DAS MITTELALTER:
ZEIT – RAUM – MENSCHEN
© Thomas Frenz, Passau 2011
Das Zeichen verweist auf Abbildungen, die beim mündlichen
Vortrag gezeigt wurden, aber hier aus Copyrightgründen wegge-
lassen sind.
Fassung von 2011 mit Nachträgen bis 2022
I. Die Zeit
1. Kapitel: Periodengrenzen und innere Gliederung des Mittelalters
2. Kapitel: Mittelalterliche Einteilungen der Weltgeschichte
II. Der Raum
3. Kapitel: Die geographischen Vorstellungen des Mittelalters
4. Kapitel: Geographischer Überblick aus heutiger Sicht
III. Die Menschen
A) Staat und Gesellschaft
5. Kapitel: König und Kaiser
6. Kapitel: Das Lehnswesen
7. Kapitel: Die Ritter
8. Kapitel: Die Städte, I: Die Städte in Deutschland
9. Kapitel: Die Städte, II: die Städte in Italien
10. Kapitel: Die Unfreien
B) Kirche und Religion
11. Kapitel: Das Heidentum
12. Kapitel: Das Judentum, I: Die jüdische Religion
13. Kapitel: Das Judentum II: Das Verhältnis zwischen Juden und
Christen im Mittelalter
14. Kapitel: Der Islam
15. Kapitel: Die christliche Religion (Einführung)
16. Kapitel: Papst und Kardinäle
17. Kapitel: Bischöfe und Klerus
18. Kapitel: Die Konzilien
19. Kapitel: Das Mönchtum
20. Kapitel: Die Liturgie
21. Kapitel: Die Musik im Mittelalter
22. Kapitel: Bibel und Bibeldeutung im Mittelalter
23. Kapitel: Die Theologie
24. Kapitel: Häresie und Ketzerei, I: Die frühchristlichen Häresien
25. Kapitel: Häresie und Ketzerei II: Die Katharer oder Albigenser
26. Kapitel: Häresie und Ketzerei III: Beginen und Hussiten
C) Das tägliche Leben
27. Kapitel: Der Tageslauf, I: Schlaf, Kleidung und Ernährung
28. Kapitel: Der Tagesablauf, II: Freizeit
29. Kapitel: Der Jahreslauf
30. Kapitel: Der Lebenslauf I: Geburt und Ehe
31. Kapitel: Der Lebenslauf, II: Medizin und Tod
32. Kapitel: Schule und Universität
33. Kapitel: Artes mechanicae (Handwerk) und artes incertae
34. Kapitel: Recht und Gericht
35. Kapitel: Reliquien und Heilige
Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur Vorlesung "Das Mit-
telalter: Zeit – Raum – Menschen". Wir beginnen mit einem amüsan-
ten Zitat aus der Belletristik, und zwar aus dem Schauspiel "Romulus
der Große" von CFriedrich Dürrenmatt. Der Titelheld dieses Schau-
spiels ist allerdings nicht etwa der sagenhafte Gründer Roms, son-
dern der letzte Kaiser der Westhälfte des antiken Römischen Rei-
ches, Romulus Augustulus, der 476 n. Chr. von Odowakar abgesetzt
wurde.
Bei Dürrenmatt entspinnt sich zu Beginn des vierten und letzten Ak-
tes zwischen den beiden Kammerdienern des Kaisers, Achilles und
Pyramus, folgender Dialog:
Pyramus: "Sechzig Jahre haben wir unter elf Kaisern dem römischen
Staat gedient. Ich finde es geschichtlich unverständlich, daß er nun
noch zu unseren Lebzeiten aufhört zu existieren."
Achilles: "Wenn wir abtreten, kann man sagen: Jetzt ist die Antike zu
Ende!"
Pyramus: "Zu denken, daß eine Zeit kommt, wo man nicht einmal
mehr Lateinisch und Griechisch spricht, sondern so unmögliche
Sprachen wie dieses Germanisch!"
Achilles: "Jedenfalls muß die Zeit, die nun anbricht, schauderhaft
sein."
Pyramus: "So richtiges dunkles Mittelalter."
Dürrenmatt nennt sein Schauspiel eine "Ungeschichtliche historische
Komödie". Ihm als Dichter steht das frei, was dem Historiker nicht
freisteht, nämlich der anachronistische Gebrauch von Begriffen. Der
Ausdruck "Mittelalter" stammt nämlich erst aus der Neuzeit, genauer
von Christoph Cellarius, der seit 1694 Professor in Halle/S. war.
Da er zuvor lange Jahre im Schuldienst tätig war (was in der Literatur
immer mit leicht tadelndem Unterton vermerkt wird), dürften ihn
hauptsächlich didaktische Gesichtspunkte geleitet haben, als er die-
ses Wort prägte.
Die dahinterstehende geistige Konzeption ist aber deutlich äl-
ter: sie geht zurück auf die italienischen Humanisten des 15. Jahr-
hunderts. Diese glaubten, durch die studia humanitatis, d.h. durch
die Beschäftigung mit den literarischen Werken der antiken Autoren,
vor allem Ciceros, die goldenen Zeiten des klassischen Altertums
wieder heraufführen zu sollen und zu können. Folgerichtig werden für
sie die seither verflossenen Jahrhunderte zu einer finsteren Zwi-
schenzeit, die mit der Zerstörung der antiken Kultur durch die Barba-
ren des Nordens, die Germanen, ihren Anfang nahm. Als Prototyp
dieser Barbaren galten – übrigens sehr zu Unrecht, wie wir noch se-
hen werden – die Goten; folglich wird die mittelalterliche Kunst und
Schrift als "gotisch" bezeichnet und abgelehnt.
Mit diesem "finsteren Mittelalter" wollen wir uns also im Fol-
genden befassen. Sie werden sehen – wie kaum anders zu erwarten
–, daß diese Zeit gar nicht so finster war und daß manche Epochen
der jüngeren Vergangenheit, vor allem des 20. Jahrhunderts, es an
Düsternis mit ihr durchaus aufnehmen können. Sie werden auch se-
hen, daß viele Aspekte der neuzeitlichen Geschichte (bis in die un-
mittelbare Gegenwart hinein) ohne die Kenntnis der mittelalterlichen
Verhältnisse überhaupt nicht zu verstehen sind.
Was aber erwartet Sie nun ganz konkret im Laufe dieser Vor-
lesung? Es erwartet Sie keine Darstellung des Geschichtsverlaufes,
also keine chronologisch angeordnete Schilderung der Ereignisse;
das ist Aufgabe der großen, sich oft über mehrere Semester erstrek-
kenden Epochenvorlesungen. Es erwartet Sie keine Darstellung der
Quellen und der Arbeitstechniken des Historikers; das ist Aufgabe
der Proseminare. Es erwartet Sie auch keine vertiefte Behandlung
eines begrenzten Einzelthemas; das ist Aufgabe der Spezialvorle-
sungen, der Übungen und später der Hauptseminare. Es erwartet
Sie vielmehr eine Darstellung der wichtigsten Determinanten des Mit-
telalters, und zwar, nach mittelalterlichem Brauch, in systematischer
und hierarchischer Ordnung. Eine besondere Betonung lege ich da-
bei auf die Aspekte, in denen sich das Mittelalter von der Neuzeit un-
terscheidet.
Die Vorlesung gliedert sich in 35 Kapitel unterschiedlicher
Länge und insgesamt in drei Hauptteile: Zeit, Raum und Menschen.
Der Teil über die Zeit umfaßt zwei Kapitel: 1. Periodengrenzen und
innere Gliederung des Mittelalters und 2. Mittelalterliche Einteilungen
der Weltgeschichte; er stellt also die heutige und die damalige Auf-
fassung des Zeitablaufes gegenüber, und Sie werden wahrscheinlich
erstaunt sein, wie sehr diese Auffassungen voneinander abweichen.
In derselben Weise ist auch der zweite Teil über den Raum geglie-
dert, nur daß wir zur Abwechslung mit den mittelalterlichen Vorstel-
lungen anfangen: Kapitel 3: Die geographischen Vorstellungen des
Mittelalters; Kapitel 4: Geographischer Überblick aus heutiger Sicht.
Der dritte Teil über die Menschen umfaßt die restlichen 31
Kapitel, also Kapitel 5 – 35. Er ist noch einmal gegliedert in drei Ab-
schnitte: "Staat und Gesellschaft", "Kirche und Religion", und "Das
tägliche Leben". Innerhalb dieser Abschnitte ist die Ordnung wieder-
um nach mittelalterlichem Brauch hierarchisch. So beginnt der Ab-
schnitt über Staat und Gesellschaft mit Kapitel 5: König und Kaiser.
Dann folgt in Kapitel 6: Das Lehnswesen, also die Beschreibung der-
jenigen Struktur, die den mittelalterlichen Staat im wesentlichen zu-
sammenhält. Kapitel 7 behandelt Die Ritter, Kapitel 8 und 9 Die Städ-
te, und zwar Kapitel 8 die Städte in Deutschland, Kapitel 9 diejenigen
in Italien, Kapitel 10 Die Unfreien, d.h. die überwiegende Menge der
Bevölkerung, darunter die Leibeigenen und die Sklaven.
Der Abschnitt über Kirche und Religion befaßt sich ausführ-
lich mit dem christlichen Glauben, ohne dessen Kenntnis sich das
Mittelalter nicht verstehen läßt. Das Christentum ist indessen nicht
die einzige Religion, die das Mittelalter bestimmt hat. Ich beginne
den Abschnitt deshalb mit vier Kapiteln über die nichtchristlichen Re-
ligionen; dies sind Kapitel 11: Das Heidentum, Kapitel 12 und 13:
Das Judentum, und zwar Kapitel 12 die jüdische Religion, Kapitel 13
das Verhältnis zwischen Juden und Christen im Mittelalter, und
schließlich Kapitel 14: Der Islam. Das 15. bis 26. Kapitel befassen
sich mit dem christlichen Glauben, und zwar wiederum unter drei
Aspekten: mit der rechtlichen Organisation, mit der Liturgie und mit
der Lehre. Vorweg geht im Kapitel 15 eine Einführung in die christli-
che Religion. Die rechtliche Organisation betrachte ich, wie ge-
wohnt, in hierarchischer Ordnung, und zwar in Kapitel 16: Papst und
Kardinäle, Kapitel 17: Bischöfe und Klerus, Kapitel 18: Die Konzilien
und Kapitel 19: Das Mönchtum. Das Papstkapitel hebt dabei zwei
Aspekte hervor: das Verhältnis des Papstes zum Kaiser und den üb-
rigen weltlichen Gewalten und das Verhältnis des Papstes zur Ge-
samtkirche. Es folgt dann im 20. Kapitel die Betrachtung der Kirche
in ihrer eigentlichen Aufgabe, der Liturgie oder, anders formuliert,
dem Gottesdienst; daran schließt sich Kapitel 21 über die mittelalter-
lichen Musik an, die vorwiegend, aber nicht ausschließlich geistliche
Musik ist. Von den Sakramenten wird später im Abschnitt über das
tägliche Leben die Rede sein. Bei der Betrachtung der Lehre der
Kirche führe ich zunächst die wichtigste Glaubensquelle vor, die Hei-
lige Schrift, deren Bedeutung im Mittelalter übrigens weit über den
religiösen Bereich hinausgeht. Kapitel 22 behandelt also Bibel und
Bibeldeutung im Mittelalter. Das 23. Kapitel macht einige kurze Be-
merkungen über die mittelalterliche Theologie in ihren beiden konträ-
ren Ausprägungen als Scholastik und Mystik. Kapitel 24–26 handelt
über Häresie und Ketzerei, und zwar Kapitel 24 über die frühchristli-
chen Häresien, Kapitel 25 über die Katharer und Kapitel 26 über die
Beginen und die Hussiten; es ist offenkundig, daß es hier nicht nur
um religiöse, sondern auch um soziale und politische Phänomene
geht.
Der 3. Abschnitt des 3. Teiles behandelt, wie schon gesagt,
das tägliche Leben. Er besteht zunächst aus acht Kapiteln: Kapitel
27 und 28 über den Tageslauf, wobei in Kapitel 27 vor allem vom
Essen die Rede sein wird und in Kapitel 28 von der Freizeit, Kapitel
29: Der Jahreslauf mit dem Festkalender, Kapitel 30 und 31: Der Le-
benslauf; und zwar Kapitel 30: Geburt und Ehe, Kapitel 31: Medizin
und Tod, sodann als Spezialthemen Kapitel 32: Schule und Universi-
tät, Kapitel 33: Das Handwerk und Kapitel 34: Recht und Gericht.
Das sind insgesamt 34 Kapitel, und damit könnte die Vorlesung ei-
gentlich zu Ende sein, zumal ein Gerichtsverfahren im Mittelalter
häufig zur Hinrichtung des Angeklagten führt. Damit die Vorlesung
aber nicht gar so düster schließt, werde ich in einem 35. Kapitel noch
über die Karriere sprechen, die man auch noch nach seinem Tode
machen kann; es handelt über Reliquien und Heilige.
Bevor wir in den ersten Teil über die Zeit einsteigen, möchte ich noch
ein paar technische Bemerkungen machen. Ich gehe selbstverständ-
lich davon aus, daß Sie diese Vorlesung besuchen, weil Sie sich für
ihren Inhalt interessieren oder weil Sie Positives über den Dozenten
gehört haben.
Noch ein Hinweis zu den Sprachkenntnissen: spezielle
Fremdsprachenkenntnisse sind für diese Vorlesung nicht erforder-
lich. Ich werde aber, um Sie an die Tatsache zu gewöhnen, daß die
mittelalterlichen Quellen nur selten in deutscher, sondern meist in la-
teinischer Sprache verfaßt sind, des öfteren zusätzlich zur deutschen
Übersetzung auch den Originalwortlaut zitieren.
Jetzt wollen wir aber keine weitere Zeit verschwenden und
beginnen direkt mit dem
I. HAUPTTEIL: DIE ZEIT
Die meistverbreitete Enzyklopädie des Mittelalters, die "Etymologien"
des spanischen Bischofs Isidor von Sevilla, definieren die Geschichte
als series temporum, als den Ablauf der Zeiten. Es ist daher ange-
messen, daß wir mit dieser Dimension unsere Geschichtsbetrach-
tung beginnen. Wir nehmen dabei zwei Standpunkte ein, den heuti-
gen und den mittelalterlichen. Beide haben gemeinsam, daß sie den
Geschichtsverlauf linear sehen; sie unterscheiden sich dadurch von
den zyklischen Vorstellungen, die zum Teil in der Antike, vor allem
aber in außereuropäischen Kulturen – wie etwa in Indien oder La-
teinamerika – zu finden sind. Geschichte ist in abendländischer Vor-
stellung nicht die ewige Wiederkehr des Gleichen, sondern eine fort-
schreitende Entwicklung, die zwar nicht unbedingt gradlinig verläuft,
aber doch eine Richtung einhält. Ich darf allerdings an dieser Stelle
schon darauf hinweisen, daß sich manche mittelalterlichen Ideen
zum Geschichtsverlauf auch zyklischen Vorstellungen annähern.
Aber bleiben wir zunächst bei der modernen, europäischen Sicht.
1. Kapitel:
Periodengrenzen und innere Gliederung des Mittelalters
WANN BEGINNT DAS Mittelalter, und wann hört es auf? Wir wollen
also jetzt der Frage der Periodengrenzen zwischen Antike und Mit-
telalter einerseits und Mittelalter und Neuzeit andererseits etwas in-
tensiver nachgehen. Es gibt dafür übrigens das schöne Fremdwort
"Periodologie".
Sie haben wahrscheinlich bereits eine Reihe von Daten für die
Periodengrenzen kennengelernt oder werden sie noch kennenlernen:
für das Ende der Antike und damit für den Beginn des Mittelalters
kommen in Frage
• das Toleranzedikt Kaiser Konstantins von 313;
• die Absetzung des Romulus Augustulus 476 (mit oder ohne Kam-
merdiener …);
• die Taufe Chlodwigs 497/8;
• der Langobardeneinfall in Italien 568;
• die Ausbreitung des Islam ab 622;
• der Einmarsch der Sarazenen in Spanien 711;
• die Kaiserkrönung Karls des Großen am Weihnachtstag 800.
Für die Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit:
• Humanismus und Renaissance in Italien seit dem Beginn des 15.
Jahrhunderts;
• die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern um 1445;
• die Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453;
• die Entdeckung Amerikas 1492;
• die Erfindung der doppelten Buchführung am Ende des 15. Jahrhun-
derts;
• der Beginn der Reformation 1517.
Schon diese Aufzählung zeigt, daß eine eindeutige Abgrenzung nicht
möglich ist: immerhin haben wir für die untere Zeitgrenze Daten er-
halten, die bis zu 500 Jahre, und für die obere Daten, die über 100
Jahre voneinander abweichen; die zeitliche Ausdehnung des Mittelal-
ters schwankt somit zwischen 600 und über 1200 Jahren. Wir müs-
sen unsere Frage also etwas intelligenter stellen und überlegen, was
denn für das Mittelalter eigentümlich ist, wodurch es sich von den
benachbarten Zeitaltern unterscheidet. Dafür können wir die aufge-
führten Ereignisse im Wesentlichen unter zwei Gesichtspunkten ord-
nen: die Religion und den geographischen Schwerpunkt.
Um mit dem zweiten zu beginnen: charakteristisch für das Mit-
telalter ist eine veränderte Stellung der germanischen Völker zum
Römischen Reich. Angriffe germanischer Völker auf römisches Ge-
biet gab es während der ganzen Antike, aber es gelang immer wie-
der, diese entweder abzuwehren oder, wenn sich ihr Einbruch ins
Reich nicht verhindern ließ, sie in den römischen Staat zu integrie-
ren. Dazu schloß man mit ihnen Ansiedelungsverträge als Föderaten
und verlieh ihren Führern römische Titel. In diesem Sinne verstanden
sich selbst Odowakar und Theoderich der Große als Statthalter des
in Byzanz residierenden Kaisers; die Absetzung des Schattenkaisers
Romulus Augustulus 476 ist also nur von geringer Bedeutung. So-
dann gelang es Kaiser Justinian, deren Gebiete im 6. Jahrhundert für
das Römische Reich zurückzuerobern und wieder unter direkte Kon-
trolle zu nehmen.
Gründlich mißlungen ist solch ein Versuch aber bei den Lan-
gobarden, die seit 568 nach Italien einfielen und einen völlig selb-
ständigen Staat bildeten. Schließlich ging durch die Kaiserkrönung
Karls des Großen im Jahre 800 das Reich selbst auf einen germa-
nischen Herrscher über. Kaum weniger folgenreich war am Ende des
Mittelalters die Ausweitung des geographischen Raumes durch die
Entdeckung der neuen Welt und des Seeweges nach Indien.
Ein wichtiges Ereignis auf dem religiösen Gebiet war zweifel-
los die Zulassung des Christentums durch die Kaiser Licinius und
Konstantin 311 bzw. 313. Aber dadurch stand das Christentum zu-
nächst nur gleichberechtigt neben vielen anderen Religionen, und
Konstantin selbst empfing die Taufe ja auch erst auf dem Totenbett.
Der für die Antike typische Synkretismus der Religionen blieb also
erhalten, und mit Julian Apostata regierte 361–363 sogar noch ein-
mal ein heidnischer Kaiser. Erst die Erklärung des Christentums zur
Staatsreligion 391 durch Theodosius den Großen erfüllte deren Al-
leinvertretungsanspruch. Aber auch damals endete keineswegs so-
fort das Heidentum, das z.B. in Rom erst im 6. Jahrhundert erlosch.
Denselben Anspruch, die einzig wahre Religion zu sein, erho-
ben aber auch die beiden anderen Religionen, die im Mittelalter von
Bedeutung sind, das Judentum und der Islam. So kann man sagen,
daß seit 622 das religiöse System des Mittelalters vollendet ist und
daß das völlige Fehlen religiöser Toleranz für diese Epoche charak-
teristisch ist. Innerhalb des Christentums bleibt das Verhältnis zwi-
schen dem lateinischen Westen und dem griechischen Osten wäh-
rend des ganzen Mittelalters prekär, aber nicht hoffnungslos; auch
das seit 1054 bestehende und bis heute andauernde Schisma war
zunächst keineswegs definitiv. Unmöglich wurde die Kirchenunion
erst, als Konstantinopel 1453 in türkische Hände fiel und als seit
1517 durch die Reformation die westliche Kirche selbst auseinander-
brach.
Ich bin mir bewußt, daß ich eine Reihe von Tatsachen erwähnt
habe, die einigen von Ihnen noch unbekannt sein dürften; aber ich
möchte daran den Rat anschließen, den Inhalt dieser Vorlesung, wie
übrigens aller anderen Vorlesungen auch, anhand der Sekundärlite-
ratur nachzuarbeiten, bis Sie alles verstanden haben: ein wissen-
schaftliches Studium ist kein Fernsehquiz, bei dem Sie sich unter vier
möglichen Antworten "aus dem Bauch heraus" für eine entscheiden,
ohne diese Entscheidung begründen zu müssen. Deshalb gibt es bei
mir auch grundsätzlich keine Multiple-Choice-Klausuren.
Weniger Probleme als die Frage nach Anfang und Ende berei-
tet die Innengliederung des Mittelalters: man unterscheidet zwischen
Früh-, Hoch- und Spätmittelalter. Dabei ist allerdings zu beachten,
daß diese Ausdrücke mißverständlich sein können: in einigen Spra-
chen bezeichnet man als "hohes" Mittelalter den frühen Zeitabschnitt;
unser Spätmittelalter ist dort entsprechend das "niedere" Mittelalter.
Die Grenze zwischen frühem und Hochmittelalter liegt im 11.
Jahrhundert, diejenige zwischen Hoch- und Spätmittelalter im 13.
Jahrhundert. Wenn man genauere Angaben machen will, muß man
jedoch für die einzelnen europäischen Länder unterschiedliche Jah-
reszahlen in Betracht ziehen. Als Grenze zwischen frühem und ho-
hem Mittelalter drängt sich für Deutschland das Jahr 1077 auf, also
die Ereignisse von Canossa. Für Norditalien ist dasselbe Jahr geeig-
net, man könnte aber auch an 951 denken, den 1. Italienzug Ottos
des Großen. Für Süditalien ist die normannische Eroberung und
Staatenbildung der entscheidende Vorgang, der sich im Jahr 1059,
mit der päpstlichen Belehnung, konkretisieren ließe. Auch für Eng-
land ist die normannische Eroberung im Jahre 1066 das entschei-
dende Datum. In Spanien ist der Beginn der Reconquista zu nennen,
wobei man als konkretes Datum vielleicht auf die Wiedereroberung
Toledos 1085 verweisen könnte. Als übergreifendes europäisches
Datum wäre der Beginn der Kreuzzüge am Ende des 11. Jahrhun-
derts geeignet. Für die osteuropäischen Staaten muß man die Gren-
ze früher setzen, nämlich auf die Christianisierung der Böhmen, Po-
len und Ungarn im späten 10. Jahrhundert.
Als Grenze zwischen Hoch- und Spätmittelalter wären für Eng-
land, Frankreich und Spanien zwei Schlachten zu nennen: für Eng-
land und Frankreich die Schlacht von Bouvines im Jahre 1214, durch
die das Imperium der Platagenet zusammenbrach, und für Spanien
die Schlacht von Las Navas de Tolosa 1212, durch die die Haupt-
phase der Reconquista abgeschlossen wurde. Für Deutschland bil-
det der Tod Friedrichs II. 1250 und das anschließende Interregnum
den Einschnitt. In Italien ist 1266, der Beginn der französischen
Fremdherrschaft im Königreich Sizilien oder auch die sog. Sizilische
Vesper 1282 das maßgebende Datum.
Es lohnt abschließend vielleicht der Hinweis, daß die erwähn-
ten Unterteilungen natürlich nur für die europäische Geschichte gel-
ten und auch nur, wenn man diese aus dem Blickwinkel der neuzeit-
lichen Wissenschaft betrachtet. Unter ideologischen Gesichtspunkten
wurden früher auch andere Einteilungen favorisiert; und wir werden
uns im 23. Kapitel, wenn wir über die Krankheiten sprechen, zu fra-
gen haben, ob nicht auch eine Gliederung aus medizinischem Blick-
winkel denkbar wäre. In anderen Weltgegenden gibt es andere Ge-
schichtsabläufe, die zwar zum Teil mit einem ähnlichen Schema ge-
gliedert werden, aber doch mit abweichenden Zeitstellungen. Und in
Europa selbst bediente man sich im Mittelalter einer ganz anderen
Geschichtseinteilung, wie uns das folgende Kapitel zeigen soll.
2. KAPITEL:
MITTELALTERLICHE EINTEILUNGEN DER WELTGESCHICHTE
DAS BEHERRSCHENDE LEBENSGEFÜHL des Mittelalters ist die
Angst: Angst vor Gottes Zorn, Angst vor Naturkatastrophen, Angst
vor Kriegen, Angst vor Hungersnot, Angst vor Seuchen, Angst vor
willkürlicher Beschuldigung vor Gericht, Angst vor dem Verlust der
ewigen Seligkeit, vor allem aber Angst vor dem Weltende. Besonders
diese Angst ist dabei viel konkreter als die heutigen Ängste vor einer
globalen Katastrophe, denn heute ist die Katastrophe abwendbar, die
Auseinandersetzungen gehen nur um die Frage, welches der richtige
Weg dafür ist und ob wir bereit sind, den als richtig erkannten Weg
auch zu beschreiten. Der mittelalterliche Mensch weiß aber mit grau-
envoller Gewißheit, daß das Weltende kommt und daß es bald
kommt. Die Hl. Schrift selbst spricht ja davon, daß nur noch eine
kleine Weile Zeit ist, und alle Katastrophen, an denen das Mittelalter,
nach Ausweis der Chroniken, wahrlich nicht arm war, sind deutliche
Vorzeichen (Lc 21, 10–11): "Volk wird sich gegen Volk erheben, und
Reich gegen Reich; überall werden große Erdbeben sein und Seu-
chen und Hungersnot; Schreckbilder und große Zeichen werden am
Himmel erscheinen." – surget gens contra gentem, et regnum ad-
versus regnum; terremotus magni erunt per loca et pestilencie et fa-
mes terroresque de celo et signa magna erunt.
Auf diese Gewißheit kann man nun auf zweierlei Weise rea-
gieren: zum einen, indem man sich auf das Weltende vorbereitet, et-
wa, indem man in ein Kloster eintritt und sich dort Fasten und Gebet
widmet, wie es auch das Evangelium empfiehlt (Mc 13, 32-33): "Je-
nen Tag aber oder die Stunde kennt niemand: weder die Engel im
Himmel noch der Sohn, nur der Vater. Seht, wacht und betet; denn
ihr wißt nicht, wann die Stunde kommt." – De die autem illo vel hora
nemo scit: neque angeli in celo, neque filius, nisi pater. Videte, vigila-
te et orate; nescitis enim, quando tempus sit. Weniger radikal kann
man auch andere für sich beten lassen, indem man etwa ein Kloster
mit Gütern beschenkt; dies ist im Mittelalter auch viele tausend Mal
geschehen und hat die europäische Landkarte gründlich umgestaltet.
Die apokalyptische Erwartung kann aber gelegentlich auch ins kras-
se Gegenteil umschlagen und zu Exzessen weltlicher Lust führen,
die heute kaum mehr verständlich sind; wir kommen darauf zurück.
Die zweite Möglichkeit einer Reaktion ist vielleicht weniger
fromm, aber menschlich durchaus verständlich: man versucht, den
Termin des Weltendes zu berechnen – in der geheimen Hoffnung,
daß vielleicht doch noch Zeit ist und daß erst eine spätere Generati-
on betroffen sein wird. Zwar sagt das Evangelium, daß niemand den
Tag kennt; wir haben die Stelle gerade gehört, und auch der hl. Au-
gustinus weist warnend auf dieses Verbot hin. Aber daran hat sich im
Mittelalter ernsthaft niemand gekehrt. Da die Zeit bis zum Weltende
auf direktem Wege nicht zu ermitteln ist, geht die Berechnung einen
Umweg: wenn man weiß, wie lange die Weltgeschichte insgesamt
dauert, und wenn man weiß, wieviel Zeit davon schon verstrichen ist,
dann läßt sich durch eine einfache Subtraktion ermitteln, wieviel Zeit
noch übrig ist.
Die Gesamtdauer der Weltgeschichte läßt sich dabei leicht be-
rechnen: die Weltgeschichte ist nämlich in der Schöpfungsgeschichte
präfiguriert, also gleichnishaft vorweggenommen. Hinter diesem Ge-
danken steht eine Technik der Bibelinterpretation, die uns heute
fremd geworden ist, auf die wir uns aber einlassen müssen, wenn wir
das Mittelalter und seine Denkweise verstehen wollen. Ich möchte
Ihnen diese Technik deshalb jetzt in einem Exkurs vorführen; im 18.
Kapitel, wenn wir über die Bibel als Quelle sprechen, werden wir uns
daran erinnern. Es geht um die Technik des "vierfachen Schriftsin-
nes". Das Wort Gottes hat nämlich nach mittelalterlicher Auffassung
neben der vordergründigen Bedeutung, dem Buchstabensinn, noch
eine dreifache geistige Bedeutung, zusammen also vier Sinnebenen.
Diese Ebenen nennt man die historische, die allegorische, die tropo-
logische und die anagogische Dimension des Schriftwortes. Die mit-
telalterlichen Schüler lernten dazu den Merkvers:
Littera gesta docet; quid credas, allegoria;
moralis, quid agas; quo tendas, anagogia.
"Der Buchstabe lehrt, was geschehen ist; die Allegorie, was du glau-
ben sollst; die moralische Bedeutung, wie du handeln, und die ana-
gogische, worauf du zielen sollst." Die erste Bedeutung ist also die
der realen historischen Tatsachen. Die allegorische Bedeutung zeigt
die heilsgeschichtliche Ebene. Die tropologische oder, wie der Merk-
vers sagt, moralische Bedeutung bringt die Anwendung auf den ein-
zelnen Gläubigen, also die Seelsorge. Die anagogische Deutung zielt
schließlich auf das Ende der Zeiten, auf die apokalyptische Dimensi-
on.
Um ein paar Beispiele zu bringen: Im Zusammenhang mit der
Geschichte Abrahams wird ein König von Salem namens Melchise-
dech erwähnt, der (laut Gen. 14, 18) ein "Priester des Höchsten Got-
tes" war, dem er Brot und Wein opfert. Dieser Melchisedech ist also
1. der historische König von Salem, 2. Christus beim Abendmahl, 3.
der Papst als Seelsorger der gesamten Kirche, 4. Christus als ewiger
Hohepriester. Jerusalem ist
historisch gesehen die Stadt in Palästina, allegorisch die Kirche, tro-
pologisch die Seele des Menschen, anagogisch das himmlische Je-
rusalem am Ende der Zeiten. Der Turm zu Babel ist historisch das
Gebäude (oder besser gesagt: die Bauruine) im Zweistromland,
heilsgeschichtlich der Hohe Rat, der Christus verurteilt, seelsorglich
die Todsünde des Hochmutes, anagogisch der Antichrist.
Diese Technik der mehrschichtigen Interpretation der Bibel ist
keine christliche Erfindung, sondern geht auf jüdische Vorbilder zu-
rück. Nach dem Bericht des Matthäusevangeliums (12, 39f.) hat sich
Christus selbst dieser Methode bedient. Dort fordern die Pharisäer
von ihm ein Zeichen für seine Vollmacht und erhalten zur Antwort:
"Diese böse und treulose Generation fordert ein Zeichen, aber es
wird ihr kein anderes gegeben werden als das Zeichen des Prophe-
ten Jonas. Denn wie Jonas drei Tage und drei Nächte im Bauch des
Fisches war, so wird auch der Menschensohn drei Tage und drei
Nächte im Innern der Erde sein." – Generatio mala et adultera si-
gnum querit, et signum non dabitur ei nisi signum Ione prophete.
Sicut enim fuit Ionas in ventre ceti tribus diebus et tribus noctibus, sic
erit filius hominis in corde terre tribus diebus et tribus noctibus. Eine
schöne Darstellung dieser Szene finden Sie in folgender Zeichnung,
unten Jonas, der vom Walfisch freigegeben wird, oben Christus bei
der Auferstehung:
Mit diesen Werkzeugen ausgerüstet, können wir jetzt die Fra-
ge nach der Länge der Weltgeschichte beantworten, indem wir die
Schöpfungswoche kunstgerecht interpretieren: die Erschaffung der
Welt spielte sich laut Genesis Kap. 1 in sechs Tagen ab, und es folg-
te als siebter der Ruhetag; also dauert auch die Weltgeschichte
sechs aktive Zeitalter oder aetates, an die sich als Weltensabbat die
Ewigkeit anschließt. Die Länge dieser aetates läßt sich ebenfalls aus
der Bibel entnehmen, denn der Psalmist sagt in Psalm 89 Vers 4:
quoniam mille anni ante oculos tuos tamquam dies hesterna, que
preteriit – "denn tausend Jahre sind vor deinen Augen wie der gestri-
ge Tag, der vorüberging". Aus dieser Gleichung: 1 Tag = 1000 Jahre
läßt sich die Gesamtdauer der Weltgeschichte zu 6000 Jahren er-
rechnen. Diese Auffassung war übrigens noch bis ins 19. Jahrhun-
dert hinein verbreitet und bildete ein wichtiges Argument gegen die
Thesen Darwins, da für seine evolutionäre Entwicklung der Lebewe-
sen innerhalb dieser 6000 Jahre einfach nicht genug Zeit war.
Es kommt also alles darauf an, das Datum der Erschaffung
der Welt möglichst genau zu ermitteln, damit wir wie geplant die be-
reits verflossene Zeit von der 6000jährigen Gesamtdauer abziehen
können. Sicherster Anhaltspunkt hierfür ist wiederum die Bibel, die
im Lukas-Evangelium Kap. 3 Vers 23-38 die vollständige Generatio-
nenfolge von Adam bis auf Christus bietet. Aus dem Buch Genesis
lassen sich außerdem die Lebensdaten von Adam bis auf Jakob ent-
nehmen. Danach sind keine Jahreszahlen mehr angegeben, aber
das ist nicht so schlimm, denn Abraham gilt als Zeitgenosse des as-
syrischen Königs Ninos; dadurch und durch ähnliche Gleichsetzun-
gen läßt sich die Chronologie der Bibel mit den mesopotamischen
Herrscherlisten oder auch mit der Olympiadenzählung der Griechen
oder der Rechnung ab urbe condita in Rom verbinden. Eine Paralle-
lisierung dieser und zwei weiterer Listen war schon in vorchristlicher
Zeit durch Eratosthenos von Kyrene (um 235 v. Chr.), später durch
Apollodoros (um 120 v. Chr.) und Kastor von Rhodos († 42 v. Chr.)
unternommen worden, konnte also bequem benutzt werden. Auch
der Kirchenvater Hieronymus hat sich intensiv damit befaßt. Und
schließlich sind diese Listen auch bei Isidor von Sevilla in Kapitel 39
des 5. Buches seiner Etymologien bequem benutzbar zusammenge-
stellt.
Auf diese Weise ergibt sich anhand der Septuaginta ein
Schöpfungsdatum 5198 vor Christi Geburt. (Die Septuaginta ist die
angeblich von 70 Übersetzern erarbeitete Übertragung des hebräi-
schen Textes des Alten Testaments ins Griechische; sie ist die Vor-
lage der ältesten lateinischen Bibelübersetzungen; wir kommen im
18. Kapitel darauf zurück.) Ein Schöpfungsdatum 5198 v. Chr. be-
deutet ein Weltende im Jahre 802. Als aber um das Jahr 400 der Kir-
chenvater Hieronymus eine neue Übersetzung direkt aus dem he-
bräischen Urtext ins Lateinische vornahm, die sog. Vulgata,
stellte sich heraus, daß dort ganz andere Zahlen standen als in der
griechischen Fassung: so verkürzte sich die Zeit von Adam bis zur
Sintflut von 2241 auf 1656 Jahre, für die Zeit von der Sintflut bis auf
Abraham von 942 auf 292 Jahre. Insgesamt verringert sich das Alter
der Welt um über 1200 Jahre, und als Schöpfungsdatum ergibt sich
das Jahr 3952 v. Chr. Dadurch rückt das Weltende auf ein beruhi-
gendes Datum 2048 – beruhigend jedenfalls aus mittelalterlicher
Sicht. Diese Diskrepanz zwischen den beiden Wahrheiten, der grie-
chischen der Septuaginta und der hebräischen der Vulgata, veritas
greca und veritas hebraica, hat sich im Mittelalter nie mehr beseiti-
gen lassen. Sie zeigte aber, wie berechtigt die Warnung des Augu-
stinus vor solchen Kalkulationen war.
Nun konnte man im Mittelalter zwar durchaus korrekt rechnen,
und sogar mit ziemlich großen Zahlen, wie wir im 25. Kapitel noch
sehen werden, aber im Grunde war dem Mittelalter die Mathematik
doch etwas unheimlich. Deshalb ging man die Sache lieber symbo-
lisch an: es ist ohne weiteres einsichtig, daß in Adam Christus präfi-
guriert ist, sagt doch der Apostel: wie durch einen Menschen die
Sünde in die Welt kam, so auch durch einen Menschen die Erlösung.
Und wie der Mensch am sechsten Tag erschaffen wurde und sündig-
te, so muß er auch im sechsten Zeitalter erlöst worden sein. Aus Ge-
nesis Kap. 3 Vers 8 geht hervor, daß der Sündenfall um die Mittags-
stunde stattfand, denn dort heißt es, unmittelbar nachdem Adam und
Eva sich die Feigenblätter umgebunden haben: "und als sie die
Stimme des Herrn hörten, der sich nach Mittag im Paradies in der
milden Luft erging, verbarg sich Adam". Folglich muß auch die Erlö-
sung in der Mitte des sechsten Jahrtausends stattfinden, also im Jah-
re 5500 nach Erschaffung der Welt. Dieser Art der Berechnung folgte
beispielsweise der bedeutendste aller mittelalterlichen Weltchroni-
sten, Bischof Otto von Freising.
Eine weitere Möglichkeit, den 6000jährigen Verlauf der Welt-
geschichte zu deuten, ist das sog. vaticinium Eliae. Diese (irrtümlich)
dem Propheten Elias zugeschriebene Weissagung teilt die Geschich-
te unter Berufung auf mehrere Bibelstellen in drei Zeitalter: ante le-
gem, sub lege und sub gratia, – "vor dem Gesetz", "unter dem Ge-
setz" und "unter der Gnade". Mit dem Gesetz ist das mosaische Ge-
setz gemeint; folglich dauert der erste Abschnitt von Adam bis Mo-
ses, der zweite von Moses bis Christus, der dritte von Christus bis
zum Weltende. Jeder Abschnitt ist selbstverständlich gleich lang, je-
weils 2000 Jahre; somit errechnet sich das Schöpfungsdatum auf
4000 vor, das Weltende auf 2000 nach Christi Geburt. Das vaticinium
Eliae ist die Zeitrechnung, der Martin Luther anhing; er hat hierüber
eine eigene lateinische Schrift verfaßt. Daß er dennoch das Welten-
de schon im 16. Jahrhundert als unmittelbar bevorstehend erwartete,
liegt daran, daß nach Aussage des Evangeliums die Drangsal, die
dem Weltende vorausgeht, abgekürzt wird, daß also das letzte Zeit-
alter nicht die vollen 2000 Jahre andauert.
Eine ganz andere Art der Berechnung als die bisher vorge-
führten stammt von Joachim von Fiore, einem Abt aus Kalabrien, der
einige Jahre vor 1200 starb. Er war eine etwas umstrittene Gestalt:
eine seiner Schriften wurde auf dem 4. Laterankonzil 1215 als häre-
tisch verurteilt. Dies tat seinem Ansehen unter seinen Anhängern al-
lerdings keinen Abbruch, denn er hatte diese Verfolgung in einem ei-
genen Traktat vorausgesagt. (Nur am Rande vermerke ich, daß die-
ser Traktat in Wahrheit um 1220, also nach der Verurteilung, von
seinen Schülern verfaßt wurde.) Joachims Methode besteht darin,
daß er die Ereignisse des Alten und des Neuen Testamentes gene-
rationenweise parallel setzt. Wir hatten vorhin schon die Gleichung
Adam = Christus; ähnlich bietet sich an Eva = Maria, Herodes =
Heinrich IV. usw. Im einzelnen kann ich das hier nicht vorführen, die
Argumentation ist im Détail auch sehr kompliziert und differenziert.
Allerdings hat Joachim seinem Werk einen didaktisch hervorragen-
den Liber introductorius vorangestellt, in dem er seine Methode leicht
verständlich erläutert.
Das Matthäusevangelium zählt 42 Generationen der Vorfah-
ren Christi auf; entsprechend errechnet Joachim auch 42 Generatio-
nen für die Zeit bis zum Weltende; die Generation zu 30 Jahren ge-
rechnet, ist die Apokalypse mithin für ca. 1260 zu erwarten. Aller-
dings nimmt Joachim noch eine weitere Gleichsetzung vor: er ordnet
das Alte Testament Gott Vater zu und das Neue Gott Sohn, also
Christus; konsequenterweise folgt auf die Apokalypse von 1260 noch
ein drittes, dem Heiligen Geist zugeordnetes Zeitalter. Aber, wie ge-
sagt, seine Argumentation ist viel komplizierter und auch intelligenter,
als ich es hier in der Kürze andeuten konnte.
Spielte bei Joachim von Fiore die Berechnung des genauen
Weltuntergangsdatums schon keine wichtige Rolle mehr, so ist dies
bei der Lehre von den vier Weltreichen überhaupt nicht mehr der
Fall. Die Lehre geht zurück auf folgende Stelle beim Propheten Da-
niel (2, 31-32), in der ein Traum des babylonischen Großkönigs Ne-
bukadnedzars wiedergegeben wird: "Du, König, blicktest auf und
sahst eine große Statue. ... Das Haupt dieser Statue war von bestem
Gold, die Brust aber und die Beine von Silber, sodann der Bauch und
die Lenden aus Erz. Die Schenkel aber waren aus Eisen." Etwas
später folgt die Deutung dieses Traumes: "Du bist der König der Kö-
nige, und der Gott des Himmels ... hat alles unter deine Herrschaft
gestellt; daher bist du das goldene Haupt. Und nach dir erhebt sich
ein anderes Reich, das geringer ist als du, und dann ein drittes eher-
nes Reich, das über die ganze Erde herrschen wird. Und das vierte
Reich wird sein wie Eisen: wie das Eisen alles bedroht und be-
herrscht, so wird dieses Reich alles bedrohen und zerstören."
Da das Buch Daniel, wie die moderne Bibelwissenschaft he-
rausgefunden hat, erst in der Makkabäerzeit, also nach 200 v. Chr.
und damit 400 Jahre nach der Regierungszeit Nebukadnezars, seine
endgültige Gestalt gefunden hat, handelt es sich um ein typisches
vaticinium ex eventu, d.h. eine fingierte Prophezeiung von Dingen,
die bereits stattgefunden haben, was für die Zuverlässigkeit des Pro-
pheten natürlich sehr vorteilhaft ist. Mit den vier Reichen sind also
ursprünglich die Babylonier, die Meder, die Perser und die Griechen,
d.h. Alexander der Große und die Diadochen, gemeint. Später, als
das römische Reich hinzukam, wurde die Deutung etwas geändert,
und man definierte jetzt: 1. Babylonier, 2. Meder und Perser, 3. Grie-
chen, 4. Römer. Da ein fünftes Reich nicht vorgesehen ist, bedeutet
dies nicht weniger, als daß das letzte, das römische Reich bis ans
Ende der Welt dauern wird, da nach ihm ja nichts mehr kommt.
Das heißt aber nichts anderes, als daß die Menschen des Mit-
telalters im römischen Reich zu leben glauben und daß sich die mit-
telalterlichen Kaiser als die legitimen Nachfolger Cäsars und der wei-
teren antiken Imperatoren betrachten. Das bedeutet weiterhin, daß
das antike römische Recht fortgilt und von den mittelalterlichen Kai-
sern als originäres Kaiserrecht wiederaufgenommen werden kann;
dies ist seit der Stauferzeit auch tatsächlich geschehen, und sowohl
Friedrich Barbarossa als auch Friedrich II. haben dem antiken Cor-
pus Juris Civilis eigene Gesetze als gleichberechtigt hinzugefügt. Es
bedeutet schließlich, daß eine Periodengrenze zwischen Antike und
Mittelalter, wie wir sie im vorigen Kapitel untersucht haben, dem mit-
telalterlichen Denken völlig fremd ist.
Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Be-
griff der translatio imperii, der Übertragung des Reiches oder, wie
man vielleicht besser übersetzen sollte, des Kaisertums. Als erster
römischer Kaiser gilt Cäsar; von ihm gelangt das Kaisertum in direk-
ter, wenn auch gelegentlich etwas verschnörkelter Linie an Konstan-
tin den Großen, zu Anfang des 4. Jahrhunderts. Dieser verlegte be-
kanntlich die Hauptstadt von Rom nach Konstantinopel, also dem
heutigen Istanbul. Auf diese Weise kam das römische Kaisertum zu
den Griechen, bis es im Jahre 800 durch die Kaiserkrönung Karls
des Großen wieder in den Westen übertragen wurde, und zwar auf
die Franken bzw. in deren Nachfolge die Deutschen. Daß die Kaiser-
krönung von 800 zufällig durch den Papst erfolgte, hat später zu der
These geführt, es sei der Papst gewesen, der 800 das Kaisertum
übertragen habe, und deshalb könne er es jederzeit wieder weiter
übertragen, z.B. auf die Franzosen – was zur zeit Karls V. diskutiert
wurde – oder auch auf die Türken, sofern der türkische Sultan sich
zum Christentum bekehrt. Dazu ist es bekanntlich nicht gekommen,
aber noch 1804 glaubte, wie Sie wissen, Napoleon Bonaparte für
sich eine Kaiserkrönung arrangieren zu sollen.
Mit der translatio imperii wurden auch all jene Vorstellungen
von Byzanz nach Rom übertragen, die sich dort für die Geschehnis-
se am Ende der Welt gebildet hatten. Zur Stauferzeit glaubte man
nicht nur, daß das römische das letzte Weltreich sei, sondern auch,
daß innerhalb dieses Reiches das staufische Haus das letzte der
Kaisergeschlechter sei; dies hat mit dazu geführt, daß die Auseinan-
dersetzung zwischen Friedrich II. und Papst Gregor IX. ganz escha-
tologisch gefärbt war. Und eine Art Weltuntergang hat mit dem Sturz
der Staufer ja auch tatsächlich stattgefunden.
Für die Ereignisse unmittelbar vor dem Weltende, dessen bal-
diges Kommen, wie gesagt, gewiß war, nur der Zeitpunkt war unge-
wiß – für diese Ereignisse standen détaillierte Beschreibungen in der
Bibel und in einer Reihe außerbiblischer Schriften zur Verfügung, vor
allem die sog. Revelationen, d.h. Enthüllungen, des Pseudo-Metho-
dius. Hier eine Hndschrift aus dem 14. Jahrhundert:
Sie sind dem Bischof Methodios von Patará in den Mund gelegt, der
unter Diokletian im 3. Jahrhundert den Märtyrertod starb; in Wahrheit
sind sie aber im späteren 7. Jahrhundert entstanden, also wiederum
ein vaticinium ex eventu. Daneben gibt es auch eine Taschenbuch-
ausgabe des Abtes Adso von Montier-en-Deer, den Libellus de an-
tichristo.
Hier kurz der Inhalt: nach einer tour d'horizon der Weltge-
schichte prophezeit Methodius zunächst, daß die Söhne Ismaels,
konkret: die Sarazenen, also die islamischen Völker, aus der Wüste
kommend die zivilisierte Welt überfluten und unterwerfen. Als ihre
Bedrückung den Höhepunkt erreicht hat, erhebt sich der letzte Kaiser
von Byzanz, dem man bisher nichts zugetraut hat und den man für
unnütz hielt, wie ein Mann, der aus dem Weinrausch erwacht. Er
zieht gegen die Sarazenen zu Felde und besiegt sie vollständig, und
das Joch, das er ihnen auferlegt, ist siebenmal so schwer wie das,
das zuvor die Christen von ihnen tragen mußten. Es ist aber nur eine
kurze Atempause, denn jetzt brechen aus dem Norden die unreinen
Völker Gog und Magog hervor, die einst Alexander der Große dort
eingeschlossen hatte. Der Endkaiser besiegt auch sie; dann aber
zieht er nach Jerusalem, gibt das Reich an Gott zurück und stirbt.
In dieser Figur des letzten oder Endkaisers kommt vielerlei
zusammen: unmittelbares Vorbild bei Pseudomethodius ist zweifellos
Kaiser Herakleios, der zu Anfang des 7. Jahrhunderts in jahrelangen
Kämpfen das persische Reich der Sassaniden niedergerungen und
dabei auch die Kreuzreliquie wiedergewonnen hatte, die einst von
Kaiserin Helena entdeckt, dann aber von Chosroe nach Persien ver-
schleppt worden war; bei seinem Einzug in Jerusalem soll Herakleios
aus Demut die kaiserlichen Insignien abgelegt haben. Bei dem Herr-
scher, der lebt und doch nicht lebt und am Ende der Zeiten wie vom
Schlaf erwacht, spielt aber auch die in positive gewendete Erinne-
rung an Kaiser Nero mit, dessen mysteriöser Tod zu Spekulationen
Anlaß geben mochte. Von hier nimmt schließlich auch die Kyffhäu-
sersage ihren Ausgang; sie bezieht sich zwar zunächst auf Kaiser
Friedrich II., dessen plötzlicher Tod im Jahre 1250 von den Zeitge-
nossen nicht geglaubt wurde, wurde aber später auf seinen populä-
ren Großvater Barbarossa übertragen.
Ich muß noch einen Augenblick auf den unreinen Völkern Gog
und Magog insistieren. Der Sage nach hat sie Alexander der Große
auf seinem geheimnisvollen Zug nach Indien entdeckt und hinter ei-
nem Berg eingeschlossen, um zu verhindern, daß sie die zivilisierte
Welt besudeln. Diese Sage geht auf den antiken Alexanderroman
des Pseudo-Kallisthenes zurück; vom historischen Alexander dem
Großen wußte man im Mittelalter sehr wenig. Über diese unreinen
Völker hatte man dagegen recht konkrete Vorstellungen: man dachte
sie sich ein wenig wie die Marsmenschen. Ihre Lebensgewohnheiten
sollten horrend sein, mit Kannibalismus und dergleichen. Hier eine
Auswahl aus den Abbildungen in der Schedelschen Weltchronik:
Mit ihnen, die also kurz vor dem Weltende ihre Einsperrung durch-
brechen würden, hat man im Mittelalter alle die wilden Völker identifi-
ziert, die von Asien her aus dem Osten nach Europa vordrangen: die
Hunnen; die Awaren; dann die Ungarn, wofür sogar die Namens-
gleichheit Magyar = Magog sprach; im 13. Jahrhundert die Mongo-
len; später die Türken. Das führte aber dazu, daß man bis in die frü-
he Neuzeit das Verhältnis Europas zu Asien unter apokalyptischen
Kategorien zu betrachten gewohnt war. Diese Vorstellungen wirken
noch nach, wenn Wilhelm II. von der "gelben Gefahr" spricht. Und
noch schlimmer: da es sich ja um unreine, also minderwertige Völker
handelt, liegt hier das gedankliche Reservoir für die Vorstellung vom
"östlichen Untermenschen".
Zurück ins Mittelalter: wie gesagt, legt der Endkaiser in Jeru-
salem die Krone nieder. Er tut dies, indem er sie auf das Kreuz legt;
dieses wird sogleich mit der Krone in den Himmel entrückt, und der
Endkaiser sinkt tot nieder. Schon aber steht als letzter Herrscher der
Welt der Antichrist bereit. Christus in allem entgegengesetzt, ahmt er
ihn gleichzeitig in allem nach. Nachdem er viele durch Scheinwunder
zum Glauben an sich gebracht hat, sendet Gott die Propheten He-
noch und Elias auf die Erde zurück, damit sie gegen ihn predigen.
Nun zeigt der Antichrist sein wahres Gesicht: er läßt die Propheten
erschlagen und ebenso alle, die ihm nicht anhängen. Dann setzt er
sich in den Tempel und läßt sich anbeten; sogleich aber vernichtet
ihn Christus selbst durch den Hauch seines Mundes.
Nun folgt noch einmal ein vierzigtägiger Aufschub, eine letzte
Frist für Umkehr und Buße. Während der letzten 15 Tage kracht die
Welt zusammen, am vorletzten Tag sterben die noch Lebenden, um
am letzten Tag gemeinsam mit den Toten aufzuerstehen zum Welt-
gericht. Danach beginnt die Ewigkeit; aber da in ihr Geschichte nicht
mehr stattfinden wird, gehört sie nicht zum Arbeitsgebiet des heuti-
gen Historikers. Mein mittelalterlicher Kollege Otto von Freising wid-
met ihr freilich das gesamte 8. Buch seiner Weltgeschichte. Und da-
mit schließen wir auch dieses Kapitel und die Betrachtung der Zeit im
Mittelalter.
II. HAUPTTEIL: DER RAUM
Geschichte spielt sich nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum
ab. Geographische Faktoren können ausschlaggebend sein für Er-
folg oder Mißerfolg einer Politik; territoriale Strukturen können außer-
ordentlich zählebig sein und Jahrhunderte später wieder zum Vor-
schein kommen, wie wir das in unseren Tagen ja im Guten wie im
Bösen vielfältig erleben. Wir beginnen bei der Behandlung des mit-
telalterlichen Raumes mit den damaligen Vorstellungen vom Aufbau
der Welt und lassen dann die heutige Sicht folgen.
3. KAPITEL:
DIE GEOGRAPHISCHEN VORSTELLUNGEN DES MITTELAL-
TERS
AM 24. DEZEMBER 1832 erschien in der Hannoverschen Zeitung
folgende Mitteilung: "In dem Kloster zu Ebstorf findet sich, nach einer
uns zugekommenen Mitteilung, eine auf Pergament sorgfältig ge-
zeichnete und mit schöner gothischer Schrift beschriebene, über 7
Fuß breite Charte. Was sie vorstellt, konnte von dem H. Einsender
nicht ermittelt werden." Hinter dieser Notiz verbirgt sich die Wieder-
entdeckung der berühmtesten Weltkarte des Mittelalters, der Ebstor-
fer Weltkarte. Das Kloster Ebstorf, von dem sie ihren Namen hat und
wo sie auch entstanden sein dürfte, liegt übrigens in der Lüneburger
Heide, 27 km südlich von Lüneburg, bzw. 10 km nordwestlich von
Uelzen, das durch den von Friedensreich Hundertwasser gestalteten
Bahnhof bekannt ist. Die Karte maß etwa 3,5 m im Quadrat. Sie ist
1943 in Hannover verbrannt, jedoch sind um 1900 von ihr farbige
Reproduktionen in Originalgröße angefertigt worden; ich zeige Ihnen
nachher noch Bilder davon.
Die Anordnung der Welt auf der Karte ist etwas anders, als wir
es heute gewohnt sind. Wie auf allen mittelalterlichen christlichen
Weltkarten ist Osten oben; auf islamischen Karten wäre Süden oben.
Die heute üblichen genordeten Karten kommen erst in der Neuzeit
auf. Im Mittelpunkt der Welt liegt Jerusalem. Dies kann schon aus re-
ligiösen Gründen gar nicht anders sein: in Jerusalem nahm mit der
Erschaffung Adams die Weltgeschichte ihren Anfang, dort wurde sie
durch die Passion Christi erneuert und dort wird sie auch mit der
Herrschaftsniederlegung des letzten Kaisers ihr Ende finden. Ergän-
zend kann man auch mehrere Bibelstellen heranziehen; so z.B.
Psalm 73 Vers 12: "Das Heil hat er gewirkt in der Mitte der Erde." –
Operatus est salutem in medio terre, und noch deutlicher beim Pro-
pheten Ezechiel Kapitel 5 Vers 5: "Das sagt der Herr und Gott: dies
ist Jerusalem. In die Mitte der Völker habe ich es gestellt, und im
Kreis um es herum die Gegenden der Erde." – Hec dicit dominus
deus: ista est Hierusalem. In medio gentium posui eam, et in circuitu
eius terras.
Die Landfläche, deren Mittelpunkt Jerusalem bildet, ist unge-
fähr kreisförmig und wird durch das T-förmige Mittelmeer in die drei
Kontinente Asien, Europa und Afrika eingeteilt;
Mare magnum sive mediterraneum (das große oder mittelländische
Meer) lautet die Beschriftung.
Asien nimmt dabei die obere Hälfte der Landkarte ein, Europa
das linke und Afrika das rechte untere Viertel. Diese Aufteilung ent-
spricht den drei Söhnen Noes: Sem, Cham und Japhet, von denen
alle Völker der Erde abstammen. Auf der folgenden Abbildung sind
sie auch in Person dargestellt:
Im äußersten Asien, also auf den Karten ganz oben, liegt das
irdische Paradies, in das Gott Adam nach der Schöpfung gesetzt hat-
te. Hier noch einmal ein Schema:
Bemerkenswert ist noch der nördliche, also linke Ausläufer
Asiens: dort hausen die apokalyptischen Völker Gog und Magog, bis
ihre Zeit gekommen ist. Außerhalb der Landfläche der Kontinente
liegen nur noch eine Reihe von Inseln: England, Irland, etwas weiter
Island und Grönland sowie, auf der anderen Seite Asiens, jenseits
des geheimnisvollen Reiches Cathay – China – die noch geheimnis-
volleren Inseln, von denen man in Europa durch Marco Polo erfuhr,
Zipangu – Japan; da die Ebstorfer Weltkarte um 1230 entstand, ist
letzteres dort natürlich noch nicht eingezeichnet.
Diese ganze, ungefähr kreisförmige Landmasse ist umflossen
vom äußeren Weltmeer, dem Ozean. Wie weit dieser Ozean reicht,
ist allerdings nicht ganz klar. In der Antike war man in gebildeten
Schichten zu der Einsicht gekommen, daß die Erde Kugelgestalt ha-
be; diese Erkenntnis lebte auch im Mittelalter weiter, und es ist nicht
zutreffend, wenn immer wieder behauptet wird, man sei im Mittelalter
zu der primitiveren Vorstellung von der Welt als flacher Scheibe zu-
rückgekehrt.
Auch die Existenz eines vierten Kontinentes auf der Südhalb-
kugel wurde akzeptiert. Allerdings konnte es dort keine Menschen
geben, denn – gemäß der antiken Lehre von den Klimazonen – war
es am Äquator so heiß, daß ihn kein lebendes Wesen von Nord nach
Süd passieren konnte; zum Beweis genügt es, die Neger anzu-
schauen, deren Haut ja bereits völlig verbrannt ist. Der einzige Autor,
der mit den Antipoden Schwierigkeiten hat, ist kurioserweise der hei-
lige Bonifatius (der, wie wir später noch hören werden, gar nicht so
heilig war – jedenfalls ist das meine Ansicht). Er schreibt in seinem
80. Brief, in dem er eine Serie von Glaubensirrtümern aufzählt, die in
Bayern verbreitet seien (MGH Epp. sel. 1 S. 178f.): De perversa au-
tem et iniqua doctrina, quae contra deum et animam suam locutus
est, ... quod alius mundus et alii homines sub terra sint, sed et luna
(wegen der abwegigen und sinnlosen Lehre, welche er gegen Gott
und sein Seelenheil verbreitet hat, daß es eine andere Welt und an-
dere Menschen unter der Erde gebe und sogar einen Mond) – des-
wegen solle der Betreffende aus dem Priesterstand ausgestoßen
werden.
So gesehen war der Gedanke, nach Westen einmal um die
Welt herum nach Indien zu fahren, gar nicht so abwegig und auch
nicht übermäßig originell. Dagegen sprach aber, neben den techni-
schen Schwierigkeiten und gewissen Problemen mit der Berechnung
der Entfernung, noch ein weiterer Umstand: in der Mitte des Ozeans,
genau Jerusalem gegenüber, liegt der Berg der Läuterung, das Pur-
gatorium, in einem andern Bild Fegefeuer genannt, den lebend kein
Mensch betreten kann. Mit dieser Lokalisierung folgen wir der Geo-
graphie Dantes in seiner Göttlichen Komödie. Im Innern der Erde
liegt nach Dante die Hölle: durch neun Höllenkreise absteigend ge-
langt man bis ins Zentrum der Erde, wo im untersten Höllenkreis Sa-
tan höchstselbst die drei größten Verräter der Weltgeschichte zer-
malmt, nämlich Judas Ischariot und die Mörder Cäsars, Brutus und
Cassius. Der Zugang zur Hölle ist also von jedem Punkt der Erde
aus möglich, während die Fahrt zum Berg der Läuterung schon
schwieriger ist. Möglicherweise ist ja Odysseus dort vorbeigekom-
men. Von der Spitze des Berges der Läuterung erfolgt der Aufstieg
durch die sieben Sphären des Himmels, die von den sieben Wandel-
sternen bewohnt sind: Sonne, Mond, Mars, Merkur, Jupiter, Saturn
und Venus, bis jenseits des Fixsternhimmels und des primum mobile,
welches die Himmelsrotation bewirkt, das ewig unbewegte Empy-
räum ruht, der Sitz der Gottheit selbst.
Dies sind also die Auffassungen des 14. Jahrhunderts, und im
15. Jahrhundert wird dann ganz konkret ausprobiert, ob man um die-
se Weltkugel nicht tatsächlich einmal westwärts herumfahren kann.
Eine weiträumigere geographische Perspektive, die beträcht-
lich über einen bloß abendländisch-europäischen Horizont hinaus-
blickte, gab es aber auch schon im 13. Jahrhundert. Eine besondere
Rolle spielte dabei die Vorstellung von dem legendären Priester Jo-
hannes, der als König über ein christliches Reich herrscht. Dieses
Reich des Priesters Johannes liegt weit entfernt jenseits des Herr-
schaftsgebietes des Islam. Man versuchte nun vor allem zur Zeit der
Kreuzzüge, mit diesem Reich Kontakt aufzunehmen, um in Form ei-
ner Zangenbewegung das islamische Gebiet von zwei Seiten angrei-
fen zu können. Dieses Reich identifizierte man entweder mit Äthiopi-
en, wo sich ja in der Tat ein christliches Reich hinter dem islami-
schen Gebiet gehalten hatte, oder man vermutete es in Asien. Inno-
zenz IV. hat z.B. zwei Franziskaner zu den Mongolen gesandt, die
dort auch gar nicht unfreundlich aufgenommen wurden, aber natür-
lich nichts erreicht haben; immerhin brachten sie geographische
Kenntnisse mit zurück. Später erhielt man Informationen dann durch
den schon erwähnten Marco Polo.
Jetzt möchte ich Sie aber nicht länger auf die Abbildungen
warten lassen. Ich zeige Ihnen zunächst eine Gesamtaufnahme der
Ebstorfer Weltkarte.
Sie mißt, wie gesagt, 3,5 m im Quadrat, ist also jetzt hier etwa in na-
türlicher Größe projiziert. Wenn Sie einmal nach Ebstorf kommen,
versäumen Sie nicht, sich das Original anzusehen. Man erkennt
noch einigermaßen gut die T-förmige Gestalt des Mittelmeers. Jeru-
salem liegt genau in der Mitte. Deutschland ist links unten zu suchen.
Selbstverständlich sind auch die heilsgeschichtlich wichtigen Städte
eingezeichnet, so Rom und Jerusalem.
Die mittelalterlichen Weltkarten interessieren sich aber nicht
nur für die geographische Gestalt der Erde, sondern auch für ihre
Geschichte. So ist im äußersten Osten, also ganz oben, das irdische
Paradies mit Adam, Eva und der Schlange wiedergegeben und,
ebenfalls in Asien, der Berg mit der Arche Noa, auf der gerade die
Taube mit dem grünen Zweig landet. Ich zeige Ihnen noch einen
Ausschnitt aus der Karte:
Sie erkennen recht schön oben in der Mitte neben der römischen V
Pattauia, und darüber Bawaria, hier um 90° gedreht:
und halblinks unten den Braunschweiger Löwen; unmittelbar darun-
ter (jetzt links daneben) ist auch Ebstorf selbst eingezeichnet:
Neben solchen Weltkarten gab es natürlich auch Karten klei-
nerer Gebiete, wobei man freilich nicht vergessen darf, daß das Her-
stellen der Farben wie auch des Pergaments damals eine ziemlich
komplizierte Sache war. Ich zeige Ihnen als Beispiel eine Karte von
Schottland um 1250:
(Edenburgh ganz in rot ist gut zu erkennen) und eine sehr schöne
Darstellung von Konstantinopel von 1422:
Sie erkennen rechts auf der Halbinsel die Hagia Sophia, darunter
das Hippodrom, an der Nordwestecke steht der kaiserliche Palast.
Nördlich am andern Ufer liegt Pera, die Siedlung der Genuesen.
Rechts unten, ebenfalls am anderen Ufer, ist Chalkedon zu sehen,
wo 451 das 4. allgemeine Konzil tagte. Etwas weiter oben finden Sie
freilich schon die Eintragung Turquia, die auf künftige Ereignisse hin-
weist.
Eine realistische Darstellung der Stadt Rom findet sich auf der
Goldbulle Kaiser Ludwigs des Bayern:
Sie erkennen recht schön oben das Kolosseum, am linken Rand die
Trajanssäule, unten in der Mitte das Pantheon, rechts daneben die
Engelsburg und ganz rechts St. Peter.
Das kreisförmige Schema der Weltkarte wurde in dem Augen-
blick hinfällig, in dem Amerika entdeckt wurde, und es ist reizvoll, zu
sehen, wie Amerika auf den Karten, von einer bloßen Küstenlinie
ausgehend, allmählich Gestalt annimmt.
Während die zuletzt gezeigten Karten die Landschaft schon
weitgehend maßstabsgetreu wiedergibt, ist dies auf den älteren Kar-
ten meist nicht der Fall. Es widerspräche auch der mittelalterlichen
Gewohnheit, das Wichtige groß und das Unwichtige klein abzubilden,
unabhängig von seiner wirklichen Größe. Abgesehen davon ist für
den Benutzer einer Karte der Kilometerabstand eigentlich auch gar
nicht so bedeutsam. Viel wichtiger ist die Zeit, die man für einen Weg
benötigt: so werden ja auch heute noch auf Straßenkarten die Auto-
bahnen überproportional breit gezeichnet.
Der grüne Strich auf der Karte ist genau 1 km lang; demnach wäre
die Autobahn an die 300 m breit, wäre sie maßstabsgerecht ge-
zeichnet.
Die wichtigsten Verkehrswege des Mittelalters waren, wie Sie
auf den Bildern ohne weiteres erkennen konnten, die Flüsse: abwärts
fuhr das Schiff oder Floß von selbst, aufwärts wurde es von Pferden
am Ufer gezogen, das sog. Treideln. Nicht von ungefähr plante Karl
der Große eine Kanalverbindung zwischen Rhein, Main und Donau,
die sog. fossa Karolina; verwirklicht wurde dieser Plan – nach einem
weiteren gescheiterten Versuch im frühen 19. Jahrhundert – dann
erst in den 1992.
Umgekehrt befanden sich an den Flüssen auch die meisten
mittelalterlichen Zollstellen – nicht zufällig liegt etwa am Rhein prak-
tisch eine Burg neben der anderen –, was umgekehrt wiederum auf
die Dichte des Verkehrs schließen läßt. Wirklich unterbrochen war
die Schiffahrt nur bei Eisgang – und auch bei Hochwasser –, wäh-
rend die Wege zu Lande bei jedem Regen im Schlamm versanken.
Gefährlich waren natürlich die Stromschnellen und Untiefen – man
denke an die Loreley –, aber wohl kaum gefährlicher als steil abfal-
lende Wege zu Lande.
Größere Lasten konnte man ohnehin nur auf dem Wasser
transportieren. Dabei konnte es natürlich geschehen, daß das Boot
umschlug und die Last ins Wasser fiel. Dies geschah z.B., als im frü-
hen 16. Jahrhundert ein Marmorblock nach Florenz geliefert wurde,
den der Bildhauer Baccio Bandinelli bearbeiten und der als Gegen-
stück des David von Michelangelo aufgestellt werden sollte: das Boot
kenterte, und der Stein lag im Arno. Boshafte Zungen behaupteten
freilich, es sei gar kein Unglück gewesen, vielmehr habe der Mar-
morblock sich selbst ins Wasser gestürzt, um sich das Leben zu
nehmen, aus Gram darüber, von Bandinelli bearbeitet zu werden.
Die Kunsthistoriker versichern, daß unter dem Gesichtspunkt der zu
erwartenden Qualität die Verzweiflungstat des Marmorblocks berech-
tigt gewesen sei.
Unfälle gab es auch beim Land- und Personentransport. Ein
berühmter Unfall ist derjenige Papst Johannes' (XXIII.) 1414, dessen
Reisewagen auf der Fahrt nach Konstanz umstürzte:
Das Ereignis ist wohl auch deshalb in Erinnerung geblieben, weil
dem Sturz aus der Kutsche wenig später der Sturz von der Höhe des
Papsttums folgte; Johannes (XXIII.) ist ja einer der drei Päpste, die
auf dem Konzil von Konstanz abgesetzt wurden. (Er gilt deshalb als
Gegenpapst; somit konnte auch seine Ordnungszahl 1958 wieder-
verwendet werden.)
Es gab selbstverständlich auch kombinierten Fluß- und Land-
transport. Das berühmteste und gerade für unsere Gegend wichtig-
ste Beispiel ist der Salzhandel: das in Berchtesgaden oder Reichen-
hall gewonnene Salz wurde zunächst auf Flößen flußabwärts trans-
portiert, während vom nördlichen Donauufer an der Transport durch
die Säumerzüge über Land nach Böhmen führte, wo es kaum eigene
Produktion gab. Daß Passau genau an der Nahtstelle der beiden
Transportarten lag, war die Voraussetzung seines spätmittelalterli-
chen Reichtums, der sich u.a. darin zeigt, daß die Frauen goldene
Hauben trugen.
Eine kritische Stelle beim Transport über Land war immer
auch der Übergang über die Flüsse. Er konnte durch Furten erfolgen,
also seichte, mit Tieren begehbare Stellen, oder die Waren mußten
auf Kähne umgeladen werden. Nur an seltenen Stellen gab es Brük-
ken, die wiederum nur selten aus Stein gebaut waren; die steinerne
Brücke in Regensburg ist eine der großen Ausnahmen. Es ist kein
Zufall, daß sich an diesen Stellen, wo der Flußübergang möglich war,
Siedlungen gebildet haben, die sich oft zu wichtigen Städten entwik-
kelten. Ich erinnere nur an Frankfurt am Main, das die Furt in seinem
Namen trägt. Die Flußübergänge zogen auch das Interesse der Lan-
desherren auf sich, denn dort war die günstigste Stelle, um Zoll zu
erheben. Das klassische Beispiel hierfür ist München, wo Herzog
Heinrich der Löwe eigens die bei Unterföhring gelegene Brücke des
Bischofs von Freising gewaltsam zerstören ließ und in sein Herr-
schaftsgebiet verlegte, um die Zolleinnahmen zu beziehen.
4. KAPITEL:
GEOGRAPHISCHER ÜBERBLICK AUS HEUTIGER SICHT
WIR WOLLEN UNS JETZT einen Überblick über die historischen
Landschaften des Mittelalters verschaffen, wobei zu bedenken ist,
daß diese Landschaften im wesentlichen bis zum Ende des 18.
Jahrhunderts unverändert bestanden haben und zum Teil ja heute
noch nachwirken. Viele der Phänomene, die man heute, je nach
Standpunkt, als Regionalismus oder Separatismus bezeichnet, sind
ja dadurch entstanden, daß man über die historisch gewachsene
Ordnung im 19. und 20. Jahrhundert willkürlich das System der Na-
tionalstaaten gelegt und mit Gewalt durchzusetzen versuchte.
Für das Mittelalter müssen wir unterscheiden zwischen der
weltlichen, also staatlichen, und der geistlichen, also kirchlichen Ein-
teilung. In der Spätantike galt dieser Unterschied noch nicht, viel-
mehr lehnte sich die kirchliche Organisation an die staatliche an. Im
Mittelalter ist dieser Zusammenhang verloren gegangen; wir werden
aber noch sehen, wie teilweise versucht wurde, die Übereinstimmung
wiederherzustellen.
Wir nehmen unseren Ausgangspunkt im Jahre 800:
Wir haben die zwei großen Kaiserreiche vor uns, dasjenige Karls des
Großen mit der Hauptstadt Rom bzw. Aachen und das der Kaiserin
Irene in Byzanz. Beide Reiche sind flächenmäßig etwa gleich groß,
jedoch ist das byzantinische Reich dem fränkischen kulturell und an
Einwohnerzahl unendlich überlegen. Beiden steht aber als dritte
Großmacht im Mittelmeer das islamische Reich der Kalifen gegen-
über, zu dem außer Arabien, Persien und Palästina auch die gesam-
te nordafrikanische Küste und fast die gesamte iberische Halbinsel
gehören.
Das Reich Karls des Großen bestand aber aus mehreren Tei-
len: zunächst dem eigentlichen Frankenreich, das dem heutigen
Frankreich, aber ohne die Bretagne entspricht, und den Gebieten
Deutschlands, die man bis heute als fränkisch und schwäbisch be-
zeichnet. Den zweiten Teil bildet Bayern, das mit der Absetzung
Tassilos III. 788 endgültig dem Reich Karls eingegliedert wurde. Den
dritten Teil bildet Sachsen, das in jahrzehntelangen Kämpfen von
772– 804 erobert wurde; unter Sachsen ist für die damalige Zeit das
norddeutsche Gebiet mit der Elbe als östlicher Grenze zu verstehen.
Den vierten Teil bildet schließlich das ehemalige Königreich der Lan-
gobarden, d.h. Nord- und Mittelitalien; die Erinnerung an die Lango-
barden ist noch in dem Namen Langobardei, später CLombardei, er-
halten. Für das langobardische Reich wurde der Name regnum Itali-
ae üblich. Zu ihm gehört auch der Kirchenstaat.
Südlich schließt sich in Unteritalien das Herzogtum Benevent
an, das zwar seit dem Ende des 8. Jahrhunderts formal ein fränki-
scher Vasallenstaat war, wo aber die langobardischen Herzöge an
der Regierung blieben. Die Südspitze Italiens, d.h. Apulien, Kalabrien
und die Insel Sizilien gehören aber weiterhin zum oströmischen
Reich, ebenso an der Nordspitze der Adria Venedig, sowie die bei-
den Inseln im tyrrhenischen Meer, Sardinien und Korsika. Sizilien fiel
allerdings im 9. Jahrhundert der sarazenischen Eroberung zum Op-
fer. Von Süditalien abgesehen entsprach das Reich Karls des Gro-
ßen ziemlich genau der alten Europäischen Union, wie 1958 gegrün-
det wurde, bis zur ersten Erweiterung 1973.
Die Nachfolger Karls des Großen teilten sein Reich unter sich
auf; dadurch entstanden neue politische Gebilde und neue Gebiets-
bezeichnungen:
• das westfränkische Reich, aus dem Frankreich hervorging, und
• das ostfränkische Reich, aus dem sich Deutschland bildete.
Zwischen beiden lag aber zunächst ein schmaler Gebietsstreifen
zwischen Maas und Rhein, der sich ins Rhônetal fortsetzte und dann
nach Italien öffnete: diese Kegelbahn, wie man sie abschätzig nennt,
war das Reich Kaiser Lothars und enthielt deshalb die beiden Kai-
serstädte Aachen und Rom.
Italien ging später eigene Wege. Der Name Kaiser Lothars blieb am
nördlichsten Teil seines Reiches, dem Gebiet zwischen Maas und
Rhein, haften: Lotharingien oder Lothringen. Dieses Lothringen hörte
im 10. Jahrhundert als eigenständiges Königreich zu bestehen auf
und schloß sich zunächst Frankreich, dann 925 Deutschland an.
Für die innere Verwaltung war das Karolingerreich in Graf-
schaften gegliedert. Die Grafen, lateinisch: comites, waren ursprüng-
lich absetzbare königliche Beamte, die regelmäßig versetzt und zu-
sätzlich noch durch besondere Königsboten (missi dominici) über-
wacht wurden. Während der karolingischen Erbstreitigkeiten konnten
es sich die rivalisierenden Herrscher jedoch nicht mehr leisten, die
Grafen abzusetzen. Diese blieben also auf Lebenszeit im Amt, ver-
erbten dieses sogar weiter und wandelten sich so zum lokalen Klein-
adel; ihr Amtsbezirk wurde zum Herrschaftsterritorium.
Eine besondere Rolle spielten die Marken. Sie liegen am Ost-
und Südostrand des Reiches zu den Slawen hin, ferner westlich vor
der Bretagne und am Pyrenäenabhang auf das maurische Spanien
zu. Sie bilden eine Art Militärgrenze: ihr Befehlshaber ist der Mark-
graf, lateinisch: marchio oder auch marcgravius, italienisch: marche-
se, französisch: marquis; er besitzt besondere militärische Befugnis-
se und vereinigt in der Regel auch mehrere Grafschaften in seiner
Hand. In der spanischen Mark ereigneten sich unter Karl dem Gro-
ßen jene Ereignisse, die im Rolandslied festgehalten sind.
Wichtiger sind aber die Marken an der Ostgrenze Bayerns: an
der Donau die Ostmark, die später Österreich heißt, südlich davon
die Steiermark, die Marken Kärnten, Krain und Friaul.
Daneben gibt es weitere, je nach den Bedürfnissen eingerich-
tete oder auch wieder aufgehobene Marken. Dies gilt besonders für
das Gebiet östlich der Elbe bzw. Saale, wo sich die Reichsgrenze
allmählich nach Osten vorschob. Einigen Gebieten blieb die Be-
zeichnung Markgrafschaft erhalten, auch als sie schon im Innern des
Reiches lagen, so namentlich die Lausitz, Meißen und Brandenburg.
Dieses Vorschieben der Reichsgrenze endet in dem Moment, in dem
die slawischen Staaten christlich werden: Polen 966, Böhmen etwas
früher.
Das eigentliche deutsche Reichsgebiet ist aufgeteilt in die fünf
Herzogtümer Lothringen, Sachsen, Franken, Schwaben und Bayern.
Die Grenze zwischen Bayern und Schwaben bildet dabei der Lech,
und der dreiecksförmige Teil Bayerns nördlich der Donau wird als
Nordgau bezeichnet. Unter Friedrich Barbarossa wurden zwei dieser
Herzogtümer zerstückelt. Im Rahmen der Aussöhnung zwischen
Staufern und Welfen 1156 wurde Österreich von Bayern abgetrennt
und zum eigenen Herzogtum erhoben. 1180, nach dem Sturz Hein-
richs des Löwen, wird auch Sachsen aufgeteilt: den westlichen Teil
erhält der Erzbischof von Köln als Herzogtum Westfalen, den östli-
chen der askanische Graf Bernhard III. aus Wittenberg als Herzog-
tum Sachsen. Letzterer kann sich jedoch kaum durchsetzen, zumal
der Enkel Heinrichs des Löwen, Otto I., 1235 zum Herzog von
Braunschweig erhoben wird. So kommt es, daß der Begriff Herzog-
tum Sachsen sich nach Osten in das Gebiet verschiebt, das wir heu-
te unter Sachsen verstehen; für das Gebiet des ursprünglichen
Sachsen wurde dann im 19. Jahrhundert der Ausdruck "Niedersach-
sen" erfunden. Dazu kommen dann noch östlich der Elbe die Herzog-
tümer Mecklenburg und Pommern, beide an der Ostsee gelegen,
und am Oberlauf der Oder das Herzogtum Schlesien.
Zum Reichsverband gehört schließlich noch das Königreich
Böhmen mitsamt der südöstlich vorgelagerten Markgrafschaft Mäh-
ren; das Herzogtum Schlesien und die schon erwähnte Lausitz ge-
hörten im Mittelalter ebenfalls zu Böhmen.
Im Spätmittelalter splittern sich diese Gebiete noch weiter auf;
dies im einzelnen hier zu beschreiben, ist unmöglich. Insbesondere
die Herzogtümer Franken, Schwaben und Lothringen lösen sich völ-
lig auf. Eine gewisse Bedeutung erlangt das Gebiet um Heidelberg.
Die Pfalz, wie man abgekürzt sagt, ist seit 1214 unter der Dynastie
der Wittelsbacher mit Bayern vereinigt. 1329 kommt es zur Erbtei-
lung zwischen Herzog Rudolf und Herzog Ludwig IV.: Rudolf erhält
die Pfalz und den nördlichen Teil Bayerns um Amberg herum, Lud-
wig den Rest Bayerns. So kommt es, daß der mit Pfalz verbundene
Teil Bayerns die "obere Pfalz" oder "Oberpfalz" genannt wurde und
wird.
Aber damit genug der Détails. Ich will nur noch darauf hinwei-
sen, daß auch die kirchlichen Prälaten Reichsfürsten werden und ein
Territorium erwerben; das Gebiet eines Erzbischofs nennt man dabei
Erzstift, das eines Bischofs Hochstift. Das Hochstift kann dabei eine
ganz andere Ausdehnung haben als der geistliche Herrschaftsbe-
reich des Bischofs, das Bistum. Ich zeige Ihnen als (zugegeben ex-
tremes) Beispiel die Passauer Verhältnisse:
Sie sehen, wie sich die Passauer Diözese (das stark umrandete Ge-
biet) bis hinter Wien erstreckt, während sich Hochstift (violett) prak-
tisch von der Spitze des Domturms aus überblicken ließ. Die heutige
Passauer Diözese ist hellblau eingefärbt; warum sie so klein ist, liegt
an Vorgängen des späten 18. und 19. Jahrhunderts, die wir hier aber
nicht näher betrachten wollen.
Soviel zu Deutschland. Die östlichen Nachbarn des Reiches
sind die Königreiche Polen und Ungarn. In Personalunion mit Polen
steht seit 1386 das Großfürstentum Litauen, das das eigentliche Po-
len an Fläche weit übersteigt und bis weit in heute russisches, weiß-
russisches und ukrainisches Gebiet hineinreicht. Ungarn umfaßt im
Mittelalter auch die Slowakei; zu ihm gehören ferner die Reiche Dal-
matien und Kroatien an der Adria. Außerhalb des Reichsgebietes
liegt auch der Staat des Deutschen Ordens, der nach den dortigen
Ureinwohnern Preußen genannt wurde. Im 2. Thorner Frieden 1466
wird Preußen geteilt in Westpreußen und Ostpreußen; die Grenze
bildet etwa die Weichsel. Westpreußen kommt zu Polen. Ostpreußen
bleibt dem Orden, wird aber 1525 in ein weltliches Herzogtum um-
gewandelt. 1618 kommt es zur Personalunion Ostpreußens mit
Brandenburg; davon nimmt die Übertragung des Namens Preußen
auf mittel- und westdeutsche Gebiete ihren Ausgang, zumal es dem
Hohenzollernschen Herzog bzw. Kurfürsten 1701 gelang, für Preu-
ßen die Königswürde zu erwerben.
Der westliche Nachbar des Heiligen Reiches ist Frankreich.
