit zu handeln, die –
wie uns der zweite Vers der fünften Strophe sagt – „universal y cubana“ ist und
auf alle Rauschmittel verzichtet.
Das Brennen der Gitarre in der Einsamkeit hat damit ein Ende, Die Gitarre
findet – stellvertretend für die Poesie, aber sicherlich auch für die Liebe und
die Frau, worauf die Anthropomorphisierungen der Gitarre deutlich hindeuten –
820 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
in die Erfüllung der Gemeinschaft zurück, in das Seufzen des Volkes. Die alte
Gitarre wird so unvermittelt zur neuen, getragen von einer neuen Freundschaft,
die ihr die Treue hält. Der Wandel der Gitarre vom Instrument des nächtlichen
Kabaretts zum Instrument einer anhaltenden Freundschaft ist vollzogen. Jetzt
erst kann sie das Leben angehen, sich direkt im Weinen und Lachen mit diesem
Leben auseinandersetzen und es zum Klingen bringen. Es beginnt gleichsam das
wahre Leben, ein Leben, das nicht in Alkohol und Drogen oder Prostitution
enden muss, sondern in seiner Fülle erlebt und durcherlebt werden kann. Das
Gedicht gerät hier zur direkten, unmittelbaren Verkörperung von Lebenswissen.
Damit ist der Weg zur Fülle, zur Ganzheit geebnet. Das Ergreifen der Gi-
tarre, ihre Reinigung, leitet über zum „Son entero“, der freilich personalisiert
ist, handelt es sich doch um eine individualisierte Stimme, die in der Vervielfa-
chung kulminiert: „tu son entero.“ Gleichwohl ist es, wie die zweite Strophe un-
terstrich, noch immer die Gitarre, in welcher das Volk seufzt, „donde el pueblo
suspira“. Damit ist die ständige Wiederholung einer lasterhaften, ewig sich wie-
derholenden Gegenwart, die Gefangenschaft der Monotonie „noche tras noche“
gebrochen und eine neue Zeitdimension erreicht: die einer offenen Zukunft.
Der Fuß auf der Mauer spielt zugleich die Überwindung der Grenzen, der Mau-
ern ein, die hier zu einer ursprünglichen Einheit hin überwunden werden und
eben jenen „Son entero“, also den ganzen, den vollständigen Son erklingen las-
sen. Erst jetzt ist die Gitarre im vollsten Wortsinne weltumspannend und kuba-
nisch, lokal verortet und doch global bedeutsam.
Mit diesem programmatischen Gedicht aus El son entero ist freilich die Grenze
der afrokubanischen Lyrik überschritten und eine Dichtkunst erreicht, die Sache
des gesamten, des ganzen Volkes und des ganzen Son geworden ist. Dass diese
Einheit in Kuba situiert wird, zeigt schon die Formel des „Guitarrero“, der ebenso
wie die Kunst universal und zugleich kubanisch beziehungsweise Kubaner ist.
Diese Engführung beider Begriffe situiert sich in einer langen Tradition, die nicht
zuletzt auf den Dichter und Revolutionär José Martí zurückgeht.
Mit der Freiheit der Gitarre ist die Freiheit der Dichtkunst anvisiert, die letzt-
lich Freiheit eines ganzen Volkes ist, das vor allem – das „suspirar“ deutete es
an – litt. Die Lyrik ist weder käuflich noch rauschhaft, sie ist klares Bewusstsein
des Volkes in Freiheit. Damit knüpft die Gitarre nicht etwa an die dichterische
Hochkultur, sondern an die Volkstradition an, deren Instrument die Gitarre und
deren Ausdrucksform die entsprechende Musik ist: der Son. Wir haben es in die-
sem Gedicht mit einem Rückgriff auf den volkskulturellen Pol zu tun, wobei der
Pol einer industriellen, internationalisierten Massenkultur ganz offensichtlich ab-
gewiesen wird – mit allen Begleiterscheinungen der Drogen, die in der fünften
Strophe aufgezählt werden.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 821
Genau an diesem Punkt liegt die Schnittstelle des Gedichts, das Umklappen
in den Aufruf, der befolgt wird und in die neue Form des Refrains und der kon-
trapunktischen Wiederholungen überleitet, welche erneut eine Art Wechsel-
spiel zwischen der Stimme des Einzelnen und jener der Kollektivität darstellen.
Der Gitarrist ist in La guitarra jener, der eine Lyra zum Klingen bringt, die sich
als Gitarre der Volkskultur verpflichtet weiß, am Leiden des Volkes Anteil hat
und es zum künstlerischen Ausdruck bringt. Darum kann dieses Gedicht An-
spruch darauf erheben, das ganze Leben, das Leben in seiner Fülle, also den
ganzen Son zu präsentieren und zu repräsentieren.
Innerhalb der traditionsreichen kubanischen Musikgeschichte verbindet sich
mit dem Son – wie schon der uns wohlvertraute Alejo Carpentier wusste – nicht
nur seit dessen Anfängen die Vorstellung von einer der „música popular“ ent-
springenden Musikform, die man tanzen kann, sondern dank seiner Begrifflich-
keit auch die Überzeugung, es gehe um „un sonar de voces e instrumentos“,77
um einen Zusammenklang von Stimmen und Instrumenten. Die inter- und trans-
mediale Vieldimensionalität des Son – Hören, Singen, Sehen, Tanzen, Berühren –
entfaltet eine sinnliche Qualität, deren Verführungskraft ebenso im Son wie im
„poema-son“ Guilléns anschaulich, aber auch thematisiert wird.
Es wäre an dieser Stelle verlockend, gerade den Einsatz von Onomatopoe-
tika und Jitanjáforas – also das Spiel mit Klangmustern in nachahmender oder
semantisch wie logisch entbundener Form – in Guilléns Gedichten anhand sei-
ner Selbstaufsprachen zu untersuchen. Doch verlangt die Komplexität dieser
Fragestellung nach einer so detaillierten Analyse, dass diese aus den hier vor-
zustellenden Überlegungen ausgegliedert und einer eigenen Untersuchung vor-
behalten bleiben soll. Schon La canción del bongó zeigte jedoch eindrucksvoll,
wie auch jenseits eines semantisch gebundenen oder provokativ freien Spiels
mit Klangmustern das Klingen von Stimmen und Instrumenten in einer spezi-
fisch phonotextuellen Dimension in der schrifttextlichen Fassung präsent ist
und in deren Inszenierung und Aufführung als Phonotext im eigentlichen
Sinne Gestalt annimmt. In der Nachfolge des unvergessenen Plácido entdeckte
und entband Nicolás Guillén die ganze Klang-Welt lyrischer Rhythmen Kubas
für die Poesie.
Die akustische Präsenz von Stimmen und Instrumenten sowie die Verwand-
lung der Stimme in ein Klanginstrument mit ganz bestimmten Klangeigenschaften
und Resonanzen lenkt die Aufmerksamkeit auf den Körper-Leib des Vorlesenden,
wie dies in vergleichbarem Maße wohl nur bei Schauspielern oder Sängern der
Fall ist. In einem erstmals im November 1972 erschienenen Essay über den
78 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1998, S. 368–371.
79 Vgl. Barthes, Roland: Le grain de la voix. In (ders.): Œuvres complètes, Bd. 2, S. 1438 f.
80 Ebda., S. 1440.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 823
seines eigenen Körper-Leibs hörbar zu machen und damit jene zweite Ebene
zum Klingen zu bringen, in der Barthes die eigentliche ‚Wahrheit‘ eines Ge-
sangs vermutete.
Ein besonders schönes Beispiel für diese ‚Körper-Sprache‘ in den Selbstauf-
sprachen Nicolás Guilléns stellt die Vertonung des Gedichts Una canción en el
Magdalena (Colombia) dar – nochmals aus dem Gedichtband El son entero von
1947. In diesem autobiographisch auf eine Reise Guilléns auf dem Río Magdalena
zurückgehenden „poema-son“ kommt dem äußerst verknappten Estribillo –
einem in Guilléns Lyrik keineswegs seltenen Verfahren – eine entscheidende
Funktion insoweit zu, als das Hintergrundgeräusch des rudernden Ruderers
(„Y el boga, boga“) in den letzten Strophen immer stärker in den Vordergrund
tritt. Dieses Phänomen wollen wir uns etwas genauer vornehmen!
Dieses akustische Phänomen löst zunehmend die in den ersten Strophen vor-
herrschenden melodischen Ausdrucksmittel – insbesondere die Variationen von
Tonhöhe und Satzmelodie – ab. Das In-Eins-Fallen des Subjekts („el boga“) mit
seiner Tätigkeit und Funktion („bogar“), hinter der das Individuum zu ver-
schwinden und sich gleichsam in Natur aufzulösen scheint, wird in der Selbst-
aufsprache Guilléns81 auf beeindruckende Weise verkörpert und zugleich
verkörperlicht, vorgeführt und zugleich unterlaufen. Dies insofern, als dass der
gleichförmige Rhythmus des rudernden Körpers im Sprechen die körper-leibliche
und damit die genoklangliche Dimension freisetzt. Die in der körperlichen Er-
schöpfung fast desemantisierte, aber gerade dadurch individualisierte Stimme
bedient sich vorwiegend temporaler, vor allem aber artikulatorischer Ausdrucks-
mittel, die dem Ausgang des Gedichts ihr klangliches Gepräge geben.
In diesen phonotextuellen Klang-Text-Beziehungen steht nicht die Diktion,
sondern die Friktion im Vordergrund. Die wachsende Undeutlichkeit der Arti-
kulation und die zunehmend vokalische Lautungsart lassen die physische
Grundlage aller gesprochenen Sprache, das Ein- und Ausatmen des Klang-
trägers Luft, fast überdeutlich hörbar werden. Wir hören den Körper-Leib des
Vortragenden sprechen und knirschen. Das Gedicht löst sich gegen Ende fast in
ein rhythmisches, gepresstes, dem Herzschlag folgendes Atmen und damit in
einen fast ‚reinen‘ Geno-Klangtext auf, bevor in der Echowirkung des Übergangs
von „El boga, boga“ zu „el remo, rema“ (welche an die hier nicht abgedruckte
zweite Strophe des Gedichts anknüpft) die Distanz zwischen Natur und Kultur,
Artikulation und Sinnproduktion wiederhergestellt und mit einer vorläufig ohne
Antwort bleibenden Frage abgeschlossen wird:
El boga, boga,
sentado,
boga.
El boga, boga,
callado,
boga.
El boga, boga,
cansado,
boga.
El boga, boga,
preso en su aguda piragua,
y el remo, rema: interroga
el agua.
Das Gedicht beeindruckt durch seine Schlichtheit: Keine Silbe ist zu viel. In der
abschließenden Beschleunigung dichterischen Sprechens gewinnen am Ende
des Gedichts die temporalen über die artikulatorischen Ausdrucksmittel wieder
die Oberhand, ohne dass dadurch der tiefe Eindruck eines Geno-Klangtexts ver-
schwände, der die Präsenz des Körper-Leibs des Ruderers in die Stimme des
Dichters übersetzt und körper-leiblich hörbar werden lässt. Die phonotextuel-
len Beziehungen, die in der schrifttextlichen Fassung sichtbar sind, werden in
82 Guillén, Nicolás: Una canción en el Magdalena (Colombia). In (ders.): Las grandes elegías y
otros poemas, S. 117.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 825
Te lo prometió Martí
y Fidel te lo cumplió;
ay, Cuba, ya se acabó,
se acabó por siempre aquí,
se acabó,
ay, Cuba, que sí, que sí,
se acabó
el cuero de manatí
con que el yanqui te pegó.
Se acabó.
Te lo prometió Martí
y Fidel te lo cumplió.
Se acabó.
87 Ebda.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 829
yo lo vi;
el pueblo canta, cantó,
cantando está el pueblo así:
– vino Fidel y cumplió
lo que prometió Martí.
Se acabó.
Yo lo vi.
Te lo prometió Martí
y Fidel te lo cumplió.
Se acabó.
Das Gedicht soll, wie bereits erwähnt, nach einer öffentlichen Rede Fidel Cas-
tros im Stadion von Havanna entstanden sein und dokumentiert sehr gut die
Aufbruchstimmung nach dem Sieg der Kubanischen Revolution, die sich als ra-
dikaler Bruch ebenso mit dem System der sklavischen Abhängigkeit wie mit
dem neokolonialen beziehungsweise imperialistischen System der USA ver-
stand. Bemerkenswert ist in diesem Gedicht nicht nur, dass wie in allen kubani-
schen Diktaturen zuvor88 die Herleitung des Machtsystem von José Martí und
somit unmittelbar die Linie Martí-Castro beansprucht wird, welche vom Revolu-
tionsführer bereits in den ersten öffentlichen Reden und Auftritten stets hervor-
gehoben und propagandistisch genutzt worden war. Denn aufschlussreich ist
vor allem, dass das Gedicht, das zur Legitimation stets die Augenzeugenschaft
(„yo lo vi“) betont, als ideologische Grundlage den kubanischen Nationalismus
unterstreicht und hervorkehrt. Nicolás Guillén nutzt daher von Beginn an eine
der ideologischen Hauptstützen der erfolgreichen Kubanischen Revolution und
besingt liebevoll die kubanische Flagge, die zuvor in der Tat in La Habana von
US-Marines beschmutzt worden war.
Guillén macht damit ein Hauptargument der neuen Regierung legitimato-
risch stark: So wird der Yankee zum Usurpator, der sich am Nationalen vergreift;
so wird die kubanische Flagge verehrenswert, vor der selbst der nordamerikani-
sche Adler sich verkriecht. Zugleich ist dies ein polemischer Blick zurück, der
88 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: José Martí. Teil I: Apostel – Dichter – Revolutionär. Eine Geschichte
seiner Rezeption. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1991.
830 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
schon im Titel des Gedichts deutlich wird: Es ist der radikale Bruch mit einer aus-
schließlich als negativ und nun überwunden geglaubten Vergangenheit im
Schatten der allmächtigen USA.
Dass diese Vergangenheit jedoch nicht einfach verschwunden war, sollten
schon die unmittelbar nachfolgenden Jahre der Revolution zeigen. Das stets
seufzend („ay“) apostrophierte Kuba, demgegenüber das Ich in der Haltung des
Augenzeugen berichtet, ist freilich nicht das Kuba Martís, sondern vor allem
dasjenige Castros geworden, der den Revolutionär und Modernisten kurzer-
hand zum „Autor intelectual“ seiner Revolution erklärte und damit vor seinen
machtbewussten Karren spannte.
Nicolás Guillén aber sollte fortan dieser Kubanischen Revolution in allen
seinen Handlungen, Äußerungen und Werken dienen, wobei sich seine Lyrik
durch ihre Nähe zu populären Formen der Kultur und Musik als propagandisti-
scher Werbeträger der Revolution besonders gut eignete. Die Kubanische Revo-
lution wusste es dem Poeten zu danken. Kein Zweifel aber: Guillén war nicht
nur Werbeträger, er war auch von den Zielen, den Maßnahmen und den Wegen
dieser Revolution überzeugt. In ihren Dienst stellte er fortan sein poetisches
Schaffen.
Guillén mag damit zumindest in den frühen sechziger Jahren die Positionen
einer politischen Avantgarde auf Kuba bezogen haben. In einem künstlerischen
Sinne avantgardistisch freilich war seine Lyrik bereits seit den vierziger Jahren
nicht mehr, wurde doch in El son entero bereits jene ‚Reife‘ erreicht, in welcher
nicht länger der Impuls einer literarischen Vorhut, sondern der sichere Besitz
einer Hauptstreitmacht deutlich zu erkennen war. Dem Erfolg seiner Dichtung
folgte der Erfolg seiner politischen Überzeugungen. Diese gingen einher mit
Guilléns Kanonisierung, zu der er selbst viel beitrug – gerade auch durch seine
innerkubanische Machtstellung etwa in der UNEAC. Der avantgardistische Im-
petus seiner Neuerungen auf ästhetischem Gebiet erlahmte spätestens in den
vierziger Jahren deutlich und machte einer kompromittierten, politisch und
ideologisch klar und eindeutig engagierten Literatur und Dichtung Platz. Der
Geburt des Dichters war damit ein langsames Absterben gefolgt, das den politi-
schen Machterhalt in all seinen Windungen und Wendungen begleitete.
Durch José Martís Einbau in eine Figuraldeutung der kubanischen Ge-
schichte89 wurde der längst zum Nationalhelden erhobene Lyriker und Revolu-
89 Zum Begriff der Figuraldeutung vgl. Auerbach, Erich: Figura. In (ders.): Gesammelte Auf-
sätze zur romanischen Philologie. Bern – München: Francke Verlag 1967, S. 55–92; vgl. zur Figura
allgemeine die Potsdamer Habilitationsschrift von Gwozdz, Patricia: Ecce figura. Anatomie eines
Konzepts in Konstellationen (1500–1900). Habilitationsschrift an der Universität Potsdam 2021.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 831
tionär, dessen Geschichte und Gedichte das vergangene Jahrhundert in Kuba zwei-
fellos entscheidend mitgeprägt hatten, zu einem (bloßen) Vorläufer Fidel Castros
und letzterer zum (getreuen) Vollstrecker der Ideen Martís. Dies verwandelte die
Stimme des Dichters in die eines Sehers und zugleich eines Propagandisten der
Revolution. Denn das lyrische Ich betrachtet es nunmehr als seine vordringlichste
Aufgabe, das kubanische Volk über seine ‚wahre‘ Geschichte ideologisch aufzuklä-
ren. Aus dem Dichter war ein poetischer Ideologe geworden, der andere weltan-
schauliche oder künstlerische Positionen nicht gelten ließ.
An dieser Stelle sollten wir uns nun einer dritten Ebene dichterischen Spre-
chens widmen, die bis zu diesem Zeitpunkt ausgespart blieb, aber neben der
Phäno- und der Geno-Ebene doch ein wichtiges Charakteristikum der bislang be-
handelten Selbstaufsprachen darstellt. Diese dritte Ebene betrifft die Selbstreflexi-
vität der dichterischen Sprache, im Sinne Roman Jakobsons gleichsam ihre
poetische Funktion, in der sich das Sprechen als Sprechen selbst thematisiert
und in den Mittelpunkt rückt.90 Wir könnten in diesem Zusammenhang von
einer phonopoetischen Ebene sprechen, die selbstverständlich auch Guilléns
Selbstdeutungen als Dichter betrifft.
In grundlegender Weise beinhaltet die phonopoetische Ebene die Geschichte
dichterischen Sprechens in der Öffentlichkeit, deren Traditionen in die griechisch-
römische Antike wie in den mündlichen Vortrag mittelalterlicher Versepen zu-
rückreichen, aber auch auf den sakralen Kontext der Glossolalie verweisen, jenes
ekstatische ‚Zungenreden‘, das sich in den Gemeinden des frühen Christentums
den gewöhnlichen, alltäglichen Redeformen entgegenstellte. Diese spezifi-
sche Art der Aufführung dichterischer Sprache setzte sich auch in Lateiname-
rika noch im 20. Jahrhundert bewusst von der Diktion alltagssprachlicher
Sprachverwendung ab.
Ein besonders ausdrucksstarkes und auch bekanntes Beispiel ist Pablo Neru-
das Aufsprache des Canto general und darin insbesondere der Alturas de Macchu
Picchu; eine Thematik, auf die wir schon zu Beginn unserer Vorlesung gestoßen
waren. Gleich zu Beginn dieses Gedichtzyklus, aber auch in dessen weiterem Ver-
lauf erscheint das lyrische Ich als Sprecher einer Kollektivität, des ganzen chileni-
schen Volkes, ja des gesamten Kontinents; eine Position, die zweifellos nach
sprachlichen wie stimmlichen Äquivalenten und ‚Übersetzungen‘ verlangte. Dies
kommt im Falle Pablo Nerudas etwa in einer ungewöhnlichen Satzmelodie und
einer tendenziell nach oben strebenden Tonhöhe, einer starken Dynamik mit häu-
90 Vgl. hierzu Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik. In (ders.): Poetik. Ausgewählte Auf-
sätze 1921–1971. Herausgegeben von Elmar Holenstein und Tarcinius Schelbert. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1979, S. 92–97.
832 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
91 Vgl. Guillén, Nicolás: Tengo. In (ders.): La voix de Nicolás Guillén; Tengo. In (ders.): Nuevos
poemas, a.a.O.; sowie Tengo. In (ders.): Tengo, Edición de Samuel Feijo. Caricaturas de Juan
David, textos musicales de Ignacio Villa “Bola de nieve”, J. González Allué y Juan Blanco. La
Habana: Editora del Consejo Nacional de Universidades – Universidad Central de las Villas 1964.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 833
Das zu den bekanntesten Schöpfungen Guilléns zählende Gedicht ist – wie häu-
fig bei diesem kubanischen Poeten – von fundamentalen Gegensatzpaaren
durchzogen, die hier jedoch in ihrer scharfen Abgrenzung eines gegenwärtigen
Zustands von einem vergangenen nicht in eine dialektische oder fusionelle Re-
92 Guillén, Nicolás: Tengo. In (ders.): Las grandes elegías y otros poemas, S. 195.
834 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
93 Ich beziehe mich hier auf Guillén, Nicolás: Tengo. In (ders.): Tengo. Eine vergleichende
Analyse der Aufsprache-Varianten der verschiedenen Fassungen auf Tonträgern (die auch
leichte Textvarianten miteinschließen) würde den Rahmen unserer Vorlesung sprengen und
muss hier unterbleiben.
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 835
Nicolás Guillén gelingt es in diesem Oszillieren zwischen der Stimme des Vol-
kes und der Stimme der Dichtung beziehungsweise des geschichtsmächtigen Dich-
ters einen gewiss nicht erst mit Tengo geschaffenen Effekt zu erzielen, wie er sich
unschwer auch in der Entwicklung Pablo Nerudas in vergleichbarer Weise finden
lässt: Die Identifikation der Stimme der Dichtung und mehr noch des Dichters mit
der Stimme des Volkes selbst wird vorherrschend, fast obsessiv. Wenn wir an un-
sere Beschäftigung mit Pablo Neruda im ersten Teil dieser Vorlesung zurückden-
ken, dann schaffen beide Dichter gleichermaßen die Figur eines beliebigen
Habenichts, für den zu sprechen diese Dichter des Volkes Anspruch erheben. Der
Lyriker wird auch stimmlich zum Sprachrohr einer Kollektivität, ohne doch in
seiner individuellen körper-leiblichen Präsenz zu verschwinden.
Dass diese Identifikation in den sozialen, politischen und kulturellen Bestim-
mungen des lyrischen Ich, im Aufgreifen und der Durchführung antidiskrimina-
torischer Themen, in noch fundamentalerer Weise jedoch in der Vita des Dichters
selbst fundiert ist, steht außer Frage. Diese Aspekte vereinigen sich aber in jener
Stimme des Dichters, die als „écriture à haute voix“ neben den optisch wahrnehm-
baren Schrifttext tritt und die doppelte Identifikation der Lyrik mit einer Stimme
und dieser Stimme mit einem ganzen Volk ins Werk setzt. Die Lautschrift wirkt
hier wie die Signatur eines Autors, der für ein ganzes Volk spricht und (unter-)
schreibt.
Es verwundert daher nicht, dass sich in den Schriften Guilléns, in seiner
Rezeptionsgeschichte und bis heute gerade auch in der Forschungsliteratur eine
Unzahl von Hinweisen finden lässt, in denen der als „Poeta Nacional“ gefeierte
Dichter kurzerhand zur Stimme Kubas und des kubanischen Volkes erklärt wird.
So schrieb der Biograph und langjährige politische und literarische Weggefährte
Nicolás Guilléns, Ángel Augier, zu diesem Aspekt: „Der Dichter überzeugt, wenn
er betont, dass seine ganze Stimme ‚die ganze Stimme des Son‘ ist, weil es ihm
gelang, diese Stimme zu einer maximal von ihm erreichbaren Höhe des Gesangs-
vortrages, der Stilisierung zu führen, so dass er in ihren verschiedenen rhythmi-
schen und plastischen Formen die feinsten Ausdrucksweisen des Geistes schuf,
ohne den Son seiner tiefen Wurzel zu berauben, insofern er ihren höchst kubani-
schen Fruchtgeschmack und ihren klanglichen und leuchtenden Tropenhauch
beibehielt.“94
94 Augier, Ángel: Hallazgo y apoteosis del poema-son de Nicolás Guillén, S. 51: „El poeta con-
vence cuando afirma que su voz entera es ‘la voz entera del son’, porque ha logrado llevar esa
voz a un grado máximo de decantación, de estilización, haciéndole capaz de alcanzar, en sus
diversas formas de ritmo y de plasticidad, las más finas expresiones del espíritu, sin despojar
al son de su raíz profunda, conservándolo todo su cubanísimo sabor frutal y su cálido soplo
de trópico sonoro y luminoso.“
836 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
Die identifikatorische Beziehung zwischen dieser Stimme des Son des zum
„Sonero Mayor“ Ausgerufenen mit Kuba und die damit oftmals einhergehende
Identifikation der Insel mit der Kubanischen Revolution findet sich – neben un-
zähligen anderen Beispielen – etwa bei José Antonio Portuondo. Letzterer über-
nahm wenige Jahre später in einer der dunkelsten Stunden der kubanischen
Literaturgeschichte als Vizepräsident der UNEAC für den absichtsvoll ‚diploma-
tisch‘ erkrankten und abwesenden Präsidenten Nicolás Guillén die Leitung
jenes Schauprozesses gegen eine andere Stimme der Lyrik. Dabei handelt es
sich um Heberto Padilla und all jene kubanischen Schriftstellerinnen und
Schriftsteller, die man als konterrevolutionär und dem ideologischen Diversio-
nismus verfallen stigmatisieren wollte. Portuondo schrieb: „in Nicolás Guillén
singt die Kubanische Revolution mit der ganzen ihr zur Verfügung stehenden
Stimme, mit ihrer reichen, nach dem grandiosen Epos der Sierra Maestra wieder-
erlangten Stimme, welche der Dichter eifersüchtig auf dem langen und harten
Weg bewahrte, welcher den endgültigen Triumph der sozialistischen Revolution
vorbereitete.“95 Diese Passage beschließt das auf den 26.1.1964 datierte Vorwort
Augiers; dies soll uns – seien Sie unbesorgt – als weiteres Beispiel des kubani-
schen Triumphalismus und der pathetischen Lobpreisungen des kubanischen
Dichters an dieser Stelle genügen.
Nein, gestatten Sie mir noch zwei letzte Beispiele! Die Stimme des Dichters
war, wie es im offiziellen Diskurs der Revolution ein ums andere Mal hieß, „zum
Herzen des kubanischen Volkes vorgedrungen, um auf immer in ihm zu blei-
ben“.96 Was aber, wenn dem Dichter die(se) Stimme versagt? Auch für diesen
Fall war vorgesorgt, wie Luis Felipe Bernaza am Beispiel einer erbaulichen Anek-
dote zu berichten wusste, die den Zuschauern der Wochenschau des ICAIC, des
kubanischen Filminstituts, nicht verborgen bleiben sollte: „Ein einziges Mal
stieß ich letztlich auf Probleme beim Filmen von Nicolás. Es war der Tag, an dem
der Comandante en Jefe [i. e. Fidel Castro] an seine weite Brust den Nationalorden
José Martí heftete. In jener denkwürdigen Nacht versagte Nicolás die Stimme,
95 Portuondo, José Antonio: Prólogo. In: Guillén, Nicolás: Tengo, S. 17: „En Nicolás Guillén la
revolución cubana canta con toda la voz que tiene, su rica voz recobrada tras la grandiosa
epopeya de la Sierra Maestra y que el poeta guardó celosamente en la larga y dura trayectoria
que preparó el triunfo definitivo de la revolución socialista.“
96 Pavón Tamayo, Luis: Recuerdo personal de todo el mundo. In: Unión (La Habana) 2 (1982),
S. 119: „El aviso de aquel mañana que es hoy estaba en la voz del poeta, que había llegado al
corazón del pueblo para quedarse en él.“
Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria 837
gleichwohl sagte er wie er konnte sein unvergessliches Gedicht ‚Tengo‘ auf. / Für
die kommenden Generationen werden die Lateinamerikanischen Nachrichten
des Icaic [i. e. Kubanisches Filminstitut], der das lebendige Bild von Nicolás in
jenem Augenblick einfing, in dem seine unvergleichliche Stimme einer Ceiba
ihren Ritt verweigerte. Dennoch klang ‚Tengo‘ besser als jemals zuvor, denn Mil-
lionen von Stimmen sagten für Nicolás das Gedicht auf.“97
Dem Dichter versagte die Stimme just in einem Augenblick, wie er besser
von keinem Hollywood-Drehbuch hätte entworfen werden können: In jenem Au-
genblick, als sich die von ihm selbst beschworene figurale Geschichtsdeutung in
Gestalt Fidel Castros näherte. Letzterer hielt den so oft von ihm als „autor intelec-
tual“ der castristischen Revolution bezeichneten José Martí – in der Form des Na-
tionalordens – in der Hand und stand im Begriff, Guillén selbst zumindest
symbolisch in diese Figuraldeutung der kubanischen Nation mitaufzunehmen.
Wie hätte jenem Dichter, der im symbolträchtigen Jahr der Geburt der ku-
banischen Nation auf die Welt kam, nicht die Stimme gerade bei jenem Gedicht
des Dankes an die Revolution versagen sollen, das er zuvor so oft bei öffentli-
chen Veranstaltungen vorgetragen hatte? Anstelle jenes Poeten, der als ‚Natio-
naldichter‘ für viele auf der Insel die Stimme des Volkes und die Stimme der
Revolution verkörperte, soll Tengo nun von Millionen von Stimmen aufgesagt
worden sein; eine Anekdote, die – se non è vera è ben trovata – tiefen Einblick
in die Macht einer Stimme der Lyrik gibt, die stets die Lyrik der Stimme in der
Performanz der eigenen Gedichte zu entfalten wusste. Könnte nicht die Initiati-
onsszene Guillén‘scher Dichtung, jene rhythmische Wiederholung der Worte
Negro bembón durch eine fremde und nahe Stimme, auch als eine Szene ver-
standen werden, mit Hilfe derer der Autor der Motivos de son nachträglich auf
den kollektiven Ursprung seiner Dichtung hinweisen wollte? Würde in dieser
‚Urszene‘ das kubanische Volk nicht gar zum Mitautor avancieren?
Nicolás Guillén verstand es meisterhaft, in der Stimme seiner Lyrik viele an-
dere Stimmen, Klänge und Rhythmen zu bündeln, die damals im kulturellen
Spannungsfeld, dem die Insel angehörte, gleichsam in der Luft lagen. Wie
immer man die Lyrik Guilléns bald schon ein ganzes Jahrhundert nach dem
Erstabdruck der Motivos de son beurteilen mag: Die Stimme (in) seiner Lyrik
97 Bernaza, Luis Felipe: Sonó mejor que nunca, S. 174: „Finalmente, una sola vez confronté
serios problemas al filmar a Nicolás. Fue el día en que el Comandante en Jefe le colocó en su
amplio pecho la Orden Nacional José Martí. Aquella memorable noche a Nicolás le falló la voz
y, no obstante, dijo como pudo su inolvidable poema ‘Tengo’. / Para las generaciones venide-
ras quedará el Noticiero Icaic Latinoamericano que recoge la imagen viva de Nicolás en el mo-
mento en que, por vez primera, su inigualable voz de Ceiba se negó a cabalgar. No obstante,
‘Tengo’ sonó mejor que nunca, millones de voces dijeron el poema por Nicolás.“
838 Nicolás Guillén oder die Geburt des Son und der Intrahistoria
sollte nicht länger überhört oder nur als Randphänomen behandelt werden.
Mehr denn je sollte sich eine Würdigung seines dichterischen Sprechens der
Tatsache bewusst werden, dass seine Stimme nicht die Stimme des kubani-
schen Volkes, wohl aber eine bewusst gestaltete und zu Recht herausragende
Stimme neben vielen anderen ist, die für die Insel der Inseln98 diesseits wie jen-
seits des Territorialstaats sprechen. Ob der Geburt der Stimme im Halbschlaf
und dem Erklingen von Negro Bembón am Ende ein Ersterben der Stimme mit
der Einverleibung des Dichters in die staatliche Macht auf Kuba gegenüberge-
stellt werden sollte, muss jede Leserin und muss jeder Leser letztlich für sich
selbst entscheiden: Dies ist eine Frage, die an dieser Stelle unserer Vorlesung be-
wusst offen gelassen werden soll.
98 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Kuba – Insel der Inseln. In: Ette, Ottmar / Franzbach, Martin
(Hg.): Kuba heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 2001, S. 9–25.
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder
die Avantgarden und die Straßenbahn
Kehren wir zurück zum Beginn der zwanziger Jahre und versuchen wir, die Spe-
zifik der historischen Avantgarden nun nicht mehr in der literarischen Area der
Karibik, sondern in einer anderen Area nahezukommen, die innerhalb der
Avantgarden in den Literaturen der Welt eine besonders herausgehobene Rolle
spielen sollte! Ich spreche von den Literaturen im Cono Sur und in erster Linie
von Argentinien.
Die Galionsfigur der argentinischen Avantgarde war ohne Zweifel Jorge Luis
Borges,1 der spätestens seit 1919 Entscheidendes dazu beigetragen hatte, dass sich
die argentinische Literaturszene mit den Avantgarden Europas, insbesondere mit
den italienischen, französischen und vor allem spanischen Avantgardisten und
hierbei wiederum besonders mit dem „Ultraísmo“ kreativ auseinandersetzte. Wir
werden uns sogleich mit Jorge Luis Borges beschäftigen, wollen zuvor aber versu-
chen, ein kurzes Porträt der Lyrik in Argentinien anhand des sicherlich herausra-
genden Lyrikers Oliverio Girondo in aller Kürze zu skizzieren.
Im Gegensatz zu den literarischen Areas Mexikos und des andinen Raumes
gibt es innerhalb des argentinischen Nationalstaats einen weitaus geringeren
Anteil indigener Bevölkerung und gegenüber der Karibik einen deutlich gerin-
geren Anteil der schwarzen Bevölkerung. Wir haben es also mit einer literari-
schen Area zu tun, in welcher den kulturellen Polen der indigenen wie der
schwarzen Kulturen ein weitaus geringeres Gewicht innerhalb der Demogra-
phie, vor allem aber auch innerhalb des Spektrums der kulturellen Traditionen
Argentiniens zukommt. Dies gilt im Übrigen auch für Uruguay, keinesfalls aber
für den dritten Nationalstaat des Cono Sur, Paraguay, so dass wir uns mit Blick
auf die Gesamtheit der Area vor Verallgemeinerungen hüten sollten. Konzent-
rieren wir uns in der Folge also auf Argentinien, dessen sozioökonomische Mo-
dernisierung in jenen Jahren vereint mit einer starken Einwanderung gewaltige
Kräfte entfesselte!
Bereits während der gesamten dritten Phase beschleunigter Globalisierung
war die argentinische Gesellschaft eine Einwanderungsgesellschaft, welche ins-
besondere europäische Einwanderergruppen aus Italien, dem Balkan, Deutsch-
land und Polen aufnahm und eine gesellschaftliche Entwicklung erfuhr, die in
ihrer Rasanz innerhalb Lateinamerikas wohl kaum Vergleichbares findet. Die
1 Vgl. auch das Kapitel zu Jorge Luis Borges im dritten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar:
Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 494 ff.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-026
840 Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn
kulturelle Problematik der historischen Avantgarden, wie wir sie auf Kuba mit
Nicolás Guillén kennengelernt haben, musste daher in Argentinien eine gründ-
lich andere sein – und sie war es in der Tat.
In Argentinien spielen nicht die engen sozioökonomischen Verbindungen
zu den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern die kulturellen Beziehungen
zu Europa, insbesondere zu Italien, Spanien und allen anderen voran Frank-
reich eine entscheidende Rolle. Denn seit Esteban Echeverría die Argentinier
mit der französischen Romantik vertraut machte und in der „Generación del
37“ die Grundlagen dafür schuf, dass sich Argentiniens Literatur im 19. Jahrhun-
dert ohne den sehnsüchtigen Seitenblick auf Paris niemals zu finden glaubte,
gibt es die besonders privilegierte Relation zur französischen Hauptstadt; eine
Beziehung, die sich selbst noch bis in den Beginn des 21. Jahrhunderts erhielt.
Denn Paris blieb für die argentinischen Literatinnen und Literaten ebenso der
Orientierungspunkt wie es auf Ebene der Theorie die französischen Theoretiker-
innen und Theoretiker blieben. Als Romanist und Komparatist habe ich dies
immer wieder gespürt, wenn mir argentinische Projekte ins Haus flatterten: Bis-
weilen konnte man sie mit verbundenen Augen dank massiver frankophiler
Theoriebausteine als argentinische Vorhaben identifizieren.
Wenn wir uns mit dem am 17. August 1891 in Buenos Aires geborenen und am
24. Januar 1967 ebendort verstorbenen Oliverio Girondo beschäftigen, dann ist es
ein Leichtes, diesen Dichter als Bestätigung der soeben genannten These einer
Ausrichtung an Frankreich zu präsentieren. Denn Oliverio Girondo, der aus einer
argentinischen Patrizierfamilie stammend zeit seines Lebens keine finanziellen
Probleme kannte, sich seit seiner Kindheit und Jugend Weltreisen leisten konnte
und die französische Hauptstadt wie kaum ein anderer Argentinier kannte, darf
als einer jener Dichter gelten, welche das Paris-Bild in der argentinischen Literatur
weiter überhöhten und mit neuen Akzenten bereicherten.
Vallejo zeigen, mit denen wir uns in einer anderen Vorlesung ausführlich be-
schäftigt haben.2 Denn auch auf deren Schaffen haben die großen französi-
schen Avantgardisten der ersten Stunde und jene Autoren, welche wie Alfred
Jarry und Guillaume Apollinaire diese frühe Generation geprägt hatten, wesent-
lichen Einfluss genommen. Die französische Hauptstadt war zum damaligen
Zeitpunkt die unbestrittene Literaturhauptstadt der Welt.
Oliverio Girondo wusste sehr wohl um das Bemühen dieser historischen
Avantgarde in Europa, um den radikalen Bruch mit den Institutionen des Lite-
ratur- und Kulturbetriebs; und er gehörte zu jenen Autorinnen und Autoren,
die diesen radikalen Bruch möglichst ebenso unversöhnlich auch in seiner ar-
gentinischen Heimat vollzogen wissen wollten. Schon aus dieser Perspektive ist
Oliverio Girondo also ein lateinamerikanischer Avantgardist, der sich nicht nur
bestens bei seinen europäischen Bezugsautoren auskennt, sondern der mehr
als andere Lateinamerikaner seiner Zeit die grundlegenden Vorstellungen hin-
sichtlich eines Bruchs mit der Institution Literatur zu verwirklichen trachtete.
Diesbezüglich war Girondo eher atypisch: Er war in diesem Sinne – aber nur in
diesem! – sicherlich ein Schriftsteller, zu dem der Zugang von Europa her deut-
lich leichter fällt als etwa bei Autoren wie Alfonso Reyes, Nicolás Guillén oder
José Vasconcelos. Doch sehen wir uns seine Dichtkunst einmal etwas näher an!
Oliverio Girondo zählte 1924 zu den Mitbegründern der damals so einflussrei-
chen Zeitschrift Martín Fierro, dessen literarischen Namensgeber wir in dieser
Vorlesung ausführlich kennengelernt haben, und war einer der frühen Wegge-
fährten des damals ultraistischen Jorge Luis Borges. Er blieb zeit seines Lebens
den Erfahrungen der französischen Avantgarde treu. Das war angesichts seiner
Biographie keineswegs erstaunlich. Denn als ehemaliger Schüler eines Pariser
Lycée, wo er – wie auch später in England – sich auf das Abitur vorbereitet
hatte, wusste er sich den französischen Avantgardisten, von denen er viele per-
sönlich kannte, sehr nahe. Dies mag nicht zuletzt seine lange Freundschaft mit
Jules Supervielle belegen.
Während seines Jurastudiums in Buenos Aires, zu dem er sich unter der Be-
dingung verpflichtete, dass ihm seine wohlhabenden Eltern jedes Jahr längere
Europaaufenthalte finanzierten, und noch bis zu Beginn der dreißiger Jahre
war Girondo ein Weltenbummler, der erst im Alter von vierzig Jahren in Buenos
Aires etwas sesshafter wurde. Seine vielfachen Reisen verarbeitete er in einem
ersten Gedichtband, den Veinte poemas para ser leídos en el tranvía, die 1922
Auf der Terrasse eines Cafés ist eine graue Familie. Einige Brüste gehen schielend vorbei
auf der Suche nach einem Lächeln über den Tischen. Der Lärm der Automobile entfärbt
die Blätter der Bäume. In einem fünften Stock kreuzigt sich jemand, indem er die Fenster-
flügel weit aufstößt.
Ich denke daran, wo ich die Kioske, die Straßenlaternen, die Passanten aufheben
werde, die mir durch die Pupillen hereinkommen. Ich fühle mich so voll, dass ich Angst
bekomme, zu platzen... Ich müsste etwas Ballast auf dem Bürgersteig abwerfen...
Als ich an eine Ecke komme, trennt sich mein Schatten von mir und wirft sich plötz-
lich zwischen die Räder einer Straßenbahn.4
merkenswert, dass der Ort der Lektüre ein Ort in Bewegung ist, so wie sich die
Gedichte selbst auch einer ständigen Bewegung (in) der modernen Großstadt
verdanken.
Die Tram oder Straßenbahn ist zum damaligen Zeitpunkt noch ein recht
neues Phänomen der Großstadt und verweist auf deren sozioökonomischen Mo-
dernisierungsschub (Abb. 66 u. 67). Buenos Aires ist in den zwanziger Jahren
des 20. Jahrhunderts längst nicht mehr die „gran aldea“, das große Dorf, son-
dern zu jener großen Metropole geworden, die auch europäische Besucher
stark beeindrucken sollte. Die Lektüre in der Straßenbahn macht ein rasches
Aufnehmen der Gedichte erforderlich; mindestens ebenso rasch, wie die Noti-
zen auf der Straße aufgenommen zu sein vorgeben: Alles ist von einer großen
Geschwindigkeit durchzogen, welche sich ebenso dem Schreiben wie dem
Lesen aufprägt. Hat der Dichter überhaupt Zeit, die sich in ihm aufgestauten,
durch seine Pupillen eingedrungenen Bilder seiner inneren Camera obscura
zu verarbeiten?
Abb. 66: Fahrgäste im Inneren einer elektrischen Straßenbahn in Buenos Aires, ca. 1897.
844 Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn
Abb. 67: Straßenbahn in Buenos Aires mit Feiernden des 17. Oktobers 1945 (Geburt des
Peronismus).
Fast will es so scheinen, als wäre dies nicht der Fall. Denn diese scheinbar
spontan hingeworfenen „Apuntes“ werden durchaus nur auf den ersten Blick
in logisch-kausale Zusammenhänge eingebaut. Die ersten Sätze scheinen sich
noch einer solchen mehr oder minder logischen Abfolge zu verdanken; doch
bald bemerken die Leserinnen und Leser, dass sich zwischen der grauen sitzen-
den Familie und den vorbeispazierenden Brüsten keine weitere Entwicklung
anbahnt, die vom Prosagedicht oder Text weiterverfolgt worden wäre. Es sind
kurze rasche Blicke, wie aus einer vorbeifahrenden Straßenbahn. Und erst
durch die Lese-Akte selbst entsteht eine Verbindung zwischen diesen Text-
Inseln, welche durch ihre klare Diskontinuität geradezu isoliert in diesem Groß-
stadtgedicht hervorstechen.
Lassen sich also durch die Lektüre geheime Verbindungen herstellen? Viel-
leicht bekreuzigt sich jemand ganz oben im fünften Stock wegen eben dieser
Brüste, die ohnehin literarisches Lust-Objekt einer männlichen historischen Avant-
garde wie Neoavantgarde waren?6 Und hören wir keine Reaktionen, weil der Lärm
6 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Mit Haut und Haar? Körperliches und Leibhaftiges bei Ramón
Gómez de la Serna, Luisa Futoransky und Juan Manuel de Prada. In: Romanistische Zeitschrift
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn 845
für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XXV, 3–4
(2001), S. 429–465.
7 Vgl. hierzu das entsprechende Kapitel in Ette, Ottmar: LebensZeichen. Roland Barthes zur
Einführung. Zweite, unveränderte Auflage. Hamburg: Junius Verlag 2013.
846 Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn
Pupille des Beobachters der Fall, der etwas länger belichtete, nur an den Rän-
dern freilich unscharf werdende Bilder von ihnen macht. Denn es handelt sich
um literarische Momentaufnahmen, die auf ein anderes technisches Medium
verweisen, das der sich rasch entwickelnden Photographie, das zusammen mit
dem Film das Leben in der Großstadt zu porträtieren begann.
Die Szenerie der Metropole ist im Übrigen keineswegs nur positiv einge-
färbt. Dies zeigen schon die Blätter, die von den Automobilen entfärbt werden,
ebenso wie die Straßenbahn, die den Schatten des Ich überfährt. Auch das Ich
selbst droht wegen Reizüberflutung zu platzen, sucht eine Möglichkeit, die
Vielfalt der aufgenommenen Szenen und Gegenstände in sich zu behalten,
ohne zugleich seine Existenz aufgeben zu müssen. Das Ich ist in Oliverio Giron-
dos Gedicht weit mehr als eine photographische Linse: Es ist ein scharfes Be-
wusstsein, das sich der Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit all dieser
„Apuntes“, dieser Augenblicke, dieser skizzenhaften Momentaufnahmen be-
wusst ist.
Die Ausschnitthaftigkeit der in Girondos Prosagedicht ins Auge gefassten Ge-
genstände erinnert an die zeitgenössischen Experimente und Ausdrucksformen
des Kubismus.8 Aus eben diesem Grunde sind die beobachteten Objekte auch
nicht unverbunden und nur heterogen, sondern zugleich aus unterschiedlichen
Perspektiven aufgenommen – gleichsam wie auf der Fahrt mit einer rollenden
Kamera oder eben einer ratternden Straßenbahn. Die kubistische Multiperspekti-
vität überlagert gegensätzliche und sich überlappende Blickpunkte in einem ein-
zigen künstlerischen Objekt.
Dabei müssen wir innerhalb dieser multiperspektivischen Konstruktion
noch das Lesepublikum hinzusetzen, insofern es zu den literarisch registrierten
Bildern und Eindrücken nun noch die selbst in der Straßenbahn aufgenomme-
nen Lese-Impressionen hinzufügt, eigene Relationen herstellt und Verbindun-
gen kreiert, welche dem Gedichttext neue und bislang ungesehene Aspekte
einverleiben. Damit wird klar, dass in diesem Vergänglichen und Augenblicks-
haften wiederum etwas Dauerhaftes, ja Repräsentatives und Durchgängiges
aufscheint; eine semantische Doppelung, die wir seit Charles Baudelaire als
Kennzeichen der Moderne wie auch des Modernebegriffs kennen.
Es dominiert nicht allein die Multiperspektivität, sondern auch die Multire-
lationalität: Letztlich ist alles mit allem verbunden, ist die Stadt ein giganti-
8 Vgl. zu diesem Aspekt auch Wentzlaff-Eggebert, Harald: Lust und Frust bei der Eindeutschung
der Provokation. Der argentinische Bürgerschreck Oliverio Girondo in deutscher Übersetzung. In:
Schrader, Ludwig (Hg): Von Góngora bis Nicolás Guillén. Spanische und lateinamerikanische
Literatur in deutscher Übersetzung – Erfahrungen und Perspektiven. Tübingen: Narr Verlag 1993,
S. 85–94.
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn 847
scher Organismus, der ständig neue Begegnungen schafft, die freilich nach
jenem Organisationsprinzip verlaufen, das André Breton wenige Jahre später
als „hasard objectif“, als „objektiven Zufall“ bezeichnen sollte.9 Das Ich dieses
Prosagedichts ist zuvörderst damit beschäftigt, solche objektiven Zufälle zu
provozieren und vielfältigste, vieldeutige Verbindungen herzustellen. „Pasan
unos senos bizcos“: die vorbeilaufenden schielenden Brüste haben vielleicht
letztlich auf unseren Beobachter geschielt, wobei zugleich das seit Baudelaire
eingeführte Motiv der Zufallsbekanntschaft in der Großstadt, materialisiert in
seinem Gedicht À une passante, eingespielt wird.10 Die Körperlichkeit ist in die-
sem Gedicht, wenn auch nur im Sinne eines fragmentierten Körpers als Körper-
Objekt, durchaus vorhanden.
Diese Besonderheit zeigt sich auch in einem weiteren Gedicht, zu dessen
Analyse wir nun kommen: Croquis en la arena. Es ist die versprochene poeti-
sche Auseinandersetzung mit einer Strandlandschaft in der künstlerischen
Form eines „croquis“, einer Skizze also. Der Maler Oliverio Girondo wusste sehr
wohl, wovon er sprach:
Arme.
Amputierte Beine.
Körper, die sich verkörpern.
Schwimmende Köpfe aus Kautschuk.
Indem sie den badenden Frauen ihre Körper nehmen, verlängern die Wellen ihre Rasuren
auf dem Sägebock des Strandes.
Der Schatten der Windschutzbahnen. Die Augen der Mädchen, die sich Romane und Hori-
zonte spritzen. Meine Freude, Schuhe aus Gummi, lässt mich aufhüpfen auf dem Sand.
Für achtzig Centavos verkaufen die Photographen die Körper badender Frauen.
Es gibt Kioske, welche die Dramatik der Brecher ausbeuten. Grüblerische Dienstboten.
jähzornige Siphons, mit Meeresextrakt. Felsen mit algenbedeckter Seemannsbrust
und gemalte Herzen von Fechtern. Pulks von Möwen, die den Flug fingieren, zerstört
von einem Fetzchen
weißen Papiers.
9 Vgl. zu André Breton das Kapitel über den Surrealismus in Ette, Ottmar: Von den histori-
schen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 336 ff.
10 Vgl. zu diesem Gedicht den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwi-
schen zwei Welten, S. 905 ff.
848 Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn
Das Meer!... Rhythmisch abschweifend. Das Meer! mit seinem Schleim und seiner Epil-epsie.
Das Meer!... schreien könnt' man's...
ES REICHT!
wie im Zirkus.
In diesem Gedicht sind es zunächst die zerstückelten Körper, welche als erste die
Aufmerksamkeit von Ich und Lesepublikum auf sich ziehen. Wieder erfolgt die
Aufnahme aus der Bewegung, diesmal aber nicht innerhalb einer urbanen, son-
dern einer maritimen Erholungslandschaft. Unverbundene Arme, amputierte
Beine, Körper und Köpfe tauchen hier im wahrsten Sinne auf, wobei die Amputa-
tion der Beine wohl weniger auf die Körper selbst als auf deren Beobachtung zu-
rückgeht. Die wie Kautschuk auf den Wellen schwimmenden Köpfe zeigen an,
wie diese avantgardistische Observation funktioniert: alles Zusammengehörige
voneinander trennend und als Teile eines „corps morcelé“ herausgreifend.
Die spezifisch avantgardistische Beobachterposition schreibt sich dem Frag-
mentierten ein und lässt sich nicht von der Zertrennung alles normalerweise Zu-
sammengehörigen ablösen – auch wenn die Farbgebung des Prosagedichts doch
noch sehr dem Modernismo zuneigt. Im Spiel der Wellen mit den Körpern werden
diese zumeist weiblichen Körper im männlichen Blick aus dieser Beobachterper-
spektive gleichsam entmenschlicht, zu Gegenständen, so wie die schwimmenden
Köpfe im Gedicht aus Kautschuk gemacht sind. Wie anders ist dieser männliche
Blick als die zeitgleiche Lyrik einer Alfonsina Storni, die später bei Mar del Plata
ihr Leben beendete!12 Doch die Grundstimmung dieser Strandszene bei Oliverio
Girondo ist heiter, ein fröhliches „découpage“ des Vorhandenen. Und dass „alles
aus Blau und Gold“ ist, wussten schon die Modernisten der Schule Rubén Daríos
und vor allem dessen poetische Epigonen. Der Satz, in den 20er Jahren niederge-
schrieben, verbirgt eine Sprengladung, die erst einige Zeilen später hochgehen
soll und explodiert.
Das Ich des männlichen Dichters gerät in einen künstlerisch-ästhetischen
Konflikt. Denn gerade jene Szenerien mit badenden Frauen dienen noch ande-
ren Männern am Strand als Darstellungsobjekte: den Photographen. Sie verkau-
11 Girondo, Oliverio: Croquis en la arena. In (ders.): Veinte poemas para ser leídos en el tran-
vía, S. 13 f.
12 Vgl. zu Alfonsina Storni die den hispanoamerikanischen Lyrikerinnen des Jahrhundertbe-
ginns gewidmeten Kapitel in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Post-
moderne, S. 423 ff.
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn 849
fen ihre Kunst Instantartig für achtzig Centavos: Die Photographen setzen
damit die Oberflächen ihrer weiblichen Körper-Objekte in klingende Münze um
dank jener technischen Reproduzierbarkeit, in deren Zeitalter Girondo und
Walter Benjamin13 gemeinsam schreiben. Demgegenüber ist das Gedicht des ar-
gentinischen Avantgardisten lediglich Handarbeit, ein Croquis, das wie eine
zeichnerische Skizze keine technische Reproduktionsapparatur benötigt.
Doch damit nicht genug! Denn zu allem Überfluss ist da auch noch die Kul-
tur der Kioske, die ihre unmittelbar zu konsumierenden Objekte feilbieten bis
zum Überdruss, vollständig klischeehaft, Abziehbildern gleich. Auch am Strand
hat die Modernisierung Einzug gehalten: Es gibt Kioske am Strand, so wie jene
im ersten Gedicht im urbanen Raum der Metropole ihren zentralen Platz bean-
spruchen. Der Strand, die Natur, erscheint als Fortsetzung der urbanen Land-
schaft: Auch diese vermeintliche Natur ist von vielen Menschen, im Grunde
Passanten, mit ihren Körpern und Körperteilen bevölkert und bietet dem Dich-
ter die Möglichkeit, all diese Gegenstände durch die Pupillen in sein Inneres
aufzunehmen.
Die Klischees setzen sich fort im Meer, dem immer wiederkehrenden Rhyth-
mus, der nun im Gedicht ein für alle Mal abbricht. Denn der Künstler schleudert
ihm ein großgeschriebenes „Basta“ entgegen – einen willentlichen Bruch, der
alles einmal mehr mit zur Schau gestellter Massenkunst, mit dem Zirkus, wohl
eher negativierend vergleicht. Wir haben es in dieser Szenerie also mit einer Art
Poetologie zu tun, die abrechnet mit den zeitgenössischen Formen der Massen-
kultur, aber auch mit dem Blau und Gold der Modernisten und ihrer Wahrneh-
mung von Strand und Meer. Gegen beide Gegensätze, gegen die modernistische
Tradition wie die technische Reproduzierbarkeit, setzt sich der argentinische
Avantgardist zur Wehr und entwirft sein literarisches Croquis.
Jetzt aber Schluss mit diesem Zirkus! Ein sauberer, glatter Schnitt zu dieser
Institution einer von den Massen freudig ergriffenen klischeehaften und technisch
unendlich reproduzierbaren Kunstfertigkeit! Der avantgardistische Lyriker fordert
als Prosaist den Bruch; und versucht zugleich, ihn in seinem Gedicht ohne Verse
selbst einzulösen.
Oliverio Girondos Prosagedicht steht für ein Aufbegehren gegen all das,
was um uns herum ständig Sinn erzeugt uns nicht aus seiner Klischeehaftigkeit
13 Vgl. zu dieser seriellen Reproduzierbarkeit und den Konsequenzen für die Kunst den be-
kannten Essay von Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro-
duzierbarkeit (Erste Fassung). In (ders.): Gesammelte Schriften. Band I, 2. Herausgegeben
von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980,
S. 431–469.
850 Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn
auch und gerade der Empfindungen entlassen will. Die Käuflichkeit einer stets
reproduzierten Kunstfertigkeit wird in Gestalt der achtzig Centavos für eine
Photographie badender Frauen angeprangert. Doch Oliverio Girondo ist zum
Bruch entschlossen, zu einem Bruch, der ihm als finanziell Wohlhabendem
und Abgesichertem freilich keinerlei ökonomische Gefährdung bringen konnte,
musste er doch im Gegensatz zu Photograph und Budenbesitzer nicht von sei-
nem Tun, von seiner künstlerischen Arbeit leben. Denn dem Weltenbummler
standen nicht nur Buenos Aires und Mar del Plata, sondern auch die Großstädte
und Strände etwa von Frankreich und Italien zur Verfügung, wo der argentini-
sche Literat uns vergleichbare fragmentierte Bild-Schriften hinterließ.
Und noch ein letztes: Die Veinte poemas para ser leídos en el tranvía kosteten
bei ihrem Verkauf – anzueignen durch die Leserinnen und Leser in der fahrenden
Straßenbahn – gerade einmal zwanzig Centavos. Die Körper der badenden Frauen
aber, die die Photographen vertreiben, sind um das Vierfache teurer, kosten sie
doch stolze achtzig Centavos. Und doch ist die Prosadichtkunst Oliverio Girondos
keine billige Lyrik, wendet sie sich auch an eine breite Leserschicht, die nicht
mehr jene der typischen bildungsbürgerlichen Leserschichten von Buenos Aires
ist. Die literarische Avantgarde fährt mit und liest jetzt in der Straßenbahn.
Der ‚Fall‘ des Weltenbummlers und Avantgardisten Oliverio Girondo kon-
frontiert uns erneut mit der Frage nach jenen transarealen transatlantischen Lite-
raturbeziehungen zwischen Europa und den Amerikas, zwischen Argentinien,
dem Cono Sur, Lateinamerika und den verschiedenen Literaturen Europas. Denn
zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Literaturen Lateinamerikas auf dem
Sprung, weit über ihren Kontinent hinaus wahrgenommen zu werden. In gewis-
ser Weise war die ‚Einlösung‘ dieser Situation der hochrenommierte (und damals
wie heute umstrittene) Literaturnobelpreis für die chilenische Dichterin Gabriela
Mistral im Jahr 1945. Wie also ist das literarische Beziehungsgeflecht zwischen
Europa und Hispanoamerika zu denken? Welches sind die verschiedenen Etap-
pen, die im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts dazu führen sollten, dass die
lateinamerikanischen Literaturen aus dem Konzert der Literaturen der Welt auch
im 21. Jahrhundert nicht mehr wegzudenken sind? Wie ist das Vorrücken dieser
Literaturen des Subkontinents im Bewusstseinshorizont US-amerikanischer, eu-
ropäischer, aber auch anderer weltweiter Lesergruppen zu erklären?
Ich möchte versuchen, im Kontext unserer Frage nach Geburt, Leben, Ster-
ben und Tod Antworten auf diese Fragen zu finden. Wie auch immer diese Ant-
worten ausfallen werden, an einem Namen werden wir nicht vorbeikommen:
jenem des Argentiniers Jorge Luis Borges, mit dessen zentraler Bedeutung wir
uns bereits in unserer Vorlesung über die Literaturen des 20. wie des beginnen-
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn 851
den 21. Jahrhunderts beschäftigt haben.14 Einige Biographeme dieses großen ar-
gentinischen Schriftstellers möchte ich Ihnen in Erinnerung rufen, da sie zu-
gleich ein aussagekräftiges Licht auf die transatlantischen Literaturbeziehungen
im vergangenen Jahrhundert zu werfen vermögen.
Jorge Luis Borges wurde am 24. August 1899 in eine traditionsreiche und
wohlhabende Familie in Buenos Aires hineingeboren und verstarb am 14. Juni
1986 in Genf. Bereits durch seine Genealogie erweist er sich als typischer Argen-
tinier: Seine Vorfahren sind teils spanischer, teils portugiesischer Herkunft,
während seine Großmutter väterlicherseits einer englischen Methodistenfamilie
entstammte. Wie die Familie Oliverio Girondos ist auch jene von Jorge Luis Bor-
ges wohlhabend und international ausgerichtet; aber ausgerechnet 1914, im
Jahr des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, reiste sie nach Europa und bezog
ihren Wohnsitz in Genf und Lugano. Mit einem derart langen und erbittert ge-
führten Krieg, der bald weltweite Dimensionen annehmen sollte, hatte die
wohlbehütete argentinische Familie nicht gerechnet.
Nicht nur die Schweiz, auch Spanien wurde für den jungen Literaten wichtig.
1919 knüpfte der junge Borges auf einer Reise seiner Familie wichtige Kontakte
zu den spanischen und lateinamerikanischen Avantgarden. Der jugendliche
Schriftsteller, der damals noch keinerlei Probleme mit seinem Sehvermögen
hatte, war vom kreativen Potential der historischen Avantgarden und insbeson-
dere vom unter anderem von Vicente Huidobro begründeten „Ultraísmo“15 stark
beeindruckt. Seine schriftstellerischen Anfänge situierten sich folglich im Umfeld
dieser avantgardistischen Zirkel, deren notwendige transatlantische Fokussie-
rung wir in unserer früheren Vorlesung besprochen haben.
14 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne,
S. 494 ff.
15 Vgl. ebda., S. 235.
852 Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn
16 Vgl. Sarlo, Beatriz: Jorge Luis Borges. A Writer on the Edge. Edited by John King. London –
New York: Verso 1993.
854 Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn
doch nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Rezeption des erzählerischen
Werkes von Jorge Luis Borges. Freilich gilt es, hierbei nicht die Tatsache zu ver-
gessen, dass lateinamerikanische Lyrikerinnen wie Gabriela Mistral und Juana
de Ibarbourou noch in der ersten Jahrhunderthälfte mit ihren Schöpfungen ein
Lesepublikum erreichten, das sich keineswegs mehr auf die Länder des Sub-
kontinents oder die hispanophone Welt begrenzen lässt; ein Faktum, auf das
ich bereits in meiner Vorlesung über die Literaturen des 20. Jahrhunderts auf-
merksam gemacht habe und das ich nicht zu wiederholen brauche.
Zwar soll hier keineswegs das Gewicht der historischen Avantgarden in La-
teinamerika außer Acht gelassen oder übersehen werden, dass Autoren wie Al-
fonso Reyes17 sich – freilich in durchaus modernistischer Tradition – als wichtige
kulturelle Vermittler beiderseits des Atlantik große Verdienste erwarben und
Schriftsteller wie Alejo Carpentier, Vicente Huidobro oder César Vallejo als wich-
tige Gesprächspartner europäischer Autoren agierten. Zweifellos führte der Spani-
sche Bürgerkrieg – wie in seiner Folge der Aufenthalt vieler aus Hitlerdeutschland
oder Frankreich exilierter Intellektueller – zu einer Vielzahl neuer kultureller Be-
rührungspunkte; zweifellos wurden während dieser Phase jene Kommunikations-
strukturen innerhalb Lateinamerikas ausgebaut, welche seit dem letzten Drittel
des 19. Jahrhunderts entstanden waren; und zweifellos gingen die literarischen
Avantgarden in Lateinamerika einen überaus kreativen eigenen Weg beim Um-
gang mit den kulturellen Traditionen Europas, die als Grundmuster nun wesent-
lich freier umgestaltet wurden.18 Gewiss lassen sich viele Entwicklungen der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ohne all jene transatlantischen Reisen, Vor-
stöße oder Exilsituationen nicht denken, die gerade auch zwischen den beiden
Weltkriegen die Intellektuellen, die Literat*innen und die Philosoph*innen beider
Welten miteinander ins Gespräch brachten – denken wir nur an die Rolle von
María Zambrano, von José Gaos oder anderer Intellektueller in Mexiko. Doch trotz
des in den zwanziger und dreißiger Jahren gewachsenen Selbstbewusstseins der
lateinamerikanischen Schriftsteller scheint die Rezeption lateinamerikanischer Li-
teratur in Europa noch nicht über bestimmte enge Zirkel europäischer Intellektuel-
ler hinaus gewirkt zu haben, so dass von einer Erschließung breiter europäischer
Leserschichten noch nicht gesprochen werden kann – Diese Situation aber än-
derte sich Stück für Stück und erstaunlich rapide.
17 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Orest und Iphigenie in Mexico. Exilsituation und Identitätssuche
bei José Martís und Alfonso Reyes’ Beschäftigung mit dem Mythos. In: Komparatistische Hefte
(Bayreuth) 14 (1986), S. 71–90.
18 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne, insb.
S. 188 ff.
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn 855
Dass diese neue Phase gerade mit dem Werk des Argentiniers Borges und
in Frankreich einsetzt, scheint mir in vielerlei Hinsicht bedeutungsvoll, nicht
nur aufgrund der Tatsache, dass Paris – die „ville lumière“ für so viele Argenti-
nier im 19. Jahrhundert – unverkennbar zur zentralen Drehscheibe für die Re-
zeption lateinamerikanischer Literatur in Europa geworden war. Diese Rolle der
Stadt erstaunt dabei am wenigsten: Paris war nicht nur, wie Walter Benjamin
einmal formulierte,19 die Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts, sie ist es
auch geblieben bis etwa in die ausgehenden siebziger Jahre des vergangenen
Jahrhunderts. Doch auch wenn Paris heute nicht mehr die kulturelle Hauptstadt
sein kann, da ihr andere Städte wie insbesondere New York den Rang abgelaufen
haben, so blieb es doch gerade für die Lateinamerikanerinnen und Lateinameri-
kaner in Kunst und Literatur ein zentraler Bezugspunkt ihres Schaffens.
Wir hatten gesehen, welche Bedeutung Paris gerade für die Entwicklung der
hispanoamerikanischen Literatur der Romantik spielte – wie also von der französi-
schen Hauptstadt jene literarischen Impulse ausgingen, die zur eigenen nationalli-
terarischen Entwicklung einzelner Länder und Areas Lateinamerikas wesentlich
beitrugen. Man könnte mit guten Gründen behaupten, dass Paris eine kardinale
Funktion bei der Herausbildung nationalstaatlicher und literarischer Selbstfin-
dung in Hispanoamerika zukam, stand diese doch mit dem geokulturellen Do-
minanten-Wechsel von Madrid nach Paris in engster Verbindung.20 Paris war
das kulturelle Mekka der hispanoamerikanischen Autorinnen und Autoren des
19. Jahrhunderts gewesen; und es sollte auch über weite Strecken des 20. Jahr-
hunderts das intellektuelle Mekka für zahllose Künstler*innen, Schriftsteller*in-
nen und Philosoph*innen aus Lateinamerika bleiben. Insofern verwundert die
prägende Rolle von Paris für die Rezeption der lateinamerikanischen Literaturen
im vergangenen Jahrhundert keineswegs.
Sehr wohl aber erstaunt zumindest auf den ersten Blick die herausragende
Rolle von Jorge Luis Borges für die Wahrnehmung lateinamerikanischer Litera-
tur gleichsam auf Augenhöhe in Europa. Dabei war zu Beginn der wesentlich
von Roger Caillois initiierten Borges-Rezeption durchaus noch nicht absehbar,
dass die Ficciones oder El Aleph sich einmal ein breites europäisches Publikum
erschließen würden, wirkten sie doch zunächst vorrangig in den französischen
Intellektuellenzirkeln, aus denen sich der Neo- und Poststrukturalismus entwi-
ckeln sollte. Als Motti oder Epigraphe dienten Fragmente aus Borges’ Werk un-
19 Vgl. Benjamin, Walter: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In (ders.): Das Passa-
gen-Werk. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 45–59.
20 Vgl. hierzu den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei
Welten, S. 279 ff.
856 Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn
21 Vgl. hierzu ausführlich den dritten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Von den histori-
schen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 494 ff.
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn 857
einräumen. Der Metapher kommt daher bei Borges eine Funktion zu, wie sie
dem Modell und mehr noch der Modellbildung in den Wissenschaften zusteht.
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass der spätere Borges, mithin der
Borges der dreißiger Jahre, geschickt und sehr erfolgreich versuchte, ebenso
sein lyrisches Frühwerk wie auch seine Essays und anderen Prosabände wie
etwa El tamaño de mi esperanza oder die Aufsätze zu Literatur und Ästhetik aus
dem Verkehr zu ziehen und seine avantgardistische Phase aus dem öffentlichen
Bewusstsein zu tilgen. Dabei ‚stahl‘ er nicht nur in Bibliotheken seine frühen
Werke, sondern beabsichtigte hintersinnig, in späteren Publikationen, Vorwor-
ten und Erläuterungen seine Spuren zu verwischen und völlig neue Kontexte für
seine frühen Veröffentlichungen – wo sie sich nicht mehr kaschieren ließen – zu
erfinden oder in Interviews falsche Pisten auszulegen. Borges, dessen später so
grundlegende Ästhetik der Fälschung weltweit Furore machen sollte, wurde
nicht zuletzt Fälscher seiner eigenen Schriften, seiner eigenen Geschichte.
So deutete der Borges von 1969, längst als einer der ‚Väter‘ der Postmo-
derne ausgerufen, seinen 1923 erschienen Gedichtband Fervor de Buenos Aires
um, indem er ihn in eine kontinuierliche Entwicklung seines Schreibens stellte,
das von Anfang an im Zeichen von Schopenhauer und Whitman gestanden
habe. Man müsse nur ein wenig an den Texten feilen, damit sie diese vielleicht
zunächst noch verborgene Kontinuität preisgäben. Borges verhielt sich nicht
anders als viele Schriftsteller vor ihm, nur medientechnisch versierter. Wir
könnten auf Flaubert und seine erste Education sentimentale verweisen, auf
den frühen Balzac, der sich nicht mehr gerne an seine ersten Romane erinnerte,
an den jungen Jules Verne, der seinen Romanerstling nicht mehr veröffent-
lichte, oder im lateinamerikanischen Bereich auch an Vicente Huidobro, der
seine frühe modernistische Lyrik möglichst rasch einzuordnen versuchte in
jenen „Creacionismo“, den er schon – eine kleine Änderung auf dem Titelblatt
genügte – vor seiner Reise nach Frankreich und vor seiner Begegnung mit Re-
verdy erfunden haben wollte. Doch nicht alles ließ sich vom späten Borges ein-
verleiben, gleichsam kannibalisieren.
Denn es gab viele Berührungspunkte mit den historischen Avantgarden ins-
besondere am Río de la Plata und dabei auch mit Oliverio Girondo, wie bereits
erwähnt einem der Mitbegründer der avantgardistischen Zeitschrift Martín Fierro.
Jorge Luis Borges war in jenen Jahren die eigentliche Galionsfigur dieser Zeit-
schrift, die zwischen 1924 und 1927 eine kaum zu überschätzende Rolle innerhalb
des literarischen Feldes Argentiniens spielte; eine Zeitschrift, in der Gedichte der
hispanoamerikanischen Avantgarden, aber auch der jungen Franzosen oder
auch Texte von James Joyce erschienen, an dessen Schriften sich Borges wohl als
erster spanischsprachiger Übersetzer wagte. Die Autoren dieser Gruppe waren
auf der Höhe der Zeit. Dies galt in besonderem Maße für Borges, der nicht nur
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn 859
auf Spanisch und Englisch, sondern auf Französisch, Italienisch und nicht zu-
letzt Deutsch las und viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Original rezi-
pieren konnte. Er entsprach selbst durchaus jenem Schriftsteller, den er später in
seinem berühmten Essay El escritor argentino y la tradición skizzierte: weitaus
besser als alle Europäer, die außer ihrer eigenen Nationalliteratur nur bestenfalls
noch eine zweite lasen, vertraut mit der Gesamtheit der literarischen Entwicklun-
gen im europäischen Raum.
Zugleich war beim jungen Borges die Verbindung mit dem Moderneprojekt
überdeutlich, mit Fragestellungen einer ästhetischen, aber auch sozioökonomi-
schen Modernisierung, wie sie die Modernisten und ebenso wie die Avantgardis-
ten beschäftigten. Für bestimmte architektonische Elemente der neuen urbanen
Landschaften hatten sich ebenso Borges wie der damals in Lateinamerika arbei-
tende Le Corbusier interessiert. Es handelte sich um großstädtische Aspekte, wel-
che eine Stadt wie Buenos Aires in die erste Reihe modernster Stadtarchitektur
katapultierte. Zugleich sind beim jungen Borges ultraistische Elemente unüber-
sehbar, für welche die Modernität mit der Beschleunigung der Zeit und mit den
großen, sich rasch wandelnden Stadtlandschaften einhergingen – Aspekte, wie
sie uns aus den programmatischen Visionen der alle Technik verherrlichenden
italienischen Futuristen bekannt sind. Der junge Borges war ästhetisch ein Kind
seiner Zeit.
Und zugleich ist er als avantgardistischer Dichter höchst originell: Raum und
Zeit spielen beispielsweise in einem Gedichtband des Avantgardisten eine zent-
rale Rolle – im Cuaderno San Martín von 1929. Wir befinden uns an einem Punkt
der Entwicklung des dreißigjährigen Borges, an dem seine ‚Selbst-Verwandlung‘
und Metamorphose in den Taktgeber der Postmoderne unmittelbar bevorsteht.
