Kant Und Die Aporetik Moderner Subjektivität
Kant Und Die Aporetik Moderner Subjektivität
Michael Städtler
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vor-
moderne und der Moderne“ aus Mitteln der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder.
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und Bearbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-05-005180-2
„Denkst Du noch an eines unserer ersten Gespräche, in denen Du bei
Gelegenheit einer von mir wiedergegebenen Theorie zur Ermittlung des
Alters der Platonischen Dialoge erklärtest, es komme vielleicht nicht so sehr
darauf an, daß die Theorie den Zweck erfülle, dem sie dienen solle,
wesentlicher sei vielmehr, daß mit ihrer Hilfe ein Ziel erreicht werde, das sie
gar nicht suchte? Heute glaube ich Dich zu verstehen. Ich fühle tief, wie
lächerlich der Ernst war, mit dem ich Philologie betrieb, fühle die ganze
Unangemessenheit der großen Straßen, die uns vorgezeichnet sind und die in
diesen Krieg führten. Der Ort, zu dem sie nicht führen, er genau ist der Ort,
an den wir gelangen müssen.“ (Siegfried Kracauer, Ginster, 85)
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Subjekte und Objekte. Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1. Begriffe und Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2. Elemente eines kritischen Subjektbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
3. Ein rücklaufender Kommentar. Zur Form von Argument und Darstellung 37
I. Teil: Praxis
I. Zur Subjektivität in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
1. Sittlicher Fortschritt unter unsittlichen Bedingungen . . . . . . . . . . . . 51
2. Die politische Möglichkeit sittlichen Fortschritts . . . . . . . . . . . . . . 74
3. Fortschritt in der Sittlichkeit oder Weltgeist als Naturgeschichte? . . . . . 94
II. Rechtssubjekte – Subjekte des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
1. Das Völkerrecht als sittliche Form politischer Geschichte . . . . . . . . . 120
2. Das Staatsrecht: Allgemeinheit der Privatsubjekte . . . . . . . . . . . . . 128
3. Recht an Sachen: Subjekte zwischen Rechtsansprüchen und sittlicher
Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
a. Bedingungen praktischer Subjektivität im Recht . . . . . . . . . . . . 155
b. Subjekte von Verträgen und Subjekte von Eigentum . . . . . . . . . . 170
c. Rechte an Personen: Von Personalisierung, Verdingung und
Verdinglichung der Subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
d. Anschlußüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
4. Exkurs: Über Schulpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
III. Das autonome Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
1. Zur Gesetzmäßigkeit praktischer Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . 211
2. Gesetzmäßigkeit und Gegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
3. Subjekte des Sittengesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
8 I
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599
a. Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599
b. Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600
Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2009 vom Fachbereich 8 der West-
fälischen Wilhelms-Universität in Münster als Habilitationsschrift angenommen. Ent-
standen ist sie an verschiedenen Orten und in verschiedenen Arbeitszusammenhängen.
Damit ist die unverzichtbare Hilfe Vieler verbunden, denen zu danken der wesentli-
che Zweck dieses Vorworts ist. Daß nicht alle namhaft gemacht werden können, die
in den Jahren mich unterstützten, scheint selbstverständlich; der Versuch gleichwohl, der
besonderen Unterstützung möglichst im Besonderen auch gerecht zu werden, liegt im
philosophischen telos dieser Arbeit.
Zuerst schulde ich denjenigen aufrichtigen und herzlichen Dank, die sich der Mühe
unterzogen haben, die Schrift zu begutachten. Das war zunächst Thomas Leinkauf, der
die Hauptlast, auch des Verfahrens, auf sich genommen hat und dem ich es verdanke,
daß diese anstrengende Zeit doch, auf verschiedene Weisen, auch sehr angenehm war.
Für das zweite Gutachten danke ich Ludwig Siep und für die auswärtigen Gutachten
Günther Mensching und Matthias Lutz-Bachmann. Von ihnen allen habe ich wertvol-
le Ratschläge, Hinweise und Korrekturen erhalten, sowie die Möglichkeit, Konzept und
Teile der Arbeit in Colloquien zur Diskussion zu stellen. Den engagierten Teilnehmern
dieser Colloquien danke ich ebenso herzlich. Dem Exzellenzcluster ‚Religion und Po-
litik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne‘ danke ich für die großzügige
Finanzierung des Buches.
Sodann schulde ich einen ganz besonderen Dank meinen Eltern Ingrid und Herbert
Städtler, die mich in vielfältiger Weise gefördert haben und offenbar an den Sinn meines
Unternehmens geglaubt haben, obwohl er nicht immer eben klar zutage lag.
Die ersten Überlegungen zum Thema fallen in die Zeit meiner Tätigkeit am Lehr-
gebiet Rechtsphilosophie der Juristischen Fakultät in Hannover. Manfred Walther und
den Mitgliedern seines Colloquiums verdanke ich, auch über die Jahre, wertvolle Hin-
weise zur Entwicklung des Problems. Zugleich konnte ich die ersten Entwürfe noch mit
meinem, inzwischen verstorbenen, Lehrer Peter Bulthaup diskutieren, dem ich ohnehin,
so läßt sich in der Philosophie ohne Hyperbel formulieren, Unendliches zu verdanken
habe, letztlich den Impuls seines philosophischen Lehrers, sich nicht dumm machen zu
12 V
lassen. Die Mitarbeit bei der Erschließung seines Nachlasses, der nun in Hannover als
Peter-Bulthaup-Archiv vorliegt, hat mir manches Problem erschlossen. Seiner Frau In-
grid danke ich für die Gastfreundschaft während meiner Recherchen an der Deutschen
Bibliothek in Frankfurt am Main. Noch einmal ist an dieser Stelle Günther Mensching zu
erwähnen, der über seine Gutachtertätigkeit hinaus seit 1991 mein Lehrer war. Von ihm
habe ich gelernt, den Anspruch auf begriffliche Tiefe und Präzision im Detail mit dem
Blick auf größere geschichtliche Entwicklungen zu verknüpfen, um die Geschichtlich-
keit des gleichwohl systematischen Gedankens selbst sichtbar zu machen; ein Anspruch
ans Denken, der heute zu verfallen scheint.
Als Lehrbeauftragter am Philosophischen Seminar in Hannover habe ich in einer gan-
zen Reihe von Lehrveranstaltungen vor allem mir selbst die Texte Kants klar machen
können, und den Studenten und Kommilitonen, die das ausgehalten haben, gilt mein
Dank ebenso wie den Teilnehmern an entsprechenden Arbeitsgruppen im Gesellschafts-
wissenschaftlichen Institut Hannover sowie den Studenten der Sv. Kliment Ochridski
Universität in Sofia. Die Möglichkeit, dort über Kant zu arbeiten, verdanke ich Geor-
gi Kapriev. Schließlich danke ich für die Möglichkeit, vor allem als die akademische
Philosophie in Hannover in die Krise geriet, am Forschungsinstitut für Philosophie im
Colloquium von Gerhard Kruip und Christian Thies mitzuwirken. Der Wechsel an den
Exzellenzcluster, den mir Ludwig Siep ermöglichte, brachte dann die Situation mit sich,
in der die Arbeit abgeschlossen werden konnte. Im Cluster habe ich vor allem Iris
Fleßenkämper zu danken, sowohl für die unkomplizierten Arbeitsbedingungen als auch,
und ganz besonders, für freundschaftliche Unterstützung.
Ihr und den Freunden, die teils mit und teils ohne fachlichen Rat zu dieser Arbeit bei-
getragen haben, bin ich besonders verbunden. Sonja Dolinar und Leo Šešerko danke ich
für die großzügige Gastfreundschaft in ihrem Haus in Savudrija, das so abgelegen ist,
daß sich dort selbst in schwersten Zeiten arbeiten ließ. Ohne diese Möglichkeit hätte die
Arbeit nicht geschrieben werden können, denn schwere Zeiten gab es viele. Im stren-
gen Sinn moralische Unterstützung verdanke ich Moshe Zuckermann, Heide Homann,
und meinen hannöverschen Freunden, nur stellvertretend seien Helge Nickelé, Sophie
Kolbow, Alia Estakhr, Andreas Walter, Jan Müller, Holger Günther und Andreas Knahl
genannt sowie Rüdiger Mackenthun, der einen Teil der Arbeit gelesen und kommen-
tiert hat, wie auch Thomas Micklich in Münster. Meinen Münsteraner Kommilitonen,
Kollegen und vor allem meinen Studenten danke ich für tiefe Gespräche und scharfe Ein-
wände. Für Hinweise in rechtswissenschaftlichen wie in philosophischen Fragen danke
ich Thomas Gutmann und Bernhard Jakl. Joachim March verdanke ich die lebendige
Erfahrung, daß Philosophie das Wichtigste in der Welt ist; – aber so wichtig nun auch
wieder nicht.
Maxi Berger ist schließlich diejenige, in der die Fäden im Grunde zusammenlaufen.
Ihr danke ich fachlichen Rat, moralische Unterstützung, Teilnahme in den Zweifeln und
vor allem die große Liebe, durch die teils finstere Zeiten auch glückliche waren.
1
Für die positivistisch-empiristische Bewußtseinskritik vgl. grundlegend Ernst Mach, Die Analyse
der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 1922, 22: „Das Ich ist
unrettbar.“ Weiterhin Bertrand Russell, The Analysis of Mind, London 1922, 9ff. – Für die anderen,
oft als ‚postmodern‘ generalisierten Richtungen vgl. die Zusammenfassung bei Peter V. Zima,
Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen/
Basel 2000. Vgl. auch Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen
über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ‚postmodernen‘ Toterklärung, Frankfurt am
Main 1986; Herta Nagl-Docekal/Helmuth Vetter, Tod des Subjekts?, Wien/München 1987; Klaus
Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten
Subjektivität, München 1997. – Zur neurobiologischen Leugnung von Subjektivität vgl. Christine
Zunke, Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, Berlin 2008: Als „Subjekt
erscheint der Cortex“ (80).
2
Vgl. Volker Gerhardt, Individualität. Das Element der Welt, München 2000, 11.
3
Auf diese Renaissance weisen hin: Thomas Grundmann/Frank Hofmann/Catrin Misselhorn/Vio-
letta L. Waibel/Véronique Zanetti (Hgg.), Anatomie der Subjektivität. Bewußtsein, Selbstbewußt-
sein und Selbstgefühl, Frankfurt am Main 2005, 9.
14 S O. Z E
bar und daher irrtumsresistent sei,4 provoziert den nicht bloß laxen Zwischenruf, daß
es bei manchen doch schon eine Unverschämtheit sei, wenn sie ‚ich‘ nur sagten; die
Schwierigkeiten, die Kant mit dem Begriff der Subjektivität nicht grundlos hatte, sind
in seiner Wiedergeburt als Selbstreferenz nicht bewältigt, sondern ausgeklammert. Von
der philosophischen Scham oder wenigstens Zurückhaltung in Selbstsicherheit, die den
Gestehungskosten von Subjektivität angemessen wäre,5 ist damit dispensiert.
Durchaus aber haben die Angriffe aufs Subjekt ein Ungenügen an dessen Begriff aus-
gedrückt, dem in der Sache etwas entspricht: Die Subjekte stehen mit ihrer Subjektivität
nicht in Übereinstimmung, sondern im Widerspruch. Deshalb scheiterten auch alle Be-
mühungen um die Rettung des Subjekts, wie sie etwa in der Diskussion Dieter Henrichs
und anderer mit Ernst Tugendhat oder mit Jürgen Habermas oder mit Niklas Luhmann
unternommen worden sind.6 Aber die Rettung des Subjekts mußte schon darum schei-
tern, weil es ‚das Subjekt‘ nicht gibt. Zuallererst ist von Subjekten im Plural zu reden,
besser noch von Menschen. Da aber Philosophie ihre Gegenstände durch begriffliche
Abstraktion erst gewinnt, und da Abstrakta immer singulär sind, war die Rede vom ‚Sub-
jekt‘ durchaus konsequent, und in der Beschäftigung mit ihr bleibt es auch notwendig,
sie zu führen. Was aber mit ‚dem Subjekt‘ gemeint sein kann, ist ‚Subjektivität‘ als das-
jenige, wodurch die Einzelnen Subjekte sind und nicht etwas Anderes.
Was nun in der vorliegenden Arbeit überhaupt mit ‚Subjektivität‘ gemeint sei, ist et-
was durchaus Grundsätzliches. Daß zwischen Selbst, Subjekt, Selbstbewußtsein, Person
und Vernunft – anfügen ließen sich zwanglos Subjektivität, Mensch, Individuum und
anderes mehr – zu unterscheiden ist,7 sodann zwischen ‚Ich‘ und ‚ich‘,8 und daß es
zuletzt noch eine Reihe besonderer Formen von Selbstbeziehung gibt,9 ist ausführlich
herausgearbeitet worden; gleichwohl soll das Spektrum hier einmal wieder zusammen-
geführt werden auf die Bestimmung dessen, wodurch Menschen Subjekte sind: ihre
Subjektivität mit den beiden zentralen Momenten theoretischer Selbstbestimmung oder
Selbstbewußtsein und praktischer Selbstbestimmung oder Autonomie. Die notwendige
4
Vgl. grundlegend für eine lange Debatte Sydney S. Shoemaker, Self-Reference and Self-Awareness,
in: Australasian Journal of Philosophy 46/2 (1986), 555ff. Einen Überblick über diese Debatte
bietet Manfred Frank (Hg.), Analytische Theorien des Selbstbewußtseins, Frankfurt am Main 1994.
5
Zum Verhältnis von Philosophie und Scham vgl. Rolf Tiedemann, Kulturindustrielles und der
Begriff Scham. Unordentliche Überlegungen zwischen Geschichts- und Moralphilosophie, in: Eli-
sabeth Lenk/Gesa Lolling (Hgg.), Philologie und Scham und andere Texte von, über und für Rolf
Tiedemann, Wetzlar 2005.
6
Auf Details dieser und anderer Diskussionen ist in den Anmerkungen der Hauptteile näher einzu-
gehen.
7
Vgl. Peter Rohs, Über Sinn und Sinnlosigkeit von Kants Theorie der Subjektivität, in: Neue Hefte
für Philosophie 27/28 (1988), bes. 58ff. und 64. Vgl. auch Dieter Henrich, Denken und Selbstsein.
Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt am Main 2007, 23f.
8
Vgl. Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen,
Frankfurt am Main 1979, 68ff. und grundlegend dazu Peter F. Strawson, Einzelding und logisches
Subjekt, Stuttgart 1972, 111f.
9
Volker Gerhardt baut sein Buch Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999,
an der Abfolge dieser Bedeutungen auf.
B P 15
praktische Vermittlung beider ist der terminus ad quem der vorliegenden Arbeit.10 Dafür
sind allgemeine Bestimmungen im Verhältnis der Menschen zueinander und zur Natur
zu ermitteln, deren Wahrheit zwar begrifflich zu bestimmen, allerdings aus metaphy-
sisch-ungeschichtlichen Voraussetzungen so wenig abzuleiten ist, wie es als ein ‚Bündel
von Eigenschaften‘11 , das durch nichts und niemanden gebunden würde, zu beschreiben
wäre; zudem führt der empiristische Abstieg vom ‚Ich‘ als allgemeinem Begriff zum
‚ich‘ als Zeichen für die Individuen praktisch zurück zum Kernproblem der Aristote-
lischen Ethik, die nur Einzelfälle von Handlungen kennt und daher keine allgemeinen
Bestimmungen moralischer Art zu begründen vermag, sondern auf komparativ allge-
mein ermittelte und vermittelte Regeln verwiesen bleibt.
Mit dem Begriff von Subjektivität steht zugleich der von Objektivität in Frage. Noch
der logisch reduzierte Gebrauch von ‚Objektivität‘ für die Geltung von Urteilsverbin-
dungen setzt aber – wie schon der Kantische als ‚Auffassung von Mannigfaltigem in der
Weise, daß es für mich zum Gegenstand wird‘ – ein basales Moment von Objektivi-
tät voraus, das besagt, daß einer Vorstellung etwas korrespondiert, das nicht vollständig
durch diese Vorstellung selbst hervorgebracht wird: Gegenständliches.12 Wenn der Aus-
druck ‚Objektivität‘ in der vorliegenden Arbeit sowohl die notwendige und allgemeine
Geltung von Urteilen als auch eine dieser Geltung korrespondierende Sachhaltigkeit
von Erfahrung bezeichnet, trägt das gerade der Verschränkung beider Bedeutungen in
diesem basalen Verständnis Rechnung. Ist also von Objekten und von Objektivität die
Rede, so ist weder eine phänomenologische13 noch eine materialistische Erkenntnistheo-
10
Den Zusammenhang von theoretischer und praktischer Selbstbestimmung sowie seine grundlegen-
de Bedeutung erörtert Volker Gerhardt, Selbstbestimmung, a.a.O., Kapitel 3, Nr. 6ff. sowie in:
Selbstbestimmung: Zur Aktualität eines Begriffs, in: fiph-Journal 8 (2006).
11
Vgl. David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Hamburg 1989, 327. Auch Russells
Alternativformulierung ‚series of experience‘ bleibt problematisch, wenn sich nicht benennen läßt,
wodurch in der Mannigfaltigkeit von Erfahrungen solche Serien identifiziert werden können (vgl.
Bertrand Russell, Die Philosophie des logischen Atomismus, München 1979, 273). Dies zu klären,
hält Hans-Peter Falk, Person und Subjekt, in: Neue Hefte für Philosophie 27/28 (1988), 107,
für wissenschaftlich irrelevant. Zuvor hatte Hector-Neri Castañeda, The Self and the I-Guises.
Empirical and Transcendental, in: Konrad Cramer/Hans Friedrich Fulda/Rolf-Peter Horstmann/
Ulrich Pothast (Hgg.), Theorie der Subjektivität, Frankfurt am Main 1987, das ‚I think‘ zum
‚I think here now‘ erweitern wollen; die diachrone Identität mußte dann aber durch eine Art
Transsubstantiationslehre rekonstruiert werden.
12
Vgl. hierzu Kurt Bayertz, Wissenschaft als historischer Prozeß. Die antipositivistische Wende
in der Wissenschaftstheorie, München 1980, 184: „Mit der ‚Konstitution‘ eines wissenschaftli-
chen Gegenstandes schließt die theoretische Aneignung der Realität daher keineswegs ab; diese
Konstitution ist vielmehr Moment eines übergreifenden Prozesses der Theoriebildung, der die Kon-
struktion von theoretischen Modellen ebenso umfaßt, wie die empirische Untersuchung unmittelbar
zugänglicher Untersuchungsobjekte. Die herkömmlichen Konzeptionen der Theoriebildung als suk-
zessive Verallgemeinerung von Beobachtungsdaten (induktiver Empirismus) oder als Konstruktion
freischwebender Kalküle (deduktiver Empirismus) sind unangemessen nicht zuletzt deshalb, weil
sie die Gerichtetheit der Theoriebildung nicht zu erfassen vermögen: die Theoriebildung ist eine
gezielte Tätigkeit zur ideellen Reproduktion eines wissenschaftlichen Gegenstandes.“
13
Vgl. z. B. Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Neuwied 1975. Ob sich
von alltäglichen, sog. lebensweltlichen Erfahrungen ausgehend überhaupt theoretisch etwas über
16 S O. Z E
rie14 intendiert, sondern es wird lediglich angezeigt, daß von etwas die Rede ist und
daß der Maßstab der Beurteilung einer Rede auch in ihrem wie immer beschaffenen
Gegenstand gründet, der zwar erst im logischen Zusammenhang zum Maßstab wird,
aber nicht auf diesen zu reduzieren ist. Unter diesem Aspekt ist der schwierige Begriff
der Erfahrung bei Kant zu betrachten, die als inhaltliches Wahrheitskriterium zum bloß
negativen logischen hinzukommen soll. – Objekte müssen nicht facta bruta sein; um
die Einsicht, daß sie es zumeist nicht sind, sondern daß sie ihre bestimmte Objektivität
dem Verhältnis verdanken, in dem Menschen sich zu ihnen verhalten, ist es gerade zu
tun. Das wirkt wiederum in die Subjektivität zurück, denn diese entfalten die Subjekte,
indem sie sich selbst zum Objekt werden, ohne aber ihren Subjektstatus dabei aufzuge-
ben. Diese sogenannte Reflexionstheorie ist umfassend kritisiert worden, weil sie sich
nicht widerspruchsfrei fassen läßt; aber so widersprüchlich ist es wohl: Selbstbewußt-
sein ist so wenig in eine logisch befriedigende Verfahrensanalyse zu bannen wie die
erkenntnistheoretische metabasis des Überganges vom Besonderen in den Sinnen zum
Allgemeinen im Verstand. Erkannt wird trotzdem. Nicht erst der Fortschritt in den Wis-
senschaften zeugt davon, sondern schon jede alltägliche gedankliche Operation, die den
Bereich unmittelbarer Anschauung verläßt und doch wieder auf Erfahrungsgegenstände
bezogen werden kann. –
Bekannt ist längst, spätestens seit Thomas von Aquins De Veritate, im Keim seit Aris-
toteles’ De Anima oder bereits seit Platons Charmides, daß Subjekte sich selbst nur zum
Erkenntnis sagen läßt, ist zu bezweifeln, weil Erkenntnis sich nicht graduell, sondern eminent von
partikularen Auffassungsweisen unterscheidet.
14
Vgl. z. B. Peter Furth, Das ‚Arbeitskonzept‘ in der materialistischen Erkenntnistheorie, in: Dieter
Henrich (Hg.), Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie, Stuttgart 1983.
Zwar ist ihm darin zuzustimmen, daß „Objektivität weder einer Natur an sich vorbehalten, noch in
Intersubjektivität auflösbar“ (356) sei, aber die grundlegende These, der Mensch „erwirbt […] die
fundamentale Verstandeskategorie der Identität“ (349) an seinem Verhältnis zu den Arbeitsmitteln,
kann nicht die erkenntnistheoretische Funktion des Vernunftbegriffs ‚Identität‘ erklären. Auch hier
ist Erkenntnis fundamental von der Erfahrung zu unterscheiden. Erkenntnis ist, weil sie allgemein
ist, ihrer Form wie ihrem Gehalt nach immateriell; dennoch kann sie objektiv sein. – Allerdings
steht Wissenschaft unter gesellschaftlichen Bedingungen und auch die Gegenstände der Erkenntnis
werden unter solchen Bedingungen gegeben, wie Alfred Schmidt (Hg.), Beiträge zur marxistischen
Erkenntnistheorie, Frankfurt am Main 1971, in seiner Einleitung ausführt. Deshalb ist aber doch
nicht damit zu rechnen, daß eine ‚brauchbare materialistische Erkenntnistheorie‘ möglich sei, denn
Theorie der Erkenntnis ist so immateriell wie Erkenntnis selbst. Zudem ist sie als Theorie systema-
tisch angelegt und dürfte aufgrund der darin gelegenen idealistischen Tendenz mit dem kritischen
Zweck unverträglich sein. – Zwar ist der von Jürgen Habermas vorgetragenen Diskussion der Un-
zulänglichkeit des Erkenntnisbegriffs beim frühen Marx weitgehend zu folgen, auch manchen der
daran entwickelten gattungsgeschichtlichen Aspekte; die kommunikationstheoretische Konsequenz
jedoch, die eine graduelle Überwindung gesellschaftlicher Herrschaft durch methodische Reflexion
sprachlicher Interessenvertretung intendiert, könnte nur aufgehen, wenn Interessen überhaupt un-
abhängig von den Zwängen instrumentalen Handelns gefaßt und diskutiert werden könnten. Wenn
aber Menschen primär gesellschaftliche Zwecke bedienen, die nicht umstandslos ihre eigenen sein
können, dürfte die intendierte Vermittlung von Erkenntnis und Interesse eine eher brisante Mixtur
ergeben. Der ‚herrschaftsfreie Diskurs‘ könnte nur dort erlernt werden, wo keine Herrschaft wä-
re. Vgl. Erkenntnis und Interesse, Frankfurt am Main 1968 sowie Wissenschaft und Technik als
‚Ideologie‘, Frankfurt am Main 1968.
B P 17
Objekt werden können, wenn sie auf Anderes, auf wie auch immer gegebene Objekte,
reflektieren. Ebenso ist die Reflexion auf andere Subjekte vorausgesetzt. Diese Reflexio-
nen auf Anderes gelingen aber von einem subjektlosen Sein oder auch Bewußtsein her
nicht. Im Verhältnis von Subjekt und Objekt sind beider Begriffe allein zu entwickeln:
als Reflexionsbegriffe. Über die reale Genese, das faktische Entstehen der objektiven
Realität, der sachlichen Korrelate dieser Begriffe, kann Philosophie nichts sagen, weil
kein Philosoph diese Korrelate extern, ohne die eigene Subjektivität anzusetzen, analy-
sieren kann. So bleiben die Begriffe vom Subjekt und vom Objekt negative Begriffe, die
philosophisches Denken als Bedingungen des Denkens und des Handelns erschließt. –
Die Negativität dieser Begriffe ist eine durch bestimmte Kritik der Problemdarstellung
in der Tradition zu gewinnende.
Ausdrücklich nicht gemeint ist in der vorliegenden Arbeit aber ein derartiger priva-
tiver Begriff von Subjektivität, der diese als „reservatio mentalis“15 , als Rückzug des
Individuums aus einer vorgängigen Objektivität aufgrund von Enttäuschung versteht:
Erst das partielle Scheitern in der dem handelnden Individuum primär zukommenden
Objektivität veranlasse dieses zum Rückzug auf das, was nur durch es selbst gelte. Schon
der Gedanke eines ‚bloß Subjektiven‘ bemüht implizit den Hegelischen Begriff indivi-
duierter Subjektivität, die nur gegenüber einem wahren Objektiven bestehe. Fällt aber
die Voraussetzung eines solchen, hegelischen, Objektiven – der in sich vernünftigen
Wirklichkeit – weg, so wird die relativ mangelhafte Subjektivität in der Tat zum bloßen
Reservat des Geistes. In der Perspektive der Beurteilung dieser Subjektivität hallt aber
der verdrängte Kern von Subjektivität nach: Dasjenige, das Enttäuschungen hinnehmen
mußte, war ein Subjekt mit dem Bewußtsein des Anspruchs auf Selbstbestimmung. Die-
ser Anspruch ist subjekt- oder bewußtlos gar nicht zu denken. Jenes Bewußtsein kann
sowohl in die Reserve gehen als auch auf seinen Anspruch selbstbewußt rekurrieren.
Das neuzeitliche Subjekt ist zwar dasjenige, dessen Erfahrungen aufgrund seiner be-
schränkten subjektiven Perspektive allesamt zweifelhaft werden, aber gerade durch das
Bewußtsein dieses Zweifels, das Selbstbewußtsein ist, wird das Subjekt – auch praktisch
– zum möglichen Grund von Objektivität. – Gegen die Einschränkung von Subjektivi-
tät auf den pejorativen Alltagsbegriff, vor dem dann die Individualität als Prinzip des
Handelns auftreten soll, wird in der vorliegenden Arbeit an Subjektivität als Prinzip
von Denken und Handeln festgehalten, denn ‚Subjekt‘ drückt die formale Eigenschaft
der Individuen, ihren Akten selbst zugrundezuliegen, aus. ‚Individuum‘ dagegen drückt
allein die Form der Einzelnheit aus. Gehen diese Einzelnen enttäuscht in sich zurück,
bleibt ihnen nur wieder Einzelnheit. Subjekten aber kann Enttäuschung zum Indiz der
Unangemessenheit der objektiven Bedingungen der Entfaltung ihrer Subjektivität faßbar
werden, als Behinderung von Subjektivität in der Welt, in der sie leben, und die allzuoft
eine solche ist, in der zu leben sie gezwungen sind. Daß die elende Situation so vieler
Menschen unveränderliche anthropologische Gründe habe, läßt die vorliegende Arbeit
wenigstens solange nicht gelten, wie veränderliche Gründe des Elends benannt werden
können.
15
Volker Gerhardt, Selbstbestimmung, a.a.O., 273ff., Zitat 273; 278. Vgl. auch: Ders., Individualität,
a.a.O., 139ff.
18 S O. Z E
Gerade die philosophische Reflexion von Subjektivität war es, wodurch die Philoso-
phie von Descartes bis zu den klassischen Systemen Kants und des deutschen Idealismus
an ihre Grenze geführt wurde. Während diese Systeme die allgemeine und darum sin-
guläre Form von Subjektivität – das Prinzip der neuzeitlichen Welt – in ihrem eigenen
Medium voll zur Darstellung brachten, wurden die realen Subjekte der geschichtlichen
Einträge in die Bestimmtheit ihrer Subjektivität gewahr, und umgekehrt: Während Phi-
losophie versucht, Subjektivität als solche und als Prinzip zu entwickeln, machen die
Subjekte Revolution um der politischen Durchsetzung subjektiver Prinzipien willen.16
Allerdings ist Subjektivität und mit ihr die Neuzeit weder vom Himmel gefallen,
noch – mit dem modischen Wort – emergiert. Vielmehr ist ihre Entwicklung auch ei-
ne Antwort auf innere Kontroversen der mittelalterlichen Philosophie und Theologie in
deren Auseinandersetzung auch mit politischen und sozialen Veränderungen: „In der
Auseinandersetzung um das Problem der Universalien vollzog sich ein epochaler Schritt
in der Selbstreflexion des Bewußtseins, der alle Sphären des Geistes neu prägte und
die gesamte europäische Zivilisation auf den Weg zur Moderne brachte. Denn es hing
nicht allein der Status logischer und metaphysischer Begriffe von der Lösung des Uni-
versalienproblems ab, sondern es wurde auch die Stellung des einzelnen Menschen zu
dem gesellschaftlichen System, in dem er lebt, in neuer Weise bewußt […]. Die Men-
schen beginnen sich als Subjekte zu begreifen, die planmäßig Bedingungen ihres Lebens
verändern und sogar neu hervorbringen können, die vorher als Bestandteile der ewi-
gen göttlichen Ordnung galten. Die Freiheit des Einzelnen beginnt, eine ideelle und
auch eine materielle Gestalt anzunehmen.“17 Ebenso hatte das mittelalterliche Denken
an antike Überlegungen angeknüpft, die unter veränderten Bedingungen neu zu reflek-
tieren und zu legitimieren waren.18 Wie nun Geistesgeschichte überhaupt durch diese
Wechselwirkung eines immanenten, problembestimmten Zuges mit äußerlichen Bedin-
16
Selbstverständlich sind für die bürgerlichen Revolutionen eine ganze Reihe verschiedener, ganz
pragmatischer, Motive bestimmend gewesen; aber auch in deren Ausführung wirken subjektive
Prinzipien. Zwar sollen die Revolutionen keine Verwirklichung von Philosophie sein, aber die
Handelnden verstehen sich doch als Gestalter einer veränderbaren Ordnung.
17
Günther Mensching, Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens
im Mittelalter, Stuttgart 1992, 9f. Vgl. auch dens., Der Primat des Willens über den Intellekt: Zur
Genese des modernen Subjekts im späten Mittelalter, in: Reto L. Fetz/Roland Hagenbüchle/Peter
Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 1, Berlin 1998.
18
Deshalb beginnt Menschings Darstellung des mittelalterlichen Denkens, obgleich auf die Moderne
hin angelegt, mit Plotin. Vgl. Das Allgemeine und das Besondere, a.a.O., 18ff. – Vgl. außer-
dem Klaus Oehler, Subjektivität und Selbstbewußtsein in der Antike, in: Reto L. Fetz/Roland
Hagenbüchle/Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd.
1, a.a.O., sowie, mit Schwerpunkt auf der ästhetischen Reflexion von Subjektivität, Arbogast
Schmidt, Freiheit und Subjektivität in der griechischen Tragödie?, in: Reto L. Fetz/Roland Ha-
genbüchle/Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, a.a.O.
Zum Beitrag der römischen Antike schließlich: Okko Behrends, Der römische Weg zur Subjektivi-
tät: Vom Siedlungsgenossen zu Person und Persönlichkeit, in: Reto L. Fetz/Roland Hagenbüchle/
Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 1, a.a.O. – Zur
neuzeitlichen Entwicklung vgl. Günther Mensching, Die Enzyklopädie und das Subjekt der Ge-
schichte, in: Jean Le Rond d’Alembert, Einleitung zur ‚Enzyklopädie‘, Frankfurt am Main 1989. –
Zum ganzen Zusammenhang vgl. die umfassende Einleitung in: Reto L. Fetz/Roland Hagenbüch-
B P 19
gungen bewegt wird, so auch im Besonderen die Prozesse, in denen Subjekte sich ihrer
Subjektivität vergewissern, die leitmotivisch jene Geschichte durchziehen und in der
spätmittelalterlichen Situation objektiver und subjektiver Individualisierung deutlich an
Dominanz gewinnen. Der Begriff des göttlichen Geistes – durch den dissonanten volun-
taristischen Kontrapunkt zum Intellekt quasi individualisiert – war schon so sehr als
Reflexionsbegriff des menschlichen verstanden worden, daß der Streit über den Primat
von Erkennen oder Wollen auch als Ausdruck des Ringens menschlicher Subjektivität
um ihre personale Verselbständigung und um die bürgerliche Freisetzung der Subjekte
zu verstehen war. – Dies ausdrücklich zu bemerken ist wichtig, weil umgekehrt im Sub-
jektivitätsbegriff stets noch unvermerkte theologische Elemente anwesend sind. Trotz
aller Kritik an der Theologie vollzog sich die Wende zur Neuzeit auf der Grundlage der
theologischen Begrifflichkeit, die zu einem guten Teil gewissermaßen mit-säkularisiert
wurde. Der immer widerkehrende Rückzug auf numinose Quellen von Selbstbewußtsein,
die gegenwärtig zu beobachtende Renaissance von Metaphysik überhaupt, sind – bewußt
oder unbewußt – Reanimationen der theologischen Bestände im Subjektivitätsbegriff. So
wichtig die geschichtliche Reflexion für ein adäquates philosophisches Selbstbewußt-
sein ist, weil nicht bloß begriffliche, sondern auch sachliche Gründe der Moderne in der
Geschichte liegen, so ist doch die affirmative Neuauflage von geschichtlichen Gehalten
zugleich Aufhebung von Selbstbewußtsein, weil sie das Bewußtsein des Zeitunterschieds
tilgt, durch das geschichtliche Reflexion für das moderne Selbstbewußtsein überhaupt
nur konstitutiv sein kann.
Im philosophisch-geschichtlichen Klima der Neuzeit entstand das Bewußtsein eines
unverlierbaren subjektiven Kerns, in dem moderne Erkenntnisideale ebenso gründen wie
Freiheitsansprüche; beide konvergieren im Fortschrittsdenken. Ebenso liegt aber in der
geschichtlich-kollektiven Seite von Subjektivität der Grund der Unangemessenheit der
Realität an diese Ansprüche und Ideale. Die Menschen finden ihre Freiheit einerseits rea-
lisiert unter gesellschaftlichen Bedingungen, die andererseits zugleich die Realisierung
von Freiheit hindern. Aus Freiheit legen Menschen anderen Menschen Zwänge auf, für
den Fortschritt müssen viele zurückstecken, und – wie die neueren ökonomischen Ent-
wicklungen von Massenentlassungen oder von Kürzungen im sozialen Bereich zeigen –
desto mehr, je weiter der Fortschritt schon gedieh. Mehr noch: Die Geschichte der politi-
schen Emanzipation endete – radikal abgekürzt – in der zweifachen Demonstration einer
Gleichheit sowohl, als auch Gleichgültigkeit der Individuen, die bis heute unvorstellbar
bleibt: in den ‚letzten Tagen der Menschheit‘, wie Karl Kraus bereits den Ersten Welt-
krieg nannte, und in den Konzentrationslagern. Damit ist Marx’ zugleich vernichtende
und progressive Rede von der ‚Vorgeschichte der Menschheit‘ kraftlos geworden; was
nach den ‚letzten Tagen der Menschheit‘, die jener Rede zufolge noch gar nicht wirklich
war, kam, war von der Vorgeschichte kaum zu unterscheiden: Angesichts der atomaren
Bedrohung schien die Entwicklung endgültig in das von Beckett visierte zeitlose Fin de
Partie überzugehen.
Robert Menasse hat versucht, dies durch die Umkehrung der Phänomenologie des
Geistes – des forcierten philosophischen Symbols für Fortschrittsdenken – zu einer Phä-
le/Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, a.a.O.: Roland
Hagenbüchle, Subjektivität: Eine historisch-systematische Hinführung.
20 S O. Z E
19
Vgl. Robert Menasse, Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wis-
sens, Frankfurt am Main 1995.
20
Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O. 44.
21
Vgl. z. B. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am
Main 1987, 593ff. – Die o.g. Einordnung Luhmanns folgt Peter V. Zima, Theorie des Subjekts,
a.a.O., der gerade das Verhältnis der Theorie zur Subjektivität zum Kriterium moderner und post-
moderner Positionen macht.
B P 21
beide ihr proton pseudos. Habermas hatte schon 1971 vertreten, daß die gesellschaftli-
chen Verhältnisse der Menschen aus ihren kommunikativen Beziehungen zu entwickeln
seien.22 In Abwandlung einer Polemik von Marx ließe sich sagen, daß die Menschen
zuerst einmal leben müssen, bevor sie kommunizieren,23 und daß die gesellschaftlichen
Bedingungen, unter denen sie ihr Leben reproduzieren, deshalb formal und materiell
grundlegend für alle weiteren gesellschaftlichen Beziehungen seien. Die kommunikati-
onstheoretische Reduktion – Rückführung wie Verengung – auf die sprachlichen Formen
des gesellschaftlichen Lebens zerredet wortwörtlich die in jenen Bedingungen manifes-
te Gewalt geschichtlicher Herrschaftsverhältnisse. Zwar prozedieren diese Verhältnisse
durchaus und stets in sprachlichen Formen, aber sie subsistieren nicht in ihnen.
Die Substitution von Wahrheit, Objektivität überhaupt,24 die sich aus Subjektivität
noch kritisch begründen ließe, durch intersubjektive Verfahren trifft in Wissenschaft und
Technik ohnehin nichts, denn deren Urteile haben eindeutige Indikatoren in ihren Gegen-
ständen; in Politik und Gesellschaft trifft sie die Oberfläche menschlicher Verhältnisse,
unter der aber die Positivität von Macht bestimmend bleibt, die nicht durch kommunika-
tive Verfahren erst begründet wird. Diese dienen vielmehr immer schon zur Legitimation
des historisch gewaltsam Gesetzten. Ihre bewußte Veränderung raffinierte daher nur die
Legitimationsstrategien.
Mit der sprachpragmatischen Wende in Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie hat Ha-
bermas nicht nur Subjektivität funktional aufgelöst, sondern nebenbei gleich die kri-
tische Theorie in eine affirmative verwandelt, denn ohne ein emphatisches Verständnis
von Subjektivität als Kriterium der Selbstbestimmung läßt keine Kritik an Fremdbestim-
mung sich mehr begründen.
Eine erneute, freilich intersubjektiv vermittelte, Betonung des individuellen Subjekts
wird unter dem Titel ‚Anerkennung‘ vorgetragen. Diese soll „zur Ausbildung einer ver-
nünftigen, dezentrierten Form von Subjektivität bei[]tragen“25 . Die Rechtslehre Hegels
wird als Stufung von Anerkennungsverhältnissen reformuliert, mittels derer ‚Verhaltens-
dispositionen‘ erzeugt werden, die – mit ausdrücklicher Beziehung auf Hegels Kritik
an Kant – „nicht als das Ergebnis einer rationalen Entscheidung vorgestellt werden
sollen“26 . Die daraus resultierenden Sozialcharaktere sind aber jene bloß funktionalen,
deren Verhalten zum Zweifel an der Subjektivität geführt hatte.27
22
Vgl. Jürgen Habermas, Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie, in:
Ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main
1984.
23
Vgl. Karl Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, Berlin 1990, 28.
24
Vgl. Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt am Main 1988.
25
Axel Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001, 101.
26
Ebd., 88.
27
Honneth sieht diese Konsequenz bei Hegel, hält sie aber für reparabel. Immer wieder formuliert
er, was gewesen wäre, wenn Hegel seine Rechtslehre anders konzipiert hätte. Das Unbehagen
an Teilen der Rechtslehre speigelt den Wunsch, am Anerkennungsbegriff festzuhalten. Aber die
Formen von Anerkennung sind selbst nach dem bürgerlichen Rechtsverhältnis gebildet und tra-
gen dessen gewaltsames Moment in sich. Die Vorstellung subjektiver Selbstverwirklichung durch
Anerkennung hingegen hat keine objektive Realität und gewinnt sie auch nicht durch Revision
der Rechtslehre Hegels. Daß Anerkennung die Form eines gewaltbegründeten Rechtsverhältnis-
22 S O. Z E
Ein politisches Problem moralischer Subjektivität indes hat unter den Subjektkritikern
vor allem Michel Foucault sensibel registriert.28 Dafür war eine Bedingung, daß Fou-
cault nie von der Betrachtung bestimmter Gegenstände abgelassen hat. Diskursanalysen
und genealogische oder archäologische Forschungen sollten nicht soziale Sachverhal-
te in Relationen auflösen, sondern sie aus diesen begreifbar machen. Im Grunde ging
es darum, dem „verschwundenen Menschen“29 auf die Spur zu kommen. Wissen und
Macht, wie immer verselbständigt und vor-diskursiv sie vorgestellt werden, verweisen
doch auf das Subjekt als ihr Komplement, indem die Aufklärung etwa über die Motive
gesellschaftlich veranstalteter Hospitalisierung ihrerseits auf die kritische Bestimmung
der psychosozialen Konstitution oder wenigstens Disposition der Menschen zielt. Daß
diese letztlich als Zentrum einer Konstellation von Gefahren bestimmt wird, in der die
Menschen als ethisch-politische Subjekte der Bestimmung der jeweiligen Hauptgefahr
wieder hervortreten, reflektiert in der Rückkehr zum Subjekt zugleich dessen prekären
Status.30 –
Gerade der Versuch, die Bedrohung subjektiver Autonomie pragmatistisch mit Selbst-
bestimmung zu vermitteln, greift Subjektivität an. Der Kant so häufig vorgeworfene
‚Rigorismus‘ der Moral steht bei diesem für die selbstbestimmte Einheit des selbstbe-
wußten Subjekts. Diese Konstruktion ist als durchaus widerspruchsvoll zu entwickeln,
weil diese Selbstbestimmung an inadäquaten Bedingungen zu zerschellen droht; die
zeitgenössische Kritik aber versucht durch Vermittlungsbedingungen und Ermäßigungs-
gründe – von der Fairness über Nützlichkeitserwägungen und Zumutbarkeitskriterien
bis zur Folgenabschätzung – autonomes Handeln unter heteronomen Bedingungen zu
denken. Das stabilisiert nicht allein praktisch diese Bedingungen, denen das Selbst-
bewußtsein der Handelnden nun nicht mehr zu opponieren braucht, sondern es hebt
zugleich das Selbstbewußtsein als Kriterium der Beurteilung auf. Diejenige ‚Einheit‘
des Bewußtseins, die durch Aufhebung des ‚Rigorismus‘ entsteht, hat keine grundsätz-
ses – Herrschaft – ist, hatte Hegel selbst im Abschnitt über Herrschaft und Knechtschaft in der
Phänomenologie des Geistes ausgeführt. Vgl. auch Alex Demirović, Krise des Subjekts – Perspek-
tiven der Handlungsfähigkeit. Fragen an die kritische Theorie des Subjekts, in: Alex Demirović/
Christina Kaindl/Alfred Krovoza (Hgg.), Das Subjekt – zwischen Krise und Emanzipation, Müns-
ter 2010, 159f.
28
Ein anderes Beispiel wäre Judith Butler, die zunächst in Gender Trouble. Feminism and the Sub-
version of Identity, New York/London 1990, aus kritischem Impuls heraus noch die natürliche
Sexualität (auch ‚sex‘, nicht bloß ‚gender‘) als sprachliche und strukturelle Konstruktion entlar-
ven wollte, aber nach heftiger Kritik, gerade aus der Frauenbewegung, in Bodies that Matter. On
the Discursive Limits of ‚Sex‘, New York/London 1993, sich von linguistischem Idealismus dis-
tanzierte. Zu der gesamten Thematik vgl. Alex Demirović, Krise des Subjekts – Perspektiven der
Handlungsfähigkeit. Fragen an die kritische Theorie des Subjekts, a.a.O., 162f. und 171.
29
Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt
am Main 1974, 412.
30
Vgl. Michel Foucault, Genealogie der Ethik (Interview mit Michel Foucault), in: Hubert L.
Dreyfus/Paul Rabinow/Michel Foucault (Hgg.), Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik,
Frankfurt am Main 1987, 268. Vgl. dazu Franz Josef Wetz, Wie das Subjekt sein Ende überlebt:
Die Rückkehr des Individuums in Foucaults und Rortys Spätwerk, in: Reto L. Fetz/Roland Ha-
genbüchle/Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 2,
a.a.O.
B P 23
lichen Einwände mehr: Es hat den Riß zwischen sich und den widrigen Bedingungen in
sich hineingezogen.
Der Unterschied zwischen notwendig und zufällig widrigen Bedingungen ist dabei
von zentraler Bedeutung. Von einem ermäßigten Moralbegriff aus ist er kaum zu sehen.
Meist gehen solche Theorien axiomatisch von der Güterknappheit aus, die in Kombina-
tion mit der anthropologischen Gier ‚des‘ Menschen für die Konkurrenz unter Menschen
verantwortlich gemacht wird. Angesichts des Verhältnisses zwischen materiellem Elend
in der Welt – auch in den am weitesten zivilisierten Staaten – und der systematisch wis-
senschaftlich und technisch erzeugten Produktivitätszuwächse könnten solche Vorausset-
zungen nur dann überzeugen, wenn die grundsätzliche Konfundierung der menschlichen
Vernunft mit anderen Antrieben oder sogar ihre Unterlegenheit unter solche anthropo-
logisch angenommen wird. Diese Annahme jedoch, sofern sie zwischen Vernunft und
Nichtvernunft noch unterscheidet, könnte von einer konfundierten Vernunft gar nicht
formuliert werden. In der vorliegenden Arbeit sollen deshalb aus der Kritik der Verstel-
lung und Verhinderung von Vernunft durch die Bedingungen, unter denen gedacht und
gehandelt wird, die grundsätzlichen Möglichkeiten von Vernunft neu gewonnen werden.
Dabei soll zugleich deutlich werden, daß Philosophie, die auf ihre äußeren Bedingun-
gen nicht mehr reflektiert, zum abstrakten Gedankenspiel wird. In der Negativität von
Argumentation und Darstellung ist zugleich Bescheidenheit im Ergebnis angelegt: Po-
sitive Auskünfte, wie zu handeln oder zu denken sei, sind nicht zu erwarten; wohl aber
können durch bestimmte Negation Bedingungen kritisiert werden, die der Realisierung
vernünftigen Handelns und Denkens unangemessen sind. Damit erweist sich negative
Reflexion selbst als eine Bedingung besserer Praxis, aber keineswegs als Ausdruck wi-
derspruchsfreien Selbstbewußtseins, das nun über dem Kritisierten stünde. Sie richtet
sich auf kritische Selbsterkenntnis als Bedingung von Selbstbestimmung. Diese Selbst-
erkenntnis schließt freilich Erkenntnis der äußeren Bedingungen von Selbstsein ein.31
Hieraus soll schließlich deutlich werden, was unter dem Ausdruck Subjekte der Pra-
xis zu verstehen sei: Subjekte sind nicht bloß Urheber von Praxis, sondern sie gehören
31
Gunnar Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt, Frankfurt am Main 2008, widmet ein ganzes Ka-
pitel unter dem Titel ‚Machen‘ den äußeren Bedingungen von Subjektivität, die ihm freilich aus
der ontologischen Anlage seines Denkens heraus zu Momenten der Subjektivität selbst werden.
Das gegen die von ihm selbst gestiftete Ordnung der Dinge exterritoriale und deswegen heimat-
lose Subjekt vergegenständlicht sich im Machen wie in der Verdinglichung seiner Mitsubjekte
und seiner selbst zwangsläufig und liefert so den Nachweis seiner ‚transzendentalen Heimatlosig-
keit‘, die es durch eine per Analogie reaktivierte Metaphysik des Absoluten wiederzugewinnen
versteht. Daß die aufs Gegenständliche so bedachte Überlegung dem eigenen ontologischen Pro-
gramm standhält, liegt daran, daß Hindrichs der Arbeit die bereits von Marx kritisierte ‚okkulte
Fähigkeit‘ zuschreibt, aus sich heraus weltgestaltend zu sein (vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1,
MEW 23, Berlin 1986, 538). Daß dieses Verhältnis der Subjekte zur gegenständlichen Welt je-
doch durch Herrschaft von Menschen über Menschen bestimmt ist, wird nicht bedacht. In seinem
Nachwort zur Taschenbuchausgabe (Frankfurt am Main 2010) grenzt Hindrichs seinen negativen,
kritischen Weg gegen bloße Restauration von Metaphysik und Theologie ab, die in ihm einen Ge-
währsmann sehen wollen. Aber negatives Denken, dem das materielle Fundament fehlt, birgt mehr
Metaphysik in sich, als es sich selbst eingestehen möchte.
24 S O. Z E
auch dieser Praxis an.32 Subjektivität ist nirgends, wenn nicht in Subjekten, die lebendige
Menschen sind. Der dabei verwendete Praxis-Begriff trennt nicht ein selbstgenügsames
Handeln von einer Sphäre des poiätischen Handelns ab. Vielmehr umfaßt dieser Begriff
jede bewußt auf Gegenstände oder auf andere Menschen bezogene, mithin alle durch
Zwecke bestimmte menschliche Aktivität, auch wissenschaftliche Arbeit, insofern sie
arbeitsteilig oder am Naturpräparat stattfindet. Gerade die Verbindungsstellen von Theo-
rie und Praxis sind von zentralem Interesse.33 Dieses Praxisverständnis ist aber weder
das von der Axt im Hause, noch ist es pragmatisch auf Vermittlung mit der historischen
Wirklichkeit angelegt, sondern es versteht radikal praktische Vernunft als Grund von
Praxis.
Die Verwendung des altmodischen Ausdrucks ‚Praxis‘ soll an dieser Stelle vor al-
lem das Moment bewußter Zwecksetzung gegenüber dem inzwischen anders als noch
zu Kants Zeit besetzten Begriff der Handlung und den mit ihm verbundenen Begriffen
‚Motivation‘ oder ‚Intention‘ betonen. Zunehmend sind im Gefolge der Theorien, die
sprachliche Äußerungen als Handlungen beschreiben wollten,34 Handlungen selbst auf
eine semiotische oder kommunikative Struktur reduziert worden; dies zudem anhand all-
tagssprachlicher Äußerungen, über die wegen ihrer bloßen Partikularität ohnehin keine
wissenschaftlichen Urteile möglich sind. Deshalb läuft diese ‚Konkretisierung‘ konse-
quent auf formelle Abstraktion hinaus. – Sowenig menschliches Handeln im Besonderen
ohne Begriffe allgemeiner Formen zu begreifen wäre,35 sowenig kann doch auch die
theoretische Selbstverständigung der Menschen über Selbstbewußtsein und Selbstbe-
stimmung von den gegenständlichen Bedingungen absehen, unter denen gegenständliche
Wesen allein denken und handeln können und ohne die auch kein Gedanke ans Sub-
jekt wäre.36 Das hat die erkenntnistheoretische Diskussion ums Subjekt fast durchgängig
ignoriert. Sie ist dennoch nicht zu dem reinen Selbstbewußtsein – oder Selbstsein oder
Bekanntsein mit sich – gekommen, das sie intendierte, weil ihre Subjekte sich letztlich
32
Einen so verstandenen kritischen Begriff von Subjektivität haben im Blick: Alex Demirović/
Christina Kaindl/Alfred Krovoza (Hgg.), Das Subjekt – zwischen Krise und Emanzipation,
Münster 2010.
33
Vgl. Peter Euler, Technologie und Urteilskraft. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs, Weinheim
1999, 254: „Es liegt in der Zweckbestimmung ein immanenter Übergang zur Praxis vor, der in
Kants Terminologie weder im Sinne des moralisch Praktischen, noch ganz im technisch Prakti-
schen aufgeht.“
34
Vgl. grundlegend für die Sprachpragmatik die Arbeiten von Herbert Paul Grice, ausgehend von
Meaning, in: The Philosophical Review 64 (1957), sowie zum Sprechakt John L. Austin, Zur
Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972 (engl.: How to do Things [!] with Words) und John R.
Searle, Sprechakte, Frankfurt am Main 1983.
35
Vgl. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, Frankfurt am Main 1990, 111f.: „Alle mensch-
lichen Tätigkeiten gründen in besonderen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Aber
wir könnten diese besonderen Bedingungen nicht verstehen, wenn wir nicht imstande wären, die
allgemeinen Strukturprinzipien zu begreifen, die diesen Tätigkeiten zugrunde liegen.“
36
Vgl. Gerhard Krieger, Ichbewußtsein oder Selbstbewußtsein überhaupt? Zu einer mittelalterlichen
Alternative zu Kant, in: Günther Mensching (Hg.), Selbstbewußtsein und Person im Mittelalter,
Würzburg 2005, 109: Selbstbewußtsein sei als Verknüpfung von Theorie und Praxis zu verste-
hen und deren Ziel als die „Möglichkeit des theoretischen Selbstverständnisses wissenschaftlicher
Praxis“.
B P 25
in ganz materiellem Sinn selbst im Wege standen: Noch jede philosophisch ernste Theo-
rie von Subjektivität muß letztlich eingestehen, daß kein Mensch ein Gott sei und daß
den Menschen deshalb die zur Reinheit nötige intellektuelle Anschauung mangelt. Wird
dies aber konsequent genommen, so ist keine Theorie vom Subjekt möglich, ohne die
geschichtlichen Existenzbedingungen der Subjekte darin zu reflektieren. Eine Kritik an
idealistischen Subjektkonzepten wie auch an Konzepten der Auflösung von Subjektivität
ist deshalb ohne Reflexion auf die Praxis, in der Subjekte agieren und aus der heraus sie
sich allein verstehen müssen – wenngleich dies kaum je widerspruchsfrei gelingt –, ein
Unternehmen, das so abstrakt bleibt wie das, wogegen es sich wenden will. –
Wenn von moderner Subjektivität die Rede ist, soll ‚Moderne‘ dabei das Stadium der
Entwicklung von Reflexivität bezeichnen, in dem diese nicht mehr als bloßes philoso-
phisches Prinzip ausgefaltet wird, sondern in dem sie sich selbst zum Problem wird.
Markant modern sind literarische Werke, die ihre eigene Dramaturgie dramaturgisch
in Frage stellen. Der Don Quichote, der Tristram Shandy oder der Midsummernight’s
Dream sind deshalb so modern wie Hölderlins poetologische Poesie oder der Ulysses.
Auch Kants kritische Philosophie stellt sich unentwegt selbst in Frage, freilich mit dem
Ziel, umso zwingender die Möglichkeit kulturellen und moralischen Fortschritts durch
Aufklärung nachzuweisen.37
Moderne, philosophisch zunächst um Reflexivität, um das bewußte Verhältnis der
Menschen zu sich selbst konzentriert,38 weist aber ebenso philosophisch über sich selbst
hinaus. Rimbauds Satz ‚il faut être absolument moderne‘39 drückt die Forderung aus,
Moderne – einen in sich relationalen Begriff, der ohne polemische Beziehung auf Vor-
modernes nichts sagt – absolut zu denken, das heißt, ihn nur auf sich selbst zu beziehen:
So wendet Moderne sich aber zugleich auch gegen sich selbst: Ihrem eigenen Verständ-
nis nach kann es keinen Grund von Kritik an der Moderne geben, der nicht selbst in der
Moderne begründet wäre;40 das einmal seiner selbst bewußt gewordene Subjekt kann
nicht mehr auf Maßstäbe regredieren, die ihm selbst systematisch vorausliegen, ohne
zugleich affirmativ auf defizitäre Lebens- und Denkbedingungen zurückzugehen. Diese
Affirmation vergangenen Leidens – und allzuoft auch eines irgendwo zugleich gegenwär-
tigen – ist der Preis jeder extrinsischen und dadurch abstrakten Modernitätskritik. Das
37
Vgl. Norbert Herold, Hoffnung aus der Geschichte? Kants Geschichtsphilosophie zwischen Opti-
mismus und Skepsis, in: Bernd Prien/Oliver R. Scholz/Christian Suhm (Hgg.), Das Spektrum der
kritischen Philosophie Kants, Berlin 2006, 190: „Die Ambivalenz der Moderne ist vielmehr mit
ihren Anfängen gegeben. Schon im Zeitalter der Aufklärung […] gehören die Hoffnung auf die
Vernunft und die Kritik an der Vernunft zusammen.“
38
Diesen weiten und doch präzisen Moderne-Begriff hat Dieter Henrich nachgezeichnet: Die Grund-
struktur der modernen Philosophie, in: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den
Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982.
39
Arthur Rimbaud, Abschied, in: Das poetische Werk, Bd. 1, München 1979, 58, allerdings in
mißverständlicher Übersetzung: „Man muß absolut auf der Höhe seiner Zeit sein.“
40
Vgl. Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, Frank-
furt am Main 1977. Dagegen kennen manche Modernisierungskritiker nur die Alternative: mit der
Moderne die Tradition kritisieren oder mit der Tradition die Moderne kritisieren, um vormoder-
ne Strukturen gegen die Moderne wieder zu beleben. Vgl. Shalini Randeria/Martin Fuchs/Antje
Linkenbach (Hgg.), Konfigurationen der Moderne. Diskurse zu Indien, Baden Baden 2004, 20.
26 S O. Z E
volle moderne Selbstbewußtsein schließt allerdings die historische Reflexion auf seine
eigenen vormodernen Bedingungen und den Prozeß seiner Entwicklung aus diesen ein.
Gerade deshalb kann hinter das Reflexionsprinzip nicht oder nur scheinbar zurückge-
gangen werden. Daß noch die Kritik am Subjektivitätsprinzip Subjektivität voraussetzt
muß nicht als metaphysische Letztbegründung aufgefaßt werden; auch dies ist ein nega-
tiver Begriff von Subjektivität, hinter den aber freilich, solange Menschen verständlich
miteinander reden und miteinander leben wollen, nicht zurückgegangen werden kann.
Durch reflexive Kritik der Moderne wird diese aber selbst zum normativen Begriff. In
ihr behauptet das moralische Subjekt seine Subjektivität gegen deren deformierte oder
defizitäre Realisierung. Gerade weil Moderne ein ambivalenter Begriff ist, ist er aus sich
selbst zu kritisieren, absolute Modernität beruht paradox auf ihrer inneren Endlichkeit.41
– Trotz der grundsätzlichen Reflexivität der Moderne ist nun der Ausdruck ‚moder-
ne Subjektivität‘ kein Pleonasmus. Der Begriff von Subjektivität muß im theoretischen
Rückblick über deren selbstbewußte Form hinausreichen. Zwar läßt sich annehmen, daß
Menschen innerhalb einer teleologischen Weltvorstellung sich selbst nicht als selbst-
bewußte Subjekte begreifen können, aber im Rückblick muß ihrem Handeln doch ein
Moment von Subjektivität beigemessen werden können. Sonst wäre die Selbstgewin-
nung von Subjektivität in der Neuzeit bloß ein geschichtlich kontingentes Faktum. Dann
wäre aber auch kein Begriff von Geschichte möglich, die Menschen der Neuzeit könn-
ten sich nicht in der Tradition von Mittelalter und Antike lokalisieren. Aber Menschen
reflektieren auf ihre Vorfahren nicht wie auf Naturobjekte, sondern sie leiten die Regeln
ihres Denkens und Handelns aus der Kritik am überlieferten Denken und Handeln ihrer
Vorfahren ab. Sobald Menschen sich von der Natur unterscheiden, agieren sie auch als
Subjekte. Daß sie davon zunächst kein volles Selbstbewußtsein entwickeln, zeigt sich in
den Aporien der theoretischen und der praktischen Selbstbestimmung, in die das Denken
41
Der auf Reflexion, auf Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung gegründete Begriff der Moderne
ist nicht der positive Modernisierungsbegriff des 20. Jahrhunderts, durch dessen Kritik die Mo-
derne und ihr Begriff selbst in Frage gezogen werden. Vgl. die Darstellung der soziologischen
Diskussion bei Wolfgang Knöbl, Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Ame-
rika, Frankfurt am Main 2007, bes. Teil I. Vgl. auch Shmuel N. Eisenstadt, Multiple modernities:
Analyserahmen und Problemstellung, in: Thorsten Bonacker/Andreas Reckwitz (Hgg.), Kulturen
der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt am Main 2007. – Die Kritik
an Eisenstadt hebt fast allein auf den Ausdruck ‚multiple modernities‘ ab. Eisenstadt selbst schreibt
dagegen von ‚der Moderne‘, deren Realisierungsgestalten vielfältig seien, und er hat ein präzises
Kriterium für Modernität, nämlich Reflexivität, die sich auf den Gebieten des Rechts (Personali-
tät), der Ökonomie (Kapitalismus), der Bildung (Selbstverständnis) u. a. durchsetze. Die Vielfalt
von gesellschaftlichen Erscheinungsformen innerhalb der Moderne sei durch die kulturell verschie-
dene Adaption moderner Grundtendenzen bedingt. Damit reagiert Eisenstadt auf das Problem des
Mißverhältnisses von Anspruch und Realität, der Ambivalenz von Reflexivität in der Moderne:
Er versucht das Scheitern von Selbstbestimmung im Moderne-Begriff mitzudenken. Selbst wenn
dieser kulturkomparatistische Weg keine grundsätzliche Erklärung bietet, so hat Eisenstadt doch
vor den neosystemischen Modernisierungstheorien immerhin das Problembewußtsein voraus. Vgl.
z. B. Volker H. Schmidt, Multiple Modernities or Varieties of Modernity?, in: Current Sociology
54 (1) 2006.
B P 27
ihrer selbst gerät.42 Die zunehmende Reflexion jener Aporien ist dann das historisch-sys-
tematische Medium der Bewußtwerdung von Subjektivität, aus der neue, grundsätzlich
veränderte Aporien entstehen, um die es in der vorliegenden Arbeit zu tun ist.
Zentral ist dabei die Bedeutung der ‚ungeselligen Geselligkeit‘ für Kants Philosophie
insgesamt. Diese praktische Aporie in den Verhältnissen der Subjekte zueinander, die
Selbstverständlichkeit und Strenge, mit der sie vorgetragen wird, hat Gründe nicht al-
lein in der Beobachtung des politischen und sittlichen Verhaltens der Menschen; sie hat
vor allem Gründe im theoretischen Selbstverständnis, das seinerseits in Schwierigkei-
ten gründet, die eigene Beziehung zur Natur, zu den Gegenständen von Erfahrung und
Erkenntnis adäquat zu fassen. Diesen Zusammenhang auf dem Wege einer Kommen-
tierung der Schriften Kants aufzuhellen, ist ebenso ein Ziel der Arbeit wie dasjenige,
am Rand dieses Weges gangbare Abwege zu zeigen, die im Licht der Kritik an Kant
den Schein des Abwegigen verlieren und als Umwege zu einem Ziel erkennbar werden,
das anders als über Umwege nicht zu erreichen ist: Der direkte Weg in eine mensch-
liche Gesellschaft existiert nicht für Wesen, deren Geschichte im fortgesetzten Versuch
der wechselseitigen Vernichtung besteht. Der indirekte Weg ist gleichwohl kein pragma-
tischer, denn die Einheit des Selbstbewußtseins – trotz allem an der eigenen Vernunft
festzuhalten – stellt die unumgängliche Bedingung jeder menschlichen Praxis dar, die
diesen Namen auch moralisch verdient.
Einheit des Selbstbewußtseins schließt aber den unverkürzten Anspruch auf sittliche
Selbstbestimmung ein, auch und gerade dort, wo dieser sich nicht einlösen läßt: „Das
Projekt [Aufklärung] ist […] noch nicht beendet, es kann noch gerettet werden, es muß
gerettet werden, auch wenn es im Stande der Unfreiheit im Moment noch so sehr sta-
gniert, daß der Ausblick auf die Möglichkeit, daraus auszubrechen, verblendet ist. Aber
die Möglichkeit […] muß als regulative Idee gewahrt werden. Es gibt einen Fortschritt
in der Menschheitsgeschichte, den man nicht wegdiskutieren kann: die Entwicklung der
Produktionsmittel. Sie ermöglicht mehr Wohlstand und von den Zwängen der Arbeit be-
freite Zeit. Und damit potentiell gesellschaftliche Verhältnisse, in denen das Individuum
in der Differenz keine Angst mehr zu haben braucht.“43 – Zur Einheit des Selbstbewußt-
seins gehört es, politische, gesellschaftliche oder persönliche Schranken vernünftiger
Praxis nicht als conditio humana sich zur inneren Schranke zu machen, sondern aus dem
Anspruch der Vernunft sie als empirische, äußerliche Schranken auszuweisen. Wohl ist
das Selbstverständnis empirischer Wesen immer durch das zu vermitteln, was diese nicht
selbst sind; ihre Bestimmung aber durch das, was sie ihrem Selbstverständnis nach nicht
sein können, beschädigt sie innerlich. Einheit des Selbstbewußtseins ist deshalb durch
intellektuellen Widerstand gegen solche heteronome Bedingungen bestimmt. In diesem
42
Vgl. Michael Städtler, Die Freiheit der Reflexion. Zum Zusammenhang der praktischen mit der
theoretischen Philosophie bei Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles, Berlin 2003. – Vor allem
der Gestaltung literarischer Figuren in antiker Dramatik und Epik ist zu entnehmen, daß den
Handelnden der Gegensatz ihrer Absicht zu dem, was geschieht, tief bewußt ist. Darin spricht ein
subjektives Selbstbewußtsein, für das die Philosophie noch keinen systematischen Ort anzugeben
vermochte.
43
Moshe Zuckermann, Zweierlei Israel? Auskünfte eines marxistischen Juden an Thomas Ebermann,
Hermann L. Gremliza und Volker Weiß, Hamburg 2003.
28 S O. Z E
Beharren auf dem unverkürzten Anspruch vernünftiger Praxis ist die Kritik an Kant zu-
gleich auf dessen Seite. –
Nun könnte doch noch eingewendet werden, es sei abwegig, Prinzipien moderner Sub-
jektivität aufzusuchen bei einem Autor, der in seiner unmittelbaren Umgebung mit einer
weitgehend agrarischen, noch geradezu spätfeudalen Gesellschaft konfrontiert war und
Kapital allenfalls als Handels- und Wucherkapital kannte; in der kritischen Kapitalbe-
stimmung bei Marx, durch die Kapital erst als das ökonomische Prinzip der Ambivalenz
der Moderne bestimmbar wird, ist aber die kapitalistische Form der Produktion grund-
legend, nicht die der Distribution. Gegen diesen Einwand ist zu sagen, daß Kant sich
als einer der ersten klassischen Autoren des Bürgertums um eine umfassende Durch-
dringung der neuen bürgerlichen Prinzipien auf den Ebenen moralischer und politischer
Theorie bemühte, jener Prinzipien, die – wie zu zeigen ist – bestimmend werden sollten
für die Moderne. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die in den auf Kant folgen-
den fünf Jahrzehnten vorgingen, waren in Ansätzen schon spürbar und der Aufklärung
durchaus präsent; Kant, der sich durch die Entwicklungen zur Reflexion der Geschichte
genötigt sah, stellt diese in den Kontext seiner subjektorientierten Erkenntnis- und Mo-
rallehre. Sowohl die verschiedenen Bereiche, in denen Subjektivität erscheint, werden
bei Kant von dieser aus thematisiert, als auch der Versuch, gegen die Verschiedenheit
dieser Bereiche eine Einheit im Bewußtsein zu begründen.
So ist Subjektivität das zentrale Thema der Philosophie Kants, auch wenn sie von ihm
nirgends als eigenständiger Gegenstand durchgeführt, vielmehr schon sprachlich durch
eine Vielzahl von Ausdrücken unterteilt wird: vom Ich über die Apperzeption und die
Seele zu Subjekt, Person, Persönlichkeit und anderen mehr. Kaum allerdings sind diese
Bezeichnungen in analytischem Sinn terminologisch aufgebaut. Sie markieren eher den
Übergang aus der schulphilosophischen Vermögenspsychologie zur wissenschaftlichen
Erkenntnis- und Sittentheorie. Daher ist hier weniger an dem Nachweis der Sinnlosig-
keit mancher Unterscheidungen oder an der Schärfung ihres Sinns durch zusätzliche
Unterscheidungen gelegen, als an der Frage, welche Probleme in der Sache sich hin-
ter auffälligen Elementen der Darstellung verbergen. Der Knoten in der Sprache zeigt
ein Problem in der Sache an.44
Die vorliegende Untersuchung erhält ihren wesentlichen Impuls aus der Überzeugung,
daß das subjektive Bewußtsein seiner selbst und von den Dingen heute mehr noch als zu
Kants Zeit Grundlage kritischer Philosophie sein muß, daß dies aber gerade deshalb noch
weniger bruchlos möglich ist, als Kant es zu konstruieren unternahm. Für Kant war das
Subjekt die Grundlage der Möglichkeit objektiver Erkenntnisse überhaupt. Heute hin-
gegen wird Subjektivität, wie dargestellt wurde, als schwer belastet erfahren. Subjekte
finden ihre Subjektivität in den Versuchen ihrer praktischen wie theoretischen Selbstbe-
stimmung verstellt oder deformiert, oder sie vermeinen einen geradezu positivistischen
Zugriff in intentione recta auf Selbstbestimmung zu haben, die sie mit Selbstbehauptung
verwechseln. Dadurch gerät Subjektivität, im Gegensatz zu Kant, zur Grundlage einer
Vorstellung der Unmöglichkeit objektiver Erkenntnisse und Begriffe. Wenn in Philoso-
phie und auch in gesellschaftlicher Praxis die Möglichkeit, etwas sicher, mit Grund, zu
wissen, nicht ganz preisgegeben werden soll, müssen die Bedingungen dieser Entwick-
44
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Hamburg 1989, 995a.
E S 29
45
Dieser Vorwurf ist kritischen Theorien des Subjekts in verschiedenen Varianten gemacht worden,
die alle darauf hinauslaufen, daß Subjektivitätskritik ihren eigenen Maßstab nicht ausweisen könne.
Vgl. dazu Jan Weyand, Adornos Kritische Theorie des Subjekts, Lüneburg 2001. Weyand zeigt,
daß der kritische Subjektbegriff Adornos nur durch Rekurse auf die Marxsche Theorie Konsistenz
gewinnt, die über die Dialektik der Aufklärung insofern hinausgehen, als sie das Verhältnis von
Subjekt und Natur um den Faktor Herrschaft (in ihrem ökonomischen Sinn) erweitern. Von da aus
ergibt sich aus der Kritik der politischen Ökonomie die Überwindung von Herrschaft (die Weyand
mit einem bestimmten Begriff von ‚Versöhnung‘ in Verbindung bringt) als Maßstab der Kritik.
46
Gerade die Normenbegründung greift aus Ungenügen an der bloßen Positivität wieder auf me-
taphysische Instanzen zurück. Vgl. z. B. Robert Alexy, Menschenrechte ohne Metaphysik?, in:
Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004), eine späte Antwort gewissermaßen auf Günther
Patzig, Ethik ohne Metaphysik, Göttingen 1971.
30 S O. Z E
Subjekte zur Natur und zu einander. Die Zumutungen klassischer Subjekttheorie sind
nicht durch immer neue Rekonstruktionen auszumerzen. Sie sind aber daraufhin zu be-
fragen, was sie über die subjektive Bestimmtheit lebender Menschen verraten.
Dasfreilich setzt voraus, daß Subjekttheorie nicht als ein immanent erkenntnistheo-
retisches Unternehmen aufgefaßt wird, das gegen alles Äußerliche versichert sein muß.
Vielmehr ist im Gang der Untersuchung nachzuweisen, daß das erkennende Bewußt-
sein und Selbstbewußtsein der Menschen in einem engen Wechselzusammenhang mit
ihrer praktischen Selbstbestimmung und deren technischen wie sittlichen Objektivierun-
gen steht. Nachzuweisen ist dies in der Kritik klassischer Subjekttheorien und in deren
Konfrontation mit ihren verschwiegenen Bedingungen, nie aus dem naiven Blick auf die
eigene innere oder äußere Zuständlichkeit. Die Befindlichkeit des Einzelnen, sein Leid
oder Glück, so sehr sie der Zweck der Reflexion von Subjektivität sein sollen, geben über
nichts Auskunft als über sich selbst. Die Kritik der philosophischen Erklärung, der theo-
retischen Reflexion individuellen Lebens, verspricht dagegen Auskunft über Gründe.
Die Ausgangsfrage ist deshalb: Wie kommen die Menschen zur Selbstbestimmung,
deren praktischer Ausdruck, wie defizitär auch immer, ihre Objektivierungen in Sittlich-
keit und Naturbearbeitung sind; wie setzen Menschen die Bedingungen ihrer eigenen
zwecksetzenden Subjektivität? Bei der Suche nach Antworten ist vom Selbstbewußtsein
auszugehen, denn wenn die Menschen nicht je sie selbst wären oder wenn sie davon
gar nichts wüßten, so könnten sie keine Zwecke setzen, weil sie nicht wüßten, was
ein Zweck im Unterschied zur Naturkausalität überhaupt ist. – Vielleicht ist der heim-
liche Widerwille gegen die Verpflichtungskraft von Selbstbestimmung der Grund dafür,
daß der Zweckbegriff in der Sozialforschung bis in ihre sozialphilosophische Grundle-
gung hinein heute weitgehend ignoriert wird. Von Zwecken ist dort, wo vom Handeln
gesprochen wird, kaum mehr die Rede, allenfalls noch von deren ‚Struktur‘. – Gleich-
wohl ist vom Selbstbewußtsein nicht auf Selbstbestimmung zu schließen. Das gilt für
die theoretische Form von Selbstbewußtsein – bei Kant die transzendentale Einheit der
Apperzeption – ebenso wie für die praktische – den kategorischen Imperativ. Für den
Übergang vom Selbstbewußtsein zur Selbstbestimmung zusätzliche Bedingungen zu er-
schließen, ist aussichtslos, weil kein Kriterium dafür bereitliegt. Ließe ein Kriterium sich
erschließen, dann auch der Übergang selbst. Also bleibt zu versuchen, von der Realität
der mißglückten Selbstbestimmung, von den heteronom bestimmten Menschen und ih-
ren Lebensbedingungen aus auf die Einheit ihres Selbstbewußtseins zurückzugehen und
auf diesem Weg auf Bestimmungen zum Zusammenhang von Selbstbestimmung und
Selbstbewußtsein zu reflektieren.
Wenn von kritischer, zumal geschichtlicher Theorie der Subjektivität, von Kritik am
Fortschrittsbegriff der klassischen deutschen Subjektphilosophie, die Rede ist, liegt die
andere Vorstellung nahe, die Geschichte des Subjekts gelte nurmehr als Verfallsgeschich-
te, vor deren Beginn die Subjekte heil gewesen seien. Wohl ist der Prozeß sukzessiver
Bewußtwerdung kein geradliniger Fortschrittsprozeß gewesen, weil die theoretische Ent-
faltung von Subjektivität in ihrer praktischen Objektivation zugleich Selbstbestimmung
bindet. Das neuzeitliche Individuum steigt und stürzt zugleich aus der strengen heilsge-
schichtlichen Ordnung direkt in die nicht weniger strenge der bürgerlichen Gesellschaft.
Ebensowenig ist jener Prozeß aber ein bloßer Verfall, weil umgekehrt die Bedingungen,
durch die Selbstbestimmung jetzt gebunden ist, zugleich die subjektiven und objektiven
E S 31
Schon aus dieser philosophisch grundständigen, noch von Hegel inspirierten, Überle-
gung heraus, sind Veränderungen im Subjektbegriff angezeigt, die auf dessen praktische
Bestimmung weisen. Den Versuch, diese Aufgabe grundsätzlich zu reflektieren, ohne
das Verhältnis von Subjekt und Objekt positiv nach einer Seite hin oder auch in ei-
nem wie immer materialistisch-dialektischen Relationismus aufzulösen, hat Adorno in
seinem Aufsatz Zu Subjekt und Objekt unternommen, dessen erkenntnistheoretische Be-
deutung fast regelmäßig ignoriert wurde.48
Die spätere Subjektphilosophie erscheint – von der Konstruktion des wechselweisen
und doch asymmetrischen Bedingungsverhältnisses von Subjekt und Objekt aus betrach-
tet – bisweilen eigenartig unbefangen. Was sie von der kritischen Theorie hätte lernen
können, ist die Einsicht, daß das Denken ein Moment menschlicher Praxis ist und die-
se ein Moment von jenem; in einigen Aufsätzen Henrichs sind solche Überlegungen
durchaus präsent. Daß Handeln ohne Denken nicht gelingt, wird zumeist reflexionslos
akzeptiert; daß aber Denken ohne Handeln die Subjektivität ebenso verkürzt, ist gegen
die dem philosophischen Denken immanente Tendenz zum Idealismus kaum durchzuset-
zen; der Verweis auf den problematischen subjekttheoretischen Handlungsbegriff Fichtes
scheint diese Überlegung als ‚Ansatz‘ zu erledigen. Doch Philosophie, die ihre proble-
matische Stellung zur ganz handfesten Praxis der Bedingungen, unter denen nicht allein
gehandelt, sondern auch gedacht wird, nicht reflektiert, produziert ebenso verkürztes
Selbstbewußtsein, wie die gewohnheitliche Teilnahme an Praxis, die Denken ausblendet.
Philosophie des Subjekts, des Selbstbewußtseins und der Freiheit wird zur ideologischen
Bestätigung, die in ihrem abstrakten ‚Selbstverhältnis‘, das nicht zufällig sich nicht mehr
Reflexion nennt, die Subjekte von den Bedingungen, unter denen Subjektivität möglich
wäre und von denen sie schon äußerlich abgeschnitten sind, auch innerlich abschnei-
det. Ebensowenig freilich kann Philosophie die Subjekte überzeugend pragmatisch oder
theoretisch in Bedingungen eingliedern, die ihrer Subjektivität widrig sind; das hatte
auch Kant nicht unternommen, der allerdings die Subjekte nicht gegen die Bedingungen
stellte, sondern das Subjekt unabhängig von ihnen zu konstruieren unternahm.
Entscheidend ist es zu bemerken, daß Adorno mit dem ‚Vorrang des Objekts‘49 kei-
nen naiven Materialismus oder Empirismus vertritt, in dem sich ein Subjekt und ein
Objekt substantiiert gegenüberstünden und womöglich das Bewußtsein seine Bestim-
mungen vom Sein empfinge.50 Im Gegenteil geht es Adorno darum zu zeigen, daß beide
48
Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, in: Gesammelte Schriften 10.2, Frankfurt am Main
1977. Die wichtigste Ausnahme von der Regel ist Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philo-
sophie, Frankfurt am Main 1985.
49
Vgl. Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, a.a.O., 747 sowie: Dens., Negative Dialektik,
a.a.O., 184ff.
50
Diesen Vorwurf erhebt explizit Klaus Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O., 41-44, hier 44.
Auf die Polemik gegen Adornos Subjekt-, bzw. Objektbegriff, die Düsing, – übrigens auch unter
Auslassung des Aufsatzes Zu Subjekt und Objekt – vorträgt, kann nicht im einzelnen eingegangen
werden, weil an ihr fast kein Satz stimmt, sich vielmehr für alle Behauptungen auch in den zum
Beleg beigezogenen Schriften unzählige entgegenstehende Stellen anführen ließen. Daß philoso-
phische Texte Aussagen vereinen, die auf den ersten Blick unvereinbar sind, ist wohl nur aus Sicht
der positivistischen Kritik an Hegel noch – oder wieder – ein Einwand. Allein gegen den zentra-
len Vorwurf des naiven Empirismus ist einzuwenden, daß Adorno die These vom ‚Vorrang des
E S 33
– Subjekt wie Objekt – Reflexionsbegriffe sind: Begriffe, die aus der Reflexion auf empi-
rische und intelligible Erkenntnisprozesse nur zu gewinnen sind und die deshalb immer
in Beziehung auf diese Prozesse und auf ihr Verhältnis in diesen angewiesen sind.51 Das
drückt schon der mit Bedacht auffällige Verzicht auf den grammatischen Artikel aus:
Nicht von ‚einem‘ oder gar von ‚dem‘ Subjekt beziehungsweise Objekt ist die Rede,
sondern von Subjekt oder Objekt. – Adorno folgt zunächst der Tradition der intentio
obliqua: Objekt wie Subjekt sind eben nicht im direkten Zugriff realistisch, materia-
listisch oder auch naturalistisch – wie heute etwas naturvergessen oft formuliert wird
– dingfest zu machen. Allerdings zieht Adorno die intentio obliqua erneut ein durch
ein Argument, das er aus der Kritik an Husserl52 gewinnt: Gewiß ist allein das Den-
ken, und wenn dieses Gegenstand von Selbstgewißheit ist, muß es bestimmtes Denken
– Denken von etwas – sein, weil Denken von nichts gegenstandslos, leer, selbst undenk-
bar wäre. Daraus gewinnt Adorno aber nicht eine Ontologie mentaler Zustände, durch
die Husserl dem Denken ein von der Unverläßlichkeit der Erfahrungswelt abgeschirm-
tes Reich aufschließen will,53 sondern die Rückbindung des Denkens an das, was dem
radikalen Zweifel am Grunde der intentio obliqua scheinbar erlegen war: Denken subsis-
tiert offenbar nicht aus sich. Deshalb kann den Vorstellungen keine autarke ontologische
Qualität zukommen, sondern sie verweisen das Denken zurück an ein von ihm relativ
Unabhängiges, von dem es seine Inhalte bezieht. Dieses ist relativ unabhängig, weil es
zwar getrennt vom Subjekt nicht bestimmt zu denken ist, aber seinen Existenzgrund
doch nicht im Denken hat. Denken selbst dagegen hat seinen Existenzgrund in anderem,
bliebe ohne Objektbeziehung reine Form, die ohne Inhalt kein Dasein hätte: „Von Ob-
jektivität kann Subjekt potentiell, wenngleich nicht aktuell weggedacht werden; […] Aus
Subjekt, gleichgültig, wie es bestimmt werde, läßt ein Seiendes nicht sich eskamotieren.
Ist Subjekt nicht etwas – und ‚etwas‘ bezeichnet ein irreduzibel objektives Moment –,
so ist es gar nichts“54 . – Dieses Verhältnis von Subjekt und Objekt wiederholt sich in
empirischen Subjekten, weil sie zugleich gegenständlich existieren, in vielfältiger Wei-
se. Sie sind auf die Bearbeitung von Natur angewiesen, aus der sie existieren und gegen
die sie als Einzelne keine kulturelle Selbständigkeit gewinnen können. Ihre Reflexion
auf Subjektivität wie auf Objektivität schließt daher sowohl technische als auch soziale,
näher moralische, Praxis ein: „Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umge-
kehrt.“55 Daß Adorno erkenntnistheoretisch auf die Subjekte von Erkenntnis – und nicht
Objekts‘ nicht allein aus der Reflexion des Subjektbegriffs gewinnt, sondern sich in ihrer Formu-
lierung ausdrücklich gegen empiristische Konsequenzen verwahrt, da er sich der erkenntnistheore-
tischen Gratwanderung bewußt ist (vgl. z. B. Negative Dialektik. Frankfurt am Main 1966, 185).
51
Darin liegt aber gerade kein hypostatischer Relationalismus, der Subjekt und Objekt durch deren
verselbständigte Beziehung ersetzen wollte.
52
Vgl. z. B. Theodor W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und
die phänomenologischen Antinomien, Frankfurt am Main 1990, 137ff.
53
Vgl. Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, Husserliana II, Den Haag
1958, 35.
54
Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, a.a.O., 747.
55
Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, a.a.O., 748. – In diesem erkenntnistheoretischen
Grundverständnis liegt schon, was Adorno ‚ästhetische Erkenntnistheorie‘ genannt hat, „die aus
der Insistenz vorm einzelnen Objekt mehr zu ziehen hofft als aus den Merkmaleinheiten vieler
34 S O. Z E
bloß auf deren Subjektivitätsstruktur – reflektiert, kann allein noch nicht den Vorwurf
des naiven Realismus begründen.
Daß die Behauptung, Erkenntnistheorie sei immer schon auch Gesellschaftskritik, kei-
ne nennenswerte Akzeptanz erfuhr, mag plausibel erscheinen; erstaunlich ist es aber, daß
die zeitgenössische Ethik überwiegend auf die Reflexion gesellschaftlicher Bedingungen
verzichtet oder diese allenfalls in pragmatischen Beispielen beizieht, deren Konstruktio-
nen aber meist wenig mit gesellschaftlichen Erfahrungen und noch weniger mit einem
Begriff von Gesellschaft zu tun haben. Dabei war schon für Aristoteles, auf den viele
Ethiker sich wieder beziehen, die Ethik eine politische Disziplin, weil nur durch Politik
die Bedingungen des Handelns umfassend bereitzustellen sind, und noch für Kant, auf
den andere – teils auch dieselben – sich berufen, war das disharmonische Verhältnis von
Moral, Politik und Gesellschaft ein Stachel, der immer wieder seine Beachtung erzwang.
Was Kant nicht gelang – der widerspruchsfreie Übergang zwischen diesen Bereichen –
wird als sein eigentliches Vermächtnis begriffen, daß es durch theoretische Schlichtung
zu erfüllen gelte, anstatt den Gründen der Aporien nachzufragen. Indem in der vorlie-
genden Arbeit Ungereimtheiten bei Kant zugespitzt statt geschlichtet werden, wird aber
nicht das Potential der Kantischen Philosophie dreingegeben, sondern es wird als kriti-
sches Potential gerade erschlossen.56
Peter Bulthaup hat den Zusammenhang von Erkenntniskritik und Kritik der
Gesellschaft am Verhältnis der mathematischen zu den dynamischen Kategorien
aufgewiesen.57 Dabei versteht er Kants Formulierung, nach der die mathematischen
Kategorien im Unterschied zu den dynamischen keine Korrelate haben, in dem weiten
Sinn, daß ihnen nichts in der Erscheinung korreliere, sondern daß ihre Gegenstände
in der transzendentalen Anschauung konstruiert werden könnten.58 Die dynamischen
Kategorien dagegen gingen auf Gegenstände der Erfahrung. Die Verbindung beider
Kategoriengruppen soll bei Kant durch die Einbildungskraft hergestellt werden,
die als transzendentale die allgemeine Form der Reproduzibilität der Gegenstände
miteinander verglichener“ (Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: Gesammelte
Schriften, Bd. 12, Frankfurt am Main 1975, 34 Anm.). Methodisch sei zu zeigen, daß „die ei-
gene Konsequenz der Objekte in deren Kritik umschlägt. […] Eine immanente Methode solcher
Art setzt freilich allerorten als ihren Gegenpol das dem Gegenstand transzendente philosophische
Wissen voraus.“ (34). Das Verfahren ist weder empiristisch zu beschreiben, noch idealistisch zu
entwickeln.
56
Daß aus Kants Inkonsistenzen etwas zu lernen sei, hat auch Jonathan Bennett, Kant’s Ana-
lytic, Cambridge 1966, VIII, festgehalten. Anders Axel Hutter, Das Interesse der Vernunft. Kants
ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken,
Hamburg 2003, 17.
57
Vgl. Peter Bulthaup, Erkenntnistheorie II (Vorlesung vom 26. 4. 1982), unveröff. Manuskript, Peter
Bulthaup-Archiv, Block 149. Bulthaup, der 2004 starb, hat selbst kaum publiziert; im Peter Bult-
haup-Archiv in Hannover liegt der überwiegend handschriftliche Nachlaß mittlerweile weitgehend
vor.
58
Obwohl Kant unter diesen ‚Korrelaten‘ vorrangig die Gegenbegriffe im Kategorienschema versteht,
liegt der von Bulthaup diskutierten Übergangsproblematik die Differenz in der Korrelation von
Kategorie und Erscheinung zugrunde. Damit ist es eine Interpretation des scheinbar formellen
Unterschieds zwischen den Kategoriengruppen, von dem Kant vermutet, daß er etwas zu bedeuten
habe, ohne doch angeben zu können, was.
E S 35
60
Peter Bulthaup, Erkenntnistheorie II, a.a.O.
61
Peter Bulthaup, Erkenntnistheorie II, mdl. Zusatz nach Tonband-Abschrift, Peter Bulthaup-Archiv,
Ordner ORD-07. Analog konstruiert Bulthaup hinsichtlich der Kritik der praktischen Vernunft eine
‚Spaltung des Subjekts‘ aufgrund der für den Moralbegriff notwendigen Diskrepanz von empiri-
schem und noumenalem Subjekt. Vgl. Peter Bulthaup, Kritik der praktischen Vernunft (Vorlesung
vom 15. 5. 1995), Peter Bulthaup-Archiv, Block 197 bzw. Ordner ORD-025.
62
Vgl. Günther Anders, Die Schrift an der Wand: Tagebücher 1941-1966, München 1967.
E K. Z F A D 37
naiven oder kontemplativen Verhältnisses zur Natur ist nicht einzuziehen; ein solches
Bewußtsein wäre immer mit dem Gedanken an das, vor das es zurück will, verknüpft.
Allerdings ist ein distanziertes Verhältnis der Menschen zu ihrem distanzierten Ver-
hältnis zur Natur denkbar. Zu erreichen wäre es durch die kritische Reflexion auf die
Zwecke von Naturerkenntnis, und diese Zwecke lassen sich nur in der Konstellation von
Geschichte, Politik, Recht, Moral, Erkenntnistheorie und Naturphilosophie erfassen. –
Die Vermittlung vernünftiger Zwecke als Ziel der kritischen Reflexion verweist schließ-
lich auf einen weiten Bildungsbegriff, der subjektive und objektive Bildung – Bildung
von Menschen und Gestaltung der Welt – als wechselseitig reflektierte Momente einbe-
greift.63 Die Erfahrung indes, die nach Bulthaup so gründlich ruiniert ist, kann solcher
Bildung noch aus der ästhetischen Reflexion zukommen, die nicht den Bruch zu kitten,
aber ihn als Bruch in Erfahrung zu bringen vermag. Nicht so sehr die Kunstphiloso-
phie als vielmehr die erläuternde Darstellung an ästhetischen Modellen selbst entspricht
deshalb der theoretischen Disposition der vorliegenden Arbeit.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit, in der Subjekttheorie
nicht bloß überhaupt auf Natur zu reflektieren, sondern einen subjektiv vermittelten
Naturbegriff selbst zu entfalten, der das, was Menschen als Natur auffassen, selbst als
Kulturleistung ausweist. Dafür ist von der geschichtlichen Funktion von Subjektivität
ausgehend, über deren theoretische Grundlegung in politischer Philosophie, Rechts- und
Moralphilosophie sowie Erkenntnistheorie zurückzugehen auf das dem vorgeblich
reinen Subjekt korrespondierende Andere: Die Zuspitzung der Subjektivitätslehre in
teleologischen Überlegungen, die dem Subjekt einen adäquaten Gegenstand konstruie-
ren sollen, ohne dessen Einheit zu gefährden, verweist aus der praktischen Perspektive
dann auf einen Begriff von Zweckmäßigkeit, die als kulturgeschichtlich verfügbare
zu begreifen ist. Darin liegt eine praktisch ganz unerschlossene Bedingung moderner
Subjektivität.
63
Die philosophische Bedeutung von Bildung für die Subjekte der Praxis erschien im Fortschreiten
der vorliegenden Arbeit zunehmend wichtiger. Vgl. Heinz-Joachim Heydorn, Über den Wider-
spruch von Bildung und Herrschaft, Wetzlar 2004, 282ff. sowie Gernot Koneffke, Dennoch:
Bildung als Prinzip. Anmerkungen zu einer Diskussion des Bildungsbegriffs, in: Widersprüche 21
(1986).
64
Wenn Josef Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin 2003,
formuliert, die kritische Philosophie sei „weder eine Subjektivitäts- noch eine Intersubjektivi-
tätstheorie“ (19), so kann das nicht heißen, daß von Subjektivität nicht zentral die Rede wäre.
So hält Klaus Düsing, Subjektivität und Freiheit. Untersuchungen zum Idealismus von Kant bis
Hegel, Stuttgart 2002, 154, fest, Kant entfalte zwar keine Selbstbewußtseinstheorie, werfe aber die
wesentlichen Fragen auf und deute Lösungen an. – Aus dem Verhältnis von zentraler Bedeutung
38 S O. Z E
phie Kants, wenngleich nicht in dem Sinne, daß aus jener diese logisch ableitbar wäre:
Aporien der praktischen Philosophie sind nicht, wie Adorno dies andeutet,65 einfach als
Folgefehler einer verfehlten Erkenntnistheorie zu identifizieren. Vielmehr stellt die theo-
retische Vernunft die formalen Grundlagen vernünftiger Reflexion dar, deren Beziehung
auf Gegenstandsbereiche die Erfahrungsgehalte dieser Bereiche dann jedoch erfordert.
Dann aber muß auch die auf Erfahrungsgehalte bezogene Theorie sich auf die formalen
Bedingungen ihrer Erkenntnis zurückbeziehen lassen.
Dabei geht es aber nicht darum, die formale Richtigkeit von Argumentation und Dar-
stellung abzuprüfen, sondern darum, die Bestimmungen von Subjektivität bis in den
‚intelligiblen Kern‘ der auf Gegenständliches bezogenen Subjekte zurückzuverfolgen:
Wenn es möglich sein soll, daß die handelnden Subjekte ihre Erfahrung selbst auf die
Form ihrer Subjektivität a priori beziehen, so müßte ein Mißverhältnis, das zwischen
Selbsterfahrung und Selbstbewußtsein bestünde, auch in der Reflexion der Subjekte auf
ihre reine Subjektivität wirksam werden. Ein solches Mißverhältnis müßte dann in der
Untersuchung dieser Reflexion gezeigt werden können. Unter dieser Voraussetzung wä-
re ein Moment von Geschichtlichkeit der Subjekte in dem Begriff, den sie von ihrer
Subjektivität haben können, zu berücksichtigen. Es wäre sichtbar zu machen durch die
Umkehrung der Betrachtungsweise gegen die werkimmanente Entwicklungsrichtung der
kritischen Philosophie Kants, durch den Versuch, das Selbstbewußtsein von Praxis auf
die theoretische Form des Selbstbewußtseins zurückzuführen.
Die Beschränkung der Untersuchung auf die kritische Phase folgt dabei nicht primär
dem Motiv, durch Ausschluß der vorkritischen Schriften einen eben noch handhabbaren
Rahmen zu setzen; vielmehr gerät auch für Kant selbst mit der Kritik der reinen Vernunft
die selbstbewußte Subjektivität zum zentralen Prinzip der philosophischen Reflexion,66
und unausgeführter Theorie von Subjektivität und Selbstbewußtsein erklärt Manfred Frank die
Tradition der Selbstbewußtseinstheorien bei Kants Nachfolgern. Vgl. Fragmente einer Geschich-
te der Selbstbewußtseins-Theorie von Kant bis Sartre, in: Ders. (Hg.), Selbstbewußtseinstheorien
von Fichte bis Sartre, Frankfurt am Main 1991, 415 und 418. – Vgl. zur Sache vor allem auch
Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts. Systematische und entwicklungsgeschichtliche
Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Hamburg 1996. Da in
dieser wohl gründlichsten Arbeit zum Thema Subjektivität bei Kant diese als Selbstbewußtsein
und Selbsterkenntnis untersucht wird, beschränkt sie sich eben auch auf die Erkenntnistheorie.
Selbstbestimmung wird daher zunächst auch als theoretische verstanden. Auf die praktische Sei-
te wird allerdings zum Schluß mehrfach hingewiesen (vgl. 396ff. und 407). Die Brücke schlägt
Klemme von den Paralogismen aus. In der vorliegenden Arbeit soll dafür argumentiert werden,
daß die Probleme praktischer Subjektivität mit der theoretischen vor allem über die systematische
Stellung von Antinomien und Teleologie verbunden sind.
65
Vgl. Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, a.a.O., 753.
66
Vgl. Reinhard Brandt, Historisches zum Selbstbewußtsein, in: Burkhard Tuschling (Hg.), Probleme
der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, Berlin 1984, 2. Zwar stellt Dieter Henrich schon für das Jahr 1765
eine vorgängige kopernikanische Wende bei Kant fest, wo dieser die praktische Vernunft bereits als
Ursprung ihrer eigenen Gegenstände erfasse, doch soll hier die Entwicklung im Anschluß an die
systematische Grundlegung des Subjektivitätsprinzips thematisiert werden. Vgl. Dieter Henrich,
Ethik der Autonomie, in: Selbstverhältnisse, a.a.O., 19. Gerade die Untersuchung des Verhältnisses
der Grundlegung von Philosophie mit der Form sittlichen Bewußtseins hat Henrich dort (41) als
Desiderat ausgewiesen.
E K. Z F A D 39
gegen das manche aus der vorkritischen Phase übernommene Motive als Relikte der Ver-
mögenspsychologie erscheinen.67 Allerdings hat Kants Philosophie fortan durchaus mit
dem unhintergehbaren Anspruch zu kämpfen, der aus der einmal zum Prinzip erhobenen
Subjektivität sich unentwegt selbst reklamiert. Die Schwierigkeiten, in die philosophi-
sches Denken gerät, je weiter es dieses Prinzip in die reale Praxis treiben will, sollen nun
als Interpretationskriterien auf die theoretische Entwicklung des Prinzips zurückgewen-
det werden, um – wo und soweit dies möglich ist – Subjektivität grundsätzlich in ihrem
praktischen Zusammenhang faßlich zu machen. Auch das Konzept des erkenntnistheore-
tischen Subjekts steht, so ist zu zeigen, in Beziehung auf solche Zusammenhänge. Weil
nun der Weg von den geschichtlich eingebundenen Subjekten zu deren theoretischem
Selbstverständnis zurückführt, fällt auch das Opus Postumum nicht explizit in den Rah-
men der Untersuchung, zumal Kant hier Konsequenzen gezogen hat, die die kritische
Transzendentalphilosophie über sich selbst hinaustreiben, mit Richtung auf die nach-
kantische idealistische Entwicklung;68 in der vorliegenden Arbeit soll es dabei bleiben,
die Tendenz zu solchen Konsequenzen innerhalb der kritischen Philosophie selbst zu
entwickeln.
Wenn Kant zufolge die praktische Vernunft von Anfang an der terminus ad quem der
kritischen Philosophie gewesen sei, erscheint das Verfahren zulässig, zuerst Probleme
praktischer Subjektivität zu erörtern, um an den Zwischenergebnissen zu messen, ob die
reine Vernunft die Grundlegung auch praktischer Subjektivität leisten kann. Da weiter
praktische Vernunft selbst bei Kant auf objektive Realität angelegt ist und da Kant mehr-
fach – in den Postulaten der praktischen Vernunft, in der Rechtslehre, in der Tugendlehre,
in der Lehre vom ethischen Gemeinwesen und in den Aufsätzen zu Politik und Ge-
schichte – die Möglichkeit dieser objektiven Realität nachzuweisen versucht, erscheint es
ebenso als gerechtfertigt, den Begriff praktischer Vernunft von der geschichtlichen Praxis
her zu rekonstruieren: von der zu begründenden Praxis her zu fragen, ob die praktische
Vernunft diese Begründung leistet. Daraus schließlich, daß dieses Verfahren Brüche im
Begriff des Selbstbewußtseins auf Brüche im Verhältnis von Theorie und Praxis sowie
von Subjektivität und Objektivität zurückführt, erklärt sich die vermittelnde Stellung der
Urteilskraft am Ende der Arbeit. Unter Voraussetzung der genannten Brüche wird auch
die ihr von Kant zugedachte Vermittlungsfunktion einer Prüfung unterzogen, die tiefer
reicht und weiter blicken läßt, als es werkgeschtlich im Aufbau des Kantischen Werks
selbst angelegt ist. – Damit ist die vorliegende Arbeit selbstverständlich keine Kantin-
terpretation in intione recta, die dezidiert Kants Subjektbegriff rekonstruieren wollte;
vielmehr geht sie zugleich – soweit möglich – mit Kant und – wo nötig – gegen ihn auf
das Problem moderner Subjektivität aus, auch wenn sie dabei weitgehend in der Sprache
und im Material der Philosophie Kants verbleibt: Offene Probleme in Kants Subjektivi-
tätsverständnis sollen als negative Ausdrücke moderner Subjektivität entwickelt werden.
Damit sind also Brüche oder Aporien in Kants Denken keineswegs als dessen subjekti-
67
Vgl. hierzu exemplarisch, wenngleich mit anderer Beurteilung, Karl Hepfer, Die Form der Er-
kenntnis. Immanuel Kants theoretische Einbildungskraft, Freiburg 2006, 117.
68
Vgl. Burkhard Tuschling, Widersprüche im transzendentalen Idealismus, in: Ders. (Hg.), Probleme
der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, a.a.O.; dens., Metaphysische und transzendentale Dynamik in
Kants opus postumum, Berlin 1971.
40 S O. Z E
69
Vgl. Theodor W. Adorno, Aspekte, in: Drei Studien zu Hegel, Frankfurt am Main 1991, 17 und
dens., Erfahrungsgehalt, in: Drei Studien zu Hegel, a.a.O., 81. Adorno, der an Hegel vor allem die
stärker geschichtliche Vermittlung der Begriffe hervorhebt, sieht gerade in der geringeren Ausprä-
gung dieser Vermittlung bei Kant ein Festhalten an der Selbständigkeit der Objekte.
E K. Z F A D 41
gisches Problem: Die als diffus, willkürlich und zufällig erscheinenden Handlungen
müßten als solche aus dem Kausalzusammenhang herausfallen. Dann aber wäre kein
konsistenter Begriff von Erfahrung möglich. Zwar würden die Handlungen im Vollzug
der Naturkausalität unterliegen, aber wenn sie ihrem Ursprung nach unter keiner in-
telligibel rekonstruierbaren Gesetzmäßigkeit stünden, fiele der ganze Bereich bewußten
Handelns aus dem Zusammenhang der bewußtseinslosen Erfahrungsobjekte heraus.
Damit sind die Subjekte der Praxis um der Möglichkeit eines systematisch begrün-
deten Bewußtseins von Freiheit willen zwiespältig bestimmt: Sie sind spontane Urheber
ihrer Handlungen und damit Moralsubjekte, zugleich aber sind sie einer antagonistischen
Natur unterworfen, die sie als Moralsubjekte zu Objekten der Vorstellung eines teleolo-
gischen Naturgeschehens macht, in dem sich schon Hegels Vorstellung vom Weltgeist
ankündigt. Zwar ist Kant aufgrund der Vielzahl von Vorbehalten, die er äußert, kei-
neswegs dem Idealismus zuzuschlagen; gleichwohl steht auch seine Philosophie in dem
Zug immanenter philosophisch-begrifflicher Anforderungen und auch im Verhältnis zu
Tendenzen der Zeit, die seine Reflexion immer wieder auf das Ziel eines Abschlusses
festlegen, den es nach Kants kritischem Verständnis in der reinen Theorie nicht geben
kann. Diese Tendenz ist in der Konfrontation mit entwickelten idealistischen Philosophe-
men aufzuzeigen, zumeist bei Hegel, dessen Verhältnis zu Kant gewissermaßen schon
durch Jacobi, Reinhold, Fichte, Schelling und andere hindurch purifiziert ist. Bei Hegel
ist das widerspenstige Konzept der Erfahrungserkenntnis endgültig aufgegeben. –
Jener Antagonismus in den Subjekten und zwischen ihnen setzt sich durch die
Rechtslehre fort, die systematisch eine Reflexionsform der Geschichtsphilosophie dar-
stellt, insofern die allgemeinen rechtlich-politischen Voraussetzungen geschichtlichen
Handelns erörtert werden, und zwar ausgehend vom Allgemeinen Rechtsprinzip, der
konfliktfreien Kompatibilität unterschiedlicher Willkürsphären. Auch hier erfolgt die
Untersuchung ausgehend von der ganz äußerlichen Rechtssphäre, dem Völker- und
Weltbürgerrecht. Dieses Recht ist bei Kant überwiegend Kriegsrecht, obwohl die
kriegerische Handlung kaum unter einen moralischen Rechtsbegriff passen kann.70
Kant entwickelt hier die rechtlichen Formen der Durchsetzung politischer Bedingungen,
unter denen eine Moralisierungsgeschichte allererst einsetzen könnte; dabei geraten
jene Formen aber in ein Verhältnis zum Rechtsprinzip, durch das die ihnen zugedachte
präskriptiv-normative Aufgabe problematisch wird. Unter der Voraussetzung der
70
„Offensichtlich denkt Kant den Krieg noch nicht als einen Handlungszusammenhang, der als sol-
cher, zumindest aber in der Form eines jeden Angriffskrieges, die Würde und Rechte der von ihm
betroffenen Menschen prinzipiell verletzt und daher unbedingt verboten ist.“ (Matthias Lutz-Bach-
mann, Kants Friedensidee und das rechtsphilosophische Konzept einer Weltrepublik, in: Ders./
James Bohman, Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Rechts-
ordnung, Frankfurt am Main 1996, 35). Zumindest die Feststellung, daß Kant dies hätte wissen
können, ist kein „unverdiente[s] Besserwissen der Nachgeborenen“ (Jürgen Habermas, Kants Idee
des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von zweihundert Jahren, in: Matthias Lutz-
Bachmann/James Bohman (Hgg.), Frieden durch Recht, a.a.O., 7). Eine formale Erklärung bieten
Oliver Eberl/Peter Niesen, Immanuel Kant. Zum Ewigen Frieden. Kommentar, Berlin 2011, 138:
Kant löse sich von der Lehre vom gerechten Krieg und behandele dieses Thema als rein rechtli-
ches, als Frage nach dem rechtmäßigen Krieg. Der Studienkommentar zur Friedensschrift hat das
Verdienst, die entsprechenden Paragraphen der Rechtslehre mit zu behandeln.
42 S O. Z E
nen Begriff nach polemisch gegen die vor-rechtliche Privilegienordnung ist,71 wird selbst
zur Organisationsform einer sozialen Differenz, die auf der ersten Besitznahme an Grund
und Boden fußt und gesellschaftliche Subjektivität unter neuen Bedingungen definiert.
Kants Eigentumsbegriff ist daher grundlegend für sein Rechtsverständnis insgesamt, für
die Konzeption von Subjektivität im Recht und damit auch für die Interpretation der Vor-
aussetzung des Antagonismus. Die innerrechtliche Betätigung von Subjektivität fällt in
die Verkehrsformen des rechtlich bestätigten Eigentums, die Verträge. Wenngleich Kant
Schwierigkeiten mit der systematischen Unterbringung des Lohnarbeitsvertrags hat, fin-
den doch schon fast alle gesellschaftlichen und familiären Beziehungen in Vertragsform
statt. Das Subjekt ist hier zur Person formalisiert.
Nun ist das ‚allgemeine Rechtsprinzip‘ nicht mit dem ‚kategorischen Imperativ‘ der
praktischen Vernunft identisch.72 Vielmehr bezieht sich jenes auf schon konkurrieren-
de äußerliche Willkürsphären, dieser dagegen auf die intelligible Willensbestimmung
als solche. Mithin sind auch die Freiheitsbegriffe von Rechts- und Morallehre nicht
umstandslos identisch. Gleichwohl stellt die Rechtslehre einen Versuch dar, die Gegen-
standslosigkeit der reinen Morallehre objektiv aufzubrechen. –
Allerdings vermag es der oft gerügte Formalismus des kategorischen Imperativs
durchaus, einen widerstandsfähigen Begriff von Autonomie zu begründen. Dieser
aber, den Kant als Freiheit im positiven Verstande nur dialektisch mit der Freiheit im
negativen Verstande koppelt, ist als ein durchgängig negativer Begriff zu entdecken.
Die formalistische Abstraktion der Handlungsbedingungen nämlich, die die Positivität
der Freiheit ermöglichen soll, ignoriert eminente Unterschiede in den Handlungsbe-
dingungen, die nicht so sehr Behinderung des Intelligiblen durch erste Natur sind, als
durch zweite Natur. So stellt sich aber die Frage, ob Autonomie überhaupt anders als im
Widerstand der Vernunft gegen unvernünftige Bedingungen ihrer Realisation zu denken
ist. Dann aber wäre sie negativ zu fassen. Deshalb schließen umgekehrt viele Beispiele
Kants, in denen die Subjekte positiv autonom vorgestellt werden sollen, die Negation
der Existenz dieser Subjekte ein. Versuche, der reinen praktischen Vernunft einen
positiven Gegenstand zu verschaffen, scheitern unter unvernünftigen Voraussetzungen.
Die Einschränkung moralischen Handelns durch menschliches Handeln selbst – eine
zutiefst unvernünftige Erscheinung – führt Kant auf die anthropologische Konstitution
der Menschen – das ‚krumme Holz‘ – zurück, und seine Interpreten folgen ihm zumeist
darin bis heute. Das setzt ein Doppelwesen von Vernunft und Sinnlichkeit voraus,
das einerseits Bedingung der Möglichkeit von Moral und Freiheit überhaupt ist – ein
heiliges Wesen ist sowenig Adressat von Moral wie ein bloßes Sinnenwesen –, das aber
andererseits, wenn es als unvermittelbarer Gegensatz unterstellt wird, zum absoluten
theoretischen Hindernis der Realisierung von Moral gerät. Kant hat die Konsequenz,
die Objektivierung von Moral – vernünftige Selbstbestimmung der Einzelnen für sich
71
Vgl. Manfred Riedel, Herrschaft und Gesellschaft. Zum Legitimationsproblem des Politischen in
der Philosophie, in: Ders. (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. 2, Freiburg
1974, 249.
72
Überhaupt wird der kategorische Imperativ in der Rechtslehre nur einmal erwähnt, und zwar im
§ 49. Dort begründet er die Pflicht, die Staatsverfassung nach Rechtsprinzipien einzurichten, steht
also systematisch oberhalb beider.
44 S O. Z E
sein in seiner Möglichkeit. Dem korrespondiert die schwindende Distanz der Subjekte
zu ihren Existenz- und Erfahrungsbedingungen: Kritik erfordert die eminente Selbstun-
terscheidung der Subjekte von den Gegenständen der Kritik; zugleich negierte solche
Unterscheidung die Möglichkeit der Erkenntnis, praktisch womöglich die Verfügung
über die Bedingungen der Existenz selbst. Subjekte, die sich nicht als absolute wähnen
und verhalten, drohen in ein zwiespältiges Selbstbewußtsein abzugleiten. Dem versucht
Kant auszuweichen, indem er an der idealen Identität des Subjekts transzendental fest-
hält und, Schwierigkeiten ahnend, alles Weitere der empirischen Psychologie zuordnet.
Diese Dichotomie, die in Kants Überlegungen zu Anthropologie und zur Pädagogik
ihren Ort hat, bereinigt allerdings lediglich die erkenntnistheoretische Konstruktion, be-
läßt die Subjekte aber im Zwiespalt. Um eines Subjekts der Erfahrung willen, in dem
reine Verstandesbegriffe auf Gegenstände der Erfahrung anzuwenden wären, muß Kant
nun das transzendentale Subjekt ins Verhältnis zu den Gegenständen der Erfahrung set-
zen. Hier wäre nun aber der Ort empirischer Subjekte. Allerdings bemüht Kant die
Vorstellung einer Selbstkonstitution der Subjekte aus der transzendentalen Einheit der
Apperzeption heraus, mittels einer reinen Einbildungskraft, in der sich die Aporetik wie-
derholt.
Sodann sollen Schematismus und Grundsätze die Vermittlung des Äußeren mit dem
Inneren leisten. Diese sind nun alle Zeitfunktionen, also Funktionen des inneren Sinns.
So kommt das transzendentale Subjekt trotz seiner widersprüchlichen, synthetischen
Verfassung a priori nicht mehr aus sich heraus. Im Unterschied zu Hegels Theorie,
die aus solchem Widerspruch zu deduzieren weiß, ist Kants Verfahren insofern redli-
cher, als es die in ihrem Verhältnis zu ihren heterogenen und heteronomen Bedingungen
aporetische Subjektivität in dieser Aporie beläßt. Allerdings entsteht daraus ein Begriff
des Subjektes, in dem dessen Geschichte – im begriffsgeschichtlichen und im wörtli-
chen Sinn – zu einer positiven Vorstellung eines Zwiespältigen verdichtet wird. Damit
erweisen sich die Grundsätze gewissermaßen als Schlüsselkapitel der vorliegenden Inter-
pretation. Hinter ihrer formellen Erscheinung richten sie das Subjekt-Objekt-Verhältnis
auf die Teleologieproblematik aus und verursachen so erhebliche Folgen für die prakti-
sche Subjektivität.
Kants theologische und teleologische Reflexionen bilden schließlich den obersten sys-
tematischen Vermittlungspunkt aller theoretischen und praktischen Bemühungen; ohne
sie wäre die Philosophie nicht als System begründbar; ebenso wenig könnten ohne sie
Subjekte ihr Verhältnis zur Objektivität prinzipiell bestimmen. Im Transzendentalen Ide-
al ist dies grundsätzlich durchgeführt. In dessen gewissermaßen radikaler Selbstreflexi-
on, in der das Subjekt sich grundsätzlich zum Objekt wird, laufen die vorangegangenen
Schwierigkeiten zusammen. Ein an der Subjektivitätsproblematik spezifizierter Einblick
in Kants Theorie regulativer Prinzipien vermag Aufschluß über diese prinzipielle Konsti-
tution von Subjektivität zu geben. Dieser Subjektbegriff weist eine Reihe von Problemen
der Objektivität von Subjektivität als seine eigenen Bestimmungen aus. –
Im Dritten Teil sollen anhand der Kritik der Urteilskraft die Möglichkeiten geschicht-
lich reflektierter Subjektivität erörtert werden. Die Frage nach der Möglichkeit einer
bestimmten Subjekt-Objekt-Beziehung innerhalb eines teleologischen Rahmens verweist
auf die Kritik der teleologischen Urteilskraft, in der die regulative Vorstellung einer
allgemeinen Teleologie entfaltet wird. Diese verweist zwar auf den Prozeß der Kultur-
E K. Z F A D 47
geschichte, ohne daß Kant jedoch diesen selbst für die Bestimmung der Erfahrungswelt
heranzuziehen vermöchte. Gleichwohl drängt sich ebenso in der Kritik der ästhetischen
Urteilskraft, in der eine Grundlegung der Teleologie im Subjekt versucht wird, die Ge-
schichtlichkeit der Subjekte und ihrer Gegenstände auf. Anhand von Kants Modellen,
dem Verhältnis von Kunst und Natur, vor allem aber der Stellung des Erhabenen zur Äs-
thetik sind Momente zu entwickeln, die die Subjekte in ihrer Potenz zur menschlichen
Gattung, zur praktischen Allgemeinheit erkennbar werden lassen.
So läßt sich der scheinbar unmittelbare Naturzusammenhang, dessen Erkennbarkeit
Kant zu der Vorstellung einer kunstanalogen Zweckmäßigkeit veranlaßt, selbst als
Resultat der Kultur- und Zivilisationsgeschichte interpretieren. Kein Gegenstand einer
Naturwissenschaft liegt von selbst in der isolierten Gestalt vor, in der er Gegenstand
von Wissenschaft werden kann. Aber schon die Möglichkeit der Präparation setzt den
geschichtlichen Prozeß der Ablösung der Menschen vom bloßen Naturzusammenhang
voraus, der nur durch kollektive Tätigkeit möglich war, wenngleich deren kollektiver
Charakter nicht selbstbewußt organisiert war. Im Bewußtsein dessen aber ließe sich
der Kunstanalogie in Kants Naturbegriff das Potential weitergehender Vermittlung
von Subjekt und Objekt abgewinnen, die nicht durch blinden geschichtlichen Prozeß
geschähe.
In der Reflexion auf die je eigenen Formbestimmungen von Subjekt und Objekt, von
Mensch und Natur, liegt deshalb die Möglichkeit weniger zerstörender Naturgestaltung,
– gerade weil die Zweckmäßigkeit von Natur so nicht als eine unverfügbar gegebene,
sondern als gestaltete und daher umzugestaltende oder bewußt anders zu gestaltende
gedacht werden könnte. Nicht die Vorstellung einer Unverfügbarkeit von Natur, die in
Wahrheit doch selbst von Menschen verfügt ist und darum auch eingeschränkt oder um-
gangen werden kann, sondern erst das volle Bewußtsein der Menschen, Subjekte ihres
Handelns und Denkens zu sein, kann sie auch zu Subjekten von Verantwortung ge-
genüber ihresgleichen und gegenüber ihren Lebensbedingungen bestimmen. Das volle
Bewußtsein wäre aber das, dem in der Erfahrung etwas korrespondierte; es läßt sich
durch Denken allein sowenig herstellen wie ohne konsequentes Denken. – Indem ein
solches Selbstverständnis der Subjekte grundsätzlich die Kritik an den realen, durch
Sachzwänge dirigierten, Naturbeziehungen der Menschen beinhaltet, ergibt sich auch
daraus aber ein wesentlich potentieller, in sich gebrochener Subjektbegriff. Bei Kant ist
er zu ahnen in der Bestimmung der ästhetischen Erfahrung, die zwar grundsätzlich Na-
turerfahrung sei, die aber in der Erfahrung des Erhabenen auf kollektiv akkumulierten
Leistungen der Gattung beruht, ohne die das ‚Erhabene‘ die Subjekte seiner Erfahrung
vernichtete. Von da aus ist auch der Begriff der ästhetischen Erfahrung insgesamt kri-
tisch zu reflektieren. – Das Problem eines an der Freiheit reflektierten Naturbegriffs,
das für Kant Ausgangspunkt der kritischen Philosophie war, erweist sich so als Leit-
motiv der Darstellung praktischer Subjektivität, ausgehend von deren Geschichte über
ihre Funktionen in Recht, Moral und Erkenntnis zurück in das Selbstbewußtsein ihres
Verhältnisses zur Welt.
Schließlich ist auch unter objektiv widrigen Bedingungen am unverkürzten Anspruch
auf Autonomie festzuhalten, ohne diesen gegen die lebendigen Subjekte zu kehren. Was
sich erkenntnistheoretisch widersprüchlich am reinen Subjekt exponieren ließ, erlangt
mit der ästhetischen Erfahrung eine objektive Selbständigkeit, die die Subjekte als Ge-
48 S O. Z E
stalter ihrer Lebens- und Bildungsbedingungen – ihrer Welt – ausweist, die weder mo-
raltheoretisch noch erkenntnistheoretisch allein darstellbar wäre. Das Mißverhältnis von
subjektivem Selbstbewußtsein und objektiven Bedingungen der Subjektivität von Selbst-
bewußtsein ist ein alter topos der Kunst- und Literaturgeschichte. In der Moderne wird
er zunehmend zum Prinzip der Darstellung, deren brüchige Reflexivität zum adäquaten
Darstellungsmedium moderner Subjektivität entwickelt wird. Dies kann, wegen jenes
Mißverhältnisses, hier nur in Form einer Mauerschau noch angedeutet werden.
Die Aporien im praktischen und im theoretischen Selbstbewußtsein werden dadurch
nicht behoben. Im Bewußtsein ihrer können die Menschen aber eine Selbstbestimmung
realisieren, die sich von der abstrakten, durch bloße Beherrschung von Natur und
von Menschen realisierten Selbstbehauptung unterscheidet. Auch hier gilt: Positiv
Handlungsmaximen zu formulieren, hieße vorwegzunehmen, was vor und außerhalb der
Selbstvergewisserung der Subjekte selbst weniger wäre als ein Traum. So respektabel
das Verlangen nach immerhin schrittweisen Verbesserungen ist, so erzielt doch die
Praxis, die sich nicht radikal selbstbewußt von der bloßen Selbstbehauptung abhebt,
Verbesserungen immer nur als Akkomodationen; geschieht dies aber im Bewußtsein des
Widerspruchs mit dem eigenen Anspruch auf Selbstbestimmung, so bleibt sie immerhin
für eine mögliche Geschichte offen.
I. Teil: Praxis
I Zur Subjektivität in der Geschichte
durch Begriffe bestimmbaren Ordnung stehen, und nur so weit, wie diese Bestimmung
gelingt, reicht der philosophische Geschichtsbegriff. Außerhalb dieser Bedingung blie-
be Geschichte Gegenstand von dramaturgisch ungestalten Erzählungen oder von bloß
chronologischer Dokumentation.1
Für Kant ist das zeitliche Dasein der menschlichen Gattung das Medium ihrer
Entwicklung; Menschen haben sich zivilisatorisch, kulturell und sittlich-politisch
zunehmend aus dem bloßen Naturzusammenhang emanzipiert und diese Emanzipation
über Generationengrenzen hinweg erhalten und ausgebaut. Der allgemeine Begriff
einer solchen Emanzipation wäre der des Fortschritts, der als Begriff eines Prozesses
die vermittelnde Einheit eines Ausgangs- und eines Endzustandes vorstellt.2 Insofern
Geschichte nur als Prozeß vernünftig zu denken ist und als solcher die Einheit von
Unterschiedenem darstellt, ist ihr Begriff von vornherein ein Widerspruch: Jedes
Ereignis ist – als Moment eines Prozesses – zugleich durch etwas bestimmt, was es
nicht mehr ist, und durch etwas, was es noch nicht ist. Dieser Widerspruch soll durch
eine Richtung, eine Ordnung, entschärft werden, indem die zusätzliche Vorstellung
einer rationalen Entwicklungsrichtung die Ereignisse von ihrem Ursprung negativ
abgrenzt, sie aber auf ihr Ziel positiv hinordnet. Damit ergibt sich schon allein aus
der Absicht, Geschichte auf ihren positiven Begriff zu bringen, ein teleologischer
Geschichtsbegriff.
Das letzte Ziel der Geschichte der Menschen ist nun Kant zufolge die sichere Mora-
lisierung von deren Handlungen, in einem ethischen Gemeinwesen, dessen Mitglieder
nicht, wie in einem juridischen Gemeinwesen „unter öffentlichen Rechtsgesetzen (die
insgesamt Zwangsgesetze sind) stehen [sondern] […] unter dergleichen zwangsfreien,
d. i. bloßen Tugendgesetzen vereinigt sind“3 . Kultur und Zivilisation erscheinen als sub-
alterne Ziele, deren Realisierung, wenngleich mit Bedauern, durchaus ohne Moralisie-
rung möglich sei: „Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft cultivirt.
Wir sind civilisirt, bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Arbeit und An-
ständigkeit. Aber uns für schon moralisirt zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn
die Idee der Moralität gehört noch zur Cultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher
nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft,
macht blos die Civilisirung aus. […] Alles Gute aber, das nicht auf moralisch-gute Ge-
sinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein“4 . Der Mangel der Kultur besteht darin,
daß Moralität bloß abstrakt gedacht wird, der Mangel der Zivilisation darin, daß ihr bloß
formell, pflichtgemäß, genügt wird. Beide Zustände sind durch ein negatives Verhältnis
zur Moral bestimmt, so daß deren Begriff ihnen logisch vorgeordnet ist, obwohl er ih-
nen doch historisch erst folgt. Diese Bestimmung von Kultur und Zivilisation kann nur
in ein Bewußtsein fallen, das schon in gewissem Maße kultiviert und zivilisiert ist, und
1
So unterscheidet Kant die bloße Naturbeschreibung des empirisch Reisenden von der durch ein
Prinzip geordneten Naturgeschichte. Vgl. Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 161.
2
Birgit Recki bezeichnet: „Fortschritt als ein[] Postulat umwillen einer haltbaren Arbeitshypothese
in historischer Perspektive“ (Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt, Paderborn
2006, 8).
3
Religion, B 131.
4
Idee, VIII 26.
S F B 53
das erst aufgrund dessen einen Moralbegriff entwickelt hat. Dessen Mangel fällt nicht in
die Kultivierung und Zivilisierung selbst, sondern in das kultivierte und zivilisierte Be-
wußtsein, das diese Zustände nicht widerspruchsfrei unter Vernunftbegriffe zu bringen
vermag, mithin in ein Bewußtsein, das über historische Erfahrungen verfügt und diese
Erfahrungen systematisch zu ordnen beabsichtigt.5 Führen Kultur und Zivilisation, die
für die Überwindung des Naturzustandes stehen, zugleich die Gefahr des Rückfalls in
den Naturzustand mit sich, so kann der geschichtliche Prozeß nicht als abgeschlossen
betrachtet werden. Dies erforderte im Gegenteil die aus sich selbst heraus notwendige
Allgemeinheit, in der die sie bedrohenden Antagonismen nicht bloß äußerlich gehemmt
wären. Diese Allgemeinheit wäre erst die universelle moralische Verfassung der Men-
schen.6
Aus Kultur und Zivilisation folgt nun die Moralisierung nicht von selbst. Weil die
durch sie bewirkte Distanz zum Naturzustand aber Bedingung für selbständiges – nicht
bloß zweckrational reagierendes – Handeln überhaupt ist, gilt es, diese moralisch de-
fizitären Zustände dennoch zu bewahren. Weil sie defizitär sind, bedarf ihre Erhaltung
äußerlicher Vorkehrungen. Deshalb ist auch die politische Organisation der Menschen,
die dies leisten soll, unabhängig von der Moralisierung notwendig und möglich, indem
„der Mensch, wenn gleich nicht ein moralisch-guter Mensch, dennoch ein guter Bürger
zu sein gezwungen wird. […] Denn es ist nicht die moralische Besserung der Men-
schen, sondern nur der Mechanism der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt,
wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Ge-
sinnungen in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben
einander selbst nöthigen, und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben,
herbeiführen müssen.“7 Der politische Zustand dient der Überwindung der erbarmungs-
losen Konkurrenz der Menschen um ihre Lebensbedingungen im Naturzustand. Indem
Kant diese Konkurrenz, die die Menschen sowohl aufeinander anweist als auch sie ge-
geneinander aufbringt, als Naturmechanismus interpretiert, gelingt es ihm wohl, ihn für
den geschichtlichen Fortschrittsgedanken selbst zu instrumentalisieren: Die Konkurrenz
bedingt so um ihrer selbst willen ihre eigene Beschränkung. Allerdings wird sie, das
Prinzip des Naturzustandes, auf diese Weise im politischen Zustand nicht behoben, son-
dern sie wird selbst auch zu dessen Prinzip.8
5
Insofern erlaubt es der Geschichtsbegriff, anders als die Moralphilosophie, Moral und Erfahrungs-
welt zusammenzudenken. Er ist dann „praktisches Selbstverständnis handelnder Menschen“ (vgl.
Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Phi-
losophie, Frankfurt am Main 1984, 86ff.; 90).
6
Es handelt sich also um einen grundsätzlichen Konflikt von Zivilisation und Moral, nicht um
eine ressentimentgeschwängerte Abwertung von Zivilisation, die Kant als Vertreter der mittelstän-
dischen Intelligenzschicht gegen die höfische Oberschicht wendet. Vgl. Norbert Elias, Über den
Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1, Frankfurt
am Main 1976.
7
EF, VIII 366.
8
Konkurrenz auf sich selbst gestellter Subjekte ist das Prinzip neuzeitlicher Politik; mag sie dies
zuvor auch schon gewesen sein, so wird sie nun zum selbstbewußten Prinzip. Dornröschenhaft
mutet es an, wenn Jürgen Habermas im Jahr 2005 bemerkt, die gesellschaftliche Integrität habe
sich „zugunsten wirtschaftlicher Imperative verschoben, die einen am je eigenen Erfolg orien-
54 Z S G
Dadurch tritt nun die Moralität in ein problematisches Verhältnis zur Politik. Das
moralische Bewußtsein setzte Kultur und Zivilisation voraus und war selbst der öf-
fentlichen Moralisierung vorausgesetzt. Deren Realisierung verlangte die Stabilität der
Zivilisation und Kultur durch politische Verfassung. In einer solchen politischen Verfas-
sung steht das moralische Bewußtsein inmitten einer nicht moralischen Öffentlichkeit.
Soll es aber nicht bloß abstrakt bleiben, dann muß es sich selbst öffentlich formieren
können. Daraus resultiert Kants Vorstellung des ethischen Gemeinwesens, das außer-
halb stabiler politischer Verhältnisse „gar nicht zu Stande gebracht werden könnte“, aber
durch „ein besonderes und ihm eigentümliches Vereinigungsprinzip (die Tugend)“9 sub-
stantiell von der juridischen Verfassung des politischen Gemeinwesens unterschieden
ist. Die Realisierung des letzten Ziels der Geschichte vollzieht sich danach notwendig
in einem Medium, dessen sittliche Form ihm nicht entspricht. Wenn beider Verfassun-
gen ‚wesentlich‘ unterschieden sind, kann der geschichtliche Fortschritt der Menschheit
kein evolutionärer Übergang vom juridischen zum ethischen Gemeinwesen sein. Dieses
muß sich also zur Gänze gegen jenes richten und die Berechtigung seines Bestehens
bezweifeln; gleichwohl ist das juridische Gemeinwesen dem Bestehen des ethischen
vorausgesetzt, so daß dieses, wenn es dessen Bestehen in Zweifel zieht, zugleich sein
eigenes zur Disposition stellt.
In dieser Aporie steht das Subjekt des Bewußtseins geschichtlichen Fortschritts in
der bürgerlichen Gesellschaft.10 Sie liegt allen seinen Aporien, in die es geraten wird,
zugrunde. Ihr eigener Grund ist der Antagonismus zwischen dem moralischen Univer-
salitätsanspruch des aufgeklärten Subjekts mit der Partikularität der Bedingungen der
Realisierung jenes Anspruchs. Von der Modalität dieser Partikularität – ob sie notwen-
tierten Umgang der handelnden Subjekte miteinander prämieren“ (Die Grenze zwischen Glauben
und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie, in:
Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt am Main 2005, 247).
9
Religion, B 130.
10
Die Bezeichnung ‚bürgerlich‘, die hier und im Folgenden in den Zusammenhängen von Ge-
sellschaft, Recht, Moral, Wissenschaft und anderen verwendet wird, ist nicht für sich pejorativ
aufzufassen; sie bezeichnet die Epoche des Bürgertums mit ihrem spezifischen Verständnis von
Freiheit, Gleichheit, Fortschritt etc. und der Entwicklung der sozialen und ökonomischen Selbstän-
digkeit der Subjekte, die aus der Privatisierung des Grundeigentums und dem Aufstieg der Städte
und der Warenmärkte hervorgeht. Die Bedeutung dieser Entwicklungen und ihrer theoretischen Re-
flexion für das individuelle und das kollektive Selbstverständnis von Subjekten sind ein zentrales
Motiv der Untersuchung. Daher bezeichnet der nähere Ausdruck ‚bürgerliche Gesellschaft‘ auch
nicht, etwa im Unterschied zur ‚Zivilgesellschaft‘, schichtenspezifisch die Zeit der Dominanz einer
gehobenen bürgerlichen Bevölkerungsschicht, sondern er bezeichnet konstitutive gesellschaftliche
Prinzipien auf der Ebene der Erhaltung der Gesellschaft: Dies sind zunächst das Verhältnis der
Menschen zueinander als Rechtssubjekte, die allgemeine und grundlegende Vermittlung der Per-
sonen über Rechtsbeziehungen, die dafür vorausgesetzte Bestimmung aller als Eigentümer (oder
Nicht-Eigentümer) und schließlich die Existenz der grundlegenden Eigentumsform, des Eigentums
an Produktionsmitteln, das die gesellschaftliche Verwiesenheit aller aufeinander notwendig macht.
Die besonderen Erscheinungsweisen dieser Prinzipien führen zu gesellschaftlichen Ausdifferen-
zierungen, nicht aber zu substantiellem Wandel. – Das Personalitätsprinzip als Kern ‚bürgerlicher
Subjektivität‘ hat Dieter Henrich hervorgehoben: Die Grundstruktur der modernen Philosophie,
a.a.O., 100.
S F B 55
dig ist oder nicht – wird es abhängen, ob jene Aporien solche der modernen Subjekte
oder solche von Subjektivität überhaupt sind. Träfe dies letzte zu, so wäre das moder-
ne Konzept praktischer Subjektivität in der Tat eine Illusion: Selbstbestimmung wäre
stets pragmatisch zu vermitteln, ihr Maßstab wäre der kontingente des jeweils politisch
Möglichen. Autonomie, ihrem strikten Begriff nach, fiele dahin.11
Nach Kant befinden sich „[i]n einem schon bestehenden politischen gemeinen We-
sen […] alle politischen Bürger als solche doch im ethischen Naturzustande“12 . Dieser
ethische Naturzustand ist als Negation des moralischen Zustandes gedacht, in ihm sind
die Verhältnisse der Menschen nicht nach moralischen Gesetzen geordnet. Da er mit
dem Rechtszustand des politischen Gemeinwesens koinzidieren kann, läßt dieser offen-
bar unsittliche Handlungen zu, deren Gehalt keineswegs auf die Verletzung puritanischer
Vorstellungen von Sittlichkeit beschränkt wäre, sondern durch die Freiheit der Anderen
„beständig angefochten wird“13 . Dies sind Handlungen, durch die der Handelnde sich ge-
genüber seinen Mitmenschen auf moralisch nicht vertretbare Weise Vorteile verschaffen
will; gleichwohl sind diese Handlungen rechtlich zulässig. Die bürgerliche Konkurrenz
– in ihrer Konsequenz die in der realistischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts allge-
genwärtigen Maxime, durch die Ruinierung anderer den eigenen Gewinn zu vergrößern
– gilt Kant als Triebfeder der Privatrechtsgemeinschaft: „Allein in einem solchen Gehe-
ge, als bürgerliche Vereinigung ist, thun eben dieselben Neigungen [der Not, die Men-
schen sich wechselseitig zufügen; M.St.] hernach die beste Wirkung […] Alle Cultur
und Kunst, welche die Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche Ordnung, sind
Früchte der Ungeselligkeit“14 . Die zerstörerische Wirkung dieser Neigungen wird nun
bereits durchs Recht beschränkt; das Ziel der Geschichte, Moralität, erfordert darüber
hinaus die moralische Beschränkung des rechtlich Zulässigen.
Der Liberalismus, der mit der Entwicklung bürgerlicher Rechtsverhältnisse einher-
geht und insofern eine zivilisatorische Funktion zu erfüllen scheint, hat tatsächlich den
Kampf aller gegen alle nicht behoben, sondern in Rechtsformen gebannt, denen gemäß
11
Diese Aussicht bestimmt vielfach die Neigung bürgerlicher Geschichtstheorie zur Teleologie. Vgl.
z. B. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, a.a.O., 114: „Wenn der Begriff ‚Menschheit‘
überhaupt etwas bedeutet, dann dies: daß trotz aller Unterschiede und Gegensätze zwischen den
verschiedenen Formen von ‚Menschsein‘ alle diese Formen auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten.
Auf lange Sicht muß ein herausragendes Merkmal, ein universeller Charakter zu finden sein, in
dem sie alle übereinstimmen und harmonieren.“
12
Religion, B 132.
13
Religion, B 127.
14
Idee, VIII, 22. Ein differenziertes Verhältnis von Kultur, Moral und Ungeselligkeit beschreibt Kant
in der Anthropologie, VII 327f.: „Der eigene Wille ist immer in Bereitschaft, in Widerwillen
gegen seinen Nebenmenschen auszubrechen, und strebt jederzeit, seinen Anspruch auf unbedingte
Freiheit, nicht blos unabhängig, sondern selbst über andere ihm von Natur gleiche Wesen Gebieter
zu sein; welches man auch an dem kleinsten Kinde schon gewahr wird: weil die Natur in ihm von
der Cultur zur Moralität, nicht (wie es doch die Vernunft vorschreibt) von der Moralität und ihrem
Gesetze anhebend, zu einer darauf angelegten zweckmäßigen Cultur hinzuleiten strebt; welches
unvermeidlich eine verkehrte, zweckwidrige Tendenz abgiebt: z. B. wenn Religionsunterricht, der
nothwendig eine moralische Cultur sein sollte, mit der historischen, die blos Gedächtnißcultur ist,
anhebt und daraus Moralität zu folgern vergeblich sucht.“
56 Z S G
die Menschen durchaus einander Schaden zufügen können sollen.15 Daß sie dies tun, sei
nicht ihrer „eigenen rohen Natur“ zuzuschreiben, wohl aber der menschlichen Gesell-
schaft als solcher: „Er [der Mensch] ist nur arm (oder hält sich dafür), sofern er besorgt,
daß ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten. Der Neid, die
Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestür-
men alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es ist
nicht einmal nötig, daß diese schon als im Bösen versunken, und als verleitende Bei-
spiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben und
daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu ver-
derben, und sich einander böse zu machen.“16 Dabei liegt die Anlage zum Bösen, das
böse Prinzip, ebenso in den Einzelnen wie die Anlage zum Guten: Beide gehen auf die
vor aller Erfahrung gegebene Fähigkeit zurück, moralische oder nicht-moralische Ma-
ximen zu wählen, den „subjektive[n] erste[n] Grund der Annehmung dieser oder jener
Maxime, in Ansehung des moralischen Gesetzes“17 . Der Grund des Guten ist danach
die Bestimmung der eigenen Willkür durch eine Maxime gemäß dem moralischen Ge-
setz, der Grund des Bösen dagegen die Entscheidung für eine Maxime, die dem Gesetz
nicht untersteht. Das Vermögen der Bestimmung des Willens wird so zum einen Grund
des Guten und des Bösen, auf das es je festgelegt wird durch Rangfolge der wirkenden
Triebfedern – der Moral oder etwas anderem.18
15
Allgemein gilt, daß die Befriedung eines Kampfes oder Krieges nur dann erfolgreich ist, wenn
die Gründe der feindlichen Handlungen beseitigt werden können. Diese Gründe liegen in der ge-
sellschaftlichen Funktion von Gewalt. Sind es offene oder sublimierte Gewalthandlungen, durch
die die Gesellschaft als Zusammenhang konstituiert wird, bleibt die Befriedung wirkungslos oder
führt zum Zerfall der Ordnung. Da die bürgerliche Gesellschaft auf der Konkurrenz von Interessen
beruht, kann ihr Recht nicht diese Konkurrenz aufheben, sondern bloß vermitteln. Interessenkon-
kurrenz fällt insofern unter den Gewaltbegriff, als ihr Ziel die Vernichtung des Konkurrenten,
zumindest als ökonomische Größe, ist.
16
Religion, B 128. Vgl. Anthropologie, VII 270: „Leidenschaften gehen eigentlich nur auf Men-
schen“.
17
Religion, B 8.
18
Vgl. Religion, B 34f. Kants Reflexion aufs Böse, das eben auch nicht mehr als ein Reflexionsbegriff
– noch nicht einmal privatio boni debiti – ist, reagiert auf das Problem, über die Morallehre hinaus
auch unmoralisches Handeln als frei verstehen zu können, was nur gelingt, wenn die praktische
Vernunft nicht das letzte oder einzige Vermögen der Freiheit ist. Deshalb versteht Samuel Klar
Kants Freiheitsbegriff als dezisionistisch (vgl. Moral und Politik bei Kant. Eine Untersuchung
zu Kants praktischer Philosophie im Ausgang der ‚Religion innerhalb der Grenzen der bloßen
Vernunft‘, Würzburg 2007). Durch den Gedanken an ein ‚hinzutretendes‘ unableitbares Moment
der Entscheidung wird die Möglichkeit reiner praktischer Vernunft aber paradoxer Weise gerade
bewahrt. Sonst wäre nämlich jede unmoralische Handlung pathologisch und damit nicht zurechen-
bar. – In der Religionsschrift betreibt Kant gerade keine „Selbstentmachtung der Vernunft“ (Hans
Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979, 416). Zwar ist Blumenbergs Polemik
gegen solche Selbstentmachtung beizustimmen, wie auch dem Hinweis, daß Kants Geschichtsbe-
griff in Aporien gerät, die „jeder selbstmächtigen Erhebung des Menschen in den Zustand vollen
Vernunftgebrauchs das Recht und den Atem“ benehmen (415), aber das Theorem des radikalen
Bösen ist dazu nicht ohne weiteres geeignet, und es ist auch nicht als philosophische aufgerüstete
Erbsündenlehre zu lesen. – Auf die Bedeutung für Kants Freiheitsbegriff hat Thomas Leinkauf
hingewiesen: Schelling als Interpret der philosophischen Tradition. Zur Rezeption und Transfor-
S F B 57
Einen Hang zum Bösen, die Moral anderen Antrieben nachzuordnen, haben die Men-
schen immer schon, insofern die Glückseligkeit ihr notwendiges Ziel ist;19 zugleich liegt
die Fähigkeit zum Guten in dem Vermögen reiner Vernunft, für sich selbst praktisch
zu werden und alle anderen Triebfedern sich unterzuordnen.20 Kant betont, daß wohl
dieses Prinzip im Wesen der Menschen liege und in diesem Sinn angeboren sei, daß
aber „nicht die Natur die Schuld derselben [Charaktere] (wenn er böse ist) oder das Ver-
dienst (wenn er gut ist) trage, sondern daß der Mensch selbst Urheber desselben sei“ und
daß „der erste Grund der Annehmung unserer Maximen, der selbst immer wiederum in
der freien Willkür liegen muß, kein Faktum sein kann, das in der Erfahrung gegeben
werden könnte“21 . Ebenso heißt es von dem im Zustand allseitiger Anfeindung befindli-
chen Menschen, daß er „[i]n diesem gefahrvollen Zustande […] gleichwohl durch seine
eigene Schuld“22 sei. Damit unvereinbar erscheint Kants weitere Behauptung, daß die
Gesellschaft anderer Menschen ihn erst ‚böse macht‘. Die Schwierigkeit liegt darin, daß
Kant nicht erklären könnte, warum Menschen in Gesellschaft sich wechselseitig böse
machten, wenn ihnen nicht selbst das böse Prinzip innewohnte. Wäre nämlich das Böse
nur Resultat gesellschaftlicher Beziehungen, könnte es niemandem zugerechnet werden
und wäre so kein Böses. Da es aber auch Resultat solcher Beziehungen ist, kann es
nicht ohne weiteres dem Einzelnen empirisch zugerechnet werden, der außerhalb solcher
Beziehungen als bescheiden, maßvoll und ruhig erscheint. Indem allerdings derartige re-
lative Bestimmungen zur Differenz von Gut und Böse beigezogen werden, wird deutlich,
wie wichtig Kant das gesellschaftliche Moment ist, denn für die moralische Beurteilung
allein wäre das gesellschaftliche Verhältnis streng genommen irrelevant: Die Fähigkeit
der Maxime zur Allgemeinheit gemäß dem kategorischen Imperativ bezieht sich nicht
auf die Allheit der Menschen, sondern die der möglichen vernünftigen Wesen,23 so daß
selbst im abstrakten Begriff des ‚einzigen Menschen‘ Moralität einen Ort hätte.
Das Böse, der Mangel an Moralität in den menschlichen Verhältnissen, wird demnach
sowohl den Einzelnen als auch ihrer gesellschaftlichen Vereinigung zugerechnet: Kant
benutzt den Singular ‚der Mensch‘ äquivok: „Wenn wir also sagen: der Mensch ist von
Natur gut, oder, er ist von Natur böse: so bedeutet dieses nun so viel, als: er enthält einen
(uns unerforschlichen) ersten Grund der Annehmung guter, oder der Annehmung böser
(gesetzwidriger) Maximen; und zwar allgemein als Mensch, mithin so, daß er durch
dieselbe zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt.“24 Gehören nun die gesell-
schaftlichen Beziehungen zur Natur der Menschen, so kommen ihnen deren Wirkungen
ebenso wesentlich zu. Die ‚an sich genügsame‘ Natur der Einzelnen entpuppt sich dann
aber als Robinsonade, bestenfalls als Negation von Gesellschaftlichkeit. Das Böse qua
mation von Platon, Plotin, Aristoteles und Kant, Münster 1998, 160. Der Blick von Schelling aus
zeigt das spekulative Potential von Kants Überlegung auf.
19
Vgl. Religion, B 23, B 35, sowie KpV, V 34ff.
20
Vgl. Religion, B 18f.
21
Religion, B 8.
22
Religion, B 127.
23
Vgl. KpV, V 19.
24
Religion, B 7f. Zur Verschränkung von Gattung und Individualität in der ‚intelligiblen Tat‘, die
den Charakter begründen soll, vgl. Thomas Leinkauf, Schelling als Interpret der philosophischen
Tradition, a.a.O., 162f.
58 Z S G
25
Vgl. Religion, B 94ff.
26
Vgl. dazu Christian Iber, Religion als Ideal einer wirkmächtigen Moral bei Kant, in: Michael
Städtler (Hg.), Kants ‚Ethisches Gemeinwesen‘. Die Religionsschrift zwischen Vernunftkritik und
praktischer Philosophie, Berlin 2005, 108: „Folgerichtig gerät Kant die geschichtsphilosophische
Vermittlung von Moral und Geschichte sehr ungeschichtlich. Denn die Autonomiemoral fordert
nicht etwa, daß die Bedingungen ihrer Verwirklichung hergestellt werden, sondern sie verlangt
von den Menschen, so zu tun, als wäre das Ideal bereits wirklich.“ – Vgl. auch Kosmas Psycho-
pedis, Untersuchungen zur politischen Theorie von Immanuel Kant, Göttingen 1980, 26: Kants
Kulturtheorie „stellt den in der bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Formalismus nicht in Fra-
ge, sondern fordert von den in dieser Gesellschaft lebenden Menschen, daß sie durch unbedingte
moralische Akte den gesellschaftlichen Formalismus moralisieren sollen“.
S F B 59
seitigen Willen, mithin die ständige Anfeindung durch das Böse selbst zu verantworten
hätten. Der Widerspruch, den Kant in der Rechtfertigung ausmacht, daß dem Subjekt et-
was zugerechnet werden soll, das es nicht bewirken kann, hat einen Grund in der Sache:
Das an der Gesellschaft handelnd teilnehmende Willenssubjekt soll für deren morali-
sches Defizit verantwortlich sein, ohne diese Verhältnisse doch selbst bewirkt zu haben;
im Gegenteil muß es an der schon ausgebildeten Gesellschaft deren Regeln gemäß teil-
nehmen, bei Strafe des eigenen Untergangs. Weil Kant die historischen Bedingungen
seines Gegenstandes nicht als solche zur Kenntnis nimmt, transponiert er den sachlichen
Widerspruch ins Bewußtsein der handelnden Subjekte als deren moralische Aufgabe.
Weil diese die Verhältnisse der Menschen zueinander betrifft, erscheint die Überwin-
dung des Widerspruchs als moralgeschichtlicher Prozeß; wenn jener Widerspruch die
Natur der Menschen aber selbst bestimmt, so entgleitet ihnen notwendig dieser Prozeß;
sein Ort, das ethische Gemeinwesen, erhält eine eigentümlich statische Form.
Um dem bösen Prinzip auch in seinem gesellschaftlichen Moment adäquat zu begeg-
nen, sei nun die unbedingte Geltung des Sittengesetzes zu ergänzen „durch Errichtung
und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben“27 .
Diese ‚Gesellschaft‘ soll als ethisch verfaßtes Gemeinwesen erstens den moralischen
Mangel der Rechtsordnung, deren Gesetze „insgesamt Zwangsgesetze“28 sind, aufhe-
ben und zweitens den Mangel der Moral in Hinblick auf reale Sittlichkeit überwinden.
Das Verfassungsprinzip des ethischen Gemeinwesens muß daher das Sittengesetz sein,29
kann aber nicht darauf beschränkt bleiben, denn „das höchste sittliche Gut [kann] durch
die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit al-
lein nicht bewirkt“30 werden. Die vereinzelten moralischen Subjekte stehen nicht in
einem moralisch bestimmten Verhältnis zueinander, und dadurch ist auch ihre indivi-
duelle Moralität ständig bedroht. Zwar gründet die Bestimmung der Moralität notwen-
dig in der zur Selbstbestimmung aus praktischer Vernunft fähigen Subjektivität, aber
ihre geforderte gesellschaftliche Realisierung ist mehr als die Summe aller partikula-
ren Realisierungen durch Individuen; schon deswegen, weil niemand einen anderen zur
Selbstbestimmung verbinden kann. Weil zudem der Begriff moralischer Zusammenstim-
mung der Menschen diese als Gattungswesen betrifft, ist „der Begriff eines ethischen
gemeinen Wesens immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen“31 und
jedes partikulare ethische Kollektiv32 bleibt deshalb ebenso im ethischen Naturzustand
27
Religion, B 129.
28
Religion, B 131.
29
„Wenn nach den Weisen, Gemeinschaft zu verstehen, gefragt wird, zielt diese Frage also auf das
Prinzip, durch das wir Gemeinschaft konstituieren. [...] Aber nicht nur die Subjekte der morali-
schen Welt sind anders, nämlich als potentiell moralische Subjekte zu verstehen, die gemeinsame
Welt selbst, wie sie im Begriff des ethisch gemeinen Wesens gesucht wird, kommt ohne eine
Rückbindung an die praktische Vernunft nicht aus, wenn sie mehr als ein Gedankenkonstrukt sein
soll.“ Bettina Stangneth, Kultur der Aufrichtigkeit. Zum systematischen Ort von Kants ‚Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘, Würzburg 2000, 165.
30
Religion, B 136.
31
Religion, B 133.
32
Der Ausdruck ‚Kollektiv‘ soll jenseits von Gesellschaft und Gemeinschaft die gemeinsame Orga-
nisation und Durchführung des Zusammenlebens von Menschen bezeichnen. Es sind damit keine
60 Z S G
wie diejenigen, die keinem solchen Gemeinwesen beitreten, denn die Realisierung der
Sittlichkeit innerhalb eines partikularen Kollektivs bleibt ständig bedroht, solange es in
irgendeiner Weise auf gesellschaftliche Kontakte zu anderen Gemeinwesen – zum Bei-
spiel auf Handelsbeziehungen – angewiesen ist. Da diese Kontakte selbst nicht moralisch
bestimmt sind, bedrohen partikulare ethische Kollektive auch wechselseitig ihre Sittlich-
keit. Gegen diese partikularisierende Wirkung des bösen Prinzips bedarf es daher neben
dem Sittengesetz eines die Menschen „vereinigenden Prinzips“33 , das eine „von allen
moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, daß es in unserer Gewalt
stehe) ganz unterschiedene Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir
nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe“34 . Dieses Prin-
zip muß die praktische Vernunft denken können, um die Objektivität von Freiheit zu
denken.
Weil moralische Freiheit für Kant ein Faktum der Vernunft35 ist, hat die Idee ethi-
scher Kollektivität „in der menschlichen Vernunft ihre ganz wohlgegründete objektive
Realität“36 und bezeichnet eine „Pflicht […] des menschlichen Geschlechts gegen sich
selbst“37 . Weil das Sittengesetz den Einzelnen aber nur hinsichtlich seiner selbst un-
bedingt verbinden kann, wird man „schon zum voraus vermuten, daß diese Pflicht der
Voraussetzung einer anderen Idee, nämlich der eines höheren moralischen Wesens be-
dürfen werde, durch dessen allgemeine Veranstaltung die für sich unzulänglichen Kräfte
der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden“38 . Ein ethisches Ge-
meinwesen ist nur mittels einer zusätzlichen Vernunftidee zu denken, die der Selbstbe-
stimmung der Einzelnen den Begriff koordinierter Kollektivität hinzufügt. Diese Idee
geht aus der Vernunft hervor, aber ihre Geltung kann nicht innerhalb der je einzelnen
moralischen Subjekte begründet werden, weil sie alle in ihrem Verhältnis zueinander
moralisch verbindet. Da der logische Ort dieser Idee die praktische Vernunft ist, konstru-
iert Kant den Begriff einer hypostasierten Vernunft als Geltungsgrund: Das ist die Idee
jenes ‚höheren moralischen Wesens‘, deren Inhalt die Vereinigung der unzulänglichen
Kräfte der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung durch allgemeine Veranstaltung
ist. So ist sie der Begriff rationaler Kooperation zur Verwirklichung des moralischen
Anleihen an die Verwendung dieses Ausdrucks in der politischen Nomenklatur des sogenannten
real existierenden Sozialismus verbunden. Im Gegenteil birgt die Herausbildung des Begriffs eines
kollektiven Subjekts etwa bei Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, Darmstadt 1968
eine Tendenz zum Begriff der ‚Masse‘, wie ihn, gegen die eigene Intention, später z. B. Herbert
Marcuse verwendet: Vgl. Versuch über die Befreiung, Frankfurt am Main o.J. ‚Kollektiv‘ meint
aber der Sache nach die Vereinigung von Einzelnen unter gemeinsamen Zwecken.
33
Religion, B 134.
34
Religion, B 136.
35
Vgl. KpV, V 31; 42. Die Rede von der Freiheit als Faktum ist voraussetzungsvoll. In der Logik
erläutert Kant, die objektive Realität von Freiheit sei ein Axiom (vgl. IX § 3); Axiome sind in der
Anschauung darstellbare intuitive Grundsätze (vgl. IX § 35).
36
Religion, B 130.
37
Religion, B 135. Hierin erkennt Matthias Lutz-Bachmann „[e]in neues Argument für die Welt-
republik“ (Das ‚ethische gemeine Wesen‘ und die Idee der Weltrepublik. Der Beitrag der
Religionsschrift Kants zur politischen Philosophie internationaler Beziehungen, in: Michael Städt-
ler (Hg.), Kants ‚Ethisches Gemeinwesen‘, a.a.O., 215).
38
Religion, B 136.
S F B 61
39
Zur Entwicklung des Gattungsvermögens als spezifischer Wirkung von Kooperation vgl. Karl
Marx, Das Kapital, Bd. 1, a.a.O., 11. Kapitel, bes. 348f. Ein Vorgänger dieses Ausdrucks bei
Marx ist Kants Ideal der Menschheit: „nämlich zu einer Gattung zu gehören, die der Bestimmung
des Menschen, so wie die Vernunft sie ihm im Ideal vorstellt, angemessen ist“ (Anthropologie,
VII 329f.). Die Behauptung, der Gattungsbegriff in der politischen Theorie berge totalitäre Gefah-
ren, sei letztlich eine Wurzel des Stalinismus, verfehlt die Sache: Ohne spezifisch menschliches
kollektives Vermögen gäbe es keinen sachlichen Grund für rationale Argumente in der Politik.
Vgl. dagegen Michael Quante, Die Beisetzung des Politischen in der Metaphysik von Karl Marx,
in: Philosophieunterricht in Nordrhein-Westfalen. Beiträge und Informationen, Nr. 46, www.fv-
philosophie-nrw.de/Mitteilungen_2010_NRW_HP_10_08_30.pdf.
40
Religion, B 147.
41
Religion, B 211.
42
Vgl. zur Sache: Michael Städtler, Die dritte Negation, in: Hegel-Jahrbuch 2003.
43
Religion, B 138f.
62 Z S G
dung zur Rettung eines inkonsistenten Gedankenspiels, sondern eine von der Vernunft
erforderte Idee, unter der allein die faktisch unstrittige Objektivität von Freiheit gedacht
werden kann. Wäre Sittlichkeit äußerlich verfaßt, so wäre sie nicht das Dasein von Au-
tonomie. Das Faktum der Vernunft kann nur durch Begriffe reiner praktischer Vernunft
adäquat begriffen werden. Ohne solches Begreifen wäre die umfassende Realisierung
von Autonomie nicht mit Grund zu fordern.44 Um der Möglichkeit von Autonomie wil-
len muß die Vernunft sich selbst einschränken.
Mit Blick auf die nicht zwangsläufig moralisch bestimmten Willen vernunftbegabter
Sinnenwesen schreibt Kant nun: „Ein moralisches Volk Gottes zu stiften, ist also ein
Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet
werden kann.“45 Die Realisierung des ‚ethischen Internationalismus‘, also die Einsicht
aller Menschen in die Vernunftideen der Sittlichkeit, kann deshalb weder von einem
einzelnen Menschen noch von einem partikularen Kollektiv zuverlässig bewirkt werden,
weil der Erfolg fortschreitender Vervollständigung zu einem alle Menschen umfassenden
ethischen Kollektiv durch Aufklärung nicht garantiert ist. Nun muß die Erfüllbarkeit je-
der Pflicht aber im Vermögen des verpflichteten Subjekts liegen. Diese Schranke stellt
Aufklärung aber nicht dem bloßen Zufall anheim, sondern sie entspricht dem Moment
von Geschichte, das in der Realisierung von Vernunft liegt, weil sie nur in der Zeit
geschehen kann. Dieses historische Moment bestimmt aber weder hinreichend die Reali-
sierung von Vernunft, noch wäre es selbst durch die Vernunft hinreichend zu bestimmen.
Der Pflicht, ein universelles ethisches Kollektiv zu gründen, kann ein Mensch daher
nur genügen, wenn er so verfährt, „als ob alles auf ihn ankomme, und nur unter die-
44
Wenngleich Kant keinen Zweifel daran läßt, daß es um die begriffliche Bestimmung von Mo-
ralität zu tun ist, ist der Darstellung über die Wahl des religiösen Kontextes hinaus bis in die
Formulierungen anzusehen, daß der Begriff der Vernunftreligion Resultat einer Entwicklung ist,
an deren Beginn Kant eine Religions- und auch Moralauffassung vertrat, die in größerer Analogie
zum Zwangssystem der Rechtsgemeinschaft gedacht war. Vgl. Maximilian Forschner, Das Ideal
des Moralischen Glaubens. Religionsphilosophie in Kants Reflexionen, in: Friedo Ricken/François
Marty (Hgg.), Kant über Religion, Stuttgart 1992. Daher scheint es manchen Interpreten, als sei
noch in der Religionsschrift die Aufklärung religiös borniert. Zudem wird die Religionsschrift
häufig als klassische Religionsphilosophie gelesen, in deren Kontext die Realisierung praktischer
Philosophie verhandelt werde. Vgl. z. B. Dieter Witschen, Kant und die Idee einer christlichen
Ethik. Ein Beitrag zur Diskussion über das Proprium einer christlichen Moral, Düsseldorf 1984
oder Stephen R. Palmquist, Kant‘s Critical Religion. Vol. II of Kant’s System of Perspectives, Al-
dershot 2000. Kants Bestimmung Gottes als praktische Idee, als „inneres moralisches Verhältnis“
(XXI, 414) wird dabei ausgeblendet. An ihr zeigt sich aber der moralische und politische Gehalt
der Religionsschrift, dem Religion als Modell dient. Keinesfalls dient das Christentum Kant als
„Inspirationsquelle“ (Jürgen Habermas, Die Grenze zwischen Glauben und Wissen, a.a.O., 234),
deren „reflexive Aneignung“ dann „im Streit mit dem religionskritischen Ziel“ (236) liege. – Zur
Auswahl und Funktionsweise dieses Modells vgl. dagegen Maxi Berger, Zwischen Religionskri-
tik und aufgeklärter Gesellschaft. Zur Konstruktion bürgerlicher Gegenwart, in: Michael Städtler
(Hg.), Kants ‚Ethisches Gemeinwesen‘, a.a.O. Wenige Autoren kommen zu dem Ergebnis, daß die
Religionsschrift „kein religionsphilosophisches Werk im heute üblichen Sinn“ sei. Giovanni B.
Sala, Die Lehre von Jesus Christus in Kants Religionsschrift, in: Friedo Ricken/François Marty
(Hgg.), Kant über Religion, a.a.O., 144. Eine explizit politische Interpretation unternimmt Samuel
Klar, Moral und Politik bei Kant, a.a.O.
45
Religion, B 141.
S F B 63
ser Bedingung darf er hoffen, daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühung
die Vollendung werde angedeihen lassen“46 . Beruhte aber dergestalt die Verbindung des
Handelns zum Ziel auf der Gnade Gottes oder auf Zufall, könnte jede Handlung genauso
gut unterlassen wie ausgeführt werden.
Würde die Ungewißheit des Ausgangs dagegen nicht als abstrakte Ungewißheit des
Zufalls oder Willkür einer höheren Macht, sondern geschichtlich verstanden, könnte
die Moralisierung der Menschen als Pflicht begriffen werden. Nur unter der Voraus-
setzung dieser Pflicht wäre die Frage nach dem Erfolg überhaupt sinnvoll. Würde die
Pflicht vom Erfolg abhängen, wäre sie unmöglich, denn der geschichtliche Verlauf ist
nicht durch bloße Vernunft zu erzwingen. Die ‚höhere Weisheit‘ am Ziel der Geschichte
müßte so nicht als höhere Macht, sondern könnte als jene Vernunfteinsicht verstanden
werden, die nicht von den einzelnen Menschen zu kontrollieren ist, die aber, weil sie
Weisheit, also vernünftig ist, der Vernunft der Menschen auch nicht äußerlich ist. Es
wäre die geschichtlich reale moralische Einsicht aller Menschen, das ethische Ganze.
Dieses ethische Ganze ist aber zur Gänze irreal; es hat in der bürgerlichen Gesellschaft,
um deren Moralisierung es Kant zu tun ist, kein Modell, außer in der innerhalb dieser
Gesellschaft konstituierten Kirche. Anhand dieser entfaltet Kant den sonst leeren Begriff
vernünftiger, wenigstens nicht äußerlicher, Kollektivität, in dem als Resultat alle irratio-
nalen Beschränkungen des Modells aufgehoben wären.47 Daß Kant die Kirche, nicht den
bürgerlichen Staat, als Modell des ethischen Gemeinwesens verwendet, ist das stärks-
te Moment seiner moralischen Geschichtsphilosophie und zugleich ihr schwächstes: Es
erlaubt, rigoros am moralischen Prinzip festzuhalten, aber reproduziert Heteronomie
innerlich. Soviel trifft die moderne Rede von den politischen Religionen oder der po-
litischen Theologie:48 Politisches Bewußtsein, dem es ums Ganze geht, das eine als
falsch erkannte Politik um keinen Preis akzeptieren will, hat ein Moment von Rigo-
rosität, das sich sonst nur Religion leistete. Diese Rigorosität politischer Überzeugung
aber mit pseudo-aufklärerischem Gestus als ‚Ersatzreligion‘ zu diffamieren, erweitert
das Moment, das sie mit Religion teilt, zu einer unbegründeten Analogie: Die Behaup-
tung eines vernünftigen Begriffs menschlichen Zusammenlebens wird aufgrund bloßer
Strukturisomorphie mit dem transzendenten und daher politisch unverfügbaren – inso-
fern heteronomen – Element göttlicher Herrschaft verglichen. Pseudo-aufklärerisch ist
46
Religion, B 141.
47
Daß die Vernunftreligion sowohl als transzendentales Kriterium der sichtbaren Kirche als auch
als geschichtliche Überwindung derselben verstanden wird, ist kein „Kategorienfehler“, wie Hans
Michael Baumgartner meint: Vgl. Das „Ethische gemeine Wesen“ und die Kirche in Kants ‚Re-
ligionsschrift‘, in: Friedo Ricken/François Marty (Hgg.), Kant über Religion, a.a.O., 162. Die
Kirche ist ein historisches Modell, das, als Modell verstanden, über seine historische Beschrän-
kung, damit aber auch über sich selbst hinausweist. Nach Baumgartner ist „die Idee eines reinen
Religionsglaubens transzendentales Konstitutionsmoment einer sichtbaren und (ihrer Öffentlichkeit
wegen) institutionell verfaßten Kirche [...] – und nicht ihr Telos“ (165). Tatsächlich ist jene Idee
der Begriff reiner praktischer Vernunft, der ein defizitäres historisches Modell an der sichtbaren
Kirche hat und dadurch deren transzendente Teleologie begrifflich wie praktisch gegen sie selbst
kehrt.
48
Vgl. z. B. Eric Voegelin, Die politischen Religionen, München 1993 oder Carl Schmitt, Politische
Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München 1922.
64 Z S G
diese Diffamierung, weil ihre Zurückweisung der für religiös gehaltenen Heteronomie
der Aufrechterhaltung der gesellschaftlich realen dient: Dieser etwas entgegenzusetzen,
sei eine unzulässige Illusion.49
Allerdings bringt Kant mit seinem Modell für die vollständige Entfaltung praktischer
Vernunft diese in ein widersprüchliches Verhältnis zu sich selbst: Um ihren eigenen Ge-
halt konsistent denken zu können, muß sie ihre Selbständigkeit in einem Ideal aufheben,
ihre Konsistenz ist durch innere Inkonsistenz erkauft. Dies ist kennzeichnend für Kants
praktischen Subjektbegriff, der als Autonomie in der Heteronomie bestimmt ist; gera-
de durch diese Inkonsistenz korrespondiert er aber der gesellschaftlichen Realität von
Subjektivität. Selbständigkeit wird als abhängig von äußeren Bedingungen erkannt. Da
diese äußeren Bedingungen aber nicht auf ihre historisch bestimmten Gehalte befragt
werden, sondern als von Natur aus heteronome gelten, gerät Subjektivität zum Arran-
gement der Selbstbestimmung mit der Fremdbestimmung. Geschichte ist dann nicht die
Durchsetzung der Selbstbestimmung gegen die Fremdbestimmung, sondern die Vermitt-
lung beider unter einem Ideal von Autonomie, das keiner Erfahrung mehr zugänglich ist.
Konsequent tritt dieses Ideal von Autonomie selbst in heteronomer Gestalt auf.
Kants spezifisch bürgerliches Argument, das von einer geradlinigen, ungebrochenen
Fortschrittsgeschichte überzeugt ist, deren erreichter Stand möglicherweise mangelhaft,
sicher aber erhaltenswert und selbst Bedingung weiterer Fortschritte ist, dürfte auch
ein Hintergrund seiner Kritik am Judentum sein.50 Dieses ist ja keineswegs eine
ungeschichtliche Bewegung, aber eine, die sich vom Konzept der Heilsgeschichte
wesentlich durch Diesseitsorientierung unterscheidet. Während aus heilsgeschichtlicher
Sicht noch die geistwidrigen weltlichen Bedingungen den Subjekten als deren eigene
Schuld zugerechnet werden und, besonders in der protestantischen Form, Geschichte
als Herausarbeitung des Geistlichen aus dem Weltlichen unter einem Ideal absoluten
Geistes interpretiert wird, erscheint vom jüdischen Geschichtsverständnis aus das
Judentum selbst über die Generationen hinweg als Identität in den weltgeschichtlichen
Prozessen. Unter dieser Voraussetzung wird sowohl das messianische Moment des
unkalkulablen Umbruchs gestärkt, als auch das des Innerweltlichen: Geschichte wird
gedacht als instantane und vollständige Befreiung von den Bedingungen, die der
Sittlichkeit im Wege stehen. Bis dahin ruht Geschichte in der inneren Identität ihres
Subjekts. Auch in der Erwartung der diesseitigen Erlösung, insofern sie verheißen
ist, liegt ein Moment von Heteronomie, das Kant als „Inbegriff bloß statutarischer
Gesetze“51 rügt. Ebenso wie seine Kritik am Mangel des Jenseitsglaubens im Judentum
geht die am Charakter der Gesetze desselben auf die Unmöglichkeit, das Judentum als
Subjekt der moralischen Erweiterung bürgerlicher Fortschrittsgeschichte einzusetzen.
49
Vgl. Heinrich Meier, Was ist politische Theologie? Einführende Bemerkungen zu einem umstritte-
nen Begriff, in: Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, hg. v. Jan Assmann, München
1992; Jürgen Gebhardt, ‚Politik‘ und ‚Religion‘: Eine historisch-theoretische Problemskizze, in:
Manfred Walther (Hg.), Religion und Politik. Zur Theorie und Praxis des theologisch-politischen
Komplexes, Baden-Baden 2004; Henning Ottmann, Politische Theologie als Herrschaftskritik und
Herrschaftsrelativierung, in: Manfred Walther (Hg.), Religion und Politik, a.a.O.
50
Vgl. z. B. Religion, B 186f.
51
Religion, B 186.
S F B 65
Weil Kant Religion als Modell der Geschichtsmächtigkeit innerlicher Moralität mit
dieser identifiziert, ‚Religion‘ stets ausschließlich als Korrelat subjektiver Überzeugung
zur objektiven Moral gemeint ist, diagnostiziert er dem Judentum, daß es „eigentlich
gar keine Religion“52 sei. Indem er das geschichtliche Moment von diesseitiger
Selbsterhaltung im Widerstand, das im Judentum auch liegt, heils- beziehungsweise
rechtfertigungsgeschichtlich ausblendet, vernachlässigt er zugleich den heteronomen
Charakter des heilsgeschichtlichen Erlösungsideals. Sowohl Judentum als auch frühes
Christentum sind aufgrund ihrer Geschichte durch kultisch organisierten Widerstand
gegen Heteronomie bestimmt; das Judentum hat diesen Widerstand in kollektiven
Gedächtniszeremonien ritualisiert,53 das Christentum hat ihn mit seiner zunehmenden
politischen Einbindung zur Innerlichkeit sublimiert.
Die sakramentalen Rituale, deren Entwicklungsmotiv vielfach auch in der inneren
Sozialdisziplinierung der frühen Gemeinden zu sehen ist, haben zunehmend vergeis-
tigten Charakter angenommen. Die kollektive Identität liegt dann in der Realisierung
des corpus mysticum, nach dem Jüngsten Gericht. Gegen die dadurch erreichte Dy-
namisierung der Geschichtsvorstellung erscheint die jahrtausendelang durchgehaltene
Beschwörung des kollektiven Gedächtnisses im Judentum als äußerlich und stagnierend.
Deshalb könne geschichtliche Identität, so Kant, nur „als eine völlige Verlassung des
Judentums“54 begründet und durchgeführt werden, die Einheit der Moralgeschichte kön-
ne nur an der christlichen Kirche entwickelt werden.55 Das Judentum wird damit durch
sein Diesseitigkeits- und Selbstbehauptungsprinzip gar zum ungeliebten alter ego des
systematischen moralischen Bewußtseins. Der Schritt dieses Bewußtseins, das Leid der
eigenen Zerrissenheit dann jenem Prinzip anzulasten, es um des Heils der christlichen
Welt willen zum auszutilgenden Moment zu degradieren, liegt – ob bewußt oder unbe-
wußt – darin.
Allerdings reflektiert Kant die Problematik der inneren Heteronomie als mystisches
Moment, das der geschichtlichen Vermittlung von Moral notwendig einwohne: „In allen
Glaubensarten, die sich auf Religion beziehen, stößt das Nachforschen hinter ihrer inne-
ren Beschaffenheit unvermeidlich auf ein Geheimnis, d. i. auf etwas Heiliges“56 . Zwar
könne es ein Geheimnis nur hinsichtlich Gottes geben, dies sei aber nicht ohne ‚größte
Not‘ als ein mysterium infusum zu verstehen, vielmehr könne es im Verhältnis der mora-
lischen Anlage der Vernunft zu ihrem Objekt, dem Göttlichen, selbst begründet sein. Es
handele sich dabei um Inhalte, die „zwar von jedem einzelnen gekannt, aber doch nicht
öffentlich bekannt, d. i. allgemein mitgeteilt werden“57 können. Damit entspricht Kant
zunächst der Vorstellung, nur durch das historische Moment eines Kirchenglaubens,
durch eine Offenbarung, könnten die Menschen zum moralischen Religionsglauben ge-
langen. In ihrem Glauben an die Offenbarung sind sie nämlich partikular, je auf sich
52
Religion, B 186.
53
Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen, München 1999, z. B. 90.
54
Religion, B 189.
55
Vgl. Religion, B 185.
56
Religion, B 207f.
57
Religion, B 208.
66 Z S G
verwiesene Subjekte. Ihr Glaube ist aber zugleich insofern universal, als alle dassel-
be glauben, weil die Offenbarung auf das Moment der Vernunftreligion hingeordnet,
mit ihm verknüpft ist; doch die Form, in der sie es glauben, ist nicht universalisier-
bar.58 Schon die Vorstellung des höchsten Gutes überfordere die Vernunft, denn dessen
Moment der Glückseligkeit sowie die ihm vorausgesetzte Einheit aller Menschen seien
vom moralischen Individuum nicht zu bewirken, obgleich es dazu verpflichtet sei. Oh-
ne die Annahme einer Mitwirkung Gottes sei dies nicht denkbar, gleichwohl habe die
praktische Nötigung durch die Vernunft Vorrang. Deshalb sei die Idee Gottes als „Idee
eines moralischen Weltherrschers“59 doch „eigentlich kein Geheimnis; weil er lediglich
das moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte ausdrückt“60 . Es han-
delt sich demnach um eine Konstruktion aus reiner Vernunft von praktischer Bedeutung,
deren Gehalt eine recht zivilisierte Trinitätsanalogie darstellt: „Gott 1) als den allmäch-
tigen Schöpfer des Himmels und der Erden, d. i. moralisch als heiligen Gesetzgeber,
2) […] [als] den Erhalter des menschlichen Geschlechts, als gütigen Regierer und mo-
ralischen Versorger desselben, 3) […] [als] Verwalter seiner eigenen heiligen Gesetze,
d. i. als gerechten Richter“61 . In Gott als Oberhaupt des ethischen Gemeinwesens ent-
fiele jede Gewaltenteilung, da die Gesetzgebung vollkommen gerecht wäre und keiner
Kontrollmechanismen bedürfte. – Warum Kant hierzu wenigstens per analogiam der
Trinitätsspekulation bedarf, ist eigentlich geheimnisvoll, denn die Aufhebung der Ge-
waltenteilung in einer Person oder Instanz ist bloße Kompetenzbündelung, die nicht der
„dreifachen spezifisch verschiedenen moralischen Qualität […] der verschiedenen (nicht
physischen, sondern moralischen) Persönlichkeit eines und desselben Wesens“62 bedarf.
Die Trinitätsspekulation, die solche dialektische Verschiedenheit entwickelt, weist Kant
sogar als „alle menschlichen Begriffe übersteigendes, mithin einer Offenbarung für die
menschliche Fassungskraft unfähiges Geheimnis“63 zurück. Kant bedient sich aber de-
ren abstrakter Form, weil er den politischen Gehalt des ethischen Gemeinwesens gerade
nicht politisch faßt.
58
Vgl. Sich im Denken orientieren, VIII 140f.: „Ein jeder Glaube, selbst der historische, muß zwar
vernünftig sein (denn der letzte Probirstein der Wahrheit ist immer die Vernunft); allein ein Ver-
nunftglaube ist der, welcher sich auf keine andere Data gründet, als die, so in der reinen Vernunft
enthalten sind.“ Im Unterschied hierzu könnten in Bezug auf den historischen Glauben immer
noch Gegenbeweise aufgefunden werden. Umgekehrt schließt Kant, daß der Vernunftglaube jedem
historischen Glauben zu Grunde liege, weil der Begriff von Gott ein ursprünglicher Vernunftbegriff
sei, der dann in historischen Gestalten hervortrete. Womöglich waren für die Religionsgenese doch
historische Herrschafts- und Naturerfahrungen einerseits und die Hilflosigkeit früher menschlicher
Kultur andererseits stärker prägend – nicht zufällig stellen die Menschen sich den Gottesdienst
nach Art des Frondienstes vor (vgl. Religion, B 145); Vernunftreligion wäre die sublimierte Gestalt
dieses ganz irdischen Konglomerats. – Ähnlich wie Kant faßt Hegel die Religion später systema-
tisch als Gestalt absoluter Wahrheit und deshalb als Moment von Sittlichkeit. Vgl. G. W. F. Hegel,
Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse,
Hamburg 1995, § 270 Anm.
59
Religion, B 211.
60
Religion, B 211.
61
Religion, B 211.
62
Religion, B 214.
63
Religion, B 214f.
S F B 67
64
Kant bemüht solche Modelle im Zweiten Stück zur geschichtstheoretischen Präparation des Recht-
fertigungsproblems. Zur Theorie des concursus divinus vgl. Gerhard Gloege, Artikel ‚Schöpfung‘
(Teil IV B 4 c), in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. V, Tübingen 1961: „Der
Begriff hat die Funktion, jeden Vorgang in der Welt, bes. jede Wirkung menschlichen Willens
als göttliche Wirkung zu verstehen […]. […] Dabei wäre die menschliche ‚cooperatio‘ als Grenz-
begriff zu charakterisieren: Das Geschöpf ist nicht Mit-Schöpfer (concreator), sondern nur Mit-
Wirker (cooperator: Luther).“
65
Vgl. Religion, B 215ff.
66
Religion, B 218 Anm. Kant weist auch darauf hin, daß ein Verstehen der einzelnen Wörter nicht
genüge, sondern ihr Zusammenhang als sinnvoll aufgefaßt werden müsse.
67
Religion, B 217f.
68
Religion, B 209.
68 Z S G
selbst wird zu dem, was jedem bekannt, aber nicht allgemein mitteilbar ist, weil sie
nicht auf praktischer Vernunft allein gründet, sondern auf pragmatischer Gewalt, deren
begriffliche Rekonstruktion dadurch erst erfordert wird, daß noch die unmenschlichs-
ten Verkehrsformen der bürgerlichen Gesellschaft zu unmittelbaren Wesensäußerungen
der Menschen erhoben werden.69 Das moralische Bewußtsein, das für alles frei verant-
wortlich sein, zugleich aber sich binden soll an eine ihm unerfaßbare Herrschaft, ist in
sich zerrüttet, nicht sowohl, weil es als freies in die Notwendigkeit von Heteronomie
einwilligen soll, als vielmehr weil es diese Heteronomie sich selbst zuweist, und damit
eben jene internalisiert, der es real unterworfen ist. Sind die Menschen einmal davon
überzeugt, daß ihre unmoralischen Verhältnisse notwendig ihrem eigenen Wesen ent-
springen, können sie sich ein geordnetes Miteinander ohne übergeordnete Gewalt nicht
denken; das Mißtrauen in die eigene Vernunft wird zur zweiten Natur.
Nach überwiegender Erfahrung ist nun der geschichtlichen Kraft praktischer Vernunft
durchaus zu mißtrauen. Geschichte wird bewegt durch Leidenschaften. Nun werden Lei-
denschaften ihrerseits bewegt durch äußere Objekte oder deren Vorstellungen und sind
solange notwendig mit der Vernunft unvereinbar, wie es die äußeren Verhältnisse, in
denen diese Objekte stehen, sind. Die Vorstellung der Möglichkeit, diese Verhältnisse
aus Prinzipien der praktischen Vernunft einzurichten, bricht immerhin die Notwendigkeit
des Konflikts von Gut und Böse auf, wenn schon seine Möglichkeit nicht behoben wird.
Notwendig aber bleibt er, wenn die Vernunft sich selbst einer heteronomen Gewalt un-
terstellt, in der sich die zu befriedenden Konflikte reproduzieren: „Unter Verdienst aber
wird hier nicht ein Vorzug der Moralität in Beziehung aufs Gesetz (in Ansehung dessen
uns kein Überschuß der Pflichtbeobachtung über unsere Schuldigkeit zukommen kann),
sondern in Vergleichung mit anderen Menschen, was ihre moralische Gesinnung betrifft,
verstanden.“70 Die Konkurrenz, deren prinzipiellen Status Kant als ethischen Naturzu-
stand beschreibt, bestimmt somit ihrer Form nach auch das Verhältnis zum heteronomen
Garanten der Moral.
Die praktische Vernunft setzt keineswegs das Gute mit Notwendigkeit aus sich al-
lein; aber sie ist die einzige sichere Quelle des Guten, die den Menschen zum Gebrauch
steht: Dennoch „treiben zugleich Vernunft, Herz und Gewissen“71 dazu an, das eigene
moralische Verhalten an der Vorstellung göttlicher Rechtfertigung zu messen. Moralität
an überrationale Verwirklichungsbedingungen zu knüpfen, setzt sie unüberwindlichen
Schwierigkeiten aus, weil die Bildung freier Subjektivität dadurch unmöglich wird; die
liberalistischen Subjekte erhalten als solche einen transzendenten Beistand.
Wird die Autonomie der Subjekte begründet durch deren eigene, autonome, Unterstel-
lung unter Heteronomie, mag diese zwar dem Gehalt nach mit der praktischen Vernunft
identisch sein, ihrer Wirkungsweise nach aber wird sie als despotisch vorgestellt. Diese
Vorstellung wird erforderlich, weil Kants Geschichtsbegriff Moral und Politik voneinan-
69
Vgl. dazu auch Hajo Holborn, Der deutsche Idealismus in sozialgeschichtlicher Bedeutung, in:
Historische Zeitschrift 174 (1952), 365: „Die gesamte geistige Bewegung des deutschen 18. Jahr-
hunderts hat beinahe ausschließlich die Erziehung des individuellen Menschen zum Ziele gehabt
und ihr alle politischen Forderungen untergeordnet.“
70
Religion, B 221 Anm.
71
Religion, B 219.
S F B 69
der trennt. Das moralische Vereinigungsprinzip kann nicht in dem politischen Ideal von
freier Kooperation und Arbeitsteilung bestehen,72 weil diese Bedingungen als äußerliche
nicht unter den strikten Moralbegriff subsumierbar sind; Moral hätte sonst pathologische
Triebfedern. Dabei ginge es gar nicht darum, Moral an gesellschaftliche Bedingungen zu
binden, sondern, im Gegenteil darum, die Politik im strikten Sinn der Moral zu unter-
werfen, die technisch-praktische Organisation der menschlichen Gesellschaft moralisch
zu bestimmen. Der Antagonismus der bürgerlichen Gesellschaft kann durch Moral nicht
überwunden werden, wenn diese sich auf ihn nicht beziehen soll. Eine politische Ein-
richtung moralischer Gesellschaft gilt Kant aber als äußerlich.73 Schlimmer noch sieht es
aus, wenn der Antagonismus der Gesellschaft als Antagonismus der menschlichen Na-
tur gilt, weil dann dasselbe Subjekt als bürgerliches diesen Antagonismus pflegen und
als moralisches ihn bekämpfen müßte. Der Zwang der Bedingungen zweiter Natur prägt
sich den Subjekten in der Tat ebenso ein, wie Kant ihn ihnen als Eigenschaft erster Natur
zuordnen wollte.74
Die Kantische Fassung des Problems erschüttert das Subjekt aber im Kern seiner
Subjektivität selbst: Es weiß sich nicht bloß ausgeliefert, sondern es sieht sich sich
selbst ausgeliefert, und zwar aus eigenen Stücken. Insofern die Gesellschaft aber diesen
Zwangszusammenhang darstellt, ist das einzelne moralische Subjekt tatsächlich nicht
mächtig, Moralität zu bewirken. Eine politische Moralisierung der Verhältnisse geschä-
he durch Zwang und wäre damit ihrem Zweck zuwider.75 Der Konflikt im Subjekt, auf
den Kants Theorie hinausgeht, ist nur zu einem Teil rein theoretisch angelegt, zum ande-
ren ist er gesellschaftlich erzwungen. Eine auf systematische Geschlossenheit bedachte
philosophische Geschichtstheorie76 vermag diese äußerliche Stringenz der Beschädigung
des Selbstbewußtseins nur als dessen eigene theoretische Gestalt wiederzugeben.
72
Das Phänomen fabrikmäßiger arbeitsteiliger Produktion selbst ist Kant nicht unbekannt: Vgl. An-
thropologie, VII 148. Unter freier Kooperation und Arbeitsteilung ist die technisch-praktisch wohl
geregelte, moralisch-praktisch aber nicht herrschaftlich organisierte Reproduktion der Gesellschaft
zu verstehen. Vgl. Gerhard Krieger, Freiheit und Gleichheit – Die Idee sittlicher Selbstbestim-
mung in Spätmittelalter und Neuzeit, in: Markus Kremer/Hans-Richard Reuter (Hgg.), Macht und
Moral – Politisches Denken im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart 2007, 90: „Im Ergebnis ist
Herrschaft damit Dienstleistung unter aus Freiheit Gleichen.“ Dies wäre, streng genommen, kei-
ne Bestimmung von Herrschaft, sondern nur mehr von Organisation. Unfreie Kooperation und
Arbeitsteilung verfolgt dagegen Zwecke, die nicht vernünftigerweise die Zwecke aller Einzelnen
sein können, etwa die einseitig-partikulare Aneignung des allgemeinen Mehrprodukts. Freie Ko-
operation und Arbeitsteilung ist, wie gesagt, ein politisches Ideal. Ohne es jedoch wäre politische
Urteilskraft leer oder chaotisch, weil sie keine reflektierte Distanz zu ihrem Gegenstand hätte.
73
Vgl. Religion, B 139f.
74
Vgl. hierzu auch Hans Heinz Holz, Gedanken zu Krieg und Frieden, in: Volker Bialas/Hans-Jürgen
Häßler (Hgg.), 200 Jahre Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“. Idee einer globalen Friedens-
ordnung, Würzburg 1996, 46.
75
Vgl. Religion, B 180: „[D]enn was Revolutionen betrifft, die diesen Fortschritt abkürzen können, so
bleiben sie der Vorsehung überlassen, und lassen sich nicht planmäßig, der Freiheit unbeschadet,
einleiten.“
76
Vgl. Religion, B 189: „allgemeine Kirchengeschichte, sofern sie ein System ausmachen soll“ und
B 185: „es muß Einheit des Prinzips sein“.
70 Z S G
So sei das oberste Ziel, von dem die Menschen einen klaren Begriff haben, durch
menschliches Bemühen nicht erreichbar, weil sie es durch ihre Vernunft zwar vorstellen,
aufgrund ihrer Sinnlichkeit aber nur eingeschränkt ausführen könnten: Erhabene Ideen
‚verkleinern‘ sich unter den Händen der Menschen.77 Deshalb könne auch auf den rei-
nen Vernunftglauben, das moralische Moment der Religion, auf das allein ein ethisches
Gemeinwesen zu gründen sein könnte, dieses eben gerade nicht gegründet werden. Die
Menschen neigten nämlich aufgrund „eine[r] besonderen Schwäche der menschlichen
Natur“78 dazu, nicht schon ihre moralische Einsicht, sondern erst technische Observan-
zen für Religionsdienst zu halten, weil sie sich den Dienst an Gott notwendig nach
Analogie einer despotischen Herrschaft vorstellten, der man ein tätiges Opfer bringen
müsse, um ihr zu gefallen. Deshalb bedürfe es des Kirchenglaubens als Veranschauli-
chung von Religion: Die Menschen würden „niemals“79 ohne äußerliche Frömmigkeit
moralisch, so daß statutarische Regeln, historische Glaubenskonventionen schlechthin
notwendig seien.80 Was Kant hier der menschlichen Natur zuordnet, ist erst Ausdruck
des autoritär geformten Charakters, der jedoch durch die Verweisung auf gottesdienst-
liche Rituale nicht, auch nicht allmählich, überwunden, sondern bedient und gefestigt
wird.
Diesen autoritären Charakter beschreibt Kant trefflich: „Ein heiliges Buch erwirbt sich
selbst bei denen (und gerade bei diesen am meisten), die es nicht lesen, wenigstens sich
daraus keinen zusammenhängenden Religionsbegriff machen können, die größte Ach-
tung, und alles Vernünfteln verschlägt nichts wider den alle Einwürfe niederschlagenden
Machtspruch: da steht’s geschrieben. Daher heißen auch die Stellen desselben, die ei-
nen Glaubenspunkt darlegen sollen, schlechthin Sprüche. Die bestellten Ausleger einer
solchen Schrift sind eben durch dieses ihr Geschäft selbst gleichsam geweihte Perso-
nen, und die Geschichte beweist, daß kein auf Schrift gegründeter Glaube selbst durch
die verwüstendsten Staatsrevolutionen hat vertilgt werden können“81 . Diese Deformati-
on des menschlichen Selbstbewußtseins, Freiheit in Unterwürfigkeit zu suchen, sitzt so
tief, daß nicht einmal die durch jene Revolution erwiesene Kontingenz von Herrschaft
und Knechtschaft die Vorstellung der heiligen Notwendigkeit von Herrschaft aufzuheben
vermag. Der autoritäre Charakter ist keine Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft.
Menschen haben kaum jemals ohne Herrschaft gelebt. Ihr geschichtliches Bewußtsein
ist zutiefst dadurch bestimmt. Damit ist das Ausmaß der Schwierigkeit bezeichnet, die
mit einer ‚Revolution der Denkungsart‘, mit Aufklärung und Bildung überhaupt, verbun-
den ist; ebenso wird verständlich, warum emanzipatorische Bewegungen immer wieder
in herrschaftliche Muster zurückfielen. Weil aber diese Schwierigkeit durch geschicht-
77
Vgl. Religion, B 140f.
78
Religion, B 145.
79
Religion, B 151.
80
Vgl. Religion, B 148f. und B 158. Vgl. ebenso Anthropologie, VII 332f.: „Zum Charakter unserer
Gattung gehört auch: daß sie, zur bürgerlichen Verfassung strebend, auch einer Disciplin durch
Religion bedarf, damit, was durch äußeren Zwang nicht erreicht werden kann, durch innern (des
Gewissens) bewirkt werde“.
81
Religion, B 152f.
S F B 71
liche Erfahrung begreündet ist, bedeutet das nicht die anthropologische Unmöglichkeit,
sie durch Denken aufzubrechen. –
Kant addiert hingegen diese Deformation nicht allein zum Naturbestand menschli-
cher Freiheit, sondern instrumentalisiert sie noch als Werkzeug der Geschichte: Weil
der durch den autoritären Charakter ermöglichte profunde Einfluß von Schriftreligion
auf „die Erleuchtung des Menschengeschlechts“ nach Naturgesetzen nicht erklärbar sei,
könne die Schrift, wenn sie denn mit Moral harmoniere, mit Recht „das Ansehen, gleich
einer Offenbarung, behaupten“82 . Freilich räumt Kant ein, daß die Interpretation dieses
Buches, die der personifizierte reine Religionsglaube: der Moralphilosoph mit der Offen-
barung anstellt, um sie ihrem Zweck zuzuführen, „oft gezwungen scheinen, oft es auch
wirklich“83 sind; dennoch seien sie die einzigen zulässigen, denn der moralische Gehalt,
der aus der praktischen Vernunft erkannt wird, gilt als Ziel der Offenbarung selbst, die
überhaupt der moralischen Anlage der Menschen unbewußt entsprungen sei.84 Deshalb
sei die rationale Auslegung a priori möglich. Hinter dieser Möglichkeit a priori, die das,
was zurechtgezwungen wird, als notwendig deklariert, verbirgt sich wohl eher der selbst
moralische Anspruch als eine theoretische Absicherung der Interpretation. Theoretisch
sicher aber ist allein der Maßstab der Auslegung, die Moral selbst. Die Auslegung – soll
sie ihren protreptischen Sinn erfüllen – kann nur dann den Nimbus des heiligen Buches
nutzen, wenn dessen Heiligkeit überzeugend festzustellen ist. Deshalb bedarf es zudem
der philologischen Schriftgelehrtheit, die den kontingenten Glaubensinhalt in ein „sich
beständig erhaltendes System“85 verwandelt.
Der didaktisch einzusetzende Kirchenglaube soll nun allmählich zur Religion, zur rei-
nen Morallehre überführt werden.86 Um die Möglichkeit dieser metabasis denken zu
können, unterstellt Kant, der partikulare kontingente Kirchenglaube enthalte selbst das
Bewußtsein seiner Zufälligkeit: Seine Sätze seien nämlich nicht kategorisch, sondern
bloß apodiktisch;87 deshalb korrumpiere dieses Mittel nicht seinen Zweck. Die Kirche
als ecclesia militans habe in ihrer Hinordnung auf die ecclesia triumphans das mo-
ralische Moment der Religion an sich und vermöge dessen sei sie seligmachend. Ihr
historisches Moment sei gleichgültig dagegen.88 Der motor der Moralgeschichte ist ei-
ne eigene, sozusagen geschichtlich-praktische, Antinomie der praktischen Vernunft:89
82
Religion, B 153f.
83
Religion, B 158.
84
Vgl. Religion, B 160f.
85
Religion, B 166. Vgl. SF, VII 296.
86
Dies erinnert an die Organisationsreflexionen anläßlich der sozialistischen Revolutionen, die auch
unter der Voraussetzung unfreier Verhältnisse politische Befreiung intendierten. In Lenins Aus-
druck von der ‚richtigen Taktik‘ (Vgl. Wladimir Iljitsch Lenin, Der „linke Radikalismus“, die
Kinderkrankheit des Kommunismus, in: Ausgewählte Werke, Berlin 1952, Bd. 2, 673) kommt
sowohl das Moment des Festhaltens an dem als wahr Erkannten als auch das der taktischen Anpas-
sung an die Strategie der als falsch erkannten gegnerischen Position zur Geltung. Georg Lukács,
Methodisches zur Organisationsfrage, in: Geschichte und Klassenbewußtsein, a.a.O., hat diesen
Widerspruch durch theoretische Methodologisierung noch verschärft.
87
Vgl. Religion, B 167.
88
Vgl. Religion, B 168.
89
Vgl. Religion, B 169ff.
72 Z S G
Da die Befreiung von der Schuld vergangener Sünden und der zukünftige sittliche Le-
benswandel notwendige Momente des seligmachenden Glaubens, der Erwerbung der
Glückswürdigkeit, sind, müsse ihr Zusammenhang sich kausal in der Zeit darstellen las-
sen. Nun kann aber niemand im Bewußtsein seiner Schuld annehmen, daß allein durch
den Glauben an Vergebung ihm auch vergeben sei, so daß er nun frei einen guten Le-
benswandel zu führen vermöchte, sondern er müsse wohl annehmen, daß er zunächst
durch gute Werke in die Lage komme, daß ihm vergeben werden könne. Umgekehrt aber
könne der von Natur böse Mensch, dessen böses Prinzip immer in ihm bleibe, aus sich
selbst, ohne Hilfe, nicht zu einem guten Lebenswandel gelangen, so daß er auf göttliche
Vergebung vertrauen müsse, durch die er zu guten Werken erst befähigt werde.
Diese Antinomie ist theoretisch nicht aufzulösen, weil die Vernunft hinter den Dua-
lismus von guter Anlage und bösem Prinzip im Willen nicht zurückgehen kann; die
Ursache der doppelseitigen Freiheit bleibt unbekannt, daher auch die mögliche Ursache
einer etwaigen Überwindung des Bösen. Es gilt nun, „den Knoten (durch eine praktische
Maxime) [zu] zerhauen, anstatt ihn (theoretisch) aufzulösen, welches auch allerdings in
Religionsfragen erlaubt ist“90 . Da einerseits der Kirchenglaube bloß theoretisch erfordert
sei, weil Rechtfertigung ohne Gnade nicht gedacht werden könne, andererseits der mora-
lische Religionsglaube praktisch notwendig sei, weil ohne gute Werke auf Rechtfertigung
nicht einmal zu hoffen sei – ob sie nun gedacht werde oder nicht – geht der ‚Eigenanteil‘
an der Rechtfertigung praktisch vor; der Kirchenglaube dient als Vehikel des Entschlus-
ses, moralisch zu handeln. Damit wird die Moralisierungsgeschichte in Gang gesetzt, die
in den Gleisen einer Religionsgeschichte verläuft, denn es ist selbst moralische Pflicht,
die Religion von allen Äußerlichkeiten des Kirchenglaubens zu befreien.
Durch die moralische Aufklärung der Menschen werden die Glaubens-Statuten „nach
und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel“91 , sie werden abgeworfen, die Kirchenhierar-
chie erlischt in der allgemeinen Gleichheit der Freien, die wissen, daß sie selbst Urheber
des Gesetzes sind. Gleichwohl sei das, was der Beschreibung nach wie „Freiheit und
Gesetz ohne Gewalt: Anarchie“92 erscheint, eben keine solche, denn das Gesetz, das je-
der sich selbst gibt, werde ja noch immer zugleich als göttliches Gebot angesehen, und
die Vorstellung von Gottes Regentschaft und Richterschaft setze die Gewalt. Darin liegt
zunächst, daß die „erniedrigenden Zwangsmittel[]“93 des Kirchenglaubens keineswegs
nach und nach zu Fesseln werden, sondern – im günstigsten Fall gelungener Aufklärung
– als die Fesseln wahrgenommen und begriffen werden, die sie immer schon waren;
dies aber gelingt nicht durch den Kirchenglauben, sondern allenfalls gegen ihn. Zu-
dem liegt in der Funktion Gottes, daß das zwanghafte Moment der Äußerlichkeit des
Kirchenglaubens in der Religion eben nicht abgeworfen, sondern, ganz im Gegenteil,
verinnerlicht werden soll. Diesen internalisierten Zwang fügt das auf diese Weise mora-
lisierte Bewußtsein sich selbst zu, indem es seiner eigenen Vernunft mißtraut und den
Geltungsgrund von deren praktischer Einsicht in einer Vorstellung äußerer Gewalt setzt,
die als vorgestellte Gewalt ihre Gewaltsamkeit keineswegs einbüßt, wie Kant, wenn-
90
Religion, B 119.
91
Religion, B 179.
92
Anthropologie, VII 330
93
Religion, B 182 Anm.
S F B 73
gleich hinsichtlich des Kirchenglaubens, selbst bemerkt: Anders als die weltliche Macht
vermöchte die geistliche nicht allein das Denken zu verbieten, sondern durch Erzeu-
gung religiöser Angst „wirklich auch zu hindern“94 . Aufklärung scheint dann unmöglich
zu sein: „Es ist wahr, daß, um von diesem Zwange los zu werden, man nur wollen
darf […]; aber dies Wollen ist eben dasjenige, dem innerlich ein Riegel vorgeschoben
wird.“95 Diese Unmöglichkeit, die Kant hier indirekt seiner eigenen Geschichtstheorie
attestiert, müsse „allmählich von selbst schwinden“96 , eine andere Möglichkeit bleibt
nicht zu erwarten. Wie das, was selbst nichts ist, als Verfestigung dessen, was Menschen
in Menschen angerichtet haben, von selbst, ohne menschliches Zutun schwinden soll,
bleibt unklar. Kants Ideologiebegriff ist hier rigoroser als irgendein anderer.
Als geschichtliche Möglichkeit verbleibt nur die politische Gewährung von Religi-
onsfreiheit, so daß die moralische Aufklärung die Kontingenz der Konfession zu de-
monstrieren vermöchte.97 Die Öffentlichkeit der Religionsidee sei der Keim des Reichs
Gottes, der sich unwiderstehlich ausbreite. Die Einrichtung einer Staatsreligion sei dage-
gen ein Eingriff in die göttliche Vorsehung, deren Ziel die Moralisierung der Menschen
sei. Allerdings vermöchten politische Schranken den Fortschritt doch auch nicht aufzu-
halten, sondern beförderten ihn geradezu: „Der Bürger des politischen gemeinen Wesens
bleibt also, was die gesetzgebende Befugnis des letztern betrifft, völlig frei: ob er mit
andern Mitbürgern überdem auch in eine ethische Vereinigung treten, oder lieber im
Naturzustande dieser Art bleiben wolle. Nur sofern ein ethisches gemeines Wesen doch
auf öffentlichen Gesetzen beruhen, und eine darauf sich gründende Verfassung enthalten
muß, werden diejenigen, die sich freiwillig verbinden, in diesen Zustand zu treten, sich
von der politischen Macht nicht, wie sie solche innerlich einrichten, oder nicht einrich-
ten sollen, befehlen, aber wohl Einschränkungen gefallen lassen müssen, nämlich auf
die Bedingung, daß darin nichts sei, was der Pflicht ihrer Glieder als Staatsbürger wi-
derstreite; wiewohl, wenn die erstere Verbindung echter Art ist, das letztere ohnedem
nicht zu besorgen ist.“98 Es komme nicht zur Kollision beider Gemeinschaftsformen,
weil ihre Prinzipien miteinander wenigstens konkordant seien. Wäre dem so, dann wä-
re der bürgerliche Rechtszustand kein ethischer Naturzustand. Zudem ist die Reihenfolge
der Identifizierung der Prinzipien bedenklich: Wenn die Moralprinzipien ‚echt‘ sind, wi-
derstreiten sie den staatlichen nicht, das heißt, diese werden zum Prüfstein jener. Nicht
die Politik folgt dann der Moral, sondern umgekehrt, und dies aus ganz pragmatischen
Gründen: Das politische Gemeinwesen soll dem ethischen vorhergehen, es kann deshalb
94
Religion, B 200. Anm. Vgl. auch Sich im Denken orientieren, VIII 144. Die Polemik gegen äußer-
liche Religionsobservanz übersieht, daß die Gesinnungsreligion das Zwanghafte nicht aufhebt,
sondern verinnerlicht. Auf den Vernunftglauben meint Kant aber nicht verzichten zu können, weil
eine Vernunft, die sich vom Nichtsein Gottes überzeugt, zu Gemütsschwäche und moralischer
Verwilderung führe (vgl. 146).
95
Religion, B 201 Anm.
96
Religion, B 201 Anm.
97
Vgl. Religion, B 200. Wie sehr die Gewährung von Religionsfreiheit selbst blockiertem Denken
und Wollen unterliegen kann, hat Kant im Zusammenhang der Publikation der Religionsschrift aus-
führlich erfahren müssen. Vgl. Bettina Stangneth, „Kants schädliche Schriften“. Eine Einleitung,
in: Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Hamburg 2003.
98
Religion, B 133.
74 Z S G
noch nicht dessen Regeln unterliegen. Dieses könnte „ohne daß das letztere zum Grunde
liegt, von Menschen gar nicht zu Stande gebracht werden“99 .
Das Konzept sittlichen Fortschritts unter unsittlichen Bedingungen führt auf Wider-
sprüche im Selbstbewußtsein der geschichtlichen Subjekte von Fortschritt. Diese Wider-
sprüche sollten nun in der politischen Bestimmung des Fortschritts vermittelbar sein.
99
Religion, B 130.
100
SF, VII 91.
101
SF, VII 79.
102
Vgl. SF, VII 81.
103
SF, VII 81. Dieses Motiv bestimmt Theodor W. Adornos Begriff geschichtlichen Fortschritts:
„Denn Fortschreiten heute heißt ja wirklich nichts anderes, als die totale Katastrophe vermeiden
und verhindern; und ich würde sagen, wenn sie nur verhindert und vermieden wird, dann ist das
eigentlich bereits der Fortschritt um das Ganze.“ (Zur Lehre von der Geschichte und von der
Freiheit, Frankfurt am Main 2006, 202). Diese Konzeption eines inversen Fortschrittsbegriffs, der
Entwicklung nicht ausschließt, aber negativ begreift, geht auf Walter Benjamin zurück; es lohnt
sich, dies ausführlich zu zitieren, nicht allein weil hier die Kantische Diktion – das Auftürmen von
Greueln – mit der Adornos – der Rede von der Katastrophe – ihre Vermittlung haben, sondern
vor allem, weil Benjamin hier ohne alles Messianische einen Geschichtsbegriff offeriert, der dem,
was aus den Menschen bis heute wurde, vielleicht noch standzuhalten vermag: „Wo eine Kette
von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er [der Engel der Geschichte; M.St.] eine einzige
Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.
Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein
D M F 75
sagende Geschichte positive Auskunft über das Künftige geben, weshalb Kant sie auf
der anderen Seite von der ‚wahrsagernden‘ Geschichte unterscheidet, die „ohne Kennt-
nis oder Ehrlichkeit“104 formuliert werde. Demnach bezieht sich die Wahrsagung auf
gewisse Kenntnisse.
Erkenntnistheoretisch ist nun die künftige Geschichte ein Nichtseiendes, über das sich
weder aufgrund der vergangenen Geschichte, noch aufgrund der Gegenwart etwas aus-
machen ließe. Jeder bestimmte Begriff des Zukünftigen postulierte deshalb das Sein
eines Nichtseienden und wäre ein nihil negativum, ein leerer Gegenstand ohne Begriff.
Allerdings könnten zukünftige Zustände der Menschheit als Ideen zu denken sein, indem
die erfahrbaren Verhältnisse unter Vernunftbestimmungen allgemein gedacht würden;
deren Antizipation wäre ein ens rationis, ein leerer Begriff ohne Gegenstand, der aber,
sofern widerspruchsfrei, in der Vernunft seinen Ort haben könnte und, wenn reine Ver-
nunft aus sich selbst praktisch würde, einer Realisierung, Vergegenständlichung, fähig
wäre. Aber selbst solche Antizipationen erfordern es, das Zukünftige zu denken, und
bedürfen daher des Bewußtseins eines selbst geschichtlichen Subjektes, das dazu in der
Lage ist. Die formale Bedingung eines solchen Bewußtseins ist nach Kant die Unter-
scheidung von synthesis in antecendentia und synthesis in consequentia.105 Zwar lassen
sich von einem gegebenen Bedingten dessen Bedingungen angeben, aber es lassen sich
nicht mit gleicher Notwendigkeit seine Folgen aus ihm ableiten; dies bedürfte eines
allgemeinen Naturgesetzes, aus dem künftige Naturerscheinungen zu ermitteln wären.
Dann aber wären diese nicht aus dem gegebenen Bedingten selbst erschlossen. Dieser
Schnitt in der Zeitreihe ermöglicht die Vorstellung von Geschichte, indem er es erlaubt,
Bedingungen und Folgen zu unterscheiden.
Nur durch einen in sich inkonsistenten Begriff von Totalität ist es somit möglich, Ge-
genwart als durch Bedingungen bestimmt zu denken, ohne sie zugleich auch als durch
deren Folgen determiniert fassen zu müssen. Die vergangenen Bedingungen sind im
Gegenwärtigen materiell gegenwärtig, umgewandelt in die Gestalt von Folgen jener Be-
Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der
Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er
den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den
Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Über den Begriff der Geschichte, in: Illuminationen, Frank-
furt am Main 1977, 255). Zur Interpretation Benjamins vgl. Peter Bulthaup (Hg.), Materialien
zu Benjamins Thesen ‚Über den Begriff der Geschichte‘. Beiträge und Interpretationen, Frankfurt
am Main 1975 sowie Michael Städtler, Subjekte des Stillstands. Über Robert Menasses ästheti-
sche Reflexion der Stillstellung von Geschichte. Kontrapunkt und Variationen, in: Eva Schörkhuber
(Hg.), „Was einmal wirklich war …“. Zum Werk von Robert Menasse, Wien 2007. – Zur Nähe
vieler Motive des Benjaminischen Geschichtsdenkens zu Kant vgl. Rudolf Langthaler, Benjamin
und Kant oder: Über den Versuch, Geschichte philosophisch zu denken, in: Deutsche Zeitschrift
für Philosophie 50 (2002). Durch detaillierten Vergleich gelangt Langthaler zu dem Resultat, daß
Benjamins kritisch gewendeter Geschichtsbegriff „ein bei Kant zwar tatsächlich noch unentfaltetes
(das heißt explikationsbedürftiges) Problem“ (225) darstelle, daß sich bei ihm aber „fragmenta-
rische[] und verstreute[] Motive“ hierzu finden. An diese überaus wichtige Aufarbeitung wären
nun weitere Überlegungen darüber anzuschließen, warum Kant die theoretische Verbindung der
verstreuten Motive nicht gelingt.
104
SF, VII 79 Anm. Vgl. auch Anthropologie, VII 185ff.
105
Vgl. KrV, B 438.
76 Z S G
dingungen, die sie waren. Die möglichen Folgen des Gegenwärtigen dagegen sind nicht
auf solche Weise in diesem gegenwärtig. Sonst wäre nicht nur eine von den Bedingungen
auf die Gegenwart gerichtete Kausalität gesetzt, sondern zugleich eine von den Folgen
zurückwirkende. Unter der Voraussetzung, daß die Totalität der Gegenstände möglicher
Erfahrung durchgängig kategorial bestimmt ist, wären dann alle Erscheinungen gleicher-
maßen durch die Totalität der vergangenen und zukünftigen Bedingungen bestimmt, kein
Zeitinhalt wäre vom anderen unterscheidbar. Ohne unterschiedene Zeitinhalte wären die
Zeitordnung und die Zeitreihe zerstört und mit ihnen die Einheit der Erfahrung. Damit
wäre auch die Möglichkeit von Freiheit aufgehoben, denn enthielte jede Erscheinung alle
Bedingungen und Folgen über Kausalverknüpfungen in sich, so könnte keine Reihe von
Erscheinungen jenseits dieser totalen Kausalität begründet werden. Durch die eminente
Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft erweist sich menschliche Subjektivität
im Gegensatz zum Weltgeist als der logische Ort von Gegenwart und als der eines dy-
namischen Geschichtsbegriffs gleichermaßen.
Dieser Umstand, mit dem es eng zusammenhängt, daß „der Wahrsager die Begeben-
heiten selber macht und veranstaltet, die er zum Voraus verkündigt“106 , bietet die einzige
Möglichkeit, überhaupt etwas über die Zukunft zu sagen; gleichwohl steht er dabei sich
selbst im Weg, denn indem die Menschen ihre Geschichte selbst machen, hat es die Ge-
schichtswahrsagung „mit freihandelnden Wesen zu thun, denen sich zwar vorher dictiren
läßt, was sie thun sollen, aber nicht, vorhersagen läßt, was sie thun werden“107 . Die im
Vermögen der Freiheit verschränkten guten und bösen Anlagen, so Kant, führen nicht
allein zu abwechselnden Fortschritten und Rückschlägen, sondern das zukünftige Ver-
halten, die Tendenz des eigenen Willens kann noch nicht einmal von jedem Subjekt für
sich selbst sicher vorhergesagt werden. Kant hält diese Ungewißheit der Handlungser-
folge für eine transzendentale Bestimmung. Den politischen Empiristen, die sagen, man
müsse „die Menschen nehmen, wie sie sind, nicht wie der Welt unkundige Pedanten
oder gutmütige Phantasten träumen, das sie sein sollten“, hält er entgegen: „Das wie
sie sind aber sollte heißen: wozu wir [d. h. die Politiker; M.St.] sie durch ungerechten
Zwang, durch verrätherische, der Regierung an die Hand gegebene, Anschläge gemacht
haben“108 . Dieses Argument Kants setzt die Rede vom ‚krummen Holz, aus dem nichts
ganz Gerades werden kann‘109 , prinzipiell aus. Wenn eingeräumt wird, daß politische
Bedingungen eine Deformation des Charakters überhaupt bewirken können, dann läßt
sich aus dem empirischen Zustand der Charaktere, aus ihrer gesamten Geschichte, kein
Kriterium für eine allgemeine Charakterlehre mehr gewinnen. Mit der Möglichkeit der
Deformation ist im Gegenteil die Möglichkeit auch intelligibler Formung anzunehmen,
die freilich keine Garantie bietet, aber doch die Pflicht anzeigt, die Bedingungen der
Charakterbildung am Intelligiblen zu orientieren und nicht an der Geschichte der Defor-
mation. –
Zu einem guten Teil ist jener Empirismus in Kants transzendentale Bestimmung vom
Gut und Böse des menschlichen Willens eingewandert: Die Unsicherheit der Entschei-
106
SF, VII 79.
107
SF, VII 83.
108
SF, VII 80.
109
Vgl. Idee, VIII 23.
D M F 77
dung noch des moralisch gesinnten Charakters wurzelt ebenso in den seine Existenz
bedrängenden Handlungsbedingungen, die selbst gesellschaftlich produziert sind. Im
Resultat aber ist Kant zuzustimmen: Auf der Grundlage dieser Erfahrungsbedingun-
gen ist eine sichere Vorhersage über die menschliche Geschichte nicht möglich. Soll
sie nicht Spinnerei sein, dann bedarf sie aber einer Erfahrungsgrundlage. Möglich wä-
re die Vorhersage also, wenn eine „Erfahrung im Menschengeschlechte […] [auf ein]
Vermögen desselben hinweiset, Ursache von dem Fortrücken desselben zum Besse-
ren“110 zu sein. Aus dieser aufgewiesenen Ursache ließe sich auf ihre Wirkung, den
tatsächlichen Fortschritt, schließen, freilich unter der Einschränkung, daß alle weiteren
Realisierungsbedingungen dieser Ursache ebenfalls gegeben wären. So ergäbe sich die
Gewißheit des Fortschritts, aber ohne zeitliche Bestimmung. Dies nennt Kant ein „Ge-
schichtszeichen“111 , ein Indiz für die Geschichtsmächtigkeit des Menschengeschlechts,
das aller widrigen Erfahrung zum Trotz dann „für die strengste Theorie haltbar[]“112
wäre, weil ein solches Zeichen eine tief beeindruckende und unvergeßliche geschichtli-
che Erfahrung wäre, deren unmittelbare Wirkung gering sein könnte, die aber aus dem
kollektiven Gedächtnis heraus immer wieder geschichtswirksam werden kann.
Ausdrücklich geht es Kant nicht um das moralische Vermögen der Individuen, das
moraltheoretisch nachzuweisen ist, aber unter der Form der Pflicht keine Erfolgssicher-
heit und auch keine kollektive Erfüllung gewährleistet, weil die Menschen sich in ihrer
Zwecksetzung wechselseitig nicht beeinflussen können. Es geht vielmehr um ein spezi-
fisch kollektives Vermögen, das der „Pflicht […] des menschlichen Geschlechts gegen
sich selbst“113 korrespondiert, wenngleich Kant die Erfüllung dieser Pflicht von gött-
lichem Beistand abhängig machte, die Realisierung des Vermögens dagegen von nicht
näher bestimmten Zusatzbedingungen. Das Zeichen der Geschichtsmächtigkeit der Men-
schen kann nun näher nicht in Handlungen bestehen, deren sittliche Fortschrittstauglich-
keit stets zufällig ist, weil ihre Legalität keinen Schluß auf mögliche Moralität zuläßt.
Die öffentliche Anteilnahme an politischen Umwälzungen dagegen sei, weil sie keine
persönlichen Vorteile, wohl aber die Gefahr von Nachteilen, mit sich bringe, nicht bloß
pflichtgemäß sondern aus Pflicht begründet und beweise „einen moralischen Charakter,
wenigstens in der Anlage“114 .
Kant spielt auf die öffentliche Anteilnahme an der Französischen Revolution an, auf
die Entstehung dessen, was man überhaupt moderne Öffentlichkeit nennen kann, vor
diesem historischen Hintergrund. Das Geschichtszeichen sei der Enthusiasmus dieser
Anteilnahme selbst, was Kant allerdings zu einer anthropologischen Korrektur seiner
moraltheoretischen Ausgrenzung aller pathologischen Affektation veranlaßt: Zwar sei
der Enthusiasmus ein Affekt und verdiene deshalb Tadel, jedoch gehe „wahrer Enthusi-
asm nur immer aufs Idealische und zwar rein Moralische […], dergleichen der Rechts-
begriff ist, und [kann] nicht auf den Eigennutz gepfropft werden“115 . Im Medium dieses
110
SF, VII 84.
111
SF, VII 84.
112
SF, VII 88.
113
Religion, B 135.
114
SF, VII 85.
115
SF, VII 86.
78 Z S G
Enthusiasmus’ entsteht ein Subjekt, das als geschichtliches zwischen der synthesis in
antecedentia und der in consequentia steht. Der Enthusiasmus ist nämlich ein empiri-
sches Faktum, aber ein solches, das auf Spontaneität schließen läßt, denn es hätte ihn
„kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt“116 . Allerdings fällt
die nähere Bestimmung dieses ‚wahren Enthusiasmus‘ schwer; kaum kann er mit der
selbst auch aporetischen Konstruktion des vernunftgewirkten Gefühls der Achtung vorm
Gesetz117 in Verbindung gebracht werden, dessen konsequenteste Form noch die Selbst-
achtung wäre. Er ist eine ganz und gar nicht vernunftgewirkte Leidenschaft, deren Objekt
eher zufällig die republikanische Verfassung wurde. Wäre nun aller andere historische
Enthusiasmus ‚unwahr‘, so würde die Bestimmung des ‚wahren‘ zur Tautologie.
Empirisch dürfte es aber vor allem zweifelhaft sein, ob wirklich das moralische Ideal
des Rechtsbegriffs der Gegenstand jenes Enthusiasmus war oder nicht doch die mit der
republikanischen Verfassung und ihrem Liberalitätsprinzip zahlreich verbundenen per-
sönlichen, zunächst privatrechtlichen Vorteile. In der Tat muß Kant einräumen, daß die
Vorhersage sich nur auf empirische Daten, nämlich die zu beobachtenden Handlungen
stützen könne, nicht aber auf Kenntnisse einer tatsächlichen moralischen Gesinnung der
Menschen.118 Jedoch sei der Zuwachs an Legalität, die Abnahme von Gewalt und vor
allem Krieg in der bürgerlich-republikanischen Verfassung schon ein Schritt, durch den
„der Fortschritt zum Besseren negativ gesichert wird, im Fortschreiten wenigstens nicht
gestört zu werden“119 . Dieses Geschichtsverständnis setzt allerdings voraus, daß die Re-
volution im Gegensatz zu ihrer Erscheinung als eine Evolution des Naturrechts aufgefaßt
wird, deren gewaltsame Verlaufsform aber ihrem Begriff widerspricht.120 Dieser Wider-
spruch ist der eigentliche Grund dafür, daß nicht die Französische Revolution selbst als
geschichtlicher Fortschritt gewertet wird, sondern daß allein die enthusiastische Teilnah-
me an ihr ein Zeichen der Fortschrittsfähigkeit sei, weil sie trotz aller Gewalttätigkeit
den Wunsch nach Gewaltlosigkeit ausdrücke. So ist sie kein Vorbild für die Konstitution
eines möglichen geschichtlichen Subjekts, sondern im Gegenteil weist sie die Möglich-
keit aus, die Menschen zum Fortschritt zu lenken. Dessen Bewegungsrichtung sei nicht
bestimmt „durch den Gang der Dinge von unten hinauf , sondern den von oben her-
ab“121 . Die Umwandlung der Staatsform oder Regierungsart soll durch die Regierenden
selbst geschehen, damit der Widerspruch des Rechtszweckes mit den unrechtlichen Mit-
teln vermieden werde: „Es ist doch süß, sich Staatsverfassungen auszudenken, die den
Forderungen der Vernunft (vornehmlich in rechtlicher Absicht) entsprechen: aber ver-
messen, sie vorzuschlagen, und strafbar, das Volk zur Abschaffung der jetzt bestehenden
aufzuwiegeln.“122 Ausdrücklich wird hier das positive Strafrecht gegen die Realisierung
von Naturrecht ins Feld geführt.
116
SF, VII 88.
117
Vgl. KpV, V 74.
118
Vgl. SF, VII 91.
119
SF, VII 86.
120
Vgl. SF, VII 85: „ein wohldenkender Mensch [würde], wenn er sie [die französische Revolution;
M.St.], zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment
auf solche Kosten zu machen nie beschließen“.
121
SF, VII 92.
122
SF, VII 92 Anm.
D M F 79
Kants Begründung, das republikanische Prinzip berechtige nicht als ein gleichsam
höheres die tatkräftige Überwindung des monarchischen, weil des betreffenden Volkes
„vielleicht sehr verbreitete Lage in Europa […] ihm jene Verfassung [der Monarchie] als
die einzige anempfehlen [kann], bei der es sich zwischen mächtigen Nachbaren erhalten
kann“123 , mag wohl an seinen König adressiert sein; denn der Anschluß Preußens an die
Französische Republik hätte womöglich gegen die Nachbarn mehr Eindruck gemacht als
das Prinzip des politischen Entscheidungsmonismus’. Kants zwiespältige Haltung hat ei-
nen anderen Grund. Die Menschen sind als in sich antagonistische Subjekte des guten
wie des bösen Prinzips zwar der Moralisierung fähig, deren Bedingung aber bleibt das
Recht, weil dieses allein äußerlich einzurichten und zu kontrollieren ist. Das Mißtrau-
en gegen die empirischen Subjekte verhält deren Spontaneität jedoch zur Reaktion; das
Recht, das sie legitim und mit Enthusiasmus verlangen, müssen sie sich geben lassen, –
ohne Garantie, daß es ihnen auch gegeben wird. Die Öffentlichkeit, auf die Kant vertraut,
ist gänzlich abhängig von dem Fürsten, der sie gewährt. Gewährt er sie nicht, bleibt es
beim Geschichtszeichen „unbestimmt in Ansehung der Zeit“124 . Der Widerspruch zwi-
schen Form und Zweck der Revolution, den Kant vermeiden wollte, reproduziert sich so
in den Subjekten: Ihr zeitloses Geschichtsvermögen ist der reine Ausdruck des Wider-
spruchs ihres natürlichen Anspruches mit dessen heteronomer positiver Verwaltung.
Insofern die Moralisierungsgeschichte auf der Rechtsgeschichte aufbaut, hat sich als
höchster von der politischen Geschichte anzustrebende Zustand ein unwiderruflicher
weltumspannender Friede ergeben, weil der Krieg der „Zerstörer alles Guten“125 und
„das größte Hinderniß des Moralischen“126 sei; politische Geschichte erscheint so auch
umgekehrt als negatives Korrelat der Moralgeschichte, als der Prozeß der Beseitigung
von deren Hindernissen.127 Kant findet nun die Gegenwart gewissermaßen auf dem hal-
ben Wege der politischen Entwicklung vor: Die Menschen haben sich bereits aus dem
unmittelbaren Naturzwang durch Kultur und Zivilisation herausgearbeitet, und sie ha-
ben partikulare bürgerliche Verhältnisse begründet, das heißt sie haben ein zunächst
innerstaatliches öffentliches Recht entworfen, das ihre Privatrechtsansprüche garantiert.
Die Partikularität dieser Ordnung erzwingt zu ihrer Stabilität das Recht, andere, die im
Naturzustand verblieben sind, zu nötigen, dem bürgerlichen Zustand beizutreten, ein ei-
genes bürgerliches Gemeinwesen zu begründen, oder sich den bestehenden fernzuhalten,
denn die bloße Existenz eines Gemeinwesens im Naturzustand – das heißt eines solchen
ohne bürgerliche Verfassung – stellt bereits eine permanente Bedrohung dar.128
Nun gibt es zudem verschiedene solcher bürgerlichen Gemeinwesen, die ihrerseits
sich in einem Naturzustand der Staaten zueinander befinden, solange sie in keinem völ-
kerrechtlichen Verhältnis zueinander stehen. Da Kant auch im Naturzustand Rechte, oder
123
SF, VII 86 Anm.
124
SF, VII 84.
125
SF, VII 91.
126
SF, VII 93.
127
Vgl. Nathan Rotenstreich, Theory and Practice in Kant and Hegel, in: Dieter Henrich (Hg.), Kant
oder Hegel? a.a.O., 128: Moral sei ein „attempt to do justice to continuous transcending of the
circumstantial or empirical limitations to which we are exposed while the moral imperative is
meant to lead us in the direction of overcoming them“.
128
Vgl. EF, VIII 349 Anm.
80 Z S G
Ansprüche, annimmt, diese aber nicht juristisch geklärt werden können, da es keinen
gemeinsamen Richter der Anspruchsgegner gibt, ist Gewalt – das heißt unter Staaten:
Krieg – das einzige Rechtsmittel des Naturzustandes.129 Die Konflikte, Anspruchskolli-
sionen, ergäben sich ihrerseits notwendig aus den Affekten Herrschsucht, Ehrsucht und
Habsucht, die bloß innerstaatlich durch Privatrecht und Strafrecht gezähmt, aber kei-
neswegs erloschen seien. Die resultierenden Kriege, schon die Kriegsbedrohung allein,
ruinieren Kant zufolge die Staaten und ihre Bürger. Der Rückfall in den Naturzustand,
in dem die Staaten sich äußerlich noch befinden, droht auch innerlich. Das Eigentum
der Bürger, das der Staat schützen soll, ist ständig in Gefahr, durch Kriege vernichtet zu
werden. Menschen aber, deren Eigentum nicht gesichert ist, werden gemäß der in der
Neuzeit weithin geteilten Überzeugung zu wilden Tieren. Insofern diagnostiziert Kant
eine labile Situation, deren Umkippen zum Elend allein durch beherzten Fortschritt in
der Verbürgerlichung der internationalen Verhältnisse vermieden werden könne.
Kant unterscheidet zwischen gewissermaßen ressortpolitischen Bedingungen politi-
scher Pragmatik, die sich auf den Gegenstand Krieg selbst beziehen, und Bedingungen
des öffentlichen Rechts für die staatlichen und zwischenstaatlichen Verfassungsformen.
Jene bilden die sogenannten Präliminarartikel, diese die sogenannten Definitivartikel
zum ewigen Frieden. In diesen werden positiv die politischen Formen definiert, in denen
ein stabiler Friedenszustand verlaufen könnte, jene bilden die Präliminarien dazu, indem
sie negativ bestimmen, wie der Kriegszustand überhaupt beendet, gewissermaßen aus-
geschlichen werden könne, bevor völkerrechtliche Verhandlungen erfolgreich zu führen
wären.130
Diese Präliminarien – allesamt leges prohibitivae, die kriegsfördernde Politik
verbieten – unterteilt Kant noch einmal in „(leges strictae), die sofort auf Abschaffung
dringen“ und „leges latae“131 ; deren Umsetzung erlaube Aufschub, wenn sofortige
Umsetzung dem politischen Erfolg zu schaden drohe. Die strikten Verbote betreffen
politische Vorgehensweisen, die unmittelbar das Friedensziel beschädigen, ja un-
möglich machen, nämlich zunächst – im Ersten Präliminarartikel – Friedensverträge
unter Vorbehalt, die tatsächlich bloße Waffenstillstandsabkommen wären. Ein echter
Friedensvertrag muß alle, auch „noch nicht bekannte, Ursachen zum künftigen Kriege
[…] insgesammt vernichte[n]“132 . Damit wäre der Gedanke staatlicher Souveränität
mit dem Aufgeben imperialistischer Staatsziele identisch. Das bedeutet auch – dem
Fünften Präliminarartikel zufolge –, daß Staaten nicht wechselseitig in ihre inneren
Angelegenheiten eingreifen, selbst ein despotisch verwalteter Staat bietet keinen
Rechtsgrund eines solchen Eingriffes, sondern erkönnte, als ein schlechtes Beispiel,
anderen noch zur Mahnung dienen. „Es ist hier […] nicht von Philanthropie, sondern
129
Vgl. EF, VIII 346.
130
Zu dem nicht unproblematischen Verhältnis beider Artikelgruppen vgl. Matthias Lutz-Bachmann,
Kants Friedensidee und das rechtsphilosophische Konzept einer Weltrepublik, in: Ders./James
Bohman, Frieden durch Recht, a.a.O. 31ff. – Eine umfassende historische und systematische
Einordnung der Schrift Zum ewigen Frieden bietet Georg Cavallar, Pax Kantiana. Systematisch-
historische Untersuchung des Entwurfs „Zum ewigen Frieden“ (1795) von Immanuel Kant, Wien/
Köln/Weimar 1992.
131
EF, VIII 347.
132
EF, VIII 343.
D M F 81
vom Recht die Rede“133 , und ein Recht zum Eingriff in fremde Staatsangelegenheiten
ließe sich allenfalls aus einer vorhergegangenen Läsion des Eingreifenden durch den,
in den nun eingegriffen werden soll, ableiten. Eine Ausnahme gilt allein dann, wenn
das fremde Gemeinwesen kein bürgerliches ist, sich also im Naturzustand befindet,
denn dann ist schon sein bloßes Dasein, sofern in bedrohlicher Nähe, Läsion, und
er darf gezwungen werden, in bürgerliche Verhältnisse einzutreten. Dies ist auch bei
innerer Zerrüttung durch Bürgerkriege der Fall, aber erst dann, wenn der innere Streit
in Anarchie übergegangen ist.134 Schließlich fordert Kant im Sechsten Präliminarartikel
das, wofür sich der abscheuliche Ausdruck ‚humane Kriegsführung‘ durchgesetzt hat.135
Ausgeschlossen werden „Anstellung der Meuchelmörder (percussores), Giftmischer
(venefici), Brechung der Capitulation, Anstiftung des Verraths (perduellio) in dem
bekriegten Staat etc.“136 , weil solches Vorgehen im Krieg alles Vertrauen in die
menschliche Zuverlässigkeit des Gegners erschüttert und daher einen Friedenszustand
unmöglich macht. Vernichtungskriege, die „den ewigen Frieden nur auf dem großen
Kirchhofe der Menschengattung statt finden lassen würden“137 , sind selbstverständlich
erst recht ausgeschlossen.
Ernsthaft strikt ist indes nur der Erste Präliminarartikel, die anderen sind bei Kant
selbst der Kasuistik unterworfen und öffnen ein weites Feld der Interpretation: Wel-
che Kampfmittel und -methoden schädigen das Vertrauen tatsächlich irreversibel? Wer
mißt das? – Es wäre der Punkt zu ermitteln, bis zu dem die Steigerung der Brutali-
tät und Hinterhältigkeit dem Krieg noch nützt, ohne dem Frieden schon zu schaden.
Dieser Punkt entzieht sich aber im Kontinuum der graduellen Steigerung seiner Fixie-
rung.138 Ebenso ist es, wie die Geschichte noch des 21. Jahrhunderts bereits vorgeführt
hat, an dem eingreifenden Staat und seinen Interessen gelegen, welche Gemeinwesen
133
EF, VIII 357.
134
Vgl. EF, VIII 346. Dies ist eng zu interpretieren. Ebbinghaus weist darauf hin, daß mit dem Volk
im Naturzustand „nicht etwa ein unter einer Staatsverfassung stehendes Volk gemeint ist, mit dem
ich (als einzelner Mensch oder Staat) mich im Verhältnisse des Naturstandes befinde, sondern
ein Volk, das sich im Naturstande befindet und also keinen Staat bildet“ (Julius Ebbinghaus,
Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage, Freiburg im Breisgau 1929, 13; vgl.
15). Dadurch wird die interventionistische Interpretierbarkeit von Kants Argument schon erheblich
eingeschränkt.
135
Vgl. Hans Heinz Holz, Gedanken zu Krieg und Frieden, a.a.O., 44.
136
EF, VIII 346.
137
EF, VIII 347.
138
Als im jugoslawischen Bürgerkrieg die kroatischen Militärführer beschlossen, ihre moslemischen
Bundesgenossen aus den eigenen Reihen heraus gefangenzusetzen, weil sich die gebiets- und be-
völkerungspolitische Interessenlage gewandelt hatte, entstand das Problem, tausende von Soldaten
festzusetzen. Es mußten Lager errichtet werden, in denen diese Menschen konzentriert werden
konnten. Der zuständige General befahl den ausführenden Offizieren, sie mögen so vorgehen, daß
man sich hinterher nicht zu schämen brauchte; die Befreiung von Auschwitz war eben fünfzig Jah-
re her. Die Gefangenen wurden alsdann in unterirdischen Benzintanks eingeschlossen, deren Dach
ununterbrochen starker Sonneneinstrahlung ausgesetzt war und die nicht zu belüften waren. Daß
die Gefangenen nicht ausreichend Lebensmittel und Flüssigkeit erhielten, kam hinzu. Die heim-
lichen Filmaufnahmen während der Freigänge unterschieden sich von den bekannten Bildern aus
Auschwitz allein in der Farbqualität. ‚Humane Kriegsführung‘ ist eine Illusion. – Staaten, die sich
82 Z S G
er für Rechtsordnungen hält, oder wann der Zustand innerer Zerrüttung anarchische
Form annimmt; zumindest dies ist erneut eine graduelle Bestimmung; für jenes hat Kant
noch das Kriterium der bürgerlichen Privatrechtsordnung, das allerdings insofern varia-
bel ist, als bestimmte Privatrechtsbeschränkungen – etwa die staatliche Regelung von
Außenhandelsbeziehungen bezüglich besonderer Güter – dem interessierten Staat als
Unrecht erscheinen könnten. Als strikt könnte stricte sensu nur das kategorische Ver-
bot der Kriegsabsicht überhaupt gelten.
Kant aber zeigt sich als politischer Pragmatiker, mehr noch in den vom ihm selbst
als leges latae bezeichneten Präliminarartikeln: über das Verbot der privatrechtlichen
Erwerbung fremder Staaten durch Erbe, Schenkung, Kauf oder Heirat (2.), über die For-
derung der Aufhebung stehender Heere (3.) und über das Verbot der Kriegsschulden
(4.). Viele Staaten sind noch in derartigen Verhältnissen und ihren Folgen befangen.
Daher schließen die Präliminarartikel mit ihrer Verabschiedung wohl das zukünftige
Zuwiderhandeln aus, aber sie haben keine strikte Rückwirkung. Der vor der Verab-
schiedung der Regeln, also bezüglich ihrer im Naturzustand, erworbene Besitzstand,
kann als „unrechtmäßiger, dennoch ehrlicher Besitz […] nach einem Erlaubnißgesetz
des Naturrechts noch fernerhin fortdauern“139 . Die Ausführung der Präliminarartikel
dürfe zwar nicht „auf den Nimmertag“140 ausgesetzt werden, aber sie darf nach prag-
matischen Gesichtspunkten terminiert werden, um politische Stabilität zu gewährleisten.
Diese Pragmatik schränkt nach Kants eigener Auffassung die Moralität der Subjekte ein,
denn beispielsweise die Erwerbung fremder Staaten erwerbe nicht ein Gebiet, sondern
eine „Gesellschaft von Menschen“141 und hebt deren moralische Persönlichkeit auf. Die
Werbung von Soldaten „zum Tödten, oder getödtet zu werden“, stellt „einen Gebrauch
von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines Andern (des
Staats) […] [dar], der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen
Person vereinigen läßt“142 . Die ambitionierte philosophische Kritik an der Kriegspolitik,
die sogar sich selbst Narrenfreiheit attestierte,143 manövriert sich im pragmatischen Um-
darauf einlassen, Konflikte durch wechselseitiges Töten auch nur von Teilen ihrer Bevölkerungen
zu entscheiden, geraten in unkontrollierbare Zugzwänge.
139
EF, VIII 348 Anm.
140
EF, VIII 347.
141
EF, VIII 344.
142
EF, VIII 345.
143
Vgl. EF, VIII 343. Auf die Funktion der von Kant selbst so genannten clausula salvatoria im
Proömium der Schrift ist öfters hingewiesen worden. Vgl. Georg Cavallar, Pax Kantiana, a.a.O.,
21 (Kant nehme den „Realpolitikern den Wind aus den Segeln“), ausführlicher Volker Gerhardt,
Immanuel Kants Entwurf ‚Zum ewigen Frieden‘. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995, 33-40
und neuerlich Theo Stammen, Immanuel Kants Schrift „Zum Ewigen Frieden – Ein philosophi-
scher Entwurf“ als Satire gelesen, in: Werner J. Patzelt/Martin Sebaldt/Uwe Kranenpohl (Hgg.),
Res publica semper reformanda. Wissenschaft und politische Bildung im Dienste des Gemein-
wohls, Wiesbaden 2007, 100: Kant verschaffe sich als Nichtjurist durch die juristische Rhetorik
„eine ebenso überraschende wie überlegene objektive geistige Autorität in der Formulierung phi-
losophischer Grundsätze des Friedensrechts“.
D M F 83
gang mit dem Gegenstand in eine Stellung, von der aus sie den kategorischen Imperativ
partiell – und das heißt vollständig144 – suspendieren muß.
Es mag sich fragen lassen, ob die moralische strikte Forderung nach sofortiger Räu-
mung besetzter Gebiete nicht Unruhen provoziere, ob die sofortige Auflösung der Armee
den Staat nicht zu leichter Beute mache, ob die sofortige Erstattung der Kriegsschul-
den ihn nicht ökonomisch lähme, ob ein allgemeines Nichteinmischungsgebot nicht den
Staat eventuell in Bedrängnis brächte und ob schließlich das Verbot ‚inhumaner Kriegs-
techniken‘ den Pleonasmus dieses Ausdrucks nicht noch frappanter machte als es der
Widerspruch seines Gegenteils ist. Aber alle diese Fragen führen auf die eine: ob Mo-
ralphilosophie als Beratungsinstrument einer mangelhaften Politik nicht zwangsläufig
entweder diese Politik auf ihre bedingungslose Unzulässigkeit hinweisen oder sich selbst
als deren Legitimierungshelfer korrumpieren müßte. Läßt sie sich hinreißen, statt nega-
tiver Kriterien, positive Regeln zu formulieren, regelt sie die Gewalt. Damit verläßt sie
aber das Gebiet der praktischen Vernunft, auf dem Gewalt nicht gelten kann. Der wi-
derspruchsfreie Zusammenhang von Recht und Moral, den Kant zu unterstellen scheint,
wenn er sagt, es gehe nicht um Philanthropie, sondern um Recht, erscheint aus dieser
Perspektive eher fraglich.
Noch gilt im empirischen Gang der Dinge das Recht als oberste Bedingung des Frie-
dens, von der Funktion der Moral ist nicht die Rede: „Alle Menschen, die auf einander
wechselseitig einfließen können, müssen zu irgend einer bürgerlichen Verfassung gehö-
ren“145 . Darüber hinaus vertritt Kant aber, daß die Verhältnisse aller Menschen und aller
Staaten gemäß Staatsbürgerrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht geordnet sein müs-
sen. Solange nur eine Ausnahme vom allgemeinen kosmopolitischen ‚Menschenstaat‘
bestehe, sei alles Recht und mit ihm der Frieden unsicher. Die politischen Bedingungen
des geschichtlichen Fortschritts zum Frieden, die nun in den Definitivartikeln verhan-
delt werden, sind aber nun keine pragmatischen Regeln der verfehlten Politik, sondern
sie sind Grundregeln richtiger Politik, der Errichtung eines politischen Allgemeinen, in
dem die Einzelnen gesichert sind. Ihre unbedingte Allgemeinheit zeichnet sie, ihrem An-
spruch nach, als vernünftige Bestimmungen vor den bestenfalls komparativ allgemeinen
Verstandesregeln der Präliminarartikel aus.
Die staatsrechtliche Forderung ist die nach der republikanischen Verfassung, in der
alle Bürger frei seien, das heißt, „keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu de-
nen ich meine Beistimmung habe geben können“146 , und in der alle gleichermaßen der
Verfassung unterstellt sind. Dies ist die einzige Verfassung, die aus Kants Rechtsbegriff
selbst folgt. Dieser Rechtsbegriff besteht in der Vorstellung eines ursprünglichen Ver-
trages, „auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muß“147 . Die
staatsrechtstheoretische Legitimation von Recht überhaupt erfolgt damit nicht unmittel-
144
Vgl. Lüge, VIII 430: „Alle rechtlich-praktische Grundsätze müssen strenge Wahrheit enthalten,
und die hier sogenannten mittleren können nur die nähere Bestimmung ihrer Anwendung auf
vorkommende Fälle (nach Regeln der Politik), aber niemals Ausnahmen von jenen enthalten: weil
diese die Allgemeinheit vernichten, derentwegen allein sie den Namen der Grundsätze führen.“
145
EF, VIII 349 Anm.
146
EF, VIII 350 Anm.
147
EF, VIII 350.
84 Z S G
bar aus dem Moralgesetz, sondern vermittelt über ein positives, formal am Privatrecht
orientiertes, Verfahren: einen Vertragsabschluß, der als solcher – seinem Begriff nach
die freie Übereinstimmung mehrerer freier Willen – immer partikular ist. Nun sei dieser
Vertrag aber nicht als empirisch uranfänglicher, sondern bloß als ideeller ursprünglich
vorzustellen, der so konstruiert sein müßte, daß alle vernünftigen Wesen ihm zustim-
men können müßten, daher empirisch nicht erst zustimmen müßten.148 Die praktische
Regel für dasjenige, dem alle vernünftigen Wesen zustimmen können müssen, ist aber
der kategorische Imperativ, über den vertraglich sich zu einigen unmöglich ist.149
Kants Vorgehen über die Vertragstheorie zeigt an, daß ihm an einem Legitimations-
mythos des Privatrechts ebenso gelegen ist wie an einer Moralisierung des Öffentlichen
Rechts, denn der Rechtsbegründungsvertrag ist sowohl die transzendentalisierte Gestalt
des Privatvertrages und dadurch Bedingung von dessen Möglichkeit, als auch Rechts-
grundlegung aus subjektiver Freiheit; mythisch bleibt indes die empirische Ungreifbar-
keit des Verfahrens. Sein öffentlichrechtliches Resultat – Freiheit, Gleichheit und Recht
– wäre aber gleichwohl auch aus Kants moralischem Autonomiebegriff zu entwickeln
als unbedingte Forderung an die Politik. Deren Beitrag zum ewigen Frieden erscheint
nicht als Motiv der Begründung, sondern als notwendig mitfolgend.150 Er besteht dar-
in, daß die Menschen, würden sie über sich selbst bestimmen, keinen Krieg über sich
beschließen würden. Selbst hierein legt aber Kant ein Moment von Pragmatik: Am sta-
bilsten werde eine Republik von einem konstitutionell gebundenen Monarchen verwaltet,
der herrsche und regiere, während das Volk Gesetzgeber sei.151 Die Kompetenzenvertei-
lung im einzelnen bleibt hier fließend variabel.
Analog dem im bürgerlichen Staat aufgehobenen Naturzustand der Menschen sei nun
gemäß dem Zweiten Definitivartikel der Zustand der Staaten als Naturzustand vorzustel-
148
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, diese ideelle Konstruktion Kants, die bewußt so vage bleibt,
unter empirischen Vorstellungen beispielsweise zu einer ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ auszubauen.
Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979, das Kapitel 24: Der
Schleier des Nichtwissens. Daß das Bundesverfassungsgericht diese Vorstellung von Gerechtigkeit
ernsthaft in der Begründung vom 11. 11. 1999 zur Normenkontrolle des Maßstäbegesetzes zum
Länderfinanzausgleich bemühte, beweist allerdings eine gewisse praktische Relevanz von Philo-
sophie. Sie diente als Metapher für die Forderung, daß Gesetze zum Finanzausgleich mit soviel
zeitlichem Vorlauf zu beschließen seien, daß die Beschließenden nicht wissen könnten, ob sie
zum Zeitpunkt des Inkrafttretens Geber- oder Nehmervertreter sein würden. Philosophisch gese-
hen werden hier Interessenkonflikte, vor allem aber deren Gründe, abstrakt ausgeblendet, nicht
vermittelt. Zur Sache vgl. auch: Josef Franz Lindner, Das BVerfG, der Länderfinanzausgleich und
der „Schleier des Nichtwissens“. Anmerkungen zu einem staatsfundamentalphilosophischen Rück-
griff des BVerfG, in: Neue Juristische Wochenschrift 53 (2000). Lindner weist mit Recht darauf
hin, daß dieser ‚Rückgriff‘ ein ‚Mißgriff‘ gewesen sei, denn zunächst sei das Rawlsische Konzept
eine theoretische Konstruktion, deren Anwendung auf bestimmte Rechtsprobleme nicht unmittelbar
möglich sei, sodann sei diese Konstruktion als theoretische selbst zweifelhaft, weil sie historisch
und kulturell bestimmte Gerechtigkeitsvorstellungen unreflektiert universalisiere.
149
Vgl. die Kritik am Vertragsgedanken bei G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts,
a.a.O., §§ 75 und 100.
150
Vgl. EF, VIII 351.
151
Vgl. EF, VIII 352.
D M F 85
len.152 Hier aber endet die Analogie bereits, was ihren Erklärungsgehalt in Frage stellt,
denn die völkerrechtliche Forderung ist nicht die nach einem globalen Völkerstaat, son-
dern die nach einem föderalen Bündnis. Ein gemeinsamer Staat höbe die Vielheit der
Völker auf, was jedoch, selbst wenn dem so wäre, noch keinen zwingenden Einwand
darstellte. Dieser soll nun in der Ergänzung bestehen, daß „ein jeder Staat das Ver-
hältniß eines Oberen (Gesetzgebenden) zu einem Unteren (Gehorchenden, nämlich dem
Volk)“153 enthalten müsse. Nach der Vorstellung der Volkssouveränität wäre dies jedoch
kein Hindernis, weil ihr zufolge das Obere und das Untere nicht weniger identisch sind
als die Völker im Weltstaat es sein könnten. Kant betont, daß in der Tat der globale
Völkerstaat, die einzige dauerhafte Lösung des Kriegsproblems darstellte, was aber die
„Völker der Erde […] nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen“154 . Es
bleibe statt der „positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden
soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich im-
mer ausbreitenden Bundes“155 . Das Beharren der Staaten auf ihrer isolierten Souveränität
wird von Kant geradezu als barbarisch gekennzeichnet, jedoch gebe es keine rechtlich
begründbare Handhabe, sie in eine Gemeinschaft zu zwingen, denn als innerlich schon
bürgerlich verfaßte Staaten genügten sie dem, was gemäß dem Naturrecht allenfalls zu
fordern sei.156 Ihr Rechtsmittel untereinander bleibt der Krieg. Dieser kann aber erstens
kein Recht schaffen, und zweitens, wie Kant so deutlich wie selten betont, hat „die Ver-
nunft vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als
152
Vgl. EF, VIII 354. Vgl. hierzu auch G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts,
a.a.O., § 333: „Weil aber deren Verhältnis ihre Souveränität zum Prinzip hat, so sind sie insofern
im Naturzustande gegeneinander, und ihre Rechte haben nicht in einem allgemeinen zur Macht
über sie konstituierten, sondern in ihrem besonderen Willen ihre Wirklichkeit.“
153
EF, VIII 354.
154
EF, VIII 357.
155
EF, VIII 357. Vgl. Jürgen Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen
Abstand von zweihundert Jahren, in: Matthias Lutz-Bachmann/James Bohman (Hgg.), Frieden
durch Recht, a.a.O. Habermas weist darauf hin, daß die ‚widersprüchliche Konstruktion‘ (vgl. 10)
der Beibehaltung der Souveränität im Völkerbund eine ‚realistische‘ Ermäßigung seiner früheren
Position sei: Im Gemeinspruch (vgl. VIII 312f.) vertrete Kant noch den Völkerstaat. – Volker Ger-
hardt plädiert dafür, staatliche Souveränität unter den internationalen Vorbehalt ihrer rechtmäßigen
Ausübung zu stellen. (Vgl. Das Recht in weltbürgerlicher Absicht. Kants Zweifel am föderalen
Weg zum Frieden, in: Ders. (Hg.), Kant im Streit der Fakultäten, Berlin 2005. Das dürfte inner-
halb des bürgerlichen Völkerrechts nicht widerspruchsfrei möglich sein, weil die Staaten damit
ihre juristische Persönlichkeit zumindest partiell einbüßen. Vgl. hierzu auch Sabine Jaberg, Kants
Friedensschrift und die Idee kollektiver Sicherheit. Eine Rechtfertigungsgrundlage für den Koso-
vo-Krieg der NATO?, Hamburg 2002, 56: „[E]ine Aufhebung des Völkerrechts wäre erst mit der
Überwindung der völkerrechtlichen Subjektivität der Staaten in einer vollständig durchgesetzten
Weltrepublik möglich.“
156
Vgl. EF, VIII 355f. Oliver Eberl und Peter Niesen (Immanuel Kant. Zum Ewigen Frieden. Kom-
mentar, a.a.O., 241f.) verstehen diese Stelle so, daß die Staaten den Völkerstaat rechtlich nicht
wollen können, weil er ihrer Souveränität widerspräche. Dieser Zusammenschluß gehöre daher
nicht zum Völkerrecht. Das ist richtig, aber eine petio principii. Wenn die staaten als Subjekte
bürgerlichen Völkerrechts weiter existieren wollen, können sie nicht in einen Völkerstaat überge-
hen. Dieser Übergang gehört nicht zum Völkerrecht, sondern wäre eine politische Forderung.
86 Z S G
157
EF, VIII 356.
158
EF, VIII 356. Schon weil Kant das moralische Friedensgebot durchgängig an der politischen Wirk-
lichkeit reflektiert, handelt es sich keineswegs „um reinsten Idealismus“, wie Sabine Jaberg meint.
Vgl. Sabine Jaberg, Kants Friedensschrift und die Idee kollektiver Sicherheit, a.a.O., 36. Darüber
hinaus ist „idealistische[] Rechtsmetaphysik“ auch nicht darin zu finden, daß Kant „die Beachtung
des Rechts zur moralischen Pflicht erhebt“ (ebda.). Kants Moralbegriff ist aufgrund der Differenz
von Sein und Sollen gerade nicht idealistisch; sein Fehler besteht im Gegenteil in dieser Trennung
von Moral und Recht, die nicht durch eine nachträgliche oder zusätzliche Moralisierung von Recht
geheilt werden kann. – Die Schwierigkeiten der Rezeption der Friedensschrift und ihrer Beurtei-
lung, die immer politisch interessiert ist, erörtert Oliver Eberl, Demokratie und Frieden. Kants
Friedensschrift in den Kontroversen der Gegenwart, Baden-Baden 2008. Seine hermeneutische
Lösung dieses Problems ist jedoch problematisch: Sie bezieht die Bedingtheit der Standpunkte
auch auf sich selbst, verzichtet auf die Möglichkeit objektiver Erkenntnis (26) und erhofft zugleich
von der so „gesteigerten Reflexivität eine erhöhte Plausibilität der Interpretation“ (32).
159
Vgl. dagegen EF, VIII 357 Anm., wo Kant es ausdrücklich als „Versündigung“ bezeichnet, nicht
zur Weltrepublik bereit zu sein. Hier kann er nicht das bloße Bündnis meinen, da von einer
‚gesetzlichen Verfassung‘ der Völker die Rede ist. Insofern ist Alberto Burgios Einschätzung zu
relativieren, im Widerstand kants gegen die Idee eines Völkerstaats zeige sich dessen Modernität
(vgl. Die Zeit für den Krieg, die Zeit für den Frieden. Zur Geschichtsphilosophie von Kants ‚Zum
ewigen Frieden‘, in: Volker Bialas/Hans-Jürgen Häßler, 200 Jahre Kants Entwurf ‚Zum ewigen
Frieden‘, a.a.O., 61).