Die hochmittelalterliche Reichsgrenze verläuft etwa entlang der
Maas, der Saône und der Rhône. Sie liegt damit ein ganzes Stück
westlich der deutsch-französischen Sprachgrenze, so daß dem
Reich auch französisch sprechende Bevölkerung angehörte, die sog.
Reichsromanen. Seit dem späten Mittelalter gelang es den französi-
schen Königen, ihre Ostgrenze zu Lasten des deutschen Reiches
weiter nach Osten vorzuschieben; die heutige deutsch-französische
Grenze wurde sogar erst im 18. Jahrhundert erreicht. Das ist der hi-
storische Hintergrund des Streites um die Zugehörigkeit von Elsaß-
Lothringen und des Saarlandes.
Die neuzeitliche Karriere Frankreichs und die Rolle der fran-
zösischen Könige als die absolutistischen Herrscher schlechthin war
im Mittelalter nicht vorauszusehen. Der französische König war zwar
formal Herrscher von ganz Frankreich; sein eigentliches Herrschafts-
gebiet war aber im frühen Mittelalter wesentlich kleiner. Es umfaßte
nur die Ile-de-France, also die unmittelbare Umgebung von Paris.
Erst allmählich gewannen die Könige Einfluß in den übrigen
Landesteilen, wobei die Bekämpfung der häretischen Katharer in
Südfrankreich eine wichtige Rolle spielte, wie wir im 20. Kapitel noch
hören werden. Bloß formal war ferner ihre Herrschaft über die Nor-
mandie, deren Herzöge seit 1066 zugleich Könige von England wa-
ren. Die Bretagne fiel schließlich erst 1491 an Frankreich. Ferner war
Frankreich durch eine Sprachgrenze geteilt in das Gebiet der langue
d'oeil im Norden und der langue d'oc im Süden; das Okzitanische ist
eine eigene, vom Französischen unterschiedene Sprache. Diese
Sprachgrenze entsprach auch dem Unterschied zwischen dem Ge-
wohnheitsrecht (droit de coûtume) im Norden und dem noch aus rö-
mischer Zeit tradierten geschriebenen Recht (droit écrit) im Süden.
Die iberische Halbinsel ist im frühen Mittelalter fast ganz in is-
lamischer Hand, seitdem 711 die Westgoten den Arabern unterlegen
waren. Nur die Nordküste bildet das Königreich Asturien-León, woran
sich die spanische Mark des Frankenreichs anschließt. Im Lauf der
christlichen Wiedereroberung, der sog. Reconquista, schieben sich
die verschiedenen Teilkönigreiche mit ständig wechselnden Grenzen
nach Süden vor. Im 13. Jahrhundert liegen, von West nach Ost, die
Königreiche Portugal, León, Kastilien und Aragón nebeneinander.
1230 werden León und Kastilien vereinigt; 1479 erfolgt auch die Ver-
einigung mit Aragón durch die berühmte Ehe der katholischen Köni-
ge Ferdinand und Isabella, die dann gemeinsam durch die Erobe-
rung Granadas die Reconquista abschließen. Hier sehen Sie in ei-
nem groben Überblick den zeitlichen Verlauf der Reconquista:
Die Vereinigung von Kastilien und Aragón war aber keineswegs
zwangsläufig; fast bis zuletzt war unsicher, ob nicht statt dessen eine
Vereinigung von Kastilien und Portugal eintreten und Aragón selb-
ständig bleiben würde. Wenn wir die iberische Halbinsel von Süden
her betrachten, zeigt sich uns ein ähnliches Bild: unter den Dynastien
der Omayaden, der Almorawiden und der Almohaden wird Al-
Andalus einheitlich regiert; dazwischen aber liegen Zeiten der Zer-
splitterung in Kleinkönigreiche, die sog. Taifas. Hier eine Darstellung
der Taifas um 1050:
Eine Détailschilderung würde den Rahmen dieser Vorlesung hoff-
nungslos sprengen. Wenn Sie näher interessiert sind, verweise ich
Sie auf meine Vorlesung "Spanien und Portugal im Mittelalter".
Bei den britischen Inseln ist selbstverständlich zu unterschei-
den zwischen Irland, Schottland, England und Wales. Vor der nor-
mannischen Eroberung bestand das englische Gebiet aus mehreren
Kleinkönigreichen – von Nord nach Süd Northumbria, Mercia, Ostan-
glia, Essex, Kent, Wessex –, die in wechselnden Kombinationen be-
herrscht wurden, wobei meist ein Reich eine gewisse Vorherrschaft
ausübte.
Im frühen 11. Jahrhundert war England mit Dänemark verei-
nigt, und zu Beginn des 12. Jahrhunderts bestand eine Zeit lang die
Möglichkeit, daß eine Personalunion zwischen England und Deutsch-
land eintreten könnte. Von der Mitte des 12. Jahrhunderts an ver-
sucht der englische König – mit Gewalt und durch dynastische Ver-
bindungen – seine Herrschaft auf Irland, Wales und Schottland aus-
zudehnen, was endgültig aber erst in der Neuzeit gelingt.
In Skandinavien bildete sich zwar noch vor der Jahrtausend-
wende die Einteilung in Norwegen, Schweden und Dänemark her-
aus, jedoch waren eigentlich immer zwei der Reiche in wechselnden
Kombinationen vereinigt, zeitweise auch alle drei.
In Italien legte der langobardische Einmarsch im Jahre 568 die
Grundlage für die territoriale Gliederung bis weit in die Neuzeit hin-
ein. Im Norden liegt zunächst die Lombardei, also im wesentlichen
die Poebene; im Westen schließt sich südlich die Markgrafschaft
Tuszien oder italienisch Toscana an. Dann folgt, quer über die Halb-
insel laufend, der Teil Italiens, der von den Langobarden nicht er-
obert wurde, der spätere Kirchenstaat, bestehend einmal aus der
Umgebung Roms, dem Patrimonium Petri, und aus der Umgebung
Ravennas. Dieser zweite Teil heißt entweder das Exarchat, weil dort
der höchste byzantinische Beamte, der Exarch, seinen Sitz hatte;
oder man nennt ihn Romagna, weil dort die römische Herrschaft in-
takt blieb, im Gegensatz zur germanischen Lombardei. Südlich des
Kirchenstaates schließt sich seit dem 11. Jahrhundert das Königreich
Sizilien an. Dieses Königreich wurde 1282 in einen festländischen
Teil und in die Insel getrennt, in der Neuzeit aber wiedervereinigt,
was dann zu dem kuriosen Ausdruck "Königreich beider Sizilien"
führte.
Abschließend wollen wir noch einen Blick auf Outremer wer-
fen, also nach "Übersee", d.h. auf die Kreuzfahrerstaaten im Heiligen
Land.
Die im ersten Kreuzzug eroberten und in den folgenden Unterneh-
mungen wenigstens teilweise behaupteten Gebiete wurden nämlich
keineswegs zu einem einheitlichen Staat zusammengefaßt. Vielmehr
beschränkte sich das Königreich Jerusalem auf das eigentliche Palä-
stina, später nur noch auf den Küstenstreifen von Gaza im Süden bis
Beirut im Norden. Nördlich daran schloß sich die Grafschaft Tripolis,
sodann das Fürstentum Antiochia an, schließlich, an der Südküste
Kleinasiens, das Königreich Klein-Armenien. Weiter im Landesinnern
lag am Oberlauf des Euphrat die Grafschaft Edessa. Ein eigenes
Königreich bildete auch die Insel Zypern.
Die aufgezählten Gegenden sind diejenigen, die für den Ver-
lauf der europäischen Geschichte des Mittelalters Bedeutung haben.
Rußland wird erst in der Neuzeit ein wichtiger Faktor; im Mittelalter
bezogen nur gelegentlich von dort her die Könige ihre Bräute und die
reichen Bevölkerungsschichten ihre Pelzmäntel. Asien und Afrika
sind politisch ohne Wirkung, wohl aber als Herkunft wichtiger und
teurer Handelswaren, vor allem Gewürze, zumindest einer Erwäh-
nung wert. Amerika, Australien und die Antarktis liegen noch außer-
halb des Horizontes.
Nun müßte eigentlich die zu Anfang des Kapitels angekündig-
te Darstellung der kirchlichen Einteilung folgen; aber ich glaube, ich
habe Ihre Geduld und Aufnahmefähigkeit für geographische Détails
bereits überstrapaziert. Wir verschieben die kirchliche Struktur des-
halb bis ins 14. Kapitel, wenn wir über die Bischöfe und den Klerus
sprechen.
III. HAUPTTEIL: DIE MENSCHEN
Wir gehen jetzt über zum eigentlichen Schwerpunkt dieser Vorlesung
und dem Thema, das uns bis zum Semesterende beschäftigen soll:
den Menschen und ihren Lebensverhältnissen im Mittelalter. Diese
Lebensverhältnisse werden am stärksten durch drei Problemkreise
bedingt, durch die staatlich-gesellschaftliche Einbindung, durch den
religiösen Bezug und durch das, was man heute – aber dieser Begriff
wäre für das Mittelalter anachronistisch – als Privatleben bezeichnen
würde. Wir beginnen mit
A) STAAT UND GESELLSCHAFT
ICH DARF VORSICHTSHALBER darauf hinweisen, daß die moder-
nen Begriffe "Staat" und "Gesellschaft" nicht ohne weiteres auf das
Mittelalter übertragen werden dürfen, wie auch zwischen Staat und
Kirche keine Trennung und kein grundsätzlicher Gegensatz besteht.
Auch die Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst, auf die
ich allerdings im Rahmen dieser Vorlesung nicht näher eingehen
werde, sind kein Kampf zwischen Staat und Kirche als zwei getrenn-
ten Einrichtungen, sondern ein Streit um die "rechte Ordnung" inner-
halb eines gemeinsamen Organismus.
Damit ist der Ausdruck Ordnung, lateinisch ordo, gefallen.
Dies ist ein zentraler Begriff im Denken des Mittelalters. Er weist je-
dem Menschen seinen richtigen Platz im Gefüge der Welt und im Ab-
lauf der Zeiten an. Alles Unglück ist über die Menschheit gekommen,
weil Adam im Paradies aus der gottgegebenen Ordnung heraustre-
ten und Gott gleich werden wollte, und auch der Antichrist am Ende
der Zeiten wird die Ordnung verletzen, indem er ein anderer zu sein
vorgibt, der er nicht ist, nämlich Christus. Es ist kein Zufall, daß eines
der wichtigsten Gesetze des Mittelalters, die Goldene Bulle von
1356, mit genau diesem Gedanken beginnt.
Der mittelalterliche Staat hat also diese Ordnung zu wahren, wobei
ein anderer Ausdruck für Ordnung der Begriff "Frieden" ist; die "Frie-
dewahrung" ist der eigentliche Daseinszweck des mittelalterlichen
Staates, so unvollkommen ihm dies in der Praxis auch gelingen mag.
Er tut dies aber nicht in Form einer abstrakten Organisation, sondern
indem er jeder einzelnen Person ihren Platz zuweist und dadurch ihr
Verhältnis zu den anderen Personen regelt. Wir wollen deshalb in
"ordentlicher" Weise vorgehen und beginnen mit demjenigen, der im
weltlichen Bereich die höchste Stelle einnimmt: dem Kaiser.
5. KAPITEL:
KÖNIG UND KAISER
DAS MITTELALTERLICHE KAISERTUM geht auf das römische Kai-
sertum der Spätantike zurück. In Byzanz dauert es in direkter Konti-
nuität seit Konstantin fort, in Rom wird es Weihnachten 800 auf frän-
kischer Grundlage erneuert. Der wesentliche Unterschied zwischen
dem östlichen und dem westlichen Kaisertum ist der, daß der Kaiser
in Byzanz nur Kaiser ist und sonst gar nichts, während im Westen
das Kaisertum auf dem fränkischen, später deutschen Königtum auf-
ruht.
Zunächst zu Byzanz. Das östliche Kaisertum bildete, wie ge-
sagt, die direkte Fortsetzung der spätantiken Herrschaftsform: bis zu-
letzt, bis 1453, hat sich Byzanz als das eigentliche Römische Reich
angesehen, sein Kaiser als der eigentliche Römische Kaiser, der
βασιλευς Ρωµαιων (basileus Romaion), neben dem der westliche
imperator Romanorum eine Abnormität darstellt; diese Reichsidee
war so stark, daß sie nach 1453 fast mühelos von den Türken über-
nommen wurde. Und ebenso wenig später vom aufsteigenden russi-
schen Reich.
Wir wollen einleitend einen kurzen Blick auf das spätantike
Römische Reich werfen, also auf den Zustand, aus dem sich das
Mittelalter ableitet. Dieser Zustand unterscheidet sich nämlich völlig
von demjenigen der Republik oder frühen Kaiserzeit, den Sie in der
Schule kennengelernt haben. Das spätantike Römische Reich war
kein Staat, in dem sich zu leben lohnte. Es war eine absolute Monar-
chie extremster Ausprägung: der Kaiser war die einzige Quelle des
Rechtes, er selbst stand über dem Recht. Außerdem war der Staat
völlig militarisiert: die gesamte innere Ordnung war auf die Reichs-
verteidigung ausgerichtet, die gesamte Wirtschaft zum Zwecke der
Lieferungen an die Armee organisiert. Die soziale Ordnung war ze-
mentiert: der Sohn mußte dem Vater im Beruf nachfolgen; die Preise
waren staatlich festgesetzt. Die vorherrschende Form der Landwirt-
schaft bildeten riesige Domänen des Kaisers und des Adels, die von
abhängigen Bauern bewirtschaftet wurden; die Sklaverei spielte kei-
ne besondere Rolle mehr. Über all dem herrschte eine allmächtige
Bürokratie. Es kann kaum verwundern, daß sich die Menschen unter
diesen Bedingungen von der irdischen Realität abkehrten und Reli-
gionen zuwandten, die ihnen anstelle des irdischen Jammertals eine
bessere Welt im Jenseits in Aussicht stellten. Solche Religionen wa-
ren etwa der Kult des Osiris oder des Mithras oder eben auch das
Christentum.
An der Spitze des Staates, der menschlichen Ebene schon
entrückt, stand also der Kaiser. Bis auf Konstantin selbst vergöttlicht,
stand er seit der Verchristlichung des Staates der göttlichen Sphäre
immer noch so nahe, daß alles, was mit ihm zu tun hatte, als heilig
bezeichnet wurde: sacrum palatium, sacrum consistorium; selbst die
berühmte purpurfarbene Tinte, die ihm allein vorbehalten war, hieß
sacrum incaustum. Ein ausgeklügeltes Zeremoniell am Hofe macht
dies jedem Untertanen, besonders aber jedem Botschafter eines
fremden Staates deutlich.
Wie z.B. Kaiser Justinian (527–565) – hier sehen Sie ihn inmit-
ten seines Hofstaates auf dem berühmten Mosaik aus Ravenna:
wie also Kaiser Justinian seine Stellung sah, formuliert er selbst in
der Einleitung seiner Sammlung des römischen Rechtes, des Corpus
iuris civilis: "Mit Gott regieren wir unser Reich, das uns von der
himmlischen Majestät übergeben ist; glücklich führen wir die Kriege
zu Ende, verschönern den Frieden und erhalten den Bestand des
Staates. Und so richten wir unsern Blick empor zur Hilfe des allmäch-
tigen Gottes, daß wir weder unserer bewaffneten Macht noch unse-
ren Kriegsführern oder unserer eigenen Vernunft vertrauen, sondern
alle Hoffnung allein auf die Schicksalsfügung der Göttlichen Dreiei-
nigkeit setzen, von der die Grundlagen des ganzen Weltalls ausgin-
gen und die Ordnung auf dem ganzen Erdkreis fortgeführt ist."
Es versteht sich von selbst, daß der Kaiser unmittelbar von
Gott eingesetzt und von Gott gekrönt wird, dessen Stellvertreter auf
Erden er ja ist. Diese Vorstellung geht auch im westlichen Mittelalter
nicht verloren, wie etwa diese Darstellung Kaiser Heinrichs II. zeigt:
Sie sehen, wie Christus selbst Heinrich die Krone aufsetzt. Auch die
Kirche untersteht der Herrschaft des byzantinischen Kaisers: er setzt
den Patriarchen von Konstantinopel ein und oft genug auch ab; er
führt den Vorsitz auf den frühen Konzilien und publiziert ihre Ent-
scheidungen.
Ein gewisses Problem liegt aber darin, zu erkennen, wer denn
der Kaiser ist, den Gott an die Spitze des Staates gestellt wünscht.
Eine feste Thronfolgeordnung gibt es in Byzanz nicht. In der älteren
Zeit spielt die Wahl durch Senat und Volk von Konstantinopel und
das Heer eine gewisse Rolle. Man hat sich das so vorzustellen, daß
die führenden Kreise einen Kandidaten nominieren und dann Heer
und Volk zur Akklamation vorstellen. Dies kann bei einer Heeresver-
sammlung vor der Stadt oder auf dem beliebtesten Treffpunkt der
Byzantiner in der Stadt, in der Rennbahn, dem Hippodrom, gesche-
hen. (Sie erinnern sich aus dem geographischen Kapitel an die Dar-
stellung Konstantinopels, als ich Sie ausdrücklich auf das Hippodrom
hingewiesen haben.)
Die Auswahl der Kandidaten war dabei ursprünglich unbe-
grenzt; erst seit dem 7. Jahrhundert setzte sich, unter dem Einfluß
persischer Vorstellungen, die Ansicht durch, daß nach Möglichkeit an
der Familie des bisherigen Kaisers festzuhalten sei. Auf diese Weise
entstanden die berühmten Kaiserfamilien der Komnenen, der Ange-
loi, der Laskaris und zuletzt der Paläologen. Eine eigentliche Erblich-
keit trat aber nicht ein; vielmehr war die Thronfolge in der eigenen
Familien nur dann gesichert, wenn der regierende Kaiser noch zu
Lebzeiten seinen Nachfolger zum Mitkaiser erhob.
War es also nicht ganz einfach, den Mann zu erkennen, der
Kaiser werden sollte, so war es dagegen viel einfacher, festzustellen,
ob der regierende Kaiser noch dem Willen Gottes entsprach. Rück-
schläge im Kampf gegen die Heiden waren z.B. ein sicheres Zeichen
dafür, daß dies nicht mehr der Fall war. Dann war es an der Zeit, daß
ein anderer, der sich zum Werkzeug Gottes auserwählt glaubte, dar-
an ging, den verworfenen Kaiser zu stürzen und dabei in der Regel
zu töten; der Erfolg gab ihm dann recht. Zur Sicherheit pflegte man
außerdem die Witwe eben dieses Vorgängers zu heiraten. Es kam
auch vor, daß die Kaiserin auf natürliche Weise Witwe wurde und
dann einem neuen Kaiser dadurch auf den Thron verhalf, daß sie ihn
heiratete. Aber insgesamt war jede Thronbesteigung in Byzanz ein
individueller Vorgang, der stark von den jeweiligen Umständen ab-
hing.
Zum Kaiser im Westen wird dagegen stets nur ein fränkischer,
später deutscher König berufen. Befassen wir uns also zunächst mit
der Rolle der Könige, ehe wir anschließend wieder auf die Kaiser-
würde zu sprechen kommen. Das westliche Königtum hat zwei Wur-
zeln: eine heidnisch-germanische und eine christlich-römische. Die
germanischen Könige sind aus den Heerführern der Völkerwande-
rungszeit hervorgegangen. Sie entstammen der vornehmsten Adels-
familie, die mit den anderen Adelsfamilien im Prinzip auf gleicher
Stufe steht, vor ihnen aber durch eine besondere Begünstigung sei-
tens der Götter ausgezeichnet ist. Diese besondere Begünstigung
hat sich eben durch die militärischen Erfolge erwiesen, und sie zeigt
sich im Frieden durch sichere und hohe Ernteerträge und das Aus-
bleiben von Naturkatastrophen. Der König sorgt also ganz konkret für
gutes Wetter; und wenn man strahlenden Sonnenschein bisweilen
als Kaiserwetter bezeichnet, so geht das auf diese Vorstellung zu-
rück. Aus diesem Grunde trägt der Herrscher auch den Titel serenis-
simus, der "Allerheiterste".
Diese besondere Begünstigung durch die Götter ist sämtlichen
Mitgliedern dieser Familie zu eigen; man spricht von Geblütsheilig-
keit. Aus einer solchen erfolgreichen Sippe wird der König gewählt,
wobei zwischen mehreren gleichwertigen Kandidaten durchaus die
Auswahl besteht. Noch besser ist es aber, mehrere Könige für Teil-
gebiete zu wählen, denn dann ist die heilbringende Person des Kö-
nigs den Äckern näher, und das Königsheil kann sich intensiver aus-
wirken; die Einheit des Staates bleibt erhalten, solange alle Teilköni-
ge aus derselben Familie stammen. Wenn aber das Königsheil von
der Familie weicht, wenn die Ernte ausbleibt, wenn sich militärische
Mißerfolge einstellen, wenn eine andere Familie größeres Ansehen
erwirbt, dann ist es Zeit, sich nach einer neuen Königsfamilie umzu-
sehen. So geschehen bei der Ablösung der Merowinger durch die
Karolinger 751, so geschehen bei der Ablösung der Karolinger durch
die sächsischen Könige in Deutschland und die Kapetinger in Frank-
reich.
Mit der Thronbesteigung des Karolingers Pippin kam zu der
heidnisch-germanischen Komponente des Königtums die christlich-
römische hinzu. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, ließ Pippin durch ei-
ne Gesandtschaft in Rom beim Papst anfragen, (Zitat) "wer von de-
nen zu Recht König heißen und sein solle, der, der sicher zu Hause
sitze, oder der, der die Sorge für das ganze Reich und die Last aller
Geschäfte trage? Papst Zacharias befahl dem Volk der Franken aus
der Vollmacht des heiligen Apostels Petrus, daß Pippin, der die kö-
nigliche Gewalt innehatte, auch die Ehre des königlichen Namens
genießen solle." (So der Bericht der fränkischen Reichsannalen.)
Aufgrund dieser Antwort wurde Pippin vom fränkischen Adel anstelle
des letzten Merowingers zum König gewählt. Er wurde darüber hin-
aus aber von den Bischöfen gesalbt, was bisher nicht üblich war.
Die Salbung zeigt, wie die besondere Erwählung Pippins
durch den christlichen Gott an die Stelle des noch aus heidnischer
Zeit stammenden Königsheils der Merowinger trat. Sie hebt den Kö-
nig aber zugleich aus der Schar der Laien heraus: er wird rex et sa-
cerdos (König und Priester), nach dem Vorbild der biblischen Könige
Melchisedech und vor allem David. Nicht von ungefähr sind auf der
deutschen Königskrone David und Salomon abgebildet. Besonders
deutlich zeigt sich diese überirdische Funktion beim französischen
König, der sogar mit der Fähigkeit zu Wunderheilungen ausgestattet
ist. Noch der deutsche König Heinrich IV. hat sich gegen Papst Gre-
gor VII. auf das Schriftwort berufen: "Ihr sollt meine Gesalbten nicht
antasten" –Nolite tangere christos meos (Ps. 104, 15). Erst während
der Auseinandersetzungen des 11. Jahrhunderts, gemeinhin bekannt
als Investiturstreit, versuchte die Kirche, den König auf den Status
eines gewöhnlichen Laien zu reduzieren.
Die Machtstellung der fränkischen Könige beruht außer den
schon erwähnten ideellen Voraussetzungen vor allem auf dem riesi-
gen Grundbesitz, der ihnen als Erbe der antiken Staatsgüter zu eigen
war; außerdem konnten sie notfalls auch über das Kirchengut verfü-
gen. Zahlreiche Kapitularien, d.h. in Kapitel gegliederte Erlasse Karls
des Großen, befassen sich mit der Bewirtschaftung dieser Güter, so
das berühmte Capitulare de villis, das im Einzelnen festlegte, was
auf den Königshöfen anzubauen, wieviel Vieh und Geflügel dort zu
halten war usw. Diese wirtschaftliche Machtstellung brach zusam-
men, als in den Auseinandersetzungen zwischen Karls Nachfolger
Ludwig dem Frommen und dessen Söhnen die Adligen für die jewei-
lige Partei mit umfangreichen Geschenken gewonnen werden muß-
ten. Die späteren deutschen Könige mußten mit einem beträchtlich
reduzierten Reichsgut auskommen, das bei jeder Periode der
Schwäche des Königtums weiter abnahm, besonders dramatisch im
Interregnum nach dem Tode Friedrichs II.
Die Könige griffen deshalb in immer stärkerem Maße auf die
Dienste der Reichskirche zurück: so waren die Bischöfe und Äbte
z.B. verpflichtet, dem königlichen Hof als sog. servitium regis Unter-
kunft und Verpflegung zu gewähren, wenn er sich an ihrem Ort auf-
hielt. Ein Gegengewicht zur wirtschaftlichen Schwäche des Königs
bildete schließlich die Strukturierung des Staates durch das Lehns-
wesen, das wir im folgenden Kapitel betrachten.
Der germanische König – sei es der heidnischen, sei es der
christlichen Zeit – war also kein absoluter Herrscher. Das zeigt sich
auch darin, daß der Adel einen originären Anspruch auf Teilhabe an
der Macht besaß. Diesen Anspruch konnte er notfalls auch gewalt-
sam durchsetzen, durch Aufstände gegen den König. Man wundert
sich heute oft, wie schnell solchen Aufständischen anschließend ver-
ziehen wird, aber das ist moderne Optik: das Mittelalter sah in sol-
chen Rebellionen eben keinen Hochverrat, sondern eher die Wahr-
nehmung eines zustehenden Rechtes.
Gewöhnlich vollzog sich die Mitherrschaft des Adels aber in
friedlicher Form auf den Hoftagen des Königs, aus denen später die
Reichstage und Parlamente der Staaten hervorgingen. Die ursprüng-
lich adelige Versammlung konnte dabei durch Vertreter der Städte,
Grafschaften, u.U. sogar der Bauern erweitert werden und nahm in
den verschiedenen Ländern eine unterschiedliche Entwicklung: in
Deutschland zum föderativ bestimmten Reichstag, in England zum
politisch dominierenden Parlament mit Trennung zwischen adliger
und nichtadliger Kammer; in Frankreich blieben die Parlamente Ver-
sammlungen des Adels, die aber auf Gerichtsfunktionen beschränkt
wurden; die spanischen Cortes befaßten sich hauptsächlich mit
Steuerbewilligungen, und da der Adel keine Steuern zahlte, schieden
seine Vertreter aus, und die Cortes wurden nur noch von den Städ-
ten beschickt usw.
Die wichtigste ständige und ursprünglich einzige Regierungs-
behörde des Königs war seine Kanzlei. Sie geht hervor aus der kö-
niglichen Kapelle: diese königliche Kapelle ist die Gemeinschaft der
Kleriker am Hofe, die den feierlichen Gottesdienst vor dem König ab-
halten und auch seinen Reliquienschatz bewachen. Die vornehmste
Reliquie der fränkischen Könige war aber der Mantel des heiligen
Martin, lateinisch cappa, und davon abgeleitet capella, und für den
einzelnen Kleriker capellanus, Kaplan.
Auf diese schriftkundigen Kapläne griff man zurück, wenn am
Hofe etwas Schriftliches zu erledigen, vor allem, wenn eine Urkunde
auszustellen war. Der ständige Leiter der Hofkapelle führte den Titel
cancellarius, unter Umdeutung eines antiken Wortes; und von die-
sem Kanzlertitel ist wesentlich später das Abstraktum cancellaria,
Kanzlei, abgeleitet. Der Kanzler war ständig am Hofe anwesend. Er
war dadurch am besten über die Politik informiert, wurde zum eng-
sten Berater des Königs und nicht selten zum eigentlichen Leiter der
Politik. Daher kommt es, daß bei uns und in Österreich der Regie-
rungschef Kanzler heißt; der schweizerische Bundeskanzler hat da-
gegen noch die alte Funktion als Vorstand der Regierungskanzlei.
Die reale Macht des mittelalterlichen Königs war vergleichs-
weise schmal, vor allem, seit er sich vom Hochmittelalter an nicht
mehr auf die wirtschaftliche Macht eines umfänglichen Reichsgutes
stützen konnte. Er war im Grunde darauf angewiesen, daß ihm frei-
willig gehorcht wurde. Auch deshalb war die religiös-kirchliche Über-
höhung seiner Würde wichtig, die sich bei der Krönung und über-
haupt durch den Gebrauch der königlichen Insignien sinnfällig vor
Augen stellen ließ. Es gibt Quellenbelege dafür, daß dieser Effekt
tatsächlich eintrat, beispielsweise mehrere Gedichte Walthers von
der Vogelweide. Da dies so war, mußte der König auch danach stre-
ben, möglichst bei allen wichtigen Entscheidungen persönlich anwe-
send zu sein, um diese immateriellen Gewichte mit in die Waagscha-
le zu werfen. Das verhinderte auf lange Zeit hinaus die Ausbildung
einer festen Residenz, damit aber auch die Ausbildung eines um-
fänglicheren Behördenapparates, der ja auf den festen Ort angewie-
sen ist. Ob dieses ständige Herumreisen die Gesundheit der Herr-
scher ruiniert hat, ist m.E. nicht so erwiesen, wie es immer behauptet
wird.
Zu den immateriellen Argumenten, die der Herrscher ins Feld
führen konnte, gehörte auch die Steigerung der Königswürde durch
das Kaisertum. Schon die Kaiserkrönung Karls des Großen 800
brachte ihm keine Erweiterung seiner Machtstellung, sondern doku-
mentierte die bereits errungene Position als Herrscher der Franken,
Bayern, Sachsen und Langobarden; auch hier wurde übrigens die
"rechte Ordnung" der Welt wiederhergestellt, indem der, der mehr
war als nur ein König, auch einen Titel über dem eines bloßen Kö-
nigs erhielt.
Die Kaiserkrönung brachte Karl freilich auch in Konflikt mit
dem Kaiser in Byzanz, der sich ja als den "echten" Kaiser der Römer
ansah. So entstand das sog. Zwei-Kaiser-Problem, denn zwei gleich-
berechtigte Kaiser konnte es nach mittelalterlicher Auffassung in dem
einen Römischen Reich nicht geben. Die antike Auffassung war eine
andere gewesen, damals wurde das Reich durchaus unter zwei
Kaiser geteilt usw.; im Mittelalter geht man von einem alleinigen
Kaiser aus.
Wie schwierig diese Fragen waren, zeigt die merkwürdig ge-
wundene Formulierung von Karls des Großen Kaisertitel: Karolus se-
renissimus augustus a deo coronatus magnus et pacificus imperator
Romanum gubernans imperium, qui et per misericordiam dei rex
Francorum et Langobardorum – "Karl, der erhabenste Augustus, der
von Gott gekrönte, große, friedenstiftende Kaiser, der das römische
Reich regiert, welcher durch die Erbarmung Gottes auch König der
Franken und Langobarden ist." Die Forschung hat an diesem Titel
lange herumgerätselt. Früher sah man darin eine Rücksichtnahme
auf Byzanz; heute ist man – und ich glaube, mit guten Gründen – der
genau gegenteiligen Ansicht und sieht darin eine energische Beto-
nung von Karls Ansprüchen. In unserem Zusammenhang viel wichti-
ger ist, daß die Kaiserkrönung den deutschen König in viel engere
Verbindung zum Papst brachte als etwa den französischen, wie wir
noch sehen werden.
Zu einer festen Thronfolgeordnung ist es in Deutschland
ebensowenig gekommen wie in Byzanz. In Frankreich haben die Kö-
nige konsequent ihren ältesten Sohn zum Mitkönig und Nachfolger
wählen lassen; dieses System funktionierte so regelmäßig und rei-
bungslos, daß es bald als selbstverständlich empfunden wurde, daß
dem König sein ältester Sohn nachfolgte, und daß das Königtum so
als erblich galt. In Deutschland ist das nicht gelungen, da viele Köni-
ge jung und teilweise ohne Kinder starben. Hier setzte sich vielmehr
das Wahlprinzip durch, wenn auch nur selten als sog. freie Wahl, bei
der jeder Beliebige als Kandidat auftreten konnte; sondern man hielt
auch hier in der Regel an der bestehenden Königsfamilie fest.
Überhaupt bedeutet Erblichkeit der Krone, auch wo sie üblich
ist, im frühen und hohen Mittelalter keineswegs automatisch ein
Erbrecht der Kinder oder gar des ältesten Sohnes, sondern vor allem
Erblichkeit in der Familie – oder auch, z.B. in Schottland, regelmäßi-
gen Wechsel zwischen zwei Familien. Als in Schottland 1034 König
Malcolm II. starb, usurpierte entgegen dieser anerkannten Erbfolge-
regelung sein Sohn Duncan die Krone; daraufhin blieb dem recht-
mäßigen Anwärter aus der anderen Familie, Macbeth, nur die Mög-
lichkeit, den Usurpator zu stürzen und zu töten.
Eine häufige Erbfolgeregelung, z. B. in Böhmen und in Un-
garn, war das sog. Seniorat, bei dem auf den König nicht sein Sohn,
sondern der älteste Verwandte, in der Regel also der Bruder, folgt;
dies hat den Vorteil, daß die Regierung eines minderjährigen Königs
vermieden wird. Erst im Laufe der Zeit gelingt es ganz allmählich, die
Sohneserbfolge durchzusetzen, wobei eines der wichtigsten Mittel
die Wahl und Krönung des Nachfolgers noch zu Lebzeiten des Va-
ters ist. In der Neuzeit erschien dies dann als so selbstverständlich,
daß man die ältere Thronfolgeordnung als Usurpation mißverstand;
klassisches Beispiel dafür ist der soeben erwähnte Macbeth. Zu
Shakespeares Zeiten wußte man das freilich nicht mehr – übrigens
im Sinne der Literatur- und Theatergeschichte ein überaus erfreuli-
cher Irrtum. Grundsätzlich war es aber empfehlenswert, auch einen
klaren Erbanspruch noch zusätzlich durch eine Wahl bestätigen zu
lassen.
Nun ist eine Königswahl im frühen und hohen Mittelalter etwas
ganz anderes als eine heutige Wahl. Es handelt sich nicht um die
willkürliche Auswahl eines Kandidaten, sondern es geht im Grunde
darum, den herauszufinden, den Gott bereits zum König bestimmt
hat. Die Wähler entscheiden also gar nicht selbst, sondern bemühen
sich, den göttlichen Willen zu erkennen. Ziel der Wahl ist folglich Ein-
stimmigkeit, und wo sie nicht auf Anhieb zu erreichen ist, ist die Min-
derheit verpflichtet, sich der Mehrheit anzuschließen. Die Mehrheit
wird dabei aber nicht arithmetisch ermittelt: die Stimmen werden
nicht gezählt, sondern gewogen; nicht der zahlenmäßig größere Teil
der Wähler entscheidet, sondern der einflußreichere und klügere
Teil. Oder lateinisch: nicht die pars maior, sondern die pars sanior.
Die moderne Demokratie beruht auf der Fiktion, daß sich auf Seiten
der zahlenmäßigen Mehrheit auch die bessere Einsicht befinde. Na-
türlich ist das nicht immer so, aber es gibt keine andere Möglichkeit,
die Mehrheit eindeutig zu definieren.
Da bei der mittelalterlichen Auffassung also viel Unwägbares
mitspielt, kann es unklar sein, wo die Mehrheit liegt; dann hat sich ei-
ne zwiespältige Wahl ergeben, und dieses größte Unglück in der mit-
telalterlichen Geschichte ist in der Tat mehrere Male eingetreten. Die
wichtigsten Fälle sind in Deutschland die Doppelwahl von 1198 zwi-
schen Philipp von Schwaben und Otto IV. und die von 1314 zwi-
schen Ludwig dem Bayern und Friedrich dem Schönen. Ist die zwie-
spältige Wahl nun einmal eingetreten, muß man abwarten, was wei-
ter geschieht. Mit der Wahl ist nämlich die Königserhebung noch
nicht abgeschlossen; diese ist vielmehr ein Stufenvorgang mehrerer
Ereignisse, die aufeinander aufbauen.
Auf die Wahl folgt die Krönung; für ihre Gültigkeit ist wichtig,
daß sie mit der richtigen Krone, am richtigen Ort und durch den rich-
tigen Koronator erfolgt. Wenn einem der beiden Kandidaten eine gül-
tige Krönung gelingt, wird der andere wahrscheinlich zurücktreten
und sich unterwerfen. Es kann aber vorkommen, daß einer der Kan-
didaten die echte Krone in Besitz hat, der Koronator aber zur Ge-
genpartei gehört und die Krönungsstadt beiden die Tore versperrt.
Dann hilft nur noch ein Gottesurteil. Am einfachsten ist es, wenn ei-
ner der beiden Kandidaten bald stirbt. Ansonsten aber müssen sie
zum Krieg gegeneinander antreten. Bei der Doppelwahl von 1314
zog sich dieser acht Jahre lang hin und endete erst 1322 mit dem
Sieg Ludwigs in der Schlacht von Mühldorf.
Bei zwiespältigen Königswahlen pflegt sich noch eine weitere
Instanz zu Worte zu melden und die Entscheidung für sich zu rekla-
mieren: der Papst. Dies gilt vor allem für die deutsche Königswahl,
auf die wir uns im Folgenden beschränken wollen. Als Ansatzpunkt
dient die Kaiserkrönung. Es werde ja nicht nur der deutsche König
gewählt, argumentiert der Papst, sondern auch der künftige Kaiser,
und bei dessen Bestellung müsse er, der ihn zu krönen habe, mitre-
den können. So beansprucht erstmals Innozenz III. die Entschei-
dung in der Doppelwahl von 1198. Das Recht, einen Kaiser gegebe-
nenfalls abzusetzen, hatte schon Gregor VII. im dictatus pape für
sich reklamiert. Der dictatus pape ist eine Sammlung von Leitsätzen
über die päpstliche Gewalt, die in Gregors Register überliefert ist:
Als Nr. 12 sehen Sie die Angabe: Quod illi liceat imperatores depo-
nere (daß es ihm erlaubt sei, Kaiser abzusetzen):
Innozenz IV. hat eine solche Absetzung 1245 an Friedrich II.
tatsächlich durchgeführt. Die Ansprüche der Päpste hinsichtlich der
Wahl steigerten sich im Laufe der Zeit so weit, daß Johannes XXII.
im 14. Jahrhundert dem Kandidaten verbieten wollte, selbst als deut-
scher König vor einer päpstlichen Bestätigung Regierungshandlun-
gen vorzunehmen. Um diese Zeit hatte aber schon die Gegenbewe-
gung eingesetzt: im Kurverein von Rhense wurde 1338 einmütig als
Reichsrecht festgestellt, daß der gewählte König allein durch die
Wahl der Fürsten und ohne einer päpstlichen Bestätigung zu bedür-
fen, vollberechtigter König sei.
Der Kreis der Königswähler erfuhr im 13. Jahrhundert eine
dramatische Verengung auf die sieben Kurfürsten, wobei sich zu-
gleich das Prinzip der Mehrheitswahl durchsetzt. Die genauen Vor-
gänge sind unerforscht und wahrscheinlich auch unerforschlich. Der
Sachsenspiegel und alle späteren Theoretiker bringen die Sieben-
zahl in Verbindung mit den Erzämtern. Von den sieben Kurfürsten
sind drei geistlich, vier weltlich. Die geistlichen Kurfürsten sind die
drei rheinischen Erzbischöfe (Mainz, Köln und Trier) in ihrer Funktion
als Erzkanzler für die drei Teilreiche des Heiligen Reiches, wie wir
jetzt schon sagen können, und zwar der Erzbischof von Mainz als
Erzkanzler für Deutschland, der von Köln als Erzkanzler für Italien
und der von Trier als Erzkanzler für Burgund oder, wie man auch
sagt, Arelat. Die weltlichen Kurfürsten waren der Herzog von Sach-
sen als Marschall, der Markgraf von Brandenburg als Kämmerer, der
Pfalzgraf bei Rhein als Truchseß und der König von Böhmen als
Mundschenk. Diese Funktionen sind bei feierlichen Anlässen, so et-
wa beim Krönungsmahl, auch tatsächlich ausgeübt worden, indem
beispielsweise der König von Böhmen dem Neugekrönten den ersten
Becher reichte. Es gibt aber auch andere Theorien für die Entste-
hung des Kurfürstenkollegs.
Trotz diesem mit sieben Personen überschaubaren Wähler-
kreis und einer leicht auf vier Stimmen zu errechnenden absoluten
Mehrheit ist es dennoch immer wieder zu Doppelwahlen gekommen,
denn die Führung einzelner Stimmen war umstritten. Wenn dann
beide, die Anspruch auf sie erhoben, die Stimme abgaben, kam es
leicht zu Mehrheiten von vier und mehr Stimmen für zwei Kandida-
ten, so etwa bei der Doppelwahl von 1314. Umstritten waren vor al-
lem die sächsische Stimme als Folge der unübersichtlichen sächsi-
schen Erbteilungen und die Stimme der Pfalz, auf die nicht nur die
pfälzischen, sondern auch die bayerischen Wittelsbacher Anspruch
erhoben. Nur am Rande erwähne ich, daß diese beiden Streitpunkte
in der Neuzeit zur Errichtung einer 8. und 9. Kurwürde geführt haben.
Zunächst aber wurde durch die Goldene Bulle von 1356 die
Königswahl eindeutig und definitiv geregelt: die Stimme der Pfalz
wurde der pfälzischen, die sächsische der Linie Sachsen-Wittenberg
zugesprochen. Um künftige Stimmenspaltungen zu verhindern, wer-
den die Kurfürstentümer für unteilbar erklärt und als Erbfolge die
Primogenitur eingeführt. Wahlort ist Frankfurt am Main. Die Wahl
muß innerhalb gewisser Fristen nach dem Tode des Vorgängers be-
gonnen und zügig durchgeführt werden. Bei Abwesenheit verfällt die
Stimme, jedoch kann der Kurfürst auch durch einen bevollmächtigten
Vertreter abstimmen. Die Mehrheit der Anwesenden entscheidet.
Die Stimmabgabe ist mündlich, und zwar in genau festgelegter
Reihenfolge und nacheinander: zuerst stimmt der Erzbischof von
Trier ab, dann der von Köln, dann der König von Böhmen, dann der
Pfälzer, dann der Sachse, dann der Brandenburger; den Abschluß
bildet der Erzbischof von Mainz, der also ggf. den Ausschlag gibt.
Anschließend ist der König in Aachen zu krönen; seinen ersten
Reichstag soll er in Nürnberg halten. Diese Ordnung der Königswahl
blieb bis zum Ende des alten Reiches 1806 in Kraft, nur fand die
Krönung seit dem 16. Jahrhundert ebenfalls in Frankfurt statt, da in
Aachen ein französischer Überfall auf das Krönungsfest zu befürch-
ten war.
Zur Kaiserkrönung muß der König nach Rom ziehen. Dies
setzt Verhandlungen mit dem Papst, aber auch eine entsprechende
militärische Präsenz in Italien voraus und führte dazu, daß im späten
Mittelalter nicht mehr allen deutschen Königen die Kaiserkrönung ge-
lungen ist. Ob diese enge Verbindung mit Italien für Deutschland ein
Fluch oder ein Segen war, war im 19. Jahrhundert Gegenstand einer
erbitterten Kontroverse zwischen den beiden Historikern Heinrich von
Sybel und Julius Ficker; Sie werden darüber im Laufe Ihres Studiums
sicher noch mehr hören. Einen Zuwachs an realer Macht brachte der
Kaisertitel nicht, aber man darf nicht unterschätzen, daß der König
dadurch in die Tradition der antiken Kaiser trat und zugleich zum
Vorläufer jenes apokalyptischen Endkaisers wurde, den wir im 2. Ka-
pitel kennengelernt haben. Koronator bei der Kaiserkrönung war der
Papst, Krönungsort die Peterskirche; eine bestimmte Kaiserkrone,
die unbedingt verwendet werden mußte, gab es allerdings nicht.
Krönungsähnliche Zeremonien gab es auch beim Regierungs-
antritt mancher Herzöge, so etwa in Kärnten, wo der neue Herzog
auf einem bestimmten Stuhl Platz nehmen mußte, um die Huldigung
seiner Untertanen zu empfangen. Überhaupt verlagert sich im Spät-
mittelalter die historische und politische Entwicklung in Deutschland
immer stärker auf die Ebene der Territorien, während das Königtum
mehr zu einer formalen Klammer verblaßt. Man hat diese Entwick-
lung früher als Machtverfall und Degeneration rein negativ bewertet,
zumal in Westeuropa – vor allem in Frankreich – zur gleichen Zeit die
Entwicklung zu den zentralistischen Nationalstaaten, also dem ver-
meintlich fortschrittlicheren Modell, einsetzte. Wir sehen das heute
weitaus differenzierter und wissen den Wert der Regionen in einem
ausgewogenen Verhältnis zwischen sinnvoller Zentralisierung und
lokaler Eigenständigkeit und emotionaler Nähe besser zu schätzen.
6. KAPITEL:
DAS LEHNSWESEN
DAS LEHNSWESEN IST ein für das europäische Mittelalter charak-
teristisches System gegenseitiger personaler Abhängigkeit zwischen
einem Lehnsherrn und einem Lehnsmann. Es entsteht durch das Zu-
sammentreten zweier ursprünglich selbständiger Erscheinungen: der
Vasallität und der Verleihung eines beneficium.
Die Vasallität geht ursprünglich aus der germanischen Gefolg-
schaft hervor: ein freier Germane schließt sich freiwillig einem bedeu-
tenden militärischen Führer oder einer sonst überragenden Persön-
lichkeit an und gelobt ihm Treue. Seine eigene soziale Stellung wird
dadurch nicht angetastet, vielmehr erhöht die Aufnahme in die Ge-
folgschaft auch die Ehre des Gefolgsmannes. Diese Form der Ge-
folgschaft ist zuletzt nur noch im Gefolge der merowingischen Köni-
ge, der trustis dominica, erhalten; ihre Mitglieder heißen Antrustionen
und sind durch ein dreifaches Wergeld ausgezeichnet.
In der Karolingerzeit verschärft sich die Gefolgschaft zur ei-
gentlichen Vasallität. Der Ausdruck Vasall kommt von dem keltischen
Wort gwas her; gwas bedeutet Jüngling oder Diener. Die lateinische
Form ist vassus oder vasallus. In die Vasallität begibt man sich durch
Kommendation. Dies ist ein symbolischer Akt, bei dem der Herr sei-
ne Hände um die gefalteten Hände des künftigen Vasallen herum-
legt, der Handgang, lateinisch immixtio manuum, wörtlich das "Ver-
mischen der Hände". Der Vasall ist seinem Herrn zu Diensten jegli-
cher Art verpflichtet; der Herr muß ihm dafür Kleidung, Nahrung und
Unterkunft gewähren. Im Gegensatz zur Gefolgschaft beeinträchtigt
die Vasallität die soziale Stellung des Vasallen: er steht auf jeden
Fall eine Stufe tiefer auf der sozialen Leiter als sein Herr.
Die zweite Erscheinung, die, wie gesagt, ursprünglich mit der
Vasallität in keinem Zusammenhang steht, ist die Verleihung eines
beneficium; unter dieser "Wohltat" versteht man die Überlassung ei-
nes Stückes Land zur Bewirtschaftung. Das beneficium kann von ein
paar Äckern bis zu großen Gütern und ganzen Dörfern reichen. Die
allgemeinen Bedingungen und die geforderten Gegenleistungen sind
sehr variabel, ebenso kann der Übertragende die verschiedensten
Motive haben: Neukultivierung bisher unbebauten Landes, Beloh-
nung geleisteter Dienste, Bestechung eines Mächtigen usw. Wesent-
lich ist, daß der Verleiher Eigentümer des beneficium bleibt, der
Empfänger wird nicht Eigentümer, sondern hat nur den Nutzen von
dem Lehen.
Das klassische Lehnswesen entsteht nun dadurch, daß der
Herr seiner Verpflichtung, dem Vasallen Unterhalt zu gewähren,
durch die Verleihung eines beneficium nachkommt. Im Laufe des 10.,
11. und 12. Jahrhunderts wird das Lehen zur beherrschenden Form
des Grundbesitzes überhaupt. Dies gilt uneingeschränkt für England,
wo der normannische König als Eroberer Lehnsherr des gesamten
Territoriums ist, weitgehend für Frankreich und in starkem Maße
auch für Deutschland und Italien. In Frankreich bildete sich der
Rechtsspruch heraus nulle terre sans seigneur - "kein Land ohne
Lehnsherrn". Politisch wichtig wurde das Lehenswesen in Frankreich
und Deutschland dadurch, daß es den Königen gelang, die Reichs-
fürsten, in Deutschland besonders die Herzöge, zu ihren Vasallen zu
machen und zu veranlassen, ihre Herzogtümer von ihm zu Lehen zu
nehmen.
Die Übertragung eines Lehens, lateinisch beneficium oder
feudum, auch feodum, erfolgte in der klassischen Zeit so: der Herr,
lateinisch dominus, auch senior, französisch seigneur, nimmt den
Lehnsmann, vassus, vasallus, homo, in die Vasallität auf. Dies ge-
schieht durch das schon erwähnte Ineinanderlegen der Hände, die
immixtio manuum. Hier sehen Sie eine solche Belehnung durch den
französischen König:
Dieser Vorgang heißt hominium oder homagium, auf Deutsch
"Mannschaft". Dann folgt ein besonderer Treueid, fides, sacramen-
tum, iuramentum, iusiurandum, auf Deutsch "Treue" oder "Hulde".
Dieser Eid hat mit dazu beigetragen, das Lehnswesen auf eine
ethisch höhere Stufe zu heben, als dies bei der reinen Versorgungs-
vasallität der älteren Zeit der Fall war. Auf den Eid folgt in der Regel
noch ein Kuß, osculum. Nun folgt der zweite Teil, die Übertragung
des beneficium, die Investitur mit dem Lehen. Auch sie geschah op-
tisch sehr wirksam durch die Überreichung eines symbolischen Ge-
genstandes, z.B. eines Szepters oder eines Handschuhs. Die Bi-
schöfe wurden mit Ring und Stab investiert, wie Sie auf dieser Dar-
stellung an der Domtüre von Gnesen sehr schön sehen können:
Reichsfürsten investiert der König durch die Übergabe von Fahnen;
ihre Lehen bezeichnet man deshalb auch als Fahnlehen. Dies sieht
man recht gut auf folgender Abbildung:
Kaiser Ludwig der Bayer belehnt die Herzöge von Pommern; die
Szene ist in die L-Initiale der Belehnungsurkunde hineingezeichnet.
Die Ausstellung einer solchen Urkunde ist an sich nicht erfor-
derlich, denn der symbolische Akt hat für sich allein volle Rechtsgül-
tigkeit; mit unserem Beispiel sind wir ja auch schon im 14. Jahrhun-
dert. In älterer Zeit sind Urkunden generell nicht üblich, es sei denn,
es sollten begleitend spezielle Regelungen festgehalten werden, et-
wa das Recht auf weibliche Erbfolge im Lehen. Das berühmteste
Beispiel einer solchen begleitenden Urkunde ist das sog. privilegium
minus, durch das 1156 dem neugebackenen Herzog von Österreich
der Verzicht auf Bayern zugunsten Heinrichs des Löwen versüßt
wurde.
Dann folgt noch die tatsächliche Inbesitznahme des Lehens
durch den Lehensmann; sie bezeichnet man als saisimentum, abge-
leitet vom französischen saisir (ergreifen).
Die Rechtsbeziehungen zwischen Lehnsherr und Lehnsmann
beruhen auf der gegenseitigen Treue, d.h. keiner von beiden darf et-
was tun, was dem anderen Schaden zufügt. Im Treueid kann z. B.
folgende Formulierung stehen: "Ich werde an keiner Verschwörung
teilnehmen, durch die er sein Leben verlieren oder verstümmelt oder
gefangengenommen werden soll." – Non ero in consilio, ut vitam
perdat aut membrum aut capiatur mala captione. (Übrigens gibt es
noch im heutigen Strafrecht den Begriff der "Untreue", wenn jemand
ihm anvertraute Werte schädigt; Sie erinnern sich an die Wirtschafts-
prozesse und die Parteispendenaffären.)
Über diese rein negativ gefaßte Verpflichtung hinaus müssen
Lehnsherr und Lehnsmann einander Rat und Hilfe, consilium et auxi-
lium, gewähren. Das consilium, den Rat, übt der Lehnsmann haupt-
sächlich durch die Teilnahme an den Hoftagen seines Herrn, insbe-
sondere durch den Beisitz an seinem Gericht aus. Das auxilium er-
folgt durch die militärische Dienstleistung im Lehnsaufgebot, und
zwar als Reiter oder, wie man später sagt, als Ritter. Die geschulde-
ten Leistungen hängen von der Größe des Lehens ab; je nachdem
muß der Lehnsmann allein oder mit einer kleineren oder größeren
Anzahl von Rittern erscheinen. Bei manchen Lehen bestand die Auf-
gabe des Vasallen nicht im aktiven Kriegsdienst, sondern z.B. in der
Burghut oder in der Ausübung eines Verwaltungsamtes. Ein engli-
scher Kronvasall hatte die Aufgabe, den Kopf des Königs zu halten,
wenn dieser bei der Überfahrt über den Kanal seinen Magen über
Bord erleichterte – was z.B. bei König Richard Löwenherz regelmä-
ßig der Fall war.
Nur ausnahmsweise mußte der Lehnsmann seinen Herrn
auch finanziell unterstützen, z. B. um ihn aus Gefangenschaft freizu-
kaufen oder um die Kosten für den Ritterschlag seines ältesten Soh-
nes oder die Mitgift seiner ältesten Tochter aufzubringen.
Wie der Lehensmann, so war auch der Lehnsherr zur Leistung
von auxilium und consilium verpflichtet: er mußte seinen Vasallen vor
Gericht vertreten und ihm ggf. mit bewaffneter Macht zu Hilfe eilen,
wenn er angegriffen wurde.
Da die Vasallität eine rein personale Bindung ist, endet sie mit
dem Tode jedes der beiden Partner. Stirbt der Lehnsmann, so ist der
"Mannfall" eingetreten, stirbt der Lehnsherr, der "Herrenfall" bzw.,
wenn der König Lehnsherr ist, der "Thronfall". In jedem Fall erlischt
die Vasallität, und das Lehen fällt an den Herrn zurück; jedoch wird
es je länger, je mehr üblich, daß die Söhne in die Rechte des Vaters
eintreten. Auf diese Weise werden die Lehen erblich. Die Neubeleh-
nung bei jedem Todesfall bleibt zwar erforderlich – und zwar bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts! –, wird aber zur Formalie. Der ursprüng-
lich militärische Charakter der Lehen bringt eine besondere Erbfol-
geordnung mit sich: so sind Frauen gewöhnlich ausgeschlossen,
Minderjährige brauchen einen waffenfähigen Vormund.
Inhaber großer Lehen können Teile davon an Untervasallen
austun. Daß dadurch die Verfügungsgewalt des Oberlehensherrn
geschwächt wurde, liegt auf der Hand. In noch viel stärkerem Maße
gilt dies für die Doppelvasallität, d.h. die Bindung an mehrere
Lehnsherrn. Die Doppelvasallität widerspricht direkt dem ursprüngli-
chen Sinn des Lehnswesens, wurde nichtsdestoweniger aber seit
dem 11. Jahrhundert auch in Deutschland allgemein üblich. In Bay-
ern war im 12. Jahrhundert ein Graf Siboto von Falkenstein Vasall
von zwanzig verschiedenen Herren. Problematisch wurde ein solcher
Zustand z. B. dann, wenn zwei dieser Lehnsherrn gegeneinander ei-
ne Fehde führten und beide das auxilium ihres Lehnsmannes anfor-
derten. Ein Mittel gegen die negativen Wirkungen der Doppelvasalli-
tät bot die ligantia, französisch ligesse: ein Herr wurde zum dominus
ligius, zum bevorzugten Lehnsherrn erklärt; vor allem der König ver-
suchte, zum dominus ligius ante omnes zu werden, zum Lehnsherrn,
der allen anderen vorgeht.
In Deutschland bildete sich im 12. Jahrhundert eine Rangfolge
der Lehen heraus, die man sich als siebenstufige Pyramide dachte,
die sog. "Heerschildordnung": an ihrer Spitze stand der König, den
zweiten Heerschild hatten die geistlichen, den dritten die weltlichen
Reichsfürsten inne, den vierten die Grafen und Freiherrn, den fünften
und sechsten die Ministerialen, während auf der siebten und unter-
sten Stufe die sog. Einschildritter standen, die nur Lehen tragen,
selbst aber keine vergeben konnten.
Lehen konnte man nur von einem Ranghöheren empfangen;
wer von einem Ranggleichen ein Lehen annahm, stieg auf die nächst
tiefere Stufe ab. Eine Ausnahme bilden die Kirchenlehen, die die
geistlichen Fürsten vergaben; sie konnte jedermann, selbst der Kö-
nig, ohne Rangminderung annehmen, denn dabei war nicht der Bi-
schof oder Abt, sondern der Heilige der entsprechenden Kirche der
eigentliche Lehnsherr. Diese Kirchenlehen spielen eine wichtige Rol-
le beim Ausbau der spätmittelalterlichen Landeshoheit der Fürsten.
Der Verlust des Lehens drohte eigentlich nur bei Verfehlungen
gegen die dem Herrn geschuldeten Lehnspflichten. In diesem Fall
trat das Lehnsgericht zusammen, d.h. die Mitvasallen unter dem
Vorsitz des Lehnsherrn, und sprach das Urteil. Umgekehrt konnte
der Lehnsmann dem pflichtvergessenen Lehnsherrn die Treue auf-
kündigen. Das schlimmste Vergehen ist der Lehnsverrat, die Felonie,
und zwar besonders scheußlich, wenn sie während des Kampfes ge-
schieht. Dieses Vergehen – die harisliz, wie sie altertümlich heißt –
war es auch, das seinerzeit dem letzten selbständigen bayerischen
Herzog, Tassilo III., gegenüber Karl dem Großen vorgeworfen wurde,
um einen Rechtsgrund (oder besser gesagt: Vorwand) für seine Ab-
setzung zu finden.
Die besondere Bedeutung des Lehnswesens liegt im Mittelal-
ter darin, daß mit seiner Hilfe der Staat strukturiert werden konnte,
ohne daß es dazu einer aufwendigen Beamten- und Verwaltungsor-
ganisation bedurfte. Aber selbst im zwischenstaatlichen Verkehr
konnte es politische Dienste leisten, indem ganze Staaten und Kö-
nigreiche in ein lehensrechtliches Verhältnis zueinander traten. So
waren Böhmen und zeitweise auch Polen und Ungarn lehnsabhängig
vom deutschen König. Besonders für Böhmen war dies eine elegante
Lösung: ein Blick auf die Landkarte zeigt, daß es unmöglich war, daß
zwischen Deutschland und Böhmen keine Beziehung bestand; das
Lehnsverhältnis erlaubte es, diese Beziehung mit möglichster Selb-
ständigkeit des abhängigen Teiles zu gestalten, dessen Herrscher ja
sogar den Königstitel tragen konnte.
Vom 11. Jahrhundert an benutzten auch die Päpste das
Lehnsrecht in diesem Sinne: das normannische Königreich Sizilien
und vorübergehend auch England und Aragón waren päpstliche Le-
hen. Das Beispiel Tassilos III. zeigt indes, daß das Lehnsverhältnis
auch politisch mißbraucht werden konnte. Auch der französische Kö-
nig Philipp II. hat den englischen König Johann Ohneland, der ja für
das Herzogtum Normandie sein Lehnsmann war, mehrfach vor sein
Lehnsgericht geladen, um politische Wirkungen zu erzielen.
7. KAPITEL:
DIE RITTER
KAUM EIN BEGRIFF SCHEINT so charakteristisch für das Mittelalter
wie der des Ritters. Ritterrüstung, Ritterburg, Ritterepik, Ritterschlag,
Minnedienst – all das ruft romantische Vorstellungen wach, und
kaum jemand wird empört sein, wenn man sein Verhalten als ritter-
lich bezeichnet. Im folgenden Kapitel wollen wir uns darüber klar
werden, wieweit diese unsere Vorstellung der Realität des mittelalter-
lichen Rittertums entspricht.
Entschieden nicht mittelalterlich ist allerdings diese Variante
eines Ritters:
Zunächst einmal fing alles sehr bescheiden an. Das Rittertum
geht nicht aus dem Lehnswesen hervor, das wir im vorigen Kapitel
kennengelernt haben, sondern wird erst später, im Grunde erst nach
seiner Blütezeit, in dieses System eingefügt. Am Anfang stehen die
sog. Ministerialen, "Dienstleute", abgeleitet von minus, wovon sich
übrigens auch das Wort "Minister" ableitet.
Ministerialen haben zunächst die geistlichen Fürsten, dann
auch die weltlichen Herren und die Könige, wobei die königlichen Mi-
nisterialen schließlich am wichtigsten werden.
Die Ministerialen der Bischöfe bzw., nach mittelalterlicher Vor-
stellung, die Ministerialen des Heiligen der Domkirche, sind unfreie
Mitglieder seiner familia. Der lateinische Ausdruck familia bedeutet
mehr als das deutsche Wort Familie; er umfaßt alle, die irgendwie
zum Hause gehören und der Gewalt und Fürsorge des Hausherrn
unterstehen, also auch Knechte, Mägde, Sklaven usw. Zur familia
des Bischofs gehören also auch alle Unfreien, die die Kirche besitzt
und die entweder im Bischofshof selbst Dienste leisten oder den
Landbesitz der Kirche bebauen und dafür vom Oberhaupt der familia
ihren Lebensunterhalt erwarten können. Besonders wichtig für den
Herrn sind diejenigen, die ihm Kriegsdienst zu Pferde leisten; für die-
se Gruppe kommt der Ausdruck ministeriales auf. Den Lebensunter-
halt gewährt der Herr ihnen häufig durch Überlassung eines Landgu-
tes. Dadurch gleicht das Dienstverhältnis eines Ministerialen äußer-
lich durchaus dem Lehnsverhältnis eines Vasallen.
Es bleibt aber der entscheidende Unterschied, daß der Vasall
frei ist und frei bleibt, der Ministeriale aber unfrei ist und unfrei bleibt.
Die Unfreiheit zeigt sich z.B. darin, daß der Herr ihn verkaufen kann:
wenn die Aufgabe eines Ministerialen etwa darin besteht, eine Burg
zu bewachen, und der Herr verkauft diese Burg, dann wird der Mini-
steriale mitveräußert. (Übrigens passiert heute dasselbe, wenn eine
Firma verkauft wird.) Wenn der Ministeriale heiratet, muß er den
Ehekonsens seines Herrn einholen; dieser wird darauf achten, daß
er keine Frau aus dem Besitz eines anderen Herrn heiratet, denn
sonst gibt es Schwierigkeiten bei der Verteilung der Kinder. Mitunter
schließen die Herren Verträge ab, wie die Kinder aufgeteilt werden
sollen: das erste Kind gehört dem Herrn des Vaters, das zweite dem
der Mutter usw.; oder alle männlichen Kinder dem Herrn des Vaters,
alle weiblichen dem der Mutter, oder ähnliches mehr.
Auf der anderen Seite war ein auskömmliches Leben als Mini-
steriale einer kümmerlichen Existenz als freier Mann durchaus vor-
zuziehen, und der Schutz eines mächtigen Herrn mochte die Abhän-
gigkeit schon ausgleichen. So kommt es, daß auch Freie in die Mini-
sterialität eintreten, wodurch das Ansehen des Ministerialenstandes
insgesamt nur gehoben wird. Einzelne Ministeriale schaffen sich eine
besondere Position als Berater ihres Herrn. Und auch solche Ministe-
riale, die zugleich Lehnsmann eines anderen sind, gewinnen eine
unabhängigere Position.
Schon bald wird die zunächst völlig der Willkür des Herrn un-
terworfene Stellung der Ministerialen in Rechtsregeln gebracht. Ein
solches Dienstrecht ist z.B. schon sehr früh aus Bamberg überliefert.
Die Verbindung mit dem Lehnsrecht führt zu einer Differenzierung
innerhalb des Ministerialenstandes: wer nur Lehen empfangen, aber
keine verleihen kann, wird auf den letzten Herrschild gesetzt; für die-
se Gruppe ist der Ausdruck miles üblich geworden. Als ministeriales
bezeichnet man jetzt diejenigen, die sowohl Lehen empfangen als
auch welche verleihen können und deshalb in den sechsten oder
vorletzten Heerschild gehören. Diese Gruppe verschmilzt im späten
Mittelalter mit den freien Herren zu einer Schicht und steigt so in den
niederen Adel auf; die Erinnerung an ihre unfreie Herkunft war aber
im 14. Jahrhundert durchaus noch nicht verblichen, wenn es auch im
Einzelfall äußerst schwierig ist, die wirklichen Rechtsverhältnisse zu
ermitteln.
Ihre größte politische Rolle spielten die Ministerialen in der
Stauferzeit. Unter den späten Saliern war das ottonische Reichskir-
chensystem zusammengebrochen, d.h. der König konnte sich für
Reichsverwaltung nicht mehr auf die finanziellen und militärischen
Leistungen der Bischöfe und Äbte stützen. An ihre Stelle trat einer-
seits der Ausbau des Lehnswesens; andererseits mußte der König
auf das Reichsgut und sein eigenes Hausgut zurückgreifen. Zur Si-
cherung und Verwaltung dieses Reichs- und Hausgutes setzt vor al-
lem Friedrich Barbarossa seine Ministerialen ein, die auf einer Viel-
zahl von neuerbauten Burgen Wohnung nahmen. Und weil diese Mi-
nisterialen zwar einerseits nicht mehr selbst arbeiten mußten, auf der
anderen Seite aber nicht mächtig genug waren, um Politik zu ma-
chen, blieb ihnen eigentlich nur die Beschäftigung mit der Kultur.
Diese Deutung ist allerdings nicht unumstritten; vor allem von ger-
manistischer Seite wird die Ansicht vertreten, so weit sei es mit der
Kultur der kleinen Ministerialen gar nicht her gewesen. Das berühm-
teste Beispiel eines solchen kultivierten Ministerialen ist natürlich der
Arme Heinrich, in dem Hartman von Aue ein wenig sich selbst porträ-
tiert. Dieser Romanheld kann untypischerweise sogar lesen:
Wir beginnen in der dritten Zeile:
Ein Ritter so geleret was,
Daz er an den bvchen las,
Was er daran geschriben vand.
Der was hartman genant
Vn(de) was ein dinsteman von owe.
Wie dem auch sei: diese Kultur zeigt sich vor allem in der Rit-
terdichtung und dem Minnedienst. Hinter beidem steht ein Ideal, das
in der Wirklichkeit nur schwer zu verwirklichen war, wenn überhaupt.
Als die wesentlichen Tugenden des Ritters galten die mâze und die
milte. Die mậze ist das Vermeiden der Extreme, also die Selbstdiszi-
plin in Wort und Tat. Das Wort milte bedeutet im Mittelalter die Frei-
gebigkeit, eine Bedeutung, die in Ausdrücken wie "milde Stiftungen"
oder "Mildtätigkeit" bis heute weiterlebt. Das eigentlich prägende Er-
lebnis für die Ritter waren aber die Kreuzzüge, und dieser Grundsatz,
als Streiter Christi für die Unterdrückten und Armen einzutreten, vor
allem für die, die unschuldig in Not geraten sind, wurde auch auf die
Heimat übertragen.
In der Zeit, in der man solche Heldentaten nicht selbst voll-
bringen konnte, wollte man wenigstens von ihnen hören. "Hören" ist
dabei wörtlich zu nehmen, denn es war in der Regel das Burgfräu-
lein, das diese Texte abends vorlas – sofern das nicht ein zufällig
anwesender fahrender Spielmann übernahm. Die Ritterepik stützt
sich teils auf historische Stoffe, so Alexander den Großen, Troja, Ro-
land oder die Nibelungen, vor allem aber auf die sog. matières de
Bretagne: das sind die Erzählungen um König Artus und seine Tafel-
runde, von der die Ritter aufbrechen, um auf âventiure – zu deutsch:
Abenteuer – zu reiten, wobei ihnen auch prompt die verfolgten Jung-
frauen usw. über den Weg laufen. Wer zu Hause bleibt, läuft Gefahr,
sich zu verligen und dafür Schimpf und Schande zu ernten. Die deut-
schen Epen sind meist Nachdichtungen französischer Vorlagen des
Chrestien de Troies. An Autoren nenne ich nur Hartmann von Aue,
Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach; das weitere
ist Sache der Germanisten.
Noch ein Wort zum Minnedienst: die Verehrung des Ritters
richtet sich immer auf eine verheiratete Frau; erhört wird er nie, je-
doch liegt dies stets an seiner eigenen Unvollkommenheit. Auch das
ist die Theorie: wie es um das Nichterhörtwerden in der Praxis aus-
sah, das zu beurteilen überlasse ich Ihrer Kenntnis der menschlichen
Leidenschaften.
Über all dieser kulturellen Blüte darf man aber nicht verges-
sen, daß der eigentliche Lebenszweck des Ritters der Krieg war, und
zwar nicht nur in der Form des Kreuzzugs, hinter dem immerhin noch
eine moralische Idee steht, sondern auch als Krieg der europäischen
Könige gegeneinander und sogar als ordinäre Fehde einzelner Ritter
untereinander. Der mittelalterliche Krieg war ein Vernichtungskampf,
der darauf abzielte, den Gegner wirtschaftlich zu ruinieren, so daß
die Bauern weit mehr unter ihm zu leiden hatten, als die Kämpfenden
selbst; von ritterlicher Ethik ist jedenfalls wenig zu spüren. Ein weite-
res Kriegsziel war die Gefangennahme des Gegners, von dem man
dann ein Lösegeld erpressen konnte.
Oft endete die Fehde damit, daß der Unterlegene auf seiner
Burg Schutz suchen mußte, die dann belagert wurde. Das Recht,
Burgen zu errichten, war ursprünglich dem König vorbehalten, wurde
jedoch mit dem Niedergang der Königsmacht von den Fürsten und
schließlich selbst von kleinen Adligen und Rittern usurpiert. Zu den
wesentlichen Rechten des Lehnsherrn gegenüber dem Lehnsmann
gehörte das "Öffnungsrecht" an dessen Burg, d.h. der Lehnsmann
mußte seinen Herrn in die Burg hineinlassen und ihm zu diesem
Zweck die Tore öffnen.
Bei den Burgen ist zu unterscheiden zwischen Höhenburgen
und Burgen in der Ebene. Höhenburgen liegen auf Berggipfeln; be-
sonders beliebt ist die Spornlage, weil die Burg dann nur von einer
Seite her zugänglich war und nur an einer Seite verteidigt werden
mußte. Die Berghänge unterhalb der Burg wurden völlig abgeholzt,
um dem Gegner keine Deckung zu gewähren, in deren Schutz er
sich unbemerkt nähern konnte. Romantisch im dichten Wald ver-
steckt, wie das heute gern bei Burgen der Fall ist, lagen im Mittelalter
also nur die Ruinen. In Norddeutschland, wo die Berge fehlen, be-
vorzugte man die Wasserburg, die von breiten Wassergräben oder
auch Sumpfgelände umgeben war.
In ihrer einfachsten Form besteht die Burg lediglich aus einem
Turm, den man möglichst auf einen Hügel stellt, der von einer Mauer
oder Wall und Graben umgeben ist. Ist der Hügel künstlich aufge-
schüttet, so spricht man von einer Motte. Eine etwas komfortablere
Burg besteht aus mehreren Gebäuden, die einen Burghof umschlie-
ßen; außen herum führt der Wehrgang. Der höchste Turm ist der
Bergfried, der entweder in die Mauer einbezogen ist oder frei im In-
nenhof steht. Sein Eingang liegt hoch über der Erde und ist nur über
eine Leiter zu erreichen. Das Untergeschoß des Bergfrieds dient als
Speicher oder auch als Gefängnis; zugänglich ist dieses nur durch
eine kleine Öffnung in der Decke, das sog. Angstloch. Das größte
Gebäude in der Burg ist der Palas. Dieses Wort leitet sich über das
Altfranzösische vom lateinischen palatium ab, dem Kaiserpalast auf
dem Palatin in Rom; auf direktem Wege, aber durch die hochdeut-
sche Lautverschiebung verändert, kommt von palatium auch das
Wort Pfalz her. Heizbar ist in einer Burg oft nur das Frauengemach,
das also einen Kamin besitzt und deshalb caminata, auf Deutsch
Kemenate heißt. Außerdem hat jede Burg eine Burgkapelle.
Besonders gesichert ist das Burgtor; zu ihm führt die Zugbrük-
ke. Außerdem sind dort so nette Dinge wie die Pechnase eingebaut,
durch die man auf die Angreifer heißes Pech oder auch die in der
Burg angefallenen Fäkalien gießen kann. Im Anschluß an die Burg
wird meist ein etwas größeres Areal ebenfalls ummauert, der sog.
Zwinger. Später wird auch er mit Gebäuden besetzt und stärker be-
festigt: er wird zur Vorburg. Die geometrische Gestalt der Burg wird
durch das Gelände bedingt; meist ist der Platz so begrenzt, daß gar
keine Wahl eines bestimmten Grundrisses möglich ist. Ansonsten
bevorzugt man in Norddeutschland runde, in Süddeutschland vierek-
kige Formen.
Auf den Kreuzzügen lernten die Ritter im Orient kunstvolle
Bauformen und raffinierte Belagerungsmaschinen kennen. Eine
wichtige, auch vorher schon bekannte Technik war das Anlegen ei-
ner Sappe: dazu werden aus der Mauer an einer Stelle nach und
nach von außen her von den Belagerern die Steine herausgelöst und
durch eine Holzkonstruktion ersetzt. Wenn die Sappe groß genug
geworden ist, wird das Holz abgebrannt, die Mauer stürzt ein, und
die Burg kann gestürmt werden. Mitunter lud man auch den belager-
ten Burgherrn ein, die vollendete Sappe zu besichtigen; gelegentlich
zog er es dann vor, den Widerstand aufzugeben.
Daran war auch zu denken, wenn in der Burg die Wasservor-
räte zu Ende gingen, da nur wenige Burgherren es sich leisten konn-
ten, einen Brunnen zu graben. Bei einer Höhenburg war auch dies
technisch sehr schwierig. Häufig endete die Belagerung so, daß sich
der Burgherr zwar ergab, anschließend aber Lehensmann des Bela-
gerers wurde und seine eigene Burg als Lehen zurückerhielt –
selbstverständlich mit Öffnungsrecht für den neuen Lehnsherrn. Oft
genug mußte aber auch die Belagerung abgebrochen werden, etwa
bei einbrechendem Winter oder nach erfolgreichen Ausfällen der Be-
lagerten. Um das Jahr 1300 wurde in Europa das Schießpulver er-
funden; damit war das Ende der Burg und auch des klassischen
Rittertums abzusehen.
Wenn der Ritter keinen Krieg führte, weder belagerte noch be-
lagert wurde, und auch nicht durch den Minnedienst in Anspruch ge-
nommen, bereitete er sich auf den Krieg vor. Dies geschah neben
sonstigem Wehrsport durch das Turnier. Dabei ritten die Kontrahen-
ten in voller Rüstung, aber mit stumpfen Waffen gegeneinander an
und versuchten, sich gegenseitig die Helmzier vom Kopf zu schlagen
bzw. sich mit der Lanze aus dem Sattel zu heben; anschließend
konnte der Kampf zu Fuß weitergehen. Man unterscheidet beim Tur-
nier
zwischen dem Tjost und dem Buhurd: beim Tjost treten zwei einzel-
ne Ritter gegeneinander an, um zu tjostieren, beim Buhurd kämpfen
größere Gruppen gegeneinander. Pferd und Rüstung des Unterlege-
nen verfallen dem Sieger; es gab arme Ritter, die von Turnier zu
Turnier reisten und auf diese Weise ihren Lebensunterhalt bestritten.
Wie sah der Ritter aus? Bei dem Wort Ritterrüstung denkt man
in der Regel an einen Plattenharnisch. Der Plattenharnisch kam aber
eigentlich erst auf, als das Rittertum schon im Niedergang war. Er
diente mehr der Repräsentation und für das Turnier, bei dem der Rit-
ter dann mit Wappen und Helmzier prunkvoll ausstaffiert vor seiner
Dame paradieren konnte. Die Ritter der früheren Zeit trugen Ketten-
panzer, die aus eisernen Ringen zusammengesetzt waren. Das Bild,
das auf den zunehmend beliebten Mittelalterfesten und Schauturnie-
ren, aber auch auf Museumsplakaten vermittelt wird, ist also irrefüh-
rend. Übrigens gibt es in Passau eine Gruppe, die die Rüstungen
des 14. Jahrhunderts in realistischer Form vorführt. Die Wirklichkeit
einer mittelalterlichen Rüstung können Sie erahnen, wenn Sie dieses
Bild eines originalen Helmes betrachten und sich fragen, was der Rit-
ter, der darin steckte, eigentlich im Kampf sehen konnte:
Seit der klassischen Zeit wurde das Rittertum mit äußeren
Formen und Zeremonien umgeben, die manchmal eine gewisse Ähn-
lichkeit mit dem Klerikerstand herbeiführen. Ritter wird man in mehre-
ren Stufen durch eine sorgfältige Erziehung, die mit dem 7. Lebens-
jahr als Page beginnt. Vom 14. Lebensjahr an ist der junge Ritter
dann Knappe oder, wie man auch sagt, Edelknecht. Es gibt auch ein
Schema von sieben Fähigkeiten, die der Ritter erlernen muß, näm-
lich Schwimmen, Reiten, Bogenschießen, Fechten, Jagen, Schach-
spielen und Versemachen; dieses Schema ist den septem artes libe-
rales, den "sieben freien Künsten", nachgebildet, die wir im 24. Kapi-
tel (Schule und Universität) näher betrachten werden. Mit dem 21.
Lebensjahr soll die Beförderung zum Ritter erfolgen; dies geschieht
in Westeuropa durch den Ritterschlag, in Deutschland durch die
Schwertleite, also die feierliche Umgürtung mit dem Schwert. Die
Siebenjahresstufen sind natürlich reine Theorie; die Praxis war viel
flexibler.
Den Ritterschlag kann im Prinzip jeder Ritter erteilen. Beson-
ders ehrenvoll ist es aber, ihn vom König zu empfangen, und zwar
möglichst am Tage der Krönung dieses Königs; in Frankreich und
Ungarn gehört das Ritterschlagen geradezu zum Krönungszeremo-
niell. Hier sehen sie den französischen König, wie er einem der be-
rühmstesten Feldherrn seiner Zeit, Bertrand du Guesclin, zum Ritter
schlägt:
Häufig wird der Ritterschlag im Kriege erteilt, und zwar unmit-
telbar vor der Schlacht, in der der neue Ritter sich dann gleich be-
währen kann. Die äußere Form ist hierbei situationsbedingt recht ein-
fach. In Friedenszeiten ist der Vorgang viel aufwendiger und damit
auch viel teurer, so daß viele potentielle Ritter darauf verzichten und
ihr Leben lang Edelknecht bleiben.
Das berühmteste Beispiel einer Schwertleite ist das Mainzer
Hoffest vom Mai 1184, auf dem Friedrich Barbarossa seinen Sohn
Heinrich, den späteren Heinrich VI., und dessen Bruder Friedrich
zum Ritter machte. Der Chronist Otto von St. Blasien berichtet dar-
über im 26. Kapitel: "Im Jahr 1184 seit der Fleischwerdung des
Herrn, als Kaiser Friedrich in Deutschland alle kriegerischen Unruhen
niedergekämpft hatte, sagte er allen Großen des Reiches auf Pfing-
sten in Mainz einen allgemeinen Hoftag an und beschloß, dort seine
Söhne, den König Heinrich und Friedrich, den Herzog von Schwa-
ben, mit dem Schwert zu umgürten und mit den Waffen auszuzeich-
nen. Zu diesem Hoftag versammelten sich Fürsten des ganzen Kai-
serreiches, nämlich Franzosen, Deutsche, Slawen, Italiener, von Illy-
rien bis nach Spanien hin. Aber auch von den benachbarten Reichen
kamen, beeindruckt von der Würde des Reiches, Fürsten zusam-
men, und so hat sich dort eine unglaubliche Menge von Menschen
verschiedener Gegenden und Sprachen versammelt. Dort war au-
ßerhalb der Stadt auf einer weiten Ebene als Unterkunft für den Kai-
ser ein hölzener Palast mit einer großen Halle aufgebaut, und im
Kreis um ihn herum sind hochaufragende Häuser für die Fürsten
aufgestellt worden, wobei jeder einzelne erhebliche Ausgaben mach-
te, um die Größe seiner Würde zu zeigen."
Dann passiert das, was bei mittelalterlichen Festen häufiger
vorkommt, nämlich ein Unglück: eine Sturmbö fegt das ganze Zeltla-
ger zusammen, was dem Chronisten Anlaß zu einer moralisierenden
Bemerkung über weltliche Prunksucht gibt. Dennoch findet wie ge-
plant die Feier statt: "Nachdem nun der folgende heilige Tag" (es
handelt sich um Pfingsten) "mit größter Freude feierlich begangen
und mit ausgesuchten, aufs prächtigste veranstalteten Festmählern
glorreich dahingebracht war, ist am Montag früh morgens die Messe
gefeiert worden, und es empfingen die Söhne des Kaisers, König
Heinrich und Herzog Friedrich, nachdem sie mit Waffen ausgestattet
und auf dem Kampfplatz ihr ritterliches Können gezeigt hatten, den
Rittergürtel." Anschließend darf sich der junge König gleich auf ei-
nem Kriegszug gegen die Polen bewähren.
Das Mainzer Hoffest und die Person Friedrich Barbarossas
bilden wohl den Höhepunkt des Rittertums überhaupt. Barbarossas
Sohn und Nachfolger Heinrich VI., den die Italiener nicht zu Unrecht
il crudele, den Grausamen, nennen, entsprach schon nicht mehr die-
sem Ideal, und unter Friedrich II. war die allgemeine Stimmung
schon so verändert, daß Walther von der Vogelweide in seiner be-
rühmten Elegie sagen konnte, die Vergangenheit komme ihm vor wie
ein Traum, aus dem er nunmehr erwacht sei. Die äußeren Formen
des Rittertums werden nun immer wichtiger, und weniger die eigene
Tüchtigkeit als vielmehr die Abstammung von ritterbürtigen Vorfahren
entscheidet über die Zugehörigkeit zu diesem Stande.
Eine ganz eigentümliche Verbindung ging das Rittertum mit
dem Mönchsideal in den sog. Ritterorden ein, auf die wir im 16. Kapi-
tel zurückkommen. Davon unterscheidet sich ein anderer Typ ritterli-
cher Orden, der im Spätmittelalter und der Neuzeit von den Landes-
herrn ins Leben gerufen wird und von dem letztlich die heutigen Ver-
dienstorden herstammen; deren berühmteste sind wohl der ur-
sprünglich burgundische Orden vom goldenen Vlies und der engli-
sche Hosenbandorden.
