Von Der Sprache Zur Konstruktion Von Wir
Von Der Sprache Zur Konstruktion Von Wir
1 Einleitende Bemerkungen
Die epistemologische Frage nach dem Zusammenhang von Sprache, Denken
und Wirklichkeit gehört zu den großen Topoi der abendländischen Philoso-
phie; Platons Höhlengleichnis ist das vielleicht wirkungsmächtigste Beispiel.
Welche Rolle dabei der Sprache als gleichsam vermittelndes Glied zwischen
Kognition und Welt zukommt, ist bekanntlich zwar auch keine neue Streitfrage,
eine erstaunliche Zuspitzung erfährt die wissenschaftliche Auseinanderset-
zung aber in jüngerer Zeit im Kontext neuerer Erkenntnisse zum Verhältnis von
sprachlichen Kategorien und menschlicher Kognition: In der Kognitiven Lingu-
istik steht ein Sprachverständnis im Zentrum, das sprachliche Kategorien und
Strukturen – im Gegensatz zu universalgrammatischen Ansätzen im Gefolge
Chomskys – nicht von sprachlicher Erfahrung (sozialer, diskursiver, interaktiver
etc. Natur) entkoppelt,1 sondern zwischen Kognition und diskursiver Erfahrung
vielmehr einen komplexen wechselseitigen Bedingungszusammenhang sieht.
Sprache kommt dabei die entscheidende Funktion einer Art Scharnier zu, das
zwischen Kognition (hier insbesondere sprachlich induzierten Konzepten) und
diskursiver ‚Wirklichkeit‘ (hier sprachlich hergestellter kollektiver Bedeutung)
vermittelt. Mittels Sprache wird erst das, was als Wirklichkeit wahrgenommen
wird, intelligibel.
In Abhebung von radikalen Formen des Konstruktivismus möchten wir in
diesem Beitrag Grundzüge eines konstruktivistischen Ansatzes vorstellen, die
nicht von einem (wie auch immer gearteten) Dualismus zwischen Ich (Kognition)
und Welt (diskursive, soziale, gegenständliche Wirklichkeit) ausgeht (Abschnitt 2).
Diese Variante, die wir soziokognitiven Konstruktivismus nennen, entspringt dem
Forschungsparadigma der Kognitiven Linguistik und lässt sich, so argumentieren
wir, entlang von vier forschungsleitenden Hypothesen der Kognitiven Linguistik
erschließen (Abschnitt 3): Die erste These richtet sich auf die – zeitweise unter
dem Label sprachliches Relativitätsprinzip bzw. Sapir-Whorf-Hypothese sehr kon-
Open Access. © 2018 Alexander Ziem/Björn Fritsche, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk
ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.
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(a) sie als Regelmäßigkeiten im sprachlichen Verhalten zu begreifen […], (b) die innerhalb
einer Sprachgemeinschaft den Status von geteiltem Wissen (‚common ground‘) haben und
dort (c) als Mittel zur Koordination dienen, (d) mit denen sich rekurrent auftretende Koordi-
nationsprobleme lösen lassen […]. Konstruktionen [im Sinne von Form-Bedeutungspaaren,
AZ] sind also sprachliche Kategorien, die Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft als eine
gemeinsam geteilte Ressource zur kommunikativen Interaktion zur Verfügung stehen (Ziem
2015, 9).
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10 Allerdings lag der Fokus der Forschung bislang schwerpunktmäßig auf kognitiven Aspekten,
vgl. hierzu die Bestandsaufnahme in Ziem (2015).
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11 Das sprachliche Relativitätsprinzip wird zumeist primär mit Edward Sapir (1921/1949) und
Benjamin Lee Whorf (1941/1959) verbunden; es ist daher auch als Sapir-Whorf-Hypothese be-
kannt. Doch ähnliche Positionen sind, gleichsam avant la lettre, im deutschsprachigen Raum
u. a. bereits in den Werken der Sprachphilosophen Herder (1772/1969) und Humboldt (1836/1968)
zu finden.
12 Vgl. hierzu Lakoff/Johnson (2008, 244 ff.). Von großer Bedeutung für die sprachliche Konst-
ruktion der Wirklichkeit ist nach Ansicht der Forschung die Muttersprache, da in und mit ihr der
erste Sprachkontakt stattfindet, vgl. Friederici (1987, 55), Herder (1772/1969, 166).