D M F 87
Einen Kern von Moralität will Kant jedoch im empirischen Völkerrecht noch finden,
einen Anknüpfungspunkt gewissermaßen für Besserungsvorschläge, nämlich darin, daß
die Diplomaten und die Rechtstheoretiker stets versucht haben, den gerechten Krieg zu
definieren oder empirische Kriege zu rechtfertigen, obgleich doch Krieg mit Recht gar
nichts gemein habe.160 Kant irrt. Die Rechtfertigung von Kriegen, die als theoretische
wie als diplomatische immer argumentiert, das heißt Mittel der Vernunft gebraucht, of-
fenbart nicht im Mindesten den Wunsch, noch den Krieg an die Rechtsidee zu binden,
sondern im Gegenteil die äußerste Perfidie, vor einer Vergewaltigung der Vernunft nicht
haltzumachen, um dem Krieg, der Vernichtung des Menschlichen, noch den Anschein
von Menschlichkeit zu verleihen.161
Das im Dritten Definitivartikel formulierte Weltbürgerrecht sieht demnach auch ledig-
lich eine Hospitalitätsregelung als Bedingung wechselseitiger Annäherung der Völker
vor. Es sichert allein das Recht aller, an keinem Platz der Welt feindlich behandelt zu
werden, wenn man nicht selbst Anlaß dazu bietet. Es ist allein ein Durchreiserecht,
das mit keinerlei Aufenthaltsrechten oder -pflichten verbunden ist. Dadurch sollen die
Bedingungen geschaffen werden, daß Völker aller Erdteile „mit einander friedlich in
Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden und so das menschliche
Geschlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringen können“162 .
Offensichtlich sind hierunter Handelsbeziehungen zu verstehen, die früher oder später ei-
ner öffentlich-rechtlichen Absicherung bedürfen.163 Auch das Weltbürgerrecht, zunächst
als moralischer Anspruch an das Völkerrecht formuliert, wird auf dem pragmatischen
Umweg über das Privatrecht realisiert. Immerhin sei die Annäherung nicht selbst durch
Krieg vermittelt. Doch auch die objektive Realität des Weltbürgerrechts hat eine em-
pirische Bedingung, nämlich die fortgeschrittene Völkergemeinschaft mit entwickelter
Publizität. Wenn Kant die Möglichkeit des Weltbürgerrechts darin begründet sieht, daß
„die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“164 , so ist damit
nicht gemeint, daß die Verwüstungen und Verwerfungen durch Kriege ein Ausmaß an-
genommen hätten, durch das jeder Krieg internationale Konsequenzen habe, sondern daß
die internationalen Beziehungen soweit gediehen sind, daß jeder Krieg allen zivilisierten
Völkern öffentlich bekannt wird. Durch diese Öffentlichkeit, so hofft Kant, werde der in-
ternationale Frieden zum allgemeinen Interesse. Dies aber ist die Vorstellung einer bloß
komparativen Allgemeinheit, die mit der notwendigen Allgemeinheit der moralischen
Idee nur zufällig zusammenstimmt.
160
Vgl. EF, VIII 355 und 376.
161
Kant selbst geißelt diese Haltung als ‚politischen Moralismus‘, „der sich eine Moral so schmiedet,
wie es der Vortheil des Staatsmanns sich zuträglich findet“ (EF, VIII 372).
162
EF, VIII 358. Die gegenwärtig sich hierauf beziehenden an die Europäische Union geknüpften
Hoffnungen mögen hinsichtlich des Friedens und der Ausbreitung des Völkerrechts erfüllt wer-
den; sie übersehen indes die maßgeblichen ökonomischen Triebfedern, die hinter diesen Prozessen
stehen und für die Menschen nicht zwangsläufig eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen
bewirken. Die positive Rechtsform garantiert nicht, daß ihre Ausgestaltung unter der Einheit prak-
tischer Vernunft steht.
163
Hans Heinz Holz, Gedanken zu Krieg und Frieden, a.a.O., 48, konstatiert, diese Argumentation
halte sich „im Rahmen der ideologischen Selbsttäuschung der frühbürgerlichen Gesellschaft“.
164
EF; VIII 360.
88 Z S G
aus dem Begriff der Vereinbarkeit von Moral und Politik ergibt sich unmittelbar der Vor-
rang der Moral, denn im Gegensatz zu einem moralischen Politiker sei ein politischer
Moralist eben nicht ohne Widerspruch vorstellbar. Die moralische Politik aber kann sich
an der Form des Sittengesetzes messen, ohne Berücksichtigung bestimmter Zwecke und
Mittel, die Politik wird eine „sittliche Aufgabe“172 . Diese besteht darin, die Fehler be-
stehender Verfassungen zu beseitigen, denn diese sind „mehrentheils […] rechtswidrige
Staatsverfassungen“173 , also solche, die der Rechtsidee der praktischen Vernunft nicht
entsprechen, und dieses Mißverhältnis sei keineswegs der Natur der Menschen, sondern
einer verfehlten Politik anzulasten.174 Den Einfluß der Vernunft auf die Politik konstru-
iert Kant jedoch durch strikte Trennung der Funktionen. Der Jurist sei gemäß seiner
Beamtenpflicht an die Ausführung des jeweils geltenden Rechts positiv gebunden und
habe nicht über dessen Legitimation zu urteilen, sondern die Durchsetzung notfalls mit
Gewalt zu bewehren.175 Das Urteil steht dem Philosophen an, diesem aber freilich nur
innerhalb der Grenzen seiner Fakultät.
Diese Grenze will Kant nun dadurch permeabel machen, daß dem Öffentlichen Recht
ein Geheimartikel beigefügt werde, der eine politische Beratung des Gewalthabers durch
Philosophen vorsieht, aber so, daß dies nicht bekannt wird. Dadurch soll das Anse-
hen der obersten Gewalt ungeschmälert bewahrt werden. Notwendig sei diese Beratung,
weil die Herrscher selbst durch den Besitz der Macht in ihrem Urteilsvermögen notwen-
dig korrumpiert seien, mit anderen Worten: keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen
könnten; die Philosophen seien hingegen parteipolitisch nicht instrumentalisierbar, „weil
diese Klasse ihrer Natur nach der Rottirung und Clubbenverbündung unfähig ist“176 .
Einmal dahingestellt, ob jene Korruption und diese Unfähigkeit nicht in kontingenten
politischen Antagonismen ihren Grund haben, bleibt die Verbindung von Moral und
Politik solange prekär, wie eine notwendige Funktionstrennung beider behauptet wird,
anstatt auf der Allgemeinheit praktischer Vernunft zu bestehen. Die Geheimhaltung er-
laubt es zudem, „daß der Staat den Grundsätzen des Philosophen vor den Aussprüchen
des Juristen (des Stellvertreters der Staatsmacht) [nicht] den Vorzug einräumen müs-
se, sondern nur, daß man ihn höre“177 . Dringt davon nichts an die Öffentlichkeit, kann
die Mißachtung des Rates, die jeder Bürger qua Vernunft als Mißachtung der Morali-
tät erkennen könnte, nicht zum Protest ausschlagen. Die Verbesserung der Politik selbst
geschieht dann Kant zufolge durchaus nach pragmatischen Gesichtspunkten, nämlich all-
mählich und annäherungsweise; die Stabilität der bestehenden, zu ändernden, Ordnung
soll pragmatisch unbedingten Vorrang genießen, denn ein schlechter Staat sei noch im-
mer besser als keiner, als Anarchie. Gemäß moralischer Politik sei es die Aufgabe des
despotischen Herrschers, in republikanischer Absicht zu regieren, um das Volk durch
172
EF, VIII 377.
173
EF, VIII 374.
174
Vgl. EF, VIII 374.
175
Vgl. EF, VIII 369 und SF, VII 25.
176
EF, VIII 369.
177
EF, VIII 369.
90 Z S G
178
Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauf-
fassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971, 31ff., hat herausgearbeitet, daß dieser
Reformgedanke, der typisch für den deutschen Geist des 18. Jahrhunderts gewesen ist und in
Frankreich oder Großbritannien nicht herrschte, durchaus im Gegensatz zu spezifisch politischem
Denken steht.
179
EF, VIII 372.
180
EF, VIII 378.
181
Vgl. EF, VIII 381ff. Vgl. Axel Hutter, Zum Begriff der Öffentlichkeit bei Kant, in: Michael Städtler,
Kants ‚Ethisches Gemeinwesen‘, a.a.O. In Sich im Denken orientieren, VIII 144, verknüpft Kant
die Freiheit zu denken unmittelbar mit der Freiheit, sich öffentlich mitzuteilen.
182
EF, VIII 380.
183
Vgl. Reinhard Brandt, Immanuel Kant – Was bleibt?, Hamburg 2010, 167: „Das Programm der
reflektierenden Urteilskraft ist jetzt, jede Privation, jedes Übel und alles Böse als Mittel für den
moralischen Fortschritt der Menschheit zu erkennen […] und somit zu rechtfertigen. Die Tätigkeit
des Geschichtsphilosophen ist eine wahre Theodizee.“
D M F 91
184
EF, VIII 378.
185
Damit gerät ein strafrechtlicher Begriff in die Moralbegründung. Für Tugendhat ist Zurechnungs-
fähigkeit ein Grundphänomen, das in verschiedenen Bereichen, Recht und Moral, Anwendung
finde. Vgl. Der Begriff der Willensfreiheit, in: Konrad Cramer/Hans Friedrich Fulda/Rolf-Peter
Horstmann/Ulrich Pothast (Hgg.), Theorie der Subjektivität, a.a.O.
92 Z S G
der von Kant geforderten ‚Selbstverleugnung‘186 des Subjekts, als dadurch die hetero-
nome Seite von Subjektivität verleugnet würde. Aber mit ihr würden tendentiell auch
die Bedingungen der materiellen Selbsterhaltung verleugnet, soweit sie heteronom or-
ganisiert sind.187 Jene Harmonisierung allerdings bestätigt die objektive Verleugnung
subjektiver Freiheit, indem sie etwa fordert, äußerstes staatliches Unrecht, Despotie,
„noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst
gereift, oder durch friedliche Mittel der Reife nahe gebracht worden“; die republikani-
sche Revolution, in der sich der moralische Anspruch auf Selbstbestimmung, wie immer
äußerlich deformiert, unmittelbar vortrüge, ist dann kein Ausdruck von Freiheit, sondern
sie wäre von der „Natur von selbst“188 herbeigeführt. Eingedenk des widerspruchsvollen
Verhältnisses von Gewalt und Freiheit in der Revolution ist die Affirmation der Despo-
tie, die ihre eigene Aufhebung bewirken solle, die Verschiebung dieses Widerspruchs
ins subjektive Bewußtsein.
Diese Problematik bestimmt auch den prekären Ort von Völker- und Weltbürger-
recht, so wie Kant sie entwirft: Aufgrund ihrer bloß komparativen Allgemeinheit haben
sie nicht die Form von Moralgeboten, sie sind aber auch keine Rechte, denn das ent-
scheidende Merkmal der Umwandlung eines Anspruches in Recht, die Befugnis, seine
Durchsetzung zu erzwingen, mangelt beiden Rechtssphären. Eine internationale Armee,
deren Helme dann nicht blau wären, könnte allein das internationale Recht garantie-
ren; so wäre auch seine pragmatische Ermäßigung unnötig: Das, was vernünftig zu
fordern ist, wäre unmittelbar durchsetzbares Recht. Aber diese Vorstellung – die der
gewaltsamen Herstellung von Frieden – ist in sich widersinnig und sie widerspricht
der praktischen Vernunft. Kant kommt nicht umhin, als Bedingung der Vereinbarkeit
von Moral und Politik den Begriff einer zweckmäßig geordneten Natur, sogar den einer
unter moralischen Zwecken geordneten Natur anzunehmen, da die aus dem politischen
Tagesgeschäft erzwungene Moralpragmatik sonst keine begründete Erfolgsaussicht und
damit, nach Kants politischem Verständnis, keine objektive Realität hätte. Darin, daß die
Naturordnung für diese objektive Realität eintritt, liegt die Negativität ihres Begriffs,
kraft derer er als index falsi die reale Unordnung anzeigt. Zugleich aber erzwingt die
Möglichkeit des Friedens, die aus den Erfahrungen nicht begründet werden kann, die
Unterstellung der Positivität jenes Begriffs. Dieses Problem ist in Kants Konzept der
regulativen Ideen weniger gelöst als pointiert formuliert.
Die gesamte Konstruktion der Annäherung an den Friedenszustand durch die implizi-
ten und expliziten Einschränkungen in den Präliminar- wie den Definitivartikeln erhält
186
Zu diesem Ausdruck vgl. GMS, IV 407. Vgl. Reinhard Brandt, Immanuel Kant – Was bleibt?,
a.a.O., 172: „Der Imperativ kann bedingungslos sein, da die Existenz selbst kein absolutes Gut
und selbst der gewaltsame Tod nicht das ‚summum malum‘ ist.“
187
Selbsterhaltungstheorien, die sich auf den Aspekt der Selbsterhaltung des Bewußtseins konzentrie-
ren, werden der Bedeutung materieller Selbsterhaltung, auch wenn sie sie erwähnen, nicht gerecht,
weil sie die Existenzbedingungen als Mittel, nicht als konstitutionelle Momente von Selbstbe-
wußtsein einordnen. Vgl. z. B. Dieter Henrich, Über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung, in:
Selbstverhältnisse, a.a.O. Zu dem Problem insgesamt und kontrovers vgl. die Dokumentation der
Diskussion um Selbsterhaltung in Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge
zur Diagnose der Moderne, Frankfurt am Main 1976.
188
EF, VIII 373 Anm.
D M F 93
nur dann einige Stabilität, wenn eine „Garantie des ewigen Friedens“189 anderswoher
geleistet werden kann, nämlich durch „nichts Geringeres, als die große Künstlerin Na-
tur (natura daedala rerum), aus deren mechanischem Laufe sichtbarlich Zweckmäßigkeit
hervorleuchtet, durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen
emporkommen zu lassen“190 . Diese zweckvolle Naturordnung ist, gemäß der Kritik der
teleologischen Urteilskraft, weder zu erkennen noch zu erschließen, muß aber gedacht
werden können nach Analogie des Handwerksprozesses, um überhaupt einen Natur-
zusammenhang denken zu können.191 Wenngleich theoretisch diese Vorstellung nicht
einzuholen ist, so sei sie in praktischer Absicht doch zulässig, um die Erfüllbarkeit –
und das heißt Möglichkeit – der Pflicht zum ewigen Frieden vorstellbar zu machen. Die-
se Idee als Bedingung der Möglichkeit der praktischen Vernunft zerstört aber zugleich
deren Möglichkeit, denn im „Schicksal“192 entfällt per definitionem alle Handlungsfrei-
heit. Um dies zu vermeiden, will Kant den Schicksalsbegriff so vage fassen, daß er zu
ungenau ist, um mit Sicherheit auf die Wirksamkeit von Schicksal zu vertrauen, aber
doch genau genug, um die eigene Pflicht, diesen äußerlichen Zweck zu befördern, zu er-
kennen. Das aber leistet ein Schicksalsbegriff unter keinen Umständen und Bedingungen.
Im Gegenteil unterwirft er die Subjekte der praktischen Philosophie einem Widerspruch,
an dem sie irre werden müssen.193
Darin setzt Kant die Antinomien der christlichen Handlungslehre fort, deren Ver-
mittlungsversuch, die concursus-Lehre, er noch verwirft, weil sie „das Ungleichartige
paaren“194 wolle und so das Absolute verendliche. Doch der Widerspruch absoluter Te-
leologie und moralischer Freiheit bleibt als ungeschlichteter in den Subjekten, die ihn
nach Hinsichten trennen sollen und darin eine intellektuelle Unzulänglichkeit beweisen,
die ihnen durch diese Vorstellung erst beigelegt wird. Weil ihr Wollen immer endlich
bleibe, sei ihre moralische Existenz nur als unzureichendes Streben denkbar, zu des-
sen Erfüllung nunmehr „der Begriff des göttlichen concursus ganz schicklich und sogar
nothwendig“195 sei. Die Vorstellung des Übernatürlichen, der Vorsehung insbesonde-
re, die in der an den Religionsbegriff geknüpften Moralgeschichte wurzelt, wird in den
Dienst der bürgerlichen Fortschrittsgeschichte gestellt, deren widersprechende und wi-
derstreitende Erfahrungen anders nicht unter einen Geschichtsbegriff gebracht werden
könnten.196
189
EF, VIII 360.
190
EF, VIII 360.
191
Vgl. KdU, V § 61.
192
EF, VIII 361. Vgl. Anthropologie, VII 189: Hier bringt Kant das Problem auf den absurden Begriff
„Freiheitsmechanismus“.
193
Vgl. dagegen Michael Pauen, Zur Rolle des Individuums in Kants Geschichtsphilosophie, in: Volker
Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher, Kant und die Berliner Aufklärung, a.a.O., Bd.
IV, 40, der Kants Prognose als bloß kontrafaktische Annahme interpretiert, innerhalb deren Be-
stimmtheit dem ‚historischen Subjekt […] ein erheblicher Spielraum der konkreten Ausgestaltung
seines Handelns“ bleibe.
194
EF, VIII 361 Anm.
195
EF, VIII 362 Anm.
196
Reinhard Brandt stellt drei Komponenten der Realisierung des höchsten Guts heraus: 1. den ein-
zelnen Menschen, der dem Sittengesetz bedingungslos unterworfen ist, 2. die Staaten, die Recht
94 Z S G
und Moral nach der Staatsräson beugen dürfen, um überhaupt Recht realisieren zu können, und 3.
die Vorsehung, die „völlig ohne Rücksicht auf Moral [verfährt], um das moralische höchste Gut,
den Frieden, durchzusetzen. Sie benutzt die Individuen und die Staaten ausschließlich als Mittel“
(Immanuel Kant – Was bleibt?, a.a.O., 173).
197
Vgl. Religion, B 195ff.
198
Die Rede vom Ende der Geschichte, in deren Kontext die Beobachtung von Rückschlägen nicht
mehr möglich ist, weil der Begriff der Entwicklung aufgegeben wurde, begibt sich nicht beliebiger
kontingenter Maßstäbe, deren einer dem Geschehen so arbiträr wäre wie der andere, sondern sie
begibt sich der Vernunft und damit der Unterscheidung der Menschen vom Naturgeschehen über-
haupt. Mit jedem bloß auf Konsistenz bedachten Gedanken, der also schon einen minimalen Kern
von Reflexivität beherbergt, ist aber der Anspruch auf Objektivität der Vernunft unauflöslich ver-
bunden. Der konsequenzlose Gedanke ist abstrakt, weil er das Subjekt, das ihn denkt, durchstreicht.
Zum Problem des Stillstands von Geschichte vgl. Michael Städtler, Subjekte des Stillstands, a.a.O.
199
Idee, VIII 26.
200
Idee, VIII 17f.
F S W N? 95
überhaupt Bosheit oder Weisheit enthält, keine bloße Naturgeschichte sein; da die Ak-
teure ihre Geschichte aber nicht kooperativ gestalten, „nicht wie vernünftige Weltbürger
nach einem verabredeten Plane“201 , läßt sich ihr Handeln ebensowenig nach vernünfti-
gen Begriffen rekonstruieren. Sind die Handlungen aber vernunftwidrig, so würde ihre
Rekonstruktion nach Begriffen sie bloß unter einen Schein von Vernünftigkeit bringen.
Daraus folgen begriffliche Schwierigkeiten, die sich über den geschichtlichen Zu-
sammenhang hinaus geltend machen, denn „was hilfts, die Herrlichkeit und Weisheit
der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu emp-
fehlen, wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem
diesem den Zweck enthält, – die Geschichte des menschlichen Geschlechts – ein un-
aufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll“202 . Der scheinbar ausschließlich moralische
Skandal der Irrationalität von Geschichte erweist sich damit ebenso als erkenntnistheo-
retisches Problem, denn die Menschen sind mit ihren Handlungen, sofern diese unter
empirischen Bedingungen erfolgen, immer auch Naturwesen und als solche Bestandteile
des Naturzusammenhangs.203 Würden nun die Handlungen in gar keinem gesetzmäßi-
gen Zusammenhang miteinander stehen, so wäre die erkenntnistheoretische Vorstellung
des kontinuierlichen Zusammenhangs der Erscheinungen in einem Naturganzen, auf der
subjektiv die Einheit der Erfahrung beruht, gestört. Alle Wahrnehmungen müssen un-
ter Regel „in mundo non datur hiatus, non datur saltus, non datur casus, non datur
fatum“204 stehen.
Zwar weist Kant in der Auflösung der Dritten Antinomie darauf hin, daß die Hand-
lungen nur nach ihrer körperlichen, empirischen Seite unter Naturgesetze fallen, und
insofern ist jede einzelne von ihnen sinnloser Naturbestandteil, der von seiner intelligi-
blen Herkunft nicht berührt wird. Aber so wäre nur die naturkausal verlaufende Reihe
der Erscheinungen, an deren Spitze die empirische Handlung steht, in den gesetzmäßi-
gen Zusammenhang der Erscheinungen integrierbar. Die Spontaneität, das Vermögen,
eine Reihe von Erscheinungen neu zu begründen, begründete eben damit immer wieder
Sprünge im Zusammenhang, denn das Eintreten der spontan begonnenen Handlung in
den Naturzusammenhang läßt sich aus den in ihm gegebenen Antezedentien nicht be-
gründen, auch wenn die Handlung in ihrem empirischen Verlauf vollständig naturkausal
verstanden werden kann. Daß ein Organismus diesen oder jenen Muskel in Bewegung
setzt, kann allenfalls durch Instinkte oder Reflexe erklärt werden; diese Erklärung fällt
aber bei Menschen aus, weil ihre Handlungen nicht die dafür vorausgesetzte Regel-
mäßigkeit aufweisen.205
201
Idee, VIII 17.
202
Idee, VIII 30. Kant gibt für den moralischen Skandal in der Geschichte ein Modell mit der Anek-
dote über den Abgeordneten Robert Walpole, der die Käuflichkeit jedes Menschen für ein Faktum
hält. Vgl. Religion, B 38f.
203
Vgl. Idee, VIII 17. Vgl. hierzu Pauline Kleingeld, Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilo-
sophie Kants, Würzburg 1995, 16ff.
204
KrV, B 282. Die zentrale Bedeutung dieser Stelle für Kants Philosophie hebt auch Karl Heinz
Haag hervor: Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 80.
205
Diese erkenntnistheoretische Implikation von Geschichtsphilosophie bemerkt Theodor W. Adorno,
Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt am Main 1996, 150: „Können die empirischen Sub-
jekte wirklich aus Freiheit handeln, so ist, weil sie selber der Natur angehören, die Kantische –
96 Z S G
Kant hebt schon in der Vierten Antinomie die Notwendigkeit der Annahme des To-
talitätszusammenhanges hervor, dessen transzendentale Form er im Transzendentalen
Ideal dann entwickelt. Die Vorstellung der Totalität als in den Erscheinungen präsen-
ten Zusammenhangs ist die erkenntnistheoretische Bedingung dafür, daß verschiede-
ne Erkenntnisse überhaupt in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden
können. Die Erscheinungen des geschichtlichen Handelns scheinen nun wegen ihrer
Widersprüchlichkeit und wegen ihrer Spontaneität die systematische Ordnung aller Er-
scheinungen zu durchbrechen.
In praktischer Hinsicht führt diese Widersprüchlichkeit des Handelns nicht zwingend
auf ein Natursystem oder auf Teleologie; vielmehr geht es um die Bestimmung des li-
berum arbitrium als das dynamische Vermögen, Verschiedenes hervorzubringen. Allein
für die Erkenntnistheorie ergibt sich ein Problem, das nur teleologisch zu lösen ist, weil
der durch sie vorausgesetzte Begriff der durchgängig kategorial bestimmten Totalität
durch jene Widersprüchlichkeit zerstört würde: „[W]enn wir von jenem Grundsatze [der
Teleologie] abgehen, so haben wir nicht mehr eine gesetzmäßige, sondern eine zweck-
los spielende Natur“206 . Die erkenntnistheoretische Verlegenheit des Philosophen, der
„bei Menschen und ihrem Spiele im großen gar keine vernünftige eigene Absicht vor-
aussetzen kann“, führt deshalb zu der Überlegung, „ob er nicht eine Naturabsicht in
diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne“207 . Ließe sich näm-
lich annehmen, „daß die Natur selbst im Spiele der menschlichen Freiheit nicht ohne
Plan und Endabsicht verfahre, […] so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden die-
nen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als
ein System darzustellen“208 , selbst wenn der Plan als solcher den Menschen verborgen
bliebe. Wäre aber diese Naturabsicht auch bloß eine regulative Idee der Vernunft, um
Geschichte denkbar zu machen, so wäre doch der Gedanke von Geschichte mit dem der
Naturabsicht systematisch an die Selbstaufhebung des Subjekts, das ihn denkt, geknüpft;
ist die ‚wollende Natur‘ auch nicht als reales Subjekt intendiert, so erhält ihre Vorstel-
lung gleichwohl reale Gewalt über die Menschen, wenn sie ihr geschichtliches Handeln
durch sie beurteilen.209
durch Kategorien gestiftete – Einheit der Natur durchbrochen. Die Natur hat dann gewissermaßen
eine Lücke“. Vgl. auch Heinz Eidam, Kausalität aus Freiheit, Würzburg 2007. – Mechanistische
Affektenlehren sind, weil sie Theorie sind, selbst der beste Beweis gegen das, was sie beweisen
wollen.
206
Idee, VIII 18.
207
Idee, VIII 18.
208
Idee, VIII 29.
209
Der Gedanke der regulativen Idee, des ‚so denken, als Ob‘, ist vielfach bemüht worden, um Apo-
rien bei Kant zu schlichten. Vgl. Volker Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart
2002, 251. Hervorgehoben hat diesen Aspekt zuerst und grundsätzlich Hans Vaihinger, Die Philo-
sophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit
auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Ber-
lin 1911. Der Versuch einer Methodologisierung der Kantischen Dialektik übersieht deren tiefere
Problematik. Die Prinzipien, die regulativ die Vorstellungen von Welt und Geschichte bestim-
men sollen, sind in den resultierenden Vorstellungen, die teils normativ sind, enthalten; sie können
nicht, nachdem der Denkende so getan hat, als bediene er sich ihrer, wieder beiseite gelegt werden.
Das Bewußtsein ist durch die Ideen, die es verwendet, bestimmt und muß diese auf ihre mögliche
F S W N? 97
Kants praktischer Freiheitsbegriff, die vernünftige Bestimmung des Willens, die in der
Moralphilosophie als Bestimmung praktischer Subjektivität überhaupt entwickelt wird,
setzt den Begriff des Subjekts als eines vereinzelten voraus, in dessen Vereinzelung alle
Subjekte übereinstimmten. So ist er nicht analog auf das geschichtliche Handeln über-
tragbar. Dieses ist nämlich stets kollektives Handeln, jede Handlung steht im Zusam-
menhang mit tendentiell allen anderen. Sollten diese Handlungen vernünftig aufeinander
abgestimmt werden, wäre die Vorstellung eines kollektiven Subjekts erforderlich, die
sich aber unter Voraussetzung der substantiellen Vereinzelung von Subjekten nur wider-
sprüchlich darstellen kann.210 Gerade diese problematische Vorstellung der Vermittlung
subjektiven Handelns zum kollektiven ist aber Bedingung der Möglichkeit bürgerlichen
Selbstbewußtseins, das technisch die kollektive Distanzierung vom Naturzusammenhang
voraussetzt, die in den moralisch zu begründenden allgemeinen Rechtszustand münden
soll. Daß die antagonistische Wirklichkeit der Gesellschaft mit der Einheit des vernünfti-
gen Selbstbewußtseins nicht übereinstimmt, bemüht umgekehrt wieder Geschichte: Das
Verhältnis von Einheit und Antagonismus soll in einer Fortschrittsgeschichte zu ver-
mitteln sein. Da deren Prinzip aber nicht den wesentlich antagonistischen Subjekten
zugeordnet werden kann, kann das Subjekt dieser Geschichte nur ein über den Subjek-
ten agierendes Prinzip der Einheit sein: die wie immer zu begründende Naturordnung.211
Objektivität befragen. Die Idee der Menschheit mag solche Objektivität haben können, die der
wollenden Natur keinesfalls. Es wird im Laufe dieser Untersuchung wiederholt auf die Stellung
der Idee zur Objektivität einzugehen sein. – Den Versuch einer methodologischen Verteidigung des
Kantischen Geschichtsbegriffs unternimmt Werner Flach, Zu Kants Kultur- und Geschichtsphilo-
sophie, in: Reinhard Hiltscher/André Georgi (Hgg.), Perspektiven der Transzendentalphilosophie
im Anschluß an die Philosophie Kants, Freiburg 2002. Allerdings ist weniger die Frage, ob sich in
die Geschichte ein Sinn projizieren lasse, sondern eher, um welchen Preis. Diesen Preis benennt
Klaus-Michael Kodalle, Die aktuelle Barbarei im Spiegel der Kantischen Erwägungen, in: Ders.
(Hg.), Der Vernunftfrieden. Kants Entwurf im Widerstreit, Würzburg 1996, 135: „Die Geschichte
ist das Feld, bezüglich dessen sich Kant zu einer Betrachtungsweise durchringt, die Neutralisierung
des – auch: moralischen – Subjekts nennen möchte.“ Wenn auch Alberto Burgio darauf besteht,
„für Kant leite[] kein Subjekt den guten Verlauf“, sondern es sei der „,Mechanismus der menschli-
chen Neigungen‘ selbst“, so sind eben auch nicht die Menschen Subjekte des Geschichtsprozesses
(Die Zeit für den Krieg, die Zeit für den Frieden. Zur Geschichtsphilosophie von Kants ‚Zum
ewigen Frieden‘, in: Volker Bialas/Hans-Jürgen Häßler, 200 Jahre Kants Entwurf ‚Zum ewigen
Frieden‘, a.a.O., 58).
210
Vgl. SF, VII 84. Kant ahnt hier die Notwendigkeit der Annahme eines kollektiven Subjekts, oh-
ne sie aber begründen zu können: Das ‚Geschichtszeichen‘, der Hinweis auf die Fähigkeit der
Menschen zum geschichtlichen Fortschritt, müßte „die Tendenz des menschlichen Geschlechts im
Ganzen, d. i. nicht nach den Individuen betrachtet (denn das würde eine nicht zu beendigende
Aufzählung und Berechnung abgeben), sondern wie es in Völkerschaften und Staaten getheilt auf
Erden angetroffen wird, beweisen könnte“. Nicht das Verfahren der Berechnung ist tatsächlich das
Problem, sondern die Notwendigkeit der Koordination der Einzelwillen unter einem vernünftigen
Gesamtwillen.
211
Volker Gerhardt faßt es so: „[D]er Begriff der Geschichte setzt nicht nur eine Lebenseinheit zwi-
schen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voraus, sondern unterstellt notwendigerweise auch
eine Kontinuität zwischen Naturgeschehen und menschlichen Handlungen. Also haben wir die
epistemologische Lizenz, von möglichen Übergängen zwischen Natur, Geschichte und der von
uns gewollten Zukunft auszugehen.“ (Immanuel Kants Entwurf ‚Zum ewigen Frieden‘, a.a.O. 115)
98 Z S G
Die erste Natur tritt hier für die Konsistenz der zweiten ein, weil diese begrifflich noch
nicht bestimmt von jener geschieden ist; ‚gesellschaftliche Naturgesetze‘212 sind in ihrem
spezifischen Unterschied zu Naturgesetzen noch nicht erkennbar, solange die Allgemein-
heit gesellschaftlichen Handelns nur erst als negative Spekulation, in der Reflexion auf
seine reale Partikularität, existiert. Gesellschaftliche Allgemeinheit stellt sich objektiv
erst durch die Industrialisierung und die dieser mitfolgende Totalität des Marktprinzips
her. Ließe aber ein System der menschlichen Handlungen sich gar nicht bestimmen,
so müßte die menschliche Geschichte als ein „kindische[s] Spiel[]“213 der Natur er-
scheinen. Um die Plausibilität des positiven Anthropomorphismus – der systematischen
Absicht der Natur in der Geschichte – zu stützen, stellt Kant dessen Negation ebenso
anthropomorph dar, aber pejorativ, als ‚kindisches Spiel‘. Die ganz entgegengesetzte
Auffassung der Natur als sinnfrei wäre nicht geeignet, die Widersprüche in der mensch-
lichen Geschichte aufzuheben und zerstörte die Möglichkeit aller Geschichtsmetaphysik.
Die Einsetzung eines solchen Übersubjekts ist Bedingung jedes positiven Begriffs von
Fortschrittsgeschichte, der deshalb mit der Vermittlung menschlicher Handlungen zu-
gleich deren Menschliches aufhebt, indem die Subjekte der eigenen Interpretation ihres
Handelns gemäß gar nicht dessen Subjekte sein können.214
Kants Ausdruck ‚System‘ ist gar nicht zu überschätzen, denn an dieser Stelle wird
deutlich, wie nahe Kants Vorstellung vom transzendentalen Ideal bereits an der absolu-
ten Idee liegt. Die menschlichen Handlungen geraten, wie gezeigt, nicht aus moralischer,
sondern aus erkenntnistheoretischer Absicht unter den Systematisierungszwang: Gelän-
ge es nicht, die menschlichen Handlungen sinnvoll als eine Zweckordnung zu identifi-
zieren, so wäre auch die Naturteleologie nicht zu halten. Dies ist problematisch, weil
die Handlungen das eine Mal als Naturbestandteile angesehen werden und das andere
Mal als diffuse Zweckgebilde, also spezifisch menschliche Handlungen, Willenspro-
dukte. Darin spiegelt sich die Problematik der Teleologie, die um eines begrifflichen
Zusammenhangs der Natur willen ihr Zwecke imputiert, sie anthropomorphisiert. Die-
ser Anthropomorphismus ist, wie Kant selbst bemerkt,215 so mißlich wie notwendig
Wenn ein Begriff solche Voraussetzungen und Unterstellungen ernötigt, folgt daraus zunächst nicht
eine Lizenz, sondern, daß es sich um einen äußerst problematischen Begriff handelt, über dessen
Funktion Rechenschaft zu geben wäre. Jene Kontinuität von Handeln und Natur wird unterstellt
wegen der offenbaren Diskontinuität innerhalb des Handelns selbst. Die irrationale Assoziation der
Handlungen wird substituiert durch einen rationalen Naturzusammenhang, um gegen die Zwecke
der Menschen an einem Zweck von Geschichte festhalten zu können; die Kritik jener Zwecke ge-
rät dabei außer Sicht. – Die Stellung der Menschen in der teleologischen Natur ist daher nicht so
stark wie Gerhardt sie sieht: „Die innere Zweckmäßigkeit der nach unserer Zwecktätigkeit gedach-
ten Natur macht es unmöglich, daß die Natur in einen Gegensatz zu ihr gerät – vorausgesetzt (das
sei hier ausdrücklich wiederholt), der Mensch bleibt ein aus eigener Einsicht tätiges und damit:
vernünftiges Wesen.“ Ebda. 119. Ein solches Wesen kann er unter teleologischen Bedingungen gar
nicht sein.
212
Vgl. z. B. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O. 89.
213
Idee, VIII 19.
214
So beurteilt dies auch Axel Honneth, Universalismus als moralische Falle? Bedingungen und
Grenzen einer Politik der Menschenrechte, in: Matthias Lutz-Bachmann/James Bohman (Hgg.),
Frieden durch Recht, a.a.O., 297f.
215
Vgl. KdU, V § 61.
F S W N? 99
216
Georg Cavallar, Pax Kantiana, a.a.O., 377ff., versucht, den Gegensatz von Natur und Freiheit in
der Kantischen Geschichtsphilosophie mit Hilfe der Auflösung der Dritten Antinomie der reinen
Vernunft zu vermitteln. Das kann nicht gelingen, weil die ‚Naturabsicht‘ nicht Natur als kausalen
Zusammenhang der Erscheinungen bezeichnet, den Kant in der Dritten Antinomie behandelt, son-
dern Natur als teleologischen Zusammenhang. Menschliche Willensfreiheit kann mit natürlicher
Kausalität zusammen bestehen, aber nicht mit einer übergeordneten Absichtsinstanz, gegen deren
Anordnung die Willensakte bloß scheinbar solche sind.
217
Idee, VIII 17.
218
Vgl. Herbert Schnädelbach, Vernunft, Stuttgart 2007, 125f., der feststellt, daß Kant „die Geschichte
der Vernunft ebenso wie die allgemeine Geschichte teleologisch auffasst, das heißt als Prozess der
Entwicklung ursprünglicher Anlagen, mit dessen endgültigem Abschluss man rechnen kann“.
219
Idee, VIII 17.
100 Z S G
als ‚Plan der Natur‘, als ‚Naturabsicht‘, die den Menschen unbekannt bleibe, der sie aber
dennoch unbemerkt folgten, weil die Naturabsicht in ihnen als ihre menschliche Natur
verankert sei.
Wenn nun Geschichte bloß teleologisch erklärbar ist, sich Teleologie als Vernunftprin-
zip allen Handelns in der Geschichte erweist, so müssen die Subjekte der Handlungen
selbst von dieser Teleologie durchdrungen sein. Sie wird geradezu zur Bedingung der
Möglichkeit der Vernunft- und Sinnennatur der Menschen, denn deren erkenntnistheo-
retische Einheit ist ohne die teleologische Veranlagung gar nicht mehr vorstellbar.220
Darin folgt Kant insgesamt noch Aristoteles, und das Problem setzt sich fort in die
spätere Unterscheidung normativer und deskriptiver Ethik. Die Aristotelische Ethik ver-
mag entgegen der herrschenden Auffassung nicht moralisch normativ zu sein, weil sie
alle Handlungen für Einzelfälle hält. Sie kann keine allgemeinen Begriffe von Hand-
lungen und Zwecken fassen, weil sowohl der Begriff der Menschheit als auch der der
positiven Willensfreiheit noch fehlen. Ethik gelingt unter dieser Voraussetzung nur als
Teleologie; da dieses Konzept den Zweck der Ethik selbst, die politisch-rechtliche Zu-
rechnungsfähigkeit der polis-Genossen zu begründen, sabotiert, weicht Aristoteles auf
besondere Erkenntnisweisen des Praktischen aus.221 Diese begründen aber ihrerseits kei-
nen wissenschaftlichen Zusammenhang in dem Erkannten. Verbindlichkeit bleibt äußer-
lich, durch Erziehung und Gesetz begründet, deren Möglichkeit in einem übergeordneten
teleologischen Zusammenhang wurzelt. Dieser ist aber schon aus der philosophischen
Kontemplation nicht mehr in die politische Praxis übersetzbar, denn jene könne des Zu-
sammenhangs nur in zweckfreier Schau inne werden. Noch bei Kant wird die empirische
Diffusion der Handlungszwecke in einen teleologischen Zusammenhang eingebettet, nur
daß Kant den avancierten Subjektbegriff, über den er im Unterschied zu Aristoteles nun-
mehr verfügt, damit auch in die Teleologie einpassen und dadurch ihn beschädigen muß.
Kalkulabel, im Sinne des Systems, wird das Subjekt erst als durch die Kalkulation schon
beschädigtes. Die Aufnahme der Teleologie in die Philosophie des bürgerlichen Zeital-
ters ist im Grunde paradox: Sie vertritt die statische Weltvorstellung der Antike und gerät
daher mit jedem Begriff von Geschichte, schon dem der Heilsgeschichte, in Kollision.
Offenbar fürchtet die aufs Selbstbewußtsein gegründete bürgerliche Philosophie die
Diskrepanz von Vernunft und Wirklichkeit so sehr, daß sie den paradoxen Gedanken der
220
Vgl. Aufklärung, VIII 39: Die „ursprüngliche Bestimmung“ der menschlichen Natur besteht
„gerade in diesem Fortschreiten“. Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen,
a.a.O., 89, interpretiert Kants Argumentation mit ‚Naturabsicht‘ und ‚Vorsehung‘ als bloße Per-
spektive auf die ungesellige Geselligkeit, mittels derer die Einzelhandlungen „zum Vehikel der
Gesamtentwicklung zu erheben“ seien. Das vermag kein Bewußtsein widerspruchsfrei vorzustel-
len. Konsequent stellt Bubner fest, das Subjekt könne seine Einheit nur postulieren (vgl. 87). –
Vgl. Birgit Recki, Kant als Humanist oder die Antinomie der Individualität, in: Die Vernunft, ihre
Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt, a.a.O., 87f.
221
Insofern ist die Aristotelische Politik nicht vollständig „von Metaphysik abgekoppelt gewesen“
(Dieter Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas, in:
Konzepte. Essays zur Philosophie in der Zeit, Frankfurt am Main 1987, 40); aber die Verbindung
von theoretischer und praktischer Philosophie unter dem Dach der Teleologie überwindet nicht die
Differenz der Gegenstandsbereiche in der ihnen je zugeordneten Allgemeinheit. Diese Differenz
ist nicht bloß methodisch.
F S W N? 101
(denn das kann nur die zwangsfreie praktische Vernunft), sondern sie thut es selbst, wir
mögen wollen oder nicht (fata volentem ducunt, nolentem trahunt).“224 Eine Metapher
wofür, für welchen Gegenstand möglicher Erfahrung, für welches Vermögen der Freiheit
sollte dieser Naturbegriff auch wohl sein? Im Gegenteil bezeichnet er die Verschränkung
eines teleologischen Begriffs des Naturganzen mit den menschlichen Subjekten, in de-
ren Wesen, ihrer Natur, dieses sich insofern manifestiert, als die Einzelnen je ihrer Natur
nach dem Zwecksystem des Naturganzen integriert sind. Wie sehr Menschen, auch als
Willenssubjekte, für Kant Naturgegenstände sind, ergibt sich schon aus seiner Rassen-
lehre, in der er den Vorschlag, Menschen auf intelligible und sittliche Eigenschaften zu
züchten, zurückweist, ohne doch dies für biologisch oder psychologisch ausgeschlossen
zu halten: „Ein Anschlag, der meiner Meinung nach an sich selbst zwar thunlich, aber
durch die weisere Natur ganz wohl verhindert ist, weil eben in der Vermengung des Bö-
sen mit dem Guten die großen Triebfedern liegen, welche die schlafenden Kräfte der
Menschheit in Spiel setzen, und sie nöthigen, alle ihre Talente zu entwickeln und sich
der Vollkommenheit ihrer Bestimmung zu nähern.“225 Der Vergleich sittlicher Entwick-
lung der Eigenschaften der Menschen durch Konkurrenz mit dem Wuchs von Bäumen
ist dagegen eine Metapher, aber eine, die den Naturzusammenhang menschlichen Han-
delns gerade betont: „Allein in einem solchen Gehege, als bürgerliche Vereinigung ist,
thun eben dieselben [die wechselseitig auf Zerstörung dringenden; M.St.] Neigungen
hernach die beste Wirkung: so wie Bäume in einem Walde eben dadurch, daß ein jeder
dem andern Luft und Sonne zu benehmen sucht, einander nöthigen beides über sich zu
suchen und dadurch einen schönen geraden Wuchs bekommen; statt daß die, welche in
Freiheit und voneinander abgesondert ihre Äste nach Wohlgefallen treiben, krüppelig,
schief und krumm wachsen.“226 Die pejorative Beurteilung des krummen Wuchses ist
übrigens selbst streng teleologisch gedacht, denn sie ist bedingt durch die Vorstellung
der Hinordnung der Bäume auf das Zimmermannshandwerk, auf menschliche Bedürf-
nisse.227 Das wirft, am Rande, metaphorisch ein Licht auf das Verhältnis von sittlicher
Aufrichtigkeit und Selbstzweck der menschlichen Natur im bürgerlichen Gehege.
224
EF, VIII 365. Oft ist darauf hingewiesen worden, daß Kant keine objektive Teleologie vertrete.
Vgl. z. B. Johannes Rohbeck: Kant billige „dieser Art Geschichtsteleologie einen lediglich hypo-
thetischen Status zu“ (Technologische Urteilskraft. Zu einer Ethik technischen Handelns, Frankfurt
am Main 1993, 79, Anm. 1). Nicht beachtet wurde die Frage, was es für das Subjekt bedeutet,
das zur Begründung seiner Freiheit notwendig solcher Hypothesen bedarf. – Oliver Eberl/Peter
Niesen, Immanuel Kant. Zum Ewigen Frieden. Kommentar, a.a.O., 270, deuten diesen Satz, den
sie nicht vollständig zitieren, eigenartiger Weise so, daß Kant hier die wörtliche Bedeutung des
Ausdrucks ‚die Natur will‘ zurückweise. Sicher geht es, wie die Autoren weiter ausführen, Kant
darum, die sinnvolle Möglichkeit geschichtlichen Handelns gegen anthropologischen Pessimismus
zu verteidigen; aber diese Verteidigung hebt, indem sie gelingt, ihren Gegenstand zugleich auf.
225
Rassen, II 431.
226
Idee, VIII 22.
227
So wurde die Buchenart der Süntelbuche nicht bloß als ‚Hexenholz‘ verteufelt, sondern geradezu
ausgerottet, weil der krumme und mit Reisern übersäte Wuchs das Holz weder für handwerkliche
Zwecke noch auch nur als Feuerholz tauglich machte. – Konsequenzen in Richtung einer selbst,
unabhängig von den Menschen, evaluativen oder normativen Qualität der Natur sollen hier aber
nicht gezogen werden. Vgl. dagegen Angela Kallhoff, Prinzipien der Pflanzenethik. Die Bewertung
pflanzlichen Lebens in Biologie und Philosophie, Frankfurt am Main 2000.
F S W N? 103
Die Absicht der Natur sei die Entfaltung der natürlichen Anlagen, so auch im Men-
schen, wo dies vor allem die Vernunft ist. Diese individuell voll zu entfalten, scheitert
für Kant schon an der begrenzten Lebenszeit der Einzelnen im Verhältnis zur Unend-
lichkeit der Vernunftgegenstände, denn Unendlichkeit faßt Kant noch stets als schlechte
Unendlichkeit eines Progresses; Hegels qualitativer Begriff der Unendlichkeit eröffnet
der Vernunft erst ihr eigentümliches Gebiet und verwandelt dann auch Naturteleologie
in Teleologie des Geistes.228 Für Kant weisen die Hilfsmittel der Tradierung und Akku-
mulation von Wissen, die immer unzureichend vage bleiben,229 auf die Entfaltung der
menschlichen Naturanlagen in der Gattungsgeschichte. Dabei bleibt aber das Ziel der
Geschichte eine metaphysische Vorstellung abgeschlossener Totalität der Vernunft. Ei-
ne kooperative Erweiterung der Wissenschaft über die subjektive Grenze hinaus mit dem
Ziel gesellschaftlicher Verfügung über Wissen gerät deshalb nicht in den Blick, weil Ver-
nunftgeschichte als Naturgeschichte aufgefaßt wird. Die Vernunftbegabung selbst gilt als
Werk der zweckvoll planenden Natur, woraus Kant schließt, daß diese zur Absicht habe,
der Mensch solle sich alles, was über die kausal bestimmte Physiologie, für die er nicht
verantwortlich sein kann, hinausgehe, aus eigener Kraft erwerben, denn sonst bedürfte er
der Vernunft nicht. Die Bande der Natur schlingen sich enger: Ohne Vernunft wären die
Menschen bloße Naturwesen, kausal bestimmt; ihre Vernunftbegabung erhebe sie aber
nicht über den Status des Naturwesens, sondern weise an ihnen gerade eine besondere
Absicht der Natur aus. Damit ist die Natur zwar an ein Gesetz gebunden – nämlich nichts
ohne Grund zu tun – da sie sonst nicht intelligibel wäre; aber sie wird zum gleichsam au-
tonomen Subjekt, das Absichten verwirklicht, die es nicht notwendig hätte verwirklichen
müssen. Die Natur erscheint als Übersubjekt, das „den Hang und Beruf zum freien Den-
ken, ausgewickelt“230 und den Menschen dadurch aus „Entschließung“231 Subjektivität
verliehen hat.
Kants Naturvorstellung führt auf die Hypostase, auf die jedes metaphysische System
letztlich sich gründen muß. Die Natur erhält die Form Gottes, der gemäß der potes-
tas absoluta Zwecke frei setzen kann, als potestas ordinata aber an die Rationalität
dieser Zweckordnung gebunden bleibt. Hinsichtlich der menschlichen Natur wird der
teleologische Naturzusammenhang zudem zum deus absconditus, denn „die Quellen
der Ungeselligkeit und des durchgängigen Widerstandes, woraus so viele Übel entsprin-
gen, die aber doch auch wieder zur neuen Anspannung der Kräfte, mithin zu mehrerer
228
Vgl. hierzu G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Erster Band: Die objektive Logik. Erstes
Buch: Die Lehre vom Sein, GW 21, Hamburg 1984, den Abschnitt: Das Dasein, C. Die Unend-
lichkeit, sowie dens., dass., Zweiter Band: Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff , GW
12, Hamburg 1981, die Abschnitte: Der Mechanismus; Der Chemismus; Teleologie; Die Idee. Die
Aufhebung der Endlichkeit der physischen Natur in deren teleologischem Begriff führt vermittels
des reflexiven Zweckbegriffs des Lebens zur Idee.
229
Vgl. Anfang, VIII 117 Anm. Zur Notwendigkeit und Problematik der Wissenstradition und deren
Aneignung für den akkumulativen Erkenntnisbegriff vgl. Oliver Robert Scholz, Autonomie ange-
sichts epistemischer Abhängigkeit. Kant über das Zeugnis anderer, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter
Horstmann/Ralph Schumacher, Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen
Kant-Kongresses, Berlin 2001, Bd. II.
230
Aufklärung, VIII 41.
231
Anfang, VIII 117 Anm.
104 Z S G
Entwickelung der Naturanlagen antreiben, verrathen also wohl die Anordnung eines
weisen Schöpfers“232 : Dieser Schluß ist nun nicht der von einem erkennbar weisen Zu-
sammenhang auf seinen weisen Urheber, sondern der von einem ganz aberwitzigen
Aggregat auf die Weisheit des Urhebers als unbegreifliches Prinzip. Vermittelt wird die-
ser Schluß allein durch die Voraussetzung, daß der menschliche Irrsinn einen höheren,
naturteleologischen, Sinn haben müsse; der Naturbegriff ist petitio principii, das erkennt-
nistheoretische Ausgangsproblem ist umgeschlagen in eine Religion „der Natur – oder
besser der Vorsehung“233 ; einzig ist „[d]er Gebrauch des Worts Natur […], wenn es wie
hier bloß um Theorie (nicht um Religion) zu thun ist, schicklicher für die Schranken der
menschlichen Vernunft“234 , der Sache nach aber ist das Ideal einer kollektiven Einheit
des Naturganzen von der religiösen Idee der Vorsehung nicht verschieden.235 Von dieser
seien die Menschen nun deshalb stiefmütterlich ausgestattet, damit sie sich alle Kultur
und Zivilisation – von der Nahrung über Kleidung, Verteidigung und Annehmlichkeiten
bis hin zur Erkenntnis und Moral – selbst erwerben können. Daß der Mensch als ‚Zweck
der ganzen Natur‘236 so wenig zweckmäßig ausgerüstet sei, lasse vermuten, die Natur
habe ihn als Selbstzweck produziert, der seines Wohllebens allein würdig wäre, wenn
er es sich selbst zu verdanken habe. Kant verschränkt hier die Entfaltung der Vernunft,
die Ziel der Natur sei, mit der Entfaltung der Bedingungen von Vernunftentfaltung, al-
lerdings ohne daß die Produktion dieser Bedingungen selbst als Ausdruck praktischer
Vernunft gedacht würde, denn die entwickele sich erst anschließend, und sie entwickele
sich sogar nur dann selbständig, wenn ihr dafür die schlechtest möglichen Bedingungen
geboten würden; sonst hätte sie es in den Augen der Vorsehung zu leicht und wäre ihrer
selbst am Ende unwürdig. Ja selbst, daß Autonomie allein durch Heteronomie verwirk-
licht werden könne und daß die Menschen sich nur unter Beschränkungen ihrer Freiheit
frei entwickeln können – sonst blieben sie faul wie die Chinesen237 –, sei ein Moment
232
Idee, VIII 22. Vgl. Anfang, VIII 119.
233
Idee, VIII 30.
234
EF, VIII 362; vgl. 361, wo zudem von ‚Schicksal‘ die Rede ist.
235
Vgl. Andreas Urs Sommer, Sinnstiftung durch Geschichte?, a.a.O., 313: „An Gewicht und Ge-
halt des Postulats ändert die Selbstbescheidung im Sprachgebrauch wenig.“ Wenn Sommer
anschließend die Reduktion der Vorsehung auf „einen Entwurf der Vernunft“ hervorhebt, so bleibt
dabei die Verbindung mit dem erkenntnistheoretisch-naturphilosophischen Problem des Naturgan-
zen außer acht. – Wolfgang Kersting spricht von einem „Zwitter aus Vorhersehung und Natur“,
einer „geschichtsphilosophischen Konstruktion, die keinerlei theoretische Ansprüche erheben
kann“ (Kant und die politische Philosophie der Gegenwart, in: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel
Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt am Main 1993, 86). – Georg Cavallar, Pax Kantia-
na, a.a.O., 297ff. verweist auf Interpretationen, die Kant als Protagonisten der Säkularisierung von
Philosophie darstellen: Harry van der Linden, Kantian Ethics and Socialism, Indianapolis 1988;
Yirmiyahu Yovel, Kant and the Philosophy of History, Princeton 1989; Lewis White Beck, What
have we learned from Kant?, in: Allen W. Wood (Hg.), Self and Nature in Kant’s Philosophy, Itha-
ca 1984. Dagegen möchte Cavallar „den theologischen Kant mit Blick auf die Geschichtsphiloso-
phie […] rehabilitieren“ (298). Genauer wäre wohl zu sagen, es ist auf die Funktion der Theologie
für Kants Geschichtsbegriff aufmerksam zu machen, um diesen angemessen zu kritisieren.
236
Vgl. Anfang, VIII 114.
237
Vgl. Anfang, VIII 121.
F S W N? 105
der Naturgabe der Würde.238 Diejenigen, die in den Genuß der Würde als auch des Wohl-
lebens und der entfalteten Vernunft geraten, werden nun unmöglich jene sein, die durch
von Generation zu Generation vererbtes Leid und Mühsal der menschlichen Gattung die-
sen Schatz akkumuliert haben. Daraus ergibt sich ein gattungsgeschichtliches Problem.
Selbst unter dem metaphysischen Gesichtspunkt, daß die Gattung als solche die
Totalität der Vernunft und deren Bedingungen akkumuliere, wäre nicht die Gattung
Nutznießer des Resultats, sondern allein Individuen; die vergangenen Individuen sind
unwiederbringlich vergangen und die nachfolgenden sind nicht die Gattung. Kant nennt
diese problematische Spaltung des Gattungsbegriffs immerhin ‚befremdend‘239 , doch
sei sie notwendig, wenn eine Gattung überhaupt Vernunft entfalten solle, denn dies
gelinge nur in der Zeit. Schon Dante hatte ein derartiges Akkumulationsmodell der
Gattungsgeschichte vertreten, indem er die Vollständigkeit der menschlichen Entfaltung
in der kontinuierlichen Akkumulation von Wissen durch die Gattung verstand.240 Aller-
dings sieht Dante in diesem Prozeß ein radikales Ziel in der Zeit, nämlich die politische
Einrichtung des Weltreiches, an dessen Spitze der monarcha steht. Dessen Position ist
legitimiert durch seine Interessenlosigkeit, die daher rührt, daß er formell alles besitzt
und deswegen nicht aus Begierden heraus gemeinschädliche Entscheidungen treffen
kann. Darin liegt im Kern die Vorstellung, daß über den gesellschaftlichen Reichtum
auch gesellschaftlich zu verfügen sei, die es erst ermöglicht, diesen zum allgemeinen
Nutzen zu verwalten und durch eine einzig im Gemeininteresse liegende Kooperation
und Arbeitsteilung zu reproduzieren. Die Überwindung der Begierden gelingt damit
bei Dante durch die vernünftige Organisation ihrer verfügbaren Gegenstände. Diese
wird durch geschichtliche Wissensakkumulation verbessert. Dadurch kann nicht das
problematische Verhältnis der Generationen zueinander aufgehoben werden, aber es
wird auch nicht einfach affirmiert, sondern in einem geschichtlichen Prozeß bestimmt,
der nicht die Perpetuierung des antagonistischen Zustandes darstellt, sondern seine
Behebung. Wenn Kant dagegen schreibt, das Generationenverhältnis bleibe immer
befremdend, dann nicht allein deshalb, weil keine Teleologie dem einen tieferen Sinn
verleiht, sondern vor allem, weil Kant die historische Verknüpfung von Aufopferung
der Früheren und Genuß durch die Späteren für eine logische Konstante der Geschichte
hält.241 Sollte Geschichte ein rationales Ziel haben, wäre es das, diese Konstanz zu bre-
chen durch gemeinschaftliche Reproduktion und gesellschaftliche Naturbeherrschung.
Das Gesamtsubjekt des Fortschritts wäre dann insofern auch Subjekt des Genusses, als
die späteren Fortschritte, wie groß sie auch seien, gegen die Lebensweise der Früheren
eine graduelle Differenz bedeuteten, nicht aber die substantielle von Aufopferung
und Genuß überhaupt, mit der Kant kalkuliert, weil er den Irrsinn der Geschichte
metaphysisch als Ausdruck einer Naturabsicht interpretiert und nicht als Aggregat
238
Vgl. Aufklärung, VIII 41.
239
Vgl. Idee, VIII 20.
240
Vgl. Dante Alighieri, Monarchia, Stuttgart 1989, 61.
241
Die so gedachte Auffassung des Generationenverhältnisses ist nicht dadurch zu schlichten, daß
„hier nicht von einer bewussten Instrumentalisierung einer Generation durch eine andere gespro-
chen werden kann“ (Michael Pauen, Zur Rolle des Individuums in Kants Geschichtsphilosophie,
a.a.O., 41); es findet eben auch keine bewußte Aufhebung der faktischen Instrumentalisierung statt.
106 Z S G
menschlicher Werke, die in kein System gehören, aber dafür korrigierbar und, soweit
fehlerhaft, fürderhin vermeidbar sind.
Der Antagonismus, als Einheitsprinzip der Gattungsgeschichte zugleich Ausdruck des
bedrängten Subjekts, wird schließlich zum teleologischen Wesen, „dessen sich die Natur
bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen“242 . Der Antagonis-
mus eines Vergesellschaftungstriebes und eines Gesellschaftszerstörungstriebes in den
einzelnen Menschen bewirke auf lange Sicht die gesetzmäßige Ordnung der Gesell-
schaft. Vor solchen Ordnungen ist immer Vorsicht geboten, besonders dann, wenn Philo-
sophen die Unordnung, Zerstörung von Ordnung, selbst zum Ordnungsprinzip erheben.
Über diesen Weg wird die Unordnung auf eine begriffliche Einheit gebracht, die sie als
rationale Ordnung erscheinen läßt. Darin entspricht diese Vorstellung der Erklärung der
modernen Gesellschaft, in der sich die Anarchie des Marktes als blindwirkendes Durch-
schnittsgesetz durch die Konkurrenz der einzelnen Gesellschaftssubjekte entwickele.243
Der resultierende Gesellschaftszustand ist aber nicht die Aufhebung der zerstörerischen
Kräfte, sondern deren Kanalisierung und Fixierung.
Das Gesetzlose wird zum Gesetz. Kant bezeichnet diesen Widerspruch als Paradoxie:
„So zeigt sich hier ein befremdlicher, nicht erwarteter Gang menschlicher Dinge; so wie
auch sonst, wenn man ihn im Großen betrachtet, darin fast alles paradox ist. Ein größe-
rer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volkes vortheilhaft
und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft
hingegen diesem Raum, sich nach allen seinen Vermögen auszubreiten.“244 Für den Ant-
agonismus ist diese Stelle deshalb einschlägig, weil Kant hier vertritt, zur Autonomie
sei allein durch – nicht etwa gegen – Heteronomie zu gelangen, zur Entwicklung der
sittlichen menschlichen Natur nur durch die ihr entgegenwirkenden Kräfte. In der For-
mulierung ‚im Gang menschlicher Dinge ist fast alles paradox‘ fungiert das ‚ist‘ nicht
als logische copula, sondern als Seinsprädikat. Der Geschichte wird eine eigene ontolo-
gische Natur zugesprochen, die ihr Korrelat in den Subjekten habe, die sie exekutieren:
„Hiezu [zum Antagonismus] liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur.“245
‚Offenbar‘ ist dies allein unter Voraussetzung der erkenntnistheoretisch erschlichenen
Totalität. Es gibt keine Begründung dafür außer empirischen Beobachtungen der po-
litischen Geschichte, die Kant andernorts zutreffend als des Philosophen ‚unwürdig‘
bezeichnet hatte.246
Schon bei Hobbes fällt auf, daß seine Vorstellung vom menschlichen Wesen,
vergleicht man sie mit den Vorstellungen, die sich das Mittelalter und die Antike davon
gemacht hatten, durch die Erfahrung neuzeitlicher ökonomischer Charaktere nicht
bloß gezeichnet ist, sondern daß es diese Erfahrung in der Gestalt theoretischer – das
heißt notwendiger und allgemeiner – Sätze weitgehend reproduziert. Die klassische
Metaphysik, die von Ideologemen keineswegs frei war, hatte dagegen die menschliche
Substanz in den intellektuellen Fähigkeiten der Menschen gesehen, die, wenn sie
242
Idee, VIII 20.
243
Vgl. Karl Marx, Kapital I, MEW 23, a.a.O., 117.
244
Aufklärung, VIII 41.
245
Idee, VIII 20.
246
Vgl. KrV, B 373.
F S W N? 107
zur Entfaltung kämen, die Menschen über ihre empirischen Schranken zu erheben
vermöchten.247 Die Intelligenz wird nun bei Hobbes gerade zu der Eigenschaft, die
es sogar den Schwächeren erlaubte, die Stärkeren zu töten.248 Die durch den Intellekt
bewirkte Chancengleichheit steht bei Hobbes im Dienst jener Gemütsbewegungen, die
sich alle auf „das Verlangen nach Macht, reduzieren“249 ließen; diese Mischung als
Katalysator wandelt Gleichheit dann zwingend in Konkurrenz und Feindschaft um.250
Vorausgesetzt ist zudem die Inkosequenz, daß Hobbes zunächst erkenntnistheoretisch
die Gültigkeit allgemeiner Begriffe rundweg leugnet,251 mit Selbstverständlichkeit aber
allgemeine Urteile formuliert. So trägt er empirische Beobachtungen in zwingender
Form vor, ohne sich zur Kritik durch vorausgesetzte Begriffe verpflichtet zu fühlen.
Kant gelangt zu einem anderen Begriff vom Menschen, indem er die Hobbesische
Vorstellung, die er durchaus affirmativ rezipiert, mit der in vielen Momenten diame-
tral entgegengesetzten Rousseaus verbindet, wonach die Menschen von Natur aus weder
gut noch böse seien, durch gesellschaftliche Veranstaltung aber sicher deformiert wür-
den.252 Für Kant nun verbindet sich beides so, daß gerade die ‚böse‘ ordnungsfeindliche
Eigenschaft der Menschen auf lange Sicht das ‚Gute‘, die Ordnung, hervorbringe. Die
Paradoxie der Geschichte, in der das Chaos selbst zum Ordnungsprinzip geworden ist,
wird so den Subjekten selbst als ihre eigene Natur imputiert.
Dieser Schritt ist in der nominalistischen Wende zur Neuzeit schon angelegt. Indem
Gott, nun Willkürsubjekt, die Verantwortung für eine rational identische Weltordnung
entzogen wird, beginnt die Subjektivität der menschlichen Subjekte, seine Stelle einzu-
nehmen. Der Griff des ordo naturae, der auch alle menschlichen Handlungen umfaßte,
247
Eine Ausnahme mögen die Sophisten bilden, die eine durchaus ambivalente – und zwischen den
Autoren uneinheitliche – Vorstellung vom Menschen vertraten. – Mit Blick auf die Entwicklung
der frühneuzeitlichen Vorstellung vom Menschen bei Hobbes, Spinoza und Locke schreibt Lud-
wig Siep, Machtzerfall, Delegitimierung und Widerstandsrecht in der politischen Philosophie der
frühen Neuzeit, unveröff. Ms. 2008: „Machiavelli war der erste, der unter den Erfahrungen der Zu-
sammenbrüche traditioneller Herrschaftsgebilde und der Eroberung oft nur kurzlebiger neuer die
klassische politische Philosophie des weltfremden Idealismus bezichtigte.“ Die daraus bezogene
politische Anthropologie ist aber auch eine ökonomische, denn die Veränderung der Herrschafts-
formen steht im Zusammenhang der Auflösung lehensrechtlicher Beziehungen, die zentral das
Grundeigentum betreffen, und die Individualisierung und Personalisierung der Menschen steht
im Zusammenhang ihrer Funktion als Vertragspartner. – Vgl. auch Ludwig Siep, Der Streit um
die wahren politischen Tugenden in der italienischen Renaissance, in: Barbara Stollberg-Rilinger/
Thomas Weller (Hgg.), Wertekonflikte – Deutungskonflikte, Münster 2007, 150f.
248
Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, Darmstadt o.J., Kapitel XIII.
249
Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., 60.
250
Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., Kapitel XIII.
251
Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., z. B. Kapitel III.
252
Vgl. z. B. Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Un-
gleichheit unter den Menschen, in: Kulturkritische und politische Schriften, Bd. 1, Berlin 1989,
Erster Teil; und: Dens., Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1971, 1. Buch. – Günther Buck
hat angemerkt, daß Hobbes und Rousseau sich in einer Hinsicht einig sind: Die Selbstbestimmung
der Menschen führe auf den Widerspruch, daß „Selbstbeziehung und Heteronomie eines sind“
(Selbsterhaltung und Historizität, in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, a.a.O.,
256f.). Den Subjekten entgleite auf dem Höhepunkt ihres Bewußtseins von Geschichtsmächtigkeit
eben diese.
108 Z S G
lockert sich, die Menschen treten als Subjekte in ihre Geschichte ein. Die neuzeitliche
politische Theorie hat aber neben der Negation der göttlichen Garantie des Weltlaufs
nicht auch die Negation der damit verbundenen Hierarchievorstellungen geleistet. Die
Ordnung der Welt, wie sie erschien, war nicht mehr Ausdruck göttlichen Intellekts und
göttlicher Macht; das konnte sie schon wegen der Individualisierung und des Verfalls der
politischen Macht des Papsttums und anderer politischer Institutionen gegenüber dem
erstarkenden Handelskapital und seiner nationalen und regionalen Interessenvertreter,
nicht mehr sein. Aber die Vorstellung der vernünftigen Ordnung blieb, der Gedanke des
zweckvollen Handelns der Einzelnen setzte weiterhin einen Zusammenhang voraus. Der
Grund der Ordnung aber wurde nun in der Natur der einzelnen menschlichen Subjekte
selbst gesucht. Die Hobbesische Rechtsontologie ist ein markanter Ausdruck dieser Ent-
wicklung, die aber in der frühen Rechtsphilosophie verbreitet ist. Nie geriet die Ordnung
– abgesehen von utopischen Entwürfen – selbst in eine Kritik vergleichbarer Schärfe, wie
sie zur Beseitigung des Vernunftprinzips ‚Gott‘ nötig gewesen war; im Gegenteil: „Die
Natur selbst kann nicht irren“253 . Dieser Satz, der deswegen banal erscheint, weil eine
Kritik an der Natur in der Tat absurd wäre, zeigt aber darüber hinaus ein affirmatives
Verständnis einer natürlichen Ordnung des menschlichen Wesens und der Menschen un-
tereinander an. Die spätere Naturrechtslehre hat die Menschen in Schutz nehmen wollen
gegen die zerstörerischen Kräfte, die von der bürgerlichen Gesellschaft freigesetzt wer-
den, aber doch vorwiegend, um die Menschen als Rechtssubjekte genau dieser Ordnung
zu erhalten.
In dieser Tradition steht Kants Formulierung, daß der Mensch „in sich zugleich die
ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und
daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seiner-
seits zum Widerstande gegen andere geneigt ist“254 . Diese Formulierung ist ein echter
Wolf im Schafspelz, denn die Erwartung von allseitigem Widerstand und die eigene
Neigung zu solchem sind Kennzeichen wilder Tiere, deren Verhältnis als bellum om-
nes contra omnium zu bezeichnen bereits eine anthropomorphistische Verharmlosung
wäre. Die Widerstandsgelüste nun seien es, durch die der Mensch die Faulheit überwin-
de. Die Leidenschaften Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht trieben die Konkurrenz
an, die zunächst zum gesellschaftlichen Grund des Wohlergehens der Einzelnen werde,
die einander nicht leiden, aber voneinander auch nicht lassen könnten, weil sie sich im
Beisammensein mit ihren unleidlichen Widersachern doch „mehr als Mensch“255 fühl-
ten. Tatsächlich können sie voneinander nicht lassen, weil sie allein sich nicht erweitert
reproduzieren könnten und hinter den Stand ihrer menschlichen Entfaltung zurückfie-
len; daß sie sich nicht leiden können, soweit dies gesellschaftliche und nicht persönliche
Gründe hat, liegt nicht in der notwendig antagonistischen Beschaffenheit der Menschen,
auch nicht an der gesellschaftlichen Form der Reproduktion als solcher, sondern es
liegt an der spezifischen Organisationsform der gesellschaftlichen Reproduktion, die von
Menschen antagonistisch gestaltet wurde und gerade deshalb keineswegs notwendig ist.
253
Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., 28.
254
Idee, VIII 21.
255
Idee, VIII 20.
F S W N? 109
Kultur und Zivilisation seien nun Resultate der ‚ungeselligen Geselligkeit‘, ja „[a]lle
Cultur und Kunst, welche die Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche Ordnung
sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genöthigt wird, sich zu disciplini-
ren und so durch abgedrungene Kunst die Keime der Natur vollständig zu entwickeln“256 .
Jeder, der unter Konkurrenzbedingungen wissenschaftlich oder künstlerisch gearbeitet
hat, kann wissen, daß unter diesen Bedingungen nur das entsteht, was trotz ihnen mög-
lich ist; durch sie wird ausschließlich Potential vernichtet. Auch ökonomisch ist Kon-
kurrenz das ineffizientere Prinzip gegenüber der Kooperation, denn der Konkurrierende
jagt dem Konkurrenten einen Teil von dessen Anteil am Geschäft ab. Ruiniert er ihn,
bleibt ein Restanteil unverwirklicht. Die Kooperierenden verwirklichen nicht allein bei-
de Anteile, sondern ein surplus, das aus der vereinigten Kraftanwendung resultiert. Daß
die Konkurrenz das Geschäft belebe, kann nicht viel mehr heißen, als daß die Menschen
sich der Arbeitsmühe nicht aussetzten, wo sie nicht mit der Vernichtung ihrer Existenz
bedroht seien. Diese gesellschaftlich erzeugte Existenzangst, die den Intellekt erstickt,
mag zur Bewegung der Körperkräfte anstacheln; notwendig ist dies aber nur unter Be-
dingungen, die es den Menschen unmöglich machen, die Zwecke ihrer Arbeit als ihre
eigenen anzusehen, weil diese Zwecke unter ihnen unverfügbaren Bedingungen stehen.
Die Gültigkeit dieser Bedingungen ist eine sublimierte Form von Heteronomie, wenn
Heteronomie im Prinzip das bezeichnet, was das Handeln unter Zwecke bringt, die dem
Handelnden nicht verfügbar sind.257 Die Behauptung der Notwendigkeit der Konkurrenz
zur Entfaltung gesellschaftlicher Kräfte läuft auf jene hinaus, daß in einer gewaltsamen
Ordnung Gewalt erforderlich sei.
Solange nun die Ordnung nicht adäquat begrifflich durchdrungen werden kann, führt
ihre begriffliche Analyse zwangsläufig auf ihre affirmative Reproduktion im Begriff. Die
bürgerliche Ordnung, die Kant vorfand, war eine noch agrarisch fundierte, im wesent-
lichen über Wucher- und Handelskapital vergesellschaftete Ordnung. Ihr allgemeines
Wesen offenbarte sie erst mit der Durchsetzung des industriellen Kapitals, die Kant nicht
mehr erlebte. Vorher konnte die Kritik an David Ricardo, Adam Smith und anderen nicht
systematisch geleistet werden. – Darin, daß die Analyse des gesellschaftlichen Reich-
tums nur in der Kritik von dessen frühbürgerlichen Erklärungsversuchen darzustellen
war, nimmt das Denken zugleich eine andere Stellung zur Objektivität an: Die gleich-
wohl auf systematische Vollständigkeit des Arguments angelegte Marxische Kritik der
politischen Ökonomie kann nicht mehr als systemhafte Konstruktion von Gesellschaft
und Geschichte auftreten. Sie wird ihres Gegenstandes qua Vernunft nur inne, indem
sie durch Darlegung des Unvernünftigen an ihnen sich zugleich von ihm distanziert und
die Möglichkeit von Vermittlung allein in gesellschaftlicher Praxis sieht.258 Aber erst auf
der Grundlage entwickelter Vergesellschaftung werden deren fortschrittshemmende Wir-
256
Idee, VIII 22.
257
Daraus, daß geschichtliche Ambitionen erfahrungsgemäß scheitern können, hat Dieter Henrich die
Konsequenz gezogen, Geschichte sei „unverfügbar es [das Geschehen; M.St.] selbst“ (Selbster-
haltung und Geschichtlichkeit, in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, a.a.O.,
313), obwohl er zuvor den modernen Geschichtsbegriff von der Heilsgeschichte und vom Schicksal
abgrenzt.
258
Der geläufige ‚Historismus‘-Vorwurf, der seit Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre
Feinde, Bd. 2, Tübingen 1992, nicht auszuräumen scheint, trifft die Marxische Konzeption nicht,
110 Z S G
sondern allein die des sogenannten Marxismus. Die problematische Stelle bei Karl Marx, Das
Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., Kapitel 24.7, in der von einer geschichtlichen Naturnotwendigkeit
der Negation der Negation die Rede ist, steht quer zu der historischen Argumentation von Marx
selbst im Rest dieses Kapitels.
259
Vgl. auch EF, VIII 363ff. Hierin ist die Notwendigkeit eines kritischen, an Technik und Ge-
sellschaft reflektierten, aber nicht gegen sie abgegrenzten, Naturbegriffs angesprochen, der im
Zusammenhang der Kritik der Urteilskraft zu erörtern sein wird. Vgl. zu diesem Problem Peter
Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 13: „Insgesamt aber ist der Umstand des wachsenden
Leidens der Menschen bei gleichzeitiger Vermehrung der technologischen Möglichkeiten, dieses
Leiden längst zu minimieren, wenn nicht überflüssig zu machen, fundamentaler Anlaß und Grund
meiner Fortschreibung von Kritik“. Der dargestellte Gegensatz tritt bereits bei Kant, zwar nicht
als technologischer, aber in der Form hervor, zivilisatorischen Fortschritt und moralische Stagna-
tion zu vermitteln. Euler faßt diesen Zusammenhang in der Tradition der Darmstädter kritischen
Pädagogik und darüber hinaus unter einem erweiterten Bildungsbegriff, der die Entfaltung des
Bewußtseins und die Gestaltung der Welt als seine Momente umfaßt.
260
Idee, VIII 21.
261
Idee, VIII 21.
262
Idee, VIII 22.
F S W N? 111
Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat“263 . Der Begriff der Frei-
heit hat hier vor allem das Merkmal, den Antagonismus, das Widerstandsstreben der
Einzelnen gewähren zu lassen; keineswegs ist diese Freiheit vernünftige Allgemeinheit,
rationale Kooperation der Subjekte, denn diese wird ausdrücklich erst durch den Zwang
des Rechts zuverlässig bewirkt. Insofern das Widerstandsstreben ein Naturbedürfnis dar-
stelle, ist dieser Freiheitsbegriff ganz pathologisch bestimmt. Die Brechung dieses Wi-
derstands, der Naturgewalt, seine Ermäßigung auf ein sozialverträgliches Maß durch
selbst „unwiderstehliche[] Gewalt“264 , ein Verhältnis von explizit pathogenen Gewalten
mithin,265 soll, als triftige Konsequenz einer naturgeschichtlich angelegten Rechts- und
Moralgeschichte, die „vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung, die höchste Aufga-
be der Natur für die Menschengattung“266 darstellen.
Insofern diese Ordnung eine Gewaltordnung ist, ist sie Herrschaft. Insofern die Men-
schen Natur sind, deren Gewalt gebrochen werden müsse, sei Herrschaft notwendig,
denn „der Mensch ist ein Thier [und] […] mißbraucht gewiß seine Freiheit in Ansehung
anderer Seinesgleichen“267 . Auch dieses sei nicht mit dem Übergang vom Tierreich zur
menschlichen Gesellschaft aufgehoben. Selbst derjenige, der die Notwendigkeit rechtli-
cher Ordnung von Freiheit einsehe, wolle ebenso notwendig, und zwar „immer“268 , sich
selbst davon ausnehmen. Er wäre einzig dadurch dem Allgemeinen unterworfen, daß
ein Herr seinen Willen bräche. Die Figur der Autonomie durch Heteronomie, die sich
auch hier wiederholt, reflektiert das Problem der chaotischen Erfahrung von Geschich-
te, das unter moraltheoretischem Aspekt, unter dem avancierten Begriff von Freiheit,
als nicht faßbar erscheint. Kant zieht diesen moralischen Begriff nicht heran, da die
Erfahrung ihm offenbar widerstreitet. Als negatives Kriterium, als Maßstab der Kritik
am gesellschaftlichen Handeln und an dessen Bedingungen, wird Freiheit nicht erwo-
gen, weil dadurch erstens das Eingeständnis der Selbständigkeit menschlichen Handelns
gegen den teleologischen Naturzusammenhang vorausgesetzt, und damit zweitens ein-
geräumt würde, daß dieser Zusammenhang selbst allein durch die gewaltsame Brechung
der Gewalt, durch wenigstens ein Moment an despotischer Herrschaft, aufrechtzuerhal-
ten ist. Diese Herrschaft ist indes ihrerseits problematisch, denn auch der Herrscher ist
ein Mensch, der seine Macht zu mißbrauchen strebt. Darin liegt doch auch eine Ahnung
davon, daß Herrschaft von Menschen über Menschen der Sache nach niedrig ist und
deshalb die niedrigsten Instinkte affiziert.
Eine auf Vernunft gegründete Gesellschaftsordnung bleibt jedoch für Kant rundweg
unmöglich; allein eine Annäherung sei denkbar, unter den drei Bedingungen einer ge-
lungenen Verfassungstheorie, umfangreicher politischer Erfahrungen und eines guten
Willens. Worin der gute Wille sich von der Einsicht in die Allgemeingültigkeit der ver-
nünftigen Verfassung unterscheiden könnte, ist nach Kants Moraltheorie fraglich: Der
Wille wird gut durch die Einrichtung seiner Maxime nach der Form widerspruchsfrei-
263
Idee, VIII 22.
264
Idee, VIII 22.
265
Kant verweist explizit auf Not, Bedürfnis und Neigung.
266
Idee, VIII 22.
267
Idee, VIII 23.
268
Idee, VIII 23.
112 Z S G
er Allgemeinheit und diese wird durch die praktische Vernunft bestimmt. Ist aber die
Entschließung des Willens zur Annahme des Vernünftigen nicht durch Vernunft selbst
zu leisten, so könnte sie wiederum bloß pathologisch erzwungen werden, was jedoch
dem Begriff des guten Willens widerspräche. Die Beobachtung der Unvernünftigkeit
der Menschen droht hier, die Vernunft – ihren Anspruch auf unbedingte Geltung und
Autonomie – selbst zu suspendieren, indem für die politisch-geschichtliche Praxis der
Entschluß des Willens von der Vernunft abgesondert wird. Das entspricht der Erfahrung,
daß die Menschen das, was gleichwohl allgemein einzusehen ist, doch ohne Gewalt nicht
politisch durchsetzen können. Dabei ist zu bedenken, daß die Einrichtung einer frei-
en Gesellschaft selbst noch unter den Bedingungen der unfreien Gesellschaft erfolgen
müßte und schon daher pragmatischen Abwägungen ausgesetzt wäre. Kant entzieht die
Vorgeschichte der Freiheit aber dieser Betrachtungsweise und entwirft eine Genealogie
der Freiheit, in der diese selbst nur in ihrem einheimischen Reich einen Ort hat, der
aber bereitet werden soll durch die Abfolge unterschiedlich korrumpierter Freiheitsfor-
men. Die „große durch viel Weltläufe geübte Erfahrenheit“269 , die als Bedingung der
gerechten Verfassung angeführt wird, bedeutet daher auch nicht vorrangig die politische
Erfahrung des individuellen Staatsmannes, sondern den akkumulierten Erfahrungsschatz
der Verfassungsgeschichte der Menschheit, nicht weniger als das, was Hegel treffend
eine ungeheure „Schlachtbank“270 genannt hat, über deren Existenz es nichts zu lamen-
tieren gebe, der Weltgeist habe genug Material und zudem das absolute Recht, über
dieses zu disponieren und es zu dispensieren, damit er nur an sein Ziel gelange.271
Die ganze Ausmessung dieser ‚Schlachtbank Weltgeschichte‘ eröffnet sich in der
Reproduktion des Antagonismus im multilateralen Staatenverhältnis: Sollte es auch
gelingen, durch bürgerliche Verfassung ein Gemeinwesen von einzelnen Menschen
einzurichten, so stünden verschiedene solcher Gemeinwesen doch ebenso naturhaft im
Verhältnis der Konkurrenz und des wechselseitigen Mißtrauens, dessen Existenzweise
die dauernde Kriegsdrohung und der Krieg selbst seien. Nun sind es ja nicht die
Staaten, die sich bekämpfen, sondern die Menschen, die diese Staaten bilden, regieren
und verwalten, – die gleichen Menschen, deren antagonistische Natur nach Kants
269
Idee, VIII 23.
270
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke, Bd. 12, hg. v. E.
Moldenhauer/K.M. Michel, Frankfurt am Main 1986, 35. Kant konzipiert ganz analog in SF, VII
88f.
271
Einen strikten Gegensatz zwischen Kant und Hegel diagnostiziert Susanne Weiper, Rechtsidee und
ewiger Friede. Die Kantische Konzeption im Spannungsfeld zwischen Gesinnungspazifismus und
Instrumentalmilitarismus, in: Volker Bialas/Hans-Jürgen Häßler (Hgg.), 200 Jahre Kants Entwurf
„Zum ewigen Frieden“, a.a.O., 66. Vgl. hierzu auch Hans-Christian Lucas, „Es giebt keinen Prä-
tor zwischen Staaten“. Zu Hegels Kritik an Kants Konzeption, in: Klaus-Michael Kodalle (Hg.),
Der Vernunftfrieden, a.a.O., 57ff. Lucas stellt einen krassen Gegensatz zwischen Kants und Hegels
Beurteilung des Krieges fest, weist aber darauf hin, daß darüber die Ähnlichkeiten beider meist
übersehen würden. Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf ‚Zum Ewigen Frieden‘, a.a.O., 14ff.
will Kants teils rationalisierende teils kritische Bemerkungen zum Krieg werkgeschichtlich auflö-
sen. Lucas weist Belege auf, die diese These „zumindest fragwürdig erscheinen“ lassen („Es giebt
keinen Prätor zwischen Staaten“, a.a.O., 58).
F S W N? 113
früherer Annahme durch die bürgerliche Verfassung kanalisiert worden sei.272 Den
nächstliegenden Gedanken, daß die kriegerische Konkurrenz der Staaten eine Folge
der Unzulänglichkeit der bürgerlichen Verfassung hinsichtlich der Aufhebung des
Zerstörungspotentials der Bürger sei, vermeidet Kant, indem er umgekehrt die Staaten
anthropomorphisiert, ihnen als Staatssubstanzen dieselben Naturbestimmungen wie
zuvor den Menschen zuweist, insbesondere den „unvermeidlichen Antagonism“273 .
Wieder ist der Zerstörungstrieb eine List der Natur274 : „[S]ie treibt durch die Kriege,
durch die überspannte und niemals nachlassende Zurüstung zu denselben, durch die
Noth, die dadurch endlich ein jeder Staat selbst mitten im Frieden innerlich fühlen muß,
zu anfänglich unvollkommenen Versuchen, endlich aber nach vielen Verwüstungen,
Umkippungen und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte zu dem, was
ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können, nämlich:
aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen und in einen Völkerbund
zu treten“275 . Daß „der wilde Mensch eben so ungern gezwungen ward, nämlich: seine
brutale Freiheit aufzugeben“276 , mag man ihm kaum verübeln, wenn das für ihn doch
‚Verwüstung, Umkippung, Erschöpfung aller Kräfte und Not, selbst mitten im Frieden‘
bedeutet, eine Geißel, die den unzivilisierten Völkern fremd sein möchte. Als Werbung
für die praktische Vernunft wäre Kants Geschichtsbegriff ähnlich überzeugend wie die
Werbung fürs Christentum durch Proselytenmacherei mittels Feuer und Schwert. – Der
Irrealis, demzufolge Vernunft die Konfliktlösung ‚auch ohne soviel traurige Erfahrung
hätte bieten können‘, ist streng zu nehmen: Sie konnte es nicht, denn dies lag nicht in
der Absicht der Natur. Hätte sie es gekonnt – so ist Kant zu verstehen – so wäre die
Geschichte, wie sie dann verlief, völlig unbegreiflich. Dieses Unvermögen kann dann
nur in einem substantiellen, natürlichen Defekt der Vernunft selbst begründet sein, nicht
272
Vgl. hierzu Hansgeorg Frohn, Staat und Krieg. Vorüberlegungen zum BVersuch einer Antwort
auf die Frage, warum die bisherigen Friedenssicherungsmodelle der Neuzeit die in sie gesetzten
Erwartungen nicht erfüllt haben, in: Volker Bialas/Hans-Jürgen Häßler (Hgg.), 200 Jahre Kants
Entwurf „Zum ewigen Frieden“, a.a.O., 82: „Staaten sind nicht gewalttätig, weil sie über be-
waffnete Polizei- und Streitkräfte verfügen, vielmehr verfügen sie über solche Kräfte, weil sie
ihrer Struktur nach gewalttätig sind.“ Frohn führt dies über den Personenverbandscharakter auf
das begrenzte Staatsgebiet zurück. Er vergißt lediglich die Bedeutung des Staatszweckes für die
spezifische Gestalt des modernen Territorial- und Nationalstaates.
273
Idee, VIII 24. Vgl. EF, VIII 364f.
274
Der Ausdruck ‚List‘ wird bei Kant selbst noch pejorativ verwendet für die sich überlistenden
Menschen und ihre Einrichtungen; die Natur gilt durchgängig als ‚weise‘. Vgl. EF, VIII 368. – Daß
nicht erst Hegel als Erfinder dieses Motivs teleologischer Geschichte gelten darf, bemerkt Georg
Cavallar, Pax Kantiana, a.a.O., 278; vgl. auch Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft,
a.a.O., 56. – Für den Motivkomplex der ‚List der Vernunft‘ oder der ‚Naturabsicht‘ wird zumeist
auf Adam Smiths Metapher der ‚invisible hand‘ verwiesen (vgl. Der Wohlstand der Nationen,
München 1974, 371). Das ist zwar motivgeschichtlich einschlägig, aber die spätere Marxische
Figur des gesellschaftlichen Geschehens ‚hinter dem Rücken der Produzenten‘ (Das Kapital, Bd.
1, MEW 23, a.a.O., pass.) erklärt schon etwas mehr: nämlich die Koinzidenz von gesellschaftlicher
Gesetzmäßigkeit und subjektiver Täuschung über Gesetzmäßigkeit überhaupt.
275
Idee, VIII 24. Kant vertritt hier den Standpunkt des politischen Moralisten, den er sich gemäß EF,
VIII 230ff. nicht einmal denken können will.
276
Idee, VIII 24.
114 Z S G
277
Idee, VIII 25.
278
Vgl. Idee, VIII 27.
279
Diesen Gedanken entwickelt in aller Ausführlichkeit Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft,
Frankfurt am Main 1993. Wie oft bei Luhmann finden sich präzise Beschreibungen, die allerdings
nicht auf Gründe, sondern auf Systemstrukturen zurückgeführt werden. Die Haltung, Theorie kön-
ne nur auf der Stufe beobachtender Beschreibung operieren, macht wohl die suggestive Kraft
dieser Gestalt von Gesellschaftstheorie aus. Vgl. z. B. 16f. in anderer Weise hat hier Hans Ebeling
angeknüpft: Kants Volk von Teufeln, der Mechanismus der Natur und die Zukunft des Unfriedens.
Über den Mythos der kommunikativen Vernunft, in: Klaus-Michael Kodalle (Hg.), Der Vernunft-
frieden, a.a.O. Ebeling geht davon aus, daß die praktische Philosophie das Böse unterschlagen
habe, Wesen, denen noch ihre Selbsterhaltung gleichgültig ist. Deswegen sei Friede „nur noch
unter dem Diktat einer einzigen Führungsmacht [möglich; M.St.]. Deren Über-Macht und deren
eigene Gefahr der Korruption muß im Interesse des Überlebens der Gattung auf unübersehbare
Zeit hingenommen werden.“ (94) Es bleibt dunkel, ob dabei einfach an die USA oder an das
internationale Kapital gedacht ist. Für Frieden dürften indes beide nicht einstehen.
280
Anfang, VIII 121.
281
Vgl. Idee, VIII 26.
282
Idee, VIII 26.
283
Idee, VIII 26. Auch dies sieht Kant im Detail anders in EF, VIII 358. Daß er hier die Ausdrücke
‚Wirkung und Gegenwirkung‘, die den Newtonischen Prinzipien actio und reactio nachgebildet
sein dürften, gesperrt setzen läßt, zeigt an, wie ernst ihm die naturalistische Deutung der Ge-
schichte ist.
284
Vgl. Gemeinspruch, VIII 312.
F S W N? 115
Die Fortschritte, die in Kants weltbürgerlichem Zustand durch die anhaltende ‚Ge-
fahr‘ noch bewirkt würden, könnten wohl nicht in einer weiteren Stabilisierung der
Verhältnisse bestehen, denn deren Stabilität sei bereits automatisiert. Die Fortschritte
scheinen daher wohl die Akkumulationsbewegung der liberalen Ökonomie zu betreffen.
Zwar treten neben dem Fortschrittsmotor ‚Habsucht‘ noch gleichberechtigt ‚Ehrsucht
und Herrschsucht‘ auf, doch die ökonomische Funktion bürgerlicher Freiheit ist durch-
aus präsent: Einschränkungen derselben schaden Handel und Gewerbe und dadurch auch
Staat und Gesellschaft.285 Daraus entwickele sich nun letztlich sogar Moralität, und zwar
weil die nationalökonomischen Interessen zur Aufhebung konfessioneller Beschränkun-
gen und darüber zur Aufklärung sowie zur Änderung der Regierungspolitik führten.286
Hieraus folge schließlich der weltbürgerliche Zustand, in dem „alle ursprüngliche Anla-
gen der Menschengattung entwickelt werden“287 . Erst hier werde Moralität denkbar, bis
dahin bleibe „alles Gute […] nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend“288 .
Solange nämlich die Entwicklung der Menschheit notwendig durch Kriege bestimmt
wird, kann von Moral nicht die Rede sein, allenfalls von Strategie. Darin trägt Kant
der Aporie Rechnung, daß ein strikter Moralbegriff unter herrschenden Bedingungen
der Unfreiheit keine Handlungen aus Freiheit gestattet, weil die Maximen des Han-
delnden, will dieser unter jenen Bedingungen bestehen, immer durch sie korrumpiert
sind. Moralisierung selbst würde dann widersprüchlich, weil sie nur durch unmorali-
sche Handlungen hervorzubringen wäre.289 Den Ausweg aus diesem Problem will Kant
öffnen durch die Vorstellung der Vorgeschichte der Moral als Naturgeschichte. Damit
aber wird die gesamte politische Geschichte bis hin zur Erreichung des weltbürgerli-
chen Zustandes einer strengen moralischen Beurteilung entzogen, Moral und politische
Geschichte gelten als allo genos, jene beginne erst nach deren Ende. Die teuflischen
Lebensbedingungen, die es den Menschen unmöglich machen, moralisch zu handeln,
285
Vgl. Idee, VIII 27f.: „[B]ürgerliche Freiheit kann jetzt auch nicht sehr wohl angetastet werden, ohne
den Nachtheil davon in allen Gewerben, vornehmlich dem Handel, dadurch aber auch die Abnahme
der Kräfte des Staats im äußeren Verhältnisse, zu fühlen. Diese Freiheit geht aber allmählig weiter.
Wenn man den Bürger hindert, seine Wohlfahrt auf alle ihm selbst beliebige Art, die nur mit
der Freiheit anderer zusammen bestehen kann, zu suchen: so hemmet man die Lebhaftigkeit des
durchgängigen Betriebes und hiemit wiederum die Kräfte des Ganzen.“ Vgl. auch EF, VIII 367.
286
Vgl. Idee, VIII 28.
287
Idee, VIII 28.
288
Idee, VIII 26. Angesichts der Regression im Weltlauf ist Aufklärung heute fast weiter von diesem
Ziel entfernt als zu Kants Zeit; religiöse Toleranz, Bekämpfung des Aberglaubens und allgemeine
Freizügigkeit werden, mehr durch die Rezeption von fanatischem Terrorismus als durch diesen
selbst, erneut zu Kampfplätzen aufklärerischer Kritik. Vgl. zur Gegenstandsbestimmung aktueller
Aufklärung Heiner F. Klemme (Hg.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Berlin
2009, darin bes. den Beitrag von Günter Zöller, Aufklärung über Aufklärung. Kants Konzeption
des selbständigen, öffentlichen und gemeinschaftlichen Gebrauchs der Vernunft.
289
Vgl. MdS RL, VI §62 und EF, VIII 376 Anm., wo Kant von einem „Schritt zur Moralität“ spricht,
der selbst „noch nicht moralischer Schritt“ sei. – Diese Aporie muß man in Kauf nehmen, wenn
man „den begrenzten Anteil […] [bestimmt; M.St.] , den der Krieg an der historischen Genese
einer solchen Ordnung hat“ (Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf ‚Zum ewigen Frieden‘,
a.a.O. 120). Allerdings unternimmt Kant weit über die Bestimmung negativer historischer Bedin-
gungen des Fortschritts hinaus deren Rationalisierung.
116 Z S G
verfallen nicht der Kritik, eigentlich sind sie die abstrakte Negation von Moral, nicht
privatio boni debiti. Die objektive, politisch induzierte, Zerrüttung der möglichen Sub-
jekte von Moral wird dadurch zu deren anthropologischer Bestimmung, die sie zu den
Objekten der Knechtung machen, durch die sie allein zur Moral gebracht werden könn-
ten.290 Die Moral vermöchte am Ende nur daher noch als solche zu erscheinen, weil ihr
Begriff gegen ihren geschichtlichen Gehalt abgedichtet sein muß.291
Wohl bleibt die Natur, trotz allen Personalisierungswendungen, bei Kant im Status
einer Idee: „Wenn man indessen annehmen darf: daß die Natur selbst im Spiele der
menschlichen Freiheit nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre, so könnte diese Idee
doch wohl brauchbar werden“292 . Der zentrale Punkt der Vorstellung von Geschichte ist
durchaus das Subjekt, aber als ein sich selbst dem Plan anheimstellendes. Diese Schi-
zophrenie erscheint darin ausgeglichen, daß der Plan zugleich seinem Gehalt nach mit
der vernünftigen Absicht der Subjekte selbst übereinstimme, sogar so gut, daß dasjenige
„[w]as man nun hier verabsäumt zu thun, […] sich zuletzt selbst“293 mache. Der Fort-
schritt ist ihrer und nicht ihrer. Sie können ihre Vernunft nur als ihre begreifen, indem
sie sie als heteronome vorstellen, weil die Erfahrung ihrer eigenen Subjektivität diese als
irrational ausweist. Die Bedingungen, unter denen sie sich selbst als irrational erschei-
nen, faßt Kant nicht als Produkte der Freiheit menschlicher Willkür auf, sondern schlägt
sie auf die naturkausale Seite der Handlungen. Indem aber die materialisierten Resultate
des Handelns der Verfügung der Vernunft der empirischen Subjekte theoretisch entzogen
werden, wird ihnen ihre Vernunft überhaupt entzogen; sie erhalten sie nur mehr geborgt
zurück: Als Anleihe am Plan der Natur, den sie zu dem ihren machen können, aber nur,
indem sie sich seiner Vorstellung unterwerfen.
Die Absicht dieser Natur ist eine Antizipation des Hegelischen Weltgeists, nur daß
Kant diesen Begriff an die Erfahrungstatsachen, die chaotischen Handlungen bindet und
als übergeordneten Zusammenhang faßt, während Hegel ihn stärker intellektualisiert,
subjektiviert und die Erfahrung nur als Material, sekundär, faßt. Der Erkenntnisweg ist
verschieden, die Funktion gleich.294 Auch bei Hegel soll Freiheit als Vernunft entfaltet
werden, und der Weltgeist schafft die Bedingungen dafür. Was Hegel im objektiven Geist
auflöst, demgegenüber das empirische Subjekt nur noch Handlanger ist, erscheint bei
Kant noch als der geschichtsphilosophische Widerspruch, der es ist. Indem der Wider-
290
Vgl. EF, VIII 366.
291
Vgl. EF, nach den Reinschriftfragmenten, (H1 ), in: Immanuel Kant, Werkausgabe, hg. v. Wilhelm
Weischedel a.a.O., 230 Anm.
292
Idee, VIII 29.
293
EF, VIII 367.
294
Dem korrespondiert das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in der theoretischen Phi-
losophie der beiden Autoren. Zu betonen ist, daß die Tendenz Kants zum System ebensowenig
einfach als Stärke auszulegen ist wie sein Beharren auf dem Gegebensein des Besonderen. Im
Gegenteil werden an diesen Punkten grundlegende Schwächen der klassischen deutschen Philoso-
phie sichtbar. Nach Henrich sind dagegen Kant und Hegel in einer Konstellation vereinbar, in der
jeder dann seine Funktion beim Weltverstehen habe. Vgl. Kant und Hegel. Versuch der Vereini-
gung ihrer Grundgedanken, in: Selbstverhältnisse, a.a.O., 206ff. Welt ist unmittelbar durch diese
Philosophie nicht zu verstehen; durch ihre Kritik erschließt sich günstigenfalls das Verhältnis der
Menschen zu dem, was sie umgibt.
F S W N? 117
295
Vgl. Anfang, VIII 116. Die Vernunft diene dem Subjekt nicht, Mühe zu reduzieren, sie sei geradezu
von der Natur bestimmt, ihm Mühe zu bereiten, sie selbst stehe als Cherubim vor dem Paradies
(vgl. 114).
296
Auf diese Problematik hat Ernst-Wolfgang Böckenförde mit Beziehung auf internationale Politik
hingewiesen: „[D]ie globalisierte Welt zerläuft sich in je partikularisierten Regelungs- und Netz-
werken, und diejenigen, die hier die Macht haben und ausüben – Macht, insbesondere ökonomische
Macht, verschwindet ja nicht – sind nicht faßbar“ (Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatsleh-
re, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1999, 118). Allerdings sind sie
es schon auf nationaler Ebene nicht, denn die ökonomisch vermittelte Herrschaft kapitalistischer
Gesellschaft ist unpersönlicher Natur.
118 Z S G
sind, zu ändern. Kants „Lustreise“297 in die Anfänge der Subjektivität wird zur Geis-
terbahnfahrt. Das von den Malen seiner allenthalbenen Schuld überzogene Individuum
und das triumphierende Allgemeine werden gleichermaßen zu Schreckgespenstern freier
Individualität.298 Indem der Lädierung der Individuen die übergeordnete Allgemeinheit
einer vernünftigen Anordnung des Naturganzen korrespondiert, ist die Idee vernünftiger
Allgemeinheit – rational organisierter Kooperation der Subjekte – geschichtsmetaphy-
sisch konfundiert mit dem schlecht unendlichen Allgemeinen einer allseitigen Konkur-
renz der Einzelnen. Insofern Kant darüber hinaus diese Konfusion selbst als Ausdruck
vernünftiger Allgemeinheit faßt, von dem her diese erst erschließbar werde, hat sein Ver-
nunftbegriff einen sehr dominanten historischen Kern.299
Zwar steht dieses Historische durchaus im Gegensatz zu Kants Vernunftkonzept, aber
es wirkt implizit – auch durch die explizite Negation historischer Bedingtheit hindurch
– in den transzendentalen Bestimmungen praktischer und theoretischer Vernunft. Die
Wirkung wird sichtbar, wo immer die Frage nach dem Subjekt der Vernunft an deren
transzendentale Konzeption gestellt wird.300 Der Übergang von der geschichtlichen Be-
stimmung vernünftiger Subjektivität zur transzendentalen stellt nun die Rechtslehre dar,
297
Anfang, VIII 109.
298
Diese ‚freie Individualität‘ ist aber kein positiver Begriff, aus dem sich politische Bestimmungen
entwickeln ließen. Individualität ist ein formeller Begriff subjektiver Vereinzelung und gerät daher
mit sich in Widerspruch (vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, Hamburg 1980,
193ff.), und zwar theoretisch wie praktisch. ‚Element der Welt‘ (vgl. Volker Gerhardt, Individuali-
tät, a.a.O.) kann das Individuum nur kraft seiner Subjektivität, also kraft des in ihm individuierten
Allgemeinen sein, das Gerhardt als Selbstbestimmung, a.a.O., erkennt. Den Widerspruch oder das
Paradox, wie Gerhardt passim formuliert, gilt es auszutragen, nicht nach einer der Seiten auf-
zulösen. Formulierungen wie: „die Chance zu einer geschichtlichen Entfaltung der menschlichen
Kräfte [die Kultur der Gattung; M.St.] hängt allein an der Möglichkeit, daß sich die Individuen
vernünftig verhalten“ (Volker Gerhardt, Selbstbestimmung, a.a.O., 141), vernachlässigen die Be-
dingungen, die diese Möglichkeit wiederum in der Geschichte der Gattung haben. – Ein Konzept
der Individualität, von dem aus Selbstbewußtsein polemisch als ‚Flucht aus der Welt‘ erscheint,
hat Hannah Arendt vertreten: Vita activa oder vom tätigen Leben, München 2007. – Dieter Hen-
rich hat darauf hingewiesen, daß der Begriff des Individuums, ohne den des Selbstbewußtseins,
indifferent gegen den Unterschied Organismus oder Person ist: Kant und Hegel, a.a.O., 202 (vgl.
auch Thomas Leinkauf, Substanz, Individuum und Person. Anthropologie und ihre metaphysi-
schen und geisttheoretischen Voraussetzungen im Werk von Leibniz, in: Internationale Zeitschrift
für Philosophie 1 (1999), 37). Arendts Konzeption transportiert daher nicht zufällig organizisti-
sche Politikvorstellungen. Wie daraus eine Kritik politischer Zwecke von Handeln, Herstellen oder
Arbeit hervorgehen soll, ist nicht zu sehen. – Einen auch grundlegenden aber in sich problemati-
sierten Begriff des Individuums skizziert Max Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, in: Hans
Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, a.a.O. Zur sozialen Situation der Individualität
vgl. auch Hans-Ernst Schiller, Das Individuum im Widerspruch. Zur Theoriegeschichte des moder-
nen Individualismus, Berlin 2006 und Christian Thies, Die Krise des Individuums. Zur Kritik der
Moderne bei Adorno und Gehlen, Hamburg 1997.
299
Vgl. auch Klaus-Michael Kodalle, Die aktuelle Barbarei, a.a.O., 138.
300
Ein historisches Moment hat ebenfalls festgestellt: Steffen Dietzsch, Zu einigen Aspekten der
geschichtlich-philosophischen Dimension der transzendentalphilosophischen Denkungsart. Moti-
ve ihres Wandels von Kant zu Hegel, in: Dieter Henrich, Kant oder Hegel? a.a.O. Allerdings sieht
er es vor allem als ‚virtuell‘ (135) in Beziehung auf die Auslegung durch Fichte, Schelling und
Hegel, die es erst explizit machen. – Rüdiger Bubner betont dagegen, daß es ein solches Moment
F S W N? 119
insofern sie das ausgeführte Modell der schon allgemein begriffenen Beziehung von
Subjekten auf Objekte in der geschichtlichen Wirklichkeit ist.301
wohl gebe, dies aber für Kant kein Problem sei. Bubner kommt zu diesem Ergebnis, weil er aus
seinem Begriff von Transzendentalphilosophie die geschichtlichen und anthropologischen Arbeiten
Kants ausschließt, mit dem schon bei Kant selbst problematischen Argument, es seien nicht im
engen Sinn wissenschaftliche Arbeiten. Vgl. Ist eine transzendentale Begründung der Gesellschaft
möglich, in: Dieter Henrich, Kant oder Hegel?, a.a.O., 494. – Henrich hat eingeräumt, daß die
Spontaneität des Subjekts von außen angestoßen werden könne: „Darauf ist dann aber auch die
soziale Genese des Selbstwissens beschränkt.“ (Subjektivität als Prinzip, in: Deutsche Zeitschrift
für Philosophie 46 (1998), 33). Dagegen ist zu zeigen, daß nicht bloß der weitere Gehalt, son-
dern das formale Prinzip der Subjektivität selbst nicht als reine ahistorische Identität gegen alle
Erfahrung abgeschottet existiert.
301
Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Die aktuelle Barbarei, a.a.O., 135: „Freiheit, sofern sie im Recht
geschichtliche Gestalt und Objektivität gewinnt, ist deshalb der Leitfaden der kantischen Kon-
struktion von Geschichte.“
II Rechtssubjekte – Subjekte des Rechts
1
Vgl. MdS RL, VI 355.
2
Der Ausdruck ‚Staat‘ wird hier stets in dem prinzipiellen Sinn der Definition Kants verwendet
und meint das Ganze einer Menge von Menschen im rechtlichen Zustand eines sie vereinigenden
Willens, in bezug auf die Einzelnen (vgl. MdS RL, VI § 43).
3
Daraus ergibt sich der provisorische Charakter des gegenwärtig geltenden Rechts: Erst wenn al-
le Ebenen des Rechts, privat, öffentlich und völkerrechtlich, nach dem Rechtsprinzip geordnet
sind, herrscht peremtorisches Recht: „Bis dahin, so das ernüchternde – um nicht zu sagen: depri-
mierende – Ergebnis aller Deduktionen des Rechts aus dem Begriff, ist nicht allein alles äußere
inernationale oder Völkerrecht, sondern alles innere Recht, sei es Privatrecht, sei es öffentliches
Recht bloß provisorisch“ (Burkhard Tuschling, ‚Bloße‘ Idee und ‚unbezweifelte praktische Rea-
lität‘: Recht, Staat, Gerechtigkeit, Ewiger Friede bei Kant, unveröff. Manuskript, erscheint in:
Bernd Dörflinger/Günter Kruck (Hgg.), Worauf Vernunft hinaussieht. Kants regulative Ideen im
Kontext von Teleologie und praktischer Philosophie, i.V.). Würde schließlich das Völkerrecht der
Rechtsidee unterworfen, so würde seine vertragsrechtliche Gestalt durch die Form einer globalen
Verfassung ersetzt: Weltbürgerrecht. Vgl. EF, VIII 349 und Idee, VIII 17f.
D V F G 121
Verfassung, die in der Notwendigkeit des Privatrechtsverkehrs gründet, ist es auch, die
eine internationale Stabilität erzwingt, damit Rückfälle in vorbürgerliche Verhältnisse
vermieden werden. Zwar steht dem Rückfall in den Naturzustand grundsätzlich die Be-
wahrung des Rechtszustandes als solchen gegenüber, aber in Kants Argumentation sind
Rechtszustand überhaupt und bürgerlicher Rechtszustand nicht bestimmt unterschieden.
Darin liegt eine problematische Voraussetzung der Rechtslehre, denn das bürgerliche
Recht ist zwar die im Rahmen von Kants geschichtlicher Erfahrung am weitesten fortge-
schrittene Erscheinungsform der Rechtsidee, muß aber deshalb nicht in allen Elementen
mit dieser kongruent sein.
Das ‚Allgemeine Prinzip des Rechtszustandes‘, unter das sowohl das private wie das
öffentliche Recht fallen, ist in der Formulierung, nach der eine Handlung recht sei, „die
oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit
nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“4 , an den kategorischen Im-
perativ angelehnt. Kraft dieser Anlehnung scheint sich der geschichtliche Fortschritt
der Menschen, den Kant geschichtsphilosophisch nicht widerspruchsfrei von der Na-
turgeschichte ablösen kann, doch auf moralische Freiheit zurückführen zu lassen. Im
‚Beschluß‘ des Weltbürgerrechts, das seinerseits den terminus ad quem der Rechtslehre
darstellt, weist Kant rigoros jede Relativierung des Moralgesetzes zugunsten der Na-
turgeschichte zurück: „[D]as moralische Gesetz aber in uns selbst für betrüglich anzu-
nehmen, würde den Abscheu erregenden Wunsch hervorbringen, lieber aller Vernunft
zu entbehren und sich seinen Grundsätzen nach mit den übrigen Thierclassen in einen
gleichen Mechanism der Natur geworfen anzusehen.“5 So kommentiert Kant seine zuvor
geäußerte Befürchtung, daß die Realisierung des ewigen Friedens, aufgrund empirischer
Hindernisse, womöglich „immer ein frommer Wunsch bliebe“6 . Deutlicher noch formu-
liert Kant im Völkerrecht, dessen gesamter Inhalt auf den Krieg bezogen ist: Entweder
ist es Recht zum Krieg oder Recht im Krieg oder Nachkriegsrecht: „[S]o ist der ewige
Friede (das letzte Ziel des ganzen Völkerrechts) freilich eine unausführbare Idee“7 .
Diese Unausführbarkeit, die sich in der bloß negativen Darstellbarkeit der Idee spie-
gelt, folgt daraus, daß ein Staatenbund notwendige Bedingung des Friedens ist, aber
der Friede in einer bloßen, jederzeit auflöslichen, Föderation nur provisorisch wäre. Zu-
dem hätte die Föderation, wie Kant sie konzipiert, keine Durchsetzungsgewalt, um die
Realisierung der vor einem internationalen Gerichtshof erzielten Lösungen zwischen-
staatlicher Interessenkonflikte zu garantieren. Da das Recht seinem Begriff nach mit der
Befugnis zu zwingen verbunden ist,8 wäre der rein föderale Zustand selbst nicht ein-
mal ein Rechtszustand, sondern Naturzustand. Für den Rechtszustand wäre ein Bündnis
nötig, das einen „Staatenverein“, einen „Völkerstaat[]“9 darstellte. Wäre dieser aber poli-
4
MdS RL, VI § C.
5
MdS RL, VI 355.
6
MdS RL, VI 354f.
7
MdS RL, VI § 61. Für eine detaillierte Darstellung vgl. Ludwig Siep/Attila Karakuş, Krieg und
Völkerrecht bei Kant und Hegel, in: Bernd Prien/Oliver R. Scholz/Christian Suhm (Hgg.), Das
Spektrum der kritischen Philosophie Kants, a.a.O.
8
Vgl. MdS RL, VI § D.
9
MdS RL, VI § 61.
122 R – S R
tisch seines Zweckes, der Sicherung des staatlich garantierten Mein und Dein, mächtig,
so wäre er aufgrund seiner bedrohlichen Größe für seine Nachbarn schon ein Grund
für einen Präventivkrieg.10 Gäbe es, um dies zu vermeiden, mehrere unabhängige Völ-
kerstaaten, so blieben diese untereinander im Verhältnis des Naturzustandes. Auch der
universale Staat löste das Problem nicht, denn große Staatsgebilde drohten grundsätz-
lich innerlich zu Despotien zu mißraten.11 Kant entscheidet sich, wider besseres Wissen,
pragmatisch für die Föderation,12 mit Berufung auf politische Erfahrungen, die er früher
selbst als unwürdig, pöbelhaft und politisch schädlich kritisiert hatte.13
Gegen Kants politischen Pragmatismus ist, mit Kant, einzuwenden, daß es nicht die
Aufgabe der Philosophie – auch und besonders nicht der politischen – sein kann, die
Entwicklung vernünftiger Maßstäbe am Gemessenen zu orientieren. Ein Maßstab, der
mit dem zu Messenden sich verändert, mißt nichts. Pragmatistische und rein konstrukti-
vistische Theorien haben dann noch nicht einmal einen deskriptiven Gehalt. Vernünftige
politische Maßstäbe müssen, so unpraktikabel sie scheinen mögen, kompromißlos vor
der praktischen Vernunft standhalten können, wenn diese nicht tendentiell zum Legiti-
mierungsinstrument von Tagespolitik werden will.14 – Diese strikte Auffassung prakti-
scher Vernunft wird heute öfters als ‚Terrorismus der Vernunft‘ diffamiert. Die Wahrheit
dieses Ausdrucks liegt darin, daß die Autonomie der Vernunft unter allgemeinen Be-
dingungen der Heteronomie etwas Beängstigendes ausstrahlt: Sie erinnert an das, was
jedem als Vermögen und Pflicht zuinnerst gegeben ist. Das Bewußtsein der Pflicht,
dem Unvernünftigen entgegenzutreten, erscheint als ‚Terrorismus der Vernunft‘, wenn
die objektive Bedrohung vernünftiger Subjektivität durch institutionalisierte Unvernunft
als condition humaine akzeptiert wird, weil die Vernunft dann gegen Windmühlen zu
kämpfen scheint, anstatt sich im ‚natürlich‘ Gegebenen mehr oder weniger behaglich ein-
zurichten. Tatsächlich wird Vernunft von den Betreibern der Windmühlenindustrie selbst
als Windmühle aufgebaut. – Die objektiv in den nationalen und internationalen Ent-
wicklungen begründete Angst, die in vielerlei Gestalten das Leben der Menschen heute
bestimmt, hat ebenso ihren subjektiven Grund im verschütteten Vernunftvermögen. Au-
tonomie, Selbstbestimmung aus Vernunft, müßte im Selbstbewußtsein beginnen, in dem
die Subjekte widerspruchsfrei mit sich selbst übereinstimmen könnten; das aber könnten
10
Vgl. MdS RL, VI § 56.
11
Vgl. Gemeinspruch, VIII 311ff.: Den Gedanken einer balance of power weist Kant ebenso strikt
zurück.
12
Im Gemeinspruch, VIII 312., hebt Kant gegen den Nationalismus zwar „ein auf öffentliche mit
Macht begleitete Gesetze […] gegründetes Völkerrecht“ als einziges mögliches Mittel hervor,
schränkt aber auch hier, eine Seite zuvor, auf das pragmatisch Machbare ein. Dieses Moment
überwiegt in der MdS ganz. Auf dieses Defizit weist auch Wolfgang Kersting hin: Kant und die
politische Philosophie der Gegenwart, in: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und
Staatsphilosophie, a.a.O., 74.
13
Vgl. KrV, B 373.
14
Vgl. Christine M. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, New York 1996, 358: „In ethics,
we cannot always trim our concepts sothat they will fir neatly onto the world. Sometimes what
we must do instead is try to reshape the world so that it will be more adequate to our concepts.“
Allerdings ist zu zeigen, daß diese praktische Vermittlung der Diskrepanz von Moral und Hand-
lungsbedingungen konzeptionell bei Kant nicht widerspruchsfrei vorgesehen ist.
D V F G 123
sie nur, wenn die Welt, die sie als empirische Subjekte gestalten, derjenigen, die sie als
intelligible Subjekte denkend vertreten können, nicht grundsätzlich widerspricht. Der
Maßstab dieser Widerspruchsfreiheit kann nur Vernunft sein, deren Einheit unbedingt
gilt. Deshalb endet Autonomie vor dem Taktieren in der Heteronomie, bei dem die Sub-
jekte, wenigstens vor sich selbst, Verlierer bleiben müssen. Die völkerrechtliche Frage
an die Vernunft wäre nun, ob die bloße Föderalität ökonomisch und politisch souverä-
ner Nationen mit der allgemeinen moralischen Idee des Rechts kompatibel sein kann.
Diese Frage ist zu verneinen, schon weil das Nationalitätsprinzip der moralischen Uni-
versalität der Menschheit widerstreitet, indem es die moralische Handlungsfreiheit der
Rechtssubjekte durch partikulare und zufällige Bestimmungen prinzipiell einschränkt.15
Indem bei Kant nun gerade die Realisierung der politischen Bedingungen der Mög-
lichkeit des Friedens zu dessen unmittelbarer Negation zu mißraten droht, scheint der
ewige Friede tatsächlich ‚unausführbar‘. Pflicht hingegen – und daher ausführbar – sei
die politische Annäherung an den Frieden.16 Wenn die Begründung von dessen Unaus-
führbarkeit indes stichhaltig ist, so wäre auch jeder Versuch der Annäherung in sich
unsinnig: Eine Annäherung, die nicht ans Ziel kommen kann, ist als zielgerichtete Be-
wegung in sich widersprüchlich und kann daher nicht zur moralischen Bestimmung von
Maximen dienen. So soll der Zweck Kant zufolge Pflicht sein, aber alle Mittel, die ihm
dienen, widersprechen ihm. Der ewige Friede könnte so nur als transzendentale Willens-
bestimmung bestehen. Es ließen sich aus ihm keine ihm adäquaten empirisch-politischen
Maßnahmen ableiten, weil in der empirischen politischen Welt die Universalität des tran-
szendentalen Vernunftzwecks nicht zu unterstellen ist; ihre Abwesenheit ist es gerade,
aus der die moralisch unauflösliche politische Aufgabe folgt. Die tatsächlichen Inter-
essenkonflikte schlössen nur dann die Realisierung des universellen Zwecks nicht aus,
wenn die Partikularinteressen als solche aufgehoben würden.
Daß Bevölkerungen verschiedener Staaten aufgrund ihrer geographischen Lage und
anderer Umstände unterschiedliche Bedürfnisse haben, ist nicht zu bestreiten; daß sie
deren Befriedigung notwendig gegeneinander realisieren, ist eine Unterstellung, durch
deren Voraussetzung jede politische Philosophie als Philosophie sich durchstreicht, weil
Nationalismen aufgrund ihrer Irrationalität durch keine begründete Regel kontrollierbar
sind; Philosophie, die das pragmatisch versucht, wird selbst zum Moment des irrationa-
len Geflechts, das sie zu entwirren vorgibt. Das philosophische Zugeständnis nationaler
15
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, lehnt es ab „die Moral dem
Recht im Sinne einer Normenhierarchie überzuordnen“, beide stünden vielmehr in einem „Er-
gänzungsverhältnis“. Die Entscheidung über die Koordination dieser Ergänzung sei nun schon
„soziologisch“ erfolgt, Moral sei zu einer unverbindlichen „Form kulturellen Wissens“ ausdiffe-
renziert worden (137). Wirksam werden könne sie deshalb ohnehin nur durch Positivierung im
Rechtsgesetz (145f.). Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1985, merkt
an, daß solche Positivierung von Moral „ein Bündel dogmatischer Fragen“ (309) mit sich führt,
die nicht dogmatisch, sondern durch Rechtsabwägungen zu lösen sind. Da moralische Sätze nicht
abwägbar sind, führt die nach Habermas einzige Möglichkeit, der Moral Wirkung zu verschaffen,
zur Vernichtung von Moral. Dann soll eine Rechtsethik das Schlimmste verhindern. Entsprechend
hatte Habermas an früherer Stelle (Faktizität und Geltung, a.a.O., 66), moralische Ansprüche an
Recht und Geschichte grundsätzlich als Geschichtsmetaphysik abgetan.
16
Vgl. MdS RL, VI § 61.
124 R – S R
17
Gemeinspruch, VIII 312.
18
So sieht es bereits ausdrücklich Hugo Grotius, De jure belli ac pacis. Drei Bücher vom Recht des
Krieges und des Friedens, Tübingen 1950, 47: „Mit „Recht“ wird hier nur das Gerechte bezeichnet,
und zwar mehr im verneinenden als im bejahenden Sinne; so daß Recht ist, was nicht Unrecht ist.
Unrecht ist aber das, was dem Begriff einer Gemeinschaft vernünftiger Wesen widerspricht.“
19
Vgl. Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, Stuttgart 1983, 287.
D V F G 125
stand zwar „keinem von dem Anderen unrecht geschieht“, daß aber dieser Zustand „an
sich selbst im höchsten Grade unrecht ist“20 . Der Ausdruck ‚unrecht an sich‘ muß als
Negation eines ‚Rechts an sich‘ verstanden werden, dessen minimale Interpretation die
Idee des Rechts wäre. Kant versteht mehr darunter: Die Idee des Rechts wird geradezu
zur ontologischen Legitimation der rechtsetzenden Gewalt im Naturzustand. In der Tra-
dition des Naturrechts spricht Kant von einem ‚Recht zum Kriege‘ im Naturzustand21 ,
also dort, wo es, wie Kant an anderen Stellen durchaus anmerkt, gar kein Recht gibt.22
Die Annahme solcher allem Recht vorausliegenden Rechtsansprüche in einem fikti-
ven, das Recht negierenden, Zustand dient, wie schon bei Hobbes23 , so auch bei Kant
der Antizipation des bürgerlichen Rechts. Zuvor sind diese Ansprüche zwar nicht wie
in der Thomasischen lex naturalis durch göttlichen Willen in der Natur ontologisch
manifestiert, aber sie entspringen doch einem angenommenen natürlichen Verhältnis
von Willenssubjekten, deren Natur diese Ansprüche quasi ontologisch legitimiert: Das
Recht zum Krieg sei die im Naturzustand erlaubte Methode, eine gewaltsame Beschä-
digung gewaltsam abzuwehren (nach dem Grundsatz vis contra vim) bzw. ihren Aus-
gleich zu erzwingen, wobei schon fraglich ist, wie die Vernichtung von Menschenleben
dann auszugleichen sei.24 Tatsächlich ist die Idee des Rechts ein spekulativer Begriff,
der keineswegs aus einem ‚natürlichen‘ Verhältnis von Subjekten ungezügelter Willkür
hervorgehen kann, sondern gerade gegen dieses Verhältnis polemisch ist. Darin ist –
eingedenk aller Probleme des Vernunftprimats – die Thomasische Naturrechtslehre der
neuzeitlichen überlegen: daß sie das Naturrecht als streng allgemeines explizit auf das
vernünftige Willenssubjekt Gott zurückführt und es nicht aus einem für natürlich erach-
teten partikularen Verhältnis empirischer Willkürsubjekte begründet, aus dem überhaupt
kein allgemeiner Anspruch folgen könnte. Dementsprechend führt das Recht zum Krieg
dem Begriff nach auch in Kants eigener Auffassung auf Absurdes, nämlich zunächst
die Vorstellung, eine Kriegserklärung könne nur dann gültig sein, wenn sie auch ange-
nommen würde, d. h. die Kontrahenten müßten sich vertraglich auf das vorvertragliche
20
MdS RL, VI § 54. Schon hat der jeweilige Regent eines bürgerlichen Staates kein Recht, seine
Bürger zum Krieg einzuziehen, weil dies dem Staatsbürgertum widerspräche, demgemäß über sie
nichts beschlossen werden kann, wenn sie an dem Beschluß nicht politisch beteiligt sind. Nun ist
es gerade dieses Moment des bürgerlichen Staates – die in der praktischen Vernunft jedes Bürgers
präsente Volkssouveränität –, die Kant als sicheres Mittel gegen den Krieg vorschwebt. Offenbar
aber hat die innere bürgerliche Konstitution auf das äußerliche Verhältnis der Konstituierten keinen
sicheren Einfluß, denn obgleich die Bürger keinen Krieg wollen können, soll er, unter bestimmten
Umständen, doch geführt werden. Geradezu – wie immer auch verhaltene – pathetische Begeis-
terung für den Kriegsbefehl entfaltet Kant in KpV, V 158: „Entscheidender ist die großmüthige
Aufopferung seines Lebens zur Erhaltung des Vaterlandes, und doch, ob es auch so vollkommen
Pflicht sei, sich von selbst und unbefohlen dieser Absicht zu weihen, darüber bleibt einiger Scrupel
übrig, und die Handlung hat nicht die ganze Kraft eines Musters und Antriebes zur Nachahmung in
sich.“ Durch Befolgung des Befehls gegen den eigenen Willen erhält der Krieg moralische Form.
21
Vgl. MdS RL, VI § 56.
22
Das sieht auch Hobbes. Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., Kap. XIII: „Die Begriffe von
Recht und Unrecht haben hier keinen Platz.“
23
Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., Kap. XIII ff.
24
Kants Ausschluß von ‚Strafkriegen‘ weist darauf hin, daß das Öffentliche Recht, hier der Staaten,
nach dem Modell des Privatrechts konstruiert ist. Vgl. MdS RL, VI § 57.
126 R – S R
Mittel der Gewalt einigen, zudem in einem Zustand, in dem es keine Vertragsgaran-
tie gibt. Dies allgemeine Kriegsrecht weist Kant zurück, um aber nun ein detailreiches
pragmatisches Kriegsrecht zu entfalten, das die empirischen Bedingungen festlegt, nach
denen ein Krieg als gerechtfertigt, als angemessen ausgeführt und als im Resultat ange-
messen verwaltet gelten könne.25
Hinter diesem Pragmatismus steht der Widerspruch der rigorosen Ablehnung des
Krieges zu einem bedingten Dafürhalten. Menschen, als intelligible Moralsubjekte, kön-
nen nicht kriegführen wollen, als empirische Rechtssubjekte müssen sie es aber wollen
können, weil ihre Rechtssubjektivität im Naturzustand der Staaten permanent bedroht ist.
So ergebe sich aus dem Naturzustand, gerade aus dem der schon bürgerlichen Staaten
untereinander, ein ursprüngliches Kriegsrecht, das der Erhaltung des in verschiedenen
Staaten empirisch organisierten bürgerlichen Rechts gilt. Da allein diese Staaten das
Recht garantieren können, ist ihre Erhaltung eine notwendige Bedingung der Erhaltung
des Rechts. Jeder Staat darf dann, legitimiert durch die Notwendigkeit des bürgerli-
chen Rechts, gegen jeden anderen Staat Gewalt anwenden, wenn einer der politisch
Verantwortlichen eine Bedrohungssituation diagnostiziert. Diese Gewalt im Naturzu-
stand fungiert bei Kant als Antizipation des internationalen Rechtszustands, in dem
das Völkerrecht mit der Befugnis zu zwingen verbunden sein würde. Ohne die Anti-
zipation dieser Zwangsbefugnis26 gäbe es keinen gerechten Kriegsgrund, und der be-
grifflichen Notwendigkeit der bürgerlichen Gesellschaft korrespondierte völkerrechtlich
nichts. Allerdings bleibt nach Kant die antizipierte Zwangsbefugnis, abgesehen von ih-
rer legitimierenden Funktion, problematisch: Dem Staatenbund soll nicht notwendig
eine Zentralgewalt zukommen, die einen Gerichtszwang oder gar die Entscheidungen
eines internationalen Gerichtshofes durchzusetzen befugt und kräftig wäre, denn eine
solche Zentralgewalt vertrüge sich nicht mit der erwünschten Beibehaltung souverän
konkurrierender Staaten. – Die Machtlosigkeit des Internationalen Gerichtshofes in der
Verfolgung beispielsweise US-Amerikanischer Völkerrechtsverstöße belegt dies ebenso
wie die Nichtdurchsetztbarkeit von UNO-Resolutionen gegen die politischen Interessen
der Großmächte;27 so fragwürdig jene Tribunale oder diese Resolutionsentwürfe im Ein-
zelnen auch sein mögen, die willkürliche Durchsetzung nationaler Interessen gemäß dem
25
Vgl. MdS RL, VI §§ 56-58.
26
Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 349f., zitiert aus den Vorarbeiten zum ewi-
gen Frieden, daß der Anfang des rechtlichen Zustandes, die Vereinigung der Willen, möglich sei
nur „durch Gewalt auf deren Zwang nachher das öffentliche Recht gegründet wird“ (XXIII, 185).
Kersting schließt hieraus: „Dieser Gewalt sich zu unterwerfen, um die Gründung des öffentlichen
Rechts nicht zu hindern, ist Pflicht. […] Daher wird die staatliche Gerechtigkeit immer zwangs-
bewehrt auftreten und am geschichtlichen Anfang der gesellschaftlichen Vereinigung immer die
gewaltsame Unterwerfung stehen.“ Bei Kant selbst hingegen steht die zitierte Stelle, die sich üb-
rigens in der Druckfassung ebenso gut hätte finden lassen (EF, VIII 371), im Zusammenhang
der Kritik am „politischen Moralisten […], der sich eine Moral so schmiedet, wie es der Vorteil
des Staatsmanns sich zuträglich findet“ (EF, VIII 372); Kant läßt keinen Zweifel daran, daß die
historische Gewalt keinerlei Schlüsse auf notwendige und allgemeine Urteile, wie Kersting sie
formuliert (‚es wird immer‘), zuläßt. Solche Schlüsse seien „niedrig“ (EF, VIII 371).
27
Vgl. hierzu Matthias Lutz-Bachmann/James Bohman (Hgg.), Frieden durch Recht, a.a.O., bes. die
folgenden Beiträge: Heinhard Steiger, Frieden durch Institution. Frieden und Völkerbund bei Kant
und danach; Richard Falk, Die Weltordnung innerhalb der Grenzen von zwischenstaatlichem Recht
D V F G 127
‚Recht‘ des – militärisch – Stärkeren bestätigt immerhin Kants Rede vom internationalen
Naturzustand.28
Die ohnehin widersinnige Antizipation einer Zwangsbefugnis, die womöglich
nie wirklich werden soll, setzt überhaupt die Antizipation des Rechtszustandes im
Naturzustand voraus, um zu bestimmen, welche Staaten welche anderen Staaten
rechtmäßig zwingen dürfen. Grundsätzlich soll kein Sieger den Unterlegenen für
ungerecht ausgeben, um etwa Reparationsforderungen zu begründen, da dann der Krieg
kein Privatrechtszwang mehr wäre, sondern Strafzwang, und dies könnte schon als
erneute Beleidigung, als Grund eines Folgekrieges, erscheinen. Gäbe es aber keinen
ungerechten Feind, so wäre das Kriegsrecht reine Willkür. Strenggenommen wäre im
Naturzustand jeder Feind ungerecht,29 damit aber jeder Krieg gleich gut.
Kant unterscheidet nun, daß zwar keiner den anderen als ungerecht bezeichnen dürfe,
daß aber einer von beiden durchaus ein „ungerechter Feind“30 sein könne, dann näm-
lich, wenn er nach einer Maxime verfahre, die als allgemeine Regel die Verewigung
des Naturzustands bewirken müßte. Werden hierin schon sowohl die Universalität und
moralische Legitimation des Rechtszustandes, den es noch nicht gibt, zum Kriterium
gemacht, um den ‚ungerechten Feind‘ als rechtswidrig der Bekämpfung auszusetzen,
so spricht Kants Beispiel noch deutlicher: „Dergleichen [rechtswidrige Maxime] ist die
Verletzung öffentlicher Verträge, von welcher man voraussetzen kann, daß sie die Sache
aller Völker betrifft, deren Freiheit dadurch bedroht wird, und die dadurch aufgefor-
dert werden, sich gegen einen solchen Unfug zu vereinigen und ihm die Macht dazu
zu nehmen“31 . Indem Kant annimmt, staatliches Handeln im Naturzustand könne unter
Umständen als Verletzung völkerrechtlich relevanter Verträge interpretiert werden, ver-
längert er das Völkerrecht in die vor-völkerrechtliche Zeit hinein. An sich gilt es schon
in staatlichen Handlungen vor deren realer Rechtsbindung.
Kant drückt sein Unbehagen gegenüber der Interpretation des Krieges als Übergang
von einem Recht an sich zum Recht an-und-für-sich in einem Kommentar zur gewalt-
samen Kolonialisierung aus, die trotz allen möglichen guten Absichten ungerecht sei:
Auch wenn ohne Gewalt kein Recht in die Welt zu bringen wäre, widerspräche Gewalt
dem Recht. Dies gelte ebenso für Revolutionen, die mit einem begrenzten Gewaltakt ei-
und dem Recht der Menschheit. Die Rolle der zivilgesellschaftlichen Institutionen; Michael Bothe,
Friedensbegriff im Verfassungs- und Völkerrecht.
28
Zu Recht weist Jürgen Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens, a.a.O., 18, darauf hin, daß
mittlerweile einerseits ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ und andererseits der Krieg selbst
als Verbrechen verfolgt werden können: „Mit diesen beiden Neuerungen haben die staatlichen
Subjekte des Völkerrechts zum ersten Mal die generelle Unschuldsvermutung eines supponierten
Naturzustandes verloren.“ – Die Praxis zeigt jedoch, daß von diesen Möglichkeiten unterschiedlich
Gebrauch gemacht wird, so daß manche Staaten mehr und andere weniger Gefahr laufen, verfolgt
zu werden. Auch solche staatliche Subjekte, deren Kriegsgründe sich später als hemmungslos zu-
sammengelogene erweisen, bleiben unangetastet, wenn sie mächtig genug sind, während Vertreter
zu Unrecht überfallener Staaten noch mit ihrer internationalen Aburteilung als Kriegsverbrecher
rechnen müssen.
29
Vgl. MdS RL, VI § 60.
30
MdS RL, VI § 60.
31
MdS RL, VI § 60.
128 R – S R
nen Unrechtszustand beseitigen wollten, „um nachher die Gerechtigkeit desto sicherer zu
gründen“32 . Wenn dem Recht die partikulare Gewalt nicht wohl ansteht, bleibt es aber
problematisch, welche Bedeutung der Wendung, der Sieger müsse den überwundenen
ungerechten Feind „eine neue Verfassung annehmen […] lassen, die […] der Neigung
zum Kriege ungünstig ist“33 , dann zukommen soll. Postuliert werden muß dieses Recht,
die Annahme der bürgerlichen Verfassung zu erzwingen, um des systematischen Zusam-
menhangs von Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht willen.34 Soll aus dem Begriff des
Staatsrechts der des Völkerrechts folgen und aus diesen beiden der des Weltbürgerrechts,
so wird die bürgerliche Staatsverfassung zum Prinzip des Öffentlichen Rechts überhaupt.
Ließe dieses Prinzip sich im internationalen Öffentlichen Recht nicht realisieren, dann
bliebe dieses ein ens rationis. Damit bliebe aber auch das nationale Recht prekär.35 Die
Forderung nach durchgängiger Wirkung der Rechtsidee führt so aporetisch entweder auf
die revolutionäre – mit der Rechtsidee unvereinbare – Überwindung ihrer Hindernisse,
oder auf ihre Bewirkung mit Mitteln, die der unbedingten Geltung der Idee schon abge-
schworen haben.
Der objektive geschichtliche Zug, den Kant dem Verhältnis von Rechtsidee und Völ-
kerrecht zuschreibt, hat sein movens im Subjekt: in dem antagonistischen Subjekt, das
als Staatsrechtssubjekt in der politischen Geschichte fungiert.
32
MdS RL, VI § 62.
33
MdS RL, VI § 60.
34
Kants negative Formulierung sehen Oliver Eberl und Peter Niesen (Immanuel Kant. Zum ewigen
Frieden. Kommentar, a.a.O., 170) nicht auf die bürgerliche Verfassung festgelegt. Aber für Kant
sind alle nicht-bürgerlichen Staaten eine potentielle Bedrohung der bürgerlichen. Vgl. EF, VIII 349.
35
Vgl. MdS RL, VI § 43.
36
MdS RL, VI § 52.
37
Vgl. MdS RL, VI § 51.
38
Vgl. z. B. Platon, Politikos, in: Werke, Bd. 6, Darmstadt 1970, 300 d ff. und Aristoteles, Politik,
Hamburg 1994, pass., bes. III u. IV.
D S: A P 129
tokratie und Demokratie.39 Die Bevorzugung der republikanischen Form steht formal
zwar in einer nominalistischen Tradition,40 wird jedoch vollständig säkular verstanden,
indem als Grund – neben der Gefahr des Verfalls, insbesondere von Monarchie,
in Despotie, worin sich die staatstheoretische Tradition seit Solon fast durchgängig
einig ist – die rechtsformelle Koordination an sich divergierender und kollidierender
Interessen angeführt wird. Ockham war es in seiner prä-konziliaristischen Auffassung
um die Kritik des autokratischen Anspruchs der Papstkirche auf die Verwaltung des
Seelenheils gegangen: Was jeden Christen im innersten seines Wesens betreffe, das
müsse auch in die Kompetenz aller gestellt sein.
Eine derartige substantiell-allgemein verankerte Begründung der Republik nimmt
Kant hier zunächst nicht an. Seiner Position liegt durchaus die Forderung nach
subjektiver Freiheit, Autonomie, zugrunde, die ihren staatsrechtlichen Ausdruck in
der Volkssouveränität41 finde, verbunden mit der pragmatischen Vorstellung, daß die
rechtliche Koordination von Privatinteressen durch deren wechselseitige Beschränkung
sinnvoll von allen für alle zu verantworten sei, weil sonst autokratische Privatinteressen
überwiegen und als Privilegien manifestiert werden könnten. Unterstellt ist überhaupt
die Existenz von Interessenkonflikten, die allein durch wechselseitige Beschränkung
der Freiheit der Willkür koordiniert, aber keinesfalls durch vernünftige Gestaltung der
Bedingungen der Freiheitsentfaltung aufgehoben werden könnten. Die Koordination
der Antagonismen sei aber derart zwingend, daß sie sogar einem Volk von verstandes-
begabten Teufeln möglich sein müsse. Die Aufgabe laute lediglich: „Eine Menge von
vernünftigen Wesen, die insgesammt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen,
deren jedes aber ingeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre
Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen
streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg
eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten.“42 Weil sie der
allgemeinen Gesetze, die sie als Vernunftwesen verlangen, als Sinnenwesen nicht fähig
sind, begründet der Verstand ein negatives Surrogat, das die Sinnenwesen verhindert,
sich – wie es ihrer Natur entspräche – gegenseitig zugrunde zu richten. „Denn es ist
nicht die moralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanism der Natur,
von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne“43 .
Dieser Entmündigung um der Mündigkeit willen entspricht im Staatsrecht die all-
mähliche Differenzierung von Verfassung und Regierungsart.44 Um den Übergang der
39
Die Lehre von den formalen Vorzügen der Monarchie geht mindestens auf Thomas von Aquin
zurück. Vgl. Über die Herrschaft der Fürsten, Stuttgart 1994, I 1-3. Ohne Motivgeschichte im
Detail betreiben zu wollen, kann die Thomasische Argumentation als Verknüpfung Aristotelischer
und Pseudo-Dionysischer Momente charakterisiert werden.
40
Vgl. z. B. Wilhelm von Ockham, Epistola von 1334, in: Dialogus. Auszüge zur politischen Theorie,
hg. v. Jürgen Miethke. Darmstadt 1992, 3ff.
41
Vgl. MdS RL, VI § 46.
42
EF, VIII 366.
43
EF, VIII 366.
44
Historisch geht diese Unterscheidung auf Bodin zurück, der sie sich jedenfalls selbst zuschreibt:
„Hierauf ist noch keiner gekommen.“ (Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, München 1981,
337). Systematisch ergibt sie sich aus der vernunftrechtlichen Begründung des Rechtsstaatsbe-
130 R – S R
griffs, der das erste allgemeine Staatsprinzip, eine Staatsgattung, darstellt und die „überkommenen
Staatsformen zu Regierungsformen relativiert“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Frei-
heit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main
1991, 148).
45
Vgl. MdS RL, VI § 52.
46
MdS RL, VI 372.
47
MdS RL, VI 372. Auch hier steht Kant in der Tradition Bodins.
48
Vgl. MdS RL, VI 224.
49
MdS RL, VI 372. Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, München o.J., erwägt, daß Kant
mit diesem Gedeanken des Schutzes ‚gesetzlichen Unrechts‘ durch das Recht womöglich „zeitbe-
dingten obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen unterlegen ist“ (194). Es ist aber zu zeigen, daß sich
dies aus der antagonistischen Rechtskonstruktion Kants selbst ergibt.
D S: A P 131
die gegen das Rechtsprinzip selbst verstoßen, wie die Bemächtigung der Freiheit der
Willkür der Bevölkerung durch einseitigen Willkürakt. Die grundsätzliche Aporie bür-
gerlicher Rechtslehre, geschichtliche Gewalt als Bedingung von Recht fassen zu müssen,
sie aber nicht als dessen Bestandteil fassen zu können, bringt Kant hier in unmittelbare
Nähe zum Verfassungsbegriff Hegels: „Der schlechteste Staat, dessen Realität dem Be-
griffe am wenigsten entspricht, insofern er noch existiert, ist er noch Idee; die Individuen
gehorchen noch einem machthabenden Begriffe.“50 Es wird, gegen die Erscheinung der
empirischen Verfassungen, das Dasein einer Verfassungsidee oder Verfassung an sich
vorgestellt, die aus den empirischen Verfassungen durch Reformen herausevolviert wer-
den könne; dies wäre unmöglich, wenn bestehende Verfassungen, die den Begriff nicht
erfüllen, auch schlicht falsch sein könnten.51 Dann wären sie nicht zu reformieren, son-
dern zu ersetzen.
Der Fortschritt in der politischen Freiheit durch Differenzierung von Staatsform und
Regierungsart innerhalb der bestehenden Staatsform ist ein von Kant häufig bemühter to-
pos. Er dient demselben Zweck wie die Unterscheidung von privatem und öffentlichem
Vernunftgebrauch,52 wonach der Vernunftgebrauch des Gelehrten vor der Weltöffent-
lichkeit in seiner Entfaltung nur der Vernunft selbst unterworfen sei. Jener Gebrauch
aber, den ein gleichwohl Gelehrter, womöglich auch vor einem Publikum, aber in Aus-
übung eines Amtes von seiner Vernunft macht, dürfe „sehr enge eingeschränkt sein“53 .
Daß nun ausgerechnet der im öffentlichen Auftrage und in öffentlicher Erfüllung ei-
nes öffentlichen Amtes erfolgende Vernunftgebrauch der ‚private‘ genannt wird, geht
darauf zurück, daß diese Beamteten zur Ausführung administrativer, juristischer, religiö-
ser oder medizinischer Handlungen eingesetzt sind; die Aktualisierung ihres autonomen
Denkvermögens gehört nicht zu ihrer dienstrechtlichen Bestimmung. Kant verteidigt die
Reservierung des Staatsdienstes gegen die sonst von ihm protegierte Öffentlichkeit54 ,
50
G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Zweiter Band, a.a.O., 175f. Zu dem Problem von Ge-
schichte und Systematik im Verhältnis von Recht und Gewalt vgl. Michael Städtler, Ein komisches
Schauspiel. Zur Bedeutung politischen Widerstands für Hegels Rechtsbegriff , in: Hegel-Jahrbuch
2009.
51
Josef Simon, Kant, a.a.O., 389f., stellt fest, daß Kants Begriff des Rechts die Vorstellungen seiner
Reformbedürftigkeit und seiner Reformierbarkeit enthalte und daher gegen Revolten immunisiert
sei. Auch Horst Dreier macht den Reformbegriff Kants sehr stark. Vgl. Kants Republik, in Volker
Gerhardt (Hg.), Kant im Streit der Fakultäten, a.a.O.
52
Vgl. Aufklärung, VIII 37f.
53
Aufklärung, VIII 37. Diese problematische Differenz ist oft verteidigt worden. So sieht Josef Si-
mon, Kant, a.a.O., 391, in ihr einen Schutz vor Amtsmißbrauch. Wolfgang Bartuschat, Philosophie
und Aufklärung, in: Heiner F. Klemme (Hg.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung,
a.a.O., schlägt vor, der Soldat, der im Dienst unbedingt gehorchen müsse, könne außer Dienst
schriftstellerisch gegen militärische Mängel protestieren. Auch ohne auf Gefahr im Verzug oder
auf die schriftstellerischen Möglichkeiten von Soldaten und Verwaltungsbeamten weiter einzuge-
hen, sind diese Verteidigungen nicht ganz befriedigend. Vgl. dazu Kant selbst, Anthropologie, VII
200: „Subalterne müssen nicht vernünfteln (räsonniren), weil ihnen das Princip, wornach gehandelt
werden soll, oft verhehlt werden muß, wenigstens unbekannt bleiben darf; der Befehlshaber (Ge-
neral) aber muß Vernunft haben, weil ihm nicht für jeden vorkommenden Fall Instruction gegeben
werden kann.“
54
Vgl. Axel Hutter, Zum Begriff der Öffentlichkeit bei Kant, a.a.O.
132 R – S R
damit der funktionale Ablauf des Staates nicht gefährdet werde. Schon darin, daß sol-
che Gefährdung von der Aktualisierung des Denkvermögens der Beamten zu befürchten
wäre, zeigt sich, daß Staatszweck und Vernunftzweck nicht notwendig übereinstimmen,
daß der Staat nicht notwendig vernünftig ist. Korrekturen dieses Mißverhältnisses seien
aber nur in einer Sphäre zu gewährleisten, die in den unmittelbaren Ablauf der partiku-
laren Staatsgeschäfte nicht involviert ist, in der Wissenschaft, die Kant mit Schiller55 als
universell-internationalistisch auffaßt und die gleichwohl ihre Überzeugungskraft in den
nationalen Regenten entfalten könne, ohne dem Staatsbetrieb zu schaden. Von den Wis-
senschaftlern verlangt dies unter Umständen gleichwohl, ihre Äußerungen den Regenten
mundgerecht zu machen, wenn nämlich diese darüber befinden lassen, welche Äußerung
als privat und welche als öffentlich zu gelten habe. Die übrigen Beamten werden dar-
über hinaus direkt verhalten, im Konfliktfall fortgesetzt gegen ihr Wissen und Gewissen
zu handeln oder aber ihr Amt niederzulegen, mithin ihre bürgerliche Existenz aufzu-
geben. Die Bevölkerung schließlich darf kannegießern, aber nicht meinen, damit am
öffentlichen Entscheidungsprozeß teilzunehmen.56 Die Vernunft gerät in den Zwiespalt,
um der öffentlichen Ruhe willen ihre eigenen Ansprüche zurückzusetzen oder sogar
pragmatisch nicht-vernünftigen Zwecken zu dienen. Kompromißlos aufgeklärte Vernunft
müßte bezwecken, den Staatsablauf, wo er der Vernunft nicht entspricht, zu korrigieren;
das Funktionieren des Staates ist aber schon technisch-praktisch die notwendige Bedin-
gung der erweiterten Reproduktion der empirischen Subjekte der Vernunft, so daß der
massenhafte Vernunftgebrauch durch die Bürger, abseits von den internationalistischen
Enklaven der Katheder, gegen seine Absicht, die vernünftigen Subjekte von restriktiven
Lebensbedingungen zu befreien, ihre Lebensbedingungen überhaupt bedrohte.
Den Umsturz bezeichnet Kant als einen Zustand der Anarchie, voll von „Greueln […],
die wenigstens dadurch möglich sind“57 , einen Zustand des Unrechts. Diese Vorstellung
von Anarchie ist aber nicht mit ihrem Begriff, der Einheit von Freiheit und Gesetz oh-
ne Gewalt,58 vereinbar, denn unter diesen Begriff fällt auch die moralische Kollektivität
der Menschen: die Geltung des Gesetzes allein aus Freiheit. Unter jene Vorstellung von
Anarchie fällt aber nur brutales Chaos. Kants Schrecken vor der Anarchie reflektiert
wohl auch die Gewalt der im Feudalstaat schon ökonomisch organisierten bürgerlichen
Subjekte, der sozial vereinzelten Kontrahenten und Konkurrenten, die im Falle eines
Machtvakuums übereinander herfielen, um sich rückhaltlos wechselseitig um den Besitz
zu bringen. Jener Gewalt, die im bürgerlichen Recht kanalisiert ist, – gleichviel ob con-
dition humaine oder fait social – liegt historisch diejenige der Konstitution bürgerlichen
Eigentums zugrunde; dieses entstand durch Aneignung mittels einseitiger Erwerbung,
Okkupation unter Bedingungen, die selbst noch keine bürgerlich-rechtlichen waren; sie
55
Vgl. Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, in:
Universalhistorische Schriften, Frankfurt am Main 1999, 16.
56
Vgl. z. B. SF, VII 34. In anderem Zusammenhang stellt Kant fest „Der Freiheit zu denken ist
[…] der bürgerliche Zwang entgegengesetzt.“ (Sich im Denken orientieren, VIII 144). Ein Verbot,
öffentlich zu diskutieren, wirke schädlich ins Denken zurück. Kant warnt hier allerdings vor der
Freigeisterei, der Verweigerung des Vernunftglaubens, die öffentlich mit Recht bekämpft werde.
Diese anarchische Freiheit zerstöre dann Freiheit überhaupt.
57
Gemeinspruch, VIII 302 Anm.
58
Zur Formenlehre von Despotie, Republik und Anarchie vgl. Anthropologie, VII 330f.
D S: A P 133
konnten es nicht sein, denn das bürgerliche Recht schafft kein Eigentum, sondern sichert
bloß dasjenige, was vor dem Rechtszustand schon erworben wurde.59 – Schließlich ist die
Durchsetzung ökonomischer Vorteile durchaus ein treibendes Motiv der Französischen
Revolution gewesen, deren Verlauf dadurch nicht unberührt geblieben ist. Das Ausein-
anderfallen des Anarchiebegriffs bei Kant indiziert so eine politische Konsequenz des
Dualismus von intelligibler und empirischer Seite im Subjekt: Das intelligible Subjekt
kann sich wohl vernünftige politische Zwecke ohne pathologische Affektation denken,
das empirische kann diese aber nicht ohne Beschränkungen ausführen, ja nicht einmal
wollen, denn die technisch-praktische Handlungsbestimmung, die der Realisierung der
moralischen Willensbestimmung zum Mittel dienen soll, soll diese bloß beschränkt auf-
nehmen, so daß der Wille des Subjekts selbst nicht konsistent zu bestimmen ist. Seine
Konsistenz fiele allein ins intelligible Subjekt, mit dem sich zu identifizieren für das
empirische unter widrigen Bedingungen der Selbstverleugnung gleichkäme.60
Für diese Inkonsistenz steht auch Kants Haltung zum Widerstandsrecht. Daß es vor
der Gründung von Rechtsverhältnissen kein Widerstandsrecht geben kann, ergibt sich
unmittelbar daraus, daß es eben gar kein Recht gibt.61 Innerhalb bestehender Rechts-
ordnungen ist ein Widerstandsrecht dann zunächst logisch unmöglich, denn mit dem
Anspruch auf ein solches behauptete sich das Volk gegen das Recht des Staatsoberhaup-
tes, über das es jedoch keine Jurisdiktionsgewalt gibt. Zudem wäre das Widerstandsrecht
– im Gegensatz zu dem Recht des Staatsoberhauptes – nicht mit Strafgewalt verbun-
den und somit unwirksam. Seine Wahrnehmung könnte nicht öffentlich geschützt wer-
den.62 Daß „die oberste Gesetzgebung […] eine Bestimmung in sich [enthielte], nicht
die oberste zu sein“63 , schließt Kant als widersprüchlich aus.
Gleichwohl kennt er eine Form des Rechts über dem geltenden Recht: Das allgemei-
ne Prinzip des Rechts, die rechtliche Forderung reiner praktischer Vernunft, muß erfüllt
sein, um einen Zustand als Rechtszustand zu qualifizieren. Der Widerspruch, „das Volk
59
Über Kants wiederholt erfolglose Versuche, diesen Übergang systematisch, das heißt gewaltlos, zu
vermitteln, wird im Abschnitt übers Privatrecht zu sprechen sein.
60
Vielleicht bemühen sich auch deswegen zunächst Schiller, später Hegel so vehement um die
Überwindung des Dualismus in Kants Moralbegriff. Hierzu vgl. Dieter Henrich, Der Begriff der
Schönheit in Schillers Ästhetik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 (1957), bes. 528;
neuerlich: Edith Düsing/Klaus Düsing, Gesetz und Liebe. Untersuchungen zur Kantkritik und zum
Ethik-Entwurf in Hegels Frankfurter Jugendschriften, in: Barbara Merker/Georg Mohr/Michael
Quante, Subjektivität und Anerkennung, Paderborn 2004, 1ff. Gerade die Restitution des Tugend-
begriffs bei Hegel – und heute – provoziert die Frage, ob nicht Kants schroffer Pflichtbegriff,
eben weil er die Einheit des praktischen Subjekts in Frage stellt, dessen Situation in der Welt
eher gerecht wird. So schreibt Jussi Kotkavirta, Liebe und Vereinigung, in: Barbara Merker/Georg
Mohr/Michael Quante, Subjektivität und Anerkennung, a.a.O., 21: Die „Erfahrung, daß in der Le-
benswirklichkeit des modernen Menschen eine tiefe Entzweiung oder Differenzierung stattfindet,
sowie das Motiv der Vereinigung waren […] eine Art Grundproblem der ganzen nachkantischen
Generation“. Damit reagieren die Autoren dieser Generation auf ein Problem, das, aus dieser Per-
spektive, sich auch bei Kant ausweisen läßt: die massive Schwierigkeit, angesichts der historischen
Objektivität einen konsistenten Begriff des Subjekts von sich selbst zu gewinnen.
61
Vgl. Gemeinspruch, VIII 302.
62
Vgl. Gemeinspruch, VIII 302 und MdS RL, VI 319.
63
MdS RL, VI 320.
134 R – S R
als Unterthan in ein und demselben Urtheile zum Souverän über den zu machen, dem es
unterthänig ist“64 , ließe sich in der aus dem Rechtsprinzip folgenden Volkssouveränität
auflösen, denn unter deren Voraussetzung appellierte die rhetorische Frage, „wer denn
in diesem Streit zwischen Volk und Souverän Richter sein sollte“65 , eben nicht an die
leere Stelle einer noch übergeordneten Macht: Die Uneinigkeit innerhalb des souveränen
Volkes, gerade wenn es „rechtlich betrachtet doch immer zwei verschiedene moralische
Personen“66 – Volk als Souverän und Volk als Untertan – vorstellt, kann und muß allein
durch praktische Vernunft behoben werden, denn allenfalls in der Reflexion der Ver-
nunft könnte die Einheit der Person durch ihre verschiedenen – auch die rechtlichen –
Funktionen hindurch stabil gründen. Solch eine vernünftige Einheit aber wäre auch in
den Einzelnen nur dann zu hoffen, wenn es zuvor gelänge, die Gesamtheit der Subjekte
des allgemein vereinigten Willens tatsächlich als kollektives Subjekt wenigstens zu an-
tizipieren. Die bloße Erfahrung des Antagonismus verhält die Einzelnen zur Reflexion
der Gegnerschaft als Konstituens ihrer Subjektivität. Um den Anspruch auf vernünftige
subjektive Identität dagegen stellen zu können, bedürfen sie einer Vorstellung – einer
Idee – der kollektiven Identität. Ohne eine solche Vorstellung ist niemandem auch nur
die bewußte Erfahrung realer Uneinigkeit als eines Negativen möglich.
Wird personale Identität durch praktische Vernunft, das Vermögen Zwecke zu setzen,
und zwar mit Blick auf die kollektive Identität der vernunftbegabten Sinnenwesen, be-
stimmt, so muß die Frage nach dem Zweck des Staates gestellt werden. Dieser Zweck,
„das Heil des Staats“, besteht im „Zustand der größten Übereinstimmung der Verfas-
sung mit Rechtsprincipien […], als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch
einen kategorischen Imperativ verbindlich macht“67 . Dem entspricht, so Kant, die Staats-
verfassung als bürgerlich-rechtliches Verhältnis von Willkürsubjekten dann, wenn deren
Privatwillkür unter einem allgemeinen Willen, dessen Ausdruck eben die Verfassung
ist, vereinigt ist. Dieser allgemeine Wille objektiviere sich in Rechtsgesetzen, die keine
bloß statutarischen, positiven, Gesetze seien, sondern „aus Begriffen des äußeren Rechts
überhaupt“ und „nach reinen Rechtsprincipien“68 folgten und daher a priori notwendig
seien. Diesem Rechtsbegriff folge der systematische Staatsbegriff der Rechtslehre als Be-
griff des Idealstaates, der allen empirischen Staaten als Maßstab vorhergehe. Einwände
gegen den idealen Staatsbegriff hatte Kant schon früher zurückgewiesen: „Eine Verfas-
sung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes
Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann, (nicht von der größten Glück-
seligkeit, denn diese wird schon von selbst folgen;) ist doch wenigstens eine notwendige
Idee, die man nicht bloß im ersten Entwurfe einer Staatsverfassung, sondern auch bei al-
len Gesetzen zum Grunde legen muß, und wobei man anfänglich von den gegenwärtigen
Hindernissen abstrahieren muß, die vielleicht nicht sowohl aus der menschlichen Na-
tur unvermeidlich entspringen mögen, als vielmehr aus der Vernachlässigung der echten
64
MdS RL, VI 320.
65
MdS RL, VI 320.
66
MdS RL, VI 320.
67
MdS RL, VI § 49.
68
MdS RL, VI § 45.
D S: A P 135
Ideen bei der Gesetzgebung.“69 Hinsichtlich der hier ambivalent fungierenden Glückse-
ligkeit, die nicht primäres Staatsziel sein dürfe, aber sekundäres sei, äußert Kant sich in
der Rechtslehre ernüchternd: Unter dem Staatszweck dürfe nicht „das Wohl der Staats-
bürger und ihre Glückseligkeit“ verstanden werden, „denn die kann vielleicht […] im
Naturzustande oder auch unter einer despotischen Regierung, viel behaglicher und er-
wünschter ausfallen“70 . Indem Kant das unbedingte Rechtsprinzip gegen das bedingte
Wohl absetzt, bringt er beide, die historisch auseinanderfallen mögen, in einen strengen
theoretischen Gegensatz. Der Staat erscheint dann zumindest als indifferent gegen das
Wohlergehen der Menschen, die ihn bilden, worin sich abzeichnet, daß die bürgerliche
Verfassung, auch ihrem Ideal nach, mit der autonomen Rechtspersönlichkeit nicht die
Aufhebung der Heteronomie, der Fremdbestimmung durch Natur und andere Menschen,
verknüpfen kann. Dazu taugt sie schon ihrer Begründung nach nicht, denn die Notwen-
digkeit des Staates begründet Kant zwar nicht aus der Erfahrung der Boshaftigkeit der
Menschen, die es zu bändigen gelte,71 aber auch nicht aus der Vernunftidee der Auto-
nomie, sondern aus einer „Vernunftidee eines […] (nicht-rechtlichen) Zustandes“72 , der
Idee des Naturzustands also, in der es liege, daß dort niemand vor anderen sicher sein
könne, weil jeder sein eigenes Willkürrecht setze und anwende.
Nun entgegnet Kant selbst noch, daß es sich im Naturzustand keineswegs um Rech-
te oder davon abgeleitete Ungerechtigkeit, sondern einfach um Rechtlosigkeit handle;
gleichwohl verfahre in der Rechtlosigkeit jeder nach „seinen Rechtsbegriffen“73 . Un-
ter einem ‚Rechtsbegriff‘ könnte nun – streng genommen – allenfalls die Rechtsidee
verstanden werden, mittels derer die Subjekte sich intellektuell gegen die allgemeine
Willkürherrschaft zur Wehr zu setzen vermöchten und die ihrerseits durch Negation
des Willkürprinzips die Transformation von dessen formeller Allgemeinheit in die ver-
nünftige Allgemeinheit des moralischen Willens antizipierte. Was Kant dagegen unter
jenen ‚Rechtsbegriffen‘ versteht – nämlich insbesondere Ansprüche und Methoden der
Besitznahme, die im Naturzustand der gleichen gesetzlichen Form unterlägen wie im
Rechtszustand, bloß ohne Sicherheit –, das folgt aus dem Rechtsprinzip keinesfalls. Im
Naturzustand gibt es weder Recht noch Eigentum, und dieses kann daher auch nicht der
Form von jenem unterliegen. Kant aber projiziert den Rechtszustand auf den Naturzu-
stand. Dadurch entsteht jedoch keine ‚Vernunftidee‘ des Naturzustandes, sondern eine
privative Negation des empirischen Rechtszustandes.74 Eine Idee ist auf die intelligi-
69
KrV, B 373.
70
MdS RL, VI § 49.
71
Vgl. MdS RL, VI § 44.
72
MdS RL, VI § 44.
73
MdS RL, VI § 44.
74
Das weisen auch Kants Formulierungen in MdS RL, VI § 44 aus: „(nicht-rechtliche[r]) Zu-
stand[]“, „Rechtlosigkeit“, „vereinzelte Menschen“. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit,
a.a.O., weist die Interpreten, „die in der Nachfolge Marx’ im Naturzustand eine Darstellung der
bürgerlichen Gesellschaft erblicken“ (331), zurück, weil Kant in dieser Formulierung des Na-
turzustandes ausdrücklich beanspruche, die Konflikte der Menschen seien in jedem Zustand des
Verhältnisses von Menschen zueinander notwendig; damit sei Kant der Argumentation Hobbes’
überlegen: „[I]st die Notwendigkeit einer staatlichen Organisation menschlichen Zusammenlebens
nicht erst aus einem bestimmten Menschenbild, sondern schon aus dem unverrückbaren Rahmen
136 R – S R
jedes nur denkbaren Menschenbildes begründbar, dann wird Herrschaft unvermeidlich.“ (ebda.)
Zunächst ist jenes Argument der ‚Nachfolger von Marx‘ am deutlichsten wohl von Rousseau ausge-
sprochen worden (vgl. Jean-Jaques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen
der Ungleichheit unter den Menschen, a.a.O., 206: „Sie sprachen vom Wilden und zeichneten den
Zivilisierten.“); indem Kant den Naturzustand zur Idee erklärt, reagiert er bereits auf die von
Rousseau reklamierte Aporie des Begriffs. Sodann ist Kersting in seiner Herrschaftsableitung for-
mal zuzustimmen; nur steht deren formale Richtigkeit unter der Bedingung der Begründbarkeit
von Kants bloßer Behauptung der Geschichtslosigkeit des Antagonismus. Hätte Kant ein ‚Men-
schenbild‘ – statt eines Begriffs vom Menschen –, so wäre ihm vorzuwerfen, daß er es bloß nach
seinem Bilde hätte schaffen können. Tatsächlich will Kant sich diesem Vorwurf entziehen, indem
er den Naturzustand als Idee deklariert. Aus den angeführten Gründen kann es eine solche Idee
nicht geben; der Einwand gegen Kant lautet nicht, die bürgerliche Gesellschaft sei im Naturzu-
stand abgebildet, sondern, dieser sei allein durch Negation von ihren spezifischen Eigenschaften
zu gewinnen und könne dann nicht als Legitimationsinstrument wieder in sie hinein verlängert
werden.
75
Manfred Brocker, Kants Besitzlehre. Zur Problematik einer transzendentalphilosophischen Eigen-
tumslehre, Würzburg 1987, 107ff., interpretiert Kants Rekurs auf die Kugelgestalt der Erde nicht
als empirisches Zitat der begrenzten Oberfläche, sondern als Symbol der praktischen Vernunftidee
des ursprünglichen Gemeinbesitzes. Brockers Interpretation, die gewisser Weise transzendentaler
ist als die Vorlage, kann den Zweck bürgerlichen Eigentums, der bei Kant noch in den Brüchen
wirksam ist, nicht mehr repräsentieren.
76
Vgl. MdS RL, VI § 12.
D S: A P 137
auf die Bestimmung des Naturzustandes, von dem es im Naturzustand selbst keinen
Begriff geben kann, weil dieser als privative Negation des Rechtszustandes formal
und material logisch von diesem abhängt. Diese Begründung des Rechtszustandes
aus dem Naturzustand macht die Aporien und den Antagonismus des Naturzustandes
nun umgekehrt nicht bloß zu historischen Bedingungen, sondern zu konstitutiven
Bestimmungsmomenten des Rechtszustandes, in dem sie deshalb fortbestehen.
Der Staat ist seinem Grundsatz nach so antagonistisch wie die bürgerliche Gesell-
schaft: Der Mensch müsse den Naturzustand verlassen, „und sich mit allen anderen (mit
denen in Wechselwirkung zu gerathen er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich
einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen“77 . Die Menschen, de-
nen man offenbar ohne Zwangsinstrument besser nicht begegnete, sind hier nicht als
Gattungswesen, sondern als Konkurrenten um die Aneignung von Privatbesitz aufeinan-
der bezogen. Demzufolge ist es der Zweck des Staates, den Erwerb und die Bewahrung
von Eigentum gesetzlich zu bestimmen und zu schützen mittels einer Privatrechtsord-
nung und der Institution des Gerichtszwanges. Der Staatszweck folgt unmittelbar dem
Sachenrecht78 und setzt seine dialektische Beziehung zum Naturzustand auch deswegen
voraus, weil das Eigentum nur in einem Naturzustand, der an sich schon Rechtszustand
ist, ursprünglich erworben werden kann.
Aus dem Staatszweck und seiner notwendig formellen Begründung ergeben sich die
Eigenschaften des Staatsbürgers: Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit. Der Begriff
bürgerlicher Freiheit geht aus von dem individuellen Streben nach Glückseligkeit, soweit
durch des Einen Streben kein Anderer in dem seinen gestört würde; aus der Negation
aller staatlichen Zweckbestimmungen dieses Strebens folgt schon der Formalismus bür-
gerlicher Freiheit,79 der in der Definition, „keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu
welchem er seine Beistimmung gegeben hat“80 , ausgedrückt ist. Dies könnte nun aber je-
des beliebige Gesetz sein, selbst ein dem Sittengesetz widerstreitendes, wenn die Form
der Einstimmigkeit seiner Verabschiedung es zum Recht qualifiziert, das als Ausdruck
des gesetzgebenden Willens dann unwiderstehlich ist.81
77
MdS RL, VI § 44.
78
Vgl. MdS RL, VI §§ 1-17 und Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, a.a.O.,
248ff. Vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 147f.: „Indem die
staatlich zu schaffenden Voraussetzungen dieser Selbsterfüllung [bürgerlicher Subjektivität; M.St.]
in der Gewährleistung von Freiheit und Eigentum (nicht etwa in der sozialen Gleichheit) gese-
hen werden, wird der bürgerliche (erwerbs- und besitzbezogene) Charakter der rechtsstaatlichen
Ordnung konstituiert.“ Später heißt es noch schärfer: „Das Prinzip der rechtlich freien, gleichen,
kapitalbildenden Persönlichkeit war zum Prinzip des gesamten bürgerlichen Rechts erklärt.“ (ebda.
158). Ähnlich hatte Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., 189, formuliert: „Freiheit,
Gleichheit, Eigentum und Bentham.“
79
Vgl. Gemeinspruch, VIII 290f.
80
MdS RL, VI § 46.
81
Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, a.a.O., interpretiert diesen Formalismus als Reflexi-
vität des Rechtssystems: „Der bekannteste Fall ist die Normierung der Verfahrensregeln, die, wenn
beachtet, dazu führt, daß die erzeugte Entscheidung selbst normierende Kraft hat. […] Was immer
der dazu eingesetzte Entscheider entscheidet, wird dadurch Recht.“ (146).
138 R – S R
Das Sittengesetz, die allgemeine Kompatibilität aller Willen, ist, unabhängig von der
Moralität der Maximen, einer Verfahrensform subsumiert: Rechtmäßig ergeht ein Ge-
setz, „wenn es sich nur nicht widerspricht, daß ein ganzes Volk zu einem solchen Gesetz
zusammen stimme, es mag ihm auch so sauer ankommen, wie es wolle“82 . Indem Kant,
gerade um der Moralität der Gesetze willen, jede Beziehung auf Glückseligkeit aus
ihrem Begriff eliminiert, entsteht ein gesetzespositivistischer Rechtsbegriff, der nicht
seiner Intention nach, wohl aber seiner Konsequenz nach den Inhalt gegen die Verfah-
rensform vergleichgültigt.
Kant verbindet die rechtliche Form des allgemein vereinigten Willens mit dem als
notwendig vorausgesetzten Antagonismus der einzelnen Willenssubjekte. Indem so die
Form der Einheit an einen Gegenstand verwandt wird, dessen Inhalt der Gegensatz
sei und bleibe, wird eine zutiefst widersprüchliche Gemeinschaft konstituiert,83 deren
Erscheinungsform die allgemeine Konkurrenz eines Jeden gegen Jeden ist, ein ‚bürgerli-
cher Naturzustand‘84 . Der Antagonismus wird selbst zur negativen Einheit der Subjekte,
deren positives Moment darin besteht, alle Anderen zum Mittel der eigenen Interessen
zu machen, soweit Jeder dies vermag. Indem Kant diesen Subjekten das ‚werktätige Ver-
nünfteln‘ untersagt, geht es ihm durchaus um die Wahrung der Einheit des Bewußtseins,
denn der unter unvernünftigen Bedingungen gefaßte vernünftige Gedanke führte auf ein
schizophrenes Bewußtsein.85
82
Gemeinspruch, VIII 299. Vgl. Ludwig Siep, Konkrete Ethik, Frankfurt am Main 2004, 181:
„Vertragstheorien setzen ebenfalls Bewertungskriterien voraus, nach denen zum einen die Ver-
tragssituation einzurichten ist, andererseits die möglichen Interessen von dem Vertragstheoretiker
beurteilt werden. Rein dem ‚empirischen‘ Verlauf einer Verhandlung kann keinerlei Normbegrün-
dung überlassen bleiben.“
83
Vgl. Matthias Lutz-Bachmann, Geschichte und Subjekt. Studie zu Bedeutung und Problematik der
Geschichtsphilosophie im Werk von Immanuel Kant und Karl Marx, Diss. Frankfurt am Main
1981, 125: „Diese Gesellschaft bildet keine tatsächliche Allgemeinheit aus, in ihr werden die Par-
tikularinteressen nicht in einem gemeinsamen Interesse aufgehoben, sondern nur in eine Balance
zueinander gebracht. Die Allgemeinheit einer Gesellschaft, deren Rechtsordnung die Aufgabe be-
sitzt, die private Eigentumsverteilung durch öffentliche Gesetze ‚das Mein und Dein‘ zu sichern,
und darin die ökonomisch ‚Unselbständigen‘ vom Bürgerrecht ausschließt, ist nur der Legitimität
vortäuschende Schein einer Allgemeinheit.“ Vgl. auch 132f.
84
Vgl. Peter Bulthaup, Rechtsphilosophie II (Vorlesung vom 25. 1. 1993), Peter Bulthaup-Archiv
Hannover, Block 186 bzw. Ordner ORD 020. Vgl. ebenso eine ganz andere Quelle: Niklas Luh-
mann, Das Recht der Gesellschaft, a.a.O., 21: „Das Recht ist, nach Hume, Rousseau, Linguet,
Kant und anderen die historische Zivilisierung der Gewalt.“ Vgl. auch Jürgen Dennert, Ursprung
und Begriff der Souveränität, Stuttgart 1964, 83. In Beziehung auf Hobbes heißt es: „[D]er Natur-
zustand, in dem jeder jeden erschlagen kann, bleibt auch im Gemeinwesen bestehen; er wird nur
unterdrückt, d. h., es wird verhindert, daß jeder tatsächlich jeden totschlägt.“ Vgl. weiterhin Ernst-
Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 158f.: „Die […] geschichtliche Bewegung
führte notwendigerweise nicht nur die besitzbestimmte soziale Ungleichheit, sondern, in deren Sta-
bilisierung und Verschärfung, auch den klassenmäßigen Antagonismus der Gesellschaft und damit
die neue, soziale Unfreiheit auf dem Boden der Rechtsgleichheit herauf.“
85
Vgl. Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie I, Frankfurt am Main 1974, 191f.: „Du
treibst uns, und ich zitiere damit etwas, was mir wörtlich gesagt worden ist, in etwas wie in eine
Art von intellektueller Schizophrenie. Auf der einen Seite sollen wir ein Bewußtsein haben, nach
dem wir als Berufsmenschen verfahren, und auf der anderen ein philosophisches, obgleich beides
D S: A P 139
Ebenso ist die bürgerliche Gleichheit, die Befugnis, jeden anderen rechtlich so zu
verbinden wie man selbst von ihm verbunden werden kann, eine formelle Bestimmung,
die „ganz wohl mit der größten Ungleichheit, der Menge, und den Graden ihres Be-
sitzthums“86 bestehen kann. Sie ist hierauf sachlich nur bezogen, insofern kein Gesetz
Standesunterschiede festschreiben könne. Die Glückseligkeit, und mit ihr die Gleich-
heit, wird so zwar zum bloßen ‚Flor‘87 des Staates, aber immerhin zur Glückssache
erklärt. Wie die Gleichheit ist auch die Bestimmung der bürgerlichen Selbständigkeit
im historischen Zusammenhang der Bauernbefreiung zu sehen, die zu Lebzeiten Kants
noch nicht zum Abschluß kam.88 Davon zeugen Formulierungen der Art, daß „jeder sich
selbst besitzt“89 , die Aporien im Hausherrenrecht90 aber auch die selbstverständliche Af-
firmation der Schuld- und Strafsklaverei unter bürgerlicher Verfassung.91 Das heißt nun
nicht, daß Kants Überlegungen vom Zeitkolorit tingiert, gar historisch determiniert sei-
en; wohl aber läßt sich sagen, daß Kants Rechtslehre hier nicht dem moralischen Begriff
der Selbständigkeit – Autonomie – folgt, der kompromißlos wäre. Als selbständig gelten
staatsrechtlich nur diejenigen, die ihre ökonomische und rechtliche Existenz vollständig
selbst vertreten. Rechtlich nicht von anderen vertreten werden zu müssen, begründet die
Persönlichkeit. Diese, die „Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Geset-
zen“, ist das, was eine Person zur Person macht, zu einem „Subject, dessen Handlungen
einer Zurechnung fähig sind“92 .
sich geradezu widerspricht. Dazu habe ich Ihnen nichts anderes zu sagen als: Ja, so ist es, genau
so ist es [...]“.
86
Gemeinspruch, VIII 291.
87
Vgl. Gemeinspruch, VIII 298.
88
Auf den preußischen Staatsdomänen wurde sie zwar seit 1718 durch Friedrich Wilhelm I. initiiert,
aber flächendeckend für alle preußischen Bauern erst durch die Reform von 1807 durchgesetzt.
Im benachbarten Rußland kam es erst 1861 zu einer halbherzigen Aufhebung der Leibeigenschaft.
Karl Marx verweist noch 1865 in Lohn, Preis und Profit, MEW 16, Berlin 1968, 135 auf „den
Fronbauern, wie er noch gestern, möchte ich sagen, im ganzen Osten Europas existierte“.
89
MdS RL, VI § 49, meine Hervorhebung. Dagegen vgl. § 17: „daher ein Mensch sein eigener Herr
[…], aber nicht Eigenthümer von sich selbst […] sein kann“.
90
Vgl. MdS RL, VI § 30 sowie 358 ff.
91
Vgl. MdS RL, VI Allg. Anm. E, 358 und pass. Manfred Riedel, Herrschaft und Gesellschaft,
a.a.O., 250, spricht hier von „auffällige[m] Versagen der Kantischen Theorie“. Weil Kant den
Eigentums- und Warenverkehr nicht begrifflich durchdringe, sehe er nicht, daß die bürgerliche
Gesellschaft „unversehens eine neue Gestalt annimmt – daß jener Rechtsbegriff, der lediglich
wechselseitige Freiheit und Gleichheit zu beinhalten scheint, einseitige Abhängigkeit und eine
erneute Ungleichheit zur Folge hat“ (256).
92
MdS RL, VI 223. MarcusWillaschek, Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegrün-
dung bei Kant, Stuttgart 1992, faßt das Verhältnis von Person und Persönlichkeit weiter und
dynamischer: Persönlichkeit sei die Anlage, eine Person zu werden; realisiert werde sie durch
moralische Entscheidungen (280f.). Jede dieser Entscheidungen sei zugleich eine Entscheidung
darüber, „was für ein Mensch man sein und welches Leben man führen will“ (277). Person zu
sein, sei daher eine „Existenz auf Kredit“ (283), die auch wieder verloren gehen könne. Ähnlich
formuliert auch Andrea Marlen Esser, Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Ge-
genwart, Stuttgart 2004, 398. – Grundsätzlich zur Entwicklungsgeschichte des Personbegriffs vgl.
Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild,
Darmstadt 1997 und, mit Schwerpunkt auf der Subjektivität, dens., Person und Subjektivität: Die
140 R – S R
Die Person gehört als handelndes Subjekt zur Sinnenwelt, die Persönlichkeit steht für
ihr intelligibles Wesen, so daß „die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eige-
nen Persönlichkeit unterworfen ist, so fern sie zugleich zur intelligibelen Welt gehört“93 .
In dieser Hinsicht ist sie „eigenthümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebe-
nen, reinen praktischen Gesetzen“94 unterworfen. Jeder Mensch, da er empirisches und
intelligibles Subjekt vereinigt, wäre demnach auch Subjekt bürgerlicher Selbständigkeit.
Allerdings entspricht es Kants Vorstellung formeller Gleichheit durch Verfahren, daß die
Selbständigkeit nunmehr an die Stimmgebungskompetenz geknüpft sei. Diese gründet
deshalb ihrerseits in der ökonomischen und rechtlichen Unabhängigkeit von Anderen,
da sonst die Wahrnehmung des Stimmrechts heteronomen Einflüssen ausgesetzt wäre.
Anstatt die Kollision von Rechtsidee und Heteronomie zu kritisieren, modelliert Kant
jene nach dieser. Dies kann aber allenfalls formell gelingen. Zudem müßte die heterono-
me Beeinflussung der Besitzenden durch ihre Geschäftsinteressen wohl ebenso schwer
gewichtet werden.
Als Bürger also soll nur gelten, wer aus eigenem Willen, nicht aus Not, Mitglied des
Gemeinwesens ist. Wenn es dessen Aufgabe ist, den Besitz zu schützen, werden nur die
Besitzenden aus eigenem Interesse eine solche Gemeinschaft anstreben, und nur solche,
die über Eigentum an Produktionsmitteln, und zwar – so genau ist Kant hier – sowohl
an Arbeitsmitteln wie an Arbeitsgegenständen, verfügen, die mithin Warenproduzenten
sind. Die Wanderhandwerker, die nur ihre Arbeitsmittel mitbringen, ihre Dienste aber
verdingen, weil die Arbeitsgegenstände dem Auftraggeber gehören, wie „der Schmied
in Indien, der mit seinem Hammer, Ambos und Blasbalg in die Häuser geht, um da in
Eisen zu arbeiten“95 und „selbst der Friseur sind bloß operarii, nicht artifices“96 , zäh-
len mithin zum Proletariat. Sie sind keine aktiven Bürger, sondern Schutzgenossen, ihre
„Existenz ist gleichsam nur Inhärenz“97 . Dieser Ausdruck für die Unselbständigkeit der
Proletarier bemüht nichts Geringeres als das kategoriale Komplement der selbst inkon-
sistenten Substanzkategorie, die zumindest ihrer Gewißheit nach das Erbe der vormali-
gen Ontologie antritt. Dennoch sei der Widerspruch, den Kant dem Ausdruck ‚passiver
Staatsbürger‘ wohl anmerkt, bloßer Schein: „Diese Abhängigkeit von dem Willen ande-
rer und Ungleichheit ist gleichwohl keinesweges der Freiheit und Gleichheit derselben
als Menschen, die zusammen ein Volk ausmachen, entgegen“98 .
Schon nach Aristoteles konnte ein eleutheros mit seinem doulos, sofern dieser Sklave
war, nicht befreundet sein, wohl aber, sofern er ein Mensch war.99 Dieser gesellschaft-
Metaphysik der Freiheit und der Moderne Subjektivitätsgedanke, in: Reto L. Fetz/Roland Hagen-
büchle/Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 2, a.a.O.
93
KpV, V 87.
94
KpV, V 87. Vgl. MdS RL, VI 223.
95
MdS RL, VI § 46 Anm.
96
Gemeinspruch, VIII 295 Anm.
97
MdS RL, VI § 46 Anm.
98
MdS RL, VI § 46.
99
Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Berlin 1983, 1161 b. Überhaupt bedient sich Kant zur De-
finition des Staatsbürgers antiker metaphysischer Vorstellungen. Die Selbständigkeit, die Fähigkeit,
sich selbst zu reproduzieren, ist die objektive Aristotelische Substanzbestimmung par excellence
(die Eigenschaft, Subjekt der Aussage zu sein, ihr subjektives Komplement). Freiheit ist Negation
D S: A P 141
liche Riß durch die menschliche Substanz in einem Subjekt macht nicht sowohl das
Subjekt zur Klammer der Gesellschaft als vielmehr die Gesellschaft zum Spaltkeil der
Subjektivität der Subjekte. Auch Kants Versuch, das zerrissene Subjekt zum Kitt seines
eigenen Risses zu machen, bleibt erfolglos, denn die staatsrechtliche Vorstellung von
Freiheit steht unvereinbar quer zu deren moralischem Begriff, den sie, sobald er einmal
gefaßt ist, nicht aus der Welt des Bewußtseins vertilgen kann, und ebenso steht sie zu
der daraus folgenden Freiheit des Rechts, nach deren Begriff das Subjekt keinem Gesetz
folge, an dessen Einsetzung es nicht selbst beteiligt gewesen wäre. Die Unselbständigen
aber seien von der Gesetzgebung mit Recht ausgeschlossen. Ihre Freiheit beschränke
sich darauf, Imputationssubjekte zu sein, keine Rechte (außer den allgemeinen Men-
schenrechten), aber lauter Pflichten zu haben; sie ist die Freiheit zum Gehorchen, die
nötig ist, um sich die Zwecke anderer zu eigen zu machen, in ihrem Auftrag arbeiten zu
können.
Es zeigt sich hier, daß Kants bürgerliches Recht keineswegs bloß provisorische
Rechtsvorstellungen des Naturzustandes legitimiert; es schafft darüber hinaus die
Bestimmung und rechtliche Form des doppelt freien Lohnarbeiters, dessen Existenz
im Naturzustand ganz undenkbar wäre. Kant will indes auch dies im Naturzustand
verwurzeln: Als aktive Staatsbürger „qualificiren sich nicht alle mit gleichem Recht“100 .
Offenbar wird schon vor dem Rechtszustand ein (Rechts-)anspruch auf das staatsbür-
gerliche Recht erworben, die Ordnung aktiv zu bestimmen, anstatt bloß der von den
Besitzenden bestimmten folgen zu dürfen.
Die Frage, wodurch ein solcher Anspruch erworben werden konnte, „wie es doch mit
Recht zugegangen sein mag, daß jemand mehr Land zu eigen bekommen hat, als er mit
seinen Händen selbst benutzen konnte […]; und wie es zuging, daß viele Menschen, die
sonst insgesammt einen beständigen Besitzstand hätten erwerben können, dadurch dahin
gebracht sind, jenem bloß zu dienen, um leben zu können“101 , verbietet Kant sich geflis-
der Abhängigkeit von fremder Willkür, gründet aber in der ökonomischen Unabhängigkeit, im
Besitz von Grund und Boden, mithin von Produktionsmitteln. Selbst Tugendhaftigkeit hängt von
dieser Freiheit ab. Daher gebraucht Aristoteles in der Politik (a.a.O.) die Staatsbürgerbestimmun-
gen Freiheit, Reichtum und Tugendhaftigkeit nahezu konvertibel.
100
MdS RL, VI § 46.
101
Gemeinspruch, VIII 296. Vgl. Pädagogik, IX 491: „Denn die Ungleichheit des Wohlstandes der
Menschen kommt doch nur von gelegentlichen Umständen her.“ Die relativ große Bedeutung
solcher Fragen für das Rechtsverständnis des jungen Kant hat Franco Zotta herausgearbeitet: Im-
manuel Kant. Legitimität und Recht. Eine Kritik seiner Eigentumslehre, Staatslehre und seiner
Geschichtsphilosophie, Freiburg 2000, 20ff. Ob allerdings Auskünfte der Art „Ein reicher, der
sonst nicht ungerecht ist, ist dennoch ein Dieb.“ (XXVII.1, 80, zitiert nach Zotta, 29) den frühen
Kant als „Kritiker der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft“ (27) ausweisen oder ihn doch vor
allem in die christliche Tradition einreihen („Es ist leichter, daß ein Kamel [urspr. wohl: ‚kami-
lon‘ statt ‚kamälon‘, d. h. Schiffstau; M.St.] durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins
Reich Gottes komme.“ Mk 10,25), muß fraglich bleiben. Weder Kants Begriffsinventar noch der
Entwicklungsstand der Gesellschaft selbst dürften eine Kritik am Kapitalismus zulassen, sondern
allenfalls Ausdrücke des Unbehagens; diese aber durchaus. – Das Problem der Eigentumsvertei-
lung ist für Kant – modern gesprochen – ein sozialethisches, nicht ein gesellschaftstheoretisches;
deshalb kann er es im Gemeinspruch, VIII 295, zugunsten demokratietheoretischer Ausgleichser-
wägungen vernachlässigen. – Zu dem Thema vgl. auch Reinhard Brandt, Eigentumstheorien von
142 R – S R
sentlich. Aber gleichviel, ob nun die „Historie vom ökonomischen Sündenfall“, nach der
es „auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf
der anderen faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen“102 gegeben habe, jene
Frage beantwortet, oder im Gegenteil die „Expropriation der unmittelbaren Produzenten
[…] mit schonungslosestem Vandalismus und unter dem Trieb der infamsten, schmut-
zigsten, kleinlichst gehässigsten Leidenschaften“103 – die servile Lage der Menschen,
die Kant in ihrer Erbärmlichkeit präzise schildert, ist als peremtorisches Verhältnis Re-
sultat ihrer Akklamation durch die bürgerliche Privatrechtsordnung. Der Versuch, deren
Geltung systematisch zu bestimmen, steht in einem unlösbaren Konflikt zu ihren histori-
schen Voraussetzungen: Er muß sie als systematische schon unter Rechtsbestimmungen
fassen, als einseitige Willkürakte sie aber aus der Systematik des Rechts ausschließen.
Kant versucht, den Konflikt zu umgehen, indem er moralische und gegenständliche Be-
stimmungen zu Rechtsformen formalisiert.104
Die formalisierte Freiheit erscheint in der Gestalt der Volkssouveränität: „Die ge-
setzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen.“105 Das
entspricht insofern der Rechtsidee, als in dieser Einheit alle Privatwillkür aufgehoben
sein muß, um zu verhindern, daß durch Gesetzgebung jemandem unrecht geschehe. Aber
die Aufhebung der Privatwillkür geschieht nicht mittels deren sachlicher Bindung durch
die praktische Vernunft, sondern durch die Form des Verfahrens der Gesetzgebung aus
dem kollektiven Willen: Wenn niemand sich selbst unrecht tun kann, sollte bei allgemei-
nen Beschlüssen, durch die jeder wie über alle anderen auch über sich selbst befindet,
das Unrecht systematisch ausgeschlossen sein. Das bedeutet aber umgekehrt, daß un-
ter Voraussetzung dieser positiven Willenseinheit jedes beliebige Gesetz rechtmäßig zu
beschließen ist.106
Grotius bis Kant, Stuttgart 1974, 199ff. Brandt notiert neuerlich auch Kants Unbehagen an der
bürgerlichen Ökonomie (vgl. Immanuel Kant – Was bleibt?, a.a.O., 236f.).
102
Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., 741.
103
Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., 790.
104
Vgl. Franz Hespe, „Wohl dem, der im Besitze ist“. Zur Eigentumsbegründung in Kants Rechtslehre,
in: Dieter Hüning u. a. (Hgg.), Societas rationis, Berlin 2002, 148: „Diese durchgehende rechtliche
Gleichheit ist aber ohne weiteres mit der größten materiellen Ungleichheit vereinbar“.
105
MdS RL, VI § 46.
106
Dieser Konsequenz versucht Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, a.a.O., 138, dadurch zu
entgehen, daß er die Argumentationsrichtung der Legitimation durch Verfahren umkehrt: „Gültig
sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an ra-
tionalen Diskursen zustimmen könnten.“ Einem „demokratischen Verfahren []“, das dies leistete,
müßte schon die mystische Eigenschaft zukommen, die Habermas in Kants Gesellschaftsvertrag
ausmacht: Er drücke „per se den übereinstimmenden Willen oder den vernünftigen Konsens aller
Beteiligten aus“ (123). – Böckenförde sieht die Möglichkeit für die Menschen, „in einem institu-
tionellen Rahmen und durch Verfahrensregeln irgendwie geborgen zu sein“ (Recht, Staat, Freiheit,
a.a.O., 63), fügt aber sogleich an, daß „den inhaltlichen Verbürgungen auf der anderen Seite ei-
ne ebenso ausgeprägte Verfügbarkeit des Rechts gegenüber“ stehe (ebda.; vgl. auch 149). Wie
wenig erfolgreich die Einschränkung der Verfügbarkeit der Grundrechte im Grundgesetz selbst
ist, hat Jürgen Seifert wiederholt nachgewiesen. Vgl. z. B. Das Grundgesetz und seine Verände-
rung. Verfassungstext von 1949 sowie sämtliche Änderungsgesetze im Wortlaut, Neuwied 1983.
Der Ausdruck ‚Veränderung‘ ist hier streng zu nehmen.
D S: A P 143
Nun kann zwar juristisch, insbesondere privatrechtlich, niemand sich selbst lädieren,
weil er sein eigenes Eigentum nicht gegen seinen Willen gebrauchen kann; durchaus
aber kann jedermann der Menschheit in der eigenen Person die schwersten Läsionen
zufügen, schon dann, wenn er seine Identität als moralischer Selbstzweck einer formel-
len Willensgemeinschaft zu äußerlichen Zwecken unterordnete. Die Konstitutionsform
des vereinigten Volkswillens durch ursprünglichen Vertrag soll dies verhindern: Der
Form nach sei er als gewöhnlicher Vertrag zu denken, nämlich als Einigung mehrerer
über einen gemeinsamen Zweck. Das Besondere nun sei, daß die Einigung im Verfas-
sungsvertrag „an sich selbst Zweck […] unbedingte und erste Pflicht“107 ist. Das sei nur
möglich „in einer Gesellschaft, sofern sie sich im bürgerlichen Zustande befindet“108 ,
denn sonst wäre ein solcher Vertrag ohne Rechtskraft. Zunächst ist hier die Staats- und
Gesellschaftsverfassung, die durch den Vertrag gestiftet werden soll, der Möglichkeit
ihrer Stiftung schon vorausgesetzt. Sodann aber widerspricht dieser Vertrag durchaus
dem, was ein Vertrag leistet: Über das, was unbedingt ist, kann kein Vertrag geschlossen
werden, denn sonst gölte es ja nur bedingt durch den Vertrag.109 Die grundsätzlichen Wi-
dersprüche jeder Vertragstheorie hat Kant hier auf engstem Raum zusammengetragen,
allerdings – wie seine Vorgänger und Nachfolger bis heute – ohne sich im geringsten
beirren zu lassen.110
Der Vertrag müsse und könne nun allerdings kein faktischer sein.111 Der Akt der Ver-
tragsschließung kann schon deswegen kein positiver sein, weil dann die nachfolgenden
Generationen, die in den Staat hineingeboren werden, zwangsweise die Rechtsnachfolge
ihrer Eltern antreten müßten; schlügen sie dieses Erbe aus, so verlören sie ihre Bür-
gerrechte. Spätestens hier hat die jedem Vertrag vorauszusetzende Freiwilligkeit eine
Grenze. Aber auch dem Gehalt nach kann jener Akt nicht widerspruchsfrei empirisch
vorgestellt werden, denn er besteht darin, daß „alle (omnes et singuli) im Volk ihre äuße-
re Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als
Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen“112 . Die zeitliche Invarianz von
Aufgeben und Wiederaufnehmen der Freiheit kann in keinem empirischen Akt erfüllt
sein. Indem in diesem Akt die ‚wilde, gesetzlose Freiheit‘ negiert und die ‚gesetzliche
Freiheit‘, die Kant ‚Abhängigkeit‘ nennt, affirmiert wird, handelt es sich offenbar um
einen bloßen Zweckwechsel im Willen, nunmehr alle Maximen in Kompatibilität mit
dem Kollektiv zu setzen. Allein, die Vertragsmetapher bleibt widersprüchlich. Aus der
moralischen Willensbestimmung nach dem kategorischen Imperativ ist dieser Zweck-
wechsel nicht zu begründen, weil das Kollektiv nicht als kooperative Allgemeinheit,
107
Gemeinspruch, VIII 289.
108
Gemeinspruch, VIII 289.
109
So argumentiert auch Hegel. Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O.,
§ 75. Kersting will dies umgehen, indem er Kants Pflicht, den Naturzustand zu verlassen, als
„ursprüngliche Rechtspflicht“ auffaßt (Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 349).
110
Josef Simon, Kant, a.a.O., 395, bezeichnet den ursprünglichen Vertrag als ‚paradox‘, zieht aber
keine weitere Konsequenz.
111
Vgl. z. B. Gemeinspruch, VIII 302. Auf diese Differenz von Faktum und Norm im kantischen
Gesellschaftsvertragsbegriff hat Manfred Riedel hingewiesen: Herrschaft und Gesellschaft. Zum
Legitimationsproblem des Politischen in der Philosophie, a.a.O., 248ff.
112
MdS RL, VI § 47.
144 R – S R
sondern als Konkurrenzgemeinschaft verstanden wird; die Freiheit ist zutreffend als ‚Ab-
hängigkeit‘ charakterisiert. Die Allgemeinheit, an der die Maximen gemessen werden,
ist keine moralisch-praktische Allgemeinheit, sondern eine technisch-praktische, bloß
komparative Allgemeinheit, die Hegel als „Not- und Verstandesstaat“113 bezeichnet. Ihr
technischer Zweck ist der ungehinderte Privatrechtsverkehr und ihre Begründung erfolgt
positiv, formalisiert, analog dem Privatrecht,114 durch Vertrag. Dieser Vertrag erfordert
der Sache nach, damit niemandem unrecht getan werde, Einstimmigkeit.115 Andernfalls
wären Rechtskollisionen schon mit der Rechtsbegründung als deren notwendige Folgen
gesetzt, was den Rechtsbegriff ad absurdum führte.
Die Einstimmigkeit hält Kant nun für untunlich, wodurch der Vertrag zunächst, auch
als Idee, nicht zustande komme. Man könne aber davon ausgehen, daß die einstimmige
Zustimmung zu einem repräsentativen Abstimmungsverfahren mit Mehrheitsentscheid
von der Idee des allgemeinen Vertrags gedeckt sei. Gleichgültig zunächst, ob politische
Abstimmungsverfahren nun in der historischen Praxis mehr Vorteile oder mehr Nachtei-
le aufweisen, jedenfalls muß Kant in der theoretischen Begründung die Einstimmigkeit
der Zustimmung zum Verfassungsvertrag durch etwas ganz Anderes ersetzen, nämlich
durch die bloße Antizipation einer einstimmigen Zustimmung zu einer Mehrheitswahl-
ordnung. Die Kollektivität der bürgerlichen Gesellschaft hat so in ihrer Begründung die
Form der Vorstellung einer gemeinschaftlich affirmierten Preisgabe der Kollektivität.
Dementsprechend hat Kant selbst das Mehrheitsprinzip der Demokratie als Despotis-
mus bezeichnet.116 Letztlich genüge deshalb die Annahme der Widerspruchsfreiheit in
der Idee des Volkswillens, um legitimatorische Wirkung zu entfalten, selbst wenn der
Volkswille geschlossen dagegen stehe. Darin flackert, dem Anschein zum Trotz, noch
einmal die sachliche Grundlage des Verfassungsvertrags auf, daß nämlich die ideelle
Widerspruchsfreiheit des Volkswillens gegen die faktische nur moralisch, durch Wi-
derspruchsfreiheit in der Maxime, begründet ausgespielt werden könnte. Kant, der ein
drastisches Beispiel geben will, entlarvt diese Grundlage – durch ihre Reduktion auf die
Verfahrensform entsachlicht – aber als längst nur mehr problematische. „Wenn z. B. eine
für alle Unthertanen proportionirte Kriegssteuer ausgeschrieben würde, so können diese
darum, weil sie drückend ist, nicht sagen, daß sie ungerecht sei, weil etwa der Krieg
ihrer Meinung nach unnöthig wäre: denn das sind sie nicht berechtigt zu beurtheilen;
sondern, weil es doch immer möglich bleibt, daß er unvermeidlich und die Steuer un-
entbehrlich sei, so muß sie in dem Urtheile des Unthertans für rechtmäßig gelten.“117
Krieg ist von keinem Willen, weder singulär noch kollektiv, widerspruchsfrei zu affir-
mieren. Auch Gewalt zur Verteidigung bleibt als Gewalt sinnlose Naturkraft und wird
gerade durch den auslösenden Zwang des Angriffs nicht mit einer rationalen Legitimati-
onsbasis versehen. Wenn dies hier durch die Idee des kollektiven Volkswillens dennoch
geschieht, zeigt das an, daß diese Idee positiviert, nur mehr ein Formalismus, ist. Indem
113
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 100.
114
So auch Kersting: „Der Staatsvertrag kann seine Herkunft aus dem privatrechtlichen Vorstellungs-
bereich nicht verleugnen“ (Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 348).
115
Vgl. Gemeinspruch, VIII 296.
116
Vgl. EF, VIII 352.
117
Gemeinspruch, VIII 297f. Anm.
D S: A P 145
Kant schon die politische Grundlegung des Rechts in formaler Analogie zum Privatrecht,
durch Vertrag, faßt, wird Willensfreiheit selbst zum Vertragsgegenstand und damit ten-
dentiell ihres rationalen Gehaltes beraubt.
Die Differenz im Verfassungsbegriff zwischen allgemein vereinigtem und zu
vereinigendem Willen beruht auf der Zwieschlächtigkeit der Rechtsordnung, sowohl
ideell als auch historisch bestimmt zu sein. Als allgemein vereinigter Wille118 ist sie
kongruent mit der Rechtsidee, dem der zu vereinigende Wille als ihr Gegenstand zu
unterwerfen ist. Um diese Unterwerfung der Form der Autonomie gemäß zu denken,
gilt die Verfassung zugleich als vereinigendes Prinzip,119 so daß causa formalis, causa
materialis und causa efficiens der Vereinigung im Begriff der Verfassung zusammen-
fallen. Die empirische Repräsentation dieser Konstruktion in einem empirischen Volk
erfordert aber eine funktionale Differenzierung der zur Einheit verfaßten Staatsgewalt,
die bei Kant eine personale mit sich bringt. So stellt sich der allgemein vereinigte Wille,
die Staatsgewalt, in drei Gewalten dar, nämlich der gesetzgebenden des Souveräns
(auch Herrscher oder Legislative), der ausführenden des Regenten (auch Direktorium
oder Exekutive) und der rechtsprechenden des Richters (Judikative). Das Problem
besteht nun darin, wie das vereinigte Volk alles dies zugleich sein kann; wäre das
undenkbar, könnte es nicht zugleich als vereinigt und als vereinigend gedacht werden.
Die darin liegende Vorstellung, daß das Volk durch eine Gewaltenteilung sowohl
Herrscher als auch Beherrschter sei, löst Kant auf in „das Verhältniß eines allgemeinen
Oberhaupts (der, nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein anderer als das vereinigte Volk
selbst sein kann) zu der vereinzelten Menge ebendesselben als Unterthans, d. i. des
Gebietenden (imperans) gegen den Gehorsamenden (subditus).“120 Indem nun aber die
Gewalten zu Staatswürden hypostasiert121 werden und so den vereinzelten empirischen
Subjekten die ideale Vereinigung ihres Willens in persönlicher Gestalt entgegentritt,
erhält die Selbst-Beherrschung die Potenz echter Herrschaft. Entsprechend wechselt
Kant immer wieder unvermittelt den Gegenstand, wenn er vom Souverän einmal als
dem allgemein vereinigten Volkswillen, ein anderes Mal als dem persönlichen Willen
eines empirischen Herrschers redet. Selbst Herrschaft und Regentschaft werden wohl
funktional, nicht aber immer auch personal unterschieden.
Das Verhältnis der Gewalten nun sei die Einheit von Beiordnung – wechselseitiger Er-
gänzung zur Staatsgewalt – und Unterordnung. Diese Unterordnung sei darin begründet,
daß jede eine Gewalt repräsentierende moralische Person ihr eigenes Prinzip habe, aber
unter der Bedingung des Willens einer anderen stehe. Beides ist mit dem Rechtsprin-
zip nicht vereinbar, denn danach kann das alleinige Prinzip aller Staatsgewalten nur der
allgemeine Wille sein, und eine Person, moralisch oder empirisch, kann als solche, wie
gezeigt, nicht unter der Bedingung eines fremden Willens stehen. Im einzelnen tritt der
Souverän als allgemeiner Herrscher auf, dem auch der Regent als bloßer Verwaltungs-
118
Vgl. MdS RL, VI § 45.
119
Vgl. MdS RL, VI § 43.
120
MdS RL, VI § 47.
121
Vgl. MdS RL, VI § 47 (Gewalten als Würden), § 48 (Gewalten als moralische Personen), § 49
(Gewalten als empirische Personen).
146 R – S R
beamter unterstellt ist.122 Der Regent ist daher seinem Begriff nach eine Institution, das
Direktorium. Dies erläßt Verordnungen nach Gesetzen, aber nicht selbst Gesetze; sonst
wäre seine Regierungsart despotisch, also durch ‚Gesetz und Gewalt ohne Freiheit‘ ge-
kennzeichnet. Nun sind Gesetze dann mit der Freiheit nicht kompatibel, wenn sie dem
Gehalt nach heteronom, also mit der Vernunft nicht kompatibel sind. Daß die bürgerli-
chen Gesetze Regeln für autonome Subjekte innerhalb der Heteronomie sind, also nur
formelle Allgemeinheit beanspruchen können, die durch die förmliche Trennung der Ge-
walten gewährleistet ist, drückt sich in Kants lapsus aus, der Staat „behandele“123 seine
Untertanen als Bürger. Gefordert ist von den Subjekten, sich selbst als autonome Urhe-
ber dieser Heteronomie zu identifizieren.
Dieser theoretisch absurden Vorstellung korrespondiert indes empirisch vieles,
vom überzeugten Parlamentarier, der als Repräsentant ‚die Freiheit wählt‘, über die
Wirtschaftsführer, die sich als Propheten der Freiheit derer begreifen, deren profitable
Funktion sie – nicht jene selbst – organisieren, bis zu den Funktionierenden selbst,
die die Vorstellung der Selbstbehauptung in der Heteronomie schon durch scheinbar
bloße Reflexe bedienen wie den Nationalismus, der seine Konjunktur nicht nur während
internationaler Massenspektakel (die solche sind, weil die Menschen organisiert sich
zu Massen denaturieren)124 feiert, sondern sich der grundständigen Zerrüttung des
bürgerlichen Bewußtseins verdankt, die Kant in seiner Lehre vom ubiquitären Ant-
agonismus adäquat beschreibt. Die Menschen, die als gesellschaftliche und rechtliche
Subjekte verantwortlich gemacht werden für einen Zustand, für den kein Einzelner
und nicht alle zusammen als moralisches Subjekt Verantwortung übernehmen könnten,
erfüllen die formelle Hülle ihrer ausgehöhlten Subjektivität durch Identifizierungswahn.
Dieser Wahn, der zugleich in allem Fremden die Ursachen für die unverantwortlichen
Lebensbedingungen erblickt, hat in deren historischen Bedingungen, wie am Privatrecht
zu zeigen sein wird, einen materiellen Grund in der Sache. Er ist kein notwendiges
Merkmal des Menschen, wer immer das sein mag.
Die Aporie im kollektiven Subjekt erscheint noch einmal zugespitzt in der richter-
lichen Gewalt, die weder vom Herrscher, noch vom Regenten auszufüllen sei.125 Dem
122
Damit vertritt Kant nicht die konstitutionelle Monarchie, deren Beispiel in England er für un-
sinnig erklärt, weil das oberste Rechtssubjekt nicht zugleich rechtlich gebunden sein könne. Vgl.
Gemeinspruch, VIII 303.
123
MdS RL, VI § 49.
124
Vgl. Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt
am Main 1974, 108: „Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und
dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinan-
der identifiziert haben.“ Diese Definition stellt zwar vordergründig das heteronome Moment von
Massenkonstitution zurück, erweist aber gerade durch die Betonung des subjektiven Aktes den
inneren Widerspruch solcher Subjekte, die sich selbst durch ein wie auch immer vorgegebenes
Objekt bestimmen und sich damit zugleich einem durch dieses Objekt transportierten Kollektiv
unterordnen. Problematisch ist deshalb die Begründung der Masse als narzißtische Identifikation,
wie sie Adorno vertrat und wie sie bis heute vertreten wird. Vgl. Meinung Wahn Gesellschaft, in:
Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt am Main 1977, z. B. 580, sowie Peter V. Zima, Theorie
des Subjekts, a.a.O., 163. Das geschichtliche Moment gesellschaftlichen Zwangs geht darin unter.
125
Vgl. MdS RL, VI Allg. Anm. E. Eine Ausnahme ist die negativ judikative Funktion der Begnadi-
gung, die dem Herrscher als einziges genuines Herrschaftsrecht zukommt.
D S: A P 147
Freiheitsprinzip zufolge könne nur das Volk über sich selbst richten, da nicht bloß die
Gesetzgebung, sondern auch die verbindliche empirische Zuteilung von Recht nach dem
Gesetz Unrecht setzen kann. Das setzt aber die Lösung der Staatsgewalt vom Volk und
ihre Verteilung an empirische Personen oder Einrichtungen voraus. Sonst wäre es nicht
bloß „unter der Würde des Staatsoberhaupts, den Richter zu spielen“126 , sondern es wäre
logisch unmöglich, da dann nicht allein das vereinigte Volk auf dem Richterstuhl platz-
nehmen, sondern zudem über die Fähigkeit der Bilokation verfügen müßte, um zugleich
in der Person des Angeklagten auch auf der Anklagebank zu sitzen.–
Im Ernst ist hier anzumerken, daß Kant die gerechte Zuteilung des Rechts nicht an
sachhaltigen Rechtsprinzipien mißt, sondern an der Form des Verfahrens. Jeder beliebi-
ge formgerecht ergangene Rechtsspruch ist rechtens. Kant nimmt dies in Kauf, weil er
sich der Heteronomie wohl bewußt ist. Die pragmatische Begründung der Gewaltentei-
lung und des Formalismus des Rechtsverfahrens überzeugt genau so lange, wie eine aus
vernünftigen Rechtsprinzipien begründete Rechtsprechung praktisch nicht möglich ist,
weil die Kollisionen durch die heteronomen Handlungsbedingungen erzwungen sind.
Wäre sie möglich, hätte die Rechtsprechung eine andere Funktion. Ihre Gegenstände,
Interessenkollisionen, wären zufällig, nicht notwendig: „Je übereinstimmender die Ge-
setzgebung und Regierung mit dieser Idee [der Staatsverfassung] eingerichtet wären,
desto seltener würden allerdings die Strafen werden, und da ist es denn ganz vernünf-
tig, (wie Plato behauptet), daß bei einer vollkommenen Anordnung derselben gar keine
dergleichen nötig sein würden.“127 Diese Überlegung beschwört nicht die Utopie, die
auch darin liegen mag, sondern fordert, die Rechtspraxis nach vernünftigen Begriffen zu
bestimmen.
Ob die durch die menschliche Geschichte kultivierten Manien „Ehrsucht, Herrsch-
sucht oder Habsucht“128 aus dem Inventar der menschlichen Psyche zu verschwinden
vermöchten, läßt sich spekulativ nicht sagen; sehr wohl läßt sich aber sagen, daß Ver-
nunft ihnen prinzipiell opponiert, und daß pragmatische Politik die Menschen als Ver-
nunftwesen, als Subjekte von Würde, deren strengem Begriff nach mißachtet. Allerdings
126
MdS RL, VI § 49.
127
KrV, B 373. Vgl. auch MdS RL, VI 217 und Pädagogik, IX 445. Wie Kant faßt es auch Herbert
Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 45f.: „Richtiges Leben bedeutete für Platon die Orientierung am
Guten und Gerechten, die freilich der spekulativen Vernunft bedarf, wenn es nicht bei bloßen
Meinungen und damit bei einer Sache der jeweiligen Machtverhältnisse bleiben soll.“ Gleichwohl
beurteilt er diesen Begriff von Politik als „Theoriediktatur“ (48). Die monierte ‚Verwechslung‘ von
Handeln und Herstellen erweist sich aber als treffende Vermittlung beider, wenn der Begriff des
Handelns nicht unabhängig von den Bedingungen des Handelns, die technisch hergestellt werden
müssen, gefaßt wird. Spekulative Vernunft wäre dann freilich nicht die alleinige Quelle politischer
Begriffe, aber doch der Maßstab der Erfahrung, die als „Interaktion und Kommunikation freier,
handlungsfähiger Individuen […] [ohne] Rechtfertigung durch spekulative Vernunft“ (52) blind
bliebe. – Diese kompromißlosen Stellungnahmen Kants werden übersehen, wenn Kant z. B. mit
Aristoteles, Walter Bagehot und Otto von Bismarck als Gewährsmann der Auffassung zitiert wird,
daß in der Politik Vernunft und Wissen nachrangig seien. Vgl. Uwe Thaysen, Eherne Dichotomien
und Diskrepanzen der Demokratie: Ein Beitrag zur Parlamentarismustheorie, in: Werner J. Patzelt/
Martin Sebaldt/Uwe Kranenpohl (Hgg.), Res publica semper reformanda, a.a.O., 210, 214.
128
Idee, VIII 21.
148 R – S R
stellt oppositionelle Praxis aus Vernunft den Einzelnen unter den herrschenden Bedin-
gungen vor die „verzweifelte Wahl“, „den ihm konträren Weltlauf harmonistisch [zu]
stilisieren und ihm, gegen die bessere Einsicht, heteronom [zu] gehorchen; oder […]
sich, in verbissener Treue zur eigenen Bestimmung, [zu] verhalten, als wäre kein Welt-
lauf, und an ihm zugrunde [zu] gehen“129 .
Sieht die rechtsphilosophische Staatsbegründung sich moralischen Aporien ausge-
setzt, so muß sie das Einspruchsrecht der Moral selbst rechtlich regulieren. Deshalb
verfolgt Kant das Problem des Widerstandsrechts weit über dessen, schon dargestellte,
formale Aporien hinaus.130 Rechtmäßig gesetztes Recht ist mit der Befugnis zu zwingen
verbunden, da es sich nicht auf die Gesinnung, sondern auf den äußeren Handlungser-
folg bezieht. Die Staatsmacht, der um der Rechtsgarantie willen dieser Zwang obliegt, ist
„unwiderstehlich“131 , denn sie vertritt das Gesetz, dem Jeder als Element des vereinig-
ten Volkswillens unterworfen ist. Die Auflehnung der empirischen Bevölkerung gegen
das unter der Vernunftidee stehende Gesetz wäre die Durchsetzung bloßer Partikularin-
teressen; solche Interessendurchsetzung aber, als allgemeine Maxime vorgestellt, wäre
die Entfesselung der Willkür, ein Angriff aufs Recht als solches. Durch die Aufhebung
der Rechtsordnung verginge sich das Volk nicht bloß am Oberhaupt, sondern an sich
selbst, weil Empörung „alle rechtliche Verfassung unsicher macht und den Zustand ei-
ner völligen Gesetzlosigkeit (status naturalis), wo alles Recht aufhört, wenigstens Effect
zu haben, einführt“132 . Um diesen Rückfall in den Naturzustand, auch als greuelhafte
129
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 155.
130
In den handschriftlichen Reflexionen zur Rechtsphilosophie läßt sich verfolgen, wie Kant über
Jahrzehnte hinweg versucht, dieses Themas Herr zu werden, obgleich er die grundsätzlichen
logischen Einwände schon früh erkennt; am Ende steht die trübe Einsicht, daß sich kein Wider-
standsrecht oder auch Recht zur Revolution begründen oder ableiten läßt, im Licht der Hoffnung,
daß die Menschen sich dennoch durch Revolution in den Stand der Weltrepublik bringen werden.
Vgl. Reflexion 8077, XIX 607ff. Dieses Thema, auch in seinem Zusammenhang mit der Entwick-
lung der Französischen Revolution, kann hier nicht eingehend betrachtet werden. Vgl. dazu Dieter
Henrich, Kant über die Revolution, in: Zwi Batscha (Hg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie,
Frankfurt am Main 1976 und Domenico Losurdo, Immanuel Kant. Freiheit, Recht und Revolution,
Köln 1987, sowie neuestens Ludwig Siep, Kant, Fichte und Hegel über Revolution, unveröff. Ms.
131
Gemeinspruch, VIII 299; MdS RL, VI § 48.
132
Gemeinspruch, VIII 301. Die universell entfesselte Willkürfreiheit ist das erste unmittelbare Resul-
tat von Aufklärung. Das in radikaler Metaphysikkritik gelegene subjektive Potential vernünftiger
Weltgestaltung wäre auch im Prozeß der nötigen Aufklärung der Aufklärung durchaus festzuhal-
ten. Peter Bulthaup hat die Schriften des Marquis de Sade als literarische Modelle dieses Problems
gelesen: „Der ständige Hinweis auf die Natur, Sade unterscheidet kaum die erste von der zweiten,
hat nicht die Theorie ihrer systematischen Einheit zum Ziel, sondern dient dazu, durch die hard
facts mit dem teleologischen Gottesbeweis, der allenfalls für einen bösen Dämon gelten soll […]
auch den des guten und vernünftigen Zusammenhangs der Welt zu zerstören, um so den Raum
freizuschlagen für die Konstruktion des heillosen Glücks entfesselter Wollust. Ist einmal in der
Aufklärung die ordnungsheischende Autorität, sei’s die des gesetzgebenden Worts Gottes oder
die seiner Säkularisierung in der Einsicht in die Notwendigkeit des Weltlaufs, zergangen, ist der
subjektive Geist der Verstrickung in die eigene Genesis privat entschlüpft und vagabundiert nun
wildernd, nur seinem partikularen Interesse verpflichtet, durchs Trümmerfeld des von ihm einst
projektierten Reiches, so werden die faulen Wechsel, mit denen Ewigkeit und Zukunft gleicher-
maßen die Versagung erkauften, storniert, dem allgemeinen Wohl, das das des Einzelnen immer
D S: A P 149
Anarchie beschrieben, der wenigstens im Übergang, bis zur Errichtung einer neuen Ver-
fassung, gegeben wäre, auszuschließen, bestehe mit dem Rechtsverhältnis unmittelbar
eine unbedingte Gehorsamspflicht der Bürger gegenüber der Staatsgewalt.
Die Bevölkerung dürfe nicht einmal über den historischen Ursprung der Staatsgewalt
– ob sie aus Selbstunterwerfung durch Vertrag oder aus Usurpation hervorgegangen sei –
nachdenken, denn dieser Ursprung sei für die Gültigkeit der bestehenden Ordnung uner-
heblich, das Nachforschen aber gefährlich, weil es einer interessengeleiteten Empörung
zu einer Scheinlegitimation verhelfen könne; Kant war sich der historischen Herkunft der
bürgerlichen Gesellschaftsordnung durchaus bewußt. Schon die Beurteilung der Staats-
gewalt selbst durch das Volk hält er nun in jeder Hinsicht für unzulässig: „Denn da das
Volk, um rechtskräftig über die oberste Staatsgewalt (summum imperium) zu urtheilen,
schon als unter einem allgemein gesetzgebenden Willen vereint angesehen werden muß,
so kann und darf es nicht anders urtheilen, als das gegenwärtige Staatsoberhaupt (sum-
mus imperans) es will.“133 Kant verwendet hier gleich zwei Äquivokationen. Erstens
zerfällt der allgemein gesetzgebende Wille in summum imperium und summus imperans;
der Gebrauch dieser Äquivokation, ja ihre bloße logische Möglichkeit, zeigt an, daß die
gesetzgebende Gewalt immer schon vollständig vom Volk auf die empirische Herrschaft
übergegangen ist, welchen politischen Ursprungs diese auch sein mag. Als Kriterium der
Gültigkeit von Herrschaft führt Kant hier ausschließlich ihre ‚Gegenwärtigkeit‘ an, die
Faktizität der Macht. Zweitens begründet Kant durch diese Kritik des ‚rechtskräftigen
Urteils‘ des Volks über den Herrscher, daß das Volk kein Recht habe, über die Legi-
timation der Macht zu ‚vernünfteln‘: Durch die Äquivokation des Ausdrucks ‚Urteil‘
in ‚Rechtsurteil‘ und ‚vernünftige Beurteilung‘ wird die Möglichkeit, daß Vernunftge-
brauch zu Kollisionen im Öffentlichen Recht führe, zum Argument gegen die Vernunft
gewendet, nicht etwa gegen die geltende Gestalt des Rechts. Dessen Geltung erweist sich
auch dadurch als von der praktischen Vernunft positivistisch abgekoppelt. Die rechtliche
Wohlordnung der Freiheit impliziert, um die in ihr wirksam erhaltenen Antagonismen
zu regulieren, eine generelle Teilentmündigung der Subjekte dieser Ordnung.
Der Schutz der Rechtsordnung wird zum absoluten, wenn es gilt „selbst den für un-
erträglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen“134 , weil
auch der Angriff auf die zur Despotie pervertierte Staatsgewalt das Recht als solches
in Frage stelle. Dahinter steht das Paulinische Argument, daß alle Obrigkeit göttlichen
Ursprunges sei.135 Zwar hatte schon Thomas von Aquin darauf hingewiesen, daß es die
Form der Hierarchie (‚heilige Herrschaft‘) sei, die sie unangesehen ihres empirischen
Gehaltes als göttlich qualifiziere,136 doch blieb ihre Geltung an Gottes Macht gebunden.
nur anzeigte, nie aber es auszuführen imstande war, die Folgsamkeit gekündigt, und nicht nur
die Untergegangenen, denen das ohnmächtig-sentimentale Eingedenken gilt, sondern auch die, de-
nen die gewaltsame Durchsetzung ihrer Interessen wenigstens teilweise gelang, exkulpiert.“ (Peter
Bulthaup, Artistik des Lustmords. Zu neueren deutschen Ausgaben der Schriften des Marquis de
Sade, in: Diskus 12 (1962)).
133
MdS RL, VI Allg. Anm. A.
134
MdS RL, VI Allg. Anm. A.
135
Vgl. Röm 13,1.
136
Vgl. Thomas von Aquin, Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus, in: Opera Omnia,
Paris 1873, Bd. 8, 2 Buch, Erörterung 44, qu. 2, a. 2. Der Gedanke der Legitimierungskraft
150 R – S R
der hierarchischen Form geht auf Pseudo-Dionysios Areopagita, De coelesti hierarchia und De
ecclesiastica hierarchia zurück. Vgl. Des Heiligen Dionysius Areopagita angebliche Schriften über
die beiden Hierarchien, Kempten 1911.
137
Vgl. Röm 13,5 und Martin Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig
sei, in: Werke, Frankfurt am Main 1982, Bd. IV. Die Paulusbriefe verdanken ihre Wirkung durchs
gesamte Mittelalter bis zu Luther vor allem ihrer zentralen Stellung bei Augustinus, der für alle
widerstreitenden Richtungen in der einen oder anderen Weise Autorität blieb.
138
Vgl. KrV, B 182: „Nun hat jede Empfindung einen Grad oder Größe, wodurch sie dieselbe Zeit,
d. i. den inneren Sinn in Ansehung derselben Vorstellung eines Gegenstandes, mehr oder weniger
erfüllen kann, bis sie in Nichts (= 0 = negatio) aufhört.“
139
Vgl. Gemeinspruch, VIII 299.
140
Gemeinspruch, VIII 306.
D S: A P 151
die Staatsmacht, wenn sie unter Verletzung des Rechtsprinzips Gesetze erläßt, selbst
das Recht als Ganzes angreift. Der Naturzustand wird nicht erst durch den Widerstand
restauriert, sondern schon durch den Mißbrauch der Staatsgewalt, denn die Rechtsord-
nung, die an die Wirksamkeit des Rechtsprinzips gebunden ist, besteht dann nicht mehr.
Der materiale Grund, auch einen auf Wahrung des Rechts gerichteten Widerstand aus-
zuschließen, liegt in der Befürchtung, daß die allgemeine Entfesselung der Willkür dazu
führe, daß alle Einzelnen ihre Privatinteressen im rechtsfreien Raum durchsetzen woll-
ten. Dies immerhin wird durch eine despotische Regierung effektvoll verhindert. Aber
diese pragmatischen Überlegungen, bis hin zur politischen Entmündigung, stehen in
keinem systematischen Zusammenhang mit dem Rechtsbegriff. Immerhin räumt Kant
anmerkungsweise eine Analogie des Widerstands zum Notrecht ein.141 Der Ausschluß
des Notrechts beruht darauf, daß die Erlaubnis, um der Sicherung der eigenen Lebens-
bedingungen willen das Recht zu brechen, jeden Rechtsbegriff aufhöbe; aber die rechts-
widrige Handlung in unmittelbarer Gefahr kann auch nicht bestraft werden.142 Kant ist
darin zuzustimmen, daß es kein in einer Verfassung positiviertes oder auch überpositiv
legitimiertes Widerstandsrecht sinnvoller Weise geben kann.143 Der Versuch aber, die-
sen Ausschluß zu begründen, nötigt zu Bestimmungen des Verhältnisses von Staat und
Bürger, in denen sichtbar wird, daß die Rechtsordnung, wie sie ist, keineswegs mit der
moralischen oder rechtlichen Subjektivität der Bürger harmoniert.
Wenn es der Rechtsbegriff erzwingt, daß noch seine tatkräftige Pervertierung hinzu-
nehmen ist, steht zu befürchten, daß diese Pervertierung im Begriff des bürgerlichen
Rechts selbst angelegt ist. Selbst wenn das Volk „gleichfalls seine unverlierbaren Rech-
te gegen das Staatsoberhaupt habe, obgleich diese keine Zwangsrechte sein können“144 ,
141
Vgl. Gemeinspruch, VIII 300 Anm.
142
Vgl. MdS RL, VI 235f.
143
Veronique Zanetti, Widerstandsrecht und Interventionsrecht, in: Klaus-Michael Kodalle, Der Ver-
nunftfrieden, a.a.O., 119f. bemüht sich um eine pragmatische Lösung. Für Kant ist indes die
Einheit des Rechtsbegriffs ausschlaggebend. – Vgl. zur Sache Grundgesetz für die Bundesrepu-
blik Deutschland, Art. 20.4; der einzige Kommentar, der die rechtslogische Unsinnigkeit dieses
Artikels, bei aller Polemik, treffend darstellt, ist der Kommentar zum Grundgesetz für die Bundes-
republik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), Neuwied 1989 (Art. 20.4: Helmut Ridder).
– Der Kommentar zum Grundgesetz, hg.v. Theodor Maunz/Günther Dürig, München 1991 (Art.
20.4: Roman Herzog) betreibt dagegen trotz der Feststellung, der Artikel habe vor allem „psycho-
logische Wirkung“, eine umfängliche Anwendungskasuistik eines Gesetzes, das seine Anwendung,
wie Ridder eben zeigt, selbst kategorisch ausschließt. Der Kommentar Herzogs von 1980 ist
übrigens in neueren Auflagen beibehalten worden, obwohl seine Interpretation gelegentlich die
sogenannte ‚deutsch-deutsche‘ Situation vorauszusetzen scheint. – Das inkonsistente Verhältnis
von Widerstandsrecht und Staatsrecht bestimmt Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in
der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt. Zu-
gleich ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des modernen Staatsgedankens, Breslau 1916, 3:
„[A]uch nachdem die Wissenschaft durch Kant dem Naturrecht die Bedeutung einer über und ne-
ben der staatlichen bestehenden Rechtsordnung aberkannt hatte, hat die Widerstandslehre noch ein
halbes Jahrhundert in der deutschen Staatsrechtswissenschaft ihre Rolle weitergespielt“. Von der
Renaissance des Widerstandsrechts, das 1968 wieder ins Grundgesetz geschrieben wurde, konnte
Wolzendorff nichts wissen.
144
Gemeinspruch, VIII 303.
152 R – S R
bedeutet dies nur, daß Willkürherrschaft dem Begriff nach aus dem Recht ausgeschlos-
sen sei, der Rechtswirklichkeit nach aber nicht ausgeschlossen werden könne. Dieser
Verbindung des Rechts mit Willkür, die schon Hobbes – um sichere Ordnung bemüht
– affirmiert hatte,145 steht nach Kant ein öffentliches Beschwerderecht entgegen.146 Daß
der Machthaber, indem er Zensur übt, an seiner eigenen Macht zweifle, weil diese nur
„den allgemeinen Volkswillen repräsentirt“147 , dürfte den pervertierten Machthaber, der
den Volkswillen eben nicht repräsentiert, kaum mehr interessieren. Ebenso ist die Kon-
struktion, daß den unter einer Verfassung stehenden Bürgern kein Widerstand gegen
ihren ‚Gebieter‘148 erlaubt sein könne, weil sie sich ja selbst geböten, ein schwacher
Trost für jene empirischen Subjekte des idealen Gebieters, die von dessen realen bloßen
Verwaltungsbeamten mißhandelt werden; sie hat aber immerhin den massenhaft hinge-
richteten Souveränen der 1. Französischen Republik eine egalitäre Hinrichtungsmethode
beschert. – Die Maxime, den Rückfall in den Naturzustand unbedingt auszuschließen,
führt gegen ihre Intention dazu, daß die Menschen verhalten werden, nicht nur Unter-
drückung und widerrechtliche Regierung zu ertragen, sondern sie auch als unter ihrem
kollektiven Willen enthalten zu denken.
Der Anspruch, daß das Recht vernünftig sei, wird so ermäßigt zu der Forderung, den
unbedingten Gehorsam gegen den universellen wechselseitigen Zwang des bürgerlichen
Rechts mit dem ‚Geist der Freiheit‘149 zu harmonisieren. Dies erlegt dem Subjekt aus-
drücklich die unerfüllbare Forderung auf, den Zwang als etwas Vernünftiges einzusehen,
weil dieser Zwang die einzige öffentlich zu garantierende Realisierung ihrer Freiheit, das
bürgerliche Recht, notwendig begleite. Daß der Geist der Freiheit in der Affirmation der
Gewalt durch Vernunft bestehen soll, zwingt die Vernunft selbst, entgegen ihrem eigenen
Prinzip, der moralischen Autonomie. Im aporetischen Anspruch moralischer Begrün-
dung politischen Widerstands manifestiert sich die wesentliche Einheit des kollektiven
Subjekts, die transzendentale Einheit praktischer Vernunft, die kein Dasein hat, gegen
die Bedingungen, die ihr ein Dasein verwehren. Das empirische Kollektiv erscheint da-
durch so zerrissen, wie es seinem allgemeinen Wesen nach in jedem einzelnen Subjekt
ist.
Dieser Riß im Subjekt erscheint im einfachsten, grundlegenden Verhalten der Einzel-
nen zur Gesellschaft. Soziologen gehen davon aus, daß in naher Zukunft grundsätzlich
alle, die „ihrer Selbstverwirklichung zuviel Raum gegeben haben“ und „Chancen nicht
145
Das kennzeichnet die Souveränitätstheorien der frühen Neuzeit generell. Sie gehen alle – mehr
oder weniger – von der Vorstellung des tugendhaften Fürsten aus, der seine Willkür und Gewalt
in den Dienst des bonum commune stellt und sie gerade deswegen unverkürzt innehaben muß. Im
Unterschied aber zu Hobbes legt Bodin einen allgemeinen rationalen Rechtsbegriff zugrunde, der
freilich mit dem Souvernitätskonzept auch kollidiert. Das gilt auch im Verhältnis zu Machiavelli,
weshalb Bodin ihm vorwirft, von Recht und Politik keine Ahnung gehabt zu haben (vgl. Über den
Staat, a.a.O., 94).
146
Vgl. MdS RL, VI Allg. Anm. A und Gemeinspruch, VIII 303.
147
Gemeinspruch, VIII 304.
148
Vgl. Gemeinspruch, VIII 302.
149
Vgl. Gemeinspruch, VIII 305.
D S: A P 153
sofort ergriffen haben“150 , zu den Verlierern der Gesellschaft zählen werden, weil sie
eine zweite Chance nicht erhalten werden. Das bedeutet, daß jeder, der sich nicht früh
genug und nicht rückhaltlos genug zum Mittel heteronomer Zwecke macht, jeder, der
nicht darauf verzichtet, Zweck an sich selbst zu sein, von den in der Selbsterniedrigung
konkurrierenden Zeitgenossen zermalmt werden wird. Was lapidar mit dem verbrauchten
Ausdruck ‚Selbstverwirklichung‘ bezeichnet wird, ist der Anspruch auf Bildung einer
selbstbewußten Persönlichkeit, dessen Erfüllung in der modernen Gesellschaft, auf dem
erreichten Stand der Produktivität, ohne jede Not verweigert wird. Seine geläufige De-
nunziation als asozialer Egoismus führt vor, wie sehr diese vernunftwidrige Verweige-
rung von den Subjekten als Angst vor der Freiheit angenommen wurde. Die aufgespielte
Einsicht in den Verzicht stilisiert angestrengt diese Angst.
Die Maxime, den Naturzustand unbedingt zu vermeiden, gerät unter heteronomen Be-
dingungen mit sich selbst in Widerspruch. So lassen sich für Kant die Staatsveränderung
durch Reform und die durch Revolution durchaus widerspruchsfrei vereinen. Zwar bleibt
durch die Reform der Rechtszustand intakt, aber der Fortschritt unterliegt allein der zu-
fälligen Willkür des Herrschers151 , mit dessen Interesse sie als Selbstentmachtung nicht
koinzidiert. Im Falle der Revolution wird der Rechtszustand unterbrochen, aber nur wenn
nicht die revolutionär gesetzte Ordnung unmittelbar Rechtskraft hat. Deshalb „kann die
Unrechtmäßigkeit des Beginnens und der Vollführung derselben [geglückten Revoluti-
on] die Untertanen von der Verbindlichkeit, der neuen Ordnung der Dinge sich, als gute
Staatsbürger, zu fügen, nicht befreien“152 . Das Prinzip des Rechts, seinem Anspruch
nach im Moralgesetz a priori begründet, hat in beiden Fällen der Einrichtung der bür-
gerlichen Gesellschaft schon unterwegs einer Tendenz zum Gesetzespositivismus nach-
gegeben. Der Revolutionär gegen feudale Willkürherrschaft und Unterdrückung sieht
sich, nach Kants Konstruktion, im Resultat seines Tuns demselben Spuk ausgesetzt,
gegen den er anging: Er muß sich bedingungslos einer Obrigkeit unterwerfen. Unter-
läge nämlich diese auch dem wechselseitigen allgemeinen Rechtszwang, so ergäbe sich,
nach Kant, ein unendlicher Progreß der Hierarchien.153 Daß unter der Voraussetzung der
bedingungslosen Geltung des Rechtsprinzips es gar keine gegen das Volk selbständige
Obrigkeit geben könnte, erwägt Kant nicht, so sehr ist die Theorie der Vereinbarung von
Theorie und Praxis an der gegebenen Praxis orientiert.
In der Folge ist es nicht der Zweck des Staatsrechts, die technisch-praktische Orga-
nisation der Existenzbedingungen der Subjekte im Einklang mit moralisch-praktischen
Gesetzen zu realisieren, sondern es hat „für Menschen, die im Antagonism ihrer Frei-
heit gegen einander stehen, verbindende Kraft, mithin objective (praktische) Realität,
ohne daß auf das Wohl- oder Übelbefinden, das ihnen daraus entspringen mag, noch
hingesehen werden darf“154 . Die Menschen gelten hier nicht als intelligible Subjekte,
150
So formuliert Heinz Bude im IV. Teil der Sendereihe Der deutsche Sozialstaat im Jahr 2025, am
5. 1. 2007 auf NDR Info.
151
Das hat Kant gesehen, wenn er darauf hinweist, daß der Herrscher zum Kriegführen neige, weil
der Krieg nicht ihm, sondern dem Volk etwas kostet. Vgl. Gemeinspruch, VIII 311.
152
MdS RL, VI Allg. Anm. A.
153
Vgl. Gemeinspruch, VIII 291f.
154
Gemeinspruch, VIII 306.
154 R – S R
sondern als empirische Willkürsubjekte, denn als solche können sie in Konflikt geraten,
indem mehrere ihre Willkür durch dasselbe Objekt bestimmen. Kant schließt nun diese
Objekte aus dem Rechtsbegriff aus, zugunsten eines formalen Maßstabs der Willkürko-
ordination. Die Vorstellung der vernünftigen Einrichtung der zweiten Natur, dergemäß
die partikulare Willkür jedes Subjekts prinzipiell mit der jedes anderen kompatibel wäre,
wie es in Anlehnung an die Typik der praktischen Vernunft zu konstruieren wäre, ist für
diesen Rechtsbegriff nicht maßgebend. Er ist Verwaltung des Mangels und setzt voraus,
daß die Menschen von Natur aus Widersacher seien.155
Zwar wendet Kant noch gegen Hobbes ein, daß die Behauptung, die Menschen könn-
ten die Rechtsidee zwar denken, aber nicht praktisch umsetzen und müßten daher in
Zucht gehalten werden, der salto mortale der Rechtsphilosophie sei; diese Bändigung
der Willkür sei ja selbst reiner Willkür überlassen.156 Die von Kant als Grundlage al-
ler Rechtsverhältnisse dagegen gehaltene Achtung vor der moralischen Subjektivität der
Menschen kommt aber in der ‚Zwangsordnung‘ des bürgerlichen Rechts157 nicht zum
Tragen, sondern wird mit der Forderung bedingungslosen Gehorsams, nicht gegenüber
der Vernunft, sondern gegenüber der Macht, korrumpiert. Die moralische Subjektivi-
tät kann nicht mit dem Antagonismus harmonieren. Diesen aber sucht das Recht nicht
durch rationale Organisation, d. h. durch Aufhebung der antagonistischen Bedingungen
des Handelns zu schlichten, sondern es stellt allein dessen Austragung unter Regeln.
Damit erweist sich das Staatsrecht als Mittel der Organisation bürgerlicher Konkurrenz.
Deren Bewahrung hatte Kant in seiner Geschichtsphilosophie als Bedingung kulturellen
Fortschritts behauptet. In dessen Dienst will er nun das Staatsrecht stellen, indem er es
als Funktion des Privatrechts konstruiert: „Dieses [Öffentliche Recht] enthält nicht mehr,
oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als in jenem [Privatrecht] gedacht wer-
den können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden. Die Gesetze des
letzteren betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung), in
Ansehung deren diese Gesetze nothwendig als öffentliche gedacht werden müssen.“158
Es sei die Aufgabe des Öffentlichen Rechts, die Menschen rechtlich zu so verfassen, daß
sie, trotz ihrem Antagonismus, „dessen, was Rechtens ist, theilhaftig […] werden“159 .
155
Das beliebte Argument, aufgrund der menschlichen Ehrsucht und Habsucht blieben auch im Über-
fluß tendentiell alle Produkte, da sie als Statussymbole fungieren könnten, Mangelware, setzt
seinerseits die Identifikation von Gebrauch und Besitz im bürgerlichen Recht voraus sowie die
verheerende Wirkung, die dies im bürgerlichen Selbstbewußtsein gehabt hat. Der weitere Ein-
wand, es gebe von Natur knappe Güter, wie die Liebe eines bestimmten Menschen, unterwirft,
mit Kant, das Liebesverhältnis privatrechtlichen Bestimmungen, einer Verdinglichung des Persön-
lichen, die ebenso verheerend gewirkt hat und wirkt. Dazu folgt Genaueres im Abschnitt über das
dinglich-persönliche Recht.
156
Vgl. Gemeinspruch, VIII 306.
157
Vgl. Religion, B 131. Kelsen zog die positivistische Konsequenz, Recht sei seinem Begriff nach,
immer, eine Zwangsordnung. Vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl., Aalen 1985, 117.
158
MdS RL, VI § 41.
159
MdS RL, VI § 43. Vgl. Idee, VIII 27f. mit der Hervorhebung des Zusammenhangs von bürgerli-
cher Freiheit und Gewerbe; Gemeinspruch VIII 289 mit Betonung der Sicherung des Seinen im
äußeren Verhältnis; ebenso EF, VIII 383; nach MdS RL, VI §§ 48f. ist die Staatsgewalt in Ge-
setzgebung und Regierung auf Erwerbung und Bewahrung ‚in Ansehung dessen, was das äußere
R S 155
Den Antagonismus kanalisiert das Staatsrecht dadurch, daß es die stabile politische
Grundlage der bürgerlichen Privatrechtsordnung herstellt. Wird die von der Vernunft ge-
forderte Stabilität der Lebensbedingungen der Menschen aber unter heteronomen Bedin-
gungen des gegenseitig ausschließenden Privatbesitzes entfaltet, so droht das Öffentliche
Recht zur abhängigen Pragmatistik zu geraten. Es hat dann selbst keinen Gegenstand als
die Stabilität der Ordnung. Das gilt allgemein schon für Solon, der sich der interessenge-
leiteten Kompromißhaftigkeit seiner Reform wohl bewußt war und für Aristoteles, der
jede Verfassung schließlich daran mißt, ob sie stasis und metabolä verhindern könne.
Bei Kant, der das Recht aus Vernunftbegriffen entfalten will, werden durch den abstrak-
ten Vorrang des Interesses an Stabilität die Antagonismen der Praxis in die praktische
Vernunft selbst reflektiert. Gesteht die Philosophie – aus welchem Motiv auch immer
– derart einen natürlichen Antagonismus der Menschen zu, begibt sie sich ihres Ein-
spruchsvermögens und zementiert die Zwangslage der empirischen zerrissenen Subjekte
als deren transzendentale Form.
Mein und Dein betrifft‘ bezogen. Vgl. auch Oliver Eberl/Peter Niesen, Immanuel Kant. Zum Ewi-
gen Frieden. Kommentar, Berlin 2011, 130: „Die Begründung von Besitzrechten dient ihm [Kant;
M.St.] vor allem dazu, die Stiftung eines ustands des öffentlichen Rechts (eines Staates) zwischen
den Individuen zu motivieren.“ – Reinhardt Brandt verweist auf eine „breite Rezeptionsphalanx
[…], die die Rückbindung des Öffentlichen Rechts an das Privatrecht bei Kant leugnet“ (Ent-
hält Kants Vertragsrecht den Sachbesitz der Willkür einer anderen Person?, in: Volker Gerhardt/
Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher, Kant und die Berliner Aufklärung, a.a.O., Bd. IV, 80).
Brandt nennt paradigmatisch Julius Ebbinghaus, Das kantische System der Rechte des Menschen
und Bürgers in seiner geschichtlichen und aktuellen Bedeutung, in: Gesammelte Aufsätze, Vor-
träge und Reden, Darmstadt 1968, sowie Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie.
Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt am Main 1992.
160
Kant versteht die Rechtslehre als ‚metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre‘. Ihre Bestim-
mungen müssen a priori aus dem Rechtsprinzip der allgemeinen Gleichheit der Willkürfreiheit
folgen. Läsionen dieser Gleichheit können so nur bestimmt werden, insofern ihr Ausgleich her-
stellbar ist. Daher ergibt sich, wie noch zu zeigen ist, daß dem Strafrecht kein systematischer Ort
in der philosophischen Rechtslehre zuzuweisen ist. – Zu der grundlegenden Bedeutung, die Kants
Rechtslehre für die Entwicklung des modernen Rechts gehabt hat, vgl. Roderich von Stintzing/
Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Abt. III.2 (von Ernst Landsberg),
München/Leipzig 1910, 185ff.; vgl. ebenfalls Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit,
Göttingen 1967.
156 R – S R
gesetzt, und zwar in Gestalt einer „Neigung der Menschen überhaupt über andere den
Meister zu spielen“161 . Die Grundbestimmung des Privatrechts ist das ausschließliche,
d. h. alle Nicht-Eigentümer vom Gebrauch der Sache ausschließende, Eigentum an Sa-
chen, und zwar grundlegend am allgemeinen oder ursprünglichen Produktionsmittel, der
Erde,162 worauf die Bestimmungen des bürgerlichen und des häuslichen Verhältnisses
der Personen durch Vertrag erst folgen.
Das sachenrechtliche Eigentum nun ergibt sich aus jenem Antagonismus, weil der
Wille, den Boden zu gebrauchen, „wegen der natürlich unvermeidlichen Entgegenset-
zung der Willkür des Einen gegen die des Anderen allen Gebrauch desselben aufheben
würde, wenn nicht jener [Wille] zugleich das Gesetz für diese [Willkür] enthielte, nach
welchem einem jeden ein besonderer Besitz […] bestimmt werden kann“163 . Der Erdbo-
den müsse mit Ausschließlichkeit aufgeteilt werden, damit die Menschen sich überhaupt
reproduzieren könnten, weil sie sonst durch ihre natürliche Konkurrenz sich in der Be-
arbeitung des Bodens behindern und somit ruinieren müßten. Diese Annahme bestimmt
implizit bereits das ‚Allgemeine Rechtsprinzip‘: „Eine jede Handlung ist recht, die oder
nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach ei-
nem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.“164 Dieses Prinzip kongruiert nicht
mit dem kategorischen Imperativ: „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die
du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“165 Während hier die
Bestimmung der Maxime der Willkür durch den Willen thematisch ist, ist es im Rechts-
prinzip die Bestimmung der Handlung durch die Willkür.166 Im kategorischen Imperativ
wird Allgemeinheit erzeugt durch die Bestimmung der Maxime aus reiner Vernunft,
161
MdS RL, VI § 42.
162
Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., 195: „Das allgemeine Arbeitsmittel […]
ist […] die Erde selbst, denn sie gibt dem Arbeiter den locus standi und seinem Prozeß den
Wirkungsraum“, und 193: „Die Erde (worunter ökonomisch auch das Wasser einbegriffen), wie
sie den Menschen ursprünglich mit Proviant, fertigen Lebensmitteln ausrüstet, findet sich ohne
sein Zutun als der allgemeine Gegenstand der menschlichen Arbeit vor.“
163
MdS RL, VI § 16. Über die Bedingungen der Parzellierung folgen unten die Einzelheiten.
164
MdS RL, VI § C.
165
Grundlegung, IV 421. Anders Ralf Dreier, Recht, Moral, Ideologie, Frankfurt am Main 1981,
290ff., der einen engen Zusammenhang von Moral und Recht sieht, im Unterschied zu Horst Drei-
er, Kants Republik, a.a.O. – Otfried Höffe, Ist Kants Rechtsphilosophie noch aktuell?, in: Ders.
(Hg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Berlin 1999, extrapoliert ein ‚moralisch gül-
tiges Recht‘.
166
Vgl. Matthias Lutz-Bachmann, Geschichte und Subjekt, a.a.O., 79. – Für eine andere Interpretati-
onstradition steht Manfred Brocker, Kants Besitzlehre, a.a.O., 50f.: „Die Struktur des allgemeinen
Prinzips des Rechts ist mit der des kategorischen Imperativs identisch. Es hebt lediglich den die-
sem immanenten Standpunkt der ‚Dijudikation‘ hervor.“ Eine mögliche Strukturgleichheit wird
aber im Gehalt der Sätze nicht abgestützt. – Der vor allem von Julius Ebbinghaus (z. B. in Kant
und das 20. Jahrhundert, Darmstadt 1968) vertretenen Interpretation, daß Morallehre und Rechts-
lehre unvereinbar nebeneinanderstünden, sind sowohl Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit,
a.a.O:, als auch Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, a.a.O., entgegengetreten.
Während Kersting mittels Rekonstruktionen die These verfolgt, daß Kant durchgängig konsistent
für die einheitliche Herkunft von Moral und Recht aus der praktischen Vernunft argumentiere, ge-
steht Deggau Kant dies als Argumentationsziel zu, das aber in bestimmten materialen Rechtsfragen
verfehlt werde.
R S 157
d. h. die Maxime muß so gewählt sein, daß ‚durch‘ sie zugleich gewollt werden kann,
daß sie ein allgemeines Gesetz werde, mithin so, daß mit der Maxime, welchen Inhalts
sie auch sei, unmittelbar zugleich ihre widerspruchsfreie Fähigkeit, allgemein zu gel-
ten, gesetzt sei.167 Eine solche Maxime ist nur in einem wollenden Bewußtsein denkbar,
das unter der transzendentalen Einheit der Apperzeption steht. Mehr ist, aufgrund der
Formalität der Maximen, a priori nicht zu sagen. Das Rechtsprinzip geht gleich von ei-
ner Mehrzahl von Willkürsubjekten aus sowie davon, daß diese – nur für empirische
Subjekte vorstellbare Pluralität – in der Bestimmung ihrer Willkür kollidieren. Im Un-
terschied zum Moralgesetz, das auf die notwendige Allgemeinheit der positiven vernünf-
tigen Bestimmung des Willens bezogen ist, unter deren Voraussetzung die Handlung mit
denen aller anderen Subjekte kompatibel wäre, wird im Rechtsprinzip die Allgemeinheit
bloß durch wechselseitige Einschränkung der Willkürfreiheit auf ein gemeinverträgli-
ches Maß hergestellt. Insofern es sich um eine Mehrzahl kollidierender Willkürsubjekte,
Rechtspersonen, handelt, kann die Freiheit des Rechts bloß äußere Freiheit sein.168 Wohl
beruht der kategorische Imperativ durchaus darauf, daß die menschliche Willkür kein
heiliger Wille ist: „Die menschliche Willkür ist dagegen eine solche, welche durch An-
triebe zwar afficirt, aber nicht bestimmt wird, und ist also für sich (ohne erworbene
Fertigkeit der Vernunft) nicht rein, kann aber doch zu Handlungen aus reinem Wil-
len bestimmt werden.“169 Bei einem „heiligen Wesen“ dagegen „findet kein Imperativ
statt“170 .
Die Doppelseitigkeit der Freiheit der Willkür ist aber nicht unmittelbar identisch mit
einem notwendigen Antagonismus der Willkürsubjekte untereinander, dem moralisch
überhaupt nicht beizukommen wäre. Aus der pathischen Seite der Willkür ergibt sich
wohl die Möglichkeit, daß verschiedene Subjekte ihre Willkür auf dasselbe Objekt rich-
ten, in Kollision geraten und so eine Partikularität objektivieren, die nur durch eine
zusätzliche Regel unter eine allgemeine Form gebracht werden kann. Aus dieser physi-
schen Bedingtheit der Willkür folgt aber nur dann ein Antagonismus, wenn die äußeren
Voraussetzungen der Reproduktion so verfaßt sind, daß die Menschen ihre physische
Bedürftigkeit nicht anders als gegeneinander, durch wechselseitige Bekämpfung, befrie-
digen können. Der Mangel aber am Lebensnotwendigen ist zivilisatorisch und kulturell
zufällig, seine geflissentliche Erhaltung, die sowohl gesellschaftliche Gewalt als auch
die ideologische Rechtfertigung des Mangels als Naturbestand menschlichen Daseins
voraussetzt, ist sogar moralwidrig. Kant setzt daher in der Rechtslehre, im Unterschied
zur Moralphilosophie, einen äußerlichen, inhaltlich beschränkten Freiheitsbegriff vor-
aus. Während in der Moralphilosophie Freiheit von der Bestimmung des Willens durch
167
Es geht nicht um ‚Verallgemeinerbarkeit‘ von Maximen, sondern um deren Fähigkeit, allgemeine
Gesetze zu sein. Die erste Vorstellung ist empirisch, die zweite nicht. Darauf hat jüngst Reinhard
Brandt wieder hingewiesen (vgl. Immanuel Kant – Was bleibt, a.a.O.).
168
Vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, a.a.O., 323f.
169
MdS RL, VI 213.
170
MdS RL, VI 222. Diese ‚Unheiligkeit‘ beruht auf dem Dualismus von Natur und Freiheit, den
Bubner als Bedingung von Moral überhaupt bezeichnet. Vgl. Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse
und Handlungsnormen, a.a.O., 88. – Das Verhältnis von Intelligibilität und Körperlichkeit be-
stimmt Hans Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, a.a.O., als Grund der von ihm
analysierten Aporetik (vgl. 35ff.).
158 R – S R
praktische Vernunft nicht unterschieden wird, differenziert Kant hier beide mit einem
vom Recht inspirierten Seitenblick auf die Sittlichkeit: Die sittlichen Gesetze geböten
jedermann „bloß weil und sofern er frei ist und praktische Vernunft hat“171 . Dieser
Freiheitsbegriff der Rechtslehre überwiegt auf der Seite des negativen Verständnisses
moralischer Freiheit als Willkürfreiheit.
Das Verhältnis von Wille und Willkür bestimmt Kant in der Rechtslehre folgender-
maßen: „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen. Die
letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts Anderes, als bloß
auf Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Hand-
lungen sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also
die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings nothwendig und selbst
keiner Nöthigung fähig ist. Nur die Willkür also kann frei genannt werden.“172 Dage-
gen heißt es in der Moralphilosophie, ein Wille, der bloß durch die „allgemeine ge-
setzgebende Form“ bestimmt werde, also ‚bloß auf Gesetz geht‘, müsse „als gänzlich
unabhängig von dem Naturgesetz der Erscheinungen […] gedacht werden. Eine solche
Unabhängigkeit aber heißt Freiheit im strengsten, d. i. transcendentalen Verstande. Al-
so ist ein Wille, dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze
dienen kann, ein freier Wille.“173 Kants rechtsphilosophisches Interesse an der Willkür
gründet darin, daß vom freien Willen aus keine direkte Gegenstandsbeziehung herzustel-
len ist; das Recht soll aber gerade die Sittlichkeitsprinzipien auf Gegenstände anwenden.
Die Gegenständlichkeit der Freiheit, die im ‚Rechtlichen Postulat der praktischen Ver-
nunft‘174 konstruiert wird, um die reine praktische Vernunft zu erweitern, ist im Wechsel
vom Willen zur Willkür schon vollzogen. Der gesetzgebende Wille, der mit der reinen
praktischen Vernunft zusammenfällt, wäre, wie Kant bemerkt, aufgrund dieser Identität
‚schlechterdings notwendig‘. Nach dem Kategorischen Imperativ müßte tatsächlich in
der realen Freiheit des Willens, der gelungenen gesetzmäßigen Bestimmung der Maxi-
men die Freiheit der Willkür erloschen sein: In einer dem ‚Typus der reinen praktischen
Vernunft‘175 zufolge vernunftgemäß eingerichteten Naturordnung, in der jedes vernünf-
tige Subjekt zu sein wünschen könnte, wären keine Willkürkonflikte vorstellbar. Nur
Subjekte, die ihr Leiden zu affirmieren gelernt haben, also keine vernünftigen Subjekte
sind, würden ihre selbstentworfene Ordnung konfliktvoll gestalten.176
Mit jenem Idealtypus der reinen praktischen Vernunft kann Kant in der Rechtslehre
aber buchstäblich nichts anfangen. In dem Wahlvermögen der Willkür, „für oder wider
das Gesetz zu handeln“177 , das auf der Sinnlichkeit der Vernunftwesen beruht, liegen
Notwendigkeit und Möglichkeit einer Rechtsordnung überhaupt begründet. Dieses Ver-
mögen sei aber nicht im Ganzen die Freiheit der Willkür, sondern nur als Vermögen,
171
MdS RL, VI 216; meine Hervorhebung.