Wie im 15. Jahrhundert in England die Aufnahme in den Rit-
terstand vor sich ging, möchte ich Ihnen nun anhand eines zeitge-
nössischen Traktates schildern, wobei ich der Einfachheit halber die
Zusammenfassung aus einem Aufsatz zitiere, dessen Titel ich Ihnen
im Literaturverzeichnis nenne: „Der Novize, der Ritter zu werden
wünscht, wird bei seinem Eintreffen am Hofe vom Seneschall und
Kämmerer höflich empfangen. Es werden ihm zwei erfahrene Knap-
pen zugeteilt, die ihn in ihre Obhut nehmen. Trifft er vor der Mahlzeit
ein, so soll er den König bei Tisch bedienen, und zwar soll er ihm das
Wasser reichen (zum Händewaschen bei Beginn der Mahlzeit) und
die erste Schüssel des ersten Ganges auftragen. Dann führen ihn die
beiden Knappen in sein Zimmer und schicken nach dem Bader, der
dem Novizen die Haare und den Bart schneidet und ihm ein Bad be-
reitet, das mit Teppichen und Tüchern gegen die Kälte der Nacht
wohlgeschützt ist. Der König wird benachrichtigt, daß die Vorberei-
tungen so weit getroffen sind, und befiehlt seinem Kämmerer, die
edelsten und weisesten Ritter in das Zimmer des Novizen zu führen.
Mit Musik und Gesang setzt sich der Zug in Bewegung. Die beiden
Knappen ziehen daraufhin ihren Schützling aus und setzen ihn in das
Bad. Vor der Kammertür bricht die Musik ab; die abgeordneten Ritter
treten ein, und nachdem sie sich eine Weile geziert haben, wobei ei-
ner dem anderen den Vortritt zuschieben will, treten sie der Reihe
nach an das Bad heran und belehren den Novizen über den Sinn der
Feierlichkeit und über die Pflichten des Ritters. Hierauf wird der No-
vize auf ein einfaches weißes Bett gelegt; nach der Bettruhe wird er
für die Nachtwache angekleidet; er trägt einen langen Rock mit an-
genähter Kapuze wie ein Eremit. Wieder formiert sich der Zug unter
Vorantritt der Musik: die weisen Ritter und alle Knappen des Hofes
geben ihm das Geleite bis zur Tür der Kapelle, wo er nur mit den
beiden Knappen eintritt, um die Nacht im Gebet zu verbringen. Bei
Morgengrauen hören sie die Messe und kehren dann in das Zimmer
zurück, wo der Novize nunmehr auf einem prächtigen Bette ruhen
darf, das mit einem golddurchwirkten gefütterten Seidentuch bedeckt
ist. Auf Befehl des Königs wird der Novize von den Rittern geweckt,
die ihn dann beim Ankleiden bedienen: der älteste reicht ihm das
Hemd, der nächste zieht ihm den rotseidenen Leibrock an, zwei he-
ben ihn aus dem Bett und zwei andere ziehen ihm die schwarzen
Strümpfe und Schuhe an usw. bis er vollständig angekleidet ist. Zu
Pferde ziehen sie dann in den Saal des Königs, wobei ein Page das
entblößte Schwert, über dessen Griff die Sporen gehängt sind, vor-
austrägt. An der Halle des Königs werden sie vom Marschall, der als
Belohnung für seine Mühe das Pferd, auf dem der Novize geritten
war, zu beanspruchen hat, empfangen. In der Halle findet dann die
eigentliche Verleihung der Ritterwürde statt. Der König läßt sich das
Schwert und die Sporen geben, heißt zwei der vornehmsten Ritter
die Sporen an der Ferse des Novizen befestigen. Dann umgürtet ihn
der König mit dem Schwert, und während er seine Arme hoch über
dem Kopfe hält, umfaßt der König seinen Hals mit beiden Händen,
gibt ihm mit der rechten Hand einen Schlag auf den Nacken und
spricht: Sei ein guter Ritter. Es folgt ein abermaliger Gang in die Kir-
che, wo der junge Ritter die Hand auf den Altar legend schwört, die
Kirche schützen zu wollen, und sein Schwert darreicht, das der Prie-
ster segnet. Die Feierlichkeit wird beschlossen mit der festlichen
Mahlzeit, bei der der junge Ritter oben an der Tafel der Ritter sitzt,
jedoch weder essen, noch trinken, noch sich bewegen, noch um sich
blicken darf. Schließlich verabschiedet sich der junge Ritter vom Kö-
nige und der Hofgesellschaft.“
Wir wollen jetzt noch fragen, wie es einem Ritter erging, der
sich dieser Würde unwürdig erwies. Ihm konnte es z. B. passieren,
daß er bei einem der öffentlichen Turniere zurückgewiesen wurde.
Am Vortag des Turniers fand nämlich die sog. Helmschau statt: die
Helme und Wappen der Teilnehmer wurden auf einem Gerüst öffent-
lich ausgestellt. Dann kamen die Herolde und wohl auch die Damen
zur Besichtigung, und wenn ein unwürdiger Ritter entdeckt wurde,
stieß der Herold den Helm vom Gerüst; sein Träger durfte dann nicht
am Turnier teilnehmen. So etwas geschah, historisch verbürgt, am
24.11.1434 sogar dem Sohn des Herzogs von Bayern, Albrecht, dem
späteren Albrecht III. von Bayern-München. Es war nämlich ruchbar
geworden, daß dieser heimlich eine unstandesgemäße intime Bezie-
hung eingegangen war mit einer Augsburger Baderstochter namens
Agnes Bernauer. Bei wirklich schlimmen Verfehlungen wurde der
Übeltäter aus dem Ritterstand ausgeschlossen. Dies geschah mit ei-
ner Art rückläufigem Vollzug des Ritterschlages, was in der Literatur
gern mit grausigen Détails ausgemalt wird, die mir indes nicht alle
glaubwürdig scheinen, so daß sein Schild umgekehrt an den Galgen
genagelt wurde und daß man ihn zwang, seine eigene Totenmesse
anzuhören.
Wir haben zu Anfang des Kapitels gehört, daß der Ritter sei-
nen Lebensunterhalt in der Regel aus einem beneficium bezog, wo-
bei es in der Praxis keinen Unterschied machte, ob er es als freier
Lehnmann oder als Ministeriale innehatte. Diese Form der Versor-
gung wurde im späten Mittelalter immer problematischer. Die ge-
schuldeten Abgaben an den Ritter waren ein für allemal festgelegt,
während das Leben immer teurer wurde. Aufgrund des technischen
Fortschrittes – man denke nur an die aufkommenden Feuerwaffen –
wurde die eigene Ausrüstung und auch die Befestigung der Burgen
immer kostspieliger. So sah sich der Ritter immer häufiger gezwun-
gen, sein Einkommen auf außerlegalem Wege zu erhöhen. Mit ande-
ren Worten: der Ritter wurde zum Raubritter, der Kaufmannszüge
überfiel und beraubte oder, noch besser, die reichen Pfeffersäcke
gefangennahm und nur gegen hohes Lösegeld wieder freiließ – bis
er eines Tages selbst in Gefangenschaft einer Stadt geriet und am
Galgen endete, sofern er nicht gegen gefangene Kaufleute dieser
Stadt ausgetauscht wurde. Allerdings gaben einige Städte (so etwa
Nürnberg) ihren Kaufleuten den Hinweis mit auf die Reise, sie könn-
ten auf keinen Fall damit rechnen, auf diese Weise wieder freizu-
kommen.
Im vierzehnten, vor allem aber fünfzehnten Jahrhundert verei-
nigen sich in Deutschland die Ritter, die keinem anderen geistlichen
oder weltlichen Herrn, sondern nur dem Kaiser unterstehen, zur
Reichsritterschaft. Zunächst entstehen einzelne Ritterbünde, bei
denen man nicht immer genau sagen kann, welcher Zweck im Vor-
dergrund stand: die Wahrung der eigenen Rechte oder die Raubzüge
gegen die Städte und Kaufleute. Diese Bünde führen zum Teil gro-
teske Namen: so gab es in Schwaben die Martinsvögel, die Gesell-
schaft mit dem Schwerte, die Gesellschaft von der Krone, die Lö-
wengesellschaft und die Schlegler; in Franken die Fürspänger und
die Gesellschaft mit dem Greifen; am Rhein den Bund mit den roten
Ärmeln, die Sterner, den Bund von der alten Minne, den Löwenbund,
die Geckengesellschaft, die Gesellschaft vom Falken, die Gesell-
schaft der Bengler, die Sichelgesellschaft und die Gesellschaft des
heiligen Ritters Simplicius zu Fulda.
Eine reichsrechtliche Anerkennung der Ritterbünde erfolgte
zunächst 1422 durch König Sigismund, dann 1495 auf dem Wormser
Reichstag. Seit dem 16. Jahrhundert ist die Reichsritterschaft in drei
Kreisen organisiert, die in Kantone gegliedert sind: der Kreis Schwa-
ben umfaßt die Kantone Donau, Hegäu-Allgäu-Bodensee, Neckar-
Schwarzwald-Ortenau, Kocher und Kreisgau; der Kreis Franken um-
faßt die Kantone Odenwald, Gebirg, Rhön-Werra, Steigerwald, Alt-
mühl und Baunach; der Kreis Am Rhein umfaßt die Kantone Ober-
rheinstrom, Am Niederrheinstrom und Am Mittelrhein. Anders als
Kurfürsten, Fürsten und Städten ist es den Rittern nicht gelungen,
auf dem Reichstag vertreten zu sein; sie stehen vielmehr in direkter
Abhängigkeit vom Kaiser. Sie zahlen auch keine Reichssteuern,
sondern eine freiwillige Beihilfe zu den Lasten des Reiches, ein sub-
sidium charitativum. Mit dem Untergang des Alten Reiches ging auch
die Reichsritterschaft zu Ende. Der Rittertitel, den manche Fürsten
im 19. Jahrhundert als Adelsprädikat vergeben, hat mit dem mittelal-
terlichen Rittertum nichts mehr zu tun.
8. KAPITEL:
DIE STÄDTE, I: DIE STÄDTE IN DEUTSCHLAND
DIE MITTELALTERLICHEN STÄDTE lassen sich in drei Gruppen
einteilen:
• Städte, die schon immer da waren;
• Städte, die von selbst entstanden sind;
• Städte, die gegründet wurden.
Schon diese kurze Aufzählung erweist die Stadtentstehung als viel-
schichtiges Problem, das sich mit einer einheitlichen Theorie nicht er-
läutern läßt. Diese Regel gilt überhaupt für die mittelalterliche
Rechtsordnung, die in einer Weise lokal differenziert war, wie wir es
uns heute kaum noch vorstellen können; und nichts wäre falscher,
als geschichtliche Entwicklungen monokausal erklären zu wollen. Ich
werde im Folgenden in zwei Abschnitten die Städte in Deutschland
und die Städte in Italien, v.a. Norditalien, behandeln. Diese Reihen-
folge ist eigentlich etwas unlogisch, weil die italienischen Städte eine
viel frühere und viel bedeutendere Rolle spielen als die deutschen,
aber es ist aus praktischen Gründen so sinnvoller.
In Deutschland sind die Städte, die schon immer da waren, die
alten Römerstädte, die im Mittelalter weiterbestehen, ferner einzelne
keltische oder slawische Orte. Die Römerstädte lagen naturgemäß
nur in dem Gebiet, das in der Antike zum römischen Reich gehörte,
also südlich von Limes und Donau. Im verchristlichten römischen
Reich waren diese Städte zumeist Sitz eines Bischofs, wie sich ja
generell die kirchliche Organisation der Antike eng an die staatlichen
Verwaltungsgrenzen anlehnte. Mit dem Untergang des römischen
Reiches ging diese Stadtkultur weitgehend zugrunde. Die Germanen
liebten die Städte nicht und bevorzugten das Leben auf dem Lande.
Die Städte verloren ihre rechtliche Sonderstellung, ihre Bevölkerung
ging zurück, ihre Bauten verfielen. Immerhin blieben einige von ihnen
Bischofssitz, und andere waren verkehrstechnisch so günstig gele-
gen, daß sie sich auch ohne die römische Tradition für eine Stadt-
siedlung empfohlen hätten. So gesehen gehören die Römerstädte
eigentlich zur zweiten Kategorie, und es ist historisch nicht ganz ehr-
lich, wenn sich manche dieser Orte bei ihren Jubiläen auf eine an-
geblich 2000jährige städtische Tradition berufen.
Viele mittelalterliche Städte haben sich im Anschluß an eine
königliche Pfalz, eine Bischofskirche, eine Burg oder auch ein Kloster
entwickelt. In deren Schutz entstand eine Kaufmannssiedlung, ein
Wik, in dem die Kaufleute Station machten oder ihr regelmäßiges
Winterquartier nahmen; im Sommer waren sie unterwegs in der Fer-
ne. Das Wort wîk ist in einigen Ortsnamen wie Bardowick oder
Braunschweig (ältere Namensform "Brunswig") erhalten; auch das
Wort "Weichbild" im Sinne von Stadtbild kommt daher.
Die Kaufleute des Wik standen unter dem Schutz des Königs;
diesen Schutz nennt man mittelhochdeutsch munt. Dieses Wort
munt hat nicht zu tun mit dem Sprechorgan, sondern hängt zusam-
men mit Ausdrücken wie Vormund, Mündel, mündig usw. Die munt
bezeichnet die Herrschaft über freie Leute, im Gegensatz zur Hörig-
keit, die unfrei macht. Die Kaufleute sind also Muntleute des Königs,
dem sie als Gegenleistung für den Schutz eine Abgabe auf ihren
Gewinn schulden. Muntbriefe stellen die Karolinger einzelnen Kauf-
leuten, die Ottonen dann schon ganzen Kaufmannssiedlungen aus,
die sich jetzt in Form von Gilden organisieren. Im Rahmen des otto-
nisch-salischen Reichskirchensystems, in dem der König die Bischö-
fe zur Verwaltung des Reiches heranzieht, überträgt er diesen den
Schutz der Kaufleute und die Erhebung der Abgabe.
Als im Investiturstreit das Reichskirchensystem zusammen-
bricht, versuchen viele Bischöfe, die Rechte im eigenen Namen wei-
ter auszuüben, die sie bisher als Stellvertreter des Königs innehat-
ten. Gegen eine solche soziale Deklassierung zu Untertanen eines
Bischofs setzen sich nun die Kaufleute zur Wehr; sie können dies um
so eher, als sie sich inzwischen zu einer Schwurgemeinschaft oder,
wie man auch sagt, Eidgenossenschaft zusammengeschlossen ha-
ben und in ihrem Widerstand durch den König, vor allem durch Hein-
rich IV., unterstützt werden. In ihre Schwurgemeinschaft nahmen die
Kaufleute nun auch die hörigen Handwerker auf, die in der Stadt sa-
ßen oder vom Lande in die Stadt entwichen waren. Ob es dem Herrn
eines solchen entwichenen Hörigen gelang, ihn zurückzufordern,
oder ob er in der Stadt blieb und dadurch frei wurde, hing ganz von
den Machtverhältnissen ab. Solche Streitigkeiten wurden, wie im Mit-
telalter üblich, häufig durch einen Schiedsspruch beigelegt; in diesen
Schiedssprüchen bildete sich allmählich die Regel heraus, daß der
Herr den Hörigen dann nicht mehr zurückfordern dürfe, wenn dieser
über ein Jahr unbehelligt in der Stadt gelebt habe, oder als Rechts-
satz formuliert: "Stadtluft macht frei nach Jahr und Tag."
Durch die Aufnahme der Handwerker in die Schwurgemein-
schaft entsteht die typische, aus Kaufleuten und Handwerkern ge-
mischte Struktur der deutschen Stadt. Die führende Schicht in der
Stadt bleiben aber die Kaufleute, und unter diesen die Schicht der
reichen Fernhandelskaufleute, die als meliores oder mit ähnlichen
Ausdrücken bezeichnet werden und sich später zum Patriziat entwi
keln.
Im 12. Jahrhundert wurden dann auch neue Städte gegründet.
Das Paradebeispiel dafür ist die Gründung von Freiburg/Br. 1120
durch Herzog Berthold III. von Zähringen. 1118 erließ er einen Auf-
ruf, sich an der neuen Siedlung zu beteiligen, die dann zwei Jahre
später tatsächlich ins Leben trat. Die Stadtverfassung beruht auf ei-
nem förmlichen Vertrag zwischen dem Herzog und den Siedlern, bei
denen ebenfalls zwei Gruppen zu unterscheiden sind: eine vorneh-
mere Schicht der mercatores personati und eine geringe Schicht, de-
ren Mitglieder einfach mercatores genannt werden. Die Stadtanlage
erfolgt planmäßig: eine breite Straße, die als Markt dient, bildet die
Mittelachse. Rechts und links davon sind je ein Platz für die Kirche
(das heutige Münster) und das Rathaus vorgesehen. Jeder Siedler
erhielt ein Grundstück im Einheitsmaß 100 auf 50 Fuß. Neben Frei-
burg/Br. haben die Zähringer eine Anzahl weiterer Städte gegründet,
so Villingen, Rottweil, Offenburg, Freiburg/Schw. und Bern.
Ein bedeutender Städtegründer war auch Heinrich der Löwe;
auf ihn gehen in seinem bayerischen Herzogtum München und
Landsberg am Lech zurück, in Norddeutschland Schwerin, Lüneburg,
Stade und vor allem Lübeck in seiner endgültigen Form. Nur am
Rande erwähne ich, daß Heinrich der Löwe auch Städte zerstört hat,
so Schleswig und Bardowick. Die Staufer sind weniger als Städte-
gründer hervorgetreten, sondern haben sich darauf beschränkt, be-
stehende Orte zu privilegieren.
Das 13. Jahrhundert brachte dann eine geradezu explosions-
artige Vermehrung der Städte mit sich. Zahlreiche Orte, die bisher
nur Marktflecken gewesen waren, d.h. die das Recht hatten, einen
Markt zum Kauf und Verkauf abzuhalten, wurden jetzt zu Städten er-
hoben. Daneben wirkten aber die alten Stadtentstehungsformen wei-
ter, also die Anlehnung an eine Pfalz, Burg oder Kirche, sowie die
planmäßige Neugründung; es gab regelrechte Unternehmer, locato-
res genannt, die neue Städte gründeten, vor allem im Osten des Rei-
ches. Zugleich nehmen die alten Städte durch Stadterweiterungen
beträchtlich an Umfang zu.
Die stürmische Entwicklung des 13. Jahrhunderts wurde auch
dadurch begünstigt, daß das Recht auf Marktgründung und Stadter-
hebung jetzt vom König auf die Fürsten übergeht. Die Rechtsgebräu-
che innerhalb der einzelnen Stadt haben sich jetzt soweit verfestigt,
daß es möglich war, bei Neugründungen einfach das Recht einer
Stadt auf eine andere zu übertragen. So entstanden ganze Stadt-
rechtsfamilien. Besonders zahlreich waren die Städte, die nach Lü-
becker oder nach Magdeburger Recht lebten. Seit dem 14. Jahrhun-
dert stagniert die Stadtentwicklung. Besonders die großen Epidemi-
en, so der Schwarze Tod um 1350, haben zu Bevölkerungsverlusten
geführt, die jedenfalls im Mittelalter nicht wieder ausgeglichen wer-
den konnten.
Wie sieht nun die Stadt im Spätmittelalter aus? Die ideale
Stadt ist eine völlig autonome Gemeinschaft, die sich ihre Gesetze
selbst gibt und der niemand hereinreden kann. Dieses Ideal ist nun
allerdings fast nirgends erreicht worden. Die meisten Städte mußten
sich mit einem Stadtherrn, Fürst, Bischof, Abt usw., auseinanderset-
zen, mit im Einzelnen sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Zu Be-
ginn des 13. Jahrhunderts taucht dann erstmals der Begriff Reichs-
stadt auf, d.h. die Stadt hat nur den König selbst zum Stadtherrn,
aber "der Himmel ist hoch und der Kaiser ist weit"; ähnlich gibt es
beispielsweise in Ungarn die königlichen Städte.
Seit demselben 13. Jahrhundert wird die Reichsgesetzgebung
allerdings zunehmend städtefeindlich, und das Interesse des Königs
konzentriert sich auf die Reichssteuern, die die Reichsstadt zu lei-
sten hat. Vor allem im 14. Jahrhundert werden die Reichsstädte häu-
fig verpfändet, d.h. der König erhält von einem finanzkräftigen Adeli-
gen eine größere Geldsumme und verschreibt ihm als Sicherheit die
Reichssteuern einer Stadt; da der König solche Pfänder in der Regel
nicht wieder einlösen kann, läuft die Stadt Gefahr, von dem Adeligen
mediatisiert zu werden – es sei denn, sie kann durch ein noch höhe-
res Geldangebot an den König die Pfandrechte selbst erwerben. Un-
bestrittener Spitzenreiter beim Verpfänden von Reichsstädten war
Kaiser Karl IV.
Charakteristisch für das äußerliche Bild einer Stadt ist ihre Be-
festigung, möglichst eine steinerne Mauer mit Toren und Türmen, oft
aber auch nur Wall und Graben aus Holz und Erde. Die Bürger der
Stadt bilden nach wie vor eine Schwurgemeinschaft: jeder neue Bür-
ger muß den Bürgereid leisten, ebenso jeder Sohn eines Bürgers,
der das Mündigkeitsalter erreicht; die darüber geführten Bürgerauf-
nahmebücher bilden eine der wichtigsten Quellen zur mittelalterli-
chen Sozialgeschichte. Aber nur ein Teil der Einwohner einer Stadt
sind Bürger im vollen Sinn des Wortes: ein nicht geringer Teil sind
bloße Bewohner, die das Bürgerrecht nicht oder noch nicht erworben
haben, aber dennoch zu den Lasten beitragen müssen, d.h. zu den
Steuern und zur Stadtverteidigung; auf die Stadtregierung haben sie
keinen Einfluß. Außerhalb des Bürgerrechts stehen die Kleriker und
die Juden.
Die Stadtregierung bildet der Rat der Stadt. Er hat häufig 12
Mitglieder, die Ratsherren oder consules; an seiner Spitze stehen ein
oder zwei Bürgermeister, magistri civium oder burgimagistri. Wie die
Räte im Einzelfall entstanden sind, ist infolge der lückenhaften Quel-
lenlage nur selten zu klären. Meistens sind die Räte zu irgendeinem
Zeitpunkt einfach da. Als Vorläufer kommen die Organisationen der
schon erwähnten meliores in Frage, aber auch die Schöffen des in
der Stadt tagenden Gerichtes, oder auch beides in Kombination. Bis
ins 14. Jahrhundert sind die Räte meist patrizische Räte, dann drän-
gen die in Zünften organisierten Handwerker auf Teilnahme. Das
führt oft zu gewaltsamen Auseinandersetzungen; in manchen Städ-
ten, vor allem in Schwaben, gelingt es den Zünften, die Patrizier
ganz aus dem Stadtregiment zu vertreiben.
Die Besetzung des Rates erfolgt auf die verschiedenartigste
Weise, teils auch mit Einwirkung des Stadtherrn. Von der Wahl durch
die gesamte Gemeinde führen die Möglichkeiten über regelmäßige
Teilerneuerung, indirekte und mehrfach indirekte Wahl, Bestellung
durch den alten Rat bis zur Kooptierung durch den Rat selbst.
Der Rat ist bemüht, in der Stadt ein einheitliches Rechtsgebiet
zu schaffen. Als schwieriges Problem erweisen sich dabei die Immu-
nitätsbezirke der Kirchen, besonders der Domkirchen, die oft Dom-
freiheit genannt werden; die Einbeziehung dieser Gebiete ins städti-
sche Steuersystem gelingt gewöhnlich nicht. Leichteren Erfolg hat
der Rat bei den in der Stadt gelegenen Klöstern: ihnen ist er gern bei
der Vermögensverwaltung "behilflich", indem er ihnen einen Pfleger
bestellt. Mit besonderem Vergnügen nimmt der Rat aber einen päpst-
lichen Auftrag entgegen, ein Kloster, in dem die Ordenszucht zu
wünschen übrig läßt, zu reformieren; am Rande sei vermerkt, daß er
diesen Auftrag in der Regel selbst erwirkt hat, so daß solche Aufträ-
ge über den tatsächlichen moralischen Standard eines Klosters
nichts aussagen. Für die in der Stadt gelegenen Klerikerpfründen
versucht er, das Patronatsrecht in die Hand zu bekommen; dazu
mehr im 14. Kapitel.
Ein minderberechtigtes Gebiet bilden die Vorstädte, suburbi-
um, die außerhalb der Stadtmauer liegen. Erst wenn sie eine gewis-
se Größe erreicht haben, werden sie in die Stadtbefestigung mitein-
bezogen; bis dahin laufen sie Gefahr, bei einer Belagerung der Stadt
niedergebrannt zu werden, sei es von den Belagerern, sei es vor-
sorglich von der Stadt selbst, um dem Feind keine Deckung zu er-
möglichen. In die Vorstädte verlegte man auch möglichst die Gewer-
be, die in der Stadt unerwünscht waren, so die Gerber wegen der
Geruchsbelästigung und die Bäcker und Schmiede wegen der Feu-
ergefahr.
Wie gesagt, versuchen die Städte, intern ein einheitliches
Rechtsgebiet zu schaffen. Das gelingt aber nur selten. Die meisten
Städte bleiben gewissermaßen aus mehreren Teilstädten zusam-
mengesetzt, die sich auch in unterschiedlichem Maße von ihrem
Stadtherrn emanzipiert haben können. Wie kompliziert die Verhält-
nisse sein können, möchte ich Ihnen an einem naheliegenden Bei-
spiel vorführen:
Folie 85
Dies ist der Stadtplan des mittelalterlichen Passau. Sie sehen im
Gebiet der heutigen Altstadt nebeneinander einen Rechtsbezirk des
Bischofs, die Domimmunität, dann ein bürgerliches Gebiet, dann den
Rechtsbezirk des Klosters Niedernburg, der seit dem Ende des 12.
Jahrhunderts ebenfalls unter der Kontrolle des Bischofs stand. Sie
sehen im Bereich der heutigen Fußgängerzone eine mittelalterliche
Stadterweiterung, die 1209 in die Ummauerung einbezogen wurde,
ferner drei Erweiterungszonen jenseits der Flüsse, nämlich die Inn-
stadt, die Ilzstadt und den Anger. (Das Gebiet des Nikolaklosters ge-
hört nicht zu Passau; es wurde erst nach der Säkularisation, also zu
Beginn des 19. Jahrhunderts, mit der Stadt vereinigt.) Wenn Sie sich
anschauen, wie der bürgerliche Anteil des Stadtgebietes zwischen
den geistlichen Bezirken eingeklemmt ist und dazu noch geradezu
luxuriös im Schußfeld der Kanonen auf der Veste Oberhaus liegt,
können Sie sich leicht vorstellen, daß es die Passauer Bürger nie zu
besonderer Selbständigkeit gegenüber ihrem bischöflichen Stadt-
herrn geschafft haben. Andere Städte, wie z. B. Köln oder Nürnberg,
waren weitaus erfolgreicher.
Die große Zeit der Städte war das 13. und 14. Jahrhundert. Im
15. Jahrhundert begann schon ihr Niedergang, der sich in der Neu-
zeit fortsetzte; aber das ist nicht mehr Thema dieser Vorlesung.
9. KAPITEL:
DIE STÄDTE, II: DIE STÄDTE IN ITALIEN
DIE ITALIENISCHEN STÄDTE, VOR allem diejenigen in der Poebe-
ne, sind berühmt für ihre Struktur als selbstverwaltete und beinahe
unabhängige Kommunen, als Stadtrepubliken, die sogar Kaisern und
Königen trotzen konnten. Das ist richtig, gilt aber nur für die zweite
Hälfte des Mittelalters. Anders als in Deutschland sind die italieni-
schen Städte praktisch alle aus der Römerzeit übriggeblieben; Neu-
gründung von Städten kommt ganz selten vor und ist jedenfalls in
keiner Weise mit den Vorgängen nördlich der Alpen zu vergleichen.
Keine Kontinuität besteht dagegen in der Selbstverwaltung der Städ-
te: die antiken Stadträte werden in den von den Langobarden be-
herrschten Gebieten systematisch beseitigt – das ist ganz wörtlich zu
nehmen, indem die ratsfähigen Familien ausgerottet werden –, und
auch in den Gebieten, die byzantinisch bleiben, hört im 7. und 8.
Jahrhundert jede Selbstverwaltung auf. Auch in Rom selbst ver-
schwindet der Senat am Ende des 6. Jahrhunderts.
Die Städte unterscheiden sich im frühen Mittelalter rechtlich
gesehen nicht vom Land, existieren allerdings architektonisch weiter
und behalten auch ihre zentralörtliche Funktion: sie sind nach wie vor
wirtschaftlicher Mittelpunkt der sie umgebenden Region; die lango-
bardischen Herzöge und Gastalden, später die karolingischen Grafen
haben in den Städten ihren Sitz, und vor allem bleiben die Städte
Mittelpunkt der kirchlichen Diözesen, wobei die Bischofsdichte in Ita-
lien so groß ist, daß praktisch jede Stadt ihren eigenen Bischof hat.
Wir haben zu fragen, wie es nun zu der späteren Struktur gekommen
ist.
Die Entwicklung verläuft, kurz gesagt, so, daß zunächst der
Bischof zum Stadtherrn wird, d.h. die weltlichen, staatlichen Rechte
in der Stadt erwirbt und monopolisiert, und dann von den Bürgern der
eigenen Stadt aus dieser Stellung verdrängt wird. Dieser Vorgang
beginnt schon in der Karolingerzeit, als der Bischof zum ständigen
missus dominicus für seine Bischofsstadt oder zumindest für Teile
von ihr bestimmt wird. Die missi dominici oder Königsboten sind be-
kanntlich die Kontrolleure, die Karl der Große und seine Nachfolger
in alle Teile des Reiches aussandten, um die lokale Verwaltung zu
beaufsichtigen, gewöhnlich immer einen Bischof und einen weltlichen
Adligen gemeinsam. Diese Funktion erhält jetzt also der Bischof für
seine Stadt, und zwar abweichend vom ursprünglichen System ohne
weltlichen Kollegen und auf Dauer.
Der Bischof ist weiterhin ein bedeutender Grund- und Lehns-
herr in seiner Stadt und Diözese, teils aufgrund frommer Stiftungen,
teils aber auch, weil sich Personen seinem Schutz unterstellen; letz-
teres ist verlockend, weil die Leute des Bischofs bestimmte Vorrech-
te, etwa Zollfreiheit, genießen und so um so leichter Handel treiben
können. In den chaotischen Zeiten des 10. Jahrhunderts wächst der
Bischof so ganz von selber in die Rolle eines defensor civitatis, eines
Verteidigers der Stadt, gegen die Gefahr durch Sarazenen, Ungarn
usw. hinein. Die weltlichen Autoritäten – Könige und Grafen – ver-
sagten gegenüber dieser Aufgabe; wenn überhaupt jemand dazu in
der Lage war, dann die Bischöfe. Schließlich erhielten im späteren
10. und im 11. Jahrhundert immer häufiger die Bischöfe auch rechts-
förmlich die Grafenrechte über ihre Stadt, wie das auch in Deutsch-
land häufig zu beobachten ist. Die weitere Entwicklung verlief dies-
seits und jenseits der Alpen allerdings unterschiedlich.
In Deutschland wurden aus den Bischöfen Reichsfürsten, de-
nen es oft gelang, ihre Städte in Abhängigkeit zu halten; in Italien
dagegen wurden sie von Städten selbst aus ihrer Funktion als Stadt-
herr verdrängt. Ein weiterer Unterschied liegt darin, daß die Ausein-
andersetzungen in Deutschland oft sehr heftig verliefen, während in
Italien diese Entwicklung weitaus friedlicher vor sich ging. Woher
kommen diese Unterschiede? Im Wesentlichen waren drei Gründe
maßgebend: 1. die Ausdehnung der Diözesen, 2. die wirtschaftliche
Entwicklung und 3. die Folgen des Investiturstreites.
Zum ersten Punkt: die deutschen Bistümer sind so groß, daß
der Bischof im Konflikt mit seiner Stadt immer Rückhalt in der Diöze-
se finden konnte. Notfalls konnte er sich ein Herrschaftsgebiet und
eine ständige Residenz auch außerhalb dieser Stadt aufbauen. Um-
gekehrt sind die wichtigsten Städte in Deutschland gerade keine Bi-
schofsstädte; denken Sie an Nürnberg, München oder Frank-
furt/Main. In Italien hat dagegen fast jede Stadt ihren Bischof; und
wenn dieser geistliche Herr aus seiner Stadt fliehen mußte und sich
nur einen Ort weiterbegab, mußte er bereits die Gastfreundschaft ei-
nes Amtsbruders in Anspruch nehmen.
Zum zweiten Punkt: von der Ottonenzeit an setzte in den ita-
lienischen Städten ein enormer wirtschaftlicher Aufschwung ein, be-
sonders ein Aufschwung des Handels. Die Möglichkeit, durch Handel
zu Reichtum zu kommen – es gab Gewinnspannen bis zu 150% –
machte die Städte attraktiv; die Bevölkerung wuchs deshalb in den
Städten viel stärker als auf dem Lande. Es kommt hinzu, daß sich in
Italien auch der niedere Adel im Handel engagierte. Das unterschei-
det ihn vom Adel nördlich der Alpen, der dies für weit unter seiner
Würde hielt. Um aber Handel zu treiben, mußte man auch dort woh-
nen, wo der Markt war. Der italienische Adel nahm seine Wohnung
deshalb auch in der Stadt und blieb nicht isoliert auf seinen Burgen
hocken. In der Stadt kam es zu Kontakten mit reich gewordenen
Händlern bürgerlichen Standes, bis schließlich beide Gruppen zum
städtischen Patriziat verschmolzen, zu den Magnaten oder potentes.
Zum dritten Punkt: stand also der Bischof als Stadtherr einer
ökonomisch immer mächtigeren Bevölkerung gegenüber, so verlor er
im Investiturstreit in Italien seinen politischen Rückhalt am König. Er-
griff er die Partei des Papstes, konnte es vorkommen, daß der König
die Stadt gegen ihn privilegierte, wie Heinrich IV. dies vor allem in
der Toskana getan hat. Stand er dagegen auf Seiten des Königs, so
konnten seine Rechte im Namen der Kirchenreform angegriffen und
verletzt werden. Gewählt wurde er durch Klerus und Volk seiner
Stadt, also genau jene Gruppe, mit der er sich auseinander zu set-
zen hatte. Wie man sieht, ist die Position des Bischofs gegenüber
seiner Stadt in Italien viel schwächer und die Chance dieser Stadt,
sich von ihrem Bischof zu emanzipieren, viel größer.
Zunächst lag die Verwaltung der Stadt aber immer noch in den
Händen des bischöflichen Stadtherrn und seiner Kurie. Eine Mitwir-
kung der Bewohner erfolgte in ungeregelter, improvisierter Weise,
indem der Bischof sich von Fall zu Fall bei Fachleuten Rat holte; die-
se Fachleute erscheinen unter der Bezeichnung boni homines. Dann
aber tauchen plötzlich, erstmals 1085 in Pisa, ständige Vertreter der
Bürger auf, die dem Bischof gegenüber stehen. Wie das im Einzel-
nen geschah, wissen wir nicht: sie sind zu einem bestimmten Zeit-
punkt einfach da. Diese ständigen und von den Bürgern selbständig
bestimmten Vertreter tragen den Titel consul. Ihre Zahl ist in den ver-
schiedenen Städten unterschiedlich und kann auch in derselben
Stadt von Jahr zu Jahr schwanken. Es kommen Zahlen zwischen 2
und bis zu 40 vor; 12 ist ein häufiges Maß.
Consules sind nachweisbar in Pisa, wie gesagt, erstmals
1085, dann 1093 in Biandrate, 1095 in Asti, 1097 in Mailand, 1098 in
Arezzo, 1099 in Genua, 1105 in Pistoia, 1112 in Cremona, 1115 in
Lucca, 1117 in Bergamo, 1123 in Bologna, 1125 in Siena, und dann
im Laufe der Zeit auch in allen anderen Städten. Die Amtsperiode ist
sehr kurz: ein Jahr oder ein halbes Jahr, selten länger als ein Jahr.
Sie wechselt auch häufig, und anfangs gibt es dazwischen auch
noch Jahre ohne Konsuln. Über das Wahlverfahren läßt sich wenig
Präzises sagen, aber es war auf jeden Fall sehr kompliziert und wur-
de ständig verändert. Das gilt ganz allgemein für die italienischen
Kommunen: es wurde ständig an den Verfassungsregeln herumge-
bastelt.
Den consules stand die Versammlung aller Bürger gegenüber,
der arengo, der über die wichtigen Fragen zu beschließen hatte.
Zwischen die consules und den arengo schieben sich aber sehr bald
ein oder sogar zwei Räte, man könnte sagen: ständige Ausschüsse
der Volksversammlung, die dadurch aber gleichzeitig entmachtet
wird. Der kleinere Rat hat oft 40, der größere meist mehrere hundert
Mitglieder. Die Diskussionen und vor allem Beschlüsse dieser Räte
werden protokolliert; die Protokolle heißen reformationes, italienisch
riformanze. Aus dem Konsulat geht eine Reihe von Spezialämtern
mit besonderen Aufgaben hervor; diese Ämter heißen oft auch con-
sules mit einem entsprechenden Zusatz, etwa die consules iustitie
für die Rechtssprechung. Und auch die Handelsniederlassungen der
Städte in fremden Staaten, etwa im byzantinischen Reich oder in den
islamischen Ländern, stehen unter der Leitung eines consul, ein
Sprachgebrauch, der bis heute nachwirkt. Dieser gesamte, ziemlich
komplizierte Verfassungsaufbau entwickelt sich innerhalb weniger
Jahrzehnte und ist in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts schon
voll ausgebaut.
Das Auftauchen des Titels consul gilt als Signal dafür, daß wir
es mit einer Kommune zu tun haben, und nicht mehr nur mit einer
vom Bischof beherrschten Stadt. Zu einer voll ausgebildeten Kom-
mune gehören aber noch zwei Dinge: die Gerichtshoheit und der Er-
werb eines contado. Gerichtsherr ist, besonders für die Blutgerichts-
barkeit, selbstverständlich der Graf, der vom König her den Blutbann
innehat, d.h. konkret der Bischof als Inhaber der Grafenrechte. Die
Entwicklung vollzieht sich nun so, daß die consules zunächst die Ge-
richtsrechte gemeinsam mit dem Bischof (unter seiner nominellen
Oberhoheit) ausüben und schließlich alleine, wobei diese Verhältnis-
se teils vom Kaiser legitimiert werden. Die staatliche Gerichtsbarkeit
wird auch dadurch ausgehöhlt, daß viele Prozesse im Mittelalter am
ordentlichen Gericht vorbei durch einen Schiedsspruch beendet wer-
den; und indem die consules häufig um solche Schiedssprüche an-
gegangen werden, erscheinen sie als Inhaber richterlicher Funktio-
nen. Es ist aber nicht so, daß die consules aus dem Gericht des Bi-
schofs oder Grafen hervorgehen, wie das häufig der Ursprung der
Stadträte nördlich der Alpen ist.
Weitaus wichtiger war aber der Erwerb eines contado. Hinter
dem Wort contado verbirgt sich das lateinische comitatus, also
"Grafschaft". Gemeint ist damit ein Bezirk um die Stadt herum auf
dem Lande, was sich ganz von selbst dadurch ergibt, daß die mei-
sten Bürger auch Landbesitz hatten, den sie durch Abhängige oder
auch selbst bewirtschafteten: entweder kommen sie von diesem Be-
sitz und haben in der Stadt Wohnung genommen, oder sie haben ih-
ren durch den Handel erworbenen Reichtum in Grundbesitz ange-
legt.
Es wird nun der Grundsatz aufgestellt, daß der Umfang des
Contado möglichst mit dem der Diözese übereinstimmen soll. Kleine-
re Orte und selbst Nachbarstädte werden unterworfen und dem Con-
tado eingegliedert, und zwar notfalls auch mit militärischer Gewalt.
Solche unterworfenen Orte behalten zwar ihre interne Selbstverwal-
tung, aber die Stadt setzt in ihnen einen Statthalter ein, beaufsichtigt
ihre Verfassung, verlangt Abgaben und ggf. den Wehrdienst der Be-
wohner, fordert Lebensmittellieferungen von ihr und fungiert als Ap-
pellationsinstanz ihrer Gerichte. Auch der Landadel wird mit seinem
Gebiet in den Contado eingegliedert, indem sich die Stadt zu seinem
Lehnsherrn macht und ihn u.U. veranlaßt, in der Stadt seinen Wohn-
sitz zu nehmen; dort kann er sich dann, wenn er will, im Handel en-
gagieren und auf diesem Umweg zu einer politischen Rolle kommen.
Der Auf- und Ausbau des Contado ist ein allgemeines Phä-
nomen, ein Vorgang, an dem sich alle Städte beteiligen. Sie können
es sich gar nicht leisten, diese Aufgabe zu vernachlässigen, denn
sonst kommt ihnen ihre Nachbarstadt zuvor, und sie haben das
Nachsehen. Das Verhältnis zwischen den italienischen Kommunen
ist also alles andere als friedfertig. Gerade zu den unmittelbaren
Nachbarn bestehen selten freundliche Beziehungen, schon eher zum
Nachbarn des Nachbarn. Bündnisse werden oft eingegangen, aber
sie sind reine Zweckbündnisse, die vor allem darauf zielen, einem
anderen zu schaden. Es fehlt jede übergeordnete Perspektive, und
es entwickelt sich jene Haltung, die man auf Italienisch als campani-
lismo bezeichnet; der campanile ist bekanntlich der Kirchturm, also
"Kirchtumpolitik", aber das Wort bezeichnet darüber hinaus eine
ganze Geisteshaltung.
Auch innerhalb der Städte ging es keineswegs friedlich zu,
ganz im Gegenteil. Der Adel, der in die Städte zog, gab seine adelige
Lebensweise deshalb nicht auf, sondern er trug seine Fehden, be-
sonders seine Blutrache, jetzt innerhalb der Städte aus; die reich
gewordenen und mit ihm verschwägerten Kaufmannsfamilien paßten
sich dabei durchaus dieser Lebensweise an. Ihre palazzi waren fe-
stungsartig ausgebaut; über dem Eingangstor prangte das Familien-
wappen. Besonders eindrucksvoll sind die Geschlechtertürme, die
beispielsweise das Stadtbild von Bologna beherrschen.
Deren Höhe war militärische Notwendigkeit, denn bekanntlich läßt
sich von oben herab leichter Krieg führen als von unten hinauf. Sie
wurden deshalb immer höher gebaut, so daß die Statuten der Städte
schließlich Höchstgrenzen festsetzen mußten, damit wenigstens der
Turm der Kathedrale sie noch ein wenig überragte. Zu welch tragi-
schen Folgen solche Familienfehden führen konnten, kennen Sie aus
Romeo und Julia. Diese Zustände bilden übrigens einen deutlichen
Gegensatz zu den nordalpinen Städten, die gerade einen besonders
befriedeten Bezirk darstellten, in dem die Gewalttaten einzelner so-
fort schwerste Strafen nach sich zogen.
Die internen Auseinandersetzungen verbinden sich nun in ei-
gentümlicher Weise mit der großen Politik, da die streitenden Partei-
en sich Namen zuzulegen pflegten, die sich von den beiden großen
Kontrahenten der deutschen Geschichte herleiten, den Staufern und
Welfen. In Italien werden aus den Welfen die Guelfen, aus den Stau-
fern die Ghibellinen. Hinter letzterem Namen steckt die Burg Waib-
lingen nahe Stuttgart, mittelhochdeutsch Wîblingen, eine der staufi-
schen Stammburgen. Der Streit der beiden Geschlechter betraf im-
mer auch Italien, und er schwappte nachdrücklich dorthin über, als
die Kommunen im Streit zwischen Otto IV. und Friedrich II. Stellung
nehmen mußten. Als anschließend Friedrich II. mit dem Papsttum in
Konflikt geriet, kam es zu der Gleichung ghibellinisch = kaiserfreund-
lich und guelfisch = papstfreundlich. Aber spätestens mit dem Ende
der Staufer wurde dieser politische Hintergrund obsolet (obwohl die
Ausdrücke weiterverwendet wurden), und die Kirchentreue der Guel-
fen wurde zur Propaganda-Phrase, der keine tatsächliche Politik
mehr entsprach. Zur Zeit des Risorgimento im 19. Jahrhundert wur-
den die Bezeichnungen, teils mißverstanden, wieder aufgewärmt.
Die Fehden in den italienischen Städten drohten schließlich
die Stadtverfassung lahmzulegen, weil es nicht mehr möglich war,
Konsuln zu bestellen, die ihr Amt unparteiisch ausübten. Man ging
deshalb zu einer neuen Einrichtung über, dem Podestat: ein podestà,
lateinisch: potestas, war ein Stadtfremder, dem für eine begrenzte
Amtszeit, gewöhnlich ein Jahr, die Aufgaben der Konsuln übertragen
wurden, also Gericht, Polizei, Militäroberbefehl usw. Der podestà
wurde von der Stadt besoldet, mußte aber eine gewisse Mannschaft
an Notaren, Richtern usw. selbst mitbringen. Es wurde dafür gesorgt,
daß er in der Stadt ein Fremder blieb: er durfte z.B. kein Haus erwer-
ben und auch nicht in der Stadt heiraten. Er war in der Regel auch
nicht sofort wiederwählbar. Jedoch konnte er in einer anderen Stadt
podestà werden; so entstand im Laufe der Zeit ein Stand von be-
rufsmäßigen podestà, die bald in dieser, bald in jener Stadt amtier-
ten, genauso, wie heute die Fußballtrainer zwischen den Vereinen
hin- und hergeschoben werden. Die ersten Spuren des Podestats
finden wir im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts, wobei manche
Städte anfangs zwischen Podestat und Konsulat schwanken; dann
aber setzt sich das Podestat allgemein durch.
Da die innerstädtischen Fehden in der Regel von den Magna-
ten ausgingen, konnte eine Reaktion der übrigen Bevölkerung auf die
Dauer nicht ausbleiben. Dies geschah teilweise durch magnaten-
feindliche Sondergesetze, etwa durch eine strengere Bestrafung bei
gleichen Vergehen; berühmt sind etwa die ordinamenti della giustizia
von 1293 in Florenz. Wichtiger war aber die Selbstorganisation der
nicht-magnatischen Bevölkerung, des popolo: der popolo hielt eigene
Versammlungen ab, wählte eigene Vorsteher, die oft anziani hießen,
oder auch einen eigenen podestà und gab sich eigene Statuten, wo-
bei er schließlich beanspruchte, daß diese im Zweifel denen der
Kommune vorgingen. Ein wichtiges Kampfmittel gegen die Magnaten
war deren Verbannung und die Zerstörung ihrer Häuser.
Die geschilderte Entwicklung verläuft in ähnlicher Weise in
den Städten der Lombardei, der Toskana und des Kirchenstaates,
wobei auf die Dauer einige hundert Kommunen an ihr beteiligt sind.
Sie verläuft unvollkommen an den Rändern Norditaliens, etwa in
Piemont, und sie bleibt völlig aus im normannischen Herrschaftsge-
biet; im Gegenteil, dort im Süden geraten auch diejenigen Städte, die
sich bis ins 11. Jahrhundert einer gewissen Selbständigkeit erfreut
hatten, wie Neapel, Amalfi usw., unter die strikte staatliche Kontrolle.
Das ist eine Entwicklung, die bis heute nachwirkt.
Der erwähnte campanilismo, also die bornierte Beschränkung
auf die Interessen der eigenen Kommune und die Gegnerschaft ge-
rade zu den unmittelbaren Nachbarn, wirkte in verhängnisvoller Wei-
se zurück auf die große Politik: er machte es nämlich den übergrei-
fenden Mächten, Kaisertum und Papsttum, unmöglich, in ihrem Ver-
hältnis zu den Städten eine übergeordnete Stellung einzunehmen.
Vielmehr wurden Kaiser und Papst – vor allem der Kaiser – unwei-
gerlich in die kleinlichen Parteiungen der Städte untereinander hi-
neingezogen: jede auch nur scheinbare Begünstigung einer Stadt
trug dem Herrscher die bedingungslose Feindschaft der Nachbar-
städte ein. Das bekam vor allem Barbarossa zu spüren und in be-
sonders tragischer Weise zu Beginn des 14. Jahrhunderts Heinrich
VII.
Die große Zeit der italienischen Kommunen war das späte 12.
und das frühe 13. Jahrhundert. In der zweiten Hälfte des 13. Jahr-
hunderts beginnt bereits ihr Niedergang durch ein Phänomen, das
man Signorie zu nennen pflegt. Eine einzelne Person oder eine Fa-
milie erlangt die Vorherrschaft in der Stadt. Die Stadtverfassung
bleibt dabei äußerlich unangetastet, nur werden in die städtischen
Ämter eben nur noch Mitglieder dieser Familie oder aus ihrer Klientel
gewählt. Das berühmteste Beispiel dafür sind selbstverständlich die
Medici in Florenz. Der Vorgang ähnelt in bemerkenswerter Weise
dem Übergang von der späten römischen Republik zum Prinzipat
des Augustus. Einer Reihe von Signori, z.B. den Visconti in Mailand,
gelingt es im Laufe des 14. Jahrhunderts, ihre Signorie in ein erbli-
ches Herzogtum umzuwandeln.
10. KAPITEL:
DIE UNFREIEN
IN DER MARXISTISCHEN Geschichtswissenschaft, sofern man da-
bei von "Wissenschaft" sprechen darf, galt die Sklaverei als charak-
teristisch für die Antike. Den Übergang von der Antike zum Mittelalter
habe eine Revolution der Sklaven bewirkt, während für das Mittelal-
ter dann der Feudalismus kennzeichnend gewesen sei, von dem im
7. Kapitel die Rede war.
Nichts von alledem ist wahr. Die Zahl der Sklaven, die ihren
Höchststand in der Zeit um Christi Geburt erreicht haben dürfte, geht
in der Spätantike zurück; ihre rechtliche Stellung bessert sich zuse-
hends. Eine Revolution der Sklaven am Ende der Antike ist auch
nicht andeutungsweise zu erkennen. Im frühen Mittelalter nimmt mit
den Eroberungszügen der Germanen gegen die Römer und unter-
einander die Zahl der Kriegsgefangenen und damit der Sklaven er-
heblich zu. Die großen Staatsgüter der karolingischen Könige wur-
den ebenso wie der Großgrundbesitz des Adels und der Kirche von
Sklaven bewirtschaftet. Der Sklavenhandel war im frühen Mittelalter
ein äußerst lukratives Geschäft; der größte Sklavenmarkt im Westen
war Venedig, im Osten Konstantinopel.
Auf dem Sklavenmarkt in Rom um das Jahr 600 spielt die be-
rühmte Szene, die Papst Gregor den Großen zur Mission Englands
veranlaßte. Hierüber berichtet Beda Venerabilis in seiner englischen
Kirchengeschichte (II, 1): "Es wird erzählt, daß eines Tages, als ge-
rade Händler angekommen war und auf dem Markt viele Handelswa-
re zusammengetragen war, unter vielen anderen Kauflustigen auch
Gregor dort hinkam und unter anderen auch junge Männer sah, die
dort zum Kauf angeboten wurden und sich durch weiße Haut, schöne
Gesichter und eine besondere Haarfarbe auszeichneten." Gregor er-
fährt dann auf Befragen, daß sie von den britischen Inseln kommen.
"Wiederum fragte er, wie denn das Volk heiße. Er erhielt zur Antwort,
man nenne sie Angeln. Darauf sagte er: 'Das ist gut so, denn sie ha-
ben auch ein engelgleiches Gesicht, und es ziemt sich, daß sie Mit-
erben der Engel im Himmel werden.'" Die ganze Szene wird dann
zusammengezogen zu dem Schlagwort: Angli sunt – angeli fiant (Es
sind Angeln – sie sollen Engel werden), das aber, wie viele histori-
sche Schlagworte, so nicht in den Quellen steht.
Im Sklavenhandel waren vor allem Juden und Sarazenen,
später die italienischen Kaufleute der Seehandelsstädte, also Genua
und Venedig, tätig. Die Herkunft des Sklaven war, wie das Wort
schon sagt, häufig Osteuropa, aber auch Einheimische konnten in
Schuldsklaverei geraten, und noch in der Neuzeit war es, beispiels-
weise im Erzstift Salzburg, üblich, verurteilte Verbrecher an die Tür-
ken zu verkaufen.
Wie stellte sich nun die Religion zur Sklaverei? Im Islam, in
dem die antike Sozialordnung unverändert weiterlebt, ist sie ohne
weiteres geltendes Recht. Im Christentum gilt eigentlich der Grund-
satz, daß niemand einen anderen besitzen dürfe, weil ja alle Men-
schen vor Gott gleich sind. So schreibt der Apostel Paulus (Gal. 3,
26, 28): "Ihr seid nämlich alle Kinder Gottes durch den Glauben in
Christus Jesus. [...] Nicht mehr Jude oder Grieche, nicht mehr Sklave
oder Freier, nicht mehr Mann oder Frau, sondern ihr seid alle eins in
Christus [...]." Die Verwirklichung dieses Grundsatzes war freilich ein
sehr langwieriger Vorgang, der ja bekanntlich bis auf den heutigen
Tag noch nicht ganz abgeschlossen ist. Immerhin setzt sich im
Frühmittelalter die Anschauung durch, daß der Unfreie keine Sache,
sondern eine Person sei und daß dementsprechend bei seiner Ver-
letzung oder Tötung nicht ein Schadenersatz an seinen Herrn, son-
dern ein Wergeld an seine Verwandten gezahlt werden müsse.
Wir haben im vorigen Kapitel den Rechtssatz kennengelernt
"Stadtluft macht frei", d.h. ein Unfreier kann von seinem Herrn nicht
mehr zurückgefordert werden, sobald er über Jahr und Tag unbehel-
ligt in der Stadt gelebt hat. Dem Satz "Stadtluft macht frei" entspricht
aber der Satz "Landluft macht unfrei", d.h. wer außerhalb der Stadt
lebt, gilt als unfrei, es sei denn, er kann das Gegenteil beweisen.
Zwar gibt es auch im Mittelalter noch freie Bauern und sogar ganze
Dörfer, die nur dem König unterstehen und somit reichsunmittelbar
sind. Aber die überwiegende Mehrzahl der Bauern, und damit die
überwiegende Zahl der Bevölkerung überhaupt, ist von einem Herrn
abhängig.
Die rechtliche Lage dieser unfreien Bauern wird nun im Laufe
des frühen und hohen Mittelalters zunehmend günstiger. Die Grund-
herren bewirtschaften ihren Besitz auf zweierlei Weise: einen Teil im
Eigenbetrieb; wer auf einem solchen Fron- oder Meierhof (lateinisch:
villicatio) arbeiten muß, ist ziemlich schlecht gestellt. Er ist seinem
Herrn zu unbegrenzten Diensten verpflichtet und hat auch kaum eine
Möglichkeit, seine Lage zu verbessern. Einen anderen Teil ihres Be-
sitzes pflegen die Grundherren aber gewissermaßen an ihre Leibei-
genen zu verpachten. Solche Bauern sitzen also auf einem kleinen
Hof und beackern selbständig ihre Felder. Dem Grundherrn müssen
sie Abgaben leisten, z.B. die Hälfte der Ernte, und außerdem auf An-
forderung Frondienste auf dem Fronhof. Ferner kann der Herr sie je-
derzeit von ihrem Hof wieder entfernen.
Der Anteil dieser Bauern nimmt im Laufe der Zeit zu, da viele
Grundherrn ihre Eigenwirtschaft einschränken oder sogar ganz auf-
geben. Zugleich gelingt es den Bauern, die geschuldeten Leistungen
gewohnheitsrechtlich oder sogar schriftlich zu fixieren, etwa die Zahl
der Tage festzulegen, an denen sie Frondienst leisten müssen. Die
Leibeigenen können dabei durchaus Druck auf ihren Herrn ausüben,
denn dieser kann es nicht riskieren, daß ihm all zu viele Bauern weg-
laufen, etwa in die Stadt oder zu einem andern Herrn, der ihnen bes-
sere Bedingungen bietet. Darüber hinaus gibt es schon im 10. Jahr-
hundert regelrechte Bauernrevolten.
Neben diesen materiellen Besserstellungen sind im Mittelalter
(wie übrigens auch in der Antike) Unfreie in großer Zahl freigelassen
worden. Der Unfreie heißt lateinisch manicipium, das Freilassen ent-
sprechend emancipare. Im Mittelalter geschieht dies in zwei Stufen:
der Unfreie wird zunächst halbfrei. Als solcher unterliegt er nicht
mehr der Pflicht zu ungemessenem Frondienst und kann auch nicht
mehr verkauft werden; er genießt eine gewisse Freizügigkeit, und
wenn er Dienste leisten muß, sind sie genau fixiert. Als Erinnerung
an die frühere Unfreiheit zahlt der Halbfreie einen symbolischen Zins,
lateinisch census. Man spricht daher von Censualen. Geistliche
Grundherren pflegen diesen Zins in Wachs zu erheben, das ja für die
Kerzen beim Gottesdienst in großen Mengen gebraucht wird; man
spricht dann von Wachszinsern oder Cerocensualen. Als zweite Stu-
fe kann dann die völlige Freilassung folgen.
Beides, Gewährung des Censualenrechts und völlige Freilas-
sung, geschieht aber gewöhnlich nicht um Gottes Lohn, sondern ge-
gen Zahlung einer größeren Geldsumme: damit ist immerhin bewie-
sen, daß auch die Unfreien Vermögen sammeln konnten. Statt der
Freilassung stand dem Censualen, wie wir im 7. Kapitel gesehen ha-
ben, auch der Aufstieg in die Ministerialität offen.
Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts verschlechtert sich die
Lage der Landbevölkerung. Dies ist eine Folge der wirtschaftlichen
und demographischen Entwicklung, die wir jetzt kurz betrachten wol-
len. Zu Anfang des Mittelalters wurde Europa im 6. Jahrhundert von
einer Pestkatastrophe heimgesucht, die noch verheerender war als
der Schwarze Tod. Auf die medizinische Seite der Pest komme ich
im 24. Kapitel zurück. Hier genügt der Hinweis, daß die Pest, die
vollständig erst im 8. Jahrhundert erlosch, einen Bevölkerungsrück-
gang zur Folge hatte, der zu einem absoluten Tiefstand führte.
Diese geringe Bevölkerungsdichte bedeutete aber auch, daß
nur ein geringer Teil des Bodens landwirtschaftlich genutzt wurde;
diese kleinen Ackerflächen lagen wie Inseln innerhalb des Waldes
bzw. der Heide, die Deutschland noch weitgehend bedeckten. Auch
die südlichen Länder waren noch weitaus stärker bewaldet als heute.
Die im Vergleich zur Antike geringere Bevölkerungszahl führte aber
z.B. in Italien dazu, daß weite Landstriche versumpften und für den
Ackerbau unbrauchbar wurden. Da auch die Erträge noch überaus
mager waren, kehrte man zu einer weitgehend fleischlichen Nahrung
zurück, was bekanntlich eine schlechte Ausnutzung der natürlichen
Ressourcen bedeutet, sich aber mit geringerem Personaleinsatz be-
werkstelligen läßt.
Erst ganz allmählich nahm die Bevölkerung wieder zu, zumal
sich auch die politischen Rahmenbedingungen erst im 10. Jahrhun-
dert mit dem Ende der Bedrohung durch Wikinger, Sarazenen und
Ungarn stabilisierten. Technischer Fortschritt ermöglichte es, die
Hacke, die den Boden nur aufreißt, durch den Pflug, der sie zugleich
umwendet, zu ersetzen. Von Bedeutung ist auch eine verbesserte
Anspannvorrichtung bei den Zugtieren; besonders die Einführung
des Kummet erlaubte es, neben den Ochsen auch das kräftigere und
ausdauerndere Pferd bei der Feldarbeit einzusetzen. Das wiederum
führte zu einer Steigerung der Ernteerträge, was die Umstellung von
überwiegend tierischer auf überwiegend pflanzliche Nahrung möglich
machte.
Diese ökonomisch günstigere Ernährungsweise ermöglichte
schließlich ein kräftiges und kontinuierliches Bevölkerungswachstum.
Infolgedessen wurde die landwirtschaftliche Anbaufläche durch Ro-
dung des Waldes nebst Gründung neuer Dörfer in größtem Ausmaße
ausgeweitet; damals erhielt die mitteleuropäische Kulturlandschaft ihr
heutiges Gesicht, und es wurden auch Gegenden besiedelt, die bis-
her unberührt waren, wie Sumpfgebiete und Gebirgstäler.
Die günstige Entwicklung dauerte bis etwa 1300, dann kehrte
sie sich um. Wohl mitbedingt durch eine Klimaverschlechterung kam
es in den Jahren 1307 und 1312 zu verheerenden Mißernten, in de-
ren Gefolge Hungersnöte und wiederum in deren Folge Typhusepi-
demien auftraten. Über diese bereits geschwächte Bevölkerung
brach dann die Katastrophe des Jahres 1348 herein: der Schwarze
Tod, d.h. Pest, die im Grunde während des Mittelalters nie mehr
ganz erlosch. Damals wurden zahlreiche Dörfer wieder verlassen,
der Wald rückte vor und überwucherte die verlassenen Felder. Der
Fachausdruck dafür ist „Wüstung“. Diese in der spätmittelalterlichen
Wüstungsperiode aufgegebenen Ortschaften sind später gewöhnlich
nicht mehr erneut besiedelt worden; ihr Niedergang wird in der Regel
fälschlich dem 30jährigen Krieg zugeschrieben, geschah aber in
Wahrheit schon im späten Mittelalter.
Die negative Entwicklung traf auch die Grundherren, weil mit
der zurückgehenden Wirtschaftstätigkeit auch ihre Einnahmen san-
ken. Da sich zugleich aber ihr Aufwand erhöhte, versuchten sie,
durch Erhöhung der Abgaben auf ihre Kosten zu kommen. Die recht-
liche Lage der Bauern verschlechterte sich aber auch dadurch, daß
der moderne Staat, der sich in jener Zeit allmählich entwickelte, die
vielfältig abgestuften Rechtsverhältnisse der früheren Zeit (Freie,
Halbfreie, Unfreie, Ministerialien, Wachszinser etc.) nicht mehr dul-
den wollte und auf einen einheitlichen Rechtszustand hinwirkte; die-
ser Zustand sollte sich dabei an der untersten Ebene orientieren. Bei
diesen Versuchen, die gesamte Landbevölkerung auf den Status von
Leibeigenen hinabzudrücken, hat sich z.B. der Abt von Kempten un-
rühmlich hervorgetan, was in seinem Fürststift schon zu Ende des
15. Jahrhunderts zu einem blutigen Bauernaufstand führte. Auch der
Bauernkrieg von 1525 hat nicht zuletzt seine Ursache in dem Bemü-
hen der reichen Bauern, ihren Status gegenüber den Grundherrn zu
bewahren.
B) KIRCHE UND RELIGION
DER WICHTIGSTE ASPEKT DES mittelalterlichen Lebens ist die
Religion. Eine Leugnung der Existenz geistiger Mächte außerhalb
der sichtbaren Welt, also den eigentlichen Atheismus, gibt es im Mit-
telalter überhaupt nicht. Der damalige Mensch ist in einer so umfas-
senden Weise von seiner Umwelt abhängig, daß der Gedanke, diese
beherrschen zu können, was ja die Voraussetzung des Materialis-
mus bildet, absurd gewesen wäre. Ein gutes Verhältnis zu den über-
irdischen Mächten – wie immer man sich diese im einzelnen vorstell-
te – war also existenznotwendig. Ob man dieses Verhältnis selbst
herstellt oder stellvertretend durch eine beauftragte Institution pfle-
gen ließ, war dabei nebensächlich.
Diese Institutionen, im christlichen Bereich also Klerus und
Kirche, erbrachten demnach eine Leistung, die buchstäblich lebens-
notwendig war. Selbstverständlich wuchs ihnen dadurch auch Macht
zu, und selbstverständlich konnte diese Macht auch mißbraucht wer-
den, aber es wäre völlig abwegig, ihre Handlungen von vornherein
und ausschließlich unter dem Machtgesichtspunkt zu sehen, wie das
heute sehr häufig geschieht. Wer so denkt, überträgt in unkritischer
Weise heutige Vorstellungen auf die damalige Zeit, er handelt somit
unwissenschaftlich und verbaut sich von vornherein den Zugang zur
damaligen Denkweise und Mentalität. Wer also ein realistisches Bild
vom Mittelalter gewinnen will, muß diese Voraussetzungen immer im
Gedächtnis behalten, auch wenn in der Praxis überwiegend von
Mißbräuchen und Irrwegen die Rede ist; dies ist eine Folge der Quel-
lenstruktur, denn der positive Normalzustand wird ja nur selten ak-
tenkundig und ist oft nur indirekt aus den Berichten über Mißbräuche
zu erschließen.
Wir betrachten also im Folgenden die mittelalterlichen Religio-
nen, wobei ich mich bemühe, dem Normalzustand seinen gebühren-
den Platz einzuräumen.
Um welche Religionen handelt es sich? Es ist üblich, das Mittelalter
in Europa als das "christliche Mittelalter" zu bezeichnen. Das ist rich-
tig und falsch zugleich. Es ist richtig, weil das gesamte Leben des
europäischen Mittelalters von der christlichen Religion bestimmt war;
es ist falsch, weil es den Anteil der nicht-christlichen Religionen ver-
schweigt, der innerhalb der christlichen Ökumene weiterlebte und der
ständig von außen her in sie eindrang. Eine umfassende Sicht mit-
telalterlicher Religion muß daher beide Aspekte, den christlichen und
den nicht-christlichen, stets berücksichtigen. Wir beginnen mit dem
nicht-christlichen Anteil. Er zeigt sich im Weiterbestehen heidnischer
Vorstellungen und der jüdischen Religion, sowie in der neuhinzu-
kommenden islamischen Glaubenswelt.
11. KAPITEL:
DAS HEIDENTUM
SO WENIG DAS TOLERANZEDIKT Kaiser Konstantins das Ende
der nicht-christlichen Kulte im römischen Reich bedeutete, so wenig
führte die Taufe Chlodwigs kurz vor 500 zu einer sofortigen Christia-
nisierung der germanischen Völker, die das Christentum erst im Lau-
fe des Mittelalters angenommen haben, ein Vorgang, der sich bis
über die Jahrtausendwende hinzog; das gleiche gilt für die Völker im
östlichen und südöstlichen Europa. Das alte Christentum war eine
wesentlich städtische Religion; entsprechend verlief die Christianisie-
rung in den Siedlungsschwerpunkten schneller und dauerte länger
auf dem Lande. Aus städtischem Blickwinkel ist die umgebende
Landschaft lateinisch der pagus, auf Deutsch die Heide; deren Be-
wohner sind folglich die pagani, die "Heiden".
Die Betrachtung der keltischen, germanischen und slawischen
Kulte stellt uns vor ein schwieriges quellenkritisches Problem: wir be-
sitzen fast gar keine direkten Quellen aus heidnischer Zeit, sondern
nur christliche Texte, die über heidnische Mißbräuche berichten, sei
es in den Lebensbeschreibungen von Missionaren, sei es in Kapitu-
larien (staatlichen Vorschriften), die den Rückfall ins Heidentum unter
Strafe stellen und dabei einzelne, besonders verabscheuungswürdi-
ge Praktiken aufzählen.
Um ein Beispiel zu geben: das 3. Konzil von Toledo im Jahre
589, eine für die spanische Kirchengeschichte entscheidende Ver-
sammlung, verbietet u.a. Selbstkasteiungen bei Beerdigungen, die
Einführung von Tänzen und nicht-biblischen Gesängen in den Got-
tesdienst, die Arbeitsruhe am Donnerstag als heiligem Tag des Jupi-
ter und eine Vielzahl von Wahrsagetechniken. Ähnlich polemisiert zur
gleichen Zeit Martin von Bracara in einem Buch De correctione rusti-
corum – "Über die Verbesserung der Sitten der Bauern" – gegen Op-
ferfeuer an Steinen, Bäumen und Quellen, gegen das Schmücken
von Altären mit Lorbeer, gegen den Brauch, nur am Freitag als dem
heiligen Tag der Venus zu heiraten und Ähnliches mehr.
Über den keltischen Götterhimmel ist nur wenig bekannt, und
auch dies ist oft schon durch die Berührung mit römischen oder ger-
manischen Vorstellungen verunklärt; was heutige esoterische Kreise
und dergleichen über die keltischen Kulte zu wissen vorgeben, ist
reine Phantasie und kann daher außer Betracht bleiben. Auch über
die Druiden wissen wir so gut wie nichts zuverlässig; moderne "Drui-
den" sind Scharlatane. Sonnwendfeiern in Stonehenge sind schierer
Nonsense, zumal Stonehenge bereits ein Jahrtausend verlassen da-
lag, als die ersten Kelten überhaupt auf die Insel kamen.
Als oberster Gott der Kelten wird Taranis genannt, dargestellt
als menschenköpfiges Pferd. Als Kriegsgott gilt Teutates; sein Zei-
chen ist der Widder. Esus schließlich, der Gott mit den Mistelblättern,
ist für den Reichtum zuständig, jedoch pflegen sich die keltischen
Götter nie so genau an ihre Kompetenzen zu halten. In unserem Ge-
biet sind die keltischen Spuren weniger deutlich, jedoch gibt es im-
merhin eine Theorie, die die Bayern von einem keltischen Stamm der
Bojer abstammen läßt. Interessant ist vielleicht noch, daß sich unser
Wort Amt, mhd. ambet, ahd. ambaht, von einem keltischen Wort am-
baktos herleitet. Das gleiche gilt für das Wort reich, das über mhd.
rîch von keltisch rîks abstammt.
Die germanische Götterwelt dürfte Ihnen im Wesentlichen
bekannt sein; sie treibt ja, wenn auch verzerrt und mißverstanden, ihr
Unwesen in den Opern von Richard Wagner. Oberster Gott ist Wotan
(im Norden Odin genannt). Er ist zuständig für Licht, Luft und Wind,
aber auch für alles, was besonnen und mit Überlegung getan wird.
Von dort ist es nur noch ein Schritt bis zur List; deshalb ist Wotan
auch der Gott der Diebe. Überführte Diebe werden ihm, dem Wind-
gott, geopfert, indem man sie in luftiger Höhe aufhängt. Das Gegen-
stück zu Wotan ist Donar (im Norden Thor), der Gott mit dem Ham-
mer, der wild und unbesonnen um sich schlägt und den Donner er-
zeugt. Er kann aber auch gemütlich sein; dann sorgt er für den A
kerbau und die Kultur. Insgesamt ist Wotan mehr der Gott des Adels,
Donar der der kleinen Leute. Mit dem Krieg haben zwar alle germa-
nischen Götter zu tun, der eigentliche Kriegsgott ist aber Ziu, auch
Tiu, Er, Irmin oder Saxnot genannt. Nach Tiu ist der Dienstag be-
nannt, der auch Zinstag oder in Bayern Erchtag heißt. Berühmt war
der ihm geweihte heilige Baum, die Irminsul, die Karl der Große wäh-
rend der Sachsenkriege zerstören ließ.
An der Spitze der Göttinnen steht Frigg oder Freia, die Le-
bensgefährtin Wotans; sie wird auch Berchta oder Frau Holle ge-
nannt; als solche kennt man sie aus dem Märchen. Als "Mutter Erde"
verehrt man Nerthus oder Hertha. Erwähnenswert ist noch die Früh-
lingsgöttin Ostara, von der das christliche Osterfest seinen Namen
herleitet.
Der Kult der Götter fand, wie schon Tacitus in seiner Germa-
nia berichtet, nicht in festen Tempeln, sondern im Freien statt. (Zu
Tacitus ist noch anzumerken, daß dieser Autor bekanntlich keine ob-
jektive Darstellung beabsichtigte, sondern seinen dekadenten Zeit-
genossen die Germanen gewissermaßen als edle Wilde vorführen
wollte. Das Gegenstück zu ihm ist Cäsar, der Kelten und Germanen
zwar nach dem Motto "Viel Feind', viel Ehr' " als gefährlich, aber
auch als zivilisatorisch und kulturell minderwertig hinstellt.) Eine
wichtige Rolle bei den germanischen Kulthandlungen spielte als Op-
fertier und für rituelle Mahlzeiten das Pferd. Deshalb wurde in christ-
licher Zeit der Genuß von Pferdefleisch verpönt, was zu einer bis
heute andauernden Abneigung führte.
Die Nachrichten über die Religion der Slawen sind wieder
recht unbestimmt. Prokop von Cäsarea berichtet im 6. Jahrhundert
im 14. Kapitel des 3. Buches seiner Gotenkriege: "Sie glauben an ei-
nen einzigen Gott, den Blitze-schleuderer und alleinigen Herrn über
alles; ihm opfern sie Rinder und andere Tiere jeder Art. [...] Sie ver-
ehren außer-dem Flüsse, Nymphen und andere Gottheiten und brin-
gen auch ihnen insgesamt Opfer dar, denen sie dann ihre Weissa-
gungen entnehmen." Dieser oberste Gott wird Boh oder Perun ge-
nannt. Daneben gibt es gute und böse Dämonen: Diasi und Biesi,
sowie einige Götter geringeren Grades, von denen die Liebesgöttin
Prija oder Lada, eine Erdgöttin Ziwa und schließlich der Kriegsgott
Swatowit zu erwähnen sind. (Die Göttin Lada kennen Sie aus der Au-
tomobilindustrie.) Im Gegensatz zu den Germanen errichteten die
Slawen Tempelanlagen, die teilweise zum Mittelpunkt von Fluchtbur-
gen wurden. Anders als bei den Germanen sind bei den Slawen ent-
sprechend auch Götterbilder möglich:
Wenn sich nun ein germanisches oder anderes heidnisches
Volk zum Christentum bekehrte, so war dies keine Gewissensent-
scheidung des einzelnen, sondern eine politische Entscheidung des
Adels bzw. des Königs, der sich das Volk anzuschließen hatte; man
spricht von Gefolgschaftstaufe. Ein typisches Beispiel dafür ist die
Taufe Chlodwigs kurz vor 500. Ihrer hat sich auch die Legende be-
mächtigt: sie berichtet, dass der Teufel noch in letzter Minute ver-
suchte, das Ereignis zu torpedieren, indem er das bei der feierlichen
Taufe benötigte heilige Öl beiseite schaffte. Aber dann geschieht ein
Wunder und der Heilige Geist selbst bringt in Gestalt einer Taube
vom Himmel kommend das Öl:
Dieses ganz besondere Salböl in der Sainte Ampoulle wird später bei
der Königskrönung verwendet und verleiht dem französischen König
– und nur ihm! – eine ganz besondere Heiligkeit.
Überhaupt bedeutet die Annahme des Christentums nicht, daß
daraufhin das Heidentum verschwindet. Der neue Christ ist nicht et-
wa zu der Überzeugung gekommen, daß die heidnischen Götter gar
nicht existieren, sondern nur, daß der christliche Gott stärker ist. Es
ist etwa so, als wenn man einem Herrn die Gefolgschaft aufkündigt,
um zu einem anderen, mächtigeren Herrn überzuwechseln. Deshalb
kann es eigentlich nichts schaden, neben dem christlichen Gottes-
dienst die heidnischen Kulte zur Sicherheit weiterzubetreiben. Die
heidnischen Götter werden also in den Untergrund gedrängt, wo sie
als Dämonen und Teufel weiterleben, und als solche werden sie
auch an den romanischen Kirchen dargestellt.
Das Leben der Menschen ist also begleitet von einer ständi-
gen Bedrohung durch die Dämonen; zwar steht deren endliche Nie-
derlage fest, aber bis dahin kann noch manche Schlacht verloren
gehen. Die Abwehr der Dämonen und sonstigen finsteren Mächte
beginnt gleich bei der Taufe: bevor der Täufling in die christliche Kir-
che aufgenommen wird, wird zunächst der Teufel aus ihm ausgetrie-
ben. Interessanterweise ist in den frühmittelalterlichen Formeln dabei
nicht, wie heute, vom Satan die Rede, sondern es werden die ger-
manischen Götter, wie Wotan und Saxnot, namentlich genannt.
Schon deswegen war es sinnvoll, die Kinder früh zu taufen, damit der
Teufel gar nicht erst Zeit fand, sich wohnlich bei ihnen einzurichten.
Aber auch der Erwachsene ist ständig von Dämonen umgeben, die
nur darauf lauern, durch die Körperöffnungen in ihn einzudringen:
deshalb ist es auch zweckmäßig, beim Gähnen die Hand vor den
Mund zu halten.
Ein wichtiges Mittel der Kirche bei der Bekämpfung heidni-
scher Praktiken war die Umdeutung heidnischer Feste und Kultfor-
men in christlichem Sinn. Dies begann schon in der Antike mit der
Festlegung des Weihnachtsfestes auf den Tag des römisch-
heidnischen sol invictus, des unbesiegten Sonnengottes. Die germa-
nische Frühlingsgöttin Ostara gab dem Osterfest den Namen, die
Sonnwendfeiern wurden zum Johannisfeuer, heidnische Zauber-
sprüche zu christlichen Segensformeln usw. Die nähere Erforschung
solcher Umdeutungen und der dabei mitunterlaufenden Synkretis-
men fällt aber in die Zuständigkeit der Volkskunde oder, wie sie sich
neuerdings nennt, "europäischen Ethnologie". Besonders gern baute
man christliche Kirchen an die Stelle oder auf die Ruinen heidnischer
Kultstätten oder versah sie wenigstens mit christlichen Symbolen, so
z.B. die Externsteine im Teutoburger Wald.
Ein anderes Beispiel ist die römische Kirche S. Clemente, die über
ein Mithrasheiligtum gebaut wurde.
Bis sich das zunächst nur äußerlich angenommene Christen-
tum auch seinem geistigen Gehalt nach und nicht nur in der Stadt,
sondern auch auf dem flachen Land durchsetzte, verging eine ziem-
lich lange Zeit; endgültig dürfte dies erst im späten Mittelalter der Fall
gewesen sein. Um dieselbe Zeit war auch das ganze europäische
Gebiet christianisiert. Nur ganz oben, im äußersten Norden, ließ man
in Litauen noch ein paar Heiden übrig, denn die Prophezeiung sagte,
daß kurz vor dem Ende der Welt sich alle Völker auf Erden zu Chri-
stus bekehren würden. Die Heiden, die man in Litauen übrig ließ, wa-
ren also auch eine Rückversicherung gegen den Weltuntergang.
12. KAPITEL:
DAS JUDENTUM, I: DIE JÜDISCHE RELIGION
WIR KOMMEN JETZT zu den drei Religionen, die die Welt im Mittel-
alter entscheidend bestimmt haben und noch bis auf den heutigen
Tag bestimmen: Judentum, Christentum und Islam. (Das Wort religio
hat im Mittelalter übrigens eine andere Bedeutung als heute: es be-
zeichnet den Status als Mönch, aber das nur am Rande.) Von Reli-
gionen im Plural zu sprechen, wäre im Mittelalter ganz undenkbar: es
gibt in damaliger Auffassung nur eine Religion, die eigene; alles an-
dere ist Häresie oder Ketzerei, Unglaube oder Renegatentum. Das
bedeutet natürlich nicht, daß man sich gegenüber dem Ketzer nicht
friedfertig verhalten kann, und über lange Jahrhunderte des Mittelal-
ters ist dies auch geschehen.
Die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam unter-
scheiden sich von den heidnischen Religionen durch ihren strengen
und absoluten Monotheismus. Judentum und Islam sehen darüber
hinaus eine unüberwindliche Schranke zwischen Gott und den Men-
schen, während nach christlicher Auffassung Gott selbst diese
Schranke durch die Menschwerdung Christi durchbrochen hat. Alle
drei Religionen unterscheiden sich dadurch grundlegend von der an-
tiken Auffassung, nach der der Mensch aus eigener Kraft in den Göt-
terhimmel aufsteigen kann.
In den folgenden Kapiteln will ich die Grundzüge dieser drei
Religionen in ihrer historischen Existenz darstellen; der Historiker
muß sich dabei einer Stellungnahme zur Wahrheit der jeweiligen
Lehre enthalten oder, wo er eine solche Stellungnahme abgibt, sie
deutlich als solche bezeichnen. Ich spreche aus praktischen Grün-
den zuerst über Judentum und Islam und lasse das Christentum, das
mehrere Kapitel in Anspruch nimmt, als drittes folgen.
Das Kapitel über das Judentum, das also jetzt beginnt, besteht
aus zwei Teilen: der erste behandelt die jüdische Religion, der zweite
das Verhältnis zwischen Juden und Christen im Mittelalter.
Die jüdische Religion im Mittelalter unterscheidet sich deut-
lich von dem, was uns aus der Bibel über das vorchristliche Israel
bekannt ist; auf diesen (den in der Bibel dargestellten) Aspekt der jü-
dischen Geschichte kommen wir zurück, wenn wir uns im 18. Kapitel
mit der Bibel befassen. Die Unterschiede betreffen selbstverständlich
nicht den Inhalt der Lehre, die unveränderlich ist, sondern die Praxis
und die äußeren Formen. Mit der Zerstörung des Tempels im Jahre
70 n. Chr., vollends aber mit der Niederschlagung des Aufstandes
des Bar-Kochba 135 n. Chr., endet die Existenz eines jüdischen
Staates in Palästina und beginnt die "Zerstreuung" der Juden über
die Erde, die Diaspora.
Dieser Prozeß wurde wesentlich beschleunigt durch die Ge-
setze des Kaisers Justinian, der 537 den Juden das römische Bür-
gerrecht entzog und Lehre und Gottesdienst innerhalb der Reichs-
grenzen verbot – Gesetze, die fast auf das Jahr genau 1400 Jahre
später erneuert wurden. (Ich meine die sog. Nürnberger Gesetze von
1938.) Durch die Gesetze von 537 beschleunigte sich die Auswande-
rung vor allem nach Mesopotamien, wo noch aus der Zeit der baby-
lonischen Gefangenschaft jüdische Gemeinden bestanden. Die Ju-
den genossen dort im neupersischen Reich und später unter der
Herrschaft des Islam eine Art halber Selbständigkeit unter einem
Oberhaupt, dem Exilarchen.
Die Gemeinden im Westen waren zunächst weniger bedeu-
tend, wenn es auch schon sehr früh eine jüdische Gemeinde in Rom
gab, und mit den römischen Legionen dürften auch einige jüdische
Händler in die Gegenden nördlich der Alpen gekommen sein. Seit
dem Ende des 9. Jahrhunderts wanderten die nordafrikanischen Ju-
den nach Spanien aus; von dort kamen sie im 13. Jahrhundert in
großer Zahl über Frankreich nach Deutschland und seit dem 15.
Jahrhundert nach Osteuropa.