Aus diesem Band stammt das erste berühmt gewordene Gedicht mit dem Titel
Fundación mítica de Buenos Aires, das ich Ihnen in einer Übersetzung von Gisbert
Haefs vorstellen darf. Sie können sich übrigens das ganze Gedicht in der bereits
kurz erwähnten, 1967 veröffentlichten Aufsprache des damals achtundsechzig-
jährigen Autors anhören. Denn nicht nur bei Nicolás Guillén, auch bei Jorge Luis
Borges sind die Selbstaufsprachen von großer Bedeutung für das Verständnis der
poetischen Texte. Schauen wir uns also diese Mythische Gründung von Buenos
Aires, die natürlich im Wohnviertel von Borges – in Palermo – verortet wird, ein-
mal näher an:
Dass Buenos Aires jemals begonnen hat, kann ich kaum glauben:
mir erscheint es so ewig wie die Luft und das Wasser.22
22 Borges, Jorge Luis: Fundación mítica de Buenos Aires. In (ders.): Gesammelte Werke. Her-
ausgegeben von Gisbert Haefs. Band 1: Gedichte 1923–1965. München: Carl Hanser 1982, S. 51 f.
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn 861
Buenos Aires ist, so vermittelt uns stolz der argentinische Dichter, schon immer
und ewig da: Sein Geburtsakt einer Gründung aus dem Urschlamm des Río de la
Plata ist rein mythischer Natur. In diesem Gedicht führt Jorge Luis Borges seine
Leidenschaft für Buenos Aires entschlossen fort, die bereits im Titel seines ersten
Gedichtbandes Fervor de Buenos Aires zum Ausdruck kam. Diese Leidenschaft
ließe sich durchaus autobiographisch deuten, ist doch das spektakuläre Straßen-
netz der Großstadt für den jungen Borges in der Tat mythisch, ließ ihn doch
seine Mutter nach einem Zusammenstoß des Jungen mit einer Straßenbahn, die
er wegen seines schlechten Augenlichts nicht hatte kommen sehen, nie mehr al-
leine auf die Straße.
862 Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn
Wo ein Oliverio Girondo die Lektüre in der Straßenbahn anregt und auf ein
derart mobilisiertes Lesen abzielt, stößt der zu diesem Zeitpunkt sehbehinderte
Dichter mit der Straßenbahn in Buenos Aires zusammen. Kein Wunder, dass
für den Verfasser der Ficciones die Straßenbahn nicht das Emblem der Moderne
war! Borges erträumt sich fortan sein Viertel und seine Stadt ganz so, wie er
sich später als Direktor seine Nationalbibliothek imaginierte. Die Borgesiani-
sche Welt ist eine Schopenhauer’sche Welt als Wille und Vorstellung, sie ist Ef-
fekt einer Imagination, die sich der Welt – wie später in der Erzählung Tlön,
Uqbar, Orbis Tertius23 – bemächtigt.
Auf diese Weise erträumte sich Borges, der die Welt aus der Sicht vergitter-
ter Fenster in seinem Stadtviertel Palermo kennenlernte, eine eigene Stadt im
Kopf, ein mythisches Buenos Aires, dem er deshalb auch eine mythische Ge-
schichte mit einem mythischen Geburtsakt zu Grunde legte. Wir werden gleich
sehen, welch eine Stadt dies war. Es bleibt indes festzuhalten, dass Borges als
einer der ersten Dichter das Buenos Aires der Straßen, der Vorstädte, der klei-
nen Plätze, der „suburbios“, der „arrabales“ und „compadritos“ besang – und
nicht die Metropole der Staatsgründer, Bankiers und großen Leute. Von Beginn
seines literarischen Schaffens an war Borges nicht der universalistische, son-
dern der die Ecken und Geschichten seiner Vaterstadt hervorragend kennende,
beschreibende und besingende Dichter.
Borges schuf auf diesem Wege jene Szenerie, die auch in seinen criollisti-
schen Prosaschriften von größter Bedeutung ist. Nicht umsonst war er die zeit-
weise wichtigste Figur der Zeitschrift Martín Fierro, deren historisch-literarische
Hintergründe wir in unserer Vorlesung kennengelernt haben. Der Argentinier
Horacio Salas hat einmal in der argentinischen Lyrik des 20. Jahrhunderts
nachgezählt, und da ist Borges nur einer der ganz frühen von insgesamt nicht
weniger als vierhundert argentinischen Dichtern, die ihre geliebte Stadt wie
ihre Geliebte besangen.24 Dabei besingt ein Borges ebenso die prächtigen Stadt-
viertel wie sein eigenes Palermo, aber auch die kleinen suburbanen Ecken und
Bars jenseits aller Modernisierung, in denen die Prostituierten ein- und ausgin-
gen und der Tango entstand. Was aber macht den mythischen Gesang, die my-
thische Vision von Borges aus?
23 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Unterwegs zum Orbis Tertius? Balzac – Barthes – Borges oder Die
vollständige Fiktion einer Literatur der Moderne. In: Bremer, Thomas / Heymann, Jochen
(Hg.): Sehnsuchtsorte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Titus Heydenreich. Tübingen: Stauf-
fenburg Verlag 1999, S. 279–305.
24 Vgl. Salas, Horacio: Buenos Aires, mito y obsesión. In: Cuadernos Hispanoamericanos (Ma-
drid) 504 (junio 1992), S. 389–399.
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn 863
Abb. 69: Situationsplan von Buenos Ayres. In: Meyers Konversationslexikon (1888),
Bd. 3, S. 600.
dicht für Hipólito Irigoyen untersuchen und damit für die Radikale Partei (Par-
tido de la Unión Cívica Radical), die Partei der Mittelklasse, welche die Oligar-
chie von der Herrschaft verdrängte. Ihr stand Irigoyen als Caudillo vor und sie
vertrat er als gewählter Präsident, bevor ihn 1930 ein Militärputsch – der erste
in einer lang anhaltenden Serie – von der Macht vertreiben sollte. Die Ge-
schichte Argentiniens ist bis heute eine Geschichte wechselnder Macht-Eliten.
Doch Borges war kein Historiker: Seine politischen Stellungnahmen sind
oft von so entnervender Beschaffenheit, dass es schwerfällt, sie in eine Gedicht-
analyse miteinzubeziehen, obwohl wir sie auch nicht ganz vergessen dürfen;
zumal es in der obigen Passage um einen demokratisch gewählten Präsidenten
Argentiniens geht. Berüchtigt sind Borges’ späteren Stellungnahmen für den
Faschismus und die Militärdiktatur geblieben, und nicht alles lässt sich mit
dem flotten Hinweis darauf zudecken, dass Borges ja wohl selbst gesagt hatte,
dass die politischen Äußerungen immer das Dümmste der Dichter seien. In sei-
nem Falle stimmt die Behauptung zweifelsfrei. Jedenfalls hat Borges in El tamaño
de mi esperanza das Hohelied von Irigoyen gesungen und ihn mit keinem Gerin-
geren als dem Diktator Juan Manuel de Rosas verglichen, den wir in unserer Vor-
lesung ebenfalls kennengelernt haben. Wir verstehen, warum Borges – koste es,
was es wolle – die Publikation dieses Bandes zu verhindern trachtete und El ta-
maño de mi esperanza auch nur postum und mit dem Einverständnis von María
Kodama erscheinen konnte. Ob er selbst einer solchen Veröffentlichung noch zu
seinen Lebzeiten zugestimmt hätte, darf man getrost bezweifeln.
In Fundación mítica de Buenos Aires geht es um die Geburtsszene einer
Stadt, die im Grunde ebenso zeitlos und transhistorisch ist wie das Meer oder die
Gebirge: Ihre Zeitrechnung spielt auf einem anderen Blatt. Die mythische Grün-
dung von Buenos Aires stellt zunächst einige Fakten zur Disposition, auf die im
Gedicht angespielt, die aber von Beginn an mit einem Fragezeichen versehen
werden. So wird zunächst der Ort der Gründung verlegt, und zwar von der soge-
nannten „Boca“ weg (wo wir die historische Gründung ansiedeln dürfen) hin
nach Palermo, wo die erste Gründung der künftigen Hauptstadt einen ganzen
Häuserblock umfasst haben soll – zumindest dann, wenn wir dem Dichter folgen
(Abb. 69).
Doch diese Verlegung ist leicht durchschaubar, wohnte doch Jorge Luis
Borges selbst in jenem Carré, das die vier Straßennamen am Ende der Strophe
angeben. Diese präzise, auch heute noch auf jedem Stadtplan zu bestimmende
Situierung, welche noch durch zusätzliche ortskundige Elemente gestützt wird,
macht damit den schicken großbürgerlichen Stadtteil am Rande der damaligen
Metropole in den zwanziger Jahren zum eigentlichen Ursprungsort. Sie ver-
schiebt also den Ursprung in einer für jeden Bonaerenser durchsichtigen und
Oliverio Girondo, Jorge Luis Borges oder die Avantgarden und die Straßenbahn 865
nicht ganz ernstzunehmenden Weise. Mythisch ist diese Gründung von Buenos
Aires, weil sie jeglicher rationalen Begründung entbehrt.
Die augenzwinkernde Fälschung ist durchschaubar und weist gerade daher
nicht auf das Objekt der Fälschung, sondern auf dessen Subjekt, auf dessen Ur-
heber zurück. Dieser setzt am Ende des Gedichts hinzu, dass die Stadt eigent-
lich keinen Anfang, keine Geburt haben könne: Das Ich stellt sich jeglicher
historischen Analyse entgegen. Doch dieses lyrische Ich, das sich somit in den
Mittelpunkt des Gedichtes versetzt, lässt es bei der Dezentrierung im Raum und
der fingierten Gründung eines eigenen Raums mit eigenem Ursprung, mit eige-
ner Geschichte, mit eigenem Netzwerk von Straßen nicht bewenden. Vielmehr
führt es in den beiden letzten Versen auch eine Dezentrierung in der Zeit durch.
Wieder sind es die anderen, die die gängige Meinung zum Ausdruck bringen,
und wieder hält das Ich dagegen, indem es den gerade erst verschobenen, diffe-
rierten Ursprungsmythos als Mythos des Ursprungs gleichsam ‚entlarvt‘. Da-
durch verleiht es der von Menschen, von spanischen Eroberern geschaffenen
Stadt eine ursprungslose, gleichsam natürliche, ewige Dimension. Am Ende
des Gedichts entbehrt Buenos Aires jeglicher Gründung, jeglicher Geburt: Die
Stadt war schon immer da und ist so ewig wie der Fluss oder der Ästuar selbst!
Damit ist Buenos Aires, das von außen her gegründet wurde, das also peri-
pher liegt zum Herkunftsort jener Spanier, welche aus einem fünf Monde ent-
fernten Raume stammen und die Gründung der Stadt durchführten, selbst zum
Zentrum geworden. Es hat sich an die Stelle der alten Zentren gesetzt. Auch Pa-
lermo erinnert an keine europäische Stadt mehr, sondern befindet sich ganz
einfach im Herzen der argentinischen Metropole. Die Spanier stammen von den
Goten oder vielleicht den Iberern ab, „descienden de los visigodos“; die Argen-
tinier aber, so eine beliebte Formel, „descienden de los barcos“: Sie sind ganz
einfach den Schiffen entstiegen; darauf gründet ihre Präsenz.
Dieses Bild wird in diesen Versen vorgeführt und zugleich dekonstruiert,
indem die Zeitachse des Gründungsmythos ins Unendliche verschoben oder
verbogen wird. Gleichzeitig fällt dies mit der Schöpfung der Welt, mit den
Grundelementen des Wassers und der Luft in eins – nicht umsonst trägt die
Stadt ja den Namen der Guten Winde und war das Wasser ihr Kreissaal. Lassen
Sie es mich mit der für die „Porteños“ sprichwörtlichen Bescheidenheit der bi-
blischen Genesis sagen: Im Anfang war Buenos Aires. Buenos Aires ist aus dem
Ur-Schlamm der Erde geformt. Eine Geburt der argentinischen Metropole dür-
fen wir uns nur mythenumrankt vorstellen: Die Stadt bleibt im Gedicht im
Grunde ursprungslos und ist für die Ewigkeit gebaut.
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten
des Todes und der Einsamkeit
Ab 1915 schloss sich ein Studium der Rechtswissenschaften an. Ab 1918 treffen
wir den oft mittellosen jungen Mann in der peruanischen Hauptstadt Lima, wo er
vorübergehend an einer Privatschule Arbeit fand. Es sind Jahre harter Schicksals-
schläge, denn mehrfach erschütterte ihn der Tod ihm nahestehender Personen:
1 Zum peruanischen Avantgardisten vgl. Lama, Víctor de: César Vallejo y su tiempo. In: Val-
lejo, César: Trilce. Ed. Pedro Alvarez de Miranda. Madrid: Editorial Castalia 1991, S. 10–21.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-027
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit 867
1915 starb sein jüngster Bruder Manuel, 1918 seine Mutter, 1919 der mit ihm be-
freundete Schriftsteller Abraham Valdelomar. Wir werden gleich erfahren, wie
Vallejo als Dichter auf diese Schicksalsschläge antwortete und ihnen eine ästhe-
tische Form abrang.
Doch das Schicksal trifft auch den jungen Mann hart: Mitte 1920 wird er in
einen obskuren Aufstand verwickelt, in dessen Folge er vier Monate ohne jeden
Grund inhaftiert wurde. Aus Furcht vor weiteren Verfolgungen entschloss er
sich, zusammen mit einem Freund 1923 ins poetisch erträumte Europa zu reisen.
Doch der Traum geriet bald zum Alptraum, denn in der französischen Hauptstadt
lebte er kümmerlich von wenigen Artikeln und journalistischen Arbeiten für pe-
ruanische Periodika2 sowie von Übersetzungen, die sein großes literarisches Ta-
lent zeigen.
César Vallejo zählte zu jenen zahlreichen Schriftstellerinnen und Schriftstel-
lern, für welche die Oktoberrevolution eine Hoffnung bedeutete, die zu erkunden
er sich anschickte. Einen ebenso biographischen wie ideologischen Einschnitt
bedeuteten mithin drei Reisen in die damalige Sowjetunion in den Jahren 1928,
1929 und 1931, teilweise finanziert von seiner späteren Frau Georgette. Ende 1930
aber musste er wegen seiner kommunistischen Kontakte Frankreich verlassen
und zusammen mit Georgette nach Madrid umziehen, wo sich seine prekäre fi-
nanzielle Lage kaum verbesserte. Wo auch immer César Vallejo lebte: Stets be-
gleiteten ihn die finanziellen Nöte.
Bereits Anfang 1932 kehrte er heimlich nach Paris zurück, wurde im Som-
mer aber schon von der Polizei wieder aufgegriffen und verhaftet: Allein seine
Zusage, sich aller politischen Aktivitäten zu enthalten, bewahrte ihn vor der
Abschiebung. Vergeblich versuchte er, von seinem Schreiben in Paris zu
leben; auch seine Theaterversuche fielen durch. Es gelang ihm nicht, finanzi-
ell auf eigenen Beinen zu stehen. Politische Frontstellungen schoben sich in
den Vordergrund: Der Spanische Bürgerkrieg elektrisierte ihn und er nahm an
der antifaschistischen Solidaritätsbewegung teil. Zusammen mit Pablo Ne-
ruda gründete er 1937 das Comité Ibero-Americano para la defensa de la Repú-
blica Española und figurierte ebenfalls beim Internationalen Kongress von
Schriftstellern und Intellektuellen gegen den spanischen Faschismus in Valen-
cia und Madrid. Seine politischen Überzeugungen hatten sich längst gefestigt;
und er wusste sich im Verbund mit zahlreichen ähnlich denkenden Schriftstel-
lerinnen und Schriftstellern aus Europa wie Amerika. Diese Solidarität, welche
gerade die politischen und künstlerischen Avantgarden miteinander verband,
2 Vgl. hierzu Kultzen, Peter (Hg.): Reden wir Spanisch, man hört uns zu. Berichte aus Europa
1923–1930. Berlin: Berenberg Verlag 2018.
868 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
vermochte ihn eine Weile zu tragen. Doch das Leben zeigte sich mit Vallejo
unbarmherzig.
Erst nach seinem frühen Tod im Jahre 1938 – er wurde auf dem Cimetière
de Montparnasse beerdigt – fand sein gewaltiges dichterisches Schaffen zuneh-
mend Anerkennung. Seine lyrischen Anfänge standen noch im Schatten des
Modernismo und insbesondere von Rubén Darío, doch wies sein erster Gedicht-
band Los heraldos negros von 1919 bereits eine höchst individuelle Ausrichtung
auf. Lyrische Intensität und Vehemenz, bisweilen chaotische Anhäufung von
Lexemen und die Überschreitung, ja Sprengung aller Grenzen von Konvention
und traditioneller Rhetorik charakterisieren bereits diesen ersten Band, mit
dem wir uns in der Folge beschäftigen wollen.
Man könnte die These wagen, dass die Poesie Vallejo am Leben erhielt.
Dichtung war für ihn die unschätzbare Möglichkeit, alle Bereiche des Lebens zu
erfassen, Leben in seiner intimsten Form zugänglich zu machen und zugleich
in seiner Schönheit und obskuren Unergründlichkeit verwundert und bewun-
dernd zu präsentieren. Vallejo ist der Dichter der Verwunderung und seine The-
men ergaben sich geradezu organisch aus seinem intensiven Erleben aller
Dimensionen menschlicher Erfahrung, die assoziativ und a-logisch miteinander
verknüpft werden. Wir werden uns sogleich mit dem Titelgedicht von Los heraldos
negros beschäftigen, um diese dichterische Praxis genauer zu erforschen und der
Rolle des Todes im Schaffen des peruanischen Avantgardisten nachzuspüren.
Bereits 1922, also noch vor seiner Parisreise, legte er mit dem Gedichtband
Trilce einen faszinierenden poetisch verdichteten Bruch mit allen Regeln her-
kömmlicher Sprache vor, der bis über die Grenzen des Unverständlichen und
nur mehr Erahnbaren hinausging. Schon der Titel gab Rätsel auf, wurde als
Steigerungsform von „dulce“, aber auch als Zusammenschluss von „triste“ und
„dulce“ gedeutet. Vallejo überforderte bewusst sein zeitgenössisches Publikum
mit einer Dichtung, welche der Sprache alles abverlangte und Gewalt antat: Er
versuchte, ins Unbewusste der Sprache und zugleich des Lebens vorzudringen
sowie seiner Leserschaft keinerlei Strapazen auf dieser Reise zu ersparen. Viel-
leicht dauerte es deshalb so lange, bis nach César Vallejos Tod, bevor sich eine
kleine, aber stets treue Leserschaft herauskristallisierte und er für viele andere
Intellektuelle und Dichter*innen zu einem orientierenden Bezugspunkt werden
konnte. Vallejo zählt neben Vicente Huidobro, Pablo Neruda oder Nicolás Guillén
zweifellos zu den Granden avantgardistischer lateinamerikanischer Dichtkunst.3
4 Vgl. auch Bosshard, Marco Thomas: Die Reterritorialisierung des Menschlichen in den histo-
rischen Avantgarden Lateinamerikas. Für ein multipolares Theoriemodell. In: Asholt, Wolf-
gang (Hg.): Avantgarde und Modernismus. Dezentrierung, Subversion und Transformation im
literarisch-künstlerischen Feld. Berlin – Boston: Walter de Gruyter 2014, S. 147–168.
870 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
Für César Vallejo war nicht nur die eigene, aus der Distanz schmerzlich ver-
misste Heimat Peru, sondern vor allem Paris künstlerischer Bezugspunkt und
Lebenszentrum. José Carlos Mariátegui hatte als ebenso kommunistisch ausge-
richteter Intellektueller Vallejo später gerade mit Blick auf die Zukunft Latein-
amerikas in seinen Siete ensayos de interpretación de la realidad peruana eine
große und wichtige Rolle zugewiesen. Wir werden uns mit Mariátegui noch in
einer künftigen Vorlesung über die Entstehung Amerikas auseinandersetzen. In
einem César Vallejo gewidmeten Abschnitt seines Buches ließ Mariátegui nicht
umsonst mit Los Heraldos Negros (1918 laut Impressum, eigentlich 1919 erschie-
nen) die neue peruanische Lyrik beginnen. Er ordnete diesem Gedichtband also
eine Gründungsfunktion innerhalb eines neuen literarischen Peru zu. Vielleicht
könnte man jedoch aus heutiger Sicht diese Geburt einer neuen Dichtkunst bes-
ser mit dem Gedichtband Trilce ansetzen.
Bleiben wir jedoch noch einen Augenblick bei Mariáteguis Sichtweise des
großen peruanischen Dichters, da sie zeigt, dass Vallejo bei einer kulturellen
Elite in Peru durchaus Orientierungspunkt war, obwohl er – wie Mariátegui be-
tonte – unerkannt durch Limas Straßen gegangen sei! Vallejo, der für Mariáte-
gui der „poeta de una estirpe, de una raza“ war, habe zum ersten Mal in der
peruanischen Literatur ein „sentimiento indígena virginalmente expresado“
zum Ausdruck gebracht und damit ein jungfräulich indigenes Gefühl geschaf-
fen. In den Siete ensayos Mariáteguis wird Vallejo zum absoluten Schöpfer stili-
siert, wofür das Titelgedicht der Heraldos Negros, das uns gleich beschäftigen
soll, herangezogen wird. Für José Carlos Mariátegui vereinte Vallejo Elemente
des Symbolismus, des Expressionismus, des Dadaismus und des „Suprarrea-
lismo“, also des Surrealismus, in seiner gedrängten dichterischen Sprache. Der
peruanische Intellektuelle betonte bei seinem Landsmann das indigene Ele-
ment in der Dichtkunst, aber vor allem den radikalen Bruch mit allem, was in
der Lyrik Lateinamerikas vor Vallejo vorgeherrscht habe. Vallejo sei ein Mysti-
ker der Armut gewesen, ein wirklicher Schöpfer und authentischer Autor: Hie-
rin erblickte Mariátegui seine Einzigartigkeit und dichterische Größe.
Man kann ohne jede Übertreibung sagen, dass César Vallejo wie kein ande-
rer Dichter in den zwanziger und dreißiger Jahren die Freiheit dichterischer
Sprache verkörpert hat. Im Bereich der Poesie erschien Vallejo im Sinne einer
grundsätzlichen Neuorientierung der hispanoamerikanischen Lyrik am Experi-
mentellen, am Tastend-Suchenden; er verkörperte eine Tendenz zum Über-
schreiten bislang eingehaltener Grenzen des Logischen, des Kausalen. Dabei
schrieb Vallejo zugleich eine gegenüber Vicente Huidobro wesentlich stärker
im andinen Raum verwurzelte und auf dessen kulturelle Traditionen aus der
Distanz bezogene Lyrik.
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit 871
Beschäftigen wir uns also mit dem ersten, im Juli 1919 ausgelieferten Gedicht-
band Los Heraldos Negros! Er ist eine in gewisser Weise hybride Schöpfung, zei-
gen die verschiedenen hier vereinigten Tendenzen doch unverkennbar zum Teil
noch auf den Modernismo eines Rubén Darío oder eines Julio Herrera y Reissig –
oder auch auf den Symbolismus europäischer Provenienz. Andererseits aber findet
sich in diesen Gedichten ein neuer, am Abrupten, am Suchenden, am Fragenden
ausgerichteter Ton, der die Neuheit dieses Bandes ausmacht. Diese neuen Töne,
die eine bisweilen eher noch konventionelle Lyrik durchziehen, sind deutlich ver-
nehmbar in Vallejos Titelgedicht der Heraldos Negros. Ich möchte Ihnen dieses Ge-
dicht entgegen unserer Tradition direkt auf Spanisch präsentieren und aus guten
Gründen die Übersetzung ins Deutsche nachreichen:
5 Vallejo, César: Los heraldos negros. Buenos Aires: Editorial Losada 1966, S. 8 f.
872 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
Todes nicht auf ein Verstehen von menschlicher Seite zählen können. Doch das
Erleben des Todes zählt auf keine Logik, rechnet mit keinem Verstehen. Los he-
raldos negros ist die lyrisch verdichtete Antwort César Vallejos auf all die Todes-
nachrichten im Kreis der Familie und der engen Freunde, von denen ich vorhin
berichtet habe. Dass meine Interpretation dieses Gedichts in eine Zeit fällt, in
welcher der Tod eines mir lieben Menschen alles Sprechen und alle Logik leer-
laufen lässt, ist nur ein Zeichen für die Tatsache, wie sehr die Literaturen der
Welt mit dem verbunden sind, was unser eigenes Wesen und was unser eigenes
Leben ausmacht. Doch die Vorlesung dieses Menschen, dessen Auftrag und Be-
rufung die möglichst komplexe und polyseme Deutung von Literatur ist, muss
weitergehen!
Los heraldos negros ist ein verdichtetes Spiel mit Leben und Tod, mit dem
Vergehen dessen, was als Leben beschieden ist; und dieses Gedicht kann in
Verbindung gebracht werden mit der Todesthematik, wie sie gerade in den his-
torischen Avantgarden so häufig erscheint. Denn der Krieg stand den histori-
schen Avantgarden nahe, wurde von den italienischen Futuristen erträumt,
von den Züricher Dadaisten erlitten und persifliert, von den französischen Sur-
realisten in die Sphäre des Traumatischen und Alptraumhaften gehoben.6
In diesem Gedicht aber trifft uns die existenzielle Dimension mit aller
Wucht. Dabei geht es nicht allein darum, dass Vallejo durch den Verlust von
Freunden und Familienangehörigen, vor allem aber seiner Mutter tief getroffen
wurde; ein so starker Schlag, dass er ihm nur noch die Lyrik entgegenzusetzen
vermochte. Denn das Erleben des Todes ist Herausforderung und in weiter
Ferne das Versprechen auf die Erkenntnis dessen, was die conditio humana und
das menschliche Sein ausmacht. Freilich bietet die Lyrik keine Antwort, sondern
ist Respons nur als ein „Yo no sé“, als ein „Ichweißnicht“, das Vallejos Dicht-
kunst wie sein Leben ständig miteinander verbinden und durchziehen sollte.
Denn der Mensch wird auch in Vallejos Lyrik zum Spanischen Bürgerkrieg stets
ein lebendig Sterbender sein, ein Sterblicher am Leben, der nur aus dem Sterben
und Sein-Leben-Lassen noch seine letzte Erkenntnis pressen kann.
Der Mensch erscheint in diesem Gedicht des existenziell stets bedrohten
Dichters als „pobre, pobre“, im Fadenkreuz ihn übersteigender Gewalten, als
Opfer göttlichen Hasses, als Gegenstand der schwarzen Boten des Todes, als
vom Schicksal im negativen Sinne Auserkorener, auf Du und Du mit dem Tod,
mit dem göttlichen Hass, mit jenen Boten, die ihm gleichsam von hinten, hin-
terrücks, auf die Schulter klopfen und herausfordern. Lyrik hat in diesem exis-
6 Vgl. die Ausführungen in den jeweiligen Kapiteln zu diesen Bewegungen im dritten Band
der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne.
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit 873
tenziellen Zusammenhang einen anderen Sitz im Leben: Sie wird stets gerade
auch bei Vallejo zum Experimentellen, zur absoluten Grenze des Denkens und
mehr noch des Sprechens vorstoßen, aber doch stets rückgekoppelt bleiben an
die humane Grunderfahrung des Ausgeliefert-Seins menschlichen Daseins.
Ich möchte an dieser Stelle vor der Weiterführung unserer Interpretation
eine literarische Übersetzung dieses Gedichts durch Hans Magnus Enzensber-
ger einschieben, einen der großen Vermittler lateinamerikanischer Literatur
und Lyrik im deutschsprachigen Raum, um aufzuzeigen, dass literarische Über-
setzungen von großem Wert gerade auch für die Untersuchung semantischer
Aufladungen und Polyvalenzen sein können. Sie behindern unser Verständnis
von Lyrik nicht nur nicht, sondern befördern es in erheblichem Maße. Schauen
wir uns also die Übersetzung von Hans Magnus Enzensberger näher an:
Sie kommen nicht oft, doch sie kommen... Und reißen finstere Gräben
ins wildeste Antlitz und in die kräftigsten Lenden.
Wie die Hengste barbarischer Hunnenfürsten
oder die schwarzen Boten, die der Tod nach uns ausschickt.
7 Vallejo, César: Die schwarzen Boten [Übersetzt von Hans Magnus Enzensberger]. In: Köhler,
Hartmut (Hg.): Poesie der Welt: Lateinamerika. Berlin: Edition Stichnote im Propyläen Verlag
1986, S. 151.
874 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
chen der erste Vers in eine Strophe integriert, beim letzten Vers aber dann ein-
sam und allein dasteht, ist von größter Bedeutung für das gesamte Gedicht.
Denn es deutet sich keine Lösung, keine Entwicklung an: Der Mensch ist gefan-
gen, abhängig, ohnmächtig ausgeliefert allen Gewalten, die von ihm nicht be-
einflusst werden können. Reicht da das Wort „begreifen“? Ich weiß nicht.
Mir scheint, dass an dieser Stelle, bei diesen bewussten Wiederholungen des
„Yo no sé“, die logische Konnotation des Begreifens zu stark ist, um die existen-
zielle Betroffenheit in ihrer breiten semantischen Palette zum Ausdruck zu brin-
gen. Denn es geht um eine Betroffenheit, die keineswegs nur logisch-rationaler
Natur ist, sondern alle Bereiche des Menschen erfasst. Da gibt es, vereinfacht
gesagt, nichts zu begreifen: Der Mensch steht einfach vor diesen Schlägen des
Schicksals und weiß nicht, weiß nicht weiter!
Das kognitive Wissen in all seiner Breite ist nicht mehr fähig, nicht länger
in der Lage, dem Tod, dem blind zuschlagenden Hass, ja der unverschuldet er-
worbenen Schuld auf die Spur zu kommen oder gar all diese Dinge rational zu
begreifen. So kommt denn Wahnsinn auf in den Augen des betroffenen, des ge-
troffenen Menschen. Der „hombre“ ist „pobre, pobre“, ein Echo, das die Silben
des Wortes Mensch widerhallen lässt und den Menschen in das dunkle Gewand
der Armseligkeit kleidet.
Daher scheint mir an dieser Stelle die Übertragung von Hans Magnus En-
zensberger gut gewählt, denn hier ist der Mensch eben „elend, elend“: Wie im
spanischen Original ist der Vokal von Mensch in seiner Echowirkung beibehal-
ten. Die Pluralbildung „Cristos“, die hier nicht als Christen und schon gar nicht
als Christusse übersetzbar wäre, zeigt uns die existentielle Dimension der reli-
giösen Symbolik des Gedichts auf, die keineswegs religiös, sondern vorrangig
desakralisiert-anklagend verwendet wird. Der biblische Vergleich des Men-
schen mit dem Brot, das nahe der Ofentür verbrennt, ist eine weitere Symbolik
christlicher Provenienz, welche zudem die Absurdität zum Ausdruck bringt,
dass ein Lebensmittel zum Aufplatzen und zum Verbrennen gebracht wird – so
nahe an seiner Erlösung!
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit 875
An dieser Stelle könnte man sich fragen: Wusste César Vallejo um den in-
dianischen Mythos vom gebackenen Brot, dem indigenen Schöpfungsmythos
des Menschen, demzufolge Gott drei Brote in den Ofen stellt und backen lässt?
Das erste nimmt er zu früh heraus, es bleibt ein wenig weiß noch; das zweite ist
gerade rechtzeitig dem Ofen entnommen, es ist knusprig braun; doch über die-
ser Freude vergisst Gott das letzte Brot, das er zu spät aus dem Ofen herausholt,
ist es doch schwarz geworden. Die Präsenz der mythischen Verbindung von
Brot und Mensch – hier im Triptychon der Genesis der weißen, indianischen
und der schwarzen Menschen – ist allpräsent und auch in diesem Gedicht Val-
lejos poetisch eingewoben.
Christlich ist auch die Rede von der Seele, in welcher sich das Erlittene, das
menschliche Leiden anstaut und nur durch die Augen – einem alten Topos
christlicher Mystik zufolge die Fenster der Seele – nach außen dringt: als
Wahnsinn, der vom Menschen im Menschen nur mühsam zurückgehalten wird.
Das völlige Ausgeliefertsein des Menschen ist ebenso total wie absurd. Die con-
ditio humana ist unverkennbar die des Leidens, für die Christus als Gekreuzig-
ter, nicht aber als Erlöser steht.
Erlösung ist nicht in Sicht: Überall schwärmen die schwarzen Herolde, die
„heraldos negros“ aus und verkünden neues Leiden! Ist ihr Ruf der des Todes
oder der eines Gottes? Der Dichter, das lyrische Ich, findet hierauf keine Antwort.
Der Mensch weiß nicht, und er weiß nicht mehr weiter außer in der Dichtkunst,
die freilich seinem Nicht-Wissen nur künstlerischen Raum geben kann. Die mit
Majuskel geschriebenen Lexeme der einzelnen Strophen zeigen dies bereits an:
in der ersten Strophe „Dios“, in der zweiten ganz am Ende „Muerte“, in der drit-
ten schließlich „Cristos“ und vor allem „Destino“, das eine Art Echowirkung er-
neut zu „Cristos“ bildet; in der vierten Strophe aber dann steht der Mensch
allein, und zwar nicht als großgeschriebener „Hombre“ sondern gerade als
„pobre“, als Elender. Denn er ist den Schlägen ausgeliefert, die ein Mächtigerer
ihm versetzt, als es selbst der stärkste und stolzeste Mensch sein könnte – und
nicht so sehr der „wildeste“, wie Enzensberger meint und übersetzt.
Was kann demgegenüber selbst noch von der „fe adorable“ übrigbleiben,
vom bewundernswertesten Glauben des Menschen? Nicht nur die Logisch-
Kausale, sondern auch die Mythisch-Religiöse Tröstung sind dem Menschen
verwehrt. Denn das kausale Prinzip ist völlig außer Kraft gesetzt: Die Schuld ist
bereits in der bloßen Existenz des Menschen zu finden, in seinem Da-Sein und
noch stärker – mit Martin Heidegger – in seinem In-die-Welt-Geworfen-Sein.
Vielleicht sollte man daher auch „fiero“ nicht mit „wild“, sondern eher (wie es
der Vallejo sicherlich bekannten Martí’schen Tradition entspräche) mit „stolz“
übersetzen: Nicht ein Wilder wird hier gezähmt, sondern ein selbstbewusster
Mensch gedemütigt. Zugleich erinnern die tiefen Gräben und Furchen, die erbar-
876 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
mungslos in das Antlitz dieses Menschen gerissen werden, exakt an die Metapho-
rik William Shakespeares in einem seiner berühmtesten Sonette: When forty win-
ters. Dort sind es freilich die vierzig Winter, also das unvermeidliche Altern,
welche die Risse in ein schönes menschliches Antlitz gezogen haben.
So erkennen wir in Los heraldos negros auf den ersten Blick, dass wir es in
diesem Titelgedicht mit einer völlig anderen Lyrik zu tun haben, in der es um die
gesamte Existenz des Menschen geht, um das spezifische Humanum. Vallejos
Lyrik kreist nicht allein um die conditio humana, sondern um das Elend und das
Elendige des Menschen. Lyrik wird zur verdichtetsten Form menschlichen Lebens-
wissens und menschlichen Erlebenswissens: Sie zeichnet das auf, was sich – „Yo
no sé“ – jeglicher Rationalität entzieht und doch immer noch in Sprache ausge-
drückt werden kann. Denn gerade weil der Mensch dem unergründlichen und har-
ten Schicksal nichts Machtvolles entgegensetzen kann, verfügt er doch noch
immer über die Sprache, über den sprachlichen Ausdruck, der seinem Elend, sei-
nem ohnmächtigen Ausgeliefertsein, zumindest Ausdruck verleihen mag. Der
Schrei ist im Deutschen dem Schreiben ebenso eingeschrieben wie im Französi-
schen der „cri“ in der „écriture“. War das „je ne sais quoi“ während langer Jahr-
hunderte die literarische Formel für das nicht mehr sprachlich Erfassbare, für das
Irrationale etwa in der Schönheit,8 so werden die Hammerschläge des „Yo no sé“
nun zum fast geschrienen Ausdruck menschlichen Elends.
Wir können ohne Zweifel die „pobreza“ des Menschen, die Armseligkeit,
seine Armut, in einem sozialen Sinne lesen und mit der Solidarität César Valle-
jos mit den Armen, den Entrechteten und mit seiner politischen Parteinahme
für sozialistische und kommunistische Ideen in Verbindung bringen. Es ist die
Verteidigung, die Parteinahme für das Kreatürliche, für die Benachteiligten, für
die den Schlägen von oben Ausgesetzten, die über keine Möglichkeit verfügen,
den „heraldos negros“, den schwarzen Boten, den Gesandten gleich welcher bar-
barischen Macht etwas entgegenzusetzen. César Vallejo verstand sich als Stimme
der Entrechteten: Die unterschiedlichen Isotopien oder Bedeutungsebenen Valle-
jos sind immer an die existentielle Dimension des Menschen rückgebunden und
verweigern sich jeglichem reinen Spielcharakter. Vallejo experimentiert mit dem
Wortmaterial, doch die gesellschaftliche Dimension ist bei aller Experimentier-
freude niemals ausgeblendet.
So ist der Mensch in seiner Kreatürlichkeit stets den Schlägen des Schick-
sals in aller existenziellen Einsamkeit ausgesetzt; zugleich weiß er sich aber so-
8 Zur Bedeutung des „Je ne sais quoi“ vgl. die erhellende Studie von Köhler, Erich: „Je ne sais
quoi“. Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen. In (ders.): Esprit und arkadische
Freiheit. Aufsätze aus der Welt der Romania. Frankfurt am Main: Klostermann 1966, S. 230ff.
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit 877
Für Octavio Paz ging es freilich weniger um eine reflektierte Beziehung zu den
schwarzen Kulturen, die es in Mexiko etwa im Küstenbereich der Karibikküste
gibt, als um eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen den Nachfahren
des Cortés und den Nachfahren des Moctezuma – oder vielleicht noch mehr der
Malinche. Octavio Paz ist zweifellos einer der großen Dichter Lateinamerikas
und sein lyrisches Werk von größter Bedeutung für die ästhetische und literar-
historische Entwicklung dieser Gattung; und doch wollen wir uns bei diesem
9 Vgl. u. a. Ruy-Sánchez, Alberto: Octavio Paz, Leben und Werk. Eine Einführung. Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1990.
878 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
10 Vgl. Meyer-Minnemann, Klaus: Octavio Paz y el Surrealismo. In: Literatura Mexicana (Mé-
xico) XXVII, 2 (2016), S. 73–95.
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit 879
ler Asiens nach Lateinamerika machen. Während der Jahre 1953 bis 1958 lebte Oc-
tavio Paz als Beschäftigter des Diplomatischen Dienstes wieder in Mexiko-Stadt.
An diese Zeit schließt sich zwischen 1959 und 1962 ein Aufenthalt in Paris
an, den er in der damaligen Weltliteraturhauptstadt äußerst schöpferisch für sich
nutzte und mit André Breton sowie Georges Perec zusammenarbeitete. 1962 wird
er zum Botschafter in Neu-Delhi ernannt. Doch 1968 legt er das Amt empört und
aus Protest gegen das Massaker an demonstrierenden Studenten auf dem Platz
der drei Kulturen in Mexiko-Stadt nieder. In scharfem Widerspruch zur damali-
gen Regierung begibt er sich für einige Zeit in eine Art freiwilligen Exils. Sein po-
litisches Engagement ist ungebrochen, hat nun aber die Richtung gewechselt:
Protestierte er zuvor gegen die politische Rechte, so argumentiert und agitiert er
nun gegen Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion oder auf Kuba, wo-
durch er sich die teils erbitterte Feindschaft der lateinamerikanischen Linken zu-
zieht. Doch dieser Richtungswechsel hatte sich lange zuvor bereits angedeutet,
als er unter dem Eindruck des Hitler-Stalin-Paktes und der Ermordung Trotzkis
in Mexiko-Stadt mit dem orthodoxen Kommunismus brach.
In den Folgejahren schließen sich zwischen 1968 und 1970 Gastprofessuren
in Cambridge (USA), Austin und Pittsburgh an. Octavio Paz profiliert sich als
ein Poeta doctus, der den Literaturwissenschaften wichtige Impulse vermittelt.
1972 wird Octavio Paz in die American Academy of Arts and Letters und 1975 in
die American Academy of Arts and Sciences gewählt. 1971 kehrt er nach politi-
schen Veränderungen in der Regierung wieder in die mexikanische Hauptstadt
zurück, unterbrochen von Gastprofessuren in Harvard und San Diego, wo er
hispanoamerikanische und vergleichende Literaturwissenschaft unterrichtet.
1980 führen ihn seine Aktivitäten auch erstmals nach Deutschland, wo er
mittlerweile als Poet wie als Essayist auf eine zahlreiche und treue Lesegemeinde
zählen kann. Im Herbst des Jahres 1982 hält er dann den prestigeträchtigen Eröff-
nungsvortrag auf dem Horizonte-Festival in Westberlin, das die großen latein-
amerikanischen Autorinnen und Autoren in der damals noch geteilten Stadt
versammelte. Das Lateinamerika gewidmete Horizonte-Festival war für die Rezep-
tionsgeschichte lateinamerikanischer Literaturen im deutschen Sprachraum ent-
scheidend und wurde auch für mich als noch jungem Doktoranden wichtig für
die weitere Entwicklung. Ich kann mich unter anderem noch sehr gut an die Ver-
wunderung der großen lateinamerikanischen Autoren wie Octavio Paz, Carlos
Fuentes, Juan Rulfo, Gabriel García Márquez oder Mario Vargas Llosa erinnern,
die ihren Augen und Ohren nicht trauten, als sie bemerkten, dass ihr deutsches
und insbesondere Berliner Publikum nur wenig mit dem Namen und gar nicht
mit den Werken Alexander von Humboldts vertraut war. Diese Erfahrung war –
ich gestehe es gerne – eine Art Initialzündung für mich und mein Verständnis
880 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
11 Vgl. hierzu die Bände drei, vier und fünf der Reihe „Aula“ mit den Vorlesungen von Ette,
Ottmar: Aufklärung zwischen zwei Welten; Romantik zwischen zwei Welten; sowie Von den histo-
rischen Avantgarden bis nach der Postmoderne.
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit 881
Martí und sein Nuestra América oder im mexikanischen Kontext an einen Al-
fonso Reyes denken, mit dessen Ifigenia cruel ich mich in einer anderen Vorle-
sung beschäftigt habe.12 Doch ist es hier in so radikaler Weise durchgeführt,
dass Langgedichte wie Blanco oder Piedra de sol, aber auch bestimmte Gedichte
wie Dos cuerpos aus Libertad bajo palabra als die wohl gelungensten lyrischen
Schöpfungen zu bezeichnen sind, in welchen sich das indigene Erbe mit der
abendländischen Dichtungstradition und teilweise zusätzlich orientalischen
Gedichtformen wie etwa dem Haiku verbinden. Denn Octavio Paz verstand es,
ganz im Sinne eines Alfonso Reyes, eines José Vasconcelos oder auch eines José
Lezama Lima die literarisch-kulturelle Zentralstellung Mexikos in den Amerikas,
vor allem aber zwischen Europa und Asien, zwischen Atlantik und Pazifik trans-
areal fruchtbar zu machen.
Diese Art der Relation oder besser Relationierung wie auch das Selbstver-
ständnis von Octavio Paz als Dichterfürst, als Poeta doctus Lateinamerikas, als
Kritiker bestimmter politischer Entwicklungen ebenso in totalitären Systemen (in
der Sowjetunion oder auf Kuba, aber auch im Mexiko des Partido Revolucionario
Institucionalizado) wie auch kapitalistischer Wirtschafts- und Gesellschaftsfor-
men, sein Selbstverständnis als privilegierter Bewohner der hohen Kultur, sind
seit den achtziger Jahren vermehrt zu Zielscheiben der lateinamerikanischen Kul-
turtheorie geworden. Diese spielte – wie etwa Néstor García Canclini in seinen
einflussreichen Culturas híbridas13 – die Texte und Präsentationsformen eines
Jorge Luis Borges, der wenige Jahre zuvor noch bei der Linken verpönt war,
gegen den Dichterfürsten Octavio Paz aus, den man zunehmend ultrakonservati-
ver und rechter politischer Ideologien bezichtigte. Während der politische Main-
stream in Lateinamerika Borges aus der Versenkung holte, stieß er Paz hinein.
Dies soll uns freilich nicht kümmern: Die Angriffe und Attacken von García
Canclini gegen den gebildeten Poeten, gegen den „prototipo del escritor culto“
Paz waren nicht immer logisch, musste doch auch der in Mexiko lebende Anthro-
pologe einräumen, dass sich Octavio Paz nicht zuletzt meisterhaft der Massenme-
dien und der Massenkommunikationsmittel bediente Er tat dies zuvörderst, um
seinen kulturellen Diskurs und sein keineswegs elitäres Kunstverständnis in Me-
xiko dominant werden zu lassen. Die Kritik von Octavio Paz am Staat und dessen
Kulturpolitik sei immer viel stärker und vehementer gewesen, so Canclini, als
seine Kritik am Markt, dessen Gesetzen er sich letztlich untergeordnet habe. Paz
12 Vgl. hierzu das entsprechende Kapitel in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden
bis nach der Postmoderne, S. 196 ff.
13 Vgl. hierzu wie in der Folge García Canclini, Néstor: Culturas híbridas: estrategias para ent-
rar y salir de la modernidad. México: Grijalbo 1990.
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit 883
14 Vgl. hierzu den Besprechungsaufsatz von Ette, Ottmar: ¿Heterogeneidad cultural y homo-
geneidad teórica? Los “nuevos teóricos culturales” y otros aportes recientes a los estudios
sobre la cultura en América Latina. In: Notas (Frankfurt am Main) 7 (1996), S. 2–17.
884 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
Position neu durch die Aufnahme indigener Elemente zu bestimmen, ohne doch
letztlich von der abendländischen Ausrichtung gänzlich abzuweichen.
Es ist ebenso aufschlussreich wie bemerkenswert, dass Octavio Paz immer
wieder auch in seinen zahlreichen Interviews seiner beiden letzten Lebensjahr-
zehnte auf die große kulturelle Bedeutung Europas für Lateinamerika hinwies.
Dabei vergaß er nicht, dass es nicht zuletzt ein übersteigerter Nationalismus
und ein mit Universalanspruch auftretender Marxismus waren, die im 19. und
20. Jahrhundert diese stark asymmetrischen Beziehungen nach der Kolonialzeit
noch intensivierten.15 Der mexikanische Dichter betonte, wie groß der Einfluss
spanischer Lyrik und Philosophie – darunter insbesondere José Ortega y Gas-
set – auf sein eigenes Schreiben und Denken gewesen sei; ganz im Gegensatz
zu früheren Generationen, für welche die spanische Gegenwartsliteratur eine völ-
lig vernachlässigbare Rolle gespielt habe. Octavio Paz, der selbst 1937 am Antifa-
schistischen Schriftstellerkongress von Valencia teilgenommen und 1987 den
Erinnerungskongress in Valencia fünfzig Jahre danach eröffnet hatte, machte
stets deutlich, dass der spanische Bürgerkrieg für die lateinamerikanischen Intel-
lektuellen so etwas wie der eigene Krieg im eigenen Land gewesen sei – also kei-
neswegs etwas Distanziertes, in einer anderen Welt sich Abspielendes. Die
intellektuellen und literarischen Beziehungen dieser im avantgardistischen
Kontext gestarteten lateinamerikanischen Generation mit dem ehemaligen
spanischen ‚Mutterland‘ waren solide und intensiv.
Octavio Paz hatte in jenen Jahren bereits die Kehrseite des mit Universalan-
spruch auftretenden Marxismus erkannt und wandte sich – nach seiner Abwen-
dung vom Kommunismus – zunehmend der eigenen Vergangenheit Mexikos
zu. Auf diese Weise versuchte er, die spezifische kulturelle Situation Latein-
amerikas wie Mexikos – und damit seine eigene Position – kritisch und ge-
schichtsbewusst zu verstehen. In einem Interview mit Hanns-Albert Steger16
betonte er dabei, dass der Sartre’sche Existentialismus niemals eine gangbare
Alternative für ihn dargestellt, habe er über José Ortega y Gasset doch bereits –
wie andere hispanoamerikanische Intellektuelle auch – viel früher die für den
Existenzialismus entscheidenden deutschen Philosophen wie Edmund Husserl
oder Martin Heidegger gelesen. Vor diesem Hintergrund schienen ihm auch die
Schlüsse, die Jean-Paul Sartre aus dieser Existenzphilosophie für die politische
15 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Litera-
turen Lateinamerikas und Europas. In: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika denken. Kultur-
theoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag
1994, S. 297–326.
16 Paz, Octavio / Steger, Hanns-Albert: Diálogo en Estocolmo. In: Hispanorama (München) 64
(1993), S. 39–43.
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit 885
Uns allen hat sich in irgend einem Augenblick unsere Existenz als etwas Besonderes, Un-
übertragbares und Wertvolles enthüllt. Fast immer siedelt sich diese Enthüllung in der
Jugendzeit an. Die Entdeckung unserer selbst manifestiert sich wie ein Wissen darum, al-
leine zu sein; zwischen der Welt und uns öffnet sich eine unantastbare, durchsichtige
Mauer: jene unseres Bewusstseins. Es stimmt, dass wir kaum auf der Welt sind und uns
bereits alleine fühlen; aber Kinder und Jugendliche können ihre Einsamkeit überwinden
und sich selbst durch Spiel oder Arbeit vergessen. [...] Den Jugendlichen verwundert sein
eigenes Sein. Und der Verblüffung folgt das Nachdenken: Über den Fluss seines Bewusst-
seins gebeugt, fragt er sich, ob dieses Antlitz, das sich langsam, vom Wasser noch defor-
miert, aus dem Hintergrund herausschält, das Seinige ist. Die Besonderheit zu sein –
beim Kind eine reine Empfindung – verwandelt sich in Problem und Frage, in ein Be-
wusstsein mit Fragezeichen.17
Der Dichter Octavio Paz beugt sich gleich zu Beginn seines Essays über die Exis-
tenz des Menschen, über den Menschen in seinem unverwechselbaren Da-Sein
und So-Sein. Das Antlitz, das sich vom Hintergrund abhebt, gleichsam noch
vom Wasser bedeckt ist und doch immer präziser erkennbar wird: Kein Zweifel,
17 Paz, Octavio: El laberinto de la soledad. México – Madrid – Buenos Aires: Fondo de Cultura
Económica 101983, S. 9.
886 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
wir haben es mit einer Geburtsszene zu tun! Es handelt sich um einen Gebärvor-
gang, ein Heraustreten aus den Wassern des Uterus und ein Der-Welt-ansichtig-
Werden. Und zugleich ist es ein Antlitz, das durch die Wasser hindurch erkenn-
bar wird, wie eine Ophelia, die sich in ihrem Tode zeigt wie eine Neugeborene;
die sich zu erkennen gibt in ihrem Tod, der gleichsam eine Geburt ist, in welcher
sich der Zyklus des Lebens zugleich schließt und wieder öffnet. Es handelt sich
um einen Zyklus des Lebens nicht als Einbahnstraße von der Geburt bis zum
Tode, sondern vom Tode und Nicht-Sein zur Geburt, zum Bewusstsein, zur Er-
kenntnis – eben zum Leben.
Es ist ein Zyklus, den wir zu Beginn unserer Vorlesung mit dem Kubaner
Alejo Carpentier in umgekehrter Abfolge und in größtmöglicher Polysemie ent-
decken konnten. Und zugleich handelt es sich um einen Zyklus, der uns im be-
rühmten Gemälde von John Everett Millais gleich in den ersten Worten dieser
Vorlesung entgegentritt: mit geöffneten Augen, mit geöffneten Lippen, unter
einem durchsichtigen Wasser begraben, das zugleich das Fruchtwasser des
Todes ist; einer neuen Geburt harrend, lebenstrunken. Wenn jedes Buch, wenn
jede Vorlesung auf einem Phantasma aufruhen muss, dann ist es ganz im Sinne
von Roland Barthes genau an diesem Punkt: jene Ophelia, die durch das Was-
ser zu uns spricht, zu neuem Leben geboren, schöner, ja lebendiger denn je.
Wir können in diesen soeben angeführten Sätzen bereits grundlegende Ge-
danken und Metaphern des gesamten Essayzyklus feststellen. Zugleich können
wir aber auch besser verstehen, warum der Band als literarischer Ausdruck des
Existentialismus verstanden werden konnte, ja vielleicht sogar verstanden wer-
den musste. Denn von Beginn an dominiert nicht nur ein philosophischer
Grundzug über das Sein und über das Da-Sein – über das zu reflektieren in der
abendländischen Kultur die Hauptaufgabe der Philosophie ist –, sondern er-
scheint auch gleich jenes kleine Wörtchen, das in der Nachkriegszeit weltweit
Furore machte: die „existencia“, die menschliche Existenz.
In diesem Text wird bereits an dessen Beginn – und auch dies würde auf
den damals vorherrschenden Existentialismus hinweisen – die individuelle
Existenz offenkundig mit der kollektiven verbunden, wobei die Frage nach der
„existencia“ und deren Bewusstsein sogleich mit der derjenigen nach der be-
reits im Titel zentral gestellten Einsamkeit verknüpft wird. Die Einsamkeit wird
zum zentralen Paradigma menschlichen Seins, menschlichen Lebens, zum Kern-
bereich einer Ontologie, über die der Mensch zwar reflektieren, der er aber nicht
dauerhaft entfliehen kann. Wenn aber allen Menschen die Einsamkeit gemein-
sam ist – und Octavio Paz wird nicht müde, dies immer wieder zu betonen –,
worin besteht dann die mexikanische Einsamkeit? Was ist diese „Soledad“ des
Mexikaners in ihrem historischen Gewachsen-Sein, in ihrer charakteristischen
kulturellen Eigenheit?
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit 887
Der Essay gibt viele Antworten auf diese Frage, von denen wir einige gleich
kennenlernen. Von Anfang an entsteht dabei eine Grundspannung zwischen
dem ontologischen, universellen Gefühl der „Soledad“ und der spezifischen
Einsamkeit der Mexikaner; eine Einsamkeit, für die Paz unter anderem auch die
Abhängigkeit an der Peripherie wirtschaftlicher und politischer Großmächte
wie Spanien und später der USA verantwortlich macht. In unserer Vorlesung
haben wir diese Abhängigkeiten und Asymmetrien insbesondere am Beispiel
Kubas präzise untersucht. Es ließe sich aber auch sagen, dass Octavio Paz damit
einer Wesensbestimmung des Mexikaners eine wichtige Grundlage insoweit ent-
zieht, als dieses Wesen historisch gedeutet wird, während die existenzielle Erfah-
rung der Einsamkeit insgesamt sehr wohl als Ontologie behandelt wird.
Wie wir auch immer diese Fragen und Herausforderungen beantworten
mögen: Paz war sicherlich von den zeitgenössischen Problemhorizonten des
Existentialismus berührt. Ein existentialistisches Buch aber war El laberinto de
la soledad nicht. Die Aktualität dieses in einer poetischen und zugleich plasti-
schen Sprache vorgetragenen Essaybandes sollte noch kommen. Denn in der
Tat war diese Essaysammlung bei ihrer Erstveröffentlichung im Jahre 1950
nicht auf ein übermäßig großes Echo gestoßen.
Über vierzig Jahre später stellte sich Octavio Paz sehr wohl die frage, ob es
sich beim Laberinto de la soledad wirklich um eine Beschreibung Mexikos han-
dele oder nicht eher um eine des mexikanischen Poeten selbst; eine Auffas-
sung, der er sich mit einer gewissen Koketterie nicht verschloss. Zugleich
verwies er auf die intellektuellen und literarischen Vorläufer in der spanisch-
sprachigen Welt, auf Ezequiel Martínez Estrada, Samuel Ramos, aber auch auf
José Ortega y Gasset, Ángel Ganivet und andere Autoren der 98er Generation
wie Miguel de Unamuno. All dies mag belegen, wie sehr Octavio Paz noch in
dieser Tradition der Sinnkrise um die Wende zum 20. Jahrhundert lebte.
Doch es gab viele Gründe, die für den gewaltigen Erfolg des Bandes aus-
schlaggebend waren. Eine gewisse Originalität besitze das Buch – und hierin ist
Paz zuzustimmen – nicht zuletzt dadurch, dass es mit den Mexikanern nicht in
Mexiko selbst, sondern in den USA zu einem Zeitpunkt einsetzte, als Octavio Paz
dort lebte. So sei das erste Kapitel vor allem ein Versuch gewesen, sich im Zerr-
spiegel der USA selbst wiederzufinden.
Wir könnten daher unsererseits mit guten Gründen den Versuch unterneh-
men, diese in der Tat ex-zentrische Eröffnung zum Ausgangspunkt unserer Be-
schäftigung mit El laberinto de la soledad zu machen. Vergessen wir darüber
nicht die individuelle, ja bisweilen autobiographische Dimension des Textes, die
nicht zuletzt auch im ersten Kapitel deutlich wird und die wir uns im Verbund
vornehmen wollen:
888 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
Als ich mein Leben in den Vereinigten Staaten begann, wohnte ich für einige Zeit in Los
Angeles, einer Stadt, in der mehr als eine Million Menschen mexikanischen Ursprungs
lebten. Auf den ersten Blick überrascht den Reisenden – abgesehen von der Reinheit des
Himmels und der Hässlichkeit der ungleichen und protzigen Gebäude – die vage mexika-
nische Atmosphäre der Stadt, die sich unmöglich in Worte oder Begriffe fassen lässt. Die
Mexikanität – der Geschmack an Schmuck, Verwahrlosung und Pracht, an Vernachlässi-
gung, Leidenschaft und Zurückhaltung – schwirrt in der Luft. Und ich sage schwirrt, weil
sie nicht mit der anderen Welt, der nordamerikanischen Welt, die aus Präzision und Effizi-
enz gemacht ist, sich vermischt oder verschmilzt. Sie schwirrt, aber stellt sich nicht entge-
gen; sie wiegt sich im Impuls des Windes, bisweilen zerrissen wie eine Wolke, bisweilen
aufgerichtet wie eine aufsteigende Rakete. Sie kriecht, legt sich in Falten, breitet sich aus,
zieht sich zusammen, schläft oder träumt, einer zottigen Schönheit gleich. Sie schwirrt: Sie
ist nicht endgültig, verschwindet nicht endgültig.18
Der autobiographische Auftakt wird hier gekoppelt mit dem Blick des Reisenden,
der sich der nordamerikanischen, im engeren Sinne US-amerikanischen Welt nä-
hert. Dieser Blick des Reisenden oder Anthropologen ist natürlich nicht neben-
sächlich, sondern schreibt sich ein in eine Tradition von Reisen, die zuvor von
Norden nach Süden, nur selten aber von Süden nach Norden verliefen. Denn un-
gezählt waren die Reiseunternehmungen, welche US-amerikanische Forscher
nach Mexiko oder nach Zentralamerika führten; sehr selten aber berichteten Me-
xikaner und Zentralamerikaner über das Forschungsobjekt der Vereinigten Staa-
ten von Amerika.
Der mexikanische ‚Reisende‘, also der junge Stipendiat namens Octavio
Paz, konzentriert sich bei seinem anthropologischen Blick nicht – wie es zu er-
warten gewesen wäre – auf die typisch US-amerikanischen Elemente und Attri-
bute, also auf das ‚Fremde‘, das er kennenzulernen bestrebt ist, sondern auf
das ‚Eigene‘, das freilich in seiner vollständigen Zwitterexistenz zwischen dem
Sein und dem Verschwinden beschrieben wird. Der mexikanische Dichter und
Intellektuelle ‚übersieht‘ nicht geflissentlich die vielen Menschen mexikani-
scher Herkunft, welche die kalifornische Metropole Los Angeles bevölkern, son-
dern versucht, ihrer nur scheinbar vernachlässigbaren Präsenz nachzuspüren
und zu verstehen, was die ‚Mexikanität‘ dieser Menschen und ihres kaliforni-
schen Lebenskontexts ausmacht. Eine solche Blickrichtung war zum damaligen
Zeitpunkt originell und neuartig.
So wird Los Angeles folglich von einem Mexikaner betrachtet, von einem
Menschen, der eine mobile Position zwischen Reisendem und Bewohner ein-
nimmt, dessen ephemere Zeit in Los Angeles – „einige Zeit“ – aber explizit in
diesem Textauftakt erwähnt wird. Dieser junge Mensch wird mit einer Welt kon-
frontiert, die offenkundig höchst disparat und heterogen ist. Es handelt sich
um eine US-amerikanische Millionenstadt mit einer gewaltigen Minderheit von
Menschen mexikanischen Ursprungs, die zur damaligen Zeit nur selten in die
Blickrichtung von Betrachtern rückten. Denn was hätten diese Menschen auch
über die Städte der USA aussagen können? Und würden diese Herkunftsmexi-
kaner nicht einfach mit der Zeit in ihrer neuen Umgebung aufgehen, sich
gleichsam in der Atmosphäre dieser Städte auflösen?
Doch eben diese Atmosphäre ist voll von ihnen. Denn erstaunlicherweise
kommt es – so konstatiert der Reisende verwundert – nicht zu einer Mischung
(„mezcla“), nicht zu einer Verschmelzung („fusión“), womit zwei Begriffe und
biopolitische Konzepte genannt sind, welche ebenso für die mexikanische Ver-
fassung seit José Vasconcelos’ Zeiten wie für die USA mit ihrer Ideologie des
„Melting Pot“ konstitutiv sind. Die Untersuchung, die Erfahrung und mehr
noch das Erleben des Reisenden sprechen eine andere Sprache. Denn was ‚me-
xikanisch‘ ist, wird nicht – wie damals und teilweise auch heute noch – vom
mexikanischen Territorium her bestimmt, von dem all jene ausgeschlossen
sind, welche ihre mexikanische Heimat verlassen haben. Vielmehr wird es defi-
niert unter Einbeziehung derer, die in den Großstädten des Nachbarn im Nor-
den zum damaligen Zeitpunkt immer zahlreicher wurden.
So beginnt die Untersuchung der „Mexicanidad“ – und dies ist nicht nur
ein ungewöhnlicher, sondern auch ein provokativer Auftakt – außerhalb der
nationalen Grenzen auf der Suche nach einer spezifischen Kultur mit der Fest-
stellung einer kulturellen Heterogenität, die allem zu trotzen scheint, was sich
ihr entgegenstellt. Octavio Paz wählt folglich für den Beginn seines kultur- und
mentalitätsgeschichtlichen Essays eine in der Tat ex-zentrische Positionalität,
welche den Blick freigibt auf jenes etwas unheimliche ‚Schwirren‘, auf jene Mo-
bilität, die sich einer fest gefügten Territorialität, einer zementierten Identität,
einer unverrückbaren Mexikanität entschlossen entgegenstellt. Octavio Paz
wählt damit einen mobilen Beobachterstandpunkt, der unterschiedlichste Pers-
pektivenwechsel miteinschließt.
Die Mexikaner in den USA, die Octavio Paz noch nicht wie heute üblich als
„Chicanos“, sondern als „Pachucos“ bezeichnet, finden sich innerhalb einer Zi-
vilisation, die sie souverän abweist, nur dadurch zurecht, indem sie ihre eigene
„Personalidad“ affirmieren.19 Ohne die weiteren Äußerungen von Octavio Paz
zur spezifischen Situation der Mexikaner außerhalb Mexikos weiter verfolgen
zu können, dürfen wir doch an dieser Stelle festhalten, dass gleich zu Beginn
von El laberinto de la soledad ein kulturelles Paradigma – das der Heterogeni-
19 Ebda., S. 13.
890 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
tät – erscheint, mit dem sich der Name des mexikanischen Poeten und Essayis-
ten hinsichtlich seiner anthropologischen Sichtweise im Allgemeinen nicht zu
verbinden scheint.
Das ‚Schwirren‘, das Flottieren in der Luft, das in der Folge sehr lyrisch
ausgesponnene Motiv des Narziss gleich zu Beginn des ersten Kapitels: All dies
sind Elemente einer literarischen Herangehensweise, die sicherlich weniger
von vorher festgelegten kulturellen Paradigmata ausgeht als vielmehr von dem
Wunsch, diese im Medium der Literatur zu erfahren und erfahrbar, erlebbar
und nacherlebbar zu machen. Dass das Element des Spiegels und des Narziss,
aber auch zugleich das der linear fließenden Zeit im Sinne Heraklits hinzu-
kommt, dass sich dies mit dem biologischen Reifungsprozess des Menschen
verbindet, darf uns hierbei nicht überraschen, ist doch die gesamte Konzeption
labyrinthisch rückgebunden an das Konzept der Einsamkeit. Und diese beglei-
tet den Menschen von seiner Geburt durch sein ganzes Leben hindurch bis in
den Tod.
In diesem meistgelesenen Prosatext von Octavio Paz, der 1950 erstmals er-
schien und 1959 mit leichten Veränderungen neu aufgelegt wurde, geht der mexi-
kanische Essayist nicht den Spuren eines National-Wesens, das transhistorisch
bestünde, sondern dessen historischen Konkretisierungen und Wandlungen
nach. Zugleich entsteht eine Art ‚Innengeschichte‘ der Mexikanität, in deren
Konvergenzpunkt eben die Problematik der „Soledad“ steht, die wesentlich
mehr und anderes ist als die deutsche Übersetzung durch den Begriff ‚Einsam-
keit‘. Denn diese „Soledad“ ist essentiell beim Übergang vom pränatalen
Wesen zum Kind und begleitet den Menschen zeitlebens dadurch, dass sie auf
etwas Verschüttetes, auf die verschütteten Entwicklungsmöglichkeiten des
Menschen verweist, die von ihm nicht realisiert und in das eigene Leben integ-
riert werden konnten. Denn dieser Mensch bewegt sich innerhalb eines ihm ent-
fremdeten gesellschaftlichen Kontexts und vermag nicht einfach abzurufen, was
er von Geburt an in sich trägt. Auch dies macht seine „Soledad“, macht seine
fundamentale ‚Einsamkeit‘ aus.
Zweifellos ist es zutreffend, wenn Klaus Meyer-Minnemann darauf ver-
weist,20 dass die Wiederherstellung eines menschlichen Urzustands oder das
Anknüpfen an die verschütteten Erfahrungen zu den Zielen und Absichten der
französischen Surrealisten zählten, deren Vorstellungen Octavio Paz ja in vie-
20 Vgl. Meyer-Minnemann, Klaus: Octavio Paz. In: Eitel, Wolfgang (Hg.): Lateinamerikanische
Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1978, S. 384–405;
sowie ders.: Algunas publicaciones recientes sobre Octavio Paz. In: Iberoamericana (Frankfurt
am Main – Madrid) II, 8 (diciembre 2002), S. 197–205.
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit 891
len Bereichen seines Schreibens prägten und die er sich in der Folge höchst kre-
ativ anverwandelte. Doch die nicht mehr mögliche Rückkehr zum Ursprung des
eigenen Seins ist letztlich schon einem Modell gesellschaftlicher Entwicklung
entnommen, das Jean-Jacques Rousseau im zweiten Discours, im Discours sur
l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes,21 vorgeschlagen
hatte. Dessen Spuren lassen sich durchaus – so scheint mir – im Labyrinth der
mexikanischen Einsamkeit finden.
Die „Soledad“ ist aber – worauf wir schon hingewiesen haben – gleichzeitig
ein eminent historischer Begriff, insoweit er einen ganz bestimmten Gesell-
schaftszustand beschreibt. In diesem befinden sich die abhängigen Gesellschaf-
ten an der vermeintlichen Peripherie – und diese Begrifflichkeit von Zentrum
und Peripherie war zum damaligen Zeitpunkt gang und gäbe. Eine solche Situa-
tion brachte mehr als ‚Hundert Jahre Einsamkeit‘ mit sich; sie ließe sich aus heu-
tiger Sicht als eine fundamental asymmetrische Relation beschreiben.22 Auch
diese lange historische Situation der kolonialen Dependenz und postkolonialen
Abhängigkeit geht in den Paz’schen Begriff der Einsamkeit mit ein.
Schon die Titel der acht Essays plus Appendix machen auf das Ineinander
von historisch-gesellschaftskritischen und philosophisch-ontologischen Überle-
gungen aufmerksam – eine gewiss dialektische Bewegung, die dem gesamten
Band El laberinto de la soledad unterliegt. Schauen wir nur kurz die Abfolge der
einzelnen Kapitel oder Essays durch: erstens „El pachuco y otros extremos“;
zweitens „Máscaras mexicanas“; drittens „Todos santos, día de muertos“; vier-
tens „Los hijos de la Malinche“; fünftens „Conquista y colonia“; sechstens „De
la Independencia a la Revolución“; siebtens „La ‘inteligencia’ mexicana“; ach-
tens „Nuestros días“ sowie der Zusatz „La dialéctica de la soledad“. Aus diesem
zuletzt genannten abschließenden Teil des Essaybandes möchte ich Ihnen mit
Blick auf die Präsenz des Ontischen eine kurze Kostprobe geben:
Zwischen Geborenwerden und Sterben verläuft unser Leben. Aus dem mütterlichen In-
nenraum hinausgeworfen, beginnen wir einen angsterfüllten, wahrhaft tödlichen Salto
mortale, der nicht eher aufhört, als bis wir in den Tod fallen. Wird das Sterben eine Rück-
kehr dorthin sein, in das Leben vor dem Leben? [...] Heißt geboren werden vielleicht ster-
ben und sterben geboren werden? Wir wissen nichts. Doch obwohl wir nichts wissen,
strebt unser ganzes Wesen danach, diesen Gegensätzen zu entfliehen, welche uns zerrei-
ßen. Denn wenn alles (Bewusstsein von sich selbst, Zeit, Vernunft, Sitten, Gewohnheiten)
21 Vgl. hierzu ausführlich Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 7 f., S. 59, S. 170.
22 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Litera-
turen Lateinamerikas und Europas. In: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika denken. Kultur-
theoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag
1994, S. 297–326.
892 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
darauf abzielt, aus uns die aus dem Leben Hinausgeworfenen zu machen, so drängt uns
auch alles danach, zurückzukehren, in den schöpferischen Schoß hinabzusteigen, aus
dem wir gerissen wurden. Und wir flehen die Liebe an – denn als ein Begehren ist sie
Hunger nach Vereinigung, Hunger nach einem Fallen und Sterben ebenso wie nach
einem Wiedergeborenwerden –, dass sie uns ein Stückchen wahrhaftigen Lebens, wahr-
haftigen Todes gebe. Wir bitten sie nicht um Glück und auch nicht um Ruhe, sondern um
einen Augenblick, nur um einen Augenblick vollen Lebens, in welchem die Gegensätze
verschmelzen und Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit miteinander paktieren.23
Ewigkeit, wie Raum und Unendlichkeit. Daher auch die wichtige, die entschei-
dende Rolle der Liebe,24 gewährt sie uns doch die Möglichkeit tiefster Erkennt-
nis in einem Augenblick, in einem einzigen Augenblick, in welchem Leben und
Tod und das ganze Leben im kleinen Tod zusammenfallen und den Blick freige-
ben auf das, was nicht zu erblicken, was von keiner Philosophie auf den Begriff
zu bringen ist. Und sie überwindet, und sei es auch nur für einen einzigen Au-
genblick, die grundlegende Einsamkeit.
Wir erkennen in dieser zentralen Passage die enorme Bedeutung des Augen-
blicks, des Zeitpunkts und damit auch der Epiphanie, des Erscheinens zugunsten
einer Überbrückung aller Gegensätze, aller Widersprüche, in der Aufhebung im
Einen und Ganzen. Vor diesem Hintergrund wird ebenfalls deutlich, warum die
Liebe – unter Einschluss der körperlichen, orgiastischen Liebe – für Octavio Paz
von so zentraler Bedeutung ist: Sie bringt die unvermeidlichen Gegensätze zur
Verschmelzung, zu jener Fusion, die letztlich als Grundlage seines mexikani-
schen Seins-Entwurfs trotz des heterogenen Einstiegs in den Essayband dient.
Daher rührt auch die Bedeutung der Liebeslyrik, der erotischen Gedichte
von Octavio Paz, deren Ästhetik und immanente Poetik an diesem Ort kaum
deutlicher hätte gesagt werden können. Müssen wir eine solche Konzeption als
phallogozentrisch brandmarken, die Überwindung der Einsamkeit also aus
Sicht der Geschlechterforschung mit einem mehr als starken Fragezeichen
versehen, möglichst moralisierend? Ich glaube nicht, dass das notwendig ist.
