Unterlagen zur
UE Grammatik
SS 2023
Universität Wien /
Studienprogrammleitung Deutsche Philologie
Friedrich Neubarth
Diese Unterlagen werden als eine Sammlung von Handouts (die Bezeichnung ist vielleicht nicht ganz
korrekt) im Zuge der Lehrveranstaltungen UE Grammatik am Institut für Germanistik erstellt und über die
Lernplatform Moodle der Universität Wien abrufbar gemacht. Sie erheben weder Anspruch auf
Vollständigkeit noch auf Korrektheit im Sinne eines etablierten Lehrplans. Vielmehr soll als verbindender
Kompromiss eine Reihe möglichst einfacher und verständlicher Konventionen konsequent aufgebaut, und
erklärt werden. Einige Abschntte gehen über den Stoff hinaus, diese sind entsprechend gekennzeichnet.
Irrtümer und Fehler vorbehalten, Kommentare und Anregungen immer willkommen!
Kontakt: [email protected]
1. Was ist Grammatik?
Zu dieser Frage gibt es keine einfache Antwort. Der Begriff Grammatik umfasst einige
Bedeutungen. Etymologisch leitet er sich vom gr. [τέχνη] γραμματική [technē] grammatikē
[Kunst des] Schreibens, her. Die gebräuchlichste Verwendung bezeichnet jegliche Form der
systematischen Sprachbeschreibung. Oft wird damit auch eine Art von Regelwerk assoziiert.
Solch ein Bild von Grammatik entsteht auch sofort, wenn man Grammatik im pädagogischen
Kontext denkt. Im muttersprachlichen Unterricht wird Grammatik meist als analytisches Tool
dargestellt, mit Hilfe dessen man Wortarten, grammatische Rollen (z.B. Subjekt, Objekt),
Zeiten, etc. bestimmen kann – nicht immer allzu beliebt und oft als Selbstzweck empfunden.
Im fremdsprachlichen Unterricht wird Grammatik zur Rationalisierung von Konstruktionen,
dem Einsatz bestimmter Wortformen etc. eingesetzt. Da die Zugänge im Zweitspracherwerb
sehr unterschiedlich sind, ist solch eine Form der Rationalisierung für viele Lernende ein
unterstützendes Werkzeug. Dabei wird leider sehr oft übersehen, dass einzelnen Punkte, die
als Grammatik dargebracht werden, Ausgang für gezielte Übungen sein sollten, um die
jeweiligen grammatischen Muster systematisch zu verinnerlichen. Diejenigen, die in den
Genuss des Unterrichts einer klassischen, ausgestorbenen Sprache wie Latein oder Griechisch
gekommen sind, werden vielleicht noch ein systematischeres Bild von Wortparadigmen
haben, da es sich bei diesen Sprachen um sehr reich flektierende Sprachen handelt, die für
eine vielzahl an grammatischen Konstellationen eigene Wortformen entwickelt haben.
Von dieser Annäherung ausgehend, sollte man allerdings schon zu Anfang zwischen
normativen (oder auch präskriptiven) Grammatiken und deskriptiven unterscheiden. Erstere
reflektieren (wie z.B. der Duden für das Standarddeutsche) ein Regelwerk, wie Sprache
“richtig” verwendet wird. Das muss nicht unbedingt starr sein, auch der Duden geht auf
neuere Entwicklungen im Deutschen sowie auf regionale Unterschiede ein. Von einer
linguistischen Perspektive ist ein kanonisierter “Soll-Zustand” einer Sprache jedoch nicht
allzu interessant, vielmehr steht ein möglicherweise durch vielfältige Varianten geprägter “Ist-
Zustand” im Zentrum der Forschung.
Es gibt in der theoretischen Linguistik aber durchaus auch das Bemühen, über die deskriptive
Erfassung einer Sprache (oder eines Konglomerates von Varietäten einer Sprache, bzw.