Der Verlust des eigenen Staates bedeutete das Ende des Op-
ferdienstes im Tempel zu Jerusalem und das Ende eines eigenen
Priestertums. Zentrum des religiösen Lebens werden jetzt das Ver-
sammlungshaus, die Synagoge, und die Schule, in der die religiösen
Vorschriften gelehrt werden. Beide sind baulich miteinander verbun-
den, so daß man im Mittelalter die Synagoge auch ganz einfach als
"Judenschule", schola Iudeorum, bezeichnet. Ein jüdischer Gottes-
dienst kann nur stattfinden, wenn zehn erwachsene Männer anwe-
send sind, was bei den heutigen jüdischen Gemeinden in Deutsch-
land oft Probleme bereitet; die Frauen besuchen die Synagoge ent-
weder gar nicht, oder sie wohnen dem Gottesdienst von einer Empo-
re aus bei. Neben der Synagoge ist aber auch die Familie Ort des
Gottesdienstes. Dieser Gottesdienst ist nunmehr ein reiner Gebets-
gottesdienst in Form von Lesungen aus der Bibel und Gesang von
Psalmen und anderen Gebeten, aber auch Erläuterung dieser Texte,
wenn ein Lehrer, ein Rabbi, anwesend ist. Im Prinzip aber ist jeder
Jude berechtigt und verpflichtet, sich selbst in das Studium des Ge-
setzes zu vertiefen.
Das Gesetz ist für den Juden zunächst die Tora, d.h. das ge-
samte Alte Testament, vorzüglich aber die fünf Bücher des Moses.
Die Tora ist nach antikem Brauch in Rollenform geschrieben, die in
kostbaren Behältern geschützt und im Tora-Schrein in der Synagoge
aufbewahrt werden. Hier ein Beispiel; Sie sehen auch den Lesezei-
ger, weil die Torarolle nicht mit den Fingern berührt wird:
Zur Tora kommt aber die mündliche Überlieferung, Midrasch,
hinzu, die im Jahre 200 n. Chr. als CFCFMischna niedergeschrieben
wurde. Zur Mischna entstand im Laufe der Zeit ein umfänglicher
Kommentar in Form von Erläuterungen, Anwendungsbeispielen, aber
auch Legenden, Erzählungen und Abschweifungen verschiedenster
Art. Dieser Kommentar heißt Gemara, und beides zusammen,
Mischna und Gemara, bildet den Talmud.
Der Talmud liegt in zwei Fassungen vor, dem Palästinensi-
schen oder Jerusalemer Talmud, der weniger umfangreich und auch
weniger bedeutend ist, und dem Babylonischen Talmud. Der Babylo-
nische Talmud wurde 500 n. Chr. redigiert und umfaßt in der maßge-
benden Edition fast 3000 Folioseiten. Er ist in 6 Ordnungen einge-
teilt, jede Ordnung in Traktate, jeder Traktat in Abschnitte und jeder
Abschnitt in einzelne Mischnas, also Kapitel. Die 1. Ordnung heißt
"Aussaat" und regelt die Abgaben der Landwirtschaft an den Tempel
usw. Die 2. Ordnung heißt "Festzeiten". Die 3. Ordnung heißt "Frau-
en" und regelt das Familienrecht. Die 4. Ordnung heißt "Schädigun-
gen" und enthält das Straf- und Zivilrecht. Die 5. Ordnung heißt "Hei-
ligtümer", die 6. "Reinigungen"; sie befassen sich mit dem Tempel-
gottesdienst. Bei allen Texten des Talmud unterscheidet man noch
zwischen rechtlichen und erzählenden Passagen. Die rechtlichen
heißen Halacha, die erzählenden Haggada.
Der Talmud, also Mischna und Gemara, wurden im Mittelalter
weiter kommentiert. Der wichtigste Kommentar ist der des Rabbi Sa-
lomo ben Isaak, genannt "Raschi", der im 11. Jahrhundert in Frank-
reich lebte. Die Glossen der übrigen Kommentatoren bezeichnet man
als Tosafot. Die mittelalterlichen Handschriften und ebenso die mo-
dernen Editionen setzen den Text des Talmud in die Mitte der Seite,
wobei auf einige Zeilen Mischna gewöhnlich mehrere Seiten Gemara
folgen; die mittelalterlichen Kommentare werden um den talmudi-
schen Text herumgruppiert, wobei der des Raschi auf der Innenseite
des Blattes, die Tosafot-Glossen am Außenrand geschrieben wer-
den.
Wenn wir jetzt auf die jüdischen Festtage eingehen, so ist an
erster Stelle die Feier des Sabbats zu nennen. Das Wort "feiern" ist
hier ganz wörtlich zu nehmen, denn so, wie Gott bei der Schöpfung
am siebten Tage ausruhte, so ruht auch der gläubige Jude am Sab-
bat von aller Tätigkeit. Zuvor wird aber am Ende des Freitagabend-
Gottes-dienstes der Sabbat empfangen; dies geschieht durch ein be-
sonderes Gebet, bei dem sich alle der Türe zuwenden, durch die der
Sabbat gewissermaßen wie ein Gast hereinkommt. Der Sabbat be-
ginnt mit Sonnenuntergang, wie das im Mittelalter – auch bei Chri-
sten und Muslimen – allgemein üblich war. Während des Sabbat sind
alle Tätigkeiten verboten, z.B. auch das Feueranzünden, und sei es
nur zum Essen kochen, das deshalb schon am Vortag vorbereitet
wird.
Als kleinere Feste gelten die jeweiligen Monatsersten. Der jü-
dische Kalender ist ein Mondkalender, der durch den Einschub von
Schaltmonaten mit dem Sonnenkalender koordiniert wird. Die Namen
der Monate sind Tischri, Marcheschwan, Kislev, Tebeth, Schebat,
Adar, Nisan, Ijjar, Sivan, Tammuz, Ab und Elul. Der Monat reicht von
Neumond zu Neumond und dauert daher 29 oder 30 Tage. Sein Be-
ginn wurde in älterer Zeit durch direkte Beobachtung festgestellt. Da
man den nicht sichtbaren Mond jedoch nicht beobachten kann, gilt
als erster Tag des Monats derjenige Tag, an dem nach der Phase
der Unsichtbarkeit die erste schmale Mondsichel zu sehen ist; das ist
übrigens die ursprüngliche Bedeutung des Wortes "Neu"mond. Der
Beginn des Monats wurde durch den Sanhedrin, also den Hohen
Rat in Jerusalem, verkündet, der zu diesem Zweck zusammentrat
und die Zeugen verhörte, die den Mond gesehen zu haben erklärten.
Besonders wichtig war die Feststellung des Monatsersten am
Neujahrstag. Der Beginn des neuen Jahres im Herbst, am 1. Tischri,
wird durch den Klang eines Widderhorns, des Schofar, verkündet;
der Neujahrstag bildet den Beginn einer zehntägigen Bußzeit, die ih-
ren Höhepunkt in einem 24-stündigen Fasten am 10. Tischri, dem
Versöhnungsfest, hebräisch Yom Kippur, findet. Der Yom Kippur gilt
als das höchste jüdische Fest.
Von etwas geringerer Bedeutung ist das Chanukka-Fest, das
an die Wiedereinweihung des Tempels nach der Rückkehr aus dem
babylonischen Exil und der Abwehr der seleukidischen Assimilati-
onsversuche 164 v. Chr. erinnert;es dauert acht Tage und wird unter
anderem dadurch gefeiert, daß auf einem Leuchter jeden Tag eine
Kerze mehr angezündet wird, ähnlich wie bei den Christen im Ad-
vent. Hier ein Chanukka-Leuchter
Besonders reizvoll ist die Feier des Pascha oder Pessach, das
am Frühlingsvollmond, dem 14. Nisan, beginnt und ebenfalls 8 Tage
dauert. Beim Pascha-Mahl in der Familie entspinnt sich ein Dialog
zwischen dem Familienvater und dem jüngsten Teilnehmer, der wis-
sen will, warum denn in dieser Nacht alles so ganz anders ist als
sonst. Der Familienvater trägt daraufhin die Erzählung vom Auszug
aus Ägypten vor und erklärt dabei, daß das ungesäuerte Brot an die
Eile des Aufbruchs erinnert, die bitteren Kräuter an die Bitterkeit der
Sklaverei usw. Es ist auch üblich, beim Pascha-Mahl einen zusätzli-
chen Becher Wein in die Mitte des Tisches zu stellen und einen Stuhl
frei zu lassen, denn es könnte ja sein, daß in dieser Nacht der Pro-
phet Elias erscheint und als Vorläufer des Messias am Mahl teilneh-
men will. Im Glauben an den Messias sind sich die Juden mit den
Christen einig, nur daß diese eben glauben, daß der Messias bereits
erschienen sei, während die Juden ihn noch erwarten.
13. KAPITEL:
DAS JUDENTUM II: DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN JUDEN UND
CHRISTEN IM MITTELALTER
ICH HABE OBEN SCHON DARAUF hingewiesen, daß die Gesetze
Kaiser Justinians von 537 auf eine völlige Beseitigung der jüdischen
Religion hinzielten. Im Westen Europas hatten sie indes nur geringe
Bedeutung, da schon bald nach dem Tode Justinians die byzantini-
sche Machtstellung in Italien durch den Langobardensturm zusam-
menbrach; jedoch blieben seine Gesetze gewissermaßen als juristi-
sches Arsenal im Hintergrund immer vorhanden.
In den germanischen Staaten genossen die Juden, von Aus-
nahmen abgesehen, weitgehende Toleranz, da nach germanischer
Auffassung jedermann bei dem Rechte blieb und nach dem Recht zu
leben hatte, in das er hineingeboren war, die Juden eben nach jüdi-
schem Recht. Von dieser Auffassung profitierte übrigens auch die
christliche Kirche, die bei ihrem Recht und ihrer Sprache, nämlich
dem römischen Recht und der lateinischen Sprache, belassen wur-
de. Selbstverständlich gab es Bekehrungsversuche, aber sie erfolg-
ten mit den Mitteln, die auch uns heute als die einzig zulässigen er-
scheinen, nämlich durch Überzeugung und Vorbild. Nach Deutsch-
land kamen Juden im Gefolge der römischen Truppen; erstmals er-
wähnt sind sie im Jahre 321 in einem Dekret Kaiser Konstantins für
die Juden in Köln.
Es gibt eine Reihe von Berichten über Diskussionen zwischen
Christen und Juden. So berichtet z.B. Bischof Gregor von Tours im 5.
Kapitel des 6. Buches seiner fränkischen Geschichte, wie er im Jahre
581 bei König Chilperich zufällig mit einem Juden namens Priscus
zusammentraf; der König, der Priscus sehr gewogen ist, will die Ge-
legenheit nutzen und ihn taufen lassen. Der Jude aber weigert sich,
und nun versuchen zuerst der König selbst, dann der Bischof ihn in
einem längeren Streitgespräch zu überzeugen, wobei sie sich auf Zi-
tate aus dem Alten Testament berufen, während Priscus eher ratio-
nalistisch argumentiert. Die Diskussion bleibt ergebnislos, ohne daß
dem Juden zunächst ein Nachteil daraus entsteht. Die Geschichte
hat allerdings ein unschönes Nachspiel, denn 12 Kapitel später be-
richtet Gregor von Tours, daß ein getaufter Jude namens Pathir den
Priscus an einem Sabbat überfällt und erschlägt, ohne allerdings der
Strafe für diese Tat zu entgehen, obwohl er sich in eine Kirche flüch-
tet.
In anderen Fällen glückte der Bekehrungsversuch, wie es üb-
rigens während des ganzen Mittelalters auch spektakuläre Fälle von
Konversionen von Christen zum Judentum gab, so z.B. Bodo, der
Beichtvater Karls des Großen. In späterer Zeit wurde vor ganzen Ju-
dengemeinden über den christlichen Glauben gepredigt, wobei die
Teilnahme nicht immer nur freiwillig war. Der Erfolg dieser Predigten
war aber vor allem dann gering, wenn, was vorkam, zur gleichen Zeit
die Häuser der Juden geplündert wurden.
Zur Karolingerzeit und auch im 10. und 11. Jahrhundert blie-
ben die Juden weitgehend unbehelligt. Um diese Zeit wurde es üb-
lich, daß die Könige einzelne Juden und später auch ganze Gemein-
den in ihren Schutz aufnahmen und ihnen Schutzbriefe ausstellten.
Schutz bedeutet im Mittelalter aber stets auch Herrschaft, und im
Falle des Judenschutzes bedeutete dies vor allem eine Steuer, die
von den Juden an den König zu entrichten war. In der Landfriedens-
gesetzgebung, die seit der Zeit Heinrichs IV. ihren Anfang nahm,
zählten die Juden neben Frauen und Klerikern zu den befriedeten
Personen, die auf keinen Fall angegriffen werden durften, auch nicht
in einer ansonsten zulässigen Fehde. Unter Friedrich II. wird 1236
der Judenschutz systematisiert: die Juden gelten jetzt als Kammer-
knechte (servi camere) des Reiches, die somit persönlich unfrei und
dem Kaiser zinspflichtig sind. Dieser finanzielle Aspekt bildet das Ju-
denregal; unter einem Regal versteht man ein nur dem König zuste-
hendes Recht. Das Judenregal wird aber, ebenso wie das Bergregal
oder das Münzregal, oft an die Fürsten und Städte verpfändet.
Eine dramatische Verschlechterung erfuhr die tatsächliche
Stellung der Juden mit dem Beginn der Kreuzzüge. Die Kreuzzugs-
begeisterung brachte als dunkle Kehrseite eine bisher nicht gekannte
Judenfeindschaft mit sich, und zwar vor allem unter den einfachen
und ungebildeten Teilnehmern. Nicht zufrieden damit, ins Hl. Land zu
ziehen, wollten sie die Feinde Christi schon in der Heimat bekämp-
fen, und da boten die jüdischen Gemeinden ein geeignetes Objekt
für ihren Eifer. (Ich halte es übrigens für wahrscheinlich, daß diese
ungebildeten Leute gar nicht zwischen Moslems und Juden unter-
scheiden konnten und in den jüdischen Gemeinden islamische Au-
ßenposten in Europa sahen.) So kommt es, daß die Wege der
Kreuzheere von Pogromen an den Juden begleitet waren, gegen die
die lokalen Autoritäten, Fürsten und Bischöfe, machtlos waren. so
sehr sie sich in der Regel auch bemühten, die Juden zu schützen.
(Das Wort "Pogrom" kommt, beiläufig bemerkt, aus dem Russischen
und bedeutet soviel wie Zertrümmerung; man ist immer geneigt,
"Progrom" zu sprechen und zu schreiben, als ob es ein griechisches
Wort wäre, aber das ist falsch.)
Die zunächst völlig diffuse Judenfeindschaft konkretisierte sich
gegen Ende des 12. Jahrhunderts in zwei Beschuldigungen, die seit-
dem immer wieder erhoben wurden, der des Ritualmordes und der
des Hostienfrevels. Beide Beschuldigungen beruhen auf dem Ge-
danken, daß die Juden, die Christus schon einmal gekreuzigt haben,
diesen "Gottesmord" stets aufs Neue wiederholen, indem sie entwe-
der Christenknaben entführen und zu Tode quälen oder indem sie
konsekrierte Hostien entwenden und verspotten. Kaiser Friedrich II.
ließ diese Vorwürfe untersuchen, wobei als Zeugen Juden vernom-
men wurden, die zum Christentum konvertiert waren, also eine
Gruppe, die selbst das größte Interesse daran haben mußte, Negati-
ves über ihren früheren Glauben auszusagen; trotzdem erwiesen
sich die Vorwürfe als völlig haltlos. Sie wurden aber bis in die Neuzeit
immer wieder erhoben; auch in Passau gab es einen spektakulären
Fall.
Die vermeintlichen Opfer solcher Frevel konnten sogar als
Märtyrer verehrt und dadurch Anziehungspunkt christlicher Wallfahr-
ten werden. Ein uns naheliegendes Beispiel ist die sog. Deggendor-
fer Gnad, in deren Zentrum eine angebliche Hostienschändung von
1338 steht (wobei sich die mißhandelten Hostien dann als wundertä-
tig erwiesen hätten), was wiederum zu einem Pogrom an den Deg-
gendorfer Juden führte. Die sich daraufhin entwickelnde Wallfahrt
war, gefördert durch eine Ablaßverleihung Papst Innozenz' VIII.,
während der ganzen Neuzeit außerordentlich beliebt und zog Pilger
bis aus Prag und Budapest an. Ihren Höhepunkt fand sie in der
Gnad-Woche vom 29. September bis 4. Oktober, die im 19. Jahr-
hundert auch der wirtschaftliche Höhepunkt des Jahres war. Die
Wallfahrt wurde erstaunlicherweise bis 1991 durchgeführt; erst 1992
hat sie der zuständige Regensburger Bischof abgeschafft.
Zu den geschilderten religiösen oder religiös veranlaßten Dif-
ferenzen kam aber – wie soeben schon angedeutet – im Mittelalter
noch ein wirtschaftliches Motiv hinzu, das kanonische Zinsverbot.
Im 5. Buch Moses heißt es in Kap. 23 Vers 19-20: "Deinem Bruder
sollst du kein Geld, keine Lebensmittel und keine andere Sache ge-
gen Zins ausleihen, sondern nur dem Fremden; deinem Bruder aber
sollst du ohne Zins das gewähren, was er braucht." Dieses Gebot ist
von der christlichen Kirche übernommen worden, so daß weder Ju-
den untereinander noch Christen untereinander, wohl aber Juden
von Christen und Christen von Juden Zinsen nehmen durften. Als
Kreditgeber für Christen kamen also nur Juden in Frage, und da sol-
che Kredite mit einem hohen Risiko verbunden waren, wurden auch
entsprechend hohe Zinssätze verlangt. Dies wurde dann als Wucher
gedeutet, zumal der Jude ja von seinen eigenen Glaubensbrüdern
überhaupt keine Zinsen nahm. Warum der in Not geratene Christ
nicht von seinen eigenen Glaubensgenossen durch einen zinslosen
Kredit unterstützt wurde, wurde gewöhnlich nicht erörtert.
Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts kam es zu Judenaustrei-
bungen aus ganzen Ländern, so 1290 aus England, 1306 aus Frank-
reich. Viele der aus Frankreich und England vertriebenen Juden ka-
men nach Deutschland, wo sie die durch die Pogrome dezimierten
Gemeinden wieder auffüllten. Wirklich verzweifelt wurde ihre Lage
dann während der großen Pestepidemie in der Mitte des 14. Jahr-
hunderts, die man als den Schwarzen Tod bezeichnet. In der Zeit
von 1347 – 1354 wurden in Deutschland 350 jüdische Gemeinden
vernichtet, da man die Juden beschuldigte, die Pest durch Vergiften
der Brunnen verursacht zu haben.
Einer besonderen Erwähnung bedarf die Lage der Juden in
Spanien. Man sagt gewöhnlich, daß die spanischen Juden unter is-
lamischer Herrschaft Glaubensfreiheit genossen hätten, während sie
nach der Reconquista in den christlichen Königreichen verfolgt wor-
den seien. Das ist so nicht richtig, vielmehr verläuft die Entwicklung
weitaus komplizierter. Es ist wahr, daß zur Westgotenzeit, also vor
711, ein sich ständig verschärfender, religiös motivierter Antisemitis-
mus zu beobachten ist, der am Ende auf eine vollständige Auslö-
schung des jüdischen Glaubens hinzielte. Deshalb waren die spani-
schen Juden nicht unglücklich über die islamische Eroberung, und
sie genossen bis gegen Ende des 11. Jahrhunderts eine unange-
fochtene, gegenüber den Christen unter islamischer Herrschaft zum
Teil sogar privilegierte Stellung.
Dies änderte sich, als von 1085 an die Dynastien der Almora-
viden und Almohaden im islamischen Spanien die Macht übernah-
men. Die religiöse Einstellung dieser Dynastien muß man als intole-
rant und fundamentalistisch bezeichnen; die Folge war eine zuneh-
mende Unterdrückung sowohl der Christen als auch der Juden. Des-
halb flohen zahlreiche Juden in die bereits rechristianisierten Gebie-
te; dort waren sie hochwillkommen, denn die christlichen Königreiche
hatten große Probleme, die wiedereroberten Gebiete zu besiedeln,
und benötigten gebildete Verwaltungsfachleute.
Die Situation änderte sich erneut, als um die Mitte des 13.
Jahrhunderts die Reconquista praktisch beendet war. Nunmehr be-
ginnen in den christlichen Gebieten judenfeindliche Strömungen, die
zu versuchten Zwangsbekehrungen führten. Während des kastili-
schen Bürgerkrieges im 14. Jahrhundert werden die Juden in die
Rolle des Sündenbockes gedrängt. Den Höhepunkt bildete ein gro-
ßes Pogrom im Jahre 1391, bei dem die Juden teils getötet, teils
zwangsgetauft wurden und von dem sich die Gemeinden nie wieder
erholen konnten.
Die zum Christentum übergetretenen Juden bezeichnete man
als conversos. Die conversos wurden aber, entgegen der christlichen
Lehre, nicht als vollwertige Christen angesehen, sondern man ver-
dächtigte sie, heimlich weiterhin ihrem früheren Glauben anzuhän-
gen und das Christentum nur äußerlich zu praktizieren; in derselben
Weise verdächtigte man die zum Christentum übergetretenen Mos-
lems. Als Christen unterstanden die conversos auch der Inquisition,
die die entsprechenden Beweise lieferte. Die Folge waren staatliche
Restriktionen gegen die conversos im Jahre 1449, die zwar sofort
vom Papst für ungültig erklärt, aber dennoch durchgeführt wurden.
Die limpieza de sangre, die "Reinheit des Blutes", wurde zum maß-
gebenden Faktor für die soziale und rechtliche Stellung der Spanier;
mit "Reinheit des Blutes" ist gemeint, daß sich unter den Vorfahren
kein Jude oder Moslem befand. Die nicht-konvertierten Juden, deren
Zahl nicht mehr sehr groß war, wurde dann zwischen 1484 und 1498
von der ganzen iberischen Halbinsel vertrieben; die mindere Rechts-
stellung der conversos blieb bis ins 18. Jahrhundert erhalten.
Die Vorgänge in Spanien sind das erste Beispiel eines nicht
mehr religiös, sondern rassisch motivierten Antisemitismus, wie er für
die Neuzeit, vor allem für das 19. und 20. Jahrhundert, charakteri-
stisch ist. Die scheinwissenschaftlichen Begründungen biologischer
Art sind allerdings dem Mittelalter fremd. Trotzdem besteht ein Zu-
sammenhang, denn im Mittelalter fanden die neuzeitlichen Rassisten
die angeblichen historischen Beweise ihrer Thesen, etwa in der
Frage des Geldverleihs, und etliche einflußreiche Historiker waren
maßgebend an der Ausbildung des modernen Antisemitismus betei-
ligt.
14. KAPITEL:
DER ISLAM
DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN Christentum und Islam war bis ins
hohe Mittelalter hinein von gegenseitiger Unkenntnis geprägt. In By-
zanz sah man den Islam zunächst als christliche Häresie an. In
Westeuropa lief sogar das Gerücht um, Mohammed sei eigentlich ein
römischer Kardinal gewesen, der aus unbefriedigtem Ehrgeiz seine
christlichen Brüder vom rechten Glauben abbrachte. Nach anderen
Gerüchten beteten die Araber drei Götzen mit Namen Apollin, Terva-
gan und Mahumet an. Die schnelle Ausbreitung des Islam im 7.
Jahrhundert war aus christlicher Sicht eigentlich nur in eschatologi-
schen Kategorien zu verstehen, wie Sie sich aus dem 2. Kapitel erin-
nern. Umgekehrt glaubte sich der Muslim so sehr im Besitz der end-
gültigen Wahrheit, daß er gar keinen Anlaß fand, sich mit christlichen
Auffassungen zu beschäftigen, die er außerdem auch nur in häreti-
scher Verzerrung kennenlernte; so hält sich hartnäckig die Bezeich-
nung der Christen als Drei-Götter-Anbeter.
Die Kreuzzüge brachten näheren Kontakt. Der Abt von Cluny,
Petrus Venerabilis, beschäftigte sich mit dem Islam und ließ um die
Mitte des 12. Jahrhunderts den Koran ins Lateinische übersetzen. Im
Spätmittelalter ist das Verhältnis zum Islam dann vom Vordringen der
Türken und der Eroberung Konstantinopels 1453 bestimmt. Dennoch
bleibt das islamische Gebiet während des ganzen Mittelalters nicht
nur die dunkle, sondern auch die verlockende Gegenwelt zum
Abendland, gekennzeichnet von raffiniertem Luxus, vergitterten Ha-
rems und überhaupt allen Geheimnissen aus 1001 Nacht.
Ich möchte Ihnen im Folgenden etwas nüchterner die Entstehung
und Entwicklung des Islam und seine Glaubenslehre kurz skizzieren;
dabei gehe ich von der vielleicht etwas arroganten Vorstellung aus,
daß Ihnen daran all das neu sein wird, was auch mir bei der Vorbe-
reitung dieses Kapitels neu war. [N.B.: arabische Wörter sind nicht
korrekt, sondern computergerecht transkribiert.]
Das Wort islam bedeutet Unterwerfung, und zwar Unterwer-
fung unter den Willen Gottes. Seine Anhänger nennen sich selbst
muslim (gottergeben); die Bezeichnung Mohammedaner wird von
den Muslimen abgelehnt, da ihre Beziehung zu ihrem Propheten eine
wesentlich andere ist als die der Christen zu Christus. Der Name des
Propheten wird in den verschiedenen Sprachen jeweils anders arti-
kuliert: im Deutschen meist Mohammed, im Französischen Mahomet,
im Türkischen Mehmet. Ich verwende im Folgenden die Form, von
der ich vermute, daß sie die ursprüngliche arabische ist: Muhammad.
Der Islam beruht auf den Offenbarungen, die eben dieser Mu-
hammad, Sohn des Abd-Allah und der Amin-bint-Wahb aus Mekka in
Arabien, nach seinen eigenen Angaben in der Zeit von etwa 610–632
erhalten hat. Muhammad ist um 579 in Mekka geboren. Er stammte
aus der Schicht der mittleren Kaufleute und stand somit in natürli-
chem Gegensatz zu den mekkanischen Großkaufleuten, die später
seine erbittertsten Feinde wurden. Früh verwaist, trat er in die Dien-
ste einer reichen Witwe, Chadidscha, in deren Auftrag er Karawa-
nenreisen nach Syrien durchführte. Wenig später heiratete er Cha-
didscha, die ihm mehrere Kinder schenkte, darunter seine Lieblings-
tochter Fatima.
Chadidscha war es auch, die ihn ermutigte, als er um 610 sei-
ne erste Offenbarung hatte. Nachdem er eine Zeit lang seine Lehre
nur im privaten Kreis vorgetragen hatte und nach einer Offenba-
rungspause von einigen Jahren, die ihn sehr beunruhigte, trat Mu-
hammad um 613 in Mekka öffentlich hervor. Ein wesentlicher Punkt
seiner Lehre war die Aufforderung, mit seinem Vermögen großzügig
umzugehen und ohne Geiz reichlich Almosen zu geben. Dadurch ge-
riet er in Konflikt mit der herrschenden Schicht der mekkanischen
Großkaufleute, deren Reichtum gerade darauf beruhte, daß sie ihren
Besitz für sich behielten; sein Hauptopponent war ein gewisser Abu-
Dschahl. Religiöse Gründe spielten neben diesen wirtschaftlichen
Motiven offenbar nur eine geringere Rolle. Die religiöse Situation im
damaligen Arabien wird als blaß und unbestimmt beschrieben. Ne-
ben lokalen Kulten einzelner Idole kamen die reichen Handelsherren
offenbar immer mehr zu der eher materialistischen Auffassung, ihr
Schicksal in die eigenen Hände nehmen zu können. Den lokalen
Gottheiten wurde zwar die Fähigkeit zugeschrieben, bei einem über
ihnen stehenden, höheren Gott Fürsprache einzulegen, aber dieser
Gott, der wohl auch als Allah bezeichnet wurde, blieb weitgehend
unbestimmt.
Im Jahre 622 hatten die Schwierigkeiten, die die mekkanische
Opposition, an ihrer Spitze Abu-Dschahl, Muhammad machten, ein
solches Maß erreicht, daß er und seine Anhänger nach Medina aus-
wanderten. Dieses Ereignis, die berühmte Hidschra, von der die
muslimische Zeitrechnung ihren Ausgangspunkt nimmt, hatte nur teil-
weise den Charakter einer Flucht, da die Bevölkerung von Medina
Muhammad aufgrund seines Rufes als Prophet zum Schiedsrichter
in ihren internen Streitigkeiten bestellt hatte. Darüber hinaus wurde
er aber bald auch der politische Führer von Medina. Die Spannungen
mit Mekka, die Muhammad durch einen Überfall auf eine mekkani-
sche Karawane im Jahre 624 während einer Zeit, die unter religiö-
sem Friedensgebot stand, noch absichtlich verschärfte, entluden sich
in der Schlacht bei Badr am 19. März 624, die Muhammad einen
vollständigen Sieg brachte. Nach weiteren Auseinandersetzungen
konnte er 630 kampflos in Mekka einziehen, ehe er 632 starb.
Das heilige Buch des Islam ist der Koran, die Sammlung der
Muhammad zuteilgewordenen Offenbarungen. Von Allah selbst ver-
faßt, wurde er in einer einzigen Nacht, der laylat al-qadr, von den
Engeln in die unterste Sphäre des Himmels gebracht und von dort
aus stückweise Muhammad geoffenbart. Seine Texte sind also nach
islamischer Auffassung unmittelbar Gottes Wort, nicht menschliche
Erfindung, und dürfen deshalb auch nicht in andere Sprachen über-
setzt werden. Nur einmal gelang es dem Satan, Muhammad einen
falschen Vers einzugeben, den dieser zunächst für echt hielt, später
aber wieder aus dem Text tilgte. (Sie sehen beiläufig, was es mit den
"satanischen Versen" auf sich hat.)
Der Koran, so, wie er heute vorliegt, ist aber erst ungefähr
zwei Jahrzehnte nach Muhammads Tod, wahrscheinlich zwischen
650 und 656, aufgezeichnet worden. Bis dahin wurden nur einzelne
Teile niedergeschrieben, andere lediglich mündlich weitergegeben.
Aber auch diese Weitergabe kann als recht zuverlässig gelten, da die
Texte ständig beim Gottesdienst öffentlich rezitiert wurden. Allerdings
hat die moderne Textkritik festgestellt, daß der Wortlaut an einigen
Stellen auch noch nachträglich geändert worden ist. Der gesamte
Text ist in 114 Suren gegliedert, die in Verse unterteilt sind. Die Su-
ren sind der Länge nach geordnet, wobei die längste Sure am An-
fang, die kürzeste am Schluß steht. Diese Anordnung entspricht aber
nicht etwa der zeitlichen Reihenfolge, in der die Suren geoffenbart
wurden, sondern ist völlig willkürlich; es ist sogar nicht einmal be-
kannt, welche Sure die älteste ist. Die moderne Forschung hat dar-
über hinaus festgestellt, daß auch die Suren keine Einheit darstellen,
sondern oft aus chronologisch disparaten Stücken zusammengesetzt
sind. Allerdings werden unter dem Vorzeichen des islamischen Fun-
damentalismus textkritische Untersuchungen am Koran zunehmend
schwieriger und gefährlicher.
Der Inhalt des Korans ist sehr vielfältig. Neben den Glaubens-
sätzen enthält er eine Fülle rechtlicher Bestimmungen, so zum
Erbrecht, Eherecht und Strafrecht, und eine Reihe von Erzählungen
und Legenden, vor allem über frühere Völker, die den zu ihnen ge-
sandten Propheten nicht geglaubt haben und deshalb von Allah ver-
nichtet wurden. All dies ist mit poetischem Schwung in gereimter
Prosa vorgetragen, unter häufiger Verwendung seltener Ausdrücke,
die der Interpretation große Schwierigkeiten bereiten. Zudem ist der
Text inzwischen weit über 1000 Jahre alt und deshalb weit von der
heutigen Sprachgestalt entfernt; eine Übertragung in heutiges Ara-
bisch gilt aber als unzulässig, da es sich ja um die direkte göttliche
Offenbarung handele. Die Situation ist etwa so, als ob uns die Bibel
nur auf Althochdeutsch vorläge. Eine Interpretation durch die Schrift-
gelehrten ist also unabdingbar, und Interpretation bedeutet allzuleicht
Manipulation.
Ein schönes Beispiel für die Macht der Interpreten ist die Rolle
der Stadt Jerusalem. Im Koran wird Jerusalem nicht namentlich ge-
nannt. Es gibt nur eine Stelle in der 17. Sure, Vers 1, die wie folgt
lautet: "Preis dem, der seinen Diener des Nachts von der heiligen
Moschee zur fernsten Moschee führte, deren Umgebung wir geseg-
net haben, um ihm unsere Zeichen zu zeigen." In der Interpretation
dieser Stelle wird die "heilige" Moschee als diejenige in Mekka ge-
deutet, die "fernste" Moschee als die Al-Aqsa-Moschee auf dem Je-
rusalemer Tempelberg, aber aus dem Wortlaut geht dies nicht zwin-
gend hervor, wie Sie soeben selbst gehört haben. Die außerhalb des
Koran überlieferte Legende besagt, daß Muhammad vom Jerusale-
mer Tempelberg aus eine Himmelfahrt unternommen habe, während
der er unter anderem das Paradies erblickte. Beim Start habe er auf
dem Felsen einen Fußabdruck hinterlassen, über den eine weitere
Moschee, eben der Felsendom, gebaut wurde. Und dann kann man
noch fragen: wenn Jerusalem bereits die "fernste" Moschee ist, war
dann eine Expansion des Islam über die arabische Halbinsel hinaus
beabsichtigt?
Probleme entstehen weiterhin durch die arabische Schrift: wie
in allen semitischen Schriften gibt sie nur die Konsonanten, nicht
aber die Vokale wieder. Die Vokale, die im Arabischen ungefähr die
Funktion unserer Flexionsendungen haben, muß der Leser also
selbst ergänzen. Dabei gibt es Unterschiede in der Interpretation,
aber auch solche, die durch den Dialekt bedingt sind. Von allen mög-
lichen Ausspracheweisen gelten nur die sog. sieben Lesungen (qi-
raat) als zulässig, die auf sieben Gelehrte des 8. Jahrhunderts zu-
rückgehen, von denen drei in Kufa, die übrigen in Medina, Mekka,
Damaskus und Basra gelebt haben.
Mit dem Tod Muhammadas 632 endeten nicht nur die Offen-
barungen, sondern es stellte sich auch die Frage der Nachfolge, die
Muhammad nicht eindeutig geregelt hatte. Es bilden sich zwei Par-
teien, deren Exponenten kurioserweise zwei Frauen sind, nämlich
Muhammads Witwe Aischa und seine Tochter Fatima. Aischa tritt für
die Wahl eines Nachfolgers durch die Gläubigen ein, während Fati-
ma behauptet, der Prophet habe ihren Mann Ali zum Kalifen, d.h.
Nachfolger, designiert. Zunächst setzt sich Aischa durch, und es
kommt zur Wahl zunächst von Abu Bakr (632–634), dann von Umar,
der 644 ermordet wird, und dann Uthman, der 656 ebenfalls ermor-
det wird, wobei die Partei der Fatima ihre Hände im Spiel hatte. Uth-
mans Nachfolger wird der schon erwähnte Schwiegersohn des Pro-
pheten, Ali, aber durch Wahl, nicht aufgrund der behaupteten Desi-
gnation. Gegen Ali erhebt sich der Statthalter von Syrien, Muawiya,
der sein Nachfolger wird, als auch Ali 661 ermordet wird. Die Spal-
tung zwischen Gegnern und Anhängern Alis dauert übrigens bis heu-
te fort, denn die Partei Alis, die schia-t Ali oder schia, ist der Beginn
der islamischen Glaubensrichtung der Schiiten. Ihren Gegnern wer-
fen die Schiiten vor, aus dem ursprünglichen Text des Korans die
Stellen entfernt zu haben, die die Ansprüche Alis bewiesen hätten.
Unbeschadet dieser inneren Auseinandersetzungen breitet
sich der Herrschaftsbereich des Islam noch im 7. Jahrhundert über
ganz Palästina, das persische Reich und Nordafrika aus. Den Musli-
men kam dabei zugute, daß ihre Gegner, das persische und das by-
zantinische Reich, zuvor ihre Kräfte in langjährigem Kampf, den man
zutreffend als den persisch-byzantinischen Weltkrieg bezeichnet, er-
schöpft hatten. Im Verlauf dieser Entwicklung wird der Sitz des Kali-
fen und damit die Hauptstadt zunächst nach Kufa, dann nach Da-
maskus und schließlich nach Bagdad verlegt. Dort regiert von 786-
809 der berühmte Harun ar-Raschid.
Die Eroberung der byzantinischen Gebiete brachte auch
christliche und jüdische Gemeinden unter arabische Herrschaft. Da-
mit stellt sich die Frage: Wie ist das Verhältnis des Islam zu den Be-
kennern anderer Religionen? Hier ergibt sich ein grundsätzliches
Problem, denn wir wissen nicht, ob Muhammad eine Ausbreitung
seiner Religion außerhalb des arabischen Gebietes überhaupt beab-
sichtigt hat. Der gläubige Moslem wird diese Zweifel nicht teilen, aber
das zu entscheiden, ist eine religiöse Frage, keine historische.
Wie dem auch sei, die Expansion ist erfolgt, und zwar nach
folgenden Regeln: die Ungläubigen werden zur Annahme des Islam
aufgefordert, was gleichbedeutend ist mit der Unterstellung unter die
politische Herrschaft des Kalifates. Lehnen sie dies ab, werden sie
angegriffen und, falls sie unterliegen, werden die Männer getötet, die
Frauen und Kinder versklavt. Für Juden und Christen gilt eine Aus-
nahme: wenn sie sich freiwillig unterwerfen, dürfen sie bei ihrem
Glauben bleiben, haben allerdings keine politischen Rechte und
müssen zusätzlich eine Kopfsteuer entrichten. Dieses System wird
millet bezeichnet. Das Wort bedeutet Schutz – ein Ausdruck der aus
christlich-jüdischer Sicht zynisch ist. Aus islamischer Sicht meint er,
daß Christen und Juden vor der gewaltsamen Behandlung geschützt
werden, der die Heiden ausgesetzt sind, wenn sie den Islam nicht
annehmen. Wenn Juden und Christen allerdings Widerstand leisten
und gewaltsam unterworfen werden, gilt auch für sie: Tötung der
Männer, Versklavung von Frauen und Kindern.
Die Welt besteht also aus zwei Teilen: dem Herrschaftsgebiet
des Islam und dem Kriegsgebiet; Friedensverträge mit nicht-
islamischen Staaten sind nicht möglich, allenfalls vorübergehende
Waffenstillstände. Es geht also nicht um die Ausbreitung der islami-
schen Religion, sondern um die Ausbreitung des Herrschaftsgebietes
des Islam; die Duldung des jüdischen und des christlichen Bekennt-
nisses beruht nicht auf Toleranz, sondern ist rein praktisch motiviert.
Im 8. Jahrhundert breitet sich der Islam nach Spanien aus, im
9. Jahrhundert erobert er auch Sizilien; das Überschreiten der Pyre-
näen scheitert allerdings in der Schlacht von Tours und Poitiers 732.
Im 9. Jahrhundert zerbricht freilich die Reichseinheit; lokale Dynasti-
en kommen an die Macht, und der Kalif wird auf die Würde eines
geistlichen Oberhauptes der Gläubigen beschränkt. Im 10. Jahrhun-
dert nehmen sogar zwei Dynastien, die Fatimiden in Nordafrika und
die Omayaden in Spanien, ebenfalls den Kalifentitel an.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß im Islam Religion und
Staat von Anfang an untrennbar miteinander verbunden sind. Richt-
schnur ist der Koran, der nicht nur für religiöse Fragen, sondern für
jede Entscheidung im Staat, im Geschäfts- und im täglichen Leben
definitive Regeln bereithält. Wenigstens ist dies in der Theorie so. Da
aber in der Praxis in einem Weltreich doch andere Probleme auftre-
ten als in einem Nomadenstaat in der Wüste, muß der Koran durch
weitere Rechtsquellen ergänzt werden. Deren wichtigste ist die Sun-
na, d.h. die Gewohnheiten des Propheten, seine Handlungsweise in
einer bestimmten Situation oder seine Aussprüche zu einem Thema,
auch wenn sie nicht in den Koran aufgenommen wurden. Die Sunna
muß allerdings bewiesen werden. Dies geschieht durch ein hadith,
eine Erzählung darüber, wie sich Muhammad in einem bestimmten
Fall verhalten habe.
Dabei stellt sich sofort das Problem der Quellenkritik, denn
nichts ist leichter, als einen hadith zu fälschen. Deshalb wird für je-
den hadith eine lückenlose Überlieferkette verlangt, d.h. man muß
angeben, wer es jeweils von wem gehört hat, und die genannten
Personen müssen glaubwürdig sein und jeweils auch zur selben Zeit
gelebt haben. Eine solche Überliefererkette heißt isnad. Am Anfang
jedes isnad muß logischerweise ein Gefährte des Propheten stehen,
wobei auch seine Frauen und seine Töchter in Frage kommen. Die
Schiiten erkennen nur solche hadithe an, deren isnad auf Ali zurück-
führt. Daß die hadithe den Anforderungen der wissenschaftlichen
Quellenkritik nicht genügen, bedarf wohl keiner näheren Begrün-
dung; die Frage wird auch unter Moslems diskutiert.
Die Gesamtheit der Gewohnheiten des Propheten, die durch
die hadithe überliefert werden, heißt also sunna; davon leitet sich der
Ausdruck Sunniten im Gegensatz zu den Schiiten ab. Neben dem
Koran und der Sunna kommen als Rechtsquellen noch der Analogie-
schluß, qiyas, und die Übereinstimmung aller Gläubigen, idschma,
in Frage. Die Gesamtheit aller dieser Rechtsregeln nennt man die
scharia, das islamische Gesetz.
Wie man sieht, ist in dieser Rechtsordnung, obwohl sie ihrem
Ideal nach völlig statisch ist, durchaus eine Entwicklung möglich. Al-
lerdings bewegte sich diese Entwicklung, wie in den meisten Religio-
nen, fast nur im Sinne einer Verschärfung und Verengung der Vor-
schriften. Dies läßt sich recht gut an der Rolle der Frauen im Islam
zeigen. Die Frauen des 7. Jahrhunderts waren durchaus selbständig
handelnde und selbstbewußte Personen; ich erinnere nur an die er-
ste Frau des Propheten, Chadidscha. Sie konnten von sich aus dem
Mann die Ehe anbieten und dabei auch Bedingungen stellen. Der
Koran empfiehlt den Frauen des Propheten, einen Schleier zu tragen
(wie dies übrigens auch Muhammad selbst tat), um nicht von ande-
ren Männern belästigt zu werden. Daraus wurde später die Pflicht,
das Haus nicht unverschleiert zu verlassen.
Dem Mann sind bis zu vier Ehefrauen gestattet, vorausge-
setzt, daß er sie ausreichend versorgen kann, wobei durchaus nicht
nur die wirtschaftliche Potenz gemeint ist. Eine Ausnahme macht
Muhammad selbst, der 14 Ehefrauen hatte. Neben seinen Ehefrauen
kann sich der Mann noch eine beliebige Anzahl von Sklavinnen als
Konkubinen halten, deren Kinder allerdings den ehelichen Kindern
gleichstehen; aus diesem Grunde haben es später die türkischen
Sultane in der Regel überhaupt nicht für nötig befunden, zu heiraten.
Da der Mann die Frau zu versorgen hat, ist sie nach der scharia nicht
verpflichtet zu arbeiten; da sie also keinen Grund hat, das Haus zu
verlassen, wird erwartet, daß sie es auch nicht tut. Alle Versuche, die
Stellung der Frau zu drücken, finden ihre Stütze in einer Bestimmung
des Korans, die Männer seien doppelt so viel wert wie die Frauen;
dies bezieht sich wahrscheinlich nur auf das Erbrecht, läßt sich aber
auch anders deuten.
Die religiösen Verpflichtungen bestehen aus fünf wesentlichen
Elementen oder Pfeilern, arabisch arkan:
1. dem binomischen Glaubenssatz,
2. dem täglichen Gebet,
3. dem Almosengeben,
4. dem Fasten im Ramadan und
5. der Wallfahrt nach Mekka einmal im Leben.
Der binomische, d.h. zweiteilige Glaubenssatz, den jeder Mus-
lim anerkennen und auch öffentlich aussprechen muß, ist die be-
rühmte Formulierung (Zitat): "Es gibt keinen Gott außer Allah, und
Muhammad ist sein Prophet".
Das tägliche Gebet, arabisch salat, besteht aus einer festge-
legten Folge von Kniefällen und Gebeten. Es ist fünfmal am Tag zu
verrichten, und zwar
1. zwischen Morgendämmerung und Sonnenaufgang,
2. zwischen dem Höchststand der Sonne und dem Zeitpunkt, an dem der
Schatten eines Menschen seine tatsächliche Größe erreicht,
3. anschließend in der Zeit bis zum Sonnenuntergang,
4. nach Sonnenuntergang bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Röte der
Abenddämmerung am Horizont verschwindet, und
5. anschließend in der Zeit bis zur Morgendämmerung.
Jeder salat geht die rituelle Reinigung (tahur) voraus. Wichtig ist
auch die Gebetsrichtung, qibla: ursprünglich auf Jerusalem ausge-
richtet, wurde die qibla, als die Juden von Medina sich nicht zum Is-
lam bekehren wollten, umorientiert in Richtung Mekka.
Eine Ergänzung zu den täglichen salat bildet das Freitagsge-
bet, dschuma, das dort stattfindet, wo eine Moschee vorhanden ist.
Zum Personal einer Moschee gehört wesentlich ein Vorbeter, imam,
der vor den in Reihen aufgestellten Gläubigen steht, und ein chatib,
ein Prediger. Zum Freitagsgottesdienst gehören außer verschiede-
nen Gebeten zwei Predigten, die Ermahnungspredigt und die Predigt
der Beschreibung; letztere ist Lob und Segensbitte über den Prophe-
ten und den jeweiligen Herrscher, und spätestens an dieser Stelle
zeigt sich, daß eine solche Predigt von erheblicher politischer Bri-
sanz sein kann. Es ist also kein Zufall, daß die politischen Unruhen
den islamischen Staaten in der Regel nach dem Freitagsgebet aus-
brechen. Die Predigt der Ermahnung bietet allerdings auch ein will-
kommenes Forum für die Haßprediger.
Das Almosengeben (zakat) ist Pflicht jedes Muslimen. Nicht
zuletzt dadurch unterscheiden sich die Anhänger Muhammads ja von
den knauserigen mekkanischen Heiden. Sehr bald wurde die zakat
aber zu einer Almosensteuer in genau festgelegter Höhe, z.B. eine
einjährige Kamelstute bei einem Besitz von 36 bis 45 Kamelen. Als
Empfänger der Almosen kommen allerdings nur Muslime in Frage.
Der Fastenmonat Ramadan ist der 9. Monat des islamischen
Jahres. Der islamische Kalender ist ein reiner Mondkalender; er be-
steht deshalb aus 12 Monaten von abwechselnd 30 und 29 Tagen,
jeweils von Neumond bis Neumond. Die zwölf Monate haben zu-
sammen also nur 354 Tage. Das islamische Jahr verschiebt sich
somit jeweils um 11 Tage gegenüber der christlichen Ära. Aus-
gangspunkt der Berechnung ist der Tag der Hidscha, der 15. Juli
622; wir befinden uns demnach im 1433. Jahr, das am 29.11.2011
begann. Während des Fastenmonats ist am Tage jegliche Form der
Nahrungsaufnahme und des Geschlechtsverkehrs verboten; wird das
Fasten gebrochen, muß es außerhalb des Ramadan nachgeholt
werden. Während der Nächte ist das Essen erlaubt, und so wurde es
üblich, auf den Fasttag eine Festnacht folgen zu lassen.
Einmal im Leben soll der Muslim eine Wallfahrt nach Mekka,
einen Hadsch, unternehmen. Die vorgeschriebene Zeit sind dafür
bestimmte Tage im zwölften Monat des Jahres. Die einzelnen, zum
Teil sehr altertümlichen Zeremonien kann ich hier nicht im Détail be-
schreiben: ein Kernstück bildet das siebenmalige Umschreiten der
Kaba, aber nicht alle Zeremonien finden in Mekka selbst statt; die
Frauen sind dabei übrigens unverschleiert.
Ein Aspekt der Lehre Muhammads, den ich noch nicht er-
wähnt habe, ist die Vorstellung von der Prädestination. Das bedeutet,
daß der gesamte Ablauf der Weltgeschichte von Gott vorherbestimmt
ist, mithin auch, wer sich zum Islam bekennt und gerettet wird und
wer dies nicht tut und verdammt wird. Daß Christen und Juden nicht
zur Annahme des Islam gezwungen werden, ist also kein Zeichen
von Toleranz, sondern Desinteresse an denjenigen, die ohnehin für
die Hölle bestimmt sind. Aus diesem Grunde betreibt der Islam auch
keine Mission und macht den Christen ihre Mission, als Versuch des
Eingriffs in den göttlichen Weltplan, sogar zum Vorwurf.
Werfen wir abschließend noch einen kurzen Blick auf das
Verhältnis zwischen Islam und Christentum. Bis vor wenigen Jahren
war es in den westlichen Staaten Mode, den Islam als Hort wissen-
schaftlicher Leistungen und vor allem kultureller Toleranz zu preisen.
Dies geschah aber in der Regel nicht aus Achtung gegenüber dem
Islam, sondern dieser wurde instrumentalisiert, um das Christentum
herabzusetzen; der aufmerksame Beobachter konnte dies daran er-
kennen, daß stets dem Ist-Zustand des Christentums der Soll-
Zustand des Islam gegenübergestellt wurde. Die Ereignisse des 11.
September 2001 haben die Verhältnisse auf den Kopf gestellt, nach-
dem die einseitig positive Darstellung des Islam durch den Fall des
Salman Rushdee zuvor bereits Sprünge bekommen hatte.
Kommen wir jetzt zu den konkreten Wertungen der Religionen
übereinander. Was kritisiert der Islam am Christentum, und vicever-
sa? Die Moslems werfen den Christen selbstverständlich vor, daß sie
den Koran nicht als göttliche Offenbarung anerkennen, sondern die-
se mit Christus als abgeschlossen ansehen. Sie werfen vor, daß sie
in Christus einen Menschen als Gott verehren und daß sie mit der
Trinitätslehre quasi Vielgötterei betreiben. Sie werfen vor, daß die
Christen im islamischen Gebiet Mission betreiben. Und sie werfen
den Christen die Kreuzzüge vor, die sie als unprovozierte und
rechtswidrige Aggression gegen die Herrschaft des Islam ansehen;
dieser Vorwurf taucht gerade in letzter Zeit häufig in politischen Äu-
ßerungen auf.
Welche Argumente bringt nun die christliche Seite gegen die
göttliche Herkunft des Koran vor? Selbstverständlich, daß er die Bi-
bel in entscheidenden Punkten ändern und außer Kraft setzen will
und daß er die Gottheit Christi und die Trinität leugnet. Nach christli-
cher Auffassung ist die göttliche Offenbarung mit der Botschaft Jesu
abgeschlossen, in der sie zugleich ihre höchste Stufe erreicht. "Him-
mel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht ver-
gehen", heißt es im Evangelium. Kein späterer Prophet kann sich
demnach auf einen göttlichen Auftrag berufen, wenn er diese Offen-
barung zu seinen Gunsten verändern will. Die Christen werfen dem
Koran ferner vor, daß er die Ungleichheit von Männern und Frauen
festschreibt. Die Kreuzzüge schließlich sind aus christlicher Sicht der
Versuch einer Wiedereroberung eines ehemals christlichen Gebie-
tes, das die Araber rechtswidrig besetzt haben.
Ein Argument, das wir von christlicher Seite gerne anführen,
ist eine Stelle aus der 4. Sure des Koran; dort heißt es in Vers 157f.:
"(Die Juden) sagen: 'Wir haben Christus Jesus, den Sohn der Maria
und Gesandten Gottes, getötet.' Aber sie haben ihn nicht getötet und
nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen (ein anderer) ähnlich. Ihn
(Christus) haben sie nicht mit Gewißheit getötet. Nein, Gott hat ihn
zu sich (in den Himmel) erhoben." Die heute überwiegend übliche is-
lamische Auslegung der Stelle besagt, daß nicht Christus, sondern
ein anderer an seiner Statt gekreuzigt worden sei, nachdem im Mit-
telalter die Stelle überwiegend so verstanden worden war, daß über-
haupt keine Kreuzigung stattgefunden habe. Weitere islamische Ar-
gumente, etwa, daß die Kreuzigung Schmach und Schande bedeute
und deshalb mit der Prophetenwürde Jesu nicht vereinbar sei, sind
natürlich a priori nicht überzeugend. Nun ist der Kreuzestod Christi in
den Quellen zuverlässig belegt, und zwar nicht nur in christlichen,
sondern auch in römisch-heidnischen Quellen. Wenn der Koran –
gemäß islamischer Überzeugung – wortwörtlich von Gott geoffenbart
ist, wie ist es möglich, daß hier eine nachweislich falsche Behaup-
tung aufgestellt wird? (Wenn Sie sich darüber näher informieren wol-
len, genügt es, in einer Internet-Suchmaschine die Begriffe "Islam +
Kreuzigung" einzugeben.)
War also, um es zuzuspitzen, die islamische Eroberung Jeru-
salems im Jahre 638 eine legitime Aktion zur Ausbreitung des Herr-
schaftsgebietes des Islam oder eine völkerrechtswidrige Aggression
gegen einen christlichen Staat? Dahinter wird eine grundsätzliche
(und durchaus aktuelle) Frage sichtbar: stehen religiöse Regeln über
den Grundsätzen des Völkerrechts, oder müssen sie sich ihnen un-
terordnen? Aber: beruht das gegenwärtige internationale Recht mög-
licherweise auf christlichen Vorstellungen, die durch den Kolonialis-
mus des 19. und 20. Jahrhunderts der ganzen Welt aufgezwungen
wurden? Besteht eine mögliche Lösung der Probleme in der Ent-
flechtung von Gesellschaft und Religion auch im islamischen Be-
reich? Dagegen wird gewöhnlich sofort argumentiert, daß im Islam
Gesellschaft und Religion untrennbar miteinander verflochten seien;
aber dieses Argument hätte auch für das mittelalterliche Europa ge-
golten, wie Sie im Verlauf dieser Vorlesung bereits mehrfach gehört
haben und immer wieder hören werden. Damit fällt, um diese Über-
legungen zu einem Abschluß zu bringen, unser Blick auf die Türkei,
die ja seit 1924 den Versuch unternimmt, in einem überwiegend is-
lamischen Land Staat und Religion zu trennen. Ist dieses Modell weit
genug in die Gesellschaft vorgedrungen, so daß es möglich ist, die-
sen Staat in die EU aufzunehmen? Oder ist es besser, sich mit einer
"privilegierten Partnerschaft" zu begnügen? Obwohl die Betroffenen
dies möglicherweise als "diskriminierende Partnerschaft" empfinden?
Sie sehen: es gibt genug Stoff zum Nachdenken.
Nachdem wir uns jetzt also mit Heidentum, Judentum und Is-
lam befaßt haben, sollen nun einige Kapitel über die Glaubensrich-
tung folgen, die für das europäische Mittelalter die wichtigste ist:
15. KAPITEL:
DIE CHRISTLICHE RELIGION (EINFÜHRUNG)
ALS ICH DIESE VORLESUNG FRÜHER schon einmal gehalten ha-
be, habe ich an dieser Stelle gesagt, ich setze die Grundlagen der
christlichen Religion als bekannt voraus. Die Reaktion der Zuhörer
hat mir damals gezeigt, daß ich das offenbar nicht so ohne weiteres
tun kann. Ich will deshalb einige Minuten auch auf dieses Thema
verwenden, wobei ich vielleicht auch einige häufige Mißverständnis-
se richtigstellen kann. Ich beabsichtige aber keine umfassende Dar-
stellung; das wäre Aufgabe des althistorischen bzw. der theologi-
schen Kollegen.
Das Christentum geht hervor aus der jüdischen Bußbewegung
Johannes' des Täufers. Dieser Johannes predigt im Jahre 29 nach
der Zeitenwende moralische Umkehr, deren äußeres Zeichen die
Bußtaufe ist, und zwar unter ausdrücklicher Berufung auf das unmit-
telbar bevorstehende Weltende: "Schon ist die Axt an die Wurzel des
Baumes gelegt usw." Aus seiner Anhängerschaft spaltet sich die
Bewegung des Jesus von Nazareth ab, in dessen Lehre der apoka-
lyptische Aspekt zwar erhalten bleibt, aber ergänzt wird durch die
Botschaft von der Güte Gottes gegenüber den Menschen. Außerdem
nimmt dieser Jesus für sich in Anspruch, der verheißene jüdische
Messias zu sein.
Das war damals in Palästina nichts Ungewöhnliches. Die Bibel
selbst nennt zwei Beispiele dafür; ich zitiere die wenig beachtete
Stelle (Apg. 5, 36f.): "Vor einiger Zeit erhob sich Theudas, gab sich
für etwas Besonderes aus und gewann einen Anhang von etwa vier-
hundert Mann. Aber er wurde getötet, und alle seine Leute wurden
zersprengt und vernichtet. Nach ihm erhob sich in den Tagen der
Volkszählung Judas von Galiläa und gewann großen Anhang. Aber
auch er kam um, und alle seine Anhänger wurden zerstreut." Von
diesen Messiaskandidaten unterscheidet sich Jesus von Nazareth
aber in zwei Punkten: zum einen erklärt er: "Mein Reich ist nicht von
dieser Welt", zum anderen erhebt er den Anspruch, nicht nur
Mensch, sondern zugleich auch Gott zu sein. Der erwartete jüdische
Messias ist dagegen reiner Mensch, und seine Funktion besteht dar-
in, das irdische Reich Israel in seinem alten Glanz wiederherzustel-
len.
Ich füge an dieser Stelle noch eine ganz banale sprachliche Bemer-
kung ein: der aus dem Hebräischen bzw. Aramäischen stammende
Name "Jesus" wird bei uns in der griechischen Form gebraucht (auch
im Lateinischen und im Deutschen) und muß deshalb auch grie-
chisch dekliniert werden. Darum lautet die korrekte Form im heutigen
deutschen Sprachgebrauch für den Nominativ, Dativ und Akkusativ
"Jesus", im Genetiv "Jesu"; im Vokativ sind beide Formen möglich.
Früher, wohl bis ins 19. Jahrhundert, war für den Akkusativ auch die
Form "Jesum" üblich.
Nominativ Jesus
Genetiv Jesu
Dativ Jesus
Akkusativ Jesus (altertümlich: Jesum)
Vokativ Jesus oder Jesu
Der Anspruch Jesu, Gott zu sein, wird nach Aussage der
christlichen Quellen gestützt durch die Umstände seiner Geburt. Sei-
ne Mutter Maria bringt ihn zur Welt, ohne zuvor Geschlechtsverkehr
mit einem Mann gehabt zu haben. Die Jungfrauengeburt ist ein in der
Antike häufig gebrauchtes Bild bei der Geburt eines Gottes. Sie be-
tont die doppelte, natürliche und übernatürliche Herkunft des Kindes
und unterstreicht den Anspruch Jesu, Gott und Mensch zu sein. Da-
bei über biologische Détails zu diskutieren, wie dies etwa die Theo-
login Uta Ranke-Heinemann in den 80er und 90er Jahren tat, ist
nicht nur geschmacklos, sondern geht auch am Kern der Sache vor-
bei. An dieser Stelle darf ich gleich noch auf eine andere Frage hin-
weisen, die oft mit der Jungfrauengeburt verwechselt wird, nämlich
die "unbefleckte Empfängnis". Dabei geht es nicht um die Empfäng-
nis Jesu durch Maria, sondern um die Empfängnis Mariae durch ihre
Mutter Anna, also eine Generation früher. Die theologische Aussage
geht dahin, daß Maria von Anfang an von der Erbsünde frei war, der
ansonsten alle Menschen als Nachfahren des Sünders Adam unter-
liegen. Der Ausdruck "unbefleckt" bezieht sich also nicht auf den un-
terbleibenden Geschlechtsverkehr.
Jesu Anspruch auf Göttlichkeit widerspricht der jüdischen Re-
ligion, so daß sich die religiöse Obrigkeit veranlaßt sah, einen – wir
würden sagen – Ketzerprozeß gegen ihn einzuleiten, der kurz vor
dem Paschah-Fest des Jahres 30 zu seiner Verhaftung führte, wobei
einer seiner Anhänger die Aktion durch Verrat erleichterte. Beim vo-
rausgegangenen Paschah-Mahl erfolgte, nach Aussage der christli-
chen Quellen, die Einsetzung der Eucharistie, d.h. Jesus bezeichne-
te seinen Anhängern gegenüber Brot und Wein als sein Fleisch und
Blut und forderte zum Nachvollzug dieses Mahles in späterer Zeit
auf. Die genaue Interpretation dieses Vorganges ist bekanntlich zwi-
schen den christlichen Konfessionen umstritten. Daß das gemeinsa-
me Mahl aber die typische Kultform der frühen Christengemeinde
war, geht nicht nur aus christlichen, sondern auch aus heidnischen
Quellen hervor.
Der Prozeß gegen Jesus vor dem religiösen Gericht führte
zum Schuldspruch und damit zwangsläufig zum Todesurteil, dessen
Vollstreckung in gesetzmäßiger Weise aber nur durch die römische
Besatzungsmacht erfolgen konnte. Nun spielt also die Politik hinein.
Der zuständige römische Verwaltungsbeamte, Pontius Pilatus, war
nicht aufgrund persönlicher Leistungen, sondern als Mitglied einer
Seilschaft auf diesen Posten gekommen, auf dem er sich schon eini-
ge Mißgriffe geleistet hatte. Er hatte kein Verständnis für die jüdische
Religion und lehnte es deshalb zunächst ab, tätig zu werden. Er
konnte aber eine Beschwerde der Juden, die in Rom über ausge-
zeichnete Beziehungen verfügten, nicht riskieren, so daß er schließ-
lich nachgab und Jesus am 7. April 30 kreuzigen ließ. (Die Ereignis-
se fanden nach derzeitigem Forschungsstand im Jahre 30 statt, nicht
im Jahre 33.)
Das Erstaunliche ist nun, daß sich mit dem Tod des Anführers
die Anhängerschaft Jesu nicht auflöste, sondern schon wenige Wo-
chen später mit der These von seiner Auferstehung an die Öffent-
lichkeit trat. Die Auferstehung Christi entzieht sich jeder quellenkriti-
schen Bewertung, und zwar nicht nur in den heidnischen, sondern
auch in den christlichen Quellen. Sie ist mit den Mitteln des Histori-
kers nicht beweisbar und nicht widerlegbar, und die christlichen
Quellenaussagen legen auch gar keinen Wert darauf. Das läßt sich
sehr schön an dem Détail des leeren Grabes zeigen: der tote Chri-
stus wird ins Grab gelegt, das Grab wird verschlossen, amtlich ver-
siegelt und bewacht. Der klassische historische Beweis der Aufer-
stehung wäre nun, daß drei Tage später das unverletzte Siegel amt-
lich entfernt, das Grab geöffnet und leer vorgefunden wird. So ist es
aber nicht, sondern die ersten Zeugen am Ostermorgen finden das
Grab bereits geöffnet vor, und die Wächter erzählen eine aus der
Sicht militärischer Disziplin haarsträubende Geschichte, nämlich, sie
hätten geschlafen. Die Möglichkeit einer Manipulation ist also voll
gegeben, und die Quellen haben gar kein Interesse daran, diesen
möglichen Verdacht irgendwie zu widerlegen. Das historische In-
strumentarium greift also nicht, auch nicht für eine Widerlegung; es
handelt sich ausschließlich um eine Frage des Glaubens.
Die christliche Urgemeinde bleibt zunächst eine Gruppe inner-
halb des Judentums. Nach einer Weile zeigen aber auch Nicht-Juden
Interesse an der neuen Lehre, und nun kommt es zur ersten großen
Krise über die Frage, ob diese Heidenchristen zuerst die jüdische
Religion annehmen müssen, ehe sie zur christlichen Gemeinde ge-
hören können – beispielsweise in Form der Beschneidung –, oder ob
das nicht nötig ist. Die Exponenten der beiden Richtungen sind Pe-
trus und Paulus, wobei sich auf dem sog. Apostelkonzil in Jerusalem
Paulus mit der liberalen Auffassung durchsetzt. (Man könnte daran
die etwas boshafte Bemerkung anknüpfen, daß bereits bei der ersten
wichtigen Entscheidung der Papst auf der falschen, und zwar kon-
servativen Seite stand.)
Mit der Ausbreitung der christlichen Lehre in den außerjüdi-
schen Bereich kommt diese auch in Kontakt mit anderen Religionen,
z.B. der Gnosis (zu ihr mehr im 20. Kapitel), und mit der antiken Phi-
losophie. Sofort setzen Versuche ein, sie mit solchen Auffassungen
vereinbar bzw. die doch recht handfeste frühchristliche Lehre für die
gebildeten Schichten akzeptabel zu machen. Es gibt eine These, die
ich nicht verschweigen will, daß nämlich erst jetzt, als also das Chri-
stentum den jüdischen Raum verließ, die Auffassung von der göttli-
chen Natur Jesu aufgekommen sei – daß also Jesus selbst sich nie-
mals als Gott bezeichnet habe und erst die Heidenchristen Vorstel-
lungen aus anderen Religionen auf ihn übertragen hätten. Die christ-
lichen Schriften, die in der Bibel gesammelt sind, sind zu einem Zeit-
punkt niedergeschrieben worden, als die Ausbreitung in den nichtjü-
dischen Raum bereits stattgefunden hat. Die Frage lautet also, wie
zuverlässig diese Schriften die ursprüngliche Lehre Jesu überliefern.
Da die Überlieferung indes erst mit diesen Schriften einsetzt, stößt
die historische Quellenkritik wiederum an eine Grenze ihrer Anwend-
barkeit, so daß die Frage aus nicht-theologischer Sicht offenbleiben
muß.
Das Problem stellt sich aber nicht von ungefähr, denn die
theologischen Auseinandersetzungen der ersten christlichen Jahr-
hunderte drehen sich um die Frage der Menschwerdung Christi und
damit zusammenhängend um die Lehre von der Trinität, der Dreifal-
tigkeit Gottes. Das Christentum, um das Dogma kurz zu benennen,
ist selbstverständlich eine streng monotheistische Religion, die einen
und nur einen Gott, eben Gott schlechthin, verehrt. Dieser Gott zeigt
sich aber dem Menschen in dreifacher Personalität, die als Vater,
Sohn und Heiliger Geist bezeichnet wird. Wie diese Trinität intern
"funktioniert", entzieht sich menschlicher Erkenntnisfähigkeit; es
handelt sich dabei um ein ineffabile mysterium, ein unaussprechli-
ches Geheimnis. Die zweite Person der Trinität ist in Christus
Mensch geworden, ohne dabei an ihrer göttlichen Qualität irgendeine
Einbuße zu erleiden.
Wie das möglich ist, war im Laufe der Jahrhunderte Gegen-
stand vielfältiger Diskussion, wobei die vorgeschlagenen Lösungs-
versuche bald die göttliche, bald die menschliche Natur in den Vor-
grund stellten – bis hin zu der These, daß Jesus reiner Mensch und
von Gott nur adoptiert sei –, oder auch unterschiedlichen oder ein-
heitlichen Willen, Wirkweise und dergleichen postulierten. Ergebnis
der Diskussion war die einfachste aller Möglichkeiten, daß Christus
nämlich im vollen Sinne sowohl Gott als auch Mensch ist. Dieser
Christus hat die Menschen durch seinen Opfertod von der Macht des
Bösen befreit, ist vom Tode wiederauferstanden und ins Jenseits zu-
rückgekehrt, und zwar wiederum als Gott und Mensch, also auch mit
dem menschlichen Leib. Er hat auf Erden als sichtbare Organisation
die Kirche zurückgelassen, wird aber am Ende der Zeit noch einmal
als Weltenrichter zurückkehren, wobei man unter dem Ende der Zeit
sowohl kollektiv die Apokalypse als auch individuell den Tod des ein-
zelnen Menschen verstehen kann.
Das Ende der Zeit wurde von den ersten Christen immer noch
als unmittelbar bevorstehend erwartet. Entsprechend war auch die
Organisation der Gemeinden eher spontan als im einzelnen festge-
legt. Erst als sich die Naherwartung des Weltendes als trügerisch
erwies, wandelte sich auch die Organisation der Kirche zu einer hier-
archischen Struktur, die sich territorial an die staatliche Ordnung an-
lehnte, wodurch auch ein Vorrang der Kirche in der Hauptstadt, in
Rom, entstand. Die Leitung der römischen Gemeinde übernahm mit
Petrus jener Apostel, der nach dem Bericht der christlichen Quellen
einer Art Sprecherrolle der Jünger Jesu ausübte. Auch hierbei erge-
ben sich quellenkritische Probleme der schon mehrfach erwähnten
Art und in Folge davon konfessionell unterschiedliche Interpretatio-
nen.
Das Christentum breitet sich im römischen Reich aus, und
zwar im lateinischen Bereich zuerst nach Nordafrika, erst später
auch nach Rom. Den Staat interessiert das wenig, wie er auch viele
andere Religionen, etwa den Mithraskult duldet, solange diese Kulte
nicht die öffentliche Ordnung gefährden und den offiziellen Kult der
Staatsgötter nicht stören. Allgemein sind die Christen zunächst gar
nicht beliebt: sie gelten als Menschenfeinde, und die geheimen Eu-
charistiefeiern werden u. U. als Kannibalismus mißverstanden.
Christliche Soldaten sehen sich dem Hohn ihrer Kameraden ausge-
setzt wie etwa dieses Spottbild eines gekreuzigten Esels zeigt:
Erst als der spätrömische Staat in eine immer prekärere Gesamtsi-
tuation kommt und sein Heil in der politischen und religiösen Einheit
des Staates sieht, die sich im religiösen Kaiserkult niederschlagen
soll, kommt es zu den Konflikten, die als Christenverfolgungen be-
kannt sind. Jetzt wird man sich auch bewußt, wie weit sich der neue
Glaube schon ausgebreitet hat und nicht mehr zu unterdrücken ist.
Kaiser Konstantin zieht daraus schließlich die Konsequenzen.
Im späteren 4. Jahrhundert wird das Christentum dann zur of-
fiziellen Religion des römischen Reiches, die auch von jenen Ger-
manenstämmen übernommen wird, die mit dem römischen Reich in
Kontakt kommen. Da nach römischem Recht die Regelung der über-
natürlichen Beziehungen Aufgabe des Staates ist – das sog. ius in
sacris –, gewinnt der Staat Einfluß auf die Kirche, und es entsteht je-
ne Symbiose zwischen Staat und Religion, die für das Mittelalter cha-
rakteristisch ist und übrigens, wie wir gesehen haben, auch einen der
Grundzüge des Islam darstellt. Die persönliche Glaubensüberzeu-
gung des einzelnen Menschen steht dabei zunächst eher im Hinter-
grund; erst allmählich gewinnt der ethische Gehalt der christlichen
Lehre an Bedeutung neben dem nur formalen Vollzug von Hand-
lungsanweisungen, eine Frage, auf die wir noch zurückkommen.
Nach diesen kurzen Bemerkungen über den Ursprung der
christlichen Religion und ihre Geschichte im Altertum beginnen wir
jetzt die Serie der Kapitel über die christliche Religion im Mittelalter,
und zwar zunächst über ihre äußere Form, die Kirche. Für sie gibt es
zwei Ausdrücke, die beide aus dem Griechischen kommen. Der eine
Ausdruck ist εκκλησια, lateinisch ecclesia, ursprünglich die Volks-
versammlung, also die Gemeinde, und erst später auf die Amtskirche
verengt und auf das Kirchengebäude übertragen. Der zweite Aus-
druck bezeichnet ursprünglich dieses Gebäude: κυριακη οικια,
Haus des Herrn. Die Aussprache für κυριακη war aber in nachchrist-
licher Zeit bereits kiriaki, und daraus wird dann im Deutschen kirichi,
Kirche. Ich gehe bei ihrer Darstellung wieder gemäß dem ordo vor
und beginne an ihrer hierarchischen Spitze, also mit dem Papst, dem
Bischof von Rom und Patriarchen des Westens, und schreite dann
nach unten fort bis hin zu den Mönchen, wobei wir aber die Warnung
des Evangeliums im Ohr behalten können, daß die Letzten die Er-
sten und die Ersten die Letzten sein werden.
16. KAPITEL:
PAPST UND KARDINÄLE
DIE ROLLE DES PAPSTES IM Mittelalter wird bestimmt durch drei
Determinanten. An erster Stelle steht das Verhältnis des Papstes
zum Kaiser bzw. zu den weltlichen Herrschern überhaupt. Die zweite
Determinante ist sein Verhältnis zu seinen Brüdern, d.h. zu den Bi-
schöfen und später den Kardinälen, und überhaupt zur Kirche. Die
dritte Determinante ist sein Verhältnis zum Kirchenstaat und zur
Stadt Rom im besonderen, also seine Stellung als weltlicher Herr-
scher. Diese drei Beziehungen wollen wir jetzt näher betrachten.
Wir haben im 5. Kapitel gesehen, daß sich beim König bzw.
Kaiser die weltliche und die geistliche Sphäre überschneiden: er ist
zwar Laie, aber seine Funktion reicht in den sakralen Bereich hinein;
er ist, mit dem Ausdruck der Bibel, König und Priester, rex et sacer-
dos. Das gleiche gilt auch für den Papst: er ist zwar Priester, aber er
beansprucht auch Funktionen im weltlichen Bereich. Das Ausmaß
dieser Funktionen unterliegt dabei einer geschichtlichen Entwicklung.
In ihrem Verlauf eilt bald die Praxis der Theorie, bald die Theorie der
Praxis voraus.
Bis ins 8. Jahrhundert hinein ist der römische Bischof un-
bestritten Untertan des Kaisers in Byzanz. Seine Wahl bedarf der
kaiserlichen Bestätigung, und seine Weihe darf nicht erfolgen, ehe
diese Bestätigung erteilt ist. Wiederholt haben die Kaiser Päpste ab-
gesetzt und mit Verbannung und Haft bestraft.
Selbst in rein religiösen Dingen hat Byzanz eindeutig das
Übergewicht: die Konzilien tagen unter dem Vorsitz des Kaisers,
selbst wenn dieser, wie Konstantin der Große, noch gar nicht getauft
ist; der Papst ist allenfalls durch Legaten vertreten, deren Rolle aber
sehr bescheiden blieb. Neben solchen fallweise entsandten Legaten
besitzt der römische Bischof einen ständigen Vertreter am Kaiserhof,
den Apokrisiar. Dessen Stellung war eine sehr schwierige, da der
Papst in Byzanz einen gefährlichen Rivalen im dortigen Patriarchen
besaß. Der Primat Roms wurde zwar anerkannt, aber als bloßer Eh-
renvorrang ohne irgendeine übergreifende Entscheidungsbefugnis
definiert.
Hinzu kommt, daß es mit der theologischen Bildung in Rom
recht trübe aussah, so daß die Päpste bei den komplizierten christo-
logischen Streitigkeiten jener Zeit einfach nicht mithalten konnten.
Einer von ihnen, Honorius I., hat aus mangelnder Kenntnis sogar ei-
ner später als häretisch verdammten Lehrmeinung seine Zustim-
mung erteilt; daraus entstand die sog. causa Honorii, die noch auf
dem 1. Vatikanischen Konzil bei der Diskussion über die Unfehlbar-
keit des Papstes eine wichtige Rolle spielte. Allenfalls, wenn der Kai-
ser mit seinem Patriarchen im Streit lag, etwa, weil er eine nach dem
Kirchenrecht unzulässige Ehe eingehen wollte, griff er auf den Papst
zurück, um Rom gegen Byzanz auszuspielen.
Das 8. Jahrhundert brachte dann den berühmten Frontwech-
sel der Päpste zu den Franken, der seinen Höhepunkt in der Kaiser-
krönung Karls des Großen an Weihnachten 800 fand. Zunächst hat-
ten die Päpste aber nur eine Abhängigkeit gegen die andere einge-
tauscht; erst als infolge der Erbteilungen nach dem Tode Ludwigs
des Frommen ein wahrer Wettlauf verschiedener Kandidaten um die
Kaiserkrone einsetzte, gelangten die Päpste zu einem gewissen Maß
an Selbständigkeit.
Die Schwäche der späten Karolinger führte in Rom zu einem
Machtvakuum, infolge dessen der päpstliche Stuhl zum Spielball der
römischen Adelsgeschlechter wurde. Mit Otto dem Großen gewinnen
die deutschen Könige Einfluß auf das Papsttum. Die Römer müssen
versprechen, niemanden ohne Zustimmung des Königs zum Papst
zu wählen. Einzelne Päpste sind von Otto III. und Heinrich III. sogar
direkt eingesetzt worden.
An dieser Stelle wollen wir etwas näher auf die Papstwahl
eingehen. Ursprünglich wurde der Papst, wie alle Bischöfe, von Kle-
rus und Volk seiner Bischofsstadt unter Beiziehung der Nachbarbi-
schöfe gewählt. Dabei wurden, wie wir es schon bei der Königswahl
beobachtet haben, die Stimmen nicht gezählt, sondern gewogen.
Dem höheren Klerus und den Adligen kam also naturgemäß größe-
res Gewicht zu als dem niederen Klerus und dem gewöhnlichen
Volk; im Sinne dieser Logik liegt es auch, daß die Stimme des Kai-
sers ausschlaggebend sein konnte, wenn er sie in die Waagschale
werfen wollte. Eine gewisse Aufsicht über die Wahl übten die Nach-
barbischöfe aus, die den ordnungsgemäß Gewählten ja anschlie-
ßend zu weihen hatten. Dennoch kam es oft zu tumultuarischen
Szenen, so etwa bei der Wahl Gregors VII., und zwar besonders,
wenn sich in Rom zwei Adelsparteien gegenüberstanden.
Ins Jahr 1059 fällt die Papstwahlordnung Nikolaus' II.: sie legt
fest, daß die Benennung des Kandidaten den Kardinalbischöfen vor-
behalten ist, während die übrigen Kardinäle, Klerus und Volk auf ein
Akklamationsrecht beschränkt werden; sie erlaubt auch erstmals ei-
ne Wahl außerhalb Roms. Ihr Hauptanliegen ist es, den Einfluß des
römischen Adels zurückzudrängen. Da aber nach wie vor die Stim-
men nicht gezählt, sondern gewogen wurden, konnte es wie bei der
Königswahl zu zwiespältigen Wahlen kommen, so 1130 und beson-
ders gravierend 1159.
Der wichtigste Schritt der Entwicklung war deshalb die Papst-
wahlordnung Alexanders III. von 1179, die im wesentlichen heute
noch gilt. Die Ordnung schreibt vor, daß nur die Kardinäle, aber un-
abhängig von ihrem Ordo, wahlberechtigt sind. (Auf die Kardinäle
gehe ich gleich anschließend noch ein.) Der übrige Klerus und alle
Laien, also auch der Kaiser, sind ausgeschlossen. Für eine gültige
Wahl ist die Zwei-Drittel-Mehrheit der Abstimmenden erforderlich.
Hier wird somit zum ersten Mal im Mittelalter die reine Stimmenzäh-
lung und das Mehrheitsprinzip eingeführt, wird also die maior pars
automatisch zur sanior pars erklärt. Bei der Königswahl hat man sich,
wie Sie sich erinnern, erst fast zwei Jahrhunderte später dazu durch-
ringen können.
Das Erfordernis der Zwei-Drittel-Mehrheit führte in der Folge-
zeit oft zu langdauernden Sedisvakanzen. Gregor X. führte daher auf
dem 2. Konzil von Lyon 1274 gegen den Widerstand der Kardinäle
das Konklave ein: die Wähler werden eingemauert, jeder Kontakt zur
Außenwelt wird unterbunden. Wenn binnen 8 Tagen keine Wahl zu-
stande gekommen ist, werden die Kardinäle auf Wasser und Brot
gesetzt. Da nach dem Grundsatz ubi papa, ibi conclave die Wahl am
Sterbeort des Vorgängers stattzufinden hat, kommt diesem Sterbeort
eine wesentliche Bedeutung zu. Als Wächter des Konklaves fungiert
nämlich die örtliche weltliche Gewalt. Sie erhält dadurch Einfluß auf
die Wähler, der bisweilen auch nachdrücklich ausgeübt worden ist;
häufig sind alte Kardinäle während des Konklaves gestorben. Trotz
Einschließung der Wähler dauerten einige Wahlen sehr lange. Bei
einer solchen Wahl in Viterbo ließ schließlich der Podestà der Stadt
das Dach des Konklaves abdecken, um, wie er sagte, dem Heiligen
Geist leichteren Zugang zu den Wählern zu verschaffen.
Es kam aber auch vor, daß die Kardinäle im Konklave massiv
bedroht wurden. 1378 stürmten die Römer das Konklave, um zu ver-
hindern, daß ein Franzose gewählt würde. 1314, als das Konklave
nach dem Tode Clemens' V. in Carpentras in Frankreich stattfand,
drangen die französischen Milizen ein, mit dem erklärten Ziel, die ita-
lienischen Kardinäle zu ermorden, damit nicht etwa kein Franzose
gewählt würde; die italienischen Kardinäle konnten sich nur dadurch
retten, daß sie die rückwärtige Mauer des Gebäudes aufbrachen und
flohen.
Die Wahl kann auf drei Wegen durchgeführt werden: per scru-
tinium (durch Abstimmung), per compromissum (durch Vereinba-
rung) und quasi per inspirationem (gewissermaßen durch göttliche
Eingebung). Die Wahl per scrutinium, der normale Weg, ist eine
Wahl durch Abstimmung. Die Abstimmung ist bis weit in die Neuzeit
hinein offen; Stimmzettel sind seit 1406 nachweisbar. Jeder Abstim-
mende kann dabei einen oder auch mehrere Kandidaten wählen.
Beim Auszählen der Stimmen sind jetzt drei Ergebnisse möglich:
1. ein Kandidat erhält mehr als zwei Drittel der Stimmen, alle
anderen Kandidaten weniger als zwei Drittel; dann ist die Wahl un-
mittelbar entschieden.
2. infolge der möglichen Mehrfachnennungen erhalten zwei
oder mehr Kandidaten eine Zweidrittelmehrheit; dann ist die Abstim-
mung hinfällig und muß wiederholt werden.
3. kein Kandidat erreicht die Zweidrittelmehrheit.
In diesem Fall ist die Wahl ebenfalls gescheitert; es ist aber der sog.
Akzeß möglich: der Wähler eines aussichtslosen Kandidaten ändert
nachträglich seine Abstimmung und tritt zu einem aussichtsreichen
Kandidaten über, bis einer davon die Zweidrittelmehrheit erreicht.
Die Wahl per compromissum bedeutet folgendes: die Kardi-
näle beschließen einstimmig, ihr Wahlrecht auf eine kleinere Gruppe
aus ihrer Mitte zu übertragen, die dann ihrerseits den Papst wählt.
Da es aber im Grunde nicht die Kardinäle sind, die den Papst wäh-
len, sondern der Heilige Geist, steht es diesem frei, unabhängig von
Skrutinium und Kompromißwahl seinen Willen kundzutun, indem er
einem Wähler den gewünschten Namen eingibt. Der Wähler verkün-
det dann, quasi per inspirationem, laut diese Wahl, und alle ande-
ren stimmen spontan zu. Mindestens ein Mal, bei der Wahl Cölestins
V. im Jahre 1294, ist dieses Verfahren tatsächlich angewandt wor-
den.