Und wenn, dann sollte dies nicht die visionäre Macht und verdichtete Kraft der
sich dem Surrealismus verdankenden und sich dem Surrealismus entringenden
Lyrik des Octavio Paz vergessen machen.
Denn die Problematik des zweigeschlechtlichen, heterosexuellen Mann-Frau-
Verhältnisses hat Octavio Paz auch und gerade in El laberinto de la soledad be-
dacht und überdacht, wird doch gleichsam die Geburtsurkunde des kolonialen
Neuspanien in der Vereinigung einer Indianerin mit dem spanischen Konquista-
dor unterschrieben; in jener sexuellen Vereinigung der Malinche mit Hernán Cor-
tés, welche seit langen Jahrzehnten zu einer Vielzahl von Neuinterpretationen
Anlass gegeben hat (Abb. 73). Denn die Malinche war weitaus mehr als die Über-
setzerin – oder körperlicher: die „lengua“ – des spanischen Eroberers. Dass es
ohne sie zu keiner Eroberung des Reiches der Azteken gekommen wäre, ist frei-
lich eine Behauptung aus dem Reich purer Spekulation.
Im vierten Kapitel von El laberinto de la soledad geht Octavio Paz der „con-
dición de los mexicanos“ und eben jenen verbotenen Wörtern nach, welche
24 Vgl. zur Liebe als Erkenntnis und zur Liebe als Verschmelzung aller Gegensätze den zwei-
ten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: LiebeLesen (2020).
894 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
Abb. 73: Codex Azcatitlan: Hernán Cortés und die Malinche (ganz rechts) führen das
spanische Heer an, 16. oder 17. Jahrhundert.
rung gegenüber der eigenen Vergangenheit, die gleichsam abgestoßen werde. Ge-
rade hier setzt der mexikanische Intellektuelle seine Arbeit an:
Unser Schrei ist ein Ausdruck des mexikanischen Willens, gegenüber dem Äußeren abge-
schlossen zu leben, ja, aber abgeschlossen vor allem gegenüber der Vergangenheit. In
diesem Schrei verurteilen wir unsere Herkunft und verleugnen unsere Hybridität. Das
seltsame Andauern von Cortés und der Malinche in der Imagination und der Sensibilität
der gegenwärtigen Mexikaner enthüllt die Tatsache, dass diese etwas mehr sind als histo-
rische Figuren: sie sind Symbole eines geheimen Konflikts, den wir noch immer nicht ge-
löst haben. Indem er die Malinche ablehnt – die mexikanische Eva, wie José Clemente
Orozco sie in seinem Wandgemälde der Escuela Nacional Preparatoria darstellt – zer-
bricht der Mexikaner seine Bande mit der Vergangenheit, verleugnet seine Herkunft und
vertieft sich einsam und alleine in sein geschichtliches Leben.26
Octavio Paz nähert sich in dieser Passage einer konfliktiven Zone mexikani-
schen Selbstverständnisses, der Tatsache nämlich, dass sich die gegenwärtige
mexikanische Nation aus der Verbindung der Malinche mit Hernán Cortés ab-
leitet (Abb. 74). Damit wird uns der Mexikaner – um einen bekannten Song zu
zitieren – als A motherless child präsentiert, dessen Einsamkeit nicht zuletzt auf
das historische Trauma der Conquista zurückzuführen ist und das sich in der
Personenkonstellation Cortés – Malinche darstellen und vielleicht mehr noch
auf den springenden Punkt bringen lässt.
Zweifellos ist in dieser Konstellation Malinche die Verräterin, die es als
Zunge des Cortés den spanischen Eroberern dem Mythos gemäß überhaupt erst
ermöglichte, das zahlenmäßig eigentlich unbesiegbare Aztekenheer und Azte-
kenreich anzugreifen, in seinen Strukturen zu verstehen und in der Folge zu
vernichten. Sie ist die Geliebte, die „Chingada“, die nach Gebrauch wieder fal-
lengelassen wird, und zugleich die erste – wenn auch nur mythologisch –, die
ein Mestizen-Kind zur Welt bringt. In dieser Geburt aber erkennen sich die Me-
xikaner, folgt man Octavio Paz, allesamt wieder.
Fassen wir diese Konstellation einer figuralen Geschichtsdeutung mit ande-
ren Worten zusammen; Die Malinche ist das aktive Element, so könnten wir for-
mulieren, das in ein passives, leidendes Element überführt wird und zu einer
negativen Identitätsfigur gerinnt, die erst in neuerer Zeit positiv umgedeutet
worden ist. Die Söhne der Malinche aber trennen sich von ihrer Mutter; sie sind
mutterlose Geschöpfe, weil sie ihre eigene Vergangenheit verdrängen und sich
auf diese Weise nur noch stärker in ihrer eigenen Geschichte verstricken. Sie
verleugnen ihre Gebärerin, diejenige also, welche sie auf die Welt brachte. Wel-
che Konsequenzen aber hat eine solche Verleugnung der Geburt?
26 Ebda., S. 78.
896 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
Abb. 74: José Clemente Orozco: Cortés y la Malinche (1926). Fresko im Colegio San Ildefonso,
Mexiko-Stadt.
Die Antwort auf diese Frage ist die Gesamtheit von El laberinto de la so-
ledad. Denn die hier kurz skizzierte ist zweifellos eine überaus originelle und
intelligente Wendung, die Octavio Paz der Figur und dem Symbol der Malinche
gab, die ja in der mexikanischen Nationalkultur so etwas wie den Gegenpol zur
Virgen de Guadalupe (und zugleich aber auch zur „Llorona“) darstellt. Es ist
hier nicht der Ort, die sich an Paz anschließenden oder ihn konterkarierenden
Deutungen der Malinche zu erwähnen, also der Frage nachzugehen, wie die
Malinche reinterpretiert und zu einer positiven Figur weiblicher Unterdrückung
und weiblicher Selbstverwirklichung umgedeutet werden konnte. Bleiben wir
also noch einen Augenblick im Labyrinth der Einsamkeit, mit dem Octavio Paz
seinen Landsleuten – und vielleicht besonders seinen Landsmännern – einen
literarischen Spiegel vorgehalten hat! In diesem erkannte sie sich wieder, wie
der große Bucherfolg des Essaybandes belegen mag.
Ich möchte den abschließenden Teil unseres Durchgangs durch dieses La-
byrinth, das noch immer viele Überraschungen bereithält, im Kontext seiner
fundamentalen Antworten auf Sterben und Geburt, auf Leben und Tod unter
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit 897
die Frage von Homogenität und Heterogenität oder auch von Partikularem und
Universalem, von Lokalem und Nationalstaatlichem und damit letztlich in das
Zeichen der Macht stellen. Dabei ist evident, dass Octavio Paz im Laberinto de
la soledad eine Art Archäologie der mexikanischen Kultur betreibt, welche es
erlaubt, die historisch akzeptierten radikalen Trennungen in der Geschichte
Mexikos – also die Scheidung von präkolumbischer und kolonialzeitlicher Epo-
che einerseits und von Kolonialzeit und Independencia andererseits – neu und
wesentlich stärker in Kontinuitäten zu denken. Die kanonischen Abtrennungen
und Gegensatzpaare werden somit obsolet und weichen einem Geschichtsver-
ständnis, das nicht so sehr in abrupten Brüchen als vielmehr in schleifenden
Schnitten, in graduellen Veränderungen und kulturgeschichtlichen Kontinui-
täten entfaltet wird.
Dies lässt sich nicht simpel auf einen Prozess des kulturellen „Mestizaje“
zurückführen, weist konkret aber immer wieder auf hybride Aufpfropfungs-,
Umtopfungs- und Erweiterungs- oder Weitungsprozesse hin,27 die dem mexika-
nischen Nationalcharakter und seinen Masken ihr spezifisches Gepräge, ihren
jeweiligen mexikanischen Ausdruck verliehen. Aztekenreich und Conquista er-
schienen als voneinander radikal getrennte historiographische Bereiche, und
doch macht Octavio Paz gerade an dieser für die mexikanische Geschichte
wichtigen Schnittstelle auf Kontinuitäten aufmerksam:
Man möge die Conquista insgesamt aus der indigenen oder aus der spanischen Perspek-
tive betrachten, so ist dieses Ereignis doch Ausdruck eines Einheitswillens. Trotz der sie
bildenden Widersprüche ist die Conquista eine historische Tatsache, die dafür gemacht
ist, Eine Einheit aus der kulturellen Pluralität und der präcortesianischen Politik zu schaf-
fen. Gegenüber der Verschiedenheit von Rassen, Sprachen, Tendenzen und dem Staat der
prähispanischen Welt postulieren die Spanier ein einziges Idiom, einen einzigen Glau-
ben, einen einzigen Herrn und Gott. Wenn Mexiko im 16. Jahrhundert geboren wird, dann
gilt es darin übereinzustimmen, dass es das Kind einer doppelten imperialen und verein-
heitlichenden Gewalt ist: jener der Azteken und jener der Spanier.28
Die Geburt Mexikos verdankt sich also wie jeder Geburtsprozess einer Gewalt,
in diesem Falle einer doppelten Gewalt, welche sich nicht feinsäuberlich in
zwei unterschiedliche Bereiche trennen lässt, die nichts miteinander zu tun hät-
ten, sondern die sich durch ein Zusammenwirken von gewaltsamen Kräften be-
27 Vgl. zu derartigen Prozessen Ette, Ottmar / Wirth, Uwe (Hg.): Nach der Hybridität. Zukünfte
der Kulturtheorie. Berlin: Verlag Walter Frey – edition tranvía 2014; sowie (dies., Hg.): Kultur-
wissenschaftliche Konzepte der Transplantation. Unter Mitarbeit von Carolin Haupt. Berlin –
Boston: Walter de Gruyter 2019.
28 Paz, Octavio: El laberinto de la soledad, S. 90.
898 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
liche Demonstration von Studenten gegen die mexikanische Regierung und für
größere Freiheiten im öffentlichen und privaten Leben mit größter Brutalität
und mörderischem Kalkül erstickt worden: Mehrere hundert Tote, die größten-
teils spurlos verschwanden, mehr als tausend Verletzte und Tausende Verhafte-
ter waren das Ergebnis des Eingreifens der bewaffneten Staatsmacht. Octavio
Paz war in jenen Jahren Vertreter dieser Staatsmacht als Botschafter in Indien,
ein Posten, den er aus Protest nach den Ereignissen von Tlatelolco nicht mehr
ausüben konnte und niederlegte. Seiner politischen Abrechnung mit dem unde-
mokratischen und stabilen Herrschaftssystem des Partido Revolucionario Institu-
cionalizado, das just in unseren Tagen wieder in Bewegung zu kommen scheint,
war hart und klar, kann im Rahmen unserer Vorlesung aber nicht mehr detail-
liert dargestellt werden.
So möchte ich an den Schluss dieses sechsten Teiles unserer Vorlesung, an
dessen Ende sich der Kreis von Geburt und Sterben schloss, einige Sätze, einige
Überlegungen von Octavio Paz stellen, die wiederum die Frage der Heterogeni-
tät berühren und die uns einen Ausblick auf den abschließenden Teil unserer
Vorlesung bieten. Sie sind dem siebten Kapitel oder Essay „La ‚inteligencia‘ me-
xicana“ entnommen und führen aus heutiger Sicht hin zu einer Problematik
der Dezentrierung, die bei Octavio Paz nur angedacht, bei weitem aber noch
nicht ausgedacht war. Die Überlegung von Octavio Paz geht dabei aus von der
Lektüre eines der großen lateinamerikanischen Philosophen unserer Zeit, des
Mexikaners Leopoldo Zea, der freilich alles andere als ein Vertreter der Postmo-
derne oder postmodernen Denkens war – wie auch Octavio Paz selbst:
29 Ebda. S. 152.
900 César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit
Mitte des 20. Jahrhunderts entfaltete Octavio Paz geradezu seismologisch mit
Hilfe der Literatur die Einsicht, dass es künftig kein Zentrum mehr geben kann
und dass sich alle Menschen gleichsam an der Peripherie befänden und über
vergleichbar marginale Möglichkeiten verfügen, miteinander in Kontakt zu tre-
ten, sich auszutauschen und Vorstellungen zu entwickeln. Sieben Dekaden
später und nach drei Jahrzehnten einer Dominanz der Vereinigten Staaten von
Amerika – vom ‚Sieg‘ im Kalten Krieg bis zum Ende der vierten Phase beschleu-
nigter Globalisierung in der Mitte des zweiten Jahrzehnts unseres Jahrhun-
derts – wissen wir, dass wir noch immer weit entfernt sind von einer Welt, in
welcher alle dieselben oder vergleichbare Chancen auf Teilnahme am weltwei-
ten Gespräch und einer weltumspannenden Zirkulation der Ideen haben.
Doch wir wissen auch, dass es am Ende jener Globalisierungsphase und
nach der deutlichen Einsicht in die Tatsache, dass die USA ihre unangefoch-
tene Vorherrschaft keineswegs dazu nutzten, eine gerechtere Weltordnung zu
implantieren, einen Bereich gibt, welcher sich der utopischen Vision des mexi-
kanischen Literaturnobelpreisträgers annäherte: Dieser Bereich ist das, was wir
die Literaturen der Welt nennen können.30 Denn die von Goethe apostrophierte
Epoche der Weltliteratur ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an ihr
Ende gekommen und hat den Literaturen der Welt Platz gemacht, die längst
schon einem zu Goethes Zeiten in Weimar, bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts
in Paris und danach in New York zentrierten System der Weltliteratur ein sanf-
tes, aber doch deutliches Ende bereitet haben.
An die Stelle des Monologs eines einzigen Zentrums ist der Dialog und an die
Stelle des Dialogs der Polylog getreten, in welchem sich die Literaturen der Welt
mit Hilfe vieler verschiedener Logiken gleichzeitig weiterentwickelt haben und
über das Medium der Intertextualität ihre polylogischen Beziehungen weiter ver-
stärken und pflegen konnten. Mit diesem wunderbaren Ausblick des Octavio Paz
auf eine universal dezentrierte Welt und mehr noch auf einen Polylog, in dem es
nicht mehr Zentrum und Peripherie, sondern wirklichen Austausch zwischen
wirklichen Gesprächspartnern gibt, mit dieser Utopie, die uns seit 1950 ein gutes
Stück näher gerückt ist, möchte ich diesen sechsten Teil unserer Vorlesung be-
schließen, um in einem abschließenden Teil noch einmal unsere für die Vorle-
sung vorrangige Fragestellung zu öffnen.
30 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Die Literaturen der Welt und die Chancen Lateinamerikas. Zu
einem neuen Verständnis weltumspannender literarischer Zirkulation. In: Romanistische Zeit-
schrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XLV,
1–2 (2021), S. 203–225.
César Vallejo, Octavio Paz oder die Boten des Todes und der Einsamkeit 901
Denn wir befinden uns allesamt zugleich in einem Zentrum und in der Peri-
pherie, an einem Knotenpunkt des Geschehens und in dessen Maschen. Lassen
wir daher noch ein letztes Mal die Literaturen der Welt zum Thema der Geburt,
zum Thema des Todes sprechen und uns jene Logiken vor Augen führen, die
für uns heute eine Schule im viellogischen Denken und damit eine Schule der
Konvivenz darstellen, des friedlichen Zusammenlebens in Differenz. Von diesen
Formen und Normen des Zusammenlebens sprechen die Literaturen der Welt.
TEIL 7: Geburt und Tod als Zeichen des Lebens:
Von den Formen und Normen des
Zusammenlebens
Gustave Flaubert oder das lange, intensive
Sterben einer Romantikerin
Gustave Flauberts Madame Bovary zählt ohne jeden Zweifel zu den berühmtes-
ten Romanen in der Geschichte der Literaturen der Welt. Innerhalb dieses Ro-
mans, der ebenso in Frankreich wie in Europa, im Norden wie im Süden des
amerikanischen Kontinents, in Japan wie in Korea oder China seine Leserinnen
und Leser gefunden hat, gibt es eine Szene, die darin vielleicht die berühmteste
ist. Sie ist dies zum einen, weil sie – wie wir gleich sehen werden – wahrlich
meisterhaft geschrieben ist; und zum anderen, weil Flaubert später von ihr
sagen konnte, er habe nach ihrer Niederschrift selbst Arsen-Geschmack in sei-
nem Mund verspürt.
Ich spreche von der berühmten Todesszene der Emma Bovary, von welcher
Flaubert ja bekanntermaßen behaupten konnte: „Madame Bovary, c’est moi.“
Dieser großartigen Roman stellt eine Art Abrechnung mit der Romantik dar und
atmet doch noch so grundlegend ihren Geist; ganz wie einst Miguel de Cervan-
tes’ Don Quijote de la Mancha noch den Geist des Amadís und anderer Ritterro-
mane, die er parodierte, unverkennbar verströmte. Ich möchte Madame Bovary
in wenigen Auszügen mit Ihnen besprechen. Dazu vorab vielleicht in aller
Kürze einige wenige Angaben zu den ästhetischen und literaturtheoretischen
Positionen dieses Autors, der eine lange Spur der Deutungen und Interpretatio-
nen durch die Literaturwissenschaften gezogen hat.1
Zunächst einmal gilt es anzumerken, dass das Gesamtwerk des am 12. De-
zember 1821 im französischen Rouen geborenen und am 8. Mai 1880 in Croisset
verstorbenen Gustave Flaubert zu einem Emblem der literarischen Moderne
wurde, an dem sich selbst noch ein so ausgefuchster Romancier wie der perua-
nische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa begeisterte und zugleich
wohl zeitlebens abarbeitete. Er hat der Schaffensökonomie des französischen
Schriftstellers eine – wie ich finde – wunderbare Studie unter dem Titel Die
1 Vgl. hierzu die noch im Zeichen des Nationalsozialismus geschriebene Studie von Friedrich
Hugo: Die Klassiker des französischen Romans. Stendhal – Balzac – Flaubert. Leipzig: Biblio-
graphisches Institut AG 1939; vgl. hierzu ausführlich Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen. Die Auf-
gabe der Philologie, S. 67–74. Hugo Friedrich hat bekanntermaßen seine Studie nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs und der Herrschaft des Nationalsozialismus umgeschrieben und
als eine noch immer lesenswerte Studie veröffentlicht unter dem Titel Drei Klassiker des fran-
zösischen Romans. Stednal – Balzac – Flaubert. Frankfurt am Main: Klostermann 81980.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-028
906 Gustave Flaubert oder das lange, intensive Sterben einer Romantikerin
ewige Orgie gewidmet,2 die das Arbeits-, aber auch das Lustprinzip und die or-
giastische Schreiberfahrung Flauberts kreativ auf den Punkt bringt. Doch nicht
nur für den lateinamerikanischen Autor, sondern auch für viele Schriftstellerin-
nen und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, insbesondere auch für die Autorin-
nen und Autoren des französischen Nouveau Roman, blieb der Verfasser von
L’éducation sentimentale zeitlebens Ansporn und Herausforderung zugleich in
der Bestimmung dessen, was die Modernität des Schreibens und die Erfüllung
eines ästhetischen Ideals ausmacht.
Gustave Flaubert hat in seiner Jugend im Stil der Romantik geschrieben und
versuchte danach, sich durch die Kraft seines eigenen Stils und die Selbstrefle-
xion seines Schreibens von dieser verpönten romantischen Herkunft zu lösen.
Das gelingende Scheitern dieses lebenslangen Ablösungsprozesses, der mit
Bouvard et Pécuchet einen letzten Höhepunkt erreichte, dessen frühe Rezeption
bei José Martí wir in unserem dem kubanischen Dichter gewidmeten Kapitel be-
reits besprochen haben, stellt die grundlegende Faszination dar, welche bis
heute vom Gesamtwerk des oft und mit teilweise guten Gründen dem Realismus
zugerechneten Romancier ausgeht.
Alles bei Flaubert dreht sich um Macht und Kraft des Stils. Es war dieser
Stilwille, der ihn in der Projektion des Romantischen auf seine Titelfigur Ma-
dame Bovary ebenso begleitete wie in seiner zweiten, der Romantik entflohe-
nen Education sentimentale von 1869, welche die französische Gesellschaft
der ersten Jahrhunderthälfte ebenso verdichtet erfasste wie bereits die All-
tagsszenerien seines Bovary-Romans. Wie andere Werke großer französischer
Schriftsteller in Prosa und – wie etwa Charles Baudelaire mit seinen Fleurs du
Mal – Lyrik sollte auch Flaubert von einem Immoralismus-Prozess in Misskre-
2 Vgl. Vargas Llosa, Mario: La Orgía Perpetua. Flaubert y Madame Bovary. Barcelona: Seix
Barral 1969.
Gustave Flaubert oder das lange, intensive Sterben einer Romantikerin 907
dit gebracht werden,3 der aber letztlich zum Skandalerfolg seiner Madame
Bovary noch beitrug. Es war derselbe eiserne Wille zum Stil, der ihn histori-
sche Romanprojekte wie Salammbô oder La Tentation de Saint-Antoine in den
sechziger und siebziger Jahren erfolgreich zu Ende führen ließ. Anders als bei
Honoré de Balzac4 war jeder Satz, war jedes Satzteil von Flaubert genauestens
konzipiert, korrigiert und kreiert, ohne dass seine Prosa deswegen schwerfäl-
lig wirkte.
Es ging Flaubert weniger um referenzielle Stimmigkeit, auch wenn er sich
mit äußerster Sorgfalt auf seine Romansujets einstellte und peinlich genau alle
Details recherchierte und protokollierte, als um ästhetische Überzeugungskraft;
um ein Ideal von Kunst und Literatur, in dessen Sphäre es galt, „le mot juste“,
das genaue, das einzig richtige Wort an der richtigen Stelle zu finden und in
den Text einzusetzen. Um diese ästhetische Stimmigkeit seiner Romanprosa
zu überprüfen, brüllte er in seinem „Gueuloir“ an der Seine seine Sätze –
denn nur, was diesen Test, diese Erprobung überstand, hatte Anspruch dar-
auf, in seine Romane aufgenommen zu werden. Der Realist Flaubert war zu-
gleich der Verteidiger eines „L’art pour l’art“, einer Kunst um der Kunst
willen, die aber keineswegs der außersprachlichen Wirklichkeit entsagte, son-
dern mit der Vorstellung vom „livre sur rien“, vom Buch ohne Gegenstand,
das Romansujet in die zweite Reihe verbannte, um Literatur als sprachliches
Kunstwerk zu zelebrieren, ohne jedoch den Anspruch auf künstlerische Mime-
sis aufzugeben.
Spannend sind die Briefwechsel Flauberts vor allem mit Frauen, wobei er
in seiner Korrespondenz mit Louise Colet und George Sand seine ästhetischen
Prinzipien immer wieder darlegte. Eine phantastische Lektüre sind auch die
Aufzeichnungen von seiner Orientreise, bei dem ihm übrigens der Name „Bo-
vary“ eingefallen sein soll. Unvergessen seine Überraschung, wie klein ihm der
einst so mächtige Hafen von Karthago in Nordafrika erschien und wie schwer
es ihm trotz aller Bedenken fiel, sich nicht von orientalischen Schönheiten ver-
führen zu lassen.
Aber anhand der Schriften zu dieser Reise können wir sehr genau verste-
hen, wie sich die Beziehungen zwischen Orient und Okzident entwickelt hatten
und welche Faszination noch immer vom verschleierten Orient auf männliche
abendländische Reisende ausging. Dass diese Orientreise für Edward W. Saids
3 Vgl. hierzu die noch immer lesenswerte Studie von Heitmann, Klaus: Der Immoralismuspro-
zeß gegen die französische Literatur im 19. Jahrhundert. Bad Homburg – Berlin – Zürich: Verlag
Gehlen 1970.
4 Vgl. hierzu das entsprechende Kapitel im vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Ro-
mantik zwischen zwei Welten, S. 793 ff.
908 Gustave Flaubert oder das lange, intensive Sterben einer Romantikerin
Orientalism5 und damit für eine sich daraus ableitende Traditionslinie der
„Postcolonial Studies“ ganz entscheidend war, sei hier nur am Rande vermerkt.
Zu meinen Lieblingslektüren, das gestehe ich Ihnen gerne, gehört aber auch
der Dictionnaire des idées reçues, der Ihnen mit viel Ironie und Sarkasmus ge-
würzt die Gemeinplätze jenes 19. Jahrhunderts serviert, die Flaubert bei seiner
schriftstellerischen Arbeit aufgefallen waren. Wie mit einem Röntgenblick durch-
leuchtete der aus einer Medizinerdynastie hervorgegangene Flaubert die franzö-
sische Gesellschaft seiner Zeit.
Für jeden einzelnen Roman Gustave Flauberts gibt es riesige Dokumenten-
sammlungen mit ersten Entwürfen, Skizzen, historischen Archivalien und peni-
blen Recherchen, die zeigen, in welchem Maße der Schriftsteller aus Rouen
seine Gegenstände und Romansujets vorbereitete. Das Eigenleben der Gegen-
stände in Flauberts Romanen ist gerade bei den Autorinnen und Autoren des
Nouveau Roman, insbesondere bei Alain Robbe-Grillet, geradezu sprichwört-
lich geworden. Und zugleich ist den Texten Flauberts jene unbändige Lust an-
zumerken, die in ihm das Schreiben und das Finden des „mot juste“ auslösten.
Wenn es einen französischen Schriftsteller gibt, auf welchen Roland Barthes‘
Begriff des „plaisir du texte“ unbedingt passt, dann ist es Gustave Flaubert.
Und diese Lust verhinderte niemals, dass dieser Mediziner-Sohn, der „Idiot de
la famille“, als den ihn Jean-Paul Sartre porträtierte, seine Protagonisten gleich-
sam mit dem Skalpell sezierte – Flaubert konnte schreiben, wie es nur wenige
je vermochten!
So wie er in einem von den „affres du style“ geprägten Schriftstellerleben
die Arbeit und die Lust am Text miteinander versöhnte, so verband er gleichzei-
tig auch seine Auffassung vom Schönen und der Kunst mit den Erkenntnissen
der Wissenschaft. Letztere setzte er ebenso bei der Gestaltung des Selbstmords
seiner berühmtesten Romanheldin ein wie bei der historischen Ausgestaltung
seines Orientromans Salammbô. Wie für einen Honoré de Balzac war auch für
Gustave Flaubert die Präzision wissenschaftlicher Sprache ein Vorbild für die
stilistische wie die epistemologisch-konzeptionelle Gestaltung seiner Romane.
Ganz im Sinne des Aristoteles soll auch für Flaubert die Beschreibung und Dar-
stellung des Partikularen das Besondere transzendieren und wie die Wissen-
schaftssprache das Allgemeine, ja das Universelle herausarbeiten, das noch in
jeder seiner Figuren aufscheint. Dabei war es sein Ziel, das ‚Wahre‘ der Wissen-
schaft mit dem Lebendigen des Lebens, mit dem Lebendigen der Literatur zu
verschmelzen.
5 Vgl. hierzu Said, Edward W.: Orientalism. Western Conceptions of the Orient. New York: Vin-
tage Books 1979.
Gustave Flaubert oder das lange, intensive Sterben einer Romantikerin 909
Gustave Flauberts Madame Bovary, jener Skandalerfolg, mit dem wir uns
nun beschäftigen wollen, ist im Grunde ein Sittenbild aus der französischen
Provinz und erschien zunächst 1856 als Fortsetzungsroman im Feuilleton der
Revue de Paris, im Folgejahr 1857 dann als Buchausgabe. Oft ist darüber berich-
tet worden, dass dieser Roman seine Entstehung einem Misserfolg verdankt.
Denn Flauberts literarische Freunde Maxime Du Camp und Louis Bouilhet
waren von der durchgehaltenen, aber ermüdenden Lesung der ersten Fassung
von La Tentation de Saint-Antoine im Hause des angehenden Romanciers 1849
so erschöpft, dass sie ihren Freund, dessen Werk sie in Bausch und Bogen ver-
dammten, dazu drängten, ein alltägliches, aktuelles und gleichsam ‚herkömm-
liches‘ „Fait divers“ als Gegenstand für einen Roman zu wählen. Und Flaubert
entschied sich für den von Zeitungen kolportierten Selbstmord der Delphine
Delamare, die in dem normannischen Dorf Ry unweit von Flauberts Rouen mit
einem unbedeutenden Landarzt verheiratet war, mehrfach Ehebruch begangen
hatte, sich hoch verschuldete und schließlich 1848 vergiftete. Das Romansujet
war gefunden, nun fing die Arbeit an!
Ganze fünf Jahre – von 1851 bis 1856 – arbeitete der junge Romancier, der
anders als Balzac lebte nicht von seiner schriftstellerischen Arbeit lebte, verbis-
sen Tag für Tag, mit unendlicher Geduld an dieser Romanfigur und an den Ein-
zelheiten, die diesem Romangegenstand etwas geradezu Überzeitliches, aber
gleichwohl tief in der historischen Zeit Verankertes gaben. Denn die Geschichte,
die Flaubert erzählte, war gewiss noch immer ein „Fait divers“, doch war dieses
alltägliche Ereignis mit Ehebruch, Verschuldung und Selbstmord jeglicher Bana-
lität entkleidet – oder besser: Die Banalität erhielt durch den Schriftsteller ihre
unbedingte, unwiderlegbare literarische Dignität.
Nicht der leiseste Zweifel daran ist möglich, dass Flaubert mit der größten
Aufopferungsbereitschaft an die Aufgabe ging, geradezu in einer Sklavenarbeit
diesen Stoff so zu polieren und umzugestalten, dass seine Protagonistin noch
immer eine banale Ehebrecherin war, zugleich aber zu einer sublimen Romanfi-
gur wurde, deren Geschichte sie tief mit der Romantik und der Lektüre romanti-
scher Liebesromane verband. Denn Emma Bovary war anders als ihr Autor eine
Romantikerin, die ihre Lebensvorstellungen freilich anders als ihr Autor nicht
kritisch und selbstkritisch reflektierte. Erst im Selbstmord gelingt ihr eine solch
kritische Gesamtsicht ihres eigenen Lebens.
Gustave Flaubert recherchierte alles, selbst die scheinbar unwichtigsten
Details; er dokumentierte alles, indem er uns in Materialsammlungen und Skiz-
zenbüchern hinterließ, was für die Niederschrift des Romans für ihn von Belang
war. Jede einzelne Szene, auch die der zufälligen Bekanntschaft zwischen dem
noch mit einer älteren Witwe verheirateten Charles Bovary und Emma Rouault,
wird penibel ausgetüftelt und erscheint in all ihren Details geradezu universell:
910 Gustave Flaubert oder das lange, intensive Sterben einer Romantikerin
Wir haben dies am Beispiel des Anbandelns von Emma und Charles in einer
anderen Vorlesung genauestens verfolgt.6 Emma war in einem Kloster erzogen
worden; und das sensible Mädchen wuchs dort mit der Lektüre romantischer
Romane, allerlei rührseligen Fiktionen, aber auch mit den Werken von Walter
Scott, Bernardin de Saint-Pierre und Chateaubriand auf. sie hatte im Grunde ge-
lesen, was auch Gustave Flaubert selbst gelesen hatte, wovon er sich in Ma-
dame Bovary nun aber freizuschreiben vermochte.
Flaubert hat das perfekte perspektivische Spiel seiner Erzählerfigur und der
Romanfiguren etwa dazu benutzt, die tief empfundene romantische Natursensi-
bilität beispielsweise bei einem Ausritt mit dem Verführer Rodolphe in Emmas
Augen zu spiegeln und die romantische Naturbeschreibung damit von der
Ebene der Erzählerposition auf jene der inneren Wahrnehmung der Figuren zu
blenden. So wird die Romantik in eine kritische Lektüredistanz gestellt, ver-
gleichbar mit jenem literarischen Verfahren, das Miguel de Cervantes im ersten
Roman der europäischen Moderne – in seinem Don Quijote de la Mancha – an-
stellte, um die Wucht der literarischen Tradition der Ritterromane präsent zu
halten, aber in eine kritische Distanz der Lektüre zu heben.
Es ist hier nicht der Ort, die aus der langen und vertieften literaturwissen-
schaftlichen Erforschung des Romans bekannten Stilmittel Gustave Flauberts
aufzuzählen. Wir werden gleich noch den häufigen Gebrauch des Imparfait
sehen, das eine Atmosphäre des Unbeweglichen, des Zähen und Hintergründi-
gen, des sich niemals Verändernden erzeugt, das durch einen ereignishaften
Bruch, etwa durch Emmas verschiedene Liebschaften, zwar von ihr immer wie-
der in Bewegung gesetzt wird, sodann aber in die Viskosität und zähe Klebrigkeit
des Imparfait zurückfällt, aus der die junge Frau, deren Träume und Sehnsüchte
von allen männlichen Figuren des Romans niemals verstanden werden, keinen
Ausweg finden kann. Ihr finaler Selbstmord erscheint demgegenüber als letzter
Versuch einer weiblichen Bewusstwerdung in einer männlich beherrschten Welt,
in welcher die Gegenstände – unter Einschluss der Frauen – zwar ihr Eigen-
Leben führen, aber letztlich untergeordnet sind. Flaubert hat diese enorme Span-
nung zwischen den Geschlechtern in den heterosexuellen Liebesabenteuern,
aber auch in dem träge dahinfließenden Alltagsleben der Emma Bovary gekonnt
entfaltet. Bereits in Madame Bovary erwies sich der Romancier aus Rouen als
Meister der in scheinbares Leben verwandelten Klischees und Stereotypen, die
den Romanfiguren nur vorgaukeln, ein wirkliches Leben geführt zu haben. Auch
in L’éducation sentimentale werden am Romanende diesmal die männlichen
6 Vgl. hierzu die Szene im zweiten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: LiebeLesen, S. 677.
Gustave Flaubert oder das lange, intensive Sterben einer Romantikerin 911
Figuren eingestehen, dass sie in ihrem Leben bestenfalls ein Klischee fortge-
lebt haben.
Flaubert versank nicht in der stofflichen Trivialität – eine spannende Meta-
pher, die sich etymologisch von der Position käuflicher Frauen an der Wegkreu-
zung dreier Straßen herleitet –, sondern entfaltete in diesem Roman eine Vielzahl
von Liebesvorstellungen und -praktiken, die freilich allesamt aus der Banalität all-
täglicher Lebensbewältigung nicht herausführen. So ist es gerade ihre paradoxe
Trivialität, die Emma Bovary zu einer unsterblichen Romanheldin macht, wobei
der von ihrem Nachnamen abgeleitete ‚Bovarismus‘ für die Verwechslung des
Traumes mit der Wirklichkeit steht. Zugleich ist es gerade diese Friktionalität,
die den Reichtum dieser romanesken Frauenfigur ausmacht; ein Oszillieren
zwischen Fiktion und Diktion, das die herausragende Vieldeutigkeit dieser
Roman-Protagonistin auch für künftige Leserinnen und Leser sicherstellt.
Ich hatte mich – wie bereits erwähnt – in einer früheren Vorlesung bereits
mit Ihnen recht ausführlich über die Liebe gebeugt und auf Madame Bovary zu-
rückgegriffen, um zu erfahren, wie man sich insbesondere in gänzlich banalen,
alltäglichen Lebenssituationen ineinander verlieben kann. Denn die Liebe ist ja
bekanntlich ein großes Gefühl, das wir uns ebenso wie Lesen oder Schreiben
oder andere Kulturtechniken in einem mehr oder minder langen Lernprozess
aneignen.7 Dazu passte Flauberts berühmter Roman in besonderer Weise, war
er doch eine Art Generalabrechnung mit dem Topos der Liebe und zugleich mit
einer Literatur, die nur eine oberflächliche Sinnesreizung romantischer Tönung
hervorruft. Denn schon Madame Bovary ist auf mehr als eine Weise ein Roman
über die Liebe nach der Liebe, wenn eigentlich von der Liebe des romantischen
„amour-passion“ im Sinne Stendhals nicht viel mehr geblieben ist als die ewig
gleichen Worte, die ewig wiederholten Gesten, die auf seltsame Weise wie die
zerbrochenen Fragmente einer Sprache der Liebe immer wieder leerlaufen. Nun
kann ich Ihnen in unserer aktuellen Vorlesung näherbringen, wie die ganze Ge-
schichte rund um die schöne und sensible Emma ausgegangen ist und wie sich
ein Leben im Sterben erfüllt.
Dazu aber muss ich Sie ans Totenbett der Emma Bovary führen! Sie ist –
wie wir schon hörten – in eine ausweglose Situation verstrickt, die angesichts
nicht mehr erfüllbarer Lebenswünsche aus ihrer Sicht nur mehr den Griff zur
Giftflasche im Laden jenes Apothekers Homais zulässt, der eine der hintergrün-
digsten Figuren in Flauberts Gesamtwerk darstellt. Arsen ist die letzte Zuflucht
der jungen Frau; und ihr von Flaubert peinlich genau verfolgtes Sterben durch
Arsen wollen wir untersuchen, wenn wir nach ihrem gesamten Leben fragen.
Als sie eintraten, war das Zimmer voll finsterer Feierlichkeit. Auf dem von einem weißen
Deckchen bedeckten Nähtisch ruhten fünf oder sechs Baumwollbällchen in einem silber-
nen Teller neben einem groben Kruzifix zwischen zwei brennenden Kerzen. Emma lag
mit dem Kinn auf ihrer Brust mit maßlos geweiteten Augenlidern da, und ihre armen
Hände fuhren über die Betttücher mit dieser unschönen und sanften Geste der Sterben-
den, die sich scheinbar schon mit dem Leichentuch zu bedecken suchen. Bleich wie eine
Statue und die Augen rot wie Kohlen stand Charles ihr gegenüber tränenlos am Fuße des
Bettes, während der Priester, auf ein Knie gestützt, leise Worte vor sich hinmurmelte.
Langsam drehte sie ihr Gesicht und schien von Freude ergriffen, als sie mit einem
Mal die violette Stola erblickte, wobei sie mitten in einer außerordentlichen Beruhigung
wohl die verlorene Wollust ihrer ersten mystischen Erregungen mit Visionen von unendli-
cher, nun beginnender Wonne in sich wiederfand.
Der Priester erhob sich, um das Kruzifix zu ergreifen, sie machte ihren Hals lang wie
jemand, den der Durst plagt, und sie presste ihre Lippen auf den Körper des Gott-
Menschen, hinterließ dort mit all ihrer schwindenden Kraft den größten Kuss der Liebe,
den sie jemals gegeben. Danach rezitierte er das Misereatur und das Indulgentiam,
tauchte seinen rechten Daumen in das Öl und begann mit den Salbungen: zunächst auf
ihren Augen, die so sehr nach aller irdischen Pracht gelechzt; danach auf ihrer Nase, die
so sehr die warme Brise und die Wohlgerüche der Liebe eingeatmet; dann auf ihren
Mund, der sich zur Lüge geöffnet, der vor Hochmut gebebt und in der Lust gestöhnt; her-
nach auf ihre Hände, die sich an den sanften Berührungen erfreut, und schließlich auf
die Sohle ihrer Füße, früher so flink dabei, wenn sie zur Befriedigung ihrer Begehren
eilte, die nun aber niemals mehr laufen würden.8
Hätten Sie vermutet, dass der scharfe Kritiker der Romantik, dass der unerbittli-
che Feind jeglicher romantischer Gefühlsduselei ausgerechnet die Sterbeszene
der schönen Atala in Chateaubriands kleinem Roman studierte, bevor er sich
8 Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Mœurs de province. Paris: Louis Conard 1910, S. 446 f.
Gustave Flaubert oder das lange, intensive Sterben einer Romantikerin 913
an die Niederschrift dieser Szene machte? Hätten Sie gedacht, dass einer, der
so sehr gegen die romantischen Romane anschrieb, noch bei seinem Schreiben
zu eben jenen Romanen griff, die einst das Leben der jungen Emma im Kloster
mit jenen Vorstellungen anfüllten, die sie nun, kurz vor ihrem Ende, in den
„élancements“ ihrer mystischen Wonnen wiederfinden sollte? Flaubert war wie
seine Emma voll von jenen Visionen, die er in La Tentation de Saint-Antoine
vielleicht ein letztes Mal entwarf, um sich von ihnen lustvoll wie Emma Rouault
zu befreien. Denn auch Atala war durch Gift, war durch einen Selbstmord aus
einer Welt geschieden, die ihre Hoffnungen, die ihre Sehnsüchte niemals erfül-
len konnte.
Der Beginn der berühmten Sterbeszene der Emma Bovary wird zunächst
aus der Perspektivik der beiden von außen hinzukommenden Männer gesehen.
Sie sind gleichsam dem Sterbeglöckchen des Priesters gefolgt, das über Hun-
derte von Jahren lang den Weg des Leibes Christi zu einem Toten wies und dem
sich alle Christen anschließen konnten, die dies zu tun wünschten – Dies nur
zur Erläuterung des Hintergrunds dieser Szenerie sowie des Blickwinkels, aus
welcher die Sterbeszene gestaltet wird!
Der Tod war eine auch Außenstehenden, nicht nur den engsten Familien-
angehörigen vorbehaltene Abschiedsszene eines Menschen, der sich aus dieser
Welt begibt. Die Agonie und der Tod waren, wie wir bereits in unserer Vorle-
sung sahen, eine öffentliche Angelegenheit und nicht wie in unseren Tagen
entweder ein Sterben im engsten Familienkreis oder – weitaus häufiger – in der
absoluten Einsamkeit eines Pflegeheims, eines Krankenhauses oder eines Hos-
pizes. Wir vergessen heutigentags allzu leicht, wie sehr das Sterben bis weit ins
19. Jahrhundert hinein – gerade auch auf dem Land, wie dies in diesem nor-
mannischen Dörfchen der Fall ist – im Zentrum einer öffentlichen Inszenierung
stand, an welcher alle Anteil nehmen konnten. Die Agonie oder die letzte Phase
des Sterbens eines Menschen stand für die Szene jenes gezähmten Todes, von
dem Philippe Ariès gleich zu Beginn unserer Vorlesung in einem aussagekräfti-
gen Zitat sprach. Wir wissen ja, wie fundamental sich das Antlitz des Todes je
nach historischer Zeit und kultureller Einbettung verändert und sich überdies
in einer sozioökonomischen Bandbreite bewegt, welche Flaubert bei der materi-
ellen Ausstattung dieser Sterbeszene – etwa mit einem einfachen Deckchen
und einem groben Kruzifix – diskret, aber genauestens berücksichtigte.
Die einzelnen Schritte dieser Inszenierung des Sterbens waren dabei für
den Christenmenschen genauestens vorgesehen. Wir werden in der berühmten
Sterbeszene von Emma Bovary Zeugen einer letzten Ölung, die bereits gleich zu
Beginn beim Eintreten von Homais auf Ebene der dafür notwendigen Utensi-
lien – die dem Apotheker förmlich ins Auge springen – ins Zentrum der literari-
schen Darstellung, der Mimesis gerückt wird. Zunächst aber betrachten wir die
914 Gustave Flaubert oder das lange, intensive Sterben einer Romantikerin
Sterbende in all ihren Details und kleinen menschlichen Gesten innerhalb des
für sie vorbereiteten Dekors, in dem auch ein großes dickes Kreuz und bren-
nende Kerzen selbstverständlich neben der Stola nicht fehlen dürfen. Welch ein
Kontrast zu den Sterbeszenen unserer Gegenwart, die sich zumeist an einem
anonymen Krankenhausbett abspielen, nicht selten völlig ohne menschliche
Begleitung, in der Einsamkeit eines von Maschinen überwachten Krankenhaus-
todes! Alle technologischen Entwicklungen und die sich abzeichnende weitge-
hende Ersetzung von Pflegepersonal durch Altenpflegeroboter, wie sie massiv
bereits in Japan eingesetzt werden, zeigt uns an, dass dieser kulturhistorisch-
technologische Prozess noch längst nicht an ein Ende gekommen ist.
Emma Bovary ist zunächst lediglich durch kleine Gesten ihrer Hände auf
dem Leintuch präsent, gleichsam ihrem Leichentuch; Charles Bovary erscheint
wie eine bleiche Statue – nur seine Augen zeigen die innere Erregung an. Alles
scheint wie für ein Stillleben erstarrt: Das gesamte Leben ist für einen Augen-
blick zu einem prekären Stillstand gekommen. Dann aber beginnt der Ritus der
letzten Ölung, die der Dorfpfarrer vorschriftsmäßig durchführt. Und doch mischt
sich ständig etwas Anderes in diese von Flaubert klug ausgestaltete Szenerie.
Denn Emma hat ihre alten mystischen Sehnsüchte und Begierden anhand
eines kleinen Gegenstandes, der sie in ihre Kindheit zurückversetzt, wiederge-
funden und die Ursprünge der Liebe in der Leidenschaftlichkeit, ja in der Wol-
lust der Gottesliebe wiederentdeckt. Wir wohnen ihrer ganzen Sehnsucht nach
einer Unio mystica mit dem Gottesmenschen bei, mit dem zum Menschen ge-
wordenen Gotte: So wird nicht nur das Kruzifix geküsst, sondern der Gott-
Mensch, ja mehr noch der Gott-Mann selbst! Er erhält mitten auf seinen nackten
Leib, seinen männlichen Körper einen Kuss der Liebe, wie Emma ihn zuvor nie-
mals gegeben hatte. Die gesamte erotische Spannung, die in dieser Todesszene
einer Ehebrecherin steckt, die Selbstmord begangen hat, entlädt sich ruckartig
in diesem Kuss und semantisiert die nachfolgende Szene auf zutiefst erotische
Weise. Denn in dieser erotischen Sterbeszene werden die Hintergründe jener
Liebesbegierden deutlich, die Emma Bovary ihr gesamtes Leben lang vor sich
hergetrieben hatten.
Dann aber beginnt die letzte Ölung; und sie setzt wie vom katholischen
Ritus vorgesehen bei den Augen ein und endet bei den Füßen, von oben nach
unten am menschlichen Leib in einer Bewegung, welche gleichsam den ganzen
Körper zum Stillstand bringt und in die Todesstarre überleitet. Die Augen sind
das Organ der Concupiscentia oculorum, der durch die Augen auf andere Men-
schen gerichteten Begehrlichkeiten, welche die junge Frau zur Ehebrecherin
werden ließen. Und so werden sie auch als erstes gereinigt von jenem sinnli-
chen Ansatzort und jenem Sinn des Begehrens aus der Ferne, wie er für Emma
Bovary so charakteristisch war.
Gustave Flaubert oder das lange, intensive Sterben einer Romantikerin 915
ken der letzten Ölung Emma Bovary gerade ein wenig zu erholen und sich ihr
Gesundheitszustand ein wenig zu verbessern scheint – längst hat der Arzt
Charles Bovary alle Tätigkeit dem Priester überlassen, der diesen möglichen Er-
folg seines Wirkens auch bereits kommentiert –, da erfolgt nun doch der längst
befürchtete, dann aber von Hoffnungen fast schon wieder verdrängte Zusam-
menbruch der jungen Frau.
An seinem Beginn, den ich Ihnen gerne detailliert aufzeigen möchte, steht
eine Spiegelszene, jene Konfrontation mit dem Spiegel, die in der abendländi-
schen Literatur eine so lange motivgeschichtliche Präsenz besitzt und zugleich
auch im Leben Emmas eine so entscheidende Rolle spielte. Denn die Spiegelung
des Ich, die Selbstbetrachtung des Ich im Spiegel generiert stets Erkenntnis:
Sie blickte in der Tat langsam um sich her, wie jemand, der aus einem Traum erwacht,
dann verlangte sie mit einer klaren Stimme nach ihrem Spiegel, blieb eine Zeitlang darü-
ber aufgerichtet bis zu jenem Augenblick, als aus ihren Augen dicke Tränen kullerten. Sie
stieß einen Seufzer aus, warf ihren Kopf zurück und ließ sich auf ihr Kopfkissen fallen.
Augenblicklich begann ihre Brust stoßartig zu hecheln. Ihre gesamte Zunge glitt aus
ihrem Mund; ihre Augen rollten und wurden bleich wie zwei Kugellampen, die verlö-
schen, man hätte sie schon für tot gehalten, wäre nicht eine grässliche Atmungsbeschleu-
nigung ihrer Seiten eingetreten, welche von einem wütenden Luftholen durchgeschüttelt
wurden, so als hätte ihre Seele Sätze gemacht, um sich abzulösen. Félicité kniete vor dem
Kruzifix nieder, und selbst der Apotheker beugte ein wenig die Gelenke, während Herr
Canivet vage über den Platz blickte. Bournisien hatte wieder zu beten angefangen, sein
Gesicht dem Rande der Bettstatt zugeneigt, mit seiner langen schwarzen Soutane, die in
der Wohnung hinter ihm herunterhing. Charles war auf der anderen Seite und kniete,
seine Arme zu Emma hin ausgestreckt. Er hatte ihre Hände ergriffen und drückte sie, bei
jedem Schlagen ihres Herzens erzitternd, einer zusammenstürzenden Ruine gleich. In
dem Maße, wie das Röcheln stärker wurde, beschleunigte der Kirchenmann seine Gebete:
sie vermischten sich mit dem erstickten Weinen von Bovary, und bisweilen schien alles
im dumpfen Gemurmel lateinischer Silben unterzugehen, die alles wie ein Totenglöcklein
einfärbten.
Plötzlich war vom Bürgersteig her ein Geräusch grober Stiefel zusammen mit dem
Schleifen eines Stockes zu hören; und eine Stimme erhob sich, eine raue Stimme, die sang:
Oft lässt die Sommerhitze unter Bäumen
Das Mädelein von der Liebe träumen.
Emma zuckte hoch wie ein galvanisierter Leichnam, mit aufgelösten Haaren und
klaffenden, starren Augäpfeln.
Um aufzusammeln, wer's bezeugt,
Die Ähren, die die Sichel mäht,
Das Mägdelein sich vornüber beugt,
Zur Furche, in die einst gesät.
„Der Blinde!“, schrie sie.
Und Emma begann zu lachen, mit einem furchterregenden, frenetischen, verzweifel-
ten Lachen, denn sie glaubte das hässliche Gesicht des Elenden zu sehen, der sich in den
ewigen Finsternissen wie ein Erschauern erhob.
Gustave Flaubert oder das lange, intensive Sterben einer Romantikerin 917
Dies also ist eine der berühmtesten Sterbeszenen der Literaturen der Welt, die
ich für den abschließenden Teil unserer Vorlesung ‚aufgehoben‘ hatte. Es ist
die präzise, ergreifende, aber gleichwohl distanziert geschilderte Szene einer
Agonie, in der gleich zu Beginn dieses Ausschnitts ein letzter Bewusstwer-
dungsprozess bei der Sterbenden einsetzt. Denn die Szenerie mit ihrem Blick in
den Spiegel eröffnet auf dem Totenbett einen abschließenden Erkenntnispro-
zess, in dessen Verlauf sich Emma Bovary ihres Lebens gewahr wird, bis sie zu
weinen beginnt. Der Blick in den Spiegel ist wie ein Blick auf ein gesamtes
Leben, wie der Reflex und die Reflexion eines Lebens, das kurz vor seinem end-
gültigen Verlöschen steht.
Und in der Tat setzt unmittelbar nach den Tränen und nach dem Zurücksin-
ken auf das Kopfkissen die Agonie ein mit einem Hecheln und Röcheln, das
sich mit den standardisierten Gebeten in lateinischer Sprache für diese arme
Seele mischt. Für eine Seele, die gleichsam den Körper der Sterbenden schüttelt
und Sätze macht, um aus diesem Körper zu entweichen. Jede einzelne der rund
um das Totenbett postierten Figuren verrät eine individuelle Regung, zeigt eine
andere Reaktion auf diese dramatische Sterbeszene. Diese individuelle Diversi-
tät der einzelnen um das Sterbebett versammelten Figuren endet erst mit der
gemeinsamen Bewegung der Annäherung an den Leichnam Emma Bovarys. Als
den Schlusspunkt dieser Passage wählte Flaubert nicht das Ende ihres Lebens,
sondern das Ende ihrer Existenz, so als hätte nicht ein Mensch, sondern viel-
mehr eine Pflanze oder vielleicht auch ein Gegenstand sein Dasein auf Erden
beendet.
Doch zuvor ist mit dem einsetzenden Hecheln und Röcheln der Sterbenden
das Bewusstsein von Emma Bovary noch nicht erloschen. Wir bemerken dies
an der Tatsache, dass sie sich wie ein Leichnam, den man unter Strom setzt,
noch einmal ruckartig aufrichtet und in ein schreckliches Lachen ausbricht, als
sie die Stimme des Blinden erkennt und identifiziert. In dieser Passage können
Sie unschwer einen höchst dramatischen Aufbau einschließlich eines retar-
dierenden Verzögerungseffekts erkennen, der kunstvoll zugleich auch noch
eine zusätzliche semantische Dimension einblendet. Doch versuchen wir, die
Erkenntnisprozesse der jungen, sterbenden Frau in der gesamten ereignisrei-
chen Agonie nochmals aus anderer Perspektive zusammenzufassen!
9 Ebda., S. 447–449.
918 Gustave Flaubert oder das lange, intensive Sterben einer Romantikerin
10 Vgl. hierzu unsere Deutung von Atala in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten,
S. 151 ff.
Gustave Flaubert oder das lange, intensive Sterben einer Romantikerin 919
richtig und mit Blick auf ihr eigenes Leben. Dieses obszöne Lied und nicht die
Gebete des Priesters begleiten Emma bis zum Ende ihrer Existenz – und viel-
leicht auch darüber hinaus. Der Singsang des Blinden beleuchtet die letzte
Phase im Leben Emma Bovarys mit einem irrealen Licht, in dem die sündigen
Verfehlungen Emmas ein letztes Mal hervortreten und noch einmal der Traum
von der Liebe erscheint. Nach dieser letzten Kapriole ist es aus!
Alles in Flauberts literarischem Arrangement deutet darauf hin, dass die
nach Liebe lechzende Frau auch im Jenseits, in der ewigen Finsternis wohl
keine Ruhe wird finden können, begleitet sie doch das anzügliche erotische
Liedchen des blinden Sängers hinüber in eine andere Welt, die – so viel
scheint sich abzuzeichnen – eine Welt ewiger Verdammnis sein wird. Der Ge-
danke an Dante Alighieris Paolo und Francesca und deren Höllenqualen
drängt sich auf.11
In den Augenblicken des Todes erkennen wir zum einen höchste Selbster-
kenntnis, zum anderen aber auch sekundenhafte und sich auf eine künftige
Ewigkeit hin öffnende Verdichtung eines ganzen Lebens, des Lebens der Ehebre-
cherin Emma Bovary, die wie Paolo und Francesca nur Opfer (romantischer) Lek-
türen geworden ist. Ein letztes Mal fliegt im Sturmwind ihrer Suche nach Liebe
gleichsam ihr kurzes Röckchen weg, an der Schwelle zum Übergang in eine an-
dere Welt, die – trotz des lateinischen Gemurmels des Pfarrers – möglicherweise
zu einer Höllenfahrt zu werden droht.
Faszinierend ist die körperliche Dimension, die enorme Körperlichkeit und
Leibhaftigkeit dieser nicht enden wollenden Sterbeszene. Die einzelnen mikros-
kopisch-physiologisch genauen Detailbeobachtungen wechseln einander ab:
Eine Kaskade von Passé simples ergießt sich über die ebenfalls schon wie
Emma hechelnde, mit ihr um Atem ringende Leserschaft, bis dann am Ende
plötzlich ein Imparfait in die Ewigkeit überleitet: „Elle n’existait plus.“ Gram-
matikalisch und semantisch ist sie in den Hintergrund gerückt, hat aufgehört
zu existieren. Von ihr zurück bleibt nur ihr Leichnam …
Diese Szenerie kann mit all ihrer Dramatik, mit allen ihren Wendungen
und Wirrungen auch für heutige Leserinnen und Leser noch körperlich anstren-
gend sein. Doch will ich Sie wieder zu Atem kommen lassen und sie nach dem
Sterben von Flauberts großer Protagonistin nun mit einem beginnenden Leben
konfrontieren, das in diesem Roman ebenfalls geschildert wird. So möchte ich
Ihnen gerne in aller Kürze das junge Mutterglück der damals noch etwas jünge-
ren Emma – frisch vermählte Bovary – präsentieren. Denn es ist lehrreich, wie
Flaubert diese Szenerie aufbaute; und wir wollen gerade aus der Konfrontation
einer Sterbe- mit einer Geburtsszene lernen, wie sich die Geburt als ein prinzipi-
ell prospektiver Vorgang in ein Verhältnis zum Leben und vielleicht auch zum
Sterben setzt:
Sie wünschte sich einen Sohn; er würde stark und braun sein und Georges heißen; und
diese Idee, ein männliches Kind zu haben, war wie eine hoffnungsfrohe Revanche für all
ihre vergangenen Ohnmächtigkeiten. Ein Mann ist zumindest frei; er kann Leidenschaf-
ten und Länder bereisen, Hindernisse queren, in das am weitesten entfernte Glück hi-
neinbeißen. Eine Frau aber ist beständig eingeschränkt. Untätig und flexibel zugleich,
hat sie die Weichheit des Fleisches zusammen mit den gesetzlichen Abhängigkeiten
gegen sich. Ihr Wille, wie der Schleier an ihrem Hute von einem Bande zurückgehalten,
weht in jedem Winde, es gibt immer irgendein Begehren, das zieht, und eine Konvention,
die zurückhält.
An einem Sonntag gegen sechs Uhr, bei aufgehender Sonne, gebar sie.
„Es ist ein Mädchen!“, sagte Charles.
Sie drehte ihren Kopf und wurde ohnmächtig.
Fast augenblicklich kam Madame Homais gelaufen und umarmte sie, ebenso Mutter
Lefrançois vom Goldenen Löwen. Der Apotheker übermittelte ihr, als der zurückhaltende
Mann, der er war, nur einige vorläufige Glückwünsche durch die offen stehende Türe. Er
wollte das Kind sehen und fand es wohlgeformt.
Während ihrer Rekonvaleszenz beschäftigte sie sich viel damit, einen Namen für
ihre Tochter zu finden. Zunächst ging sie all jene durch, die italienische Endungen auf-
wiesen wie etwa Clara, Luisa, Amanda, Atala; sie mochte Galsuinde recht gerne, aber
mehr noch Yseut oder Léocadie. Charles wünschte sich, dass man das Kind nach seiner
Mutter nenne; Emma war dagegen. Man ging den ganzen Kalender von einem Ende bis
zum anderen durch und befragte die Fremden.
„Herr Léon“, sagte der Apotheker, „mit dem ich neulich darüber sprach, wundert
sich darüber, dass sie das Mädchen nicht Madeleine nennen, was derzeit außergewöhn-
lich in Mode ist.“
Aber Mutter Bovary ereiferte sich lautstark gegen diesen Namen einer Sünderin. [...]
Schließlich erinnerte sich Emma daran, wie sie im Schlosse zu Vaubyessard die Marquise
eine junge Frau Berthe rufen gehört hatte; von diesem Zeitpunkt an ward dieser Name
gewählt, und da Vater Rouault nicht kommen konnte, bat man Herrn Homais, Taufpate
zu sein.12
In dieser schönen Geburtsszene tischt uns Gustave Flaubert seinen ganzen dis-
kreten Humor, seine Ironie, ja seinen Sarkasmus auf. Wir können hier den
Autor gleichsam lachen, ja lauthals lachen hören. Sie haben sicherlich nicht
überlesen, dass unter den ‚italienisch klingenden‘ Namen keineswegs zufällig
der von Atala war; ein kleiner gehässiger Fingerzeig des französischen Autors
auf die Lektüren Emma Rouaults und ein kleiner Hinweis an die Adresse der
perdue“ setzt Emma stets eine neue Illusion, deren Scheitern schon vorherseh-
bar ist.
So steht die Geburt von Berthe an einem Sonntag frühmorgens bei aufge-
hender Sonne unter keinem glücklichen Stern. Emmas Mutterglück währt nicht
lange, dem Bild einer glücklichen Mutter kann sie nur kurzfristig genügen. Man
wird dieses Mädchen bald schon von einer Amme aufziehen lassen; und nur
selten wird Emma von plötzlichen Muttergefühlen heimgesucht, die sie dann
zu übertriebenen Geschenken anspornen, sie zu kurzen Besuchen verlocken.
Aber dabei bleibt es dann auch: Emma wird ihre Tochter nicht großziehen,
nicht zur Jugendlichen heranwachsen sehen und erziehen. Ihr Geburtsvorgang
war bestenfalls ein mechanisches Zur-Welt-Bringen ohne jede Bindung.
Nach der Geburt erfahren wir nur, dass das Kind wohlgebaut und weibli-
chen Geschlechts ist. Eine letzte Chance bietet sich Emmas Illusionen also nur
noch auf Ebene der Namensgebung. Dabei können wir detailliert die Mechanis-
men ihrer Illusionsbildung am Werk sehen. Denn an diesem Punkt steigen ihre
alten Lektüren hoch, mit jenen Namen romantischer Heldinnen, die sie aus ro-
mantischen Romanen kennt. Ich erspare Ihnen einen längeren Exkurs über die
Namen, welche der stets siegreiche Apotheker Homais ganz bewusst seinen
Kindern gab – und er hatte selbstverständlich Söhne! Die Namensgebung er-
weist sich als die wichtigere Geburt. Blicken Sie auf Ihre eigenen Namen, so
können Sie manche Hoffnungen Ihrer geschätzten Eltern erkennen. Berthes
Name verweist – wie schon betont – auf die Sphäre der Illusionen, indem
Emma an das Schloss von Vaubyessard zurückdenkt, an jene ein einziges Mal
Realität gewordene Traumwelt des Adels, zu dem sie kurz nur Zugang hatte
und die ihr ansonsten verschlossen blieb. Selbstverständlich gilt dies auch für
ihre ungeliebte Tochter.
Daher erstaunt es nicht, wenn wir auf der letzten Seite des Romans – mitt-
lerweile ist auch Charles Bovary verstorben – erfahren, dass sie einem dunkle-
ren, nicht individualisierten Schicksal entgegen gehen wird, so dass auch hier
die Illusionen ihrer Mutter gründlich auf der Strecke bleiben. Was wir von
ihrem Schicksal erfahren, fasst Flauberts Erzähler wie folgt zusammen:
Als alles verkauft war, blieben noch zwölf Francs und fünfundsiebzig Centimes übrig,
welche dazu dienten, die Reise von Mademoiselle Bovary zu ihrer Großmutter zu bezah-
len. Die gute Frau starb noch im selbigen Jahr; Vater Rouault war gelähmt, eine Tante
übernahm sie. Sie ist arm und schickt sie, um sich ihr Leben zu verdienen, in eine
Baumwollspinnerei.13
13 Ebda., S. 481.
Gustave Flaubert oder das lange, intensive Sterben einer Romantikerin 923
Vom weiteren Schicksal Berthes ist nichts mehr bekannt. Sie sinkt gleichsam in
den Bereich der Intrahistoria ab und verschwindet. Allein Emmas Tod hat wohl
eine Größe erreicht, die von Flauberts Erzählkunst gebührend ausgeleuchtet
wurde, die aber allen Anwesenden unbewusst blieb. Für Emma selbst spülte
der Tod noch einmal jene Bitterkeit einer Verzweiflung am Leben hoch, von der
sie sich auch mit Hilfe des Arsens nicht zu befreien vermochte. Am Ende ihres
Lebens steht jenes frenetische, erbarmungslose, wahnsinnige Lachen, welches
auch das Lachen des Autors selbst über die von ihm gehasste mediokre bürger-
liche Gesellschaft Frankreichs war. Geburt und Tod sind im Grunde jene Sinn-
knoten, an denen ein ganzes Leben von seinem Anfang wie von seinem Ende
her seinen tieferen Sinn erhält. Kaum ein anderer Schriftsteller hat dies so meis-
terhaft umzusetzen gewusst wie Gustave Flaubert.
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt
als Frau und Indígena
1 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, insb. S. 425 ff., S. 493 ff., S. 519 ff.,
S. 1038 ff.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-029
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 925
Clorinda musste ihre gute Ausbildung freilich schon mit zehn Jahren abbre-
chen, als ihre Mutter starb und sich das Mädchen – der Frauenrolle entspre-
chend – um die jüngeren Geschwister zu kümmern hatte. Ebenso wenig erfüllte
der Vater Clorindas Bitten, in den USA Medizin studieren zu dürfen. Doch bald
schon heiratete sie durchaus standesbewusst: Denn ihren zweiten Nachnamen
verdankte die junge Peruanerin dem Engländer Turner, der über ausgedehnten
landwirtschaftlichen Großgrundbesitz verfügte und mit dem sie sich bereits
1871 verband. Mit ihrem Mann zog sie in das Andendorf Tinta.
An der Seite ihres Mannes lernte Clorinda Matto de Turner hoch zu Ross
einen guten Teil Perus kennen – Erfahrungen, die auch in ihren sicherlich be-
kanntesten Roman Aves sin nido Eingang fanden. Zugleich trat sie schon früh
durch die Veröffentlichung ihrer Tradiciones cuzqueñas in Limas wichtigster Ta-
geszeitung Correo del Perú hervor, wo sie kostumbristische literarische Texte pu-
blizierte, die den Tradiciones des Ricardo Palma nahestanden. 1876 gab sie die
Zweiwochenzeitschrift El Recreo heraus, in der wichtige peruanische Schriftstel-
ler wie Palma oder Fernánd Caballero, vor allem aber auch Schriftstellerinnen
wie die Romanautorin Juana Manuela Gorriti publizierten. Ein Jahr später freilich
926 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena
musste sie aus gesundheitlichen Gründen die Arbeit an diesem Periodikum wie-
der aufgeben und nach Arequipa umziehen.
Nach zehn Jahren glücklicher, aber kinderloser Ehe starb 1881 ihr Mann.
Ihre Geschäftstüchtigkeit konnte die junge Frau erst nach seinem Tod unter Be-
weis stellen, da sie nicht als Ehefrau, wohl aber als Witwe nach peruanischem
Gesetz geschäftsfähig war und nun sowohl das Unternehmen ihres Mannes sa-
nieren als auch die umfangreichen, zum Teil elterlich ererbten Besitzungen ver-
walten musste. Es sind für Peru bittere Jahre, da das Land ab 1879 an der Seite
Boliviens in den Salpeter- und Guanokrieg gegen Chile verwickelt wurde, der
trotz aller anfänglichen Euphorie zu einer militärischen Niederlage, der Beset-
zung Limas durch chilenische Truppen 1881 und schließlich zum Friedensvertrag
von 1883 führte. Dieser Friede sollte dem Land erhebliche und empfindliche terri-
toriale Verluste einbringen. Etwas mehr als ein halbes Jahrhundert nach Erlan-
gung seiner politischen Unabhängigkeit im Jahr 1824 war Peru in die wohl tiefste
Krise seiner Geschichte geraten.
Auch für Clorinda Matto de Turner sind es schwierige Jahre, verliert sie
doch auf Grund des Einflusses korrupter Richter und Rechtsanwälte einen be-
trächtlichen Teil ihres Vermögens. Zwischen 1884 und 1885 ist sie Chefredak-
teurin der Zeitung La Bolsa von Arequipa, wo auch ihre Schrift Elementos de
Literatura según el Reglamento de Instrucción para Uso del Bello Sexo erschien,
in der sie bildungspolitische Verbesserungen für die Frauen einforderte. 1886
geht sie nach Lima: Die peruanische Hauptstadt bietet Clorinda sowohl journa-
listisch wie literarisch bessere Möglichkeiten. Es gelang ihr, eine wichtige Rolle
innerhalb der peruanischen Literaturgesellschaft zu spielen, da sie seit 1887
einen literarischen Salon leitete, in welchem ebenso männliche wie weibliche
Talente ihre Schöpfungen vorstellen konnten. Diese Rolle als Literaturvermittle-
rin beruhte vor allem auf ihrer Tätigkeit in und Herausgabe von literarischen
Periodika, zu denen nach der Mitarbeit in Zeitschriften in Cuzco und später
auch bei La Bolsa in Arequipa nun in Lima unter anderem La Revista social und
El Perú Ilustrado zählten. Stets versuchte sie dabei, Frauen eine Chance zu
geben, eigene literarische Texte zu veröffentlichen.
Darüber hinaus gelang es Clorinda Matto de Turner ebenso, diese publizis-
tisch wichtige Funktion sowohl auf der politischen als auch auf der literari-
schen Ebene weiter zu stärken und unterdrückten Bevölkerungsgruppen in
Peru – etwa der indigenen Bevölkerung im andinen Hochland, aber auch den
Frauen im gesamten Land – Hilfe zukommen zu lassen. Gegen all diese Aktivi-
täten regt sich bald Widerstand: Als sie 1889 fast gleichzeitig Chefredakteurin
von El Perú Ilustrado wird und ihr Roman Aves sin nido erscheint, beschließen
ihre Feinde, massiv gegen die Autorin und Journalistin vorzugehen. Ein aufge-
brachter Pöbel greift ihr Haus an, vom Klerus fanatisierte Frauen gehen in Are-
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 927
quipa und Cuzco auf die Straße, ihre Bücher werden auf den Index gesetzt und
im Oktober 1890 in Cuzco öffentlich verbrannt. Wenig später wurde sie vom
Erzbischof von Lima exkommuniziert, die Lektüre ihrer Bücher verboten. Zeit
also, um aufzugeben?
Nicht eine Clorinda Matto de Turner! Als sie trotzig zusammen mit ihrem
Bruder in Lima 1892 die Druckerei La equitativa gründet, in welcher nur Frauen
beschäftigt werden, reagieren ihre Feinde mit immer stärkeren Gegenmaßnah-
men. Seit sie exkommuniziert worden war, wurde ihre Situation in Lima immer
bedrohlicher. 1895 schließlich werden ihr Haus und ihre Druckerei geplündert;
am 25. April 1895 muss die Schriftstellerin Lima verlassen und ins Exil nach
Buenos Aires flüchten, wo sie als Lehrerin an einer Lehrerinnenschule und in
Frauenorganisationen aktiv wird. Als erste Frau wird sie in das Ateneo de Buenos
Aires aufgenommen; eine Auszeichnung, die sich vor der literarischen Autorin
verneigt. In ihren späten Jahren unternimmt sie Reisen nach Spanien, Frank-
reich, Italien, Deutschland und England, wo sie der Frauenfrage eine internatio-
nale Dimension zu geben versucht. Bis zu ihrem Tod im argentinischen Exil
sollte sie der Sache der Frauen treu bleiben und für Frauenrechte kämpfen.
Literatur und Leben der peruanischen Autorin, die von ihrem peruanischen
Landsmann Mario Vargas Llosa einmal unpassenderweise als Matrone bezeich-
net worden ist, stehen im Zeichen sozialen und politischen Engagements. Die
Schriftstellerin kann aus diesem Blickwinkel – wie zu zeigen sein wird – in vie-
lerlei Hinsicht als eine literarische Figur des Übergangs gesehen werden. Weit-
aus mehr als Gertrudis Gómez de Avellaneda hat sich Clorinda Matto de Turner
für die Belange der Frauen eingesetzt, so dass man sie mit guten Gründen als
Vorläuferin feministischer Positionen in Hispanoamerika ansprechen darf.
Auch auf Ebene einer literarischen Beschäftigung mit indigenen Gruppen
darf Clorinda Matto de Turner für sich aus literarhistorischer Perspektive in An-
spruch nehmen, den Bannkreis indianistischen Schreibens und einer indianisti-
schen Beschäftigung mit der autochthonen Bevölkerung Amerikas durchbrochen
und einer indigenistischen, für die Belange der im Lande lebenden Indianer
kämpfenden Literatur den Weg geebnet zu haben. Dieses Engagement geht auf
ihre frühen Kindheitsjahre und ihre große Vertrautheit mit indigenen Kulturen,
aber auch auf ihre Sprachkenntnisse des Quechua zurück. Es sind vor allem
diese beiden Aspekte, die uns in der Folge interessieren sollen: ihr Kampf für die
Rechte der Frauen und ihr Kampf für die Rechte der indigenen Bevölkerung.
Vor diesem Hintergrund ist es keineswegs eine Überraschung, dass ihr si-
cherlich wirkungshistorisch wichtigster Roman Aves sin nido, der 1889 erstmals
erschien, von Anfang an auf ein breites Leserinteresse stieß und bis heute immer
wieder neu aufgelegt wird, auf die Entwicklung der sozialen Literatur in Peru in
ungewöhnlichem Maße Einfluss nahm. Ihre Exkommunikation, die zahlreichen
928 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena
Verbote, die Zensur wie die öffentliche Bücherverbrennung weisen auch in ihrem
Fall auf die zumindest für möglich gehaltene gesellschaftliche Spreng- und
Durchschlagskraft ihres Werkes und dienen – allgemeiner formuliert – als Seis-
mographen für das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Ge-
sellschaft diskutierbar und mehr noch grundlegend veränderbar ist. Wir hatten
dies am Beispiel des Immoralismus-Prozesses rund um Flauberts Madame Bovary
bereits beobachtet und zugleich gesehen, in welchem Maße derartige Verbote
das Interesse der Leserschaft zusätzlich erhöhen. So haben weder die Zensur
noch die zahlreichen Verbote und Angriffe den Erfolg von Clorinda Matto de Tur-
ners Roman verhindern können. Aves sin nido ist ein Klassiker der sozialen Lite-
ratur Lateinamerikas geworden; eine Funktion, die wir erst verstehen können,
sobald wir diesen Roman zumindest in Teilen detailliert untersucht haben.