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son 2013, 262–263). Ohne ein solches Merkzeichen gebildet zu haben, kann der
Theorie sprachlicher Relativität zufolge nicht darüber nachgedacht werden
(Whorf 1941/1959, 256). Wenn z. B. in einer Sprache kein Symbol für das abstrakte
Konzept Milchstrasse existiert, sei dieses Konzept auch nicht im kognitiven
Wissenssystem vorhanden.13
Dieses Postulat der starken Relativitätstheorie lässt sich empirisch bisher
nicht bestätigen und nur in abgeschwächter Form aufrechterhalten. Es ist nämlich
möglich, einen Begriff von einer Entität zu haben, ohne dass ein sprachlicher
Ausdruck für seine Benennung zur Verfügung steht.14 Dies stellt jedoch nicht die
Annahme grundsätzlich in Frage, dass sprachliche Konzepte in gewisser Weise
als Bausteine des menschlichen Denkens und Wissens fungieren. Wenn Bau-
steine fehlen oder heterogene Formen aufweisen (z. B. Differenzen hinsichtlich
der Begriffsextension und -intension), führt dies zu ungleichen Wissenskonst-
ruktionen.
Ein zentraler Aspekt der Einflussnahme der Sprache auf kognitive Wahr-
nehmungsprozesse ist die Setzung sprachlich induzierter Grenzen in der außer-
sprachlichen Wirklichkeit (Cassirer 1959/1983, 9–10). Nach Lakoff und Johnson
(2008, 186) existiert beispielsweise keine sprachunabhängige Abgrenzung eines
Baumes oder Berges von dem Rest einer Landschaft, sondern es sind sprachliche
Kategorien, die diesen Vorgang der kognitiven Segmentierung und damit ver-
bundenen fiktiven Generierung von Entitäten (Baum und Berg) durch den Akt
sprachlicher Benennung überhaupt erst ermöglichen. Nur dann, wenn ein Name
und ein damit verbundener Begriff (etwa von einem Baum oder eines Berges),
zumindest in Form einer inneren Sprache (Herder 1772/1969, 104), geistig kons-
truiert wurde, ist es möglich, einen Baum oder Berg als isolierbare Entitäten in
der Außenwelt kognitiv zu erfassen und darüber nachzudenken. Dies bedeutet
im Umkehrschluss, dass Sprecher/innen unterschiedlicher Sprachen nach dem
sprachlichen Relativitätsprinzip nicht zu identischen Wahrnehmungen und men-
talen Konstruktionen bei gleichen externen Stimuli gelangen, weil sie in ihren
kognitiv prävalenten Sprachsystemen nicht über dasselbe Begriffsinventar verfü-
13 Hier und im Folgenden werden Konzepte typografisch durch Kapitälchen kenntlich gemacht.
14 Diese Annahme ist freilich umstritten. Zu klären wäre etwa, ob so genannte lexikalische und
grammatische Lücken Belege für fehlende Konzepte im konzeptuellen Wissenssystem sind. So
gibt es im Deutschen beispielsweise kein Wort für das Konzept nicht durstig sein, wohl aber für
nicht hungrig sein, nämlich satt – das Konzept nicht durstig sein lässt sich aber sprachlich
beschreiben und ist (deswegen?) Teil des Wissenssystems. Analoges gilt für grammatische Lü-
cken: Anders als etwa im Baskischen und Georgischen gibt es im Deutschen keine grammatische
Kategorie des Ergativs (als ein Kasus), das heißt aber nicht, dass sich das Subjekt transitiver Sätze
im Deutschen nicht anders markieren ließe.
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gen und beispielsweise für bestimmte Objekte, Emotionen oder Ereignisse nicht
die gleichen – oder gar keine – Bezeichnungen erlernt haben (Whorf 1941/1959,
220 ff.). Die Wahrnehmung der Welt ist demnach von jenen sprachlich erfassten
Kategorien und grammatischen Kategorien, die Sprachbenutzer/innen im Laufe
ihres Lebens erworben haben, abhängig.