172
MdS RL, VI 226.
173
KpV, V § 5.
174
Vgl. MdS RL, VI § 2.
175
Vgl. KpV, V 69.
176
Vgl. Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Studien über Autorität und Familie, Lü-
neburg 1987, 121f.
177
MdS RL, VI 226.
R S 159
dem Gesetz zu folgen; das Vermögen, gegen das Gesetz zu verstoßen, sei in Wahrheit
ein ‚Unvermögen‘. Tatsächlich kann das Vermögen der Willkür nur im Zusammenhang
beider Seiten bestehen, denn das Vermögen, dem Gesetz zu folgen, wäre für sich, ohne
das Vermögen, von ihm abzugehen, gar kein Vermögen, sondern Notwendigkeit. Kant
versucht, das Willensvermögen, das nur durch Abstraktion aller gegenständlichen Be-
stimmungen als sittliches zu gewinnen war, nun dem entgegen ebenso als sittliches auf
die Rechtsgegenstände zu beziehen. Im Resultat bleibt der Wille als praktische Vernunft
im Bereich der Gesetzgebung isoliert tätig, und die Willkür zerfällt in ein positives und
ein negatives Vermögen, die logisch zusammengehören, aber praktisch nicht zusammen
gedacht werden dürfen: „Es ist eine Definition, die über den praktischen Begriff noch
die Ausübung desselben, wie sie die Erfahrung lehrt, hinzutut, eine Bastarderklärung
(definitio hybrida), welche den Begriff im falschen Lichte darstellt.“178
Allerdings ist der praktische Begriff, der negative Freiheitsbegriff, nach dem die Will-
kür nicht unter der Naturkausalität steht, an sich selbst schon – negativ – auf Ausübung
in der Erfahrung bezogen, und eine Definition, die das nicht berücksichtigt, spaltet das
Willenssubjekt in ein Subjekt, das den Gesetzen folgt, und eines, das ihnen nicht folgt;
keines der beiden wäre frei zu nennen. Das eine ist das der idealen Moralität, das andere
das des in der sinnlichen Natur gründenden Antagonismus. Beide unterliegen voneinan-
der unabhängigen Notwendigkeiten, die nicht vereinbar sind. Die Rechtsgesetze orien-
tieren sich nun nicht ebensowohl an der Idealität der Moral als vielmehr an der Realität
der um ihre Existenzbedingungen konkurrierenden Subjekte. Die Regulierung dieser
Konkurrenz soll nun wohl mit der Moral übereinstimmen, ohne doch mit ihr zusam-
menzufallen. Die rechtsbegründende Funktion des Antagonismus widerspricht, insofern
dieser eine Natureigenschaft der Menschen ist, Kants eigener Forderung: „[E]ine Meta-
physik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt
werden.“179 Kant vermeidet den Widerspruch allein dadurch, daß er den Antagonismus
als Eigenschaft a priori auffaßt, die weniger in der Natur der Menschen als in einer
transzendenten Absicht der Natur selbst angesiedelt sei.
Die Unterscheidung der Legalität von der Moralität scheint zunächst nur darauf ge-
richtet zu sein, ob Urteile auf die Handlung oder auf die Maxime bezogen sind: Die
Übereinstimmung der Maxime mit dem Recht begründet Moralität, die der Handlung
mit demselben Legalität. Legal ist danach eine Handlung, die die Freiheit eines ande-
ren nicht lädiert, „obgleich seine Freiheit mir gänzlich indifferent wäre, oder ich im
Herzen derselben gerne Abbruch thun möchte, wenn ich nur durch meine äußere Hand-
lung ihr nicht Eintrag thue“180 . Der damit verbundenen vollständigen Disjunktion von
äußerer Handlung und innerer Willensbestimmung, der völligen Verselbständigung des
Rechts gegenüber der Moral, sucht Kant dadurch zu begegnen, daß er deren Unterschied
genauer auf das Verhältnis von Maxime und Handlung gründet, wodurch es möglich
wird, die Moralität als Übereinstimmung von Gesetz, Maxime und Handlung zu fas-
178
MdS RL, VI 227.
179
MdS RL, VI 217.
180
MdS RL, VI § C.
160 R – S R
sen, während die Legalität nur die von Gesetz und Handlung fordert.181 Dadurch soll
es möglich werden, das Recht analytisch aus der Moral zu gewinnen: „Die Gesetze der
Freiheit heißen, zum Unterschiede von Naturgesetzen, moralisch. So fern sie nur auf
bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch; for-
dern sie aber auch, daß sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen
sein sollen, so sind sie ethisch“182 . Danach wären Rechtspflichten moralisch-juridische,
Tugendpflichten aber moralisch-ethische Pflichten.
Die Begründung durch den Unterschied aller gesetzmäßigen Handlungen zur Naturk-
ausalität ist nun mindestens problematisch, denn Handlungen sind insgesamt empirisch
und unterliegen in der Ausführung der Naturkausalität. Wenn ihre Legalität gegen die
Willensbestimmung gleichgültig ist, können sie vollständig pathologisch begründet sein,
nämlich durch direkte Zwangsgewalt oder durch indirekte, die Angst vor Strafe. Eine sol-
che Handlung unterschiede sich in Kants üblicher Auffassung nicht im Geringsten von
Reflexhandlungen und hätte nichts Moralisches. Dem trägt Kant durchaus mit der Un-
terscheidung der Triebfedern Rechnung: Sei die Pflicht selbst Triebfeder, so handele es
sich um eine ethische Handlung, seien andere Triebfedern zulässig, allenfalls um eine
legale. Kant läßt keinen Zweifel offen, welche ‚anderen‘ Triebfedern hier allein in Frage
kommen: Sie müssen „von den pathologischen Bestimmungsgründen der Willkür“, ge-
nauer von den Abneigungen hergenommen werden, weil die Gesetzgebung „nöthigend,
nicht eine Anlockung, die einladend ist, sein soll“183 . Die Moralität der Rechtsgeset-
ze könnte danach allenfalls in ihrer Legitimation bestehen, wenn diese sich auf reine
praktische Vernunft zurückführen ließe; in ihrer positiven Durchführung dagegen haben
Rechtsgesetze im Idealfall die Wirkung von Naturzwängen und wären höchstens im Sin-
ne einer Erziehungsdiktatur mit Moral in Verbindung zu bringen. Tatsächlich ist für Kant
der Rechtszustand historische Bedingung der Möglichkeit von Moralisierung. Allerdings
steht das Mittel dann in diametralem Gegensatz zu seinem Zweck, der Moral, die sich
Kant zufolge nicht erzwingen lassen kann, weil sie auf freier Einsicht der praktischen
Vernunft beruht.
In der Rechtslehre kann es dann allenfalls darum zu tun sein, die juridische
Gesetzgebung als mit der Moral kompatibel zu fassen; sie an deren Prinzip zu messen,
schon gar sie daraus abzuleiten, dürfte nicht gelingen. Die Erweiterung der Moral,
deren Begriff Kant zufolge allein durch vollständige Abstraktion äußerer Bedingungen
zu gewinnen ist, auf Handlungen, die unter solchen äußeren Bedingungen stehen,
erscheint dann zunächst wenigstens ebenso aussichtslos.184 Wenn Kant die ‚direkt-
ethischen‘ Pflichten ergänzt um die Rechtspflichten, die aufgrund ihrer Beziehung auf
innere Gesetzgebung ‚indirekt-ethische‘ Pflichten seien,185 konstruiert er eine seinem
181
Vgl. MdS RL, VI 219: „Die ethische Gesetzgebung dagegen macht zwar auch innere Handlungen
zu Pflichten, aber nicht etwa mit Ausschließung der äußeren, sondern geht auf alles, was Pflicht
ist, überhaupt.“ Vgl. auch 214.
182
MdS RL, VI 214.
183
MdS RL, VI 219.
184
Auf die Möglichkeit der Kollision von Rechtspflichten und Moralpflichten weist Josef Simon, Kant,
a.a.O., 456ff. und 478 hin: Hier müsse das Subjekt sich entscheiden, ob es sich als moralische oder
als juridische Person begreifen möchte.
185
Vgl. MdS RL, VI 221.
R S 161
eigenen Verständnis nach moralwidrige abhängige Ethik, die das an sich Moralische
in Rücksicht auf seine empirischen Erfüllungsbedingungen setzt. Den moralischen
Legitimationsgrund des Rechts versucht Kant trotz dessen Äußerlichkeit im Recht
selbst zu erhalten, indem er die Naturrechtstradition wenigstens formal beleiht: Äußere
Gesetze, deren Verbindlichkeit a priori erkennbar sei, nennt er „natürliche Gesetze“, im
Unterschied zu „positive[n] Gesetze[n]“186 , die ohne politische Gesetzgebung keinerlei
Verbindlichkeitsgrund aufweisen. Die Disjunktion dieser Bereiche darf, wenn Recht
als äußerliches unter Moral subsumierbar sein soll, nicht vollständig sein: Es muß
möglich sein, positive Gesetze an Naturrecht zurückzubinden. Dies will Kant dadurch
erreichen, daß die Gesetzgebungskompetenz auch eines Gesetzgebers, der allein aus
seiner Willkür Gesetze erläßt, einem naturrechtlichen Begründungsanspruch unterliegen
müsse. Wenden ließe sich dies zum Argument gegen Willkürherrschaft: Wie sollte eine
reine Willkürordnung naturrechtlich abzusichern sein?187
Was Kant wohl noch für unerfüllbar gehalten hätte, wurde jedoch im 20. Jahrhundert
beispielhaft vorgeführt. Der Wille eines ‚Führers‘ wurde unmittelbar Gesetz und gab
sich als natürlich legitimierter, von der ‚Vorsehung‘ eingesetzter. Diese Perversion des
Rechtsbegriffs, die Mystifikation der Rechtsordnung zur Schicksalsgemeinschaft, von
der neuerdings wieder die Rede ist,188 ist in der Äußerlichkeit – der Kontingenz des
bürgerlichen Rechts im Verhältnis zu seiner moralischen Grundlage – selbst angelegt.
Deshalb waren nicht nur Rechtsmystifikationen verschiedener couleurs möglich, sondern
auch eine Rechtstheorie, die sowohl in der Weimarer Republik als auch im Nationalso-
186
MdS RL, VI 224.
187
Dies Problem sieht Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, a.a.O. Aus der naturrechtlichen
Rückbindung des positiven Rechts folge eine absurde „moralische[] Pflicht zum Rechtsgehorsam“
(187). „Das führt zu einem vernunftrechtlich begründeten strikten Vorrang des positiven Rechts
vor dem Vernunftrecht.“ (190). Damit wäre Kant „positivistischer als […] Kelsen[]“ (194). Alexys
Versuch zur Lösung dieses Widerspruchs durch die Radbruchsche Formel gelingt jedoch ebenso-
wenig. – Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., hatte dafür argumentiert, daß „jedes
Pflichtgesetz der Vernunft […] auf ethische Weise gegeben werden“ könne (176). Das ist rich-
tig, wenn Recht aus moralischen Prinzipien entwickelt werden kann. Kersting fährt fort: Jedes
Pflichtgesetz der Vernunft „ist auf ethische Weise gegeben, auch das Rechtsgesetz“ (ebd.). Und
hier greift Alexys Positivismusverdacht insofern, als historisch gegebene Rechtsgesetze nicht un-
bedingt moralisch begründet sind. Kerstings umfangreiche Vereinbarung von Moral und Recht
unter der praktischen Vernunft reduziert beider Unterschied auf den Befolgungsmodus, der beim
Rechtsgesetz auch zwangshaft sein könne. Daß dies auch moralisch möglich sei, erfährt aber die
eigentlich pragmatische Begründung, daß äußere deviante Handlungen der äußeren Regulierung
bedürftig sind, wenn sie nicht die allgemeine Verträglichkeit der Zwecke behindern sollen. Von
der von Kersting so genannten ‚moralteleologischen Auffassung‘ (vgl. 142ff.) unterscheidet sich
das im Grunde nur dadurch, daß das Recht an keine weiteren Zwecke geknüpft wird, sondern sei-
ne Zwangsbefugnis aus sich selbst und um seiner selbst willen gewinnt. Erzwungen werden darf
dann die äußere Handlung bloß deshalb, weil es möglich ist. Der Nachweis, daß die Vereinbar-
keit rechtlichen Zwanges mit moralischer Freiheit aus moralischen Prinzipien zu begründen wäre,
gelingt jedenfalls nicht.
188
So formulierte Angela Merkel am 16. 6. 2005 in ihrer Festrede zum sechzigjährigen Bestehen der
CDU. Vgl. auch Peter Zudeick, Schicksalsgemeinschaft freier Bürger? Die CDU und die Leitkultur,
Politisches Feuilleton, Deutschland Radio Kultur am 7. 3. 2007, www.dradio.de.
162 R – S R
zialismus und in der Bundesrepublik Deutschland Konjunktur haben konnte. Wenn Carl
Schmitt189 in Kritik an dem bloß positiven Begriff von Rechtsgeltung in Kelsens Rei-
ner Rechslehre diese Positivität an das natürliche Vermögen, den Ausnahmezustand zu
beherrschen, zurückbindet, vertritt er die Aporie bürgerlichen Rechts, einerseits histo-
risch zufällig zu sein, andererseits aber als notwendige Bedingung des Fortschritts zu
erscheinen. Diese Notwendigkeit der Rechtsordnung ist von der Macht ihrer gewaltsa-
men Setzung nicht zu trennen; sie wirkt fortgesetzt in der Funktion des Rechts, den
Antagonismus der Subjekte nicht zu vermitteln, sondern durch gewaltbewehrte Regeln
bloß einzudämmen. Das bestimmt auch die sogenannte Radbruchsche Formel, nach der
ein Rechtssatz, der offenkundig unerträgliches Unrecht darstelle, unrichtiges Recht und
deshalb niemals Recht gewesen sei. Selbst diese grundsätzlich positiv ausgerichtete Auf-
fassung, die nur im Extremfall das geltende Recht einem überpositiven Prinzip, der
Gerechtigkeit, unterwirft, ist auf die Durchsetzbarkeit dieses Prinzips, auf die Positivi-
tät politischer Macht, angewiesen. Was daran als juristisches Prinzip über Moralbegriffe
hinausgehen könnte, wird deshalb auf der einen Seite als Überwindung von Unrecht, auf
der anderen als Siegerjustiz wahrgenommen, wenn das historisch unterlegene Rechts-
system als Unrechtsstaat, etwa auch rückwirkend, aufgehoben wird. Überpositivität als
solche, nicht an bestimmte moralische Gehalte gebundene Formel, war auch der natio-
nalsozialistischen Rechtsvorstellung nicht fremd, die es nicht einmal für nötig erachtete,
die Weimarer Verfassung außer Kraft zu setzen, weil sie sich im Gefühl ihres natürlich
überlegenen Rechtsanspruchs ohnehin den mit ihr unvereinbaren Artikeln jener Verfas-
sung überhoben wähnte.190 Hat das Recht, dem Selbstverständnis seiner Geltung nach,
einmal Moralität materialiter hinter sich gelassen, ist sie ihm formaliter nicht mehr bei-
zufügen.191
189
Vgl. z. B. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1996.
190
Radbruch war sich der Gefahr der rechtsförmlichen Beschränkung der Rechtsgeltung durchaus be-
wußt und bestimmt den Ort der Rechtsgeltung daher in dem Widerspruch zwischen positiver und
überpositiver Begründung. Jene gelte auch im Unrechtsfall, solange das Unrecht nicht unerträglich
sei. Dies ist eine Bestimmung, die objektiv keinen, subjektiv aber unendlich viele Anwendungsfälle
hat: Objektiv ist Unerträglichkeit festzustellen, wenn ein Subjekt physisch oder psychisch irrepa-
rabel zusammengebrochen ist; subjektiv kann das Gefühl, etwas nicht mehr ertragen zu können,
dagegen sehr früh eintreten. Vgl. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Heidelberg 1990, Bd. III,
100 oder Dens. Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristenzeitung,
Jg. 1, Nr. 5, 1946.
191
Die Diskussion um die Positivierung weiterer Grundrechte, nun auch für Pflanzen und Tiere
und ethnische Gebräuche (vgl. Arno Baruzzi, Rechtsphilosophie der Gegenwart, Darmstadt 2006,
pass.), abgesehen davon, daß all dies keine Rechtssubjekte sein können, ist ein positivistisches
Scheingefecht. Wenn schon der Schutz der Menschenwürde als mit der Privatautonomie abwäg-
bar angesehen wird (vgl. Theodor Maunz/Günther Dürig (Hgg.), Grundgesetz, München 1991,
Art. 1 (Günther Dürig), Abs. 3, Rn 129f. oder neuerdings dass., München 2005, Art. 1 (Matthi-
as Herdegen), Abs. 1, Rn. 17, 21; auch Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz, Tübingen 1996, Art. 2
(Horst Dreier), Rn 47 und Art. 3 (Horst Dreier), Rn 508; insges. vgl. Ulrich Haltern, Was bedeutet
Souveränität, Tübingen 2007, 72f.), werden den Tier- und Pflanzenschutz noch nicht einmal, was
vernünftig wäre, als Schutz der natürlichen Ressourcen menschlichen Lebens, wirksam garantie-
ren können. Ob ein rechtlicher Schutz der nun ‚Ethnizität‘ genannten Nationalismen die Lage der
Welt zu verbessern vermöchte, sei dahingestellt; im Bürgerkrieg der Jugoslawen war die Koinzi-
R S 163
Wenn jedoch bei Kant von Naturrecht die Rede ist, meint dies kein göttlich oder
kosmologisch begründetes, auch kein in der natürlichen Beschaffenheit der Menschen
liegendes Recht. Die Natur ist als Inbegriff192 der Einheit der Gegenstände möglicher
Erfahrung kein Maßstab fürs Recht, das als regulatives Prinzip aller Handlungen vor
aller Erfahrung in reiner Vernunft begründet sein muß: „[E]ine Metaphysik der Sit-
ten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden.“193
‚Naturrecht‘ kann daher nur heißen, daß dieses Recht allgemein gültig ist, insofern al-
le Menschen ihrer Natur nach über die Freiheit der Willkür und über praktische Ver-
nunft verfügen und daß das Recht eben durch diese Vernunft begründet ist. Daher ist es
Gegenstand der „Rechtswissenschaft“ als „der systematischen Kenntniß der natürlichen
Rechtslehre (Ius naturae) […], [die] zu aller positiven Gesetzgebung die unwandelba-
ren Principien hergeben muߓ194 . Daraus folgt der Anspruch der Rechtslehre, das Recht
vollständig und widerspruchsfrei nach Begriffen darzustellen. Wenn es nun „nur das
äußere und zwar praktische Verhältniß einer Person gegen eine andere“ betrifft, muß
diese Äußerlichkeit, der Charakter a posteriori des Rechts, selbst systematisch, a priori,
begründbar sein. Das soll dadurch gelingen, daß das äußerliche Verhältnis auf das „der
Willkür […] auf die Willkür des anderen“, und zwar „nur nach der Form im Verhältniß
der beiderseitigen Willkür“195 , beschränkt werde.
In diesem Begriff des Rechts, der in dem ‚Allgemeinen Rechtsprinzip‘ komprimiert
ist, liegt nun die Trennung der Legalität von der Moralität, denn die Bedingung der all-
seitigen Beschränkung der Willkür auf allgemeine Kompatibilität bedeutet nicht, „daß
ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst
einschränken solle, sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf ein-
geschränkt sei und von andern auch thätlich eingeschränkt werden dürfe“196 . Diesen
bruchlosen Übergang von der Vernunftidee der Einschränkung zu deren gewaltsamer
Exekution begründet Kant folgendermaßen: „Der Widerstand, der dem Hindernisse ei-
ner Wirkung entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wirkung und stimmt mit
ihr zusammen. Nun ist alles, was unrecht ist, ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen
Gesetzen: der Zwang aber ist ein Hinderniß oder Widerstand, der der Freiheit geschieht.
Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hinderniß der Freiheit nach
allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt
denz des Ethnischen mit brutalsten Nationalismen auf allen Seiten noch gegenwärtig. Nachdem die
Weltgemeinschaft im Abkommen von Dayton die von den Beteiligten gewünschte völkische Se-
lektion dann bestätigt hatte und ‚ethnische Säuberung‘ in Deutschland einmal ‚Unwort des Jahres‘
gewesen war, verlor sich die Scheu vor dem Gegenstand wie vor dem Ausdruck.
192
Zur Bedeutung des Ausdrucks ‚Inbegriff‘ als Begriff, in dem die synthetische Verbindung dessen,
was er bedeutet, vorgestellt wird, in dem insofern Urteilssubjekt und Objekt zusammenfallen, vgl.
die Reflexion 6350, XVIII 676.
193
MdS RL, VI 217.
194
MdS RL, VI § A.
195
MdS RL, VI § B. Zur Äußerlichkeit des Rechtsverhältnisses vgl. auch Kants Briefentwurf an Jung-
Stilling, XI, 10 und aus den Vorarbeiten zur Rechtslehre, XXIII, 274.
196
MdS RL, VI § C.
164 R – S R
wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemei-
nen Gesetzen zusammen stimmend“197 .
Zwangsgewalt, als Negation der Negation von Freiheit gefaßt, wäre logisch sogar
mehr als nur widerspruchsfrei mit Freiheit vereinbar: Sie wäre selbst eine Gestalt von
Freiheit. – Indem Kant das Recht formal unter dem Titel ‚Moral‘ laufen läßt, es inhaltlich
aber aller Moralbestimmung entkleidet,198 werden die dafür eintretenden Rechtsbestim-
mungen ihrerseits mit der Moral konfundiert: Freiheit und Zwang, die weder moralisch
noch logisch in eine widerspruchsfreie Beziehung gesetzt werden könnten, treten rechts-
theoretisch füreinander ein: „Recht und Befugniß zu zwingen bedeuten also einerlei.“199
Was dem Rechtssubjekt an Freiheit verbleibt, ist allein das „Bewußtsein der
Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze“200 . Dieses Bewußtsein ist aber für die
Bestimmung des Handelns gänzlich irrelevant. Es bleibt allenfalls als Bewußtsein des
Rechtsinhalts vorausgesetzt, denn jeder muß wissen können, was er nicht tun soll. Die-
ses Bewußtsein ist in sich aber gegenläufig. Es muß den Rechtsinhalt wissen und weiß
doch zugleich, daß nicht dies Wissen für es bestimmend sei, sondern die pathologische
Angst vor der Strafe. Wo Kant die Angst als bloßes Motiv des Willens intendiert,
wird das intelligible Subjekt tatsächlich zum Erfüllungsgehilfen der pathologischen
Natur seines empirischen Charakters. Wenn das „Princip der Möglichkeit eines äußeren
Zwanges […] mit der Freiheit von jedermann nach allgemeinen Gesetzen zusammen
bestehen kann“201 , dann nur unter der Voraussetzung, daß diese Freiheit nicht mehr
bedeutet als das technisch-praktische Vermögen des Subjektes, seinen Willkürbereich
zu beherrschen. Dieser kann seinerseits technisch beschränkt werden, wenn er die
197
MdS RL, VI § D.
198
Vgl. MdS RL, VI § E: Das strikte Recht ist das, „dem nichts Ethisches beigemischt ist“. Ulli F.
H. Rühl, Kants Deduktion des Rechts als intelligibler Besitz, Paderborn 2010, 40 ff., betrachtet
dieses strikte Recht als eine Zuspitzung, ein bloßes Gedankenexperiment, weil nie eine rechtmäßi-
ge Handlung nur aus Zwang erfolge. Das aber behauptet Kant auch gar nicht; es sagt nur, daß
die rechtmäßige Handlung keiner weiteren Triebfeder bedürfe. Insofern aber ist der moralfreie
Rechtsbegriff ernst gemeint.
199
MdS RL, VI § E. Schärfer als Matthias Lutz-Bachmann es tut (vgl. Geschichte und Subjekt, a.a.O.,
126) wäre zu sagen, daß Kant nicht allein durch die Anwendung der transzendental stimmig be-
gründeten Rechtsbegriffe auf gesellschaftliche Wirklichkeit in Widersprüche gerät, sondern daß
die Begründung selbst schon die gesellschaftlichen Widersprüche verinnerlicht hat. – Unter Ver-
weis auf Kants Naturrechtsvorlesung von 1784 (Feyerabend) (XIX, 1335) bemerkt Willaschek, die
Zwangsbefugnis sei nicht die Definition des Rechts, sondern eine Folge aus dem Rechtsbegriff.
Vgl. Marcus Willaschek, „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“ und „Zweiter Zwang“.
Bemerkungen zur Begründung des Zwangsrechts bei Kant und Hegel, in: Barbara Merker/Georg
Mohr/Michael Quante, Subjektivität und Anerkennung, a.a.O., 271ff. Aber die Zwangsbefugnis
folgt deshalb dem Rechtsbegriff, weil dieser durch Trennung von der Moral definiert ist: Erst als
äußerliches ist Recht physisch legitimerweise und überhaupt erzwingbar, und nur äußerlich ist sei-
ne Einhaltung überhaupt kontrollierbar. Ulli F. H. Rühl, Kants Deduktion des Rechts, a.a.O., 38 f.,
bestreitet die Identifizierung von Recht und Zwangsbefugnis, da die Billigkeit bei Kant selbst ein
nicht erzwingbares Recht darstelle. Zwar nennt Kant es ein Recht im weiteren Sinne, reagiert da-
mit aber darauf, daß es sich um einen traditionellen topos der Rechtslehre handelt, um dann zu
zeigen, daß es im systematischen Sinn kein Recht ist. Daher wird es in der Einleitung abgehandelt.
200
MdS RL, VI § E.
201
MdS RL, VI § E.
R S 165
Willkürbereiche Anderer lädiert.202 Das allgemeine Gesetz, nach dem das geschieht, ist
kein moralisches, denn moralische Freiheit ist mit dem Zwang, den dieses äußerliche
Verfahren erfordert, unter keinen Bedingungen vereinbar.203
Die äußerliche Freiheit der Willkür, aus der das Rechtssystem begründet wird, ist kon-
sequent die gegenständliche des äußeren Mein und Dein. Die Freiheit, die zum inneren
Mein gehört, kann Kant zufolge nicht als Rechtsprinzip gelten, wenngleich sie als Be-
stimmung der Rechtssubjektivität allem Recht vorausgesetzt ist. „Das angeborene Recht
ist nur ein einziges. Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nöthigender Willkür),
sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen beste-
hen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit
zustehende Recht.“204 Diese Freiheit als Grundbestimmung der Persönlichkeit „eines
vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen“ ist Bedingung dafür, daß die Person,
das Rechtssubjekt, „einer Zurechnung fähig“205 ist. Die Verletzung dieser Freiheit kann
aber nach Kants Rechtsbegriff nicht justitiabel sein, weil dieser sich auf äußere Handlun-
gen im Verhältnis zu gleichfalls äußeren Willkürsphären der Rechtssubjekte bezieht. Das
Recht kann Läsionen dieser Willkürsphären heilen, indem es den Lädierenden auf Leis-
tung oder auf Schadensausgleich für den Lädierten verpflichtet. Grundsätzlich Anderes,
Rechte des intelligiblen Subjekts etwa, sind aus dem ‚allgemeinen Rechtsprinzip‘nicht
abzuleiten.
Die innere Freiheit als solche kann nun durchaus verletzt werden durch psychische
Folgen von tätlichen Angriffen, Erpressung, Nötigung, Folter und anderem mehr, aber
sie erscheint nicht selbst in der Sphäre des Kantischen Rechts, das seinem Kern nach
Privatrecht ist.206 Ihre Erscheinungen sind empirische Handlungen, die durch andere
202
Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 59: „Ferner erscheint im heutigen
Recht für den Menschen der Mitmensch nicht als Bedingung des eigenen Menschseins, sondern
als Grenze und Begrenzung der eigenen rechtlichen Freiheit“. Dies ist womöglich ein sittliches,
aber kein moralisches Verhältnis.
203
Vgl. auch Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik nebst ihren Anwendungen auf Recht,
Religion und Geschichte, Berlin 1910 oder Waldemar Schreckenberger, Legalität und Moralität,
Heidelberg 1958. – Ein engagierter Versuch, den Zwang des Rechts mit der moralischen Freiheit
unter der Gesetzgebung der Vernunft zu vereinbaren, findet sich bei Wolfgang Kersting, Wohlge-
ordnete Freiheit, a.a.O., 112-133.
204
MdS RL, VI 237.
205
MdS RL, VI 223.
206
Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 60: „Die in den Menschen- und
Bürgerrechten ausgesagte Bestimmung vom Menschen ist die Freiheit, aber die Freiheit nicht als
metaphysische Freiheit, auch nicht als transzendentale Freiheit, sondern als subjektive Freiheit der
Einzelnen im Sinne von Wahlfreiheit“. Wenn Böckenförde anfügt „und freier Selbstbestimmung“,
ist darunter sicher nicht Kantische Autonomie gemeint, die ein metaphysischer beziehungsweise
transzendentaler Begriff ist. – Zum Ausschluß des inneren Mein aus dem Privatrecht vgl. Reinhardt
Brandt, Enthält Kants Vertragsrecht den Sachbesitz der Willkür einer anderen Person?, a.a.O., 72
und Heiner F. Klemme, „Das angeborene Recht der Freiheit“. Zum inneren Mein und Dein in
Kants Rechtslehre, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher, Kant und die
Berliner Aufklärung, a.a.O., Bd. IV, 186. Klemme zeigt zudem, daß Kant aus dem inneren Mein
weder öffentlich-rechtliche, noch zivil- oder strafrechtliche Konsequenzen zieht: „Es gehört zu den
Eigentümlichkeiten der kantischen Rechtslehre, daß sie uns über den besonderen Status unseres
166 R – S R
empirische Handlungen lädiert werden können. Solche Läsionen des inneren Mein ver-
ortete die frühbürgerliche Rechtslehre in veräußerlichten Erscheinungen dieser Freiheit.
So versteht Grotius unter Recht „das Seinige“ eines jeden als „moralische Eigenschaft,
kraft der eine Person etwas mit Recht haben oder tun kann“207 . Im einzelnen heißt das:
„Sie umfaßt die Macht sowohl über sich selbst, welche Freiheit heißt, als auch über an-
dere, wie die väterliche Gewalt oder die Gewalt des Herrn über seinen Sklaven. Ferner
wird darunter das Eigentum verstanden […]. Endlich gehört hierher das Recht des Gläu-
bigers“208 . Das aus der vernünftigen Sorge um den dauerhaften Nutzen der menschlichen
Gemeinschaft entspringende Naturrecht vereint privat- und strafrechtliche Bestimmun-
gen unter dem Leitbegriff des gerechten Ausgleichs. Daher ist die rechtlich relevante
Freiheit eine veräußerlichte, deren Objektivierungen dann durch Kriege verteidigt oder
durchgesetzt werden können.209 Nach Hobbes dient Freiheit der Erhaltung des Lebens
und ist so explizit äußere Handlungsfreiheit, Freizügigkeit: „Unter Freiheit versteht man
im eigentlichen Sinne die Abwesenheit äußerer Hindernisse.“210 Deutlich schreibt er:
„[W]enn man die Wörter frei und Freiheit auf irgendetwas anderes als Körper anwendet,
mißbraucht man sie“211 . Locke schließlich leitet aus der Freiheit als Recht auf die eigene
Person die Eigentumsbegründung durch Arbeit ab.212 Einen verinnerlichten Begriff von
Freiheit verwendet Pufendorf. Aus der natürlichen und intelligiblen Beschaffenheit der
Körpers im Unklaren läßt, also nicht klärt, wie es möglich ist, dass unser inneres Mein und Dein
dadurch lädiert wird, dass man dem menschlichen Körper Schaden zufügt.“ (185).
207
Hugo Grotius, De jure belli ac pacis, a.a.O., Buch 1, Kap. 1, Abs. 4.
208
Hugo Grotius, De jure belli ac pacis, a.a.O., Buch 1, Kap. 1, Abs. 5.
209
Vgl. Hugo Grotius, De jure belli ac pacis, a.a.O., Buch 2, Kap. 1.
210
Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., Kap XIV.
211
Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., Kap. XXI.
212
John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt am Main 1977, Zweite Abhand-
lung, § 27. Nachdem die zentrale Position des Begriffs ‚property‘ bei Locke dazu geführt hatte,
diesen leichthin als bürgerlichen Ideologen abzustempeln, ist wiederholt darauf hingewiesen wor-
den, daß ‚property‘ nicht auf Sacheigentum beschränkt sei, sondern an den Begriff des ‚meum‘ in
der weiten Bedeutung anschließt – was in Lockes Schrift klar am Tage liegt. Vgl. Peter Laslett,
Introduction, in: John Locke, Two Treatises of Government, Cambridge 1999, 101ff. und Ludwig
Siep, Kommentar, in: John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, Frankfurt am Main
2007, 330. Allerdings besteht die Tendenz, Lockes Eigentumslehre geradezu als Kritik am kapita-
listischen Eigentum aufzufassen (vgl. Peter Laslett, Introduction, a.a.O., 106). Dazu ist zu sagen,
daß Lockes ‚property‘ zwar bei der Selbstverfügung über die eigene Person ansetzt, aber nur,
um daraus die Möglichkeit von Sacheigentum zu begründen. – Tatsächlich paßt die Sacheigen-
tumsbegründung durch Arbeit zunächst nicht in die bürgerliche Tradition: Schon Kant weist sie
explizit zurück, weil das Verhältnis der Arbeitskraft zum Arbeitsgegenstand kein rechtsförmiges
Verhältnis zwischen Personen begründet. Reinhard Brandt hat darauf hingewiesen, daß dahinter
die metaphysische oikeiosis-Lehre der Stoa steht. (Vgl. Immanuel Kant – Was bleibt?, a.a.O.) –
Nur als Rechtsverhältnis von Personen aber wäre Sacheigentum überhaupt zu begründen. Indem
Locke Aneignung durch Arbeit begründet, verdeckt er die von Kant hervorgehobene Okkupation
und hat insofern weniger Schwierigkeiten mit dem bürgerlichen Eigentum als Kant. In dem Zu-
sammenhang von einer ‚Arbeitswertlehre‘ zu reden, wie es öfters geschieht (so auch bei Franco
Zotta, Immanuel Kant. Legitimität und Recht, a.a.O., 28, der sogar „Arbeitswerttheorie“ schreibt),
geht doch etwas zu weit. Die unbefriedigende Konstellation von Freiheit, Eigentum, Erwerb und
Arbeit, deren Vermittlung auch Hegel nicht gelingt, wird bei Marx zum Motor der ‚kapitalistischen
R S 167
Menschen ergebe sich die allgemeine Pflicht, das Gemeinwohl zu fördern, woraus Na-
turrechtsgrundsätze abgeleitet werden, die „Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit sowie
Ehre und Sittlichkeit“213 ebenso schützen wie den Besitz erworbener Güter. Die For-
derung der Wiedergutmachung verursachter Schäden an Körper, Gesundheit, Freiheit
und Ehre erweist sich aber als unerfüllbar, die Läsionen durch Mord, Körperverletzung
oder Erpressung selbst als systematisch nicht justitiabel. Sie werden Gegenstände ei-
ner pragmatisch konstruierten Abteilung des Zivilrechts, soweit Schmerzensgeld oder
Entschädigung betroffen sind, oder, hinsichtlich des Spezifischen dieser Läsionen, Ge-
genstand des Strafrechts.214
Das Strafrecht aber ist aus Kants rechtlichem Freiheitsbegriff, den er von dem avan-
cierten moralischen Freiheitsbegriff ablösen mußte, nicht systematisch zu begründen und
macht daher auch keinen dogmatischen215 Teil der Rechtslehre aus.216 Kants Bemühung,
contre cœur, in einer Anmerkung zum Staatsrecht gemäß dem sachenrechtlich orientier-
ten Rechtsprinzip doch noch ein Strafrecht zu begründen, gibt sich unkompliziert, ist
aber zutiefst widersprüchlich. Kant begründet die Strafe nicht als Spezial- oder Gene-
ralprävention; Hegel schließt dies später explizit mit einem Kantischen Argument aus:
Der Bestrafte würde so zum bloßen Mittel eines ihm fremden Zweckes gemacht.217 Al-
lerdings kann die Strafe als mit dem Selbstzweck des Bestraften vereinbar nur durch
dessen vollständigen Verlust seiner Persönlichkeit begründet werden. Strafe als Sühne
oder Vergeltung setzt eine tätige Verletzung der Integrität der Rechtsordnung voraus,
die durch das Erleiden der Strafe zu heilen wäre.218 Einerseits wird damit die Rechtsord-
nung selbst, gleich Dikä, zu einer Rechtsperson hypostasiert, die Läsionen erleiden kann,
andererseits wird die Person des Verbrechers als durch das Verbrechen dem Strafzwang
ausgeliefert betrachtet: Die Nichtigkeit seiner Person, die durch die Strafe zu exekutie-
ren ist, gleicht dann die Läsion der Integrität der Rechtsordnung aus. Zugleich beinhaltet
der Begriff der Vergeltungs- oder Sühnestrafe, wie Hegel besonders herausgestellt hat,
die Heilung der Läsion der Persönlichkeit des Täters, die Aufhebung der Schuld. Diese
Akkumulation‘. – Im vorliegenden Zusammenhang ist indes nur von Bedeutung, daß der Begriff
des Eigentums bei Locke zu besonderer Bedeutung erhoben wird.
213
Samuel von Pufendorf, Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der
Natur, Frankfurt am Main 1977, Kap. 6, § 3.
214
Der Pragmatismus erscheint darin, daß die Höhe der Entschädigung unter anderem von der Stel-
lung der sie erzwingenden staatlichen Gewalt zu ihrem Grund abhängt. Das erweist sich am
Vergleich der Höhe von Entschädigungen für psychische Läsionen die Bürger einander, etwa durch
Geiselnahme, zufügen, mit der Höhe von Entschädigungen für gleichartige im Staatsauftrag zuge-
fügte Läsionen, wie durch irrtümliche Gefängnishaft.
215
Der Ausdruck ‚Dogmatik‘ bedeutet im Zusammenhang des Rechts nicht eine unbegründete Lehr-
meinung, sondern gerade das juristische Verfahren der begrifflich-systematischen Ableitung von
Rechtssätzen aus Rechtsgrundsätzen.
216
Vgl. Marcus Willaschek, „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“ und „Zweiter Zwang“,
a.a.O., 281.
217
Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 99 Anm. Hegel argumen-
tiert hier explizit gegen die von Paul J. A. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland
geltenden peinlichen Rechts, Frankfurt am Main 1985, vorgebrachte Präventionsstraftheorie.
218
Etwas anders versuchte Kant noch in der KpV, das Strafrecht aus dem Sittengesetz zu begründen.
Vgl. KpV, V 37.
168 R – S R
Heilung der Persönlichkeit fällt aber mit der Aufhebung der Persönlichkeit ineins, weil
dem Subjekt der Bestrafung die Freiheit seiner Willkür entzogen ist; es kann zum Objekt
werden, weil es „durch Verbrechen seine Persönlichkeit eingebüßt hat“219 . Als sinnvolle
Strafen nennt Kant zuvörderst die Todesstrafe, Zwangsarbeit, Schuld- und Strafsklaverei
sowie Kastration.220 Die Begründung minderer Strafen, für Beleidigung beispielsweise,
geht vom antiken Begriff der proportionalen Gleichheit aus: Was den Einen beleidigt,
mag den Anderen, aufgrund seiner sozialen Stellung, wenig anfechten. Dies ist fallwei-
se und phantasievoll zu lösen, so daß „dieser nicht allein öffentlich abzubitten, sondern
jenem, ob er zwar niedriger ist, etwa zugleich die Hand zu küssen, durch Urtheil und
Recht genöthigt würde“221 .
Das Strafrecht ist für Kant durchaus kein bloßes Instrument politischer Zwecke, son-
dern weil die politische Gemeinschaft selbst notwendiger Zweck ist, sei es in der Natur
der Menschen verankert. Dies zeigt das Beispiel des Inselvolkes, das sich in alle Welt
dissoziiert, aber zuvor noch alle verurteilten Mörder hinzurichten hat, damit „die Blut-
schuld nicht auf dem Volke hafte […]; weil es als Theilnehmer an dieser öffentlichen
Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann“222 . Indem Kant das Strafrecht
nach dem Tallionsprinzip – Vergeltung, Gleichheit, Ausgleich des Schadens am Recht –
faßt, muß er in den Subjekten solche Vergleichbarkeit voraussetzen und so deren Würde
auf ein Äquivalent, einen Preis, reduzieren. Vielleicht erscheint hier der prekäre Charak-
ter der äußerlichen Rechtssubjektivität am klarsten: Das Subjekt, dem zugerechnet wird,
hat die Persönlichkeit, aufgrund derer ihm zugerechnet wird, längst verloren.223
Das moderne Strafrecht setzt hingegen die Zurechnungsfähigkeit als entscheidendes
persönliches Merkmal voraus.224 Die Angaben zu den persönlichen Verhältnissen fol-
gen im Kern den Bestimmungen des BGB zur Person, die lediglich Geburt, Wohnort
219
MdS RL, VI 358. Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 100
Anm., wo er sich gegen Einwände gegen die Todesstrafe ausspricht, wie sie Cesare Beccaria,
Über Verbrechen und Strafen, Frankfurt am Main 1998, vorbrachte. Nach Hegel ist die Straftat
unmittelbarer Ausdruck des Willens des Täters, bestraft zu werden, denn als Willenssubjekt habe
er die Tat begangen und als Willenssubjekt könne er nur existieren, wenn er bestraft werde, weil
die ungesühnte Läsion der Rechtsordnung die sittliche Möglichkeit freier Subjektivität aufhebe. So
erwerbe der Täter durch die Tat einen Anspruch auf Bestrafung. Nur so sei seine Persönlichkeit
reparabel, da er mit der Läsion der Rechtsordnung zugleich die sittliche Grundlage seiner eigenen
Persönlichkeit in Frage gestellt habe. Der Widerspruch im Verbrechen, das zweckgemäß nur in
einer sonst gültigen Rechtsordnung verübt werden kann, reproduziere sich in der widersinnigen
Einsicht, daß die eigene Subjektivität nur mehr durch deren Preisgabe zu restituieren sei, die bei
Hegel das Verbrechen zum Übergang des abstrakten Rechts in die Moralität werden läßt.
220
Vgl. MdS RL, VI Anm. E sowie Anhang Nr. 5.
221
MdS RL, VI Allg. Anm. E.
222
MdS RL, VI Allg. Anm. E.
223
Ähnlich wie der Status des Widerstandsrechts gibt der des Strafrechts indirekt Auskunft über
den je gültigen Status des praktischen Subjekts im Recht. Vgl. dazu auch Georg Mohr, Recht
als Anerkennung und Strafe als „Abbüßung“. Trifft Hegels Kritik der Präventionslehre Fichtes
Begründung der „peinlichen Gesetzgebung“?, in: Barbara Merker/Georg Mohr/Michael Quante,
Subjektivität und Anerkennung, a.a.O., 243ff. – Die Strafrechtsgeschichte behandelt Kant dagegen
zumeist nur noch als Beispiel für Rückständigkeit in der Entstehungszeit des modernen Strafrechts.
224
Vgl. StGB §§ 20f.
R S 169
und Name umfassen, also das, was unbedingt erforderlich ist, um ein Rechtssubjekt als
solches dingfest zu machen.225 Schon das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794
hatte die Person auf ihre Relationalität in der Rechtssphäre reduziert: „§ 1. Der Mensch
wird, in so fern er gewisse Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genießt, eine Person
genannt.“226 Insofern die Rechte das sind, wodurch eine Person auf andere Personen be-
zogen ist, gilt die Person selbst als Platzhalter der Summe aller möglichen Relationen.
Das schwingt mit in der Vorbemerkung Hans-Jürgen Krahls zu seinen Angaben zur Per-
son: „Angaben zur Person zu machen, kann nicht heißen, auch nicht im Hinblick auf ein
Gericht wie dieses, zu definieren, was man heute noch hämisch genug ‚Persönlichkeit‘
nennt.“227 Wenn Krahl dann dem Gericht eine später zehn Buchseiten fassende Entwick-
lungsgeschichte seiner Person zumutete, so wollte er das Mißverhältnis von empirischem
und intelligiblem Charakter blamieren und aufzeigen, daß die Bestimmung der Persön-
lichkeit als Zurechnungsgrund der Person im bürgerlichen Recht, auch im bürgerlichen
Strafrecht, ihrem moralischen Gehalt nach ausgefallen ist. Die negative Bestimmung der
Zurechnungsfähigkeit nach StGB §§ 20 und 21 hat indes psychische Krankheit zu ih-
rer materiellen Basis; nur weil und soweit diese sich gutachterlich feststellen läßt, kann
die Kantische Konsequenz vermieden werden, daß die Willkür des Verbrechers in kei-
nem aktuellen rechtlichen Verhältnis mehr zur Allgemeinheit stehe. Im modernen Recht
bleiben der Verbrecher und auch der psychisch kranke Straftäter, soweit er nicht unter
Pflegschaft steht, formell Bestandteil der Rechtsgemeinschaft.
Kants Begriff des Rechtssubjekts ist aber noch nicht rein formell gefaßt. Im Zusam-
menhang des Strafens wird der rechtliche Status metaphysisch aufgeladen. Das liegt
225
Vgl. Otto Palandt u. a. (Hgg.), BGB, 55. Aufl., München 1996, Erster Abschnitt. Personen, Erster
Titel. Natürliche Personen, §§ 1, 7, 12. Dem entspricht in der StPO (Heinrich Schönfelder (Hg.),
Deutsche Gesetze, 98. Aufl., München 2000, EL 99, § 68, Abs. 1 „Vornamen und Zunamen, Alter,
Stand oder Gewerbe und Wohnort“
226
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, 1794, zitiert nach Hans Hattenhauer, „Per-
son“ – Zur Geschichte eines Begriffs, in: Juristische Schulung 22. Jg., Heft 6, München 1982.
– Vgl. hierzu den systematischen Überblick bei Stephan Kirste, Dezentrierung, Überforderung
und dialektische Konstruktion der Rechtsperson, in: Joachim Bohnert u. a. (Hgg.), Verfassung –
Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach, Berlin 2001. Der postmoderne Per-
sonbegriff bei Karl-Heinz Ladeur, Gunther Teubner oder auch Niklas Luhmann, demzufolge die
Person nicht mehr als Autor von Handlungen, sondern als Katalysator sozialer Prozesse (vgl.
ebda. 323) und der Grundrechteberechtigte als Funktion des Rechts (vgl. ebda. 324) oder Zurech-
nungspunkt (vgl. ebda. 326) erscheine, wird als ein Resultat der Positivierung entwickelt: „Im
Lauf des 19. Jahrhunderts verblaßte das Bewußtsein vom Zusammenhang von sittlicher Person,
Rechtsperson und Menschenrechten immer weiter zugunsten einer Konzentration auf die Person
als ‚Gegenstand‘ des positiven Rechts. Damit ging ein Bedeutungsverlust der Person einher, die
nun eher in ihren rechtlich relevanten Funktionen der Rechtsfähigkeit erfaßt und diskutiert wurde“
(ebda., 335). Dieses Verständnis formuliert Kelsen: „Die physische oder juristische Person, die
Rechtspflichten und subjektive Rechte – als deren Träger – ‚hat‘, ist diese Rechtspflichten und
subjektiven Rechte, ist ein Komplex von Rechtspflichten und subjektiven Rechten, deren Einheit
im Begriff der Person figürlich zum Ausdruck kommt“ (Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl.,
Wien 1960, 177). Allerdings ist dies auch in der Naturrechtstradition schon angelegt, soweit dort
juristisch von Person die Rede ist.
227
Hans-Jürgen Krahl, Angaben zur Person, in: Konstitution und Klassenkampf , Frankfurt am Main
1977, 19.
170 R – S R
daran, daß Strafen nicht formal aus dem Rechtsbegriff zu begründen sind, konsequent
fällt das Strafrecht aus der weiteren Dogmatik des Rechts heraus. Weil die Dogmatik die
Rechtsgehalte aus dem Verhältnis freier Willküren begründen soll, ist sie auf Rechtssub-
jekte beschränkt, deren Persönlichkeit nicht lädiert oder aufgehoben ist. Die Rechtslehre
behandelt deshalb das Verhältnis von innerem Mein und Eigentum in der Einleitung,
um sich dann auf das äußere Verhältnis der Subjekte als Eigentümer zu beschränken.228
Das auf Verletzungen des inneren Mein bezogene Strafrecht wird nur noch anmerkungs-
weise erwähnt. Der mit dem Privatrecht verbundene Zwang, die Befugnis des Rechts zu
zwingen, ist hingegen kein strafrechtlicher Zwang, sondern die Möglichkeit, Ansprüche
durchzusetzen. Der mit dem Privatrecht verbundene Zwang ist kein Strafzwang.229
228
Vgl. MdS RL, VI 238: „Da es nun in Ansehung des angebornen, mithin inneren Mein und Dein
keine Rechte, sondern nur Ein Recht giebt, so wird diese Obereintheilung als aus zwei dem Inhalte
nach äußerst ungleichen Gliedern bestehend in die Prolegomenen geworfen, und die Eintheilung
der Rechtslehre bloß auf das äußere Mein und Dein bezogen werden können.“ Vgl. auch An-
thropologie, VII 270: „der Rechtsbegriff“ geht „unmittelbar aus dem Begriff der äußern Freiheit
hervor[]“. Dies ist der Grund dafür, „warum […] Kant bis zum § 42 [wartet], um den status civilis
vernunftrechtlich zu begründen“ (Heiner F. Klemme, „Das angeborene Recht der Freiheit“, a.a.O.,
184): Dieser status folgt nicht aus der inneren Freiheit, sondern als Bedingung der Möglichkeit
äußerer Freiheit, d. h. als Garantie des Privatrechtsverkehrs. – Hierzu schreibt Reinhard Brandt,
Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, a.a.O., 180: „Kant kennt kein Recht auf Selbsterhaltung.
[…] Das Recht an irgendwelchen Dingen (die zur Lebenserhaltung dienen mögen) wird so begrün-
det, daß ein Rekurs auf die Bedürfnishaftigkeit des Lebens selbst weder möglich noch notwendig
ist. […] Kant denkt hier [d. i. VI, 307] nicht an Lebensbedrohung, sondern an die Bedrohung der
äußeren Habe.“ – Ulli F. H. Rühl, Kants Deduktion des Rechts, a.a.O., plädiert dafür, daß die
Behandlung des inneren Mein in der Einleitung sich dem pragmatischen Grund verdanke, daß sie
für einen Hauptteil zu kurz sei (47), bzw. daß Kant hier keinen Begründungsbedarf gesehen hätte
(67). Kant hingegen reklamiert einen ‚äußersten inhaltlichen Unterschied‘ zwischen innerem und
äußerem Mein, der sich systematisch auswirkt: Aus dem inneren folgen – abgesehen von seiner
Unverletzlichkeit – keine bestimmten Rechtsbegriffe, aus dem äußeren jede Menge.
229
Dies wird häufig übersehen, so zuletzt bei Gerold Prauss, Moral und Recht im Staat nach Kant
und Hegel, Freiburg 2008, 39, 41, 43, 92, 99, 102, 108; aber auch bei Kersting, Wohlgeordnete
Freiheit, a.a.O., 133, scheint dies in der Formulierung durch: „Der Zwang kann nur indirekt nöti-
gen. Letztlich ist es die Selbstliebe, die zu gesetzeskonformem Verhalten nötigt.“ Zwar gibt Kant
in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten den Zwang als eine mögliche Triebfeder des Rechts
an, aber die Zwangsbefugnis in der Einleitung in die Rechtslehre spricht vom Zwang nicht als
Triebfeder, sondern als direktem Handlungskorrektiv.
230
MdS RL, VI § 18.
R S 171
ist zunächst „nicht ein Sachenrecht“231 . Die Freiheit als äußere führt aber auf einen
Rechtsbegriff, der einen Gegenstand erfordert, der nicht aus ihm selbst abzuleiten ist.
Es erfordert ihn deshalb, weil ein Vertrag über nichts die Bestimmung der Willkür zu
einer Leistung von nichts wäre. Diese Willkür bliebe damit unbestimmt, was dem Ver-
tragsbegriff widerspräche. Zwar geht das Recht bloß auf die „Form im Verhältnis der
beiderseitigen Willkür“, aber dieser Form, soll sie nicht leere Form, ens rationis, blei-
ben, muß ein Inhalt unterstellt werden, eine „Waare“232 , so genau ist Kant hier bereits.
Die praktische Vernunft war von aller Gegenstandsbeziehung abstrahiert worden.
Wenn sie gleichwohl Vernunft empirischer Subjekte sein soll, muß die Versorgung
dieser Subjekte mit ihren Existenzgrundlagen gewährleistet sein. Nun ist die praktische
Vernunft in ihrem allgemeinen Ausdruck, dem kategorischen Imperativ, Bedingung der
Möglichkeit der allgemeinen Koordination von Handlungen, und damit auch Bedingung
der Möglichkeit kollektiven Handelns. Der basale Gegenstand kollektiven Handelns
ist aber die gemeinsame Reproduktion des Kollektivs, so daß praktische Vernunft und
materielle Reproduktion durchaus konkordant sein können müssen, auch wenn diese
nicht zur Legitimationsbedingung von jener werden kann. Die praktische Vernunft ist
Kant zufolge gerade gleichgültig gegen die materiellen Bedingungen der Reproduktion
ihrer Subjekte. Dennoch geraten technisch-praktisches und moralisch-praktisches
kollektives Handeln nicht notwendig in Widerspruch, wohl aber der Möglichkeit nach,
wie jeder gelungen inszenierte Krieg als logistische Großleistung von Kooperation
anschaulich macht. Läßt sich kollektives Handeln technisch-praktisch auch ohne Moral,
d. h. unter Mißachtung der Menschen, unter heteronomen Zwecken also, organisieren,
so wird es zur politischen Aufgabe, die Bedingungen des Handelns moralkonform
einzurichten. Dies ist nach Kant eine Aufgabe des bürgerlichen Rechts, das daher eine
notwendige Erweiterung der praktischen Vernunft a priori darstelle, insofern es dieser
die Beziehung auf die gegenständlichen Bedingungen des Handelns hinzufüge.
Insofern aber das Recht zugunsten seines anderen Spezifikums – der Zwangsbefugnis
zum Zweck der Sicherheit und Garantie technisch-praktischen Handelns – alle Moral-
bestimmung aus sich ausgeschlossen hat, bleibt die Übereinstimmung der technischen
Organisation der gegenständlichen Bedingungen des Handelns mit der Moral problema-
tisch.233 Damit bleibt auch die allgemeine Glückseligkeit problematisch, die nur durch
moralische Regelung der technischen Kooperation zu erreichen wäre. Das erscheint in
der Partikularität, der Vereinzelung der bürgerlichen Subjekte,234 sowie in der diese af-
firmierenden These, daß durch den Antagonismus allein Allgemeinheit zu erzeugen sei.
231
MdS RL, VI § 20.
232
MdS RL, VI § B.
233
Die Imperative zur Verfolgung der Glückseligkeit, die wegen ihrer Bedingtheit in der Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten ‚problematische Imperative‘ heißen, nennt Kant später, in der Ersten
Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, ‚technische Imperative‘ (Erste Einleitung KdU, 8 Anm.).
Die beabsichtige Beseitigung der contradictio in adjecto gelingt aber nur kosmetisch, denn der
Sache nach ist auch der technische Imperativ eine zwingende Anordnung unter Bedingung eines
nicht zwingenden Zwecks. Was aber durch die Wahl eines inhaltlich statt formal differenzierenden
Attributs deutlicher wird, ist die äußerliche Stellung der Technik zur Praxis.
234
Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 58: „In der heutigen Rechtsord-
nung wird der Mensch grundsätzlich als einzelnes Individuum vorausgesetzt“.
172 R – S R
Die Notwendigkeit des Antagonismus ist bei Kant nur scheinbar bloße Voraussetzung;
sie ist ebenso notwendiges Resultat der Differenz von Moral und Recht. Dieser Befund
wird zusätzlich dadurch bestätigt, daß der Antagonismus selbst den theoretischen Über-
gang von der Moral zum Recht bestimmt. Weil Moral den Antagonismus nicht zügelt,
bedarf es des Rechts. Werden aber Moral und Recht systematisch differenziert, so er-
scheint der Antagonismus, um dessentwillen dies geschieht, als notwendige condition
humaine.
Zunächst ist es bloß die Unmöglichkeit der subjektiven praktischen Vernunft, ihre
Gegenstände aus reiner Vernunft selbst hervorzubringen, die das rechtliche Postulat der
praktischen Vernunft begründet, wenn es denn vernünftige Subjekte als gegenständliche
Wesen soll geben können. Die Möglichkeit der res nullius, des herrenlosen Gegenstands,
soll a priori ausgeschlossen sein, weil dem Gebrauch eines Gegenstandes zunächst der
empirische Besitz, die physische Innehabung, vorausgesetzt sei.235 Der empirischen Ver-
fügung ist weiter das Vermögen, über den Gegenstand zu verfügen, vorausgesetzt: Es
muß in der Macht des Subjekts stehen, den Gegenstand in Besitz zu nehmen. Sollte ein
Gegenstand nun davon rechtlich ausgeschlossen werden, so würde er „außer aller Mög-
lichkeit des Gebrauchs“236 gesetzt, obgleich er doch brauchbar wäre. Das Argument ist
schon der Form nach, in der Kant es vorträgt, nicht sehr kräftig, denn es läßt sich fol-
gendermaßen zusammenfassen: Wenn der Gebrauch einer Sache „mit der Freiheit von
jedermann nach einem allgemeinen Gesetz nicht zusammen bestehen können“ sollte,
„obgleich die Willkür, formaliter, im Gebrauch der Sache mit jedermanns äußerer Frei-
heit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmete“237 , ergebe sich ein Widerspruch.
Das ist zweifellos richtig, sagt aber nichts über den Wahrheitsgehalt der Voraussetzun-
gen selbst aus.238
Erstens erscheint es angesichts der Bedrohung der Menschen durch enorme Waffenar-
senale oder der Bedrohung der natürlichen Ressourcen allein durch bestimmte Methoden
extraktiver Industrie zweifelhaft, daß es keine Gegenstände gebe, deren Gebrauch mit
der allgemeinen Freiheit der Willkür nicht übereinstimmte. Zweitens ist es nicht ersicht-
235
Vgl. MdS RL, VI § 2.
236
MdS RL, VI § 2. Diese Argumentation folgt derjenigen John Lockes: Zwei Abhandlungen über die
Regierung, a.a.O., II § 26. Allerdings steht dies bei Locke im Kontext der Vorstellung von Erwerb
durch Arbeit, die Kant ebenso abweist wie, mit Locke, die frühbürgerliche, daß alles Eigentum
durch Vertrag (Konsens) erworben werde, wie sie sich bei Pufendorf und Grotius findet. Da Kant
weiß, daß beide Modelle falsch sind, beansprucht das Postulat bei ihm eine ungleich stärkere
Funktion: Fällt die Aneignung nicht wie bei Locke mit dem Gebrauch zusammen, so muß ihre
Legitimation sowohl unabhängig von diesem als auch auf ihn bezogen gedacht werden. Damit ist
der Gebrauch Bedingung der Möglichkeit der Aneignung, diese aber Bedingung der Möglichkeit
des Gebrauchs. Die Zerschlagung dieses Knotens bedarf der Gewalt der prima occupatio.
237
MdS RL, VI § 2.
238
Zum Formalismus dieses Widerspruches vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 233ff.,
bes. 236. Entsprechend bemerkt Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, a.a.O.,
84: „Die in der Negativität der res nullius liegende Negation der Möglichkeit des Rechts als Be-
gründung des rechtlich Meinen stellt jedoch nicht gleichzeitig den Nachweis seiner Notwendigkeit,
sondern nur den seiner Möglichkeit dar. Die Negation der Negation der Möglichkeit, d. h. der Auf-
weis, daß die res nullius negiert werden muß, führt also nur zur Möglichkeit des Eigentums. Was
unmöglich ist, kann nicht notwendig sein; was aber möglich ist, muß nicht notwendig sein.“
R S 173
lich, wieso der Ausschluß einer Sache vom ausschließlichen Privatbesitz sie außer aller
Möglichkeit des Gebrauchs setzen müsse. Zwar müssen Gegenstände in Besitz genom-
men werden können, um benutzt werden zu können, der Ackerboden etwa muß eingeteilt
werden, um auszuschließen, daß mehrere Personen auf derselben Parzelle verschiedene,
miteinander unverträgliche Zwecke zu realisieren versuchen;239 aber die Notwendig-
keit des ausschließlichen Privatbesitzes folgt aus solchem Privatgebrauch nicht. Leicht
ließe sich eine gemeinschaftliche Organisation der Reproduktion denken, in der über
die zur Verfügung stehenden Reproduktionsmittel und Arbeitskraftkontingente rational,
das heißt in Übereinstimmung mit der vernünftig bestimmten Freiheit aller, entschieden
wird. Selbst in der bürgerlichen Gesellschaft gibt es Gegenstände, die privat gebraucht,
aber öffentlich besessen und verwaltet werden: alle öffentlichen Einrichtungen, von den
Straßen bis zur Universität. Die Organisation ihres privaten Gebrauchs folgt dabei je
spezifischen öffentlichen und allgemeinnützigen Regeln, die eine ausschließliche private
Aneignung etwa eines Vorlesungssaales oder einer Kreuzung gerade ausschließen müs-
sen.240
Kant wendet dagegen ein, daß die öffentliche Erklärung des Ausschlusses bestimmter
Gegenstände von der privaten Aneignung einem öffentlichen Vertrag vergleichbar sei
und daher die betroffenen Gegenstände zuvor schon angeeignet worden sein müßten.241
An der Einschlägigkeit dieses späteren Einwandes schon im Postulat wird sichtbar, daß
Kant hier bereits das Recht auf die erste Besitznahme ausrichtet. Richtig ist daran, daß
aus der historischen Perspektive einer einmal bestehenden allgemeinen Privatbesitz-
ordnung, der bürgerlichen Gesellschaft, jedes Gemeineigentum nur als Negation des
Privateigentums zu denken ist, das dann selbst als notwendige Bedingung erscheint.
Das liegt noch der Marxischen Vorstellung zugrunde, derzufolge das kapitalistische
Privateigentum ein notwendiges Durchgangsstadium zu dem Zustand sei, den Marx
als Einheit von individuellem Eigentum und Gemeinbesitz bezeichnet.242 An dieser
Stelle ist für Marx der Geschichtsverlauf durch notwendige dialektische Verhältnisse
von Eigentumsformen bestimmt. Die Irritation, die dies verquere Moment affirmativer
Geschichtsmetaphysik jedem Leser aufdrängt, wirft Licht auf den geschichtlichen
Hintergrund auch der Kantischen Eigentumslehre. Auch dieser zufolge ist der privaten
Aneignung zumindest der Vorstellung nach ein Gemeinbesitz vorausgesetzt, dessen
historische Privatisierung nicht rational notwendig, sondern durch partikulare Gewalt
erfolgte, die aber im Resultatgleichwohl notwendig sein soll. Selbst wenn die derart
gewaltsam begründeten bürgerlichen Verhältnisse die unabdingbare Voraussetzung für
einen konsistenten Rechtsbegriff sein sollten, so ist dieser dadurch doch mit einem
Moment a posteriori belastet; selbst wenn Kants Absicht gelingt, zu zeigen, daß es eine
239
Vgl. Vorarbeiten zur Rechtslehre, XXIII, 281.
240
Es wäre falsch, nun umgekehrt daraus zu schließen, daß nicht die ausschließliche Verfügung über
bestimmte Gegenstände, Zahnbürsten beispielshalber, sinnvoll wäre; nur die allgemeine Notwen-
digkeit ausschließlichen Privatbesitzes, die zuerst sogar die Privatisierung des sensiblen Bereichs
der ökonomischen Lebensbedingungen der Menschen betrifft, folgt hier ebensowenig.
241
Vgl. MdS RL, VI §§ 6 u. 15.
242
Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., 791.
174 R – S R
rechtliche Form des außerrechtlich Erworbenen geben kann, wäre die Erweiterung der
reinen praktischen Vernunft „durch dieses ihr Postulat“243 nicht a priori.
A priori ließe sich aus der Moralphilosophie entwickeln, daß vernunftbegabte Sinnen-
wesen ein ihrer Vernunft gemäßes Reich der Zwecke als Sinnenwesen sich nur vermittels
des typus einer von ihnen zu schaffenden zweiten Natur denken könnten, in der tech-
nisch-praktische und moralisch-praktische Belange nicht kollidierten, weil sie gemäß der
Autonomie der Subjekte eingerichtet wäre.244 Kants Rechtslehre dagegen soll Autono-
mie unter Bedingungen der Heteronomie, unter Beibehaltung dieser für anthropologisch
konstant erklärten Bedingungen behaupten. Dieser Antagonismus von Autonomie und
Heteronomie soll die Rechtssubjekte nun in ein verbindliches Verhältnis setzen, „näm-
lich allen anderen eine Verbindlichkeit aufzuerlegen, die sie sonst nicht hätten, sich des
Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in
unseren Besitz genommen haben“245 . Kant nennt dies ein Erlaubnisgesetz der prakti-
schen Vernunft, das zu postulieren, aber nicht aus dem Recht zu gewinnen sei. Es ist
die Erlaubnis zur ersten Besitznahme im nicht-rechtlichen Zustand, weil das Recht nur
schon bestehende Eigentumsverhältnisse zu regeln vermag. Ein Erlaubnisgesetz stünde,
Kant zufolge, in einem indifferenten Verhältnis zur Handlung.246 Das bedeutet, es wäre
der praktischen Vernunft gleichgültig, daß die Menschen sich wechselseitig um die ge-
genständlichen Bedingungen ihrer Reproduktion bringen. Der resultierende Eigentums-
begriff erfüllt insofern das Postulat der notwendigen Verfügbarkeit der Gegenstände, als
er pointiert zeigt, daß die praktische Vernunft ihre Gegenstände nicht aus sich selbst
erzeugt, denn der Ausschluß aller Nichtbesitzer vom Gebrauch der Sache durch den Be-
sitzer ist ein durchgängiges negatives Verhältnis von Personen – wenngleich bezüglich
einer Sache – das sinnlos wäre, wenn diese Sache nicht quantitativ beschränkt wäre.
Der erste Satz der Einleitung, demzufolge das Begehrungsvermögen „das Vermögen
durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“247 ,
sei, war schon dem ‚scharfprüfenden Rezensenten‘ der ersten Auflage, den Kant in den
späteren Anmerkungen zitiert, als Idealismus aufgestoßen. Kant erwidert: „Eine Begier-
de als Bestreben (nisus), vermittelst seiner Vorstellungen Ursache zu sein, ist, wenn
das Subjekt gleich die Unzulänglichkeit der letzteren zur beabsichtigten Wirkung ein-
sieht, doch immer Kausalität, wenigstens im Innern desselben.“ Solche gegenstandslose
Begierde, Sehnsucht, sei keineswegs folgenlos für das Subjekt, da sie „im Innern des
Subjekts mächtig wirkt (krank macht)“248 . Kants treffende Pathologie der Ohnmacht
des Begehrungsvermögens gilt auch für die Gesellschaft antagonistischer Privateigen-
tümer; dort wäre sie allenfalls dadurch zu ergänzen, daß die Schwere der Beschädigung
der Sozialcharaktere nicht zuletzt daher rührt, daß die Menschen die Bedingungen der
Beschränkungen ihrer Bedürfnisbefriedigung zugleich als Bedingungen der Erfüllung
von Bedürfnissen überhaupt erfahren und sie darum, bis in ihre theoretischen Entwürfe
243
MdS RL, VI § 2.
244
Vgl. Kosmas Psychopedis, Geschichte und Methode, Frankfurt am Main 1984, 49.
245
MdS RL, VI § 2.
246
Vgl. MdS RL, VI 223 und EF, VIII 347f. Anm.
247
MdS RL, VI 211.
248
MdS RL, VI 356.
R S 175
hinein, mit Freiheit zu verwechseln neigen. Die psychopathologischen Folgen des ab-
gewiesenen und darum leeren Begehrens als dessen spezifischen Gehalt zu wenden,
erscheint heute, eben weil es zutrifft, zynisch.
Kants Postulat verwendet bereits einen Begriff des Eigentums, der erst noch zu ent-
wickeln ist. Es handelt sich nicht um die empirische Verfügung über einen Gegenstand,
sondern um dessen ausschließliche private Aneignung, die ihn nicht bloß empirisch an
eine Person bindet. Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß ohne rechtliche Sicherheit
allein partikulare physische Gewalt über die empirische Verfügung über Gegenstände
entschiede; das eigenmächtige Entreißen der Existenzgrundlagen aus der empirischen
Verfügung eines Schwächeren, das nicht bloß sein ‚inneres Mein affiziert und schmä-
lert‘249 , sondern das dessen Existenz gefährdet, soll vermieden werden: „Das äußere
Meine ist dasjenige außer mir, an dessen mir beliebigen Gebrauch mich zu hindern
Läsion (Abbruch an meiner Freiheit, die mit der Freiheit von Jedermann nach einem
allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann) sein würde.“250 Kant behauptet nun,
denselben Sachgehalt auch folgendermaßen fassen zu können: „Das äußere Meine ist
dasjenige, in dessen Gebrauch mich zu stören Läsion sein würde, ob ich gleich nicht im
Besitz desselben (nicht Inhaber des Gegenstandes) bin.“251 Der Grund der behaupteten
Äquivalenz beider Formulierungen ist die Beliebigkeit des Gebrauchs. Wenn es in das
Belieben des Subjekts gesetzt ist, einen Gegenstand zu irgendeinem Zeitpunkt einmal
in Gebrauch zu nehmen, muß er ihm – unangesehen der empirischen Verfügung – doch
stets verfügbar sein. Es ist dann der allgemeine Ausschluß aller anderen vom Gebrauch
dieser Sache gar nicht mehr an ein empirisches Besitzverhältnis geknüpft, sondern es
ist ein gesellschaftliches Verhältnis von Personen, ein Willensverhältnis, das nicht em-
pirisch, sondern intelligibel begründet sein müßte. Dieses Besitzverhältnis, ohne das in
derartigen Fällen keine Läsion vorstellbar sei, heißt „intelligibler Besitz (possessio nou-
menon)“252 .
Indem Kant schreibt, diese Annahme sei notwendig, wenn es ein äußeres Mein und
Dein geben soll, unterschlägt er mit der Bedingung der Beliebigkeit des Gebrauchs,
daß es sich um solches Mein und Dein handelt, dessen empirischer physischer Besitz
gar nicht dauerhaft oder sogar überhaupt nicht möglich ist. Zu denken ist hier nicht
an Handtaschenraub oder Einbruchdiebstahl, sondern, wie zu zeigen ist, systematisch
zuerst an die rechtliche Möglichkeit von Grundbesitz.253 Dabei geht es um Länderei-
en, deren Größe die Bewirtschaftung, also den Gebrauch, durch den Besitzer empirisch
ausschließt, schon deswegen, weil der ihm empirisch allenfalls mögliche Gebrauch nicht
der ihm beliebige Gebrauch ist: Die profitable Bewirtschaftung ist dem einzelnen em-
pirischen Besitzer selbst unmöglich. Um ihm diese zu ermöglichen, muß er in einem
Besitz am Boden sein, der andere, die ihn als Grundlage ihrer Existenz gebrauchen
könnten, vom Gebrauch dieses Bodens ausschließt und dadurch zum Verkauf ihrer Ar-
beitskraft, des einzigen ihnen verbliebenen aber für sich unvollständigen Moments ihrer
249
Vgl. MdS RL, VI § 6.
250
MdS RL, VI § 5.
251
MdS RL, VI § 5.
252
MdS RL, VI § 5.
253
Vgl. MdS RL, VI §§ 6 u. 7.
176 R – S R
Existenzgrundlage, an den Grundbesitzer nötigt, der sich durch Aneignung des Bodens
in den Besitz des gegenständlichen Moments der Existenzgrundlage der Anderen brach-
te. Selbstverständlich ist auch nur unter der Voraussetzung der Privatisierung des Bodens
überhaupt Warenproduktion möglich, weil diejenigen, die nicht über Boden verfügen,
Agrarprodukte über den Markt erwerben müssen.254
Ohne ein intelligibles ausschließendes Verhältnis aller Subjekte hinsichtlich des Bo-
dens wäre er nun aber gerade als Privateigentum außer aller Möglichkeit des Gebrauchs
gesetzt, denn die ihn empirisch brauchen könnten, dürften ihn nicht gebrauchen, die ihn
aber gebrauchen dürften, könnten es empirisch nicht.255 Erst die Lösung des Eigentums-
gegenstandes von der empirischen Verfügung genügt Kants rechtlichem Postulat.
Den intelligiblen Besitz bestimmt Kant nun nicht als intelligibles, beispielsweise ge-
sellschaftliches, Ausschlußverhältnis bezüglich des Gebrauchs einer empirischen Sache,
sondern er bestimmt das Verhältnis des Besitzers zur Sache als eine possessio noume-
non durch „Absonderung aller Bedingungen des empirischen Besitzes im Raum und
Zeit“256 . Streng genommen konstruiert dies gar nicht einen Besitz „auch ohne Inha-
bung“257 , sondern einen Besitz, dessen Gegenstand seinem Begriff zufolge gar nicht
innegehabt werden kann. Was sollte der Gegenstand einer possessio noumenon sein?
Sie selbst sei ein „Vernunftbegriff […], dem keine Anschauung correspondirend ge-
geben werden kann“258 , ausdrücklich nicht einmal eine Anschauung a priori, also ein
Schema. Demnach wäre der intelligible Besitz eine Idee. Ideen aber liegen keine empiri-
schen Begriffe zugrunde, die dadurch erweitert worden wären, daß man alle empirischen
Bedingungen „weggeschafft“259 hätte; im Gegenteil sind Ideen spekulative Begriffe sys-
tematischer Vollständigkeit und haben deshalb kein correspondant in der Anschauung,
weil Vollständigkeit kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, nicht etwa weil die An-
schaulichkeit vom Gegenstand abstrahiert worden wäre. Dadurch entstünde im Gegenteil
ein abstrakter Verstandesbegriff ohne Inhalt, der weder konstitutiv noch regulativ sein
könnte. Aus dem Begriff des intelligiblen Besitzes lassen sich, gemäß der transzendenta-
len Logik, keine empirischen Eigentumsverhältnisse260 begründen, denn die empirische
Sache kann nach Absonderung aller empirischen Bedingungen nicht Gegenstand dieses
254
Die „Möglichkeit, einen Gegenstand zum [...] Gebrauch disponibel zu halten“ (Franz Hespe, „Wohl
dem, der im Besitze ist“, a.a.O., 132; vgl. auch Vorarbeiten zur Rechtslehre, XXIII, 230 f.), also
die Beliebigkeit, ihn zu gebrauchen oder nicht, ist nur ein Moment des ‚beliebigen Gebrauchs‘,
dessen zentrale rechtliche Bedeutung nur durch das andere Moment des gesellschaftlichen Zwecks
des Gebrauchs erkennbar wird.
255
Vgl. Peter Bulthaup, Rechtsphilosophie II, 16. 11. 1992, Peter Bulthaup-Archiv, Block 185 bzw.
ORD 020.
256
MdS RL, VI § 6.
257
MdS RL, VI § 6, meine Hervorhebung.
258
MdS RL, VI § 6 Anm.
259
MdS RL, VI § 6 Anm.
260
Ulli F. H. Rühl, Kants Deduktion des Rechts, a.a.O., hat die zentrale These, ‚intelligibler Beseitz‘
sei nicht ‚Eigentum‘. Dagegen erfüllt Kants Begriff alle funktionellen Bestimmungen, die dem
Eigentum zukommen. Richtig ist, daß Kant ihn nicht aufs Sachenrecht beschränkt, sondern auch
Schuldrecht, Familienrecht, Staatsrecht und Völkerrecht daraus entwickeln will, genauer: aus der
Kombination von Rechtsprinzip und Postulat; daraus ergeben sich viele Schwierigkeiten.
R S 177
Eigentums sein, der intelligible Gegenstand wäre als Bedingung der Einheit der Erfah-
rung eine subjektive Funktion, die bei allen möglichen Erfahrungsobjekten dieselbe = ×
wäre.261 Dies produzierte eine universelle Kollision des intelligiblen Besitzes. Es bliebe
das Ding an sich, das aber über seine erkenntnistheoretische Funktion hinaus als me-
taphysisches Wesen restauriert werden müßte, zu dem der Eigentümer in einer nou-
menalen Beziehung stehen müßte, um den Besitz an der Erscheinung zu sichern. Auch
und gerade dann wäre aber die Kritik der reinen Vernunft in weiten, grundlegenden,
Teilen hinfällig.
Auch der zweite Versuch, in dem Kant einen „reinen Verstandesbegriff eines Besit-
zes überhaupt“262 ins Spiel bringt, gelingt nicht. Ein solcher Begriff sei nötig, weil der
Rechtsbegriff, als Vernunftbegriff, gar nicht unmittelbar auf Erfahrungsobjekte anwend-
bar wäre. Jener reine ‚Verstandesbegriff‘ müßte eine ‚Kategorie Besitz‘ sein, die es nicht
geben kann, weil Besitz keine Urteilsfunktion ist. Zudem soll der Verstandesbegriff unter
Rechtsbegriffe subsumiert werden, mithin soll ein Eigentumsverhältnis an einer Katego-
rie begründet werden, was absurd ist. Die Abstraktion, die Kant anführt, ist „der von
allen Raumes- und Zeitbedingungen abstrahierende Begriff des Habens“, verbunden da-
mit, daß „der Ausdruck des Äußeren nicht das Dasein in einem anderen Orte, als wo
ich bin, oder meiner Willensentschließung und Annahme als in einer anderen Zeit wie
der des Angebots, sondern nur einen von mir unterschiedenen Gegenstand bedeutet“, als
„intellectuelle[s] Verhältniß zum Gegenstand“263 . Dies wäre das einschließende Verhält-
nis eines Subjekts überhaupt zu einem Objekt überhaupt, das selbst indifferent dagegen
ist, ob es sich tatsächlich um ein Eigentumsverhältnis handelte, durch das andere Subjek-
te ausgeschlossen wären, oder bloß um ein nicht-ausschließendes Erkenntnisverhältnis.
Tatsächlich ist das Rechtsverhältnis kein derart rein logisches, sondern es beruht auf
historischen Bedingungen der Aneignung.264
Das Resultat dieser historischen Begründung von Eigentum durch gewaltsame
Okkupation, die nicht unter Rechtsbestimmungen erfolgt, soll selbst unter Rechtsbe-
stimmungen stehen. Die Absicht, ein vernünftiges System des Rechts zu begründen,
erfordert dann die Abstraktion von dessen unvernünftigen Bedingungen. Demgemäß
bezeichnet Kant den Verlauf der sogenannten ursprünglichen Erwerbung durch
Apprehension, Bezeichnung und Zueignung als einen Intelligibilisierungsprozeß.265
Der bestehe in der Einsicht, daß die Ähnlichkeit der Aneignungsakte im Naturzustand
261
Vgl. KrV, A 109. Auf das Mißverhältnis von MdS und KrV weist besonders hin Peter Bulthaup,
Rechtsphilosophie II, 30. 11. 1992, Peter Bulthaup-Archiv, Block 185 bzw. ORD 020.
262
MdS RL, VI § 7.
263
MdS RL, VI § 7. Dieselbe Reduktion auf Subjekt und Objekt überhaupt verwendet Kant in § 17.
264
Vgl. MdS RL, VI § 9: „[B]ürgerliche Verfassung ist allein der rechtliche Zustand, durch welchen je-
dem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird. – Alle Garantie
setzt also das Seine von jemanden (dem es gesichert wird) schon voraus.“
265
Vgl. MdS RL, VI § 10. Manfred Brocker konstruiert eine Vermittlung von empirischer Besitznahme
und intelligiblem Besitzverhältnis durch Rückgriff auf die Lehre vom ‚Schematismus des Rechts‘,
die Kant allerdings nicht aus den Vorarbeiten zur Rechtslehre (vgl. XXIII, 226; 262; 275 u.ö.) in
die Metaphysik der Sitten übernahm. An Gewicht gewinnen sollen solche Rückgriffe durch den
Verweis auf die angeblich unordentliche Textgestalt der Rechtslehre. Jedoch sind die Begriffe von
der Besitznahme und auch vom intelligiblen Besitz in sich selbst bereits so vielfältig widersprüch-
178 R – S R
mit rechtlichen Akten dazu berechtige, von den empirischen Bedingungen jener
Aneignungsakte zu abstrahieren und diese somit für Recht zu befinden. Die empirischen
Bedingungen müssen deshalb abstrahiert werden, weil sie die Akte keineswegs zu
rechtsähnlichen qualifizieren, sondern zu solchen, die allein aus dem antagonistischen
Verhältnis der Subjekte resultieren. Um der Vereinbarkeit dieser gewaltsamen Okkupa-
tionsakte mit den Akten rechtmäßiger Aneignung willen setzt Kant zur „Deduction des
Begriffs der ursprünglichen Erwerbung“266 ebenfalls den ‚reinen Verstandesbegriff des
Gewalthabens‘ als eines reinen Subjekt-Objekt-Verhältnisses voraus. Die gewaltsame
empirische Aufteilung der Besitzgegenstände, die dem bürgerlichen Recht notwendig
historisch vorausgesetzt ist, darf für dessen vernünftigen Begriff gleichwohl nicht
vorausgesetzt sein. Daher eliminiert Kant die Gegenständlichkeit aus dem Begriff
des Besitzes, „obgleich der Gegenstand (die Sache, die ich besitze) ein Sinnenobject
ist“267 . Der Begriff des intelligiblen Besitzes begründet danach die Regelung des
Gebrauchs empirischer Gegenstände, deren Bestimmtheit ausdrücklich in jeder Hinsicht
aus ihm ausgeschlossen wurde. Das reine „Verhältniß einer Person zu Personen“268
bleibt insofern auf Gegenstände bezogen, als der allseitige Ausschluß vom Gebrauch
der Sache, den der Eigentümer den Nichteigentümern auflegt, die Gewalt, die diesen
Ausschluß empirisch begründete, in veränderter Gestalt ebenso in Anspruch nimmt.
Die durch partikulare Gewalt begründete Ungleichverteilung des Eigentums wird durch
gesellschaftlich universalisierte Gewalt aufrechterhalten. Der intelligible Besitz ist
durchaus ein negatives Verhältnis von Personen, aber insoweit kein intelligibles, in
reiner Vernunft begründetes, als er faktisch die Sicherung historisch durch Okkupation
geschaffener Besitzverhältnisse durch gesellschaftliche Macht bedeutet. Als intelligibles
Verhältnis müßte er von allen vernunftbegabten Subjekten mit all seinen Bedingungen
und Konsequenzen einschließlich der gewaltsamen Trennung dieser Subjekte von ihren
Existenzgrundlagen, eingesehen werden können. Diese Gewalt aber ist, wie jede, der
Vernunft entgegengesetzt.
Die Vorstellung eines Verhältnisses von ‚Subjekt überhaupt‘ zu ‚Objekt überhaupt‘
als Bedingung der Möglichkeit der Allgemeinheit empirischer Verhältnisse von Sub-
jekten zu Objekten hat schwerwiegende Konsequenzen für die Konstitution der Rechts-
subjekte. Wenn die Möglichkeit der kollektiven Einheit der Rechtssubjekte hinsichtlich
ihrer Rechtsverhältnisse im Begriff eines intelligiblen Besitzverhältnisses gründet, so
liegt dem distributiven Erfahrungsgebrauch im empirischen Recht eine kollektive Ein-
heit des Erfahrungsganzen in dessen noumenaler Voraussetzung zugrunde, die nicht
etwa als subjektive Erkenntnisfunktion, sondern als objektive noumenale Repräsentation
der empirischen Verhältnisse verstanden werden muß, wenn Recht überhaupt spezifische
Inhalte haben soll. Der systematische Rechtsbegriff Kants gründet so in einem kosmo-
logisch verstandenen transzendentalen Ideal. Dann aber wird die kollektive Einheit der
Rechtssubjekte nicht durch deren praktische Kooperation unter der Idee menschlicher
lich, daß auch die schematische Vermittlung das Problem der Verrechtlichung des Angeeigneten
nicht zu lösen vermag. Vgl. Manfred Brocker, Kants Besitzlehre, a.a.O., 128ff.
266
MdS RL, VI § 17.
267
MdS RL, VI § 17.
268
MdS RL, VI § 17.
R S 179
Gemeinschaft begründet, sondern durch die vorgängige transzendente Einheit des Er-
fahrungsganzen. Dieser Grund der kollektiven Einheit der Menschen ist ihnen heterogen
und heteronom, denn er stammt weder aus dem Selbstbewußtsein noch aus der Erfah-
rung des Subjekts, sondern aus einer ontologischen Einheit der Erfahrungsgegenstände,
die zudem im Kollektiv der Subjekte nur als negative Einheit, durch wechselseitigen
Ausschluß vom Gebrauch der okkupierten Gegenstände, reproduziert wird.
Kant trifft damit das die bürgerliche Rechtsgemeinschaft assoziierende Gesetz, das
eines der durchgängigen Dissoziation ist.269 Die dadurch gesetzten Bedingungen des
kollektiven Handelns, der gesellschaftlichen Reproduktion, sabotieren daher permanent
dieses kollektive Handeln, wie sich an Marktphänomenen wie der Produktvernichtung
zum Zweck der Preisgestaltung oder an der Vernichtung bürgerlicher Existenzen in der
Konkurrenz ablesen läßt. Die Assoziation menschlicher Subjekte, wenn sie nur durch
deren durchgängige Dissoziation bewirkt wird, könnte eben noch als Vorgeschichte der
Menschheit bezeichnet werden. Daß Kant in seinen geschichtsphilosophischen Arbeiten
die mögliche Einheit eines solchen Zustandes in einer übergeordneten Naturabsicht ver-
ortet, hat ein Moment von Wahrheit darin, daß diese Form kollektiver Einheit nicht mit
der Vernunft der von ihr erfaßten Subjekte kompatibel ist.270
Der intelligible Besitz ist logisch gar nicht darstellbar, wenn er nicht implizit auf den
empirischen bezogen bleibt.271 So gründet schon die „Deduction des Begriffs des bloß
rechtlichen Besitzes eines äußeren Gegenstandes“272 in einem Beispiel, das die Aneig-
nung des Bodens betrifft. Kant räumt ein, daß der Begriff des intelligiblen Besitzes
269
Die zwei Seiten des gesellschaftlich Allgemeinen hat Max Horkheimer, Vernunft und Selbst-
erhaltung, a.a.O., 47, aufgezeigt: Solange das Allgemeine gegen die individuellen Interessen
durchgesetzt wird, hat es immer ein apologetisches Moment. Als Allgemeines transzendiert es
aber formal zugleich das real Gegebene und antizipiert dessen Überwindung: „Der wahre Pluralis-
mus gehört dem Begriff einer zukünftigen Gesellschaft an.“ Zu beachten ist, daß Horkheimer hier
nicht utopisch auf eine zukünftige Gesellschaft verweist, sondern auf deren Begriff .
270
Vgl. Barbara Zehnpfennig, Liberale Aporien, in: Werner J. Patzelt/Martin Sebaldt/Uwe Kranen-
pohl (Hgg.), Res publica semper reformanda, a.a.O., 90: „Doch wenn die Philosophie ihrerseits
solch widersprüchliche Botschaften aussendet wie die, dass es einerseits der von den Menschen in
seiner Bedeutung nicht durchschaute äußere Mechanismus des Konkurrenzkampfes sei, der sie zur
bürgerlichen Gesellschaft vereint, und dass andererseits doch alles auf die richtige innere Gesin-
nung ankomme, die gerade in der Überwindung der egoistischen Selbstbehauptung liegt, muss die
Rolle der Philosophie zweifelhaft bleiben. Selbst einem so bedeutenden Denker wie Kant gelingt
es offenbar nicht, den Grundwiderspruch des Liberalismus aufzulösen“.
271
Das reflektiert Kant in den Vorarbeiten zur Rechtslehre: „Der intellectuelle Besitz kann zwar als
zum Mein und Dein erforderlich ohne irgend einen physischen desselben Objects nicht gegeben
werden, d. i. man kann nicht wissen ob eine solche Bestimmung der Willkühr dem Subjekt zu-
komme ohne eine gewisse Erscheinung der Besitznehmung als Gegenstand der Erfahrung: aber er
bedarf wenn jenes vorausgesetzt wird zur Beurtheilung des Mein und Dein keines fortdaurenden
empirischen Besitzes. – Denn alles Rechtsverhältnis ist ein blos intelligibles Verhältnis vernünftiger
Wesen zu einander und dadurch zu Objecten der Willkühr“ (XXIII 213). Trotz dieser Verschrän-
kung müßte der Begriff des intelligiblen Besitzes zunächst in sich stimmig begründbar sein. Das
intelligible Verhältnis der Personen kann aber nur systematische Bedingung des Verhältnisses zu
Objekten sein, wenn diese Objekte zuvor angeeignet worden sind und so der Bestimmung des
intelligiblen Verhältnisses schon zugrunde liegen.
272
MdS RL, VI § 6.
180 R – S R
weder bewiesen noch eingesehen werden könne, aber doch unmittelbar aus dem Postulat
folge. Wenn dieses notwendig sei, müsse seine Erfüllungsbedingung, der intelligible Be-
sitz, möglich sein. Gilt dieses Postulat aber nur unter schon bürgerlichen Bedingungen
zwingend, so wirkt dieser Umstand zurück auf die Deduktion des intelligiblen Besitzes.
Dahinter steht, daß unter den Bedingungen des empirischen Besitzes nur unmittelbarer
Warentausch möglich wäre, der Tausch jeweils solcher Waren, die der Tauschende mit
sich auf den Markt führen könnte.
Die zentrale Bedingung der neuzeitlichen Entwicklung der Wirtschaft war aber der
Handel mit Waren, die niemand mit sich führen kann, nämlich mit Grund und Bo-
den. Ohne die Überführung des Lehnrechtes in Privatrecht, die Möglichkeit Lehen zu
vererben, zu belasten und schließlich zu veräußern, wäre die städtische Ökonomie, die
zunächst einmal flüssiges Kapital voraussetzt, nicht möglich gewesen.273 Der Handel
mit Grundstücken setzt nun seinerseits die Trennung des Eigentumstitels vom Eigen-
tumsgegenstand voraus. Das primäre Rechtsobjekt wird der Titel, der das Eigentum an
der Sache bezeichnet. Bloßes Titulareigentum ist ökonomisch und rechtlich ebenso un-
sinnig wie bloßes Sacheigentum unproduktiv. Die Trennung des Titels vom Gegenstand
täuscht ein intelligibles Besitzverhältnis an einem Gegenstand an sich vor, tatsächlich
bleibt der Titel immer auf empirische Gegenstände bezogen. Sobald diese Beziehung
ausfällt, weil Optionen geplatzt sind oder erfundene Titel gehandelt werden, ist die Folge
kein rein intelligibler Besitz sondern ein seinerseits ganz handfester Kredit- oder Börsen-
skandal. Allerdings müssen Eigentumsgegenstände begrifflich in solche Titel auflösbar
sein, wenn etwa Börsengeschäfte oder nur der einfache Immobilienhandel möglich sein
sollen; der Immobilienbesitz ist schon für Kant der substantielle Besitz, ohne dessen
Voraussetzung überhaupt kein anderer zu denken wäre. Deshalb ist allem empirischen
Besitz die Vorstellung des intelligiblen Besitzes vorgeordnet. So verweist Kant auf den
Erwerb eines Bodens durch erste Aneignung, mithin auf die historische Bedingtheit
der Unterscheidung von empirischem und intelligiblem Besitz. Dieser nämlich ersetze
die gewaltsame Verteidigung des Besitzes durch eine rechtlich begründete, „obzwar als
im natürlichen Zustande nicht von rechtswegen (de iure), weil in demselben noch kein
öffentliches Gesetz existirt“274 . Der Naturzustand bezeichnet eine historische Vorausset-
zung, die doch zugleich nur als systematische Unterscheidung vom bürgerlichen Zustand
zulässig sei.
Der bürgerliche Zustand ist jener, in dem das Eigentum rechtlich gesichert ist, in
dem eine zentrale Zwangsgewalt besteht, die den Ausschluß aller Nichteigentümer vom
Gebrauch fremden Eigentums ohne Einwilligung der Eigentümer gegen Verstöße durch-
setzt. Ein wichtiges Merkmal dieses Zustandes ist die „Reciprocität der Verbindlich-
273
Vgl. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, a.a.O., 99-103 und 110 sowie Gerhard
Köbler, Deutsche Rechtsgeschichte. Ein systematischer Grundriß, München 1996, 90f. und 123-
128, ebenfalls Jacques LeGoff, Das Hochmittelalter (Fischer Weltgeschichte 11), Frankfurt am
Main 1968, 66f. und 70ff.
274
MdS RL, VI § 6. – Vgl. auch Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, a.a.O., der von der
frühneuzeitlichen Rechtsgeschichte als von einer Zeit spricht, in der „es um ein Einpendeln des
Rechts auf Bedingungen des kapitalistischen Wirtschaftens ging“ (94).
R S 181
keit aus einer allgemeinen Regel“275 . Jeder ist ebenso verbunden, sich des unerlaubten
Gebrauchs des Eigentums aller anderen zu enthalten, wie er alle anderen seinerseits
verbinden kann, sich des Gebrauchs seines Eigentums zu enthalten. Die ‚allgemeine
Regel‘, nach der dies gilt, ist das Privatrecht, das aus dem Rechtsprinzip in Verbin-
dung mit dem rechtlichen Postulat hervorgeht. Gemäß der geforderten Reziprozität sind
zunächst nur solche Menschen Subjekte des bürgerlichen Rechts, die über Eigentum ver-
fügen.276 Alle anderen, Proletarier in der klassischen Bedeutung dieses Wortes, stehen
indifferent dazu: Sie könnten allenfalls als potentielle Eigentümer mitverbunden sein;
dementsprechend darf die Rechtsordnung niemanden vom ökonomischen oder sozialen
Aufstieg ausschließen.277 Die der bürgerlichen Gesellschaft vorhergehende Aufteilung
des Eigentums an den Produktionsmitteln, die Existenzbedingungen immer auch an-
derer Menschen sind, schließt die rechtliche Möglichkeit des sozialen Aufstiegs aller
aber kategorisch aus. Eine bürgerliche Gesellschaft aus lauter Eigentümern an Produk-
tionsmitteln – das heißt am beliebig klein parzellierten Boden, ohne dessen Besitz kein
anderer möglich ist – bräche als bürgerliche ökonomisch unmittelbar zusammen, da
nicht eine einzige Minute Mehrarbeit angeeignet werden könnte. Überhaupt fiele die
Gesellschaft auf diese Weise in den ökonomischen Naturzustand einfacher Reproduktion
zurück.278 Die von Kant vorausgesetzte Aufteilung des Grundeigentums in Privatbesitz
schließt die geforderte universelle Reziprozität zunächst aus, denn es gibt eine Viel-
zahl von Nicht-Besitzern, die bloß einseitig das Eigentum der Anderen anerkennen.
Ihre Rechtssubjektivität ergibt sich erst aus ihrer Funktion als Vertragspartner rein per-
sönlichen Rechts, das Verträge kennt, deren Gegenstand ausschließlich die Freiheit der
Willkür ist. Selbst diese vom Privatrechtssubjekt bloß abgeleitete Rechtssubjektivität
verhält sie aber Kant zufolge als Staatsbürger noch in bloßer Passivität.
Die Schwierigkeit der Begründung des rechtlichen Zustands besteht darin, daß seine
reziproke Eigentumsgarantie das Eigentum schon voraussetzt als Resultat einer Aneig-
nung, die unmöglich selbst reziprok gedacht werden kann. Sie kann nicht durch Vertrag
erfolgt sein, weil jeder Vertrag über Eigentum dieses schon voraussetzt. Die Aneignung
muß einseitig, durch Bemächtigung, erfolgt sein und so durch bloße physische Über-
legenheit allen anderen die Verbindlichkeit, des Gebrauchs dieses Gegenstandes sich
zu enthalten, auferlegt haben. Dieser Form nach kann die Aneignung nicht innerhalb
rechtlicher Verhältnisse erfolgt sein, sondern nur in nicht-rechtlichen, die Kant als Natur-
zustand bezeichnet. Wenn Kant daher gelegentlich vom Privatrecht als der Rechtsform
des Naturzustandes spricht, liegt einerseits eine Äquivokation des Rechtsbegriffs vor:
‚Privatrecht‘ meint hier ‚Privileg‘, das Recht, das ein jeder sich selbst, privat, einräu-
men will. Als quasi ein Recht ist dies aber nur rückblickend vom Rechtszustand durch
formale Analogie zu bezeichnen. Andererseits markiert dieser Ausdruck die Aporie der
empirischen Aneignung im Naturzustand, die noch nicht Recht ist, deren Resultat aber
Recht werden soll, und die daher antizipierend als Recht bezeichnet wird; diese Be-
275
MdS RL, VI § 8.
276
Vgl. Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, a.a.O. 254.
277
Vgl. MdS RL, VI § 46.
278
Vgl. Peter Bulthaup, Rechtsphilosophie II, 4. 1. 1993, Peter Bulthaup-Archiv, Block 186 bzw. ORD
020.
182 R – S R
zeichnung bemüht aber einen Rechtsbegriff, der in sich widersprüchlich ist, weil er auf
Einseitigkeit, nicht auf Allseitigkeit beruht, was doch das Merkmal jedes gültigen und
garantierten Rechts wäre.279 Jene einseitige Bemächtigung nun soll widerspruchsfrei in
ein allgemeines wechselseitiges Verhältnis überführt werden. Das stellt Kant vor außer-
ordentliche Schwierigkeiten, die sich nach jedem Lösungsversuch erneut anmelden und
so durch die gesamte Lehre vom Sachenrecht hindurch nicht überwunden werden.280
So heißt es zunächst in der ‚Exposition des Rechtszustandes‘: „Nun kann der einseiti-
ge Wille in Ansehung eines äußeren, mithin zufälligen Besitzes nicht zum Zwangsgesetz
für jedermann dienen, weil das der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen Abbruch thun
würde.“281 Nachdem Kant den provisorischen Besitz im Naturzustand als Bedingung der
Möglichkeit des rechtlichen peremtorischen Besitzes bestimmt hat, schreibt er über das
allgemeine Prinzip der äußeren Erwerbung: „Wie ein solcher Act der Willkür, als jener
[der Bemächtigung] ist, das Seine für jemanden begründen könne, ist nicht leicht einzu-
sehen.“282 In der anschließenden Definition des Sachenrechts heißt es: „Durch einseitige
Willkür kann ich keinen Andern verbinden, sich des Gebrauchs einer Sache zu enthalten,
wozu er sonst keine Verbindlichkeit haben würde“283 . In einer erneuten Bestimmung der
occupatio wird festgestellt: „Die Möglichkeit auf solche Weise zu erwerben, läßt sich
auf keine Weise einsehen, noch durch Gründe darthun“284 . Zwar entwickelt Kant in die-
sem Zusammenhang den Gedanken eines a priori vereinigten Gesamtwillens, der dem
Rechtszustand als Bestimmung a priori vorausgesetzt sein müsse und den Bemächti-
gungsakt, der mit ihm übereinstimme auch in Kompatibilität mit dem intelligiblen Besitz
im Rechtszustand bringe; doch heißt es abschließend erneut: „[D]urch einseitigen Wil-
len kann Anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht
auferlegt werden. – Der Zustand aber eines zur Gesetzgebung allgemein wirklich ver-
einigten Willens ist der bürgerliche Zustand.“285 Daß Kant sich diesen Einwand immer
wieder selbst macht, sei ebenso zugestanden wie seine Relativierung durch die Differenz
von provisorischem und peremtorischem Besitz oder durch die Annahme des ursprüng-
lichen Gesamtbesitzes an der Erdoberfläche; dennoch bleibt es auffallend, daß Kant sich
diesen Einwand in unterschiedlichen Konstruktionszusammenhängen, die zu seiner Lö-
279
Keine Probleme sieht hier Wolfgang Kersting, der das ‚natürliche Privatrecht‘ gleich zu seinem ei-
genen Subjekt erhebt: „Das noch nicht peremtorisch gemachte natürliche Privatrecht ist ein Recht,
das auf den Staat und damit auf Positivierung hindrängt“ (Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 337).
Zweifellos gibt es vorstaatliche Formen des Eigentumsverkehrs; ob diese aber mit Grund ‚natürli-
che‘ heißen und ob ihre legitimatorische Verwendung durch Kant der Geschichte oder der Sache
angemessen ist, muß gefragt werden.
280
Das liegt daran, daß der vernünftige Rechtsbegriff, als Negation von Privileg und Willkür, zwar,
wie Lorenz von Stein (vgl. Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf
unsere Tage, Bd. 3, Darmstadt 1961, 193ff.) feststellt, eine formale Realisation von Freiheit, aber
noch nicht die Erfüllung ihres Begriffs ist. Die Aufgabe der Erfüllung wäre aber grundsätzlich
nicht die einer Verwaltungsreform, sondern eine politische.
281
MdS RL, VI § 8.
282
MdS RL, VI § 10.
283
MdS RL, VI § 11.
284
MdS RL, VI § 14.
285
MdS RL, VI § 15.
R S 183
sung herangetragen werden, stets erneut vorlegt, gleich als ob er mit seinen Lösungen
immer wieder unzufrieden wäre. Die Aufgabe besteht immerhin in einer Art Quadratur
des Kreises: Die Bemächtigung soll „ein Act der Privatwillkür [sein], ohne doch eigen-
mächtig zu sein“286 .
Um der Gegenständlichkeit, der Objektivität des systematischen rechtlichen Freiheits-
begriffs willen muß ein mit der Freiheit widerspruchsfrei bestehender Übergang von
Gewaltverhältnissen zum Rechtsverhältnis konstruiert werden, denn nur unter den Ge-
waltverhältnissen konnte eine vom Recht objektiv unterschiedene Gegenständlichkeit
begründet werden. Mit dieser Gegenständlichkeit des Rechts gelangt aber in jenem Über-
gang nicht bloß der Gegenstand unter neue, nunmehr rechtliche, Bestimmungen, sondern
die gewaltsame Konstitution seiner spezifischen Gegenständlichkeit als ausschließlicher
Besitz wird als solche Material des Rechts. Das antagonistische Verhältnis der Subjekte
wird nicht insofern Gegenstand des Rechts, als es durch dieses aufgelöst, in rationale
Verkehrsformen überführt würde; es wird vielmehr als Antagonismus unter eine Rechts-
form gebracht, deren Aporetik durch den Ausdruck ‚bürgerlicher Naturzustand‘ bezeich-
net werden kann.287
Das bürgerliche Recht hält die Subjekte in ihrer Konkurrenz zueinander und in ihrer
Abhängigkeit voneinander. Es fördert die Verfolgung einander entgegengesetzter Par-
tikularinteressen dadurch, daß die materiellen Bedingungen dieser Interessen vor den
zerstörerischen Wirkungen regelloser Konkurrenz geschützt werden. Zwar unterliegt die
ökonomische Existenz auch in der geregelten Konkurrenz keinem Rechtsschutz, sondern
ihre willkürliche Zerstörbarkeit ist Bedingung der Möglichkeit profitabler Geschäfte,
denn Vorteile werden durch die Verdrängung der Konkurrenten vom Markt realisiert;
aber die Erhaltung des Eigentums als solchen – gleich in wessen Hand es übergeht –
ist rechtlich nach Regeln gesichert und mit ihr die auf Partikularinteressen aufbauende
Gesellschaftsordnung. Deren Gesamtzweck kann nicht als Zweck eines allgemein ver-
einigten Willens nach Freiheitsgesetzen gedacht werden, weil er ein Konglomerat aus
lauter pathologischen Partikularinteressen ist, deren allgemeine logische Form die Iden-
tität von Identität und Nichtidentität ist. Dies mag funktional sein, ist aber keineswegs
die widerspruchsfreie Übereinstimmung des kollektiven Bewußtseins mit sich selbst,
sondern eher die Form universeller Bewußtseinsspaltung. Diese zu affirmieren, weil sie
funktional ist, ist ein konsequenter Ausdruck allein ihrer selbst. Die Affirmation der Stö-
rung, um deren reibungslosen Ablaufs willen, hat ihren sachlichen Grund darin, daß alle
ökonomischen Grundlagen menschlichen Lebens unter widersprechenden Bedingungen
organisiert sind, und daß die Aufhebung dieser Bedingungen die freie gesellschaftliche
Verfügung über jene Grundlagen nicht unmittelbar und bruchlos herzustellen vermöchte.
Dies begründet die Angst vor Veränderungen, die als Konservativismus – stricte sensu
– sich ausdrückt.288
286
MdS RL, VI § 6.
287
Vgl. auch Max Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, a.a.O., 52.
288
Vgl. dazu ein modernes Beispiel bei Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Studien
über Autorität und Familie, a.a.O., 68: „In doppelter Weise stärkt die familiale Rolle der Frau
die Autorität des Bestehenden. Als abhängig von der Stellung und dem Verdienst des Mannes ist
sie darauf angewiesen, daß der Hausvater sich den Verhältnissen fügt, unter keinen Umständen
184 R – S R
Die allgemeine Verbindlichkeit, das Eigentum zu respektieren, kann nun aber Kant
zufolge nur ein kollektiv-allgemeiner Wille begründen. „Der Zustand aber eines zur
Gesetzgebung allgemein vereinigten Willens ist der bürgerliche Zustand.“289 Daraus er-
gibt sich, vor jedem moralischen Problem, ein rein technisches. Wenn erst im bürgerli-
chen Zustand das Eigentum durch Rechtsgewalt gesichert wird, kann es vorher vielleicht
erworben, aber nicht erhalten werden. Um den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft
dennoch aus diesen Voraussetzungen zu gewinnen, konstruiert Kant die Vorstellung
eines provisorischen Besitzes im Naturzustand, der genauer sogar ein „provisorisch-
rechtlicher Besitz“290 sei. Er habe einen provisorischen Rechtsgrund darin, daß er zwar
Resultat einseitiger empirischer Erwerbung, Bemächtigung, sei, die aber als solche doch
mit dem rechtlichen Postulat kompatibel sei. Die Weigerung hingegen, Grund und Boden
in ausschließlichen Privatbesitz zu überführen, hätte nach Kant keinen solchen Rechts-
grund, da sie den Boden von allem Gebrauch ausschlösse. Weil aber die Aneignung mit
dem Rechtsbegriff übereinstimme, wurde die Gewalt, die der Besitzer im Naturzustand
aufwende, um andere Menschen daran zu hindern, sich auf diesem Boden zu reprodu-
zieren, zwar nicht „von rechtswegen (de iure)“ aber doch schon „mit Recht (iure)“291
ausgeübt. Wo der Naturzustand auf den bürgerlichen schon ausgerichtet sei, setze er
Recht vorweg: Der bloß physische Besitz im Naturzustand präsumiere den rechtlichen im
bürgerlichen Zustand und gelte „in der Erwartung comparativ für einen rechtlichen.“292
Nun kann es nicht darum gehen, den Subjekten im Naturzustand zu unterstellen, sie
antizipierten den Rechtszustand, denn von diesem können sie nichts vorherwissen; sie
können wohl sich den Zweck einer allgemeinen Eigentumsordnung vorsetzen, aber dafür
müssen sie schon Besitz okkupiert haben; sonst wäre der Begriff einer Rechtsordnung
ein Begriff ohne Gegenstand. Ginge aber im Bewußtsein der Okkupanten die Absicht auf
eine bürgerliche Ordnung systematisch vor der Okkupation vorher, wäre dieser Zweck
zutiefst widersprüchlich, weil er zugleich die gewaltsame Aneignung im Naturzustand
affirmierte, um den Gegenstand des Rechts zu produzieren. Im Unterschied zur nach-
folgenden Befestigung eines geschichtlichen status quo wäre ein derartiger Ursprung
des Rechts nicht bloß die gesellschaftliche Transformation empirischer Gewalt, sondern
geradezu brutale Hinterlist. Es kann ebensowenig gesagt werden, Kant imputiere dem
Naturzustand eine ideelle Antizipation des Rechtszustands, denn das reichte zur Begrün-
dung der Affirmation von Gewalt nicht aus. Die mit der Besitznahme im Naturzustand
verbundene Vorstellung der ‚Präsumtion‘ des Rechts soll faktisch Recht zum voraus set-
zen; mit hegelianischer Dialektik293 ließe sich sagen, dieses Recht, das der Besitzer im
Naturzustand beansprucht, sei bloß gesetzt. Von der vermittelten Rechtsbestimmung im
sich gegen die herrschende Gewalt auflehnt […]. […] Vor allem ist es Ihr jedoch um die eigne
ökonomische Sicherheit und die ihrer Kinder zu tun. Die Einführung des Wahlrechts der Frau hat
auch in den Staaten, wo eine Stärkung der Arbeitergruppen erwartet wurde, den konservativen
Mächten Gewinn gebracht.“
289
MdS RL, VI § 15. Vgl. auch § 8.
290
MdS RL, VI § 9.
291
MdS RL, VI § 6.
292
MdS RL, VI § 9.
293
Wohlgemerkt: hegelianisch; Hegel selbst, der keine Naturzustandslehre vertritt, argumentiert so
selbstverständlich nicht.
R S 185
bürgerlichen Zustand aus ließe sich dann erweisen, daß dieser bloß gesetzte, behaupte-
te, Anspruch an sich schon das Recht selbst gewesen sei. Wenn Kant schreibt, „[d]er
bloße physische Besitz (die Inhabung) ist schon ein Recht in einer Sache“294 , dann kann
dieses Recht, das nicht ein Willensverhältnis darstellt, nur als wirkliches Recht in der
Sache – ontologisch begründet – vorgestellt werden. Daraus ergäbe sich dann erst das
persönliche Verhältnis, den „ersten Inhaber eines Bodens in seinem Gebrauche dessel-
ben zu stören“295 . Ohne diese begriffsmetaphysische Erweiterung des Geltungsbereichs
der Rechtsbegriffe über den Rechtszustand hinaus ließe sich das, was außerhalb institu-
tionalisierter Rechtsverhältnisse geschieht, nicht selbst rechtlich interpretieren, sondern
nur im Rückblick als Naturzustand durch Negation vom Rechtszustand unterscheiden.
Tatsächlich handelt es sich bei Kant um eine solche retrospektive Differenz, der aber
selbständige systematische Geltung verliehen wird; das Geschichtliche der Vorausset-
zungen des Rechts wird dadurch enthistorisiert. Besonders intrikat ist das deswegen,
weil der außerrechtliche Akt der Okkupation, der rechtlich interpretiert werden soll, sei-
ner Form nach ein rechtswidriger Akt ist, indem er durch einseitige Willkür allseitige
Verbindlichkeit postuliert. Er hat damit die Form despotischer Gesetzgebung, die mit
Gewalt, aber ohne Freiheit, erfolgt und somit dem allgemeinen Rechtsprinzip, das sei-
ner Form nach republikanisch ist, widerspricht. Der Rechtsgrund des Rechts im nicht-
rechtlichen Zustand kann daher nicht, wie Kant annimmt, „in der Conformität mit der
Idee eines bürgerlichen Zustandes“296 gefunden werden. Als Bedingung der Möglich-
keit der Bemächtigung gibt Kant deshalb noch einen weiteren Grund an: „Das Recht
in einer Sache ist ein Recht des Privatgebrauchs einer Sache, in deren (ursprünglichen,
oder gestifteten) Gesamtbesitze ich mit allen andern bin. Denn das letztere ist die ein-
zige Bedingung, unter der es allein möglich ist, daß ich jeden anderen Besitzer [!] vom
Privatgebrauch der Sache ausschließe […], weil, ohne einen solchen Gesammtbesitz vor-
auszusetzen, sich gar nicht denken läßt, wie ich, der ich doch nicht im Besitz der Sache
bin, von Andern, die es sind, und die sie brauchen, lädirt werden könne.“297 Damit wird
eine weitere ontologische Voraussetzung eingeführt, nämlich daß alle Menschen, wie
sie auf die Erde kommen, zu dieser in einem Besitzverhältnis a priori stehen. Dieser ur-
sprüngliche Gesamtbesitz, wenn er denn alle Menschen umfaßt, muß an jede empirische
Person geknüpft sein und kann dies doch nicht sein, weil es sich um eine Voraussetzung
a priori handeln soll. Der Gesamtbesitz dient zur systematischen Legitimation des his-
torischen Aktes, in dem einige Besitzer die ‚anderen Besitzer‘ von diesem Gesamtbesitz
ausschließen.
Durchaus müssen alle Menschen, wie sie nun einmal, wie Kant einräumt, ungefragt
da sind,298 sich auf der Erde, durch deren Bearbeitung, reproduzieren. Wie Kant eben-
falls feststellt, kommt dem Boden, als ursprünglichem Produktionsmittel, hierbei eine
ausgezeichnete Stelle zu. Der Besitz am Boden ist allem anderen Besitz systematisch
vorausgesetzt, weil jeder bewegliche Besitz irgendwo situiert sein muß. Kant interpre-
294
MdS RL, VI § 6.
295
MdS RL, VI § 6.
296
MdS RL, VI § 15.
297
MdS RL, VI § 11.
298
Vgl. MdS RL, VI § 28.
186 R – S R
tiert dies als kategoriale Differenz, das Grundeigentum sei nach der Kategorie Substanz,
das an beweglichen Dingen nach der Kategorie Inhärenz aufzufassen. Dem Grundeigen-
tum und damit der Okkupation des Bodens kommt somit die grundlegende Bedeutung
in der Genese des Rechtszustandes zu. Die Menschen können sich nun nur auf einem
Boden reproduzieren, wenn sie diesen, mehr oder minder dauerhaft, in empirischen Be-
sitz nehmen. Dies wiederum gelingt nur mit begrenzten Stücken, mit Parzellen. Insofern
stellt die Besitzung eine Privatisierung dar. Die Notwendigkeit eines ausschließlichen
Privatbesitzes folgt aber erst unter der weiteren Bedingung, daß die „natürlich unver-
meidliche[] Entgegensetzung der Willkür des Einen gegen die des Anderen allen Ge-
brauch desselben aufheben würde“299 . Ausgerechnet dieser Privatwillkür begegnet Kant,
indem er die Bemächtigung nach der Regel der Priorität in Ansehung der Zeit formal
zum Rechtsakt erklärt. Kant weiß, daß der Vorrang in der Zeit eine Bestimmung der Na-
turgewalt ist und daher, insofern sich der Ablauf der Naturgeschichte im Ganzen nicht
empirisch vorhersehen läßt, reine Glückssache; die frühen Vögel heißen richtig „beati
possidentes“300 .
Die Bemächtigung ist daher nur der empirische Rechtsgrund, der „Vernunfttitel der
Erwerbung aber kann nur in der Idee eines a priori vereinigten (nothwendig zu verei-
nigenden) Willens Aller liegen, welche hier als unumgängliche Bedingung […] still-
schweigend vorausgesetzt wird“301 . Mit jener Idee, die mit der Rechtsidee kongruent ist,
wird ein Prinzip a priori als Grund der Notwendigkeit des Rechtszustandes angegeben.
Gleichzeitig steht dieselbe Notwendigkeit unter zwei empirischen Bedingungen, nämlich
erstens der vorgefundenen Begrenztheit der Erdoberfläche und zweitens der Priorität in
Ansehung der Zeit: Daß überhaupt die private Aneignung unter Rechtsbestimmungen
notwendig ist, gründet darin, daß die Menschen sich räumlich nicht zerstreuen können
und daß die zeitliche Abfolge ihres Handelns die später Handelnden in Nachteil gegen-
über den früheren setzt. Deshalb ist die Rechtsbegründung a priori, die Absicht, ein
Rechtssystems zu begründen, in Ansehung von dessen unvermeidlichem historischem
Gegenstand überhaupt zweifelhaft. Dieses System muß historische Bestimmungen als
systematisch begründete ausgeben. Wenngleich der allgemein vereinigte Wille faktisch
erst im Rechtszustand eingerichtet ist, geht er doch im Naturzustand als notwendig zu
vereinigender Wille voraus.
Als reale Basis des allgemeinen Willensverhältnisses wird der ursprüngliche Gesamt-
besitz angenommen. Über die begrenzte Erdoberfläche sind alle Menschen aufeinander
verwiesen. Weil die Erde die materielle Bedingung ihrer Reproduktion ist und sie zu
ihr in einem Besitzverhältnis stehen müssen, sind die Menschen alle als Willenssubjekte
aufeinander bezogen. Der a priori vereinigte Wille ist die „Vereinigung der Willkür Al-
ler, die in ein praktisches Verhältniß gegeneinander kommen können“302 . Indem dies eine
Bestimmung a priori sei, konstituiere sie einen absolut gebietenden Willen, durch den es
zu denken sei, daß die empirischen Willkürsubjekte sich in der materiellen Reproduktion
auf dem Boden nicht behindern. Kant setzt dem mit dem rechtlichen Postulat gesetzten
299
MdS RL, VI § 16.
300
MdS RL, VI § 6.
301
MdS RL, VI § 15.
302
MdS RL, VI § 14, meine Hervorhebung.
R S 187
303
Deswegen ist es problematisch, den Anerkennungsbegriff als anthropologische Grundbestimmung
zu erweitern, von der ihr rechtlicher Gebrauch erst abgeleitet sei. Vgl. z. B. Axel Honneth, Ge-
rechtigkeit und kommunikative Freiheit. Überlegungen im Anschluß an Hegel, in: Barbara Merker/
Georg Mohr/Michael Quante, Subjektivität und Anerkennung, a.a.O., 213ff.
304
Marxens polemische Anmerkung zur Menschheitsgeschichte erscheint heute geradezu als romanti-
scher Geschichtsoptimismus. Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, MEW
13, Berlin 1981, 9.
305
Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, a.a.O., 259.
188 R – S R
306
Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, a.a.O., 260.
307
Gemeinspruch, VIII 295. Daß Kant, wie später Hegel, die grundsätzlichen Mängel der bürgerlichen
Gesellschaft wohl gesehen hat, zeigt auch seine Bestimmung der Freiheit zu denken als „das
einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch übrig bleibt, und wodurch allein wider
alle Übel dieses Zustandes noch Rath geschaffen werden kann“ (Sich im Denken orientieren, VIII
144). Dann aber müßte man die aufstoßenden Fragen auch ‚in Anschlag bringen‘.
R S 189
308
MdS RL, VI § 20.
309
MdS RL, VI § 18.
310
MdS RL, VI § 20.
311
MdS RL, VI § 18.
312
Diese Selbstverständlichkeit muß, mit Kant, gegenüber Tier- und Sachenrechtlern (vgl. Arno
Baruzzi, Rechtsphilosophie der Gegenwart, a.a.O.) hervorgehoben werden: Rechte von Tieren
und Sachen sind stets auf ihre Inhalte projizierte Rechte von Personen. Dies zu betonen heißt
nicht, daß Tiere und natürliche Ressourcen nicht schützenswert wären, sondern nur, daß das bür-
gerliche Rechtsinstitut des subjektiven Abwehrrechts solchen Schutz nicht leisten kann, weil es
Rechtssubjektivität voraussetzt. Sowenig Sachen Verträge schließen können, sowenig können sie
ihr Schutzinteresse subjektiv vertreten. Vgl. hierzu auch Martin Seel, Ethisch-ästhetische Studien,
Frankfurt am Main 1996, 201: „Nur eine anthropozentrisch ansetzende Ethik ist in der Lage, der
moralischen Dimension unseres Naturverhältnisses einen angemessenen Ausdruck zu verleihen.“
Ein ‚Eigenwert‘ komme der Natur nur zu innerhalb der menschlichen (ästhetischen) Praxis und
deren ‚Eigenwert‘ (224).
190 R – S R
Unter Personen, die sich als Eigentümer und Nichteigentümer hinsichtlich einer Sa-
che wechselseitig ausschließen, erscheinen die Gegenstände aber nur als Gegenstände
der Willkür. Ihre Einigung besteht darin, hinsichtlich dieser Gegenstände ihre Will-
kür zu koordinieren, d. h. sie einzuschränken, sie partiell aufzugeben. Die über den
Gegenstand zunächst verfügende Willkür schränkt sich selbst ein, indem sie das Auf-
geben ihres Verfügungsrechts bezüglich dieses Gegenstandes verspricht. Nur dieser Akt
ist vertraglich zuzusichern und er ist die Bedingung der Möglichkeit der materiellen Ei-
gentumsübertragung. Diese aber ist umgekehrt Bedingung der Möglichkeit des Vertrags.
Dazu bedarf es „zwei vorbereitende und zwei constituirende rechtliche Acte der Will-
kür“313 . Zunächst muß ein Angebot ergehen und gebilligt werden. Diese Verhandlung
ist Vertragsbestandteil, weil ohne sie der Gegenstand des Vertrags nicht verbindlich be-
zeichnet ist. Sodann muß die Leistung hinsichtlich des Gegenstandes versprochen und
dies Versprechen muß akzeptiert werden. Das partielle Aufgeben der Freiheit der Will-
kür des Versprechenden ist nicht bloß deshalb partiell, weil es auf einen bestimmten
Gegenstand bezogen ist, sondern auch weil es nur im Verhältnis zum Vertragspartner
gilt; alle anderen Personen bleiben vom Gebrauch der zu übertragenden Sache weiterhin
wirksam ausgeschlossen. Dafür muß der Empfänger der Sache durch das persönliche
Recht unmittelbar in das dingliche Recht eintreten, wenn der Versprechende es aufgibt.
Die Wahrung der Kontinuität des Eigentums ist für Kants Rechtslehre unumgänglich,
weil von ihr die Beständigkeit des Rechtszustandes überhaupt abhängt. Würde nämlich
die Sache zwischen dem Aufgeben des Eigentums und dessen neuer Aneignung auch
nur momentan zur res nullius, so würde der Naturzustand – in dem allein es eine res
nullius gibt – zu einem konstitutiven Moment der Form des Rechtszustandes.
Nicht allein, weil die Eigentumsübertragung erst mit der Übergabe ein neues dingli-
ches Recht begründet,314 muß das persönliche Recht die Lücke der Eigentumsübertra-
gung wirksam schließen. Wenngleich rechtspragmatisch die Zeit zwischen Aufgeben
und Neuaufnahme des Eigentums zu kurz scheint, um eine tatsächliche Störung der
Rechtskontinuität zu bewirken, wäre solcher Pragmatismus im Rechtssystem Ausdruck
eines Begründungsmangels; Recht wäre dann nicht, was vernünftig in Einklang mit den
Rechtsprinzipien begründet wäre, sondern schon das, was praktikabel ist, unangesehen
seiner Begründbarkeit. Da dies auf Äquivokationen des Rechts und damit auf Willkür
hinausliefe, muß es Kant darum gehen, die Notwendigkeit des Rechtszustandes durch
dessen begriffliche Konsistenz nachzuweisen. Dies könnte nur durch die tatsächliche
Gemeinschaft, Einheit des Willens, geschehen, die sich empirisch nicht darstellen läßt,
da die Willensäußerungen, selbst wenn sie vollständig kongruent sind, in der Zeit, nach-
einander, erfolgen. Symbolische Akte wie die stipulatio, bis heute auf Viehmärkten als
Handschlag gültig, begründen keine Einheit, die dem modernen Begriff der Willensei-
nigung gerecht würde; sie beschwören empirische Reste des Formalkontrakts, die den
begrifflichen Anforderungen des Konsensualkontraktes nicht entsprechen. Dieser em-
pirische Mangel in der Form des Privatrechts muß nun begrifflich aufgelöst werden.
313
MdS RL, VI § 19.
314
Vgl. MdS RL, VI § 21. Dahinter stehen haftungs- und versicherungsrechtliche Fragen bezüglich
Schäden, die zwischen Versprechen und Übergabe entweder durch die Sache oder an der Sache
entstehen.
R S 191
Kant sieht diese Auflösung in der Intelligibilität des Eigentums angelegt, denn wenn das
Eigentum selbst ein intelligibles Verhältnis von Personen ist, dann könnte seine Übertra-
gung ebenso als intelligibler Akt vorgestellt werden. Bei diesem Akt müßte dann, wie
zuvor bei der possessio noumenon selbst, von allen empirischen Bedingungen abstrahiert
werden.
Das Problem, daß die possessio noumenon ohne empirischen Gegenstand gedacht
werden muß, aber ohne solchen nicht gedacht werden kann, erscheint hier darin, daß die
Vorstellung einer intelligiblen Rechtsübertragung ohne Beziehung auf einen empirischen
Gegenstand, der empirisch übertragen wird, sinnlos ist.315 Eine empirische Übergabe ist
aber nur als Akt in der Zeit vorstellbar. Wäre sie bestimmt durch den Moment, in dem
die Sache der Person A nicht mehr und der Person B noch nicht gehört, entstünde eben
eine Unterbrechung der Rechtskontinuität; insofern dadurch die Okkupation zu einem
Moment des Vertrages würde, bestimmte wieder ein Moment des Naturzustandes die
Kontinuität des Rechtszustandes. Kant bestimmt die Übergabe daher durch den Mo-
ment, in dem die Sache der Person A noch und zugleich der Person B schon gehöre.
In diesem Fall aber wären beide zugleich Eigentümer, was der Voraussetzung der Aus-
schließlichkeit des Privatbesitzes widerspricht, so daß diese Bedingung der Kontinuität
des Eigentums dasselbe zugleich aufhöbe.
Kant zieht sich auf ein mathematisches Modell zurück: In dem oberen Extrem einer
parabolischen Flugbahn sei das Objekt zugleich im Steigen und im Fallen begriffen. Der
Kern dieses Modells ist die Analogie des Moments der Eigentumsübertragung zu ei-
nem mathematischen Punkt, in dem Anschaulichkeit und Intelligibilität verknüpft sind.
Insofern der Punkt das ist, was keine Teile, keine Ausdehnung hat, kann er nur spe-
kulativ gedacht werden, dies aber nur, indem er negativ auf Anschauung bezogen ist.
Der unausgedehnte Punkt ist dem Zeitverlauf nicht unterworfen und kann daher ein in
der Zeit verlaufendes Kontinuum in zwei Teile teilen; und ebendadurch verbindet er
diese. Für die Vereinbarung der Aufhebung der empirischen Bedingungen des Vertrags
mit dessen Gegenständlichkeit bemüht Kant somit einen axiomatisierten Widerspruch
der Mathematik, überträgt dessen systematische Funktion für die reine Anschauung auf
Rechtsgegenstände, die Gegenstände wirklicher Erfahrung schon deshalb sein müssen,
weil sie nur als empirisch okkupierte Sachen Rechtsgegenstände werden konnten. In
der reinen Anschauung hingegen wird nicht gehandelt. Die peinliche Sorge, die Ge-
walt des Naturzustandes aus dem Begriff des Rechtsgeschehens herauszuhalten, spiegelt
wieder, daß dessen reale Kontinuität sich wohl eher der gesellschaftlichen Gewalt des
Rechtszwanges verdankt, der die possessio noumenon durchsetzt und garantiert, als der
rechtstheoretischen Spekulation auf Kontinuität.
In der Erfahrung entstehen zwischen allen Vertragsmomenten zeitliche Differenzen.
Diese müssen durch zusätzliche Verträge abgedeckt werden. So kann für die Zeit
zwischen der Annahme des Leistungsversprechens und der tatsächlichen Leistung ein
Aufbewahrungsvertrag geschlossen werden. Indem Kant den empirischen Bedingungen
315
Neueste scheinbar reine Finanzgeschäfte, vom Optionenhandel bis zum day-trader, sind insofern
keine Gegenbeispiele, als sich zeigen läßt, daß sie auf gegenständliche Korrelate bezogen bleiben.
Der Handel mit bloßen Illusionen bleibt eine Illusion, zumindest für denjenigen der Beteiligten,
der dabei leer ausgeht.
192 R – S R
316
In der Differenzierung der Vertragsarten kommt die Formalität der Unterscheidung von Werk und
Arbeit historisch zu sich selbst. Die ontologisch begründete ständische Differenz, die noch in
Kants Vorstellung von der bürgerlichen Selbständigkeit fortwest, diente immer schon der Legi-
timation gesellschaftlicher Machtverteilung. Wenn Hannah Arendt dieses Motiv a fortiori in der
entwickelten bürgerlichen Gesellschaft wieder aufgreift, trifft sie in der ökonomischen Realität
nichts mehr. Arbeiten und Herstellen sind beides gesellschaftliche Teilprozesse, die gleichermaßen
aufeinander angewiesen sind, und die produktiv sind nur unter der Bedingung der ökonomischen
Verwertbarkeit der Produkte. Vgl. Hannah Arendt, Vita activa, a.a.O., Kapitel 3 und 4.
317
Vgl. MdS RL, VI § 46 Anm. und Gemeinspruch VIII 295 Anm.
318
Vgl. MdS RL, VI 360f.
319
Vgl. MdS RL, VI Allg. Anm. D: „Durch einen Vertrag kann sich niemand zu einer solchen Ab-
hängigkeit verbinden, dadurch er aufhört, eine Person zu sein; denn nur als Person kann er einen
Vertrag machen.“
320
Vgl. MdS RL, VI Allg. Anm. D.
R S 193
wenngleich der Umstand, daß die Herren dies wissen, keinen Versklavten befreit. Diese
Form des Schutzes von Leib und Leben liefert sie gerade aus.
Allerdings gelingt Kant die Differenzierung von persönlichem Arbeitsvertrag und
dinglich-persönlichem Dienstvertrag nicht widerspruchsfrei.321 Die Vorstellung, daß
„das Gesinde sich zu allem Erlaubten versteht“, daß ihm keine „specifisch bestimmte
Arbeit aufgetragen wird“322 , ohne daß es dadurch persönlich abhängig, leibeigen, würde,
ist Kant selbst zufolge „ein falscher Schein. Denn, wenn sein Herr befugt ist, die Kräfte
seines Unterthans nach Belieben zu benutzen, so kann er sie auch […] erschöpfen, bis
zum Tode oder der Verzweiflung“323 . Zwar sei dies für das Gesinde ausgeschlossen,
aber dieser Ausschluß ist sowenig eine rechtsdogmatische Unterscheidung wie die
Differenz zur Lohnarbeit.
Kants Versuch, die historisch gebildeten Formen unselbständiger Arbeitsverhältnis-
se rechtsdogmatisch zu systematisieren, scheitert; in der „Dogmatische[n] Eintheilung
aller erwerblichen Rechte aus Verträgen“324 entfällt das dinglich-persönliche Recht un-
vermittelt; der Lohnvertrag hingegen figuriert neben Geschäftsführung und Verleihung
einer Sache unter den Verdingungsverträgen. Dem entspricht auch die Bestimmung des
persönlichen Rechts: „Denn alles Versprechen geht auf eine Leistung, und wenn das
Versprochene eine Sache ist, kann jene nicht anders entrichtet werden, als durch einen
Act, wodurch der Promissar vom Promittenten in den Besitz derselben gesetzt wird“325 .
Vertragsgegenstand persönlichen Rechts können demzufolge nicht nur Sachen, sondern
kann auch die Willkür selbst und für sich allein sein. Ist nun der Vertrag seiner Form
als Übereinstimmung freier Willen nach nicht empirisch durch Vergleichung von Wil-
lenserklärungen,326 sondern nur noumenal vorstellbar, entsteht die Frage, was denn das
noumenon der Willkürakte sei? Die den empirischen Willenserklärungen zugrundelie-
gende Substanz könnte nur der intelligible Charakter, die Spontaneität praktischer Ver-
nunft selbst sein.
Zunächst nun ist die Bestimmung des intelligiblen Charakters Kant zufolge noch
nicht einmal für das Subjekt, dessen Charakter er ist, erkennbar.327 Die formal
widerspruchsfreie Annahme eines intelligiblen Charakters könnte dann zunächst
nur die widerspruchsfreie Möglichkeit einer noumenalen Vertragseinheit begründen,
d. h. gewährleisten, daß mit dem Vertragsbegriff kein Widerspruch verbunden ist. In
diesem Vertragsbegriff erscheint dann das Eigentum als Verhältnis von Personen, die
ihre Willküren derart beschränken, daß diese hinsichtlich einer bestimmten Sache
nicht kollidieren. Die Personen werden hier vorgestellt als nicht bloß im äußerlichen
321
Vgl. Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, a.a.O., 130ff. und 214ff.
322
MdS RL, VI 360.
323
MdS RL, VI Allg. Anm. D.
324
MdS RL, VI § 31.
325
MdS RL, VI § 21, meine Kursivierung.
326
Die Lösung des bürgerlichen Rechts, durch „erklärte Willensübereinstimmung“ oder „zusammen-
stimmende Willenserklärungen“ die notwendige zeitliche Differenz zwischen diesen Erklärungen
in der Sacheinheit aufzuheben, behebt das Begründungsproblem der systematischen Notwendigkeit
der Vertragsform nicht. Vgl. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 67. Aufl., München 2008, Einfüh-
rung zu § 145, Rn. 1.
327
Vgl. KrV, B 579 Anm.
194 R – S R
Vollzug ihrer Willkür beschränkte, wie es das Recht fordert, sondern als freiwillig
in ihrem noumenalen Willen eingeschränkte. Der Vertrag geht insofern über das
einfache sachenrechtliche Verhältnis hinaus, als er die frei vereinbarte Kohärenz von
Maximen voraussetzt, mithin in der Tat die Beschränkung der praktischen Vernunft
selbst hinsichtlich einer, wenngleich bloß komparativen, Allgemeinheit. Allerdings setzt
Kants Begriff des intelligiblen Besitzes, der allein durch Vertrag geregelt wird, voraus,
daß der Gegenstand, hinsichtlich dessen die Subjekte ihre Freiheit beschränken, selbst
bloß als noumenon zu betrachten sei. Beschränkt sich die reine praktische Vernunft
selbst hinsichtlich eines bloßen Begriffs, so verliert die Eigentumsübertragung deutlich
an Bodenhaftung.
Im Arbeitsvertrag ist nun aber der Gegenstand eines Vertrages die Freiheit der Will-
kür selbst; diese ist nicht bloß ausführend am Vertrag beteiligt. Noumenal betrachtet
würde die Spontaneität der praktischen Vernunft sich selbst hinsichtlich ihrer selbst zu-
gunsten der Spontaneität des anderen Vertragspartners beschränken. Die Freiheit des
Willens gibt die Verfügung über sich selbst für die im Vertrag bestimmte Zeit auf. Zu-
dem ist „der Erwerb eines Gliedmaßes am Menschen zugleich Erwerbung der ganzen
Person“328 , das Arbeitsvermögen kann weder als physisches noch als Willensvermö-
gen losgelöst vom arbeitenden Subjekt erworben werden, sowenig wie im Ehevertrag
das Geschlechtsvermögen isoliert erworben wird; Personen sollen aber als solche nicht
durch Vertrag erworben werden können. Der Ehevertrag ist Kants Auffassung nach allein
deshalb sittlich zulässig, weil er reziprok sei. Noch diese Reziprozität fehlt dem Arbeits-
vertrag offensichtlich, denn der Selbstaufhebung der Verfügung über die eigene Willkür
durch den Arbeiter korrespondiert lediglich der Vermögenszuwachs des Arbeitsanwen-
ders, der „vermögender […] geworden [ist], durch Erwerbung einer activen Obligation
auf die Freiheit und das Vermögen des Anderen“329 . Die weite Fassung des persönli-
chen Rechts durch Kant erlaubt hier übrigens ein äquivokes Verständnis des Ausdrucks
‚Vermögen‘ als Reichtum und als Fähigkeit.
Der Anspruch auf Leistung des Lohns, den der Arbeiter durch den Vertrag erwirbt,
könnte nicht einmal bei Unterstellung der unprofitablen Äquivalenz von Wertprodukt
und Wert des Lohnes – das heißt bei Auszahlung des gesamten Gewinns als Lohn – als
reziproke Leistung verstanden werden, denn die Selbstnegation der Freiheit des ‚Arbeit-
nehmers‘, für einen wie kurzen Zeitraum auch immer, ist eminent von der Verpflichtung
der Willkür des ‚Arbeitgebers‘ auf Zahlung einer Geldsumme unterschieden.330 Nicht
erst der Blick auf den faktischen rücksichtslosen Verschleiß von Arbeitskräften durch
ihre Anwendung unter Bedingungen, die sie freiwillig nie hätten akzeptieren können,
belegt, daß tatsächlich die Freiheit der Willkür durch die Arbeitsverträge aufgehoben
wird; schon Kants Versuch, diese Verträge rechtlich zu begründen, zeigt das. Die facto-
ry acts, die später die von den staatlichen Industrieinspektoren als volksgesundheitlich
328
MdS RL, VI § 25.
329
MdS RL, VI § 20.
330
Das bestimmt auch die Problematik von Debatten über den ‚gerechten Lohn‘. Die Festlegung auch
von Mindestlöhnen ist ein pragmatisches Problem der Tarif- und Sozialpolitik, kein moralisches.
R S 195
331
Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., Kap. 8. Da Marx alles aus den
Fabrikberichten staatlicher Inspektoren zitiert, dürfte diese Quelle der Beschaffenheit von Lohn-
arbeitsverhältnissen unverdächtig sein. Die frühen Verhältnisse stellen das Prinzip bürgerlicher
Arbeitsverhältnisse nicht etwa unentwickelt, sondern unverhüllt dar: Alle späteren Maßnahmen
der Gefahrenbeschränkung usw. sind staatliche Eingriffe in die Privatautonomie, in das Vertrags-
prinzip par excellence.
196 R – S R
332
Vgl. MdS RL, VI Allg. Anm. C und 367ff.
333
Vgl. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 55. Aufl., a.a.O., Einleitung zum Familienrecht, Rn. 2: „Die
Besonderheit des Familienrechts ergibt sich daraus, daß die Familie die wichtigste Zelle des so-
zialen Organismus ist, die gesetzliche Regelung also wie keine andere unmittelbar das Leben
des Einzelnen, mittelbar aber auch den Staat berührt.“ Diese sozialontologische Formulierung
ist in neueren Auflagen allerdings hinter einer funktionalistischen Interpretation von ‚Familie‘
zurückgetreten. Das besondere staatliche Interesse an der Familie wird nun nicht mehr über sei-
nen gesellschaftlichen Grund, sondern positiv durch seinen legislatorischen ‚Ausdruck‘ definiert.
Diese Veränderung ist unter dem Eindruck der europäischen Gesetzgebung und besonders dem
der Gleichstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften einerseits und gleichgeschlechtlicher Le-
benspartnerschaften andererseits zu sehen. Diese werden bezeichnenderweise in einem Gesetz zur
Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften gleichgestellt. Den Um-
stand, daß bürgerliches Recht solche Gleichstellungen nur durch fortschreitende Positivierung und
Funktionalisierung leistet, quittiert umgehend das Feuilleton, dessen Autoren die Individuen gerne
wieder in ihre genealogischen Verbände reintegrieren möchten und den Begriff der ‚Gemeinschaft‘
damit wieder auf Volksebene erheben. Vgl. z. B. die Publikationen von Frank Schirrmacher.
R S 197
reich hinein; gleichwohl können die familiären Verhältnisse nicht ohne weiteres als per-
sönliche Rechtsverhältnisse interpretiert werden, denn sie sind teils nicht auf bestimmte
Leistungen zu beschränken, teils ist der Rechtspartner, so im Fall des Neugeborenen,
schon psychisch und physisch nicht vertragsfähig.
Kants zusätzliche Abteilung des ‚auf dingliche Art persönlichen Rechts‘ hebt gleich-
wohl auf einen anderen Aspekt ab: die feste Zusammengehörigkeit der Hausgenossen,
denen ihr persönlich begründetes Verhältnis als ein sachliches, dem Eigentum analo-
ges, erscheint. Obwohl durch die Brüche mancher Bestimmungen dieses Rechts wohl
noch der Odem Aristotelischer Substantialität des Hauswesens334 weht und obwohl die
Einteilung in Eherecht, Elternrecht und Hausherrenrecht dem Römischen Recht des pa-
ter familias folgt,335 geben Kants Begründungsversuche Einblicke in die Abgründe der
Lebensverhältnisse der Subjekte bürgerlichen Rechts, insofern die Abstraktion der bür-
gerlichen Persönlichkeit, der rechtlichen Subjektivität der Menschen, hierdurch auch die
privaten Verhältnisse ergreift.336
Das nach Aristoteles metaphysisch, aus der Natur der beteiligten Menschen, begrün-
dete Recht im gleichfalls als natursubstantiell vorgestellten oikos folgt bei Kant aus dem
„Recht der Menschheit in unserer eigenen Person“337 . Damit ist es zwar noch immer in
der menschlichen Substanz, der Mensch-heit, begründet, aber diese Substanz gilt nicht
mehr als ontologisches Faktum, sondern sie besteht in der transzendentalen Einheit des
Selbstbewußtsein der Menschen. Aus dieser nun folge das Recht in Bezug auf einen
anderen Menschen als „das des Besitzes eines äußeren Gegenstandes als einer Sache
und des Gebrauchs desselben als einer Person“338 . Die Menschen, die als Sache be-
sessen und in Gebrauch genommen werden, sollen gleichwohl Personen, freie Wesen
sein, die „eine Gesellschaft von Gliedern eines Ganzen“339 bilden. Dieses Ganze ist je-
doch nicht ein durch rationale Organisation und Arbeitsteilung organisiertes Kollektiv,
sondern eine dem bürgerlichen Recht formal subsumierte Herrschaftsordnung. Dieses
Recht ist weder allein ein Recht gegen alle anderen Personen, noch allein eines gegen
eine bestimmte Person und kann deshalb weder aus dem rechtlichen Postulat, noch aus
der Freiheit der Willkür begründet werden. Es übersteigt in der Wirkung beide Formen,
weil es sie vereinigt: Das Recht begründet sowohl einen Anspruch gegenüber der Ge-
samtheit der anderen Personen, sich des Gebrauchs der von dem Recht verdinglichten
Person zu enthalten, als auch einen Anspruch gegenüber dieser Person selbst, sich nicht
dem Gebrauch zu entziehen. Dieses Recht sieht Kant in der Menschheit der Person selbst
begründet, vielleicht, weil die Grundlagen der kontinuierlichen Existenz der menschli-
chen Gattung betroffen zu sein scheinen. Wäre dem so, dann knüpfte Kant aber doch
334
Vgl. Aristoteles, Politik, a.a.O., I, 3 und 12.
335
Vgl. Gerhard Köbler, Lexikon der europäischen Rechtsgeschichte, a.a.O., 429.
336
Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 59: „Die Familie ist anerkannt
und vorhanden nur als soziale Gemeinschaft. Rechtlich wird sie erfaßt und faßbar in individuellen
Rechts- und Pflichtbeziehungen zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern“. Und: „Die Sub-
stanz des menschlichen Daseins verlagert sich aus dem Bereich des Öffentlichen und Allgemeinen
in den Bereich des Privaten, auf den das Öffentliche funktional bezogen ist.“ (Ebda., 147).
337
MdS RL, VI § 22.
338
MdS RL, VI § 22.
339
MdS RL, VI § 22.
198 R – S R
340
MdS RL, VI § 22.
341
MdS RL, VI § 27. Vgl. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 55. Aufl., a.a.O., § 1353 Rn. 7: „Die
Ehe ist Geschlechtsgemeinschaft und verpflichtet grundsätzlich zum ehelichen Verkehr“. Als
Nichtigkeits- oder Aufhebungsgrund erscheint der Nichtvollzug der Ehe aber nicht mehr. Die
Herkunft dieser Bestimmung aus der Sakramentenlehre, nach der das Ehesakrament vom Priester
nur vorbereitet, von den Eheleuten selbst aber wechselseitig gespendet wird (abgesehen davon, daß
alle Sakramentenspende nur werkzeuglich für Gott wirkt), liegt auf der Hand.
342
MdS RL, VI § 25.
R S 199
können“343 , und fürs Gesinde erweist sich das „auf dingliche Art persönliche Recht […],
weil man sie zurück holen und als das äußere Seine von jedem Besitzer abfordern kann,
ehe noch die Gründe, welche sie dazu vermocht haben mögen, und ihr Recht untersucht
werden dürfen“344 . In der Begründung der dinglich-persönlichen Rechte durch Verweis
auf das jeweilige Rückholrecht koinzidieren alle drei Abteilungen. Diese Begründung
des dinglich-persönlichen Rechts durch das Recht auf seine Durchsetzung begründet
aber Recht durch Faktizität von Macht. Wenn die Menschen sich ihrem Gebrauch, wie
er nach der Personalität – also aufgrund wechselseitiger Willkürfreiheit – erklärt und be-
stimmt ist, entziehen, dürfen sie als Sachen – durch einseitige Willkür – zurückgebracht
werden. Sie sind dagegen gänzlich rechtlos; selbst wenn die Umstände einen Rechtsan-
spruch auf Emanzipation begründeten, hätte dieser keine aufschiebende Wirkung. Daß
Kant selbst dabei nicht wohl war, läßt sich dem Hyperlativ ansehen, mit dem er dies
Recht als das „allerpersönlichste“345 bezeichnet. Unterstellt man, daß auch die antike
Sklaverei Tötungs- und Mißhandlungsverbote kannte, schrumpft diese allerpersönlichs-
te Differenz im Kern auf das Veräußerungsverbot von Personen im bürgerlichen Recht,
weil sie sonst zu Unpersonen würden und keine Pflicht zur Vertragserfüllung mehr haben
könnten.346 Die offene Gewalt, die vormals unmittelbar und dann rechtlich die Einheit
des Hauswesens bestimmte, ist im Verkehr der freien Rechtssubjekte sublimiert: Aus
Pflicht muß noch der am tiefsten Erniedrigte seiner Erniedrigung gehorchen; gerade die
theoretische Unverletzlichkeit der Rechtsperson begründet die Metamorphose von Ab-
hängigkeit in Pflicht.
Warum soll nun aber gerade die Vereinigung der formellen Beschränkung der Frei-
heit der Willkür (durch Vertrag) mit der faktischen Degradierung der Menschen zu
Sachen unmittelbar aus der Menschheit in der Person der Menschen, aus dem homo nou-
menon347 oder der moralischen Subjektivität, selbst folgen? Aus dieser folgt vielmehr
unmittelbar das Recht auf unbedingte Achtung, das mit der Erwerbung des Besitzes an
Menschen kaum vereinbar sein dürfte.348 Die Formalisierung des Menschen zur Person,
zum Rechtssubjekt, das die zur Gallerte geronnene Summe seiner Rechtsrelationen ist,
macht ihn an sich zum Objekt.349 Kant verwechselt die relationale Allgemeinheit des
343
MdS RL, VI § 29. Das BGB, § 1632 Abs. 1, kennt den Anspruch auf Herausgabe des Kindes
an die Erziehungsberechtigten durch Dritte, die ihnen das Kind widerrechtlich vorenthalten. (vgl.
Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 55. Aufl., a.a.O.). Bezüglich der Ehepartner oder des Gesindes
existiert derartiges nicht.
344
MdS RL, VI § 30.
345
MdS RL, VI § 23.
346
Vgl. MdS RL, VI § 23.
347
Vgl. MdS RL, VI § 35.
348
Zudem bemüht Kant, wie öfters in aussichtslosen Fällen, den Begriff „Erlaubnißgesetz“ (MdS
RL, VI § 22). Erlaubnisgesetze sind in sich widersprechend, weil Erlaubnisse bloß problematisch,
Gesetze hingegen notwendig sind (vgl. MdS RL, VI 223 und EF, VIII 347f. Anm.).
349
Diese Konsequenz hat Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, a.a.O., gezogen: Subjekte, erst
recht Menschen, haben im Recht keine Funktion; nur ihre Rechte figurieren dort stellvertretend:
„Wenn jeder Kläger als ‚Subjekt‘ auftreten muß, […] müssen rechtlich zu vertretende Interessen
künstlich individualisiert werden. […] Die Form, deren Innenseite das rechtsfähige, klageberechtig-
te bzw. verklagbare Subjekt ist, hat mithin eine Außenseite mit all den Sachlagen und Interessen,
200 R – S R
Rechtssubjekts, die abstrakt ist, mit der moralischen Allgemeinheit des Subjekts, die
dem Anspruch nach die reale kollektive Verbindung der Menschen antizipiert.
Die Formalisierung menschlicher Gemeinschaft zur Rechtsgemeinschaft hat Morali-
tät abstrahiert. Die Subjekte werden nicht mehr als durch freien Entschluß verbunden
gedacht, sondern durch Gesetz: Familie als Zelle der Gesellschaft und Gesellschaft als
Gesellschaft von Privatrechtssubjekten. Die Privatrechtssubjektivität muß im familiären
Zusammenhang grundgelegt werden, wenn sie allgemein gelten soll. Dem Konflikt der
Freiheit der Subjekte dinglich-persönlichen Rechts liegt historisch die Frage zugrunde,
wie weit der Einzelne der Gesellschaft gehört und wie weit er unmittelbaren sittlichen
Zusammenhängen angehört.350
Zu einem Privatrechtsgegenstand, einem sachen- und vertragsrechtlichen Personen-
verhältnis, wird bei Kant vor allem das Geschlechterverhältnis, das als Liebesverhältnis
nur unter Voraussetzung der bürgerlichen Ehe, der wechselseitigen Verbindung zum
lebenswierigen ausschließlichen Gebrauch der Geschlechtseigenschaften, moralisch er-
laubt sei. Im bloß natürlichen ‚Gebrauch der Geschlechtseigenschaften eines Menschen‘,
wie Kant den Liebesakt ausnahmslos tituliert, werde der Gebrauchte zum Gegenstand
des Genusses, zur Sache, zum Sexualobjekt. Da er selbst dazu einstimme, erniedrige er
die unter dem Regime des Subjekts nicht als solche, sondern nur als Komponenten subjektiver
Rechte oder Pflichten im Rechtssystem relevant werden können.“ Die „Focussierung der Selbst-
beschreibung des Systems auf das Rechtssubjekt“ wäre aufzuheben, und „DER MENSCH käme
nicht mehr als empirisch für sich lebendes Einzelwesen in Betracht, sondern nur noch als der
Fluchtpunkt, in dem alle Werte im Unbestimmbaren konvergieren“ (536f.; vgl. Niklas Luhmann,
Reflexive Mechanismen, in: Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Op-
laden 1971, sowie grundsätzlich: Soziale Systeme, a.a.O., 92). Die Beobachtung der Irrelevanz
der Menschen und ihres empirischen Verhaltens für die Verfahren des Rechts (vgl. auch Reflexive
Mechanismen, a.a.O., 208) ist insofern plausibel, als schon der Mosaische (Deut 1,17) Grundsatz,
es sei ohne Ansehung der Person zu richten, das Verfahren in seine eigenen Regeln einzuschließen
scheint. Indem Luhmann Bedingungen und Konsequenzen des Rechts als bloße Systemkoppelun-
gen ausweist (so löst nicht das Verbrechen das Verfahren aus, sondern das Verfahren sich selbst),
führt er seine systemtheoretische Reduktion ad absurdum: Wenn ohne die Koppelung an andere
Systeme das Rechtssystem gegenstandslos ist, war die Reduktion theoretisch sinnlos. Vgl. Herbert
Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 135: „In dieser Theorie kommen dann keine Menschen mehr vor“.
Ob das ein Grund ihrer Exklusion aus der Geschichte der Vernunft (vgl. 139) ist, oder ein Merk-
mal von deren aktueller Gestalt, ist die Frage. – Ähnlich urteilt Böckenförde über die Subjektivität
von Rechtspersonen: „Es werden Ordnungen und Handlungsabläufe aus wenigen zweckrationalen
Prämissen heraus entworfen. Sie realisieren sich in Funktionszusammenhängen und –abläufen, in
welche die einzelnen an ihrer Stelle nur mit einer bestimmten Funktion eingefügt werden. Sie wer-
den dabei nur partiell, in ihrer Verrichtung, Funktion oder Rolle genommen; die Person als solche
bleibt in dieser Rechtsregelung ausgespart, wird vereinzelt, und die Lebensbezüge verdinglichen
sich.“ (Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 66).
350
Sophokles entwickelt in der Antigone die Kollision des Rechts der politischen Gemeinschaft, das
Kreon vertritt, mit dem der familiären Gemeinschaft, das Antigone gegenüber ihrem getöteten
Bruder in Pflicht nimmt (vgl. Sophokles, Antigone, Göttingen 1982). Hegel sieht in seiner Inter-
pretation des Konfliktes als Kollision der gleichberechtigen Ansprüche menschlicher und göttlicher
Gesetze nur die Lösung der Vermittlung. Die abstrakten Vertreter beider Seiten müssen untergehen.
Ihr Untergang beweise die Notwendigkeit des allgemeinen Rechtszustandes, in dem partikulare und
allgemeine Interessen harmonierten (vgl. Phänomenologie des Geistes, a.a.O., Abschnitt VI).
R S 201
zugleich sich wie seinen Partner zur Sache, was dem kategorischen Imperativ, in der so-
genannten ‚Selbstzweckformulierung‘, widerspreche. Für Kant ist die Leidenschaft des
Liebesverhältnisses, die er rückhaltlos einräumt, der Natur nach nicht außer-moralisch,
sondern direkt unmoralisch. Richtig wäre dagegen, daß das Liebesverhältnis kein rechtli-
ches sein kann. Aufgrund der Leidenschaft liegt ihm niemals ein Verhältnis freier Willen
zugrunde, sondern eines von hochgradig pathologisch affizierten Willen.351
Wo gemäß bürgerlichen Bestimmungen tatsächlich nicht einmal Rechte begründet
oder erworben werden könnten, stellt Kant das Sexualverhältnis unter die Bedingung
„daß, indem die eine Person von der anderen gleich als Sache erworben wird, diese
gegenseitig wiederum jene erwerbe; denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und
stellt ihre Persönlichkeit wieder her“352 . Wie durch diese wechselseitige eheliche
Transsubstantiation die hingegebene Persönlichkeit zurückkehre, ist weder empirisch
noch intelligibel sinnvoll vorstellbar. Die Gleichheit des Verhältnisses soll aller-
dings alle einseitigen oder begrenzten Liebesverhältnisse ausschließen, weil hier
die verdinglichten Persönlichkeiten nicht im Gleichgewicht stünden. Der rechtliche
Ehezwang des Geschlechterverhältnisses mag immerhin die aus der Kindszeugung
folgenden persönlichen und sozialen Belastungen pragmatisch regulieren, er mag auch,
besonders in der kanonistischen Form, sozialdisziplinarische Zwecke bedienen; das
Bedürfnis, über den in Leidenschaft vollzogenen, beiderseits per se unfreien, Akt hinaus
ein Freiheitsverhältnis zu konstituieren, folgt erst der bürgerlichen Verrechtlichung
individueller Lebensverhältnisse.
Die protestantische Vorstellung der moralischen Persönlichkeiten der Einzelnen wird
zum funktionalen Äquivalent der Verrechtlichung. Soll das Recht die durchgängige Frei-
heitsordnung der Menschen darstellen, können sie nicht in rechtsfreien Räumen sich
zum Mittel machen, ohne daß sich dafür eine rechtliche Form finden ließe. Es ist nicht
nötig, auf alle Widersprüche des dinglich-persönlichen Rechts im Detail einzugehen;
Kants äußerlich abstrus erscheinende Argumente dafür aber beleuchten die Dinge, wie
sie wohl öfters wirklich sein mögen: „Ohne diese Bedingung ist der fleischliche Ge-
nuß dem Grundsatz (wenn gleich nicht immer der Wirkung nach) cannibalisch. Ob mit
351
Wann die Leidenschaft zur „vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Stö-
rung der Geistestätigkeit“ (Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 55. Aufl., a.a.O., Ehegesetz, § 18,
Abs. 1, Rn. 2) wird und dadurch einen Grund der Nichtigkeit der Ehe darstellt, ist eine graduelle
und deshalb prinzipiell unmögliche Bestimmung. Jedenfalls ist der Katalog der Gründe zur Auf-
hebung einer Ehe aufgrund Irrtums über die persönlichen Eigenschaften des anderen Ehegatten,
zumal in der Kommentierung, recht umfangreich (vgl. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 55. Aufl.,
a.a.O., Ehegesetz, § 32). Ausdrücklich reicht solcher Irrtum auch dann hin, wenn er fahrlässig
erfolgte oder umgekehrt billigend in Kauf genommen wurde (Rn. 1). Der Unmöglichkeit der recht-
lichen Handhabung dieses Gegenstandes trägt das Scheidungsrecht Rechnung, das den vormaligen
Katalog der Scheidungsgründe durch die Generalklausel des ‚Zerrüttungsprinzips‘ ersetzt hat (vgl.
Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 67. Aufl., a.a.O., Einführung zu § 1564f.). Durch diese unspe-
zifische Formulierung wird nämlich insbesondere das ‚Schuldprinzip‘ ersetzt; der Nachweis des
Scheiterns ist nun in der Regel allein durch Trennungsfristen und Willenserklärungen zu erbrin-
gen. Das Recht behandelt die Lebensgemeinschaft als den nackten Formalismus und Utilitarismus,
als den die Menschen ihre rechtlich geregelten Liebesverhältnisse zu interpretieren gelernt haben.
352
MdS RL, VI § 25.
202 R – S R
Maul und Zähnen, oder der weibliche Theil durch Schwängerung und daraus vielleicht
erfolgende, für ihn tödtliche Niederkunft, der männliche aber durch von öfteren Ansprü-
chen des Weibes an das Geschlechtsvermögen des Mannes herrührende Erschöpfung
aufgezehrt wird, ist bloß in der Manier zu genießen unterschieden, und ein Theil ist in
Ansehung des anderen, bei diesem wechselseitigen Gebrauche der Geschlechtsorganen,
wirklich eine verbrauchbare Sache“353 . Die eingestandene Aufgabe der bürgerlichen Ehe
bestünde danach in der hinreichenden Abstumpfung der Leidenschaft auf ein physiolo-
gisch vertretbares Maß.
d. Anschlußüberlegungen
Wie bei allen moralisch sich gebenden Entrüstungen über das Liebesleben anderer Men-
schen läßt sich vielleicht auch hier mehr oder minder sublimierter Neid unterstellen; aber
Kants dinglich-persönliches Recht berührt durchaus moderne Probleme des Verhältnis-
ses von Selbstbestimmung und Verrechtlichung. Empirisch zeigt sich gerade in diesem
Bereich, in dem Recht, Gesellschaft und individuelles Subjekt sich berühren, der Zu-
stand moderner Subjektivität besonders kraß. Daher sollen hier einige Beobachtungen
angeführt werden, die gemeinsam mit dem folgenden Exkurs über Schulpädagogik die
schwierigen Ausgangsbedingungen von Moralphilosophie skizzieren.
Von großer Bedeutung ist zunächst der psychische Schaden, den die Menschen erlei-
den, die ihre Leidenschaften pseudo-moralisch rechtlicher Regulierung zu unterwerfen
lernen müssen, wenn sie nicht als Unholde gelten wollen.354 Die Menschen begreifen
sich bis in ihre innersten Regungen hinein als gesellschaftlich erfaßte. Daß sie in den
Bereichen der Produktion und der Reproduktion ausgeliefert sind, mag ihnen im Priva-
ten kompensabel erscheinen, indem sie dort selbst ihre ‚Rechte‘ begründen und ausüben;
tatsächlich unterziehen sie sich analogen Formalismen, die ihre Individualität, das Be-
wußtsein ihrer Autonomie von innen auszehren. Keinesfalls kann es hier darum gehen,
Lebensgemeinschaften irgendeiner Art philosophisch zu demontieren, wohl aber darum,
die Konsequenzen ihrer privatrechtlichen Überformung darzustellen. Das Besitzverhält-
nis der Ehe, das als physisch begründete Abhängigkeit der Frau vom Mann erscheint, die
mit deren juristischer Gleichberechtigung voll verträglich sei,355 hinterläßt, auch einge-
denk der Möglichkeit glücklicher Ehen, allzuoft zerrüttete Subjekte: Frauen und Kinder,
die aus dem häuslichen Zwangsverband fliehen. Gerade gegen dieses Phänomen richtet
sich das dinglich-persönliche Recht. Als Zwangsverband ist die häusliche Gemeinschaft-
nicht zuletzt dadurch konstruiert, daß das Sachenrecht durch die vertragsrechtliche Form
353
MdS RL, VI 359f.
354
Daß Sigmund Freud aus der moralistischen Triebunterdrückung bei Kleinkindern (z. B. in den
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Studienausgabe, Frankfurt am Main 1969,
Bd. 1, 309ff.) die Neurose hervorgehen läßt, ist, wie Freuds Seelenmodell überhaupt, theoretisch
durchaus problematisch; gleichwohl zeigt die psychiatrische Praxis doch an, daß fremde Eingrif-
fe in die intimste Lebensgestaltung psychopathologisch registriert werden. Herausgestellt hat das
Theodor W. Adorno, Die revidierte Psychoanalyse, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt am
Main 1972.
355
Vgl. MdS RL, VI § 26 Anm.
R S 203
in sie hineinragt. Schlimmer daran sind diejenigen, die nicht fliehen können, weil sie
finanziell abhängig sind, am schlimmsten aber die, die in ihr Bewußtsein eine dem ding-
lich-persönlichen Recht korrespondierende ‚lebenswierige‘ Pflicht eingegraben haben,
deren Bewußtsein den Anschein erzeugt, sie müßten sich selbst den Ausweg verwehren.
Die von Kant vorgesehene Pflicht, die Kinder zu erhalten und zu bilden, verwan-
delt sich unter den Händen der sozial überforderten Eltern allzuoft in die vorgebliche,
sie nach den eigenen Vorstellung zu modellieren, für ein Leben tauglich zu machen,
mit dem die Eltern selbst nur schwer zurecht kommen. Indem die Zurichtung für die
Härte des Lebens vor dieser schützen soll, wird eben die Härte in Wahrheit schon in
der Kindheit vorweggenommen; damit wird die einzige Möglichkeit der Erfahrung un-
bedrohten Glücks – wie fragil diese objektiv auch sein mag – zunichte gemacht. Die
rechtliche Garantie des gesellschaftlichen Schutzes der Hilflosen – der Kinder oder fi-
nanziell Abhängiger – schlägt schließlich um in die Verrechtlichung des zutiefst Priva-
ten, weil Rechtsansprüche nicht anders als durch rechtlichen Akt oder durch ein Gesetz
erworben werden können. Wenn das Recht äußerlich das ausgleicht, was moralisch nicht
zureichend geregelt ist, zeugt fortschreitende Verrechtlichung, wie sie unter anderem im
Familienrecht zu beobachten ist, von zunehmender sittlicher Verwahrlosung in der so-
genannten Rechtswirklichkeit, die so nicht differenzierend benannt werden müßte, wenn
sie die Wirklichkeit des Rechts wäre.
Die Verwahrlosung heute folgt aus der wachsenden Erschwernis der Lebensbedin-
gungen; auch wenn die Konsumenten in den Statistiken der Verbraucherforschung
zyklisch zuversichtlicher erscheinen, leben die Menschen mit Grund in Angst, weil sie
wissen, daß ihre Funktion als Privatrechtssubjekt nicht von ihrer Zuversicht abhängt,
sondern von ökonomischen Bedingungen, über die sie nicht verfügen. Daß sie über
diese nicht verfügen, wissen sie, auch wenn sie ihre Gesetze nicht verstehen. Die im
‚Wirtschaftswunder‘ der deutschen Nachkriegszeit verdrängte Tatsache, daß die bür-
gerlichen Subjekte von den Bedingungen ihrer Reproduktion prinzipiell abgeschnitten
sind, holt das Bewußtsein wieder ein. Die Privatautonomie, gemäß der unter dem
Titel der Standortsicherung schonungsloser als je die Menschen zur Erfüllung ihrer
konkurrierenden Interessen aufeinander losgelassen werden, erzeugt als Folgelasten die
materielle, psychische und physische Beschädigung der Subjekte, die sich im Privaten
schadlos halten. Für solche Entschädigung werden sie immer neue rechtsfreie Räume
öffnen, die gesetzlich geschlossen werden müssen. Dies wird augenscheinlich an der
Betäubungsmittelgesetzgebung, die stets der kriminellen Phantasie des pathischen Be-
täubungsbedürfnisses hinterherhinkt, aber auch an der vom Bundesfamilienministerium
erwogenen Bespitzelung junger Familien durch Hebammen,356 als ob man nicht wüßte,
daß Armut Gewalt erzeugt, weil sie selbst, zu Recht, als gesellschaftliche Gewalt
empfunden wird. Die entrüstete Forderung, daß die gesellschaftlich erzeugte Gewalt in
der Familie aber doch nicht die Schwächsten treffen dürfe, ja daß sie andernfalls feige
sei, zeugt vom affirmativen Verhältnis der Gesellschaft zur Gewalt überhaupt.
Kritik an der Verrechtlichung darf nun nicht quantitativ bestimmt sein; sie könn-
te nur danach fragen, was reguliert wird und zu welchem Zweck es reguliert wird.
356
Vgl. Pressemitteilung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 3.
11. 2006.
204 R – S R
Sonst verblaßt die Kritik zur Kulturkritik und erfaßt nicht die spezifische Situation des
bürgerlichen Rechts; denn schon Aristoteles schreibt: „Daher muß schon die früheste
Erziehung und müssen die Beschäftigungen festgelegt werden durch das Gesetz; denn
wenn sie einem ganz vertraut werden, empfindet man sie nicht mehr als drückend. Es
genügt aber wohl kaum, nur in der Jugend die richtige Erziehung und Betreuung zu
erhalten, sondern: da man auch als Mann diese Dinge treiben und mit ihnen vertraut
werden muß, brauchen wir Gesetze, die auch dieses regeln und damit überhaupt Ge-
setze, die das ganze Leben erfassen, denn die Vielen beugen sich eher dem Zwang
als dem Wort und eher der Strafe als dem Vorbild edlen Handelns.“357 Diese totalitäre
Rechtsvorstellung ist Ausdruck des antiken Mangels an Begriff und Realität moralischer
Allgemeinheit. Der Gedanke, daß die Menschen aus vernünftiger Einsicht ihr kollek-
tives Handeln bestimmen könnten, ist Aristoteles, der noch den abstrakten Vorboten
dieses Gedankens, die Idee des Guten, ablehnte, ganz fremd. Die scholastische Begrün-
dung der katholischen Sozialdisziplinierung ist dem darin verwandt, daß auch für sie
ein vernünftiges weltliches Kollektiv nicht vorstellbar war; die Menschheit konstituierte
sich als moralisches Ganzes erst mit dem Jüngsten Gericht.358 Heute aber ist Verrecht-
lichung allein Ausdruck der nur mehr historisch notwendigen Differenz von Moral und
Recht, deren systematisches Verhältnis seit Kant bestimmbar und deshalb kritisierbar
ist. Kants hilflosem Versuch, durch die Tugendlehre jene Differenz zu schließen, ent-
sprechen die stets erneuerten Forderungen nach einer Werterenaissance.359 Sie ist der
begriffslose Versuch, als Folgeprojekt der Demoralisierung der Menschen ihnen äußer-
lich, durch Autorität der Familie oder einer beschworenen Tradition, ein Moralsurrogat
aufzuheften. Von den Betrogenen Ehrlichkeit, den Erwerbslosen Fleiß und den Hun-
gernden Mäßigkeit zu erwarten, ist ebenso absurd, wie von Managern, die Betriebe
schließen, Verantwortung einzuklagen, weil sie in Wahrheit höchst verantwortlich mit
dem Betriebskapital verfahren.
Wo nach herrschender Lehre der Schutz der Privatautonomie vor staatlichen
Beschränkungen, der ernsthaft aus der Würde und Freiheit der Menschen abgeleitet
wird,360 Vorrang vor einem kompromißlosen Würdeschutz genießt, so daß durch
Vertrag jeder sich in unwürdige Verhältnisse begeben darf, wo zudem die Ausnutzung
357
Aristoteles, Nikomachische Ethik, a.a.O., 1179b.
358
Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica, Salzburg u. a. 1933ff., III, 8, 3.
359
Zur Kritik des sog. Wertbegriffs vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit,
a.a.O., 112, 142 und 167. Werte seien Surrogate, nicht allgemein begründbar und daher politisch
gefährlich.
360
Vgl. Theodor Maunz,/Günther Dürig (Hgg.), Grundgesetz, a.a.O., Art. 1 (Günther Dürig), Abs.
3, Rn 129f. oder Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz, a.a.O., Art. 2 (Horst Dreier), Rn 47 und Art.
3 (Horst Dreier), Rn 508. Zu dem Problem der ‚unmittelbaren Drittwirkung‘ der Grundrechte
vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, a.a.O., 491: „Leicht zu widerlegen ist der Einwand,
daß jede unmittelbare Drittwirkung zu einer unzulässigen Beseitigung oder Beschränkung der
Privatautonomie führe. Die Privatautonomie selbst, nicht nur ihre Begrenzung, ist Gegenstand
grundrechtlicher Garantien und damit der Drittwirkung.“ Das Grundgesetz kann danach Freiheit
im emphatischen Sinn nicht schützen, weil es einander widersprechende Aufgaben bedient. Die
Bedeutung grundgesetzlichen Freiheitsschutzes ist daher explizit „ein Abwägungsproblem“ (ebda.).
Nach Böckenförde ist die Privatautonomie Grundelement der Rechtsordnung, alle anderen, auch sie
beschränkenden, Bestimmungen sind ihr nachgeordnet. Vgl. Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 60. Um
R S 205
Freiheit als Privatautonomie nicht zu untergraben, bleibt ihre Bestimmung im Recht rein subjektiv
und formal, ohne objektive Gehalte (vgl. ebda., 64).
361
Nur ein Indiz mag die Statistik des Nordrhein-Westfälischen Innenministeriums zur „Häuslichen
Gewalt“ sein. Von 2003 bis 2006 stieg die Zahl der Körperverletzungen (§ 223 StGB) in diesem
Sektor um ca. 25% von 10518 auf 12309, die der Bedrohungen (§ 241 StGB) um fast 60%
von 1701 auf 2795, die der Mißhandlungen Schutzbefohlener (§ 225 StGB) um ca. 50% von
172 auf 256, die der Wohnungsverweisungen und Rückkehrverbote um ca. 20% von 6931 auf
8383 und die der Vermittlungen von Opfern an Beratungsstellen um 45% von 5114 auf 7440.
Wie bei allen Statistiken wird die Interpretation vieles berücksichtigen müssen; unter anderem
aber auch die wachsende Verarmung und den zunehmenden sozialen Druck. – Die Diskussion
um ‚Jugendgewalt‘ oder ‚Jugendkriminalität‘ ignoriert grundsätzlich, daß die Gewalttäter durch
ihr Handeln bestimmte, gesellschaftlich durchaus akzeptierte, Zwecke verfolgen, die auf ein im
Prinzip gewaltsames Verhältnis zu anderen hinauslaufen. Nur verfügen Jugendliche nicht über die
technischen und sozialen Sublimationsmöglichkeiten und -gewohnheiten.
362
Eine Tendenz zeigt auf: Volker Caysa, Grenzen der Subjektivation – Grenzen der Körperin-
strumentalisierung. Versuch einer nicht essentialistischen, körperanalytischen Reformulierung des
Verdinglichungstheorems, in: Alex Demirović/Christina Kaindl/Alfred Krovoza (Hgg.), Das Sub-
jekt – zwischen Krise und Emanzipation, a.a.O., 66: „Die neuen Formen der Körperproduktion, -
zirkulation, -distribution und -konsumtion setzen in Wert, was einst als ökonomisch nutzlos, sinn-
los und moralisch abnorm galt. Das Individuum verschwindet in dieser Verrohstofflichung, es wird
Fleisch.“
363
Der Psychiater Ronald D. Laing hat die ‚Normalisierung‘ von Erfahrung und deren Folgen für die
Subjekte schon in den 1960er Jahren beschrieben, gerät aber als Therapeut in Opposition zu sei-
ner Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen, insofern die Wiederherstellung der empirischen
Subjektivität Ziel der Therapie ist. Vgl. Ronald D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung, Frank-
furt am Main 1969. Bemerkenswert ist, daß die klinische Therapie von Schäden durch normierte
Erfahrung die Hospitalisierung, vollständige Isolation von gesellschaftlicher Erfahrung, und das
heißt Herstellung absolut normierter Erfahrung voraussetzt. Vgl. Erving Goffman, Asyle. Über die
soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1972, 83.
206 R – S R
diese Kinder unter sozialen Gesetzen, die sich von denen, unter denen ihre Eltern kon-
kurrieren, in Nichts unterscheiden. Weil die Konkurrenz schärfer wird, wird das bewußte
Leben schließlich zur Gänze dem Erwerb von Wettbewerbsvorteilen geopfert. Da dieser
Wettbewerb dem Wechsel der profitablen Anwendbarkeit des ‚Humankapitals‘ folgend
auf ziellose Flexibilität abgestellt ist, verkommt Bildung rapide zur ‚Methodenkompe-
tenz‘ oder zum ‚life long learning‘, beides Chiffren dafür, daß nicht länger Wissen das
Verhältnis der Menschen zur Welt ordnet und stabilisiert, sondern daß antrainierte ge-
haltlose Fähigkeiten sie zur Verfügungsmasse qualifizieren, die aus sich selbst keiner
Bestimmungen mehr fähig ist.364 Das Vergnügen, das Kinder beim spielerisch gestalteten
Training empfinden, ist heimtückisch; es kaschiert vor ihnen selbst die Heteronomisie-
rung ihres empirischen Charakters, wie es diese vor ihren Erziehern legitimiert. Aus
diesen Kindern werden Menschen, die niemals bewußt die Erfahrung gemacht haben,
ohne fremde Zwecke zu handeln.365 Weil ihnen dadurch die Erfahrung des Fremden,
das Unterscheidungsvermögen verkümmert, vermögen sie die Spontaneität ihres intelli-
giblen Charakters nicht mehr ohne weiteres von der Funktionalität seiner empirischen
Entäußerung zu unterscheiden. Insofern leistet die Regulierung ‚des ganzen Lebens‘
die Verdrängung des widerständischen Moments im Selbstbewußtsein, das ohne un-
364
Vgl. hierzu Johannes Gruber, Der flexible Sozialcharakter, in: Alex Demirović/Christina Kaindl/
Alfred Krovoza (Hgg.), Das Subjekt – zwischen Krise und Emanzipation, a.a.O.
365
Vgl. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, a.a.O., 342: „Auch den Fehlern, die ein Kind
macht, kommt in dieser Hinsicht große Bedeutung zu. Sie sind keineswegs bloßes Versagen, das
aus unzureichender Merk- oder Nachahmungsfähigkeit herrührt; sie sind vielmehr der beste Be-
weis für eine aktive, spontane Handlung des Kindes.“ ‚Spontan‘ ist hier Kantisch zu nehmen. Vgl.
ferner Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 221: „Ohne Anamnesis an den ungebän-
digten, vor-ichlichen Impuls, der später in die Zone unfreier Naturhörigkeit verbannt ist, wäre die
Idee von Freiheit nicht zu schöpfen“. Auch die Schillersche Verknüpfung von Spiel und Selbstsein
ist hier zu erwähnen. Zunehmend wird der Erfahrungsverlust nicht den gegenständlichen Lebens-
bedingungen, sondern den Medien angelastet. Zuerst hat Günther Anders, Die Antiquiertheit des
Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1983, darauf
hingewiesen. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982, will gleich
alle Differenzen und mit ihm das differenzierende Subjekt in der medialen Welt aufgelöst wissen.
Dem liegt eine naive Ökonomiekritik zugrunde: Aufgrund der absurden Behauptung, Gebrauchs-
wert und Tauschwert seien nicht mehr unterscheidbar, wird ihm alles zum Tausch und dieser zur
medialen Inszenierung, in der Wirklichkeit und Täuschung nicht mehr differieren. Tatsächlich wird
kein Tauschwert ohne Gebrauchswert realisiert, werden in der Produktion durch gegenständliche
Tätigkeit Gebrauchswerte gebildet, deren Werthaftigkeit sich erst auf dem Markt erweisen muß,
werden schließlich Gebrauchswerte, nicht Werte, konsumiert. Die Konkurrenz um die Realisierung
von Wert ist an die Menschen als gegenständliche Wesen mit gegenständlichen Bedürfnissen ge-
knüpft und gerade das wendet die moderne Gesellschaft zur Nutzbarmachung der Menschen an.
Der Hinweis auf die Vereinnahmung der Subjekte durch Produktionsbedingungen, nicht erst oder
gar einzig durch tauschbedingte Faktoren, ist eines der entscheidenden Argumente gegen die post-
moderne Subjektliquidation, die selbst elitäre Geste eines überschraubten Intellektualismus ist. Die
Menschen sind keine bloßen psychosozialen Geistgebilde, sondern leben unter gegenständlichen
Bedingungen, die sie täglich gegenständlich reproduzieren. Weder diese Bedingungen noch die
Verfügungsgewalt über sie werden von Fernsehkameras produziert.
E: Ü S 207
366
Helmut Lachenmann zufolge gehört es zum Gehalt avancierter musikalischer Erfahrung, die Erfah-
rung der „Freiheit des Ungenormten […] als wesentliche Notwendigkeit und Voraussetzung huma-
nen Daseins überhaupt bewußt“ zu machen. Vgl. Zur Frage einer gesellschaftskritischen (-än-
dernden) Funktion der Musik, in: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966-1995, Wiesba-
den 1996, 98:
367
Pädagogik, IX 441.
368
Pädagogik, IX 441.
369
Pädagogik, IX 442. Zum Zusammenhang von Disziplin und Moral, mit interessanten Folgerun-
gen zu Rousseau sowie zu Disziplin und Kanon der KrV vgl. Claude Piché, Kants Antwort auf
Rousseaus Savoyischen Vikar: Die transzendentale Methodenlehre, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter
Horstmann/Ralph Schumacher, Kant und die Berliner Aufklärung, a.a.O., Bd. II.
370
Vgl. Pädagogik, IX 444.
208 R – S R
den. Dieses Princip ist von großer Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder
nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber
besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde.
Es finden sich hier aber zwei Hindernisse: 1) Die Eltern nämlich sorgen gemeiniglich
nur dafür, daß ihre Kinder gut in der Welt fortkommen, und 2) die Fürsten betrachten
ihre Unterthanen nur wie Instrumente zu ihren Absichten. Eltern sorgen für das Haus,
Fürsten für den Staat. Beide haben nicht das Weltbeste und die Vollkommenheit, dazu
die Menschheit bestimmt ist, und wozu sie auch die Anlage hat, zum Endzwecke. Die
Anlage zu einem Erziehungsplane muß aber kosmopolitisch gemacht werden.“371
Gleichwohl bleibt die pragmatische Erfordernis, Menschen nicht bloß „in Ansehung
des ganzen menschlichen Geschlechts“, sondern zunächst „als Individuum“ und „zum
Bürger“372 zu bilden. Diese unterschiedlichen Bildungsziele, in deren Differenzierung
und Konstellation sich die Vorstellung der Erziehung als Verhältnis von Wildheit und
Pädagogik spiegelt, führen auf das grundsätzliche Problem, „wie man die Unterwerfung
unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, verei-
nigen könne. Denn Zwang ist nöthig! Wie cultivire ich die Freiheit bei dem Zwange?“373
Kants Antwort auf dieses Dilemma ist ein kurzes aber deutliches Plädoyer für die
Experimentalschule: „Erst muß man Experimentalschulen errichten, ehe man Normal-
schulen errichten kann.“374 Kant versteht darunter die Möglichkeit für einzelne Schulen
oder einzelne Lehrer, individuelle Bildungskonzepte in ständiger Rücksprache mit Kol-
legen und akademischen Fachleuten zu erproben. Zugrunde liegt dabei zweifellos Kants
‚Prinzip der Erziehung‘ – dessen Anwendung, bei allen Vorbehalten gegenüber den of-
fenbar damals schon durch Effizienzerwägungen moralisch verfallenen Akademien375 –
eher von akademisch gebildeten Lehrern als von den Verwaltungsjuristen der Ministeri-
en zu erwarten sei.
Welche Wege die Experimentalschulen nun auch eröffnen mögen, es werden doch
Mittelwege zwischen Ideal und gesellschaftlichen Bedingungen bleiben. So schlägt Kant
auch für das Problem der Vereinbarung von Zwang und Freiheit im Bewußtsein der
Schüler, abseits vom Ideal, eine pragmatische Lösung vor: „1) daß man das Kind von
der ersten Kindheit an in allen Stücken frei sein lasse […], wenn es nur nicht auf die
Art geschieht, daß es Anderer Freiheit im Wege ist […]. 2) Muß man ihm zeigen, daß es
seine Zwecke nicht anders erreichen könne, als nur dadurch, daß es Andere ihre Zwecke
auch erreichen lasse […]. 3) Muß man ihm beweisen, daß man ihm einen Zwang auflegt,
der es zum Gebrauche seiner eigenen Freiheit führt, daß man es cultivire, damit es einst
frei sein könne, d. h. nicht von der Vorsorge Anderer abhängen dürfe.“376
Der Zwang soll durch Antizipation eines nützlichen Resultats einsichtig gemacht wer-
den, da die Antizipation eines vernünftigen Zieles doch immer zu ihm im Widerspruch
371
Pädagogik, IX 447f.
372
Pädagogik, IX 455.
373
Pädagogik, IX 453.
374
Pädagogik, IX 451. Kant ist hier inspiriert durch J. B. Basedow. Vgl. Lewis White Beck, Kant on
Education, in: Essays on Kant and Hume, New York 1978.
375
Vgl. Pädagogik IX, 449.
376
Pädagogik, IX 454.
E: Ü S 209
stünde. Dabei gerät Kant auf die Erziehung zur bürgerlichen Disziplin zurück, die das
Überleben in der Gesellschaft, wie sie ist, sichert, also zu dem Erziehungsziel der El-
tern und der Fürsten, das Kant eben zurückwies. Kants Erziehungskonzept bleibt in
dem Widerspruch zwischen Freiheit und Zwang befangen und gerät in Analogie zur
grundsätzlichen Dialektik praktischer Vernunft, der Rechtfertigungsaporie: „Denn Ein-
sicht hängt von der Erziehung, und Erziehung hängt wieder von der Einsicht ab.“377
Das individuelle Problem der Menschwerdung ist dem gattungsgeschichtlichen Über-
gang vom Naturwesen zum Menschen analog: „Es ist schwer, sich eine Entwickelung aus
der Roheit zu denken (daher ist auch der Begriff des ersten Menschen so schwer)“378 .
Die Ablösung der Menschen vom unmittelbaren Naturzwang – der Prozeß, in dem sie
sich von Naturbestandteilen in Wesen umwandeln, die auch gegen die Natur selbstän-
dig sind – ist nicht theoretisch zu konstruieren, sondern nur post festum als Einheit von
Denken und Handeln zu fassen: Dadurch, daß Menschen Natur zweckmäßig bearbeitet
haben, sind sie unmittelbar dem Naturzusammenhang entronnen. Entsprechend können
Menschen zu gebildeten Menschen, wie Kant feststellt, durch Einsicht werden, und in
dieser Einsicht ist ein praktischer Entschluß enthalten, durch den das Subjekt sich selbst
als autonom in Differenz zu seiner Umwelt erkennt. Dies kann nicht anerzogen werden,
noch viel weniger kann es erzwungen werden, auch wenn der Zwang, wie Kant hervor-
hebt, nicht sklavisch sein sollte.379 Erziehung kann den Subjekten allenfalls die Mittel
zur Selbsterkenntnis geben, aber weder Moralisierung noch Humanisierung methodisch
oder äußerlich ihnen abnötigen, auch nicht durch das, was Kant mit dem Oxymoron
‚moralischer Zwang‘ benennt: „Die erste Epoche bei dem Zöglinge ist die, da er Unter-
würfigkeit und einen passiven Gehorsam beweisen muß; die andere, da man ihm schon
einen Gebrauch von der Überlegung und seiner Freiheit, doch unter Gesetzen machen
läßt. In der ersten ist ein mechanischer, in der andern ein moralischer Zwang.“380 Viel
spricht dafür, daß ein so früh und gründlich mechanisiertes Gemüt keinen anderen Ge-
brauch von seiner Freiheit mehr zu machen weiß als den, der gesellschaftlich von ihm
erwartet wird. Das mag nützlich erscheinen, behindert aber durchaus die Bildung frei-
er Humanität. Der Zwang dem Einzelnen gegenüber wird indes für selbstverständlich
gehalten, weil das gattungsgeschichtliche Moment des Zwangs unterschlagen wird. Die
Distanzierung der Menschen von der bloßen Natur ist von Anfang an vermittelt durch
Herrschaft. Die einfache Reproduktion im Naturzusammenhang wird überwunden durch
Erzeugung von Mehrprodukt, das nicht der menschlichen Tätigkeit unmittelbar selbst
entspringt, sondern der Zwecksetzung einer Herrschaft, die dieses Mehrprodukt anzu-
eignen bezweckt. Die entwickelte Menschheit verfügt aber dadurch zugleich über die
rationalen Mittel zur Überwindung der herrschaftlichen Bedingungen der Emanzipation
von der Natur, die sich als unverträglich mit der Emanzipation selbst erweisen. Deshalb
ist der Zwang in der Bildung ambivalent.
377
Pädagogik, IX 446.
378
Pädagogik, IX 447.
379
Vgl. Pädagogik, IX 471: „Zwangmäßig muß die Erziehung sein, aber sklavisch darf sie deshalb
nicht sein.“ Auf dieses Problem weist auch Gernot Koneffke hin: Dennoch: Bildung als Prinzip.
Anmerkungen zu einer Diskussion des Bildungsbegriffs, in: Widersprüche 21 (1986).
380
Pädagogik, IX 452.
210 R – S R
Ein Moment von Zwang ist aus der Bildung nicht zu tilgen; man lernt nicht, was
man will, sondern was richtig ist. Aber solcher Zwang ist nie moralisch und kann
auch nicht als moralischer vorgetäuscht werden. Zwiespältig ist Erziehung endgültig
dort, wo der Lehrer tauglich zum gesellschaftlichen Leben machen soll und zugleich
selbst erkennt, daß dieses Leben moralisch defizitär ist. Dieser Zwiespalt, der in
die Erziehungskonzepte und Methoden eingeht, überträgt sich zwangsläufig auf die
beschulten Subjekte, die manches, was ihnen mit Recht widerstrebt, unter dem selben
Zwang sich aneignen wie anderes, das mit ihrem humanen Wesen durchaus verträglich
ist; später mögen sie dies erkennen, aber als Kinder lernen sie es nur unter Zwang.
Die Schule, die darauf nicht reflektiert, bildet dadurch ein Bewußtsein, das beides
nicht unterscheiden kann. Dieser Unterschied, der wirklich moralisch wäre, kann nicht
selbst unter Zwang gelehrt werden und auch nicht unter Ausnahme vom Zwang, weil
sein materieller Gehalt, die Lehrgegenstände, unter Zwang steht. Aus solchen Schulen
können bloß zufällig selbstbewußte Subjekte hervorgehen, vorwiegend wohl durch
den Kontakt mit einzelnen Lehrerpersönlichkeiten, Außenseitern zumal. Die meisten
Schüler halten wie ihre Pädagogen Sittlichkeit und Gewalt für das gleiche, und zwar
mit einigem Recht in der Sache. Der ‚Widerstand‘ anderer Subjekte, dem sie, schon in
der Schule – als einem Modell von der bürgerlichen Gesellschaft – ausgesetzt sind,381
entfaltet sich konsequent, je weiter das gesellschaftliche Prinzip der Vereinzelung sich
gegen ständische und militärische Sitten durchsetzt, zu dem, was ‚Gewalt an Schulen‘
heißt. Die Kinder üben Konkurrenz, Durchsetzungsvermögen, in einem rechtlich
geschützten Bereich in Reinkultur. Sie spielen bitterernst den Naturzustand, der eine
Projektion des Gesellschaftszustandes ist. Gelingt es der Schule, bestenfalls, dies auf
ein Maß zu reduzieren, das mit allen Einzelnen verträglich ist, so erzieht sie eben gute
Staatsbürger, aber keine autonomen Persönlichkeiten.
Deren Bestimmung, die Bestimmung allein ihrer theoretischen Möglichkeit, ist für
Kant nur in der transzendentalphilosophischen Negation aller empirischen Bedingungen
durchführbar, unter denen die Personen auch als empirische Moralsubjekte stehen. Die
so gewonnene praktische Subjektivität muß sich aber auf ihr Verhältnis zu den Subjek-
ten rechtlicher, politischer und geschichtlicher Praxis befragen lassen, wenn sie nicht
bloß als eine systematische Erweiterung der erkenntnistheoretischen transzendentalen
Subjektivität gelten soll, sondern eben auch als Bedingung der Möglichkeit empirischer
Praxis. Damit steht das Problem der Bildung als geschichtliches Bindeglied zwischen
Recht und Moral.
381
Vgl. Pädagogik, IX 454.
III Das autonome Subjekt
1
So auch Klaus Düsing, Subjektivität und Freiheit, a.a.O., 31 und 234.
2
Vgl. KrV, B 575.
212 D S
Naturprozessen, dann wären die Imperative inhaltlich eine Tautologie des Naturgesetzes,
der Modalität nach aber bloß problematisch. Der logische Ort dieser Regeln ist daher
nicht der Verstand, der sich erkennend auf die Natur bezieht, sondern die Vernunft, die
ideale Begriffe zu denken vermag, die ein Sollen ausdrücken, an dem das Handeln zu
orientieren sei.3
Der Grund dafür, daß der Begriff die von ihm begründete Handlung nicht unmittel-
bar hervorbringt, liegt darin, daß die Menschen keine reinen intelligiblen Wesen sind,
also nicht nur aus Vernunft bestehen, sondern daß sie auch körperliche Wesen sind. Als
solche stehen sie durchaus unter dem äußerlichen Einfluß der Natur. Sowenig die Ver-
nunft etwas vorschreiben müßte, dessen Verwirklichung ohnehin naturnotwendig erfolgt,
sowenig kann sie etwas vorschreiben, dessen Verwirklichung den Menschen, denen es
vorgeschrieben wird, technisch unmöglich ist.4 Ein Vernunftgebot muß unter Naturbe-
dingungen erfüllbar sein. Das bedeutet aber nicht, daß die moralische Gesetzgebung der
Vernunft selbst durch Naturbedingungen bestimmt wäre. Dann wäre nämlich nicht erst
die Handlung, sondern schon die Willensbestimmung vor der Handlung durch Natur be-
stimmt. Auf den Willen, das Vermögen sich Zwecke zu setzen, wirken zwar auch äußere
Anreize ein, aber sie bestimmen den Willen nicht mit Notwendigkeit. Notwendigkeit
wäre nur durch vernünftig begründete Regeln zu erreichen, deren unbedingte Gültig-
keit sich in der Vernunftreflexion jedem vernünftigen Wesen erschlösse. Diese Regeln
gelten nun zwar auch für reine Vernunftwesen, sind aber als Forderungen tautologische
Beschreibungen ihrer Vernunftnatur. Nur für Wesen, die zwar aufgrund ihrer Vernunft
vernünftig handeln können, aber aufgrund ihrer Körperlichkeit nicht zwangsläufig auch
vernünftig handeln, sind Adressaten solcher Forderungen.5 Ein Wesen, das nicht ver-
nünftig handeln kann, ist nicht frei; eines, das zwangsläufig vernünftig handelt, jedoch
ebensowenig.
Freiheit birgt die Möglichkeit praktischer Vernunft und mit deren Stringenz auch die
Notwendigkeit ihrer Opposition gegen die äußerlichen Zufälligkeiten, die selbst eine Be-
dingung der Möglichkeit von Freiheit sind: „[Es] gibt die Vernunft nicht demjenigen
Grunde, der empirisch gegeben ist, nach, und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie
sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine
eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt, und
nach denen sie so gar Handlungen für notwendig erklärt, die doch nicht geschehen sind
und vielleicht nicht geschehen werden, von allen aber gleichwohl voraussetzt, daß die
Vernunft in Beziehung auf sie Kausalität haben könne“6 . Daß die Vernunft ihre mora-
3
Vgl. KrV, B 575. Da Tugendhat keinen überindividuellen Vernunftbegriff kennt, ist Moral als For-
derung der Vernunft für ihn schlicht „sinnlos“ (Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, 49;
vgl. 121ff.). Was bleibt, sind empirisch manifeste Sanktionen in den Menschen (Gewissen) oder
außer ihnen (Strafe). Ob Intersubjektivität den ‚unaufgebbaren Zusammenhang der Idee vernünf-
tiger Praxis mit der Idee des Selbstbewußtseins‘ begründen kann, bleibt fragwürdig (vgl. schon
Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., 48). – Werden Gewissen und Strafe zu den ein-
zigen empirisch zulässigen Repräsentationen von Moral, so droht diese zu der spießbürgerlichen
Zwangsanstalt zu werden, für die manche Freigeister sie zu Unrecht immer schon hielten.
4
Vgl. KrV, B 575.
5
Vgl. KpV, V 146f. Vgl. Prolegomena, IV § 53 Anm.
6
KrV, B 575.
Z G S 213
lischen Begriffe widerspruchsfrei über die sinnliche Erfahrung hinaus erweitern kann,
hat einen Grund seiner Möglichkeit selbst darin, daß die Subjekte von Moral sinnliche
Wesen sind.
Die Kausalität der Vernunft auf das Handeln begründet also keine unmittelbare
Notwendigkeit, wohl aber Verbindlichkeit durch allgemeine Regeln. Damit kommt
dem vernünftigen Handeln zunächst das Merkmal zu, Handeln vernunftbegabter
Sinnenwesen, also Handeln von Menschen zu sein; zugleich kommt ihm das Merkmal
zu, implizit Handeln mit Bezug auf die Gemeinschaft mit anderen Menschen zu sein,
denn die vernünftige Regel begründet unmittelbar die Forderung ihrer Einhaltung durch
alle vernunftbegabten Sinnenwesen. Die Geltung der Vernunft um ihrer selbst willen hat
Objektivität nur in Beziehung auf die Gattung der vernünftigen Wesen. Die Vorstellung
eines substantiell einzelnen vernünftig handelnden Wesens dagegen ist nicht bloß
Utopie, sondern sie ist gegenstandslos. Die Vernünftigkeit der Handlung, ihre auch nur
potentielle Allgemeinheit, erfüllt sich einzig in der möglichen Beziehung auf andere,
letztlich in der Antizipation der gelungenen universalen Beziehung auf andere, der Idee
vom genus humanum, das mehr als eine biologische Gattung wäre.7
Dies setzt schon Aristoteles voraus, wenn er annimmt, die Menschen verbinde doch
im Unterschied zu den Kühen mehr als das gemeinsame Grasen auf einer Weide.8 Für
Aristoteles war es in der praktischen Philosophie darum gegangen, einen emphatischen
Begriff von Kollektivität zu gewinnen, ohne doch schon über einen expliziten Subjekt-
begriff zu verfügen. Die Menschen sollten als Handelnde aufeinander sinnvoll bezogen
werden, ohne daß Aristoteles ein adäquates Bewußtsein von der subjektiven Urheber-
schaft des Handelns gehabt hätte.9 Die Handelnden gehen mit sich über Mittel zu Rate,
aber sie wählen nicht frei ihre Zwecke. Diese sind innerhalb eines teleologischen Kos-
mos bestimmt. So hatte Aristoteles zur Begründung bestimmter Handlungen nicht ‚bloße
Begriffe‘ angegeben, die ihren Grund in der Vernunft hatten, sondern zunächst die äuße-
ren Zwecke, auf die diese Handlungen gerichtet waren. Diese teleologische Auffassung
des menschlichen Handelns liegt der Ethik prinzipiell noch in den Gestalten zugrunde,
an deren Kritik Kant die Moralphilosophie entwickelt. Kant vermag die aristotelische
Tradition zu kritisieren, weil er über einen entwickelten Subjektbegriff verfügt, der mit
dem Handelnden der metaphysischen Ethik nicht mehr vereinbar ist. Die spekulative
Selbständigkeit moderner Subjektivität, die in ihrem Selbstbewußtsein sich darstellende
zunächst theoretische Selbstbestimmung verträgt sich nicht mit einem Handlungsbegriff,
dessen Grund in Äußerlichem und nicht auch in der Subjektivität selbst liegt.10 Theo-
7
Noch Robinson beschwört in den sittlichen Handlungen, etwa in der, nicht zu verwahrlosen oder
in der, den Feiertag einzuhalten, die menschliche Gemeinschaft, aus der er stammt. Nur in der
Erinnerung an seinesgleichen kann er überhaupt menschliches Wesen bleiben. Vgl. Daniel Defoe,
Robinson Crusoe, Düsseldorf 2001.
8
Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, a.a.O., 1170b.
9
Vgl. hierzu Andrea Marlen Esser, Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 14f. sowie den Teil I, in dem
den neueren Ethikentwürfen, die an Aristoteles anknüpfen wollen, die Aporetik dieses Vorgehens
nachgewiesen wird, weil die Fragen nach Willensfreiheit oder Verbindlichkeit in diesem Kontext
nicht einmal zu stellen seien.
10
Auf dieses Defizit antiker Ethik weist besonders auch Gerold Prauss hin: Kant über Freiheit als
Autonomie, Frankfurt am Main 1983, § 3. – Prauss diskutiert außerdem ausführlich die Schwierig-
214 D S
retische Selbstbestimmung drängt selbst zur praktischen; dies ist das theorieimmanente
Moment des dualistischen Subjektbegriffs, der für Kant aus der Freiheitsproblematik
entsteht, denn Selbstbestimmung muß ihrem Begriff nach aufs intelligible Subjekt be-
schränkt sein, der Handlung nach aber bezieht sie sich aufs empirische.
Für Aristoteles also liegt die Bestimmung des Handelns zunächst außerhalb des Han-
delns in einem zu realisierenden Gut und damit auch außerhalb des handelnden Subjekts.
Der Schiffbauer baut nicht ein Schiff, weil er es will, sondern weil er Schiffbauer ist und
dies nur sein kann, wenn er Schiffe baut. Daß er sie baut, steht noch unter weiteren äuße-
ren Bedingungen: z. B. daß ein Schiff seinen Zweck im Handel hat, dieser seinen Zweck
im Wohlstand usw. Die Vorstellung eines sinnvollen Zweckzusammenhangs in der Welt
erlaubt die Beurteilung von Handlungen als gut oder nicht gut, aber er stellt diese Hand-
lungen auch unter Bedingungen, über die das Subjekt nicht verfügt. Die Handlungen
haben ihren Wert durch ihre Zweckmäßigkeit für einen mehr oder weniger wertvollen
Zweck.
Aristoteles hat bemerkt, daß diese Konstruktion eine logische Schwäche aufweist:
Eine philosophische Erklärung des Handelns bietet die Zweckordnung nur, wenn sie
allgemein gilt; gilt sie aber allgemein, so löst sie sich auf in einen progressus ad infini-
tum. Deshalb setzt Aristoteles neben den Handlungstyp der poieäsis den der praxis, die
selbst Zweck der Handlung sei.11 Sie könne daher die unendliche hierarchische Kette der
Güter als oberstes Gut abschließen. Der Begriff des obersten Gutes führt Aristoteles von
der Ethik zur Politik. Alle poiätischen Tätigkeiten, die der Mensch ausübt, erhalten ihre
Bestimmung von einem Gut, das sie realisieren. Alle diese Güter sind zweckmäßig für
das menschliche Leben und deshalb sind sie Güter. Soll in der menschlichen Tätigkeit
auch so etwas wie Praxis möglich sein, eine Tätigkeit, die selbst ihr eigener Zweck ist,
so setzte dies doch die Sicherung des Überlebens der Menschen voraus. Auf antikem
technischem Niveau setzt die Möglichkeit von Praxis zumindest vertikale Arbeitsteilung
voraus: Damit überhaupt nur ein Teil der Gesellschaft Praxis üben kann, muß ein ande-
rer Teil die poiätischen Tätigkeiten verrichten. Die Befreiung vom Zwang der Arbeit, die
durch die Sklaverei möglich wird, ist die geschichtliche Bedingung aller freien Tätigkeit,
vor allem der Wissenschaft.12
keiten Kants, eine Verbindung von theoretischer und praktischer Selbstbestimmung zu gewinnen
(§§ 9-11), so daß „Praktizität und Selbstverhältnis des Menschen einander offenbar äußerlich blei-
ben“ (125). Zwar weist er die Vorstellung ‚reiner Theorie‘, die mit Praxis nichts zu tun habe,
zurück, aber anstatt praktische Bedingungen von Theorie aufzuzeigen, hebt er die Differenz von
Erkennen und Handeln in einem weiten Intentionalitätsbegriff auf (§ 15), der zunächst technische
Praxis einschließt. Darin meint er die Möglichkeit einer systematischen Ableitung auch moralischer
Freiheit begründet zu haben (238).
11
Im Unterschied dazu ist der Ausdruck ‚Praxis‘ bei Kant doch eher auf die mittelbare Handlung
bezogen und deshalb näher an dem, was Aristoteles ‚poiäsis‘ nennt. Vgl. Dieter Henrich, Ethik
der Autonomie, a.a.O., 11.
12
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 981b: „Als daher schon alles Derartige [Notwendige und
Angenehme; M.St.] erworben war, da wurden die Wissenschaften gefunden, die sich weder auf
das Angenehme, noch auf die notwendigen Bedürfnisse des Lebens beziehen, und zwar zuerst in
den Gegenden, wo man Muße hatte.“
Z G S 215
Die Voraussetzung der kollektiven Einheit menschlichen Handelns für die Möglich-
keit von Praxis ist daher von Anfang an auch die Voraussetzung der inneren Spaltung der
menschlichen Kollektivität. Daran ist nur unter der antiken Vorstellung der Ungleichheit
der Menschen festzuhalten, die zugleich aber eine Diffusion des politischen Zwecks, je
nach regionalem und historischem Stand, bewirkt.13 Die Ethik hat damit keinen eindeu-
tigen Maßstab. Aristoteles, der dies bemerkt, begründet es durch eine Besonderheit des
Gegenstandsbereichs: Die praktische Philosophie sei aus inhaltlichen Gründen nicht zu
derselben Genauigkeit fähig wie die theoretische Philosophie, sondern fasse „die Wahr-
heit nur grob und umrißhaft“14 .
Noch neuere Kommentatoren erklären Ethik aus Prinzip zur ‚Grundrißwissenschaft‘,
in der man nicht zu präzisen Resultaten gelangen könne;15 Aristoteles konnte hingegen
aus einem objektiven Grund zu solchen Resultaten nicht gelangen: Er verfügte nicht über
den Begriff des selbstbewußten und selbstbestimmten Subjekts und die antike Welt wies
dieses auch der Sache nach nicht auf.16 So schwanken die Prinzipien von Ethik und Poli-
13
Vgl. Aristoteles, Politik, a.a.O., 1288a ff., 1279b, 1328a f.
14
Aristoteles, Nikomachische Ethik, a.a.O., 1094 b.
15
So vertritt beispielsweise Otfried Höffe, Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, Mün-
chen 1970, es sei eine fortdauernd gültige metaethische Erkenntnis des Aristoteles, daß Ethik eine
„Umriß-Rede“ (120) oder „Grundriß-Wissenschaft“ (121) sei. Dies gehe auf die „ethische Funda-
mentaldifferenz“ (69) zwischen Wissen und Tun zurück. Die Vorstellung vom Grundriß scheint
auf das zurückzugehen, was schon bei Hans-Georg Gadamer „Umriß“ heißt. (Wahrheit und Me-
thode, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1986, 318). Die Argumentation findet sich im Kern
unverändert bis zu Otfried Höffe, Lebenskunst und Moral, München 2007. Diese Vorstellungen ha-
ben ihren Grund in der affirmativen Auffassung der disziplinären Trennung von Metaphysik und
Ethik. Dazu vgl. Otfried Höffe, Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995, 16; Helmut Flashar, Die
Kritik der Platonischen Ideenlehre in der Ethik des Aristoteles, in: Synusia, Pfullingen 1965, 237;
Dieter Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in:
Ders. (Hg.) Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken, Tübingen 1960, 82. – Olof Gigon,
Probleme antiker philosophischer Ethik, in: Die Antike Philosophie als Maßstab und Realität, Zü-
rich 1977, 90, ist immerhin der Auffassung, daß Aristoteles hinsichtlich der Teleologie „Ethik und
Ontologie bzw. Physik aufs engste miteinander verknüpft“, wenngleich ihm Kritik der Teleologie
als „verkrampftes Mißtrauen“ gilt. Für eine detaillierte Untersuchung des Verhältnisses von Politik,
Ontologie und Teleologie vgl. Manfred Riedel, Metaphysik und Politik bei Aristoteles, in: Philo-
sophisches Jahrbuch 77 (1970). Die Trennung von Metaphysik und Ethik beruht bei Aristoteles
darauf, daß ihm die notwendigen Begriffe, vor allem die modernen Freiheits- und Subjektbegrif-
fe nicht zur Verfügung stehen. Vgl. Michael Städtler, Die Freiheit der Reflexion, a.a.O., 220-238
(Ethik ohne Wille).
16
Die Differenz von Ethik und Wissenschaft hat daher einen historischen Grund im Gegenstand,
der in der Moderne sachlich hinfällig geworden ist. Jürgen Habermas hingegen diagnostiziert die
‚Auflösung eines Geltungssyndroms‘ allgemeiner philosophischer Urteile gerade durch die moder-
ne „Entstehung von Expertenkulturen für Wissenschaft, Moral und Recht“ (Nachmetaphysisches
Denken, a.a.O., 25). „Kants drei ‚Kritiken‘ sind bereits eine Reaktion auf eine Verselbständi-
gung verschiedener Rationalitätskomplexe.“ (ebda.) Tatsächlich geht es Kant um die grundsätzliche
Reflexion der Möglichkeit notwendig und allgemein gültiger Urteile auf allen Gebieten mensch-
licher Erkenntnis, und zwar auf dem wissenschaftlichen Niveau dieser Erkenntnisse selbst. Für
Habermas, der diesen Zusammenhang aufgelöst sieht, wird die „Förderung der totalitätsbezoge-
nen Selbstverständigungsprozesse einer Lebenswelt, die zugleich vor der Überfremdung durch die
objektivierenden, moralisierenden und ästhetisierenden Durchgriffe der Expertenkulturen bewahrt
216 D S
tik bei Aristoteles zwischen bloßer Konvention und Naturnotwendigkeit. Freiheit kommt
als Prinzip nicht in Betracht, da Freiheit selbst nicht als prinzipiell menschliche Eigen-
schaft gedacht wird, sondern als Resultat politischer Herrschaft. Frei vom Naturzwang
waren die, die Herrschaft über Sklaven organisieren konnten, und freie Bürger waren
die, die sich nicht von anderen hatten unterwerfen lassen. Dadurch ist antike Freiheit
immer relational und negativ.
Allerdings stellt die Ungenauigkeit in der praktischen Philosophie Aristoteles vor die
Wahl, entweder auf eine weitere Theorie der Ethik ganz zu verzichten, oder hinter die für
ungenau erachteten Gegenstände zurückzugehen und Bedingungen von Ethik aufzusu-
chen, die vielleicht abstrakt aber unhintergehbar sind. Vor dieser Alternative erweist sich
die Definition des obersten Gutes als Glück unzureichend; die Vorstellung des Glücks
unterliegt kulturellen und individuellen Unterschieden. – Das Individuum, das Aristo-
teles als Exemplar kennt, die Tragödie darüber hinaus als Charakter, ist nicht schon
Subjekt. Auch die konfligierenden Handlungsmotive, die an Individuen dargestellt wer-
den, gelten erst als objektiv vorgezeichnete.17
Aristoteles sucht deshalb nach einer Eigenschaft, in der alle Menschen notwendig
als Menschen übereinstimmen, und findet sie in der Entelechie des menschlichen Ver-
nunftvermögens. Diese setzt, wie gezeigt, die gesellschaftlich arbeitsteilig organisierte
Reproduktion der Menschen voraus, mithin ein kollektives Handeln, das seinerseits ein
funktionsfähiges Kollektiv voraussetzt. Wie ist nun aber das dafür notwendige Handeln
bestimmbar? Aristoteles versucht, das richtige Handeln, die Tugend, zu messen und als
Mitte der Extreme zu bestimmen. Damit haben die ethischen Tugenden ihren Maßstab
aber nicht in sich selbst, sondern unausgesprochen in ihrer Funktionalität für das Ge-
meinschaftsleben. Da die gesamte Argumentation, die zum Mittleren führte, pragmatisch
war, kann Aristoteles kein systematisches Argument zu dessen Ermittlung angeben. Es
sei lediglich durch konsequente Erziehung eine gewisse Treffsicherheit der Entscheidung
zu trainieren. Damit wird das richtige Handeln zusätzlich dem Handelnden entzogen und
autoritärer Erziehung anheimgestellt. Da es aber Handlungen gibt, die nicht bloß als Ex-
treme, sondern überhaupt schlecht sind, fehlt zudem ein Maßstab der Unterscheidung
solcher Handlungstypen; man muß sie kennen. Auch hier gilt also autoritäre Erziehung
als Grundlage sittlicher Kompetenz; das Verhältnis von anerzogenem sittlichem Verhal-
ten und vernünftiger Einsicht in dessen Richtigkeit ist aber zufällig: Wohl kann man
einsehen, was man anerzogen bekam, – aber man kann auch gehorchen, ohne zu begrei-
fen, warum man gehorchen soll. Damit erweist sich diese bis in die Neuzeit, und heute
eigentümlicherweise wieder, als grundlegend geltende Begründung von Ethik für Kant
als philosophisch unzulänglich.
werden muß“ (26), zur Aufgabe der Philosophie, die nunmehr die Menschen vor wissenschaftli-
chen Erkenntnissen geradezu schützen soll. Philosophie wird tendentiell zur Nebelmaschine der
Weltanschauung.
17
Vgl. Joachim Ritter, Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles, in: Archiv für
Rechts- und Staatsphilosophie 46, Neuwied 1960, 186: „Aber es ist offensichtlich, daß hier alle
modernen Auffassungen des Ethischen beiseite bleiben müssen, und daß dies nichts mit „Subjek-
tivität“ und nichts mit Ursprung des Sittlichen aus einem in sich guten Willen […] zu tun hat.“
Z G S 217
Um diese Unzulänglichkeit zu vermeiden, will Kant nun den Begriff des Guten so
fassen, daß er nicht das Subjekt auf einen ihm äußerlichen Zweck hinordnet, sondern
vielmehr das Subjekt zur Identität mit sich selbst anhält, aus der heraus das Subjekt
sich selbst zum Selbstzweck erhebt: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch
außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten
werden, als allein ein guter Wille.“18
Den Aristotelischen Vorbehalt, demzufolge alle Güter nur unter der Bedingung des
obersten Gutes sinnvoll angestrebt werden können, radikalisiert Kant. Nichts ist über-
haupt an sich ein Gut. Jede persönliche Begabung oder Fähigkeit, Bildung oder Men-
talität kann ebenso schlecht wie gut sein. Mit Klugheit und Zielstrebigkeit werden die
abscheulichsten Verbrechen begangen. Ebenso können materielle Güter, die zunächst
die Lebensnot mildern, sodann zu verwerflichen Zwecken eingesetzt werden. Die von
Aristoteles schon festgestellte Partikularität der äußeren Güter, die keine exakte Ethik
zulasse, wendet Kant gegen diese Güter selbst. Sie werden aus der eigentlich ethischen
Betrachtung entfernt. Diese aber wird auf das Subjekt konzentriert, das als moralisches
auf seinen Willen als solchen reflektiert, – noch vor jeder Beziehung auf Gegenstände
des Willens. So bleibt der gute Wille als einzige Bestimmung des Subjekts, die nicht
zu Bösem verwendet werden kann, sondern seiner allgemeinen Form nach das Böse aus
sich ausschließt, nicht mit diesem kompatibel ist, ohne die Identität des moralischen
Subjekts – das moralische Selbstbewußtsein – aufzuheben.
Der Widerspruch der allgemeinen praktischen Reflexion mit den partikularen Bedin-
gungen möglicher Praxis bestimmt das moralische Subjekt und weist ihm seinen Ort
an. Dieser Ort ist bloße Möglichkeit, die aber zur Wirklichkeit drängt, und zwar umso
dringender, je weniger die vorgefundene Wirklichkeit der Möglichkeit von Moral Raum
läßt. In dieser Unruhe erschließt sich die spezifisch praktische Bedeutung von Praxis als
Nötigung zur Freiheit.
Für Kant selbst hängt der nötigende Charakter des moralischen Gesetzes dagegen eng
mit dessen Unmittelbarkeit zusammen: Das Sittengesetz kann nicht Resultat eines ratio-
nalen Prozesses im Subjekt sein, denn es soll unmittelbar und unbedingt gelten. Damit
wird Freiheit zugleich als Unbedingtheit begründet und als durchs Subjekt Unvermittel-
tes aufgehoben. Das Subjekt findet sie nicht allein in sich unmittelbar vor, sondern auch
sich selbst ihr unmittelbar, ohne daß es Ergebnis einer begründeten Einsicht wäre, unter-
stellt. Zu fragen, woher es stamme, gilt schon als Blasphemie, in formeller Analogie zum
Öffentlichen Recht, wo es als Frevel galt, die Gültigkeit der je positiven Ordnung, welche
es auch sei, zu hinterfragen.19 In Kants Vorstellung moralischer Nötigung20 koinzidieren
die Notwendigmachung der an sich zufälligen Willkür durch vernünftig selbstbestimm-
te, freie Zwecksetzung und der Zwang, als der dem Individuum unter unvernünftigen
Bedingungen die Normierung seiner Willkür erscheinen muß. Kants Begriff des ‚Selbst-
zwangs‘ hat die Potenz vernünftiger Einsicht; solange aber deren äußere Bedingungen
ihrem Gehalt widersprechen, ist er pathologisch.
18
GMS, IV 393.
19
Vgl. MdS RL, Allgemeine Anmerkung A zum Staatsrecht.
20
Vgl. KpV, V 32.
218 D S
Kants Schluß vom allgemeinen Bewußtsein – das heißt hier: common sense – von
Moral auf Freiheit ignoriert zudem, daß vernünftige Willensbestimmung aus Freiheit,
zumal in einer gesellschaftlich organisierten Welt, ein hohes Maß an spekulativer Refle-
xion und wissenschaftlichen Kenntnissen voraussetzt und keineswegs mit dem vulgären
Moralbewußtsein identisch ist.21 Wäre aber Freiheit selbst ihrem Begriff nach konfun-
diert mit Heteronomie, so bliebe sie doch als praktische Vernunft notwendige formale
Bedingung nicht-naturkausalen Handelns. Allerdings hätte jene Konfusion in der Frei-
heit erhebliche Auswirkungen hinsichtlich der von Kant ebenfalls bloß problematisierten
Gleichung von Freiheit, Gesetz und Selbstbewußtsein: „Freiheit und unbedingtes prak-
tisches Gesetz weisen also wechselsweise auf einander zurück. Ich frage hier nun nicht:
ob sie auch in der That verschieden seien, und nicht vielmehr ein unbedingtes Gesetz
blos das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft, diese aber ganz einerlei
mit dem positiven Begriffe der Freiheit sei“22 . Wohl mit Grund geht Kant dem Pro-
blem nicht nach, ob diese identisch sind oder als Verschiedene aufeinander verweisen.
Wenn Freiheit zwar Bedingung des Gesetzes wäre, dieses Gesetz aber nicht unverkürz-
ter Ausdruck von Freiheit, so wäre das Selbstbewußtsein praktischer Vernunft zerrüttet.
Die Faktizität ihres Gesetzes verwiese zwingend auf einen formalen Geltungsgrund in
der praktischen Vernunft, ohne den kein Gesetz möglich oder nötig wäre, aber dieser
Geltungsgrund befände sich inhaltlich im Widerspruch mit dem faktischen Gesetz, je-
denfalls soweit seine Geltung auch heteronome Gründe aufwiese. Kant beschränkt sich
auf den formalen Aspekt des Ausgangspunkts praktischer Erkenntnis. Dies kann nicht
die Freiheit sein, weil sie, als Negation von Heteronomie, nicht erfahrbar ist. Es kann
nur vom moralischen Gesetz aus auf Freiheit geschlossen werden, wenn das Gesetz als
gegebenes unmittelbar gewußt wird.23 Dann aber erscheint Freiheit formalisiert als Be-
dingung der Möglichkeit eines bloß Faktischen.
Die Frage nach der Möglichkeit der Willensbestimmung aus reiner Vernunft will Kant
deutlich von der nach der Möglichkeit von Erkenntnis aus reiner Vernunft unterschei-
den, da diese stets zu einem Teil durch Erfahrung bestimmt sei, jene aber aufgrund
ihres unbedingten Geltungsanspruchs an der Erfahrung keine Grenze haben könne.24
Nun kann wohl das moralische Gesetz nicht durch wirkliche Erfahrung begrenzt sein,
denn sonst unterschiede sich das, was sein soll, nicht eminent von dem, was ist. Kants
Konstruktion der bedingungslosen Geltung von Moral trennt diese aber ihrem Begriff
nach noch von der möglichen Erfahrung ab. Die unbeschränkte, umfassende Realität
vernünftiger Zwecksetzung, das Reich der Zwecke, läßt sich demnach nur am spekulati-
ven Modell „einer möglichen, gar nicht empirisch erkennbaren Naturordnung […] einer
21
Vgl. KpV, V 10: „Ich besorge in Ansehung dieser Abhandlung nichts von dem Vorwurfe, eine neue
Sprache einführen zu wollen, weil die Erkenntnißart sich hier von selbst der Popularität nähert.“
Vgl. auch KpV, V 35.
22
KpV, V 29.
23
Vgl. KpV, V 29f.
24
Johannes Rohbeck, Technologische Urteilskraft, a.a.O., 83, stellt fest, Kant habe „die Ansicht,
den kategorischen Imperativ nicht auf menschliche Handlungen zu beziehen, sondern allein auf
Bestimmungen des Willens einzuschränken“. Genauer wäre zu sagen, daß Kant durch sein Konzept
der Autonomie genötigt wird, so zu verfahren; seine Absicht geht wohl aufs Handeln, läßt sich
aber theoretisch nicht widerspruchsfrei durchführen.
Z G S 219
25
KpV, V 45.
26
KpV, V 45.
27
Vgl. KpV, V 46: „Wie nun dieses Bewußtsein der moralischen Gesetze, oder, welches einerlei ist,
das der Freiheit, möglich sei, läßt sich nicht weiter erklären“.
28
Daß „Ethik und Praxis getrennt werden“ (Johannes Rohbeck, Technologische Urteilskraft, a.a.O.,
83), erscheint dann auch als Reflex dessen, daß sie real getrennt sind. Deshalb steht „Kants Theo-
rie der Willensbildung“ auch nicht einfach im „Horizont selbstgenügsamer Subjektivität“ (ebda.,
86), denn ‚Selbstgenügsamkeit‘ meint ein positives Konzept, wogegen Kants Subjektivitätsbegriff
negativ ist, Resultat des Versuches, Identität gegen äußerliche Nichtidentität festzuhalten. – Hen-
rich hält fest, daß das sittliche Bewußtsein sich nicht mit dem Moralgesetz identifizieren könne,
obwohl es Ausdruck der Vernunft sei: Es bestimme den Willen „in ihm und doch von außen“
(Dieter Henrich, Ethik der Autonomie, a.a.O., 49).
29
KpV, V 31; meine Kursivierungen.
220 D S
rem Wesen einverleibt“30 sein sollte, denn das ursprünglich mit der Vernunft gegebene
Gesetz kann nur das formale Vermögen der Gesetzmäßigkeit selbst sein, von dem es
überhaupt kein faktisches Bewußtsein geben kann, da es inhaltslos ist. Gegeben sein,
faktisch sein, kann es nur als durch bestimmte Erscheinungsformen vermitteltes, gegen
die das reine Vermögen der Gesetzmäßigkeit dann als deren begriffliche Substanz abge-
grenzt werden kann. So ist bei Kant der bestimmten Erkenntnis der absoluten Kausalität
zumindest noch der Umweg über die empirische Seite der Menschen immanent.31 Un-
bedingte Kausalität und Gesetz verweisen wohl aufeinander, aber sie sind schon ihrer
logischen Form nach nicht miteinander und nicht mit Freiheit umstandslos identisch,
denn die erste ist Freiheit im negativen Sinn, das zweite aber Freiheit im positiven Sinn.
Beide Bedeutungen verschränken sich erst in den vernunftbegabten Sinnenwesen, deren
Vernunftvermögen durch doppelte Negation – die Abwehr selbst schon negativer Be-
schränkungen – sich als selbstgesetzgebend erkennt und dadurch erst ein Bewußtsein
von Freiheit bildet. Das Bewußtsein moralischer Gesetze, die als faktisch aufgefaßt wer-
den, ist zumindest heterogen; in der Form seiner Unmittelbarkeit enthält es auch ein
heteronomes Moment. Daß absolute Gesetzmäßigkeit im formalen Ausdruck mit Selbst-
bestimmung kongruiert, ist erst das Ergebnis einer anspruchsvollen Reflexion,32 deren
Gehalt nicht im mindesten im unmittelbaren Bewußtsein von Gesetzen anwesend ist: Die
unbedingte Gültigkeit, die keiner weiteren Nachforschung und Erklärung mehr zugäng-
lich ist, ist eben nicht selbst faktisch gegeben, sondern als Resultat von den Bedingungen
abhängig, aus denen sie erschlossen wurde.
Zudem bleibt das Resultat der Reflexion deshalb problematisch, weil das Bewußtsein
der reinen Kausalität Resultat der Abstraktion von ihr unangemessenen Bedingungen
ist. So ist es gegen diese Bedingungen formal polemisch, material jedoch gleichgültig:
„Auch ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Factum der reinen Vernunft, dessen
wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben, gesetzt daß
man auch in der Erfahrung kein Beispiel, da es genau befolgt wäre, auftreiben könnte.“33
Richtig bleibt daran, daß in jeder – wie immer auch mißratenden – Praxis von Vernunft
die Freiheit eine faktische Erscheinung hat; das Subjekt dieser Faktizität, ihr realer Ort,
bleibt indes unbestimmbar, denn es „erhält nun zugleich die befremdliche, obzwar un-
streitige, Behauptung der spekulativen Kritik, daß sogar das denkende Subjekt ihm selbst
in der inneren Anschauung bloß Erscheinung sei, in der Kritik der praktischen Ver-
30
KpV, V 105.
31
Vgl. KpV, V 105.
32
Vgl. KpV, V 155: „[I]n der gemeinen Menschenvernunft ist sie [die Frage nach der reinen Sitt-
lichkeit], zwar nicht durch abgezogene allgemeine Formeln, aber doch durch den gewöhnlichen
Gebrauch, gleichsam als der Unterschied zwischen der rechten und linken Hand, längst entschie-
den“. Die Philosophen allein brächten erst Verwirrung in diese Frage. Dagegen heißt es KpV, V
162f., daß der Gebrauch der praktischen Vernunft „nicht so wie der Gebrauch der Füße sich von
selbst vermittelst der öftern Ausübung findet, vornehmlich wenn er Eigenschaften betrifft, die sich
nicht so unmittelbar in der gemeinen Erfahrung darstellen lassen“ und KpV, V 163: „Wissenschaft
(kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) ist die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt“.
33
KpV, V 47.
Z G S 221
nunft auch ihre volle Bestätigung“34 . Die Koordination nämlich von Sittengesetz und
Naturkausalität „in einem und demselben Subjecte, dem Menschen […] ist unmöglich,
ohne diesen in Beziehung auf das erstere als Wesen an sich selbst, auf das zweite aber
als Erscheinung […] vorzustellen.“35 Indem Kant das Subjekt insgesamt, auch sofern
es ‚Subjekt des Denkens‘ ist, als Erscheinung auffaßt, spaltet er das Subjekt, statt es zu
vermitteln. Wenn auch das denkende Subjekt sich selbst ‚bloß Erscheinung sei‘, kann
es unmöglich als Erscheinung sich selbst als Erscheinung erscheinen, denn dem Er-
scheinenden muß ein Ding an sich zugrunde liegen. Das denkende Subjekt ist somit als
Subjekt, dem erscheint, intelligibel, als Subjekt, das erscheint, aber empirisch. Das em-
pirische Subjekt aber, das als körperliches ein Objekt von Naturkausalität ist, ist hier gar
nicht mehr vorhanden. Damit wird einerseits der empirische Charakter bis ins denkende
Subjekt hinein verlängert, andererseits wird der intelligible Charakter, der Ort des Sitten-
gesetzes, dem bestimmten Selbstbewußtsein des Subjekts völlig entzogen, denn dieses
ist immer an die Erfahrung seiner selbst im inneren Sinn gebunden und schon empirisch.
Das reine Selbstbewußtsein aber, Quell der Selbstbestimmung, ist leere Spontaneität.
Die Notwendigkeit dieser Spaltung des Subjekts als Bedingung seiner Vermittlung re-
flektiert indes Bedingungen, unter denen die empirischen Handlungen notwendig vom
intelligiblen Sittengesetz abweichen. Warum sollte die moralische Allgemeinheit des Sit-
tengesetzes per se nicht in realer Allgemeinheit der Menschheit erscheinen können, so
daß die Menschheit in der eigenen Person jedes einzelnen Menschen mit der Menschheit
aller anderen praktisch widerspruchsfrei vereinbar wäre? Die empirischen Handlungen
wären dann ebensowenig bloße Naturkausalität wie das Sittengesetz absentiertes ‚Wesen
an sich selbst‘. Weil dem aber real nicht so ist, trifft Kants Dichotomie zu. Die Subjekte
sind zerrissen zwischen absolutem Handlungsvermögen und äußerer Handlungsunfähig-
keit.36
Deshalb gereicht den menschlichen Subjekten ihr theoretisches Vermögen, ihr logi-
sches Selbstbewußtsein, auch nicht zum Übergang in Selbstbestimmung. Wie noch zu
zeigen ist, gelingt Erkenntnistheorie, die Begründung der Möglichkeit allgemeiner und
34
KpV, V 6. Vgl. Kosmas Psychopedis, Untersuchungen zur politischen Theorie von Imanuel Kant,
a.a.O., 128: Kant „fragt nach den Bedingungen des Lebens und Handelns der Bürger einer for-
malistischen Kulturgemeinschaft, […] in der die Menschen sich als einzelne gegenübertreten. […]
Mag Kant auch dabei als bürgerlicher Denker den Standpunkt der Vereinzelung selbst hypostasiert,
die sozialökonomischen Bedingungen einer freien Gemeinschaft nicht untersucht haben, so bleibt
jedoch seine Frage auch heute für die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft verbindlich: Sie
besagt, daß sie sich nicht der persönlichen politischen Verantwortung unter Berufung auf die Fak-
tizität des außer ihnen stehenden Zusammenhangs von Gesellschaft und Politik entziehen dürfen.“
Dies besagt sie allerdings in der dem Gegenstand entsprechenden aporetischen Gestalt.
35
KpV, V 6 Anm.
36
Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 215: „Das Bewußtsein hat hiemit allen
Gegensatz und alle Bedingung seines Tuns abgeworfen; es geht frisch von sich aus, und nicht
auf ein anderes, sondern auf sich selbst. […] Das Tun hat daher das Ansehen der Bewegung
eines Kreises, welcher frei im Leeren sich in sich selbst bewegt, ungehindert bald sich erweitert,
bald verengert, und vollkommen zufrieden nur in und mit sich selbst spielt. […] Das Tun verändert
nichts und geht gegen nichts“. Vgl. auch Johannes Rohbeck, Technologische Urteilskraft, a.a.O., 80:
„Das Dilemma liegt indessen noch tiefer, weil nicht einzusehen ist, wie eine praktische Vernunft,
die unabhängig vom Handeln konzipiert wird, überhaupt praktisch werden kann.“
222 D S
notwendiger Urteile, nur durch den Begriff eines Subjekts, dessen Selbstbewußtsein von
allen äußeren Bedingungen abstrahierte. Daß unter den bloßen Erkenntnisbedingungen
gleichwohl in der Dritten Antinomie der reinen Vernunft die Annahme subjektiver Frei-
heit sich aufdrängt, veranlaßt die reine Vernunft zur Selbstbeschränkung. Die praktische
ist aber Kant zufolge auch keine Erweiterung der spekulativen, sondern sie erschließt
Freiheit, „ohne mit der speculativen Verabredung getroffen zu haben“37 . Darin, daß
Freiheit nur gegen die Einheit des vernünftigen Selbstbewußtseins, die Kant durchaus
reklamiert,38 zu denken ist, erscheinen ihre heteronomen Bestimmungsmomente. Die-
se Momente ordnet Kant jedoch der Psychologie zu, in deren Zuständigkeitsbereich
das Begehrungsvermögen falle, die Fähigkeit, „durch seine Vorstellungen Ursache von
der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“39 . Offen läßt Kant das
Verhältnis zur Lust, der „Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der
Handlung mit den subjectiven Bedingungen des Lebens, d. i. mit dem Vermögen der
Causalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objects (oder der Be-
stimmung der Kräfte des Subjects zur Handlung es hervorzubringen)“40 ; dies erscheint
als irrelevant, weil auch die mangelnde Übereinstimmung von Realisierungskraft und
Begehrungsvermögen dessen Objektivität als solcher keinen Eintrag tut, denn auch das
unerfüllte, leere Begehren soll, einer Ergänzung zur Rechtslehre zufolge unmittelbar ein
Objekt realisieren, nämlich seelische Krankheit.41 Die moralische Objektivität des lee-
ren Begehrens erscheint auch in der lapidaren Parenthese zur Realisierungsfunktion des
Willens: „das physische Vermögen mag nun hinreichend sein, oder nicht“42 . Daß das Be-
gehrungsvermögen auf die objektive Realität seines Gegenstands wirke, zeige sich einer
37
KpV, V 6.
38
Vgl. GMS, IV 391: „[T]heils erfordere ich zur Kritik einer reinen praktischen Vernunft, daß, wenn
sie vollendet sein soll, ihre Einheit mit der speculativen in einem gemeinschaftlichen Princip zu-
gleich müsse dargestellt werden können, weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft
sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß“; ebenso KpV, V 121: „[S]o ist es
doch immer nur eine und dieselbe Vernunft, die, es sei in theoretischer oder praktischer Absicht,
nach Principien a priori urtheilt“. Im folgenden ordnet Kant die spekulative Vernunft der prakti-
schen unter, weil alles spekulative Interesse zuletzt auch praktisch sei. Die moralische Gestaltung
des Technisch-praktischen faßt er aber dennoch nicht als moralischen Zweck. – So auch Herbert
Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 121: Bei Kant seien die Differenzen wichtig, aber „auch hier fal-
len sie sämtlich in den Bereich der Vernunft im allgemeinen Wortsinn“. Der kausale Anschluß des
folgenden erscheint kryptisch: „Die moderne Kontextualisierung der Vernunft führte somit [!] zu
ihrer Pluralisierung, der gegenüber die Behauptung, es handele sich dabei um ein und dasselbe,
wenn auch in verschiedenem Gebrauch, bloß eine leere Versicherung sein konnte.“ Vorher hieß
es, daß die exklusive Rede von der Kontextualisierung der Vernunft deren klassische Einheit als
unhaltbar zu erweisen drohte. Aber die Rede produziert ja nicht die Vernunft, sondern setzt sie
voraus, und zwar, wenn sie nur etwas bezeichnen soll, als einheitliche.
39
KpV, V 9 Anm. „Damit stehen sich ein empirischer Teil, zu dem Anthropologie und Psychologie
gehören, und ein rationaler Teil, der allein Moral heißen darf, unversöhnlich gegenüber.“ (Johannes
Rohbeck, Technologische Urteilskraft, a.a.O., 84).
40
KpV, V 9.
41
Vgl. MdS RL, VI 356. Kant nimmt dies nicht bloß in Kauf, sondern bejaht es mit Nachdruck, wo
er behauptet, daß Sittlichkeit „sich im Leiden am herrlichsten zeigt“ (KpV, V 156).
42
KpV, V 15.
Z G S 223
weiteren Anmerkung zufolge gerade im Scheitern: „Aber selbst die Wirkung, welche sol-
che leere Begierden und Sehnsuchten, die das Herz ausdehnen und welk machen, aufs
Gemüt haben, das Schmachten desselben durch Erschöpfung seiner Kräfte, beweisen
gnugsam, daß diese in der Tat wiederholentlich durch Vorstellungen angespannt werden,
um ihr Objekt wirklich zu machen, aber ebensooft das Gemüt in das Bewußtsein seines
Unvermögens zurücksinken lassen.“43 Die Naturabsicht darin ist weise, „[d]enn gemei-
niglich lernen wir unsere Kräfte nur kennen, dadurch daß wir sie versuchen.“44 Was Kant
abstrakt oder rein technisch als Fortschrittsmotiv interpretiert, wird in ebenso reiner mo-
ralischer Hinsicht den Subjekten zur Katastrophe. Weil Kant, um die Moralität ‚rein zu
haben‘, das Verhältnis von Moralität und der Beschädigung der psychischen Konstituti-
on der Handelnden nicht berücksichtigen kann, werden die Subjekte den Kräften ihrer
Beschädigung dargeboten.45 Vielen von Kants Beispielen liegt das zugrunde, vom De-
positenbesitzer, dessen Rückgabepflicht nur rein erscheint, weil sie den Untergang einer
ganzen Familie einschließt, über den durch Mörder Bedrohten, der um des Lügenver-
bots willen auszuliefern sei, bis zum Geheimnisträger, der auch durch den drohenden
Galgen nicht zum Verräter werden soll; der Selbstmordkandidat, der unter unerträgli-
chen Bedingungen weiterleben soll, ist nur das Negativ zu den übrigen Beispielen.46
Keineswegs ist denjenigen, die aus sittlicher Überzeugung ihr Leben zu opfern bereit
waren, die Achtung zu versagen; es ist aber eine Moralphilosophie, die solche Opfer als
paradigmatische Beispiele enthält, vor allem auch als Ausdruck zutiefst unmenschlicher
Lebensbedingungen zu rezipieren. Praktische Philosophie, die diese Bedingungen nicht
reflektiert, wandelt sich im Kern zu deren Kontemplation.47
Kants praktischer Freiheitsbegriff bleibt nun von seinen Bedingungen ebenso isoliert
wie vom Selbstbewußtsein reiner Vernunft. Die Darstellung praktischer Vernunft folgt
der der reinen zwar zunächst in der Anordnung des Materials,48 aber umgekehrt, da „wir
es jetzt mit einem Willen zu thun haben und die Vernunft nicht im Verhältniß auf Ge-
43
Erste Einleitung KdU, 38 Anm.
44
Erste Einleitung KdU, 39 Anm.
45
Ähnlich formuliert Julius Ebbinghaus, daß „unter den Bedingungen der Erfahrung die Tugend
selbst zu einem Hinderungsgrund für die Glückseligkeit der Menschen werden“ kann (Herbert J.
Paton – Julius Ebbinghaus, Briefwechsel 1953/54, Ebbinghaus an Paton, 4. Mai 1954, in: Kant
und das Recht der Lüge, hg. v. Georg Geismann und Hariolf Oberer, Würzburg 1986, 73).
46
Eine weitere Variante ist der Schuldner, der auf dem Weg zur Tilgung die geschuldete Summe
einem Notleidenden nicht überlassen darf (vgl. Pädagogik, IX 490). In dieser Implikation der
Unterscheidung von ‚pflichtgemäß‘ und ‚aus Pflicht‘ treten die tugendethischen Wurzeln des Kan-
tischen Moralbegriffs hervor. Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 208: „die
wahre Zucht ist allein die Aufopfrung der ganzen Persönlichkeit, als die Bewährung, daß es in
der Tat nicht noch an Einzelnheiten festgeblieben ist“. Dieses Zitat stammt aus dem Abschnitt
Die Tugend und der Weltlauf . – Hans Blumenberg weist auf Kants spätere Lehre von Christus
als Ideal des heiligen Willens hin, freilich mit kritischer Wendung gegen die Ausführbarkeit des
Sittengesetzes unter empirischen Bedingungen überhaupt (vgl. Die Genesis der kopernikanischen
Welt, Frankfurt 1975, 694).
47
Auch Dieter Henrich beurteilt die Uninteressiertheit der sittlichen Tat als abstrakt. Vgl. Ethik der
Autonomie, a.a.O., 27f. Vgl. auch dens. Glück und Not, in: Selbstverhältnisse, a.a.O.
48
Vgl. KpV, V 16.
224 D S
genstände, sondern auf diesen Willen und dessen Causalität zu erwägen haben“49 ; die
Anwendung der praktischen Begriffe geht „zuletzt auf das Subject und dessen Sinn-
lichkeit“50 . Die reine spekulative Vernunft vermittelte ihre Kategorien als Funktionen
zu urteilen an den Urteilsformen und mit diesen an Objekten. Gelten sie auch a priori
für alle Objektivität, so würden sie doch ohne Objekte nicht gewußt und das bestimmt
das Bewußtsein von ihnen, wenngleich Kant dieses Moment transzendental aufzuheben
sucht. Für das Sittengesetz stellt Kant solche Fragen erst gar nicht. Es ist da, gegenstands-
los unbedingt. Davon geht die Analytik der reinen praktischen Vernunft insgesamt aus,
sie deduziert es nicht, sondern setzt es voraus und bemüht sich, die Setzung einzuholen.
Für Hegel, der den reinen Willen schon aus der bestimmten Unterscheidung zu Sinn-
lichkeit und Bedürftigkeit entwickelt, ergibt sich Moralität als abgeleitete Bestimmung
des schon rechtlich materialisierten Willens, der bereits der Wille einer Ordnung ist. Das
moralische Subjekt erweist sich sodann als gesellschaftliches und politisches; wohl muß
auch Hegel den reinen Willen als Grundlage systematischer Ableitung konstruieren,51
er sieht ihn aber im Zusammenhang mit dem theoretischen und dem gesellschaftlichen
Subjekt. Kant will das praktische Subjekt gegen die Korruption des gesellschaftlichen
verwahren und es deshalb auch vom spekulativen strikt unterscheiden, denn diesem –
wie Hegel zeigt – konveniert die Verhaltung der Moral im intelligiblen Subjekt nicht.
Aus Kants Unterscheidung resultiert ein gespaltenes Subjekt, das, ganz gegen die Inten-
tion, einerseits ins Intelligible diffundiert und andererseits in der Natur verfangen ist.52
49
KpV, V 16.
50
KpV, V 16.
51
Zur systematischen Absicht bei Kant vgl. KpV, V 10; 91.
52
Hans Ebeling sieht die Bedeutung des kategorischen Imperativs, auch wenn aus diesem allein
nichts Bestimmtes folgt, in der Reflexion der Selbstbestimmung; ohne diese „entfällt […] die
Möglichkeit der Selbststabilisation des Subjekts und also dieses selbst“ (Grundsätze der Selbst-
bestimmung und Grenzen der Selbsterhaltung, in: Ders. (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung,
a.a.O., 379). Diese Stabilisation bleibt aber bloße Möglichkeit, solange die innere Selbstvergewis-
serung im Gegensatz zur Erfahrung steht.
G G 225
Die Freiheit, die Kant theoretisch erschließen mußte, kann nun keine Willkürfreiheit
im Sinne beliebiger Wahl sein, denn als solche wäre sie unmittelbar – das heißt ohne ei-
gene Vermittlung durch Reflexion – bestimmt durch die Gegenstände, zu denen sie neigt
oder von denen sie abneigt. So wäre sie aber pathologisch bestimmt und wieder nur
Bestandteil der Naturkausalität. Weniger noch als Willkür kann Freiheit für Kant als Zu-
fälligkeit von der Naturkausalität unterschieden werden; dies wäre eine Unterscheidung
durch abstrakte Negation, Freiheit als Nicht-Natur.
Soll der Begriff der Freiheit aber überhaupt bestimmbar sein, kann er nicht die
abstrakte Negation von Gesetzmäßigkeit bedeuten, sondern muß die Möglichkeit
gesetzmäßiger Bestimmung einschließen. Das Handeln aus Freiheit ist deshalb unter
allgemeinen Bestimmungen, moralischen Gesetzen zu denken. Als Gesetze können diese
nicht durch empirische Daten bestimmt werden, sondern müssen reine Vernunftregeln
sein: „Alle praktische Principien, die ein Object (Materie) des Begehrungsvermögens,
als Bestimmungsgrund des Willens, voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können
keine praktische Gesetze abgeben.“53 Die Begründung der Prinzipien kann nur a priori,
vor aller Erfahrung, bloß aus Vernunftbegriffen erfolgen. Damit sind solche Gesetze
aber nur durch reine Philosophie, durch Metaphysik der Freiheit zu begründen.
Deren Durchführung, die Kritik der praktischen Vernunft, setzt mit einem unvermit-
telten Begriff von Freiheit ein: „Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideen der
spekulativen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch ein-
zusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen.“54
53
KpV, § 2, V 21.
54
KpV, V 4. Dieser praktische Begriff von Freiheit wird nicht aus dem transzendentalen Freiheits-
begriff der Kritik der reinen Vernunft entwickelt. Vgl. dazu unten Kapitel 4.1. Die Verwechslung
von transzendentaler und moralischer Freiheit hat Peter Bieri zu einer Variante des Determinis-
mus veranlaßt: Vgl. Das Handwerk der Freiheit, München 2001. Die Spontaneität der Freiheit
wird zurückgewiesen mit dem Hinweis darauf, daß die – freie – Bestimmung der Handlung aus
eingesehenen Gründen den Handelnden festlege und die Handlung eben nicht willkürlich frei sei:
„Das Nachdenken über Alternativen ist insgesamt ein Geschehen, das mich, zusammen mit meiner
Geschichte, am Ende auf einen ganz bestimmten Willen festlegen wird.“ (287f.) Autonomie und
Spontaneität sind bei Kant zwei unterschiedene Konzepte, übrigens beide negativ, deren Vermitt-
lung als positiver Begriff von Handlungsfreiheit allerdings scheitern muß. – Für Kant ist weder
Autonomie noch Spontaneität ein Gegenstand möglicher Erfahrung, beide sind Reflexionsausdrü-
cke. Deshalb kann aus ihnen auch kein empirisches Handlungsmodell entwickelt werden. Die Frage
„Haben wir einen freien Willen?“, der Benjamin Libet in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts
experimentell zu Leibe rücken wollte und die auf dem jeweils neuesten Stand der bildgebenden
Verfahren der Hirnforschung erneuert wird, kann aus dieser Perspektive nur verneint werden. Aus
der Perspektive des ‚ich‘, das diese Frage nach ‚unserem‘ Willen stellt, das demzufolge auch die
Experimente zu einem bestimmten Zweck entwirft und interpretiert, ist sie dagegen zu bejahen.
Vgl. für viele Benjamin Libet, Haben wir einen freien Willen, in: Christian Geyer (Hg.), Hirnfor-
schung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt am Main 2004 und
Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt am
Main 2006. Klaus Düsing, Subjektivität und Freiheit, a.a.O., merkt kritisch an, daß den modernen
Materialisten „die klassischen Poisitionen, gegen die sie sich wenden müßten, nahezu aus ihrem
Blickfeld geraten sind“ (8). Für einen Überblick über diese Positionen vgl. ebd., 8-20 und 143-146.
Durchgeführt hat diese Kritik vor allem Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung. Neurophysio-
logie und Willensfreiheit, a.a.O. – In der Philosophie setzt sich inzwischen eine Tendenz durch,
226 D S
Kant bemüht sich nun um eine innere Systematik der praktischen Philosophie, indem
er Freiheit und Moralgesetz zu Wechselbegriffen erklärt, in deren Wechselbereich die
praktische Philosophie stattfinde: Freiheit sei „die ratio essendi des moralischen Geset-
zes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei.“55
Gäbe es keine Freiheit, so könnte kein moralisches Gesetz existieren, denn es würde
sich an Wesen richten, die es nicht einmal verstünden, weil sie dafür schon der Erfahrung
bedürfen, zwischen Entgegengesetztem entscheiden zu können. Um diese Überlegung
anstellen zu können, muß aber ein Bewußtsein vom moralischen Gesetz vorhanden sein;
die Vorschrift, daß nur eine Seite der entgegengesetzten Handlungsoptionen moralisch
zulässig sei, veranlaßt die Reflexion auf die ratio essendi der Vorschrift und so das Be-
wußtsein von Freiheit. Wenn das so ist, kann weder nach der Herkunft von Freiheit
noch nach der von Moral gefragt werden: Freiheit wird zum ‚Faktum der Vernunft‘, das
zwar vermittelt durchs Moralbewußtsein bewußt wird, aber dieses ist selbst ein Fak-
tum.56 Damit sind weder Freiheit noch Moral selbst konsistent als geforderte Resultate
des Handelns freier Wesen zu denken, die in negativen Reflexionsbegriffen auszudrü-
cken wären, sondern sie erscheinen als Bedingungen, unter denen jene Wesen und ihr
Handeln je schon stehen.57
der es gleichgültig ist, ob Willensfreiheit eine Illusion ist oder nicht, da der gesellschaftliche Ver-
kehr, insbesondere seine juristische Regelung, auch ohne diese Annahme mithilfe pragmatischer
Konstruktionen aufrechtzuerhalten sei. Vgl. z. B. Felix Thiele, Schuld und Verantwortung im Licht
neuer Ergebnisse der Neurowissenschaften, in: Andreas Hüttemann (Hg.), Zur Deutungsmacht der
Biowissenschaften, Paderborn 2008. Die mögliche Kritik an diesen Verkehrsformen hat in solchen
Konstruktionen freilich keinen Ort mehr. – Peter Rohs vertritt eine vermittelte Position, derzufolge
bis zum Nachweis der empirischen Berechenbarkeit des Handelns „bis auf weiteres an Freiheit
und Verantwortung festgehalten werden“ darf (Kausalität aus Freiheit – zu Kants Freiheitstheorie,
in: Bernd Prien/Oliver R. Scholz/Christian Suhm (Hgg.), Das Spektrum der kritischen Philosophie
Kants, a.a.O., 45).
55
KpV, V 4 Anm.
56
So wird der Sache nach schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten argumentiert. Vgl.
Dieter Henrich, Das Prinzip der kantischen Ethik, in: Philosophische Rundschau 2 (1954/55), 36
Anm.
57
Womöglich soll der Ausdruck ‚Faktum der Vernunft‘ die Faktizität von Freiheit von der Fakti-
zität von Erfahrung unterscheiden. Aber auch in der Logik faßt Kant Freiheit als Axiom, d. h.
als intuitiv der Anschauung zu entnehmenden Grundsatz, der keiner diskursiven Reflexion bedarf
(vgl. IX §§ 3 und 35). Deshalb ist die Rede vom ‚Faktum‘ streng zu nehmen. Wolfgang Kersting,
Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 97, übersetzt in anderem Kontext den „von Kant der traditionellen
philosophia practica universalis entnommene[n] Begriff des factum […] mit freier, selbstverur-
sachter Handlung“ und bezieht sich auf MdS RL, VI 227 u. 230. Eine Handlung oder genauer:
ein Gemachtes der Vernunft müßte als solches aber auch unmittelbar sein. Für eine vermittelte
Interpretation vgl. dagegen Otfried Höffe, Immanuel Kant, München 1983 sowie Klaus Konhardt,
Faktum der Vernunft? Zu Kants Frage nach dem ‚eigentlichen Selbst‘ des Menschen, in: Gerold
Prauss (Hg.), Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt am Main 1986. – Eine
andere Interpretation hat neuerlich Rainer Forst entwickelt. Die Faktizität der Freiheit versteht er
als ‚Autonomie der Moral‘, deren Unableitbarkeit aus Nicht-Moralischem. Deshalb sei dann das
intersubjektive Verhältnis der Menschen, in deren Diskursen Normativität konstruktivistisch entste-
he, selbst ursprünglich moralisch bzw. Moral selbst intersubjektiv (vgl. Die Perspektive der Moral.
Grenzen und Möglichkeiten des Kantischen Konstruktivismus in der Ethik, in: Peter Janich (Hg.),
G G 227
Seiner Intention nach geht der Freiheitsbegriff aber auf Autonomie: Die Menschen
sollen sich selbst ihr Gesetz geben, ohne von anderen und überhaupt von Anderem,
Äußerlichem, abhängig zu sein. Darauf zielt der Ausgangsbegriff des ‚guten Willens‘.
Dieser allein wäre unbeschränkt und unbeeinflußt gut. Seine Güte hängt nicht einmal von
der Möglichkeit der Realisierung seines Inhalts ab, sondern bloß vom Wollen des Guten
selbst. Die populäre Vorstellung, die Kant zugrundelegt, belegt das durch eine Ontolo-
gisierung der praktischen Vernunft: Alle Zwecke der Glückseligkeit, des umfassenden
Wohlergehens, wären durch Instinkte besser zu realisieren. Da die Natur aber nun die
Menschen mit Vernunft begabt habe, könne sie nicht eine relative Zweckmäßigkeit des
Willens bezweckt haben; wäre er nämlich nur für Zweck-Mittel-Relationen zuständig,
so unterschiede er sich nicht von der relativen Zweckmäßigkeit der Instinkte. Deshalb
müsse die Natur die absolute Güte des Willens bezweckt haben, denn diese allein sei
nur durch Vernunft zu realisieren. Daraus ergebe sich für vernunftbegabte Sinnenwesen
der gute Wille als höchstes Gut, dem die Neigungen in der Willensbestimmung bedin-
gungslos unterzuordnen seien.