In diesem Text aus dem Jahr 1889 spielt – wie häufig in den Romanen der
Romantik und des 19. Jahrhunderts – der Inzest, spielt das Inzesttabu eine
wichtige, strukturierende Rolle. Dies hatten wir bereits bei Chateaubriands
Atala, aber auch bei ungezählten späteren Romanen der Romantik zwischen
zwei Welten gesehen.2 Dabei ist allerdings dieses durchgängige Element ro-
mantischen Schreibens an eine präzise gesellschaftliche Funktion rückgebun-
den und mit einer Anklage gegen die Katholische Kirche verbunden. Denn es
kommt erst zur unglücklichen Situation jener Vögel ohne Nest, wie wir den Titel
übersetzen könnten, weil die Unmenschlichkeit des Zölibats (das die Autorin
schon in ihrem Vorwort anklagt) dogmatisch eine tragische Situation heraufbe-
schwören konnte. Sie führte dazu, dass Geliebter und Geliebte, aus unter-
schiedlichen Familien stammend, uneheliche Geschwister, da Kinder ein und
desselben Mannes sind: des früheren Priesters von Kíllac und späteren Bi-
schofs. Kein Wunder also, wenn der Erzbischof von Lima gegen ein solches
Werk, zumal aus der Feder einer Frau stammend, mit all seiner Macht vorging
und die peruanische Schriftstellerin exkommunizierte!
Die Tatsache, dass das Inzestmotiv zugleich mit einer denunziatorischen
Anklage verbunden ist und damit eine stark gesellschaftskritische Spitze erhält,
zeigt bereits eine Grundstruktur des Romans auf. Gleich im ersten Satz ihres
kurzen, auf 1889 datierten Proemio äußert sich die Autorin zur gesellschaftli-
chen Bedeutung ihres Textes beziehungsweise zur Verbindung zwischen Litera-
tur und Gesellschaft, die in Aves sin nido zum Ausdruck komme:
Wenn die Geschichte jener Spiegel ist, in welchem die künftigen Generationen das Bildnis
früherer Generationen betrachten sollen, dann muss der Roman die Photographie sein,
2 Vgl. hierzu den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Wel-
ten (2021), passim.
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 929
welche die Laster und die Tugenden eines Volkes mit der nachfolgenden Moral als Kor-
rektiv für jene und als ehrende Bewunderung für diese stereotypiert.
Daher ist die Wichtigkeit des kostumbristischen Romans so groß, da er auf seinen
Blättern viele Male das Geheimnis der Reform einiger Typen, wenn nicht deren schlichte
Auslöschung enthält.3
Wieder tritt ein Spiegel in Aktion. Doch diesmal betrachtet sich darin nicht eine
Frau, die wie Emma Bovary Auskunft über ihr eigenes Leben erhalten möchte,
sondern eine ganze Generation, die aus der Zukunft auf die jetzige Gegenwart
blicken und wissen möchte, wie diese Gesellschaft einstens war und von wel-
chen Typen sie geprägt wurde. Wider bietet der Spiegel Erkenntnis; und auch
diesmal geht es nicht nur um die Vergangenheit, die darin zu sehen ist, son-
dern vor allem um die Zukunft. Denn die Literatur und speziell der Roman hat
für Clorinda Matto de Turner eine prospektive Aufgabe und die Bedeutung, als
Korrektiv mit Blick auf das Kommende zu wirken, Fehler zu erkennen, zu korri-
gieren oder vollständig auszumerzen.
Damit ist die gesellschaftliche Wirkkraft des Romans aufgerufen. Schon die
ersten Sätze dieses Vorworts weisen auf die Verbindung zwischen Erzähltext
und Geschichte. Sie beschwören die Spiegelmetaphorik, die seit Stendhal für
den Roman des 19. Jahrhunderts zu einer durchgängigen Legitimationsebene
und Authentizitätsbegründung wurde: der Roman als Spiegel der Gesellschaft.
Clorinda Matto de Turner ‚modernisiert‘ diese Metaphorik dabei insoweit, als
sie zum einen die Schreibmetaphorik durch die Stereotypie beschleunigt. Zum
anderen betont sie im Roman die mimetische Wirkungsweise der Photographie,
womit sie auf ein modernisiertes Medium mechanischer Reproduktion und
Wirklichkeitsdarstellung verweist. Sie tat dies in ähnlicher Weise wie die natu-
ralistischen Romanciers Frankreichs, allen voran Emile Zola, den die Peruane-
rin selbstverständlich gelesen hatte und dessen Vorstellungen sie auf den
Andenraum projizierte beziehungsweise für die lateinamerikanische Hemi-
sphäre umschrieb.
Diese Tatsache erscheint als besonders bedeutungsvoll, da es gerade die
Aspekte sozioökonomischer Modernisierung waren, die den Schlussteil dieses
Andenromans bestimmen, wie noch zu zeigen sein wird. Bei der Romangattung
handelt es sich freilich nicht um ein in ausländischen Händen befindliches,
sondern ein von einer Peruanerin selbst benutztes und bewusst eingesetztes In-
strument literarischer und gesellschaftlicher Modernisierung. Der Erzähltext
3 Matto de Turner, Clorinda: Aves sin nido. La Habana: Casa de las Américas 1974, S. 7;
vgl. auch dies.: Aves sin nido (novela peruana). Lima: Imprenta del Universo de Carlos Prinz
1889 (Faksimile-Reprint Ann Arbor – London 1979).
930 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena
4 Vgl. hierzu Asholt, Wolfgang / Ette, Ottmar (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissen-
schaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2010; zur Rezeption
dieses Begriffes in Lateinamerika vgl. Ette, Ottmar / Ugalde Quintana, Sergio (Hg.): La filología
como ciencia de la vida. México, D.F.: Universidad Iberoamericana 2015.
5 Matto de Turner, Clorinda: Aves sin nido, S. 7.
6 Vgl. hierzu auch Müller, Hans-Joachim: Clorinda Matto de Turner: „Aves sin nido“. In: Ro-
loff, Volker / Wentzlaff-Eggebert, Harald (Hg.): Der hispanoamerikanische Roman. Band 1: Von
den Anfängen bis Carpentier. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992, S. 78–91.
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 931
Es war ein wolkenloser Morgen, an den eine vor Glück lächelnde Natur den Hymnus zur
Anbetung des Schöpfers ihrer Schönheit erhob.
Das Herz gab sich, ruhig wie das Nest einer Taube, der Betrachtung dieses großarti-
gen Gemäldes hin.
Der einzige Platz des Dorfes Kílac misst dreihundertvierzehn Quadratmeter, und der
Weiler hebt sich ab, indem er die bunten, ofengebrannten Ziegeldächer mit den einfachen,
von unbearbeitetem Holz gestützten Strohdächer vermengt, so dass sich der Unterschied
zwischen dem Namen Haus für die Notablen und Hütte für die Naturales herausschält.8
7 Vgl. hierzu die Ausführungen in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 425 ff.
u. 733 ff.
8 Matto de Turner, Clorinda: Aves sin nido, S. 9.
932 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena
Aus dem Beginn dieses Romans habe ich Ihnen die ersten drei Sätze ausgewählt,
die als Abschnitte jeweils eine Rahmung bilden, welche zunächst die herrliche
Natur, dann die Ansicht dieser Natur durch den Menschen als ein Gemälde und
schließlich die Wohnstätte des Menschen porträtieren: ein Andendorf, das be-
reits von Anfang an in seiner sozialen Differenzierung und Gegensätzlichkeit vor
Augen geführt wird. Wir befinden uns in dem kleinen peruanischen Andenstädt-
chen Kíllac, einem doch etwas heruntergekommenen Provinznest um das Jahr
1885. Und die gesellschaftliche, in der Natur nicht vorhandene Spaltung lässt
sich bereits an den Benennungen und an den Häusern im Sinne distinktiver
Merkmale ablesen.
Diese Häuser und Hütten bilden wiederum den Rahmen für das Geschehen
auf diesem einzigen Platz, formieren also jene Arena, in welcher gleich schon
die Helden der zu berichtenden Ereignisse erscheinen werden. Der schöne Mor-
gen weist schon auf diesen Auftritt; und dass er wolkenlos ist, zeigt nicht nur
den guten Willen der Natur, sondern ermöglicht auch den Überblick, der uns
Kíllac gleichsam im Vogelflug zeigt. Clorinda Matto de Turner bedient sich
einer jahrtausendealten literarischen Konvention der abendländischen Litera-
tur, indem sie das Geschehen an einem Morgen beginnen lässt.
Die belebte wie die unbelebte Natur haben noch ein höheres Wesen über
sich, das alles mit Leben erfüllt. Nicht ohne Hintersinn wird dieses höhere
Wesen als Autor bezeichnet, wodurch sich ein eigenartiges Spannungsverhält-
nis zwischen der Schöpfung der Natur und der Schöpfung dieser Fiktion ergibt:
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde das Gottesprädikat auf den literarischen
Schöpfer übertragen und entsakralisiert.9 Gott in seiner Schöpfung, der „Autor
de su belleza“, ist von Beginn an in der Natur präsent, die in der Großschrei-
bung gleichsam personifiziert wird und mit den „naturales“ in ein eigentümli-
ches Spannungsverhältnis tritt, stehen diese doch auf Seiten der Stadt und
damit der Kultur.
An die Seite des Schöpfergottes tritt in der Kontemplation aber der Mensch
mit einem Herzen, das so ruhig wie das Nest einer Taube sei, womit durch die-
sen Vergleich sofort die dem Roman durch den Titel vorgegebene Metaphorik
des Vogelnestes eingeblendet wird. Die Taube – auch sie Bestandteil der Drei-
faltigkeit – zählt zweifellos nicht zu den Vögeln ohne Nest, sondern wäre eher
jenem menschlichen Herzen zuzuordnen, das aus der Kontemplation dieser
Szene den Text entwickeln wird. Und an erster Stelle folgt die auf den Quadrat-
meter genaue Beschreibung des peruanischen Örtchens.
9 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 42 ff., 52 ff., 811 ff., 902 ff.
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 933
wird bereits deutlich, dass Clorinda Matto de Turner das Fortbestehen kolonialer
Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse unter dem Deckmantel politisch un-
abhängiger republikanischer Formen scharf kritisiert und den Roman als Waffe
gegen diese evidenten Ungerechtigkeiten einsetzt. Wir begreifen die Gründe für
die gegen sie eingesetzten Zwangsmittel nun besser: Eine gesellschaftliche Elite
fürchtet um den Fortbestand ihrer Privilegien – eine Situation, an der sich in den
meisten Ländern Lateinamerikas bis heute wenig verändert hat.
Zu den positiven Gestalten des Romans zählt der noch junge Sohn des kor-
rupten „Gobernador“ Pancorvo namens Manuel. Er weiß noch nicht, dass er –
ebenso wie die mestizische Schönheit Margarita Yupanqui – ein unehelicher
Nachkomme des vermaledeiten Priesters ist, der seine Stellung im Dorf unter an-
derem zur Erzwingung von Liebesdiensten ausnutzte. Auch dies ist ein Thema,
das die Katholische Kirche bis heute so gut als möglich unter den Teppich kehrt.
Da bleibt freilich die Frage offen, warum gerade seine Kinder so schöne und mo-
ralisch integre Menschen sind. Aber oft, so trösten wir uns, stammen die guten
Früchte eben vom Baum des Bösen.
Der Roman jedenfalls treibt – Sie haben es schon erraten! – auf die unlösbare
Problematik des Inzesttabus zu, da sich die beiden jungen Leute romantisch
rasch und natürlich unsterblich ineinander verliebt haben. Denn sie können
nicht ahnen, dass sie denselben abgrundtief bösen Vater haben. Der Roman
kann hierfür keine Lösung mehr anbieten, sondern nur das Tabu noch stärker
zementieren. Er kann allenfalls dafür sorgen wollen, dass derlei Vorkommnisse
nicht mehr geschehen – und Sie sehen, hier liegt die ‚Moral von der Geschicht‘,
von der die Autorin in ihrem Vorwort sprach: Traue keinem Priester nicht! – vor
allem unter den Vorzeichen des unhinterfragbaren Zölibats. Das romantische In-
zestmotiv wird in Aves sin nido fortgeschrieben, zugleich aber unter einen gesell-
schaftspolitischen und religionskritischen Blickwinkel genommen. Dass eine
Frau allein diese Problematik nicht erfolgreich bekämpfen konnte, leuchtet aus
heutiger Sicht ein – in einer Gegenwart, in welcher diese Probleme noch immer
nicht beseitigt wurden.
Die herzensgute Lucía verkörpert den Typus der peruanischen Schönheit,
doch sagt ihr Marcela Yupanqui auch, dass sie das Gesicht jener Jungfrau habe,
zu der sie immer beteten. Kein Wunder also, dass sich die „candorosa paloma“
im Herzen Lucías rührt, als sie von der rücksichtslosen Ausbeutung Marcelas
und ihrer Familie erfährt. Die Ausbeutung der indigenen Bevölkerung geschieht
auf vielfache, im Roman teils dargestellte, teils als Wissen vorausgesetzte Weise
die von der „mita“ über den „reparto antelado“10 bis hin zu kleineren Formen
wie der „carta de recomendación“ reicht, wobei die Indianer stets gezwungen
sind, ihre Arbeit – und bei den Frauen teilweise auch ihren Körper – unentgelt-
lich zur Verfügung zu stellen. Die Abhängigkeiten der indigenen Gruppen aus
der Kolonialzeit wurden im andinen Raum Perus also nicht beseitigt, sondern
noch durch republikanische Ausbeutungssysteme ergänzt. Dies überrascht nicht,
war die Trägerschicht der hispanoamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung
doch die kreolische Oberschicht, die sorgsam darauf achtete, dass keines ihrer
zahlreichen Privilegien beim Übergang in die Independencia verlorenging. Die
Verfasserin von Aves sin nido, selbst aus der Oberschicht stammend, auf dem vä-
terlichen Großgrundbesitz aufgewachsen und später mit einem englischen Groß-
grundbesitzer verheiratet, kannte diese Bedingungen nur zu gut.
Die vorzügliche Aufgabe des Erzählerdiskurses ist es immer wieder, die Le-
serschaft auf einige Funktionsweisen derartiger Abhängigkeitsverhältnisse in
denunziatorischem Ton aufmerksam zu machen, so dass die gesellschaftskriti-
sche Färbung des Romans nicht nur den Stimmen der einzelnen Figuren, son-
dern vor allem auch dem zentralisierenden Erzählerdiskurs überantwortet wird.
Lucía jedenfalls beginnt bald zu verstehen, dass sich hinter den „seres civiliz-
ados“ dieses Ortes in Wirklichkeit „mónstruos de codicia y aun de lujuria“,11
sich hinter den scheinbar Zivilisierten also wahre Ungeheuer verstecken, die
letztlich barbarisch handeln sowie Neid und Wollust ergeben sind.
Die Zivilisierten erscheinen hier als die Wilden und Barbaren,12 doch wird
dieser Gegensatz nicht etwa aufgelöst, sondern nur verschoben, zeichnet sich
der Roman doch sehr wohl auf kulturtheoretischer Ebene durch eine Struktur
aus, die an der Präponderanz abendländischer Kulturmodelle keinen Zweifel
lässt. Clorinda Matto de Turner war keineswegs eine Revolutionärin: Sie war
ebenso eine Vertreterin des christlichen Glaubens an Gott wie eines Gesell-
schaftssystems, in welchem sie groß geworden war.
Allerdings kämpfte sie sehr wohl gegen die Abhängigkeiten der Frau in
einem phallokratischen System sowie gegen die Ausbeutung der indigenen Be-
völkerung durch Reiche, die noch reicher werden wollten. Ihr Kampf richtete
sich gegen die konkreten Praktiken und gegen die „abusos“, gegen alle Formen
des Missbrauchs der Macht, die dem christlichen Geiste von Schöpfer und
Natur nach ihrer Ansicht zuwiderliefen und gegen die Gleichheit von Mann und
Frau verstießen. Doch dies reichte schon, um sie in Peru zur Persona non grata
11 Ebda.
12 Vgl. zu diesem Gegensatz Bitterli, Urs: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer
Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München: dtv 1982.
936 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena
zu machen und ins Exil zu treiben. Erst Jahrzehnte nach ihrem Tod wurden ihre
sterblichen Überreste wieder dorthin überführt.
Wie sehr sich der indigenistische Ansatz von Clorinda Matto de Turner von
jenem indianistischen unterscheidet, für dessen Aufbau und Funktionsweise
uns in unserer Vorlesung über die Romantik zwischen zwei Welten die Romane
Sab von Gertrudis Gómez de Avellaneda und Enriquillo von Manuel de Jesús
Galván als Beispiele gedient hatten, mag an der das dritte Kapitel eröffnenden
Passage deutlich werden, welche den die gesamte Erzählstruktur durchziehen-
den Modus des Erzählerdiskurses vorstellt. Schauen wir uns eine der vielen Me-
thoden ständiger Ausplünderung der „Indios“ einmal näher an:
In jenen Provinzen, in denen Alpacas gezogen werden – und der Handel mit Wolle ist
von wenigen Ausnahmen abgesehen die hauptsächliche Quelle des Reichtums –, gibt es
die Sitte des Reparto antelado, den die Handel treibenden Potentaten, die wohlhabends-
ten Leute des Ortes, ausüben.
Für die von ihnen aufgezwungenen Vorauszahlungen, welche die Laneros leisten,
legen sie einen so lächerlich niedrigen Preis fest, dass der Ertrag das notwendig verwen-
dete Kapital um ein Fünfhundertfaches übersteigt; dies ist ein Wucherzins, der zusätzlich
zu den begleitenden Zwangsmitteln geradezu die Existenz einer Hölle für diese Barbaren
notwendig macht.
Die indigenen Besitzer von Alpacas wandern aus ihren Hütten in den Zeiten des Re-
parto aus, um nicht jenes vorgestreckte Geld zu erhalten, das für sie ebenso verflucht ist
wie die dreizehn Silberlinge des Judas. Doch sorgt die Aufgabe der Heimstatt und das Um-
herirren in den einsamen Weiten der hohen Berge für ihre Sicherheit? Nein...13
Der Roman tritt an dieser wie an ähnlichen Stellen in die Funktion einer sozio-
logischen Analyse. Wucher, Zwangsverkauf zu lächerlichen Preisen, Ausbeu-
tung und Verfolgung: Dies sind die Umstände jener „costumbres“, die von der
Erzählerfigur in dieser Passage vorgestellt und kommentiert werden. Dass die
Vertreter einer solchen Zivilisation als Barbaren erscheinen, überrascht ebenso
wenig wie die Verknüpfung eines derart radikalen Wuchers mit dem Namen
Judas; eine Verbindung mit antisemitischem Beigeschmack, die gleichsam inner-
halb der christlichen Tradition eingespeichert und jederzeit abrufbar scheint.
Denn wo in christlichen Ländern Wucherzinsen erhoben werden, ist der Vor-
wurf – und der Erzählerdiskurs macht an dieser Stelle keine Ausnahme – an die
Adresse der Juden nicht weit.
Antisemitische Tendenzen sind freilich in dieser Passage lediglich implizit
vorhanden und sollen der sozial engagierten Autorin auch nicht unterstellt wer-
den – selbst wenn später die finanziellen Transaktionen Don Fernandos an
und den Schlangen wie etwa dem Pfarrer Pascual Vargas andererseits, der mit
einem „nido de sierpes lujuriosas“ verglichen wird, einem wollüstigen Schlan-
gennest, das von jeglicher Frauenstimme sofort erweckt und befeuert würde.
Der Pfarrer oder der Gobernador Pancorvo sind für die Bitten der Taube Lucía un-
zugänglich, die ein gutes Wort für die Indianer im Allgemeinen und für Marcela,
die Frau Juan Yupanquis, im Besonderen einlegen möchte. Lucías Taubenherz,
ihr „corazón de paloma“, kann hier nichts ausrichten: Für die Dorfpotentaten ist
die Limanerin eine „forastera“, eine Ausländerin, welche (wie die Romanauto-
rin selbst) die alten „costumbres“ der Region – und gemeint ist damit die Aus-
beutung letztlich kolonialen Typs – über den Haufen werfen und so die ererbte
patriarchalische Ordnung stören wolle. Sie solle einfach verschwinden – ganz
so, wie es später Clorinda Matto de Turner widerfuhr.
Die notablen Potentaten und ihre Anhänger werden sprachlich im Roman
als dumm und beschränkt abqualifiziert, da sie ständig Wörter wie „franca-
mente“ und „cabal“ wiederholen, wobei gerade letzteres Wörtchen nicht unin-
teressant ist, da es in José Mármols Amalia bereits Zeichen des Barbarischen
und Ungebildeten war.14 In jedem Falle ist diesen Sprechern klar, dass gegen-
über den Ausländern aus Lima die alten „costumbres“ von „mita“ und „re-
parto“ aufrechterhalten werden müssten. Erneut wird deutlich, dass an diesem
Punkt mit den „costumbres“ gerade auch das Überkommene, das dringend Ab-
zuschaffende und nicht etwa das nostalgisch zu Konservierende gemeint ist.
Zu ihnen gehört auch, dass die „Potentados“, die juristisch, kirchlich, öko-
nomisch und politisch alle Macht in ihren Händen konzentrieren, die kleine
vierjährige Tochter Rosalía mitnehmen, als ihr Vater nicht die geforderte Menge
Alpaka-Wolle auf den Tisch legen kann. Sie soll verschleppt und wie viele an-
dere dann nach Arequipa weiterverkauft werden; ein Menschenhandel reinsten
Stils, wie wir ihn oft nicht nur im 19. Jahrhundert vorfinden. Nicht umsonst
heißt es an anderer Stelle, dass oft in den „pueblos chicos“ eben „infiernos
grandes“ herrschten: Die weißen Notablen machen der indigenen Bevölkerung
das Leben wahrlich zur Hölle.
Dies gilt gerade auch für die indigenen Frauen, die einerseits auf Grund ihrer
ethnischen Zugehörigkeit, andererseits wegen ihres Geschlechts doppelt diskri-
miniert werden. Eine Hölle ist das Leben auch für die schöne Margarita, die sich
im Dorf verdingen muss und aufgrund ihrer Schönheit (die wenig später in ihrer
Exuberanz übrigens als Folge des Klimas gedeutet wird) dem Nachfolger des
zum Bischof avancierten Pfarrers ins Auge sticht. Fürwahr: die katholische Kir-
che kommt in Clorinda Matto de Turners Vögel ohne Nest nicht gut weg, zumal
14 Vgl. das Kapitel zu Mármol in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 659 ff.
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 939
auch der Mordplan an den Maríns im Hause des Pfarrers ausgeheckt und be-
schlossen wird! Fernando und Lucía haben freilich schon erkannt, wie gefährdet
Margarita im Dienste eines solchen Seelenhirten ist: Sie wollen für ihre Erziehung
aufkommen und sie aus den Fängen einer dem Missbrauch zugewandten und
bestenfalls alles vertuschenden Kirche befreien.
Der Erzählerdiskurs beschränkt sich keineswegs auf ein kleines Andendorf
namens Kíllac. Ein gutes halbes Jahrhundert nach der politischen Unabhängig-
keit, so stellt die Erzählerstimme fest, würde sich das Landesinnere immer wei-
ter von der Zivilisation entfernen. Dem Land Peru gingen immer mehr wichtige
Bereiche verloren. In diesen und vergleichbaren Passagen wird die Frage des
Nationalstaats als Staatsräson gestellt: Sie ist nicht hinterfragbar, sondern nur
mehr oder minder gut koordinierbar und durchsetzbar. Allerdings lassen sich
die Gesetze des Staates nicht mit der verschworenen Gemeinschaft von Geset-
zesbrechern, mit jener „trinidad aterradora“, mit jener grässlichen Dreifaltigkeit
von Pfarrer, Gobernador und Cobrador oder auch mit einem indianischen Kazi-
ken wie in Kíllac durchsetzen.
Denn diese Trinität der Macht steht für Kíllac, aber auch für viele andere
Städte und Dörfer in den peruanischen Anden, dies macht die Erzählerstimme
unmissverständlich klar. Kíllac ist folglich nur ein repräsentativer Fall und kei-
neswegs eine besonders schreckliche Ausnahme von der Regel. Die erwähnte
Dreifaltigkeit der Macht steht hier auf ähnliche Weise für die Barbarei, wie dies
in anderen romantischen Romanen Lateinamerikas der Fall ist – denken Sie an
José Mármols Amalia! Es erfolgt ein Angriff gegen das Haus der Zivilisierten,
die zwar überleben, aber mitansehen müssen, wie sie verteidigende Indianer
(unter ihnen die Yupanquis) im Kugelhagel sterben und die geschmackvolle In-
neneinrichtung ihres Hauses zertrümmert wird.
Auch in diesem Roman findet sich mithin erneut, diesmal in der andinen
Area, dieselbe Raumaufteilung wie bei Mármol: Das Intérieur ist Chiffre des Zivi-
lisierten, in welche die Horde der Barbaren eindringt und alles zerstört. Das Haus
wird – zumindest vorübergehend – zu einer Casa tomada im Sinne der Erzählung
Julio Cortázars.15 Nach diesem Angriff ist auch klar, dass die Maríns die Kinder
der Yupanquis, diese „palomas sin nido“, diese „Tauben ohne Nest“, bei sich
aufnehmen und erziehen werden. Diese Formulierung kehrt nochmals wieder,
als Marcela in den Armen Lucías an ihren Verwundungen stirbt und ihre Töchter
15 Vgl. hierzu den Ausklang des Beitrags von Ette, Ottmar: Existe-t-il une frontière entre dé-
mocratie et dictature? Hans Robert Jauss, Michel Houellebecq, Cécile Wajsbrot. In: Suter, Pat-
rick / Fournier-Kiss, Corinne (Hg.): Poétique des frontières. Une approche transversale des
littératures de langue française (XXe – XXIe siècles). Genf: Metis Presses 2021, S. 37–78.
940 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena
als „palomas sin nido, sin árbol y sin madre“ bezeichnet: Es gibt kein Nest, kei-
nen Baum und keine Mutter für diese verlorenen Menschlein!
Diese etwas redundante Wiederholung weist im Übrigen auf Konstruktions-
fehler, die sich in den szenischen Aufbau des Romans von Clorinda Matto de
Turner eingeschlichen haben. Immerhin hat Marcela auf dem Totenbett noch
Zeit, Lucía ein Geheimnis anzuvertrauen, das uns die auktoriale Erzählerfigur
zunächst nicht weitererzählen will. Es ist schlicht die Information, dass Margarita
nicht die Tochter Yupanquis ist, sondern dass der Pfarrer ihr einst Liebesdienste
abgepresst hatte, an denen die Mutter keinerlei Schuld trägt. Es handelt sich viel-
mehr um den massiven Missbrauch indigener Frauen, die eigentlich unter dem
besonderen Schutz der Katholischen Kirche und ihrer Vertreter stehen sollten.
Bemerkenswert ist, dass die gesamte nächtliche Szenerie nicht von der
auktorialen Erzählerfigur kommentiert, sondern von der ‚amante en titre‘ dar-
gestellt wird, der offiziellen Geliebten des Pfarrers, der diese losgeschickt hatte,
um Erkundigungen einzuziehen. Es handelt sich also um eine Erzählsituation
mit deutlich personalen Zügen, da auch das Berichtete Lücken aufweist, inso-
fern die junge Frau nicht unmittelbar dabei war, sondern ihre Informationen
selbst mühsam erfragen muss. Clorinda Matto de Turner bemühte sich offenkun-
dig, die neuen narrativen Entwicklungen in ihren Roman zu integrieren und
damit die allwissende Erzählerposition an einigen Stellen ihres Erzähltextes zu-
mindest zeitweise aufzugeben. Von einer grundlegenden erzähltechnischen Neue-
rung kann man mit Blick auf Aves sin nido freilich nicht sprechen: Die Gestaltung
des gesellschaftskritischen Inhalts ließ bei der peruanischen Schriftstellerin die
formalen Aspekte und Neuerungen in den Hintergrund treten.
Ein zusätzlicher Aspekt sei noch hervorgehoben: Frauen spielen in diesem
Roman der peruanischen Autorin wichtige, aber niemals entscheidende Rollen!
Lucía ist der gute Geist, der über Don Fernando schwebt. Die Frau des Goberna-
dor ist der Inbegriff der guten „Serrana“, aber sie ist nicht in der Lage, dem un-
moralischen Treiben ihres Mannes ein Ende zu bereiten. Marcela ist gewiss
aktiver als ihr Mann Juan, doch kann auch sie nicht wirklich die Initiative er-
greifen und die Geschicke der Familie lenken. Ihre beiden Töchter, die nestlo-
sen Tauben, sind letztlich nur Opfer der sie umgebenden Gesellschaft. Clorinda
Matto de Turner stellte eine patriarchalisch strukturierte peruanische Gesell-
schaft dar, in welcher die Frauen bestenfalls die ‚guten Geister‘ ihrer Männer
sein können, doch in deren Handeln nur selten einzugreifen vermögen.
Daher kann es nicht verwundern, wenn die aktiven, befreienden Kräfte
wiederum von Männern ausgehen, von denen ebenso die negativen Kräfte her-
rühren. Neben Don Fernando Marín ist dies vor allem der junge Manuel, ein
Student der Jurisprudenz im zweiten Jahr, der seine Überzeugungen in einer
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 941
wichtigen Passage fast sprachrohrartig (für die peruanische Autorin) auf den
Punkt bringt:
Dies ist der Kampf der peruanischen Jugend, welche sich in diesen Regionen in der Ver-
bannung befindet. Ich habe die Hoffnung, Don Fernando, dass die Zivilisation, welche
die Fahne des reinen Christentums schwingend verfolgt wird, sich bald schon manifes-
tiert und dabei das Glück der Familie und in logischer Konsequenz das Glück der Gesell-
schaft errichtet.16
In diesen etwas pathetischen Äußerungen des jungen Mannes werden die Stand-
punkte der peruanischen Jugend im Sinne der realen, textexternen Autorin for-
muliert und auf den Punkt gebracht. Es gibt auf dieser Ebene keine ethnischen,
sozialen, ökonomischen, politischen, kulturellen oder religiösen Differenzen: Der
junge Manuel spricht für die nationale Jugend Perus insgesamt. So steht auch
das Individuum für die Nation, die Familienstruktur für die angestrebte Gesell-
schaftsstruktur: Alles löst sich in harmonischen und zugleich homogenen Bezie-
hungen auf.
Spuren der Differenz sind freilich erhalten, weist doch allein schon die Formel
der Verbannung darauf hin, dass letztlich das Zentrum der hier angepriesenen Zi-
vilisation (der Zivilisation überhaupt) Lima ist. Eckpfeiler dieser Vorstellungen
sind ein reines Christentum, die Achtung und Wahrung der Familie und all jener
Werte, für welche die abendländische Kultur stets angerufen wird – im Grunde
nichts also, wofür man die Autorin hätte verfolgen und exkommunizieren müssen.
Es sei denn, man betrachtete sich beispielsweise von Seiten der Katholischen Kir-
che, die im Roman in ihren massiven Missbrauchspraktiken unter Feuer genom-
men wird – und nicht als Vertretung eines reinen Christentums.
An derartigen Schlüsselstellen ist zum einen wieder die uns hinlänglich be-
kannte Strukturanlage präsent, welche die Familie und die Geschlechterbeziehun-
gen zum Nukleus der Gesamtgesellschaft erklärt und somit die Funktionsweise
einer nationalen Allegorese begründet.17 Auf einer zweiten Ebene, jener der unter-
schiedlichen kulturellen Pole, die in Lateinamerika von entscheidender Bedeu-
tung sind, gilt es festzuhalten, dass der abendländischen Kultur letztlich auch die
indigenen Bevölkerungssegmente einzugliedern sind, wenn wir den Vorstellungen
folgen, welche der Roman entwickelt. In der frühindigenistischen Position Clor-
inda Matto de Turners scheinen hier ideologische Elemente auf, die sehr wohl aus
der indianistischen Tradition stammen und die kulturelle Vielpoligkeit im ent-
18 Vgl. zu Cirilo Villaverde das entsprechende Kapitel in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei
Welten, S. 695 ff.
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 943
19 Vgl. hierzu die Ausführungen in ebda., passim; sowie in Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre
Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1994; sowie
dies. (Hg.): Die schöne Leiche. Weibliche Todesbilder in der Moderne. Wien: Goldmann 1992.
944 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena
ausgerichtet! Dies ist wirklich eine recht intelligente und originelle Wendung,
um gerade den Wirklichkeit abbildenden Charakter der romanesken Fiktion zu
unterstreichen und die Differenz zwischen Fiktion und außersprachlicher Reali-
tät zu betonen.
Die literarische Darstellung des Todes des unglückseligen Priesters wird
versöhnlich, allem Schlangengezische zum Trotz, könne man ihm schließlich
doch nur ein requiescat in pace nachrufen. Dies fällt umso leichter, als auch die
anderen Mitglieder der schrecklichen Dreifaltigkeit nach einer politischen Wen-
dung zum Guten in Lima 1885 aus der Macht gedrängt werden – eine klare An-
spielung auf die Präsidentschaft von General Cáceres, dessen Parteigängerin
Clorinda Matto de Turner war und dessen Politik sie auch in einer als propagan-
distisch zu nennenden Zeitschrift vertrat. Von Lima ausgehend also wird die Situ-
ation im andinen Hochland verändert und verbessert: ein deutliches Plädoyer für
eine nationale, zentralisierte peruanische Politik.
Kein Wunder also, dass die Maríns mit allen guten Figuren des Romans nun
nach Lima aufbrechen, um wieder den Boden der Zivilisation und den Hort des
Fortschritts zu erreichen. Selbst eine Reise Lucías und Fernandos nicht nach
Paris oder London, sondern nach Madrid ist geplant, während die armen ‚Vögel
ohne Nest‘ im allerbesten Colegio zu wunderbaren Müttern und Ehefrauen aus-
gebildet werden sollen. Somit ist nach dem politischen Umschwung alles prima
in Lima: Der Nationalstaat zieht die Zügel an und bringt Ordnung in die andinen
Gebirgsregionen, die nun von den hauptsächlichen Protagonisten des Romans
verlassen werden können!
Wir stoßen an dieser Stelle zugleich auf die nationalstaatlich gezogenen
Grenzen des Indigenismus der Clorinda Matto de Turner. Sicherlich: Selbst ein
Mario Vargas Llosa wird hundert Jahre Einsamkeit später letztlich keine ande-
ren Vorstellungen auf der politischen Ebene entwickeln als eben jenen Ver-
such, die Bevölkerung der andinen Bergregionen – so als wären es spanische
Bauern – in die spanischsprachige und einzig seligmachende Zivilisation einzu-
beziehen! Der peruanische „Indigenismo“ wird freilich in der Folge andere, radi-
kalere Lösungsansätze vorschlagen und literarisch vorführen, was wir in einer
der nächsten Vorlesungen am Beispiel José Carlos Mariáteguis erkunden wer-
den. Clorinda Matto de Turner war hierfür eine Wegbereiterin, keineswegs aber
eine Verfechterin derartiger Ideen, wie sie später von Mariátegui oder José
María Arguedas vorgetragen und entfaltet wurden.
Bleibt die Frage der Rolle der Frau in der künftigen Gesellschaft Perus. Wir
hatten gesehen, dass Clorinda Matto de Turner durch ihre vielfältigen Aktivitä-
ten für die Frauenbildung ein breites Terrain zu erobern gesucht hatte. Was fin-
det sich hiervon im Roman? Erstaunlicherweise keineswegs Positionen, die
über eine grundsätzlich passive Frauenrolle hinausgingen. Die weibliche Licht-
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 945
gestalt dieser Seiten der peruanischen Schriftstellerin ist – omen est nomen –
die schöne Lucía, die ihrem Manne Don Fernando die ideale (da nicht zuletzt
ungleiche) Partnerin ist. Dies möge die folgende Passage belegen:
Lucía wurde geboren und wuchs auf in einer christlichen Heimstätte, als sie die weiße
Tunika der Braut anlegte, für sich das neue Heim mit den Freuden akzeptierte, welche ihr
die Zärtlichkeit ihres Ehemannes und die Kinder gaben, wobei sie diesem die Geschäfte
und die Turbulenzen des Lebens überließ, von jener großen Sentenz der spanischen
Schriftstellerin hingerissen, welche in ihrer Kindheit, am Rockzipfel ihrer Mutter sitzend,
mehr als einmal las: „Vergesst, Ihr arme Frauen, Eure Träume von Emanzipation und Frei-
heit. Dies sind Theorien kranker Hirne, welche niemals in die Praxis umgesetzt werden kön-
nen, weil die Frau dazu geboren wurde, um dem Hause poetischen Charme zu schenken.“
Lucía war zum Magisterium der Mutterschaft aufgerufen, und Margarita war die
erste Schülerin, an der sie die Weitergabe der häuslichen Tugenden erprobte.20
Es wäre sicherlich etwas übereilt und zu simpel, diese Position mit derjenigen
Clorinda Mattos gleichzusetzen, wie dies etwa Müller tut.21 Doch vermittelt uns
der Roman keine alternativen Frauenbilder, welche den kranken Geist einer fal-
schen Emanzipation Lügen gestraft hätten. Die Frauenbilder im Roman Aves sin
nido sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache: Die Frauen sind Vögel,
die – psychoanalytisch nicht uninteressant – ihr Nest in einem starken Baum
finden müssen, um sich dann den geschaffenen Innenräumen zuzuwenden. In
logischer Konsequenz wäre dann auch – verschöbe man metonymisch die indi-
viduelle hin zur kollektiven Ebene – die Aufgabe der Schriftstellerin jene, das
Innere des nationalen Hauses zu poetisieren.
Die Geburt bestimmt das Schicksal eines Geschlechts: Frauen sind dazu ge-
boren, die Schönheiten des Hauses zu vergrößern. Dies war jedoch eine Rolle,
mit der sich Clorinda Matto de Turner in ihrem eigenen Frauenleben niemals
zufrieden gab. Sie kämpfte ebenso auf individueller wie vor allem auf kollekti-
ver Ebene um eine andere Selbstbestimmung ihres Geschlechts und für jene
emanzipierte Freiheit, die sie selbst auch vorlebte. Genau deshalb wurde sie
von den konservativen, katholischen, patriarchalischen Kräften aus diesem
Haus der peruanischen Nation hinausgeworfen. An den in ihrem Roman ent-
worfenen Frauenbildern hatte dies sicherlich nicht gelegen, verwehrte sie ihren
fiktiven Frauengestalten doch die emanzipierte freiheitliche Lebensgestaltung,
wohl aber an ihrer eigenen Lebenspraxis, die innerhalb der patriarchalisch und
katholisch strukturierten politischen Welt Limas offenkundig als gefährlich
zehn Meilen pro Stunde – und dabei auch noch zu lesen wie bei Oliverio Gi-
rondo inmitten urbaner Landschaften: Das die Moderne! Aber wie es so geht mit
ihr: keine Modernisierung ohne Unfall! … In unserem peruanischen Roman pas-
siert dies, weil auf der Brücke unbeaufsichtigt einige Kühe stehen.
Es kommt, wie es kommen muss: Mit der „destructora velocidad del rayo“,
also mit der Blitzgeschwindigkeit des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts,
rast der Zug auf dieses Hindernis zu und erfasst eine zuguntüchtige Kuh. Glück-
licherweise geht alles noch glimpflich ab, was also für die importierte Technik
und die importierte Modernisierung spricht: Die Zuginsassen kommen, anders
als die betroffenen Länder, mit leichten Schrammen und Blessuren davon. Der
Zug fährt bald schon weiter, als ob es keinen Unfall gegeben hätte: So leicht
lässt sich die Moderne nicht aufhalten!
Bei der Ankunft in der Stadt steht schon eine große Menschenmenge am
Bahnhof, die bereits vom Telegraphen über das drohende Unglück informiert wor-
den ist: Eisenbahn und Telegraph, die Embleme der Modernisierung, leiten über
zum Leben in der Hauptstadt Lima. Selbstverständlich steigen Don Fernando und
seine Familie im Hotel Imperial ab, das natürlich einem Franzosen gehört, einem
Monsieur Petit. So ist das halt mit der Moderne an der Peripherie: Sie ist nicht
hausgemacht, sondern wird von Ausländern und von ausländischen Mächten zu-
bereitet – Briten, US-Amerikaner und Franzosen steuern diesen Prozess.
Diese Szenerie ist ein wahres Fraktal22 der abhängigen und peripheren Mo-
dernisierung Perus im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts und Zei-
chen jenes Hurrikans, welcher die dritte Phase beschleunigter Globalisierung
gerade für die Länder Lateinamerikas darstellte. In diesem Fraktal lassen sich
wie in einem „Modèle réduit“, wie unter einem Brennglas, alle Dimensionen
und Aspekte gesellschaftlicher wie ethnischer Ungleichheiten erkennen, wel-
che die andinen Gesellschaften in dieser Area während der dritten Phase be-
schleunigter Globalisierung prägten.
Im Rahmen dieser Beschleunigungsphase aber wurden zugleich die tradier-
ten Gesellschaftsmuster und die überkommenen Herrschaftsmodelle – in Gestalt
der unheiligen Trinität der Macht in Clorinda Mattos Aves sin nido – brüchig. Die
peruanische Schriftstellerin hat in ihrem Leben wie in ihren literarischen Werken
die Geburt als Frau, aber auch die Geburt indigener Menschen in die noch von
traditionellen Mustern beherrschten Gesellschaftsordnungen in den andinen Ge-
birgsregionen wie in der Stadt in den Fokus gerückt. Sie hat gezeigt, wie diese
22 Vgl. zur fraktalen Dimension literarischer Texte im Kontext der Entstehung der Literaturen
der Welt Ette, Ottmar: WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart: J.B. Metzler
Verlag 2017.
948 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena
Geburt – ganz im Sinne von Flauberts Emma Bovary – das Leben einer Frau de-
terminiert und auch der indigenen Bevölkerung nur geringe Chancen zur Partizi-
pation in einer solchermaßen hierarchisierten Gesellschaft lässt.
Dass das Hineingeborenwerden als Frau und als „Indígena“ in derart tradi-
tionalistische Gesellschaftsstrukturen das Leben insbesondere für die indige-
nen Frauen vorbestimmt, zeigte sie ebenso auf wie die Notwendigkeit, gegen
derlei Ungerechtigkeiten anzukämpfen. Ihre gesellschaftlichen Zielvorstellun-
gen waren dabei alles andere als revolutionär. Doch in diesem Kampf ließ Clor-
inda Matto de Turner als Schriftstellerin, als Journalistin und als Frau niemals
nach und gab dafür auch ihre Heimat wie ihr nicht unbeträchtliches Vermögen
auf. Dass dieser Kampf noch weit davon entfernt ist, mit Blick auf die Gleich-
stellung von Frauen oder in Hinblick auf die Gleichstellung indigener Völker
und Gruppen ausgefochten zu sein, haben wir in unseren Vorlesungen sehr
deutlich an einer Vielzahl von Beispielen aus den Literaturen der Welt gesehen.
Begeben wir uns nun wieder nach Europa, um die dortigen Entwicklungen und
sich verändernden Rollenbilder der Geschlechter im Kontext von Geburt und
Sterben, von Leben und Tod zu analysieren!
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
Beschäftigen wir uns folglich mit einem der großen Schriftsteller des europäi-
schen Fin de siècle und zugleich einem der Phänomene und vielleicht sogar
großen Rätsel, welche die Literaturgeschichte bis heute aufgibt, was die Verket-
tung von Literatur, Leben und Geschichte beinhaltet! Beschäftigen wir uns mit
dem Leben eines Dichters, der nicht zuletzt als Kriegsheld und Flieger, als Lieb-
haber und Theatermann auf allen Bühnen berühmt wurde, mit jenem Literaten,
der nach langer Pause Italiens Literatur nicht nur wieder berühmt machen, son-
dern auch an das europäische Niveau heranführen und die Entwicklung der eu-
ropäischen Literaturen maßgeblich mitprägen sollte! Zunächst freilich sollen
Ihnen wie immer einige für unsere Vorlesung wichtige Biographeme helfen,
sich diesem finisekulären Schriftsteller aus Italien anzunähern. Ich darf Ihnen
versprechen, dass es einer der interessantesten Lebenswege ist, die wir bei eu-
ropäischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern des Fin de siècle entdecken
können.
Gabriele D’Annunzio wurde am 12. März 1863 im italienischen Pescara als Sohn
eines reichen Landbesitzers und der Luisa de Benedictis geboren. Er starb am
1. März 1938 im schönen Gardone, wo er im Vittoriale degli Italiani monumental
begraben liegt. Sein Vater täuschte einen nicht vorhandenen Adelstitel vor, den
Gabriele zeit seines Lebens übernahm. 1924 wurde er schließlich als „Principe
di Montenevoso“ vom König und der faschistischen Regierung unter Mussolini
geadelt. Doch zu dieser Entwicklung, die in Kindheit und Jugend des Dichters
noch nicht absehbar war, kommen wir später. Denn zunächst einmal ging er ab
dem 1. November 1874 ins toskanische Prato auf das Real Convitto Cicognini,
wo eine gute Grundlage für seine späteren Studien gelegt wurde. Schon 1879
publizierte der Sechzehnjährige auf eigene Kosten seine erste lyrische Samm-
lung: Primo Vere. Er hatte hochfliegende Pläne …
Nach dem Abitur im Juni 1881 begann er sein literaturwissenschaftliches
Studium in Florenz sowie an der Sapienza in Rom. Er ließ sich in der Ewigen
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-030
950 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
Stadt nieder, wo er bis 1889 blieb und an den Periodika Capitan Fracassa, Fan-
fulla della Domenica und Cronaca Bizantina sowie als Journalist später an der
Tribuna mitarbeitete und mit der aristokratischen Gesellschaft Roms Kontakt
aufnahm. Schon ein Jahr später, im Jahre 1882, veröffentlichte er den Gedicht-
band Canto Novo sowie die Novellensammlung Terra vergine, wobei ihm seine
lebensbejahende Lyrik erste Notorietät verschaffte. 1883 ehelichte D’Annunzio
die Gräfin Maria Hardouin di Gallese, die 1954 verstarb und ihn endgültig in
den Adel aufsteigen ließ. 1889 erschien der erste seiner großen Fin-de-siècle-
Romane unter dem Titel Il Piacere, zu Deutsch Lust, gefolgt von weiteren Roma-
nen, Novellen und Gedichten: Der Schriftsteller erlebte eine höchst produktive
Periode – und mit Il Piacere werden wir uns sogleich auseinandersetzen.
1891 verlässt Gabriele D’Annunzio Rom und schreibt im Atelier seines
Freundes Francesco Paolo Michetti in Francavilla (Abruzzen) L’Innocente (Der
Unschuldige); er reist nach Neapel und beginnt die Mitarbeit an der neapolita-
nischen Zeitung Il Mattino. 1892 erscheinen seine Odi Navali sowie seine Elegie
romane, daneben Kurzromane und erste Übersetzungen im Ausland. Im folgen-
den Jahr stirbt sein Vater; D’Annunzio beginnt mit seiner Arbeit am Roman Il
Trionfo della Morte, der 1894 erscheint und den ich gerne mit Ihnen besprochen
hätte.
1895 lernt Gabriele die berühmte italienische Schauspielerin Eleonora Duse
kennen, mit der ihn von 1897 bis 1902 eine Liebesbeziehung verband. Sein gestie-
genes Interesse am Theater führt ihn gemeinsam mit ihr zur Konzeption eines ita-
lienischen Nationaltheaters. Für Eleonora schreibt er verschiedene Theaterstücke,
darunter 1901 Francesca da Rimini, in dem D’Annunzio den Stoff jener Francesca
aufgreift, deren Liebesbeziehung zu Paolo bereits Dante seine unsterblichen Verse
gewidmet hatte.1 1897 wird D’Annunzio für die Konservativen zum Abgeordneten
gewählt; seine Reden werden berühmt, doch an Parteidisziplin hält er sich nicht.
So wird er schon 1900 nicht wieder ins Parlament berufen. Im selben Jahr er-
scheint bereits sein Venedig-Roman Il Fuoco, der in enger Verbindung zu seiner
Beziehung mit Eleonora Duse steht und mit dem wir uns noch beschäftigen wer-
den. Weitere, ebenfalls sehr erfolgreiche Romane erscheinen, darunter 1910 Forse
che sì, forse che no, der unter dem Titel Vielleicht, vielleicht auch nicht rasch ins
Deutsche übersetzt wird und als Roman des Fliegens, einer der Leidenschaften
des Schriftstellers, der futuristischen Ästhetik nahesteht.2 D’Annunzio ist kein
1 Vgl. hierzu den Auftakt des zweiten Bandes der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: LiebeLesen,
S. 7 ff.
2 Vgl. hier zu den Bezügen zu den frühen italienischen Avantgarden den dritten Band der Reihe
„Aula“ in Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 110 ff.
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 951
Marinetti: Dafür steht er viel zu sehr in der literarischen Tradition der Spätro-
mantik und des Symbolismus. Aber es gibt Überschneidungsfelder, die den
Bereich des Künstlerischen mit dem Politischen verbinden.
Der für seinen luxuriösen Lebensstil bekannte Gabriele D’Annunzio muss
1910 vor seinen italienischen Gläubigern nach Frankreich – zunächst nach
Paris, später nach Arcachon – fliehen und veröffentlicht in der Folge eine Reihe
von Werken in französischer Sprache. Dabei vertont Claude Debussy D’Annun-
zios Le Martyre de Saint-Sébastien; ein Stück, das 1911 in Paris aufgeführt wird.
Als der Erste Weltkrieg ausbricht, die „Grande Guerre“, ist D’Annunzio noch in
Paris; Italien erklärt sich bei Ausbruch des Krieges zunächst noch für neutral.
D’Annunzio sieht seine Stunde für gekommen und greift in die politischen Ge-
schicke ein.
Wie die italienischen Futuristen setzt sich der wieder nach Italien zurückge-
kehrte Schriftsteller begeistert für den Kriegseintritt Italiens ein, was im Folgejahr
zur Realität wird. Am 15. Juli ist der freiwillige Leutnant Gabriele D’Annunzio
zum Kampfe bereit und mietet in Venedig die Casetta Rossa, direkt am Canal
Grande, wo er während des Krieges wohnt und schreibt. Von dort aus werden
eine Vielzahl militärischer Aktionen gestartet. D’Annunzio ist Flieger und Verfas-
ser mehrerer Lobreden auf den Krieg, die einflussreich im Corriere della Sera er-
scheinen. Am 15. Januar 1916 verliert er beim Landen seines Flugzeugs in Grado
ein Auge. Selbst in dieser Situation, in aufgezwungener Dunkelheit und Ruhe,
schreibt er noch immer: Sein Notturno berichtet über eine Zeit der Angst vor einer
Erblindung.
Doch schon ab September kann er seine militärischen Aktivitäten wieder auf-
nehmen: Er ist zum Lanzenreiter von Novara aufgestiegen und versucht, mit sei-
nen Reden die Moral der Soldaten wieder aufzurichten. Am 9. August 1918
erfolgt mit seinem kriegstechnisch sinnlosen, aber weltberühmten Flug über
Wien sein militärisches Husarenstück, bei dem er mit einer italienischen Flug-
zeugstaffel propagandistische Flugblätter, darunter auch einen eigenen Text,
über der österreichischen Hauptstadt abwirft. Diese tollkühne Tat geht in die
Geschichte der Beziehungen zwischen Literatur und Aviatik ein.3
Nach Kriegsende führt er im September 1919 eine Gruppe von Freischärlern
in die Adriastadt Fiume, besetzt sie und inszeniert erstmals in einem patheti-
schen Vorspiel die nationalistischen Rituale des italienischen, aber bald auch
schon europäischen Faschismus. Um Ihn als Führer schart sich eine verschwo-
3 Vgl. hierzu Ingold, Felix Philipp: Literaqtur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 1909–1927.
Mit einem Exkurs über die Flugidee in der modernen Malerei und Architektur. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1978.
952 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
sam in Szene setzte. Neben vielem anderen war Gabriele D’Annunzio vor allem
ein Mensch seiner Epoche.
Schon in seinen römischen Jahren nannte man ihn den ‚Wirbelsturm‘ –
und als solcher wirkte er in der Tat auch in seinem eigenen wie in anderen
Leben. Es war ein skandalträchtiges Leben, immer wieder von enormen Ein-
künften, noch enormeren Schulden und immer wieder neuen Beziehungen zu
Frauen erfüllt, die er im Übrigen mit Geschenken überschüttete und verehrte.
D’Annunzio war zweifelsohne ein Ausnahmemensch; und er inszenierte und
verstand sich auch als solcher. Er war geradezu Chiffre eines zu Ende gehenden
Europa, das nach dem Ersten Weltkriegs letztlich zu existieren aufhörte, sowie
eine Chiffre jenes Übergangs in die Zwischenkriegszeit, die nicht nur in Italien
im Zeichen des aufstrebenden Faschismus und seiner Massenaufmärsche steht.
D’Annunzio hat hier die Zeichen der Zeit mitgeprägt, selbst wenn es schwer-
fällt, ihn in seinen letzten Lebensjahren angesichts seiner Kritik an Mussolini
und Hitler und seines Rückzugs in die Gefilde von Il Vittoriale am Gardasee als
hundertprozentigen Faschisten zu bezeichnen. Zahlreiche faschistoide Ele-
mente finden sich in seinen Schriften und mehr noch in seinem Leben ohne jede
Frage und sollen in unserer Vorlesung auch nicht in den Hintergrund treten.
Denn er bildete auch ästhetisch und literarisch eine Brücke zwischen Spätroman-
tik und Fin de siècle einerseits, den historischen Avantgarden des 20. Jahrhun-
derts und insbesondere den italienischen Futuristen andererseits.
D’Annunzios Leben als Kunstwerk zu betrachten, würde in dieser Vorle-
sung sicherlich reichlich Stoff bereitstellen, den zu bearbeiten uns jedoch die
auslaufende Zeit unserer Veranstaltung nicht erlaubt. Darum möchte ich mich
zunächst mit jenem Roman beschäftigen, den nicht das Leben, sondern D’Annun-
zio selbst schrieb; und der für ihn im Jahre 1889 – also zeitnah zum Romanerstling
der Clorinda Matto de Turner – den eigentlichen literarischen Durchbruch bedeu-
tete: nicht allein in Italien, sondern in ganz Europa!
Denn spätestens seit Il Piacere, dessen Titel wir mit ‚Lust‘ oder ‚Wollust‘,
auf keinen Fall aber mit ‚Vergnügen‘ oder ‚Plaisir‘ übersetzen dürfen, ist D’An-
nunzio eine feste Größe im Konzert der europäischen Literaturen: Sie erinnern
sich vielleicht an die Zitate von Egon Friedell aus dem Jahre 1915, die im Auf-
takt unserer Vorlesung zum 20. und beginnenden 21. Jahrhundert zu finden
sind.4 D’Annunzio, so liest man oft, führte die italienische Literatur wieder
heran an die großen europäischen Literaturen: Er war der einzige unter den ita-
lienischen Schriftstellern, der es schaffte, wirklich breiten Erfolg von Italien
aus im gesamten Europa zu erzielen. Er darf daher als eine der gesamteuropäi-
4 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne, S. 56 ff.
954 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
schen Leitfiguren des Fin de siècle betrachtet werden. Was aber war denn an Il
Piacere so aufsehenerregend?
D’Annunzio war zunächst als Lyriker – schon als Sechzehnjähriger, von
seinem Vater unterstützt – hervorgetreten; ein literarischer Schaffensimpuls,
der von Beginn an mit der Liebe verbunden war. Seine damalige Muse, die Leh-
rerstochter Lalla, hat der junge Mann in vielen seiner Gedichte besungen und
verewigt, bevor ihn der gestrenge Vater – um diese Liebelei seines Sohnes zu
unterbinden – nicht nach Florenz, sondern nach Rom zum Studium schickte.
In der italienischen Hauptstadt reüssiert D’Annunzio bald als Journalist und
Verfasser von Chroniken – einer der großen und unterschätzten Gattungen
eines transatlantischen Fin de siècle. Denn Chroniken waren gerade während
der Jahrhundertwende keine marginale Literatur, sondern fast so etwas wie das
literarische Markenzeichen der finisekulären Epoche. Es gab kaum einen gro-
ßen Schriftsteller, eine große Autorin, die oder der keine Chroniken – mehr
oder minder regelmäßig – für große Tageszeitungen verfasst hätte.
Auch Gabriele D’Annunzio tut dies; und viele seiner Gesellschaftschroni-
ken verweisen auf Figuren des sozialen Lebens, die sich später in Il Piacere bis-
weilen sogar namentlich wiederfinden werden. D’Annunzio lernt die mondäne
Welt und die Welt des Adels kennen; mehr noch: Er wird bald schon ein wichti-
ger Bestandteil von ihr, öffnete sich diese Welt doch in jener Epoche auf eine
Weise, die sicherlich niemand so meisterhaft wie Marcel Proust in A la recher-
che du temps perdu zu beschreiben verstand.
Aus dieser frühen römischen Zeit stammen viele Photographien, die Gabri-
ele D’Annunzio als eher kleingewachsenes Männchen mit hochaufgeschosse-
nen, schlanken Frauen zeigen. Diese Frauen stellten – besonders wenn von
adliger Herkunft – seinen Frauentyp dar, an den er sich zwar nicht ausschließ-
lich hielt, den er aber bei weitem bevorzugte. Übrigens hat der Schriftsteller
und Lebemann, aber auch Offizier und politische Führer später seine Photogra-
phien weitaus präziser kontrolliert und dafür gesorgt, dass er oft einzeln und
seitlich von unten aufgenommen wurde, so dass sein wenig athletischer Kör-
perbau nicht auffiel. D’Annunzio baut auf diese Weise seine Bekanntheit als
Dichter und als Journalist, aber auch als Liebhaber und mondäner Dandy aus,
wobei ihm hierzu trotz seiner sehr guten Einkünfte aus dem Journalismus das
Geld im Grunde fehlt. Aus dieser Zeit stammt sein fürstlicher Lebensstil, den er
sein Leben lang pflegte.
Doch lassen Sie uns nicht schnöde von seinen Schulden sprechen! Seine
Liebschaften und die Verbindung, die sie stets zum Schreiben haben, bringen
ihn auf die Spur des Romans, jener literarischen Gattung, an der sich der junge
Mann in den achtziger Jahren zu versuchen beschließt. Die Vorbereitungen und
Überlegungen, wo denn ein Roman anzusiedeln wäre, ziehen sich lange hin:
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 955
Auch das Romanschreiben will ja erst gelernt sein. Seine journalistischen Texte
hat D’Annunzio übrigens hierfür sehr gut gebrauchen können, bezog er doch
mehrere davon später in den Romantext mit ein.
Wichtig für die Entscheidung, das Setting des Romans in Rom anzusiedeln
und darin bestimmte schlanke Frauentypen aufzunehmen, gab ihm aber wiede-
rum die Liebe ein: zum einen die Liebe zu Olga Ossani, weit mehr aber noch die
große Liebe zu Barbara Leoni, die er wohl 1887 kennenlernte und mit der er wich-
tige Monate verlebte. Wir können so zunächst einmal festhalten, dass D’Annun-
zio seinem Roman bestimmte autobiographische Züge gab sowie ein Setting,
in dem er sich zunehmend auskannte: die mondäne Welt der italienischen
Hauptstadt.
Il Piacere beginnt und endet daher auch in einem Teile Roms, der nur
einen Steinwurf weit entfernt war von seiner eigenen Wohnung: Gleich zu Be-
ginn rücken die Piazza Barberini und die Piazza di Spagna in den Mittelpunkt.
Rom wird zu einer nicht weniger wichtigen Protagonistin als in seinem später
entstandenen Roman Il Fuoco es dann die Stadt Venedig sein sollte. Der Raum
der Stadt ist hier, ganz in der poetischen Tradition Baudelaires,5 jener Raum,
in dem Zufallsbegegnungen möglich und die Bewegungen der Zeit erkennbar
werden. Dieser Grundzug des Autobiographischen erstreckt sich dann auch
über die Frauenfiguren, die den Roman dominieren, zugleich aber auch auf
den männlichen Protagonisten selbst, den von hoher adliger Herkunft und
aus künstlerischer Familie stammenden Andrea Sperelli, der – wie wenige
Jahre zuvor der Held in Joris-Karl Huysmans Bibel der Dekadenz A rebours6 –
der letzte Spross eines großen Geschlechts ist. Mit ihm geht letzteres am Ende
des Jahrhunderts ebenfalls zu Ende.
Um einen ersten Eindruck des Romangeschehens zu erhalten, möchte ich
uns direkt in eine Szenerie hineinwerfen. In ihr dürfen wir gleichsam im Rück-
blick die Bekanntschaft zwischen Andrea Sperelli, in dem wir selbstverständ-
lich ein alter ego und idealisiertes, adelig gewordenes Spiegelbild Gabriele
D’Annunzios (der weder aus einer adeligen noch aus einer künstlerischen Fa-
milie stammte) erblicken können, und der tödlich schönen Elena Muti erleben.
Letztere ist verwitwet und hat sich in zweiter Ehe mit dem bisweilen etwas sa-
distischen Lord Heathfield verbunden. So haben wir direkt vor unseren Augen
das Bild einer schönen jungen Witwe, die das Fin de siécle so begeisterte: von
5 Vgl. hierzu die Ausführungen im vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik
zwischen zwei Welten, S. 901 ff.
6 Vgl. zu dieser Bibel der Décadents, die Nachahmer ebenso in Europa wie in Übersee fand,
die Überlegungen in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 963 ff.
956 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
Die leichte erotische Erregung, welche die Geister am Ende eines von Frauen und von
Blumen geschmückten Gastmahles ergreift, enthüllte sich in den Worten, enthüllte sich
in den Erinnerungen an jenes Maienfest, bei dem die von einer brennenden Nacheiferung
erfassten Damen, die größtmögliche Menge in ihrer Aufgabe als Verkäuferinnen aufzu-
sammeln, die Käufer mit unerhörter Kühnheit angelockt hatte. [...]
Ihm erschien nun plötzlich das ich weiß nicht wie Exzessive und ich würde fast
sagen Höfische, wo sich in bestimmten Augenblicken die große Manier der Dame von
Welt verdunkelte. Durch gewisse Klänge der Stimme und des Lachens, durch gewisse
Gesten, durch gewisse Haltungen, durch gewisse Blicke verströmte sie vielleicht unwil-
lentlich eine allzu aphrodisische Faszinationskraft. Mit allzu großer Leichtigkeit ver-
streute sie den visuellen Genuss ihrer Anmut. Bisweilen hatte sie, unter aller Augen, aber
vielleicht unwillentlich, eine Bewegung oder eine Pose oder einen Ausdruck, welche
einen Liebhaber im Schlafgemach hätten erzittern lassen. Ein jeder konnte ihr bei ihrem
Anblick einen Funken der Lust rauben, konnte sie mit unreinen Vorstellungen umhüllen,
konnte die geheimen Liebkosungen erahnen. Sie schien wahrlich dafür geschaffen, nichts
anderes als Liebe auszuüben; – und die Luft, die sie atmete, war stets von um sie herum
ausgelösten Begierden entzündet.
„Wie viele haben sie besessen?“, dachte Andrea. „Wie viele Erinnerungen des Flei-
sches und der Seele dürfte sie ausgelöst haben?“
In ihm plusterte sich sein Herz wie eine bittere Welle auf, an deren Grunde stets
seine tyrannische Unduldsamkeit gegenüber jeglichem unvollendeten Besitz köchelte.
Und er vermochte es nicht, seine Augen von den Händen Elenas abzuwenden.7
In dieser Passage wird uns also jene Elena literarisch vor Augen gebracht, welche
die Männer verführt. Gleich zu Beginn sehen wir eine männliche Imagination am
Werk, die das Thema der Blumen einführt und die Frauen auf eine Stufe mit dem
Blumenschmuck stellt, womit eine Objektivierung der Frau im männlichen Blick
einhergeht; eine Vergegenständlichung, die das weibliche Geschlecht mit Blu-
men vergleicht, welche Schönheit und Anmut an eine Tafel bringen, bei der es
um sinnliche Freuden der Einverleibung geht. Die Frau ist nichts weiter als ein
Anregungsmittel des Mannes, eine Blume, die den Mann mit ihrem Duft und
ihrem Aussehen betört.
Bei dieser Beschreibung der angebeteten Frau darf auch das berühmte „no
so che”, das „je ne sais quoi“ nicht fehlen, welches im Aufklärungszeitalter wie
noch während der Romantik jenen irrationalen Rest, jenen sich der Vernunft
entziehenden Bereich bezeichnet,8 der insbesondere die mit rationalen Mitteln
allein nicht zu beschreibende Ästhetik betrifft. Die schöne Elena wird mit allen
Attributen weiblicher Schönheit und Anmut belegt. Sie erscheint zunächst wie
eine Blume; und in der Tat gehört die Rose zu jener zentralen Chiffre, die nicht
nur für diesen Erzähltext zum entscheidenden Symbol der Liebe wird. Denn Il
Piacere ist der erste Roman des d‘annunzianischen Rosenzyklus, der dann mit
den Romanen L’Innocente und mehr noch mit Il trionfo della morte im folgen-
den Jahrfünft seinen Abschluss finden wird.
Zugleich wird die Frau ähnlich Blumen und Pflanzen – und auch hier ließen
sich zahlreiche Parallelen zu Des Esseintes und Huysmans Kultroman A rebours
aufzeigen – zum Objekt, das etwas ausströmt, das den männlichen Betrachter als
Faszinosum fesselt. In der Tat gibt es eine Art Metaphern-Transfer aus der Spra-
che der Blumen in jene Sprache, die sich auf die schöne Frau bezieht. Das zwei-
fach verwendete „unwillentlich“ zeigt überdeutlich an, dass Elena – wohl aber
auch nur „vielleicht unwillentlich“ – jenes Aphrodisiakum verströmt, das
die Männer anzieht und in den Bann eines „piacere“, einer Wollust stürzt, der
sie nicht leicht entkommen oder widerstehen können.
Dies tritt in eine Beziehung zum „no so che“, zu diesem irrationalen Rest,
der in eine scheinbar rationale Beschreibung eingewoben ist. Denn auch hier
kann der auktoriale Erzähler D’Annunzios dieses Ich-weiß-nicht-was nicht
näher bestimmen und nur von gewissen Gesten, von gewissen Körperhaltun-
gen, von gewissen Ausdrucksformen des weiblichen Körper-Leibs sprechen.
Elena steht somit von Beginn an gleichsam für jenen irrationalen Rest – und es
8 Vgl. hierzu den Aufsatz von Köhler, Erich: „Je ne sais quoi“. Ein Kapitel aus der Begriffsge-
schichte des Unbegreiflichen. In (ders.): Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus der Welt
der Romania. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1966, S. 230 ff.
958 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
ist ein großer, vielleicht sogar dominanter Rest –, der unter dem Blick des Man-
nes nicht in Ratio verwandelbar ist. Wie die Blumen strömt sie einen erotisie-
renden Duft, ein Aphrodisiakum aus, das sie willentlich nicht steuern kann,
das ihr aber alle in der Nähe befindlichen Männer zuführt.
Die schöne Frau gibt tiefe Einblicke in ihre leibhaftige Körperlichkeit; aber
gerade darum wird sie eben nicht transparenter, nicht verständlicher, nicht
durchschaubarer, sondern nur um so rätselhafter für den männlichen Blick,
der nicht von ihr lassen kann. Wir haben es in diesem Auszug mit einer Darstel-
lung von geschlechtlicher Alterität zu tun, die ganz klassisch – aber wunder-
schön charakteristisch – die Alterität der Frau mit der Alterität der Natur in
Verbindung bringt. Diese kann zwar von der männlichen Verstandeskraft durch-
drungen, aber nicht aufgelöst werden. Die Frau steht für das Gefühlsmäßige, für
das Irrationale, das die Rationalität des Mannes buchstäblich gefangen nimmt
und nicht mehr freigibt.
Wie eine duftende Blume verströmt die schöne Elena einen Hauch von Lust
und Ver-Lust, ist sie doch jene Figur, die auf jeden anders wirkt und doch alle
zu einer Art inneren Bilderfolge anregt. In dieser werden die Bilder der Realität
durch tagtraumartige Bilder ergänzt, welche die angeregte sexuelle Phantasie
der Männer auf die bekleidete, aber nicht zugeknöpfte Frau projiziert: Sie wird
zur Projektionsfläche all der Ahnungen, all der Vermutungen, all der Imagina-
tionen, die sich rasch dieser Männer bemächtigen. Diese Bilder und Projektio-
nen, welche die Männer entwerfen, bündeln sich in Elena, so dass Andrea
Sperelli nicht umhin kommt, die Frage nach dem Besitz dieser Frau zu stellen –
und dies ist keineswegs nur sexuell gemeint! Wie bei jedem Gegenstand und
insbesondere wie bei schönen Gegenständen erhebt sich sofort die Frage nach
dem Besitzer, nach den Eigentums- und den Gebrauchsrechten, die hier in ver-
knappter Form Andrea Sperelli in den Mund gelegt werden, dem alter ego des
italienischen Dichters. Es handelt sich zweifellos um eine Verführungsszene;
doch das zweimal hervorgehobene Unwillentliche dieser Szene macht deutlich,
dass die Dame auf Seiten der Natur steht und im Bunde mit ihr ist – nur unwil-
lentlich übernimmt sie eine aktive Rolle.
Dies ist ein in der abendländischen Literatur und Kultur höchst traditionel-
les Bild der Frau. Doch kehren wir noch einmal von diesem Bild und der evo-
zierten Bilderfolge zum ‚Bilderzauberer‘ D’Annunzio zurück! Dieser hat den
Roman an seinem ersten großen Zufluchtsort geschrieben, in Francavilla al
Mare als einem Refugium, das einem Freund gehörte, dem Maler Francesco
Paolo Michetti. Ihm eignet er dankbar einen kurzen Widmungstext zu, den wir
als Paratextleser sogleich als Versuch deuten können, die Orientierung des Le-
sepublikums vorzugeben. Wir sollten uns daher mit jener Widmung zumindest
kurz beschäftigen, da sie ja nicht nur auf einen autobiographischen Bezug ver-
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 959
weist, sondern zugleich auch auf einen Dialog zwischen Text und Bild, der ge-
rade in den Schriften und Romanen D’Annunzios von so großer Bedeutung ist.
Denn die Beziehung zu Freund und Maler beinhaltet, erst einmal in einen
Paratext gegossen, selbstverständlich auch eine Selbstbestimmung der literari-
schen Romankunst im Geflecht der inter- und transmedialen Beziehungen zwi-
schen den verschiedenen Künsten. Sehen wir uns daher einen kurzen Auszug
aus dieser langen, zwei Seiten umfassenden und auf den „Convento“ im Jahre
1889 datierten Widmung an:
Dir sei's gewidmet, der Du alle Formen und Mutationen des Geistes studierst, wie Du alle
Formen und alle Mutationen der Dinge studierst, Dir, der Du die Gesetze verstehst, dank
derer sich das innere Leben des Menschen entfaltet, wie Du die Gesetze des Zeichnens
und der Farbe verstehst, Dir, der Du ein so scharfer Kenner der Seelen bist, dem ich als
großem Handwerker der Bildkunst die Ausübung und Entfaltung der edelsten unter den
Fähigkeiten des Intellekts verdanke: Ich verdank' dir die Gewohnheit der Beobachtung
und verdank' Dir vor allem die Methode. Wie Du bin ich jetzt davon überzeugt, dass es
für uns ein einziges Objekt des Studiums gibt: das Leben. [...]