Dialekten) hinaus, ein wenig hinter den Vorhang zu sehen, und der Frage nachzugehen, was
denn all diesen vielfältig ausgeprägten Regelmäßigkeiten zugrunde liegen könnte. Eine
Sichtweise, die Sprache als kognitives Phänomen ansieht, und dadurch eher mit den
unbewussten Manifestationen von sprachlichen Regelmäßigkeiten konfrontiert ist, verfolgt
zudem auch gewissermaßen einen universellen Anspruch (was liegt allen Sprachen
zugrunde?), und wird aus dieser Perspektive heraus eine erschöpfende Beschreibung der
grammatischen Gegebenheiten einer einzelnen Sprache in den Hintergrund drängen,
zugunsten einer tiefgehenden Analyse einzelner grammatischer Erscheinungen, die sich oft in
sehr unterschiedlicher Form in vielen Sprachen wiederfinden. Sprachen sind komplexe
Phänomene, und durch den fokusierten Vergleich können Erkenntnisse gewonnen werden, die
über die reine Beschreibung weit hinausführen.
Die eingangs gestellte Frage ‒ was ist Grammatik? ‒ führt tatsächlich, je nach Perspektive, zu
sehr unterschiedlichen Antworten. Vielleicht ist es zweckdienlich, einen kurzen historischen
Streifzug durch die Ideengeschichte der Sprachwissenschaft zu unternehmen. Die
ausgewählten Beispiele geben keinesfalls einen auch nur irgendwie vollständigen Abriss der
F. Neubarth UE Grammatik, SS 2023 – Handout 01 1
Geschichte der Linguistik wieder, sie eignen sich aber ganz gut, konkurrierende Sichtweisen
kurz und bündig darzustellen:
1.1. Fragment einer Ideengeschichte der Linguistik
Pāṇini: lebte im 4. Jhd. v. Chr. (anderen Auffassungen nach sogar früher, um 500 v. Chr.).
Der von ihm überlieferte Text Aṣṭādhyāyī, ist eine in Sutren verfasste Abhandlung über die
Grammatik des Sanskrit; insgesamt sind es 3,959 Verse oder linguistische Regeln zu
Morphologie, Syntax und Semantik, die zu zahlreichen bhashya (Kommentaren) angeregt
haben. Pāṇinis Analyse von nominalen Komposita kann immer noch als die Basis für
moderne linguistische Theorien gelten. Seine Theorie zur morphologischen Analyse war
fortschrittlicher als jede äquivalente Westliche Theorie vor dem 20. Jhd.. Seine Abhandlung
ist sowohl deskriptiv als auch generativ, verwendet Meta-Sprache und Meta-Regeln und
wurde auch schon mit der Turing-Maschine verglichen, wo die logische Struktur der
Verarbeitung auf die essentiellen Komponenten reduziert ist und die mit deinem idealisierten
mathematischen Modell arbeitet. [Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Pāṇini (letzter Zugriff
20-10-2021) von wo die Passagen stammen, die hier übersetzt und modifiziert sind.]
Arabische Grammatiker: mit der rasanten Entwicklung der arabischen Kultur im 7. und 8.
Jhd. und den schon sehr früh bewusst wahrgenommen Problemen der ursprünglich
mündlichen, später schriftlichen Überlieferung des Koran (die arabische Schrift birgt viele
Zweideutigkeiten), entstand eine sehr tiefgehende Auseinandersetzung mit der arabischen
Sprache, die zu dieser Zeit auch erstmalig kanonisiert wurde. Die enge Verbindung mit der
islamischen Theologie hat nicht bedeutet, dass die Grammatiker nicht sehr akribisch den
Zustand des jeweils zeitgenössischen Arabischen in all seinen Varianten erforscht und
dokumentiert hätten. Was die Werke dieser Grammatiker noch auszeichnet, ist, dass sie in
ihren Erläuterungen einer modernen Linguistik viel näher sind als so manche linguistische
Analyse im europäischen Raum. Berühmte Vertreter: Al-Khalil ibn Ahmad (718– ca. 791),
sein Hauptwerk ist das erste Wörterbuch der arabischen Sprache (Kitab al-‘Ayn). Sein
Schüler Sibawayhi (persisch: Sibawaīh, ca. 760–793), verfasste Al-Kitāb fī an-naḥw (‘das
Buch der Grammatik’). Es stellt eine der frühesten linguistischen Analysen der arabischen
Grammatik dar und zeichnet sich v.a. in den Gebieten der Phonetik und Phonologie durch
eine hohe Präzision in der Beschreibung und ein hohes Maß an Abstraktion aus.