Nun zum zweiten Punkt, dem Verhältnis des Papstes zur Kir-
che. Erweist sich, wie wir vorhin gesehen haben, das Verhältnis von
Papst und Kaiser doch als weitgehend ambivalent, so stellt die Aus-
bildung des Primates innerhalb der Kirche eine ziemlich gerade Linie
dar. War die Vorrangstellung des Bischofs von Rom als Nachfolger
des hl. Petrus nach den Aussagen der Bibel zunächst nur religiös
bedingt, so kam bald durch die geschichtliche Entwicklung ein juristi-
sches Moment hinzu.
Die Organisation der alten Kirche lehnte sich an die weltliche
Ordnung des Römischen Reiches an: so fiel dem Bischof der Haupt-
stadt von vornherein eine besondere Rolle zu. Das Ansehen des rö-
mischen Bischofs wuchs weiterhin durch die Verehrung, die die neu-
bekehrten germanischen Völker, vor allem die Angelsachsen und die
Franken, dem hl. Petrus entgegenbrachten. Schließlich kamen ihm
die sog. Pseudoisidorischen Fälschungen zugute. Dabei handelt es
sich um veränderte, teilweise auch fingierte Kirchenrechtssatzungen,
die im 9. Jahrhundert in Frankreich entstanden sind; durch sie sollte
die Stellung der Bischöfe gegenüber ihren Erzbischöfen gestärkt
werden. Um deren Rolle auszuhöhlen, wurde die Stellung des Pap-
stes überhöht. Eine solche Politik war damals ungefährlich, da das
Papsttum im 9. Jahrhundert durch seine dunkelste und machtloseste
Epoche ging. Die Reformpäpste des 11. Jahrhunderts dagegen grif-
fen auf diese Bestimmungen zurück und machten gerne von ihnen
Gebrauch. Man kann allerdings davon ausgehen, daß ihnen der du-
biose Ursprung der Pseudoisidorischen Fälschungen bereits nicht
mehr bewußt war.
Der wichtigste Begriff für die Rolle des hoch- und spätmittelal-
terlichen Papsttums ist die plenitudo potestatis, die Fülle der Ge-
walt. Sie läßt sich z.B. aus der Binde- und Lösegewalt des hl. Petrus
ableiten. Juristisch gesehen, stellt sie den Papst über alle anderen
Gläubigen. Er ist minus deo, maior homine: zwar weniger als Gott,
aber mehr als ein gewöhnlicher Mensch. Vermöge der plenitudo po-
testatis steht er über dem Kirchenrecht; seine Erlasse, lateinisch de-
cretales, haben gleiche Rechtskraft wie die Beschlüsse der Konzilien
und Synoden. Die Bestimmungen früherer Päpste haben keine bin-
dende Kraft für ihn; er kann sie abändern, muß freilich gewärtigen,
daß ihm durch einen Nachfolger das gleiche passiert. Theoretisch ist
er nicht einmal an die Verträge und Konkordate gebunden, die sein
Vorgänger abgeschlossen hat. Er kann von allen Bestimmungen des
Kirchenrechts im Einzelfall Dispense, also Ausnahmegenehmigun-
gen, erteilen, und er kann vom Eid lösen. Jeder Christ kann unmittel-
bar an ihn appellieren, auch über die Köpfe seines Pfarrers oder Bi-
schofs hinweg.
Eine Grenze findet die Macht des Papstes nur im göttlichen
Recht: eine Ehe zwischen Vater und Tochter z.B. darf auch er nicht
erlauben. Und noch auf eine weitere Einschränkung der Stellung des
Papstes ist hinzuweisen: herausgehoben ist sie nur für den juristi-
schen, nicht aber den eigentlich religiösen Bereich, denn im Weihe-
grad steht er allen anderen Bischöfen gleich. Keine liturgische Hand-
lung, die der Papst vornimmt, könnte nicht auch jeder beliebige an-
dere Bischof vornehmen.
Aber zurück zum juristischen Aspekt: so unbegrenzt, ja hem-
mungslos die plenitudo potestatis auch auf die Gesamtkirche wirkt,
so subtil bleibt doch das Verhältnis des Papstes zu seinen eigenen
Wählern, den Kardinälen. Das Kardinalskollegium besteht aus drei
ordines: den Kardinalbischöfen, den Kardinalpriestern und den Kar-
dinaldiakonen. Woher die Bezeichnung cardinalis stammt, ist nicht
ganz klar; am frühesten wird sie auf die Kardinalpriester ange-
wandt. Diese sind ursprünglich aus demjenigen Teil des stadtrömi-
schen Klerus hervorgegangen, der in besonderer Weise mit dem
päpstlichen Gottesdienst verbunden war. Unter der sehr großen Zahl
von Kirchen in Rom ragen zwei Gruppen hervor: die Basiliken und
die tituli. Die Basiliken sind zunächst die eigentliche Bischofskirche
des Papstes, der Lateran, sodann die Peterskirche, d.h. der Vatikan,
ferner St. Paul vor den Mauern, St. Laurentius vor den Mauern und
Santa Maria Maggiore. Für den Gottesdienst an diesen Basiliken zog
man nun die Hauptpriester der benachbarten Pfarrkirchen heran, die
in Rom mit einem sehr altertümlichen Ausdruck titulus genannt wur-
den; einen solchen Priester, der an einer Basilika Dienst tut, be-
zeichnete man als cardinalis dieser Basilika. So gehörte z.B. der titu-
lus S. Maria in Trastevere zur Peterskirche; seinen Hauptpriester
nannte man also den presbiter cardinalis sancti Petri tituli sancte Ma-
rie trans Tiberim, den "Kardinalpriester von St. Peter aus dem titulus
S. Maria in Trastevere". In dieser Weise gehörten zu jeder Basilika
sieben tituli, die turnusmäßig jeweils eine Woche lang Dienst taten.
An der Lateranbasilika wurde der Wochendienst statt vom rö-
mischen Klerus von sieben Bischöfen aus der Umgebung Roms ge-
leistet, den sog. suburbikarischen Bischöfen. Diese sind die Bischöfe
von Ostia, Porto, Albano, Palestrina, Tusculum, Sabina und Silva
Candida. Diese sieben römischen Nachbarn des Papstes sind die
Kardinalbischöfe.
Die Kardinaldiakone schließlich gehen zurück auf die Diako-
ne, die in den römischen Stadtregionen das Almosenwesen organi-
sierten.
Die Rolle, die die Kardinäle gemäß der Ordnung von 1179 bei
der Papstwahl spielten, führte dazu, daß die drei ordines zu einem
Kollegium gleichberechtigter Mitglieder zusammenwuchsen. Das
Kardinalskollegium bildete nun das wichtigste Beratungsgremium
des Papstes; wenn es unter seinem Vorsitz tagt, bezeichnet man es
als Konsistorium. Schon bald versuchte das Kollegium, die Bera-
tung zu einer Mitregierung zu steigern, ein Versuch, der im Mittelalter
durchaus Erfolg hatte. Im 15. Jahrhundert versuchten die Kardinäle,
ihre Rechte vertraglich zu sichern, indem sie dem zu wählenden
Papst eine Wahlkapitulation vorlegten, also die Stimmabgabe an Be-
dingungen knüpften; allerdings hat sich kaum ein Papst an diese Be-
stimmungen gehalten, wenn er sie nicht sogar ex plenitudine pote-
statis förmlich aufhob.
Die Zahl der Kardinäle war im Hoch- und Spätmittelalter mei-
stens recht gering: das Kolleg hat gewöhnlich um die 20 Mitglieder.
Bei längeren Sedisvakanzen konnte die Zahl aus natürlichen Ursa-
chen stark sinken, da nur ein Papst Kardinäle ernennen oder, wie
man in diesem Fall sagt, kreieren kann. Die Bedeutung der Kardinäle
bei der Kirchenregierung geht erst im 16. Jahrhundert zurück, als
Sixtus V. ihre Zahl auf 70 erhöht und so den Einfluß des einzelnen
Kardinals stark einschränkt.
Kommen wir jetzt zur Rolle des Papstes als weltlicher Herr-
scher. Spätestens seit der Konstantinischen Wende waren die Bi-
schöfe von Rom Großgrundbesitzer; sie verwalteten dabei nicht nur
den Besitz ihrer Bischofskirche, des Laterans, sondern auch den der
übrigen vier großen Basiliken St. Peter, Santa Maria Maggiore sowie
St. Paul und San Lorenzo vor den Mauern. Die Konstantinische
Schenkung, die den Päpsten die ganze westliche Reichshälfte zu-
spricht, ist bekanntlich eine Fiktion, aber auch so konnten sich die
Schenkungen der Kaiser und auch der Kaiserinnen an die römischen
Kirchen sehen lassen. Hier eine Darstellung der Taufe Konstantins
gemäß der Legende:
Der beginnende Kampf gegen die Araber führte zunächst zur
Schwäche, dann zum faktischen Aufhören der kaiserlichen Herr-
schaft in Rom, so daß der Papst als eigentlicher Herr der Stadt er-
scheint. Die Pippinische Schenkung von 754, in der dem Papst be-
stimmte Gebiete in Mittelitalien "zurückerstattet" wurden, bildet den
Anfang der Entwicklung des eigentlichen Kirchenstaates, dessen
Zentrum Rom bildet. Allerdings war die Lage in Rom damals äußerst
unsicher, teils wegen der Sarazenengefahr, die 846 sogar die Pe-
terskirche plünderten, teils wegen der Kämpfe der Adelsparteien, in
deren Spiel der Papst oft nur wie eine Schachfigur erscheint, die von
anderen geschoben wird.
Die Reformpäpste lösen sich ein wenig aus dieser Abhängig-
keit. 1084 erobern die von Gregor VII. herbeigerufenen Normannen
die Stadt und plünderten sie; damals erst wurden die Bauten der An-
tike, die bis dahin ziemlich unversehrt erhalten waren, zu den Rui-
nen, die wir heute noch sehen. Im hohen und späten Mittelalter
machte den Päpsten das Streben der Römer zu schaffen, eine sich
selbst verwaltende Kommune zu werden, wie dies die oberitalieni-
schen Städte schon längst erreicht hatten. Dazu kam in Rom noch
die nostalgische Erinnerung an die frühere Größe. Dies führte häufig
zu Erhebungen gegen den Papst, der nicht selten auch aus Rom
fliehen mußte, teils unter Lebensgefahr.
Während der Abwesenheit der Päpste in Avignon im 14. Jahr-
hundert verkam Rom; ebenso fiel auch der Kirchenstaat weitgehend
in die Hände lokaler Machthaber. Einen Wandel brachte hier erst die
Legation des Kardinals Ägidius Albornoz, der in den 1360er Jahren
den Kirchenstaat praktisch zurückeroberte und damit den Weg frei-
machte für die Rückkehr der Päpste nach Rom. Im 15. Jahrhundert
war, mit Ausnahme der 30er Jahre unter Eugen IV., die päpstliche
Herrschaft in Rom nicht mehr gefährdet. Freilich verstrickte sich der
Kirchenstaat immer mehr in die Verwicklungen der italienischen Poli-
tik der Renaissancezeit, was mit dazu führte, daß das Papsttum im-
mer mehr verweltlichte.
17. KAPITEL:
BISCHÖFE UND KLERUS
WIR HABEN AUF GUT mittelalterliche Weise unsere Betrachtung
der rechtlichen Institutionen der Kirche mit ihrer hierarchischen Spit-
ze, mit dem Papst, begonnen. Der durchschnittliche Gläubige aber
bekam den Papst eigentlich niemals und auch seinen Bischof nur
selten zu Gesicht. Er hatte, wenn überhaupt, mit einfachen Geistli-
chen zu tun. Um seinen Pfarrer kam freilich niemand herum, und sei
es nur bei den berühmten drei Gelegenheiten, bei denen seine Mit-
wirkung auch heute noch unerläßlich ist, nämlich Taufe, Hochzeit
und Begräbnis; außerdem kam der Pfarrer noch als Empfänger der
Zehnten, also des Vorläufers der sog. Kirchensteuer, in Frage.
Wir müssen uns aber zunächst darüber klar werden, was der
Ausdruck Geistlicher oder Kleriker (lateinisch clericus) im Mittelalter
bedeutet. Schon im vorigen Kapitel haben wir darauf hingewiesen,
daß sich der Papst im Weihegrad nicht von seinen Brüdern, den Bi-
schöfen, unterscheidet. Der Bischof seinerseits ist nur eine Art voll-
kommener Priester; dies geht schon daraus hervor, daß in der Liste
der sieben Sakramente die Bischofsweihe nicht eigens gezählt wird.
Die Priesterweihe ist ihrerseits aber nur der Abschluß einer sieben-
stufigen Leiter von Weihegraden, denen in der frühen Kirche ver-
schiedene Funktionen entsprochen hatten. Vor dem untersten Wei-
hegrad steht aber die Aufnahme in die Klerisei überhaupt durch die
Erteilung der ersten Tonsur, d.h. das kreisförmige Ausschneiden der
Haare auf der Mitte des Kopfes.
Die Tonsur bedeutet, wie gesagt, noch keine Weihe, sondern
hat vor allem rechtliche Folgen. Als Kleriker genießt der neu Tonsu-
rierte von jetzt an eine Reihe von Privilegien, vor allem das privilegi-
um fori und das privilegium immunitatis. Das privilegium fori bedeutet
den ausschließlichen Gerichtsstand vor dem geistlichen Gericht. Bei
Strafprozessen bewahrt dies den Kleriker in der Regel vor Folter,
körperlicher Strafe oder Hinrichtung; nur in ganz schweren Fällen
wird der Kleriker aus dem geistlichen Stand ausgestoßen und an das
weltliche Gericht ausgeliefert. Bei Zivilprozessen hat der Kleriker sei-
nen Gerichtsstand ebenfalls vor dem geistlichen Richter, und zwar
auch dann, wenn er als Kläger auftritt; d.h. wenn der Kleriker gegen
Laien vorgeht, müssen diese vor dem geistlichen Gericht erscheinen.
Dies bedeutet eine Durchbrechung des Grundsatzes des römischen
Rechtes, daß sich der Kläger dem Gerichtsstand des Beklagten an-
bequemen müsse (actor forum rei sequitur); eine solche Durchbre-
chung eines Rechtsgrundsatzes ist eben ein Privileg, hier das privi-
legium fori. Die Vorstellung vom privilegium fori der Geistlichkeit ist
bis heute noch nicht erloschen, wie man bei den Mißbrauchsfällen in
jüngster Zeit gesehen hat: der Wunsch, die Dinge möglichst intern zu
regeln, leitet sich letzten Endes von dort her.
Das privilegium immunitatis schützt den Kleriker vor körperli-
chen Angriffen: wer einen Kleriker verletzt, verfällt der Exkommunika-
tion und ggf. auch der Reichsacht. Umgekehrt darf der Kleriker aber
keine Waffen tragen. Das privilegium immunitatis bedeutet ferner
Steuerfreiheit, denn der Geistliche leistet seinen Beitrag zum Ge-
meinwohl ja durch Gebet und Gottesdienst.
Diese Bestimmungen sind an sich durchaus sinnvoll und an-
erkannt. Es ist ihr Mißbrauch durch die Geistlichen, der gegen Ende
des Mittelalters zu immer heftigeren Beschwerden, den sog. grava-
mina, führt, die ihren Höhepunkt in den Jahren kurz vor der Reforma-
tion finden. Es mag noch angehen, daß die Geistlichen den Schutz
der Stadt genießen, obwohl sie zu den Steuern nicht beitragen und
sich an der Verteidigung nicht beteiligen, wenn sie nur eifrig beten
und Messe lesen; wenn sie aber den Gottesdienst vernachlässigen
und dann noch in ihrem Immunitätsbezirk einen schwunghaften Ge-
tränkehandel betreiben, obwohl die Stadt hoch verschuldet ist und ih-
ren Bürgern saftige Verbrauchssteuern auflegen muß, dann ist der
Bogen überspannt. Das gleiche gilt, wenn Kleriker in weltlicher Klei-
dung durch die Kneipen ziehen und sich dann, sobald sie in eine
Schlägerei geraten, auf ihr privilegium immunitatis berufen.
Zurück zu den Weihegraden: auf den Empfang der Tonsur fol-
gen zunächst die vier niederen Weihen zum Ostiarier, Lektor, Exorzi-
sten und Akolythen. Der Ostiarier ist ursprünglich der Türhüter; der
Lektor trägt die Lesungen vor; der Exorzist treibt den Teufel aus; und
der Akolyth dient am Altar in der Funktion, die heute die Meßdiener
haben. Diese vier niederen Weihen bilden aber schon im Mittelalter
nur noch die Durchgangsstation zu den höheren Weihen. Deren er-
ste ist die Weihe zum Subdiakon. Mit der Subdiakonatsweihe beginnt
die Verpflichtung zur Ehelosigkeit, zum Zölibat, während die Inhaber
der vier niederen Weihen und die einfachen Kleriker verheiratet sein
konnten und oft auch waren, die sog. clerici coniugati.
Der Zölibat ist nicht göttlichen, sondern menschlichen Rech-
tes, könnte also jederzeit wieder abgeschafft werden. In der östlichen
Kirche hat er sich nie durchgesetzt, und auch im Westen ist er erst
seit dem 2. Laterankonzil von 1139 bindend vorgeschrieben. Durch
den Zölibat wird der Weltpriester dem Mönch angeglichen; entspre-
chend fand der Gedanke zur Zeit der kluniazensischen Reformbe-
wegung im 11. Jahrhundert besonderen Anklang. In der Praxis ist
aber durch die Verpflichtung zum Zölibat an die Stelle der Ehefrau
des Geistlichen oft nur seine Konkubine getreten, ein Zustand, der
noch im 16. Jahrhundert häufig anzutreffen war. Beiläufig bemerkt,
ist auch der Ausschluß der Frauen von den Weihen menschlichen,
nicht göttlichen Rechtes; die Gegenargumente, die der Vatikan und
konservative Kirchenkreise derzeit anführen, halten einer vorurteils-
freien Prüfung nicht stand.
Vielleicht fragen Sie sich, woher wir diese Einzelheiten aus
dem Privatleben des Klerus kennen. Es gibt dafür eine ebenso inter-
essante wie zuverlässige Quelle: wenn ein unehelich Geborener die
höheren Weihen empfangen wollte, mußte er für den defectus natali-
um, seinen Geburtsfehler also, beim Papst Dispens einholen. Die
darüber ausgestellten Urkunden sind zu Tausenden überliefert; in ih-
nen wird stets genau der Familienstand der Eltern angegeben, z. B.
ex presbitero et soluta (der Vater Priester, die Mutter eine unverhei-
ratete Frau), ex monacho et coniugata (der Vater Mönch, die Mutter
verheiratet), ex coniugato et moniali (in diesem Fall hätte sich ein
Ehemann an einer Nonne vergriffen), usw. in allen möglichen Kom-
binationen.
Auf die Subdiakonatsweihe folgt die Weihe zum Diakon. Das
Amt des Diakons wird schon in der Apostelgeschichte erwähnt: der
erste Märtyrer, Stephanus, war Diakon. Die Diakone waren in der al-
ten Kirche als Gehilfen der Priester für die Organisation des Almo-
senwesens zuständig; noch heute muß in der orthodoxen Kirche jede
Pfarrei nicht nur einen Priester, sondern auch einen Diakon haben.
Der erste der Diakone einer Stadt trug damals den Titel Archidiakon;
dieser Ausdruck wird uns noch an anderer Stelle begegnen. Wir ha-
ben im vorigen Kapitel gesehen, daß sogar für einen Teil der Kardi-
näle die Diakonatsweihe ausreichend war; wurde ein solcher Kardi-
naldiakon zum Papst gewählt, wie das etwa bei Innozenz III. oder Pi-
us III. der Fall war, mußte er noch vor der Krönung schnell zum Prie-
ster und Bischof geweiht werden. Andererseits konnte die Diako-
natsweihe noch rückgängig gemacht werden, d.h. ein Diakon konnte
ohne besondere Schwierigkeiten wieder in den Laienstand zurück-
kehren.
Beim Priester ist dies nicht mehr möglich. Die Priesterweihe
verleiht einen unauslöschlichen Stempel, einen character indelebilis.
Niemand auf der Welt, nicht einmal der Papst, kann einen geweihten
Priester in einen Nicht-Priester zurückverwandeln. Es ist möglich, ei-
nem Priester die Ausübung seiner Funktionen zu verbieten; es ist
möglich, ihm seine klerikalen Privilegien abzuerkennen; es ist mög-
lich, ihn vom Zölibat zu entbinden: der Weihegrad bleibt davon unbe-
rührt. Das gilt in gleicher Weise auch für die Bischofsweihe. Der Bi-
schof ist ein vollkommener Priester; durch die Weihe empfängt er ei-
ne perfectio characteris, die ebenso unauslöschlich, indelebilis, ist.
Keine Macht der Welt, auch nicht der Papst, kann also einen Bischof
in einen Nicht-Bischof zurückverwandeln.
Diese Endgültigkeit der Priester- und Bischofsweihe hat im
Mittelalter eine sehr merkwürdige Folge: die geistlichen Stellen die-
nen ja häufig als Versorgung für die nachgeborenen Söhne des
Adels. Diese Söhne bilden zugleich aber eine Art genealogischer
Reserve, die einspringen kann, falls die älteren Söhne vorzeitig ster-
ben sollten. Deshalb verzichten diese adligen Kleriker häufig auf den
Empfang der Weihen, damit sie gegebenenfalls ins weltliche Leben
zurückkehren können. Die berühmtesten Fälle sind wohl Cesare
Borgia, der eine Weile Kardinal war, und König Philipp von Schwa-
ben, der Onkel Friedrichs II., der ursprünglich für den geistlichen
Stand bestimmt und sogar schon zum Bischof von Würzburg ge-
wählt, aber eben noch nicht geweiht war. Ebenso ist im 17. Jahrhun-
dert der Passauer Bischof Leopold nach 6jähriger, durchaus segens-
reicher Regierung 1625 in den Laienstand zurückgetreten, um Erz-
herzog von Tirol zu werden.
Im ersten Jahrtausend der Kirchengeschichte war es eine viel
diskutierte Frage, ob die Weihen, die ein Gegenpapst oder Gegenbi-
schof gespendet hatte, gültig waren oder wiederholt werden mußten.
Insbesondere bei mehrfachem Parteiwechsel führte dies zu chaoti-
schen Verhältnissen und belastete schwer die Gewissen der Gläubi-
gen, da von der Gültigkeit der Weihe ja auch die Gültigkeit der Sa-
kramente abhing. Ebenso stellte man sich die Frage, ob ein sündiger
Priester gültige Sakramente spenden könne. Als Ergebnis der Dis-
kussion setzte sich bei den kirchlichen Juristen eindeutig die Auffas-
sung durch, die Gültigkeit der Sakramente sei unabhängig von der
Würdigkeit ihres Spenders, wenn dieser nur entsprechend dem Ritus
korrekt geweiht worden ist. Gesetzt den Fall, der Papst verbietet ei-
nem Bischof die Ausübung seiner Funktionen, aber der Bischof miß-
achtet dieses Verbot und weiht seine Anhänger zu Priestern: ein sol-
cher Priester ist gültig geweiht; er muß und darf deshalb nicht noch
einmal geweiht werden, falls er sich von dem abtrünnigen Bischof
abwendet und in den Schoß der Kirche zurückkehrt; er hat aber
schwer gesündigt, und deshalb wird ihm eine Buße auferlegt.
Nach dieser Probe aus dem mittelalterlichen Kirchenrecht zu-
rück zum Normalfall. Die Priesterweihe erteilt der örtlich zuständige
Bischof. Für die Bischofsweihe kamen ursprünglich alle Bischöfe der
Kirchenprovinz zusammen, wie das auch heute meist wieder der Fall
ist, später aber mindestens drei Bischöfe. Eine besondere Vorbildung
war für den Priester eigentlich nicht erforderlich: er mußte lesen und
schreiben, auch singen können. Wie es um die Lateinkenntnisse
stand, sei dahingestellt. Ein Universitätsstudium wurde, wenn über-
haupt, dann erst nach der Weihe absolviert.
Alle Priester sind dem Weihegrad nach gleich, aber keines-
wegs in ihrer sozialen Stellung. Diese hängt vielmehr von der Pfrün-
de ab, die man innehat, und diese Pfründen sind sehr unterschiedlich
ausgestattet. Dazu kommt im späteren Mittelalter noch eine ausge-
prägte Priesterarbeitslosigkeit oder, weniger vornehm ausgedrückt,
ein vielköpfiges Klerikerproletariat. Am besten hatten es die Kanoni-
ker, d.h. die Mitglieder eines Domkapitels oder eines anderen Stiftes;
allerdings waren diese Pfründen zumeist dem Adel vorbehalten. An
zweiter Stelle kommen wohl die normalen Pfarrer. Dann folgen die
Vikare, die den Inhaber einer der beiden ersten Kategorien vertraten
und von diesem oft mehr schlecht als recht bezahlt wurden. Den Ab-
schluß bilden die Priester, die an irgendeinem Altar zu festgesetzten
Zeiten eine gestiftete Messe lesen mußten und daraus einen über-
aus kümmerlichen Lebensunterhalt bezogen; man nannte sie abfällig
die Meßpfaffen.
Werfen wir jetzt einen Blick auf die organisatorische Einteilung
der Kirche. Die gesamte christliche Welt gliedert sich in die fünf Pa-
triarchate: Rom, Konstantinopel, Alexandria, Antiochien und Jerusa-
lem. Die drei letzten liegen fast während des ganzen Mittelalters in
partibus infidelium, d.h. im islamischen Machtbereich, so daß für uns
nur Rom als Patriarchat des Westens und Konstantinopel als Patriar-
chat des Ostens von Interesse sind. Die Abgrenzung der beiden Pa-
triarchate schwankt etwas und entspricht in Süditalien und an der
dalmatinischen Küste jeweils dem Einflußbereich des byzantinischen
Kaisers.
Die Patriarchate sind in Kirchenprovinzen unterteilt, an deren
Spitze ein Erzbischof, archiepiscopus oder griechisch Metropolit
steht. Einige Erzbischöfe führen den Ehrentitel Patriarch, so die Pa-
triarchen von Aquileja und Grado an der Nordspitze der Adria, ohne
daß sie dadurch etwa den fünf eigentlichen Patriarchen rechtlich
gleichgestellt wären. Ebensowenig bedeutet der Titel Primas, so der
Erzbischof von Salzburg als Primas von Deutschland, der Erzbischof
von Gran als Primas von Ungarn, der Erzbischof von Toledo als Pri-
mas von Spanien usw., mehr als eine Ehrenstellung und einen An-
spruch.
Die Kirchenprovinzen sind in Diözesen unterteilt, an deren
Spitze ein Bischof steht; auch die Erzbischöfe sind zugleich Bischöfe
einer Diözese. Diejenigen Bischöfe, die einem Erzbischof unterste-
hen, bezeichnet man als seine Suffragane. In Deutschland gab es im
Mittelalter zunächst fünf Kirchenprovinzen und damit Erzbischöfe: die
drei rheinischen Köln, Trier und Mainz, die später Kurfürsten wurden,
dann Salzburg und schließlich Bremen; 968 kam auf Betreiben Kai-
ser Ottos des Großen für das Markengebiet zwischen Elbe und Oder
Magdeburg hinzu. In Ausnahmefällen untersteht ein Bischof mit sei-
ner Diözese keinem Erzbischof und gehört zu keiner Kirchenprovinz,
sondern sie sind direkt dem Papst untergeordnet. Ein solches Bistum
nennt man exemt. Das klassische Beispiel in Deutschland ist Bam-
berg.
Etwas eingehender möchte ich aus naheliegenden Gründen
nur die Salzburger Kirchenprovinz behandeln. Sie entspricht dem
Gebiet des frühmittelalterlichen Herzogtums Bayern.
739 durch Bonifatius kanonisch – also gemäß dem römischen Kir-
chenrecht – errichtet, bestand sie aus den Bistümern Salzburg, Pas-
sau, Regensburg, Freising und anfänglich noch einem fünften Bi-
stum, das von den einen nach Neuburg/Donau, von anderen nach
Staffelsee lokalisiert wird; es ist später untergegangen. Im Hochmit-
telalter gehört auch das Bistum Brixen, das auf eine ältere Tradition
zurückblickt, zur Salzburger Provinz. Bonifatius hat in den neuen Bi-
stümern überall auch neue Bischöfe eingesetzt, die er aus dem Kreis
seiner Schüler nahm. Nur in Passau fand er bereits einen Bischof
vor, Vivilo; und da dieser vom Papst selbst geweiht worden war,
mußte Bonifatius ihn zähneknirschend im Amt belassen.
Die Frage des Metropolitansitzes blieb zunächst offen. In Fra-
ge gekommen wäre Passau, das sich im Mittelalter darauf berief,
Nachfolger eines antiken Erzbistums in Lorch (heute Enns) zu sein.
Ob diese Lorcher Tradition auf Wahrheit beruht, ist bis heute nicht
geklärt worden. Aber Bonifatius mochte Passau eben nicht. Später
hat dann Bischof Arn von Salzburg seine guten Beziehungen zu Karl
dem Großen spielen lassen und Salzburg zur Metropole gemacht.
Die alte Diözese Passau war übrigens um ein Vielfaches größer als
die heutige und reichte durch das ganze nördliche Österreich bis
nach Wien; die österreichischen Herzöge versuchten, in ihrem Anteil
an der Passauer Diözese ein eigenes Landesbistum einrichten zu
lassen, was ihnen aber im Mittelalter nicht gelang, sondern erst 1785
Kaiser Josef II.
Unterhalb der Diözese gilt als kirchliches Gliederungsprinzip
die Einteilung in Pfarreien. Die Zugehörigkeit zur Pfarrei ist vor allem
kirchenrechtlich wichtig, da Taufe und Begräbnis, Eheschließung
und Beichte dem zuständigen Pfarrer vorbehalten sind. Die Pfarrer
sind zu sog. Land- oder Ruralkapiteln zusammengefaßt, denen ein
Dekan vorsteht. Einzelne Klöster, so z.B. Fulda oder Berchtesgaden,
gehören keiner Diözese an und unterstehen nur dem päpstlichen
Stuhl.
Die Besetzung der Pfründen stand nach dem Kirchenrecht
dem jeweiligen Bischof zu. Seit dem 14. Jahrhundert nahm in zu-
nehmendem Maße auch der Papst dies Recht in Anspruch, bis man
sich für Deutschland im Wiener Konkordat von 1447 auf eine Art
Teilung der Ansprüche einigte. Ähnliche Abmachungen gab es auch
für die anderen Staaten, beispielsweise für Frankreich das Konkordat
von Bologna von 1516.
Bei Pfründen, die von einem Laien gestiftet waren, galten an-
dere Regeln. Ursprünglich konnte der Grundherr, der auf seinem Be-
sitz eine Kirche gebaut und ausgestattet hatte, auch den Geistlichen
nach freiem Belieben einsetzen; dieses sog. Eigenkirchenrecht geriet
nach der Jahrtausendwende in die Kritik der damaligen Reformbe-
wegung: die Einsetzung eines Geistlichen durch einen Laien, die
Laieninvestitur, wurde im Investiturstreit angegriffen und auf das et-
was mildere Patronatsrecht, ius patronatus, reduziert. Der frühere
Eigenkirchenherr, jetzt Patronatsherr, konnte nur noch einen Kandi-
daten nominieren, den der Bischof zu prüfen und einzusetzen hatte,
wenn kein kanonisches Hindernis gegen ihn vorlag.
Die Einsetzung der Bischöfe erfolgt durch eine Wahl; wir ha-
ben das Thema bei der Papstwahl bereits angesprochen. Wähler
sind Klerus und Volk der Diözese, in der Praxis wohl nur der Bi-
schofsstadt; außerdem waren die Nachbarbischöfe derselben Kir-
chenprovinz, die sog. comprovinciales, anwesend. Man hat sich die-
se Wahlen wohl so vorzustellen, daß ein prominentes Mitglied des
Klerus, z.B. ein Abt, oder auch ein weltlicher Adliger einen Wahlvor-
schlag machte und die übrigen Wähler ihre Ablehnung oder Zustim-
mung kundtaten. Ziel der Wahl war natürlich Einmütigkeit. Die Ent-
scheidung bei zwiespältiger Wahl lag bei den Komprovinzialen, die
anschließend den Gewählten durch die Erteilung der Bischofsweihe
in ihre Reihe aufnahmen.
Diese Wahl durch Klerus und Volk wird im 10. und 11. Jahr-
hundert aber völlig überspielt durch die Praxis der deutschen Könige,
die Bischöfe direkt einzusetzen. Da die deutschen Bistümer sämtlich
mit Reichsgut ausgestattet waren, sind sie gewissermaßen Eigenkir-
chen des Königs, der in seiner Funktion als Eigenkirchenherr die Bi-
schöfe einsetzen kann. Hierauf beruht das sog. ottonisch-salische
Reichskirchensystem, d.h. die Heranziehung der Bischöfe für die po-
litische Verwaltung des Reiches. Gegen diese Einsetzung der Bi-
schöfe durch einen Laien, auch wenn er König ist, wendet sich eben-
falls die Reformbewegung des späten 11. und 12. Jahrhunderts im
sog. Investiturstreit. Seine Beilegung im Wormser Konkordat 1122
stellt die kanonische Wahl durch Klerus und Volk wieder her.
Die einsetzende Kirchenrechtsgesetzgebung des 12. Jahr-
hunderts schränkt allerdings den Wählerkreis immer mehr ein: nicht
nur werden die Laienwähler völlig ausgeschlossen, sondern auch al-
le Kleriker bis auf das Domkapitel, das jetzt zum alleinigen Wahlkör-
per wird. Das Domkapitel geht auf das Kathedralkloster zurück, das
in jeder Bischofsstadt bestand; seit dem 10. und 11. Jahrhundert ga-
ben seine Mitglieder das gemeinsame Leben auf und wurden so zu
Domherrn oder Kanonikern. Bei strittigen Wahlen beanspruchte jetzt
der Papst die Entscheidung. Aus solchen gelegentlichen Eingriffen
entwickelte das Papsttum bis ins spätere 14. Jahrhundert ein gene-
relles Bischofseinsetzungsrecht. Das schon erwähnte Wiener Kon-
kordat von 1447 stellt das Wahlrecht der Domkapitel wieder her; dem
Papst verbleibt das Recht, die Wahl zu prüfen und zu bestätigen.
Anders verläuft die Entwicklung in Frankreich: dort erhält im Konkor-
dat von 1516 der König das Recht, die Bischöfe vorzuschlagen, die
der Papst dann einsetzen muß. Diese Regelungen gelten dann un-
verändert bis zum Ende des Ancien Régime.
18. KAPITEL:
DIE KONZILIEN
PARALLEL ZUR HIERARCHISCHEN Struktur der Kirche, die wir in
den beiden letzten Kapiteln kennengelernt haben, läuft von Anfang
an die synodale, d.h. kollegiale Struktur. Der Bischof versammelt
seinen Klerus zur Diözesansynode, der Erzbischof seine Bischöfe
zur Provinzialsynode, der Patriarch zur Generalsynode. Das Wort
Synode, lateinisch synodus, kommt vom griechischen συνοδος, Zu-
sammenkunft, und ist wie dieses Femininum, also sancta synodus
usw. Statt Synode sagt man auch Konzil, aber dieses Wort ist im Mit-
telalter weniger gebräuchlich.
Das Konzil ist kein Kirchenparlament. Es fällt deshalb auch
keine Mehrheitsentscheidungen, sondern das Ziel ist Einmütigkeit, in
der sich das Wirken des Hl. Geistes kundtut. Wer sich freilich den so
gefundenen Beschlüssen nicht unterwirft, stellt sich selbst außerhalb
der Gemeinschaft der Gläubigen und verfällt der Häresie. Allerdings
dürfen die Konzilsväter keineswegs willkürlich entscheiden, sonst
kann es passieren, daß ihre Beschlüsse nicht anerkannt und ihre
Versammlung als Räubersynode abgelehnt wird, so wie es 449 dem
Latrocinium Ephesinum, der Räubersynode von Ephesos, erging.
Eine Generalsynode, auf der die gesamte christliche Welt, öst-
liche und westliche Kirche, hinreichend vertreten ist, heißt ökume-
nisch. Als ökumenisch gelten 21 Konzilien; davon erkennt die östli-
che Kirche allerdings nur die ersten acht, die vor dem Schisma von
1054 stattfanden, als solche an.
Die Reihe der Konzilien eröffnet das sog. Apostelkonzil, das um
49/50 in Jerusalem stattfand. Über seinen Verlauf berichtet die Apo-
stelgeschichte in Kap. 15. Entschieden wurde über die Frage, ob die
Heidenchristen verpflichtet seien, die jüdischen Gesetzesvorschriften
zu befolgen, wie Petrus forderte, oder nicht, wie Paulus verlangte.
Der Streit wurde bekanntlich zugunsten des Paulus entschieden.
Die eigentliche Zählung der ökumenischen Konzilien beginnt
aber mit dem Konzil von Nikaia 325, das unter dem Vorsitz des da-
mals noch gar nicht getauften Kaisers Konstantin tagte und Arius als
Ketzer verurteilte. Überhaupt ist für die acht ersten Konzilien charak-
teristisch, daß sie im Osten und unter der Leitung des byzantinischen
Kaisers stattfanden und daß der Westen nur gering vertreten war.
Ein Papst hat an ihnen nie in Person und auch nicht immer durch
Legaten teilgenommen. Die Themen der ersten sechs Konzilien wa-
ren die christologischen Streitigkeiten um die Rolle Christi innerhalb
der Trinität und das Verhältnis von Menschheit und Gottheit in ihm;
wir haben einiges davon schon erwähnt und kommen im 20. Kapitel
nochmals darauf zurück. [Liste nicht in der Präsentation]
325 Nizäa I
381 Konstantinopel I
431 Ephesos
451 Chalkedon
553/5 Konstantinopel II
680/1 Konstantinopel III
787 Nizäa II
869/70 Konstantinopel IV
1123 Lateran I
1139 Lateran II
1179 Lateran III
1215 Lateran IV
1245 Lyon I
1274 Lyon II
1311/2 Vienne
1409 Pisa
1414/8 Konstanz
1431–1449 Basel/Lausanne
1438–1445 Ferrara/Florenz/Rom
1512/7 Lateran V
1545/63 Trient
1869/70 Vatikan I
1962/4 Vatikan II
Im Einzelnen tagte das 1. Konzil 325 in Nikaia, das 2. 381 in
Konstantinopel, das 3. 431 in Ephesos. Dann folgte 449 die schon
erwähnte Räubersynode, ebenfalls in Ephesos, die nicht anerkannt
wurde. Das 4. Konzil tagte 451 in Chalkedon, gegenüber von Byzanz
am anderen Meeresufer, das 5. 553 in Konstantinopel, das 6. 680/81
wiederum in Konstantinopel, und zwar im Kuppelsaal des Palasts;
deshalb nennt man es Trullanum (trullus ist die Kuppel). 692 fand
ebenfalls in diesem Kuppelsaal ein weiteres Konzil statt, das als
Fortsetzung der 5. und 6. Synode gedacht war und deshalb als Qui-
nisextum bezeichnet wird; es wurde im Westen allerdings nicht aner-
kannt, sondern gilt als synodus erratica, als abgeirrte Synode.
Erwähnenswert ist noch, daß auf den ersten beiden Konzilen,
in Nikaia und Konstantinopel, das heute noch gebräuchliche Glau-
bensbekenntnis formuliert wurde, das man deshalb als niceno-
konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis bezeichnet. Das 4.
Konzil hat dann das Verbot erlassen, dieses Glaubensbekenntnis
jemals abzuändern. Es ist aber eine Streitfrage, ob sich dies auf den
Wortlaut bezieht – so die östliche Auffassung – oder lediglich auf den
Inhalt – so die westliche Interpretation. Im Westen hat man nämlich
später einen Zusatz gemacht: das berühmte filioque. Im Abschnitt
über den Heiligen Geist heißt es: qui ex patre procedit – "der vom
Vater ausgeht", wobei stillschweigend unterstellt ist, daß er im selben
Verhältnis zum Sohn steht. Dies wurde dann seit der Karolingerzeit
durch die erweiterte Formel qui ex patre filioque procedit – "der vom
Vater und vom Sohne ausgeht" verdeutlicht. Dieser Zusatz wurde
vom Osten als Verstoß gegen das Änderungsverbot angesehen und
diente als Argument in der konfessionellen Polemik.
Das 7. Konzil beriet 787 über die Frage der Bilderverehrung,
d.h. den Gebrauch der Ikonen. Es sollte ursprünglich ebenfalls in
dem schon mehrfach erwähnten Kuppelsaal stattfinden, jedoch wur-
de die 1. Sitzung von der kaiserlichen Palastgarde gesprengt, und
das Konzil mußte in das ruhigere Nikaia verlegt werden. Das 8. Kon-
zil tagte 869/70 wiederum in Konstantinopel, um das Schisma des
Patriarchen Photios beizulegen.
Danach fand 250 Jahre lang kein Konzil mehr statt. In diese
zweieinhalb Jahrhunderte fällt das verhängnisvolle Jahr 1054, in dem
die Einheit zwischen westlicher und östlicher Kirche auf Dauer (oder
jedenfalls bis heute) zerbrach.
Die folgenden, im eigentlichen Sinne mittelalterlichen Konzili-
en werden vom Osten nicht mehr als ökumenisch anerkannt. Sie tra-
gen ein ganz anderes Gepräge als die früheren. Für fast 300 Jahre
finden alle Konzilien unter dem Vorsitz des Papstes statt, die ersten
vier sogar in Rom selbst. Das Schwergewicht liegt bei den westlichen
Bischöfen, da östliche entweder gar nicht erscheinen oder in einer
Position teilnehmen, die ihnen keinen Einfluß auf die Entscheidungen
gewährt. Von heutigen Konzilien unterscheiden sich die damaligen
Versammlungen auch durch die Anwesenheit von Vertretern der
weltlichen Mächte und von Theologen, die keine Bischöfe sind, son-
dern Doktoren, was die Bischöfe damals meistens nicht sind. Die
Dekrete der Konzilien werden nicht mehr, wie früher, vom Kaiser pu-
bliziert, sondern vom Papst, der sich, ex plenitudine potestatis, sogar
das Recht nimmt, die Beschlüsse nachträglich zu ändern.
Das 9. ökumenische Konzil westlicher Zählung war das 1. La-
terankonzil 1123, das also in Rom, in der Lateranbasilika, stattfand.
Es diente der Bestätigung des Wormser Konkordates und der end-
gültigen Beilegung des Investiturstreites. Das 10. Konzil tagte 1139
ebenfalls im Lateran; seine Hauptaufgabe war die Beendigung des
Schismas zwischen Innozenz II. und Anaclet II., das seit 1130 be-
standen hatte; auf ihm ist, wie wir bereits gehört haben, auch der Zö-
libat der Kleriker mit höheren Weihen festgelegt worden. Das 11.
ökumenische war das 3. Laterankonzil, auf dem, wie Sie sich aus
dem 13. Kapitel erinnern, 1179 die Papstwahl geregelt wurde. Als 12.
Konzil tagte 1215 unter Innozenz III. das 4. Laterankonzil; zu seinen
Dekreten gehörte die Lehre von der Transsubstantiation, es erließ
aber auch Beschlüsse zur Kirchendisziplin und zur Abgrenzung zwi-
schen Christen und Juden.
Das 13. und 14. Konzil fand in Lyon statt. Auf dem 1. Konzil
von Lyon 1245 wurde Kaiser Friedrich II. abgesetzt und verflucht.
Das 2. Konzil von Lyon brachte 1274 die Wiedervereinigung mit der
griechischen Kirche, die aber keinen Bestand hatte, weil sie nur von
Kaiser Michael VIII. aus politischen Gründen eingegangen wurde und
keinen Rückhalt im Volke fand. Dann folgte, zu Beginn der babyloni-
schen Gefangenschaft des Papsttums in Avignon, unter Clemens V.
1311/2 das beschämende Konzil von Vienne. Auf ihm wurde der
Templerorden aufgehoben, aber es gelang wenigstens, die Verurtei-
lung Papst Bonifaz' VIII. als Ketzer zu verhindern, indem sein Vor-
gänger Cölestin V. heiliggesprochen wurde.
Nun wandelt sich das Bild abermals, und es folgen mehrere
papstfreie Konzilien. 1378 brach das Große Abendländische Schis-
ma aus, durch das die westliche Christenheit für mehrere Jahrzehnte
in zwei Obödienzen mit je einem Papst in Rom und in Avignon ge-
spalten wurde. Da alle Versuche, dieses Schisma durch Verhandlun-
gen zu lösen, scheiterten, erlangte die Lehre von der Superiorität des
Konzils über den Papst, kurz: der Konziliarismus, die Oberhand. Er
beruht auf der Korporationstheorie, die besagt, daß das Haupt einer
Korporation an den Willen ihrer Mitglieder gebunden ist. Der Grund-
satz lautet: "Was alle angeht, muß von allen mitentschieden werden."
– Quod omnes tangit, ab omnibus debet approbari. Dieser Grundsatz
ist, beiläufig bemerkt, die Basis aller modernen Demokratievorstel-
lungen.
Der Papst als Oberhaupt der Kongregation "Kirche" ist also an
den Willen der universitas fidelium, der Gesamtheit der Gläubigen,
vertreten durch das Konzil, gebunden; sie entscheidet demnach auch
über seine Rechtmäßigkeit. Unterstützend kam hinzu, daß schon
lange die Lehre galt, ein häretischer Papst könne vom Konzil abge-
setzt werden. Als Häresie galt aber auch das hartnäckige Verharren
im Schisma. So beriefen die vereinigten Kardinalskollegien beider
Obödienzen ein Konzil nach Pisa ein, das aber nicht mitgezählt wird.
Es tagte 1409, setzte beide rivalisierenden Päpste ab und wählte ei-
nen neuen. Da aber die beiden alten Päpste sich nicht absetzen lie-
ßen, hatte sich das Schisma nur verdreifacht.
Die Lösung gelang erst auf dem 16. ökumenischen Konzil
1414/8 in Konstanz, das alle drei Päpste absetzte und einen neuen,
allgemein anerkannten Papst wählte. Eine wesentliche Rolle spielte
dabei der Abstimmungsmodus: nicht nach Köpfen, sondern nach Na-
tionen wurde votiert, d.h. jede Nation (Deutsche, Italiener, Franzo-
sen, Engländer, Spanier) führte nur eine Stimme, die durch Mehr-
heitsbeschluß ihrer Mitglieder festgelegt wurde. Auf diese Weise ge-
lang es, den Einfluß der zahlreichen italienischen Bischöfe zu neutra-
lisieren; entscheidend war auch die Anwesenheit des deutschen Kö-
nigs Sigismund, der hier zum letzten Mal die traditionelle kaiserliche
Rolle des defensor ecclesie, des Beschützers der Kirche, gespielt
hat.
So erst wurde es möglich, dem Pisaner Konzilspapst Johan-
nes (XXIII.) den Prozeß zu machen und ihn effektiv abzusetzen. Der
römische Papst Gregor XII. trat freiwillig zurück. Der avignonesische
Papst Benedikt (XIII.) wurde auch abgesetzt und entwich nach Spa-
nien auf die Halbinsel Peñíscola, wo er erst 1423 starb, ohne je an
seiner Rechtmäßigkeit gezweifelt zu haben, jedoch nahm ihn nie-
mand mehr ernst. Hier sehen Sie Peñíscola heute:
Neben der Beseitigung des Schismas, der causa unionis, hat-
te das Konzil von Konstanz noch die causa reformationis und die
causa fidei zu lösen. Bei diesen Aufgaben ist das Konzil gescheitert:
eine Kirchenreform fand nicht statt. Unter der causa fidei versteht
man cor allem die Auseinandersetzung mit den Hussiten; auch hier
blieb das Konzil erfolglos, obwohl oder vielleicht gerade weil es die
denkbar schärfsten Mittel anwandte.
Zu den Beschlüssen des Konzils von Konstanz gehört auch
das Dekret Frequens. Dieses bestimmte, daß in Zukunft regelmäßig
Konzilien abzuhalten seien, und zwar zunächst nach 5, dann nach 7
und dann jeweils nach 10 Jahren: das Konzil sollte also in ein regel-
rechtes Kirchenparlament umgestaltet werden. Entsprechend diesem
Dekret berief Martin V. 1423 ein Konzil nach Pavia ein. Diese Ver-
sammlung wird in der Reihe der ökumenischen Konzilien nicht mit-
gezählt, da sie so schwach besucht war, daß der Papst sie sofort
wieder auflösen konnte. Ordnungsgemäß nach 7 Jahren wurde 1430
das 17. Konzil nach Basel einberufen.
Dieses Konzil nahm einen denkwürdigen Verlauf; es bildet
den Höhepunkt und zugleich das Ende des Konziliarismus. Zunächst
versuchte Papst Eugen IV., das 7 Jahre zuvor bewährte Verfahren
anzuwenden und das Konzil kurz nach seiner Eröffnung wegen zu
schwachen Besuchs wieder aufzulösen. Der Versuch schlug fehl,
und so entstand von Anfang an eine Spannung zwischen Papst und
Konzil, die sich immer mehr verschärfte, zumal in Basel die Konstan-
zer Dekrete über die Superiorität des Konzils über den Papst erneu-
ert wurden.
Außerdem nahm das Konzil eine Reform der Kirche an Haupt
und Gliedern in Angriff, wobei beim Haupt, dem Papst, begonnen
wurde. 1437 verlegte Eugen IV. das Konzil nach Ferrara, dann, we-
gen der Pest, nach Florenz, jedoch machte sich nur ein Teil, und
zwar zunächst der kleinere Teil, der Konzilsväter auf den Weg über
die Alpen. Die Majorität blieb in Basel zurück und leitete einen Pro-
zeß gegen den römischen Papst wegen Ungehorsams gegenüber
dem Konzil ein. Der Prozeß endete mit der Absetzung Eugens IV.
und der Wahl eines neuen Papstes, Felix' (V.). Somit war das in
Konstanz glücklich beigelegte Schisma erneuert.
Parallel zu diesen Aktionen liefen Verhandlungen mit den
Griechen über die Kirchenunion mit Byzanz. In der Hoffnung auf
westliche Hilfe gegen die Türken kamen Kaiser Johannes VIII., der
Patriarch von Konstantinopel und eine größere Zahl von Bischöfen
selbst in den Westen, um auf einem ökumenischen Konzil über die
Beilegung des seit 1054 bestehenden Schismas zu beraten. Es ge-
lang Eugen IV., die Griechen zum Besuch seines Konzils zu bewe-
gen. 1439 wurde in Florenz die Kirchenunion verkündet, hier die
zweisprachige lateinisch-griechische Urkunde darüber:
Die Union stieß aber wie 1274 auf heftigen Widerstand in der grie-
chischen Bevölkerung und wurde mit der Eroberung Konstantinopels
durch die Türken 1453 obsolet.
Die Entscheidung in der Auseinandersetzung zwischen Rom
und Basel brachte aber die Stellungnahme der weltlichen Staaten.
Insbesondere gelang es Eugen IV., den Kaiser, Friedrich III., auf sei-
ne Seite zu ziehen und so das Konzil in Basel auszutrocknen. Eine
wichtige Rolle spielte dabei ein junger Mann aus der Nähe von Sie-
na, der zunächst eifriger Konziliarist, dann kaiserlicher Sekretär war
und schließlich zur Kurie überging, Enea Silvio Piccolomini, der spä-
tere Papst Pius II.
Auch nach dem Konzil von Basel, das 1449 ein unrühmliches
Ende nahm, blieb es üblich, dem Papst mit der Appellation an ein
allgemeines Konzil zu drohen. 1511 wurde tatsächlich ein solches
Konzil von einigen abtrünnigen Kardinälen nach Pisa einberufen. Im
Gegenzug hielten Julius II. und Leo X. 1512/17 in Rom das 5. Late-
rankonzil ab, das 18. in der Reihe der ökumenischen Konzilien. Es
faßte einige Reformbeschlüsse, konnte aber die 1519 beginnende
Reformation nicht mehr aufhalten. Die folgenden drei ökumenischen
Konzilien fallen bereits in die Neuzeit: das Konzil von Trient 1545/63,
das 1. vatikanische 1869/70 unter Pius IX. und das 2. vatikanische
1962/65 unter Johannes XXIII. und Paul VI.
19. KAPITEL:
DAS MÖNCHTUM
MIT DIESEM KAPITEL VERLASSEN wir die Welt (lateinisch: relin-
quimus seculum) und wenden uns dem Mönchtum zu. Der Status als
Mönch heißt lateinisch religio, der Mönch selbst monachus, die
Nonne monialis oder auch sanctimonialis. Das Mönchsein ist charak-
terisiert durch das Befolgen der sog. drei evangelischen Räte, die so
heißen, weil sie aus dem Evangelium genommen sind: Ehelosigkeit,
Besitzlosigkeit und Gehorsam. Der Mönch verzichtet also auf Nach-
kommenschaft, auf weltliche Güter und auf die Durchsetzung des ei-
genen Willens. Es wäre aber völlig falsch, in diesem dreifachen Ver-
zicht einen Verlust zu erblicken, im Gegenteil: der Mönch gelangt
dadurch zu einem Zustand vollkommeneren Lebens (status perfec-
tioris vite), in dem er, von allem Weltlichen gelöst, offen sein kann für
Gott (vacare deo).
Der mittelalterliche Mönch lebt in der Regel in einem Kloster
unter der Aufsicht und Anleitung eines Oberen, des Abtes. Der Abt
(lateinisch: abbas) ist der Vater der Mönche, die ihm den Gehorsam
schulden; ebenso ist die Äbtissin (lateinisch: abbatissa) die Mutter
der Nonnen. Der Abt mit seiner Mönchsgemeinde ist darüber hinaus
aber das Abbild Christi mit seinen Aposteln und Jüngern.
Wie ist diese Lebensweise entstanden? In der Frühzeit des
Christentums war es üblich, daß sich einzelne Personen in die Wüste
zurückzogen, vor allem in Ägypten, um Gott in der Einsamkeit zu
dienen. Solche Eremiten – ερηµος ist die Wüste – oder Anachoreten
gab es auch noch im Mittelalter, aber verhältnismäßig selten. Das
Leben in der Einsamkeit ist nämlich nicht nur gottgefällig, sondern
auch gefährlich, weil gerade der Einsiedler ein bevorzugtes Ziel teu-
flischer Versuchungen war; berühmtestes Beispiel sind die Versu-
chungen des hl. Antonius.
Die meisten Mönche lebten daher in einer Klostergemein-
schaft, wo notfalls die Hilfe des Abtes oder eines Mitbruders nahe
war. Das Kloster heißt lateinisch monasterium (daher kommt das
deutsche Wort Münster) oder cenobium. Das Wort cenobium kommt
vom griechischen κοινοβιον "gemeinsames Leben". Die Klostermön-
che nennt man deshalb auch Zönobiten.
Im Westen gehört jedes Kloster einem Orden an. Jeder Orden
hat eine Regel; sie enthält die Bestimmungen über die Verfassung
des Klosters, die Kleidung und Nahrung der Mönche, die Zeiten für
Fasten und Gebet und ihre sonstige Tätigkeit. Die berühmteste und
älteste Ordensregel ist diejenige des hl. Benedikt, des Gründers von
Montecassino 529, den man nicht von ungefähr den Vater des
Mönchtums nennt. Ergänzend zur Regel gab es die Gewohnheiten
(consuetudines), die für eine Gruppe von Klöstern innerhalb eines
Ordens oder für ein einzelnes Kloster gelten. In der östlichen Kirche
gibt es keine Mönchsorden; vielmehr hat dort jedes Kloster sein ei-
genes τυπικον.
Wir stellen uns jetzt zunächst die Frage, wie man ins Kloster
hinein- und wie man ggf. auch wieder hinausgelangt. Monachum aut
paterna devotio aut propria professio facit – "Zum Mönch wird man
entweder durch die Frömmigkeit der Eltern oder durch eigenes Ge-
lübde": dieser Satz spielt auf die frühmittelalterliche Gewohnheit an,
Kinder dem Kloster "darzubringen", damit sie dort erzogen und spä-
ter in die Mönchsgemeinschaft aufgenommen werden. Darbringen
heißt lateinisch offere, obtuli, oblatum: entsprechend nennt man die-
se dem Kloster dargebrachten Kinder Oblaten. (Sie kennen das Wort
"Oblaten" wahrscheinlich eher von der Weihnachtsbäckerei. Dieselbe
Form wie diese Keksunterlagen haben die Hostien, die während der
Messe dargebracht und in der Wandlung konsekriert werden.) Hier
die Abbildung einer solchen Oblation, bezeichnenderweise als Illu-
stration einer Handschrift der Benediktsregel:
Ob die dem Kloster dargebrachten Kinder später automatisch
ins Mönchtum übergingen oder ob sie sich bei Eintritt der Mündigkeit
noch einmal selbst entscheiden konnten, geht aus den Quellen nicht
eindeutig hervor. 1176 verbot allerdings Papst Alexander III., Kindern
unter 14 Jahren die ewigen Gelübde abzunehmen, und Cölestin III.
setzte am Ende des 12. Jahrhunderts fest, daß nur ein Volljähriger
diese Gelübde ablegen dürfe.
Tatsächlich sind Fälle bekannt, in denen Oblaten das Kloster
verlassen wollten und damit auch durchgedrungen sind. Ein hier na-
heliegendes Beispiel ist der Niederalteicher Oblate Poppo von Mun-
dreiching, der das Kloster verließ, gleichwohl aber Kleriker blieb und
später Passauer Domdekan wurde. Ein entsprechendes weibliches
Beispiel kenne ich nicht, was wahrscheinlich kein Zufall ist.
Wenn ein Erwachsener der Welt entsagt, womöglich auf eine
bedeutende Stellung verzichtet und ins Kloster geht, nennt man dies
meist conversio. Sie sehen also: die mittelalterlichen Ausdrücke reli-
gio und conversio bedeuten etwas anderes als die modernen
Fremdwörter Religion und Konversion.
Aber gehen wir jetzt von der propria professio, dem eigenen
Entschluß, aus. Wer sich entschließt, Mönch zu werden, muß sich
dabei stets für einen bestimmten Orden und meist sogar für ein be-
stimmtes Kloster entscheiden, in dem er dann auch bis an sein Le-
bensende bleiben muß (stabilitas loci). Der Wechsel des Ordens ist
nur zulässig beim Übergang zu einem ordo arctioris vite, einem Or-
den mit strengerer Regel; in umgekehrter Richtung ist ein päpstlicher
Dispens erforderlich.
Der neue Mönch muß eine Reihe von Voraussetzungen mit-
bringen: er muß zunächst einmal getauft sein; dies versteht sich von
selbst. Er darf auch nicht exkommuniziert sein. Einige Äbte haben al-
lerdings das Recht, Exkommunizierte loszusprechen, um sie dann
anschließend ins Kloster aufzunehmen. Er sollte ferner nicht leibei-
gen und auch nicht verheiratet sein. Der Verheiratete kann nur dann
Mönch werden, wenn sein Ehegatte zustimmt und ebenfalls ins Klo-
ster geht. Wenn ein Kleriker ins Kloster eintreten will, muß er seine
Pfründen aufgeben und außerdem die Erlaubnis seines Vorgesetzten
einholen. Der neue Mönch muß ferner ehelich geboren sein; es gibt
auch Klöster, die darüber hinaus adelige Abstammung verlangen.
Außerdem soll er körperlich und geistig gesund sein.
Schließlich muß er sich auch von allen materiellen Fesseln be-
freien, die ihn an die Welt binden, d.h. er muß auf seinen Besitz ver-
zichten, sei es zugunsten des Klosters, sei es zugunsten seiner Er-
ben oder anderer Personen. Dies gilt auch für Güter, die ihm zufal-
len, wenn er schon Mönch ist. Wie man sieht, ist das Kloster kein Zu-
fluchtsort für verkrachte Existenzen, die wirtschaftlich gescheitert
sind, und auch nicht für abgewiesene unglücklich Verliebte, die ihren
Weltschmerz ausleben wollen.
Der neue Mönch durchläuft eine doppelte Probezeit, als Po-
stulant und als Novize. Als Postulant trägt er dabei noch weltliche
Kleidung, als Novize schon das Ordensgewand, jedoch zum Teil in
etwas anderer Form als die regulären Mönche. Die Dauer des Novi-
ziats beträgt im Mittelalter gewöhnlich ein halbes bis ein ganzes Jahr;
heute sind die Fristen übrigens wesentlich länger. Während dieser
Zeit wird er über die Gebräuche des Klosters und die Anforderungen
seines künftigen Lebens unterrichtet.
Am Ende des Noviziats leistet der Novize die professio, die
feierliche Profeß, d.h. das Versprechen, als Mönch zu leben. Die
Profeß war im Mittelalter, anders als heute, sofort endgültig; wer sie
abgelegt hat, wird als professor bezeichnet (noch ein Beispiel für
abweichenden Gebrauch eines Wortes im mittelalterlichen Latein).
Die Profeß ist aber nicht nur ein einseitiges Versprechen von Seiten
des Novizen, sondern zugleich die Aufnahme in die Mönchsgemein-
schaft; sie muß daher vom Abt angenommen werden, der seinerseits
die Zustimmung seiner Mönche einzuholen hat. Diese Doppelnatur
der professio zeigt sich auch in ihrem Ritus, der nicht nur ein schriftli-
ches Versprechen, sondern auch eine commendatio an den Abt mit
Handgang und Kuß wie im Lehenswesen vorsieht.
Dann folgt im Idealfall ein langes Mönchsleben in ungetrübtem Frie-
den.
Wie endet der Aufenthalt eines Mönches im Kloster? Es gibt
fünf Möglichkeiten:
1. er kann in ein anderes Kloster desselben Ordens überwechseln,
sei es, daß sein Abt ihn dorthin schickt (was z.B. bei Klosterneugrün-
dungen üblich ist), sei es, daß ein anderes Kloster ihn zum Abt er-
wählt.
2. er kann zum Bischof gewählt, zum Kardinal berufen oder sogar
zum Papst erhoben werden; in diesem Fall bleibt er zwar im Prinzip
Mönch, kehrt aber dennoch in die Welt zurück.
3. er kann strafweise aus dem Orden ausgestoßen werden.
4. er kann von sich aus aus dem Kloster entweichen. Das ist der
Fall der Apostasie, die die automatische Exkommunikation nach sich
zieht und umfangreiche Suchaktionen der kirchlichen Obrigkeit aus-
löst.
5. und das ist das schönste Ende eines Mönchslebens: er kann im
Kloster einen gottseligen Tod sterben. Sein Todestag wird dann in
den Liber vite, das "Buch des Lebens", des Klosters eingetragen,
und alljährlich wird seiner an diesem Tag in seinem und allen be-
freundeten Klöstern im Gebet gedacht; er nimmt an diesem Tag so-
gar am gemeinsamen Mahl der Mönche teil, und da er die Speisen
aus naheliegenden Gründen nicht selbst verzehrt, werden sie einem
Armen als Almosen gegeben, und zwar im Prinzip auf ewige Zeiten.
Auf diese Weise entsteht die Armenfürsorge der Klöster.
Im vergangenen Teil dieses Kapitels war schon viel vom Klo-
ster die Rede, der organisatorischen Grundeinheit der Orden. Die
vollberechtigten Mönche eines Klosters bilden seinen Konvent. Der
Konvent wählt den Abt, der vom zuständigen Bischof bzw. bei Klö-
stern, die von der Gewalt des Ortsbischofs eximiert sind, vom Papst
bestätigt werden muß. Für das Wahlverfahren und die Ermittlung der
Mehrheit gilt das entsprechend, was ich im 14. Kapitel über die Bi-
schofswahl gesagt habe. Es gibt auch Klöster, die von einem ande-
ren Kloster in der Weise abhängig sind, daß ihr Vorsteher von dort
aus delegiert wird; er führt dann den Titel Prior.
Der Abt oder Prior regiert das Kloster in eigener Verantwor-
tung; er soll aber bei seinen Mönchen Rat einholen, in wichtigen An-
gelegenheiten beim ganzen Konvent, in Routineangelegenheiten
wenigstens bei einigen von ihnen. So schreibt schon die Regel des
hl. Benedikt, der Abt solle zwar allein entscheiden, zuvor aber die
Meinung aller Mönche erfragen, denn es könne ja sein, daß der Hl.
Geist dem jüngsten und unerfahrensten aller Mönche den richtigen
Gedanken eingebe. Aus dieser Pflicht, Rat einzuholen, entwickelt
sich im Laufe der Zeit ein förmliches Konsensrecht des Konventes.
Im Spätmittelalter treten Abt und Konvent immer weiter aus-
einander: aus dem Vorstand des Konventes, der mit seinen Brüdern
zusammenlebt und betet, wird der Abt zu einem Prälaten im
Mönchsgewand, der oft genug gar nicht im Kloster anwesend ist. Es
tritt eine förmliche Gütertrennung zwischen der mensa des Abtes und
der mensa des Konventes ein, und beide, Abt und Konvent, führen
ein eigenes Siegel.
Als Stellvertreter des Abtes fungiert der Prior bzw. in Häusern, die
von einem Prior geleitet werden, als dessen Stellvertreter der Sub-
prior. Außerdem haben mehrere Mönche Spezialfunktionen als Sa-
kristan, als Kantor, als Pförtner, als Bibliothekar usw. bis hin zum be-
kannten Bruder Kellermeister. In den Nonnenklöstern entsteht die
Komplikation, daß die Nonnen und selbst die Äbtissin nicht Priester
sein können; deshalb muß für die Meßfeier und die Spendung der
Sakramente, vor allem für die Beichte, ein Priester ins Kloster geholt
werden, nach Möglichkeit ein Mönch desselben Ordens, aber auch
ein Weltpriester. Daß sein Aufenthalt im Kloster zu den schwärzesten
Verdächtigungen Anlaß gab, die durchaus berechtigt sein und leben-
dige Folgen haben konnten, sei nur am Rande vermerkt.
Das Kloster ist schließlich auch ein Gebäude. Es besteht gern
aus vier Häusern, die ein Quadrat umschließen. Dieses Quadrat ist
der Kreuzgang, für den im Französischen und Italienischen die Aus-
drücke cloître bzw. chiostro, also unser Wort Kloster, üblich sind.
Dahinter steckt das lateinische Wort claustrum, das ebenso wie clau-
sura jenen abgeschlossenen Teil des Klosters bezeichnet, den nur
die Mönche bzw. Nonnen, aber keine Weltgeistlichen und Laien und
schon gar nicht solche des anderen Geschlechtes betreten durften;
besonders streng wurde die Klausur in den Nonnenklöstern gehand-
habt. Die Gebäude an den Seiten des Kreuzgangs sind, in je unter-
schiedlicher Anordnung, die Kirche, der Kapitelsaal, der Schlafsaal
und das Refektorium, also der Speiseraum.
Nicht nur an Gebet, Gottesdienst und Mahlzeiten nahmen die
Mönche bzw. Nonnen gemeinsam teil, sondern sie hatten ursprüng-
lich auch einen gemeinsamen Schlafsaal, das dormitorium. Im
Hochmittelalter wurde es üblich, die Betten durch halbhohe Stell-
wände voneinander abzutrennen, und indem die Wände immer hö-
her wurden und schließlich die Decke erreichten, entstand im Spät-
mittelalter die Mönchszelle. Der Kapitelsaal ist der Versammlungsort
für die Mönche, wenn es um nicht-liturgische Angelegenheit geht, z.
B. die Beschlußfassung über die Aufnahme eines Novizen; zu Be-
ginn dieser Sitzungen wird jeweils ein Kapitel aus der Regel vorgele-
sen, daher der Name "Kapitelsaal".
Es sind uns mehrere Idealpläne eines Klosters überliefert. Der
bekannteste ist zweifellos der sog. St. Galler Klosterplan:
Sie sehen sehr schön in der Mitte den Kreuzgang, links daneben die
Kirche; die zwei etwas dunkler eingefärbten Gebäude auf der Au-
ßenseite der Kirche und ganz oben sind die beiden Schulen des Klo-
sters; wir werden uns im 24. Kapitel näher mit ihnen befassen. Hier
noch der Versuch einer Realisierung dieses Planes:
Wir kommen jetzt zu den unterschiedlichen Orden, und späte-
stens an dieser Stelle wird die Mönchsgeschichte so kompliziert und
unübersichtlich, daß ich nur versuchen kann, die wichtigsten Grund-
linien vorzuführen. Ein Orden ist ein Zusammenschluß mehrerer Klö-
ster, die einer gemeinsamen Spiritualität folgen, was sich in einer
gemeinsamen Ordensregel, gleichem Habit und oft auch gleichen
Bauprinzipien der Klöster niederschlägt; zwischen den Abteien be-
steht ein organisatorischer Zusammenhang, der in einem General-
kapitel und einem Ordensoberen gipfelt, oder wenigstens gipfeln
kann. Der Zusammenschluß kann auf der Basis der Gleichberechti-
gung geschehen, aber auch in der Weise, daß von einem Mutterklo-
ster einige Tochterklöster abhängen; diese Tochterklöster unter-
scheiden sich aber dadurch von den oben erwähnten Prioraten, daß
sie vollgültige Klöster sind und je einen eigenen Abt haben, während
bei jenen eigentlich nur ein auf mehrere Häuser verteilter Konvent
mit einem gemeinsamen Abt vorliegt. Schließlich wird für den Orden
die Anerkennung durch den apostolischen Stuhl verlangt, die nur
sehr zögernd gewährt wird; im Spätmittelalter ergingen wiederholt
Konzilsbeschlüsse, die die Gründung neuer Orden verboten.
Der älteste und zunächst einzige Orden ist der des hl. Bene-
dikt, der ordo sancti Benedicti, abgekürzt O.S.B. Und hier beginnen
schon die Ausnahmen, denn da es diesen Orden gewissermaßen
schon immer gab, ist er natürlich nicht durch den Zusammenschluß
von Klöstern entstanden, von einer päpstlichen Bestätigung kann
ebenso keine Rede sein, und eine Gesamtorganisation wurde ihm
erst nachträglich im 14. Jahrhundert von außen her auferlegt. Als
Benediktinerklöster bezeichnet man ganz einfach alle Klöster, die
nach der Regel des hl. Benedikt leben. Diese Klöster waren im frü-
hen und hohen Mittelalter von eminenter Bedeutung für die Kulturge-
schichte des Abendlandes, denn der Grundsatz der Benediktsregel
ora et labora – "bete und arbeite" wurde nicht nur auf die körperliche
Arbeit, sondern auch auf das Schreiben und Abschreiben von Bü-
chern angewandt; auf diese Weise, und nur auf diese Weise, ist der
größte Teil der antiken Werke für die Neuzeit erhalten geblieben.
Innerhalb des Benediktinerordens gibt es Teilzusammen-
schlüsse zu sog. Kongregationen. Deren berühmteste sind die Clu-
niacenser, eine Reformbewegung, die von dem 908 gegründeten
Kloster Cluny in Burgund ihren Ausgang nahm. Sie richtete sich vor
allem gegen den Einfluß der Laien in der Kirche und erlangte welthi-
storische Bedeutung, als ihre Vertreter, unterstützt durch Kaiser
Heinrich III., im 11. Jahrhundert in Rom Einfluß gewannen. Die Kon-
gregation wurde relativ streng geführt; so konnten Mönche aus den
Tochterklöstern nur in Cluny selbst die Profeß ablegen. Zu Cluny ge-
hörten im hohen und späten Mittelalter weit über 1000 Klöster. Die
Klosterkirche in Cluny war die größte Kirche des Abendlandes und
übertraf selbst die Peterskirche in Rom. Hier der Versuch einer Re-
konstruktion der Klosteranlage, die während der Französischen Re-
volution weitgehend zerstört wurde:
Eine weitere Reformbewegung, immer noch innerhalb des
Benediktinerordens, hatte ihr Zentrum in Gorze, einem Kloster bei
Metz. Die Gorzer Reformbewegung ist vor allem für Deutschland
wichtig; sie strahlte über St. Maximin bei Trier nach Osten aus und
hatte ein wichtiges Zentrum in St. Emmeram in Regensburg.
Da die Kirche auf Erden aber eine ecclesia semper reforman-
da ist, eine stets zu erneuernde Kirche, traten am Ende des 11.
Jahrhunderts Reformbewegungen auf, die eine strengere, asketi-
schere Lebensweise führen wollten. Deren wichtigste nimmt vom
Kloster Cîteaux bei Dijon ihren Ausgang. Sie entwickelt sich aus dem
Benediktinerorden heraus zu einem eigenen Orden, den Cistercien-
sern. Der Cistercienserorden wächst noch im 12. Jahrhundert auf
über 300 Klöster an.
Die Cistercienser ziehen die Handarbeit vor und lieben die
Einsamkeit. Deshalb bauen sie ihre Klöster vornehmlich in unbe-
wohnten Gegenden, wo sie bedeutende Leistungen für die Kultivie-
rung des Bodens erbringen. Aus den Cisterciensern geht der Spezi-
alorden des Joachim von Fiore hervor, den wir im 2. Kapitel erwähnt
haben. Ebenfalls am Ende des 11. Jahrhunderts entstanden als ei-
genständiger Reformorden die Karthäuser. Dagegen bleiben die
Camaldulenser, die Vallombrosaner und die von Papst Cölestin V.
begründeten Cölestiner Kongregationen innerhalb des Benediktiner-
ordens.
Neben diesen Orden, die alle auf die Regel des hl. Benedikt
zurückgehen, entwickeln sich aus anderer Wurzel, aber mit ähnli-
chen Ergebnissen zwei weitere Typen von Orden: die regulierten
Kanoniker und die Ritterorden.
Die Priestergemeinschaften, die an den Stiftskirchen, auch
den Bischofskirchen, zusammenleben, nehmen im Laufe des frühen
Mittelalters eine unterschiedliche Entwicklung: ein Teil von ihnen gibt
das gemeinsame Leben auf, das Stift wird zum weltlichen Kollegiats-
stift und seine Mitglieder zu weltlichen Kanonikern; dies ist gewöhn-
lich an den Domstiften der Fall, wo auf diese Weise die Domkapitel
entstehen, aber auch an anderen Kirchen. Der andere Teil gleicht
seine Lebensweise aber immer mehr derjenigen der Mönche an; da
sie dabei einer Regel folgen, nennt man sie regulierte Kanoniker. Als
Regel dient ihnen ein Text, der (fälschlich) auf den hl. Augustinus zu-
rückgeführt wird; deshalb heißen sie auch Augustiner-Chorherren. Zu
diesem Orden gehörte auch das Kloster, in dem wir uns hier befin-
den. Durch Zusammenschluß mehrerer regulierter Stifte entstehen
schließlich förmliche Orden, deren bekanntester wohl die Prämon-
stratenser sind.
Die Ritterorden sind gewöhnlich zur Zeit der Kreuzzüge im Hl. Land
entstanden. Sie verbinden die Sorge für die Pilger, auch ihre Pflege
im Krankheitsfall, mit der Verteidigung der heiligen Stätten. Die wich-
tigsten Ritterorden sind die Johanniter, die Templer und der Deut-
sche Orden. Nach dem Ende der Kreuzzüge hatten sie ein unter-
schiedliches Schicksal.
• Die Templer ließen sich hauptsächlich in Frankreich nieder, wo
sie sehr mächtig und einflußreich waren, bis sie zu Anfang des 14.
Jahrhunderts König Philipp dem Schönen zum Opfer fielen, der mit
Hilfe einer Rufmordkampagne ihre Auflösung durchsetzte.
• Die Johanniter wichen zunächst nach Rhodos, dann nach Malta
aus und bestehen als Malteser ja heute noch in ihrer ursprünglichen
Funktion. (Die heutigen "Johanniter" sind das protestantische Pen-
dant dazu.)
• Der Deutsche Orden fand im heidnischen Preußen ein neues
Betätigungsfeld, wo er den Deutsch-Ordensstaat errichtete.
In Spanien und Portugal gab es besondere Ritterorden, die während
der Reconquista eine wichtige Rolle spielten, danach aber überflüs-
sig wurden und unter den dominierenden Einfluß der Krone gerieten,
so die Orden von Alcántara, Calatrava und Santiago in Spanien so-
wie der Christusorden und der Avisorden in Portugal.
Eine völlig neue Richtung des Mönchtums nahm am Anfang
des 13. Jahrhunderts ihren Ausgang, die Mendikanten oder Bettel-
orden. Ihre beiden wichtigsten und zugleich ältesten Vertreter sind
der ordo fratrum minorum, abgekürzt O.F.M., zu deutsch Minderbrü-
der, besser bekannt unter dem Namen des Ordensgründers als
Franziskaner, und der ordo predicatorum, abgekürzt O.P., zu
deutsch Predigerorden oder Dominikaner. Die Bettelorden unter-
scheiden sich von den übrigen Orden durch eine radikalere Anwen-
dung des Prinzips der Besitzlosigkeit: nicht nur der einzelne Mönch
verzichtet auf weltlichen Besitz, sondern auch der Orden insgesamt;
folglich müssen sich seine Mitglieder ihren täglichen Lebensunterhalt
erbetteln, daher der Name.
Die Bettelorden bilden die Antwort der Kirche auf die häreti-
schen Bewegungen des 12. Jahrhunderts, die die Rückkehr des Kle-
rus zur Armut der Apostel forderten; wir gehen im 20. Kapitel näher
auf sie ein. Wegen dieser scheinbaren Nähe zur Häresie hat sich
Papst Innozenz III. dem Wunsch des hl. Franziskus gegenüber zu-
nächst auch ablehnend verhalten; jedoch in der Nacht darauf (so be-
richtet wenigstens die Legende) träumte er, wie der Bau der Kirche in
heftige Erschütterung geriet und eingestürzt wäre, wenn nicht ein
Mönch, der dem Bittsteller vom Vortage glich, ihn gestützt hätte –
hier in der Version Giottos:
Daraufhin erlaubte er anderntags dem hl. Franziskus und seinen Ge-
fährten, in der von ihnen gewünschten Weise zu leben.
Die absolute Besitzlosigkeit der Bettelorden ließ sich freilich
auf Dauer nicht durchhalten, denn eines gewissen weltlichen Besit-
zes, etwa Ordenshäuser oder Bücher, bedurften auch sie. Dieses Di-
lemma hat besonders beim Franziskanerorden zu schwersten Kon-
flikten geführt und eine Spaltung des Ordens hervorgerufen: eine
Minderheit, die sog. Observanten oder Spiritualen, beharrten auf
der kompromißlosen Anwendung der Regel des hl. Franz, die Mehr-
heit, die sog. Conventualen, schloß sich einer Interpretation der Re-
gel durch Papst Nikolaus III. von 1279 an, nach der die Mönche nur
den Gebrauch der weltlichen Güter hatten, während als ihr eigentli-
cher Besitzer der hl. Stuhl anzusehen sei. Für die Abwicklung weltli-
cher Geschäfte bedienten sich die Bettelorden eines Mittelsmannes.
Ihr geistliches Wirkungsgebiet lag in den Städten, wo sie sich Predigt
und Seelsorge widmeten und dabei übrigens häufig in Konflikt mit
dem weltlichen Pfarrklerus kamen.
Die Dominikaner sind berühmt und, wie man leider sagen
muß, auch berüchtigt durch ihre Rolle bei der Inquisition; daher
kommt auch die Deutung ihres Namens als domini canes, als "Spür-
hunde des Herrn".
Das einzelne Ordenshaus spielt bei den Bettelorden eine viel
geringere Rolle als bei den alten Orden; sein Vorsteher heißt auch
nicht Abt, sondern allenfalls Prior oder, bei Franziskanern, Guardian.
An der Spitze des gesamten Ordens steht bei den Dominikanern der
magister generalis, bei den Franziskanern der minister generalis. Ei-
ne Zwischenebene bilden die Ordensprovinzen.
Neben den beiden bisher genannten gibt es noch weitere Bet-
telorden, von denen ich nur die Karmeliter und die Augustiner-
Eremiten anführen will; letzterem Orden gehörte übrigens Luther an.
Die meisten Orden hatten, um auch das wenigstens noch kurz zu
erwähnen, eine weibliche Variante. Die Nonnenklöster waren genau-
so aufgebaut wie die Männerklöster und standen ihnen an Spirituali-
tät und, wenigstens im frühen Mittelalter, auch an Gelehrsamkeit kei-
neswegs nach. Es gab auch Doppelklöster unter einem gemeinsa-
men Abt oder einer gemeinsamen Äbtissin, bei denen Mönche und
Nonnen zum Chorgebet in derselben Kirche zusammentrafen, u.U.
allerdings durch eine Mauer getrennt.
20. KAPITEL:
DIE LITURGIE
DIE VERWICKLUNG DER KIRCHE in weltliche Angelegenheiten,
besonders die Stellung der deutschen Bischöfe als Reichsfürsten
und des Papstes als Herr des Kirchenstaates, sowie ihre ausgeprägt
formaljuristische Verfassung lassen leicht den Eindruck aufkommen,
daß sich die Tätigkeit der mittelalterlichen Kirche darin erschöpft hät-
te. Dieser Eindruck wäre falsch. Vielmehr hat sich die mittelalterliche
Kirche mit großem Aufwand und Eifer ihrer eigentlichen Aufgabe zu-
gewandt, dem Gottesdienst. Dies geschah durch das zweckfreie Got-
teslob und durch die Seelsorge als Predigt und Spendung der Sa-
kramente. Für die Sakramente galt die Siebenzahl:
• baptismus (Taufe),
• confirmatio (Firmung),
• confessio (Beichte),
• communio (Eucharistie),
• matrimonium (Ehe),
• ordo (Priesterweihe) und
• extrema unctio (letzte Ölung, heute Krankensalbung
genannt).
Es gab auch eine Liste mit 12 Sakramenten, die unter anderem auch
die Königskrönung enthielt, aber diese Liste hat sich nicht durchge-
setzt. Wir betrachten in diesem Kapitel die Eucharistie mit der sie
umgebenden Messe, dann das Stundengebet der Mönche. Auf die
Priesterweihe bin ich schon im 14. Kapitel eingegangen. Die übrigen
Sakramente werde ich bei der Beschreibung des täglichen Lebens
im 27. bis 35. Kapitel jeweils an ihrem Ort erwähnen.
Die Sprache der Messe war im Mittelalter selbstverständlich
Latein bzw. im byzantinischen Reich Griechisch. Die von Byzanz un-
abhängigen Kirchen des Orients, besonders jene, die im islamisch
beherrschten Gebiet liegen, verwenden ihre eigenen Sprachen, so
das Syrische, Armenische, Koptische usw. Die von Byzanz aus mis-
sionierten Slawen haben die byzantinische Liturgie übernommen, je-
doch in altbulgarischer Sprache, dem sog. Altkirchenslawisch. Im
Westen galt dagegen nur das Latein als zulässig.