Ich lächle, wenn ich daran denke, dass dieses Buch, in dem ich nicht ohne Traurigkeit
so viel Korruption und so viel Verderbtheit und so viel Subtilität und Falschheit und eitle
Grausamkeit studiere, inmitten des einfachen und heiteren Friedens Deines Hauses geschrie-
ben wurde, zwischen den letzten Ernteliedern und den ersten Hirtengesängen des Schnees,
während zusammen mit meinen Seiten das teure Leben Deines Sohnes wuchs. [...] Und die
kleinen rosigen Fersen vor Dir drücken die Seiten, auf denen das ganze Elend der Lust aus-
gedrückt wird; und jenes unbewusste Drücken sei Symbol und gutes Vorzeichen.9
Dieser Widmung liegen eine Reihe von Bedeutungsebenen zu Grunde, von Iso-
topien, die den Roman in seiner Gesamtheit durchlaufen und daher im Folgen-
den in der gebotenen Kürze diskutiert und analysiert werden sollten. Zum
einen ist es die bereits angesprochene Beziehung zwischen Malerei und Dicht-
kunst, wobei letztere auf Seiten D’Annunzios gleichsam in der Schülerhaltung
gegenüber der Malerei und ihrem Wissen verharrt, ihrer Kunst des perfekten
Portraits. In gewisser Weise haben wir es in diesen Formulierungen mit einem
Horaz’schen Ut pictura poesis zu tun, dass also die Malkunst gleichsam Vorbild-
und Modellcharakter für all jene erhält, die nicht mit dem Pinsel des Malers, son-
dern mit der Feder arbeiten und literarisch malen. Zentraler Begriff dabei ist das
Studium oder – maltechnisch gesprochen – die Studie, die im obigen Zitat für
D’Annunzio bedeutungsvoll wird. Dort gibt er selbst vor, die große Gabe der
künstlerischen Beobachtung am Beispiel seines Malerfreundes erlernt zu haben,
wobei er sich nun ähnlich wie dieser ebenso an die verschiedenartigen Formen
des Geistes wie der Ding-Welt anzunähern vermag.
10 Vgl. hierzu die Trilogie von Ette, Ottmar: ÜberLebensWissen I–III. Drei Bände im Schuber.
Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004–2010.
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 961
Unter der grauen demokratischen Sintflut von heute, die viele schöne und seltene Dinge
elendiglich überspült, verschwindet Schritt für Schritt auch jene besondere Klasse alten
italienischen Adels, in welchem von Generation zu Generation eine gewisse familiäre Tra-
dition von ausgesuchter Kultur, von Eleganz und Kunst lebendig erhalten wurde.
11 Vgl. zum Fin de siècle den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwi-
schen zwei Welten, S. 923 ff.
962 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
Zu dieser Klasse, die ich arkadisch nenne, weil sie ihren höchsten Glanz genau im
liebreizenden Leben des 18. Jahrhunderts erblickte, gehörten die Sperelli. Die Urbanität,
die Ausrichtung am attischen Geiste, die Liebe zur delicatezza, die Neigung zu unge-
wohnten Studien, die Neugier auf das Ästhetische, die Manie für das Archäologische und
die verfeinerte Galanterie waren im Hause der Sperelli vererbte Vorzüge.12
13 Ebda., S. 126.
964 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
von der Emma nur träumen konnte und nach der sie sich seit ihren frühen ro-
mantischen Lektüren so sehr sehnte. Doch auch Elena – und auf dieser Ebene
ergeben sich deutliche Parallelen – ist wie Emma jene sinnliche Figur einer ak-
tiven Frau in der Liebe, die oftmals die Impulse kontrolliert, ohne zugleich
doch dem irrationalen Rest ihres eigenen Körper-Leibs und ihrer eigenen kör-
perlichen Reaktionen, ihrer Lust also, entgehen zu können.
Eines vorab: D’Annunzios Frauenbild ist ganz gewiss nicht von patriarchali-
schen und phallokratischen Vorurteilen frei und ließe sich gewiss mit Jacques
Derrida in die Reihe phallogozentrisch-männlicher Modellierungen von Frauenfi-
guren einreihen. Aber wie gut vermochte er zu schreiben! Sehen wir uns dies im
Übergang vom Gefallen zur Lust, von der Lust zur Wollust einmal genauer an:
– Du gefällst mir!, wiederholte Elena, wobei sie sah, dass er ihr unablässig auf die Lippen
schaute und dabei jene Faszinationskraft verspürte, die sie mit jenem Worte verströmte.
Dann verstummten sie beide. Der eine fühlte die Gegenwart der anderen und wie
sich diese in sein eigenes Blut ergoss, sich mit ihm mischte, bis dies zum Leben von ihm
wurde und das Blut von ihm zu ihrem Leben. Ein tiefes Schweigen machte den Raum
noch weiter; das Kruzifix von Guido Reni gab dem Schatten der Vorhänge etwas Religiö-
ses; das Treiben der Stadt brandete wie das Murmeln einer weit entfernten Welle.
Dann, mit einer plötzlichen Bewegung, stieg Elena auf das Bett, nahm den Kopf des
jungen Mannes zwischen ihre beiden Hände, zog ihn zu sich, hauchte ihm ihre Begierde
ins Gesicht, küsste ihn, ließ sich zurückfallen, gab sich ihm hin.
Danach erfüllte sie eine unermessliche Traurigkeit; diese dunkle Traurigkeit, die
sich am Grunde allen menschlichen Glücks findet, nahm sie ein, so wie an der Mündung
aller Flüsse das Wasser bitter ist. Sie lag hingestreckt, ihre Arme außerhalb des an ihren
Flanken achtlos liegenden Lakens, ihre Hände nach oben gekehrt, wie tot, noch von
einem leichten Keuchen durchfurcht; und schaute mit weit geöffneten Augen auf Andrea
mit einem unablässigen, unbeweglichen, unerduldbaren Blick. Langsam, eine nach der
anderen, begannen die Tränen hervorzusprudeln; und sie kullerten über ihre Wangen
hinab, eine nach der anderen, geräuschlos.14
Soweit das Ende einer Liebesszene, nicht aber das Ende einer Liebe. Das Erleben
körperlichen Begehrens, die Vereinigung zweier Menschen, die unendlich lange
und hier ausgelassene Zeit der wechselseitigen Verbindung von Körper-Haben
und Leib-Sein, die in diesen Passagen evoziert, aber nicht beschrieben wird, doch
auch die Zeit nach dem Höhepunkt, nach der Vereinigung, werden in der Sprache
des Fin de siècle von einem der großen italienischen Künstler des 17. Jahrhunderts
in ein religiös eingefärbtes Licht getaucht und dann, nach dem kleinen Tod, einer
unendlichen Traurigkeit überlassen. Derartige Szenen und literarische Darstellun-
gen haben die Berühmtheit des jungen D’Annunzio begründet und den italieni-
schen Schriftsteller auch international zu einem der führenden Vertreter des Fin
14 Ebda., S. 156 f.
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 965
de siècle werden lassen. Wie auch immer sie zur geschlechterspezifischen Dar-
stellung dieser intensiven, aber zugleich behutsam geschilderten Szene eines
sexuellen Höhepunktes gegenüberstehen mögen: Diese Passage ist großartig
geschrieben und eine der großen Szenen literarischer Kunst!
Da ist sie wieder, die ihr vielleicht unbewusste Ausstrahlungskraft der italieni-
schen Helena, die das Gefallen in Lust umschlagen lässt: Denn das „mi piaci“ ver-
wandelt sich in der logischen Folge dieser Wendung in „il piacere“, in erotische
Lust! Deutlich wird in diesen Wendungen mit dem Doppelsinn gespielt, um dieses
Gefallen in seiner erotischen Dimension danach wortwörtlich freizulegen. Die Lust
aber beginnt dort, wo die Worte verstummen: Das Schweigen wird zur Trennlinie
und zur Transition hin zur Sprache der Körper, zur Körpersprache, in welcher sich
Körper und Leib der beiden wechselseitig durchdringen. Dies ist die künstlerische
Darstellung, die wir hier vorgestellt bekommen.
Natürlich darf in dieser Erotisierung auch die Religion mit ihrer ästhetischen
Komponente nicht fehlen: Sie sehen, es ist die Kombination der immer gleichen
Elemente, welche die Mehrfachkodierungen der Künstler des Fin de siécle aus-
966 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
15 Nietzsche, Friedrich: Das andere Tanzlied. In (ders.): Werke in vier Bänden, Bd. 4, S. 286.
Vgl. hierzu auch den zweiten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: LiebeLesen, passim.
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 967
auf die Künstlerinnen und Künstler des Jahrhundertendes wie der Jahrhundert-
wende also, kommen wir noch einmal zurück.
Wir haben immer wieder intertextuelle Bezüge zu Gustave Flauberts Ma-
dame Bovary, vor allem aber zu bestimmten Aspekten von Joris-Karl Huys-
mans A rebours betont. Doch es gibt auch klare Unterscheidungen, in denen
sich die Blickrichtungen beider Romane der achtziger Jahre des 19. Jahrhun-
derts voneinander absetzen. Der Lebensüberdruss des jungen italienischen
Adligen Andrea Sperelli ist nicht mit der Weltabkehr und den schwindenden
Kräften des französischen Adligen Des Esseintes zu vergleichen oder gleichzu-
setzen. Bei D’Annunzio ist der Protagonist oder ‚Held‘, ähnlich wie bereits in
den frühen Gedichten des italienischen Poeten, mit einer hochvitalistischen
Note ausgestattet; und es ist dieser Vitalismus, der – worauf Maria Gazzetti in
ihrer lesenswerten Biographie16 mit Recht hinwies – die Poetik D’Annunzios
anders orientierte als die vieler anderer Künstler des Fin de siècle. Denn diese
Haltung brachte eine allmähliche Abkehr von Endzeitvorstellungen mit sich
und jene schier unerschöpfliche Lebenskraft, die sich nach neuen Zielen um-
schaute – auch nach politischen Zielstellungen des nicht an der Demokratie in-
teressierten italienischen Autors.
So ist trotz vieler Parallelen die Grundstimmung des Romans in Il Piacere
nicht mit der in Huysmans A Rebours oder anderer finisekulärer Romane zu ver-
wechseln: Zu sehr sprüht die Lebenskraft des letzten Sprosses des adeligen italieni-
schen Geschlechtes noch. Nicht weniger freilich auch jene D’Annunzios, der in
jenen Jahren längst seine Frau Maria mit den Kindern in der Wohnung ließ und
seinen Vergnügungen mit anderen Frauen nachging; Liebesbeziehungen, die er
auch in der Folge stets in gewisser Weise öffentlich machte beziehungsweise
offizialisierte. Doch noch war vor allem Barbara Leoni die sogenannte offizielle
‚amante en titre‘ des Gabriele D’Annunzio. Der italienische Schriftsteller scheint
sich nur von Zeit zu Zeit einmal bei seiner Frau in Rom aufgehalten zu haben; und
er gab bei der Geburt eines weiteren Sohnes nur noch den gewünschten Namen
Veniero durch, ohne sich noch selbst nach Rom zu bemühen. Der Machismus des
Italieners steht außer Frage, wenn auch nicht im Mittelpunkt unseres Interesses.
Andrea Sperelli ist wie viele Helden D’Annunzios ein künstlerischer Mensch,
der sich nicht weniger als Des Esseintes durch seine Belesenheit insbesondere bei
jenen Autoren auszeichnet, die zum damaligen Zeitpunkt im Vordergrund einer
Fin-de-siècle-Problematik standen. Gewiss konnten sich D’Annunzio und Andrea
Sperelli offenkundig weder für Paul Verlaine oder Arthur Rimbaud17 noch für Sté-
phane Mallarmé erwärmen. Der innerliterarische Raum, der in Il Piacere aufge-
spannt und durch den künstlerischen Raum ergänzt wird, ist gleichwohl so
zeittypisch, das wir ihn hier aus Zeitgründen kaum miteinbeziehen müssen, hat-
ten wir doch schon bei einer anderen, der Romantik zwischen zwei Welten gewid-
meten Vorlesung in A rebours einen für die damalige Zeit geradezu ‚klassischen‘
Raum als virtuelle Bibliothek vor Augen geführt bekommen. Andrea Sperelli ere-
gänzt diese Bibliothek durch zahlreiche Verweise auf die erotische Literatur.18
Derlei Hinweise ließen sich beliebig ergänzen.19
Ich möchte freilich unsere Lektüre von Il Piacere nicht über Gebühr aus-
dehnen, so repräsentativ dieser Roman des italienischen Autors auch sein
mag. Anhand von Andrea Sperelli gelingt es D’Annunzio unter anderem,
nicht nur den Prozess des Schreibens – etwa beim Herstellen von vier danach
abgedruckten Sonetten –, sondern auch die poetologische Reflexion darüber
sehr überzeugend und eindrücklich darzustellen. Die Kunst wird zu einer Art
moralinfreiem Religionsersatz: Sie ist die ideale Form und die ideale Geliebte
und macht zugleich darauf aufmerksam, dass ihr Kult nicht zuletzt der abso-
luten künstlerischen Form gelten muss, die nach völliger Perfektion strebt.
Nichts geht in der Lyrik über die formale Perfektion des Verses – eine deut-
liche Abkehr von Schreibformen des Realismus und Naturalismus, welche sich
längst bei D’Annunzio selbst auch gezeigt hatten. Die Ästhetik der Religion
geht über in eine Religion der Ästhetik und der reinen Form, die bei D’Annun-
zio freilich stets mit dem bereits erwähnten vitalistischen Grundprinzip und
Drang gekoppelt ist. Auch hier sehen wir folglich wie bei Huysmans eine Schreib-
tradition des Realismus und Naturalismus beziehungsweise des Verismus als
eine Hintergrundfolie, die für die Romane des Fin de siècle – aller auch ästheti-
schen Widersprüche zum Trotz – letztlich unverzichtbar ist.
Im zweiten Buch des Romans taucht neben anderen, ephemeren Frauen-
gestalten die Figur der Maria Ferres auf, die – wie ihr Vorname schon sagt – als
Maria das Gegenbild der Helena sein wird. Andrea Sperelli ist bald auch von ihr
fasziniert, wenngleich nicht mit jener Abhängigkeit, in der er sich gegenüber
Elena und ihrer erotischen Anziehungskraft befand. Maria Ferres führt ihrer-
seits Tagebuch, eine Tätigkeit, die im „Libro secondo“ ausführlich kommentiert
wird. Sie ist nicht die erotisch aktive, sondern die literarisch kreative Frau. Das
17 Zu diesen französischen Autoren und ihrer Bedeutung für das Fin de siècle zwischen zwei
Welten vgl. den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten,
S. 901 ff.
18 D’Annunzio, Gabriele: Il Piacere, S. 386.
19 Vgl. ebda., S. 164 f.
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 969
Journal intime eines Amiel war zum Charakteristikum der Literatur des Fin de
siécle und zu einer wichtigen Technik der Innendarstellung und der Darstel-
lung von Innerlichkeit geworden, aber auch zur herausragenden Möglichkeit,
Bewusstseinsprozesse Schritt für Schritt, in ihrer allmählichen Verfertigung
und Herausbildung, (gleichsam beim Schreiben) darzustellen.
Das Journal intime der Maria Ferres gibt uns diesen Einblick in das Innenle-
ben einer jungen Frau und ergänzt die Perspektive Andrea Sperellis. Es handelt
sich um eine Frau, die gänzlich anders als die vielleicht der Kategorie der
Femme fatale zurechenbare Elena Muti die Femme fragile verkörpert, die an
moralischen Werten ausgerichtete, ‚reine‘ Frau, welche innerhalb der kulturel-
len Codes anders verortet beziehungsweise anders kodiert wird. Selbstverständ-
lich stammt die mit dem Botschafter Guatemalas verheiratete Italienerin nicht
aus Rom oder Florenz, sondern aus Siena, das im Grunde die spätmittelalterli-
che Struktur auch auf diese Tochter der Stadt übertrug. Doch da ist noch
mehr …
Maria verkörpert nach dem Vorbild der Präraffaeliten – auf die ich gleich
noch kurz eingehen werde – die schöne junge Frau in ihrer Reinheit, von der
auf Andrea Sperelli gleichwohl ein starker erotischer Reiz ausgeht: und zwar
gerade wegen ihrer Reinheit. Diese Entwicklung einer sich anbahnenden Lie-
besbeziehung ist wie auch die schürfende Selbstvergewisserung im intimen Ta-
gebuch, dem Journal intime, der jungen Sienesin festgehalten. Sie zieht Andrea
Sperelli mit der unvergesslichen Klangkraft ihrer sinnlichen Stimme in ihren
Bann und so entfaltet sich erneut die weibliche Kraft der Faszination, die weit
mehr ist als eine rein sexuelle Attraktivität.
Doch beginnen sich nun bei Andrea Sperelli die beiden so unterschiedlichen
Frauentypen miteinander zu vermengen und vermischen, so dass er im weiteren
Verlauf des Romans gleichsam in der Verbindung von Helena und Maria, der
Verführerin und der Heiligen Mutter, die ideale Geliebte sich erträumt und zwi-
schen beiden Typen oszilliert. Daraus entsteht tendenziell eine einzige Frau: Es
ist eine Frau zum Zusammenbasteln, Heilige und Hure zugleich. Die Vermi-
schung beider Frauengestalten ist sehr aufschlussreich eingefädelt:
Er hörte noch ihre Stimme, diese unvergessliche Stimme. Und Elena Muti kam in seine Ge-
danken, näherte sich der anderen, mischte sich mit der anderen, ausgelöst von jener
Stimme; und langsam kehrten ihm die Gedanken an Bilder der Wollust zurück. Das Bett,
auf dem er ruhte, und rundherum alle Dinge, die Zeugen und Komplizen der alten Trunken-
heiten waren, suggerierten ihm immer noch mehr Bilder der Wollust. Eigentümlicherweise
begann er, in seiner Imagination die Sienesin auszuziehen, sie mit seinem Begehren zu um-
hüllen, ihr Positionen der Hingabe zu verleihen, sie in seinen Armen zu sehen, sie zu ge-
nießen. Der materielle Besitz jener so keuschen und so reinen Frau erschien ihm als der
höchste, der neuartigste, der seltenste Genuss, den er erreichen könnte; und jener Raum
970 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
erschien ihm als der würdigste Ort, um jenen Genuss zu empfangen, weil er den einzigar-
tigen Geschmack der Profanation und des Sakrilegs noch viel fühlbarer machen würde,
den dieser geheime Akt ihm zufolge auslösen musste.
Der Raum war religiös, einer Kapelle gleich.20
Wieder sind es die charakteristischen Innenräume des Fin de siècle, welche die
Szene beherrschen.21 Sie sind sakral und profan zugleich und bilden stets eine
Landschaft der Theorie22 im Innenraum, in welchem sich die immanente Ästhetik
der Romane leicht ablesen lässt. In dieser Passage deutet sich die Verbindung
der beiden Frauenfiguren nicht nur an, sie wird insgeheim zumindest in der Ein-
bildungskraft Andrea Sperellis bereits vollzogen. Die Heilige nimmt Posen und
Stellungen einer Hure an, die Hure erscheint in einer religiösen Aura, auf die uns
das Kruzifix von Guido Reni bereits aufmerksam gemacht hatte. Und wie schon
in Flauberts Madame Bovary wird alles in ein Licht getaucht, in dem sich Liebe
und Tod, Heiliges und Lasterhaftes, Religion und Profanation untrennbar mitein-
ander verbinden. Elena Muti, die lustvolle Römerin, wird zu einer keuschen,
entrückten Sienesin, welche sich Andrea Sperelli aber in den Stellungen der
schönen Elena hingibt. Femme fatale und Femme fragile werden zu der einen
liebenden Frau, die sich der letzte Spross in einer langen Genealogie italieni-
schen Adels erträumt und zur Befriedigung seiner Wollust herbeisehnt.
Dies alles geschieht im Zeichen von Profanation und Sakrileg, in der wech-
selseitigen Bewegung einer Profanierung des Sakralen und der Sakralisierung
des Profanen. Die reine, keusche Frau wird nicht nur ihrer Kleidung, sondern
auch ihrer Reinheit beraubt, durch die Imagination des jungen Mannes in un-
keusche Stellungen gebracht, von der männlichen Körperlichkeit besessen und
damit jener anderen Frau gleichgemacht, die sich in ihrer erotischen Aktivität
zunächst als sexuell aktive Weiblichkeit und als Gegenbild der heiligen Maria
präsentierte. Im Gegenzug erhält Elena Muti sakrale Attribute, die bereits in
den Tränen der jungen Römerin nach der ersten sexuellen Vereinigung mit An-
drea aufscheinen, welche für jene Körperflüssigkeiten stehen, die in Gabriele
D’Annunzios Roman eine so große Bedeutung besitzen.
Daher überrascht es nicht allzu sehr, wenn es genau während der körperli-
chen Vereinigung mit Donna Maria gegen Ende des vierten Buches passiert,
dass Andrea Sperelli sich nicht mehr gegen die sadistische Lust stemmen kann,
Maria den Namen Elenas ins Ohr, in jenes Organ des Erotischen,23 zu flüstern.
Selbstzerstörung und Zerstörung, Eros und Thanatos sind in dieser Szene, die
gleichsam alles beendet, beider Leben beherrschend zugegen. Es ist der Augen-
blick des „orribile sacrilegio“, jenes horriblen Sakrilegs, den die Erzählerfigur
kommentiert: der Vollzug jener Profanation, die sich Andrea Sperelli bereits im
dritten Buch von Il Piacere erträumt und nun in die Tat umgesetzt hatte. Damit
ist alles zu Ende!
Selbstverständlich lassen sich in diesen semantisch dichten Passagen die
autobiographischen Beziehungen nicht ganz übergehen; nicht nur, weil Gabri-
ele D’Annunzios reale Ehefrau aus dem römischen Hochadel, Maria Hardouin di
Gallese, ebenfalls den heiligen Vornamen trug. Es ist – psychoanalytisch gespro-
chen – zugleich die Profanation der Mutter, zu der die junge, in Rom zurückge-
lassene Frau, längst für den jungen Schriftsteller aus der Provinz geworden war.
Maria soll – so die Biographin D’Annunzios – später im Rückblick auf eine Lie-
besbeziehung, für die sie so viel, nicht zuletzt auch ihren adligen Lebensstil und
Umgang aufgeopfert hatte, gesagt haben, es wäre wohl besser gewesen, ein
Buch von D’Annunzio zu kaufen, als diesen Mann geheiratet zu haben. Aber
da hatte sie sein und ihr eigenes Lebensbuch schon gelesen; und 1889 stand
D’Annunzio freilich erst am Beginn seiner steilen Karriere.
In der fragilen Figur der Maria wird Andrea Sperelli letztlich jene Kraft in
den Schmutz ziehen, welche zuvor noch unbefleckt geblieben war, um sie –
nicht absichtsvoll, aber lustvoll – erst zu missbrauchen und dann entehrt sich
selbst zu überlassen. Gleichzeitig – und darin besteht die Ambiguität dieses Bil-
des – wird deutlich, dass das Frauenbild hier wie eine Kippfigur funktioniert,
indem Maria sich innerhalb kürzester Zeit in eine Elena verwandeln kann, ohne
doch freilich an die sinnlichen Reize der Elena Muti auf diesem Gebiet heranrei-
chen zu können. Die Femme fragile enthält gleichsam die Femme fatale, doch
ist sie ihr im Reich der Sinnlichkeit D’Annunzios auf dem Gebiet der Wollust,
des „piacere“ und des „godimento“ nur solange ebenbürtig, wie sie den Reiz
des Sakrilegs und der Profanierung des Sakralen ausspielen kann oder doch zu-
mindest von dieser sakralen, religiösen Atmosphäre umgeben ist.
Das Bild der Maria in Il Piacere orientiert sich weniger an literarischen als
an künstlerischen Vorbildern, insbesondere an Modellen aus dem Bereich der
Malerei. D’Annunzio war nicht nur eng mit einem italienischen Maler befreun-
det, unter dessen Dach der Roman geschrieben wurde; er war gerade seit seiner
23 Vgl. hierzu die Schlussfigur von Roland Barthes’ Le Plaisir du texte in Barthes, Roland: Die
Lust am Text. Aus dem Französischen von Ottmar Ette. Kommentar von Ottmar Ette. Berlin:
Suhrkamp Verlag (Suhrkamp Studienbibliothek 19) 2010.
972 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
römischen Zeit und seiner Tätigkeit als Journalist und Kunstkritiker wohlinfor-
miert über die neuesten Strömungen in Europa, die er sofort nach Italien zu
vermitteln suchte. So wusste er auch um die ‚Wiederentdeckung‘ der Präraffae-
liten, jener englischen Gruppe von Malern, die sich 1848 gründete und weit
über ihr ursprüngliches Bestehen bis zum Jahre 1853 hinaus wirkte, dabei ins-
besondere Kunst und Literatur der Jahrhundertwende zutiefst prägte. Zu den
großen Figuren, die im Fin de siècle immer wieder bei verschiedensten Autorin-
nen und Autoren auftauchen und sich mit deren Werken verbinden, zählt vor
allem Dante Gabriel Rossetti. Dessen Gemälde knüpfen in der Darstellung von
Frauenportraits und Frauentypen an die italienischen Meister des Quattrocento
an, also die Maler vor Raffaello. Dabei entfalteten sie eine solche Meisterschaft,
dass sie gerade auch die Literatur und die dortige Porträtkunst tief beeinfluss-
ten (Abb. 79).
Nicht allein Joris-Karl Huysmans und sein Des Esseintes waren mit diesen
Malern und ihren Theorien wohlvertraut, auch Gabriele D’Annunzio war es;
und er kannte selbstverständlich auch die Rolle eines John Ruskin, der als
wichtiger Vermittler ihrer Kunsttheorie eine kaum zu überschätzende Rolle
spielte. Ich will an dieser Stelle die Gestaltung der Gegenfigur zur „belle dame
sans merci“ in ihrer Reinheit und Keuschheit auf die Maler der präraffaeliti-
schen Schule zurückbeziehen. Ihre Frauendarstellungen wurden grundlegend
für den englischen „Modern Style“ und über vielfache Vermittlungen auch für
die verschiedenen europäischen Spielarten des Jugendstils. Die Frauengestal-
ten der Präraffaeliten waren allgegenwärtig im europäischen Zeitalter des Jahr-
hundertendes und der Jahrhundertwende – wie hätte Gabriele D’Annunzio auf
diese ‚Modelle‘ verzichten können?
Maria ist in diesem Sinne eine jener literarischen Gestalten, welche die
Rückkehr der italienischen Malerei vor Raffaello über den britischen Umweg
des 19. Jahrhunderts nach Italien dokumentieren. Und D’Annunzio darf als der
wichtigste Vermittler innerhalb dieses für die europäische Kunst und Kultur so
wichtigen Beziehungsnetzes nach Italien gelten. Nicht nur die Texte und Bilder
sind jeweils inter- und transmedial mit anderen Texten und Bildern vernetzt,
sondern auch die Bild-Texte und Text-Bilder: Erneut stoßen wir in diesem inter-
medialen Zusammenhang auf Horazens Ut pictura poesis als Leitlinie eines
Schreibens, das auch Gabriele D’Annunzio beherzigte.
D’Annunzio wird nach dem großen Erfolg von Il Piacere nun nicht mehr allein als
Dichter, sondern auch als Romancier verehrt; und er wird sich bald auch die Pfor-
ten und Bühnen der Theater öffnen – nicht zuletzt auf Grund der Möglichkeiten,
die ihm seine Liebschaft mit der damals bekanntesten italienischen Schauspielerin
eröffnete, der wohl einzigen „Attrice“, die damals der unumstrittenen Sarah Bern-
hardt das Wasser reichen konnte: Eleonora Duse. Für sie wird er unter anderem
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 973
unter dem Eindruck einer Griechenlandreise, aber auch im Banne Venedigs ein
Theaterstück verfassen, das sich ganz und gar einer Thematik des Fin de siècle ver-
schrieben hat: der toten Stadt.
Für den logischerweise unvermeidlichen Bruch zwischen den beiden gro-
ßen Repräsentant*innen finisekulärer Kunst Italiens wird es dann nicht un-
wichtig sein, dass D’Annunzio für die Uraufführung in Paris von La città
morta eben gerade nicht Eleonora Duse, sondern die letzterer verhasste Fran-
zösin Sarah Bernhardt bevorzugen wird. D’Annunzio liebte es offenkundig,
die Frauen gegeneinander auszuspielen – oder dies seine männlichen Helden
tun zu lassen. Wir könnten uns gewinnbringend mit dem Theater D’Annun-
zios beschäftigen, doch leider fehlt uns hierfür die Zeit. Kehren wir daher zur
Frage des Romans zurück, um die räumliche Ausdehnung unserer dem italie-
nischen Schriftsteller gewidmeten Überlegungen nicht zu überschreiten!
Nach dem strukturellen Vorbild seiner Romantrilogie im Zeichen der Rose –
einer Trilogie, deren Auftaktroman Il Piacere gewesen war – beginnt D’Annunzio
in den neunziger Jahren mit einem Projekt, das ebenfalls eine Romantrilogie,
diesmal im Zeichen des Granatapfelbaumes, werden sollte. Sie ist nie zu Ende
geführt worden; ihr einziger Roman ist der, mit dem wir uns in der Folge beschäf-
tigen wollen: Il Fuoco. Dieser Roman entstand über mehrere Jahre hinweg und
scheint D’Annunzio alles andere als leicht gefallen zu sein. Bei seiner Veröffentli-
chung im Jahre 1900 aber wurde er zu einem großen, beeindruckenden Erfolg in
Italien und geriet auch auf der internationalen Bühne zu einem ungeheuren lite-
rarischen Ereignis. Noch im selben Jahr erschienen eine erste deutsche, eine fran-
zösische, zwei englische und weitere Übertragungen, die von der ungeheuren
Einflusskraft D’Annunzios im Europa der Jahrhundertwende zeugen.
974 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
Freilich war einer der wesentlichen Gründe dieses großen Erfolgs, dass es
sich wiederum um einen Skandalerfolg handelte, da sich dieser Erzähltext –
was sich schon vor seiner Publikation herumgesprochen hatte – auf recht hem-
mungslose und direkte Weise der Liebesbeziehung zwischen Gabriele D’Annun-
zio und Eleonora Duse widmete. Das ist in etwa so – wenn Sie mir diesen
Vergleich gestatten –, als ob Arthur Miller zum Zeitpunkt seiner Ehe einen gro-
ßen autobiographischen Roman über seine Beziehung zu Marilyn Monroe ge-
schrieben hätte, in der er – wie üblich – kein Blatt vor den Mund genommen
hätte. So blieb der Erfolg dem italienischen Autor treu; und einmal mehr trugen
seine illustren Liebesbeziehungen ihr Scherflein dazu bei.
Sie verstehen sicherlich, was ich meine: Die literarische Qualität von Il
Fuoco will ich damit in keiner Weise in Frage stellen! Auf besorgte Fragen ihres
Impresario, ob eine Veröffentlichung dieses Textes ihr denn nicht schaden
werde, antwortete Eleonora Duse sehr bewusst und stark, dass sie darunter lei-
den werde, dass man aber Italien ein großes Kunstwerk erhalten müsse – und
dies stelle dieser Roman zweifellos dar. Dem darf man durchaus aus heutiger
Sicht noch beipflichten. Die Haltung der großen Künstlerin beeindruckt eben-
falls bis heute, strengte sie doch keinen Prozess gegen ihren ehemaligen Lieb-
haber an, wie es heutigentags wohl angesagt wäre.
So finden wir denn, um einige Jahre zeitlich früher angesetzt, die Bezie-
hung zwischen Eleonora Duse, die sich gerade von dem zehn Jahre älteren Verdi-
Librettisten Arrigo Boito getrennt hatte, und dem um fünf Jahre jüngeren D’Annun-
zio im Zentrum jenes Romans, der sicherlich zu den großen Venedig-Romanen
nicht nur der Jahrhundertwende gezählt werden muss. Diese Liebesbeziehung, die
damals noch hielt und die auch durch die Veröffentlichung des Romans – aller
Legenden zum Trotz – nicht zerstört wurde, verbindet zwei Künstlerseelen und
Ausnahmemenschen miteinander. Da ist zum einen der junge Dichter und Kom-
ponist Stelio, ein wahrer Nietzscheanischer Übermensch, ein „Superuomo“, der
im ersten von drei Teilen des Romans das große Erlebnis einer erfolgreichen,
umjubelten Rede in Venedig erfährt. Auch D’Annunzio hatte in Venedig eine
Rede, genauer: seine erste große und einflussreiche Rede gehalten, und zwar im
Jahre 1895, als die erste Biennale die Lagunenstadt berühmt machte.
Anlässlich seiner Rede hatte D’Annunzio wohl zum ersten Mal bemerkt,
welch gewaltigen Einfluss er auch als Redner ausüben konnte; und er sollte
dieses Talent noch später häufig und gerne für sich nutzen. D’Annunzio hat vie-
les aus seiner damaligen Rede mit dem Titel „Allegoria dell’autunno“ in den
ersten Teil von Il Fuoco eingehen lassen, der im Übrigen die Überschrift „Epi-
phanie des Feuers“ trägt. Dabei steht das Feuer nicht zuletzt für die große in-
nere Schöpferkraft; jenes Feuer in Stelio Effrena, das alles Leben in Kunst
umwandelt, in Gedicht und Musik. Dieses Feuer wird letztlich – als Feuer der
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 975
Liebe – das Leben der natürlich wunderschönen Foscarina, die Stelio auch
„Perdita“ nennt, völlig verändern: Sie wird von diesem Leuchten förmlich ange-
zogen und gerät in den Bann des so kreativen Mannes.
Doch es gibt neben beiden Protagonisten noch eine weitere Hauptperson, so
dass sich neben der Liebe und deren Darstellung eine weitere Parallele zu Il Pia-
cere ergibt: Es ist die Stadt. Diesmal handelt es sich freilich nicht um das quirlige
Rom, das mit seinen urbanen Geräuschen die Hintergrundkulisse vieler Liebes-
nächte mit Elena Muti bildete, sondern um die Lagunenstadt Venedig mit ihren
aquatischen Landschaften. Sie wird zur eigentlichen Trägerin der Handlung: Ihre
Kanäle werden in Il Fuoco mit den Adern einer wollüstigen Frau verglichen; und
sie wird im Leben des realen D’Annunzio auch künftig eine wichtige Rolle spielen.
Schauen wir uns ihr Auftauchen im Roman – im Kontext eines vertrauten
Gesprächs zwischen der Foscarina und Stelio – einmal näher an. All dies ereignet
sich vor dem literarischen Hintergrund einer sehr langen und sehr reichen Tradi-
tion an literarischen Entwürfen der Stadt Venedig, jener Welt aus Inseln, die alle
unterschiedliche Formen und Funktionen besitzen, jeweils ihre eigene Logik
haben, zugleich aber untereinander verbunden sind zu einem Archipel von Rela-
tionen, welche die Protagonisten in ihren Entscheidungen beeinflussen:
Und diese stille Musik unbeweglicher Linien war so mächtig, dass es das gleichsam sicht-
bare Phantasma eines schöneren und reicheren Lebens schuf, indem es sich dem Spektakel
der unruhigen Menge auflagerte. Diese fühlte die Göttlichkeit der Stunde; und in ihrem
Schrei nach jener neuen Form königlicher Landung am alten Gestade bei jener schönen
blonden Königin, die von einem unauslöschlichen Lächeln erleuchtet war, verströmte sie
wohl das dunkle Streben nach einer Transzendenz dieser vulgären Lebensängste, nach
einer Aufnahme der Gaben der über die Steine und über die Wasser verstreuten ewigen Po-
esie. Die liebende und starke Seele der Väter, welche die triumphierenden Veteranen der
See hochleben ließen, erwachte noch undeutlich in den von Langeweile und den Mühen
langer Arbeitstage niedergedrückten Menschen; und es kam ihm die Erinnerung an die
Aura, die von den großen Schlachtenbannern ausging, als sich diese nach ihrer Flucht
wie die Schwingen des Sieges zusammenfalteten, oder an ihre Geschwätzigkeit, die be-
reits eine Schande für die fliehenden Flotten war, die nicht besänftigt werden konnte.
– Kennt Ihr, Perdita –, fragte Stelio unvermittelt, – kennt Ihr irgendeine andere Ört-
lichkeit in der Welt, welche Venedig gleich die Tugend besitzt, die Potenz des mensch-
lichen Lebens in gewissen Stunden zu stimulieren, indem sie alle Begierden wie im
Fieber erregt? Kennt Ihr eine gewaltigere Verführerin?
Die Frau, die er Perdita nannte, hatte das Gesicht nach oben gereckt, als wollte sie
sich sammeln, und antwortete nicht; doch sie spürte, wie in all ihren Nervenbahnen
jenes unbestimmbare Zittern entlanglief, welches die Stimme des jungen Freundes in ihr
hervorrief, indem sie plötzlich eine leidenschaftliche und vehemente Seele enthüllte, von
der sie wie von einer grenzenlosen Liebe, einer grenzenlosen Furcht angezogen wurde.24
Die Bewunderung der Frau für die Schaffenskraft des Mannes – als berühmte
Schauspielerin ist sie hier ihrerseits jene von ihm bewunderte Maske, jenes ausfüh-
rende Organ der virilen Schaffenskraft – wird gleichsam vermittelt über die Kraft
der Frau Venezia, die schon in den ersten Beschreibungen in ein krepuskuläres
herbstliches Licht getaucht ist. Venedig jedoch hat in einer nicht nur für D’Annun-
zio, sondern für das gesamte Fin de siécle charakteristischen Ästhetik des Reflexes
in seinen Wassern jenes lodernde Feuer aufgespeichert, welches die Ruder bei
ihrem Eindringen in die Wasseroberfläche zum Erglühen bringen. So wie Sterben
und Erstehen, Leben und Tod im Roman in einer für D’Annunzio charakteristi-
schen Weise enggeführt werden, so sind auch Feuer und Wasser in Il Fuoco nicht
voneinander geschieden, sondern zeigen sich zeitgleich.
Die künstliche Atmosphäre verwandelt Venedig in die Stadt der Kunst, die
gleichsam realer ist als die wirklichen Leute auf der Straße, deren Ellbogen uns so
stören, weil sie uns mit der Realität nur allzu derb in Berührung bringen. D’Annun-
zio hat im obigen Zitat eine Wendung Friedrich Nietzsches gebraucht, der einmal
von den müde gearbeiteten Arbeitssklaven sprach, die Kunst vor Müdigkeit kaum
noch genießen können: D’Annunzio schrieb oben parallel von einer wahren Op-
pression, welche den Enthusiasmus, die Begeisterungsfähigkeit der Menschen
niederdrücke. Doch schauen wir uns eine andere Passage am Beginn des Ro-
mans an, um besser zu verstehen, auf welche Weise die Stadt Venedig aus den
unterschiedlichsten Synästhesien gemacht ist und damit geradezu jenes Ge-
samtkunstwerk oder totale Kunstwerk bildet, von dem Richard Wagner, aber
ebenso die meisten Künstlerinnen und Künstler des Fin de siècle träumten:
– Welch köstliche Phantasien, Stelio!, sagte die Foscarina, die ihre Jugend wiederfand,
indem sie sprachlos wie ein kleines Mädchen wurde, dem man ein Bilderbuch zeigt. –
Wer war es noch, der Euch eines Tages einen Bilderzauberer nannte?
– Ach, die Bilder!, rief der Dichter aus, ganz von der fruchtbaren Wärme erfüllt. Wie kann
man in Venedig fühlen wenn nicht auf musikalischem Wege, und wie kann man hier den-
ken wenn nicht in Bildern. Diese kommen zu uns von unzähligen, verschiedenen Orten,
realer und lebendiger als Menschen, die uns in engen Gassen mit ihren Ellenbogen ansto-
ßen. Wir können uns bücken, um die Tiefe ihrer Bildung zu untersuchen und von ihren
eloquenten gekrümmten Lippen die Worte erraten, die sie uns sagen werden.25
Wer hat wohl Stelio einen Bilderzauberer, einen „Immaginifico“ genannt? Nun,
wir wissen, dass sich zumindest Gabriele D’Annunzio selbst sehr gerne mit die-
sem Begriff auszeichnete. Die Parallelen zwischen realem Autor und seinem ro-
manesken alter ego sind überdeutlich. Sie sollen auch überdeutlich sein; denn
darauf beruht der geradezu autobiographische Pakt dieses fiktionalen Romans.
25 Ebda., S. 13 f.
978 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
Bei näherem Hinschauen bemerkt man jedoch, dass die zeitliche Verschiebung
des Romans einige Jahre früher bereits unübersehbar vor Augen führt, dass die
autobiographische Lesart schnell an ihre Grenzen stößt. Wir merken schon zu
Beginn von Il Fuoco, dass wir eine künstlerisch fruchtbare Dreiecksbeziehung
zwischen der Schauspielerin, dem Dichter und der Lagunenstadt vor uns haben,
die uns noch ein wenig weiter beschäftigen soll.
Im Grunde müssten wir von mehreren Dreiecksbeziehungen sprechen, die
sich auf verschiedenen Ebenen um den schönen Stelio anordnen lassen. Wir
könnten schematisch wohl drei Ebenen voneinander differenzieren: Auf Ebene
der zwischenmenschlichen Beziehungen lässt sich erstens eine Dreiecksbezie-
hung zwischen einem Mann (Stelio) und zwei Frauen ausmachen, nämlich Fos-
carina einerseits und Donatella andererseits, deren Name zunächst bei der
Fahrt mit einer Gondel zwischen Stelio und Foscarina aufgetaucht und vom Wi-
derhall des Bugs eines Kriegsschiffes zurückgeworfen worden war. Donatella
Arvale war dann zum ersten Mal körperlich an der Hand Foscarinas erschienen;
ganz so, wie der reale D’Annunzio offenkundig tiefbeeindruckt gewesen war, als
er erstmals mit der schon etwas älteren Schauspielerin Eleonora Duse immer ein
wunderschönes Mädchen hatte spazieren gehen sehen, das seine Aufmerksam-
keit gerade durch den Alterskontrast auf sich zog.
Wir haben es in diesem Zusammenhang mit einer Grundkonstellation nicht
nur beim realen D’Annunzio, sondern auch bei seinen männlichen Romanfigu-
ren beziehungsweise seinen Romanfigurationen zu tun. Denn die Dreiecksbe-
ziehungen ergeben sich für den Mann in Liebesdingen stets mit einer etwas
älteren und zugleich mit einer deutlich jüngeren Frau. Bereits in Il Piacere hat-
ten wir gesehen, wie zwei grundverschiedene Frauentypen miteinander zu
einer einzigen Frauengestalt vermischt wurden. Diese beiden Frauentypen
waren freilich nicht durch einen Altersunterschied voneinander getrennt; an-
ders als dies später bei D’Annunzio dann in weiteren Romanen und Theaterstü-
cken der Fall war. Stets aber sollten zwei Frauen in einer ungeheuren mentalen
Kraftanstrengung des männlichen Protagonisten zu einer einzigen weiblichen
Gestalt verschmolzen werden. Man könnte in diesem Zusammenhang von poly-
gamen phallogozentrischen Kombinatoriken sprechen, welche die Darstellung der
Lust und der Lüste, aber auch der List und der Listen26 bei Gabriele D’Annunzio
beflügeln – und ich meine hier auch die schier unerschöpfliche Liste an Frauen-
typen und Frauenbeziehungen, die der italienische Autor listig einführt.
26 Vgl. zu diesen Relationen Ette, Ottmar: ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literari-
scher Konvivenz im globalen Maßstab (ÜberLebenswissen III). Berlin: Kulturverlag Kadmos
2010.
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 979
In Il Fuoco finden wir in Foscarina den Typ der älteren Frau, auch wenn
Eleonora Duse gerade einmal fünf Jahre älter als D’Annunzio war. Sie verkör-
pert ohne jeden Zweifel eine Mutterfigur, auf die bestimmte allumfassende Ei-
genschaften wie Zärtlichkeit, Wärme oder Fürsorge projiziert werden. Doch
sind sowohl die Erzählerfigur als auch Stelio und Foscarina selbst immer wie-
der mit ihrem schon älter werdenden Fleisch beschäftigt, ist ihr Körper als Ob-
jekt doch nicht mehr so straff und jugendlich wie der einer jungen Heldin,
sondern –- wie es im Roman in ständigen misogynen Wiederholungen heißt –
erfahren und erschlafft von den vielen Liebkosungen und Wollüsten, die sie in
ihrem Leben erfahren hatte. Der Roman spielt die Tatsache gegen Foscarina
aus, dass sich die Alterungsprozesse bei Männern und Frauen unterscheiden
und vor allem gesellschaftlich und kulturell unterschiedlich bewertet werden.
Doch es kommt noch ein weiteres Moment hinzu: Foscarina ist Schauspielerin.
Sie vereinigt ganz wie Eleonora Duse in ihrem Körper – und dazu gibt es eine
schöne Passage, die ich hier aus Raumgründen nicht einblenden kann – die ganze
Welt der Figuren und Schicksale von Frauenmythen, angefangen von Kassandra
und Cleopatra über Lady Macbeth und Medea bis hin zu Iphigenie und Phaedra,
die sie alle schon verkörpert hatte. In ihren Körper sind all diese Figuren schon
hindurchgegangen; und diese Frauenrollen haben Spuren hinterlassen. Die Schau-
spielerin ist so etwas wie ein lebendiges Palimpsest, auf dessen Oberfläche sich
immer wieder neue Rollen einschreiben, ohne dass die zuvor hinterlassenen voll-
ständig verschwinden würden. Foscarina ist aus diesem Blickwinkel potenzierte
Kunst: Sie verkörpert Kunst, ja ist gleichsam die Mutter der Kunst.
Auf ihrem schon etwas in die Jahre gekommenen, aber immer noch schö-
nen und ausdrucksstarken Gesicht haben die hundert Masken verschiedener
leidender Frauen ihre Spuren hinterlassen, so dass auch auf dieser physischen
Ebene Stelio gleichsam eine Frau entgegentritt, die vielfach Leben in sich po-
tenziert – künstlerisches wie reales Leben. Freilich ist Foscarina eine Schau-
spielerin, die nicht nur auf der Bühne, sondern auch im realen Leben leidet –
und sie leidet vor allem unter Männern!
Vor allem aber durchlebt Foscarina in ihrem Beruf als Schauspielerin auf
den Brettern, die die Welt bedeuten, zumeist von Männern erschaffene Tragö-
dien, wird also zum Sprachrohr anderer Autoren, die als männliche Künstler
durch sie hindurch sprechen. Dies scheint mir von größter Bedeutung für unser
Verständnis der Liebesbeziehung sowie des amourösen Dreiecksverhältnisses
zu sein. Denn nicht nur wir, nein, auch Stelio hat längst erkannt, welch wun-
derbares Werkzeug er da vor sich hat; ein göttliches Werkzeug der Kunst, natür-
lich auch für einen Demiurgen und Gott wie ihn geschaffen. Foscarina ist
folglich die große Figur der älteren Frau, die zum Werkzeug des Künstlers wird,
da sie ihre konzentrierte Erfahrung, ihr künstlerisches Erleben der unterschied-
980 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
lichsten Rollen palimpsestartig einbringen kann. Dies ist ohne Zweifel ein ur-
altes Motiv der Mann-Frau-Beziehung, das uns seit der griechischen Antike im
Abendland folgt und verfolgt – etwa auch in Gestalt des Pygmalion-Mythos.27
An dieser Stelle des Romans ließe sich in der Tat eine zugrundeliegende autobio-
graphische Isotopie oder Bedeutungsebene erkennen. Denn auch Eleonora Duse
schreibt, nachdem sie D’Annunzio im Jahre 1895 kennengelernt hatte, dass sie
beide – ohne darüber zu sprechen – einen wechselseitigen Beistandspakt mitein-
ander abgeschlossen hätten. Dieser berührte sicherlich auch den komplexen Be-
reich der Liebe zwischen den beiden Personen im öffentlichen Rampenlicht; und
diese Liebe währte für die Verhältnisse D’Annunzios aller Nebenlieben zum Trotz
sehr lange – zumindest bis ins Jahr 1903, als eine andere, bald schon in der Psych-
iatrie und später im Kloster landende Geliebte, Alessandra, in seinem Landhaus in
Settignano bei Fiesole beziehungsweise Florenz Einzug hielt. Auch später noch
scheint D’Annunzio Eleonora Duse unentwegt Briefe geschrieben zu haben, die sie
unentwegt nie beantwortete, als wäre sie eine Figur aus Gabriel García Márquez’ El
amor en los tiempos del cólera.28 Erst nach dem Ersten Weltkrieg war sie wieder
bereit, zumindest ein wenig den Kontakt zu jenem Bühnenautor aufzunehmen
und zu halten, dessen Stücke sie mit großem Erfolg gespielt hatte und dessen Per-
sona, dessen Rollenmaske, sie in vielfältiger Weise gewesen war.
Und genau hier liegt vielleicht die noch bestimmendere Dimension des bei-
derseitigen Beistandspaktes: Eleonora Duse, die lange mit dem mittelmäßigen
Opernlibrettisten Verdis, Arrigo Boito, zusammengelebt hatte, musste das damals
klassische Repertoire der Frauenfiguren bis hin zu Alexandre Dumas spielen;
und ihr war dieses Repertoire, das sich für sie ständig wiederholte, weidlich
über. Lange schon suchte sie nach jungen Autoren, die andere, neue Stücke für
sie hätten schreiben können. D’Annunzio kam da gerade recht!
27 Vgl. zu diesem Mythos und der literarischen Anverwandlung durch Honoré de Balzac den
vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 793 ff.
28 Vgl. zu diesem Roman über die Liebe (im Alter) den zweiten Band der Reihe „Aula“ Ette,
Ottmar: LiebeLesen, S. 677 ff.
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 981
Er war ihr schon vor ihrer ersten persönlichen Begegnung kein Unbekann-
ter mehr. Sie mochte zwar seine Person und seine Neigungen nicht, wohl aber
die Kunst, die er schuf. Könnte man sagen, dass sie den Künstler, aber nicht
den Menschen liebte? In jedem Falle hatte Eleonora Duse also auch durchaus
professionelle Interessen und unterlag nicht einfach – wie es im Roman hieß –
der anziehenden Stimme des jungen Künstlergenies. Eine solche Interessenlage
gilt für D’Annunzio keineswegs weniger, sondern vielmehr in erhöhtem Maße.
Denn er konnte sich versprechen, über die berühmteste Schauspielerin Italiens
Zugang zu den italienischen Bühnen zu finden, sie sich mit Hilfe dieser großen
tragischen Schauspielerin zu öffnen und zu erobern. Und genauso geschah es.
Eleonora Duse und Gabriele D’Annunzio warfen folglich ihr symbolisches
Kapitel im Bereich der Bühnenkunst wie der Literatur zusammen und vergrö-
ßerten damit ihr bereits bestehendes Renommee. Die großen Theatererfolge
D’Annunzios sind aus dieser Konstellation heraus sicherlich nicht einseitig er-
klärbar und ableitbar; aber sie wären ohne diese Kombination von symbolischem
Kapital zweifellos nicht so schnell und durchschlagend möglich gewesen. D’An-
nunzio war von Eleonora Duse berührt, liebte sie vielleicht auch, aber sah in ihr
vor allem auch jenes eines Gottes würdige wunderbare Werkzeug der Kunst, das
ihm erlauben sollte, noch unmittelbarer seiner Schaffenskraft in Italien zum
Durchbruch zu verhelfen. D’Annunzios Liebschaften waren für den italienischen
Schriftsteller stets nützlich.
Gabriele D’Annunzio war von der politischen Bühne in jenen Jahren wieder
etwas zurückgetreten und spielte in dieser Zeit mit Eleonora Duse – als der si-
cherlich produktivsten Periode seines Lebens überhaupt – mit jenen illustren
Brettern, die für ihn vielleicht nicht die Welt, in jedem Falle aber eine große
Öffentlichkeit und Sichtbarkeit bedeuteten. Dies war ein Spiel mit vielen Figu-
ren, mit vielen Böden, mit vielen Resonanzräumen, wie Gabriele D’Annunzio es
liebte: ein Spiel in einer höchst komplexen literarischen Echo-Kammer, in der
sich Hall und Widerhall begegnen und alles mit allem verbinden. Es handelte
sich dabei um Literatur in potenzierter Form, so wie Eleonora Duse eine Frau-
enrolle mit den verschiedensten Masken einer Schauspielerin verkörperte.
Kehren wir nun wieder zur Frage der Dreieckssituation zurück, die wir –
Sie erinnern sich – noch auf der ersten Ebene verlassen hatten! Denn diese
Dreieckssituation wird einerseits zwischen einem Mann und einer etwas älteren
Frau, andererseits aber dann gleichsam spiegelsymmetrisch mit einer etwas
jüngeren Frau aufgebaut. Diese zusätzliche Frauenfigur ist in Il Fuoco die junge
und blendend schöne, mit einem kränklichen Vater belastete und selbst etwas
blutleer und statuenhaft wirkende Sängerin Donatella Arvale. Stelio lernt sie an
eben jenem außerordentlichen Tag kennen, an dem er selbst seine große Rede
hält, seine „Allegoria dell’autunno“, auf die ich gleich zurückkommen werde.
982 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
Auch die Dritte im Bunde ist wie Foscarina Künstlerin; und auch sie ist an
diesem großen Festtag Venedigs im Dogenpalast präsent, mitten im Zentrum
der Aufmerksamkeit. Erhob Stelio seine Stimme, um zu den Massen zu spre-
chen, so erhebt nach ihm Donatella ihre wunderschöne Stimme, um für ihre
vielen Zuhörer zu singen. Sie singt – wie es im Roman so schön heißt – durch
einen Wald von Instrumenten hindurch für die Menschen, und da ist Stelio
natürlich miteingerechnet. Auch sie lässt sich damit als ein Werkzeug begrei-
fen, singt sie doch das, was andere ihr vorgegeben haben. Wie die Foscarina
steht sie damit im Gegensatz zu Stelio, dem Komponisten-Dichter oder Dichter-
Komponisten, der seine eigene Rede hielt, für sich selbst, in sich und durch sich
hindurch sprach. Anders als die zwei wunderbaren Frauen – und auch hierin
lässt sich zweifellos ein phallogozentrisches Element erkennen –, die beide
Künstlerinnen zweiter Ordnung sind, ist der Mann ein Künstler erster Ordnung,
indem er Kunstwerke schafft und nicht interpretiert.
An eben dieser Stelle scheint mir die grundlegende Differenz zwischen
den Männerfiguren, die allesamt hochsensible Schöpferfiguren sind, und den
Frauengestalten in den literarischen Kreationen Gabriele D’Annunzios zu lie-
gen. Die Männerfiguren scheinen gleichsam kraft ihrer Virilität die schöpferi-
sche Potenz gepachtet zu haben: Nicht umsonst ist Stelio der Herr des Feuers.
So stellt Foscarina ihrer Freundin Donatella ihren Stelio wie folgt vor: „Don-
natella, ecco il Maestro del Fuoco“29 – und so heißt es mehrfach in diesem ers-
ten Teil des Romans, der „Epifania del fuoco“. Stelio steht in klarem Gegensatz
zu jenen Künstlerinnenfiguren, die gleichsam die Gedanken, die Wünsche und
Sehnsüchte sowie die schöpferische Kraft anderer repräsentieren und verkör-
pern. Foscarina und Donatella sind letztlich vor allem Werkzeuge männlichen
Potenz, sind von ihrem Beruf und ihrer Tätigkeit als Schauspielerin und Sänge-
rin jene notwendigen Figuren, die der Kunst es erst ermöglichen, wortwörtlich
Gestalt anzunehmen, sobald sie sich anderer Medien als des Papiers bedient.
Donatella ist als Frauenfigur – jenseits der strukturellen Ähnlichkeiten, die
sie mit Foscarina teilt – die Verkörperung einer jüngeren attraktiven Frau, die
über einen noch unberührten Körper verfügt, Jungfrau ist, den Duft eines
jungfräulichen Mädchens und das Reine, die ‚Reinheit‘ selbst verströmt und
ausstrahlt. Sie kennt die Lust, kennt die Wollust noch nicht, von der die andere,
erfahrenere Frau zugleich beseelt und – so der Roman – ‚verdorben‘ ist. Wir
haben erneut einen zwar etwas transzendierten, aber durchaus wiedererkenn-
baren Gegensatz zwischen der Femme fatale und der Femme fragile, der freilich
hier künstlerisch produktiv gemacht wird, ist es doch gerade diese Präsenz des
starke Eindruck erklären lässt, den sie im männlichen Betrachter auslösen. Die
Stadt ist zugleich eine historische Einheit, welche durchaus bestimmte Seme mit
Foscarina teilt, sind beide doch hintergründig schön, ausdrucksstark, lustvoll
und ungeheuer erfahren – aber auch schon etwas älter und letztlich einem
schleichenden Untergang geweiht. Doch verschmelzen sie nicht miteinander,
auch nicht in der dem ersten Teil Einheit gebenden zentralen Passage von
„Epifania del fuoco“, nämlich der Rede Stelio Effrenas. Diese knüpft an die
historische Rede Gabriele D’Annunzios in Venedig an, die ebenfalls „Allegoria
dell’autunno“ hieß und aus der er verschiedentlich Passagen in seinen Roman
am Beginn eines neuen Jahrhunderts einblendete.
Für den historischen, textexternen Gabriele D’Annunzio war es eine grund-
legende Erfahrung gewesen, mit seiner bloßen Stimme die anonyme Masse be-
geistern zu können. Der italienische Dichter sollte sich und der namenlosen
Masse ein solches Vergnügen noch mehrfach gönnen, wie sein weiteres politi-
sches Leben mit seinen faschistischen oder faschistoiden Ergüssen zeigt. Doch
für Stelio ist Venedig eine wunderbare Geliebte, von der er sich nicht trennen
mag; eine urbane Geliebte, der – wenn auch auf andere Weise – nur Roma, das
schöne Rom, an die Seite treten und gefährlich werden kann. Denn Venedig ist
historisch akkumulierter Luxus, durch die Zeiten angehäufte Kunst, wie sie
selbst in den Dekolletés ihrer schönen Damen erscheint, die ihn von der Rede
begeistert anfunkeln – mit ihren strahlenden Augen und mit ihren glanzvollen
Schmuckstücken …
Die dritte Ebene der Dreiecksbeziehung ist ebenfalls abstrakter, aber viel-
leicht noch stärker politischer Natur. Wir haben also wieder den Mann und die
Frau, die wir ja schon kennen, aber an die Stelle der Stadt tritt nun die Menge,
die Masse, und dies ist ein eminent politischer Akt. Sie tritt dem Redner Stelio
verschiedentlich in anthropomorpher, aber auch tierischer Gestalt entgegen.
Zwischen dem Mann und der Masse besteht eine direkte, offene und zugleich
geheimnisvolle Kommunikation, die durchaus nicht immer bewusst abläuft,
bisweilen aber auch bewusst und von bestimmten Absichten gesteuert werden
kann.
Gewiss ist auch auf dieser Ebene die erotische Spannung zu spüren, denn
schließlich erscheint ihm die Masse auch als Chimäre mit weiblich vollen Brüs-
ten. Zugleich aber taucht auch ein ihn immer wieder verfolgendes Bild auf: das
des Ungeheuers mit den hundert verschiedenen Gesichtern, das ihn unentwegt
verfolgt und gegen das er stets mutig anzukämpfen versucht. Wir befinden uns
in der nachfolgenden Passage bereits mitten in der festlichen Ansprache und
Rede Stelios im Dogenpalast von Venedig, wo sich das Publikum in eine an-
onyme Masse und eine durch ihren lauten Beifall bemerkliche Gruppe von
Schülern Stelios spaltet.
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 985
Stelio sah nun jene weibliche Büste jener maßlosen, beäugten Chimäre, über der sich hin-
gebungsvoll die Federn der Fächer bewegten; und er verspürte, wie über seinen Gedanken
eine allzu warme Trunkenheit huschte, die ihn verwirrte, indem sie ihm Worte zum gera-
dezu fleischlichen Anblick einflüsterte, jene lebendigen, substantiellen Worte, mit denen er
die Frauen wie mit zärtlichen und erregenden Fingern zu berühren wusste. Die von ihm
hervorgerufene weite Erschütterung hallte in ihm selbst mit einer vervielfachten Kraft
wider und schüttelte ihn so tief, dass er den gewohnten Gleichgewichtssinn verlor. Er
schien auf der Menge zu oszillieren wie ein konkaver Klangkörper, in welchem die ver-
schiedenen Resonanzen durch einen unterschiedslosen, aber unfehlbaren Willen generiert
wurden. In den Pausen wartete er sehnsüchtig auf das unvorhergesehene Sich-Zeigen jenes
Willens, während ihm das innere Echo, als wäre es nicht das seiner eigenen Stimme, an-
dauerte, als hätte er ausdrucksstarke Worte von Gedanken hervorgebracht, die für ihn
selbst höchst neu waren.30
30 Ebda., S. 82 f.
986 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
31 Vgl. hierzu das Vor- und Nachwort zu dieser Ausgabe in Rodó, José Enrique: Ariel. Über-
setzt, herausgegeben und erläutert von Ottmar Ette. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhand-
lung 1994.
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 987
der eigenen Rede, so wie er auch die Veränderungen seines Publikums und die
starke Wirkung seiner um die Ideale der Schönheit kreisenden Vorstellungen
geradezu seismographisch erkennt. Hier spricht ein über den Menschen stehen-
der Mensch, vor dem sich im Saale des festlich geschmückten Dogenpalastes
die Menge teilt, zu seinem Volk. Hier zeigt der Künstler der Masse, wohin sie
sich zu bewegen hat, hier nimmt ein Führer, der zugleich Dichter ist, die Menge
bei der Hand. Und hier nimmt ein großer, künstlerisch sensibler Redner eine
namenlose Masse gefangen und in Besitz.
Stelio ist ein Führer; und er ist ein Mann, der Frauen – wie die Massen – zu
manipulieren versteht. Die Erfahrung der Masse, die sich ihm jubelnd zuwen-
det, geht der Bewunderung der beiden Frauen für Stelio voraus, leitet über zur
geschlechtlichen Liebe mit Foscarina und der Sehnsucht nach der reinen Liebe
zur jungfräulichen Donatella mit ihrem festen, reinen Fleisch – wie es explizit
im Roman heißt. Die Parallelen zwischen Il Fuoco und Il Piacere sind offensicht-
lich: Elena Muti verkörpert sich in Foscarina, Maria wird zu einer noch jünge-
ren, noch heiligeren, da jungfräulichen Donatella. Die literarische Obsession
derartiger Vorstellungen, der psychoanalytisch deutbare „mythe personnel“
der immer gleichen und immer variierenden Konstellation in vielen Texten
D’Annunzios ist beeindruckend.
Zugleich wird aber ein (politisches und geschlechterspezifisches) Herrschafts-
prinzip erkennbar, das sicherlich auch dem nietzscheanischen Herren- und Über-
menschen zurechenbar ist. Stelio ist ein hochkultivierter Herrenmensch, dem es
letztlich vor allem um die Schönheit und die eigene Lusterfahrung geht, ohne
dass er Gewalt auf die Welt hätte ausüben wollen – ein wenig so, wie sich D’An-
nunzio bei seiner ersten, erfolgreichen politischen Kampagne schlicht als den
‚Kandidaten der Schönheit‘ bezeichnete. Versuchen wir aber nun, den zweiten
Teil der sensiblen Aufnahme innerer Regungen Stelios und seiner Reaktionen bei
der eigenen Rede nochmals aus größerer Nähe zu studieren:
Er staunte über jene unbekannte Macht, die in ihm zusammenlief, die Grenzen der einzel-
nen Person aufgab und der einsamen Stimme die Fülle eines Chores gab. – So also war
der mysteriöse Aufschub, den die Enthüllung der Schönheit der alltäglichen Existenz den
hungernden Massen schenken konnte; so also war der mysteriöse Wille, den der Dichter
in den Akt des Antwortens auf die unzählbaren fragenden Seelen rund um den Wert des
Lebens und die Sehnsucht investieren konnte, sich, und wäre es ein einziges Mal, zur
ewigen Idee zu erheben. – In jener Stunde war er nichts als der Vermittler, durch welchen
die Schönheit den Menschen, die an einem Orte zusammenkamen, welcher von Jahrhun-
derten menschlichen Ruhmes geheiligt war, die göttliche Gabe des Vergessens übermit-
telte. Er machte nichts anderes als in die Rhythmen des Wortes die sichtbare Sprache zu
übersetzen, in welcher schon an diesem Ort die antiken Kunsthandwerker dem Streben
und Erflehen des Adelsgeschlechts Bedeutung geschenkt hatten. [...]
988 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
Nicht allein auf jene Masse, sondern auf unbegrenzte Massen richtete sich sein Den-
ken; und er rief sie auf, verdichtet in tiefen Theatern, beherrscht von einer Idee der Wahr-
heit und Schönheit, stumm und vor dem großen szenischen Bogen stehend, der sich auf
eine wunderbare Transfiguration des Lebens öffnete, frenetisch unter dem plötzlichen
Glanze, der von einem unsterblichen Worte ausging. Und der Traum von einer höheren
Kunst, der sich auch einmal in ihm erhob, zeigte ihm die neuerlich von einer Reverenz
gegenüber den Dichtern ergriffenen Menschen wie gegenüber jenen, welche alleine für
einen Augenblick die menschliche Angst unterbrechen, den Durst löschen, das Vergessen
erweitern konnten.32
Wenn man in diesem Auszug die Wortwahl des Erzählers näher ansieht und
analysiert, dann kann man bis zu einem gewissen Grade verstehen, warum
Eleonora Duse ihrem Gabriele D’Annunzio gegen Ende ihrer Liebesbeziehung
einmal schrieb, sie habe genug von seinen großen Worten. Auch in dieser Pas-
sage sind die großen Substantive in ungeheurer Dichte vorhanden, werden
bestimmte ästhetische Konzepte mit politischen vermengt und historische
Vergleiche bemüht, die schwer nachzuvollziehen, aber auch schwer zu bele-
gen oder zu falsifizieren sind. Dabei ist auch hier der Redner in gewisser Weise
zu einem Sprachrohr geworden, zu einem Resonanzboden für die Menge, deren
Erregung auf den Dichter-Redner übergeht. Aber er hat doch einen wesentlich
aktiveren Part im Kontakt mit der Menge als etwa die Schauspielerin oder die
Sängerin: Immerhin heißt es, in unverkennbarer Reminiszenz an Nietzsche, dass
Sängerin, Schauspielerin und Tänzerin die drei dionysischen Frauenfiguren
schlechthin darstellten. Der junge Stelio ist im Grunde ein kompletter Mensch im
nietzscheanischen Sinne – das heißt, dass er mit dem Dionysischen seines Kör-
per-Leibes auch das Apollinische seines Geistes zu verbinden weiß.
Er verbindet beide Bereiche miteinander, auch wenn es ihm – außer in der
Kunst – nie gelingt, die beiden unterschiedlichen Frauenfiguren dauerhaft mitei-
nander zu verschmelzen. Er vermag es im Übrigen, die politische Tragweite sei-
nes Denkens und seiner Kunst bereits in dieser Szenerie zu erkennen; und wir
sehen zugleich, wie die verschiedenen Isotopien und Gegenstandsbereiche un-
auflöslich, wie bei einem synästhetischen Gesamtkunstwerk, ineinander greifen.
In der Tat wird in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Kult der Schönheit
mit dem Kult der Macht und dem Triumph des Willens eine ungeheuer explosive
Vereinigung eingehen; eine Mischung, die hier, in der Rede an das versammelte
venezianische Volk der begüterten Bürger und Künstlerjünger, bereits in nuce
absehbar ist. Die Literatur wirft hier, wenn auch „malgré elle“, ein prospektives
Licht auf die vielen politischen Führerfiguren und Potentaten, auf Kriege und
33 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 942 ff. u. S. 1071 ff.
990 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
– Das Werk von Richard Wagner –, antwortete er, – ist auf den germanischen Geist gegrün-
det, es ist von seinem Wesen her rein nordisch. Seine Reform besitzt bestimmte Analogien
zu jener, die Luther unternahm. Sein Drama ist nichts außer der höchsten Blüte des Genies
eines Geschlechts, nichts außer einem außerordentlich wirkungsvollen Kompendium jener
Bestrebungen, welche die Seele der nationalen Symphoniker, der nationalen Dichter ermü-
deten, von Bach bis zu Beethoven, von Wieland bis zu Goethe. Wenn Ihr Euch sein Werk
an den Ufern des Mittelmeeres, unter unseren klaren Olivenbäumen, unter unserem ge-
schmeidigen Lorbeer, unter der Glorie des lateinischen Himmels vorstellt, dann würdet Ihr
es blass werden und sich auflösen sehen. Denn es ist nach seinen eigenen Worten dem
Künstler gegeben, aus der Perfektion des Künftigen eine noch unförmige Welt erstrahlen
und im Begehren wie in der Hoffnung prophetisch die Tage aufblitzen zu sehen, und so
kündige ich Euch das Heraufkommen einer neuen oder erneuerten Kunst an, welche durch
die starke und ehrliche Schlichtheit ihrer Linien, durch ihre widerstandsfähige Grazie,
durch die Begeisterungsfähigkeit ihrer Geister, durch die reine Potenz ihrer Harmonien das
unermessliche ideale Bauwerk unseres auserwählten Geschlechts inaugurieren und krönen
wird. Ich sonne mich in der Glorie, Lateiner zu sein; und – entschuldigt, oh träumerische
Lady Myrthe, verzeiht mir, oh geschmackvoller Hoditz – ich erkenne einen Barbaren in
jedem Menschen von anderem Blute.
– Aber auch er, Richard Wagner, entwickelte den Faden seiner Theorien von den Grie-
chen her –, sagte Baldassare Stampa, der nach seiner Rückkehr aus Bayreuth noch ganz
von seiner Ekstase erfüllt war.
– Ein ungleicher und konfuser Faden –, antwortete der Meister. – Nichts ist weiter ent-
fernt von der Orestiade als die Tetralogie des Rings.34
In diesen Äußerungen Stelios zeigt sich die Eloquenz des Meisters, der seinen
Schülern gegenübertritt und ihnen die wahren Entwicklungslinien der ak-
tuellen und der künftigen Kunst aufzeigt. Die Verbform „annunzio“ zeigt an,
dass er dabei im Namen des Dichters spricht. In diesem Gespräch, in diesem
einseitigen Dialog, zeigt sich nicht zuletzt auch das Meister-Schüler-Verhältnis,
das später – schon unter den Prämissen einer an die Massen gerichteten Rheto-
rik – evidente Übergänge zu einer Beziehung zwischen Führer und anonymer
Masse aufweist; eine Kunstauffassung, die zwar immer noch quasi spätroman-
tisch am großen Genius orientiert ist, zugleich aber auf die Bewegung der Mas-
sen zielt, die sich an diesem orientieren und von ihm führen lassen.
Der noch junge italienische Künstler Stelio befindet sich – ungeachtet seiner
eigenen Meisterschaft – in einem Spannungsverhältnis seiner elitären Kunstauf-
fassung gegenüber einem anderen großen Meister, Richard Wagner –, der seinen
Tod eben in Venedig erfahren sollte. Letzterer ist die Schlüsselfigur für die Jahr-
hundertwende im Zeichen der Dekadenz, so dass man sehr zutreffend vom ‚deka-
denten Wagnerismus‘ gesprochen hat, einer an Wagner orientierten Ästhetik,
welche die Dichte der einzelnen Sinneserfahrungen und deren Verschmelzung
zu einem Gesamtkunstwerk im Auge hat. Es ist daher kein Zufall, dass einer
der Jünger des jungen italienischen Meisters just aus Bayreuth zurückgekehrt
ist – jenem Schauspielhügel, auf dem Wagner den Tempel seiner Kunst und zu-
gleich seiner Konzeption des Gesamtkunstwerks errichten wollte. Bayreuth war
längst zu einer Pilgerstätte keineswegs nur germanischer, sondern europäi-
scher Kunstliebhaber geworden. Baldassares Enthusiasmus ist noch längst nicht
verschwunden; und doch träumt Stelio gemeinsam mit seinen anderen Schülern
und Jüngern davon, das Bauwerk aus Ziegeln und Holz in Rom zu übertreffen
durch einen Bau auf einem der sieben Hügel der Stadt, der dann ganz im Zeichen
von Marmor und Gold stehen sollte. Unnötig hinzuzufügen, dass hinter Stelio die
Ambitionen eines D’Annunzio aufscheinen.
Die Rivalität der Architekturvisionen ist natürlich nicht zufällig, prägt doch
auch Stelio eine Rivalität mit dem großen Komponisten und Künstler Wagner,
die man ohne Übertreibung als ins Extreme gesteigerte panlatinistische Hass-
liebe bezeichnen könnte. Man müsste mit Blick auf diese Beziehung mit Ha-
rold Bloom von einer Anxiety of Influence sprechen,35 einer geradezu ödipalen
Vater-Sohn-Situation, in welcher der Vater – in diesem Falle Richard Wagner –
als übermächtig und präpotent wahrgenommen, zugleich in seinen herausra-
genden Eigenschaften als prägend und zugleich abstoßend empfunden wird.
Dieser ‚Vater‘ fördert die künstlerische Entwicklung des ‚Sohnes‘ ebenso wie
er sie behindert. Daher auch die Rhetorik Stelios, der sich mit der mittlerweile
längst auch in Italien positiven Einschätzung Wagners herumschlagen und
plagen muss, um seine eigene Kunstauffassung in Absetzung vom Wagner er-
folgreich zu propagieren. Vergessen wir dabei nicht, dass Gabriele D’Annun-
zio in sich den Neubegründer des italienischen Nationaltheaters erblickte!