Junggrammatiker: Gruppierung von Linguisten der so genannten Leipziger Schule, die sich
Ende der 1870er Jahre in Leipzig um August Leskien (1840–1916), Karl Brugmann (1849–
1919) und Hermann Osthoff (1847–1909), aber auch Hermann Paul (1846–1921) und Eduard
Sievers (1850–1932) gebildet hat. Eine der wichtigsten, von ihnen lancierten Hypothesen war
die der “Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze”, mit der sie die rein in der Geisteswissenschaft
angesiedelte Sprachwissenschaft unter die Schirmherrschaft naturwissenschaftlicher
Methoden stellen wollten. Intensive Beschäftigung mit der Rekonstruktion indoeuropäischer
Sprachen und mit Sprachgeschichte im Allgemeinen.
Dialektgeographie/Dialektologie: Georg Wenker (1852–1911) – „Sprachatlas des Deutschen
Reichs“, der auch als „Wenkeratlas“ bezeichnet wird, und an dem bis heute im
Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas an der Univ. Marburg gearbeitet wird. Im Zuge
seiner Beschäftigung mit deutschen Dialekten fand er heraus, dass es weder scharf
umrissenene Dialektgebiete gibt, noch dass bei der Rekonstruktion von Dialekten
ausnahmslos wirkende Lautgesetze anzunehmen sind.
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Strukturalismus: begründet von Ferdinand de Saussure (1857–1913). Abkehr vom Dogma
der beobachtbaren Fakten, das jegliche Abstraktion ausschließt. Schwerpunkt des
Strukturalismus generell: Strukturen und Beziehungsgefüge in den weitgehend unbewusst
funktionierenden Mechanismen kulturell determinierter Symbolsysteme. Saussure versteht
Sprache als ein System von Zeichen, das heißt von im Prinzip arbiträren Verbindungen von
Signifikant (le signifiant – das Bezeichnende / Lautbild) und Signifikat (le signifié – das
Bezeichnete / Vorstellung), etwas formloser ausgedrückt: das Zeichen vereint Form (z.B. die
lautliche Form) und Bedeutung (auf was in der Welt sich das Zeichen bezieht). Diese
Beziehung ist nicht naturgegeben, sondern durch Konvention festgelegt (innerhalb einer
Sprache) und daher arbiträr und beliebig. Weder die Form, noch die Bedeutung an sich haben
eine Substanz, sie ergeben sich jeweils in Abgrenzung zu anderen Formen und Bedeutungen.
1.2. Das Zeichen im Strukturalismus
In seiner Erfassung von Sprache als Zeichensystem hat Saussure einen wesentlichen Schritt in
Richtung Abstraktheit getan. Dennoch, und genau in dem Punkt, dass Saussure immer den
Aspekt der Sprache als eigenständiges, konventionell determinertes System betont hat, bleibt
der Strukturalismus dem Bestreben verhaftet, eine (bestimmte) Sprache als System zu
erfassen, und nicht unbedingt Verallgemeinerung über Sprachen hinweg anzustreben. Es mag
auch vielleicht nicht als zufällig erscheinen, dass das Hauptaugenmerk des Strukturalismus
zunächst in der Morphologie und Phonologie lag, und die Beschäftigung mit Syntax und
(kompositionaler) Bedeutung1 erst später ins Visier der Linguistik kam. Saussure
unterscheidet 3 Perspektiven auf das Phänomen Sprache:
Langue: abstraktes System von Zeichen und Regeln; einzelsprachlich. Die Struktur
der „langue“ kann durch das Studium der „parole“ erfasst werden.