Kritisiert wird an dieser starken These der sprachlichen Relativität u. a.,
dass es bisher an stützender empirischer Evidenz – etwa durch Korpusanalysen
und vor allem psycho- sowie neurolinguistischer Studien – mangele. Allein eine
Untersuchung begrifflicher Unterschiede, wie etwa durch Whorf (1941/1959, 207–
219) in Bezug auf verschiedene Raum-Zeit-Begriffe bei den Hopi, sei an einigen
Punkten widersprüchlich und könne keine hinreichenden Rückschlüsse auf mög-
liche Divergenzen von Kognitionsprozessen und Weltanschauungen ermöglichen
(Gipper 1969, 343 und 346). Auch lasse das Fehlen einer sprachlichen Kategorie
nicht umstandslos darauf schließen, dass es keine entsprechenden Konzepte
in einer Sprache gebe, denn vielfach existieren andere sprachliche Mittel, um
denselben konzeptuellen Gehalt auszudrücken. Weiterhin können anhand von
Sprachvergleichen ermittelte Unterschiede von Wissenskategorisierungen ledig-
lich auf Interpretations- und/oder Übersetzungsfehlern statt auf Differenzen in
der Kognition basieren (Thiering/Debus/Posner 2013, 10).
Starke empirische Evidenz für zentrale Thesen der Theorie sprachlicher
Relativität stammen jedoch aus neueren experimentellen Studien, die sich u. a.
mit verschiedenen Domänen wie Farb- (Roberson/Davies/Davidoff 2000), Raum-
(Bowerman, 1996; Levinson u. a. 1996), Zeit- (Boroditsky 2011; Casasanto/Fota-
kopoulou/Boroditsky 2010) und Bewegungskonzepten sowie -wahrnehmungen
beschäftigen.15 Auch Studien über Objektwahrnehmungen und -kategorisierun-
gen zeigen, dass beispielsweise in Bezug auf grammatisches Geschlecht (Imai/
Gentner 1997; Boroditsky/Schmidt/Phillips 2003) und Erinnerungen bei Augen-
zeugenberichten Enkodierungsunterschiede in verschiedenen Sprachen vorlie-
gen, die u. a. eine kritischere Bewertung der Objektivität und Beweiskraft von
Augenzeugenberichten vor Gericht nahelegen (Fausey/Boroditsky 2011).
Weiterhin ist Sprache an Prozessen der epistemischen Verfestigung konstitutiv
beteiligt (Busse 2012, 611).16 So geht Busse davon aus, dass Sprachzeichen erfor-
derlich sind, um Wissensstrukturen im Langzeitgedächtnis Stabilität zu verlei-
hen. D. h., wenn etwas nicht benannt ist, kann es auch nicht zu einem stabilen
Wissenselement des Langzeitgedächtnisses werden, und wenn das Wissensele-
ment nicht stabil ist, kann es nicht dazu dienen, sich die Beschaffenheit eines
15 Vgl. auch die zusammenfassenden Übersichten in Pederson (2007) und Lucy (2016, 499 ff.).
16 Vgl. auch Ziem (2008, 339–356).
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17 Erinnerungen sind nach Ansicht der Forschung nicht als Abbilder der Wirklichkeit gespei-
chert, sondern basieren auf rekonstruktiven Prozessen, vgl. Sulin/Dooling (1974, 262).
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phen 1:1-Relation stehen18 und die starke These einer vollständigen sprachlichen
Determination des Denkens daher kritisch zu sehen ist, deuten die erzielten empi-
rischen Forschungsergebnisse zumindest auf eine gewisse Korrelation zwischen
Denken bzw. kognitiven Strukturen und sprachlichen Kategorien hin.
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Fall. Weiterhin beeinflusst die profilbildende Einheit (Ball bzw. Tunnel) maßgeb-
lich, wie die korrelierte Entität (Platte) konzeptualisiert wird: Allein im zweiten
Beispiel stellen wir uns das Objekt als eine schmale Platte vor, die schräg auf
einem Ball liegt. Die Variation der Bedeutung ist das Ergebnis der semantischen
Interaktion der jeweils miteinander korrelierten Entitäten (Tunnel und Platte bzw.
Tunnel und Ball). Sprachliche Referentialisierung ist mithin das Resultat kognitiv-
konstruktiver Konzeptualisierungsleistungen. Folglich kann
[d]ie Welt, auf die wir uns mit sprachlichen Ausdrücken beziehen, […] nicht im Sinne eines
naiven Realismus als eine dem Bewusstsein objektiv zugängliche und extern vermittelte
Welt aufgefasst werden, sondern muss als eine durch das menschliche Kognitionssystem
konstruierte und damit intern erzeugte Welt betrachtet werden (Schwarz 2008, 211).
the cultural, contextual, and cognitive substrate on which the language forms operate is
sufficiently uniform across interlocutors to allow for a reasonable degree of consistency in
the unfolding of the prompted meaning constructions.