Der junge Stelio ist ein Gesamtkünstler, in dem sich vor allem Dichter und
Komponist, aber auch viele andere Qualitäten und Eigenschaften profilieren –
jene des Redners sahen wir schon eindrucksvoll. Das zentrale Ideologem, das es
Stelio erlaubt, sich gegenüber Richard Wagner in seiner eigenen auserwählten
Kunst abzusetzen, ist das des Gegensatzes zwischen Panlatinismus beziehungs-
weise Latinität einerseits und Germanentum beziehungsweise Pangermanismus
andererseits. Denn dank dieser ideologisch-politischen Opposition darf er hoffen,
einen diskursiven Gegensatz aufzubauen, der nicht mehr überbrückbar ist und
35 Vgl. hierzu Bloom, Harold: The Anxiety of Influence. New York: Oxford University Press
1973.
992 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
der es ihm ermöglicht, sein eigenes, erst noch im Entstehen begriffenes Werk
gegen die übermächtigen Einflüsse aus dem Norden abzuschotten.
Gleichwohl gibt es eine Reihe von Theoremen, welche Stelio mit jenen Ri-
chard Wagners verbinden, so dass man in der Tat einmal mehr die Zusammenge-
hörigkeit des Fin de siècle nicht allein auf der gesamten europäischen Bühne,
sondern transareal weit darüber hinaus erkennen kann. Gerade die auch bei
einer lateinamerikanischen Gesellschaftselite sehr beliebten Pilgerfahrten nach
Bayreuth, die in den verschiedensten romanischen Ländern angesagt waren
(und sind) – selbst in Frankreich, wo noch die Niederlage gegen Preußen
schmerzte –, sorgten für eine gemeinsame, Nationalkulturen überspannende
Dimension der Kunst der Jahrhundertwende.
Die Anxiety of Influence wird über den kulturellen Panlatinismus aufgebaut,
wobei dieser nicht mehr vorrangig die Züge einer Dekadenz trägt, sondern
nun – im Jahr 1900 des neuen Jahrhunderts, in dem der Roman erschien – un-
verkennbar von Vitalismus und Aufbruchsstimmung charakterisiert wird. Es ist
also kein dekadenter Wagnerismus, dem wir in Il Fuoco begegnen, sondern
eine Auseinandersetzung, die letztlich vor patriotischem italienischen Hinter-
grund eine Kunst des Südens, eine durch Klarheit gekennzeichnete Kunst des
Mittelmeerraumes der noch immer im Ruf des Barbarischen stehenden Kunst
des Nordens offensiv entgegensetzen will.
Man könnte dies mit guten Gründen transareal mit dem berühmten „Así
habló Próspero“36 in José Enrique Rodós Ariel vergleichen, das eine trotzige
Antwort auf Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra darstellt. Und der
Text des uruguayischen Modernisten tut dies durchaus nicht simplistisch als
reine Gegenposition, sondern als Konzeption einer Kunst, eines Schreibens und
einer Philosophie, die bestrebt ist, die Erfolge des Nordens für ihre eigene latei-
nische Entwicklung fruchtbar zu machen. In Literatur und Kunst geht es – so
dürfen wir allgemein an dieser Stelle hinzufügen – zumeist nicht um schieren
und blanken Widerstand, sondern um eine ästhetische Widerständigkeit, wel-
che über die zeitgenössischen Gegenpositionen und Polemiken hinauszuführen
fähig ist. Gerade die Literaturen der Welt sind in diesem übergreifenden Sinne
widerständig, weil und damit sie prospektiv über die Zeit hinausgehen.
Verlassen wir damit aber Gabriele D’Annunzio, jenen berühmten italieni-
schen Dichter, Schriftsteller, Bühnenautor und politischen Redner, der über
einen so langen Zeitraum auch und gerade in Deutschland einflussreich ge-
wirkt hat! Ist in unserer heutigen Zeit auch im Rahmen einer gewissen Renais-
36 Vgl. hierzu nochmals Ette, Ottmar: „Así habló Próspero“. Nietzsche, Rodó y la modernidad
filosófica de Ariel. In: Cuadernos Hispanoamericanos (Madrid) 528 (junio 1994), S. 48–62.
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 993
sance in Deutschland noch immer das relativ bescheidene, aber fokussierte In-
teresse erkennbar, insoweit noch immer sehr wenige Übersetzungen der litera-
rischen Werke D’Annunzios lieferbar sind – Il Fuoco gehörte nicht zufällig zu
den ersten wieder lieferbaren Titeln –, so war die Kunst des Italieners doch
über einen langen Zeitraum sehr eng mit dem deutschsprachigen Raum verbun-
den. Große Autoren wie Stefan George, Bertolt Brecht oder Walter Benjamin
haben seine Dichtung sehr geschätzt und ins Deutsche übertragen. D’Annunzio
blieb über einen langen Zeitraum der bekannteste Gegenwartsautor Italiens,
der sich ein breiteres europäisches und selbst darüber hinausreichendes Publi-
kum mit einer Literatur geschaffen hatte, welche das Leben in all seinen Aspek-
ten, in seinen Lüsten und Wollüsten wie in seinen Melancholien, Kriegen und
Katastrophen vitalistisch in den Mittelpunkt rückte.
Dies lag nicht zuletzt mit Blick auf die deutschsprachige Welt daran, dass
D’Annunzio seine Einflüsse und seine Neugier nicht auf den italienischen oder
romanischen Raum beschränkte, sondern darüber hinausblickte und insbeson-
dere aus dem ‚germanischen‘ Kulturbereich wesentliche Impulse für sein eige-
nes Schreiben aufnahm. An dieser Stelle wäre es möglich, auf Richard Wagners
Parsifal aufmerksam zu machen, der in Il Fuoco eine besondere Rolle spielt und
in der Figur des Amfortas in gewisser Weise jenes Thema der Wunde immer
wieder in den Roman einblendet, das sich in der Tat leitmotivartig im Erzähl-
text von 1900 wiederfindet. Ich blende jetzt die Ouvertüre, das Vorspiel von Ri-
chard Wagners Parsifal ein, weil sich hier die Leitmotivtechnik sehr schön
darstellen lässt anhand der Einführung von drei verschiedenen Leitmotiven,
die in der Folge miteinander verwoben werden. Man kann mit guten Gründen
behaupten, dass Gabriele D’Annunzio zwar die Latinität betonte und etwa im
Satzbau seiner Erzähltexte an die langen Perioden des Lateinischen anknüpfte,
dass er aber auch diese leitmotivartigen Techniken aus dem ‚Norden‘ anwandte,
die er bei Wagner in Überfülle studieren konnte.
Doch vor allem sollten wir auf einen weiteren, ebenfalls der finisekulären
Stimmung Europas entsprechenden und grundlegenden Einfluss, auf eine allge-
genwärtige Intertextualität verweisen, die von dem bereits mehrfach genannten
Friedrich Nietzsche ausging. Gleichzeitig lässt sich zeigen, dass vieles in D’An-
nunzios Schreibweise in Il Fuoco auf auch bei Nietzsche – etwa in seinem Tänzer
Zarathustra – vorhandene musikalische Kompositionstechniken zurückgeht, so
insbesondere die Leitmotivtechnik und die damit verbundenen Redundanzen,
die freilich wahrnehmungsgemäß in der Musik leichter toleriert werden als in der
Literatur, wo Wiederholungen schnell als störend empfunden werden können.
Man könnte in gewisser Weise die europäische Literatur und Kultur des Fin
de siècle aus dem Spannungszustand gerade zwischen Deutschland als dem ger-
manischen Raum im Norden und Italien als dem lateinischen Raum im Süden
994 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
herleiten, wenn nicht gleichzeitig zu berücksichtigen wäre, dass wie das Barock-
zeitalter, wie die Aufklärung oder wie die Romantik auch das Fin de siglo eine
stark transareale und insbesondere transatlantische Erstreckung besaß.37 Der
Tod Richard Wagners in Venedig ist ein Zeichen dieser wechselseitigen Reisen
ebenso wie die Reise eines der Schüler Stelios nach Bayreuth: Diese Bewegungen
stehen stellvertretend für die komplexen, aber bipolaren Spannungsverhältnisse,
die sich auch rund um das philosophisch-literarische Schaffen von Friedrich
Nietzsche ansiedeln, das weit nach Lateinamerika abstrahlte.38
Dieser andere ‚germanische‘ Reisende hat in schweren Tagen ebenso wie
Wagner den Weg gerade im Winter nach Italien gesucht, wo ihn die Bläue des
Meeres und des Himmels und das Grün der Bäume wieder ins Leben zurückhol-
ten – und wo er sich selbst auch wichtige Inspirationen verschaffte. Jenes Mittel-
meer mit seinen Olivenhainen und Lorbeerbäumen, von dem Stelio sprach, zog
ihn an. Somit ist aus wechselseitiger Perspektive der Verweis Stelios auf den Him-
mel und das Meer keineswegs nur Moment eines patriotisch-nationalistischen Ita-
lieners, sondern ein kulturelles Element – und darüber hinaus natürlich auch ein
Topos –, anhand dessen sich auch die Bezüge zwischen Il Fuoco, Wagners Tann-
häuser und Nietzsches Zarathustra herstellen lassen. Vergessen wir dabei eines
nicht: Natürlich ist Natur nicht natürlich! Sie ist eine jeweils politische, einer im
Sinne Bruno Latours verstandenen Politik der Natur entsprechende kulturelle Kon-
struktion, die in anderen Sprachen, Kulturen oder Jahrhunderten völlig anders
vorgenommen wurde und wird. Doch beschäftigen wir uns endlich, wenn auch
nur kurz, mit Friedrich Nietzsche!
So möchte ich Ihnen zunächst eine kleine Passage aus Nietzsches Ecce
homo anführen, wo der große Philosoph und Schriftsteller auf die Entstehung
seines Also sprach Zarathustra zu sprechen kommt:
Den Vormittag stieg ich in südlicher Richtung auf der herrlichen Straße nach Zoagli hin
in die Höhe, an Pinien vorbei und weitaus das Meer überschauend; des Nachmittags,
sooft es nur die Gesundheit erlaubte, umging ich die ganze Bucht von Santa Margherita
bis hinter nach Porto fino. Dieser Ort und diese Landschaft ist durch die große Liebe, wel-
che Kaiser Friedrich der Dritte für sie fühlte, meinem Herzen noch näher gerückt; ich war
zufällig im Herbst 1886 wieder an dieser Küste, als er zum letzten Mal diese kleine verges-
37 Vgl. hierzu den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Wel-
ten, passim.
38 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: „Una gimnástica del alma“: José Enrique Rodó, Proteo de Motivos.
In: Ette, Ottmar / Heydenreich, Titus (Hg.): José Enrique Rodó y su tiempo. Cien años de „Ariel“.
12º Coloquio interdisciplinario de la Sección Latinoamérica del Instituto Central para Estudios
Regionales de la Universidad de Erlangen-Nürnberg. Frankfurt am Main – Madrid: Vervuert –
Iberoamericana 2000, S. 173–202.
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 995
sene Welt von Glück besuchte. – Auf diesen beiden Wegen fiel mir der ganze erste Zara-
thustra ein, vor allem Zarathustra selber, als Typus: richtiger, er überfiel mich...39
In diesen Worten zeigt sich, wie Natur kulturell (und auch politisch-kaiserlich)
aufgeladen werden kann und in dieser verdichteten Semantisierung eine gera-
dezu von der Natur naturierte Normierung erzwingt. Zugleich sehen wir, wie
die Natur den Raum für die Gesundheit, zugleich aber – und weit mehr noch –
den Raum für die Philosophie oder für das Philosophieren im Sinne Friedrich
Nietzsches bietet. Die Wegbeschreibungen rund um die Bucht sind nichts ande-
res als in Bewegung gesetzte Philosophie, die sich – wie stets bei Nietzsche –
literarischer Gehhilfen bedient.
Die Passage berührt jene von Stelio zunächst negierte, letztlich aber auch
bei ihm miteinbezogene interkulturelle Dimension, die sich zwischen dem
Süden und dem Norden, dem Mittelmeer und den Nebeln des Nordens, dem
Panlatinismus und dem Pangermanismus, Italien und Deutschland ergibt und
das europäische Denken wie die Kunst an der Jahrhundertwende weitertreibt.
Hier finden wir also genau jene südliche, von Stelio gepriesene Sonne und eine
Landschaft, die förmlich diejenige Stelios sein könnte – wenn sie auch nicht
die Adriaküste, sondern die Riviera in der Nähe Genuas meint, die mir übrigens
auch sehr lieb ist und zu meinen ersten Erinnerungen an das Mittelmeer zählt:
Die Bucht von Rapallo, Santa Margherita und so viele schöne Orte! Auf diese
Weise ergibt sich sehr wohl ein direkter Bezug zwischen Gabriele D’Annunzios
Stelio und Zarathustra, der großen Figur des Friedrich Nietzsche, jenem Zau-
berer, Künstler und Redner, der gerade die Literaten am Río de la Plata so tief
beeindruckte.
Nicht zufällig sind Zarathustras Aphorismen in die Form der Rede geklei-
det; eine Gattungsform der Rede, wie sie oftmals ein Meister auch an seine
Schüler, jedoch stets mit Blick auf ein größeres Publikum halten könnte – und
wie sie D’Annunzio in Il Fuoco romanesk gestaltete. So ist es selbstverständlich
kein Zufall, dass Stelio neben vielen anderen Qualitäten auch ein großer Red-
ner ist, ganz so wie Zarathustra dies war. Dieser wandte sich an seine Brüder
mit dem Aufruf, den Übermenschen zu schaffen, eben jenen „Superuomo“, den
auch Gabriele D’Annunzio verehrte, in sich selbst erkannte und in seiner Figur
des großen leidenden Bilderzauberers und tief empfindenden Künstlers Stelio
entstehen ließ.
In Il Fuoco ist Stelio kein anderer als der Herr des Feuers selbst, der durchaus
manche Züge Zarathustras (wenn auch weniger jene seiner zahlreichen Listen)
39 Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. In (ders.): Werke in drei Bänden. München: C. Hanser
1954, Bd. 2, S. 1128.
996 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
trägt. Sehen wir uns nachfolgend den großen Zarathustra in seinen Überlegun-
gen mit dem Titel „Vom höheren Menschen“ einmal näher an:
Die Sorglichsten fragen heute: „wie bleibt der Mensch erhalten?“ Zarathustra aber fragte
als der Einzige und Erste: „wie wird der Mensch überwunden?“
Der Übermensch liegt mir am Herzen, der ist mein Erstes und Einziges – und nicht
der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidendste, nicht der Beste.
O meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang ist
und ein Untergang. Und auch an euch ist vieles, das mich lieben und hoffen macht.
Dass ihr verachtet, ihr höheren Menschen, das macht mich hoffen. Die großen Ver-
achtenden nämlich sind die großen Verehrenden. [...]
Heute nämlich wurden die kleinen Leute Herr: die predigen alle Ergebung und Be-
scheidung und Klugheit und Fleiß und Rücksicht und das lange Und-so-weiter der klei-
nen Tugenden.
Was von Weibsart ist, was von Knechtart stammt und sonderlich der Pöbel – Misch-
masch: das will nun Herr werden alles Menschen-Schicksals – o Ekel! Ekel! Ekel! [...]
Diese Herren von heute überwindet mir, o meine Brüder, diese kleinen Leute: die
sind des Übermenschen größte Gefahr!
Überwindet mir, ihr höheren Menschen, die kleinen Tugenden, die kleinen Klughei-
ten, die Sandkorn-Rücksichten, den Ameisen-Kribbelkram, das erbärmliche Behagen, das
„Glück der meisten“ – !
Und lieber verzweifelt, als dass ihr euch ergebt. Und, wahrlich, ich liebe euch dafür,
dass ihr heute nicht zu leben wißt, ihr höheren Menschen! So nämlich lebt ihr am
besten!40
Was sich in diesen Worten ausdrückt, ist die Überzeugung, dass nicht das Über-
leben der Menschheit insgesamt zählt, sondern das Überleben derer, die es
auch wert sind, überleben zu dürfen. Es ist ein Wissen vom Leben, das sich in
dieser Passage als ein Wissen vom Überleben kundtut – wie jede Literatur, die
sich seit Scheherazade in Tausendundeiner Nacht,41 im Grunde aber bereits seit
dem Gilgamesch-Epos als ein Wissen vom Überleben und vom Zusammenleben
manifestiert. Denn die Literaturen der Welt sind in allen Kulturen, sind in allen
Jahrhunderten, sind in allen Areas ein Wissen vom Leben und vom Überleben,
zugleich aber auch ein prospektives Wissen davon, wie man zusammenleben
kann: Sie entfalten mithin ein verdichtetes Wissen von der Konvivenz.
In den Worten von Nietzsches Zarathustra wird ein Auswahlprinzip, eine
Selektion vorprogrammiert, die sicherlich – ebenso wenig wie bei Gabriele
40 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. In (ders.): Werke in drei Bänden. München:
C. Hanser 1954, Bd. 2, S. 522 f.
41 Vgl. hierzu den dritten Teil der Lebenswissen-Trilogie in Ette, Ottmar: ZusammenLebens-
Wissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab (ÜberLebenswissen III).
Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010.
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 997
42 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Der Fall Jauss. Wege des Verstehens in eine Zukunft der Philologie.
Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016.
998 Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben
Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln winkt, ein Flugberei-
ter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig, ein Selig-Leichtfertiger: –
Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher, kein Ungeduldiger, kein
Unbedingter, einer, der Sprünge und Seitensprünge liebt; ich selber setze mir diese Krone
auf!44
43 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: „Así habló Próspero“. Nietzsche, Rodó y la modernidad filosófica
de „Ariel“. In: Cuadernos Hispanoamericanos (Madrid) 528 (junio 1994), S. 48–62.
44 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, S. 529.
Gabriele D’Annunzio oder die Lust am Leben 999
leicht zwar keine Philosophie, wohl aber eine Reihe von Philosophemen stand,
die sich sehr wohl von Nietzsche herleiten lassen und die Kultur und Weltsicht
des Fin de siècle bis in den Zweiten Weltkrieg hineintrugen. Das Bild des Gabriele
D’Annunzio im Zeichen der Aviatik aber leitet uns hinüber zu einem Roman, in
welchem ein Flieger und Überflieger die Hauptrolle spielt.
Márcio Souza, Virgilio Piñera oder das
Schwanken zwischen Leben und Tod
In der Tat möchte ich Sie nun im Folgenden zu einem kurzen Ausflug in die
brasilianische Gegenwartsliteratur mitnehmen, wobei die Wendung ‚Aus-Flug‘
recht wörtlich gemeint ist – denn hier geht es in der Tat ums Fliegen! Wir befas-
sen uns nun mit einem Teil der wichtigen Relation zwischen Literatur und Avia-
tik, die seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts eine so bedeutsame Rolle spielt
und der eine sehr lesenswerte und umfangreiche Einzelstudie gewidmet wurde;1
und wir beschäftigen uns mit dem 1985 erschienenen Roman O Brasileiro Voador –
zu Deutsch also Der fliegende Brasilianer – von Márcio Souza. Der Text hat natür-
lich etwas mit dem ‚Fliegenden Holländer‘ zu tun, aber dazu später mehr …
Gestatten Sie mir zunächst einige wenige Biographeme! Der spätere Journa-
list und Romancier Márcio Gonçalves Bentes de Souza wurde am 4. März 1946
in Manaus am Amazonas geboren. Er arbeitete schon früh – ab dem Alter von
vierzehn Jahren – in Periodika seiner Geburtsstadt als Filmkritiker, ging dann
nach São Paulo und studierte Sozialwissenschaften. Sein Studium an der be-
rühmten USP musste er 1969 unter jener Militärregierung abbrechen, die im
heutigen Brasilien unter der Präsidentschaft von Jair Bolsonaro so gerne ver-
niedlicht wird. Er leitete später die nationale Buchabteilung der Nationalbiblio-
thek von Rio de Janeiro, machte sich vor allem aber durch sein Schreiben einen
Namen.
1 Vgl. hierzu nochmals Ingold, Felix Philipp: Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung
1909–1927. Mit einem Exkurs über die Flugidee in der modernen Malerei und Architektur. Frank-
furt am Main: Suhrkamp 1978.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-031
Márcio Souza, Virgilio Piñera oder das Schwanken zwischen Leben und Tod 1001
O Brasileiro Voador erzählt auch von jener Zeit einer beginnenden Faszination
für das Fliegen, die uns freilich stets als eine Geschichte der Europäer sowie
bisweilen der US-Amerikaner erzählt wird. Es gab aber auch wichtige Flugpio-
niere, die nicht aus Europa und nicht aus den USA stammten; sie wurden frei-
lich sorgsam aus der Geschichte verbannt und spielen bestenfalls in ihren
Herkunftsländern noch eine Rolle: So war es auch mit Santos Dumont.
Márcio Souza erzählt in szenischen Folgen abgeschlossener kleiner Prosa-
stücke – unschwer bemerkt man dabei seine Herkunft aus dem Bereich des
Films – von den Höhenflügen und Bruchlandungen des Alberto Santos Du-
mont. Der 1873 im Bundesstaat São Paulo geborene Brasilianer kam 1891 erst-
1002 Márcio Souza, Virgilio Piñera oder das Schwanken zwischen Leben und Tod
mals nach Paris, wo er sich 1898 zum ersten Mal mit dem Luftschiff Santos Du-
mont I in den Himmel erhob. Im Oktober 1901 – und damit fast zeitgleich mit
der Veröffentlichung von D’Annunzios Il Fuoco – gelingt es ihm nach zweimali-
gem Scheitern, den von Henry Deutsch de la Meurthe ausgesetzten Preis in
Höhe von 100.000 Francs für einen Flug nach Paris und rund um den Eiffel-
turm in weniger als dreißig Minuten zu gewinnen: Der Brasilianer setzte rück-
sichtslos nicht nur sein eigenes Vermögen, sondern vor allem sein eigenes
Leben aufs Spiel.
Denn sein übriges Luftschifferleben war an Abstürzen und Explosionen
nicht gerade arm. Er wurde rasch berühmt und nahm am 14. Juli 1903 an der
Parade aus Anlass des französischen Nationalfeiertags teil. Aus seinem Luftschiff
feuerte er einen Salut ab, was manche ihm als Attentat auf den französischen
Präsidenten auslegten. 1904 erschien sein in französischer Sprache verfasstes
und in Paris publiziertes Buch Dans l’air, also In der Luft. 1906 gelang ihm der
erste Flug mit dem Entenflügler Santos Dumont 14 (Abb. 84), der als kubistische
Maschine – und Ingold hat in seiner Studie die vielfältigen Beziehungen zwi-
schen Aviatik und Kubismus herausgearbeitet – in die Geschichte eingehen
sollte. Sie sehen: Alberto Santos Dumont wart ein Anhänger der Fliegens ‚leichter
als Luft‘, was zu begreifen Ihnen in der Stadt des Luftschiffhafens des Grafen
Zeppelin nicht schwerfallen dürfte (Abb. 83)!
Doch Santos Dumont dachte um: Bald hat er sich auf ‚schwerer als Luft‘
umgestellt und gewann 1906 auch auf diesem Gebiet einen Preis für einen ers-
ten Hüpfer von sage und schreibe fünfundzwanzig Metern. Bereits wenige Mo-
nate später gelang ihm ebenfalls in Paris ein Einhundert-Meter-Flug. 1908
entwickelte er die Demoiselle, das erste Leichtbau-Flugzeug der Luftfahrtge-
schichte. Zugleich stellte ein Arzt bei ihm multiple Sklerose fest. Fortan wusste
er, dass ihm nicht allzu viel Zeit für seine Flugexperimente bleiben würde. Im
September 1909 gelang ihm ein erster Flug mit der Demoiselle mit einer Ge-
schwindigkeit von einhundert Stundenkilometern – doch fand in diesem Jahr
sein letzter Flug statt. 1914 vernichtete er alle seine Tagebücher und kehrte
schließlich 1928 definitiv nach Brasilien zurück. Im Juli 1932 sollte er dann
durch Selbstmord aus dem Leben scheiden.
Márcio Souzas Roman ist chronologisch aufgebaut, freilich mit vielen Prolep-
sen und Paralepsen, in vier Teile geteilt und besitzt die bemerkenswerte Struktur
kleiner, jeweils betitelter Prosaskizzen, eigentlich Mikrotexte oder Mikroerzäh-
lungen, die sich durch zahlreiche Verwerfungen hindurch aneinanderfügen. Las-
sen Sie mich mit einer Passage aus dem ersten Teil des Romans beginnen!
In diesem ist der junge Zauberlehrling, vom Traum des Fliegens magisch
angezogen, kaum zum ersten Mal mit einem Ballon aufgestiegen – freilich
einem, den er noch nicht selber gebaut hat. Als Attraktion bei einem Dorffest
Márcio Souza, Virgilio Piñera oder das Schwanken zwischen Leben und Tod 1003
Abb. 83: ,Leichter als Luft‘: Luftschiff No. 9 Baladeuse von Alberto Santos Dumont, 1903.
Abb. 84: ‚Schwerer als Luft‘: Französische Postkarte: Santos Dumont fliegt seine 14 bis.
ist er am Horizont entschwunden, als er auch schon auf seinem weiteren Weg
in ein Gewitter kommt, mitgerissen wird und die ganze Nacht hindurch weiter-
fliegt, ohne zu wissen warum und wohin. Diese Passage ist sehr aufschluss-
reich und zugleich charakteristisch für jenen kleingewachsenen Mann, den
man bald schon in der europäischen Öffentlichkeit als den ‚fliegenden Brasilia-
ner‘ kennen sollte. Sehen wir uns dies einmal an:
1004 Márcio Souza, Virgilio Piñera oder das Schwanken zwischen Leben und Tod
So sind Unwetter also, denkt Alberto, während er in den Wirbel von schwarzen Wolken,
die seine Sicht auf Null reduziert haben, hineingezogen wird. [...] Und er widmet sich
dem Anblick der bedrohlichen Schönheit der entfesselten Elemente, während der Ballon
ständig weitersteigt.
Dann Stille. Die Ruhe eines Himmels mit seinen ersten Sternen. Der Ballon hat, wun-
derbarerweise unbeschädigt, die Unwetterschicht durchquert. Er schwebt in einer ande-
ren Welt, keine scharfen Donnerschläge, Regenböen und flackernden Blitze leisten ihm
mehr Gesellschaft. Jetzt ist er allein, schwebt zwischen dem Wahnwitz, der dort in der
Tiefe das Land im Norden heimsucht, und der teilnahmslosen Stille der Abendsterne. Er
fröstelt in der nassen Kleidung. Der Mangel an Sauerstoff erzeugt eine merkwürdige Eu-
phorie, eine Leichtigkeit, die ihn in trügerische Nähe zu den Sternen rückt. Und jetzt sind
nur Sterne da. Nichts anderes ist mehr zu sehen, die dunkle Nacht hat die Erde vollkom-
men ausgelöscht. Alberto bewegt sich innerhalb der vollendeten geometrischen Form
einer unendlichen schwarzen Kugel.
Vom Wind getrieben, gegen die Müdigkeit und das durch den Sauerstoffmangel ver-
ursachte ständige Gefühl von drohender Ohnmacht ankämpfend, fliegt er durch die
Nacht. Schreckliche Visionen zucken durch sein Bewußtsein, die Sterne scheinen sich
verflüssigt zu haben und aufflackernde Blitze in phantastischen Farben herabtropfen zu
lassen. Die Kugel in ihrer Schwärze ist auch kein fester Körper, sie verwindet sich, manch-
mal flattert sie wie ein erschlaffender Ballon oder bebt wie die keuchende Brust eines
monströsen Lebewesens.
Mitten in diesen Wunderbildern schläft Alberto ein.2
sen Bewegung eingeblendet, die in der Tat auch das Leben Alberto Santos Du-
monts prägen wird. Sein Leben wird das eines Umhergetriebenen sein, ständig
auf dem Sprung, in die Lüfte zu entschweben und die Erde unter sich zu lassen,
ungeachtet aller Schreckensvisionen, die ihn auf seinem Weg begleiten mögen.
Doch die Erde ist für ihn kein Ruhepunkt …
Bei seiner ruhelosen Bewegung wird er ein ums andere Mal – wie schon in
der soeben angeführten Szene – über Grenzen hinweggehen, so wie er in dieser
nächtlichen Ballonfahrt ihm selbst unbewusst die Grenze zum nördlich sich an-
schließenden Belgien überqueren wird. Wunderbarerweise unbeschädigt und
unverletzt überschreitet er auch die Grenze zwischen Leben und Tod. Santos
Dumont kommt wieder zurück ins Leben, ist ein Wiedergänger, der sich ständig
auf der Grenze zwischen Leben und Tod bewegt, einmal mehr in die eine, ein-
mal mehr in die andere Richtung schwankt. Er kehrt – wie alles, was fliegt –
wieder auf die Erde zurück, auch wenn er am Ende dieser Prosaminiatur ein-
schlafen wird: Der Ballon lässt ihn wieder sanft auf dem Planeten Erde landen.
Zugleich wird lesbar, dass der Ballon nur eine (topische) Metapher für die
Erde selbst ist, die nun als schwarze Kugel erscheinen kann, die sich ständig
bewegt. Alberto Santos Dumont ist zumindest zeitweise gleichsam in extrater-
restrische Räume entrückt. Erst aus dieser Position heraus wird ihm im Grunde
eine kosmische Weltsicht gegeben – es reift in ihm eine kosmische Sicht des
Planeten Erde. Interessanterweise ist freilich diese Weltsicht nicht die eines
Kosmos als Schmuck und vor allem Ordnung, sondern eine Sicht, die wohl die
Sterne und damit das transzendent Erhabene über sich hat, aber doch die Welt
selbst gleichsam im Zerfließen, in Visionen der Apokalypse, nicht des Kosmos,
sondern des Chaos erlebt. Letzterem setzt Santos Dumont seine Fähigkeit
menschlicher Konstruktionen entgegen, ein planvoll menschliches Vorgehen,
das zumindest im Bereich der Luft dem herrschenden Chaos eine geordnete
Welt der (humanen) Fliegerei entgegensetzt – egal, ob seine Lösungen dabei
dem Prinzip ‚leichter als Luft‘ oder ‚schwerer als Luft‘ folgen.
In dieser Szenerie, die man noch wesentlich genauer beleuchten könnte
und die zugleich auch eine demiurgische, weltenschöpfende Dimension bei
dem fliegenden Alberto selbst aufleuchten lässt, zeigt sich, dass menschliche
Wahrnehmungsmuster grundlegend verändert werden können. Ich habe über
diesen Wandel bereits in meiner Vorlesung über das Fin de siècle gesprochen
und möchte an dieser Stelle lediglich erwähnen, wie stark die Möglichkeit, die
Dinge von oben zu betrachten, die Welt aus der Vogelperspektive anzuschauen,
menschliche Wahrnehmungsgewohnheiten und Sehweisen kurz nach der Jahr-
hundertwende verändert hat. Wie erwähnt bilden der Kubismus, aber auch ein
literarisches Spätwerk wie das von Gabriele D’Annunzio hierfür gute Beispiele.
1006 Márcio Souza, Virgilio Piñera oder das Schwanken zwischen Leben und Tod
Natürlich konnte man auch schon früher mit der Montgolfière oder dem
Ballon aufsteigen und sich als Mensch in die Lüfte erheben. Und doch ist es die
Jahrhundertwende und dann vor allem das Fliegen ‚schwerer als Luft‘, das ent-
scheidende Impulse für veränderte Wahrnehmungen der Erde aus der Bewe-
gung und nicht zuletzt auch für den Kubismus in der Kunst geben wird. Bei
Gabriele D’Annunzio waren wir dabei auch auf die Verbindung von Geschwin-
digkeit, Rausch der Bilder und Zerstörung gestoßen; eine Dimension, wie sie
etwa zeitgleich auch im Manifest der italienischen Futuristen und anderer
nachfolgender Manifeste, Aktionen, Theaterstücke historischer Avantgarden
wie auch in den Erfahrungen einer ganzen Generation im Ersten Weltkrieg zum
Ausdruck kommen wird. Dieser bringt erstmals die noch frühe Form des Luft-
kriegs ins öffentliche Bewusstsein; Kriegsflugzeuge tauchen selbst in der Spät-
zeit von Marcel Prousts A la recherche du temps perdu am Himmel über Paris
auf. All dies ist bereits in den Schreckensvisionen der oben zitierten kleinen li-
terarischen Szenerie gegenwärtig – allerdings aus einer ganz anderen Sicht:
aus der Sicht einer Leichtigkeit des Seins, aus der Sicht des Fliegens ‚leichter
als Luft‘.
Denn Alberto Santos Dumont erfährt auf seinem ersten Aus-Flug zum ers-
ten Mal von einem Leben, das sich jenseits der engen Grenzen der Erde und der
auf ihr möglichen Bewegungen ansiedelt. Er erlebt diese zusätzliche Dimension
im Grunde nicht als Dimension der Höhe, sondern der freien Bewegung in den
drei Dimensionen des Raumes und zum Teil auch jener der Zeit: Denn es war
Licht und wurde Dunkelheit und ward wieder Licht. Nicht umsonst gewinnt er
den Prix Deutsch, für den ein Limit von dreißig Minuten gesetzt war, so dass
man in der Tat von einer kontrollierten Bewegung durch vier Dimensionen –
die drei Dimensionen des Raumes und die vierte der Zeit – sprechen könnte. Es
geht in der Tat um Bewegungen – und die implizieren die Dimension der Zeit!
In seinem bereits angeführten Buch Literatur und Aviatik hat Felix Philipp
Ingold auf die Zusammenhänge zwischen Luftfahrt, veränderter Wahrnehmung
und Künsten eindrucksvoll hingewiesen. Dabei widmete er sich besonders inten-
siv den futuristischen Anfängen, die in der Tat für die weitere Entwicklung so ent-
scheidend waren. Interessanterweise taucht unter den vielen Namen, die Ingold
behandelte, der von Santos Dumont nicht auf – auch dies wohl eine Tatsache, die
sich auf den ‚exotischen‘ Status von Lateinamerikanern zurückführen ließe. San-
tos Dumont böte mit seinem Buch Dans l’air hervorragende Möglichkeiten, das
Verhältnis zwischen dem Fliegen, der Wahrnehmung, der Technologie und der
Literatur zu untersuchen. Es ist schwer, die im Grunde unübersehbare Tilgungen
aller Namen von Forscher*innen oder Pionier*innen zu umgehen, die nicht aus
Europa oder den USA stammen und daher nicht zur Geschichte des Fortschritts
gerechnet werden.
Márcio Souza, Virgilio Piñera oder das Schwanken zwischen Leben und Tod 1007
Dem Verfasser von Literatur und Aviatik möchte ich hieraus freilich keinen
Vorwurf machen! Felix Philipp Ingold hat zugleich aber auch auf einen wichti-
gen Bezug hingewiesen; den nämlich, der sich zwischen dem Fliegen und dem
Aufsteigen und damit zu einer Transzendenz, zum Höheren, Erhabenen, Subli-
men ergibt. In der Tat können wir diese Bewegungen auch in der obigen Szene-
rie deutlich erkennen – und gerade auch im Oszillieren zwischen Leben und
Tod. Alberto wird für seine Zeitgenossen letztlich auch zu einem nicht nur wa-
gemutigen Erfinder und extravaganten Sonderling, sondern zur Verkörperung
des Menschen in seiner sublimen, erhabenen, gleichwohl nie vor dem Absturz
gefeiten Qualität schlechthin.
Dies macht den eigentlichen Erfolg des Fliegenden Brasilianers aus – nicht
allein die Abenteuerlust, die sich natürlich sexuell auch auf die Frauen zu übertra-
gen scheint, die ihm buchstäblich in des Wortes doppelter Bedeutung zu Füßen
liegen. Parallelen zu D’Annunzio sind an dieser Stelle keineswegs zufällig. Die
Abenteuer in der Luft sind eine späte Frucht von Alberto Santos Dumonts jugendli-
chen Lektüren Jules Vernes, die ganz unverkennbar seinen Handlungsschemata
in Márcio Souzas Roman zu Grunde liegen.
Doch es gibt zugleich die soeben angesprochene Dimension des Erhabe-
nen, wie sie Friedrich Nietzsche im Übrigen auch mit Blick auf die Aviatik –
wie Ingold betonte – mehrfach in seinem Denken und in seinen Gedichten
zum Ausdruck brachte. So heißt es etwa in Nietzsches „Höhere Menschen“
charakteristischerweise:
Steigt ihr?
Ist es wahr, dass ihr steigt,
ihr höheren Menschen?
Werdet ihr nicht, verzeiht,
dem Balle gleich
in die Höhe gedrückt
- durch euer Niedrigstes?...
flieht ihr nicht vor euch, ihr
Steigenden?...4
Natürlich ist Nietzsches Gedicht nicht ausschließlich auf die Fliegerei gemünzt;
aber das Aufsteigen wird deutlich auf die Gase zurückgeführt, auf das Prinzip
leichter als Luft, und zugleich die Erde in jenen Ball verwandelt, der sich in der
Form des Ballons wiederfindet. Der fliegende Brasilianer jedenfalls hat – so hat
sich bereits zu Beginn unserer kurzen Beschäftigung mit Márcio Souzas schö-
nem Roman gezeigt – eine ganze Reihe von Antrieben für seine bisweilen ätheri-
5 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Litera-
turen Lateinamerikas und Europas. In: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika denken. Kultur-
theoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag
1994, S. 297–326.
Márcio Souza, Virgilio Piñera oder das Schwanken zwischen Leben und Tod 1009
Als Kubanerin hat sie noch keinerlei Zugang zu diesem Ruhm, den Alberto
Santos Dumont sehr wohl zeitgenössisch genießt; aber beide gehören jener
Gruppe von gebildeten Lateinamerikanern aus gutem, steinreichem Hause an,
die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und mit zunehmender Tendenz
die europäischen Metropolen bereisen sowie hier ihren Bildungsweg gehen. Es
sind noch nicht die Massen an Migranten, die das ausgehende 20. Jahrhundert
bevölkern, wohl aber Vertreterinnen und Vertreter gesellschaftlicher Eliten, die
weitgehend an Europa ausgerichtet bleiben.
Im Grunde handelt es sich bei der Perspektivik dieses Romans um den
Blick Márcio Souzas aus der Mitte der achtziger Jahre einsetzenden vierten
Phase beschleunigter Globalisierung zurück auf die dritte Phase beschleunigter
Globalisierung, welche spätestens mit dem Ersten Weltkrieg ihr abruptes Ende
finden wird. Bemerkenswert und aufschlussreich ist, was ein französischer
Freund von Santos Dumont, Sem, sowie im zweiten Teil ein brasilianischer
Freund, Antônio Prado, über dessen Haltung zu Brasilien zu sagen haben:
In meiner Gegenwart hat Alberto sich nie negativ über Brasilien geäußert, erinnerte Sem
sich ein paar Monate vor seinem Tod. Er sprach wenig über sein Land, obwohl ich immer
Interesse gezeigt habe, etwas über die Sitten und das Leben in Brasilien zu erfahren. Wenn
man selbst heute, im Jahre 1932, hier so wenig über Brasilien hört, dann kann man sich
vorstellen, wie es damals war. Alberto interessierte sich nur für die Fliegerei und hin und
wieder mal für ein schönes nächtliches Vergnügen. Aber vielleicht war es bei Mademoiselle
D'Acosta anders. Bei ihr als Lateinamerikanerin, mag sein, dass er sich da frei genug fühlte,
Dinge zu äußern, die er mir, einem Franzosen, gegenüber nie geäußert hätte.
[...]
Aber natürlich liebte er Brasilien, sagte Antônio Prado immer wieder. Wäre Alberto Politi-
ker geworden, wäre er liberal-progressiv gewesen. Manchmal litt er unter den Nachrich-
ten, die er aus Brasilien erhielt, und er hatte immer im Kopf, dass er Brasilianer war und
freiwillig im Ausland lebte, nie machte er sich vor, er könnte auch Franzose sein, obwohl
doch französisches Blut in seinen Adern floß...6
In diesen Passagen wird deutlich, was wir bereits in anderen Vorlesungen und
bei anderen Texten wie etwa Julia Kristevas Etrangers à nous-mêmes7 festge-
stellt haben: Das Leben auf der Grenze, auf dem Bindestrich, ist flüchtig und
fragil – und das Gefühl, im Grunde an mehreren Zugehörigkeiten zu partizipie-
ren und zugleich nirgendwo wirklich ‚Inländer‘ zu sein, ist schwer zu ertragen.
In Brasilien hält Alberto Santos Dumont es nie lange aus; aber in Frankreich
weiß er, dass er kein Franzose ist. Im Grunde ist er irgendwo dazwischen,
8 Vgl. auch die Bände zwei und drei der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: LiebeLesen (2020);
sowie Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne (2021).
Márcio Souza, Virgilio Piñera oder das Schwanken zwischen Leben und Tod 1011
aber natürlich auch auf die seltsamen Wege der Globalisierung verweisen, die
das vergangene 20. Jahrhundert gekannt hat. Doch sehen Sie selbst:
Gelegentlich verschmilzt Brasilien mit einer Person. Auf den schwedischen Fußballplätzen
wurde ein Neger aus Minas zu Brasilien. Selbst ein Kellner aus Hanoi wußte seitdem, wer
Pelé ist. Und weil er von Pelé wußte, meinte er, auch über Brasilien Bescheid zu wissen.
Vor Pelé verkörperte ein temperamentvolles Mädchen Brasilien. Selbst ein Bauer aus Ala-
bama wußte, wer Carmen Miranda war. Und weil er von ihr wußte, meinte er, über Brasi-
lien Bescheid zu wissen. Vor Carmen Miranda repräsentierte ein berühmter junger Mann
aus Minas Brasilien. Selbst ein Buchhalter aus Sansibar wußte, wer Santos Dumont war.
Und weil er von Santos Dumont wußte, meinte er, über Brasilien Bescheid zu wissen.
In diesem Jahrhundert ist Brasilien also ein Sportler, eine Sängerin und ein Flieger
gewesen.
Drei meisterhafte Erfinder: zwei Mineiros und eine Portugiesin. Der Sportler wurde
mit Fußballschuhen berühmt.
Die Sängerin und der Flieger trugen Schuhe mit Plateausohlen.
[...]
Als Blériot vom Tod des Pioniers erfährt, tauft er sein neuestes Passagierflugzeug auf
den Namen Santos Dumont.
Das Flugzeug stürzt ab, der Pilot kommt ums Leben.
RUHM DER NATION Wissen Sie, was geschieht, wenn Sie an Bord eines der vielen
Millionen Dollar teuren Flugzeuge, die kreuz und quer durch Brasilien fliegen, den
Namen Santos Dumont erwähnen?
Die gesamte Besatzung klopft dreimal auf Holz.
Santos Dumont!
Unberufen, toi, toi, toi.9
Selbst in seinem Nachleben steht Alberto Santos Dumont noch für ein Wesen,
das in der Luft zwischen Leben und Tod schwebt. Bereits die Nennung seines
Namens führt dazu, dass sich jede Brasilianerin, dass sich jeder Brasilianer –
vor allem, wenn in der Luft befindlich – vor dem Tod in Acht nimmt.
Doch der brasilianische Romancier und Journalist hat mit seinem Roman
Großes bewirkt. Mit O Brasileiro Voador hat Márcio Souza seinem ehedem be-
rühmten brasilianischen Landsmann zweifellos ein großes Denkmal gesetzt
und zugleich augenzwinkernd nationale Identifikationsprozesse aufgespießt,
wie sie ebenso das Fremd- wie auch das Selbstbild Brasiliens im 20. Jahrhundert
prägten. Das für uns mittlerweile zurückliegende Jahrhundert ist zweifellos ein
Jahrhundert der Migrationen gewesen – und die Geschichte von Santos Du-
mont, die heute in Europa längst vergessen ist, mag uns daran erinnern, dass
an einer Geschichte des Fortschritts nicht nur Europäer oder US-Amerikaner
Anteil haben. Vor allem aber gelang es Márcio Souza, eine historische Figur
aus der Vergangenheit wiederzubeleben, die zu Lebzeiten in einem eigenar-
tigen Zwischenbereich von Leben und Tod oszillierte und die es verstand, sich
selbst noch mit ihren Liebesgeschichten zwischen Eros und Thanatos schwan-
kend zu platzieren.
Zu den bewegten Lebzeiten von Alberto Santos Dumont entfalteten die histo-
rischen Avantgarden eine das gesamte System der Künste und Literaturen radi-
kal verändernde Aktivität in Europa, welche in Lateinamerika sehr viel stärker in
historische, künstlerische und literarische Kontinuitäten und Traditionen einge-
bettet war.10 Dabei nahm die kreative Anverwandlung und Auseinandersetzung
mit der Arbeit am Mythos11 eine wichtige Rolle bei der Umgestaltung der literari-
schen Traditionslinien in, durch und für Lateinamerika ein.
Dies gilt auch und gerade für den kubanischen Schriftsteller und Dramati-
ker Virgilio Piñera, der innerhalb der kubanischen Literaturszene eine Art Ge-
heimtipp-Status erhielt, weil die Kubanische Revolution den stets aufmüpfigen
und rebellischen Dichter maßregeln zu müssen glaubte und verdunkelte. Sie
haben noch nie etwas von Virgilio Piñera gehört? Dies ist nicht überraschend,
handelt es sich doch um einen Dramaturgen, Lyriker, Erzähler und Romancier,
der schon bald nach dem militärischen Sieg der Kubanischen Revolution im
wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen wurde und bis zu seinem Tod im
Jahr 1979 fast inexistent schien.
10 Vgl. hierzu die entsprechenden Kapitel im dritten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar:
Von den historischen Avantgarden bis nach der Postmoderne (2021).
11 Vgl. hierzu die klassische Studie von Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1979.
Márcio Souza, Virgilio Piñera oder das Schwanken zwischen Leben und Tod 1013
gesslich die Worte, die der kubanische Schriftsteller Reinaldo Arenas in seinem
letzten Buch, seiner Autobiographie, Virgilio Piñera widmete.
Angesichts dieses lange erfolgreichen Totschweigens ist auch die Forschungs-
literatur zu Piñera so dünn, dass man in den einschlägigen Nachschlagewerken
zur lateinamerikanischen Literatur auf fast keine Angaben zu Sekundärliteratur
stößt. Doch fällt es mir leicht, an dieser Stelle den Propheten zu spielen und zu
behaupten, dass dem Gesamtwerk Piñeras in den nächsten Jahrzehnten eine we-
sentlich größere Bedeutung zukommen wird. Man wird ihm ohne jede Frage
ebenso auf dem Gebiet der Lyrik – mit La isla en peso (1943) oder Las Furias
(1941) – wie auf dem Gebiet der Erzählkunst – etwa mit seinen Cuentos fríos (1956)
sowie den Romanen Pequeñas maniobras oder La Carne de René (1953) –, nicht
zuletzt aber auch auf dem Gebiet des Theaters – mit seinen Stücken Electra Gar-
rigó, Jesús, La Boda oder Falsa alarma – in Zukunft einen wichtigen Platz inner-
halb der Literaturgeschichten zuerkennen. Bei Virgilio Piñera gibt es noch immer
viel zu entdecken!
Gerade als Dramatiker und Theatermann war sich Virgilio Piñera der Tatsa-
che bewusst, dass seine gesamte literarische Arbeit unter den schwierigen
Schaffens-, Aufführungs- und Veröffentlichungsbedingungen erheblich litt. Ein
Leben lang hielt er dagegen. So schrieb er in einer kurz nach dem Sieg der Ku-
banischen Revolution zugleich hoffnungsvollen und ironischen Vorwort zu
einer Ausgabe seiner Theaterstücke, dass er eigentlich nur ein „casi-autor“ von
Theaterstücken sei, habe er doch nur alle sieben bis zehn Jahre eine Auffüh-
rung verzeichnen und damit nur wenig Kontinuität bei seinem Theaterpubli-
kum erzielen können. Gerade hieran, am Erfolg bei seinem Publikum, wollte
Piñera den Wert seiner Bühnenschöpfungen messen, so dass es ihm schwerfiel,
bestimmte eigene Stücke zu bewerten, hatte er sie selbst doch noch nie auf der
Bühne in einer öffentlichen Inszenierung gesehen.
Das sollte sich auch nach Veröffentlichung dieser Ausgabe seines Teatro
completo12 1960 in Kuba nicht ändern. Dies erstaunt nicht gänzlich, sprach er
sich selbst doch theatralische Qualitäten, mehr aber noch den stets unerfüllt
gebliebenen Wunsch zu, die Welt durch theatralische Auftritte in Erstaunen zu
setzen – wie jemand, der nackt auf die Straße rennt oder wie Fidel Castro, der
nach dem Triumph in der Sierra Maestra glanzvoll in Havanna einzieht. Derar-
tige Bemerkungen kamen bei der sich institutionalisierenden Revolution nicht
immer gut an: Die kubanischen Revolutionäre und allen voran Fidel Castro ver-
standen auf dem Gebiet der Literatur keinen Spaß. Sie hielten es lieber mit
13 Vgl. zur kreativen Seite hierzu Loyola, Guillermo: El interrogatorio en el teatro piñeriano.
In: Encuentro de la Cultura Cubana (Madrid) 14 (octubre 1999), S. 29–35.
14 Vgl. zu Reyes‘ avantgardistischem Theaterstück Ette, Ottmar: Von den historischen Avant-
garden bis nach der Postmoderne, S. 196 ff.
15 Vgl. Piñera, Virgilio: Teatro completo, S. 11.
Márcio Souza, Virgilio Piñera oder das Schwanken zwischen Leben und Tod 1015
scheinbar zufällig Electra lautet und deren Nachname Garrigó ist. Auch alle an-
deren Figuren verfügen über Vor- und Nachnamen: so etwa Orestes Garrigó,
Agamenón Garrigó oder seine Frau Clitemnestra Pla wie auch deren Liebhaber
Egisto Don. Die Vornamen zeigen jedoch an, dass wir uns mitten in der griechi-
schen Mythologie befinden.
Folgen wir dem griechischen Mythos in seinen Hauptlinien, so wurde der
Heerführer der Griechen Agamemnon, der durch das Opfer seiner eigenen
Tochter Iphigenie – die von der Göttin Artemis gerettet und nach Tauris versetzt
wurde – von den Göttern mit Wind für die Abfahrt seines Heeres nach Troja be-
schenkt wurde, nach Ende des gewonnenen Trojanischen Krieges wieder nach
Hause zurückgekehrt dort wenig liebevoll empfangen. Dies war eine mythologi-
sche Tatsache, die etwa nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Vielzahl von
Atridenstücken hervorbrachte, welche die komplexe Situation des störenden,
die blutige Geschichte heimbringenden Heimkehrers thematisierten. In einem
Krieg, in jedem Krieg, sind folglich selbst noch die Sieger Verlierer.
Doch zurück zu unserem griechischen Mythos! So kehrt der wegen der Op-
ferung Iphigeniens von Frau und anderer Tochter, aber natürlich auch von Cli-
temnestras Liebhaber bestgehasste Führer nach Hause zurück, um dort dann
zum Opfer einer von Ägisth an ihm verübten Bluttat zu werden. Bis hierher
stimmt das Ganze durchaus mit dem griechischen Mythos überein. Nur kehrt
Agamemnon – und dies wird dem Bühnenpublikum wie der Leserschaft von
Beginn an klar gemacht – nicht in seine griechische, sondern in seine kubani-
sche Heimat zurück: An dieser Stelle also beginnt Virgilio Piñeras Arbeit am
Mythos!
Electra Garrigó ist eine hübsche, attraktive Kubanerin, der Liebhaber ihrer
Mutter ein weißgekleideter kubanischer „Chulo“, und Agamemnons Palast ist
eine typische, im Kolonialstil mit vorgesetzten Säulen erbaute Villa in der – wie
der uns wohlbekannte Alejo Carpentier sagen würde – Ciudad de las columnas16
Havanna. Diese Stadt der Säulen mitten in der Karibik bietet also das perfekte
Bühnenbild für einen nach Amerika verpflanzten Mythos aus der griechischen
Antike. Wir finden auf dieser Ebene folglich eine Veränderung der raum-zeitlichen
Diegese wie in Alfonso Reyes‘ Ifigenia cruel vor; eine Transposition nach Latein-
amerika, wenn auch die Zeichen dieser Transposition im Stück von Reyes vorsich-
tiger und diskreter zum Ausdruck gebracht worden waren. Was ist aber nun das
Kubanische an Piñeras Theaterstück, so dürfen wir uns schon nach den ersten Zei-
len oder Minuten seiner Electra Garrigó fragen?
16 Vgl. Carpentier, Alejo: La Ciudad de las Columnas. La Habana: Editorial Letras Cubanas
1982.
1016 Márcio Souza, Virgilio Piñera oder das Schwanken zwischen Leben und Tod
Dieser Frage – Was ist kubanisch? Was ist der Kubaner? Was ist die Kuba-
nerin? – stellt sich auch Virgilio Piñera in seinem Vorwort zur Textausgabe.
Und er stellt für ein kubanisches Publikum wenig überraschend fest, dass ‚der
Kubaner‘ – im Gegensatz zum Deutschen etwa – ein Wesen sei, das das Tragi-
sche nicht ertragen und ständig mit dem Witz, dem „chiste“ reagieren müsse –
er hätte besser vielleicht auch „choteo“17 sagen können –, um diese Speise
nach Belieben garnieren und würzen zu können. Für Virgilio Piñera ist der Kuba-
ner also ein Wesen, das die Tragik ständig durch Komik und allerlei Komisches
durchbrechen – insofern stoßen wir an dieser Stelle auf den avantgardistischen
Bruch – und nicht nur unterbrechen müsse.
Eben dies sei es auch gewesen, so Virgilio Piñera, was den Erfolg von Elec-
tra Garrigó beim kubanischen Theaterpublikum schon der vierziger Jahre erklä-
ren könne: jener Bruch mit dem rein Tragischen und mit der reinen klassischen
Form, der das Stück in der Tat auszeichnet. Piñera nennt hierfür sogar ein Bei-
spiel, dessen wir uns auch gleich bedienen wollen. Was ist die Ausgangssitua-
tion dieser Szene?
Agamemnon ist mittlerweile längst ermordet, ‚stranguliert‘ (wie es heißt)
durch die geschickten Finger und Hände Ägisths. Kein Wunder also, wenn die
im Hass ihrer Tochter Electra lebende Mutter und Geliebte des Mörders, Clitem-
nestra, um ihr Leben fürchtet und gerade davor Angst hat, wie ihr ehemaliger
Gatte Agamemnon umgebracht zu werden: keine simple kubanische Familien-
geschichte also! Doch die lustige Witwe hat nicht nur Schreckensvisionen, son-
dern auch Geld: Um sich vor dem Erdrosselt-Werden zu schützen, hat sie sich
aus massivem Silber einen Halsschmuck anfertigen lassen – und so erleben wir
sie auf der Bühne. Achten wir hier besonders auf die Mischung des Tragischen
und Erhabenen mit dem Komischen und Banalen:
CLITEMNESTRA: Überall sehe ich Electras. Electras, die mich überfallen wie die Flocken
eines grausamen Schnees, den ich nie gesehen. Sehe ich einen Stuhl, ist es Electra. Sehe
ich einen Kamm, Electra, einen Spiegel, die versinkende Sonne, diese Platten, jene Säu-
len. (Pause.) Alles ist Electra. Das ist das Schreckliche. Diese Frau verfolgt mich. (Sie spio-
niert wieder mit ihren Augen.) Sie will meinen Tod. Dazu ihre grässlichen Hexereien … Hat
sie irgend einen Gegenstand in diesem Palast erst einmal angeschaut, kann ich ihn selbst
nicht mehr anschauen. Was mich anschaut, ist Electra; was ich anschaue, ist Electra; was
sich durch mich angeschaut fühlt, wird zu Electra. Ich selbst werde am Ende zu Electra
werden! (Pause.) Aber nein, lieber der Tod. Diese schleimige Frau, diese gegenständliche
Frau, diese Frau, die nur die Figur aus einer Tragödie ist. (Pause.) Kann man eine Figur
aus einer Tragödie umbringen? Kann man einen Schatten vergiften? Und all das ist sie …
(Pause.) sie bringt mich zur Verzweiflung, selbst mein Verbrechen kann ich nicht in aller
Ruhe genießen. Sie schaut mich an, und mit diesen Kuhaugen, die sie hat, sagt sie mir:
„Reue lade ich nicht auf Dich, doch wirst Du wie der Tote sterben, den Du schufst.“ (Sie
fasst sich an den Hals.) Das ist der Grund für dieses Silberteil. Alles in allem, es steht mir
nicht schlecht, es macht mir einen biegsameren Hals. Doch Orest versicherte mir, dass
ich nicht stranguliert sterben würde. (Pause.) Ach Du süße Überraschung, ich beiß’ Dich:
Orest, Orest ist das Gegengift gegen Electra!18
Dieser Monolog Clitemnestras in der Mitte des dritten und letzten Akts enthält
bereits alle Elemente und Ingredienzien des tragischen Geschehens. Die bestän-
dige Drohung Electras, die über der schuldhaft verstrickten Frau und Gatten-
mörderin Clitemnestra schwebt, äußert sich in dieser eindringlichen Szene in
all ihrer Beklemmung, in dem vergeblichen Versuch, gegen die sich in Electra
verwandelnde Welt den eigenen Hals zu schützen und ihn so zu retten. Alles ist
in Electra verwandelt, alles durchbohrt die Mutter und Gattenmörderin mit den
Blicken Electras!
In der Tat wird sich alles am Ende von Electra Garrigó in deren Fluidum, in
Electra verwandelt haben. Die Welt der Objekte kündigt es bereits an: Alles
wird Electra sein, ein wenig so, wie die Welt Tlöns in Borges’ Erzählung Tlön,
Uqbar, Orbis Tertius über die ‚reale Welt‘ hereinbricht und allem ihren Stempel
aufdrückt.19 Vergeblich versucht sich die angsterfüllte Clitemnestra davor zu
schützen, werden es doch gerade Spiegel und Kamm neben den hier noch nicht
genannten Objekten Tisch und Papaya-Frucht sein, die an ihrem Lebensende
stehen, die ihrem Leben ein Ende bereiten.
Clitemnestras Tod erscheint bereits mehrfach in dieser Passage: Es wird
jener Gifttod sein, den sich die Mutter für ihre Tochter vergeblich wünscht,
könne man doch einen Schatten, die literarische Figur aus einer Tragödie,
nicht so leicht vergiften. Orest aber, der hier als Gegengift gegen Electra ert-
räumt wird, wird gerade jenes Gift reichen, das „dulce“, ganz süß, in Clitemne-
stras Körper eindringen und sie töten wird. Sie wird eine vergiftete Schnitte der
„Fruta bomba“ essen, jener Frucht also, die in Kuba einen anderen Namen er-
halten hat, weil dort der eigentliche Begriff ‚Papaya‘ zu ungehörig geworden
ist, da man damit das weibliche Geschlechtsteil bezeichnet. Aber genau dieses
ist in Virgilio Piñeras Stück mitgemeint!
befreit: Er kann nun gehen! Erst jetzt beginnt im Grunde sein Exil,20 zu dem ihn
Electra geleitet – bis zu einer lichterfüllten Tür, durch die Orestes freilich allein
in eine andere Welt eintritt.
Zweifellos verhält es sich so, wie schon frühe Theaterkritiker bemerkten
und wie Virgilio Piñera es auch selbst einräumte: Electra Garrigó ist irgendwo
zwischen Jean-Paul Sartres Les mouches – das zum damaligen Zeitpunkt noch
nicht in Textform veröffentlicht war – und damit dem französischen existentia-
listischen Theater einerseits anzusiedeln, dem Theater des Absurden eines Eu-
gène Ionesco andererseits. Nicht umsonst füllt sich die Szenerie mit Objekten,
wie wir dies aus Stücken des Absurden Theaters kennen und wie wir dies auch
schon in dieser Passage aus Electra Garrigó sehen: Clitemnestra beschreibt in
ihrem Monolog, was sich bereits ereignet und was sich im weiteren Verlauf des
Stückes ereignen wird.
Die Bühne füllt sich mit Objekten, die sich allesamt in Electra verwandeln
und deren gespenstisch-schwarzes, schönes Bild tausendfach auf ihre Mutter
zurückwerfen, die mit ihren eigenen Worten endlich einmal in Ruhe ihren Gat-
tenmord und die Liebe ihres Liebhabers genießen will. Virgilio Piñera hat all
diese Elemente, die damals im zeitgenössischen Theater in Europa wie in Ame-
rika in der Luft lagen, aufgenommen und in sein Stück einbezogen, zugleich
aber speziell auf die kubanische Situation zugeschnitten.
Nach dem Tod ihres Vaters Agamemnon bleibt Electra gleichsam verwaist
zurück – einsam und isoliert in ihrer weiblichen Schönheit. Ihr Liebhaber in
spe hatte sich schon früh aus Verzweiflung umgebracht; und weder Orest noch
Ägisth, die beiden einzigen übriggebliebenen Männer, bleiben bei ihr. Der
plötzliche Tod des Agamemnon ist gleichsam der Tod des alten Hahns auf dem
bald schon verwaisten Hühnerhof: Ihm wird einfach der Hals umgedreht, eine
„mera cuestión sanitaria“, eine rein hygienische Angelegenheit, wie es mehr-
fach spöttisch bei Electra und Clitemnestra heißt. Sehen wir uns diesen banalen
Diktatoren-, diesen Tyrannenmord einmal näher an:
CLITEMNESTRA: Eine arme Frau verlangt nur, dass man diesen Horror aus ihren schönen
Augen entferne, diesen alten Hahn. (Mit dröhnender Stimme) Der junge Hahn, der junge
männliche Hahn: Möge er einer schönen Frau zu Hilfe eilen! (Zu Electra.) Was soll ich tun,
Electra, was soll ich tun?
ELECTRA: Handeln.
CLITEMNESTRA: (sich erneut drehend.) Ja, handeln, und schnell handeln. (schreiend)
Egisto! Egisto! (Es erscheint zwischen den beiden zentralen Säulen der gigantische Schatten
eines Hahns.) Schöner weißer Hahn, schöner männlicher Hahn: Komm herbei! Heute ist
der Tag des Blutes! (Der Schatten bewegt sich grotesk. Clitemnestra zieht ihren Schal aus.
Sie läuft dem Schatten entgegen.) Egisto, auf ihn, auf den alten Hahn! auf den schwarzen
Hahn! Heut’ muss er sterben! Ja, Egisto, mach’ ihn mit Deinen Sporen fertig! (Sie schlägt
den Schatten.) Auf den alten Hahn, auf den schwarzen Hahn! (Der Schatten verschwindet.
Clitemnestra geht schreiend durch die Säulen hinaus.) Drauf auf den alten Hahn, auf den
schwarzen Hahn!
CHOR: Der Tod wie ein starker Strahl
auf Agamemnon sich richtet,
und Clitemnestra verrichtet
mit ihrem Geliebten zerstörend
zwischen Laken Gekeuch betörend,
dann den Hals so fest umfassend,
schlangengleich, niemals ablassend,
inmitten des Horrors ganz fahl.
an Martís Rede von „Cuba, cual viuda triste“ in einem Gedicht erinnert, mit
dem wir uns im Rahmen dieser Vorlesung auseinandergesetzt haben.
Der Chor, ganz in seiner antiken Stellung und Position die Handlung zu-
sammenfassend und vorantreibend, führt den Bluttag über die Bewegungen
der Liebenden in den Bettlaken weiter zum Tod der Clitemnestra, deren Tri-
umph nur vorübergehend ist. Denn sie kann, wie sie im oben angeführten Mo-
nolog beklagt, die Früchte ihres Mordes nicht genießen. Trauer muss Electra
tragen: So könnten wir mit dem Dramatiker Eugene O’Neill und dem Titel sei-
nes 1931 uraufgeführten Bühnenstückes sagen und auf Kuba beziehen. Die Situ-
ation erscheint als ausweglos: Kein Heilsversprechen, keine Erlösung, kein
Freispruch folgt dem Morden am Ende und versöhnt den Menschen mit dem
Übermenschlichen, dem Transzendenten, dem Göttlichen! Der Mensch ist radi-
kal alleingelassen, radikal sich selbst überlassen, nicht aufgehoben in einer
Welt, in welcher das Geschehen mit berechenbarer Gewalt voranschreitet.
Wie in César Vallejos im Rahmen unserer Vorlesung analysierten Gedicht
gibt es Schläge von irgendwo her, Schläge des Schicksals, die hier freilich von
Menschenhand ausgelöst wurden, von Menschenhand aber nicht mehr weiter auf-
zuhalten sind. Der Chor klagt Clitemnestra an, zur Ehebrecherin und zur Mörderin
geworden zu sein; und der Chor weist auf den baldigen Mord an der schönen, be-
gehrenswerten Frau hin, einen Mord, dem sie nicht mehr ausweichen kann – auch
nicht durch attraktiven silbernen Halsschmuck. Absurdität und Groteske begleiten
am Ende diese eher schon spätavantgardistische Anverwandlung des antiken My-
thos, in dem schließlich alles zu Electra geworden ist und kein Raum mehr zum
Atmen bleibt.
Virgilio Piñeras Electra Garrigó ist eine Transposition des Electra-Stoffs in
die Karibik und die kubanische Welt, wobei gerade die Symbolik des Hahns –
wie auch die schwarzen Diener – auf eine andere kulturelle, ja volkskulturelle
Einbettung schließen lassen, welche dem Hahnenkampf in der Area der Karibik
eine ganz besondere Stellung zuweist. Der antike Mythos dient damit Virgilio
Piñera – wie vor ihm bereits Alfonso Reyes – zu einer Mythenübertragung, die
letztlich die Identitätsproblematiken der eigenen Gesellschaft aufwirft. His-
torische Avantgarde und Identitätssuche sind in Lateinamerika aufs Engste
miteinander verwoben, paaren sich in diesem Bühnenstück aber mit einer
Engführung von Eros und Thanatos, von Liebe und Tod, von körperlicher Se-
xualität und tödlichem Orgasmus, die untrennbar verschlungen sind. Denn
das Animalische, Tierische wird im Menschen zum Vorschein gebracht und
als Teil der conditio humana sichtbar gemacht.
Wenn wir Virgilio Piñeras Electra Garrigó auf die verschiedenen kulturellen
Pole beziehen, von denen in dieser Vorlesung, aber auch schon in unserer Vor-
lesungen über die Romantik zwischen zwei Welten sowie Von den historischen
1022 Márcio Souza, Virgilio Piñera oder das Schwanken zwischen Leben und Tod
Avantgarden bis nach der Postmoderne die Rede war, dann wird zunächst deut-
lich, dass sich dieses Bühnenstück des kubanischen Dichters in den ersten Pol
der abendländischen Traditionsstränge einschreibt, insofern es sich auf den
griechischen Mythos der Atriden und die Problematik der Orestie bezieht. Es ge-
lingt dem kubanischen Schriftsteller, durch Einführung lokaler, arealer, aber
auch nationalkultureller und nationalliterarischer Isotopien andere kulturelle
Pole miteinzublenden und auf diese Weise den dominanten ersten Pol einer
Ausrichtung an den Traditionen Europas zu bereichern.
Nicht nur die Beziehung zum Hahnenkampf, sondern auch die Anspielungen
auf die kultische Bedeutung des Hahns in afrokaribischen und afrokubanischen
Religionen macht im Verbund mit der Einblendung etwa einer schwarzen Diener-
schaft auf die veränderte Diegese und damit auf die spezifische Arbeit am Mythos
aufmerksam. Wie in Alfonso Reyes’ Rückgriff auf den Atriden-Stoff und den My-
thos von Iphigenie auf Tauris wird die gesamte Problematik auch bei Virgilio
Piñera auf die Frage des Exils bezogen, ist es in Electra Garrigó doch der am
Ende von seiner eigenen Schwester Electra durch die Tür geleitete und damit von
der Insel entfernte Orest, der in eine lichtvolle, aber ungewisse Zukunft im Exil
hinausgeht. Während in Alfonso Reyes’ Ifigenia cruel – wie wir sahen – vor
allem eine Beziehung zum kulturellen Pol der indigenen Kulturen hergestellt
wird, insofern eine direkte Verschmelzung des griechisch-abendländischen
Mythos mit dem aztekischen, mit dem indigenen Mythos erfolgt, treten bei
Virgilio Piñera an die Stelle der auf Kuba längst ausgerotteten indigenen Be-
völkerungen gleichsam die importierten ‚Autochthonen‘, die schwarzen Kul-
turen, welche als nationalkulturell wichtiger Faktor allerdings nur wenig
skizziert bleiben. Hier hängt es stark von der jeweiligen Inszenierung ab, wie
sehr dieser kulturelle Pol der schwarzen, der afrokaribischen Kulturen in Elec-
tra Garrigó akzentuiert wird.
Márcio Souzas Beschäftigung mit einem historischen brasilianischen Stoff
wie Virgilio Piñeras Transposition des griechischen Mythos in die Diegese einer
erkennbar kubanischen Umgebung behandeln die Frage von Leben und Tod
aber jeweils in der wechselseitigen Beziehung zur Liebe, welche bei Santos Du-
mont die Gewichte zwischen Leben und möglichem Sterben zumindest zeit-
weise immer wieder verschiebt und den Wiedergänger zwischen Leben und
Tod am erotischen Kitzel amouröser Liebschaften ausrichtet. In Electra Garrigó
hingegen werden alle Figuren in den Strudel des Schicksals hineingezogen,
welcher in einer unvordenklichen Kette an Gräueltaten vom Mord an Agamem-
non zurück auf dessen Aufopferung seiner Tochter verweist und immer tiefer in
eine Geschichte der Atriden hineinführt, aus welcher auch die späten kubani-
schen Verwandten nicht mehr herauszufinden in der Lage sind.
Márcio Souza, Virgilio Piñera oder das Schwanken zwischen Leben und Tod 1023
Ist Santos Dumont ganz vom Mythos des Fliegens erfasst, mit welchem sich
selbstverständlich in der Freud’schen Traumsymbolik die sexuelle Vereinigung
verbindet, ist er also diesem Mythos ausgeliefert und gibt sein Leben dafür hin,
so ist bei Virgilio Piñera jegliches Handeln, jegliches „obrar“, ein letztlich
schon immer vorbestimmtes und todbringendes Tun, mit dem keine Aktivität
des Menschen, sondern nur der passive Vollzug des Willens der Götter erfüllt
wird. Der Tod kümmert sich nicht um den einzelnen Menschen: Er lacht über
alle menschlichen Bemühungen, ihm einen Sinn zu verleihen, und vollzieht sich
ungerührt, ohne dass der Mensch noch in das eigene Sterben wie das Sterben
ihm liebevoll verbundener Menschen eingreifen könnte. Das schicksalsschwere
Motiv von César Vallejos Hay golpes en la vida taucht ebenso unvermittelt wie
unabweisbar wieder auf. Denn im Angesicht des Todes ist alles menschliche
Handeln Täuschung und Selbsttäuschung – gerade dann, wenn die Verstorbenen
der eigenen Familie entstammen, ja unsere Väter und Mütter sind.
Roland Barthes, das Fehlen der Mutter
und die Geburt
In der Familie der Atriden löst in Virgilio Piñeras Electra Garrigó der Mord an
der eigenen Mutter deren Mord am Gatten ab. Bleiben wir in der Familie, aber
lassen Sie uns gegen Ende dieser Vorlesung nunmehr von Morden und damit
der mors repentina absehen und uns erneut mit dem Tod in der Form eines
sanfteren Hinschwindens beschäftigen! Ich möchte dabei gerne die Problematik
der Mutter, wie sie etwa bei Reinaldo Arenas erscheint – bei dem die Mutter im
gesamten Oeuvre stets auch als Diktatorin, als Verkörperung der Diktatur allge-
genwärtig ist –, mit Hilfe von Roland Barthes noch um eine weitere dialektische
Wendung bereichern: um den Tod, um das Hinscheiden, um das Fehlen der Mut-
ter, das seinen künstlerischen Ausdruck in Form eines Buches findet. Und ich
gestehe dabei gerne, dass meine erste Vorlesung, die ich zu unserem Thema in
Potsdam hielt, durch den Tod meiner Mutter ausgelöst wurde.