Parole: konkrete Instanz des Sprachgebrauchs, alle sprachlichen Äusserungen.
Variiert über Sprecher, soziale Gruppen, Situationen...
Langage = Faculté de Langage: allgemeine Sprachfähigkeit
Zwei Arten von Relationen sind für sprachliche Zeichen relevant: syntagmatisch und
paradigmatisch. Syntagma bezieht sich auf die Relationen von Zeichen im sprachlichen
Kontext. Paradigma kann man als eine Liste von sprachlichen Zeichen, die an einer
bestimmten syntaktischen Position gleichberechtigt stehen könnten.
SYNTAGMA: das Nach- bzw. Nebeneinander sprachlicher Elemente
PARADIGMA: die Auswahl sprachlicher Elemente
Man kann diese Relationen anhand eines einfachen Schemas demonstrieren. Nehmen wir
einen minimalen Hauptsatz im Deutschen, bestehend aus einem Namen, der als Subjekt
fungiert, einem intransitiven Verb und einem Verbpartikel. (Die eigentliche Syntax solch
1
Kompositionale Semantik beschäftigt sich mit Bedeutung, die aus der Zusammenführung von Teilen, die
Bedeutung haben, entsteht. Grob gesprochen: was ist die Bedeutung eines Satzes, angenommen wir kennen die
Bedeutung seiner Teile. Demgegenüber steht die lexikalische Semantik, die versucht, die Bedeutung von
einzelnen sprachlichen Einheiten (Wörtern, Morphemen, Idiomen) zu erfassen. Die Zielsetzungen und Probleme
dieser zwei Teilbereiche der Semantik sind so unterschiedlich, dass man sie fast als zwei getrennte Disziplinen
ansehen sollte.
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eines Satzes ist etwas komplizierter, aber für unsere Zwecke reicht es, die Abfolge der
einzelnen Elemente in Betracht zu ziehen.
(1) Hans wäscht ab
Gustav läuft weg
Florentine geht hin
Die horizontalen Zeilen stellen jeweils ein Syntagma desselben Typs dar. Die Spalten bilden
jeweils für sich ein Paradigma – hier ist entscheidend, dass die Sätze gleich aufgebaut sind. In
der Grammatik bilden zum Beispiel Flexionsformen Paradigmen:
(2) PERSON.NUMERUS PRÄSENS PRÄTERITUM
1P.SG (ich) laufe lief
2P.SG (du) läufst liefst
3P.SG (er/sie/es) läuft lief
1P.PL (wir) laufen liefen
2P.PL (ihr) läuft lieft
3P.PL (sie) laufen liefen
Sprachliche Zeichen nach Saussure sind Einheiten, bei dem eine gewisse sprachliche Form
mit einer Bedeutung verbunden ist. Die Form kann man als Abfolge von Lauten beschreiben,
In der Gebärdensprache ist dies aber zum Beispiel eine bestimmte Gebärde, die für sich eine
Bedeutung hat. Diese Zeichen können im Zuge der parole gemeinsam mit anderen Zeichen zu
zu verstehbaren sprachlichen Ausdrücken zusammengesetzt werden. Das sprachliche Zeichen
(„signe linguistique“, „sème“) ist eine komplexe mentale und physiologische Einheit, die bei
der Artikulation erzeugt, bei der Perzeption dekodiert wird.