Dies ändert allerdings nichts daran, dass es sich bei sprachlichen Referentialisie-
rungen um hochgradig kognitiv konstruierte Größen handelt.
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Ganz ähnlich verhält es sich bei Prozessen der konzeptuellen Integration mit-
hilfe von indirekten Anaphern. Indirekte Anaphern sind meist definite sprach-
liche Ausdrücke, die indirekt auf einen vorher eingeführten Diskursreferenten
Bezug nehmen, so etwa die definite Nominalphrase den Schlüssel auf den Refe-
renten Ferienhaus in dem folgenden Beispiel: Sie eilte zu ihrem Ferienhaus. Dort
angekommen, merkte sie, dass sie den Schlüssel vergessen hatte. Die Auflösung
der indirekten Anapher führt zu einem Verständnis von Schlüssel als Schlüssel
des Ferienhauses. Es ist dabei der referentielle Gebrauch der indirekten Anapher,
der veranlasst, ein Konzept für diese Entität derart zu konstruieren, dass dessen
lexikalische Bedeutung entweder mit Kontextinformationen oder inferiertem Hin-
tergrundwissen angereichert wird. Referentialisierung erweist sich auch hier als
eine hochgradig konstruktivistische kognitive Leistung, die maßgeblich durch
den Kotext und relevantes Hintergrundwissen gesteuert wird.
Neuropsychologisch-konstruktivistische Aspekte: Ein ganz ähnlicher konstruk-
tivistischer Zugang ergibt sich schließlich aus neuropsychologischer Perspektive.
Wenn das Gehirn äußere Reize verarbeitet und wir in der Folge eine bestimmte
Entität wahrnehmen, ist die perzipierte Entität wegen der vorausgegangenen
mentalen Reizverarbeitung kein Abbild der Reizquelle; vielmehr werden die Per-
zepte nur als externe Wirklichkeit empfunden:
Das menschliche Gehirn baut eine nach außen projizierbare Welt auf, die für uns eine Orga-
nisation aufweist, die wir als objektive, von uns unabhängig existierende Struktur erfahren.
(Schwarz 1992, 43)
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29 Von großer Signifikanz hierfür ist die Existenz sog. Spiegelneuronen, die dazu führen, dass
durch „das ledigliche Beobachten anderer Personen bei einer motorischen Handlung, beim
Wahrnehmen oder bei emotiven Reaktionen […] ein großer Teil derjenigen Neuronen beim Be-
trachter aktiv [wird], die bei ihm auch bei der tatsächlichen Durchführung der entsprechenden
Handlung, der effektiven Wahrnehmung oder des emotionalen Zustands aktiviert werden. Spie-
gelneuronen werden sogar […] durch verbale Beschreibung aktiviert“ (Rickheit/Weiss/Eikmeyer
2010, 108).
30 Vgl. Rickheit/Weiss/Eikmeyer (2010, 103).
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kausalen Relation steht. Ein bekanntes Beispiel für eine konzeptuelle Metapher
ist ein Verständnis von Beziehung als Sackgasse, so etwa in dem Satz Diese Bezie-
hung ist eine Sackgasse. Hierbei wird Wissen aus dem konzeptuellen Quellbereich
Verkehr, der durch das metaphorisch verwendete Lexem Sackgasse aktiviert
wird, auf den konzeptuellen Zielbereich Liebesbeziehung – denotiert durch
das Lexem Beziehung – übertragen. Nach Lakoff und Johnson bildet diese kon-
zeptuelle Metapher, zumindest im angloamerikanischen Sprachraum, ein Para-
digma für eine Vielzahl an Beziehungen zwischen dem Quell- und Zielbereich.
Diese Beziehungen, realisiert in Sätzen wie Wir müssen jetzt einfach getrennte
Wege gehen oder Wir sind am Scheideweg, erlauben es, das abstrakte Konzept
der Liebesbeziehung zu erschließen und darüber zu kommunizieren. Lakoff und
Johnson (2008, 57) sehen solche Metaphern letztlich durch die konzeptuelle
Metapher Liebe ist eine Reise motiviert.