Zwar bestimmt Kant später das höchste Gut als Einheit von Moral und Glückseligkeit,
weil das Streben nach Glückseligkeit, nach Befriedigung möglichst aller Bedürfnisse und
Neigungen, zur Natur der vernunftbegabten Sinnenwesen ebenso gehöre wie die Entfal-
tung ihrer Vernunftbegabung. Der Sache nach bleibt aber auch die Einheit von Moral
und Glückseligkeit im höchsten Gut „Unterordnung“58 von Glückseligkeit unter Moral.
Doch selbst diese prinzipielle Unterordnung bedeutet nur dann notwendig eine Aufop-
ferung von Glückseligkeit um der Moral willen, wenn beide in einem ausschließenden
Verhältnis zueinander stehen. Nur wenn Glückseligkeit die „Kultur der Vernunft“, die
zur Moral führte, ausschließt, folgt daraus nicht allein „mancherlei Abbruch, der den
Zwecken der Neigung geschieht“, sondern sogar, daß die Vernunft die „Glückseligkeit,
wenigstens in diesem Leben, auf mancherlei Weise einschränke, ja sie selbst unter nichts
herabbringen könne, ohne daß die Natur darin unzweckmäßig verfahre“59 . Nun ist schon
die Reduktion von Glückseligkeit auf Nichts – auf ihre Negation – identisch mit dem Tod
des Subjekts, der sicheren Folge der Negation aller Neigungen und Bedürfnisse. Kants
Hyperbel, Vernunft könne Glückseligkeit sogar noch darunter erniedrigen, ist der kras-
se Ausdruck der Mißachtung individueller Existenz, die mit der moralischen Wendung
zum Subjekt untrennbar verbunden zu sein scheint. Dessen Subjektivität tritt rein hervor
einzig durch die Negation seiner Abhängigkeit von allem, was nicht durch seine eige-
ne Vernunft gesetzt zu werden vermag. Diese Negation setzt zunächst die Abhängigkeit
endlicher Wesen von einer Materie ihres Begehrungsvermögens voraus: „Glücklich zu
Naturalismus und Menschenbild, Hamburg 2008). Forsts Ausführungen betonen mit Recht einen
grundsätzlich sozialen Gehalt von Moral, lesen sich allerdings manchmal so, als würde schon mo-
ralisch gehandelt; zu erkennen, daß dem fast nie so ist, bleibt vielleicht den Subjekten überlassen,
die den jeweiligen Rechtfertigungsdiskursen mißtrauen.
58
Vgl. KpV, V 119.
59
GMS, IV 396. Das höchste Gut ist das „zentrale Problem“ der Kantischen Moralphilosophie (John
R. Silber, Immanenz und Transzendenz des höchsten Guts bei Kant, in: Zeitschrift für philosophi-
sche Forschung 1964/3, 386.
228 D S
sein, ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen aber endlichen Wesens, und also
ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens.“60
Kant gesteht durchaus zu, daß Menschen keine reinen Vernunftwesen seien; wenn
Kant übrigens den Pleonasmus „unabhängige Selbstgenügsamkeit“61 verwendet, liegt
darin eine gewisse Polemik gegen die Vorstellung, die Glückseligkeit, Zufriedenheit mit
dem ganzen Dasein, sei mit diesem menschlichen Dasein womöglich positiv verknüpft.
Tatsächlich ist sie eine negative Bestimmung: Weil die Menschen endlich sind, haben sie
Bedürfnisse. Ihre Existenz ist wesentlich mangelhaft. Aus der substantiellen Universali-
tät des Mangels läßt sich aber keine positive Regel für das Vermögen Zwecke zu setzen
ableiten, denn der Mangel ist eine äußerliche Bestimmung, die sich zu aller vernünfti-
gen Gesetzmäßigkeit kontingent verhält. Weil nämlich die Glückseligkeit eine negative,
abhängige Vorstellung ist, deren Mittel nur durch das Empfinden des Mangels, also em-
pirisch, erkannt werden, kann sie nicht zum Inhalt eines Gesetzes werden.62 Sie ist kein
Vernunftbegriff. Allenfalls ist sie ein abstrakter Begriff, ‚ein allgemeiner Titel‘ für ganz
Verschiedenes: Jeder strebt nach Glückseligkeit. Was aber der Einzelne dazu braucht,
folgt aus diesem Begriff nicht, denn worin „jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe,
kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust oder Unlust an, und selbst in einem
und demselben Subject auf die Verschiedenheit der Bedürfnis, nach den Abänderungen
dieses Gefühls, und ein subjectiv nothwendiges Gesetz (Naturgesetz) ist also objectiv ein
gar sehr zufälliges praktisches Princip“63 . Das objektiv moralische Gesetz muß a priori
notwendig sein, aber es kann „von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, wel-
che sie auch sei, a priori erkannt werden, ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder
indifferent sein werde“64 . Das liegt daran, daß eine Vorstellung, die nur überhaupt auf
die Empfindung bezogen sein soll, ein Moment von Sinnlichkeit aufweist, das nur a
posteriori erfüllbar ist.
Wenn die Materie nun aufgrund ihrer Sinnlichkeit nicht zur Gesetzgebung taugt, so
könnten nach traditioneller Form-Materie-Dichotomie die Unabhängigkeit, Notwendig-
keit und Allgemeinheit allenfalls in der Seite der Form der Gesetze liegen, also in dem,
was diese Gesetze zu Gesetzen macht, in ihrer Gesetzmäßigkeit.65 Damit will Kant
prinzipiell über die traditionelle Unterscheidung von Streben (appetitus) und Wille
(voluntas), von sinnlicher oder intellektueller Neigung (inclinatio), hinaus, indem er
jede Maxime, die überhaupt einen materialen Gegenstand hat, dem unteren Begeh-
rungsvermögen zuordnet: „gäbe es gar keine blos formale Gesetze […], die den Willen
hinreichend bestimmten, so würde auch kein oberes Begehrungsvermögen eingeräumt
werden können“66 . Die Intelligibilität der Freiheit, die schon erkenntnistheoretisch
60
KpV, § 3 Anm. II, V 25.
61
KpV, § 3 Anm. II, V 25.
62
Vgl. KpV, § 3 Anm. II, V 25.
63
KpV, § 3 Anm. II., V 25.
64
KpV, § 2, V 21.
65
Vg. KpV, § 4, V 27: „Wenn ein vernünftiges Wesen sich seine Maximen als praktische allgemeine
Gesetze denken soll, so kann es sich dieselbe nur als solche Principien denken, die, nicht der
Materie, sondern bloß der Form nach, den Bestimmungsgrund des Willens enthalten.“ Vgl. auch
§ 7 Anm., V 32.
66
KpV, § 3, V 22.
G G 229
gefordert ist, gilt absolut oder gar nicht: Was in den Sinnen liegt, auch nur einem
Moment nach, erfolgt ganz und gar nicht aus reiner Vernunft.
Wäre es denkbar, daß die Gegenstände der Willkür unter rationalen Bedingungen ver-
fügbar wären, so wäre die pathologische Affektion des Subjekts mit seiner moralischen
Bestimmung nicht notwendig im Widerspruch. Beide wären verschieden, insofern jene
die reale Gestaltung dieser bloß formalen Allgemeinheit wäre. Diese Koinzidenz wäre
wohl zufällig, weshalb sie nicht zum Bestimmungsgrund des Willens taugte; aber sie ist
die einzige mögliche Vorstellung realisierter Moral, ohne die diese immer das gegen die
Realität verächtliche höhere Streben bliebe, dessen objektive Realität psychische Defek-
te wären, weil das unerfüllte Begehren, auch das höhere, ‚krank macht‘. So erscheint das
Verhältnis von Moral und Handlungsbedingungen bei Kant stets als Hierarchie von obe-
rem und unterem Begehrungsvermögen.67 In beider Unvereinbarkeit erscheint aber reale
Unfreiheit. Insofern weist Kants Moral gerade durch die strikte Negation des Sinnlichen
über sich hinaus auf ein Ideal, in dem solche Negation gegenstandslos wäre. Verzichtete
sie auf dieses Moment, mißriete sie zum puren Gewissenszwang, der nicht aus Vernunft,
sondern aus Autorität gespeist wäre, deren Gewalt er verinnerlicht hätte. Um gerade dies
zu vermeiden, muß Kant den Begriff des freien Willens von der Naturkausalität ablösen;
erst als entmaterialisierter taugt er zum Ideal. Doch hebt er so sich als Wille zugleich
selbst auf, denn wenn die Gesetzmäßigkeit, die gesetzgebende Form, also das, was etwas
zu einem Gesetz macht, das einzige Prinzip des Gesetzes sein soll, so ist dieses Gesetz
ein Gesetz ohne Inhalt. Diese Inhalte, die „besondere Bestimmung der Pflichten“68 seien
nur im Rahmen der Anthropologie, nicht im Rahmen einer Kritik der praktischen Ver-
nunft zu geben, da diese auf die Beschaffenheit der Menschen keine Rücksicht nehme.
Im Gegensatz zu diesen haben reine Vernunftwesen keine Pflichten.69 Sie sind heilig. Als
solche dienen sie als Ideal, als Urbild und Ziel unendlicher Annäherung für die endli-
chen Vernunftwesen. Die Un-endlichkeit dieser Annäherung ermöglicht und dispensiert
zugleich die Moralität vernunftbegabter Sinnenwesen. Zunächst aber würden Gesetze,
deren einziges Prinzip die Gesetzmäßigkeit ist, buchstäblich nichts bestimmen können.
Kant zufolge ist das praktische Gesetz aber nicht ohne Inhalt, sondern die Form des
Gesetzes wird in bestimmter Weise selbst zum Inhalt: „Der Wille wird […] durch die
bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht“70 . Nun müßte ja, wenn die Form ihr
eigener Inhalt würde, diese Form gewissermaßen in sich hinein umgestülpt werden oder
sie müßte, wenn sie zwei unterschiedliche Funktionen erfüllen soll, von sich selbst un-
terschieden sein, müßte also zugleich sie selbst und nicht sie selbst sein. Kant verfährt
aber anders. Er formuliert ein Gesetz, das nicht eine bestimmte Handlung vorschreibt,
sondern das die allgemeine Beachtung der Gesetzmäßigkeit vorschreibt. Dieses Gesetz
67
Vgl. auch Kants Unterscheidung von Person und Persönlichkeit, mittels derer der Mensch sich über
sich selbst erhebe, indem er sich selbst unterwerfe: KpV, V 86f.
68
KpV, V 8.
69
Vgl. KpV, § 7 Anm. zur Folgerung, V 32.
70
KpV, § 7 Anm., V 31.
230 D S
ist der kategorische Imperativ: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit
zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“71
Ohne zunächst zu untersuchen, welche besonderen Maximen diese Forderung erfüllen
könnte, ist zu erinnern, daß die Reflexion auf reine praktische Vernunft, an deren Ende
das formale Sittengesetz steht, sich als zwingend erwiesen hatte: Die Güte äußerlicher
Zwecke war aus diesen selbst nicht begründbar.72 Die analytisch begründete Unterord-
nung der Bedürfnisse und Neigungen unter reine Vernunft gründet Kant zufolge aber
bereits in der anthropologischen Differenz zwischen einem unteren und einem oberen
Begehrungsvermögen. Alle Bestimmungsgründe der Glückseligkeit seien dem unteren
Begehrungsvermögen zuzuordnen; das obere sei die reine Vernunft selbst, die „ohne
Voraussetzung irgend eines Gefühls, mithin ohne Vorstellungen des Angenehmen oder
Unangenehmen […] durch die bloße Form der praktischen Regel den Willen“ bestimme
und so „für sich selbst praktisch“ sei. Das untere Begehrungsvermögen sei der Ver-
nunft nicht nur untergeordnet, sondern es sei strikt von ihr unterschieden, so daß jedes
sinnliche Moment im Wollen die praktische Vernunft zerstöre, „so wie das mindeste
Empirische, als Bedingung in einer mathematischen Demonstration, ihre Würde und
Nachdruck herabsetzt und vernichtet“73 . Ein drastischeres Modell hätte Kant nicht finden
können.
Das aporetische Verhältnis von moralischem Subjekt und sinnlicher Neigung wird
zum treibenden Motiv der praktischen Philosophie Kants; aus ihm gehen die späteren
sogenannten Pragmatien zu den Gegenstandsbereichen Recht, Politik, Geschichte und
Religion hervor. Aber schon theoretisch wird die Frage nach dem eigentlichen Gegen-
stand reiner praktischer Vernunft zum Problem: Worauf bezieht sie sich, wenn sie nicht
abstrakte Form moralischen Selbstbewußtseins bleiben soll?
Nun handelt der streng moralische Wille nicht nur zufällig gemäß der Pflicht der
Moral, sondern er handelt unmittelbar aus der moralischen Pflicht, ohne Rücksicht auf
Erfolg oder Mißerfolg: „[E]ine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Werth nicht
in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie
beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung
71
KpV, § 7, V 30. Damit ist moralische Freiheit eben nicht, wie Jürgen Habermas paraphrasiert, von
Einsichten bestimmt, die „im gemeinsamen und gleichmäßigen Interesse aller Personen begründet
sind“ (Freiheit und Determinismus, in: Zwischen Naturalismus und Religion, a.a.O., 165); Inter-
essen, auch wenn sie gemeinsam vertreten werden, sind partikular und an partikulare Subjekte
gebunden. Kant geht es dagegen um eine Gesetzmäßigkeit, die jeder Mensch, insofern er über-
haupt Mensch ist, erkennen können muß. Damit will Kant dem Problem steuern, daß Menschen
gemeinsam und gleichmäßig die abscheulichsten Interessen verfolgen können.
72
Vgl. GMS, IV, 410: „Es ist aber eine solche völlig isolirte Metaphysik der Sitten, die mit keiner
Anthropologie, mit keiner Theologie, mit keiner Physik oder Hyperphysik […] vermischt ist, nicht
allein ein unentbehrliches Substrat aller theoretischen, sicher bestimmten Erkenntniß der Pflichten,
sondern zugleich ein Desiderat von der höchsten Wichtigkeit zur wirklichen Vollziehung ihrer
Vorschriften. […] an dessen Statt eine vermischte Sittenlehre, die aus Triebfedern von Gefühlen
und Neigungen und zugleich aus Vernunftbegriffen zusammengesetzt ist, das Gemüth zwischen
Bewegursachen, die sich unter kein Princip bringen lassen, die nur sehr zufällig zum Guten, öfters
aber auch zum Bösen leiten können, schwankend machen muß.“
73
KpV, § 3, Anm. I, V 24f.
G G 231
ab, sondern blos von dem Princip des Wollens, nach welchem die Handlung unange-
sehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens, geschehen ist.“74 Dieses Prinzip
und jene Maxime sind aber unserer Erfahrung nicht zugänglich: Erfahren können wir
nur Handlungen von Sinnenwesen. Als solche stehen sie aber unter der Naturkausali-
tät und müssen durch diese vollständig bestimmbar sein, wenn sie nicht einen Sprung
in der Natur verursachen sollen, durch den die Natur als ganze ihren durchgängigen
Zusammenhang verlöre. Die freie Spontaneität, die über die Kausalität der Natur hinaus-
geht, bleibt verborgen.75 Daraus ergibt sich zunächst die paradoxe Vorstellung, daß eine
Handlung in empirischer Hinsicht unter der Voraussetzung der Kenntnis aller naturk-
ausalen Bedingungen berechenbar wäre, ohne doch in intelligibler Hinsicht an Freiheit
einzubüßen. Es wäre eine Welt freier Subjekte denkbar, in der alle Handlungen vor-
ausberechnet wären.76 Freiheit wird so zu einem ortlosen Vermögen, von dem letztlich
nur mehr juridische Imputationsfähigkeit verbleibt.77 Kant geht so weit zu behaupten,
die Moralität entziehe sich sogar der Selbstbeobachtung: „Die eigentliche Moralität der
Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Ver-
haltens, gänzlich verborgen.“78 Der Einfluß, den ein solches ortloses Vermögen auf die
Handlung hätte, ist prinzipiell nicht darstellbar und deshalb auch von anderen Einflüs-
sen, die parallel wirken, nicht distinguierbar. Daß aber eine Handlung aus Pflicht und
nicht bloß zufällig und beiläufig pflichtgemäß erfolgt sei, unterstellte, daß bloß die rei-
ne Vernunft bestimmend für diese Handlung war. Ist deren Einfluß aber von anderen
Einflüssen nicht bestimmt und deutlich zu unterscheiden, so muß die Möglichkeit an-
derer Einflüsse grundsätzlich ausgeschlossen werden. Vernunft scheint daher nicht bloß
über die sinnliche Existenz erhaben zu sein, sondern auch mit ihr in Konflikt zu geraten:
Die „ächte Beschaffenheit der Sittlichkeit des Menschen ist [dort], wo die Vernunft der
Sinnlichkeit Gewalt anthun muߓ79 .
74
GMS, IV 400.
75
Vgl. GMS, IV 407.
76
Vgl. KpV, V 99.
77
Diese Konsequenz zieht auch Ernst Tugendhat, dessen Begriff der Moral um den der Sanktion
konzentriert ist. Vgl. Der Begriff der Willensfreiheit, a.a.O., 376f.
78
KrV, B 579 Anm. Vgl. GMS, IV 407: „Denn es ist zwar bisweilen der Fall, daß wir bei der
schärfsten Selbstprüfung gar nichts antreffen, was aus dem moralischen Grunde der Pflicht mäch-
tig genug hätte sein können, uns zu dieser oder jener guten Handlung und so großer Aufopferung
zu bewegen; es kann aber daraus gar nicht mit Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar
kein geheimer Antrieb der Selbstliebe, unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee, die eigentliche
bestimmende Ursache des Willens gewesen sei“. Vgl. auch Ludwig Siep, Personbegriff und prakti-
sche Philosophie bei Locke, Kant und Hegel, in: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus,
Frankfurt am Main 1992, 83: „Personalität in diesem Sinne [als substantielle Grundlage morali-
scher und rechtlicher Personen; M.St.] ist vielmehr eine unbeweisbare Forderung, ein von raum-
zeitlichen Ereignissen unabhängiges Wesen in sich zu entdecken und handlungswirksam werden zu
lassen. Wie sich diese ‚intelligible‘ Persönlichkeit zum empirischen Individuum verhält, wird dann
freilich ein Problem.“ – Kein Problem sieht hier Philippa Foot, Natural Goodness, Oxford 2001,
die grundsätzlich davon ausgeht, daß selbstloses gutes Handeln ein erkennbares und bekanntes
Phänomen sei.
79
KdU, V 269.
232 D S
80
GMS, IV 421. Die ‚Einzigkeit‘ des kategorischen Imperativs ergibt sich zwingend durch seine
Entwicklung aus seinem Begriff; deshalb ist nicht nur „die sittlich-praktische Grundform von
Einheit gemeint“ (Annemarie Pieper, Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?, in: Otfried
Höffe (Hg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am
Main 1989, 271). Die ‚kategorischen Imperative‘, von denen Kant im Plural spricht, sind, wie
auch Pieper schreibt, Maximen, die der Form des kategorischen Imperativs genügen (275). – Zur
Problematik vgl. die präzise Kritik bei Georg Zenkert, Konturen praktischer Rationalität. Die
Rekonstruktion praktischer Vernunft bei Kant und Hegels Begriff vernünftiger Praxis, Würzburg
1989, 24ff.
S S 233
ausgesetzt waren; nur von solchem Handeln läßt sich sicher annehmen, daß es ohne
Rücksicht auf die eigene Existenz erfolgt.81 Und nur unter dieser Voraussetzung sind
äußere Antriebe ganz auszuschließen. Das hieße nun aber, daß sich empirisch die Mo-
ralität einer Maxime an der Erfahrung der Unmöglichkeit ihrer Ausführung erwiese. –
Im kategorischen Imperativ selbst liegt allein die Formalität der Gesetzmäßigkeit der
Maxime, eben ihre Notwendigkeit und Allgemeinheit, aus der allein als bloßer Form
nichts Bestimmtes folgt.82 Dennoch läßt sich Kant zufolge der Gehalt des Sittengesetzes
anhand von drei Formulierung entwickeln.83 Die erste Formulierung, die oben zitierte,
gibt nichts weiter an, als die formale Bedingung sittlicher Maximen, prinzipiell gesetz-
mäßig, das heißt der Notwendigkeit und Allgemeinheit ihrer Geltung fähig, zu sein.
Diese Fähigkeit zur Allgemeinheit ist aber kein äußerlich an die Maximen heranzutra-
gender Maßstab, sondern die innere Eigenschaft der Maxime selbst; es heißt nicht, man
solle ‚von den‘ Maximen wollen können, daß sie Gesetze würden, sondern man soll es
‚durch sie‘ wollen können, ‚zugleich‘ mit dem, was man inhaltlich durch sie will.84
81
Anders Andrea Marlen Esser, Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 281. Geht man von einer allgemei-
nen Struktur der Freiheit aus, die mit Strukturen der jeweiligen Handlungssituation abzugleichen
ist, kann der moralische Wert einer Person unter anderem auch in Strukturen wie Pünktlich-
keit sichtbar werden. Nun ist Pünktlichkeit für alles, was Menschen gemeinsam unternehmen,
zweifellos außerordentlich wichtig, und man kann sogar ganz unvernünftige Lebensbedingungen
pünktlich strukturieren; aber die Frage, wie unter unvernünftigen Bedingungen vernünftige Selbst-
bestimmung möglich sei, wie dies in einem Bewußtsein widerspruchsfrei zusammengehen soll, ist
dadurch nicht beantwortet. – Dieses Problem liegt aber der oberflächlich als Rigorismus erschei-
nenden Form der Kantischen Moral (daß sie gegen ihre Rückwendung in die Praxis abgedichtet
ist) zugrunde.
82
Sowohl gegen die These, moralische Maximen entstünden aus außernatürlichen Zwecken, als auch
gegen die verbreitete Auffassung, sie entstünden durch Prüfung vorausgesetzter Maximen, so daß
der kategorische Imperativ als ein handhabbares Instrument zu denken sei, wendet sich Dieter
Henrich, Ethik der Autonomie, a.a.O., 23. Moralische Maximen entstehen ihm zufolge dadurch, daß
ein gegebener Inhalt unter der Form der Vernunft erfaßt werde; das ist in der Tat eine Nuance ums
Ganze zum ‚Prüfkriterium‘. – Eine Variante des ‚Prüfkriteriums‘ vertritt Ludwig Siep, Konkrete
Ethik, a.a.O., 174: „In kantischen Verfahren des kategorischen Imperativs ergeben sich erlaubte
und gesollte Handlungen aus der vernünftigen Prüfung von Maximen. Aus unbedingt gesollten
Handlungen leitet Kant dann Rechts- und Tugendpflichten ab.“ Bei Kant fungiert der kategorische
Imperativ aber zuerst nicht als Normsetzungsverfahren, sondern als transzendentale Begründung
der Möglichkeit von Normgeltung überhaupt. Aus deren Formalität läßt sich dann kein Verfahren
mehr bestimmen, auch wenn es bei Kant Versuche dieser Art gibt, die aber eher Behauptungen
bleiben.
83
Daß sich aus dem so entwickelten Gehalt glasklare Ableitungen bestimmter Pflichten ergeben,
wie Julius Ebbinghaus unter eher starken teleologischen Voraussetzungen gegen den Vorwurf des
Formalismus wettert, ist mit jenen Voraussetzungen zu bezweifeln. Vgl. Die Formeln des kate-
gorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten, in: Gerold Prauss, Kant.
Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln 1973. – Die Zählung der Formeln
des kategorischen Imperativs variiert übrigens: Manche zählen die Reich-der-Zwecke-Formel nicht
mit, andere die Naturgesetzformel. Dies geschieht auch in der vorliegenden Arbeit nicht, weil es
durch Kants eigene Zählung, die nur drei Formeln kennt, nahegelegt wird. Offenbar versteht Kant
die Naturgesetzformel als direkte Explikation der ersten Formulierung.
84
Vgl. GMS, IV 436f.: „handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Geset-
ze machen kann“. Vgl. zu diesen Formulierungen des Verhältnisses von Gesetz und Maxime die
234 D S
Die Fähigkeit der sittlichen Maxime zur Allgemeinheit heißt deshalb Gesetzmäßig-
keit, weil sie der Maxime die Form eines Gesetzes verleiht. Die Bestimmung, worin
die allgemeine Form von Gesetzen besteht, gehört in die Naturphilosophie. Am Mo-
dell des Naturgesetzes, das den regelgerechten Ablauf von Naturprozessen ‚vorschreibt‘,
ohne eine Ausnahme zuzulassen, ist die Bedeutung des Gesetzesbegriffes in strengster
Form darzustellen, im Unterschied zu menschlichen Gesetzen, die zwar in ihrem Rechts-
raum universelle Geltung beanspruchen, aber diese nicht garantieren können. Deshalb
sind sie mit Zwangsinstrumenten verbunden. Naturgesetze bedürfen solcher Instrumente
nicht, denn der Naturzwang fällt mit der Gesetzmäßigkeit der Naturprozesse zusammen.
Weil Kant nun die unbedingte Geltung des kategorischen Imperativs gegenüber seiner
möglichen Verletzung hervorheben will, setzt er ihn in Analogie zur Naturgesetzlich-
keit: Es „könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob
die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz wer-
den sollte.“85 Die Vorstellung des eigenen Handelns als eines konstitutiven Moments
einer naturgesetzlichen Ordnung ist noch keineswegs eine Mechanisierung der Sittlich-
keit. Die Naturordnung dient hier als Modell einer strikt nach Gesetzen geordneten
Sphäre. Dabei ist Kants Naturbegriff zugrunde zu legen, nach dem Natur materialiter
der Inbegriff der Gegenstände möglicher Erfahrung ist,86 formaliter der durch die sub-
jektiven Formen des Denkens konstituierte Zusammenhang unserer Vorstellungen von
Erscheinungen.87 Dieser Zusammenhang kann nur als ein durchgängig durch Kausali-
tät bestimmter Zusammenhang gedacht werden: Er muß lückenlos und widerspruchsfrei
sein. Zugleich ist diesem Modell für Moral aber immanent, daß die den Menschen ob-
liegende Gestaltung der zweiten Natur eine Einheit von Moralisierung einerseits und
politischer wie auch technischer Weltgestaltung andererseits darstellen müßte, so daß
der Allgemeinheit des moralischen Gesetzes nicht allein in der individuellen subjekti-
ven Vorstellung objektive Realität zukäme; diesen Zusammenhang entfaltet Kant aber
nicht.88
Die moralischen Maximen sollen dem Naturgesetzmodell zufolge nun so vorgestellt
werden, als seien sie konstitutive Bedingungen für den Zusammenhang aller möglichen
Handlungen untereinander. Sittlichkeit ist demzufolge nur zu denken als notwendiges
und widerspruchsfreies System der praktischen Relationen vernunftbegabter Sinnenwe-
sen. Der Widerspruchsfreiheit äußerer Erfahrung der Natur korrespondiert dann die Wi-
derspruchsfreiheit im Innern des Subjekts. Jede Ausnahme von der Moralität zerstört die
Widerspruchsfreiheit dieses sittlichen Systems und verhindert damit auch dessen Verein-
barkeit mit der Einheit der Natur unter der transzendentalen Einheit der Apperzeption.
Die Vorstellung des kategorischen Imperativs in der Form eines Naturgesetzes antizi-
piert so die weitere Vorstellung eines systematischen Zusammenhangs, eines Systems
gründliche Erläuterung von Dieter Henrich, Das Prinzip der Kantischen Ethik, a.a.O., 28. – Rüdi-
ger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, a.a.O., 237, bemerkt: „Die Maxime steht
in einer unbestimmten Zwischenzone zwischen Subjektivität und Intersubjektivität.“ Das Subjekt
formuliert sie, aber praktisch wird sie erst im Verhältnis zu anderen.
85
GMS, IV 421.
86
Vgl. KrV, B 163.
87
Vgl. KrV, B 165, A 125.
88
Vgl. hierzu Peter Eulers Bildungsbegriff: Technologie und Urteilskraft, a.a.O.
S S 235
der Sittlichkeit. Diese Antizipation ist aber nur einzulösen, wenn es gelingt, aus dem pu-
ren Selbstverhältnis der praktischen Vernunft a priori ihre Objektivierung zu entwickeln.
Die Objektivierung des Willens ist nur zu denken durch seine Ausrichtung auf Zwecke.
Die Beziehung auf Zwecke ist aber zunächst nicht der geforderten Formalität, der reinen
Selbstbestimmung, gemäß, sondern ist material über subjektive Triebfedern bestimmt,
die durch ein äußeres Objekt affiziert sind. Alle solche Zweckbeziehungen sind relativ
und haben in der Äußerlichkeit von Relationalität ein heteronomes Moment.
In der zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs will Kant nun Subjekti-
vität und Objektivität moralischer Willensbestimmung verschränken: Der kategorische
Imperativ könne nur in einem Wesen gründen, das „einen absoluetn Werth“ habe oder
„Zweck an sich selbst“89 sei. Dies treffe auf vernünftige Wesen – und mit diesen auch auf
Menschen – zu, die in Beziehung auf sich selbst und auf einander niemals bloße Mittel
sein könnten. In der gesetzmäßigen, vernünftigen Bestimmung des eigenen Willens, der
Selbstbestimmung der Vernunft, liegt mit der Erhaltung der Widerspruchsfreiheit des
Selbstbewußtseins zugleich dessen Erhaltung als Selbstbewußtsein eines vernünftigen
Wesens überhaupt, die Erhaltung des Daseins des handelnden Subjekts als Vernunftsub-
jekts.90
Ist ein Mensch nun deswegen als Zweck an sich selbst zu betrachten, weil er als bloßes
Subjekt äußerer Zwecke in seiner Subjektivität selbst abhängig wäre, dann beschädigt
derjenige, der nicht in jeder Maxime zugleich die Erhaltung der Identität seines vernünf-
tigen Selbstbewußtseins intendiert, schon seine rationale Substanz; in der Vorstellung
eines ausschließlich mittelbaren Wesens ist vollends die Vorstellung des Menschlichen
ausgelöscht. Es ist die Vorstellung von einem Werkzeug, bestenfalls von einem instru-
mentum vocale. Dagegen richtet sich der Imperativ des Selbstzwecks: „Handle so, daß
du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, je-
derzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“91
Der Ausdruck, die Menschheit in der Person solle niemals bloß als Mittel, sondern
immer auch als Zweck an sich selbst gebraucht werden, scheint nun den Weg dafür
89
GMS, IV 428.
90
Vgl. KpV 65: Ziel der praktischen Vernunft ist es, in ausdrücklicher Analogie zur transzendentalen
Einheit der Apperzeption, „das Mannigfaltige der Begehrungen der Einheit des Bewußtseins einer
im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft […] zu unterwerfen“. – Auch Wolfgang
Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., erkennt „das praktische Vernunftprinzip“ als „Inbegriff
aller untereinander widerspruchsfreien Handlungen, Zwecke und Maximen“ sowie als Grund der
„Einheit der individuellen wie der gemeinschaftlichen Willkür“; nur die Positivität dieses Aus-
drucks wäre zu kritisieren: Praktische Identität ist nur kontrafaktisch festzuhalten, Autonomie als
ausgeführte existiert nirgends.
91
GMS, IV 429. Ein Problem bezeichnet Johannes Rohbeck, Technologische Urteilskraft, a.a.O., 85:
„Offensichtlich scheint auch für diesen Akt der Selbstbegründung der Zweckbegriff unverzicht-
bar zu sein. […] Die allgemeine Tätigkeit des Zweck-Setzens bleibt die übergreifende Struktur,
obgleich sie in der Gestalt des Selbstzwecks ihre ursprüngliche Relationalität verleugnet.“ Kants
Begriff des Selbstzwecks reflektiert, daß die Relationalität sittlicher Verhältnisse für uns – em-
pirisch – früher ist, aber zugleich Relata voraussetzt, die selbst nicht ausschließlich relational
bestimmt sein können. Er soll Subjektivität gegen heteronome Bedingungsgefüge festhalten. Tiefer
noch geht deshalb Adornos Kritik an Kants Verfahren, Freiheit überhaupt durchgängig unter der
Kategorie Kausalität zu denken. Vgl. Negative Dialektik, a.a.O., 248.
236 D S
zu öffnen, daß Menschen zu Mitteln gemacht werden dürfen, wenn ihre Subjektivität
nur nicht vollständig negiert werde; womöglich hat Kant, mit Blick auf die zunehmend
bürgerlich-rechtliche Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion, diese Interpre-
tation durchaus angelegt: Verträge sind zwar per definitionem die freie Übereinkunft
freier Willen, jedoch machen die Vertragspartner die Freiwilligkeit des Anderen zum
Mittel ihrer Zwecke, denn jeder versucht, bei einem Vertragsgeschäft sein eigenes Inter-
esse durchzusetzen; die Interessen des Anderen nimmt er dabei in Kauf als Mittel zur
Durchsetzung der eigenen. Dabei wird „die Chancengleichheit zur Waffe des Stärkeren
gegen den Schwächeren. Denn in jeder, vollends aber in einer mobilisierten Gesell-
schaft ist Vertragsfreiheit immer auch wirtschaftliche und also öffentliche Macht, die
die Freiheit anderer notwendig beschränkt oder unterdrückt.“92 Das setzt allerdings eine
Gesellschaft voraus, in der die Interessen der Einzelnen nicht – wie Hegel für die Staats-
idee reklamiert – zugleich auch allgemeine Zwecke sind. Wird diese Differenz zwischen
den Interessen der Einzelnen und den allgemeinen Zwecken als natürlich vorausgesetzt,
erscheint Kants Formulierung, man dürfe Menschen nicht ‚bloß zu Mitteln‘ machen, als
pragmatische Kautel des kategorischen Imperativs: In der antagonistischen Welt müssen
die Menschen immer auch instrumentalisiert werden können, um überhaupt allgemeine
Zwecke verfolgen zu können.93
92
Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, a.a.O., 458.
93
So sieht es auch die herrschende Interpretation des Grundgesetzes für die Bundesrepublik
Deutschland. Dessen erster Artikel, demzufolge die Würde des Menschen unantastbar sei, wird
ausdrücklich nicht so interpretiert, daß Menschen unter keinen Umständen zum Mittel gemacht
werden dürften. Im Gegenteil wird eingeräumt, es sei ganz unvermeidlich, daß Menschen durch
staatliches und gesellschaftliches Handeln immer wieder zu Mitteln gemacht würden. Dies stelle
aber keinen Verstoß gegen die Menschenwürde dar, solange nicht der Mensch vollständig zum
Objekt gemacht worden sei. Aber schon die Forderung nach einer Definition, wann dies der Fall
sei, ist zynisch; denn diese müßte zugleich angeben, bis wohin Abhängigkeit und Erniedrigung
von Menschen durch das Grundgesetz geschützt werden. So sah es der Kommentar von Theodor
Maunz/Günther Dürig (Hgg.), Grundgesetz, München 1991 (Art. 1: Günther Dürig). Die neue Fas-
sung (München 2005, Art. 1: Matthias Herdegen) hat den Anspruch vernünftiger Allgemeinheit,
unter dem allein sich von Würde reden ließe, nicht nur preisgegeben, sondern verspottet: „Für die
staatsrechtliche Bedeutung sind allein die (unantastbare) Verankerung im Verfassungstext und die
Exegese der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts maßgeblich. Wer dies bestreitet, kann
nur auf das Hohepriestertum seiner höchstpersönlichen Ethik und deren Überzeugungskraft in der
Gemeinschaft der Würdeinterpreten setzen.“ (Rn. 17) Soweit ist der Moralbegriff durch Ethikdis-
kussionen pluralisiert. Allerdings weiß der Positivist Herdegen, der Dürig für einen Kantianer und
Naturrechtler hält, daß der Positivismus „alles andere als wertfrei“ (Rn. 18) sei. Insgesamt folgten
aus der Würde keine Rechte (bei Kant folgen alle daraus, da sie als Autonomie Legislationsprin-
zip ist), denn dadurch würde Deutschland sich „von anderen Staaten […] isolieren, die keinen
derartigen Primat der Menschenwürde […] kennen“ (Rn. 21). Die Ausführungen Herdegens, die
Würde nur im ständigen Rekurs auf den Nationalsozialismus fassen können, weil ihnen ein Be-
griff eben nicht zugrundeliegt, wären eingehend zu kritisieren, aber rechtsphilosophisch bliebe das
wohl letztlich unergiebig. – Bedenklich findet aber auch der philosophisch eingeleitete Kommen-
tar von Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz Kommentar, Tübingen 2004. Art. 1 (Horst Dreier) die
„Übernahme der Lehre Kants als maßgebliche[] oder gar alleinige[] Interpretationsmaxime für
den Menschenwürdesatz“ (Rn. 13), und zwar wegen der pluralistischen Interpretationslandschaft
und weil Kant selbst den Würdebegriff nicht ins Recht übernommen, sondern überhaupt zwischen
S S 237
Genau besehen wendet die konsequente Interpretation von Kants Formulierung des
‚praktischen Imperativs‘ sich aber gegen jede augenzwinkernde Deutung. Wer nicht bloß
Mittel ist, ist damit sofort als möglicher Urheber seiner Zwecke zu betrachten: „Er ist
nämlich das Subject des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Auto-
nomie seiner Freiheit. Eben um dieser willen ist jeder Wille, selbst jeder Person ihr
eigener, auf sie selbst gerichteter Wille auf die Bedingung der Einstimmung mit der
Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht zu unter-
werfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjects
selbst entspringen könnte, möglich ist“94 . Die Identität des Subjekts, der letzte Zweck
aller systematischen Philosophie, ist hiernach nur dann gewahrt, wenn zwischen Zweck-
Sein und Mittel-Sein kein Widerspruch besteht. Dies gelingt einzig unter der Vorausset-
zung, daß Menschen zu Mitteln allein solcher gesellschaftlicher Zwecke werden, die sie
zugleich als ihre eigenen erkennen und annehmen können müssen, so daß sie durch ihre
Mittelbarkeit zu gesellschaftlichen Zwecken zugleich unmittelbar sich selbst zum Zweck
haben.
Diese Objektivierung des moralischen Willens im Selbstzweck impliziert zugleich,
daß alle möglichen vernünftigen Wesen in ihrem Selbstzwecksein systematisch miteinan-
der vereinbar sind, weil dieses Selbstzwecksein sich auf ihre Vernunftnatur bezieht, nach
der sie alle gleich sind. Als Bestimmung a priori vermöchte sie den widerspruchsfreien
Zusammenhang aller Vernunftwesen zu stiften, in dem sie als Selbstzwecke eben nicht
isoliert, sondern gerade a priori aufeinander verwiesen sind. Selbstzweck sind sie ihrer
allgemeinen, nicht ihrer besonderen Natur nach, nicht dieser oder jener Mensch, sondern
die Menschheit in seiner Person. Seine Vernunftnatur als Gattungsmerkmal bestimmt ihn
zum Selbstzweck. Dies ist mithin keine empirische Bestimmung und kein subjektiv ge-
setzter Zweck, sondern ein objektiver Zweck a priori. Der systematische Zusammenhang
der Vernunftwesen führt zurück zur problematischen Formulierung des kategorischen
Imperativs in Analogie zum Naturgesetz. Die konstitutive Funktion des Sittengesetzes
für ein System der Sittlichkeit, analog dem Naturzusammenhang, ist möglich, weil die
Menschen als Vernunftwesen a priori sittlich auf alle anderen Vernunftwesen bezogen
sind.
Daraus ergibt sich die dritte Formulierung des kategorischen Imperativs, „die Idee
des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens. […]
Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen,
Moralgesetz und Rechtsgesetz strikt unterschieden habe. „Daher führt der Hinweis auf den sitt-
lichen Charakter des Kantischen Rechtsbegriffs nicht weiter, sondern stellt sich als Rückschritt
gegenüber Kants eigenen Differenzierungsleistungen dar.“ Jede Kritik an Kant gölte nach dieser
Maxime, würde sie zum Gesetz, als reaktionär, weil Kant sie nicht selbst formuliert hat. Gleich-
wohl wird diese Differenzierungsleistung mit Scheler als ‚Entpersönlichung‘ kritisiert, um sie aber
doch als positiven Grund der Ausgrenzung moralischer Begründung aus der „konkrete[n] Rechts-
ordnung“, die das Grundgesetz sei, anzuführen. In Abwandlung eines Hegelischen Aufsatzes ließe
sich fragen: Wer denkt konkret? – Böckenförde bringt dies alles präzis auf den Punkt: Der „Ge-
halt der Achtung der Menschenwürde und des Grundrechts auf Leben“ seien „konsensabhängig“
(Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 65). Die Begriffe der Philosophie werden dann formale Stichwörter,
die in den ‚gesellschaftlichen Diskurs‘ zurücksacken, dem sie mühevoll entrungen worden waren.
94
KpV, V 87, meine Hervorhebungen.
238 D S
daß er auch als selbstgesetzgebend, und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon
er sich selbst als Urheber betrachten kann) unterworfen, angesehen werden muß.“95 In-
dem der Wille allgemein gesetzgebend ist, also nicht nur sich selbst bestimmt, sondern
Gesetze der Willensbestimmung überhaupt setzt, ist zugleich die Ausgangsformulierung
wieder eingeholt: Durch die Selbstgesetzgebung ist er zugleich allgemein gesetzgebend;
so wird durch die Maxime zugleich das Allgemeine gesetzt. Und darin ist zugleich seine
Selbstgesetzgebung objektiv verankert, weil dieses Allgemeine, das der Wille setzt, jeder
Maxime, die er sich selbst gibt, als Maßstab dient. Das Kriterium, Gesetzen nur dann
und deswegen unterworfen zu sein, wenn und weil man sie vernünftigerweise sich selbst
geben könnte, ist zugleich die moralische reflektierte Form des politischen Grundsatzes
des Republikanismus.96
Diese Selbstgesetzgebung nennt Kant Autonomie. Allein durch Autonomie fällt al-
les Hypothetische weg, weil gesetzgebende und gesetzbefolgende Instanz identisch sind:
Reine Vernunft kann gegen sich kein empirisches Interesse haben.97 Das einzige Inter-
esse, das die Vernunft hat, ist a priori und betrifft die Einheit aller Vorstellungen in
einem System. Dem korrespondiert moralisch die systematische Einheit aller Zwecke in
dem, was Kant ein ‚Reich der Zwecke‘ nennt. Dieses ist die moralische Idee der wi-
derspruchsfreien Organisation aller Subjekte von Zwecken als Zwecke an sich selbst.
Zudem werden ihre äußeren Zwecke ideal derart organisiert gedacht, daß die Kollision
von Zwecken und von den durch sie bestimmten Handlungen a priori ausgeschlossen ist.
Diese Idee muß unabhängig von den empirischen Beschränkungen gefaßt werden kön-
nen, denen Vernunft in gesellschaftlicher Praxis unterworfen ist, Sonst könnten solche
Beschränkungen überhaupt nicht als Beschränkungen interpretiert werden.98
95
GMS, IV 431.
96
Vgl. MdS RL, VI § 46.
97
Auf das nicht-empirische der in dieser Gesetzgebung geltenden Subjekt-Objekt-Einheit hat An-
nemarie Pieper hingewiesen: Vgl. Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?, a.a.O., 273. Der
Vermittlungsversuch des intelligiblen Autonomiebegriffs mit der empirischen Realität des Subjekts
gelingt aber nur, wenn man, wie Kant, den moralischen Status der Bedingungen, unter denen ge-
handelt wird, für irrelevant hält. Dann kann sich „[d]erselbe Wille, der sich empirisch […] als
unfrei erfährt, […] seiner ursprünglichen Freiheit vergewissern, wenn er auf die Herkunft der […]
Gesetze reflektiert. Dabei wird er erkennen, daß dem Gesetz der praktischen Vernunft der Vorrang
[…] gebührt, weil das praktische Gesetz seinen Ursprung in der Idee der Freiheit hat.“ (274; meine
Kursivierung) Der durch das hier kursivierte Pronomen vertretene Wille ist durch die bezeichnete
Reflexion schon wieder der intelligible, reine Wille, dessen Einsicht zu den tatsächlichen Hand-
lungsbedingungen schief steht und dessen empirische Realisierung das Subjekt dieser Realisierung
möglichweise auslöscht. Der ‚transzendentale Standpunkt‘ (vgl. 277) hat eben nicht nur keinen
doppelten Boden, sondern gar keinen; für die Standfestigkeit ist das empirische Subjekt zuständig.
98
Vgl. dagegen Ludwig Siep, Konkrete Ethik, a.a.O., 178: „Gegen selbstbezogene Affekte fordert
die Einsicht in das Gewicht der Werte die vernünftige Überlegung und die Überschreitung der
subjektiven Beschränkung. Diese Forderung muss aber nicht auf die Autonomie der Vernunft von
allen übrigen ‚Regungen‘ zurückgeführt werden, sondern liegt in der Vernunft als Werteinsicht.“
Das Bewußtsein der Differenz von Vernunft und anderen ‚Regungen‘ kann aber nur in eine Ver-
nunft fallen, die nicht mit solchen Regungen konfundiert ist, sondern sich begrifflich rein auf sich
beziehen kann. Eine konfundierte Vernunft könnte keine ‚Überschreitung‘ von ‚Beschränkungen‘
S S 239
Politisch-praktisch gesprochen wäre jene Idee die Idee vollständiger rationaler Ar-
beitsteilung und Kooperation, deren Zweck der reibungsfreie systematische gesellschaft-
liche Zusammenhang selbst wäre und durch diesen die menschenwürdige Reproduktion
der Gesellschaft und jedes einzelnen ihrer Mitglieder. Diese Idee hat Hegel später als die
Idee des Staats formuliert, der als ‚konkrete Freiheit‘ darin bestehe, daß die Verfolgung
der allgemeinen Zwecke mit der der besonderen Zwecke im Handeln der Individuen und
auch dem der Institutionen unmittelbar verschränkt sei.99 Eine solche politisch-prakti-
sche Auslegung stößt bei Kant jedoch auf ein massives transzendentalphilosophisches
Hindernis: Das Zwecksystem a priori läßt die Beziehung auf die gegenständliche Re-
produktion der Menschen nicht zu, weil deren Zweck als äußerer den Imperativ als
hypothetischen qualifizieren müßte.
Nun ist die moralische Form gesellschaftlicher Reproduktion weder empirisch noch
a priori positiv zu entwickeln. Empirisch ist sie nicht zu entwickeln, weil sie so kei-
ner notwendigen allgemeinen Begründung fähig wäre, a priori ist sie es nicht, weil aus
dem bloßen Begriff des Subjekts von Zwecken, der reinen praktischen Vernunft, kei-
ne qualitative Vielheit von Subjekten zu entwickeln ist. Der kategorische Imperativ gilt
für Vernunftwesen, insofern sie Vernunftwesen sind, und erlaubt deshalb neben dem
allgemeinen Begriff der Vernunft allenfalls numerische Verschiedenheit, bloße Vielheit
von Vernunftsubjekten, von deren qualitativen Unterschieden abzusehen ist: „Ich ver-
stehe aber unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger
Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze. Weil nun Gesetze die Zwecke ihrer allgemei-
nen Gültigkeit nach bestimmen, so wird, wenn man von dem persönlichen Unterschiede
vernünftiger Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahirt, ein Ganzes
aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen
Zwecke, die ein jedes an sich selbst setzen mag), in systematischer Verknüpfung, d. i.
ein Reich der Zwecke gedacht werden können, welches nach obigen Principien mög-
lich ist.“100 Die Vereinbarkeit der ‚eigenen Zwecke‘ der jeweiligen Vernunftwesen zu
einem Ganzen resultiert daraus, daß von ‚allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahiert‘
wurde. Sie geraten dieser Konstruktion nach nur deshalb nicht in Konflikte, weil sie
nichts Bestimmtes wollen, zumal von allen persönlichen Unterschieden der Subjekte
ebenso abstrahiert wurde, so daß die widerspruchsfreie Koordination der Subjekte als
Selbstzwecke nichts Anderes ist als ihre Identität in der transzendentalen Einheit der
Apperzeption, ihre Übereinstimmung als Vernunftwesen überhaupt.101
sinnvoll fordern, weil sie selbst nicht Maßstab der Unterscheidung des zu Beschränkenden sein
könnte.
99
Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 260.
100
GMS, IV 433.
101
Das wird in einer an den Kategorischen Imperativ angelehnten Formulierung der Maximen des
Denkens deutlich: „Sich seiner eigenen Vernunft bedienen will nichts weiter sagen, als bei allem
dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl thunlich finde, den Grund,
warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum
allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen“ (Sich im Denken orientieren, VIII
146f. Anm.) Vgl. Ludwig Siep, Einleitung, in: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus,
Frankfurt am Main 1992, sieht in dem Verhältnis theoretischer Einheit von Subjektivität und
sittlicher Einheit individuierter Subjektivität das Ausgangsmotiv der praktischen Philosophie des
240 D S
Um aber an der objektiven Realität der Idee des Reichs der Zwecke überhaupt
festhalten zu können, muß Kant einen qualitativen Unterschied zitieren, und zwar den
von ‚Mitglied‘ und ‚Oberhaupt‘ im Reich der Zwecke. Jedes Vernunftwesen wäre im
Reich der Zwecke durch seine Vernunft allgemein gesetzgebend; aber nur sinnenbegabte
Vernunftwesen, die auch unvernünftigen Antrieben unterliegen, sind den Gesetzen aus
Pflicht unterworfen. Reine Vernunftwesen könnten nicht gegen sie verstoßen. Der Plural
reiner Vernunftwesen ist der Sache nach absurd: Gäbe es ihrer mehrere, so wären sie
nicht unterscheidbar. Deshalb gibt es bloß die Unterscheidung zwischen Oberhaupt
und Mitgliedern im Reich der Zwecke und sodann die der Mitglieder untereinander.
Aber auch diese Differenzierung führt nicht auf bestimmte Zwecke und Gesetze, wie
in Kants Behauptung des Gegenteils immerhin durchscheint: „Denn vernünftige Wesen
stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals
bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.
Hiedurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch
gemeinschaftliche objective Gesetze, d. i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben
die Beziehung dieser Wesen auf einander, als Zwecke und Mittel, zur Absicht haben,
ein Reich der Zwecke […] heißen kann.“102 Ausdrücklich sind die Gesetze, die das
Zusammenleben ordnen, keine ‚allgemeinen objektiven‘ sondern ‚gemeinschaftlich
objektive‘ Gesetze. Während Objektivität strenge Allgemeinheit, Gültigkeit schlechthin,
voraussetzt, bezeichnet ‚gemeinschaftlich‘ bloß komparative Allgemeinheit, Gültigkeit
für einen bestimmten definierten Bereich. Selbst wenn diese gemeinschaftlichen Gesetze
für alle gölten, wäre ihre Quelle, ihr Geltungsgrund, nicht die reine Vernunft sondern
die Gemeinschaft. Darin ist aber bereits ein juridisches Verständnis von Sittlichkeit
antizipiert, das sich vom moralischen durch die äußere Geltungsweise der Gesetze
unterscheidet.103
Die Vorstellung widerspruchsfreier Koordination bestimmter Einzelzwecke gelingt so-
lange nicht widerspruchsfrei, wie die praktischen, gegenständlichen Beziehung der end-
lichen Vernunftwesen auf die gegenständlichen Bedingungen ihres Daseins nicht nach
vernünftigen Zwecken organisiert werden. Dazu wären individuelle und gesellschaftli-
che Reproduktionsprozesse nach einsehbar allgemeinen Regeln aufeinander zu beziehen.
Dies indes setzt das Ideal des Reichs der Zwecke begrifflich voraus. Diese praktische
Deutschen Idealismus: „Mit Kant sieht er in der ‚transzendentalen Apperzeption‘ die grundlegende
einheitsstiftende und erkenntnisermöglichende Funktion des Selbstbewußtseins. […] Subjektivität
ist allen vernünftigen und bewußten Individuen gemeinsam, aber sie muß sich ‚individualisieren‘.
Und sie tritt nicht nur in einem, sondern in mehreren Individuen auf, die in einem bestimmten,
selber bewußten Verhältnis zueinander stehen. Für das Handeln und die Fragen von Moral und
Recht ist dieses Verhältnis offenbar von zentraler Bedeutung.“ (11). – Auf den Zusammenhang
von theoretischem Selbstbewußtsein und Autonomie in struktureller Gleichheit weist auch Dieter
Henrich, Kant und Hegel, a.a.O., 183, hin und stellt eine Prävalenz der Theorie fest. Ebenso ders.,
Das Prinzip der Kantischen Ethik, a.a.O., 34. Maximilian Forschner, Gesetz und Freiheit. Zum
Problem der Autonomie bei I. Kant, München 1974, 250, bezeichnet Kants Versuch, Autonomie
in der transzendentalen Einheit des Subjekts zu begründen, hingegen als erfolglos.
102
GMS, IV 433.
103
Dieter Henrich, Ethik der Autonomie, a.a.O., zufolge fallen in der Autonomie Erkenntnisgrund und
Geltungsgrund des Guten in der Vernunft zusammen.
S S 241
104
„Handlungen werden durch Zurechnungsprozesse konstituiert. […] ein geläufiges Vorurteil […]
besteht in der Zurechnung des Handelns auf konkrete Einzelmenschen“ (Niklas Luhmann, Soziale
Systeme, a.a.O., 228f.). Damit bezeichnet Luhmann, wenngleich nicht die theoretische Bestim-
mung von Handlungen, so doch die gesellschaftliche Realität ihrer Auffassung. – Henrich macht
dagegen das Beispiel der Wohltätigkeit stark (vgl. Das Prinzip der kantischen Ethik, a.a.O.); dies
ist allerdings im Zusammenhang von Kants Moralbegriff problematisch, weil schon die Wohltä-
tigkeitspflichten eher einer utilitaristischen Begründungsform folgen. Vgl. dazu Manfred Walther,
Konsistenz der Maximen. Universalisierbarkeit und Moralität nach Spinoza und Kant, unveröff.
Ms. 2008, Veröff. i.V.
105
Die soziale Fürsorge ist eher ein staatlicher Ausgleich der geschäftlichen Praxis, die auf Einzelne
keine Rücksicht nimmt; insofern die Erhaltung dieser Menschen gegen unmittelbare ökonomische
Interessen aber zugleich der Erhaltung der Akkumulationsbedingungen des Kapitals auf lange
Sicht diene, betätige sich, so Marx, der Staat als ‚ideeller Gesamtkapitalist‘. Vgl. z. B. Das Kapi-
tal, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., 504: „Die Fabrikgesetzgebung, diese erste bewußte und planmäßige
242 D S
cke als Subjekt von ‚Würde‘ entgegen; Menschen sind Subjekte von Würde und damit
Selbstzweck, weil sie der Moralität fähig sind.106 Moralität ist demnach die notwen-
dige Bedingung von Selbstzwecksein und Würde. Hätte nun Moralität auch nur ein
einziges empirisches Moment, so folgte daraus erstens, daß unter unmoralischen Ver-
hältnissen niemand Selbstzweck sein kann; denn die empirischen Verhältnisse, die der
Moralität nicht genügten, lädierten diese und mit ihr das Selbstzwecksein, das ohne sie
nicht bestehen kann. Dem mag so sein. Es folgte aber zweitens, daß unter unmorali-
schen Bedingungen auch niemandem Würde zukäme, denn auch diese hat nach Kant
intakte Moralität zur Voraussetzung. Die Konsequenz wäre, daß unter unmoralischen
Bedingungen Menschen nicht nur faktisch, sondern legitim entwürdigt würden. Läßt die
Begründung sittlicher Geltung sich auf Faktizität auch nur momenthaft ein, bricht der
substantielle Maßstab, die Einheit des Subjekts, zusammen.
Sittlichkeit, wie Kant sie aus der Einheit des Bewußtseins entwickelt hatte, ist über-
haupt nur zu fordern möglich, wenn Moralität als Bestimmung a priori schon unantast-
bare Würde begründet, oder in anderen Worten: wenn das Vernunftwesen Mensch bereits
dadurch, daß es zum Mitglied eines bloß möglichen Reichs der Zwecke überhaupt nur
qualifiziert ist, unantastbarer Selbstzweck ist. Kant bringt dies auf den Begriff der Au-
tonomie. In dieser Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung gründet die menschliche Würde.107
Allerdings ist dieser Begriff von Autonomie notwendig leer, denn das Gesetz, das reine
Vernunft sich selbst gibt, läßt sich nur als bloße Form vorstellen, da reine Vernunft aus
sich selbst, ohne Erfahrung, keine Inhalte setzen kann. So bleibt es „in Ansehung aller
Objekte unbestimmt“108 .
Auf der Seite des Sinnenwesens, das diesem Gesetz unterworfen sein soll, korrespon-
diert dem die Negation aller partikularen Beweggründe. Negativität und Positivität von
Autonomie koinzidieren in deren Formalität: „In der Unabhängigkeit nämlich von aller
Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objecte) und zugleich doch Bestim-
mung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime
fähig sein muß, besteht das alleinige Princip der Sittlichkeit. Jene Unabhängigkeit aber
ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen, und, als solche,
praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande. Also drückt das moralische
Rückwirkung der Gesellschaft auf die naturwüchsige Gestalt ihres Produktionsprozesses, ist, wie
man gesehen, […] ein notwendiges Produkt der großen Industrie“. Im Zusammenhang mit den
gesellschaftlichen Bedingungen ist auch die spätere deutsche Sozialgesetzgebung seit Bismarck zu
sehen, in ihren Fortschritten ebenso wie in ihren neuerlichen massiven Rückschritten. Zum ter-
minus ‚ideeller Gesamtkapitalist‘ vgl. Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der
Wissenschaft, MEW 20, Berlin 1978, 260.
106
Vgl. GMS, IV 435.
107
Vgl. GMS, IV 436.
108
GMS, IV 444. Das vollständige Zitat lautet: „Der schlechterdings gute Wille, dessen Princip ein
kategorischer Imperativ sein muß, wird also, in Ansehung aller Objecte unbestimmt, bloß die Form
des Wollens überhaupt enthalten, und zwar als Autonomie, d. i. die Tauglichkeit der Maxime eines
jeden guten Willens, sich selbst zum allgemeinen Gesetz zu machen, ist selbst das alleinige Gesetz,
das sich der Wille eines jeden vernünftigen Wesens selbst auferlegt, ohne irgendeine Triebfeder
und Interesse derselben als Grund unterzulegen.“ Vgl. KpV, § 1, V 19f., demzufolge reine Vernunft
den Willen ‚hinreichend‘ bestimmen solle.
S S 243
Gesetz nichts anders aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. der
Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein
mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können.“109
Mit dieser begrifflichen Bestimmung von Moral ist aber noch keine verbindliche
Begründung der Möglichkeit ihrer unbedingten Geltung erfolgt. Diese ist nicht aus
dem Begriff selbst abzuleiten, sondern muß mit dem Pflichtbegriff schon vorausgesetzt
werden; allein deshalb ‚ergibt‘ sie sich aus Kants Begriffsanalyse von Moral. Die
Begründung der Verbindlichkeit, so Kant, kann daher nur synthetisch erfolgen, durch
die Untersuchung der Fähigkeit reiner praktischer Vernunft, ihre eigenen Begriffe a
priori allgemeingültig zu erweitern.
Kant geht von der Einsicht aus, daß Freiheit ein Gesetz haben muß, wenn sie nicht
zum Spielball der Pathologie der Neigungen werden soll; ohne Gesetz wäre sie nicht
als Ergänzung zur Naturkausalität unter die Kategorie Kausalität zu bringen.110 Aller-
dings könne ihr Gesetz nur aus ihr selbst hervorgehen, wenn es sie nicht als Freiheit
beschädigen soll. Diese Freiheit durch Selbstgesetzgebung ist nun äquivalent mit dem
Sittengesetz, weil sie auf der Allgemeinheit der Maximen beruht. Aus dem Begriff der
Freiheit läßt sich demnach der des Sittengesetzes entwickeln; in diesem Sittengesetz aber
wird selbstverständlich die Forderung nach Selbstbestimmung des Willens überhaupt zur
Allgemeinheit dieser Selbstbestimmung erweitert: Die „Eigenschaft des Willens, sich
selbst ein Gesetz zu sein“ wird kommentarlos zu dem Satz umgewandelt‚ nach dem
„der Wille in allen Handlungen sich selbst Gesetz“ sei, so daß seine Maximen „sich
selbst als allgemeine Gesetze zum Gegenstand haben könnten“111 , das heißt sie wol-
len nicht nur das, was ihr Inhalt ist, sondern sie wollen ihr eigenes Wollen zum Gesetz
erheben, wodurch das, was sie wollen, unbedingte Verbindlichkeit erhält. Diese Erweite-
rung beruht auf dem unausgewiesenen Übergang von der negativen Freiheit zur positiven
Freiheit. Die negative Freiheit war durch universale Abstraktion, durch Abweisung aller
äußerlichen Antriebe für sich selbst als frei bestimmt worden. Der dadurch begründe-
ten Möglichkeit von positiver Freiheit, die sich selbst das Gesetz gibt, wäre nun ihre
Notwendigkeit nachzuweisen, durch die das Gesetz Verbindlichkeit gewänne, also über-
haupt erst ein Gesetz würde. In dem Begriff des Gesetzes ist dann das sittliche System,
das Reich der Zwecke, angelegt – wenn es eben gelingt, den Gesetzescharakter des Wol-
lens zu begründen.
Da nun Freiheit die Bestimmung des Willens ist, weil und sofern er vernünftig ist,
kommt sie notwendig allen vernünftigen Wesen zu. Ein vernunftbegabtes Sinnenwesen,
das heteronom bestimmt würde, wäre – als Gegenstand heteronomer Bestimmungen –
eben kein Vernunftwesen, sondern ein Naturobjekt. Diesem Verhältnis von Freiheit und
Natur korrespondiert das von positivem und negativem Freiheitsbegriff. Selbstbestimmt
ist der Wille durch Negation von Fremdbestimmung; als selbstbestimmter hat er aber
eine allgemeine Form, weil er nur durch reine Vernunft bestimmt ist. Dieses Verhältnis
109
KpV, § 8, V 33.
110
Kant versteht, in Anlehnung an Hume, sowohl ‚Kraft‘ als auch ‚Handlung‘ als ‚Folgebegriffe‘ des
Kausalitätsbegriffs (vgl. Prolegomena, IV 257). Zu dem Problem der Subsumtion von Freiheit
unter die Form des Kausalitätsbegriffs vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 243ff.
111
GMS, IV 446f.
244 D S
läuft jedoch scheinbar auf einen Zirkel hinaus: „Wir nehmen uns in der Ordnung der
wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Ge-
setzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil
wird uns die Freiheit des Willens beigelegt haben“112 . In der Vorstellung negativer Frei-
heit liegt bereits die Differenz von empirischem und intelligiblem Subjekt, Sinnenwesen
und Vernunftwesen. Die Abweisung äußerlicher Ursachen des Handelns setzt schon vor-
aus, daß das Subjekt aus einer eigenen Bestimmung heraus sich von den äußerlichen
Bestimmungsgründen zu unterscheiden vermag. Dieser Unterschied muß seinen Grund
in einer intelligiblen Identität des Subjekts haben. Allerdings sind sich vernunftbegabte
Sinnenwesen selbst nur in der Erfahrung, der äußeren oder inneren Selbstbeobachtung,
gegeben. Ihre intelligible Einheit ist als reine Vernunft aber kein Gegenstand von Er-
fahrung. Erfahrbar mögen die Auswirkungen der Einheit der Vernunft im Handeln sein,
nicht jedoch sie selbst. Aber diese Identität kann doch erschlossen werden als notwendi-
ge Bedingung von Subjektivität überhaupt: Wären nicht alle Vorstellung des Subjekts
auf dessen subjektive Identität bezogen, so könnten sie von ihm gar nicht als seine
Vorstellungen vorgestellt werden. Nun ist es aber möglich, in Urteilen verschiedene
Erscheinungen nach solchen allgemeinen Regeln zu verknüpfen, die nicht aus Erfah-
rungserkenntnis resultieren können; die Sinne stellen nur partikulare Erscheinungen vor,
der Verstand verbindet sie nach reinen Begriffen, die aber, wenngleich generalisierend,
immer auf Erfahrung bezogen sind. Die Identität des subjektiven Bewußtseins, auf die
alle zu verknüpfenden Vorstellungen bezogen wären, wäre in dieser Universalität aber
über die Erfahrung erhaben. Deshalb könnte sie auch Ideen hervorbringen, die die un-
bedingte Vollkommenheit von Erfahrungsgegenständen antizipierten. Damit schüfe sie
Begriffe, die aus der Erfahrung selbst nicht hervorgehen können.
Ein solcher Begriff wäre der der unbedingten Selbständigkeit des Willens in Anse-
hung aller Erfahrungsobjekte, die Freiheit. Die Vernunft ist als reine, erfolgsunabhän-
gige, Spontaneität der Ort der Selbstbestimmung a priori; zugleich ist sie deshalb der
Grund der Unterscheidung der intelligiblen Seite des Subjekts von seiner empirischen.
Vermöge der Vernunft kann das Subjekt sich selbst als selbstbestimmtes oder als fremd-
bestimmtes ansehen. Sofern es sich als vernünftiges, selbstbestimmtes Wesen betrachtet,
kann es sich nur als freies Wesen denken; das freie Wesen in Bezug auf sich selbst als
Naturwesen erkennt sich als Subjekt von Moral, das aus Vernunft sich gegen seine Natur-
bestimmtheit wenden kann.113 Dieses Subjekt von Moral ist aber nicht nur sub-iectum,
der Moral Unterworfenes, sondern es ist Subjekt auch im spezifisch neuzeitlichen Sinn
als Urheber von Moral.
Freiheit erweist sich nach alledem nicht als ungedeckte Voraussetzung der Mo-
ralbegründung, sondern als in der Reflexivität der Vernunft selbst verankert. Deren
Verbindung mit dem sinnlichen Körper begründet den verpflichtenden Charakter der
Freiheitsgesetze, weil endliche Vernunftwesen – also nicht reine Vernunftwesen – den
vernünftigen Gesetzen nicht notwendig folgen, sondern den Einfluß ihrer sinnlichen
Antriebe den Gesetzen gemäß beschränken müssen, wenn sie gesetzmäßig handeln
wollen. Indem Vernunft als Vermögen der Selbstunterscheidung der Subjekte in
112
GMS, IV 450.
113
Vgl. GMS, IV 452.
S S 245
ihr intelligibles und empirisches Wesen sich erweist, begründet das zunächst die
Möglichkeit, den reinen rationalen Grund der Notwendigkeit moralischer Gesetze
in Bezug auf ihre empirische Subjektivität darzulegen; es begründet aber auch die
entgegengesetzte Möglichkeit, Moralität als innere Gesetzgebung von den realen
Verhältnissen ihrer empirischen Subjekte zu isolieren.114 Vernunft vermag sowohl, sich
und ihr Anderes dialektisch zu vermitteln, als auch den Chorismos115 von Idee und
Erscheinung zu begründen. Die erste Möglichkeit betont die Kraft reiner Vernunft über
die Empirie, die zweite Möglichkeit betont die Erhabenheit reiner Vernunft über die
Wirklichkeit; beides ist idealistische Präferenz des reinen Denkens. Was das Subjekt als
empirisch praktisches tatsächlich vermag, hängt dagegen zwar von der Konzeption des
vernünftigen Selbstbewußtseins ab, ist aber aus diesem allein nicht zu begründen.116
Indem die Vernunft mit dem Begriff der Freiheit ihr oberstes praktisches Prinzip er-
mittelt hat, hat sie zugleich ihre Grenze gesetzt. Freiheit ist zu denken möglich, weil sie
dem Begriff der kausalen Naturordnung nicht widerspricht, und Freiheit muß gedacht
werden, weil ohne diesen Gedanken kein konsistenter Begriff menschlichen Handelns
möglich wäre. Als Modalitäten der Freiheit bilden sich Möglichkeit und Notwendigkeit
heraus, die zusammengenommen die offene, unerfüllte Forderung nach Freiheit bestim-
men. Von der Wirklichkeit von Freiheit heißt es bei Kant nur, daß sie kein positiver
Gegenstand menschlicher Erkenntnis sei. Doch auch wenn niemals die Wirklichkeit von
Freiheit festzustellen sein sollte, gibt es doch einen sicheren Grund dafür, sie stets zu
fordern, sie – selbst als problematische – als Grund der unbedingten Verpflichtung zu
ihrer Realisierung zu begreifen. Daß die Freiheitslehre den Modus der Wirklichkeit nicht
enthält, beruht darauf, daß Freiheit eine Idee praktischer Vernunft ist, die diese um ih-
rer eigenen Möglichkeit und Konsistenz willen annimmt; so ist Freiheit bloß negativ
erschlossen.
Nun beruht zwar Moralität auf der reinen Vernunft, ihre Verpflichtung jedoch auf
dem Verhältnis der Vernunft zur Sinnlichkeit: „Denn jetzt sehen wir, daß, wenn wir
uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt, und erken-
nen die Autonomie des Willens, sammt ihrer Folge, der Moralität; denken wir uns aber
als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Ver-
standeswelt gehörig.“117 Mit dem Begriff der Freiheit liegt der Pflicht eben auch der
Chorismos von reiner Vernunft und Sinnlichkeit zugrunde. Die Distinktion von Ver-
nunftwesen und Sinnenwesen ist aber selbst noch kein Akt praktischer Vernunft, sondern
sie gehört der theoretischen Vernunft an. Diese denkt sie, um Natur und Freiheit unter
114
Vgl. Dieter Henrich, Das Prinzip der kantischen Ethik, a.a.O., 37.
115
Im Unterschied zu Ausdrücken wie ‚Differenz‘, ‚Distinktion‘, ‚Dualismus‘ oder ‚Dichotomie‘ be-
zeichnet ‚Chorismos‘ noch am nachdrücklichsten die auch reale Getrenntheit der beiden Seiten;
es handelt sich, wo vom Chorismos die Rede ist, nicht bloß um eine begriffliche Konstruktion
von Unterschied überhaupt, sondern um eine solche, die das durch sie Unterschiedene als real
Getrenntes denkt und auseinanderhalten soll.
116
Ebenso gilt freilich umgekehrt: „So wichtig es ist, die Indentität von empirischer Leiblichkeit
und bewusster Subjektivität zu betonen, so wenig lässt sich aus der Identifikation mit der eige-
nen Leiblichkeit Freiheit erklären oder begründen.“ Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung.
Neurophysiologie und Willensfreiheit, a.a.O., 27.
117
GMS, IV 453.
246 D S
118
Vgl. GMS, IV 452.
119
GMS, IV 457.
S S 247
120
Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, a.a.O., 29, weist
die Auffassung, Kant sei Dualist, zurück mit der Begründung, „die Handlung als empirische [sei]
nur über ihre zu denkende Intention zu begreifen“. Es bleibt aber fraglich, ob Kants Konstruktion
der Intention als allgemein beurteilbarer den Weg vom Denken zurück zur Erfahrung offenhalten
kann.
121
Vgl. GMS, IV 460.
248 D S
Erscheinungen und Intellekt beharrt und zweitens das Interesse als logisch unableitbar
bestimmt, bleibt der Idealismus aus. Der Sache nach kann aber bei Kant die Allgemein-
heit der Vernunft von der Allgemeinheit moralischer Gesetze ebensowenig inhaltlich
unterschieden werden wie das reine Interesse von der Vernunft selbst unterscheidbar ist;
denn es wird ja nur durch seinen Gegenstand bestimmt. Dieser aber ist eben die Allge-
meinheit der Vernunft selbst. Ebensowenig wie später Hegel kommt Kant deshalb aus
der Immanenz der Vernunft heraus. Die Objektivierung der Vernunft bleibt bloße Pa-
raphrase der Immanenz des Subjekts. Allein die negative Darstellung der Freiheit als
Bedingung der Möglichkeit, Handlungen zu denken, bewahrt vor der Stillstellung in
der Idee. Jeder Versuch, die dialektische Bewegung von negativem und positivem Mo-
ment im Freiheitsbegriff in eine positive Objektivierung reiner Vernunft umzuwandeln,
verhindert dann gerade die Möglichkeit, objektive Realität vernünftiger Handlungen zu
denken, weil das Besondere der empirischen Bedingungen, die der Vernunft gegenüber-
stehen, nicht als solches berücksichtigt wird.
Der Übergang von der Theorie zur Praxis kann innerhalb der Theorie allein nicht
hinreichend begründet werden. Das hat Kant zumindest angedeutet: „Wie nun aber reine
Vernunft […] für sich selbst praktisch sein, d. i. wie das bloße Princip der Allgemeingül-
tigkeit aller ihrer Maximen als Gesetze […] ohne alle Materie (Gegenstand) des Willens,
woran man zum voraus irgend ein Interesse nehmen dürfe, für sich selbst eine Triebfe-
der abgeben, und ein Interesse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken […]
könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend“122 .
Gleichwohl kann diese Schranke nicht zum Anlaß genommen werden, die Vernunft nun
hinsichtlich der Praxis für unzuständig zu halten und zum Pragmatismus überzugehen.
Ebensowenig kann die Vernunft zum absoluten Grund moralischer Praxis erklärt wer-
den. Das gegenläufige Verhältnis von Natur und Freiheit in den Menschen erwies sich
als Grundlage des Schlusses auf den intelligiblen Grund der Freiheit, als dessen ratio
cognoscendi. Freiheit ist vor ihrer bloßen Abstraktheit dadurch zu bewahren, daß sie ne-
gativ, als Bedingung der Möglichkeit jener Gegenläufigkeit begriffen würde, als deren
ratio essendi. Im Medium dieser Gegenläufigkeit von Vernunft und Sinnlichkeit wäre
sie zu entfalten, ohne die spekulative Form ihres Begriffs als positiven Ausdruck abso-
luter Innerlichkeit aufzufassen. Dann kann der Begriff der Freiheit dazu dienen, solche
gegenständlichen Bedingungen, die eine Vermittlung von Natur und Freiheit den Men-
schen einzeln und kollektiv versagen, nicht bloß zu erkennen, sondern auch, wo möglich,
sie zu verändern. Möglich ist es insbesondere dort, wo solche Bedingungen geschichtlich
bestimmt sind. So bietet der Begriff der Freiheit die Grundlage dafür, moralisch begrün-
dete Kritik an unmoralischer gesellschaftlicher Praxis zu üben. Solche Kritik wäre nicht
durch utopische Maßstäbe bedingt.123
Utopien dagegen entwerfen positive anschauliche Vorstellungen eines vermeintlich
Besseren, die aus der Kritik des Gegebenen gar nicht abgeleitet werden können. Sie
122
GMS, IV 461.
123
Als Ort der Kritik erscheint die gesetzprüfende Vernunft nicht bloß als ‚Herabsetzung‘ der als
formelle Allgemeinheit und Tautologie erkannten gesetzgebenden Vernunft (vgl. Hegel, Phänome-
nologie des Geistes, a.a.O., 231f.): Als bestimmte Kritik tritt Vernunft ins Verhältnis zu ihrem
geschichtlichen Inhalt.
Z S A 249
sind nicht Resultat der Kritik des Gegebenen durch eine Idee der Vernunft, sondern sie
sind Projektion einer solchen Idee durch die produktive Einbildungskraft, nicht mehr als
eine Phantasie gegen eine andere, vielleicht entgegengesetzte. Weil Utopien nicht strikt
Vernunft kritisch auf Gegenstände beziehen, sondern aus der anschaulichen Vorstellung
leben, sind sie immer auf die besonderen Interessen von Menschen gerichtet und haben
daher unabdingbar ein Moment von Heteronomie. – Der moralische Begriff der Identität
des Subjekts als Vermittlung von Vernunft und Sinnlichkeit leistet mehr als jede Utopie:
Er erlaubt es grundsätzlich, solche Bedingungen zu identifizieren, an denen das Subjekt
als Subjekt – in seiner Selbstbestimmung – scheitern muß. Dadurch weist er negativ über
sich und vor allem über diese Bedingungen hinaus. Daß hierfür dann auch Kenntnisse
der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Menschen leben, erforderlich sind,
bedeutet nicht, daß diese Bedingungen den moralischen Begriffen systematisch voraus-
gesetzt seien; diese würden dadurch durchaus heteronom.124 Unter der Maßgabe von
Autonomie aber zeichnet sich ein Zusammenhang moralischer, erkenntnistheoretischer
und gesellschaftstheoretischer Bestimmungen ab, außerhalb dessen praktische Philoso-
phie form- und gegenstandslos ist.
124
Vgl. Jan Weyand, Adornos Kritische Theorie des Subjekts, a.a.O., 10: „Ein Begriff von Heterono-
mie ist nur unter der Voraussetzung eines Begriffs von Autonomie zu formulieren.“ Der Begriff
der Autonomie setzt aber seinerseits schon die Erfahrung der Diskrepanz von Subjekt und Hete-
ronomie voraus, ohne die keine Reflexion auf moralische Autonomie stattfände.
125
KpV, V 33.
126
KpV, V 33.
250 D S
127
Vgl. Peter Bulthaup, Kants Anarchismus und die Pathologie republikanischer Freiheit, in: Michael
Städtler (Hg.), Kants ‚Ethisches Gemeinwesen‘, a.a.O., 175.
128
KpV, V 33.
Z S A 251
der Naturkräfte in der Gestalt von Technik, um Herrschaftsverhältnisse effektiv und dau-
erhaft im ökonomischen Verhältnis der Gesellschaft zur Natur zu verankern, statt daß
die Menschen ihre wachsende Naturbeherrschung zum Mittel der Überwindung gesell-
schaftlicher Herrschaft machten. Wie Menschen sich zu einer herrschaftslos und statt
dessen unter moralischen Zwecken vermittelten Natur verhielten, läßt sich, da dies in
der Geschichte der Menschen nie auch nur ernsthaft praktisch erwogen wurde, überhaupt
nicht einschätzen; möglich sind allenfalls einige negative Bestimmungen wie diejenige,
daß bei vernünftiger Überlegung niemand ein Interesse an der rücksichtslosen Aus-
beutung von Ressourcen, bis zur Bedrohung menschlicher Lebensbedingungen, haben
könnte. Dies sind Probleme, die sich für Kant, im vorindustriellen Zeitalter, noch nicht
stellen. Er unterstellt traditionell anthropologisch, die moralische Deformation der Men-
schen durch ihre um die Gunst der Herrschaft oder um Anteile an ihr konkurrierenden
Begierden läge in der menschlichen Natur begründet. Dadurch jedoch entzieht er dem
moralischen Bewußtsein – um dessen purer Möglichkeit willen – die Objekte ganz. Da-
mit aber ist der Moral auch die aus der Freiheit im negativen Verstande, der Negation der
Heteronomie, resultierende Widerstandskraft gegen Beherrschung durch Fremdes oder
durch Andere abgeschnitten.
Daran scheitert auch das Reich der Zwecke, mit dessen Konzeption Kant sich mo-
ralisch am weitesten vorwagt: „Nun ist auf solche Weise eine Welt vernünftiger Wesen
(mundus intelligibilis) als ein Reich der Zwecke möglich und zwar durch die eigene
Gesetzgebung aller Personen als Glieder. Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so
handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemei-
nen Reiche der Zwecke wäre.“129 Diese Bestimmung muß, wegen der pathologischen
Natur der Menschen, ins Subjekt zurückgenommen werden: „Ein solches Reich der
Zwecke würde nun durch Maximen, deren Regel der kategorische Imperativ allen ver-
nünftigen Wesen vorschreibt, wirklich zu Stande kommen, wenn sie allgemein befolgt
würden.“130 Weil sie aber nicht allgemein befolgt werden, gerät Autonomie, gegen ihren
streng allgemeinen Kern, zur Privatsache, an der jeder für sich selbst scheitern darf.131
Noch Kants Beispiel, nach dem es moralisch möglich ist, die allgemeine Glückselig-
keit anderer, also einen dem Reich der Zwecke äquivalenten materiellen Zweck, zu
wollen, zeugt von Inkonsequenz: „Die Materie sei z. B. meine eigene Glückseligkeit.
Diese, wenn ich sie jedem beilege (wie ich es denn in der That bei endlichen We-
sen thun darf), kann nur alsdann ein objectives praktisches Gesetz werden, wenn ich
anderer ihre in dieselbe mit einschließe. Also entspringt das Gesetz, anderer Glück-
seligkeit zu befördern, nicht von der Voraussetzung, daß dieses ein Object für jedes
seine Willkür sei, sondern blos daraus, daß die Form der Allgemeinheit, die die Ver-
nunft als Bedingung bedarf, einer Maxime der Selbstliebe die objective Gültigkeit eines
Gesetzes zu geben, der Bestimmungsgrund des Willens wird, und also war das Object
(anderer Glückseligkeit) nicht der Bestimmungsgrund des reinen Willens, sondern die
bloße gesetzliche Form war es allein, dadurch ich meine auf Neigung gegründete Ma-
129
GMS, IV 438.
130
GMS, IV 438.
131
Vgl. auch Jan Weyand, Adornos Kritische Theorie des Subjekts, a.a.O., 9.
252 D S
132
KpV, V 34f. Vgl. MdS TL, VI § 30; vgl. VI 393: „Daß diese Wohlthätigkeit Pflicht sei, ergiebt sich
daraus: daß, weil unsere Selbstliebe von dem Bedürfniß von anderen auch geliebt (in Nothfällen
geholfen) zu werden nicht getrennt werden kann, wir also uns zum Zweck für andere machen
und diese Maxime niemals anders als blos durch ihre Qualification zu einem allgemeinen Gesetz,
folglich durch einen Willen Andere auch für uns zu Zwecken zu machen verbinden kann, fremde
Glückseligkeit ein Zweck sei, der zugleich Pflicht ist.“ Hierzu vgl. Manfred Walther, Konsistenz
der Maximen, a.a.O.: „Dies ist sicherlich kein kategorischer Imperativ, sondern eine Variante der
Goldenen Regel in ihrer positiven Fassung!“.
133
Vgl. KpV, V 37: „Die Ursache ist, weil es bei dem ersteren nur auf die Maxime ankommt, die
ächt und rein sein muß, bei der letzteren aber auch auf die Kräfte und das physische Vermögen,
einen begehrten Gegenstand wirklich zu machen.“
134
KpV, V 37.
Z S A 253
braucht werden, sieht Kant nicht. Der Zusammenhang der Glückseligkeit mit der Moral
liegt ihm so fern, daß es noch ein Argument gegen diesen Zusammenhang ist, daß
die Menschen nicht gerne moralisch sein wollen und doch, wenn sie wollten, es könn-
ten.135 Die offensichtliche Diskrepanz von Moral und Glückseligkeit, deretwegen die
existentiell bedrohten Menschen sich zur Moral nicht durchringen können, sollen sie
affirmieren, indem sie, ihre Existenz mißachtend, moralisch sind: Nur so könnten sie
uneingeschränkt, was sie wollen müßten.136
Das Verhältnis des Sittengesetzes zur Objektivität bleibt indes für Kant problema-
tisch. Wenngleich es „[n]ur auf die Willensbestimmung […], nicht auf den Erfolg“137
ankomme, gebe doch das Faktum der Autonomie „auf eine reine Verstandeswelt An-
zeige“138 . Das Sittengesetz soll demzufolge „der Sinnenwelt, als einer sinnlichen Natur,
(was die vernünftigen Wesen betrifft) die Form einer Verstandeswelt, d. i. einer über-
sinnlichen Natur, verschaffen, ohne doch jener ihrem Mechanism Abbruch zu thun“139 .
Die praktische Vernunft wird geradezu der göttlichen Vorsehung gleich zum Ort einer
natura archetypa, dergemäß eine moralische Sinnenwelt eine natura ectypa sein soll,
die durch reine Vernunft erzeugt würde, wenn „sie mit dem ihr angemessenen physi-
schen Vermögen begleitet wäre“140 . In zwei Momenten ist die praktische Vernunft von
Gott unterschieden: Erstens existiert schon eine sinnliche Welt, die nur nach dem Sit-
tengesetz einzurichten wäre; darunter wäre aber nur die Kohärenz von Sinnlichkeit und
Moral vorstellbar, die es nach Kant nicht geben kann. Zweitens verbleibt die moralische
Vorsehung deshalb in „einer reinen Verstandeswelt“141 , sie bleibt eine „übersinnliche[]
135
Vgl. KpV, V 37. Entsprechend weist Kant der Psychologie die moralische Aufgabe zu, Affekte
zu erklären, damit Anstalten getroffen werden könnten zur „Wegräumung der Hindernisse, die
sich dem Einflusse derselben [moralischen Gesetze] entgegensetzen“ (Erste Einleitung KdU, 46).
Hindernisse moralischen Handelns liegen grundsätzlich in den Subjekten selbst.
136
Die Diskrepanz von Moral und Glückseligkeit wird noch verschärft bestätigt durch Kants Vorstel-
lung einer transzendentalen Begründung der Strafgerechtigkeit. Deren Grund soll darin liegen, daß
jemand seine private Glückseligkeit über die Pflicht gestellt und so andere lädiert habe, woraus
das Recht zur Vergeltung mittels Abbruchs an seiner Glückseligkeit durch Strafe folge (vgl. KpV,
V 37). Die Strafbarkeit könne nun nicht positiv Grund der Strafwürdigkeit sein, vielmehr sei das
unbedingte Sittengesetz deren Grund. Indem das Sittengesetz nicht bloß von der Glückseligkeit
abstrahieren muß, sondern indem um seinetwillen und aus ihm begründet praktischer Abbruch an
der Glückseligkeit von Menschen verübt wird, erscheint es denen, die solcher Praxis unterworfen
werden, als das schlechte Andere von Glückseligkeit. Denen, die solche Praxis üben, gerät es zu
deren schlechtem Äquivalent. – Der von Kant hier angedeutete Zusammenhang von Moral und
Strafe steht in kontradiktorischem Gegensatz zu seinen eigenen Begriffen von Moral und Strafe,
nach denen diese juridischen Zwang ausübt, jene aber nicht zu erzwingen ist. Die Aufhebung
der geschichtlichen und theoriegeschichtlichen Koppelung von Moral und Strafe wäre wohl die
mindeste Bedingung der Möglichkeit moralischen Bewußtseins. Jede neue Ethik, die das nicht
deutlich macht, strickt weiter an Moralvorstellungen, die schon intuitiv abgelehnt werden, weil sie
auch vernünftig abgelehnt werden müßten.
137
KpV, V 45.
138
KpV, V 43.
139
KpV, V 43.
140
KpV, V 43.
141
KpV, V 43.
254 D S
142
KpV, V 44.
143
KpV, V 44.
144
KpV, V 48.
145
KpV, V 44f.
146
KpV, V 46.
147
Vgl. KpV, V 49.
148
KpV, V 89.
149
KpV, V 106.
Z S A 255
Das führt dazu, daß das Ideal praktischer Vernunft eine reine Verstandeswelt, ein Wol-
kenkuckuksheim, zu werden droht; denn Kant vermag die moralische „Erweiterung“150
der reinen Vernunft auf einen allgemeinen Zweck, „auf Dinge, die nicht Gegenstände
möglicher Erfahrung sind“151 , nur zuzulassen, insofern endliche Vernunftwesen auch
noumena sind. Als solche unterliegen sie keiner Beschränkung durch die empirische
Welt, aber sie sind auch gegen sie abgedichtet. Das ergibt sich für Kant aus der Absicht
zu vermeiden, daß „psychologische und comparative“152 Bestimmungen die Freiheit in
einen subjektimmanenten Determinismus, das Subjekt in ein Leibnizisches automaton
spirituale, verwandeln. In der Tat lägen dann die Bestimmungsgründe des Handelns,
„wenn das Subject handeln soll, nicht mehr in seiner Gewalt“153 . Damit – mit der Be-
rücksichtigung empirischer und psychischer Zwänge – wäre aber keineswegs, wie Kant
fürchtet, die Möglichkeit transzendentaler Freiheit aufgehoben, wohl aber deren Über-
setzung in praktische Freiheit und freie Handlungen beschädigt. Gerade die Affirmation
eines moralische Selbstbewußtseins a priori befestigt unter solchen Bedingungen diesen
Schaden.
Die Vorstellung der moralischen Bestimmung der Sinnenwelt wäre aber tatsächlich
nur den endlichen Vernunftwesen als ganzen möglich, und sie müßten ebenso ihre spe-
kulative wie ihre praktische Vernunft bemühen. Die Vermittlung der erkannten Natur
nämlich in der Geschichte müßte ihrerseits erkannt werden, um sie an den praktischen
Maßstäben reiner Vernunft zu messen. Als defizitär kann sie nur durch die Verknüpfung
spekulativer und moralischer Erkenntnismomente erfaßt werden. Die Kritik des Defizits
begründet dann eine negative Vorstellung moralischer Realität, die so keineswegs ‚rei-
ne Verstandeswelt‘ wäre, sondern die Menschen als Subjekte der Kritik in ein sinnlich-
praktisches Verhältnis zur Welt setzte, das stets erneuerter spekulativer wie moralischer
Vernunftanstrengung bedarf, weil es nicht in der reinen Willensbestimmung zum Still-
stand käme. Dazu taugte es seiner sinnlich-spekulativ-praktischen Herkunft nach nicht.
Wenn nun aber der Inhalt praktischer Vernunft ihre eigene Form sei, ohne daß weitere
Objektbestimmungen konstitutiv in sie eingingen, dann stellt sich dringlich die Frage
nach „dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“154 .
Auch in diesem Begriff verfährt Kant dichotomisch. Begriff des Gegenstandes der
praktischen Vernunft überhaupt sei „die Vorstellung eines Objekts als einer möglichen
Wirkung durch Freiheit“155 . Ist die praktische Vernunft nun nicht rein, weil ein Objekt
das Begehrungsvermögen bestimmt, so hängt die Möglichkeit dieses Objekts, zum Ge-
genstand zu werden, allein vom physischen Vermögen des Wollenden ab. Dies ergibt
hypothetische Imperative, und die Verfügbarkeit der Mittel entscheidet über den Zweck.
Die Möglichkeit des Gegenstands reiner praktischer Vernunft aber ist gegen die Verfüg-
barkeit der Mittel gleichgültig und hängt allein von der moralischen Möglichkeit ab, das
Objekt zu wollen, mithin davon, ob die Maxime, es zu wollen, widerspruchsfrei allge-
150
KpV, V 50.
151
KpV, V 54.
152
KpV, V 97.
153
KpV, V 96.
154
KpV, V 57.
155
KpV, V 57.
256 D S
mein sein kann ist. Kants résumé, hier sei „nicht der Gegenstand, sondern das Gesetz
des Willens der Bestimmungsgrund derselben [Handlung]“156 , wiederholt die Abstrakti-
on moralischer Subjektivität vom Objekt, das doch für die Handlung ebenso bestimmend
ist, wie das Gesetz, unter das die Relation von Subjekt und Objekt subsumiert wird.
Es ist, wie Kant im Zusammenhang der Glückseligkeit, die sich als notwendiges Ob-
jekt vernunftbegabter Sinnenwesen nicht eskamotieren läßt, feststellt, mehr die Frage
der Reihen- oder Rangfolge157 der Bestimmungsgründe, nicht der Ersetzung des einen
durch den anderen. Beim höchsten Gut ist diese Kombination daher unverfänglich, weil
die Mittel der endlichen Vernunftwesen zur Realisierung des höchsten Guts, so wie
Kant es bestimmt, nachweislich ebenso wenig zureichen wie zur moralischen Recht-
fertigung. Beides wird zum Gegenstand einer unendlichen Annäherung gemacht und
gehöre daher für endliche Wesen in die Dialektik der reinen praktischen Vernunft. Um-
gekehrt bedeutet das für die Analytik, daß endliche Gegenstände nicht zum Objekt der
aufs Unendliche gehenden reinen praktischen Vernunft werden dürfen, weil sie dieses
Vermögen beschränkten und zu einer pragmatischen Funktion menschlicher Körperlich-
keit ermäßigten. Damit wird aber schon im Prinzip die Möglichkeit ausgeschlossen, die
endlichen Existenzbedingungen der sterblichen Vernunftwesen durch moralisches Han-
deln in eine der Vernunft nicht widersprechende Ordnung zu bringen, beispielsweise die
vereinzelten physischen Vermögen planmäßig durch Arbeitsteilung zu spezifizieren und
durch Kooperation zu potenzieren und so ein gesellschaftliches Gesamtsubjekt zu kon-
stituieren, als dessen selbstbewußte Momente die Menschen ihre Geschichte aus freien
Stücken, das heißt moralisch selbstbestimmt, zu gestalten vermöchten.
Für Kant bleibt die Bestimmung des Willens bezüglich endlicher Objekte entweder
heteronom oder als autonome abstrakt gegenüber der Verwirklichung des moralischen
Zwecks. Dessen materialer Gehalt erscheint noch schattenhaft in der Frage, „ob wir ei-
ne Handlung, die auf die Existenz eines Objects gerichtet ist, wollen dürfen“158 , aber
in der Antwort ist jener Gehalt schon im Licht der Moralität vergangen. Das Objekt
wird mittelbar, durchs reine Vernunftgesetz, erst möglich.159 Die Objektivität dieses Ob-
jekts verbleibt dadurch aber im Subjekt, weil, im Unterschied zu den Kategorien, „die
praktischen Begriffe a priori in Beziehung auf das oberste Princip der Freiheit sogleich
Erkenntnisse werden und nicht auf Anschauungen warten dürfen, um Bedeutung zu be-
kommen, und zwar aus diesem merkwürdigen Grunde, weil sie die Wirklichkeit dessen,
worauf sie sich beziehen, (die Willensgesinnung) selbst hervorbringen“160 . Moralische
Objektivität ist in der Gesinnung, nicht erst in deren sinnlichem Korrelat gegeben. Zwar
– um überhaupt von etwas und nicht vielmehr von nichts zu reden – werden jene Begriffe
„in Ansehung der durch sie möglichen Handlungen als Erscheinungen in der Sinnenwelt
betrachtet“161 , aber es wird „jede Kategorie [der Freiheit] so allgemein genommen […],
156
KpV, V 57.
157
In Religion, B 27ff., wird diese Rangfolge sinnlicher und vernünftiger Bestimmungsgründe als
allgemeine Grundlage der Bestimmung von Gut und Böse erfaßt.
158
KpV, V 57.
159
Vgl. KpV, V 60.
160
KpV, V 66.
161
KpV, V 67.
Z S A 257
daß der Bestimmungsgrund jener Causalität auch außer der Sinnenwelt in der Freiheit
als Eigenschaft eines intelligibelen Wesens angenommen werden kann“162 . Deshalb sind
die moralischen Kategorien der Modalität in einer Hinsicht reflexiv: Die Differenz des
Erlaubten und Unerlaubten, der Pflicht und des Pflichtwidrigen, der vollkommenen und
unvollkommenen Pflicht stehen nämlich sämtlich unter der kategorialen Bestimmung,
problematisch zu sein. So reagiert Kant darauf, daß sie schon eine apodiktische Unter-
scheidung hinsichtlich der Objekte enthalten, die sie aber nicht enthalten dürfen, wenn
praktische Vernunft rein bleiben soll. Deshalb untersteht die dogmatische Entfaltung der
problematischen Begriffe des Apodiktischen noch dem moralischen Gesetz, das – ana-
log der transzendentalen Einheit der Apperzeption – als „Einheit des Bewußtseins […]
im moralischen Gesetze“163 über dem Verhältnis von Subjekt und Objekt zu schweben
scheint.
Die Kritik an Kants praktischem Objektivitätsbegriff ist eine Wanderung auf dem
Grat, dessen eine Seite zum Idealismus und dessen andere zum Pragmatismus hin ab-
fällt; ihre einzige Orientierung bleibt die substantielle Einheit der lebenden Menschen,
der vernunftbegabten Sinnenwesen. Die Rede eines moralischen Pragmatismus zu füh-
ren, hätte selbstverständlich vor der Stringenz des Kantischen Arguments keinen Be-
stand; zu bemerken ist nur, daß die Rigorosität, mit der Kant die Objekte aus der Moral
ausschließt, implizit darüber Auskunft gibt, daß mit Beziehung auf die reale Verfassung
der Objektivität ein selbstbestimmtes Leben vernünftiger Subjekte nicht möglich zu sein
scheint. Die Entwicklung dieser Objektivität zu einer Gestalt, die der moralischen Selbst-
bestimmung nicht widerspricht, ordnet Kant der Zivilisationsgeschichte zu, die selbst
nicht moralisch, sondern nach einer Naturabsicht verlaufe. Die Tauglichkeit der Objek-
te zu Gegenständen der reinen praktischen Vernunft unterliegt damit nicht allein dem
Zufall einer hypostasierten Natur; schlimmer noch nimmt Kant als Mittel der Zivilisa-
tion notwendig die moralwidrige ‚ungesellige Geselligkeit‘ an, so daß auf unabsehbare
Zeit, jedenfalls unter allen möglichen endlichen Verhältnissen, die endlichen materiel-
len Objekte des Willens unmoralisch – wenigstens amoralisch – konstituiert würden. So
erscheint es als Bedingung a priori, daß die moralische Selbstbestimmung unabhängig
von irgendeinem Objekt erfolgen müsse. So aber kann Moralität auch nicht auf die Kon-
stitution der Objektivität zurückgewendet werden, um den von den verstandesbegabten
Teufeln inszenierten Kreislauf zu durchbrechen.
So hat die Vernunft, sofern Menschen bedürftige Wesen sind, „allerdings einen nicht
abzulehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben
zu bekümmern“164 . Aber diese Bekümmerung steht zur Moral in einem zwiespältigen
Verhältnis, denn die Menschen sollen zwar mittels reiner Vernunft moralische Geset-
ze entwerfen, die sie dann auf sinnliche Objekte anwenden, aber diese Objekte dürfen
nicht in der für das Verhältnis zu ihnen konstitutiven Reflexion berücksichtigt werden;
162
KpV, V 67.
163
KpV, V 66. Zum Zusammenhang von theoretischem Selbstbewußtsein und Autonomie vgl. Dieter
Henrich, Kant und Hegel, a.a.O., 183. Fraglich ist jedoch, ob deshalb reine Vernunft der zureichen-
de Grund von Freiheit sein kann (vgl. Dieter Henrich, Das Prinzip der kantischen Ethik, a.a.O.,
34).
164
KpV, V 61.
258 D S
165
KpV, V 62.
166
KpV, V 62.
167
KpV, V 62f.
168
KpV, V 64.
169
Vgl. KpV, V 57f.
170
KpV, V 72; vgl. V 81.
171
KpV, V 65.
172
KpV, V 68.
Z S A 259
Vorstellungen. Gesetze des Verstandes sind nun aber Naturgesetze. Die einzige Möglich-
keit, der reinen praktischen Urteilskraft einen Inhalt zu verleihen, wäre die Vorstellung
des moralischen Gesetzes der Vernunft durch Analogie zu einem Naturgesetz. Dieser
von Kant so genannte ‚Typus‘ des Sittengesetzes lautet daher: „Frage dich selbst, ob die
Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst
ein Theil wärest, geschehen sollte, sie du wohl als durch deinen Willen möglich ansehen
könntest.“173
Obwohl Kant zugesteht, daß der Verstand „ohne etwas, was er zum Beispiele im
Erfahrungsfalle machen könnte, bei der Hand zu haben, dem Gesetze einer reinen prak-
tischen Vernunft nicht den Gebrauch in der Anwendung verschaffen könnte“174 , vermag
der Typus, wie Kant ihn konzipiert, dieses Problem nicht zu überwinden, denn er ist
nur zulässig, „so lange ich nur nicht die Anschauungen, und was davon abhängig ist,
auf diese übertrage, sondern blos die Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt […] darauf
beziehe.“175 Sittengesetz und Typus sind darin kongruent, daß sie die Form der Ge-
setzmäßigkeit aufweisen. Wenn der Typus außer dieser Gesetzmäßigkeit der Sinnenwelt
nichts von Gehalt in ihr berücksichtigen darf, so unterscheidet er sich nicht vom Sit-
tengesetz selbst, was schon durch seine Nähe zur sogenannten Naturgesetzformulierung
des kategorischen Imperativs176 angedeutet ist, die ausdrücklich eine von dessen Para-
phrasen sei. Der Typus mag allenfalls die allgemeine Anwendbarkeit des Gesetzes auf
Sinnliches überhaupt vorstellen, gibt aber der Urteilskraft keinerlei Anhalt, zumal noch
der Typus selbst, soweit er zulässig ist, nicht gleichmäßig zwischen Verstand und Sinn
vermittelt, sondern ganz jenseits der Grenze liegt, indem „was blos zur Typik der Be-
griffe gehört, nicht zu den Begriffen selbst gezählt werde“177 . Der Typus enthält zwar
durchaus Momente beider Seiten, aber diese sind in ihm zum Widerspruch vereint. So-
fern er zur Sinnlichkeit gehört, wäre wohl, schärfer als bei Kant, zu formulieren, daß
nicht sowohl „selbst der gemeinste Verstand“178 so urteile, als vielmehr nur dieser, wenn
überhaupt einer. Es wäre der Versuch, den Begriff moralischer Selbstbestimmung ohne
theoretisch Anstrengung auf alltägliche Vorstellungen abzubilden.
Kants Beispiel verfehlt auch hier sein Ziel: „Wie, wenn ein jeder, wo er seinen Vort-
heil zu schaffen glaubt, sich erlaubte, zu betrügen, oder befugt hielte, sich das Leben
abzukürzen, so bald ihn ein völliger Überdruß desselben befällt, oder anderer Noth
mit völliger Gleichgültigkeit ansähe, und du gehörtest mit zu einer solchen Ordnung
der Dinge, würdest du darin wohl mit Einstimmung deines Willens sein?“179 Das hier
angegebene Kriterium bezieht sich nun keineswegs auf die allgemeine Form der Ge-
setzmäßigkeit, sondern auf die sinnliche Vorstellung von Nutzen und Annehmlichkeit.
173
KpV, V 69.
174
KpV, V 70.
175
KpV, V 70.
176
Vgl. GMS, IV 421.
177
KpV, V 70.
178
KpV, V 70. Gegen die Vorstellung, der intelligible Moralbegriff sei Gegenstand der Alltagsver-
nunft, wendet sich schon Herbart mit einem moral-pädagogischen Konzept. Vgl. Johann Friedrich
Herbart, Sämtliche Werke Band 6, 270 (hier zitiert nach Günther Buck, Selbsterhaltung und His-
torizität, a.a.O., 300).
179
KpV, V 69.
260 D S
Bezieht man den Typus aber bloß auf die Verstandesseite, so fügt er dem Gesetz hin-
sichtlich der Objektivität nichts hinzu. Kant will mit Recht sowohl den „Empirism der
praktischen Vernunft“, den moralischen Pragmatismus, vermeiden, der seine Begriffe
von Erfahrung abhängig macht, als auch den „Mystizism der praktischen Vernunft“180 ,
der jenen Naturgesetztypus zu einer affirmativen Vorstellung vom Reich Gottes oder ir-
gend einer anderen Utopie ausspinnt. Wohl bewirkt beides nicht die Vermittlung des
Gesetzes mit der Objektivität, sondern ordnet jenes – vielleicht absichtslos – einer He-
teronomie unter. Aber Kants Typus leistet jene Verbindung auch nicht. – Er wäre denn
negativ zu fassen als die gesetzmäßige, und das heißt: mit der Vernunft zwar nicht iden-
tische aber doch ihr gemäße, Ordnung der sinnlichen Welt, in der die Handlungen der
Menschen nicht notwendig miteinander kollidieren.
Kants positive Fassung der bestimmten Handlung als Wirkung eines Naturgesetzes
stellt sie als mechanisch zwanghaft vor, und eine solche Ordnung kann schon deshalb
niemand wollen, weil der Wille eines Subjekts, selbst ein Teil einer vollständigen Na-
turkausalität zu sein, sich selbst und das Subjekt aufhebt.181 Die Vorstellung aber einer
naturgesetzanalogen Ordnung, die jeder als durch seinen Willen möglich ansehen könn-
te, ließe sich ebenso verstehen als selbstbestimmte Ordnung zweiter Natur.182 Dann
wäre sie die Vorstellung der eigenen Handlung nicht als naturkausal, sondern als wi-
derspruchsfrei vereinbar mit einer gesellschaftlichen Ordnung, in der Menschen deshalb
selbstbewußt leben wollen könnten. Diejenige gesellschaftliche Ordnung, die dies ge-
stattete, setzte die gemeinschaftlich vernünftige Organisation der Produktion und Re-
produktion voraus, in der die individuellen und die allgemeinen Zwecke der Menschen
nicht notwendig differierten. Damit wäre der Typus mehr als die bloße Form der Ge-
setzmäßigkeit, er wäre auf die bestimmten Lebensbedingungen der Menschen bezogen.
Dies hat Hegel gesehen, als er die Moralität als defizitäre, bloß innerliche Gestalt der
Sittlichkeit einstufte und ihren Mangel durch die ökonomische Funktion der bürgerlichen
Gesellschaft ergänzte, deren Mangel, die Äußerlichkeit des Zwecks, aber in der Idee des
Staates aufhob, die in gewisser Weise Kants Gedanken vom Typus kritisch aufnimmt.
Die Vorstellung des moralischen Objekts, des allgemeinen Guten, wird gewonnen aus
der an der Form der Gesetzmäßigkeit reflektierten defizitären Gestalt des Allgemeinen.
So könnte Kants Typus – negativ verstanden – aus der Vermittlung geschichtlicher Erfah-
rung mit dem moralischen Gesetz eine Vorstellung der zweiten Natur hervorbringen, die
nicht bloß als Kriterium sonst zufälliger Handlungen diente, sondern den Handlungen
selbst ein Objekt vorstellte, das sie notwendig machte. So wäre das Subjekt moralisch
mit seiner Objektivität zu vermitteln, ohne empiristisch-pragmatisch „die Menschheit
180
KpV, V 70.
181
Dies wird besonders deutlich in der KdU, V 403f., wo Kant eine intelligible Welt entwirft, in der
Sollen und Tun nicht differieren, weil Moralität unmittelbare Kausalität habe. Diese Vision mora-
lischen Zombitums – von Subjekten ohne Subjektivität – diene den vernunftbegabten Sinnenwesen
immerhin „zu einem allgemeinen regulativen Prinzip“, stellt also die Idee der Sittlichkeit dar, an
der sie das eigene Handeln ausrichten können sollen.
182
Vgl. auch KdU, V 275, wonach „Sittlichkeit […] eine zweite (übersinnliche) Natur ist“; auch die
materialistisch gedachte ‚zweite Natur‘ unterscheidet sich von der ‚ersten‘ ja dadurch, daß sie aus
Begriffen und Zwecken hervorgebracht ist und somit einer ‚übersinnlichen‘ Ordnung folgt.
Z S A 261
[zu] degradiren“183 . Allein im Hinblick auf das subjektive Verhältnis zum objektiven
Zweck einer vernünftigen Ordnung der zweiten Natur, im Festhalten an diesem Anspruch
des Subjekts auf Lebensbedingungen, die menschenwürdig, den vernunftbegabten Sin-
nenwesen als vernünftiger und als sinnlicher würdig sind, vermag sich moralische und
intellektuelle Selbstachtung zu erhalten, auch unter Bedingungen, die dem moralischen
Subjekt zuwiderlaufen. Diese Insistenz auf dem Anspruch auf Freiheit und allgemein
freie Bedingungen schließt den moralisch begründeten intellektuellen Widerstand gegen
die Bedingungen der Unfreiheit ein.
Auch Kants Begriff der Selbstachtung ergibt sich aus der moralischen Subjektivi-
tät, kraft derer die Menschen sich selbst Zweck und so selbst Urheber ihres Gesetzes
sind.184 Sie verbleibt aber aufgrund ihres unbestimmten Verhältnisses zur Objektivität
im Subjekt, dessen Widerstand gegen das, was ihm zugemutet wird, sich gegen es selbst
verkehrt: Der Selbstmordkandidat, der unter unerträglichen und unwürdigen Bedingun-
gen weiterlebt, weil er weder durch moralisch zweifelhafte Mittel seine Lage bessern,
noch sein Leben beenden will, um nicht die Selbstachtung zu verlieren „lebt nur noch
aus Pflicht, nicht weil er am Leben den mindesten Geschmack findet. So ist die ächte
Triebfeder der reinen praktischen Vernunft beschaffen; sie ist keine andere als das reine
moralische Gesetz selber, so fern es uns die Erhabenheit unserer eigenen übersinnli-
chen Existenz spüren läßt“185 . Der verzweifelt sublimierte Kern dessen, was das Subjekt
hier wirklich spürt, ist die Qual seiner sinnlichen Existenz, die ihm zur Hölle gemacht
worden ist. Selbst wenn er nicht Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse sein sollte, wäre
eine zivilisierte Menschheit technisch-praktisch in der Lage, ihm Hilfe zu verschaffen,
vielleicht selbst bei unersetzbarem Verlust. Warum umgekehrt in einer Zivilisation, die
durch Kriege und durch ihre innere Organisation regelmäßig belegt, daß sie das mensch-
liche Leben im Besonderen nicht sehr hoch schätzt, in verzweifelten Einzelfällen stets
dessen absolute Würde oder Heiligkeit im Allgemeinen beschwört, wäre eine andere
Frage. – Richtig bleibt an kants Überlegung aber, auch und gerade wenn Selbstmord in
Einzelfällen verständlich sein mag, daß er von der sittlich gebildeten Subjektivität aus
nicht vernünftig zu denken ist. Das verschafft aber nicht umgekehrt seinem absoluten
Verbot eine affirmative vernünftige rundlage, sondern bewirkt erst einmal Hilflosigkeit
der Vernunft vor solcher Erfahrung.
In Kants Pflicht zur Selbsterhaltung bleibt als Möglichkeit von Subjektivität innerhalb
zerstörerischer Bedingungen, daß die Subjekte intellektuell das, was ihnen äußerlich
zugemutet wird, selbst an sich selbst vollstrecken. Auch der intellektuelle Widerstand ge-
gen die Zumutungen läßt seine Subjekte nicht unbeschädigt zurück; aber in ihm erhielte
sich ein Moment von Subjektivität, das über die heute positivistisch zugelassene ‚selbst-
referentielle Struktur‘ hinauswiese. Diese Struktur, bloße Beziehung auf sich selbst,
kommt letztlich noch der Selbstzerstörung und der Selbstaufgabe ebenso zu wie der
Selbsterhaltung.
Kant versucht, reine Moralität auch unter unmoralischen Bedingungen zu begründen
– aber ohne sich gegen diese zu stellen. So will er jede empirische Verunreinigung des
183
KpV, V 71.
184
Vgl. KpV, V 87.
185
KpV, V 88.
262 D S
Sittengesetzes vermeiden. Dafür erkauft er die Achtung des intelligiblen Subjekts vor
seiner eigenen gesetzgebenden Intelligibilität mit der Verachtung seiner Sinnennatur. Es
kann sich überhaupt nur achten, indem es sich verachtet.186 Dieser Begriff der Achtung
ist – gegenüber der Selbstachtung des bedrängten Subjekts, das sich als ganzes nicht
preisgibt und darin moralische Instanz bleibt – zutiefst autoritär und offenbart darin das
heteronome Moment eines positiven Moralbegriffs unter unmoralischen Bedingungen,
unter denen die Neigungen zwangsläufig moralwidrig reagieren. Wo die Verfügung über
die Mittel der Selbsterhaltung systematisch sittenwidrig geregelt ist, muß jede Äußerung
einer Neigung tendentiell sittenwidrig erscheinen. Moral innerhalb solcher Bedingungen
muß „allen unseren Neigungen Eintrag thu[n], [und] ein Gefühl bewirken […], welches
Schmerz genannt werden kann“187 .
Nun unterscheidet Kant noch in Anlehnung an Rousseau188 zwischen Eigenliebe und
vernünftiger Selbstliebe. Die Reduktion der Eigenliebe auf Selbstliebe erfordere den Ab-
bruch der sinnlichen Antriebe bloß, „so fern sie jenem Gesetze zuwider sein könnten“189 ;
dies könnte noch als allgemeine Bestimmung genommen werden, da auch unter der Vor-
stellung autonom bestimmter Lebensbedingungen jene Neigungen, die das allgemeine
Interesse irrational schädigten, moralisch zurückgewiesen werden müßten. Aber die fast
manische Intensität, mit der Kant die sinnlichen Neigungen zurückzudrängen, ihrer Herr
zu werden sucht, zeugt doch von Bedingungen, unter denen Neigungen durchweg ge-
setzwidrig sind. Kant erklärt dies durch den anthropologischen Status der Neigungen,
da „alle Neigung und jeder sinnliche Antrieb […] auf Gefühl gegründet“190 sind. Da sie
so bloß subjektiv sind, muß das Gesetz um der objektiven Allgemeinheit willen, wenn
es auch nicht gleich alle gleichermaßen abbricht, so doch allen Eintrag tun.
Kant schwankt fortwährend zwischen partikularen Rettungsversuchen und universell
pejorativer Bewertung der Neigungen, weil er ihre Notwendigkeit zur Erhaltung der Sub-
jekte nicht mit der gesellschaftlichen Deformation sinnlicher Interessen vereinen kann.191
Indem er statt dessen versucht, den Gegensatz von Pflicht und Neigung metaphysisch
aufzulösen, erscheint schließlich Triebverzicht als unmittelbarer Ausdruck moralischer
Selbstbestimmung und diese nur dort als echt, wo sie seelischen Schmerz verursacht.
Ein Gesetz, das dies vermag, ist dann „Gegenstand der Achtung“192 , nicht weil hier
das Subjekt seiner moralischen Autonomie gewahr würde und so Selbstachtung empfän-
de, sondern weil es sich selbst als fremde Autorität gegenübertritt: „Dasjenige, dessen
186
Vgl. KpV, V 75. Zur Bedeutung und Problematik des Ausdrucks ‚Achtung‘, auch in Beziehung
auf Schillers Kritik an ‚Achtung als Zwang‘ (Über Anmut und Würde, in: Theoretische Schriften,
Köln 1999) vgl. Dieter Henrich, Ethik der Autonomie, a.a.O., 34ff.
187
KpV, V 73.
188
Zur Unterscheidung von amour de soi und amour propre vgl. Jean-Jacques Rousseau, Abhand-
lung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, a.a.O. Die
Übersetzung lautet hier allerdings „Sorge um die Selbsterhaltung“ (230) und „Selbstsucht“ (231).
Zum theoriegeschichtlichen Zusammenhang vgl. Günther Mensching, Rousseau zur Einführung,
Hamburg 2000, 43ff.
189
KpV, V 72.
190
KpV, V 72f.
191
Vgl. KpV, V 75, 80, 93, 146.
192
KpV, V 73.
Z S A 263
193
KpV, V 74.
194
KpV, V 72.
195
Vgl. KpV, V 79.
196
Vgl. auch den Begriff der ‚Kultur der Zucht‘ in KdU, V § 83.
197
KpV, V 75.
198
Auf das Desiderat, „die moralische Beurteilung mit den Bedingungen des technischen Handelns“
reflektierend zu vermitteln, weist Johannes Rohbeck hin: Technologische Urteilskraft, a.a.O., 24.
199
KpV, V 75.
264 D S
deren Gehalt selbst schon durchs Sittengesetz geformt ist. Dies nennt Kant „nicht patho-
logisch, sondern […] praktisch gewirkt“200 . In der Terminologie moderner Psychologie
wäre eine solche Empfindung durchaus pathologisch, eben weil sie nicht durch pathos,
Leidenschaft oder Trieb, sondern durch deren intellektuelle Verdrückung bestimmt ist.
Gerade wenn „Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl [ist], welches durch einen
intellectuellen Grund gewirkt wird, und […] das einzige, welches wir völlig a priori
erkennen, und dessen Nothwendigkeit wir einsehen können“201 , wird der Achtung ein
in diesem Sinn ‚pathologisches‘ Moment mitgeteilt. Und dieses Moment reicht bis in
die reine Vernunft selbst, denn sie begreift sich selbst als den intellektuellen Grund der
Selbstdemütigung.
Weil es Kant, aufgrund des Mangels einer systematischen Reflexion der unmora-
lischen Lebensbedingungen der Subjekte, nicht gelingt, die Subjektivität als Ganze
moralisch mit ihrem Objekt zu vermitteln, fällt diese Vermittlung anders aus: Die
Subjekte ziehen sich, wo die Objektivität ihnen nicht gemäß sein kann, auf ihre
intelligible Identität zurück und schlagen von ihr aus ihre sinnliche Verbindung zur
Objektivität nieder. Darin erweist die intelligible Identität der Subjekte sich schon als
objektiv deformiert. Was als Eigendünkel erscheint, könnte auch tätiger Protest gegen
die Zumutungen der Objektivität sein. Kants Versuche, Subjektivität mit Objektivität zu
vermitteln, sind durchweg abstrakt-negativ. Die Triebfeder der Achtung führt dazu, daß
die Subjekte in der Regel eben nicht handeln, sondern, den eigenen Zwecken entsagend,
dem Weltlauf parieren; die eigenen Interessen werden reduziert auf „ein reines
sinnenfreies Interesse“202 . Kritik daran stellt nicht den Vorrang vernünftig begründbarer
allgemeiner Interessen gegenüber Privatvorlieben in Frage, wohl aber den Vorrang
sinnenfreier Interessen der reinen Vernunft vor sachhaltigen der vernunftbegabten
Lebewesen, die doch auch als solche allgemeiner Vorstellungen fähig sind. Wenn
Kant den moralischen Zustand, der Menschen möglich ist, „Tugend, d. i. moralische
Gesinnung im Kampfe“203 nennt, ist damit nicht der Kampf gegen unmoralische Be-
dingungen des Handelns gemeint, sondern der Kampf des intelligiblen Subjekts gegen
sich selbst als sinnliches. Diesem Kampf und seiner Triebfeder, der Achtung, entspricht
die Selbstzufriedenheit des gleichwohl unglückseligen moralischen Subjekts,204 das
sich als Urheber seiner Unglückseligkeit wähnt, weil es die Heteronomie sich selbst
zuzuschreiben erlernt hat und so noch in der Entsagung groß aufgeht.
Das Zwangshafte dieses Charakters entwickelt Kant beiläufig selbst. Die Achtung ent-
springt einem „Bedürfniß, irgend wodurch zur Thätigkeit angetrieben zu werden“205 ,
200
KpV, V 75.
201
KpV, V 73.
202
KpV, V 79.
203
KpV, V 84.
204
Vgl. KpV, V 118. Kant versteht es, dies positiv umzuwenden: „Junger Mensch! (ich wiederhole
es) gewinne die Arbeit lieb; versage dir Vergnügen, nicht um ihnen zu entsagen, sondern so viel
als möglich immer nur im Prospect zu behalten! Stumpfe die Empfänglichkeit für dieselbe nicht
durch Genuß frühzeitig ab! Die Reife des Alters, welche die Entbehrung eines jeden physischen
Genusses nie bedauren läßt, wird selbst in dieser Aufopferung dir ein Capital von Zufriedenheit
zusichern, welches vom Zufall oder dem Naturgesetz unabhängig ist“ (Anthropologie, VII 237).
205
KpV, V 79.
Z S A 265
man kann sich ihrer nicht erwehren,206 doch steht sie in Wechselverhältnis mit Neid
und Mißgunst, durch die das Subjekt zwanghaft sich gegen sie zu wehren versucht.
Schließlich produziert sie, hat man diesen Zwangscharakter erst überwunden, blanken
Narzißmus, da „man sich wiederum an der Herrlichkeit dieses Gesetzes nicht satt se-
hen kann, und die Seele sich in dem Maße selbst zu erheben glaubt, als sie das heilige
Gesetz über sich und ihre gebrechliche Natur erhaben sieht“207 , zumal sich eine Reihen-
folge von Willensbestimmung und Hochgefühl nur analytisch behaupten läßt.208 Noch
diese Erhebung aber ist mit ständiger „Furcht“209 verbunden.
Zwar ist mit den billig gewordenen Begriffen der Psychopathologie grundsätzlich
größte Vorsicht geboten, hier jedoch liegen sie nahe, denn ein derartiger „Einfluß einer
blos intellectuellen Idee aufs Gefühl [ist] für speculative Vernunft unergründlich“210 und
damit Gegenstand der Psychologie, ob diese ihm nun gerecht wird oder nicht. „Die Ehr-
würdigkeit der Pflicht hat nichts mit Lebensgenuß zu schaffen; […] und wenn man auch
beide noch so sehr zusammenschütteln wollte, um sie vermischt gleichsam als Arzenei-
mittel der kranken Seele zuzureichen“211 . Die Rationalisierung der irrationalen Dialektik
von Demütigung und Erhebung, deren verständigen Grund Kant nicht im heteronomen
Zwang, sondern in den ‚Tiefen der menschlichen Seele‘ wähnt, ist daher unausweichlich
und nimmt so selbst schon manische Züge an, indem Kant diesen im Grunde schlichten
Gedanken seitenweise fast variationslos repetiert, um ihn immer pedantischer zu fassen:
„Es ist von der größten Wichtigkeit in allen moralischen Beurtheilungen auf das sub-
jective Princip aller Maximen mit der äußersten Genauigkeit Acht zu haben, damit alle
Moralität der Handlungen in der Nothwendigkeit derselben aus Pflicht und aus Achtung
fürs Gesetz, nicht aus Liebe und Zuneigung zu dem, was die Handlungen hervorbrin-
gen sollen, gesetzt werde.“212 Zwar sei es „sehr schön, […] aus Liebe zur Ordnung
gerecht zu sein, aber das ist noch nicht die ächte moralische Maxime unsers Verhal-
tens“213 , denn die Vorstellung von Moralität ohne inneren Kampf der Subjekte gegen
sich selbst wäre die Vorstellung der den Menschen nicht möglichen Moralität Gottes. –
Das Ideal einer ‚Ordnung‘, die allenfalls zu lieben wäre, weil sie diesen Kampf erübrig-
te, wird für Kant zur Blasphemie. Dahinter aber ist noch ein profanes Argument gelegen:
Die Variante, daß kein Gebot sinnvoll ergehen könne, etwas gerne tun zu sollen, wohl
aber eines, hiernach zu streben, verweist – bei aller Plausibilität – auf den geschicht-
lichen Antagonismus, denn eine wie immer mögliche Ordnung, in der die Menschen
nicht zwangsläufig im Kampf gegen sich selbst stünden, wäre ohne Antagonismus und
führte deshalb in Kants Vorstellung zum zivilisatorischen Stillstand. Dadurch ergreift
die zur Naturgeschichte stilisierte Herrschaft auch den Moralbegriff. Noch in der mora-
206
Vgl. KpV, V 77.
207
KpV, V 77.
208
Vgl. KpV, V 116f.
209
KpV, V 82.
210
KpV, V 80.
211
KpV, V 89.
212
KpV, V 81f.
213
KpV, V 82.
266 D S
lischen Ordnung eines „Reichs der Sitten“ sind die gesetzgebenden, befreiten Subjekte
„Unterthanen, nicht das Oberhaupt desselben“214 .
Die Moralsubjekte erwiesen sich der Analytik ihrer Freiheit zufolge als zerrissen im
inneren Kampf ihres intelligiblen Wesens gegen die Ansprüche ihrer sinnlichen Erschei-
nung, ohne die jenes Wesen doch nicht wäre. Die Vermittlung beider Seiten gelang allein
abstrakt-negativ, durch Unterordnung der Sinnlichkeit unter den Intellekt. So aber ge-
riet es außer Sichtweite, wie die intelligible Willensbestimmung zur Handlung werden
könnte, erkenntnistheoretisch wie praktisch. In jenem Kampf aber ist das vernunftbegab-
te Sinnenwesen wesentlich, es strebt, solange es lebt, aber das Objekt des Strebens bleibt
ihm immer unangemessen; der Prozeß, als den Kant Moralität denkt, bleibt haltlos, weil
er nichts außer sich hat.
Nachzuweisen bleibt noch immer die Möglichkeit, die intelligible moralische
Selbstbestimmung tätig zu realisieren, Moral in einer Handlung zu objektivieren.
Dieser Übergang kann im Unterschied zur Moral selbst ‚Moralprozeß‘ genannt werden.
Seine Bestimmung kann nicht Gegenstand einer allgemeinen Handlungstheorie sein,
weil diese immer schon sozusagen nach dem Handeln einsetzt, um dieses theoretisch
darzustellen. Einer kritischen Moralphilosophie geht es aber noch um die Möglichkeit,
moralisch zu handeln, also zwar aus der Kantischen Inklusion von Moral herauszukom-
men, aber ohne den unverkürzten Anspruch auf Realisierung von Moral preiszugeben.
Deshalb ist an der Kritik der Kantischen Konzeption eng festzuhalten; die Gründe ihrer
Aporien öffnen den Ausblick, weil sie stärker als irgendeine andere Morallehre an der
Autonomie der Subjekte sich orientiert.215
Für Kant nun fällt die Bedingung der Möglichkeit des moralischen Prozesses, an des-
sen Beginn nur das Subjekt steht, in eine Dialektik der reinen praktischen Vernunft, in
der diese über ihre natürliche Begrenztheit hinaus auf Vollendung in einem höchsten
Gut schließen kann. Die Vorstellung dieses höchsten Guts, die es ermöglichen soll, den
Moralprozeß der endlichen Subjekte zu denken, transzendiert jedoch die Sterblichkeit.
Es liegt so außer der Reichweite empirischer Subjekte.216
214
KpV, V 82.
215
Kant entdeckt Freiheit, Spontaneität und Autonomie als „die letzte Angel […], auf der der Mensch
sich dreht, die […] letzte Spitze, die sich durch nichts imponieren läßt“ (G. W. F. Hegel, Vorle-
sungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., 367). Birgit Recki nennt Kants Ethik in allen
Aspekten „eine Ethik der Autonomie“ (Zur Wende zum Subjekt: Kant und die Aufklärung, in: Die
Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt, a.a.O., 29; vgl. 55). – Genauer ist es die syste-
matische Stellung des Autonomiebegriffs, durch die Moral von Ethik unterschieden werden kann.
Vgl. Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, a.a.O., 163:
„Denn der Mensch kann mit Vernunft nicht nur äußeres Material zu seinen Zwecken bestimmen,
sondern aus Vernunft auch sich selbst nach dem Zweck seiner Vernunft bestimmen. Dasjenige, was
die Vernunft für sich selbst sagt, ist der kategorische Imperativ, das moralische Gesetz, welches
nach Kant allgemein und unbedingt, also unabhängig von kulturellen Veränderungen, Geltung für
jedes vernünftige Wesen beanspruchen muss. Wird Vernunft nur im Hinblick auf ihr technisch-
praktisches Vermögen als natürliches Instrument analog zum tierischen Instinkt verstanden, dann
erscheint Moral folgerichtig als ein veränderlicher Normenkatalog“.
216
Vgl. Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, a.a.O., 39: „Insofern gibt die Moral
die Regeln der Verhältnisse des Leibes unter Abstraktion von dem Leib.“
S D V 267
217
Giovanni B. Sala, Kants ‚Kritik der praktischen Vernunft‘. Ein Kommentar, Darmstadt 2004, 238f.,
weist darauf hin, daß die Dialektik der praktischen Vernunft nicht sachlich erzwungen sei. Die
Diskussion wurde angestoßen bereits durch Lewis White Beck, A Commentary on Kant’s Critique
of Practical Reason, Chicago 1961. – Allerdings ist zu zeigen, daß die Dialektik doch mehr ist als
eine bloß äußerliche Analogie zur Kritik der reinen Vernunft.
218
Vgl. KpV, V 107.
219
KpV, V 112f.
220
KpV, V 91.
221
KpV, V 110.
268 D S
222
KpV, V 108.
223
KpV, V 124.
224
KpV, V 124.
225
Genauer führt Kant aus: „Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen, (sowohl
extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer
nach).“ (KrV, B 834) Diesen Zustand hat Kant andernorts – wohl nicht ganz zu Unrecht – mit
dem Tod identifiziert (vgl. Anthropologie, VII 230ff. (§§ 60f.)). Kant freilich stellt eine so starke
affirmative Bindung von Zufriedenheit und Tod her, daß er ‚dem Karaiben‘, für den es gleichgültig
sei, ob er beim Angeln erfolgreich ist oder nicht, eine „angeborne Leblosigkeit“ unterstellt (VII
233 Anm.).
226
KpV, V 124.
227
Vgl. KpV, V 124.
228
KpV, V 113.
S D V 269
tingenz die positive theoretische Darstellbarkeit von Freiheit auf. Dieser Kontingenz nun
theoretisch beizukommen, soll die Dialektik der reinen praktischen Vernunft dienen.
Mit dem Begriff des höchsten Gutes erreicht Kant den, neben dem Begriff der Au-
tonomie – der den der Würde und den des Reichs der Zwecke einschließt –, zweiten
erhabenen Punkt seiner praktischen Philosophie. Hier führt die ‚Erinnerung‘, daß das
höchste Gut der Gegenstand aber nicht der Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft
sei,229 nicht zu einer bloßen Wiederholung des Chorismos von intelligiblem und phy-
sischem Subjekt, sondern zu einer durchaus spekulativen Idee moralischer Praxis: „Es
versteht sich aber von selbst, daß, wenn im Begriffe des höchsten Guts das moralische
Gesetz als oberste Bedingung schon mit eingeschlossen ist, alsdann das höchste Gut
nicht blos Object, sondern auch sein Begriff und die Vorstellung der durch unsere prakti-
sche Vernunft möglichen Existenz desselben zugleich der Bestimmungsgrund des reinen
Willens sei“230 . Danach wäre das höchste Gut der sachhaltige Begriff der moralischen
Organisation der gegenständlichen Lebensbedingungen vernunftbegabter Sinnenwesen,
der sachhaltige Begriff der Verknüpfung des Allgemeinen mit dem Individuellen unter
der Maßgabe des von allen Individuen vernünftig einsehbaren Allgemeinen, weil Tugend
„noch nicht das ganze und vollendete Gut, als Gegenstand des Begehrungsvermögens
vernünftiger endlicher Wesen [ist]; denn um das zu sein, wird auch Glückseligkeit da-
zu erfordert“231 , so daß „das eine durch reine praktische Vernunft nicht angenommen
werden kann, ohne daß das andere auch zu ihm gehöre“232 .
Dennoch werden die Momente Vernunft und Sinnlichkeit, Sittlichkeit und Glückse-
ligkeit in hierarchischer Anordnung gedacht: Sie seien, da sie nicht identisch, sondern
„specifisch ganz verschiedene Elemente des höchsten Guts sind“233 , in diesem synthe-
229
Vgl. KpV, V 109.
230
KpV, V 109f.
231
KpV, V 110.
232
KpV, V 113. In der Kritik der reinen Vernunft wird das Ideal des höchsten Gutes direkt aus
der Funktion des transzendentalen Ideals der reinen Vernunft entwickelt, so daß der Anspruch,
reine Vernunft würde für sich selbst praktisch, noch ohne scharfe Trennung von reiner und prak-
tischer Vernunft formuliert werden kann. Deutlicher wird der reinen Vernunft ein Einfluß auf
geschichtliches handeln (vgl. KrV, B 835) eine Möglichkeit der Veränderung der Sinnenwelt
gemäß moralischen Ideen (Vgl. KrV, B 836) eingeräumt. Allerdings werden moralwidrige Be-
dingungen auch hier schon als ‚Unlauterkeit der menschlichen Natur‘ gedacht. Dennoch erwägt
Kant eine moralisch geeinte Menschheit, wenngleich unter der transzendenten Metapher des cor-
pus mysticum (vgl. KrV, B 836), deren Mitglieder „Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer
dauerhafter Wohlfahrt sein würden“ (KrV, B 837). Wenn Kant jedoch von einem „obersten Wil-
len, der alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befaßt, entsprängen“ (KrV, B 838) spricht, so
liegt darin wohl weniger eine Vorstellung Gottes als die eines kollektiven Subjekts, das durch
vernünftige Organisation der Reproduktionsbedingungen diese in Einklang mit der individuellen
Subjektivität – mit deren sowohl moralischer als auch spekulativer als auch physischer Identität –
einrichtet. Dies hält die Vorstellung der Möglichkeit offen, von der moralkompatiblen Erfüllung
von Neigungen zu sprechen. Weitere politische Forderungen vermeidet Kant dadurch, daß er auch
hier als Bedingung der Unverbrüchlichkeit von Moral trotz Unvollkommenheit der Moralsubjekte
die Geltung subjektiviert und Gott, Unsterblichkeit und Teleologie als ideale Erfüllungsbedingun-
gen von Moralität ableitet.
233
KpV, V 112.
270 D S
tisch zu verbinden, und zwar nach der Kategorie Kausalität. Die Kategorie Wechselwir-
kung zieht Kant nicht in Erwägung, da eine solche die ursprüngliche Gleichzeitigkeit von
Sinnlichkeit und Verstand implizierte, wogegen Kausalität eine notwendige Folge in der
Zeit bedeutet.234 Deshalb aber ist dieser Kategorie nach nur eine hierarchische Verknüp-
fung im höchsten Gut denkbar: Moral wird als oberstes Gut (supremum originarium)
gedacht, dem die Glückseligkeit in dem vollendeten Gut (consummatum perfectissimum)
bloß folge, wobei zu beachten ist, daß sowohl das höchste Gut als auch dessen Moment
von Glückseligkeit als kausal von der Moralität abgeleitete Bestimmungen erscheinen.
So aber gerät das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit zwangsläufig antinomisch,
denn aufgrund des Chorismos beider können durch Glückseligkeit bestimmte Maximen,
da sie selbst nicht moralisch seien, keine Tugend bewirken; ebensowenig aber können
tugendhafte – also durch ein bloß intelligibles Gesetz bestimmte – Maximen den sinnli-
chen Zustand der Glückseligkeit bewirken, da dieser unter der Kausalität der Natur steht,
in der bloße Ideen nicht wirken. – Gleichwohl hält Kant an dem erhabenen Begriff des
höchsten Guts fest, von dem nun das Sittengesetz sogar logisch abhänge: „Ist also das
höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz,
welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke
gestellt, mithin an sich falsch sein.“235 Besteht nun das höchste Gut in dem Kausalver-
hältnis von Tugend und Glückseligkeit, so ist mit der logischen Verknüpfung von Moral
und höchstem Gut auch eine solche von Moral und Glückseligkeit gesetzt, die Ursache
ist ohne ihre Wirkung nicht als Ursache vorstellbar. Hätten sie aber keine Ursache, so
wären „die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen“236 .
Das Verhältnis von Moral und Glückseligkeit, wie Kant es in der Analytik darstell-
te,237 kann nicht aufrechterhalten werden. Dort hieß es zwar: „Glücklich zu sein, ist
nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein un-
vermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens.“238 Ebenso aber hieß
es, sinnliche Bestimmungsgründe blieben immer subjektiv-zufällig, stünden mithin quer
zur Moral, selbst wenn alle endlichen vernünftigen Wesen bezüglich ihrer Empfindung
„durchgehends einerlei“ dächten239 . Das höchste Gut hingegen konstruiert gerade jene
‚Einerleiheit‘ als widerspruchsfrei mit dem Sittengesetz zu vereinbarende Organisation
der Bedingungen der Sinnlichkeit. Kants Argument, dies sei eine synthetische Verbin-
dung, die in der Analytik nicht zu thematisieren gewesen sei, verwandelt die Antinomie
in ein self fulfilling prophecy: Die analytische Trennung von Intelligibilität und Sinnlich-
keit bringt einen intelligiblen Moralbegriff hervor, dessen nachträgliche Assoziation mit
der Sinnlichkeit nur kausal – und damit antinomisch – gedacht werden kann.
234
Wechselwirkung ist bei Kant „alle äußere Wirkung in der Welt“ (MAN, IV 544); dies trifft auf
das Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit nicht zu, weil zwar Intelligibles kausal auf Em-
pirisches wirken könne (wie in der Dritten Antinomie), aber nicht umgekehrt.
235
KpV, V 114.
236
KrV, B 839.
237
Vgl. KpV, § 3, Anm. II.
238
KpV, V 25.
239
KpV, V 26.
S D V 271
Kant zufolge ist es „[m]it der vorliegenden Antinomie der reinen praktischen Vernunft
[…] eben so bewandt“240 wie mit der Dritten Antinomie der reinen Vernunft. Die The-
se, aus glückseligkeitsbestimmten Maximen könne Tugend folgen, sei falsch, und zwar
„schlechterdings falsch“241 . Tatsächlich ist schon hierdurch die vorliegende Antinomie
von jener der spekulativen Vernunft strikt unterschieden, denn deren These und Antithe-
se sollen beide zugleich wahr sein. Hier hingegen bezieht sich alle weitere Erörterung
auf die Antithese, derzufolge Tugend Glückseligkeit nach sich ziehe, was doch unter em-
pirischen Bedingungen nicht begründbar ist. – Überhaupt handelt es sich hier nicht um
eine Antinomie, sondern um eine aporetische Behauptung, der Kant gegen ihren An-
schein Plausibilität verschaffen will. Ihre Einkleidung in die Form einer Antinomie soll
sie als notwendiges dialektisches Problem reiner praktischer Vernunft ausweisen, wo sie
doch bloß die Folge einer Ungereimtheit von deren Analytik ist. Diejenige Antinomie, in
die praktische Vernunft tatsächlich und zwangsläufig gerät, hatte Kant bereits dort, in der
Analytik, erledigt: Es war die der notwendigen Verknüpfung von Autonomie und Hete-
ronomie in der Bestimmung freier aber endlicher Willen, die durch die Zuordnung der
Freiheit zur intelligiblen Verstandeswelt, der Heteronomie aber zur Endlichkeit, gelöst
werden sollte. – Dieser Dichotomie bedient Kant sich nun erneut, um der Möglichkeit
des Zusammenhangs von Sittlichkeit und Glückseligkeit „als Wirkung in der Sinnen-
welt“242 eine erstaunliche Wendung zu geben. Diese Möglichkeit wird nämlich eröffnet
durch die Befugnis jedes Subjekts, sich sein „Dasein auch als Noumenon in einer Ver-
standeswelt zu denken“243 , so daß seine Kausalität in der Verstandeswelt ‚notwendig‘
auf die Sinnenwelt wirke, „welche Verbindung in einer Natur, die blos Object der Sinne
ist, niemals anders als zufällig stattfinden“244 kann. Kant konstruiert hier eine Sinnen-
welt, die sich im Unterschied zu der, die Objekt der Sinne ist, in Übereinstimmung mit
der Verstandeswelt befindet. Diese eigentümlich intelligible Sinnenwelt setzt hier bereits
einen „intelligiblen Urheber[] der Natur“245 voraus, durch den gewährleistet ist, daß die
Natur zumindest Menschen guten Willens keinen absoluten Widerstand entgegensetzt,
also nicht ‚bloß‘ Objekt der Sinne ist.
Die gleichsam durch prästabilierte Harmonie ermöglichte Koordination von Sittlich-
keit und Sinnenwelt nimmt nun aber noch eine Wendung: Sie kann sich nicht mehr
gegen unvernünftige Gestaltungen der Welt richten. Der Konflikt mit der Sinnlichkeit ist
soweit intelligibilisiert, daß es befremdlich erscheint, daß „gleichwohl die Philosophen
alter sowohl als neuer Zeiten die Glückseligkeit mit der Tugend in ganz geziemender
Proportion schon in diesem Leben (in der Sinnenwelt) haben finden“246 wollen. Gleich-
wohl sei das Bewußtsein der eigenen Tugend notwendig von einem gleichsam endlichen
„Analogon der Glückseligkeit“247 begleitet, nämlich der Selbstzufriedenheit als negati-
240
KpV, V 114.
241
KpV, V 114.
242
KpV, V 115.
243
KpV, V 114.
244
KpV, V 115.
245
KpV, V 115.
246
KpV, V 115.
247
KpV, V 117.
272 D S
vem Wohlgefallen. Dessen Negativität nun besteht darin, den theoretischen Chorismos
von Sittlichkeit und Sinnlichkeit tätig zu exekutieren: als „Unabhängigkeit von Neigun-
gen, wenigstens als bestimmenden (wenn gleich nicht als afficirenden) Bewegursachen
unseres Begehrens“248 . Das von Neigungen affizierte Subjekt braucht nur deren Erfül-
lung zu widerstehen, um aus reiner praktischer Vernunft ein endliches Analogon der
‚Glückseligkeit als Wirkung in der (intelligiblen) Sinnenwelt‘ hervorzubringen. Die dar-
auf folgende ‚Zufriedenheit‘ beruht „auf keinem besonderen Gefühle“249 ; sie ist die
Zufriedenheit des Intellekts, der gelernt hat, jedes lebendige Verhältnis zum Leib nö-
tigenfalls aufzugeben: Ihm sind dann seine Neigungen „jederzeit lästig“250 , – sich selbst
zum Wohlgefallen, denjenigen aber zum Hohn, die unter der Last der Neigungen, deren
Stillung ihnen grundlos versagt wird, zerbrechen und sich darin noch, daß sie der Last
nicht standhielten, für „nichtswürdige, verworfene Menschen erscheinen“251 müßten.
Beide dieser Charaktere sind Opfer der Beschädigung durch unmoralische objektive
Bedingungen ihrer Lebensgestaltung. Die Harmonisierung des Verhältnisses von Sitt-
lichkeit und Neigungen durch deren einfache Abstraktion erweise sich nicht bloß als
Analogon der Glückseligkeit, sondern auch als sicherer Weg zum höchsten Gut. Dessen
„Bewirkung […] in der Welt ist das nothwendige Object eines durchs moralische Gesetz
bestimmbaren Willens“252 . Indem Kant das höchste Gut nunmehr als Kongruenz von
Gesinnung und Gesetz bestimmt, ist von der anfänglichen Vorstellung der allgemeinen
moralischen Organisation der Welt nichts mehr übrig geblieben; sie ist einer Partiku-
larisierung der Idee des höchsten Guts gewichen, und zwar durch die Verkleidung der
Aporie des Moralbegriffs in eine Antinomie der reinen praktischen Vernunft, die aus
dem Mißverhältnis von Sittlichkeit und Neigungen, das dem Moralbegriff mitfolgte, sich
allein durch die Möglichkeit tätiger Abstraktion der Neigungen retten konnte.253 – War
die Amoralität der Sinnenwelt allein in der Natur des Subjekts begründet, so mußte es
sich als intelligibles über seine Natur erheben, anstatt Moralität in der Welt zu verwirk-
lichen. Der Schwierigkeit dieser Verwirklichung ist deshalb jedes individuelle Subjekt
grundsätzlich allein konfrontiert.254
248
KpV, V 117.
249
KpV, V 117.
250
KpV, V 118, meine Kursivierung.
251
KpV, V 152. Kants Kritik an den Stoikern, daß sie „das zweite Element des höchsten Guts, eigene
Glückseligkeit, wegließen […] [obwohl] sie aber durch die Stimme ihrer eigenen Natur hinrei-
chend hätten widerlegt werden können“ (KpV, V 127), ist keine Einschränkung dieses negativen
Verhältnisses zur Sinnlichkeit, sondern dessen konsequente Steigerung: Nicht die Beschränkung
des Weisen auf Sittlichkeit und seine Abkehr von der Sinnlichkeit rügt Kant, sondern die Illusion,
daß dies zu Lebzeiten schon mit einem Status von Heiligkeit verbunden sein könne. Die ‚Stimme
der Natur‘ steht nämlich nicht fürs legitime Bedürfnis, sondern für den „continuirlichen Hang[] zur
Übertretung“ (KpV, V 127), den die Stoiker hochmütig ignorierten. Für Kant aber ist Sittlichkeit
eben nicht Heroismus, sondern moralisches Bewußtsein im endlosen entbehrungsreichen Kampf
mit der Sinnlichkeit.
252
KpV, V 122.
253
Das aporetische Verhältnis des Moralbegriffs zu den Bedingungen des Handelns bemerkt Nathan
Rotenstreich, Theory and Practice in Kant and Hegel, a.a.O.
254
Das gilt prinzipiell auch noch für die Religionsschrift, obwohl dort der Begriff eines ethischen
Gemeinwesens entwickelt wird.
S D V 273
Das endliche Subjekt kann aber jene Kongruenz von Gesinnung und Gesetz nicht
vollständig hervorbringen, sofern diese Vollständigkeit Unfehlbarkeit, Heiligkeit wäre.
Da sie dennoch Bedingung der Möglichkeit moralischen Handelns überhaupt ist, inso-
fern dies sonst ziellos wäre, muß jeder stets soviel Sittlichkeit verwirklichen als es in
seiner Kraft steht. Diese Bemühung stehe insofern unter der Bestimmung der Vollstän-
digkeit als sie als der Progreß einer unendlichen Annäherung an die Heiligkeit vorgestellt
werde. Dieser Progreß ist allein unter der Bedingung ewigen Lebens vorstellbar, so daß
aus dem Moralbegriff selbst die Unsterblichkeit der Seele als Postulat abzuleiten sei.
Die Möglichkeit, den sukzessiven Fortschritt zum höchsten Gut als Gattungsvermögen
zu interpretieren, als akkumulative moralisch gestaltete Naturbeherrschung, hat Kant
sich durch die einseitige Individualisierung der Moralität, schon durch deren Choris-
mos vom Sinnlichen, abgeschnitten. Damit hängt Kants Begriff von Moral letztlich an
theoretischen Problemen, deren Übergang in Praxis, die geschichtlich sein müßte, nicht
abzusehen ist.255 Der Progreß der unsterblichen Einzelseele ist das skurrile Surrogat von
Moralität, in dessen Brüchen die zugrundeliegenden Aporien neu erscheinen: Wenn die
Sittlichkeit der Gesinnung im Kampf gegen die Heteronomie der Sinne besteht, ist nicht
zu sehen, wie dieser Kampf nach dem leiblichen Tode fortgeführt werden könnte, wenn
das Subjekt nicht zu einer Art moralischen Wiedergängers werden soll.256 Welche Maxi-
men wären im ewigen Leben, also außerhalb von Zeitbedingungen, zu fassen? Oder ist
die an sich heilige Seele mit der unaustilgbaren Schuld vielleicht nur einer einzigen Ver-
fehlung aus dem irdischen Dasein behaftet und kann daher durch unendlich währende
Heiligkeit dem Ideal doch nur sich annähern? Gleichviel, zum Ziel, zum höchsten Gut,
gelangt sie ohnehin nie, denn als unendliche Annäherung erreicht sie per definitionem
kein Ende. Die Vollständigkeit der immer endlichen unendlichen Bewegung erscheint
nur sub specie aeternitatis: Gott allein könne im Nu intellektueller Anschauung die un-
endliche Reihe als endlichen Ausdruck der Sittlichkeit eines Subjekts fassen.257
255
In der Logik bezeichnet Kant die Postulate der praktischen Vernunft deshalb ausdrücklich als
„theoretische Postulate […] zum Behuf der praktischen Vernunft“ (IX § 38).
256
Vgl. Religion, VI 129 Anm.: „Unter der letztern Voraussetzung (der des Spiritualismus) aber
kann die Vernunft weder ein Interesse dabei finden, einen Körper, der, so geläutert er auch sein
mag, doch (wenn die Persönlichkeit auf der Identität desselben beruht) immer aus demselben
Stoffe, der die Basis seiner Organisation ausmacht, bestehen muß, und den er selbst im Leben
nie recht lieb gewonnen hat, in Ewigkeit mit zu schleppen, noch kann sie es sich begreiflich
machen, was diese Kalkerde, woraus er besteht, im Himmel, d. i. in einer andern Weltgegend soll,
wo vermuthlich andere Materien die Bedingung des Daseins und der Erhaltung lebender Wesen
ausmachen möchten.“
257
Vgl. KpV, V 123. Zwar hat Kant die Postulate der praktischen Vernunft, von denen noch weiter
zu handeln sein wird, als regulative Ideen verstanden; gleichwohl sind sie auch in ihren theologi-
schen und religiösen Gehalten ernst zu nehmen, wenn deutlich werden soll, auf welche sachlichen
Voraussetzungen Kants Moralbegriff reagiert und welche er inhaltlich selbst machen muß. Es hat
sich durchgesetzt, Kants praktische Philosophie vor allem in ihrer Säkularisierungsleistung her-
vorzuheben. In diesem Licht erscheinen aber die theologischen und religiösen Gehalte, die es ja
gibt, nur mehr als zu vernachlässigende, funktionslos gewordene Atavismen oder als pragmatische
Zugeständnisse ans Publikum. Beides stünde philosophischen Arbeiten von solcher begrifflicher
Stringenz kaum an.
274 D S
Die unendliche Annäherung ergab sich als Bedingung der Möglichkeit, Moralität zu
denken; nun ergibt sich als deren Bedingung wiederum das Postulat der Existenz Gottes
als Richter, denn die Vorstellung, daß wenigstens dieser die unendliche Fruchtlosigkeit
als ewige Frucht anzuschauen vermag, wird zur letzten Stütze des Moralbegriffs, dem
praktische Realität für die „Geschöpfe allein in Ansehung der Hoffnung dieses Anteils
[am höchsten Gut] zukommen kann“258 . Diese Hoffnung ist die auf Rechtfertigung, die
nie aus dem Subjekt selbst begründet werden kann,259 sondern allein aus göttlicher Gna-
de. Dies – Freiheit durch Gnade – ist allerdings dann kein Widerspruch, wenn man die
‚Zeitbedingung‘ in der Moralphilosophie fallen läßt.260 Später indes hat Kant hierin den
salto mortale der Vernunft gesehen, wenngleich sein Versuch, dem Verhältnis von Mo-
ral und Religion einen politischen Gehalt unterzulegen, aporetisch blieb.261 Allerdings
ist das Gnadenurteil, da Gott ewig ist, schon je gefällt, wird aber für das im unendlichen
– nicht ewigen – Prozeß befindliche Subjekt nie gesprochen.262 Dessen moralisches Ziel
existiert also nur in der eigenen Vorstellung, und das Subjekt, das dieser Illusion folgen
soll, kann wissen, daß es eine Illusion ist.
Die Heteronomie, zufälligen Einflüssen – der kontingenten Gnade einer herrschaftlich
verfügten Sinnenwelt – ausgeliefert zu sein, die Kant durch abstrakt-negative Intelligi-
bilisierung des Sittengesetzes zu beheben suchte, treibt in intelligibler Gestalt zwangs-
läufig aus diesem wieder hervor. Der konsequente moralische Gedanke läßt sich um
258
KpV, V 123. Ähnlich wird argumentiert in der Enzyklika SPE SALVI von Papst Benedikt XVI. an
die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die gottgeweihten Personen und an alle Christgläu-
bigen über die christliche Hoffnung. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 179 (verkündet
am 30. 11. 2007; www.kath.net/SPE_SALVI.pdf): „Ich bin überzeugt, daß die Frage der Gerech-
tigkeit das eigentliche, jedenfalls das stärkste Argument für den Glauben an das ewige Leben ist.
Das bloß individuelle Bedürfnis nach einer Erfüllung, die uns in diesem Leben versagt ist, nach
der Unsterblichkeit der Liebe, auf die wir warten, ist gewiß ein wichtiger Grund zu glauben, daß
der Mensch auf Ewigkeit hin angelegt ist, aber nur im Verein mit der Unmöglichkeit, daß das
Unrecht der Geschichte das letzte Wort sei, wird die Notwendigkeit des wiederkehrenden Christus
und des neuen Lebens vollends einsichtig.“ – Das Unrecht bleibt das letzte Wort, wenn es nicht
gelingt, gerade die Bedürfnisse der Einzelnen in ein vor ihnen und von ihnen zu vertretendes Ver-
hältnis zu bringen. Die Einsicht in die Unwiderruflichkeit vergangenen Unrechts ist hierfür eine
notwendige Bedingung.
259
Vgl. KpV, V 123 Anm. Hier hat Rüdiger Bubner das Einbekenntnis des praktischen Scheiterns
der Transzendentalphilosophie gesehen, indem „Kant […] etwas unterstellen muß, das der prakti-
schen Philosophie fern liegt“ (Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, a.a.O., 187). Tatsächlich
unterstellt Kant ja, daß jedes moralische Subjekt diese Unterstellung selbst machen muß, um ein
identisches Bewußtsein von sich selbst haben zu können. Liegt diese Unterstellung der prakti-
schen Philosophie wirklich fern, so ist das Selbstbewußtsein der Subjekte, die zu ihr systematisch
genötigt sind, zerrüttet.
260
Vgl. MdS RL, VI § 28 Anm.
261
Vgl. Religion, VI 121.
262
Zur Kritik der Postulatenlehre vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 326ff. Als Resultat
hält Hegel fest: „Die Antinomie der moralischen Weltanschauung, daß es ein moralisches Bewußt-
sein gibt, und daß es keines gibt, – oder daß das Gelten der Pflicht ein Jenseits des Bewußtseins ist,
und umgekehrt nur in ihm statt findet, war in der Vorstellung zusammengefaßt worden, worin das
nichtmoralische Bewußtsein für moralisch gelte, sein zufälliges Wissen und Wollen für vollwichtig
angenommen, und die Glückseligkeit ihm aus Gnade zuteil werde“ (341f.).
S D V 275
die Reflexion auf Herrschaft nicht verkürzen, solange Herrschaft Autonomie bindet.
Kant zufolge ist aber Gott als „Princip der Moral“ keine Heteronomie, „sondern Au-
tonomie der reinen praktischen Vernunft für sich selbst“, denn nicht Gotteserkenntnis
sei der Geltungsgrund moralischer Gesinnung, sondern eben praktische Vernunft. Gott
sei nicht der Moral notwendig vorauszusetzen, sondern „nur [jedoch immerhin!; M.St.]
der Gelangung zum höchsten Gute“263 . Indem dieses höchste Gut aber Bedingung der
Möglichkeit der Objektivität des Moralgesetzes sei, muß sich doch jeder, der Moral und
höchstes Gut ohne Gott denken wollte, von Kant sagen lassen, dies sei „phantastisch
und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch“264 , beziehungsweise
ein „Hirngespinst“265 . Autonomie durch Unterwerfung wird auch als ‚einstimmende Un-
terwerfung‘266 kein Akt rationaler Einsicht, sondern bleibt eben ‚Unterwerfung‘.
Gott sei nun aber nicht bloß als Richter, sondern auch als Gesetzgeber und Regent
der Weltordnung zu postulieren, weil die Unsterblichkeit der Seele wohl die Möglichkeit
vollkommener Sittlichkeit, nicht aber die vollkommener Glückseligkeit begründen kön-
ne. Deren Figuration in der Sittlichkeit war bloß negativ-abstraktiv. Der Argumentation
Kants zum zweiten Postulat ist kaum anzumerken, ob das Beweisziel noch die Mög-
lichkeit von Glückseligkeit oder schon die Existenz Gottes selbst ist. Glückseligkeit faßt
Kant nicht als kollektive Organisation gemeinschaftlicher Wohlfahrt unter moralischen
Bedingungen,267 sondern er denkt sie nach dem metaphysischen Begriff der Vollkom-
menheit als vollständige Übereinstimmung von Natur und Freiheit: Die Natur müsse den
menschlichen Zwecken und deren moralischen Gründen vollständig kompatibel sein. Da
diese Gründe aber in der Analytik bereits von der Natur strikt getrennt worden sind,
müßte der Mensch nun „Ursache der Welt und der Natur selbst“268 sein, um autonomer
Urheber von Glückseligkeit sein zu können. Es genügt nicht, daß er vernünftiger Urhe-
ber einer zweiten Natur würde, mit deren Naturhaftigkeit er als Sinnenwesen zugleich
wirksam verbunden wäre, weil diese Mittelbarkeit des Verhältnisses von Freiheit und
Natur nach Kants Konzeption Freiheit schon als ganze aussetzt. Zudem wäre die Vor-
aussetzung moralischer Naturgestaltung immer noch die Kompatibilität der Natur mit
den freien Zwecken, deren Möglichkeit Kant durchaus einräumt, wenngleich als bloß
zufällige.269
Obwohl Kants theologische Lösung bloß auf einem sublimierten Bedürfnis – der
Hoffnung auf Gnade – beruht, gibt er ihr den Vorzug vor der praktischen ermittlung
von Moral und Sinnlichkeit, mit dem Argument, sie sei „zur moralischen (gebotenen)
Absicht zuträglich[] […], selbst aus der moralischen Gesinnung entsprungen“270 . Kant
nimmt für die Vernunft selbst ein sie nötigendes Bedürfnis an, „aller Möglichkeit das
263
KpV, V 129.
264
KpV, V 114.
265
KrV, B 839.
266
Vgl. KpV, V 132.
267
Vgl. KrV. B 838.
268
KpV, V 124.
269
Vgl. KpV, V 145.
270
KpV, V 146.
276 D S
Dasein eines allerrealsten (höchsten) Wesens zum Grunde zu legen“271 . Dieses Bedürf-
nis wirke keine Einsicht, aber ein Fürwahrhalten, das „dem Grade nach keinem Wissen
nachsteht, ob es gleich der Art nach davon völlig unterschieden ist“272 . Nun kann weder
spezifisch Verschiedenes graduell verglichen werden, noch wäre Wissen, das notwen-
dig und allgemein gültig ist, überhaupt graduell bestimmt. Kant liegt aber daran, das
Bedürfnis der Vernunft erkenntnistheoretisch in der Architektonik der Vernunft zu be-
gründen, die in der Negativität ihrer Objektivität eines Haltepunktes bedürfe, um „sich
von der Zufälligkeit der Existenz der Dinge in der Welt, […] von der Zweckmäßigkeit
und Ordnung […] [einen; M.St.] befriedigenden Grund angeben“273 zu können. Freilich
„müssen wir das, was nur abgenötigte Voraussetzung ist, nicht für freie Einsicht aus-
geben“274 . Daraus resultiert, dem Ausgangsproblem entsprechend, aber kein negativer
Begriff, sondern eine zwar regulative aber doch positive Vorstellung von Gott. Nicht
seine Idee sondern sein Dasein anzunehmen, folge notwendigerweise aus dem Bedürf-
nis der Vernunft, überhaupt Dinge, deren relative Bestimmungen allesamt negativ seien,
positiv als möglich anzunehmen.
Diese Absicherung der Möglichkeit, von Bestimmtem zu reden, stellt aber zugleich
alles Bestimmungsvermögen unter eine Ordnung, die ihm so unverfügbar ist, wie dem
lebenden Körper seine Bedürfnisnatur. Doch differenziert Kant noch in diesem Bedürf-
nis. In theoretischer Absicht wirke es bloß bedingt: wenn man urteilen wolle. In der
Moral aber, deren Geltung Kant für alternativlos hält – noch der ‚ärgste Bösewicht‘
muß sie als Mitglied der Menschheit akzeptieren – wirke das Bedürfnis der Vernunft
unbedingt: „[W]eil wir urtheilen müssen“275 .
Moralische Urteile gehen aber als Gesetze auf Vollständigkeit, die in einem Zustand
allgemeiner Sittlichkeit zu realisieren wäre, in dem die der Naturseite der Menschen
nötige Glückseligkeit proportional zu ihrer Sittlichkeit „ausgetheilt“276 wäre. Weil die-
se Austeilung nicht durch die Sittlichkeit selbst kausal bewirkt werden könne, sei die
Realität des höchsten Guts nur zufällig. Auf diese bloße Möglichkeit sei die Notwendig-
keit moralischer Urteile aber nicht zu bauen. Deshalb sei „eine oberste Intelligenz als
höchstes unabhängiges Gut anzunehmen: zwar nicht um davon das verbindende Anse-
hen der moralischen Gesetze, oder die Triebfeder zu ihrer Beobachtung abzuleiten (denn
271
Sich im Denken orientieren, VIII 137f. Anm. Der Begriff ‚Bedürfnis‘ weicht hier von seinem üb-
lichen Gebrauch ab: „Die Vernunft fühlt nicht; sie sieht ihren Mangel ein, und wirkt durch den
Erkenntnißtrieb das Gefühl des Bedürfnisses.“ (Sich im Denken orientieren, VIII 139 Anm.) Selbst
wenn das Bedürfnis, dessen eigener Ort dann nicht mehr angegeben wird, nur eine Folge vernünf-
tiger Einsicht wäre, so ist es doch mit dieser nur durch einen Trieb vermittelbar, der offenbar
wieder in die Vernunft fällt, und weil er intellektueller Trieb ist, zur Aufwertung des Bedürfnisses
führt. Die Besonderheit dieses Bedürfnisses besteht dann darin, daß alle anderen Bedürfnisse der
Menschen zugunsten vernünftigen Verhaltens eingeschränkt, ja negiert werden sollen, gerade weil
sie die pejorative Naturmacht im Subjekt repräsentieren. Dem Vernunftbedürfnis bleibt nur die
Macht, nicht das Pejorative der bloßen Natur.
272
Sich im Denken orientieren, VIII 141.
273
Sich im Denken orientieren, VIII 138.
274
Sich im Denken orientieren, VIII 138 Anm.
275
Sich im Denken orientieren, VIII 139.
276
Sich im Denken orientieren, VIII 139.
S D V 277
sie würden keinen moralischen Werth haben, wenn ihr Bewegungsgrund von etwas an-
derem, als von dem Gesetz allein, das für sich apodiktisch gewiß ist, abgeleitet würde);
sondern nur um dem Begriffe vom höchsten Gut objective Realität zu geben, d. i. zu
verhindern, daß es zusammt der ganzen Sittlichkeit nicht bloß für ein bloßes Ideal ge-
halten werde, wenn dasjenige nirgend existirte, dessen Idee die Moralität unzertrennlich
begleitet.“277
Die der individuellen Sittlichkeit proportionale Austeilung der Glückseligkeit, die hier
den Kern des Problems ausmacht, ist die positive Umwendung der Vorstellung indivi-
dueller Moralrealisation durch Bedürfnisaufopferung: Wenn ein Mensch unter widrigen,
weil endlichen Bedingungen Glücksgüter empfangen soll, dann nur in Äquivalenz zu sei-
ner Gesinnung. Der im Konzept der ‚Aufopferung‘ gelegene Widerspruch wirkt sich hier
als fundamentaler Begründungsmangel aus. Der Berechnungsmodus der proportionalen
Austeilung mag noch von einer höheren Intelligenz erwartet werden; warum aber die
Glücksgüter proportional zur Sittlichkeit auszuteilen sind, ließe sich allenfalls durch tra-
ditionelle Gerechtigkeitskonzepte begründen, deren metaphysische Begründung Kant of-
fenbar unangesehen ihrer Aporien voraussetzt. Der naturrechtliche Gleichheitsgrundsatz
ist hier aufgrund fehlender Maßstäbe nicht verwendbar. Unsittliches Verhalten, soweit
es andere schädigt, kann positiv durch Gesetze beschränkt werden, und die Gesellschaft
kann Sorge tragen, die Bedingungen des Handelns selbst sittlich zu gestalten, um das
Konfliktpotential zu senken. Aber ein Gerechtigkeitsprinzip, das unsittliches Verhal-
ten metaphysisch als Glücksunwürdigkeit auslegt, erscheint als politisch und moralisch
sinnloses Ressentiment: Es handelt sich ja nicht um eine – ebenso problembeladene –
Straftheorie, sondern darum, daß einer das Unglück, das ihm widerfährt, verdient ha-
be, oder, wo es ihm nicht widerfährt, es doch verdient hätte. Durch solche Einstellung
wird weder der Moralbegriff noch seine objektive Realität befördert. – Die von Kant
problematisierte Negativität von Objektivität wäre in einem Erkenntnisbegriff aufzuhe-
ben, der die Menschen als an sich praktisch kollektiv vermittelte versteht, die über die
Vernunft in der Welt frei, aber eben nur gemeinsam, verfügen. Die Grenze, der Halte-
punkt der Vernunft in der Negativität, wäre in der Vernunft selbst aufzusuchen, wenn
diese als praktische Subjektivität verstanden würde, deren Reflexion immer schon die
geschichtlich-kollektive Dimension der Beziehung auf die Bedingungen des Denkens
und des Handelns einschließt, die es bewußt zu entfalten gilt. – Kants Architektonik der
Vernunft hingegen verfehlt hier ihren proklamierten Gegenstand: die Möglichkeit von
Moral. Erst die Einsicht in das Verhältnis der natürlichen Möglichkeit der Übereinstim-
mung von Natur und Freiheit einerseits zu der aus Freiheit behinderten Realisierung
dieser Möglichkeit andererseits, – die Einsicht in diesen Widerspruch erst könnte der
moralischen Absicht wahrhaft förderlich sein.
Eine vernunftgemäße Organisation der zweiten Natur beseitigte nicht die Antriebe
der ersten, sondern gestaltete bloß die Bedingungen ihrer Realisierung, schüfe also kei-
ne vollständige Übereinstimmung; nur diese wäre Kant zufolge dem Sittengesetz aber
adäquat: Wenn das Sittengesetz unabhängig von Natur gebieten solle, so könne es mit
Glückseligkeit nur harmonieren, wenn deren Naturform von der Sittlichkeit nirgends un-
terschieden sei. Ursache dieser Identität könne nun aber nur Gott sein, der als absoluter
277
Sich im Denken orientieren, VIII 139.
278 D S
Intellekt das moralische Gesetz kenne und als absoluter Wille es rein realisiere. Da das
höchste Gut nach Kant nur unter dieser Bedingung vorstellbar werde und ohne diese
Vorstellung Moral unmöglich sei, ergebe sich aus dem unbedingten Anspruch der Mo-
ral, daß „es […] moralisch nothwendig [ist], das Dasein Gottes anzunehmen“278 . Dieser
Übergriff von Moralbegründung auf das Gebiet Religion führt im Zusammenhang der
Kantischen Subjektphilosophie auf erhebliche Schwierigkeiten.279
Eigentümlich kehrt sich die Argumentation der unbedingten Geltung der Moral gegen
die Feststellung von lauter Bedingungen. Dem entspricht es, daß die Idee des höchsten
Guts, deren Möglichkeit aus der sogenannten Antinomie erschlossen worden war, in die-
sem Zusammenhang selbst als Postulat bezeichnet wird. Nur deshalb bedarf es zu seiner
Begründung eines weiteren Postulats. Damit nicht Postulate sich wechselseitig begrün-
den, identifiziert Kant beide: „Folglich ist das Postulat der Möglichkeit des höchsten
abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchs-
ten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes.“280 Wohlgemerkt sei Gott auch
hier nicht der Grund der moralischen Verbindlichkeit selbst, sondern nur der Möglich-
keit, diese Verbindlichkeit konsistent zu denken. Alle Pflichten seien daher als Gebote
Gottes zu denken, jedoch nicht um ihrer positiven Geltung, sondern um der Möglichkeit
ihrer Verbindung mit dem höchsten Gut willen.281
Die theoretische Reflexion auf das Dasein Gottes zerrüttet, gegen ihre Intention, das
Bewußtsein der Autonomie: Es soll sich nur dann selbst als Urheber der Moral denken
können, wenn es eine von ihm selbst unkontrollierbare Erfüllungsbedingung voraussetzt;
das Bewußtsein von Freiheit muß um seiner Möglichkeit willen sich selbst als Bewußt-
sein von Freiheit suspendieren. Diese innere Gebrochenheit der Begründung praktischer
Subjektivität korrespondiert indes den äußeren Bedingungen der realen Unfreiheit, un-
ter denen die Subjekte leben und unter denen sie Freiheit denken. Die regulative Idee
Gottes, die, wie Kant selbst ausführt, philosophisch kaum kontrollierbar ist, sondern zur
Hypostase drängt,282 scheint erforderlich, weil Moral nicht unmittelbar selbst konstitutiv
für richtige Praxis ist, sondern ihrer Form nach index falsi. Ihr Begriff ist daher außer-
halb dessen zu verankern, was durch ihn beurteilt werden soll. Daß dieser Ankergrund
278
KpV, V 125. Kant hat den Argumentationsgang an anderer Stelle zusammengefaßt: „Weil aber
eine reine praktische Teleologie, d. i. eine Moral, ihre Zwecke in der Welt wirklich zu machen
bestimmt ist, so wird sie deren Möglichkeit in derselben, sowohl was die darin gegebene Endur-
sachen betrifft, als auch die Angemessenheit der obersten Weltursache zu einem Ganzen aller
Zwecke, als Wirkung, mit hin sowohl die natürliche Teleologie, als auch die Möglichkeit einer
Natur überhaupt, d. i. die Transscendental-Philosophie nicht verabsäumen dürfen, um der prakti-
schen reinen Zweckslehre objective Realität, in Absicht auf die Möglichkeit des Objects in der
Ausübung, nämlich die des Zwecks, den sie als in der Welt zu bewirken vorschreibt, sichern“
(Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 182f.).
279
Vgl. Matthias Lutz-Bachmann, Religion nach der Religionskritik, in: Theologie und Philosophie 77
(2002), 381: „An dieser Stelle gehen die moralphilosophischen Überlegungen Kants ausdrücklich
über in Religionsphilosophie“. Weil das Dasein Gottes thematisch ist, und zwar als subjektive
Vorstellung eines moralischen Gesetzgebers, handelt es sich nicht mehr um spekulative Theologie.
280
KpV, V 125. Vgl. V 133f. Hier bestimmt Kant das höchste Gut als ein Konglomerat der drei
Postulate von Freiheit, Gott und Unsterblichkeit.
281
Vgl. KpV, V 129.
282
Vgl. KrV, B 610f.
S D V 279
nicht das Selbstbewußtsein von Praxis selbst sei, das aus seiner formalen Einheit heraus
die historischen Erfahrungen beurteilte, sondern daß er in etwas liege, was größer ist als
gedacht werden kann, weist auf die historische Grenze der Form des Selbstbewußtseins
hin. Geschichtsphilosophisch ist die Grenze immanent auch nicht aufzulösen, sondern
führt auch hier auf die Annahme einer stabilisierenden Transzendenz, der Naturabsicht.
Die Postulate der praktischen Vernunft sollen deren Begriffen objektive Realität
verschaffen, insofern sie das Objekt des apodiktischen Sittengesetzes möglich machen.
Ihr eigener erkenntnistheoretischer Status ist dabei nicht apodiktisch, wohl aber
assertorisch,283 – nicht wie in der Kritik der reinen Vernunft bloß problematisch.
Insofern erweitern sie die reine Vernunft, aber nicht durch synthetische theoretische
Erkenntnisse, denn die dafür notwendige Anschauung kann nicht gegeben werden.
Nicht für eine Erkenntnis transzendentaler Gegenstände, wohl aber für die Wirklichkeit
des höchsten Guts sind sie konstitutiv. Konstitutive Bestimmungen aber sind stets
subjektimmanent,284 sie konstituieren die Objektivität der Objekte, die selbst eine
bloß subjektive Funktion von Vorstellungen ist.285 Der spekulativen Vernunft kommt
die Aufgabe zu, „Anthropomorphism“ und „Fanaticism“286 abzuhalten, da beide die
Reinheit der Pflicht beeinträchtigen. Obwohl es sich nun um „Ideen der Vernunft, die in
gar keiner Erfahrung gegeben werden können“287 , handele, sei ihre objektive Realität,
ihre Wirklichkeit, durch die Kategorien der reinen Vernunft zu bestimmen, da diese
durch das aus praktischer Vernunft gegebene Objekt nicht leer seien. Was sich dem
theoretischen Gehalt nach hinter dieser Objektivität der Ideen verberge, sei gleichgültig,
entscheidend dagegen nur, „daß sie überhaupt Objecte haben“288 . Nun bezieht sich
die Gewißheit der Wirklichkeit Gottes ja nicht auf ein Objekt überhaupt, sondern auf
das besondere Objekt, so wie es die praktische Vernunft bestimmt hat; sonst wäre sie
Gewißheit der Wirklichkeit von nichts Bestimmtem, von Nichts. Kant räumt ein, daß
der Begriff Gottes lediglich die ins Absolute gesteigerte Vorstellung „unserer eigenen
Natur“289 sei, von der alles Spezifische abstrahiert wurde, so daß „von den Begriffen,
durch die wir uns ein reines Verstandeswesen denken, nichts mehr übrig [sei], als
gerade zur Möglichkeit erforderlich ist, sich ein moralisch Gesetz zu denken“.290
Kants Vorstellung der Gewißheit der Wirklichkeit Gottes ohne Erkenntnis seiner Be-
stimmungen, beziehungsweise die Verteilung des Gottesbegriffs auf theoretische und
praktische Vernunft, die auch hier absolut diskret bleiben müßten, soll die Ermäßigung
des indirekten Gottesbeweises zum Postulat plausibel machen und zugleich Gewißheit,
die der Moral schade, zur Hoffnung reduzieren. Gleichviel, ob der Gottesbegriff als ein-
gestandene Hilfskonstruktion der praktischen Vernunft oder als Gottesbeweis ermittelt
wird – ob durch „Schlüsse, wodurch wir uns auf unsere Einsicht etwas dünken, […]
283
Vgl. KpV, V 134.
284
Vgl. KpV, V 135.
285
Vgl. KrV, B 136f. (Deduktion B, § 17).
286
KpV, V 135f.
287
KpV, V 136.
288
KpV, V 136.
289
KpV, V 137.
290
KpV, V 137.
280 D S
[oder durch] Befugnisse, die man uns nachsehen kann“291 – stets wird die subjektive Au-
tonomie, der ein solcher Gottesbegriff dienen soll, durch ihn ausgesetzt. Jener Hoffnung
korrespondiert ein „Bedürfniß [der reinen Vernunft] in schlechterdings nothwendiger
Absicht […]: ich will, daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt auch außer der Na-
turverknüpfung noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch daß meine
Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen“292 .
Ein solcher freier Wille, etwas zu wollen, das den freien Willen erst möglich macht –
der Wille, daß es das Objekt gebe, das dem Willen ein Objekt sichert – ist endlichen
Wesen überhaupt nicht möglich, es sei denn in der Vorstellung ihrer eigenen praktischen
Vernunft als außer der Zeit befindlich. Diese Vorstellung aber ist widersprüchlich.
Der Suspension des autonomen Subjekts um seiner selbst willen entspricht die prak-
tische Vorstellung der Notwendigkeit der „Übereinstimmung meines Willens mit dem
eines heiligen und gütigen Welturhebers“293 , die einem endlichen Wesen doch auch nicht
möglich ist. Glückseligkeit scheint ebenso durch die Bedingung ihrer Möglichkeit aus-
gesetzt: „Die Heiligkeit der Sitten wird ihnen [den Menschen; M.St.] in diesem Leben
schon zur Richtschnur angewiesen, das dieser proportionirte Wohl aber, die Seligkeit,
nur als in einer Ewigkeit erreichbar vorgestellt“294 . Die Übereinstimmung von Natur
und Freiheit, von Sinnlichkeit und Vernunft, erscheint als realisierbar nur unter der Be-
dingung der Vernichtung der Sinnennatur in der Ewigkeit. Selbst dieses zweifelhafte
Glück zu erreichen, ist den endlichen Vernunftwesen aber nach dem ersten Postulat nicht
möglich, da sie die Notwendigkeit des unendlichen Progresses der Annäherung von der
Seligkeit in Ewigkeit stets ums Ganze entfernt hält. Das Einzige, was dieser Vorstellung
der Aufhebung der Sinnlichkeit in Ewigkeit real entsprechen kann, ist deren tätige An-
tizipation in der Entsagung ‚in diesem Leben schon‘; das ihr ‚proportionierte Wohl‘ in
der Ewigkeit – und das liegt in Kants Konzeption des Postulats unmittelbar für jeden of-
fen zu Tage – ist eine Illusion, die über den Widerspruch moralischer Forderungen unter
unmoralischen Bedingungen ihrer Erfüllung nicht einmal mühsam hinwegtäuscht.
Kant setzt möglicher Kritik entgegen, daß die Moral darauf gehe, nicht glücklich,
sondern des Glückes würdig zu werden. „Würdig ist jemand des Besitzes einer Sa-
che oder eines Zustandes, wenn, daß er in diesem Besitze sei, mit dem höchsten Gute
zusammenstimmt.“295 Das heißt, die Erwerbung der Glücksgüter muß unter dem mo-
ralischen Gesetz stehen. Wie stünde es nun um die Glückswürdigkeit in einer Welt, in
der die Glücksgüter regelmäßig nach unmoralischen Prinzipien erworben werden, et-
wa durch die systematische Beschränkung und Beschädigung der Interessen Anderer?
– Kant berührt dieses Problem in einer abgelegenen Anmerkung: „Man darf nur ein
wenig nachsinnen, man wird immer eine Schuld finden, die er sich irgend wodurch in
Ansehung des Menschengeschlechts aufgeladen hat (sollte es auch nur die sein, daß
man durch die Ungleichheit der Menschen in der bürgerlichen Verfassung Vortheile
genießt, um deren willen andere desto mehr entbehren müssen), um durch die eigen-
291
KpV, V 139.
292
KpV, V 143.
293
KpV, V 129.
294
KpV, V 128f.
295
KpV, V 130.
K: D T – E V? 281
296
KpV, V 155 Anm.
297
Kants Kritik am antiken Atheismus bezeichnet das Problem: „[W]as konnte leichter, was natürli-
cher sein, als der sich von selbst jedermann darbietende Gedanke, statt unbestimmter Grade der
Vollkommenheit verschiedener Weltursachen eine einzige vernünftige anzunehmen, die alle Voll-
kommenheit hat? Aber die Übel in der Welt schienen ihnen viel zu wichtige Einwürfe zu sein, um
zu einer solchen Hypothese sich für berechtigt zu halten.“ (KpV, V 140) Umgekehrt können die
Übel auch ‚solche Hypothesen‘ fördern.
298
Kant hat dies geahnt. Vgl. KpV, V 153: „Man kann in diesen Beurtheilungen oft den Charakter
der über andere urtheilenden Personen selbst hervorschimmern sehen“.
299
Vgl. zur Diskussion dieses Problems Andrea Marlen Esser, Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 249ff.
Esser selbst räumt ein, daß es verwundern müsse, wenn Kant an die inhalt- und materielosen
Bestimmungen der Moralphilosophie eine „Theorie materialer Zwecksetzung“ (250) wie selbstver-
ständlich anschließe, und bietet dann folgende Lösung an: „In der Metaphysik der Sitten wird die
allgemeine […] Struktur auf ihre Verwirklichungsbedingungen für endliche Wesen hin untersucht
[…]. Hier werden die objektiven Zwecke konsequenterweise nicht in Bezug zum Willen gestellt,
sondern in Bezug zur Willkür. […] [Sie] ergeben sich aus dem Gedanken einer selbstbezüglichen
Willensbestimmung, wenn die Verwirklichung des Willens unter der Bedingung der Endlichkeit
der Handelnden betrachtet wird.“ (252f.) So sei „[d]as praktische Gesetz Kants […] durch die
Tugendlehre mit der empirischen Wirklichkeit der endlichen Wesen vermittelt, und die Ethik als
ganze erhält dadurch eine pragmatische Dimension“ (16). Erstens ist es genau diese Betrach-
282 D S
bedürfe, um sie als wahre Wissenschaft (systematisch), nicht blos als Aggregat einzeln
aufgesuchter Lehren (fragmentarisch) aufstellen zu können“300 , ob also philosophisch
über Tugenden überhaupt etwas zu sagen sei. Die Rechtslehre war zwar auch schon aus-
geführte praktische Philosophie, blieb aber nach Kants Rechtsbegriff auf die Form des
äußerlichen Verhältnisses der Subjekte beschränkt.301 Zwar konnte eine aufs Privateigen-
tum gegründete Rechtslehre kaum von sich behaupten, in ihr sei „abgesehen von allem
Zweck“302 ; zumindest kann aber Kant beanspruchen, die Rechtsvorschriften aus dem
äußerlichen Verhältnis bürgerlicher Subjekte, wenn sie einmal da sind, formal abzuleiten.
Ob eine entsprechende Begründung auch der ethischen Tugenden aus metaphysischen
Anfangsgründen möglich sei, oder nur ein je nach Lebens- oder Gegenstandsbereich
variables ‚Aggregat‘, wird zur Aufgabe der allgemeinen Teile der Tugendlehre. Gerade
die Situierung der Tugenden in besonderer Praxis verschärft die Schwierigkeit: Tugen-
den müßten lehrbar, für alle Menschen verständlich zu machen sein. Wäre ihre Ordnung
aber metaphysisch zu begründen, bliebe sie „eine Sache der Speculation […], die nur
wenig Menschen zu handhaben wissen“303 . Ebensowenig können Tugenden – Aristote-
lisch – anerzogen werden, was letztlich auf bloßer Gewöhnung beruhte, die als solche
nicht sittlich wäre.304 Als Lösung visiert Kant eine zwar systematisch begründete Tu-
gendlehre an, deren Vermittlung jedoch popularisiert sein dürfe: Philosophische Bildung
sei nicht ihr Zweck, aber „der Gedanke muß bis auf die Elemente der Metaphysik zurück
gehen“305 . Der ‚Gedanke‘ indes ist transzendentalphilosophisch doch allein durch prädi-
kative Urteile a priori zu formulieren; eine ermäßigte Darstellung ohne Ermäßigung des
Gehalts scheint unrealistisch.
tungsweise, die die Tugendlehre in Gegensatz zur Moralphilosophie bringt, weil diese intelligible
Prinzipien formuliert; zweitens ist zu bezweifeln, daß die Tugendlehre ‚Verwirklichungsbedingun-
gen‘ moralischer Gesetze untersucht. Allerdings ist an dieser Stelle bei Esser auch nur mehr von
‚allgemeinen Strukturen‘ die Rede; das betrifft dann besonders auch den Begriff der Maximen.
Diese werden nicht als subjektive, innere, Zwecksetzungen verstanden, sondern als „Strukturen
[…], die unseren Handlungen zugrunde liegen, die aber gleichwohl erst als Resultate einer Refle-
xion über diese Handlungen aufgezeigt werden können“ (273). Wären sie subjektiv und innerlich,
so ließe sich keine Verbindung zur Handlung herstellen, die gute Absicht könne schlimme Hand-
lungen anleiten (vgl. 274, 286). Esser konfundiert hier die gute Absicht mit dem guten Willen, aus
dem selbst nichts folgt. Die Entsubjektivierung der Selbstbestimmung und deren Plazierung unter
endlichen Bedingungen nimmt dem Autonomiebegriff Kants allerdings sein polemisches Potential
gegen unmoralische Bedingungen.
300
MdS TL, VI 375
301
Vgl. MdS RL, VI § B.
302
MdS TL, VI 375.
303
MdS TL, VI 376.
304
Vgl. Anthropologie, VII § 12: „Daher kann man die Tugend nicht so erklären: sie sei die Fertig-
keit in freien rechtmäßigen Handlungen; denn da wäre sie blos Mechanism der Kraftanwendung;
sondern Tugend ist die moralische Stärke in Befolgung seiner Pflicht, die niemals zur Gewohnheit
werden, sondern immer ganz neu und ursprünglich aus der Denkungsart hervorgehen soll.“ Als
„Angewohnheit“, also die „physische innere Nöthigung nach derselben Weise ferner zu verfahren,
wie man bis dahin verfahren hat“ ist sie sogar „verwerflich“ (a.a.O.).
305
MdS TL, VI 376.
K: D T – E V? 283
Kant schafft sich hier das Feld einer anwendungsspezifischen Darstellung des Sit-
tengesetzes, obwohl dieses seiner Form nach, dem Gedanken nach, solcher Spezifizie-
rung widersteht. Das Widerstandspotential der Moral gegen unmoralische Bedingungen,
das in ihrer Verschlossenheit gegen Handlungen unter solchen Bedingungen zum Eklat
kommt, wird durch die auf Anwendung erpichte Darstellung unterlaufen. Daß Kant dies
selbst befürchtete, kommt in seiner Betrachtung der Wissenschaftlichkeit des Vorgehens
zum Ausdruck, noch in der Methodenlehre.306
Das „oberste Prinzip der Tugendlehre“ will Kant, wie das der Rechtslehre, aus dem
Sittengesetz hervorbringen, mehr noch formuliert er, es sei selbst „ein kategorischer
Imperativ“307 . Schon der unbestimmte Artikel weist auf das Problem, denn der kategori-
sche Imperativ kann, Kants eigener begründeter Auffassung zufolge „nur ein einziger“308
sein. Die Aufgabe der Tugendlehre soll aber die gegenständlich begründete Erweiterung
des formalen Prinzips sein. Dies will Kant über folgende Formel erreichen: „[H]andle
nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein
kann.“309 Der Unterschied dieser Formel zum kategorischen Imperativ liegt darin, daß
nicht die Maxime durch sich selbst zur Allgemeinheit fähig sei, sondern daß die Maxi-
me Zwecken entspreche, die ihrerseits erst zur Allgemeinehit fähig sein müssen: Kant
spricht von Zwecken, die an sich selbst Pflicht sind.310 Indem das formale Kriterium
der widerspruchsfreien Allgemeinheit nicht in der bloßen Gesetzmäßigkeit der Maxime
liegt, wird das immanente Moralprinzip extrovertiert: Es werden Zwecke angenommen,
die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann, also tritt ausdrücklich die
Beziehung des Subjekts auf Äußeres in die Sittenlehre ein. Es geht nicht mehr darum,
ob jemand etwas überhaupt wollen kann, sondern daß er manches Bestimmte wollen
soll. Solche Bestimmtheit war aus dem kategorischen Imperativ nicht mehr zu gewin-
nen, weil Moralität ihrem strengen Begriff nach nur formal zu bestimmen war, durch
Negation aller Zweckbeziehung.
Diese Formalität weist Kant nun überraschend vollständig der Rechtslehre zu:
„Die Rechtslehre hatte es blos mit der formalen Bedingung der äußeren Freiheit
(durch die Zusammenstimmung mit sich selbst, wenn ihre Maxime zum allgemeinen
Gesetz gemacht wurde), d. i. mit dem Recht, zu thun.“311 Tatsächlich sah das Prinzip
306
Vgl. MdS TL, VI § 50. Gegenwärtig erfreut sich Kants Tugendlehre einer beachtlichen Renaissance,
im Rahmen der allgemeinen, sich aristotelisch inspirierenden Rückbesinnung auf den Tugend-
begriff in der praktischen Philosophie, die überwiegend die massiven Probleme dieses antiken
Begriffs, die unter dem Zeichen neuzeitlicher Subjektivität sicher nicht weniger werden, schlicht
ignoriert. Zu diesen Problemen vgl. Michael Städtler, Die Freiheit der Reflexion, a.a.O. Auf Kants
Tugendlehre griffen jüngst zurück Andrea Esser, Eine Ethik für Endliche, a.a.O. und Birgit Recki,
Prinzipien des Handelns und Spielräume der Urteilskraft. Die Elemente moralischer Orientierung,
in: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt, a.a.O., 49ff. Derzeit laufen verschiede-
ne anwendungsorientierte Projekte, vor allem zu den Hilfspflichten, sowie die Vorbereitung einer
kommentierten Neuausgabe des Textes.
307
MdS TL, VI 395.
308
GMS, IV 421.
309
MdS TL, VI 395.
310
Vgl. MdS TL, VI 381 und pass.
311
MdS TL, VI 380. Vgl. 381; 382; 411.
284 D S
der Rechtslehre keineswegs die innere Übereinstimmung der Maximen vor, sondern
die widerspruchsfreie Koordinierbarkeit von Handlungen oder Willkürsphären.312
Gerade der Formalismus der äußeren Freiheit, den Kant hier zitiert, führte nicht auf
formale Bestimmungen der Sittlichkeit, sondern auf formelle Koordination an sich
disharmonischer äußerlicher Willkürsphären, deren geschichtlicher Hintergrund die
Angemessenheit der Formalität der Kantischen Rechtsbegründung deshalb fraglich
erscheinen ließ, weil sie mit dem Formanspruch der Moralphilosophie nicht konkordant
ist. Hier nun wird die Moralphilosophie so behandelt, als sei sie die dem Recht und
der Tugend gemeinsame allgemeine Grundlagentheorie, deren formales Moment das
Recht ausgestaltete, während die Tugend es wie selbstverständlich auf bestimmte Inhalte
beziehe. Daß diese Differenzierung problematisch ist, zeigt Kants Bemühung, die
Inhalte, die Zwecke der Tugendlehre, wieder auf Innerlichkeit des Subjekts zu gründen,
während die formale Rechtslehre ganz im äußeren Zwang aufgehe.
Anders als in der Rechtslehre selbst erscheint das Recht nun nicht bloß als mit der
Befugnis zu zwingen verbunden, sondern „der äußere Zwang […] ist das oberste Recht-
sprincip“313 . Dieser Zuspitzung bedient sich Kant, weil das Rechtsprinzip gemäß der
Rechtslehre ein synthetisches Urteil a priori vorstellen sollte, nun aber die Tugendleh-
re als synthetische Moralerweiterung von der bloß analytischen Rechtslehre abgegrenzt
werden soll. Faßte nämlich Kant die Tugendlehre ebenfalls als bloße Analysis der Form,
oder das Recht als – was es aufgrund seiner Geschichtlichkeit tatsächlich ist – bereits
synthetische Auslegung von Sittlichkeit, so wäre die Tugendlehre offensichtlich redun-
dant. Sie darf ihrem Prinzip nach nicht mit der Rechtslehre konkurrieren. Wenn die
Tugendlehre nun auf Zwecke gehen soll, dann kann Kant Rechtslehre und Tugendlehre
nicht ohne weiteres ihren Gegenstandsbereichen nach unterscheiden, ohne die Differenz
der Gegenstandsbereiche umgekehrt aus den Prinzipien der Disziplinen zu begründen.
Kant muß daher die Abstraktion von Zwecken im Recht und dessen bloße Beschrän-
kung auf Form ernstnehmen.314 Dann fällt aber die Bestimmung des Verhältnisses von
Willkürsphären, weil diese dann keine Materie haben, und so gar nicht unterschieden
werden können. Wird nur die Relation der Ausschließenden zueinander, ohne Rücksicht
auf das, wovon ausgeschlossen wird, betrachtet, so bleibt nur die Form der Gewalt, ohne
die Möglichkeit der vernünftigen Bestimmung der Willkür, weil diese, als objektlos, nur
in ihrer formellen Gegensätzlichkeit betrachtet werden kann.
Die Differenz von Tugend und Recht gelingt Kant nur um den Preis des Eingeständ-
nisses, daß nicht die Freiheit das oberste Prinzip des Rechts ist, sondern deren Gegenteil,
der Zwang. Zwang allerdings ist auch das Prinzip der Tugendlehre, denn „[d]er Pflicht-
begriff ist an sich schon der Begriff von einer Nöthigung (Zwang) der freien Willkür
durchs Gesetz“315 . Die Differenz von Recht und Tugend beruht dann im Prinzip wieder
darauf, daß jenes äußerlich zwingt, diese aber den verinnerlichten „Selbstzwang“316 vor-
aussetzt. Dieser Selbstzwang vermöchte sich wohl auch auf die äußerlichen Zwecke des
312
Vgl. MdS RL, VI §§ B, C.
313
MdS TL, VI 396.
314
Vgl. MdS RL, VI § B und TL, VI 396.
315
MdS TL, VI 379.
316
MdS TL, VI 379.
K: D T – E V? 285
Rechts zu beziehen, folgt aber nicht aus ihnen, weil sie ihren Verpflichtungsgrund nicht
in sich als Zwecken, sondern nur in der äußerlichen Koordination der Handlungen haben.
Soll die Verbindlichkeit aus den Zwecken selbst folgen, dann wäre ein Zweck anzuneh-
men, „der zugleich als objectiv-nothwendiger Zweck, d. i. für den Menschen als Pflicht,
vorgestellt wird“317 . Dies wäre Kant zufolge die ‚Materie‘ der reinen praktischen Ver-
nunft, also das, was nach der Kritik der praktischen Vernunft eine contradictio in adjecto
sein müßte.
Daß gleichwohl ein solches Material, bestimmte Zwecke, denkbar seien, begründet
Kant auf zweierlei Weise. Erstens neigten die Subjekte aufgrund ihrer Sinnlichkeit zu
unmoralischen Zwecken. Soll die reine Vernunft den Willen moralisch bestimmen, so
müssen die Neigungen überwunden werden. Hierfür bedürfe die Vernunft eines Mittels,
und zwar eines „entgegengesetzten moralischen Zweck[s], der also von der Neigung un-
abhängig a priori gegeben sein muß“318 . Es genügt offenbar nicht, mittels Vernunft die
vorzunehmenden Zwecke auf ihre Moralität zu prüfen, sondern diese Kritik durch die
Vernunft muß konstruktiv sein, einen überzeugenden Gegenvorschlag machen, der ge-
gen die Neigungen generell nur dann überzeugt, wenn er a priori begründet ist. Dafür
müßte aber nun doch ein bestimmter Zweck aus der reinen praktischen Vernunft zu fol-
gern sein. Ein solcher Zweck wäre aufgrund seiner Genese direkt verpflichtend: „dieses
würde der Begriff von einem Zweck sein, der an sich selbst Pflicht ist“319 . Nach dieser
Argumentation wären die an sich selbst verpflichtenden Zwecke bloße Mittel der Ver-
nunft im Kampf gegen die Neigungen. Sollen sie auch ihrer Herkunft nach a priori sein,
so müssen sie doch ihrer funktionalen Bestimmung nach a posteriori, stets auf Neigun-
gen bezogen werden.
Kants zweites Argument bezieht sich auf das Vermögen freier Zwecksetzung selbst:
Da Menschen sich die Zwecke, die mit ihren handlungen notwendig verbunden seien,
selbst setzen müßten, sei dies „ein Act der Freiheit des handelnden Subjects, nicht eine
Wirkung der Natur“320 . Problematisch ist nicht allein, daß Kant offenbar einen Zustand
ausschließt, in dem alle Zwecke heteronomen Gesetzen folgen; sein Schluß aus der Vor-
aussetzung, daß es ein Akt der Freiheit sei, ‚irgendeinen Zweck zu haben‘, erweitert die
Zwecksetzungskompetenz zu einem unbedingten Gebot von Zwecken, das diese unmit-
telbar mit ‚einem‘ kategorischen Imperativ verknüpfe und sie als Zwecke erweise, die
selbst Pflicht seien.
Diese Begründung für die Möglichkeit solcher Zwecke paraphrasiert Kant noch ein-
mal negativ: Da es freie Handlungen gebe, müsse es auch Zwecke geben. Wäre jeder
Zweck subaltern, hätte zugleich Mittelcharakter, so ergäbe sich ein unendlicher Progreß,
der nur abzukürzen wäre entweder dadurch, daß manche Handlungen quasi zwecklos
verpufften, oder durch Zwecke, die zugleich Pflicht seien, die also nicht mittelbar ge-
setzt würden, sondern unmittelbar gölten. Abgekürzt werden aber muß der Progreß, oder
„ein kategorischer Imperativ wäre unmöglich; welches alle Sittenlehre aufhebt“321 . Die
317
MdS TL, VI 380.
318
MdS TL, VI 381.
319
MdS TL, VI 381.
320
MdS TL, VI 384f.
321
MdS TL, VI 385.
286 D S
Abkürzung des Progresses durch zwecklose Handlungen erzielt offenbar nicht das er-
wünschte Resultat; der Zweck, der Pflicht ist, schon. Allerdings bleibt das Argument eine
petitio principii. Der Zweck, der Pflicht ist, steht seiner Form nach unter dem kategori-
schen Imperativ, dessen Möglichkeit er begründen soll; so werden beide wechselseitig
zu Bedingungen ihrer Möglichkeit. Die Voraussetzung schon, daß es freie Handlungen
gibt, daß Zwecke aus freien Akten, nicht aus Naturzwang hervorgehen, unterstellt be-
reits die Wirklichkeit von Moral. – Umgekehrt bewiese ein Zustand der Unfreiheit aller
Handlungen keineswegs, wie Kant fürchtet, die Unmöglichkeit des kategorischen Impe-
rativs, sondern bloß dessen mangelnde Realisierung. Er wäre wohl dennoch zu denken,
selbst gegen alle äußeren Bedingungen des Handelns. Ein solcher Zustand hebt daher
Moral faktisch auf, nicht aber den Geltungsanspruch von Moral und dessen Begründung
durch die Sittenlehre. Für Kant geht es nun aber darum, die Objektivität des Moralprin-
zips in bestimmten Zwecken zu entfalten, um das gegen die Erfahrungswelt eigentümlich
gleichgültige Prinzip doch noch als Prinzip menschlichen Handelns zu erweisen.
Anders als die Rechtslehre gehe die Tugendlehre nun nicht von den beliebigen Zwe-
cken der Menschen aus, um bloß die Handlungen – Kant sagt hier bemerkenswerter-
weise: die Maximen – widerspruchsfrei zu koordinieren, „denn das wären empirische
Gründe der Maximen, die keinen Pflichtbegriff abgeben, als welcher (das kategorische
Sollen) in der reinen Vernunft allein seine Wurzel hat“322 . Die Erweiterung der reinen
praktischen Vernunft auf bestimmte Zwecke muß gleichwohl a priori erfolgen, wenn die
Vernunft nicht selbst aufgehoben werden soll. „Also wird in der Ethik der Pflichtbegriff
auf Zwecke leiten“ – was mit den Mitteln der Kritik der praktischen Vernunft nicht mög-
lich ist – „und die Maximen in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen sollen, nach
moralischen Grundsätzen begründen müssen.“323 Zuerst sind die Zwecke selbst mora-
lisch zu begründen, sodann auch die zu ihrer Verwirklichung anzunehmenden Maximen.
Zunächst überrascht es, daß Kant den kategorischen Imperativ ausdrücklich von den
Tugendpflichten ausschließt: „[N]icht alle ethische Pflichten sind […] Tugendpflichten.
Diejenige nämlich sind es nicht, welche nicht sowohl einen gewissen Zweck (Materie,
Object der Willkür), als blos das Förmliche der sittlichen Willensbestimmung (z. B. daß
die pflichtmäßige Handlung auch aus Pflicht geschehen müsse) betreffen“324 . Zwar be-
stimmt der kategorische Imperativ die Form aller Pflichten und geht selbst nicht auf
Zwecke, so daß eine Verpflichtung zur Sittlichkeit eine Verpflichtung zur Pflicht wäre;
neben diesem formalen Grund liegt aber in den zweckbestimmten Tugendpflichten eine
Pluralität, die den Begriff der ‚weiten Pflicht‘ begründet: Da mehrere Tugendpflichten
gleichzeitig bestehen können, sind gelegentlich Abwägungen nötig, welcher Pflicht mit
welchen Maximen und wieviel Einsatz nachgegangen werde. Der kategorische Impera-
tiv gilt aber unbedingt und ist keiner Abwägung fähig. Deshalb muß er außerhalb des
Bereichs der Tugendpflichten bestehen bleiben.325
322
MdS TL, VI 382.
323
MdS TL, VI 382.
324
MdS TL, VI 383.
325
Vgl. MdS TL, VI 383. Vgl. 395; 410. Eine Einordnung von Kants Pflichtenordnung in die Traditi-
on naturrechtlicher Pflichtenlehre, deren Grundbestand Kant übernimmt, gibt Wolfgang Kersting,
Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 187ff.
K: D T – E V? 287
326
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., VII, 4.
327
MdS TL, VI 406.
328
GMS, IV 429.
329
MdS TL, VI 395.
288 D S
Hier nun unterstellt Kant dem Selbstzweckbegriff eine unmittelbar positive Potenz:
„Was im Verhältniß der Menschen zu sich selbst und anderen Zweck sein kann, das
ist Zweck vor der reinen praktischen Vernunft; denn sie ist ein Vermögen der Zwecke
überhaupt, in Ansehung derselben indifferent sein, d. i. kein Interesse daran zu neh-
men, ist also ein Widerspruch: weil sie alsdann auch nicht die Maximen zu Handlungen
(als welche letztere jederzeit einen Zweck enthalten) bestimmen, mithin keine prakti-
sche Vernunft sein würde. Die reine Vernunft aber kann a priori keine Zwecke gebieten,
als nur so fern sie solche zugleich als Pflicht ankündigt; welche Pflicht alsdann Tu-
gendpflicht heißt.“330 Die bloß negative Funktion der reinen praktischen Vernunft, ein
formales Prinzip der Willensbestimmung zu geben, aber nicht diese selbst zu leisten,
widerspreche nun der praktischen Vernunft, insofern sie Vermögen der Zwecke über-
haupt sei: Bestehe also vor ihrem formalen Prinzip ein Zweck, so müsse sie diesen als
ihren Zweck verfolgen. So wie Kant die reine praktische Vernunft bestimmt hatte, war
sie wohl das Vermögen der Zwecke überhaupt, was aber hieß: ohne Ansehung bestimm-
ter Zweckinhalte. So war sie das Vermögen der formalen Reflexion der Zwecksetzung,
nicht die Instanz, die direkt Zwecke setzt. Nur aus dem formal beschränkten Begriff der
praktischen Vernunft war der Begriff der Autonomie hervorzubringen gewesen, in Op-
position zu den empirischen Bedingungen. Kants Absicht, die reine praktische Vernunft
nun zur Quelle bestimmter Zwecke oder Pflichten zu machen, versieht das autonome
Subjekt aus sich selbst heraus, ohne diese oppositionelle Beziehung zu seinen Gegen-
ständen und Bedingungen, mit Handlungsanweisungen. Dadurch wird die Autonomie,
die nur im Verhältnis zur Heteronomie – als Negation der Negation – Sinn hatte, end-
gültig zur Abstraktion: Der scheinbare Reichtum an Inhaltsbestimmungen verdeckt, daß
nun auch noch die negative Erfahrungsrelation abgeschnitten wird. Die Inhalte sind dann
ganz zufällig.
Was nun dem Selbstzweckbegriff der Menschheit widerspruchsfrei korrespondiere, sei
erstens, die je eigene Humanität zum Zweck zu machen, und zweitens die der Anderen;
die Tugendzwecke seien demnach, noch in allgemeiner Form: „Eigene Vollkommenheit
— fremde Glückseligkeit.“331 Einer regelrechten Deduktion dieser Zwecke sieht Kant
sich enthoben, da ja das, was in Ansehung des Selbstzwecks Zweck sein könne, unmit-
telbar Zweck werde. Die Pflicht zur eigenen Vollkommenheit bestehe dann genauer in
der Kultivierung, der Entwicklung dessen, was Naturanlage sei, aber nicht sich selbst
durch Natur entwickele. So sei es erstens Pflicht, sich intellektuell zu bilden und zwei-
tens „reineste[] Tugendgesinnung“ auszubilden, die darin bestehe, „jeden besonderen
Zweck, der zugleich Pflicht ist, sich zum Gegenstande zu machen“332 . Dieser Universa-
lismus gerät aber schon bei der Pflicht gegen Andere in Konflikte, wenn es darum zu tun
ist, deren Glückseligkeit aus Pflicht zu befördern, also zum eigenen Zweck zu machen:
Weil es über die zufälligen Inhalte der Glückseligkeit, die man Anderen zu verschaffen
vermeint, ganz unterschiedliche Auffassungen geben kann.333 Wenn die Vorstellungen
von Glückseligkeit differieren, so entscheiden zunächst gültige Rechtsansprüche, was
330
MdS TL, VI 395.
331
MdS TL, VI 385.
332
MdS TL, VI 387.
333
Vgl. MdS TL, VI 388.
K: D T – E V? 289
dem Anderen zusteht und was ihm aus Tugendgründen verweigert werden darf. Rechts-
ansprüche stehen im Zweifel über der Tugend. Sodann aber können eigene Zwecke mit
dem Tugendzweck kollidieren; jene sind freilich zum Wohl der Anderen zurückzustel-
len. Schließlich aber können auch verschiedene Tugendzwecke miteinander kollidieren,
„z. B. die allgemeine Nächstenliebe […] [mit der; M.St.] Elternliebe“334
So begründet Kant zunächst die Bestimmung, daß Tugendpflichten keine Gesetze für
Handlungen angeben, sondern für Maximen. Sie schreiben vor, bestimmte Maximen zu
bestimmten tugendhaften Zwecken zu haben, aber sie schreiben nicht die korrespondie-
renden Handlungen vor. So entstehe ein Spielraum bezüglich der Art und Weise und
des Umfangs der Ausführung von Tugendpflichten.335 Unter dieser Bestimmung sind die
Tugendpflichten von weiter Verbindlichkeit, das heißt sie gelten nicht strikt. Zwar sollen
hierdurch keine Ausnahmen gestattet werden, wohl aber soll dem Umstand Rechnung
getragen werden, daß „eine[] Pflichtmaxime durch die andere“336 eingeschränkt werden
können muß, wenn überhaupt gehandelt werden können soll. Das weicht aber schon von
Kants Auffassung ab, daß Pflichtenkollisionen prinzipiell unmöglich seien, weil in einem
solchen – scheinbaren – Fall entweder die eine gar keine Pflicht oder doch von gerin-
gerem Verpflichtungsgrund, weshalb sie hier eben nicht Pflicht daher aufzugeben sei.337
Eine wechselseitige Einschränkung gleichzeitiger konträrer Pflichten käme danach nicht
in Frage. Plausibel erscheint es daher, wenn Kant bemerkt, daß durch den Begriff der
‚weiten Pflicht‘ „in der That das Feld für die Tugendpraxis erweitert wird“338 .
Ging der strenge Pflichtbegriff tendentiell auf Selbstverleugnung und Selbstaufga-
be,339 stellte also in der Konstitution praktischer Subjektivität diese selbst in Frage, so
wird hier das Subjekt in einem Abwägungsgefüge erhalten, um die Möglichkeit von
Praxis nicht preisgeben zu müssen. Dafür löst Kant aber auch hier Verbindlichkeit und
Kollision der Zwecke zunächst von den erfolgenden Handlungen ab, in denen dann
der Spielraum gelegen sei. Während die Kritik der praktischen Vernunft den Erfolg als
gleichgültig ansah, geht es hier darum, daß überhaupt Handlungen erfolgen. Daß sie
den kollidierenden Zwecken einen Spielraum verschaffen, negiert allerdings auch hier
die moralische Opposition der Zwecke gegen die Bedingungen ihrer Ausführung, die
etwa in der Frage erschiene, ob die Zwecke denn notwendig oder bloß zufällig kollidie-
ren und ob sich daran etwas ändern ließe. Dies begründete freilich das Desiderat eines
über die Kollision hinausliegenden Zweckes, der dann auch a posteriori bestimmt wä-
re, insofern die Erfahrung von Handlungsbedingungen an der zwecksetzenden Vernunft
334
MdS TL, VI 390.
335
Vgl. MdS TL, VI 390. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., bezeichnet dies als
‚epistemologischen Unterschied‘ zwischen engen Rechtspflichten und weiten Tugendpflichten (vgl.
194f.), der keinen Einfluß auf die Verbindlichkeit habe. Während das Recht eindeutige Maßstäbe
fürs Handeln setze, gebe die Ethik bloß objektive Zwecke an und müsse „hinsichtlich der wei-
teren Frage nach der Weise ihrer Realisierung an die Umstände verweisen“ (195). Das ist nicht
ein epistemologischer, sondern ein pragmatischer Unterschied, der das umstandslose Moralgesetz
umständehalber handhabbar macht, und dies berührt den Verbindlichkeitsstatus durchaus.
336
MdS TL, VI 390.
337
Vgl. MdS RL, VI 224.
338
MdS TL, VI 390.
339
Vgl. GMS, IV 407.
290 D S
geprüft würde. Kant schafft sich durch das Konzept der weiten Pflicht mit Ausführungs-
spielraum die Möglichkeit, an dem Zweckbegriff a priori und am empirischen Subjekt
zugleich festzuhalten. Wer der Erfüllung solcher Zwecke nicht nachkommt, aber sie doch
nicht vorsätzlich vernachlässigt, ist demzufolge bloß moralisch unfähig, nicht schon als
lasterhaft zu verurteilen.340
Für die von Kant benannten Zwecke, die zugleich Pflichten seien – eigene Vollkom-
menheit und fremde Glückseligkeit – ergeben sich unter der Bestimmung der weiten
Pflicht charakteristische Merkmale: Zwar schreibe die Vernunft den Menschen, deren
Menschheit für sie selbst Zweck ist, die „Cultur der rohen Anlagen seiner Natur, als
wodurch das Thier sich allererst zum Menschen erhebt“341 verbindlich vor, aber „[w]ie
weit man in Bearbeitung (Erweiterung oder Berichtigung seines Verstandesvermögens,
d. i. in Kenntnissen oder in Kunstfähigkeit) gehen solle, schreibt kein Vernunftprincip
bestimmt vor“342 . Kants Begründung dafür, keine bestimmten handlungen oder Bil-
dungsgehalte vorzuschreiben, ist die, daß es hierfür keinen Grund a priori geben könne.
Indem aber Bildung überhaupt zur Pflicht erklärt wird, hat Kant im Grunde doch eine
Bestimmung gegeben: die möglichst umfassende Bildung. Deren spezifische Intensität
sei allerdings durch die Fülle des Materials beschränkt, denn niemand wisse, welche
Kenntnisse er im Leben zur Anwendung bringen werde. Diese Entscheidung sei im-
mer von Willkür und Zufall getragen. So bleibe die allgemeine Maxime: „Baue deine
Gemüths- und Leibeskräfte zur Tauglichkeit für alle Zwecke an, die dir aufstoßen kön-
nen“343 . Bildung dient diesem Konzept gemäß nicht dazu, die Verhältnisse, in denen die
Menschen zueinander und zur Natur stehen, durchsichtig zu machen und vernunftgemäß
zu organisieren, sondern sie dient im Gegenteil dazu, die Menschen mit soviel Kennt-
nissen auszurüsten, wie sie nötig haben, in den gegebenen Verhältnissen die Funktionen
zu erfüllen, die ihnen je nach „Verschiedenheit der Lagen, worin Menschen kommen
können“344 , heteronom zugeordnet werden. Daß dieser Einwand nicht erst einem ana-
chronistisch herangetragenen soziologischen Bildungsbegriff folgt, zeigt Kants eigene
Diskussion des Bildungsbegriffs, die dessen Idee ausdrücklich auf eine ‚bessere Welt‘
anlegt, die Ausführung der Idee aber auf die von Kant selbst kritisierte Zurichtung zu
den Zwecken der gegenwärtigen Gesellschaft reduziert.345
Kant trennt in der Tugendlehre im Interesse der Funktionsfähigkeit des Gemeinwe-
sens – auf je gegenwärtigem Stand – die bloß technisch-praktische Kultur, die allerdings
zu einer Tugendpflicht erhoben wird, von der moralischen. Die Kultivierung von Moral
sei nun auch eine Pflicht, überraschender Weise ebenfalls eine ‚weite‘: „[D]as Gesetz
gebietet nicht diese innere Handlung im menschlichen Gemüth selbst, sondern blos die
Maxime der Handlung, darauf nach allem Vermögen auszugehen: daß zu allen pflicht-
340
Vgl. MdS TL, VI 384; 390.
341
MdS TL, VI 392.
342
MdS TL, VI 392.
343
MdS TL, VI 392.
344
MdS TL, VI 392.
345
Vgl. Pädagogik, IX 444ff. Zu der Frage, ob es nicht selbstverständlich sei, daß Kinder in der Schule
die Fertigkeiten erlernen, die sie im – harten – Alltag dann brauchen und daß Schule daher sich
den gesellschaftlichen Wandlungen anzupassen habe, vgl. oben den Exkurs über Schulpädagogik.
K: D T – E V? 291
mäßigen Handlungen der Gedanke der Pflicht für sich selbst hinreichende Triebfeder
sei.“346 Zwar besteht der Begriff der Moralität, im Unterschied zu dem der Legalität, ge-
mäß der Kritik der praktischen Vernunft und noch gemäß der Einleitung zur Rechtslehre,
darin, zu gebieten, daß die gesetzmäßige Handlung auch nach gesetzmäßiger Maxime er-
folge, das heißt aus Einsicht ins Gesetz, aus Pflicht, nicht bloß pflichtmäßig. Weil aber
niemand in der Lage sei, über die wirkliche Moralität seiner Handlung Gewißheit zu er-
langen, sei auch bei der Kultivierung von Moral nur „die Maxime der Handlung, nämlich
den Grund der Verpflichtung nicht in den sinnlichen Antrieben (Vortheil oder Nachtheil),
sondern ganz und gar im Gesetz zu suchen — mithin nicht die Handlung selbst“347 ge-
boten.
Sowenig es aber, wie Kant selbst betont, eine Pflicht zur Pflicht geben kann, sowenig
auch solche Maximen, denn Kant verdoppelt hier unversehens die Relation von Hand-
lung und Maxime: Geboten sei die Maxime (Tugend) der moralischen Bestimmung der
Maxime (moralische Pflicht) der Handlung, – nicht die Handlung der moralischen Be-
stimmung der Maximen von Handlungen. Das Fassen von Maximen, das dem Handeln
vorausgeht, der eigentliche Gegenstand der Morallehre, wird in der Tugendlehre selbst
als eine Handlung interpretiert und steht so erneut unter einer Maxime; dies ließe sich
fortsetzen ad infinitum. Schon deshalb ist es präziser, für die Objektivierung der mo-
ralischen Subjektivität den spezifischen Ausdruck ‚Moralprozeß‘ zu gebrauchen und zu
einer allgemeinen Handlungstheorie Abstand zu halten. Kant erreicht aber dadurch zwei-
erlei:
Erstens wird die enge Moralpflicht selbst zum Gegenstand einer weiten Tugendpflicht.
So will Kant die erste praktikabel denken, schneidet ihren unbedingten Anspruch aber
im handelnden Subjekt ab. Moral wird so endgültig zum Medium der Anbildung des
Subjekts an eine nicht moralische Welt, weil das intelligible Widerstandspotential gegen
deren Anforderungen, das in der notwendigen Geltung des Autonomieanspruchs liegt,
für alle Praxis – grundsätzlich – problematisiert wird. Die angestrengten Versuche, die
Morallehre positiv applikabel zu machen, müssen sich auf solche Praxisbedingungen
einlassen, auf die sich Moral ihrem Begriff nach nicht einlassen kann.
Zweitens kann Kant durch die Kombination von Moral und Tugend eine Tugendpflicht
konstruieren, derzufolge Rechtspflichten zu achten seien. Zwar nicht die legale Hand-
lung, aber die Maxime, das Recht zu achten, sei verdienstlich.348 Zwar sind nicht die
Rechtspflichten selbst Tugendpflichten,349 aber „es ist die Tugendlehre, welche gebietet
das Recht der Menschen heilig zu halten“350 . Diese Formulierung erhebt ausdrücklich
‚das Recht der Menschen‘, worunter positive, von Menschen erlassene Rechtsgesetze,
346
MdS TL, VI 393.
347
MdS TL, VI 392.
348
Vgl. MdS TL, VI 390.
349
MdS TL, Vgl. VI 410.
350
MdS TL, VI 394. Vgl. Pädagogik, IX 490: „das Recht des Menschen, diese[r] Augapfel Gottes
auf Erden“. Ähnlich argumentiert auch Marcus Willaschek, Recht ohne Ethik? Kant über die
Gründe das Recht nicht zu brechen, in: Volker Gerhardt (Hg.), Kant im Streit der Fakultäten, a.a.O.
Allerdings wird durch solche Gründe nicht dem Recht materialiter moralisch etwas hinzugefügt,
sondern es wird lediglich für die Einhaltung des für sich positiven Rechts ethisch argumentiert.
292 D S
nicht moderne Menschenrechte351 zu verstehen sind, zur Heiligkeit. Das Recht, das sei-
nem Geltungsgrund und seinem Verpflichtungscharakter nach wesentlich empirisch be-
stimmt ist, wird als Gegenstand einer Tugendpflicht noch einmal rationalisiert. So wie
das Moralgesetz durch die Überlagerung mit einer Tugendpflicht praktisch problemati-
siert wird, so wird das Rechtsgesetz im Gegenteil durch dasselbe Verfahren gestärkt, in
die moralische Subjektivität hinein verlängert, die ihrerseits durch beides zu einer Funk-
tion der je positiven gesellschaftlichen Ordnung wird.
Die Trennung von Moral und technisch-praktischer Kultur bewirkt, daß es bei Kant
keinen näher bestimmten Begriff von Kultur gibt: Was aus dem ernsten Spiel der
ungeselligen Geselligkeit hervorgehen möge, läßt sich nur ganz allgemein als techni-
scher Fortschritt bezeichnen, weil dieser Fortschritt nicht Gegenstand gemeinsamer
Überlegung, Planung und Anstrengung ist. Die Gesellschaft bleibt eine Gesellschaft
von isolierten Subjekten, die je ihre eigenen Zwecke verfolgen; daher ist für Kant
das grundsätzliche menschliche Potential der kollektiven Überschreitung individueller
Grenzen, das Gattungsvermögen, nicht zu erschließen. Ein solches kennt Kant nicht als
vernunftgemäß organisierte Einheit der Einzelnen, sondern nur als deren Summe oder
diachrone Akkumulation partikularer Fortschritte.352
Durch Kants Ausgang von einer nicht nur historischen, sondern prinzipiellen Mangel-
gesellschaft wird auch die Tugendpflicht, fremde Glückseligkeit zu fördern, bestimmt. So
ergibt sich diese Pflicht schon formal aus der Selbstliebe. Diese sei verbunden mit dem
„Bedürfniß von Anderen auch geliebt (in Nothfällen geholfen) zu werden“353 . Dadurch
mache man sich für andere zum Zweck. Diese Maxime beinhalte als verallgemeinerte,
eben sich auch die anderen zum Zweck zu machen. Die so konstituierte Kollektivität ist
nicht das Resultat der moralischen Reflexion auf die sittliche Überwindung der indivi-
duellen Schranken, sondern sie ist Resultat der technisch-praktischen Überlegung, wie
Subjekte, die zunächst sich selbst lieben, überhaupt miteinander bestehen können.354 Der
Unterschied beider Überlegungen, der als größere Praxisnähe der zweiten erscheint, hat
seinen Grund darin, daß diese die individuelle Beschränktheit der Subjekte affirmativ
bestehen läßt, wogegen die erste Reflexion sie als negative Bestimmung in einem höher
organisierten Prinzip aufheben will. Deshalb kann bei Kant die Pflicht, das Wohl aller
zu befördern, keine strenge Pflicht sein, denn ihre Ausführung läuft darauf hinaus, „mit
einem Theil meiner Wohlfahrt ein Opfer an Andere ohne Hoffnung der Wiedervergel-
tung [zu] machen“355 . Obwohl nun negativ Maximen der Selbstliebe keine zulässigen
351
Vgl. zur Kritik an der Verwechslung von Menschenrecht und Menschrechten in der Kant-Interpre-
tation vgl. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 209ff.
352
Vgl. Pädagogik, IX 441; 445f.
353
MdS TL, VI 393.
354
Vgl. dazu Manfred Walther, Konsistenz der Maximen. Universalisierbarkeit und Moralität nach
Spinoza und Kant, a.a.O.
355
MdS TL, VI 393. Den Grund des Eintretens der Tugend in das öffentliche Elend sowie für ihr
Scheitern gibt Böckenförde an: „Der liberale (bürgerliche) Rechtsstaat als Verfassungstyp […]
konnte von seinen Prinzipien her keine Antwort auf die soziale Frage geben, die er selbst mit
hervorbrachte.“ (Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 158). Vgl. auch G. W. F. Hegel, Grundlinien der
Philosophie des Rechts, a.a.O., §§ 242 ff.: „Es kommt hierbei zum Vorschein, daß bei dem Über-
maße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, […] dem Übermaße der
K: D T – E V? 293
Gründe seien, die Unterstützung anderer zu beschränken,356 lasse sich doch positiv das
Selbstopfer nicht moralisch fordern. Dies ist mit der sinnlichen Konstitution endlicher
Vernunftwesen nicht vereinbar; und ebensowenig mit der Erhaltung der Produktivität
ungeselliger Geselligkeit. Allerdings wird das ‚wahre Bedürfnis‘ dadurch zur Empfin-
dungssache: Wieviel einer abgeben kann, bis die Grenze zum Selbstopfer überschritten
wird, aber auch, wieviel Mangel man anderen zumuten will, bevor man ihnen hilft, ist
nicht a priori zu entscheiden.357 – Dies muß wohl auch tatsächlich subjektiver Einschät-
zung überlassen bleiben; das einzige, das objektiv feststellbar wäre, wäre die Forderung,
gemeinsam genug für alle zu produzieren: Ein Ideal, das sich nicht erst heute denken
läßt, nachdem es technisch problemlos zu realisieren wäre, sondern das auch unabhän-
gig von den bestimmten technischen Mitteln denkbar ist, denn wer nur ein Bewußtsein
des Mangels hat, hat auch eine Vorstellung von Fülle.358 Jedes Leid, das mit Bewußtsein
verbunden ist, ist an sich die Forderung, es zu beenden; gegenüber der Vernunft aber
erscheint es als Skandal, der grundsätzlich zu beheben sei.359
Die Vagheit der Pflichtausübung, die im Begriff der weiten Pflicht liegt, führt weiter
auf die Frage, wie denn das richtige Verhalten – die sittliche Handlung im Einzelfall –
zu bestimmen sei, wenn diese Bestimmung aus der Pflicht selbst nicht folge; denn trotz
der Erweiterung des engen Pflichtbegriffs um seiner Praktikabilität willen folgt für die
Handlung noch immer nichts Bestimmtes. Kant grenzt die Tugendpflicht strikt gegen ih-
ren metaphysischen Begriff ab, der sie nur als hexis/habitus vorstellen konnte, also als
eine Verhaltensweise, die nur durch Anleitung und Übung zu erlernen sei, schließlich
zum gewohnheitsmäßigen Wohlverhalten führe. Das ergab sich aus der mesotäs-Lehre,
die, in Ermangelung einer systematischen Bestimmung von Sittlichkeit, diese als Mitt-
leres zwischen Übermaß und Mangel konstruierte, eine Bestimmung, deren Anwendung
im Einzelfall nicht ableitbar war. Kant weist nun eine solche graduelle Bestimmung mit
klaren Worten als „falsch“360 zurück, eine „schale Weisheit, die gar keine bestimmte
Principien hat“361 . Gegen dieses quantitative Prinzip sei das qualitative des Verhältnis-
ses der Maximen zum Gesetz zu setzen. Allerdings ist auch dieses Verhältnis bei Kant
selbst zunächst das quantitative einer partikularen Maxime zur Allgemeinheit des Ge-
Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.“ (§ 245) „Hier ist der Ort, wo bei aller all-
gemeinen Veranstaltung die Moralität genug zu tun findet.“ Bei Ernst Forsthoff entspricht dieser
Zuständigkeit subjektiver Wohlfahrtspflege negativ die Unvereinbarkeit von Rechtsstaat und Sozi-
alstaat. Vgl. Rechtsstaat im Wandel, Stuttgart 1964, 38ff.
356
Vgl. MdS TL, VI 388.
357
Das moralische Wohl anderer zu befördern liegt nach Kant in der Pflicht, sie nach Möglichkeit
davor zu bewahren, sich öffentlich zu blamieren. Eine weite Pflicht sei das deswegen, weil diese
„Sorgfalt für die moralische Zufriedenheit Anderer“ (MdS TL, VI 394) in der Tat unbestimmt sei.
– Ob ein Blick genügt, oder ein Tritt vors Schienbein unterm Tisch erforderlich ist, hängt ja in der
Tat von mancherlei ab.
358
Dieser Begriff von Fülle meint freilich nicht das von Charles Taylor beschworene ‚Gefühl der
Fülle‘, das seine religiöse Anthropologie bestimmt (vgl. Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am
Main 2009, pass.).
359
Vgl. Heinz-Joachim Heydorn, Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, a.a.O., 9: „Ver-
nunft zielt auf Schmerzbefreiung, auf die Verwandlung der Ängste in gestaltendes Glück“.
360
MdS TL, VI 404.
361
MdS TL, VI 404 Anm.
294 D S
setzes; an sich qualitativ wird sie indes dadurch, daß Gesetzmäßigkeit selbst als Form
und Inhalt des Sittengesetzes gefaßt wird. Für sich qualitativ würde sie erst durch die
Zuspitzung auf die bestimmte Allgemeinheit der Menschheit.
Ebenso wie den mesotäs-Gedanken weist Kant den der bloßen Gewohnheit zurück:
„Denn wenn diese nicht eine Wirkung überlegter, fester und immer mehr geläuterter
Grundsätze ist, so ist sie wie ein jeder andere Mechanism aus technisch-praktischer Ver-
nunft weder auf alle Fälle gerüstet, noch vor der Veränderung, die neue Anlockungen
bewirken können, hinreichend gesichert.“362 Das Subjekt würde im Gegenteil „damit die
Freiheit in Nehmung seiner Maximen einbüßen […], welche doch der Charakter einer
Handlung aus Pflicht ist“363 . Jedoch ist Kant der Gedanke der Gewöhnung nicht über-
haupt fremd, sondern nur, sofern diese durch unreflektierte Übung angeeignet wird. Der
Tugendbegriff, sofern er als Fähigkeit zur Überwindung von Hindernissen der Sittlich-
keit in der Sinnlichkeit, ja geradezu kriegerisch als „Tapferkeit“364 gefaßt ist, enthält ein
Moment empirischer Stärke, das zu trainieren ist, auch wenn das Prinzip der Ausübung
dieser Stärke ein intelligibles ist.365
So streng die Abgrenzung zu Aristoteles beabsichtigt ist, die empirische Anlage der
Tugendlehre kann doch nicht mehr auf die rationale Einsicht ins moralische Gesetz
als Triebfeder allein bauen, sondern muß „subjective Bedingungen der Empfänglich-
keit für den Pflichtbegriff“ voraussetzen, wenngleich diese nicht „objective Bedingungen
der Moralität“366 sein dürfen. Diese ästhetischen Bedingungen von Moralität „sind das
moralische Gefühl, das Gewissen, die Liebe des Nächsten und die Achtung für sich
selbst“367 . Objektive und subjektive Bedingungen geraten jedoch in ein problematisches
Verhältnis: Einerseits habe jeder Mensch diese ästhetischen Anlagen und könne des-
halb Subjekt von Pflichtzuschreibung sein. Andererseits kämen die ästhetischen Anlagen
nicht empirisch, sondern nur durch das Bewußtsein des moralischen Gesetzes ihrerseits
zu Bewußtsein.“368 Wenn das Bewußtsein vom Gesetz erst die ästhetische Bedingung
hervorbringt, diese aber ihrerseits die Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff – der doch
wohl das Bewußtsein vom Gesetz ist – darstellen, ergibt sich ein Zirkel, der zudem
ins Leere läuft. Interpretiert man den Begriff der ‚moralischen Empfänglichkeit‘ nicht
streng systematisch, so ergibt sich eine Moralität, die nicht aus Einsicht zur Durch-
führung gelangt, sondern durch ein Gefühl der Neigung, dessen Bildung – und mit
dieser die praktizierte Moral – Gegenstände einer éducation sentimentale werden. Die-
se selbst wird in einer Welt, deren nichtmoralische Verhältnisse der Einsicht in Moral
362
MdS TL, VI 383f. Vgl. Anthropologie, VII 146.
363
MdS TL, VI 409.
364
MdS TL, VI 380.
365
Vgl. MdS TL, VI 397.
366
MdS TL, VI 399. Annemarie Piepers Versuch der empirischen Vermittlung des kategorischen
Imperativs in der GMS führt deshalb auch zu der Feststellung, empirische Moralisierung bedürfe
„vor allem aber der Gewöhnung durch Erziehung“ (Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?,
a.a.O., 277).
367
MdS TL, VI 399.
368
Vgl. MdS TL, VI 399. Vgl. auch auf derselben und der folgenden Seite Kants Ausführung zum
‚moralischen Gefühl‘, das innerhalb desselben Abschnitts einmal auf das Gesetz nur folgen könne
und einmal die Empfänglichkeit für die Bestimmung durchs Gesetz darstelle.
K: D T – E V? 295
tatsächlich keine affirmative Funktion zukommen lassen, zum Surrogat von Vernunft. –
Kants Urteil: „Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch; denn bei völliger Unemp-
fänglichkeit für diese Empfindung wäre er sittlich todt“369 ist hart, aber bezeichnet den
historisch-gesellschaftlichen Status der praktischen Vernunft doch exakt.
Die ästhetischen Anlagen im einzelnen betrachtet, erscheint nun die Achtung, die ein-
zige in der Kritik der praktischen Vernunft zugelassene Triebfeder, äußerst knapp an
letzter Stelle. Die Achtung vor sich selbst als gesetzgebendem Subjekt fungiert hier als
subjektive Bedingung, um überhaupt Pflichten denken zu können. Zentral erscheinen
dagegen das moralische Gefühl der Empfänglichkeit der Willkür für Vernunft, dessen
Unterschied zur Achtung undeutlich ist, sowie das Gewissen, das die Funktion der prak-
tischen Vernunft vorstellt, dem Subjekt im Einzelfall seine Pflicht vorzuhalten und da-
durch eine Wirkung im moralischen Gefühl – oder der Selbstachtung – zu erzeugen.
Beide wirken im Grunde nur zusammen und sollen kultiviert werden, um ihre Wirkung
aufs Subjekt zu stärken. Ihre Kultur ist Pflicht; eine Pflicht, sie zu haben, wäre jedoch
redundant, denn Kant zufolge hat sie „jeder Mensch, als sittliches Wesen, […] ursprüng-
lich in sich“370 . Die Doppeldeutigkeit der Formulierung dürfte Kant dahin verstanden
haben, daß jeder Mensch diese Gefühle ursprünglich habe und deshalb ein sittliches
Wesen sei. Dagegen wäre die andere mögliche Interpretation hervorzuheben, daß Men-
schen nur diese Gefühle haben, wenn sie sittliche Wesen sind. Dann allerdings hätten
sie sie nicht ursprünglich, weil sie nicht in einer ursprünglichen Weise sittliche Wesen
sind, sondern nur als zugleich substantiell gesellschaftliche Wesen. Ihr Gewissen und
Gefühl sind in ihrer Form und Bestimmtheit Resultate des Kultur- und Zivilisations-
prozesses, die akkumulativ tradiert werden. Sie haben – mindestens – ein Moment von
Heteronomie, das eben so stark ist, wie jener Prozeß auch durch Herrschaft und Unmoral
bestimmt ist.371 Und diese Heteronomie verlören derartige nicht sowohl zu kultivierende
als immer schon kultivierte Gefühle übrigens nicht im Geringsten unter freien gesell-
schaftlichen Bedingungen. Es ist zum Beispiel davon auszugehen, daß die Menschen
auch in einer Welt, in der niemand mehr Angst zu haben brauchte,372 solange weiter
Angst haben werden – und zwar besonders je vor sich selbst – bis sie durch eine andere
Form von Kultur ihre kultivierten Gefühle der Angst verlernt haben werden, weil diese,
so ist zu hoffen, funktionslos geworden sind.373
369
MdS TL, VI 400.
370
MdS TL, VI 400.
371
Vgl. Josef Simon, Kant, a.a.O., 431f.: Das Gewissen sei „Internalisierung fremder Vernunft“, die
geradezu einen „Widerspruch im Begriff der Person“ bewirke.
372
Vgl. Theodor W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, a.a.O., 202; auch
Negative Dialektik, a.a.O., 340.
373
Auf eine derartige Erziehung des Gefühls geht die Ästhetik von Helmut Lachenmann aus: „Das
Moment der Brechung des Vertrauten durch Bewußtmachung, Beleuchtung seiner Struktur schafft,
für sich gesehen, eine Situation nicht nur von Verunsicherung, sondern von bewußt ins Werk
gesetzter ‚Nichtmusik‘: Dies ist zugleich ein fürs Hören existentieller Moment, und erst im Sich-
einlassen auf jene Erfahrung ‚Nichtmusik‘ wird das Hören zum Wahrnehmen, erst hier ‚horcht
man auf‘. Erst hier hört man anders, erst hier wird man an die Veränderbarkeit des Hörens be-
ziehungsweise des ästhetischen Verhaltens, an die eigene Struktur also, an die eigene strukturelle
Veränderbarkeit, aber auch an jene humane Invariante erinnert, von wo aus allein dies alles denk-
296 D S
Die Menschheit selbst rangiert bei Kant unter den ästhetischen Bedingungen, weil oh-
ne sie keine Triebfeder zur Tugendpflicht, fremde Glückseligkeit zu befördern, denkbar
wäre. Allerdings schrumpft diese Triebfeder bis auf die Identität mit der Pflicht, de-
ren Treibfeder sie sein soll, zusammen, denn die menschliche Gattung sei „leider! dazu
nicht geeignet […], daß, wenn man sie näher kennt, sie sonderlich liebenswürdig befun-
den werden dürfte“374 . Aber „das Wohlwollen bleibt immer Pflicht“375 und wird daher
„(obzwar sehr uneigentlich) Liebe“376 genannt. Mehr bleibt nicht. Übe einer sich jedoch
fleißig darin, denen, die ihm übelwollen, selbst wohlzuwollen, so komme er „endlich
wohl gar dahin, den, welchem er wohl getan hat, wirklich zu lieben“377 . Auch diese
Form der Menschenliebe ist eine Variante der Selbstaufgabe, die mit der Selbstachtung
nicht wohl verträglich ist: Zwar ist es unbestreitbar, daß der, der überhaupt moralisch
handeln oder nur mit sich selbst einig bleiben will, unter unmoralischen Bedingungen
eigene Interessen hintanstellen muß und daß es eine Frage der Erwägungen und des
individuellen Gefühls sei, wie weit er damit gehe; dies aber als Resultat einer philoso-
phischen Morallehre zu entwickeln, legt den Subjekten die unmoralischen Verhältnisse
als anthropologisch notwendige Existenzbedingungen auf, eine Last, unter der sie als
Subjekte zerbrechen, oder genauer: einen Widerspruch, der ihre Subjektivität von innen
heraus zersplittert. Das moralische Subjekt im Unmoralischen könnte als Subjekt über-
haupt nur bestehen, wenn es auf der Einheit des eigenen Selbstbewußtseins besteht –
auch wo es zur Autonomie praktisch nicht zu gelangen vermag –, anstatt das Unmorali-
sche noch als ontologisch-anthropologisches Konstituens seiner Moralität zu begreifen.
Innerhalb des Unmoralischen entstehen Applikationsprobleme nicht zufällig, sondern
zwangsläufig, und zwar schon – was Kant nicht sieht – im Recht.378 Ihm zufolge enthalte
die Rechtslehre nur enge Pflichten, für deren Anwendung keine zusätzlichen Vorschrif-
ten nötig seien, sondern die sie „durch die That wahr macht“379 . Dies ist wohl als die
Behauptung unmittelbarer objektiver Gültigkeit des Rechts zu verstehen, dessen Gel-
tung und Ausübung nicht differieren. Soweit dies so ist, liegt das an der positiven Form
des Rechts, nicht aber an der besonderen Art seiner Pflichten: Als positiv mit Zwangs-
gewalt verknüpftes erzwingt es die Identität von Rechtsgeltung und Rechtswirklichkeit,
aber dies nur äußerlich und nur soweit es gelingt. Weil das so ist, ergeben sich auch in
Kants metaphysischen Anfangsgründen des Rechts schon pragmatische Probleme; die
bar ist: die Kraft dessen, was man Geist nennt.“ (Interview, in: DIE ZEIT, Nr. 19 vom 29. 4.
2005).
374
MdS TL, VI 402.
375
MdS TL, VI 402.
376
MdS TL, VI 402.
377
MdS TL, VI 402.
378
Deshalb entwickeln schon die frühesten Kantianer unter den Rechtswissenschaftlern, z. B. P.J.A.
Feuerbach, Vermittlungsmodelle zwischen Naturrecht und Rechtspraxis. Vgl. Friedrich Kaulbach,
Naturrecht und Erfahrungsbegriff im Zeichen der Anwendung der kantischen Rechtsphilosophie;
dargestellt an den Thesen von P.J.A. Feuerbach, in: Manfred Riedel (Hg.), Rehabilitierung der
praktischen Philosophie, a.a.O., Bd. 1.
379
MdS TL, VI 411.
K: D T – E V? 297
moderne Rechtspraxis ist von Pragmatismus gekennzeichnet,380 weil eben die Konflikte
bürgerlicher Rechtssubjekte nicht einfach dogmatisch entschieden werden können. Hegel
beschreibt dieses grundsätzliche Problem bürgerlichen Rechts, indem er das unbefange-
ne Unrecht direkt aus dem Vertragsbegriff entwickelt: Die Interessenkollision erscheint
als notwendige Folge dieser abstrakten Form der Interessenvermittlung.
Eine Kasuistik, die den systematischen Rahmen sprengt, ergibt sich für Kant aber
– quasi systematisch – erst aus dem Begriff der Tugendlehre, die es eben mit weiten
Pflichten zu tun habe, und daher Fragen aufwerfe „ welche die Urtheilskraft auffordern
auszumachen, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei und zwar so: daß
diese wiederum eine (untergeordnete) Maxime an die Hand gebe (wo immer wieder-
um nach einem Princip der Anwendung dieser auf vorkommende Fälle gefragt werden
kann)“381 . Das Verhältnis von Tugendpflicht und Handlung – die Sphäre, in der Moral
objektiv real werden soll – wird durch Maximen vermittelt, die die Tugendlehre auf die
Aporie des ‚dritten Menschen‘ führen: „[U]nd so geräth sie in eine Casuistik, von wel-
cher die Rechtslehre nichts weiß. Die Casuistik ist also weder eine Wissenschaft, noch
ein Theil derselben; denn das wäre Dogmatik und ist nicht sowohl Lehre, wie etwas
gefunden, sondern Übung, wie die Wahrheit solle gesucht werden; fragmentarisch also,
nicht systematisch (wie die erstere sein mußte) in sie verwebt, nur gleich den Scholien
zum System hinzu gethan.“382
Während die Urteilskraft so der Kasuistik überlassen wird, versucht Kant noch ein-
mal bei der reinen Vernunft anzugreifen und diese im Rahmen einer Methodenlehre
theoretisch und praktisch „zu üben“ und sie dadurch für die Praxis tauglich, eben tugend-
haft, zu machen.383 Für diese Methodenlehre gilt, sie könne „nicht fragmentarisch, son-
dern muß systematisch sein, wenn die Tugendlehre eine Wissenschaft vorstellen soll“384 .
Von der Möglichkeit, Tugend grundsätzlich zu lehren, hängt dann die Möglichkeit ei-
ner Tugendlehre überhaupt ab. Im Unterschied zur Moral, die durch vernünftige Einsicht
erkannt würde, kann es sich bei der Tugendlehre, aufgrund des Spielraums der Ver-
bindlichkeit, nur darum handeln, in den Subjekten eine Grundhaltung – eben doch eine
Art von habitus – auszubilden, wodurch die Wahrscheinlichkeit erhöht würde, daß zu-
mindest die absichtlich falsche – die lasterhafte – Entscheidung nicht getroffen wird.
Entsprechend bietet Kants Methodenlehre einen ‚Katechismus‘ und eine ‚Asketik‘ auf,
deren Anklang an religiöse Praktiken der nicht-wissenschaftlichen Form des Gegenstan-
des geschuldet zu sein scheint, deren explizite Abgrenzung aber gegen religiöse Praxis
die Wissenschaftlichkeit, zumindest die Verträglichkeit der Methoden der Tugend mit
dem Begriff der Moral sicherzustellen wünscht.
Daß eine Didaktik der Tugenden notwendig sei, ergebe sich direkt aus dem Begriff
der Tugend als einer sittlichen Stärke in Relation zu den nicht-sittlichen Triebfedern, die
zu überwinden seien. Keine Stärke sei angeboren, allenfalls das Vermögen, sie auszu-
380
Vgl. Peter Bulthaup, Rechtspragmatik oder von der Zwangsläufigkeit des sittlichen Verfalls der
Justiz, in: Das Gesetz der Befreiung, Lüneburg 1998.
381
MdS TL, VI 411.
382
MdS TL, VI 411.
383
Vgl. MdS TL, VI 411.
384
MdS TL, VI 478.
298 D S
bilden und dieses müsse eben bearbeitet werden. Dazu gehören dann Unterweisungen
inhaltlicher Art, um in dem Spielraum der Tugend Orientierung zu ermöglichen. Dies
wäre Aufgabe des Katechismus: zu unterrichten, was man wollen soll, und es dem Ge-
dächtnis einzuprägen; für den Katechisierten heißt das auswendig zu lernen.385 – Wäre
es vernünftig, so müßte es von einer gebildeten Vernunft jederzeit rekonstruierbar sein.
Herrscht Zugzwang zum Handeln, wären Bedingungen anzustreben, die überlegtes Han-
deln ermöglichen.386 Für echte Notsituationen gibt es ohnehin keine katechisierbaren
Rezepte.
Kant will trotz dem Spielraum der Pflichten daran festhalten, daß man das, was man
soll, auch kann.387 Er erweitert diese These aber in pragmatischer Absicht dahin, daß
„man […] nicht Alles sofort [kann], was man will, wenn man nicht vorher seine Kräfte
versucht und geübt hat“388 . Diese Einschränkung soll sich nun nicht auf den sittlichen
Zweck selbst beziehen, weshalb „die Entschließung auf einmal vollständig genommen
werden muß“389 . Der moralische Entschluß erlaubt keine pragmatische Ermäßigung,
denn die moralische Maxime wäre dann der Maxime untergeordnet, es sich möglichst
leicht zu machen – durch verkürzte und etappenweise Realisierung von Moral. Nur in
der Ausübung aber darf geübt und geprobt werden. Dies heißt aber vor allem – da an der
moralischen Maxime nichts nachgegeben werden soll –, daß die Übung in der Praxis der
Selbstverleugnung bestehen müßte, die freilich keiner von Geburt an beherrscht. Deshalb
muß die Tugend „durch Versuche der Bekämpfung des inneren Feindes im Menschen
[d. i. die Sinnlichkeit; M.St.] (ascetisch) cultivirt, geübt werden“390 . Der zweite Teil der
Didaktik besteht also in einer Asketik. Ohne nun auf deren Methoden im einzelnen ein-
zugehen, ist festzuhalten, daß es Kant darauf ankommt, wie die Tugenderziehung „für
den noch rohen Zögling“391 auszusehen hat. Schon diese Voraussetzung ist zweifelhaft,
denn der junge Mensch, der in die Tugendschule gerät, ist nicht roh, sondern bringt
schon aus der elterlichen und sozialen Erziehung eine Reihe bestimmter Vorstellungen
mit. Zwar beschränkt sich nach Kants Pädagogik die Erziehung vor der später einset-
zenden Unterweisung auf bloß physische Erziehung, nämlich die Verpflegung und Pflege
durch Eltern oder deren Stellvertreter. Und doch gehören schon Gemütsbildung und Kul-
385
MdS TL, Vgl. VI 479.
386
So auch Michael Quante in einem Vortrag über das Thema Warum kann es keine gerechte Ver-
teilung knapper Organe geben? 10 Jahre Transplantationsgesetz, am 29. 4. 2008 im Rahmen
der Ringvorlesung Aktuelle Probleme der Medizinethik an der Westfälischen Wilhems-Universi-
tät Münster: Wo es keine ethische Regel zur Lösung von Gerechtigkeitskonflikten gebe, könne
allenfalls im Vorfeld darauf gesehen werden, daß solche Konflikte möglichst nicht entstünden.
387
Für Kant ist dieser Zusammenhang von moralischem Wollen, Sollen und Können so selbstverständ-
lich, daß er ihn als eine „hochtönende Tautologie“ (Anthropologie, VII 148) bezeichnet. Dieter
Henrich hat darauf hingewiesen, daß diese These bei Kant bloße Behauptung bleibt und daß auch
bei Fichte lediglich die Darstellung des positiven Verhältnisses von Subjekt und Sittlichkeit durch
dessen Deduktion von Freiheit und Gesetz anders ausfällt. Vgl. Dieter Henrich, Ethik der Autono-
mie, a.a.O., 52.
388
MdS TL, VI 477.
389
MdS TL, VI 477.
390
MdS TL, VI 477.
391
MdS TL, VI 478.
K: D T – E V? 299
tur dazu und selbst die Fragen des Windelns und Säugens (unter welchen Bedingungen
nämlich beispielsweise Branntwein als Babynahrung zu verwenden sei) verweisen auf
soziokulturelle Zweckzusammenhänge.392 Die Roheit, von der Kant in der Tugendleh-
re ausgeht, gründet wohl in folgender Auffassung: „Es ist Niemand, der nicht in seiner
Jugend verwahrlost wäre und es im reifern Alter nicht selbst einsehen sollte, worin, es
sei in der Disciplin, oder in der Cultur (so kann man die Unterweisung nennen), er ver-
nachlässigt worden. Derjenige, der nicht cultivirt ist, ist roh, wer nicht disciplinirt ist, ist
wild.“393
Gleichwohl sedimentieren auch im verwahrlosten Charakter, wie vereinzelt auch im-
mer, gesellschaftliche Vorstellungen, mit denen Kants „Bruchstück eines moralischen
Katechisms“394 auch erkennbar arbeitet. Jede Frage, die der arme Schüler überhaupt zu
beantworten weiß – etwa die, daß man auch, wenn man vermögend ist, Trunkenbolden
keinen Wein einzuschenken hat –, reproduziert, wie berechtigt auch immer, zunächst
ansozialisierte Vorurteile, bis hin zum physikoteleologischen Gottesbeweis, der aus der
rohen Seele nur so herauszusprudeln scheint.395
Kant, für den der Gottesbeweis die natürliche Denkweise selbst der gemeinsten Ver-
nunft ist, rechtfertigt die Methode gegenüber dem als abstrakt abgelehnten religiösen
Katechismus dadurch, daß der moralische „aus der gemeinen Menschenvernunft (sei-
nem Inhalte nach) entwickelt werden kann“396 . Dadurch wird moralische Bildung zu
einer Erziehung mit vorgeblich ungeschichtlichen Inhalten. Daß diese Erziehung tat-
sächlich durchaus mit schon vorgebildeten Charakteren arbeitet, gesteht Kant mit der
Unterscheidung des „verunarteten Lehrling[s]“ von dem „guten (ordentlichen, fleißigen)
Knaben“397 implizit wohl zu; zugleich relativiert er das Zugeständnis, denn der Ausdruck
der Verunartung setzt eine von Natur gegebene ‚richtige Art‘ des Verhaltens voraus.
Sonst wäre von einem wohlerzogenen und einem schlecht erzogenen Kind zu reden. In-
dem Kant die geratene Erziehung aber als natürlichen Ausdruck der gemeinen Vernunft
verhandelt, erscheinen sowohl die von Eltern und Umgebung vorurteilshaft übernomme-
nen Vorstellungen als auch das, was mit den Kindern in der Tugendschule geschieht, als
Unterstützung der Ausbildung natürlicher Begabungen. Tatsächlich wird hier ein junger
Mensch systematisch in den Funktionszusammenhang gesellschaftlicher Normen inte-
griert. Selbst wenn diese Normen rational – moralisch – sein sollten, setzen die Art und
die Form ihrer Anerziehung darauf, sie als gesellschaftlich transportierte Vorurteile zu
befestigen, ohne sie der Reflexion des Selbstbewußtseins und der Selbstbestimmung des
jungen Menschen, der ja kein ganz kleines Kind mehr sein dürfte, anzuvertrauen.
392
Vgl. Pädagogik, IX 456-486.
393
Pädagogik, IX 444.
394
MdS TL, VI 480ff.
395
Die Form, die sich an den Platonischen Dialog anlehnen will, gerät unfreiwillig zu dessen Karika-
tur, indem sie die ästhetische Form antiker Philosophie zur ernsthaften Didaktik erhebt, die ohne
Platonische Ironie auskommen muß.
396
MdS TL, VI 479. Gegen Kants wiederholte Behauptung, Moral und Gott seien dem gemeinen
Menschenverstand zugänglich, wandte sich schon Johann Friedrich Herbart, Psychologie als Wis-
senschaft. Neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, in: Sämtliche Werke, 1887-
1912, Bd. 6, 270.
397
MdS TL, VI 480.
300 D S
Vertrauen in die Reflexion und Selbstbestimmung der Schüler würde aber deren Ein-
sicht in die geschichtlichen Bedingungen des Handelns im Verhältnis zu dessen ra-
tionalen Gesetzen voraussetzen und erforderte damit die Aufklärung der Schüler über
die objektiven Bedingungen, unter denen sie werden handeln müssen. Die Welt, in der
Menschen handeln, ist aber nicht einfach durch den – wie immer eingeschränkten – te-
leologischen Gottesbeweis darzustellen. Im Gegenteil: „Denn bei der etwanigen großen
Menge der Verbrecher, die ihr Schuldenregister immer so fortlaufen lassen, würde die
Strafgerechtigkeit den Zweck der Schöpfung nicht in der Liebe des Welturhebers (wie
man sich doch denken muß), sondern in der strengen Befolgung des Rechts setzen (das
Recht selbst zum Zweck machen, der in der Ehre Gottes gesetzt wird), welches, da
das Letztere (die Gerechtigkeit) nur die einschränkende Bedingung des Ersteren (der
Gütigkeit) ist, den Principien der praktischen Vernunft zu widersprechen scheint, nach
welchen eine Weltschöpfung hätte unterbleiben müssen, die ein der Absicht ihres Ur-
hebers, die nur Liebe zum Grunde haben kann, so widerstreitendes Product geliefert
haben würde.“398 – Durch aufgeklärte und aufklärende Bildung zur Autonomie, die eine
umfassende Schulbildung einbegreift, und die Schüler, soweit möglich, aus dem Zusam-
menhang gesellschaftlicher Vorurteile und Sachzwänge heraushält, wäre allenfalls das
zu realisieren, was Kant als „Princip der Erziehungskunst“ bezeichnet: „Kinder sollen
nicht nur dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglichen bessern Zustande des
menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestim-
mung angemessen erzogen werden.“399 Eine Tugenderziehung über dieses Prinzip hinaus
ist aufgrund dieses Prinzips selbst abzulehnen, weil sie traditionelle Inhalte aufgreift, die
mit der Idee der Menschheit nicht vereinbar sind.
Kants pragmatische Tugenderziehung soll nun auch demgemäß zwar auf die Stär-
kung der moralischen Widerstandskraft wirken, aber nicht zum Widerstand gegen das
Unmoralische in der Welt, sondern gegen die eigene sinnliche Existenz. Den jungen
Menschen sei deutlich zu machen, „daß alle Übel, Drangsale und Leiden des Lebens,
selbst Bedrohung mit dem Tode, die ihn darüber, daß er seiner Pflicht treu gehorcht,
treffen mögen, ihm doch das Bewußtsein, über sie alle erhoben und Meister zu sein,
nicht rauben können“400 . Dazu helfe durchaus die Vorstellung des Lasters selbst als das
immer noch größere Übel. Diese Vorstellung sei zwar nicht Prinzip der Didaktik, die
„ganz rein auf das sittliche Princip gegründet“ werden muß, aber sie sei ein „den Gau-
men der von Natur Schwachen zu bloßen Vehikeln dienender“401 Zusatz. In diesem Sinn
‚schwach‘ sind dann alle, die nach bestimmbaren Gründen verlangen, weil diese mit dem
Begriff der Freiheit nicht gegeben werden können, denn der ist spekulativ nicht faßbar;
doch muß gerade diese „Unbegreiflichkeit in diesem Selbsterkenntnisse der Seele eine
Erhebung geben, die sie zum Heilighalten ihrer Pflicht nur desto stärker belebt, je mehr
sie angefochten wird“402 . Auch wenn es zugestanden wird, daß der Grund von Freiheit
398
MdS TL, VI 490f.