Im lateinischen Bereich war bis ins 8. Jahrhundert die sog.
gallikanische Messe vorherrschend, gallikanisch deshalb, weil ihre
hauptsächlichen Zeugnisse aus Frankreich überliefert sind. Die galli-
kanische Messe galt ursprünglich auch in Rom, jedoch nahm die
römische Messe eine Reihe von Sonderentwicklungen, deren wich-
tigste eine knappere Diktion der Gebete, eine andere Stellung des
Credo und die Einführung des außerhalb von Rom nicht verwende-
ten Gloria sind. Unter den Karolingern wurde die römische Liturgie im
ganzen Abendland eingeführt und verdrängte die gallikanische, die
nur in zwei Gebieten erhalten blieb: in Mailand als Ambrosianische
Messe und im karolingisch nicht beherrschten Spanien als Mozara-
bische Messe. Aber auch innerhalb des römischen Ritus gab es
vielfältige lokale Variationsmöglichkeiten, die erst durch das Konzil
von Trient beseitigt wurden.
Die Ausgestaltung der Eucharistiefeier zu einem umfänglichen
Gottesdienst mit Gesängen, Gebeten und Lesungen geht bis auf die
frühchristliche Zeit zurück. Die älteste, um 150 verfaßte Beschrei-
bung enthält schon alle wesentlichen Teile. Um 400 erscheint die Li-
turgie bereits in der Weise ausgebildet, wie sie noch heute gefeiert
wird. Die Messe besteht aus zwei Teilen, der missa catechumeno-
rum und der missa fidelium, also der „Messe der Taufbewerber“ und
der „Messe der Gläubigen“, d.h. der bereits Getauften. Am zweiten
Teil, der missa fidelium, durften die Taufbewerber noch nicht teil-
nehmen, sondern mußten die Kirche verlassen.
Die missa catechumenorum, die früher Vormesse hieß und die
man heute Wortgottesdienst nennt, beginnt mit dem Eingangsgesang
(Introitus), der dem Psalter entnommen ist; der Introitus ist übrigens
auch für die Chronologie wichtig, da man nach seinen Anfangswor-
ten den Sonntag zu benennen pflegte: wenn also eine Urkunde da-
tiert ist „am Sonntag, da man in der heiligen Kirche singet Letare Ie-
rusalem“, so bezieht sich das auf den Anfang des Introitus, der übri-
gens am 4. Fastensonntag so lautet, oder auch Quasimodo am Wei-
ßen Sonntag; letzteres kennt man aus dem Glöckner von Notre-
Dame.
Nun folgen Gesänge, Gebete und Lesungen gemäß bestimm-
ten Regeln, die ich im Einzelnen aber nicht vorführe, sondern ich will
nur auf einige interessante Aspekte hinweisen. Den Höhepunkt des
Wortgottesdienstes bildet das Evangelium, d.h. die Lesung eines Ab-
schnittes aus einem der vier Evangelien; einen solchen Abschnitt
nennt man „Perikope“, einen Codex, in dem die Perikopen gesam-
melt sind, Perikopenbuch oder Evangelistar (im Gegensatz zum
Evangeliar, das die vollständigen Texte der Evangelien enthält). In
der feierlichen Messe sang der Diakon das Evangelium. Wenn der
König oder Kaiser an der Messe teilnahm, hatte er das Recht, das
Evangelium vorzutragen, wie z.B. von König Sigismund auf dem
Konstanzer Konzil ausdrücklich überliefert ist.
Bei der Papstmesse wird das Evangelium nicht nur in lateinischer,
sondern auch in griechischer Sprache vorgetragen.
Unmittelbar vor dem Evangelium wird das Alleluja gesungen.
An Festtagen war dafür eine besonders komplizierte und notenreiche
Melodie vorgesehen. Um diese schwierigen Tonfolgen besser aus-
führen zu können, wurden ihnen Texte unterlegt, aus denen sich
schließlich als eigener Gesang die Sequenz entwickelte. Die Se-
quenzen gehören zu den schönsten mittelalterlichen Dichtungen und
waren ehedem außerordentlich beliebt, boten aber auch Anlaß zu
dogmatisch gewagten Formulierungen. Deshalb hat das Konzil von
Trient sie sämtlich verboten, bis auf fünf, die heute noch gebraucht
werden: die Ostersequenz Victimae paschali laudes, die von Wipo,
dem Hofkaplan Konrads II., stammt; die Pfingstsequenz Veni, sancte
spiritus von Stephan Langton, Erzbischof von Canterbury zur Zeit In-
nozenz' III.; die Fronleichnamssequenz Lauda, Sion von Thomas
von Aquin; die Mariensequenz Stabat mater und schließlich das be-
rühmte Dies irae der Totenmesse, deren Autoren nicht genau fest-
stehen. Nach dem Evangelium konnten öffentliche Verkündigungen
vorgenommen werden, etwa die Publikation von Urkunden oder auch
feierliche Exkommunikationen; zu deren Ritus gehörte das Hinwerfen
einer brennenden Kerze, die im Fall natürlich verlosch, was selbst-
verständlich symbolisch zu sehen ist: der Sünder wird hinausgewor-
fen in die Finsternis, wo Heulen und Zähneknirschen herrscht.
Auf das Evangelium folgte im Mittelalter gewöhnlich keine
Predigt; die Predigt wurde eher vor oder nach der Messe gehalten.
An geeigneten Tagen wurde dem Volk aber der Inhalt des Evangeli-
ums noch einmal sichtbar vor Augen gestellt; so entstanden Oster-
und Krippenspiele. Am Himmelfahrtstag zog man eine Figur Christi
an einem Seil in die Höhe; dabei ereignete sich einmal ein schreckli-
ches Unglück: das Seil riß, die Statue fiel herunter und erschlug den
zelebrierenden Priester. An Pfingsten ließ man aus dem Schalloch
der Orgel eine weiße Taube in die Kirche fliegen. Dabei wurden
durchaus auch humoristische Szenen eingebaut. An Ostern wurde
etwa der Wettlauf der Jünger zum leeren Grab dargestellt, bei dem –
nach dem Bericht des Evangeliums – Johannes vor Petrus ankam.
Diese Bräuche waren bis ins 18. Jahrhundert hinein üblich, bis sie
von den "aufgeklärten" Regierungen verboten wurden.
Die missa fidelium, der zweite Teil der Messe, hat ihren Höhe-
punkt selbstverständlich in der Wandlung, also in der von Gott be-
wirkten Umwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi.
Diese wird von einem längeren Gebet, dem canon misse, umschlos-
sen. Dieses Gebet beginnt mit den Worten Te igitur, clementissime
pater, wobei das T gerne als verzierte Initiale ausgestaltet wird. Die
Kreuzesform des T legt es nahe, diese Miniatur als Kreuzigungsdar-
stellung zu gestalten:
Am Anfang des Kanon werden auch der jeweilige Bischof und
Papst sowie bis ins 11. Jahrhundert auch der König bzw. Kaiser ge-
nannt; so gewinnt bei zwiespältigen Wahlen oder beim Schisma
selbst dieses Gebet politische Brisanz. Im Mittelalter war teilweise
umstritten, ob die Wandlung während der Wandlungsworte vor sich
geht – so die westliche Auffassung – oder erst beim unmittelbar
nachfolgenden Gebet – so die östliche Ansicht. Es handelt sich dabei
um eine jener überflüssigen Kontroversen, die das Verhältnis zwi-
schen östlicher und westlicher Kirche im Mittelalter unnötig vergiftet
und das Schisma vertieft haben. Die Lehre von der Transsubstantia-
tion, daß also Brot und Wein vollständig in den wahren Leib und in
das wahre Blut Christi verwandelt werden, ist im Mittelalter erst all-
mählich zu voller Klarheit gekommen und auf dem 4. Laterankonzil
im Jahre 1215 formuliert worden. Daß die Reformatoren zu dieser
Lehre eine andere Auffassung vertreten, ist bekannt.
An dieser Stelle ist vielleicht ein kleiner Ausflug in die mittelal-
terliche Philosophie willkommen, um den Ausdruck "Transsubstantia-
tion" richtig zu verstehen. Für jedes Ding auf Erden ist zu unterschei-
den zwischen dem, was an ihm wesentlich ist, und dem, was auch
anders sein könnte, ohne das Wesen anzutasten. Das Wesentliche
nennt man lateinisch substantia; die zufälligen Eigenschaften, die
auch anders sein könnten, sind die accidentia. Das Wort accidentia
ist zusammengesetzt aus ad = zu und cadere = fallen, also "Zufall".
Nehmen wir als Beispiel einen Stuhl: das ist ein Sitzmöbel für eine
Person mit einer Rückenlehne. Diese Definition bezeichnet sein We-
sen, seine substantia. Ob der Stuhl aber drei, vier oder fünf Beine
hat, ob er aus Holz, Metall oder Kunststoff besteht, ob er gelb, grün,
braun, blau, rot oder gar durchsichtig ist – all das ändert nichts an
der Tatsache, daß es sich um einen Stuhl handelt. Diese unwesentli-
chen Eigenschaften sind also seine accidentia, seine zufälligen Qua-
litäten. Wenn wir aber die Rückenlehne wegnehmen oder die Sitzflä-
che so verbreitern, daß zwei Personen darauf Platz nehmen können,
dann ist er kein Stuhl mehr, sondern im ersten Fall ein Hocker, im
zweiten Fall eine Bank. Dieses Zusammenspiel von substantia und
accidentia, von Wesen und Zufall, hat im 17. Jahrhundert Angelus Si-
lesius sehr schön in den Vers gebracht:
"Mensch, werde wesentlich! Denn wenn die Welt vergeht,
Dann fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht."
Die Akzidentien können also geändert werden, ohne daß dadurch die
Substanz angetastet wird.
Bei der Transsubstantiation ist es nun genau umgekehrt: die
Akzidentien bleiben unverändert – Brot und Wein sehen nach wie vor
aus wie Brot und Wein und schmecken auch so –, aber die Substanz
hat sich geändert: sie sind eben jetzt Leib und Blut Christi und nicht
mehr Brot und Wein. Diese Änderung erschließt sich freilich nur dem
Gläubigen, oder, wie Thomas von Aquin formuliert:
"Augen, Mund und Hände täuschen sich in dir,
Doch des Wortes Botschaft offenbart dich mir.
Was Gott Sohn gesprochen, nehm' ich glaubend an:
Er ist selbst die Wahrheit, die nicht trügen kann."
Das ist, wie gesagt, das katholische und orthodoxe Dogma; die Re-
formatoren waren und sind anderer Auffassung.
Nach dem canon misse folgt u.a. der Friedenskuß, und zwar
nicht durch bloßes Händeschütteln, sondern durch eine wirkliche
Umarmung. Im Spätmittelalter wurde statt des gegenseitigen Kusses
eine Art Reliquie herumgereicht, die jeder einzeln küßte; dabei kam
es, und auch das ist für das Mittelalter typisch, zu Streitigkeiten über
die Reihenfolge, in der die einzelnen Gläubigen zum Zuge kamen.
Überhaupt ging es in der Kirche keineswegs so ruhig und ge-
sittet zu, wie wir es heute gewohnt sind (jedenfalls solange keine
Touristen oder Kleinkinder anwesend sind). Adlige brachten damals
ihre Hunde mit; laute Gespräche waren an der Tagesordnung. Und
da man beim Besuch der Messe Rüstung und Waffen abzulegen
pflegte, war der Gottesdienst der bevorzugte Termin für politische
Morde. Bekanntestes Beispiel ist wohl das Attentat auf die Medici-
Brüder Lorenzo den Prächtigen und Giuliano im April 1478, wobei
das Hochheben der Hostie durch den Priester das vereinbarte Signal
zum Losschlagen war. Sogar Angriffe auf den zelebrierenden Prie-
ster kamen vor, so auf Papst Gregor VII. beim Weihnachtsgottes-
dienst 1075.
Weniger dramatisch, aber überaus bezeichnend für das Mit-
telalter war folgender Vorfall. Ich muß vorausschicken, daß man im
Spätmittelalter glaubte, allein der Anblick einer konsekrierten Hostie
übe Heilswirkungen aus. Deshalb war es üblich, am Sonntag nach
präzise ausgearbeitetem Plan von Kirche zu Kirche zu gehen, um
dort immer genau in dem Augenblick anzukommen, in dem der Prie-
ster nach der Wandlung die Hostie hochhob und den Gläubigen zeig-
te. Da der Zelebrant mit dem Rücken zur Gemeinde stand, wie dies
bis zur Liturgiereform der 50er Jahre üblich war, konnte es vorkom-
men, daß er die Hostie nicht hoch genug hob und die Gläubigen sie
nicht sehen konnten. Es wird überliefert, daß bei einer solchen Gele-
genheit die Anwesenden dem Priester laut zuriefen, er solle die Ho-
stie gefälligst höher heben, man sehe sie ja gar nicht.
Auf den Friedensgruß folgt die Kommunion. Sie wurde im Al-
tertum und im frühen und hohen Mittelalter sub utraque specie, also
unter beiderlei Gestalten, Brot und Wein, gereicht, teilweise derart,
daß das Brot in den Wein getaucht wurde. Seit dem 13. Jahrhundert
erhielten die Laien in der Regel nur noch das Brot, während die
Geistlichen und einige bevorrechtigte Laien, so der französische Kö-
nig, unter beiderlei Gestalten kommunizierten. Die Forderung nach
dem Laienkelch, also der Austeilung des Weines auch an die Laien,
wurde im Spätmittelalter von allem von häretischen Gruppen erho-
ben, so etwa von den Hussiten. Im Grunde ist die Frage aber belang-
los, da nach der Lehre des Laterankonzils jeder Teil der Eucharistie
den ganzen Christus enthält. Sie zeigt aber die Neigung des Spätmit-
telalters, sich an Nebensächlichkeiten festzubeißen und darüber die
Hauptsache, die Einheit der Christenheit, zu vergessen.
Von Interesse sind vielleicht noch die Farben der Meßgewänder. Es
gibt im wesentlichen vier Farben: weiß, rot, grün und schwarz. Weiß
ist die Farbe der Feste, besonders der Weihnachts- und der Oster-
zeit; Rot ist die Farbe des Heiligen Geistes (an Pfingsten) und der
Märtyrer; Schwarz bezeichnet Trauer und Buße; Grün ist zu verwen-
den, wenn keine andere Farbe geboten ist, also hauptsächlich in der
langen Zeit nach Pfingsten bis zum Beginn des Advents. Schwarz
entwickelt als Nebenfarben Dunkelbraun und Violett; außerdem
kommen Gelb und Blau vor, die aber heute nicht mehr üblich sind.
Dieser Darstellung des äußeren Verlaufs der Messe wäre jetzt
noch eine Erläuterung ihres inneren Gehaltes hinzufügen. Ich über-
lasse dies aber den Theologen und begnüge mich mit dem Hinweis,
daß es solche Traktate bereits im Mittelalter in großer Zahl gab. Nur
ein Beispiel: von Innozenz III., der zwar ein skrupelloser Politiker,
aber trotzdem ein verantwortungsvoller Seelsorger war, stammt ein
sechs Bücher umfassendes Werk De sacro altaris mysterio, in dem
er jeden einzelnen Ritus und jedes Détail der liturgischen Kleidung
ausführlich erläutert.
Wir gehen jetzt über zu einer Form der Liturgie, die noch stär-
ker als die Messe die Verpflichtung der Kirche zum beständigen Got-
teslob, der laus perennis, betont: dem Stundengebet der Mönche.
Im Rahmen der Passionserzählung berichtet Markus (14, 38)
folgenden Ausspruch: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versu-
chung fallet. Denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“
Und von der Urgemeinde heißt es in der Apostelgeschichte (2, 46):
„Täglich verharrten sie einmütig im Tempel.“ Die Konsequenz aus
diesen beiden und vielen ähnlichen Bibelstellen bildet das Stunden-
gebet, lateinisch hora, übersetzt die Hore, zu dem sich die Mönche
im Laufe eines Tages achtmal versammeln. Warum gerade achtmal,
erläutert die Regel des hl. Benedikt im 16. Kapitel: „Wie oft der Got-
tesdienst täglich abgehalten werden soll.“ Das Kapitel hat folgenden
Wortlaut: „So sagt der Prophet: 'Siebenmal am Tage sagte ich dir
Lob.' Diese geheiligte Siebenzahl wird von uns dadurch erfüllt, daß
wir zur Morgenstunde, zur ersten, zur dritten, zur sechsten, zur neun-
ten Stunde, zur Abendstunde und zur Zeit des Nachtgebetes den
Dienst unserer Unterwerfung erfüllen, denn über diese Stunden hat
er ja gesagt: 'Siebenmal am Tag sagte ich dir Lob.' Über die Nacht-
wachen aber sagt derselbe Prophet: 'Mitten in der Nacht stand ich
auf, um dir zu bekennen.' Also zu diesen Zeiten bringen wir unserem
Schöpfer Lob, d.h. am Morgen, zur ersten, dritten, sechsten, neunten
Stunde, am Abend, zur Zeit des Nachtgebets; und in der Nacht erhe-
ben wir uns, um ihn zu bekennen.“
Diese acht Gebetsstunden sind für alle Mönchsorden verbind-
lich geworden; Abweichungen beziehen sich nur auf die Auswahl der
Texte. Sie müssen außer von den Mönchen auch vom Weltklerus
gebetet werden und heißen dann Brevier. Die acht Horen sind also:
1. die Matutin (auf Deutsch: Mette) oder Vigil, die in der Nacht
gehalten wird;
2. die Laudes, zur Zeit der Morgenröte, beim ersten Hahnen-
schrei;
3. die Prim, zur ersten Tagesstunde;
4. die Terz, zur dritten Tagesstunde. Sie erinnert an die Herab-
kunft des Hl. Geistes am Pfingsttag;
5. die Sext, zur sechsten Tagesstunde, also mittags. Sie erinnert
an den Sündenfall und an die Kreuzigung Christi;
6. die Non, zur neunten Tagesstunde. Sie erinnert an den Tod
Christi;
7. die Vesper, bei Sonnenuntergang;
8. die Komplet, bei Einbruch der Dunkelheit.
Bei der Angabe der Tagesstunden ist zu beachten, daß die Stunden
im Mittelalter, je nach Jahreszeit, unterschiedlich lang waren. Man
teilte stets die gesamte Zeit von Sonnenaufgang bis Sonnenunter-
gang in zwölf Stunden ein, die demnach im Sommer länger, im Win-
ter kürzer waren. Umgekehrt waren die Nachtstunden im Winter län-
ger und im Sommer kürzer. Erst vom 14. Jahrhundert an kommt,
nach Erfindung und Vervollkommnung der mechanischen Uhren, die
heute übliche gleichmäßige Stundenlänge auf. Man nennt die varia-
ble Stundenlänge Temporalstunden, die feste Äquinoktialstunden,
weil bei ihnen die Stunden immer so lang sind wie beim Äquinoktium,
der Tag- und Nachtgleiche.
Im Spätmittelalter wurden die Horen aber nicht mehr genau zu
dem ursprünglichen Zeitpunkt gehalten: die Matutin wird schon am
Vorabend gebetet, und die Tageshoren werden immer mehr auf den
Vormittag geschoben. Damit rückte auch der Zeitpunkt der Haupt-
mahlzeit immer weiter herauf, denn diese – und das ist der eigentli-
che Grund für dieses „Antizipieren“ – durfte in der Fastenzeit erst
nach der Non gehalten werden. Schließlich lag die Non regelmäßig
auf 12 Uhr mittags und die Vesper auf dem Nachmittag. Deshalb
heißt Mittag im Englischen heute noch noon oder high noon, und Sie
können, wenn Sie wollen, bereits am Nachmittag vespern.
Zur Matutin ist noch zu sagen, daß sie im Sommer unmittelbar
vor den Laudes, im Winter, der bei Benedikt vom 1. November bis
Ostern dauert, zur 8. Nachtstunde gehalten wurde, also gegen 2 Uhr.
Für ausreichenden Schlaf der Mönche ist also durchaus gesorgt. Be-
nedikt formuliert etwas handfester, indem er schreibt, die Matutin sol-
le erst stattfinden, wenn das Abendessen verdaut sei.
Ein Mönch freilich mußte Nachtwache halten, um seine Mit-
brüder zum richtigen Zeitpunkt zu wecken. Wie aber stellte er diesen
Zeitpunkt fest? Die am Tag verwendete Sonnenuhr fiel aus. Daneben
besaß das Mittelalter noch die Sanduhr sowie Uhren, die mit Wasser
betrieben wurden. Die mechanische Uhr war, wie schon erwähnt,
erst vom späten 13. Jahrhundert an ausgereift. Hinzu kam die
Schwierigkeit der unterschiedlich langen Nachtstunden. Eine Mög-
lichkeit war die Beobachtung der Gestirne, wofür es eigene Anleitun-
gen gab, aber bei bewölktem Himmel war auch das nicht möglich.
Eine weitere, interessante Lösung war die, daß der wachhabende
Mönch ein bestimmtes, jahreszeitlich variiertes Gebetspensum für
sich absolvieren mußte, nach dessen Ende er die Mitbrüder zum
gemeinsamen Gebet rief. Dennoch dürfte es oft genug vorgekom-
men sein, daß die Matutin verspätet begann. Das brachte dem ver-
schlafenen Mönch zwar eine Strafe ein, sein Seelenheil hat es sicher
nicht gefährdet.
Die Bestandteile des Stundengebets sind Psalmen, Hymnen
und Lesungen. Es gilt der Grundsatz, daß sämtliche 150 Psalmen im
Laufe einer Woche gesungen werden sollen. Dies ist gar nicht so
schwierig, da allein die Matutin mindestens neun, meist aber zwölf
und mitunter sogar achtzehn Psalmen enthält, die Laudes und die
Vesper je fünf, die übrigen Horen je drei. Das sind zusammen 34
Psalmen, so daß bei sieben Tagen pro Woche einige der 150 Psal-
men sogar doppelt vorkommen. Als Psalmen fungieren auch eine
Reihe psalmenähnlicher Gesänge aus anderen Büchern der Bibel,
die man Canticum nennt, z.B. der Gesang der drei Jünglinge im
Feuerofen (Dan. 3, 57-88).
Neben Psalmen und Cantica finden die Hymnen Verwendung,
die von mittelalterlichen Dichtern stammen und den Sequenzen der
Messe vergleichbar sind. Als ihr Erfinder gilt der hl. Ambrosius, Bi-
schof von Mailand im 4. Jahrhundert; von ihm stammen die Hymnen
Eterne rerum conditor, das sog. Lied vom Hahnenschrei, sowie
Splendor paterne glorie, die beide in den Laudes Verwendung fin-
den. Weitere Hymnen bekannter Verfasser sind Vexilla regis und
Pange, lingua, gloriosi von Venantius Fortunatus, einem Reisedichter
der Merowingerzeit, Veni, creator spiritus von Hrabanus Maurus oder
Tantum ergo sacramentum von Thomas von Aquin.
Die Lesungen des Stundengebets heißen in der Matutin Lek-
tionen, sonst Kapitel, wobei die Kapitel kürzere, die Lektionen länge-
re Texte darstellen. Am Schluß jeder Lesung sagt der Abt: Tu autem,
domine, und der Lektor antwortet: miserere nobis – „du aber, Herr,
erbarme dich unser“; Handschriften, die diese Formel tragen, waren
also für das Stundengebet bestimmt. Die Texte der Lesungen sind
der Bibel entnommen, die im Verlaufe eines Jahres einmal ganz ge-
lesen werden soll; sie stammen aber auch, besonders an Heiligenfe-
sten, aus den Legendensammlungen, deren bekannteste wohl die
Legenda aurea des Jacobus de Voragine ist. Von dieser Funktion lei-
tet sich übrigens der Ausdruck "Legende" – wörtlich: das zu Lesende
– ab.
Den Abschluß der einzelnen Horen nach Gesang und Lesung
bilden Gebete, die stets das Vaterunser, auch das Glaubensbe-
kenntnis, in der Matutin z.B. oft auch das Tedeum enthalten.
21. KAPITEL:
DIE MUSIK IM MITTELALTER
DIE BETRACHTUNG DER LITURGIE scheint mir auch der richtige
Ort, um kurz auf die mittelalterliche Musik einzugehen. Dabei ist es
natürlich nicht meine Absicht, eine Kurzfassung der Musikgeschichte
zu geben, sondern ich will, wie stets in dieser Vorlesung, auf einige
Aspekte hinweisen, die im Mittelalter anders sind als heute. Die mit-
telalterliche Musik ist zunächst einstimmig und vokal. Im kirchlichen
Bereich geht sie selbstverständlich vom Gregorianischen Choral
aus, der damals zwar auf Gregor den Großen zurückgeführt wurde,
aber wahrscheinlich erst durch Gregor II. ein Jahrhundert später sei-
ne endgültige Form fand. Pippin und Karl der Große ließen die römi-
sche Singweise zum allgemeinen Vorbild erklären. Sie importierten
Sänger aus Italien, und die Schule von Metz wurde so etwas wie ei-
ne Musikhochschule für das ganze Reich. Für Passau war allerdings
mehr St. Gallen maßgebend.
Vom 9. Jahrhundert an wurde die Musik mehrstimmig, oder
genauer gesagt: sie konnte auch mehrstimmig werden, denn der ein-
stimmige Gesang wurde stets weitergeführt, wobei gerade Rom und
die päpstliche Kurie besonders konservativ waren. Der Vortrag dürfte
sich übrigens von der heutigen sterilen Singweise im Beuroner Stil
erheblich unterschieden haben; insbesondere dessen gleichmäßig-
einschläfernde Notenlänge ist sicher falsch. Ferner gibt es deutliche
Hinweise auf Triller und Glissandi.
Die mehrstimmigen Gesänge heißen organum. Den Anfang
bildeten einfache Quint- oder Quartparallelen, wobei man hinzusa-
gen muß, daß nur diese beiden Intervalle als Konsonanzen galten;
Terz und Sext gelten ursprünglich als Dissonanzen, eine Auffassung,
die sich endgültig erst in der Renaissance, also vom 15. Jahrhundert
an, ändert. Auf der nächsten Stufe der Mehrstimmigkeit werden dem
Gregorianischen Choral, der stets als feste Grundlage, als cantus
firmus, dient, eine oder mehrere Stimmen in Gegenbewegung hinzu-
gesellt; sie bilden dann den discantus. Sodann können diese zusätz-
lichen Stimmen verziert werden, so daß einer Note des cantus firmus
mehrere Noten der anderen Stimmen gegenüberstehen; man spricht
dann von Melismen. Schließlich werden diesen Melismen eigene
Texte unterlegt, was man, abgeleitet vom französischen mot (Wort)
als „Motette“ bezeichnet. Es werden dann also unterschiedliche Tex-
te gleichzeitig gesungen.
Die mittlere Stimmlage, in der der cantus firmus ausgeführt
wird, nennt man den tenor, wohl, weil die einfache Melodie des can-
tus firmus lang ausgehaltene Noten erfordert. Die gegen den tenor
gesetzten Melismen werden logischerweise vom contratenor ausge-
führt, und zwar die hohen Stimmen als contratenor altus und die tie-
fen als contratenor bassus. Damit haben wir die vier klassischen
Stimmhöhen beisammen: Baß, Tenor, Alt und Diskant, wobei man
statt Diskant heute gerne Sopran sagt; eine besonders hohe Män-
nerstimme heißt auch heute noch Kontratenor.
Die Melodien wurden ursprünglich rein mündlich weitergege-
ben. Dies war sehr schwierig und zeitaufwendig, und der Gesangs-
unterricht in den Klosterschulen war deshalb für beide Seiten beson-
ders nervenaufreibend. Für die Schüler konnte das schmerzhafte
Folgen haben: so wird glaubhaft berichtet, daß die Kaiserin Adelheid
– beiläufig eine temperamentvolle Südfranzösin – sogar einmal wäh-
rend des Gottesdienstes eine falsch singende Nonne ohrfeigte.
Deshalb wurde schon bald versucht, die Melodien schriftlich
zu fixieren; dies gelang zunächst aber nur sehr unvollkommen. Es
gab die Bezeichnung der Töne durch Buchstaben, wie das heute
noch üblich ist: die normale Oktave durch die kleinen Buchstaben
von a – g, die tiefere Oktave durch die entsprechenden Großbuch-
buchstaben, die höhere Oktave durch Verdoppelung der kleinen
Buchstaben; ganz unten, unter das große A, setzte man noch ein
griechisches Γ:
Solche Verhältnisse pflegte man sich im Mittelalter bildlich vorzustel-
len, etwa in der folgenden Weise:
Oder dasselbe aus einer mittelalterlichen Handschrift:
Der Versuch, diese Buchstaben über den Text zu schreiben,
wurde bald als unpraktikabel aufgegeben. Die älteste Form einer
speziellen Notenschrift sind die Neumen; das sind Zeichen, die die
Bewegungsrichtung der Melodie andeuteten. Die verschiedenen Zei-
chen haben Namen. Z.B. zwei steigende Töne sind der Podatus
; zwei fallende der Clivis ; drei Töne, von denen der mittlere
höher ist, bilden den Torculus ; usw. Hier eine kleine Auswahl:
Im Rahmen einer Handschrift kann das dann so aussehen:
Die Neumen ähneln den Dirigierbewegungen des Chorleiters. Sie
haben aber einen entscheidenden Nachteil: sie geben zwar die Rich-
tung der Melodie an, aber nicht die eigentliche Tonhöhe. Sie sind al-
so mehr eine Erinnerungshilfe für den, der die Melodie bereits kennt;
es ist nicht möglich, mit ihrer Hilfe eine unbekannte Melodie neu zu
erlernen.
Abhilfe schuf hier erst im 11. Jahrhundert das System des
Guido von Arezzo. Hier sehen Sie ihn links, mit dem Bischof von
Arezzo:
Guido war zweifellos einer der genialsten Musikpädagogen über-
haupt, wenn auch keineswegs alle seine Zeitgenossen dies erkannt
haben. Er war zunächst Mönch im altehrwürdigen Kloster Pomposa
(45 km nördlich von Ravenna), geriet aber wegen seiner progressi-
ven Unterrichtsmethoden mit seinem Abt in Streit und floh nach
Arezzo südöstlich von Florenz. Der dortige Bischof nahm ihn auf und
arrangierte es auch, daß Guido sein Verfahren dem Papst in Rom
vorführen konnte. Dieser "Workshop" (wie man heute wohl sagen
würde) war ein voller Erfolg, bei dem es dem Papst selbst gelang, ei-
ne ihm unbekannte Melodie korrekt vom Blatt zu singen. Daraufhin
ließ der Abt von Pomposa bei Guido anfragen, ob er nicht in sein
Kloster zurückkehren wolle ...
Guidos Neuerung bestand darin, die Neumen auf Linien zu
setzen und diese Linien im Terzabstand zu zeichnen, wie das bis auf
den heutigen Tag üblich ist. Außerdem färbte er die C-Linie gelb und
die F-Linie rot ein. (C und F sind bekanntlich die Tonhöhen, unter
denen der Halbtonschritt liegt.) Eine weitere Idee Guidos ist die Be-
nennung der Töne durch Silben. Dazu komponierte er den Hymnus
zum Johannistag neu, und zwar mit folgender Melodie:
Dabei beginnt, wie Sie sehen, jede Zeile einen Ton höher als die vo-
rige. Wenn Sie nun die ersten Silben dieser Zeilen betrachten, ergibt
sich eine wohlbekannte Reihe: ut, re, mi, fa, sol, la. Aber auch die
Silben bezeichnen nicht die absolute Tonhöhe, sondern nur die rela-
tive Lage der Töne zueinander, also besonders den Halbton zwi-
schen mi und fa.
Guido von Arezzo hat uns den Gefallen getan, in mehreren
Schriften sein System selbst zu erläutern; bemerkenswert ist die Be-
gründung, die er für seine Neuerungen gibt: id solum procurans,
quod ecclesiaticae prosit utilitati nostrisque subveniat parvulis, also
"ausschließlich zum Vorteil des Gottesdienstes und zum Nutzen der
Schüler". Wie fortschrittlich der zweite Grundsatz war – Rücksicht auf
die Bedürfnisse der Schüler – werden Sie erkennen, wenn ich im 32.
Kapitel die mittelalterliche Pädagogik vorführe.
Vom 12. Jahrhundert an entwickelt sich aus den Neumen die
Quadrat-Notation,
im 14. und 15. Jahrhundert die gotische Hufnagelnotation, bei der die
Quadrate durch Rhomben ersetzt sind.
Die runden Notenköpfe sind neuzeitlich.
Werfen wir jetzt noch einen Blick auf die Tonarten. Die mittel-
alterliche Musik kennt 8 modi, worunter aber nicht ganz genau das
gleich zu verstehen ist wie unter unserem Dur und Moll. Ein modus
ist ein Ausschnitt aus der natürlichen Tonleiter im Umfang einer Ok-
tave; innerhalb dieses Umfangs hielten sich üblicherweise die Melo-
dien. Im einzelnen heißt der Ausschnitt
von d bis d: dorisch,
von e bis e: phrygisch,
von f bis f: lydisch,
von g bis g: mixolydisch,
von a bis a: hypodorisch,
von h bis h: hypophrygisch,
von c bis c: hypolydisch und
von d bis d: hypomixolydisch.
Sie unterscheiden sich also durch die Lage der Halbtöne. Außerdem
gibt es bestimmte bevorzugte Töne, die z.B. im Dorischen d und a
sind, im Hypomixolydischen, das ja dieselbe Oktave umfaßt, aber g
und c. Die Namen der modi stammen aus der Antike, wurden damals
aber noch in etwas anderer Weise verwendet als im Mittelalter.
Der einstimmige Gesang oder auch die einzelnen Stimmen eines
mehrstimmigen Gesanges konnten durch Instrumente gestützt oder
ersetzt werden, aber das war keineswegs die Regel, und der römi-
sche liturgische Brauch war auch hier besonders konservativ. Vor al-
lem die Blasinstrumente waren dem Mittelalter ein wenig suspekt,
denn man konnte ja nie wissen, ob nicht ein Dämon in die Pfeife
schlüpfte und statt des Spielers also der Teufel die Musik machte.
Saiteninstrumente waren da weniger gefährlich, zumal es mit dem
harfespielenden König David ein prominentes Vorbild gab. Eine wich-
tige Rolle spielen auch die Glocken.
Die Orgeln waren Prestigeinstrumente, die sich mitunter die
Herrscher gegenseitig zum Geschenk machten: so schenkte der by-
zantinische Kaiser Konstantin V. dem fränkischen König Pippin ein
solches Instrument, und auch Karl der Große wurde 811 von seinem
östlichen Kaiserkollegen auf diese Weise beglückt. Generell wurden
die Orgeln aber nur an hohen Feiertagen gespielt. Eine Komplikation
bildete auch das laute Geräusch der Mechanik, das die Musik zu
übertönen drohte; erst als man im Spätmittelalter die Blasebälge
usw. in einen Raum außerhalb des Kirchenschiffes verlegte, war die-
ses Problem von geringerer Bedeutung. Die Orgel war der christli-
chen Kirche anfangs auch deshalb suspekt, weil sie bei den antiken
Zirkusspielen die Hintergrundmusik lieferte.
Die weltliche Musik unterschied sich nicht sehr von der kirchli-
chen, nur herrschte hier größere Freiheit, auch in der Anwendung
von Instrumenten. Beide Bereiche waren auch gar nicht so streng
getrennt; es war durchaus gängig, einer geistlichen Melodie einen
weltlichen Text zu unterlegen und umgekehrt: dieses Verfahren heißt
Parodie. Diese Praxis lebt in der Neuzeit weiter. So gehört zu der
Melodie des Passionsliedes "O Haupt voll Blut und Wunden" ur-
sprünglich der folgende Text: "Mein Geist ist mir verwirret von einer
Jungfer zart."
22. KAPITEL:
BIBEL UND BIBELDEUTUNG IM MITTELALTER
ICH HABE ZU BEGINN DIESER Vorlesung gesagt, ich wolle beson-
deren Wert auf diejenigen Aspekte des Mittelalters legen, die von
neuzeitlichen Gewohnheiten abweichen. Im zweiten Teil dieses Kapi-
tels, wenn ich auf die mittelalterliche Technik der Bibeldeutung zu-
rückkomme, wird dies exemplarisch der Fall sein. Doch zunächst zur
Bibel selbst.
Die Bibel ist die wichtigste Quelle des Mittelalters für Religion,
Politik und Naturwissenschaft. Ein gewisses Maß an Bibellektüre ist
daher für jeden Historiker unabdingbar, unabhängig von seiner per-
sönlichen Glaubensüberzeugung. Die Bibel, lateinisch meist sacra
scriptura, heilige Schrift, genannt, besteht, wie Sie wissen, aus zwei
Teilen, dem Alten und dem Neuen Testament. Dabei ist das alte Te-
stament Juden und Christen gemeinsam, während das Neue Testa-
ment die spezifisch christliche Offenbarung enthält. Das Alte Testa-
ment ist bei den Juden in vierundzwanzig, bei den Christen bei glei-
chem Textbestand in neununddreißig oder auch 46 Bücher eingeteilt.
Diese Bücher sind in sich ursprünglich nicht weiter unterteilt. Die uns
heute geläufige Gliederung in Kapitel stammt erst aus dem 12. Jahr-
hundert, die Untergliederung der Kapitel in gezählte Verse erst aus
dem 16. Jahrhundert.
Die Bücher des Alten Testaments werden nach inhaltlichen
Gesichtspunkten in drei Gruppen eingeteilt, nämlich in geschichtliche
Bücher, Lehrbücher und prophetische Bücher.
Aufbau der Bibel Altes Testament
historische Bücher 5 Bücher Moses (Pentateuch):
Genesis
Exodus
Leviticus
Numeri
Deuteronomium
Josue
Richter
Ruth
1. + 2. Samuel (= 1. + 2. Könige)
1. + 2. Könige (= 3. + 4. Könige)
1. + 2. Chronik
1. + 2. Esdras
Tobias
Judith
Esther
1. + 2. Makkabäer
belehrende Bücher Hiob
Psalmen
Sprüche
Prediger
Hohes Lied
Weisheit
Jesus Sirach
prophetische Bücher "große" Propheten:
Isaias
Jeremias
mit Klageliedern
und Baruch
Ezechiel
Daniel
"kleine" Propheten:
Osee
Abdias
Joel
Amos
Jonas
Michaeas
Nahum
Habakuk
Sophonias
Aggaeus
Zacharias
Malachias
Zu den geschichtlichen Büchern gehören 21 Titel, beginnend mit den
fünf Büchern des Moses, also Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri
und Deuteronomium, die man zusammengefaßt auch als Pentateuch
bezeichnet, wörtlich übersetzt fünffaches Gefäß. Es folgen das Buch
Josua, das Buch der Richter und das Buch Ruth. An sie schließen
sich das 1. und 2. Buch Samuel an sowie das 1. und 2. Buch der Kö-
nige; manchmal bezeichnet man diese 4 Bücher auch alle als Bücher
der Könige, die dann als 1. bis 4. Buch der Könige gezählt werden.
Die bisher aufgezählten Bücher schildern die Geschichte der
Welt seit der Schöpfung und die Geschichte des Volkes Israel bis
zum Ende des jüdischen Staates nach der Eroberung durch Assyrer
und Babylonier und die Verschleppung der Bevölkerung nach Meso-
potamien im 6. Jahrhundert. Ich gehe auf die Inhalte gleich noch et-
was näher ein. In der Reihe der Bibelbücher folgen die beiden Bü-
cher der Chronik, die das Ganze noch einmal zusammenfassen, teils
in tabellarischer Form. Die restlichen historischen Bücher des Alten
Testaments schildern die Geschichte des jüdischen Staates nach der
vom Perserkönig Kyros gestatteten Rückkehr der Bevölkerung nach
Palästina; es sind die Bücher Esra, Nehemias, Tobias, Judith, Esther
und die beiden Bücher der Makkabäer.
Schauen wir uns den Inhalt etwas näher an, wobei ich denje-
nigen von Ihnen, die bibelfest sind, nichts Neues sagen werde, den
übrigen aber vielleicht schon. Das Buch Genesis beginnt mit der Er-
schaffung der Welt und des Menschen, dem Sündenfall, der Vertrei-
bung aus dem Paradies, dem Mord Kains an Abel und der Ausbrei-
tung der Menschheit über die Erde. Allerdings neigen die Menschen
so sehr zur Sünde, daß Gott mit der Feststellung, es reue ihn, den
Menschen gemacht zu haben, die Sintflut schickt, in der alle Lebe-
wesen umkommen sollen. Einzige Ausnahme ist Noe, der – rechtzei-
tig vorgewarnt – die Arche baut und mit seinen drei Söhnen und den
zugehörigen vier Ehefrauen die Flut überlebt. Von diesen vier Paaren
stammt die weitere Menschheit ab, deren Ausbreitung in langen Ge-
schlechterlisten aufgezählt wird. Sie breiten sich, wie Sie sich aus
dem 3. Kapitel dieser Vorlesung erinnern, auf die drei Erdteile Asien,
Europa und Afrika aus.
Die Menschen dieser zweiten Siedlungswelle erweisen sich
aber als nicht weniger sündig als ihre Vorgänger, so daß sie Gott zu
einer zweiten Strafaktion genötigt sieht, zumal die Menschen in Ba-
bylon den Bau eines Turmes beginnen, der so hoch sein sollte, daß
die Schöpfungsleistung Gottes daneben verblassen würde. Indes hat
Gott Noe nach der Sintflut zugesagt, die Menschheit nie mehr durch
eine globale Katastrophe zu vernichten; deshalb greift er jetzt zu ei-
nem anderen Mittel und verwirrt die Sprache der Menschen, so daß
der Turmbau aufgrund der Kommunikationsprobleme zum Erliegen
kommt.
Das waren die ersten 11 Kapitel der Genesis. Danach verengt
sich der Fokus der Erzählung auf die Geschichte des Abraham. Die-
ser ist verheiratet mit Sara, die aber lange Zeit keinen Sohn zur Welt
bringen kann. Deshalb empfiehlt sie Abraham, ersatzweise mit seiner
Magd Hagar zu schlafen, damit er nicht ohne Erbe bleibt. Das ge-
schieht auch, und aus der Verbindung geht Ismael hervor. Etliche
Zeit später bekommt Sara doch noch einen Sohn: Isaak. Daraufhin
werden Hagar und Ismael in die Wüste vertrieben; Ismael gilt als der
Stammvater der Ismaeliten, d. h. der Araber. Im Koran wird die Ge-
schichte übrigens etwas umgedeutet: dort gilt die Verbindung zwi-
schen Abraham und Hagar als rechtmäßige Ehe und folglich Ismael,
als Abrahams Erstgeborener, als der bevorrechtigte Erbe. Abraham
besteht dann eine Glaubensprobe, denn als Gott von ihm verlangt,
ausgerechnet Isaak als Opfer darzubringen, ist Abraham wider-
spruchslos dazu bereit, jedoch verzichtet Gott im letzten Moment auf
dieses Opfer.
Isaaks Sohn Jakob, der auch Israel heißt, ist dann der eigent-
liche Stammvater des Volkes Israel, seine Söhne die Stammväter
der zwölf Stämme dieses Volkes: Ruben, Simeon, Levi, Juda, Issa-
char, Sebulon, Josef, Benjamin, Dan, Naftali, Gad, Ascher. Zunächst
aber kommt es zu einem Eifersuchtsdrama unter den Zwölfen, in
dessen Verlauf Josef nach Ägypten in die Sklaverei verkauft wird, wo
er aber nach einigen Komplikationen zum Wesir des Pharao auf-
steigt. Als solcher kann er, als in Palästina eine Hungersnot aus-
bricht, seine Familie nach Ägypten holen und so ihr Überleben si-
chern.
Soweit reicht das Buch der Genesis. Wenn Sie sich an das er-
innern, was ich Ihnen im 2. Kapitel über die Bibelinterpretation nach
dem vierfachen Schriftsinn vorgetragen habe, werden Sie ohne wei-
teres erkennen, wie ergiebig die Genesis dafür ist. Josef, der verra-
ten wird und leidet, schließlich aber zur Rechten seines Herrn sitzt,
läßt sich auf Passion und Auferstehung Christi deuten, Sara und Ha-
gar auf Kirche und Synagoge usw.
Im Folgenden wollen wir wesentlich schneller vorangehen:
nach einem Dynastiewechsel in Ägypten werden die Israeliten aus
geschätzten Gästen zu unliebsamen Konkurrenten, die unterdrückt
und schließlich von Gott selbst befreit werden. Unter ihrem Anführer
Moses ziehen sie durch die Wüste nach Palästina; unterwegs erhal-
ten sie am Berg Sinai das religiöse Gesetz, beginnend mit den Zehn
Geboten, aber auch eine Fülle weiterer Regelungen. Mit göttlicher
Hilfe nehmen sie Palästina in Besitz, wo den einzelnen Stämmen
Siedlungsgebiete zugewiesen werden. Es bleibt aber bei einem lok-
keren Verband der Stämme; nur in Krisenzeiten wird ein gemeinsa-
mer Anführer (als "Richter" bezeichnet) eingesetzt.
Etwa um die Jahrtausendwende kommt es dann doch zur
Staatesbildung mit einem König an der Spitze, zunächst Saul, der
dann aber nach anfänglich erfolgreicher Regierung einem Konkur-
renten und Gegenkönig aus einem anderen Stamm, nämlich David,
unterliegt. Unter dessen Sohn und Nachfolger Salomon erreicht das
Reich seine größte Bedeutung und Ausdehnung. Nach Salomons
Tod zerfällt das Reich aber in zwei Teile, Israel im Norden und Juda
im Süden. Diese beiden Teile bekämpfen sich teils gegenseitig, vor
allem aber werden sie immer mehr zum Spielball in den Auseinan-
dersetzungen der beiden Großmächte des vorderen Orients: Ägyp-
ten im Süden und Assyrien bzw. später Babylon im Nordosten. Dabei
wird zunächst das Nordreich Israel von den Assyrern, später auch
das Südreich Juda von den Babyloniern erobert und die Bevölkerung
nach Mesopotamien verschleppt.
Nun hätte zusammen mit dem jüdischen Staat eigentlich auch
die jüdische Religion enden müssen, denn die Kriege in der Antike
sind nicht nur Auseinandersetzungen der Menschen, sondern immer
auch Kämpfe der jeweiligen Götter. Da der jüdische Gott es nicht ge-
schafft hatte, sein Volk vor der Eroberung zu bewahren, hätte der
Glaube an ihn untergehen müssen. Daß dies nicht geschah, ist nun
die Leistung der jüdischen Theologen der Exilzeit. Sie boten ein Er-
klärungsmuster an, das später auch für die christlichen Vorstellung
enorm wichtig wird: nicht die babylonischen Götter haben gesiegt,
sondern der jüdische Gott selbst war es, der den Babyloniern den
Sieg verliehen hat – und zwar, um sein Volk dafür zu strafen, daß es
vom Glauben an ihn abgefallen ist, etwa indem es den Baalskult der
Nachbarn übernahm. In diesem Sinne erzählen die vier Bücher der
Könige die Geschichte der Königszeit von Saul bis zum babyloni-
schen Exil. Sie sind also nicht im strengen heutigen Sinne historische
Quellen, sondern Theologie in historischem Gewand. Freilich können
wir diese Unterscheidung vom mittelalterlichen Leser nicht erwarten.
Das Erklärungsmuster bedeutet aber auch, daß der jüdische
Gott sein Volk, wenn es zu ihm zurückkehrt, aus dem Exil befreien
wird – wie es nach der Eroberung Babylons durch die Perser auch
tatsächlich geschehen ist. Diese positive Zukunftsperspektive stellen
die prophetischen Bücher in Aussicht und erläutern die Lehrbücher.
Zu den Lehrbüchern zählen das Buch Hiob, dessen Thema
die Gerechtigkeit Gottes ist, die Psalmen und 5 weitere Titel, die
überwiegend dem König Salomo zugeschrieben werden. Die prophe-
tischen Bücher bestehen aus den vier großen Propheten Isaias, Je-
remias, Ezechiel und Daniel sowie 12 kleinen Propheten Oseas, Jo-
el, Amos, Abdias, Jonas , Michaeas, Nahum, Habakuk, Sophonias,
Aggai, Zacharias und Malachias.
Die Sammlung der bisher aufgezählten Bücher bezeichnet
man auch als Kanon, die in ihr enthaltenen Bücher als die kanoni-
schen Bücher des alten Testamentes. Dessen Entstehung erstreckt
sich über das gesamte 1. vorchristliche Jahrtausend; die meisten
Bücher erhielten die uns vorliegende Fassung erst in der Makkabä-
erzeit, d.h. nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil im 4.
Jahrhundert vor Christi Geburt. Dies heißt freilich nicht, daß sie nicht
auf wesentlich ältere schriftliche oder mündliche Überlieferung zu-
rückgehen können.
Die meisten Bücher des Alten Testaments sind in hebräischer
Sprache geschrieben; sie nennt man die protokanonischen Bücher,
die Bücher des ersten Kanons. Sie wurden für die griechisch spre-
chenden Juden in Ägypten ins Griechische übersetzt; an dieser
Übersetzung waren der Legende nach 70 Übersetzer beteiligt, des-
halb nennt man die Übersetzung die Septuaginta (LXX).
Die Septuaginta, also die griechische Fassung, enthält aber
noch einige zusätzliche Bücher und Textteile, die in der hebräischen
Bibel nicht enthalten sind. Diese sog. deuterokanonischen Bücher,
Bücher des zweiten Kanons, hat Luther bei seiner Bibelübersetzung
wieder ausgeschieden; sie werden in protestantischer Terminologie
als Apokryphen bezeichnet. In katholischer Terminologie heißen
Apokryphen diejenigen Bücher, die überhaupt nicht in die Bibel auf-
genommen worden sind, z.B. das 3. und 4. Buch Esdras, die Moses-
Apokalypse, die Sibyllinen oder die Testamente der Zwölf Patriar-
chen; die protestantische Terminologie gebraucht für diese Bücher
den Ausdruck Pseudepigraphen.
katholische protestantische
Terminologie
hebräischer Urtext protokanonische Bücher
griechischer Urtext deuterokanonische Bücher Apokryphen
Bücher außerhalb der Apokryphen Pseudepigraphen
Bibel
Einfacher liegen die Verhältnisse beim Neuen Testament: der
Urtext ist generell griechisch. Das Matthäus-Evangelium soll ur-
sprünglich in hebräischer oder aramäischer Sprache geschrieben
worden sein; ein solcher Text ist aber nicht bekannt geworden. Auch
im Neuen Testament gibt es geschichtliche, belehrende und prophe-
tische Bücher.
Aufbau der Bibel Altes Testament Neues Testament
historische Bücher 5 Bücher Moses (Penta- Evangelium nach Mat-
teuch): thäus
Genesis Evangelium nach Mar-
Exodus kus
Leviticus Evangelium nach Lukas
Numeri Evangelium nach Johan-
Deuteronomium nes
Josue Apostelgeschichte
Richter
Ruth
1. + 2. Samuel (= 1. + 2. Kö-
nige)
1. + 2. Könige (= 3. + 4. Kö-
nige)
1. + 2. Chronik
1. + 2. Esdras
Tobias
Judith
Esther
1. + 2. Makkabäer
belehrende Bü- Hiob Briefe des Paulus:
cher Psalmen an die Römer
Sprüche an die Korinther I + II
Prediger an die Galater
Hohes Lied an die Epheser
Weisheit an die Philipper
Jesus Sirach an die Kolosser
an die Thessalonischer I
+ II
an Timotheus I + II
an Titus
an Philemon
an die Hebräer
"katholische" Briefe:
des Jakobus
des Petrus I + II
des Johannes I, II + III
des Judas
prophetische Bü- "große" Propheten: Apokalypse
cher Isaias
Jeremias
mit Klageliedern
und Baruch
Ezechiel
Daniel
"kleine" Propheten:
Osee
Abdias
Joel
Amos
Jonas
Michaeas
Nahum
Habakuk
Sophonias
Aggaeus
Zacharias
Malachias
Die geschichtlichen Bücher sind die vier Evangelien nach Mat-
thäus, Markus, Lukas und Johannes sowie die Apostelgeschichte.
Die drei ersten Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas) stimmen
nach ihrem Inhalt weitgehend überein, so daß man sie synoptisch in
drei Spalten nebeneinander drucken könnte; man nennt sie deshalb
die synoptischen Evangelien. Abweichend ist der Inhalt des Johan-
nesevangeliums, das man wegen seiner spirituellen Tendenz auch
das pneumatische Evangelium nennt. Übrigens war es in den mittel-
alterlichen Bibeln allgemein üblich, den Evangelien Verzeichnisse
der einander entsprechenden Passagen voranzustellen, die sog. Ka-
nontafeln. Hier eine Kanontafel für den Vergleich der drei synopti-
schen Evangelien:
In sorgfältigen Handschriften werden diese Parallelverweise
auch am Rand des Textes angebracht:
Sie sehen: dem Abschnitt 2 bei Johannes, den der Text bietet,
entspricht Abschnitt 7 bei Matthäus und Abschnitt 6 bei Lukas; Ab-
schnitt 3 bei Johannes entspricht Abschnitt 1 bei Matthäus und Ab-
schnitt 14 bei Lukas; Abschnitt 4 gibt es nur bei Johannes usw.
Die belehrenden Bücher sind im Neuen Testament die 21
Apostelbriefe, und zwar 14 Briefe des Paulus und die 7 sog. katholi-
schen Briefe.
Die Paulus-Briefe richten sich an die Gemeinden in Rom, in
Korinth, in Galatien in Kleinasien, in Ephesos, in Philippi in Makedo-
nien, in Kolossai in Kleinasien sowie in Thessaloniki. Dann gibt es
noch einen formal abweichenden Brief an die "Hebräer", also an die
Gemeinde in Palästina. Beim 2. Brief nach Korinth und demjenigen
nach Kolossai erscheint Paulus' Jünger Timotheus als Mitautor; die
Briefe nach Thessaloniki stammen von Paulus, Timotheus und einem
Silvanus. Am Schluß der Briefe werden übrigens häufig Grüße an al-
le möglichen Bekannten aufgetragen, darunter sehr viele Frauen; ei-
ne unvoreingenommene Interpretation wird in diesen Frauen Ge-
meindeleiterinnen, also Priesterinnen, sehen. Zu diesen 10 Briefen
an ganze Gemeinden kommen noch vier Briefe an Einzelpersonen,
nämlich zwei an den schon erwähnten Timotheus, einer an einen Ti-
tus und einer an einen Philemon; in diesem letzten Brief geht es nicht
um hohe Theologie, sondern um das Schicksal eines dem Paulus
entlaufenen Sklaven namens Onesimos.
Nicht von Paulus stammen die sog. katholischen Briefe, als
deren Autoren Jakobus, 2mal Petrus, 3mal Johannes und schließlich
Judas fungieren. (Dieser Judas ist natürlich der Apostel Judas Thad-
däus, und nicht etwa Judas Iskarioth. Von Judas Iskarioth gibt es nur
fingierte texte in der esoterischen Szene.) Der Jakobus-Brief ist in
der Luther-Bibel nicht enthalten. Die prophetischen Bücher des Neu-
en Testamentes umfassen nur einen Titel, die Geheime Offenbarung
des Johannes oder Apokalypse.
Die Unterschiede zwischen der hebräischen und der griechi-
schen Fassung der Bibel waren dem Mittelalter wohl bewußt; über
die Zahlendifferenzen der veritas hebraica und der veritas greca im
Buch Genesis haben wir schon im 2. Kapitel gesprochen.
Wichtiger als diese beiden war aber die lateinische Fassung
der Bibel. Die ältesten lateinischen Übersetzungen, die man Vetus
latina oder auch Itala nennt (letzteres aber heute nur noch im
Kreuzworträtsel), waren vor allem in Nordafrika verbreitet, wo sie
auch Augustinus benutzte; diese ältesten lateinischen Übersetzun-
gen sind Übertragungen des griechischen Textes der Septuaginta.
Sie bedienen sich eines stark umgangssprachlichen Lateins, das sie
für die gebildeten Kreise etwas anstößig machten. Deshalb beauf-
tragte gegen Ende des 4. Jahrhunderts Papst Damasus I. den später
so genannten Kirchenvater Hieronymus mit einer verbesserten Neu-
übersetzung, die insbesondere für das Alte Testament auf dem he-
bräischen Text, nicht auf der Septuaginta beruhen sollte. Diese
Übersetzung des Hieronymus bezeichnet man als den "gewöhnli-
chen" Text, die Vulgata. Hier das Ganze noch einmal schematisch:
Allerdings hat Hieronymus die Vulgata nicht vollenden können, so
daß es für einige Bücher beim altlateinischen Text blieb. Für den
Psalter gibt es zwei Fassungen, eine Übersetzung aus dem griechi-
schen LXX-Text, die in die Vulgata einging, und eine direkte Über-
setzung aus dem Hebräischen, die nicht in die Vulgata aufgenom-
men wurde; die beiden Fassungen unterscheiden sich auch in der
Zählung der Psalmen. Hieronymus hat einer Reihe von Büchern
Vorworte vorangestellt, die in den mittelalterlichen Bibeln gewöhnlich
mitabgeschrieben wurden. Noch in Gutenbergs gedruckter Bibel ste-
hen sie dem Text voran:
Sie sehen für das Lukas-Evangelium am oberen Rand Prefacio
(Vorwort); der Text Quoniam quidem multi conati sunt beginnt erst in
der zweiten Spalte.
Die Vulgata ist in zahllosen Handschriften und noch viel mehr
Handschriftenfragmenten überliefert worden. Die älteste vollständige
Handschrift ist der codex Amiatinus von Anfang des 8. Jahrhunderts:
ihn ließ der northumbrische Abt Ceolfrid als Geschenk für die Peters-
kirche in Rom herstellen; der Überbringer starb aber auf dem Weg,
so daß die Handschrift statt nach Rom in das Kloster auf dem Monte
Amiata gelangte (daher der Name). Spätere Revisionen des Bibel-
textes, d.h. vor allem Korrektur von Schreibfehlern, nahmen zur Zeit
Karls des Großen Theodulf von Orléans und Alkuin vor, dann im 13.
Jahrhundert in Paris die Sorbonne. Deren Text war Vorlage des er-
sten Bibeldruckes, der berühmten 42zeiligen Bibel Gutenbergs.
Selbstverständlich wurde die Bibel auch in die Volkssprachen
übersetzt. Die älteste Übersetzung in eine germanische Sprache ist
die gotische Bibel des Wulfila aus dem 4. Jahrhundert, die in einem
Prachtkodex mit silberner Schrift auf purpurfarbenem Pergament,
dem sog. Codex argenteus, überliefert ist.
Sie ist auch als sprachgeschichtliches Denkmal von unschätzbarem
Wert. Bruchstücke einer Übersetzung ins Deutsche sind seit etwa
800 überliefert. Gesamtübersetzungen sind seit dem 14. Jahrhundert
erhalten; 1466 wurde erstmals eine deutsche Bibel gedruckt. Die ein-
flußreichste deutsche Bibelübersetzung war selbstverständlich die 60
Jahre später entstandene Übersetzung Martin Luthers. Die Frage ih-
rer Qualität ist allerdings sehr schwer zu beurteilen, denn wenn ihre
Sprache uns heute natürlicher erscheint als andere Übersetzungen,
so kann dies auch darauf zurückgehen, daß sich die gesamte neu-
hochdeutsche Literatursprache an der Lutherbibel ausgerichtet hat.
Die Bedeutung der Bibel geht aber über den religiösen Be-
reich weit hinaus. Wir haben schon mehrfach Bibelstellen als Bewei-
se in ganz anderen Bereichen kennengelernt, so bei der Berechnung
des Weltalters ("vor Gott sind 1000 Jahre wie ein Tag") oder bei der
Verteidigung Heinrichs IV. gegen Gregor VII. ("du sollst den Gesalb-
ten des Herrn nicht antasten"). Im Buch Josue 10, 13 findet sich die
Stelle: stetit itaque sol in medio celi et non festinavit occumbere spa-
tio unius diei – "also stand die Sonne mitten am Himmel still und ging
einen ganzen Tag lang nicht unter"; diese Stelle wurde noch im 17.
Jahrhundert als Beweis dafür angeführt, daß sich die Sonne um die
Erde bewege, und nicht umgekehrt, so etwa im Prozeß gegen Gali-
lei.
Die vielfältige Anwendbarkeit von Bibelstellen war die Folge
der mittelalterlichen Bibeldeutung. Es galt also, dem Wort seinen
verborgenen Sinn zu entlocken. Dabei konnte die lautliche Gestalt
eine wertvolle Hilfe bieten. So läßt sich mors, der Tod, vom antiken
Kriegsgott Mars ableiten, aber auch von amarus, bitter, und von mor-
sus, dem Biß, nämlich dem Biß Evas in den Apfel. Daß das Wort für
Apfel, malum, auch böse bedeutet, war natürlich keineswegs ein Zu-
fall. Tatsächlich ist in der Erzählung vom Sündenfall nicht von einem
Apfel die Rede, sondern nur unbestimmt von der Frucht des Bau-
mes; zum Apfel wurde sie erst durch diesen sprachlichen Gleich-
klang.
Ich möchte als letztes Beispiel nur noch auf die Deutung einer
an sich nebensächlichen Bibelstelle hinweisen, die aber dramatische
Wirkungen hervorgerufen hat. Im Rahmen der Passionserzählung
berichtet Lukas (22, 38): "Sie sagten zu ihm: 'Herr, hier sind zwei
Schwerter.' Er antwortete ihnen: 'Es ist genug.'" Diese Stelle läßt sich
kombinieren mit Jo. 18, 10: "Simon Petrus aber hatte ein Schwert bei
sich und zog es heraus und schlug auf den Knecht des Hohenprie-
sters ein." Wenn man nun die beiden Schwerter als die geistliche und
die weltliche Gewalt deutet, ergibt sich, daß beide den Aposteln, ge-
nauer Petrus und seinem Nachfolger, dem Papst, zustehen und daß
Kaiser und Könige sie von ihnen erhalten haben. Die Gegenargu-
mentation lautet, daß nach der Johannesstelle Petrus ja nur ein
Schwert hatte, also wohl nur das geistliche. Außerdem kann man auf
die Fortführung der Stelle bei Johannes verweisen: "Aber Jesus sag-
te zu Petrus: 'Stecke dein Schwert in die Scheide.' " Demnach soll
der Papst, selbst wenn ihm das weltliche Schwert zusteht, dieses
nicht bzw. nicht selbst führen. Die Argumentation läßt sich und wurde
auch usque ad infinitum fortsetzen.
Für die Auslegung der Bibel entstand im Mittelalter eine um-
fangreiche Fachliteratur, die nicht nur dem Wissenschaftler, sondern
vor allem dem Priester für die Predigtvorbereitung nützlich war. Es
gab regelrechte Bibellexika, die alphabetisch oder auch systematisch
geordnet waren. Noch häufiger wurde der Text der Bibel fortlaufend
kommentiert, indem man sich den Text eines Bibelbuches vornahm
und zu jeder Stelle, die interessant oder unklar war, eine Bemerkung
machte oder eine Erklärung gab. In dieser Weise sind schon die Kir-
chenväter, z.B. Hieronymus oder Augustinus, vorgegangen; es han-
delt sich dabei überhaupt um die klassische Art, im Mittelalter einen
Text zu erläutern.
Man kann diese Erläuterung auch zwischen die Zeilen des Bi-
beltextes schreiben; dann spricht man von Interlinearglossen. Hier
ein Beispiel aus dem Book of Lindisfarne, einer der berühmtesten
altenglischen Bibelhandschriften:
Sie lesen z.B. über agens gleich am Anfang doend (tuend), oder in
der dritten Zeile über evangelium: god spell, neuenglisch gospel.
Der meist verbreitete, zugleich aber wohl auch langweiligste
Kommentar dieser Art ist die Glossa ordinaria des Anselm von Laon,
deren Niveau nicht eben umwerfend ist. Wer sich hauptsächlich für
den Literalsinn der Bibel interessierte, griff gern zur Historica schola-
stica des Petrus Commestor. Ein vielgelesenes und häufig zitiertes
Werk, das sich vornehmlich für die höheren Ebenen der Interpretati-
on interessierte, war der Kommentar Papst Gregors des Großen zum
Buch Hiob, die sog. Moralia in Iob.
Die Blütezeit der geschilderten Art der Bibelkommentierung
war das frühe und hohe Mittelalter; im Spätmittelalter wurde sie zwar
noch traditionsgemäß weitergeführt, aber man interessierte sich da-
mals mehr für kontroverstheologische und kirchenrechtliche Fragen.
Die Gefahr der Methode des vierfachen Schriftsinnes liegt in ihrer
Willkürlichkeit und in der Tendenz, daß die Interpretation allmählich
den zugrundeliegenden Text völlig überwuchert. Wenn im 16. Jahr-
hundert die Reformatoren das "unverfälschte Wort Gottes" fordern,
so richtet sich das auch gegen diese Methode der Bibeldeutung.
23. KAPITEL:
DIE THEOLOGIE
ICH MÖCHTE IN DIESEM KAPITEL den Theologen nicht ins Hand-
werk pfuschen, aber ich glaube, es ist im bisherigen Verlauf dieser
Vorlesung klar geworden, daß der Glauben im Mittelalter keineswegs
Privatsache war, sondern nachhaltigen Einfluß auf das öffentliche
Leben, auf die Politik und die Geschichte überhaupt hatte. Die Lehre
vom Glauben, die Theologie, spannt sich im Mittelalter zwischen
zwei Extremen aus, die durch die Namen Dionysius Areopagita auf
der einen und Thomas von Aquin auf der anderen Seite gekenn-
zeichnet werden, oder in Begriffen gesprochen: Mystik und Schola-
stik. Dazu einige kurze Bemerkungen.
Unter dem Namen Dionysius Areopagita laufen im Mittelalter
eine Reihe von ursprünglich griechischen, dann ins Lateinische
übersetzten Schriften, die um das Jahr 500 entstanden sind; sie wur-
den, was im Mittelalter häufig vorkam, zurückdatiert, und zwar in die
Zeit des Apostels Paulus. In Apg. Kap. 17 wird über die erfolglose
Rede des Paulus auf dem Areopag in Athen berichtet; am Schluß
des Kapitels heißt es dann aber in Vers 33.34: „So ging Paulus aus
ihrer Mitte weg; einige Männer aber wurde gläubig, darunter auch
Dionysius, ein Mitglied des Areopags.“ Diesem Dionysius, der also
quasi mit apostolischer Autorität sprach, schrieb man eine Theologie
zu, die die Annäherung an Gott nicht durch verstandesmäßige Über-
legungen, sondern durch unmittelbare Erleuchtung sucht.
Voraussetzung für eine solche Annäherung an Gott ist zu-
nächst die Ausschaltung aller irdischen Ablenkungen, die durch Au-
ge, Ohr und Zunge hervorgerufen werden können. Diesen Zustand
des Nicht-Sehens, Nicht-Hörens und Nicht-Redens bezeichnet das
griechische Verbum µυειν, von dem das Wort Mystik abgeleitet ist.
Ist dieser Zustand erreicht, so kann der Geist des Menschen gewis-
sermaßen den Körper verlassen und sich neben ihn stellen; er gerät
in εκστασις, Ekstase. Die dritte Stufe ist dann die θεωρια, die unmit-
telbare Anschauung Gottes und Vereinigung mit ihm. Daß derartige
Erfahrungen nicht oder nur unvollkommen mit Worten zu schildern
sind, bedarf keiner Erläuterung; sie sind ein unaussprechliches Ge-
heimnis, ein ineffabile mysterium. In dieser Art der Theologie ist es
entsprechend auch nicht möglich, direkte Aussagen über Gott zu
machen; das einzige, was sich zutreffend über ihn sagen läßt, ist
das, was er nicht ist, z.B. kann man von ihm sagen, er sei unsichtbar
oder unendlich oder unbegreiflich. Es handelt sich also um eine
theologia negativa.
Es versteht sich von selbst, daß eine solche mystische Er-
leuchtung nicht auf einer eigenen Leistung des Menschen beruht,
sondern auf einer göttlichen Gnade, die ihm unverdient zuteil wird.
Wo sich dieser Unterschied verwischt, ist die Grenze zur Häresie be-
reits überschritten, und im Verdacht der Häresie standen eigentlich
alle bedeutenden Mystiker, von denen ich nur Meister Eckard und
Mechthild von Magdeburg mit Namen nennen will. Die Gefahr der
Mystik besteht eben darin, daß sie an den traditionellen Heilsmitteln,
wie Sakramenten und Gebet, vorbei gewissermaßen im Kurzschluß-
verfahren den Weg zu Gott sucht. Beiläufig sei vermerkt, daß es der
Mystik vergleichbare Erscheinungen auch im Islam gibt – etwa die
Derwische – und daß man ihnen auch dort vorwirft, am Koran vorbei
den Weg zu Allah zu suchen.
Die Theologie des Dionysius Areopagita bildet aber das not-
wendige Korrektiv zum Versuch, Gott und die Heilswahrheiten mit
dem Verstande zu begreifen und zu erklären, der Scholastik. Ihr lo-
gisches Instrumentarium bezieht die Scholastik aus den Schriften
des Aristoteles, der im Mittelalter „der Philosoph“ schlechthin heißt,
genauso wie „der Apostel“ immer Paulus ist. Zunächst waren aller-
dings nur wenige Schriften des Aristoteles bekannt, nämlich die, die
Boethius, der Autor des „Trostes der Philosophie“, ins Lateinische
übertragen hatte. Erst um 1200 kamen weitere Schriften auf dem
Umweg über das arabische Spanien hinzu, und um 1270 wurde der
gesamte Aristoteles erneut und besser als bisher aus dem Griechi-
schen ins Lateinische übersetzt. Die vier wichtigsten Gestalten der
Scholastik sind Pierre Abélard, dann Petrus Lombardus, Albert der
Große und Thomas von Aquin.
Abélard (1079–1142) ist einem größeren Publikum weniger
als Scholastiker, sondern als Held einer Romanze mit unglücklichem
Ausgang bekannt: er verliebte sich in Héloise, die Nichte eines Pari-
ser Domherrn, und entführte und ehelichte sie; ein gemeinsamer
Sohn erhielt den Namen Astrolabius. Der Domherr ließ daraufhin
Abélard überfallen und ihn in einer Weise behandeln, daß seine Lie-
be zu Héloise hinkünftig nur noch platonisch sein konnte. Beide,
Abélard und Héloise traten in Klöster ein und wechselten traurige
Briefe. All dies hat Abélard in seiner Historia calamitatum selbst be-
schrieben. Abélard war hochintelligent, aber maßlos arrogant und
verstand es, mit aller Welt in Streit zu geraten. Sein besonderes Ver-
gnügen bestand darin, Vorlesungen zu besuchen und dem Dozenten
fortlaufend Fehler nachzuweisen. Unter seinen Schriften ist Sic et
non hervorzuheben, in der er widersprechende Aussagen von Autori-
täten gegenüberstellt, die Lösung des Widerspruchs allerdings dem
Leser überläßt.
Petrus Lombardus (ca. 1100–1164) ist der Verfasser eines
umfangreichen Lehrbuchs der Theologie in Form von Frage und
Antwort, der sog. Sentenzen. Sie bildeten während des ganzen Mit-
telalters die Grundlage des Theologiestudiums; Petrus Lombardus
selbst ist deshalb der magister sententiarum.
Albert der Große (1200–1280) verband eine immense wis-
senschaftliche Arbeit mit kirchenpolitischer Tätigkeit, u.a. kurzfristig
als Bischof von Regensburg und Kreuzzugsprediger. Er schrieb
Kommentare zu Petrus Lombardus, Dionysius Areopagita, zum gan-
zen Aristoteles, sowie auch zu naturwissenschaftlichen Themen.
Thomas von Aquin (1225–1274) schließlich schrieb neben
anderen Arbeiten die Summa contra gentiles, ein Lehrbuch für Mis-
sionare (die gentiles sind die Heiden) sowie die Summa theologica,
eine systematische Darstellung der gesamten Theologie. Sie besteht
aus 38 tractatus mit insgesamt 631 questiones mit insgesamt ca.
3000 articuli. Jeder Artikel behandelt eine bestimmte Frage, z.B. "ob
die Theologie eine Wissenschaft ist". Zunächst nennt Thomas die
Gründe, die gegen die Behauptung sprechen; dieser Abschnitt wird
eingeleitet mit videtur (es scheint). Dann folgen, beginnend mit sed
contra (dagegen aber), die positiven Gründe. Schließlich gibt Tho-
mas, beginnend mit respondeo (ich antworte), seine eigene Meinung
wieder. Zum Abschluß werden die Gegenargumente, die sich jetzt
als Scheinargumente erwiesen haben, noch einmal der Reihe nach
widerlegt. Thomas von Aquin ist berüchtigt, weil er in dieser Weise
z.B. auch die Meinung vertritt und beweist (?!), daß die Frauen im
Grunde nur unvollkommen gelungene Männer seien, um es etwas
salopp zu formulieren. Folgenreich war auch seine These, daß die
Unwahrheit keine Existenzberechtigung habe, auch im religiösen Be-
reich.
24. KAPITEL:
HÄRESIE UND KETZEREI, I: DIE FRÜHCHRISTLICHEN
HÄRESIEN
WIR BEGINNEN MIT EINER Begriffsklärung: es ist zu unterscheiden
zwischen Häresie, Schisma und Apostasie.
• Häresie, vom griechischen αιρεσις (Wahl, Neigung, Denkweise,
auch Verführung), bedeutet die inhaltliche Abweichung von der
Glaubenslehre. Die Häresie ist die notwendige Kehrseite zum Dog-
ma; und wie man den Schatten nur dadurch beseitigen kann, daß
man auch das Licht auslöscht, so läßt sich das Auftreten von Häresi-
en nur dadurch vermeiden, daß eine Glaubensgemeinschaft über-
haupt auf die Formulierung eines Dogmas verzichtet.
• Schisma, griechisch σχισµα, bedeutet Spaltung, also die organi-
satorische Teilung einer Kirche. Schisma und Häresie haben also
prinzipiell nichts miteinander zu tun, weil das eine die äußere Form,
die andere die innere Lehre betrifft, jedoch führt die Häresie gewöhn-
lich auch zum Schisma, und, wie wir im Kapitel über die Konzilien
gesehen haben, kann das hartnäckige Verharren im Schisma als Hä-
resie gedeutet werden.
Die Apostasie, griechisch αποστασια, bedeutet Abfall. Im
strengen Sinn ist ein Apostat ein Mönch, der seine Gelübde bricht
und in die Welt zurückkehrt. Apostasie ist aber auch der Abfall vom
christlichen Glauben überhaupt, sei es als Rückfall ins Heidentum –
denken Sie an Kaiser Julian Apostata –, sei es durch Übertritt zu ei-
nem anderen Glauben, insbesondere zum Islam; Apostaten der letz-
teren Art bezeichnet man allerdings häufiger als Renegaten, als
"Wiederverneiner", weil sie die bereits erkannte Wahrheit des christ-
lichen Glaubens wieder verleugnen
Das Wort Ketzer bezeichnet ursprünglich eine bestimmte Häresie,
die der Katharer, wird aber dann auf alle anderen Häretiker mitange-
wandt. Mit den Katharern befassen wir uns im nächsten Kapitel.
Daß es Häresien geben muß, war der Kirche schon in früh-
christlicher Zeit bekannt. Im 1. Brief an die Korinther heißt es im 11.
Kapitel Vers 19: oportet et hereses esse – „es muß auch Häresien
geben“, denn auf diese Weise wird der Glauben der Rechtschaffenen
um so deutlicher und strahlender. Die Häresien sind selbstverständ-
lich das Werk des Teufels, dessen Anhänger heimlich und heimtük-
kisch die Kirche unterwühlen. So, wie die wahre Kirche der mysti-
sche Leib Christi ist, das corpus Christi mysticum, so gibt es auch ein
corpus antichristi mysticum, gewissermaßen die Gegenkirche der
Ketzer, die Synagoge des Satans, die Achse des Bösen. Daß diese
Gegenkirche bereits aktiv ist, zeigt schon folgende Stelle im 2. Brief
an die Thessalonicher (2. Kap., Vers 7): nam operatur iam mysterium
iniquitatis – „denn schon ist das Geheimnis des Verderbens im Gan-
ge“. Was mit dieser Stelle genau gemeint war, ist unklar; schon die
Kirchenväter wußten es nicht mehr.
Wie hat sich nun der rechtgläubige Christ gegenüber dem
Ketzer zu verhalten? Eine klare Anweisung ist im Brief an Titus Kap.
2, Vers 10 enthalten: "Einen Häretiker sollst du zweimal ermahnen,
dann aber meiden." Leider hat es die Kirche bei dieser irenischen
Haltung nicht belassen. Der Kirchenvater Augustinus selbst hat den
Anstoß dazu gegeben, die Ketzer auch zwangsweise in den Schoß
der Kirche zurückzuführen; er beruft sich dabei auf Luc. 14, 23: "Und
der Herr sprach zum Diener: 'Geh hinaus an die Straßen und Zäune
und führe sie herein, damit mein Haus voll wird.' " – Et ait dominus
servo: "Exi in vias et sepes et conpelle intrare, ut impleatur domus
mea!" Dieses compelle intrare (führe sie herein, veranlasse sie ein-
zutreten, nötige sie hereinzukommen) wird seitdem immer wieder auf
die Irrgläubigen angewandt. Eine noch stärkere Aufforderung, das
Ketzerproblem gewaltsam zu lösen, bildet folgende Stelle, die fast
gleichlautend bei Matthäus (5, 29) und Markus (9, 46) steht: „Wenn
dir dein rechtes Auge zum Ärgernis wird, reiß es aus und wirf es von
dir; denn es ist besser für dich, daß eines deiner Glieder zugrunde
geht, als daß dein ganzer Körper in die Hölle geworfen wird.“
Im Folgenden wollen wir vier häretische Strömungen anspre-
chen, die im Mittelalter von Bedeutung sind, nämlich: a) die früh-
christlichen Häresien, b) die Katharer, c) die Häresie des freien Gei-
stes und d) die Hussiten. In diesem Kapitel befassen wir uns mit den
frühchristlichen Häresien. Die ersten häretischen Strömungen wer-
den bereits sehr früh, noch während der Verfolgungszeit sichtbar. Sie
entstehen aus dem Wunsch, die sehr konkrete und handfeste Lehre
Christi mit der griechischen Philosophie zu versöhnen und damit ge-
wissermaßen auch für Gebildete annehmbar zu machen; dabei flie-
ßen auch andere vorchristliche, vor allem altorientalische Vorstellun-
gen mit ein.
Die wichtigste Bewegung ist hier die sog. Gnosis. Gnosis be-
deutet Erkenntnis, nämlich Erkenntnis der wahren Zusammenhänge
der Welt. Diese Erkenntnis ist nur wenigen Auserwählten, den
Pneumatikern, den "vom Geist Erfüllten", vorbehalten; sie wird auch
nicht durch Lernen oder Nachdenken, sondern durch plötzliche Er-
leuchtung erworben. Auf das Christentum angewandt, bedeutet dies,
daß Christus seine wahre Lehre keineswegs für alle Menschen be-
stimmt, sondern nur einer kleinen, auserwählten Gruppe mitgeteilt
habe.
Eine weitere Auffassung ist der Manichäismus, die Lehre der
Anhänger des Mani aus Babylonien, der im 3. Jahrhundert wirkte;
der Manichäismus vertritt die Vorstellung, die Welt sei streng duali-
stisch aufgebaut: einer guten Sphäre des Geistes stehe die böse
Sphäre der Materie und der sichtbaren Welt gegenüber. Christus ge-
hört nach dieser Lehre zur guten Sphäre des Geistes, hat er doch
selbst gesagt: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt." Folglich kann er
keinen materiellen Leib gehabt haben, sondern nur einen Scheinleib,
und nur dieser ist auf Golgatha gekreuzigt worden.
Ganz ähnlich war die Lehre des Markionismus, der im 2. Jahrhun-
dert eine gefährliche Konkurrenz für die christliche Kirche bildete. Ihr
Begründer war Markion aus Sinope am Schwarzen Meer. Er sieht in
der Welt einen guten und einen bösen Gott am Wirken: der gute Gott
ist der Christus des Neuen Testamentes, den bösen Gott hingegen
identifiziert Markion als den Jahwe des Alten Bundes – die Welt, die
er laut Genesis 1 geschaffen hat, gehört ja der bösen Sphäre an. Da
der Mensch zwar mit seiner erkenntnisfähigen Seele der positiven,
mit seinem Leib aber der negativen Welt angehört, führt diese Lehre
zu einer völligen Abwertung des Körpers und zur Forderung nach
strengster Askese.
Als das Christentum offizielle Religion geworden ist, treten die
dogmatischen Fragen zur Trinität in den Vordergrund. Das Verhältnis
der drei göttlichen Personen zueinander ist mit diesseitiger Logik
nicht zu erklären und eine reine Sache des Glaubens. Die Fragen,
die hier auftreten, sind also auch mit den Mitteln der griechischen
Philosophie nicht zu lösen; dennoch ist dieser Versuch immer wieder
unternommen worden und hat, neben rechtgläubigen Antworten, zu
zahlreichen Häresien geführt, mit denen sich die frühen Konzilien zu
befassen hatten. Für uns ist hier nur die Irrlehre des Arius wichtig,
daß Christus nicht Gott, sondern nur ein von Gott gewissermaßen
adoptierter Mensch gewesen sei. Diese arianische Lehre nahmen
nämlich die zum Christentum bekehrten Germanenstämme an, auch
die Nachfolger Konstantins auf dem Kaiserthron neigten ihr zu. Ein-
zig die Franken bekannten sich zur orthodoxen, von Rom vertretenen
Lehre, und da im Laufe der Geschichte von allen Germanenstämmen
nur die Franken übrig blieben, ist der Arianismus schließlich von
selbst verschwunden.
Mit dem Ende der Antike ließen diese theologischen Streitig-
keiten nach. Sie wurden in Byzanz, das ja der Hauptträger dieser
Streitigkeiten war, abgelöst von der großen Religions- und Staatskri-
se des Ikonoklasmus, des Bilderstreites. Er entbrannte über die
Frage, ob die Bilder der Heiligen, die Ikonen, verehrt werden dürften
oder ob die Menschendarstellung in der religiösen Kunst überhaupt
unzulässig sei. Als dieser Streit im 9. Jahrhundert abgeebbt war, trat
Ruhe ein. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts kannte man Ketzer nur
noch vom Hörensagen. In der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts tre-
ten die ersten mittelalterlichen Häretiker auf. Die Amtskirche ist völlig
ratlos, und während die Bischöfe noch überlegen und in Rom um In-
struktionen einkommen, greift die Bevölkerung zur Selbsthilfe, holt
die Verdächtigen aus den Gefängnissen und hängt sie auf. Dann
aber fegt die gewaltige Erregung des Investiturstreites und der
Kreuzzüge diese Ketzereien hinweg.
25. KAPITEL:
HÄRESIE UND KETZEREI II: DIE KATHARER ODER ALBIGEN-
SER
NOCH WÄHREND DER ERREGTEN Zeit des späten 11. und frühen
12. Jahrhunderts hatte sich in Südfrankreich eine häretische Bewe-
gung ausgebreitet, die sich bis zum Ende des 12. Jahrhunderts zu
einer regelrechten Gegenkirche mit eigener Glaubenslehre und eige-
ner Hierarchie entwickelte: die Katharer. Ich halte es sogar für ge-
rechtfertigt, bei ihnen nicht mehr von einer christlichen Häresie, son-
dern von einer eigenen Religion zu sprechen. Das Wort kommt vom
griechischen καθαρος (rein), von dem sich auch der Vorname Katha-
rina ableitet. Im Deutschen ist daraus durch die hochdeutsche Laut-
verschiebung das Wort „Ketzer“ entstanden.