Ausgehend von einer Vielzahl unterschiedlicher Beispiele, erstmalig syste-
matisch dokumentiert in einer großen Datenbank,31 postuliert die Theorie kon-
zeptueller Metaphern, dass die Systematizität metaphorischer Wissenskonzeptu-
alisierungen in der Alltagssprache ein Indiz dafür ist, dass auch das menschliche
Konzeptsystem weitestgehend metaphorisch strukturiert ist (Lakoff/Johnson
2008, 15).32 Lakoff und Johnson widerlegen hiermit die lange vertretene Annahme,
dass Metaphern im Sinne eines rhetorischen oder poetischen Stilmittels nur ein
Ausnahmephänomen der Sprache seien (Richards/Smuda 1936/1996, 31–33).
Für den Bereich des Embodiments sind besonders so genannte primäre Meta-
phern relevant (Lakoff/Johnson 1999, 56–58). Primäre Metaphern sind Metaphern,
die zumeist bereits in früher Kindheit durch physische Erfahrungen erworben
werden, so etwa das metaphorische Konzept Zuneigung ist Wärme, das aufgrund
der physischen Wärme, die ein Baby z. B. empfindet, wenn es eng an der Brust der
Mutter gehalten wird, entstanden (Lakoff/Wehling 2008, 21) und in sprachlichen
Äußerungen wie Die Wärme der Leidenschaft hat ihn ergriffen immanent ist. Zu
den primären Metaphern zählen auch so genannte Orientierungsmetaphern, wie
etwa die komplementären konzeptuellen Metaphern Glücklich sein ist oben
und Traurig sein ist unten. Sie entstehen und verfestigen sich auf der Basis
von physischen Erfahrungen, wie etwa der, dass man mit einem gebeugten Kopf
durch die Welt geht, wenn man traurig ist, und mit einem erhobenen Kopf, wenn
man stolz oder froh ist (Lakoff/Johnson 2008, 23).33
31 Vgl. [https://metaphor.icsi.berkeley.edu/pub/en/].
32 Eine gute Übersicht über Studien, welche die Theorie konzeptueller Metaphern stützen und
diese kritisieren, findet sich u. a. in Kövecses (2008) und Gibbs (2011).
33 Zur Relevanz für den politischen Diskurs vgl. Wengeler/Ziem (2010, 346–352).
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Veränderungen in unserem Konzeptsystem verändern auch das, was für uns real ist, und
nehmen Einfluß darauf, wie wir die Welt wahrnehmen und wie wir nach diesen Wahrneh-
mungen handeln. […] Weil wir unsere soziale Realität auf weiten Strecken metaphorisch
verstehen und weil unsere Wahrnehmung der physischen Welt partiell metaphorisch
ist, spielt die Metapher eine sehr wichtige Rolle, wenn wir bestimmen, was für uns real
ist.
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ceiling
a c
b
e
d f
floor
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denen gesagt wurde, dass die generelle Gefahr, während einer Schwangerschaft
ein missgebildetes Kind zu gebären, 1–3 % beträgt (= negatives Framing), haben
daraufhin die Gefahr der Einnahme eines Allergiemedikamentes, das nachweis-
lich keinen Effekt auf diese Wahrscheinlichkeit hat, als größer bewertet (9–14 %)
und das Medikament weniger häufig eingenommen als Frauen, denen gesagt
wurde, dass die Wahrscheinlichkeit, ein normales Kind zu bekommen, 97–99 %
beträgt (= positives Framing). Hier lag die Einstufung des teratogenen Risikos nur
zwischen 3–8 %. D. h., obwohl die Einnahme eines Medikamentes keinen Effekt
auf die Möglichkeit teratogener Risiken hat, beeinflusste ein positives oder nega-
tives Framing nicht nur die Einschätzung der Gefahr teratogener Risiken, sondern
führte damit verbunden auch zu einer veränderten Einnahme des Medikamentes.
Der hier aufgetretene Effekt kann auf eine Perspektivenänderung durch Framing
zurückgeführt werden: Beim negativen Framing ist der Fokus auf die drohende
Gefahr gerichtet, während positives Framing hier mit einer Art Beruhigung asso-
ziiert wird. Framing kann also durch Perspektivenänderungen menschliches Ent-
scheidungsverhalten latent beeinflussen. Dies zeigt, dass die gleichen Fakten in
Verbindung mit verschiedenen Frames zu unterschiedlichen Bewertungen und
Handlungen führen können.