399
Pädagogik, IX 447.
400
MdS TL, VI 483.
401
MdS TL, VI 482.
402
MdS TL, VI 683.
K: D T – E V? 301
durch positive Erklärung nicht darstellbar ist, so bleibt es doch fragwürdig, ob daraus
der affirmative Mystizismus solcher Selbsterhebung der Seele zu ziehen sei.
Die bestimmten Kenntnisse sollen nicht prinzipiell vermittelt werden, sondern da-
durch, „bei jeder Pflichtzergliederung einige casuistische Fragen aufzuwerfen und die
versammelten Kinder ihren Verstand versuchen zu lassen“403 . Diese Form der Wissens-
vermittlung, in der wieder und vermehrt die vorhandenen Vorurteile bestätigt und aus-
gebaut werden, führt zu einer geradezu emotionalen Bindung an diese Vorurteile, „weil
es in der Natur des Menschen liegt, das zu lieben, worin und in dessen Bearbeitung er
es bis zu einer Wissenschaft (mit der er nun Bescheid weiß) gebracht hat, und so der
Lehrling durch dergleichen Übungen unvermerkt in das Interesse der Sittlichkeit gezo-
gen wird“404 . – Nun ist ‚Bescheidwissen‘ keineswegs Wissenschaft, eher ihr Gegenteil,
denn wer einen Bescheid weiß, weiß ihn deshalb, weil ihm zuvor Bescheid gegeben wur-
de, weil er so und nicht anders beschieden wurde. Solches Wissen steht tatsächlich in
einem affirmativen Verhältnis zu seinem Gegenstand, das der reflektierten Wissenschaft
durchaus abgeht. Gerade das erhabene Gefühl, in der Wissenschaft von der Moral etwas
erkannt zu haben, sollte doch mit dem Entsetzen über den realen Zustand der Moralität
verbunden sein und das ‚Interesse an der Sittlichkeit‘ wäre in sich gebrochen.
Die moralische Katechisierung der Jugend aber unter unmoralischen Bedingungen
richtet die Negativität der Moral systematisch gegen die Subjekte selbst. Deren natür-
liches Widerstreben wird zum Gegenstand einer ethischen Asketik, in der – der Un-
möglichkeit, zum Selbstopfer zu verpflichten,405 zum Trotz – die Opferung mancher
Lebensfreude einzuüben sei,406 um im Kampf mit den inneren, sinnlichen Hindernissen
der Tugend ein wackeres Gemüt zu erwerben, das aber durch das Selbstopfer zugleich
fröhlich gestimmt sei, denn wenn man sich „nicht mit Lust“ opfere, so habe das „kei-
nen inneren Werth und wird nicht geliebt, sondern die Gelegenheit ihrer Ausübung so
viel möglich geflohen“407 . Nun mag es wohl sein, daß in gewissen Situationen, in de-
nen moralisches Handeln geboten ist, dieses ohne Verzicht auf eigene Interessen nicht
möglich wäre. Dies kann aber nicht zur affirmativen Regel erhoben werden, deren von
den Bedingungen aufgezwungene Befolgung noch ein Lustgewinn abzunehmen sei. In
der für Kant eher untypischen affirmativen Synthese des Stoizismus mit dem Epikureis-
mus zeigt sich erneut die Geschichtslosigkeit der Konstruktion. Freilich soll die Neigung
nicht als solche bekämpft oder bestraft werden, im Sinne einer „Mönchsascetik“, son-
dern sie sei eine „ethische Gymnastik […] in der Bekämpfung der Naturtriebe, die das
Maß erreicht, über sie bei vorkommenden, der Moralität Gefahr drohenden Fällen Meis-
ter werden zu können; mithin die wacker und im Bewußtsein seiner wiedererworbenen
Freiheit fröhlich macht“408 . Die von Kant als abergläubisch zurückgewiesene Selbst-
403
MdS TL, VI 683.
404
MdS TL, VI 484.
405
Vgl. MdS TL, VI 393.
406
Vgl. MdS TL, VI 484.
407
MdS TL, VI 484. Entsprechend werden auch in der Anthropologie „Purism“ und „Fleischestöd-
tung“ abgelehnt, weil sie „verzerrte Gestalten der Tugend und für diese nicht einladend“ (VII 282)
seien.
408
MdS TL, VI 485.
302 D S
kasteiung erhält tatsächlich nur ein anderes Objekt. Nicht eine transzendente Instanz
gebietet sie, sondern das Subjekt sich selbst. Dadurch wird Selbstkasteiung nach innen,
ins bürgerliche Subjekt verlegt, unter der Vorstellung einer bloß pragmatischen Übung,
nämlich die Neigungen bis zu dem Maß zu drücken, unter dem sie nicht mehr moralisch
bedenklich seien. Dieses Maß aber ist im Kontinuum der Entsagung nicht zu bezeich-
nen, und deshalb tritt die systematische Neigungsbekämpfung unter dem Wahlspruch
‚Sustine et abstine!‘409 prinzipiell immer einen Schritt zu kurz und ist damit potentiell
schon immer einen zu weit gegangen.
Die Pragmatisierung der Morallehre als Tugendlehre gerät nicht zufällig, sondern
zwangsläufig in diese Konsequenz, weil sie den Anspruch von Moral unter solchen Be-
dingungen empirisch auflegt, die diesem Anspruch zuwiderlaufen. Die Ermäßigung zu
weiten Pflichten verschlägt dabei nichts, weil sie die Subjekte nicht von der moralischen
Unbedingtheit befreit, ohne sie zugleich in die empirische Unnachgiebigkeit der Ver-
hältnisse einzuspannen. Weil diese Pragmatik das Wesen der Tugendlehre insgesamt
ausmacht, erscheint hier Sittlichkeit ausgeführt als das Zwangssystem, das in der Mo-
rallehre bloß antizipiert war: „Zur inneren Freiheit aber werden zwei Stücke erfordert:
seiner selbst in einem gegebenen Fall Meister (animus sui compos) und über sich selbst
Herr zu sein (imperium in semetipsum), d. i. seine Affecten zu zähmen und seine Lei-
denschaften zu beherrschen.“410 Die Selbstverhaltung wird als Regelfall des sittlichen,
gesellschaftlichen, Handelns begriffen. Deshalb kann Kant sagen: „Der Pflichtbegriff
ist an sich schon der Begriff von einer Nöthigung (Zwang) der freien Willkür durchs
Gesetz“411 . Wenn Freiheit stets als Zwang verstanden wird, dann wird die wesentliche
Differenz der Moral zum Recht – durch Freiheit und nicht durch Zwang bestimmt zu
sein – in einer Hinsicht aufgehoben. Für Kant wird deshalb die Sittlichkeit ein reines
Zwangsverhältnis des Subjekts zu sich, und zwar sowohl in positiver wie in negativer
Hinsicht, denn nicht nur die Befolgung des Sittengesetzes geschieht „ungern“412 , son-
dern auch seine Übertretung, „denn es giebt keinen so verruchten Menschen, der bei
dieser Übertretung in sich nicht einen Widerstand fühlte und eine Verabscheuung sei-
ner selbst, bei der er sich selbst Zwang anthun muߓ413 . Freiheit erscheint nur mehr als
„[d]ieser wechselseitig entgegengesetzte Selbstzwang“414 . Für das Subjekt, jedenfalls für
das, das durch Kants Katechismus und Asketik gegangen ist, kann Handeln nur noch
als gegen sich selbst zu erzwingende Option erscheinen. Tatsächlich wird der, wenn-
gleich verinnerlichte, Zwang wirksam äußerlich vertreten, denn die Zwangshaftigkeit
des Handelns ist längst auch ohne systematische Anwendung und Instrumentalisierung
von Asketik oder Katechismus gesellschaftliche Realität.
Die Freiheit des Selbstzwangs sieht Kant nun ausgerechnet im Vermögen Zwecke zu
setzen realisiert: „Es giebt nämlich keine andere Bestimmung der Willkür, die durch ih-
ren Begriff schon dazu geeignet wäre, von der Willkür Anderer selbst physisch nicht
409
Pädagogik, IX 486.
410
MdS TL, VI 407.
411
MdS TL, VI 379.
412
MdS TL, VI 379.
413
MdS TL, VI 380 Anm.
414
MdS TL, VI 380 Anm.
K: D T – E V? 303
gezwungen werden zu können, als nur die zu einem Zwecke. Ein Anderer kann mich
zwar zwingen etwas zu thun, was nicht mein Zweck (sondern nur Mittel zum Zweck
eines Anderen) ist, aber nicht dazu, daß ich es mir zum Zweck mache, und doch kann
ich keinen Zweck haben, ohne ihn mir zu machen.“415 Die letzte Wendung, die Kant
als widersprüchlich bezeichnet, drückt exakt das Grundproblem heteronom bestimmter
Arbeitsprozesse aus, also desjenigen Phänomens, das die gesellschaftliche Realität maß-
geblich bestimmt: Niemand kann einen fremden Zweck ausführen, ohne ihn sich selbst
zu eigen zu machen; Menschen sind keine Maschinen und müssen noch die fremde Herr-
schaft über ihre Zwecke an sich selbst exekutieren.416 Dadurch müssen sie sich selbst als
Gegner ihrer existentiellen Interessen begegnen und erkennen;417 und dies müssen sie,
gleichgültig ob sie der Affirmation folgen, sie selbst seien Urheber des Selbstzwangs
oder ob sie diesen als äußerlich verursachten erkennen. Es bleibt ein Moment von Selbst-
zwang. Im zweiten Fall aber sind sie vermögend, kritisch zu begreifen, daß es – wie Kant
beiläufig bemerkt – „ein Act der Freiheit, der doch zugleich nicht frei ist“418 , sei. Kant
bezieht dies nur auf Zwecke, die zugleich Pflicht seien, und dort sei es doch kein Wider-
spruch, „weil ich da mich selbst zwinge, welches mit der Freiheit gar wohl zusammen
besteht“419 . Selbstzwang ist nur dort ein Merkmal, wo Herrschaft die Notwendigkeit von
Selbstbezwingung erst erzeugt. Unter diesen Bedingungen wird das sinnliche Subjekt
als Träger des intelligiblen Subjekts immer auch zum Mittel von dessen Instrumenta-
lisierung. Wenn es selbst diese Instrumentalisierung an sich vollzieht, so wird ihm das
Bedürfnis seiner Sinne, das über das, was ihm beschieden wird, hinausweist, zum Objekt
der Bekämpfung: „[E]r muß lernen, etwas zu entbehren, was ihm abgeschlagen wird“420 .
Das sinnliche Subjekt sei zu erhalten, soweit es Bedingung der Möglichkeit des Han-
delns und der Tugend unter den gegebenen Bedingungen überhaupt ist: „Wohlhabenheit
für sich selbst zu suchen ist direct nicht Pflicht; aber indirect kann es eine solche wohl
sein: nämlich Armuth, als eine große Versuchung zu Lastern, abzuwehren.“421 So wird
die Unendlichkeit des Bedürfnisses aber nicht zum Motor der Kultivierung seiner ge-
sellschaftlichen Befriedigung.
Dieser Pragmatismus der Tugend darf nun keineswegs als „[p]hantastisch-tugendhaft“
mißverstanden werden. So kann „der genannt werden, der keine in Ansehung der Mo-
ralität gleichgültige Dinge (adiaphora) einräumt und sich alle seine Schritte und Tritte
mit Pflichten als mit Fußangeln bestreut und es nicht gleichgültig findet, ob ich mich mit
415
MdS TL, VI 381.
416
Ein Ausdruck dieses Sachverhaltes ist das Marxische Modell vom Baumeister, der doch der besten
Biene noch voraushat, daß er den Plan des Bauwerks gedacht haben muß, bevor er ihn ausführt.
Vgl. Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., 193.
417
Daß Heidegger hieraus die absolute Freiheit im Sein zum Tode ableiten zu können glaubte, be-
leuchtet die innere Konsequenz von Kants Argumentation schon richtig. Sind Menschen bei der
einzigen Alternative der Preisgabe ihrer Existenz gezwungen, sich Zwecke zu setzen, die nicht
ihre sind und die es vernünftiger Weise auch nicht sein können, so geraten sie mit sich in einen
Widerspruch, der notwendig ihr Selbstbewußtsein beschädigt.
418
MdS TL, VI 381.
419
MdS TL, VI 381f.
420
Pädagogik, IX 487.
421
MdS TL, VI 388.
304 D S
Fleisch oder Fisch, mit Bier oder Wein, wenn mir beides bekommt, nähre; eine Mikrolo-
gie, welche, wenn man sie in die Lehre der Tugend aufnähme, die Herrschaft derselben
zur Tyrannei machen würde.“422 Tyrannei wäre Gewalt zwar mit Gesetz, doch ohne Frei-
heit. Kant will dagegen Freiheit mit Gesetz und Gewalt, die Republik der Tugend. In
dieser aber, das zeigt gerade Kants menschlichste Einlassung, existiert das Subjekt, des-
sen Sache verhandelt wird, als empirisches, sinnliches im Bereich des adiaphoron. Ohne
das Gleichgültige gering zu achten, ohne das kein Leben wäre, müßte aber doch die
Subjektivität der lebenden Menschen unverhandelbarer Maßstab sein, dessen Refugium
nicht eben am Modell einer Speisenkarte darzustellen wäre.
422
MdS TL, VI 409.
423
Pädagogik, IX 477. – Zum Zusammenhang vgl. Andreas Gruschka, Bürgerliche Kälte und Päd-
agogik. Moral in Gesellschaft und Erziehung, Wetzlar 1994.
424
Vgl. Pädagogik, IX 481.
425
Pädagogik, IX 481.
E: Ü M 305
Dingen kann man Kindern die Wahl lassen, nur müssen sie das, was sie sich einmal zum
Gesetze gemacht haben, nachher immer befolgen.“426 Das adiaphoron, in dem schon
hier ein Refugium individueller Subjektivität zu suchen sei, war doch nur scheinbar
eins: Weichen die Kinder einmal einen Finger breit von ihrem selbsterwählten Wege
ab, so ist zu strafen. Einheit des Subjekts, das Innerste, wird äußerlich erzogen und er-
zwungen. Gestraft wird vorzüglich durch Liebesentzug, den Kant ‚moralische Strafe‘
nennt.427 Verschlägt diese nichts, so ist physisch zu strafen. Ohne auf die psychischen
Schäden einzugehen, die diese Strafkultur erzeugt – von Kants Auffassungen zur Sexu-
alerziehung ganz zu schweigen –,428 ist hier nur zu betrachten, wie solche Bildung sich
im praktischen Selbstbewußtsein der Subjekte niederschlägt.
Die zentrale Charaktereigenschaft nun, die durch Zwang zu erzeugen sei, sei Gehor-
sam, weil „er das Kind zur Erfüllung solcher Gesetze vorbereitet, die es künftighin als
Bürger erfüllen muß, wenn sie ihm auch gleich nicht gefallen“429 . Die Staatsbürgerprä-
gung geht nicht nur vor der Moralerziehung vorher, sondern war ja sogar als deren erster
Schritt vorgestellt worden. Ein weiteres staatsbürgerliches Element des Charakters ist die
Geselligkeit, Gesellschaftstauglichkeit, zu der die Kinder erzogen werden müssen; diese
ist jedoch von Anfang an mit dem Attribut der Ungeselligkeit wie selbstverständlich ver-
bunden: Das Kind, will es andere erfolgreich „zu seiner Absicht gebrauchen“, muß „sich
verhehlen und undurchdringlich machen, den Andern aber durchforschen können. […]
Die Kunst des äußern Scheines ist der Anstand.“430 Das dritte Moment des Charakters
ist, übrigens, ‚Wahrhaftigkeit‘.
So wie Kant vorschlägt, die Kinder möglichst nicht mit den Standesunterschieden der
bürgerlichen Gesellschaft zu konfrontieren und den Jünglingen diese als so kontingent
und gewaltsam zu erklären, wie sie tatsächlich sind,431 so wäre es über Kant hinaus
wohl auch denkbar, die Menschen, in Aussicht auf eine weltbürgerliche Moralerziehung,
solange vor den bürgerlichen Zwängen zu bewahren, bis sie fähig sind, das Potential
ihrer praktischen Vernunft wenigstens im ersten Ansatz zu erfassen.
Für die Subjekte, die durch die bürgerliche Charakterschule gegangen sind, wie sie in
der einen oder anderen Form grundsätzlich jedes ereilt, gilt unter Vorbehalt wohl Kants
Einsicht: „Viele Leute denken, ihre Jugendjahre seien die besten und die angenehmsten
ihres Lebens gewesen. Aber dem ist wohl nicht so. Es sind die beschwerlichsten Jahre,
weil man da sehr unter der Zucht ist, selten einen eigentlichen Freund und noch seltener
Freiheit haben kann.“432
426
Pädagogik, IX 481.
427
Vgl. Pädagogik, IX 482: „Moralisch straft man, wenn man der Neigung, geehrt und geliebt zu
werden, die Hülfsmittel der Moralität sind, Abbruch thut, z.E. wenn man das Kind beschämt, ihm
frostig und kalt begegnet. Diese Neigungen müssen so viel als möglich erhalten werden. Daher ist
diese Art zu strafen die beste, weil sie der Moralität zu Hülfe kommt; z.E. wenn ein Kind lügt, so
ist ein Blick der Verachtung Strafe genug und die zweckmäßigste Strafe.“
428
Vgl. Pädagogik, IX 496f.
429
Pädagogik, IX 482.
430
Pädagogik, IX 486.
431
Vgl. Pädagogik, IX 498f.
432
Pädagogik, IX 485.
306 D S
Daß dies nur unter Vorbehalt gelte, ist Kants Bemerkung zu entnehmen, derzufolge
Viele diesen Sachverhalt anders beurteilen. Der Vorbehalt ist folgender: Wer nicht ein
Leben lang Zucht und Annehmlichkeit verwechseln soll, dem muß es gelingen, sich,
nachdem er der Schule entronnen ist, aus eigener moralischer Kraft von dem, was ihm
beigebracht wurde, zu befreien, – aus einem Zuchtobjekt sich selbst in einen freien und
freundschaftlichen Menschen zu verwandeln. Den wenigsten, wie auch Kant schreibt,
gelingt das.433
433
Ausnahmsweise eine biographische Anmerkung: Kant, der unter seiner pietistischen Erziehung
gelitten haben soll, gelang die Befreiung immerhin soweit, daß er zu dieser Beobachtung fähig
war.
II. Teil: Subjektivität
IV Die transzendentale Form praktischer Subjektivität
2
In diesem Sinn auch Christine M. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, a.a.O.
3
KrV, B 433.
D A V 311
in der Pluralität fragwürdig – ist.4 Nicht nur der Skeptizismus, der über die notwendige
Widersprüchlichkeit der Prinzipien der Objektivität an der Möglichkeit von Erkenntnis
verzweifelt, hebt die adäquate Verknüpfung von Subjekt und Objekt auf; auch jede Auf-
lösung nach einer Seite der Antinomien höbe die Möglichkeit von Erfahrung auf, weil
damit zugleich die Möglichkeit von deren Gegenständen zerstört würde. Da beide Sei-
ten der Antinomien, wenn überhaupt, nur im Subjekt koordiniert werden können,5 da
schlechthin die Antinomie nur Ausdruck der vernünftigen Reflexion auf Objektivität ist,
kann die Lösung des Problems auch nur im Subjekt, das es denkt, selbst gesucht werden.
Die Antinomien der Vernunft ergeben sich näher aus deren Reflexion auf die Begriffe
des Verstandes. Die Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit der Verknüpfung
von Anschauungen zu Objekterfahrungen dienen zumindest teilweise der Ordnung
von Reihen von Anschauungen, weil sie diese als Bedingungsverhältnisse bestimmen.
Diese Reihen sind empirisch immer endlich, die Kategorien, als allgemeine Formen
solcher endlicher Reihen, sind zwar a priori nicht begrenzt, leisten aber auch nicht den
Übergang zum Unendlichen; sie sind indifferent, bloße begriffliche Formen empirischer
Verhältnisse, die als solche nicht in den Grenzen möglicher Erfahrung erkannt werden
könnten, wenn die Kategorien ihren empirischen Gehalt aus sich heraus sogleich
transzendieren würden. Wenn nun die Anschauungen selbst schon kategorial vermittelt
– durchs Subjekt konstituiert – werden, läßt sich annehmen, daß ein Moment von
Endlichkeit sogar in den Kategorien selbst liege; dies zwar nicht, sofern sie Begriffe
– Formen – sind, aber doch, sofern sie immer schon auf Gegenstände der Erfahrung
bezogen gedacht werden müssen.6 Kants Subjektivierung der Objektivität zum Trotz
4
Zur Einteilung der Welt- bzw. Naturbegriffe vgl. KrV, B 446ff.
5
Widersprüche sind schon als Relationen keine Gegenstände möglicher Erfahrung, der allenfalls
einzelne Relata gegeben sein können; deren Vermittlung zum Widerspruch ist eine Leistung des
Denkens.
6
Vgl. Josef Simon, Kant, a.a.O. Simon vertritt die weitgehende Auffassung, das ‚Ich denke‘ sei
‚standpunktgebunden‘, stets definiert durch sein hier und jetzt (z. B. 557). Allerdings verwahrt
Simon sich gegen den Relativismus-Vorwurf: Das Ich sei geschichtlich bedingt, nicht aber ge-
schichtlich ableitbar (74). Hier soll noch zurückhaltender und nur negativ behauptet werden, daß
transzendentale Subjektivität als Reflexionsform der empirischen ohne diese nicht denkbar ist.
Frank Kuhne, Selbstbewußtsein und Erfahrung bei Kant und bei Fichte. Über Möglichkeiten und
Grenzen der Transzendentalphilosophie, Hamburg 2007, stellt ein „historische[s], gesellschaftli-
che[s] Moment der transzendentalen Einheit der Apperzeption“ (325) fest, durchaus im Bewußtsein
dessen, daß die Geltung der Erkenntnis nicht in ihrer Genesis aufzulösen sei. Vgl. hierzu wissen-
schaftstheoretisch Kurt Bayertz, Wissenschaft als historischer Prozeß, a.a.O., Kapitel XII. Die
Notwendigkeit der Spontaneität hält Henrich fest in Subjektivität als Prinzip, a.a.O.: Selbstwis-
sen könne von außen angeregt werden, müsse aber völlig spontan und unveränderlich entstehen.
„Darauf ist dann aber auch die soziale Genese des Selbstwissens beschränkt.“ (38). – Diese for-
male Immanenz des Selbstbewußtseins führt aber auf den eklatanten Widerspruch einer „leeren
Selbstbeziehung“ (Dieter Henrich, Selbsterhaltung und Geschichtlichkeit, a.a.O., 304), die doch
ein Wissen von den Bedürfnissen und Bedingungen des eigenen Wesens beinhalte (also nicht leer
ist). Kennzeichnend für weite Teile der Diskussion um Selbsterhaltung war, daß diese als logische
Struktur, bewußtseinsimmanent aufgefaßt wurde: „Er [der Mensch] kennt sich als Ein Wesen und
zugleich als Distanz in ihm selber.“ (ebda. 310) Dafür bietet Kant allerdings einen Anknüpfungs-
punkt, insofern er von „Selbsterhaltung der Vernunft“ spricht (Sich im Denken orientieren, VIII
312 D F S
scheint hier ein Moment objektiver Bestimmung im Kern von Subjektivität selbst
auf.7
Diese Beschränkung der Kategorien aufzuheben, liegt nun im Interesse der Vernunft,
die sie „von den unvermeidlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung frei ma-
che und ihn also über die Grenzen des Empirischen, doch aber in Verknüpfung mit
demselben zu erweitern suche“8 . Die Vernunft geht darauf aus, die Möglichkeit endlicher
Erkenntnis – dort wo diese Endlichkeit die Erklärung eines Erfahrungsgegenstandes aus
Bedingungen bestimmt – in der Begründung durch ein Unendliches abzusichern, durch
die universale Bedingung, die selbst keine Bedingungen mehr hat. Diese Ausrichtung
der Vernunft ist daraus zu erklären, daß sich ein bedingtes Gegebenes zwar jederzeit
faktisch verstehen läßt, daß aber sein Dasein – solange jede seiner Bedingungen auf
weitere verweist – nicht gedacht werden kann: „[W]enn das Bedingte gegeben ist, so ist
auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben,
wodurch jenes allein möglich war“9 .
Hierin liegen zwei Möglichkeiten, das Unbedingte zu denken, weil zunächst nicht die
Totalität der Welt als reiner Begriff hier thematisch ist, sondern die Totalität der Bedin-
gungen in Ansehung von Erscheinungen, also von Gegenständen möglicher Erfahrung;
diese Totalität ist selbst kein Gegenstand möglicher Erfahrung. In der Vorstellung der
Totalität der Reihe der Bedingungen muß das Unbedingte enthalten sein, sonst wäre sie
nicht Totalität, sondern selbst bedingt – so aber hätte sie eine Bedingung außer ihr, die
doch zu ihr als der Totalität der Bedingungen gehören müßte. Die Vernunft kann nun
entweder diese Totalität selbst als das Unbedingte betrachten. Dies nennt Kant – der
Sache nach in Antizipation von Hegels ‚schlechter Unendlichkeit‘ – „nur potentialiter
unendlich“10 . Hier ist jedes Glied der Reihe bedingt, die Reihe selbst aber unbedingt.
Oder die Vernunft zeichnet ein Glied der Reihe als Unbedingtes vor den anderen aus, so
daß es gewissermaßen in Hypostase das wahrhaft Unendliche repräsentiert, indem in ihm
die Bedingtheit alles Anderen aufgehoben ist. Beide Gestalten des Unbedingten treten
nun in antinomische Verhältnisse, die nicht künstlich konstruiert zu werden brauchen,
sondern sich notwendig aus der konsequenten Tätigkeit der Vernunft ergeben.11
Der Schein, so Kant, sei unvermeidlich, so daß er „selbst, wenn man nicht mehr
durch ihn hintergangen wird, noch immer täuscht, obschon nicht betrügt, und also zwar
147 Anm., ähnlich in einer Reflexion, XV 823). Daß die innere Distanz oder Differenz auf einer
äußeren beruht, hat Klaus Düsing als Erfahrung „von Umwelthaftem“ (Selbstbewußtseinsmodelle.
Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität, a.a.O., 20) hervorge-
hoben, ähnlich Ulrich Pothast als Erleben von differenziertem Erlebtem (Über einige Fragen der
Selbstbeziehung, Frankfurt am Main 1971, 87). Volker Gerhardt betont die „vollständige[] Einbin-
dung des Menschen in den Lebenszusammenhang“ (Selbstbestimmung, a.a.O., 19).
7
Vgl. KrV § 17. Diese Subjektivierung setzt Kant im Grunde schon bei den Sinnen an. Vgl. Anthro-
pologie, IX 156: „Diese drei äußern Sinne [Tastsinn, Gehör und Gesicht] leiten durch Reflexion das
Subject zum Erkenntniß des Gegenstandes als eines Dinges außer uns“ (meine Hervorhebungen).
8
KrV, B 435.
9
KrV, B 436. Der Umstand, daß dies nur für die Reihe der Bedingungen, der regressiven Synthesis
in antecedentia gilt, wird später noch bedeutend.
10
KrV, B 445.
11
Vgl. KrV, B 449.
D A V 313
unschädlich gemacht, aber niemals vertilgt werden kann“12 . Die Vernunft muß hier ein-
sehen, daß sie in intentione recta die Gegenstände nicht erfassen kann, sondern daß ihre
Begriffe jene notwendig transzendieren, gerade um deren Objektivität erschließen zu
können, ihrer in intentione obliqua habhaft zu werden. Die Unmöglichkeit, den Schein
– trotzdem er durchschaut ist – zu tilgen, weist aber noch darüber hinaus, denn gerade
in dem Nachweis, daß die Bedingungen, unter denen die Vernunft Objektivität denkt,
notwendig transzendentalem Schein unterworfen sind, macht sich die Selbständigkeit
der Objekte geltend: Was für Kant nur ein Merkmal menschlicher Vernunft ist, drückt
grundsätzlich das Verhältnis des Subjekts zu seinen Gegenständen aus.
Hegel wirft Kant vor, die Antinomienlehre sei eine pseudo-logische Konstruktion, de-
ren Unauflöslichkeit bloß dem empirischen Bewußtsein angehöre, aber vor der Vernunft
gerade nicht bestehe.13 In der Vernunft werde der Gegensatz von Subjekt und Objekt
aufgehoben. Hegel rügt mit Recht Kants Inkonsequenz, wo dieser in der Analytik die
Objekte als eine Funktion des Subjekts erklärt, dagegen aber in der Dialektik nur mehr
die widersprüchliche Fassung der Grundlagen des Subjekt-Objekt-Verhältnisses zugibt:
Das Objekt sei zugleich Konstituiertes und Gegebenes. – Kant selbst beabsichtigt eine
Lösung der Antinomien, die auch deren Mangel allein dem Subjekt auflädt. Tatsächlich
ragt ein Moment von Selbständigkeit der Gegenstände – ein Moment dessen, was sich
nicht ganz verfügbar machen läßt – in die subjektive Bedingung der Möglichkeit, sie
als Objekte zu denken, hinein und formt dadurch die Subjektivität zuinnerst als auch
objektive. Kants erkenntnistheoretische Anstrengung gilt dem Ziel, diese Objektivität
zugunsten des reinen Selbstbewußtseins – der absoluten Relationalität der Apperzeption
– zurückzudrängen. Nur in diesem Zusammenhang transzendental-erkenntnistheoreti-
scher Systemkonzeption, die bei Kant auch ‚Architektonik der Vernunft‘ heißt, wird der
Freiheitsbegriff der 3. Antinomie zu verstehen sein. Um die Reflexion von Praxis, die
in ihm liegt, und vor allem, um die Grenzen dieser Reflexion begreifen zu können, ist
die Darstellung der gesamten Antinomienlehre unumgänglich. Die Beschränkung auf die
Dritte Antinomie allein oder deren praktischen Gehalt müßte eine Illusion über den kri-
tisierten Illusionen aufbauen.
Für alle Antinomien, die aus der Vernunftreflexion auf die vier Gruppen der Verstan-
desbegriffe entstehen, ergibt sich die Idee der Totalität als notwendige Forderung der
Vernunft, um die Synthesis des Verstandes mittels der Kategorien als möglich begrei-
fen zu können. Der Verstand verknüpft nach seinen Begriffen und Grundsätzen Vor-
stellungen zu Erfahrungsurteilen. Der empirische Gehalt dieser Vorstellungen geht auf
Erscheinungen zurück. Wenn diese Erscheinungen nicht in sich subsistieren, sondern nur
in Relationen zu anderen existieren, so sind diese Relationen als Bedingungen der Er-
scheinungen zu verstehen. Relationen sind ihrerseits nicht subsistent, sondern verweisen
12
KrV, B 449f.
13
Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 228ff. Entsprechend wirkt Kants wie-
derholte Verbürgung für die ‚Richtigkeit‘ seiner ‚einleuchtenden, klaren und unwiderstehlichen
Beweise‘ für Thesen wie Antithesen schon beschwörend (vgl. Prolegomena, IV §§ 52 und 52 b
Anm.). – Peter F. Strawson, Die Grenzen des Sinns. Ein Kommentar zu Kants ‚Kritik der reinen
Vernunft‘, Frankfurt am Main 1992, 29, bezweifelt die Notwendigkeit des Scheins vom empiri-
schen Standpunkt aus und findet die Begründung der Antinomien daher „fragwürdig“.
314 D F S
auf Anderes. Von diesen Bedingungsketten hängt die Möglichkeit der Erscheinungen
und mit ihr die Möglichkeit synthetischer Verstandesleistungen ab. Sie lassen sich nun
mathematisch auf die Größe und dynamisch auf das Dasein der Erscheinungen beziehen:
In jedem Fall fordert die Vernunft absolute Vollständigkeit der in ihnen ausgedrückten
Relationalität, soweit sie auf die Synthesis der Reihe der Bedingungen gerichtet ist; die
Totalität des Weltganzen, das transzendentale Ideal, ist hier noch nicht explizit thema-
tisch, doch der Gedanke der Vollständigkeit der Reihe hat hier bereits die Funktion, die
Bedingtheit der Elemente der Reihe in einem Unbedingten aufzuheben. Der andernfalls
anzunehmende Begriff einer ‚absoluten Bedingtheit‘ wäre widersinnig und höbe so die
Möglichkeit von Erkenntnis auf, anstatt ihren Grund zu legen.
Aristoteles konnte den regressus ad infinitum aufgrund der Voraussetzung der Ver-
schränkung ontologischer und logischer Momente in seiner Argumentation zurückwei-
sen:14 Wenn Substanz nicht nur das ist, was von nichts Anderem ausgesagt wird, sondern
auch das, dessen Sein von nichts Anderem abhängt,15 so ist mit der Ersten Substanz als
letztem Subjekt der Prädikation auch der Abschluß im Ursachenregreß gegeben. Die an-
genommene unendliche Zahl von Exemplaren, die jedem Exemplar schon vorhergehen,
wird zur unbedingten Ursache zusammengefaßt im Begriff der Zweiten Substanz, der
Artform, der allein im Arterhaltungsprozeß volle Realität zukommt.16 Die Unendlich-
keit der Gegenstände der Erfahrung in einer ewigen Welt hat ihre unbedingte Bedingung
im ontologischen Begriff der kosmologischen Ordnung, deren Ausdruck das unbewegt
bewegende Prinzip, und deren Modell die Kreisbewegung ist: „Also war nicht eine un-
endliche Zeit Chaos oder Nacht, sondern immer dasselbige, entweder im Kreislauf oder
auf eine andere Weise, sofern die Wirklichkeit dem Vermögen vorausgeht. Wenn nun im-
mer dasselbe im Kreislauf besteht, so muß etwas bleiben, das gleichmäßig in wirklicher
Tätigkeit ist.“17
Auch bei Kant sind im Problem des Regresses zwei Ebenen miteinander verknüpft.
Sein logischer Ort ist erstens die Vernunft, aber nur, soweit sie sich zweitens auf Er-
scheinungen bezieht. Das Vermögen höchster Einheit bezieht sich so auf das durch die
Mannigfaltigkeit des Materials der Anschauung Gegebene. Die kosmologischen Ideen
der Vernunft sind deshalb keine reinen Vernunftideen, sondern sie resultieren erst aus
der Reflexion auf Nicht-Vernünftiges.
Da Kant über eine ontologische Repräsentation von Vernunft nichts sagen kann, er-
geben sich aus dem Organisationsprinzip der Vernunft den Erscheinungen gegenüber
Widersprüche: Vernunftimmanent lassen sich nämlich ebenso Gründe für die Annahme
unbedingter Ordnungsprinzipien finden wie solche gegen sie. Die Erscheinungen selbst
sind Gegenstände der Anschauung, und das Unbedingte kann in keiner Anschauung ge-
geben werden. Gleichwohl entfaltet die Vernunft ihren Begriff des Unbedingten an der
synthetischen Form der Anschauung und faßt es als Totalität der Reihe der Bedingun-
14
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 994a f.
15
Vgl. Aristoteles, Kategorien, Hamburg 1974, 2a ff.
16
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1032a ff. Zum Problem prozessualer Substanzbestimmung bei
Lebewesen und bei Artefakten vgl. Michael Städtler, Die Freiheit der Reflexion, a.a.O., Kapitel 3,
II, 3.
17
Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1072 a.
D A V 315
gen. Diese soll entweder als Ganze das Unbedingte vorstellen, oder sie soll, selbst wenn
irgendein Glied der Reihe das Unbedingte sein sollte, dieses jedenfalls enthalten. Aus
dieser in der Reflexion der reinen Vernunft auf Erfahrungsgegenstände liegenden Dop-
pelung des Unbedingten folgen nun die Antinomien: Beide Seiten ermöglichen die von
der Vernunft geforderte Vollständigkeit, stehen aber im Gegensatz zueinander, denn in
einem Fall gibt es ein erstes der Reihe, im anderen hingegen nicht, weil die Reihe ins
Unendliche läuft.
Kant bindet die Vernunft und ihre Begriffe strikt an die Erfahrung: Weltbegriffe seien
sie nicht etwa, insofern unter ‚Welt‘ der Inbegriff aller Erscheinungen zu verstehen sei,
sondern nur weil sie in der Forderung nach Totalität der Bedingungen zu einer gegebe-
nen Erscheinung innerhalb der Sinnenwelt diese graduell überstiegen. Das Kontinuum
möglicher Erfahrung überschritte so sich selbst.18
Wenn die Gegenstände der Vernunftideen keine noumena sind, so sind die Ideen –
streng genommen – als Erfahrungsbegriffe zu behandeln, allerdings als Erfahrungsbe-
griffe, deren Erfahrungsgegenstände graduell die Erfahrung sprengen. Als solche müssen
sie antinomisch sein. Indem Kant die Ausdrücke des Unbedingten als Vollständigkeit
der Glieder einer Reihe oder als Negation des Bedingten in einem Glied, das doch
zugleich wieder Glied dieser Reihe sein soll, als äquivalent vorstellt, verbleibt er ins-
gesamt im Bereich der ‚schlechten Unendlichkeit‘, die als Totalität auf Vollständigkeit
geht und doch durch sukzessive Synthesis zustande kommen soll.19 Die Aufhebung der
Widersprüchlichkeit der ‚schlechten Unendlichkeit‘ könnte bloß in einem reinen Ver-
nunftbegriff erfolgen und wäre mit der Hypostase der Vernunft in ihrem eigenen Begriff
erkauft. Kants Auflösungsversuch muß daher den Anspruch, den die Vernunft auf eigene
Begriffe erhebt, selbst treffen.20
Demzufolge gelten die Antinomien als Resultat dessen, daß „wir unsere Vernunft
nicht bloß zum Gebrauch der Verstandesgrundsätze auf Gegenstände der Erfahrung ver-
wenden, sondern jene über die Grenze der letzteren hinaus auszudehnen wagen“21 . Ge-
nauer ist es die Ausdehnung des auf Erfahrung bezogenen Gebrauchs der Vernunft über
die Erfahrung hinaus, die auf Antinomien führe, weil sie die Bedingungen von Erfahrung
in einen Bereich verlagere, in dem nur von entia rationis die Rede sein könnte.
Wenn Kant betont, daß diese Antinomik ein Proprium der Transzendentalphilosophie
sei, weil die Mathematik in der reinen Ausdehnung und die Physik in der experimentel-
len Erfahrung Überprüfungsmöglichkeiten habe, verbirgt sich dahinter auch die Beson-
derheit, daß die Mathematik als Geisteswissenschaft und die Physik als experimentelle
Naturwissenschaft ein gewissermaßen unbefangenes Verhältnis zu ihren Objekten haben:
18
Vgl. KrV, B 447: „In Betracht dessen, daß überdem diese Ideen insgesamt transszendent sind und,
ob sie zwar das Objekt, nämlich Erscheinungen, der Art nach nicht überschreiten, sondern es le-
diglich mit der Sinnenwelt (nicht mit Noumenis) zu tun haben, dennoch die Synthesis bis auf einen
Grad, der alle mögliche Erfahrung übersteigt, treiben, so kann man sie insgesamt meiner Meinung
nach ganz schicklich Weltbegriffe nennen.“ Vgl. Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 159:
Unter ‚Natur‘ sei der ‚Inbegriff von allem, was nach Gesetzen bestimmt existiert‘ zu verstehen,
mithin: ‚Welt (als eigentlich sogenannte Natur) mit ihrer obersten Ursache zusammengenommen‘.
19
Vgl. KrV, B 450.
20
Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 239f.
21
KrV, B 448f.
316 D F S
Die eine produziert sie selbst, die andere nimmt sie, wie sie gegeben sind.22 Die Philoso-
phie dagegen fragt nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit und legt in den Begriff von
Objektivität deren Beziehung zum Subjekt hinein. In dem Mißlingen des Unternehmens,
die Bedingungen von Erfahrung widerspruchsfrei in der reinen Vernunft aufzuheben,
macht die Selbständigkeit der Erfahrungsgegenstände sich geltend.
22
Das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften ist komplizierter, als hier darzustellen ist.
Wie sehr der dichotomische Charakter der Differenz zweifelhaft ist, wurde in der Diskussion zu
Walter Jaeschkes Vortrag Der Geist und seine Wissenschaften auf dem 27. Internationalen Hegel-
kongreß 2008 deutlich. Jaeschke hatte beide traditionell nach Gegenstandsbereichen unterschieden
und gegen die bloß methodische Auffassung argumentiert, daß Unterschiede der Methoden Grün-
de in den Sachen haben müßten. Gegenstand der Geisteswissenschaften sei aber der Geist selbst.
Die Frage, wozu die Mathematik zu rechnen sei, beantwortete Jaeschke dahin, daß sie wohl eher
eine Geisteswissenschaft sei. Dann aber ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten für die Zuord-
nung der modernen Naturwissenschaften, die durchgängig mathematisch axiomatisiert sind und
insbesondere in ihren reinen theoretischen Abteilungen ausschließlich mathematisch konstruieren.
Weiterführen könnte hier Renate Wahsners, ebenfalls auf diesem Kongreß in dem Vortrag Ver-
dirbt die Naturwissenschaft den Begriff des Geistes? (Vgl. Preprint des Max-Planck-Instituts für
Wissenschaftsgeschichte 358, Berlin 2008), vorgetragene Überlegung, daß die Naturwissenschaft
ihren Gegenstand immer ‚in der Form des Objekts‘ und die Geisteswissenschaft den ihren immer
‚in der Form des Subjekts‘ nehme. – Kants weitere Auffassung, daß auch reine Mathematik „auf
keine andere als bloße Gegenstände der Sinne geht“ (Prolegomena, IV § 11), ist allerdings etwa
angesichts irrationaler Zahlen problematisch; sie kann insofern gelten, als der Begriff der Größe
auch als negativer von Bestimmungen reiner Anschauung abgeleitet ist.
23
KrV, B 454.
D A V 317
Die Unendlichkeit der Welt im Raum kann – und auch das antizipiert die subjektive
Auflösung des hier nur scheinbar objektiven Problems – nur unter der Bedingung der
Zeit vorgestellt werden, in der alle unendlich vielen Teile der ausgedehnten Welt synthe-
siert würden. Daher verfällt sie derselben Kritik.
Umgekehrt würde die Endlichkeit der Welt die Annahme einer leeren Zeit vor ihrer
Entstehung und eines leeren Raumes außerhalb ihrer Grenzen erzwingen. Jene leere Zeit
wäre in sich ununterschieden, so daß der Zeitpunkt eines Anfangs nicht zu denken wä-
re; dieser leere Raum wäre – als grenzenloser – durch nichts definiert und daher gar
kein mögliches relatum zur Welt, obwohl deren Grenze doch nur durch Relation zu ihm
vorstellbar wäre. Auch hier liegt die subjektive Bestimmung von Raum und Zeit deren
objektiver Verwendung bereits zugrunde und bestimmt das Absurde der zu kritisieren-
den Vorstellung.
Insofern Kant hier bewußte Verstöße gegen die Resultate der transzendentalen Äs-
thetik konstruiert, erscheint es problematisch, ob „nicht Blendwerke gesucht“ wurden,
sondern wirklich „[j]eder dieser Beweise […] aus der Natur der Sache gezogen“24 sei.
Allerdings ist nicht die Antinomie selbst konstruiert, denn sowohl der unendliche Regreß
als auch dessen willkürlicher Abbruch heben die Möglichkeit einer einheitlichen Erfah-
rung auf; Kants Darstellung der Antinomie als fehlerhafte Verwendung des Zeitbegriffs
antizipiert jedoch bereits ihre Auflösung, die darauf beruhen wird, daß es in Wahrheit
sich nicht um eine Antinomie handele. Das, was sich nach Kant nicht sagen läßt, wird
das Resultat dieser Auflösung sein: Die Objektivität wird vom beschränkten Subjekt als
ruhig-widerspruchsloses System freigelassen.
So weist Kant zwar den Begriff einer ‚schlechten Unendlichkeit‘ als „Größe, über die
keine größere […] möglich ist“25 , als falsch zurück, setzt dagegen als „wahre[n] […] Be-
griff der Unendlichkeit […]: daß die sukzessive Synthesis der Einheit in Durchmessung
eines Quantum niemals vollendet sein kann“26 . Wie Hegel anmerkt, bleibt das Unend-
liche Kants damit eine Größe und demzufolge deren Widerspruch von Kontinuität und
Diskretion ausgeliefert.27 Erneut wird deutlich: Es handelt sich bei Kants ‚Ideenlehre‘
nicht um die Konstruktion reiner Vernunftbegriffe, sondern um die Konfrontation von
Vernunftprinzipien mit Erfahrungsgegenständen.28 Der reine Begriff von Welt wird als
abstrakt-negativer, gehaltloser Begriff abgewiesen; innerhalb der Bedingungen der Sinn-
lichkeit aber führt jeder Weltbegriff, der für die Vernunft ja Bedingung der Möglichkeit
von Objekten überhaupt sein soll, auf Widersprüche. Gerade hier, in der Dialektik, dem
einheimischen Reich der Vernunft, setzt sich die Selbständigkeit der Erfahrungsgegen-
stände gegen eine mögliche idealistische Auflösung im Subjekt derart zur Wehr, daß
24
KrV, B 458.
25
KrV, B 459.
26
KrV, B 460.
27
Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 240, 189f.
28
Vgl. KrV, B 461: „Es ist hier aber nur von dem mundus phaenomenon die Rede und von dessen
Größe, bei dem man von gedachten Bedingungen der Sinnlichkeit keinesweges abstrahieren kann,
ohne das Wesen desselben aufzuheben. Die Sinnenwelt, wenn sie begrenzt ist, liegt notwendig in
dem unendlichen Leeren. Will man dieses und mithin den Raum überhaupt als Bedingung der
Möglichkeit der Erscheinungen a priori weglassen, so fällt die ganze Sinnenwelt weg.“
318 D F S
diese Selbständigkeit sich mit dem Anspruch auf absolute Einheit der inneren Konstitu-
tion der Subjektivität als unverträglich erweist.
Die Zweite Antinomie folgt der Kategorie Qualität. Dieser gemäß führt die Räum-
lichkeit der Materie auf das Problem ihrer prinzipiellen Teilbarkeit. So kollidiert die
Behauptung, alles sei entweder aus einfachen Teilen zusammengesetzt oder selbst ein-
fach, mit der, daß nichts Einfaches in der Welt (räumlich) existieren könne.
Auch hier argumentiert Kant ad absurdum des jeweiligen Gegenteils. Der Begriff der
zusammengesetzten Substanz erfordert nämlich den des Einfachen, weil die Zusammen-
setzung nur eine relationale, akzidentelle Bestimmung der Substanz ist, die an ihr selbst
auf die Möglichkeit der Auflösung verweist. Ist aber die Substanz oder das, woraus
sie besteht, nicht selbst etwas Einfaches, Beharrliches, sondern substantialiter Zusam-
mengesetztes, so führt der Begriff der Auflösung auf haltlose absolute Relationalität,
absolute Akzidentalität, die soviel ist wie Nichts. Der Begriff der ‚Zusammengesetzten
Substanz‘ impliziert mithin den des Einfachen; ein schon fast Hegelisches Verfahren, das
Hegel selbst Kant jedoch als petitio principii vorwirft. Indem Kant die analytische Tätig-
keit des Gedankens zum Prüfstein macht, ist auch hier die Subjektivität als eigentliches
Kriterium der Objektivität antizipiert.
Die logische Form, die Kant der Begründung gibt, ist insgesamt brüchig, zumal Kant
„unmittelbar“ schließt, „daß die Zusammensetzung nur ein äußerlicher Zustand [der
Substanz; M.St.] […] sei“29 . Dies ist tatsächlich nur die Wiederholung einer Behaup-
tung, einer zitierten Eigenschaft des ontologischen Substanzbegriffs, den Kant bereits
durch die Kategorialisierung des Substantiellen erschüttert hatte: Ist ‚Substanz‘ ein rei-
ner Verstandesbegriff, so läßt sich mit ihm nicht mehr derart unbefangen ontologisch
argumentieren.
Der Begriffsdialektik von Einheit und Vielheit30 setzt Kant im Beweis der Antithe-
se die Beziehung der Idee der Einheit auf die Anschauungsform des Raumes entgegen,
was auf die Dialektik von Kontinuität und Diskretion führt. Das Zusammengesetzte und
seine Teile müssen im Raum sein. Der Raum ist „quantum continuum“31 , seine Tei-
le sind nicht diskrete Punkte, sondern immer wieder Räume; wäre ein Diskretes im
Raum denkbar, so wäre es zugleich außerhalb des Raumes und könnte von der durch den
Raum konstituierten Anschauung nicht erfaßt werden. Ein Einfaches nun müßte selbst
im Raum vorgestellt werden und wäre als ausgedehntes immer teilbar, wenn nicht die
Einheit der Erfahrung in sich zerrüttet sein sollte. Kant geht weiter: Das Einfache sei
eine bloße Idee, unmöglich aber Gegenstand der Erfahrung. Erfahrung des Einfachen
wäre nämlich die, „welche schlechthin kein Mannigfaltiges außerhalb einander […] ent-
hält“, das „Nichtbewußtsein eines solchen Mannigfaltigen“32 . Dieses lasse sich aber nicht
als Unmöglichkeit des Bewußtseins eines Mannigfaltigen hinsichtlich des Gegenstandes
verstehen; die Negation von Bewußtsein kann nicht Ausgangspunkt eines Beweises sein,
sie kann vielerlei Ursachen haben. Deshalb kann jede sinnliche Vorstellung eines Ein-
29
KrV, B 464.
30
Für deren metaphysischen Ursprünge vgl. Platon, Parmenides, in: Werke, Bd. 5, Darmstadt 1990,
137a ff.; Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1052a ff., bes. 1054a ff. und 1056b f.
31
KrV, B 211.
32
KrV, B 466.
D A V 319
fachen Täuschung sein. Das Einfache ist nicht Gegenstand möglicher Erfahrung. Da die
Sinnenwelt aber ‚Inbegriff aller möglichen Erfahrung‘ sei, sei das Einfache folglich aus
ihr ausgeschlossen.
Deutlich baut Kant auch diese Begründung auf der sinnlichen Konstitution des Sub-
jekts auf. Es handele sich nicht um das begriffliche, sondern um das phänomenale Ver-
hältnis von Zusammengesetztem und Einfachem. Weil es aber keine unteilbaren Teile
des Raumes gebe, sei in ihm kein Einfaches darstellbar.33 Das Räumliche ist deshalb
nicht compositum, sondern totum.34 Insofern die Objektivität auf die durch Erfahrung
konstituierte Natur beschränkt ist, kann der Begriff der Einfachheit nur in der privativen
Negation der Form der Anschauung durch die Vernunft bestehen. Nun sei zwar das Ding
an sich als unbekannte Ursache der Erscheinung kein Gegenstand möglicher Erfahrung,
aber doch sei es objektiv. Dadurch wäre mit ihm ein Einfaches in der Welt denkbar. Die-
ses Residuum objektiver Selbständigkeit wird aber in Kants Konstruktion von Welt ‚eine
bloße Idee‘, ens rationis, leerer Begriff ohne Gegenstand: ein Nichts ohne das Subjekt.
„Es bringt […] nur das Selbstbewußtsein es so mit sich, daß, weil das Subjekt, welches
denkt, zugleich sein eigenes Objekt ist, es sich selber nicht teilen kann (obgleich die
ihm inhärierende Bestimmungen); denn in Ansehung seiner selbst ist jeder Gegenstand
absolute Einheit.“35 Solche Einheit aber ist nur „die ganz nackte Vorstellung“36 , die lo-
gische Form ohne Inhalte, deren Bestimmung sich allenfalls als Abfolge im inneren Sinn
– nicht als Zusammensetzung, wozu der äußere Sinn erforderlich wäre – darstellten.
Deshalb ist die Behauptung der Einfachheit des reinen Selbstbewußtseins für Kant
tautologisch, und die Frage nach Vielheit oder Einfachheit setzt den äußeren Sinn voraus.
Die Antinomie der reinen Vernunft ist dann in Wahrheit eine Antinomie im Versuch der
direkten, unvermittelten, Verknüpfung von Vernunft und Sinnlichkeit. – Die Möglich-
keit einer an der Mannigfaltigkeit reflektierten Einheit der Vernunft – die dann Einheit
aus der Vielheit wäre, so wie diese aus der Einheit gesetzte Vielheit wäre – liegt nahe,
kommt aber nicht in die Betrachtung, weil die wechselseitige Vermittlung von Subjekt
und Objekt – im Unterschied zu Kants Vermittlung aus dem Subjekt – doch beide mit
einem Moment von Selbständigkeit voraussetzte: Sonst wäre sie Vermittlung aus dem
Nichts, Produktion von relata aus der Bestimmungslosigkeit vormals absoluter Relatio-
nalität. Damit wäre das auf Sachhaltigkeit angelegte Subjekt-Objekt-Verhältnis reduziert
auf jene Leere, die Kants Vermittlung aus dem Subjekt wohl auch ist, nur daß die-
se durch ihre logische Widerspruchslosigkeit den Schein sachlicher Konsistenz erwirbt.
Die wechselseitige Vermittlung von Subjekt und Objekt hingegen trägt eben durch ih-
ren Widerspruch die nicht zu beruhigende Forderung nach der Sache vor, deren eigene
Inkonsistenz zum Skandal des sich harmonisch wähnenden Denkens wird, das sich der
Abhängigkeit von dem, das es sich gegenüber gesetzt hat – der Abhängigkeit schon im
Gegenübersetzen –, bewußt werden müßte.
Die aus der Kategorie Relation sich ergebende Dritte Antinomie, wie dann auch die
Vierte, unterscheidet Kant von den ersten beiden ‚mathematischen Antinomien‘ als ‚dy-
33
Vgl. KrV, B 470.
34
Vgl. KrV, B 467.
35
KrV, B 471.
36
KrV, B 471.
320 D F S
namische‘. Sie seien nicht wie die mathematischen auf die Reihe der Bedingungen in
der Dimension der Gegenstände, sondern auf die ihres Daseins gerichtet. Deshalb gin-
gen sie auch nicht nur auf Synthesis von Gleichartigem, sondern möglicherweise auch
auf die von Unterschiedenem.37 Die Bedingung des Daseins eines Gegenstandes ist sei-
ne Ursache, aus deren Regreß sich das Problem ergibt, daß jede Ursache, wenn sie
der Naturkausalität folgt, wieder als Wirkung einer weiteren zu betrachten ist, daß mit-
hin der Regreß unendlich ist. Dem wäre nur durch eine Ursache abzuhelfen, die selbst
nicht dieser Schranke der Naturkausalität unterliegt. Diesen anderen Ursachentyp be-
zeichnet Kant als ‚Kausalität aus Freiheit‘. Gäbe es diese nicht – so stellt Kant wieder
apagogisch fest – bliebe der Ursachenregreß ohne Ende, und es ließe sich die Voll-
ständigkeit der Ursachenreihe, die in dem Satz ‚alles hat eine Ursache‘ impliziert ist,
gar nicht denken. Eine abgeschlossene Ursachenreihe wäre nur durch eine „absolute
Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft,
von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit“38 denkbar. Dieser Begriff tran-
szendentaler Freiheit ist hier nicht vorderhand auf das Vermögen eines mit Willen und
Bewußtsein begabten empirischen Subjekts bezogen, sondern Ausdruck eines Problems
rationaler Anforderungen an eine einheitliche Erfahrung, die einen konsistenten Natur-
begriff voraussetzt. Deshalb bezeichnet Kant diese Freiheit ausdrücklich als Welt- und
Naturbegriff, nicht als praktische Vernunftidee.39 Diese Freiheit beansprucht, eine ob-
jektive Vernunftidee zu sein, ein Begriff, der die Beziehung von Subjekt und Objekt auf
der Seite des Objekts ermöglicht.
Der Versuch, Modelle für diesen objektiven Grund der Subjekt-Objekt-Beziehung
anzuführen, erzwingt nun aber – trotz Neutralisierung des Sprachgebrauchs – den voll-
ständigen Wechsel auf die moralische Ebene: Zwar redet Kant von „Substanzen“, de-
nen solche Freiheit zukomme, aber es ist doch die „Freiheit zu handeln“40 . Kant weist
wohl alle Bestimmungen empirischer Psychologie zurück und beschränkt den Begriff
der Freiheit auf die „absolute[] Spontaneität“41 , aber es ist doch die der „Handlung“,
und zwar als Grund ihrer „Imputabilität“. Auch die generalisierende Verwendung dieser
Rechtsmetapher vermag letztlich die Bedeutung des sittlichen Handelns von der erkennt-
nistheoretischen Bestimmung der spontanen Kausalität nicht mehr fernzuhalten. Zwar
bestehe die Problematik der Frage, ob es Willensfreiheit gebe, nur in der transzendenta-
len Möglichkeit, eine Reihe spontan zu beginnen; es ist aber doch wohl das Bewußtsein
von der Freiheit des Willens im Verhältnis zur Naturkausalität, die dieses Problem zuerst
aufwirft.
Anders aber will Kant erkenntnistheoretisch aus dem Schluß auf die Notwendigkeit
der Annahme eines spontanen Weltanfangs die Erlaubnis ableiten „mitten im Laufe der
37
Vgl. Prolegomena, IV §§ 52 c und 53.
38
KrV, B 474.
39
Vgl. KrV, B 447f.
40
KrV, B 478.
41
KrV, B 476. Vgl. Prolegomena, IV § 53: „Was ich hier anführe [nämlich Handlungsmodelle; M.
St.], gilt nur als Beispiel zur Verständlichkeit, und gehört nicht nothwendig zu unserer Frage, wel-
che, unabhängig von Eigenschaften, die wir in der wirklichen Welt antreffen, aus bloßen Begriffen
entschieden werden muß.“
D A V 321
Welt verschiedene Reihen der Kausalität nach von selbst anfangen zu lassen und den
Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln“42 . Der tran-
szendentale Freiheitsbegriff ist erzwungen, um den Regreß abzubrechen, und es gibt
keine logische Veranlassung, ihn auf bestimmte Zeitpunkte oder auf bestimmte Sor-
ten von Substanzen zu beschränken; er beziehe sich nämlich nicht auf den Anfang in
der Zeit, sondern allein auf ein kausales Verhältnis. Transzendentale Freiheit könne so
jederzeit in eine laufende Ursachenreihe eine neue einsetzen, der alten somit einen Rich-
tungswechsel aufnötigen und sie als diejenige, die sie war, dadurch abbrechen. Nicht nur
das Modell Kants, der vom Stuhl aufsteht, ist selbstredend das eines mit Vernunft und
Willen begabten Wesens, sondern die transzendentale Freiheit ist eben immer, wenn sie
wirkt, die Freiheit einer Handlung. Der Begriff der transzendentalen Freiheit soll die
Konsistenz von Erfahrung garantieren, und zwar der Erfahrung in einer Welt, deren Be-
griff sonst über unendliche Ursachenreihen sich in nichts auflöste. Kant will aber nicht
auf die von ihm durchaus zitierten klassischen Modelle – das kosmologische des unbe-
wegt Bewegenden oder das theologische des Schöpfergottes – zurückgreifen, sondern
er will die Einheit der Erfahrung aus dem Subjekt heraus begründen.43 Daher steht das
Verhältnis von Subjekt und Objekt der Erfahrung unter ihrem wechselseitigem Einfluß:
Kausalität ist nur möglich durch willentlichen Eingriff des Subjekts in den kausalen Ab-
lauf der Objektivität; das Vermögen dieses Eingriffs begreift sich aber zugleich logisch
als Komplement der Naturkausalität.
Allerdings steht das Vermögen, in den Naturablauf einzugreifen, zur Naturkausalität
im Widerspruch. Setzt man nämlich Kausalität als Spontaneität, so impliziert dies ne-
ben der Möglichkeit, eine Reihe von selbst zu beginnen, auch einen absoluten Anfang
der kausalen Ordnung der Erscheinungen selbst, der als solcher nicht gesetzmäßig be-
stimmbar wäre: Ein solcher Anfang steht zu den ihm zeitlich vorhergehenden Zuständen
in keinem kausalen Verhältnis, was einen Sprung in der Natur bedeutete, den Kant im
Abschnitt über die Grundsätze explizit ausschließt.44 Der Versuch, durch Spontaneität
vollständige Konsistenz der Erfahrung zu begründen, zerstört somit selbst die Einheit der
Erfahrung. Mehr noch: Solche Freiheit, die als gegen die Gesetze blinde Kausalität den
Kausalzusammenhang der Erfahrung zerreißt, wäre nicht Gegenstand möglicher Erfah-
rung, ein ens rationis, soviel wie Nichts. Als Abbruch der gesetzmäßigen Ursachenreihe
ist sie Negation des Prinzips der Kausalität und damit „Gesetzlosigkeit“; folgte sie aber
den Gesetzen, so wäre sie „nichts anderes als Natur“45 .
42
KrV, B 478.
43
Zur Problematik dieses Vorgehens vgl. Peter Rohs, Kants Unterscheidung zwischen Kausalität nach
der Natur und Kausalität aus Freiheit, in: Reinhard Hiltscher/André Georgi (Hgg.), Perspektiven
der Transzendentalphilosophie im Anschluß an die Philosophie Kants, a.a.O., 167.
44
Vgl. KrV, B 280ff.
45
KrV, B 447. Vgl. Sich im Denken orientieren, VIII 145: „Die Folge davon [der Maxime der
Gesetzlosigkeit; M.St.] ist natürlicher Weise diese: daß, wenn die Vernunft dem Gesetze nicht
unterworfen sein will, das sie sich selbst giebt, sie sich unter das Joch der Gesetze beugen muß,
die ihr ein anderer giebt; denn ohne irgendein Gesetz kann gar nichts, selbst nicht der größte
Unsinn, sein Spiel lange treiben.“ Vgl. ebenso Pädagogik, IX 442, wo Kant ‚Unabhängigkeit von
Gesetzen‘ als ‚Wildheit‘ definiert.
322 D F S
Doch selbst die traditionelle metaphysische Annahme der Ewigkeit der Welt schaffte
dasjenige Problem nicht aus derselben, wie denn die bloße Möglichkeit von Verände-
rungen vor deren bestimmter Erfahrung gedacht werden könnte. Dieses Problem wird
auch nicht durch die Annahme einer einmaligen Spontaneität außerhalb der Welt beho-
ben. Ob die bleibende Spontaneität aber – der Kausalordnung transzendent – von außen
eingreift, oder ob sie den Substanzen in der Welt zu eigen ist, macht keinen Unterschied:
Immer zerstört sie den Begriff der Natur, „weil die Gesetze der letzteren durch die Ein-
flüsse der ersteren unaufhörlich abgeändert und das Spiel der Erscheinungen, welches
nach der bloßen Natur regelmäßig und gleichförmig sein würde, dadurch verwirrt und
unzusammenhängend gemacht wird“46 .
Die Aristotelische Metaphysik reagierte auf dieses Problem mit der Lehre vom unbe-
wegt bewegenden Prinzip (to kinoun akinäton), das nicht als erster Anfang, sondern als
ein Prinzip der Zirkularität des Weltlaufs gedacht wurde, in den alle Sekundärursachen
verwoben seien.47 Solch ein Prinzip ist entweder ‚nichts anderes als Natur‘ und erlaubt
den Begriff der Veränderung nicht, oder es geraten in ihm Spontaneität und Regelmäßig-
keit in Konflikt. Die christliche Philosophie reagierte auf die offenbare Spontaneität des
göttlichen Willens zunächst mit der Theorie von dessen unmittelbarer Vernünftigkeit,
um die Einheit des Naturbegriffs erhalten zu können. Aber auch hier wäre der göttliche
Wille, wenn er durch Vernunft beherrscht wäre, nichts Anderes als Natur, sein Inhalt,
die Anordnung der Welt, fiele mit der Vorsehung nach logischen Gesetzen zusammen,
die zudem noch die Einheit der menschlichen Erfahrung respektieren müßten, soweit
nicht explizit Wunder gewirkt würden. Dagegen richtet sich die Lehre vom Willenspri-
mat, eigentlich eine Aufwertung der Willkür, wonach Gott alles wirken kann, was er
will, und auch das Gewirkte wieder aufheben kann. Bemerkenswerterweise ist auch die-
se Spontaneität an den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch gebunden, weil sonst
nicht einmal die Einheit des göttlichen Bewußtseins möglich wäre: Als sich selbst wi-
dersprechend wäre Gott ein absolut verrücktes Bewußtsein und mit ihm die Welt eine
in sich verrückte Wirklichkeit, das ‚Narrenspital des universi‘48 , das Kant – aufgrund
seines formalisierten Subjektbegriffs auch mit Recht – nicht für ausgeschlossen halten
mochte.
Selbst jene strikte Spontaneitätsvorstellung ist also noch vom menschlichen Bewußt-
sein der Notwendigkeit der Einheit der Erfahrung inspiriert. Deshalb ist in der göttlichen
Spontaneität auch zu unterscheiden in potentia absoluta und potentia ordinata; nach der
ersten ist Gott frei, jede Ordnung zu schaffen, auch eine, in der das Kausalgesetz nicht
gilt; nach der zweiten aber kann Gott innerhalb der geschaffenen Ordnung nichts wir-
ken, was deren Gesetzen zuwider wäre, es sei denn er höbe die Ordnung als solche
auf.49 Innerhalb des gegebenen Bereichs möglicher Erfahrung kann das Bewußtsein der
46
KrV, B 479.
47
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1072a.
48
Vgl. Reflexionen zur Anthropologie, XV 211: „Ob nicht alle Menschen in gewisser Weise gestohrt
sind (narrenspital des universi). Wiederspruch ihrer Vernunft und Neigung. (zu schlecht vor einen
Gott, zu gut vors ungefehr. Zweydeutig Mittelding von Engeln und Vieh.)“
49
Vgl. Günther Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, a.a.O., 249f., sowie Michael Städtler,
„Von Gottes Willen können wir zweifach sprechen.“ Naturrecht, positives Gesetz, Vernunft und
D A V 323
Erfahrung von dem Anspruch auf Einheit nicht abrücken, wenn es nicht sich selbst als
Bewußtsein preisgeben will. Werden die dynamischen Kategorien, die aufs Dasein des
Objekts gehen, universalisiert zum Zweck der vollständigen Ordnung von Objektivität
im Subjekt, so ergibt sich zwangsläufig ein Subjektbegriff, der den empirischen Subjek-
ten entgleitet.50
Diese Problematik bestimmt auch die Vierte Antinomie, die sich aus der Kategorie
Modalität ergibt. Durch diese wird zunächst nur der Daseinsmodus von Gegenständen
erfaßt. Im Verhältnis von Zufall und Notwendigkeit liegt aber selbst die kategoriale
Grundlage der Umwandlung der Kategorien des Verstandes in Ideen der Vernunft: Zufall
ist die Kategorie des Einzelnen, Endlichen, Bedingten; Notwendigkeit ist die Katego-
rie, nach der das Unbedingte zu denken ist. Mit der Notwendigkeit, die in kategorialen
Urteilen ausgesprochen wird, ragt die Unendlichkeit der Vernunft in der Tat in die End-
lichkeit des Verstandes hinein. Die Verknüpfung von Zufälligem und Notwendigem, die
Kant nicht als Reduktion der Reihe des bedingten Zufälligen auf ein unbedingtes not-
wendig Erstes, sondern als Totalität jener Reihe faßt, fällt aber nicht in den Verstand
selbst. Die Vernunft erst vermag dialektisch die Gesamtheit alles Zufälligen als notwen-
dig zu denken, denn dieser Begriff, der kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, ändert
empirisch an der Zufälligkeit der Erfahrungsobjekte, an ihrer kategorialen Bestimmung
also, nichts. Er faßt lediglich durch die ideale Vorstellung eines Ganzen des Zufälligen
den Begriff der Veränderlichkeit als unveränderlichen Ausdruck des Veränderlichen faßt:
Die Gesamtheit alles Zufälligen als solche ist keinem Zufall mehr unterlegen, wenn sie
nicht größer ist als sie selbst. – Natur soll als Inbegriff der Erscheinungen denkbar ge-
macht werden. Als dieser Inbegriff reicht sie aber schon über den Naturzusammenhang
von Erscheinungen selbst hinaus. Insofern ist die Vierte Antinomie mit der Frage, „ob es
endlich eine oberste Weltursache gebe, oder die Naturdinge und deren Ordnung den letz-
ten Gegenstand ausmachen, bei dem wir in allen unseren Betrachtungen stehenbleiben
müssen“51 , schon auf die spätere Unterscheidung von kollektiver Einheit des Naturgan-
zen und distributiver Einheit des Erfahrungsgebrauchs hin angelegt.52
Der Modalität nach ist nun jede Bedingung, die wieder eine Bedingung hat, zufällig,
da sie ist, nachdem sie nicht war. Aus dieser Zufälligkeit läßt sich entweder hinsichtlich
der Vernunftforderung nach Vollständigkeit der Reihe folgern, daß diese auf ein Not-
Wille bei Thomas von Aquin, in: Günther Mensching (Hg.), Radix totius libertatis. Zum Verhältnis
von Willen und Vernunft in der mittelalterlichen Philosophie, Würzburg 2010.
50
Peter Euler versucht, das Problem der Spontaneität im Begriff ‚innerer Natur‘ aufzufangen: Diese
sei als „vernunftfähige Wesen konstituierende Durchdringung von Trieb und Kultur […] der Exis-
tenzgrund von Spontaneität, letztlich subjektive Bildung, Subjektivität“ (Enteignung der inneren
Natur als letzte Provokation der Bildung, in: Irmgard Heydorn/Brigitte Schmidt, Traditio lampadis.
Das Versöhnende dem Zerstörenden abtrotzen, Vaduz 1989, 68.) Das trägt Adornos Reklamation
des somatischen Impulses von Freiheit gegen deren reinen Begriff Geltung (vgl. Negative Dialek-
tik, a.a.O., 228); potentiell freie und vernünftige Wesen sind die Menschen erst in ihrer Reflexion
auf die geschichtliche Kultivierung ihrer Natur, und darin liegt immer auch ein gesellschaftliches
Moment. Kants reiner Begriff der Sponteneität reflektiert in seiner Leere, ja Ausdehnungslosigkeit,
die reale Vereinzelung der Subjekte in deren Subjektivität und hat insofern Notwendigkeit.
51
KrV, B 491.
52
Vgl. KrV, B 610.
324 D F S
wendiges zurückzuführen sein muß; oder es läßt sich hinsichtlich der Zufälligkeit der
Bedingungen in der Reihe folgern, daß es ein solches Notwendiges nicht geben kann.
Auch hier verknüpft Kant Vernunft und Sinnlichkeit; so ergeben sich die Schlüsse auf
das Sein und auf das Nichtsein eines ‚Urwesens‘ aus demselben Grund: „Erst hieß es: es
ist ein notwendiges Wesen, weil die ganze vergangene Zeit die Reihe aller Bedingungen
und hiemit also auch das Unbedingte (Notwendige) in sich faßt. Nun heißt es: es ist kein
notwendiges Wesen, eben darum weil die ganze verflossene Zeit die Reihe aller Bedin-
gungen (die mithin insgesamt wiederum bedingt sind) in sich faßt.“53 Der Widerspruch
rührt daher, daß in der These der Beweisgrund nach der Seite der Vernunftforderung, in
der Antithese aber nach der Seite der Sinnlichkeit des Gegenstandes aufgelöst wird.
Der Schluß auf das Notwendige ist Kants Absicht zufolge hier keineswegs ein Gottes-
beweis,54 wenngleich Kant an anderer Stelle das Notwendige doch als „Urwesen“, von
dem die Welt „abstammt“, bezeichnet, um dessen Annahme ein praktisches Interesse
beizulegen.55 Um aber ein notwendiges Wesen außerhalb der Weltreihe – selbständig –
anzunehmen, genüge nicht die empirische Kontingenz der Gegenstände der Erfahrung,
da diese stets sukzessiv sei; das, was jetzt ist, ist nicht zugleich nicht, sondern es war
nicht oder wird nicht sein. Dieser Gegensatz ist nicht kontradiktorisch, sondern konträr
und kann immer in einem Dritten aufgelöst werden. In der Sinnlichkeit, im Empirischen,
ist kein Widerspruch – nicht einmal der Möglichkeit nach – gegeben. Widersprüche sind
Verhältnisse von Urteilen und können daher nur gedacht werden. Deshalb ist Zufälligkeit
„im reinen Sinn der Kategorie“56 und mit ihr der Schluß auf „das Dasein eines notwendi-
gen Wesens“57 auch nur in Verstandesbegriffen zu konstruieren. Kant antizipiert hier den
bei Hegel durchgeführten Übergang vom absoluten Widerspruch in die Notwendigkeit
der Grundbeziehung, schließt diesen Idealismus allerdings für den Erfahrungsgebrauch
der Vernunft aus und erklärt ihn für transzendent, wissenschaftlich unzulässig. Darin,
daß Kant allerdings den Widerspruch aus dem Bereich möglicher Erfahrung ausschließt,
indem er alle erfahrbaren Gegensätze als Veränderungen und Bedingungsverhältnisse al-
lein als Bedingungsreihen thematisiert, ist die metaphysische Affirmation aufbewahrt,
nach der Widersprüche in der Erfahrung nicht bestehen könnten. Bei Kant sind sie auf-
grund der Form der Anschauung aus dieser ausgeschlossen.
Die Kategorie Wechselwirkung wird, wie auch schon in der Dritten Antinomie, nicht
behandelt; sie fiele allenfalls indirekt unter die Antinomie der räumlichen Vollständig-
keit, die Kant sofort der subjektiven Auffassung nach in die zeitliche überführt hatte.
Tatsächlich aber sind nach dem Grundsatz der Wechselwirkung Gegenstände der Erfah-
rung – zumindest im praktischen Bereich – durchaus gleichzeitig vorstellbar und aus der
erfahrbaren Konstellation von Eigenschaften läßt sich auf deren kategorial widersprüch-
liches Verhältnis schließen. Das führte aber darauf, daß eine und dieselbe Erscheinung,
eine empirische Handlung zum Beispiel, zugleich zwei widersprechende Ursachen hätte,
die dennoch in Wechselwirkung miteinander stünden. Die Vollständigkeit dieses Ver-
53
KrV, B 487.
54
Vgl. KrV, B 484ff.
55
Vgl. KrV, B 494.
56
KrV, B 486.
57
KrV, B 488.
D A V 325
hältnisses könnte nicht in einem absolut notwendigen Wesen erschlossen werden, wohl
aber in einer zwangshaften Notwendigkeit, die jede moralische Maxime zugleich ins Un-
moralische verkehrt und gerade dadurch die Zufälligkeit des Systems der Sachzwänge in
jeder Handlung offenbart.
Durch die strikte Reduktion auf die Bedingungsreihe der Naturerfahrung entgeht Kant
solchen Problemen und kommt zunächst in der These der Antinomie zu dem Ergebnis,
daß das Notwendige nur Bestandteil der Sinnenwelt sein könne, da es als Anfang von
Veränderung zu der Zeitreihe, durch die diese Veränderung bestimmt ist, gehören muß,
entweder als Teil der Weltreihe oder als deren Ganzes. So sehr diese Argumentation von
den Gottesbeweisen der christlichen Tradition abweicht, gerät sie doch ins Fahrwasser
des Pantheismus: Auf der objektiven Seite wäre das die Vorstellung von Gottes Welt-
erhaltung durch permanente Schöpfung, creatio continua, die Gottes Substantialität als
Existenzbedingung in allen kontingenten Dingen verortet. Auf der subjektiven Seite wä-
re es die averroistische Vorstellung vom intellectus separatus, der getrennt existierenden
Intellektsubstanz, an der die empirischen, kontingenten Intellekte teilhaben müssen, um
ihre allgemein verbindliche Intellektualität zu gewinnen, die sich dann jedoch vom gött-
lichen Intellekt kaum mehr unterscheiden ließe. Die Notwendigkeit der Weltreihe selbst
ist deren Apotheose und damit ist die These der Vierten Antinomie nicht weniger pro-
blematisch als ein Gottesbeweis. Diese Apotheose entsteht aber aus dem Versuch, die
Notwendigkeit der Vernunft in ein unmittelbares Verhältnis zu den Gegenständen der
Sinnlichkeit zu bringen. Das ist schon eine metabasis eis allo genos, deren Wiederho-
lung im Schluß auf den absoluten Widerspruch58 allerdings entweder zu Gott oder zur
Preisgabe des Systemanspruchs führen müßte. – Die Knüpfung der Vernunftideen an die
Sinnenwelt schließt aber, wie die Antithese zeigt, die Idee eines Notwendigen schlecht-
hin aus, so wie sie dessen Annahme zunächst provozierte.
Kants Antinomien sind insgesamt auf dem Dualismus von Vernunft und Sinnlichkeit
erbaut und resultieren aus der zuvor als unzulässig erkannten Überschreitung von dessen
innerer Grenze, aus den „glänzenden Anmaßungen der ihr Gebiet über alle Grenzen der
Erfahrung erweiternden Vernunft“59 . Kants Behauptung, in der Darstellung der Antino-
mien seien die Ansprüche der Vernunft „von allem Empirischen entkleidet“60 worden,
kann nur die partikulare Erfahrung meinen, nicht aber Erfahrung überhaupt oder mögli-
che Erfahrung, denn im Medium des reinen Begriffs werden die Antinomien keineswegs
entfaltet. Damit wird aber derselbe Begriff möglicher Erfahrung, der in der Analytik die
Unterschiedenheit der Objekte vom Subjekt aufbewahren soll, als unempirisch bestimmt.
In der Tat hat dieser Begriff als Begriff von Erfahrung diesen Doppelcharakter, Erfah-
rungsobjekte zu meinen, aber sie nur meinen zu können,soweit sie auf ihre allgemeine
Repräsentation im Subjekt reduziert und nach dessen Bestimmungen gefaßt sind: Auf
Objekte bezogen enthält der Begriff möglicher Erfahrung zuwenig Selbständigkeit der
Objekte, auf subjektive Vernunft bezogen zuviel.
Das Bewußtsein, in dem das Verhältnis von Subjekt und Objekt rekonstruiert werden
kann, ist von vornherein als eines gefaßt, das dieses Verhältnis konstruiert. So denkt sich
58
Vgl. KrV, B 486.
59
KrV, B 490.
60
KrV, B 491.
326 D F S
ein Subjekt, das kritisch seine Subjektivität, die reine Vernunft, ermäßigen muß, um mit
seiner Objektivität nicht in Konflikt zu geraten; nur so ist es möglich, die Objektivität als
a priori vom Subjekt antizipierte greifbar zu machen. Die Konflikte von Vernunft und
Wirklichkeit, die das Subjekt praktisch zum Subjekt seiner geschichtlichen Wirklichkeit
machen könnten, haben kein explizites correspondant in der spekulativen Vernunft.
61
KrV, B 494.
62
KrV, B 496.
63
KrV, B 496.
64
Vgl. KrV, B 494. Axel Hutter, Das Interesse der Vernunft, a.a.O., stellt dies so dar, daß die Thesen
aus dem praktischen und die Antithesen aus dem spekulativen Interesse der Vernunft hervorge-
bracht würden; beide wurzelten dann „in dem einen Interesse der Vernunft […], das konstitutiv
ist, weil es als transzendentales Vernunftinteresse die Wirklichkeit ursprünglich erschließt“ (146).
Hutter interpretiert programmatisch die Kritik der reinen Vernunft nicht als Erklärung der Bedin-
gung der Möglichkeit von Wissenschaft, sondern als Entfaltung eines darüber hinausreichenden
Vernunftbegriffs (25). Wenn man diesen, bei Kant in praktischer Absicht konzipierten, Vernunft-
D A V 327
Unbedingten anfängt“65 , stehe allerdings das Interesse des Empirismus entgegen, allein
im Bereich möglicher Erfahrung empirische ‚Gesetze‘ zu ermitteln. Dieses Vorgehen ist
prinzipiell unbegrenzt, weil der Rekurs auf unendliche Vernunftbegriffe – Ideen – kon-
zeptionell ausgeschlossen ist.66 Das von Kant hier skizzierte aufklärerische Pathos des
rast- und ruhelosen Forschers und Entdeckers, dessen Pioniergeist mit der Vorstellung
absoluter Weltbegriffe unvereinbar ist, hat allerdings, auch bei Kant, ein spezifisches
Subjekt: nicht die Vernunft, sondern den Verstand.
Die Antinomie wird insgesamt zum praktischen Problem dadurch, daß die empiri-
sche Unbeschränktheit der Verstandestätigkeit, die auch von der Vernunft keine Schranke
akzeptiert, zugleich deren für Moralbegriffe unabdingbaren Absolutheitsanspruch auszu-
schließen scheint. Moralbegriffe, deren Realisierung in der unendlichen Überschreitung
von Bedingungsgrenzen bestünde, wären irreal. Hier zeichnet sich theoretisch das prakti-
sche Problem ab, daß Moral, selbst wenn es gelänge, sie in der rein isolierten praktischen
Vernunft absolut zu denken, bei ihrer Realisierung in der durch den Verstand konstituier-
ten Sinnenwelt auf massive gegenständliche Hindernisse stoßen muß. Kants Vorbehalte
gegenüber der Preisgabe der Empirie an eine rational absolut konstituierte Welt haben
aber durchaus auch ihre praktische Berechtigung, denn in einer absolut vernünftigen
Welt – das hat die Vorstellung vom Vernunftwillen Gottes gezeigt – wäre menschliche
Praxis stillgestellt als Regression zu Gott im cursus einer Heilsordnung.
Deshalb strebt Kant eine Lösung an, in der nicht „der Empirismus in Ansehung der
Ideen (wie es mehrenteils geschieht) selbst dogmatisch wird […], weil dadurch dem
praktischen Interesse der Vernunft ein unersetzlicher Nachteil verursacht wird“67 . Er soll
lediglich „eine Maxime der Mäßigung in Ansprüchen“68 der Vernunft vertreten, derge-
mäß diese Ansprüche „in Ansehung des praktischen Interesses gelten“ können, ohne „für
eine Beförderung des spekulativen Interesses“69 zu gelten.
Der in der nominalistischen Formalisierung der Philosophie logisch aufgehobene me-
taphysische Anspruch auf systematische Einheit der Welt – konsequent vertreten durch
die grundsätzlich teleologische Form von Metaphysik – ist es, der die Architektonik der
Vernunft bestimmt, die Eigenschaft, „alle Erkenntnis als gehörig zu einem möglichen
begriff auf die Erkenntnistheorie ausweitet, erhält man eine idealistische Interpretation, in der
Problemtitel als ursprüngliche Einsichten geführt werden.
65
KrV, B 495.
66
Vgl. KrV, B 496f. In diesem Sinne argumentiert noch Strawson, Die Grenzen des Sinns, a.a.O.,
127f., gegen die Einheit von Wahrheit, Objektivität und Selbstbewußtsein. – Wenn man gegen
diese Kritik an solchen Begriffen festhalten will, muß man sich allerdings darüber klar sein, daß
ihre erkenntnistheoretische Funktion zugleich normativ ist. Faktisch herrscht allemal Pluralität
in der Welt- und Selbstauffassung der Menschen, wie sie von der alltagssprachlich gewendeten
Philosophie beschrieben wird. Tatsächlich ist kein Selbstbewußtsein mit der Welt, wie sie ihm
erscheint, in Einklang zu bringen; das demonstrieren Flexibilisierung und Austauschbarkeit der
Subjekte. Was bleibt ist die Forderung der Subjekte nach Identität ihrer selbst, ohne die sie nicht
wissen können, ob sie gerade heteronomen Zwecken folgen oder nicht.
67
KrV, B 499.
68
KrV, B 498.
69
KrV, B 498.
328 D F S
System“70 zu betrachten. Kant erkennt hierin die Natur der menschlichen Vernunft, denn
für Vernunft als solche ist das keine natürliche Bestimmung. Sie folgt vielmehr der Not-
wendigkeit der gegenständlichen subjektiven Träger der Vernunft, sich in der ebenso
gegenständlichen Wirklichkeit zu orientieren. Die Einheit der Erfahrung, ohne die sol-
che Orientierung unmöglich wäre, wird durch den Verstand hergestellt, bedarf aber der
Einheit der Ideen der Vernunft und der Einheit der Vernunft selbst, des vernünftigen
Selbstbewußtseins mithin, um als systematische Ordnung begriffen werden zu können.
Deshalb spricht nach Kant auch ein architektonisches Interesse der Vernunft für die Ide-
en in den Thesen der Antinomien.
Die Vernunft ist aber nicht allein der Ort des Grundes der Einheit des Bewußtseins,
sondern sie ist auch der einzige mögliche Ort des Zweifels an Identität. In der Wahr-
nehmung werden keine Widersprüche gegeben, in der Erfahrung können sie durch den
Verstand rekonstruiert werden, aber nur unter der Voraussetzung der Identitätsforde-
rung der Vernunft. Die Reflexion schließlich auf das Verhältnis des Systemanspruchs
zu Brüchen des Systems, die in der Erfahrung identifiziert wurden – eine dem System-
anspruch widersprechende Erfahrung genügt –, kann allein in die Vernunft fallen. Der
reine Widerspruch kann keine Kategorie des Verstandes sein, weil er als konstitutiver
Verstandesbegriff die Einheit der Erfahrung aufhöbe. Fehlstellen im System können for-
mal von der Vernunft getragen werden,71 auch ohne sie aufzulösen, so daß sie weder
zu systematischen Elementen nivelliert werden müssen, noch die Einheit der Erfahrung
oder der Verstandeserkenntnis notwendig zerstören. – Wohl aber berühren solche Fehl-
stellen die Einheit des Selbstbewußtseins, das auf die technisch-praktische Orientierung
und Reproduktion seines subjektiven Trägers in der Welt reflektieren kann. In dieser
Reflexion wird es dessen inne, daß die erkenntnistheoretische Relation von Subjekt und
Objekt vor dem Vernunftanspruch auf Vollständigkeit widersprüchlich erscheint, obwohl
sie vor dem Verstandesanspruch auf jene technische Praxis sich doch als gültig erweist.
Findet die Vernunft aber einen Grund, ihre architektonische Organisationsleistung der
Erkenntnis in deren grundsätzlich unbeschränkter Geltung zu bezweifeln, so ist ihre Na-
tur in sich gebrochen. Der Hebel, über den dieser Bruch erfolgt, sind die empirischen
Subjekte von Vernunft, deren Reproduktion die Vernunft doch nur unter Voraussetzung
einer kosmologischen Teleologie als allgemein möglich ausweisen kann. Diese Teleolo-
gie muß aber zugleich die menschlichen Lebensverhältnisse ergreifen und tilgt dadurch
nicht bloß die Möglichkeit von Geschichte, sondern stilisiert Wissenschaft zum Selbst-
zweck.
Die Reflexion auf den Bruch zwischen Vernunftanspruch und wissenschaftlicher Pra-
xis – daß diese nicht in absoluten Begriffen aufgeht – ermöglichte es erst, Wissenschaft
überhaupt als Praxis zu begreifen, als kollektive Tätigkeit, die auch der Produktion und
70
KrV, B 502. Es kann nicht genug betont werden, daß dies bei Kant unter dem Titel ‚Architektonik‘
gemeint ist, und nicht eine immanente Ordnung von Vernunftabteilungen und -funktionen. Dies
wäre bestenfalls Innenarchitektur, nicht eine der Vernunft substantiell zukommende Eigenschaft,
auf systematische Einheit auszugehen.
71
Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 232.
D A V 329
72
Vgl. Ludwig Siep, Konkrete Ethik, a.a.O., 185: „Eine konkrete Ethik, der es um Normen des
technischen Umgangs mit der Natur […] geht, muss dazu die wissenschaftliche Erklärung der
Welt in den Natur[wissenschaften] […] einbeziehen.“
73
Vgl. Frank Kuhne, Selbstbewußtsein und Erfahrung bei Kant und bei Fichte, a.a.O. Kuh-
ne identifiziert die mangelnde Reflexion auf das Verhältnis von transzendentaler Einheit des
Selbstbewußtseins, empirischer Einheit des Selbstbewußtseins und Einheit des empirischen Selbst-
bewußtseins als erkenntnistheoretischen Ausdruck des problematischen Verhältnisses von Theorie
und Praxis (46, 58ff., 166). Über die Einsicht in den Charakter der Wissenschaft als gesellschaft-
licher Praxis erweisen sich jene drei Einheiten als Momente subjektiver Identität. – Klaus Düsing,
Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O., 43, geht dagegen von einem „komplex strukturierten Verhältnis[]
von transzendentalem und empirischem Ich bei Kant“ aus.
74
KrV, B 503.
75
KrV, B 507.
76
KrV, B 509.
77
Vgl. KrV, B 508.
78
Vgl. KrV, B 512.
330 D F S
Indem das Subjekt die objektiven Bedingungen der Reflexion von deren Resultaten,
den Ideen, absetzt, macht es sich aber mittelbar umso stärker zum Prinzip der Objekte:
Es stellt die Ideen als gegenüber den Objekten selbständige reine Produkte der Subjek-
tivität vor. Tatsächlich sind diese Produkte aber an der Objektivität negativ vermittelt,
ohne sie nicht denkbar. Das Subjekt erlangt deshalb in den Ideen nur eine scheinhafte
Selbständigkeit. Diese scheinhafte Selbständigkeit verstellt die substantielle Selbstän-
digkeit des Subjekts, mit der es gegenüber den Objekten agieren, nicht bloß reagieren
könnte. Die substantielle Selbständigkeit ist ihrerseits nicht ontologisch isoliert zu ha-
ben, sie ist Ausdruck der Reflexion des Subjekts auf seine eigene Objektivität, genauer:
Sie kann nur bestehen in dem Vollzug dieser Reflexion selbst, deren Bewußtsein ein
Moment von Unmittelbarkeit in der eigenen Vermitteltheit zu entdecken und damit zu
realisieren vermag.
Die Möglichkeit der Verschränkung von Subjekt und Objekt reflektiert Kant durch-
aus in der Feststellung, daß die Idee, je nach welcher Seite der Antinomie sie aufgelöst
werde, dem durch sukzessiven Regreß bestimmten Erfahrungsbegriff entweder zu klein
oder zu groß sei: wenn der unendliche Regreß angenommen würde, zu groß, wenn des-
sen absoluter Abschluß angenommen würde, zu klein. Diese Relation könnte nämlich
immer in ihren reziproken Gegensatz umgekehrt werden, so daß etwa nicht die Idee
dem Begriff zu groß, sondern dieser für jene zu klein sei. Dieses reziproke Verhältnis
löst Kant auf mit dem Hinweis darauf, daß mögliche Erfahrung das Kriterium der Unter-
scheidung bloßer entia rationis von objektiv realen Begriffen sei.79 In dieser Auflösung
unterstellt Kant der Bildung der Idee einen Zweck, und zwar den, Erfahrung zu ermög-
lichen. Subjektivität wird dadurch scheinbar eine Funktion der subjektiven Konstitution
von Objektivität; – tatsächlich ist sie eine Funktion der subjektiven Konstitution von
Objektivität, die dadurch selbst zum Ausdruck von Subjektivität wird. Verräterisch ist
Kants Beispiel: Wenn eine Kugel nicht durch ein Loch paßt – in einem mathematischen
Verhältnis zweier Objekte also – lasse sich nicht entscheiden, ob die Kugel zu groß oder
das Loch zu klein sei. Passe einem Menschen aber ein Kleidungsstück nicht, sei es im-
mer der Mensch, der die richtige Größe habe, weil er den Zweck bestimme. Bezogen auf
das Verhältnis von Erfahrung und Idee soll daraus folgen, daß jene diese begrenze, weil
Erfahrung den Zweck der gesamten Erkenntnis bestimme. Vernunft, Selbstbewußtsein,
wird so zu einem Mittel der empirischen Orientierung des Subjekts unter objektiven
Bedingungen. Tatsächlich sind diese objektiven Bedingungen aber schon durch den Ver-
stand konstituiert: Die zweckmäßige Unterordnung der Vernunft unter die Objektivität
akklamiert somit die – später zu entwickelnde – Vorstellung aus der Analytik, derzufolge
die Objektivität durchs Verstandessubjekt erst bestimmt wird; Selbständigkeit der Ver-
nunft dagegen verwiese wieder auf die Objekte als Objekte, deren Vernunftbegriff nicht
immer umstandslos der Verstandesdiagnose dessen, was ist, sich fügt.
Der transzendentale Idealismus setzt voraus, daß nur Anschauungen Gegenstände von
Erfahrung sein können, nicht aber Raum und Zeit, in deren Formen sie gegeben sind.
Ebensowenig ist das den Gegenständen zugrundeliegende transzendentale Objekt selbst
Gegenstand von Erfahrung, es kann nur aufgrund dessen, was in der Anschauung gege-
ben ist, erschlossen werden. Dadurch wird der Begriff der Totalität seinem möglichen
79
Vgl. KrV, B 517.
D A V 331
Gehalt nach doch vollständig durchs Erfahrungssubjekt beschränkt. Gerade die Präva-
lenz der Erfahrung antizipiert aber die subjektive Dominanz übers Objekt. Was nicht
aktuell gegeben ist, kann als Vergangenes nur Objekt sein, wenn es in der Reihe der
Bedingungen des Gegebenen in antecedentia enthalten, also nach Erfahrungsgesetzen
Bedingung gegenwärtiger Erfahrung ist; als Zukünftiges, oder mögliche Erfahrung, kann
es nur Objekt sein, wenn es nach Regeln der Erfahrung im Fortgang derselben zum Ob-
jekt wird. Zwar läßt sich darüber nichts sagen, aber wohl läßt sich sagen, daß selbst diese
problematische Objektivität bloß unter den Gesetzen der Erfahrung denkbar ist.80 Alle
Gegenstände, die außerhalb des aktuell Gegebenen liegen, sind „für mich nichts, mit-
hin keine Gegenstände, als sofern sie in der Reihe des empirischen Regressus enthalten
sind“81 .
Die Reprise der Differenz von Ding an sich und Erscheinung und ihre Variation am
Material des Regresses der Bedingungen exponiert zugleich Kants Lösung der Anti-
nomie: Der Satz, daß mit dem Gegebensein des Bedingten zugleich alle Bedingungen
gegeben seien, gilt nur von Dingen an sich, beziehungsweise als logische Folgerung,
außerhalb der Bedingungen der Sinnlichkeit, denn innerhalb dieser ist die Reihe der Be-
dingungen niemals gegeben, bevor sie in der Sukzession der Synthesis hergestellt wird.
Kant formuliert, hier sei die Reihe wohl „aufgegeben“82 , das heißt, ohne die Antizipati-
on der Reihe ist das Bedingte nicht sinnvoll in die Einheit der Erfahrung zu integrieren,
aber eine andere Daseinsform als die problematische der Antizipation haben die Glie-
der der Reihe dann nicht. Der Regreß ist, solange er nicht durchgeführt ist, bloß „ein
logisches Postulat der Vernunft: diejenige Verknüpfung eines Begriffs mit seinen Bedin-
80
Auf die Asymmetrie von Zukunft und Vergangenheit weist in verwandtem Zusammenhang Peter
Rohs hin: Vgl. Kausalität aus Freiheit, a.a.O., 37; 43f.
81
KrV, B 524. – So arbeitet Geschichtsforschung, die sich nicht mit dem Hererzählen partikularer
Fakten begnügt, bis hin zur naturgeschichtlichen Suche nach dem ‚missing link‘; nicht allein des-
sen unbekannte Objektivität wird durch den kausalen Zusammenhang mit den zu verbindenden
Zuständen begründet, auch diese zusammenhangslosen Zustände selbst sollen durch das missing
link ihre systematische Stelle und dadurch erst vollends Gegenstandscharakter erhalten: Sonst sind
sie unbestimmte oder mangelhaft bestimmte Partikulare. Daraus folgt aber auch die fatale Konse-
quenz, daß vergangene Ereignisse, die nicht geschichtswirksam wurden, die nicht als subalterna
dieses kausal zu rekonstruierenden Geschichtsverlaufs fungieren und in dieser Funktion aufgehen,
zwangsläufig den fahlen Schimmer des Unwirklichen erhalten. Geschichtsschreibung ist deshalb
aber nicht bloße Geschichte der Sieger (vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschich-
te, a.a.O., 254), sondern – schlimmer noch – auch die der zweckmäßig Unterlegenen. Die Sieger
gedenken stets derjenigen Opfer, die ihnen als Opfer nützlich waren. Das Verschwinden der An-
deren – wie „Matrosen, die man auf einer Insel vergessen hat“ (Charles Baudelaire, Der Schwan,
in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, München 1975, 231) – macht Geschichte zu der bru-
talen Selbsttäuschung, mittels derer die Menschen die objektiven Brüche ihrer Subjektivität seit
je gekittet haben. Schon Odysseus muß für den sinnlos betrunken vom Dach gefallenen Elpen-
or einen Gedächtniskult zelebrieren, damit dieser gleich den ‚sinnvoll gefallenen‘ Gefährten im
Hades aufgenommen und so konstitutiv ins kollektive Gedächtnis und Selbstbewußtsein einge-
schrieben werde (vgl. Homer, Odyssee, Stuttgart 1992, X. Gesang und Michael Städtler, Sterben
als zweckgerichtete Tätigkeit? Ein Beitrag zum Verhältnis von Erinnerung und Gemeinschaft, in:
Hegel-Jahrbuch 2002, sowie zum Kontext dens., Das Leben denken: Zu welchem Zweck?. Der
Zusammenhang von Herrschaft und Selbstbewußtsein bei Hegel, in: Hegel-Jahrbuch 2007).
82
KrV, B 526.
332 D F S
gungen durch den Verstand zu verfolgen und so weit als möglich fortzusetzen, die schon
dem Begriffe selbst anhängt“83 .
Im Schluß der Antinomie gilt daher die 1. Prämisse, daß mit dem Bedingten die Reihe
der Bedingungen gegeben sei, rein kategorial als logische Verknüpfung. Das in der 2.
Prämisse gesetzte Bedingte aber gilt als Gegenstand der Erfahrung; die Verknüpfung
beider in der Konklusion ist unzulässig, weil – selbst bei Reduktion der 2. Prämisse
auf bloß mögliche Erfahrung – deren Gegenstände einer Sukzession und damit der Zeit
unterliegen, die logische Verknüpfung in der 1. Prämisse aber nicht. Da dieser Fehler
sowohl der These wie der Antithese zugrunde liegt, sind beide in ihrem Anspruch, etwas
über Gegenstände auszusagen, zurückzuweisen; allein, der notwendige Widerstreit der
Vernunft bleibt bestehen, weil beide auch einzeln logisch nicht zu widerlegen sind. Die
Auflösung muß die Gegenstandslosigkeit beider Seiten – „daß sie um nichts streiten“84
– nachweisen.
Diese Gegenstandslosigkeit der Antinomie bestehe nun darin, daß der Gegensatz von
These und Antithese bei allen Antinomien nicht kontradiktorisch, sondern dialektisch,
scheinhaft, sei. Endlichkeit und Unendlichkeit der Welt widersprechen sich nur, wenn
diese Welt als Ding an sich genommen wird. Unter der Voraussetzung, daß sie als sol-
ches nicht gegeben ist, also ihre Größe für uns nicht Gegenstand werden kann, erweisen
sich beide Prädikate – hinsichtlich aller Antinomien – als falsch, weil dann Ideen der
Vollständigkeit auf Erscheinungen angewandt werden, die als solche immer partikular
sind; die Welt existiert „weder als ein an sich unendliches, noch als ein an sich endli-
ches Ganzes. […] Die Reihe der Bedingungen ist nur in der regressiven Synthesis selbst,
nicht aber an sich in der Erscheinung als einem eigenen, vor allem Regressus gegebenen
Dinge anzutreffen“85 .
Aufschlußreich ist Kants Behauptung, aus den Antinomien ließen sich Widerlegungs-
beweise zugunsten des transzendentalen Idealismus führen: Weil die Annahme der Rea-
lität der Erscheinungen auf einen Widerspruch aus zwei falschen Sätzen führe, folge
als Bedingung der Möglichkeit eines vermittelnden dritten die transzendentale Idealität
der Erscheinungen. Nun hatte aber erst die Annahme des transzendentalen Idealismus
auf die Einsicht in jene Widerspruchsdialektik geführt, aus der er nun indirekt bewiesen
werden soll. Einerseits wird durch diesen Zirkel die Vernunftdialektik als bloßes Spiel
von entia rationis, als eine Verirrung der Vernunft in sich selbst, vorgestellt, aus der
aber indirekt an allen Enden die Erfahrung hervorspringen soll, und zwar als eine von
Dialektik und Antinomie ganz unberührte: „Der Widerstreit der daraus gezogenen Sätze
entdeckt aber, daß in der Voraussetzung eine Falschheit liege, und bringt uns dadurch zu
einer Entdeckung der wahren Beschaffenheit der Dinge als Gegenstände der Sinne.“86
Die Beschaffenheit der Dinge, deren Reflexion die Vernunft in Antinomien stürzte, ist
für Kant das Wahre; die Widersprüche der Vernunft fallen nicht in deren Verhältnis zu
ihren Gegenständen, sondern in die Vernunft selbst allein, weil sie die Gegenstände als
ihre Gegenstände vorstelle und sich so nur mit sich beschäftige. Als Ausdruck dieser
83
KrV, B 526.
84
KrV, B 529.
85
KrV, B 533.
86
KrV, B 535.
D A V 333
Selbstbestimmung der Vernunft, aus der nur ihre Selbstbeschränkung folgen könne, hät-
ten sie Legitimität. Das zu betonen, ist Kant so angelegen, daß er sich zu einer Phrase
hinreißen läßt: „Diese Anmerkung ist von großer Wichtigkeit.“87
Indes ist die Selbstisolation schon der spekulativen Vernunft Bedingung und Ausdruck
der Reflexion der Vernunft auf ihr inadäquates Verhältnis zu den Gegenständen. Bedin-
gung von Reflexion ist die Isolation, weil nur das reine identische Subjekt Maßstab der
Inadäquanz von Gegenständen sein kann. Ausdruck von Reflexion ist die Isolation, weil
sie nur als Negation des ihr Inadäquaten überhaupt zu denken ist. Das problematische
Verhältnis der Vernunft zur Gegenständlichkeit ihrer Gegenstände verweist auf Defizite
der Praxis: Auch reine praktische Vernunft kann nicht im Verhältnis zu ihren Gegenstän-
den, sondern muß rein in sich selbst bestimmt werden. – Gerade weil nun die Objekte
nur im Verhältnis zur Einheit des Subjekts Gegenständlichkeit haben, ist diese Einheit
in sich gebrochen. Dies ist nicht Ausdruck der Vernachlässigung der Erfahrung, sondern
der formal ins Subjekt ragenden Selbständigkeit der Objekte der Erfahrung, die selbst
nie unmittelbar gegeben sind, sondern durch die Form, wie sie gegeben sind, an ihrer
Selbständigkeit angegriffen.
Eine subjektive Wendung der Antinomie erlaubt nun ihre produktive Anwendung:
Wenn der Vernunftanspruch auf Vollständigkeit nicht auf objektive sondern auf sub-
jektive Vollständigkeit bezogen wird, ist er der Grundsatz, zu jeder Bedingung immer
wieder eine weitere Bedingung aufzusuchen, die perennierende Aufgabe des Regresses,
verkürzt um die Vorstellung seiner Abschließbarkeit. Diese „Regel“88 steht zwischen
reiner Vernunft und Erfahrung, da sie weder aus reinen Vernunftsätzen Gegenstände
konstituiert – was auf Widersprüche führte –, noch konstitutiv für die Gegenstände der
Erfahrung ist, die in den Grenzen der Sinnlichkeit definiert sind. Sie ist ein „regulati-
ves Prinzip der Vernunft“89 , das der je begrenzten Erfahrung aufgibt, die Grenze nicht
absolut, sondern bloß empirisch zu nehmen. So ist es das Prinzip von Forscherdrang
und Pioniergeist ebenso wie das der Erfahrungsverhaftung aller wissenschaftlichen Er-
kenntnis.90 Sie ist das Prinzip der Subjektivität von Wissenschaft, die, indem sie sich
selbst Grenzen zieht, tatsächlich auch ihre Objekte einbeschreibt in die Gestalt, die eine
widerspruchsfreie Kongruenz von Subjekt und Objekt in der ruhigen Einheit des Selbst-
bewußtseins ermöglicht.
Der Begriff des Unendlichen muß daher an eine subjektiv-empirische Verfahrensweise
gebunden werden und wird so zum Begriff des Unbestimmten, so daß „nur gesagt wer-
den könne: daß, so weit ich auch zurückgegangen bin, niemals ein empirischer Grund
angetroffen werde, die Reihe irgendwo für begrenzt zu halten, so daß ich berechtigt und
zugleich verbunden bin, zu jedem der Urväter noch fernerhin seinen Vorfahren aufzu-
suchen, obgleich eben nicht vorauszusetzen“91 . Kant hält auch hier an der quantitativen
Fassung des Unendlichen fest, damit es als Resultat des Quantifizierens unter Zeitbedin-
gungen, nicht als dessen begrifflich-qualitative Voraussetzung zu fassen sei. Das Unend-
87
KrV, B 535. Es ist ja nicht so, daß die Kritik der reinen Vernunft ansonsten belanglos wäre.
88
KrV, B 536.
89
KrV, B 537.
90
Vgl. Prolegomena, IV § 46.
91
KrV, B 540.
334 D F S
liche als Begriff, selbst aufgehobenes Negatives, Negation der Negation, bezöge seine
Geltung zwar auch aus dem Subjekt, beanspruchte aber zugleich, etwas Gültiges übers
Objekt zu sagen, dessen Gültigkeit nicht allein in der Erfahrung gründe. Kant ahnt, daß
im absoluten Wissen der Fortschritt von Wissenschaft und mit ihm alle Kultur stillge-
stellt wären und proklamiert dagegen die Unbestimmbarkeit des Unendlichen als Regel
der unaufhörlichen Erforschung des Endlichen, die sich aber deshalb niemals übers End-
liche zu erheben vermag. Unter Voraussetzung dieses Wissenschaftsbegriffs bleibt aber
auch Kultur praktisch innerhalb der Grenzen der technisch-praktischen Organisation des
endlichen Daseins; eine Verbindung von Kultur und Moralität ist so nicht denkbar.
Der regressus in infinitum ist denkbar nur in Beziehung auf ein gegebenes Ganzes,
dessen Teile aufgesucht werden sollen, weil hier jedes mögliche Glied der Reihe mit
dem Ganzen gegeben ist. So ist zum Beispiel der Inhalt einer geometrischen Figur
infinitesimal zu berechnen. Diese Einschränkung ist nötig, weil sonst die Mathematik
unmöglich würde, da sie mit solchen Unendlichen rechnet, die empirisch nicht darstell-
bar sind, deren Möglichkeit aber gewiß ist. – Der regressus in indefinitum dagegen stellt
die Aufgabe, zu einem Bedingten immer noch eine weitere Bedingung aufzusuchen, de-
ren Ausführung „in unbestimmte Weite“92 führt, wo die möglichen Glieder der Reihe
eben nicht schon in einem Ganzen virtuell gegeben sind: „Denn ihr habt entweder keine
Wahrnehmung, die euren empirischen Regressus schlechthin begrenzt, und dann müßt
ihr euren Regressus nicht für vollendet halten, oder habt eine solche eure Reihe begren-
zende Wahrnehmung, so kann diese nicht ein Teil eurer zurückgelegten Reihe sein (weil
das, was begrenzt, von dem, was dadurch begrenzt wird, unterschieden sein muß), und
ihr müßt also euren Regressus auch zu dieser Bedingung weiter fortsetzen und so fort-
an.“93
Gegenüber dieser an der Endlichkeit von Erfahrung orientierten Dialektik wäre es –
mit Hegel – für die Vernunft die Grenze selbst – und nur sie allein –, die den Regreß
ins Unendliche führte, denn der von Kant reklamierte Unterschied des Begrenzenden
vom Begrenzten ist begrifflich die Einheit beider. Er ist die Grenze, die das Begrenzte
auf das Begrenzende als seine Bedingung verweist. Ohne Grenze geht es, sozusagen,
nicht weiter in der Begriffsdialektik. Die Aufhebung der Grenzen als Motoren schlech-
ter Unendlichkeit gelänge nicht in der Idee der Vollständigkeit aller Grenzen, sondern
allenfalls in der Idee der Negation der Negativität der Grenzen; in dieser Idee wäre nicht
die Vollständigkeit von Erfahrung gegeben, sondern Erfahrung würde durch sie allererst
geöffnet, weil sie nicht mehr bloß Funktion von Subjektivität wäre. Diese Negation der
Negation fiele aber – da irrt Hegel – auch nicht in die Selbstentfaltung des Begriffs zur
Idee, sondern sie wäre erst durch die Reflexion der Subjekte auf die Widersprüche ihrer
Beziehung zu den Objekten möglich.
Aus Kants Absicht, die mögliche Einheit der aufs Unendliche gehenden Vernunft zu
begründen, ergab sich erst die Notwendigkeit, nachzuweisen, daß Ideen keine konstituti-
ven Prinzipien seien; nun soll ihre Gültigkeit als regulative Funktionen für die Synthesis
des Verstandes begründet werden, wodurch „der Streit der Vernunft mit sich selbst völ-
lig geendigt [werde], indem nicht allein durch kritische Auflösung der Schein, der sie
92
KrV, B 541.
93
KrV, B 543.
D A V 335
mit sich entzweiete, aufgehoben worden, sondern an dessen Statt der Sinn, in welchem
sie mit sich selbst zusammenstimmt“94 , aufgezeigt werde. Diese Harmonie der Vernunft
soll aber erzeugt werden gerade durch die Verlegung der Widersprüche in die Vernunft,
durch ihre Entfernung aus dem Objekt; einer antinomischen Objektivität nämlich wäre
keine einheitliche Vernunft adäquat. Die Vernunft, nun Ort der Antinomie, schränkt sich
selbst soweit ein, daß ihr antinomischer Charakter nicht im Gebrauch an den Objek-
ten offenbar wird, deren eigene Antinomie dadurch ebenso verborgen bleibt. So sei ein
Grundsatz der Vernunft „gerade eben so viel, als ob er wie ein Axiom (welches aus rei-
ner Vernunft unmöglich ist) die Gegenstände an sich selbst a priori bestimmte“95 . Er gilt
als Regel des Verstandesgebrauchs und bestimmt so dessen fortschreitende Konstitution
der Objektivität.
Durch die Ermäßigung der Idee zur regulativen erhält sie eine ‚doktrinale‘96 Funk-
tion analog den Grundsätzen; sie soll „den größtmöglichen Verstandesgebrauch in der
Erfahrung den Gegenständen derselben angemessen bestimmen“97 . Wenn Kant dies als
‚subjektive Bedeutung des dialektischen Grundsatzes‘98 bezeichnet, weil der Verstan-
desgebrauch thematisch ist, subsumiert er doch zugleich die Gegenstände der Erfahrung
unter dieselbe subjektive Bedeutung des Grundsatzes: Die Definition des Verstandesge-
brauchs ist zugleich eine Erweiterung aufs größtmögliche und eine Beschränkung aufs
größtmögliche. Die Grenze wird durch die Anmessung an die Gegenstände ermittelt.
Ist die Begrenzung selbst subjektive Tätigkeit, so muß auch das Kriterium der Grenz-
ziehung ins Subjekt fallen. Diese Begrenzung des Verstandesgebrauchs ist die Einge-
meindung aller Gegenstände möglicher Erfahrung in dessen Gebiet, schon deshalb, weil
sie als Bestimmungen seiner Grenze immer sowohl in das Gebiet fallen als auch nicht.
Nur die Seite, nach der sie nicht hineinfallen, ihre selbständige Bestimmtheit, will Kant
ausschließen, weil deren Berücksichtigung keine widerspruchsfreie Einheit des Bewußt-
seins gestattete. Kants Beschränkung der Vernunft auf Regeln des Verstandesgebrauchs
ist damit keine Kritik an einer Subjektivierung der Objekte, sondern der Versuch, die
Widersprüche, die durch die Vernunft dabei aufgedeckt werden, zu vermeiden. Dadurch
werden die Objekte umso gründlicher an Subjektivität gebunden. Allerdings zieht nicht
Kant diese Konsequenz, sondern erst der kritisch an ihn anschließende Idealismus.
Gleichwohl ist sie in der systematischen Form angelegt, die Kant der philosophischen
Erkenntnis gibt.
94
KrV, B 544.
95
KrV, B 544f.
96
Vgl. KrV, B 544.
97
KrV, B 544.
98
Vgl. KrV, B 544.
336 D F S
hatte.99 Aus dem Nachweis der Scheinhaftigkeit der Vernunftideen selbst ließen sich
Argumente entwickeln, durch die auch die resultierenden Widersprüche ihres Scheins
zu überführen wären: „Von zwei einander widersprechenden Sätzen können nicht alle
beide falsch sein, außer, wenn der Begriff selbst widersprechend ist, der beiden zum
Grunde liegt“100 .
Kants Auflösung der Idee der Totalität aber beruht auf deren strikter Funktionalisie-
rung für Erfahrungserkenntnis, wodurch sie auf ein quantitatives, ‚schlecht‘ Unendli-
ches beschränkt bleibt, so daß der Ausgangsfehler der Antinomien die falsche Erhebung
eines Erfahrungsbegriffs zu einer Vernunftidee ist. Unter Voraussetzung dieser Begrif-
fe von Unendlichkeit oder Vollständigkeit kann die Welt als sogenannte Weltreihe nur
als Resultat des empirischen Regresses vom Bedingten zu den Bedingungen vorgestellt
werden, der keine absolute Grenze haben kann, weil deren Erfahrung die unmögliche
Erfahrung der jenseitigen Leere, die Abwesenheit von Raum und Zeit, implizierte. Da-
mit ist unmittelbar die regulative Funktion der Idee der Totalität gegeben, die bloß dazu
anleitet, im Regreß fortzuschreiten. Dieser Fortschritt ist aber umgekehrt auch keiner ins
Unendliche, weil dies ebensowenig in einer Erfahrung, die Bestandteil oder Summe des
Regresses wäre, gegeben werden kann. Der Fortschritt geht daher immer nur in unbe-
stimmte Weite und gibt niemals überhaupt eine Anschauung der Weltgröße. Weil man
sich „allererst einen Begriff von der Weltgröße durch die Größe des empirischen Re-
gressus machen“101 müßte, dieser aber „keine Größe im Objekt bestimmt“102 , muß das
„Weltganze […] im Begriffe“103 schließlich als Illusion erscheinen; wahre Begriffe des
Unendlichen oder der Totalität kann es nicht geben. Deshalb folgt aus der Auflösung der
Idee des Weltganzen wohl, daß die Welt keine Grenze habe, nicht aber, daß sie unend-
lich sei, sondern bloß, daß der Regreß, der ihre Größe ermitteln soll, in indefinitum geht.
Hier kehrt sich die Beschränkung des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes in dessen Er-
weiterung um: Die affirmative Vorstellung von Unendlichkeit stellte den unbestimmten
Regreß im Begriff still. Wird dagegen Unendlichkeit zur Regel, den Verstandesgebrauch
immer weiter auszudehnen, so ergibt sich die Möglichkeit, das Weltganze – bislang
allein begrifflich gedacht – potentiell dem empirischen Verstandesgebrauch zu subsu-
mieren. Dadurch wird die Konstitution der Objektivität durchs Subjekt weit über den
bestimmten Erfahrungsgebrauch hinausgetrieben, bis in deren elementare Zusammen-
setzung hinein. Das erlaubt der Begriff der möglichen Erfahrung, dessen begriffliche
99
Vgl. KrV, B 545, B 551, B 560, B 587; jeweils die Überschriften. Dies wird meist übersehen.
Vgl. Herbert Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 91. Ihm zufolge gelingt die Auflösung der Antino-
mien, weil die Antithesen hinsichtlich der Erfahrung immer im Recht seien, die Thesen aber bloß
gedankliche Notwendigkeit ausdrückten. Kant kommt es aber darauf an, durch die Ideen die Er-
fahrungserkenntnis systematisch zu organisieren, ohne sie doch spekulativ zu überschreiten. Erst
die Regulativität, die den Ideen das Ideale nehmen soll, schafft hier vorerst Erleichterung.
100
Prolegomena, IV § 52 b. Kants Sprachgebrauch ist allerdings nicht einheitlich. In § 54 ist von
der „Auflösung des Widerstreits der Vernunft“ die Rede; diese setzt allerdings die Kritik der
Ideen voraus, die nicht aufgegeben werden können, wenn in ihnen sozusagen stellvertretend die
Widersprüche ausgetragen werden sollen.
101
KrV, B 547.
102
KrV, B 548.
103
KrV, B 546f.
D A V 337
Unbestimmtheit angesichts wirklicher Erfahrung Kant nun praktisch wendet: Es sei „der
Fortschritt von Erscheinungen zu Erscheinungen geboten, sollten diese auch keine wirk-
liche Wahrnehmung (wenn sie dem Grade nach für unser Bewußtsein zu schwach ist, um
Erfahrung zu werden) abgeben, weil sie dem ungeachtet doch zur möglichen Erfahrung
gehören“104 .
Auch dieses Vorgehen zeigt indirekt, daß die Antinomie der Vernunft auf ein Moment
von Selbständigkeit in den Objekten weist, das verstörend in die Vernunft hineinreicht:
Denn die Aufhebung der Antinomie dient der Erweiterung der konstitutiven Funktion
des Verstandesgebrauchs. Allerdings mutet Kant dem Verstand in dieser Absicht zu viel
zu. Die Gegenstände der Erfahrungserkenntnis beruhen auf dem, was in der Anschau-
ung gegeben ist. Dasjenige, dessen Erscheinung „dem Grade nach für unser Bewußtsein
zu schwach ist, um Erfahrung zu werden“105 , ist aber in keiner Anschauung gegeben,
mithin ist es keine Erscheinung. Wie soll nun das, was nicht Erfahrung werden kann,
„zur möglichen Erfahrung gehören“106 ? Solche Erfahrung wäre nur für ein Bewußtsein
‚möglich‘, das nicht an die Bedingungen der Sinnlichkeit gebunden wäre; ein solches
Bewußtsein hat aber keine Erfahrung. Die Anschauung des Atoms, die scheinbar durchs
Elektronenmikroskop vermittelt wird, ist nicht die Anschauung des Atoms, sondern die
einer Wirkung der Anwendung der Meßapparatur aufs Atom, so wie jede Darstellung
nicht sichtbarer oder hörbarer Größen oder Frequenzen immer nur die Anschauung des
Ausschlags von Meßinstrumenten gewährt.107 Zwischen dem anschauenden Subjekt und
dem scheinbar zur Anschauung gebrachten Objekt liegen mit der Apparatur deren ma-
thematische Bedingungen, die nicht auf eine empirische Reihe ins Unbestimmte oder
auch Unendliche zu gründen sind, sondern einen mathematisierten Begriff des Unend-
lichen voraussetzen, mit dem allein sich rechnen läßt. Dieser Begriff kann, wie Kant
zeigt, nicht Resultat von Erfahrung sein, es muß ihn aber geben, und er muß sogar
in Beziehung zur Erfahrung stehen, denn sonst wäre keine technisierte Gestalt mathe-
matischer Resultate möglich. So zeigt sich gerade in der ‚reinen Geisteswissenschaft
Mathematik‘ die Differenz von selbständiger Subjektivität und Objektivität ebenso wie
deren Verschränkung. Wie Kants Grundlegung der Metaphysik, führt auch die Grundle-
gung der Mathematik, zum Beispiel in der Mengenlehre, auf Aporien und Antinomien
der Vernunft, deren axiomatische Lösung ebenso wie bei Kant durch Definition des An-
wendungsbereichs die Anwendung selbst widerspruchsfrei machen soll.108
104
KrV, B 550.
105
KrV, B 550.
106
KrV, B 550.
107
In besonderer Weise gilt dies für die Verwendung bildgebender Verfahren in der Hirnforschung.
Nicht ein Gefühl, ein Wille oder ein Gedanke werden sichtbar gemacht, sondern ein Meßergeb-
nis, dessen Interpretation übrigens bereits in das Meßverfahren eingegangen ist, keineswegs aber
dessen Resultat wäre. Vgl. hierzu, neben dem klassisch gewordenen Aufsatz von Thomas Nagel,
Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Manfred Frank (Hg.), Analytische Theorien des Selbst-
bewußtseins, a.a.O., jetzt vor allem Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie
und Willensfreiheit, a.a.O.
108
Vgl. Jürgen Schmidt, Mengenlehre I, Mannheim 1966, 27ff. und Oskar Becker, Grundlagen der
Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, Frankfurt am Main 1975, 324ff. Der Versuch, das
Subjekt mit seinem Objekt in ein widerspruchsfreies Verhältnis zu bringen, geht ohne das Mo-
338 D F S
Unter der Bedingung der Knüpfung der Idee von Unendlichkeit und Totalität an Er-
fahrung hat diese Idee auch hinsichtlich der Teilung eines gegebenen Ganzen keinen
Bestand. Unter Beiseitsetzung der Annahme, das Gegebene bestehe aus einfachen Tei-
len – die undenkbar ist, weil dann die Erscheinung nicht kontinuierlich wäre, was wieder
einen leeren Raum zwischen den discreta erforderte – ist hier wohl von einem Regreß
ad infinitum zu sprechen, und zwar gerade deshalb, weil die Erscheinung als begrenzte
der Anschauung gegeben ist. Nur was außerhalb der aktuellen Erfahrung liegt, muß un-
bestimmt bleiben. Das gegebene Ganze kann bestimmtermaßen immer wieder in Teile
zerlegt werden, ins Unendliche. Die unendliche Teilbarkeit ist aber nicht umzuwenden
in die Behauptung, das Gegebene bestehe aus unendlich vielen Teilen, weil diese Tei-
le erst mit dem Regreß der Teilung gegeben werden. Wären sie vorher, als Teile eines
gegliederten organischen Ganzen, gegeben, so wären sie als quanta discreta „jederzeit
einer Zahl gleich“109 .
Wie der Raum selbst, dessen Teile immer wieder teilbare Räume sind, weil die voll-
ständige Aufhebung von Zusammensetzung des Raumes diesen selbst aufhöbe, sind auch
Erscheinungen im Raum unendlich teilbar. Nur der Verstandesbegriff der Substantiali-
tät des Objekts verweist auf eine unbedingte, nicht zerlegbare Grundlage. Dem Objekt
in der Erscheinung hingegen kommt Substantialität nur zu, insofern es „beharrliches
Bild der Sinnlichkeit“110 ist und „nichts als Anschauung“111 . Auch hierdurch soll das
Objekt bis in unendliche Verästelung seiner Komposition der Konstitution des Subjekts
unterworfen werden. Tatsächlich operiert Kant mit einem Begriff von Unendlichkeit, der
längst kein Erfahrungsbegriff mehr ist, denn die Teilung von Teilen ist schon recht bald
kein Gegenstand möglicher Erfahrung mehr, und ihre Antizipation durch die Vernunft
ist mehr als bloße Anweisung auf Erfahrung. Sie exponiert nämlich einen Begriff von
Unendlichkeit in der Reflexion auf die Aporien immer endlicher Erfahrung. Dies ist
ein Begriff, der ohne negative Beziehung auf Erfahrung nicht darstellbar ist, der aber
deshalb, weil er nur durch negative Beziehung auf Erfahrung darstellbar ist, auch kein
Resultat von Erfahrung sein kann.
Für Kant bleibt er aber Anweisung auf Erfahrung, weil auch in dieser Negation die
Trennung von Subjekt und Objekt, die zugleich deren Verflechtung ist, durchscheint.
Mit der Differenz von Teilbarkeit und Teilung gelingt Kant wohl eine Auflösung der
Zenonischen Aporien. In diesen war der Vernunftbegriff von Unendlichkeit konfundiert
mit dem unendlichen Regreß in der Dekomposition sowie in der Komposition und mit
der unzulässigen empirischen Verwendung des Vernunftbegriffs. Im Kern geht Kants
Argument aber nicht über das Aristotelische hinaus, das Teilbarkeit und Geteiltheit be-
ment gewaltsamer Unmittelbarkeit von Axiomatik nicht ab, die immer die Grenzen des Subjekts
bestimmt und immer die Domestizierung des Objekts bezweckt. Einsicht in die Notwendigkeit
der Widersprüche vermöchte aber keineswegs, Mathematik auszusetzen oder nur zu verändern; sie
vermöchte aber das instrumentelle Bewußtsein von ihrer Wissenschaft, das Mathematiker heute ler-
nen, infragezustellen. Für Philosophie, die auf jene Grundlagen und deren Anwendung reflektiert,
ergibt sich unmittelbar die Aufgabe der Kritik des Verhältnisses von Subjektivität und Objektivität
im Bewußtsein.
109
KrV, B 555.
110
KrV, B 553.
111
KrV, B 554.
D A V 339
112
Vgl. Aristoteles, Physik, Halbbd. 2, Hamburg 1987, 239b f. Hier findet sich auch die Darstellung
der Aporien des Zenon.
340 D F S
die solche Antinomien auffangen könne, und von Mißachtung der empirischen Subjekte
wie der Natur, auf die sie sich praktisch beziehen: Die Vermittlung von Widersprüchen
wird dieser Praxis entzogen.
113
KrV, B 558.
D A V 341
Kant maskiert die geschichtliche Konstitution des Subjekts in dessen brüchigem Selbst,
indem er die objektiven Momente des Bruchs nicht bezeichnet. So bleibt Geschichte –
auch die vorangegangene – aber als bloße Möglichkeit stillgestellt. Der Grund dieser
Stillstellung – die objektive Unmöglichkeit des Subjekts, seine eigene Objektivität zu
denken – muß seinerseits gedacht werden als Bedingung der Möglichkeit, Stillstellung
zu durchbrechen. Diese Möglichkeit wird aber nur eröffnet, wenn die Stellung des theo-
retischen Subjekts zur Geschichte bewußtgemacht wird.
Es ist den Subjekten aber unmöglich, mit positiven Verstandesbegriffen oder Ideen
sich selbst als Funktion der eigenen Vorstellung von Objektivität zu erkennen; die selbst-
bestimmte Überwindung dieser Funktionalität – Verweigerung gegen die Abhängigkeit
von der menschengemachten Heteronomie – erfordert erst recht negative Reflexion: Nur
Distanz zur bewußten Geschichtlichkeit des eigenen Denkens – zu dessen Zusammen-
hang mit den historischen Bedingungen, unter denen gedacht und unter denen Denken
praktisch wird – öffnet Geschichte dem bewußten Eingriff.
114
KrV, B 561.
115
KrV, B 561.
342 D F S
116
Vgl. KrV, B 561.
117
KrV, B 562.
118
KrV, B 564. Daß Kant die Verknüpfung von Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit für bloß
möglich hält, ist schon Ausdruck der Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft. Tat-
sächlich impliziert schon das Bewußtsein von Kausalität den Grund von Freiheit, denn sonst müßte
dieses Bewußtsein eine bloße Folge von Naturkausalität, mithin selbst Natur sein. Schon die Ein-
heit der Apperzeption und die konstitutiven Verstandesleistungen haben ein Moment von Freiheit,
das allerdings in der Ununterscheidbarkeit von transzendentalem Subjekt und transzendentalem
Objekt verschwindet, weil das Subjekt so keinen von ihm unterschiedenen Gegenstand zu einer
möglichen Handlung hat.
119
KrV, B 571.
120
KrV, B 564.
121
KrV, B 566.
D A V 343
liche Willkür zum Substrat der Darstellung.122 Gleichwohl ist schon zu Anfang, ganz
unvermittelt jedoch, von „Handlung“123 die Rede, und der ‚Gegenstand der Sinne‘, mit
dem Kant begann, heißt plötzlich „Subjekt“124 .
Die Unterscheidung von intelligiblem und empirischem Gegenstand erlaubt es nun,
demselben Objekt, sogar hinsichtlich desselben Ereignisses, neben seiner naturkausalen
Wirkung in der Erscheinung eine intelligible Ursache beizulegen, die nicht in den Er-
fahrungszusammenhang integriert ist. Diese intelligible Kausalität bezieht sich auf die
„Handlung, als eines Dinges an sich selbst“125 . Schon an dieser grundlegenden Stelle
ist die Handlung ihrem Kern nach kein empirischer Sachverhalt, sondern allein auf die
intelligible Bestimmung der Willkür im Subjekt bezogen, die sich allen Erfahrungszu-
sammenhängen entziehen soll. Davon unterscheidet Kant die „gegebene Handlung“126 ,
womit die Wirkung jener intelligiblen Handlung in der Erscheinung bezeichnet wird.
Das Verhältnis von intelligibler und empirischer Ursache soll also darin bestehen, daß
jene dem Subjekt als einem Ding an sich, diese demselben als Erscheinung zukomme.
Dabei sei die ‚gegebene Handlung‘ die Wirkung der ‚Handlung, als eines Dinges an
sich‘.
Um diese Kausalfunktionen des Subjekts als prinzipiell bestimmte voneinander un-
terscheiden zu können, wendet Kant den moralischen Begriff des Charakters in eine
theoretische Bestimmung: „Es muß aber eine jede wirkende Ursache einen Charak-
ter haben, d. i. ein Gesetz ihrer Kausalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein
würde.“127 Der Charakter, der seinem ursprünglichen Sinn nach durch Konsequenz in
der unmittelbaren Willensbestimmung durch Vernunft,128 durch ausgebildete moralische
Anlage129 gekennzeichnet ist, wird auf die abstrakte Bedeutung der Regelmäßigkeit kau-
122
Vgl. KrV, B 574.
123
KrV, B 566.
124
KrV, B 566.
125
KrV, B 566.
126
KrV, B 580; vgl. auch B 573: „Handlung in der Erscheinung“.
127
KrV, B 567.
128
Vgl. KpV, V 152 und 72.
129
Vgl. Anthropologie, XII 324. In pädagogischen Zusammenhängen spricht Kant allerdings gelegent-
lich davon, daß „durch Beispiele und Anordnungen“ „ein[] moralische[r] Character zu begründen“
sei (Pädagogik, IX 488). Kant versucht, der Lehre vom Tugendhabitus dadurch auszuweichen,
daß die „Pflichten […] aus der Natur der Sache gezogen werden“ müssen (ebda.). Einen ande-
ren Versuch macht Marcus Willaschek, Praktische Vernunft, a.a.O.: Seinen intelligiblen Charakter
verschaffe man sich dadurch, daß auf Seiten des empirischen Charakters nur noch legale Hand-
lungen ausgeführt würden. So entstehe durch lauter Einzelfallentscheidungen unter der zeitlosen
Perspektive der Vernunft eine Wandlung des intelligiblen Charakters. Deren materielles Substrat,
die Einzelhandlungen, verliefen zwar in der Zeit, aber die Wandlung selbst erscheint für die
Vernunft als zeitloser Grund der Einzelhandlungen: „Das Ideal einer unendlichen Folge legaler
Handlungen kommt, aus dem Blickwinkel der Vernunft, einer radikal guten Gesinnung gleich.“
(165) Damit allerdings hat Willaschek Kants eigenes theologisches Argument vom ‚Herzenskün-
diger‘, von der Bestimmbarkeit von Moral allein sub specie aeternitatis, säkularisiert; dies jedoch
um den Preis, daß Moral nun wirklich nur noch eine Frage der Interpretationsperspektive ist: „Da
dieser Charakter allein von den Gründen abhängt, nach denen eine Person handelt, ist er nichts
anderes als der Zusammenhang ihrer Handlungen ‚aus der Perspektive der Vernunft‘.“ (165) Die
344 D F S
saler Abfolge gekürzt. Hierin soll das tertium comparationis beider Kausalitätsformen
liegen: daß sie Kausalität nach Regeln, nicht chaotische Willkür, seien. So habe nun
das Subjekt als Erscheinung einen ‚empirischen Charakter‘, nach dem es vollständig
in den kausalen Naturzusammenhang integriert sei. Die Tätigkeit des Sinnenwesens
gilt als bloße Resultante der empirischen Bedingungen, unter denen sie erfolgt und
daher als prinzipiell vollständig berechenbar.130 Als intelligiblem Wesen aber sei ihm
ein ‚intelligibler Charakter‘ zuzusprechen, eine Kausalität, durch die es Ursache von
erscheinenden Tätigkeiten sei, ohne daß diese Ursache selbst unter Bedingungen der
Sinnlichkeit stünde, so daß sie frei „von allem Einflusse der Sinnlichkeit und Bestim-
mung durch Erscheinungen“131 wirken könne.
Beide Charaktere werden strikt voneinander geschieden, der eine sei durch Naturge-
setze vollständig determiniertes Element der Sinnenwelt, der andere gegen diese völlig
selbständig; dennoch soll er in sie hinein wirken können. Ein Ort der Koinzidenz beider
Charaktere läßt sich jedoch nicht benennen. Wäre er im tätigen Subjekt selbst, in der Ver-
mittlung von Ursachen und Wirkungen gelegen, so könnte in Anbetracht der Handlung
die transzendentale Freiheit von der Naturkausalität nicht unterschieden werden, weil
diese ein Konglomerat beider wäre. Kant wählt den Ausdruck, der empirische Charakter
sei „bloß die Erscheinung des intelligiblen“132 ; wie aber die Erscheinung durch ihr We-
sen bestimmt wird, läßt sich nicht ermitteln. Der intelligible Charakter bleibt, wie alles
Intelligible, unbekannt, aber „er würde doch dem empirischen Charakter gemäß gedacht
werden müssen“133 . Dem empirischen Charakter gemäß gedacht zu werden, kann nun
nicht bedeuten, daß sich von jenem auf den intelligiblen schließen lasse, weil „wir aus
der Erfahrung niemals auf etwas, was gar nicht nach Erfahrungsgesetzen gedacht werden
muß, schließen können“134 . Die praktische Konsequenz dieser Konstruktion ist folgen-
de: „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher,
selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können
nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung
der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Tempera-
ments oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann
niemand ergründen und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.“135
Das einzige, was sich erschließen läßt, ist der Ausschluß der logischen Unmöglichkeit
der Vereinbarung einer der Sinnlichkeit entzogenen Kausalität mit der Natur. Diese in-
telligible Kausalität kann aber nicht anders als durch diese Negation gedacht werden und
verliert dadurch allen Inhalt: Sie ist bloß der Begriff der Form von Kausalität, verkürzt
um alle empirischen Bestimmungen. So bleibt vom intelligiblen Charakter nichts als die
‚Unterbestimmung‘ dieses explizit abhängigen intelligiblen Charakters kann Willaschek dann nur
noch wegen der ‚endlichen Anzahl der rationalen Entscheidungen‘ einräumen; für Kant war die
‚Unterbestimmung‘ indes systematische Unbestimmtheit. Diese war die Unabhängigkeit des Sub-
jekts, bestimmend aber nicht bestimmt zu sein. Diese geht dem pragmatischen Modell verloren.
130
Vgl. KrV, B 568 und KpV, V 99.
131
KrV, B 569.
132
KrV, B 569, vgl. B 579.
133
KrV, B 568.
134
KrV, B 586.
135
KrV, B 579 Anm.
D A V 345
136
KrV, B 567f.
137
KrV, B 581. Zur Zeitlosigkeit (und Ortlosigkeit) der Spontaneität der Vernunft vgl. Prolegomena,
IV § 53: „Alsdenn aber müßte die Ursache, ihrer Kausalität nach, nicht unter Zeitbestimmungen
ihres Zustandes stehen“; „Gründe der Vernunft [geben] allgemein, aus Prinzipien, ohne Einfluß
der Umstände der Zeit und des Orts, Handlungen die Regel“; „das Verhältnis der Handlungen zu
objektiven Vernunftgründen ist kein Zeitverhältnis“.
138
Anders Bernd Dörflinger, Das Leben theoretischer Vernunft. Teleologische und praktische Aspekte
der Erfahrungstheorie Kants, Berlin 2000, 119f.: „Es haben solche unterscheidende Aussagen wie
die, daß Vernunft nicht in der Zeit ist, die vorzugsweise unter dem Interesse stehen, Vernunft im
Sinne praktischer Freiheit als über die Zeitfolge in der Zeit erhoben anzusehen, nur in oberfläch-
licher Betrachtung den Anschein, die Trennung zwischen Vernunft und dieser Anschauungsform
zu zementieren. Dieser Anschein verliert sich, wenn die Zeit als die ursprüngliche bewußt wird,
wodurch sie aus der strikten, an der Zeitfolge festgemachten Entgegensetzung zum genannten prak-
tischen Interesse herauskommt. Denn als ursprüngliche Zeit ist sie die eine Zeit, die als solche –
wie die angesprochene Vernunft – auch nicht in der Zeit ist, sondern worin alle Zeiten sind.“
Dörflinger versteht Zeit nicht als transzendental erschlossene Anschauungsform, die erklärt, wie
Anschauungen möglich sind, sondern umgekehrt als ursprünglich vom Subjekt hervorzubringende
Möglichkeit von Anschauung. Diese Auffassung verdankt sich der Perspektive des Opus Postu-
mum, aus der Dörflingers Interpretation erfolgt (vgl. 2). Gegen Dörflingers Einschätzung, diese
Perspektive ‚positiv‘ auf die KrV beziehen zu können, ist einzuwenden, daß Kant im Opus Postu-
mum eher Versuche zur Überwindung grundsätzlicher Aporien der kritischen Philosophie notiert
als deren konsequente Fortführung.
346 D F S
nommen: „Die reine Vernunft als ein bloß intelligibles Vermögen, ist der Zeitform, und
mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unterworfen.“139 Solche Vernunft wä-
re aber nicht einmal der Kritik ihrer selbst fähig. Die menschliche reine Vernunft wäre
danach nicht vom göttlichen Intellekt unterschieden, der in Ewigkeit auf sich zurückge-
worfen ist. So unerklärlich wie das Mysterium der Schöpfung – der creatio ex nihilo,
mit der die Zeit erst gesetzt wird – so unerklärlich ist auch die Bestimmung der Hand-
lung aus reiner Vernunft, der „ursprüngliche[n] Handlung“140 oder „unmittelbare[n]
Wirkung“141 . Allerdings ist das Vermögen der Spontaneität unter Zeitbedingungen nicht
denkbar, die Vorstellung der freien Setzung eines Zustandes in der Zeit kollidiert immer
mit den in der Zeitreihe vorhergehenden Zuständen. Daher konstruiert Kant Spontaneität
als reines Denken in der Form der Zeitlosigkeit. Als Selbstaufhebung seiner Äußerlich-
keit wäre reines, selbständiges Denken aber nur negativ-formal zu fassen und verwiese
als privative Negation immer auf sein objektives Gegenüber. Dieses will Kant umso
vehementer abschütteln, je stärker es sich aufdrängt. Autonomie beruht immer auf der
Negation von Heteronomie, und dieses negative Moment von Autonomie zeichnet ihre
Hilflosigkeit gegenüber der von ihr verlassenen Welt aus.142
Hegels positive Selbständigkeit dagegen versöhnt das Herrschaftsmoment, gegen
das Kant radikal polemisch bleibt, mit dem Bewußtsein und läßt dies unversöhnlich in
ihm selbst werden. Der Antagonismus allen Inhalts im Selbstbewußtsein kommt bei
Hegel nur zur Ruhe in der absoluten Inhaltslosigkeit der Identifizierung von Subjekt
und Objekt, in der das dem Subjekt antagonistische Moment objektiver Herrschaft die
Totenruhe des Geistes begründet, dessen absolute Gestalt sich auf dem Golgatha des
weltgeschichtlichen Trümmerhaufens erhebt. Das Absolute, das Hegel als geschichtliche
Vermittlung von Subjekt und Objekt stilisiert, ist bei Kant nur in der Abschottung des
Subjekts gegen seine Verflechtung mit den Objekten denkbar; so ist Kants formales
Subjekt der stillgestellte Trieb der Vernunft gegen das Unvernünftige – dessen entledigt,
aber darum seiner nicht mächtig.
Nun hat Kant diesen Mangel des „allein negativ als Unabhängigkeit von empirischen
Bedingungen“143 angesehenen Freiheitsbegriffs erkannt: „dadurch würde das Vernunft-
vermögen aufhören, eine Ursache der Erscheinungen zu sein“144 . Dieser Mangel sei zu
beheben durch positive Wendung des Begriffs, so daß er „auch positiv […] ein Vermö-
gen […] [bezeichnete], eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen“145 . Lo-
gisch ist die positive Freiheit aber eine Reflexionsform der negativen und kann deshalb
nicht substantiell mehr sein als diese. Die Unabhängigkeit von äußerer Bestimmtheit
139
KrV, B 579.
140
KrV, B 572.
141
KrV, B 581.
142
Vgl. Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 68: Die Ansätze zu einer nega-
tiven Metaphysik „bei Kant konnten Hegel folgerecht nur als Ausdruck inkonsequenten Denkens
erscheinen“; eine Konsequenz, die Haag einerseits in der Kantischen Philosophie angelegt sieht
(vgl. 82, 129), andererseits aber als transzendent-metaphysische „Aufspreizung“ (87) gegen das
negative Potential Kants kritisiert.
143
KrV, B 581.
144
KrV, B 581.
145
KrV, B 582.
D A V 347
läßt den Schluß auf die Möglichkeit von Selbstbestimmung formal zu, aber nicht auf die
bestimmte Möglichkeit, Reihen in der Zeit von selbst zu beginnen. Allein die logische
Unmöglichkeit eines solchen Vermögens wird ausgeschlossen. Das Denken kann sich in
der Reflexion der negativen Freiheit auf sich selbst beziehen, aber durch sie allein nicht
aus sich herauskommen. Insofern die negative Freiheit ihrerseits Resultat der Reflexion
auf die Abhängigkeit des Subjekts von Naturkausalität war, die positive nun Resultat
der Reflexion auf den Mangel der negativen ist, entfernt sich das Denken formal mit
jeder Reflexionsstufe weiter von den Gegenständen wie von der Gegenständlichkeit des
eigenen Subjekts; es wird mit jedem Gewinn an Freiheit weniger handlungsfähig.
Kants Versuch der Lösung der Aufgabe, intelligible und empirische Ursache mitein-
ander vereint zu denken, ist daher auch unablässiges Springen zwischen Hinsichten. Das
Subjekt, das der Ort der Koinzidenz sein soll, kann dies nur aufgrund dualistischer
Verfaßtheit sein: Dies mag als selbstverständlich erscheinen bei Wesen, die sich teils
als Phänomen selbst erscheinen und teils sich durch bloße Apperzeption selbst denken
können;146 gleichwohl bringt Kants Durchführung des Dualismus erhebliche Vermitt-
lungsprobleme mit sich, denn die ‚bloße Apperzeption‘ ist für Kant nichts weiter als
die logische Identität des Subjekts: „Ich denke ist […] der alleinige Text der rationalen
Psychologie“147 . Die bestimmte Auffassung der subjektiven Identität setzt schon Selbst-
wahrnehmung voraus und wird von Kant in die empirische Psychologie verwiesen.148
Die reine Selbstanschauung im inneren Sinn, Produkt der transzendentalen Einbildungs-
kraft, stünde immerhin unter der Bedingung des inneren Sinns. Die Auffassung innerer
Bestimmungen, der Kategorien etwa, oder innerer Handlungen, der Urteile, ist nie ohne
den Umweg über Gegenstände dieser Urteile oder Kategorisierung möglich.
Durch die Betonung der Geltung a priori der Kategorien gegenüber der logischen
Form des Bewußtseins von ihnen als Reflexionsausdrücke der Urteilsformen149 soll das
intelligible Subjekt vom empirischen geschieden werden; zugleich dichtet diese Un-
terscheidung das intelligible Subjekt aber gegen Empirie ab. Das geschieht durch die
unvermerkte Positivierung des negativen Prinzips der Apperzeption: „Das Ich, das allge-
meine Correlat der Apperception und selbst blos ein Gedanke, bezeichnet als ein bloßes
Vorwort ein Ding von unbestimmter Bedeutung, nämlich das Subjekt aller Prädicate […]
Der Gedanke Ich ist […] gar kein Begriff , sondern nur innere Wahrnehmung“150 . Als ne-
146
Vgl. KrV, B 574f.
147
KrV, B 401.
148
Der Psychologie kommt Kant zufolge nur beschreibende, nicht wissenschaftlich erkennende Be-
deutung zu, weil ihre Analysen nicht synthetisch reversibel sind: Aus den erschlossenen Elementen
des Seelischen läßt sich keine Seele konstruieren. Das liege an der Eindimensionalität der Zeit,
in der die innere Beobachtung verlaufe. Zudem verfremde die Beobachtungssituation bereits den
Gegenstand (vgl. MAN, IV 471). Die Anthropologie enthält zur Psychologie des Selbstbewußtseins
dann nichts Näheres.
149
Henrich faßt die Kategorien dagegen als Bestimmungen aus der Form des Selbstbewußtseins. Vgl.
Kant und Hegel, a.a.O., 182f.; 191. Zugleich spricht er von den formalen Erkenntnisbedingungen
als von Kants Ontologie (193ff.). Das Verhältnis von Einzeldingen und allgemeiner Ordnung,
das aporetische Resultat des Universalienstreits, bezeichnet er als natürliches Weltverstehen, bzw.
natürliche Ontologie.
150
MAN, IV 542f. In Prolegomena, IV § 46 Anm., heißt es sogar, die Apperzeption sei „nichts mehr
als Gefühl eines Daseins“.
348 D F S
gatives, erschlossenes Subjekt aller Prädikate gewährt der Gedanke ‚Ich‘ durchaus eine
bestimmte Vorstellung des Subjekts von seiner Subjektivität, vom Allgemeinen im Be-
sonderen. Erst der Anspruch, damit überhaupt Dinghaftes zu verbinden, macht es zum
Unbestimmten. Der Gedanke geht so über in eine Wahrnehmung, die nichts wahrnimmt,
positive Unbestimmtheit, ein erfahrungsfreies Subjekt aller Erfahrung.151
Unabhängigkeit des Subjekts von Empirie zeigt sich nach Kant in der Vorstellung des
Sollens, die im Zusammenhang von Natur und Naturerkenntnis keinen Ort hat. „Dieses
Sollen nun drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anders als ein
bloßer Begriff ist, da hingegen von einer bloßen Naturhandlung der Grund jederzeit ei-
ne Erscheinung sein muß.“152 Der Zusammenhang des Sollens mit Natur ist allein der
negative, daß die Natur die Realisierung des Gesollten nicht unmöglich mache. Hin-
sichtlich der „Bestimmung der Willkür selbst“153 muß der Imperativ der Vernunft ganz
von Natureinwirkungen isoliert sein, nur so kann die Rigorosität von Imperativen, die
Notwendigkeit von Handlungen, gedacht werden, „die doch nicht geschehen sind und
vielleicht nicht geschehen werden“154 . Hier ist Kant aber längst nicht mehr bei der Dar-
stellung der Möglichkeit transzendentaler Kausalität aus Freiheit im allgemeinen und
auch nicht bei der Erörterung menschlicher Zwecksetzung überhaupt; vielmehr bedient
sich Kant für die Begründung der Möglichkeit des Dualismus von Vernunft und Sinn-
lichkeit der spezifischen Möglichkeit moralischer Forderungen. Diese sind ihrer Form
nach nur zu denken als unbedingte und setzen daher absolute Selbständigkeit des Sub-
jekts voraus. Diese Form von Moralität, der kategorische Imperativ, drückt nun wirklich
nichts mehr aus als ‚eine mögliche Handlung‘; der ‚bloße Begriff‘, der ihr Grund ist, ist
die reine Form der Gesetzmäßigkeit.155 Jede wirkliche Handlung erfordert Erfahrungs-
begriffe. Soll die Vernunft aber gegen diese immun sein, so kann sie nicht der Ort der
Entscheidung sein. Soll sie hingegen entscheiden, so birgt die Relation zur Objektivität
die Gefahr der Infektion an deren Verunreinigungen.
Soll die Vernunft also nun „Kausalität in Ansehung der Erscheinungen“156 haben,
so muß sie in einem empirischen Charakter erscheinen, denn diese Kausalität der Ver-
nunft auf Erscheinungen muß, als Kausalität, einer Regel folgen; diese Regelmäßigkeit
der Bestimmung der Willkür zu empirischen Handlungen ist der empirische Charakter
des Subjekts. Dieser ist, wie die Vernunft, beständig und darin ein Abbild des intelligi-
blen Charakters. Jedoch ist schon die Beständigkeit des empirischen Charakters durch
Erfahrung nicht mehr zu ermitteln, weil seine „Wirkungen, nach Verschiedenheit der
begleitenden und zum Teil einschränkenden Bedingungen, in veränderlichen Gestalten
151
Manfred Frank hat dies als „merkwürdige Konstruktion“ bezeichnet (Fragmente einer Geschichte
der Selbstbewußtseinstheorie, a.a.O., 421).
152
KrV, B 575f.
153
KrV, B 576.
154
KrV, B 576.
155
Christine M. Korsgaard verteidigt zunächst die Intelligibilität des Sittengesetzes gegenüber empi-
rischen oder analytischen Interpretationen; allerdings sieht sie die spezifische Allgemeinheit des
Moralgesetzes doch nicht in dessen Gesetzförmigkeit, sondern in allseitiger Reziprozität morali-
scher Zuschreibungen. Vgl. Creating the Kingdom of Ends, a.a.O., 193ff.
156
KrV, B 577.
D A V 349
erscheinen“157 . Wie es dann möglich sei, daß die Vernunft in den Erscheinungen ‚eine
Regel zeigt‘, nach der die subjektiven Prinzipien der Willkür des Subjekts zu beur-
teilen seien,158 ist unerfindlich, zumal die Regelmäßigkeit des empirischen Charakters,
zusammen mit den empirischen Handlungsbedingungen das komplette set der mathesis
ergibt, für die es „keine einzige menschliche Handlung geben [würde], die wir nicht mit
Gewißheit vorhersagen […] könnten“159 . Dieselbe Regelmäßigkeit, durch die sich im
empirischen Charakter der intelligible ausdrückt, wird zum Grund der Möglichkeit der
Einordnung des empirischen Charakters in die Naturkausalität: „In Ansehung dieses em-
pirischen Charakters gibt es also keine Freiheit“160 . Die einzige ursprüngliche Regel des
intelligiblen Charakters war aber dessen absolute Spontaneität. Hinter den subjektiven
Prinzipien der Willkür, die zu beurteilen seien, verbirgt sich keineswegs ein gebildeter
oder barbarischer oder sonstwie bestimmter Charakter, denn die zeitlose Vernunft ist
„einerlei […]; sie ist bestimmend, aber nicht bestimmbar“161 . So bleibt vom Charakter
des Subjekts allein absolute Spontaneität, deren Regel, nämlich Identität als Grund der
Zurechenbarkeit, ist in der Tat durch alle Randbedingungen hindurch zu ermitteln.
Nur durch Distinktion, „[w]enn wir […] eben dieselbe Handlung in Beziehung auf
die Vernunft erwägen“ – und nicht in Beziehung auf deren Darstellung im empirischen
Charakter – „finden wir eine ganz andere Regel und Ordnung, als die Naturordnung
ist. Denn da sollte vielleicht alles das nicht geschehen sein, was doch nach dem Nat-
urlaufe geschehen ist und nach seinen empirischen Gründen unausbleiblich geschehen
mußte.“162 Auch dies kann keine moralische Bestimmung sein, denn das Unmoralische
ist kein Naturzwang.163 Ein Beispiel für Kants Sollen wäre etwa die Feststellung, daß
das Taumeln eines Gestoßenen nicht Ausdruck seiner absoluten Spontaneität sein konn-
te. Die Vernunft, die hier betrachtet wird, ist nicht die auf Inhalte bezogene spekulative,
sondern die praktische, deren einziger Inhalt ist, spontane Ursache zu sein.
Kants Beispiel des Lügners ist notwendig schief: Als dessen „Bewegursachen“ im em-
pirischen Charakter, der ja Gegenstand der Naturkausalität ist, benennt Kant „schlechte[]
Erziehung, üble[] Gesellschaft, zum Teil auch […] Bösartigkeit eines für Beschämung
unempfindlichen Naturells […], zum Teil […] Leichtsinn und Unbesonnenheit“; alles
dieses, ja sogar die „veranlassenden Gelegenheitsursachen“164 , sofern sie zu Bewußtsein
kommen müssen, sind keine naturkausalen Ursachen, sondern Beschädigungen im Ge-
müt des Lügners, die dieser sowenig aus freien Stücken sich angezogen hat wie sie aus
bloßer Natur ihm zuwuchsen. Kant legt die Vorstellung an, üble Gesellschaft – deren
bessere man in mancher Lage eben nicht finden kann – ja sogar schlechte Erziehung
157
KrV, B 577.
158
KrV, B 577.
159
KrV, B 578.
160
KrV, B 578. Zum Verhältnis der hierin angelegten Selbständigkeit der praktischen Philosophie zum
Programm systematischer Einheit von praktischer und theoretischer Philosophie vgl. Wolfgang
Röd, Rationalistisches Naturrecht und praktische Philosophie der Neuzeit, in: Manfred Riedel,
Rehabilitation der praktischen Philosophie, a.a.O., Bd. 1, 283ff.
161
KrV, B 584.
162
KrV, B 578.
163
Vgl. auch Peter Rohs, Kausalität aus Freiheit, a.a.O., 39.
164
KrV, B 582.
350 D F S
im Kindesalter seien äußere Bedrängnisse, denen das Subjekt als intelligibles zu wider-
stehen in der Lage, ja verpflichtet, sei – „denn man setzt voraus, man könne es [den
vorher geführten Lebenswandel, M. St.] gänzlich beiseite setzen“165 . Dies ist eine unge-
heuerliche Heroisierung des intelligiblen Charakters, die unmittelbar umschlägt in eine
Verächtlichmachung der kaputterzogenen und -vergesellschafteten Subjekte. – Richtig
bleibt daran aber, daß unangesehen der Zerrüttung des Subjekts seiner Entscheidung zur
Lüge doch ein Moment von Spontaneität innewohnen muß, weshalb allein sie ihm ein-
sehbar zuzurechnen ist.166 Diese Spontaneität muß vorausgesetzt werden können auch
für jede korrupte Handlung, selbst für die Korruption als solche; aber sie kann auch ver-
dreht werden durch die Entwicklung des Selbstbewußtseins unter Bedingungen, die dem
Subjekt Heteronomie als Autonomie anbilden, in einer Welt etwa, in der die Freiheit der
Entscheidung zur Verkleidung von im Kern ununterschiedenen – zumeist faktisch auch
vorentschiedenen – Alternativen mißrät.167
Abgesehen von den schweren Schäden, die die Repräsentation gesellschaftlicher
Zwänge in elterlicher Gewalt, oft genug auch in Gestalt von Fürsorglichkeit, den
Psychen von Kindern zufügt, vermag das Bewußtsein davon, daß eine wahre Aussage
womöglich zur Vernichtung der eigenen Existenz führen kann, den intelligiblen
Charakter zu brechen. Solche Erfahrung von Gewaltandrohung oder nur von dauernder
Alternativlosigkeit führt zur Stillstellung der Spontaneität praktischer Vernunft. Diese
stillgestellte Spontaneität bedeutet nun gerade keine Handlungsunfähigkeit; aber sie
entscheidet sich immer für ‚das Richtige‘, das Opportune; ihre Reflexion auf Zwecke
– die notwendige Bedingung distanzierten Urteilsvermögens – ist gelähmt. Dem
korrespondiert eine praktische Philosophie, in der Zweckbegriffe, Zweck als Begriff
überhaupt, nicht mehr thematisiert werden, sondern verstärkt wieder durch Tugender-
wägungen ersetzt werden. Zwecke stehen aber für das subjektive Prinzip der modernen
Welt überhaupt, Tugenden dagegen für, wie immer pragmatisch oder nominalisiert
165
KrV, B 583.
166
Das häufig verwendete Beispiel des Lügenverbots kann als Kants Reflexion auf die Bedingun-
gen, unter denen Menschen sich über Zwecke verständigen, angesehen werden: sein Beitrag zur
Kommunikations- und Intersubjektivitätsfrage mithin. Soll Verständigung möglich sein, muß das
Lügen kategorisch ausgeschlossen werden. Zwar setzt Kollektivität Kommunikation voraus, aber
aus deren Begriff, schon gar aus ihrem idealisierten Erfahrungsbegriff , läßt sich Kollektivität nicht
normativ ableiten, weil der allein kommunikable Grund von Normativität – allgemeine Geltung –
nur in der Subjektivität der Subjekte gründen könnte. Kant reflektiert dies implizit darin, daß noch
der sozialen Beschädigung der Subjekte ihre Spontaneität formal vorausgesetzt ist. – Daß sich aus
dem Lügenverbot, über diesen reflektierenden Sinn hinaus, kein positives Gesetz machen lasse,
hat Hegel angemerkt: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 229f.
167
Ein eindrucksvolles Modell der Verkehrung von Autonomie in Heteronomie gibt Michel Foucault
mit einer Interpretation der Benthamischen Gefängnisarchitektur als „Panopticon“. Wenn von ei-
nem zentralen Punkt aus alle Zellen einsehbar sind, ohne daß von diesen her der Wächter sichtbar
wäre, so funktioniert die Überwachung auch ohne Wächter: indem die Vorstellung, möglicherweise
beobachtet zu werden, in Selbstüberwachung und Selbstmaßregelung umschlägt. Foucault deutet
dies als Modell spezifisch gesellschaftlichen Bewußtseins überhaupt. Vgl. Überwachen und Stra-
fen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1977, 256ff., auch Abb.17. Bentham gelang
mit diesem ernsthaften Entwurf schon eine bittere Realsatire auf den modernen Effizienzbegriff,
bevor dieser noch gesamtgesellschaftlich zum Prinzip wurde.
D A V 351
168
Um dieser aporetischen Konsequenz aus dem Weg zu gehen, zieht Kant sich aber die andere zu,
daß formell vorgetäuschte Freiheit besser sei als materiell empfundene Unfreiheit. Das mag prag-
matisch plausibel sein, führt aber begrifflich auf den von Kant auch verwendeten Satz: „mundus
vult decipi“ (Anthropologie, VII 181), auf den sich dann keine Moral mehr aufbauen läßt.
169
KrV, B 585.
352 D F S
gangs des intelligiblen Charakters in den empirischen, an dessen Ende die Erscheinung
von Freiheit in eine Unfreiheit übergegangen ist, aus der Freiheit doch, wie vermittelt
auch immer, ablesbar sei.
Um der theoretischen Möglichkeit transzendentaler Freiheit willen wendet Kant die
Unerkennbarkeit des intelligiblen Charakters aber affirmativ in die isolierte Vorstellung
absoluter Spontaneität der Vernunft, die durch ihre Erscheinung sowenig angreifbar sei
wie das traditionelle ontologische Wesen, das eidos, durch seine jeweilige morphä. Ge-
bildet oder beschädigt werde dann allein der empirische Charakter. Moralisierung wäre
danach aber bloß als empirische denkbar, als Aristotelische Tugenderziehung,170 weil
Praxis in die Vernunft nicht reicht. Wenn Vernunft dann doch noch als Grund von Pra-
xis zu bezeichnen ist, so nur als absoluter Grund, adäquat der Isolation der Subjekte
von Praxis, die freiheitstheoretisch, wie schon historisch und moralisch, immer nur als
vereinzelte Einzelne angesprochen werden können.
Im Gegensatz zu Kants affirmativem Freiheitsbegriff kann Freiheit unter unfreien
Bedingungen immer nur negativ, als Opposition gegen die Unfreiheit im gebildeten
Selbstbewußtsein gedacht werden. Die Erzeugung solchen Bewußtseins bedürfte wohl
mehr als nur Aufklärung über den prinzipiellen Charakter von Vernunft, mindestens be-
dürfte sie auch Aufklärung über die Beschädigung von Vernunft – in den empirischen
Subjekten – und über die realen Gründe der Beschädigung. Solche Aufklärung kommt
nicht in den Blick Kants, weil der Dualismus von Vernunft und Sinnlichkeit – von de-
nen nur Sinnlichkeit in die Welt der Erfahrung reiche – durch einen Begriff der Ursache
schlechthin vermittelt sein soll, der, obwohl Kant ihn explizit als ‚Schema‘171 bezeich-
net, die Vermittlung nicht wie dieses über Zeitfunktionen leistet. Es könnte die zeitlose
Vernunft mit der zeitlichen Sinnlichkeit allein als logische Ursache vermitteln, denn bei-
de stehen zueinander bestenfalls in einem logischen Bedingungsverhältnis außerhalb der
Zeit.
Kants Absicht der Reinerhaltung der transzendentalen Freiheit führt so zu dem dualis-
tischen Ergebnis, daß Freiheit und Naturnotwendigkeit „beide voneinander unabhängig
und durcheinander ungestört stattfinden können“172 . Eine Vermittlung von Freiheit und
Natur, die etwa als freie Gestaltung der Naturbedingungen menschlichen Lebens denkbar
wäre, scheint gar nicht nötig zu sein, solange beide nur einander nicht behindern, solan-
ge ihre spezifischen Gesetzmäßigkeiten unvermindert zugleich wahr, gültig und wirksam
sein können. Diese Widerspruchsfreiheit von intelligibler und empirischer Kausalität ist
aber erkauft nicht allein mit der Unmöglichkeit, ihre Verknüpfung in der Handlung zu
denken, sondern auch mit der Spaltung des Subjekts, das ewig soll und deshalb niemals
170
Moralische Bildung tritt bei Kant entsprechend immer als unmittelbarer Entschluß zur Selbst-
bestimmung, als Mut, selbst zu denken, auf. Sie wird zwar beschrieben als Gewöhnung an die
Vorstellung der Sittlichkeit, deren Annahme selbst aber als ein Pfropfen auf dem eingewöhnten
Gemüt (vgl. KpV, V 161 oder Anthropologie, VII § 12). Die späte Einsicht, daß Menschen ein-
ander böse machen können (vgl. Religion, B 128f.), daß gesellschaftliche Lebensbedingungen in
den intelligiblen Charakter, das Prinzip der Willensbestimmung, hineinragen, stellt Kant daher vor
grundsätzlich neue Probleme der Koordination von Subjekt und Objekt in der Sittlichkeit, deren
grundlegendes Problem das Verhältnis von Moral und Politik ist.
171
Vgl. KrV, B 581.
172
KrV, B 585.
D A V 353
kann.173 Im ewigen Sollen ist aber die Opposition gegen die Bedingung der Unmög-
lichkeit seiner Säkularisierung der formalen Bedingung nach geronnen, weil es auch
Resultat des reflexiven Rückzugs des Subjekts aus einer ihm feindlichen Umgebung ist.
Das isolierte Subjekt Kants – wie der vereinzelte Einzelne in der modernen Gesellschaft
– ist nicht bloß äußerlich von dem, was es nicht ist, unterschieden; es steht nicht als
fertiges Wesen zwischen lauter Dingen und Bedingungen, sondern es kommt wesent-
lich nur durch diese Unterscheidung zustande, es ist zuinnerst Resultat seiner negativen
Beziehung auf das ihm Äußerliche. Dies gilt nicht bloß für das philosophisch identifi-
zierte Subjekt, sondern es betrifft durch Erziehung und öffentliche Zurichtung durchaus
die empirischen lebendigen Subjekte: Sie lernen, sie selbst zu sein, durch Unterschei-
dung und Ausschluß von Anderen. Sie lernen, sich ihre Handlungen zuzurechnen ohne
Ansehung der Umstände; wer aber diese ansieht, mag die sozialisierte Gestalt seiner
Subjektivität, seine Persönlichkeit, als Zumutung empfinden.
173
Vgl. Georg Zenkert, Konturen praktischer Rationalität, a.a.O., 13: „Die Verbindung der beiden
Sphären [Freiheit und Natur; M.St.] muß sich in der Perspektive der Kausalität aus Freiheit im
subjektiven Willen nachweisen lassen. […] Doch wird sich herausstellen, daß hier der Dualismus
in internalisierter Gestalt wiederkehrt.“
174
KrV, B 588.
175
KrV, B 589.
354 D F S
176
KrV, B 591.
177
KrV, B 592.
178
Vgl. KrV, B 593.
D A V 355
tive, Negation faßt, bezeichnet er radikal ein solches „transzendentales Objekt, von dem
man übrigens nichts weiß“179 , als „ein bloßes Gedankending“180 , also seinem eigenen
Verständnis zufolge als ein Nichts.
Kant will an dem Ziel der durchgängigen subjektiven Konstitution der Objektivität
festhalten, auch wenn dies nur durch die Vorstellung einer Ordnung möglich ist, die sich
nicht dem Subjekt verdankt. Deshalb wird diese Ordnung fürs Subjekt in eine intelli-
gible Sphäre verlegt, existiert womöglich im zeitlosen und raumlosen, luftleeren Äther
außerhalb der Welt. Die Opposition von Subjekt und Objekt wird zu einer Vorstellung
desselben Subjekts qua Vernunft, das sonst qua Verstand die Sinnenwelt konstituiert. So
wird einerseits die Unbegreiflichkeit der erscheinenden Welt, ihre Zufälligkeit, festge-
halten, die aber ihrerseits gerade die Bedingung der Möglichkeit dafür sei, die Welt als
Produkt subjektiver Ordnung aufzufassen, – andererseits wird ein rationaler Begriff ab-
soluter Ordnung als begriffliche Grundlage erzeugt, dessen mangelnde Realität deshalb
kein Mangel ist, weil diese Realität grundsätzlich nicht Gegenstand von Erfahrung sein
könnte. Am Ende erscheint dies als Versuch, einer dem subjektiven Begreifen brüchig
gewordenen Welt noch als solcher eine widerspruchsfreie Auffassung durchs Subjekt
anzuschaffen und sie damit selbst als widerspruchsfrei erscheinen zu lassen, so daß die
Einheit des Selbstbewußtseins des Subjekts in seinem Verhältnis zum Objekt ungestört
erscheint. Erkauft ist dies mit der Spaltung des Subjekts, das allgemeine Ordnung zu
denken, aber nie sie zu realisieren vermag.
Alle Anstrengung von Verstand und Vernunft in der Sinnenwelt bleibt partikular,
deren Ordnung könnte nur pragmatisch sein. Die Möglichkeit, eine reale allgemeine
Ordnung der Welt zu denken, die aber der transzendentalen Idee des absoluten Wesens
nicht entspricht, entfällt somit. Wenn aber die Welt, die erscheint, nicht allein sinnlich
und kategorial bestimmt ist, sondern auch durch die heteronomen Formen, in der die
Subjekte sie sich geschichtlich als Objekt angeeignet haben, wenn sie daher als Objekti-
vität schon unter Bestimmungen gebracht ist, in denen das Subjekt einer selbst subjektiv
geschichtlich produzierten verkehrten Allgemeinheit konfrontiert ist, so ergibt sich für
Kants unbedingte, notwendige, Bedingung der Sinnenwelt, daß dieses gedachte Prinzip
nicht ein bloßes Gedankending ist, sondern daß es ein Moment der Rückwirkung des
Verhältnisses von Subjekt und Objekt ins Subjekt aufweist. Die von Subjekten einge-
richtete Ordnung wird im subjektiven Selbstverständnis als bloß objektive vorausgesetzt:
Was Subjektivität in der Welt angerichtet hat, mag sie nicht als ihre eigene Leistung
erkennen. Die Ordnung des geschichtlichen Trümmerhaufens, deren Vorstellung sich
aufdrängt, soll nicht dessen von Subjekten geschichtlich verursachte Form sein, son-
dern nur je die originäre Konstitutionsleistung subjektiver Erkenntnis. Das auf Einheit
drängende Subjekt soll zugleich wissenschaftlich neutral der allgemeinen Partikulari-
sierung gegenüberstehen. Die Allgemeinheit, das unbedingte, selbständige Moment der
Sinnenwelt, wird daher zum bloßen Gedankending, dessen Urheber- oder Komplizen-
schaft an der Sinnenwelt nie nachweisbar ist. Damit wird es aber zugleich zur absoluten
Notwendigkeit verfestigt, mit der jene Ordnung, deren Erfahrung so widersprüchlich ist,
179
KrV, B 593.
180
KrV, B 594.
356 D F S
ewig festgelegt sei. Die Vorstellung der Ordnung als ewiger entspricht der Vorstellung
zeitloser Spontaneität.
Die vordergründige Trennung von Vernunftsubjektivität und sinnlicher Objektivität
ist darum auch die erkenntnistheoretische Grundlage des falschen Bewußtseins, mit-
tels dessen das Subjekt sich selbst von der Notwendigkeit des Zufälligen, wie es ist,
überzeugt, und zwar nicht böswillig, sondern, wie Kant zeigt, als Konsequenz der er-
kenntnistheoretischen Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, die eine
auf Widersprüche führende Wechselbeziehung beider ausschließt, um zu einheitlichen
Bestimmungen zu gelangen. Die Dritte und die Vierte Antinomie, die dynamisch auf
das Dasein der Gegenstände der Erkenntnis sich beziehen, begründen das komplemen-
täre Verhältnis von spontaner subjektiver Aussetzung des Naturzusammenhangs einer-
seits und absoluter subjektiver Einheit des Naturzusammenhangs mit seiner Aussetzung
andererseits. Daß beide in der Vorstellung eines transzendenten Subjekts systematisch
verbunden seien, bleibt zu zeigen, wenn ein System möglich sein soll.181
Wissenschaft und Bewußtsein sind durch die universale Absicherung des Partikularen
angegriffen, aber nicht unumkehrbar geformt, denn das Allgemeine, insofern es Gedanke
ist, hat auch das Moment freier Subjektivität an sich. Auch der falsche Gedanke ist noch
Erzeugnis eines an sich selbständigen Subjekts. Gebrochen wäre es erst in der vollstän-
digen Reduktion auf Instinkte. Als Gedachtes ist das falsche Allgemeine aber polemisch
in sich gegen seine falsche Gestalt. Wird diese aber aus der Betrachtung abstraktiv aus-
geschlossen, so bleibt von der Idee des Allgemeinen die bloße Form von Subjektivität,
aus deren logischer, begrifflicher Notwendigkeit dann seine Bestimmungen geschlossen
werden müssen, wenn es überhaupt welche haben soll. Die weitere Bestimmung der Idee
ist deshalb konsequenter Weise nicht die Kritik ihres Verhältnisses zur Objektivität, son-
dern ihre fortschreitende Verfestigung zum Ideal, die aus dem Begriff geleistet werden
soll, wobei der Gehalt durch Anleihen in der Erfahrung beigeschafft werden muß. – Bei
diesem Verfahren, das Hegel schon gar nicht mehr deklariert, scheint es Kant noch unbe-
haglich genug zu sein; er empfindet es als Nötigung: „[S]o bleibt uns nichts anders übrig
als die Analogie, nach der wir die Erfahrungsbegriffe nutzen, um uns von intelligiblen
Dingen, von denen wir an sich nicht die mindeste Kenntnis haben, doch irgend einigen
Begriff zu machen. Weil wir das Zufällige nicht anders als durch Erfahrung kennen ler-
nen, hier aber von Dingen, die gar nicht Gegenstände der Erfahrung sein sollen, die Rede
ist, so werden wir ihre Kenntnis aus dem, was an sich notwendig ist, aus reinen Begrif-
fen von Dingen überhaupt, ableiten müssen. Daher nötigt uns der erste Schritt, den wir
außer der Sinnenwelt tun, unsere neue Kenntnisse von der Untersuchung des schlecht-
hin notwendigen Wesens anzufangen und von den Begriffen desselben die Begriffe von
allen Dingen, so fern sie bloß intelligibel sind, abzuleiten“182 .
Die Vernunft kann mannigfaltige Erkenntnisse, für Kant je Erkenntnis des Mannig-
faltigen, nur dann in einen systematischen Zusammenhang bringen, wenn sie über Prin-
zipien oder prinzipielle Funktionen verfügt, die spekulativ sind, nicht selbst unter die
Erfahrungserkenntnis fallen. Es geht darum, die Vielheit des Bedingten, Relationalen,
181
Diese Funktion erfüllt zunächst das Transzendentale Ideal, sodann auch alle anderen regulativen
Gottes- und Teleologieäquivalente an den Zielpunkten der Kantischen Werke.
182
KrV, B 594f.
D A V 357
unter einer Einheit denkbar zu machen und dadurch das sonst chaotische Nebeneinander
der verschiedenen Urteile zusammenschließen zu können. Das erfordert den Begriff der
Totalität der Vielheit der Bedingungen, den Begriff unbedingter Einheit. Die Prinzipien,
die für diese unbedingte Einheit stehen, können ihren Ort nur im Subjekt allein haben,
vor aller Erfahrung, und müssen daher formaler Art sein. Die Form unbedingter Einheit
aller Bedingungen ist aber gegenstandslos: absolute Identität. Diese absolute Identität,
die bei Kant noch „unbedingte Einheit“183 heißt, muß als oberste Instanz transzendenta-
ler Erkenntnistheorie schon angezielt werden. Die formale Gegenstandslosigkeit dieser
Grundlage aller materialen Gegenstandserkenntnis ist der Skandal der Philosophie, der
theoretischen zumal, aber auch der praktischen, sofern diese ihre Legitimität aus der
theoretischen Vernunfteinheit bezieht. Der Idealismus sah sich konsequent genötigt, im
Prinzip selbst – anstatt in äußerlich beifallender Erfahrung – nach dem der Form korre-
spondierenden Inhalt zu suchen, diesen als Selbstäußerung der Form zu begreifen. Nur
wenn die Form selbst sich in ihren eigenen Inhalt umwenden ließe, wäre Erkenntnis, das
Zusammenstimmen von Form und Inhalt – Subjekt und Objekt bei Kant – notwendig
zu begründen. Insofern ist die idealistische Zuspitzung der Erkenntnistheorie von einer
ihrer Sache immanenten Dynamik bestimmt.
Kant will aber doch an der Anschauung und dem ihr korrespondierenden Gegeben-
sein von Erscheinungen festhalten; nur von dort seien Inhalte zu erwarten. Dafür nimmt
er die Inhaltslosigkeit des Subjekts in Kauf, das dialektisch sich Vorstellungen seiner
selbst zulegt, die aus der absoluten Identität des ‚Ich denke‘ nicht zu entnehmen sind.
Die Paralogismen der reinen Vernunft sind daher nicht bloß abzuweisende Fehlschlüsse
sondern auch integrale Bestandteile der Erkenntnistheorie. Insofern das Selbstverständ-
nis des Subjekts notwendig schwankt zwischen allgemeiner Subjektivität und Erfah-
rungssubjekt, verwickelt es sich in falsche Vorstellungen seiner selbst. Nun sind diese
Paralogismen Analogien, durch die das Subjekt kategorische Bestimmungen von Ob-
jektverhältnissen auf sich selbst überträgt. Dem darin verborgenen Moment objektiver
Bestimmung des Subjekts steuert Kant durch die Identifikation dieser Bestimmung als
rein subjektiven Akt. Die notwendige dialektische Tendenz zur Objektivierung der abso-
luten Identität des Subjekts verbleibt so als subjektiver Akt im Subjekt selbst. So gelingt
es Kant, die Paralogismen so zu präparieren, daß erstens absolute Subjektivität durch
die Erklärung der Unzulässigkeit der Paralogismen gewahrt bleibt, und daß zweitens die
Vorstellung der Paralogismen, weil sie als bloß subjektive Bestimmungen von Subjekti-
vität gefaßt werden, unschädlich für die Vorstellung absoluter Subjektivität ist. In dieser
Reduktion des – falschen – Inhalts auf die Kompatibilität mit der allgemeinen Form von
Subjektivität ist dann die Grenze zwischen urteilendem Subjekt und Subjekt des Urteils
gefallen.
183
Z. B. KrV, B 432
358 D F S
184
KrV, B 400. Zur Stellung der Paralogismen vgl. Dieter Henrich, Identität und Objektivität. Ei-
ne Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, in: Sitzungsberichte der Heidelberger
Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Heidelberg 1976, 55ff. – Zur
Entwicklung des theoretischen Subjektbegriffs im Medium von Kants kritischer Distanzierung von
der Schulmetaphysik vgl. ausführlich Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O.,
Teil I: Der Subjektbegriff zwischen Dissertation und Kritik der reinen Vernunft.
185
KrV, B 401. Vgl. A 397: „Weil wir beim Denken überhaupt von aller Beziehung des Gedankens
auf irgendein Objekt (es sei der Sinne oder des reinen Verstandes) abstrahieren: so ist die Synthesis
der Bedingungen eines Gedankens überhaupt [...] gar nicht objektiv, sondern bloß eine Synthesis
des Gedankens mit dem Subjekt, die aber fälschlich für eine synthetische Vorstellung eines Objekts
gehalten wird.“ Von dieser Einheit der Synthesis ist dann nicht mehr zu sagen, ob sie numerisch
oder qualitativ sei. Vgl. Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., 286.
Für eine gründliche Diskussion des ‚Ich denke‘ vgl. Richard Schantz, Der Sinn des Textes ‚Ich
denke‘. Kants Kritik der rationalen Psychologie, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph
Schumacher, Kant und die Berliner Aufklärung, a.a.O., Bd. II. Schantz bemerkt: „Wir könnten das
Pronomen der ersten Person gar nicht kohärent verwenden, wenn es seinen Zusammenhang mit
dem vollblütigen Begriff eines Subjekts der Erfahrung, mit dem Begriff einer beharrlichen körper-
lichen Person, völlig verloren hätte.“ (451). Allerdings sind daraus nicht notwendig empiristische
Konsequenzen fürs Selbstbewußtsein zu ziehen, wie es etwa Bennett oder Strawson getan haben.
186
KrV, B 402.
D S P 359
wie Descartes zeigt,187 Resultat umfassender Negationen desselben Subjekts, das so sich
zum Gegenstand nicht allein wird, sondern macht.
Die theoretische Notwendigkeit der Isolation des Subjekts macht es zum negativen
Ausdruck seiner praktischen Relationalität bezüglich heterogener und heteronomer
Momente, die so zu impliziten Bestimmungen des Selbstbewußtseins werden. Die
Vermittlung des Selbstbewußtseins mit seiner objektiven, es bestimmenden und
differenzierenden Realität in seinem Begriff erweist sich als zwingend. Wenn Kant die
Beschränktheit reiner Subjektivität hervorhebt, betont er erstens die Notwendigkeit
von Erfahrung für empirische Subjektivität, aber verteidigt zweitens ein Konzept von
Subjektivität überhaupt, das als formale Bedingung von Erfahrung zugleich – wie
jede prinzipielle Erkenntnistheorie – polemisch gegen wirkliche Erfahrung ist. Diese
Polemik soll das Subjekt gegen alle besonderen Funktionen verwahren und gibt es
deshalb als reine Funktionalität188 wieder: Als solche wird reine Subjektivität paradox
zum formalen Ausdruck dessen, was real aus ihr ausgeschlossen wurde.
Die Behauptung, daß theoretisch nur die absolute Identität des Subjekts zu denken
sei, dessen weitere Bestimmungen als zufällige in die empirische Psychologie fielen,
provoziert die Frage danach, in welches Bewußtsein die Differenz jener absoluten
Identität zu diesen empirischen Bestimmungen dann falle. Fiele sie in das empirische
Selbstbewußtsein, so wäre diese Differenz selbst zufällig und mit ihr auch die Identität
des Selbstbewußtseins, die als ein Moment der Differenz mit dieser vom empirischen
Selbstbewußtsein abhinge. Als notwendige Differenz hingegen müßte sie in das absolute
Selbstbewußtsein fallen, würde dadurch aber zum Moment von dessen Identität und wä-
187
Vgl. René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1994. Der ra-
dikale Zweifel zu Beginn der Meditationen stellt Subjektivität her durch Negation der empirischen
Bestimmtheit eines empirischen Subjekts. Dies ist die schon erkenntnistheoretisch systematisierte
Version der Selbstvergewisserung des Subjekts bei Anselm von Canterbury, Proslogion, Stuttgart
1962, wo das ‚Menschlein‘ sich durch Rückzug aus der geschäftigen Alltagswelt in die Lage ver-
setzt, über das Dasein Gottes zu spekulieren. Reflektiert ist die Negativität der Subjektivität darin,
daß die Abschirmung gerade dazu dient, die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis bewußt zu ma-
chen; die dann erfolgende Erkenntnis des Daseins und Erkennens Gottes antizipiert dagegen schon
den absoluten Anspruch formalisierter Subjektivität. – Radikalisiert ist dies bei Edmund Husserl,
Cartesianische Meditationen, Hamburg 1987. Diese stellen eine Reflexion der Kantischen und der
Hegelischen Reflexionen auf die Meditationen des Descartes’ dar. Die Vergegenständlichung von
Subjektivität kulminiert in der Ontologisierung der Bewußtseinszustände, der absolute Anspruch
von Subjektivität in der Generation von Objektivität aus dem Subjekt. Will Husserl zunächst –
wie Kant – den ontologischen Gottesbeweis des Descartes umgehen, so ist er doch – wie Kant –
implizit auf dessen Argumentstruktur angewiesen, wenn es um die Begründung von Objektivität
geht (vgl. Dritte Meditation). Daß eine so begründete Subjektivität bei sich selbst bleibt, wendet
auch Niklas Luhmann ein (vgl. Soziale Systeme, a.a.O., 202).
188
Die „logische qualitative Einheit des Selbstbewußtseins im Denken überhaupt“ (KrV, B 413) ist
keine Qualität, sondern der Begriff absoluter Funktionalität. Damit steht Kant grundsätzlich in
der Tradition der „individualistische[n] Auffassung der Situation des Menschen, wie sie in der
Philosophie der Neuzeit weit verbreitet gewesen ist“ (Oliver Robert Scholz, Autonomie ange-
sichts epistemischer Abhängigkeit, a.a.O., 830). Allerdings hebt Scholz hervor, daß bei Kant das
Testimonium durchaus als Erkenntnisquelle in Frage kommt, wodurch die Isolation des Subjekts
einzuschränken sei. Aber die Möglichkeit dafür, daß daraus Erkenntnis folge, ist für Kant nur in
einem isolierten Subjektbegriff zu begründen.
360 D F S
re keine Differenz mehr. Identität und Differenz des Selbstbewußtseins sind theoretisch
nicht als absolut Getrennte, sondern nur in wechselseitiger Vermittlung zu denken. Die
strikte Trennung in theoretisches und empirisches Selbstbewußtsein macht jenes gegen-
standslos und dieses erkenntnisunfähig;189 entscheidend ist aber, daß keines der beiden
fähig wäre, dieses Problem auch nur zu bezeichnen, geschweige denn zu reflektieren.190
Das Beharren auf der Möglichkeit der Rückwendung des sublimen transzendentalen
Subjektprinzips auf empirische Subjektivität indiziert deshalb keinen Rückfall in
den Empirismus, sondern ist Bedingung der Möglichkeit reiner transzendentaler
Subjektivität selbst, deren Begriff deshalb nicht ohne Aporie zu haben ist.
Die „Subreption des hypostasierten Bewußtseins“191 , die falsche Vorstellung, daß der
transzendentalen Einheit der Apperzeption eine auch empirische Einheit des Subjekts
korrespondiere, führt Kant darauf zurück, daß die Einheit der Apperzeption nicht Re-
sultat kategorialer Erkenntnis ist, sondern selbst vorkategorial; durch sie werden für das
Subjekt die Kategorien erst Gegenstände, mithin hängt auch jede Vorstellung von Ob-
jektivität wie auch von Objekten von der Einheit der Apperzeption ab, so daß der Schein
ihrer Identität mit dem Erfahrungssubjekt, das dem Objekt gegenübersteht, erweckt wer-
de. Allerdings unterscheidet sich nach Kant „das bestimmende Selbst, (das Denken) von
dem bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subjekt), wie Erkenntnis vom Gegenstan-
de“192 ; Kant trennt hier Spontaneität und Rezeptivität des Denkens. Jene – als Bedin-
gung, überhaupt ein Objekt zu erkennen – könne niemals selbst Objekt sein, sondern
immer nur reines Subjekt, dem nur seine Rezeptivität als Objekt gegeben sein könne. Mit
dieser Distinktion schließt Kant jede materiale Reflexion aus der Subjektivität aus, deren
Reflexivität dann allein formal, d. h. leer, sein kann. Gerade Kants Differenz von Subjekt
und Objekt spaltet die Subjektivität derart, daß zwei ihrer Funktionen, Spontaneität und
189
Vgl. Frank Kuhne, Selbstbewußtsein und Erfahrung, a.a.O., 166. – Auf dieses Problem geht auch
Peter F. Strawson, Die Grenzen des Sinns, a.a.O., 21, ein und plädiert für eine enge Verbindung
von empirischem und intelligiblem Selbstbewußtsein, allerdings unter dem Aspekt der Selbstzu-
schreibung von Erfahrungen.
190
Wissenschaftstheorie verhandelt das Verhältnis von Empirie und Theorie unter Umgehung
der Bewußtseins- Selbstbewußtseinsproblematik als Differenz von Beobachtungssprache und
Metasprache. Damit wird im wesentlichen auf strukturelle Analysen der sprachlichen Darstellung
wissenschaftlicher Erkenntnisse abgestellt. Darüber hinausgehende Reflexionen gelten als „kaum
durchschaubare Vermengung von begrifflichem und bildhaft-mythologischem Denken, unfundierte
spekulative Wortklaubereien und Sprachträumereien“ (Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resul-
tate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. I: Wissenschaftliche Erklärung
und Begründung, Berlin 1969, XV). Hinsichtlich der Kantischen Philosophie führt die geforderte
sprachliche Klarheit z. B. zur Identifikation von Wissenschaftstheorie und Transzendentalphiloso-
phie (XXIII). Der eminente Unterschied beider tritt indes hervor in der Frage danach, in welcher
Sprache die Extension des Begriffs Metasprache darzustellen wäre. – Eine andere Form, Sub-
jektivität zu umgehen, ist Luhmanns Wissenschaftsbegriff. Vgl. Niklas Luhmann, Die Praxis der
Theorie, in: Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1971.
191
KrV, A 402.
192
KrV, A 402.
D S P 361
Rezeptivität, jeweils für sich hypostasiert werden.193 Die reflexive Verknüpfung beider,
die den Widerspruch in einer prozessualen Bestimmung von Selbstbewußtsein zuließe,
wäre das Gegenteil von Hypostase.194
Die Hypostase, die Kant rügt, die unzulässige Verknüpfung von transzendentalen Be-
griffen in den Obersätzen der Paralogismen – etwa der ‚Substanz‘ als ‚Vorstellung des
absoluten Subjekts unserer Urteile‘ mit dem empirischen Gebrauch derselben Begriffe
in den Untersätzen, das ‚denkende Wesen‘ als substantielles Subjekt – ist selbst eine
Folge von Kants schon kritischer Rekonstruktion des affirmativen metaphysischen See-
lenbegriffs. Kant zeigt, auf welche Aporien ein metaphysischer Seelenbegriff, wenn man
ihn im Zusammenhang moderner Subjekttheorie reformuliert, führt; eine Auflösung der
Aporie ist die Zurückweisung solcher Begriffe wegen ihrer Aporetik aber nicht, weil
der neuzeitliche Subjektbegriff, in dessen Tradition Kant steht, damit nur die abstrak-
te Negation des metaphysischen ist, in der die für diesen kennzeichnende Hierarchie
der Weltordnung nicht kritisch reflektiert, sondern lediglich dem Subjekt selbst implizit
aufgebürdet wird: Die Ordnung, die Gott nicht mehr garantiert, soll samt ihrer Legiti-
193
Vgl. Theodor W. Adorno, Kants „Kritik der reinen Vernunft“, Frankfurt am Main 1995, 223: „Das
Resultat der Abstraktion darf gerade Kant zufolge nicht hypostasiert werden; beim Ich denke aber
tut er genau das.“
194
Hegel hat gegen Kant einen solchen prozessualen Begriff des Selbstbewußtseins eingewandt:
„Erkennen ist in der That bestimmendes und bestimmtes Denken; ist die Vernunft nur leeres,
unbestimmtes Denken, so denkt sie nichts. Wird aber am Ende die Vernunft auf jene leere Iden-
tität reducirt […] so wird auch sie am Ende glücklich noch von dem Widerspruche befreyt durch
die leichte Aufopferung alles Inhaltes und Gehaltes.“ (G. W. F. Hegel, Enzyklopädie (1830), GW
20, Hamburg 1992, § 48 Anm.) Der Widerspruch, der den Gehalt der Vernunft bestimme, ist
allerdings nach Hegel auch bloß der absolute von Identität und Differenz der Vernunft mit sich
selbst: „Denken, Geist, Selbstbewußtseyn, sind Bestimmungen der Idee, insofern sie sich selbst
zum Gegenstand hat, und ihr Daseyn d. i. die Bestimmtheit ihres Seyns ihr eigener Unterschied
von sich selbst ist.“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Begriff , a.a.O.) Vgl. hier-
zu auch den Zusatz zu Enzyklopädie, a.a.O., § 47: Die Kritik an der Prädikation der Einfachheit,
Unveränderlichkeit usw. von der Seele sei richtig, aber nicht, weil die Prädikate das Vernunftver-
mögen überstiegen, sondern weil sie es unterböten, da die Seele „noch etwas ganz anderes ist, als
das bloß Einfache, Unveränderliche usw. So ist z. B. die Seele allerdings einfache Identität mit
sich, aber zugleich ist dieselbe, als tätig, sich in sich selbst unterscheidend […]“ (nach Werke,
Bd. 8, hg. v. E. Moldenhauer/K.M. Michel, Frankfurt am Main 1986). – Um einen gehaltvolleren
prozessualen Begriff von Selbstbewußtsein bemüht sich Adorno, der den Prozeß als den zwischen
formaler Selbstbestimmtheit a priori und empirischer Bestimmung von Bewußtsein versteht, indem
„die Scheidung von Subjekt und Objekt ihrerseits noch selber eine dynamische Unterscheidung ist,
eine Unterscheidung, die in sich Prozeßcharakter hat, die aber genausowenig als eine sogenannte
Grundstruktur […] zu verabsolutieren ist“ (Theodor W. Adorno, Kants „Kritik der reinen Ver-
nunft“, a.a.O., 247). Diesen Prozeß verortet Adorno im Verhältnis der reinen Apperzeption zu der
„Singularität eines bestimmten Ichs […], dessen Erlebnisse dadurch, daß sie seine und nicht die
eines anderen sind, miteinander zusammenhängen“ (a.a.O., 303). Zwar seien beide Seiten, reine
Form und empirischer Inhalt, bei Kant angesprochen, aber nicht vermittelt: „Eigentlich wäre die
Konsequenz aus dem Paralogismenkapitel […], daß der Subjektsbegriff […] dann nicht als ein rei-
nes Apriori mehr erscheinen dürfte; sondern seine Apriorität und die Anschauungen […] müßten
[…] eigentlich als reziproke erscheinen.“ (A.a.O., 313) Der „Gedanke der Subjektivität ist ohne
das Bewußtsein, von dem er abstrahiert ist, eigentlich nicht zu fassen“ (a.a.O., 221).
362 D F S
mation selbstverständlich vom Subjekt, aus ihm selbst heraus, gesetzt werden; die durch
die Subjektivierung der Philosophie eröffnete Möglichkeit, jene Ordnung grundsätzlich
in Frage zu stellen, wird radikal erst im 19. Jahrhundert in der Kritik an den säkular
verbrämten theologischen Spuren in der Philosophie aufgegriffen. Bis dahin soll das
absolute Subjekt aller Urteile Substanz der begrifflichen Ordnung sein, ohne selbst sub-
stantiell in dem durch die Begriffe Geordneten repräsentiert zu sein. Der Chorismos von
Begriff und Erfahrung, vormals die Differenz von Gott und Schöpfung, bleibt erhalten
im Verhältnis von Selbstbewußtsein und Erfahrung, in dem das Selbstbewußtsein für die
Rationalität der Ordnung seiner Erfahrungsgegenstände selbst als Grund bürgen könne,
weil es an ihr nicht umgekehrt als Begründetes teilhabe. Die Ordnung und Einteilung,
die subjektive Zurichtung der Erfahrungsgegenstände ist damit nicht eben so starr wie
die göttliche Ordnung, sondern starrer, weil das Subjekt sich selbst nicht leugnen kann.
Den Objekten bleibt auch in dieser Ordnung keine selbständige Objektivität, und da
ihre Abhängigkeit nicht mehr im absoluten Subjekt Gottes gründet, sondern im erken-
nenden Subjekt selbst, ist dessen erkenntnistheoretische Absolutheit erborgt vom Objekt,
erschlichene Hypostase. Schon die frühe Kritik an der Metaphysik hatte nicht das Prinzip
hypostasierter Subjektivität aufgehoben, sondern hauptsächlich das Subjekt ausgewech-
selt. Damit hatte sie den Begriff des Selbstbewußtseins zu sich selbst gebracht: aus seiner
transzendenten Gestalt göttlicher Trinität schließlich in eine transzendentale Vorstellung
seiner selbst verwandelt, die den Widerspruch von Absolutem und Schöpfung in sich
selbst austragen muß.
Die Resultate aller Paralogismen sind ihrem Gehalt nach, die meisten schon ihrem
Ausdruck nach, doppelte Negationen: Immaterialität, Inkorruptibilität, Personalität
(als Negation empirischer Unterschiede zur Einheit der Person), Spiritualität (als
Aufhebung empirischer Defizienz), Kommerzium (Wechselwirkung Verschiedner als
Aufhebung von deren isolierter Verschiedenheit), Animalität (als Negation endlicher
Körperlichkeit), Immortalität.195 Der Grund der Fehler der Paralogismen liegt nach Kant
darin, daß ihnen bloß ‚Ich‘ zugrundeliegt, was weder ein Objekt noch eine Vorstellung
sei „und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können“196 .
Um es zu denken, ist nämlich immer schon zweierlei vorausgesetzt, erstens es selbst
und zweitens „die Gedanken, die seine Prädikate sind“197 . Gleichwohl sind nach Kant
die Fehler, die aus der hypostatischen Annahme von ‚Ich‘ resultieren, notwendige
Vernunftschlüsse, weil sonst der Vorrang des Bewußtseins vor seinen Inhalten nicht
gedacht werden könnte. Die erkenntnistheoretische Isolation des Selbstbewußtseins
hat einen sozialen Oberton: Die Gemeinsamkeit des Selbstbewußtseins mit anderen
seinesgleichen, die deren Qualifizierung durch es selbst zu seinesgleichen voraussetzt,
ist nur als Projektion einer Monade auf andere Monaden zu erklären, weil „wir den
Dingen a priori alle die Eigenschaften notwendig beilegen müssen, die die Bedingungen
ausmachen, unter welchen wir sie allein denken. Nun kann ich von einem denkenden
Wesen durch keine äußere Erfahrung, sondern bloß durch das Selbstbewußtsein die
mindeste Vorstellung haben. Also sind dergleichen Gegenstände nichts weiter, als die
195
Vgl. KrV, B 403.
196
KrV, B 404.
197
KrV, B 404.
D S P 363
Übertragung dieses meines Bewußtseins auf andere Dinge, welche nur dadurch als
denkende Wesen vorgestellt werden.“198
Damit wird die bei Anselm von Canterbury noch präsente Ablösung des Selbstbe-
wußtseins von allen sozialen Zusammenhängen, die bei Descartes schon rein erkennt-
nistheoretisch gefaßt ist, bei Kant als vollzogen vorausgesetzt.199 Dieser Bestimmung
des Selbstbewußtseins, der obersten Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft,
korrespondiert in der realen gesellschaftlichen Organisation des Wissenschaftsbetriebes,
daß in ihm die systematisch aufeinander verwiesenen Individuen zugleich nur als Kon-
kurrenten erscheinen. Dem entspricht die Organisation des gesamten gesellschaftlichen
Reproduktionsprozesses, in dem die Einzelnen nur als Stellvertreter ihrer relationalen
Funktionen – als Personen – gesellschaftliche Existenz erhalten und umgekehrt die
gesellschaftliche Realität nur mehr als Funktion ihres Selbst erfahren, jedenfalls solange
das Funktionsgefüge, als dessen Mittelpunkt sie sich wähnen, nicht gestört ist. Die
Störung – der Offenbarungseid beispielsweise, durch den die Person als relatum, als
Vertragspartner, inakzeptabel wird – stellt das Subjekt außerhalb des Gefüges der
Gesellschaft. Dadurch demonstriert diese an ihm gleichzeitig die Deformation der Indi-
vidualität und die eigene Integrität. Was die Gesellschaft – durch soziale Mechanismen
– zerstört und aussetzt, präsentiert sie als selbst Aussätziges und erhält sich rein.200
198
KrV, B 405f.
199
Prinzipiell gehen die Elemente des Ich-Verständnisses auf Augustinus zurück, wie Gerhard Krieger
gezeigt hat: Ichbewußtsein oder Selbstbewußtsein überhaupt? Zu einer mittelalterlichen Alternative
zu Kant, a.a.O.
200
Adornos Konsequenz schüttet das Kind allerdings mit dem Bade aus: „Die Allgemeinheit des tran-
szendentalen Subjekts aber ist die des Funktionszusammenhangs der Gesellschaft […]. [Sie] hat
ihre Realität an der durchs Äquivalenzprinzip sich durchsetzenden und verewigenden Herrschaft.“
(Negative Dialektik, a.a.O., 178). Gerade wenn die transzendentale Einheit nur in einer durch
Herrschaft gespaltenen kollektiven empirischen Einheit erscheint, wäre dagegen unvermindert am
Begriff der transzendentalen Einheit festzuhalten, ohne den kein Ausweg denkbar wäre. Die impli-
zite Polemik dieses Begriffs gegen Heteronomie wird wirksam allerdings erst in seiner negativen
Vermittlung mit dem empirischen Selbstbewußtsein. In Kants „Kritik der reinen Vernunft“, a.a.O.,
220, vertritt Adorno vorsichtiger den Versuch „mit dem Begriff der Gesellschaft als einem konsti-
tutiven erkenntnistheoretischen Begriff zu operieren“ und betont wenig später, „daß nun nicht etwa
daraus zu folgern ist, das Constituens qua Geist, qua Transzendentalsubjekt sei nicht das Consti-
tuens; sondern das eigentliche Constituens, das sei was Empirisches, – nämlich die Gesellschaft.“
(224). Tatsächlich bestimmten beide sich wechselseitig und seien nicht reduzierbar. Das allerdings
stimmt auch nur fürs empirische Subjekt und für die besondere erkenntnistheoretische Bestimmung
des Begriffs der reinen Apperzeption; diese selbst muß aber auch unabhängig vorausgesetzt wer-
den. Adornos Übertragung der Gesellschaft aufs Transzendentale rührt von der falschen Fixierung
aufs sogenannte Tauschprinzip her, das ja tatsächlich gar kein Prinzip, sondern bloß eine Form der
Vermittlung des gesellschaftlichen Stoffwechsels ist, dessen Prinzip im Zweck der Kapitalverwer-
tung in der Produktion liegt. Weil Adorno alles, was mit Tausch zusammenhängt, verwirft, entgeht
ihm das emanzipatorische Moment des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, in dem Allgemeinheit
durchaus rational, aber unter falschem Zweck, daher widersprüchlich realisiert ist. Die Realität der
Allgemeinheit des transzendentalen Subjekts liegt im autonomen Kollektiv, dessen Zerrbild das
heteronome ist; keineswegs liegt sie im Tausch, der bloß eine – wohl mangelhafte – Verkehrsform
des heteronomen Kollektivs ist.
364 D F S
Keineswegs bildet Kant dies im Begriff des reinen Selbstbewußtseins ab; die er-
kenntnistheoretische Absicht jedoch, die metaphysische Überlastung des Subjekts zu
vermeiden, reißt es aus allen Gefügen heraus, die metaphysisch die Objektivität von Wis-
senschaft und zugleich das individuierte Allgemeine, die Menschheit in den Einzelnen,
ermöglichen sollen. Der Anlaß der Kritik der Paralogismen ist die kritische Zurückwei-
sung des metaphysischen Seelenbegriffs, der die Probleme der Gemeinschaft von Körper
und Seele, der pränatalen und der postmortalen Existenz der Seele in deren Vorstellung
als Substanz auflöst.201 Kant kommt es auf Aporien im Erkenntnis-, später im Freiheits-
begriff an, die daraus folgen: Die von den Objekten unabhängige metaphysische Existenz
der Seele bietet keinen Weg zur Überwindung der Differenz von Körper und Seele im
Sinne objektiver Erkenntnis dar, und sie stellt das Problem des zeitlichen Handelns ei-
ner ewigen Entität. Mit seiner radikalen Kritik attestiert Kant implizit der neuzeitlichen
Seelenmetaphysik, daß sie der hoffnungslose Versuch war, dem zur formal isolierten
Funktion – zur Rechtsperson – ermäßigten Subjekt eine Substantialität anzuschaffen,
die real bedeutungslos geworden ist.202
Kant will zeigen, daß die Menschen über ihr Selbstbewußtsein als über ein selb-
ständig Daseiendes nichts wissen können, weil sie aufgrund der Beschränkung ihres
Bewußtseins auf die eigenen Vorstellungen noch nicht einmal wissen können, „worauf
die Wirklichkeit der äußeren Erscheinungen im jetzigen Zustande (im Leben) beruhe“203 .
Die Überwindung der Seelenmetaphysik durch die Subjektivierung auch aller objektiven
Momente von Subjektivität204 führt indes zu einem Begriff des Subjekts, der die Isola-
201
Vgl. KrV, A 384. In den Prolegomena, IV, konzentriert sich die Darstellung des Identitäts- und
Beharrlichkeitsproblems in den §§ 46ff. auf die Kritik eines affirmativen Begriffs von Unsterblich-
keit.
202
Mit Kants Kritik der Substantialität der Seele fällt ebenso die Möglichkeit, von entia moralia
zu reden. Dieser Begriff – dessen erste Konjunktur die spanische Spätscholastik, vor allem bei
Francisco Suarez, und dessen systematische Fassung die Rechtsphilosophie Samuel Pufendorfs
darstellt – reagiert auf die nominalistische Ablösung des Sittlichen vom göttlichen Gesetz. Soll
das Gute bestimmbar bleiben, muß ein Wesenssurrogat gedacht werden. Als solches fungiert der
Begriff menschlicher Freiheit, zwischen gut und böse zu wählen. Moral wird dadurch zur Sa-
che des modernen Subjekts, zugleich aber wird das moralische Subjekt in seiner nominalistischen
Vereinzelung zum ens morale substantialisiert. Allgemeine Subjektivität, zuvor durch die Gattung
gedacht, ist nur mehr als persona moralis composita, als aus substantiell Einzelnen zusammen-
gesetze Person zu denken. (Zur Geschichte der Konzeption des ens morale vgl. Theo Kobusch,
Die Entdeckung der Person, a.a.O., bes. Teile I und II.) Kant rettet die freie Persönlichkeit als
Zurechnungssubjekt durch die Trennung von theoretischer Philosophie, in der er nachweist, daß
dergleichen nicht zu denken sei, und praktischer Philosophie, in der es dennoch widerspruchsfrei
angenommen werden dürfe.
203
KrV, A 394. Hegel beurteilt Kants Intellektualisierung des Subjekts zum reinen Gedanken als
Fortschritt gegen den Seelenmaterialismus, bemängelt aber, daß „der Inhalt des Gedankens für sich
selbst […] nicht zur Sprache“ komme. (Enzyklopädie, a.a.O., § 47; vgl. Wissenschaft der Logik.
Lehre vom Begriff , a.a.O., 193 und Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O.,
355f.).
204
Der Verlust der objektiven Distanz zur Subjektivität erscheint in Kants steter Redeweise in der
ersten Person Singular. Nicht vom Subjekt bestimmt Kant etwas, sondern konsequent zunächst
immer von seiner Subjektivität, die ihm allein vor aller Erfahrung gegeben sei; diese Perspektive
übernimmt jeder Leser suggestiv. Dem entspricht Benno Erdmann, der an einer Stelle, an der Kant
D S P 365
tion repräsentiert, in der sich die realen Subjekte durchaus befinden. Das Subjekt der
Philosophie wäre der Selbständigkeit nur negativ fähig, indem es das, was es nach Kant
sei, erkennte als das, was es nicht ist. In dieser Reflexion könnte dann das Subjekt der
Philosophie mit dem Subjekt in der Philosophie koinzidieren, ohne die kritische Distanz
zu verlieren.
Im Ersten Paralogismus legt Kant dar, daß die erkenntnistheoretische Identität des
Subjekts im ‚Ich‘ der transzendentalen Einheit der Apperzeption lediglich logisch be-
stimmt sei, weil jeder weiteren Bestimmung des ‚Ich‘ dessen logische Operation schon
zugrundeliege und diese Operation daher jene Bestimmung als abhängige, nicht-substan-
tielle erwiese, so daß „wir außer dieser logischen Bedeutung des Ich, keine Kenntnis von
dem Subjekte an sich selbst haben“205 . Was in falscher Weise als ein „Gegenstand, den
ich denke, nämlich: Ich selbst und die unbedingte Einheit desselben“ vorgestellt werde,
sei in Wahrheit „nur die formale Bedingung, nämlich die logische Einheit eines jeden
Gedankens, bei dem ich von allem Gegenstande abstrahiere“206 . Dadurch sollen Schlüs-
se auf die traditionellen metaphysischen Bestimmungen der Substanz – insbesondere
Ewigkeit und Unveränderlichkeit – ausgeschlossen werden.
Die Reduktion der Substanz des Subjekts auf seine logische Funktion will Kant durch
die Aufhebung der Differenz von urteilendem Subjekt und Subjekt im Urteil erreichen:
„Von jedem Dinge überhaupt kann ich sagen, es sei Substanz, sofern ich es von bloßen
Prädikaten und Bestimmungen der Dinge unterscheide. Nun ist in allem unserem Den-
ken das Ich das Subjekt, dem Gedanken nur als Bestimmungen inhärieren, und dieses
Ich kann nicht als die Bestimmung eines andern Dinges gebraucht werden. Also muß
jedermann sich selbst notwendigerweise als die Substanz, das Denken aber nur als Ak-
zidenzen seines Daseins und Bestimmungen seines Zustandes ansehen.“207 Gedanken,
Urteile, die selbst ein logisches Verhältnis von Subjekt und Prädikat ausdrücken, gelten
hier als Attribute, logische Prädikate des denkenden Subjekts. Dadurch werden die Sub-
jekte der Urteile – traditionell als bestimmte Gegenstände die substantielle Grundlage
der Abhängigkeit ihrer Prädikate – selbst zu abhängigen Prädikaten. Diese nominalis-
tische Umwandlung der Substantialität in ein rein logisches Verhältnis verwandelt alle
in der dritten Person formuliert, unverzüglich die erste als Lesart einsetzt. (Vgl. KrV, B 408, zit.
nach der Ausgabe von Raymund Schmidt, Hamburg 1990. Adornos hochschätzende Beurteilung
der 1. Person Singular ergibt sich aus der falschen Beobachtung, Kant rede „von Wir – und im
allgemeinen jedenfalls nicht von Ich“ (Kants „Kritik der reinen Vernunft“, a.a.O., 228). Deshalb
sei im Subjektbegriff bei Kant immer schon die kollektive, nahezu gesellschaftliche Perspektive
anwesend, als deren empirisch-persönliche Ergänzung dann gelegentlich das Ich auftrete. Tatsäch-
lich redet Kant überall, wo vom Bewußtsein etwas ausgesagt wird, von Ich und nur dort, wo
ausdrücklich das untersuchende Subjekt spricht, also in der Distanz zum untersuchten, von Wir. –
Ein echtes Paradoxon ist Hindrichs’ Formulierung: „Über das Ich kann nicht in der 3. Person ge-
sprochen werden.“ (Negatives Selbstbewußtsein. Überlegungen zu einer Theorie der Subjektivität
in Auseinandersetzung mit Kants Lehre vom transzendentalen Ich, Hürtgenwald 2002, 183).
205
KrV, A 350. Vgl. auch Fortschritte, XX 270, wo Kant vom ‚logischen Ich‘ spricht. Vgl. ebenso
Tobias Rosefeldt, Das logische Ich. Kant über den Gehalt des Begriffes von sich selbst, Berlin
2000.
206
KrV, A 398. Auf die Plausibilität und zugleich Problematik dieses Gedankens hat Henrich hinge-
wiesen: Identität und Objektivität, a.a.O., 83 und 85f.
207
KrV, A 349.
366 D F S
unabhängigen Substanzen in abhängige Attribute – bis auf eine, nämlich das ‚Ich‘, das
jene logischen Verhältnisse denkt. An ihm haben alle Relationen ihr Absolutes. Das ur-
teilende Subjekt wird dadurch zum ersten Subjekt der Prädikation,208 zum Erben der
Aristotelischen ‚Ersten Substanz‘, der dadurch ausgezeichnet ist, „in allen Urteilen [...]
immer das bestimmende [und das heißt: nicht das bestimmbare, das nur eine Funkti-
on der äußeren Anschauung wäre, M.St.] Subjekt desjenigen Verhältnisses, welches das
Urteil ausmacht“209 , zu sein. Damit aber ist nicht nur die Substantialität des Subjekts in
dessen logische Funktionalität zurückgegangen, sondern auch alle andere Substantialität
aufgehoben in der logischen Form der Kategorien, durch die das Subjekt die Bestimmun-
gen der Objekte organisiert. Das Selbstbewußtsein ist dann die bloße ideelle Vorstellung
seiner selbst, in die alle objektive Substantialität virtuell aufgehoben ist.
Indem das gedachte Urteil, Denken selbst – eigenste Tätigkeit der Subjekte und Ver-
mittlung von Subjektivität und Objektivität – als Prädikat absoluter Subjektivität gedacht
wird, bleibt dem Selbstbewußtsein zur Selbstbestimmung keine Differenz mehr als al-
lein die formale zu sich selbst, gemäß der es zum Bewußtsein seiner selbst sich schon
voraussetzen muß. Die logische Funktion der Zuordnung der Gedanken zum Subjekt,
deren Form in jenem Zirkel ausgedrückt ist, bleibt die einzige Bestimmung der Sub-
jektivität des Subjekts, die, weil die Beziehung auf Erfahrung fehlt, „völlig leer“210 ist.
In dieser Konsequenz der Fassung A macht sich aber schon die in der Fassung B dann
stärker betonte Differenz von urteilendem Subjekt und Subjekt im Urteil geltend: „Daß
das Ich der Apperzeption, folglich in jedem Denken, ein Singular sei, der nicht in eine
Vielheit der Subjekte aufgelöst werden kann, mithin ein logisch einfaches Subjekt be-
zeichne, liegt schon im Begriffe des Denkens, ist folglich ein analytischer Satz; aber das
bedeutet nicht, daß das denkende Ich eine einfache Substanz sei“211 .
Im Unterschied zu Fichte, der aus der leeren Identität, A = A, die subjektive Form
Ich = Ich ableitet,212 beharrt Kant im Zweiten Paralogismus auf der Differenz der logi-
schen und der empirischen Identität. Diese abstrakte Differenz verwandelt das Selbst-
bewußtsein – die Bestimmung, die das Subjekt in Ansehung aller möglichen Objekte
durch die Zeit als identisch bestimmt – in den Grund seiner formellen Ununterscheid-
barkeit von allen anderen Subjekten, weil „die einzelne Vorstellung, Ich bin, [...] sich wie
ein allgemeiner Satz, der für alle denkenden Wesen gelte, ankündigt, und, da er gleich-
wohl in aller Absicht einzeln ist, den Schein einer absoluten Einheit der Bedingungen
des Denkens überhaupt bei sich führt, und dadurch sich weiter ausbreitet, als mögliche
Erfahrung reichen könnte“213 . Die Paradoxie führt so zur Vorstellung von Kollektivi-
tät als einer Ansammlung isolierter Objekte, die als durch subjektive Suppositionen
austauschbare Subjektäquivalente erscheinen; der Begriff des ‚denkenden Wesens über-
haupt‘ wird unzulässig, „weil wir dieses uns nicht vorstellen können, ohne uns selbst
208
Vgl. KrV, A 399: „dieses Ich ist das erste Subjekt“.
209
KrV, B 407.
210
KrV, A 400.
211
KrV, B 407.
212
Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95), in: GA I,2,
Stuttgart 1969, § 1.
213
KrV, A 405.
D S P 367
mit der Formel unseres Bewußtseins an die Stelle jedes anderen intelligenten Wesens zu
setzen“214 . Die gleiche Gültigkeit aller individuellen Subjekte für die Wissenschaft, die
erst im reproduziblen Resultat wissenschaftlichen Erkennens erscheint, wird so zur Be-
stimmung des Erkenntnisprozesses erklärt; dieser aber, sofern er synthetische Erkenntnis
liefert, unterliegt keinem methodisch geregelten Verfahren und bedarf der historisch
bestimmten Subjekte. Diese Subjekte sind jedoch in der Idealisierung des Erkenntnispro-
zesses untergegangen, denn die im Resultat gegebene Gleichgültigkeit der Individuen,
als Bestimmung des Prozesses aufgefaßt, ist Bestimmung der diesen Prozeß tragenden
Subjekte selbst.
Das Verhältnis der denkenden Wesen zueinander wird nicht als objektives Verhält-
nis verschiedener Subjekte vorgestellt, sondern als wechselseitige Supposition aller ob-
jektiven Subjekte durch formale Subjektivität. Das impliziert schon die Auflösung der
Identität des Bewußtseins seiner selbst, denn auch die eigene Einfachheit kann Kant zu-
folge aus der Form des Selbstbewußtseins, ‚Ich denke‘, nicht geschlossen werden. Zwar
sei durch die logische Funktion des Ich, alle Vorstellungen begleiten können zu müs-
sen, gesetzt, daß dieses Ich in sich nicht differiere; schließlich fiele der Gedanke einer
möglichen Differenz wieder in ein identisches Bewußtsein. Aber diese Identität sei eine
tautologische Bestimmung des Ausdrucks ‚Ich‘.215 Indem Kant die Einfachheit des Ich
bloß als privative Negation von Mannigfaltigkeit versteht, die – als absolute verstanden
– der bestimmungslosen logischen Identität äquivalent ist, verwandelt er die qualitati-
ve Identität des Subjekts, von der er hier handeln will, in eine bloß quantitative. Weil
es keine Qualität des Subjekts gibt, kann sie dessen quantitativen Mangel, die „ärmste
Vorstellung unter allen“216 zu sein, nicht kompensieren: Sie ist so arm an Bestimmungs-
differenzen, daß aus dieser Negation von Vielheit noch nicht einmal ihre Einfachheit
gefolgert werden kann. Diese Bestimmungslosigkeit des Subjekts, auf die Kant dessen
Einfachheit zurückbringen will, enthält aber doch jede Menge Bestimmungen, nämlich
die Differenzen zu allen Elementen der Mannigfaltigkeit, die sie nicht ist. Für Kant aber
ist das Ich als transzendentales Subjekt ein bloßes Etwas.
Die Dialektik der Transzendentalienlehre, nach der bereits lange vor Hegel schon der
Begriff des Etwas auf den des Anderen verweist, ist mit den ontologischen Seiten dieser
Lehre vom Nominalismus beseitigt worden.217 Wenn der begrifflichen Ordnung keine ra-
tionale Seinsordnung mehr entspricht, sind auch die Relationen zwischen den Begriffen
bloß subjektive Konstruktionen, deren Einsetzung anstelle der singulären Objekte deren
isolierte Singularität unberührt läßt. „Die Einfachheit […] der Vorstellung von einem
Subjekt“ ist dann noch keine „Erkenntnis von der Einfachheit des Subjekts selbst“218 .
Die von Ockham noch festgehaltenen singulären Bestimmtheiten der Objekte werden
214
KrV, A 354.
215
Vgl. KrV, A 354f.
216
KrV, B 408.
217
Vgl. Thomas von Aquin, Von der Wahrheit. De Veritate, qu. 1, a. 1, Hamburg 1985, sowie G. W. F.
Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 105ff. Zur Transzendentalienlehre vgl. Jan
A. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals: The Case of Thomas Aquinas, Leiden
1996.
218
KrV, A 355.
368 D F S
unter dem Begriff der ‚Singularität schlechthin‘ unter der Hand erneut zu Universalien,
gegen die noch der letzte Rest objektiver Besonderheit als subjektive Setzung erscheinen
muß. Durch diese heimliche Generalisierung wird wieder umgekehrt eine gnadenlose
Vereinzelung bewirkt, die ihren Grund in der realen Gleich-Gültigkeit hat. Das Subjekt
weiß sich mit seinesgleichen identisch, weil es an die Stelle jedes einzelnen Anderen zu
treten vermag. Was zunächst notwendige Bedingung für die Allgemeingültigkeit wissen-
schaftlicher Urteile ist – und damit auch für die Bildung selbstbewußter Individualität
– schlägt in seiner formalen Reduktion um in die Vernichtung von Individualität, der
die Individualität solcher Subjekte, die Wissenschaft betreiben, nur mehr als Quelle der
Fehler gilt.219
Individualität muß vom Subjekt, sofern es Wissenschaft betreibt, abstrahiert wer-
den, wenn deren Resultate notwendig und allgemein sollen gelten können. In diesen
Resultaten ist Individualität nicht repräsentiert; daß dies so ist, ist aber selbst keine
erkenntnistheoretische Leistung, sondern ein Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis,
deren Resultate unter adäquaten Bedingungen beliebig reproduzierbar sein müssen.220
Diese Ent-Individualisierung ist selbst schon eine Seite von Schillers individualistisch
gemeintem Bildungspathos: „was Einer im Reich der Wahrheit erwirbt, hat er Allen
erworben“221 . In den mathematisierten und technisierten Wissenschaften gilt dies a for-
tiori, sowohl als notwendige Bedingung der wissenschaftlichen Arbeitsteilung, als auch
der zuverlässigen technischen Anwendung der Resultate; die Privatisierung von Wissen
durchs Patentrecht ist – das läßt sich ebenso aus Schillers Wissenschaftsbegriff schließen
– eine der allgemeinen Sache äußerliche formelle Subsumtion unter Warenbestimmun-
gen, die der Einbindung wissenschaftlicher Arbeit in einen historisch bestimmten gesell-
schaftlichen Zusammenhang mitfolgt.222 In solchen Versuchen zur Lösung des Problems
der – partikularisierenden – Wertbestimmung an sich allgemeiner wissenschaftlicher
Arbeit macht sich aber erstens noch geltend, daß die Erzeugung wissenschaftlicher Re-
sultate prinzipiell nicht unter standardisierbare Bedingungen zu subsumieren ist: Die
Entdeckung methodisch geregelter Verfahren zur Reproduktion von Erkenntnissen folgt
selbst noch keinem methodisch geregelten Verfahren. Zweitens macht sich geltend, daß
die Resultate ihrer Form wegen allgemein gültig und verfügbar sind.
Der Ausfall von Individualität im Resultat bedarf aber keiner erkenntnistheoretischen
Reflexion; jeder Wissenschaftler, der in der Kooperation oder in der Konkurrenz der
219
Hierin liegt der systematische Grund für die auch praktische Ambivalenz des Individuums. Vgl.
auch Anthropologie, VII 325f., wo Kant die ebenso falsche Aufwertung des wissenschaftlichen
Individuums vertritt, derzufolge Fortschritte an das Genie partikulärer Forscher gebunden sind.
Das kollektive Moment an der Wissenschaftsgeschichte bleibt, wie das von Geschichte überhaupt,
zumindest unterbelichtet.
220
Zur Sache vgl. auch Eggert Holling/Peter Kempin, Die Subjektivität der (Natur-) Wissenschaft.
Das Verschwinden des Subjekts in der Wissenschaft, in: Wechselwirkung 58 (1992). Daß dies eine
essentielle Bestimmung auch von Kants Erkenntnistheorie ist, betont Heiner F. Klemme, Kants
Philosophie des Subjekts, a.a.O., 186.
221
Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, a.a.O., 16.
222
Vgl. Peter Bulthaup, Die transzendentale Einheit der Apperzeption, das System des Wissens und
der Begriff gesellschaftlicher Arbeit, in: Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften,
Lüneburg 1996.
D S P 369
‚scientific community‘ bestehen will, erfüllt diese Bedingung blind. Dessen fähig sind
die Subjekte aufgrund ihrer Vernunftbegabung. Die philosophische Analyse dieser Be-
gabung und der aus ihr folgenden Eigenschaften hat dann zwei Seiten: Sie ist erstens
Darstellung der wissenschaftlichen Funktion der Subjekte, zweitens aber Selbstredukti-
on des Selbstbewußtseins. Erkenntnistheorie ist immer auch Selbstdarstellung des Be-
wußtseins, das in ihr seine wissenschaftliche Funktion zur einzigen Bestimmung seiner
selbst macht. So sehr die Kritik der reinen Vernunft die wissenschaftliche Qualität des
Selbstbewußtseins trifft, so sehr repräsentiert sie auch die spezifische Gestalt dieser
Funktion des Selbstbewußtseins in einer Welt, in der sein funktionales Moment gegen
seine objektiven Verknüpfungen verselbständigt ist. So wird das Subjekt zum formalen
Repräsentanten der Welt, deren Auflösung in subjektive Funktionen die objektiven Be-
stimmungsgründe möglicher Individualität auflöst.
Erkenntnistheorie ist unabhängig von einer Theorie des Subjekts nicht zu formulieren,
diese aber nicht unabhängig von Gesellschaftstheorie, weil kein Subjekt in historisch
leerem Raum denkbar ist. Noch die Entscheidung zur Abstraktion von historischen Be-
stimmungen ist selbst auch Ausdruck der spezifisch historischen Situation der Subjekte,
die solche Erkenntnistheorie formulieren. Selbst wenn sie die adäquate Theorie ist, hängt
ihre Entdeckung an Zeitumständen. Erst der spezifisch moderne, von der romantischen
Reaktion auf die Aufklärung vorgetragene Protest gegen den Verlust des Besonderen
machte dieses Historische geltend gegen die Auffassung, es handele sich allein um ei-
nen objektiven Zug der Sache. Demzufolge reflektiert Erkenntnistheorie so oder so die
gesellschaftliche Funktion des wissenschaftlichen Subjekts wie von Subjektivität über-
haupt.223
Der Anspruch, eine Erkenntnistheorie reiner Vernunft zu entwickeln, gegenüber der
alle objektiven Bestimmungen der Subjekte Gegenstand empirischer Psychologie – also
zufällig – seien, repräsentiert daher nicht allein das Ideal exakter Wissenschaft, sondern
auch eine Gesellschaft, die vom Individuum nichts wissen will. Ein Modell der verun-
glückten Synthese beider bietet die Karikatur des Wissenschaftlers, der sein Leben der
Wissenschaft ‚weiht‘ oder gar ‚opfert‘, in den Gestalten von Bouvard und Pécuchet.224
Individualität erscheint zunehmend als Schrulle. Daß Wissenschaft, die das Opfern von
Leben zu verhindern hätte, nicht bloß ihrer vulgären Vorstellung nach solche Opfer for-
dert, liegt nicht im Wesen der exakten Wissenschaft selbst, sondern im Unwesen der
Gesellschaft, die sie so organisiert. Das aber kann in der Erkenntnistheorie – reflektiert
als logische Verkürzung von Subjektivität – erscheinen. Das emanzipatorische Element,
das im Begriff der transzendentalen Einheit der Apperzeption liegt, kann nicht unab-
hängig von den auch repressiven Momenten dieser Theorie aus ihr herausgebrochen
223
Vgl. Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, a.a.O., 748: „Nur die gesellschaftliche Selbst-
besinnung der Erkenntnis erwirkt dieser die Objektivität, die sie versäumt, solange sie den in ihr
waltenden gesellschaftlichen Zwängen gehorcht, ohne sie mitzudenken. Kritik an der Gesellschaft
ist Erkenntniskritik und umgekehrt.“ Vgl. auch Matthias Lutz-Bachmann, Religion nach der Religi-
onskritik, a.a.O., 380: „Der ‚kritische Weg‘ […] beinhaltet nicht nur eine Kritik des menschlichen
Erkenntnis- und Vernunftvermögens, sondern auch eine Kritik gesellschaftlicher Institutionen und
politischer Strukturen“. Lutz-Bachmann bezieht sich für diese Deutung von KrV, B 884 auf A Xf.
224
Vgl. Gustave Flaubert, Bouvard und Pécuchet, Leipzig 1959.
370 D F S
werden, sondern es müßte gegen die in den Subjekten auch real manifestierte Repression
realisiert werden. – Das wäre eine Aufgabe von Philosophie: das Bewußtsein über die ei-
genen objektiven Bedingungen aufzuklären durch Kritik seiner theoretisch immanenten
Selbstdarstellung. Die Minimalbedingung freien Selbstbewußtseins wäre Aufklärung des
Bewußtseins über seine Form und deren reale Brüche. Die Exaktheit der Wissenschaft
und die logische Befähigung der Subjekte, Wissenschaft zu treiben, wäre aber wohl nicht
beschädigt durch die Einsicht, daß das Subjekt keine Funktion von Wissenschaft, son-
dern Wissenschaft ein Ausdruck der Tätigkeit von Subjekten ist. Ebenso wenig verlöre
Wissenschaft durch eine kollektive Ordnung, in der Wissenschaft nicht mehr allein im-
manent rationalisiert wäre, sondern Zwecken einer Vernunft folgte, die nicht schon eine
auf äußere Zweckmäßigkeit heruntergebrachte wäre. Auch wenn die Wahrheit für alle
die gleiche ist: Gedacht werden muß sie von jedem selbst unter individuellen Bedingun-
gen. Das ist eine Nuance ums Ganze, die aber nicht den Anspruch der Wissenschaft auf
notwendige und allgemeine Geltung berührt. –
Kant führt einen negativen Beweis gegen die Bestimmbarkeit von Individualität vor:
In der Anschauung von einem denkenden Wesen wird nur dessen körperliche Erschei-
nung erfaßt. Deren unbekannte Ursache sei nicht den Bedingungen der Anschauung
unterworfen, mithin nicht „ausgedehnt, nicht undurchdringlich, nicht zusammengesetzt,
weil alle diese Prädikate nur die Sinnlichkeit und deren Anschauung angehen“225 . Dar-
aus folge, daß die Seele mit ihren angenommen Bestimmungen ununterscheidbar sei von
dem Ding an sich, das der Materie zugrundeliegt. Was Kant hier konstatiert, ist nicht
mehr und nicht weniger als die Indifferenz von transzendentalem Subjekt und transzen-
dentalem Objekt, die er in der Analytik bereits konstruiert hatte; durch den Chorismos
von Körper und Seele wird sie zu einer Aporie im Subjektbegriff selbst: Das abstrak-
te Verhältnis von Subjekt und Objekt fällt ins Subjekt selbst zurück und begründet die
Scheinhaftigkeit von dessen numerischer Identität.
Im Grunde will Kant zeigen, daß der Vergleich der Seele mit dem Körper deswegen
nichts übers Subjekt aussage, weil die Seele ein Ding an sich, der Körper aber nur des-
sen Prädikat als Vorstellung sei. Damit wird aber auch die Vorstellung, daß physisch
erscheinende Menschen als Subjekte denken, zur bloßen Hypothese.226 Kants Kritik an
der Trennung von Körper und Seele als Begründung metaphysischer Stilisierung des
Subjekts führt auf eine viel strengere Trennung, nämlich die der Seele als transzen-
dentalem Subjekt von sich selbst als transzendentalem Objekt: Das denkende Ich, Kern
des Subjekts, ist ebenso „ein Name für den transzendentalen Gegenstand des inneren
Sinns“227 , aber beide Seiten – gerade weil sie in ihrer Abstraktheit nicht mehr bestimmt
unterschieden werden können – lassen sich auch nicht mehr als Momente der Reflexi-
on eines identischen Ich auffassen. Objektiv kann das transzendentale Subjekt von sich
selbst als transzendentalem Objekt durch Erfahrung nichts wissen.228 Deshalb bleibt nur
bestimmungslose Identität, deren eigenes äußeres Dasein lediglich eine ihr inhärierende
Vorstellung sein kann. –
225
KrV, A 358.
226
Vgl. KrV, A 359f.
227
KrV, A 361.
228
Vgl. KrV, A 361.
D S P 371
Dem Dritten Paralogismus zufolge begründet die zeitliche Invarianz der numerischen
Identität des Ich dessen Eigenschaft, Person zu sein, in Analogie zur Erscheinung, an
deren beharrlichem Subjekt die Attribute wechseln. Das bestimmungs- und substanzlose
logische Ich aber ist Gegenstand des inneren Sinns, dessen Form die Zeit ist, und zwar
Gegenstand des inneren Sinns seiner, des Ich, selbst.229 Daher sei „in dem, was wir
Seele nennen, [...] alles im kontinuierlichen Flusse und nichts Bleibendes, außer etwa
(wenn man es durchaus will) das darum so einfache Ich, weil diese Vorstellung keinen
Inhalt, mithin kein Mannigfaltiges hat“230 ; denn die Zeitreihe, zu deren unterschiedenen
Elementen das Ich sich identisch verhalten müßte, ist selbst Produkt des Verhältnisses
des Ich zu seinen Vorstellungen, was wiederum nur unter der Voraussetzung der Identität
des Ich denkbar ist. Deshalb ist es „einerlei, ob ich sage: diese ganze Zeit ist in Mir,
als individueller Einheit, oder ich bin, mit numerischer Identität, in aller dieser Zeit
befindlich“231 . Beide Seiten differieren in der Beobachtung durch ein anderes Subjekt,
dem das erste in der äußeren Anschauung, mithin in der Zeit gegeben ist. Die Identität
des Subjekts in der eigenen Zeitlichkeit der Reflexion stellt sich nach außen nicht dar
und kann aus der äußerlichen Beobachtung nicht geschlossen werden. Die Identität des
Subjekts durch die Zeit ist ebenso eine bloß subjektive formal-logische Bedingung der
Einheit des Bewußtseins, aus der aber nicht auf eine numerische Identität des Subjekts
zu schließen sei.232
Kants späteres Zugeständnis, Personsein, „wodurch das Bewußtsein der Identität sei-
ner eigenen Substanz, als denkenden Wesens, in allem Wechsel der Zustände verstanden
wird“233 , könne zwar nicht aus der logischen Identität des Subjekts bewiesen werden,
aber womöglich aus dem Vergleich verschiedener Erinnerungen, birgt ein logisches Pro-
blem: Wenn die Identität der Person erst aus diesem Vergleich geschlossen werden kann,
können die fraglichen Erinnerungen vor dem Vergleich gar nicht derselben Person zu-
geordnet werden, auch nicht demselben Subjekt, denn dessen logische Identität ist nicht
mit Dauer verknüpft.234 Kant muß die Behauptung, vom Bewußtsein sei „die numerische
Identität unzertrennlich, und a priori gewiß“235 , mit der entgegengesetzten, es könne in
der Zeit vollständig ausgetauscht werden, verknüpfen, weil er nicht Individualität als
229
Zur Funktion des Personbegriffs im Zusammenhang der theoretischen mit der praktischen Philo-
sophie bei Kant vgl. Ludwig Siep, Personbegriff und praktische Philosophie bei Locke, Kant und
Hegel, a.a.O., 90-98, für die Zeitproblematik bes. 91f.
230
KrV, A 381.
231
KrV, A 362.
232
Vgl. KrV, A 363.
233
KrV, B 408. Georg Mohr hat auf die stärkere Betonung der Differenz von spekulativem und
praktischem Gebrauch von ‚Person‘ in der Fassung B hingewiesen. Vgl. Der Begriff der Person
bei Kant, Fichte und Hegel, in: Dieter Sturma (Hg.), Person. Philosophiegeschichte – Theoretische
Philosophie – Praktische Philosophie, Paderborn 2001, 106.
234
Das gleiche Argument verwendet Kant auch auf B 415: Die Beharrlichkeit der Seele sei „im Leben,
da das denkende Wesen (als Mensch) sich zugleich ein Gegenstand äußerer Sinne ist, für sich
klar“, weil hier die leere Identität durch Relation zur Differenz bestimmter Erfahrungen sachlich
identifiziert werde. Jene leere Identität macht aber keine Erfahrungen. Nicht bloß die Behauptung
von der Beharrlichkeit der Seele nach dem Tode, sondern deren philosophischer Begriff als solcher
wäre zu kritisieren.
235
KrV, A 113.
372 D F S
prozessuale Vermittlung von Identität und Differenz – von subjektiven und objektiven
Bestimmungsmomenten des Subjekts – denkt: Er braucht die abstrakte Identität als Be-
dingung der Möglichkeit allgemeiner und notwendiger Erkenntnis, und er braucht die
abstrakte Differenz als Bedingung der Möglichkeit des Erfahrungssubjektes, das in der
Zeit empfindet und denkt.
Für Kants „Umwandlung des Subjekts“236 kommen äußerliche Veränderungen nicht in
Betracht, denn sie bestätigen ebenso wie Veränderungen des Bewußtseinsinhaltes nur die
formale Identität; diejenige Bewußtseinsänderung allein, deren Differenzen nicht in das
veränderte Bewußtsein selbst fielen – Schizophrenie – wäre ohne vorausgesetzte Identität
des Bewußtseins gar nicht diagnostizierbar. Kant geht es allein um das formale logische
Modell einer gänzlichen Veränderung des Subjekts unter Beibehaltung seiner logischen
Identität. Sein Modell scheint verrückt: Es soll ein Ausgangssubjekt seinen gesamten
mentalen Zustand einem zweiten Subjekt übertragen, das diesen vollständig assimilierte,
und zwar einschließlich der logischen Identität; dieser Vorgang würde mehrfach wieder-
holt: „Die letzte Substanz würde also aller Zustände der vor ihr veränderten Substanzen
sich als ihrer eigenen bewußt sein, weil jene zusamt dem Bewußtsein in sie übertragen
worden, und demunerachtet, würde sie doch nicht ebendieselbe Person in allen diesen
Zuständen gewesen sein.“237 Unangesehen der Frage nach dem Verbleib der zurückge-
lassenen Substanzhüllen führt dieses Modell nur dann nicht auf das absolut schizophrene
Bewußtsein, das, indem es Ich denkt, sich unmittelbar selbst widersprechen müßte, wenn
die Identität des Ich tatsächlich bloß die logische Basisfunktion des Selbstbewußtseins
bezeichnet. Dann nämlich sind alle diese mit sich selbst identischen Ich auch unter-
einander nicht bloß der Art nach, sondern virtuell auch der Zahl nach identisch. Sie
verschmölzen in Kants Modell, so daß das resultierende Bewußtsein den assimilier-
ten Zuständen nach die vorherigen durchaus repräsentierte, ohne mit ihnen identisch
zu sein oder auch nur deren Identität zu repräsentieren. Dazu bedarf es allerdings der
Vorstellung einer virtuellen Differenz des Ich, die erlaubt, es einmal numerisch zu dif-
ferenzieren und ein anderes Mal es zu identifizieren. 238
236
KrV, A 363.
237
KrV, A 364 Anm. In der analytischen und pragmatischen Philosophie haben solche Modelle unter
dem Titel ‚Gedankenexperiment‘ Konjunktur. Zulässig ist dabei scheinbar jede Phantasie, die in
sich formell richtig formuliert ist, wie z. B. die einmal vorgetragene Annahme, daß die fötale Zwil-
lingsbildung in den achten Schwangerschaftsmonat postponiert wäre. Was sollte dadurch erläutert
werden? – In der Bewußtseinsphilosophie haben die ‚Experimente‘ seit Wittgenstein bemerkens-
werter Weise fast immer mit Schmerzen oder mit blutenden Armen zu tun. – Daß dies für Kant
ein untergeordnetes Problem darstellt, bemerkt Peter Rohs, Kausalität aus Freiheit, a.a.O., 38. –
Eine ebenfalls experimentelle, aber ironische, bündige Antwort auf alle materialistischen, reduk-
tionistischen, physikalistischen und analytischen Bewußtseins- und Selbstbewußtseinstheorien gibt
Konrad Cramer, Futuristischer Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, in: Thomas
Grundmann u. a. (Hgg.), Anatomie der Subjektivität, a.a.O., 29ff.
238
Zur Unangemessenheit von Kants Modell vgl. Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts,
a.a.O. 337, Anm. 148. – Eine Reflexion aus dem beschädigten Leben läßt sich indes anschließen:
Wer nach schlimmen Erfahrungen gesagt bekommt, daß er sich seltsam verhalte, und dann zu der
Selbsterfahrung gelangt, er sei nicht mehr derselbe Mensch wie zuvor, dessen personale Identität
liegt eben in der Fassungslosigkeit, die jene Erfahrung begleitet. Daß heißt ‚negatives Selbstbe-
D S P 373
wußtsein‘, und es betrifft jeden, der an seinen Erfahrungen ‚gewachsen‘ ist, weil er ihrem Druck
nicht zu widerstehen vermochte.
239
Zu erinnern ist hier an die erwähnte Definition von ‚Person‘ im Preußischen Allgemeinen Land-
recht als derjenige, der im Rechtsgebiet Rechte und Pflichten hat. Dies ist selbst eine bloß
relationale Bestimmung, denn Rechte und Pflichten sind die Bestimmungen der Beziehungen bür-
gerlicher Subjekte untereinander. Das Subjekt ist als Person das Gerinnsel seiner Relationen. –
Das BGB bestimmt §§ 1-12 die natürliche Person durch die Merkmale Rechtsfähigkeit, Lebendig-
keit, ggf. Volljährigkeit, Wohnsitz und Namen. Sie muß allgemein, d. h. austauschbar, ein fluidum,
sein, und doch gegebenenfalls dingfest gemacht werden können. Diese Abstraktion veranlaßt He-
gel, Personalität als abstraktes Prinzip zu bestimmen. Vgl. auch Hans Hattenhauer, Person, a.a.O.,
405-411.
240
Eine Folge ist der sogenannte Identitätsverlust der Menschen, der in Surrogaten personaler Dif-
ferenz erscheint: Nationalität, Religion, ein Sportverein oder auch paradox der Arbeitgeber. Die
Konjunktur des Ausdrucks corporate identity bezeugt die Auslöschung von Individualität durch
solche Identifizierungsprozesse, die keineswegs bloß äußerlich aufgezwungen werden, ebenso
wie die Wertedebatten, die nicht selten den Subjekten die Einwilligung in ihre unvernünftigen
Lebensbedingungen, das Brechen ihres intellektuellen Widerstands mithin, als moralischen Akt
unterschieben wollen.
241
Vgl. KrV, A 364.
242
KrV, A 365, vgl. B 424f.
374 D F S
243
Vgl. Marcus Willaschek, Praktische Vernunft, a.a.O., 268f. und 274.
244
Vgl. KrV, A 383f.
245
Vgl. KrV, A 386.
D S P 375
246
KrV, A 392f. Zum problematischen Verhältnis des transzendentalen Gegenstandes zu Ding an
sich, Erscheinung und Einheit der Apperzeption vgl. Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des
Subjekts, a.a.O., 245ff., bes. 257ff.
247
Vgl. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt am Main 1991, hier §6.
248
KrV, A 344.
249
KrV, A 344 Anm.
250
Die Funktion dieser Passage, die in der Auflage B fehlt, hat dort die Widerlegung des Idealismus
in den Grundsätzen (B 274ff.), die ihrerseits dort in der Auflage A fehlt. Tatsächlich hat die Frage
nach der Möglichkeit von Gegenständen ebenso in der Erörterung des Verhältnisses der Kategorien
zur Erfahrung – der Subjektivität der Objekte – ihren Ort wie in der Erörterung der Objektivität
des Subjekts.
376 D F S
reine Formen der Anschauung sind, die dualistische Koexistenz mit einem empirischen
Realismus, der die Existenz materieller Dinge, solange sie als Vorstellungen betrachtet
werden, annehmen darf. Durch diesen Kunstgriff hat Kant den objektiven Dualismus,
den er den Materialisten vorwirft und den zu bekämpfen der negative Nutzen einer
für sich ergebnislosen reinen Seelenlehre sei,251 in einen subjektiven verwandelt: Zwar
vermöchte, wie Hegel es ausdrückt, die Welt den Widerspruch nicht auszuhalten; das
Denken hingegen sei stark genug, ihn zu tragen. Damit wird aber auch die objektive
Welt in eine subjektiv konstruierte verwandelt. Das Bewußtsein von diesen Vorstellun-
gen des äußeren Sinns ist Ausweis ihrer Realität, wie das Bewußtsein der Vorstellung
seiner selbst im inneren Sinn Ausweis der Realität des Subjekts ist. Der problematische
Schluß auf das Dasein der Objekte erübrigt sich so, weil es „unmittelbar wahrgenom-
men wird“252 . Die Möglichkeit der Täuschung liege allein in der realistischen Annahme
der Mittelbarkeit der Wahrnehmung, deren Ursache entweder in einer äußeren Realität
oder einer inneren Täuschung liegen könne. Nach Kant aber täuscht der Sinn sich nicht,
sondern nimmt unmittelbar wahr, der Irrtum liegt allein im Urteil, das die wahrgenom-
mene Realität mit Eigenschaften verknüpft: „Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im
Gegenstande, sofern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, sofern er
gedacht wird.“253
Das Urteil, ob eine Wahrnehmung innere Täuschung, vielleicht ein Traum, ist oder
äußere Ursachen hat, folgt der Regel: „Was mit einer Wahrnehmung nach empirischen
Gesetzen zusammenhängt, ist wirklich.“254 Es unterliegt dem Maßstab der konsistenten
Kontinuität der Erfahrung. Das setzt allerdings die strikte Trennung von transzendenta-
lem und empirischem Gegenstand voraus, so daß von diesem in völliger Unabhängigkeit
von jenem, der immer unbekannt und für die Erkenntnis inhaltlich irrelevant bleibt,
gehandelt werden kann und muß. Kants Realismus, dem zufolge das räumlich Gegen-
ständliche immer Wahrnehmung – und nicht bloß Einbildungskraft – voraussetzt,255
verweist nicht allein alle gegenständlichen Bewußtseinsinhalte auf die Sinnlichkeit, weil
solcher Inhalt „gar nicht a priori“256 gedacht werden kann, sondern er verweist zugleich
alle Inhalte der Sinne auf die subjektiven Formen der Sinnlichkeit, so daß die „äußeren
Dinge, die Materie nämlich, in allen ihren Gestalten und Veränderungen, nichts als bloße
Erscheinungen, d. i. Vorstellungen in uns sind“257 . Die darin gelegene Konsequenz, „daß
im Raume nichts sei, als was in ihm vorgestellt wird“258 , die Kant selbst als befremdlich,
251
Vgl. KrV, A 382f. und A 391.
252
KrV, A 371.
253
KrV, B 350. Vgl. Prolegomena, IV § 13 Anm. III. Vgl. weiter René Descartes, Meditationen,
a.a.O., 4. Meditation, aber auch schon Aristoteles, Lehre vom Satz, Hamburg 1958, 16a: „Denn
Falschheit und Wahrheit ist an Verbindung und Trennung der Vorstellungen geknüpft.“
254
KrV, A 376. Vgl. Prolegomena, IV § 13 Anm. III: „Der Unterschied aber zwischen Wahrheit
und Traum“ ist bestimmt durch die Verknüpfung der Vorstellungen nach den „Regeln, welche den
Zusammenhang der Vorstellungen in dem Begriffe eines Objects bestimmen, und wie fern sie in
einer Erfahrung beisammen stehen können oder nicht“. Vgl. auch § 49.
255
Vgl. KrV, A 373.
256
KrV, A 375.
257
KrV, A 371f.
258
KrV, A 374 Anm.
D S P 377
259
KrV, A 375.
260
KrV, A 385.
261
KrV, A 379.
262
KrV, A 379f.
378 D F S
licher Individualität. Diese können sich entweder mit der Isolation identifizieren, die es
bedeutet, substanzlose Hypostase der Reduktion gesellschaftlicher Beziehungen zu sein,
oder sie können sich der Funktionalisierung verweigern und so allerdings nicht am Ran-
de der Gesellschaft, sondern als Ausgestoßene in deren Mitte vegetieren.
Ein selbstbewußter Umgang mit den heteronomen Prinzipien der Entsubstantialisie-
rung der eigenen Subjektivität scheint – ohne grundsätzliche praktische Veränderungen
– nur möglich zu sein in der Differenzierung in die theoretische Durchdringung von
Subjektivität einerseits und die praktische Hinnahme ihrer Heteronomie andererseits.
Die grundsätzliche Veränderung ist aber keinem Einzelnen möglich, sondern setzt die
Auffassung der Einzelnen als wesentlich kollektive Individuen voraus. Was gesellschaft-
lich analog zu wiederholen wäre, ist nicht weniger als die Distanzierung der Gattung
vom unmittelbaren Naturzusammenhang, die nur kollektiv gelingen konnte. Die Verein-
zelung von Subjektivität und ihre Instrumentalisierung in einer formellen Kollektivität
verhindern dies indes.
Solange nur die Einzelnen real sind, wiederholt auch die Selbstdifferenzierung in
theoretische und praktische Subjektivität – die Bedingung der Möglichkeit überhaupt
von Kritik – auf ihre Art die Isolation der Subjektivität vom Leben. Nur ist dieses gebro-
chene Bewußtsein mit dem Bewußtsein seines Bruches verknüpft. Diese Verknüpfung
kann implizit oder explizit sein.
263
KrV, B 426f. Gerade aus der besonderen Gewichtung der erkenntnistheoretischen Reflexion ergibt
sich erst die antizipative Ausrichtung auf die praktische Philosophie, die Heiner F. Klemme für
die Fassung B der Paralogismen feststellt (vgl. Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., 292f.).
– „Daß ein transzendentales Subjekt über gesetzgebende Begriffe verfügt, stimmt nur unter der
Voraussetzung empirischer Subjekte“ (Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O.,
159); das berührt aber seinen Gehalt.
D S P 379
Nun muß Selbstbewußtsein als Grundlage aller Erfahrung vor dieser gegeben sein.
Kants formales ‚Ich denke‘ ist, weil es gegenstandslos sein soll, zunächst unumgäng-
lich an Erfahrung gebunden, es erkennt nichts aus sich selbst heraus, sondern nur durch
die Beziehung von Anschauungen auf die Einheit des Bewußtseins. Dieses Bewußtsein
ist aber keiner Erfahrung fähig, weil es als unbestimmtes sich von deren Gegenständen
selbst nicht unterscheiden könnte. Es erkennt sich „nicht selbst dadurch, daß ich mich
meiner als denkend bewußt bin, sondern wenn ich mir die Anschauung meiner selbst,
als in Ansehung der Funktion des Denkens bestimmt, bewußt bin“264 . Dieses letzte Be-
wußtsein setzt aber im Selbstbewußtsein das Bewußtsein von Differenz zur Anschauung
voraus, die ihm als bloßem ‚Ich denke‘ nicht zukommt. Als Lösung denkt Kant sich ein
bloß funktional in sich modifiziertes Selbstbewußtsein. Solange dessen modi aber gegen-
standslose Funktionsformen eines gegenstandslosen Funktionsvermögens sind, können
sie diesem nicht aus sich heraushelfen.
Kant will trotz der Gehaltlosigkeit reiner Subjektivität an deren Begriff festhalten.
So dient die Betonung des Erfahrungssubjekts in der Fassung B gerade dem Festhalten
an der reinen Subjektivität.265 Die Rezeptivität, die Kant der Spontaneität des Selbstbe-
wußtseins zuordnet, damit dieses sich selbst auch erkennen könne, ist keine andere als
Selbstwahrnehmung, und zwar Wahrnehmung des eigenen Aktes ‚Ich denke‘ im inneren
Sinn. Kant trennt dafür bestimmendes und bestimmbares Selbst; jenes ist Subjekt und
intelligibel, dieses Objekt und in der Anschauung.266 So kommt aber keine Vermittlung
des Subjekts des Selbstbewußtseins mit dem Subjekt der Erfahrung zustande, geschwei-
ge denn eine des Subjekts mit Erfahrung selbst. Im Gegenteil wird Subjektivität in eine
subjektive und eine objektive aufgespalten. So bleibt das Subjekt „im Bewußtsein mei-
ner Selbst beim bloßen Denken [...] das Wesen selbst, von dem mir aber dadurch freilich
noch nichts zum Denken gegeben ist“267 .
Ein Denken, dem nichts zu denken gegeben ist, ist die Vorstellung funktionsloser
Funktionalität, ein nihil negativum. Die Vorstellung des Denkens aber ist als Vorstellung
264
KrV, B 406.
265
Vgl. KrV, B 409. Problematisch ist, daß Adorno dem ‚antipsychologischen‘ Kant ausdrücklich at-
testiert, hier „dem persönlichen Bewußtsein“ eine „Vorrangstellung“ zukommen zu lassen (Kants
„Kritik der reinen Vernunft“, a.a.O., 301). Dies ist eine Konsequenz daraus, daß Adorno sich aus-
schließlich auf die Fassung B der Paralogismen bezieht und deren Herkunft aus der Fassung A
nicht reflektiert. So muß Adorno den Vorrang des Persönlichen bei Kant wieder kassieren: Kant
weigere sich, „die ganze Konsequenz zu ziehen. Sondern er beläßt es dann gewissermaßen bei
der logischen Priorität des Ich denke“ (308). Das Empirische der Seele entgleite Kant. Allerdings
entgleitet es ebenso Adorno, da er die empirische Einheit des Selbstbewußtseins, das Individu-
um, charakterologisch als frühkindlich fixiert begreift. Damit ist das empirische Selbstbewußtsein
aber ausdrücklich der eigenen Reflexion genetisch entzogen; konsequent spricht Adorno von „un-
bewußten Mechanismen, durch die so etwas wie Identität und Nichtidentität, Stimmigkeit und
Unstimmigkeit im Seelischen zustande kommt“ (313). Die Kritik an Kant, dessen Subjektbegriff
abstrakt sei, weil er das Wechselverhältnis von transzendentalem und empirischem Selbstbewußt-
sein nicht reflektiere, versandet in einem Subjektbegriff, der im Grunde noch abstrakter ist, weil
sogar die Form des empirischen Selbstbewußtseins an dem, dessen Form sie ist, quasi ontologisch
festgemacht ist.