Woher kommt diese Bewegung? Die dualistischen Vorstellun-
gen aus frühchristlicher Zeit waren nie ganz erloschen, und für die
These, daß die sichtbare Welt schlecht und von einem bösen Prinzip
beherrscht sei, sprach und spricht die tägliche Erfahrung. Dies war
der Inhalt der Predigt eines mazedonischen Dorfpriesters namens
Bogomil, im 2. Viertel des 10. Jahrhunderts. Er und seine Anhänger,
die Bogomilen, ziehen daraus die Konsequenz und verlassen die
Welt, um ein asketisches und einfaches Leben zu führen. Besonde-
ren Anklang finden die Bogomilen in Bulgarien, wo ihre Lehre, in Op-
position zu den établierten Kirchen sowohl in Rom als auch in By-
zanz, eine Zeit lang regelrecht zur Staatsreligion erhoben wird. Ent-
lang den Handelswegen gelangt die Lehre nach Italien und Südfrank-
reich, wo sie im Gebiet der Grafen von Toulouse und der Vizegrafen
von Béziers besonders erfolgreich war; eines ihrer Zentren war Albi,
daher die Bezeichnung Albigenser.
Die Lehre der Bogomilen bzw. der Katharer sieht die Welt also
dualistisch, beherrscht von einem guten und einem bösen Prinzip.
Man unterscheidet dabei zwischen gemäßigten und radikalen Duali-
sten. Die gemäßigten Dualisten sehen einen Gott als obersten Herrn
der Welt, aber dieser Gott hat zwei Söhne: Christus und Luzifer. Lu-
zifer hat sich gegen Gott empört und ist gestürzt worden; dabei hat er
eine Menge Engel mit sich gerissen, aus denen die Seelen der Men-
schen entstanden.
Die sichtbare Welt, die böse ist, ist nicht von Gott geschaffen
worden, sondern von Luzifer; Gott ist der Schöpfer des neuen Him-
mels und der neuen Erde, von denen die Apokalypse spricht. Da Lu-
zifer die sichtbare Welt geschaffen hat, ist er, laut Genesis, der Gott
des Alten Bundes, Jahwe. Dies führt zur Ablehnung des Alten Te-
stamentes. Angenommen wird dagegen das Neue Testament, denn
Christus, der Gott des Neuen Bundes, hat gesagt: "Mein Reich ist
nicht von dieser Welt." Abgelehnt wird aber auch die christliche Kir-
che, die, mit der Welt verstrickt, nicht die Kirche Gottes, sondern die
des Satans ist; die eigentliche Kirche Gottes sind die Katharer. Da
Christus der Welt nicht angehört hat, ist er auch nicht wirklich am
Kreuz gestorben, sondern höchstens scheinbar; vielleicht ist aber
auch Simon von Cyrene an seiner Statt gekreuzigt worden. Die Ver-
ehrung des Kreuzes ist also sinnlos.
Ebenso sind die Sakramente sinnlos, denn wie sollen das
Taufwasser oder Brot und Wein der Eucharistie, alles materielle Din-
ge der bösen Welt, zum Heil führen? Zur Erlösung führt nur die Taufe
mit dem Hl. Geist, die Christus im Jordan und die Apostel am Pfingst-
fest empfangen haben. Wer aber diese Geisttaufe empfängt, wird
dadurch zum Vollkommenen, zum perfectus; er führt hinfort ein Le-
ben strengster Askese, das gekennzeichnet ist durch Fasten und
Gebet, auch durch Predigt, ferner durch persönliche Besitzlosigkeit,
schließlich durch das Vermeiden der Sünde, vor allem von Töten,
Betrügen und Schwören und insbesondere jeglichen Geschlechts-
verkehrs, denn dieser würde dem Teufel ja neue Diener zuführen.
Selbst in der Speise meidet der perfectus alles, was durch Zeugung
entstanden ist, also Fleisch, Milch und Eier; er ist also das, was man
heute "Veganer" nennt.
Zu dieser strengen Form religiösen Lebens konnten sich im-
mer nur wenige Auserwählte entschließen. Die Masse der Anhänger
der Katharer lebte zunächst weiter in der Welt. Ihnen war auch die
Ehe erlaubt; und da sie, noch dem Bösen verhaftet, ohnehin nur
sündigen konnten, mag es vorgekommen sein, daß das eine oder
andere Gebot der Moral weniger streng eingehalten wurde. Späte-
stens auf dem Totenbett empfahl es sich aber, die Geisttaufe zu
empfangen. Geschah dies nicht, so blieb die Seele unerlöst. Daraus
entwickelte sich die Vorstellung von der Seelenwanderung, die erst
ein Ende nahm, wenn die Seele beim Tode eines perfectus in ihre
ewige Heimat zurückkehrte.
Dies ist die Lehre der gemäßigten Dualisten. Diejenige der ra-
dikalen Dualisten unterscheidet sich von ihr eigentlich nur durch die
These, daß der böse Gott gleichberechtigt neben dem guten Gott
steht, ihm also nicht einmal formal untergeordnet ist. Die beiden Auf-
fassungen, gemäßigter und radikaler Dualismus, stehen einander in-
nerhalb der katharischen bzw. bogumilischen Kirche ziemlich unver-
söhnlich gegenüber. Es gab also in der häretischen Bewegung ein
dogmatisch bedingtes Schisma oder, wenn Sie so wollen, eine Häre-
sie in der Häresie.
Das hauptsächliche Verbreitungsgebiet der Katharer war im
12. Jahrhundert das südöstliche Frankreich, das Languedoc. Warum
dies so war, darüber gibt es verschiedene Thesen, von denen mich
aber keine so recht überzeugt hat. Es wird auf die Kunst der Trouba-
dours hingewiesen, deren Minnelyrik die Achtung vor der Ehe zer-
stört habe. Weiterhin wird der Antiklerikalismus des niederen Adels
angeführt, der die usurpierten Kirchenzehnten nicht zurückgeben
wollte.
Die Sorge für die Reinheit des christlichen Glaubens war in
erster Linie Aufgabe der Bischöfe, im Falle der Katharer speziell der-
jenigen von Toulouse, Albi, Carcassone und Narbonne. Darüber hin-
aus war es aber, nach Auffassung der Zeit, Pflicht der christlichen
Fürsten, die Ketzer aus ihren Staaten zu vertreiben, notfalls mit Ge-
walt. An erster Stelle waren hier die Grafen von Toulouse angespro-
chen: Raimund V. war zwar ein treuer Sohn der Kirche, aber seine
Machtmittel waren so begrenzt, daß er sogar den französischen Kö-
nig um Hilfe anging, freilich vergeblich. Sein Nachfolger Raimund VI.
stand schon im Verdacht, selbst der Häresie zuzuneigen, weswegen
er zweimal von Innozenz III. exkommuniziert wurde. Noch unzuver-
lässiger waren die Vizegrafen von Béziers. Die eigentlichen Beschüt-
zer und Förderer der Katharer aber waren die niedrigen Adligen, die
in den kleineren Burgorten, den castra, des Languedoc herrschten
und über die die Grafen keine effektive Herrschaft ausüben konnten.
Zunächst versuchte die Kirche eine Bekehrung der Ketzer
durch die Predigt. Berühmt ist die Predigtreise des hl. Bernhard von
Clairvaux 1145. Hier sehen Sie ihn in einer allerdings nicht zeitge-
nössischen Darstellung:
In zwei größeren Städten, Toulouse und Albi, hat er überra-
schende Erfolge; in einem der castra, in Verfeil, aber ergeht es ihm
wie folgt: "Als er begann, in der Kirche gegen die Herren dieses Or-
tes zu predigen, verließen jene die Kirche, und das Volk schloß sich
ihnen an. Der heilige Mann folgte ihnen und begann, auf dem Platz
vor der Kirche ihnen das Wort Gottes auszulegen. Jene aber verbar-
gen sich überall in den Häusern, er aber fuhr nichtsdestoweniger für
das kleine Volk in seiner Predigt fort. Aber sie lärmten derart und
schlugen an die Türen, daß auch das Volk seine Stimme nicht ver-
nehmen konnte." Ähnlich erging es ein halbes Jahrhundert später
dem hl. Dominikus. Im 12. Jahrhundert wurden außerdem öffentliche
Streitgespräche zwischen den Häuptern der Katharer und den christ-
lichen Bischöfen abgehalten, bei denen aber keine Seite die andere
überzeugen konnte.
Wie erfolglos die Predigttätigkeit war, zeigt sich daran, daß die
Katharer 1167 in St.-Félix, 40 km südöstlich von Toulouse, ein förm-
liches Konzil abhalten konnten. Auf diesem Konzil war ein Vertreter
der balkanischen Ketzer anwesend, mit Namen Niketas, der in den
Quellen meist als Papst bezeichnet wird; dahinter steht aber nur die
im Osten weit verbreitete Bezeichnung παπας, also Pope. Niketas
veranlaßte die französischen Katharer, vom gemäßigten Dualismus,
dem sie bisher anhingen, zum radikalen Dualismus überzugehen.
Außerdem wurde auf dem Konzil von St.-Félix eine Einteilung des
katharischen Gebietes in Südfrankfreich in vier Diözesen Albi, Tou-
louse, Carcassone und Agen vorgenommen; daneben gab es eine
Diözese Nordfrankreich sowie mehrere Diözesen in Italien.
Die Katharer-Bischöfe residierten gewöhnlich nicht in diesen
Städten, wo die katholischen Bischöfe doch Möglichkeiten hatten,
gegen sie vorzugehen, sondern in einem der benachbarten castra.
Dem Bischof standen der filius maior und der filius minor zur Seite;
beim Tode des Bischofs wurde der filius maior neuer Bischof, der fili-
us minor rückte zum filius maior auf, und ein neuer filius minor wurde
bestimmt. Außerdem gab es an verschiedenen Orten der Diözese
noch Diakone. Alle diese Amtsträger spielten aber bestenfalls die
Rolle eines primus inter pares, denn zur Vornahme der gottesdienst-
lichen Handlungen war jeder perfectus berechtigt.
Deren wichtigste war die schon mehrfach erwähnte Geisttau-
fe, das consolamentum, das äußerlich durch Auflegung des Evange-
lienbuches auf das Haupt des Kandidaten vollzogen wurde; Raimund
VI. wurde z.B. vorgeworfen, er trage immer ein Neues Testament bei
sich, um jederzeit das consolament empfangen zu können, falls er in
Lebensgefahr gerate. Eine Art Vorstufe zum consolament bildet die
Überreichung des Vater Unser, das der so ausgezeichnete Gläubige
erst dann beten darf, aber auch beten muß, z.B. vor jeder Mahlzeit.
Der normale Gläubige, der ja, wie wir gehört haben, noch der bösen
Welt angehört, hat eigentlich gar nichts zu tun: er kann bei den Ze-
remonien lediglich passiv anwesend sein; wenn er einem perfectus
begegnet, wird von ihm erwartet, daß er sich vor ihm niederwirft und
seinen Segen erbittet.
Da die friedlichen Bekehrungsversuche fehlschlugen, ent-
schloß sich Papst Innozenz III., Gewalt anzuwenden. Den Verlauf
dieses sog. Albigenserkreuzzuges im Einzelnen zu beschreiben, ist
hier nicht der Ort. Unmittelbarer Anlaß war die Ermordung des päpst-
lichen Legaten Pierre de Castelnau 1208. Im Juli 1209 wurde Béziers
erobert; am 22. Juli wurde die gesamte Bevölkerung umgebracht.
Ähnliche Grausamkeiten ereigneten sich mehrfach im Verlauf des
Kreuzzuges, der allerdings bald ins Stocken geriet. Erst das Eingrei-
fen des französischen Königs brachte schließlich die Entscheidung,
jedoch zog sich der Krieg insgesamt 20 Jahre hin, bis er 1229 durch
den Vertrag von Paris beendet wurde. Eigentlicher Nutznießer des
Kreuzzuges war der französische König, der weite Gebiete der ent-
eigneten Adligen übernahm und sich so erstmals auch im Süden sei-
nes Reiches tatsächlichen Einfluß verschaffen konnte. Und da mit
Graf Raimund zeitweise auch der König von Aragón verbündet war,
zeigt sich zum ersten Mal der französisch-spanische Gegensatz, der
dann in der frühen Neuzeit die europäische Politik beherrschen wird.
Der Albigenser-Kreuzzug hat die Katharer nicht vernichtet,
aber er hat ihnen den Rückhalt am Adel in den castra genommen, so
daß jetzt ihre gerichtliche Bekämpfung beginnen konnte, die Inquisi-
tion. Die Protokolle der Inquisition sind in großem Umfang erhalten,
so daß wir über sie recht gut unterrichtet sind. Ihren Namen hat sie
daher, daß das Gericht von sich aus eine Untersuchung (inquisitio)
durchführt und nicht darauf warten muß, daß jemand als öffentlicher
Ankläger auftritt.
Unsere Vorstellungen von der Inquisition beruhen meistens
auf den Verhältnissen in Spanien im späten 15. Jahrhundert, wo der
Großinquisitor Torquemada nun wirklich ein blutrünstiges Terrorre-
gime aufgerichtet hat. Die Listen für die Inquisition des 13. Jahrhun-
derts zeigen, daß sie mindestens ebenso oft freigesprochen wie ver-
urteilt hat, und unter den Urteilen waren wiederum nur ein kleiner Teil
Todesurteile. Freilich glaubte man, angesichts der Gefährlichkeit der
Häresie auf einige Rechtskautelen verzichten zu dürfen – eine Ge-
fahr, die ja immer besteht, wenn eine Bedrohung als besonders ge-
fährlich eingestuft wird. Im übrigen glich das Verfahren, auch in der
Anwendung der Folter, den gewöhnlichen Gerichtsverfahren, auf die
wir im 26. Kapitel noch ausführlich eingehen. Die ausgesprochenen
Strafen waren Pilgerfahrten, auch Geldbußen und Gefängnis. Wenn
die Todesstrafe ausgesprochen wurde, was bei hartnäckigen und
rückfälligen Ketzern nicht zu vermeiden war, wurde sie durch
Verbrennen vollzogen. Diese Todesart ist übrigens nicht von der Kir-
che vorgeschrieben, sondern geht zurück auf ein Gesetz Kaiser
Friedrichs II., den man so gern als den ersten modernen Menschen
bezeichnet.
26. KAPITEL:
HÄRESIE UND KETZEREI III: BEGINEN UND HUSSITEN
WIR HABEN SCHON im 11. Kapitel gesehen, daß das Christentum
im frühen Mittelalter zunächst nur sehr äußerlich angenommen wur-
de. Interessanterweise empfinden nun die Christen, die etwa seit
dem 10./11. Jahrhundert den christlichen Glauben auch innerlich an-
genommen haben, den liturgischen Betrieb und die Dienstleistungen
der Amtskirche schon nicht mehr als ausreichend. Insbesondere der
weltliche Besitz der Kirche erregt ihre Ablehnung. So beginnen na-
hezu gleichzeitig eine Reihe von Personen, darunter oft auch Mit-
glieder der besseren Gesellschaft, Adlige und reiche Bürger, für sich
selbst die apostolische Armut Christi und der ersten Jünger zu ver-
wirklichen und predigend durch die Lande zu ziehen. Daraus entwik-
kelt sich übrigens später der sog. Armutsstreit, d.h. der Streit über
die Frage, ob Christus und die Apostel überhaupt Besitz gehabt hät-
ten.
Zunächst gerieten diese Wanderprediger aber deshalb in Kon-
flikt mit der Amtskirche, weil diese die Predigt als ihr Monopol ansah
und deshalb die unautorisierten Prediger als Ketzer verfolgte. Diese
Haltung war vor allem deshalb bedenklich, weil dadurch völlig recht-
gläubige Christen, die ihren Glauben viel ernster nahmen als viele
Vertreter der Amtskirche, in die Ketzerei gedrängt wurden. Erst Inno-
zenz [dem] III., der, wie wir uns erinnern, die Katharer blutig verfol-
gen ließ, gelang es, diese Personengruppe durch die Legalisierung
der Bettelorden in die Kirche zu integrieren.
Dennoch blieben diese Gruppen, vor allem die Frauen, deren
Gemeinschaften man als Beginen zu bezeichnen pflegt, immer im
Verdacht der Ketzerei, insbesondere da, wo mystische Vorstellungen
eine Rolle spielten. Die mystische Vereinigung der Seele mit Gott
kann zu der Vorstellung verzerrt werden, daß diese Seele, da sie be-
reits teilhat an der ewigen Seligkeit, nun keiner Gnadenmittel mehr
bedarf; dies führt zur Verachtung der Sakramente. Und da ein sol-
cher Mensch, der mit Gott vereinigt und so gewissermaßen Gott sel-
ber ist, gar nicht mehr sündigen kann – denn wie sollte Gott selbst
sündigen können? –, ist er auch an kein Moralgesetz mehr gebun-
den, und selbst wenn er einen Mord beginge, wäre dies keine Sünde,
da er ja überhaupt nicht mehr sündigen kann. Gewiß sind solche Ex-
zesse nur selten vorgekommen, aber es gab sie, und sie wurden un-
berechtigt auch den völlig rechtgläubigen Beginen unterstellt, um die
gewissermaßen also immer ein Hauch von Schwefel und Hölle weh-
te.
Die Kritik an der weltlichen Macht der Kirche, ihrem Reichtum
und dem wenig geistlichen Leben des Klerus, die wir im vorigen Ab-
schnitt kennengelernt haben und die auch schon bei den Katharern
eine Rolle gespielt hatte, gewann besondere Vehemenz im Böhmen
des ausgehenden 14. Jahrhunderts. Sie verbindet sich dabei mit
dem Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen, der damals immer
heftigere Formen annahm und den König Wenzel nicht mehr zu zü-
geln wußte; in diesen Zusammenhang gehört auch der Auszug der
deutschen Studenten aus Prag 1409 nach Leipzig.
Zur gleichen Zeit trat die während des ganzen Mittelalters vor-
handene eschatologische Grundstimmung immer deutlicher hervor,
zumal damals jene Spaltung, die der Apostel für die Zeit vor dem
Weltende angekündigt hatte, Wirklichkeit wurde: seit 1378 bestand
das Große Abendländische Schisma mit zwei, später drei Päpsten
gleichzeitig, wobei der einzelne Christ kaum eine Möglichkeit hatte,
festzustellen, wer denn der rechtmäßige Papst sei. Von dort ist es
nur noch ein Schritt zu der Meinung, daß die reiche und verweltlichte
Kirche das Werk des Antichristen sei, von dem sich der wahre Gläu-
bige fernhalten müsse.
Diese Ansichten konnte man in Böhmen vor allem in den Pre-
digten in einer Bethlehem genannten Kapelle in der Prager Altstadt
hören – so sieht sie heute aus:
und der bedeutendste Prediger dort war Johannes Hus. Um 1370 in
Südböhmen geboren, studierte er in Prag, wo er Magister der Theo-
logie und auch Priester wurde, seit 1398 lehrte und 1402 sogar Rek-
tor war. Als Anhänger des englischen Philosophen Wyclif traf auch
ihn das Anathem, das 1409 der Erzbischof von Prag über dessen
Parteigänger aussprach.
Wie Wyclif lehrte auch Hus, daß die Heilswirksamkeit der Sa-
kramente weniger von der kirchlichen Weihe ihres Spenders als
vielmehr von seiner Würdigkeit abhänge. Als besonders verwerflich
galten ihm simonistische Praktiken, d.h. die allzu enge Verbindung
von Geld und kirchlichen Amtshandlungen, die er nicht nur als Sün-
de, sondern als regelrechten Abfall vom Glauben ansah. 1412 verlor
Hus die Unterstützung des Königs, 1413 wurde er wegen seiner Leh-
ren, insbesondere wegen seiner Stellungnahme gegen den Ablaß,
ausdrücklich vom Papst exkommuniziert. Er verließ deshalb Prag
und wich aufs Land aus. In dieser Zeit begann er, seine Schriften
nicht mehr nur auf Lateinisch, sondern auch auf Tschechisch abzu-
fassen; dabei reformierte er auch die tschechische Orthographie.
Außerdem ließ er eine Übersetzung der Bibel ins Tschechische an-
fertigen, die erste Vollbibel in einer Volkssprache. Die weiteren Erei-
gnisse, wie Hus vor das Konzil von Konstanz geladen wurde, wie
König Sigismund das freie Geleit brach und wie Hus dort am 6. Juli
1415 als Ketzer verbrannt wurde, sind bekannt.
Das Ergebnis dieser Maßnahme war freilich ganz anders, als
die Konzilsväter sich das vorgestellt hatten. Der böhmische Landtag
protestierte in einer mit 452 Siegeln versehenen Urkunde gegen das
Vorgehen des Konzils, und Hus und sein ebenfalls verbrannter
Freund Hieronymus von Prag wurden geradezu als Märtyrer und Hei-
lige verehrt, so daß der tote Hus ein viel gefährlicherer Gegner der
Amtskirche wurde, als es der lebende gewesen war. Hier eine pathe-
tische Darstellung vom Tode und der Himmelfahrt des Johannes Hus
aus dem Graduale von Leitmeritz:
Das eigentliche Symbol der hussitischen Bewegung war aber
der Laienkelch, d.h. daß bei der Kommunion auch den Laien der
Wein, und nicht nur das Brot, gereicht wird; wir sprachen davon
schon im 17. Kapitel im Zusammenhang mit der lateinischen Messe.
Angesichts der Lehre von Hus und Wyclif, daß die Handlungen eines
frommen Laien mehr wert seien als die eines sündigen Priesters,
kündigt sich in der Forderung nach dem Laienkelch aber schon die
Vorstellung vom allgemeinen Priestertum an, die später bei den Re-
formatoren wichtig wird. Auf der folgenden Abbildung sehen Sie ei-
nen der hussitischen Anführer; beachten Sie aber vor allem die Fah-
ne mit dem Kelch :
Der Widerstand der Hussiten steigerte sich zu offener Empö-
rung, als nach dem Tode König Wenzels 1419 ausgerechnet Sigis-
mund, der „Mörder des Johannes Hus“, Erbansprüche auf Böhmen
erhob. Papst Martin V. rief zum Kreuzzug gegen die Hussiten auf, je-
doch scheiterten die verschiedenen Feldzüge gegen Böhmen auf
das Kläglichste; im Gegenzug drangen die Hussiten sogar bis weit
ins Reich vor. Berühmt war ihre Lagertechnik der Wagenburg.
Schließlich brachte das Konzil von Basel 1437 in den „Prager Kom-
paktaten“ eine Kompromißlösung zustande.
Ich will dieses Kapitel damit abschließen. Die Behandlung der
Reformation ist Sache der Kollegen für die Neuzeit. Ich möchte aber
noch soviel anmerken, daß gerade im Hinblick auf die Ereignisse von
1415 die beiden Protagonisten der Reformationszeit, Karl V. und Lu-
ther, unseren Respekt verdienen: der eine, weil er das freie Geleit
einhielt, und der andere, weil er den Mut hatte, vor dem Reichstag in
Worms zu erscheinen.
ABSCHNITT C: DAS TÄGLICHE LEBEN
ALLTAGSGESCHICHTE IST modern. Ihre Berücksichtigung wird oft
programmatisch gefordert, und manche Nachbarwissenschaften tun
so, als ob sie den Historikern hier auf die Sprünge helfen müßten
oder als ob nur sie die wichtigen Erkenntnisse beitragen könnten.
Solche Behauptungen stellt allerdings nur der auf, der sich mit der
Tätigkeit der Geschichtswissenschaft nicht ausreichend beschäftigt
hat. Alltagsgeschichte – früher sagte man auch: Sittengeschichte –
haben die Historiker schon immer betrieben, und ihre Quellen sind
es, die die Interpretation der Erkenntnisse der Nachbarfächer erst
ermöglichen.
Es kommen noch zwei Probleme hinzu: ein methodisches und
ein sachliches. Alltagsgeschichte ist methodisch sehr schwierig, da
sie sich mit der Normalität befaßt. Was normal ist, findet aber ge-
wöhnlich keinen direkten Niederschlag in den Quellen. Man muß
deshalb Umwege gehen, z.B. Berichte über Mißbräuche usw.; das ist
schwieriger, als wenn man etwa die Haupt- und Staatsaktionen direkt
aus den Traditionsquellen ablesen kann. Der Anfänger ist deshalb
durch die Alltagsgeschichte oft überfordert, und darum ist sie etwa
als Proseminarthema wenig geeignet.
Zweitens, und das ist der sachliche Grund, sollte man nicht so
tun, als ob die großen politischen Aktionen den Alltag der normalen
Menschen nicht beeinflußt hätten. Ich habe früher schon darauf hin-
gewiesen, daß der mittelalterliche Krieg vor allem darauf zielte, die
wirtschaftlichen Grundlagen des Gegners zu vernichten; es bedarf
keiner Begründung, daß die Leidtragenden dabei hauptsächlich die
kleinen Leute waren. Die Haupt- und Staatsaktionen sind also ein
wesentlicher Faktor gerade auch der Alltagsgeschichte.
Trotzdem ist die Forderung, sich mit dem ganz normalen All-
tagsleben zu befassen, natürlich berechtigt, und ich will dies in den
folgenden Kapiteln nun auch tun. Wir betrachten dabei der Reihe
nach den Tageslauf, den Jahreslauf und den Lebenslauf, ferner, wie
schon zu Beginn der Vorlesung angekündigt, noch einige Spezialfra-
gen. Den Vorwurf mangelnder Diskretion – wir dringen ja in die ganz
persönlichen Lebensumstände unserer Vorfahren ein – diesen Vor-
wurf kann man uns dabei nicht machen, denn der Mensch hat im Mit-
telalter kein Privatleben. Seine Existenz spielt sich in greller Öffent-
lichkeit und unter ständiger sozialer Kontrolle ab. Eine Abweichung
von der Norm machte sofort verdächtig, und ein solcher Verdacht
kann schwerwiegende Folgen haben, wie wir noch sehen werden. Im
Mittelalter kann eben gerade nicht jeder nach seiner Façon selig wer-
den.
27. KAPITEL:
DER TAGESLAUF, I: SCHLAF, KLEIDUNG UND ERNÄHRUNG
DER TAGESLAUF DAUERT VON Sonnenaufgang bis Sonnenunter-
gang. Eine Tätigkeit während der Nacht war schon wegen der
schwierigen Beleuchtungssituation nur begrenzt möglich; die Be-
leuchtung erfolgte durch den Kienspan, die Talgkerze sowie lokal
begrenzt durch Tranlampen oder Schmalzlichter. Die Öllampe, die
südlich der Alpen seit der Antike ununterbrochen in Gebrauch blieb,
war nördlich der Alpen nur wenig verbreitet, weil es hier am erforder-
lichen Rohstoff, dem Öl fehlte. Die beste, aber zugleich teuerste
Lichtquelle, die Wachskerze, konnten sich nur wenige Reiche leisten.
Dennoch ließ man, aus wohlberechtigter Furcht vor Raub und Dieb-
stahl, stets ein wenn auch noch so kleines Nachtlicht brennen, wie
dies zum Beispiel in der Regel des hl. Benedikt für das dormitorium
des Klosters vorgeschrieben ist. Wer nachts auf die Straße gehen
mußte, führte auf jeden Fall eine Laterne mit sich; wer das nicht tat,
zeigte dadurch seine im wörtlichen Sinne finsteren Absichten.
Ein weiterer, wenig bedachter Umstand lag bis ins 19. Jahr-
hundert hinein darin, daß man einen Raum nicht auf einen Schlag er-
leuchten konnte, sondern daß die Lichter eines nach dem andern
angezündet werden mußten, bis die gewünschte Helligkeit erreicht
war; das änderte sich erst mit der Gasbeleuchtung und später dem
elektrischen Strom. Man stand also im Mittelalter buchstäblich mit
den Hühnern auf und ging mit denselben zu Bett.
Der Tagesablauf unterschied sich grundlegend, je nachdem,
ob der Tag ein Werktag oder ein Feiertag war. Der Samstag war im
Mittelalter selbstverständlich ein Werktag. Dagegen war die Zahl der
Feiertage viel höher als heute, wie z.B. aus Kanzleiordnungen zu
entnehmen ist. Die Zahl der freien Tage war dadurch insgesamt min-
destens ebenso groß wie die heutige Urlaubszeit. An den Werktagen
wurde von morgens bis abends gearbeitet, d.h. im Sommer 14 Stun-
den und länger, im Winter allerdings wesentlich kürzer; einzige Un-
terbrechung waren die Mahlzeiten, die werktags äußerst spartanisch
ausfielen.
Bei Einbruch der Dunkelheit begab man sich bald ins Bett,
vorausgesetzt, daß man ein Bett besaß. Ein Bett für sich alleine hat-
ten im Mittelalter nur ganz wenige Personen. Normalerweise schlie-
fen bis weit in die Neuzeit hinein mindestens zwei Personen in einem
Bett, und noch im 19. Jahrhundert hatten die Rekruten, die vom Lan-
de kamen, während ihrer Militärzeit oft zum erstenmal ein eigenes
Bett für sich alleine. Auch in den Krankenhäusern lagen immer min-
destens zwei Leute in einem Bett.
Der Schlaf war unruhig, man saß mehr, als daß man lag, und
man war vor allem in der Nacht von Ungeziefer geplagt; einziges Mit-
tel dagegen war es, die Füße des Bettes in Schalen mit Wasser zu
stellen. Aber auch das half wenig gegen die Flöhe, die bekanntlich
sehr weit springen können, und gegen diejenigen Mitbewohner, die
sich im Stroh bereits häuslich niedergelassen hatten. Die folgende
Abbildung zeigt, wie man im Mittelalter schlief: also nackt, aber mit
einer Kopfbedeckung. (Auf die weitere Tätigkeit des Paares auf die-
ser Abbildung kommen wir später noch zurück.)
Wenn sich unser Paar nun aus dem Bett erhob und sich ankleidete,
was zog es dann an? Zunächst ein Hemd aus Leinen, das frei herab-
fiel, darüber ein Obergewand, das bei den Frauen bis auf den Boden
reichte, bei den Männern kürzer war, wie Sie auf dieser Abbildung
recht gut sehen können:
Die Kleidung war bei den Adligen und der gewöhnlichen Be-
völkerung im Prinzip gleich und unterschied sich nur durch die Kost-
barkeit der Materialien. Modetorheiten konnten sich nur reiche Leute
leisten, die damit auch zeigten, daß sie nicht körperlich arbeiten
mußten. Das sah man auch an den Schuhen, die etwa zur Zeit der
Gotik so lang und spitz waren, daß man sich fragt, wie man darin
überhaupt laufen konnte – aber das ist bei den Schuhen an weibli-
chen Füßen ja heute oft genauso. Das Obergewand der Männer
konnte so kurz sein, daß man bei jedem Bücken den Hintern sah.
Umgekehrt lief das Kleid der reichen Frauen in eine immer längere
Schleppe aus. Beides erregte den Zorn der Moralprediger. Cäsarius
von Heisterbach berichtet, wie ein Mönch auf der Schleppe einer
Dame einen leibhaftigen Teufel habe sitzen sehn:
Umgekehrt waren die Kleider am Hals tief ausgeschnitten, wobei das
Dekolleté durchaus auch unterhalb der Brust verlaufen konnte, wie
folgende Abbildungen zeigen:
Sie sehen links Agnès Sorel, die Maitresse des französischen Königs
Karls VII. – statt Maitresse sagte man damals dame de beauté – und
rechts Lukrezia Borgia.
Zu erwähnen ist noch, daß eine ehrbare Frau niemals ohne
Kopfbedeckung ging, eine Regel, die noch bis ins frühe 20. Jahrhun-
dert eisernen Bestand hatte. Auch das sollte man vielleicht bei der
Diskussion um das moslemische Kopftuch bedenken. Eines der be-
rühmtesten Beispiele für weibliche Kopfbedeckung ist die Darstellung
der Uta am Naumburger Dom:
Wenn im Mittelalter eine Frau mit offenem Haar auf die Straße lief,
tat sie damit kund, daß sie soeben vergewaltigt worden sei und Hilfe
suche. Auf der anderen Seite konnten die Kopfbedeckungen der
Frauen enorme Größe erreichen und erregten dann ebenfalls den
Zorn der Moralprediger, z.B. die im 15. Jahrhundert üblichen "Teu-
felshörner".
An den Feiertagen war jede Arbeit verboten; auch an den Universitä-
ten waren am Sonntag nur bestimmte Vorlesungen zugelassen. Was
tat man am Sonntag, da man nicht arbeiten durfte? Zunächst be-
suchte man am Vormittag den Gottesdienst; allerdings häufen sich
schon im Mittelalter die Klagen, daß statt der Kirche das Wirtshaus
frequentiert wurde.
Wir kommen damit unmittelbar zur Frage der mittelalterlichen
Ernährung. Schon im 10. Kapitel habe ich darauf hingewiesen, daß
bei der Art der Ernährung im 11. Jahrhundert eine Umstellung zu
beobachten ist: bis dahin wurde eine vergleichsweise geringe Bevöl-
kerung hauptsächlich durch fleischliche Kost aus extensiver Viehhal-
tung ernährt; danach tritt die pflanzliche Ernährung aus einer verbes-
serten Agrarwirtschaft in den Vordergrund. Die fleischreiche Ernäh-
rung wird jetzt zur Ausnahme und beschränkt sich auf die reiche
Oberschicht in den Städten und an den Höfen einerseits und die ge-
legentlichen Festmähler andererseits, die allerdings auch auf dem
Lande überaus üppig ausfallen konnten. Der überwiegende Fleisch-
konsum in der Oberschicht machte diese anfällig für ernährungsbe-
dingte Krankheiten wie etwa die Gicht und schlug sich auch in den
entsprechenden Körperformen nieder.
Welche pflanzlichen Nahrungsmittel standen zur Verfügung?
Die Ackerflur wurde in einer Art Dreifelderwirtschaft, also einem drei-
jährigen Turnus von Wintersaat, Sommersaat und Brache genutzt.
Die angebauten Getreidearten waren der Weizen (triticum), der Rog-
gen (siligo; dieses Wort bezeichnet in der Antike den Weizen), die
Gerste (ordeum), der Hafer (avena) und die Hirse (milium), ferner ei-
ne altertümliche Abart des Weizens, der Dinkel (far), der ja in jüng-
ster Zeit wieder modern geworden ist. Für das feinste Weizenmehl
gibt es übrigens noch den lateinischen Ausdruck simile; davon
kommt das deutsche Wort „Semmel“. (Eine Roggensemmel ist also
ein Widerspruch in sich selbst.)
Auf Feldern wurden außerdem Bohnen (faba) und Erbsen (pi-
sum) angebaut. Das übrige Gemüse, wie Kohl, Salat, Lauch, Spinat
und Mangold, entstammte wohl eher dem Garten. An weiterer pflanz-
licher Nahrung ist noch das Obst zu erwähnen (Äpfel, Birnen, Pflau-
men, Pfirsiche, Quitten und Mandeln), ferner die Nüsse und der
Mohn, die zur Ölbereitung dienten. Recht lukrativ konnten Spezialkul-
turen sein, so der Weinbau oder die Ölbäume, wo es klimatisch mög-
lich war, ferner der Anbau von Pflanzen zur Herstellung von Farben:
der Krapp für rote, der Waid für blaue und der Wau für gelbe Farbe;
die Färbepflanzen wurden natürlich nicht gegessen, wenn auch kräf-
tige, notfalls auch nicht-natürliche Farben in der mittelalterlichen Kü-
che sehr beliebt waren.
Mittelalterliche Kochbücher sind in großer Zahl und aus vielen
Gegenden überliefert. Hier ein Beispiel von 1460:
Wer ein gůt můs wil will haben, das mach von sibennler sachen. Du
můst haben milich, saltz vnd schmalcz, zugker, ayer vnd mel, saf-
fran, dar zue So wirt es gell.
Die Kochbücher sind zunächst auf Latein, dann aber auch in
den Volkssprachen verfaßt, wie in unserem Beispiel; leider machen
sie aber nur selten Mengenangaben, so daß das Nachkochen
schwierig ist. Auch besteht schon damals, wie auch heute noch (und
gerade heutzutage) ein großer Unterschied zwischen den Kochbü-
chern und dem, was tatsächlich auf den Tisch kam. Bessere Quellen
für die mittelalterliche Nahrungsmittelsituation sind Abgabelisten, wie
sie z. B. in den Urbaren und sonstigen Verzeichnissen der Grund-
herrschaften enthalten sind. Weniger geeignet sind die Beschreibun-
gen von Mustergärten, wie es sie etwa von Walahfrid Strabo oder
Hildegard von Bingen gibt, oder das Maximalprogramm des Capitula-
re de villis, in dem Karl der Große die Bewirtschaftung der Königshö-
fe vorschreibt. Kehren wir nach diesem Ausflug in die Quellenkritik
zur mittelalterlichen Ernährung zurück.
Bei der fleischlichen Nahrung war, wenn sie denn auf den
Tisch kam, die Auswahl größer als heute. Neben dem Rind, das
auch als Zugtier und Milchlieferant wichtig war, sind Lamm, Hase,
aber auch Meerschweinchen, Igel, Eichhörnchen und Murmeltiere zu
nennen. Der wichtigste Fleischlieferant war aber das Schwein. Die
Schweine wurden in den Wald getrieben, wo sie Eicheln und Buch-
eckern fraßen; damit man sie wiederfinden konnte, wurde ihnen eine
Glocke umgehängt. Für den Schweinehirten gab es dort einen Un-
terstand, der lateinisch buria heißt; davor leiten sich die zahlreichen
Ortsnamen auf "-beuren" ab. Die mittelalterlichen Schweine sahen
etwas anders aus als die heutigen Schweine, etwas urtümlicher im
Körperbau, das Fleisch etwas dunkler: das ist leicht erklärlich, denn
im Wald kam es immer wieder einmal zu einem Fehltritt mit einem
echten Wildschwein. Übrigens pflegte man die Tiere gerne zu ka-
strieren, weil sie dann schneller und üppiger Fett ansetzten, was in
der Ernährungssituation des Mittelalters erwünscht war. Ein derart
verschnittenes Schwein nannte man "Nonne"; davon leitet sich die
heute noch als Familienname vorkommende Berufsbezeichnung
"Nonnenmacher" ab.
Außerdem wurde selbstverständlich Geflügel gegessen, so
Hühner und Gänse, die zusätzlich noch Eier, Daunen und Schreibfe-
dern lieferten, ferner Enten, Fasanen, Pfauen, Schwäne, Kraniche,
Tauben und Singvögel. Letztere wurden mit Leimruten gefangen;
daher heute noch unser Sprichwort "jemandem auf den Leim gehen".
Der Truthahn fehlt; er war in Europa noch nicht bekannt. Die Tiere
der hohen Jagd, Reh, Hirsch, Bär, Wildschwein usw. waren mehr
dem Tisch der Adligen vorbehalten. Eine wichtige Rolle spielen, auch
außerhalb der Fastenzeit, die Fische, so Forelle, Salm, Hecht und
Aal; zu den Fischen wird auch der Biber gezählt, da er im Wasser
lebt. Der Aal war übrigens das Lieblingsgericht Papst Martins IV.,
den Dante dafür ins Fegfeuer versetzt: e purga con digiuno l'anguille
di Bolsena con la vernaccia – "und er büßt durch Fasten den Bolse-
na-Aal in süßem Weißwein".
Noch ein paar Bemerkungen zur Zubereitung: soweit sich das
Fleisch nicht am Spieß braten ließ, wurde es gerne zu Pasteten ver-
backen. Das Gemüse wurde, wie der Name schon sagt, zu Mus ge-
kocht. Die Garzeiten waren länger als heute – auch mit Rücksicht auf
die oft zahnlosen Esser –, so daß die gründliche Beseitigung der Vit-
amine gewährleistet war. Dazu aß man Brot, das bekanntlich auch
als Tellerersatz geeignet war; die Kartoffel war ja noch unbekannt,
Reis wohl sehr selten, zumindest in unseren Breitengraden und, die
Nudel schwierig herzustellen, wie Sie auf diesem Bild sehen:
Gewürzt wurde mit Salz, das auch zur Konservierung wichtig
war, ferner mit Pfeffer; gesüßt wurde fast nur mit Honig, denn Zucker
war viel zu teuer. Das Salz wurde aus salzhaltigen Solen gewonnen,
so z. B. in Salzburg, Berchtesgaden und Lüneburg, und entlang den
Salzstraßen transportiert. Eine wichtige Salzhandelsstadt war Mün-
chen; eine berühmte Transportroute überschritt bei Passau die Do-
nau und führte über den Goldenen Steig nach Böhmen, das selbst
praktisch kein Salz besaß. Der Pfeffer wurde unter schweren Kosten
von weither eingeführt, eben von dort, wo der Pfeffer wächst; im Pfef-
ferhandel konnten die Kaufleute, die „Pfeffersäcke“, hohe Gewinne
machen, und weil Pfeffer so teuer war, verwandte ihn der, der ihn
sich leisten konnte, bei nahezu allen Speisen, sogar beim Wein.
Daneben waren weitere, auch einheimische Gewürze in Gebrauch,
wie hier etwa der Majoran:
Das starke Würzen war nicht ungefährlich, da dadurch man-
che Speisen noch als genießbar erschienen, vor denen sonst schon
ihr Geruch gewarnt hätte. Auf dieses Problem weisen schon die mit-
telalterlichen Autoren hin. Den Abschluß der Mahlzeit bildete – an-
ders als heute – die Suppe, wobei sich etliche dieser Suppen beim
Nachkochen nach den mittelalterlichen Rezepten als kräftige Ab-
führmittel erwiesen. Nach dem Essen verschaffte man sich durch
wohliges Rülpsen und Furzen Erleichterung; wer dies unterließ, be-
leidigte den Gastgeber.
Der Unterschied zwischen Alltagskost und Festmählern war
viel größer als heute; erstere war von ermüdender Monotonie, bei
letzteren wurden freilich Mengen verzehrt, deren bloße Aufzählung
heute kaum glaublich erscheint. Unterrichtet sind wir darüber außer
durch die schon erwähnten Kochbücher auch durch Abrechnungen
und durch Moralpredigten, die die Völlerei geißeln.
Waren schon die Festtagsmahlzeiten der einfachen Leute
überaus üppig, so steigerte sich bei den Feiern des Adels der Auf-
wand bis zum Exzeß. Für das Krönungsmahl Papst Innozenz' VI.,
bei dem am 30. Dezember 1352 allerdings halb Avignon mitaß, ist
folgende Verbrauchsliste überliefert: 2000 Weißbrote, 52 588 Sem-
meln, 325 Lämmer, 100 Ziegen, 4 Kraniche, 18 Hasen, 4 Füchse, 2
Hirsche, 131 Kapaune, etliche Zentner Fisch, 1 Schwan, 6000 Äpfel,
1500 Birnen, 150 Hammel, 216 Pfund Gewürze, 9000 Zwiebeln,
7800 Eier, 5 Zentner Blutwurst, 17 Zentner Wildpastete, 24 Zentner
Pökelfleisch, 1432 Perlhühner, 1560 Kaninchen, 2400 Hühner, 16
Schweine, 26 Kälber und 25 Rinder. Die Reste wurden nicht, wie
heute, vernichtet, sondern anderntags an karitative Einrichtungen
verteilt.
Die Tische waren bei solchen Feierlichkeiten hufeisenförmig
aufgestellt, d.h. in der Mitte war ein freier Raum, in dem die Gerichte
pompös aufgetragen werden konnten. Deshalb bezeichnet man noch
heute die einzelnen Abschnitte der Mahlzeiten als "Gänge". Viele
dieser Gerichte waren überhaupt nicht zum Essen bestimmt, sondern
reine Schaugerichte, die oftmals auch vergoldet oder versilbert wa-
ren. Außerdem liebte man es, die Gerichte künstlich umzugestalten,
so daß etwa ein Fleischgericht wie ein Fisch aussah usw. Den Gipfel
solcher Festmähler bildete wohl das ebenso berühmte wie berüchtig-
te Fasanenfest, auf der Herzog von Burgund den Kreuzzug gegen
die Türken und den Zweikampf mit dem Sultan gelobte, sein Gelübde
aber später – trotz gutem Willen – nicht einhalten konnte.
Die Aufzählung all dieser Speisen darf uns aber nicht den
Blick dafür verstellen, daß es im Mittelalter nicht selbstverständlich
war, daß man überhaupt etwas zu essen bekam. Hungersnöte waren
an der Tagesordnung und werden in den Quellen häufig erwähnt; na-
türliche Ursachen wie Mißernten, Schädlingsbefall usw. kamen
ebenso vor wie die bewußte Vernichtung der Ernte im Kriegsfall. In
den Städten führte der Nahrungsmittelmangel sofort zur explosions-
artigen Steigerung der Preise, die also in einer Weise schwankten,
wie wir es uns kaum noch vorstellen können. Deshalb ist es auch
nahezu unmöglich, Preisvergleiche zwischen damals und heute
durchzuführen, auch wenn Journalisten und dergleichen das immer
wieder von den Historikern verlangen.
Wie gut und reichlich man sich ernähren konnte, hing, wie
schon angedeutet, auch von der gesellschaftlichen Stellung ab:
Wohlgenährtheit war ein Zeichen von Macht und Reichtum. Es ist
kein Zufall, daß mehrere Herrscher einen diesbezüglichen Beinamen
tragen, etwa Karl III. der Dicke (Karolinger), Ludwig VI. der Dicke
(Kapetinger), Sancho I. el Craso von León, der schließlich so dick
war, daß er nicht mehr aufs Pferd steigen konnte, deshalb abgesetzt
wurde und erst nach eine erfolgreichen Kur durch die arabischen
Ärzte in Córdoba wieder auf den Thron kam. Philipp I. von Frankreich
verstieß 1092 Königin Bertha mit der Begründung, sie sei zu fett ge-
worden; in Wirklichkeit sollte sie allerdings einer Konkubine Platz
machen, was auf Dauer aber nicht gelang. Aus dem beginnenden
16. Jahrhundert könnte man etwa Friedrich den Weisen, den Lan-
desherrn Martin Luthers, erwähnen, wie dieses Bild eindrucksvoll
zeigt:
Umgekehrt befreite auch der Eintritt in ein Kloster nicht von
den Nahrungsmittelsorgen. Man muß sich darüber im klaren sein,
daß ganze Mönchskonvente buchstäblich verhungert sind: es gibt
viele Legenden, wo diese Situation geschildert wird; dort geschieht
dann im allerletzten Augenblick ein Wunder, aber das dürfte norma-
lerweise nicht erfolgt sein. Hungersnöte konnten Epidemien zur Fol-
ge haben, was dann wiederum dazu führte, daß niemand da war, der
die Felder bestellen konnte, usw. Selbst Fälle von Kannibalismus in
Notzeiten sind nachgewiesen.
Das gewöhnliche Getränk des Mittelalters war der Wein, der
selbst in Gegenden weit nördlich der heutigen Anbaugebiete ge-
pflanzt wurde, also zum Teil wohl sehr sauer war; auch die mittelal-
terlichen Bayern werden als ausgesprochene Weintrinker geschil-
dert. Der Wein erreichte allerdings nicht immer die heute erwarteten
Oechslegrade; daher kam der Spruch: "Glückliches Bayern, wo der
Essig, den man anderswo mühsam herstellen muß, gleich auf der
Rebe wächst." Den Wein braucht man außerdem für den Gottes-
dienst; ein päpstliches Privileg für die Norweger, daß sie wegen der
klimatischen Bedingungen die Messe ohne Wein feiern dürften, ist
eine Fälschung.
Als Festgetränk wurde im Mittelalter das Bier angesehen, vor
allem dasjenige, das aus Einbeck am Harz stammt. Aus „Beck“ wird
dabei über „Böck“ „Bock“, daher unser Ausdruck Bockbier. Ob der
heute noch in Einbeck verkaufte Urbock seinem mittelalterlichen
Vorbild entspricht, muß dahingestellt bleiben; ich fand ihn nicht be-
sonders aufregend. Auch das böhmische Bier war berühmt, kam
aber erst an zweiter Stelle; die heutige Pilsener Brauart ist allerdings
viel jünger und geht auf einen bayerischen Braumeister aus Vilsho-
fen zurück.
Das mittelalterliche Bier war in der Regel obergäriges Bier,
d.h. es beruhte auf Hefesorten, die bei der Gärung zur Oberfläche
aufsteigen. Die erforderliche Temperatur von 15–20 Grad Celsius
ließ sich leicht einhalten, während für untergäriges Bier, bei dem die
Hefe absinkt, Temperaturen von 5–10 Grad erforderlich sind; das ist
ganzjährig erst durch die moderne künstliche Kühlung möglich.
Das Bier mußte also, wie gesagt, möglichst kühl gelagert wer-
den, was um so besser ging, je mehr der Lagerraum im Schatten lag.
Dieser Schatten ließ sich sehr gut dadurch erzeugen, daß man Bäu-
me pflanzte, die eine breite Krone und dichtes Laubwerk hatten. Und
wenn die Bäume nun einmal da waren und das Bier so nahe, dann
konnte man es auch gleich unter Bäumen ausschenken: auf diese
Weise entstanden die Biergärten.
Das frühmittelalterliche Bier muß ziemlich fade geschmeckt
haben; deshalb wurde es mit Kräutern gewürzt, vor allem mit einer
Gagel genannten Heide- und Moorpflanze von betäubendem Duft.
Etwas später entdeckte man, daß eine andere Pflanze dem Bier
nicht nur Würze, sondern auch Haltbarkeit verleiht, nämlich der Hop-
fen. Der Hopfen war auch deshalb besser geeignet, weil das Gagel-
kraut schwere Nebenwirkungen bis zur Erblindung hervorrufen konn-
te.
Gutes Bier war aber trotz der Verwendung des Hopfens sel-
ten, weil die Hefe damals nicht bewußt zugesetzt, sondern mehr zu-
fällig aus den Schwebstoffen der Luft in das Bier geriet, so daß man
nie so genau wissen konnte, was am Ende herauskam. Außerdem
war das Gebräu häufig mit anderen Zusätzen versehen, verwässert
und vor allem in Altbayern derart gepanscht, daß sich die Herzöge
schließlich gezwungen sahen, Reinheitsgebote für das Bier zu erlas-
sen, so in Bayern-Landshut 1493 und in München 1516. Nach Aus-
weis einer Internet-Seite gab es
(http://www.biersekte.de/reingebot.htm) noch drei ältere Reinheits-
gebote bürgerlicher Herkunft von 1348 in Weimar, 1434 in Weißen-
see und 1363 in München, was aber im Détail noch zu überprüfen
wäre.
Allerdings ist es fraglich, ob es in diesen Verordnungen über-
haupt um die Reinheit des Bieres geht. In der Begründung steht
nichts davon. Es spricht einiges dafür, daß die ausschließliche Ver-
wendung von Gerste nur dafür sorgen sollte, daß andere Grundstof-
fe, wie etwa der Weizen, aus dem man auch Bier herstellen kann, für
wichtigere Zwecke gespart wurde.
Als denselben bayerischen Herzögen die Kosten für den Im-
port des Biers aus Einbeck zu hoch wurden, gründeten sie 1589 an
ihrem Hof ein eigenes Brauhaus, eben das Hofbräuhaus. Der eigent-
liche Schutzpatron der Bierbrauer ist übrigens nicht der heilige Gam-
brinus, wie man meistens glaubt, sondern St. Thomas; das wird so-
fort deutlich, wenn man diesen Heiligen richtig schreibt: St. Tho-Maß.
Nach dem Essen mag einen der Wunsch ankommen, einem
Bedürfnis der Natur zu folgen. Dazu begab man sich auf den seces-
sus oder auch ad secretiora; dieser Ort war in den Klöstern, so z.B.
auf dem St. Galler Klosterplan, als mehrsitzige Anlage eingerichtet.
(Auf der Abbildung am linken und oberen Rand.)
Interessant ist auch die Vorschrift, was zu tun sei, wenn ein Kloster-
schüler nachts ad secretiora gehen wollte: dies durfte er keinesfalls
allein tun, sondern er mußte den Lehrer wecken, der eine Lampe an-
zünden und eine weiteren Schüler wecken mußte, mit dem zusam-
men man dann hinausging und wieder zurückkam, also zu dritt.
In profanen Gebäuden wurde der Abtritt gern als Erker an der
Außenmauer gestaltet, was die Entsorgung auf die Straße erleichter-
te. Wo diese Bequemlichkeit fehlte, wurde der Nachttopf mit
Schwung mitten auf die Straße ausgegossen; aus diesem Grunde
läßt übrigens der Kavalier die Dame immer auf der Innenseite, also
dicht an der Hausmauer gehen, wo sie gegen solche Güsse besser
geschützt ist. Die Deutschordensburgen besaßen nach orientali-
schem Vorbild als Abtritt einen sog. Dansker, einen gesondert im
Wasser stehenden Turm, der vom Hauptbau durch einen Brücken-
gang zu erreichen war.
Abgesehen von der hygienischen Seite war die körperliche
Entleerung auch mit anderen Gefahren verbunden wie dem ungebe-
tenen Besuch von Ratten und Schlangen. Singulär dürfte allerdings
der Fall des Herzogs Gottfried von Burgund sein, des Ehemannes
der Mathilde von Tuszien, dem auf dem Abtritt ein Attentäter auflau-
erte und ihm, während er dort saß, von unten her einen Dolch in den
Leib rammte; der Herzog starb wenige Tage später, und das war
kein schöner Tod. Dramatisch verlief auch der Hoftag König Hein-
richs VI. 1184 in Erfurt. Die Chronik des dortigen Petersklosters be-
richtet: "König Heinrich kam auf dem Zuge gegen Polen nach Erfurt
und fand dort Konrad von Mainz in heftigem Streit mit dem Landgra-
fen Ludwig wegen des dem Bistum zugefügten Schadens. Als er,
bemüht den Frieden zwischen ihnen herzustellen, von vielen umge-
ben in einer Oberstube zu Rat saß, brach plötzlich das Gebäude zu-
sammen, und viele stürzten in die darunter befindliche Abtrittsgrube,
deren einige mit Mühe gerettet wurden, während andere im Morast
erstickten."
Banaler und alltäglicher war das Problem, sich nach erfolgtem
Geschäft zu reinigen. Papier verwendete man im Mittelalter dafür
nicht, denn erstens gab es das erst seit dem 14. Jahrhundert in nen-
nenswerter Menge und zweitens war es auch dann noch viel zu
kostbar. Man konnte z.B. andere pflanzliche Blätter nehmen. Aber
auch das war nicht ohne Probleme, wie folgender Vers zeigt:
Cum folio koli tu culum tergere noli!
Si rumppitur kolplat, forsan tibi der finger in ars gat.
(Mit einem Kohlblatt sollst du dir den Hintern nicht abwischen! Wenn
vielleicht das Kohlblatt reißt, geht dir der Finger in den Arsch.)
28. KAPITEL:
DER TAGESABLAUF, II: FREIZEIT
WIR KAMEN AUF DAS ESSEN über die Frage, was man im Mittelal-
ter am Sonntag tat, da das Arbeiten verboten war. Außer mit Essen
konnte man sich auch mit Spielen befassen. Die mittelalterlichen
Spiele sind meistens Glücksspiele, was zwar den Zorn der Kirche er-
regte, ihrer Beliebtheit aber keinen Abbruch tat. Neben Würfelspielen
gab es Kartenspiele; Spielkarten, die zu malen ein eigener Beruf war,
konnten zugleich dem Wahrsagen dienen, wie die berühmten Tarot-
Karten.
Selbst für die Rebellion gegen die Obrigkeit waren sie geeignet: so
wurde z.B. im 16. Jahrhundert kurz nach der Reformation im katholi-
schen Würzburg ein Kartenspiel beschlagnahmt, weil auf dem Herz-
As der Satz eingetragen war: Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit; ein
Belegstück ist heute noch bei den Akten.
Etwas intellektueller unterhielt man sich beim Schachspiel,
das schon im Ruodlieb, einem um 1050 entstandenen lateinischen
Versroman, erwähnt wird. Außerdem wirft Petrus Damiani, ein Mitar-
beiter Papst Gregors VII., 1061/2 dem Bischof von Florenz vor, er
habe eine ganze Nacht lang Schach gespielt. Dieser Petrus Damiani
muß ungewöhnlich humorlos gewesen sein: er lobt z.B. das Kloster
Montecassino dafür, daß es dort keine Klosterschule gebe, denn so
werde man nicht durch Kindergeschrei in der Kontemplation gestört
… Hier sehen Sie die Abbildung eines Schachspiels in einem Fuß-
bodenmosaik aus Piacenza:
Die mittelalterlichen Schachspiele weisen die gleichen Figuren
auf wie heute, jedoch waren die Regeln zum Teil anders; so konnte
z.B. der Läufer nur zwei Schritte in schräger Richtung gehen. Der
Doppelschritt der Bauern beim ersten Zug war nur erlaubt, solange
noch keine Figur geschlagen war. Die Dame geht zwar wie heute in
alle Richtungen, aber ebenfalls nur einen Schritt. (Ob diese Ein-
schränkung weiblicher Bewegungsfreiheit zu bedauern oder zu be-
grüßen ist, lasse ich dahingestellt.) Das Spiel war infolge dieser an-
deren Regeln schwerfälliger und dauerte länger als heute. Eine aus-
führliche Anleitung verdanken wir z. B. König Alfons dem Weisen von
Kastilien.
Die heute üblichen Regeln bildeten sich erst gegen Ende des 15.
Jahrhunderts heraus.
Wie spannend trotzdem ein mittelalterliches Schachspiel sein
konnte, bekam ein gewisser Tristan zu spüren, der während einer
Schachpartie entführt wurde, ohne daß es ihm auffiel; er lernte dann
später eine Dame namens Isolde kennen. Schach wurde auch um
Geld gespielt. Karl von Anjou tat dies auf der Fahrt zum Kreuzzug,
wobei er seinen Partnern die notwendigen Einsätze gegen Zinsen
auslieh; als sein Bruder Ludwig der Heilige dies erfuhr, entriß er ihm
das Spiel und schleuderte es ins Meer. Das Schachspiel wurde übri-
gens gern allegorisch gedeutet als Abbild der ständischen Ordnung.
Hier eine Predigt mit Schachbrett:
Weitaus primitiver war das Vergnügen, das man im Mittelalter
z.B. an Hahnenkämpfen hatte. Bei all diesen Spielen ging es kei-
neswegs gelassen zu, sondern die Spielpartner gerieten häufig in
Streit. Die mittelalterlichen Spieler waren schlechte Verlierer, und es
gibt Belege dafür, daß ein Schachspieler, der ins Hintertreffen geriet,
einfach die Figuren umwarf.
Das führt uns zu der Frage, ob man im Mittelalter Humor hat-
te. Geweint wurde im Mittelalter ständig, auch von den Männern, und
zwar vor allem Tränen der Rührung; das galt als verdienstvoll und
wird z.B. bei Gregor VII. lobend hervorgehoben. Aber hatte man
auch Humor? Dies wird heute gewöhnlich verneint, und zwar mit
Hinweis auf die theologische Diskussion darüber, ob das Lachen
überhaupt erlaubt sei. Die mittelalterlichen Theologen – oder sagen
wir besser: eine bestimmte Kategorie von Theologen – verweisen
nämlich darauf, daß in den Evangelien zwar mehrmals berichtet wer-
de, daß Christus geweint, aber niemals, daß er gelacht habe. Es gibt
aber mehrere Stellen, in denen er andere der Lächerlichkeit preis-
gibt. Auch im alten Testament wird das Lachen nur selten erwähnt,
und dabei handelt es sich in der Regel um ein törichtes Lachen, ge-
wöhnlich aus weiblichem Munde. Von Ludwig IX., dem Heiligen, wird
berichtet, daß er grundsätzlich am Freitag nicht gelacht habe.
Trotzdem steht fest, daß man im Mittelalter sehr viel und sehr
laut gelacht hat: es sind mittelalterliche Witze überliefert, die ich aber
aus moralischen Gründen hier nicht wiedergeben kann. Es wurde
auch in der Kirche gelacht, und zwar etwa bei den einschlägigen
Szenen der Krippen- und Passionsspiele; wir sprachen schon davon.
Dann gab es die ioculi paschales, die Osterscherze, mit denen der
Prediger am Ostersonntag seine Zuhörer zum Lachen brachte, um
sie an der Osterfreude teilhaben zu lassen. Ferner liebte man kalau-
ernde Wortspiele, und zwar auch in ganz offiziellen Dokumenten: als
der Gegner Kaiser Friedrichs II., Papst Gregor IX., am 22. August
1241 gestorben war, ließ die kaiserliche Kanzlei amtlich verbreiten,
der Papst habe es nicht geschafft, den „kaiserlichen“ Monat, den Au-
gust, zu überleben.
Eine etwas zweifelhafte Form des Lachens liegt auch vor,
wenn man den politischen Gegner der Lächerlichkeit preisgab. So
wird zuverlässig berichtet, wie Kaiser Heinrich II. den Bischof Mein-
werk von Paderborn für seine mangelnden Lateinkenntnisse öffent-
lich bloßstellte: er habe im Meßbuch dort, wo Gott pro tuis famulis et
famulabus ("für deine Diener und Dienerinnen") angerufen wird,
heimlich das fa ausradieren lassen, und der Bischof, der offenbar
kein Latein konnte, habe tags darauf unbeirrt vor dem ganzen Hof
pro tuis mulis et mulabus gebetet ("für deine Maulesel und Maulese-
linnen"). Meinwerk erwies sich übrigens als völlig humorlos und ließ
den Hofkaplan des Kaisers, der die Manipulation durchgeführt hatte,
verprügeln.
Es gibt aber auch Beispiele wirklichen Humors aus dem Mit-
telalter. Eines davon ist das Selbstporträt Thietmars von Merseburg,
eines nicht unbedeutenden Chronisten und Bischofs des frühen 11.
Jahrhunderts. Er beschreibt sich selbst folgendermaßen – und
kommt dabei zu einem Ergebnis, das von dem gängigen Adels- und
Ritterideal doch deutlich abweicht –: „Nun sieh dir doch den vorneh-
men Herrn an, lieber Leser! Da siehst du in mir ein kleines Männlein,
die linke Wange und Seite entstellt, weil hier einmal eine immer wei-
ter anschwellende Fistel geplatzt ist. Meine in der Kindheit gebro-
chene Nase gibt mir ein lächerliches Aussehen. Doch über all das
würde ich gar nicht klagen, wenn ich wenigstens innere Vorzüge hät-
te. Aber ich bin nichtswürdig, sehr jähzornig und unlenksam zum Gu-
ten, habsüchtig, spottlustig trotz meiner Lächerlichkeit. Niemanden
schone ich, wie es meine Pflicht wäre. Ich bin ein Schlemmer und
Heuchler, Geizhals und Verschwender. Und damit ich die Liste der
mir zu Recht zugeschriebenen Laster abschließe: ich bin noch viel
schlimmer, als man sagen und glauben mag.“ Der moderne Histori-
ker wird, nach der Lektüre von Thietmars Chronik, dieser Einschät-
zung übrigens nicht widersprechen.
Humor hatte schließlich wohl auch jener Autor, der seinem
Kollegen eine wissenschaftliche Abhandlung widmete und im Vor-
wort schrieb, der Kollege habe den Ozean der Weisheit nicht nur mit
den Zehenspitzen berührt, sondern sei sogar bis zu den Knöcheln
hineingewatet.
Um auf die Freizeitbeschäftigungen zurückzukommen: wer in-
tellektuellem Vergnügen körperliche Betätigungen vorzog, konnte
etwa das Bogenschießen üben; dies war, im Hinblick auf die militäri-
sche Nutzbarmachung, von der Obrigkeit gern gesehen. Beliebt war
offenbar auch eine Art Hockey. Weitgehend dem Adel vorbehalten
war die Jagd; als deren vornehmste Form galt die Jagd mit dem Fal-
ken, für die Kaiser Friedrich II. sein berühmtes Lehrbuch „Über die
Kunst, mit Vögeln zu jagen“ – De arte venandi cum avibus geschrie-
ben hat. Hier eine Abbildung daraus:
Ein vorwiegend adliges, im Spätmittelalter aber auch bürgerli-
ches Freizeitvergnügen war das Turnier, von dem im Ritterkapitel be-
reits die Rede war. Ganz so ritterlich und fair ging es aber auch dabei
nicht zu; der englische König Richard Löwenherz legte Wert darauf,
im Turnier stets Sieger zu bleiben, und einem Adligen, der diese Re-
gel nicht einhielt, hat er das nachweislich jahrelang nicht verziehen.
Eine weitere Möglichkeit war natürlich der Tanz. Man unterscheidet
zwischen geschrittenen und gesprungenen Tänzen. Bei letzteren
wurden die Damen in die Luft geworfen und wieder aufgefangen;
dies ging gelegentlich schief, wobei es dann zu Knochenbrüchen
kommen konnte, vor allem, wenn die Gewichtsverhältnisse ungünstig
waren.
Ein gesellschaftliches Vergnügen bildete schließlich der Be-
such des Bades. Das Bad diente im Mittelalter nicht der Hygiene: all-
zu große Reinlichkeit brachte vielmehr, da ja sowohl im Judentum als
auch im Islam rituelle Waschungen vorgeschrieben sind, in den Ge-
ruch der Ketzerei. In einer kurialen Polemik über Kaiser Friedrich II.
heißt es: „er badete täglich, anstatt, wie andere Christenmenschen,
auf Gott zu vertrauen.“ Im mittelalterlichen Bad gab es keine Tren-
nung der Geschlechter wie in den antiken Thermen; ebenso war der
Badeanzug unbekannt, so daß es dort recht freizügig zugegangen
sein mag. Entsprechend standen die Bader in keinem sehr guten
Ruf. Besonders den Töchtern der Bader, die im väterlichen Betrieb
mithalfen, unterstellte man, daß ihre Dienste über das Aushändigen
von Handtüchern weit hinausgingen. Auf den Fall der Agnes Bernau-
er haben wir im Kapitel über die Ritter schon hingewiesen. Die
Badstuben waren außerordentlich beliebt; ihr Betrieb wurde erst ein-
gestellt, als sich zu Beginn der Neuzeit in Europa die Geschlechts-
krankheiten ausbreiteten.
All diese Vergnügungen gab es freilich nur am Feiertag. Am
Werktag gab es statt dessen, wie erwähnt, Arbeit vom Morgengrauen
bis zum Einbruch der Dunkelheit und dann einen Schlaf, der von der
Erschöpfung geprägt war.
29. KAPITEL:
DER JAHRESLAUF
DER ABLAUF DES JAHRES WIRD im Mittelalter durch zwei Fakto-
ren dominiert: die Natur und den Festkalender. Und da das christli-
che Jahr ein Sonnenjahr ist, fallen diese beiden Zyklen weitgehend
zusammen: das Weihnachtsfest entspricht der Wintersonnenwende;
das Osterfest hat seinen Namen nach der germanischen Frühlings-
göttin Ostara, wenn auch das eigentliche Frühlingsfest in unseren
Breiten Pfingsten ist; das Fest Mariä Himmelfahrt (15. August) fällt in
die Ernte usw.
Als Karl der Große die lateinischen Monatsnamen durch deut-
sche Ausdrücke ersetzen wollte, griff er ebenfalls auf Bezeichnungen
aus der Natur zurück; Einhard berichtet: „Weiter gab er den Monaten
einheitlich fränkische Namen; sie waren bisher bei den Franken teil-
weise durch lateinische, teilweise durch einheimische Bezeichnun-
gen benannt worden. [...] Er nannte den Januar Wintermonat, den
Februar Hornung, den März Lenzmonat, den April Ostermonat, den
Mai Weidemonat, den Juni Brachmonat, den Juli Heumonat, den Au-
gust Erntemonat, den September Holzmonat, den Oktober Weinmo-
nat, den November Herbstmonat, den Dezember Christmonat.“ Oder
lateinisch: Mensibus etiam iuxta propriam linguam vocabula inposuit,
cum ante id temporis apud Francos partim Latinis, partim barbaris
nominibus pronuntiarentur. [...] Und ab jetzt mit Abbildung:
Et de mensibus quidem Ianuarium uuintarmanoth, Feburarium hor-
nung, Martium lenzinmanoth, Aprilem ostarmanoth, Maium uuinne-
manoth, Iunium brachmanoth, Iulium heuuimanoth, Augustum aran-
manoth, Septembrem uuitumanoth, Octobrem uuindumemanoth, No-
vembrem herbistmanoth, Decembrem leilagmanoth appellavit. (Die
Deutung des uuinnemanoth, also des Mai, nicht als Weide-, sondern
als Wonnemonat ist ein etymologisches Mißverständnis, so daß die
Winterstürme auch keinen Anlaß haben, ihm zu weichen.)
Der christliche Festkalender gewinnt seine Spannung aus
dem Gegeneinander von Weihnachts- und Osterfest, von denen das
eine ein festes, das andere ein bewegliches Datum hat. Der weih-
nachtliche Festkreis beginnt aber am 4. Sonntag vor dem 25. De-
zember, also – also, je nach dem Wochentag, auf den Weihnachten
fällt – frühestens am 27. November, spätestens am 3. Dezember.
Diese schwankende Dauer der Adventszeit läßt sich moralisch inter-
pretieren: daß die Zeit vor dem Fest der 1. Ankunft Christi unter-
schiedlich lang ist, erinnert an die ungewisse Dauer der Zeit bis zu
seiner Wiederkunft am Weltende. Zwei Wochen nach dem Weih-
nachtstag liegt das Fest der Erscheinung des Herrn, das in der östli-
chen Kirche das eigentliche Weihnachtsfest darstellt; im Westen ist
es populärer als Tag der Hl. Drei Könige, die als Vertreter der drei
Erdteile, Asien, Europa und Afrika, angesehen werden.
In der Mitte zwischen Weihnachten und Dreikönig liegt aber
das Fest der Beschneidung des Herrn, Circumcisio domini, am 1.
Januar. Als möglicher Jahresanfang ist es im Mittelalter völlig bedeu-
tungslos; außerdem ist es nach damaligem Geschmack zu stark jü-
disch angehaucht. Deshalb hat sich seine christliche Sinngebung
kaum gegen die antik-heidnische Tradition der Saturnalien durchset-
zen können, die, in veränderten Formen, im Fest des Knabenbi-
schofs weiterleben, das an diesem Tag gefeiert wurde.
Es handelt sich dabei um eine rohe Verspottung des Klerus
und des christlichen Kultus’: ein minderjähriger Chorschüler wird für
diesen Tag zum Bischof gewählt, mit Mitra, Stab, Gewändern usw.
ausstaffiert und in der Kirche inthronisiert. Dann findet eine Persifla-
ge des Gottesdienstes statt, woran sich wohl auch eine Prozession
anschließen mag. Auch das übrige Volk pflegt sich an diesem Tag zu
verkleiden, so daß das Fest eine gewisse Ähnlichkeit mit der heuti-
gen Fastnacht hatte. In den Klöstern wurde am Fest der unschuldi-
gen Kinder, also am 28. Dezember, in analoger Weise ein Knabe-
nabt gewählt. Diese Bräuche werden übrigens von der kirchlichen
Obrigkeit verboten, und zwar immer wieder, woraus wir schließen
können, daß die Verbote völlig wirkungslos blieben.
Die Messe des Knabenbischofs darf übrigens nicht verwech-
selt werden mit den schwarzen oder Teufelsmessen, die im Mittelal-
ter und in der frühen Neuzeit auch gelegentlich durchgeführt wurden
(freilich im Verborgenen), wobei als Altar eine nackte Frau dient und
die Meßtexte rückwärts gelesen werden. Der berühmteste Teufels-
anbeter des Mittelalters war der französische Adlige Gilles de Rais,
der dem Satan mehrere hundert kleine Kinder zum Opfer brachte,
damit dieser ihm beim Goldmachen behilflich sei – allerdings ohne
Erfolg.
Für das Osterfest gibt es 35 mögliche Termine vom 22. März
bis zum 25. April. Sein Datum geht zurück auf das jüdische Paschah-
Fest, das am 14. Nisan, d.h. dem ersten Vollmond nach der Tag- und
Nachtgleiche im Frühling gefeiert wurde. Das Osterfest liegt nun am
Sonntag nach diesem Termin, also am ersten Sonntag nach dem
Frühlingsvollmond. Als Frühlingsanfang gilt der 21. März. Wenn nun
an diesem 21. März Vollmond ist und es sich zugleich um einen
Samstag handelt, dann kann am folgenden Sonntag, dem 22. März,
Ostern sein. Liegt der Vollmond aber nur einen Tag früher, am 20.
März, dann muß man einen vollen Zyklus abwarten, bis am 18. April
wieder Vollmond ist, und wenn dieser 18. April ein Sonntag ist, dann
fällt Ostern erst auf den darauffolgenden Sonntag, den 25. April.
Das Osterdatum wird im Mittelalter aber nicht durch die Beob-
achtung des Vollmondes ermittelt, sondern durch Berechnung. Dies
ist schon allein deshalb erforderlich, weil der Osterfestkreis ja schon
sechseinhalb Wochen vor Ostern, am Aschermittwoch beginnt. Das
Osterdatum hängt, wie wir gesehen haben, sowohl von der Mond-
phase als auch vom Wochentag ab. Für die Feststellung der Mond-
phase dient im Mittelalter der 19jährige Zyklus (circulus decemno-
vennalis), denn alle 19 Jahre fallen die Mondphasen wieder auf den-
selben Kalendertag. In den mittelalterlichen Kalendern findet sich da-
für die sog. goldene Zahl: wenn z.B. neben dem 29. Dezember in
goldener Schrift die Zahl 13 eingetragen ist, dann ist an diesem Tag
im 13. Jahr des 19jährigen Zyklus Neumond:
Der Vollmond liegt dann am 14. Tag danach. Für den Wochentag ist
zu beachten, daß es 7 Wochentage gibt (von Sonntag bis Samstag),
daß aber alle vier Jahre ein Schalttag eingeschoben wird, so daß für
das Zusammenfallen von Tagesdatum und Wochentag ein 28jähriger
Zyklus entsteht (28 ist 4 mal 7). Aus der Vereinigung dieses 28jäh-
rigen Zyklus der Wochentage mit dem 19jährigen Zyklus der Mond-
phasen entsteht der große Osterzyklus von 532 Jahren, d.h. alle 532
Jahre fiel Ostern auf dasselbe Tagesdatum.
Es bedarf keiner Begründung, daß ein frühmittelalterlicher
Landpfarrer nicht in der Lage war, diese Berechnung selbständig
durchzuführen. Deshalb stellte man Listen auf, die neben dem Inkar-
nationsjahr jeweils das Osterdatum angaben; aus diesen Ostertafeln
hat sich, wie Sie wissen, die Quellengattung der Annalen entwickelt,
indem man zu jedem Jahr eine Eintragung über die wichtigsten vor-
gefallenen Ereignisse hinzufügte.
Sie sehen in der linken Spalte das Jahr, in der rechten das Datum
des Ostersonntags und ganz rechts die chronikalischen Eintragun-
gen. Z.B. zu 961 (8. Zeile von unten) das Osterdatum iiii id(us)
ap(rilis), also 10. April, und die Angabe: Hoc anno oddo rex (Zeile
darüber) rome profectus est – "In diesem Jahr ist König Otto nach
Rom aufgebrochen", um nämlich 962 zum Kaiser gekrönt zu werden.
Der Osterfestkreis begann sechseinhalb Wochen vor Ostern
mit dem Aschermittwoch, lateinisch caput ieiunii oder auch dies cine-
rum. Die davor liegende Fastnachtswoche, lateinisch carnisprivium,
wurde ähnlich wie der 1. Januar begangen, jedoch lag das Schwer-
gewicht weniger auf der Verkleidung als vielmehr auf den Mahlzei-
ten. An Fastnacht waren aber auch die Abgaben an den Grundherrn
fällig, besonders häufig in Gestalt von Hühnern, die entsprechend
Fastnachtshühner heißen.
Nach Aschermittwoch folgen die vier Fastensonntage, von de-
nen der vierte, der Sonntag Letare, an dem der Priester statt der vio-
letten auch rosarote Meßgewänder tragen kann, auch Rosensonntag
heißt; an diesem Sonntag soll, wenn es sich einrichten läßt, in Rom
die Kaiserkrönung stattfinden, und der Papst überreicht häufig einer
verdienten Persönlichkeit eine goldene Rose; hier ein Beispiel einer
solchen Rose:
Auf die Fastensonntage folgt der Passionssonntag, dann der
Palmsonntag, mit dem die Karwoche beginnt, die über den Gründon-
nerstag (cena domini) und den Karfreitag (dies parasceves) zum
Ostersonntag (pascha) führt. Am Gründonnerstag wurde in Rom
(und analog wohl auch in den Diözesen) regelmäßig die große Ex-
kommunikationsbulle In cena domini verlesen.
Vierzig Tage nach Ostern liegt Christi Himmelfahrt (ascensio
domini), am 50. Tag Pfingsten (pentecoste); letztere Bezeichnung
geht auf den griechischen Ausdruck πεντεκοστη ηµερα, der 50. Tag,
zurück. Die neun Tage zwischen Himmelfahrt und Pfingsten sind die
Pfingstnovene; in dieser Zeit fanden die Bittgänge und Flurprozes-
sionen statt, auf denen für eine gute Ernte gebetet wurde.
Dann folgt die lange Zeit nach Pfingsten bis zum Advent, in
die aber glücklicherweise einige prominente Feiertage mit festem Da-
tum fallen, so vor allem Mariä Himmelfahrt am 15. August, St. Mi-
chael am 29. September, Allerheiligen und Allerseelen am 1. und 2.
November sowie der Martinstag am 11. November. Der Michaels-
und der Martinstag sind wiederum beliebte Steuertermine. Am Aller-
heiligentag 1517 hat Martin Luther, wenn überhaupt, seine 95 The-
sen angeschlagen.
Der Mensch war im Mittelalter in einem Maße von der Natur
abhängig, wie wir es uns heute kaum noch vorstellen können: jede
Witterungsänderung, jede Trockenheit, jeder übermäßige Regen,
selbst jeder verspätete oder verfrühte Nachtfrost konnte die Ernte
vernichten und zu Mangel und Hungersnot führen. Deshalb erschei-
nen in allen Chroniken und Annalen neben den politischen Berichten
ebenso häufig Nachrichten über besonders gute oder besonders
schlechte Ernten, über Epidemien, über Hungersnöte, über Über-
schwemmungen und Sturmfluten, über Erdbeben und nicht zuletzt –
als Memento des Weltuntergangs, wie es eindrucksvoller nicht sein
kann – über Sonnen- und Mondfinsternisse. (Die Nachrichten über
die Finsternisse sind übrigens quellenkritisch sehr interessant: da
sich ihr Datum astronomisch berechnen läßt, kann man an ihnen die
Zuverlässigkeit des Chronisten überprüfen.)
30. KAPITEL:
DER LEBENSLAUF, I: GEBURT UND EHE
DER LEBENSLAUF EINES MENSCHEN beginnt im Mittelalter am
40. Tag nach seiner Zeugung. Diese Auffassung beruht auf Ex. 21,
22. 23, und zwar in der Formulierung der griechischen Septuaginta
bzw. der auf ihr beruhenden lateinischen Übersetzung, der Vetus La-
tina. Dort ist geregelt, wie zu verfahren ist, wenn bei einem Streit ei-
ne schwangere Frau in Mitleidenschaft gezogen wird und eine Fehl-
geburt erleidet: ist das Kind ein παιδιον µη εξεικονισµενον (paidion
me exeikonismenon), ein corpus non formatum, ein gestaltloser Kör-
per, dann ist nur eine Buße zu zahlen; ist das Kind dagegen ein cor-
pus formatum, dann tritt die Regel des Talion ein: reddet animam pro
anima, oculum pro oculo, dentem pro dente – "Leben für Leben, Au-
ge um Auge, Zahn um Zahn". Daraus schloß man, daß erst zu dem
Zeitpunkt, wo das Kind menschliche Formen angenommen hat, die
Seele in ihm Wohnung nimmt; später findet sich die Formulierung
„ein Kind, das Leben und Gliedmaßen erhalten hat.“
Die Schwangerschaft dauert im Mittelalter neun Monate. Dies
ist weniger eine biologische als vielmehr eine rechtliche Frage: ob
nämlich ein nach dem Tode des Vaters geborenes Kind als ehelich
oder als unehelich anzusehen ist. Das berühmteste Beispiel eines
solchen nachgeborenen Kindes war das delicium mundi, das "Ent-
zücken der Welt". So nannte man Ladislaus Postumus, den nachge-
borenen Sohn Albrechts II., der König von Böhmen und Ungarn war
und zeit seines Lebens unter der nicht uneigennützigen Vormund-
schaft des Habsburgers Friedrichs III. stand; er ist sehr jung, mit 17
Jahren, gestorben.
Im Gegensatz zu den ehelichen unterlagen die unehelichen
Kinder vielerlei rechtlichen Beschränkungen: sie waren nicht erbbe-
rechtigt und konnten auch keine Handwerksmeister werden. Eine
Legitimierung unehelicher Kinder war, da sie ja gewissermaßen ei-
nen Eingriff in die Natur darstellte, den höchsten Gewalten, also Kai-
ser und Papst, vorbehalten; außerdem nehmen die Könige dieses
Recht in Anspruch nach dem Grundsatz rex est imperator in regno
suo – "der König hat innerhalb seines Königreiches die Rechte des
Kaisers".
Das Konzil von Vienne versperrte den unehelich Geborenen
den Weg zum Priestertum, wenn nicht der Papst ex plenitudine pote-
statis Dispens von diesem defectus natalium erteilte. Dieser Konzils-
kanon richtete sich vor allem gegen die sog. Priestersöhne, die auf
keinen Fall die Pfründe ihres Vaters erhalten sollten, um eine Quasi-
Erblichkeit kirchlicher Pfründen zu verhindern. In der Praxis gab es
dann doch Familienpfründen, die jeweils vom Onkel auf den Neffen
übergingen; der Neffe heißt lateinisch nepos, das System nennt man
Nepotismus. Die rechtlichen Nachteile der unehelichen Kinder wirk-
ten sich vor allem in den mittleren sozialen Schichten aus. Bei der
unfreien Bevölkerung auf dem Lande, wo, wie Sie sich erinnern, die
Familien aufgeteilt und die Kinder verkauft werden konnten, spielte
die Frage ohnehin eine geringe Rolle, und beim Adel fand sich auch
für Bastarde eine Versorgung.
Bei Ehen zwischen Partnern ungleichen Standes haben die
Kinder grundsätzlich den geringeren Stand; sie folgen, wie man sagt,
"der ärgeren Hand". Kinder aus einer Ehe zwischen einem Freien
und einer Unfreien sind also stets unfrei. Ob der Vater oder die Mut-
ter den geringeren Stand hat, spielt dabei keine Rolle. Solche Mesal-
liancen gelten dann später beim Adel als Ehen zur "linken Hand", de-
ren Abkömmlinge nicht zur Thronfolge berechtigt sind, aber durchaus
hohe Posten in der Verwaltung einnehmen können oder in der Kirche
untergebracht werden.
Ein gewisses Problem bot stets die Geburt von Zwillingen.