Wesentlich ist die Paarung von Form und Inhalt zu einem Zeichen, die einerseits nicht
vorgegeben ist, sondern sich erst in der Verwendung des Zeichens innerhalb eines
sprachlichen Systems manifestiert, andererseits auch nicht als zwei unabhängige, trennbare
Komponenten (Form und Bedeutung) zu verstehen sind. Den ersten Punkt bezeichnet man
auch als Arbitrarität der Zeichen: die Paarung selbst könnte genausogut anders sein, sie ist
das Ergebnis einer konventionellen Übereinkunft innerhalb einer sozialen Gruppe, die
dieselbe Sprache spricht (dass z.B. die Abfolge der Laute [ t ɪ ʃ ] ein Ding mit Beinen
bedeutet, das eine ebene Fläche hat etc. – ein „Tisch“ eben.)
(3)
Inhalt: signifié: das “Bezeichnete” – Konzept
Form: [tɪʃ] signifiant: das “Bezeichnende” – Lautbild
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Saussure hat später seinen Zeichenbegriff bewusst von signe in sème umbenannt, um den
synthetischen Aspekt dieser Paarung hervorzuheben.
Eine kurze Bemerkung zu “Lautbild”: Wenn wir ein Konzept für einen Begriff (z.B. ‘Tisch’
als Konzept) mit einem Lautbild [tɪʃ] in Deutschen verbinden, dann beschreibt das die
Zeichenhaftigkeit des Wortes “Tisch” (im Deutschen). Genausogut kann man aber eine
Gebärde, die auf das Konzept “Tisch” verweist, in der Deutschen Gebärdensprache als
Zeichen auffassen. Das heisst, die “Form” ist nicht auf ein Lautbild beschränkt, Sprache ist
nicht auf akustische Kommunikation beschränkt. Gebärdensprachen bedienen sich nur eines
anderen Kanals (visuell statt auditiv), ihnen liegen aber die gleichen Bauprinzipien und
kognitiven Verarbeitungsroutinen zugrunde, wie den “gesprochenen” Sprachen.
Diesen Abriss kurz zusammengefasst, und für unsere Zwecke auf den Punkt gebracht:
Grammatik ist:
– für die Junggrammatiker ein “zu Beschreibendes”
– für die Dialektgeographie ein “in seiner Vielfalt zu Erfassendes”
– für die Strukturalisten die abstrakte Grundlage der Sprache als Zeichensystem
1.3. Generative Grammatik
Noam Chomsky (geb. 1928) begründete eine neue Sichtweise auf Sprache, die als Generative
Grammatiktheorie Verbreitung fand.2 Zentral ist der Blick auf Sprache als eine (dem
Menschen zueigene) kognitive Fähigkeit. Mit dem Begriff Universalgrammatik (UG), der
sich mehr auf den universellen Bauplan aller Sprachen bezieht (also, Strukturen, Wörter,
bestimmte Prinzipien, wie Wörter in Strukturen syntaktisch ‘zusammengebaut’ werden
können) als auf das, was wir unter Grammatik einer einzelnen Sprache verstehen, hat er den
in den 50ern vorherrschenden Behaviorismus direkt angegriffen. (B.F. Skinner 1957: Verbal
Behavior – Sprache als erlernte Verhaltensmuster, wobei Lernen – von Tierexperimenten auf
Menschen übertragen – als “operante Konditionierung” durch Verstärkung stattfindet).3
Chomskys sehr explizite Kritik an diesem Modell hat zu einem generellen Umdenken geführt,
das manchmal als “kognitive Wende” bezeichnet wird, und das die kognitiven Fähigkeiten
des Menschen als Teil unserer biologischen Grundausstattung in das Zentrum des Interesses
rückt. Von einer Wende zu sprechen ist allerdings nicht ganz richtig, denn die Grundidee des
Behaviorismus, Sprache als erlernte Muster zu sehen, und Grammatik als mehr oder weniger
zufällige Regelmäßigkeiten in diesen Mustern, ist keineswegs verschwunden, sondern über
den in den 80ern populär gewordenen Konnektionismus (neuronale Netze), insbesondere
unter dem Eindruck des Erfolgs statistischer Methoden in der Sprachverarbeitung, in den
Bereichen der kognitiven Psychologie relativ weit verbreitet.