Dabei möchte ich gerne auf ein Buch des französischen Zeichen- und Kultur-
theoretikers kommen, das in der langen Reihe von Bänden seiner Mutter gleich-
sam die Totenwache hielt. Im März 1979 bereitete sich Barthes auf die Arbeit an
jenem Buch vor,1 das sein letztes zu Lebzeiten erschienenes werden sollte: La
Chambre claire, auf Deutsch Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Im
Sommer 1977, also lange Monate vor dem Tod seiner Mutter, hatte Barthes davon
gesprochen, über die Photographie (wie auch die Musik) erst dann schreiben zu
können, wenn er eine gewisse „Weisheit“ erreicht habe, scheitere man doch stets
beim Sprechen über das, was man liebe.2 La Chambre claire entstand während
weniger Wochen – Barthes gab am Ende des Bandes den Zeitraum vom 15. April
bis zum 3. Juni an – und erschien wenige Wochen vor seinem eigenen Tod. Es
hielt, wie Jacques Derrida, meine Eingangsbemerkung ergänzend, in seinem
Nachruf auf den Verfasser von Am Nullpunkt des Schreibens treffend formulierte,
„wie nie zuvor ein Buch seinem Autor die Totenwache“.3
Roland Barthes ist als Zeichen- und Medientheoretiker nicht an der Aufde-
ckung der Hintergründe für sein Buch interessiert. In diesem Band, der auf den
ersten Blick eine Untersuchung über die Photographie zu sein scheint, wird
1 Vgl. Calvet, Louis-Jean: Roland Barthes. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Wolf-
ram Bayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 322.
2 Vgl. Compagnon, Antoine (Hg.): Prétexte: Roland Barthes. Colloque de Cerisy. Paris: Union
Générale d’Editions, 10/18 1978, S. 126 f.
3 Derrida, Jacques: Die Tode des Roland Barthes. In: Henschen, Hans-Horst (Hg.): Roland
Barthes. München: Klaus Boer Verlag 1988, S. 33.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-032
Roland Barthes, das Fehlen der Mutter und die Geburt 1025
Das Punctum einer Photographie sei daher „jener Zufall an ihr, der mich besticht
(mich aber auch verwundet, trifft).“6 Die bemerkenswerte Aufwertung des Zu-
falls in dieser Konzeption lässt den „hasard“ freilich nicht als ein Element des
‚Textes-an-sich‘ (als künstlerisches Artefakt), sondern des ‚Textes-für-mich‘ er-
scheinen. Barthes’ Abwertung der Rolle des Zufalls bei der künstlerischen Pro-
duktion bliebe davon unberührt.7 Die Ebene des Studiums spielt fortan nur
noch eine untergeordnete Rolle bei der Auseinandersetzung zwischen Bild-Text
und skripturalem Text; das Punctum wird zum beherrschenden Element des ge-
4 Barthes, Roland: La Chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Cahiers Cinéma – Galli-
mard – Seuil 1980, S. 22.
5 Ebda, S. 49: „Cette fois, ce n’est pas moi qui vais le chercher (comme j’investis de ma consci-
ence souveraine le champ du studium), c’est lui qui part de la scène, comme une flêche, et
vient me percer.“
6 Ebda.
7 Vgl. zur Problematik des Kontingenten in der Literatur auch Köhler, Erich: Der literarische Zu-
fall, das Mögliche und die Notwendigkeit. München: Fink 1973. Zur Bedeutung des zufällig er-
blickten Details Burgin, Victor: Diderot, Barthes, „Vertigo“. In: Burgin, Victor / Donald, James /
Kaplan, Cora (Hg.): Formations of Fantasy. London – New York: Methuen 1986, S. 90 ff.
1026 Roland Barthes, das Fehlen der Mutter und die Geburt
samten Buches. Dies verwundert nicht, ließ Barthes am Ende seiner Vorlesung
‚über‘ Proust doch keinen Zweifel daran, dass es ihm nicht mehr um das Stu-
dium eines Produkts, sondern um die Übernahme einer Produktion gehe.
Damit deutete sich bereits an, dass La Chambre claire nur vordergründig eine
theoretische Abhandlung über die Photographie – oder wie wir etymologisie-
rend sagen könnten: über das Schreiben mit Licht – war und es eigentlich um
etwas anderes ging, das ihn buchstäblich getroffen hatte.
Erlauben Sie eine kurze Anmerkung zur Unterscheidung von Studium und
Punctum! Der vielleicht grundlegende Unterschied besteht darin, dass sich
nicht nur der stumpfe (aber keineswegs stumpfsinnige) Sinn in einen überaus
scharfen (aber nicht unbedingt scharfsinnigen) Sinn, sondern vor allem die Be-
wegungsrichtung der beiden verschiedenen ‚Sinne‘ im Gegensatz zu früheren
Schriften von Roland Barthes gewandelt hat. Kam der „sens obvie“ dem Be-
trachter entgegen, sprang er ihm förmlich ins Gesicht, so ist die Bewegungs-
richtung beim Studium die nun genau umgekehrte: Der Betrachter wendet sich
dem Bild zu und versucht, sein ‚souveränes Bewusstsein‘ darauf anzuwenden.
In dieser ausschließlich mentalen Dimension ist sie wissenschaftlich, im Sinne
Barthes’ also unfähig, den Körper miteinzubinden.
Der „sens obtus“ kehrt seinerseits in der Form des Punctum wieder: Ein De-
tail des Bilds löst sich wie ein Pfeil aus der Szenerie und ‚trifft‘, ja ‚verletzt‘ den
Betrachter oder die Betrachterin. Die Erfahrung schließt die körperliche Dimen-
sion mit ein. So sind Studium und Punctum keineswegs grundlegend neue Vor-
stellungen in der begrifflichen Welt des Roland Barthes. Sie nehmen vielmehr
die in vorigen Begriffsbildungen und Oppositionen gespeicherten Bedeutungs-
elemente in sich auf. Die Semiologie der „signifiance“ und „jouissance“, die
Barthes zuvor entwickelte, wird – was sich schon zuvor andeutete – auf ein Ich,
das Ich des Betrachters, bezogen. Es ist, so könnte man formulieren, eine Semio-
logie des ‚Zeichens-für-mich‘. Die Konsequenz dieser partikularisierten Semiolo-
gie, welche die Ebenen von Kommunikation und Bedeutung einer Erforschung
durch die (universitäre) Linguistik und Semiotik überlässt, kann auf literarischer
Ebene nur die Verwendung der ersten Person Singular sein. La Chambre claire
nähert sich folglich der Form der Autobiographie beziehungsweise Formen auto-
biographischen Schreibens an.
Der semiologisch begründeten Verwendung der ersten Person Singular
lässt sich noch eine zweite, literarische Begründung hinzufügen. Die helle Kam-
mer setzt mit einem ‚proustianischen‘ Akzent ein, der – wie wir sehen werden –
im Anfangssatz des zweiten Teils wiederaufgenommen und verdeutlicht wer-
den wird: „Eines Tages, vor recht langer Zeit, stieß ich auf eine Photographie
Roland Barthes, das Fehlen der Mutter und die Geburt 1027
des jüngsten Bruders von Napoleon, Jérôme (1852).“8 In diesem Incipit ist
ebenso die Thematik des gesamten Buches wie die von der Theorie bedingte
Form und deren literarische Modellierung am Vorbild Marcel Prousts gegenwär-
tig. Es ist die Auseinandersetzung eines Betrachters, der sich über eine Reihe
von Photographien und damit über die (eigene) Vergangenheit beugt, wobei
das Element des Zufalls („je tombai“) und des Unwillentlichen eine große Rolle
spielt. Wir gehen – wie Sie sehen – aus von der Ebene des Studium.
Das dem fortlaufenden Text vorangestellte paratextuelle Element eines
leicht geöffneten Vorhangs – eine Photographie von Daniel Boudinet (1979),
die in der deutschen Ausgabe fehlt – führt intratextuell die Verbindung von
Zwischenraum, Textgewebe, Liebe und Erotik ein, die in der Form eines leicht
geöffneten Vorhangs mit einer Geisha bereits in Barthes’ L’Empire des signes,
auf Deutsch Das Reich der Zeichen, verwendet worden war (Abb. 87). Die Textele-
mente literarischer Modellierung raten dazu, das seit dem ersten Satz präsente
‚Ich‘ – wie in den vorstehenden theoretischen Erläuterungen aus didaktischen
Gründen mitunter geschehen – nicht mit dem textexternen Autor Roland Barthes
Jedes Mal, wenn ich etwas über die Photographie las, dachte ich an jenes geliebte Photo,
und das brachte mich in Rage. Denn ich sah immer nur den Referenten, das begehrte Ob-
jekt, den geliebten Körper; doch eine lästige Stimme (die Stimme der Wissenschaft) sagte
mir dann in strengem Ton: „Kehr zur Photographie zurück. Was Du hier siehst und was
Dich leiden macht, fällt unter die Kategorie ‚Amateurphotographie‘, welche ein Soziolo-
genteam behandelt hat [...].“12
9 Ebda., S. 15.
10 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. 3, unveränderte
Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2012.
11 Barthes, Roland: La Chambre claire, S. 23.
12 Ebda., S. 19.
Roland Barthes, das Fehlen der Mutter und die Geburt 1029
Barthes spielt hier zweifellos an auf ein Soziologenteam unter der Leitung von Pi-
erre Bourdieu:13 Darum soll es aber in unserer heutigen Vorlesung nicht gehen. Im
obigen Zitat wird zum ersten Mal nicht die Photographie als wissenschaftlicher Ge-
genstand (der mit einer Majuskel versehen wird), sondern eine bestimmte Photo-
graphie eingeführt, die im ersten Teil des Buches stets kleingeschrieben und
praktisch nicht beim Namen genannt wird. Die ‚Stimme der Wissenschaft‘, einem
wissenschaftlichen Über-Ich gleich, wendet sich von der einen Photographie ab
und der Photographie zu; denn der Untertitel des Buches kennzeichnet sich als
Note sur la photographie. Damit ist dem gesamten Band schon im Untertitel gleich-
sam kryptographisch eingeschrieben, dass er nicht der Stimme der Wissenschaft
folgt: La Chambre claire ist eine Bemerkung – fast könnte man im musikalischen
Sinne Theodor W. Adornos von einer ‚Note‘ sprechen – zu einer bestimmten Photo-
graphie in ihrer existentiellen Bedeutung für den Ich-Erzähler. Denn vor diesem
macht ‚die Rückkehr des Toten‘ (oder genauer: der Toten) nicht Halt.
Das vom Photographen ins Bild gesetzte Ich ist zum „Ganz-und-gar-Bild“,
zum „Tod in Person“ geworden.14 Wir finden hier auf einer anderen Ebene jene
Angst wieder, die Barthes in seinem Vortrag „Das Bild“ in Cerisy-la-Salle zum
Ausdruck brachte, nämlich zum ausgelieferten Objekt, zum Bild der anderen
verdinglicht zu werden. Doch in diesem Eingehen auf ein Bild und wieder Weg-
gehen von diesem Bild kommt eine andere Ökonomie zum Vorschein, in der
wir unschwer jene von Studium und Punctum wiedererkennen: Wir müssen sie
mit dem Körper-Leib des Betrachtenden verbinden.
Ein längeres Zitat aus Jean-Paul Sartres 1940 erschienenem Essay Das Ima-
ginäre,15 dem Barthes – sozusagen zum vierzigsten Jubiläum seiner Veröffentli-
chung – La Chambre claire widmete, verdeutlicht die existentielle Dimension
der Photographie,16 macht zugleich aber auch auf die Betonung der (Bild-)Le-
serseite aufmerksam. Jean-Paul Sartre hatte in seiner Schrift das Kunstwerk nur
als das äußere, materielle Analogon verstanden, als jenes (tote) Objekt, das
vom Leser oder Betrachter zu einem inneren Bild umgeformt wird, welches erst
das eigentliche Kunstwerk ausmache.17 Die Widmung an Sartre ist gut gewählt:
Denn es ist genau dieses Kunstwerk, das Roland Barthes mit La Chambre claire
13 Vgl. Bourdieu, Pierre et al. (Hg.): Un art moyen. Les usages sociaux de la photographie.
Paris: Minuit 1965.
14 Barthes, Roland: La Chambre claire, S. 31.
15 Ebda., S. 38 f.
16 Vgl. Sartre, Jean-Paul: L’Imaginaire. Paris: Gallimard 1940, S. 39.
17 Auf zusätzliche Beziehungen zwischen La Chambre claire und L’Imaginaire, insbesondere
das Spiel von Absenz und Präsenz, verweist Halley, Michael: Argo sum. In: Diacritics (Ithaca)
XII, 4 (winter 1982), S. 73 ff.
1030 Roland Barthes, das Fehlen der Mutter und die Geburt
und seiner Verwandlung der Photographien in ‚innere Bilder‘ wie einst Marcel
Proust gegen den Tod errichtet. Es rührt im Übrigen eigenartig an, dass ebenso
Sartre wie Barthes in jenem Jahr 1980 verstarben und damit zugleich einen End-
punkt in der säkularen Dominanz französischer Theoriebildung weltweit mar-
kierten. Ab diesem Zeitpunkt, so darf man getrost aus heutiger Sicht hinzufügen,
übernahmen die USA für knapp vier Jahrzehnte die Oberhoheit im Feld einer
weltweiten Literatur-, Zeichen- und Kulturtheorie, welche zum gegenwärtigen
Zeitpunkt, nach dem Ende der vierten Phase beschleunigter Globalisierung, wie-
der ins Wanken gekommen zu sein scheint.
dem Betrachter ins Auge, lösen das Punctum aus, das lustvolle Verletzung ist.
Sie treffen den Körper-Leib des Betrachtenden. Doch weder muss diese Verlet-
zung lustvoll erfahren werden, noch müssen die Bild-Text-Relationen von Photo-
graphien ausgehen, die im Band selbst wiedergegeben sind. Dies entwickelt der
zweite Teil des Bandes, auf den der ausgestreckte Arm der letzten Photographie
(R. Mapplethorpe, Abb. 88)21 des ersten Teils in ‚körperlicher‘ Weise deutet. Und
in diesem zweiten Teil kommen wir der existenziellen Bedeutung des Todes für
Barthes in diesem Buch erheblich näher.
Dieser zweite Teil, der ebenfalls vierundzwanzig Kapitel umfasst, beginnt
stärker noch als der erste in Proust‘scher Modellierung:
Nun, an einem Novemberabend, kurz nach dem Tod meiner Mutter, ordnete ich Photos.
Ich hoffte nicht, sie „wiederzufinden“, ich versprach mir nichts von „diesen Photogra-
phien einer Person, durch deren Anblick man sich weniger an diese erinnert fühlt, als
wenn man nur an sie denkt“ (Proust).22
Die direkte, präzise zitierte Bezugnahme auf Marcel Prousts Auf der Suche nach der
verlorenen Zeit setzt nicht nur die eigene Modellierung in Szene, sondern auch Me-
tasprache und Objektsprache in eins. Das Autobiographische verschmilzt mit dem
Literarischen, das Intratextuelle mit dem Intertextuellen, und erweist sich ange-
sichts des allgegenwärtigen Todes analog zum Vorbild als ein Anschreiben gegen
den Tod der Mutter und ein Anschreiben gegen den eigenen Tod. Denn zu Beginn
des zweiten Teiles von La Chambre claire wird der Tod der Mutter explizit genannt.
Das Erzähler-Ich erweist sich als Autorkonstruktion, welche literarischen
Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Es spricht nicht ein wissenschaftliches Subjekt,
das uns eine präzise medienwissenschaftliche Studie vorlegt. Die lichtvolle
Helle der Augen der Mutter durchzieht – wie ein nicht aufgelöstes Punctum,
eine innere, intimste Verletzung – jene Photographien,23 die dem ordnenden
Abb. 89: ‚La Souche‘: Henriette Barthes und ihr älterer Bruder als Kinder.
21 Ebda., S. 94.
22 Barthes, Roland: La Chambre claire, S. 99.
23 Ebda., S. 104.
1032 Roland Barthes, das Fehlen der Mutter und die Geburt
Ich zu Gesicht kommen. Das Ich sucht nach der „Wahrheit des Gesichts, das
ich geliebt hatte“.24 Es ist die Gesichtlichkeit, die seit Barthes’ Texten der fünfzi-
ger Jahre immer wieder für die Wahrheit, für die Totalität des Menschen steht.
Diese Warheit der Gesichtlichkeit, der „visagéité“, wird in einer alten Pho-
tographie zugänglich, welche die Mutter als fünfjähriges Mädchen zusammen
mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder im Wintergarten zeigt (Abb. 89).25 Aus der
Lektüre des Bilds der Mutter als kleines Mädchen entsteht der Tod der Mutter,
aber auch der eigene Tod; es ist eine Lektüre der Liebe der Mutter und der
Liebe zur Mutter, die sich – ganz im Proust‘schen Sinne – zum Schreibprojekt
gegen den Tod verbinden:
Nun, da sie tot war, hatte ich keinerlei Grund mehr, mich dem Gang des Höheren Lebens
(der Gattung) anzupassen. Meine Singularität würde sich nie mehr ins Universale wenden
können (es sei denn, utopisch, durch das Schreiben, das Projekt, das seitdem zum alleini-
gen Ziel meines Lebens werden sollte). Ich konnte nur noch auf meinen vollständigen,
undialektischen Tod warten.
Das war es, was ich in der Photographie aus dem Wintergarten las.26
Das Punctum hat sein Ziel erreicht: Roland Barthes ist getroffen, ist betroffen. An
dieser Stelle ist die Photographie der Mutter, im Gegensatz zum ersten Teil, zur
Photographie schlechthin geworden. In dieser Aufnahme verbinden sich die
Liebe und der Tod27 mit dem Projekt des eigenen Schreibens, das hier zum einzi-
gen noch verbliebenen Ziel des Lebens erklärt wird. Im Gegensatz zu Proust führt
die willentliche Suche, das Ordnen der Photographien, zur ‚Entdeckung‘ des ei-
genen Wegs zum Schreiben. Doch wie bei Proust wird das Projekt dieses Schrei-
bens durch eine sinnliche, eine körperliche Wahr-Nehmung ausgelöst, vom
Punctum geradezu punktiert. Die sinnliche Erfahrung ‚trifft‘ den Ich-Erzähler und
lässt die Vergangenheit in ihrer Totalität gegenwärtig werden. Leistete dies bei
Proust der Geschmackssinn (ein Gebäckstück) oder der Tastsinn (ungleich hohe
Pflastersteine), so wird dies in Barthes’ Text durch den Blickkontakt bewerkstel-
ligt. Und die Struktur des Auges wird zugleich zur Struktur des Buches.
24 Ebda., S. 106.
25 Ebda.
26 Ebda., S. 113.
27 Vgl. zu dieser Konstellation auch den zweiten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Liebe-
Lesen (2020), passim. Häufig ist auf die Todessehnsucht Barthes’ nach dem Tod seiner Mutter
verwiesen worden; vgl. etwa Morin, Edgar: Le retrouvé et le perdu. In: Magazine littéraire
(Paris) 314 (octobre 1993), S. 29.
Roland Barthes, das Fehlen der Mutter und die Geburt 1033
Der Diskurs der Liebe fand seine sprachliche Grenze in der körperlichen
Vereinigung, dem ‚kleinen Tod‘.28 Der Diskurs der Liebe zur Mutter findet seine
Grenze im Tod des geliebten Wesens: „Ich habe keinen anderen Rückhalt als
diese Ironie: darüber zu sprechen, dass es ‚nichts zu sagen gibt‘.“29 Hier ist die
Grenze des Sprechens, des Philosophierens,30 des Schreibens erreicht. Es ist
das Schweigen im Zentrum des Schriftstellers, jenes Schweigen, das bereits in
Barthes’ erstem Buch Le Degré zéro de l’écriture, in Am Nullpunkt des Schrei-
bens, thematisiert wurde. Jetzt ist es ein leer gewordenes, ein leeres Zentrum,
das doch immer wieder neu zum Sprechen gebracht werden muss und doch
nicht schweigen kann.
Wie L’Empire des signes ist auch La Chambre claire um ein leeres Zentrum ge-
baut. Im Reigen all jener Photographien, die von Barthes in dieses Buch aufge-
nommen wurden, fehlt eine einzige: die Photographie des fünfjährigen Mädchens
im Wintergarten. In L’Empire des signes war dieses leere Zentrum durch einen
zitierten Text von Philippe Sollers ‚gefüllt‘ und gerade dadurch als leer mar-
kiert worden. In La Chambre claire weist der ausgestreckte Arm des jungen Man-
nes nicht nur auf den zweiten Teil des Buches, sondern auch auf die nächste
Photographie.
Anstelle des jungen Mädchens im Wintergarten sehen wir eine Photographie von
Nadar, die eine alte, weißhaarige Frau zeigt (Abb. 90). Die Photographie trägt den
im Kontext des Buches vielfach beziehbaren Titel „Mutter oder Frau des Künst-
lers“.31 Um als leeres Zentrum wahrgenommen werden zu können, muss dieses
Zentrum markiert sein: Die Greisin signalisiert das Fehlen des Mädchens, dessen
Bild uns nur durch die bruchstückhafte Ekphrasis des Erzählers ‚vor das innere
Auge‘ geführt wird. Zugleich deutet dieses Fehlen, deutet diese Photographie Na-
dars auf die künstlerische, die literarische Dimension des gesamten Bandes.
Im Fehlen des biographisch auf den textexternen Autor beziehbaren ikoni-
schen Elements affirmiert sich der Text in seiner Verfertigung, in seinem Gewo-
ben-Sein und entzieht sich jeglicher strikt autobiographischen Fixierung: Wir
sehen die Mutter von Roland Barthes nicht: Sie ist verschwunden, auf Franzö-
sisch „disparue“, folglich tot. Hat nicht die Bildbeschreibung, die Ekphrasis,
ein Bild in uns evoziert? Gewiss. Doch dieses in uns heraufbeschworene Bild
des Gesichts mit den hellen Augen, diese Hypotypose ist – glauben wir einer
Jahre zuvor gemachten Bemerkung Roland Barthes’ – nicht mehr als eine Täu-
schung. Das letzte Bild des ersten und das erste Bild des letzten Teils verweisen
wechselseitig auf das leere Zentrum und dessen Inszenierung. Im Gegensatz zu
Das Reich der Zeichen wird in Die helle Kammer dem ikonischen (und nicht dem
schrifttextlichen) Element des Ikonotexts die Aufgabe überantwortet, die Leere
des Zentrums zu re-präsentieren – und nicht etwa, diese Leere zu füllen!
Roland Barthes scheint gezögert zu haben, bevor er die Photographie im
Wintergarten aus seinem Text herauslöste.32 Doch gab er damit seinem Buch
über die Photographie (der Mutter) die Struktur eines Auges, in dessen Zent-
rum – leicht verschoben – sich ein blinder Fleck befindet.33 Der Ikonotext
nimmt die Struktur des Auges in sich auf, wird zum Auge selbst. Der blinde
Fleck im letzten Buch von Roland Barthes markiert nicht nur den leer geworde-
nen Platz, den die Mutter – Henriette Barthes – im Leben des Zeichentheoreti-
kers und Schriftstellers hinterließ. Er deutet auch auf das leere Zentrum im
Gesamtwerk des Roland Barthes.
Über sein gesamtes geschriebenes Leben hinweg findet sich bei Roland
Barthes die Metapher, ja die Metaphorologie des leeren Zentrums. Logischer-
weise findet sie sich in einer anderen Umdrehung seiner literarischen Spirale
erneut, in seinem letzten zu Lebzeiten erschienenen Buch La chambre claire.
Damit war schon jene Leere angedeutet, die der Tod des Subjekts beziehungs-
weise des Autors im Zentrum des Textes hinterlassen sollte und die nur unvoll-
ständig und prekär von der 1968 in La mort de l’auteur verkündeten Geburt des
Lesers ausgeglichen werden konnte. Incidents, S/Z und L’Empire des signes ord-
neten sich um ein leeres Zentrum an, welches durch das Theorem vom Tod des
Autors ausgefüllt wurde.34 1964 wurde das ‚leere Denkmal‘ des Eiffelturms zum
Signum der Moderne erklärt, so wie 1970 die Stadtlandschaft von Tokyo als lee-
res Zentrum erschien, darin dem japanischen Haus strukturell verwandt.
Auch das Fehlen einer Philosophie der Liebe wurde nicht etwa von den
Fragmenten eines Diskurses der Liebe beseitigt, sondern als ein nicht auszufül-
lendes leeres Zentrum kenntlich gemacht.35 Und so ist auch die camera lucida,
deren Bildprojektionen vermittels eines offenen, leeren Zentrums entstehen, in
La Chambre claire mit einem blinden Fleck versehen, der den eigentlichen Mit-
telpunkt des Buches ausmacht: ein Zentrum freilich, das die Bedeutung in Bart-
hes’ letztem Buch nicht (etwa autobiographisch) zentriert, sondern diffundiert
und vervielfacht. Der Band stellt eine weitere Umdrehung in der Spirale des Bar-
thes’schen Schreibens dar, aber er ist vor allem auch dies: eine in der Bewegung
des eigenen wissenschaftlichen Tuns verankerte Antwort auf den Tod der eigenen
Mutter. Denn Henriette Barthes bildete ohne jeden Zweifel das inverse Zentrum
dieses Bandes über diese Photographie – und das Zentrum des Lebens von Roland
Barthes, der mit seiner Mutter fast ein ganzes Leben lang zusammenwohnte.
In einer auf den 2. September 1979 datierten Eintragung, welche die zweit-
letzte datierte Notiz in seinem posthum erschienenen Tagebuch der Trauer, seinem
Journal de deuil, ist, hat Roland Barthes nur diese beiden Zeilen festgehalten: „Si-
esta. Traum: exakt ihr Lächeln. / Traum: integrale, gelungene Erinnerung.“36 Es
fällt nicht schwer, zwischen diesen Zeilen des abbrechenden Tagebuches nicht
nur das (wie) im Traum erscheinende Lächeln der Mutter, sondern auch das Pro-
jekt zu erkennen, das Barthes zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen hatte:
sein Buch über die Photographie, das zugleich – wie wir sahen – sein so oft be-
schworenes Buch über die Mutter wurde. Das Lächeln der Mutter war für Barthes
allgegenwärtig.
Versuchen wir, die Dinge zeitlich zu ordnen! Das letzte Buch von Roland
Barthes, Die helle Kammer, ist wie erwähnt auf den Zeitraum zwischen dem
15. April und dem 3. Juni 1979 datiert. Der letzte Eintrag des Journal de deuil,
der vor den ‚Start‘ der Arbeit an diesem „dernier livre“, diesem „letzten Buch“
fällt, ist unschwer auf das neue und so rasch, binnen weniger Wochen ausge-
führte Vorhaben zu beziehen:
Ich lebe ohne jegliche Sorge um die Nachwelt, ohne jedes Begehren, später noch gelesen
zu werden (abgesehen von M., aus finanziellen Gründen), die vollkommene Akzeptanz,
gänzlich zu verschwinden, keinerlei Lust aufs ‚Monument‘ – aber ich kann es nicht ertra-
35 Vgl. zu Roland Barthes und seinen Fragmenten eines Diskurses der Liebe nochmals den
zweiten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: LiebeLesen, S. 60 ff.
36 Barthes, Roland: Journal de deuil. 26 octobre 1977–15 septembre 1979. Texte établi et annoté
par Nathalie Léger. Paris: Seuil – Imec 2009, S. 254.
1036 Roland Barthes, das Fehlen der Mutter und die Geburt
gen, dass es so auch für Mam. kommt (vielleicht weil sie nicht geschrieben hat und weil
die Erinnerung an sie gänzlich von mir abhängt).37
Diese Worte werfen ein eigentümliches Licht auf das Schreiben des Sohnes.
Denn dieser erklärt sich für allein dafür verantwortlich, das Andenken an seine
Mutter aufrecht zu erhalten. Mit seinem Buch La Chambre claire hat Roland Bar-
thes nicht nur seiner Mutter ein literarisches Monument errichtet, sondern ihr Ver-
gangen-Sein in eine offene Zukunft projiziert; ein Andenken an Henriette Barthes,
das längst auch auf unsere Vorlesung übergesprungen ist. Insofern ist dieser
Band, aus der Angst vor dem Vergessen geboren; eine Form der Vergegenwärti-
gung, die unbestreitbar auf Zukunft zielt: die helle Kammer eines Gedenkens,
das – Dank und Gedächtnis zugleich – nicht auf den (eigenen) Tod, sondern pros-
pektiv aufs Künftige gerichtet ist.
War das 1979 erschienene Bändchen mit dem Titel Sollers, Schriftsteller –
das aus einer Abfolge von sechs eher kurzen Texten über den Kopf der Tel Quel-
Gruppe besteht – eher eine Solidaritätsbekundung und mehr noch eine Pflicht-
übung, die offenkundig auf eine Bitte des im intellektuellen Feld Frankreichs
zunehmend in Bedrängnis geratenen Philippe Sollers selbst zurückging, so ist
Die helle Kammer für Barthes offenkundig ein Buch von geradezu vitaler, exis-
tentieller Bedeutung. Es handelt sich um ein Buch, das freilich im Journal de
deuil seinen Vorläufer in einer expliziten Auseinandersetzung mit dem Tod der
Mutter hat, einen skripturalen Vorläufer, der jedoch zumindest nicht zu Bart-
hes’ Lebzeiten für die Publikation und damit für die Öffentlichkeit bestimmt
war. Als Buch über die eigene Mutter war Roland Barthes’ La Chambre claire
Schlusspunkt und Ausgangspunkt zugleich.
Der elegante, 1980 erschienene Band weist eine gewisse Abkehr von der frak-
talen, archipelischen Schreibweise der „écriture courte“ auf, die Barthes’ Schrei-
ben so sehr charakterisiert hatte. Auch wenn er mit seinem Sollers gewidmeten
Buch noch ein letztes Mal pflichtschuldig die französische Avantgarde seiner Zeit
gegrüßt hatte, war es ihm nun – wie er in einem in Tel Quel veröffentlichten Ta-
gebucheintrag vom 5. August 1977 wissen ließ – um anderes zu tun. Plötzlich sei
es ihm „gleichgültig geworden, nicht modern zu sein. (… und wie ein Blinder,
dessen Finger über den Text des Lebens (texte de la vie) tastet und hier und dort
das erkennt, ‚was schon gesagt worden ist‘.)“.38 Barthes tastete sich, seinem Le-
bens-Text folgend, in der Tat in eine neue Richtung vor. Sein erstes Ergebnis war
37 Ebda., S. 245. Das Kürzel bezieht sich auf Michel Salcedo, den Halbbruder Roland Barthes’,
der zu seinem literarischen Erben wurde.
38 Barthes, Roland: Œuvres Complètes. Edition établie et présentée par Eric Marty. Paris: Seuil
1993–1995, hier Bd. 3, S. 1011.
Roland Barthes, das Fehlen der Mutter und die Geburt 1037
sein letztes Buch: Die helle Kammer. Das Buch über den Tod der Mutter war zu-
gleich die Geburt einer neuen Schreibweise.
Seinen Text des Lebens versucht der sehende Barthes als Licht-Schrift zu
lesen, als Photo-Graphie. Barthes’ Die helle Kammer war als Buch über den Tod
zugleich ein Buch des Lebens, insofern die intime Verklammerung von Texten und
Bildern, von Schriftbild und Bildschrift ein lebendiges ikonotextuelles Oszillieren
erzeugt, in dem sich Bild und Text wechselseitig durchdringen. Dabei wird der Kör-
per der Mutter im Journal de deuil ertastet, vielleicht sogar geschrieben. Auf den
‚Vorwurf‘ an die Adresse des Homosexuellen, den Körper der Frau niemals ken-
nengelernt zu haben, ‚antwortete‘ Barthes in seinem zweiten, auf den 27. Oktober
1977 datierten Eintrag: „ vous n’avez pas connu le corps de la Femme! / J’ai connu
le corps de ma mère malade, puis mourante.“39 Barthes hatte den Körper seiner
kranken, seiner sterbenden Mutter, mit der er zusammenlebte, kennengelernt.
Der Körper der Mutter ist im Journal de deuil wie in den Photographien und
Texten von La Chambre claire allgegenwärtig und selbst in den Körpern anderer
Photographierter omnipräsent. kann. Auf diese Weise erscheinen hier jene ver-
vielfachten Doppelungen zwischen Buch der Photographie und Buch der Mutter,
Buch des Lebens und Buch des Todes, Buch der Theorie und Buch der Litera-
tur, die nicht einfach übereinander gelegt werden können. Die helle Kammer
führt auf kunstvolle Weise vor, wie diese Doppelungen nicht als Gegensätze, son-
dern als sich wechselseitig semantisierende Pole eines Bewegungsraums gedacht
und geschrieben werden können, der sich gleichwohl nicht auf das Studium, son-
dern das Punctum konzentriert. Der zugleich aber auch im Getroffen-Werden
durch den Pfeil des Todes die Frage nach dem Leben stellt und das Leben unter
Einschluss des Todes in den Mittelpunkt rückt.
Das Journal de deuil und in seiner Nachfolge auch La Chambre claire ist ein
Abschied von einer Art und Weise des Wissens, die Roland Barthes einst so
wichtig gewesen war: eine Verabschiedung des wissenschaftlichen Wissens,
das Barthes mit dem Begriff des Studium anspricht. Stattdessen zielt Barthes, ver-
ändert durch die Erfahrung des Todes seiner Mutter Henriette, nun auf ein Wissen
vom Leben, welches das teilweise Verlernen des wissenschaftlichen Wissens vo-
raussetzt und das Wissen vom Tode als Ausgangspunkt nimmt. Acht Monate
nach dem Tod seiner Mutter trägt er am 14. Juni 1978 ein: „(Huitmois après):
le second deuil.“40 Roland Barthes musste lernen, ohne seine Mutter zu leben. So
heißt es in einem Eintrag vom 22. Februar 1979, also wenige Wochen vor dem er-
klärten Beginn der Niederschrift von La Chambre claire:
Was mich von Mam. trennt (von der Trauer, die meine Identifizierung mit ihr war), das ist
die (größer werdende, immer mehr akkumulierte) Dicke der Zeit, in der ich seit ihrem Tod
ohne sie leben, das Appartement bewohnen, arbeiten, ausgehen usw. konnte.41
Der Tod ist für Roland Barthes einschließlich des eigenen Todes zu einem Be-
standteil des Lebens geworden, ja mehr noch: Durch das Leben und Arbeiten in
der einst mit der Mutter geteilten Wohnung hat der Verfasser des Tagebuchs
der Trauer gelernt, den Tod zu bewohnen, mit Leben zu füllen und zu erfüllen.
So entfaltet sich ein Wissen im Zeichen des Lebens – und damit selbstverständ-
lich auch des Todes. Der Tod wird zu einem Ausgangspunkt für ein neues
Schreiben, für ein neues Leben, für eine neue Geburt.
Am Ende dieser Vorlesung soll daher nicht der Tod, das (laut Roland Bart-
hes) Undialektische stehen. Vielmehr soll es weitergehen, soll die Spirale des
Lebens sich noch um weitere Umdrehungen drehen. In diesem gedanklichen
Zusammenhang möchte ich es nicht als eine Flucht verstanden wissen, wenn
wir uns am Ende unseres langen Parcours ein letztes Mal der Geburt zuwenden.
Es handelt sich vielmehr um einen Ausdruck des Lebenswissens – und ich
würde sagen: zugleich des ÜberLebenswissens –, wenn es nun am Ausgang die-
ser umfangreichsten thematischen Vorlesung wieder um die Geburt gehen soll.
Erst am Ende des eigenen Lebens, so hielt die spanische Schriftstellerin
María Teresa León in ihrer Autobiographie Memoria de la melancolía einmal
fest, sei man in der Lage, das Rätsel der eigenen Identität lüften zu können, um
dieser Bemerkung sogleich aber hinzuzufügen, dass auch dies dann letztlich
wieder eine Erniedrigung sei. Daraus ergibt sich die bange Frage, ob wir denn
sterben müssen, ohne unsere eigene Geschichte zu Ende zu bringen; oder ob
wir noch an unserem Ende das weitergeben, was in einem übertragenen Sinne
als eine neue Geburt verstanden werden kann.
Geburt und Tod, Sterben und Auf-die-Welt-Kommen antworten sich über
ein ganzes Leben hinweg in einem ständigen Polylog, der um Konstruktionen
von Selbstvergewisserungen kreist, welche doch – so meine ich – nie zur Ruhe
kommen können, sondern in ständiger Bewegung sind; hierin vergleichbar mit
der Unruhe eines mechanischen Uhrwerks.42 Dies bedeutet aber nicht, dass
damit notwendigerweise ein Entwicklungsprozess verbunden ist. Im Gegenteil:
Viele Darstellungen von Geburtsszenen oder auch von pränatalen Situationen
sind gerade so gestaltet, dass die jeweiligen Protagonisten gerade keinen Ent-
wicklungsgang durchmachen, sondern eigentlich schon immer so waren, wie
41 Ebda., S. 239.
42 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Unrest as Driving Force: On Vectoricity and Economy of a Monu-
mental Feeling. In (ders.): Literatures of the World. Beyond World Literature. Translated by
Mark W. Person. Leiden: Brill 2021, S. 297–336.
Roland Barthes, das Fehlen der Mutter und die Geburt 1039
Mama kam zu Hause nieder. Als die Wehen einsetzten, stand sie noch im Geschäft
und füllte Zucker in braune Pfund- und Halbpfundtüten ab. Schließlich war es für den
Transport in die Frauenklinik zu spät; eine ältere Hebamme, die nur noch dann und
wann zu ihrem Köfferchen griff, musste aus der nahen Hertastraße gerufen werden. Im
Schlafzimmer half sie mir und Mama, voneinander loszukommen.)
Ich erblickte das Licht dieser Welt in Gestalt zweier Sechzig-Watt-Glühbirnen. Noch
heute kommt mir deshalb der Bibeltext: „Es werde Licht und es ward Licht“ – wie der
gelungenste Werbeslogan der Firma Osram vor. Bis auf den obligaten Dammriss verlief
meine Geburt glatt. Mühelos befreite ich mich aus der von Müttern, Embryonen und He-
bammen gleichviel geschätzten Kopflage.
Damit es sogleich gesagt sei: Ich gehörte zu den hellhörigen Säuglingen, deren geistige
Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen ist und sich fortan nur noch bestätigen
muss. So unbeeinflussbar ich als Embryo nur auf mich gehört und mich im Fruchtwasser
spiegelnd geachtet hatte, so kritisch lauschte ich den ersten spontanen Äußerungen der El-
tern unter den Glühbirnen. Mein Ohr war hellwach.43
Sie sehen: Unser Oskar, der Ich-Erzähler in Günter Grass’ Die Blechtrommel,
wusste von allem Anfang an Bescheid! Er braucht sich in seiner geistigen Ent-
wicklung nicht mehr weiterzuentwickeln, sie ist längst vor der Geburt abge-
schlossen. Daher kann er auch sofort die Glühbirnen als solche ausmachen und
erkennen, obwohl er es eigentlich noch eine ganze Zeit hätte bis zu dem, was
man so schön als die Geburt des Blickes‘ bezeichnet. Diese Geburtsszene ist
eine typische Verkörperung des Immer-schon-dagewesen-Seins, die für viele
Geburtsszenen in der Literatur gilt: Die Geburt ist dann nur noch eine physische
Präsenz, eine Anwesenheit, ein Angekommen-Sein.
Und so ist sie für Oskar daher vor allem jener Zeitpunkt, an dem er und
seine Mutter voneinander loskommen und er sich von den unterschiedlichsten
Verbindungen und Nabelschnüren losmachen kann. Als Individuum ist er be-
reits vollendet. Das selbstbestimmte, unteilbare Individuum hat seinen nicht
mehr mit einem anderen Körper zusammenhängenden Körper-Leib gefunden,
mit dem es nunmehr insulär allen anderen Körpern in der Welt gegenübersteht.
Der Roman des Lebens kann beginnen!
Als zweites und letztes Beispiel möchte ich Ihnen einen kurzen Textauszug
aus dem Roman nicht eines männlichen Autors, sondern einer Schriftstellerin
vorstellen, für welche Migration und jegliche Form von Bewegung – auch die
eines translingualen Oszillierens – von zentraler Bedeutung ist. Das Incipit
ihres Romanerstlings ist daher aus der Bewegung heraus in einem fahrenden
Zug situiert, auch wenn die Ich-Erzählerin noch alles aus der Perspektive des
Bauchs ihrer Mutter sieht. Es handelt sich um Emine Sevgi Özdamars Das Leben
ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging
ich raus – einen 1992 erstmals erschienenen Roman, den ich Ihnen ebenso wenig
hier in seinen Zusammenhängen vorstellen will wie Günter Grass‘ Die Blechtrom-
mel. Mich interessiert an dieser Stelle44 lediglich der Romananfang, und dieser
lautet wie folgt:
Erst habe ich die Soldaten gesehen, ich stand da im Bauch meiner Mutter zwischen den
Eisenstangen, ich wollte mich festhalten und fasste an das Eis und rutschte und landete
auf demselben Platz, klopfte an die Wand, keiner hörte.
Die Soldaten zogen ihre Mäntel aus, die bisher von 90.000 toten und noch nicht
toten Soldaten getragen waren. Die Mäntel stanken nach 90.000 toten und noch nicht
toten Soldaten und hingen schon am Haken. Ein Soldat sagte: „Mach für die schwangere
Frau Platz!“
Die Frau, die neben meiner Mutter stand, hatte in einer Nacht weiße Haare gekriegt,
weil sie hörte, dass ihr Bruder tot war. Sie hatte nur einen Bruder und einen Ehemann,
den sie nicht liebte. Diese Frau nannte ich später im Leben ‚Baumwolltante‘ [...].45
44 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Die Fremdheit (in) der Mutterzunge. Emine Sevgi Özdamar, Ga-
briela Mistral, Juana Borrero und die Krise der Sprache in Formen des weiblichen Schreibens
zwischen Spätmoderne und Postmoderne. In: Kacianka, Reinhard / Zima, Peter V. (Hg.): Krise
und Kritik der Sprache. Literatur zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Tübingen – Basel:
A. Francke Verlag 2004, S. 251–268; sowie (ders.): Über die Brücke Unter den Linden. Emine
Sevgi Özdamar, Yoko Tawada und die translinguale Fortschreibung deutschsprachiger Litera-
tur. In: Arndt, Susan / Naguschewski, Dirk / Stockhammer, Robert (Hg.): Exophonie. Anders-
Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2007, S. 165–194.
45 Özdamar, Emine Sevgi: Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich
rein aus der anderen ging ich raus. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1992, S. 9.
1042 Roland Barthes, das Fehlen der Mutter und die Geburt
46 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: La lírica como movimiento condensado: miniaturización y archi-
pelización en la poesía. In: Ette, Ottmar / Prieto, Julio (Hg.): Poéticas del presente. Perspectivas
críticas sobre poesía hispanoamericana contemporánea. Madrid – Frankfurt am Main: Ibero-
americana – Vervuert 2016, S. 33–69.
Die Zitate in der Originalsprache
Die Zitate sind in alphabetischer Reihenfolge nach den Nachnamen der Au-
tor*innen angeordnet. Bei mehreren Zitaten derselben Autorin oder desselben
Autors aus verschiedenen Werken oder Werkausgaben erfolgte die Anordnung
in chronologischer Reihenfolge nach den Publikationsjahren der verwendeten
Ausgaben, wobei mit den älteren Publikationen begonnen wurde. Bei mehre-
ren Zitaten innerhalb einer Textausgabe richtet sich deren Abfolge nach den
Seitenzahlen.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-033
1044 Die Zitate in der Originalsprache
dieron de alta. Casi no podía caminar […]. Ya en la casa, comencé como pude a
sacudir el polvo. De pronto, sobre la mesa de noche tropecé con un sobre que
contenía un veneno para ratas llamado Troquemichel. Aquello me llenó de cor-
aje, pues obviamente alguien había aquel veneno allí para que yo me lo tomara.
Allí mismo decidí que el suicidio que yo en silencio había planificado tenía que
ser aplazado por el momento, no podía darle ese gusto al que me había dejado
en el cuarto aquel sobre.
S. 17: Yo tenía dos años. Estaba desnudo, de pie; me inclinaba sobre el suelo y
pasaba la lengua por la tierra. El primer sabor que recuerdo es el sabor de la
tierra. Comía tierra con mi prima Dulce Ofelia, quien también tenía dos años.
era un niño flaco, pero con una barriga muy grande debido a las lombrices que
me habían crecido en el estómago de comer tanta tierra. La tierra la comíamos
en el rancho de la casa; el rancho era el lugar donde dormían las bestias; es
decir, los caballos, las vacas, los cerdos, las gallinas, las ovejas. El rancho es-
taba a un costado de la casa. Alguien nos regañaba porque comíamos tierra.
¿Quién era esa persona que nos regañaba? ¿Mi madre, mi abuela, una de mis
tías, mi abuelo? Un día sentí un dolor de barriga terrible; No me dio tiempo a ir
al excusado, que quedaba fuera de la casa, y utilicé el orinal que estaba debajo
de la cama donde yo dormía con mi madre. Lo primero que solté fue una lom-
briz enorme; era un animal rojo con muchas patas, como un ciempiés, que
daba saltos dentro del orinal; sin duda, estaba enfurecido por haber sido ex-
pulsado de su elemento de una manera tan violenta. Yo le cogí mucho miedo a
aquella lombriz, que se me aparecía ahora todas las noches y trataba de entrar
en mi barriga mientras yo me abrazaba a mi madre. Mi madre era una mujer
muy bella, muy sola. conoció sólo a un hombre: a mi padre. Disfrutó de su
amor sólo unos meses.
S. 339 f.: ¿Qué era aquel vaso que había estallado? Era el dios que me protegía,
era la diosa que siempre me había acompañado, era la misma luna, que era mi
madre transformada en Luna. ¡Oh Luna! Siempre estuviste a mi lado, alum-
Die Zitate in der Originalsprache 1045
época; aunque parezca mentira. Allí jamás oí lo que he tenido que oír, aquí y
allá, en pago de ser hombre, un hombre como cualquiera.
S. 58: Todo cuanto describa o cuente ha sido visto y observado por mis ojos,
escrito al día en mis fichas. Nada he dejado a la fantasía –esa enemiga de la
política– ni a la imaginación –esa enemiga de la cultura. Todos los hechos aquí
traídos a cuenta no lo son por mi voluntad, sino porque así sucedieron. He re-
chazado todos los relatos que me pudieran parecer sospechosos aunque el in-
formador me mereciera crédito. He procurado seguir el procedimiento más
riguroso posible.
S. 110: Estos últimos tiempos, en los que las matanzas han sido mejor orga-
nizadas, han llegado a extremos inauditos, hijos de la desesperación. Con tal de
ofendernos, queman las carnes, después de haberlas desinfectado con gases, en
cámaras especiales. Supongo que la reclamación acerca de tal desacato, de nues-
tro ministro en Ginebra, surtirá algún efecto. Si no hay holocausto en nuestro
honor, ¿para qué las guerras? ¿para qué tanto cadáver? Y ¡oh colmo de la estupi-
dez!, ni siquiera escogen a los mejor cebados!
S. 168 f.: Pero en el momento en el que uno del grupo no está conforme con el
sentir de la mayoría, lo expulsan acusándole de lo peor; lo ignoran como si
fuese apestado; lo que nada tiene que ver con lo que pregonan: el hombre pri-
mero. Intransigentes y sectarios, roídos por la desconfianza. El que no piensa
como ellos, traidor. […] No admiten, en ningún momento, considerar las cosas
desde otro punto de vista que no sea el suyo, aun dándose el lujo de cambiarlo
frecuentemente. […] Aseguran que el hombre es producto de su medio, pero
Die Zitate in der Originalsprache 1047
cuando no piensa como ellos lo aniquilan, sin pensar que –según su teoría– no
tiene culpa. Lo malo: que los demás son peores, por el dinero. Debe haber
algo más.
Barthes, Roland: Sade, Fourier, Loyola. Paris: Seuil 1971, S. 152 f.: La pra-
tique libidineuse est chez Sade un véritable texte – en sorte qu’il faut parler à
son sujet de pornographie, ce qui veut dire : non pas le discours que l’on tient
sur les conduites amoureuses, mais ce tissu de figures érotiques, découpées et
combinées comme les figures rhétoriques de discours écrit. On trouve donc
dans les scènes d’amour, des configurations de personnages, des suites d’ac-
tions formellement analogues aux « ornements » repérés et nommés par la rhé-
torique classique. Au premier rang, la métaphore, qui substitue indifféremment
un sujet à un autre selon un même paradigme, celui de la vexation. Ensuite,
par exemple : l’asyndète, succession abrupte de débauches (« Je parricidais,
j’incestais, j’assassinais, je prostituais, je sodomisais », dit Saint-Fond en bous-
culant les unités du crime comme César celles de la conquête : veni, vidi, vici) ;
l’anacoluthe, rupture de construction par laquelle le styliste défie la grammaire
(Le nez de Cléopâtre, s’il eût été plus court … ) et le libertin celle des conjonctions
érotiques (« Rien ne m’amuse comme de commencer dans un cul l’opération que
je veux terminer dans un autre »). Et de même qu’un écrivain audacieux peut
créer une figure de style inouïe, de même Rombeau et Rodin dotent le discours
érotique d’une figure nouvelle (sonder tour à tour et rapidement les postérieurs
alignés de quatre filles), à laquelle, en bons grammairiens, ils n’oublient pas de
donner un nom (le moulin à vent).
S. 99: Or, un soir de novembre, peu de temps après la mort de ma mère, je ran-
geai des photos. Je n’espérais pas la « retrouver », je n’attendais rien de « ces
photographies d’un être, devant lesquelles on se le rappelle moins bien qu’en
se contentant de penser à lui » (Proust).
Barthes, Roland: Le Plaisir du texte. hier Bd. 2, S. 1528: S’il était possible
d’imaginer une esthétique du plaisir textuel, il faudrait y inclure: l’écriture à
haute voix. Cette écriture vocale (qui n’est pas du tout la parole), on ne la pra-
tique pas, mais c’est sans doute elle que recommandait Artaud et que demande
Sollers. Parlons-en comme si elle existait. Dans l’Antiquité, la rhétorique com-
prenait une partie oubliée, censurée par les commentateurs classiques: L’actio,
ensemble de recettes propres à permettre l’extériorisation corporelle du dis-
cours: il s’agissait d’un théâtre de l’expression, l’orateur-comédien ‘exprimant’
son indignation, sa compassion, etc. L’écriture à haute voix, elle, n’est pas ex-
pressive; elle laisse l’expression au phéno-texte, au code régulier de la commu-
nication: pour sa part elle appartient au géno-texte, à la signifiance; elle est
portée, non par les inflexions dramatiques, les intonations malignes, les ac-
cents complaisants, mais par le grain de la voix, qui est un mixte érotique de
timbre et de langage, et peut donc être lui-aussi, à l’égal de la diction, la ma-
tière d’un art: l’art de conduire son corps (d’où son importance dans les théâ-
tres extrême-orientaux). En égard aux sons de la langue, l’écriture à haute voix
n’est pas phonologique, mais phonétique: son objectif n’est pas la clarté des
messages, le théâtre des émotions: ce qu’elle cherche (dans une perspective de
jouissance), ce sont les incidents pulsionnels, c’est le langage tapissé de peau, un
texte où l’on puisse entendre le grain du gosier, la patine des consonnes, la vo-
lupté des voyelles, toute une stéréophonie de la chair profonde: l’articulation du
corps, de la langue, non celle du sens, du langage. Un certain art de la mélodie
peut donner une idée de cette écriture vocale; mais comme la mélodie est morte,
c’est peut-être aujourd’hui au cinéma qu’on la trouverait le plus facilement. Il suf-
fit en effet que le cinéma prenne de très près le son de la parole (c’est en somme la
définition généralisée du ‘grain’ de l’écriture) et fasse entendre dans leur matérial-
ité, dans leur sensualité, le souffle, la rocaille, la pulpe des lèvres, toute une pré-
sence du museau humain (que la voix, que l’écriture soient fraîches, souples,
lubrifiées, finement granuleuses et vibrantes comme le museau d’un animal) pour
qu’il réussisse à déporter le signifié très loin et à jeter, pour ainsi dire, le corps an-
onyme de l’acteur dans mon oreille: ça granule, ça grésille, ça caresse, ça râpe, ça
coupe: ça jouit.
S. 245: Je vis sans aucun souci de la postérité, aucun désir d’être lu plus tard
(sauf, financièrement, pour M.), la parfaite acceptation de disparaître complète-
1050 Die Zitate in der Originalsprache
S. 144 f.: Hambre, sed, calor, dolor, frío. Apenas Marcial redujo su percepción a
la de estas realidades esenciales, renunció a la luz que ya le era accesoiria.
Ignoraba su nombre. Retirado el bautismo, con su sal desagradable, no quiso
ya el olfato, ni el oído, ni siquiera la vista. Sus manos rozaban formas placente-
ras. Era un ser totalmente sensible y táctil. El universo le entraba por todos los
poros. Entonces cerró los ojos que sólo divisaban gigantes nebulosos y penetró
en un cuerpo caliente, húmedo, lleno de tinieblas, que moría. El cuerpo, al sen-
1052 Die Zitate in der Originalsprache
tirlo arrebozado con su propia sustancia, resbaló hacia la vida. Pero ahora el
tiempo corrió más pronto, adelgazando sus últimas horas. Los minutos son-
aban a glissando de naipes bajo el pulgar de un jugador.
S. 145: Las aves volvieron al huevo en torbellino de plumas. Los peces cuajaron
la hueva, dejando una nevada de escamas en el fondo del estanque. Las palmas
doblaron las pencas, desapareciendo en la tierra como abanicos cerrados. Los
tallos sorbían sus hojas y el suelo tiraba de todo lo que le perteneciera. El trueno
retumbaba en los corredores. Crecían pelos en la gamuza de los guantes. Las
mantas de lana se destejían, redondeando el vellón de carneros distantes. Los
armarios, los vargueños, las camas, los crucifijos, las mesas, las persianas, salie-
ron volando en la noche, buscando sus antiguas raíces al pie de las selvas. Todo
lo que tuviera clavos se desmoronaba. Un bergantín, anclado no se sabía dónde,
llevó presurosamente a Italia los mármoles del piso y de la fuente. Las panoplias,
los herrajes, las llaves, las cazuelas de cobre, los bocados de las cuadras, se der-
retían, engrosando un río de metal que galerías sin techo canalizaban hacia la
tierra. Todo se metamorfoseaba, regresando a la condición primera. El barro, vol-
vió al barro, dejando un yermo en lugar de la casa.
Cohen, Albert: Jour de mes dix ans. In: La France libre (16 juillet),
S. 193–200 / (15 août 1945), S. 287–294, hier S. 193: Page blanche, ma con-
solation, mon amie intime lorsque je rentre du méchant dehors qui me tue
chaque jour sans qu’ils s’en doutent, je veux te raconter et me raconter une
histoire hélas vraie de mon enfance. Toi, fidèle plume d’or que je veux qu’on
enterre avec moi, dresse ici un fugace mémorial assez drôle. Oui, souvenir
d’enfance. […] Non, il s’agit d’un souvenir d’enfance juive. Il s’agit du jour
où j’eus dix ans. Messeigneurs, oyez et préparez-vous à rire. O rictus fausse-
ment souriants de mes douleurs. O tristesse de cet homme dans la glace que
je regarde.
S. 196 f.: Si j’allais au bord de la mer, j’étais sûr que cette Méditerranée que je
voyais se trouvait aussi dans ma tête, pas l’image de la Méditerranée mais
cette Méditerranée elle-même, minuscule et salée, dans ma tête, en miniature
mais vraie et avec tous ses poissons, mais tout petits, avec toutes ses vagues et
un petit soleil brûlant, une vraie mer avec tous ses rochers et tous ses bateaux
absolument complets dans ma tête, avec charbon et matelots vivants, chaque
bateau avec le même capitaine que le grand bateau du dehors, le même capi-
taine mais très nain et qu’on pourrait toucher si on avait des doigts assez fins et
petits. J’étais sûr que dans ma tête, cirque du monde, il y avait la terre vraie
avec ses forêts, tous les chevaux de la terre mais si petits, tous les rois en chair
Die Zitate in der Originalsprache 1053
et en os, tous les morts, tout le ciel avec ses étoiles et même Dieu extrêmement
petit et mignon. Et tout cela, je le crois encore un peu, mais chut.
Cohen, Albert: Ô vous, frères humains. Paris: Gallimard 1980, S. 56 f.: Puis,
pour passer le temps ou pour me tenir compagnie, je fis des comédies funèbres
avec les doigts de ma main droite, cinq marionnettes. On fait ainsi de petites ab-
surdités pendant un malheur, je l’appris en ce jour de mes dix ans. […] Oui, les
humains ont besoin de s’occuper un peu pendant un malheur. Pendant un mal-
heur solitaire, les humains, pauvres humains, ont d’étranges menues occupati-
ons, ont besoin de répéter des mots saugrenus, ou de ressasser un bout de
poème […], peut-être pour recouvrir le malheur avec des mots ou des gestes,
pour le recouvrir avec un rideau de petites occupations inutiles et ne pas voir le
gouffre du malheur, peut-être pour nier l’existence du malheur, pour la nier avec
des mots ou de gestes simples et normaux, pour la nier avec de l’habituel et du
non catastrophique, peut-être pour faire une magie, pour offrir un petit holo-
causte au malheur et le conjurer, peut-être pour tromper le malheur avec de mots
ou des gestes […].
S. 201: Bien sûr, antisémites, âmes tendres, bien sûr, ce n’est pas une histoire
de camp de concentration que j’ai contée, et je n’ai pas souffert dans mon corps
en ce dixième anniversaire, en ce jour de mes dix ans. Bien sûr, on a fait mieux
depuis. Bien sûr, le camelot n’a fait que donner de la honte à un petit enfant, il
l’a seulement renseigné sur sa qualité d’infâme. Bien sûr, il l’a seulement con-
vaincu du péché d’être né, péché qui mérite le soupçon et la haine.
suis dé Malte mais après mon cousin est mort … – Arrête! cria Scipion. – Pour-
quoi, messié Scipion? – Parce que je veux pas mourir aussi! – C’est la fin qui
est intéressante pour expliquer qué jé suis grec malgré mon passeport serbe
parce qué j’ai ami à Belgrade qui … Scipion s’enfuit.
S. 82 f.: Vedeva Stelio quel busto femmineo della smisurata chimera occhiuta, sul
quale palpitavano mollemente le piume dei ventagli; e sentiva passare sul suo
pensiero un’ebrezza troppo calda, che lo turbava suggerendogli parole dall’aspetto
quasi carneo, quelle vive sostanziali parole con cui egli sapeva toccare le donne
come con dita carezzevoli e incitatrici. La vasta vibrazione da lui prodotta riper-
cotendosi in lui medesimo con una forza moltiplicata, lo scoteva così profonda-
mente ch’egli smarriva il senso dell’equilibrio abituale. Sembravagli d’oscillare su
la folla come un corpo concavo e sonoro in cui le risonanze varie si generassero
per una volontà indistinta e tuttavia infallibile. Nelle pause, egli aspettava con
ansia il manifestarsi impreveduto di quella volontà mentre gli durava l’eco inte-
riore come d’una voce non sua che avesse proferito parole espressive di pensieri
per lui novissimi.
irradiato da una parola immortale. E il sogno d’un arte più alta, levandosi in lui
anche una volta, gli dimostrò gli uomini nuovamente presi di reverenza verso i
poeti come verso coloro i quali potevano soli interrompere per qualche attimo
l’angoscia umana, placare la sete, largire l’oblio.
S. 158 f.: L’opera di Riccardo Wagner – egli ripose – è fondata su lo spirito germa-
nico, è d’essenza puramente settentrionale. La sua riforma ha qualche analogia
con quella tentata da Lutero. Il suo dramma non è se non il fiore supremo del
genio d’una stirpe, non è se non il compendio straordinariamente efficace delle
aspirazioni che affaticarono l’anima dei sinfoneti e dei poeti nazionali, dal Bach
al Beethoven, dal Wieland al Goethe. Se voi immaginaste la sua opera su le rive
del Mediterraneo, tra i nostri chiari olivi, tra i nostri lauri svelti, sotto la gloria del
cielo latino, la vedreste impallidire e dissolversi. Poiché – secondo la sua stessa
parola – all’artefice è dato di veder risplender della perfezione futura un mondo
ancóra informe e di gioirne profeticamente nel desiderio e nella speranza, io an-
nunzio l’avvento d’un arte novella o rinnovellata che per la semplicità forte e sin-
cera delle sue linee, per la sua grazia vigorosa, per l’ardore de’ suoi spiriti, per la
pura potenza delle sue armonie, continui e coroni l’immenso edifizio ideale della
nostra stirpe eletta. Io mi glorio d’essere un latino; e – perdonatemi, o sognante
Lady Myrta, perdonatemi, o delicato Hoditz – riconosco un barbaro in ogni uomo
di sangue diverso. – Ma anch’egli, Riccardo Wagner, sviluppando il filo delle sue
teorie, si parte dai Greci – disse Baldassare Stampa che, reduce da Bayreuth, era
ancor tutto pieno dell’estasi. – Filo ineguale e confuso – rispose il maestro. –
Nulla è più lontano dall’Orestiade quanto la tetralogia dell’Anello.
vita del tuo figliuolo. […] E le piccole calcagna rosee, dinanzi a te, premano le
pagine dov’è rappresentata tutta la miseria del Piacere; e quel premere incons-
apevole sia simbolo e augurio.
S. 106: Sotto il grigio diluvio democratico odierno, che molte belle cose e rare
sommerge miseramente, va anche a poco a poco scomparendo quella special
classe di antica nobiltà italica, in cui era tenuta viva di generazione in genera-
zione una certa tradizione familiare d’eletta cultura, d’eleganza e di arte. A
questa classe, ch’io chiamerei arcadica perché rese appunto il suo più alto
splendore nell’amabile vita del XVIII secolo, appartenevano gli Sperelli. L’urba-
nità, l’atticismo, l’amore delle delicatezze, la predilezione per gli studii insoliti,
la curiosità estetica, la mania archeologica, la galanteria raffinata erano nella
casa degli Sperelli qualità ereditarie.
S. 124 f.: La leggera eccitazione erotica, che prende gli spiriti al termine d’un
pranzo ornato di donne e di fiori, rivelavasi nelle parole, rivelavasi ne’ ricordi
di quella Fiera di maggio ove le dame spinte da una emulazione ardente a rac-
cogliere la maggior possibile somma nel loro ufficio di venditrici, avevano atti-
rato i compratori con inaudite temerità. […] Gli appariva ora, all’improvviso,
quel no so che di eccessivo e quasi direi di cortigianesco onde in qualche mo-
mento offuscavasi la gran maniera della gentildonna. Da certi suoni della voce e
del riso, da certi gesti, da certe attitudini, da certi sguardi ella esalava, forse
involontariamente, un fascino troppo afrodisiaco. Ella dispensava con troppa fa-
cilità il godimento visuale delle sue grazie. Di tratto in tratto, alla vista di tutti,
forse involontariamente, ella aveva una movenza o una posa o una espressione
che nell’alcova avrebbe fatto fremere un amante. Ciascuno, guardandola, poteva
rapirle una scintilla di piacere, poteva involgerla d’immaginazioni impure, poteva
indovinarne le segrete carezze. Ella pareva creata, in verità, soltanto ad esercitare
l’amore; – e l’aria ch’ella respirava era sempre accesa dai desiderii sollevati in-
torno. “Quanti l’han posseduta?” pensò Andrea. “Quanti ricordi ella serba, della
carne e dell’anima?” Il cuore gli si gonfiava come d’un’onda amara, in fondo a cui
pur sempre bolliva quella sua tirannica intolleranza d’ogni possesso imperfetto. E
non sapeva distogliere gli occhi dalle mani d’Elena.
S. 156 f.: – Mi piaci! – ripeteva Elena, vedendo ch’egli la guardava fiso nelle
labbra e forse conoscendo il fascino ch’ella emanava con quella parola. Poi tac-
quero ambedue. L’uno sentiva la presenza dell’altra fluire e mescersi nel suo
sangue, finché questo divenne la vita di lei e il sangue di lei la vita sua. Un si-
lenzio profondo ingrandiva la stanza; il crocifisso di Guido Reni faceva religiosa
l’ombra dei cortinaggi; il rumore dell’Urbe giungeva come il murmure d’un
flutto assai lontano. Allora, con un movimento repentino, Elena si sollevò sul
1058 Die Zitate in der Originalsprache
letto, strinse fra le due palme il capo del giovine, l’attirò, gli alitò sul volto il
suo desiderio, lo baciò, ricadde, gli si offerse. Dopo, una immensa tristezza la
invase; la occupò l’oscura tristezza che è in fondo a tutte le felicità umane,
come alla foce di tutti i fiumi è l’acqua amara. Ella, giacendo, teneva le braccia
fuori della coperta abbandonate lungo i fianchi, le mani supine, quasi morte,
agitate di tratto in tratto da un lieve sussulto; e guardava Andrea, con gli occhi
bene aperti, con uno sguardo continuo, immobile, intollerabile. A una a una, le
lacrime incominciarono a sgorgare; e scendevano per le gote a una a una,
silenziosamente.
S. 302: Egli ancóra udiva la voce di lei, l’indimenticabile voce. Ed Elena Muti gli
entrò ne’pensieri, si avvicinò all’altra, si confuse con l’altra, evocata da quella
voce; e a poco a poco gli volse i pensieri ad immagini di voluttà. Il letto dov’egli
riposava e tutte le cose intorno, testimoni e complici delle ebrezze antiche, a
poco a poco gli andavano suggerendo immagini di voluttà. Curiosamente, nella
sua immaginazione egli cominciò a svestire la senese, ad involgerla del suo desi-
derio, a darle attitudini di abbandono, a vedersela tra le braccia, a goderla. Il
possesso materiale di quella donna così casta e così pura gli parve il più alto, il
più nuovo, il più raro godimento a cui potesse egli giungere; e quella stanza gli
parve il luogo più degno ad accogliere quel godimento, perché avrebbe reso più
acuto il singolar sapore di profanazione e di sacrilegio che il segreto atto, se-
condo lui, doveva avere. La stanza era religiosa, come una cappella.
Darío, Rubén: D.Q. In (ders.): Don Quijote no debe ni puede morir (Páginas
cervantinas). Prólogo de Jorge Eduardo Arellano. Anotaciones de Günther
Schmigalle. Managua: Academia Nicaragüense de la Lengua 2002, S. 21:
Estamos de guarnición cerca de Santiago de Cuba. Había llovido esa noche; no
obstante el calor era excesivo. Aguardábamos la llegada de una compañía de la
nueva fuerza venida de España, para abandonar aquel paraje en que nos moría-
mos de hambre, sin luchar, llenos de desesperación y de ira. La compañía
debía llegar esa misma noche, según el aviso recibido. Como el calor arreciase
y el sueño no quisiese darme reposo, salí a respirar fuera de la carpa. Pasada la
Die Zitate in der Originalsprache 1059
S. 22: Nos traían noticias de la patria. Sabían los estragos de las últimas batallas.
Como nosotros estaban desolados, pero con el deseo quemante de luchar, de agi-
tarse en una furia de venganza, de hacer todo el daño posible al enemigo. Todos
éramos jóvenes y bizarros, menos uno; todos nos buscaban para comunicar con
nosotros o para conversar; menos uno. Nos traían provisiones que fueron reparti-
das. A la hora del rancho, todos nos pusimos a devorar nuestra escasa pitanza,
menos uno. Tendría como cincuenta años, más también podía haber tenido tre-
scientos. Su mirada triste parecía penetrar hasta lo hondo de nuestras almas y
decirnos cosas de siglos. Alguna vez que se le dirigía la palabra, casi no contes-
taba, sonreía melancólicamente; se aislaba, buscaba la soledad; miraba hacia el
fondo del horizonte, por el lado del mar. Era el abanderado. ¿Cómo se llamaba?
No oí su nombre nunca.
ció agotarse toda su fuerza y vitalidad, se incorporó primero sobre sus brazos,
después sobre sus rodillas y se desplomó al momento murmurando: –Primero
degollarme que desnudarme, infame canalla. Sus fuerzas se habían agotado; in-
mediatamente quedó atado en cruz, y empezaron la obra de desnudarlo. Enton-
ces un torrente de sangre brotó borbolloneando de su boca y las narices del
joven, y extendiéndose, empezó a caer a chorros por entrambos lados de la
mesa. Los sayones quedaron inmóviles y los espectadores estupefactos.
S. 317 f.: Por un lado dos muchachos se adiestraban en el manejo del cuchillo
tirándose horrendos tajos y reveses; por otro, cuatro ya adolescentes, ventila-
ban a cuchilladas el derecho a una tripa gorda y un mondongo que habían ro-
bado a un carnicero; y no de ellos distante, porción de perros flacos ya de la
forzosa abstinencia, empleaban el mismo medio para saber quién se llevaría un
hígado envuelto en barro. Simulacro en pequeño era éste del modo bárbaro con
que se ventilaban en nuestro país las cuestiones y los derechos individuales y so-
ciales. En fin: la escena que se representaba en el matadero era para vista, no para
escrita.
S. 319: Y en efecto, el animal, acosado por los gritos y sobre todo por las pica-
nas agudas que le espoleaban la cola, sintiendo flojo el lazo, arremetió bufando
a la puerta, lanzando a entrambos lados una rojiza y fosfórica mirada. Dióle el
tirón el enlazador sentando su caballo, desprendió el lazo de la asta, crujió por
el aire un áspero zumbido y al mismo tiempo se vio rodar desde lo alto de una
horqueta del corral, como si un golpe de hacha lo hubiese dividido a cercén,
una cabeza de niño cuyo tronco permaneció inmóvil sobre su caballo de palo,
lanzando por cada arteria un largo chorro de sangre.
peut parcourir les passions et les pays, traverser les obstacles, mordre aux bon-
heurs les plus lointains. Mais une femme est empêchée continuellement. Inerte
et flexible à la fois, elle a contre elle les mollesses de la chair avec les dépendan-
ces de la loi. Sa volonté, comme le voile de son chapeau retenu par un cordon,
palpite à tous les vents, il y a toujours quelque désir qui entraîne, quelque con-
venance qui retient. Elle accoucha un dimanche, vers six heures, au soleil levant.
«C’est une fille!» dit Charles. Elle tourna la tête et s’évanouit. Presqu’aussitôt,
Mme Homais accourut et l’embrassa, ainsi que la mère Lefrançois du Lion d’or.
Le pharmacien, en homme discret, lui adressa seulement quelques félicitations
provisoires, par la porte entrebâillée. Il voulut voir l’enfant et le trouva bien con-
formé. Pendant sa convalescence, elle s’occupa beaucoup à chercher un nom
pour sa fille. D’abord elle passa en revue tous ceux qui avaient des terminaisons
italiennes, tels que Clara, Luisa, Amanda, Atala; elle aimait assez Galsuinde,
plus encore Yseult ou Léocadie. Charles désirait qu’on appelât l’enfant comme
sa mère; Emma s’y opposait. On parcourut le calendrier d’un bout à l’autre, et l’on
consulta les étrangers. «M. Léon, disait le pharmacien, avec qui j’en causais l’autre
jour, s’étonne que vous ne choisissiez point Madeleine, qui est excessivement à la
mode maintenant.» Mais la mère Bovary se récria bien fort sur ce nom de pècher-
esse. […] Enfin, Emma se souvint qu’au château de la Vaubyessard elle avait en-
tendu la marquise appeler Berthe une jeune femme; dès lors ce nom-là fut choisi,
et, comme le père Rouault ne pouvait venir, on pria M. Homais d’être parrain.
S. 446 f.: La chambre, quand ils entrèrent, était toute pleine d’une solennité
lugubre. Il y avait sur la table à ouvrage, recouverte d’une serviette blanche, cinq
ou six petites boules de coton dans un plat d’argent, près d’un gros crucifix,
entre deux chandelles qui brûlaient. Emma, le menton contre sa poitrine, ouvrait
démesurément les paupières, et ses pauvres mains se traînaient sur les draps,
avec ce geste hideux et doux des agonisants qui semblent vouloir déjà se recou-
vrir du suaire. Pâle comme une statue et les yeux rouges comme des charbons,
Charles, sans pleurer, se tenait en face d’elle au pied du lit, tandis que le prêtre,
appuyé sur un genou, marmottait des paroles basses. Elle tourna sa figure lente-
ment et parut saisie de joie à voir tout à coup l’étole violette, sans doute re-
trouvant au milieu d’un apaisement extraordinaire la volupté perdue de ses
premiers élancements mystiques avec des visions de béatitude éternelle qui
commençaient. Le prêtre se releva pour prendre le crucifix, alors elle allongea le
cou comme quelqu’un qui a soif, et, collant ses lèvres sur le corps de l’Homme-
Dieu, elle y déposa de toute sa force expirante le plus grand baiser d’amour
qu’elle eût jamais donné. Ensuite, il récita le Misereatur et l’Indulgentiam, trempa
son pouce droit dans l’huile et commença les onctions: d’abord sur les yeux, qui
avaient tant convoité toutes les somptuosités terrestres; puis sur les narines,
1062 Die Zitate in der Originalsprache
friandes de brises tièdes et de senteurs amoureuses; puis sur la bouche, qui s’é-
tait ouverte pour le mensonge, qui avait gémi d’orgueil et crié dans la luxure;
puis sur les mains, qui se délectaient aux contacts suaves, et enfin sur la plante
des pieds, si rapides autrefois quand elle courait à l’assouvissance de ses désirs,
et qui maintenant ne marcheraient plus.