266
KrV, B 407.
267
KrV, B 429.
380 D F S
immer an das Ich denke geknüpft, das „nicht bloße logische Funktion“268 sei. Das ‚Ich
denke‘, obgleich es nicht an wirklicher Erfahrung partizipiert, ist für Kant durchaus mehr
als der Reflexionsbegriff allgemeiner logischer Identität von Subjektivität, allein weil es
als Form des Urteils auf die Form der Zeit und damit die innere Anschauung verweist.
Deshalb sei dieser magere Begriff „ein Satz, der schon ein Dasein in sich schließt“269 .
Damit kommt der Objektivität des ‚Ich denke‘ ein Moment des ontologischen Gottesbe-
weises zu, denn aus seiner begrifflichen Form wird sein Dasein als implizites Attribut
entwickelt, wenngleich vermittelt über den inneren Sinn, denn der Begriff des ‚Ich den-
ke‘ hat die Form eines Urteils, dessen Vermittlung von Subjekt und Prädikat nur in der
Zeit vorgestellt werden kann und deswegen die Paraphrase ‚Ich bin denkend‘, habe also
ein Dasein, enthalte.270 So, als in der Zeit vermittelt, ist der Satz allerdings transitiv zu
verstehen und deshalb unvollständig, ohne Objekt; wird er intransitiv verstanden, ist er
ebenso leer.
Allerdings stellt Kant das ‚Ich denke‘ zugleich als ein ursprünglich zu Denkendes vor,
dessen Vermittlung von Subjekt und Prädikat logisch, ja tautologisch, sei. So nimmt er
es als Bedingung aller Zeitlichkeit aus der Zeit heraus. In dieser Hinsicht ist das Sub-
jekt zu seinem Dasein auf nichts außer ihm angewiesen. Dieser Schluß aufs Dasein –
weil das ‚Ich denke‘ ohne das Subjekt, das ihn formuliert, nicht vorstellbar ist – ist
dann aber streng auf die Vorstellung jedes Subjekts von sich selbst beschränkt, über
ein Dasein anderer Subjekte läßt sich nichts sagen. Schon über die Daseinsart des ‚Ich
denke‘ lasse sich nichts ermitteln: Das empirische Subjekt macht die abstrakte Vorstel-
lung seiner selbst zur eigenen Hypostase, deren Dasein dann allerdings nur logische
Funktionen, keine Daseinsart, erkennen läßt. Auf diese Weise „würden die Sätze der ra-
tionalen Seelenlehre nicht vom Begriff eines denkenden Wesens überhaupt, sondern von
einer Wirklichkeit anfangen, und aus der Art, wie diese gedacht wird, nachdem alles,
was dabei empirisch ist, abgesondert worden, das was einem denkenden Wesen über-
haupt zukommt gefolgert werden“271 . Aus dieser Wirklichkeit, von der alles Empirische,
nur nicht ihr Dasein, abstrahiert wurde, folgt auch nichts weiter als logisch identische
Subjektivität. Dasein selbst, traditionell die Vorstellung von Verknüpfung mit äußerer
Bestimmtheit par excellence, wird ganz zur subjektiven Bestimmung.
Der Analogie des ‚Ich denke‘ zum Gottesbeweis will Kant steuern: Keineswegs solle
aus dem Denken die notwendige Existenz des denkenden Subjekts folgen, sondern das
‚Ich denke‘ sei mit der Existenz des Ich schlicht identisch. So soll der fatale Obersatz
‚Alles, was denkt, existiert notwendig‘ umgangen werden; allerdings lassen Gottesbe-
weise ebenfalls keine allgemeinen Obersätze zu, denn diese verstießen gegen das erste
Gebot. Kant muß jene Identität vielmehr auf eine empirische Ebene zwingen, da ein
268
KrV, B 429.
269
KrV, B 418. Vgl. Josef Simon, Kant, a.a.O., 52ff., der aus dieser Konstruktion Individualität
entwickelt.
270
Vgl. KrV, B 420: Der Satz „ich existiere denkend [...] ist [...] empirisch, und enthält die Bestimm-
barkeit meines Daseins bloß in Ansehung meiner Vorstellungen in der Zeit“. So bestimmt er die
reine Form des Denkens, die durch ihre Prozessualität auf ihr Dasein weise; das bringt die Schwie-
rigkeit eines Begriffs reiner Prozessualität, ohne prozedierende oder prozedierte Inhalte, mit sich.
Vgl. auch B 429f.
271
KrV, B 418f.
D S P 381
Dasein ohne Beziehung auf Äußeres nicht zu denken sei. Deshalb ordnet Kant ihm ei-
ne „unbestimmte Wahrnehmung“ zu: „etwas Reales, das gegeben worden, und zwar nur
zum Denken überhaupt, also nicht als Erscheinung, auch nicht als Sache an sich selbst,
(Noumenon) sondern als etwas, was in der Tat existiert, und in dem Satz, ich denke, als
ein solches bezeichnet wird“272 . Diese Existenz ‚in der Tat‘, im Denkakt selbst, läßt zwar
keinen Schluß auf die äußerliche Daseinsart des Subjekts zu, ist aber die Setzung der ei-
genen Äußerlichkeit, die allgemeine Selbstentäußerung des Subjekts, vermittelbar durch
seinen Denkakt: So soll es aus seiner absoluten Identität herausspringen, gleich ‚Fichtes
ursprünglicher Einsicht‘273 , der Identität des Selbstbewußtseins als ‚Thathandlung‘274 .
Diese Sturzgeburt des Subjekts ist aber zugleich salto mortale, denn die selbstgesetzte
Äußerlichkeit seiner selbst – die unbestimmte Wahrnehmung – unterscheidet sich in ih-
rer Bestimmungslosigkeit nicht vom Inneren des Subjekts. Kant denkt „das Empirische
[…] [als] Bedingung der Anwendung, oder des Gebrauchs des reinen intellektuellen
Vermögens“275 , das sonst zu dem Akt ‚Ich denke‘ nicht fähig wäre. Aber er muß um der
Reinheit des intellektuellen Vermögens willen dessen Anderes ihm gleich machen. Das
reine intellektuelle Vermögen denkt damit etwas, das nichts ist.
Kant fügt dem Subjektbegriff der Paralogismen in der Fassung B das Moment hin-
zu, daß die ‚Armut‘ dieses Begriffs eine vom Subjekt selbst hergestellte sei; dieses
geht sozusagen in logische Eremitage. Diese Produktion des ‚Ich denke‘‚ zerfällt aber
in zwei Produktionsrichtungen, zunächst die Abstraktion von empirischer Bestimmtheit
des Subjekts als Grundlage logischer Selbstbestimmung, sodann die Selbstbestimmung
des Daseins durch logische Tat eben dieses empirisch leeren Subjekts. Die Negativität
des Subjektbegriffs soll hierdurch positiv aufgefangen werden; der in Abstraktion vom
Empirischen gewonnene Funktionsbegriff von Subjektivität wird zur substantiellen Be-
stimmung des Subjekts erhoben, seine Funktionalität erscheint als Selbstbestimmung.
Ein praktisches Modell dessen findet sich – nicht nur bei Kant – in der rechtsphiloso-
phischen Methode einer Verschränkung von gesetzespositivistischer und naturrechtlicher
Argumentation. Dieser zufolge wird Naturrecht vorwiegend als rationale Reflexion auf
die allgemeine Geltungsmöglichkeit positiven Rechts verstanden. Es ist ein Vernunft-
recht, das sich aber als Ausdruck der Subjektnatur der Menschen begreift. Durch dieses
Vorgehen werden durchaus geschichtlich gewachsene soziale und politische Funktions-
zusammenhänge, die als solche immer den je gegenwärtigen Subjekten auch äußerlich
sind, nachträglich rationalisiert und so als Ausdruck subjektiver Selbstbestimmung vor-
gestellt. Damit reflektiert die klassische Philosophie die bürgerliche Gesellschaftsord-
nung, in der die Menschen tatsächlich zum ersten Mal in der Geschichte nicht durch
objektive – vom Kosmos, von Gott oder der Gefolgschaftsordnung bestimmte – Hierar-
chie funktionalisiert werden, sondern in der sie scheinbar selbst – ob durch Einsicht in
die Notwendigkeit oder durch Vertrag – in ihre Bestimmung eintreten. Diese Befreiung
der Subjektivität ist jedoch – wie Kant weiß – schon in ihrer Entstehung verknüpft mit
272
KrV, B 423 Anm.
273
Vgl. Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, in: Ders./Hans Wagner (Hgg.), Subjektivität
und Metaphysik, Frankfurt am Main 1966.
274
Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95), a.a.O., § 1.
275
KrV, B 423 Anm.
382 D F S
der Entwicklung der neuzeitlichen Eigentumsordnung.276 Durch sie werden die Besit-
zenden und mittelbar auch die Besitzlosen zu Vertragssubjekten. Dieser Prozeß erzeugt
mit der Möglichkeit, über vertragliche Bindungen die eigene gesellschaftliche Funktion
selbst festzulegen, zugleich auch die Notwendigkeit solcher Bindungen: Kein Subjekt –
vor allem kein besitzloses – kann existieren, ohne Verträge einzugehen. Das Bewußt-
sein von Selbstbestimmung müßte sich diese objektiven Zwänge, über die Subjektivität
aufrechterhalten und organisiert wird, selbst zurechnen. Tatsächlich vereint die Funk-
tionalität der empirischen Subjekte in der Selbstunterwerfung die beiden Momente von
Autonomie und Heteronomie; die Autonomie ist allerdings allein die negative Selbst-
bestimmung durch Negation aller empirischen Bestimmtheit. Als abstrakt-negativer soll
ihr Selbständigkeit zukommen. Tatsächlich ist sie aber privativ und hängt von ihrem
Negativen ab.
In der Folge des Problems der logischen Selbstbestimmung hebt Kant selbst in der
Fassung B der Paralogismen moralphilosophische Konsequenzen hervor, denn wo das
vernünftige Selbstbewußtsein über den Kern seiner logischen Funktion hinausweist,
sieht Kant es auf eine Ordnung der Zwecke bezogen. Diese sei zwar auf eine Natur-
ordnung verwiesen, aber nicht auf sie eingeschränkt.277 In praktischer Hinsicht sind
der Vernunft Einsichten in die Subjektivität möglich, die der theoretischen Vernunft
allein deshalb keinen Schaden zufügen, weil Kant beide voneinander trennt; vom Sollen
ist kein Sein zu prädizieren. Theoretische und praktische Vernunft, die am Objekt
differenziert werden müssen, müssen ebenso notwendig im Subjekt verknüpft sein.
Sollen praktische Sätze allgemeine Geltung beanspruchen, so können sie das nur aus
der logischen Subjektivität heraus. Ein praktisches Äquivalent des funktionalen Zusam-
menhangs der logischen Subjektivität mit der teleologisch vorgestellten Naturordnung
sei die Vorstellung einer moralischen Überteleologie von Rechtfertigung und ewigem
Leben. Moralität scheint dann nicht aus der Subjektivität vernünftiger Sinnenwesen
allein begründbar, sondern erst im Hinblick auf einen transzendenten Zweck.278
Aus dem Subjekt selbst folgt nur die absolute Form von Selbstbestimmung, „eine
Spontaneität [...], wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre, ohne dazu der Be-
dingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen“279 . Auch das praktische Subjekt,
so antizipiert Kant hier um dessen logischer Integrität willen, muß aus allen empi-
rischen Zusammenhängen herausgehoben werden, damit seine Handlungsfähigkeit als
selbständige denkbar werde. Zugleich bezieht es sich so „auf eine intelligible (frei-
lich nur gedachte) Welt“280 , in der als solcher nicht wirklich gehandelt werden kann.
Die logische Reinheit des Subjekts von Praxis beinhaltet die Paradoxie, freies Han-
deln nur abseits der empirischen Bestimmungen denken zu können, unter denen allein
es praktisch möglich sein könnte. Selbstbewußtsein ist philosophisch polemisch gegen
heterogene Bestimmungen, es bestimmt sich selbst. Unter heteronomen Bedingungen
möglicher Praxis kann es darüber hinaus polemisch gegen die Bedingungen seines ei-
276
Vgl. Gemeinspruch, VIII 296.
277
Vgl. KrV, B 424f.
278
Vgl. KrV, B 425f.
279
KrV, B 430.
280
KrV, B 431.
D S P 383
genen Daseins werden: Um der logischen Einheit seiner Selbstbestimmung willen setzt
es sich dann außerhalb der Bedingungen, unter denen es allein wirklich sein kann. –
So begriffslos es ist, in der Philosophie nur von empirischen Individuen zu reden, so
gegenstandslos ist das völlige absehen von ihnen.
281
KrV, B 357f.
282
KrV, B 357.
384 D F S
dem Bedingten auf „die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin
selbst unbedingt ist“283 . Dies ist nun ein Vernunftprinzip, das der Verstandeserkenntnis
systematisch etwas hinzufügt, denn das Unbedingte folgt nicht aus dem Bedingten selbst,
sondern erst aus der Vernunftabsicht der systematischen Ordnung des Bedingten. Diese
Absicht nennt Kant einmal ontologisierend die ‚architektonische Natur‘ der Vernunft,
gleich darauf jedoch moralisierend das ‚architektonische Interesse‘284 .
Das Unbedingte faßt Kant genauer als ‚absolut Unbedingtes‘285 , das der Dialektik des
Begriffs des Absoluten gemäß das in jeder Hinsicht Unbedingte meint, denn dasjenige,
das ab-solutum – von allem abgelöst – ist, steht zu nichts in Beziehung. Damit aber steht
es zu allem und zu jedem in einer negativen Beziehung. Diese allseitige Negation der
Negativität, der Bedingtheit, faßt Kant nun positiv als „Totalität der Bedingungen“286 .
In dieser affirmativen Wendung der Begriffe der Vernunft, die zunächst bloß die Mög-
lichkeit von deren Beziehung auf mögliche Erfahrung bestimmen soll, liegt die auf den
Deutschen Idealismus vorausweisende Aporetik der transzendentalen Dialektik begrün-
det. Indem Kant aber die Vorstellung von Reflexivität der Vernunft nicht als absolute
Einheit, sondern als quantifizierten unendlichen Regreß des Aufsuchens der Bedingun-
gen faßt, deren summarische Totalität das Unbedingte sei, will er ihren Gebrauch an
Erfahrung heften, über die sie aber der Form ihrer Begriffe nach immer schon hinaus-
weist.287 Kant will diese Konsequenz noch durch die Differenz von transzendentalem
Gebrauch der Ideen und immanentem Gebrauch der Verstandesbegriffe288 abschneiden,
aber die später von Hegel hervorgehobene Eigendynamik etwa des Begriffes eines ‚ab-
soluten Ganzen‘, wenn auch zunächst bloß eines ‚Ganzen der Verstandeshandlungen in
Ansehung eines jeden Gegenstands‘289 , die schließlich zur absoluten Idee führt, ist damit
nicht gezähmt. Der Konsequenz des erkenntnistheoretischen Vorgehens, Objektivität um
ihrer Vereinbarkeit mit dem Subjekt willen aus diesem heraus zu setzen, ist nicht durch
gleichsam äußerliche Beschränkung – durch Quantifizierung des qualitativ Unendlichen
– zu entrinnen. Weder Subjekt noch Objekt erhalten dadurch die Selbständigkeit, die
ihnen in ihrer wechselseitig bedingten Verknüpfung Beständigkeit verliehe.
Die Instabilität, die Kants Subjekt sich um der Verfügbarkeit des Objekts willen an-
tut, macht der Idealismus sich zunutze, wenn er Subjekt und Objekt in der An-und-für-
sich-seienden Idee verschmilzt. Die von Kant beklagte „Unbequemlichkeit“290 , daß das
Subjekt von sich nichts urteilen kann, ohne sich selbst vorauszusetzen, wendet Hegel
geradezu in die Konstruktion der Setzung des Subjekts als Objekt seiner selbst durch
283
KrV, B 364.
284
Vgl. KrV, B 502f.
285
Vgl. KrV, B 382.
286
KrV, B 383.
287
Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Werke 20, Frankfurt
am Main 1986, 353: „Es ist ein großes Wort, daß die Vernunft Ideen hervorbringt; bei Kant ist es
aber Abstraktion. Das Konkrete der Vernunft wäre erst die Vereinigung des Unbedingten mit dem
Bedingten.“
288
Vgl. KrV, B 383.
289
Vgl. KrV, B 383.
290
KrV, B 404.
D S P 385
sich selbst, in der sich bloß der ideale Gehalt des Selbstbewußtseins und keineswegs ein
Mangel präsentiere.291
Ohne systematische Ordnung wäre keine Wissenschaft möglich, denn der ihr im-
manente eigene Fortschritt durch Kritik und Wissensakkumulation ist bei gleichgültig
einander beigeordneten Erkenntnissen undenkbar; den Gegenständen der Verstandes-
erkenntnis – den Gegenständen möglicher Erfahrung – ist die systematische Ordnung
der Verstandesurteile durch ein unbedingtes Prinzip aber transzendent.292 Neben dem
Status des Begriffs des Unbedingten muß daher ebenfalls durch reine Vernunft geklärt
werden, ob die rationale Organisation der Verstandeserkenntnisse überhaupt einen sach-
lichen Grund habe, der über ein bloßes intellektuelles Bedürfnis, dessen Befriedigung
bloßer Schein sein könnte, hinausgehe.
Die Vernunftbegriffe, die etwas bezeichnen, „worunter alle Erfahrung gehört, welches
selbst aber niemals ein Gegenstand der Erfahrung ist“293 , nennt Kant transzendenta-
le Ideen. Sie sollen nun einerseits in der Vernunft ihren Ursprung haben, andererseits
aus dem Verstand hervorgehen: „Der Begriff ist entweder ein empirischer oder reiner
Begriff , und der reine Begriff, sofern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat
(nicht im reinen Bilde der Sinnlichkeit) heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die
Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee, oder der Vernunftbegriff.“294 Kants
Unentschiedenheit beruht darauf, daß zwar das Unbedingte aus keinem Verstandesbe-
griff ableitbar, aber nur durch Kombination der Kategorie Relation mit der Kategorie
Negation darstellbar ist.295
Die Objektivität von Vernunftbegriffen belegt Kant zunächst durch praktische Mo-
delle. Moralbegriffe wie auch politische Ideen müssen reine Vernunftbegriffe sein, ihre
Gültigkeit kann unmöglich in Abhängigkeit von der Erfahrung begründet sein. Sonst
wäre nur das als moralisch erkennbar, was ohnehin geschieht. Gleichwohl bleibt die
Vernunft zur Bestimmung der Inhalte ihrer Ideen auf die Kritik von Erfahrung angewie-
sen. Das Ziel, die Überlegenheit der Vernunftbegriffe über „vorgeblich widerstreitende
Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn [...] Anstalten zu rechter Zeit nach
291
Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Begriff , a.a.O., 194f. Dies Resultat setzt
bei Hegel aber die Beseitigung der Objektivität als Erfahrung voraus; durch Teleologie und Idea-
lität des Lebens wurde das Subjekt selbst sein eigenes Objekt.
292
Vgl. KrV, B 365: „[E]s wird kein ihm adäquater empirischer Gebrauch von demselben jemals
gemacht werden können“.
293
KrV, B 367.
294
KrV, B 377.
295
Ein besonderes Problem stellt dabei die Kategorie substantia dar, die Kant als Begriff des sin-
gulären Trägers von Eigenschaften, mithin relational, faßt, die aber aus ihrem Begriff schon aufs
Unbedingte hinausweist, weil sie sonst von den Eigenschaften, die sie trägt, nicht kategorial un-
terschieden werden könnte. Das setzt einen eminenten, nicht bloß formalen Unterschied voraus,
durch den Vernunft schon in die Verstandesbegriffe eingreift, indem deren Ordnung schon Aus-
druck eines nicht bloß koordinatorischen sondern systematischen Naturbegriffs ist. Zum Verhältnis
von Verstand und Vernunft vgl. Theodor W. Adorno, Kants „Kritik der reinen Vernunft“, a.a.O.,
264f.: „In der Tat ist es bei Kant so […], daß die beiden Sphären Verstand, also die wirklich
gültige, auf Erfahrung sich beziehende Erkenntnis, und Vernunft, nämlich die Kenntnis der Ideen,
unversöhnlich und unversöhnt auseinanderweisen, obwohl ihr Organon, nämlich der λόγος des
Menschen selbst, also ganz einfach das Denken, in beiden Fällen eben doch das gleiche ist.“
386 D F S
den Ideen getroffen würden“296 , nachzuweisen, führte auf den aporetischen Subjektbe-
griff der Dialektik der reinen Vernunft. In ihr wäre der Grund der rationalen Vermittlung
der Subjekte miteinander und mit ihren Objekten zu suchen, den die Theorie empiri-
scher Erkenntnis aufgrund ihres endlichen Gegenstandsbereichs verfehlt. Hiermit wird
der subjekttheoretische Kern der praktischen Philosophie in der Transzendentalen Dia-
lektik grundgelegt, und zwar nicht bloß beiläufig, denn ausdrücklich wird die Aufgabe
formuliert, „den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest
zu machen“297 . Von den Ideen – „wenn schon dadurch kein Objekt bestimmt werden
kann“ – wäre womöglich zu erwarten, daß sie „von den Naturbegriffen zu den prakti-
schen einen Übergang möglich machen, und den moralischen Ideen selbst auf solche
Art Haltung und Zusammenhang mit den spekulativen Erkenntnissen der Vernunft ver-
schaffen können“298 . Subjekttheoretisch kann deshalb die transzendentale Einheit der
Apperzeption als erkenntnistheoretische Grundlage des aporetischen aber gehaltvolle-
ren Subjektbegriffs der Dialektik betrachtet werden. So wie das Begründete nur durch
den Grund ein Begründetes ist, so ist auch der Grund selbst nur als Grund zu den-
ken in seinem Verhältnis zum Begründeten. Durch diese Betrachtungsweise tritt die
Bedingtheit des subjektiven Prinzips hervor: Der praktischen Vernunft kann ihre strik-
te Geltung nur aus der Einheit der spekulativen zuwachsen. Umgekehrt antizipiert die
spekulative Vernunft die praktische in der Grundlegung ihrer eigenen Geltungsbedin-
gungen. Eine Kritik praktischer Vernunft – die Bestimmung praktischer Subjektivität –
erfordert deshalb „daß, wenn sie vollendet sein soll, ihre Einheit mit der speculativen
in einem gemeinschaftlichen Prinzip zugleich müsse dargestellt werden können, weil es
doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung
unterschieden sein muߓ299 . Unter der Voraussetzung des Unterschieds der Anwendung,
die den Unterschied der Anwendungsbereiche voraussetzt, bliebe als gemeinsames Prin-
zip – nach Abzug aller spezifischen Bestimmung von Theorie und Praxis – die bloße
Form von Subjektivität übrig.
Die antizipative Verwahrung des Unterschiedes von Theorie und Praxis gegen den
Hervorgang der Praxis aus der Theorie, wie ihn der Idealismus später formuliert, be-
nötigt theoretisch die Konstruktion des Unterschieds von Erfahrung und Idee. Hierin
aber bringt sie eben das abstrakte Selbstbewußtsein – reine Reflexivität – hervor, von
dem Hegel zeigen will, daß es die Basis der Identifizierung von Erfahrung und Idee sei.
Kants Verhältnis von Subjekt und Objekt, wie es nun in der transzendentalen Analy-
tik bestimmt wird, muß dann theoretisch grundlegend sein für die Praxis, deren Subjekt
sich zu keiner anderen Objektivität stellen kann als zu der, die es als Subjekt der Theo-
rie erkennt. Allerdings erkennt es, was gegeben ist; konstituiert ist aber dasjenige, was
gegeben ist, durchs Subjekt. Die Differenz von Subjekt und Objekt, die Bedingung von
Kritik wäre, wird indifferent. Wenn alles, was ist, immer schon durchs Subjekt ist, bleibt
als sinnvolles Ziel nur, die an sich präformierte Adäquation für sich werden zu lassen.
296
KrV, B 373. Vgl. Gemeinspruch, VIII 309. Vgl. auch Norbert Herold, Hoffnung aus der Geschich-
te?, a.a.O., 211.
297
KrV, B 375f.
298
KrV, B 385f.
299
GMS 391.
D S P 387
Gleichwohl muß das Subjekt der Praxis Abweichungen zwischen Begriff und Wirk-
lichkeit feststellen können, die nicht auf Täuschungen beruhen oder marginal sind. Auch
hinsichtlich dieses Zwecks muß der Status der Idee geklärt werden; der Denkbarkeit je-
ner Abweichungen dient die Bemühung der Transzendentalen Dialektik daher ebenso
wie der Systematisierung von Verstandeswissen. Darin ist die transzendentale Bestim-
mung von Subjektivität immer schon auf das objektive Dasein empirischer Subjekte
bezogen.
Die Vernunft leistet in ihrer Beziehung auf die Totalität der Bedingungen zu einem
gegebenen Bedingten eine Synthesis in antecedentia, nicht in consequentia, denn die
mögliche Folge des Bedingten, gar eine Vorstellung ihrer Totalität nach Art göttlicher
Vorsehung und Anordnung im Schöpfungsplan soll der Möglichkeit des gegebenen Be-
dingten nicht vorausgesetzt werden; Kant geht es durchaus um die Beziehung der Ver-
nunft auf empirische Erkenntnis, nicht um eine ideale absolute Absicherung ewiger
Wahrheit.300
Der Chorismos von spekulativer Vernunfterkenntnis und erfahrungsgebundener
Verstandeserkenntnis erzwingt einerseits ein doppeltes Verhältnis des Subjekts zur
Objektivität, die Trennung von theoretischem und praktischem Vernunftgebrauch, und
bringt andererseits eine Antizipation idealistischer Systemvorstellung hervor, in deren
Erläuterung von Welterkenntnis nicht mehr explizit die Rede ist.301 Die Idealität ‚der
höchsten Zwecke unseres Daseins‘ gerät in ein problematisches Verhältnis zu den
empirischen Bedingungen dieses Daseins, denn der Einsicht, „daß wir vom Objekt,
welches einer Idee korrespondiert, keine Kenntnis, obzwar einen problematischen
Begriff haben können“302 , steht doch die moralische Forderung nach Annäherung an die
Idee entgegen. Die negative Bestimmung der Unmöglichkeit der Darstellung der Idee in
der Erfahrung, ja sogar in ‚möglicher Erfahrung‘303 , wendet Kant in die affirmative der
moralischen Notwendigkeit des steten Versuchs der weitest möglichen Realisierung. Ge-
rade die theoretische Unmöglichkeit, überhaupt nur den aktuellen Grad der Annäherung
zu bestimmen, wird zur praktischen Notwendigkeit des beharrlichen Versuchs.304
Allerdings setzt Kants Interpretation der Differenz von Ideal und Erkenntnis als
notwendige Annäherung ein Subjekt voraus, das durch Negation der Erfahrungswelt
konstruiert ist. Die wirklichen Subjekte hingegen gestalten die Annäherung ans Ideal
als Perpetuierung der menschlichen Katastrophe, weil sie, um der Behauptung ihrer
300
Zwar folgen die drei Möglichkeiten des Unbedingten – Gott, Freiheit, Unsterblichkeit – aus der
urteilenden Beziehung der Vernunft auf Verstandeserkenntnis; in der Anmerkung auf KrV, B 395
interpretiert Kant jedoch den Zusammenhang der Ideen als systematischen sowohl hinsichtlich
ihrer selbst, so daß Gott, Freiheit und Unsterblichkeit – die einzigen Gegenstände der Metaphysik
– als syllogistisch verbunden gedacht werden, als auch als systematischen Zusammenhang der
entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen Theologie, Moral und Religion, die als „höchste[]
Zwecke unseres Daseins, bloß vom spekulativen Vernunftvermögen und sonst von nichts anderem
abhängig“ wären, wenn die sinnenbegabten Vernunftwesen durch Einsicht in die Ideen „über die
Natur hinaus [...] kommen“ könnten.
301
Vgl. hierzu auch Axel Hutter, Das Interesse der Vernunft, a.a.O., 10f.
302
KrV, B 397.
303
Vgl. KrV, B 396.
304
Vgl. KrV, B 373f.
388 D F S
Existenz gegen die konkurrierende Selbstbehauptung anderer Subjekte willen die fatale
logische Indifferenz von affirmativer Unerkennbarkeit und absoluter Unerreichbarkeit
des Ideals listig in die Behauptung wenden, die größte mögliche Annäherung sei in der
bloßen juristischen Sublimierung des Kampfes aller gegen alle schon erreicht. Kant,
der die Unerkennbarkeit jenseitiger Erlösung einräumen muß, setzt die Annäherung als
deren Surrogat ein und unterwirft eben damit das diesseitige Handeln der Menschen
doch der Jenseitigkeit der Idee.
Der praktische Widerspruch des Bewußtseins der Ideen erscheint theoretisch in einer
Eigenschaft der Vernunftschlüsse, die diese Ideen hervorbringen. Durch sie schließt die
Vernunft von Bekanntem auf etwas notwendig Unbekanntes, dem gleichwohl objektive
Realität zugesprochen wird. „Dergleichen Schlüsse sind in Ansehung ihres Resultats also
eher vernünftelnde, als Vernunftschlüsse zu nennen“305 . Gerade weil diese Schlüsse aber
keine Spinnerei seien, entspreche Kants Unentschiedenheit zwischen dem affirmativen
Ausdruck ‚Vernunftschluß‘ und dem pejorativen ‚vernünftelnder Schluß‘etwas im Ge-
genstand: „Es sind Sophistikationen, nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft
selbst, von denen selbst der Weiseste unter allen Menschen sich nicht losmachen, und
vielleicht zwar nach vieler Bemühung den Irrtum verhüten, den Schein aber, der ihn un-
aufhörlich zwackt und äfft, niemals völlig loswerden kann.“306 Die Ideen sind demnach
nicht nur notwendig zu denken, sondern auch notwendig mit dem Schein objektiver Rea-
lität versehen, haben aber solche Realität nicht. Und schlimmer noch: Auch die Einsicht
in ihre Negativität nimmt ihnen nicht den Schein von Positivität.
Diese Widersprüchlichkeit schreibt Kant nun nicht einem Fehler des bedingten
menschlichen Denkens zu, sondern ‚der reinen Vernunft selbst‘. Nun kann aber reine
Vernunft für sich auf den Paralogismus der Substantialität der Seele oder die Antinomie
der Freiheit, zum Beispiel, gar nicht verfallen, da beides Transzendierungsversuche
endlicher Vernunftwesen sind. Tatsächlich entsteht der Schein von Positivität in der
Vorstellung der Transzendenz der doppelten Negationen, die die Ideen sind; in ihnen
wird das Un-bedingte zur Totalität.
Der Ort des Scheins wie seiner Kritik ist die Vermittlungsinstanz von Vernunft
und Objektivität, nämlich die Organisation der empirischen Subjekte im Einklang
mit der transzendentalen Einheit der Apperzeption zu einer kollektiven Einheit des
Selbstbewußtseins. Diese ist die Bedingung der Möglichkeit der Verknüpfung endlicher
Erkenntnisse zu einem Ganzen der Wissenschaft, das wohl die empirische Einsicht
der Einzelnen jeweils übersteigt, das aber allein durch die Allgemeinheit dieser
Einzelnen begründet wird. Die Irrealität solcher kollektiver Einheit zugleich mit der
Realität systematischer Naturwissenschaft läßt deren Bedingungen als notwendigen
ontologischen Schein außerhalb der Subjekte erscheinen; Kant sitzt diesem Schein in
seiner Kritik an ihm auf, indem er die Auflösung der ontologischen Abstraktion in
einem abstrakten Subjektbegriff betreibt. Dieser Begriff erhält sein Fundament in der
transzendentalen Analytik.
305
KrV, B 397.
306
KrV, B 397.
S O: D G 389
307
KrV, A 98.
308
Vgl. Herbert Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 90. Dies von Kant zum Leitfaden der Prolegomena
gemachte Kernproblem seines Metaphysik- und Wissenschaftsbegriffs wird gelegentlich, vor allem
in der analytischen Tradition, vernachlässigt (vgl. grundsätzlich Peter F. Strawson, Die Grenzen
des Sinns, a.a.O., 35). Das synthetische Urteil a priori ist keine metaphysische Zumutung, sondern
ein negativer Erkenntnisbegriff, der die zwingende Geltung wissenschaftlicher Urteile bezeichnet,
die auf Erfahrung sich beziehen, aber ihren Geltungsmodus nicht aus Erfahrung beziehen können,
wie an jedem Naturgesetz zu demonstrieren ist. Daher kann Kant sagen: „Wir dürfen aber die
Möglichkeit solcher Sätze hier nicht zuerst suchen, d. i. fragen, ob sie möglich seien. Denn es sind
deren gnug, und zwar mit unstreitiger Gewißheit wirklich gegeben […]. Die […] Aufgabe […] ist
also: Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?“ (Prolegomena, IV § 5). – Die Geltung von
Naturgesetzen läßt sich durch keine pragmatistische Konstruktion einholen, weil wohl der Gehalt
der Urteile, nicht aber ihre Geltung Resultat interaktiver Prozesse sein kann. Zwar schreiben ‚wir‘
der Natur die Gesetze vor, aber ‚wir‘ einigen uns nicht darüber. In diesem Zusammenhang kann
man es „auf schale Wahrscheinlichkeiten nicht aussetzen“ (Prolegomena, IV § 5). – Wie diese
Urteile im Einzelnen begründet werden, kann hier, wo es nur um die Position der Subjekte in
Kants Begründung zu tun ist, nicht weiter untersucht werden.
309
Dagegen, daß die Kritik der reinen Vernunft eine Theorie der Erfahrung oder Wissenschaft sei,
hat sich schon Martin Heidegger, Kant, a.a.O., 16, ausgesprochen. Axel Hutter, Das Interes-
se der Vernunft, a.a.O., hat dies neuerlich aufgegriffen. Auch Wilfried Hinsch, Erfahrung und
Selbstbewußtsein. Zur Kategoriendeduktion bei Kant, Hamburg 1986, lehnt jene Interpretation ab:
Begründete die transzendentale Deduktion nur die Möglichkeit der Geltung von Erkenntnissen, sei
sie neben der metaphysischen Deduktion und den Grundsätzen funktionslos. Allerdings erschließt
die metaphysische Deduktion die Kategorien lediglich aus den Urteilsformen und die transzenden-
tale begründet, warum dieser Schluß zulässig ist. – Frank Kuhne, Selbstbewußtsein und Erfahrung
bei Kant und bei Fichte, a.a.O., 161ff., hat darauf hingewiesen, daß die Transzendentalphiloso-
phie Kants, im Unterschied zu der Fichtes, Schellings oder Hegels, insofern irreflexiv sei, als sie
ihre Voraussetzungen nicht selbst setze, sondern auf historisch gegebene Erkenntnisse reflektie-
re. Vgl. auch Dieter Henrich, Über die Einheit der Subjektivität, in: Philosophische Rundschau 3
(1955), 55ff. Vgl. weiterhin Hans Michael Baumgartner, Zur methodischen Struktur der Transzen-
dentalphilosophie Immanuel Kants, in: Eva Schaper/Wilhelm Vossenkuhl (Hgg.), Bedingungen der
Möglichkeit. ‚Transcendental Arguments‘ und transzendentales Denken, Stuttgart 1984. – Herbert
Schnädelbach, Reflexion und Diskurs. Fragen einer Logik der Philosophie, Frankfurt am Main
1977, bezeichnet Kants transzendentale Reflexion als „unterbestimmt“ (94).
390 D F S
Subjekt und Objekt durch das Subjekt. Diesem werden somit die ersten Gründe sei-
ner eigenen Erkenntnisse, sein – des Subjekts – Verhältnis zum Objekt, eigens zum
Objekt. Damit unterscheidet das Subjekt nicht allein sich selbst vom Objekt, sondern,
indem dieses Objekt erkenntnistheoretisch durch des Subjekts Verhältnis zum Objekt
bestimmt ist, hat der Unterschied von Subjekt und Objekt ein Moment innerer Selbstun-
terscheidung des Subjekts. Insofern ist die Kritik der reinen Vernunft darauf ausgelegt,
daß „die Selbsterkenntniß der Vernunft […] wahre Wissenschaft wird“310 . Das jeder auf
Geschlossenheit angelegten Erkenntnistheorie als solcher zukommende idealistische Po-
tential scheint Kant in der methodischen Vorbemerkung zur Vorläufigen Erinnerung der
Deduktion A zu ahnen und läßt an der Stelle der angekündigten Deduktion zunächst eine
weitgehend rhapsodische Darstellung der drei Formen der Synthesis folgen. Erkenntnis,
so setzt Kant grundsätzlich voraus, sei Erfahrungserkenntnis, die der Seite ihres Gehalts
nach allein bestimmt werden könne durch das, was gegeben wird; deduzierbar wäre sie
dann nur ihrer Form nach, wobei diese jedoch die Form ihres Gehalts, das Gegeben-
sein überhaupt als subjektiven Ausdruck dessen, was gegeben sei, einschlösse.311 Die
erkenntnistheoretische Möglichkeit von Selbstbewußtsein hängt entschieden davon ab,
wie es dem Subjekt gelingt, seine objektiven Voraussetzungen zu bestimmen.312
In der Fassung B, der systematisierten, fast völlig auf rhapsodische Elemente ver-
zichtenden Überarbeitung der Deduktion der Kategorien, ergibt sich Selbstbewußtsein
zunächst als eine Funktion der Objektivität von Erkenntnissen. Erkenntnis, in der das
Subjekt sich auf etwas bezieht, was es nicht selbst ist, setzt notwendig Synthesis vor-
aus, nicht erst mit der Verknüpfung von Begriffen zu nicht-analytischen Urteilen, in
denen also nicht bloß formal, sondern auch inhaltlich synthesiert wird, sondern bereits
mit der Verbindung des dem Anschauungsvermögen gegebenen Mannigfaltigen zu einer
Anschauung. Als solches Mannigfaltige ist der Anschauung ihr Material gegeben, oh-
ne daß sie bloße Form der Anschauung oder reine Anschauung bliebe. Dieses Material
kann durch die Sinne nur sukzessive als außereinander im Raum und nacheinander in
der Zeit aufgenommen werden. Seine Verbindung zu einer Vorstellung liegt daher weder
in dem auf diese Weise Gegebenen selbst, noch kann sie durch die Sinne ins Bewußtsein
gelangen, sie setzt eine genuine Verstandesleistung – die Synthesis – voraus.
Der Begriff ‚Synthesis‘ bezeichnet allgemein die Verbindung einer Vielheit zu einer
Einheit. Diese Einheit, die ihrem Begriff nach in dem der Synthesis selbst liegt, weil
der durch diese beschriebene Prozeß der Verbindung sonst keinen Resultatzustand hätte
und damit nicht als Prozeß denkbar wäre, hat sowenig wie die Synthesis selbst ihren
Grund im Gegebenen oder in den Sinnen. Wenn für jede Synthesis Einheit begrifflich
310
Prolegomena, IV § 35.
311
Auf diesem Zusammenhang beruht Hegels Diagnose des Bewußtseins, das „von dem einen zu
dem anderen sich herüber und hinüber wirft und in die schlechte, nämlich in die sinnliche Unend-
lichkeit“ gerät (Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 136). Dieses Resultat der Verendlichung von
Ideen in einem schlecht unendlichen Progreß, wie es in den Antinomien erschien, ist begründet in
Kants Situation zwischen Empirismus und Idealismus beziehungsweise Rationalismus.
312
Die darin gelegene praktische Implikation hebt auch Dieter Henrich hervor, wenn er Selbstbewußt-
sein und auch Kategorien nicht bloß als Funktionen wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auch
als Bedingungen einer Welt, in der selbstbewußtes Leben möglich ist, faßt. Der Gehalt des daran
anschließenden Praxisbegriffs bleibt aber eher vage. Vgl. Kant und Hegel, a.a.O., 186ff.
S O: D G 391
vorausgesetzt ist, so kann diese nicht einmal überhaupt selbst Resultat von Synthesis
sein. Auch die Einheit als Kategorie der Quantität kann dies nicht leisten, weil schon
die Urteile, deren Funktionen die Kategorien korrespondieren,313 Einheit der Synthesis
von Begriffen voraussetzen. Soll die gesuchte Einheit aber noch die Bedingung aller
Urteile sein, so ist sie notwendig Bedingung der Möglichkeit des Verstandesgebrauchs
überhaupt, der sich in Urteilen erst ausdrückt.
Mit dem Argument, daß die Einheit der Synthesis nicht im Gegenstand und nicht
im Vorgang der Synthesis begründet sein kann, wird die Bedingung der Möglichkeit
der Verbindung, deren Darstellung vom Mannigfaltigen der Anschauung ausging, im
„Grund [...] der Möglichkeit des Verstandes, sogar in seinem logischen Gebrauche“314
lokalisiert. Der Ausdruck ‚Einheit der Apperzeption‘ bezeichnet zunächst nur die Einheit
im Bewußtsein einer Wahrnehmung, das heißt die Funktion des Bewußtseins, durch die
das Mannigfaltige der Anschauung zu einer Wahrnehmung synthesiert werden kann.315
Indem diese Einheit aller Sinnlichkeit vorausgeht und jedes Bewußtsein bestimmt, ist
die Apperzeption selbst – das Bewußtsein der Wahrnehmung – als reine Apperzepti-
on bestimmt. Damit will Kant dem Umstand Rechnung tragen, daß die Vorstellung ‚Ich
denke‘, die alle anderen Vorstellungen begleiten können muß, damit diese überhaupt als
Inhalte eines und desselben Bewußtseins gedacht werden können, „ein Aktus der Spon-
taneität, d. i. [...] nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden“316 kann. Die
Einheit im empirischen Bewußtsein einer Wahrnehmung ist immer unter je singulären
zufälligen Umständen bestimmt; die Einheit, die durch die reine Apperzeption bestimmt
ist, ist dagegen die Grundlage jeder und aller Bewußtseinseinheit überhaupt. Sie ist als
reine Bewußtseinseinheit vom Inhalt des Bewußtseins, an dem sich doch allein Apper-
zeption betätigen könnte, abgelöst. Sie ist im Grunde die Einheit des Bewußtseins mit
sich selbst als die formale Bedingung aller Einheit von Bewußtseinsinhalten und nur
insofern noch indirekt auf solche bezogen.317
Die Differenz der konstitutiven Bedingungen von Naturerfahrung als Bedingungen
der Einheit solcher Erfahrung einerseits zur Gegenständlichkeit von Natur als voraus-
zusetzendem Inhalt andererseits tritt deutlich in den Metaphysischen Anfangsgründen
313
Vgl. MAN, IV 474 Anm.: Kategorien seien „von den logischen Funktionen in Urteilen überhaupt
entlehnte[] Bestimmungen unseres Bewußtseins“. Vgl. zu dem Zusammenhang Heiner F. Klem-
me, Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., 271ff. – Zur Entwicklung der Kategorien aus den
Urteilsformen vgl. Georg Mohr, Kants ‚Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe‘, in: Reinhard
Hiltscher/André Georgi (Hgg.), Perspektiven der Transzendentalphilosophie im Anschluß an die
Philosophie Kants, a.a.O. Mohr schlägt vor, Brüche im Übergang von den Kategorien zur Erfah-
rung durch eine Umstellung der Argumentationsschritte zu beheben (vgl. 137). Dagegen soll in
der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet werden, daß diese Brüche Gründe in der Sache haben.
314
KrV, § 15.
315
Vgl. Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., 2f. Klemme weist auf die Herkunft
des Terminus bei Leibniz hin, wo er für das Bewußtsein der Monade von ihren Perzeptionen steht,
und zeigt sodann, wie aus der empiristischen Kritik das Problem entsteht, dessen Lösung Kant
beansprucht.
316
KrV, B 132.
317
Deshalb dürfte Josef Simons Individualisierung des ‚Ich denke‘ als Zeichen der ‚Zuordnung des
Gedankens zu mir, hier und jetzt‘ nicht zutreffen (vgl. Kant, a.a.O., 303).
392 D F S
318
Vgl. MAN, IV 595 Anm.
319
Ein Grundbegriff ist der, der „von keinem anderen weiter abgeleitet werden kann“ (MAN, IV
524; vgl. 501). In der Grundlegung ist „nicht der Ort, Hypothesen zu besonderen Erscheinungen,
sondern nur das Princip, wornach sie alle zu beurtheilen sind, ausfindig zu machen“ (532). Soweit
diese Grundbegriffe Grundkräfte bezeichnen, „können wir keinen anderen Begriff geben […] als
der von der Wirkung hergenommen ist und gerade nur diese Beziehung ausdrückt“ (Gebrauch
teleologischer Prinzipien, VIII 180). Kräfte sind Reflexionsbegriffe auf beobachtete Wirkungen
und bezeichnen so die Gesetzmäßigkeit bestimmter Erfahrung.
320
Vgl. MAN, IV 481.
321
Vgl. MAN, IV 467; auch KrV, B 163.
322
Prolegomena, IV § 40.
S O: D G 393
noch als [relativ; M.St.] beweglich […] zu denken“323 . Das ‚Leere‘ und ‚Unbegreifliche‘
als Schlußpunkt der Darstellung324 resultiert aus der Unableitbarkeit des Gegenständli-
chen, das doch prinzipiell darstellbar gemacht werden soll. So sind die Grundbegriffe
bestimmter Erfahrung im Raum wesentlich Abstraktionsprodukte dieser bestimmten Er-
fahrung und keine transzendentalen Konstruktionen a priori.
Wenn Kant feststellt, daß der Vernunft „nichts übrig bleibt, als von den Gegenständen
auf sich selbst zurückzukehren“325 , so liegt die Betonung zweifellos auf dem Ausdruck
‚auf sich selbst‘; sie wäre aber auf jenen ‚von den Gegenständen‘ zu legen. Die tran-
szendentale Darstellung der subjektiven Erkenntnisprinzipien in der Kritik der reinen
Vernunft kann dieses Gegenständliche aber nicht berücksichtigen. Jedoch kann sie sich
ebenso wenig auf die bloß negative Darstellung der subjektiven Prinzipien beschränken,
weil diese ohne gegenständliche Korrelate leer, eben gegenstandslos, wären. Deshalb
muß transzendentale Erkenntnistheorie die allgemeine Gegenständlichkeit erschließen,
und dies kann sie nur aus dem Subjekt.326 Die Grundsätze, die Dialektik und später die
Kritik der Urteilskraft sind so viele Versuche, die Konsequenz der Setzung der Objekte
aus dem Subjekt abzuweisen, wie sie Versuche sind, eine Theorie der gegenständlichen
Erfahrung doch noch abzuschließen, denn sonst bliebe Kants Beharren auf dem ‚Gege-
benen‘ eine trockene Versicherung, die im transzendentalen System keinen Ort hätte. –
In der Deduktion B gelangt Kant nun über die im lateinischen percipio gelegene Äqui-
vokation in ‚wahrnehmen‘ und ‚begreifen‘ von der Einheit im Bewußtsein der Wahrneh-
mung zur Bewußtseinseinheit überhaupt. Die formale Selbstidentität, die in der reinen
Apperzeption liegt, bezeichnet Kant dadurch, daß die Vorstellung ‚Ich denke‘ sowohl
selbst reine Apperzeption genannt als auch durch diese hervorgebracht wird: „Also hat
alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke
[...]. Diese Vorstellung aber ist ein Aktus der Spontaneität [...]. Ich nenne sie die reine
Apperzeption [...] oder auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbst-
bewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle anderen
muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter
begleitet werden kann.“327 Demnach bringt das ‚Ich denke‘ sich selbst als das in allen
bestimmten Bewußtseinszuständen identische Prinzip des Bewußtseins hervor. Es kann
daher nur Bewußtsein seiner selbst sein, als Bedingung dafür, daß ein Bewußtsein von
etwas nicht bewußtlos sei. So erschließt Kant das Selbstbewußtsein als formale Voraus-
setzung von durch anderes bestimmtem Bewußtsein. Dieses steht für „die Klarheit der
Vorstellungen meiner Seele“, die Apperzeption aber für „das Vermögen des Bewußt-
seins“328 . Zumindest seiner Genese nach ist es deshalb Funktion der Objektivität von
Erkenntnissen.329
323
MAN, IV 563.
324
Vgl. MAN, IV 564.
325
MAN, IV 565.
326
Allerdings geht es nicht um eine genetische Lehre der ‚Entstehung der Erfahrung‘, sondern um
die theoretische Bestimmung ihrer Bedingungen. Vgl. Prolegomena, IV § 21 [a].
327
KrV, B 132.
328
MAN, IV 542.
329
Vgl. Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 79.
394 D F S
330
KrV, A XIf.
331
Vgl. KrV, B 157f.
332
Vgl. Herbert Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 98. Die doppelte Bedeutung des Genitivs impliziert
zudem, „dass Vernunft und Kritik zusammengehören, dass also die Vernunft in ihrem Wesen
kritisch ist und dass unkritische Vernunft auf faktische Unvernunft hinausläuft“ (14).
333
Vgl. z. B. KrV, B 116f.
334
Nach einer längeren Auseinandersetzung darum, ob die Deduktion der Kategorien deren objek-
tive Geltung aus der Einheit des Subjekts ableitet (vgl. z. B. Dieter Henrich, Die Beweisstruktur
von Kants transzendentaler Deduktion, in: Gerold Prauss (Hg.), Kant, a.a.O.) oder nicht allein
aus dieser (vgl. z. B. Hans Wagner, Der Argumentationsgang in Kants Deduktion der Katego-
rien, in: Kant-Studien 71), brachte Henrich in einer dokumentierten Diskussion (in: Burkhard
Tuschling, Probleme der Kritik der reinen Vernunft, a.a.O.) ein neues Verständnis von ‚Dedukti-
on‘ ein. Mit Bezug auf die juristische Deduktionenliteratur der frühen Neuzeit wurde die Methode
nicht mehr als logische Ableitung des Faktischen verstanden, sondern als rekursive Erörterung des
‚rechtlichen‘ Geltungsanspruchs der Vernunfteinheit. Vgl. hierzu aber auch Rüdiger Bubner, Ge-
schichtsprozesse und Handlungsnormen, a.a.O., 275f. und dens., Selbstbezüglichkeit als Struktur
transzendentaler Argumente, in: Wolfgang Kuhlmann/Dietrich Böhler (Hgg.), Kommunikation und
Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel, Frankfurt
am Main 1982, 307: „Der juristische Zusammenhang ändert auf wesentliche Weise das Verfahren,
was der überwiegende Teil der Kant-Literatur nicht beachtet, der Deduktion wie ein Äquivalent für
Demonstration behandelt.“ – Reinhard Brandt formuliert sogar, die KrV handele „durchgängig als
S O: D G 395
Indem die Vernunft sich ohne Rücksicht auf besondere Inhalte ihrer eigenen Form als
Bedingung aller Inhalte versichert, soll einerseits der Fehler des Empirismus vermieden
werden, alle Erkenntnisgrundsätze aus singulären Erfahrungen zu schließen; andererseits
soll aber auch der metaphysische Fehler des Voraussetzens transzendenter Prinzipien
umgangen werden, durch das die Vernunft die Grenzen ihrer eigenen Erkenntnisfähigkeit
überschreitet. Nachgewiesen werden muß dann allerdings, daß die in der Selbsterkennt-
nis der Vernunft zu ermittelnden Gesetze für alle Erkenntnisse gelten. Gölten sie nur
für die Selbsterkenntnis selbst, so wären sie gegenstandslos, denn das Resultat reiner
Erkenntnis der Vernunft ihrer selbst – die bloße Form von Selbsterkenntnis – ist leere
Identität.335 So wäre die Kritik der reinen Vernunft von der reinen Apperzeption nicht
unterschieden. Inhalt erhält sie nur, wenn die Vernunft a priori sich selbst als Bedingung
a priori von Erfahrungserkenntnis kritisiert: Durch die in die Selbstreflexion reflektierte
Differenz zu ihrem Gegenstand werden Differenzen, Inhalte in ihr selbst denkbar. Dann
erst ist sie von der reinen Apperzeption unterschieden, die als formale Grundlage der
Identität allen Differenzen vorausgesetzt bleibt. Die Bestimmung des reinen Selbstbe-
wußtseins folgt dann aber funktional der Frage nach der Möglichkeit der Objektivität
von Erfahrungserkenntnissen.
Deutlicher wird Kant in der Vorrede zur Auflage B, nach der die Aufgabe der Kritik
der reinen Vernunft darin besteht, Vernunfterkenntnis so zu fassen, daß sie „den sicheren
Gang einer Wissenschaft“336 zu gehen vermöchte, das heißt nach beständigen Regeln zu
notwendigen, allgemein gültigen Resultaten gelange. Dies sei unter den philosophischen
Wissenschaften allein der Logik gelungen, in der es der Verstand nur mit sich selbst,
seinen eigenen Regeln zu tun habe, während es in der Metaphysik, die Kant als Er-
kenntnistheorie versteht, um Erkenntnisse zu tun ist, denen objektive Realität zukommt,
insofern in ihr das Erkenntnisvermögen sein Verhältnis zu seinen Objekten bestimmt.
Es geht nun darum, daß Wissenschaften, bevor sie sich empirisch auf Gegenstände be-
ziehen, diese Beziehung in reiner Form entwickeln, indem „Vernunft gänzlich a priori
ihr Objekt bestimmt“337 . Als Modelle solcher reiner aber objektiver Vernunfterkenntnis
führt Kant die Mathematik und die Naturforschung an.338
Metaphysik, die nicht durch Anschauungen bestimmt ist, sondern in deren reiner Be-
grifflichkeit Vernunft sich selbst bestimmt, wäre nun die reine Grundlage aller Vernunft-
erkenntnis, wenn es gelänge, sie zur Wissenschaft zu entwickeln, um den sophistischen
Auseinandersetzungen der verschiedenen dogmatischen Schulen ein Ende zu machen.
juridischer Traktat von den Rechtsansprüchen des Verstandes und der Vernunft“ (Von der ästhe-
tischen und logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur, in: Otfried Höffe (Hg.), Kritik
der Urteilskraft, Berlin 2008, 43).
335
Vgl. Dieter Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne?, a.a.O., 30: „Weder die logischen Grund-
formen noch die Begründungsweisen von Wissenschaft und Metaphysik noch die Grundnormen
des Handelns lassen sich als einfache Implikationen aus ihm [dem Selbstbewußtsein; M.St.] ablei-
ten.“ Vgl. auch Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 85.
336
KrV, B XIV.
337
KrV, B X.
338
Für die Naturforschung gilt dabei die Regel, „daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel
eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist“ (MAN,
IV 470).
396 D F S
Dies soll gelingen durch die als ‚kopernikanische Wende‘ bezeichnete Analogie der
Erkenntnistheorie zu Mathematik und Naturwissenschaft. Nicht die Bedingungen der
Erkenntnis sollen den Gegenständen folgen, denn eine solche Erkenntnistheorie a poste-
riori wäre von besonderen Erfahrungen und damit vom Zufall abhängig; sie könnte keine
verbindlichen Regeln für die Vernunfterkenntnis angeben. Im Gegenteil sollen noch die
Objekte der Anschauung den Bedingungen des Subjekts unterliegen, „weil Erfahrung
selbst eine Erkenntnisart ist, die Verstand erfordert, dessen Regel ich in mir, noch ehe mir
Gegenstände gegeben werden, mithin a priori voraussetzen muß, welche in Begriffen a
priori ausgedrückt wird, nach denen sich also alle Gegenstände der Erfahrung notwendig
richten und mit ihnen übereinstimmen müssen“339 . Die Identifikation der Gegenstän-
de der Erfahrung mit der Erfahrung selbst beruht auf der für alle Erfahrungserkenntnis
grundlegenden und sie zugleich beschränkenden Einsicht, daß dem Subjekt außerhalb
der Bedingungen seiner Erfahrung deren Gegenstände nicht gegeben sind. In jeder Hin-
sicht, in der sie dem Subjekt gegeben sind, müssen sie dessen Erkenntnisbedingungen
unterliegen. Die Beziehung von Vorstellungen auf Gegenstände durch Begriffe, wodurch
Erkenntnis erst objektiv wird, richtet sich nach den Begriffen, die a priori bekannt sein
müssen; sonst wäre alle Objektivität a posteriori, durch singuläre Umstände bestimmt,
und damit wissenschaftlich gegenstandslos.340
Die subjektive Bedingung der Begriffe a priori ist unabdingbare Voraussetzung für
die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori. In diesen soll es gelingen können, etwas
zu prädizieren, das nicht schon in einer logisch notwendigen begrifflichen Verknüpfung
mit dem Subjekt des Urteils steht, mithin etwas zu prädizieren, das durch Erfahrung
hinzukommt, und dies so zu prädizieren, daß die Prädikation gleichwohl notwendig und
allgemein gültig ist.341 Soll dies nun möglich sein, dann muß der Bereich der Erfahrung,
339
KrV, B XVIIf.
340
Dieses Vorgehen hat jüngst Burkhard Tuschling als Verbindung von ‚transzendentaler Provokation‘
und ‚transzendentaler Bescheidenheit‘ bezeichnet (Allgemeine Naturgesetze haben ihren Grund in
unserem Verstand – Fakt, Illusion oder Reflexion?, unveröff. Ms. zu einem Vortrag auf der Tagung
Der Nutzen von Illusionen in Frankfurt am Main 20. Juni 2008, erscheint in: Bernd Dörflinger/
Günter Kruck (Hgg.), Über den Nutzen von Illusionen. Die regulativen Ideen in Kants theoretischer
Philosophie, Hildesheim i.V.). Die Provokation habe zur systematischen Basis die „Deduktion des
Objekts aus dem Ich“ (2), die Bescheidenheit in der Einsicht, daß bestimmte Objektivität nicht
aus dem Ich entspringen kann: „[E]mpirische Gesetze können nicht ihren Ursprung, wohl aber
ihre Normativität und Allgemeingültigkeit daraus ableiten.“ (ebda.). Tuschling führt aus, daß Kant
sich in der Kritik der Urteilskraft und schließlich im Opus Postumum um neue Lösungen bemüht,
die zwar nicht gelingen, ihn aber zunehmend in die Nähe der Naturphilosophie des Deutschen
Idealismus führen. Hier soll die These vertreten werden, daß diese Konsequenz schon in der Pro-
blemstellung innerhalb der Kritik der reinen Vernunft angelegt ist. Ähnlich hatte Tuschling bereits
in Beziehung auf die Kategoriendeduktion argumentiert: Vgl. Widersprüche im transzendentalen
Idealismus, in: Ders. (Hg.), Probleme der „Kritik der reinen Vernunft, a.a.O. Hier nennt Tuschling
als Grund aller Widersprüche bei Kant die Kombination von reiner Vernunft und Erfahrung (251).
Vgl. auch Übergang: Von der Revision zur Revolutionierung und Selbst-Aufhebung des Systems
des transzendentalen Idealismus in Kants Opus Postumum, in: Hans Friedrich Fulda/Jürgen Stol-
zenberg (Hgg.), Architektonik und System in der Philosophie Kants, Hamburg 2001.
341
Die Ablehnung des synthetischen Urteils a priori in der neueren Philosophie mag dadurch be-
wegt sein, daß Kant nicht sagen kann, wie solche Urteile gebildet werden. Kants Argument für
S O: D G 397
auch wenn er dem Erkenntnisvermögen äußerlich gegeben ist, unter denselben Gesetzen
stehen wie die subjektiven Erkenntnisbedingungen, das heißt: unter diesen selbst. Kon-
sequent führt das auf den Gedanken, „demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur
hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen [...], was sie von dieser lernen muß“342 .
Das heißt: Vernunfterkenntnis – hier die Physik – konstruiert ihren Gegenstand, indem
sie Natur experimentell präpariert. So sorgt sie dafür, daß auch dasjenige, was nicht prä-
parierbar ist, weil es erst gefunden werden soll, immer nur gemäß der Präparation durch
die Vernunft gefunden werden kann. Nun können in der Metaphysik die intelligiblen
Gegenstände zwar nicht präpariert werden, aber doch ihre Begriffe, „indem man sie
nämlich so einrichtet, daß dieselben Gegenstände einerseits als Gegenstände der Sin-
ne und des Verstandes für die Erfahrung, andererseits aber doch als Gegenstände, die
man bloß denkt, allenfalls für die isolierte und über Erfahrungsgrenze hinausstrebende
Vernunft, mithin von zwei verschiedenen Seiten betrachtet werden können“343 . Durch
die Differenzierung des Objekts in empirisches und intelligibles soll den Antinomien
vorgebeugt werden, in die sich die reine Vernunft verstrickt, wenn sie Begriffe wie ‚Un-
bedingtes‘ oder ‚Freiheit‘ entweder bloß im Bereich der Erfahrung oder bloß im Bereich
des Intelligiblen zu bestimmen versucht.344 Deshalb wird die Analytik auf den Erfah-
rungsgebrauch des Erkenntnisvermögens beschränkt, seine Erweiterung darüber hinaus
erfolgt in der Dialektik.
Die Beschränkung auf Erfahrung gelingt in der Analytik, deren Gegenstand Erkennt-
nisbedingungen a priori sind, durch den Begriff möglicher Erfahrung, der schon über die
Zufälle wirklicher Erfahrung insofern erhaben ist, als er auf einen Begriff vom Gegen-
stand überhaupt geht. Der Gegenstand möglicher Erfahrung ist ein vor aller Erfahrung
präparierter Gegenstand. Das Objekt der spekulativen Vernunft ist Objektivität, Objekt
seinem allgemeinen Begriff nach. Nur dadurch kann Erkenntnistheorie als einzige ob-
jektive Wissenschaft den Anspruch auf systematische Vollständigkeit erheben.345 Dieser
das synthetische Urteil a priori ist aber rein negativ: Notwendig und allgemein geltende wissen-
schaftliche Erkenntnis ist weder durch analytische noch durch synthetische Urteile zu gewinnen.
Das synthetische Urteil a priori steht daher zunächst für die Möglichkeit einer Erkenntnis, die
sachhaltig ist, ohne der empirisch bedingten Gültigkeitsbeschränkung zu unterliegen, der solche
Erkenntnisse normalerweise unterliegen. Jedes Naturgesetz ist ein Modell dafür. Daß Kant nicht
ausführt, wie diese Urteile formuliert werden, ist dem spontanen Moment wissenschaftlicher Er-
kenntnis geschuldet: Sie gelangt zu methodisch reproduziblen Erkenntnissen, aber nicht durch
methodisch reproduzible Verfahren. Durch pragmatische Plausibilitätskonstruktionen läßt sich die
zwingende Form der Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse aber auch nicht bestimmen. Die
wissenschaftstheoretischen Gültigkeitstheorien dagegen müssen Sachhaltigkeit preisgeben.
342
KrV, B XIV. Dem korrespondiert die Sagazität, das Vermögen, der hypothetischen Antizipation in
der experimentellen Naturforschung. Vgl. Anthropologie, VII 223.
343
KrV, B XIX, Anm.
344
Vgl. den Abschnitt Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände in Phaenomena und
Noumena, KrV, B 294ff.
345
Den Systemgedanken betont Kant vor allem in den Prolegomena; seinen Mangel macht er für
Humes Scheitern verantwortlich, der „sich seine Aufgabe nicht im Ganzen vorstellte, sondern
nur auf einen Theil derselben fiel, der, ohne das Ganze in Betracht zu ziehen, keine Auskunft
geben kann“ (Prolegomena, IV 260). Das System beruht, im Unterschied zum Aggregat, auf der
Entwicklung der Grundbegriffe aus einem Prinzip, der Urteilshandlung des Verstandes. Allerdings
398 D F S
Anspruch drückt den eigentlich affirmativen Gehalt von Kants Erkenntniskritik aus: Phi-
losophie soll als methodisch gesicherte Wissenschaft aus dem kritischen Verfahren der
Vernunft gegen sich selbst hervorgehen, obwohl dies – konsequent betrachtet – kein
positives Ergebnis mehr zuläßt.346 Das negative Prinzip der Erkenntnistheorie, die Be-
schränkung auf Gegenstände möglicher Erfahrung, versteht Kant aber zugleich positiv:
Indem der spekulativen Vernunft versagt wird, außerhalb der Erfahrung Erkenntnisse zu
reklamieren, wird praktische Vernunft erst möglich, denn der theoretische Existenzbe-
weis transzendenter Weltprinzipien höbe die Möglichkeit der Vorstellung von Freiheit
auf. Die Beschränkung auf Gesetze im Bereich der Erfahrung eröffnet dagegen der Ver-
nunft als praktischer die Möglichkeit der Selbstbestimmung im intelligiblen Subjekt.
Damit fällt die Unterscheidung des Objekts in ein empirisches und ein intelligibles ins
Subjekt zurück: Weil Kritik der reinen Vernunft auf Selbsterkenntnis geht, wird die
Vernunft sich selbst zum Objekt.347 Selbstbewußtsein kann diesem Begriff nach nicht
müssen dafür die reinen Verstandeshandlungen durch ‚Absonderung‘ der Anschauung präpariert
werden (vgl. KrV § 39: Von dem System der Kategorien). Durch diesen Abstraktionsvorgang,
der dem Erkenntnisbegriff zugleich Anschaulichkeit bewahren soll, bleibt Kant vom idealistischen
System getrennt. – Gleichwohl nähert er sich diesem durch die Knüpfung der Unterscheidung von
System und Aggregat an die von mechanischer und technischer Naturvorstellung: Wird Natur als
der Systemabsicht der Urteilskraft angemessen aufgefaßt, so muß ihr eine „Technik der Natur“
beigelegt werden, die sie nur „als Kunst“ haben könne (Erste Einleitung KdU, 11).
346
Die Negativität erscheint in der Wendung, die „Principien der Möglichkeit der Erfahrung über-
haupt“ seien „das wahre und hinlängliche Fundament der Grenzbestimmung der reinen Vernunft,
aber nicht die Auflösung der Aufgabe: wie nun Erfahrung vermittels jener Kategorien […] möglich
sei“ (MAN, IV 475 Anm.).
347
Diese Wendung ist in der Diskussion um Subjektivität als skandalös empfunden worden. Alle
Versuche, ‚Selbstbezüge‘ ohne reflexive Selbstunterscheidung zu konstruieren, halten der Frage, in
welches Bewußtsein sie selbst fallen, nicht Stand. Dieter Henrich wollte an der Reflexionstheorie
festhalten, aber die Aporetik der Selbstobjektivierung des Subjekts überwinden. Die Reflexions-
theorie könne nur explizite Selbstbeziehungen erklären, nicht aber das Selbstbewußtsein als dessen
Grundlage (vgl. Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, in: Rüdiger Bubner/Konrad
Cramer/Rainer Wiehl, Hermeneutik und Dialektik, Tübingen 1970, 265f.; dens., Fichtes ‚Ich‘, in:
Selbstverhältnisse, a.a.O., bes. 60-65; dens., Fichtes ursprüngliche Einsicht, a.a.O.). Das zentra-
le Problem besteht darin, daß ein Selbstbewußtsein, das von sich nur durch Reflexion wissen
kann, nicht bewußt in diese eintreten könnte. Die Lösung sollte darin bestehen, Bewußtsein so
zu beschreiben, daß seine ‚Vertrautheit mit sich‘ erhalten bleibe, ohne dabei eine bewußte oder
identifizierende Selbstbeziehung zu unterstellen (275; in diesem Sinn vgl. auch Ulrich Pothast,
Über einige Fragen der Selbstbeziehung, a.a.O., 76). So sollte der Zirkel des Selbstbewußtseins,
den Fichte als erster erkannt habe (280), überwunden werden. Allerdings hat Thomas von Aquin,
Von der Wahrheit, a.a.O., qu. 10 a. 8, diesen Zirkel bereits bemerkt und durch das Postulat ei-
ner ‚habituellen Selbsterkenntnis‘ zu lösen versucht, zu dem Henrichs Vorschlag nichts Neues
hinzufügt. Der Versuch, philosophisch eine vorgängige Subjektivität zu markieren, ist im Hoch-
mittelalter geradezu subversiv aufklärerisch, weil er die Herausstellung individuierter Subjektivität
aus dem heilsgeschichtlichen Kontext vorbereitet. Im 20. Jahrhundert wirkt ein analoger Ansatz
umgekehrt: Nachdem Hegels Kritik an Fichtes Unmittelbarkeit – die Henrich als dogmatisch und
unproduktiv zurückweist (vgl. 281) – die grundsätzlich historische Vermittlung im Bewußtsein
hervorgehoben und damit den Weg für kultur- und gesellschaftstheoretische Bewußtseinsmodelle,
etwa bei Feuerbach und dann bei Marx, bereitet hat, ist der Rekurs auf unmittelbare Vertraut-
heit mit sich abstrakt, obwohl er ganz konkret gemeint ist: „Wir kennen die Welt noch nicht, in
S O: D G 399
der Dunkel und Vernunft, Furcht und Mut, Tod und Aufbruch in ihrer Einheit erfahren und be-
währt werden können und in der sie so zur eigentlichen Realität unseres Lebens würden.“ (Fichtes
‚Ich‘, a.a.O., 82). Mit Kant wäre zu fragen, ob hier nicht die Vernunft „auf dem Polster dunkler
Qualitäten zur Ruhe gebracht werde“ (MAN, IV 532). – Henrich reagierte indes auf die Auflö-
sung des Subjektprinzips durch die positivistische und sprachanalytische Philosophie seit Mach
und Wittgenstein, die Ernst Tugendhat mit der Ersetzung der Reflexionstheorie durch ein ‚Propo-
sitionsmodell‘ pointiert formuliert (vgl. Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O.). Danach
bezieht das Subjekt nicht sich auf sich selbst als Objekt, sondern das Bewußtsein des Subjekts
beziehe sich auf eine ‚Ich-Proposition‘, einen Satz, dessen grammatisches Subjekt die erste Person
Singular ist. So aber ist Selbstbewußtsein nur ein Sonderfall von Bewußtsein und bezeichnet keine
Subjektivität mehr. Eine konzentrierte und kommentierte Darstellung der Diskussion gibt Gunnar
Hindrichs, Negatives Selbstbewußtsein, a.a.O. – Rolf-Peter Horstmann, Gibt es ein philosophisches
Problem des Selbstbewußtseins?, in: Konrad Cramer/Hans Friedrich Fulda/Rolf-Peter Horstmann/
Ulrich Pothast (Hgg.), Theorie der Subjektivität, a.a.O., bezeichnet übrigens die derart intensiv
diskutierte Vorstellung, das Subjekt werde sich selbst zum Objekt, schlicht als „naiv“ (227), und
auch Klaus Düsing, Subjektivität und Freiheit, a.a.O., 27, 113, 121ff., bestreitet den Zirkelvorwurf
ganz grundsätzlich. – Auf die Problematik der Lösungen des Reflexionsproblems durch Postulie-
rung einer dunklen Selbstvertrautheit hat Karen Gloy, Bewußtseinstheorien. Zur Problematik und
Problemgeschichte des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, Freiburg 1998, 341 Anm. hingewie-
sen. – Manfred Frank, Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorien, a.a.O., 425f.,
betont die fatalen Konsequenzen, die Kants eigene Tendenz zu einem vorprädikativen ‚Selbst‘
für die Trennung der beiden Erkenntnisstämme habe, weshalb Kant seinerseits auf „das unhalt-
bare Reflexionsmodell“ (427) zurückgreife; damit sind die beiden Pole benannt, zwischen denen
Selbstbewußtsein allenfalls aporetisch zu bestimmen ist. Eine positive Auflösung dagegen müßte
allerdings „den Rekurs auf eine intellektuelle Anschauung“ (432) verlangen. In dieser sieht auch
Düsing, Subjektivität und Freiheit, a.a.O., 124, das Zirkelproblem aufgehoben; nur ist diese Lösung
philosophisch nicht adäquat darstellbar.
400 D F S
auch ohne Beziehung auf Objektivität. Die Einheit, die als Gemeinsames im Mannig-
faltigen der Anschauung dessen Synthesis organisiert, kann demzufolge nur dann als
auf mögliche Inhalte bezogen gedacht werden, wenn sie selbst Ausdruck einer Synthesis
von Verschiedenem ist.348 Nur in einem Bewußtsein, das über intellektuelle Anschau-
ung verfügte, ginge die Identität der Objektivität aus der Identität des Subjekts selbst
hervor. Die Identität von Vorstellungen im denkenden Bewußtsein dagegen ist nur mög-
lich durch die Reflexion des Bewußtseins auf seine eigene synthetische Leistung. Erst
das Bewußtsein davon, daß Bewußtseinsinhalte mit Bewußtsein begleitet und dadurch
synthesierbar werden, konstituiert die Einheit des Bewußtseins.
Die Einheit der Apperzeption setzt, um als ursprüngliche selbst Bedingung der Ein-
heit aller Synthesis sein zu können, voraus, selbst a priori Bewußtsein der Einheit von
Synthesis zu sein. Dafür aber muß die Apperzeption a priori auf einen synthetischen Akt
bezogen sein, den sie selbst vollzieht und dessen Bewußtsein sie ist. Diese ursprüngli-
che Synthesis ist „der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch [...] heften
muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst“349 . So ist dieser nichts weiter, „als
das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen
unter Einheit der Apperzeption zu bringen“350 . Das heißt, die Einheit der Apperzepti-
on ist der Verstand als Vermögen, Mannigfaltiges unter die Einheit der Apperzeption
zu bringen; sie ist zu denken als Bedingung der Synthesis nur in ihrer Funktion des
Synthesierens, die sie mit Selbstbewußtsein nur erfüllen kann, wenn sie auch in sich
selbst synthetisch bestimmt ist. Die Vorstellung von Synthesis kann sie nicht erst aus
der Erfahrung von Synthesis gewinnen, weil diese Erfahrung dann nicht mit Bewußt-
sein möglich wäre. Das Vermögen, a priori zu verbinden, kann deshalb als Vermögen a
priori, Mannigfaltiges zu verbinden, nur gedacht werden, wenn es auch Vermögen ist, a
priori Mannigfaltiges zu verbinden. Als solches setzt es aber den Begriff reiner Synthesis
und mit ihr den reiner Mannigfaltigkeit voraus. Da es sich bei der reinen Apperzeption
um eine Bestimmung des inneren Sinnes handelt, kann unter reiner Mannigfaltigkeit nur
die reine Anschauung der Zeit vorgestellt werden und unter reiner Synthesis nur die Vor-
stellung der reinen Zeitfolge. Diese aber ist ohne von ihr und voneinander unterschiedene
Zeitinhalte leer, sie würde „ohne die Gegenstände der Erfahrung [...] keine Bedeutung
haben“351 . Diese Gegenstände werden ausdrücklich durch die bloß reproduktive Einbil-
dungskraft zitiert;352 dennoch versucht Kant, die Aporie in der Selbstbestimmung durch
den das Subjekt differenzierenden Begriff der produktiven Einbildungskraft aufzulösen,
mittels der das Subjekt als Intellekt sich selbst als Anschauendes bestimmt.
Es wird zu zeigen sein, daß dieser Begriff der produktiven Einbildungskraft, weil er
als Vermittlung aus dem Gegensatz von Verstand und Sinnlichkeit erschlossen ist, das
348
Vgl. KrV, B 135.
349
KrV, B 134 Anm. Eine Nuance ums Ganze falsch paraphrasiert übrigens Gunnar Hindrichs, Das
Absolute und das Subjekt, a.a.O., § 200: „Das selber einheitliche, die Vielheiten verbindende
Subjekt ist der ‚höchste Punkt‘, an dem unser Denken über die Dinge hängt.“
350
KrV, B 135.
351
KrV, B 195.
352
Vgl. KrV, B 195. Zur Entwicklung der Einbildungskraft aus der vorkritischen Psychologie vgl.
Karl Hepfer, Die Form der Erkenntnis, a.a.O.
S O: D G 401
Ausgangsproblem in dem Sinne aufhebt, daß er es in sich selbst reproduziert. Der Ver-
such, die ursprüngliche reine Apperzeption über ihre inhaltlose Identität durch Voraus-
setzung einer Synthesis a priori zur Objektivität zu erweitern, reproduziert das Problem
in der Vorstellung des Objekts.353
Jener Verstand aber, der mit der transzendentalen Einheit der Apperzeption zusam-
menfällt, ist das Ich oder Er oder Es, das in mir denkt,354 die allgemeine Bestimmung
des transzendentalen Subjekts = X, die sich aufnötigt, wenn dessen Verhältnis zum Ob-
jekt objektiv bestimmbar, wenn also Wissenschaft möglich sein soll. Soll sie nicht zum
bloßen X – zum selbst bedeutungslosen Platzhalter – werden, ist zu klären, wie sich die
Einheit des Verstandes, die auch die Einheit aller empirischen Subjekte bedeutet, zu der
empirischen, bestimmten und nicht bloß numerischen Vielheit der Subjekte verhält.355
Kant will diese Einheit und mit ihr die Möglichkeit von Erkenntnis ohne Rekurs auf
Gott begründen. Deshalb muß sich ihre Möglichkeit aus der Reflexion des Subjekts auf
sich selbst begründen lassen. Damit wird der Verstand in seiner a priorischen Funktion
der Bestimmung seiner selbst als Einheit aller Synthesis zunächst zum „oberste[n] Prin-
353
Das hat zu der idealistischen Kritik geführt, Kant sei inkonsequent verfahren oder, wie Düsing,
Subjektivität und Freiheit, a.a.O., 154, formuliert, er habe „eine Lösung angedeutet, die jedoch Fra-
gen offen läßt und nicht systematisch in einer eigenen Theorie der Subjektivität entwickelt wird“.
Kants Theorie der Subjektivität bleibt negativ. Als solcher können aus ihr keine Bestimmungen
konstituiert werden, und sie kann auch nicht mehr zur Objektivität ins Verhältnis gesetzt werden;
sie erfüllt ihren Zweck scheinbar nicht. Dieser Mangel führt zu Antizipationen des Idealismus, die
von diesem aus als angedeutete Lösungen erscheinen. Bei Kant bleibt freilich die Aporie stehen,
die in der Sache liegt.
354
Vgl. KrV, B 404.
355
Die Übereinstimmung aller Menschen in den Erkenntnisbedingungen hatte schon Averroes be-
wogen, die ‚Einheit des Intellekts‘ anzunehmen. Thomas von Aquin wollte, mit Betonung der
sinnlichen Bedingungen von Erkenntnis, die Individualität der erkennenden Subjekte bewahren,
ohne doch deren Einheit in den Prinzipien des Intellekts preiszugeben. Er verlagerte diese Einheit
in eine analoge Bestimmung: „Es ist [...] nicht nötig, daß sie der Zahl nach in allen dieselbe sei.
– Wohl aber ist es nötig, daß sie von einem Grunde in allen hergeleitet wird.“ (Summa theologi-
ca, Salzburg u. a. 1933ff., I, 79, 5 ad 3) Damit sei nicht der intellectus agens die den Subjekten
übergeordnete Einheit, in der ihre Gemeinsamkeit im Bewußtsein der ersten Prinzipien besteht,
sondern ein intellectus separatus, der nicht der göttliche ist, nicht transzendent, sondern transzen-
dental: erschlossen als Bedingung der Möglichkeit der Einheit von Erkenntnis in verschiedenen
empirischen Subjekten. – Der intellectus possibilis kommt hier nicht in Frage, weil er als Ver-
mögen, Erkenntnisse aufzunehmen, zwar allen Menschen in gleicher Weise zukommt, aber für
sich selbst keine Gegenstände hat. – Gleichwohl bleibt die göttliche Einheit Bezugspunkt, Grund,
aus dem die Einheit hergeleitet wird, insofern die erkennenden Subjekte auf ihn bezogen sind;
das Resultat jedoch ist diese Beziehung selbst, eine bloß relationale Bestimmung. Thomas will
den tätigen Verstand, der für die subjektive Aneignung von Objektivität zuständig ist, im Subjekt
bewahren und konstruiert daher seine Kompatibilität mit dem Objekt nicht aus ihm selbst, son-
dern über seine Beziehung auf den Grund aller Objektivität, auch seiner eigenen. Erkauft ist die
Individualität der Subjekte, die erst systematisch später über phantasmata der Einbildungskraft
mit Gehalt versehen wird, hier mit der transzendenten Absicherung ihrer Objektivität, in der alle
Individualität aufgehoben ist. Das Selbstbewußtsein bleibt auch in dieser Konstruktion abhängig.
402 D F S
zip alles Verstandesgebrauchs“356 , das sich als „objektive Bedingung aller Erkenntnis“357
entpuppt, das durch die Objektivität – das heißt hier: daß für das Subjekt ein Objekt ist
– erst möglich wird.
Anschauungen können dem Subjekt in den Sinnen nur gegeben werden, wenn ihr Ma-
terial – das in ihnen gegebene Mannigfaltige – den Bedingungen der Sinnlichkeit gemäß
ist; durch den Verstand erkannt werden können sie nur, wenn ihr Material der Einheit der
Apperzeption gemäß ist, denn sonst könnte dieses nicht zu einer Vorstellung von einem
Objekt synthesiert werden, die der Anschauung zugeordnet werden kann. Das Objekt,
das jetzt im Zusammenhang des Erkenntnisbegriffs thematisch wird, ist bei Kant indi-
rekt bestimmt: „Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen
Anschauung vereinigt ist.“358 Die Bestimmung des Objekts selbst, um die es Kant hier
im Unterschied zu dessen bloßem Begriff offensichtlich zu tun ist, erfolgt in Abhängig-
keit vom gegebenen Mannigfaltigen der Anschauung sowie vom Begriff des Objekts;
damit erfolgt sie zugleich abhängig von dem Bewußtsein, das der logische Ort der Ver-
knüpfung dieser beiden Voraussetzungen ist. – Nach dem Aristotelischen Verständnis
von ‚Definition‘ wird stets das weniger Bekannte durch das schon Bekannte definiert.359
Hier ist nun das ‚Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung‘, das in einem Begriff ver-
einigt ist, das schon Bekannte, denn dieser Begriff erst weist auf das Objekt. Unklar
bleibt an dieser Stelle, ob der Begriff selbst Resultat oder Bedingung der Synthesis des
Mannigfaltigen ist.360 Jedenfalls ist das Objekt erkenntnistheoretisch Resultat des Er-
kenntnisprozesses und nicht dessen äußere oder gar äußerliche Voraussetzung; es ist für
Kant Grundlage der Objektivität von Erkenntnis im doppelten Sinn: als Erkenntnis, der
erstens ein Objekt korrespondiert und die zweitens darum auch als subjektive Einsicht
Objektivität beanspruchen kann und so überindividuell gilt.361
In der Erkenntnis, so Kant, sind gegebene Vorstellungen auf ein Objekt bezogen, das
sich aber außerhalb dieser Beziehung gar nicht greifen läßt, weil sonst das Mannigfaltige,
um vorrelational der Vorstellung gegeben sein zu können, sich selbst synthesieren müß-
te. Dies läßt sich aber von einem Bewußtsein, daß immer schon alle seine Vorstellungen
potentiell begleitet, nicht denken; es müßte denn sich selbst wegdenken, was eine wi-
dersinnige Forderung darstellt. So bleibt das Mannigfaltige ohne synthetische Leistung
des Verstandes zumindest für diesen chaotische Mannigfaltigkeit, denn die Vorstellun-
gen sind nur unter der Einheit der Apperzeption seine Vorstellungen und haben darin das
Prinzip ihrer Synthesis. Die Sinnenwelt ist „entweder gar kein Gegenstand der Erfahrung
oder eine Natur“362 .
356
KrV, B 136.
357
KrV, B 138.
358
KrV, B 137.
359
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1029b.
360
Vgl. aber Deduktion A, in der beides gegenläufig verschränkt ist.
361
Der Umstand, daß außerhalb der subjektiv gestifteten Objektivität kein Objekt, sondern bloß Man-
nigfaltiges ist, daß Objektivität das eigentliche Objekt der Erkenntnis ist, überholt Manfred Baums
Differenzierung, daß die Synthesis nur die Objektivität, nicht aber die Objekte erzeuge. Vgl. Er-
kennen und Machen in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, in: Burkhard Tuschling (Hg.), Probleme
der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, a.a.O., 176. – Vgl. auch Opus Postumum, XXII 82.
362
Prolegomena, IV § 38.
S O: D G 403
Schärfer noch, als Kant es tut, wäre zu formulieren, daß die Vorstellungen ohne Bezie-
hung auf meine Apperzeption nicht bloß allesamt nicht meine wären, sondern sie wären
für mich unbestimmte Vielheit überhaupt, das heißt soviel wie nichts, jedenfalls weni-
ger als ein Traum.363 Ein Bewußtsein, dem Mannigfaltigkeit in der Vorstellung gegeben
wäre, ohne auf die Einheit der Apperzeption bezogen zu sein, wäre ein Bewußtsein, das
in sich zerflösse, das Empfindungen hätte, das aber sich innerhalb des Empfundenen
nicht zu orientieren vermöchte, eben weil das Empfundene sich nicht selbst synthesiert.
Solch ein Bewußtsein wäre noch nicht einmal ein wahnhaftes Bewußtsein, weil sowohl
paranoide als auch schizoide und selbst noch demente Formen der Bewußtseinsstörung
die Apperzeption voraussetzen, indem eine ihrer Funktionen – Apprehension, Repro-
duktion oder Rekognition – gestört ist, wodurch falsche Zuordnungen von Vorstellungen
zueinander oder zu Objekten verursacht werden. In einem Bewußtsein ohne Einheit der
Apperzeption fielen absolute Fülle und absolute Leere zusammen, ein Zustand, dessen
gelegentliche modische Affirmation wohl purer Euphemismus ist.364
Besteht Erkenntnis nun „in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf
ein Objekt“365 , so unterliegen diese Vorstellungen der Synthesis durch den Verstand, in
dessen zwieschlächtiger Funktion ‚a priori zu verbinden‘366 Erkenntnis und Selbster-
kenntnis zusammenfallen, indem er sich selbst begründet: Wenn nämlich die Einheit der
Apperzeption oberste Bedingung der Möglichkeit der Beziehung von Vorstellungen auf
Objekte, also von Erkenntnis ist, dann ist sie, weil Erkenntnis der Gebrauch des Verstan-
des ist, ohne den der Verstand selbst gegenstandslos wäre, Bedingung des Verstandes
selbst. Dieser aber fällt mit der Einheit der Apperzeption substantiell zusammen.367
Kant kommt es nun darauf an, daß nicht etwa die Einheit der Apperzeption die Grund-
lage allen Verstandesgebrauchs sei, sondern genauer „der Grundsatz der ursprünglichen
synthetischen Einheit der Apperzeption“368 , der besagt, „daß alles Mannigfaltige der An-
schauung unter Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption
stehe“369 . In der Deduktion A hatte Kant den obersten Grundsatz des Denkens anders
formuliert. Dort heißt es: „daß alles verschiedene empirische Bewußtsein in einem ei-
nigen Selbstbewußtsein verbunden sein müsse“370 . Diese Formulierung stellt zwar mit
dem empirischen Bewußtsein scheinbar die bestimmte Erfahrung in den Vordergrund,
bezieht sich jedoch letztlich auf eine bloße Bewußtseinseinheit. Die Einheit der Apper-
zeption allein würde den Verstandesgebrauch auf die leere Reflexion des Verstandes auf
sich selbst beschränken.371
363
Vgl. KrV, A 112.
364
Zur Bedeutung der Einheit der Apperzeption für die Einheit der Erfahrung vgl. auch KrV, A 110f.
365
KrV, B 137.
366
Vgl. KrV, B 135.
367
Vgl. KrV, B 134.
368
KrV, B 137.
369
KrV, B 136.
370
KrV, A 117 FN.
371
Vgl. Georg Mohr, Das sinnliche Ich. Innerer Sinn und Bewußtsein bei Kant, Würzburg 1991. Mohr
entwickelt Selbstbewußtsein als Kombination von Identitätsbewußtsein, Zeitbewußtsein und Vor-
stellungspluralität äußerer Erfahrung, um es nicht, wie in großen Teilen der analytischen Tradition,
als Bewußtsein isolierter mentaler Zustände, sondern als Einheit der Pluralität von Vorstellungen
404 D F S
Soll Erkenntnis – Beziehung von Vorstellungen auf Objekte – möglich sein, so muß
mit der Einheit der Apperzeption, der formalen Bedingung der Synthesis, deren ma-
terielle Bedingung der Synthesis, das gegebene Mannigfaltige, verknüpft sein. Wenn
es sich um eine transzendentale Grundlegung von Erkenntnis handeln soll, muß die-
se Verknüpfung in Gestalt einer ‚ersten reinen Verstandeserkenntnis‘372 vorliegen. Die
Erweiterung der Formulierung auf das Material der Anschauung dient also nunmehr
zu dessen transzendentaler Absicherung. Kant weist allerdings mit Recht darauf hin,
daß sowohl Raum als auch Rauminhalte – als Mannigfaltiges – keine Erkenntnisse sind,
sondern Bedingungen möglicher Erkenntnis und daß für eine wirkliche Erkenntnis hin-
gegen eine Vorstellung von – etwa durch geometrische Figuren – bestimmtem Raum
erforderlich ist, die schon Synthesis voraussetzt. Er betont daher die synthetische Seite
der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption, weil die für die Raumbestim-
mung erforderliche Einheit nur durch eine Handlung des mit Einheit der Apperzeption
ausgestatteten Subjekts möglich ist und weil nur in dieser Handlung der bestimmten
Synthesis die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption auch der Seite ihrer
Ursprünglichkeit nach einen Gehalt hat: „die Einheit dieser Handlung [der Bestimmung
des Raums etwa durch Ziehen einer Linie; M.St.] [ist] zugleich die Einheit des Be-
wußtseins (im Begriffe einer Linie)“373 . Die reine Apperzeption bestimmt sich selbst
als synthetische des Subjekts erst durch die Konstitution eines Objekts.
Kant bezeichnet nun den Grundsatz der Einheit der Apperzeption als analytisch, weil
er bloß aussage, „daß alle meine Vorstellungen in irgendeiner gegebenen Anschauung
unter der Bedingung stehen müssen, unter der ich sie allein als meine Vorstellungen zu
dem identischen Selbst rechnen, und also, als in einer Apperzeption synthetisch verbun-
den, durch den allgemeinen Ausdruck Ich denke zusammenfassen kann“374 . Zwar wäre
der Satz analytisch, wenn er sich etwa so verkürzen ließe: ‚Meine Vorstellungen stehen
unter Bedingungen, unter denen sie meine Vorstellungen sein können, d. h. meine Vor-
stellungen sind meine Vorstellungen‘; die ausführliche Formulierung, ohne die Kants
Betonung der synthetischen Seite der Apperzeption unmöglich wäre, enthält aber die
Beziehung auf gegebene Anschauungen, die nur unter der Voraussetzung, daß diese An-
schauungen vollständig unter der Einheit der Apperzeption erfaßt sind, die Analytizität
des Satzes unberührt ließen. Die Beziehung der Einheit der Apperzeption auf Objekte,
dergemäß die Subjektivität als Funktion der Objektivität erschien, schlägt aber mit die-
ser Voraussetzung in den Grund von Objektivität selbst um: „Die synthetische Einheit
des Bewußtseins ist also eine objektive Bedingung aller Erkenntnis, nicht deren ich bloß
selbst bedarf, um ein Objekt zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung stehen
zu fassen. Zum Kernproblem wird dabei die Zeitlichkeit äußerer Erfahrung und deren Verhältnis
zur inneren Erfahrung und zum Selbstbewußtsein, das als „Funktionszusammenhang von Gedan-
ken“ (285f.), als „anschauungsbezogene Selbsterkenntnis“ gefaßt werden soll. – Zum Verhältnis
Identität und Vorstellungspluralität vgl. auch Dieter Sturma, Kant über Selbstbewußtsein, Hildes-
heim 1985, 102.
372
Vgl. KrV, B 137.
373
KrV, B 138.
374
KrV, B 138.
S O: D G 405
muß, um für mich Objekt zu werden, weil auf andere Art, und ohne diese Synthesis, das
Mannigfaltige sich nicht in einem Bewußtsein vereinigen würde.“375
Selbstbewußtsein, Bestimmung des Subjekts, wird zugleich Bestimmung der Objek-
te. Selbstbewußtsein als Gegenstand von Bestimmung, selbst Objekt der Subjektivität,
wird zum Bestimmenden; die Objekte, die es generiert, werden aus Funktionen seiner
Subjektivität zu bloßen Ausdrücken derselben. Zwar ist das Subjekt durch Objektivität
bedingt, weil sein Selbstbewußtsein bestimmte Synthesis voraussetzt, aber nur mehr so,
daß darin die Objekte erst konstituiert werden. Die Synthesis, die einzige Vorstellung,
„die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden
kann“376 , erzeugt gleichwohl erst die Objektivität der Objekte.
Das Verhältnis von Subjekt und Objekt, die beide als indirekte, wechselweise abhän-
gige Bestimmungen hervorgegangen sind, ist nicht symmetrisch, sondern überwiegt auf
der Seite des Subjekts, indem dies nicht allein durch die Beziehung aufs Objekt, son-
dern als Inbegriff der Bedingungen dieser Beziehung selbständig bestimmt ist. Zwar
formuliert Kant immer wieder die Notwendigkeit der Voraussetzung einer Selbstän-
digkeit auch der Objekte: „das Mannigfaltige für die Anschauung [muß] noch vor der
Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, gegeben sein“, dem Denken muß „der
Stoff zum Erkenntnis, die Anschauung, [...] durchs Objekt gegeben werden“377 ; auch das
Fehlen des bestimmten Artikels in folgender Formulierung weist auf ein Moment von
Selbständigkeit in den Gegenständen: „Die Bedingungen a priori einer möglichen Er-
fahrung sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung.“378
In der systematischen Darstellung der transzendentalen Grundlegung der Möglichkeit
aller Erkenntnis läßt sich dieses Objekt, das den Stoff gibt, aber selbst nur als Resultat
der subjektiven Synthesis fassen, das Objekt geht in seinem Begriff auf; die Feststel-
lung der Notwendigkeit seiner Heterogenität, die den Verstand von der intellektuellen
Anschauung unterscheiden soll, erhält postulatorischen, fast beschwörenden Charakter,
schon darin, daß Kant diese Unterscheidung mehrfach in expliziter und ausführlicher
Form für nötig hält.
Dietranszendentale Bestimmung der Möglichkeit von Erkenntnis muß die Seite der
Selbständigkeit der Objekte in deren allgemeinem Begriff auflösen, weil sie in der
Erkenntnis, deren Resultate mit einer durchs Subjekt vermittelten Allgemeinheit aus-
gestattet sind, nicht zu fassen ist; allgemein aber läßt sie sich höchstens der Form nach
bestimmen, daß etwas sei. So muß Kant nicht allein vom Gehalt bestimmter Erfahrung
abstrahieren, sondern „noch von der Art, wie das Mannigfaltige zu einer empirischen
Anschauung gegeben werde“. Nur daran, daß etwas unabhängig gegeben werde,
ist festzuhalten: „wie aber, bleibt hier unbestimmt.“379 Kant trägt damit der Gefahr
Rechnung, daß seine Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt umschlage
in eine Relation absoluter Produktivität des Subjekts in sich selbst. Deshalb grenzt er
375
KrV, B 138.
376
KrV, B 130. Zur Erzeugung von Objektivität durch die Synthesis im Urteil vgl. Prolegomena, IV
§ 19.
377
KrV, B 145.
378
KrV, A 111.
379
KrV, B 144f. Meine Kursivierung.
406 D F S
380
KrV, B 159f.
381
KrV, B 161.
S O: D G 407
382
Wenn Kant wissenschaftliche Allgemeinheit definiert als „wie die Mathematiker dieses Wort neh-
men, nämlich hinreichend vor alle Fälle“ (Prolegomena, IV § 5), so ist diese Menge aller Fälle
eben nicht extensional, sondern nur durch einen Begriff zu bestimmen.
383
Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Begriff , a.a.O., Erster Abschnitt, Drittes
Kapitel: Der Schluß.
384
KrV, B 161. Die Vermittlung von Kategorien und Sinnenmaterial geschieht wieder über ‚An-
schauung überhaupt‘, da die „reinen Verstandesbegriffe […] nichts weiter sind, als Begriffe von
Anschauungen überhaupt, so fern diese […] nothwendig und allgemein bestimmt sind“ (Prolego-
mena, IV § 21).
385
KrV, B 163.
408 D F S
Diese Gesetze können nicht aus der Erkenntnis der Natur resultieren, da sie dieser ja
im Gegenteil vorausgesetzt sind.
Zu zeigen ist, wie der Verstand etwas ihm Heterogenes aus ganz eigenen Gesetzen
bestimmen könne. Entscheidend ist hier schon der Begriff der ‚natura materialiter spec-
tata‘, der eben nicht auf eine extramentale materielle Natur referiert, sondern auf Natur,
insofern sie in materieller Hinsicht betrachtet wird, nämlich – in Kants Übersetzung –
als ‚Inbegriff aller Erscheinungen‘, also als der allgemeine Ausdruck der Objektivität,
sofern diese schon in Relation zum Subjekt bestimmt ist.386 Als Erscheinung ist das
Objekt schon durch seine Beziehung aufs Subjekt bestimmt. Die Verknüpfung des zu
einer Erscheinung gegebenen Mannigfaltigen leistet die Einbildungskraft, die als Mitt-
ler zwischen Sinnlichkeit und Verstand sowohl durch die Einheit der Apperzeption als
auch durch die Mannigfaltigkeit der Sinnlichkeit bestimmt ist und so Wahrnehmung er-
möglicht. Die Synthesis der Apprehension zur Wahrnehmung steht nun selbst unter der
Einheit der Apperzeption und damit unter den Kategorien. Sofern Erscheinungen uns
überhaupt zugänglich sind – „ihrer Verbindung nach“387 – ist auch hier die Identität
der Erscheinungen mit der Wahrnehmung vorausgesetzt. Natur ist danach nicht einmal
mehr der Inbegriff aller Erscheinungen, sondern der Begriff der intelligiblen Ordnung
der Erscheinungen, das heißt der Begriff der Möglichkeit einer Natur als Inbegriff von
Erkenntnisobjekten überhaupt: ‚natura formaliter spectata‘.
Allein die Notwendigkeit der gesetzmäßigen Bestimmung einer solchen Natur ist im
Rahmen der transzendentalen Bestimmung der Objektivität von Erkenntnis möglich. Al-
le weiteren Erkenntnisse – bestimmte Naturgesetze – erfordern bestimmte Erfahrung;
diese Erfahrung aber – und ihr Objekt – sind außerhalb jener Gesetzmäßigkeit, mit der
Objektivität durchs Subjekt gesetzt ist, nicht mehr zu denken. Jede weitere Frage da-
nach verbietet sich, so daß der Begriff des Selbstbewußtseins bloß formal objektiviert
ist, die Objekte aber ganz subjektiviert. Die Vernachlässigung des praktischen Moments
im Selbstbewußtsein ist implizit idealistisch; in jenem Moment ist das Selbstbewußtsein
immer schon auf Natur und auf die Menschheit bezogen, weil es erstens vom unmittel-
baren Naturzusammenhang emanzipiert sein muß, um selbstbewußt zu sein, und weil
zweitens diese Emanzipation dem isolierten, wesentlich einzelnen, Subjekt nicht ge-
lingt.388 Kants Naturbegriff revolutioniert zwar das Verhältnis der Menschen zu ihren
gegenständlichen Lebensbedingungen, insofern diese nur in ihrer dem Subjekt verfüg-
386
Vgl. KrV, B 164: „Gesetze existieren ebensowenig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf
das Subjekt, dem die Erscheinungen inhärieren, sofern es Verstand hat, als Erscheinungen nicht an
sich existieren, sondern nur relativ auf dasselbe Wesen, sofern es Sinne hat.“
387
KrV, B 164f.
388
Dies ist auch für Klaus Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O., 260, grundlegend: Aus der Form
der noch unentwickelten Selbstbeziehung folge, „daß das Selbst, auch wenn es ansonsten schon
höhere und komplexere Stufen der Selbstbeziehung erreicht hat, immer ein in seiner natürlichen
und sozialen Umwelt befindliches bleibt“; vgl. 139f. sowie 267. Der Beziehung der Subjekte zu
dem ‚Umwelthaften‘, das bei Düsing eher opak bleibt, gelten die vorliegenden Überlegungen,
auch aus der Überzeugung heraus, daß weitere Bestimmungen der Subjektivität nicht, wie Dü-
sing schreibt, in „von Erlebniszufälligkeiten gereinigten“ (268) Modellen von Selbstbeziehung zu
verankern, sondern allenfalls auf kritischem Wege zu erschließen sind.
S O: D G 409
baren Hinsicht betrachtet werden, „[d]enn wir kennen Natur nicht anders“389 ; aber – wie
später im Zusammenhang des Kulturbegriffs der Kritik der Urteilskraft zu zeigen ist
– diese Verfügbarkeit gerät zur absoluten, wenn ihre subjektive Konstitution nicht auch
historisch vermittelt begriffen wird. In der Radikalisierung des subjektiven Naturbegriffs
durch das Moment historischer Praxis träte erst die Selbständigkeit der Gegenstände wie-
der hervor. –
Gemäß dem Begriff des ‚Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung überhaupt‘,
durch den das Einzelne unter einen allgemeinen Begriff des Besonderen gebracht wer-
den soll, sind die ‚Gegenstände möglicher Erfahrung‘, deren Inbegriff ‚Natur‘ ist, ihrem
Begriff nach keine Objekte wirklicher Erfahrung, sondern Ausdruck der Form von Er-
fahrung überhaupt. Diese selbst ist von anderen Bewußtseinsprozessen nun formal durch
die Beziehung auf die Sinne unterschieden, nicht etwa materiell durch Verweis auf ein
extramentales Objekt. Das Selbstbewußtsein ist als synthetische Einheit immer auf Ob-
jektivität bezogen, aber a priori; diese Objektivität bleibt seine Grundlage, aber als
blinder Fleck, nach dem zu fragen die transzendentale Begründung der Möglichkeit von
Erkenntnis untergrübe. Diese ist nur als System möglich, das um das Selbstbewußtsein
geordnet ist, so daß dieses Grundlage aller seiner Bestandteile ist; der Begriff von Er-
kenntnis wäre sonst nie vollständig zu denken.
Diese Vollständigkeit bringt aber einen defizitären Begriff des Selbstbewußtseins mit
sich, eines Selbstbewußtseins, das seine objektiven Bedingungen nicht wissen darf. So-
fern es nun auf extramentale Bedingungen verwiesen ist, nennt Kant es das ‚empirische‘,
im Unterschied zum transzendentalen, und das ‚subjektive‘ im Unterschied zum objekti-
ven.390 Weil die empirische Einheit des Bewußtseins von zufälligen Umständen abhängt,
unter denen bestimmte Anschauungen bestimmten Subjekten gegeben werden, ist sie für
Kant keine Bestimmung des Verstandes, sondern eine „Bestimmung des inneren Sin-
nes“391 , der für die Aufnahme eines Mannigfaltigen in concreto zuständig ist. Der innere
Sinn als Form der Anschauung in der Zeit muß schon unter der transzendentalen Einheit
der Apperzeption stehen, damit dies gelingt.392
Kant macht sich hier die Differenz der Zeit in reine Anschauungsform, unter der alle
Vorstellungen des inneren Sinns stehen müssen, und reine Anschauung, die selbst reine
Mannigfaltigkeit – nämlich die Vorstellung der bloßen Zeitfolge – enthält, zunutze.393
Die Form der Anschauung steht nicht erst vermöge bestimmter Synthesis unter der Ein-
heit der Apperzeption, sondern schon der bloßen Vorstellung von Zeitfolge nach, deren
Mannigfaltigkeit als geordnetes Nacheinander oder als Zugleich notwendig auf die Ver-
standeseinheit bezogen ist. Diese reine Synthesis, obgleich gegenstandslos, liegt aller
empirischen zugrunde, weil nur sie in der Bedeutung als Bedingung der Möglichkeit
von Objektivität objektiv ist, während die empirische Synthesis immer gegebene An-
schauungen als heterogen voraussetzt und deshalb dem Zufall, das heißt dem von ihr
selbst nicht konstituierten heteron unterworfen ist. Soll Erfahrungserkenntnis als allge-
389
Prolegomena, IV § 36.
390
Vgl. KrV, B 139.
391
KrV, B 139.
392
Vgl. KrV, B 140.
393
Vgl. KrV, B 34f.
410 D F S
meine möglich sein, so wären Begriffe zu entwickeln, in denen die Erkenntnis sowohl
auf Erfahrung eingeschränkt ist, als auch über bestimmte Erfahrung erhaben.
Die subjektiv empirische Einheit des Bewußtseins aber bleibt schon dem logischen
Ort nach von der transzendentalen, vom Selbstbewußtsein, getrennt; jene erwägt Kant
nämlich in der Kritik der reinen Vernunft nicht: Sie gehöre in die empirische Psycho-
logie. Ihr Verhältnis zum Selbstbewußtsein sei das einer Ableitung „unter gegebenen
Bedingungen in concreto“394 , die nicht unter die Aufgaben der Philosophie, sondern un-
ter jene der Psychologie falle; für die Objekte der Erkenntnis, ihre Notwendigkeit und
Allgemeinheit sei sie unerheblich. Gleichwohl ist sie notwendige Bedingung von deren
Bestimmung, denn ohne sie wäre nichts gegeben. Letztlich wäre auch die synthetische
Einheit der Apperzeption undenkbar, denn die reine Synthesis a priori kann nur Objekte
konstituieren, wenn Anschauungen gegeben sind. Die reinen Anschauungen Raum und
Zeit sind erschlossene Bedingungen der empirischen Anschauung, ohne die diese nicht
möglich wäre; für sich aber sind sie nichts und die reine Synthesis zieht in der reinen
Anschauung keine Linie, weil sie nicht einmal weiß, was Punkte sind. Die Beziehung
a priori bloßer Einheit auf bloße Vielheit ist als Begriff der Form von Erfahrung denk-
bar, bringt aber aus sich selbst keine geordnete Vielheit hervor, weil dafür bestimmte
Unterschiede erfordert sind, die die Form des Unterschieds erfüllen.395 –
394
KrV, B 140.
395
Vgl. dagegen Hegels Versuch, aus dem Fürsichsein die Quantität zu entwickeln. Dies gelingt nur
dadurch, daß die Bestimmungslosigkeit reiner einfacher Selbstbeziehung als Moment verinner-
lichter Negation interpretiert wird, die als Selbstunterscheidung aus der ‚Leere‘ dann ‚viele Eins‘
ausstößt. Diese Interpretation ist möglich, weil das Fürsichsein selbst schon – an systematisch ver-
frühter Stelle – Reflexionsform endlichen Seins ist. Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik.
Lehre vom Sein, a.a.O., 137 und 144-158. Da Kant nicht auf die Generation von Begriffen ausein-
ander, sondern von Anschauungen aus der Beziehung von Empfindungen und Anschauungsformen
aus ist, kann eine analoge Argumentation bei ihm nicht gelingen: In den subjektiven Vermögen der
Synthesis liegen keine Unterschiede. – Hiermit hängt auch das Problem zusammen, ob mathema-
tische Gegenstände vollständig konstruktiv darstellbar sind oder außermathematische empirische
Voraussetzungen haben oder aber intuitiv gegebene Vernunftideen sind.
396
Anthropologie, VII 143ff.
397
In der Kritik der reinen Vernunft kündigt Kant die Untersuchungen zur empirischen Psycholo-
gie als Bestandteil einer ausgeführten Anthropologie an (vgl. KrV, B 877). In der Anthropologie
bleibt aber die disziplinäre Zuordnung des inneren Sinns als Ort empirischer Selbsterkenntnis zu
Anthropologie, Physiologie oder Psychologie undeutlich. Zunächst wird innerhalb der Anthropo-
logie unterschieden in eine physiologische und eine pragmatische (vgl. Anthropologie, VII 119),
deren erste den Menschen als Naturwesen, deren zweite ihn als Sittenwesen betrachte. Der innere
S O: D G 411
Unter Ort- und Zeitumständen, im empirischen Dasein, sei den Menschen ihre Selbst-
erkenntnis erschwert. Abgesehen von der Möglichkeit, sich unter Beobachtung zu ver-
stellen, wachse also den Menschen durch Gewohnheit eine zweite – gesellschaftliche –
Natur zu, die zunächst den Wissenschaftscharakter der Anthropologie schon hinsichtlich
ihres genuinen Erkenntniszieles einschränke.398 Dieses Ziel ist die „Erkenntnis des Men-
schen als Weltbürgers“399 , das heißt hier – zunächst ohne politische Konnotation – als
eines in der Welt sich empirisch bewegenden Wesens. Eine Verbindung dieser Wesen zu
ihrem Selbstbewußtsein erscheint dann ausgeschlossen, wenn schon die empirischen Be-
dingungen das empirische Wesen der Erkenntnis entziehen. Dennoch beginnt Kant die
Darstellung der Erkenntnis des individuierten Menschen mit einem ganzen Buch über
das ‚Erkenntnisvermögen‘, das seinerseits mit einem Kapitel über das Selbstbewußtsein
einsetzt. Sowenig eigenständige Systematik traut Kant seiner empirischen Wissenschaft
vom Menschen zu, daß er nicht mit der individuierenden Sinnlichkeit beginnt, sondern
mit einer Abgrenzung zu dem, was systematisch bereits gesichert ist, dem Selbstbewußt-
sein. Allerdings gibt er diesem eine Bestimmung, die in krassem Gegensatz zu den
Erkenntnissen der Kritik der reinen Vernunft steht: „Daß der Mensch in seiner Vor-
stellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende
Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei al-
len Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von
Sachen […] durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen“400 . Erstens ist diese
Subjektbestimmung nicht allein praktisch, sondern sie nutzt auch rechtliche Bestimmun-
gen. Dadurch ist sie eine gesellschaftliche Subjektbestimmung, die jedoch als natürlich
in der transzendentalen Subjektivität begründete vorgetragen wird. Damit endet die Ver-
bindung beider aber auch schon, denn zweitens fällt die Ableitung der Einheit der Person
aus der subjektiven Identität unter den Zweiten Paralogismus.
Kant verstößt in der Anthropologie bewußt und explizit gegen die Resultate der Para-
logismen und der Antinomien, weil er das Verhältnis der empirischen Subjekte zur empi-
rischen Welt behandeln will; das heißt aber umgekehrt, daß dieses Verhältnis mit streng
philosophischen Mitteln weder bestimmbar ist, noch daß seine Erörterung in die philoso-
phische Bestimmung von Selbstbewußtsein eingehen könnte.401 Ebensowenig kann jene
Erörterung mit philosophischen Mitteln erfolgen.402 Letztlich bleibt nur die Möglichkeit,
Sinn wird dann einmal „zur Anthropologie (als Physiologie)“ gerechnet, später heißt es: „innere
Erfahrung ist nicht blos anthropologisch, wo man nämlich davon absieht, ob der Mensch eine See-
le (als besondere unkörperliche Substanz) habe oder nicht, sondern psychologisch, wo man eine
solche in sich wahrzunehmen glaubt“ (VII 167); hiernach wären Anthropologie und Psychologie
überhaupt zwei systematisch unterschiedene Disziplinen. Ohne dies aufzuklären, sollen hier kurz
die wenigen Bemerkungen betrachtet werden, die Kant zur Selbsterkenntnis in pragmatischer Ab-
sicht in der Anthropologie immerhin macht. – Josef Simon, Kant, a.a.O., 358, deutet den Titel
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht dahin, daß im Unterschied zur spekulativen Seelenmeta-
physik hier die Menschen im Verhältnis von Einheit und Pluralität bestimmt würden.
398
Vgl. Anthropologie, VII, 121.
399
Anthropologie, VII, 120.
400
Anthropologie, VII, 127.
401
Vgl. Anthropologie, VII, 130.
402
Vgl. Anthropologie, VII, 142: „Diese Anmerkung [zum transzendentalen Subjekt; M.St.] gehört
eigentlich nicht zur Anthropologie.“
412 D F S
durch eine äußerliche – von der Philosophie entlehnte – Systematik die Beobachtungen
zu organisieren.403
Dadurch aber werden die zuvor eingeräumten sozialen Bestimmungsmomente empi-
rischer Subjektivität tendentiell unsichtbar, denn schon die anthropologische Beachtung
unwillkürlicher Regungen des inneren Sinns, ja die Beobachtung seiner selbst, sei ei-
ne „Verkehrung der natürlichen Ordnung im Erkenntnißvermögen und […] entweder
schon eine Krankheit des Gemüths (Grillenfängerei), oder führt zu derselben und zum
Irrhause“404 . Läßt man sich auf die eigenen Assoziationen ein, so gerät man auf die selt-
samsten Dinge, „[d]enn unvermerkt machen wir hier vermeinte Entdeckungen von dem,
was wir selbst in uns hineingetragen haben“405 . Einen Grund dafür, daß die empirischen
Bestimmungen des unter sozialen Verhältnissen individuierten Selbstbewußtseins – wie
wahnhaft sie auch sein mögen – nicht in die anthropologische Betrachtung kommen
sollen, führt Kant nicht an. Offenbar legt er hier aber den Maßstab einer reinen oder
wenigstens partiell gereinigten Betrachtung des Selbstbewußtseins an, von dem aus die
transzendentalphilosophische Erörterung der Subjektivität noch einmal verstärkt als ex-
plizit von den sozialen Bestimmungen abstrahierte erscheint.
Die Gemütsverwirrung durch Beobachtung von ‚Dingen, die wir selbst in uns hinein-
gelegt haben‘ widerspreche nun aber der äußeren Ordnung, aus der wir jene Dinge doch
wohl ursprünglich bezogen haben. Als Heilmittel führt Kant an, „daß der Mensch in die
äußere Welt und hiemit in die Ordnung der Dinge, die den äußeren Sinnen vorliegen,
zurückgeführt wird“406 . Das Ziel moderner Psychotherapie und Psychiatrie, die beschä-
digten Menschen wenigsten alltagstauglich zu machen, wird von Kant noch als krude
Konfrontationstherapie selbst zur Methode erhoben. Problematisch ist beides, weil nicht
oder unzureichend geklärt wird, wodurch die Störung eigentlich verursacht ist. Bei Kant
soll es die falsch angestellte Selbstbeobachtung sein; doch ist fraglich, wie weit nicht
das, was dort beobachtet wird, der Störung zugrunde liegt, die sich wohl letztlich dem
Zusammenspiel innerpsychischer und gegenständlicher Ursachen verdankt. Dann aber
wäre das, was dort beobachtet wird – gerade wenn ‚wir es selbst in uns hineingetragen
haben‘ – zurückzubeziehen auf die Ordnung, aus der die Subjekte diese Vorstellungen
beziehen. Ist sie mit-ursächlich für die Störung, so scheint eine Konfrontation mit ihr als
Therapie wohl eher ungeeignet.407
403
Vgl. Anthropologie, VII, 121f.
404
Anthropologie, VII, 134.
405
Anthropologie, VII, 133.
406
Anthropologie, VII, 162.
407
Sind psychische Krankheiten (auch) sozial bestimmt, so gerät die Therapeutik prinzipiell in ein
Dilemma: Die Heilung setzt den Patienten den krankmachenden Einflüssen erneut aus, ja die thera-
peutische Situation ist um ihres Zwecks willen und als gesellschaftliche Institution selbst nach dem
Modell der Gesellschaft geformt. Dies bestimmte den Streit der antipsychiatrischen Bewegung mit
der Psychiatrie. Vgl. die Darstellung bei Peter V. Zima, Theorie des Subjekts, a.a.O., 216-237, bes.
221f. und 232ff. Die zentralen Autoren sind hier Ronald D. Laing, Das geteilte Selbst. Eine Studie
über geistige Gesundheit und Wahnsinn, Köln 1994 und Michel Foucault, Die Geburt der Klinik.
Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt 1976 sowie ders., Wahnsinn und Gesellschaft.
Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1969. Eine vermittelte
Position bietet Theodor W. Adorno, Die revidierte Psychoanalyse, in: Gesammelte Schriften, Bd.
S O: D G 413
8, Frankfurt am Main 1972. Er weist zunächst zugunsten der Freudischen Auffassung die These
von der sozialen Induktion der psychischen Störung vehement zurück, um dann aber zu zeigen,
wie in der frühkindlichen Formung der Psyche gesellschaftliche Strukturen bereits wirksam sind;
die psychische Entwicklung sei in einem solchen Maße sozial eingebunden, daß die Bezeichnung
einzelner gesellschaftlicher Ursachen fehlgehen müsse und vor allem die spezifisch psychische
Gewalt der Störung verfehle.
408
Anthropologie, VII, 134 Anm.
409
Zu diesem Problem der Reflexionstheorie des Selbstbewußtseins vgl. die Darstellung bei Gunnar
Hindrichs, Negatives Selbstbewußtsein, a.a.O., 21ff. – Die analytische Tradition hat versucht, diese
Aporie sprachlich zu lösen, indem die Bestimmung von ‚Selbstbewußtsein‘ an die Möglichkeit ge-
knüpft wurde, selbstreferentiellen Ausdrücken ein Denotat zuzuweisen. Schon die Auffassung von
Reflexion als Selbstreferenz löst dabei die reflexive Form in eine intentionale auf. Vgl. z. B. Peter F.
Strawson, Kant’s Paralogisms: Self-Consciousness and the ‚Outside Observer‘, in: Konrad Cramer/
Hans Friedrich Fulda/Rolf-Peter Horstmann/Ulrich Pothast (Hgg.), Theorie der Subjektivität, a.a.O.
Um über Selbstbewußtsein zu reden, ist die intentionale Isolierung seiner Momente erforderlich,
aber Sprache kann auch ihre eigene Unangemessenheit an bestimmte Gegenstände mitformulieren.
Nicht alles, worüber in intentione recta nicht zu reden ist, gebietet deshalb Schweigen.
410
Anthropologie, VII, 134 Anm.
414 D F S
„eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen“411 enthält, was einen ganz handfesten ma-
teriellen Unterschied darstellt. Kants Versuche, Subjekt und Objekt zusammenzuführen,
erscheinen wie das vergebliche Aneinanderdrücken zweier gleichgepolter Magnete.
Die Zuweisung von Reflexion und Apprehension zu zwei unterschiedlichen Betrach-
tungsweisen – jener zur Logik, dieser zur Psychologie – verschärft das Problem.412
Die Reflexion als Gegenstand der Logik hätte dann für sich keinen Inhalt, wäre abso-
lut bestimmungslose reine Form. Der innere Sinn als Gegenstand der Psychologie hat
aber aus sich selbst keine Einheit, kann gar nicht als Gegenstand von Wissenschaft er-
scheinen. Beide Einzeluntersuchungen wären gegenstandslos. Zwar versucht Kant, die
Spaltung des Subjekts in eines, das mit sich subjektiv identisch ist, und ein anderes,
das sich nur als Objekt des inneren Sinns hat, zu vermitteln, aber die Kontinuität des
Subjekts durch seine Mannigfaltigkeit hindurch ist eine bloß pragmatisch-anthropologi-
sche Bestimmung, an die sowohl die transzendentallogische als auch die psychologische
nicht heranreichen. Logik und Psychologie – ihre Trennung – sind Versuche, die Dis-
kontinuität der Subjektivität durch philosophische Abstraktionen zu überbrücken. In der
Anthropologie wird nicht die problematische Einheit beider Abstraktionen hergestellt,
sondern eine dritte Abstraktion: In ihr sollen die abstrakte logische Identität und die
abstrakte psychologische Identität der selbstverständlichen alltäglichen personalen Iden-
tität korrespondieren. Deren theoretische Begründungsaporie wird dadurch aber nicht
behoben, sondern durch ein pragmatisches Postulat beseitigt.413
Kennzeichnend für die Subjektauffassung der Anthropologie und, ex negativo, auch
für die der Transzendentalphilosophie, ist eine – gleichwohl von Kant gestrichene – For-
mulierung aus der Rostocker Handschrift: „[S]o wird das Erkenntnis was den inneren
Sinn des Menschen zum Grunde hat diesen bei der inneren Erfahrung nicht vorstellen,
wie er an sich selbst ist (weil die Bedingung nicht für alle denkenden Wesen gültig ist
denn sonst wäre eine Vorstellung des Verstandes) sondern ist bloß ein Bewußtsein der
Art wie der Mensch […] in der inneren Beobachtung […] ihm selbst erscheint“414 . Die
Erkenntnis dessen, was ein Mensch selbst ist, bleibt danach immer die Erkenntnis jener
Eigenschaften, die er mit allen denkenden Wesen gemeinsam hat. Ein ‚an sich selbst
Sein‘ der Individuen gibt es dann nicht. Individualität bliebe immer nur akzidentell und
trüge dem Selbstsein der Subjekte nichts ein. –
411
Vgl. Anthropologie, VII, 134 Anm.
412
Vgl. Anthropologie, VII, 141.
413
So arbeiten pragmatische Interpretationen heute grundsätzlich. Auch ohne den Streit zu entschei-
den, ob eine solche Argumentation zulässig ist, kann der Unterschied festgehalten werden, daß die
pragmatische Lösung von Aporien durch widerspruchsfrei integrierbare Zusatzannahmen – Pos-
tulate gewissermaßen – vielleicht hinsichtlich der fraglichen Sachproblematik zu verwendbaren
Ergebnissen kommt, jedenfalls aber nicht das erkenntnislogische Begründungsproblem aufheben
kann. Dieses soll aber hier im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, weil es nicht als wissenschaft-
licher Fehler, sondern als Ausdruck eines Problems im realen Verhältnis von Subjekt und Objekt
aufgefaßt werden soll.
414
Anthropologie, in: Immanuel Kant, Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, a.a.O., Bd. 12, 429
Anm.
S O: D G 415
415
Vgl. KrV, B 138. Die Unmittelbarkeit des Verhältnisses von Denken und Sein verdankt sich einer
negativen Argumentation: „Der Gedanke ich bin nicht kann gar nicht existiren; denn bin ich nicht,
so kann ich mir auch nicht bewußt werden, daß ich nicht bin. Ich kann wohl sagen: ich bin nicht
gesund, u.d.g. Prädicata von mir selbst verneinend denken (wie es bei allen verbis geschieht);
aber in der ersten Person sprechend das Subject selbst verneinen, wobei alsdann dieses sich selbst
vernichtet, ist ein Widerspruch.“ (Anthropologie, VII 167). – Den unmittelbaren Zusammenhang
von Denken und Sein im Ausdruck des nur auf sich selbst zurückgezogenen Bewußtseins in Des-
cartes’ cogito ergo sum hat Hegel als „schlechthin Erstes, Princip“ (G. W. F. Hegel, Enzyklopädie,
a.a.O., § 64) bezeichnet. Allerdings sei es „Gedankenlosigkeit nicht zu sehen, daß die Einheit
unterschiedener Bestimmungen, nicht blos rein unmittelbare, d. i. ganz unbestimmte und leere
Einheit, sondern daß eben darin gesetzt ist, daß die eine der Bestimmungen nur durch die andere
vermittelt, Wahrheit hat – oder wenn man will jede nur durch die andere mit der Wahrheit ver-
mittelt ist“ (§ 70). Damit bestimmt Hegel die ‚Dritte Stellung des Gedankens zur Objektivität‘,
das unmittelbare Wissen, als in sich selbst mit sich vermittelt und über diese ursprüngliche Ver-
mittlung von Denken und Sein auf Wahrheit bezogen, deren Objektivität aus dieser Vermittlung
logisch zu entwickeln sei. – Zu diesem Zusammenhang vgl. auch Manfred Frank, Fragmente einer
Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie, a.a.O., 420ff.
416
KrV, B 157 FN.
417
KrV, B 157 FN.
418
Daraus ergibt sich die Antwort auf Henrichs Frage, wie es zu erklären sei, daß in den §§ 21ff.
dasselbe Problem, das in § 20 abgeschlossen zu sein schien (der Geltungsbereich des ‚Ich-den-
ke‘), erneut verhandelt werde (in: Burkhard Tuschling, Probleme der „Kritik der reinen Vernunft“,
a.a.O., 77): Im Objektivitätsbegriff der ersten Hälfte der Transzendentalen Deduktion erlischt das
Objekt. Es wird somit die Möglichkeit der Geltung von Kategorien überhaupt gezeigt, nicht aber
in Beziehung auf Erfahrungsgegenstände. Deshalb gehören auch die Grundsätze systematisch zu
diesem zweiten Teil der Diskussion des Geltungsbereichs der Kategorien dazu. Ob sich daraus ei-
ne ‚konsistente Rekonstruktion‘ (vgl. 78) ergibt, bleibt allerdings fraglich: Wenn Kategorien über
naturwissenschaftlich ideierte Objekte hinaus auf Gegenstände naiver Erfahrung bezogen werden
sollen, wird eine solche Rekonstruktion nicht möglich sein, weil diese Gegenstände nicht Pro-
dukte der Subjektivität sind (zum ideierten Objekt vgl. Renate Wahsner, Verstand – Vernunft –
Verantwortung. Ist die Naturwissenschaft schuld an der inhumanen Gestalt und Anwendung der
Technik?, in: Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen
Naturerkenntnis, Frankfurt am Main 1996, 168f.) – Vgl. auch Manfred Baum, Erkennen und Ma-
chen in der „Kritik der reinen Vernunft“, a.a.O., 176: Die Synthesis produziere nicht das Objekt,
416 D F S
Denken des Denkens wäre es leer, Denken von Nichts und damit gar kein Denken. Des-
halb war bei Descartes der letzte Gewißheitsgrund, das Bewußtsein des Zweifels gerade
als solches, per negationem auf die Fülle des Daseins bezogen. Die Beziehung des ‚Ich
denke‘ auf Synthesis – und auf ein Material derselben – kann, wenn es transzendentale
Bedingung der Möglichkeit aller Erkenntnis unangesehen ihrer Inhalte sein soll, bloß
formal sein. Damit es aber nicht als Denken von Nichts implodiert, verknüpft Kant es
in sich selbst mit dem ‚Ich bin‘, das als Existenzurteil einen Gehalt hat, der es vom ‚Ich
denke‘ unterscheidet; diesem Gehalt nach kann es allerdings nicht durch das ‚Ich denke‘
hervorgebracht werden. Das gelänge nur einem Denken, dessen eigener Begriff von sich
selbst ein Sein mit sich führte.
Damit hätte es die Form des ontologischen Gottesbeweises. Diese liegt in der Struk-
tur der transzendentalen Begründung des erkenntnistheoretischen Subjekts hinsichtlich
der Seite seiner Ursprünglichkeit, die alle Synthesis begründet; hinsichtlich seiner syn-
thetischen Seite, deren Resultat selbständig vorgestellt wird, liegt in ihm die Form des
kosmologischen Gottesbeweises. Über die Götter erhaben wäre allein das revoltieren-
de Bewußtsein, das „nichts Ärmer’s unter der Sonn’ [kennt] als euch Götter“419 , und
seine Subjektivität gleichwohl nicht wie Goethes Prometheus aus der Affirmation des
Endlichen bezöge, sondern aus einem Bewußtsein vom Endlichen, das dieses nicht bloß
formal sondern historisch und antizipatorisch überragte.
Die Bestimmung der Möglichkeit objektiver, das heißt notwendig allgemeiner Er-
kenntnis kann nur transzendental erfolgen, Erfahrung dagegen führt nur auf kompara-
tive Allgemeinheit.420 Für die transzendentale Bestimmung der Möglichkeit objektiver
Erkenntnis benötigt Kant nun die formale Einheit des Selbstbewußtseins. Soll die Ver-
knüpfung von Vorstellungen nicht bloß assoziativ sein, abhängig von Umständen und
Einflüssen im empirischen Subjekt, sondern soll die Verknüpfung von Vorstellungen
notwendig und allgemein in einem Urteil ausgedrückt werden, so bedeutet dies: „die-
se beiden Vorstellungen sind im Objekt [...] verbunden“421 . Soll dieses Objekt für alle
Subjekte das gleiche sein, ist eine Beziehung von Subjekt und Objekt vorauszusetzen,
die das Objekt als Korrelat der Verbindung der Vorstellungen konstituiert, aber vermöge
einer Funktion von Subjektivität überhaupt. Diese kann, da nichts in sie eingehen kann,
was irgendeinem bestimmten Subjekt nicht zukäme, nur die Form von Subjektivität –
Einheit mit sich selbst – sein.
Die Objektivität von Urteilen ist nur möglich, wenn die dadurch ausgedrückte not-
wendige und allgemeine Beziehung ihren Grund in der transzendentalen Einheit der
Apperzeption hat. Das kann sie aber nur, wenn diese selbst der Grund der Objekti-
vität der Vorstellungen ist. Der Verstand stellt also durch Urteile die Objektivität der
Verbindung seiner Vorstellungen her, sofern diese als Einheit von gegebenem Mannig-
sondern die wissenschaftliche Objektivität des Objekts, indem sie dieses in den gesetzmäßigen Na-
turzusammenhang der Erscheinungen einordne. – Zum Verhältnis der ‚zwei Beweisschritte‘ in der
Deduktion B vgl. auch Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., 159ff. Im ersten
Beweisschritt stand „die Anwendung der Kategorien nicht zur Debatte“ (169; meine Kursivierung).
419
Johann Wolfgang Goethe, Prometheus, in: Werke, Kommentar und Register. Hamburger Ausgabe,
Bd. 1, München 1989, 45.
420
Vgl. KrV, § 13, B 116ff.
421
KrV, B 142.
S O: D G 417
faltigen unter der Einheit der Apperzeption stehen, oder: Der Verstand transportiert seine
Identität des Selbstbewußtseins durch Urteile ins Mannigfaltige, das nur so für ihn zu
einer Vorstellung werden kann. Die ungeordnete Mannigfaltigkeit wird zur bestimmten
Mannigfaltigkeit einer Vorstellung durch die Urteilsfunktionen des Verstandes, die Ka-
tegorien. Wenn ein Bewußtsein der Einheit einer Vorstellung nur möglich ist durch die
transzendentale Einheit der Apperzeption und diese das Mannigfaltige mittels der Kate-
gorien bestimmt, muß das Mannigfaltige der kategorialen Bestimmung zugänglich sein;
sofern es dem Bewußtsein in einer Vorstellung gegeben ist, ist es immer schon kategorial
bestimmt.
Sofern Objektivität fürs Subjekt faßbar ist, muß sie durch es konstituiert werden. Da-
für muß das äußerliche Material der Bestimmung durchs Subjekt zugänglich sein, das
heißt, sofern es in Erkenntnis eingehen kann, unterliegt es immer schon subjektiven
Bestimmungen. Wenn also Gegenstände als Gegenstände der Erfahrung erst durch ka-
tegoriale Bestimmung möglich werden, haben die Kategorien objektive Gültigkeit, das
heißt sie beziehen sich notwendig und a priori auf Gegenstände der Erfahrung, weil oh-
ne sie gar keine Erfahrung, gleich welchen Inhalts, möglich ist.422 „Also steht auch das
Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung notwendig unter den Kategorien.“423
Hierbei ist jedoch innerhalb des Begriffs der Objektivität ein eminenter Unterschied
zu beachten, der auf einem Unterschied im Begriff des Gegenstandes beruht: Die Gegen-
stände, deren Objektivität von den naturwissenschaftlichen Subjekten konstituiert wird
– die Objekte wissenschaftlicher Erfahrung – sind nicht die Gegenstände der naiven
Erfahrung.424 Das naturwissenschaftliche Objekt wird konstituiert, weil es von den Na-
turwissenschaftlern selbst hergestellt wird. Das Objekt des Experiments ist ein technisch
realisiertes, von Randbedingungen befreites, das Objekt des Naturgesetzes ist erst recht
ein idealisiertes. Nicht die Alltagswelt wird primär naturwissenschaftlich erkannt, son-
dern physische Welt überhaupt; die Beziehung dieser idealisierten Naturerkenntnis auf
bestimmte einzelne Naturobjekte geschieht wiederum durch Technisierung der Erkennt-
nisse, d. h. ihre Anwendung unter bestimmten Bedingungen, über deren Bestimmtheit
nicht a priori entschieden ist.425 Die Differenz in der Objektivität wird vollends deutlich
daran, daß der systematische Zusammenhang der Naturerkenntnisse, der Grund der all-
422
Vgl. KrV, § 14, B 124ff.
423
KrV, B 143.
424
Damit hängt „Kants Restriktion der Sinnlichkeit auf Anschauung“ zusammen, „eben das Verhältnis
zur äußeren Natur, das der distanzierten Beherrschung zugänglich ist“ (Peter Euler, Technologie
und Urteilskraft, a.a.O., 180).
425
Vgl. hierzu Renate Wahsner, Verstand – Vernunft – Verantwortung. Ist die Naturwissenschaft
schuld an der inhumanen Gestalt und Anwendung der Technik?, in: Zur Kritik der Hegelschen
Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis, a.a.O. Da die naturwis-
senschaftlichen Hintergründe hier nicht eingehend thematisiert werden können, soll ein längeres
Zitat herangezogen werden: „[D]ie Aussagen der Naturwissenschaft, zumindest die der Physik,
[sind] nicht unmittelbar schon Aussagen über die Natur […]. Die naturwissenschaftliche, bzw. die
physikalische Welt ist nicht die sinnlich-konkrete, sondern eine ideale oder ideierte Welt, gefaßt un-
ter der Form des Objekts. […] Diese Artifizierung ist erforderlich, um Messung und Berechnung
zu ermöglichen. Die physikalischen Idealitäten verwandelt nun die Technik in gegenständliche
Realitäten. Sie schafft eine bestimmte Wirklichkeit, die ‚von Natur aus‘ nicht da ist. Aber: Die
Technik ist – wie übrigens auch jedes Experiment – nur die Realisierung bestimmter Lösungen der
418 D F S
gemeinen Objektivität der idealisierten Objekte nicht durch eine kollektive Einheit des
Erfahrungsganzen, ein metaphysisches Totalitätsprinzip nach der Form Gottes, begrün-
det wird, sondern durch die Mathematisierung der Naturgesetze und die Bemühung, ei-
nen widerspruchsfreien mathematischen Zusammenhang der Naturforschung wenigstens
in Teilbereichen herzustellen.426 Zwar bemerkt Kant „Erfahrung methodisch anstellen
heißt allein beobachten“427 , aber das leitende Prinzip der Methode soll ein teleologi-
sches sein.
Der noch nicht ausreichend differenzierte Objektbegriff verdankt sich noch der
Tradition Bacons. Dessen Vorstellung, die Natur schaffe Gegenstände gemäß einer
experimentell aufzudeckenden Gesetzmäßigkeit,428 beerbt ihrerseits – gegen die eigene
Intention – die mittelalterliche Naturvorstellung: Zwar wird der teleologische Prozeß
naturalisiert vorgestellt, aber der experimentelle Eingriff geschieht noch nicht mit
dem Bewußtsein, Natur dadurch grundsätzlich zu verändern, sondern mit dem, sie
dadurch so, wie sie selbst ist, zugänglich zu machen. So wenig die Säkularisierung
des Politischen – aller Kritik am Gottesbegriff zum Trotz – das Prinzip hierarchischer
Herrschaft ebenso gründlicher Kritik unterzog, das im Gegenteil zum Prinzip neu-
zeitlicher Subjektivität aufgehoben wurde, so wenig hat die Säkularisierung der Natur
deren Vorstellung als Subjekt zugunsten der menschlichen Subjektivität überwunden.
Kant freilich verwendet den Naturbegriff Bacons schon in der durch die empiristische
Erkenntniskritik problematisierten Gestalt.429 Daran aber, daß Kant immer wieder auf
teleologische Argumentationen zurückgreift, um den allgemeinen Zusammenhang der
Objektivität denkbar zu machen, zeigt sich, daß er im Ringen um die wissenschaftliche
Erkennbarkeit von Erfahrungsgegenständen die Objekte der Naturwissenschaft und
die Objekte der naiven Erfahrung nicht hinreichend unterscheidet. Die subjektive
das physikalische Gesetz bildenden physikalischen Gleichungen. Das Gesetz für sich genommen
beschreibt nämlich noch kein einziges physikalisches System. Das gelingt erst, wenn man unter
Hinzugabe bestimmter Anfangs- und Randbedingungen aus dem Gleichungssystem eine bestimmte
Lösung ausrechnet. […] Und welche der im Gesetz enthaltenen Möglichkeiten verwirklicht wer-
den, ist nicht durch die Physik bestimmt, sondern durch die kulturhistorisch und sozialökonomisch
gebildeten Interessen derjenigen, die die Auswahl aus der Fülle der physikalischen Möglichkeiten
entscheiden.“ (168f.). Vgl. ausführlicher hierzu: Renate Wahsner/Horst-Heino von Borzeszkowski,
Die Wirklichkeit der Physik. Studien zu Idealität und Realität in einer messenden Wissenschaft,
Frankfurt am Main 1992. Vgl. auch Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O.,
58 und 79. Neuerlich hat Dieter Henrich den Unterschied von ‚wissenschaftlicher Welt‘ und ‚na-
türlicher Welt‘ hervorgehoben (Denken und Selbstsein, a.a.O., 39f.). – Die praktische Dimension
im Objektivitätsbegriff bestimmt weiter den Unterschied von Objektivität der wissenschaftlichen
Erkenntnis durch ihre Vernünftigkeit von einer ihr korrespondierenden Realität, die dieselbe Ver-
nünftigkeit auch für die Gestaltung der Erkenntnisbedingungen in Anspruch nehmen müßte. Vgl.
Peter Bulthaup, Objektivität und Realität, unveröff. Typoskript, Bulthaup-Archiv MAP 013.
426
Frank Kuhne, Selbstbewußtsein und Erfahrung bei Kant und bei Fichte, a.a.O., hat deshalb
vorgeschlagen, die transzendentale Einheit der Apperzeption als Einheit der Resultate der Wis-
senschaften zu verstehen (vgl. 342).
427
Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 161.
428
Vgl. Francis Bacon, Neues Organ der Wissenschaften, Darmstadt 1962, 99f.
429
Vgl. John Locke, Über den menschlichen Verstand, Hamburg 1968, III c. 3, 15, 17, und David
Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, a.a.O., 41.
S O: D G 419
430
Hierzu vgl. ausführlicher das Kapitel zur Kritik der Urteilskraft. An dieser Stelle läßt sich schon
anmerken, daß aus dem Zusammenhang von Erkenntnis und Gestaltung von Welt ein „technolo-
gisch veränderte[s] Subjekt-Objekt-Verhältnis“ (Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O.,
17) hervorgeht, daß „Technik als soziale Praxis“ (19) zu begreifen ist. Das läßt den Naturbegriff
nicht unberührt.
431
Für die Rekonstruktion jenes Zusammenhangs ist zunächst die geschichtliche Verselbständigung
der Naturwissenschaften und der Technik vorausgesetzt. Vgl. Gernot Böhme/Wolfgang v.d. Daelen/
Wolfgang Krohn, Die Verwissenschaftlichung von Technologie, in: G. Böhme u. a. (Hgg.), Die
gesellschaftliche Orientierung des wissenschaftlichen Fortschritts, Frankfurt am Main 1978.
432
Vgl. Eggert Holling/Peter Kempin, Identität, Geist und Maschine. Auf dem Weg zur technolo-
gischen Zivilisation, Hamburg 1982, 204: „Sobald Wissenschaft als Produktion, als Tätigkeit
des Subjekts begriffen wird, werden in den Naturwissenschaften soziale Tätigkeiten und in den
Sozialwissenschaften die Technik als gesellschaftliche Form und Tätigkeit zu zentralen Gegen-
standsbereichen.“
433
KrV, B 144 FN.
420 D F S
dem Ausdruck ‚Mannigfaltiges in einer gegebenen Anschauung‘ das Wort ‚einer‘ das ei-
ne Mal groß, das andere Mal klein,434 so daß in diesem Fall der unbestimmte Artikel, in
jenem das Zahlwort vorliegt: Hier ist das Mannigfaltige grundsätzlich immer schon ka-
tegorial bestimmt, dort erst hinsichtlich der Synthesis des Verstandes. Als miteinander
kompatibel können beide Varianten nur unter der einschränkenden Bedingung ‚sofern
das Mannigfaltige gegeben ist‘ gedacht werden, aber auf zweierlei Weise: Entweder
steht alles Mannigfaltige grundsätzlich unter kategorialer Bestimmung und ist deshalb
der Synthesis des Verstandes subsumierbar, oder manches Mannigfaltige ist kategorial
bestimmt, manches nicht; dann wäre nur das erste auf die Synthesis bezogen, das zweite
dagegen erkenntnistheoretisch irrelevant. In beiden Fällen gilt, daß alles, was synthesier-
bar ist, was Gegenstand von Erkenntnis sein kann, mit Hegels Ausdruck gesprochen ‚an
sich‘ schon kategorial verfaßt sein muß, um von uns kategorial erfaßt werden zu können.
Im ersten Fall ist die gesamte Objektivität der Sache nach fürs Subjekt Ausdruck sub-
jektiver Bestimmung, im zweiten Fall ergäbe sich eine Objektivität, die zu einem Teil
derselbe Ausdruck, zu einem anderen Teil aber gegen das Subjekt selbständig wäre. Die-
ser Teil bliebe aber fürs Subjekt irrelevant, könnte ihm bloß als diffuser Sinneseindruck
erscheinen, dem keine Objektivität zukäme.
Eine wie immer beschaffene Selbständigkeit des Erkenntnisobjektes, mit der dies
jedem, der einmal versucht, etwas zu erkennen, sich entgegenstellt und womöglich
verschließt, ist in beiden Varianten ausgeschlossen, und sie kann auch in einer
systematischen Erkenntnistheorie nicht bestehen; der Gedanke daran wäre erst der
außersystematischen Einsicht in die theoretische und praktische Uneinigkeit des
Subjekts der Theorie möglich: als dessen unauflösbare Voraussetzung, die, weil sie dem
Subjekt notwendig ist, eine Differenz in es selbst einträgt.
So sinnlos es ist, von einem Objekt zu reden, das außerhalb subjektiven Bewußtseins
da wäre, so sinnlos ist auch der Begriff eines Subjekts, das sich nicht auf irgend etwas
bezöge, das es nicht selbst bestimmt hat; denn es kann nichts bestimmen, ohne über
solche Bestimmungen zu verfügen, die nicht aus der bloßen Selbstunterscheidung des
Denkens generiert werden können. Noch der Schluß auf die Kategorien als Bedingungen
a priori solcher Bestimmungen setzt bestimmte Erfahrung voraus und mit ihr bestimmtes
Selbstbewußtsein.
Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist die Verankerung a priori der Ka-
tegorien; aber auch diese Aufgabe vermag sie nur zu erfüllen, sofern sie eine aus be-
stimmter Erfahrung erschlossene Bestimmung ist. Als rein originäres, für sich selbst
ursprüngliches, bloß in reiner Synthesis sich bestimmendes Selbstbewußtsein fällt sie
in sich zusammen. Sie ist Inbegriff unabhängiger, übergeordneter Subjektivität nur im
Bewußtsein ihrer Abhängigkeit.
Kant reflektiert dieses Problem in der Unterscheidung von Selbstbewußtsein und
Selbsterkenntnis, die systematisch der von Denken und Erkennen zugrundeliegt; in der
Entwicklung der Erkenntnistheorie aber muß Selbsterkenntnis dem Selbstbewußtsein
vorangehen. Die Bestimmung der Selbsterkenntnis selbst folgt dem Begriff der
gegenständlichen Erkenntnis, die den bloßen Gedanken von einem Gegenstand durch
434
Vgl. KrV, B 143.
S O: D G 421
435
Vgl. KrV, B 146f.
436
Vgl. KrV, B 146.
437
KrV, B 147.
438
Der Begriff möglicher Erfahrung gründet in den Formen der Anschauung, die selbst nicht an-
schaulich sind. Vgl. Prolegomena, IV §§ 7-10.
422 D F S
Wenn Kant nun die Vorstellung der Erkenntnis des Absoluten durch Negation alles
Empirischen in den Prädikaten Gottes als gegenstandslos zurückweist,439 trifft er da-
her indirekt auch eine Schwäche seines eigenen Begriffs von Erfahrungserkenntnis, der
ebenfalls bloß negativ bestimmbar ist: Als Begriff von Erfahrung unterliegt er selbst
deren Bestimmungen nicht. Erfahrung selbst – ihre Eigenschaft, ein Objekt geben zu
können – ist bestimmt in Differenz zu möglichen anderen, uns nicht bekannten Arten von
Erfahrung, nach denen uns kein Objekt gegeben werden könnte.440 Erfahrungserkennt-
nis ist ihrem Begriff nach die Verbindung der begrifflichen Einheit der Synthesis durch
die Kategorien mit der Einheit der Synthesis in der Anschauung. Diese Verbindung geht
weder aus den Kategorien, noch aus der Sinnlichkeit hervor. Die Kategorien können für
sich nur ein ens rationis konstruieren. Die empirische Sinnlichkeit wird durch die Zu-
fälligkeit der Objekte bestimmt und kann daraus keine Verbindung zu den Kategorien
generieren. Die reine Sinnlichkeit schließlich kann wohl eine bloß formale Vorstellung
von Objektivität, aber keine Verbindung zu den Objekten herstellen. Dem Begriff von
Objektivität, der weder bloß formal noch empirisch bestimmt ist, wird so nicht genügt.
Die Verbindung von Subjekt und Objekt soll nun adäquat durch die Einbildungskraft
hergestellt werden.
Kant unterscheidet die transzendentale Synthesis in eine synthesis intellectualis,
mittels derer die Einheit der Apperzeption sich auf ‚Anschauung überhaupt‘ bezieht,
und eine synthesis speciosa – auch figürliche oder „transzendentale Synthesis der
Einbildungskraft“441 genannt –, in deren Begriff die Möglichkeit der Synthesis des
Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung gemäß der Einheit der Apperzeption a
priori gedacht werden kann. Um dies leisten zu können, darf die Einbildungskraft
nicht wie die Sinnlichkeit bloß rezeptiv – bestimmbar – sein, sondern sie muß sich
selbst spontan – bestimmend – auf die Sinnlichkeit beziehen; so kann sie beispielsweise
Vorstellungen von etwas nicht aktuell Gegebenem generieren. Ihre Aufgabe ist es, die
Sinnlichkeit den Kategorien gemäß unter die Einheit der Apperzeption zu bringen.
Damit ist sie ein Vermögen des Verstandes, eine Funktion desselben in Beziehung
auf die Sinnlichkeit. Insofern sie als Bedingung der Möglichkeit der Verknüpfung von
Verstand und Sinnlichkeit erschlossen ist, partizipiert sie an beiden: Als spontane, nicht-
rezeptive Wirkung auf die Sinnlichkeit gehört sie dem Verstand an; insofern sie dem
Verstand diese Gegenstände, auf die er mittels der Einbildungskraft wirkt, nur unter den
subjektiven Bedingungen der Sinnlichkeit vermitteln kann, gehört sie dieser an und ist
so eine subjektiv-objektive Funktion des Erkenntnisvermögens.
Indem der Verstand sich in dieser Funktion selbst objektiviert, ist seine Objektivität
immer schon subjektiv vermittelt. Das Objekt ist dem Verstand dadurch ein anderes, daß
es nur unter den Bedingungen der Sinnlichkeit möglich ist.442 Diese aber sind subjektive
Bedingungen und für den Verstand nur relevant, sofern sie unter die Einheit der Apper-
zeption gebracht werden können. Dasjenige in der Anschauung, was nicht schon unter
die Einheit der Apperzeption gebracht worden ist, ist zunächst bloß assoziativ aufgefaßt
439
Vgl. KrV, B 149.
440
Vgl. KrV, B 148f.
441
KrV, B 151.
442
Zu diesem Problem vgl. Georg Mohr, Das sinnliche Ich, a.a.O., bes. 74f.
S O: D G 423
und empirisch synthesiert worden. Es ist Gegenstand der bloß reproduktiven Einbil-
dungskraft, die „zur Erklärung der Möglichkeit der Erkenntnis a priori nichts beiträgt,
und um deswillen nicht in die Transzendentalphilosophie, sondern in die Psychologie
gehört“443 . Für die transzendentale Erkenntnistheorie ist allein die produktive Einbil-
dungskraft von Interesse. Diese ist zwar kein bloß intellektuelles Vermögen, aber doch
nicht weiter mit Erfahrung behaftet, als daß sie die Sinnlichkeit hinsichtlich aller mögli-
chen Anschauungen, also a priori, mit der formalen Einheit des Verstandes versieht und
so eine kategorial bestimmte Synthesis des Mannigfaltigen, eine „bestimmte Anschau-
ung“444 ermöglicht. Indem so die Verbindung des Erkenntnisvermögens zu den Objekten
als produktive Einbildungskraft kategoriale Synthesis und als reproduktive Einbildungs-
kraft assoziative, vorkategoriale Synthesis ist, bleibt dasjenige am Erfahrungsobjekt, was
nicht in der Synthesis aufgeht, seine Selbständigkeit zumal, aus der Vorstellung vom Ob-
jekt ausgeschlossen.
Die „Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne überhaupt“445 führt über
die Bestimmung gegenständlicher Erkenntnis auf ein inneres Problem des Selbstbewußt-
seins zurück, auf dasjenige nämlich, wie die Zeit als „Vorstellungsart meiner selbst als
Objekts“446 gedacht werden könne: Wenn die Zeit die Form des inneren Sinnes ist, be-
zieht sie sich auf alle Vorstellungen des Subjekts, insofern diese in doppelter Bedeutung
seine Vorstellungen sind: sowohl als Bestimmungen, die es produziert, als auch als Be-
stimmungen – Inhalte – seines Bewußtseins. Wenn aber das Bewußtsein sich in der Form
des inneren Sinns auf sich selbst, soweit es durch den inneren Sinn bestimmt ist, bezieht,
müßte der innere Sinn sowohl aktives wie passives Vermögen sein, ‚wir‘ müßten „uns
443
KrV, B 152. Übrigens widmet Kant auch in den psychologisch intendierten Untersuchungen zur
Anthropologie der reproduktiven Einbildungskraft keine besondere Aufmerksamkeit. Er unter-
scheidet sie noch vom Gedächtnis dadurch, daß sie ein Moment des Unwillkürlichen und einen
Einschlag der Phantasie habe (vgl. Anthropologie, VII 182). Selbst das Gedächtnis betrachtet Kant
nicht eingehend in seiner Erkenntnisfunktion, im Unterschied zum ‚Vorhersehungsvermögen‘: Die-
ses „zu besitzen interessirt mehr als jedes andere: weil es die Bedingung aller möglichen Praxis
und der Zwecke ist, worauf der Mensch den Gebrauch seiner Kräfte bezieht. […] Das Zurückse-
hen aufs Vergangene (Erinnern) geschieht nur in der Absicht, um das Voraussehen des Künftigen
dadurch möglich zu machen“ (Anthropologie, VII 185f.). Die Erinnerung dessen, was das Subjekt
nicht ist, tritt auch hier zurück gegen die Antizipation dessen, was das Subjekt aus sich heraus zu
setzen vermag.
444
KrV, B 154. Auch dies bestätigt die Anthropologie: Produktive Einbildungskraft ist „ein Vermögen
der ursprünglichen Darstellung des letzteren [nicht gegenwärtigen Gegenstandes; M.St.] (exhibitio
originaria), welche also vor der Erfahrung vorhergeht […]. Reine Raumes- und Zeitanschauungen
gehören zur erstern Darstellung; alle übrige setzen empirische Anschauung voraus, […] Die pro-
ductive aber ist dennoch darum [weil sie ‚dichtend‘ ist; M.St.] eben nicht schöpferisch, nämlich
nicht vermögend, eine Sinnenvorstellung, die vorher unserem Sinnesvermögen nie gegeben war,
hervorzubringen“ (VII, 167f.). Den Widerspruch reiner Anschauung als einer Zeit ohne Zeitinhalte
reproduziert die produktive Einbildungskraft sozusagen a priori.
445
KrV, B 150.
446
KrV, B 54. Für eine detaillierte Erörterung der Funktion der Zeit bei der Bestimmung von Sub-
jektivität vgl. Georg Mohr, Das sinnliche Ich, a.a.O. Die crux der Argumentation ist allerdings das
Problem der Zeitlichkeit äußerer Erfahrung.
424 D F S
447
KrV, B 153.
448
Vgl. KrV, B 150.
449
Vgl. KrV, B 153.
450
KrV, B 150.
451
Vgl. KrV, B 154.
S O: D G 425
sich selbst ist.452 Ein materielles Selbstbewußtsein von sich als Dinges an sich ist dem
Subjekt ganz unmöglich, weil das formale Selbstbewußtsein nicht intellektuell anschaut,
sondern sinnlicher Anschauung bedarf, die auch das Subjekt selbst nur als Erscheinung
darstellen kann. Wird im bestimmten Selbstbewußtsein die Apperzeption vom inneren
Sinn unterschieden, um der Tautologie reiner Reflexivität zu entgehen, so schließt sich
doch die Frage an, wie beide Seiten als Ausdrücke desselben Subjekts zu denken sind,
wenn dessen bestimmte Einheit nur auf einer Vorstellung seiner selbst als Erscheinung,
nicht auf einem Selbstbewußtsein der Substanz nach beruhen soll.
Die traditionelle Differenzierung in aktiven und passiven Verstand begründete zwar
ein substantielles Selbstbewußtsein, kam aber paradox nicht ohne Zitat eines heteroge-
nen Objekts aus, durch dessen Erkenntnis die Substanz erst selbstbewußt werde.453 Kants
Selbsterkenntnis ist in umgekehrter Weise paradox: Sie soll a priori bestimmt sein, be-
wußt ohne äußere Erfahrung auskommen, muß aber doch auf die Substantialität des
Selbstbewußtseins verzichten. Das liegt aber nicht daran, daß unbeabsichtigt doch äuße-
re Erfahrung als Bedingung in die Selbsterkenntnis einginge, sondern es liegt an deren
Reduktion auf ihre formale Funktion als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. In
der Erkenntnis wird die Form der Apperzeption mit der Form der Sinnlichkeit verknüpft,
indem Apperzeption a priori den inneren Sinn bestimmt und so eine Anschauung der
Subjektivität ihrer selbst erst herstellt.
Ausdrücklich ist zur Selbsterkenntnis „eine bestimmte Art der Anschauung“454 erfor-
derlich, durch die das Mannigfaltige, auf das die Apperzeption sich a priori beziehe,
gegeben sei. Eine ‚bestimmte Art der Anschauung‘ ist nun nicht eine bestimmte An-
schauung selbst, so daß es genügt, wenn die Einbildungskraft durch die Ordnung des
inneren Sinns eine reine, bloß formale Anschauung produziert, in der das Subjekt sich
selbst gegeben ist. In dieser Konstruktion fallen Subjekt und Objekt zusammen: „Ich,
als Intelligenz und denkend Subjekt, erkenne mich selbst als gedachtes Objekt, sofern
ich mir noch über das in der Anschauung gegeben bin“455 . Daß das Subjekt sich selbst
ordnend im inneren Sinn affiziert, schließt Kant daraus, daß wir „die Bestimmungen des
inneren Sinnes gerade auf dieselbe Art als Erscheinungen in der Zeit ordnen müssen, wie
wir die der äußeren Sinne im Raume ordnen“456 . Zum Beispiel kann Zeit selbst nur als
(skalierte) Linie vorgestellt werden. Der Gedanke der eigenen intellektuellen Existenz
452
Vgl. KrV, B 157.
453
In der Tradition der Metaphysik war dieses Problem bekannt: „Durch den Akt wird der Verstand
selbst erkannt.“ (Thomas von Aquin, Summa theologiae, a.a.O., I, 87, 3 c.) Diese These führt
auf die Differenz von intellectus agens und intellectus possibilis, der Verstand erkennt sich selbst,
indem er im Erkenntnisakt auf sich selbst als durch Vorstellungen bestimmten intellectus possibilis
reflektiert. Dabei sind beide nicht als getrennt bestehende Vermögen, sondern als Funktionen des-
selben Verstandes zu verstehen. Gleichwohl muß auch Thomas dieser Selbsterkenntnis a posteriori
das Selbstbewußtsein einer „habituellen Selbsterkenntnis“ als Bedingung der Möglichkeit a priori
an die Seite stellen. (Thomas von Aquin, Über die Wahrheit, a.a.O., 10, 8 ad 1) Das Problem
findet sich in gleicher Struktur schon bei Aristoteles, Über die Seele, Hamburg 1995, III, 5, 430a.
454
KrV, B 157.
455
KrV, B 155.
456
KrV, B 156.
426 D F S
ist bloß formal und bedarf der Ergänzung durch eine „Anschauung des Mannigfaltigen
in mir“457 , um Erkenntnis sein zu können.
Der Gehalt des Intellekts ist das Vermögen zur Synthesis hinsichtlich des Mannigfalti-
gen schlechthin, die Form der Synthesis selbst. Diese wird nach Kant ‚eingeschränkt‘458 ,
das heißt definiert, bestimmt durch die Festlegung auf eine Art oder Form der inneren
Anschauung, in der allein dem Intellekt Mannigfaltiges gegeben sein kann, nämlich die
Zeit als bloße Zeitfolge. Die Selbsterkenntnis gründet dann in der Festlegung der Funk-
tion transzendentaler Synthesis auf zeitlich Gegebenes; diese Zeitverhältnisse sind der
Apperzeption heterogen, weil sie prinzipielle Vielheit, nicht prinzipielle Einheit sind,
gleichwohl sind sie als bestimmte Verhältnisse nur als mittels der Einbildungskraft durch
die Verstandeseinheit formiert vorstellbar, so wie umgekehrt die Verstandeseinheit ohne
sie gegenstandslos wäre. Es bleibt aber eine Beziehung bloßer Formen, durch die das
Subjekt sich selbst objektiviert, sich zur Objektivität seiner selbst macht. Dem Inhalt
nach wäre dies formierte Form. Zwar kann die Affizierung des inneren Sinns nur in
Analogie zum äußeren Sinn dargestellt werden, das heißt nur unter Voraussetzung des
Bewußtseins äußerer Erfahrung; dieses Bewußtsein, weil es in der Zeit gebildet wird,
unterliegt aber schon der Bestimmung des inneren Sinns durch den Verstand (als Ein-
bildungskraft) a priori, denn ohne geordnete Zeit wäre keine Apprehension möglich.
Gleichwohl ist die Ordnung der Zeit nicht a priori vorstellbar, weil sie die bloße forma-
le Unterschiedslosigkeit von Mannigfaltigem überhaupt zum Inhalt hat, also leer ist. –
An dieser Gestalt des inneren Sinns hat auch die reine Apperzeption kein Objekt, so daß
die Selbsterkenntnis a priori ein Verschweben bloßer Formen wäre.459 – Ihre Bedeutung
ergibt sich allenfalls aus ihrer erkenntnistheoretischen Funktion, so daß sie als Resultate
der Reflexion auf Erkenntnis a posteriori zu betrachten sind; diesen Charakter können
sie – auch als Prinzipien betrachtet – nicht verlieren, ohne bedeutungslos zu werden.
Erkenntnistheorie, die ohne den Rekurs auf bestimmte Modelle von Erkenntnis auszu-
kommen sucht, löst sich ihrer Konsequenz nach in der gehaltlosen Identität von Subjekt
und Objekt auf.
Allerdings kann die Kritik an Kants Begriff vom Selbstbewußtsein, wie er in dem
Verhältnis von Subjekt und Objekt gestaltet ist, keine bloße Zurückweisung dieses Be-
griffs intendieren: In seiner erkenntnislogischen Konzeption ist er konsequent und eine
adäquate Darstellung der transzendentalen Bedingung der Möglichkeit wissenschaftli-
cher Erkenntnis. Nur muß er einerseits im Begriff der Erfahrungserkenntnis, durch den
er sich von Metaphysik wie Idealismus unterscheiden soll, Erfahrung selbst weitestge-
hend formalisieren. Andererseits ist der Umstand, ob Erkenntnistheorie den Verfahren
der Einzelwissenschaften adäquat ist, nicht ihr einziges Kriterium, denn diese bedürfen
ihrer nicht einmal. Naturwissenschaftliche Forschung orientiert sich nicht an philosophi-
457
KrV, B 158.
458
Vgl. KrV, B 159.
459
Vgl. Heiner F. Klemme, Kants Philosophie der Subjektivität, a.a.O., 229: „Man wird nicht behaup-
ten können, daß Kant 1787 das zentrale Problem der empirischen Selbsterkenntnis […] aufgeklärt
hat, nämlich ein Substitut für das fehlende Beharrliche im inneren Sinn anzugeben.“
S O: D G 427
460
Das weiß auch Kant: Vgl. Prolegomena, IV § 40. Das Ziel der Erkenntnistheorie liegt Kant zu-
folge deshalb in der Möglichkeit von Metaphysik, insbesondere der Reflexion über das Dasein
Gottes zum Behuf der Moral. Richtig bleibt daran, gerade nach Negation der Transzendenz, daß
Philosophie als positivistische Wissenschaftstheorie weder taugt noch benötigt wird.
428 D F S
461
Zwar wird in der medizinethischen Diskussion die Würde gelegentlich noch in Kantischer
Terminologie als ‚absoluter Wert‘ verstanden, aber dies eher im Sinne der neukantianischen Werte-
philosophie. So schreibt Ludger Honnefelder zwar, man schreibe „dem Menschen im Unterschied
zu allen anderen Lebewesen deshalb einen unbedingten Wert zu, weil er das mit Vernunft begabte
Lebewesen ist, zu dessen Natur es gehört, sich zu sich selbst verhalten und selbstgewählte Zwe-
cke verfolgen zu können“. Aber: „Der absolute Wert des Menschen wird nicht aus seiner Natur
gefolgert, sondern er wird seiner Natur in Form eines letzten praktischen Urteils zugesprochen.“
(Natur und Status des menschlichen Embryos: Philosophische Aspekte, in: Mechthild Dreyer/Kurt
Fleischhauer (Hgg.), Natur und Person im ethischen Disput, München 1998, 265ff.) Richtig wen-
det Christine Zunke, Das Subjekt der Würde. Kritik der deutschen Stammzellendebatte, Köln 2004,
15, ein, daß so die Würde mit den menschlichen Subjekten nicht notwendig zu verknüpfen sei. Für
Kant ergibt sich die Würde als absoluter Wert zwingend als Bedingung der Möglichkeit, überhaupt
die Subjektivität empirischer Subjekte denken zu können, da diese als bloß relationale gar nicht als
Urheber selbstbestimmter Zwecke gedacht werden könnten. Menschen sind als prinzipiell gesell-
schaftliche Lebewesen ihrer ‚Natur‘ nach Selbstzwecke und brauchen dies nicht einer besonderen
Hermeneutik nach voneinander zu prädizieren.
462
KrV, A 95.
463
Die Deduktion A versucht, synthetisch die Erfahrung aus Prinzipien a priori zu erklären, leistet
dies aber nicht, weil sie zugleich Objektivität schon voraussetzen muß. Deshalb bestehen hier
Probleme nicht bloß, wie Kant verschiedentlich formuliert, in der Darstellungsweise. In den Meta-
physischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft hatte Kant angekündigt, er werde „die nächste
Gelegenheit ergreifen“, dem abzuhelfen. In der Deduktion B wird dann in der ersten Hälfte analy-
tisch erklärt, welche Bedingungen a priori für Erfahrung vorauszusetzen sind, um diese Prinzipien
dann in der zweiten Hälfte auf bestimmte Gegenstände zurückzuwenden, um zu zeigen, „wie
S O: D G 429
die Seite einer gegen das Subjekt selbständigen Objektivität in den Vordergrund, die
dem Subjekt gegeben ist; die Verstandesbegriffe „würden ohne Data (gegebene Objek-
te) auch nicht einmal im Denken entstehen können“464 . Die Deduktion A geht damit aus
vom bestimmten Erkenntnisprozeß, um dessen Bedingungen zu ermitteln, die Deduktion
B aber vom allgemeinen Selbstbewußtsein, das sich als Subjekt des Begriffs ‚Synthesis‘
ergibt und dessen Möglichkeit der Beziehung auf Gegenstände ermittelt wird. Gleich-
wohl sind die Verstandesbegriffe in der Deduktion A Bedingungen a priori nicht bloß
der Erfahrung, sondern auch des „Gegenstandes derselben“465 , nämlich des Objekts, so-
fern es Objekt des Subjekts sein kann. Die Deduktion A bietet keine Gegenposition zur
Deduktion B, sondern sie bietet Einblick in die Genese des Begriffs subjektiver Einheit,
aus dem in der Deduktion B das Verhältnis von Subjekt und Objekt entfaltet wird: Die
Aporien und Brüche, die im Resultat – dem Begriff der transzendentalen Einheit der
Apperzeption – aufgehoben sind, liegen in dieser Genese offen.
Das Material der Anschauung liegt Kant zufolge als Mannigfaltiges vor und muß vom
Subjekt in der Zeit aufgefaßt und geordnet werden, um die Vorstellung vom Angeschau-
ten als eine bestimmte Vorstellung zu erzeugen. In der Apprehension synthesiert das
Subjekt das mannigfaltige Material; das Auffassen des Gegebenen selbst stellt die erste
Synthesis im bestimmten, auf sinnlich Gegebenes bezogenen, Erkenntnisprozeß dar.
Wenn eine solche Synthesis für jede einheitliche Vorstellung von Mannigfaltigem er-
forderlich ist, dann ist sie es auch für die Vorstellungen a priori von Raum und Zeit,
denn als Formen der Sinnlichkeit stellen sie sich zunächst als Formen – aber nicht als
Begriffe – des Außereinander von Vielheit dar, das der Ordnung durchs Subjekt schon
deshalb bedarf, damit dieses selbst sich als hier und jetzt daseiendes verstehen kann.
Das Subjekt muß daher durch „eine reine Synthesis der Apprehension“466 die Form der
eigenen Sinnlichkeit organisieren. Kant konstruiert diese reine Synthesis als subjektive
Selbstorganisation a priori nach dem Modell der subjektiven Bedingungen objektiver
Erkenntnis, nämlich der Synthesis der Apprehension in der Anschauung. Diese wur-
de ihrerseits als Einheitsfunktion aus der Differenz der Einheit der Vorstellung und der
Vielheit von deren Material erschlossen. Das Resultat erscheint nun als eine ursprüngli-
che Tätigkeit des Subjekts; dessen Bewußtsein von seiner Tätigkeit ist aber bloß negativ
möglich und tritt deshalb in Differenz zu sich selbst: Es weiß sich gerade als ursprüng-
nun Erfahrung mittels jener Kategorien und allein durch dieselbe möglich sei“ (MAN, IV 475
Anm.). Die Annahme einer prästabilierten Harmonie, für die das Prinzip der Affinität wohl ge-
halten werden könnte, reicht ihm ausdrücklich nicht, weil Erscheinungen und Verstandesgesetze
„ganz verschiedene Quellen haben“. Die Begründung ihres Verhältnisses soll ganz aus dem Sub-
jekt erfolgen, denn es „kann kein System der Welt diese Nothwendigkeit [objektiver Erkenntnis]
wo anders herleiten als aus den a priori zum Grunde liegenden Principien der Möglichkeit des
Denkens selbst“ (MAN, IV 476 Anm.); das Programm ist zugleich von Zweifeln an seiner Durch-
führbarkeit begleitet: „[G]esetzt, die Art, wie Erfahrung dadurch allererst möglich werde, könnte
niemals hinreichend erklärt werden, so bleibt es doch unwidersprechlich gewiß, daß sie blos durch
jene Begriffe möglich“ (ebda.) sei. – Zum Unterschied der ‚Darstellungsweisen‘ vgl. auch Prole-
gomena, IV § 4.
464
KrV, A 96.
465
KrV, A 96.
466
KrV, A 100.
430 D F S
liches bloß als abhängiges. Diese Differenz tritt durch die veränderte Darstellung in der
Deduktion B zurück.
Wenn es nun möglich sein soll, Regeln bezüglich Gegenständen, die keine reinen Ver-
standesgegenstände sind, in allgemeinen und notwendigen Urteilen zu formulieren, so ist
vorausgesetzt, daß die Gegenstände den Regeln auch unterliegen. Sollen im Urteil Vor-
stellungen nach einer Regel verknüpfbar sein, so müssen die Erscheinungen, auf die sich
diese Vorstellungen beziehen, der Regel folgen; die Prädikation der Vorstellung ‚rot‘ von
der Vorstellung ‚Zinnober‘ setzt voraus, daß die Erscheinung Zinnober auch stets in Ver-
bindung mit der Erscheinung rot auftritt. Damit formuliert Kant eine subjektive Fassung
des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch, der besagt, daß dasselbe nicht demsel-
ben zukommen und zugleich nicht zukommen könne, oder – in der aufs Existenzurteil
bezogenen Variante – daß dasselbe nicht zugleich sein und nicht sein könne.467 Schon
bei Aristoteles ist dies die negative Formulierung des Satzes der Identität, wenngleich
bezogen auf einen singulären Gegenstand, dessen Bestimmtheit durch Raum und Zeit
– in derselben Hinsicht, zugleich – definiert ist. Aber auch bei Kant erscheint die Be-
dingung der Reproduktion in der Einbildung schon als Identität des Objekts überhaupt,
denn wenn nicht vorausgesetzt wäre, daß ein Gegenstand mit seinen Eigenschaften selbst
verbunden ist, dann wäre die Verknüpfung beider in der reproduktiven Einbildungskraft
unmöglich. Damit wäre aber auch die Apprehension des Gegenstandes als Verbindung
verschiedener Merkmale überhaupt unmöglich, so daß die begründete Möglichkeit der
Reproduktion in der Einbildung logische Voraussetzung der Apprehension in der An-
schauung ist, wenngleich diese in der Zeit früher ist.468
Bei Aristoteles ist die Einheit des Subjekts Bedingung der einheitlichen Auffassung
und Darstellung von Objektivität, von deren Einheit das Subjekt aber existentiell ab-
hängt. Kant bestimmt die objektiven Voraussetzungen der Möglichkeit der Synthesis der
Reproduktion in der Einbildung aus dem Subjekt heraus: Die Regel, „der die Erschei-
nungen schon von selbst unterworfen sind“469 , so daß sie geordnet reproduziert werden
können, beruht nach Kant auf etwas, „was selbst diese Reproduktion der Erscheinungen
möglich macht, dadurch daß es der Grund a priori einer notwendigen synthetischen Ein-
467
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1005 b. Übrigens weist der Satz vom zu vermeidenden Wi-
derspruch auch bei Aristoteles auf die Identität des Subjekts als seine Grundlage. Es ist nämlich
ebenfalls unmöglich, „daß derselbe zugleich annehme, daß dasselbe sei und nicht sei“ (meine Her-
vorhebung). Alle Widerlegungsbeweise des Aristoteles laufen auf die Voraussetzung der Identität
des Subjekts hinaus, die eine Bedingung für die Möglichkeit der Orientierung in der Welt der
Erfahrung ist und sich darin äußert, daß das Subjekt in seiner Rede nicht die Identität der Objekte
zerstört.
468
Insofern die beiden auf Sinnliches gehenden Synthesen aufeinander verweisen und nicht durchein-
ander ersetzbar sind, ist ihr Unterschied schon ‚wesentlich‘. Vgl. dagegen Peter Rohs, Bezieht sich
nach Kant die Anschauung unmittelbar auf Gegenstände?, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horst-
mann/Ralph Schumacher (Hgg.), Kant und die Berliner Aufklärung, a.a.O., Bd. 2, 220. Hansgeorg
Hoppe, Die transzendentale Deduktion in der ersten Auflage, in: Georg Mohr/Marcus Willaschek
(Hgg.), Kant – ‚Kritik der reinen Vernunft‘, Berlin 1998, reduziert die drei Synthesen sogar auf
‚eine einzige Synthesis‘ (vgl. 167).
469
KrV, A 101.
S O: D G 431
heit derselben ist“470 . Damit ist nicht eine Einheit der Erscheinungen gemeint, sondern
die synthetische Einheit von deren Reproduktion, so daß die Einheit der Erscheinungen
in der subjektiven Einheit von deren Reproduzibilität gründet. Da die „Erscheinungen
nicht Dinge an sich selbst, sondern das bloße Spiel unserer Vorstellungen sind, die am
Ende auf Bestimmungen des inneren Sinnes auslaufen“471 , ist ihre Identität nur durchs
Subjekt zu konstituieren. Wäre nun die subjektive Einheit der Reproduktion in der Ein-
bildung von der Erfahrung oder gar von heterogenen Objekten derselben bestimmt –
etwa dadurch, daß der Zinnober an sich selbst immer rot wäre –, dann wäre kein tran-
szendentaler Begriff des Subjekts, keine transzendentale Erkenntnistheorie möglich; es
muß „von allem Empirischen der Erscheinungen abstrahiert“472 werden. Dies gelingt
über das Argument, daß schon in den reinen Formen der Sinnlichkeit eine solche Ord-
nung gegeben sei, die eine durchgängige Synthesis der Reproduktion in der Einbildung
möglich macht, indem die bloße Vorstellung von Zeitfolge voraussetzt, daß durchlaufe-
ne Zeiteinheiten im Bewußtsein reproduziert wurden. Desgleichen setzt die Vorstellung
des Raumes voraus, daß wenigstens etwa die Punkte einer Linie reproduziert wurden,
damit deren Verlauf nicht stets in einem Punkt zusammensinkt. Die Sinnlichkeit des
Subjekts ist demnach a priori so beschaffen, daß sie Mannigfaltiges als geordnet ver-
knüpft vorstellbar macht und so über die grundsätzliche Möglichkeit der Reproduktion
in der Einbildung überhaupt eine Apprehension in der Anschauung ermöglicht. Kant
faßt die Reproduktion in der Einbildung später auch als Moment der Wahrnehmung
selbst, die Apprehension als ihre „unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Hand-
lung“473 . Was Kant hier zeigen kann, ist aber nicht, warum der Zinnober nicht einmal rot
und einmal schwarz ist, sondern bloß, warum der rote Zinnober als solcher apprehen-
diert werden kann; – genauer: Unter welcher subjektiven Voraussetzung die Annahme,
daß der Zinnober immer rot sei, sinnvoll gemacht werden kann.
Wird Kants Verbindung der transzendentalen Einbildungskraft mit der Regel, der
die Erscheinungen von selbst unterworfen sind, ernstgenommen, so löst sich in ihr je-
de Selbständigkeit der Objekte subjektiv auf: Die Erscheinungen können deshalb ihrer
Erscheinung adäquat apprehendiert werden, weil diese Erscheinung nur innerhalb der
Apprehension überhaupt bestimmt ist.
Die Subjektivierung der Objektivität von Erfahrungsgegenständen wird noch
mittels einer weiteren Gestalt der Synthesis komplettiert. Von dem Vermögen der
Einbildungskraft, die das in der Erscheinung assoziierte Mannigfaltige als nicht bloß
Vereinzeltes auffaßt, unterscheidet Kant die Bestimmung der Einheit der Vorstellungen:
Die Zusammenführung der einzeln apprehendierten und stets nur als reproduzierte
470
KrV, A 101.
471
KrV, A 101.
472
KrV, A 96.
473
KrV, A 120. Diese reine Funktion der Einbildungskraft a priori, die in der Deduktion B als pro-
duktive Einbildungskraft besonders entwickelt wird, hat hier eigentlich noch kein Subjekt. Die
transzendentale Apperzeption, als deren sinnlich-intelligible Funktion sie die Form der Sinnlich-
keit durch Verstandeseinheit überformt und so die Verknüpfbarkeit von Verstand und Anschauung
gewährleistet, ist hier noch nicht entwickelt. In der Umkehrung der Darstellung ab A 115 tritt
sie dann allerdings als Synthesis a priori der produktiven Einbildungskraft zur transzendentalen
Apperzeption (vgl. A 119).
432 D F S
verfügbaren Anschauungen zu einer Vorstellung gelingt nur, wenn sie unter dem
Begriff einer bestimmten Vorstellung koordiniert werden. Um sinnvoll eine Vorstellung
aus dem Mannigfaltigen der Anschauung zu erzeugen, muß diese Vorstellung im
Begriff schon antizipiert sein, ihre Erzeugung ist Re-kognition. Die aufs Objekt der
Anschauung verwiesene Sinnlichkeit in Anschauung und Einbildung ist ohne Begriffe
des Verstandes hilflos und gegenstandslos.
Der erste Schritt der Synthesis der Rekognition im Begriff ist das „Bewußtsein, daß
das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten“474 .
Die Reproduktion des Apprehendierten in der Einbildung muß mit dem Bewußtsein der
Einheit dieses Aktes begleitet sein, um eine Vorstellung zu erzeugen. Deren Begriff ist
ihr der Form nach deshalb schon vorausgesetzt: Der Begriff der Zahl, so Kant, besteht
lediglich in dem Bewußtsein der Einheit der Synthesis.
Dieses Bewußtsein ist die Reduktion des subjektiven Prozesses der Erzeugung einer
Vorstellung, dasjenige, das den Beginn mit dem Ende des Erkenntnisvorganges ver-
knüpft und das in dessen Resultat als konzentriertes Bewußtsein der Einheit des Gegen-
standes hervortritt; dies Bewußtsein ist daher Bedingung der Möglichkeit des Begriffes
vom Gegenstand.
Damit hat Kant den Erkenntnisgegenstand als Funktion der Einheit des Bewußtseins
rekonstruiert. Konsequent werden die der Erkenntnis oder überhaupt den Vorstellungen
korrespondierenden Gegenstände – die doch, um jenen korrespondieren zu können, von
ihnen verschieden sein müßten – auf den Begriff des transzendentalen Gegenstandes = X
reduziert: Daß der Erkenntnis etwas korrespondiere, wenn sie nicht willkürliche Behaup-
tung bleiben soll, wenn sie also objektive Realität haben soll, ändert nichts daran, daß
das Subjekt außerhalb seiner Erkenntnis vom Objekt nichts, das diesem korrespondierte,
vorweisen kann, es wäre denn selbst wieder Erkanntes.475
Soll Erkenntnis objektiv auf den Gegenstand bezogen sein, muß ihr Einheit zukom-
men, sie kann nicht in sich variieren, wenn sie etwas bestimmen soll. Diese Einheit
kann einerseits nicht an subjektive Vorstellungen geknüpft sein, sondern die Einheit der
fraglichen Vorstellungen ist objektiv erzwungen, weil diese als auf den Gegenstand bezo-
gen gedacht werden können sollen; dieser Gegenstand aber ist andererseits dem Subjekt
außerhalb von dessen Vorstellungen nicht gegeben. Kant schließt daraus, daß zwar der
Gegenstand diese Einheit erzwinge, daß sie aber durch eine subjektive Leistung konstitu-
iert werde, als „die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen
der Vorstellungen“476 . Wahre Erkenntnis, die geschenkte und vorausgesetzte „Überein-
stimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande“477 , erscheint dann als die Erzeugung
474
KrV, A 103.
475
Vgl. Peter Rohs, Bezieht sich nach Kant die Anschauung unmittelbar auf Gegenstände?, a.a.O.,
227: „Es gibt keine singulären Dinge an sich als mögliche Referenzobjekte. Man kann darum
auch nicht eine einzelne Erscheinung mit einem einzelnen Ding an sich identifizieren“.
476
KrV, A 105.
477
KrV, B 82. Gerold Prauss hat darauf hingewiesen, daß die Frage nach der Wahrheit als
Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand eben nicht vorausgesetzt werde, sondern das
Hauptproblem der KrV sei (vgl. Zum Wahrheitsproblem bei Kant, in: Ders. (Hg.), Kant, a.a.O.).
Kant hingegen schreibt nicht, daß Wahrheit in diesem Sinne vorausgesetzt werde, sondern ihre
Nominaldefinition, und fügt an, daß deren Sacherklärung durch Kriterien weiter zu verfolgen sei.
S O: D G 433
478
Vgl. zur Verortung der Gegenstände zwischen Anschauung und Begriff Peter Rohs, Bezieht sich
nach Kant die Anschauung unmittelbar auf Gegenstände?, a.a.O.
479
Vgl. KrV, A 105.
480
KrV, A 105.
481
KrV, A 106.
482
In der Abwehr des Idealismusvorwurfs in den Prolegomena (IV § 13, Anm. III) unterscheidet Kant
die Erscheinung von dem Ding, das sie ‚in uns‘ bewirkt, dadurch, daß „die sinnliche Erkenntniß
die Dinge gar nicht vorstellt, wie sie sind, sondern nur die Art, wie sie unsere Sinne afficiren“.
Die Vorstellung vom Raum sei dem „Verhältnisse, was unsere Sinnlichkeit zu den Objekten hat“,
gemäß. Kant definiert zwar die Erscheinungen als „die Vorstellungen, die sie [die Dinge: M.St.]
in uns wirken“, aber er will sie nicht auf Vorstellungen, die – gleichgültig, wodurch bewirkt –
subjektiv wären, beschränken. Deshalb bestimmt er sie als die Relation – das Verhältnis oder
die Art der Affektion – zwischen Sinnlichkeit und Ding. Als solche ist die Erscheinung aber
ebenso durchs Subjekt als Relatum bestimmt; zwar ist in der Relation das Objekt als zweites
Relatum enthalten, aber es bleibt unabhängig vom Subjekt unbestimmt. Der bestimmte Inhalt
schon der Anschauung sind deren subjektive Formen selbst. – Eine Austreibung des Teufels mit
dem Belzebub scheint die Variante in §§ 49 und 52 zu sein: Es sei ein Widerspruch zu sagen,
daß bloße Erfahrungsgegenstände auch außerhalb der Erfahrung existierten. Deshalb müßte sie
wirklich sein, in derselben Weise wie das Subjekt selbst.
483
KrV, A 105.
434 D F S
mit sich identifiziert, vermittelt über die Vorstellung eines Objekts, in der es sich des-
halb wiederfindet, weil es sie zuvor selbst erzeugt hat. In der Objektivität des Begriffs
fallen Identität des Subjekts und des Objekts zusammen. Die Einheit der Apperzeption
ermöglicht die identische Objektivität des Gegenstandes, indem sie als Bewußtsein des
Erkenntnisprozesses das Mannigfaltige auf Bedingungen reduziert, die so als objektive
Einheit der Vorstellung die ‚Einheit der Apperzeption möglich machen‘.
Dieses wechselweise Bedingungsverhältnis von Identität des Objekts und Identität des
Subjekts kann aber nicht als Vorgang in der Zeit vorgestellt werden. Soll jener Prozeß
dennoch Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis sein, so muß er als transzendentale
Einheit einer ursprünglichen Synthesis vorgestellt werden, in deren Begriff der Wider-
spruch des Prozesses zwischen Subjekt und Objekt als transzendentaler Bedingung still-
gestellt ist. Dies ist die entscheidende Konsequenz, die Kant in der Deduktion B zieht,
wogegen in der Deduktion A die transzendentale Apperzeption allein als ursprüngliche
Identität des Bewußtseins erscheint.484 Der Sache nach sind hier aber auch beide Seiten
schon vertreten: Soll die transzendentale Begründung der Objektivität von Erkenntnis
möglich sein, so kommt sie nicht allein mit einem absoluten Subjekt aus, sondern dieses
muß seine Objektivität ursprünglich produzieren. In der Deduktion A versucht Kant, die
absolute Prozessualität des Selbstbewußtseins zu umgehen, indem er es als Vermögen
aus dem wechselseitigen Bedingungsverhältnis von Voraussetzung und Resultat her-
ausstellt und diesem Verhältnis vorordnet: „Alle Vorstellungen haben eine notwendige
Beziehung auf ein mögliches empirisches Bewußtsein“, das heißt sie müssen zu Be-
wußtsein gelangen können, um Vorstellungen zu sein; jedes „empirische Bewußtsein hat
aber eine notwendige Beziehung auf ein transzendentales […], nämlich das Bewußtsein
meiner selbst“485 . Die Verknüpfung verschiedener empirischer Bewußtsein in der Ein-
heit des Selbstbewußtseins ist dann der „schlechthin erste und synthetische Grundsatz
unseres Denkens überhaupt“486 . Die hier wieder bezeichnete Antinomie von Ursprüng-
lichkeit und Synthesis verlagert Kant dadurch, daß „die Möglichkeit der logischen Form
alles Erkenntnisses […] notwendig auf dem Verhältnis zu dieser Apperzeption als einem
Vermögen“487 beruhe.
Von der Figur des Dreiecks bleibt die Projektion von Vorstellungen – der gedachten
Prädikate seines Begriffs – auf Vorstellungen – das Mannigfaltige der Anschauung –,
deren Koordination durch eine Vorstellung garantiert ist, nämlich die des Subjekts von
sich selbst, die sowohl Resultat als auch Voraussetzung dieses Prozesses ist. Welchen
Inhalt sie einerseits als Voraussetzung haben kann, und woraus sie andererseits resultie-
ren kann, wenn ihr Resultat seine Voraussetzung aufhebt, vermag Kant nicht zu sagen;
das verbleibt bei der unbekannten Ursache der Erscheinungen. Hegel hat diese Aporie
konsequent in die Vorstellung des unendlichen Prozesses aufgelöst, in dessen Begriff
Voraussetzung und Resultat eine Einheit bilden, deren höchste Form – die absolute Idee
– die Einheit von Subjekt und Objekt behauptet. Indem ihre Differenz nicht mehr mit-
gedacht wird, wird das Subjekt um seine Freiheit beschnitten. Die Einheit von Subjekt
484
Vgl. KrV, A 107.
485
KrV, A 117 Anm.
486
KrV, A 117 Anm.
487
KrV, A 117 Anm.
S O: D G 435
und Objekt kann nur als Begriff, also subjektiv, gedacht werden. Die subjektive Domi-
nanz über die Objektivität, die Vorstellung von Objektivität als Ausdruck der Identität
des Subjekts, macht die Subjekte, insofern sie selbst auch Objekte sind, unfähig, ihre
Objekte als etwas zu begreifen, dem wohl Bestimmungen subjektiver Vernunftobjek-
tivität zu unterstellen sind, aber das nicht an sich selbst schon so ist. Was in Hegels
Vernunfteuphorie abgeschlossen wird, ist in Kants transzendentaler Erkenntnistheorie
durchaus schon angelegt.
Begriffe liegen aller Erkenntnis zugrunde, weil durch sie erst das gegebene bloß Man-
nigfaltige als geordnetes erscheint, nicht als ein „Gewühle von Erscheinungen“488 . Indem
Begriffe der Reproduktion eine Regel an die Hand geben, wird noch die Ordnung der
Reproduktion des Mannigfaltigen notwendig. Diese Notwendigkeit kann nicht aus der
Kontingenz des Sinnenmaterials hervorgehen. Sie wird daher auch nicht durch empiri-
sche Begriffe, sondern durch die Kategorien begründet,489 als die „Form aller Erkennt-
nis der Gegenstände (wodurch das Mannigfaltige als zu Einem Objekt gehörig gedacht
wird)“, die „Art, wie das Mannigfaltige der sinnlichen Vorstellung (Anschauung) zu ei-
nem Bewußtsein gehört“490 .
Deshalb ist Kants Beispiel vom Dreieck schief, und jedes Beispiel bestimmter
Erfahrung wäre es; die Kategorien als reine Verstandesbegriffe sind Bedingungen der
Möglichkeit möglicher Erfahrung, deren Begriff als allgemeiner selbst eine subjektive
Bestimmung ist, deren sinnlicher Gehalt auf die reine Form der Anschauung reduziert
ist. Wie aber die Synthesis der bestimmten Anschauung eines Dreiecks durch den
Begriff erzeugt werde und ihm doch zugleich zugrunde liege, läßt sich nicht als
reine Prozessualität darstellen. In der Deduktion B beschränkt Kant sich – ohne allen
Zinnober – konsequent auf Beispiele in der reinen Anschauung491 und hebt unter
diesen vor allem das Ziehen einer Linie in Gedanken hervor, das deshalb für die reine
Bestimmung des äußeren Sinns durch die Form des inneren Sinnes stehen kann, weil
die Linie, im Unterschied zum Dreieck, als Analogie zur Zeitfolge zu denken ist.
Die durch Begriffe begründete Notwendigkeit in der Ordnung des Mannigfaltigen
muß nun transzendental begründet sein. Dieser transzendentale Grund erstreckt sich
nicht allein auf die Synthesis der Anschauungen und Begriffe, sondern auch auf alle
Gegenstände der Erfahrung, wenn es möglich sein soll, Anschauungen Gegenstände zu-
zuordnen. Soweit ergibt sich die transzendentale Apperzeption als Bedingung, ohne die
unsere Vorstellungen „gedankenlose Anschauung, aber niemals Erkenntnis, also für uns
so viel als gar nichts sein“492 würden. Eine solche oberste Einheit der Identität des Sub-
jekts kann dem Modus ihrer Notwendigkeit nach nicht das empirische Bewußtsein eines
Subjekts von sich selbst sein, das stets kontingenten Umständen unterliegt, sondern sie
ist als „transzendentale Apperzeption“493 zu denken. Sie ist die ursprüngliche Einheit,
deren Bewußtsein die Einheit aller Vorstellungen ermöglicht, und die deshalb allen Vor-
488
KrV, A 111.
489
Vgl. KrV, A 111; A 124f.
490
KrV, A 129.
491
Vgl. KrV, B 154.
492
KrV, A 111.
493
KrV, A 106f.
436 D F S
stellungen, die gegeben werden können, vorhergehen muß. Die Einheit des Bewußtseins
besteht aber im Bewußtsein ihrer Funktion, die Synthesis – und zwar grundlegend die
des Mannigfaltigen in der Anschauung – zu ermöglichen: Die Identität des Selbstbe-
wußtseins in den verschiedenen Vorstellungen ist nur unter Voraussetzung einer regel-
mäßigen transzendentalen Einheit der Synthesis dieser Vorstellungen möglich.494
Diese Bestimmung ist ambivalent. Einerseits erklärt sie die bestimmten Erkenntnisak-
te als Bewußtseinshandlungen zum notwendigen Vermittlungsmoment des Bewußtseins
seiner selbst und knüpft es so an das, was es nicht selbst ist; das betont besonders
die Katachrese der Formulierung vom Bewußtsein, das die Identität seiner Handlun-
gen ‚vor Augen‘ habe. Andererseits führt der Versuch der transzendentalen Bestimmung
der Möglichkeit der Bewußtseinsidentität in der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen des
Bewußtseins in eine andere Richtung: Die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen kann nur
dann a priori mit einem einheitlichen Bewußtsein verknüpft werden, wenn dieses selbst
Urheber der Vorstellungen ist, „alle Synthesis der Apprehension (die empirisch ist) ei-
ner transzendentalen Einheit unterwirft, und ihren Zusammenhang nach Regeln a priori
zuerst möglich macht“495 .
Wieder ist die Einheit, das Bewußtsein des Bewußtseins, das aus dem Akt resultieren
soll, als Inhalt und Maßstab dieses Aktes Voraussetzung desselben; wieder koinzidieren
Voraussetzung und Resultat in der Handlung des Bewußtseins, die zugleich Ausdruck
und Bedingung von dessen Identität ist. Der Begriff der Bewußtseinshandlung a priori
antizipiert die absolute Prozessualität des Selbstbewußtseins. Der Versuch, diese, ihrem
Begriff gemäß, hermetisch zu fassen, gelingt auch in der Deduktion B nicht vollständig;
erst die Preisgabe des Kantischen Konzepts der Erfahrungserkenntnis bei Hegel erlaubt
eine adäquate Fassung dieses der Anlage nach schon idealistischen Subjektivitätskon-
zepts.
Von hier aus ergibt sich für den Begriff des transzendentalen Gegenstandes, der als
nicht-empirischer allen Vorstellungen zugrunde liegen muß, wenn diese nicht bloß Vor-
stellungen von Vorstellungen, sondern von objektiver Realität sein sollen, daß er „gar
keine bestimmte Anschauung enthalten [kann] und […] also nichts anders als diejenige
494
Vgl. KrV, A 108. Die frühe Interpretation von Dieter Henrich zu dieser Passage ist ein präzises
Beispiel für den verbreiteten Irrtum, die transzendentale Deduktion sei eine Ableitung aus ur-
sprünglich bekannter Identität, den Henrich selbst später korrigierte: Dieser Text „begründet die
Ableitung von Regeln a priori auf die Identität des Selbstbewußtseins und unterstreicht, daß eine
solche Ableitung nur dann gelingt, wenn diese Identität a priori bekannt ist.“ (Identität und Objek-
tivität, a.a.O., 102). Henrichs Fehler bestand darin, daß er die ‚Handlung‘, von der Kant spricht, als
rein bewußtseinsimmanente Identifikation verstand. Was Kant hier voraussetzt, ist die Realität von
wissenschaftlicher Naturerkenntnis, deren subjektive Bedingung rekursiv erschlossen wird. Deduk-
tion bedeutet dann den Nachweis der Möglichkeit der Geltung von Urteilen. Henrich korrigierte
dies in der Diskussion mit Tuschling u. a., in: Burkhard Tuschling (Hg.), Probleme der „Kritik
der reinen Vernunft“, a.a.O. Jürgen Habermas kritisiert, daß bei Henrich „die Kultur- und Sozi-
alwissenschaften keinen Platz zwischen einer letztlich physikalischen Erforschung der Natur und
der transzendentalen Selbstaufklärung des Geistes“ fänden (Nachmetaphysisches Denken, a.a.O.,
276). Schärfer wäre einzuwenden, daß die sachhaltige Bedeutung gesellschaftlicher Praxis in Hen-
richs Subjekt-Konzeption keinen Ort hat; aber den hat sie in der Auffassung von Gesellschaft als
„sprachlich konstituierten“ [ebda.] Bereichs auch nicht.
495
KrV, A 108.
S O: D G 437
Einheit betreffen [wird], die in einem Mannigfaltigen der Erkenntnis angetroffen wer-
den muß, so fern es in Beziehung auf einen Gegenstand steht. Diese Beziehung aber ist
nichts anders, als die notwendige Einheit des Bewußtseins, mithin auch der Synthesis des
Mannigfaltigen durch gemeinschaftliche Funktion des Gemüts, es in einer Vorstellung
zu verbinden.“496 Wenn von den Gegenständen, die der Vorstellung zugrunde liegen, im
Einzelnen, ihrer Bestimmtheit nach, dem Subjekt nichts bekannt sein kann, der Begriff
des Gegenstandes der Vorstellung überhaupt aber erforderlich ist, dann ist dieser Begriff
bei allen Vorstellungen gleich, nämlich als die Repräsentation der Erfordernis, daß ein
Gegenstand sei, der die Einheit der Vorstellung ermöglicht. Diese formale Bedingung
erfüllt aber die Einheit der Apperzeption selbst als ‚notwendige Einheit des Bewußt-
seins, mithin auch der Synthesis des Mannigfaltigen durch gemeinschaftliche Funktion
des Gemüts, es in einer Vorstellung zu verbinden‘. Über diese Funktion geht die forma-
le Funktion des Gegenstandes nicht hinaus, zum materiellen Inhalt der Erkenntnis trägt
er nichts bei. Daher ist der Gegenstand selbst – über die formale Notwendigkeit, daß
er angenommen werde, hinaus – nicht von Interesse. Allein sein Begriff ist zu bestim-
men, und zwar als die Funktion der Einheit, die im Erkenntnisprozeß objektive Realität
der Vorstellungen garantiert. Diese Funktion erfüllt aber die Einheit der Apperzeption,
die daher den Begriff des transzendentalen Gegenstandes von ihrem eigenen Selbstbe-
wußtsein nicht mehr unterscheiden kann: „Diese Beziehung [des Mannigfaltigen der
Erkenntnis auf einen Gegenstand, die einziger Inhalt des Begriffs vom Gegenstand ist;
M.St.] aber ist nichts anderes, als die notwendige Einheit des Bewußtseins“497 .
In dieser Indifferenz von transzendentalem Subjekt und transzendentalem Objekt liegt
auch der Ort der Affinität der Erscheinungen, der „Grund der Möglichkeit der Assozia-
tion des Mannigfaltigen, so fern er im Objekte liegt“498 , der die notwendige allgemeine
Geltung von Naturgesetzen ermöglicht. Weil die Erscheinungen fürs Subjekt nur Er-
scheinungen unter der Bedingung der Ordnung durch die Identität des Selbstbewußtseins
sein können, stehen sie a priori unter deren Gesetzen, die sich aus der Vermittlung des
Selbstbewußtseins durch die Kategorien ergeben. Die Bedingtheit der Erscheinungen
durch die Einheit der Apperzeption macht ihre transzendentale Affinität aus. Die Mög-
lichkeit der Assoziation des Mannigfaltigen, sofern diese im Objekt gründet, ist wieder
eine Funktion der subjektiven formalen Bedingungen dieser Assoziation. Die Affinität
der Erscheinungen – der objektive Grund aller Assoziation – bezeichnet das, wodurch
die Erscheinungen „an sich assoziabel“499 sind, aber nicht im Sinne einer reservierten
Selbständigkeit, wie sie im Ding an sich allenfalls zu denken sei als nicht zu denkende,
‚unbekannte Ursache der Erscheinung‘; sondern ‚an sich assoziabel‘ sind sie als „Data
496
KrV, A 109.
497
KrV, A 109.
498
KrV, A 113. Daß der transzendentale Gegenstand und das Ding an sich übereinkommende Be-
stimmungen aufweisen, aber nicht dasselbe sind, hat Heiner F. Klemme herausgearbeitet: Kants
Philosophie des Subjekts, a.a.O., 260ff. Die Begriffe haben je „eine spezifische Funktion oder
Rolle innerhalb der Kantischen Erkenntniskritik“ (265). – So vertritt das Ding an sich die Stelle
der ontologischen Substanz, der transzendentale Gegenstand die des Erkenntnisobjekts; daß beide
auseinanderfallen, ist eine Folge der nominalistischen Metaphysikkritik.
499
KrV, A 122.
438 D F S
der Sinne“500 , und dieser Genitiv bezeichnet nicht allein, daß diese data den Sinnen ge-
geben seien, sondern auch daß sie ihnen possessiv zugeordnet sind, mehr noch werden
die Sinne zu ihren Urhebern, so wie später bei Hegel das Andere der Reflexion durch
diese Relation sich als deren Produkt und Zugehöriges erweist.501
Dem entspricht auch Kants Definition von Objektivität als ein „vor allen empirischen
Gesetzen der Einbildungskraft einzusehende[s]“502 , das nicht empirisch, aber durch-
aus subjektiv, in Relation zur Einsicht im transzendentalen Subjekt, bestimmt ist. Soll
Erkenntnistheorie überhaupt eine bestimmte Theorie sein, muß sie ihren Gegenstands-
bereich definieren, und da er über das schon Bekannte tendentiell hinausgehen soll, kann
diese Definition nur vom Subjekt aus gelingen, wo nicht Vagheiten in ihn eingehen
sollen. Deshalb muß Kant den „objektiven Grund aller Assoziation der Erscheinun-
gen“ reduzieren auf den „Grundsatz von der Einheit der Apperzeption, in Ansehung
aller Erkenntnisse, die mir zugehören sollen“503 . Indem aber der Bereich möglicher Er-
kenntnisse in der traditionellen Erkenntnistheorie konsequent vom Subjekt her definiert
werden muß, um Bestimmtheit zu erhalten, verliert er zugleich die materiale Basis aller
Bestimmtheit: die Selbständigkeit der Gegenstände.
„Die objektive Einheit alles (empirischen) Bewußtseins in einem Bewußtsein (der ur-
sprünglichen Apperzeption) ist also die notwendige Bedingung sogar aller möglichen
Wahrnehmung, und die Affinität aller Erscheinungen (nahe oder entfernte) ist eine not-
wendige Folge einer Synthesis in der Einbildungskraft, die a priori auf Regeln gegründet
ist.“504 . – Die Argumentation der „Vorläufige[n] Erklärung der Möglichkeit der Kate-
gorien, als Erkenntnissen a priori“505 in der Deduktion A, die vom Empirischen, dem
Mannigfaltigen der Anschauung ausging und die transzendentale Einheit des Selbst-
bewußtseins als Funktion von deren Objektivität ermittelte, hat nun diese Einheit so
zum Resultat, daß deren empirische Bedingungen nur mehr als Funktionen absoluter
Subjektivität erscheinen. Dementsprechend kehrt Kant das Verfahren im „Dritte[n] Ab-
schnitt“506 der Deduktion A so um, wie er es dann in der Deduktion B durchführen wird:
„Wollen wir nun den innern Grund dieser Verknüpfung der Vorstellungen bis auf denje-
nigen Punkt verfolgen, in welchem sie alle zusammenlaufen müssen, um darin allererst
500
KrV, A 122. Zufolge Herbert Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 91, bezeichnet das Ding an sich
„nichts anderes als den Gegenstand unserer Erfahrungserkenntnis, gedacht als unabhängig von der
Art und Weise, wie wir ihn erkennen können“ (meine Hervorhebung). Darin ist der Widerspruch
exakt erfaßt. Was man sich so denkt, wie man es nicht erkennen kann, ist entweder spintisiert oder
notwendig antinomisch.
501
Grundsätzlich ist das Ding an sich, Kants Intention entgegen, schon Relationsbegriff, weil er aus
einer Unterscheidung resultiert: „An die Stelle der vorkritischen Tautologie von essentia und res
tritt die kritische Unterscheidung von unerkennbarem Ding an sich und bloß partiell erkennbaren
Phänomenen.“ Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 74.
502
KrV, A 122.
503
KrV, A 122.
504
KrV, A 123.
505
KrV, A 110-114.
506
KrV, A 115-130.
S O: D G 439
Einheit der Erkenntnis zu einer möglichen Erfahrung zu bekommen, so müssen wir von
der reinen Apperzeption anfangen.“507
507
KrV, A 116. Die damit verbundene Hervorhebung der „subjektivitätstheoretische[n] Bedeutung
der Einbildungskraft“ in der Deduktion B gegenüber der Deduktion A hat Klaus Düsing betont:
Subjektivität und Freiheit, a.a.O., 24.
508
Zur Funktion der Grundsätze vgl. Burkhard Tuschling, Widersprüche im transzendentalen Idea-
lismus, a.a.O. Vgl. ebenfalls Wolfgang Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der
Urteilskraft, Frankfurt am Main 1972, 52f.
509
Vgl. KrV, B 81f.
440 D F S
Die Reduktion des Gegenstandsbereichs der transzendentalen Logik auf die reinen
Erkenntnisse kann Kant als inhaltliche Bereicherung gegenüber der allgemeinen Logik
verstehen,510 weil er reine Erkenntnis als formale Bedingung aller Erkenntnisse versteht,
„ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann“511 .
Die transzendentale Deduktion der Verstandesbegriffe hat nun gezeigt, unter welchen
Bedingungen reine Begriffe und Erscheinungen vereinbar sind; allerdings konnte hier
nicht von bestimmten Erscheinungen die Rede sein, die Bestimmung der objektiven Be-
ziehung von Subjekten auf Gegenstände konnte nur auf die Formen von Subjektivität
und Objektivität bezogen sein. Objektivität selbst ergab sich dabei als Funktion des Sub-
jekts, die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis als eine begriffliche Konstruktion,
deren sinnliche Korrelate selbst schon begrifflich gefaßt sind. Dieses Ergebnis der kon-
sequenten Erwägung der begrifflichen Erkenntnisbedingungen – eine Konsequenz der
Sache durchaus – steht doch eigentümlich hinter Kants Erkenntnisbegriff zurück, nach
dem es ohne Anschauung „aller unserer Erkenntnis an Objekten [fehlt], und sie bleibt
alsdann völlig leer“512 .
Kant stellt neben die Analytik der Begriffe des Verstandes daher die Analytik von
Grundsätzen des Verstandes. Diese sind genauer Grundsätze des Erfahrungsgebrauchs
des Verstandes, indem ihre Analytik Regeln ermittelt, nach denen die Verstandesbegrif-
fe auf Erscheinungen anzuwenden seien. Diese Subsumtion der Erkenntnisinhalte unter
Verstandesregeln weist Kant der Urteilskraft zu, die „Grundsätze des Verstandes“ sind in
der Tat eine „Doktrin der Urteilskraft“513 . Der Verstand kann zwar durch seine Begriffe
der Synthesis des Mannigfaltigen Regeln vorgeben, indem seine Funktion der Rekogniti-
on im Begriff Bedingung der Möglichkeit der Reproduktion in der Einbildung, und diese
wieder Bedingung der Möglichkeit der Apprehension in der Anschauung sei; dadurch
bestimmt der Verstand die formalen Bedingungen der Erkenntnis, aber die Anwend-
barkeit der Regel aufs Sinnenmaterial geht nicht selbst aus den Begriffen hervor. Aus
der Vorstellung von ‚Kausalität überhaupt‘ läßt sich nicht deduzieren, ob zwei gegebene
Anschauungen im Verhältnis der Kausalität zueinander stehen. Nun löste die Transzen-
dentalphilosophie ihr Spezifikum gegenüber der Logik nicht ein, wenn sie es bei der
begrifflichen Fassung formeller Regeln beließe, „sondern sie muß zugleich die Bedin-
gungen, unter welchen Gegenstände in Übereinstimmung mit jenen Begriffen gegeben
werden können, in allgemeinen, aber hinreichenden Kennzeichen darlegen, widrigenfalls
sie ohne allen Inhalt, mithin bloße logische Formen und nicht reine Verstandesbegriffe
sein würden“514 . Was Kant als eigentümliche Stärke seiner Theorie vorstellt, ist tat-
sächlich ein Desiderat aus dem unbefriedigenden Objektivitätsbegriff der Deduktion.
Die Urteilskraft soll die letztlich gegenstandslose Identität von transzendentalem Sub-
jekt und transzendentalem Objekt aufsprengen. Schon deshalb ist sie nicht systematisch
nach Begriffen auszubilden, sondern allein durch Übung,515 und selbst diese nützt nur
510
Vgl. KrV, B 80, B 170.
511
KrV, B 87.
512
KrV, B 87.
513
KrV, B 171.
514
KrV, B 175.
515
Vgl. KrV, B 172.
S O: D G 441
dem, der von der Natur ausreichend mit Urteilskraft ausgestattet ist. Die Notwendigkeit
des Verstandes wird hier scheinbar von einem der Zufälligkeit ausgelieferten Vermögen
flankiert. Nachdem die objektive Mannigfaltigkeit der Anschauung selbst als Produkt
des subjektiven Verstandes ausgewiesen worden ist, erhält sie hier scheinbar eine neue
Selbständigkeit, indem es eines eigenen Vermögens bedarf, sie unter die Regeln des
Verstandes zu subsumieren, als deren Resultat a priori sie zunächst entwickelt worden
waren.
Diese Bestimmung der Urteilskraft erlaubt es aber vor allem, die Erscheinungen nicht
bloß ihrer Regelmäßigkeit nach, sondern auch ihrer Einzelnheit nach zu Funktionen des
Subjekts zu machen, denn als einzelne, der Subsumtion unter Regeln bedürftige, erschei-
nen sie, insofern sie Gegenstände der Urteilskraft sind.
Im Unterschied zu empirischen Begriffen, denen Gegenstände zugeordnet werden
können, weil sie Merkmale aufweisen, die auch im Begriff enthalten sind, sind „reine
Verstandesbegriffe, in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschau-
ungen, ganz ungleichartig, und können niemals in irgendeiner Anschauung angetroffen
werden“516 . Ursache und Wirkung sind in der Anschauung bloß verschiedenes Mannig-
faltiges, ihre logische Verknüpfung zu einer zusammenhängenden Vorstellung kann erst
der Verstand durch Begriffe vollbringen. Diese Verknüpfung ist im Denken und soll
doch objektive Realität haben in den Gegenständen der Anschauung. Mit der produkti-
ven Einbildungskraft, durch die der Verstand gemäß seinen Begriffen das Mannigfaltige
in der Apprehension erst für diese (mit)erzeugt, war nur erst das Vermögen der Ver-
knüpfung bezeichnet, nicht jedoch das Mittel bestimmt, wodurch sie vollbracht wird.
Dies muß nun eine Vorstellung sein, die begriffliche Vorstellungen mit sinnlichen Vor-
stellungen verknüpft, und deshalb muß diese, analog dem Vermögen der produktiven
Einbildungskraft, „einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das
transzendentale Schema.“517
Diese Brückenfunktion gründet in der Zeit, da ihr einerseits als reiner Anschauung
Allgemeinheit zukommt, wodurch sie den Begriffen adäquat ist, und sie andererseits als
reine Anschauungsform a priori auf alle Erscheinungen bezogen ist, so daß in der Zeit
als ihrem Inbegriff „alle unsere Vorstellungen enthalten sind“518 . Diese Koordination
aller Vorstellungen wirkt als deren Bestimmung und verweist sie wechselseitig aufein-
ander, vermittels ihrer Zeitbestimmtheit. Es ist dadurch „der Verstandesbegriff in seinem
Gebrauch restringiert“ auf eine „formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit“519 .
Nun war der Deduktion zufolge die Anwendung der Kategorien auf Mannigfaltiges
dadurch möglich, daß die Einbildungskraft die Sinnlichkeit mittels der Kategorien ge-
mäß der Einheit der Apperzeption formierte. Hier soll nun die bereits durch den Verstand
formierte Anschauungsform als umgekehrt den Verstand beschränkendes Schema fun-
gieren. Die Grundlage der Verknüpfung von Verstand und Sinnlichkeit – ohnehin die
Vorstellung einer Verknüpfung von Vorstellungen – kann nicht als extramental gedacht
werden, sonst höbe das Subjekt seine eigene Einheit auf und machte sie von etwas
516
KrV, B 176.
517
KrV, B 277.
518
KrV, B 194.
519
KrV, B 179.
442 D F S
abhängig, das es nicht kontrollieren kann; – dann aber wäre es nicht das gesetzgeben-
de Vermögen. Um deswillen muß der Schematismus ein bestimmendes Verhältnis des
Subjekts zu sich selbst bleiben, von dem wiederum nicht zu sehen ist, woher es die
bestimmende Differenz des Subjekts zu sich selbst nehmen sollte. Hierhin führt zwangs-
läufig der Versuch, die postulierte Beziehung des Subjekts auf etwas, das es nicht selbst
ist, begrifflich konsequent aufzuklären.
Die Kategorien sind mit der Zeit nur deshalb vereinbar, weil sie „reine syntheti-
sche Einheit des Mannigfaltigen überhaupt“520 enthalten. Diese ist in ihnen a priori
zu denken, aber das Bewußtsein weiß dies nur als Resultat einer Analogie zu den Ur-
teilsfunktionen.521 Die Bedingung der Möglichkeit der Synthesis von Anschauungen zu
Vorstellungen ist nur zu denken nach dem Modell der logischen Synthesis verschiedener
Vorstellungen in Urteilen, und damit ist sie für unser Denken nur durch negative Bezie-
hung auf das in Urteilen verknüpfte bestimmte Mannigfaltige zu fassen. Das Vermögen
zu urteilen, aus dem die Kategorien als dessen Bedingungen a priori erschlossen wor-
den waren, wird in den Grundsätzen nun als Vermittlung von Kategorie und Sinnlichkeit
eingesetzt. Damit enthält die Kategorie negativ schon das, mit dem sie nun vermittelt
werden soll. Die Grundsätze des empirischen Gebrauchs der reinen Verstandesbegriffe
sind tatsächlich Schlüsse auf die jeweiligen Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit
von Erfahrung. Sie sind insofern die Ausführung des Schlusses auf die Kategorienta-
fel aus der Urteilstafel. Dieser Zusammenhang muß aber hier rein a priori dargestellt
werden, und der Schematismus – Grundlage der Funktion der Urteilskraft – ist die Be-
schränkung des Verstandes durch seine eigene Zeitfunktion: „Die Schemate sind daher
nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln, und diese gehen nach der Ordnung
der Kategorien auf die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung, endlich den Zeitinbe-
griff in Ansehung aller möglichen Gegenstände.“522
Diese Bestimmung folgt auch aus der Unzulänglichkeit der Bilder und der sinnli-
chen Schemata: Wie Kant am Beispiel des Dreiecks zeigt, kann für dessen Begriff kein
adäquates Bild gegeben werden, wohl aber ein Schema, das der arithmetischen Kon-
struktionsanweisung eine geometrische an die Seite stellt und so den Begriff auf die
Sinnlichkeit überträgt. Das Schema des Hundes dagegen, das als „eine Regel, nach wel-
cher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen
kann, ohne auf irgendeine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet,
oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt
zu sein“523 , beschrieben wird, führt zu folgender Konsequenz: „Dieser Schematismus
unseres Verstandes in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form ist eine ver-
520
KrV, B 177.
521
Vgl. KrV, B 104f.: „Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile
Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung
Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt. […] Auf solche Weise
entspringen gerade so viel reine Verstandesbegriffe, welche a priori auf Gegenstände der Anschau-
ung überhaupt gehen, als es in der vorigen Tafel logische Funktionen in allen möglichen Urteilen
gab“.
522
KrV, B 184f.
523
KrV, B 180.
S O: D G 443
borgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der
Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden.“524
Noch die sinnliche Vorstellung von einem Hund beruht danach zunächst auf einer
Produktion der Einbildungskraft a priori, das heißt sie gilt als Resultat einer Formung
der bloßen Mannigfaltigkeit durch die Einbildungskraft, was letztlich ermöglicht wird
durch die Beschränkung a priori des Verstandes durch seine Zeitfunktionen.525 Die An-
schauungen seien in der Zeit, aber ihre Apprehension erzeuge doch die Zeit erst aus
der Projektion der reinen Form der Zeit auf Inhalte, die zugleich nur im Medium Zeit
apprehendiert werden könnten. Das Immanenzverhältnis des durch Zeit beschränkten
Verstandes, der vermittels dieser Zeitlichkeit ‚in der sukzessiven Apprehension eines
Gegenstandes‘ der Quantität nach die Zeit selbst erst erzeuge und ebenso der Qualität
nach ihre Inhalte, der Relation nach deren Verhältnisse zueinander und der Modalität
nach ihre Verhältnisse wiederum in der Zeit hervorbringe, hat Heidegger – wenngleich
er Kants Konstruktion als subjektivistische Verflüchtigung von Zeit ablehnt – treffend
ausgedrückt: Die Zeitlichkeit zeitigt die Zeit und das Dasein als Innerzeitliches aber
selbst nicht Zeitliches.526
Der Schematismus bestimmt soweit nur die allgemeinen subjektiven Bedingungen,
die es der Urteilskraft ermöglichen, Kategorien auf Erfahrungsgegenstände anzuwenden,
die transzendentalen Schemata sind zunächst die formalen Grenzen, innerhalb derer die
Urteilskraft agiert. Die Grundsätze selbst sollen nun die Aktionsformen der Urteilskraft
systematisch differenzieren, das heißt die Urteile bestimmen, die a priori begründbar
sind aus dem Verhältnis der Kategorien „auf mögliche Erfahrung […], zur Sinnlichkeit
überhaupt“527 . Auch diese Bestimmungen sind als Grundlage a priori aller Urteile sub-
jektimmanent zu halten und sind objektiv nicht reduzibel auf anderes. Das Aristotelische
Problem, daß man dasjenige, „was jeder erkannt haben muß, der irgend etwas erkennen
soll, […] schon zum Erkennen mitbringen“528 müsse, hindert Kant zufolge nicht dar-
an, daß „ein Beweis aus den subjektiven Quellen der Möglichkeit einer Erkenntnis des
Gegenstandes überhaupt, zu schaffen möglich“529 wäre: Wenn transzendentale Erkennt-
nis so verstanden wird, daß sie keine Gegenstandserkenntnis darstellt, sondern innerhalb
des gegen wirkliche Gegenstände abgedichteten Subjekts dessen mögliche Beziehung
auf mögliche Objektivität nur soweit bestimmt, wie der Begriff möglicher Objektivität
selbst eine subjektive Vorstellung ist, so gelten die Grundsätze nur für Erkenntnisse, in
denen das Subjekt sich auf Anderes bezieht, nicht aber für die eigene Reflexion. In dieser
könnten sie dann deshalb transzendental abgesichert sein.
Aristoteles hatte seinen Grundsatz der Erkenntnis, den Satz vom zu vermeidenden Wi-
derspruch, nur durch Beziehung des Denkens auf Anderes untermauern können, durch
die Forderung, daß jemand Rede stehe, also überhaupt etwas widerspruchsfrei bezeich-
ne. Die darin gelegene petitio principii galt ihm dennoch als begründet, indem der Exis-
524
KrV, B 180f.
525
Diesen Aspekt betont auch Josef Simon, Kant, a.a.O., 254ff.
526
Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, z. B. 420.
527
KrV, B 187.
528
Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1005b.
529
KrV, B 188.
444 D F S
tenzgrund des Denkens nicht durch die Immanenz des Denkens, sondern nur durch seine
adäquate Relation zu den Existenzmitteln des Denkenden zu sichern war. Das imma-
nente Bewußtsein dagegen erwies sich als eine Illusion, die mit dem frühmorgendlichen
Sprung in einen Brunnenschacht einfach aufzudecken war.530
Entsprechend ist für Kant das Widerspruchsverbot der oberste Grundsatz aller analy-
tischen Urteile,531 das bloß negativ die notwendige Bedingung der Wahrheit von Urteilen
angibt. Da synthetische Urteile nicht beanspruchen, im Prädikat Bestimmungen anzuge-
ben, die im Urteilssubjekt schon enthalten sind, können sie sich nicht selbst widerspre-
chen.532 Für die Möglichkeit der Verknüpfung von logischem Subjekt und Prädikat in
synthetischen Urteilen – also für die Möglichkeit der Erweiterung von Erkenntnis – hat
jener Satz demnach keine Funktion. Kant faßt ihn ausschließlich als logisches Prinzip.
– Seine Aristotelische Funktion als negative Bestimmung der Identität des Bewußtseins
durch Vermittlung über das, was es nicht selbst ist, gelang nur durch Koordination der
logischen mit der ontologischen Formulierung des Satzes: Es kann nicht zugleich dem-
selben logischen Subjekt dasselbe Prädikat zugesprochen und abgesprochen werden;
und: Das logische Subjekt kann nicht zugleich sein und nicht sein. Das Seinsprädikat
fällt unter die Regel, die für alle Prädikate gilt, trägt aber noch eine ausgezeichnete Funk-
tion. Die Verbindung subjektiver Identität mit objektiver Identität macht bei Aristoteles
den Gehalt von Identität überhaupt aus, der impliziter Gegenstand des IV. Buches der
Metaphysik ist, aber nicht explizit, weil er sich geradezu, positiv, nicht bestimmen ließe,
denn für sich ist Identität ein leerer Begriff.
Für Kant ist die subjektive Identität innersubjektiv nachgewiesen. Der Satz vom zu
vermeidenden Widerspruch ist deshalb bei ihm auf seine logische Funktion beschränkt,
und zwar so sehr, daß Kant mit der ontologischen Formulierung umgeht, als sei sie die
logische. An dem Satz „Ein Ding = A, welches etwas = B ist, kann nicht zu gleicher Zeit
non B sein.“533 kritisiert er weder den Ausdruck ‚Ding‘, noch das Seinsprädikat; beides
gilt – nach der Erklärung aller Erscheinungen zu Vorstellungen – als unschädlich. Wohl
aber kritisiert Kant den Ausdruck ‚zu gleicher Zeit‘, denn hiermit würden die Dinge nach
der Kategorie Relation als geordnete Zeitinhalte gesetzt, also auf ein Dasein bezogen,
das ihnen logisch nicht zukomme. Das Problem der Objektivität besteht für Kant nicht
mehr in der Zuordnung der Vorstellungen zu Sinnesgegenständen, sondern in der zu
Zeitfunktionen. Die Zeit, Form der Sinnlichkeit, droht zum Surrogat des Sinnlichen zu
werden.
Für Kant ist selbst der von Aristoteles bemühte Brunnenschacht zunächst einmal eine
Vorstellung, die als Vorstellung einer subjektiven Form unterliegt, deren Verhältnis zu
anderen subjektiven Formen sich im Subjekt bestimmen lasse. Die Erkenntnis des Brun-
nens als Brunnen, die für Aristoteles nicht weiter als bis auf die Empfindung reduzibel
ist, hat für Kant Voraussetzungen, die weit ins Subjekt hineinreichen und nur der Mög-
lichkeit nach auf Objektivität bezogen sind, die ihrerseits der Wirklichkeit der Objekte
530
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1008b.
531
Vgl. KrV, B 189ff. Vgl. B 82ff.
532
Vgl. KrV, B 193f.
533
KrV, B 191.
S O: D G 445
nach für das Subjekt nicht faßbar ist. Daher ist eine Begründung noch der Grundsätze
aller Beziehung auf Bestimmtes für Kant denkbar.534
Objektive Realität kommt den reinen Begriffen zu durch ihre Beziehung auf mögli-
che Erfahrung, Diese Verbindung wird grundgelegt durch die Form des inneren Sinns,
soweit sie mittels der Einbildungskraft durch die Einheit der Apperzeption bestimmt ist.
Als oberster Grundsatz aller synthetischen Urteile – vorausgesetzt, die Beziehung ih-
rer Elemente soll bestimmt, das heißt objektiv sein – ergibt sich daher die schon aus
der Deduktion A bekannte Bedingung der Objektivität der Kategorien selbst: „[D]ie
Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der
Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung.“535 Waren es aber in der Deduktion A noch
„die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung“536 , das heißt die im Subjekt
gründenden Voraussetzungen seiner Beziehung auf Gegenstände beliebiger möglicher
Erfahrung, so sind es hier ‚die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt‘,
das heißt noch die Möglichkeit von Erfahrung schlechthin wird explizit im Subjekt ver-
ankert.
Allein das Fehlen des bestimmten Artikels – die Erfahrungsbedingungen sind Bedin-
gungen, aber nicht ‚die‘ Bedingungen der Gegenstände – markiert hier noch die Diffe-
renz des Subjekts zu seinen Objekten.537 Objektivität wird möglich allein als Wendung
der transzendentalen Einheit der Apperzeption zur Grundbestimmung der Gegenstände
der Erkenntnis. Diese objektive Wendung538 vermitteln die Grundsätze, „nach welchen
alles (was uns nur als Gegenstand vorkommen kann) notwendig unter Regeln steht, weil,
ohne solche, den Erscheinungen niemals Erkenntnis eines ihnen korrespondierenden
Gegenstandes zukommen könnte“539 . Diese universale Regelung der Erfahrung durch
Grundsätze des reinen Verstandes verleiht letztlich auch den Naturgesetzen ihre gesetz-
mäßige Geltung im Bereich der Erfahrung.
Die Einteilung der Grundsätze, als Anwendungsfunktionen der Kategorien, entspricht
deren Einteilung: Der Kategorie Quantität werden die Axiome der Anschauung (1)
zugeordnet, der Qualität die Antizipationen der Wahrnehmung (2), der Relation die
Analogien der Erfahrung (3) und der Modalität die Postulate des empirischen Denkens
überhaupt (4).
Die entscheidende Differenz ist die zwischen mathematischen und dynamischen
Grundsätzen. Mit ihr folgt Kant der Unterscheidung der Kategorien,540 die sich
darauf gründete, daß Quantität und Qualität ‚keine Korrelate‘ haben, Relation und
Modalität aber schon, das heißt jene sind durch einen einzelnen Begriff bezeichnet,
534
Jürgen Habermas wirft Dieter Henrich vor, daß das „Surplus an Gewißheit“, das dieser der den-
kenden Reflexion vor der Naturforschung einräumt, „nicht wiederum mit Berufung auf evident
Gewisses begründet werden“ könne (Nachmetaphysisches Denken, a.a.O., 276), sondern allenfalls
transzendentalpragmatisch. Der einfache Gedanke, daß Denken, auch sprachlich sich darstellendes,
nicht subsistiert, weist einen anderen Weg.
535
KrV, B 197.
536
KrV, A 111; meine Hervorhebung
537
Diese Differenz ist selten bemerkt worden; vgl. aber z. B. Josef Simon, Kant, a.a.O., 114.
538
Vgl. KrV, B 138.
539
KrV, B 198.
540
Vgl. KrV, B 110.
446 D F S
diese durch das Verhältnis zweier Begriffe. Diese Besonderheit wird von Kant zunächst
nicht erklärt, sondern bloß angemerkt: „Dieser Unterschied muß doch einen Grund
in der Natur des Verstandes haben.“541 Jetzt, im Zusammenhang der Grundsätze,
tritt dieser Grund hervor aus der sinnlichen Beschränkung des Verstandes, das heißt
im Zusammenhang von dessen Anwendung der Kategorien auf Anschauungen. Die
mathematischen Kategorien bestimmen nämlich nur die Anschauung hinsichtlich ihrer
Form – Größe und Gestalt –, die dynamischen aber auch hinsichtlich ihres Daseins
– Wirksamkeit, Notwendigkeit etc. Die mathematischen Kategorien und Grundsätze
bestimmen die formalen Bedingungen der Möglichkeit von Anschauung überhaupt, die
dynamischen dagegen nur die Bedingungen der Möglichkeit von Anschauung in einer
empirischen Erfahrung. Jene sind daher notwendig, diese zufällig; jene sind konstitutiv
für die Erkenntnis und die Anschauung, weil unter ihrer Bedingung allein Anschauung
möglich ist, indem sie die Gestalt der Anschauung hervorbringen, diese aber sind zwar
konstitutiv für die Erkenntnis, weil sie für die Apprehension gegebener Anschauungen
notwendig gelten, aber sie sind bloß regulativ für die Anschauung selbst, weil sie nicht
das Dasein der Anschauung hervorbringen.
(1) Die Möglichkeit der Anwendung der Kategorie Quantität auf Anschauungen be-
ruht auf dem Grundsatz, daß alle Anschauungen extensive Größen sind,542 weil ihre
Apprehension sukzessive in den Formen Raum und Zeit erfolgt, die jedem bestimm-
ten Raum und jeder bestimmten Zeit vorhergehen. Dieser sukzessiven Assoziation von
gleichartigen Teilen zu einem Ganzen entspricht der Begriff extensiver Größe. Die syn-
thetischen Sätze a priori, die die Geometrie an den reinen Anschauungen entwickelt,
gelten daher auch für alle empirischen Anschauungen.
Dieser Grundsatz – isoliert genommen – stößt auf Schwierigkeiten bei den
bestimmten Quanta. Im Unterschied zu geometrischen Sätzen, die allgemeine Kon-
struktionsregeln in der reinen Anschauung darstellen, sind arithmetische Ausdrücke der
Art 7 + 5 = 12 singulär, ja jede Zahl ist durch eine singuläre Synthesis bestimmt, die
keine allgemeine Regel darstellt; dennoch soll „der Gebrauch dieser Zahlen nachher
allgemein“543 sein. Darin macht sich die Aporie der Zahl geltend, nicht anschaulich,
aber ohne vorhergehende Anschauungen undenkbar zu sein. Dahinter verbirgt sich aber
auch das Problem von Kontinuität und Diskretion der Quanta, ihre Eigenschaft, zugleich
extensive und intensive Größen zu sein.544 –
(2) Diese Bestimmung wird nun zum Gegenstand des Grundsatzes der Anwendung
der Kategorie Qualität auf Anschauungen: „In aller Erscheinung hat das Reale, was ein
Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, d. i. einen Grad.“545 Kant bestimmt die
Materie der Empfindung als intensive Größe, deren Quantum also nicht sukzessive, son-
dern im Nu erfaßt wird. Kontinuität kommt dann den extensiven Anschauungen selbst
zu, insofern sie je eine Anschauung darstellen, den intensiven Wahrnehmungen aber in
541
KrV, B 110. Vgl. auch Prolegomena, IV § 39 Anm., wo Kant den Unterschied näher erläutert,
zugleich aber als eine von ‚allerlei artigen Anmerkungen‘ bezeichnet.
542
Vgl. KrV, B 202f.
543
KrV, B 205.
544
Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 189f.
545
KrV, B 207.
S O: D G 447
jedem Fall, weil die Wahrnehmung Anschauungen synthesiert zur Vorstellung eines Ob-
jekts, dessen Einheit in der Vorstellung etwas in der Apprehension korrespondieren soll.
Schließlich trifft das auch auf den Begriff des Quantum, die Zahl, zu: „Da nun bei al-
ler Zahl doch Einheit zum Grunde liegen muß, so ist die Erscheinung als Einheit ein
Quantum, und als solches jeder Zeit ein Kontinuum.“546
Kant differenziert beide Momente, weil die intensive Größe – wäre sie mit Extension
versehen – den Begriff der Realität der Erscheinung an deren räumliche und zeitliche
Dimension knüpfen würde; diese aber sollen nur formale Bedingung der Möglichkeit
von Anschauungen sein, als deren Axiome. In der Empfindung ist etwas vorausgesetzt,
das Kant die Materie der Erscheinung nennt und das aller Subjektivität vorausgesetzt
sein soll; daher ist es prinzipiell nicht bestimmbar, denn alle Bestimmung erfordert die
Beziehung aufs Subjekt. Ihre Verknüpfung mit dem Grundsatz der Anschauung wäre
daher unzulässig. Seine negative Bestimmung als notwendiges Korrelat der Empfindung
führt nun aber zurück auf das Problem, das Kant nötigte, die erste Kategorie der Qualität
nicht dem ihr entsprechenden Urteil gemäß Affirmation zu nennen, sondern Realität:547
Soll die Bestimmung des erkennenden Bewußtseins seiner selbst a priori erfolgen, so
muß die fürs Selbstbewußtsein nötige Differenz des Subjekts zum Objekt im Subjekt
selbst – und zwar als dessen Objektivierung seiner selbst – gesetzt werden. Die reinen
Verstandesbegriffe können daher nicht bloß logische Urteilsfunktionen sein, sondern sie
müssen in sich die Beziehung auf Realität enthalten. Was das Subjekt nicht ist, wird zum
immanenten Konstituens seiner Einheit. Diese innere Verwiesenheit auf Realität holt das
Subjekt nun ein: „Erscheinungen, als Gegenstände der Wahrnehmung, sind nicht reine
(bloß formale) Anschauungen, wie Raum und Zeit (denn die können an sich gar nicht
wahrgenommen werden). Sie enthalten also über die Anschauung noch die Materien zu
irgend einem Objekte überhaupt (wodurch etwas Existierendes im Raume oder der Zeit
vorgestellt wird), d. i. das Reale der Empfindung als bloß subjektive Vorstellung, von
der man sich nur bewußt werden kann, daß das Subjekt affiziert sei, und die man auf ein
Objekt überhaupt bezieht, in sich.“548
Diese Materie ist das Korrelat des Bewußtseins der Affektion, des Selbstbewußt-
seins des reinen Bewußtseins als eines empirischen Bewußtseins. Es schließt aus der
Erfahrung auf einen Gegenstand der Erfahrung, der als ‚Objekt überhaupt‘ nicht vom
transzendentalen Objekt = X unterschieden ist, das seinerseits vom transzendentalen
Subjekt – dem X, das in mir denkt – nicht zu unterscheiden war. Als Voraussetzung
dieser Selbstunterscheidung der Identität des Subjekts, als Bedingung dafür, daß die-
ser absolute Unterschied im Subjekt dieses nicht zur Implosion bringt, führt Kant hier
die ‚Materie des Objekts überhaupt‘ an. Nun ist das ‚Objekt überhaupt‘ kein Objekt,
sondern der Begriff, den das Subjekt sich von Objektivität macht. Dessen Materie gilt
es zu bestimmen, nicht als bestimmte Objektivität, sondern als Objektivität überhaupt.
Deshalb kann dem ‚Objekt überhaupt‘ keine extensionale Bestimmung in Raum und
546
KrV, B 212. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1052a ff.: Aus der Dialektik von Einheit und
Vielheit gewinnt Aristoteles die Unterscheidung, daß die Zahl 5 sowohl das sei, was sie einmal
sei, nämlich 5, als auch das, was sie fünfmal sei, nämlich 1.
547
Zum Problem vgl. Peter Bulthaup, Affirmation und Realität, a.a.O.
548
KrV, B 207f.
448 D F S
Zeit zukommen, wohl aber eine intensive Größe, die der Intensität des Eindrucks auf
die Sinne entspricht. So soll es möglich sein, daß das Subjekt nicht bloß die Form von
Erscheinungen durch die Anschauungsformen antizipiert, sondern auch die Erscheinung
als solche – ihre Realität eben – so daß die Bedingung der Möglichkeit von Wahrneh-
mung nicht von den Zufälligkeiten äußerer Gegebenheiten abhängt, sondern a priori
im Subjekt selbst gesetzt ist, und zwar als etwas, „was sich an jeder Empfindung, als
Empfindung überhaupt, (ohne daß eine besondere gegeben sein mag,) a priori erkennen
läßt“549 . So soll es gelingen, „der Erfahrung in demjenigen vorzugreifen, was gerade die
Materie derselben angeht, die man nur aus ihr schöpfen kann“550 . Soll Erfahrung a prio-
ri möglich sein, so muß das, was das Subjekt in ihr sich erst aneignet, grundsätzlich in
ihm schon präformiert sein.
Die Intensität der Erscheinung ist der Grad, in dem eine extensionale Größe auf die
Empfindung wirkt, sie ist also in Abhängigkeit vom Empfindungsvermögen, als des-
sen Voraussetzung erschlossen oder antizipiert. Dieser Grad bezeichnet die Realität, der
vollständige Mangel an Empfindung in einem Augenblick ist Negation. Zwischen dem
Nichtsein und der Empfindung findet ein graduelles, kontinuierliches Anwachsen, re-
spektive Abebben der Intensität statt, es ist kein punktueller, diskreter Übergang zum
Nichts denkbar, auch Raum und Zeit sind schließlich Kontinua, deren kein kleinster Teil
vorstellbar ist.
Die Antizipation der Wahrnehmung kann sich nicht auf eine bestimmte Qualität der
Erscheinung beziehen, sondern nur darauf, daß sie eine habe. Qualität wird damit eher
reduziert auf Realität, bloßes Sachesein überhaupt, und dieses noch auf eine graduelle
Quantität, die der Intensität der Empfindung korrespondiert. Diese ist zwar als augen-
blickliches Phänomen nicht durch die Sukzession der Zeit bestimmt, ihr Begriff als Grad
aber schon, denn der Grad kann nur als kontinuierliches Anwachsen der Intensität „in
einer gewissen Zeit“551 vorgestellt werden.
So wird die Antizipation der Wahrnehmung ebenfalls der Form des inneren Sinns
gemäß bestimmt. Damit ist aber keine Selbständigkeit des Materials der Empfindung ge-
geben. Nur indem seine graduelle Bestimmung nötigt, das kontinuierliche Abebben der
Intensität anzunehmen, eröffnet sich ein Bereich, in dem das Objekt nicht mehr empfun-
den wird, aber auch noch nicht in Nichts übergegangen ist, da dieser Übergangspunkt
gar nicht bezeichnet werden kann. Das – wie schon Zenon von Elea wußte – prinzipiell
aporetische Verhältnis von Kontinuität und Diskretion wird zum transzendentalen Ort
der Selbständigkeit der Realität. –
(3) Die Anwendung der Kategorien der Relation auf Anschauungen gelingt nach Kant
durch „Analogien der Erfahrung“; deren Prinzip ist: „Erfahrung ist nur durch die Vor-
stellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmung möglich.“552
Erfahrungserkenntnis soll den Wahrnehmungen eine Vorstellung eines Objekts der
Wahrnehmung zuordnen. Dafür ist eine Koordination der einzelnen Wahrnehmungen
erforderlich, die nicht aus diesen selbst begründet sein kann, sondern eine Synthesis
549
KrV, B 209.
550
KrV, B 209.
551
KrV, B 208.
552
KrV, B 218.
S O: D G 449
voraussetzt, die ihren Grund in der Einheit des Subjekts hat, die durch Begriffe a prio-
ri das Verhältnis der Wahrnehmungen a priori, und damit notwendig, bestimmt. Diese
Ordnung der Wahrnehmungen zueinander muß unter Zeitbestimmungen erfolgen, weil
sie vom Bewußtsein in der Zeit verknüpft werden, entweder (a) nach der Kategorie Sub-
stanz als durch die Zeit hindurch beharrlich oder (b) nach der Kategorie Kausalität als
aufeinander folgend oder (c) nach der Kategorie Wechselwirkung als zugleich. Daraus
ergeben sich die drei Analogien, denen insgesamt zugrunde liegt, „daß alle empirischen
Zeitbestimmungen unter Regeln der allgemeinen Zeitbestimmung stehen müssen“553 .
Mit der Verknüpfung der Anschauungen zu Erfahrungen ist also nicht mehr die for-
male Bedingung der Synthesis der Anschauung thematisch, also die Konstitution der
Anschauungen in Raum und Zeit, sondern das Verhältnis der Anschauungen selbst zur
Zeit, das Kant ihr ‚Dasein‘ nennt.554 Das Dasein der Gegenstände von Anschauungen
wäre nun nicht allein deren bloßes Sein, sondern ein Sein, das sich also vom Sein an-
derer Gegenstände unterschiede.555 Dieses Problem folgt den dynamischen Kategorien
deshalb, weil sie ‚ein Korrelat haben‘, das heißt weil sie Relationen von Erscheinungen
bestimmen. Was in einer Relation steht, ist als relatum durch Negation – Unterschei-
dung zum anderen relatum – bestimmt, und insofern wären die Objekte beider relata
nicht einerlei = X, sondern vereinzelt. Diese Differenz ist aber a priori nicht zu begrün-
den, weil sie die allgemein notwendige Bestimmung des Verstandes zu Gegenständen
der Erfahrung überhaupt in sich differenzierte und so das Allgemeine auf Partikulares
herabbrächte.
Nun bestimmt die Kategorie Relation die Zeitverhältnisse der Erscheinungen bloß un-
tereinander, durch die Kategorie Modalität aber werden sie auf das Subjekt bezogen und
in Relation zu dessen Zeitvorstellungen bestimmt als zu einer Zeit oder zu aller Zeit
oder zu keiner, beziehungsweise zu keiner bestimmten Zeit gegeben. Durch die Reduk-
tion auf Zeitverhältnisse bleiben die Erscheinungen zwar Funktionen ihrer Vorstellung
im Subjekt, die Einheit dieser Vorstellung jedoch wäre durchbrochen, wenn die Kate-
gorien durch die Relationen der Erscheinungen konstitutiv für das Dasein der Objekte
der Erscheinungen wären. Sie sind daher nur konstitutiv für die Relationen, nicht jedoch
für die relata, die einzelnen Anschauungen. Deren Dasein selbst bleibt verborgen, ist
jedenfalls weder in der Zeit noch im Raum gegeben. Könnte auch dies a priori erkannt
werden, so wäre nicht allein durchs Subjekt bestimmt, wie und als was ihm etwas gege-
ben ist, sondern auch, daß es überhaupt gegeben ist, das heißt das Dasein würde selbst
durch bloße Begriffe hervorgebracht. Weil Kant auf der Differenz von Subjekt und Ob-
jekt aber beharren will, erklärt er, das Besondere des Daseins könne nicht antizipiert
werden. Die Grundsätze der Kategorien der Relation und der Modalität seien deshalb
553
KrV, B 220.
554
Darunter versteht er ebensowenig wie später Hegel „etymologisch genommen: Seyn an einem ge-
wissen Orte“, denn: „die Raumvorstellung gehört nicht hierher“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der
Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 97). Nach Kant ist Raum nur die Form körperlicher Anschauungen,
die nach Qualität und Quantität als Anschauungen zwar bestimmt sind, hinsichtlich ihres Objekts
aber nur auf ein transzendentales Objekt = X verweisen.
555
Hegel nennt dies ein „bestimmtes Seyn“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein,
a.a.O., 96), ein Sein, das mit einer Negation versehen wäre.
450 D F S
regulativ für die Objekte, das heißt sie geben Regeln für ihre formale Verknüpfung an –
für ihre Verknüpfung als Objekte überhaupt –, nicht aber für sie als bestimmte Objekte.
Als bestimmbar gelten immer nur die Relationen, nicht aber die relata. So sind diese
Grundsätze regulativ für die Anschauung, aber immerhin konstitutiv für die Erfahrung,
weil sie die Bedingungen der Möglichkeit a priori von Begriffen sind.556
Wenngleich auch die mathematischen Grundsätze nur für Gegenstände überhaupt
darstellbar waren, so waren es doch Gegenstände möglicher Erfahrung, die durch die
Grundsätze konstituiert wurden. Hier sind es nun die Relationen der Gegenstände
möglicher Erfahrung, deren Ordnung geregelt wird. Sie müssen so einerseits a priori als
relationes in se subsistentes gedacht werden, ohne doch – wie diese in der theologischen
Tradition es vermochten – ihre relata schließlich mit Notwendigkeit aus sich selbst
hervorzutreiben, um nicht in der Immanenz zu bleiben.
Kant muß die Relationen deshalb durchaus an Gegenstände möglicher Erfahrung
knüpfen, aber nur deren bloßer Gegenständlichkeit gemäß, als Gegenstände = X. Die
Bestimmtheit der Gegenstände, die erst ihre kategoriale Verknüpfung erlaubte, muß so
als Resultat der Analogie verstanden werden, so daß schließlich auch hier die reine
Relation ihre relata produziert, mit der einen Einschränkung, daß sie dem nackten
Dasein nach schon vorausgesetzt waren und so der Verstand mittels der Relation
nicht das Dasein, wohl aber das bestimmte Dasein durch Analogie zu seiner eigenen
Zeitbestimmtheit, dem Schema, hervorbringt.
Dadurch gelingt es Kant schließlich, die Totalität des Erfahrungsganzen a priori unter
die Kontrolle des Verstandes zu bringen, und zwar nicht bloß kollektiv, indem sowohl
alle Gegenstände möglicher Erfahrung a priori bestimmt sind als auch ihre Beziehungen
untereinander. Der distributiven Einheit des Erfahrungsgebrauchs, als deren Bedingun-
gen die Bestimmungen des Verstandes a priori erschlossen wurden, ist so nicht bloß
eine Vorstellung kollektiver Einheit, sondern eine systematische Einheit des Erfahrungs-
ganzen vorgeordnet. Die Identität des Selbstbewußtseins, die aus der Erkenntnisfunktion
des Bewußtseins erschlossen wurde, produziert nun aus sich selbst die Bedingungen der
durchgängigen Bestimmtheit der Identität der Welt. Regulativität besagt lediglich eine
Einschränkung der Funktion der Relationen hinsichtlich des bloßen Daseins ihrer relata.
Dieses nackte Dasein überhaupt ist das einzige, das sich der Bestimmung durchs Subjekt
entzieht. Es ist dasjenige, um das dann Hegel auf dem Weg zur absoluten Idee überhaupt
noch ringen muß, denn aller ihrer Bestimmtheit nach ist die Objektivität schon Kant zu-
folge eine Funktion von Subjektivität.
(a) Die Erste Analogie – diejenige zur Kategorie Substanz und Akzidenz – bestimmt
den „Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz: Bei allem Wechsel der Erscheinungen
beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt
noch vermindert.“557 Alle Zeitverhältnisse von Erscheinungen, Veränderungen, können
nur als solche wahrgenommen werden, wenn die Zeit – als Medium der Veränderung –
selbst sich nicht verändert, die Zeitfolge setzt Zeiteinheit voraus. Zeit ist aber kein Ge-
genstand der Anschauung, sie kann nur durch Analogie wahrgenommen werden, indem
in den Gegenständen der Anschauung etwas angenommen wird, das in der Veränderung
556
Vgl. KrV, B 692.
557
KrV, B 224.
S O: D G 451
der Gegenstände gleichbleibt und an dem diese Veränderung gemessen werden kann.
Dieses Gleichbleibende „Substrat alles Realen“ nennt Kant „die Substanz an welcher
alles, was zum Dasein gehört, nur als Bestimmung kann gedacht werden“558 . Die Kate-
gorie Substanz ist überhaupt selbst eine Kategorie der Relation, weil sie Bedingung der
Möglichkeit aller Relationalität ist.559
Indem Kant die Substanz zur formalen Bedingung ihrer Akzidentien macht, ist sie
vom Substrat – für Aristoteles als hypokeimenon im Unterschied zur ousia der mate-
rielle Träger der Substanz – tatsächlich nicht mehr zu unterscheiden. So identifiziert
Kant auch explizit Substanz und „Materie“560 . Indem aber mehr noch die Vorstellung
von Substanz zur formalen „Bedingung der Möglichkeit aller synthetischen Einheit der
Wahrnehmung“561 der Akzidentien wird, zum bloßen Maßstab des Variablen, ist ihre
Identität bloßer negativer Ausdruck der Mannigfaltigkeit, das was traditionell prima ma-
teria heißt. Die prima materia – als Reflexionsausdruck der Mannigfaltigkeit verstanden
– ist tatsächlich nichts Anderes als eine Analogie der subjektiven Bedingungen der Er-
fahrung und, sofern sie auf das Wechselnde in ihr bezogen ist, eben eine Analogie der
durch die Einbildungskraft präformierten Zeit als Einheit in der bloßen Mannigfaltigkeit.
Aristoteles hatte diesem Materiebegriff die Substantialität abgesprochen, weil Sub-
stanz die Kategorie des Bestimmten, des ersten logischen und ontologischen Subjekts
aller Prädikation, bloße Materie dagegen ganz unbestimmt sei.562 Da Kant im Kategori-
enbegriff nicht logische und ontologische Bestimmungen – ‚etwas von etwas aussagen‘
und ‚etwas oder an etwas sein‘ – verschränkt, sondern in ihnen formale Bedingungen
der Erfahrung a priori sieht, ist es gerade diese Unbestimmtheit und Identität absoluter
Bestimmbarkeit, die zur Funktion der Beharrlichkeit in der Zeit paßt. Sofern aber in der
transzendentalen Bestimmung der Möglichkeit von Beharrlichkeit Substanz und Sub-
strat nicht differieren, wird „der Satz, daß die Substanz beharrlich sei, tautologisch“563 ;
so kann nur transzendentallogisch von Gegenständen möglicher Erfahrung, nicht aber
von wirklichen, bestimmten Erfahrungsgegenständen die Rede sein. Dafür nennt Kant
einen guten Grund: Das dafür notwendige synthetische Urteil a priori, „daß in allen Er-
scheinungen etwas Beharrliches sei, an welchem das Wandelbare nichts als Bestimmung
seines Dasein ist“564 , kann nicht aus Begriffen begründet werden. Die Kritik am naiven
Realismus der Metaphysik ist begründet, weil deren Substanzen außerhalb der Erfah-
rung durch ein Subjekt nicht anders vorzuweisen sind, denn als Reflexionsbegriffe. Kant
macht Ernst und entzieht seinen Substanzbegriff von vornherein dem Zugriff wirklicher
Erfahrung; er ordnet bloß regulativ die Gegenstände der Anschauung, ist Bedingung
aber nicht Gegenstand von Erfahrung. Allerdings ist die sachhaltige Bestimmung der
Mannigfaltigkeit der Gegenstände der Erfahrung mithilfe des Substanzbegriffs dann un-
möglich, – im Gegenteil ist nur ein umfassendes Substrat der Totalität noch vorstellbar,
558
KrV, B 225.
559
Vgl. KrV, B 230.
560
KrV, B 230.
561
KrV, B 226.
562
Vgl., Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1029a.
563
KrV, B 227.
564
KrV, B 227.
452 D F S
weil die Substanz, als Substrat der Beharrlichkeit in aller Zeitvorstellung, selbst nicht
entstanden sein kann und nicht als vergänglich denkbar ist.565 Alles bestimmte Sein ist
dann eine akzidentelle Bestimmung an der Substantialität des Erfahrungsganzen. Die
Realität, als qualitativ bestimmtes Dasein, wird dadurch zur bloßen Relation von Akzi-
denz und Substanz, noch die Differenz von Inhärenz und Subsistenz erscheint Kant als
zu inhaltsreich;566 das Dasein darf nicht als Daseiendes durch Relation bestimmt sein,
sondern es kann nur in dieser Relation selbst, der Möglichkeit nach, beruhen.
Dialektisch wendet Kant den Begriff der Veränderung gegen die Substanz selbst.
Wenn sie das Beharrliche sei, an dem die Zustände wechseln, so heiße dies für die Zu-
stände, daß sie wohl selbst entweder seien oder nicht seien, aber doch nicht, daß sie
selbst verändert würden. So sei ihr Wechsel des Seins oder Nichtseins die Veränderung
der Substanz; dadurch wird die absolute Mannigfaltigkeit vollends in den Substanzbe-
griff transferiert. Die Substanz selbst muß ewig sein, weil sonst die paradoxe Annahme
einer leeren Zeit vor oder nach ihrer Existenz folgte. Sollten unterschiedene Substanzen
teils vergehen, teils entstehen, so würden unterschiedene Zeiten nebeneinander verlau-
fen, da die Erfahrung von Zeit eben an die Analogie der Beharrlichkeit der Substanz
geknüpft sei. Um der Einheit der Erfahrung willen, in der Unterschiedenes in Relation
gesetzt werden kann, muß Kant die Unterschiede im Substanzbegriff auf die formale
Möglichkeit bloßer Verschiedenheit reduzieren. Die subjektive Möglichkeit der Erkennt-
nis mannigfaltiger Gegenstände fordert einen Begriff der Gegenstände, dessen objektive
Realität entweder aufgehoben ist oder gerade darin besteht, als Möglichkeit von Relatio-
nalität die Relationen und durch sie die bestimmte Totalität der Objekte hervorzubringen.
(b) Die Zweite Analogie formuliert den „Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze
der Kausalität: Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der
Ursache und Wirkung“567 . Grundlegend bleibt der Begriff der Veränderung aus der Ers-
ten Analogie, demgemäß kein substantielles Entstehen und Vergehen stattfinde, darauf
weist Kant in einer ausführlichen Erinnerung explizit hin.
Die Wahrnehmung einer Folge von Erscheinungen als Folge ist nach Kant bereits ei-
ne synthetische Leistung der Einbildungskraft, weil schon die zeitliche Abfolge zweier
Zustände nicht Gegenstand der Anschauung sei, sondern die Zustände A und B in der
Einbildungskraft sowohl in der Folge AB als auch in der Folge BA reproduziert werden
können. Das heißt, die Zeitfolge der Erscheinungen kann nicht am Objekt abgelesen wer-
den, der objektive Zustand überhaupt bleibt danach in der Wahrnehmung unbestimmt.