Framing-Effekte sind auch im Bereich der öffentlichen Meinungsbildung
von großer Relevanz (Chong/Druckmann 2007, 637). Wenn beispielsweise eine
Demonstration des Ku-Klux-Klans mit dem Frame Recht auf freie Meinungsä-
usserung verbunden wird, denken Menschen nach einer Studie von Nelson/
Clawson/Oxley (1997) über die Demonstration positiver und befürworten sie eher,
als wenn sie mit dem Frame Gefahr für die öffentliche Sicherheit verbunden
wird. Dies ist als starker Beleg dafür zu bewerten, dass die öffentliche Meinungs-
bildung durch divergierende mediale Rahmungen desselben Themas, d. h. des-
selben objektiven Sachverhalts, signifikant beeinflusst werden kann. Auch das
Framing von Krisensituationen, wie Autounfällen oder Umweltkatastrophen und
dadurch entstandenen Notständen bzw. Schäden, kann die Annahme der Öffent-
lichkeit darüber beeinflussen, welche Person oder Organisation dafür verantwort-
lich ist (Cho/Gower 2006; Schultz u. a. 2012).
Der letzte Aspekt, der in Bezug auf Framing relevant ist, betrifft den so
genannten kognitiven Prävalenz-Effekt von semantischen Frames. Der kognitive
Prävalenz-Effekt bezieht sich auf das neuronale Korrelat von Frames, genauer
auf denjenigen Frame, der mit einem Zielgegenstand auf neuronaler Ebene am
stärksten verbunden ist.38 Die neuronale Verbindung eines Frames mit einem
38 Zur Rolle von neuronalen Verknüpfungen für komplexe Informationsstrukturen vgl. Johnson/
Lakoff (2009, 16) und Pulvermüller (2002, 28).
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Zielgegenstand basiert auf einem Prozess, der in der Kognitiven Linguistik als
neuronale Rekrutierung bezeichnet wird (Lakoff 2013, 17). Neuronale Rekrutie-
rung und damit verbundene Lernprozesse entstehen, wenn Neuronen synchron
aktiviert werden. Bei der Metapher Flüchtlingswelle werden beispielsweise neu-
ronale Netze, die nachweisbar durch die Ausdrücke Flüchtling und Welle erregt
werden, gleichzeitig aktiviert und hierdurch neuronal miteinander verbunden.
Das Gehirn ‚lernt‘ also, zwischen den beiden Konzepten neuronal eine Verbin-
dung zu knüpfen (Lakoff 2009, 103–104). Die Stärke der Verbindung ist etwa dafür
verantwortlich, wie schnell man im Zusammenhang mit dem Lexem Flüchtlinge
an Wellen denkt. Die Verbindungsstärke korreliert mit der Häufigkeit synchroner
Frame-Aktivierungen, also hier mit der Frequenz synchroner Aktivierungen jener
neuronalen Frame-Strukturen, die Flüchtlinge und Wellen aktivieren (Wehling
2016, 34–35).
Diesen Prozess der neuronalen Stärkung/Schwächung bezeichnen Lakoff und
Johnson – im Anschluss an die entsprechenden kognitionswissenschaftlichen
Termini – als long-term potentiation bzw. neuronal recruitment (Lakoff/Johnson
2008, 128). Lakoffs und Johnsons Stärkungs-Schwächungs-Hypothese illustriert,
dass neuronale Aktivitätsmuster abhängig von der Aktivierungshäufigkeit (bzw.
dem Synchronismus neuronaler Muster) physische Veränderungen und Re-Modu-
lationen der neuronalen Strukturen herbeiführen können. Wenn Nervenzellen
rekurrent gleichzeitig in bestimmten Konstellationen erregt werden, kommt es
zu physischen Bahnungen, d. h. zu konsolidierten Neuronenverbänden zwischen
diesen Nervenzellen (Ziem 2008, 348–356, auch: Schwarz 2008, 88–89). Sobald
ein Frame auf solche Weise neuronal dominant mit einem Zielbereich verbun-
den worden ist, werden alternative Sichtweisen aus den Kognitionsprozessen
der Rezipienten auf neuronaler Ebene weitestgehend ausgeschlossen und hier-
durch das Denken der Kogitanten über den Zielgegenstand nachhaltig beein-
flusst. Unterschiedliche sprachliche Rahmungen können somit zu divergierenden
Bewertungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen an damit korrelierte Sachver-
halte führen – zumeist ohne, dass diese Effekte bewusst wahrgenommen oder
unterbunden werden können.