S. 447–449: En effet, elle regarda tout autour d’elle, lentement, comme quel-
qu’un qui se réveille d’un songe, puis d’une voix distincte, elle demanda son
miroir, et elle resta perchée dessus quelque temps, jusqu’au moment où de
grosses larmes lui découlèrent des yeux. Alors elle se renversa la tête en pous-
sant un soupir et retomba sur l’oreiller. Sa poitrine aussitôt se mit à haleter ra-
pidement. La langue tout entière lui sortit hors de la bouche; ses yeux, en
roulant, pâlissaient comme deux globes de lampe qui s’éteignent, à la croire
déjà morte, sans l’effrayante accélération de ses côtes, secouées par un souffle
furieux, comme si l’âme eût fait des bonds pour se détacher. Félicité s’agen-
ouilla devant le crucifix, et le pharmacien lui-même fléchit un peu les jarrets,
tandis que M. Canivet regardait vaguement sur la place. Bournisien s’était
remis en prière, la figure inclinée contre le bord de la couche, avec sa longue
soutane noire qui traînait derrière lui dans l’appartement. Charles était de
l’autre côté, à genoux, les bras étendus vers Emma. Il avait pris ses mains et il
les serrait, tressaillant à chaque battement de son cœur, comme au contrecoup
d’une ruine qui tombe. A mesure que le râle devenait plus fort, l’ecclésiastique
précipitait ses oraisons: elles se mêlaient aux sanglots étouffés de Bovary, et
quelquefois tout semblait disparaître dans le sourd murmure des syllabes lati-
nes, qui teintaient comme un glas de cloche. Tout à coup on entendit sur le trot-
toir un bruit de gros sabots, avec le frôlement d’un bâton; et une voix s’éleva,
une voix rauque, qui chantait: Souvent la chaleur d’un beau jour / Fait rêver
fillette à l’amour. Emma se releva comme un cadavre que l’on galvanise, les
cheveux dénoués, la prunelle fixe, béante / Pour amasser diligemment / Les
épis que la faux moissonne, / Ma Nanette va s’inclinant /Vers le sillon qui nous
les donne. « L’Aveugle! » s’écria-t-elle. Et Emma se mit à rire, d’un rire atroce,
frénétique, désespéré, croyant voir la face hideuse du misérable, qui se dressait
dans les ténèbres éternelles comme un épouvantement. / Il souffla bien fort ce
jour-là, / Et le jupon court s’envola. Une convulsion la rabattit sur le matelas.
Tous s’approchèrent. Elle n’existait plus.
S. 481: Quand tout fut vendu, il resta douze francs soixante et quinze centimes
qui servirent à payer le voyage de Mlle Bovary chez sa grand-mère. La bonne
femme mourut dans l’année même; le père Rouault étant paralysé, ce fut une
tante qui s’en chargea. Elle est pauvre et l’envoie, pour gagner sa vie, dans une
filature de coton.
Die Zitate in der Originalsprache 1063
S. 247: Una nación no es como un hombre; necesita varios siglos para desarrol-
larse. Las naciones hispanoamericanas no han pasado de la infancia, en tanto
que los Estados Unidos han comenzado por la edad viril. ¿Por qué? Porque las
unas, al recibir la influencia de sus territorios, han retrocedido y han comenz-
ado la evolución como pueblos jóvenes, paso a paso, tropezando en los escollos
en que tropiezan las sociedades nuevas que carecen de un exacto conocimiento
del camino que deben seguir; y la otra ha continuado viviendo con vida artifi-
cial, importada de Europa, como pudiera vivir en cualquier otro territorio, por
ejemplo, en Australia. […] Así, el defensor de los Estados Unidos a que antes
aludí, y que es grandemente aficionado a la música, estaba a punto de convenir
después conmigo en que la habanera, por sí sola, vale por toda la producción
de los Estados Unidos, sin excluir la de máquinas para coser y aparatos telefón-
1064 Die Zitate in der Originalsprache
icos; y la habanera es una creación del espíritu territorial de la Isla de Cuba que
en nuestra raza engendra esos profundos sentimientos de melancolía infinita,
de placer, que se desata en raudales de amargura y que en la raza a que perte-
necen los súbditos de la Unión no haría la menor mella.
Este carácter que nosotros sabemos infundir en nuestras creaciones políti-
cas y en el que damos el arma de la rebelión, la fuerza con que después somos
combatidos, es una joya de inapreciable valor en la vida de las nacionalidades,
pero es también un obstáculo grave para el ejercicio de nuestra influencia.
García Márquez, Gabriel: El amor en los tiempos del cólera. Barcelona: Pen-
guin Random House Grupo Editorial 2015, S. 68 f.: Subió el tercer travesaño, y
el cuarto enseguida, pues había calculado mal la altura de la rama, y entonces se
aferró a la escalera con la mano izquierda y trató de coger el loro con la derecha.
Digna Pardo, la vieja sirvienta que venía a advertirle que se le estaba haciendo
tarde para el entierro, vió de espaldas al hombre subido en la escalera y no podía
creer que fuera quien era de no haber sido por las rayas verdes de los tirantes
elásticos. –¡Santísimo Sacramento!– gritó–. ¡Se va a matar! El doctor Urbino
agarró el loro por el cuello con un suspiro de triunfo: ça y est. Pero lo soltó de
inmediato, porque la escalera resbaló bajo sus pies y él se quedó un instante sus-
pendido en el aire, y entonces alcanzó a darse cuenta de que se había muerto sin
comunión, sin tiempo para arrepentirse de nada ni despedirse de nadie, a las
cuatro y siete minutos de la tarde del domingo de Pentecostés. Fermina Daza es-
taba en la cocina probando la sopa para la cena, cuando oyó el grito de horror de
Digna Pardo y el alboroto de la servidumbre de la casa y enseguida el del vecin-
dario. Tiró la cuchara de probar y trató de correr como pudo con el peso invenci-
ble de su edad, gritando como una loca sin saber todavía lo que pasaba bajo de
las frondas del mango, y el corazón le saltó en astillas cuando vió a su hombre
Die Zitate in der Originalsprache 1065
S. 296 f.: Se refugió en el hijo recién nacido. Ella lo había sentido salir de su
cuerpo con el alivio de liberarse de algo que no era suyo, y había sufrido el es-
panto de sí misma al comprobar que no sentía el menor afecto por aquel ternero
de vientre que la comadrona le mostró en carne viva, sucio de sebo y de sangre,
y con la tripa umbilical enrollada en el cuello. Pero en la soledad del palacio ap-
rendió a conocerlo, se conocieron, y descubrió con un grande alborozo que los
hijos no se quieren por ser hijos sino por la amistad de la crianza. Terminó por
no soportar nada ni a nadie distinto de él en la casa de su desventura.
S. 366 f.: Florentino Ariza la vio alejarse del brazo del esposo entre la muched-
umbre que abandonaba el cine, y se sorprendió de que estuviera en un sitio
público con una mantilla de pobre y unas chinelas de andar por casa. Pero lo
que más lo conmovió fue que el esposo tuvo que agarrarla por el brazo para
indicarle el buen camino de la salida, y aun así calculó mal la altura y estuvo a
punto de caerse en el escalón de la puerta. Florentino Ariza era muy sensible a
esos tropiezos de la edad. Siendo todavía joven, interrumpía la lectura de ver-
sos en los parques para observar a las parejas de ancianos que se ayudaban a
atravesar la calle, y eran lecciones de vida que le habían servido para vislum-
brar las leyes de su propia vejez. A la edad del doctor Juvenal Urbino aquella
noche en el cine, los hombres florecían en una especie de juventud otoñal,
parecían más dignos con las primeras canas, se volvían ingeniosos y seducto-
res, sobre todo a los ojos de las mujeres jóvenes, mientras que sus esposas mar-
chitas tenían que aferrarse de su brazo para no tropezar hasta con la propia
sombra. Pocos años después, sin embargo, los maridos se desbarrancaban de
pronto en el precipicio de una vejez infame del cuerpo y del alma, y entonces
eran sus esposas restablecidas las que tenían que llevarlos del brazo como cie-
gos de caridad, susurrándoles al oído, para no herir su orgullo de hombres, que
se fijaran bien que eran tres y no dos escalones, que había un charco en mitad
de la calle, que ese bulto tirado de través en la acera era un mendigo muerto, y
ayudándolos a duras penas a atravesar la calle como si fuera el único vado en
el último río de la vida. Florentino Ariza se había visto tantas veces en ese es-
pejo, que no le tuvo nunca tanto miedo a la muerte como a la edad infame en
1066 Die Zitate in der Originalsprache
que tuviera que ser llevado del brazo por una mujer. Sabía que ese día, y sólo
ese, tendría que renunciar a la esperanza de Fermina Daza.
Girondo. Oliverio: Apunte callejero. In (ders.): Veinte poemas para ser leídos
en el tranvía. Calcomanías. Espantapájaros. Buenos Aires: Centro Editor de
América Latina 1981, S. 13 f.: La mañana se pasea en la playa empolvada del
sol. Brazos. Piernas amputadas. Cuerpos que se reintegran. Cabezas flotantes de
caucho. Al tornearles los cuerpos a las bañistas, las olas alargan sus virutas
sobre el aserrín de la playa. ¡Todo es oro y azul! La sombra de los toldos. Los ojos
de las chicas que se inyectan novelas y horizontes. Mi alegría, de zapatos de
goma, que me hace rebotar sobre la arena. Por ochenta centavos, los fotógrafos
venden los cuerpos de las mujeres que se bañan. Hay quioscos que explotan la
dramaticidad de la rompiente. Sirvientas cluecas. Sifones irascibles, con extracto
de mar. Rocas con pechos algosos de marinero y corazones pintados de esgri-
mista. Bandadas de gaviotas, que fingen el vuelo destrozado de un pedazo
blanco de papel. ¡Y ante todo está el mar! ¡El mar! … ritmo de divagaciones. ¡El
mar! con su baba y con su epilepsia. ¡El mar! … hasta gritar … ¡BASTA! como en
el circo. Mar del Plata, octubre, 1920.
S. 16: En la terraza de un café hay una familia gris. Pasan unos senos bizcos
buscando una sonrisa sobre las mesas. El ruido de los automóviles destiñe las
hojas de los árboles. En un quinto piso, alguien se crucifica al abrir de par en
par una ventana. Pienso en dónde guardaré los quioscos, los faroles, los transe-
úntes, que se me entran por las pupilas. Me siento tan lleno que tengo miedo
de estallar … Necesitaría dejar algún lastre sobre la vereda … Al llegar a una
esquina, mi sombra se separa de mí, y de pronto, se arroja entre las ruedas de
un tranvía.
Die Zitate in der Originalsprache 1067
S. 295: Salvo alguno que otro poema («Llegada», «La canción del bongó»), éstos
carecen de preocupación humana trascendental. Embriagado el poeta con el
ritmo recién descubierto, lánzalos al aire como monedas, por el placer de verlos
brillar heridos por el sol. Sólo cuando creciera en altura interior, sólo cuando su
cuerpo chocara ásperamente con la vida, sólo cuando sufriera y llorara, y viera
sufrir y llorar alrededor suyo, podría echarse mar afuera en su bajel, que ahora
se columpiaba al abrigo del viento bajo el cielo azul, ligero e inocente
soltó una carcajada y me dijo: «Pero estás loco, qué tontería; son tuyos y bien
tuyos; y ahora, aguanta lo que va a venir.»
Martí, José: En los Estados Unidos. In (ders.): Obras Completas, Bd. 13,
S. 458: Los del oficio literario, apréndanlo todo, porque no hay goce como el de
leer a Homero en el original, que es como abrir los ojos a la mañana del
mundo, ni lectura que beneficie más que la de Catulo elegante, por lo ordenado
y preciso, o la de Horacio, el maestro del reposo. Pero para vivir, apréndase lo
vivo en las lenguas vivas, donde se contiene hoy lo nuevo y lo viejo, y no en las
muertas, donde sólo lo viejo está, que es menos de lo que se debe aprender, y
lo que menos importa, puesto que fuera de las curiosidades de aquellos tiem-
pos de Lesbias y Falernos, y la certeza de que siempre fue igual a sí propio el
hombre y no vernos hoy menos, ni mucho más que los romanos, ¿qué aprende
de veras, con aprenderse todo Plinio, y todo Ennio? A comparar con imparciali-
dad, a observar por sí, y a decir con orden, vigor y música, es lo que se ha de
aprender; y eso no viene de una literatura sola, o de ella y sus ramajes y renaci-
mientos, sino de ponerse fuera de ellas, y estudiarlas con mente judicial a
todas. Precisión, ¿dónde se aprende mejor que en el inglés? En gracia y limpieza,
lo francés ¿no es lo mejor? Y si se dice lo que se piensa con verdad, y sin churri-
gueras ni florianes, sin cascabeles ni pasamanerías, ¿qué lengua enseña más ni
disciplina mejor que la propia?
Martí, José: Oscar Wilde. In (ders.): Obras Completas, Bd. 15, S. 361: Vivi-
mos, los que hablamos lengua castellana, llenos todos de Horacio y de Virgilio,
y parece que las fronteras de nuestro espíritu son las de nuestro lenguaje. ¿Por
qué nos han de ser fruta casi vedada las literaturas extranjeras, tan sobradas
hoy de ese ambiente natural, fuerza sincera y espíritu actual que falta en la mo-
derna literatura española? […] Conocer diversas literaturas es el medio mejor de
libertarse de la tiranía de algunas de ellas; así como no hay manera de salvarse
del riesgo de obedecer ciegamente a un sistema filosófico, sino nutrirse de
todos […].
Matto de Turner, Clorinda: Aves sin nido. La Habana: Casa de las Américas
1974, S. 7: Si la historia es el espejo donde las generaciones por venir han de con-
templar la imagen de las generaciones que fueron, la novela tiene que ser la foto-
grafía que estereotipe los vicios y las virtudes de un pueblo, con la consiguiente
moraleja correctiva para aquéllos y el homenaje de admiración para éstas. Es tal,
por esto, la importancia de la novela de costumbres, que, en sus hojas contiene
muchas veces el secreto de la reforma de algunos tipos, cuando no su extinción.
S. 181: Lucía que nació y creció en un hogar cristiano, cuando vistió la blanca
túnica de desposada, aceptó para ella el nuevo hogar con los encantos ofreci-
dos por el cariño del esposo y los hijos, dejando para éste los negocios y las
turbulencias de la vida, encariñada con aquella gran sentencia de la escritora
española, que en su niñez leyó más de una vez, sentada junto a las faldas de su
madre: “Olvidad, pobres mujeres, vuestros sueños de emancipación y de libertad.
Esas son teorías de cabezas enfermas, que jamás se podrán practicar, porque la
mujer ha nacido para poetizar la casa.” Lucía estaba llamada al magisterio de la
maternidad, y Margarita era la primera discípula en quien ejercitara la transmi-
sión de las virtudes domésticas.
Neruda, Pablo: Confieso que he vivido. Barcelona: Seix Barral 1974. S. 235:
Pienso que el hombre debe vivir en su patria y creo que el desarraigo de los
seres humanos es una frustración que de alguna manera u otra entorpece la
claridad del alma. Yo no puedo vivir sino en mi propia tierra […]. Me detuve en
el Perú y subí hasta las ruinas de Macchu Picchu. Ascendimos a caballo. Por
entonces no había carretera. Desde lo alto vi las antiguas construcciones de pie-
dra rodeadas por las altísimas cumbres de los Andes verdes. Desde la ciudadela
carcomida y roída por el paso de los siglos se despeñaban torrentes. Masas de
neblina blanca se levantaban desde el río Wilcamayo. Me sentí infinitamente
pequeño en el centro de aquel ombligo de piedra; ombligo de un mundo desha-
bitado, orgulloso y eminente, al que de algún modo yo pertenecía. Sentí que
mis propias manos habían trabajado allí en alguna etapa lejana, cavando sur-
cos, alisando peñascos. Me sentí chileno, peruano, americano. Había encont-
rado en aquellas alturas difíciles, entre aquellas ruinas gloriosas y dispersas,
una profesión de fe para la continuación de mi canto. Allí nació mi poema “Al-
turas de Macchu Picchu”.
S. 12: Al iniciar mi vida en los Estados Unidos residí algún tiempo en Los Ange-
les, ciudad habitada por más de un millón de personas de origen mexicano. A
primera vista sorprende al viajero –además de la pureza del cielo y de la fe-
aldad de las dispersas y ostentosas construcciones– la atmósfera vagamente
mexicana de la ciudad, imposible de apresar con palabras o conceptos. Esta
mexicanidad –gusto por los adornos, descuido y fausto, negligencia, pasión y
reserva– flota en el aire. Y digo que flota porque no se mezcla ni se funde con el
otro mundo, el mundo norteamericano, hecho de precisión y eficacia. Flota,
pero no se opone; se balancea, impulsada por el viento, a veces desgarrada como
una nube, otras erguida como un cohete que asciende. Se arrastra, se pliega, se
expande, se contrae, duerme o sueña, hermosura harapienta. Flota: no acaba de
ser, no acaba de desaparecer.
S. 176 f.: Entre nacer y morir transcurre nuestra vida. Expulsados del claustro ma-
terno, iniciamos un angustioso salto de veras mortal, que no termina sino hasta
que caemos en la muerte. ¿Morir será volver allá, a la vida de antes de la vida? […]
¿Quizá nacer sea morir y morir, nacer? Nada sabemos. Mas aunque nada sabe-
mos, todo nuestro ser aspira a escapar de estos contrarios que nos desgarran.
Pues si todo (conciencia de sí, tiempo, razón, costumbres, hábitos) tiende a hacer
de nosotros los expulsados de la vida, todo también nos empuja a volver, a de-
scender al seno creador de donde fuimos arrancados. Y le pedimos al amor –que,
siendo deseo, es hambre de comunión, hambre de caer y morir tanto como de
renacer– que nos dé un pedazo de vida verdadera, de muerte verdadera. No le
pedimos la felicidad, ni el reposo, sino un instante, sólo un instante, de vida
plena, en la que se fundan los contrarios y vida y muerte, tiempo y eternidad,
pacten.
S. 33 f.: CLITEMNESTRA: Veo Electras por todas partes. Electras que me asaltan
como esos copos de una nieve cruel que nunca he visto. Si veo una silla es Elec-
tra. Si un peine, Electra, un espejo, el sol que se pone, estas losas, aquellas co-
lumnas. (Pausa.) Todo es Electra. He ahí lo terrible. Esa mujer me persigue.
(Vuelve a espiar con la mirada.) Quiere mi muerte. Además, sus horribles sorti-
legios … Después que ella ha mirado cualquier objeto de este palacio, ya no
puedo mirarlo. Lo que me mira, es Electra; lo que miro, es Electra; lo que se si-
ente mirado por mí, se hace Electra. ¡Yo misma acabaré por volverme Electra!
(Pausa.) Pero, no, antes la muerte. Esa mujer viscosa, esa mujer objeto, esa
mujer que es sólo un personaje de tragedia. (Pausa.) ¿Se puede matar a un perso-
naje de tragedia? ¿Se puede envenenar a una sombra? Y ella es todo eso …
(Pausa.) Me tiene desesperada, no puedo disfrutar mi crimen tranquilamente. Me
mira, y con esos bovinos ojos que tiene me dice: «No te cargo de remordimiento,
pero morirás como el muerto que produjiste». (Se toca el cuello.) He ahí el motivo
de esta pieza de plata. Sin embargo, no me cae mal, me hace el cuello más flexible.
Pero Orestes me aseguró que no moriré estrangulada. (Pausa.) ¡Ah, dulce sorpresa,
te muerdo: Orestes, Orestes es el antídoto contra Electra!
Renan, Ernest: Vie de Jésus. Edition établie, présentée et annotée par Jean
Gauthier. Paris: Editions Gallimard 1974, S. 122 ff.: Jésus naquit à Nazareth,
petite ville de Galilée, qui n’eut avant lui aucune célébrité. Toute sa vie il fut
désigné du nom de « Nazaréen », et ce n’est que par un détour assez embar-
rassé qu’on réussit, dans sa légende, à le faire naître à Bethléhem. Nous verrons
plus tard le motif de cette supposition, et comment elle était la conséquence
obligée du rôle messianique prêté à Jésus. On ignore la date précise de sa nais-
sance. Elle eut lieu sous le règne d’Auguste, probablement vers l’an 750 de
Rome, c’est-à-dire quelques années avant l’an 1 de l’ère que tous les peuples
civilisés font dater du jour où il naquit. Le nom de Jésus, qui lui fut donné, est
une altération de Josué. C’était un nom fort commun; mais naturellement on y
chercha plus tard des mystères et une allusion au rôle de Sauveur. Peut-être
Jésus lui-même, comme tous les mystiques, s’exaltait-il à ce propos. Il est ainsi
plus d’une grande vocation dans l’histoire dont un nom donné sans arrière-
pensée à un enfant a été l’occasion. Les natures ardentes ne se résignent jamais
à voir un hasard dans ce qui les concerne.
S. 394: Bien que le motif réel de la mort de Jésus fût tout religieux, ses ennemis
avaient réussi, au prétoire, à la présenter comme coupable de crime d’Etat; ils
n’eussent pas obtenu du sceptique Pilate une condamnation pour cause d’hété-
rodoxie. Conséquents à cette idée, les prêtres furent demander pour Jésus, par
la foule, le supplice de la croix. Ce supplice n’était pas juif d’origine; si la con-
damnation de Jésus eût été purement mosaïque, on lui eût fait subir la lapida-
Die Zitate in der Originalsprache 1075
tion. La croix était un supplice romain, réservé pour les esclaves et pour les cas
où l’on voulait ajouter à la mort l’aggravation de l’ignominie. En l’appliquant à
Jésus, on le traitait comme les voleurs de grand chemin, les brigands, les ban-
dits, ou comme ces ennemis de bas étage auxquels les Romains n’accordaient
pas les honneurs de la mort par le glaive. C’était le chimérique « roi des Juifs »,
non le dogmatiste hétérodoxe, que l’on punissait.
Sade, Marquis de: Justine ou les malheurs de la vertu. Paris: Union Géné-
rale d’Editions 1969, S. 15: [Madame la comtesse de Lorsange] avait reçu néan-
moins la meilleure éducation: fille d’un très gros banquier de Paris, elle avait
été élevée avec une sœur nommée Justine, plus jeune qu’elle de trois ans, dans
une des plus célèbres abbaye de cette capitale, où jusqu’à l’âge de douze et de
quinze ans, aucun conseil, aucun maître, aucun livre, aucun talent n’avaient
été refusés ni à l’une ni à l’autre de ces deux sœurs. A cette époque fatale pour
la vertu de deux jeunes filles, tout leur manqua dans un seul jour: une banque-
route affreuse précipita leur père dans une situation si cruelle qu’il en périt de
chagrin. Sa femme le suivit un mois après au tombeau. Deux parents froids et
éloignés délibérèrent sur ce qu’ils feraient des jeunes orphelines; leur part
d’une succession absorbée par les créances se montait à cent écus pour cha-
cune. Personne ne se souciant de s’en charger, on leur ouvrit la porte du cou-
vent, on leur remit leur dot, les laissant libres de devenir ce qu’elles voudraient.
Mme de Lorsange, qui se nommait pour lors Juliette, et dont le caractère et l’esp-
rit étaient, à fort peu de chose près, aussi formés qu’à trente ans, âge qu’elle att-
eignait lors de l’histoire que nous allons raconter, ne parut sensible qu’au plaisir
d’être libre sans réfléchir un instant aux cruels revers qui brisaient ses chaînes.
Pour Justine, âgée comme nous l’avons dit, de douze ans, elle était d’un caractère
sombre et mélancolique qui lui fit bien mieux sentir toute l’horreur de sa situa-
tion. Douée d’une tendresse, d’une sensibilité surprenante, au lieu de l’art et de
la finesse de sa sœur, elle n’avait qu’une ingénuité, une candeur qui devaient la
faire tomber dans bien des pièges.
Die Zitate in der Originalsprache 1077
S. 307 f.: Le délire s’empare enfin de mon persécuteur, ses cris affreux annon-
cent le complément de son crime; je suis inondée, l’on me détache. –Allons,
mes amis, dit Cardoville aux deux jeunes gens, emparez-vous de cette catin, et
jouissez-en à votre caprice; elle est à vous, nous vous l’abandonnons. Les deux
libertins me saisissent. Pendant que l’un jouit du devant, l’autre s’enfonce dans
le derrière; ils changent et rechangent encore: je suis plus déchirée de leur pro-
digieuse grosseur que je ne l’ai été du brisement des artificieuses barricades de
Saint-Florent; et lui et Cardoville s’amusent de ces jeunes gens pendant qu’ils
s’occupent de moi. Saint-Florent sodomise La Rose qui me traite de la même
manière, et Cardoville en fait autant à Julien qui s’excite chez moi dans un lieu
plus décent. Je suis le centre de ces abominables orgies, j’en suis le point fixe et
le ressort; déjà quatre fois chacun, La Rose et Julien ont rendu leur culte à mes
autels, tandis que Cardoville et Saint-Florent, moins vigoureux ou plus énervés,
se contentent d’un sacrifice à ceux de mes amants. C’est le dernier, il était
temps, j’étais prête à m’évanouir.
S. 312 f.: Mille excuses, madame, dit cette fille infortunée en terminant ici ses
aventures; mille pardons d’avoir souillé votre esprit de tant d’obscénités, d’a-
voir si longtemps, en un mot, abusé de votre patience. J’ai peut-être offensé le
ciel par des récits impurs, j’ai renouvelé mes plaies, j’ai troublé votre repos.
Adieu, madame, adieu; l’astre se lève, mes gardes appellent, laissez-moi courir
à mon sort, je ne le redoute plus, il abrégera mes tourments. Ce dernier instant
de l’homme n’est terrible que pour l’être fortuné dont les jours se sont écoulés
1078 Die Zitate in der Originalsprache
sans nuages; mais la malheureuse créature qui n’a respiré que le venin des cou-
leuvres, dont les pas chancelants n’ont pressé que des ronces, qui n’a vu le
flambeau du jour que comme le voyageur égaré voit en tremblant les sillons de
la foudre; celle à qui ses cruels revers ont enlevé parents, amis, fortune, protec-
tion et secours; celle qui n’a plus dans le monde que des pleurs pour s’abreuver
et des tribulations pour se nourrir; celle-là, dis-je, voit avancer la mort sans la
craindre, elle la souhaite même comme un port assuré où la tranquillité renaî-
tra, pour elle, dans le sein d’un Dieu trop juste pour permettre que l’innocence,
avilie sur la terre, ne trouve pas dans un autre monde le dédommagement de
tant de maux.
Sade, Marquis de: Les cent-vingt journées de Sodome. In: Œuvres complètes
du marquis de Sade. Édition définitive. 16 Bde. Paris: Tête de feuilles 1973,
Bd. 8, Règlements, S. 50 u. 55 f.: On se lèvera tous les jours à dix heures du
matin. A ce moment, les quatre fouteurs qui n’auront pas été de service pen-
dant la nuit viendront rendre visite aux amis et amèneront chacun avec eux
un petit garçon; ils passeront successivement d’une chambre à l’autre. Eux
agiront au gré et aux désirs des amis, mais dans les commencements les petits
garçons qu’ils amèneront ne seront que pour la perspective, car il est décidé
et arrangé que les huit pucelages des cons des jeunes filles ne seront enlevés
que dans le mois de décembre, et ceux de leurs culs ainsi que ceux des culs
des huit jeunes garçons, ne le seront que dans le cours de janvier, et cela afin
de laisser irriter la volupté par l’accroissement d’un désir sans cesse en-
flammé et jamais satisfait, état qui doit nécessairement conduire à une cer-
taine fureur lubrique que les amis travaillent à provoquer comme une des
situations les plus délicieuses de la lubricité. […] Tout sujet qui fera quelque
refus de choses qui lui seront demandées, même en étant dans l’impossibilité,
sera très sévèrement puni: c’était à lui de prévoir et de prendre ses précauti-
ons. Le moindre rire, ou le moindre manque d’attention, ou de respect et de
soumission, dans les parties de débauche, sera une des fautes les plus graves
et les plus cruellement punies. Tout homme pris en flagrant délit avec une
femme sera puni de la perte d’un membre quand il n’aura pas reçu l’autorisa-
tion de jouir de cette femme. Le plus petit acte de religion de la part d’un des
sujets, quel qu’il puisse être, sera puni de mort. Il est expressément enjoint
aux amis de n’employer dans toutes les assemblées que les propos les plus
lascifs, les plus débauchés et les expressions les plus sales, les plus fortes et
les plus blasphématoires. […] Si un sujet quelconque entreprend une évasion
pendant la tenue de l’assemblée, il sera à l’instant puni de mort, quel qu’il
puisse être.
Die Zitate in der Originalsprache 1079
S. 60 f.: C’est maintenant, ami lecteur, qu’il faut disposer ton cœur et ton esprit
au récit le plus impur qui ait jamais été fait depuis que le monde existe, le pa-
reil livre ne se rencontrant ni chez les anciens ni chez les modernes. Imagine-
toi que toute jouissance honnête ou prescrite par cette bête dont tu parles sans
cesse sans la connaître et que tu appelles nature, que ces jouissances, dis-je,
seront expressément exclues de ce recueil et que lorsque tu les rencontreras par
aventure, ce ne sera jamais qu’au temps qu’elles seront accompagnées de quel-
que crime ou colorées de quelque infamie. Sans doute, beaucoup de tous les
écarts que tu vas voir peints te déplairont, on le sait, mais il s’en trouvera quel-
ques-uns qui t’échaufferont au point de te coûter du foutre, et voilà tout ce qu’il
nous faut. Si nous n’avions pas tout dit, tout analysé, comment voudrais-tu que
nous eussions pu deviner ce qui te convient? C’est à toi à le prendre et à laisser
le reste […].
Saint-Simon, Louis de Rouvroy, Duc de: Mémoires. Texte établi par Adol-
phe Chéruel. Paris: Hachette 1856, Bd. 1, S. 1–3.: Je suis né la nuit du 15 au 16
janvier 1675, de Claude, duc de Saint-Simon, pair de France, et de sa seconde
femme Charlotte de L’Aubépine, unique de ce lit. De Diane de Budos, première
femme de mon père, il avoit eu une seule fille et point de garçon. Il l’avoit ma-
riée au duc de Brissac, pair de France, frère unique de la duchesse de Villeroy.
Elle étoit morte en 1684, sans enfants, depuis longtemps séparée d’un mari qui
ne la méritoit pas, et par son testament m’avoit fait son légataire universel. Je
portois le nom de vidame de Chartres, et je fus élevé avec un grand soin et
une grande application. Ma mère, qui avoit beaucoup de vertu et infiniment
d’esprit de suite et de sens, se donna des soins continuels à me former le corps et
l’esprit.[…] Mon père, né en 1606, ne pouvoit vivre assez pour me parer ce mal-
heur, et ma mère me répétoit sans cesse la nécessité pressante où se trouveroit
de valoir quelque chose un jeune homme entrant seul dans le monde, de son
chef, fils d’un favori de Louis XIII, dont tous les amis étoient morts ou hors d’état
de l’aider, et d’une mère qui, dès sa jeunesse, élevée chez la vieille duchesse
d’Angoulême, sa parente, grand-mère maternelle du duc de Guise, et mariée à
un vieillard, n’avoit jamais vu que leurs vieux amis et amies, et n’avoit pu s’en
faire de son âge. […] Mon goût pour l’étude et les sciences ne le seconda pas,
mais celui qui est comme né avec moi pour la lecture et pour l’histoire, et con-
séquemment de faire et de devenir quelque chose par l’émulation et les exemples
que j’y trouvois, suppléa à cette froideur pour les lettres; […] Cette lecture de
l’histoire et surtout des Mémoires particuliers de la nôtre, des derniers temps de-
puis François Ier, que je faisois de moi-même, me firent naître l’envie d’écrire
aussi ceux de ce que je verrois, dans le désir et dans l’espérance d’être de quel-
que chose et de savoir le mieux que je pourrois les affaires de mon temps.
1080 Die Zitate in der Originalsprache
S. 379 f.: N’y ayant plus rien à faire et les troupes allant dans leurs quartiers de
fourrage, je voulus m’en aller à Paris. Le mois d’octobre étoit fort avancé, Mme
de Saint-Simon avoit perdu M. Frémont, père de Mme la maréchale de Lorges,
et elle étoit en même temps heureusement accouchée de ma fille le 8 sep-
tembre. […] Presque en même temps, c’est-à-dire le 29 mai dans la matinée,
Mme de Saint-Simon accoucha fort heureusement, et Dieu nous fit la grâce de
nous donner un fils. Il porta, comme j’avois fait, le nom de vidame de Chartres.
Je ne sais pourquoi on a la fantaisie des noms singuliers; mais ils séduisent en
toutes nations, et ceux même qui en sentent le foible les imitent.
Bd. 8, S. 111 u. 119 f.: Le samedi 15 février le roi fut réveillé à sept heures, qui
étoit une heure plus tôt qu’à l’ordinaire, parce que Mme la duchesse de Bourgo-
gne se trouvoit mal pour accoucher. Il s’habilla diligemment pour se rendre au-
près d’elle. Elle ne le fit pas attendre longtemps. À huit heures trois minutes et
trois secondes elle mit au monde un duc d’Anjou, qui est le roi Louis XV, au-
jourd’hui régnant, ce qui causa une grande joie. […] Une autre mort épouvanta
le monde et le mit en même temps à son aise. M. le Duc, tout occupé de son
procès, dont la plaidoirie devoit commencer le premier lundi de carême, étoit
attaqué d’un mal bizarre qui lui causoit quelquefois des accidents équivoques
d’épilepsie et d’apoplexie qui duroient peu, et qu’il cachoit avec tant de soin
qu’il chassa un de ses gens pour en avoir parlé à d’autres de ses domestiques.
[…] Sur le soir du lundi, il alla à l’hôtel de Bouillon, et de là chez le duc de Cois-
lin, son ami de tout temps, qui étoit déjà assez malade; il n’avoit point de flam-
beaux et un seul laquais derrière son carrosse. Passant sur le pont Royal,
revenant de l’hôtel de Coislin, il se trouva si mal qu’il tira son cordon et fit mon-
ter son laquais auprès de lui, duquel il voulut savoir s’il n’avoit pas la bouche
tournée, et il ne l’avoit pas, et par qui il fit dire à son cocher de l’arrêter au petit
degré de sa garde-robe pour entrer chez lui par-derrière, et n’être point vu de la
grande compagnie qui étoit à l’hôtel de Condé pour souper. En chemin il perdit
la porole et même la connoissance, il balbutia pourtant quelque chose pour la
dernière fois, lorsque son laquais et un frotteur qui se trouva là le tirèrent du
carrosse et le portèrent à la porte de sa garde-robe qui se trouva fermée. Ils y
frappèrent tant et si fort qu’ils furent entendus de tout ce qui étoit à l’hôtel de
Condé, qui accourut. On le jeta au lit. Médecins et prêtres mandés en diligence
firent inutilement leurs fonctions. Il ne donna nul autre signe de vie que d’hor-
ribles grimaces, et mourut de la sorte sur les quatre heures du matin du mardi
gras. Mme la Duchesse, au milieu des parures, des habits de masques et de tout
ce grand monde convié, éperdue de surprise et du spectacle, ne perdit sur rien
la présence d’esprit.
Die Zitate in der Originalsprache 1081
sólo hay quince varones residentes en la ciudad. P.– ¿Cuántos ciudadanos nota-
bles residen en ella? R.– En la ciudad serán seis u ocho. P.– ¿Cuántos abogados
tienen estudio abierto? R.– Ninguno. P.– &Qué jueces letrados hay? R.– Ninguno.
P.– ¿Cuántos hombres visten frac? R.– Ninguno. P.– ¿Cuántos jóvenes riojanos
están estudiando en Córdoba o Buenos Aires? R.– Sólo sé de uno. P.– ¿Cuántas
escuelas hay y cuántos niños asisten? R.– Ninguna. P.– ¿Hay algún establecimi-
ento público de caridad? R.– Ninguno, ni escuela de primeras letras. El único re-
ligioso franciscano que hay en aquel convento tiene algunos niños. P.– ¿Cuántos
templos arruinados hay? R.– Cinco: sólo la Matriz sirve de algo. P.– ¿Se edifican
casas nuevas? R.– Ninguna, ni se reparan las caídas. […]
S. 74: Intentó la fiera un salto impotente: dio vuelta en torno del árbol, midi-
endo su altura con ojos enrojecidos por la sed de sangre, y al fin, bramando de
cólera, se acostó en el suelo, batiendo sin cesar la cola, los ojos fijos en su
presa, la boca entreabierta y reseca. Esta escena horrible duraba ya dos horas
mortales; la postura violenta del gaucho y la fascinación aterrante que ejercía
sobre él la mirada sanguinaria, inmóvil, del tigre, del que por una fuerza in-
vencible de atracción no podía apartar los ojos, habían empezado a debilitar
sus fuerzas, y ya veía próximo el momento en que su cuerpo extenuado iba a
caer en su ancha boca, cuando el rumor lejano del galope de caballos le dio
esperanza de salvación. En efecto, sus amigos habían visto el rastro del tigre y
corrían sin esperanza de salvarlo. El desparramo de la montura les reveló el
lugar de la escena, y volar a él, desenrollar sus lazos, echarlos sobre el tigre,
empacado y ciego de furor, fue la obra de un segundo. La fiera, estirada a dos
lazos, no pudo escapar a las puñaladas repetidas con que en venganza de su
prolongada agonía le traspasó el que iba a ser su víctima. «Entonces supe lo
que era tener miedo» –decía el general don Juan Facundo Quiroga, contando a
un grupo de oficiales este suceso. También a él le llamaron Tigre de los Llanos,
y no le sentaba mal esta denominación, a fe. […] Facundo Quiroga fue hijo de
un sanjuanino de humilde condición, pero que, avecindado en los Llanos de La
Rioja, había adquirido en el pastoreo una regular fortuna.
S. 292: Ese Estado se levantará en despecho suyo, aunque siguen sus retoños
cada año, porque la grandeza del Estado está en la pampa pastora; en las pro-
ducciones tropicales del norte y en el gran sistema de ríos navegables cuya
aorta es el Plata. Por otra parte, los españoles no somos ni navegantes ni indus-
triosos, y la Europa nos proveerá, por largos siglos, de sus artefactos, en cambio
de nuestras materias primas; y ella y nosotros ganaremos en el cambio; la Eu-
ropa nos pondrá el remo en la mano y nos remolcará río arriba, hasta que haya-
mos adquirido el gusto de la navegación.
Die Zitate in der Originalsprache 1083
S. 239 f.: Llega al punto fatal, y dos descargas traspasan la galera por ambos
lados, pero sin herir a nadie; los soldados se echan sobre ella con los sables
desnudos, y en un momento inutilizan los caballos y descuartizan al postillón,
correos y asistente. Quiroga entonces asoma la cabeza, y hace por un momento
vacilar a aquella turba. Pregunta por el comandante de la partida, le manda
acercarse y a la cuestión de Quiroga «¿qué significa esto?», recibe por toda con-
testación un balazo en un ojo que lo deja muerto. Entonces Santos Pérez atra-
viesa repetidas veces con su espada al malaventurado secretario, y manda,
concluida la ejecución, tirar hacia el bosque la galera llena de cadáveres, con
los dos caballos hechos pedazos y el postillón, que con la cabeza abierta se
mantiene aún a caballo. «¿Qué muchacho es éste? – pregunta viendo al niño de
la posta, único que queda vivo –. Este es un sobrino mío – contesta el sargento
de la partida –; yo respondo de él con mi vida.» Santos Pérez se acerca al sar-
gento, le atraviesa el corazón de un balazo, y enseguida, desmontándose, toma
de un brazo al niño, lo tiende en el suelo y lo degüella a pesar de sus gemidos
de niño que se ve amenazado de un peligro.
S. 327: ¡Sombra terrible de Facundo, voy a evocarte para que, sacudiendo el ens-
angrentado polvo que cubre tus cenizas, te levantes a explicarnos la vida secreta
y las convulsiones internas que desgarran las entrañas de un noble pueblo! Tú
posees el secreto: ¡revélanoslo! Diez años aun después de tu trágica muerte, el
hombre de las ciudades y el gaucho de los llanos argentinos, al tomar diversos
senderos en el desierto decían: «¡No!; ¡no ha muerto! ¡Vive aún! ¡El vendrá!»
¡Cierto! Facundo no ha muerto; está vivo en las tradiciones populares, en la polí-
tica y revoluciones argentinas; en Rosas, su heredero, su complemento; su alma
ha pasado a este otro molde más acabado, más perfecto y lo que en él era sólo
instinto, iniciación, tendencia, convirtióse en Rosas en sistema, en efecto y fin.
La naturaleza campestre, colonial y bárbara, cambióse en esta metamorfosis en
arte, en sistema y en política regular capaz de presentarse a la faz del mundo
como el modo de ser un pueblo encarnado en un hombre que ha aspirado a
tomar los aires de un genio que domina los acontecimientos, los hombres y las
cosas. Facundo, provinciano, bárbaro, valiente, audaz, fue reemplazado por
Rosas, hijo de la culta Buenos Aires, sin serlo él […].
farad» a dit mon père … «En France, tu vas survivre.» La petite clef, dorée, elle
ouvrait sûrement un tiroir secret …
atravessara a camada tempestuosa. Ele pairava num outro universo, já não tinha
a companhia dos trovões rascantes, das rajadas de chuva e dos relâmpagos cinti-
lantes. Agora estava só, pairando entre o desvario que assolava lá embaixo os
campos do norte e a calmaria indiferente das estrelas vespertinas. As roupas mol-
hadas faziam-no tiritar. O pouco oxigênio provocava uma estranha euforia, uma
leveza, que tornava enganosa a distância entre ele e as estrelas. E só havia estre-
las, agora. Nada mais era visível e a noite escura apagara completamente a terra.
Alberto viajava no interior da perfeita geometria de uma infinita esfera negra.
Tangido pelo vento, resistindo ao cansaço e à contínua sensação de desmaio pro-
vocada pela falta de oxigênio, ele travessa a noite. Visões espantosas crispam-se
em sua consciência, as estrelas parecem liquefeitas a gotejar raios coruscantes
de extraordinárias cores. A esfera também não é sólida em seu negror, é coleante,
às vezes adeja como um balão que murcha ou estremece como o peito arfante de
uma monstruosa criatura. Alberto adormece em meio a esses prodígios.
S. 249: De vez em quando o Brasil se confunde com uma pessoa. Nos campos da
Suécia um negrinho mineiro se transformou no Brasil. Até mesmo um garçom de
Hanói passou a saber quem é Pelé. E sabendo de Pelé, pensava saber do Brasil.
Antes dele, uma cachopa elétrica encarnou o Brasil. Até mesmo um lavrador do
Alabama sabia quem era Carmem Miranda. E sabendo dela, pensava que sabia
do Brasil. Antes dela, um moreno rapaz de Minas representou o Brasil. Até
mesmo um escriturário de Zanzibar sabia quem era Santos Dumont. E sabendo
de Santos Dumont, pensava que sabia do Brasil. Neste século o Brasil, então, foi
um atleta, uma cantora e um aviador. Três magistrais inventores: dois mineiros e
uma portuguesa. O atleta fez sua fama usando chuteiras. A cantora e o aviador
usavam sapatos de plataforma.
Die Zitate in der Originalsprache 1087
S. 27 f.: Las olas de la historia, con su rumor y su espuma que reverbera al sol,
ruedan sobre un mar continuo, hondo, inmensamente más hondo que la capa
que ondula sobre un mar silencioso y a cuyo último fondo nunca llega el sol.
Todo lo que cuentan a diario los periódicos, la historia toda del «presente mo-
mento histórico», no es sino la superficie del mar, una superficie que se hiela y
cristaliza en los libros y registros, y una vez cristalizada así, una capa dura no
mayor con respecto a la vida intrahistórica que esta pobre corteza en que vivi-
mos con relación al inmenso foco ardiente que lleva dentro. Los periódicos
nada dicen de la vida silenciosa de los millones de hombres sin historia que a
todas horas del día y en todos los países del globo se levantan a una orden del
sol y van a sus campos a proseguir la oscura y silenciosa labor cotidiana y
eterna, esa labor que como la de las madréporas suboceánicas echa las bases
sobre que se alzan los islotes de la historia. Sobre el silencio augusto, decía, se
apoya y vive el sonido; sobre la inmensa humanidad silenciosa se levantan los
que meten bulla en la historia. Esa vida intrahistórica, silenciosa y continua
como el fondo mismo del mar, es la sustancia del progreso, la verdadera tradi-
ción, la tradición eterna, no la tradición mentira que se suele ir a buscar al pa-
sado enterrado en libros y papeles, y monumentos, y piedras.
S. 54: ¡Ancha es Castilla! Y ¡qué hermosa la tristeza reposada de ese mar petrifi-
cado y lleno de cielo! Es un paisaje uniforme y monótono en sus contrastes de
luz y sombra, en sus tintas disociadas y pobres en matices. Las tierras se pre-
sentan como en inmensa plancha de mosaico de pobrísima variedad, sobre que
se extiende el azul intensísimo del cielo. Faltan suaves transiciones, ni hay otra
continuidad harmónica que la de la llanura inmensa y el azul compacto que la
1088 Die Zitate in der Originalsprache
Vargas Llosa, Mario: La fiesta del Chivo. Madrid: Alfaguara 2000, S. 64 f.: La
recibe una luz viva, que irrumpe por la ventana abierta de par en par. La resolana
la ciega unos segundos; después, va delineándose la cama cubierta con una col-
cha gris, la cómoda antigua con su espejo ovalado, las fotografías de las paredes –
¿cómo conseguiría la foto de su graduación en Harvard? – y, por último, en el
viejo sillón de cuero de respaldar y brazos anchos, el anciano embutido en un
pijama azul y pantuflas. Parece perdido en el asiento. Se ha apergaminado y en-
cogido, igual que la casa. La distrae un objeto blanco, a los pies de su padre: una
bacinilla, medio llena de orina. Entonces tenía sus cabellos negros, salvo unas
elegantes canas en las sienes; ahora, los ralos mechones de su calva son amaril-
lentos, sucios. Sus ojos eran grandes, seguros de sí, dueños del mundo (cuando
no estaba cerca el Jefe); pero, esas dos ranuras que la miran fijamente son pe-
queñitas, ratoniles y asustadizas. Tenía dientes y ahora no; le deben haber sa-
cado la dentadura postiza (ella pagó la factura hace algunos años), pues tiene
los labios hundidos y las mejillas froncidas casi hasta tocarse. Se ha sumido, sus
pies apenas rozan el suelo. Para mirarlo ella tenía que alzar la cabeza, estirar el
cuello; ahora, si se pusiera de pie, le llegaría al hombro. –Soy Urania– murmura,
acercándose. Se sienta en la cama, a un metro de su padre. –¿Te acuerdas de que
tienes una hija? En el viejecillo hay una agitación interior, movimientos de las
manitas huesudas, pálidas, de dedos afilados, que descansan sobre sus piernas.
Pero los diminutos ojillos, aunque no se apartan de Urania, se mantienen inex-
presivos. –Yo tampoco te reconozco– murmura Urania. –No sé por qué he ven-
ido, qué hago aquí.–
¿Saben ustedes cuál ha sido la mejor de todas las hembras que me tiré? («Per-
donen, mis amigos, el tosco verbo», se disculpó el diplomático, «cito a Trujillo
textualmente».) (Hizo otra pausa, aspiró el aroma de su copa de brandy. La ca-
beza de cabellos plateados buscó y encontró, en el círculo de caballeros que
escuchaban, la cara lívida y regordeta del ministro. Y terminó:) ¡La mujer de
Froilán! Urania hace una mueca, asqueada, como la noche aquella en que oyó
al embajador Chirinos añadir que don Froilán había heroicamente sonreído,
reído, festejado con los otros, la humorada del Jefe. «Blanco como el papel, sin
desmayarse, sin caer fulminado por un síncope», precisaba el diplomático. –
¿Cómo era posible, papá? Que un hombre como Froilán Arala, culto, preparado,
inteligente, llegara a aceptar eso. ¿Qué les hacía? ¿Qué les daba, para convertir
a don Froilán, a Chirinos, a Manuel Alfonso, a ti, a todos sus brazos derechos e
izquierdos, en trapos sucios? No lo entiendes, Urania. Hay muchas cosas de la
Era que has llegado a entender; algunas, al principio, te parecían inextricables,
pero, a fuerza de leer, escuchar, cotejar y pensar, has llegado a comprender
que tantos millones de personas, machacadas por la propaganda, por la falta
de información, embrutecidas por el adoctrinamiento, el aislamiento, despoja-
das de libre albedrío, de voluntad y hasta de curiosidad por el miedo y la prác-
tica del servilismo y la obsecuencia, llegaran a divinizar a Trujillo. No sólo a
temerlo, sino a quererlo, como llegan a querer los hijos a los padres autorita-
rios, a convencerse de que azotes y castigos son por su bien.
S. 510 f.: A Urania la tenía fascinada ese pecho que subía y bajaba. Procuraba
no mirar su cuerpo, pero, a veces, sus ojos corrían sobre el vientre algo fofo, el
pubis emblanquecido, el pequeño sexo muerto y las piernas lampiñas. Este era
el Generalísimo, el benefactor de la Patria, el Padre de la Patria Nueva, el Re-
staurador de la Independencia Financiera. Este, el Jefe al que papá había ser-
vido treinta años con devoción y lealtad, al que había hecho el más delicado
1090 Die Zitate in der Originalsprache
presente: su hija de catorce años. Pero, las cosas no ocurrieron como el senador
esperaba. De modo que –el corazón de Urania se alegró– no rehabilitaría a
papá; acaso lo metiera a la cárcel, acaso lo hiciera matar. –De repente, alzó el
brazo y me miró con sus ojos rojos, hinchados. Tengo cuarenta y nueve años y,
de nuevo, vuelvo a temblar. He estado temblando treinta y cinco años desde
ese momento. Alarga sus manos y su tía, primas y sobrina lo comprueban:
tiemblan. La miraba con sorpresa y odio, como a una aparición maligna. Rojos,
ígneos, fijos, sus ojos la helaban. No atinaba a moverse. La mirada de Trujillo
la recorrió, bajó hasta sus muslos, saltó a la colcha con manchitas de sangre, y
volvió a fulminarla. Ahogado de asco, le ordenó: –Anda, lávate, ¿ves cómo has
puesto la cama? ¡Vete de aquí! –Un milagro, que me dejara salir –reflexiona
Urania–. Después de haberlo visto desesperado, llorando, quejándose, apia-
dándose de sí mismo. Un milagro de la patrona, tía. Se incorporó, saltó de la
cama, recogió la ropa esparcida por el suelo, y, tropezando contra un gavetero,
se regugió en el baño. […] No se entretuvo en limpiarse; él podría cambiar de
opinión. Correr, salir de la Casa de Caoba, escapar.
S. 28: Nous sommes des Orphée et jamais Eurydice ne remontera, nous le sa-
vons de toute éternité, pourtant nous ne cessons de descendre aux Enfers, oui,
nous y descendons, notre route est un chemin qui s’enfonce sous la terre, notre
parcours, une vaine tentative pour revenir à la lumière, comment faire pour
vivre notre présent quand il y eut leur passé, comment poursuivre après une
rupture dont on dit qu’il ne faut pas qu’elle soit intégrée dans l’histoire, dont
on dit qu’il faut qu’elle reste l’exception terrible et innombrable qui porte pour-
tant un nom – et dont nous n’avons pas d’autre choix que de l’intégrer, nous
qui venons après, si nous voulons vivre?
S. 57: Le 8 décembre 1787 est mort un garçon de douze ans, à Greifswald, qui
voulait sauver son frère de la noyade. Le frère s’appelait Caspar David Friedrich.
Devoir la vie à la mort de quelqu’un, un être cher, un frère plus jeune d’un an,
Die Zitate in der Originalsprache 1091
devoir la vie au sacrifice d’un autre, au droit d’aînesse s’exerçant à mort, imagi-
nez ce que cela peut être, malgré toutes les consolations qu’on se donne, imagi-
nez la vie qu’il faut avoir, ensuite, pour justifier ce sacrifice. Est-ce à ce moment
qu’il a commencé de peindre, était-ce avant, a-t-il tenté ainsi d’exorciser la peur,
le désespoir, cette rupture intérieure a-t-elle déterminé d’autres ruptures, com-
mandé la discontinuité de l’histoire familiale, induit la décision de ne pas être
artisan, comme son père, de ne pas passer son temps dans des ateliers de soie,
des fabriques de bougies, comme ses frères, mais construire sa vie autrement et
devenir artiste, avoir son atelier? Dans chaque rupture existe une continuité et il
est fascinant de penser à la fabrique de bougies – la cire modelée à la main et le
travail acharné – et au rôle de la lumière dans les tableaux de Caspar Friedrich.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-034
1094 Abbildungsverzeichnis
being shown equipment for spinning. (3) Two five-year-old boys carry
loads on their backs, and the girl is being taught to use the spindle.
(4) The six-year-old boys are gleaning prickly pear cactus fruit and
maize at the market-place, whilst the girl has started to spin thread.
Shelfmark: MS. Arch. Selden. A. 1. Quelle: The Bodleian Library,
University of Oxford. Wikimedia Commons: Creative Commons
Attribution 4.0 International. https://commons.wikimedia.org/wiki/
File:Bodl_Arch.Selden.A.1_roll236.2_frame7.jpg 123
Abb. 10 Folio 59r from the Codex Mendoza. Training of Aztec boys and girls
from ages seven to ten. The meal-ration remains constant, at one and
a half tortillas. (1) The seven-year-old boy is being taught to fish with
a net, and the girl is twirling the spindle in the spinning bowl and
pulling out the thread. The scenes from eight to ten all concern
punishments: (2) The eight-year-olds are threatened with maguey
spikes by their respective parents, as a punishment for deceitfulness.
(3) At aged nine, the incorrigible boy is bound and pierced, whilst the
mother pricks the girl’s wrist for negligence and idleness. (4) The ten-
year-olds are about to be beaten with sticks: the boy’s crime is
unspecified, but the failure of the bound girl evidently lies in her poor
spinning. Shelfmark: MS. Arch. Selden. A. 1. Quelle: The Bodleian
Library, University of Oxford. Wikimedia Commons: Creative
Commons Attribution 4.0 International. https://commons.wikimedia.
org/wiki/File:Bodl_Arch.Selden.A.1_roll236.2_frame8.jpg 124
Abb. 11 Folio 61r from the w:en:Codex Mendoza. Fifteen-year-old boys and
girls face their future. (1) (upper half of page) For boys, there are two
alternative routes of further education, depicted in the top half of this
page and in the next four leaves (fols. 62r-5r). The father, seated here
on the left, can present his son to the head priest for higher training
at the temple school (calmecac) for noble boys. Alternatively (below),
he can entrust his son to the master of youths at ‘the young men’s
house’ (telpochcalli), where an essentially military training was
provided for commoners, though there would also be training in ritual
singing and dancing at the ‘house of song’ (cuicali). (2) (lower half of
page) The fifteen-year-old girl undergoes her wedding ceremonies. At
the bottom, a torch-lit procession accompanies the bride to the
groom’s house on the first night; she is carried on the back of the
female matchmaker. Inside, a feast is laid out: a basket of tamales, a
tripod bowl of turkey-meat, and a pitcher and bowl of pulque
(fermented juice of the maguey plant). Four aged wedding guests are
shown talking. The bride and her older groom, their garments tied
together, sit in front of a hearth and a bowl of incense, on the mat on
which they will eventually sleep. Shelfmark: MS. Arch. Selden. A. 1.
Quelle: The Bodleian Library, University of Oxford. Wikimedia
Commons: Creative Commons Attribution 4.0 International. https://
commons.wikimedia.org/wiki/File:Bodl_Arch.Selden.A.1_roll113D_
frame63.jpg 125
Abbildungsverzeichnis 1095
Abb. 12 Folio 71r from the Codex Mendoza (1534). Alternative final scenes of
life’s journey: (1) (top) six execution-victims: (left) a young commoner
and a noble youth, executed for drunkenness; (middle) an upper-class
woman, executed for drunkenness, and a thief, killed by stoning;
(right) an adulterer lying under a blanket with a married woman, both
to be stoned to death. (2) (middle and lower) The counters of ten dots
and three (x20) banners at the upper centre denote seventy years, the
age at which old people, after raising their children and
grandchildren, ‘had permission, in public as well as in private, to
drink wine and become intoxicated’. The old man at the centre,
wearing a green wreath and carrying flowers, has a large speech-
glyph perhaps to denote loud singing; below, his aged wife sits
drinking pulque, with another picture of an old woman to the right.
The couple are each attended by male and female (?grand)children.
Shelfmark: MS. Arch. Selden. A. 1. Quelle: The Bodleian Library,
University of Oxford. Wikimedia Commons: Creative Commons
Attribution 4.0 International license. https://commons.wikimedia.
org/wiki/File:Bodl_Arch.Selden.A.1_roll113D_frame73.jpg 126
Abb. 13 Der kubanische Schriftsteller Alejo Carpentier (1904-1980), August
1979. Quelle: Pajaro de fuego Nr. 18 (August 1979). Wikimedia
Commons: gemeinfrei. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ale
jocarpentier.jpg 154
Abb. 14 Statue of the type of the Artemis of Ephesus (2nd century AD). The
head, hands and feet are a modern restoration by Giuseppe Valadier.
Quelle. Naples National Archaeological Museum – Farnese Collection,
Inv. 6278. Photographin: Marie-Lan Nguyen (2011). Wikimedia
Commons: Creative Commons Attribution 2.5 Generic license. https://
commons.wikimedia.org/wiki/File:Artemis_of_Ephesus_MAN_Napoli_
Inv6278.jpg 160
Abb. 15 Der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez (1927-
2014). Gewinner des Nobelpreises im Jahr 1982, am 7.2.2002.
Photograph: José Lara. Wikimedia Commons: gemeinfrei. https://com
mons.wikimedia.org/wiki/File:Gabriel_Garcia_Marquez.jpg 175
Abb. 16 Friedrich Cramer: Network of molecular events that lead to aging and
death. In (ders.): Chaos and Order. Translated by D.I.Loewus.
Foreword by I. Prigogine. Weinheim – New York: VCH 1993, S. 199,
Abb. 8.5 189
Abb. 17 Friedrich Cramer: Number of survivors per 100000 human births in
the USA since the beginnings of modern medicine. In (ders.): Chaos
and Order. Translated by D.I.Loewus. Foreword by I. Prigogine.
Weinheim – New York: VCH 1993, S. 195, Abb. 8.2 190
Abb. 18 Perrine Viger du Vigneau: Portrait von Louis de Rouvroy, duc de Saint-
Simon (1675-1755), Château de Versailles 1887. Wikimedia Commons:
gemeinfrei. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Louis_de_Rouv
roy_duc_de_Saint-Simon.jpg 196
1096 Abbildungsverzeichnis
wiki/File:Jos%C3%A9_Gil_de_Castro_-_Sim%C3%B3n_Bol%C3%
ADvar_-_Google_Art_Project.jpg 576
Abb. 52 José Martí (1853-1895). Quelle: Wikimedia Commons: gemeinfrei.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jose-Marti.jpg 589
Abb. 53 Carlos Morel (1813-1894): Gauchos bei einer Payada. Rote
Kleidungsstücke weisen sie als Anhänger der „Federales“ aus. Öl auf
Leinwand. Buenos Aires: Museo Nacional de Bellas Artes. Datum
unbekannt. Quelle: Wikimedia Commons: gemeinfrei. https://com
mons.wikimedia.org/wiki/File:Carlos_Morel_-_Payada_en_una_pul
per%C3%ADa.jpg 629
Abb. 54 César Hipólito Bacle, Andrea Bacle: Gaucho enlazando. Aus: Trajes y
costumbres de la Provincia de Buenos Aires, zwischen 1830 and 1835.
Quelle: Wikimedia Commons: gemeinfrei. https://commons.wikime
dia.org/wiki/File:BacleTyC8331-Gaucho.jpg 635
Abb. 55 José Hernández (1834-1886). Biblioteca Virtual Cervantes. Quelle:
Wikimedia Commons: gemeinfrei. https://commons.wikimedia.org/
wiki/File:Jos%C3%A9_Hern%C3%A1ndez.jpg 640
Abb. 56 Rotonda Don Quijote, Aguascalientes, México. Quelle: Wikimedia
Commons: Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0
International license. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ro
tonda_Don_Quijote,_Aguascalientes,_M%C3%A9xico.jpg 671
Abb. 57 Rubén Darío (1867-1916), unbekannte/r Fotograph*in. Quelle:
Wikimedia Commons: gemeinfrei. https://commons.wikimedia.org/
wiki/File:Rub%C3%A9n_Dar%C3%ADo.jpg 690
Abb. 58 Henri-Paul Motte: Leda und der Schwan, Öl auf Leinwand, um 1900.
Quelle: Wikimedia Commons: gemeinfrei. https://commons.wikime
dia.org/wiki/File:Motte_Leda_et_le_cygne.jpg 728
Abb. 59 Ángel Ganivet (1865-1898). Fotograph*in: Manuel Compañy, Madrid,
Ende des 19. Jahrhunderts. Quelle: Wikimedia Commons: gemeinfrei.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1903-12-05,_Blanco_y_
Negro,_%C3%81ngel_Ganivet,_Compa%C3%B1y.jpg 740
Abb. 60 Miguel de Unamuno y Jugo (1864-1936), im Jahr 1921. Fotograph*in:
Agence de presse Meurisse. Quelle: Wikimedia Commons: gemeinfrei.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Miguel_de_Unamuno_Meu
risse_c_1925.JPG 757
Abb. 61 Kastilisches Hochland der Meseta im September 2005. Fotograph*in:
Dietmar Giljohann, Wikipedia Deutschland. Quelle: Wikimedia
Commons: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported
license. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Meseta_Sept2005.
JPG 767
Abb. 62 Die Son-Gruppe „Sexteto Habanero“, 1925. Arhoolie/Folklyric LP
9054. Quelle: Wikimedia Commons: gemeinfrei.https://commons.wiki
media.org/wiki/File:SextHabanero72.jpg 788
Abb. 63 Die Son-Gruppe „Sexteto Habanero“, 1920. In: Ned Sublette: Cuba
and Its Music: From the First Drums to the Mambo. Chicago: Chicago
Review Press 2007, S. 336. Quelle: Wikimedia Commons: gemeinfrei.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:S._Habanero.jpg 788
1100 Abbildungsverzeichnis
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-035
1104 Personenregister
Borrero, Juana 12, 737, 924, 1041 Cohen, Albert 259–301, 305, 378, 403, 527,
Boudinet, Daniel 1027 842, 845, 1052–1054
Bouilhet, Louis 909 Colet, Louise 907
Bourdieu, Pierre 1029 Corneille, Pierre 285, 535, 538
Boussenard, Louis 285 Cortázar, Julio 939
Brecht, Bertolt 993 Cortés, Hernán 563, 572, 575, 893, 894, 895
Breton, André 155, 795, 847, 878, 879 Costa, Joaquín 743
Broch, Hermann 370 Cramer, Friedrich 116–119, 121, 147, 172,
Brovot, Thomas 505 187, 189, 190
Brull, Mariano 789 Cuauthémoc 91
Brutus, Marcus Iunius 584–585 Curtius, Ernst Robert 515, 544, 759
Busch, Ernst 356
Busch, Wilhelm 309, 325 D'Acosta, Aida 1008
Byron, George Gordon 86, 433 D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 671
D’Annunzio, Gabriele 752, 949–999, 1001,
Caballero, Fernánd 925 1005, 1006, 1054, 1056
Cabrera, Lydia 785 Dante 52, 62, 63, 67, 69, 94, 138, 503, 528,
Cáceres, Andrés Avelino 944 532, 755, 774, 919, 950, 972, 973, 1043
Caillois, Roger 855 Darío, Rubén 61, 74, 79, 438, 588, 615, 669,
Cambaceres, Eugenio 729 689–739, 743, 753, 756, 848, 868, 869,
Camus, Albert 885 871, 880, 1058, 1059, 1075
Cánovas del Castillo, Antonio 568 Daston, Lorraine 111
Carpentier, Alejo 153–172, 182, 218, 221, David, Jacques-Louis 379, 381, 386
481, 681, 785, 786, 821, 854, 886, 1015, De Benedictis, Luisa 949
1051 Debussy, Claude 951
Carpentier, Georges Julien 154 De la Cruz, Juana Inés 880
Casanova, Giacomo 233 Delamare, Delphine 909
Cassou, Jean 759 Del Campo, Estanislao 635
Castro, Fidel 79, 80, 157, 175, 408, 498, 500, Del Casal, Julián 732, 737
501, 503, 508–510, 684, 718, 826, 827, Del Monte, Domingo 560
829, 831, 832, 836, 837, 1013, 1043, Derrida, Jacques 236, 249, 781, 792, 964,
1045 1024
Cato, Marcus Porcius 584, 585 Descartes, René 119
Cayrol, Jean 145 Desnos, Robert 155
Celan, Paul 376 Deutsch de la Meurthe, Henry 1002
Cernuda, Luis 878 Díaz, Porfirio 623
Cervantes, Miguel de 310, 401, 669, 679, Diderot, Denis 671, 1025
680, 685, 686, 697, 704, 706, 709, 711, Dreyfus, Alfred 276, 284, 285, 287, 296,
755, 758, 905, 910 300
Cervera, Pascual 695 Du Camp, Maxime 909
Chamisso, Adelbert von 12, 667, 845 Duguesclin, Bertrand 285
Charolais, Charles de Bourbon de 223 Dumas, Alexandre 980
Chateaubriand, François-René de 352, 433, Duse, Eleonora 950, 972–974, 976,
910, 918 978–981, 983, 988
Cienfuegos, Camilo 826
Clarín 711 Echeverría, Esteban 409, 428–451, 460,
Clavijero, Francisco 131 462, 463, 464, 469, 475, 480, 490, 492,
Personenregister 1105
495, 620, 629, 630, 632–634, 637, 638, Giménez Caballero, Ernesto 751
652, 655, 840, 1059 Giorgione 983
Eckermann, Johann Peter 373, 380 Giraudoux, Jean 366
Eco, Umberto 117 Girondo, Oliverio 839–865, 947, 1066
Enzensberger, Hans Magnus 873, 874 Goebbels, Joseph 551
Erté 235, 237 Goethe, Johann Wolfgang von 143, 352,
Estrade, Paul 610, 611, 621 373, 418, 429, 462, 667, 900, 990,
Ezcurra, Encarnación 439, 447, 448 1056
Goetze, Ursula 541
Fallois, Bernard de 294 Goitein-Galperin, Denise R. 270, 271, 283
Fernández de Lizardi, José Joaquín 93, 366, Goldbaum, Wenzel 727
663 Gómez de Avellaneda, Gertrudis 96, 577,
Fernández Retamar, Roberto 80, 712 626, 924, 925, 927, 931, 936
Fillmann, Elisabeth 518, 520, 521, 523, 524, Gómez de la Serna, Ramón 28, 549, 601,
528, 530, 541, 542, 544, 545, 548 844
Finkielkraut, Alain 267–269 Gómez, Máximo 705
Fischer-Dieskau, Dietrich 822 González, Manuel Pedro 683, 692
Flaubert, Gustave 135, 178, 179, 225, 366, Göring, Hermann 551
409, 477, 681, 905–923, 943, 961, 963, Gorriti, Juana Manuela 925
967, 1060 Gounod, Charles 635
Florit, Eugenio 591 Goya, Francisco de 443
Ford, John 660 Gracián, Baltasar 532
Foucault, Michel 42, 85, 327 Gramsci, Antonio 898
Franco, Francisco 750, 760 Grant, Ulysses S. 698, 700
Franzbach, Martin 551, 742, 751, 793, 838 Grass, Günter 1039–1041
Fréjaville, Eva 155 Grenet, Eliseo 793
Friedell, Egon 953 Grenet, Emilio 793, 804
Friedrich II. (Preußen) 403 Groussac, Paul 852
Friedrich, Caspar David 379, 380, 382–396, Guevara, Ernesto Che 684, 686, 826
399, 401–403, 1091 Guillén, Nicolás 50, 107, 155, 156, 773–838,
Friedrich, Hugo 515, 905 840, 841, 846, 859, 868, 877, 1067
Frisch, Max 37–39 Guilloux, Louis 365, 1084
Fuentes, Carlos 669, 853, 879 Guimarães Rosa, João 481, 638
Fuhrmann, Manfred 5, 6 Guirao, Ramón 810
Gutiérrez Nájera, Manuel 726
Gadamer, Hans-Georg 45, 547, 779–781, 805
Galeano, Eduardo 71 Habermas, Jürgen 37–43, 46, 249, 370, 1083
Ganivet, Ángel 740–770, 887, 1063 Haefs, Gisbert 859, 860
Gaos, José 854 Halbwachs, Maurice 345, 346, 351, 356, 358,
García Canclini, Néstor 471, 882, 883 370, 371, 375, 376, 397
García Caturla, Alejandro 785, 793, 804 Hardouin, Maria 950, 971
García Lorca, Federico 48, 155 Harnack, Arvid 519, 541, 545
Gavidia, Francisco 689 Härtling, Peter 524, 525, 528, 551
Gazzetti, Maria 967 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 361, 368
Genette, Gérard 550, 653 Heidegger, Martin 219, 327, 369, 370,
George, Stefan 993 875, 884
Gide, André 19, 365 Hein, Christoph 340
1106 Personenregister
Henríquez Ureña, Pedro 414, 415, 784 Kann, Emma 257, 332, 347, 355, 358
Heraklit 890 Kant, Immanuel 248, 368, 370
Herder, Johann Gottfried 778–779 Karl III. (Spanien) 670
Heredia, José María 88, 103, 557–586, 587 Karl IV. (Spanien) 87
Hernández, José 625–665 Karl V. (HRR) 127, 131
Hernández, Miguel 155, 878 Kennedy, John Fitzgerald 74
Herodot 5 Khoury, Elias 407
Herrera Franyutti, Alfonso 591 Kierkegaard, Sören 40
Herrera y Reissig, Julio 737, 871 Kingsborough, Edward King 127
Hidalgo, Bartolomé 628 Klemperer, Victor 544
Hitler, Adolf 533 Klossowski, Pierre 226, 236, 360
Homer 15–17, 675 Kodama, María 853, 864
Honecker, Erich 50 Köhler, Erich 41, 114, 160, 225, 311, 530,
Horaz 675, 677, 678 876, 957, 1025
Horkheimer, Max 228, 236, 248–251, 522 Köhler, Hartmut 604, 716, 727, 797, 873
Hösle, Johannes 53, 54 Kolumbus, Christoph 747, 785
Hughes, Langston 810 Korodi, Dieter 521
Hugo, Victor 54, 86, 433, 759, 915 Krause, Karl Christian Friedrich 745
Huidobro, Vicente 791, 840, 851, 854, 858, Krauss, Werner 135, 136, 314, 515–553, 673
868–870 Kristeva, Julia 249, 268, 319, 795, 822,
Humboldt, Alexander von 12, 84–86, 90, 1009
93, 94, 96, 97, 101, 102, 115, 131, 132,
144, 178, 493, 563, 667, 768, 776, 785, Laabs, Klaus 505
879 Lacan, Jacques 918
Husserl, Edmund 367, 368, 884 La Fontaine, Jean de 285, 309, 310
Huysmans, Joris-Karl 226, 740, 955, 961, Lam, Wilfredo 156
962, 967, 972 La Rochefoucauld, François de 199
Lavalle, Juan 434
Ibarbourou, Juana de 726, 737, 854 Le Corbusier 859
Ignatius von Loyola 234 Lely, Gilbert 224, 226, 236
Ingold, Felix Philipp 136, 951, 1000, 1002, Leoni, Barbara 955, 967
1006, 1007 Leopardi, Giacomo 769
Ionesco, Eugène 1019 Lerdo de Tejada, Sebastián 593
Irigoyen, Hipólito 864 Lessert, Marguerite 155
Leval, Kurt 356
Jakobson, Roman 831 Levi, Primo 343, 346, 365, 376
Jarry, Alfred 841 Levin Varnhagen, Rahel 924
Jaspers, Karl 333, 370, 1084 Lévi-Strauss, Claude 19
Jauss, Hans Robert 114, 515, 516, 939 Lévi Toledano, Myriam 354
Jeanne d’Arc 285 Lezama Lima, José 73, 79, 156, 500, 569,
Jesús Galván, Manuel de 96, 783, 931, 936 882
Jesus von Nazareth 456, 1074 Limbach, Jutta 361
Jiménez, Juan Ramón 682 Lizárraga, Concha 758
Joly, Maurice 276 Lombroso, Cesare 785
López, Regino 792
Kafka, Franz 296, 366 López Méndez, Luis 86
Personenregister 1107