Damit die Zeitfolge aber nicht dem Zufall der subjektiven Verknüpfung ausgeliefert sei,
sondern einen objektiven Grund aufweise, muß es möglich sein, eine bestimmte Abfolge
als notwendig zu denken. Diese Notwendigkeit kann in die Erfahrung nur a priori ein-
gehen, aus einem reinen Verstandesbegriff; dafür kommt hier, der Form des Problems
gemäß, das Verhältnis von Ursache und Wirkung in Frage.
Nur durch die durchgängige Anwendung der Kategorie Kausalität auf die Erfahrung
sei ein Chaos in der Einbildungskraft zu vermeiden, nur so seien Erscheinungen über-
haupt in geordneter Weise unter der Bedingung des inneren Sinns vorstellbar. Weil die
565
Vgl. KrV, B 228f.
566
Vgl. KrV, B 230.
567
KrV, B 232.
S O: D G 453
zeitliche Relation von Erscheinungen uns nicht in der Anschauung gegeben ist, wird
die Objektivität von Prozessen allein durch die subjektive Kategorie der Kausalität be-
gründet. Auch hier wendet Kant die Einsicht, daß Relationen nicht Gegenstände der
Anschauung, sondern solche der Synthesis in der Einbildungskraft sind, in eine konsti-
tutive Bestimmung der Objektivität von Relationen.
Nicht die zeitliche Abfolge von Gegenständen oder deren Zuständen ist danach eine
Bedingung von deren Kausalität, sondern der Begriff der Kausalität ist Bedingung der
Vorstellung von Zeitfolge und konstituiert so die relationale Ordnung der Gegenstände
der Erfahrung und damit – mittelbar – diese selbst, so sehr Kant auch auf der Not-
wendigkeit wirklicher Erfahrung beharrt: „Wie nun überhaupt etwas verändert werden
könne; wie es möglich sei, daß auf einen Zustand in einem Zeitpunkte ein entgegenge-
setzter im andern folgen könne, davon haben wir a priori nicht den mindesten Begriff.
Hierzu wird die Kenntnis wirklicher Kräfte erfordert, welche nur empirisch gegeben wer-
den kann, z. B. der bewegenden Kräfte oder, welches einerlei ist, gewisser sukzessiven
Erscheinungen (als Bewegungen), welche solche Kräfte anzeigen.“568 Der physikalische
Begriff der Kraft wird hier von seiner Repräsentation in den Meßergebnissen – aus denen
Kräfte, die selbst keine Gegenstände möglicher Erfahrung sind, nur erschlossen werden
können – nicht unterschieden.569 Bemerkenswerterweise führt Kant als Beispiele lauter
solche Kausalverhältnisse an, die durch Menschen bewirkt werden; damit trifft er – ge-
mäß dem an Vico angelehnten Prinzip: „Wir verstehen aber […] nichts recht als das was
wir zugleich machen können wenn uns der Stoff dazu gegeben würde“570 – die experi-
mentelle Naturwissenschaft, in der die Versuchsverläufe und mit ihnen die Ergebnisse
durch den Experimentator antizipiert werden. Die wissenschaftliche Bestimmung von
Natur ist dann aber Bestimmung isolierter Naturzusammenhänge und nicht einer Natur,
wie sie unabhängig vom Menschen vorauszusetzen wäre. Der Grund der Möglichkeit des
Mißlingens von Experimenten wäre danach aber bloße Unfähigkeit des Experimentators,
nicht ein Widerstand in der Sache selbst.
Der Experimentator, umgekehrt, wird zur Funktion der Objektivität des Experiments:
„Die Kausalität führt auf den Begriff der Handlung, diese auf den Begriff der Kraft, und
dadurch auf den Begriff der Substanz.“571 Kant bezeichnet hier die Wirksamkeit der Ur-
sache als Handlung eines Subjekts der Ursache. Dieses kann als handelndes nicht eine
Erscheinung A sein, auf die in der Zeit eine andere B folgt; es muß vielmehr das Subjekt
sein, das in seiner Empirie die Relation von A und B a priori konstituiert. Die Verknüp-
fung von subjektiver Konstitution der Form des Prozesses und objektivem Prozeßverlauf
568
KrV, B 252.
569
Vgl. zur Bedeutung dieses Problems für gesetzmäßige Naturerkenntnis: Andreas Hüttemann, Na-
turgesetze, in: Andreas Bartels/Manfred Stöckler (Hgg.), Wissenschaftstheorie. Ein Studienbuch,
Paderborn 2007, 142.
570
So in einer Anmerkung in der Rostocker Handschrift der Anthropologie, in: Immanuel Kant,
Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel a.a.O., Bd. 12, 426 FN. Vgl. Giovanni Battista Vico,
Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hamburg 1990, 142
und Manfred Baum, Erkennen und Machen in Kants Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., sowie
Karen Gloy, Kants Philosophie und das Experiment, in: Gerhard Schönrich/Yasushi Kato (Hgg.),
Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt am Main 1996.
571
KrV, B 249.
454 D F S
im Begriff der Handlung, deren kontinuierliche Wirkungsentfaltung Kant erneut auf die
Einheit der Apperzeption zurückführt,572 bestärkt die Ununterscheidbarkeit von Subjekt
und Objekt. Das Subjekt objektiviert sich in der Antizipation der Kausalität und bleibt
als empirisches bloß noch als Quelle der Fehler zurück. Nur in diesen Fehlern, Zufäl-
ligkeiten, erschiene theoretisch noch die Differenz der von Kant geforderten wirklichen
Erfahrung zu deren allgemeiner Form, die zur wirklichen Erfahrung dadurch wird, daß
ein Subjekt eine Erscheinung als reproduzierbares Objekt ansieht: „Daß also etwas ge-
schieht, ist eine Wahrnehmung, die zu einer möglichen Erfahrung gehört, die dadurch
wirklich wird, wenn ich die Erscheinung ihrer Stelle nach in der Zeit als bestimmt,
mithin als ein Objekt ansehe, welches nach einer Regel im Zusammenhange der Wahr-
nehmungen jederzeit gefunden werden kann.“573
Wirkliche Erfahrung resultiert aus der Spontaneität des Subjekts, die gleichwohl
durch die Erscheinung beschränkt sein soll: „Diese Regel aber, etwas der Zeitfolge
nach zu bestimmen, ist: daß in dem, was vorhergeht, die Bedingung anzutreffen
sei, unter welcher die Begebenheit jederzeit (d. i. notwendiger Weise) folgt.“574
Deutlicher noch heißt es: „[D]ie Erscheinungen müssen einander ihre Stellen in
der Zeit selbst bestimmen und dieselbe in der Zeitordnung notwendig machen“575 .
Solch eine Bestimmung der Objektrelationen aus den Objekten selbst, zusätzlich zur
transzendentalen Bestimmung ihrer Form, ist erforderlich, weil ununterscheidbare
transzendentale Gegenstände – jeder = X – in keine Ordnung zu bringen sind. So setzt
sich die Konstitution der Relation auch als Desiderat an die relata in diese hinein
fort und führt auf den Satz vom zureichenden Grund als Bedingung der Möglichkeit
von Erfahrung. Die Totalität der Gegenstände der Erfahrung ist kausal geordnet, es
gibt kein bloßes post hoc, das objektiv wäre: Nichts geschieht, dessen Bedingungen
nicht vorher in der Zeit gegeben wären.576 Das läßt sich umgekehrt so deuten: „Wenn
alle Bedingungen einer Sache vorhanden sind, so tritt sie in die Existenz.“577 Soll
der Empirismus vermieden werden, so kann kein Gegenstand möglicher Erfahrung
außerhalb der als durchgängig vorgestellten Kausalordnung liegen; als Grund von deren
Objektivität kann nur der Verstand fungieren.
Das Verhältnis von Subjekt und Objekt verwickelt sich zunehmend in Aporien: „[I]ch
erkenne einen Gegenstand, den ich in der Zeit auf eine bestimmte Stelle setzen muß, die
ihm, nach dem vorherigen Zustand nicht anders zukommen kann“578 . Woher weiß das
erkennende Subjekt dies? Die Kategorie Kausalität bestimmt nur die formale Möglich-
keit von Zeitfolge, aber keine bestimmte Zeitfolge. Die Erkenntnis der Gegenstände als
sich in ihren Bestimmungen wechselseitig bedingende ist vorausgesetzt für die Zuord-
nung in der Zeit. Die Zuordnung in der Zeit bestimmt aber erst die Relation und damit
die wechselseitige Bestimmung der Gegenstände.
572
Vgl. KrV, B 256.
573
KrV, B 245.
574
KrV, B 245f.
575
KrV, B 245.
576
Vgl. KrV, B 246f.
577
G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Wesen, a.a.O., 321.
578
KrV, B 243.
S O: D G 455
Der Begriff der Kausalität als bloßer Zeitfunktion ist die allgemeine transzendentale
Bestimmung der Möglichkeit, Prozesse wahrzunehmen; aber bestimmte Prozesse sind
nicht ohne Bestimmung der Momente des jeweiligen Prozesses zu erkennen. Diese sol-
len nun erst durch die Relation Bestimmtheit erlangen, die Relation ist aber ihrerseits
ohne Verhältnis der schon bestimmten relata nicht zu denken.
Kant deutet daher ein wechselweises Begründungsverhältnis der transzendentalen
Form und der empirischen Erfahrung an.579 Nur ist diese Wechselbeziehung nach
Kants Bestimmungen nicht möglich, weil die Trennung der Form möglicher Erfahrung
einerseits von der wirklichen Erfahrung andererseits auf einen Widerspruch im
Erfahrungsgegenstand selbst führt: Die Gegenstände der Erfahrung sollen in ihrer
Zeitrelation durch die Kategorie konstituiert sein,580 diese Relation muß somit die
relata – Gegenstände der Erfahrung – a priori aus der Kategorie bestimmen, auch wenn
Kant dies nicht explizit formuliert. Sodann sollen die Gegenstände der Erfahrung aber
selbst solche Bestimmungen haben, die es erlauben – ja erzwingen –, sie in die richtige
Relation zu setzen.581 Der erste Vorgang der Bestimmung aus der Kategorie müßte
dann blind sein, unbewußt. Aber dann bezöge er sich nicht auf die Gegenstände der
Erfahrung, die als Vorstellungen bewußt sein müssen.
Die wechselweise Bestimmung der allgemeinen Form der Kausalität und der relata
der durch sie bestimmten Relation geht so immer ganz ins Subjekt zurück. Wenn „die
subjektive Folge der Apprehension von der objektiven Folge der Erscheinungen“582 ab-
geleitet werden soll, gelingt das nur nach einer Regel a priori, durch die „ich meine
subjektive Synthesis (der Apprehension) objektiv mache“583 .
Die relata, die kausal aufeinander bezogenen Erscheinungen, können nur zur Bestim-
mung des Kausalverhältnisses herangezogen werden, weil und insofern sie als durch
diese Relation bestimmt gedacht werden, sofern sie also unter der Regel a priori ste-
hen; ein zusätzliches Kriterium dafür, ob sie darunter stehen, bieten die Erscheinungen
nicht dar, weil ein solches Kriterium – ihre empirische Bestimmung – als selbst unter
keiner Regel stehendes bloß subjektiv apprehendiert würde. Ohne einen bestimmten Un-
terschied der Erscheinungen ist aber ihre Anordnung in der Zeit durch nichts begründet.
Ein Begriff von Kausalität, dessen Form allein in der reinen Anschauung gründen soll,
bleibt aporetisch und die Art und Weise, wie er durch Erfahrung an Gehalt gewinnen
soll, bleibt unerklärlich, weil die Frage: „wie geht diese Vorstellung […] aus sich selbst
579
Vgl. KrV, B 241.
580
Vgl. KrV, B 234.
581
Vgl. KrV, B 243. Eklatant wird das Problem, wenn Ursache und Wirkung zugleich aufgefaßt
werden: „Wenn ich eine Kugel, die auf einem ausgestopften Kissen liegt und ein Grübchen darin
drückt, als Ursache betrachte, so ist sie mit der Wirkung zugleich. Allein ich unterscheide doch
beide durch das Zeitverhältnis der dynamischen Verknüpfung beider. Denn wenn ich die Kugel
auf das Kissen lege, so folgt auf die vorige glatte Gestalt desselben das Grübchen; hat aber das
Kissen (ich weiß nicht woher) ein Grübchen, so folgt darauf nicht eine bleierne Kugel.“ (KrV, B
248f.) Die Gleichzeitigkeit der Auffassung von Ursache und Wirkung setzt eine Bestimmung von
Kausalität voraus, die nicht an die Zeitfolge geknüpft ist.
582
KrV, B 238.
583
KrV, B 240.
456 D F S
heraus“584 die Grundaporie idealistischer Philosophie vorwegnimmt und damit ein un-
erfüllbares Programm antizipiert. In der Unerklärlichkeit des Verhältnisses von für sich
aporetischen Formen a priori und wirklicher Erfahrung scheint die Selbständigkeit der
Objekte auf, zu der keine Vorstellung aus sich selbst herausgeht.
(c) Die Dritte Analogie bezeichnet den „Grundsatz des Zugleichseins, nach dem Ge-
setze der Wechselwirkung, oder Gemeinschaft“; er lautet: „Alle Substanzen, sofern sie
im Raume als zugleich wahrgenommen werden können, sind in durchgängiger Wechsel-
wirkung.“585
Das Zugleichsein von Erscheinungen kann nicht wahrgenommen werden, weil die
Zeit nicht Gegenstand der Anschauung ist und somit nicht zwei Erscheinungen auf eine
Zeitanschauung bezogen werden können. Zwei Erscheinungen können nur nacheinan-
der in der Zeit apprehendiert werden, nicht zugleich. Gleichzeitigkeit ist konstruierbar
nur als wechselseitige Bewirkung dieser Erscheinungen. Das Kausalverhältnis, das die
Zeitfolge begründete, indem A etwas enthielt, das B bedingt und daher diesem vorher-
gehen mußte, hebt, als reziproke Kausalität, die Zeitfolge auf. Wenn sowohl A für B
vorausgesetzt ist als auch in der gleichen Weise B für A, so gibt es kein Kriterium
der Ordnung in der Apprehension. Beide können, ja müssen nun als zugleich vorge-
stellt werden. Damit ist nur durch die Kategorie Wechselwirkung die Wahrnehmung von
Gleichzeitigkeit möglich und die Kategorie bestimmt somit die Erscheinung selbst. Be-
dingung von Gleichzeitigkeit ist es, daß die mannigfaltigen Gegenstände einander nicht
bloß gleichgültig beigeordnet, sondern daß sie a priori der durchgängigen Bestimmung
durch Kausalität und Wechselwirkung unterworfen sind.586 Alles steht, sofern es bloß da
ist, unter kategorialen Bedingungen: „Also ist es allen Substanzen in der Erscheinung,
sofern sie zugleich sind, notwendig, in durchgängiger Gemeinschaft der Wechselwir-
kung untereinander zu stehen.“587 Auch hier gilt, daß dieser Grundsatz zwar bloß für die
Relation konstitutiv sein soll, daß er aber zwangsläufig als in die relata sich fortsetzen-
der gedacht werden muß, wenn keine relatio in se subsistens angenommen werden soll.
Die Mannigfaltigkeit des Gegebenen wird zur nicht bloß kollektiven sondern systemati-
schen Einheit des Erfahrungsganzen. Mit dem Moment der Isolation wird aber zugleich
auch das der Selbständigkeit der Objekte aufgehoben. Ein Kompromiß der Art, daß die
Isolation eine teilweise sein könne, die Objekte also eine relative Selbständigkeit haben
könnten, ist nach Kants Entwurf nicht möglich, weil das Dasein der Objekte in der Zeit
nur soweit Gegenstand von Vorstellungen sein kann, als es kategorial bestimmt ist: Das-
jenige, was an den Objekten nicht der Wechselwirkung unterläge, könnte nicht als in
der Zeitordnung bestimmt apprehendiert werden und wäre, als Isoliertes, weniger als ein
Traum.
Kant stellt mit Recht fest, daß „[o]hne Gemeinschaft […] jede Wahrnehmung (der
Erscheinungen im Raume) von der anderen abgebrochen“588 wäre, daß selbst unsere
eigenen Bewegungen nur wahrnehmbar sind in Relation zu anderen gleichzeitigen Ob-
584
KrV, B 242.
585
KrV, B 256.
586
Vgl. KrV, B 258f.
587
KrV, B 260.
588
KrV, B 260.
S O: D G 457
jekten, und die Konstruktion der Gemeinschaft als commercium und nicht communio589
ergibt sich daraus, daß die zufällige Gemeinsamkeit der communio nicht gesetzmäßig
denkbar ist und daher das Projekt einer transzendentalen Erkenntnistheorie untergrü-
be. Mehr noch: Wenn den gemeinsamen Erscheinungen überhaupt eine Substantialität
zugesprochen werden könnte, eine objektive Realität, dann nur durch kategoriale Be-
stimmung ihrer Wechselwirkung. Die Objektivität der Erscheinung ist nur mehr unter
der Bedingung ihrer subjektiven Konstitution zu denken: „[D]ie Regel des Verstandes,
durch welche allein das Dasein der Erscheinungen synthetische Einheit nach Zeitverhält-
nissen bekommen kann, bestimmt jeder derselben ihre Stelle in der Zeit, mithin a priori
und gültig für alle und jede Zeit.“590
Durch jene dynamische „reale Gemeinschaft (commercium) der Substanzen, ohne
welche also das empirische Verhältnis des Zugleichseins nicht in der Erfahrung statt-
finden könnte […] [,] machen die Erscheinungen, sofern sie außereinander und doch in
Verknüpfung stehen, ein Zusammengesetztes aus (compositum reale)“591 . Dieses Kom-
positum ist die Vorstellung der Erscheinungen unter der Kategorie Einheit, der „Inbegriff
alles Daseins“592 .
Die Analogien, nach denen das Dasein der Erscheinungen in der Zeit bestimmt wird,
„stellen also eigentlich die Natureinheit aller Erscheinungen“593 dar, und diese Naturein-
heit, als Inbegriff des Daseins aller Erscheinungen, wird konstituiert durch die Einheit
der Apperzeption. Weil diese nur durch gesetzmäßige Synthesis gewahrt werden kann,
muß das Material der Synthesis in der Zeitbestimmung, in der es gegeben ist, als ge-
setzmäßig geordnet vorgestellt werden können. Das Selbstbewußtsein des Subjekts kon-
stituiert so letztlich die kategoriale Bestimmung der Objekte durch die mathematischen
Kategorien und die ihrer Ordnung durch die dynamischen, schließlich der Totalität durch
die immanente Verknüpfung von Relation und relata. Die Grundsätze des empirischen
Verstandesgebrauchs heißen daher nun auch „transzendentale[] Naturgesetze[]“594 . Al-
lerdings handelt es sich bei diesen Gesetzen nicht um „empirische Gesetze der Natur,
die jederzeit besondere Wahrnehmungen voraussetzen“, sondern um „reine[], oder all-
gemeine[] Naturgesetze[] […] und in Ansehung der letzteren ist Natur und mögliche
Erfahrung ganz und gar einerlei“595 . Weil Kant diese Verknüpfung nicht als konstitutiv
ansehen will, soll später das transzendentale Ideal die selbst vorgeblich nur regulative
– aber objektive – Grundlage der systematischen Einheit der mathematischen mit den
dynamischen Grundsätzen in einer Totalität darstellen. –
(4) Die Postulate des empirischen Denkens überhaupt, durch die nun schließlich die
Kategorien der Modalität auf Erfahrung bezogen sind, folgen dem Aufbau der Analogi-
en, insofern (a) das Mögliche bestimmt ist als vereinbar mit den formalen Bedingungen
der Erfahrung, das sind die Bedingungen der Anschauung und der Verstandesbegriffe,
589
Vgl. KrV, B 260.
590
KrV, B 262.
591
KrV, B 261f.
592
KrV, B 262.
593
KrV, B 263.
594
KrV, B 263.
595
Prolegomena, IV § 36.
458 D F S
(b) das Wirkliche ist bestimmt durch den Zusammenhang mit den materialen Bedingun-
gen der Erfahrung, das sind die Empfindungen, (c) das Notwendige schließlich beruht
auf dem Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Regeln, so daß also das
notwendig Wirkliche nicht subjektiv-zufällig, sondern objektiv bestimmt ist, durch Be-
griffe a priori. Nach Kant sind diese modalen Bestimmungen keine Bestimmungen des
Objekts, dem sie beigelegt werden, sondern allein des Verhältnisses der Objekte zum
subjektiven Erkennen: Ob ein Gegenstand etwa überhaupt möglich ist, ist keine Bestim-
mung des Gegenstandes, sondern der Art, in der er zu denken ist.
Schon insofern der Verstand hier seine eigene Relation zu den Gegenständen be-
stimmt, wären diese Bestimmungen Selbstbestimmungen: Schließlich können die Ge-
genstände in dieser Relation nur fungieren, insofern sie deren relata sind, also selbst in
Beziehung auf den Verstand stehen. Genau das Gegenteil aber will Kant, nämlich die
Beschränkung aller Kategorien auf den empirischen Gebrauch durch die Grundsätze der
Modalität.596 Deshalb bezieht Kant diese Begriffe durchaus auf Dinge, aber eben als
Postulate. Er postuliert hier das Dasein der relata, deren Relation er in den Analogien
konstituiert hatte. Um die Behauptung einer objektiven Einheit des Erfahrungsganzen zu
vermeiden, verteilt er das Dasein der Relation und der relata auf zwei Grundsätze, die
Analogien und die Postulate.597
(a) Die Möglichkeit, die Zusammenstimmung des Begriffs von Dingen mit den for-
malen Bedingungen der Erfahrung verweist auf Synthesis, die nicht bloß begrifflicher
Art ist, sondern selbst auf Erfahrung verweist, wenn nicht als empirischer Begriff auf
Synthesis in der Erfahrung, so als reiner Begriff, dessen Objekt nur in der Erfahrung
gegeben sein kann. Das heißt, die bloße logische Widerspruchsfreiheit reiner Begriffe,
wie in der Geometrie, reicht nicht aus, um die objektive Realität dieses Begriffs zu be-
stimmen, es könnte sich auch um ein ens rationis, ein reines Gedankending, handeln.
Nur durch die zusätzliche Bedingung der Form der Anschauung und der Konstruktion
des Gegenstands unter dieser Form sagt etwas über seine Möglichkeit oder Unmög-
lichkeit aus: Daß sich aus zwei Linien keine Figur konstruieren läßt, wird nur unter
der zusätzlichen Bedingung des euklidischen Raums erkennbar, nicht aus den Begriffen
‚Linie‘, ‚Zwei‘ und ‚Schnittpunkt‘. Wäre das anders, so könnten Begriffe, denen keine
Erfahrung korrespondieren kann, nicht gedacht werden, die Vorstellung von Einhörnern
mit Bernsteinhufen wäre ebenso wenig denkbar wie die von Engeln, den geschaffenen
unkörperlichen Substanzen, die – obwohl ihr keine Erfahrung korrespondieren kann –
die Erkenntnistheorie über lange Zeit mitbestimmt hat. Auch die Begriffe der Substanz,
der Kausalität und der Wechselwirkung sind widerspruchsfrei zu denken, ohne daß dies
etwas über die Möglichkeit ihnen korrespondierender Gegenstände aussagte. Allein ih-
re Beziehung wenigstens auf mögliche Erfahrung, die Einsicht, daß ohne die objektive
596
Vgl. KrV, B 267.
597
Vgl. KrV, B 272: „Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen, fordert Wahrnehmung,
mithin Empfindung, deren man sich bewußt ist; zwar nicht eben unmittelbar von dem Gegenstande
selbst, dessen Dasein erkannt werden soll, aber doch Zusammenhang desselben mit irgend einer
wirklichen Wahrnehmung nach den Analogien der Erfahrung, welche alle reale Verknüpfung in
einer Erfahrung überhaupt darlegen.“
S O: D G 459
Realität dieser Begriffe keine Erfahrung möglich wäre, veranlaßt den Schluß, daß diese
Objektivität möglich sein muß, wenn Erfahrung denn wirklich ist.
Zwar reicht die Widerspruchsfreiheit von Begriffen nicht aus, um etwas über deren
objektive Realität zu ermitteln, aber doch ist die Möglichkeit von Gegenständen nur in
Beziehung auf ihr Verhältnis zu den subjektiv formalen Bedingungen der Erfahrung zu
ermitteln, und zwar durchaus in der reinen Anschauung, mithin a priori und in Be-
ziehung auf mögliche Erfahrung. Dadurch läßt sich nun zwar nichts über bestimmte
einzelne Gegenstände erkennen, aber über ihre Möglichkeit der Form nach wohl. Es ist
daher keine Bestimmung der Objekte, sondern der subjektiven Bedingungen der Mög-
lichkeit ihrer Objektivität überhaupt.
(b) Für die Erkenntnis der Wirklichkeit eines Gegenstandes ist Wahrnehmung pos-
tuliert, und zwar gemäß den Analogien der Erfahrung nicht des Gegenstandes selbst,
sondern seines Verhältnisses zu anderen, also von Relationen. Beispielsweise erlaubt
die Wahrnehmung einer physikalischen Wirkung den Schluß auf das Dasein einer Kraft,
die selbst nicht Gegenstand der Erfahrung ist. Aufgrund des Zusammenhangs der Er-
fahrung, unter Voraussetzung von deren Einheitlichkeit, kann über die Analogien von
Kausalität und Wechselwirkung auf die Wirklichkeit von Atomen geschlossen werden,
wenn etwa die Annahme von deren bloßer Illusion die systematische Einheit physiko-
chemikalischer Erfahrungserkenntnisse aufheben würde.
Die Konstitution der Objektivität von Relationen berechtigt zur Postulierung der
Wirklichkeit der relata, zwar nicht als Resultate dieser Relationen, doch als notwendige
Annahme zur Möglichkeit von deren Objektivität. Auch hier liegt die Wirklichkeit
des Daseins in einem Bereich, der der Erfahrung strikt entzogen ist. Unmittelbare
Erfahrung „von dem Gegenstande selbst, dessen Dasein erkannt werden soll“598 ,
wäre hier unzureichend oder gar hinderlich, weil das Dasein nicht aus den zufälligen
subjektiven Bedingungen der Apprehension folgen kann und schon gar nicht als deren
Darstellung gemäß angenommen werden darf. Läßt sich dagegen außerhalb wirklicher
Erfahrung auf etwas schließen, dessen Dasein vorausgesetzt ist für die Möglichkeit
solcher Erfahrung überhaupt, so ist seine Wirklichkeit anzunehmen. Ein Gegenstand der
Erfahrung ist dieses Wirkliche selbst dann aber nicht.
„Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen“599 , oder die Notwendigkeit,
dies anzunehmen, was Kant als mittelbaren Beweis des Daseins bezeichnet,600 führt auf
die Notwendigkeit einer „Widerlegung des Idealismus“, der „Theorie, welche das Dasein
der Gegenstände im Raum außer uns entweder für bloß zweifelhaft und unerweislich,
oder für falsch und unmöglich erklärt“601 . Die Opposition gegen den Idealismus „von der
598
KrV, B 272.
599
KrV, B 272.
600
Vgl. KrV, B 274.
601
KrV, B 274. Diese Widerlegung war in der Auflage A Bestandteil der Paralogismen (vgl. A
377f.) und ist nun in der Auflage B in die Postulate des empirischen Denkens eingefügt worden.
Das Dasein von Gegenständen der Erfahrung ist nicht erst eine Frage der dialektischen Vernunft,
sondern bereits des Verstandes, wenn die Kategorien objektive Realität haben sollen. Vgl. KrV,
B 288: „Solange es also an Anschauung fehlt, weiß man nicht, ob man durch die Kategorien
ein Objekt denkt, und ob ihnen auch überall gar irgend ein Objekt zukommen könne, und so
bestätigt sich, daß sie für sich gar keine Erkenntnisse, sondern bloße Gedankenformen sind, um
460 D F S
Eleatischen Schule an, bis zum Bischof Berkeley“602 und zum Rationalismus Descartes’
– besonders gegen deren durch spekulative Gottesbeweise abgestützte Bodenlosigkeit
– ist das zur Empirismuskritik komplementäre Motiv der Entwicklung der kritischen
Philosophie.
Die These der Unmöglichkeit des räumlichen Daseins, wie sie etwa Berkeley ver-
trat,603 sieht Kant durch die Transzendentale Ästhetik widerlegt: Nur wenn der Raum
als äußere Eigenschaft verstanden wird, kann seine Existenz geleugnet werden, bezie-
hungsweise müsse sie es dann auch, weil diese Raumvorstellung auf lauter Widersprüche
führe.
Die These, daß das Dasein von Dingen, außerhalb des Subjekts, gemäß dem Cartesi-
schen Skeptizismus nicht nachweisbar sei, verlangt eine Widerlegung, deren Ziel nach
Kant darin besteht, zu beweisen, daß ohne reale äußere Erfahrung keine innere Erfah-
rung möglich wäre. Da Descartes diese für unzweifelhaft erklärt, wäre jene dadurch –
wieder im Einklang mit Descartes – auch erwiesen, doch ohne daß Kant einen ontologi-
schen Gottesbeweis führen müßte.604 – Das bloße ‚Ich denke‘, das Selbstbewußtsein des
Subjekts als eines Subjekts von Vorstellungen, weiß sich mit dem Denken, der Abfolge
von Vorstellungen, als zeitbestimmtes. Alles Zeitbewußtsein setzt aber etwas Beharrli-
ches voraus. Dieses Beharrliche kann weder die Selbstgewißheit des Subjekts selbst sein
noch eine seiner Vorstellungen, weil es dafür schon ein Zeitbewußtsein haben müßte,
das doch, wie vorausgesetzt war, aus der Beziehung auf Beharrliches erst resultieren
kann. Daher, so Kant, müsse dieses Beharrliche eine objektive Bestimmung sein, die
deshalb auf ein Dasein außerhalb des Subjekts verweise. Aufgrund dieser Verknüpfung
der Möglichkeit des Selbstbewußtseins mit der Möglichkeit des Daseins äußerer Dinge
nennt Kant „das Bewußtsein meines eigenen Daseins […] zugleich ein unmittelbares
Bewußtsein des Daseins anderer Dinge außer mir“605 . Durch die Bestimmung des Ver-
hältnisses von Selbstbewußtsein und Gegenstandsbewußtsein als ‚unmittelbar‘ soll zu-
nächst bezeichnet sein, daß das Selbstbewußtsein kein Resultat diskreter Erkenntnis sei;
das bedeutet sowohl, daß Selbstbewußtsein auf Bewußtsein von Anderem angewiesen
aus gegebenen Anschauungen Erkenntnisse zu machen.“ Und KrV, B 291: „Noch merkwürdiger
aber ist, daß wir, um die Möglichkeit der Dinge zu Folge der Kategorien zu verstehen und also die
objektive Realität der letzteren darzutun, nicht bloß Anschauungen, sondern sogar immer äußere
Anschauungen bedürfen.“ – Diese Abgrenzung war Kant offenbar so wichtig, daß die vollständige
Argumentation gegen den Idealismus in der Auflage B auch bereits in der Vorrede enthalten ist
(vgl. B XXXIX, Anm.).
602
Prolegomena, IV 374.
603
Vgl. George Berkeley, Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Ham-
burg 1979.
604
Diesen Versuch, den Gottesbeweis bei der Herstellung der Objektivität zu vermeiden, hat später
Edmund Husserl wiederholt, indem er aufgrund der Einsicht, daß Bewußtsein immer Bewußtsein
von Etwas ist, vom cogito aufs cogitatum schließt (vgl. Cartesianische Meditationen, a.a.O., § 14).
Er scheitert indes daran, diesem Objektivität zuzuweisen. Hierfür muß er „eine absolut vollkomme-
ne Evidenz [annehmen; M.St.], die den Gegenstand schließlich nach allem, was er ist, selbst geben
würde“ (§ 29). Diesen Gedanken trägt wieder die Struktur des ontologischen Gottesbeweises, des
Begriffs, der an sich selbst ein Sein mit sich führt.
605
KrV, B 276.
S O: D G 461
ist, als auch, daß das Bewußtsein von Anderem unmittelbar mit dem Selbstbewußtsein
zusammenhängt.
Kants Beweis gegen den subjektiven Idealismus gelingt über die Aufhebung der Mit-
telbarkeit des Verhältnisses von Subjekt und Objekt. Damit präformiert er aber auch den
objektiven Idealismus, der aus dem subjektiven Begriff die Objektivität des Begriffs de-
duziert. Bei Kant ist diese Deduktion noch nicht ausgeführt, weil er das Verhältnis von
Subjekt und Objekt, obwohl unmittelbar, doch an Erfahrung knüpft, insofern die Objek-
tivität eine Funktion der Zeitlichkeit des Bewußtseins ist, nicht eine von dessen reinem
Begriff. Daran aber, daß sie überhaupt eine Funktion des Subjekts ist – aus diesem be-
weisbar – kann der objektive Idealismus anknüpfen und zeigen, daß die Zeitfolge im
reinen Begriff und in der Anschauung bloß die systematische Abfolge von Begriffsmo-
menten bezeichnen kann.
Indem der objektive Idealismus die Präponderanz im unmittelbaren Verhältnis von
Subjekt und Objekt zugunsten des Subjekts verschiebt, hat er notiert, daß Kants Wider-
legung des subjektiven Idealismus das Subjekt aufzulösen droht. Dessen innere zeitliche
Bestimmung weist es nämlich als den fließenden Wechsel seiner Vorstellungen aus.
Schon dieses Bewußtsein seiner selbst erfordert eine Relation des Wechsels auf ein Be-
harrliches, das nicht Resultat des Bewußtseins selbst sein kann, weil es sonst Bestandteil
des Wechsels wäre und nicht dessen unabhängige Bezugsgröße. Kants Schluß auf die
Materie löst aber nun das Bewußtsein in dessen Relationen zu Anderem auf, das materi-
elle Dasein ist nun die Wahrheit dessen, daß das Bewußtsein selbst nur mehr der Wechsel
seiner Vorstellungen sei. Die Einheit der Apperzeption, die diesem Bewußtsein formal
zugrunde liegt, solange es nicht Wahnbewußtsein wird, ist dann bewußtlose Identität,
die nicht allein erst Gehalt bekommt, durch ihre Vorstellungen, sondern die überhaupt
erst durch diese aktualisiert wird. Was vormals, wie immer schief, habituelles Selbstbe-
wußtsein hieß606 – daß nämlich ein Subjekt immer schon weiß, daß es ein Subjekt ist –
wird zur bloßen Potenz.
Dem korrespondiert allerdings real, daß die bürgerlichen Subjekte sozial als Resultate
ihrer Relationen, deren Gallerte gleichsam, begriffen werden und sich selbst begreifen.
Die allseitige gesellschaftliche Verflechtung der Subjekte – durch Arbeitsteilung und
Rechtspersonalität sowie deren ideologische Übertragung auch in dezidiert private Be-
reiche – überformt subjektive Identität relational. Daß bürgerliche Subjektphilosophie
nach ihrem Höhepunkt bei Hegel kommunikationstheoretisch und pragmatistisch gewen-
det und das Subjekt selbst schließlich zu einem indexikalischen Relationengeflecht607
erklärt wurde, hat hierin einen Grund in der Sache.
Kant geht es gleichwohl darum, die Relationalität des Subjekts rein erkenntnistheore-
tisch zu erklären. Nun will er aber durch die Rede von der Unmittelbarkeit der äußeren
Erfahrung die idealistische Konsequenz seiner eigenen Erkenntnistheorie gerade abwen-
den: Nicht die innere Erfahrung des Subjekts seiner selbst sei unmittelbar und Grundlage
eines Schlusses auf die äußere, der diese als durchs Subjekt vermittelt erwiese, sondern
in der Tat sei die Bestimmung des Selbstbewußtseins als zeitliches Resultat von Vermitt-
606
Thomas von Aquin, Des heiligen Thomas von Aquin Lehre von der Wahrheit, a.a.O. qu. 10, a. 8.
607
Frei nach dem Titel von Ulrich Baltzer, Erkenntnis als Relationengeflecht. Kategorien bei Charles
S. Peirce, Paderborn 1994.
462 D F S
lung, deren Medium die als unmittelbar anzunehmende äußere Erfahrung sei. Würde der
äußere Sinn selbst, gemäß einem konsequenten Skeptizismus, bloß subjektiv eingebildet,
sei das gesamte Anschauungsvermögen aufgehoben: „Das Bewußtsein meiner selbst in
der Vorstellung Ich ist gar keine Anschauung, sondern eine bloß intellektuelle Vorstel-
lung der Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts. Daher hat dieses Ich auch nicht das
mindeste Prädikat der Anschauung, welches als beharrlich, der Zeitbestimmung im in-
neren Sinne zum Korrelat dienen könnte“608 . Nur durch diese Abstraktion gelingt es, an
einer selbständigen Existenz des Subjekts festzuhalten. Das Beharrliche, das zum Kern
der Existenz des Objekts wird, zu seiner „Substanz“, ist dann zunächst die „Materie“,
deren Beharrlichkeit ihr Korrelat in der Anschauung in ihrer „Undurchdringlichkeit“609
hat.
Die Erfahrung von Undurchdringlichkeit setzt indes im Bewußtsein eine doppelte Ne-
gation voraus, Beharrlichkeit resultiert in dieser Erfahrung aus der Negation dessen, was
keinen Widerstand bietet. Deshalb weist Kant darauf hin, daß „selbst diese Beharrlich-
keit […] nicht aus äußerer Erfahrung geschöpft“610 werde, also nicht Resultat, sondern
unmittelbar sei, was aber nur gelingt, wenn sie ihrem Korrelat in der Anschauung schon
„a priori als notwendige Bedingung aller Zeitbestimmung, mithin auch als Bestimmung
des inneren Sinnes in Ansehung unseres eigenen Daseins durch die Existenz äußerer
Dinge vorausgesetzt“611 ist.
Die Unmittelbarkeit der Existenz des Objekts, die ohne Vermittlung im Subjekt nicht
zu denken ist, kann aufrechterhalten werden nur durch ihre Fundierung a priori im
Subjekt. Soll dies nicht zur affirmativen Auffassung des Voraussetzens, wie bei Hegel,
führen, ist ein grundsätzlich anderer Begriff von Vermittlung zu entwickeln, der sich
nur an der Kritik von Unmittelbarkeit entfalten kann, die er so negativ festhält. Dieser
Vermittlungsbegriff beruhte darauf, daß Differenz und wechselseitige Verwiesenheit der
Seiten Subjekt und Objekt nicht als bloß erkenntnistheoretische Relationen aufgefaßt
würden, sondern als in der Verschränkung von Subjekt und Objekt selbst gründend. Al-
lein in dieser Bedeutung, als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt, ist
das „unmittelbare Bewußtsein des Daseins äußerer Dinge […] nicht vorausgesetzt, son-
dern bewiesen“612 . So will Kant der vollständigen Relationalisierung der Gegenstände
der Erfahrung entgehen, steht dadurch aber umgekehrt vor der Aufgabe, die vollständi-
ge äußerliche Relationalisierung des Selbstbewußtseins ebenso zu vermeiden. Deshalb
bleibt der äußeren Erfahrung doch deren Subjekt vorausgesetzt, aber als bloßes „Be-
wußtsein unserer eigenen Existenz“; diese „Vorstellung: ich bin, die das Bewußtsein
ausdrückt, welches alles Denken begleiten kann“613 , schließt ihrerseits unmittelbar die
Existenz des Subjekts ein, aber als ganz unbestimmte, deren nähere Bestimmung – in
der Zeit – nur mittelbar, durch Relation auf ein äußerliches Beharrliches, sein kann.
608
KrV, B 278.
609
KrV, B 278.
610
KrV, B 278.
611
KrV, B 278.
612
KrV, B 276 Anm.
613
KrV, B 277.
S O: D G 463
614
KrV, B 278f.
615
Die materiellen Konsequenzen einer dialektischen Reflexionstheorie mögen sowohl Gegner wie
Vertreter reflexiver Subjektbegriffe zu dem eher aussichtslosen Versuch bewogen haben, die
Selbstobjektivierung des reflexiven Subjekts zu bestreiten. Vgl. zum Beispiel Dieter Henrich,
Selbstbewußtsein, a.a.O., 278: „In Übereinstimmung mit dem, was wir vom Zusammenbruch der
Reflexionstheorie zu lernen hatten, ist zu sagen, daß diese Koexistenz von Bewußtsein als Di-
mension und Kenntnis von Bewußtsein keinesfalls als Selbst-Identifizierung genommen werden
darf. Das würde sofort in den Zirkel zurücktreiben. Wir haben zu sagen, daß das eine nicht ohne
das andere auftreten kann. Aber wir müssen vermeiden zu sagen, das Bewußtsein sei sein eige-
nes Objekt.“ Dies aber ‚wissen wir‘ nur, nachdem es sein eigenes Objekt gewesen ist. Also nicht
bloß, wie Henrich einmal Tugendhat zurückgab, noch einmal in Zirkeln, sondern immer wieder;
jedenfalls solange ein positiver Begriff des Selbstbewußtseins intendiert ist. (Vgl. Dieter Henrich,
Noch einmal in Zirkeln. Eine Kritik von Ernst Tugendhats semantischer Erklärung von Selbst-
bewußtsein, in: Clemens Bellut/Ulrich Müller-Schöll (Hgg.), Mensch und Moderne. Beiträge zur
philosophischen Anthropologie und Gesellschaftskritik, Würzburg 1989).
464 D F S
Bewußtseins von dem, was es nicht ist, nicht allein an seine Erkenntnisweise, sondern
schon an seine Existenz geknüpft ist. Das Bewußtsein, das die Existenz des Subjekts
mit deren äußeren, heterogenen, Bedingungen vermittelt, wäre dann zugleich durch sei-
ne Momente – als deren Vermittlung es ist – bestimmt, und über sie erhaben, weil es
als Vermittlung zugleich die Unterscheidung der Momente leistet und so der identische
Ort ihrer Differenz ist, der sich gegen sie selbständig weiß. Diese Selbständigkeit ist nur
als umgekehrter Ausdruck der eigenen Abhängigkeit von den äußeren Existenzbedin-
gungen zu denken und geht daher grundsätzlich nicht utopisch hinter das Bewußtsein
des Zusammenhangs von Autonomie und Heteronomie zurück; solches Bewußtsein ist
nicht als Heilung des in sich gegenläufigen Bewußtseins von Autonomie und Hetero-
nomie möglich, aber als Selbstbewußtsein der Gegenläufigkeit ist es möglich. Indem
Kant Selbständigkeit und Abhängigkeit als unmittelbare Seiten festhält, bleibt ihm nur
die Alternative, entweder ihre Vermittlung auszuschließen, oder sie als wechselseiti-
ge Überführung der Seiten ineinander idealistisch aufzulösen. Werden sie dagegen als
geschichtlich – in der realen Beziehung lebender Menschen auf ihre objektiven Daseins-
bedingungen – immer schon vermittelte gefaßt, so eröffnet dies den Ausblick auf ein
negatives Selbstbewußtsein, das seine Selbständigkeit erst in der Reflexion gegen die
Heteronomie erlangt und ihrer auch nur in dieser Reflexion habhaft bleibt, deren Mo-
ment die Heteronomie eben auch ist.616 Solche Selbständigkeit des Selbstbewußtseins
ist nur in der Opposition gegen das äußerlich aufgeherrschte Unvernünftige wirklich und
deswegen ständig instabil.617
(c) Bei der Notwendigkeit des Dritten Postulats des empirischen Denkens, so Kant,
handele es sich nicht um die formale Notwendigkeit logischer Relationen, sondern um
„die materiale Notwendigkeit im Dasein“618 . Nun ist gemäß dem Zweiten Postulat die
Existenz von Objekten grundsätzlich nicht a priori aus Begriffen bestimmbar, wohl
aber kann aus gegebenen Erscheinungen hinsichtlich deren Position im einheitlichen
Zusammenhang der Erfahrung insgesamt auf das Dasein anderer Erscheinungen a prio-
ri geschlossen werden. Die Regel dieses Schlusses wird durch die Zweite Analogie der
616
Zur Konzeption eines negativen Selbstbewußtseins vgl. Gunnar Hindrichs, Negatives Selbstbe-
wußtsein, a.a.O. Allerdings scheint dieses als Vermittlungsinstanz aus dem Streit von Heidelberger
Schule und analytischer Philosophie entwickelte ‚negative Selbstbewußtsein‘ doch letzthin als er-
kenntnistheoretisch gültige Begründungsinstanz von Bewußtsein vorgestellt zu werden. Dagegen
wird dies in der vorliegenden Arbeit ausdrücklich als geschichtlich gebrochenes Konzept gedacht.
– Die Konsequenz deutet sich in Hindrichs neuerem Buch über Das Absolute und das Subjekt,
a.a.O. an. Auch hier hält er an einer durch analoge Reflexion bedingten Negativität fest, deren
Inhalt allerdings durch ihren Geheimnischarakter die mit der Kritik am Gottesbeweis verlorene
Heimat des Subjekts soll ersetzen können.
617
Die Ausführung der historischen Dimension von Selbstbewußtsein, vor allem von dessen he-
teronomem Moment, wäre Aufgabe einer philosophiegeschichtlichen Darstellung vor allem des
Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit, an dem Heteronomie nicht entstand, aber theoretisch in
beispielhafter Form aus ihrer transzendent-objektiven Verankerung gelöst und zum natürlichen
Ausdruck von Subjektivität selbst modifiziert wurde. Dies wäre ein anderes Projekt. Hier muß es
genügen zu zeigen, daß in den Konsequenzen der Kantischen Philosophie Aporien liegen, die auf
die Repräsentation solcher Bedingungen im Selbstbewußtsein anhand von dessen theoretischem
Selbstverständnis schließen lassen.
618
KrV, B 279.
S O: D G 465
Erfahrung, die der Kausalität, angegeben: Ist eine Ursache gegeben, so kann mit Notwen-
digkeit auf die Wirkung geschlossen werden. Da die Notwendigkeit auf diese Relationen
im Erfahrungszusammenhang bezogen ist, wird nicht die Notwendigkeit der Objekte
selbst, sondern die ihrer Zustände bestimmt: Nicht die Billardkugel selbst ist notwen-
dig in ihrer Existenz, sondern ihre Position im Raum, wenn sie durch eine andere in
bestimmter Weise ursächlich bewegt wird.619
Notwendigkeit erstreckt sich somit auf die Relationen, und auf deren relata nur, in-
sofern sie relational bestimmt sind. Was geschieht, ist notwendig, insofern es Moment
eines Geschehens ist, und zwar hypothetisch, das heißt bedingt durch das andere Mo-
ment des Geschehens. So wird die Notwendigkeit einerseits in den Bereich des Nicht-
Substantiellen verdrängt, andererseits erhält sie gerade dadurch enorme Bedeutung, denn
der Naturzusammenhang als ganzer wird dadurch als notwendig ausgezeichnet. Wenn
für die Möglichkeit von Erfahrungserkenntnis die Einheit der Erfahrung a priori in der
transzendentalen Einheit der Apperzeption vorausgesetzt ist, dann wird das Desiderat
von deren objektiver Realität im Dritten Postulat zu seiner eigenen Erfüllung umgewen-
det: „Alles, was geschieht, ist hypothetisch notwendig; das ist ein Grundsatz, welcher
die Veränderung in der Welt einem Gesetze unterwirft, d. i. einer Regel des notwendi-
gen Daseins, ohne welche gar nicht einmal Natur stattfinden würde.“620
Insofern also die Vorstellung eines einheitlichen Naturzusammenhangs Bedingung der
Möglichkeit von Erfahrung ist und insofern nach dieser Vorstellung alles Wirkliche in
einem durchgängigen Kausalzusammenhang steht, gilt als Quintessenz aller Grundsätze:
„[I]n mundo non datur hiatus, non datur saltus, non datur casus, non datur fatum“621 .
Die Bestimmung des Zufälligen fällt damit im Rahmen der Verstandeserkenntnis zu-
rück in die Kategorie ‚Dasein‘.622 Da es relational zum Subjekt zu interpretieren ist als
der Mangel der Erfahrung der Ursache eines Geschehens, ist hier gemäß dem Zweiten
Postulat auf eine Ursache zu schließen, die unter den modus der Wirklichkeit fällt. Da
gemäß dem Begriff des Zufälligen diese Ursache kein Gegenstand möglicher Erfahrung
ist – also die unbekannte Ursache einer Erscheinung sein müßte –, ginge dieser Schluß
auf die Wirklichkeit eines Dinges an sich, durch deren Vorstellung der Kausalzusam-
menhang der Natur gewahrt bliebe.623 Gerade in Ansehung des Zufälligen greift aber
später das Prinzip der Urteilskraft: „Denn Zweckmäßigkeit ist eine Gesetzmäßigkeit des
Zufälligen als eines solchen.“624
Über die strikte Bindung der modi ans Subjekt wird auch die Selbständigkeit des
Möglichen gegenüber dem Wirklichen ausgeschlossen, durch deren Annahme ebenfalls
eine Inkonsistenz in den Naturzusammenhang geriete: „Alles Wirkliche ist möglich;
hieraus folgt natürlicher Weise nach den logischen Regeln der Umkehrung der bloß par-
619
Vgl. KrV, B 280
620
KrV, B 280.
621
KrV, B 282.
622
Kant verweist dieses und ähnliche Probleme in den Bereich der Dialektik der reinen Vernunft,
versteht sie also gewisser Weise als Schein-Probleme. Vgl. KrV, B 281f. und B 285ff.
623
Zur Sicherung des Naturzusammenhangs durch die kategoriale Interpretation des Zufälligen vgl.
auch KrV, B. 243f. und B 289f.
624
Erste Einleitung KdU, 24.
466 D F S
tikulare Satz: einiges Mögliche ist wirklich, welches denn so viel zu bedeuten scheint,
als: es ist vieles möglich, was nicht wirklich ist. Zwar hat es den Anschein, als könne
man auch geradezu die Zahl des Möglichen über die des Wirklichen dadurch hinausset-
zen, weil zu jener noch etwas hinzukommen muß, um diese auszumachen. Allein dieses
Hinzukommen zum Möglichen kenne ich nicht. Denn was über dasselbe noch zugesetzt
werden sollte, wäre unmöglich. Es kann nur zu meinem Verstande etwas über die Zusam-
menstimmung mit den formalen Bedingungen der Erfahrung, nämlich die Verknüpfung
mit irgend einer Wahrnehmung hinzukommen; was aber mit dieser nach empirischen
Gesetzen verknüpft ist, ist wirklich, ob es gleich unmittelbar nicht wahrgenommen wird.
Daß aber im durchgängigen Zusammenhange mit dem, was mir in der Wahrnehmung
gegeben ist, eine andere Reihe von Erscheinungen, mithin mehr als eine einzige alles be-
fassende Erfahrung möglich sei, läßt sich aus dem, was gegeben ist, nicht schließen“625 .
Wenn aber weder Möglichkeit und Wirklichkeit, noch Wirklichkeit und Notwendig-
keit in der Sache differieren, sondern alles Wirkliche hypothetisch notwendig ist, lassen
sich die modi nicht objektiv, sondern einzig im Bewußtsein von der Objektivität un-
terscheiden. Dieses Bewußtsein erzeugt aber die Modalität seiner Objektivität selbst,
analog der Geometrie, in der die idealen Konstruktionsanweisungen der Figuren nicht
aus der Erfahrung zu schließen, sondern nur zu postulieren sind. ‚Postulat‘ meint daher
hier nicht die sich von der Begründungspflicht dispensierende Behauptung von Sät-
zen, sondern die Funktion von Sätzen, die „ihren Begriff von Dingen überhaupt nicht
vermehren, sondern nur die Art anzeigen, wie er überhaupt mit der Erkenntniskraft
verbunden wird“626 . Ergänzt wird der Begriff damit um die „Handlung des Erkennt-
nisvermögens, dadurch er erzeugt wird“627 . Diese Erzeugungshandlung bestimmt den
modus existendi des Begriffs, mithin seine objektive Realität in bezug aufs erkennen-
de Subjekt. Außerhalb dessen aber ist keine Realität bekannt. Die erkenntnistheoretisch
zwingende Sublimation der Differenz der modi präformiert letztlich den Satz, nach dem
das, was wirklich ist, vernünftig sei und umgekehrt.
625
KrV, B 283f.
626
KrV, B 287.
627
KrV, B 287.
628
KrV, B 270.
S O: D G 467
phrenie nötigen dazu, gerade die Erfahrungsbeweise dafür, daß sie Wahnsysteme sind,
logisch konsistent in diese Wahnsysteme einzubauen.629
Kant mißt dem Wahn durchaus einige Bedeutung zu, und zwar in der anthropologi-
schen Betrachtung der „Fehler des Erkenntnißvermögens“630 . Deren oberste Einteilung
ist die in den noch bewußten zeitweisen Kontrollverlust der Vernunft über sich selbst ei-
nerseits, die sogenannten ‚Grillenkrankheiten‘, zu denen unter anderen auch (manische)
Depressionen gehören, und andererseits in die nicht mehr bewußte Differenz subjektiver
Erkenntnisregeln von den objektiven Erfahrungsgesetzen, die ‚Gemütsstörungen‘. Der
Versuch, die psychischen Krankheiten, die doch „wesentliche und unheilbare Unord-
nung“631 seien, in eine Systematik zu bringen, rekonstruiert sie konsequent als negative
Seite der transzendentalen Erkenntnistheorie. Darin scheinen sich zunächst ontologische
Voraussetzungen im transzendentalen Idealismus abzuzeichnen. Wären die subjektive
Einheit des Selbstbewußtseins – Kontrolle der Vernunft über sich selbst – und die ob-
jektive Einheit der Erfahrung – Kongruenz subjektiver Regeln und objektiver Gesetze
von Erfahrung – nicht ontologisch in einem Material fundiert, so wäre der Grillenfänger
sowenig vom reflektierten Kopf zu unterscheiden wie der Gemütsgestörte, der Wahnsin-
nige, vom erkennenden Subjekt. Der Grillenfänger und der Wahnsinnige, die sich ihre
eigene Welt konstituieren – dieser als geschlossenes Wahnsystem, jener als einen bewußt
utopischen Entwurf, dessen Irrealität deprimierend ist –, würden dann mit der Weltkon-
stitution der Gesunden in freier Assoziation oder Konkurrenz leben.
Vor allem das Wahnsystem bleibt System: „Wahnsinn (dementia) ist diejenige Stö-
rung des Gemüths, da alles, was der Verrückte erzählt, zwar den formalen Gesetzen des
Denkens zu der Möglichkeit einer Erfahrung gemäß ist, aber durch falsch dichtende Ein-
bildungskraft selbstgemachte Vorstellungen für Wahrnehmungen gehalten werden. Von
der Art sind diejenigen, welche allerwärts Feinde um sich zu haben glauben; die al-
le Mienen, Worte oder sonstige gleichgültige Handlungen Andrer als auf sich abgezielt
und als Schlingen betrachten, die ihnen gelegt werden. — Diese sind in ihrem unglück-
lichen Wahn oft so scharfsinnig in Auslegung dessen, was Andere unbefangen thun, um
es als auf sich angelegt auszudeuten, daß, wenn die Data nur wahr wären, man ihrem
Verstande alle Ehre müßte widerfahren lassen.“632 Dieser Störung des Verstandes kor-
629
Manfred Sommer, Ist Selbsterhaltung ein rationales Prinzip?, in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivi-
tät und Selbsterhaltung, a.a.O., 352, bestimmt den Einheitsanspruch der Vernunft als ein Prinzip
der Selbsterhaltung. Dieter Henrich, Über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung, a.a.O., 126, geht
soweit zu behaupten, daß noch die pathologische Spaltung des Bewußtseins eine Selbsterhaltungs-
funktion des Subjekts sei: Dieses begegne der Gefahr der Auflösung der Bewußtseinseinheit durch
Selbstzerstörung.
630
Anthropologie, VII 202.
631
Anthropologie, VII 214.
632
Anthropologie, VII 215. Ein Modell mag Tschechows Schilderung des Gerichtsvollziehers Iwan
Dmitritsch sein, der über seiner Profession paranoid wird. „Auch früher war Iwan Dmitritsch
häufig Arrestanten begegnet, und jedesmal hatten sie in ihm ein Gefühl des Mitleids und der
Peinlichkeit erregt; jetzt aber machte diese Begegnung einen ganz besonderen, seltsamen Eindruck
auf ihn. Plötzlich schien es ihm, daß man auch ihn in Ketten legen könne und gleicherweise durch
den Dreck ins Gefängnis führen. […] Ein Schutzmann ging ohne Hast an seinem Fenster vorbei.
Dann blieben zwei Männer vor dem Hause stehen und schwiegen. Warum schwiegen sie? Und
468 D F S
respondiert auf der Seite der Vernunft der ‚Aberwitz‘: „Der Seelenkranke überfliegt die
ganze Erfahrungsleiter und hascht nach Principien, die des Probirsteins der Erfahrung
ganz überhoben sein können, und wähnt das Unbegreifliche zu begreifen.“633
Es handelt sich bei diesen Störungen, die Kant in seiner Systematik als ‚methodisch‘
beziehungsweise ‚systematisch‘ verzeichnet, nicht um in sich widerspruchsvoll zerrisse-
ne Gemüter, die lebensunfähig wären, weil ihre Vorstellungen der Realität nicht entsprä-
chen. Zwar wird der Aberwitzige unter die Hospitaliten gezählt – wohl weil er über sein
verschlossenes Sinnieren die Lebenspraxis vernachlässigt –, aber er wird als völlig unge-
fährlich eingestuft. Der Wahnsinnige dagegen müsse gar nicht verwahrt werden, weil sein
ganzes Wahnsystem gerade auf seine Selbsterhaltung gerichtet sei und er daher weder
sich noch andere in Gefahr bringe. Für ihn mag auch gelten, was Kant für den Aberwit-
zigen in Anschlag bringt: „Denn es ist in der letzteren Art der Gemüthsstörung nicht blos
Unordnung und Abweichung von der Regel des Gebrauchs der Vernunft, sondern auch
positive Unvernunft, d. i. eine andere Regel, ein ganz verschiedener Standpunkt, worein,
so zu sagen, die Seele versetzt wird, und aus dem sie alle Gegenstände anders sieht […].
Es ist aber verwunderungswürdig, daß die Kräfte des zerrütteten Gemüths sich doch in
einem System zusammenordnen, und die Natur auch sogar in die Unvernunft ein Princip
der Verbindung derselben zu bringen strebt, damit das Denkungsvermögen, wenn gleich
nicht objectiv zum wahren Erkenntniß der Dinge, doch blos subjectiv zum Behuf des
thierischen Lebens nicht unbeschäftigt bleibt.“634
Der Maßstab zur Beurteilung des Unterschieds von Wahnsystemen und Realitätser-
kenntnis liegt weder in diesen zu Unterscheidenden selbst, noch in ihrem Verhältnis zur
Realität, das subjektiv in beiden Fällen gelingt. Kant bestimmt den Unterschied durch
eine über das Privatsubjekt erweiterte Perspektive: „Das einzige allgemeine Merkmal
der Verrücktheit ist der Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis) und der dagegen
eintretende logische Eigensinn (sensus privatus), z. B. ein Mensch sieht am hellen Ta-
ge auf seinem Tisch ein brennendes Licht, was doch ein anderer Dabeistehende nicht
sieht […] Der, welcher sich an diesen Probirstein gar nicht kehrt, sondern es sich in
den Kopf setzt, den Privatsinn ohne, oder selbst wider den Gemeinsinn schon für gültig
anzuerkennen, ist einem Gedankenspiel hingegeben, wobei er nicht in einer mit ande-
für Iwan Dmitritsch hoben qualvolle Tage und Nächte an. […] Die Tatsachen und die gesunde
Logik wollten ihn überreden, daß alle diese Ängste – Blödsinn, Psychopathie seien […]; doch je
klüger und logischer seine Überlegungen waren, desto qualvoller und stärker wuchs seine Seelen-
unruhe an. […] Schließlich sah Iwan Dmitrisch ein, daß es nutzlos sei, ließ die Überlegungen
bleiben und gab sich ganz seiner Verzweiflung und Furcht hin. […] Merkwürdigerweise waren
seine Gedanken früher nie so geschmeidig und erfindungsreich gewesen wie jetzt, da er jeden
Tag tausenderlei vielfältige Anlässe ersann, die ihn ernstlich um seine Freiheit und Ehre bangen
ließen.“ (Anton Tschechow, Krankenzimmer Nr. 6, in: Meisternovellen, Zürich 1946, 16ff.). Das
Studium der Akten beispielsweise über psychisch kranke Rechtsbrecher kann darüber belehren, daß
diese Schilderung keine bloße literarische Fiktion ist. – Aus der Perspektive der postfaschistischen,
bzw. -nationalsozialistischen Gesellschaft befindet Horkheimer allerdings diese Erfahrungen für
obsolet: „Die Angst reicht weiter als die Einheit seines [des Individuums; M.St.] Bewußtseins.
[…] Es muß das Ich aufgeben und sich selbst leibhaft überleben.“ (Vernunft und Selbsterhaltung,
a.a.O., 69).
633
Anthropologie, VII 215.
634
Anthropologie, VII 216.
S O: D G 469
ren gemeinsamen Welt, sondern (wie im Traum) in seiner eigenen sich sieht, verfährt
und urtheilt.“635 Dieser ‚Gemeinsinn‘ ist nicht ein kommunikationstheoretisches oder
intersubjektives Verständnis von Objektivität, sondern das der strengen Allgemeinheit:
Eine Erkenntnis über die Natur muß nicht bloß widerspruchsfrei in einem System ge-
dacht werden können, sondern sie muß notwendig und allgemein reproduzierbar sein. Es
genügt auch nicht, daß ein Wahnsinniger sich mit anderen auf ein gemeinsames Welt-
bild verständige.636 Der Unterschied ist der, daß eine Wahnvorstellung für den Gesunden
nicht unter Laborbedingungen reproduzibel ist, während eine Erkenntnis prinzipiell auch
für den Wahnsinnigen reproduzibel ist, er mag sie auch anders interpretieren. Deshalb
sind Erkenntnisse allgemein und notwendig darstellbar, Wahnvorstellungen nicht.637
635
Anthropologie, VII 219.
636
Bei Habermas ist der Begriff der Einheit der Erfahrung einem diffusen „Bedürfnis nach einer
monistischen Weltauslegung“ gewichen: Freiheit und Determinismus, a.a.O., 170. Bei Kant geht
es nicht um eine intersubjektiv verhandelbare Auslegung der Welt, sondern um die existentielle
Bedingung subjektiver Identität im objektiven Bewußtsein. Der vorgebliche Detranszendentalisie-
rungsversuch, der die Aporie von Natur und Freiheit als kulturevolutionären „Sprachendualismus“
oder „anthropologisch tief sitzende[] Wissensperspektiven“ auffaßt („Ich selber bin ja ein Stück
Natur“ – Adorno über die Naturverflochtenheit der Vernunft. Überlegungen zum Verhältnis von
Freiheit und Unverfügbarkeit, in: Zwischen Naturalismus und Religion, a.a.O., 215), will nicht den
Dualismus, wohl aber das Subjekt hintergehen und resultiert daher in dem – auch pragmatistisch
gewendet – höchst fragwürdigen Begriff des ‚objektiven Geistes‘, der zwar nur „symbolisch ge-
speichertes kollektives Wissen“ (Freiheit und Determinismus, a.a.O., 177) und als solches „aus der
Interaktion der Gehirne von intelligenten Tieren hervorgegangen“ (180) sei, aber dann „eine rela-
tive Selbständigkeit [behauptet], weil der nach eigenen Regeln organisierte Haushalt intersubjektiv
geteilter Bedeutungen symbolische Gestalt angenommen hat“ (ebda.). War bei Kant noch in den
abgehobensten Theoremen unstrittig, daß die Bedeutungen in letzter Instanz Etwas bedeuten, so ist
bei Habermas jeder gegenständliche Gehalt der Rede im Sprachspiel verspielt und objektiv ist bloß
der Geist. Das schlägt aufs Subjekt zurück, von dem Habermas nicht ganz lassen will, dem aber
Intersubjektivität vorgeordnet wird; vgl. z. B. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der
Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, 426ff. – Polemisch hat Henning Ottmann
die kommunikativ-intersubjektivistische Politiktheorie pariert: „Verfahren aller Länder vereinigt
euch!“ (Liberale, republikanische, deliberative Demokratie, in: Werner J. Patzelt/Martin Sebaldt/
Uwe Kranenpohl (Hgg.), Res publica semper reformanda, a.a.O., 108.
637
Kommunikationstheoretische, auf Intersubjektivität angelegte Konzepte gehen dagegen von der
syntaktisch oder semantisch formalisierten Struktur alltäglicher Mitteilungen aus. Da diese grund-
sätzlich arbiträr sind, läßt sich über sie aber kein wissenschaftlich allgemeines Urteil formulieren.
Auf der Basis dessen, was die Leute reden, kann keine Theorie errichtet werden. Das ist der an-
tiken Philosophie im Unterschied von doxa und orthä doxa bereits präsent. Die sprachlichen –
besser: logischen – Reflexionen der Philosophie dokumentieren das Ringen um den Begriff wis-
senschaftlicher Allgemeinheit, nicht um die ubiquitäre Kommunizierbarkeit beliebiger Inhalte. Aus
demselben Grund führt auch der Rekurs auf Spracherwerbstheorien in der Selbstbewußtseinstheo-
rie nicht weiter: Selbstbewußtsein ist philosophisch ein Resultat der Reflexion auf die formale
Möglichkeit wissenschaftlicher Urteile; dem Ungenügenden der reinen Form ist nicht durch ei-
ne Veränderung des Formbegriffs abzuhelfen, sondern durch die ergänzende Reflexion auf die
materielle Möglichkeit wissenschaftlicher Urteile, die in der durch Herrschaft vermittelten Kol-
lektivierung in der Kultur- und Zivilisationsgeschichte gebildet wird. Dies ist nicht durch einen
‚Paradigmenwechsel‘ (vgl. Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a.a.O., pass.) zu erle-
digen, weil dessen Konzept schon in der Wissenschaftstheorie (vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur
470 D F S
Damit ist die Objektivität von Erkenntnissen zwar an die subjektive Fähigkeit der
Vernunft zu notwendigen und allgemeinen Urteilen geknüpft, aber darin zugleich auf
die selbst objektive Einheit der menschlichen Gattung in ihrem praktischen Verhältnis
zur Welt als Grund der Erkenntnisobjektivität bezogen. Deshalb können auch Massen-
psychosen zwar kollektive Gegenwelten konstituieren, sind aber nicht qua intersubjek-
tiver Bestätigung prinzipiell dem vernünftigen Urteil entzogen, auch wenn dieses Urteil
praktisch als Privatmeinung singulärer, womöglich für verrückt erklärter, Außenseiter
erscheint. Massenpsychosen wie Ideologien mögen logisch konsistent konstruiert sein,
aber sie sind nicht notwendig und allgemein gültig; dies vermag aber nur die Vernunft
zu beurteilen, die sich ihrer Reflexivität ebenso bewußt ist wie dessen, daß sie nicht
subsistiert, sondern auf eine objektiv erkennbare Realität angewiesen ist.
Daß Kant dort, wo nicht unmittelbar zweckmäßig gedacht wird, leicht Wahn-
sinn wittert,638 trifft durchaus die Transzendierung der gesellschaftlich normierten
Zweckordnung, die solcher ‚Schwärmerei‘ zukommt, und deren Selbstbewußtsein –
das Bewußtsein der Differenz der inneren Sehnsucht nach einer anderen Ordnung –
‚Grillenfängerei‘ bis hin zur Depression hervorrufen kann.639 Kant ist bemüht, die
wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1993) falsch ist. Vgl. dazu Kurt Bayertz, Über
Begriff und Problem der wissenschaftlichen Revolution, in: Ders. (Hg.), Wissenschaftsgeschich-
te und wissenschaftliche Revolution, Bonn 1981. Bayertz zeigt, daß wissenschaftliche Neuheiten
vielfältig an die Traditon anknüpften (13) und daß die ‚Paradigmen‘ keineswegs inkommensura-
bel seien (23). Es handele sich bei den ‚Revolutionen‘ nicht um Sprünge, sondern um Momente
innerhalb umfassender geschichtlicher Umbruchsituationen (21; vgl. auch dens., Wissenschaft als
historischer Prozeß, a.a.O., Dritter Teil, bes. 141ff.) Die gängige Vorstellung vom Paradigmen-
wechsel führe zum Wahrheitsrelativismus (26f.). – Durchaus setzt die kollektive Verfolgung von
Zwecken die Verständigung über diese Zwecke voraus, so daß die kollektive Anstrengung koopera-
tiv organisiert werden kann. Der allgemeine Gehalt der Zwecke entsteht aber nicht erst durch die
Kommunikation, sondern er ist seiner Kommunizierbarkeit schon als allgemeiner vorausgesetzt.
Als solcher gründet er in einer hetronomen Norm oder, günstigen Falles, in einer vernünftigen
Begründung; beides sind subjektive Prinzipien. Kollektives Selbstbewußtsein, das durch Verstän-
digung hergestellt wird, ist nicht intersubjektiv, sondern grundsätzlich subjektiv. Vgl. hierzu auch
Dieter Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne?, a.a.O., 39.
638
Vgl. Anthropologie, VII 181: Schon die regellos dichtende Phantasie produziert nicht etwa ein-
fachhin mißratene Kunstwerke, sondern „nähert sich dem Wahnsinn, wo die Phantasie gänzlich
mit dem Menschen spielt und der Unglückliche den Lauf seiner Vorstellungen gar nicht in seiner
Gewalt hat“.
639
Vgl. z. B. Georg Büchners Darstellung der Leidensgeschichte des Jakob Michael Reinhold Lenz:
„Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf
gehen konnte.“ (Lenz, in: Werke und Briefe, München 1980, 69). Das Leiden daran, die Welt
nicht auf den Kopf, auf den Gedanken, stellen zu können, ist kein Einzelfall. – Vgl. auch Hegels
Polemik gegen die Kritik von subjektiv als ungenügend erfahrenen Verhältnissen als abstrakten
Individualismus, der im Wahnsinn des Eigendünkels endet: Phänomenologie des Geistes, a.a.O.,
205. – Eine wieder gesellschaftlich funktionale Form des Wahns beschreibt Sören Kierkegaard in
der Bewegung, die Verzweiflung im Widerstand gegen Heteronomie nicht in der Heteronomie,
sondern im Widerstand gründen zu lassen; indem diese Wendung die zuvor als subjektfeindlich
erfahrene Macht nunmehr zum Grund des Selbstverständnisses wendet, wird die falsche Auffas-
sung der Welt zum Grund der Möglichkeit, in dieser zu bestehen. Vgl. Die Krankheit zum Tode,
Frankfurt am Main 1984.
D I V: Z O E 471
640
Vgl. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, a.a.O. Foucault interpretiert Wahnsinn grund-
sätzlich als Negation von Vernunft, ohne die diese selbst unbestimmt bliebe. Obwohl das die
Vernunft bestimmende Andere nicht ihre Privation sein muß, sondern auch ihre natürlichen Vor-
aussetzungen sein können, läßt sich wohl festhalten, daß im Wahnsinn ein bestimmtes Verhältnis
der rationalen und nichtrationalen seelischen Kräfte ein zentrales Moment ist. Deshalb gibt der
gesellschaftliche Umgang mit dem Wahnsinn, dessen Archäologie Foucault zu geben beansprucht,
immer auch Auskunft über den gesellschaftlichen Status von Rationalität einerseits und elementa-
rem Menschsein andererseits. „Der Irre enthüllt aber die endgültige Wahrheit des Menschen. Er
zeigt, bis wohin die Leidenschaft des Menschen, das gesellschaftliche Leben und alles, was ihn
von einer primitiven Natur abhält, die den Wahnsinn nicht kennt, haben bringen können.“ (545)
Diese These erfordert weder eine Auflösung des Rationalitätsbegriffs, noch läuft sie zwingend auf
kulturelle Regression hinaus. Sie besteht nur darauf, sich über die Grenzen des rational geordneten
Lebens, die dessen Definition ausmachen, im Klaren zu sein.
472 D F S
die Erkenntnistheorie gewissermaßen über sich hinaustreiben; dies sei von Anfang an
deren Ziel gewesen, denn die wissenschaftliche Erkenntnis bedürfe der Reflexion ihrer
Möglichkeit gar nicht.641
Aber die theoretische Systematisierung von Mathematik und Naturwissenschaft führt
Kant zufolge immanent an den Punkt, „da es damit bei uns zu Ende geht“642 . Die Voll-
kommenheit, auf die Vernunft dennoch dränge, führe zu einer Theologie, die dann aber
nur in praktischer, moralischer Rücksicht von Bedeutung sei. Die Notwendigkeit, die
ihr dann zukomme, führt Kant darauf zurück, daß die Ideen „reine Vernunftbegriffe“643
seien. Sie seien ursprünglich mit den „Funktionen der Vernunftschlüsse“644 verbunden.
Zwar seien sie nicht angeboren und sozusagen entweder okkulten Ursprungs oder bloße
Natur, aber doch unmittelbar in jener Vernunfthandlung anwesend, die sich systema-
tisierend auf Verstandeserkenntnis bezieht, um diese „der Vollständigkeit, die jene Idee
bezeichnet, so nahe wie möglich zu bringen“645 , denn trotz der Unmöglichkeit eines „ab-
solute[n] Ganze[n] der Erfahrung“ sei „doch die Idee eines Ganzen der Erkenntnis nach
Principien überhaupt dasjenige, was ihr allein eine besondere Art der Einheit, nämlich
die von einem System, verschaffen kann, ohne die unser Erkenntnis nichts als Stückwerk
ist“646 .
In diesem Verhältnis von Verstand und Vernunft liegt aber schon die geschichtliche
Praxis fortschreitender Naturbeherrschung. Nicht in einem einzelnen Subjekt als
solchem ist jene ‚Vernunfthandlung‘ vorstellbar, sondern nur im Progreß der Wissen-
schaftsgeschichte, in der Verstandesdaten akkumuliert und systematisiert werden durch
das Zusammenwirken Vieler über Generationengrenzen hinweg. In dieser kollektiv-
geschichtlichen Daseinsform der ‚Vernunfthandlung‘ hat auch die Idee systematischer
Vollendung allein Realität. Sie entsteht nicht empirisch, aber sie ist Vernunftbestimmung
a priori nur insofern, als die Vernunft einem wesentlich kollektiven und geschichtlichen
Subjekt zugehört. Die geschichtliche Erscheinung menschlicher Kollektivität ist indes
widersprüchlich: Noch ihre grundlegenden Gemeinsamkeiten entfalten die Menschen
im Kampf gegeneinander.
Will Kant einen widerspruchsfreien theoretischen Ausdruck der Vernunft gewinnen,
so muß er die kollektive Vernunfthandlung der Menschen hypostasieren. Die Vorstellung
Gottes, in dem das einig ist, was die Menschen zerstückeln, wird insofern zur rettenden
Basis nicht der Wissenschaft, die offenbar auch konkurrierend sich entwickelt, aber der
Sittlichkeit, die auf moralische Einheit geht. In der bürgerlichen Gesellschaft, in der sitt-
licher Anspruch und Konkurrenz geradezu prinzipiell opponieren, liegt die Möglichkeit
zu einem kritischen Impuls, weil sie über die anderen widersprüchlichen geschichtlichen
Gestalten von Kollektivität hinaus eine gesamtgesellschaftliche Zweck- und Handlungs-
ordnung installiert. In ihr liegt, neben der Verkleidung privater als kollektive Zwecke,
die reale gemeinsame Organisation ihrer Ausführung. Diese objektive Anweisung aufs
641
Vgl. Prolegomena, IV §§ 40 und 44.
642
Prolegomena, IV § 44. Vgl. § 57.
643
Prolegomena, IV §§ 43 und 56.
644
Prolegomena, IV § 43.
645
Prolegomena, IV § 44.
646
Prolegomena IV, § 56.
D I V: Z O E 473
Ganze allgemeiner Zwecke ist die historische Realität des Maßstabs der Kritik. Auch
hier tritt die metaphysische Idee nicht für die Realität der Ordnung, sondern für deren
Unwirklichkeit ein: Die Zwecke, nach denen die Menschen ihr Erkennen und Handeln
organisieren, sind nicht vernünftig aneinander ausgerichtet. Die Möglichkeit allgemei-
ner und notwendiger Sätze setzt aber eine Ordnung auch in ihrem Gegenstandsbereich
voraus, die positiv nicht auszuweisen ist. Diese in der historischen Erfahrung real nicht
gegebene Ordnung postuliert die regulative Idee Gottes, das transzendentale Ideal. Es
ist der negative Begriff von Ordnung, dessen Tendenz zur Hypostase gerade das Fehlen
von Ordnung anzeigt. Die Erkenntnistheorie käme mit einem bloß negativen Ordnungs-
begriff gut aus; die Tendenz zur Hypostase verdankt sich der historischen Perspektive
in Kants Erkenntnisbegriff, die einen kulturellen, zivilisatorischen und letztlich sittli-
chen Fortschritt bezeichnet, dem in der historischen Erfahrung nichts widerspruchsfrei
korrespondiert. Insofern sind auch in der Erkenntnistheorie die metaphysischen Begriffe
indices falsi, und als solche sind sie notwendig. Gegenüber der Säkularisierungsleistung
der Philosophie Kants sind ihre theologischen und religiösen Gehalte pointiert heraus-
zuarbeiten, um die Funktion solcher Begriffe erfassen zu können.
Deshalb führen Erkenntniskritik und Kritik der Praxis, die Kant so deutlich tren-
nen will, immer wieder zusammen; nur Erkenntniskritik führt auf den „höchsten Zweck
(der immer nur das System aller Zwecke ist)“, und dies umfaßt „nicht bloß den prakti-
schen, sondern auch den höchsten Zweck des spekulativen Gebrauchs der Vernunft“647 .
Gegen eine Vermittlung beider sprechen aber doch die Widersprüche der materialis-
tischen Vertreter der Aufklärung, „die freche und das Feld der Vernunft verengende
Behauptungen des Materialismus, Naturalismus und Fatalismus“648 . Deren Beseitigung
des Gottesbegriffs konnte allerdings deswegen keinen überzeugenden Ersatz schaffen,
weil auch sie keine prinzipielle Kritik der neueren Geschichte leisten konnten. Dieser
ungeschichtliche Materialismus ist selbst abstrakt; ihm gegenüber scheint es geraten, an
Metaphysik festzuhalten. Ohne Verlust überwunden werden könnte diese erst durch das
Selbstbewußtsein der konstitutiven Funktionen geschichtlichen Handelns, wie es in Zu-
sammenhang der Kritik an Kants Konzept der Urteilskraft skizziert werden kann.
Im Ergebnis der Kritik der reinen Vernunft erklärt Kant metaphysische Spekulation
zu einer „Anlage zu transscendenten Begriffen in unserer Vernunft“649 , deren ‚Natur-
zweck‘ es sei, Moral unabhängig von Theorie zu begründen: „Der praktische Nutzen,
den eine bloß spekulative Wissenschaft haben mag, liegt außerhalb der Grenzen dieser
Wissenschaft“650 . Würde Erkenntnis selbst als Praxis verstanden, und würde das, was
Kant die technische Praxis nennt, selbst moralisch organisiert, ließen vielleicht Vernunft-
647
Prolegomena, IV § 56. Kurt Bayertz hält fest, daß „eine Lösung des philosophischen Wahrheits-
problems so lange unmöglich bleiben muß, wie von der Beziehung zwischen Erkenntnis und Praxis
systematisch abstrahiert und die Wissenschaft als ein autonomer, nur immanenten Determinanten
unterliegender Prozeß gedeutet wird“ (Wissenschaft als historischer Prozeß, a.a.O., 204).
648
Prolegomena, IV § 60.
649
Prolegomena, IV § 60.
650
Prolegomena, IV § 60. Vgl. auch Erste Einleitung KdU, 4ff. Um theoretische Wissenschaft und
Praxis umso deutlicher zu trennen, sollen die „Sätze der Ausübung […] statt praktischer technische
Sätze heißen“ (7).
474 D F S
ideen sich als negative Grundbegriffe von Praxis verstehen, die der Transzendenz nicht
bedürften.
In Kants Umgang mit den Problemen von Transzendenz werden die geschichtlichen
Widersprüche im Subjekt selbst reproduziert als „Dialektik, die teils den Erfahrungs-
gebrauch der Vernunft verwirrt, teils die Vernunft mit sich selbst entzweiet“651 , denn
die Trennung der Vernunftreflexion auf die Gesetze systematischen Verstandesgebrauchs
von dessen Beschränkungen bietet zugleich die Möglichkeit zur theologischen Spekula-
tion, der die Philosophie nicht hineinreden darf, weil sie deren Gebiet gar nicht bean-
spruche. „[D]er Dienst, den sie [die kritische Philosophie] der Theologie leistet, indem
sie solche von dem Urtheil der dogmatischen Speculation unabhängig macht und sie
eben dadurch wider alle Angriffe solcher Gegner völlig in Sicherheit stellt“652 , erscheint
ihr selbst gegenüber als Bärendienst, denn mit dieser Freistellung theologischer Speku-
lation, deren Resultate aber Regeln technischer und moralischer Praxis werden sollen,
verselbständigt die Vernunft schließlich „ihr eigenes Produkt“653 .
Problematisch ist letztlich nicht die Idee selbst, sondern daß sie auch in ihrer Regu-
lativität ein affirmativer Begriff bleibt, der sein negatives Verhältnis zu seinen eigenen
Bedingungen, die ihm selbst inadäquaten Umstände, die seine Hypsotase zum Ideal er-
forderlich machen, nicht reflektiert. Die Auskunft, er sei bloß regulativ, weist in diese
Richtung, bleibt aber der Begriffsbildung selbst äußerlich, wird ihr aufgesetzt, weil sie
den gebrochenen Charakter von Subjektivität nicht eingestehen will. –
Ließ sich nun zuvor, in der von der praktischen Vernunft ausgehenden Darstellung, die
Dialektik der reinen Vernunft als ein Abstraktionsmedium auf dem Weg zur transzenden-
talen Einheit der Apperzeption entwickeln, so ergibt sich umgekehrt, im Ausgang von
der Einheit der Apperzeption, doch keine Bereicherung von Subjektivität durch die tran-
szendentale Dialektik. Diese ist insgesamt eine Hilfskonstruktion zur Plausibilisierung
einer dualistischen Subjekttheorie. Die Unfähigkeit zur Erfahrung, die in der Einheit der
Apperzeption geronnen ist, wird in der Dialektik – und gerade in den regulativen Versu-
chen ihrer Aufhebung – entfaltet. In deren Aporien wird deutlich, daß eine Lösung des
Dilemmas der Subjekte nur in einer kritischen, geschichtlich reflektierten, Neufassung
des Subjekt-Objekt-Verhältnisses möglich wäre.
651
Prolegomena, IV § 56.
652
Prolegomena, IV 383.
653
Prolegomena, IV § 56 Anm.
D I V: Z O E 475
Erstens erfordert also Freiheit ein „Richtmaß der Vernunft […], die des Begriffs von
dem, was in seiner Art ganz vollständig ist, bedarf, um darnach den Grad und die Män-
gel des Unvollständigen zu schätzen und abzumessen“654 . Indem Kant diesen Begriff als
positives Vorbild fassen will, gerät er ihm jedoch zur Personifikation im Ideal, worunter
die „Idee nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. als ein einzelnes, durch die
Idee allein bestimmbares oder gar bestimmtes Ding“655 zu verstehen sei. Das Ideal ist
am weitesten von der objektiven Realität in der Erscheinung entfernt, weiter als Kate-
gorien und Ideen, und doch kein ‚Hirngespinst‘, kein nihil negativum, sondern ein ens
rationis,656 nämlich „die durchgängige Bestimmung nach Regeln a priori; daher sie [die
Vernunft] sich einen Gegenstand denkt, der nach Prinzipien durchgängig bestimmbar
sein soll“657 . Der ideale Gegenstand wird demnach vorgestellt durch die Zuordnung von
jeweils einem aller möglichen sich widersprechenden Attribute durch die Vernunft. So
ist er durchgängig, das heißt hinsichtlich aller Bestimmbarkeit, bestimmt.
Zweitens ist dieser Konzeption schon anzusehen daß sie auf die allgemeine Form von
Idealität hinausläuft, die von der Vernunft endlicher Wesen empirisch nie zu erfüllen wä-
re. Daraus ergibt sich folgendes Problem: Gibt es ein ideales Richtmaß der gesetzmäßi-
gen Bestimmung der Freiheit, so müssen die spontanen Bestimmungen dieser Freiheit
in einem widerspruchsfreien Verhältnis zur Vollständigkeit des Naturzusammenhangs
stehen, wenn die Einheit der Erfahrung gewahrt bleiben soll. Sogar die gesetzlosen
spontanen Bestimmungen müssen innerhalb eines notwendigen Gesamtzusammenhangs
denkbar sein, wie er bereits in der Vierten Antinomie formuliert worden war. Dieser
Zusammenhang führt zu dem, was Kant ‚Urwesen‘ nennt.658
Nunerfordert die Vorstellung kosmologischer Notwendigkeit, für sich genommen, kei-
ne derartige Idealisierung: Die Aristotelische Kosmosvorstellung, beispielsweise, kam
ohne Personifikation aus.659 Ebensowenig bedarf Freiheit – das zweite offene Problem
– der Idealisierung, denn das moralische Gesetz benötigt kein Urbild.660 Werden aber
beide Seiten in der Absicht aufs System zusammengenommen, so ergibt sich das Desi-
derat der Vorstellung eines selbst vernunft- und willensbegabten Subjekts des Kosmos,
unter deren Voraussetzung empirische Subjektivität erst möglich zu sein scheint.
Hierin erscheint die antagonistische Vereinzelung der empirischen Subjekte. Das Ide-
al von deren Subjektivität ist ein Urbild in individuo, ein – wie einst die Universalien –
654
KrV, B 597f.
655
KrV, B 596.
656
Vgl. KrV, B 624 Anm.
657
KrV, B 599.
658
Vgl. KrV, B 612: „Wenn etwas, was es auch sei, existiert, so muß auch eingeräumt werden, daß
irgend etwas notwendigerweise existiere. Denn das Zufällige existiert nur unter der Bedingung
eines anderen, als seiner Ursache, und von dieser gilt der Schluß fernerhin, bis zu einer Ursache,
die nicht zufällig und eben darum ohne Bedingung notwendigerweise da ist. Das ist das Argument,
worauf die Vernunft ihren Fortschritt zum Urwesen gründet.“
659
Das unbewegt bewegende Prinzip des Aristoteles, beispielsweise, ist nicht mit einer personalen
Gottesvorstellung verbunden. Wenn in seinem Kontext von ‚göttlichem‘ die Rede ist, so bezeichnet
dies die ausgezeichnete theoretische Position des Prinzips. Vgl. Herbert Schnädelbach, Vernunft,
a.a.O., 61. Vgl. auch Michael Städtler, Die Freiheit der Reflexion, a.a.O., 205-212.
660
Vgl. KrV, B 597.
476 D F S
selbst als vereinzelt gedachtes Absolutes, das gleichwohl alles umfasse. Kants Beispiel
fürs Ideal, die „Menschheit in ihrer ganzen Vollkommenheit“661 sollte wohl moralische
und spekulative Totalität verbinden können, jedoch steht gerade sie schief zum Ideal.
Die Menschheit, als Gattung verstanden, ist nicht in individuo zu denken, sondern nur
als vernünftig organisierte Wechselbeziehung aller Einzelnen zu einem Ganzen. Diese
Vorstellung ist aber mittels durchgängiger Bestimmung a priori, durch Zu- oder Ab-
sprache sämtlicher Prädikate, also letztlich mittels durchgängiger einfacher Negation,662
nicht zu entwerfen. Entworfen werden könnte sie nur durch wechselseitige Bestimmung
der Menschen im Verhältnis zueinander als ihresgleichen und als voneinander verschie-
den, sowie in ihrem Verhältnis zu dem, was sie zugleich nicht sind und doch auch sind:
zur Natur. Kants Ideal vollkommener Menschheit dagegen kann nur die Menschheit in
einer Person betreffen; wohl ist diese, als empirische Repräsentation des Allgemeinen,
ein wesentliches Moment von Menschheit, aber für sich genommen gerät die individua-
lisierte vollkommene Menschheit zum Klischee des Weisen und Tugendhaften. Dieser ist
– auch wenn er seine Weisheit über sein humanes Verhältnis zu anderen versteht – we-
sentlich vereinzelter Einzelner, denn die sozialen Beziehungen greifen diesem Konzept
nach nicht auf die dissoziierenden Prinzipien der Gesellschaft über.663 Kant setzt auch
hier den Antagonismus der Privatpersonen dem Versuch seiner Aufhebung systematisch
voraus und trägt mit jenem eine historische Bedingung in den systematischen Begriff
des Unbedingten ein.
Die Vorstellung der vollständigen Bestimmung eines Begriffs zum Ideal setzt dessen
Bestimmbarkeit – „daß nur eines von jeden zwei einander kontradiktorisch entgegenge-
setzten Prädikaten ihm zukommen könne“664 – ebenso voraus wie seine „durchgängige[]
Bestimmung, nach […] [deren Grundsatz] ihm von allen möglichen Prädikaten der Din-
ge, so fern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommen muߓ665 .
Damit aber verweist die Vorstellung von Idealen überhaupt auf „das einzige eigentliche
Ideal, dessen die menschliche Vernunft fähig ist“666 , nämlich die Vorstellung Gottes. Sie
ergibt sich daraus, daß die durchgängige Bestimmung eines Gegenstandes nur durch
Negationen, durch disjunktive Vernunftschlüsse, darzustellen ist. Der Gegenstand ist
disjunktiv „auf die gesamte Möglichkeit, als den Inbegriff aller Prädikate der Dinge
661
KrV, B 596.
662
Vgl. KrV, B 599.
663
Vgl. z. B. Otfried Höffe, Lebenskunst und Moral, a.a.O., 359: „Die Moralität wirkt zwar in die
natürliche und soziale Welt hinein und befördert das reale Glück. Die Welt ist aber nicht so
eingerichtet, daß stets ein zur Moralität proportionales Glück herauskommt.“ Für die Einrichtung
der Welt ist sie nicht zuständig, sondern für deren Defizite kommt allenfalls die „Einstimmung des
Schicksals“ (361) auf. Was dem Einzelnen bleibt, ist ein affirmatives Verhältnis zur Selbstachtung:
„Für vieles mag man andere und anderes, Mitmenschen und Umstände, verantwortlich machen,
die Verantwortung für die Selbstachtung trägt man ausschließlich allein.“ (361) Die Verantwortung
aber dafür, daß unter manchen Umständen niemand sich selbst mehr zu achten vermag, ohne in
den Tod zu gehen, tragen diejenigen, die an der Achtung festhalten, gewiß nicht selbst.
664
KrV, B 599.
665
KrV, B 599f.
666
KrV, B 604.
D I V: Z O E 477
überhaupt“667 bezogen und setzt eine „Materie zu aller Möglichkeit, welche a priori
die Data zur besonderen Möglichkeit jedes Dinges enthalten soll“668 voraus. Muß man
aber, „um ein Ding vollständig zu erkennen, […] alles Mögliche erkennen“669 , so ergibt
die Vorstellung der Intelligibilität alles Möglichen die „Idee von dem Inbegriffe aller
Möglichkeit“670 . Dieser Inbegriff darf nun weder Widersprüche noch abgeleitete Bestim-
mungen enthalten, beides würde die absolute Möglichkeit einschränken, da abgeleitete
Bestimmungen selbst Beschränkungen, Negationen – vermittelt durch etwas Anderes als
sie selbst – sind. Insofern sie ein Nichtsein ausdrücken, kann als ursprüngliches Prädikat
des transzendentalen Ideals nur unbeschränktes Sein gelten. Dieser Inbegriff aller Prä-
dikation und Bestimmtheit wird zum ens realissimum, dem Unbeschränkten, das allen
Schranken zugrundeliegt.
Kant zufolge beruht die Hypostase der Vollständigkeit zum Ideal auf „einer natürli-
chen Illusion“671 der Vernunft: Tatsächlich sei lediglich die Einheit der Erfahrung als
Bedingung der Möglichkeit bestimmter Gegenstände vorauszusetzen, da diese alle ih-
rem Inhalt nach Gegenstände der Erfahrung seien und ihre Prädikation lediglich dem
konsistenten Zusammenhang mit anderen Erscheinungen nicht widersprechen dürfe.672
Diese Einheit auf ein Ding an sich zu beziehen – das „transszendentale[] Prinzip der
Möglichkeit der Dinge überhaupt“673 –, sei dann die dialektische Verwechslung. Kant
beschreibt hier zwar sein eigenes Vorgehen bei der Bestimmung des transzendentalen
Ideals – vielleicht auch das seinerzeit gemeinhin akzeptierte – aber einen Grund für die
Notwendigkeit der Verwechslung führt er nicht an. Wenn er schreibt, „[d]aß wir aber
hernach diese Idee vom Inbegriffe aller Realität hypostasieren, kommt daher“, so gibt
er anschließend keineswegs den zu erwartenden Herkunftsgrund der Hypostase an, son-
dern paraphrasiert erneut sein eigenes Verfahren: „weil wir die distributive Einheit des
Erfahrungsgebrauchs des Verstandes in die kollektive Einheit eines Erfahrungsganzen
dialektisch verwandeln und an diesem Ganzen der Erscheinung uns ein einzelnes Ding
denken, was alle empirische Realität in sich enthält, welches denn vermittelst der schon
gedachten transzendentalen Subreption mit dem Begriffe eines Dinges verwechselt wird,
was an der Spitze der Möglichkeit aller Dinge steht, zu deren durchgängiger Bestimmung
es die realen Bedingungen hergibt“674 .
Nun ist schon die Vorstellung des Ideals der Vollständigkeit aller affirmativen Prä-
dikate problematisch, weil sie selbst auf der durchgängigen Negation aller negativen
Prädikate beruht. Schon Kants Beispiel – „[d]er Ausdruck Nichtsterblich kann gar nicht
zu erkennen geben, daß dadurch ein bloßes Nichtsein am Gegenstande vorgestellt wer-
de“675 – unterschlägt, daß tatsächlich die Sterblichkeit ein Moment des Nichtseins am
Gegenstand ausdrückt, die Nichtsterblichkeit aber ein Nichtsein am Prädikat. Ebenso
667
KrV, B 600.
668
KrV, B 601.
669
KrV, B 601.
670
KrV, B 601.
671
KrV, B 610.
672
Vgl. KrV, B 609f.
673
KrV, B 610.
674
KrV, B 610f., meine Kursivierung.
675
KrV, B 602.
478 D F S
ist die Unbeschränktheit676 offensichtliche Negation der Negation, und die Prädikate ‚ei-
nig, einfach, allgenugsam, ewig etc.‘677 lassen sich ihrerseits nur als Negationen einer
differenten, mannigfaltigen, bedürftigen und zeitlichen Natur auffassen. Zudem ist uner-
klärlich, wie diese affirmativen Prädikate sonst, ohne Bezug auf ihre negative Herkunft,
in dem Inbegriff aller Realität überhaupt unterschieden sein sollten, denn der Unter-
schied – als negative Bestimmung – kann nicht selbst Bestimmung des ens realissimum
sein – das nicht allein „alle Prädikate ihrem transzendentalen Inhalte nach unter sich,
sondern […] sie in sich begreift“678 – ohne einen Widerspruch zu erzeugen.
Von diesen Aporien im Begriff des Ideals abgesehen, bleibt es zunächst unklar, aus
welchem erkenntnistheoretischen Anlaß es „als die Vorstellung von einem Individuum
erkannt“679 und sodann als ‚Urwesen‘, ‚höchstes Wesen‘, ‚Wesen aller Wesen‘ vorge-
stellt wird, obwohl es doch selbstverständlich sei, „daß die Vernunft zu dieser ihrer
Absicht, nämlich sich lediglich die notwendige durchgängige Bestimmung der Dinge
vorzustellen, nicht die Existenz eines solchen Wesens, das dem Ideale gemäß ist, son-
dern nur die Idee desselben voraussetze“680 . Die Hypostase ergibt sich erst daraus, daß
unter Voraussetzung der Vorstellung des Ideals alle Bestimmungen als ‚Einschränkun-
gen‘ dieser Vorstellung und diese selbst als „bloßes Aggregat von abgeleiteten Wesen“681
verstanden werden müßten. Wird es dagegen als Urwesen verstanden, ist es per defini-
tionem nicht mehr einschränkbar. Die Hypostase – wie alle Hypostasen – erzwingt bloß
sich selbst.
Da Kant den Begriff der Vollständigkeit nicht als Negation der Negation, damit auch
nicht als begrifflich abhängig von seinem Anderen, erfaßt, erscheint ihm die „transzen-
dentale Verneinung [als] […] Nichtsein an sich selbst, dem die transzendentale Bejahung
entgegengesetzt wird, welche ein Etwas ist, dessen Begriff an sich selbst schon ein Sein
ausdrückt“682 . Das transzendentale Ideal ist der Begriff, der an sich ein Sein ausdrückt
und kongruiert so formal dem ontologischen Begriff Gottes, demzufolge dieser notwen-
dig existiert, weil sein Nichtsein nicht Bestandteil seines Begriffs sein kann. Ebenfalls
diesem Begriff zufolge ist Gott aber auch größer als er gedacht werden kann,683 was
zweierlei impliziert: Erstens weist er über sich hinaus, indem er die Mannigfaltigkeit
hervorbringt ‚als seine vollständige Folge‘, zweitens entzieht er sich der Erkennbarkeit
durch den endlichen Verstand, der ihn zwar soeben bewies, nun sich aber – in der drit-
ten, die Negation der Negation als Verfahren insgesamt aufhebenden, Negation – gegen
676
Vgl. KrV, B 604.
677
Vgl. KrV, B 607.
678
KrV, B 605. Zu dem Problem des absoluten Unterschieds in der Idee vgl. bereits Platon, Parmen-
ides, a.a.O., 166b. Die ideale Vereinigung von Identität und Unterschied, Platons späte Antwort
auf das metexis-Problem, führt auf den reinen Widerspruch: „So sei demnach dieses gesagt und
auch, daß, wie es scheint, ob das Eins nun ist oder nicht ist, es selbst und das Andere insgesamt,
für sich sowohl als in Beziehung aufeinander, alles auf alle Weise ist und nicht ist, und sowohl
scheint als auch nicht scheint.“
679
KrV, B 604.
680
KrV, B 605f.
681
KrV, B 607.
682
KrV, B 602.
683
Vgl. Anselm von Canterbury, Proslogion, a.a.O., 111.
D I V: Z O E 479
die Möglichkeit eines solchen Beweises verwahren muß, wenn der Begriff nicht bloß
resultative, sondern absolute Geltung haben soll.684
Für Kant kommt noch etwas hinzu, das den Hinweis auf das dialektische quidproquo
von distributiver Einheit des Erfahrungsgebrauchs und kollektiver Einheit des Erfah-
rungsganzen erzwinge: die Ahnung nämlich, daß die Vorstellung der kollektiven Einheit
des Erfahrungsganzen den wirklichen Erfahrungsgebrauch der Menschen ausschließt,
weil diese Menschen so selbst zum bloß abgeleiteten Attribut des Absoluten würden.
Die bloß distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs hingegen würde Einheit und Be-
stimmtheit immer nur in partikularen Erkenntniszusammenhängen herstellen, ohne daß
zu erklären wäre, wie dies möglich sei und wie dann dennoch universale Urteile mög-
lich seien. Für Kant ist Wissenschaft eine Tätigkeit partikularer Subjekte, deren Resultate
dann allgemein und notwendig gelten und deshalb für alle anderen einzelnen Subjekte
einsehbar sind. Deshalb ist die transzendentale Bedingung der Möglichkeit ihrer Ein-
heit ein transzendentales Subjekt, in dem alle ihre differierenden Vorstellungen, auch
ihr praktischer Antagonismus, aufgehoben sind. Die Allgemeingültigkeit des Urteils re-
flektiert aber ebenso die arbeitsteilige Verschränkung tendentiell aller Subjekte in der
zivilisatorischen und kulturellen Differenzierung vom unmittelbaren Naturzusammen-
hang.
Diese gegenständliche Beziehung der Menschen als gegenständlicher Wesen auf Ge-
genstände ermöglichte einen anderen Begriff von Natureinheit: Diesem zufolge ist soviel
Vernunft in der Welt, wie die Menschen in ihr verwirklichen.685 Demnach könnte Welt
als Bedingung der Einheit von Erfahrung erst durch die Beziehung der Menschen auf
Gegenstände in der Welt entstehen. Dieser Weltbegriff antizipiert zugleich die prakti-
sche, nicht bloß idealische, Überwindung des Antagonismus der Subjekte, unter dessen
stillschweigender Voraussetzung dagegen kein Begriff von Wissenschaft ohne den Got-
tes auskommt, dessen Annahme doch zugleich quer zur Möglichkeit von Wissenschaft
steht, weil sie die radikal selbstbestimmte Organisation von Erfahrung ausschließt.
Gegen Kants Lösung des Allgemeinheitsproblems spricht, daß er der Partikularisie-
rung der Vernunft heteronom antagonistischer Subjekte die allgemeine Heteronomie ih-
rer vernünftigen Subjektivität entgegenstellen will. Dadurch aber wird das Problem nicht
sowohl behoben als vielmehr zum allgemeinen Prinzip erhoben. Diese Allgemeinheit ist
in sich verkehrt. Kant macht sich diesen Einwand nicht, auch nicht in der schlichten
Form, daß die Voraussetzung des „unbeweglichen Felsen[s] des Absolutnotwendigen
[…] [,der] selbst alles erfüllt und dadurch keinen Platz zum Warum mehr übrig läßt“686 ,
alles autonome Leben und Denken unter heteronome Bedingungen stellte. Kant wen-
det sich aber etwas Anderes ein: Aus dem Begriff des Absolutnotwendigen könne doch
„nicht sicher gefolgert werden […], daß, was nicht die höchste und in aller Absicht
vollständige Bedingung in sich enthält, darum selbst seiner Existenz nach bedingt sein
684
Das allgemeine Schema dieses Vorgehens läßt sich schon an Proklos, Kommentar zu Platons
Parmenides, St. Augustin 1990, demonstrieren. Vgl. Michael Städtler, Die dritte Negation, a.a.O.
685
Vgl. Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Gesammelte Schriften,
Bd. 2, Frankfurt am Main 1987, 268.
686
KrV, B 612.
480 D F S
müsse“687 . Dadurch fiele der Schluß auf die Notwendigkeit des Daseins Gottes – um
der Möglichkeit des Daseins der endlichen Gegenstände willen – wegfiele. Zudem sei
über den Realitätsgehalt des Gottesbegriffs nichts auszumachen: Die bloße Negation der
Bedingungen des Denkens im Begriff des Unbedingten zeigt nicht an, „ob ich alsdann
durch einen Begriff eines Unbedingtnotwendigen noch etwas, oder vielleicht gar nichts
denke“688 .
Kants Versuche der Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises scheitern
indes.689 Sein zentraler Einwand lautet, das Seinsprädikat ‚ist‘ sei kein Prädikat,
sondern setze nur die Position des in sich vollständigen Begriffs Gottes, ein Dasein
seines Begriffs, das deswegen dessen Dasein sei, weil es sich von ihm nicht dem Gehalt
nach, sondern lediglich in der Beziehung auf unsere Erkenntniskräfte unterscheide:
„Denn obgleich an meinem Begriffe von dem möglichen realen Inhalte eines Dinges
überhaupt nichts fehlt, so fehlt doch noch etwas an dem Verhältnisse zu meinem ganzen
Zustande des Denkens, nämlich daß die Erkenntnis jenes Objekts auch a posteriori
möglich sei.“690 Dieser Einwand verfehlt sein Ziel, denn der ontologische Gottesbeweis
prädiziert nicht die Existenz eines Wesens, das seine Existenz einschließt; so wäre
es in der Tat „eine elende Tautologie“691 . Vielmehr behauptet er, der Begriff des ens
realissimum selbst sei ohne dessen objektiv reale Existenz unmöglich zu denken, so
daß dieser Begriff um seiner Möglichkeit willen unmittelbar selbst seine Wirklichkeit
setze.692 Keineswegs wird – wie Kant unterstellt – ein Zwang statuiert, daß Menschen
diese Wirklichkeit erst von ihm prädizieren müßten. Im Gegenteil ist Gott jenem Beweis
zufolge nicht bloß das Größte, was gedacht werden kann, sondern größer als er gedacht
werden kann. Kants Versuch, die Wirklichkeit zu einem bloßen Prädikat unseres
Erkenntnisvermögens zu nivellieren, birgt eine fatale Wendung: Ist der Begriff Gottes
in seiner logischen Möglichkeit schon vollständig und wäre seine Existenz bloß ein
verändertes Verhältnis zum Denken, so wäre er unangesehen der Existenzprädikation
wirklich, so wie es das Kreditwesen erlaubt, mit lauter möglichen Talern zu operieren
als wären es wirkliche und so glänzende Geschäfte zu machen. Im Gegensatz zu
Spekulationsgeschäften, die platzen können, hält der ontologische Gottesbegriff stand;
er vermag gerade deshalb in der Vorstellung alles, weil er in Wirklichkeit nichts vermag,
denn so ist er deren Bedingungen materialiter nicht unterworfen. Kants Idealismus
gelingt, weil die Existenz Gottes seinem Begriff tatsächlich nichts hinzufügt: So oder so
bewegt er alles und zugleich nichts.
687
KrV, B 614.
688
KrV, B 621. Auch könne man sich „nicht den geringsten Begriff von einem Dinge machen, wel-
ches, wenn es mit allen seinen Prädikaten aufgehoben würde, einen Widerspruch zurück ließe“
(KrV, 623f.). Schließlich: „Die unbedingte Notwendigkeit der Urteile aber ist nicht eine absolute
Notwendigkeit der Sachen“ (KrV, B 621).
689
Anders und für viele: Herbert Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 70: „Kants Kritik aller Gottesbe-
weise bedeutete hier einen wohl endgültigen Schlußpunkt“.
690
KrV, B 628.
691
KrV, B 625.
692
Vgl. Anselm von Canterbury, Proslogion, a.a.O., 85. Diesem Gedanken kann Kant, unter Verweis
auf den empirischen Anteil an der Objektivität der Begriffe, nicht folgen. Vgl. KrV, B 667.
D I V: Z O E 481
693
Das weist Kant auch Leibniz nach, dessen kosmologischen Gottesbeweis er auf den ontologischen
zurückführt (vgl. KrV, B 632ff.); ebenso wird der physikoteleologische Gottesbeweis, sofern er
objektive Realität beansprucht, aus den ontologischen reduziert (vgl. KrV, B 657).
694
KrV, B 630.
695
KrV, B 612.
696
Vgl. KrV, B 638.
697
Vgl. KrV, B 651 u. 657. Im Schluß von der Unfähigkeit der Natur, sich selbst zu konstituieren,
auf einen dann nicht weiter zu qualifizierenden Grund sieht Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in
der Philosophie, a.a.O., 72, das Potential negativer Metaphysik.
698
KrV, B 614f.
482 D F S
tung hat, daß die Menschen etwas ‚treibt sich zu entschließen‘699 , worin sie den Begriff
des höchsten Wesens setzen wollen, anstatt den Begriff bestenfalls als problematisch zu
akzeptieren, bis er bewiesen sei, ist kaum zu verstehen ohne Rücksicht auf das theo-
logische Problem, daß ein Absolutnotwendiger, der durch Beweis einzusehen wäre, von
seinem Beweisgrund abhinge und deshalb weder absolut noch notwendig wäre: Wer sich
nicht entschließt, ohne Beweis ein höchstes Wesen anzunehmen, wird es nie annehmen
müssen, da es, wie Kant en détail nachweist, nicht zu beweisen ist.700
Dasjenige aber, was nun treibt, zur Annahme des Daseins Gottes sich zu entschließen,
ist die Gegenstandslosigkeit praktischer Vernunft, deren begriffene Verbindlichkeit noch
des göttlichen Gerichts als Triebfeder bedürfe. Kants Metaphorik der Heteronomie in
den Ausdrücken ‚treiben‘, ‚Triebfedern‘ und ‚Nachdruck‘701 ist indes keine bloße Me-
taphorik, sondern bezeichnet auch das Gewaltsame, das in diesem Abschluß einer ne-
gativ angelegten Erkenntnistheorie liegt. Diese treibt zur Praxis, nicht so sehr weil sie
den Anspruch der Vernunft auf ihre Objektivierung begründet, sondern weil ihr selbst
unvermerkt praktische Bestimmungen, die Bedingungen der antagonistischen Partikula-
risierung der Subjekte, unterlegt sind. Die universale Vereinbarkeit solcher Subjekte ist
im Subjektbegriff einer affirmativ idealisierten Erkenntnistheorie nicht darstellbar.
Demgemäß zweifelt Kant: „[W]ie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer
Idee angemessen sein sollte? Darin besteht eben das Eigentümliche der letzteren, daß
ihr niemals irgendeine Erfahrung kongruieren könne.“702 Eine Idee aber, die sich in der
Erfahrungswelt nicht darstellen ließe, wäre – nicht nur nach Hegel – gegenstandslos.
Die Vollständigkeit, die Kant zufolge die Idee unerfahrbar macht, entzieht sie wohl der
individuellen, partikularen Erfahrung, nicht aber entzöge sie sie notwendig auch einer
kollektiven Erfahrung, einem konsistent geordneten Erfahrungszusammenhang der Ein-
zelnen, die nicht individualantagonistisch einander ausschlössen, sondern selbstbewußt
ein kollektives Subjekt begründeten, dessen allgemeine Zwecke von allen Einzelnen ein-
gesehen werden können müßten, da sie deren vernünftigen Zwecken nicht notwendig
zuwiderliefen.703
In der Möglichkeit kollektiver Naturbearbeitung zum gemeinsamen Nutzen, ohne die
natürlichen Ressourcen der anderen Subjekte zu beschädigen, liegt die Wahrheit von
Kants Bemerkung, die zweckmäßige Ordnung der Natur sei kein Grund, auf Gott zu
schließen, da sie nur durch Analogie zur Handwerkskunst überhaupt als solche wahrge-
699
Vgl. KrV, B 615.
700
Auf Systematik und Geschichte der Gottesbeweise weiter einzugehen, ist hier weder möglich noch
notwendig. Für Kant sind sie daher so wichtig, weil er durch ihre Kritik innerhalb seines eigenen,
transzendentalphilosophisch unbequemen, Gottesbegriffes differenzieren will. Allein die Zwangs-
läufigkeit, mit der Kant dorthin gerät, war hier zu zeigen. Für ausführliche Referenzangaben vgl.
Georg Mohr, Immanuel Kant. Theoretische Philosophie. Texte und Kommentar, Bd. 3, Frankfurt
am Main 2004, 308.
701
Vgl. KrV, B 617. Daher ist der Satz vom Dasein Gottes für Kant der „wichtigste[] aller Sätze der
reinen Vernunft“ (Bemerkungen, VIII 152), der ihn wieder und wieder umtreibt.
702
KrV, B 649.
703
Deshalb ist die einzige bestimmte Idee, die Hegel selbst, neben der Natur, ausgeführt hat, nicht
zufällig der Staat, der die vollständige Vermittlung der Einzelnen mit dem Allgemeinen und mit
den natürlichen Bedingungen staatlicher Sittlichkeit, vorstellen soll.
D I V: Z O E 483
nommen werde:704 Die Welt, die wie ein Kunstprodukt angesehen wird, ist grundsätzlich
nach vernünftigem Plan formbar. In Kants Differenzierung, dies begründe allenfalls ei-
nen Demiurgen, nicht aber einen Schöpfer, schwingt mit, daß noch die Herkunft des
Materials, das zur Bearbeitung durch den Demiurgen geeignet sei, nach Höherem ver-
lange. Ist dieser Demiurg die Menschheit, so ist sein Material, die Welt, schon immer
Resultat der Geschichte von Zivilisierung und Kultivierung. Das Objekt ist schon längst
Objektivierung eines – an sich – kollektiven Subjekts, wenngleich dieses sich seiner
als eines solchen noch nicht bewußt wurde. Die Handhabbarkeit des Naturmaterials ist
Resultat kollektiver Erfahrung, deren subjektive Voraussetzungen – die Erkenntnisbedin-
gungen Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft – erschlossen werden können, deren objek-
tive Voraussetzungen aber nicht bewiesen oder postuliert werden müssen, weil sie schon
an sich praktisch – nicht etwa unabhängig vom Subjekt – da sind. Diese kulturphiloso-
phische Perspektive wird an der spekulativen Grundlage der Erkenntnistheorie sichtbar,
weil hier die Bedingung der Möglichkeit des Subjekt-Objekt-Verhältnisses nicht mehr
in weitere Vermögen postponierbar ist. Hinter dem idealisierten Grund universaler Er-
kenntnisse lassen sich praktische Bedingungen der Universalität der Subjekte wie der
Objekte solcher erkenntnisse ausmachen. Im Zusammenhang der Kritik der Urteilskraft
wird hierauf näher einzugehen sein.
Wenn aber – und nur wenn – die Subjekte als substantiell Einzelne, antagonistische
zumal, verstanden werden, bleibt alle Erfahrung partikular. Die Überwindung dieser Par-
tikularität durch intelligible Allgemeinheit, allein in der Vorstellung, ist dann aber ohne
Gottesbeweis nicht mehr schlüssig darzulegen. So formuliert Kant zwei Prinzipien: Ers-
tens sei zu allem Bedingten ein a priori Unbedingtes anzunehmen, zweitens aber nichts
Empirisches als Unbedingtes anzuerkennen.705 Diese Prinzipien seien keine objektiven,
sondern subjektive, bloß regulative Prinzipien. Das erste sei notwendig anzunehmen,
„um systematische Einheit in […] [die] Erkenntnis zu bringen“706 , das zweite wird nicht
weiter begründet: In diesem Verhältnis spiegelt sich die Aporie im Verhältnis der Not-
wendigkeit, Gott anzunehmen, zur Untunlichkeit seines Beweises. Gerade indem das
zweite Prinzip zum regulativen erklärt wird, ist ausgedrückt, daß diese Beschränkung
keine Zweifel an der tatsächlichen Existenz Gottes begründe; nur für uns sei das nicht
darstellbar. Durch den Ausschluß des Absoluten aus der Erfahrungswelt wird so gerade
seine Annahme außerhalb dieser begünstigt.707 Erkenntnis in der Welt scheint schließlich
nur möglich, weil Gott außer und über ihr anzunehmen sei.708
Der theoretische Gottesbegriff bleibt problematisch, aber der ‚Drang‘, ihn anzuneh-
men, bleibt ebenso, da die Möglichkeit allgemeiner wissenschaftlicher Erkenntnis der
endlichen partikularen Subjekte zunehmend daran hängt. Von hier aus erscheinen die
Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft als erkenntnistheoreti-
sche Unternehmen: Nur die praktische Absicht erlaubt es, den problematischen Begriff
Gottes als Postulat zu befestigen und schließlich im moralischen Beweis vom Dasein
704
Vgl. KrV, B 654.
705
Vgl. KrV, B 644.
706
KrV, B 644.
707
Vgl. KrV, B 645.
708
Vgl. KrV, B 646f.
484 D F S
Gottes noch einmal groß durchzuführen.709 Auf praktischem Gebiet fungiert Gott nicht
als Bedingung von Zufälligem, der Welt der Erfahrung, sondern als Bedingung des Sit-
tengesetzes, das aus reiner Vernunft gesetzt und daher notwendig ist. So vermeidet das
Argument die Mängel des kosmologischen oder des physikoteleologischen Gottesbewei-
ses, ohne doch ontologisch zu argumentieren. Der Nachweis der Gültigkeit des zweiten
Postulats der reinen praktischen Vernunft dient so dazu, die Annahme der Bestimmun-
gen des transzendentalen Gottesbegriffs zu legitimieren. So werden auf einem Umweg
die Bestimmungen des ontologischen Gottesbegriffs, die an ihm selbst nicht beweisbar
waren, doch mit Realität ausgestattet, ohne daß explizit begründet würde, warum es die-
ser Gottesbegriff sein muß, der dem Postulat unterlegt wird. Als zwingend erscheint
das nur, wenn es um systematische Koordinierbarkeit der Erkenntnisse antagonistisch
aufeinander bezogener Subjekte zu tun ist. So wie deshalb die Kritik der praktischen
Vernunft Konsequenzen aus einem Mangel der Kritik der reinen Vernunft zieht und als
dessen Funktion erscheint, so begründet umgekehrt die Kritik der reinen Vernunft die
theoretische Subjektivität eben jener antagonistischen Subjekte der Geschichte, deren
Moralprinzip die Kritik der praktischen Vernunft entwirft. Kants System will Heterono-
mie – das an sich rational Unbegreifliche – begreifen, und muß sie daher einbegreifen.
Zwar heißt es: „Die Vernunft bezieht sich niemals geradezu auf einen Gegenstand,
sondern lediglich auf den Verstand und vermittelst desselben auf ihren eigenen empiri-
schen Gebrauch, schafft […] keine Begriffe (von Objekten), sondern ordnet sie nur“710 ,
hierfür aber setzt sie „eine gewisse kollektive Einheit zum Ziele der Verstandeshand-
lungen […], welche sonst nur mit der distributiven Einheit beschäftigt sind“711 . Damit
die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs überhaupt zu Erkenntnissen gelangen
könne, müsse die Vernunft die kollektive Einheit des Erfahrungsganzen – freilich nicht
für unsere Erfahrung, wohl aber überhaupt – setzen.
Zu diesem ‚focus imaginarius‘ sei die Vernunft nun durch keine Einsicht berech-
tigt, durchaus aber aufgrund ihres Interesses, durch die Vorstellung geordneter Totalität
den Verstandesgebrauch zu ordnen und damit zu erweitern.712 Allein deshalb schließlich
709
Vgl. KdU, §§ 87-91. Dieses Vorhaben war für Kant in der Kritik der reinen Vernunft offenbar
schon leitend; vgl. KrV, B 662: „Wir werden künftig von den moralischen Gesetzen zeigen, daß sie
das Dasein eines höchsten Wesens nicht bloß voraussetzen, sondern auch, da sie in anderweitiger
Betrachtung schlechterdings notwendig sind, es mit Recht, aber freilich nur praktisch postulieren;
jetzt setzen wir diese Schlußart noch bei Seite.“ Vgl. auch B 668. – Auf die zunehmende Wich-
tigkeit dieses Motivs für Kant weist Georg Mohr hin: Das sinnliche Ich, a.a.O., 315. Zugleich
meldet er Zweifel an der metaphysischen Hypostase heuristischer Prinzipien an (321; 323). Vgl.
auch Rudolf Malter, Artikel ‚Kant/Neukantianismus‘ in: Theologische Real-Enzyklopädie, Berlin
1988, Bd. XVII.
710
KrV, B 671.
711
KrV, B 672.
712
Vgl. KrV, B 702: Auf folgende Weise sollen bloße Gedankendinge mit Realität ausgestattet werden:
„Also sollen sie an sich selbst nicht angenommen werden, sondern nur ihre Realität als eines
Schema des regulativen Prinzips der systematischen Einheit aller Naturerkenntnis gelten, mithin
sollen sie nur als Analoga von wirklichen Dingen, aber nicht als solche an sich selbst zum Grunde
gelegt werden. Wir heben von dem Gegenstande der Idee die Bedingungen auf, welche unseren
Verstandesbegriff einschränken, die aber es auch allein möglich machen, daß wir von irgendeinem
Dinge einen bestimmten Begriff haben können. Und nun denken wir uns ein Etwas, wovon wir,
D I V: Z O E 485
komme der Hypostase der Vernunftidee objektive Realität zu: Sie fungiere analog zum
Schematismus des Verstandes und beziehe die Einheit des Verstandes auch im Hinblick
auf die universalen, über Erfahrung hinausreichenden Verstandesurteile auf objektive
Realität. Damit gebe sie einen Grund an, warum die subjektive Einheit des Verstandes
überhaupt auf Gegenstände bezogen werden kann. Dieses Schema ist aber selbst wi-
dersprüchlich: „Denn das Größte und Absolutvollständige läßt sich bestimmt gedenken,
weil alle einschränkenden Bedingungen, welche unbestimmte Mannigfaltigkeit geben,
weggelassen werden.“713 Bestimmtheit wird erzeugt durch Abstraktion von Bestimmt-
heit. Darin zeigt sich allerdings, daß die Mannigfaltigkeit einseitig als Beschränkung –
als Verlust an Bestimmtheit gegenüber dem Ideal absoluter Identität – zu denken sei.
Soll das unbestimmte Mannigfaltige nun aber dem Denken unter der Einheit der Idee
zugänglich sein, so kann ihm die Unbestimmtheit, die es für uns hat, nicht notwendig
zukommen: „Denn das Gesetz der Vernunft, sie zu suchen, ist notwendig, weil wir ohne
dasselbe gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhängenden Verstandes-
gebrauch und in dessen Ermangelung kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit
haben würden, und wir also in Ansehung des letzteren die systematische Einheit der
Natur durchaus als objektiv gültig und notwendig voraussetzen müssen.“714 Die Vermitt-
lung des Mannigfaltigen mit der Erkenntnis geschieht durch die drei Systemprinzipien
„der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen“715 . Die Vernunft
hält den Verstand an, alles unter immer höherer Einheit (der Gattung) zu erfassen, glei-
chermaßen die Besonderung unter immer weiter differenzierten Unterarten zu erfassen,
so daß es zwischen zwei Arten keinen Sprung in der Natur, sondern einen kontinuierli-
chen Übergang gebe, der selbst schon das dritte Prinzip darstelle.
Dem Begriff nach ist dies die Hegelische Dialektik der Reflexionsbestimmungen, die
Identität von Identität und Unterschied im absoluten Widerspruch, der – über weitere
Vermittlungen – zum Grund des objektiven Naturzusammenhangs wird.716 Dem steht
wohl Kants Beschränkung der Prinzipien auf den Erfahrungsgebrauch noch entgegen.717
Unter dieser Voraussetzung ist Hegels Begriffsdialektik nicht denkbar, vielmehr könnten
die Prinzipien, würden sie „konstitutiv betrachtet werden, […] als objektive Prinzipien
widerstreitend sein“718 . Deshalb faßt Kant sie als heuristische Prinzipien des einigen
Vernunftinteresses, als „Verschiedenheit und wechselseitige Einschränkung der Metho-
den, diesem Interesse ein Genüge zu tun“719 . Als bloße Methoden wären diese Prinzipien
aber ganz zufällig, abhängig vom Material der Erfahrung; diese aber begründet kein
was es an sich selbst sei, gar keinen Begriff haben, aber wovon wir uns doch ein Verhältnis zu dem
Inbegriffe der Erscheinungen denken, das demjenigen analogisch ist, welches die Erscheinungen
unter einander haben.“ Vgl. B 704: „Ich kann genugsamen Grund haben, etwas relativ anzunehmen
(suppositio relativa), ohne doch befugt zu sein, es schlechthin anzunehmen (suppositio absoluta).“
713
KrV, B 693.
714
KrV, B 679.
715
KrV, B 686.
716
Kants Horizontmodell (vgl. KrV, B 686f.) antizipiert ausführlich die – freilich schon ältere –
Metapher des Systems als Kreis in sich kreisender Kreise.
717
Vgl. KrV, B 689.
718
KrV, B 694.
719
KrV, B 694.
486 D F S
System. Hegel hat daraus die Konsequenz gezogen und den Prinzipien innerhalb des lo-
gischen Systems eine konstitutive Funktion zugewiesen. Wenn Kant aber schreibt, mit
nur einer Methode könne man der „Natur des Objekts“720 nicht beikommen, bezeichnet
das sowohl die Selbständigkeit des Objekts, das der Vernunft widerstehen kann, als auch
die Möglichkeit der Vernunft, es durch Kombination der Prinzipien doch systematisch zu
erfassen, weil seine Natur selbst schon an sich eine Kombination dieser Prinzipien sei.
Weil nun diese oberste Natureinheit als Komplement der beschränkten menschlichen
Vernunft erschlossen wurde, sei sie selbst als absolute Vernunft zu denken,721 so daß
es einerlei wird, „zu sagen: Gott hat es weislich so gewollt, oder die Natur hat es also
weislich geordnet.“722 Das „Etwas […] worauf alle empirische Realität ihre höchste und
notwendige Einheit gründet“ sei somit „nicht anders, als nach der Analogie einer wirk-
lichen Substanz, welche nach Vernunftgesetzen die Ursache aller Dinge sei,“ zu denken.
Dagegen „mit der bloßen Idee des regulativen Prinzips der Vernunft zufrieden“ zu sein,
sei „mit der Absicht einer vollkommenen systematischen Einheit in unserem Erkennt-
nis“723 unvereinbar. Dadurch wird es möglich und erforderlich, „systematische Einheit
des Mannigfaltigen im Weltganzen und vermittelst derselben den größtmöglichen empi-
rischen Vernunftgebrauch möglich zu machen, indem ich alle Verbindungen so ansehe,
als ob sie Anordnungen einer höchsten Vernunft wären, von der die unsrige ein schwa-
ches Nachbild ist“724 . Diese, geradezu neuplatonisch inspirierte, Formulierung verbindet
die Funktion der Vernunftidee mit der äquivoken Vorstellung der Anordnung – sowohl
Ordnung als auch Befehl – die in jedem Fall eine Hypostase der Idee unterstellt. Die-
se Hypostase ordnet aber, genau besehen, alle Verbindungen an, das heißt sowohl die
kausalen Beziehungen in der Natur als auch deren Synthesis im Verstand der Subjekte,
deren Vernunft dies freilich nur so vorstellt, als ob es so sei.
Der Zweck, den die Vernunft hiermit verfolgt, ist die Möglichkeit der Objektivität uni-
versaler Verstandesurteile, deren Bedingung „das Systematische der Erkenntnis sei, d. i.
der Zusammenhang derselben aus einem Prinzip“725 . Dieses Prinzip sei die „Form eines
Ganzen der Erkenntnis, welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorhergeht und
die Bedingungen enthält, jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a priori
zu bestimmen“726 . Die Systemidee ersetzt den objektiven Mangel an kollektiver Einheit
der Erkenntnissubjekte. Indem sie als bloß regulativ zu betrachten sei, wird noch die
Systemeinheit aufs vereinzelte Subjekt reduziert; für dessen objektive Relationen ist sie
nicht konstitutiv.
720
KrV, B 695.
721
Vgl. KrV, B 698ff.
722
KrV, B 727.
723
KrV, B 703.
724
KrV, B 706.
725
KrV, B 673. Vgl. B 675: „Der hypothetische Vernunftgebrauch geht also auf die systematische
Einheit der Verstandeserkenntnisse, diese aber ist der Probierstein der Wahrheit der Regeln. Um-
gekehrt ist die systematische Einheit (als bloße Idee) lediglich nur projektierte Einheit, die man
an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muß; welche aber dazu dient, zu dem
mannigfaltigen und besonderen Verstandesgebrauche ein Prinzipium zu finden und diesen dadurch
auch über die Fälle, die nicht gegeben sind, zu leiten und zusammenhängend zu machen.“
726
KrV, B 673.
D I V: Z O E 487
727
Der Übergang der Wissenschaften, die Kant nach diskursiven und konstellativen Methoden trennt
(vgl. KrV, 741ff.) ist in den Grundlagentheorien fließend. Vgl. auch B 752f. und B 761. Das zeigt
auch Oskar Becker, Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, a.a.O.
728
KrV, B 674. Zu Kants Vorstellung systematischer Einheit der Natur vgl. seinen Exkurs zum ‚lo-
gischen Prinzip der Gattungen‘, KrV, B 680-689.
729
Prolegomena, IV § 58.
730
Vgl. Prolegomena, IV §§ 57ff.
731
Vgl. Prolegomena, IV § 60.
732
Prolegomena, IV § 57.
488 D F S
sowohl zu dem, was sie einbeschreibt, als auch zu dem, was außerhalb ihrer liegt. Das
gelte auch für die Grenze zwischen Erfahrungserkenntnis und bloßer Spekulation.733
Wird nun das Reich der intelligiblen Wesen aufgefaßt als etwas, über das sich vernünf-
tiger Weise nichts sagen läßt, so bleibt es verschlossen. Durch den Kunstgriff, es selbst
als dasjenige aufzufassen, durch das menschliche Erkenntnis begrenzt sei, erscheint es
aber legitim, darüber zu spekulieren, was dieses Begrenzende im Verhältnis zum Be-
grenzten sei, gerade um der Sicherheit des begrenzten Vernunftgenrauchs willen: Wenn
der Bereich, der nicht betreten werden darf, nicht bekannt ist, kann auch die Einhaltung
der Grenze nicht garantiert werden. Deshalb müsse das „Verbot, alle transscendenta-
len Urtheile der reinen Vernunft zu vermeiden“, mit dem „Gebot, bis zu Begriffen,
die außerhalb dem Felde des immanenten (empirischen) Gebrauchs liegen, hinauszu-
gehen, […] zusammen bestehen können, aber nur gerade auf der Grenze alles erlaubten
Vernunftgebrauchs“734 . Mit demselben, so einfachen wie genialen, Argument, daß die
Grenze die Identität von Identität und Unterschied sei, hebelt Hegel später alle dualisti-
schen Differenzen der kritischen Philosophie aus.
Die Vernunft wird zum Grenzgänger, der „nicht innerhalb der Sinnenwelt beschlos-
sen, auch nicht außer derselben schwärmend, sondern so, wie es einer Kenntniß der
Grenze zukommt, sich blos auf das Verhältniß desjenigen, was außerhalb derselben liegt,
zu dem, was innerhalb enthalten ist, einschränkt. Die natürliche Theologie ist ein solcher
Begriff auf der Grenze der menschlichen Vernunft“735 . Was die Vernunft aber auf der
Grenze bestimmt, das ist deren Dialektik zufolge doch schon transzendent. Der kleine
Grenzverkehr zwischen Gott und Welt hebt seine eigenen Schranken auf. Zwar sollen die
Bestimmungen des höchsten Wesens, die von der Grenze aus ermittelt werden, „nicht in
Ansehung dieses bloßen Verstandeswesens, mithin außerhalb der Sinnenwelt, etwas […]
bestimmen“736 , sondern sie sollen das Verhältnis des unbekannten aber gewissen höchs-
ten Wesens zur Welt bestimmen. Dieses Verhältnis sei nun in Analogie zum Verhältnis
menschlicher subjektiver Zwecke zu deren objektiver Realisierung vorzustellen. Da hier-
bei nicht das subjektive Zweckbewußtsein auf Gott übertragen werde, sondern nur die
teleologische Relation zwischen subjektivem und objektivem Zweck auf das Verhältnis
zwischen Gott und Welt, sei der Anthropomorphismus nicht dogmatisch, sondern bloß
symbolisch, „nur die Sprache und nicht das Object selbst“737 betreffend. Diese Sprache
ist die Sprache hypostasierter Relationen, deren Muttersprachler vor allem die Trinitäts-
spekulation ist.738 Daß Kant hier nicht über innergöttliche Relationen spricht, entschärft
733
Vgl. Prolegomena, IV § 59, vgl. § 57.
734
Prolegomena, IV § 57.
735
Prolegomena, IV § 59.
736
Prolegomena, IV § 59.
737
Prolegomena, IV § 57.
738
Die Personen Gottes sind der menschlichen Erkenntnis entzogen, aber ihre Relationen unterein-
ander lassen sich durch natürliche Vernunft und in Analogie zu dieser bestimmen. Konsequent
wurden aber diese relationes in se subsistentes dann als die Personen selbst erkannt und das mys-
terium, die Grenze zwischen Vernunft und Gott, bezog sich nur noch auf das Urteil über die
Existenz dessen, was erkannt war. Vgl. Thomas von Aquin, S.th., a.a.O., I, 32, 1c.
D I V: Z O E 489
nicht das logische Problem: Über ein Verhältnis von relata, deren eines „außer aller
Erkenntniß liegt“739 , ist als Verhältnis nichts Bestimmtes zu sagen.
Deshalb dient der Schluß vom Verhältnis subjektiver und objektiver menschlicher
Zwecke auf einen subjektiven Zweck als Korrelat der Weltordnung nicht der Bestim-
mung des Verhältnisses, das durch den Objektivierungsprozeß bezeichnet werden müßte,
wohl aber der Übertragung menschlicher Subjektivität auf einen reinen Intellekt, der als
Maßstab der teleologischen Einheit von Erkenntnis fungieren soll. Dieses ‚Wesen‘ sei
nicht bloß erdichtet, sondern darin begründet, daß „außer der Sinnenwelt nothwendig
Etwas, was nur der reine Verstand denkt, anzutreffen sein muߓ740 . Dies sei durch Ana-
logie bestimmbar. Der Gottesbegriff – wie immer subjektiv und regulativ er sein mag –
der dabei herausspringt, leistet aber gerade die Abstützung des Systems der Erkenntnisse
und Zwecke nicht. Gilt nicht Gott als weiser Weltregierer, sondern bloß die Weltregie-
rung als weise – wer immer der Regent selbst sein mag –, so ist dieser voluntaristisch
als deus absconditus gedacht. Sollte denn die Welt, wie sie ist, Anlaß zum Schluß auf
eine weise Anordnung geben, so gibt sie doch keinesfalls Anlaß zu der Überzeugung,
mit dieser Anordnung sei irgendeine Notwendigkeit verbunden. Ist es ungewiß, warum,
die Welt so angeordnet wurde, so ist es ebenso ungewiß, daß sie so bleiben werde. Die
potestas ordinata mag eine gewisse Beruhigung innerhalb der empirischen Erkenntnis
bewirken, aber deren systematische Abstützung in einem stabilen Verhältnis immanenter
und transzendenter Vorstellungen leistet sie gerade nicht. Deshalb ist der bei Kant ange-
legte Rückgriff vom nominalistisch geprägten protestantischen Gottesbegriff auf einen
neuplatonisch-ontologischen bei Hegel nur konsequent, so protestantisch er sich auch
selbst begreifen mag.
Weil die theologische Spekulation das Erkennen und Handeln der Menschen unter
unverfügbare Prinzipien stellt, ist es ein Irrtum, daß „ein solches Prinzip […] nirgend
in ihrem [der Vernunft] Naturgebrauche schaden“741 könne: Die Vernunft begreift sich
so nämlich nicht als vollständig selbst verantwortlich für die ‚Vernunftform‘ der Welt.
Gerade wenn die analog erschlossene höhere Zweckmäßigkeit nicht auf Gott, sondern
vermittels seiner auf die Welt bezogen wird,742 wenn also Gott nur als vernünftig gilt,
sofern er die Rationalität begründet, „die in der Welt allenthalben angetroffen wird“743 ,
täuscht das wirksam darüber, daß ‚Vernunftform‘ in der Welt – der sittlichen wie der
natürlichen – überhaupt nicht anzutreffen ist, wo sie nicht von Menschen in ihr realisiert
wurde.
739
Prolegomena, IV § 57.
740
Prolegomena, IV § 59. Die Unsicherheiten des Analogieschlusses, die Kant gesehen hat, stel-
len sich heute noch deutlicher dar. So bemerkt er in der Logik (IX § 84), nachdem er sowohl
Unsterblichkeit als auch die Annahme vernünftiger Mondbewohner als Gegenstände von Analo-
gieschlüssen benannt hat, man müsse sich dieser „mit Behutsamkeit und Vorsicht bedienen“.
741
Prolegomena, IV § 58.
742
Prolegomena, IV § 58.
743
Prolegomena, IV § 58.
490 D F S
744
Für viele spricht dagegen Hans Ebeling, wenn er sagt, daß mit Kant die Theologie für die Selbster-
haltung der Subjektivität bedeutungslos geworden sei: Vgl. Das neuere Prinzip der Selbsterhaltung
und seine Bedeutung für die Theorie der Subjektivität, in: Ders. (Hg.), Subjektivität und Selbster-
haltung, a.a.O., 12f.
745
Vgl. dagegen Dieter Henrich, Fichtes ‚Ich‘, a.a.O., 78: Die Annahme von Gott als Grund von
Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung schränke Freiheit nicht ein, sondern gebe ihr einen uner-
schütterlichen Grund.
746
KrV, B 708, vgl. B 714.
747
Vgl. KrV, B 705f.
748
KrV, B 709.
749
Vgl. KrV, B 717ff.
D I V: Z O E 491
Ideals ist ein schwebendes Verfahren zwischen zwei möglichen, jeweils vernichtenden,
Urteilen; Kants Trick, daß ein Urteil hier nicht zu fällen sei, macht das auf Autono-
mie bedachte Subjekt allerdings zu einem Toten auf Dauerurlaub: Seine Existenz ist
durchaus durch seine eigene Nichtigkeit bestimmt. Dies entspricht dem Status eines
praktischen Subjekts, das Kraft seiner Autonomie Funktionsmoment eines heterono-
men Handlungszusammenhangs ist. Da diesem Status wieder jener einer Menschheit
entspricht, deren kollektive Realität durchgängig auf wechselseitiger Negation – Gesel-
ligkeit durch Ungeselligkeit – beruht, ist die Nichtigkeit des Subjekts nicht einfach durch
den Hinweis auf seine sinnliche Endlichkeit und Sterblichkeit lapidar zu bestätigen; sei-
ne Endlichkeit ist in vernunftgeleiteter Kooperation, im realisierten Gattungsvermögen,
zu überwinden, seine Sterblichkeit freilich nicht. Welche Vorstellung aber Menschen mit
dem Sterben verbinden könnten, die nicht schon ihr Leben lang wie Moribunde gedemü-
tigt, beschränkt und vernutzt worden wären, läßt sich auch auf entwickeltem Stand von
Zivilisations- und Kulturgeschichte noch nicht einmal antizipieren.750 Ein Argument für
oder gegen ein menschenwürdiges Leben ist daraus ohnehin nicht zu ziehen; dieses zu
ermöglichen bleibt in jedem Fall unbedingtes Vernunftgebot.
Kants problematisiertes Subjekt kommt als Subjekt von Geschichte denn auch nicht
in Frage. Zwar hat Kant klar gesehen, daß das einzige überhaupt aus der menschli-
chen Natur abzuleitende Recht dasjenige auf die Erfahrung der eigenen Freiheit wäre.751
Der Ort dieser Erfahrung könnte aber nur die selbstbewußte Geschichte, diejenige aus
freien Stücken, sein. Unter der Voraussetzung des „notwendigen Urwesens“752 , das den
Weltlauf anordnet, ist aber keine solche Geschichte denkbar. Der auf Ermäßigung der
theologischen These zielende Ausdruck, es sei einerlei, ob Gott oder Natur den Weltlauf
angeordnet hätte,753 schlägt mit Wucht ins Subjekt zurück, denn die Geltung des hetero-
nomen Prinzips wird durch die Gleichgültigkeit seiner inhaltlichen Gestaltung nur noch
verstärkt. Kants Erkenntnistheorie antizipiert in diesen Prinzipienreflexionen zielstrebig
eine allgemeine Teleologie,754 in der die antagonistische Subjektivität zur „Harmonie“755
reflektiert werden soll. Da solcher Harmonie aber in der Erfahrung der Subjekte nichts
entspricht, fallen ihre Prinzipien so brüchig aus. Die Größe Kants liegt letztlich darin,
die enttäuschende Wirklichkeit in Begriffen zu denken; sein Fehler ist die Affirmation
dieser Begriffe, – die Auffassung, daß der notwendig aporetische Begriff nicht Ausdruck
750
Vgl. Theodor W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, in: Prismen, Gesammelte Schriften, Bd. 10.1,
Frankfurt am Main 1977, 273: „Das meint vielleicht die Erzählung von Gracchus, dem nicht mehr
wilden Jäger, einem Mann der Gewalt, dem das Sterben mißlang. So ist es dem Bürgertum miß-
lungen. […] Gracchus ist das vollendete Widerspiel der Möglichkeit, die aus der Welt vertrieben
ward: alt und lebenssatt zu sterben.“ Vgl. auch dens., Negative Dialektik, a.a.O., 354ff. Vgl. üb-
rigens, wenngleich trotz aller Negativität mit deutlich positivem Klang: Dieter Henrich, Fichtes
‚Ich‘, a.a.O., 82: „Wir kennen die Welt noch nicht, in der […] Tod und Aufbruch in ihrer Einheit
erfahren und bewährt werden könnten und in der sie so zur eigentlichen Realität unseres Lebens
würden.“
751
Vgl. MdS RL, VI 237.
752
KrV, B 707
753
Vgl. KrV, B 727.
754
Vgl. KrV, B 714f.
755
KrV, B 706.
492 D F S
eines praktischen Defizits in der Sache, sondern Ausdruck eines anthropologischen De-
fizits im menschlichen Erkenntnisvermögen sei.
756
‚Ewigkeit‘ ist, wie erwähnt, nicht eine lange Zeit, sondern die Absenz von Zeit, in der dann auch
keine Handlung denkbar ist.
757
Vgl. Max Horkheimer, Der Autoritäre Staat, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main
1987, 305.
758
Vgl. Michael Städtler, Subjekte des Stillstands, a.a.O.
759
Vgl. KrV, B 823f.: „Indessen muß es doch irgendwo einen Quell von positiven Erkenntnissen
geben, welche ins Gebiet der reinen Vernunft gehören, und die vielleicht nur durch Mißverstand
zu Irrtümern Anlaß geben, in der Tat aber das Ziel der Beeiferung der Vernunft ausmachen. Denn
welcher Ursache sollte sonst wohl die nicht zu dämpfende Begierde, durchaus über die Grenze
der Erfahrung hinaus irgendwo festen Fuß zu fassen, zuzuschreiben sein? Sie ahndet Gegenstände,
die ein großes Interesse für sie bei sich führen. Sie tritt den Weg der bloßen Spekulation an, um
sich ihnen zu nähern; aber diese fliehen vor ihr. Vermutlich wird auf dem einzigen Wege, der ihr
noch übrig ist, nämlich dem des praktischen Gebrauchs, besseres Glück für sie zu hoffen sein.“
Der Drang, die Erfahrung zu übersteigen, läßt nicht sowohl auf Positivität schließen, sondern auf
die faktische Unverträglichkeit der Erfahrung mit dem Selbstbewußtsein. Daraus ergibt sich nicht,
wie Kant antizipiert, ein erkenntnistheoretischer, sondern ein geschichtlicher Begriff von Praxis.
D I V: Z O E 493
gleich eine negative Idealität; denn negativ ist diese, weil sie ihren Gehalt allein aus
der geschichtlichen Bestimmtheit desjenigen Bewußtseins bezieht, das sich gegen die
Erfahrung der gescheiterten und verhinderten Kollektivität bestimmt. Es versucht, de-
ren partikulare und verkehrte Realisierung unter Formen der Vernunft zu denken, um
bestimmte Erfahrung zur begrifflichen Allgemeinheit zu bringen. Da die subjektive Ver-
nunft, in der allenfalls eine unmittelbare Einsicht in die eigene Subjektivität gründet,
bloß formaler Natur ist und deshalb der geschichtlich bestimmten Inhalte bedarf, ist
das empirisch konstituierte Subjekt immer zugleich allgemein und geschichtlich ver-
faßt. In seiner Allgemeinheit hat es die Möglichkeit zur autonomen Bestimmung auch
durch die Geschichte hindurch, keinesfalls aber hat es eine Garantie auf Autonomie.
Dieselbe geschichtliche Bestimmtheit, durch die ein Subjekt Selbstbewußtsein realisiert,
enthält nämlich einen überbordenden Hort petrifizierter Traditionen und autoritärer, he-
teronomer Erfahrungen, die das geschichtliche Bewußtsein eben zum Stillstand ver-
halten. Bekannt ist dies aus Ländern, in denen einmal Bürgerkrieg geherrscht hatte:
Über Generationen des Friedens hinweg ist das gesellschaftliche Leben von Feindbil-
dern dominiert, denen real nichts mehr korrespondiert als sie selbst, oft nicht einmal die
Kenntnis der historischen Gründe. Unbestimmbar tiefer ist die Erfahrung von Herrschaft
im Handeln der Menschen verwurzelt. Die Menschen, die sich beherrschen und ernied-
rigen lassen, die vielleicht noch gute Gründe dafür anführen, leben aus ihrer Geschichte;
auch jene, die fast nichts von dieser wissen.760 Den Interessierten wird dies zum Plau-
sibilitätsargument der Naturgegebenheit von Herrschaft, dessen Probe freilich nicht auf
ein beiläufiges Exempel gemacht werden kann.
Gesellschaftliche Zwänge, die ins Gemüt, ins kindliche schon, ganz unvermeidlich
eingegraben werden – noch die besten Bedingungen können das nicht verhindern, wo-
fern sich nicht leben läßt, ohne solchen Zwängen so oder so zu begegnen –, sind nicht das
Werk von Menschen a priori, die einen Gesellschaftsvertrag eingingen und über dessen
Kleingedrucktes frei verhandelten. Ebensowenig sind sie das zweckbewußte Werk von
Menschen, die durch bestimmte Erfahrung gebildeten, vielleicht am Schaden klug ge-
worden wären. Es sind zum großen Teil sedimentierte Erfahrungen, die das hervorbrin-
gen, was ‚Volksgeist‘ heißen mag, in Wirklichkeit aber ein Panzer aus lange verhärteten
Gewohnheiten, Interessen und Traditionen ist, den Reflexion kaum mehr durchdringt;
im Unterschied zur gemeinschaftlich angebildeten geschichtlichen Erfahrung müßte die-
se Durchdringung jeder selbständig leisten. Darin – in der Not, selbst denken zu müssen
– hat Kants individualisierter Moralbegriff einige Wahrheit.
Das eigene Interesse zu dezentralisieren, wird aber, auch wo es durchs allgemeine gar
nicht beschränkt würde, von den ausgewachsenen Privatpersonen als Zumutung emp-
funden, nicht weil sie individuelle Sinnenwesen sind, sondern weil sie geschichtliche
Subjekte sind. Deshalb ist es kaum abzusehen, daß die Traditionen der Heteronomie
760
Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (1824/25), Nachschrift Gries-
heim, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831, hg. v.
K.-H. Ilting, Stuttgart 1973, Bd. 4, 642: „Der Geist einer nation geht in jedem Individuum fort, er
mag es wissen und sich dagegen wehren wie er will oder er mag ihm unbekannt sein; wie ein jeder
ißt und trinkt ohne von Anatomie zu wissen. In seinem besonderen Sein, in seinen handlungen ist
jener Geist das Treibende, das Unbewegliche in ihm, was ihn bewegt.“
494 D F S
des Bewußtseins ein Ende nähmen oder daß dieses Bewußtsein ihnen ein Ende setzte,
obwohl sie vor der Vernunft, die doch jedem zu eigen ist, nicht bestehen können.
So wie Kant die ideologische Vorstellung der ungeselligen Geselligkeit zum Natur-
prinzip, wechselseitige Zerstörung zum Grund gemeinschaftlicher Wohlfahrt verklärt,
so ist die Vorstellung, daß die Menschen sich gemeinsam – miteinander und fürein-
ander – in der Welt einrichteten, immer durch die Tradition von Vorurteilen bedroht.
Die Spontaneität, das Vermögen zum freien Selbstbewußtsein, das im Intellekt liegt,
wird schon durch die gegenwärtige gesellschaftliche Organisation der Erziehungssys-
teme nicht gebildet, sondern gedämpft. Das bedient zusätzlich der Impuls alltäglicher
Erfahrung, die Unmengen von Beispielen der erfolgreichen Durchsetzung von Partiku-
larinteressen gegen moralische Ideen bereithält und deswegen pragmatische Einträge in
den Moralbegriff bedingen soll.761
Kant ist hier optimistisch: Der Unlauterkeit der Menschen, weil diese ihnen von Natur
aus zukomme, müsse ein positiver Zweck einwohnen. Und tatsächlich habe die Neigung
zu Heuchelei zur Zivilisierung und zur Moralisierung beigetragen, weil das Vortäuschen
des Guten für Andere ein Beispiel des wahrhaft Guten sein könne. Allerdings, sobald auf
diese Weise Maximen in Gesinnung übergegangen seien und „echten Grundsätze einmal
entwickelt und in die Denkungsart übergegangen sind, so muß jene Falschheit nach und
nach kräftig bekämpft werden, weil sie sonst das Herz verdirbt und gute Gesinnungen
unter dem Wucherkraute des schönen Scheins nicht aufkommen läßt.“762 Die Über-
zeugung, daß Heuchelei und Eitelkeit dann noch keinen dauerhaften Schaden bewirkt
hätten, ist nur möglich, weil Kant Subjektivität individuell und ungeschichtlich denkt:
Wenn Subjektivität in jedem neuen Subjekt neu anfinge, so ginge Kants These auf. Zwar
hat Subjektivität notwendig dieses ahistorische Moment in der allgemeinen Form der
Vernunft, in der auch die Möglichkeit des Widerstands gegen die eigene Korrumpie-
rung gründet, aber die empirischen Subjekte erschöpfen sich nicht in diesem formalen
Moment, sondern sie erfüllen die Form durch empirische Inhalte und begründen so die
Subjektivität kraft derer sie in der Welt agieren. Durch Kants analytische Trennung bei-
der Momente ist das Subjekt seines Aufklärungsverständnisses das jeweils gegenwärtige
Individuum, das zwar äußerlich vom erheuchelten Zivilisations- und Moralprozeß pro-
fitiere, innerlich aber geradezu unberührtes Objekt moralischer Bildung sei, ohne daß
erwogen würde, ob es nicht durch die in den Resultaten der Zivilisation und in der
Geschichtsschreibung objektivierte Heuchelei ebenso erzogen würde. – Kants Konzept
ist daher widersprüchlich: Wieso sollte es nötig sein, nachdem die ‚echten Grundsätze
761
Wie unter solchen Bedingungen der womöglich ehrliche Anspruch auf Allgemeinheit korrumpiert
ist, zeigt die Anekdote von dem sowjetrussischen Atomphysiker Kapitsa, der sich schriftlich bei
Stalin und Molotov über die geheimdienstliche Administration der Atomforschung durch den Funk-
tionär Beria beschwerte; Kapitsa wies auf die zu erwartenden Synergieeffekte einer international
kollegial betriebenen Atomforschung hin. Derselbe Kapitsa, der am 18. Dezember 1945 an Molo-
tov schrieb, daß allein internationalistisch effektiv das Wohl der Menschheit zu fördern sei, hatte
am 25. November an Stalin geschrieben, daß Berias Versuche, die US-Forschung zu imitieren,
nicht schnell genug und nicht billig genug zur Atombombe führten und im übrigen zuviel atomare
Sprengkraft in sinnloser Strahlung verpuffen ließen. Vgl. David Holloway, Stalin and the Bomb,
New Haven 1994, 138-144.
762
KrV, B 775f.
D I V: Z O E 495
entwickelt und in die Denkungsart übergegangen sind‘, die ‚Falschheit kräftig zu be-
kämpfen‘ und zwar ‚nach und nach‘? Offenbar hat Kant durchaus eine Ahnung von der
Gewalt geschichtlicher Vorurteile und von deren ideologischer Repräsentation gehabt.
Innerhalb seiner individualistischen Subjektkonzeption ist dieses eminent gesellschaftli-
che Moment von Selbstbewußtsein jedoch nicht systematisch zu entwickeln, wohl aber
von einem auf die Erfahrung aufmerksamen Autor – wie Kant es war – als Aporie fest-
zuhalten.
Die geschichtliche Gewalt, die dem zugrundeliegt, läßt sich nicht durch Proklamation
einer nun gewaltfreien Gesellschaft aufheben, weniger noch durch gewaltbewehrtes Ge-
setz, wie es die klassischen Konzepte bürgerlicher Rechtsordnung vorsehen. Gewalt kann
überhaupt nicht aufgehoben werden, sie könnte allenfalls aus Einsicht fortan unterlassen
werden; diese Einsicht käme wohl ohne ein Moment von Scham über die menschliche
Geschichte, als Komplement selbstbewußter Selbstbestimmung, nicht aus. Wo die Men-
schen in der Geschichte, und aus ihr heraus, leben, ist ein grundsätzlicher Ausschluß
affirmativen Gewaltbewußtseins aber wohl kaum denkbar;763 dadurch wäre die Ten-
denz der säkularen Befreiungsbewegungen zur Geschichtsfälschung ebenso zu erklären
wie die der religiösen zur Transzendenz, zur Verlagerung der Geschichte in eine jen-
seitige Zukunft. Beide sollen das Bewußtsein über seine historischen Brüche täuschen.
Die Läsionen am Geschichtsbewußtsein verstören aber, mit ihm, die einzige Quelle von
Freiheit im Selbstbewußtsein. Wenn das geschichtliche Bewußtsein, das Autonomie an-
tizipiert, und dasjenige, das Heteronomie rezipiert, die gleiche Quelle haben – nämlich
Geschichte – so bleibt kollektives Selbstbewußtsein und mit ihm individuelles grund-
sätzlich prekär.764
So bliebe Antizipation von Autonomie auch dauerhaft der Daseinsmodus von Frei-
heit, für den deren Ideal intellektuell so notwendig bleibt wie das Wissen von dessen
empirischer Zufälligkeit. Die praktische Antizipation von Autonomie wäre Widerstand
der Subjekte gegen Heteronomie; Antizipation bleibt dieser gerade in der Praxis, weil er
Selbstbestimmung sein will und eben darin doch von der Heteronomie, gegen die er sich
richtet, selbst zuinnerst bestimmt ist. Die durch die regulative Idee Gottes begründete
Hoffnung, schon in diesem Leben auf Erlösung hinzuwirken, wendet sich in die erschre-
763
‚Gewaltverherrlichung‘ ist übrigens kein Problem moderner Medien (vgl. aber z. B. Christian Pfeif-
fer, Medienverwahrlosung als Ursache von Schulversagen und Jugenddelinquenz?, www.kfn.de/
versions/kfn/assets/medienverwahrlosung.pdf), sondern ein Prinzip affirmativen geschichtlichen
und politischen Bewußtseins. Schon der Status, den die exekutive Staatsgewalt durch Ausstattung
und Befugnisse erhält, ist offensichtlich eine ‚Verherrlichung‘ dieser profanen Gewalt, ihre Um-
kleidung mit einem Nimbus. Und diese Gewalt ist es, die potentiell jeder gegen jeden ausübt, um
des rechtlich Seinen habhaft zu werden. Kritik an Gewalt muß zunächst einmal sich eingestehen,
daß die Menschen in einer durchaus durch Gewalt konstituierten Welt leben. Die Verherrlichung
von Gewalt im geschichtlichen Bewußtsein, auch der Philosophie, darzustellen, wäre ein eigenes
Thema. – Zur gesellschaftlichen Diskussion vgl. auch Spiegel online, 22. 11. 2006: Wulff und
Stoiber wollen Killerspiele verbieten.
764
Kant hat dies in der Religion angemerkt. Individuelle Moralisierung sei nur im ethischen Gemein-
wesen möglich, dieses selbst aber nur als internationalistisch universelles. Gleichwohl höre auch
in diesem die Gefährdung der Moral nicht auf, was Kant allerdings auch hier durch Jenseitsspe-
kulation aufzuheben strebt.
496 D F S
ckende Einsicht, daß das Bewußtsein von Befreiung schon in sich selbst gegenläufig ist.
Das gleiche geschichtliche Moment, das dieses Bewußtsein ermöglicht, vermag es auch
zu lähmen und der Anspruch auf Befreiung, der stets aufs Ganze geht, hat so immer die
zu Gegnern, die ihrer womöglich doch zuerst bedürften. Die Frage: „worauf wollte sie
[die Vernunft] sich sonst verlassen, wenn sie, die allein alle Irrungen abzutun berufen
ist, in sich selbst zerrüttet wäre, ohne Frieden und ruhigen Besitz hoffen zu können?“
hat außerhalb von Subjektivität selbst keine Antwort, die nicht affirmativ wäre wie die
Kants: „Alles, was die Natur selbst anordnet, ist zu irgend einer Absicht gut.“765
Ist das Bewußtsein von Freiheit aber derart in sich gegenläufig, dann bleibt die ‚mora-
lische Gesinnung im Kampfe‘ tatsächlich die einzig mögliche Daseinsform menschlicher
Freiheit, allerdings mit einem Unterschied ums Ganze: Das über seine Geschichte aufge-
klärte Bewußtsein weiß, daß sein Mangel in der Vereinzelung der Subjekte zu Antago-
nisten gründet und daß dieser Antagonismus keine Naturnotwendigkeit ist, sondern daß
ihm als geschichtlich begründetem zu widerstehen wäre, ohne über Erfolgsaussichten
pragmatisieren zu müssen. Deshalb führt die Einsicht in dieses problematische Dasein
von Moral nicht zu einem transzendentalen Postulat oder Ideal Gottes, sondern zur mo-
ralischen Idee der Menschheit in der Zeit.766
Die hierfür zu denkende Aufklärung kennt keine Methodenlehre, weil jede Methode
moralischer Aufklärung, die nicht diese Aufklärung selbst ist, heteronom sein muß, nicht
selbst gesetzten Gesetzen folgt. Der einzige Weg aber zu dem „ursprünglichen Rechte
der menschlichen Vernunft, welche keinen anderen Richter erkennt, als selbst wiederum
die allgemeine Menschenvernunft“, dem theoretischen Grund moralischer Aufklärung,
von dem „alle Besserung, deren unser Zustand fähig ist, herkommen muß“ und das
nicht „geschmälert werden“767 darf, – der einzige Weg dorthin führte durch eine Welt,
in der kein Mensch Angst zu haben brauchte, in der keiner sich in irgendeinem Mo-
ment seiner Menschheit bedroht sehen müßte.768 Daß die Menschheit noch nie einen
Zustand realisierter moralischer Freiheit gekannt hat, ist nicht sowohl Ausweis seiner
anthropologisch begründeten Unmöglichkeit, als vielmehr ein sekundärer Grund seiner
geschichtlichen Unwahrscheinlichkeit: Das Inventar geschichtlichen Bewußtseins ist von
Grund auf durch Erfahrungen von Herrschaft und Gewalt bestimmt. Deshalb setzt die
Überwindung des moralischen Naturzustandes diejenige dieser Erfahrungen voraus. Dies
könnte allenfalls durch mehrere Generationen währende moralische Erfahrung gelingen.
765
KrV, B 771.
766
Nach Kant liegt „[d]er Keim der Anfechtungen […] in der Natur der Menschenvernunft“ (KrV,
B 805) und sei daher durch ‚Hypothesen‘ auszurotten, zum Beispiel daß „[d]er Körper […] also
nicht die Ursache des Denkens, sondern eine bloß restringierende Bedingung desselben, mithin
zwar als Beförderung des sinnlichen und animalischen, aber desto mehr auch als Hindernis des
reinen und spirituellen Lebens anzusehen“ (KrV, B 807) wäre. Kant schüttet das Kind mit dem
Bade aus.
767
KrV, B 780.
768
Angst scheint zum Normalzustand menschlichen Daseins geworden zu sein und wurde deshalb
von der existentialischen Kant-Interpretation, ganz im Sinne affirmativer Theorie, zentralisiert.
Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., § 40 sowie den Kommentar Adornos, Negative
Dialektik, a.a.O., 340: „Was mit Vorliebe Angst genannt und zum Existential veredelt wird, ist
Klaustrophobie in der Welt: dem geschlossenen System.“
D I V: Z O E 497
769
Vgl. KrV, B 783.
770
Vgl. KdU, V 294; zur Einschränkung dieses Gedankens aber auch Anthropologie, VII 200 und
228.
498 D F S
gen, der vor ihr bestehen könnte. – Mit dem Staunen, thaumazein, dem Schrecken vor
dem Unbekannten, begann die philosophische Überwindung des Naturzwangs, deren ge-
schichtliche Entwicklung diesen bloß transformierte; denn die Zwänge, die Menschen
anderen Menschen antun, sind in Wahrheit um nichts mehr als Naturzwänge; doch sie
richten ungleich größeren Schaden an, weil sie von an sich freien Wesen wiederholt
werden. Auf der Überwindung dieser Zwänge durch die Bildung autonomer Vernunft zu
insistieren, bleibt Aufgabe von Philosophie.
Daß Kant dies wußte, zeigen seine stets erneuerten Versuche, Natur und Freiheit zu-
sammenzuführen. Kant weigert sich, eines der beiden zugunsten des anderen aufzulösen.
Sein zentrales Vertrauen ins Subjekt schlägt aber um: Das Subjekt ist um seiner selbst
willen bereit zu Annahmen, die seinem Selbst doch zugleich zuwiderlaufen. Das be-
stimmt Kants wiederholten Rekurs auf Teleologie, der in der Kritik der Urteilskraft seine
ausgeführte Fassung erhält. Dieser Teleologiebegriff ist aber durch alle Probleme des
Subjekt-Objekt-Verhältnisses bestimmt, dessen Seiten zusammenzubringen zunehmend
als ein ‚Zusammenzwingen‘ erscheint. Das, was solchen Zwang notwendig macht – das
reale Verhältnis von Subjekten und Objekten – tritt ebenso zunehmend in der Darstel-
lung hervor.
III. Teil: Subjekte der Praxis
V Objektivierte Subjektivität
Ein subjekttheoretischer Gehalt der Kritik der Urteilskraft besteht in der Aufgabe zu klä-
ren, welchen Ort Subjekte in einer teleologischen Ordnung haben, genauer: wie sie sich
in der von ihnen notwendig anzunehmenden teleologischen Ordnung selbst noch reflek-
tierend verorten können. Die Notwendigkeit der Annahme von Teleologie selbst ergab
sich aus theoretischen Erklärungslücken schon in der geschichtsphilosophischen Bestim-
mung äußerlich realer Subjektivität und wurde schließlich immanenter Bestandteil der
reinen theoretischen Selbstbestimmung des Subjekts. In der Kritik der Urteilskraft fragt
Kant nach der Möglichkeit, die subjektimmanent erschlossene Totalität des Erkenntnis-
systems auch objektiv abzustützen. Wieder sollen Subjekt und Objekt systematisch im
Subjekt zusammengeführt werden, ohne doch die Selbständigkeit der Objekte aufzuge-
ben. Die transzendentale Konzeption einer allgemeinen Naturteleologie im Teil über die
teleologische Urteilskraft, die zunächst, im Anschluß an die Problematik des transzen-
dentalen Ideals, zu untersuchen ist, stützt sich dabei ihrerseits auf den Nachweis der
subjektiven Möglichkeit von Teleologie, deren Anlage im ästhetischen Vermögen der
Subjekte, durch das diesen die subjektunabhängige Erkenntnisgemäßheit ihrer Gegen-
stände gegeben sei.1 Diese subjektive Abstützung von Teleologie soll anschließend, an-
hand der ästhetischen Urteilskraft betrachtet werden. Eine besondere Bedeutung kommt
dabei der Analytik des Erhabenen zu, deren Gegenstand die subjektiv angelegte Ord-
nungsvorstellung theoretisch übersteigt und zugleich praktische Implikationen anzeigt,
die den Blick auf ein geschichtlich reflektiertes Selbstbewußtsein von Subjekten der Pra-
xis eröffnet.
1
Die besondere Bedeutung der Teleologie innerhalb der KdU, ebenso die immer noch starke Schief-
lage in der Forschung zugunsten der Ästhetik haben Stefan Klingner und David Süß betont: Vgl.
Einleitung, in: Reinhard Hiltscher/Stefan Klingner/David Süß (Hgg.), Die Vollendung der Tran-
szendentalphilosophie in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, Berlin 2006.
502 O S
Aufgabe von Teleologie ist es, Hegels Wissenschaft der Logik zufolge, Objektivität
mit Subjektivität zur Idee zu vermitteln. Wenn die bloß naturkausale – mechanische und
chemische – Ordnung der Objekte in einem systematischen Begriff erfaßbar sein soll,
so ist dieser Begriff implizit als Grund jener Ordnung unterstellt. Nur wenn diese als
Resultat der Realisierung des subjektiven Begriffs im objektiven Material verstanden
werden könnte, wäre Erkennbarkeit allgemein begründet zu gewährleisten. – Dadurch
wird Objektivität aber subjektiv konstituiert, und in der Erkenntnis anverwandelt sich
das subjektive Moment von Objektivität einem objektiven Moment von Subjektivität;
das Resultat ist die ideale Einheit von Subjekt und Objekt. – Teleologie erscheint somit
als objektive Bedingung systematischer Erkenntnistheorie. Sie meint nicht so sehr die
universale Hinordnung auf einen obersten Weltzweck als vielmehr die universale zweck-
mäßige Ordnung der Gegenstände der Erkenntnis untereinander, ihre Adäquation an den
Systembegriff, durch die sie zweckmäßig hingeordnet sind vor allem auf Erkenntnis.2
Diese Funktion von Teleologie ist bei Kant bereits angelegt im Konzept der Konsti-
tution der Objektivität durchs Subjekt. Nur die Auffassung des Objekts der Erkennt-
nis als Wirkung subjektiver Erkenntnisformen erlaubt es, Gegenstände als Gegenstände
der Erfahrung zu bestimmen. Das transzendentale Ideal, die durchgängige kategoriale
Bestimmtheit des Gegenstandsbereichs vertritt zunächst die Systemfunktion der Hegeli-
schen Teleologie. Wie indes die allgemeinen subjektiven Erkenntnisformen auf einzelne
Gegenstände anzuwenden seien, sollte die Erörterung der Grundsätze klären. In den De-
duktionen ging es zunächst um das erkennende Verhältnis von Subjektivität zu Natur
überhaupt, die Grundsätze dagegen galten partikularen Naturzusammenhängen, die zum
Zweck von Erkenntnis isoliert sind. Diese Zusammenhänge sind objektiv zweckmäßig
durch die Isolation von beeinträchtigenden Bedingungen. Erkannt wird dann aber nicht
Natur, sondern eben ein isolierter Naturzusammenhang.3 Obschon nun dessen Objekti-
2
Damit steht Kant einerseits noch in der frühneuzeitlichen Tradition des Naturgesetzbegriffs, die von
der Frage angetrieben war, wie in der von substantiellen, realen Qualitäten entleerten Erfahrungs-
welt Ordnung begründet sein könne, andererseits reagiert er bereits auf Newtons Naturgesetze, die
selbst mathematisiert allgemein und nicht Gegenstände möglicher Erfahrung sind, aber dennoch
das Verhalten solcher Gegenstände bestimmen sollen. Vgl. zur Geschichte des Naturgesetzbegriffs
Andreas Hüttemann, Materie, Chaos und Gesetz, in: Karin Hartbecke/Christian Schütte (Hgg.),
Naturgesetze. Historisch-systematische Analysen eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Pader-
born 2005. – Zwar hat Michael Hampe recht mit der Feststellung, der göttliche Verstand, den
die rationale Theologie noch Newtons als Grund der Einheit der verschiedenen Naturgesetze an-
nahm, werde bei Kant durch die Funktion der Urteilskraft abgelöst (vgl. Idealistische Variationen.
Beobachtungen zur Entwicklung des Gesetzesbegriffs von Kant bis Peirce, in: Karin Hartbecke/
Christian Schütte (Hgg.), Naturgesetze, a.a.O.); allerdings gelingt dies nur durch eine subjekti-
vierte Variante theologischer Motive. Deren bestimmende Wirkung für das erkennende Verhältnis
zwischen Subjekt und Natur soll hier untersucht werden.
3
„Der Grund liegt darin, daß die neuzeitlichen Naturwissenschaften die Differenz von universal
geltendem Naturgesetz und dessen jeweils partikularer Realisierung prinzipiell anders als die tra-
ditionelle Naturphilosophie bestimmen. Zum Beispiel gibt die klassische Mechanik allgemeine
Differentialgleichungen an, mit denen sich der universale Zusammenhang der Bewegung aller
gravitierenden Massen zwar mathematisch allgemein formulieren läßt, aber das Problem des de-
taillierten Gesamtzusammenhangs aller gravitierenden Massen ist mathematisch nicht lösbar. Nur
wenn aus dem universalen Zusammenhang ein partikularer isoliert wird, können realisierbare Mo-
Z F U 503
vität durch subjektive Bearbeitung, durch praktische Unterordnung unter das Prinzip der
Kausalität, nach dem erkannt werden soll, präpariert ist, ist das bestimmte subjektive
Moment doch nicht arbiträr. Sonst müßte das Naturobjekt nach jedem beliebigen Prin-
zip organisierbar sein.4 Ist es aber nur nach dem Prinzip der Kausalität, vermittelt über
die Vorstellung von Zeitfunktionen, erkennbar, so zeigt sich in der Organisierbarkeit des
Objekts durchs Subjekt zugleich die Selbständigkeit des Objekts, das gegen jede ande-
re Organisationsweise sich verweigerte. Die Gültigkeit der kausalen Ordnung im Objekt
selbst, die daraus folgt, veranlaßt nun Kants Schluß auf die regelmäßige Organisation der
Natur als ganzer: „[I]n mundo non datur hiatus, non datur saltus, non datur casus, non
datur fatum“5 . Teilzusammenhänge lassen sich nur durch zweckmäßige Eingriffe isolie-
ren, wenn sie in einem allgemeinen Zusammenhang stehen, dessen Gesamtkonstitution
solche abgrenzenden Eingriffe erlaubt. Was als Randbedingung abstrahiert wird, muß als
Negation des Zwecks auch durch diesen selbst als solche erkannt werden können. Die
Möglichkeit der Erkenntnis einzelner Naturprozesse nährt die Hoffnung auf universale
Naturerkenntnis insofern, als eine allgemeine Erklärung jener Möglichkeit diese syste-
matisch voraussetzt. Soll Erkenntnistheorie nicht am Ende wieder in eine ontologische
Naturmetaphysik umschlagen, so ergibt sich das Desiderat einer kritischen Naturphilo-
sophie.
Ebenso führt die Moralphilosophie aufgrund der Diskrepanz von Absicht und ob-
jektiven Bedingungen ihrer Realisierung auf die Vorstellung einer zweiten Natur, eines
Reichs der Zwecke, in dem widerspruchsfrei vernünftig sollte gehandelt werden können.
Diese Vorstellung wurde zum teleologischen Maßstab der beständig mit ihren Zwecken
an den objektiven Bedingungen scheiternden Subjekte und war nur unter den Voraus-
setzungen der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes vorstellbar, denn jene
suspendiert die subjektive Schranke, diese die objektive Schranke des Handelns. Die
Natur wird zum möglichen Objekt des kulturellen Fortschritts der Gattung, während die
Einzelsubjekte ihr Heil nicht einmal im Jenseits erwarten können – erhoffen sollen sie
es sich freilich schon. Eine kritische Kulturphilosophie wäre hier der Ausweg aus der
drohenden Ontologisierung der mit der Existenz Gottes gesetzten Teleologie der Moral.
Die Kritik der Urteilskraft soll beides, Naturphilosophie und Kulturphilosophie, dar-
stellen und vemitteln, um das theoretisch und praktisch offengebliebene Verhältnis von
Natur und Freiheit, von Objekt und Subjekt, zu erschließen.6 Nicht so sehr in dem
delle konstruiert werden.“ Ulrich Ruschig, Korruption der Wissenschaft, in: Traditionell kritische
Theorie, hg. v. Gesellschaftswissenschaftlichen Institut, Würzburg 1995, 24.
4
Vgl. Peter Bulthaup, Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, a.a.O., 95.
5
KrV, B 282.
6
Vgl. Wolfgang Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, a.a.O. Bartu-
schat untersucht die Funktion der Urteilskraft in der KrV und der KpV und stellt „eine Instanz als
zentral heraus[], die in den beiden Kritiken in dieser zentralen Funktion nicht erörtert ist. Deutlich
werden sollte bei der Analyse auch nicht so sehr, welche Funktion die Urteilskraft in den beiden
Kritiken faktisch, d. h. in dem, wie sie auftritt, hat, sondern welche Bedeutung der Relation zwi-
schen Allgemeinem und Besonderem als solchem, die zu thematisierende Aufgabe der Urteilskraft
ist, in beiden Kritiken zukommt. Diese Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderem hat
sich als das gemeinsame Strukturmoment der theoretischen und praktischen Philosophie erwiesen,
das aber beiden Kritiken als solches verborgen bleibt.“ (79). Die KdU habe zu zeigen, „inwiefern
504 O S
oberflächlichen Verhältnis von Natur und Freiheit überhaupt hängen theoretische und
praktische Philosophie zusammen, als vielmehr in dem scheinbar pragmatischen aber
doch tieferen Problem, daß zweckvolle Bearbeitung von Natur, die fortschreitende Dif-
ferenzierung der zweiten von der ersten Natur, Bedingung der Möglichkeit von Natur-
erkenntnis selbst ist, die aber ihrerseits die technischen Bedingungen der zweckmäßigen
Einrichtung der zweiten Natur erst erschließen kann. Darin koinzidieren Erkenntnis-,
Zivilisiations- und Kulturprozeß, deren Gelingen ihrerseits Bedingung der Möglichkeit
der objektiven Darstellbarkeit moralischer Handlungen ist, aber nur dann dies sein kann,
wenn die Resultate jener Prozesse selbst schon der Moral kompatibel sind.7 –
Ausdrücklich ist die „Urtheilskraft, als […] Verbindungsmittel der zwei Theile der
Philosophie zu einem Ganzen“8 ausgewiesen. Dem liegt die Dichotomie von Zivilisation
und Kultur auf der einen und Moral auf der anderen Seite zugrunde, die unvermittelte
Differenz von technischer und moralischer Praxis, die beide unabhängig von einander
gelingen könnten, weil die Begriffe theoretischer Vernunft, die Naturbegriffe, von dem
der praktischen Vernunft, von dem Freiheitsbegriff „specifisch verschieden“ seien, ja
beide Seiten sogar einander „jederzeit eine Entgegensetzung“9 darstellen: Der Wille,
das Vermögen zu moralischer Praxis, sei als Begehrungsvermögen bloß naturkausal be-
stimmt, selbst technisch-praktische Bestimmung sei von der unmittelbar pathologischen
Bestimmung nicht eminent unterschieden. Die Distanzierung der Menschen vom un-
mittelbaren Naturzwang – die Entfaltung subjektiven Selbstbewußtseins – bleibt damit
selbst ein Naturprozeß, und die wissenschaftliche Betrachtung dieses Prozesses in den
einfachen und entwickelten Momenten, „die Haus-, Land-, Staatswirthschaft, die Kunst
des Umganges, die Vorschrift der Diätetik, selbst […] die allgemeine Glückseligkeits-
lehre“, werden nicht „zur praktischen Philosophie gezählt“10 .
Kant ist Dialektiker genug, um festzustellen, daß diese strikte Differenz nur aufrecht
zu erhalten ist mittels einer Verbindung des Differenten, denn „Verstand und Vernunft
haben also zwei verschiedene Gesetzgebungen auf einem und demselben Boden der
Erfahrung, ohne daß eine der anderen Eintrag thun darf“11 . Dürfen sie einander nicht
behindern und sollen doch beide von den gleichen Gegenständen gelten, so muß eine
Verträglichkeitsbedingung gefunden werden. Nun sind die Begriffe praktischer Vernunft
Ideen, zu deren Erkenntnis die theoretische Vernunft nicht übergehen kann, ohne in dia-
lektische – diesmal nach Kants Sprachgebrauch – Schwierigkeiten zu geraten. Aber „der
Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt
nämlich das von der Urteilskraft zu erfassende Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem so
gedacht werden muß, daß in diesem Verhältnis das Besondere als solches erscheint“ (80).
7
Dieser Aufgabe kann Kants klare Bereichsdifferenzierung in den Wissenschaften nicht gerecht
werden, da jede Disziplin ihren besonderen Zweck habe, dem sie in ihrem ‚abgesonderten System‘
effektiver nachgehen könne als in einem angeschwollenen Gesamtsystem (vgl. MAN, IV 477f.). So
zweckmäßig wissenschaftliche Arbeitsteilung nach Gegenstand und Methode ist, so unüberwindbar
werden die Grenzen von Disziplinen, wenn sie nicht mehr als kooperative Leistungen begriffen
werden, die in derselben Subjektivität ihren Grund haben.
8
KdU, V 176.
9
KdU, V 171.
10
KdU, V 173.
11
KdU, V 175.
Z F U 505
wirklich machen; und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß
die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirken-
den Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme“12 . Aus einer solchen moralischen
Aufgabe, weil sie ihre Realisierbarkeit postuliert, lasse sich darauf schließen, daß die
Naturgesetze den moralischen Vernunftgesetzen nicht widerstehen,13 daß die Naturkon-
stitution durch die reine Vernunft Moralität gestatte. Während die Kritik der praktischen
Vernunft die Gesetzgebung der reinen Vernunft auf die Willensbestimmung, unangese-
hen von deren materialer Realisierbarkeit, beschränkte, unterstellt Kant hier unvermittelt,
daß mit dem Sittengesetz seine Realisierbarkeit in der Sinnenwelt, in der Natur, ge-
setzt sei.14 Es bedarf dann aber eines objektiven Zweckbegriffs; es bedarf mithin der
Möglichkeit, subjektive Zwecke als in einem Gegenstand manifestiert daseiende Zwe-
cke vorzustellen. Diese Vorstellung setzt aber die der Zweckmäßigkeit der Natur voraus,
ihrer Teleologie an sich, die doch nur für uns vorgestellt sein dürfe.
Als Vermögen dieser Vorstellung präsentiert Kant die Urteilskraft, die zwischen „dem
Verstande und der Vernunft […] enthalten“15 sei. Diese Positivierung überrascht zu-
nächst, denn nach der Bestimmung der transzendentalen Urteilskraft vermittelte diese
zwischen Verstand und Sinnlichkeit, indem sie die Kategorien schematisiert auf Er-
fahrungen bezog, also die bestimmende Subsumtion von Erfahrungen unter Verstan-
desbegriffe vermittelte. Allerdings kam der Urteilskraft deshalb die zentrale Rolle im
Schließen der Vernunft zu, denn der Obersatz gibt ein allgemeines Verstandesurteil über
den terminus major an, dem in der conclusio der terminus minor zugeordnet werden
muß. Dafür ist es erforderlich, diesen unter den terminus medius zu subsumieren, eine
Tätigkeit, ohne den keine Erkenntnis gelingt, für die es aber kein methodisches Verfah-
ren des Verstandes oder der Vernunft geben kann: Ob Cajus ein Mensch ist, kann weder
selbst geschlossen , noch durch ein synthetisches Urteil a priori bestimmt werden. Hier
subsumiert die Urteilskraft den sinnlichen Gegenstand unter die Regel des terminus me-
dius und vermittelt eben durch diese Vermittlung von Sinnlichkeit und Verstand ebenso
zwischen Verstand und Vernunft.16 Aus der fragilen Konstellation dieser Funktion der
Urteilskraft „im logischen Gebrauche“17 , in Analogie zur Position von Lust und Unlust
zwischen Erkenntnis und Begehrungsvermögen,18 begründet Kant die Möglichkeit der
Vermittlung von Natur und Freiheit durch eine ästhetische Urteilskraft.
Sollen nun bestimmte Naturerscheinungen den Verstandesbegriffen zugeordnet, ihnen
subsumiert werden, so ist dies nicht von einer transzendental bestimmenden Urteilskraft
zu leisten, die lediglich a priori vorgegebene Gesetze auf Mannigfaltigkeit überhaupt,
mögliche Erfahrung, bezieht, sondern es wäre die in der Zuordnung des terminus me-
dius gelegene implizit reflektierende Funktion der Urteilskraft näher zu bestimmen als
12
KdU, V 176.
13
Vgl. KdU, V 196.
14
Vgl. Wolfgang Scheible, Wahrheit und Subjekt, Hamburg 1988, 474: „Die ‚Kritik der Urteilskraft‘
war der Versuch, die Allgemeinheit der Vernunft mit emanzipierter Subjektivität zu vermitteln.“
15
KdU, V 178.
16
Vgl. KrV, B 360.
17
KdU, V 179.
18
Vgl. KdU, V 178.
506 O S
ein Vermögen, wirkliche Erfahrung gesetzmäßig zu bestimmen.19 Soll sie dies leisten,
so kann ihr Prinzip nicht selbst empirisch sein, ebenso wenig aber kann es aus reinem
Verstand gegeben sein, denn dann wäre sie bestimmende Urteilskraft. Das Subjekt kon-
stituiert aber durch sie kein Objekt, sondern reflektiert, a posteriori, auf Gegenstände,
deren Ordnung dadurch gleichwohl als notwendig zu erfassen sei. Kant nennt dies ‚em-
pirische Gesetze‘20 . Zwar unterliegt die Welt der Erfahrung insgesamt der Einheit des
Verstandes, aber für keinen Fall wirklicher Erfahrung läßt sich dies ableiten. Die Ein-
heit möglicher und wirklicher Erfahrung soll nun aber doch reflektiert und begründet
werden.21
Soll nun der einzelne, zufällig gegebene Gegenstand unter allgemeine Gesetze subsu-
mierbar sein, so müsse er betrachtet werden, „als ob gleichfalls ein Verstand (wenngleich
nicht der unsrige)“22 ihn gesetzmäßig angeordnet hätte. Die Anordnung durch einen
Verstand setzt aber einen Zweck voraus, deshalb ist „[d]ie Zweckmäßigkeit der Natur
[…] also ein besonderer Begriff a priori, der lediglich in der reflectirenden Urtheils-
kraft seinen Ursprung hat“23 . Zwar könne den Naturprodukten nicht unterstellt werden,
sie seien derart Kunstprodukte eines göttlichen Demiurgen; aber sie müssen doch vor-
gestellt werden, als seien sie es. Wohl durch eine sprachliche Unachtsamkeit – aber
doch bezeichnend genug – überträgt Kant die Regulativität der Vorstellung der Zweck-
mäßigkeit auf die Zufälligkeit der Wahrnehmung: „Dieser transscendentale Begriff einer
Zweckmäßigkeit der Natur ist nun weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff,
weil er gar nichts dem Objecte (der Natur) beilegt, sondern nur die einzige Art, wie
wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig
zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, vorstellt, folglich ein subjectives Prin-
cip (Maxime) der Urtheilskraft; daher wir auch, gleich als ob es ein glücklicher unsre
Absicht begünstigender Zufall wäre, erfreuet (eigentlich eines Bedürfnisses entledigt)
werden, wenn wir eine solche systematische Einheit unter bloß empirischen Gesetzen
antreffen: ob wir gleich nothwendig annehmen mußten, es sei eine solche Einheit, ohne
daß wir sie doch einzusehen und zu beweisen vermochten.“24 War zunächst die Zweck-
mäßigkeit zu betrachten, als ob es sie gäbe, ergibt sich unter dem durch sie bestimmten
Blickwinkel der Zufall als das, was als bloß scheinhafte Vorstellung anzusehen sei. Das
Subjekt jongliert mit den Vorstellungen ‚Zufall‘ und ‚Zweckmäßigkeit‘ und erweist sich
darin als heautonom: Es gibt nicht sich selbst ein Gesetz für die Beziehung auf Erfahrung
– was autonom wäre – sondern es gibt sich ein Gesetz allein für sich selbst. Wohl ist die
Zweckmäßigkeit der Natur allein von Menschen zu konstruieren und daher auch für sie;
19
Auf diesen Unterschied der reflektierenden Urteilskraft als eines aktiven Vermögens zur bestim-
menden als bloßem „Vollzugsvermögen der Regelanwendung“ weist Peter Euler, Technologie und
Urteilskraft, a.a.O., 242, hin.
20
Vgl. KdU, V 179.
21
Vgl. KdU, V 183f. Zur Lösung dieses aus der kritischen Philosophie folgenden Problems muß
Kant über die bekannten Mittel der Psychologie hinausgehen. Vgl. Anselm Model, Metaphysik
und reflektierende Urteilskraft bei Kant. Untersuchungen zur Transformierung des leibnizischen
Monadenbegriffs in der Kritik der Urteilskraft, Frankfurt am Main 1987, 107.
22
KdU, V 180.
23
KdU, V 181.
24
KdU, V 184. Meine Kursivierung.
Z F U 507
ob sie aber ein Bedürfnis der reinen Vernunft sei, ist noch zu klären.25 Die eingeklam-
merte Bemerkung übers Bedürfnis unterstützt erstens die Einführung des Zweckbegriffs
und bereitet zweitens die des Lustbegriffs vor. Die Wahrung der Einheit der Erfahrung
wird als Bedürfnis des Verstandes dargestellt, wodurch diesem ein direkt sinnenhaftes
Moment zugeteilt wird, das über die Architektonik hinausweist.
Dieses Bedürfnis ist aber nicht ursprünglich eines der reinen Vernunft, sondern des
ganzen lebenden Subjekts. Soweit der Natur überhaupt Zweckmäßigkeit zu unterstellen
ist, ist dies ein Resultat der tätigen Differenzierung der Menschen von der unmittelba-
ren Natur. Der Naturzwang ist zweckwidrig.26 Er behindert die Realisierung spezifisch
menschlicher Zwecke. Jener Differenzierung ist aber doch die Möglichkeit, in der Natur
zu überleben, vorausgesetzt. Daß diese Möglichkeit aber zum Gegenstand der Refle-
xion auf Gesetzmäßigkeit wird, setzt eben seinerseits die tätige Differenzierung von
der Natur voraus, wodurch die Natur erst zu dem Gegenstand gemacht wird, als der
sie dann erscheint.27 Vorher sind die Naturwesen nur als unmittelbare Elemente des
Naturzusammenhangs selbst vorstellbar, als grenzenlos-amorphe in einer umfassenden
Naturbewegung, in der für sie nicht einmal Tag und Nacht geschieden sind, ein Tröpf-
chen in den Wassern, über denen kein Geist schwebt. –
Wohl ist dafür, daß Menschen aus der Natur sich sukzessive herausarbeiten kön-
nen, weil dies als gegenständliches Tun zugleich in der Natur geschieht, vorausgesetzt,
daß Natur selbst nicht völlig unbestimmt ist; Gestaltung setzt mit Gestaltbarkeit auch
Bestimmtheit voraus, zumal wenn die Gestaltung Regelmäßigkeit aufweist. Im wissen-
schaftlichen Erkennen bleibt daher den Naturgegenständen immer etwas von dem, was
Natur im geschichtlichen Prozeß immer war: das irreduzible und als solches unverfüg-
bare Substrat gestaltender gegenständlicher Tätigkeit, auf das Menschen als gegenständ-
liche Wesen verwiesen sind.28 Insofern ist sie nicht allein formal, sondern eminent von
25
Vgl. KdU, V 185f.
26
Mit Blick auf die Implikation zweckmäßiger Natur in Kants Begriff von Glückseligkeit schreibt
Georg Zenkert: „Diese naive Vorstellung diskreditiert sich freilich von selbst, weil es keinerlei An-
zeichen dafür gibt, daß die Natur menschlichen Wünschen entgegenkommt“ (Konturen praktischer
Rationalität, a.a.O., 23).
27
Vgl. Renate Wahsner, Verstand – Vernunft – Verantwortung, a.a.O., 172: „Der Mensch ist Mensch,
weil und indem er die Natur verändert. Dies ist zwangsläufig mit der Entwicklung gewisser Ar-
beitsinstrumente, also der Entwicklung einer Technik verknüpft. Auf Technik zu verzichten hieße
also, ins Tierreich zurückzukehren.“ Selbstverständlich ist die ‚Emanzipation vom unmittelbaren
Naturzwang‘ nicht Emanzipation von Natur überhaupt. Vgl. auch 173, FN 11: „Er kann sich auch
nicht – selbst, wenn er es will – von der Natur schlechthin emanzipieren; denn er ist nicht nur ein
soziales, sondern auch ein natürliches Wesen. […] Er kann ‚nur‘ dafür sorgen – und das macht
sein Menschsein aus –, daß er der Natur nicht blind ausgeliefert ist, er kann sie so gestalten, daß
er mit ihr und in ihr seine Zwecke realisieren kann.“ – Insofern ist die „Übereinstimmung von
Welt und Mensch“ nicht nur „geheimnisvoll[]“ (Christian Iber, Warum bedürfen Geschmacksur-
teile nach Kant einer Deduktion?, in: Reinhard Hiltscher/Stefan Klingner/David Süß (Hgg.), Die
Vollendung der Transzendentalphilosophie in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, a.a.O., 120).
28
Vgl. Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 110: Gegenstände naturwis-
senschaftlicher Erkenntnis „sind allein aus dem Gesamtzusammenhang separierte Naturvorgänge:
partikulare Naturvorgänge, die sich unter meßbaren Bedingungen vollziehen. Der Prozeß der Se-
parierung geht jedoch ein in die Bestimmung des untersuchten Objekts. Er restringiert sie auf die
508 O S
den Menschen und ihrer Bearbeitung unterschieden; aber in allen Gestalten, in denen sie
den Menschen erscheint – zumal wo sie ihnen als zweckmäßig erscheint – ist sie Resul-
tat von deren Geschichte. Darin hat allein die Rede vom „Vorrang des Objekts“29 ihren
Sinn: Gegenstände können nur durch ihre Erscheinungen hindurch als auch an sich be-
stimmte gedacht werden, aber sie müssen so gedacht werden, wenn überhaupt etwas soll
gedacht werden können. So erweist sich die subjektive Abhängigkeit des ontologischen
Gedankens als tiefer abhängig von der gegenständlichen Objektivität des Subjekts, jener
Gedanke ist „intentio obliqua der intentio obliqua“30 .
Besonders in der Ersten Einleitung zur Kritik der Urteilskraft,31 in der Kant gewis-
sermaßen deren Konzept entwirft, wird sein Ringen um den Zweckmäßigkeitsbegriff
deutlich, der wohl subjektiv beschränkt sein soll, dem aber doch irgendwie Natur kor-
respondieren muß. Dasjenige an ihr, was korrespondiert, wird dabei unvermeidlich in
die Korrespondenz eingezogen, soll als Verhältnisbegriff gefaßt werden, dessen Relatum
‚Natur‘ in seinem Bestimmungsmodus doch problematisch bleibt, weil es Kant einiger
Andeutungen zum Trotz nicht gelingt, diese Korrespondenz praktisch zu fassen. So be-
zeichnet Kant den Grund der Möglichkeit, Naturformen zu klassifizieren, als ‚logische
Zweckmäßigkeit‘ des Verhältnisses der Naturformen zueinander und zur Absicht der
durch ihn unterstellten Verhältnisse. Allerdings ist diese Bestimmung keine subjektive Setzung. Sie
hat als die relative Erkenntnis eines Naturvorgangs ihre objektive Grundlage in der Struktur, die
ihm unabhängig vom erkennenden Subjekt zukommt: seiner Bestimmtheit an sich selber.“ (Vgl.
auch 77f.) Haags Beharren hierauf rührt aus der negativen Einsicht: Die „Tendenz zum subjektiven
Idealismus ist jeder Theorie immanent, die ein intelligibles Substrat der Natur nicht duldet“ (116).
Daß Naturdingen selbst eine Bestimmtheit zukomme, muß aber nicht als ‚intelligibles Substrat
der Natur‘ gefaßt werden. Während nämlich die Bestimmtheit der Naturdinge auf deren unverfüg-
bar Gegenständliches verweist, dem Adorno Mimesis korrespondieren ließ, ist jenes ‚Substrat der
Natur‘ größer angelegt, auf Dinge nämlich, die „von sich aus in begrifflich fixierbaren Zusammen-
hängen stehen“ (83), auf die Legitimation der Naturgesetze in der „Beschaffenheit der kosmischen
Materie“ (77) oder auf eine „allmächtige[] denkende[] Entität als Urgrund der Materie“ (72). All
dies sei positiv nicht erkennbar, aber als Gegenstand einer negativen Metaphysik zu erschließen,
ohne dessen Einbeziehung alle Humanität positivistischer Instrumentalisierung verfiele (200). Kon-
sequent erblickt Haag in der Teleologie der Kritik der Urteilskraft die Anlage solcher negativer
Metaphysik (70; 87). – Hier soll dagegen gezeigt werden, daß das Operieren mit teleologischen
Begriffen nicht schon deshalb, weil ihnen keine objektive Realität eingeräumt wird, der Wider-
sprüche teleologischen Denkens, in dem Freiheit keinen Ort hat, ledig sei. Daß den Naturdingen
Bestimmtheit zukomme, damit sie bestimmbar seien, wovon dann allein weiter zu reden ist, muß
wohl reichen.
29
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 184 u.ö.
30
Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, a.a.O., 747. Vgl. Peter Euler, Technologie und Ur-
teilskraft, a.a.O., 251: Die Schwierigkeit bestehe darin „nicht sagen zu können, was die Natur sei
und zugleich zu wissen, daß eine Vorstellung davon, was sie sei, Voraussetzung der Vernunft his-
torisch war und allemal zukünftig ist“. – Ohne freilich solche Konsequenzen zu ziehen, betont das
Historische der Subjekt-Objekt-Relation, ihr Resultieren aus der Vergegenständlichung des freien
Willens, mit Rekurs auf Hegel, Joachim Ritter, Person und Eigentum. Zu Hegels „Grundlinien der
Philosophie des Rechts“ §§ 34 bis 81, in: Ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles
und Hegel, Frankfurt am Main 1969, 270.
31
Erste Einleitung KdU, bes. V-VII.
Z F U 509
Urteilskraft,32 zu deren „Bewunderung […] schwerlich jemand anders als etwa ein Tran-
szendentalphilosoph fähig sein“33 würde, die aber doch, der Logik der Relation zufolge,
in der Naturformen ‚enthalten‘ sei.34 Deshalb nennt Kant die Repräsentation der logi-
schen Zweckmäßigkeit im Gegenstand zwar nicht ‚forma finalis naturae intentionalis‘
wohl aber ‚forma finalis naturae spontanea‘.35
Das Ausgangsproblem stellt die Möglichkeit einer Erfahrung der Mannigfaltigkeit der
besonderen Naturformen dar, ohne den systematischen Naturbegriff der Kritik der rei-
nen Vernunft als Inbegriff der gesetzmäßig geordneten Gegenstände der Erfahrung zu
zerstören. Dafür muß diese Erfahrung „als System und nicht als bloßes Aggregat an-
zusehen sein“36 . Dem wiederum wäre eine systematische Vorstellung der Natur selbst
vorauszusetzen, wenn nicht beliebige Systeme von Erfahrung miteinander konkurrieren
sollen. Dieser systematische Zusammenhang sei nun als selbsttätige Hervorbringung von
einander zweckmäßigen Formen vorzustellen, als eine „Technik der Natur“, denn diese
Zweckmäßigkeit könne nur in Analogie zur menschlichen Produktion von Artefakten
gedacht werden.37 Ohne diese Voraussetzung als Prinzip der Urteilskraft wäre es un-
möglich, sich „in einem Labyrinth der Mannigfaltigkeit möglicher besonderer Gesetze
zurechtzufinden“38 . Zwar will Kant den Begriff systematischer Naturordnung nicht als
Erkenntnis der Natur ausgeben und ordnet ihn deshalb nicht Verstand oder Vernunft,
sondern nur der Urteilskraft zu; nur in Beziehung auf deren Zweck, das Mannigfalti-
ge zu ordnen, soll er Geltung haben. Aber diese Geltung kann nicht in der Urteilskraft
selbst gründen: „Naturgesetze aber, die so beschaffen und auf einander bezogen sind,
als ob sie die Urteilskraft zu ihrem eigenen Bedarf entworfen hätte, haben Ähnlichkeit
mit der Möglichkeit der Dinge, die eine Vorstellung dieser Dinge als Grund derselben
voraussetzt.“39 Nicht die Realität der Ordnung steht hiernach unter der subjektiven Be-
dingung des ‚als ob‘, sondern die subjektive Bedingtheit dieser Konstruktion selbst: Die
Urteilskraft denkt nicht die Ordnung, als ob sie real wäre, sondern, als ob sie so gedacht
würde. So kann sie die ‚Dinge als Grund derselben‘ vorstellen.
Weil nun der Begriff der Natur als System eine Bedingung der Möglichkeit von Er-
fahrung sei, könne er nicht selbst Resultat von Erfahrung sein.40 Diese Voraussetzung
sei deshalb a priori zwingend, auch wenn Menschen Natur immer nur als „rohes chao-
tisches Aggregat […] [ohne] die mindeste Spur eines Systems“ wahrnehmen sollten,
32
Vgl. Erste Einleitung KdU, 22f. und 28.
33
Erste Einleitung KdU, 23.
34
Vgl. Erste Einleitung KdU, 23.
35
Vgl. Erste Einleitung KdU, 42.
36
Erste Einleitung KdU, 15.
37
Vgl. Erste Einleitung KdU, 42. Vgl. auch 26: „Also ist die Urteilskraft eigentlich technisch; die
Natur wird nur als technisch vorgestellt, sofern sie zu jenem Verfahren derselben zusammenstimmt
und es notwendig macht.“ (meine Sperrung).
38
Erste Einleitung KdU, 20. Jeder Jurist muß, hinsichtlich der Rechtsgesetze, das können. Selbst
wenn die Theorie zugestanden wird, nach der die Einzelgesetze und ihre Auslegung konsistent,
untereinander und mit der Verfassung, sein müssen, reicht das – wegen der Kontingenz der gere-
gelten Materien – nicht zu einer systematischen Ordnung.
39
Erste Einleitung KdU, 22f.
40
Erste Einleitung KdU, 17.
510 O S
weil ihre Mannigfaltigkeit „unendlich groß wäre“41 . Der Versuch aber, durch Verglei-
chung von Naturformen zu deren empirischen Begriffen zu gelangen, sei von vornherein
hoffnungslos, „wenn die Natur […] in diese […] eine so große Ungleichartigkeit gelegt
hätte, daß alle, oder doch die meiste Vergleichung vergeblich wäre“.42
Indes erscheint doch diese Gefahr der Ungleichartigkeit erst vom Resultat einer relativ
fortgeschrittenen Naturerschließung in der Wissenschaftsgeschichte aus; die erkenntnis-
theoretische Möglichkeit, „Erfahrungen systematisch anzustellen“43 , geht aus der Refle-
xion auf diese Geschichte hervor. Wäre die Natur nicht so bestimmbar, wie sie bestimmt
wurde, dann wäre alles ganz anders – niemand weiß wie. Für kein Subjekt können frei-
lich Prinzipien der Naturforschung aus der individuellen Erfahrung hervorgehen, aber
ohne die geschichtliche Distanzierung vom Naturzusammenhang durch Gestaltung von
Natur wäre an solche Prinzipien wohl nicht zu denken.44
Daß die Natur als System erscheinen kann, ist Resultat dieser Geschichte, ohne daß
Bewußtsein deshalb evolutionär erklärt werden müßte. Die Verstandesformen können
nicht aus der Erfahrung bezogen werden, auch nicht aus der der Gattung; aber die reali-
sierte Objektivität dieser Formen, noch ihre Möglichkeit, kann umgekehrt auch nicht als
rein subjektives Vermögen a priori verstanden werden. Durch die fortschreitende Erfor-
schung wird Natur überhaupt erst im systematischen Bestand des Wissens darstellbar.
Aber nicht Natur wird dabei systematisiert, sondern Naturerkenntnis. In deren Fortgang
wird Natur partiell verfügbar gemacht, behält aber eine Seite von Selbständigkeit und
bleibt so im strengen Sinn Gegenstand, von dem sich übrigens auch nicht sagen ließe,
daß er ‚zu groß‘ oder ‚chaotisch‘ sei.
Kants Beispiel von der biologischen Ordnung macht – nach der Widerlegung der
Annahme der Konstanz der Arten – die metaphysische Tradition deutlich, in der der
Zweckmäßigkeitsbegriff – aller Vorbehalte zum Trotz – steht: Eine Anwendungsbe-
dingung von Logik auf Natur sei die Annahme, „daß die Natur in ihrer grenzenlosen
Mannigfaltigkeit eine solche Einteilung derselben in Gattungen und Arten getroffen ha-
be, die es unserer Urteilskraft möglich macht, […] zu empirischen Begriffen […] zu
gelangen“45 . Diese Einteilung wird geradezu Porphyrianisch beschrieben: „Die logische
Form eines Systems besteht bloß in der Einteilung gegebener allgemeiner Begriffe (der-
gleichen hier der einer Natur überhaupt ist), dadurch daß man sich das Besondere (hier
das Empirische) mit seiner Verschiedenheit als unter dem Allgemeinen enthalten nach
einem gewissen Prinzip denkt. Hierzu gehört nun […] ihre [der Klassen des Mannigfal-
41
Erste Einleitung KdU, 15.
42
Erste Einleitung KdU, 19f.
43
Erste Einleitung KdU, 17.
44
Vgl. Matthias Lutz-Bachmann/Gunzelin Schmid Noerr (Hgg.), Die Unnatürlichkeit der Natur.
Über die Sozialität der Natur und die Natürlichkeit des Sozialen, Basel 1992.
45
Erste Einleitung KdU, 18f. Anm. Den Biologismus hat Robert Spaemann als Prinzip der Neuzeit,
als Inversion der Teleologie, bezeichnet: Vgl. Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontolo-
gie, in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, a.a.O. Wo früher Teleologie als
Erhaltung durch heterogene Prinzipien in einer Ordnung verstanden wurde, wird sie nun zur Selbst-
erhaltung. Dem hat Günther Buck einen normativen Begriff von Selbsterhaltung entgegengehalten,
demzufolge die Inversion von Teleologie erst durch politische Bestimmung der Zwecke erfolge:
Vgl. Selbsterhaltung und Historizität, a.a.O.
Z F U 511
tigen; M.St.] Subsumtion unter höhere Klassen (Gattungen), bis man zu dem Begriffe
gelangt, der das Prinzip der ganzen Klassifikation in sich enthält (und die oberste Gat-
tung ausmacht).“46
Die Schwierigkeit, gerade am Begriff der biologischen Arterhaltung eine Selbständig-
keit der Natur aufzuzeigen, werden schon in der Aristotelischen Konstruktion deutlich,
in der zwar die Selbständigkeit von Artefakten nur am Modell natürlicher Genese von
Substanzen dargestellt werden kann, aber der Begriff dieser Genese selbst nur am Mo-
dell der handwerklichen Produktion von Artefakten zu entfalten ist, weil sich über keine
der Ursachen, vor allem Form und Zweck, unabhängig davon etwas bestimmen läßt.47
Anders als vom Stand der bearbeiteten Natur her, negativ, ist Natur nicht zu fassen; ge-
rade weil dieser Begriff das unabdingbar Voraussetzungsvolle für praxis wie für technä
festhalten soll, ist er ein negativer. Die Arterhaltung verbürgt solange positive Selbstän-
digkeit, bis die Art ausstirbt oder vernichtet wurde. Die Ordnung der Arten erscheint
solange als System, bis sie ökologisch kollabiert.
Die Problematik des Gattungsbegriffs schließlich, vor allem des von Kant bemüh-
ten der ‚obersten Gattung‘, ist seit Porphyrius – Aristoteles formuliert noch vorsichtig,
den zweiten Substanzen komme wohl weniger Sein zu als den ersten – kaum geringer
geworden.48 Daß Kant die Spezifikation der Gesetze um der Vollständigkeit der Ord-
nung willen analog dem Schema der Gattungen und Arten denkt, hat einen Grund darin,
daß in der Selbsterhaltungsbeziehung lebender Wesen auf ihre natürlichen Lebensbedin-
gungen am ehesten eine Zweckanalogie erscheint: Die Welt wird als subjektkompatibel
vorausgesetzt, insofern lebendige Subjekte sich in ihr erhalten können. Zudem hat die
belebte Natur gewissermaßen ein allgemeines Grundgesetz, das sich durch ihre Arten
systematisch zu spezifizieren scheint: Das Lebewesen, dessen Verhältnis zur Natur nicht
seinem Leben zweckmäßig ist, stirbt.49 Evolutionsgeschichtlich hört es – seine Art – auf,
Bestandteil der Natur zu sein. Darin liegt eine gewisse – negative – Vollständigkeit der
Naturordnung, weil alles, was unter die Gesetzmäßigkeit der Spezifikation von Arten
nicht paßt, per definitionem nicht dauerhaft existiert. Wird dieser Vorstellung nicht die
der Mutation hinzugefügt, so entsteht zwangsläufig die Suche nach dem missing link,
das Kant postuliert.50 Obwohl selbst die Mutationstheorie immer noch Zwischenglie-
der zuläßt, entstehen doch auch Sackgassen, die keine systematische Ordnung erlauben:
Bakterien, Pilze, Schnabeltiere, Fledermäuse, Neandertaler.51
46
Erste Einleitung KdU, 21.
47
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., VII, 7-9.
48
Vgl. Aristoteles, Kategorien, a.a.O., sowie Porphyrius, Isagoge, in: Aristoteles, Kategorien, a.a.O.
49
Diese Einsicht verdankt sich aber erst der Kritik Darwins an Linnés Vorstellung der Konstanz der
Arten, bzw. der Anpassung durch Gebrauch oder Nichtgebrauch von Organen. Daß Darwins Be-
griffe, vor allem der des survival of the fittest, teils auch der der radiativen Adaption, tautologisch
sind, schränkt ihren Erklärungsgehalt, nicht aber ihren Beschreibungsgehalt ein. – Vgl. zu dem
Zusammenhang Siegfried Roth, Kant und die Biologie seiner Zeit, in: Otfried Höffe (Hg.), Kritik
der Urteilskraft, a.a.O., 276ff.
50
Vgl. KrV, B 694; B 682ff.; B 684ff.
51
Derartige Erscheinungen sind Hegel zufolge ‚ungehörig‘. Vgl. Christine Zunke, Die notwendige
Widerspenstigkeit phantastischer Tiere, die es wirklich gibt, in: Hegel-Jahrbuch 2004.
512 O S
Wenngleich Menschen die belebte Natur nicht herstellen, so hängt deren Erschei-
nung doch seit es Menschen gibt – und in drastisch zunehmendem Maße – von der
Naturgestaltung durch Menschen ab. Das trifft selbst auf Naturerscheinungen zu, die
dem technischen Zugriff scheinbar grundsätzlich oder wenigstens auf sehr lange Sicht
entzogen sind. Die Ordnung der Gestirne erscheint zweckmäßig allein unter der Voraus-
setzung, daß die Einbildungskraft reproduzierbare Gestalten auf sie projiziert. Welche es
sind, ist dabei weitgehend gleichgültig, wie am Grad der Ähnlichkeit der Lichtkonstella-
tionen zu ihren Namenspatronen zu erkennen ist. Die unverfügbare Voraussetzung dafür
ist nur die, daß überhaupt leuchtende Punkte dauerhaft vorhanden sind. Diese Punk-
te als solche sind ganz unzweckmäßig, denn kein der Navigation Unkundiger wird auf
hoher See durch einen Blick nach oben Hilfe finden. Erst die Konstruktion von Kon-
stellationen durch die Einbildungskraft schafft Orientierung.52 Und dieser Konstruktion
liegen existentielle Zwecke nicht der Natur, sondern denkender Naturwesen zugrunde.
Die Verlängerung solcher Zwecke in die Natur hinein gelingt nicht durch ein erkenntnis-
theoretisches Prinzip, sondern durch Kultur.
Kant räumt zwar ein, daß die Urteilskraft „[z]weckmäßige Formen der Anschauung
[…] a priori selbst angeben und konstruieren“ könne, aber „Zwecke, d. i. Vorstellungen,
die selbst als Bedingungen der Kausalität ihrer Gegenstände (als Wirkungen) angesehen
werden, müssen überhaupt irgendwoher gegeben werden, ehe die Urteilskraft sich mit
den Bedingungen des Mannigfaltigen beschäftigt, […] und sollen es Naturzwecke sein,
so müssen gewisse Naturdinge so betrachtet werden können, als ob sie Produkte einer
Ursache seien, deren Kausalität nur durch eine Vorstellung des Objekts bestimmt werden
könnte.“53 Dadurch, daß einzelne durch Naturforschung zu erkennende Zusammenhänge
als mit Bewußtsein konstruierte gedacht würden, werde es auch möglich, „von einem
Produkte der Natur zu denken, daß es etwas hat sein sollen, und es darnach zu beurteilen,
ob es auch wirklich so sei“54 ; das Prinzip dieser, teleologischen, Beurteilung sei aus der
Erfahrung nicht zu ziehen.
Aber dieses Prinzip ist eben nicht ein vorgestellter Naturzweck, sondern es ist die
praktische Antizipation menschlicher Zwecke in Natur. A priori ist allein das mensch-
liche Vermögen, selbst Zwecke zu setzen. Was Natur dagegen ‚sein soll‘, ist immer
zweite Natur; das trifft bereits auf systematisierte Vorstellungen von Natur zu. Auf dieser
Grundlage ist die Vorstellung, daß Natur etwas sein soll, keine teleologische, sondern
es wäre die Einsicht der Subjekte in ihre praktische Subjektivität: Im Verhältnis ihrer
zwecksetzenden Vernunft zu den objektiven Bedingungen ihres erkennenden, techni-
schen und sozialen Handelns können sie über die Entwicklung von Vernunft in der
Welt verfügen; ob sie aber darüber verfügen oder ob sie das Verhältnis des Handelns
zu den Bedingungen bloß registrieren und analogisch voraussetzen, ist ein Unterschied
ums Ganze. Nur wenn Vernunft in der Welt, wie sie ist, nicht a priori verankert ist, kann
sie die Welt, wie sie sein soll, bestimmen.
52
Zur notwendigen Subjektivität von Orientierungsprinzipen vgl. Sich im Denken orientieren, VIII
134ff.
53
Erste Einleitung KdU, 39f.
54
Erste Einleitung KdU, 48.
Z F U 513
Kants Problem mit Zufälligkeit und Notwendigkeit der Naturordnung resultiert in-
des aus seiner Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft. Reine Subjektivität
wäre geschichtlich die widersprüchliche bloßer Naturwesen. Kants Suche nach der tran-
szendentalen Einheit der Erfahrung setzt vereinzelte Menschen voraus. Den praktischen
Zusammenhang, daß Menschen substantiell darin zusammenhängen, daß sie dieselbe
Geschichte der Naturdistanzierung haben, somit an sich Gattung – selbstbewußt: Kollek-
tiv – sind und sich dadurch vermittelt auf die eine Natur beziehen, blendet Kant aus.55
Kants Rede vom Bedürfnis oder Zweck des Verstandes ist schon die Überschrei-
tung der Grenze zwischen Verstand und Vernunft, die doch durch die Urteilskraft erst
hergestellt werden soll. Zudem sei die Erfüllung des Erkenntniszweckes mit Lust ver-
bunden, weil ein Bedürfnis befriedigt sei. Gleichwohl sei diese Lust nicht mit dem
Begehrungsvermögen verbunden, da der Verstand den Gegenstand nicht haben, son-
dern ihn bloß erkennen wolle. Die Positionierung der Lust als selbständigen Vermögens
zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen ermöglicht nun diese Rede vom reinen
Verstandeszweck erst. Die Lust, die ihm korrespondiert, ist ein Gefühl, eine ästhetische
Vorstellung der Zweckmäßigkeit und als solche subjektiv; indem diese Zweckmäßigkeit
aber das Verhältnis des Gegenstandes zu den Erkenntnisvermögen bezeichnet, partizi-
piert die subjektive Vorstellung der Möglichkeit nach an der Allgemeinheit der Erkennt-
nis. Es kann die bloße Form des Gegenstandes in der Anschauung apprehendiert werden,
ohne daß dies schon mit der Absicht, den Gegenstand zu erkennen, verbunden wäre.
Gleichwohl, so Kant, prüfe die reflektierende Urteilskraft „auch unabsichtlich“56 , ob
der Gegenstand zur Harmonie der Erkenntnisvermögen – Einbildungskraft und Verstand
– angemessen sei, die, solange nicht bestimmte Erkenntnis angestrebt sei, sich in der
Urteilskraft in einem freien, nicht auf die begriffliche Identität des Gegenstandes bezo-
genen, ‚Spiel‘ befänden. Werde jene Harmonie empfunden, so beurteile der Geschmack
den Gegenstand als ‚schön‘.
Die Konstruktion, die das Verhältnis der Erkenntnisvermögen nicht auf bestimmte
Erkenntnis, sondern auf Erkenntnis überhaupt bezieht, ist fragwürdig: Was wäre eine
‚Erkenntnis überhaupt‘? Kann tatsächlich ein Vermögen vorgestellt werden, das die all-
gemeine Erkennbarkeit eines Gegenstandes noch vor dem Versuch, ihn zu erkennen,
erfaßte? Wären dann gescheiterte Versuche der Naturerkenntnis als Resultat einer vor-
gängigen Geschmacklosigkeit zu erklären? Wären Gegenstände, die intuitiv als häßlich
55
Vgl. Renate Wahsner, Verstand – Vernunft – Verantwortung, a.a.O., 173: „Um jedoch ein Sub-
jekt Menschheit zu haben, muß es mehr sein als nur die Sammelbezeichnung aller jemals gelebt
habenden und leben werdenden Menschen, die Menschheit muß ein wirkliches Kollektivum [Kol-
lektiv ist kategorial gemeint; Wahsner bezieht sich auf Prolegomena, IV § 40; M.St.] d. h. ein als
eine in sich strukturierte Einheit, als ein sich durch das Verhältnis und Verhalten der Menschen
zueinander konstituierendes Ganzes handelndes Etwas.“
56
KdU, V 189. Die Urteilskraft reflektiert auf das in der Anschauung Gegebene, nicht etwa auf
Urteile. Vgl. aber Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 264. Euler will allerdings
auf die subjektive Einheit von subjektiver Bildung und objektiver Bildung hinaus, auf „eine bil-
dungstheoretische Bestimmung des Subjektbegriffs“ (236). Gebildete Subjekte sollen immanent
sachkompetent, nicht extern moralisch ihre Zwecke reflektieren. Dafür scheint aber doch die Ver-
nunft, als Vermögen Zwecke zu setzen, die geeignete Instanz zu sein.
514 O S
empfunden werden, unerkennbar?57 Letztlich bezeichnet Kants Begriff des Schönen eher
die Lücke, als daß er sie schlösse: Es muß möglich sein, sich über die Naturordnung all-
gemein zu verständigen, noch bevor ihre Gesetzmäßigkeit erkannt ist, denn sonst wären
keine kooperativen wissenschaftlichen Arbeitsprozesse denkbar, die von verschiedenen
Einzelerkenntnissen ausgehend schließlich in der Erkenntnis desselben Objekts oder des-
selben systematischen Zusammenhangs von Objekten vereinigt werden könnten. Das
Problem ist dabei, daß die Urteile, in denen solche Verständigkeit geschieht, für jeden
gültig sein sollen, aber nicht a priori gelten können, weil sie, als auf bestimmte Gegen-
stände bezogen, materialiter zufällig sind.
Das Prinzip der Urteilskraft ist ‚heautonom‘, praktisch uninteressiert, sinnlich ohne-
hin. Dies bezeichnet Kant nun nicht durch die Negation der praktischen Autonomie,
sondern durch deren reflexive Steigerungsform. Der griechischen Grammatik zufolge
wäre damit ein praktisches Interesse bezeichnet, das gleichsam ins Subjekt zurückge-
bogen würde. Dies kann ebenso bedeuten: ‚Es gibt sich ein Gesetz, aber nur für sich
selbst‘ wie ‚Es gibt sich ein Gesetz, und zwar, mit Nachdruck, für sich selbst‘. Die In-
teresselosigkeit ist keineswegs Zweckfreiheit, denn das ästhetische Urteil ist erschlossen
worden als Funktion der besonderen Objekterkenntnis. Es schwebt zwischen Erkenntnis
und Praxis, was bei Kant zum Ausdruck gelangt etwa durch die Gleichgültigkeit, ob der
Gegenstand „Product der Natur oder der Kunst“58 sei. Von einem ‚Produkt der Natur‘
läßt sich überhaupt nur in Analogie zur Kunst, zum Artefakt, reden, so wie sich von
einem Gegenstand als Gegebenem nur in Analogie zur Natur reden läßt.
Entsprechend zerfällt bei Kant die Vorstellung von Naturordnung in die materiale, ob-
jektive, die der teleologischen Urteilskraft untersteht, zum Zweck, sich „in ihr orientiren
zu können“59 , und in die formale der ästhetischen Urteilskraft, die das Verstandesur-
teil, den Zweckbegriff auf Natur anzuwenden, bloß subjektiv vorbereite. Dies gelingt ihr
nur durch Analogie zum Handwerk, zur Produktion künstlicher Gegenstände, wodurch
die Natur als objektiver Zweck in Korrespondenz zu einem subjektiven Zweck vorstell-
bar wird. Darin erscheint, daß die Natur keine unmittelbare ist, sondern geschichtliches
Produkt eben der Distanzierung der Menschen von ihr. Diese ist kein Erkenntnisprozeß
reiner Vernunft, sondern in ihr ist Erkenntnis mit Praxis unmittelbar verbunden. Na-
tur wir zweckmäßig präpariert, um erkennbar zu sein. Als erkennbare erlaubt sie dem
Subjekt, sich auch ihr entgegen Zwecke zu setzen, und nur dadurch wird sie erst er-
kennbar. Ist Natur noch nicht erkennbar, so wissen die Menschen noch nicht von sich
als von Menschen. Ihr Bewußtsein könnte nur unmittelbar das von integralen Naturbe-
standteilen sein. Haben sie aber spezifisches Selbstbewußtsein, so haben sie auch schon
Naturerkenntnis. Insofern Voraussetzung und Resultat im Prozeß der Distanzierung der
Menschen von der Natur aus heutiger Perspektive nicht systematisch getrennt werden
57
Hierauf hat besonders Reinhard Brandt aufmerksam gemacht: Vgl. Schön, Erhaben, nicht Häßlich.
Überlegungen zur Entstehung und Systematik der Kantischen Theorie des ästhetischen Urteils,
in: Heiner F. Klemme/Michael Pauen/Marie-Luise Raters (Hgg.), Im Schatten des Schönen. Die
Ästhetik des Häßlichen in historischen Ansätzen und aktuellen Debatten, Bielefeld 2006.
58
KdU, V 191.
59
KdU, V 193.
Z F U 515
können, sind im Erkenntnisprozeß, wie er Zivilisation und Kultur zugrunde liegt, immer
schon Natur und Freiheit miteinander verbunden.
Daß Kant die sogenannte schöne Kunst in den Mittelpunkt der Betrachtung der äs-
thetischen Urteilskraft stellt, liegt daran, daß in ihr, im Unterschied zum Handwerk, die
gelungene Komposition der Teile nicht einem technischen Zweck unterliegt, sondern
selbst Zweck der Tätigkeit ist: interesselose Zweckmäßigkeit, ohne (äußeren) Zweck.
Dies ist ein Modell für die vorgestellte Naturbeschaffenheit vor dem Erkenntnisprozeß,
aber in Hinsicht auf ihn. Darin setzt das Modell ‚Kunst‘ Erkenntnis schon voraus; das
tut sie insbesondere, insofern sie selbst Distanz zur Natur voraussetzt, in der sie selbst
nicht zweckvoll figuriert, die sie aber reflektiert darstellt, der sie ein Bewußtsein gibt
und so auch unter unfreien Bedingungen der nicht moralischen Kultur und Zivilisation
ein Bewußtsein von Freiheit transportiert.60
Kants Theorie der Urteilskraft versucht, die Verknüpfung von Natur und Freiheit in
einem eigenen Vermögen zu rekonstruieren, weil Kant diese Verknüpfung als notwen-
dig erkennt, aber ihre geschichtlichen Bedingungen nicht erkennt. Er kann sie nicht
erkennen, weil das Moment von Praxis darin seinem Begriff nicht genügt. Die Frei-
heit dieser Geschichte ist immer verkoppelt mit Heteronomie, die als natürliche sich gibt
und als solche auch erscheint und so den ganzen Zivilisationsprozeß aus dem Blick der
Freiheitslehre rückt. Die Kollektivität der Praxis, die der Geschichte vorausgesetzt ist,
erscheint nur in Antagonismen. Deswegen sucht Kant eine transzendentale Begründung
der Möglichkeit der Verbindung von Verstand und Vernunft in einem Vermögen, das
zwar jeder hat, aber als Vereinzelter. Wenn Kant daher schreibt: „Die Wirkung nach
dem Freiheitsbegriffe ist der Endzweck, der (oder dessen Erscheinung in der Sinnen-
welt) existiren soll, wozu die Bedingung der Möglichkeit desselben in der Natur (des
Subjects als Sinnenwesens, nämlich als Mensch) vorausgesetzt wird“61 , so bleibt die
Möglichkeit der Zweckmäßigkeit der Natur zunächst auf die der Menschen beschränkt.
Durch diese Zweckmäßigkeit aber werde der Vernunft die Möglichkeit gegeben, die Na-
tur an sich, in „ihrem übersinnlichen Substrat […] durch das intellectuelle Vermögen“
zu bestimmen, also moralischen Zwecken konform zu gestalten, und dies gilt explizit für
60
Diese Bestimmung von Kunst beschränkt sich freilich auf einen avanciert modernen Begriff der-
selben. Weder umfaßt sie die magischen, repräsentativen usw., Funktionen, denen Kunst diente
und dient, noch das von Kant bemerkenswerterweise präferierte Tapetenkunsthandwerk (vgl. KdU,
V 229). In der Ersten Einleitung leitet Kant die Beurteilung des Kunstschönen aus dem Prinzip
der Beurteilung des Naturschönen ab, das seinerseits die Zweckmäßigkeit von Naturformen für die
Erkenntniskräfte im Blick hat (60). Zwar gestaltet Kunst aus Begriffen und setzt insofern Zwe-
cke, aber diese vorgeschlagene Beurteilung interpretiert diese Zwecke als die bewußte, absichtliche
Wiederholung der Zweckmäßigkeit der Naturformen. Dessen Modell ist dann die Motivtapete. Zu-
dem wird aus der Tabelle, in der Kant die menschlichen Produkte den Gemütsvermögen zuordnet
(55), deutlich, daß im Begriff der Kunst nicht zwischen Handwerk und schöner Kunst unterschie-
den wird. – Die schöne Kunst wäre aus dem Zweckmäßigkeitskontext herauszulösen; auch der
Begriff der Zweckmäßigkeit ohne Zweck führt nicht weiter. Kunst als Akt der Freiheit kann unter
Bedingungen der Unfreiheit beispielsweise ganz unzweckmäßig sein. Die Bedeutung von Kunst ist
nicht in Begriffen, nicht in Gefühlen und nicht in Zwecken gelegen; eher ist sie einstweilen der
negative Ort menschlicher Freiheit in der Zeit der Vorgeschichte der Menschheit, als Antizipation
praktischer Subjektivität.
61
KdU, V 195f.
516 O S
die Natur „in uns sowohl als außer uns“62 : Die Subjektivität – das übersinnliche Substrat
des Subjekts – ist für die Urteilskraft nämlich diejenige des ‚Subjekts als Sinnenwesen‘.
Die moralische Bestimmbarkeit des Menschen als Sinnenwesen gibt nun aber – über die
Möglichkeiten der Kantischen Moralphilosophie hinaus – Anweisung auch auf die mo-
ralische Bestimmung der gegenständlichen Bedingungen, unter denen das Sinnenwesen
Mensch sich, notwendig gemeinsam mit seinesgleichen, reproduziert.63
Organismen deren funktionale Bestandteile nicht ohne ihre Funktion für den Organis-
mus verstanden werden; sie werden verstanden als zweckmäßig auf andere Funktionen
und mit ihnen aufs Ganze ausgerichtete.67
Offenbar ist es unproblematisch, einen Mechanismus ‚als blinden Mechanismus‘
vorzustellen, die analoge Vorstellung vom Organismus erweist sich jedoch als diesem
inadäquat, es sei denn im Blick einer reinen Biochemie oder einer abstrakten
Gehirnphysiologie, die heute allerdings mechanistische Modelle auch des mensch-
lichen Organismus reinstallieren wollen. Zu Kants Zeit aber hatten sie allenfalls in
radikalmaterialistischen Spekulationen ihre Vorläufer, denen noch keine experimental-
wissenschaftliche Praxis korrespondierte, abgesehen vielleicht von den Horrorkabinetten
der Galvanisten.68
Die nun von Kant anhand einer spezifischen Problematik der Biologie eingeführte te-
leologische Form der Naturbetrachtung wird gerade deshalb, weil Begriff und Praxis
der Naturforschung noch nicht hinreichend in die Disziplinen Biologie, Chemie und
Physik unterschieden worden sind, zu einer teleologisch-organischen Vorstellung der
Gesamtnatur erweitert, wie Kants Beispiele vom höheren Sinn des Treibgutes bis zum
dankbaren Zweck des Alpenschnees belegen. Dieser Tendenz vermag die zitierte Diffe-
renzierung innerhalb der Urteilskraft nicht wirksam zu begegnen, denn die Frage nach
dem Verhältnis von Untersuchungsmethode und Erklärungsmodell entsteht grundsätz-
lich: Können Untersuchungsergebnisse, die nur durch teleologische Vorstellungen vom
Gegenstandsbereich möglich waren, anschließend zu einer teleologischen Erklärung des-
selben Gegenstandsbereichs dienen? – Nicht zufällig bezeichnet Kant das regulative
Teleologieprinzip als „eine subjective Zweckmäßigkeit der Natur“69 . Darin wird das
teleologische Prinzip zugleich als subjektives und als ein der Natur zugehöriges be-
zeichnet, wodurch eben allein seine vermittelnde Funktion möglich wäre. Der subjek-
tive Zweck, hier die Erkenntnis der „Natur in ihren besondern Gesetzen“70 , wird nur
dann objektiv zur erkannten Natur, wenn diese „zu der Faßlichkeit für die menschliche
Urtheilskraft und der Möglichkeit der Verknüpfung der besondern Erfahrungen in ein
System derselben“71 geeignet ist. Würde sie nur als geeignet ‚angenommen‘, wie Kant
67
Zu diesem Zusammenhang vgl. Ina Goy, Die Teleologie der organischen Natur, in: Otfried Höf-
fe (Hg.), Kritik der Urteilskraft, a.a.O. und Siegfried Roth, Kant und die Biologie seiner Zeit,
a.a.O. – Volker Gerhardt sieht in Kants Versuchen, die rein mechanistische Naturerklärung ab-
zulösen, einen Vorläufer der Rede von der ‚Biologie als Leitwissenschaft‘ (vgl. Eine kritische
Philosophie des Lebens. Kants Theorie der menschlichen Existenz, in: Reinhard Hiltscher/Stefan
Klingner/David Süß (Hgg.), Die Vollendung der Transzendentalphilosophie in Kants ‚Kritik der
Urteilskraft‘, a.a.O., 63).
68
Zur weit verbreiteten mechanistischen Auffassung von Organismen vgl. exemplarisch Julien Offray
de La Mettrie, Der Mensch als Maschine, Nürnberg 1985 oder schon René Descartes, Prinzipien
der Philosophie, Hamburg 1955, II 64. Zur experimentellen Lage der Zeit, besonders dem Galva-
nismus, vgl. Erhard Oeser, Geschichte der Hirnforschung. Von der Antike bis zur Gegenwart,
Darmstadt 2002, 91-101. Keine literarische Glanzleistung aber doch ein eindrückliches Stim-
mungsbild des zeitgenössischen Verhältnisses zum Lebendigen stellt immer noch Mary Shelleys
um 1816 entstandener Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus, Stuttgart 1986, dar.
69
KdU, V 359.
70
KdU, V 359.
71
KdU, V 359.
518 O S
zwar weiter formuliert, dann gäbe es doch keinen systematischen Grund, dieses und nicht
ein beliebiges anderes Prinzip auf die zu erkennende Natur zu projizieren.72
In der Erfahrung, daß Erkenntnis unter bestimmten heuristischen Prinzipien scheitert,
unter anderen aber gelingt, ist die mit der Teleologie verbundene Zwangsläufigkeit ihrer
ontologischen Verallgemeinerung angelegt.73 Diese Anlage entwickelt sich unterm Sys-
temgedanken der universellen Verknüpfbarkeit aller wissenschaftlichen Urteile, vor dem
das partielle Scheitern von Erkenntnisbemühungen allein als individuelles Versagen em-
pirischer Subjekte erscheint, das aus der Fortschrittsgeschichte der Wissenschaften zu
tilgen sei. – Indes droht die Tilgung der dysfunktionalen Subjekte zur Tilgung von Sub-
jektivität überhaupt durch Teleologie umzuschlagen. Zunächst folgt auch für Kant aus
dem Naturbegriff a priori allein noch keine Teleologie.74 Allerdings könnte Teleologie
dem Naturbegriff nur beigelegt werden, wenn die Menschen die Natur „als intelligen-
tes Wesen“75 annähmen. Dann aber wären menschliche und natürliche Zwecke entweder
prinzipiell unvereinbar, so daß Erkenntnis unmöglich würde, oder sie stimmten zufällig
zusammen, wodurch Erkenntnis problematisch würde und daher keine – notwendig all-
gemeine – Erkenntnis wäre, oder sie kongruierten schließlich notwendig, wodurch das
Subjekt als Subjekt im Erkenntnisprozeß aufgehoben würde.
Soll Naturerkenntnis als System und als Erkenntnis durch Subjekte möglich sein, so
bleibt Kant nur übrig, sie unter ein systemisches Prinzip zu stellen, das subjektiv gilt und
objektiv nicht gilt. Dadurch entsteht eine subjektiv transformierte Objektivität, in der die
dem Subjekt gegenständlichen Momente entweder nicht figurieren oder widersprüchlich
als funktional interpretiert werden, so daß sie selbst zum teleologischen Grund ihrer Be-
seitigung werden, die Unreinheit der Natur zum Grund ihrer Bereinigung wird: „So [und
nur so; M.St.] könnte man z. B. sagen: das Ungeziefer, welches die Menschen in ihren
Kleidern, Haaren oder Bettstellen plagt, sei nach einer weisen Naturanstalt ein Antrieb
zur Reinlichkeit, die für sich schon ein wichtiges Mittel der Erhaltung der Gesundheit
ist.“76 – Immerhin geraten so die ‚Wilden‘, deren Existenz ohne Teleologie ganz unein-
sehbar wäre, noch zu Aspiranten der Menschheit.77
In diesem geschichtlichen Moment liegt indes eine Kernbestimmung von Teleologie:
Kant unterscheidet drei Formen der Zweckmäßigkeit in der wissenschaftlichen Naturbe-
trachtung, erstens die objektiv formale, zweitens die relative materiale und drittens die
innere materiale, die allein als Zweckmäßigkeit der Natur selbst vorgestellt werden kann.
Die objektiv formale ergibt sich aus der vielfachen Verwendbarkeit geometrischer Er-
kenntnisse, die für deren Erkenntnis selbst nicht leitend waren.78 So lassen sich durch das
Konstruktionsprinzip der Ellipse Planetenbahnen beschreiben, die für die antiken Ma-
72
Zur Unmöglichkeit, Beliebiges auf Natur zu projizieren, vgl. auch Kurt Bayertz, Über Begriff und
Problem der wissenschaftlichen Revolution, a.a.O., 24.
73
Daher stellt Reinhard Brandt fest, daß Kant die allgemeine Telelologie nicht „zu einer bloß heu-
ristischen Maxime“ (Immanuel Kant – Was bleibt?, a.a.O., 162) herabmindere.
74
Vgl. KdU, V 359.
75
KdU, V 359. So lautet auch das Resultat von Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 182.
76
KdU, V 379.
77
Vgl. KdU, V 378.
78
Vgl. KdU, V 362.
T: U O S 519
thematiker kein Gegenstand sein konnten, da sie keine Gegenstände äußerer Erfahrung
sind, sondern gegen die äußere Anschauung mathematisch konstruiert werden müssen;
theoretisch setzt dies zudem die Einsicht in die dezentrale und bewegte Situation der Er-
de voraus. Die theoretischen Mittel hierzu stehen aber systematisch vor Kopernikus und
Kepler, die mathematischen vor Newton nicht zur Verfügung.79 Daß nun die geometri-
schen Formen dennoch dazu taugen, Naturerscheinungen zu beschreiben, veranlaßt den
Schluß auf einen zweckmäßigen Zusammenhang zwischen ihnen und dem, worauf sie
anwendbar sind. Tatsächlich entsteht diese Vorstellung dadurch, daß sowohl die konstru-
ierte Ellipse als auch die konstruierte Planetenbahn unter den Formen der Anschauung
stehen und somit beide durch die menschlichen Erkenntnisbedingungen konstituiert sind.
Deshalb ist die geometrische Konstruktion der Ellipse zwar objektiv zweckmäßig für die
Darstellung von Planetenbahnen, aber diese Objektivität gründet in den Erkenntnisfor-
men des Subjekts. Es gilt, daß „ich also in die Figur, die ich einem Begriffe angemessen
zeichne, d. i. in meine eigene Vorstellungsart von dem, was mir äußerlich, es sei an
sich, was es wolle, gegeben wird, die Zweckmäßigkeit hineinbringe, nicht von diesem
über dieselbe empirisch belehrt werde“80 .
Die Vorstellung einer materialen Zweckmäßigkeit der Natur ergebe sich dagegen nur,
wenn die Erklärung einer Kausalbeziehung ebenso deren Umkehrung voraussetzt, indem
sie von der Annahme abhängt, daß die Wirkung selbst Grund der Ursache sei, daß die
als ursächlich auftretende Erscheinung nur in Absicht auf die Wirkung möglich war.
Dies führt zunächst auf die Vorstellung einer relativen Zweckordnung, der zufolge zum
Beispiel auf dem Boden deshalb Gras gedeihe, damit Viecher es fressen können, die
es nur deshalb fressen können, damit sie in den Dienst der Mensch gestellt würden.
Diese relative Zweckmäßigkeit ist immer nur im Verhältnis des zweckmäßigen Dinges
auf andere Dinge zu interpretieren und gilt daher nie an sich für das Ding selbst, sofern
es nicht als Artefakt eines Intellekts betrachtet wird. Zudem ist solche Zweckmäßigkeit
immer von Menschen konstruiert, die als Selbstzweck an deren Spitze rangieren.
Dieser oberste Zweck, von dem die Zweckreihe abhängt, zerstört sie aber zugleich,
weil seine Zwecke als willkürliche anzusehen sind, die nicht aus den natürlichen Zwe-
cken resultieren und darum gegen diese gewendet sind: „Denn seine Vernunft weiß den
Dingen eine Übereinstimmung mit seinen willkürlichen Einfällen, wozu er selbst nicht
einmal von der Natur prädestinirt war, zu geben.“81 Außerdem geht Kant davon aus,
daß das Prinzip der Verteilung der Menschen über die Erde ihre Verfeindung sei. Wür-
de nun die Möglichkeit des Überlebens von Menschen beispielsweise am Polarkreis als
Zweckmäßigkeit der Natur interpretiert, so koinzidierten in dieser Interpretation die te-
leologische Einheit der Natur und die geschichtliche Entzweiung der Menschen; diese
erschiene unmittelbar als Naturzweck, so daß der finale Zweck des Naturganzen „also
außer dem Begriffe der Natur“82 angenommen werden müßte, in dem die Beziehungen
79
Vgl. Renate Wahsner, Hegels spekulativer Geozentrismus, in: Zur Kritik der Hegelschen Naturphi-
losophie, a.a.O., 208-213. Vgl. auch Eduard Jan Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes,
Berlin 1983,Teil 4.
80
KdU, V 365.
81
KdU, V 368.
82
KdU, V 360.
520 O S
ohne solchen transzendentalen Zweck als zufällig erscheinen müssen. So würde in dem
Grund der relativen Teleologie, die nur unter der Voraussetzung sinnvoll ist, daß über-
haupt Menschen leben sollen, zugleich ein der menschlichen Gattung zuwiderlaufendes
Prinzip gesetzt.
Diese von Kant hier zurückgewiesene Teleologie wurde später zur Grundform seiner
Geschichtsphilosophie. Naturphilosophisch führt diese Konstruktion nicht weiter, weil
sie auf die Voraussetzung eines pantheistischen Demiurgen führt, die sich menschli-
cher Erkenntnis entzieht. In der Geschichtsphilosophie soll dagegen ein dem Gegen-
standsbereich der Naturerkenntnis prinzipiell entzogener Gegenstand, die menschliche
Geschichte, mit jenem kohärent gemacht werden.83 Die unsystematische Erscheinung
menschlicher Geschichte ist aber der systematischen Natureinheit nicht durch ein Prinzip
der Geschichte selbst zu integrieren, weil diese offenbar nur widersprüchliche Prinzi-
pien aufweist. Die zu konstruierenden Wirkzusammenhänge (nexus effectivus) ergeben
keinen einheitlichen Zusammenhang. Dieser soll durch einen dem Geschehen transzen-
denten Zweckzusammenhang (nexus finalis) ersetzt werden. Würde Geschichte durch
begründete Auswahl von Fakten als konstruierte Interpretation – im Sinne späterer her-
meneutischer Geschichtsvorstellungen84 – verständlich gemacht, so träte unvermeidlich
das Subjekt in den zu erklärenden Gegenstand ein und projizierte mit der Auswahl der
Fakten bereits den Untersuchungszweck in den Gegenstand. Selbst wenn die verwende-
ten Kriterien sich als vernünftig allgemeine bestimmen ließen, wäre damit die Trennung
vom Bereich der Naturerkenntnis vollzogen und deren System wäre stets nur ein parti-
kulares.85
83
Vgl. Idee, VIII, 17f.: „Da die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß instinctmäßig wie Thiere
und doch auch nicht wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane im Ganzen ver-
fahren: so scheint auch keine planmäßige Geschichte (wie etwa von den Bienen oder den Bibern)
von ihnen möglich zu sein. […]. Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei
Menschen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann,
er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge
entdecken könne; aus welcher von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine
Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei.“
84
Vgl. Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart 1986, 161: „Wissen-
schaftlich aber kann die individualisierende Darstellung nur genannt werden, wenn es allgemeine
Werte oder Kulturwerte sind, die sie leiten.“ und 163: „Wenn Werte es sind, welche die Aus-
wahl des historischen Stoffes und damit alle historische Begriffsbildung leiten, ist dann – so kann
und muß man fragen – die Willkür in den Geschichtswissenschaften jemals auszuschließen?“ –
Die schon bei Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundle-
gung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, GS 1, Göttingen 1990, grundgelegte
Dichotomie von Geistes- und Naturwissenschaften, mittels derer die Geisteswissenschaften dem
Positivismus opponieren wollten, damit aber zugleich die rationalen Bedingungen, Welt zu gestal-
ten, preisgaben, mündet in den Zustand, den Charles Percy Snow als „two cultures“ beschreibt.
Vgl. Helmut Kreuzer (Hg.), Die zwei Kulturen. Literarische und Naturwissenschaftliche Intelligenz.
C.P. Snows Thesen in der Diskussion, München 1987.
85
Auch deshalb sind Zweifel angebracht, ob „die Überführung der Zweckhaftigkeit der Natur im
Urteil der reflektierenden in die absolut gebotenen Zwecke der reinen praktischen Vernunft“ (Rein-
hard Brandt, Immanuel Kant – Was bleibt?, a.a.O., 172) gelungen sei.
T: U O S 521
Die dritte Form von Zweckmäßigkeit, die der Natur an sich immanente, muß berück-
sichtigen, daß die Vorstellung, etwas sei nur als Zweck möglich, seine alleinige Be-
stimmtheit durch Naturgesetze ausschließt; vielmehr muß es ein Moment des Zufälligen
aufweisen, das die auf notwendige Erkenntnis angelegte Vernunft dazu veranlaßt, eine
willensanaloge Ursache anzunehmen, die das Zufällige als zweckmäßig und somit not-
wendig erscheinen läßt. Soll durch diese transzendente Naturerklärung die immanente,
naturkausale, nicht aufgehoben werden, muß beides im Naturobjekt vermittelt werden:
„ein Ding existirt als Naturzweck, wenn es von sich selbst (obgleich in zwiefachem
Sinne) Ursache und Wirkung ist“86 . Unter diese Form faßt Kant erstens den Gattungs-
prozeß (Arterhaltung), in dem Gleichnamiges aus Gleichnamigem hervorgeht, zweitens
den Selbsterhaltungsprozeß (Assimilation), in dem das sich nährende Naturobjekt seine
heterogene Umgebung zweckmäßig umformt und so seine eigenen Existenzbedingungen
schafft, und drittens das Selbstverhältnis der Teile eines Organismus zum Ganzen. Das
Modell innerer Naturzwecke ist damit die belebte Natur in ihren verschiedenen reflexi-
ven Strukturen. Dieser Reflexivität wird der mechanische nexus effectivus, der immer nur
von der Wirkung zur Ursache verläuft, nicht gerecht. Der nexus finalis dagegen erlaubt
auch reziproke Verhältnisse, weil er nicht durch den Verstand sondern durch Vernunft
konstruiert ist, mithin Zwecke setzt, nicht bloß Kausalverhältnisse beschreibt. So kann
ein Haus die Ursache dafür sein, im Regen nicht naß zu werden; aber die Absicht, nicht
naß zu werden, kann ebenso – als Zweck – Ursache des Hauses gewesen sein.
Damit können im Naturzusammenhang Zwecke gesetzt werden, die über diesen Zu-
sammenhang hinausgehen; die menschliche Fähigkeit, Vorsorge zu betreiben, wird zum
Modell der teleologischen Naturinterpretation und legt so schon mehr in sie hinein als
die bloße Form von Zweckmäßigkeit, beziehungsweise ist diese Form als Vernunftbe-
griff immer schon über die Natur hinaus.87 Für Kants Beispiel gilt dies noch in einem
eminenten Sinn, denn dort ist der Zweck des Hausbaus nicht die Bewohnung, sondern
es sind die zu erwartenden Mieteinnahmen. Da diesen Einnahmen nicht bloß die Exis-
tenz eines Hauses, sondern auch soziale und rechtliche Bedingungen vorausgesetzt sind,
treten zugleich geschichtliche Bestimmungen in ein analoges Verhältnis zum Naturor-
ganismus.88 Dieser wird dadurch nicht bloß als Willensprodukt, sondern genauer als
86
KdU, V 370.
87
Teleologie betrachtet Kant als in der Erfahrung gegründet, weil sie vom menschlichen Produktions-
vermögen abgeleitet sei. Kant geht davon aus, daß eine „Grundkraft, durch die eine Organisation
gewirkt würde […] als eine nach Zwecken wirkende Ursache gedacht werden“ müsse; deren Mo-
dell liege im menschlichen Vermögen, Artefakte zu produzieren. Analog müsse in der Natur ein
„intelligentes Wesen“ gedacht werden, wenn dort überhaupt aus Ursachen heraus etwas erklärt
werden solle. Dagegen sei „der Begriff von dem Vermögen eines Wesens [d. h. eines Organis-
mus; M.St.] aus sich selbst zweckmäßig, aber ohne Zweck und Absicht, die in ihm oder seiner
Ursache lägen, zu wirken […] erdichtet und leer“ (Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 181).
Tatsächlich wäre dies der biologische Reflexionsbegriff des Organismus, der für Kant, dem solche
Begriffe sonst nicht fremd sind, nicht in Frage kommt, weil er den Organismus grundsätzlich mit
Zwecken in kausale Verbindung bringt und Zwecke eben nicht eine Funktion, sondern eine bewußt
und absichtlich eingerichtete Funktion bedeuten.
88
Das gilt auch dann, wenn dieses Beispiel auf Seneca, Epistulae Morales, zurückgeht, wie Reinhard
Brandt herausgefunden hat: Vgl. Von der ästhetischen und logischen Vorstellung der Zweckmäßig-
keit der Natur, a.a.O., 55.
522 O S
89
KdU, V 374.
90
Zum folgenden vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1031a ff.
91
KdU, V 373.
T: U O S 523
auf die Lebewesen beschränkt: Deren Teile seien Organe, indem sie durch die anderen
und um des Ganzen willen da seien. Indem sie außerdem einander hervorbrächten, seien
sie keine künstlichen – selbst von natürlichen Voraussetzungen abhängige – Werkzeu-
ge, sondern soger Organe der „Natur […]: und nur dann und darum wird ein solches
Product, als organisirtes und sich selbst organisirendes Wesen, ein Naturzweck genannt
werden können.“92 Indem Kant die Organe der Lebewesen als ‚Organe der Natur‘ be-
schreibt, weist er bereits auf einen Naturbegriff, der als Gesamtorganismus verstanden
wird. Dieser Naturbegriff wird explizit in der Formulierung, derzufolge Natur nicht bloß
ein Analogon der Kunst sei, weil sie nicht äußerlich organisiert werde, sondern sich
selbst organisiere: „Näher tritt man vielleicht dieser unerforschlichen Eigenschaft, wenn
man sie ein Analogon des Lebens nennt“93 . Zweifellos wird das Organismusmodell hier
nicht allein für die belebte Natur verwendet, die ein ‚Analogon des Lebens‘ zu nennen
Unfug wäre; vielmehr soll die Natur als ganze, analog ihrem belebten Teil, als Organis-
mus aufgefaßt werden können.
Die Gefahr, daß ein allgemeiner Biologismus als Wahrheit der Naturteleologie in ei-
ne Vorstellung vom Naturgeist umzuschlagen droht, hat Kant gesehen: Sollen sowohl
Hylozoismus als auch die Vorstellung einer ‚Seele der Natur‘ vermieden werden,94 so
kann der „Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalität, die
wir kennen“95 , zukommen. Eine Analogie bestehe weder zur mechanischen noch zur
künstlerischen Kausalität, weshalb der Begriff der Naturorganisation keine konstituti-
ve Funktion habe; gleichwohl habe er eine regulative für die reflektierende Urteilskraft,
und zwar aufgrund einer „entfernten Analogie unserer Kausalität nach Zwecken über-
haupt“96 . Nun kann eine Analogie nicht nahe oder ‚entfernt‘ sein, denn entweder ist das
Verhältnis der zu vergleichenden Bestimmungen ein analoges, streng genommen durch
einen Begriff (logos) bestimmtes, oder nicht. Kants vorsichtige Formulierung will ver-
meiden, daß der Natur hier Freiheit beigelegt werde. Was anstelle einer Analogie aber
bliebe, nämlich eine entfernte Ähnlichkeit, wäre ein zufälliges Verhältnis, das zur Natur-
forschung nichts beitrüge.
Die Analogisierung der als zweckvoll zu interpretierenden biologischen Organismen
mit der Kausalität menschlicher Freiheit weist aber erneut über den Erklärungszusam-
menhang der Organismen hinaus auf „ihren obersten Grund“97 . Über diesen nachzuden-
ken, gehört nach Kant nicht mehr zur Naturforschung, sondern befördere die praktische
Vernunft des Forschers und mache so mittelbar ein moralisches Interesse zum Grund der
teleologischen Naturauffassung, das unmittelbar deren Einführung in die Naturforschung
nicht begründen könnte: Den Grund der Teleologie geben allein „[o]rganisirte Wesen“,
weil diese, „wenn man sie auch für sich und ohne ein Verhältniß auf andere Dinge be-
trachtet, doch nur als Zwecke derselben möglich gedacht werden müssen, und die also
zuerst dem Begriffe eines Zwecks, der nicht ein praktischer, sondern Zweck der Natur
92
KdU, V 373f.
93
KdU, V 374.
94
Vgl. KdU, V §§ 72, 73.
95
KdU, V 375.
96
KdU, V 375.
97
KdU, V 375.
524 O S
verwurzelt. Den Zirkel der Begründung führt Kant auf die Haltlosigkeit der Urteilskraft
im Falle der Prinzipienvakanz zurück: „so wird die reflektierende Urteilskraft in solchen
Fällen ihr selbst zum Prinzip dienen müssen“105 .
Durch Partizipation an einer Idee bleibt Teleologie regulativ, „eine Maxime der Be-
urtheilung der innern Zweckmäßigkeit organisirter Wesen“106 . Mit dem so begründeten
Universalitätsanspruch von Teleologie verträgt sich ihre methodische Beschränkung auf
den jeweils zu untersuchenden Zusammenhang nicht: Wenn ein Objekt einmal als te-
leologisch organisiertes vorgestellt werde, so müsse jeder seiner Bestandteile als Organ
betrachtet werden, weil die partielle Zulassung mechanistischer Betrachtung den Orga-
nismus durchbrechen und so seinem Begriff nach insgesamt aufheben müßte. Ebenso
wie die Aussetzung des Kontinuitätsgrundsatzes der mechanistischen Naturforschung
(non datur saltus etc.) die Möglichkeit von Erfahrung ganz aufhöbe, so auch die Aus-
setzung des Organismusgrundsatzes die Möglichkeit der Erfahrung von Organismen.
Diese Begründung der Allgemeinheit von Teleologie aus einem Prinzip a priori und in
Analogie zur Bedingung der Einheit der Erfahrung erweitert den Geltungsbereich aber
noch einmal: Wenn Kant ausgehend von der Organisation des partikularen Gegenstandes
schreibt, es müsse um der Einheit der Idee des Naturproduktes willen „der Zweck der
Natur auf Alles, was in ihrem Producte liegt, erstreckt werden“107 , ist schon die Äqui-
vokation von bestimmten Produkten der Natur und natura naturata überhaupt gemacht,
die alsbald zusammengefaßt wird: „Alles in der Welt ist irgend wozu gut; nichts ist in
ihr umsonst; und man ist durch das Beispiel, das die Natur an ihren organischen Produc-
ten giebt, berechtigt, ja berufen, von ihr und ihren Gesetzen nichts, als was im Ganzen
zweckmäßig ist, zu erwarten.“108
Die teleologische Beurteilung des partikularen Lebewesens erzwingt die seiner Gat-
tung, die mit anderen Gattungen dann nur teleologisch ins Verhältnis gesetzt werden
kann, ebenso wie die der unbelebten Gegenstände, aus denen es existiert; ist ein Teil-
bereich der Natur durch Zwecke bestimmt, kann seine Grenze zu dem, das zu die-
sem Zweck in keinem Zusammenhang mehr stünde, nicht mehr systematisch gezogen
werden, die erkenntnistheoretische Begründung partikularer Naturzusammenhänge treibt
über sich hinaus auf einen universellen Begriff von ‚der Natur‘, in der die Kohärenz zur
Rationalität ihrer Beurteilung umfassend vorausgesetzt wird.109 In diesem Sinn wird die
Wirkung – Naturerkenntnis – zu ihrer eigenen Ursache und erweist sich somit selbst
als teleologisch. Die Natur erscheint nicht bloß als „das Naturganze als System“, son-
dern entsprechend den Wesen, die Zwecke in ihr verwirklichen, selbst als „System der
Zwecke“110 .