Dabei darf aber nicht übersehen werden (was aber oft passiert), dass sich Chomskys Kritik am
Behaviorismus hauptsächlich gegen die Annahme richtet, dass die menschliche Fähigkeit,
Sprache (und Grammatik) überhaupt zu erwerben, auf eine allgemeine Fähigkeit reduzierbar
2
Vgl. Chomsky, Noam (1957): Syntactic Structures. The Hague/Paris: Mouton. Und: Chomsky, Noam (1965):
Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge, Massachusetts: MIT Press.
3
Vgl. Chomsky, Noam (1959): “A Review of B. F. Skinner’s Verbal Behavior”, Language 35/1, S. 26-58.
[https://www.jstor.org/stable/411334]
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sei, mit der mehr oder weniger regelmäßige Muster aus Stimuli von der Umwelt „gelernt“
werden, um dieses Verhalten dann reproduzieren zu können. Chomsky argumentiert, dass es
beim Phänomen Sprache mehr braucht, und dieses „mehr“ muss angeboren sein
(Angeborenheits, oder Nativismus-Hypothese), nämlich spezialisierte kognitive Module, die
es ermöglichen, gewisse Fertigkeiten (wie z.B. Sprache) zu erwerben bzw. anzuwenden.
Einige dieser Module arbeiten völlig im Unbewussten – wenn wir syntaktische Strukturen
produzieren oder analysieren, um zum Beispiel einen Satz zu formulieren oder zu verstehen,
dann reflektieren wir eigentlich (fast) nie über diese Strukturen, wir verarbeiten sie einfach.
Dieser Sichtweise (angeborene Sprachfähigkeit) liegen folgende Beobachtungen zugrunde:
– alle (neurologisch unauffälligen) Menschen können (mindestens) eine Sprache sprechen/
gebärden und verstehen.
– der Spracherwerb verläuft oft recht unterschiedlich, konvergiert aber relativ schnell zu der
Sprache, denen die Kinder in ihrer Entwicklung ausgesetzt sind.
– der Spracherwerb ist nicht instruktiv: Kinder werden nur selten explizit ausgebessert.
[Vgl. Sonderfall Sprachverweigerung: gar keine Möglichkeit zur Verbesserung, erst ab
einer bestimmten Entwicklungsstufe sprechen die Kinder plötzlich ‘alles’].
– manche vor allem in der Grammatik verankerten Eigenschaften der Sprache sind komplett
unbewußt → grammatisches Wissen ist nicht explizit.
– Sprachfähigkeit analog zu, aber unabhängig von anderen kognitiven Fähigkeiten (z.B.
visuelle Wahrnehmung). Diese kognitiven Eigenschaften haben eine biologische
(neurologische) Realität: Dissoziationen (Sprache getrennt von allgemeiner Intelligenz),
Pathologien (spezifische Sprachstörungen).
Der Begriff Grammatik im Rahmen der generativen Grammatiktheorie hat zwei Bedeutungen:
Grammatik einer bestimmten Sprache: das „Regelwerk“, das bestimmt, wie und welche
Strukturen in einer bestimmten Sprache gebildet werden können.
Universalgrammatik (universal grammar, UG): der Bezugsrahmen, wie solche
„Regelwerke“ beschaffen sein können.
– ist eine angeborene Fähigkeit, die Fähigkeit, Sprache (und damit Grammatik) zu
erwerben, also das Wissen um die Grammatik auszubilden und auch anzuwenden zu
können. Wird oft als Sprachfähigkeit bezeichnet (faculty of language).
– besteht aus abstrakten Prinzipien, die mit den Grammatiken von einzelnen Sprachen
kompatibel sein müssen, bzw. auf die sie zurückführbar sein müssen.
– universal: ein Bauplan für alle möglichen und existierenden, natürlichen (menschlichen)
Sprachen der Welt.