Untersuchungen zu Framing-Effekten demonstrieren, so kann resümierend
festgehalten werden, dass aus kognitiver Perspektive Wahrnehmungs- und Infe-
renzprozesse sowie damit verbundene Anschlusshandlungen durch sprachliches
Framing latent beeinflusst werden können. Besonders im Bereich des politischen
Framings wird sich dies oftmals zunutze gemacht, um Meinungsbildungsprozesse
ideologisch zu steuern.39 Mit Blick auf die Frage, inwiefern Sprache Wirklichkeits-
39 Vgl. Fritsche (i. Dr.); Klein (2018, 292); Matthes (2014, 12–14).
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bzw. Sprache und Wirklichkeit nimmt die Kognitive Linguistik die Position eines
gemäßigten soziokognitiven Konstruktivismus ein, nach der sprachliche Katego-
rien keinen direkten Zugang zur Wirklichkeit erlauben, sondern außersprachliche
Referenten durch die Sprache vielmehr stets soziokognitiv überformt sind und den
Sprachteilnehmern nur kontextualisiert zugänglich gemacht werden. Von radika-
len Spielarten des Konstruktivismus unterscheidet sich diese soziokognitive Vari-
ante dadurch, dass sie zwischen Kognition und (diskursiver) Wirklichkeit keinen
wie auch immer gearteten Dualismus sieht. Ganz im Gegenteil: Beide gelten als
wechselseitig voneinander abhängige Größen. Wäre dem nicht so, müsste man
sprachlichen Zeichen entweder ihre konstitutiv soziale Dimension und Funktion
absprechen (wie im Radikalen Konstruktivismus) oder ihre irreduzibel kognitive
Gestalt, nämlich als form- und bedeutungsseitige Types, abstreiten (wie im radi-
kalen Antikognitivismus).
Aus der dargestellten konstruktivistischen Position der Kognitiven Lingu-
istik leiten sich wichtige Forschungsperspektiven für die linguistische Diskurs-
forschung ab. Wenn sprachliche Kategorien und Strukturen Anleitungen zum
Aufbau mentaler Modelle sind, die ‚Wirklichkeit‘ nicht abbilden, sondern diese
erst als kognitive Größen entstehen lassen, müsste eine der Kernaufgaben der
Diskursforschung darin bestehen, die Determinanten bzw. Parameter der kog-
nitiven Konstruktion in konkreten Diskursen zu identifizieren und hinsichtlich
ihrer funktionalen Eigenschaften auszuweisen. Dies kann dadurch gelingen, dass
die Konstruktionsmechanismen selbst als analytische Werkzeuge der Sprachana-
lyse eingesetzt werden. Tatsächlich ist dies bei komplexen Referentialisierungen
und Konzeptualisierungen im Diskurs bereits vielfach erfolgreich geschehen; so
sind etwa Frames und konzeptuelle Metaphern zur Untersuchung des politischen
Sprachgebrauchs verwendet worden.40 Ein auffälliges Desiderat besteht aller-
dings darin, dass bislang der Fokus der kognitiv ausgerichteten Diskursforschung
einseitig auf lexikalischen Kategorien (wie Schlüsselwörtern, Schlagwörtern, kon-
troversen Begriffen usw.) und deren semantischer Prägung im Diskurs liegt; stark
unterbelichtet bleibt indes ein kognitiv-diskursanalytischer Zugang zu gramma-
tischen Kategorien und Strukturen sowie deren – auch strategischer – Einsatz
in Diskursen.41 Weiterhin gibt es bislang jenseits von eher heuristischen Unter-
suchungen (etwa Klein 2018) keine systematische diskursanalytische Studie, die
sprachliches Framing im öffentlichen Sprachgebrauch untersucht. Hier müsste
nach unserer Überzeugung die Diskursforschung in Zukunft ansetzen.
40 Vgl. jüngst Kuck (i. Dr.) sowie den Überblick über einschlägige Studien in Ziem (2013) und
Reisigl/Ziem (2014, 93–96).
41 Vgl. aber Hart (2014) sowie Ziem (i. Dr.).
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