Für diese Erweiterung des Organismusbegriffs auf die Natur als ein ‚System der Zwe-
cke‘ führt Kant weiter kein Argument an. Der Übergang ergibt sich indes aus dem Na-
turbegriff. ‚Natur‘ wird einmal als Inbegriff der Gegenstände der Erfahrung verwendet.
105
KdU, V 385.
106
KdU, V 376. Vgl. § 74.
107
KdU, V 377.
108
KdU, V 379.
109
Vgl. KdU, V 398.
110
KdU, V 381.
526 O S
Hier verweist Kant auf die Kontinuitätsthese aus den Grundsätzen. Diese wird absicht-
lich hier beigebracht, um durch sie den Systembegriff der Natur zu bestimmen. Das heißt
aber umgekehrt für die Grundsätze, daß in der These der objektiven Kontinuität der Na-
tur als Bedingung der Möglichkeit ihrer Erkenntnis schon Teleologie angelegt ist. Schon
im Systemanspruch überhaupt liegt diese, sofern er die Korrespondenz von Erfahrung
und Gegenständen der Erfahrung, von Subjekt und Objekt, universal begründen will.
Um an der Einheit und Kontinuität der Natur festzuhalten, betrachtet Kant diese selbst
als Organismus, dessen Vermögen, zweckvoll zu agieren, unter der Voraussetzung eines
kollektiven Ganzen der Erfahrung auch für dieses Ganze gelten muß. Darüber sollen
nun auch Naturerkenntnis und Freiheit zusammengebracht werden, weil die Natur als
‚System der Zwecke‘ zugleich die anthropomorphe äußere Bedingung für die Möglich-
keit eines ‚Reichs der Zwecke‘ darstelle. Tatsächlich gilt aber auch hier, daß eben soviel
Vernunft in der Welt ist, wie die Menschen in ihr verwirklichen. Die Natur ist dann
zweckvoll, und nur dann, wenn Menschen in ihrer mechanischen Naturbearbeitung –
in ihrem mechanischen Erschließen des ihnen Äußerlichen als Natur – zugleich ratio-
nale Zwecke in ihr setzen. Es ist dagegen ebenso möglich, daß die Erschließung von
Natur durch ihre Bearbeitung vernunftwidrigen Zwecken folgt; dann bleibt das Ver-
hältnis der Menschen zur Natur und zueinander ein mechanisches, naturkausales. Die
Spuren von Vernunftgebrauch, die darin aufblitzen, erscheinen als das, was sie sind: Ein
Wirrsal einerseits von Protesten gegen die Erniedrigung zu Naturwesen und andererseits
der permanenten Unterdrückung dieser Proteste durch die, die als, wie immer technisch
armierte, Naturwesen stärker sind als die auf ihre Vernünftigkeit sich berufenden. Die
Rationalisierung dieses Verhältnisses verdankt sich nur der kollektiven Organisation des
Vernunftfeindlichen, die wegen ihrer politischen Gestalt als rationales Produkt interpre-
tiert wird. Tatsächlich verbirgt instrumentelle Rationalität nur sehr mühsam, daß sie bloß
formal rationelle Bündelung von Naturkräften ist, dem Gehalt nach aber über die Natür-
lichkeit dieser Kräfte nicht hinausgeht. Es gibt keine Natur, die a priori die beruhigende
Grundlage der Realisierung vernünftiger Zwecke wäre. Vernünftige Zwecke können nur
aus der Beunruhigung über Unvernunft hervorgehen und die an sich – formell – erschlos-
sene Natur den Menschen auch menschlich erschließen.
Für Kants Teleologiebegriff verschlägt es wenig, wenn er es unausgemacht läßt, „ob
irgend etwas, das wir nach diesem Princip beurtheilen, absichtlich Zweck der Natur
sei“111 , denn ausgemacht bleibt es, daß dem – wenn auch womöglich unabsichtlich –
so sei.112 Führt die Regulativität des Beurteilungsprinzips für Teilzusammenhänge auf
die universelle Vorstellung des Gesamtzusammenhangs, so sind wissenschaftliche Be-
urteilung und kosmologische Teleologie nicht mehr systematisch unterscheidbar. Dann
erscheint nicht bloß das schon zitierte Ungeziefer als Antrieb zur Reinlichkeit, sondern
es gelten auch „die Mosquitomücken und andere stechende Insecten, welche die Wüs-
ten von Amerika den Wilden so beschwerlich machen, […] [als] Stacheln der Thätigkeit
für diese angehende Menschen, um die Moräste abzuleiten und die dichten den Luft-
111
KdU, V 379.
112
Vgl. KdU, V 382. Die „Barrikade […] mit der Kant uns den Weg zu jeder Art von objektiver
Teleologie versperrt hat“ (Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a.a.O., 271), unterliegt
– was Habermas entgeht – zugleich selbst der Teleologie.
T: U O S 527
zug abhaltenden Wälder licht zu machen und dadurch, imgleichen durch den Anbau des
Bodens ihren Aufenthalt zugleich gesünder zu machen.“113 Dies gilt, cum grano salis,
auch für die Syphilis: „[E]s handelt sich hier um einen absolut notwendigen Bestandteil,
um etwas schlechthin Unentbehrliches für die beste aller Welten: denn hätte sich Co-
lumbus nicht auf einer der Inseln Amerikas diese Krankheit zugezogen, die die Quelle
der Zeugung vergiftet, ja sogar häufig die Zeugungsfähigkeit vernichtet und dadurch of-
fensichtlich dem großen Endzweck der Natur entgegenwirkt, so würde es bei uns weder
Schokolade noch Conchenille geben.“114
Kant hält beharrlich fest an dem schon damals nachweislich als Unsinn durchschau-
ten Unsinn, daß die Diversität der Arten nur vom teleologischen „höheren Standpunkt“
aus zu beurteilen sei, indem etwa die Hunderassen im Urhund angelegt gewesen sein
mußten, um diesen, der „bloß als Mittel einen Wert haben kann […] zu verschiede-
nem Gebrauche“ zu spezifizieren, wogegen „die größere Einhelligkeit des Zwecks in der
Menschengattung so große Verschiedenheit anartender Naturformen nicht erheischte“115 .
Noch jedes geschichtliche Erklärungsmoment wird durch die teleologische Beurteilungs-
weise, selbst wenn sie nicht mehr als dies sein sollte, abgehalten. Alles erscheint an
seinem Platz: Arbeitsverhalten sei angeboren, weil auch die „Neger oder Indier“, die
in unwirtliche Gefilde verschlagen werden, „niemals einen zu ansässigen Landanbauern
oder Handarbeitern tauglichen Schlag abgeben wollen“116 , sondern ihre Freiheit allen-
falls gebrauchen, um „Höker, elende Gastwirthe, Livereibediente, auf den Fischzug oder
Jagd Ausgehende, mit einem Wort Umtreiber zu werden“. „Sollte man hieraus nicht
schließen: daß es, außer dem Vermögen zu arbeiten, noch einen unmittelbaren, von aller
Anlockung unabhängigen Trieb zur Thätigkeit (vornehmlich der anhaltenden, die man
Emsigkeit nennt) gebe, der mit gewissen Naturanlagen besonders verwebt ist, und daß
Indier sowohl als Neger nicht mehr von diesem Antriebe in andere Klimaten mitbringen
und vererben, als sie für ihre Erhaltung in ihrem alten Mutterlande bedurften und von
der Natur empfangen hatten, und daß diese innere Anlage ebensowenig erlösche, als die
äußerlich sichtbare.“117 Zum Abschluß des Sockels sei noch erwähnt, daß „die Einwoh-
ner von Amerika“ nicht allein zu faul sondern auch zu schwach sind und daher „noch tief
unter dem Neger selbst steh[en], welcher doch die niedrigste unter allen übrigen Stufen
einnimmt“.
Diese, freilich bloß aufs Urteilen abgesehene, Ordnung der Gattung geschieht indes
aus der Absicht, moralischen Fortschritt denkbar zu machen: Ein derartiges Ziel bleibt
für Kant ohne teleologische Begriffe sinnlos, weil „die gemeine seichte Vorstellungsart,
alle Unterschiede unserer Gattung auf gleichen Fuß, nämlich den des Zufalls, zu nehmen,
und sie noch immer entstehen und vergehen zu lassen, wie äußere Umstände es fügen,
alle Untersuchungen dieser Art für überflüssig und hiemit selbst die Beharrlichkeit der
Species in derselben zweckmäßigen Form für nichtig erklärt.“118 Wenn die Menschheit
113
KdU, V 379.
114
Voltaire, Candide oder der Optimismus, Frankfurt am Main 1972, 25.
115
Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 167f.
116
Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 174.
117
Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 174 Anm.
118
Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 168.
528 O S
biologisch instabil wäre, so könnte sie nicht das Subjekt eines unendlichen moralischen
Progresses sein. Die pragmatische Fassung des Moralbegriffs als Progreß der Annähe-
rung, die Kant schon in der praktischen Philosophie entwickelt hatte, erzwingt hier die
Stabilität der ‚zweckmäßigen Form‘ der Gattung, deren ‚Zweckmäßigkeit‘ doch allein in
Relation zu dieser pragmatischen Moralvorstellung besteht. –
Kants Unterschied von Wissenschaft und Kosmologie beruht auf einer Unterschei-
dung aus dem common sense: Gerade indem der Natur der Redeweise nach eine Absicht
unterstellt wird, werde diese geleugnet: „weil hierüber kein Mißverstand Statt finden
kann, indem von selbst schon keiner einem leblosen Stoffe Absicht in eigentlicher
Bedeutung des Worts beilegen wird“119 . Wird dieser Selbstverständlichkeit gemäß
kein „besondere[r] Grund der Kausalität“ eingeführt, sondern bloß „eine andere Art
der Nachforschung“120 , so gibt es keinen systematischen Grund der Übereinstimmung
von Gegenstand und Methode. Deshalb hat diese Methode keine Grenze, weder an
bestimmten Gegenständen, noch letztlich an ihrer eigenen Regulativität. So steuert
sie, gegen ihre selbstverständliche Beschränkung auf Zwecke der Natur, auf ein
theologisches telos zu, so „daß also die Teleologie keine Vollendung des Aufschlusses
für ihre Nachforschungen, als in einer Theologie findet“121 .
In der Dialektik der teleologischen Urteilskraft verfolgt Kant die in sich gegenläufi-
ge Intention, die der Annahme der Teleologie folgenden aporetischen Konsequenzen zu
mildern, indem die Annahme unter die Bedingung der Regulativität gestellt wird, ohne
doch von der Notwendigkeit jener Annahme für die menschliche Vernunft etwas nach-
zulassen.
Dabei ergibt sich eine Dialektik für die reflektierende Urteilskraft, die Erscheinungen
unter Gesetze subsumiert, die noch nicht sicher bestimmt sind. Daher sind die Prinzipi-
en, von denen sie ausgeht, bloß Subsumtionsmaximen, die im Resultat auf Erkenntnis-
prinzipien, auf besondere Naturgesetze – im Unterschied zu den kategorial bestimmten
allgemeinen – führen sollen. Die Einheit der Natur nach empirischen Gesetzen ist da-
bei einstweilen der einzige Maßstab der reflektierenden Urteilskraft;122 wie diese sie
erzielt, ist nicht konstitutiv zu begründen, sondern folgt auch der Besonderheit der Ob-
jekte, deren Beobachtung mit den Subsumtionsmaximen offenbar in eine wechselseitige
Bestimmung eintritt. Die allgemeinen Gesetze der bestimmenden Urteilskraft erweisen
sich als untauglich zur Bestimmung besonderer Phänomene, da „die Ableitung der be-
sonderen Gesetze aus den allgemeinen in Ansehung dessen, was jene Zufälliges in sich
enthalten, a priori durch Bestimmung des Begriffs vom Objecte unmöglich ist“123 . Des-
halb tritt die Vernunft ein und mit ihr der architektonische Anspruch, der fordert, auch
das Besondere, das nicht durch Verstandeserkenntnis zu erfassen ist, teleologisch zu
interpretieren, um nicht die Möglichkeit der Einheit der Erfahrung aufzuheben. „[S]o
wird der Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur in ihren Producten ein für die mensch-
liche Urtheilskraft in Ansehung der Natur nothwendiger, aber nicht die Bestimmung der
119
KdU, V 383. Vgl. 397.
120
KdU, V 383.
121
KdU, V 399. Vgl. auch die folgenden Seiten pass.
122
Vgl. KdU, V 386.
123
KdU, V 404.
T: U O S 529
Objecte selbst angehender Begriff sein, also ein subjectives Princip der Vernunft für
die Urtheilskraft“124 . Damit tritt dem universalen Erkenntnisprinzip, alles sei nach me-
chanischen Gesetzen zu beurteilen, das partikulare entgegen, manches sei teleologisch
zu beurteilen. Wird das teleologische Beurteilungsprinzip nun als regulatives Prinzip
der reflektierenden Urteilskraft verwendet, so ergibt sich nach Kant kein Widerspruch,
weil nicht beide Prinzipien im Objekt verbunden gedacht werden; vielmehr konstituie-
re das mechanistische die Erscheinungen objektiv, das teleologische stelle dagegen aber
nur eine subjektive Regel ihrer Interpretation dar. Ein Widerspruch ergebe sich nur aus
eine überschwenglichen Verwechslung der reflektierenden mit der bestimmenden Ur-
teilskraft, indem dieser die Teleologie als konstitutives Prinzip zugeordnet würde. Damit
aber sei zugleich der Schlüssel zur Auflösung der Antinomie gegeben.
Der problematische Status der Teleologie soll verhindern, daß diese die Naturfor-
schung durch theologische Ersatzvorstellungen verkürze; im Gegenteil erweitert dieser
Status die Naturforschung zu ihrer ganzen unbändigen Ausbreitung, die ihr heute zu-
kommt: „[I]ch soll jederzeit über dieselben nach dem Princip des bloßen Mechanisms
der Natur reflectiren und mithin diesem, soweit ich kann, nachforschen, weil, ohne ihn
zum Grunde der Nachforschung zu legen, es gar keine eigentliche Naturerkenntniß geben
kann. Dieses hindert nun die zweite Maxime bei gelegentlicher Veranlassung nicht, näm-
lich bei einigen Naturformen (und auf deren Veranlassung sogar der ganzen Natur), nach
einem Princip zu spüren und über sie zu reflectiren, welches von der Erklärung nach
dem Mechanism der Natur ganz verschieden ist“125 . Die Gewißheit der letztlich teleo-
logisch abgeschlossenen Einheit des Naturganzen erlaubt es, immer weiter mechanische
Naturzusammenhänge aufzubrechen, ohne in diesem Verfahren eine Grenze befürchten
zu müssen, denn die Teleologie ist nicht Gegenstand möglicher Erfahrung und bietet so
die intelligible Absicherung von Naturforschung, ohne in deren methodischen Bereich
einzugreifen. Die Erklärung von Naturprozessen als teleologisch bleibt immer intelligi-
bel, erstens weil der Zweckzusammenhang nicht experimentabel ist, zweitens weil er aus
seinem Begriff heraus selbst auf Universalität ausgeht. Darin aber liegt ein Problem: Es
steht dem Mechanismus mit der Teleologie nicht nur eine partikulare Beobachtungsma-
xime der Urteilskraft entgegen, sondern eine Maxime der reinen Vernunft, die sich – von
bestimmter Erfahrung inspiriert – sogar der ganzen Natur bemächtigt.
Kant zufolge soll die Forschung nach mechanischem Prinzip soweit wie möglich ge-
trieben werden. Ein dabei entdecktes nicht-mechanisches Prinzip könne dann aber ohne
Widerspruch auf die gesamte Natur erweitert werden. Welchen Geltungsgrund haben
aber dann die vorhergegangenen Resultate der mechanisch orientierten Forschung und
mit ihnen auch das neue Prinzip, dessen Entdeckung jene doch als gültig zugrundelagen?
Hegelisch wäre allenfalls zu sagen, daß das mechanische Prinzip sich selbst aufhöbe.
Verträglich, wie Kant es formuliert, sind beide Prinzipien aber nur, wenn der Gegen-
stand nicht das ist, als was er erkannt wird. Dann wäre es aber gleichgültig, wie er
beurteilt wird. Tatsächlich läßt sich aber nicht gleich gültig jedes Prinzip auf die Natur
projizieren; Forschung unter falschen Voraussetzungen scheitert am Material ihres Ge-
genstandes. Nach Kant könnten nun das mechanische und das teleologische Prinzip in
124
KdU, V 404.
125
KdU, V 387f.
530 O S
einem verborgenen Oberprinzip zusammenhängen, das lediglich für uns nicht erkennbar
wäre. Denkbar ist dies für isolierte Naturzusammenhänge, eben für „gewisse Formen in
der Natur“126 : Ein Organ kann sowohl biochemisch untersucht als auch im Zusammen-
hang seines partikularen Organismus teleologisch interpretiert werden. Aber dies erlaubt
keinen Schluß auf die Natur als Ganze, denn diese ist weder mechanisch noch teleolo-
gisch: Sie ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung.
Die teleologische Betrachtungsweise entsteht aus der Betrachtung von Naturprozes-
sen, die über ihre mechanischen Eigenschaften mit anderen Naturprozessen in einem
Zusammenhang stehen, der selbst nicht nach mechanischen Regeln beschreibbar ist.127
Ein Organ produziert einen Stoff, der als Ausgangsstoff für ein anderes Organ dient,
das ohne diesen nicht arbeiten könnte. Kant erweitert nun diese Betrachtung organischer
Zusammenhänge auf die gesamte Natur. Dadurch entsteht eine teleologische Naturvor-
stellung, die auch durch den Titel der Regulativität nicht mehr aufs Subjekt zu beschrän-
ken ist; vielmehr beschränkt sie das Subjekt, das sich selbst als zweckmäßiges Element
des universalen Organismus interpretieren muß, „zu de[m] wir selbst mitgehören“128 ,
anstatt daß es partikulare Organismen unter dem Aspekt der Zweckmäßigkeit untersuch-
te. So erweitert Kant zunächst die Vorstellung formaler Zweckmäßigkeit, die durch die
subjektiven Erkenntnisbedingungen begründet wird – so wie geometrische Formen als
zweckmäßig erscheinen, weil sie im Raum wahrgenommen werden –, zur materialen
Zweckmäßigkeit in den Naturdingen selbst.129 Diese sei nötig, um Naturprozesse er-
klärbar zu machen, die nicht den konstitutiven Formen des Verstandes subsumierbar
sind, sondern scheinbar nach Vernunftbegriffen angeordnet sind, also über ein mechani-
sches Ursache-Wirkungsverhältnis hinausgehen. Dieser Begriff der Zweckmäßigkeit ist
zugleich so abgefaßt, daß er nicht als relative Zweckmäßigkeit gedacht werden kann, da
diese stets die Notwendigkeit des Endzwecks, der Menschen, unterstellte, die für uns
kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist. Die materiale Zweckmäßigkeit wird daher als
innere Zweckmäßigkeit, Reflexivität des Naturprozesses, bestimmt, obwohl diese auch
kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist: „Denn da wir die Zwecke in der Natur als
absichtliche eigentlich nicht beobachten, sondern nur in der Reflexion über ihre Pro-
126
KdU, V 388.
127
Vgl. KdU, V 400, 408f., 413f. Vgl. Dieter Henrich, Ethik der Autonomie, a.a.O., 12: In organischen
Prozessen „geschieht faktisch Zwecktätigkeit“.
128
KdU, V 408.
129
Vgl. KdU, V 364f. Damit wird aber auch der erkenntnistheoretische Status der Teleologie bei
Kant deutlich: Sie ist Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Naturerkenntnis, nicht aber
„eine Elementarbedingung menschlichen Erlebens“ (so Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf
zum ‚Ewigen Frieden‘, a.a.O., 114). Sollte sie eine solche Bedingung sein, könnte sie durch Re-
flexion aufgehoben oder bestätigt werden. Für Kant ergibt sie sich erst aus der Reflexion auf
Naturbeobachtung, um dann freilich als a priori gesetzt zu werden. Wenn man dieses Ergebnis
erkenntnistheoretischer Reflexion aber zur anthropologischen Elementarbedingung erhebt, wird
Teleologie zur Bedingung erfolgreichen Handelns überhaupt (vgl. a.a.O.) und zur Orientierung
von Politik, die an der Natur – nicht an vernünftigen Zwecken – ihre Grenze habe. Ließe sich
auch das Leugnen von Teleologie nicht widerspruchsfrei ausdrücken, so wäre dies im Bereich der
Semantik, wenn man es so nennen mag, ein „Suizid“ (a.a.O.), aber im Bereich des spekulativen
Denkens nichts Außergewöhnliches; dafür wäre die voluntative Selbstaufgabe vermieden, was ja
auch schon etwas ist.
T: U O S 531
ducte diesen Begriff als einen Leitfaden der Urtheilskraft hinzu denken: so sind sie uns
nicht durch das Object gegeben.“130 Aus Begriffen ist es, wie Kant weiter ausführt, erst
recht nicht zu begründen. Obwohl die Teleologie als subjektiv – regulativ – vorgestellt
wird, erwägt Kant nicht, es bei einer formalen Analogie, über deren Grund und Herkunft
nichts zu sagen wäre, zu belassen.
Die Vorstellung der Materialität schon erzwingt nun auch die Vorstellung der absichts-
vollen Kreation. Diese aber tritt beim partikularen Naturprozeß in Widerspruch zu der
inneren Zweckmäßigkeit, die sie begründen soll: „[W]ie kann ich Dinge, die für Produc-
te göttlicher Kunst bestimmt angegeben werden, noch unter Producte der Natur zählen,
deren Unfähigkeit, dergleichen nach ihren Gesetzen hervorzubringen, eben die Beru-
fung auf eine von ihr unterschiedene Ursache nothwendig machte?“131 Beides, objektive
innere Zweckmäßigkeit des Naturprozesses und absichtsvolle Kreation sind nur verein-
bar unter der Vorstellung der absichtsvollen Kreation der inneren Zweckmäßigkeit des
Weltganzen.132 Zwar versucht Kant, auch diesen Begriff als regulative Maxime der Ur-
teilskraft zu fassen, „aber der Übergang vom partikularen Naturzweck zum universalen
weist der Sache nach über diese Beschränkung hinaus: „Wir haben nämlich unentbehr-
lich nöthig, der Natur den Begriff einer Absicht unterzulegen, wenn wir ihr auch nur
in ihren organisirten Producten durch fortgesetzte Beobachtung nachforschen wollen;
und dieser Begriff ist also schon für den Erfahrungsgebrauch unserer Vernunft eine
schlechterdings nothwendige Maxime.“133 In den Übergänge scheinen Begründungen
formuliert zu sein: wenngleich ‚auch nur‘ die organische Natur Zwecke annehmen ließe,
sei doch ‚der Natur‘ dies zu unterlegen, und: deshalb sei ‚also schon‘ die Maxime des
Naturzwecks für den Erfahrungsgebrauch überhaupt vorausgesetzt. Aber diese Übergän-
ge sind tautologisch; sie führen sonst kein Argument an. Erklärlich werden sie allein aus
dem Widerspruch des partikularen Naturzwecks zum Naturganzen. Grund dieses Wider-
spruchs ist das Festhalten an einem positiven Begriff des Naturganzen, den es einerseits,
als kollektive Einheit des Erfahrungsganzen, nicht geben kann, aber ohne den anderer-
seits das philosophische System nicht auskommt. Daher schwankt Kant ständig zwischen
Überschwenglichkeit und Beschränkung des Vernunftgebrauchs.134 Mit der absichtsvol-
len Kreation des Weltganzen geht nun die Teleologie in Theologie über: „Daher machen
auch die Naturdinge, welche wir nur als Zwecke möglich finden, den vornehmsten Be-
weis für die Zufälligkeit des Weltganzen aus und sind der einzige für den gemeinen
Verstand eben sowohl als den Philosophen geltende Beweisgrund der Abhängigkeit und
130
KdU, V 399.
131
KdU, V 397.
132
Vgl. KdU, V 398.
133
KdU, V 398.
134
Dem entspricht ein unbestimmtes Verhältnis von mechanischer und teleologischer Naturerklärung.
Es ist keineswegs klar, daß „die teleologische Erklärungsart nur dann ins Spiel gebracht wird, wo
die bloß mechanistische unzulänglich erscheint“ (Peter McLaughlin, Kants Kritik der teleologi-
schen Urteilskraft, Bonn 1989, 160). – So auch Konrad Marc-Wogau, der ein unklares Verhältnis
von Mechanismus und Teleologie bei Kant diagnostiziert: Die Bedeutung der mechanischen und
der teleologischen Verknüpfung, in: Jens Kulenkampff (Hg.), Materialien zu Kants ‚Kritik der Ur-
teilskraft‘, Frankfurt am Main 1974, 336; es handelt sich um einen Auszug aus der Schrift Vier
Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft, Uppsala/Leipzig 1938.
532 O S
des Ursprungs desselben von einem außer der Welt existirenden und zwar (um jener
zweckmäßigen Form willen) verständigen Wesen: daß also die Teleologie keine Vollen-
dung des Aufschlusses für ihre Nachforschungen, als in einer Theologie findet.“135
Kant schließt von der Zufälligkeit im besonderen Objekt auf die allgemeine Not-
wendigkeit eines zweckmäßigen Zusammenhangs.136 Das Zufällige stellt nur dann keine
Lücke in der Naturkausalität dar, wenn es in einen zweckmäßigen Zusammenhang ge-
stellt wird. Kants erkenntnistheoretisches Ziel dieses Vorgehens ist der Totalitätsbegriff
als Systemgrundlage nach dem Muster des physikoteleologischen Gottesbeweises; für
die Betrachtung isolierter Naturprozesse entsteht dieses Problem unmittelbar nicht.
Kants Schluß von der Zufälligkeit des Besonderen auf die Notwendigkeit des all-
gemeinen Zusammenhangs durch einen transzendental verstndenen Willensakt Gottes
ist ein Erbe des transzendenten göttlichen Willens in der Tradition nominalistischer
Ontologiekritik. Kants Überzeugung, „daß im Erkenntniß durch denselben durch das
Allgemeine das Besondere nicht bestimmt wird, und dieses also von jenem allein nicht
abgeleitet werden kann“137 , beruht auf Ockhams These, alles Allgemeine sei bloß Kon-
struktion des menschlichen Erkenntnisvermögens, objektiv sei allein das Besondere.
Wenn dies nun durch den begrifflichen, diskursiven Verstand nicht direkt bestimmbar
ist, „gleichwohl aber dieses Besondere in der Mannigfaltigkeit der Natur zum Allge-
meinen (durch Begriffe und Gesetze) zusammenstimmen soll, um darunter subsumirt
werden zu können“138 , dann bedarf es einer weiteren Verstandesfunktion. Für Ockham
erfaßt der Verstand das Besondere intuitiv, um es nach logischen Regeln dem Allgemei-
nen zu subsumieren. Dies ist „unter solchen Umständen sehr zufällig“139 . Der Begriff
der Intuition gelingt bei Ockham unter anderem aufgrund der Voraussetzung der potes-
tas dei ordinata.140 Zwar entzieht sich Gottes Ratschluß unserer Einsicht, so daß wir
nicht grundsätzlich wissen, ob die willkürlich geschaffene Weltordnung dauerhaft sta-
bil bleibe; insofern Gott aber auch in seiner Willkür ans Widerspruchsgesetz gebunden
bleibt, ist anzunehmen, daß die Welt unserem Erkenntnisvermögen angemessen bleibt,
da Gott die von ihm einmal gewollte Ordnung – hebt er sie denn nicht zur Gänze auf –
wenigsten widerspruchsfrei erhalten wird, mit Ausnahme eventueller Wunder, die aber,
da sie nicht aus Laune gewirkt werden, prinzipiell auch einer teleologischen Interpreta-
tion zugänglich sind.
Für Kant erklären sich sowohl die Vorstellung eines transzendenten Willkürsubjekts
als auch die Vorstellung der Stabilität seiner Willkür aus der Besonderheit der mensch-
lichen Erkenntnisvermögen, die auf die Idee der zweckmäßigen Natur geführt hat. Diese
allgemeine Idee ist für Menschen aber nicht notwendig mit der Auffassung des Beson-
deren zu verbinden, da dies das Allgemeine nicht schlechthin repräsentiert. Die Subsum-
tion scheitert an der Trennung des Vielfältigen Sinnlichen vom einfachen Allgemeinen.
Ockhams intuitive Erkenntnis kann Kant den Menschen eben deshalb aber nicht beile-
135
KdU, V 398f. Vgl. V 400, wo die verständige Ursache als Gott bezeichnet wird.
136
Vgl. KdU, V 360.
137
KdU, V 406.
138
KdU, V 406f.
139
KdU, V 407.
140
Vgl. Günther Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, a.a.O., 329-349.
T: U O S 533
gen: Aufs Besondere gehen die Sinne, die kein Vermögen des Allgemeinen haben, aufs
Allgemeine dagegen gehen Begriffe, die zudem analytisch-allgemein, abstrakt, sind. Ein
teleologischer Zusammenhang ist weder sinnlich noch durch den Verstand darstellbar, er
bleibt eine Idee. Um deren Verwendung zum Erkenntnisprozeß überhaupt zu rechtferti-
gen, verknüpft Kant die Idee unmittelbar selbst mit Intuition: „Nun können wir uns aber
auch einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige discursiv, sondern intui-
tiv ist, vom Synthetisch- Allgemeinen (der Anschauung eines Ganzen als eines solchen)
zum Besondern geht, d. i. vom Ganzen zu den Theilen; der also und dessen Vorstellung
des Ganzen die Zufälligkeit der Verbindung der Theile nicht in sich enthält“141 .
Dieser intuitive Verstand ist funktional nichts Anderes als die intellektuelle Anschau-
ung Gottes, der als zeitloser praevidentia das All gegenwärtig ist.142 Diese intellektuelle
Anschauung, der Kant hier, in Legitimationsabsicht auf die transzendentale Intuition,
eine analoge Funktion in der Kritik der reinen Vernunft zuweist,143 war dort in Wahr-
heit funktionslos. Sie diente allein dem Nachweis der Beschränktheit des menschlichen
Verstandes. Hier jedoch wird sie zur Überwindung dieser Schranken herangezogen, in-
dem sie die Hintertür darstellt, durch die die kollektive Einheit des Erfahrungsganzen,
wenngleich bloß regulativ, doch noch explizit eingeführt wird: „Nach der Beschaffen-
heit unseres Verstandes ist hingegen ein reales Ganze der Natur nur als Wirkung der
concurrirenden bewegenden Kräfte der Theile anzusehen. Wollen wir uns also nicht die
Möglichkeit des Ganzen als von den Theilen, wie es unserm discursiven Verstande ge-
mäß ist, sondern nach Maßgabe des intuitiven (urbildlichen) die Möglichkeit der Theile
(ihrer Beschaffenheit und Verbindung nach) als vom Ganzen abhängend vorstellen: so
kann dieses nach eben derselben Eigenthümlichkeit unseres Verstandes nicht so gesche-
hen, daß das Ganze den Grund der Möglichkeit der Verknüpfung der Theile (welches in
der discursiven Erkenntnißart Widerspruch sein würde), sondern nur daß die Vorstellung
eines Ganzen den Grund der Möglichkeit der Form desselben und der dazu gehörigen
Verknüpfung der Theile enthalte.“144 Die Frage ist hier nicht mehr die nach den Be-
dingungen der Möglichkeit realer, partikularer Naturerkenntnis, sondern die nach deren
Verankerung im Naturganzen. Die subjektive Gültigkeit von dessen Vorstellung ist schon
mit deren Widerspruchsfreiheit gegeben.
Der Intuitionsbegriff Ockhams, der den Universalienrealismus überwinden sollte,
kehrt als Universalintuition zurück, um über die Vorstellung der universalen Welt-
ordnung die nominalistische Trennung von Verstand und Sinnlichkeit wieder zu
vermitteln. Daß es Naturprozesse gibt, die sich dieser Vermittlung entziehen, fällt dabei
heraus; indes bleibt es doch denkbar durch den Chorismos von intellectus archetypus
und intellectus ectypus,145 obwohl beide eng darin verknüpft sind, daß dieser jenen
annehmen muß, um selbst möglich zu sein, um nicht ein Intellekt zu sein, der nichts
141
KdU, V 407.
142
Thomas von Aquin hatte vorgeschlagen, statt von providentia – Vorsehung – besser von praeviden-
tia – Vor-sich-Sehung – zu sprechen, um verendlichende temporale Konnotationen zu vermeiden.
Vgl. Über die Wahrheit, a.a.O., 2, 12c.
143
Vgl. KdU, V 405.
144
KdU, V 407f.
145
Vgl. KdU V 408.
534 O S
versteht: „[S]chlechterdings kann keine menschliche Vernunft (auch keine endliche, die
der Qualität nach der unsrigen ähnlich wäre, sie aber dem Grade nach noch so sehr
überstiege) die Erzeugung auch nur eines Gräschens aus bloß mechanischen Ursachen
zu verstehen hoffen“146 . Hierbei ist es schon nicht mehr das Ziel, isolierte Naturprozesse
gesetzmäßig zu erklären und hierfür Zweckanalogien einzusetzen, sondern es wird zum
Ziel, die Zweckmäßigkeit selbst zu erklären: „so ist es uns schlechterdings unmöglich,
aus der Natur selbst hergenommene Erklärungsgründe für Zweckverbindungen zu
schöpfen“; nur unter der Voraussetzung aber, daß solche Erklärungsgründe überhaupt
angestrebt werden, ist es „nach der Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnißver-
mögens nothwendig, den obersten Grund dazu in einem ursprünglichen Verstande als
Weltursache zu suchen“147 . Der universale Naturzusammenhang wird gerade durch
die Bedingung seine Unerkennbarkeit hergestellt, und dadurch wird er umgekehrt
zur Bedingung von Naturerkenntnis überhaupt. – Das subjektive Bewußtsein soll im
Grund seiner eigenen Möglichkeit sich als absolutes von sich selbst als empirischem
abgrenzen. Kants Reflexion auf den absoluten Grund des Naturganzen ist der Schritt
von der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Naturwissenschaft zur
Kosmologie.
Die Vereinigung des mechanistischen Prinzips mit dem teleologischen in einem
„gemeinschaftliche[n] Princip […] [ist] das Übersinnliche, welches wir der Natur als
Phänomen unterlegen müssen“148 , das Ding an sich des Naturganzen. Nur in Absicht
auf dieses ergibt sich das Vereinigungsproblem überhaupt,149 denn die partikularen
Naturzusammenhänge, die durch Physik oder Chemie untersucht werden, sind andere
als die, die durch die Biologie untersucht werden, allenfalls werden biochemische oder
biophysikalische oder physikochemische Naturprozesse zum Gegenstand der jeweiligen
Grenzwissenschaften, die sie wieder ihrerseits nach besonderen Kriterien isolieren. Kant
146
KdU, V 409.
147
KdU, V 410.
148
KdU, V 412. Jens Kulenkampff zufolge besitzt die Kritik der teleologischen Urteilskraft „nachdem
es der modernen Wissenschaftstheorie gelungen ist, den Begriff der teleologischen Erklärung so
zu formulieren, daß der Schein eines unaufhebbaren Gegensatzes zu dem der kausalen Erklärung
verschwindet, vorwiegend historische, kaum noch sachliche Bedeutung“ (Materialien zu Kants
‚Kritik der Urteilskraft‘, a.a.O., 8). Das stimmte indes nur, falls es sich bei Kants Problem um ein
reines Formulierungsproblem handelte.
149
Auf diesen Punkt weist auch Peter Rohs hin: Transzendentaler Idealismus und Naturteleologie in
Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, in: Reinhard Hiltscher/Stefan Klingner/David Süß (Hgg.), Die Voll-
endung der Transzendentalphilosophie in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, a.a.O. Rohs stützt dies
allerdings auf eine einschränkende Kritik des transzendentalen Idealismus, die der ‚Totalteleologie‘
den Boden entziehe (161). Gleichwohl könne aus theoretischen Problemen der modernen Physik
(der Unwahrscheinlichkeit des gegebenen Verhältnisses der Vielzahl von Naturkonstanten) mög-
lichweise erneut die Erfordernis einer Physikotheologie abgeleitet werden. Falls dem ein solches
Bedürfnis mitfolgt, dürfte es wohl immer noch aus dem anderen nach einer positiv systemati-
schen Erkenntnistheorie überhaupt gespeist sein, deren Abschluß prinzipiell auf die Vereinigung
von Denken und Welt angewiesen ist, die sie aus sich heraus nicht, oder eben nur als Analogie
zum (ontologischen) Gottesbeweis, konstruieren kann. – Wäre das Verhältnis der Naturkonstanten
übrigens ein anderes, würde wahrscheinlich diese Frage gar nicht diskutiert; daß sie diskutiert
wird, ist indes selbst nicht notwendig.
T: U O S 535
150
Vgl. Kurt Bayertz, Über Begriff und Problem der wissenschaftlichen Revolution, a.a.O., 19.
151
Vgl. KdU, V 411f.
152
KdU, V 412.
153
KdU, V 414.
154
KdU, V 414.
536 O S
als Repräsentanten ‚absichtlicher Wirkungen‘ gelten. Der historische Kern von Kants
teleologischer Naturmetaphysik läßt sich im Vergleich mit Hegel herausarbeiten.155 Bei
diesem ist das Mittel die Bedingung, durch die der subjektive Zweck in der Objektivi-
tät real wird. Dafür ist es sowohl noch Objekt, mechanisch-chemische Natur, als auch
schon Zweck an sich. Jedes Werkzeug, auf das dies zutrifft, weil es als zweckmäßig
gebildetes den subjektiven Zweck gegenständlich mit der gegenständlichen Objektivität
vermittelt, ist selbst schon Produkt der Anwendung subjektiver Zwecke auf die mecha-
nisch-chemische Natur. Das letzte Werkzeug, das nicht Produkt ist, ist das universale,
die menschliche Hand.156 Das instrumentum universale bewegt sich aber nicht ohne die
Menschen, die so selbst zum instrumentum vocale werden. Sie – lebende Menschen –
sind die Wahrheit der reinen Vermittlung von Subjekt und Objekt, als jene Subjekte,
die als Objekte ihre eigene Reinheit derjenigen eines rein bleibenden Subjekts zu opfern
gezwungen werden. Damit zeigt Hegel – der zunächst zeigen will, daß Kants regulative
Teleologie nur metaphysisch durchzuhalten ist – zugleich den materiellen Grund solcher
Metaphysik. Wohl ist es Kant nur um ein regulatives Prinzip der Urteilskraft zu tun;
doch die Selbstbeschränkung seines Argumentes erscheint gegenüber dessen Eigendy-
namik als Inkonsequenz.
Daß mechanische Prozesse erscheinen können, als seien sie einem teleologischen Pro-
zeß untergeordnet, setzt die technische Isolierung partikularer mechanischer Prozesse
aus dem Naturzusammenhang – von dem selbst auch erst hernach zu reden ist – voraus.
Diese Isolierung, deren Resultat Objekte der Naturerkenntnis sind, ist selbst Resultat
gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Was Naturwissenschaftler empirisch untersuchen, ist
ihnen etwa von Laborassistenten präpariert worden, mithilfe von Werkzeugen, die von
einer spezialisierten Industrie hergestellt wurden, oftmals aus Werkstoffen, die aus Na-
turstoffen erst gebildet werden müssen, weil sie gediegen nicht vorkommen, oder weil
sie Legierungen oder Mischungen sind, oder weil sie gleich als Kunststoffe erzeugt
werden müssen. Solche Stoffe sind nun ihrerseits Resultate eines langen Prozesses der
Emanzipation der Menschen vom unmittelbaren Naturzusammenhang. Dieser Prozeß
wiederum wurde nur durch Arbeitsteilung möglich. Insofern diese Geschichte auch der
theoretischen Naturerkenntnis vorausgesetzt ist, muß sie ebenso als integrales Element
gesellschaftlicher Arbeitsteilung gedacht werden.157 Diese Arbeitsteilung – ein Prinzip
jener Emanzipation – wurde zuerst durch Herrschaft begründet, die entschied, wer als
Mittel den Naturmechanismus den Zwecken der Anderen – zu Genuß oder Erkenntnis
– vorbereitet. Jene Herrschaft erscheint anonym in der unbegrenzten Befugnis der me-
chanistischen Naturforschung, die gerade aus ihrer Unterordnung unters teleologische
Prinzip legitimiert wird. – Wahr wäre daran allenfalls die Auszeichnung der belebten
155
Für das folgende vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Begriff , a.a.O., 154ff.
156
Vgl. Anthropologie, VII 323. Vgl. auch Thomas von Aquin, Summa theologica, a.a.O., I, qu. 76,
a. 5 ad 4. Thomas bestimmt die Hand als das Werkzeug der Werkzeuge.
157
Hierzu vgl. Kurt Bayertz, Forschungsgegenstände und Untersuchungsobjekte. Zum Problem der
Abgrenzung von theoretischer und empirischer Ebene in sich entwickelnden wissenschaftlichen
Theorien, in: Hans-Jörg Sandkühler (Hg.), Die Wissenschaft der Erkenntnis und die Erkenntnis
der Wissenschaft, Stuttgart 1978. Zur Bedeutung der Erkenntnismittel (und ihrer Herstellung) für
die Wissenschaft vgl. auch: Über Begriff und Problem der wissenschaftlichen Revolution, a.a.O.,
24.
T: U O S 537
Natur, deren ‚Produkten‘ mit eminenter Sensibilität zu begegnen wäre. Das aber hieße
zugleich, sie nicht bloß als zweckmäßig für die Menschen anzusehen, sondern eine
Scheu vor ihrer bloßen Instrumentalisierung walten zu lassen.
Liegt der Grund der Differenz von Subjekt und Objekt nun in einer ‚übersinnlichen
Zweckmäßigkeit‘, so ist innerhalb der Differenz keine Grenze mehr gezogen, fürs
Subjekt gibt es kein Halten mehr. Wissenschaft, deren System über das von Urteilen
hinausstrebt, geht auf Domestizierung der Natur als Ganzer; da diese als solche kein
Gegenstand ist, gelingt das nur durch ihre radikale Zerstückelung. Der Mechanismus
wird unter der Aegide der Teleologie schrankenlos, bis zur Vernichtung der natürlichen
Ressourcen menschlichen Lebens. Zu brechen wäre Teleologie nur durch die konse-
quente Verfolgung von Zwecken, für deren Vernünftigkeit die menschliche Vernunft
bürgen kann: Dies sind allein moralische Zwecke. Die vernünftige Organisation des
menschlichen Lebens in der Welt setzt nicht sowohl bloßen Erkenntniszuwachs voraus,
als vielmehr einen Akt des Willens, der nicht nur aus nichts Äußerlichem folgt, sondern
der unter teleologischen Annahmen sogar unmöglich wird.
Für Kant ergibt sich aber „der Beruf: alle Producte und Ereignisse der Natur, selbst
die zweckmäßigsten so weit mechanisch zu erklären, als es immer in unserm Vermö-
gen (dessen Schranken wir innerhalb dieser Untersuchungsart nicht angeben können)
steht“158 . So sehr der Mechanismus der Teleologie subsumiert ist, ebensosehr ist Te-
leologie ein Instrument des Mechanismus, der ohne sie grundlos wäre. Durch Kants
Transzendierung des teleologischen Prinzips schimmert doch ein Vorrang des Objekts,
das letzthin gegen Erkenntnis auch selbständig bleibt. Aber diese Selbständigkeit lie-
fert es in Kants Verständnis seiner mechanischen Gestalt nach aus, weil der subjektive
Kern des Vorrangs des Objekts nicht mitgedacht wird. Er ist manifest im geschichtlichen
Moment der inneren Zweckmäßigkeit von Natur, das diese den subjektiven Zwecken zu-
gleich erschließt und entrückt: Die gesellschaftlichen Bedingungen von Naturerkenntnis
weisen als an sich allgemeine über sich hinaus auf selbstbewußte Allgemeinheit der Na-
turerkenntnis. Die Scheu vorm Naturobjekt wäre dann bloß Achtung vor den Subjekten,
deren Subjektivität in ihm ausgeprägt ist; – der Möglichkeit nach.159
Kant bemüht sich nun durchaus, die Bedeutung moralischer Zwecke für den
Teleologiebegriff zu zeigen. Da er hierbei aber Geschichte wieder, seinem aporetischen
Geschichtsbegriff zufolge, zum Medium der Realisierung moralischer Naturzwecke im
Menschen erklärt, werden unter der Hand wieder die Menschen zu Werkzeugen eines
Naturprozesses, anstatt daß sie diesen bewußt selbst in die Hände nähmen.
158
KdU, V 415.
159
Zur moralischen Dimension von Kants Naturbegriff vgl. Birgit Recki, Achtung vor der zweckmäßi-
gen Natur. Die Erweiterung der Kantischen Ethik durch die dritte Kritik, in: Die Vernunft, ihre
Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt, a.a.O., 54ff., bes. 56.
538 O S
160
Vgl. KdU, V 426.
161
Vgl. KdU, V § 84, bes. 436 Anm.
162
Vgl. KdU, V 431.
163
KdU, V 429f. Zum Kulturbegriff vgl. Pauline Kleingeld, Fortschritt und Vernunft, a.a.O., 44.
164
Vgl. GMS, IV 393f. und KpV, V 25f.
T: U O S 539
Diese Bestimmung schlägt aber zurück auf die der sinnlichen Bedürfnisse selbst.
Weder deren Beschränkung aufs „wahrhafte Natürbedürfnis“165 , noch die unendliche
Steigerung der Fertigkeiten zur Befriedigung von Bedürfnissen könnte der natürlich ge-
gebenen Maßlosigkeit menschlicher Genuß- und Besitzsucht je entsprechen. In Kants
Hypothese der ‚wahren Bedürfnisse‘ liegt durchaus die Vorstellung, daß es ein sol-
ches Minimum gebe, unabhängig vom geschichtlichen, zivilisatorischen oder kulturellen
Stand.166 Das weitere – verschärfte – Argument, daß Menschen ihrer Bedürfnisnatur
nach auch im Minimum nicht zur Ruhe kommen, hebt dann tendentiell noch den An-
spruch auf dieses auf, ebenso den auf die technische Erweiterung der Reproduktion.
Schlimmer noch seien die Menschen physisch stiefmütterlich ausgestattet und zudem
von Natur her kriegssüchtig. Insofern ihre Naturanlagen untereinander im Widerspruch
stünden, könne von der Natur keine befriedigende Daseinsvorsorge erwartet werden.
Menschen sind demzufolge nicht Endzweck der Natur, sondern subalterne Zwecke im
Naturganzen. Warum gerade die vorgeblich natürliche Selbstzerstörung der menschli-
chen Gattung dem Zusammenhang des Naturganzen diene, der „Erhaltung der Zweck-
mäßigkeit im Mechanism der übrigen Glieder“167 , führt Kant nicht weiter aus. –
Nun können Menschen aber, sofern sie über ihr Naturdasein hinausreichen, sich als
Endzweck denken und in einer teleologischen Interpretation der Natur durch reflektie-
rende Urteilskraft sich auch als letzten Naturzweck denken. Kant fragt weiter, welches
der letzte Zweck der Natur sei, durch den sie den Menschen über sich erhebe. Durch
diesen letzten Naturzweck müsse sie ihn natürlich darauf vorbereiten, aus dem Na-
turzusammenhang herauszutreten. Als solcher Zweck scheidet die Glückseligkeit aus,
weil alle Zwecke, die auf sie gerichtet sind, die Menschen immer im Naturzusammen-
hang verhalten. Damit scheiden aber überhaupt gleich alle materialen Zwecke als Mittel
zur Vorbereitung auf den Endzweck aus: „Es bleibt also von allen seinen Zwecken in
der Natur nur die formale, subjective Bedingung, nämlich der Tauglichkeit: sich selbst
überhaupt Zwecke zu setzen und […] die Natur den Maximen seiner freien Zwecke
überhaupt angemessen als Mittel zu gebrauchen, übrig, was die Natur in Absicht auf
den Endzweck, der außer ihr liegt, ausrichten und welches also als ihr letzter Zweck an-
gesehen werden kann. Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens
zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Cultur.“168 Zwar
wäre Kultur, wie erwähnt, das Mittel, durch Naturbearbeitung sich über den bloßen Na-
turzusammenhang zu erheben, um sich in die Möglichkeit zu versetzen, frei bestimmte
Zwecke zu verfolgen, doch wird für Kant die Kultur ausdrücklich zum Naturzweck. Noch
165
KdU, V 430.
166
Zur Problematik eines solchen Bedürfnisbegriffs vgl. Theodor W. Adorno, Thesen über Bedürf-
nis, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt am Main 1972. Sollte überhaupt ein ‚Minimum‘
unabhängig von historischen Vorstellungen als notwendig ausgezeichnet werden, so gilt wohl die
einfache Regel: „Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll.“ (Theodor W.
Adorno, Minima Moralia, Frankfurt am Main 1993, 206). A fortiori gilt dies zur Zeit einer Pro-
duktivität, die es mühelos erlaubte, jedem Menschen die zu seinem Überleben notwendigen 1000
Kalorien pro Tag zu gewähren, stünden nicht die Börseninteressen der Lebensmittelspekulanten
dagegen.
167
KdU, V 431.
168
KdU, V 431.
540 O S
die Befähigung zum Selbstzweck-Sein verdankt sich einem Naturzweck, wenn auch dem
letzten. Anders wäre Natur als teleologisches System nicht vorstellbar: Ein solches dul-
det kein gegen das System Selbständiges.
Deshalb soll auch die den Naturzwang einschränkende Geschicklichkeit noch ein Na-
turzweck sein. Sie werde nur durch den Antagonismus gefördert, dessen brutale Gestal-
ten nur dann als sinnvoll zu verstehen seien, wenn sie als Naturabsichten interpretiert
würden. Sogar die Überwindung der eigenen Natürlichkeit durch Triebverzicht ordnet
Kant den Naturzwecken zu.169 Statt auf die Entwicklung des Gattungsvermögens – der
systematischen kollektiven Überwindung der Naturschranke – setzt Kant auf die „Cul-
tur der Zucht […][,] die Befreiung des Willens von dem Despotism der Begierden“170 ,
denn die „Verfeinerung des Geschmacks […] und selbst der Luxus in Wissenschaften,
als einer Nahrung für die Eitelkeit“ erzeugten mehr Neigungen als zu befriedigen sei-
en. Dies behindere die menschliche Entwicklung. Gleichzeitig zeige die Geschichte von
Geschmack und Wissenschaft aber den Naturzweck an, die „Neigungen des Genusses“
zurückzudrängen: „Schöne Kunst und Wissenschaften, die durch eine Lust, die sich all-
gemein mittheilen läßt, und durch Geschliffenheit und Verfeinerung für die Gesellschaft,
wenn gleich den Menschen nicht sichtlich besser, doch gesittet machen, gewinnen der
Tyrannei des Sinnenhanges sehr viel ab und bereiten dadurch den Menschen zu einer
Herrschaft vor, in welcher die Vernunft allein Gewalt haben soll“171 .
In dieser Konzeption wird nun nicht die Wissenschaft in den Dienst des Lebens ge-
stellt, sondern alle Zwecke dienen einem autarken Wesen ‚Mensch‘. Die Überwindung
des Naturzwanges erfolgt nicht durch kollektiv organisierte Naturbearbeitung, sondern
durch Installation einer idealen intelligiblen Sphäre außerhalb der Bedürftigkeit jener
bedürftigen Wesen, die doch diese Sphäre bevölkern sollen. ‚Geschicklichkeit‘ bleibt für
Kant immer mit gesellschaftlicher Gewalt verbunden, weil sie auf sinnliche Bedürfnisse
gerichtet ist, die nicht a priori legitimierbar sind.
Darauf aufbauend gerät Kant der Kulturbegriff zu einem ganzen Nest von Paradoxien,
in dem sich die Konzeption von Freiheit durch Naturgeschichte schon deutlich abzeich-
net: Vor teleologischem Hintergrund ist die geschichtliche Entwicklung der menschli-
chen Gattung nur durch eine höhere, ja „oberste[] Weisheit“172 zu erklären. Ungleichheit
erscheint als Bedingung der Möglichkeit kulturellen Fortschritts, weil die Mehrheit der
Menschen – in Unwissenheit gehalten – „die Nothwendigkeit des Lebens gleichsam
mechanisch […] zur Gemächlichkeit und Muße anderer besorgt, welche die minder
nothwendigen Stücke der Cultur, Wissenschaft und Kunst, bearbeiten“173 . Durch die par-
169
Vgl. KdU, V 432f.
170
KdU, V 432. Diese oft ignorierte Seite des Kantischen Kulturbegriffs vernachlässigt auch Peter
Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O.
171
KdU, V 433.
172
KdU, V 433.
173
KdU, V 432. Dies hatte, implizit, Aristoteles schon gesehen: „Als daher schon alles Derartige
(Lebensnotwendige) erworben war, da wurden die Wissenschaften gefunden, die sich weder auf
das Angenehme noch auf die notwendigen Bedürfnisse des Lebens beziehen, und zwar zuerst
in den Gegenden, wo man Muße hatte.“ (Metaphysik, a.a.O., 981b) Da dies nicht allein, wie
die Formulierung nahelegt, ein diachrones Verhältnis ist, sondern sich aufgrund der Erneuerung
der Bedürfnisse synchron fortsetzt, bestimmt Aristoteles es als natürliche Aufgabe von Sklaven,
T: U O S 541
tikulare private Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts werden einige von der
Notwendigkeit der Arbeit für die eigene Reproduktion befreit und können sich dem Fort-
schritt widmen. Die gesellschaftliche Herrschaftsordnung, ihre historische Manifestation
in Klassen, wird so als Naturzweck interpretiert, wie einst die Sklaverei. Kant hat inso-
fern Recht, als er die Verknüpfung von Emanzipation aus Naturzusammenhängen mit
Herrschaft überhaupt sieht. Nur die Verkehrung dieser historischen Verknüpfung in ei-
ne systematisch notwendige wäre zu kritisieren. Dafür ist allerdings die Erfahrung einer
sich systematisch erweitert reproduzierenden Gesellschaft vorausgesetzt, weil hier ein
Maß an Freiheit realisiert ist, gegenüber dem jede Form von Herrschaft disfunktional
ist. Sie dient, in anonymer Gestalt, nur noch der partikularen Verfügung übers Mehrpro-
dukt, nicht mehr dessen allgemeiner Möglichkeit überhaupt.174
Daß eine solche Argumentation im Zeitalter der Aufklärung geführt wird, zeigt an,
daß die ökonomische Entwicklung, vor allem aber das wissenschaftliche Bewußtsein von
ihr, mit der philosophischen Entwicklung des Begriffs der Subjektivität nicht auf glei-
cher Höhe ist: Die Begriffe neuzeitlicher Subjektivität, politischer und gesellschaftlicher
Aufklärung stehen in keinem adäquaten Verhältnis zu den materiellen gesellschaftlichen
Lebensbedingungen der Menschen und die ökonomischen Theorie versucht eben, den
Reichtum der Nationen darstellbar zu machen, ist aber von der Kritik seiner Gründe
und Methoden noch weit entfernt. Das liegt auch am technischen Entwicklungsstand der
Ökonomie. Eine allgemeine Gesellschaft freier Menschen, wie sie aus dem Subjekti-
vitätsbegriff zu entwickeln ist, wäre auf dem ökonomischen Niveau noch weitgehender
Agrarwirtschaft und nur gelegentlicher Manufaktur nicht ohne Rückschritte in der Kultur
zu reproduzieren. Der Begriff der Gesellschaft kann erst kritisch zu sich selbst gebracht
werden, wenn Vergesellschaftung auch ökonomische – und rechtlich-politische – Reali-
tät geworden ist. Deshalb geraten bei Kant die Begriffe von Menschheit und Kultur zu
Widersprüchen. Die unverkürzte politische Konsequenz des aufgeklärten Subjektbegriffs
hätte zu jener Zeit die Ideale von Aufklärung ad absurdum führen müssen.
Das bedeutet aber auch, daß der allgemeine philosophische Freiheitsbegriff damals –
vor der historischen Möglichkeit der systematischen Steigerung der Produktivkraft der
Arbeit durch die industrielle Revolution – grundsätzlich elitär, partikular, bleibt und da-
mit ein Widerspruch. Dieser Widerspruch weist ihn aber nicht als falsch aus, sondern als
geschichtlich dynamischen Begriff, der aus der Reflexion von Geschichte in reiner Ver-
nunft einen objektiven Anspruch formuliert, der zugleich Anspruch auf die objektiven
Bedingungen seiner eigenen Erfüllung ist.
Indem Kant die Möglichkeit der ökonomischen Freisetzung kulturellen Potentials
nicht erwägt, sondern die gesellschaftlichen Widersprüche geradezu als anthro-
pologische Konstanten interpretiert, weist er sein Geschichtskonzept im Grunde
den Herren Muße zu verschaffen, indem sie deren Reproduktion in der Natur durch ihre Arbeit
vermitteln. Ganz im Gegensatz zu den realen Verhältnissen, in denen Sklaven vielfach einen hohen
Bildungsstand aufwiesen, legitimiert Aristoteles die Sklaverei aus der natürlichen Differenz der
Menschen, deren einer Teil geistig, der andere aber bloß körperlich hervorrage (vgl. Aristoteles,
Politik, a.a.O., 1253b ff. Zur antiken Sklaverei vgl. allgemein Moses I. Finley, Die Sklaverei in der
Antike, München 1981).
174
Vgl. hierzu Jan Weyand, Adornos Kritische Theorie des Subjekts, a.a.O., 34ff.
542 O S
175
KdU, V 432.
176
KdU, V 432.
177
KdU, V 433.
T: U O S 543
178
KdU. V 434f.
179
KdU, V 435. Der Mensch verfolge in der Natur Zwecke, setze aber diese „von Naturbedingungen
unabhängig“. Auch hier bleibt offen, wie gerade solche von Naturbedingungen unabhängige Zwe-
cke, die vom Menschen „aber als Noumenon betrachtet“ (KdU, V 435) gefaßt werden, Naturwesen
und übersinnliches Wesen vermitteln sollen.
180
KdU, V 435f.
181
Vgl. Niklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, Bielefeld 2002, 141-166. Die methodolo-
gische Verwandlung von Subjektivität in eine strukturell verstandene Beobachtungsfunktion läßt
zunächst die Dinge tanzen: „Diese Vorlesung hier ist ihr eigenes Subjekt.“ (150) Konsequent gerät
der Tanz zum Taumel: „Was heißt dann noch Objektivität?“ (166).
544 O S
Funktion Rechenschaft ablegt, löst sich tendentiell auf. Auch eine verhaltene, regula-
tiv verstandene Teleologie wie die Kants folgt dieser Tendenz, weil Subjektivität sich
im Denken konstituiert und ebenso im Denken sich stillstellen kann; auch und gera-
de die Regel, nach der gedacht wird, formt das, was gedacht wird, und damit auch das
Selbstverständnis des denkenden Subjekts und seines Verhältnisses zum Gedachten. –
Die teleologische Unterordnung der Natur im Denken wäre durch deren zweckbewuß-
te Gestaltung in einer Praxis zu ersetzen, in der das Denken terminierte. Das ist mit
teleologischem Denken unvereinbar, weil dieses – im Gegenteil – seine Praxis stillegt.
Selbstbewußtsein kann sich stets nur gegen seine objektiven Bedingungen objektivie-
ren. Dieser Gedanke hebt nicht auf, daß „Glückseligkeit nur als Folge nach Maßgabe
der Übereinstimmung mit jenem Zwecke [der Moralität; M.St.], als dem Zwecke seines
Daseins, in Verbindung stehe.“182 Aber er nimmt das Subjekt aus der funktionalen Ein-
heit mit einer als an sich vernünftig unterstellten Naturordnung heraus und stellt ihm die
Aufgabe, durch die autonome Realisierung seiner Vernunft eine Ordnung zu begründen,
in der es selbst – als Subjekt – eine Objektivität hätte.
Der Gedanke, daß die Natur, in der Menschen handeln, immer schon durch dieses
Handeln in Relation zu diesem Handeln bestimmt ist, leistet eines freilich nicht: Die
grundsätzlich systematische Einheit von Natur und Sittlichkeit ist so nicht positiv zu
bestimmen. Zwar ist im geschichtlichen Begriff von Natur deren Präparation durch we-
nigstens an sich sittliche Zwecke gesetzt, und mit ihr die Möglichkeit, diese Zwecke
auch für sich, ihrem allgemeinen Begriff – der Sittlichkeit – gemäß, auszuführen; die-
se Möglichkeit ergibt sich aber immer nur negativ, als menschliches Vermögen, das
sich durch die Bearbeitung seiner Realisationsbedingungen, im Widerstand gegen seine
Hindernisse, objektivieren muß. Die allgemeine positive transzendentale Begründung
dieser Möglichkeit im Sinne Kants – ‚was man soll, das kann man auch‘ – läßt sich
daraus freilich nicht ableiten; denn wenn Natur als Resultat kollektiver menschlicher
Kultivierung begriffen wird, ist ihr immer schon ein praktischer Prozeß vorausgesetzt,
dessen Möglichkeit nur durch Praxis gesetzt und daher grundsätzlich nicht ableitbar ist.
– Im Gegenteil schließt dies ein, daß Menschen unter bestimmten Bedingungen eben
nicht können, was sie sollen. Diese Auffassung des Problems setzt ebenso den strik-
ten Moralbegriff voraus, zieht aus seinem Mißverhältnis zur sinnlichen Realität aber
den entgegengesetzten Schluß: Auf sinnliche Realität ist ebensowenig zu verzichten wie
auf unverkürzten moralischen Anspruch; also wären die Bedingungen diesem Anspruch
praktisch zu unterziehen. Das setzte aber den Begriff eines Subjekts voraus, das sich
selbst als Resultat seiner eigenen Geschichte begriffe und nicht als transzendentale In-
stanz systematischer Einheit von Natur und sittlicher Praxis. Als diese Instanz nämlich
wäre es der nominalistische Erbe der göttlichen Vollkaskoversicherung für Erkenntnis
und Erlösung. Es wäre das ganz ungeschichtliche Prinzip von Geschichte. Erforderlich
scheint es zu sein, weil aus der geschichtlichen Erfahrung deren Begriff als Fortschritt
nicht zu begründen ist. Er ist gegen die Erfahrung zu denken, und dies nur unter der
Voraussetzung eines Prinzips, das außerhalb dieser Erfahrung liegt, von ihr nicht berührt
wird. In dem Festhalten an einem solchen Prinzip liegt zweierlei: der Protest gegen die
182
KdU, V 436 Anm.
T: U O S 545
Unvernunft ebenso wie die Hypostase der Vernunft, die dann selbst ihre eigene Verwirk-
lichung zu garantieren scheint.
Indem nun Kant jenes ungeschichtliche Geschichtsprinzip in ein bloß negatives, ab-
straktes, Verhältnis zu den geschichtlichen Bedingungen des bürgerlichen Zeitalters
setzt, stellt er diese Bedingungen im Subjekt still. Er konserviert Geschichte prozeßlos
im Subjekt. Der aufklärerische Anspruch, daß die Menschen autonom ihr Dasein
bestimmen mögen, schlägt deswegen in sein Gegenteil um. Das Subjekt als stille
Instanz kann den Widerstand gegen Heteronomie, auf dem sein aufgeklärter Begriff
beruht, nur gegen sich selbst wenden. Die angestrebte Ersetzung des göttlichen Prinzips
durch ein menschliches trägt eigentümlich göttliche Züge: Was man soll, das kann man
unmittelbar auch; diese potentia absoluta ist aber erkauft mit der bedingungslosen
Preisgabe der physischen Existenz, wenn die Umstände des Sollens dies erfordern.183
Die sterblichen Götter können ihre eigene Möglichkeit, die Möglichkeit der adaequatio
von Natur und Sittlichkeit, nur in der Vorstellung des alten, ihnen übergeordneten,
göttlichen Prinzips begründen. Deshalb schließt sich bei Kant auch an die Erörterung
des Kulturbegriffs der Kritik der Urteilskraft wieder ein, wie immer verhaltener,
Gottesbeweis an. Was hier bewiesen werden soll, ist bloß die eigene Möglichkeit
der autonomen Subjekte der Kulturgeschichte; was aber bewiesen wird, ist die von
den Subjekten undurchschaute Funktion geschichtlicher Heteronomie in ihrer eigenen
Subjektivität.
Ähnlich wie schon in den moralisch-theologischen Passagen der Kritik der reinen
Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft ist es Kant auch hier durchaus um die
strikte funktionale Abgrenzung dieses Arguments zu tun. So sei von der Physikoteleo-
logie allenfalls auf ein pantheistisches – oder pandämonisches – Prinzip zu schließen.
Durch die teleologische Naturerklärung werde zwar eine allgemeine Zweckmäßigkeit
aufgewiesen, die aber nicht hinreichend für den Schluß auf einen Endzweck der Natur
sei, in dem diese selbst überschritten werde. Kant unterscheidet zudem strikt zwischen
einer verständigen und einer moralischen Weltursache.184 Ein verständiges Wesen, das
die Welt geschaffen habe, sei noch kein Gott, sondern könne gewissermaßen als unre-
flektierter Verstand – mechanische Anordnung – vorgestellt werden. Gleichwohl handle
es sich um eine ‚Schöpfung‘.185 Ein Endzweck hingegen, der reflexiv – Selbstzweck –
sei, setze eine moralisch reflektierte Absicht voraus, die nur Gott beigelegt werden kön-
ne. So ermöglicht Kant es sich, grundsätzlich von einer zweckmäßig hervorgebrachten
Welt auszugehen, von einer „Schöpfung“186 zu reden. Diese Vorstellung von Natur bleibt
als Vorstellung vernunft- und willensbegabter Wesen, die selbst zugleich Teile dieser
Natur sind, inkonsistent, weil sie ein teleologisches System unterstellt, in dem die freien
Wesen, die es denken, keinen Ort haben. Deshalb führt der teleologische – wenngleich
explizit nicht-theologische – Schöpfungsbegriff schließlich doch zwingend auf Gott als
Schöpfer, anders als dies bei einem negativen Naturbegriff der Fall wäre, in dem nur
dasjenige als vernünftig geordnet erfaßt würde, was auch durch menschliche Arbeit rea-
183
Vgl. KdU, V 471 Anm.
184
Vgl. KdU, V 455.
185
Vgl. KdU, V 449 Anm.
186
KdU, V 442.
546 O S
lisierte Vernunft darstellte. Dieser Naturbegriff gäbe auf nichts weiter Anweisung als
darauf, in der Bemühung, Vernunft zu realisieren, fortzufahren.
Für Kant, der den Endzweck als oberstes Systemprinzip denkt, ergibt sich die prakti-
sche Reflexivität der Menschen als Endzweck, da die theoretische – das Erkenntnisver-
mögen – sich letztlich kontemplativ zur Welt verhalte, und daher ihr keinen Wert oder
Zweckgehalt zusetze.187 Für kontemplative Erkenntnis mag dies zutreffen, nicht aber für
moderne Naturerkenntnis, die stets zugleich Zwecke in der Natur realisiert, indem sie
die Erkennbarkeit der Natur zunächst praktisch herstellt, Teilzusammenhänge aus der
Natur zu Erkenntnisgegenständen präpariert. Diese Praxis hat als arbeitsteilige und ko-
operative unmittelbar sittlichen Gehalt. Als solche aber ist sie mit dem Material schon
konfundiert, dessen Kompatibilität mit den Zwecken doch erst begründet werden soll-
te. Deshalb bleibt allein das obere Begehrungsvermögen, der gute Wille als „dasjenige,
wodurch sein Dasein allein einen absoluten Werth und in Beziehung auf welches das Da-
sein der Welt einen Endzweck haben kann“188 . Dieser ist aber der gegenstandslose gute
Wille der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, was noch in dem Beispiel erscheint,
daß jemand wohl den gemeinsamen Nutzen aller befördern könne, aber ohne guten Wil-
len doch verächtlich bleibe,189 also geradezu mephistophelisch aus lauter Bosheit das
Gemeinwohl erfindet, begründet und fördert. Wieder einmal platzt Kants Abstraktion
auf und liberalistische Vorstellungen treten hervor: Das einzige dieser Konstruktion ad-
äquate Modell wäre wohl die Beförderung des Gemeinwohls durch die eigensüchtige
Verfolgung von Privatzwecken, die Kant hier immerhin als ‚nicht moralisch‘ bewertet.
Fraglich ist allerdings, ob als Zweck einer solchen Form gesellschaftlicher Reprodukti-
on überhaupt das bonum commune in irgendeiner Weise figuriert, oder nicht allenfalls
dessen nominalistischer Ermäßigung zum utile commune, das in sich schon aporetisch
ist, weil es partikulare Zwecke als allgemeine Form denkt.
Dabei kommt auch Kants anti-pathologischer Moralbegriff nicht ohne Hinweis auf Pa-
thologie aus. Der Schluß von der Moral auf die Vorstellung Gottes werde bestätigt durch
das menschliche Bedürfnis nach „einer moralischen Intelligenz“, einem überweltlichen
Wesen, demgegenüber die Menschen durch „Dankbarkeit, Gehorsam und Demüthigung
(Unterwerfung unter verdiente Züchtigung)“190 ihre Pflicht tun und ihre moralische Ge-
sinnung erweitern. Dieses seien unmittelbare moralische Regungen, in denen sich ohne
weitere Triebfedern moralische Intelligenz ausdrücke.
Dagegen ist wohl doch nicht auszuschließen, daß hier die soziale Psychopathologie
die Triebfeder ist. Die Menschen bestimmen ihr Verhältnis zu der Vorstellung, die sie
sich von Gott machen, anthropomorphistisch: Sie dienen, unterwerfen sich und anderes
mehr, was ihrem Verkehr untereinander entspricht, in dem sie ihresgleichen ausgeliefert
sind. Kant interpretiert dies aber als unmittelbare Vernunftakte und nicht als historisch
präformierte Äußerungen. Fatal für die Vernunft ist dies, wenn es sich um Akte han-
delt, in denen sich ein Bedürfnis nach Unterwerfung – unter wen oder was auch immer
– kundtut, dem eine gewisse Lust nicht abzugehen scheint, mithin die Empfindung der
187
Vgl. KdU, V 442.
188
KdU, V 443.
189
Vgl. KdU, V 443.
190
KdU, V 446.
T: U O S 547
191
KdU, V 446.
192
KdU, V 481.
193
Vgl. KdU, V 448.
194
Vgl. KdU, V 450f., 470f.
195
Einen tugendhaften Atheismus, den ethischen Skandal der Neuzeit in Gestalt des Spinoza, schließt
Kant explizit aus durch den umständlichen Nachweis, daß Spinoza entweder seine Moralität mit
wachsender Erfahrung der Welt habe aufgeben müssen oder daß er insgeheim doch von der Exis-
tenz Gottes überzeugt gewesen sein mußte. Vgl. KdU, V 452f. Zum Zusammenhang vgl. Michael
Czelinski-Uesbeck, Der tugendhafte Atheist. Studien zur Vorgeschichte der Spinoza-Renaissance in
Deutschland, Würzburg 2007. Für Kants Stellung zum Streit zwischen Jacobi und Mendelssohn,
besonders zur Zurückweisung des Spinozismus-Vorwurfs an Kant vgl. Sich im Denken orientieren,
VIII 143 Anm.
548 O S
teleologie und der theologische auf die moralische Ursache eines Endzwecks der Natur
seien zwei verschiedene Schlüsse für die menschliche Vernunft, weil in dieser technisch-
praktische und moralisch-praktische Prinzipien hierarchisch differierten.196 Weder er-
laube daher der naturteleologische Schluß auf den Welturheber den moralischen Schluß,
noch sei dieser eine Ergänzung von jenem. Der moralische Schluß sei ganz selbständig.
Daraus schließt Kant umgekehrt, daß der moralische Schluß seine subjektive Notwen-
digkeit auch behielte, wenn es gar keine Naturteleologie gäbe, „wenn wir in der Welt
gar keinen, oder nur zweideutigen Stoff zur physischen Teleologie anträfen“197 . Die ‚ver-
nünftigen Wesen in einer solchen Natur‘ – die wohl unkörperlich sein müßten, jedenfalls
keine Organismen sein könnten, als die sie doch schon selbst jenen ‚Stoff‘ darstellten
– würden dennoch „im Freiheitsbegriffe und in den sich darauf gründenden sittlichen
Ideen einen praktisch-hinreichenden Grund finden, den Begriff des Urwesens diesen an-
gemessen, d. i. als einer Gottheit, und die Natur (selbst unser eigenes Dasein) als einen
jener und ihren Gesetzen gemäßen Endzweck zu postuliren und zwar in Rücksicht auf
das unnachlaßliche Gebot der praktischen Vernunft“198 . Auch diese Konstruktion ist ge-
genstandslos, denn in einer derartigen Natur könnte das Gebot der praktischen Vernunft
gar nicht gedacht werden, weil es nur in Analogie zur Kategorie Kausalität überhaupt
formal denkbar ist. Dieser Kategorie soll aber in der hier postulierten Ordnung nichts
korrespondieren, weshalb sie gänzlich leer bliebe. Kants Gedankenspiele um den mo-
ralischen Beweis vom Dasein Gottes entfernen sich immer weiter von den wirklichen
Subjekten der Moral.
Schließlich sei bei einer transzendenten Weltursache nicht sicher davon auszugehen,
daß auch in ihrer Vernunft technisch-praktische und moralisch-praktische Prinzipien
hierarchisch unterschieden seien. Das heißt, daß die Übereinstimmung der technischen
Zweckmäßigkeit mit unserem moralischen Endzweck – das höchste Gut – nicht zwin-
gend auf ein Wesen schließen lasse, dem über sein technisch-praktisches Vermögen
hinaus noch ein moralisches zukäme. Es könnte jene Übereinstimmung vielmehr auch
zufällig aus der technisch-praktischen Anordnung mit hervorgehen. – Nur die Menschen,
die beides säuberlich unterscheiden, können sich einen moralischen Endzweck ohne
moralischen Gott nicht begreiflich machen und müssen diesen daher als notwendiges
Prinzip erschließen.
Die Lösung der Problematik des moralischen Gottesbeweises – und mit ihm der Mög-
lichkeit des höchsten Gutes – liegt Kant zufolge in „der Art des Fürwahrhaltens durch
einen praktischen Glauben“199 . Zunächst geht es schon nicht um objektive Erkenntnis,
sondern um die subjektiv bestimmte Beziehung von Begriff und Erkenntnisvermögen.200
Indem Kant das höchste Gut jeder Erfahrung entzogen hat, wird ihm dies zur Glaubens-
sache: objektiv nicht darstellbar, subjektiv aber doch gewiß, da es – und mit ihm die
Bedingungen seiner Möglichkeit: Gott und Unsterblichkeit – durchs moralische Gesetz
geboten sei, und was man soll, man auch kann: „Folglich bekommt der Begriff von Gott
196
Vgl. KdU, V 455.
197
KdU, V 478.
198
KdU, V 479.
199
KdU, V 467.
200
Vgl. KdU, V 467.
T: U O S 549
nur durch die Beziehung auf das Object unserer Pflicht, als Bedingung der Möglichkeit
den Endzweck derselben zu erreichen, den Vorzug in unserm Fürwahrhalten als Glau-
benssache zu gelten“201 . Daß sie Glaubenssachen seien und nicht beweisbar, begründet
Kant zufolge auch „ein freies Fürwahrhalten“, das „als ein solches mit der Moralität des
Subjects vereinbar“202 sei.
Daraus ergibt sich folgende Bestimmung des Glaubens: „Glaube (als habitus, nicht
als actus) ist die moralische Denkungsart der Vernunft im Fürwahrhalten desjenigen,
was für das theoretische Erkenntniß unzugänglich ist.“203 Deshalb könne umgekehrt
„ein dogmatischer Unglaube […] aber mit einer in der Denkungsart herrschenden sitt-
lichen Maxime nicht zusammen bestehen“204 . Die praktische Vernunft gerate geradezu
in Widerspruch mit sich selbst, wenn sie nicht glaube.205 Diesem Widerspruch liegt die
Annahme des höchsten Gutes als unerfahrbares zugrunde und außerdem die ‚merkwür-
dige‘ Zuordnung der Freiheit zu den Tatsachen: „Was aber sehr merkwürdig ist, so findet
sich sogar eine Vernunftidee […] unter den Thatsachen; und das ist die Idee der Freiheit,
deren Realität […] sich […] in der Erfahrung darthun läßt“206 . Dieser positive Freiheits-
begriff erlaube es, die Vernunft über hoffnungslose Naturbegriffe hinaus zu erweitern.207
Für Kant weist das Bewußtsein des Sittengesetzes im Verhältnis zur unsittlichen Sinn-
lichkeit die Faktizität der Freiheit auf, nicht aber die der tatsächlichen Unfreiheit, gegen
die das Sittengesetz nur ein Bewußtsein der Möglichkeit von Freiheit, des Anspruchs auf
sie, ist. Deshalb geraten ihm die Bestimmungen der Ausführbarkeit von Moral zur Glau-
bensvoraussetzungen, die das Subjekt als Subjekt an höchster Stelle aufheben: nämlich
im eigenen praktischen Selbstbewußtsein.
„Die Wirklichkeit eines höchsten moralisch-gesetzgebenden Urhebers ist also bloß für
den praktischen Gebrauch unserer Vernunft hinreichend dargethan, ohne in Ansehung
des Daseins desselben etwas theoretisch zu bestimmen. Denn diese bedarf zur Möglich-
keit ihres Zwecks, der uns auch ohnedas durch ihre eigene Gesetzgebung aufgegeben
ist, einer Idee, wodurch das Hinderniß aus dem Unvermögen ihrer Befolgung nach dem
bloßen Naturbegriffe von der Welt (für die reflectirende Urtheilskraft hinreichend) weg-
geräumt wird; und diese Idee bekommt dadurch praktische Realität, wenn ihr gleich
alle Mittel, ihr eine solche in theoretischer Absicht zur Erklärung der Natur und Be-
stimmung der obersten Ursache zu verschaffen, für das speculative Erkenntniß gänzlich
abgehen.“208 Die praktische Vernunft bedarf zur Realisierung ihres moralischen Zwe-
201
KdU, V 470.
202
KdU, V 469 Anm.
203
KdU, V 471.
204
KdU, V 472.
205
Vgl. KdU, V 471 Anm.: „Da aber die speculative Vernunft sich völlig überzeugt, daß das letztere
[d. i. daß die Moral eine Täuschung sei; M.St.] nie geschehen kann, dagegen aber jene Ideen,
deren Gegenstand über die Natur hinaus liegt, ohne Widerspruch gedacht werden können: so wird
sie für ihr eigenes praktisches Gesetz und die dadurch auferlegte Aufgabe, also in moralischer
Rücksicht, jene Ideen als real anerkennen müssen, um nicht mit sich selbst in Widerspruch zu
kommen.“
206
KdU, V 468.
207
Vgl. KdU, V 474.
208
KdU, V 456.
550 O S
ckes, der aus ihrer eigenen Autonomie hervorgeht, der Idee eines Gesetzgebers. Die Idee,
die diese Realität ermöglicht, hebt zugleich die Moralität des Zwecks in ihrem Grund
auf, denn die praktische Realität, die die Idee ‚dadurch‘ erhält, ist die ihrer heteronomen
Macht übers Subjekt, das sich in seinen autonomen Handlungen unterm göttlichen Ge-
setz wähnt und dann so verhält, als ob es dies wirklich gäbe. – Diese praktische Realität
ist nicht zu unterschätzen. Daß sie theoretisch, also durch das Vermögen, in dem das
Subjekt tatsächlich sich noch konstitutiv weiß, weder zu bestätigen, noch zu widerlegen
ist, bekräftigt – auch Kant zufolge – eher die faktische Macht jener Idee, als daß es sie
problematisch schwächte.
Von einem Beweis, auch dem vom Dasein Gottes, erwartet Kant, „daß er nicht
überrede, sondern überzeuge“209 . Diese Erwartung erfüllt nun, Kant selbst zufolge,
kein denkbarer Beweisgrund und keine Beweisart hinsichtlich der Existenz Gottes.210 –
Gleichwohl hält Kant an der Möglichkeit eines methodisch eingeschränkten Beweises
fest: „[L]egt er aber ein praktisches Vernunftsprincip zum Grunde (welches mithin
allgemein und nothwendig gilt), so darf er wohl auf eine in reiner praktischer
Absicht hinreichende, d. i. moralische, Überzeugung Anspruch machen“211 . Es werde
dann nicht an sich, sondern für uns bewiesen, mit Rücksicht auf das menschliche
Erkenntnisvermögen, in dem technisch-praktische und moralisch-praktische Prinzipien
unterschieden werden und so den Schluß auf Gott moralisch sollizitieren: „Nun ist
hierwider wohl nichts zu sagen, so fern man auf populäre Brauchbarkeit eigentlich
Rücksicht nimmt.“212 Die ‚populäre Brauchbarkeit‘ besteht in der Erzeugung eines
‚heilsamen Scheines‘, der unmittelbar überzeugt – das heißt aber doch: überredet – und
so den ‚frevelhaften Zweifel‘ abhält. Der moralischen Täuschung des schlichten Gemüts
entspreche aber auch ein überzeugungskräftiger Kern, von dem es „für den Philosophen
Pflicht“ sei, „den obgleich noch so heilsamen Schein, welchen eine solche Vermengung
hervorbringen kann, aufzudecken und, was bloß zur Überredung gehört, von dem,
was auf Überzeugung führt, […] abzusondern“213 . In der Annahme des Heteronomen
um der Praxis willen liegt demzufolge durchaus die Konsequenz pragmatistischer
Täuschungen.
Kant bestimmt die praktische Realität Gottes in Analogie zum Bewegungsvermögen
der Seele. Dies werde ihr beigelegt, ohne doch die Seele als physisch bewegende Kraft
vorzustellen. Ebenso sei eine Ursache anzunehmen für die Möglichkeit der Ausführung
des Moralgesetzes, die – ihrer Funktion zufolge – selbst moralisch sein müsse, ohne daß
dies als Erkenntnis ausgegeben werden könne. Die Göttlichkeit Gottes bezeichne so nur
„das Verhältniß dieses alle unsere Erkenntnißvermögen übersteigenden Wesens zum Ob-
jecte unserer praktischen Vernunft“214 , wie die Bewegungskraft das Verhältnis der Seele
zur Wirkung im Körper bezeichne. Diese Analogie ist schief, weil die Seele sich auf den
inneren Zusammenhang der Einheit des beseelten Lebewesens bezieht, etwas vorstellt,
209
KdU, V 461.
210
Vgl. KdU, V 463.
211
KdU, V 463.
212
KdU, V 461.
213
KdU, V 462.
214
KdU, V 457.
T: U O S 551
das nicht Körper ist, um die Einheit des Körpers zu begründen, das aber gleichwohl mit
dem Körper in einem einheitlichen Zusammenhang steht. Gott als Prinzip der Möglich-
keit des moralischen Objekts stehe aber außerhalb von dessen Zusammenhang mit der
praktischen Vernunft, die es setzt. Diese Relation wird nicht an sich, sondern von außen
her zur Einheit bestimmt.
Die moralische Theologie, die ihre systematische Grenze als index falsi längst
überschritten hat, steht der subjektiven Autonomie zutiefst entgegen. Das bestätigt
Kant – gegen seine ausdrückliche Überzeugung – durch seine historischen Reflexionen
in der Anmerkung, derzufolge dieser Beweis so alt sei wie die praktische Reflexion
der Menschen.215 – Schon für die „unangebauteste Vernunft“216 sie die Vorstellung
eines Schöpfergottes das adäquate Prinzip. Kant versetzt die Geltung dieses Prinzips
damit aber explizit in eine Zeit, in der von Subjektivität, Selbstbewußtsein oder
Selbstbestimmung nicht die Rede sein kann: Im Zustand völlig unkultivierter Vernunft
gibt es noch nicht einmal eine Rechtsordnung, die Menschen haben sich noch nicht
vom Naturzusammenhang gelöst. Rudimentäre Rechtsvorstellungen dagegen folgen
Naturanalogien oder Interessen. Nun wäre zu sagen, daß nicht etwa ‚schon‘, sondern nur
für solche unkultivierte Vernunft das Göttliche ein adäquates Prinzip sei. Wenn Kant da-
gegen Vorstellungen der Legitimation und Möglichkeit von Praxis in diesem kulturlosen
und subjektlosen Zustand noch im Zeitalter fortgeschrittener Aufklärung zum Kriterium
von Praxis macht, so kann das – wofern Kant nicht als Reaktionär anzusehen sein sollte
– nur gegen den moralischen Zustand dieses Zeitalters sprechen. Jedenfalls erweist
sich Kants Begründung der Möglichkeit moralisch-kultureller Fortschrittsgeschichte als
ganz unhistorisch gedachte. Damit wird Fortschritt in seinem Begriff selbst stillgelegt.
Geschichte könnte allein aus der Einsicht in die Geschichtlichkeit der menschlichen
Subjektivität und ihres Verhältnisses zur Natur begründet werden, nie aber durch die
Annahme einer Kongruenz a priori von ahistorischem Subjekt und ahistorischer Natur;
nur durch Arbeit und die moralische Qualität von deren Bedingungen, die die Menschen
zugleich der Natur wie sich selbst abringen müßten.
Das proton pseudos hat Kant selbst deutlich benannt, indem er auf die Differenz
von technisch-praktischen und moralisch-praktischen Prinzipien in der menschlichen
Vernunft seine aporetische Moraltheologie aufbaute: Fiele die steile Differenz von tech-
nischer Reproduktion in der Natur und moralischer Praxis, dann könnten die Menschen
sich selbst als alleinige Urheber ihrer Geschichte begreifen und eine vernünftige gesell-
schaftliche Praxis doch einmal aufnehmen.
Von der Möglichkeit solcher Praxis finden sich bislang noch die deutlichsten Spuren
im ästhetischen Verhalten der Menschen zur Welt. Alle gesellschaftlichen und politi-
schen Antizipationen eines menschenwürdigen Lebens, alle Ansätze von Freiheit, sind
zutiefst mit äußerlicher Gewalt von Menschen gegen andere Menschen konfundiert. Daß
darin menschliches Gattungsvermögen mitwirke, ist Kants Bestimmungen des Verhält-
nisses der Subjekte zum Erhabenen zu entnehmen. Dies ist deshalb so, weil er zuvor die
äußerliche Annahme von Teleologie mittels der ästhetischen Urteilskraft im Subjekt ver-
215
Vgl. KdU, V 458.
216
KdU, V 458.
552 O S
ankert. Der geschichtliche Gehalt dieser Zweckmäßigkeit tritt dann im Verhältnis gerade
zum Unzweckmäßigen hervor.
217
Vgl. Reinhard Brandt, Von der ästhetischen und logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der
Natur, a.a.O., 44.
218
Vgl. Dieter Henrich, Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik, a.a.O., 533; die spezifisch
kunstphilosophische Tradition einschlägiger Motive der Kritik der Urteilskraft beginnt erst mit
Schiller (vgl. ebda., 546). Vgl. auch Josef Simon, Kant, a.a.O., 206ff. Das Schöne sei „ästhetischer
Vorschein der Naturerkenntnis“ (217). Vgl. ebenso Reinhard Brandt, Von der ästhetischen und
logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur, a.a.O., 43: „Kant handelt in der Kritik der
Urteilskraft weder vom Schönen und Erhabenen noch vom Zweckmäßigen in der Natur, sondern
vom Rechtsanspruch unserer Urteile über diese Gegebenheiten.“
219
Vgl. auch Erste Einleitung KdU, 27, wo Kant das ästhetische Reflexions-Urteil, wie das Ge-
schmacksurteil hier noch genannt wird (vgl. 47), als Bedingung des ‚Geschäfts‘ von Verstand
und Einbildungskraft, also der Formulierung von Erkenntnisurteilen, bestimmt. Die Priorität der
Naturerkenntnis vor der Kunstbeurteilung im Rahmen der Kritik der Urteilskraft hebt Kant dort
an späterer Stelle eigens hervor (60f.). Vgl. auch Karl Vorländer, Zur Entstehung der Schrift
[d. i. KdU; M.St.], in: Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Hamburg 1990, XVff. Vgl. Hierzu
auch Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 245f. – Ein viel stärkeres Gewicht auf die
Ästhetik legt Jens Kulenkampff (Hg.), Materialien zu Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, a.a.O. Er
konzentriert Probleme und Leistungen der KdU insgesamt um die subjektive Allgemeingültigkeit
des Geschmacksurteils (vgl. 18f.).
Ä: N V S O 553
grundsätzlich immer bestimmte, wirkliche, Erfahrung betrifft, über die keine notwendig
allgemeinen Urteile möglich sind.220 Trotz der Singularität der daraus resultierenden
Urteile beanspruchen die Subjekte für sie Objektivität. Die Frage nach dem Schönen
transportiert damit für Kant jene, wie ein einzelner Gegenstand überhaupt als mögliches
Objekt eines allgemeinen Urteils identifiziert werden kann, wie seine Qualifikation zum
Allgemeinen – seine Erkennbarkeit – schon vor seiner Erkenntnis gewiß werde, so daß
man sich hierüber verständigen könne.
Nur wenn es ein Vermögen im Subjekt gebe, das dies leiste, sei eine zuverlässige
Erkenntnisbeziehung der Subjekte auf Gegenstände der Erfahrung überhaupt zu gewähr-
leisten. Ein solches Vermögen kann aber keine Verstandeseigenschaft sein, da es noch
nicht auf begriffliche Erkenntnis geht;221 es kann aber auch keine bloße Sinneneigen-
schaft sein, da sein Resultat Allgemeinheit zumindest beanspruchen können soll: Daher
sei es einerseits ästhetisch, andererseits aber allgemein. Die allgemeine Verständigung
über Ästhetisches findet Kant nun in der Beurteilung des Schönen. Die Kritik der Ur-
teilskraft ist daher keine Kunstphilosophie im engen Sinne, sondern sie bedient sich der
Diskussion des Kunstschönen, um das Schöne überhaupt bestimmbar zu machen; der
Bestimmung der schönen Kunst bedient sie sich, um den Erfahrungsgehalt der Erkennt-
nisrelation bestimmbar zu machen. Die adaequatio, die Anmessung des Gegebenen an
die Erkenntnisvermögen, unterstellt dabei die Vorstellung der rationalen Beschaffenheit
der Gegenstände, so daß diese zu der rationalen Form der Erkenntnisvermögen in einer
sinnvollen Relation stehen. Die hierin liegende Naturteleologie wird aufgehoben in dem
ästhetischen Urteil, das kein Erkenntnisurteil ist, das aber doch mehr ist als ein Ausdruck
bloßer Empfindung. Dadurch soll die teleologische Vorstellung mitteilbar werden, ohne
doch mit dem Anspruch auf erkannte Gültigkeit, Objektivität, verbunden zu werden.
Die Kritik der Urteilskraft dient damit insgesamt der Ausführung der Naturteleo-
logie, wie sie in der Kritik der teleologischen Urteilskraft erfolgt, und die Kritik der
ästhetischen Urteilskraft setzt die subjektiven Bedingungen, die es ermöglichen sollen,
eine solche Teleologie zu formulieren, ohne in dogmatische Metaphysik zurückzufallen.
Diese Form von Begründung der Möglichkeit von Allgemeinheit soll wesentlich über
die Konstruktion der regulativen Idee einer teleologischen Ordnung hinausgehen, die
das Selbstbewußtsein in offenen Widerspruch versetzte, weil es um der Einheit seiner
Selbstbestimmung willen einer Annahme bedurfte, die diese Selbstbestimmung zugleich
aufhob. Hier wird hingegen die empirische – materiell individuierte – Daseinsweise der
Subjekte ins Verhältnis sowohl mit ihrem intelligiblen Wesen als auch mit der Beson-
derheit ihrer Objekte gesetzt. Kants Versuch, dies in Einheit mit der reinen und mit der
praktischen Vernunft – gar als deren einheitsstiftendes Prinzip – zu konstruieren, repro-
220
Als Beispiel für einen prinzipiell singulären Gegenstand, über den keine substantiellen Erkennt-
nisse formuliert werden können, nennt Aristoteles wie erwähnt die Ilias, andernorts Sonne und
Mond. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1030a und 1040a.
221
Vgl. dagegen Reinhard Brandt, Von der ästhetischen und logischen Vorstellung der Zweckmäßig-
keit der Natur, a.a.O., 50: „Anders also als in der Kritik der reinen Vernunft beginnt die jeweilige
Untersuchung mit Gegenständen, die schon als Erfahrungsobjekte gemäß Anschauung und Ver-
stand bestimmt sind und die nun eine weitere zwiefache Beurteilung ermöglichen oder erfordern,
die des Ästhetischen in der Anschauung und des Teleologischen im Verstand.“
554 O S
duziert indes Widersprüche sowohl als es neue generiert. Schließlich birgt der Ausgang
von Individualität und Besonderheit in der erfahrenden Beziehung auf die Welt eini-
ges der bezweckten Teleologie widerstrebendes Potential. Kant muß dies in den Griff
bekommen, wenn eine wie immer regulative teleologische Vorstellung im Einzelsub-
jekt begründbar sein soll; wo es ihm nicht gelingt, bieten sich aber Ausblicke auf ein
Verhältnis der Subjekte zueinander und zu ihren Objekten, die deutlich über das aporeti-
sche Selbstverständnis von Subjektivität hinausweisen. Kants Absicht ist es hier nämlich
nicht, unter Abstraktion aller Besonderheiten ein transzendentales Erkenntnissubjekt zu
konstruieren. Vielmehr geht es darum, die Welterfassung der Subjekte aus deren be-
stimmter Beziehung auf Erfahrungsgegenstände zu entwickeln. –
Die Funktion des Geschmacksurteils wird erschlossen aus dem Problem der Vermitt-
lung allgemeiner Formen der Erkenntnis mit besonderen Gegenständen. Die Möglichkeit
solcher Vermittlung wurde angezeigt durch die Feststellung der Einstimmung der Er-
kenntniskräfte angesichts eines Gegenstandes. Demgemäß ist dieses Urteil nach vier
kategorialen Momenten bestimmt, und mit ihm das Schöne, als das der Gegenstand ihm
zum Gegenstand wird: Es ist der Qualität nach interesselos ästhetisch und der Quantität
nach allgemein, gleichwohl aber der Relation nach zweckmäßig; der Modalität nach ist
es notwendig, wenngleich subjektiv.
Soll nun das Geschmacksurteil auf den Erkenntnisprozeß bezogen sein, ohne ihm
schon anzugehören, so muß es eine Vorstellung sein, „wodurch gar nichts im Objecte
bezeichnet wird, sondern in der das Subject, wie es durch die Vorstellung afficirt wird,
sich selbst fühlt“222 . Dies sieht Kant im Gefühl der Lust und der Unlust gegeben, weil das
Subjekt seine innere Empfindung hinsichtlich eines Gegenstandes nicht als Bestimmung
dieses Gegenstandes selbst ausgeben könne. Im Gegenteil sei das Wohlgefallen am Ge-
genstand Ausdruck der Beziehung der „Vorstellung gänzlich auf das Subject und zwar
auf das Lebensgefühl desselben“223 . Ein solches Wohlgefallen, da es im Subjekt ver-
bleibt, wäre interesselos, im Unterschied sowohl zu dem Wohlgefallen am Angenehmen,
durch das das Begehrungsvermögen zur Hervorbringung des Gegenstandes zur Befrie-
digung einer Begierde bestimmt würde, als auch zum Wohlgefallen am Guten, das das
obere Begehrungsvermögen zur Hervorbringung des Gegenstandes, zur Erfüllung einer
Pflicht, bestimmte. Jenes wäre von pathologischem Interesse, dieses von moralischem
Interesse begleitet. Das Wohlgefallen am Schönen sei nun nicht derart auf objektive
Realität gerichtet.
Damit aber wird die Lust am Schönen, durch die die Einstimmung der Erkenntniskräf-
te zu einer möglichen Erkenntnis festgestellt wird, von der Realisierung dieser Kräfte zur
wirklichen Erkenntnis radikal abgeschnitten, denn Erkenntnis, insofern sie Naturbearbei-
tung voraussetzt, hat immer ein praktisches Moment. Deshalb darf das Geschmacksurteil
nicht im mindesten auf den bestimmten Begriff bezogen sein. Dann aber wäre das Gefühl
der Lust zwar ästhetisch, jedoch bewußtlos. Dies trifft nicht einmal die Beurteilung von
Kunstwerken, denn die bewußtlose Beurteilung von Kunst, die es – vom billigen Platz
bis zum Dirigentenpult – durchaus gibt, ist snobistische Schwärmerei, die das, was an
dem fraglichen Werk ästhetisch gelungen ist, üblicherweise komplett ignoriert. Außer-
222
KdU, V 204.
223
KdU, V 204.
Ä: N V S O 555
halb der sogenannten schönen Kunst, bei Artefakten und Naturgegenständen, wird es mit
der Begriffs- und Interesselosigkeit des Geschmacksurteils eher noch schwieriger, weil
es zweckmäßig auf den technischen oder intellektuellen Prozeß bezogen ist.
Die Interesselosigkeit des Geschmacksurteils führt in eine Welt, die durchgängig von
Interessen geleitet ist, und zwar von solchen, die zumal den Einzelnen heteronom sind;
sie führt auf eine Abstraktion, die das Gegenstück derjenigen des Handelns aus Pflicht
ist. Wie dieses nur feststellbar war unter zuverlässiger Abstraktion aller Neigung – im
Extrem der Selbstverleugnung des existentiell bedrohten Subjekts – so setzt die Be-
urteilung des Geschmacks die tätige Negation der Interessen voraus: „Nur wenn das
Bedürfniß befriedigt ist, kann man unterscheiden, wer unter Vielen Geschmack habe,
oder nicht.“224 Umgekehrt umgekehrt, nach der Bauernregel ‚Gut’ Sau würgt’s ’runter‘:
Unter mangelhaften Lebensbedingungen, in denen die Bedürfnisse nicht befriedigt wer-
den, wäre kein sicheres Geschmacksurteil möglich. Es wäre allenthalben korrumpiert
durch den pathologischen Mangel, der die freie Beurteilung der Gegenstände, die so im-
mer auch Gegenstände des Begehrens sind, verhindert, und ebenso durch den Mangel
an Freiheit, der das Verhältnis zu den Gegenständen so immer auch zu einem Objekt
des oberen Begehrungsvermögens macht: Wenn das Geschmacksurteil grundsätzlich die
Erfüllung der Bedürfnisse voraussetzt, so setzt es, terminologisch, allgemeine Glückse-
ligkeit voraus. Es ist dann aber nicht schlechthin vorauszusetzen als Bedingung a priori
aller Naturerkenntnis, sondern es ist immer auch Ausdruck des realisierten Standes von
Naturerkenntnis und von deren gesellschaftlicher Situation.
Die negative Bestimmung der Qualität des Geschmacksurteils, ohne Interesse zu sein,
begründet seine Quantität: Beruht es nicht auf Neigungen oder „Privatbedingungen“225 ,
also bloß individuellen Bestimmungsgründen, so muß das urteilende Subjekt annehmen,
daß es auch für alle anderen Subjekte gelten können muß. Dieser Allgemeinheitsan-
spruch ist begrifflich nicht zu erfüllen, weil begriffliche Bestimmungen in dem Urteil
nicht figurieren, er bleibt ein Anspruch. Allgemeine Gültigkeit wird allen anderen Sub-
jekten ‚angesonnen‘, insofern sie über dieselben Seelenvermögen verfügen. Dadurch ist
sie subjektive Allgemeinheit. Das heißt nicht bloß, daß diese Allgemeinheit von einem
Subjekt subjektiv postuliert werde, sondern daß sie zugleich für alle anderen, sofern sie
Subjekte sind, postuliert wird, als ob es ein objektives Urteil sei; nur daß es eben nicht
am Objekt begründet werden kann. Es ist, im Unterschied zum Angenehmen, das besten-
falls auf komparative Allgemeinheit zu bringen wäre, sogar von strenger Allgemeinheit.
Die Realisierung dieser Allgemeinheit setzt aber auch hier jene der Befriedigung der
Bedürfnisse voraus, damit das Schöne vom Angenehmen überhaupt zu unterscheiden ist.
Erschließen läßt sich der Unterschied nur analytisch dadurch, daß im Geschmacksurteil
das Urteil der Lust vorhergehe, im Urteil übers Angenehme aber umgekehrt. Die Lust
am Schönen folgt dem Urteil, daß etwas schön sei; dieses Urteil aber ist von der Emp-
findung des Schönen – der Harmonie der Erkenntniskräfte – doch selbst bestimmt. Die
Abfolge dieses wechselseitigen Bestimmungsverhältnisses kann bloß analytisch ausein-
andergelegt werden.
224
KdU, V 210.
225
KdU, V 211.
556 O S
Nun soll dieses Urteil allgemein mitteilbar sein. Dies aber sind nur Vorstellungen, die
auf Erkenntnis bezogen sind. Da das Geschmacksurteil keine Begriffe selbst erkennt,
muß es doch zumindest etwas bezeichnen, das auf die begriffliche Einheit irgendwie be-
zogen ist. Dies könne nichts Anderes „als der Gemüthszustand sein, der im Verhältnisse
der Vorstellungskräfte zu einander angetroffen wird, sofern sie eine gegebene Vorstel-
lung auf Erkenntniß überhaupt beziehen“226 . Kant nennt dies ein freies Spiel der Er-
kenntniskräfte, da ihre prozessuale Beziehung aufeinander, das ‚Spiel‘, hier nicht durch
ein bestimmtes Objekt begrifflich definiert, eingegrenzt, sei.227 – Wie aber Erkennt-
niskräfte in ein indefinites Verhältnis zu setzen seien, wie dessen Selbstwahrnehmung
aussähe, davon läßt sich positiv gar keine Vorstellung fassen; das freie Spiel ist frei,
weil es frei von Definition ist, nicht weil es frei zu etwas wäre. Von dieser Freiheit auf
ein bestimmtes Geschmacksurteil zu schließen, ist unmöglich. Kants Versuch, dies näher
zu bezeichnen, gibt als Gehalt des freien Spiels ein ‚Erkenntnis überhaupt‘ an, das „auf
Begriffe, obzwar unbestimmt welche, bezogen“228 sei. Dies unterstellt nichts Anderes
als die Negation des Definiten, nämlich die Adäquation des Verhältnisses der Erkennt-
niskräfte an nichts Bestimmtes. Die Harmonie von Verstand und Einbildungskraft im
freien Spiel ist gegenstandslos, ein obskures Gefühl allenfalls, das sich wohl negativ von
Argumenten unterscheidet, das aber sonst nichts Bestimmtes ausdrückt.
Indes verweist die Metapher von der „Harmonie der Erkenntnißvermögen“229 auf die
sogenannte schöne Kunst. Sie ist in Analogie zur harmonischen Form – zur gelunge-
nen Komposition – eines Kunstwerkes zu verstehen. Der „Reflexionsgeschmack“, den
Kant im Unterschied zum bloß privaten „Sinnengeschmack“230 einführt und dessen All-
gemeinheit „die auf keinem Begriffe beruht“ und „nicht mit dem Begriffe des Objects,
in seiner ganzen logischen Sphäre betrachtet, verknüpft“231 sei, könnte aber wohl nicht
einmal auf Kunstwerke angewendet werden, denn das Urteil, ob eine Komposition –
gleichgültig ob von Tönen, Farben, Flächen, Raum oder sprachlichen Vorstellungen –
schön ist, müßte sie als ästhetisch gelungen auffassen. Dies aber ist nicht ohne jede
begriffliche Vorstellung möglich. Daß Kant hier als Modell eine Rose, eine ‚freie Na-
turschönheit‘232 heranzieht, reagiert darauf. Allerdings kann Naturschönheit – wie Kant
weiß – nur in Analogie zur Kunstschönheit233 festgestellt werden, und das heißt, daß ih-
re Beurteilung eine analoge Reflexion auf die Komposition unterstellt. Kant wendet ein:
„Wenn man Objecte bloß nach Begriffen beurtheilt, so geht alle Vorstellung der Schön-
heit verloren.“234 – Damit behält er zweifellos Recht gegen Brechts eher banausische
Behauptung „Zerpflücke eine Rose und jedes Blatt ist schön.“235 Brecht wollte damit
226
KdU, V 217.
227
Vgl. zum ‚freien Spiel‘ auch KdU, V §§ 35 und 40.
228
KdU, V 244.
229
KdU, V 218.
230
KdU, V 214.
231
KdU, V 215.
232
Vgl. KdU, V 229.
233
Vgl. KdU, V 374f.
234
KdU, V 215.
235
Bertold Brecht, Über das Zerpflücken von Gedichten, in: Über Lyrik, Frankfurt am Main 1964,
123. Vgl. ebenso dens., Wie man Gedichte lesen muß, in: Über Lyrik, a.a.O., 128.
Ä: N V S O 557
gegen den Einwand kunstliebender Pioniere argumentieren, die Gedichte vor ihrer In-
terpretation, dem sogenannten ‚Zerpflücken‘ bewahren wollten. Tatsächlich ist dies ein
Vorwand reflexionsfauler Schüler, sich selbst vor der Mühe zu bewahren, die aber, wie
Brecht wußte, durch Anmut allein nicht erspart wird. Das sprachliche Kunstwerk wird
nun dadurch, daß man seiner Komposition mittels Erschließung seiner Elemente gewahr
wird, keinesfalls zerpflückt, sondern es entsteht erst dadurch als ästhetische Vorstellung;
vorher ist Gefühlsduselei. Das Resultat der Zerteilung einer Rosenblüte hingegen sind
tote Naturgegenstände, aus denen sich noch nicht einmal ihr ursprüngliches Ensemble
rekonstruieren läßt, geschweige denn die Vorstellung einer Komposition. Brecht aber hat
gegen Kant Recht damit, daß ohne Verständnis der Komposition des Kunstwerks über
dessen Schönheit nicht zu urteilen sei. Ist aber über Schönheit zu urteilen, reicht die-
ses Urteil über den „natürlichen Hang[] des Menschen zur Geselligkeit“236 hinaus, eben
weil diese Mitteilbarkeit des Gemütszustandes keine bloße Sym-pathie voraussetzt, son-
dern im Kunstwerk etwas antrifft, das unmittelbar Ausdruck menschlicher Freiheit ist
und darin die an sich kollektive Geschichte der Distanzierung vom Naturzusammenhang
exemplarisch transportiert, ohne aber selbst technisch-praktisch zweckmäßiges Element
dieser Geschichte zu sein.
Insofern sind Kunstwerke Luxus, wie es auch reine Wissenschaft nach Aristoteles
sein sollte, aber sie sind ein Luxus, ohne den das freie Selbstbewußtsein der Menschen
keinen objektiven Ausdruck hätte, schon gar nicht unter unfreien Lebensbedingungen.
Unter diesen allerdings ist das Schöne, dessen lustvolle Empfindung, „jedem anderen
im Geschmacksurtheile als nothwendig“237 zuzumuten sei, vom Angenehmen kaum zu
unterscheiden und dies ist nicht mehr angenehm: Wenn jede ästhetische Komposition
Zwecken unterworfen werden kann, die ihr an sich fremd sind, so werden durch sie so
oder so Bedürfnisse bedient.238 Die Begegnung eines Menschen mit einem Kunstwerk
ist in der Zeit der Museen und Konzertsäle das planmäßig Andere des Alltagslebens und
keineswegs zweckfrei vorstellbar. Das schlägt sich auch im Bewußtsein nieder, das die
Werke dann auffaßt. Ist Kunst Ausdruck des freien Selbstbewußtseins, so würde schöne
Kunst in der heteronomen Welt zur Lüge, ihre Prätention auf affirmative Allgemein-
heit zum Massenbetrug, dem noch Walter Benjamin a fortiori aufsaß. Seine Kritik am
problematischen bürgerlichen Kunstideal – der Aura des Ausstellungsstücks – beseitigte
gerade dessen widerständisches Moment: In der Authentizität des Kunstwerks objekti-
viert sich nämlich die Authentizität des künstlerischen Subjekts, dessen Individualität
der Heteronomie nicht erlegen ist. Benjamins Ausführungen zur Massenwirkung der
Kunst ersetzen – gegen seine Absicht wohl – Authentizität des Kunstwerks durch Mani-
236
KdU, V 218.
237
KdU, V 218.
238
Daraus, daß Kunst stets irgendwie funktionell wirkt oder aufgefaßt wird, läßt sich aber nicht zwin-
gend etwas über Kunst selbst sagen, wie dies Reinold Schmücker beabsichtigt: Funktionen der
Kunst, in: Bernd Kleimann/Reinold Schmücker (Hgg.), Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funk-
tion, Darmstadt 2001. Im Grunde versucht Schmücker, den Begriff autonomer Kunst dadurch ad
absurdum zu führen, daß Kunst überhaupt – und unter historischen und sozialen Bedingungen im
besonderen – rezipiert wird. Der so kritisierte Adorno, der das wußte, vertrat keinen affirmativen
Autonomiebegriff, – ohne aber deshalb Autonomie aufzugeben. Vgl. z. B. Philosophie der neuen
Musik, a.a.O., 24f.
558 O S
pulation, so wie schon die frühen plakativen Photomontagen von Massenszenen durch El
Lissitzky von denen der nationalsozialistischen Propaganda formal nicht unterschieden
waren.
Allein, der natürliche Hang zur Geselligkeit, den Kant zitiert, verfällt nicht deshalb
seiner Kritik, weil er mit ebenso natürlicher Ungeselligkeit verschwistert sei, sondern
weil er für sich die Allgemeinheit des Geschmacksurteils nicht bewirke, sondern diese
noch die Abwesenheit von Privatinteressen erfordere. Würden im ästhetisch bestimmten
Gemütszustand keine privaten Interessen verfolgt, dann könnte die Geselligkeit die-
ses Zustandes gar keine ungesellige sein. Die Vorstellung der Allgemeinheit des reinen
Geschmacksurteils bietet so eine Aussicht auf gesellschaftliche Kollektivität ohne Ant-
agonismus.
Der reale Antagonismus jedoch verstellt ästhetische Erfahrung, indem er Kunst, die
irgend wahrzunehmen ist, den Regeln des Betriebs unterwirft.239 Kants Begriff des rei-
nen Geschmacksurteils gerät in Widersprüche. Ob Erkenntnis einmal ein positives äs-
thetisches Moment dieser Art wird haben können, ist vom Standpunkt instrumentell
zugerichteter Erfahrung kaum zu beurteilen. Kunst jedenfalls erhält sich authentisch nur
im Widerstand gegen den Betrieb und wird damit schattenhaft; wahrnehmbar nur unter
Verweigerung der Bedingungen ihrer Wahrnehmung. Das klassische Schöne der Kunst
mußte, um sich zu retten, sich preisgeben. Um erscheinen zu können, mußte es sich
mehr und mehr auf sich selbst, seine innere Möglichkeit, zurücknehmen und zunehmend
diese Reflexion noch am Material darstellen. Wo ihr dies gelingt, da gewährt sie das de-
molierte Lustgefühl einer ästhetischen Erfahrung, die zuinnerst verknüpft ist mit dem
Befremden vor der Wirklichkeit der zweiten Natur, deren Anordnung nicht annähernd
in einem emphatisch sinnvollen Verhältnis zu sich selbst oder zur Subjektivität steht.
So gibt die Kunst schon die Vorstellung einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck, indem
sie sich der Bestimmung durch heteronome Zwecke verweigert und so ein Modell von
Selbstzweck-Sein bietet, dem die Autonomie der Subjekte entspräche. Sie hat aber des-
halb nicht selbst einen Zweck in einem Befreiungsversprechen irgendeiner Art. Solche
Agitation widerspricht gerade ihrem Selbstzweck, der durch Abweisung von Heterono-
mie begründet wurde: So würde sie mittels ästhetischer Wahrnehmung die Subjekte
bereden und dadurch in ihrer Autonomie beschädigen. Aber damit ist eben keine af-
firmative Vorstellung zu verbinden.
Für Kant betrifft die Zweckmäßigkeit, die das Geschmacksurteil bestimmt, zunächst
die Natur. Der Zweck bezeichne den „Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als
die Ursache von jenem (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird; und die
Causalität eines Begriffs in Ansehung seines Objects ist die Zweckmäßigkeit (forma
finalis)“240 . Das kausale Verhältnis von Begriff und Gegenstand ist das des subjektiven
Zwecks, der sich in der Objektivität ein Dasein gibt. Sofern dieser Gegenstand zum
Dasein des Zwecks bestimmbar ist, dieser also in Ansehung von jenem Kausalität
besitzt, ist der Gegenstand zweckmäßig, das heißt diesem Zweck gemäß. Dem korre-
spondiert Kants wiederholt vorgetragene – und in gewisser Hinsicht mit Recht gegen
den Vorwurf des Idealismus verteidigte – Auffassung, das Begehrungsvermögen sei das
239
Dies gilt für Wissenschaft – Philosophie eingeschlossen – nicht weniger.
240
KdU, V 220.
Ä: N V S O 559
Vermögen, „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände
dieser Vorstellungen zu sein“241 . Alle Verteidigungsversuche Kants ignorieren jedoch
ein Moment ganz, nämlich dasjenige, daß Zwecke intelligible Vorstellungen sind,
ihre Realisierungen aber in gegenständlichen Gestalten vorliegen, so daß das Subjekt
der Setzung des subjektiven Zwecks als gegenständliches Wesen auf gegenständliche
Realisationsbedingungen wirken – oder wirken lassen – muß. Es bedarf der Werkzeuge
und des Materials. Nur indem dieses bei Kant als zweckmäßiges vorgestellt wird,
gelingt der Übergang vom subjektiven zum objektiven Zweck. Tatsächlich wird
das Material in der Bearbeitung dem Zweck gemäß gemacht, durch ein Werkzeug,
ein Mittel, das selbst schon aus einer analogen Prozedur hervorging. Damit ist die
Zweckrealisierung nicht sowohl an eine natürliche Zweckmäßigkeit der Gegenstände
gebunden, als vielmehr an Zivilisations- und Kulturprozesse, als dessen Resultat erst die
dem Menschen verfügbare Natur eine Zweckmäßigkeit aufweist. Der Prozeß, in dem der
Begriff Ursache des Gegenstandes wird, kann jederzeit an der bestimmten Materialität
von dessen Gegenständlichkeit scheitern; wo er aber nicht scheitert, sondern Kausalität
auf den Gegenstand beweist, ist dies das Resultat der Geschichte der Überwindung des
unmittelbaren Naturzwanges.242
Aus Kants Reduktion von Zweck und Zweckmäßigkeit ergibt sich nun erst das De-
siderat der Teleologie: Wenn auch die Natur als zweckmäßig erscheint, ohne daß ein
universaler subjektiver Naturzweck anzugeben wäre, so kann doch „ihre Möglichkeit von
uns nur erklärt und begriffen werden […], sofern wir eine Causalität nach Zwecken, d. i.
einen Willen, der sie nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte, zum
Grunde derselben annehmen“243 . Diese Vorstellung ist nun die einer Zweckmäßigkeit
ohne Zweck, zumindest ohne begriffenen Zweck. Nicht jeder Handlung geht eine aus-
führliche Analyse der Handlungsbedingungen voraus. Damit dennoch gehandelt werden
kann, muß das Subjekt stillschweigend die Zweckmäßigkeit dieser Bedingungen unter-
stellen, ohne den bestimmten Begriff eines Zweckes zu haben. Solche Zweckmäßigkeit
241
KdU, V 177 Anm. Vgl. MdS RL, VI 211, und KpV, V 9. Vorsichtiger formuliert Kant in der
Anthropologie, VII § 73: „Begierde (appetitio) ist die Selbstbestimmung der Kraft eines Subjects
durch die Vorstellung von etwas Künftigem als einer Wirkung derselben.“
242
Dies beruht wesentlich auf technischer Naturgestaltung. Günter Ropohl, Technologische Auf-
klärung, Frankfurt am Main 1991, 71, formuliert: „Technik ist eben nichts anderes als die
Überwindung der Natur durch das menschliche Bewußtsein.“ Seine Diagnose des ‚Endes der Na-
tur‘ ist insoweit richtig, als Natur nicht mehr als vom Bewußtsein Unabhängiges zu konstatieren
ist, und zwar schon, seit Menschen überhaupt von unmittelbarer Natur sich unterscheiden. Gleich-
wohl bleiben Menschen gerade in ihrer technischen Gestaltung von Natur selbst Naturwesen, die
sich unter gegenständlichen Bedingungen auf Gegenstände beziehen, die ihnen auch Widerstand
entgegensetzen. Hierauf weist Dieter Hassenpflug hin: Die Natur der Industrie. Philosophie und
Geschichte des industriellen Lebens, Frankfurt am Main 1990, 207. Ebenso Peter Euler, Techno-
logie und Urteilskraft, a.a.O., 178: „Die Natur ist zweifelsohne immer das Gegebene und insofern
kein zu Machendes. Aber die Gestalten, in der [sic!] Natur uns begegnet, genauer: die Formen
der Naturgeschichte, sind nicht unabhängig von unserer Praxis gegeben.“ (Meine Hervorhebungen;
M.St.) – Vgl. auch Paul Guyer, Nature, Art and Autonomy: A Copernican Revolution in Kant’s
Aesthetics, in: Konrad Cramer/Hans Friedrich Fulda/Rolf-Peter Horstmann/Ulrich Pothast (Hgg.),
Theorie der Subjektivität, a.a.O.
243
KdU, V 220.
560 O S
muß nun auch das Geschmacksurteil bestimmen, da es ohne Begriff und ohne Interesse
– das heißt Zweck – auskommen soll. Sein Gegenstand wäre die sinnvoll erscheinende
Anordnung in der Erscheinung, ohne weiteren Begriff derselben. Das Bewußtsein dieser
Anordnung nennt Kant ‚Lust‘, weil die so angeordnete Vorstellung des Gegenstandes
als zweckmäßig zum Spiel der Erkenntniskräfte des Subjekts aufgefaßt wird: Daß eine
Vorstellung, ohne schon erkannt zu sein, überhaupt als formal passend zum subjektiven
Erkenntnisvermögen erfaßt wird, ist der ganze Inhalt dieser ‚Lust‘.244 Damit ist verbun-
den, daß der Gegenstand zwar in den Sinnen gegeben ist, aber das Geschmacksurteil
die Empfindungen, in denen er im einzelnen gegeben ist, nicht berücksichtigt, sondern
auf die bloß formale Konstellation sich bezieht; sonst wäre das ästhetische Urteil nicht
rein, denn die Empfindungen sind immer aufs Angenehme bezogen. Die Vorstellung
repräsentiert den Gegenstand nur soweit, wie er in Absicht auf mögliche Erkenntnis zu
berücksichtigen wäre. Schönheit ist so zuallererst Erkenntnisfunktion, die ‚Zweckmäßig-
keit ohne Zweck‘ unterliegt als solche insgesamt durchaus einem Zweck.
Kants Beispiele stammen bezeichnenderweise zunächst aus dem Bereich der Kunst.
Die Skizze, Vorzeichnung, sei das Wesentliche, die Anordnung der Bildelemente zur
Formkomposition bestimme das Geschmacksurteil, die Farben dagegen bloße Sinnen-
reize, Beiwerk; ebenso seien die Klangfarben der Instrumente ein empfindlerisches Bei-
werk zur Komposition. Nun mag es Menschen geben, deren musikalische Bildung es
ihnen erlaubt, bei der Lektüre einer Partitur abstrakt Lust zu empfinden; dennoch be-
steht die ästhetische Erfahrung der Musik nicht bloß in den mathematischen Relationen
der Töne, sondern ebenso in deren klingender Umsetzung mit je den Instrumenten, für
die das Werk absichtsvoll komponiert oder eben transkribiert wurde. Vollends deutlich
wird dies an sinfonischen Kompositionen, in denen die Instrumente nicht beliebig nach
dem individuellen Empfinden der Zuhörer austauschbar sind, ohne das Werk zu verwan-
deln oder zu zerstören. Der innere Zusammenhang von Form und Farbe, der der Malerei
zugrunde liegt, wurde seit dem Impressionismus als eigenes Prinzip erkannt und ent-
wickelt. Die kompositorischen Bezüge der späten Gemälde von Willy Baumeister sind,
trotz ihrer Schlichtheit, ohne Farbgestaltung nicht aufzufassen, was leicht am Vergleich
einer schwarz-weißen Reproduktion mit dem Original festzustellen ist. Schlichter noch
ist das ‚Schwarze Quadrat‘ von Kasimir Malević als Quadrat nichts, als schwarzes Qua-
drat aber richtungweisend für die Moderne. Nun sind diese besonders in die Augen
springenden Beispiele alle historisch nach Kant entstanden, aber schon zu seiner Zeit
war dasselbe Prinzip des Zusammenhangs von Form und Farbe in der Renaissance und
mit Akzent auf dem Kontrast im Barock durchgeführt worden. Die Moderne hat nur das
Prinzip der Darstellung selbst zum Gegenstand darstellender Reflexion erhoben.
Kant will den Sinnenreiz dem Geschmacksurteil fern halten, weil dieses vorzüglich
auf Erkenntnis bezogen sein soll. Es soll die reine Form der Zweckmäßigkeit erfas-
sen, um diese von der Vorstellung des Weltschöpfers unabhängig zu machen. Es gelingt
Kant aber nicht, das an einem natürlichen Beispiel vorzuführen, weil die Natur kei-
ne Planzeichnungen, keine Partituren anfertigt. Die Sinnenfreiheit, beziehungsweise die
abstrakte Sinnlichkeit des Geschmacksurteils ist ironisch nur an Modellen vorzuführen,
die ganz auf bestimmte sinnliche Erfahrung – und deren vernünftige Rezeption – abstel-
244
Vgl. KdU, V 222.
Ä: N V S O 561
len. Kant gerät damit eher unbeabsichtigt in die Kunsttheorie, die ihm, weil sie Funktion
reiner Erkenntnistheorie sein soll, mißrät. Allerdings ist der Grund, der Kant dazu treibt,
wohl auch der, daß die Zweckmäßigkeit der Welt sich nur in Analogie zur Kunst den-
ken läßt. Das aber liegt daran, daß die Zweckmäßigkeit der Welt schon das Ergebnis
kollektiver Naturbearbeitung, von Zivilisation, ist.
Das Verhältnis zur Natur bleibt problematisch. Blumen und bunte Tiere erklärt Kant
zu freien Schönheiten, als wären es schon blaue Pferde. Das schmückende Ornament
verwirft er als Abbruch an der Schönheit,245 die Natur aber sei zum Schmücken befugt,
gerade weil sie keinen Plan habe. Der Schmuck, beispielsweise der Blume oder des Ko-
libri, habe nicht den Zweck, die Sinne zu reizen; man wisse nicht, wieso das so sei. Die
Kunst aber, die den Schmuck nachmache, die Natur zu Zwecken einspanne, entferne sich
vom Schönen. Und doch wäre ohne ihr Modell Naturschönheit gar nicht zu beurteilen.
Gerade das Ornament, die Tapete, in der die Kunst der Moderne teils als Kunsthandwerk
zugrunde gehen sollte, wird bei Kant zum freien Schönen.246 Gerade die Gestaltung, die
mit Bildkomposition nichts zu tun hat, in der kein innerer Zweck wirkt, soll Bindeglied
zwischen Natur und Komposition sein.
Aus der erkenntnistheoretisch erschlossenen Zweckmäßigkeit ohne Zweck entwickelt
Kant nun den gemeinschaftlichen subjektiven Grund dafür, daß über etwas, für das es
keine objektive Regel gibt, dennoch anders als bloß individuell zu reden sei. Es müsse
eine Idee des Schönen angenommen werden, die aber als ästhetische – nicht als be-
griffliche – unmittelbar als Ideal aufzufassen sei. Weil diesem aber als Vernunftbegriff
doch ein begriffliches Moment zukomme, könne sein Gehalt keine freie Schönheit, die
ganz zweckfrei wäre, sein. Damit kann dies kein Naturgegenstand oder bloßes Ornament
sein, ebensowenig aber ein Artefakt, weil deren begriffliches Moment, ihr Zweck, gegen-
über der besonderen Ausgestaltung zu unspezifisch sei. Nun gibt es nur einen absoluten
Zweck – über jeden besonderen Einfluß erhaben – und dies ist der Mensch als intel-
ligibler Zweck an sich selbst. Um diesem eine ästhetische Qualität zu verleihen, legt
Kant zunächst die sogenannte ‚Normalidee‘ zugrunde, die als statistisches Mittel der
physiognomischen Abmessungen aller Individuen bestimmt wird, – dies ist nicht bloß
ein durchaus langweiliger Homunculus, wie Kant selbst einräumt, sondern das Mons-
trum der Austilgung eines jeglichen Besonderen in den Gestalten der Menschen. Daß es
notwendig erscheint, so etwas vorauszusetzen, um die allgemeine Mitteilbarkeit ästhe-
tischer Gemütszustände denken zu können, mag allerdings als Indiz des gerade realiter
amorphen Zustands der ästhetischen Gemüter genommen werden.
Kant läßt allerdings offen, welchen Eigenanteil die Einbildungskraft der Subjekte
jeweils an dieser Idee habe: Einerseits wird die Idee als Richtmaß der Einbildungs-
kraft wohl schon vorausgesetzt, um jene Schablone zu erstellen, denn „die größte
Zweckmäßigkeit in der Construction der Gestalt, die zum allgemeinen Richtmaß der
ästhetischen Beurtheilung jedes Einzelnen dieser Species tauglich wäre, das Bild,
was gleichsam absichtlich der Technik der Natur zum Grunde gelegen hat, dem nur
die Gattung im Ganzen, aber kein Einzelnes abgesondert adäquat ist, liegt doch
245
Vgl. KdU, V 226.
246
Vgl. KdU, V 229.
562 O S
bloß in der Idee des Beurtheilenden“247 ; andererseits wird deren Gestalt doch erst
durch wirkliche Erfahrung ausgemittelt, denn „ein Neger [hat] nothwendig unter
diesen empirischen Bedingungen eine andere Normalidee der Schönheit der Gestalt
[…], als ein Weißer“248 . Wie auch immer, bestimmt das statistische Mittel eine
zweckmäßige Gestalt, beziehungsweise reduziert die Mannigfaltigkeit der Gestalten
auf deren zweckmäßige Grundgestalt. Die dabei unterlegten Zwecke müssen nun
durchweg äußere sein. Um dies aber zu vermeiden, kombiniert Kant die Normalidee
mit der Vernunftidee, „welche die Zwecke der Menschheit, sofern sie nicht sinnlich
vorgestellt werden können, zum Princip der Beurtheilung seiner Gestalt macht“249 .
Hierin kommt nun Kants moralphilosophische Wendung zur Sinnenwelt zum Tragen,
denn offenbar soll hier die Gestalt des Ideals als zweckmäßig zum moralischen Handeln
bestimmt werden. Der Kritik der reinen Vernunft zufolge läßt sich aber noch nicht
einmal aus moralisch erscheinenden Handlungen der empirischen Charaktere auf
ihren bestimmten Ursprung im intelligiblen Charakter schließen.250 Wie soll nun die
Intelligibilität des Charakters ästhetisch am Ideal vorgestellt werden? Möglicherweise
denkt Kant hier an die römische Portraitplastik, die durch die besondere Anordnung
von Gesichtsfalten Auskunft über Charaktereigenschaften des Portraitierten geben soll.
Dafür sprechen auch seine Besipiele „Seelengüte, oder Reigkeit, oder Stärke oder
Ruhe“. Aber ein „sichtbare[r] Ausdruck sittlicher Ideen, die den Menschen innerlich
beherrschen“ scheint doch auch bei „reine[n] Ideen der Vernunft und große[r] Macht
der Einbildungskraft“251 ausgeschlossen zu sein.
Kant zufolge gebe nun das Ideal zwar eine Vorstellung von der Harmonie von Einbil-
dungskraft und Verstand, so daß jedes Subjekt Anlaß habe, den anderen Beistimmung
zum Geschmacksurteil anzusinnen und so eine subjektive Notwendigkeit zu begründen.
Diese besagt aber nur, daß jeder beistimmen solle, das heißt die Notwendigkeit ist zudem
nur unter einer zusätzlichen Bedingung zu erfüllen. Diese sei die Idee des Gemeinsin-
nes, einer Übereinstimmung aller Subjekte in der „Wirkung aus dem freien Spiel unserer
Erkenntnißkräfte“252 . Das heißt, daß alle Subjekte angesichts desselben Gegenstandes
dasselbe Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand fühlen. Dies sei aller objektiven
Erkenntnis vorausgesetzt, denn wenn Erkenntnis sich allgemein mitteilen lassen soll,
wenn Kooperation aufeinander bezogener Erkenntnisprozesse möglich sein soll, dann
muß sich auch bereits mitteilen lassen, wo ein Objekt möglicher Erkenntnis vorliegt.
Nur scheinbar ist dieser sensus communis etwas ganz Anderes als sein metaphysi-
scher Vorgänger, der für die Vereinbarkeit verschiedener Sinnesempfindungen zuständig
war,253 so daß die Empfindungen ‚weiß‘, ‚kubisch‘, ‚hart‘ und ‚salzig‘ demselben Salz-
247
KdU, V 233.
248
KdU, V 234. Derartige Typbeschreibungen haben vielleicht nicht sowohl die besonderen Men-
schengruppen von sich selbst notwendig, als vielmehr diejenigen, die andere Menschen in solche
Gruppen sortieren und dafür sie gegebenenfalls auch vermessen lassen.
249
KdU, V 233.
250
Vgl. KrV, B 579 Anm.
251
KdU, V 235.
252
KdU, V 238.
253
Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica, a.a.O., I qu. 87, a. 3 ad 3. Zur Funktion der Ver-
mittlung verschiedener Sinne vgl. auch Aristoteles, Über die Seele, Hamburg 1995, 425 a. Dazu,
Ä: N V S O 563
korn zugeordnet werden können. Bei Kant sorgt hierfür die Rekognition im Begriff, die
noch der Apprehension in der Anschauung vorausgesetzt ist. Bei Thomas von Aquin ist
es noch ein Vermögen, das schon oberhalb der partikularen Sinne agiert, aber noch nicht
Intellekt ist. Dieses Vermögen, das schon einen Gegenstand als Gegenstand erfaßt, ob-
wohl er noch nicht erkannt ist, ist dadurch Bedingung der Möglichkeit dafür, daß der
Gegenstand überhaupt erkannt werde. Ebendiese Funktion hat das Geschmacksurteil bei
Kant und es selbst wird möglich durch den sensus communis, eine Funktion der ästheti-
schen Urteilskraft. Für Thomas war das zweckmäßige Verhältnis von Erkenntniskräften
und Gegenstand durch die göttliche Vorsehung und die dieser folgende Anordnung des
Weltganzen hinreichend begründet. Kants Versuch der Säkularisierung dessen gerät al-
so nicht zufällig auf die Kunst als Analogon. Aber die in der freien Zweckmäßigkeit der
Kunst aufgespeicherte kollektive Distanzierung der Menschen vom unmittelbaren Na-
turzwang ermöglicht einen avancierten Begriff der Freiheit der Menschen als Gattungs-
subjekte, der bei Thomas im zunehmenden Interesse für die praktische Naturbearbeitung
sich abzeichnet, im Übergang vom Begriff der Arbeit als Strafe zu einem Begriff erwei-
terter Reproduktion sowie vom bonum omnium zum bonum commune; dieser Übergang
war jedoch in dem Grundgerüst der Theologie der exitus-reditus-Bewegung zwischen
Erbsünde und jüngstem Gericht theoretisch nicht erfüllbar. Kant will nun den Gedan-
ken der Teleologie aufgreifen, ohne doch seine theologischen Konsequenzen tragen zu
müssen.
Hatte die metaphysische Teleologie eine unverfügbar objektive, ontologische, sein
sollen, so will Kant Teleologie ganz auf den problematischen Status einer heuristischen
Bedingung zurücknehmen. Sie bleibt aber unverfügbar, weil sie als notwendige Funk-
tion der Objektivität gilt, deren Abhängigkeit von menschlichem Denken und deren
Geschichtlichkeit selbst von Kant nicht explizit bemerkt werden. Ihre Erörterung aber
im Zusammenhang der Kunst läßt die geschichtlichen Bedingungen der Verfügung der
Menschen über ihre Zwecke und die dazu tauglichen Mittel durchscheinen, und zwar ge-
rade dort, wo Natur als unzweckmäßig erfahren wird, in der Erfahrung des Erhabenen.
daß es sich hier nicht schon um das handelt, was modern ‚Gemeinsinn‘ heißt, vgl. Wolfgang
Welsch, Aisthesis, Stuttgart 1987, 287 ff. Zu den Wurzeln des ‚politischen‘ Gemeinsinnbegriffs
vgl. Christian Helmut Wenzel, Gemeinsinn und das Schöne als Symbol der Sittlichkeit, in: Rein-
hard Hiltscher/Stefan Klingner/David Süß (Hgg.), Die Vollendung der Transzendentalphilosophie
in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, a.a.O., 126ff. oder Georg Kohler, Gemeinsinn oder: Über das
Gute am Schönen. Von der Geschmackslehre zur Teleologie, in: Otfried Höffe (Hg.), Kritik der Ur-
teilskraft, a.a.O., 143ff. Beide verorten den Kantischen Begriff des sensus communis zwischen der
Sinne verbindenen Funktion bei Aristoteles und der Subjekte verbindenden Funktion bei Cicero.
In der grundsätzlichen ‚Unbestimmtheit‘, die ihm als Sinn im Unterschied zu reflexiven Vermögen
zukommt, liegt aber bei Kant seine Funktion. Kohler betont, Kant gehe nicht vermögenspsycho-
logisch von der Existenz eines solchen Sinnes aus, sondern wolle ihn „erklären und ableiten“
(Kohler, 144). Noch genauer wäre das Verfahren vielleicht als ‚Erschließen durch Reflexion auf
ein Problem‘ bezeichnet.
564 O S
254
KdU, V 246.
255
KdU, V 244. In der Ersten Einleitung KdU, 59, hatte Kant noch eine dem Erhabenen eigene
Zweckmäßigkeit als Einordnungskriterium hervorgehoben: „Gleichwohl [obwohl es keine eigne
Technik der Natur, sondern eher Unzweckmäßigkeit beweise; M.St.] würde das Urteil über das
Erhabene in der Natur von der Einteilung der Ästhetik der reflektierenden Urteilskraft nicht aus-
zuschließen sein, weil es auch eine subjektive Zweckmäßigkeit ausdrückt, die nicht auf einem
Begriffe vom Objekt beruht.“ Ob Kant hier schon die moralische Intention im Blick hat, bleibt
offen; das Erhabene scheint einer der Begriffe zu sein, über die Kant sich bei Abfassung dieser
Exposition noch nicht ganz im Klaren war; das meiste Übrige ist dagegen recht detailliert schon
vorhanden.
256
Vgl. Paul Guyer, Nature, Art and Autonomy, a.a.O.
257
Insofern rohe Natur für die Menschen lebensfeindlich ist, kann sie nicht Maßstab von Gesell-
schaftskritik sein. Vgl. Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 174. – Vgl. auch Norbert
Herold, Hoffnung aus der Geschichte?, a.a.O., 206: „Der Mensch könnte sich im Naturzustand gar
nicht erhalten, weil die Natur willkürlich und despotisch verfährt. Schon aus Gründen der Selbster-
haltung wird die Vernunft nicht ruhen, Mittel gegen die Bedrohungen aus der Natur zu entwickeln.
[…] Der bestehende Zustand muß also als selbst gewollt begriffen werden. Entsprechend sind auch
die Schritte zur Verbesserung selber zu tun.“ – Aus dieser, indirekten, Perspektive ist es nicht zu-
treffend, daß man durch die Analytik des Erhabenen „nichts über die Natur“ erfahre (vgl. Michaël
Fœssel, Analytik des Erhabenen, in: Otfried Höffe (Hg.), Kritik der Urteilskraft, a.a.O., 101 und
105.
258
Vgl. KdU, V 245.
Ä: N V S O 565
bei Kant ein implizit künstlerisches Moment, das der Reflex dessen ist, daß im Gefühl
des Erhabenen sich das geschichtlich bestimmte Gattungsvermögen der Menschen mit-
teilt.259
In der ästhetischen Reflexion des Erhabenen als eben des geschichtlichen Gattungs-
vermögens wären die aporetischen Ansprüche des Geschmacksurteils, bis hin zum in-
telligiblen – das heißt moralischen – Interesse am Schönen, allenfalls einzulösen. Für
Kant jedoch bleibt jede geschichtliche Bestimmung des Subjekts, schon gar als eines
kollektiven, stets ein Mangel, eine empirische Beschränkung der Subjektivität. Dagegen
hält er fest am Begriff des Subjekts als eines wesentlich Einzelnen, der eben dadurch,
daß sein geschichtliches Potential nicht reflektiert wird, ein abstrakt geschichtlicher ist,
indem er genau die beschränkte, in sich verkehrte, Gestalt von Subjektivität wiedergibt,
die geschichtlich gegeben ist; aber ohne es zu meinen.
Ausgehend vom Grundproblem der Kritik der Urteilskraft, der Frage, wie die Be-
ziehung der Erkenntniskräfte auf einzelne bestimmte Objekte zu erklären sei, entsteht
das Problem, daß es Objekte gibt, die, allein indem sie gegeben werden, das Vorstel-
lungsvermögen der Subjekte sprengen. Damit erscheinen sie aber „der Form nach zwar
zweckwidrig für unsere Urtheilskraft, unangemessen unserm Darstellungsvermögen und
gleichsam gewaltthätig für die Einbildungskraft“260 . Anders als das Schöne, dessen Form
auf die Vorstellung der Zweckmäßigkeit führte, entzieht sich das Erhabene unmittelbar
dem teleologischen Zusammenhang. Soll dieser Zusammenhang aber überhaupt gedacht
werden, so muß auch das Erhabene, wenigstens mittelbar, in ihn integriert werden.
Stärker als beim Schönen betont Kant deshalb, daß das Erhabene nicht „irgendeinen Ge-
genstand der Natur“ bezeichne, sondern einen Gegenstand, der „zur Darstellung einer
Erhabenheit tauglich sei, die im Gemüthe angetroffen werden kann“261 . Der Gegen-
stand selbst sei eben gerade nicht vorstellbar, und dies vermöchte in einem „schon mit
mancherlei Ideen angefüllt[en]“262 – mithin einem geschichtlich entwickelten – Gemüt
„Ideen, die höhere Zweckmäßigkeit enthalten“263 , aufzurufen. Anders als das Schöne,
das ein direktes „Gefühl der Beförderung des Lebens“264 errege, sei die Auffassung des
Erhabenen durch „negative Lust“265 gekennzeichnet: Es erzeuge zunächst Abneigung im
259
Zur Ästhetik des Erhabenen vgl. auch Anthropologie, VII 241: „Aber es kann und soll die Vorstel-
lung des Erhabenen doch an sich schön sein; sonst ist sie rauh, barbarisch und geschmackwidrig.
Selbst die Darstellung des Bösen oder Häßlichen (z. B. der Gestalt des personificirten Todes bei
Milton) kann und muß schön sein, wenn einmal ein Gegenstand ästhetisch vorgestellt werden soll,
[…] denn sonst bewirkt sie entweder Unschmackhaftigkeit oder Ekel“. Kant geht hier soweit, den
Geschmack als „Moralität in der äußeren Erscheinung“ zu bezeichnen, „obzwar dieser Ausdruck,
nach dem Buchstaben genommen, einen Widerspruch enthält“ (VII 244).
260
KdU, V 245.
261
KdU, V 245.
262
KdU, V 245f.
263
KdU, V 246.
264
KdU, V 245.
265
KdU, V 245.
566 O S
Gemüt, um vermittels der Idee der Erhabenheit ein darüber hinausweisendes Gefühl der
Lust zu erregen.266
‚Gewalttätig für die Einbildungskraft‘ kann der Gegenstand einer Vorstellung nun
hinsichtlich der Unfaßbarkeit seiner Größe nach oder der Bedrohlichkeit seinem Dasein
nach sein, das heißt mit Kant: in mathematischer oder in dynamischer Hinsicht. Kant de-
duziert diese Differenz aus der Gemütsbewegung im Gefühl des Erhabenen, die anders
als die bloß auf Dauer gestellte Kontemplation des Schönen den Gegenstand mathema-
tisch auf das Erkenntnis- oder dynamisch auf das Begehrungsvermögen – nach Kant das
Vermögen zur Wirklichkeit des Gegenstandes – beziehe.
Das mathematisch Erhabene sei nun „das, was schlechthin groß […], was über al-
le Vergleichung groß ist.“267 Die Größenschätzung der Urteilskraft bezieht sich auf alle
möglichen Gegenstände und auf jede ihrer Eigenschaften, so daß „wir selbst die Schön-
heit groß oder klein nennen“268 . Die Größe könne nun – ohne Interesse am Objekt – ein
Wohlgefallen auslösen, das sich auf die Erweiterung der Einbildungskraft anläßlich des
Objekts bezieht. Die Einbildungskraft setze dabei Sinnlichkeit und Vernunft – nicht wie
beim Schönen, den Verstand – in ein Verhältnis, das Kant aber nicht als Spiel, sondern
als Ernst bezeichnet.269 Die ästhetische Größenschätzung beruht einerseits auf der suk-
zessiven Apprehension des Gegenstands und andererseits auf der Komprehension des
Apprehendierten zur Einheit der Objektvorstellung. Nun kann der Umfang des appre-
hendierten Materials derart anwachsen, daß seine Komprehension empirisch nicht mehr
gelingt.270 Im Unterschied zur mathematischen Größenschätzung stößt die ästhetische
notwendig an die Grenze der Reproduzibilität der Vorstellung in der Einbildungskraft,
wenn bereits soviele Teile erfaßt wurden, daß die ersten der Einbildungskraft wieder ent-
gleiten, während sie noch weitere aufnimmt. Gleichwohl verfügt die Vernunft überhaupt
über die Idee des Unendlichen und vermag so die ästhetische Grenze zu übersteigen.
Die endliche Sinnlichkeit wird so durch die Einbildungskraft auf die unendliche Ver-
nunft bezogen, die die Totalität der Mannigfaltigkeit in Einheit fordert.271
Dies zeige „ein Vermögen des Gemüths an, welches allen Maßstab der Sinne über-
trifft. Denn dazu würde eine Zusammenfassung erfordert werden, welche einen Maßstab
als Einheit lieferte, der zum Unendlichen ein bestimmtes, in Zahlen angebliches Ver-
hältniß hätte: welches unmöglich ist. Das gegebene Unendliche aber dennoch ohne Wi-
derspruch auch nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich
ist, im menschlichen Gemüthe erfordert.“272 Damit gelangt Kant bemerkenswerterweise
gerade im ästhetischen Zusammenhang zu dem Begriff des ‚wahren Unendlichen‘, den
er in der Dialektik der reinen Vernunft nicht fassen konnte. Dort blieb es bei der Vor-
stellung des ‚schlecht-unendlichen Progresses‘, dessen transzendierte Vorstellung zum
266
Vgl. auch KdU, V 258; 261f. Kant präformiert hier den ästhetischen Begriff der ‚Erschütterung‘,
der bei Adorno zu einem zentralen Begriff wird. Vgl. Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main
1973, 363.
267
KdU, V 248.
268
KdU, V 249.
269
Vgl. KdU, V 244f.
270
Vgl. KdU, V 252.
271
Vgl. KdU, V 254.
272
KdU, V 254.
Ä: N V S O 567
Absoluten diente. Hier jedoch kommt der Vernunft das Vermögen zu, die Unendlich-
keit des Mannigfaltigen nicht progredierend, sondern durch Begriff – den Begriff der
Einheit – zu denken. Allerdings ist dieser Begriff keineswegs, wie Kant meint, ‚ohne
Widerspruch‘, denn er beruht auf der privativen Negation des Endlichen an ihm selbst,
indem die Un-endlichkeit des ästhetischen Materials gedacht, indem also dessen defi-
nite Bestimmtheit nicht aufgehoben, sondern selbst unter eine über sie hinausweisende
Bestimmung gefaßt werden soll.273 So denkt Hegel die wahre Unendlichkeit als finiten
Ausdruck des Infiniten, der sein Modell an rein reflexiver Selbstbestimmung habe: Was
sich nur auf sich bezieht, hat die Bestimmung, nicht endlich bestimmt zu sein, ist aber
damit zugleich bestimmungslos bestimmt.
Für Kant ist die Idee der Unendlichkeit Gegenstand des Gefühls des Erhabenen. Des-
halb trennt er sie abstrakt von der Sinnlichkeit ab, auf deren Defizit sie doch allein
bezogen wird. Die Achtung, die mit dem Erhabenen einhergehen soll, bezieht sich damit
bloß aufs Vernunftsubjekt, insofern es die Schwäche des ästhetischen Subjekts über-
windet; nicht aber bezieht sie sich auf das vernunftbegabte empirische Subjekt. Darauf
ausgerichtet bestimmt Kant das mathematisch Erhabene als „Größe, die bloß sich selber
gleich ist“, für die es keinen empirischen Maßstab gibt, als „das, mit welchem in Ver-
gleichung alles andere klein ist“, und das letzthin „ein Vermögen des Gemüths beweiset,
das jeden Maßstab der Sinne übertrifft“274 . Insofern die Anwendung der Einbildungs-
kraft auf bestimmte Gegenstände dieses Vermögen anzeigt, kommt diesem Verhältnis
der Erkenntniskräfte Erhabenheit zu, nicht dem Objekt selbst. Bloß abgeleitet – „durch
eine gewisse Subreption“275 – gilt: „Erhaben ist also die Natur in derjenigen ihrer Er-
scheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt.“276
Obwohl das Erhabene sich vom Kunstwerk dadurch unterscheide, daß ihm keine ob-
jektiven Zwecke zukämen,277 bleibt das Urteil übers Erhabene ein ästhetisches, weil
es ohne bestimmte Begriffe vom Objekt auskomme und lediglich das Kontrastverhält-
nis von Vernunft und Einbildungskraft als harmonisch – als subjektiv zweckmäßig –
vorstelle, denn dieses Verhältnis überwinde die Schranke der Einbildungskraft. In der
Erhabenheit, die das Subjekt dem Naturobjekt beilege, drücke sich deshalb bloß die Er-
habenheit der Vernunft über die Einbildungskraft aus. Die unwillkürlich empfundene
Achtung vorm Erhabenen beziehe sich deshalb nicht – nicht oder nur durch Verwechs-
lung – aufs Naturobjekt, sondern eben auf das Gesetz der Vernunft, zu dessen Erfüllung
die Einbildungskraft unangemessen aber gleichwohl angehalten sei.278 Insofern nun die
ästhetische Erfahrung des Erhabenen auf die Achtung vor der Menschheit in der eigenen
Person führt, indem sie die Unendlichkeit der Vernunft zu Bewußtsein bringt, ließe sich
im Anschluß an Kant sagen, daß ein vernünftiges Selbstbewußtsein nur durch ästhetische
Erfahrung möglich sei.
273
Das spiegelt sich seinerseits anschaulich in dem terminus „Weltanschauung“ (KdU, V 254); dieser
ist ebenso in sich widersprüchlich, da ‚Welt‘ kein Gegenstand möglicher Anschauung ist.
274
KdU, V 250.
275
KdU, V 257.
276
KdU, V 255.
277
Vgl. KdU, V 252f.
278
Vgl. KdU, V 256f.
568 O S
Die Beispiele, die Kant anführt, wecken jedoch Zweifel daran, daß diese Erfahrung
eine Naturerfahrung sei. So wird das ästhetische Urteil übers Erhabene, bevor seine
Reinheit gefordert wird, zunächst an Artefakten, an Modellen der Architektur, vorge-
stellt. Wenn die Einbildungskraft beim Betreten des Petersdomes zu Rom von der Fülle
der architektonischen und bildkünstlerischen Details überfordert ist, so liegt dem das
Verhältnis des einzelnen empirischen Subjekts zu der geschichtlich akkumulierten tech-
nischen Erfahrung der Baumeister und Künstler ebenso zugrunde wie auch der Reichtum
und die Herrschaft der Kirche, die diesen Bau ermöglichten. Der Dom ist nicht etwas
schlechthin für Menschen empirisch Unfaßbares, da er von Menschen geschaffen wurde;
wohl aber ist das Fassungsvermögen eines Einzelnen dem augenblicklichen Eindruck
unangemessen. – Deutlicher wird dies noch an den ägyptischen Pyramiden, die Kant
als „Theile, die aufgefaßt werden, (die Steine derselben übereinander)“279 bestimmt.
Die Größe, die durch die Vielzahl der Steine bezeichnet wird, reproduziert auch hier
die technische Erfahrung, den Reichtum, vor allem aber das Leiden der ungezählten
menschlichen Individuen, die diese Steine aufeinandertürmen mußten; insofern sprengt
schon jeder einzelne Stein das Einbildungsvermögen. Über Kant hinaus wäre deshalb
zu sagen, daß nicht bloß hinter der ästhetischen Erfahrung des Erhabenen die Achtung
vor der Menschheit in der eigenen Person steht, sondern daß diese ‚Menschheit‘ selbst
die geschichtlich akkumulierte Erfahrung und Erkenntnis bedeutet, die für die jeweils
lebendigen Menschen kollektiv verfügbar sind.
In der ästhetischen Erfahrung des Erhabenen erkennt jedes Subjekt sich selbst als
geschichtlich mit allen anderen verknüpft, es erfährt sein Gattungsvermögen; diese Er-
fahrung wäre durch Aufklärung bewußt zu machen.280 Die dadurch ermöglichte Achtung
bezöge sich auf dieses Vermögen der Menschen, ihr gemeinsames Leben vernünftig zu
bestimmen, denn zugleich mit dem Gattungsvermögen demonstriert die Erfahrung des
Erhabenen die Instrumentalisierung der Kollektivität zu bloßen Privatzwecken, unter
schwerster Mißachtung der Menschheit in den instrumentalisierten Personen und damit
der Menschheit als solcher – weil es diese anderswo als in den Menschen nicht gibt.281
279
KdU, V 252.
280
In diese Richtung deutet Ludwig Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, Frankfurt
am Main 1967, § 59: „Der einzelne Mensch für sich hat das Wesen des Menschen weder in sich
als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur in der
Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten“.
281
Der in der herrschaftlichen Verfügungsgewalt über das Mehrprodukt der Beherrschten grundsätz-
lich gelegene Widerspruch von universaler technischer Weltgestaltung und partikularer Verfügung
wird im bürgerlichen Zeitalter zum gesellschaftlichen Prinzip. Der gesellschaftliche Zusammen-
hang der Einzelnen durch ihre marktvermittelte Konkurrenz bestimmt daher auch den „technischen
Charakter der Gesellschaft“ (Günter Ropohl, Technologische Aufklärung, a.a.O., 184). Will man
diesen gesellschaftstheoretisch ‚radikal‘ (vgl. ebda.) erklären, steht aber nicht die, wenngleich
beachtliche, Verbreitung von Waschmaschinen, Telephonen, Fernsehern und Autos (vgl. 183) –
allesamt Mittel individueller Konsumtion – im Mittelpunkt, sondern die Verfügung über Produk-
tionsmittel. Von hier aus ist auch Eulers These zu widersprechen, daß „Technologie zum neuen
Allgemeinen wird“ (Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 116), wenngleich der gesell-
schaftlichen Funktion der Naturwissenschaften und der durch sie begründeten Technologie und
Technik eine zentrale Bedeutung für die Gesellschaftstheorie zukommt. Daß ihr Zusammenhang
erst die „tendentiell grenzenlose[] Kapitalisierung“ (119) hervorbringt, charakterisiert sie gerade
Ä: N V S O 569
Wenn Kant anschließend das reine ästhetische Urteil übers Erhabene von diesen Model-
len abzieht und es bestimmt als allein demonstrabel „an der rohen Natur (und an dieser
sogar nur, sofern sie für sich keinen Reiz, oder Rührung aus wirklicher Gefahr bei sich
führt), bloß sofern sie Größe enthält“, weil diese Naturvorstellung nichts enthalte, „was
ungeheuer (noch was prächtig oder gräßlich) wäre“282 , so läßt sich auch dies nicht ohne
Voraussetzung menschlicher Geschichte denken.
Eine Naturvorstellung, die nichts enthält, ‚was ungeheuer, noch was gräßlich oder
prächtig wäre‘, ist nur solchen Naturwesen möglich, die nicht mehr in strikter Abhängig-
keit vom Naturzwang leben. Für die unzivilisierten und unkultivierten Menschen muß an
der Natur fast alles ungeheuer – nämlich zu groß, um zweckmäßig zu sein – oder gräßlich
– als unkontrollierbare Bedrohung – oder aber prächtig – als Gegenstand kultischer Ver-
ehrung – erscheinen. Die Vorstellung der Natur, ‚bloß sofern sie Größe enthält‘, ist keine
ursprünglich-ästhetische, sondern eine höchst sublimierte, die in der Tat voraussetzt,
daß Natur gleichsam laborhaft, ohne wirkliche Gefahr, beobachtet werden kann. Diese
gleichsam erhabene Aussichtsplattform ist aber in den Vorstellungsgewohnheiten mani-
fest gewordene materielle geschichtliche Distanzierung vom unmittelbaren Naturzwang;
indem nun diese Vorstellungsgewohnheit zu Bewußtsein gelangt, kann das Subjekt sei-
ner als eines geschichtlichen Elements der Menschheit gewahr werden. Dies zu begreifen
und nach der unverkürzten Realisierung des Gattungsvermögens zu verlangen, wäre Ge-
genstand begründeter Selbstachtung.283
Die Abstraktion der Naturerfahrung auf ihre Vorstellung, ‚bloß sofern sie Größe ent-
hält‘, weist das mathematisch Erhabene über sich hinaus auf das dynamisch Erhabene:
„Die Natur, im ästhetischen Urtheile als Macht, die über uns keine Gewalt hat, betrach-
tet, ist dynamisch-erhaben.“284 Um der Naturmacht ihre Gewalt zu nehmen, müssen die
Menschen ihr selbst als Macht entgegentreten. Dies können sie nicht als naive vereinzelte
Subjekte, sondern nur als ideell oder reell kollektives Subjekt der Prozesse von Zivili-
sation und Kultur, dessen Bewußtsein in den Einzelnen „ein Vermögen zu widerstehen
von ganz anderer Art“285 aufzeigt. Die dem korrespondierende ästhetische Erfahrung
des Erhabenen ist es, „einen Gegenstand als furchtbar [zu] betrachten, ohne sich vor
ihm zu fürchten“286 , denn die Macht der Natur tritt dem Subjekt zunächst mit dem An-
schein bedrohlicher Überlegenheit entgegen, der Furcht erzeugt. Das in Furcht befangene
Subjekt vermöchte aber kein ästhetisches Urteil abzugeben, sondern bloß ein patholo-
gisch induziertes. Soll die Naturmacht hingegen als erhaben erscheinen können, so muß
als Kapitalbestimmung, als geschichtliches Moment der Entfaltung des Kapitalprinzips. Vgl. Karl
Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., Kap. 13. Daß Marx nicht auf Technik in Gestalt
individueller Komsumtionsmittel, sondern ausschließlich auf Produktionsmittel eingeht, hat nicht
bloß historische Gründe. Mit einer Wendung Adornos wäre die Technisierung der privaten Welt
vielleicht als Verlängerung der Produktion ins Privatleben zu bezeichnen.
282
KdU, V 253.
283
Eine Andeutung des Zusammenhangs von Kultur und Menschwerdung findet sich in der Anthro-
pologie, VII 321ff. Allerdings bleibt es bei Andeutungen, denn Kant hat keinen systematischen
Begriff von Fortschritt; dieser ist für ihn nur durch korrespondierende Entsagung möglich.
284
KdU, V 260.
285
KdU, V 261.
286
KdU, V 260.
570 O S
sie als furchtbar beurteilbar sein, ohne doch Furcht zu erzeugen. Kants Widerstands-
vermögen der besonderen Art beruht durchaus darauf, daß ein Anblick „nur um desto
anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden“287 . Diese
Sicherheit ist Ausdruck der geschichtlich errungenen Distanz vom unmittelbaren Na-
turzwang, und die mit ihr verbundene ‚Erhöhung der Seelenstärke‘ ist eine Anweisung
aufs Gattungsvermögen, die Achtung vor der Menschheit, deren kollektiver Kraft und
deren geschichtlicher Leistung das Individuum seine Sicherheit verdankt. Der bloß tech-
nisch-praktischen Sicherheit korrespondiert der Möglichkeit nach die innere Ruhe der
‚gestärkten Seele‘, die sich im Verband mit ihresgleichen weiß. Vermittelt durch dieses
Bewußtsein erweist sich selbst die ‚rohe Natur‘ indirekt als bearbeitete Natur, denn ge-
rade die rohe Natur, indem sie nicht bloß nicht übermächtig erscheint, sondern faktisch
nicht mehr übermächtig ist, ist das Resultat technischer Distanzierung vom Naturzwang.
Auch deshalb ist die allgemeine Übereinstimmung im Urteil übers Erhabene nicht
so einfach zu erhalten wie die im Urteil übers Schöne. Dieses nämlich betrifft nur die
gewohnheitsmäßige Voraussetzung der Kulturgeschichte in der Vorstellung der allge-
meinen Zweckmäßigkeit der Natur zur Erkenntnis. Das Erhabene betrifft dagegen den
moralischen Kern dieser Voraussetzung, der gar nicht widerspruchsfrei gegeben ist. Das
kollektive Vermögen, das die sukzessive Befreiung vom Naturzwang ermöglicht, ist in
antagonistischer Gestalt realisiert, so daß nicht alle auf gleiche Weise ihre Seele ge-
stärkt finden, so wie dagegen alle, wenn sie nur Zwecke in der Natur verfolgen, auf
gleiche Weise von der Zweckmäßigkeit der Natur ausgehen müssen. Unter Herrschafts-
bedingungen gilt die Befreiung vom Naturzwang primär für die Herrschenden, und zwar
notwendig dadurch, daß sie für die Beherrschten nicht oder vermindert gilt. Diese wer-
den von den Herrschenden zwischen sich und der Natur eingespannt, um für die Herr-
schenden die Distanz zum Naturzwang zu reproduzieren; auch dafür, daß dies technisch
möglich ist, ist aber die allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur vorausgesetzt. – Die dem
Geschmacksurteil korrespondierende Zweckmäßigkeit ist insofern ein bürgerlich-ästhe-
tisches Ideal, als in ihm Standes- und Klassenschranken überwunden scheinen.
In den Naturgewalten spiegelt sich die Erhabenheit der menschlichen Gattung indes
nicht für alle gleich. Im Unterschied zum Schönen scheint eine größere ästhetische und
intellektuelle Bildung oder „Cultur“288 erforderlich zu sein. Die cultura animi, die Kant
hier als Bedingung bloß vermutet, ist eng mit Kultur und Zivilisation überhaupt ver-
knüpft, wie auch das ‚Erkenntnisvermögen‘, auf das Kant hier besonders anspricht: das
Vermögen des Gemüts, für Ideen empfänglich zu sein, eine „Anlage zum Gefühl für
(praktische) Ideen, d. i. zu dem moralischen“289 . Dieses moralische Gefühl bewirke die
zur Erfahrung des Erhabenen erforderliche Distanz zur rohen Natur: „In der That wird
ohne Entwickelung sittlicher Ideen das, was wir, durch Cultur vorbereitet, erhaben nen-
nen, dem rohen Menschen bloß abschreckend vorkommen.“290 Die rohen – nicht von
der Natur distanzierten – Menschen vermögen in der ästhetischen Erfahrung der Natur
nicht Achtung vor der Menschheit in der eigenen Person zu erfahren, nicht ein kollektiv-
287
KdU, V 261.
288
KdU, V 264.
289
KdU, V 265.
290
KdU, V 265.
Ä: N V S O 571
291
Deutlich wird dies an der Unterscheidung von Tugenden der Herrschenden und Tugenden der Be-
herrschten, frappant anhand der Tugend ‚Gehorsam‘. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica,
a.a.O., II-II, qu. 104, sowie Aristoteles, Politik, a.a.O., 1277a f.
292
Vgl. KdU, V 265.
293
KdU, V 265.
294
KdU, V 260f.
572 O S
aus Vernunftreligion erfolge,295 den Widerspruch aus dem Bewußtsein der empirischen
Subjekte heraushalten, beseitigt dadurch aber keineswegs denjenigen Widerspruch, den
das Selbstbewußtsein dieser Subjekte in sich selbst gerade dadurch erzeugt, daß es sich
konstitutionell von ihm unverfügbaren Voraussetzungen abhängig macht.
Indem Kant den Antagonismus nicht in der sittlichen Grundlage des Erhabenen auf-
hebt, sondern ihn umgekehrt zu deren Grund macht, wird das sittliche „Vermögen, uns
als von ihr [der Natur; M.St.] unabhängig zu beurtheilen“ – die „Selbsterhaltung von
ganz andrer Art“296 , mit der die moralische Selbstachtung gemeint ist – unmittelbar zur
Selbstaufgabe verkehrt: Kant denkt die moralische Selbsterhaltung abstrakt als „Kraft
(die nicht Natur ist)“297 . Dies ist nur soweit richtig, als Sittlichkeit kein Naturprodukt ist.
Gleichwohl ist sie Resultat der Versittlichung vernunftbegabter Naturwesen in sukzes-
siver Auseinandersetzung mit der Natur, so daß sie ohne das naturhafte Moment dieser
Wesen ihren Sinn verliert. Kant setzt sie jedoch gegen „Güter, Gesundheit und Leben“,
die gegen sie „klein“, ja sogar gleichgültig erscheinen, insofern „die Menschlichkeit in
unserer Person unerniedrigt bleibt, obgleich der Mensch jener Gewalt [der Natur, die
unsere Moral anficht; M.St.] unterliegen müßte“298 . Die Vorstellung der Erfahrung des
Erhabenen als heroische Gleichgültigkeit der moralischen Selbsterhaltung gegenüber der
möglichen physischen Vernichtung ignoriert, daß diese Erfahrung die kollektive Über-
windung des lebensbedrohlichen Naturzwanges gerade zum Kern hat. Für Kant steht
die widersprüchliche, antagonistisch herrschaftliche Organisationsform dieser Überwin-
dung im Mittelpunkt, die den lebensbedrohenden Naturzwang prinzipiell nur für wenige
überwindet, indem sie die Vielen ihm preisgibt. Das sittliche Moment im Erhabenen
vermag Kant so nur zu retten, indem er es als natürliches Gefühl deklariert. Tatsäch-
lich ist aber das sittliche Bewußtsein ebenso Resultat der kollektiven Distanzierung vom
Naturzwang.
Vom bloßen Bewußtsein davon, nicht Natur zu sein, bis zum Gattungsbewußtsein von
der Einheit der vernünftigen Wesen qua Vernunft, wie es Ansatzweise schon die Sophis-
tik, konsequent aber erst die Stoa formulierte, ist es schon ein weiter Weg; ein weiterer
noch ist es bis zu den moralischen Prinzipien. Diese aber sind durch Naturmächte über-
haupt nicht bedroht. Naturzwang als solcher ist weder sittlich noch unsittlich; er wird
es erst durch das bestimmte Verhältnis, in das die Menschen gemeinschaftlich zu ihm
treten. Aus der gefahrlosen Betrachtung der Naturmächte allein kann daher auch nicht
das Bewußtsein von Moral resultieren. Die Vorstellung, um der sittlichen Selbsterhal-
tung willen sich zerstörerischen Naturmächten preiszugeben, ist absurd, weil dazu, daß
es der Selbsterhaltung bedarf, immer schon andere Menschen erfordert sind. Weil Kant
die substantielle Kollektivität des Naturerlebnisses nicht erkennt, ist das Subjekt nur wie-
der erhaben über seine eigene Natürlichkeit, die sein intelligibles Wesen beschränke.299
295
Vgl. KdU, V 263.
296
KdU, V 261.
297
KdU, V 261.
298
KdU, V 261.
299
Vgl. KdU, V 266f., 269. In diesem Zusammenhang erscheinen dann auch furchtlose Krieger und
der Krieg selbst als erhaben (vgl. KdU, V 262f.). Heideggers Vorstellung, der Grund menschlicher
Freiheit liege in der Möglichkeit, das eigene Leben zu beenden, übersieht ebenso die kollektive
Ä: N V S O 573
Tatsächlich ist es auch nicht erhaben über die gesellschaftliche verfügte Naturgewalt, die
ihm als Gewalt von Herrschaft zugefügt wird, wie an Kants Beispiel von den Pyramiden
leicht zu entwickeln ist; denn in der moralischen Selbsterhaltung geht es unter, und dem
kann keine Lustvorstellung korrespondieren.
Erhaben sind die Subjekte dort, wo ihnen die kollektive Naturüberwindung wenigs-
tens modellhaft erscheint, und zwar nicht in den technischen Produkten, die bloß äußer-
liche Bedingungen von Freiheit darstellen und insofern selbst Naturkräfte – wenngleich
domestizierte – sind. Es sind Modelle der freien Tätigkeit der vom Naturzwang dis-
tanzierten Subjekte: Kunstwerke. In ihnen ist das Gattungsvermögen präsent, in dem
zugleich Naturabhängigkeit und das, was nicht Natur ist, erscheint: die Darstellung, die
mit Naturmaterial arbeiten muß, die aber dieses Material gestaltet und in der Darstellung
die Grenzen der Darstellbarkeit reflektiert: „Erhaben ist das, was durch seinen Wider-
stand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt. […] Man kann das Erhabene
so beschreiben: es ist ein Gegenstand (der Natur), dessen Vorstellung das Gemüth be-
stimmt, sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu denken. […]
Diese Bestrebung und das Gefühl der Unerreichbarkeit der Idee durch die Einbildungs-
kraft ist selbst eine Darstellung der subjectiven Zweckmäßigkeit unseres Gemüths im
Gebrauche der Einbildungskraft für dessen übersinnliche Bestimmung und nöthigt uns,
subjectiv die Natur selbst in ihrer Totalität, als Darstellung von etwas Übersinnlichem,
zu denken, ohne diese Darstellung objectiv zu Stande bringen zu können.“300 Die Dar-
stellung der Grenze der Darstellung ist ein wichtiges Moment moderner Kunst, die auf
ihr eigenes Medium reflektiert. Darin liegt auch ihr sittliches Vermögen zur Autonomie,
so daß dieser Ausdruck nicht bloß negativ die formale Ungebundenheit bezeichnet, son-
dern die Kunst ebenso als Element sittlicher Selbstbestimmung erschließt. Ihr – wenn sie
gelingt – streng individueller, hermetischer, Charakter setzt ebenso kollektive Befreiung
vom Naturzwang voraus als er anzeigt, daß diese einstweilen bloß technisch realisiert
ist. Diese Anzeige hat selbst wieder sittlichen Gehalt.
Daß Kant übrigens den Einwand erwägt, die reale Gefahrlosigkeit in der Begegnung
mit der Naturmacht könne das Erhabene schmälern, indiziert, daß ihm die Geschicht-
lichkeit der Gefahrlosigkeit nicht bewußt ist. Die Möglichkeit des Widerstands gegen
die Herrschaft des Naturhaften, auch in den Menschen, ist dagegen Gattungsvermögen.
Proprium der Gattung ist daher auch nicht ‚ungesellige Geselligkeit‘, der Antagonismus
der Einzelnen, sondern gerade das Vermögen, diesen durch gemeinsame Vernunftan-
strengung zu überwinden.
Für Kant aber ergibt sich die Ästhetik des Erhabenen nicht als die des Widerstan-
des gegen äußere Hindernisse der Sittlichkeit, sondern als deren Internalisierung, als
Antagonismen der vereinzelten Subjekte. Nun habe die Vereinzelung der Subjekte zwei
Momente, einmal das physische, sodann das gesellschaftliche principium individuatio-
nis. Zu kritisieren sei nun nicht das gesellschaftliche zufällige Vereinzelungsprinzip, das
die Bildung sittlicher Individualität verhindert, sondern das Subjekt solle sich über sei-
301
KdU, V 267. Vgl. Michaël Fœssel, Analytik des Erhabenen, a.a.O., 106: „Das Erhabene ist weniger
demokratisch als das Schöne, insofern es eine gewisse moralische Bildung voraussetzt, das heißt
die Fähigkeit des Subjekts, von der sinnlichen Welt abzusehen.“ (Vgl. auch 118). Diese Fähigkeit
würde aber nicht nur subjektiv-moralisch, sondern auch objektiv-moralisch gebildet.
302
KdU, V 269.
303
KdU, V 271.
304
KdU, V 271.
305
KdU, V 271.
Ä: N V S O 575
306
Vgl. z. B. Donatien A.S. de Sade, Juliette oder Die Wonnen des Lasters, Buch 1, Köln 1995, 264ff.
– Die hier angedeutete Verbindung zu de Sade unterscheidet sich eminent von jener, die in der
Dialektik der Aufklärung hergestellt wird (vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik
der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3,
Frankfurt am Main 1988). Dort wird noch die Autonomie wegen der ihr attestierten Inhalts- und
Ziellosigkeit mit der brutalen Willkür des Despoten oder Lustmörders identifiziert. Autonomie hat
indes ein Ziel: die Wirklichkeit der vernünftigen Subjekte. Kants teleologischer Kniff dagegen,
die Abweichung zur Regel zu machen, trifft sich mit de Sade, steht aber nicht im Einklang mit
Kants eigenem Autonomiekonzept. Vgl. auch Günther Mensching, Hat der Marquis de Sade die
Vernunft entlarvt? Zu einem Kapitel der ‚Dialektik der Aufklärung‘, in: Iwan M. D’Aprile/Joachim
Gessinger/Thomas Gil (Hgg.), Transformationen der Vernunft. Aspekte der Wirkungsgeschichte der
Aufklärung, o.O. 2008. – Den radikal aufklärerischen Impuls der Schriften des Marquis de Sade
hat, mit den notwendigen Einschränkungen, Peter Bulthaup hervorgehoben: Artistik des Lustmords.
Zu neueren deutschen Ausgaben der Schriften des Marquis de Sade, a.a.O.
307
Vgl. Leopold von Sacher-Masoch, Venus im Pelz, Frankfurt am Main 2006.
308
KdU, V 269.
309
KdU, V 271.
310
KdU, V 272.
311
KdU, V 262.
576 O S
gehalten werden, schon gesittet zu nennen. Daß ein „Krieg […] mit Ordnung und
Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt“312 , werden könne, ist eine absurde
Naivität, an die freilich noch jener bereits erwähnte kroatische General glaubte,
der befahl, die hinterlistig innerhalb der eigenen Truppen verhafteten muslimisch-
kroatischen Soldaten seien derart in Konzentrationslagern zu arretieren, daß man sich
hinterher dessen nicht zu schämen brauche. Selbst wenn diese Soldaten dann nicht im
Hochsommer in unterirdischen Benzintanks erstickt wären, hätte dies sowenig „etwas
Erhabenes an sich“313 gehabt, wie der wahllose Massenmord als solcher, den ein Krieg
darstellt.
Das Mitleid, die verzagte Verzweiflung, die dieser Zustand der Menschheit in An-
betracht der Erhabenheit, die die Menschen zu erfahren fähig sind, in einem Subjekt
auslösen können, das seine Menschenähnlichkeit noch nicht ganz vergessen hat, bezeich-
net Kant hingegen als „Affect von der schmelzenden Art“314 , der Verweichlichung des
Gemüts anzeige. So beweise ein „theilnehmender Schmerz, der sich nicht will trösten
lassen, […] eine weiche, aber zugleich schwache Seele“315 ; – warum aber nicht eine, die
das Menschsein noch nicht verlernt hat, die die objektive Unerträglichkeit des grundlo-
sen Leidens der Menschen subjektiv empfindet, so wie das Unrecht, das an einem Ort
begangen wird, an allen gefühlt werde?
Kant sieht dieses Problem durchaus. Die erhabene Reaktion auf den mißglückten ge-
sellschaftlichen Zustand sei aber nicht Anteilnahme, sondern Verzicht.316
Da Kant den Befund der bislang gescheiterten Realisierung der Idee der Menschheit
wieder auf die isolierten Subjekte zurückwendet, bleibt diesen als Widerstand gegen
das Unmenschliche nur die Eremitage. Wenn nun aber das Erhabene „durch allgemeine
Mittheilbarkeit unter den andern ästhetischen Beurtheilungen kenntlich unterschieden ist
[und] […] auch durch diese Eigenschaft in Beziehung auf Gesellschaft (in der es sich
mittheilen läßt) ein Interesse bekommt“, wie ist es dann möglich, daß „doch auch die
Absonderung von aller Gesellschaft als etwas Erhabenes angesehen werde, wenn sie auf
Ideen beruht, welche über alles sinnliche Interesse hinweg sehen“317 ? Nicht nur die Wen-
dung des Befundes einer unmenschlichen Menschheit aufs isolierte Subjekt erweist sich
darin als Abstraktion, sondern auch die damit verbundene Bestimmung der Erhabenheit
durch bloße Überwindung sinnlicher Bedürfnisse. Die selbstbestimmte Isolation von der
Gesellschaft ist auch, wenn sie gegen das Bedürfnis nach Gesellschaft vollzogen wird,
nichts Erhabenes, sondern der Abdruck eben der Gesellschaft im Individuum, von der
dies sich abwenden will. Die Abstraktion, die es an ihr nicht erträgt, wiederholt es so an
sich selbst.
Die Empfindung, die nicht sich selbst unempfindlich macht – die weiche Seele –
wird nach Kant unfähig zum Widerstand gegen das Böse, das freilich in ihr selbst lie-
ge. Das Mitleid – Einsicht in den Skandal der Welt – verhindert in der Tat, wie Kant
312
KdU, V 263.
313
KdU, V 263.
314
KdU, V 272.
315
KdU, V 273, vgl. 276.
316
Vgl. KdU, V 276.
317
KdU, V 275.
Ä: N V S O 577
schreibt, die Überwindung der Neigungen, weil eine solche asketische Haltung, die Leid
anrichtet und aufrecht erhält, durch jede authentische ästhetische Erfahrung als sinnlos
bloßgestellt wird. Wer das Leiden anderer nicht erträgt, wird es nicht an sich selbst nach-
vollziehen und dadurch affirmieren. Erhaben ist nicht die Wiederholung des objektiven
Widerspruchs im Subjekt, denn sie überwindet die sinnliche Schranke nur scheinhaft
durch Vernunft, abstrakt. Erhaben ist die ästhetische Erfahrung der Möglichkeit der Auf-
hebung dieses Gegensatzes, oder wenigstens des Bewußtseins der Möglichkeit dieser
Aufhebung, in dem das Gattungsbewußtsein sich über partikulare Interessen erhebt und
die Unwirklichkeit der Menschheit beklagt. Die Tendenz zur Rührseligkeit, die Kant in
seiner Abschätzung der Kitschromanlektüre nicht zu Unrecht moniert, ist bedingt durch
den partikularen Gehalt des bürgerlichen Antagonismus, von dessen Dramatisierung im
bürgerlichen Trauerspiel Karl Kraus meinte, der dramatische Knoten werde darin aus
einem Jungfernhäutchen geschürzt.318 Die bürgerliche Kunst hat es erst lernen müssen,
immer weiter distanzierte Darstellungsformen zu finden, bis hin zu Becketts Spielen oh-
ne Worte.
Wenn die Erfahrung des Erhabenen die Subjekte auf das Freiheitspotential des kol-
lektiven Subjekts ‚Menschheit‘ als Überlegenheit auch der Menschheit in der je eigenen
Person hinweist, so wird in der Reflexion aufs Gattungssubjekt erst der Umfang des
Selbstzweckseins der Subjekte erfaßbar: „Eben das ist von dem Erhabenen und Schö-
nen in der Menschengestalt zu sagen, wo wir nicht auf Begriffe der Zwecke, wozu alle
seine Gliedmaßen da sind, als Bestimmungsgründe des Urtheils zurücksehen und die
Zusammenstimmung mit ihnen auf unser (alsdann nicht mehr reines) ästhetisches Ur-
theil nicht einfließen lassen müssen, obgleich, daß sie jenen nicht widerstreiten, freilich
eine nothwendige Bedingung auch des ästhetischen Wohlgefallens ist.“319 Die Abstrak-
tion von der äußeren Zweckmäßigkeit des bestimmten Körpers, seiner Fähigkeit, in der
Natur und gegen ihre Bedrohungen überleben zu können, hebt die eigene innere Zweck-
mäßigkeit des Subjekts an sich selbst hervor. Dafür ist sowohl die gelungene Befreiung
vom Naturzwang durchs kollektive Subjekt vorausgesetzt, als auch, daß dies in der stili-
sierten Darstellung der erhabenen Menschengestalt erscheint; daß diese Stilisation – die
Darstellung der Gattungssubjektivität im Individuum – nur durch Abstraktion von der
empirischen Individualität möglich ist, hebt jedoch das reale Mißverhältnis von Indivi-
duum und Gattung hervor. In der sittlichen Verfassung der Gattung wäre „die Gesetz-
mäßigkeit der Urtheilskraft in ihrer Freiheit“320 nicht notwendig eine Abstraktion, die
freie Form nicht bloß Protest gegen die Unfreiheit der realen Gestalt.
Festzuhalten ist aber an Kants Generalthese, daß die ästhetische Betrachtung die Natur
nicht als zweckmäßig bereitgestelltes Mittel zu fremden Zwecken auffaßt. Sie kann Natur
durch ihre Betrachtung als Ausdruck der Befreiung vom Naturzwang – auch von dem ge-
318
Vgl. Karl Kraus, Die Büchse der Pandora, in: Heine und die Folgen. Schriften zur Literatur,
Stuttgart 1986, 6 (vgl. Die Fackel Nr. 182). Hegel hat herausgearbeitet, daß der sittliche Konflikt
in der klassischen Tragödie ein substantiell anderer war als in den bürgerlichen Trauerspielen.
Vgl. Vorlesungen über die Ästhetik III, in: Werke, Bd. 15, hg. v. E. Moldenhauer/K. M. Michel,
Frankfurt am Main 1986.536
319
KdU, V 270.
320
KdU, V 270.
578 O S
321
Vgl. KdU, V 274.
322
Vgl. Arnold Schönberg, Moses und Aron. Oper in drei Akten, Mainz u. a. 1957, 8.
323
Vgl. KdU, 264.
324
KdU, V 270. Michaël Fœssel, Analytik des Erhabenen, a.a.O., 103, bestimmt Kants Vorstellung
von der Perspektive der Dichter als eine „ohne […] irgend eine kognitive Finalität“. Damit ist
Kants Mißverständnis von Kunst präzise ausgedrückt. Die ästhetischen Naturdarstellungen, auf die
Kant sich bezieht, transportieren aber immer schon die zweite Natur in Gestalt der ersten und
beeinflussen so auch Kants Naturvorstellung.
Ä: N V S O 579
Menschen, so doch Zeichen von Kultur in den Landschaften enthalten, oder die Perspek-
tive des Betrachters erweist sich als eine real unmögliche. Darin ist reflektiert, daß das
Gefühl gegenüber der Natur eines des Menschen gegenüber sich selbst ist, – daß noch
die Einsamkeit des Wanderers ein Ausdruck von Kultur ist. Es ist dann nicht die Beherr-
schung der Sinnlichkeit durch die Sittlichkeit, sondern die Erweiterung des subjektiven
Selbstbewußtseins durch die Reflexion auf den kollektiv-geschichtlichen Charakter der
Ablösung von der Natur zum Gattungssubjekt, zum kollektiven Selbstbewußtsein. Das
vorübergehende Interesse für Industriemotive im Impressionismus bringt dieses Pathos
auf den Punkt, an dem es zerplatzt, weil die vergesellschafteten Kräfte nun in der Wirk-
lichkeit systematisch gegen die einzelnen Menschen gewendet werden. Die kultivierte
Welt taugt nicht mehr zum ästhetischen Gegenstand. Konsequent hebt die Entwicklung
der Malerei sie abstrakt auf, erschafft in der Einbildungskraft Darstellungen der Undar-
stellbarkeit der Welt. Damit ist es nicht die Begrenzung der Einbildungskraft, sondern
ihre Erweiterung aus der Vernunftidee des Sittlichen heraus, die den Menschen ästheti-
sche Modelle ihrer Erhabenheit präsentiert.325 –
Kant zeigt nun selbst ein moralisches Interesse auch in Beziehung auf das Schöne an,
das er als Resultat einer „Deduction der reinen ästhetischen Urtheile“326 entwickelt. Die-
se Deduktion betrifft den Nachweis der Möglichkeit der notwendigen und allgemeinen
Geltung des Urteils über das Schöne. Diese Gültigkeit konnte in der Exposition lediglich
als notwendige Bestimmung solcher Urteile ermittelt, nicht aber in ihrer Möglichkeit
begründet werden, da diese Urteile die Zweckmäßigkeit einzelner gegebener Objekte
betreffen. Die Exposition der Urteile übers Erhabene dagegen war „zugleich ihre De-
duction“327 , weil diese Urteile subjektimmanent die übers Empirische erhabene Freiheit
des Willens bezeichnen, die als Vermögen a priori notwendig und allgemein ist. Diese
Zweckmäßigkeit fürs moralische Selbstbewußtsein, die dem Erhabenen Allgemeinheit
verleiht, soll nun auch dem Schönen nachgewiesen werden, obgleich der erkenntnis-
theoretische Status des Schönen zunächst eher dagegen spricht, daß auch ihm praktische
Allgemeinheit zukommen könnte, da es ja die zweckmäßige Zusammenstimmung der
Erkenntniskräfte in Ansehung eines Naturobjekts, nicht aber in Ansehung der eigenen
Vernunftideen betrifft.328 Obwohl Kant den sittlichen Zusammenhang der Zweckmäßig-
325
Da Kants Kunstbegriff produktionsästhetisch um den Begriff des Genies zentriert ist, und da das
Kunstschöne in Analogie zum Naturschönen bestimmt wird, fällt ihm ein solcher Begriff von
kunstgeschichtlicher Entwicklung schwer. Vgl. KdU, V §§ 47 und 49.
326
KdU, V 279.
327
KdU, V 280. Die systematische Stellung der Deduktion der reinen ästhetischen Urteile hebt Chris-
tian Iber angemessen hervor: Warum bedürfen Geschmacksurteile nach Kant einer Deduktion?,
a.a.O., 104. Er wendet sich damit gegen die verbreitete Auffassung, es handele sich bloß um eine
Zusammenfassung der Analytik des Schönen.
328
Birgit Recki führt aus, daß die moralische Bedeutung des Schönen, bis hin zur Funktion als Sym-
bol des Sittlichguten (vgl. KdU, V § 59), die „Eigenart des Ästhetischen“ (Die Dialektik der
ästhetischen Urteilskraft und die Methodenlehre des Geschmacks, in: Otfried Höffe (Hg.), Kritik
der Urteilskraft, a.a.O., 208) nicht einschränke. Ob Kant deshalb bereits „der große Kronzeu-
ge der ästhetischen Moderne […] [der] Autonomie der Kunst“ (ebda.) sei, ist aufgrund Kants
Einlassungen zum Schönen wie zur Kunst vielleicht doch zu bezweifeln. – Auch Christian Iber
hebt den Autonomie-Gedanken hervor (vgl. Warum bedürfen Geschmacksurteile nach Kant ei-
580 O S
keit der Natur mit der kollektiven Distanzierung vom Naturzwang nicht sieht, setzt sich
auch bei ihm ein moralisches Moment des Ästhetischen durch. Kant will den Anspruch
seiner Kritik der Urteilskraft – die Verbindung von Erkenntnis und Praxis – erfüllen,
indem er bereits dem für die Erkenntnis grundlegenden ästhetischen Verhältnis des Sub-
jekts zum Naturobjekt eine praktische Implikation nachweist.
Das Kernproblem dieser Deduktion besteht darin, „die allgemeine Gültigkeit eines
einzelnen Urtheils, welches die subjective Zweckmäßigkeit einer empirischen Vorstel-
lung der Form eines Gegenstandes ausdrückt“329 , nachzuweisen. Es geht nicht darum,
einer Klasse von Gegenständen das Prädikat ‚schön‘ universell zuzusprechen, sondern
darum, das Wohlgefallen an einem singulären Gegenstand für alle Subjekte als gültig
zu behaupten.330 „Daher sind auch alle Geschmacksurtheile einzelne Urtheile, weil sie
ihr Prädicat des Wohlgefallens nicht mit einem Begriffe, sondern mit einer gegebenen
einzelnen empirischen Vorstellung verbinden.“331
Das Problem des einzelnen Urteils begegnet schon in der Aristotelischen Behauptung,
über die Ilias ließe sich nichts mit wissenschaftlicher Bestimmtheit sagen. Gleichwohl
hat er diese unmögliche Rede in der Poetik geführt. Dort ist keineswegs das Instrumen-
tarium der Formanalyse der Grund des gemeinschaftlichen Urteils über die Kunstwerke,
sondern es ist einesteils die Lust an der Nachahmung, andernteils das Jammern und
Schaudern, das eine gelungene künstlerische Darbietung im Betrachter erweckt. Damit
ist nicht ein affektives bloß subjektives Verhältnis zum Werk gemeint, sondern eine re-
flektierte ästhetische Erfahrung, die Aristoteles „Reinigung der Affekte“332 nennt; nicht
eine Eliminierung der Affekte – ‚Charakterstärkung‘ –, sondern eine Reflexionsform
des Affekts, die zwischen Sinnlichkeit und Idee vermittelt.333 Damit kommt ihr teils die
Funktion zu, die Kant dem Erhabenen zuteilt, bezogen aber aufs Schöne. Das Schöne
– die ästhetische Form – erschüttert in der griechischen Tragödie und im Epos, weil in
ihnen dem Subjekt seine zivilisationsgeschichtliche Bedingtheit vorgeführt wird: Es be-
greift sein Dasein als Resultat brutaler Gewalt, sein zweckmäßiges Verhältnis zur Natur
als Resultat der Ablösung vom Naturzwang, der als Willkür der Götter in den sprachli-
chen Kunstwerken präsent ist.
Die kontemplative Vorstellung des Schönen bei Kant setzt einen Stand der Zivilisation
voraus, in dem die Herausarbeitung aus dem Naturzusammenhang schon Vorgeschichte
geworden ist, so daß technische und moralische Praxis schon als getrennt erscheinen und
nicht ohne Schwierigkeit wieder vereinbar sind.
ner Deduktion?, a.a.O., 110). Die begriffliche Unabhängigkeit oder Unabhängigkeit vom Begriff,
die der ästhetischen Erfahrung zukommt, ergibt sich bei Kant aber zunächst aus dem erkenntnis-
theoretischen Problem der Möglichkeit, die Erkenntnisvermögen vor der Erkenntnis überhaupt auf
Gegenstände zu richten; dafür kann es konzeptionell kein epistemologisches Beispiel geben. Die
Kunst tritt hierfür ein, weil sie es erlaubt, objektivierte Zweckmäßigkeit zu beschreiben.
329
KdU, V 280f.
330
Vgl. KdU, V 285.
331
KdU, V 289.
332
Vgl. Aristoteles, Poetik, Stuttgart 1982, 1449b.
333
Vgl. Michael Städtler, Katharsis als Versöhnung? Zur politischen Bedeutung eines Begriffs der
Ästhetik, in: Hegel-Jahrbuch 1999.
Ä: N V S O 581
Aus der Einzelnheit des Urteils übers Schöne ergeben sich zwei Eigentümlichkei-
ten dieses Urteils. Es ist wohl a priori allgemeingültig, aber nicht durch seine logische
Form; und es ist notwendig, kann aber nicht bewiesen werden. In beiden Hinsichten wä-
re ein universaler terminus erforderlich. Das praktische Moment am Geschmacksurteil
erscheint darin, daß dieses „auf Autonomie Anspruch“334 macht: Die erwartete Beistim-
mung soll nicht aus äußerlicher Nachahmung – Anwendung erlernter Geschmacksregeln
– erfolgen, sondern aus individueller Nachfolge; das Urteil der Beistimmung muß ebenso
individuell selbständig sein, wie das Geschmacksurteil selbst. Die Beistimmung erweist
sich dadurch als analog einem Akt vernünftiger Willensbestimmung, dessen Grund die
freie Subjektivität selbst ist, deren ästhetische Erfahrung Kant sich gleichwohl nicht an-
ders vorstellen kann, denn als Zusammenstimmung der Freiheit der Einbildungskraft
mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes.335 Damit ist nun nicht etwa das Zusammenwir-
ken von Einbildungskraft und Verstand im Kunstwerk gemeint, sondern die Anweisung
der freien Einbildungskraft auf Teleologie. Freie Subjektivität erfülle sich in der Vor-
stellung ihrer Aufhebung in höhere Zweckmäßigkeit und es ist „nicht die Lust, sondern
die Allgemeingültigkeit dieser Lust, die mit der bloßen Beurtheilung eines Gegenstan-
des im Gemüthe als verbunden wahrgenommen wird, welche a priori als allgemeine
Regel für die Urtheilskraft, für jedermann gültig, in einem Geschmacksurtheile vorge-
stellt wird“336 . Zwar bleibt trotz der Anweisung auf Teleologie das Geschmacksurteil
ein wesentlich subjektives, dessen Allgemeinheit lediglich die „Lust, als der Vorstellung
desselben Objects in jedem andern Subjecte anhängig, a priori, d. i. ohne fremde Bei-
stimmung abwarten zu dürfen, beurtheilte“337 . Aber es ist kein individuelles Urteil. So
würde es zur bloßen Idiosynkrasie.
Die Subjektivität des Urteils öffnet dagegen den Weg zur Allgemeinheit, insofern das
Urteil auf die formalen Bedingungen der Subjektivität reduziert werden kann.338 Da-
mit ist die Deduktion der Möglichkeit seiner Allgemeinheit schon gegeben: Wenn die
Urteilskraft auf die formalen subjektiven Bedingungen des Urteilens gerichtet sei, die
alle Menschen gemeinsam haben, „so muß die Übereinstimmung einer Vorstellung mit
diesen Bedingungen der Urtheilskraft als für jedermann gültig a priori angenommen
werden können. D.i. die Lust oder subjective Zweckmäßigkeit der Vorstellung für das
Verhältniß der Erkenntnißvermögen in der Beurtheilung eines sinnlichen Gegenstandes
überhaupt wird jedermann mit Recht angesonnen werden können.“339 Vorausgesetzt ist,
daß sich „Menschen ihre Vorstellungen […] mittheilen“ können, was unmöglich wäre,
wenn nicht „[b]ei allen Menschen […] die subjectiven Bedingungen dieses Vermögens,
was das Verhältniß der darin in Thätigkeit gesetzten Erkenntnißkräfte zu einem Erkennt-
niß überhaupt betrifft, einerlei“340 wären.
334
KdU, V 282.
335
Vgl. KdU, V 287.
336
KdU, V 289.
337
KdU, V 288.
338
Vgl. KdU, V 282.
339
KdU, V 290.
340
KdU, V 290 Anm.
582 O S
Die Funktion der kollektiven Bestimmung des Selbstbewußtseins soll der sensus com-
munis leisten, der als „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes“ die Subjektivität des eige-
nen Urteils am Maßstab der „gesammte[n] Menschenvernunft“ auf mögliche Objektivität
überprüft.341
Die aus der bloßen Erkenntnisfunktion der Urteilskraft immanent begründete Mög-
lichkeit der Allgemeinheit des Geschmacksurteils setzt insofern Verstand und Vernunft
in Verbindung, als das Verhältnis von Verstand und Einbildungskraft Anweisung auf
die Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur gibt, die in die Vernunft – das Vermö-
gen der Zwecke – fällt: Zwecke in der Natur zu verwirklichen, ist möglich, wenn diese
zweckmäßig ist. Mit der Realisierung von Zwecken aber wäre Interesse verbunden, das
nun dem interesselos begründeten Geschmacksurteil mitfolgen müßte.342 Die Verbin-
dung der Lust an der bloßen Form, die begriffslos ist, mit der Lust am Dasein, die ein
Objekt bestimmen müßte, erfordert einen Vermittlungsgrund, der entweder empirisch in
den Neigungen oder intelligibel in der Moral liegen könnte. Die empirischen Interessen
am Schönen schließt Kant nun aus, mit der beachtlichen Begründung, daß diese immer
gesellschaftlich vermittelt seien: Das unmittelbare Interesse sei die „Geselligkeit […] als
zur Humanität gehörige Eigenschaft“343 , alles empirische Interesse an der Mitteilbarkeit
von Lust gehe immer hierauf zurück. Immerhin begegnet der Ausdruck der Geselligkeit
hier ohne sein notorisches proprium ‚ungesellig‘; dies hätte Kant als Indiz für die mo-
ralische Qualität ästhetischer Erfahrung nehmen können. Dagegen bestimmt er aber das
empirische Interesse aufgrund der Abhängigkeit von der Gesellschaft als jederzeit zu-
341
KdU, V 293. Die „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ gehören, entgegen Kants Auffas-
sung, durchaus hierher, denn sie demonstrieren den geschichtlichen Charakter dieser kollektiven
Einheit des Verstandes: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit
sich selbst einstimmig denken.“ (KdU, V 294. Vgl. dazu Birgit Recki, ‚An der Stelle [je]des
anderen denken‘. Über das kommunikative Element der Vernunft, in: Die Vernunft, ihre Natur,
ihr Gefühl und der Fortschritt, a.a.O., 111ff.). Dies wären die Bestimmungen eines aufgeklärten
Subjekts in einer aufgeklärten Gesellschaft. Wo aber Vorurteile Allgemeingut sind, wird das vorur-
teilsfreie Urteil zur Schrulle: Der Aufrichtige wird, „weil er das Böse, was einmal zum öffentlichen
Gebrauch (zur Mode) geworden, nicht mitmacht […][,] als ein Sonderling dargestellt“ (Anthropo-
logie, VII 293); wo die Menschen durch Konkurrenz überhaupt gesellschaftlich verbunden werden,
versetzt man sich an die Stelle der anderen, um ihnen zuvorzukommen; wo Konsequenz im Han-
deln die Existenz der Handelnden bedroht, wird die im Denken korrumpiert. Deshalb kann Kant
nicht die ontologische Vorstellung der unitas intellectus bemühen, die als moralische Forderung zu
wenden wäre, obwohl er in wissenschaftlicher Hinsicht daran festhält: „Es ist die bloße Idee von
einer Person [des Philosophen; M.St.], die den Endzweck alles Wissens sich praktisch und (zum
Behuf desselben) auch theoretisch zum Gegenstande macht, und man kann diesen Namen nicht im
Plural, sondern nur im Singular brauchen (der Philosoph urtheilt so oder so): weil er eine bloße
Idee bezeichnet, Philosophen aber zu nennen eine Vielheit von dem andeuten würde, was doch
absolute Einheit ist.“ (Anthropologie, VII 280). – Übrigens geht es Kant bei der zweiten Maxime
nicht um die Berücksichtigung fremder Perspektiven und Interessen, sondern darum, „sich (in der
Mittheilung mit Menschen) an die Stelle des anderen zu denken“ (Anthropologie, VII 200), sich
„den Begriffen Anderer [zu] bequemen[]“ (Anthropologie, VII 228), also bloß um eine liberale
Darstellung, die aber den Gedanken selbst nicht modifizieren soll.
342
Vgl. KdU, V § 41.
343
KdU, V 296f.
Ä: N V S O 583
fälliges, das keine notwendige Verbindung von Ästhetik und subjektiven Zwecken biete,
um die es hier zu tun sei.
Tatsächlich ist ästhetische Erfahrung durch den Prozeß der kollektiven Distanzierung
vom Naturzwang nicht indirekt, sondern direkt gesellschaftlich, durch ein kollektives In-
teresse, bestimmt.344 Dieses ist aber nicht nur zufällig, sondern es weist ein Moment von
Freiheit auf, das erst durch seine kollektive Verkehrung in die Freiheit einiger durch die
Unfreiheit anderer die Trennung von gesellschaftlicher ästhetischer Erfahrung und Sitt-
lichkeit begründet. Diese Trennung nun nicht durch fortgesetzten geschichtlichen Prozeß
zu überwinden, sondern sie in einem Interesse a priori als per se überwindbar zu fassen,
dient das ‚intellektuelle Interesse am Schönen‘345 . Hiervon bleiben allerdings Kunst-
werke generell ausgeschlossen, weil sie „die Eitelkeit und allenfalls gesellschaftliche
Freuden unterhaltende[] Schönheiten“346 seien.
Die Gesellschaftlichkeit lasse das Kunstwerk hinter die Naturschönheit zurücktreten,
obgleich es „der Form nach“347 – also doch wohl hinsichtlich seiner Schönheit – sie über-
treffe. Dies müßte Grund genug zum Zweifel an der Verfassung der Gesellschaft sein,
nicht aber sowohl dazu, in dem Naturliebhaber „eine schöne Seele voraus[zu]setzen, auf
die kein Kunstkenner und Liebhaber um des Interesse willen, das er an seinen Gegen-
ständen nimmt, Anspruch machen kann“348 . Mehr noch behauptet Kant, daß Kunstin-
teresse keinerlei moralisches Denken anzeige, wogegen „ein unmittelbares Interesse an
der Schönheit der Natur […] jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele sei“349 ; dies
gilt, sofern das Interesse sich bloß auf die Form, nicht auf die Sinnenreize bezieht, also
ein Interesse darstellt, das nicht vitaler Natur ist. Das allerdings hätte das Kunstwerk mit
dieser Naturästhetik gemein: Zwar spricht es Sinne an, aber die Neigung der Sinne zum
Kunstwerk hat keine vitale Funktion, wie eine solche in der Neigung zur Natur liegt und
in der zur magischen Kunst noch vorgestellt wurde. Auch darin bewiese sich der sittliche
Charakter der Kunst.
Kant jedoch parallelisiert dem intellektuellen Wohlgefallen am Schönen in der äs-
thetischen Urteilskraft ein intellektuelles Wohlgefallen am moralischen Gesetz in der
intellektuellen Urteilskraft, das gleichwohl ein Interesse an seinem Gegenstand hervor-
bringe. Tatsächlich ist das moralische Gesetz, Kants eigener Herleitung zufolge, als
positive Wendung der negativen Freiheit immer schon wesentlich reflektiertes Interes-
se, nämlich die durch Reflexion begründete Vorstellung der Abwesenheit pathologischer
Handlungsgründe. Das Interesse im moralischen Bewußtsein geht deshalb nicht erst
nachfolgend, sondern negativ schon primär auf die objektive Realität der Moral. Diese
geforderte Realisierung ist nur in der Natur, unter Naturbedingungen, möglich. Deshalb,
344
Das scheint in einer Formulierung Kants aus der Anthropologie durch: „Er [der Geschmack] ist
also ein Vermögen der gesellschaftlichen Beurtheilung äußerer Gegenstände in der Einbildungs-
kraft. — Hier fühlt das Gemüth seine Freiheit im Spiele der Einbildungen (also der Sinnlichkeit);
denn die Socialität mit andern Menschen setzt Freiheit voraus, – und dieses Gefühl ist Lust.“ (VII
241).
345
Vgl. KdU, V § 42.
346
KdU, V 300.
347
KdU, V 299.
348
KdU, V 300.
349
KdU, V 298.
584 O S
A fortiori gilt deshalb jener Hinweis auf die subjektive Möglichkeit von Autonomie
in der Betrachtung von Kunstwerken, denn in diesen – sofern und soweit Authentisches
in ihnen ist – ist Freiheit, wie verhalten und verstellt auch immer, schon als subjektives
Prinzip zur Objektivität gebracht worden. Darin kann sie eine Ahnung von Freiheit bie-
ten, auch unter unfreien Bedingungen, wenn es ihr gelingt, die durch solche Bedingungen
geschliffene Erfahrung zu verstören und in der ästhetisch gestalteten verstörenden Er-
fahrung die Erinnerung an die menschliche Geistfähigkeit und mit ihr an die Fähigkeit
zur intellektuellen Resistance freizulegen.351 Den Kern dieser negativen Erfahrung von
Freiheit als Modell menschlicher Praxis – der reflexiv auf sich selbst bezogenen, der er-
kennend und technisch auf Natur gerichteten, der politisch und moralisch auf einander in
der Geschichte ausgehenden – zu entfalten, bleibt Aufgabe einer kritischen Philosophie.
351
Vgl. Helmut Lachenmann, Zum Problem des Strukturalismus, in: Musik als existentielle Erfahrung,
a.a.O., 90.
VI Mauerschau. Résumé und Ausblick
Vom Subjekt ist heute kritisch zu reden. Dieser Satz, von dem die Untersuchung aus-
ging, kann jetzt genauer, in drei Bedeutungen, gefaßt werden. Er bedeutet sowohl, daß
vom Subjekt nur mehr kritisch zu reden sei, als auch, daß diese Rede möglich ist; die
Philosophie verfügt über die Mittel zu einem kritischen Subjektbegriff. Schließlich ist
diese Rede aber auch notwendig, denn außerhalb ihrer droht der Subjektbegriff sinnlos,
zur bloßen Beschwörungsformel, zu werden; den Zweifeln, die am Prinzip der Subjek-
tivität geäußert wurden, korrespondiert die Erfahrung, daß menschliches Denken und
Handeln in keinem sinnvollen Verhältnis zu diesem Prinzip theoretischer und praktischer
Selbstbestimmung steht. Die Subjekte scheinen so sehr durch die äußeren Bedingungen
ihres Denkens und Handelns bestimmt zu sein, daß sich von der Einheit dieses Den-
kens und Handelns nur ein relativer, aus der Erfahrung bezogener, Begriff bilden lasse.
Dieser aber ist nicht der von Subjekten, sondern etwa der von Agenten oder Aktanten,
deren Denken und Handeln sich strukturell beschreiben, aber nicht prinzipiell begrün-
den lasse. Das beschränkt nicht nur die Erklärung, sondern negiert auch die Möglichkeit
selbstbestimmter Praxis in deren Kern.
Subjektivität ist aber in einem kritischen Begriff ihrer selbst zu fassen, der in einem
Punkt über den kritischen Weg, den Kant allein noch offen sah, hinausweist. Kant war
es darum gegangen, daß die Vernunft sich selbst der Kritik unterziehe, daß sie durch
kritein, Unterscheiden, in sich selbst die Vermögen zur theoretischen und praktischen Ur-
teilsbildung unterscheide hinsichtlich ihrer Gegenstandsbereiche. Diese waren ihrerseits
von der Vernunft zu unterscheiden, so daß schließlich sowohl die subjektiven wie die
objektiven Begriffe als transzendentale, negative, Reflexionsbegriffe anzusehen waren.
Darüber hinaus muß es dem kritischen Subjektbegriff darauf ankommen, daß Subjekte
sich in der Bestimmung ihrer Subjektivität der Bedingungen dieser Bestimmung zu-
gleich bewußt bleiben.
Diese Unterscheidung kann nicht eine abstrakte sein, die Subjektivität als festen Kern
in sich und die Bedingungen als eine gegebene äußere Welt differenzierte. Ebensowenig
freilich kann die Subjektivität selbst vorab als intelligibler Grund ihrer Welt gelten. Die
kritische Unterscheidung geht vielmehr darauf, Subjektivität als in sich selbst objektiv
M. R A 587
bedingte zu begreifen, in sich Bedingungen zu unterscheiden, ohne diese als bloß zu-
fällige und äußerliche ablegen zu wollen. Umgekehrt gilt es, diese Momente, in denen
Objektivität bestimmend ins Subjekt hineinragt, ihrerseits als Einheiten von Objektivität
und Subjektivität zu begreifen: Die Bedingungen, denen es sich ausgesetzt sieht, sind
als geschichtlich gewordene selbst mit Subjektivität durchdrungen, und dies mit einer
solchen, die schon ihrerseits keine reine gewesen war.
Der eigenartig zerrüttete Zustand moderner Subjekte, die ihre eigene Abhängigkeit
zelebrieren in der Vorstellung von einer Welt sachlicher Zwänge, ist keine bloße Illu-
sion, sondern Ausdruck der Geschichtlichkeit des Verhältnisses von Subjektivität und
Objektivität. Eine Illusion hingegen wird dies sowohl in einer Theorie, die positivis-
tisch bloß die Erfahrung analysiert, als auch in der Vorstellung, reine Subjektivität als
intelligiblen Hort der Selbstbestimmung darstellen zu können. Abgesehen von den klas-
sischen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, verkennt
das Freiheitspathos dieser Vorstellung die konstitutive Funktion, die historische und ge-
sellschaftliche Bedingungen für die realen Subjekte und ihr Selbstbewußtsein haben.
Der Schluß auf Subjektivität, die jedem menschlichen Akt, insofern ihm ein intelligi-
bles Moment innewohnt, zugrundeliegt, trifft nur dann etwas, wenn er vom Bewußtsein
der eigenen Bedingtheit begleitet ist, so wie dieses Bewußtsein nur im Bewußtsein der
eigenen Subjektivität möglich ist. Die Geschichte, in deren Verlauf die menschlichen
Subjekte das wurden, was sie gegenwärtig sind, ist durch keinen subjektiven Akt der
Befreiung abzuschütteln. Die Freiheit, die meinte, alles hinter sich lassen zu können,
wäre gleichsam der Rückgang in einen geistesgeschichtlichen Naturzustand, in dem die
selbstbewußte Pose des Befreiten von der Drohgebärde des Herrschers nicht zu unter-
scheiden wäre. Was im vollen Sinn Subjektsein, Menschsein, heute noch sein könnte,
wäre Selbstbestimmung im Bewußtsein der Bedingtheit und im Bewußtsein auch der
Verbundenheit gegenüber der eigenen Geschichte, die kein Äußerliches ist.
Deshalb begann die Untersuchung mit der Kommentierung von Kants Geschichtsbe-
griff, der von dem Bedürfnis gezeichnet ist, gegen die allfällige Erfahrung ein kollektives
Subjekt der geschichtlichen Entwicklung ausfindig zu machen. Daß die Menschen ge-
rade dort, wo sie die im Rückblick am deutlichsten sichtbaren sittlichen Fortschritte
machen, in der Geschichte, zugleich einander auf grausamste Weise mißhandeln, kann
vor der theoretischen Forderung nach Einheit der Vernunft nicht bestehen. Diese Einheit,
ein durchaus erkenntnistheoretisches Desiderat, findet bei Kant ihr objektives Korrelat
in der auf lange Sicht sich durchsetzenden Vernunft in der Natur.
Diese Hypostase wird freilich, wie alle Kantischen Hypostasen, mit der Einschrän-
kung versehen, sie nur regulativ zur Erkenntnis des Gegenstandes heranzuziehen, so
als ob es sie gäbe, aber ihr keine konstitutive Funktion für den Gegenstand selbst zu-
zuweisen. Grundsätzlich läßt dieses Verfahren, einen Gegenstand durch ein Prinzip zu
erklären, von dem man weiß, daß man von ihm nichts wissen kann, große Zweifel of-
fen. Es dient dem Subjekt, die Einheit der eigenen Erfahrung zu erhalten. Das leistet es,
solange es nicht zu sich selbst in Widerspruch gerät, also kategorial problematisch ist.
Dadurch wird es aber zu einem rein formellen Gedankenspiel, das letztlich nichts leistet,
außer eben der Erhaltung des Bewußtseins der Einheit der Erfahrung. Daß eine solche
Operation angesichts der historischen Erfahrung nötig ist, um deren Diffusion zu bändi-
588 M. R A
gen, spricht aber zuallererst gegen die historische Erfahrung selbst, mit der die Subjekte
sich nicht identifizieren können, ohne an ihrer Subjektivität irr zu werden.
Die Hypostase ist dafür index falsi. Sie ist, insofern sie den Mangel an Vernunft in der
historischen Erfahrung aufheben soll, ihrer Form nach Hypostase dieses Mangels. So ist
sie einerseits die notwendige begriffliche Bedingung, um an der praktischen Idee von
Selbstbestimmung wenigstens theoretisch festhalten zu können. Aber andererseits, unter
der Voraussetzung des Falschen, das sie anzeigt, gerät sie zur eigenen Bestimmung in
Widerspruch. Die bloße Vorstellung einer Naturabsicht schon hebt die Denkbarkeit prak-
tischer, gar kollektiver, Subjektivität auf – und damit diese selbst. Das ist der adäquate
Ausdruck des in sich widersprechenden Unternehmens, unter Bedingungen der Unfrei-
heit Akte aus Freiheit zu vollbringen. Diese Form hat jeder Befreiungsakt, jeder nicht
nur marginale sittliche Fortschritt. Kant hat die Lösung im prozeduralen Fortschritt, in
der Reform, gesehen, die letztlich auch den Gegensatz des ethischen zum juridischen
Gemeinwesen überbrücken soll. Damit aber gerät ihm das kollektive historische Subjekt
zu einer Kirche auch in dem Sinn, daß es wieder der Als-ob-Hypostase seiner sittlichen
Konstitution bedarf.
Daß die Geschichte der Menschen real in der Form von Gewalt, zumeist kriegeri-
scher, verlaufen ist, hat Kant mit Abscheu notiert. Der spekulative Versuch, die Einheit
subjektiver Erfahrung zu wahren, weist der historischen Erfahrung nicht nur unverse-
hens höhere Zweckmäßigkeit zu, sondern führt ebenso zu dem Anspruch, dem Krieg
rechtliche Formen zuzuordnen. Er soll sich denken lassen. Implizit drückt sich darin die
Einsicht aus, daß die äußeren Bedingungen der subjektiven Erfahrung als deren integre
Bestandteile gedacht werden können müßten.
Insofern das Recht auf die vollkommene Realität der Rechtsidee im Weltbürgerrecht
ausgerichtet ist, kommt den Staaten, als juridischen Einheiten, in gewisser Weise his-
torische Subjektivität zu. Wie sie ihr gerecht werden soll, bleibt bei Kant offen: Der
Völkerbund ist nicht bloß ein stagnierender Zustand, in dem die Staaten voneinander
unbehelligt so bleiben können wie sie sind, sondern er ist konstitutiv offen für die Re-
gression in den völkerrechtlichen Naturzustand; der Weltbürgerstaat hingegen ist eine
Idee, die Kant für unrealisierbar hält. Der eigentümliche Stillstand hat seinen Grund
im Staatszweck. Staaten verbürgen die privaten Rechte der Bürger, sie sind wesentlich
konservative Einrichtungen, negativ bestimmt gegen den Rückfall in den Naturzustand.
Eine progressive, etwa moralisch begründete, Tendenz kommt ihnen nicht zu. Allenfalls
können sie innerlich durch einen politisch aufgeklärten Monarchen durch Reform in die-
jenige politische und rechtliche Gestalt überführt werden, die ihrem den bürgerlichen
Zustand bewahrenden Zweck am besten entspricht: die Republik.
Im Privatrecht indes, der rechtlichen Verfassung der Gesellschaft, deren politische
Form der Staat ist, scheint die objektive Grundlage der Schwierigkeit auf, geschichtliche
Erfahrung mit der subjektiven Einheit der Erfahrung zu vereinen. Kants Begründung
des privaten Eigentums scheitert in mehreren Anläufen; jedesmal wieder muß er ein-
räumen, daß es prinzipiell ausgeschlossen sei, daß ein einseitiger Willkürakt, wie jener
der ursprünglichen Erwerbung, eine allseitige Verbindlichkeit erzeuge, wie die, daß alle
anderen ihren Ausschluß vom Gebrauch einer privat angeeigneten Sache anzuerkennen
hätten. Dennoch beruht die Rechtslehre auf der Möglichkeit, ja Notwendigkeit dieser
Form des Eigentums. Sie überführt damit den nicht-rechtlichen Erwerb im Naturzu-
M. R A 589
stand, der kaum rückwirkend als Antizipation von Recht bestimmt werden kann, in eine
Rechtsform, die lauter um Eigentum konkurrierende Privatpersonen enthält und durch
die Regulierung von deren Konkurrenz im Grunde einen bürgerlichen Naturzustand stif-
tet, der die ungesellige Geselligkeit, die Kant zufolge Motor der Geschichte sein sollte,
auf Dauer stellt. So entsteht der eigentümliche Stillstand, dessen Erfahrung in neuerer
Zeit zu Zweifeln an der Subjektivität der Subjekte geführt hat.
Die Rechtslehre ist ebenso ein Versuch, Erfahrung mit dem Selbstbewußtsein zu ver-
einen, und zwar indem der moralisch zu bestimmenden Freiheit ein Anwendungsgebiet
erschlossen wird. Allerdings wird die Absicht, das Recht aus der Einheit der prakti-
schen Vernunft zu begründen, was nur aus dem Prinzip des Sittengesetzes möglich
wäre, schon bewußt in der Einleitung fallengelassen. Die Konkurrenz der Eigentümer
läßt keine moralisch – das heißt strikt – allgemeine Gesetzgebung zu, sondern allenfalls
eine komparativ allgemeine. Das Recht bezieht sich auf Sphären äußerer Freiheit. Die
Moralphilosophie hatte zur Herausbildung des kategorischen Imperativs von allen em-
pirischen Bestimmungen des Handelns absehen müssen. Die Einheit des moralischen
Selbstbewußtseins in der immanenten Gesetzförmigkeit der Maximen scheint mit keiner
realen Handlung kompatibel, Kants Beispiele nehmen sich für den empirischen Blick
entsprechend befremdlich aus. Nicht zufällig wird das Lügenverbot bis heute immer wie-
der als Provokation wahrgenommen. Allerdings gelingt es Kant, gegen alle Erfahrung,
praktische Subjektivität im Kern zu denken: als bedingungslose Autonomie, recht- und
pflichtbegründend zugleich. Und es ist hinzuzufügen: Es gelingt ihm nur gegen die Er-
fahrung.1 Allerdings gehört dieser Begriff, wie der der Einheit der Apperzeption, zu den
wenigen, die die Einheit des Subjekts gegen seine Erfahrungen festhalten, ohne Hyposta-
se zu sein.
Die theoretische wie die praktische Subjektivität findet jedes Subjekt durch kritische
Vernunft in sich selbst, auch wenn es nie eine korrespondierende Erfahrung macht. Der
Anspruch auf Autonomie wie auf Einheit des Selbstbewußtseins – darauf, an der Welt
nicht irr werden zu wollen – widersteht der entgegenstehenden Erfahrung aus eigener
Kraft; die Notwendigkeit, diese Begriffe noch einmal kritisch zu wenden, besteht dar-
in, daß sie eben nur gegen die Erfahrung zu erzeugen sind. Sie dürfen darum aber
nicht gegen die Erfahrung verselbständigt werden; Kants Tendenz hierzu schlägt sich
in den aporetischen Versuchen nieder, ihnen Gegenstände zuzuordnen, das in sich zu-
rückgegangene Subjekt wieder auf Natur zu beziehen. Dazu bedarf es, in der Linie des
Descartes’schen Programms immer wieder einer, freilich transzendental verhaltenen, Va-
riante des Gottesbeweises. Es muß bewiesen werden, daß das Subjekt mit der Welt, aus
der es durch lauter Negationen abgezogen wurde, überhaupt noch gesetzmäßig vereinbar
ist. Für diese Gesetzmäßigkeit kann es selbst aber nicht einstehen.
Aber sowohl in der praktischen wie auch in der theoretischen Philosophie gibt es
Hinweise, an die sich ein in sich praktisch vermittelter Subjektbegriff anschließen läßt.
Ein Modell, gleichsam ein intelligibler Testfall, für den kategorischen Imperativ ist die
Vorstellung einer vom Subjekt selbst verfertigten gesetzmäßigen Natur, an die die Frage
zu richten sei, ob man in ihr könnte leben wollen. Die darin verborgene Figur einer
1
Vgl. auch Christine M. Korsgaard, Two arguments against lying, in: Creating the Kingdom of
Ends, a.a.O.
590 M. R A
zweiten, subjektiven oder gesellschaftlichen, Natur eröffnet eigentlich erst das Feld der
Praxis: Die reine praktische Vernunft kann mit sich selbst einstimmig sein – das heißt
gesetzmäßig bestimmt sein – nur dann, wenn sie die Bedingungen, unter denen sie ihre
Handlungen bestimmt, selbst auch mitbestimmt.
Dem entspricht es in der theoretischen Philosophie, daß die in der transzendentalen
Deduktion der Kategorien ungeklärte Frage, wie nun die a priori konstituierte Vernunft
auf partikulare Erfahrungsdaten soll zugreifen können, im Kontext der Grundsätze und
des Schematismus letztlich an die Urteilskraft verwiesen wird. Auch hier werden die von
Kant aufgeworfenen, den Idealismus antreibenden, Probleme klassischer Subjekttheorie
nicht positiv lösbar, der Gegensatz der einander bedingenden Seiten von Subjekt und
Objekt nicht vermittelbar. Das Selbstbewußtsein muß sich in der Negativität, in der sein
aporetischer Begriff erschlossen ist, festhalten. Nur soweit die Objektivität selbst durch –
geschichtliche – Praxis gestaltet ist, ist Vernunft in der Welt und nur soweit hat subjektive
Vernunft objektive Realität.
Auch Fichtes Verschränkung von Subjekt und Objekt durch Praxis mangelt das
Geschichtliche. Die Tathandlung des Setzens ist intelligible Tat, nicht gegenständliche
Tätigkeit von Einzelnen, sondern Tat der Subjektivität als solcher. Dadurch wird die
Objektivität unmittelbar jener konform, als System, gesetzt, und die Grenze, die das
Objekt der Tat bieten soll, ist, wie Hegel gesehen hat, keine trennende, sondern eine
verbindende.
Dagegen ist ebensowenig ein empiristisches Modell der Begriffsgenese als Wieder-
spiegelung und Verallgemeinerung zu verteidigen. Es ist an dem Gegensatz der Momente
des Allgemeinen und Besonderen festzuhalten, gegen alle Aufhebungstendenz zuguns-
ten eines der beiden ebenso wie zugunsten ihrer absoluten Koinzidenz in einem positiv
vermögenden Ersten. Dafür muß man sich allerdings von der Vorstellung trennen, es sei
Aufgabe der Philosophie, positive, unmittelbar wirksam werdende Ergebnisse zu präsen-
tieren. Wer daran festhalten will, ist – nach dem Stand der Reflexion in der Philosophie
heute – auf den Empirismus verwiesen. Wer sich an diesen aber hält, vergibt sich mit
den spekulativen Einsichten, die der Idealismus gerade an der Kritik des Empirismus
entwickelt hatte, die Möglichkeit, aus Gründen Kritik zu üben. Dieser am Idealismus
partizipierende Gedanke gelingt freilich nur, wenn er gegen seine idealistische Konzep-
tion gewendet wird.
Das vermittelnde Vermögen der Urteilskraft ist nun nur an Modellen der produktiven
Einbildungskraft zu demonstrieren, am Vermögen, intelligibel Welt zu gestalten. Das
Konzept der Teleologie oder der göttlichen Ordnung wird dabei – selbst in der Form
des ‚als ob‘ – immer brüchiger, je detaillierter Kant es ausführt. Es vertritt dem Subjekt
zwar zunächst die Einheit, die ihm in der Erfahrung abgeht, aber es schickt sich eben
auch nicht zu seiner Subjektivität. Analog der Andeutung zweiter Natur im praktischen
Kontext verknüpft Kant hier die Begriffe der Naturgeschichte, der Kulturgeschichte und
des geschichtlichen Fortschritts miteinander. Bei Kant selbst bleibt diese Verbindung
aporetisch, er möchte sie lieber zugunsten der Einheit der Natur auflösen.
Tatsächlich wird es aber möglich, jene Einheit, soweit sie in der Erfahrung der Men-
schen liegt, selbst als Resultat der Kulturgeschichte zu verstehen: Menschen haben im-
mer schon die Bedingungen ihres Handelns im Handeln mitbestimmt. Sobald sie ein
Selbstbewußtsein gegenüber den natürlichen Bedingungen ihrer selbst hatten, haben sie
M. R A 591
diese Bedingungen begrifflich und praktisch zu verändern begonnen. Die Natur ist nicht
mehr die bloße Natur, wenn sie als Natur gewußt wird, weil das Bewußtsein, in das
dieses Wissen von der Natur fällt, eben deswegen der Natur nicht mehr ganz angehört.
Darin liegt ebenso die Potenz zur hemmungslosen Ruinierung der natürlichen Ressour-
cen und der natürlichen Subsistenz vernünftiger Sinnenwesen, wie auch diejenige zur
vernünftigen Gestaltung der natürlichen Lebensbedingungen und des Verhältnisses der
Menschen untereinander. Um die Möglichkeit vernünftigen kollektiven geschichtlichen
Handelns zu begründen, bedarf es keiner Hypostasen um der Einheit der Erfahrung wil-
len, sondern des kritischen Bewußtseins der geschichtlichen Konstitution des freilich
natürlich gegebenen Substrats.
Das ändert nichts daran, daß die Realisierung dieser Möglichkeit einstweilen ver-
stellt scheint; dies ist aber gerade deshalb so, weil die Bedingungen, unter denen wir
handeln und die das vernünftige Handeln beschränken, Resultate geschichtlicher Konsti-
tution sind und gleichsam die Macht der gesamten durch Herrschaft von Menschen über
Menschen bestimmten Kulturgeschichte in sich akkumuliert haben. Und sind dies unsere
Bedingungen, deren Erfahrung in die Bildung unserer praktischen Subjektivität eingeht,
dann ist diese Herrschaftserfahrung ebenso ein inkorporiertes Element dieser Subjekti-
vität. Menschen haben, soweit wir wissen, nie die Erfahrung einer Welt ohne Herrschaft
gemacht. Das kollektive Bewußtsein von Geschichte und Gegenwart, auch die Erwartung
der Zukunft, sind zutiefst davon geprägt. Der Schluß, Herrschaft von Menschen über
Menschen sei notwendig, bleibt dennoch ein kategorial falscher vom Kontingenten aufs
Notwendige. Wie Gewalterfahrung wirklich sozial ‚vererbt‘ wird, zeigt die Langzeiter-
fahrung mit kollektiven Feindbildern, die Generationen, und so oft ihre eigenen Gründe,
überdauern. Wieviel Anstrengung und Erfahrung notwendig sein wird, um das histori-
sche Trauma Herrschaft kollektiv zu überwinden, ob es überhaupt je gelingen wird, läßt
sich nicht antizipieren.
Auch deshalb ist übers Subjekt kritisch zu reden, das heißt konsequent negativ. Den
Aporien, in die Kants Bestimmungen der Subjektivität in den unterschiedlichen Zusam-
menhängen immer wieder hineinlaufen, korrespondiert die ästhetische Erfahrung der
Moderne. Wenngleich die Kritik der ästhetischen Urteilskraft für Kant erkenntnistheo-
retische und nicht kunsttheoretische Bedeutung hat, und wenngleich die Beispiele aus
der Kunst hauptsächlich der Verlegenheit geschuldet sind, daß sich zweckvoll Gemach-
tes, bei dessen Anblick die Erkenntnisvermögen harmonieren, in der Natur als solches
nicht demonstrieren läßt, deutet sich doch in der ästhetischen Erfahrung die Fähigkeit an,
das Besondere als Ausdruck eines Allgemeinen, letztlich als correspondant der Allge-
meinheit in der eigenen Besonderheit wahrzunehmen. Daß die herausragenden Beispiele
Kants, fürs Erhabene vor allem, kulturgeschichtliche Monumente sind, die Pyramiden
und der Petersdom, verweist erneut auf das in der Kulturgeschichte liegende geschicht-
liche Potential menschlicher Vernunft und Praxis.
Der Blick nach vorn, der legitim wäre, müßte durch den Blick zurück durchaus be-
stimmt sein. Man sieht nur in beide Richtungen gleich gut, wenn man auf der Mauer
steht, die beide trennt. Die Teichoskopie dient dramaturgisch zumeist der Schilderung
von Schlachten, die zu groß sind, um auf der Bühne Platz zu haben; dieser Blick nach
draußen ist mehr als eine dramaturgische Notlösung, er spiegelt in den äußeren Be-
dingungen die Situation auf der Bühne. Der Blick nach vorn, scheint die im Rücken
592 M. R A
liegende Bedrängung zu wiederholen und zu potenzieren. Radikal hat das Bild Beckett
ausgemalt, indem er im Endspiel Clov vom begrenzten Nichts auf der Bühne in das
grenzenlose Nichts in der Welt hinausblicken läßt. So radikal haben Menschen die Be-
dingungen ihres Handelns in der Hand. Sie können die scheinbar absolute Fremdheit
zwischen Subjekt und Natur – deren Überwindung die Philosophie durch teils spekula-
tive teils hypostatische Begriffe intendierte, in denen sie sie oftmals nur wiederholte –
wirklich herstellen.
Die Möglichkeit in der Kunst, eine Erfahrung von Subjektivität zu provozieren, de-
ren Begriff in der Philosophie zur Negativität bloßen Vermögens verblaßt, empfiehlt
dem kritischen Begriff von Subjektivität, praktischer zumal, ein ästhetisches Moment
an. Dieser Begriff von Ästhetik ist dem der Bildung verwandt, insofern Kunst objektive
Bildung, Gestaltung von Welt, bedeutet und deren am weitesten freie, selbstbestimmte
Form ist; darin ist sie zugleich subjektive Bildung, Entfaltung subjektiver Fähigkeiten
über die Anbildung abstrakter Kenntnisse hinaus im tätigen Dialog mit dem Material.
Am Ende einer philosophischen Arbeit kann dieses Moment nur in einem Überblick
präsent gemacht werden, wie er sich dem Beobachter bietet, der von der Mauer in die
Ebene blickt.
Becketts Inszenierung des Nichts ist gleichwohl nur Modell einer Welt, in der die
Subjekte sich in den Bedingungen ihres Handelns, der gesellschaftlichen, politischen und
rechtlichen Ordnung der natürlichen Lebensbedingungen nicht selbst erkennen können,
in denen ihnen darum Subjektivität, die in diesen Bedingungen vermittels ihrer Ordnung
ja liegt, selbst fremd geworden ist. Darin hat der Allerweltsspruch ‚Ich verstehe die Welt
nicht mehr.‘ am Ende von Hebbels Maria Magdalena seine tiefere Wahrheit.
Die Hoffnungslosigkeit des radikalen Ausbruchsversuchs aus fremd gewordenen
Ordnungen hatte schon Melville dargestellt in der genial einfachen Konstruktion des
Bartleby, der, gesellschaftlicher Notwendigkeit folgend, sich zur Lohnarbeit verdingt als
Schreiber in einer juristischen Kanzlei und schon bald auf jeden Arbeitsauftrag höflich
antwortet: Ich möchte lieber nicht; der sich in seinem Büro einhaust und auch durch
einen Umzug der Kanzlei nicht abzuschütteln ist. Sein Chef muß ihn – gegen das eigene
Gewissen, aber im Geschäftsinteresse der Kanzlei – auf deren Stufen verhaften lassen.
Als er ihn im Gefängnis besucht, ist Bartleby in einer Ecke des Hofes verhungert;
Bild des Schicksals radikaler Kritik, die sich zum Konstruktiven nicht berufen fühlt.
Menschen wie Bartleby haben dann die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts viele
gezeitigt; eigentlich hervorgebracht aber hat sie deren Elterngeneration.
Melvilles Darstellung des Scheiterns emphatischer Selbstbestimmung unter hetero-
nomen Bedingungen, deren Verkehrung in skurrile Selbstbehauptung, die schließlich
in der Selbstaufgabe die letzte aporetische Möglichkeit findet, an sich selbst festzuhal-
ten, hebt sie gegenüber den kontemporären romantischen und realistischen Künstler- und
Bildungsromanen trotz thematischer Nähe als spezifisch modern hervor. Die künstlerbio-
graphische Pointe hat mit gleicher Radikalität Kafka im Hungerkünstler herausgestellt.
Der im Käfig sich ausstellende Hungernde ist absolutes Kunstwerk und Modell ab-
soluter Selbstbestimmung zugleich. Nur ist die Situation der Ausstellung, die auf ein
Publikum angewiesen ist, schon die Beschränkung des absoluten Selbstbewußtseins.
Dieses weiß, daß es ohne sein gegenläufiges Moment nicht möglich wäre, könnte es
aber nur durch konsequente Ignoranz zu seinem Moment machen. So entspringt die
M. R A 593
2
Franz Kafka, Ein Hungerkünstler, in: Sämtliche Erzählungen, Frankfurt am Main 1970, 171.
3
Miodrag Bulatović, Wolf und Glocke, München 1962, 120.
594 M. R A
an die große Philosophie der Klassik anzuknüpfen, scheitern an den Bedingungen einer
Welt, die diesem reflektierten Bewußtsein nicht entspricht, die aber nicht einfach zurück-
gesunken ist, sondern eine Unmittelbarkeit potenzierter Form angenommen hat. Diese
Rückentwicklungstrilogie über eine ganze Generation endet mit dem Rückbildungsro-
man Schubumkehr, in dem die Konsequenz des Verstummens, der Flucht in unmittelbare
Bilder ebenso wie deren Trügerisches in einem einzigen Charakter zusammengezogen
wird, der aus der exotischen Weltläufigkeit Brasiliens in die beklemmende Enge eines
österreichischen Dorfes zurückkehrt, wo er sich nur in sich selbst verhausen kann; von
den Verrücktheiten der übrigen Dorfbewohner unterscheidet er sich gleichwohl nur da-
durch, daß er diese nur mehr per Video wahrnimmt. Noch die Differenz wird durch ein
Medium der Unmittelbarkeit erzeugt.
Der Rückbildungsroman aber dokumentiert in der Dokumentation der ausweglosen
Rückbildung zugleich, daß das Bewußtsein des Autors und eines jeden, der begrei-
fend zu lesen vermag, der Rückbildung im Prinzip widersteht. In diesem ästhetischen
Bewußtsein hält Denken an seiner Möglichkeit zur Selbstbestimmung fest. Das leistet
ästhetische Erfahrung.
So hat Helmut Lachenmann das Verstummen, das leise Geräusch, das mit der Er-
fahrung scheinbar nicht mehr mithalten kann, zum aufstörenden Moment seiner Kom-
positionen gemacht. Das sinfonische Orchester und seine musikalische Tradition – ein
‚bürgerliches Instrument‘ ihm zufolge – wendet er gegen die gesellschaftliche Erfahrung,
für deren scheinhafte Harmonie es bis heute eintritt. Über die ästhetische Verstörung
des Selbstverständlichen sei das Denken zu erreichen; gegen den fatalen Trend, ästhe-
tische Erfahrung auf das Angenehme, was einem gefällt oder mißfällt, zu reduzieren
und sie damit zu einem Komplement der ebenso scheinhaften Pluralität gesellschaftli-
cher Erfahrung zu machen. Die nicht von vornherein sinnlich reduzierte, sondern mit
Bedacht erzeugte ästhetische Erfahrung vermöchte dagegen das Subjekt zur Wende auf
sich selbst, zur Erfahrung von Selbstbestimmung, zu veranlassen, – ohne deswegen funk-
tionalistisch zu sein. Im Gegenteil bewirkt sogenannte engagierte Kunst ein Gegenstück
zur gesellschaftlichen Erfahrung, sie normiert den Protest vorab, um dessen selbstbe-
stimmten Grund es doch ginge.
Die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für die moderne Subjektivität kulminiert in
dem Satz Willi Baumeisters, der Künstler sei der letzte Mensch. Damit formuliert er
eine Erkenntnis, die der Tradition des Künstlerromans und den ihr verwandten Gattun-
gen implizit war: Der Konflikt, in den das moderne Subjekt, mittels der Konfrontation
mit seinen geschichtlichen Bedingungen, mit sich selbst, seinem eigenen Anspruch auf
Bildung zur Selbstbestimmung, gerät, läßt sich intensiv an der Künstlerbiographie dar-
stellen, zu einer Zeit sinkenden Mäzenatentums, in der die Künstler zu gesellschaftlichen
Akteuren werden und die Gesetze ästhetischer Formentwicklung an die Gesetze des
Marktes zu verkaufen anstehen. Am ehesten, neben klassischen Bildungsfächern, ist die
Kunst der Bereich, dessen Material kraft innerer Formgesetze gegen äußere Bedingun-
gen zu Protest geht, und der Künstler ist das insofern privilegierte Subjekt, das, vielleicht
unbewußt, beinahe zwangsläufig diese Erfahrung macht. Baumeisters Diktum mag von
der besonderen Erfahrung zehren, in der nationalsozialistischen Zeit, unter Berufsverbot
stehend, weder in die äußere noch in die innere Emigration gegangen zu sein, sondern,
im Atelier weiter malend, den Bedingungen zum Trotz die eigenen Formen weiter ent-
M. R A 595
wickelt zu haben, mit einer Innovationskraft wie sie in der Generation wohl nur Paul
Klee noch sich erhalten konnte, während viele andere nach dem Krieg schlicht forma-
le Ratlosigkeit auf die Leinwand brachten. Das Bewußtsein, wissend aber hilflos von
Barbarei umgeben zu sein, gibt Baumeisters Satz allerdings eine bittere Note. Aufge-
fangen wird diese von Joseph Beuys‘ Behauptung, jeder Mensch sei ein Künstler. Oft
zurückweisen mußte er spöttische Interpretationen; gemeint war letztlich die Fähigkeit
zur ästhetischen Erfahrung, die jeder habe und in der umgekehrt das Menschliche in den
modernen Subjekten verwurzelt sei.
Diesen Anspruch hat Timm Ulrichs in seinem Konzept des ‚totalen Kunstwerks‘ ge-
wissermaßen invers aufgenommen und dadurch, mit unfreiwilliger Amtshilfe freilich,
zur Groteske gesteigert. 1961 setzt er sich in einen Käfig mit der Beschreibung: ‚Timm
Ulrichs: Erstes lebendes Kunstwerk‘. 1965, anläßlich der ‚Juryfreien Kunstausstellung‘
in Berlin, untersagt das Gremium mit dem schönen Namen ‚Hängekommission‘ Ulrichs
die Selbstausstellung mit der Begründung, er hätte sich dem Reglement zufolge recht-
zeitig selbst per Post einliefern und bis zur Ausstellung im Galeriegebäude verbleiben
müssen, auch außerhalb der Öffnungszeiten. Dazu hätte er ein ärztliches Attest vorle-
gen müssen. Darüber hinaus aber hätte auf der Bildrückseite ein Schild mit dem Namen
des Künstlers befestigt sein müssen, und der aus der Registratur stammende Anhänge-
zettel hätte seinerseits an der Rückseite befestigt werden müssen, aber so, daß er nach
vorne gehängt hätte werden können; seine Aufbewahrung in der Jackentasche des im
Objekt sitzenden Künstlers reichte nicht aus. Die bezweckte Identität von Aussteller und
Ausgestelltem – die schon ironisch gebrochene Identität des Kunstwerks – wird vom
Ausstellungsbetrieb zerstört. Immerhin hat Ulrichs sich 1968 selbst als totales Kunst-
werk in das Musterregister des Amtsgerichts Hannover eintragen lassen und 1969, im
Sinne der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, eine Samenbank bestückt sowie seinen
eigenen Leichenschauschein ausgefüllt, mit dem Vermerk: ‚fehlende Daten nachtragen‘.
Ästhetische Erfahrung, gerade in gebrochener Form, kann das durch scheinbar äußere
und scheinbar naturhafte Bedingungen verstellte Verhältnis der Subjekte zu sich selbst
bewußtmachen. Der Kunst kommt damit schon für die Darstellung moderner Subjektivi-
tät eine Potenz zu, die der Philosophie abgeht. Diese kann die Subjektivität von Subjek-
ten, die so verfaßt sind, wie sie in der Kunst reflektiert werden, mit ihren theoretischen
Mitteln nicht erfahrbar machen; sie endet mit der, vielleicht durchgängigen, Negation
der traditionellen affirmativen Bestimmungen von Subjektivität. Die Begriffe von Sub-
jekt und Objekt, von Selbstbestimmung und Bedingungen, die danach übrig sind, sind
negative, Begriffe kritischer Spekulation, die mit einem zwar notwendigen aber nicht
unmittelbar greifbar zu machenden Begriff von Praxis operieren. Diese Begriffe blei-
ben ohne ästhetisches Moment der Erfahrung der eigenen Subjektivität erfolglos und
leer, so formal wie diejenigen affirmativer Philosophie. Sie bedürfen der Modelle, des
Besonderen und Einzelnen, das, wenngleich nicht zwingend aus der Kunst, zitiert, nam-
haft gemacht werden muß. Kunst in dieser Bedeutung ist verbunden mit der Kultur- und
Bildungsgeschichte der Menschen. Die in der Kunst gegenwärtige Freiheit drückt nicht
bloß symbolisch die materielle Freiheit einer durch organisierte Bearbeitung von der
Natur emanzipierten und – gegen die herrschaftliche Form dieser Emanzipation – weiter
sich emanzipierenden Menschheit aus. Die Verschränkung ästhetischer, technischer und
politischer Befreiung liegt beispielsweise allen ästhetischen Modellen der Ästhetik des
596 M. R A
Widerstands von Peter Weiss zugrunde. Darin ist das ästhetische Element der kritischen
Selbstbestimmung moderner Subjekte zugleich substantiell auf Andere verwiesen. Das
widerständige Festhalten an der eigenen Subjektivität unter widrigen Bedingungen ist
nicht solipsistisch möglich. Mensch zu bleiben, setzt eine kollektive Erinnerung voraus,
so wie die kulturgeschichtliche Genese menschlicher Subjektivität kein solipsistischer
Akt sein kann. Der reale Ort und der reale Gegenstand solcher kollektiver Erinnerung
ist gleichwohl nur der Einzelne.
Es kann aber nur der durch seine Geschichte sich konstituiert wissende, der aufge-
klärte, Einzelne auch zum Träger intellektuellen Widerstands, der negativen Seite von
Selbstbestimmung unter heteronomen Bedingungen, werden. Philosophische Aufklärung
heute kann solches Selbstbewußtsein von Autonomie bilden, indem sie seine systema-
tischen und historischen Voraussetzungen in der Perspektive auf Freiheit reflektiert und
an ästhetischen Modellen die Diskrepanz von Begriff und Wirklichkeit der Freiheit er-
fahrbar macht; mehr kann sie dem geschichtlichen, politischen Handeln wohl nicht ab-
nehmen.
Kants Begriff der Aufklärung hat sich einerseits zu sehr auf die Vernunft verlassen,
andererseits zu wenig. Zu sehr verließ er sich auf sie, indem er mit der Vernunft der Herr-
schenden rechnete, die als aufgeklärte an der Befreiung der Menschen wirken müßten.
Aber die Herrscher waren damals schon nicht mehr alleinige Autoren ihrer politischen
Zwecke, sondern auch Agenten der in der neuzeitlichen Gesellschaft sich verselbstän-
digenden Privatinteressen. Deswegen hebt auch die republikanische Regierungsart die
politische Unvernunft und Gewalt nicht auf, die im Prinzip von Herrschaft generell liegt.
Aufklärung ist wesentlich polemisch gegen Herrschaft und Gewalt. Darum ist sie den Af-
fekten so leicht und hilflos unterlegen: Schon ihre Verteidigung der Vernunft gegen die
Affekte wird wirkungslos, wenn sie sich nicht in deren Stärke stellt; dann aber verliert
sie ihren Zweck, die Vernunft. Dennoch ist das Prinzip Aufklärung nicht falsch. Die Af-
fekte, das Somatische, gehören zu den Menschen wie ihre Vernunftbegabung, aber zur
Subjektivität tragen sie nur bei, wenn sie mit vernünftigen Zwecken harmonieren; sonst
zerstören sie Subjektivität. Dies als Entwicklungsmöglichkeit, entgegen einer condition
humaine, in den Blick zu bringen, ist Aufgabe philosophischer Aufklärung. Am deut-
lichsten hat Kant dies wohl in der Vorlesung über Pädagogik gesehen, in der er das Er-
ziehungsziel allem Pragmatismus entzog und auf eine künftige, freie, Menschheit bezog.
Wenn die klassische Aufklärung an ihre Grenzen stieß, dann nicht, weil sie das Prinzip
der Herrschaft inkorporiert hätte, sondern weil sie diesem, das ihr in der mit politischer
Macht und affektiver Gewalt versehenen gesellschaftlichen Interessenlage entgegentrat,
nichts auf derselben Ebene entgegenzusetzen hatte, ohne sich unmittelbar zutiefst selbst
zu widersprechen. Vernunft hat keine unmittelbare Gewalt über die Gewalt der Affek-
te, die immer auch mit basalen vitalen Interessen verknüpft ist. Über das Unmittelbare
hinauszudenken, ist unmittelbar eine Schwäche. Das kennzeichnet die moderne Sub-
jektivität, in der Selbsterhaltung und Selbstbestimmung als Gegensatz erscheinen. Die
philosophische Lösung des Gegensatzes von Selbstbestimmung und Selbsterhaltung, die
nicht die Selbstbestimmung preisgeben will, gelingt nur bis zur negativen Identifikation
der Bedingungen von Selbsterhaltung aus der Perspektive der Selbstbestimmung, bis zur
Kritik inadäquater Lebensbedingungen. Darüber hinaus schlägt sie um in deren Affir-
mation als Momente des Weltlaufs oder ‚des Menschen‘.
M. R A 597
Aus alledem folgt dezidiert keine neue Theorie der Subjektivität, kein neuer Begriff
des Subjekts. Was sich ergibt, ist als negatives Resultat der Kritik des Kantischen Sub-
jektbegriffs die Einsicht in die objektiven Grenzen von Selbstbestimmung und in deren
geschichtliche Konstitution. Damit ist der kritische Subjektbegriff aber schon kein bloß
theoretischer mehr, sondern ein praktisches Verhältnis zu sich selbst. Im Grunde setz-
te das vorliegende Buch auf die Bereitschaft des Lesers, sich selbst – auch dort, wo
er nicht einverstanden ist – als Subjekt der Kritik und dadurch als Subjekt möglicher
Selbstbestimmung zu begreifen. Dies, neben den philologischen Ergebnissen, als Re-
sultat der Kommentierung der Philosophie Kants, mag gering erscheinen. Aber mehr
liegt vielleicht nicht im Vermögen moderner Philosophie. Wo sie mehr aspiriert, ist sie
vielleicht schon zu sehr Element der allseitigen Experten- und Beraterkultur geworden,
ist sie schon mittendrin in dem, wovon dieses Buch sie, im Bewußtsein ihrer Verflech-
tungen, als unterschieden festhalten wollte. Als solche greift Philosophie vermöge des
Denkens vom Begriff her in die empirische Welt ein, indem sie jenen gegen deren bloße
Unmittelbarkeit, Begriffslosigkeit, geltend macht; soviel Idealismus ist jedem Materia-
lismus eigen, der nicht in das Kontinuum von Realismus, Naturalismus, Reduktionismus
etc. sich verlieren will.
All dem gegenüber bleibt der Philosophie die Bildung des Urteilsvermögens, die Auf-
klärung über die nicht pragmatisch, sondern allenfalls praktisch, aufzusprengenden Wi-
dersprüche, in denen uns denkend wie handelnd zu bewegen wir allzugut gelernt haben.
Literaturverzeichnis
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Die Werke Immanuel Kants werden grundsätzlich zitiert nach der Ausgabe: Kant’s gesammelte
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Nachweise folgen der Syntax ‚Kurztitel/Sigle, Bandnummer in römischen Ziffern Seitenzahl‘. – In
seltenen, jeweils ausgewiesenen, Fällen wird aus dem Apparat der folgenden Ausgabe zitiert:
Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968ff. – Folgende Schriften werden
aus Einzelausgaben zitiert:
Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, hg. v. Gerhard Lehmann, Hamburg 1977
Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Raymund Schmidt, Hamburg 1998
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. v. Bettina Stangneth, Hamburg 2003
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Namenverzeichnis
Adorno, Theodor W. 25, 29, 32–34, 38, 40, Becker, Oskar 337, 487
74, 95, 138, 146, 148, 202, 206, 235, 243, Beckett, Samuel 19, 577, 592f.
295, 323, 361, 363, 365, 369, 379, 385, 412, Behrends, Okko 18
491, 496, 508, 539, 557, 566, 569, 575 Bellut, Clemens 463
Aertsen, Jan. A. 367 Benedikt XVI. 274
Alexy, Robert 29, 123, 130, 157, 161, 204 Benjamin, Walter 74f., 187f., 331, 557
Anders, Günther 36, 206 Bennett, Jonathan 34, 358
Anselm von Canterbury 359, 363, 478, 480 Berger, Maxi 35, 62
Arendt, Hannah 118, 192 Berkeley, George 460
Aristoteles 13, 16, 28, 34, 100, 128, 140f., Bialas, Volker 69, 86, 97, 112f.
147, 155, 197f., 204, 213–217, 287, 294, 314, Bieri, Peter 225
318, 322, 339, 376, 402, 425, 430, 443f., 447, Blumenberg, Hans 56, 223
451, 475, 511, 522, 540f., 553, 557, 562f., Bodin, Jean 129f., 152
571, 580 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 117, 130, 137f.,
Assmann, Jan 64f. 142, 165, 171, 197, 200, 204, 237, 292
Austin, John L. 24 Böhme, Gernot 419
Bohman, James 41, 80, 85, 98, 126
Bacon, Francis 418 Bonacker, Thorsten 26
Baltzer, Ulrich 461 Bothe, Michael 127
Bartel, Andreas 453 Brandt, Reinhard 38, 90, 92f., 141, 155, 157,
Bartuschat, Wolfgang 131, 439, 503 165f., 170, 394, 514, 518, 520f., 552f.
Baruzzi, Arno 162, 189 Brecht, Bertold 556f.
Basedow, J. B. 208 Brocker, Manfred 136, 156, 177f.
Batscha, Zwi 148 Bubner, Rüdiger 53, 100, 118f., 157, 234, 274,
Baudelaire, Charles 331 394, 398
Baudrillard, Jean 206 Buck, Günther 107, 259, 510
Baum, Manfred 402, 415, 453 Bude, Heinz 153
Baumgartner, Hans Michael 63, 389 Büchner, Georg 470
Bayertz, Kurt 15, 311, 470, 473, 518, 535f. Bulatović, Miodrag 593
Beccaria, Cesare 168 Bulthaup, Peter 34–37, 138, 148f., 176f., 181,
Beck, Lewis White 104, 208, 267 250, 297, 368, 418, 447, 503, 575
624 N
324, 328, 334, 339, 346, 350, 356, 359, 361, Kallhoff, Angela 102
364, 367, 373, 376, 384–386, 389f., 398, 407, Kaulbach, Friedrich 296
410, 415, 420, 434–436, 438, 446, 449f., 454, Kelsen, Hans 154, 161f., 169
461f., 470, 482, 485f., 488f., 493, 502, 508, Kempin, Peter 368, 419
511, 524, 529, 536, 567, 577, 590, 593 Kersting, Wolfgang 104, 122, 126, 135f.,
Heidegger, Martin 303, 375, 389, 443, 496, 143f., 156, 161, 165, 170, 182, 226, 235,
572f. 286, 289, 292
Henrich, Dieter 14, 16, 25, 32, 38, 54, 79, 92, Kierkegaard, Sören 470
100, 109, 116, 118f., 133, 148, 214f., 219, Kirste, Stephan 169
223, 226, 233f., 240f., 245, 257, 262, 298, Klar, Samuel 56, 62
311, 347, 358, 365, 381, 389f., 394f., 398f., Kleingeld, Pauline 95, 538
415, 418, 436, 445, 463, 467, 470, 490f., 530, Klemme, Heiner F. 38, 115, 131, 165, 170,
552 358, 368, 372, 375, 378, 391, 416, 426, 437,
Hepfer, Karl 39, 400 514
Herbart, Johann Friedrich 259, 299 Klingner, Stefan 501, 507, 517, 534, 563
Herdegen, Matthias 162, 236 Knöbl, Wolfgang 26
Herold, Norbert 25, 101, 386, 564 Kobusch, Theo 139, 364
Herzog, Roman 151 Kodalle, Klaus-Michael 97, 112, 114, 118f.,
Hespe, Franz 142, 176 151
Heydorn, Heinz-Joachim 37, 293 Köbler, Gerhard 180, 197
Hindrichs, Gunnar 23, 365, 399f., 413, 464 Kohler, Georg 563
Hinsch, Wilfried 389 Koneffke, Gernot 37, 209
Hobbes, Thomas 106–108, 125, 135, 138, 152, Konhardt, Klaus 226
154, 166 Korsgaard, Christine 122, 310, 348, 589
Höffe, Otfried 156, 215, 226, 232, 395, 476, Kotkavirta, Jussi 133
511, 517, 563f., 579 Krahl, Hans-Jürgen 169
Holborn, Hajo 68 Kraus, Karl 19, 577
Holling, Eggert 368, 419 Krieger, Gerhard 24, 69, 363
Holloway, David 494 Krohn, Wolfgang 419
Holz, Hans Heinz 69, 81, 87 Kuhn, Thomas S. 469
Homer 331 Kuhne, Frank 311, 329, 360, 389, 418
Honnefelder, Ludger 428 Kulenkampff, Jens 531, 534, 552
Honneth, Axel 21, 98, 187
Hoppe, Hansgeorg 430 La Mettrie, Julien Offray de 517
Horkheimer, Max 118, 158, 179, 183, 468, Lachenmann, Helmut 207, 295, 585, 594
479, 492, 575 Laing, Ronald D. 205, 412
Horstmann, Rolf-Peter 15, 91, 93, 103, 155, Langthaler, Rudolf 75
165, 207, 358, 399, 413, 430, 559 Laslett, Peter 166
Hüttemann, Andreas 226, 453, 502 LeGoff, Jacques 180
Hume, David 15, 138, 243, 397, 418 Leinkauf, Thomas 56f., 118
Husserl, Edmund 33, 359, 460 Lem, Stanisław 45
Hutter, Axel 34, 90, 131, 326, 387, 389 Lenin, Wladimir Iljitsch 71
Libet , Benjamin 225
Iber, Christian 58, 507, 579 Lindner, Josef Franz 84
Iggers, Georg G. 90, 113 Locke, John 107, 166f., 172, 418
Losurdo, Domenico 148
Jaberg, Sabine 85f. Lucas, Hans-Christian 112
Jaeschke, Walter 316 Luhmann, Niklas 14, 20, 114, 137f., 169, 180,
Janich, Peter 226 199f., 241, 359f., 543
Lukács, Georg 60, 71
Kafka, Franz 592f. Luther, Martin 67, 150
626 N