– hat eine biologische (neuronale) Realität, stellt die Basis für das (ausschließlich)
menschliche, kognitive Phänomen Sprache dar. Menschliche Sprache unterscheidet sich
von Tierkommunikation, und auch von der symbolischen Kommunikation, die Primaten
imstande sind zu erlernen (aber nicht unbedingt instruktionsfrei zu erwerben).
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Besonders die Angeborenheitshypothese in Bezug auf Universalgrammatik hat (unter dem
Mißverständnis der zwei Bedeutungen von “Grammatik”) zu heftigen, nicht notwendiger-
weise produktiven Kontroversen geführt.
Universalgrammatik ist keinesfalls gleichbedeutend mit linguistischen Universalien!
Linguistische Universalien sind ein Konzept der Typologie (Joseph Greenberg, 1915–2001).
Man unterscheidet absolute (‘jede Sprache hat Nomina und Verben’, ‘jede (gesprochene)
Sprache hat Vokale und Konsonanten’) und implikative Universalien (‘hat eine Sprache eine
eigene Form für Dual, dann hat sie auch eine Form für Singular’). Daneben gibt es
statistische Universalien, die allerdings keine Universalien sind, sondern eher Tendenzen (‘die
meisten Sprache haben stimmhafte und stimmlose Plosive’.)
Ein wesentlicher Punkt ist, dass linguistische Universalien auf der Beschreibungsebene
formuliert werden. Z.B. die implikative Universalie: wenn Sprache SOV Wortstellung haben,
dann haben sie auch Postpositionen. (NB: Deutsch ist, wie wir noch sehen werden SOV, hat –
aber nur ganz wenige – Postpositionen, z.B. entlang, hauptsächlich Präpositionen),
wohingegen Universalgrammatik sich auf die angeborene Fähigkeit, die Grammatik einer
Sprache zu erwerben, bezieht, sowie den Rahmen vorgibt, wie diese beschaffen sein kann.
Es ist äußerst wichtig, diese unterschiedlichen Konzepte zu verstehen und auseinanderzu-
halten, denn oft werden sie vermischt oder gleichgesetzt, was Chomskys Auffassung einer
Universalgrammtik als ein den Grammatiken von Sprachen zugrundeliegendes System von
Prinzipien, wie Grammatiken beschaffen sein können, nicht mehr schlüssig erscheinen lässt.
Die folgenden Beispiele sollen illustrieren dass unser Bewusstsein, was grammatikalisch ist
und was nicht, und was grammatikalische “Regeln” bewirken können, eigentlich gar nicht
bewusst ist, sondern rein intuitiv und unmittelbar erfassbar ist:
Korrelation Form – Bedeutung: die Wortstellung in einem Satz (hier bestehend aus 4
Wörtern) führt sofort dazu, dass wir dem Satz eine unterschiedliche Bedeutung zuweisen.
(Hier geschrieben, aber die Prosodie ‒ Satzmelodie ‒ verrät natürlich auch einiges…)
(4) a. kommt jetzt der Schwan → Frage
b. jetzt kommt der Schwan → Aussage
Die Intuition, was grammatikalisch möglich ist, und was nicht, ist oft sehr stark ausgeprägt:
(5) a. der Schwan kommt jetzt → ok (Aussage) NB: mit einem Stern-
chen wird markiert,
b. *der jetzt Schwan kommt → ungrammatisch
dass der Satz nicht
c. *jetzt kommt Schwan der → ungrammatisch grammatisch ist
Unbewusste, intuitive Interpretation von Strukturen: Pronomina, referentielle Ausdrücke:
(6) a. Gustav glaubt, dass Rita ihn gesucht hat . → Gustav = ihn ist möglich
b. Er glaubt, dass Rita Gustav gesucht hat . → er ≠ Gustav
Noch einmal zurück zum Spracherwerb: Was lernen ‒ oder besser ‒ erwerben Kinder da in
Bezug auf die Grammatik einer Sprache? Laute, Wörter, ein Lautsystem, komplexere Wörter,
zwei Wörter zusammensetzen (Zwei-Wort Sätze), mehrere Wörter verbinden, komplexere
Wörter mit Endungen, komplexere Sätze … bis hin zu Relativsätzen ...
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... aber was lernen Kinder wirklich in Bezug auf Grammatik, beziehungsweise, was für ein
Wissen haben wir über die Grammatik einer Sprache, wenn wir sie gelernt/erworben haben?
Das implizite Wissen über die Grammatik einer Sprache kann als Kompetenz beschrieben
werden. Es ist die Kompetenz, zu wissen, wie Strukturen gebildet werden können, und damit
auch, welche Strukturen möglich sind, und welche nicht. Das befähigt natürlich auch dazu,
Strukturen zu bilden (bei der Produktion gleichermaßen wie bei der Interpretation).
Kompetenz versus Performanz:
– Kompetenz (competence) ist die Fähigkeit, Strukturen der Grammatik einer Sprache
gemäß zu bilden, bzw. das implizite Wissen um die Möglichkeiten, wie solche Strukturen
gebildet werden können.
– Performanz (performance) ist die aktive Produktion solcher Strukturen, unter
Berücksichtigung dieses Wissens. Das heißt aber nicht, dass alles, was die Performanz
hervorbringt, den grammatikalischen Bedingungen der Kompetenz entspricht:
Auslassungen, Wiederholungen, Unterbrechungen, Einschübe, Abbrüche und Schwenks,
sowie auch bewusst in Kauf genommene Verletzungen grammatikalischer Regeln sind
sozusagen der Alltag in gesprochener Rede.
Ein wichtiger Unterschied der menschlichen Sprache zu anderen symbolischen
Kommunikationsformen ist, dass sie Strukturen bildet, die Rekursion zulassen. Das heisst,
dass Strukturen, die durch gewisse Regeln gebildet werden, selbst wieder durch dieselben
Regeln in komplexere Strukturen eingebettet werden können. Als Beispiel dient die
Einbettung von Nebensätzen, die man theoretisch unendlich fortsetzen könnte: Gustav meint,
dass Rita glaubt, dass Alois behauptet hat, dass … der Schwan jetzt kommt. Dasselbe könnte
man auch Relativsätzen machen: der Schwan, den der Mann gesehen hat, den Rita gestern
getroffen hat, die übrigens auch noch ein Paket mitgebracht hat, in dem sich zumindest kein
Schwan befand, kommt jetzt. Vielleicht wird man den Satz, wenn man ihn schnell liest, nicht
mehr sinngemäß erfassen können. Schon Mark Twain (“The Awful German Language”, in: A
Tramp Abroad, 1880) hat sich darüber mokiert, dass im Deutschen erst dann das Verb
kommt, wenn man den vorigen Text schon wieder vergessen hat. Dennoch ist ein so
verschachtelter Satz an sich grammatikalisch korrekt und wird aus so beurteilt.
Chomsky hat in einer frühen Arbeit4 Kriterien zur Adäquatheit von Theorien aufgestellt:
Adäquatheit von Theorien:
– beobachtungsadäquat (observational adequacy): beobachtbare Phänomene werden
akkurat beschrieben (vgl. Junggrammatiker)
– beschreibungsadäquat (descriptive adequacy): ein komplettes System an Phänomenen
wird umfassend beschrieben (vgl. Strukturalismus)
– erklärungsadäquat (explanatory adequacy): die zugrundeliegenden Bedingungen für ein
System an Phänomenen werden erfasst, man kann damit das System an sich erklären (der
ambitionierte Anspruch der Generativen Grammatik)
4
Chomsky, Noam (1964): “Current Issues in Linguistic Theory”. In: Fodor, J. & J. Katz (Hrsg.) The Structure of
Language, Prentice Hall, S. 50-118.
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