Man war der Meinung, daß zwei Kinder auch einen zweifachen Ge-
schlechtsverkehr voraussetzten; und wenn die Kinder sich nicht sehr
ähnlich sahen, lag die Vermutung nahe, daß sie auch zwei unter-
schiedliche Väter hatten. Außerdem galt derjenige, der später gebo-
ren wurde, als der ältere, denn er war ja früher in den Mutterleib hi-
neingekommen.
Der Geburtsvorgang ist im Mittelalter noch weitgehend tabui-
siert; Männer dürfen auf keinen Fall anwesend sein, auch keine
männlichen Ärzte, sondern nur Hebammen, eine Vorstellung, die teil-
weise bis heute nachwirkt. Das gilt übrigens auch für die Geburt
Christi, die deshalb abseits im Stall stattfand und nicht vor den Au-
gen der Männer in der überfüllten Herberge. Dieser besondere Zu-
stand dauert bis eine Woche nach der Geburt: solange liegt die Frau
im "Wochenbett".
Das Kind soll alsbald getauft werden, schon weil die Kinder-
sterblichkeit sehr hoch ist; hoch ist auch die Zahl der Frauen, die bei
der Geburt eines Kindes sterben. Daß paradox formuliert die Geburt
mit Lebensgefahr verbunden war, zeigt drastisch folgende Abbildung,
bei der der Tod selbst als Taufpate auftritt:
Andererseits wird bei fürstlichen Kindern die Taufe oft lange
aufgeschoben, um sie durch einen prominenten Geistlichen, etwa
den Papst selbst, vornehmen zu lassen.
Bei der Taufe erhält das Kind seinen Namen. Es ist auffällig, wie lan-
ge die heidnischen Namen weiterleben und erst ganz allmählich
durch christliche Heiligennamen ersetzt werden. Bei den Frauenna-
men geschieht dies früher als bei den Männernamen. Im späten Mit-
telalter ist die Entwicklung vollzogen, dann heißt man als Mann in der
Regel Johannes, als Frau Maria.
Eine vieldiskutierte Frage ist die nach der emotionalen Zunei-
gung der Eltern zur ihren Kindern. Oft wird behauptet, die Eltern hät-
ten in ihre Kinder nur wenige Gefühle investiert, weil sie ja immer
damit rechnen mußten, sie schnell wieder zu verlieren. Das ist Un-
sinn und längst widerlegt, auch wenn es immer wieder aufgewärmt
wird. Ich will Ihnen als Beweis nur den Grabstein zeigen, den die El-
tern eines 15jährigen Mädchens ihrer verstorbenen Tochter gesetzt
haben, und Sie sehen an der Schrift und an der Qualität des Lateins,
daß dies keine vornehmen und reichen Eltern waren:
In hunc tomolo req(ui)escit in pace bone memorie nomene
Rignedrudis cara parentebus, set nimum relicta amore, qui vixit in
hunc saecolo annos XIIIII et migravit de huc mundo XI kls. Madias. –
"In diesem Grab ruht in Frieden guten Angedenkens Rignedrudis. Ih-
ren Eltern war sie teuer, aber sie mußten sie trotz ihrer übergroßen
Liebe zurücklassen. Sie lebte in dieser Welt 15 Jahre und verließ
diese Erde an den 11. Kalenden des Februars." Wir würden heute
vor allem das Todesjahr erwarten, aber das war damals nicht so
wichtig; wichtiger war der Todestag, denn an diesem Tag pflegte
man der Toten im Gebet zu gedenken.
Wenn das Kind überlebt und heranwächst, stellt sich u.U. die
Frage des Schulbesuchs; darauf gehen wir im 32. Kapitel näher ein.
Die meisten Menschen bleiben aber Analphabeten ihr Leben lang.
Dieser Nachteil wurde teilweise durch ein außerordentlich gutes Ge-
dächtnis kompensiert, so daß sich mündliche Traditionen jahrhunder-
telang halten konnten und mitunter zuverlässiger sind als die schrift-
liche Überlieferung.
Daneben lief die religiöse Erziehung des Kindes einher, die zu
gegebener Zeit zu Beichte, Erstkommunion und Firmung führte. Die
Beichte war im Mittelalter eine stark juristisch formalisierte Angele-
genheit. Es gab regelrechte Listen, in denen genau festgelegt war,
welche Buße für welche Sünde zu verhängen war. Die Bußen waren
außerordentlich streng, auch nachdem im Hochmittelalter die öffent-
liche Kirchenbuße unüblich geworden war. Körperliche Bußen, wie
etwa das Auspeitschen, scheinen vor allem in den romanischen Län-
dern Spanien und Italien üblich gewesen zu sein. Nicht selten wurde
Teilnahme am Kreuzzug oder eine Wallfahrt nach Jerusalem oder
Santiago verhängt.
Auch ohne Bußcharakter waren übrigens die Wallfahrten im
Mittelalter außerordentlich beliebt; sie sind die damalige Form des
Tourismus. Die wichtigsten überregionalen Ziele waren neben Jeru-
salem natürlich Rom sowie Santiago de Compostela oder in Italien
der Monte Gargano. Zum Beweis, daß man sein Ziel auch erreicht
hatte, pflegte man ein Souvenir mitzubringen, ein sog. Pilgerzeichen,
das man am Hut zu tragen pflegte und das für jeden Ort seine cha-
rakteristische Form hatte, z.B. für Santiago eine Muschel. Es gibt ei-
ne umfangreiche Literatur an Pilgerführern für alle drei Reiseziele;
hier ein Beispiel für Santiago:
Der rechtliche Charakter der Beichte zeigt sich auch darin,
daß man keineswegs beichten durfte, bei wem man wollte. Der zu-
ständige Beichtiger war entweder der Pfarrer, zu dessen Pfarrei man
gehörte; bei schwereren Fällen, z.B. Häresie, der Bischof; und bei
ganz schweren Fällen sogar der Papst in Rom. Der Papst hörte die
Beichte aber nicht selbst, sondern übertrug seine Befugnis auf eine
eigene Kurienbehörde, die Pönitentiarie mit dem Kardinalgroßpöni-
tentiar an der Spitze. Diese schwersten, dem Papst vorbehaltenen
sog. reservierten Fälle sind in der Abendmahlsbulle definiert, die all-
jährlich am Gründonnerstag (daher ihr Name) verlesen wurde, wie
wir schon gehört haben: es handelt sich bei den reservierten Fällen
im wesentlich um Angriffe auf den Papst und den Kirchenstaat, Fäl-
schung päpstlicher Urkunden usw.
Neben dem normal zuständigen Pfarrer oder Bischof hatten
einige Mönchsorden, vor allem die Bettelorden, das Recht, Beichte
zu hören. Dies führte zu unendlichen Streitigkeiten mit dem Pfarrkle-
rus. Schließlich konnten Einzelpersonen, gewöhnlich Adlige, das
Vorrecht erwerben, sich ihren Beichtvater selbst auswählen zu dür-
fen. Besonders umfangreiche Befugnisse hatte der Beichtvater des
französischen Königs, der ihn sogar vom Eide lösen konnte.
Wenn der Mann nun volljährig geworden ist, ist es Zeit, an ei-
ne Ehe zu denken. Die Volljährigkeit des Mannes dauert laut Sach-
senspiegel, Landrecht, Buch I, Kapitel 42, vom 21. bis zum 60. Le-
bensjahr. Bei unbekanntem Geburtsdatum schreibt der Sachsen-
spiegel vor, man solle die Behaarung des Mannes überprüfen: er sei
volljährig, wenn er am Bart, unter den Achseln sowie "unten" Haare
aufweise. Es gibt aber auch ganz andere Termine für die Volljährig-
keit, bis hinab zu 14 Jahren, wobei der Gebrauch an verschiedenen
Orten und zu verschiedenen Zeiten so stark wechselt, daß er im Ein-
zelfall nur selten zu ermitteln ist. Frauen werden nach dem Sachsen-
spiegel überhaupt nicht volljährig, sondern brauchen stets einen
Vormund, wenigstens vor Gericht. Das ist übrigens nicht nur ein
Nachteil, wie wir im 34. Kapitel noch hören werden.
Die Ehe ist das einzige Sakrament, das nicht vom Priester ge-
spendet wird, sondern die Ehepartner spenden es einander – das gilt
übrigens heute noch. (Der anwesende Priester ist nur eine Art Notar,
der die Willenserklärung der Ehepartner zu beglaubigen hat.) Die
Eheschließung findet im Mittelalter auch nicht in der Kirche statt,
sondern anfangs durchaus im weltlichen Bereich, später an der Kir-
chentüre, und selbst das durchzusetzen, kostete den Klerus viel Mü-
he. Vor allem die germanischen Völker hatten ursprünglich eine Auf-
fassung von der Ehe, die weitaus lockerer war als die kirchlichen, am
römischen Recht orientierten Regelungen.
Für eine gültige Ehe sind nach dem Kirchenrecht zwei Hand-
lungen erforderlich, das contrahere und das consumare. Das contra-
here (oder die contractio) bedeutet die Willenserklärung der beiden
Partner, die Ehe eingehen zu wollen; dabei ist freilich weniger der
Wille der Betroffenen als vielmehr der jeweiligen Familien oder auch
bei Unfreien des Grundherrn maßgebend. Dies galt insbesondere für
die Bräute, die ihren Bräutigam oftmals bei der Hochzeit das erste
Mal zu Gesicht bekamen. Über sie bestimmten die Väter oder andere
männliche Verwandte. Eine Ausnahme machen nur die Langobar-
dinnen: sie können sich, wenn sie Witwe geworden sind, ihren zwei-
ten Mann selbst aussuchen.
Liebesheiraten waren im Mittelalter eigentlich nicht üblich, was
aber nicht heißt, daß sich nicht während der Ehe die Zuneigung ent-
wickelte, die vorher noch nicht bestand; dafür gibt es zahlreiche
Quellenbelege, so z. B. für die Ehe zwischen Kaiser Ludwig II. und
Kaiserin Angilberga. Auf einem spätantik-frühmittelalterlichen Grab-
stein aus Anagni betont der Ehemann ausdrücklich, zwischen ihm
und seiner Frau sei während der gesamten Ehe nie ein böses Wort
gefallen: ... quem coniuge habui annis VIIII karitate sine ulla anime
mei lesione. Vale, michi kara, in pace! – "mit der ich 9 Jahre in Zu-
neigung verheiratet war, ohne irgendeine seelische Erschütterung.
Leb wohl in Frieden, meine Liebe!" (Fl. Crispinus für Aurelia Anianei;
ed. Kaufmann, Handbuch der altchristlichen Epigraphik [Freiburg
1917] S. 41).
Es konnte allerdings auch ganz anders kommen. Streit in der
Ehe war keine Seltenheit. Der Dichter Oswald von Wolkenstein
beschreibt im 15. Jahrhundert beschreibt im 15. Jahrhundert in ei-
nem seiner Lieder, er sei nun 38 Jahre alt und überlege, endlich zu
heiraten; er scheue aber aus verschiedenen Gründen davor zurück,
und jetzt wörtlich: auch fürcht ich ser elicher weiber bellen. Er hat
dann doch geheiratet und berichtet, wie sehr ihn das Kindergeschrei
stört, aber jedesmal, wenn er dazwischen fahren will, fällt die Frau
über ihn her.
Der Streit in der Ehe wurde nicht nur verbal, sondern auch
Handgreiflich ausgetragen. Dabei ging die Handgreiflichkeit – an-
ders, als die Zuhörerinnen unter Ihnen bereits vermutet haben – kei-
neswegs immer von der männlichen Seite aus. Ein Bamberger
Rechtstext erörtert ernsthaft und seriös die Frage, ob es denkbar sei,
daß ein Mann in Notwehr eine Frau erschlage, und kommt zu dem
Ergebnis, dies sei zwar sehr unwahrscheinlich, in Ausnahmefällen
aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen.
Im späten Mittelalter gab es beim Adel eine Art Ferntrauung,
die Eheschließung per procurationem, bei der nur die Braut anwe-
send sein mußte, während sich der Bräutigam durch jemanden ver-
treten ließ. Hier konnte die Enttäuschung bei der ersten persönlichen
Begegnung dann besonders groß sein, da die Eheleute voneinander
bisher nur gemalte Porträts gesehen hatten, die sie natürlich von der
Schokoladenseite zeigten. Der klassische Fall ist hier Heinrich VIII.
von England; als er seine vierte Frau, Anna von Kleve, das erste Mal
in natura sah, hat er angeblich gesagt: "Was soll ich mit dieser flan-
drischen Kuh?" Der Hofmaler fiel daraufhin in Ungnade. Urteilen Sie
selbst; hier sehen Sie ihn und Anna:
Karl VI. von Frankreich ließ sich gleich eine ganze Bildergalerie vor-
legen. Zu Beginn des 7. Jahrhunderts wurde Prinzessin Ermenberga
als Braut für König Theuderich II. ins Frankenreich geholt, gefiel aber
nicht und wurd ein Jahr später als intacta virgo, also als unberührte
Jungfrau, wieder zurückgeschickt. Das Gegenbeispiel ist Karl III. von
Spanien; er begrüßte seine Königin bei der ersten Begegnung mit
den Worten: "Ich hätte nie gedacht, daß Sie so schön sind."
Soviel zur contractio. Die consummatio der Ehe ist der körper-
liche Vollzug; erst durch ihn wird sie rechtsgültig abgeschlossen,
vorher konnte sie noch in gegenseitigem Einvernehmen wieder auf-
gelöst werden. Das Beilager fand öffentlich statt, so daß sich jeder
von dem Vorgang überzeugen konnte. Dies war vor allem bei Ehen
zwischen Adligen nicht ohne politische Brisanz; übrigens wurden
noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei fürstlichen Ehen anschlie-
ßend Beweisstücke verteilt.
Eine Ehescheidung war im Mittelalter absolut unmöglich, ent-
sprechend der Bibelstelle: „Was Gott verbunden hat, soll der Mensch
nicht trennen.“ Auch der Papst konnte keine Ehe scheiden. Möglich
war nur die Feststellung, daß eine gültige Ehe überhaupt nicht zu-
stande gekommen sei. Dies war zum einen der Fall, wenn die con-
summatio nicht stattgefunden hatte. Die andere Möglichkeit war die,
daß die Ehe unzulässig war, z.B. weil die Partner zu nahe miteinan-
der verwandt waren oder weil einer der Ehepartner Mönch oder
Nonne war oder die höheren Weihen empfangen hatte. In diesem
Fall erwies sich der eheliche Verkehr nachträglich als fornicatio, als
Unzucht, und die Kinder als unehelich geborene Bastarde.
Keine consummatio lag vor oder konnte bei Bedarf wenigstens
postuliert werden, wenn der Mann impotent oder die Frau unfrucht-
bar war. Das klassische Beispiel hierfür ist Heinrich IV. von Kastilien,
der im Spanischen den Beinamen el impotente trägt, was ein deut-
scher Reiseführer mit "der Unvermögende" glaubte übersetzen zu
sollen. Heinrich IV. hatte eine Tochter Juana, von der aber eine kon-
kurrierende Adelspartei behauptete, sie sei in Wahrheit das Ergebnis
eines Fehltritts der Königin mit einem Günstling des Königs. Die Fra-
ge hatte dramatische Auswirkungen, denn nur wenn Juana unehelich
war, wurde der Weg frei für die Erbrechte einer Halbschwester Hein-
richs IV. namens Isabella, die tatsächlich später als Isabella die Ka-
tholische den spanischen Thron bestiegen hat. Juana wurde dabei
übrigens nicht als Kind der Sünde der Königin beiseite geschoben,
sondern – politisch eleganter – mit dem Argument, das Königspaar
sei zu nah verwandt und seine Ehe damit von Anfang an ungültig
gewesen.
Als verboten galt ursprünglich die Ehe zwischen Verwandten
bis zum 7. Grad, seit 1216 bis zum 4. Grad, wobei der Papst bis hin-
ab zur Ehe zwischen Onkel und Nichte bzw. Tante und Neffe Dis-
pens erteilen konnte. Die Verwandtschaftsbeziehungen werden ge-
wöhnlich im Bilde eines Baumes dargestellt, des arbor consanguini-
tatis.
Der Sachsenspiegel, Landrecht, Buch I, Kapitel 3, benutzt statt des-
sen das Bild des menschlichen Körpers: der Ahnherr steht am Kopf,
die 2. Generation an Hals und Schulter, die 3. am Ellenbogen usw.
bis hinab zur 7. Generation, die am Fingernagel steht. Nicht möglich
war die Ehe zwischen Deszendenten, also z. B. Vater und Tochter,
und zwischen Geschwistern, in diesen Fällen endet auch die
Dispensationsgewalt des Papstes.
Verboten, aber dispensierbar, ist auch die Ehe mit der Witwe
eines Verwandten, unter Berufung auf eine Stelle im Alten Testa-
ment. Der berühmteste Fall ist hier die Ehe zwischen Katharina von
Aragón und Heinrich VIII. von England, da Katharina ursprünglich mit
dem Bruder Heinrichs VIII., Arthur, verheiratet war, der aber vor dem
Vollzug der Ehe starb; Heinrich VIII. bemühte sich nun um den
Nachweis, daß die Ehe doch vollzogen worden sei, denn dann wäre
seine Ehe mit Katharina ungültig gewesen und er hätte mit kirchli-
chem Segen seine Konkubine Anne Boleyn heiraten können. Ver-
gleichen sie die beiden Konkurrentinnen, wobei Sie sich Katharina
noch um 20 Jahre älter vorstellen müssen:
Verboten ist schließlich die Ehe zwischen Pate und Patenkind
als eine Art geistlicher Verwandtschaft. Zwar nicht als unzulässig,
aber doch als ein wenig anrüchig galt es, als Witwer oder Witwe er-
neut zu heiraten. In noch stärkerem Maße galt dies für eine dritte
Ehe, und eine vierte Ehe war geradezu anstößig und unmoralisch,
auch wenn sie nicht eigentlich verboten war.
Zur juristischen Seite der Ehe ist noch zu vermerken, daß, weil
die Ehe als Sakrament gilt, für alle Ehefragen einschließlich des ehe-
lichen Güterrechts, also Mitgift und Morgengabe, das geistliche Ge-
richt zuständig ist. Erst die Reformatoren haben den Grundsatz auf-
gestellt, daß die Ehe, so Luther, "ein rein weltlich Ding" sei, für das
der Kirche keine Zuständigkeit zukomme.
Da die Ehepartner, wie gesagt, nicht unter dem Gesichtspunk-
te der Zuneigung ausgewählt wurden, pflegten sich die Männer ihr
Vergnügen außer Haus zu beschaffen. In allen Städten gab es, mit
offizieller Duldung eines ehrbaren Rates, Häuser, vor deren Tür eine
rote Lampe brannte; man spricht ja heute noch vom Rotlichtmilieu.
Wie die Bewohnerinnen dieser Häuser jeweils gekleidet waren, kann
man übrigens den Altarbildern mit der Darstellung der Maria Magda-
lena entnehmen. Über die Mittel, die diesen Bewohnerinnen im
hemmenden oder auch fördernden Sinn zur Verfügung standen, be-
saß das Mittelalter eine umfangreiche Fachliteratur. Rezepte dafür
finden sich mitunter an unerwarteter Stelle; so enthält das Memorial-
buch des Passauer Domdekans Albert Behaim aus der Mitte des 13.
Jahrhunderts je ein Rezept für ein Aphrodisiakum und für ein Abtrei-
bungsmittel, allerdings vorsichtshalber in tschechischer Sprache.
Von Homosexualität ist im Mittelalter wenig die Rede, was
nicht heißt, daß sie nicht vorkam, aber die Quellen berichten nur sel-
ten über sie. Sie galt als strafwürdiges Verbrechen, als "Sünde wider
die Natur", so daß wir Nachrichten über sie am ehesten in der Krimi-
nalstatistik finden. Im übrigen ist sie eine der Handlungsweisen, die
man den Ketzern unterstellte, denen man ohnehin alles Abwegige
zutraute; die beiden Begriffe sind im Spätmittelalter synonym gewor-
den.
31. KAPITEL:
DER LEBENSLAUF, II: MEDIZIN UND TOD
WIR KOMMEN DAMIT ZUR Medizin; auch zu ihr einige wenige Be-
merkungen. Die mittelalterliche Medizin beruht ganz auf der Antike,
d.h. auf Hippokrates und Aristoteles, vor allem aber auf Galenos, ei-
nem griechischen Arzt des 2. Jahrhunderts nach Christi Geburt. Die
Ausbildung der Ärzte war weitgehend theoretisch, d.h. sie bestand in
der Lektüre und Kommentierung der Schriften Galens und der ande-
rer Autoritäten. Von wesentlicher Bedeutung war der Einfluß der ara-
bischen Medizin, welcher das griechische Erbe in größerem Umfang
zur Verfügung stand als dem Westen. Die früh- und hochmittelalterli-
chen Ärzte pflegten keine menschlichen Körper zu sezieren; dies
wurde erst seit dem 14. Jahrhundert wieder üblich, vielleicht, weil
erst seit dieser Zeit wieder geeignete Leichen zur Verfügung stan-
den, nämlich gehängte Diebe, wie wir im 34. Kapitel noch sehen
werden.
Die Methoden der Diagnose waren der Augenschein, das
Messen von Temperatur und Puls sowie Farbe und Geschmack des
Urins, den die Ärzte zu diesem Zweck in den Mund nehmen mußten.
Hier sehen Sie eine solche Urinschau:
Als Heilmittel dienten vornehmlich Medikamente sowie der
Aderlaß. Von den Ärzten geschieden waren die Chirurgen – wörtlich
übersetzt: die Handarbeiter –, die sich mit Knochenbrüchen, blutigen
Operationen oder auch der praktischen Durchführung des Aderlas-
ses befaßten. (Noch heute sollen sich ja die Internisten als vorneh-
mer einstufen als die Chirurgen.) Neben der akademischen Medizin
gab es die Volksmedizin, vorzugsweise von älteren Frauen ausge-
übt. Die Volksmedizin hatte den Vorteil, daß sie preiswerter und in
der Regel auch wirksamer war. Über gute medizinische Kenntnisse,
die man aber tunlichst nur heimlich in Anspruch nahm, verfügten
auch die Henker.
Das körperliche Wohlbefinden, aber auch der Charakter und
das Temperament des Menschen beruht, so die antike und mittelal-
terliche Auffassung, auf der ausgewogenen oder gestörten Mischung
der vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle;
auf griechisch αιµα, φλεγµα, χολη und µελαινα χολη (haima, phleg-
ma, chole, melaina chole). Z.B. führt ein Zuviel an schwarzer Galle
(µελαινα χολη) zur Melancholie, zuviel gelbe Galle (χολη) macht
cholerisch, zuviel Schleim (φλεγµα) phlegmatisch. Am Rande sei
vermerkt, daß es die "schwarze Galle" gar nicht gibt; sie ist nur aus
systematischen Gründen hinzu erfunden worden, um die Vierzahl der
Körpersäfte vollzählig zu machen – analog den vier Himmelsrichtun-
gen, den vier Jahreszeiten, der Vierzahl von feucht, trocken, heiß
und kalt usw.
Außerdem unterliegt die Gesundheit dem Einfluß von Kleidung
und Nahrung, von Klima und Jahreszeit sowie der Mondphasen. Die
Gesamtheit dieser Beziehungen wird in das Bild zusammengefaßt,
der Mensch sei ein verkleinertes Abbild der Welt, ein Mikrokosmos
oder auch lateinisch minor mundus. Deshalb gilt auch für den Men-
schen das Grundgesetz der Harmonie, das auch den Kosmos zu-
sammenhält. Krankheit bedeutet eine Störung dieser Harmonie; die
Aufgabe des Arztes besteht darin, die Harmonie wieder herzustellen
oder, noch besser, es gar nicht erst zu einer Störung kommen zu
lassen: Vorbeugen ist besser als Heilen.
Die Hauptaufgabe des Arztes besteht deshalb darin, eine An-
leitung für die Gesundheit, ein regimen sanitatis, aufzustellen. Solche
regimina sind in zahlreichen Handschriften erhalten; sie enthalten
neben allgemeinen Vorschriften, etwa wie lang man schlafen, wann
man aufstehen soll usw. auch ganz konkrete Einzelratschläge, z.B.
über den Wert der Lebensmittel. Aus einer solchen Anleitung, dem
tacuinum sanitatis, will ich nun einige Stellen zitieren, in alphabeti-
scher Reihenfolge der Stichwörter:
Gurken: vorzuziehen sind dicke und vollständige. Nutzen: gut ge-
gen brennende Fieber und harntreibend. Schaden: sie verursa-
chen Magen- und Lendenweh. Verhütung des Schadens: mit Ho-
nig und Öl.
Kastanien: vorzuziehen sind reife Kastanien aus Brianza. Nutzen:
sie verstärken die geschlechtliche Potenz und sind sehr nahrhaft.
Schaden: sie blähen und machen Kopfschmerzen. Verhütung des
Schadens: durch Kochen in Wasser.
Majoran: vorzuziehen ist kleinwüchsiger, gut duftender. Nutzen:
hilft einem kalten und feuchten Magen. Schaden: keiner. Hier ei-
ne Abbildung zum Majoran:
Rosen: vorzuziehen sind die frischen aus Suri und Persien. Nut-
zen: gut für ein warmes Gehirn. Schaden: sie verursachen bei
manchen Menschen Kopfschmerzen. Verhütung des Schadens:
mit Kampfer.
Südwind: vorzuziehen ist jener, der über gute Gegenden weht.
Nutzen: er ist gut für den Brustkorb. Schaden: er schwächt die
Sinne. Verhütung des Schadens: mit Bädern.
Winter: vorzuziehen ist sein Ende. Nutzen: gut bei Gallenerkran-
kungen und verdauungsverstärkend. Schaden: er schadet bei
phlegmatischen Krankheiten und verstärkt das Phlegma. Verhü-
tung des Schadens: mit Feuer und Kleidung. Das sieht dann so
aus:
Wollene Kleider: vorzuziehen sind diejenigen aus feiner flandri-
scher Wolle. Nutzen: sie schützen den Körper vor Kälte und hal-
ten ihn warm. Schaden: sie machen eine rauhe Haut. Verhütung
des Schadens: mit feiner Linnenkleidung.
Zorn: vorzuziehen ist der Zorn, der die Venen dick macht und die
verlorene Farbe erneuert. Nutzen: er ist gut gegen Paralyse und
Schmerzen des Mundes. Schaden: er schadet denjenigen, die
dem unerlaubten Wollen zustimmen. Verhütung des Schadens:
mit philosophischer höfischer Zucht.
Oder noch ein Beispiel, aber außerhalb des Alphabetes:
Gesprächspartner: vorzuziehen sind jene, die fein gebildet sind.
Nutzen: sie fördern die Kenntnisse und erweitern das Wissen.
Schaden: wenn sie langweilig sind. Verhütung des Schadens:
durch Einschlafen.
Fragen wir uns an dieser Stelle kurz, wie denn die Menschen
damals überhaupt aussahen. Man sagt gewöhnlich – und das dürfte
auch stimmen –, daß sie generell kleiner waren als heute. Die Adli-
gen, die sich gut ernähren konnten, entsprachen aber durchaus heu-
tigen Maßstäben, wie man aus den erhaltenen Gebeinen erschließen
kann. Otto der Große, um nur ein Beispiel zu nennen, hatte meine
Körperlänge; sein Sohn Otto II. war etwas größer. Dadurch überrag-
ten sie die Masse der Bevölkerung auch in dieser Hinsicht. Proble-
matisch ist der Versuch, aus erhaltenen Schädeln die Gesichtszüge
rekonstruieren zu wollen. Den folgenden Versuch für König Heinrich
IV. halte ich für verfehlt:
Hierbei ist offenbar das Wissen um die Geschichte dieses Königs mit
eingeflossen. Außerdem konnte sich ein König einen Friseur leisten,
und er dürfte in seinem Todesjahr zweifellos schon graue Haare ge-
habt haben,
Portraitähnlichkeit bei Darstellungen dürfen wir bis zum An-
fang des 13. Jahrhunderts generell nicht erwarten; auch spätere Ab-
bildungen von Personen aus dieser Zeit sind reine Phantasie, wes-
halb es nicht sinnvoll ist, solche späteren Darstellungen abzubilden.
Vorsicht ist auch bei verbalen Beschreibungen geboten, die allzu oft
bloße Formeln bieten. Ausnahmen bestätigen die Regel, so etwa
wenn Widukind von Corvey über Otto den Großen sagt, er habe ei-
nen langen Bart gehabt, und hinzufügt, das sei damals eigentlich
nicht üblich gewesen.
Es ist jetzt noch etwas zu den Krankheiten im Mittelalter zu
sagen. Sie sind in den Quellen oft schwer zu identifizieren, und es ist
dringend davor zu warnen, hier ohne medizinhistorische Kenntnisse
zu einem Ergebnis kommen zu wollen. Für Krankheitsstatistiken sind
übrigens Berichte über Wunderheilungen eine ergiebige Quelle.
Vergiftungen waren im Mittelalter keine Seltenheit, und zwar sowohl
unabsichtliche, etwa durch verdorbene Lebensmittel, als auch ab-
sichtliche. Allerdings war man sehr leicht geneigt, jede unerklärliche
Krankheit und besonders jeden unerklärlichen Todesfall auf eine ab-
sichtliche Vergiftung zurückzuführen. An den Höfen gab es immer
Parteien und Intrigen und damit immer auch einen Verdächtigen, der
sich mühelos als Handlanger des Auslandes denunzieren ließ. Und
wenn erst einmal jemand in Verdacht geraten war, so besaß man
auch Mittel und Wege, ihn zu einem Geständnis zu veranlassen. Je-
des solche Geständnis erhöhte aber in einem ähnlichen Fall die
Wahrscheinlichkeit eines kriminellen Anschlages.
Die medizinische Deutung der mittelalterlichen Quellen ist ge-
rade hier sehr schwierig und gelingt in der Regel nur dem Speziali-
sten; in vielen Fällen lassen sich aber für die angeblichen Giftmorde
natürliche Ursachen wahrscheinlich machen. Ein Beispiel ist etwa
Papst Clemens II., den Kaiser Heinrich III. gegen den Willen der Rö-
mer eingesetzt hatte. Nach seinem baldigen Tod entstand sofort das
Gerücht, er sei vergiftet worden, jedoch hat die toxikologische Unter-
suchung seiner Leiche die Unhaltbarkeit des Verdachtes erwiesen.
Besonders unschön – und völlig unbegründet – ist auch das Gerücht,
Kaiser Heinrich VII. sei dadurch ermordet worden, daß man ihm bei
der Kommunion eine vergiftete Hostie gereicht hätte. Die Älteren un-
ter Ihnen mögen sich daran erinnern, daß noch beim Tode Johannes
Pauls I., der 1978 nach nur 33 Tagen auf dem Stuhl Petri starb, so-
fort Gerüchte einer Vergiftung die Runde machten.
Aber kehren wir zurück zu den normalen Sterblichen und ihren
Krankheiten. Wenn alle Kunst des Arztes vergeblich blieb, nahte der
Tod heran. Von den vier möglichen Todesursachen Krankheit, Unfall,
Mord und Selbstmord war die letzte, der Selbstmord, im Mittelalter
außerordentlich selten. Es gibt Berichte, daß verurteilte Straftäter ih-
rer Hinrichtung zuvorkamen – so etwa der abgesetzte Kanzler Kaiser
Friedrichs II., Petrus de Vinea –, aber sonst sind solche Fälle fast
überhaupt nicht überliefert. Auf den Selbstmord stand nach der reli-
giösen Überzeugung des Mittelalters die schwerste Sanktion über-
haupt, der Verlust der ewigen Seligkeit; der biblische Prototyp des
Selbstmörders war Judas Ischarioth, dessen Tat zu Beginn der Apo-
stelgeschichte mit allen schaurigen Einzelheiten geschildert ist.
Nicht weniger wurden aber Mord und Unfall gefürchtet, beides
eine mors repentina, ein plötzlicher Tod, der eine Vorbereitung auf
das Sterben nicht mehr zuließ. Insofern ist selbst der hingerichtete
Verbrecher besser dran, zumal durch seine Strafe auch seine Schuld
gesühnt ist und er so ohne Verzögerung den Weg zum Himmel an-
treten kann, wenn er die Strafe nur bußfertig annimmt. Ein Beispiel
für einen Tod durch Unfall bietet die folgende Abbildung:
In einem Haus, in dem hochrangige Persönlichkeiten übernachten,
bricht der Fußboden durch: der Bischof (vorne im Bild) kommt ums
Leben, den König rettet nur der Umstand, daß er in ein im unteren
Raum stehendes Wasserbecken fällt. Etwas glimpflicher, aber doch
dramatisch genug, war ein Vorfall am 8. September 1107: in das
Schlafzimmer des Königs schlug der Blitz ein, die Wand am Kopfen-
de des Bettes stürzte ein, Schwert und Schild des Königs wurden
beschädigt, ihm selbst geschah aber Gott sei Dank nichts.
Der Normalfall sollte aber der Tod sein, der erwartet kommt
und dem Kranken die religiöse Vorbereitung erlaubt. Besonders im
Spätmittelalter gab eine ausgeprägte Literatur an Lehrbüchern hier-
zu, genannt ars moriendi, die Kunst des Sterbens. Der Vorgang des
Todes war ja nicht nur ein Streit des Körpers mit der Krankheit, in
welchem der Körper schließlich unterlag, sondern auch ein dramati-
scher Kampf zwischen Himmel und Hölle um die Seele der Sterben-
den. Dabei konnte eine Kleinigkeit den Ausschag geben: Dante be-
richtet in der Göttlichen Kommödie von einem berüchtigten Verbre-
cher, den eine einzige Träne der Reue im Augenblick des Todes ge-
rettet hat. Diesen Kampf zu bestehen, war also die Hauptsache, und
dem Sterbenden dabei zu helfen, war selbstverständliche Pflicht
nicht nur der Familie im weitesten Sinne des Wortes, sondern auch
der Nachbarn, Freunde usw.
Einen solchen Kampf sehen Sie auf dieser Abbildung:
Sie sehen, wie die Teufel dem armen Sünder sämtliche Todsünden
vorhalten: rechts oben fornicatus es (Unzucht), in der Mitte periurus
es (Meineid), unten occidisti (Mord), und links trägt der Teufel eine
Auflistung (die Tafel ist selbstverständlich verkehrt herum beschrie-
ben) und erklärt dazu ecce peccata tua (das sind deine Sünden).
Vierhundert Jahre vorher sieht die Szene noch so aus (die
Abbildung stammt aus einer Handschrift der Werke Hildegards von
Bingen):
Sie sehen, wie um die Seele, die aus dem Mund der Gestorbenen
ausfährt, ein Kampf zwischen Engel und Teufel entbrennt. Aber die
Hand Gottes ganz oben gibt uns die Zuversicht, daß er zugunsten
der Seele ausgehen wird.
Man starb also im Mittelalter in aller Öffentlichkeit. Trotzdem
war der Tod im Mittelalter im Grunde kein eigentlich trauriges Ereig-
nis; die Überzeugung, man werde nach dem Tode weiterleben, nahm
ihm den existentiellen Schrecken: der Mensch stirbt nicht, sondern er
wird wiedergeboren zu einem neuen, und zwar besseren Leben.
Diese Interpretation gilt uneingeschränkt freilich nur für das
frühe und hohe Mittelalter. Im Spätmittelalter tritt eine Wandlung ein,
die die düsteren Aspekte des Todes immer mehr hervortreten läßt
und zu moderner Todesfurcht und -schrecken überleitet. Der Grund
dafür sind die großen Epidemien, vor allem die Pest seit der Mitte
des 14. Jahrhunderts. Das Mittelalter begann zwar mit einer großen
Pestepidemie: dies war die „Justinianische Pest“, die 541 unter Kai-
ser Justinian ihren Ausgang nahm und mit Bevölkerungsverlusten
von 40% und mehr der Antike endgültig den Todesstoß versetzte; sie
flackerte etwa 200 Jahre lang immer wieder auf und erlosch endgül-
tig erst zu Beginn der Karolingerzeit. Dann aber blieb das Mittelalter
von umfassenden Seuchen lange Zeit verschont.
Umso erschreckender mußte die Pestepidemie sein, die 1347
am Schwarzen Meer auftrat und mit den Schiffen nach Europa ein-
geschleppt wurde, der „Schwarze Tod“. Von Zentralasien ausgehend
suchte die Seuche übrigens zur gleichen Zeit auch China heim und
führte dort mit zum Sturz der Yüan-Dynastie. In Europa traf die erste
Pestwelle, die 1348 Italien und Südfrankreich und stufenweise immer
nördlichere Gebiete erreichte, eine durch Klimaverschlechterung und
Mißernten in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts bereits ge-
schwächte Bevölkerung; nach einer offiziellen Statistik, die Papst
Clemens VI. aufstellen ließ, fiel ihr ein Drittel der Bevölkerung zum
Opfer. Es blieb aber nicht bei dieser ersten Pestepidemie, sondern
sie wurde wiederum zur Pandemie, d.h. im Abstand von ein bis zwei
Jahrzehnten brach die Seuche immer wieder aus, und zwar ununter-
brochen bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts.
Fast noch schlimmer und folgenreicher als die Bevölkerungs-
verluste waren die sozialen Auswirkungen, die z.B. Boccaccio in der
Einleitung zum Decamerone eindrucksvoll beschreibt. Die zeitgenös-
sische Medizin versagte ebenso wie die traditionellen Heilsmittel der
Kirche. Besonders spektakulär zeigte sich die Unfähigkeit des Pap-
stes: jedermann kannte die Legende von Papst Gregor dem Großen,
der 594 durch sein Gebet die Pest in Rom zum Stehen brachte. Hier
sehen Sie eine Darstellung dieser Legende aus einem Stundenbuch
des 15. Jahrhunderts:
Unten der Papst, oben der Engel, der sein Flammenschwert in die
Scheide steckt, während rechts unten gerade noch eine Person tot
zu Boden gestürzt ist. (Übrigens kommt von dieser Szene die Be-
zeichnung des Gebäudes als "Engelsburg".) Papst Gregor der Große
brachte also die Pest zum Stehen – Papst Clemens VI. schaffte dies
1348 nicht. Er verbarrikadierte sich in seinem Palast in Avignon und
begnügte sich, wie schon erwähnt, damit, nach dem Ende der Pest
eine Statistik der Opferzahlen erstellen zu lassen.
Die Pest traf Heilige und Sünder willkürlich und ohne Unter-
schied, und Erkrankung und Tod erfolgten so schnell, daß eine
fromme Vorbereitung auf das Sterben nicht mehr möglich war. Wie
die Menschen diese neue Form des Todes wahrnahmen, findet op-
tisch seinen großartigen Ausdruck in den Darstellungen des Toten-
tanzes, der als Teilnehmer eines Reigens immer abwechselnd ein
Gerippe und ein Mitglied der Gesellschaft zeigt, in ständischer Rei-
henfolge vom Papst über Kaiser, Kaiserin, Kardinal, König usw. bis
hinab zum Mönch und Bettler.
Aus dem Bereich der Literatur sei an den "Ackermann aus
Böhmen" erinnert: der Stadtschreiber von Saaz beklagt in einem an
das biblische Buch Hiob erinnernden Streitgespräch mit dem Tod
selbst seine der Pest erlegene Ehefrau Margarethe. Hier ein Holz-
schnitt dazu:
Der Tod sitzt auf den Thron, der Kläger (mit seinen unmündigen Kin-
dern) bringt seine Klage vor, indem er den Leichnam seiner Frau
vorweist. (Auf dieses Détail kommen wir im Kapitel über Recht und
Gericht noch zurück.)
Das Streitgespräch geht, mit stärksten Ausdrücken seitens
des Klägers, also des Ehemanns bzw. Witwers, und ungeheurer He-
rablassung seitens des Todes über 32 Kapitel, bis dann, wie bei Hi-
ob, Gott selbst die Entscheidung fällt. Zunächst stellt er fest, daß
beide in der Sache unrecht haben: "Der Kläger klagt seinen Verlust
ein, als ob sie (die Ehefrau) sein ererbter Besitz gewesen wäre; er
denkt nicht daran, daß sie ihm von uns gegeben war. Der Tod rühmt
sich seiner gewaltigen Herrschaft, die ihm doch allein von uns über-
tragen worden ist. Der klagt auf etwas, das nicht sein ist; dieser
rühmt sich einer Herrschaft, die nicht von ihm selbst stammt. Jedoch
ist der Streit nicht grundlos. Ihr habt eure Sache beide wacker vertre-
ten: den zwingt der Schmerz zu klagen, diesen der Vorwurf des Klä-
gers, die Wahrheit zu sagen. Darum: Kläger, habe Ehre! Tod, habe
Sieg! Denn jeder Mensch ist pflichtig, dem Tod sein Leben zu geben,
der Erde seinen Leib, uns aber seine Seele." Die Klage wird also ab-
gewiesen, aber Gott erkennt an, daß der Mensch sich nicht ohne
weiteres mit seinem Unglück abfinden muß – eine Feststellung, die
200 Jahre früher noch undenkbar gewesen wäre.
32. KAPITEL:
SCHULE UND UNIVERSITÄT
EINE DER BERÜHMTESTEN Quellenstellen des Mittelalters ist die
Passage, in der Einhart über die Schreibkünste Karls des Großen
berichtet: „Er versuchte sich auch im Schreiben und hatte dazu im
Bett unter dem Kopfkissen immer Tafeln und Blätter bereit, um in
schlaflosen Stunden seine Hand an das Formen der Buchstaben zu
gewöhnen. Aber da er erst verhältnismäßig spät damit begonnen
hatte, hatte seine Mühe nur wenig Erfolg.“ (Kap. 25)
Soweit Einhart. Wir kommen auf die Stelle gleich noch einmal zurück
und können dann auch ein wenig Quellenkritik betreiben. Zunächst
aber wollen wir betrachten, wie ein ganz normaler Mensch im Mittel-
alter ausgebildet wurde. Die Bildungsinstitutionen waren in geistlicher
Hand. Die Reste einer eigenständigen Laienbildung, die es in antiker
Tradition noch im Merowingerreich gab, sind mit dem Avancement
der Karolinger endgültig zugrundegegangen. Die Schulen waren
entweder Klosterschulen, oder sie waren Stiftsschulen, also Schulen,
die von einer weltlichen Klerikergemeinschaft betrieben wurden, vor
allem von den Domkapiteln; in diesem Fall spricht man von Dom-
schulen oder Kathedralschulen. Erst im Spätmittelalter kamen weltli-
che Schulen hinzu, die vor allem in den Städten eingerichtet wurden.
Der Unterricht erfolgte in zwei Stufen: als Elementarunterricht
und als Ausbildung in den septem artes liberales, den sieben freien
Künsten. Diesen freien Künsten standen die artes sordide oder me-
chanice gegenüber, also das Handwerk, und die artes incerte, die
verbotenen Künste. Ich komme auf sie zurück. Der Elementarunter-
richt umfaßte Lesen und Schreiben, ferner auch Singen, da die
Schüler als Chorknaben eingesetzt wurden, und die Anfangsgründe
des Rechnens.
Die Unterrichtsmethode war ausgesprochen brutal: das Mittel-
alter steht hier voll in der antiken Tradition. Das wichtigste pädagogi-
sche Argument des Lehrers war die Rute, lateinisch virga; „unter der
Rute leben“, sub virga degere, war ein gebräuchlicher Ausdruck für:
zur Schule gehen. Sie sehen Sie das Verhältnis zwischen Lehrer und
Schüler:
Die Ruten wurden auf einer Art Schulausflug auf Vorrat für das
ganze Jahr geschnitten. Die Schüler lebten also in ständiger Angst
vor körperlicher Bestrafung. Diese Angst trieb sie manchmal zu Ver-
zweiflungstaten: als am 27. April 937 in St. Gallen ein Schüler aus-
geschickt wurde, um die Rute zu holen, wollte er sich und seine Ka-
meraden vor der Prügelstrafe bewahren und warf Feuer ins Dachge-
schoß der Schule. Damals ist nicht nur das gesamte Schulgebäude,
sondern der Reihe nach auch die Kirche und das halbe Kloster ab-
gebrannt, da der Wind die Flammen weitertrieb. Der Historiker ist
dem Knaben dankbar, denn so wissen wir, daß die Kirche zwischen
der Schule und dem eigentlichen Kloster angeordnet war, genau so,
wie es auf dem berühmten St. Galler Klosterplan dargestellt ist.
Die Bildungssprache war bis weit ins Mittelalter hinein aus-
schließlich das Lateinische. Lesen und Schreiben lernen bedeutete
daher: lateinisch Lesen und Schreiben lernen. Mit anderen Worten:
der Unterricht erfolgte anhand einer Sprache, die die Schulanfänger
noch überhaupt nicht beherrschten. Das liegt schlicht und einfach
daran, daß die antike Unterrichtsorganisation, die auf lateinische
Muttersprachler ausgerichtet war, unverändert weitergeführt wurde.
Deshalb begann der Unterricht damit, daß die Schüler einen
gewissen Vorrat lateinischer Texte auswendig lernten, ohne sie zu-
nächst zu verstehen; anhand dieser Texte wurde das Lesen und
Schreiben erlernt, und erst später schritt man zum eigentlichen
Sprachunterricht fort. Das klingt sehr seltsam, aber noch heute ver-
fährt man in den Koranschulen in den Ländern nicht-arabischer Mut-
tersprache genauso. Der Standardtext für den Sprachunterricht war
der lateinische Psalter. Die 150 Psalmen auswendig zu lernen wurde
übrigens dadurch erleichtert, daß die Klosterschüler von Anfang an
am Stundengebet der Mönche teilnahmen; die Leseordnung des hl.
Benedikt sieht ja vor, daß in jeder Woche einmal der gesamte Psalter
gebetet werden soll, so daß der Schultext also ständig repetiert wur-
de.
Lese- und Schreibunterricht schritten in recht mechanischer Weise
vom Buchstaben über die Silbe zu ganzen Wörtern und Sätzen fort.
Ob die Buchstaben stur zu der Reihenfolge des Alphabets erlernt
wurden oder so, daß sich frühzeitig Wörter bilden ließen, hat sich
noch nicht abschließend klären lassen. Lese- und Schreibunterricht
liefen auch nicht parallel, sondern der Schreibunterricht begann erst
geraume Zeit nach dem Leseunterricht. Als Anschauungsmaterial
dienten große Pergamentblätter, die an der Wand aufgespannt wur-
den, und kleine Täfelchen, die den Schülern in die Hand gegeben
werden konnten. Auch Gebäck in Buchstabenform wurde verwendet,
das damals allerdings noch nicht "Russisches Brot" hieß. Ob es
Buchstabennudeln gab, geht aus den Quellen nicht hervor; möglich
wäre es, denn im Mittelalter wurden Nudeln hergestellt; ich habe Ih-
nen eine Abbildung dazu gezeigt. Die Pommes frites in Buchstaben-
form, die man heute tiefgefroren kaufen kann, gab es natürlich noch
nicht. Das Schreiben wurde zunächst auf Wachstafeln und erst von
fortgeschrittenen Schülern auf Pergament geübt. Wenn Karl der
Große also, wie Einhard schreibt, nicht nur Tafeln, sondern auch
Blätter unter seinem Kopfkissen hatte, war er keineswegs nur der
blutige Anfänger, als den ihn sein Biograph hinstellt.
Der Elementarunterricht dauerte in der Regel drei Jahre; wo-
bei das Lernziel, wie gesagt, das mechanische Lesen und Schreiben
war. Viele mittelalterliche Schüler sind auf dieser Stufe stehengeblie-
ben und zu einem inhaltlichen Verständnis der Texte niemals vorge-
drungen. Dies konnte selbst im höheren Klerus der Fall sein, wie wir
im Falle des Bischofs Meinwerk von Paderborn bereits gesehen ha-
ben.
Auf den Elementarunterricht folgte die Unterweisung in den
sieben freien Künsten, den septem artes liberales. Diese sind zu-
nächst das Trivium, der „Dreiweg“: Grammatik, Rhetorik, Dialektik;
dann folgte das Quadrivium, der „Vierweg“: Geometrie, Arithmetik,
Musik, Astronomie. (Vom Trivium als unterer Stufe der Ausbildung
leitet sich übrigens das Wort „trivial“ ab.) Hier sehen Sie die Liste aus
einer mittelalterlichen Darstellung
Als "freie" Künste bezeichnete man diese artes in der Antike,
weil nur die Beschäftigung mit ihnen als eines freien Mannes würdig
galt, der sich zu diesem Zweck auch in die Abhängigkeit eines Leh-
rers begeben konnte. Im Mittelalter leitete man den Ausdruck aber
auch von liber, also „Buch“ ab.
Als Lehrbuch dient neben Arbeiten von Cassiodor und Boethi-
us ein um 420 n. Chr. in Nordafrika verfaßtes schwülstiges Opus von
Martianus Capella mit dem Titel De nuptiis Mercurii et Philologiae
(Über die Hochzeit des Merkur mit der Philologie); die Überschrift
weckt schlimme Erwartungen, und der Text erfüllt sie in reichem Ma-
ße. Die zugrundeliegende Story ist folgende: im antiken Götterhim-
mel – das Buch stammt noch aus heidnischer Zeit – wird eine Ehe
zwischen Merkur und der Philologie arrangiert, weil man festgestellt
hat, daß ihre Namen zahlenmäßig harmonieren. Die Philologie wird
von sieben Dienerinnen begleitet, eben den sieben artes, die sich
während der Hochzeitsfeier vorstellen und ihre Arbeitsweise erläu-
tern.
Aber auch mittelalterliche Autoren haben sich mit dem System
der artes befaßt, so Isidor von Sevilla in seiner Realenzyklopädie,
den Etymologiae, in Buch 1–3, ferner der Fuldauer Abt Hrabanus
Maurus in seinem Bildungsleitfaden für Geistliche De institutione cle-
ricorum, und Honorius Augustodunensis, der wahrscheinlich in
Regensburg wirkte. Honorius vergleicht den Bildungsgang mit einer
Reise der Seele ins himmlische Vaterland, die durch ebensoviele
Städte führt, als es artes gibt. Wie intensiv die einzelnen Fächer be-
trieben wurden, hing vom Bestand der jeweiligen Klosterbibliothek
ab. Eine schöne und ausgewogene Sammlung von artes-Literatur
besaß z.B. der Passauer Chorbischof Madalwin, der 903 seine Bi-
bliothek der Domschule schenkte und dabei ein ausführliches Ver-
zeichnis anlegte.
Selbstverständlich gab es Spezialwerke für die einzelne ars,
besonders für die Grammatik, auf der überhaupt das Schwergewicht
der Ausbildung lag. Das Standardwerk war der Donat – bitte betonen
Sie den Namen auf der zweiten Silbe! – den es in zwei Ausgaben,
als kleinen und großen Donat, gab, sowie der Priscian. Hier die er-
ste Seite einer Handschrift des Kleinen Donat, für einen fürstlichen
Schüler, wie sie an der Ausstattung erkennen:
Diese Grammatiken sind von öder Systematik, zuweilen aber
durchaus fortschrittlich: so kennen sie neben Maskulinum, Femini-
num und Neutrum auch ein genus commune, das für die Menschen
ohne Unterschied des Geschlechtes gilt, z.B. das Wort studens. Ab-
gesehen davon finden sich bereits dort genau die fünf Deklinationen
und vier Konjugationen, die Kasus- und Tempusbezeichnungen
usw., die heute noch verwendet werden.
In den Rahmen des Grammatikunterrichtes gehörte auch die
Lektüre. Auf den Psalter folgten zunächst die Fabeln des Avian, ähn-
lich denjenigen von Äsop oder Lafontaine, also zum Teil ganz amü-
sant, und die Disticha Catonis; letztere sind säuerliche moralische
Verse, die dem älteren Cato zugeschrieben wurden. Dann folgte der
Schulautor schlechthin: Vergil. Er galt im Mittelalter als christlicher
Dichter, weil sich eine Stelle, in der er das goldene Zeitalter des Kai-
sers Augustus unter dem Bilde der Jungfrau feiert, die einen Sohn
gebiert, auf die Geburt Christi deuten ließ. Weiterhin las man die
Werke christlicher Dichter wie Avitus, Arator, Sedulius, Prudentius,
Prosper Tiro oder Juvencus. Sie wurden aber vom 11./12. Jahrhun-
dert an durch die antiken heidnischen Autoren verdrängt – hinsicht-
lich ihrer Qualität verdientermaßen; vor allem Ovid erfreute sich gro-
ßer Beliebtheit, und zwar besonders seine erotischen Werke, die in
den Klöstern oft in mehreren Exemplaren angeschafft und offiziell na-
türlich auf die Liebe der Seele zu Gott gedeutet wurden. Die Werke
Cäsars spielen hingegen keine Rolle und sind auch nur spät und in
wenigen Handschriften überliefert.
Betrachten wir noch die weiteren Fächer der septem artes li-
berales: die Rhetorik ist im Mittelalter schriftlich geworden, d.h. sie
lehrt das formgerechte Abfassen von Briefen und Urkunden. Als ihr
Meister gilt im Mittelalter nach wie vor Cicero, aber das ist Theorie.
Die Dialektik ist die Lehre von den logischen Schlüssen und Trug-
schlüssen nach den Regeln des Aristoteles. Ein zugegeben primiti-
ves Beispiel bringt folgender Dialog bei Hrabanus Maurus: "Du bist
nicht der, der ich bin." – "Einverstanden." – "Ich bin ein Mensch; also
bist du kein Mensch." Das klingt natürlich ganz lustig, aber man muß
bedenken, daß die Methoden der Dialektik auch bei den Ketzerver-
hören angewandt wurden ...
Während es im Trivium um Sprache geht, haben die Fächer
des Quadriviums allesamt mit Zahlen zu tun; das Quadrivium ent-
spricht also im weitesten Sinne der Mathematik. Eines der beliebte-
sten Bibelzitate des Mittelalters lautet (Sap. 11,21): Omnia mensura
et numero et pondere disposuisti – "Alles hast du nach Maß und Zahl
und Gewicht geordnet." Deshalb wird Gott mitunter geraezu als
Weltarchitekt dargestellt, der mit dem Zirkel die Abstände ausmißt
bzw. den Erdkreis zeichnet:
Die Arithmetik behandelt die Rechenoperationen, die mit den
römischen Zahlen sehr kompliziert sein können, und die Rechenhil-
fen, so den Abakus, also das Rechenbrett, und das Fingerrechnen,
bei dem die Zahlen bis zu einer Million durch verschiedene Stellun-
gen der zehn Finger ausgedrückt werden.
Zur Arithmetik gehört aber auch die Zahlenmystik: so gibt es einen
Gott, zwei Geschlechter, drei Personen der Trinität, vier Jahreszei-
ten, fünf Sinne, sechs Lebensalter, sieben Sakramente, acht Selig-
preisungen usw.
Die Geometrie wird meist im Sinne von Geographie, also von
Erdbeschreibung, betrieben. Dies geschieht überwiegend verbal,
aber auch anhand gezeichneter Karten. Wir haben uns damit schon
im 3. Kapitel befaßt.
Die Astronomie handelt von den Bewegungen der Gestirne,
von Sonnen- und Mondfinsternissen, deren Entstehung im Mittelalter
selbstverständlich bekannt war, usw. Zu ihr gehört der computus, al-
so die christliche Festberechnung, vor allem des Osterdatums, das ja
von astronomischen Gegebenheiten abhängig war; bekanntlich liegt
Ostern auf dem Sonntag nach dem ersten Vollmond nach der Früh-
jahrs-Tagundnachtgleiche. Auch die Astrologie ist hier zu nennen; sie
ist im Mittelalter nichts Anrüchiges, denn wie die ganze göttliche
Schöpfung weisen auch die Sternkonstellationen zeichenhaft über
sich hinaus. Bedenklich wird sie erst, wenn den Himmelkörpern
selbst die Fähigkeit zugeschrieben wird, auf die Schicksale der Men-
schen einzuwirken. Das Stellen von Horoskopen war allerdings, auf-
grund biblischer Verbote, nicht üblich und erlangt erst in der Renais-
sance wieder Bedeutung.
Die Musik erklärt ganz allgemein die zahlenmäßige Ordnung
der Welt, deren Harmonie sich vor allem in der Vollendung zeigt, mit
der die Sphären des Himmels aufeinander abgestimmt sind. Das ist
die berühmte Sphärenmusik, die also keine eigentlich hörbare Musik
darstellt. Die hörbare Musik ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus
einem viel umfassenderen System. Daß auch sie zahlenmäßig ge-
ordnet ist, zeigt sich, wenn man die Teilungen einer Saite untersucht:
die einfachen Teilungsverhältnisse ergeben die Konsonanzen, so 1:2
die Oktave, 2:3 die Quinte, 3:4 die Quarte usw., während komplizier-
te Zahlenverhältnisse zu immer ärgeren Dissonanzen führen.
Spätestens das Quadrivium konnte man statt an einer Kloster-
oder Kathedralschule auch auf einer Universität absolvieren. Das
Studium der freien Künste wie auch der Philosophie überhaupt er-
folgte an der unteren Fakultät, die daher den Namen Artistenfakultät
oder Philosophische Fakultät führte. Sie bot drei aufeinander folgen-
de Studienabschlüsse an, und zwar verlieh sie zunächst den Grad
des baccalarius oder baccalaureus artium, dann, nach weiteren Stu-
dien, den Grad eines Lizentiaten und schließlich den Magister-Grad,
also den magister artium.
Wer die Artistenfakultät erfolgreich besucht hatte, konnte sein
Studium an einer der drei höheren Fakultäten (Recht, Medizin, Theo-
logie) fortsetzen. Auch an diesen Fakultäten gab es drei aufeinander
aufbauende Abschlüsse, und zwar wiederum zunächst die Grade
des baccalaureus und licentiatus. Der dritte Grad ist hier nicht der
Magister, sondern der Doktortitel, also der doctor medicine oder der
doctor theologie. In der juristischen Fakultät ist zu unterscheiden
zwischen dem Doktor des weltlichen, d.h. römischen Rechts, dem
doctor legum, und dem des kirchlichen Rechts; dieser wird nach dem
wichtigsten kirchlichen Gesetzbuch, dem Dekret, als doctor decreto-
rum bezeichnet. Eine Kombination aus beidem ist der Doktor beider
Rechte, des kirchlichen und des weltlichen, der doctor utriusque iuris.
Die Prüfung bestand im wesentlichen in einem „rigoros“ durchgeführ-
ten mündlichen Examen; daher heißt noch heute die mündliche Dok-
torprüfung Rigorosum.
Den Doktor-Titel erreichten im Mittelalter nur wenige Studen-
ten; nicht nur wegen der langen Studiendauer – für jedes Fach rech-
net man 6 bis 7 Jahre, für einen doctor utriusque iuris also insgesamt
20 Jahre –, sondern vor allem wegen der erheblichen Kosten, die im
Zusammenhang mit der Promotion anfielen. Dazu gehörten nicht nur
Geschenke an die Professoren, z.B. Pelzmäntel oder wenigstens
Handschuhe, sondern es mußten auch umfangreiche Gastmähler
veranstaltet und die Trompeter bezahlt werden, die die Promotion in
der Stadt verkündeten; in Spanien hatte der neue Doktor gar einen
Stierkampf auszurichten.
Diesen Kosten konnte man entgehen, indem man sich durch
den Kaiser oder den Papst promovieren ließ, die als die Häupter der
Christenheit dieses Recht für sich in Anspruch nahmen. In der Aren-
ga der zu diesem Zweck ausgestellten Papsturkunden ist übrigens
ausdrücklich von dem Schweiß die Rede, den das Studium gekostet
habe und der nicht vergeblich geflossen sein solle. (Studiis insudare
lautet der Fachterminus für den Universitätsbesuch.) Allerdings wur-
den diese doctores bullati, die ihren Titel eben einer päpstlichen Bul-
le verdanken, von den Universitäten oft nicht anerkannt.
Unterricht erteilten an den mittelalterlichen Universitäten nicht
nur die Professoren; sondern auch die Magister waren berechtigt und
in gewissem Umfang auch verpflichtet, Vorlesungen abzuhalten, al-
lerdings nur über bestimmte Themen und anhand vorgeschriebener
Lehrbücher. Es sind auch studentische Vorlesungsmitschriften erhal-
ten; sie nennt man ein reportatum. Die Zuverlässigkeit der reportata
entspricht derjenigen ihrer heutigen Nachfolger. Als zuverlässigere
Alternative für die Vorlesungsskripten und überhaupt für die Bücher
gab es das System der pecia, d.h. es wurden authentische korrigierte
Exemplare hergestellt, die bei bestimmten Buchhandlungen hinter-
legt wurden und dort entliehen werden konnten, um sie abzuschrei-
ben. Die Ausleihe erfolgte dabei lagenweise, also nicht das ganze
Buch auf einmal, sondern nur ein Stück davon (lateinisch pecia); das
hatte den Vorteil, daß ein Buch gleichzeitig von mehreren Studenten
abgeschrieben werden konnte. Die Buchhandlungen nannte man
statio, den Buchhändler stationarius; davon leitet sich die im Engli-
schen heute noch übliche Bezeichnungen stationer's office im Sinne
von "Universitätsbuchhandlung" ab.
Die älteste abendländische Universität ist Bologna. Dort be-
gann am Ende des 11. Jahrhunderts ein gewisser Irnerius Vorlesun-
gen über das Gesetzbuch Kaiser Justinians zu halten, und auch in
der Folgezeit blieb Bologna die Juristenuniversität schlechthin. 1158
erhielt die Universität Bologna das berühmte Privileg Friedrich Barba-
rossas, in dem er die, die aus Liebe zur Wissenschaft heimatlos ge-
worden sind, eben die Studenten, unter seinen Schutz nimmt. Über-
haupt bilden in Bologna die Studenten das entscheidende Moment:
sie organisieren das Studium, stellen die Professoren an, sorgen für
ihre Bezahlung und können sie sogar mit Geldstrafen belegen, wenn
sie ihre Vorlesung verspätet beginnen.
Etwas jüngeren Datums ist die Universität Paris. Sie geht aus
der dortigen Kathedralschule hervor; deshalb fungiert der Leiter die-
ser Schule, der Kanzler des Bischofs von Paris, auch als Kanzler der
Universität. Gegen ihn schließen sich die Magister und Professoren
zusammen, wobei 1213 erstmals der Ausdruck universitas fällt. Als
mächtiger Verbündeter in diesem Streit erwies sich das Papsttum,
vor allem Innozenz III., der selbst in Paris studiert hatte. Anders als in
Bologna dominieren in Paris nicht die Juristen, sondern die Philoso-
phen und Theologen. Eine universitas ist also eine Gruppe von Per-
sonen – Studenten und/oder Dozenten –, die sich zusammenschlie-
ßen, um das Studium zu organisieren und gegen fachfremde Eingrif-
fe zu verteidigen. Die Deutung als universitas litterarum, als "Ge-
samtheit der Wissenschaften", ist ein Mißverständnis von Anfang des
19. Jahrhunderts.
Nach dem Vorbild von Paris und Bologna entwickelten sich
zahlreiche Universitäten bzw. sie wurden gegründet. Dabei galt im
Mittelalter ein päpstliches, in der Neuzeit zusätzlich ein kaiserliches
Privileg für erforderlich; nur ein solches Privileg stellte sicher, daß die
verliehenen Grade auch überall anerkannt wurden. Die Schwerpunk-
te waren, wie schon angedeutet, unterschiedlich; die berühmtesten
medizinischen Universitäten waren Salerno und Montpellier. Erst ge-
gen Ende des Mittelalters setzte sich die Auffassung durch, daß eine
richtige Universität alle vier Fakultäten aufzuweisen habe. Die Fakul-
täten haben auch eigene Farben, die etwa bei den Talaren Anwen-
dung fanden. Für diese Farben gibt es folgende, nicht ganz ernst
gemeinte Begründung: die Juristen haben Rot, weil Rot die Farbe
des Blutes ist; die Mediziner haben Grün, weil ihre Opfer der grüne
Rasen deckt; die Philosophen haben Blau, weil sie das Blaue vom
Himmel herunter lügen; und die Theologen haben Schwarz, weil die
Unschuld weiß ist.
Die mittelalterlichen Studenten galten generell als Kleriker,
genossen also das privilegium fori. Zuständig für sie war ein eigenes
Universitätsgericht, dem auch ein eigenes Gefängnis, lateinisch car-
cer, zur Verfügung stand. Frauen waren an den mittelalterlichen Uni-
versitäten grundsätzlich nicht zugelassen. Da mit dem Aufkommen
der Universitäten zugleich die Klosterschulen die höheren Studien
reduzierten, bedeutete dies vom 13. Jahrhundert an eine deutliche
Einschränkung der weiblichen Bildungsmöglichkeiten.
Im Laufe der Neuzeit wandelte sich die Artistenfakultät zur
Philosophischen Fakultät, die jetzt als Abschluß nicht mehr den ma-
gister artium, sondern ebenfalls den Doktortitel vergab. In jüngerer
Zeit spalteten sich von den klassischen vier Fakultäten weitere Fa-
kultäten ab, und zwar von der Philosophischen Fakultät die Natur-
wissenschaften und von der Juristischen Fakultät die Wirtschafswis-
senschaften, wobei in diesem Falle das Zwischenstück die Kamerali-
stik bildet, also die Lehre von der staatlichen Wirtschaftstätigkeit. Im
20. Jahrhundert kam die gezielte Lehrerausbildung hinzu, teilweise
durch die Einrichtung eigener pädagogischer Fakultäten.
Um 1960 gab es, da Baccalaureat und Lizentiatur außer Ge-
brauch kamen, zwei mögliche Abschlüsse: das Staatsexamen (aber
im Bereich unserer Fakultät nur in den Schulfächern) und die Promo-
tion, also das Doktorexamen. Wer in den Nicht-Schulfächern die
Promotion nicht schaffte, verließ die Universität ohne Abschluß als
abgebrochener Student. Um dies zu verhindern, wurde Ende der
60er Jahre als weniger anspruchsvoller Abschluß der Magister Arti-
um eingeführt, der also eine andere Bedeutung hat als der mittelal-
terliche Magister, der ja der Promotion gleichwertig war. Die gegen-
wärtigen Veränderungen der Studiengänge und Studienabschlüsse
möchte ich nicht kommentieren.
Da wir vorhin relativ schnell von den Klosterschulen zu den
Universitäten übergegangen sind, muß ich noch nachtragen, daß im
14. und 15. Jahrhundert neben den Klosterschulen, bei denen wei-
terhin der Lateinunterricht den Mittelpunkt bildete, an vielen Orten
deutsche Schulen entstanden, in denen also in der Volkssprache un-
terrichtet wurde. Deren Klientel waren hauptsächlich die Kinder der
Kaufleute; man kann das sehr schön daran sehen, daß als Texte für
den Lese- und Schreibunterricht gerne Geschäftsbriefe dienten. Die
Lehrer – häufig auch Lehrerehepaare – waren in der Regel Studen-
ten, die sich das Magisterexamen finanziell nicht leisten konnten. Die
Lehrer an den lateinischen Schulen mußten dagegen Magister sein.
33. KAPITEL:
ARTES MECHANICAE (HANDWERK) UND ARTES INCERTAE
NEBEN DEN ARTES LIBERALES GAB es, wie schon erwähnt, die
artes mechanicae und die artes incertae. Die artes mechanicae sind
das Handwerk schlechthin. Eine handwerkliche Ausbildung verläuft,
ähnlich wie bei den Rittern, in drei Stufen: Lehrling, Geselle, Meister.
Der Lehrling, der von seinen Eltern einem Meister zur Ausbildung
übergeben wird, tritt in dessen familia ein, d. h. er wohnt bei ihm, wird
von ihm ernährt, in seiner sittlichen Lebensführung überwacht und
eben auch ausgebildet. Einen Lohn erhält er nicht; vielmehr muß er
umgekehrt Lehrgeld bezahlen, das allerdings mehr der Ersatz für
Kost und Logie ist als eine Bezahlung der Ausbildungsleistung.
Die Ausbildung erfolgt weitgehend nach dem Prinzip der imita-
tio, d. h. der Lehrling schaut Meister und Gesellen zu und ahmt ihre
Tätigkeit nach; verbale Erklärungen waren nicht üblich, wohl aber die
schlagkräftige Bestrafung von Fehlern. Die Lehrzeit dauerte zwei bis
drei Jahre, in manchen Handwerken auch länger. Am Ende der
Lehrzeit erhielt der Lehrling einen Lehrbrief, in dem aber der Meister
nicht seine Leistungen bewertete (es gab auch keine Noten), son-
dern seinen einwandfreien Lebenswandel bescheinigte. Détails der
Ausbildung kennen wir nicht, denn diese unterlagen dem Zunftge-
heimnis.
Damit haben wir den zweiten wichtigen Begriff erwähnt, denn
durch den Lehrvertrag trat der Lehrling in eine Rechtsbeziehung
nicht nur zu seinem Meister, sondern auch zur jeweiligen Handwer-
kerzunft. Diese prüfte, ob er als Lehrling geeignet war. Dabei ging es
aber nicht um seine Fähigkeiten, sondern um seine rechtlichen Qua-
litäten: der Lehrling sollte nicht leibeigen sein, von ehrlichen Eltern
abstammen und ehelich geboren sein. Weitere Bedingungen waren
möglich. So wurde in den ostdeutschen Städten oft auch die deut-
sche Abstammung verlangt, um slawische Lehrlinge auszuschließen.
Ebenso durften in Spanien die Nachkommen von Juden und Mauren
nicht Handwerker werden. Die Zünfte sahen ihre Hauptaufgabe nicht
in der Qualitätssicherung, sondern im Schutz ihrer eigenen Arbeits-
plätze durch gleichmäßige Verteilung der vorhandenen Aufträge, Be-
schränkung der Meisterstellen und durch Bewahrung ihres Monopols
auf solche Aufträge in der Stadt. Insbesondere sollten Handwerker
abgewehrt werden, die nicht der Zunft angehörten; solche unzünfti-
gen Handwerker nannte man Pfuscher. (Dieser Begriff meint also ur-
sprünglich nicht die Qualität der Arbeit, auch wenn das von den Zünf-
ten natürlich gezielt so suggeriert wurde und wird.)
Der ausgelernte Lehrling wurde in die Gemeinschaft der Ge-
sellen aufgenommen, wobei die Initiationsriten oft recht roh und nicht
immer ungefährlich waren. Danach mußte der Geselle auf Wander-
schaft gehen, ehe er als Arbeitskraft in einen Meisterbetrieb eintreten
konnte und evt. eine der begehrten Meisterstellen ergatterte – am
besten dadurch, daß er die Witwe eines verstorbenen Meisters heira-
tete.
Die Handwerker waren – vor allem im Spätmittelalter und der
frühen Neuzeit – extrem spezialisiert und wachten eifersüchtig dar-
über, daß niemand in ihre Zuständigkeit eingriff. Z. B. durfte sich ein
Nagelschmied nicht als Messerschmied oder Hufschmied betätigen.
Der Kunde mußte also selbst für einfache Arbeiten oft mehrere
Handwerker beschäftigen.
Lassen Sie mich abschließend zu diesem Thema noch be-
merken, daß als Handwerk im Mittelalter und bis weit in die Neuzeit
auch das galt, was wir heute „bildende Kunst“ nennen. Es ist also
völlig falsch, an die mittelalterliche Kunst die Maßstäbe modernen
Geniekultes anzulegen oder auch nur Originalität vor ihr zu verlan-
gen. Vom Gewohnten abzuweichen war im Mittelalter eher verdäch-
tig als verdienstvoll. Entsprechend bleiben die Künstler bis weit ins
Mittelalter hinein anonym, und auch die namentlich bekannten Mei-
ster finden nichts dabei, weniger wichtige Teile eines Bildes von ei-
nem Schüler ausführen zu lassen.
Die artes incertae, die „unsicheren Künste“, sind diejenigen,
die das Seelenheil gefährden, also verboten sind. Dazu gehören alle
Formen der Magie und Zauberei, im harmloseren Falle abergläubi-
sche Praktiken. Durchaus beliebt war etwa der Liebeszauber, für den
zahlreiche Rezepte überliefert sind.
Aber man versuchte auf diese Weise auch, seinem Mitmenschen ans
Leben zu gehen. Es gibt den berühmten Hymnus Media vita in morte
sumus (Mitten in dem Leben sind wir vom Tod umfangen), über den
Hartmann von Aue seinen Armen Heinrich nachgrübeln läßt:
Mediâ vitâ in morte sumus:
Daz bediutet sih alsus,
Daz wir in dem tôde sweben,
Sô wir allerbeste wænen leben.
Dem Singen dieses Hymnus' gegen eine Person schrieb man tödli-
che Wirkung zu. Es gibt Quellenbelege dafür, daß dies tatsächlich
geschehen ist, so nach dem Bericht des Chronisten Albert von Stade
seitens des Bremer Klerus 1234 im Kreuzzug gegen die Stedinger
Bauern, ebenso durch die Schweizer 1386 vor der Schlacht von
Sempach (MGH SS XVI 283–378; K. Dustinger, Berner Chronik,
Bern 1871). Ein Provinzialkonzil der Kirchenprovinz Köln faßte 1310
folgenden Beschluß (J. F. Schannat, Concilia Germaniae IV 124):
Prohibemus item, ne in aliqua ecclesiarum nobis subiectarum impre-
caciones fiant nec decantetur "Media vita" contra aliquas personas,
nisi de nostra licentia speciali, cum nostra intersit discutere, quando
talia facienda. – "Wir verbieten, daß in einer uns unterstehenden Kir-
che Verfluchungen ausgesprochen werden oder 'Media vita' gegen
jemanden gesungen wird, es sei denn mit unserer ausdrücklichen Er-
laubnis, denn wir haben zu entscheiden, wann so etwas geschehen
soll."
Noch der berüchtigte Mordanschlag einiger Kardinäle auf
Papst Leo X. im Jahre 1517 sollte auf dem Wege des Voodoo- oder
Sympathie-Zaubers durchgeführt werden, d.h. durch Zerstörung ei-
ner Wachsfigur des Papstes. Die Quellenlage zu den artes incertae
ist natürlich sehr schlecht, da wir sie in der Regel nur aus den Berich-
ten ihrer Gegner kennen. Zu den verbotenen Künsten gehören auch
alle Formen der Mantik, also der Voraussagen für die Zukunft.
Ohne praktische Bedeutung, aber sprachlich interessant ist
die Weissagung aus Leichenteilen, die auf griechisch Nekromantie
heißt. Der erste Bestandteil ist abgeleitet von νεκρος (tot); Sie ken-
nen das Wort vielleicht aus Begriffen wie Nekropole oder nekrophil.
Die Nekromantie wurde dann lateinisch mißverstanden als Nigro-
mantie und von niger (schwarz) abgeleitet; so kam es zur "schwar-
zen Magie", der dann logischerweise auch eine harmlosere "weiße
Magie" gegenübergestellt wurde. Solche Methoden waren selbstver-
ständlich streng verboten; wer sie praktizierte, mußte damit rechnen,
sich eines Tages auf dem Scheiterhaufen wiederzufinden.
Trotzdem war eine verbotene Form der Prophezeiung so weit
verbreitet, daß die Anleitungen für sie in zahlreichen Handschriften
überliefert sind, die Geomantie, d.h. die Kunst, aus Sandfiguren zu
weissagen. Die Anleitungen für die Geomantie sind in lateinischer
Sprache verfaßt, sie wurde also von den Klerikern betrieben, so
nachweislich von einem Passauer Domdekan.
Ich will Ihnen die Technik kurz vorführen: Sie zeichnen in den
Sand oder auf eine staubige Fläche oder mit Kreide auf eine Tafel
etc. vier waagerechte Reihen von Punkten, und zwar von rechts
nach links und ohne dabei genau mitzuzählen. Nun verbinden Sie in
jeder Reihe immer zwei Punkte miteinander, so lange, bis entweder
ein oder zwei Punkte übrig bleiben. (Das Verfahren ähnelt also dem
chinesischen I Ging, nur daß dort nicht vier, sondern sechs Reihen
erzeugt werden.) Die entstehenden Figuren, die also aus mindestens
vier und maximal acht Punkten bestehen, haben gewisse Bedeutun-
gen. Die verschiedenen Traktate zur Geomantie sind sich dabei nicht
so ganz einig, aber die Deutungen sind überwiegend folgende:
• Via (Weg)
•
•
•
•• Populus, multitudo (Volk, Menge, Masse
••
••
••
•• Coniunctio (Verbindung)
•
•
••
• Carcer (Gefängnis)
••
••
•
Die nächsten zwölf Figuren gehören immer paarweise zusammen
und bedeuten das Gegenteil, wenn sie auf den Kopf gestellt werden:
•• Fortuna maior, auxilium in- • Fortuna minor, auxilium foris
•• tus • (kleines Glück, Hilfe von au-
• (großes Glück, Hilfe von in- •• ßen)
• nen) ••
•• Acquisitio • Amissio
• (Erwerb) •• (Verlust)
•• •
• ••
• Leticia •• Tristicia
•• (Freude) •• (Leid, Traurigkeit)
•• ••
•• •
• Puer • Puella
•• (Knabe, männlich) • (Mädchen, weiblich)
• ••
• •
•• Albus •• Rubens
•• (weiß) • (rot)
• ••
•• ••
•• Caput • Cauda
• (Kopf, Anfang) • (Schwanz, Ende)
• •
• ••
Wenn Sie nun weissagen wollen, erzeugen Sie insgesamt vier sol-
cher Figuren. Zur Deutung tragen Sie diese in ein Schema ein, das
aus 15 Häusern besteht:
Die vier Figuren werden in die ersten vier Häuser eingetragen. Sie
sind die matres. Aus ihnen werden die übrigen Häuser durch gewis-
se Permutationen gefüllt, und zwar zunächst Haus V-VIII, die filie.
Haus V enthält jeweils die ersten Zeilen aus Haus I bis IV, Haus VI
die zweiten Zeilen, Haus VII die dritten und Haus VIII die vierten Zei-
len. Haus IX-XII sind die neptes, also die Enkelinnen. Sie entstehen
durch die Addition der Häuser, die unmittelbar über ihnen stehen, al-
so IX = I+II usw. Wenn durch die Addition in einer Zeile vier oder drei
Punkte zusammenkommen, werden sie natürlich auf zwei bzw. einen
reduziert. Haus XIII und XIV sind die testes; sie entstehen wiederum
durch Addition der darüberliegenden Häuser, also XIII = IX+X, und
ebenso entsteht das XV. Haus, der iudex.
Die Häuser haben nun eine gewisse Bedeutung, und zwar
I: der Fragesteller und die Geburt
II: Besitz
III: kurze Reisen
IV: Eltern
V: Kinder
VI: Diener und Haustiere
VII: Frauen, Heirat, aber auch Streit
VIII: Tod und Erbschaft
IX: Religion und weite Reisen
X: Würden und Beruf
XI: Freunde
XII: Feinde
Das XIII., XIV. und XV. Haus hat keine besondere Bedeutung, son-
dern bestätigt nur die übrigen; insbesondere der iudex gibt einen er-
sten Hinweis, ob die Antwort günstig ausfällt. Je nachdem, welche
Figur nun in welchem Haus steht, richtet sich die Deutung. Das Gan-
ze erinnert also etwas an das Kartenlegen und hat zweifellos diesel-
be Treffsicherheit der Aussage.
34. KAPITEL:
RECHT UND GERICHT
WIR MÜSSEN BEIM mittelalterlichen Gerichtswesen unterscheiden
zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Gericht. Vor das geist-
liche Gericht gehören alle cause spirituales, die also mit Glauben und
Religion zu tun haben; dazu zählen, da die Ehe ein Sakrament ist,
auch alle Eheprozesse. Vor das geistliche Gericht gehören ferner al-
le cause mixte, die neben geistlichen auch weltliche Elemente ent-
halten, und die cause spiritualibus adnexe, weltliche Angelegenhei-
ten, die mit geistlichen zusammenhängen; letzteres sind z. B. Fragen
der Mitgift, die ja mit der Ehe zusammenhängt. Vor das geistliche
Gericht gehören drittens alle Prozesse, bei denen ein Kleriker Partei
ist, infolge des privilegium fori, wie Sie sich aus dem 17. Kapitel erin-
nern. Das geistliche Gericht nimmt viertens Klagen bestimmter Per-
sonengruppen an, wenn das weltliche Gericht unzureichend arbeitet,
nämlich die der Witwen und Waisen, der persone miserabiles. Nur in
einem Bereich wird das geistliche Gericht grundsätzlich nicht tätig,
dem des Lehensrechtes.
Das geistliche Gericht war im Mittelalter keineswegs unbe-
liebt; es wäre grundfalsch, seine weitreichende Zuständigkeit als Er-
gebnis kirchlichen Machtstrebens zu sehen. Tatsächlich arbeitete es
vergleichsweise schnell, objektiv und in rational nachvollziehbarer
Weise. Sein Prozeß folgte den Normen des kanonischen, d.h. letzten
Endes des römischen Rechtes, die in der ganzen Christenheit ein-
heitlich galten. Die beiden Qualitäten – ein rationales Verfahren und
eine einheitliche Rechtsordnung – gab es bei den weltlichen Gerich-
ten nicht, wie wir noch sehen werden.
Die unterste Instanz des geistlichen Gerichtes war ursprüng-
lich das Gericht des Bischofs, der im Spätmittelalter dafür gewöhnlich
einen Stellvertreter, den Offizial, vergleichbar dem heutigen General-
vikar, delegierte. Vor das Bischofsgericht schob sich aber als erste
Instanz das Gericht des Archidiakons; in großen Diözesen gab es
mehrere Archidiakonatsbezirke. Der oder die Archidiakone waren in
der Regel Domherren. Vom Archidiakonatsgericht konnte man an
den Bischof appellieren, vom Bischof an den Erzbischof, vom Erzbi-
schof an den Papst. Die Berufung nach Rom konnte aber auch
schon von einer früheren Instanz erfolgen, ja, es war möglich und üb-
lich, den ganzen ordentlichen Rechtszug zu überspringen und sich
sofort an die Kurie zu wenden.
Der römische Prozeß wurde entweder direkt an der Kurie ge-
führt oder delegiert. Das päpstliche Gericht an der Kurie selbst war
die audientia sacri palacii, besser bekannt unter dem Namen Sacra
Romana Rota. Die Rota, so benannt, weil ihre Richter im Kreis sit-
zen, beschäftigt sich heute nur noch mit Eheangelegenheiten; im Mit-
telalter war sie umfassend zuständig. Auch an ihr konnte man durch
drei Instanzen appellieren, und zwar nicht nur gegen das Endurteil,
sondern gegen jede einzelne Prozeßentscheidung, so daß die Pro-
zesse nicht nur langwierig, sondern auch teuer wurden. Weitaus häu-
figer als der Prozeß vor der Rota war aber die Delegation der Sache
an einen Richter am Ort, die commissio cause in partibus. Dazu be-
stimmte die Kurie einen oder mehrere Richter am Ort, die dann mit
päpstlicher Autorität, auctoritate apostolica, zu entscheiden hatten;
ihr Urteil hatte also dieselbe Rechtskraft, wie wenn der Papst selbst
es gefällt hätte.
Die Straf- und Zwangsmittel des geistlichen Gerichts sind
Bann und Interdikt. Das Interdikt ist eine Art Streik des Klerus: in ei-
nem bestimmten Gebiet, z.B. einer Stadt, werden Gottesdienst und
Spendung der Sakramente eingestellt, bis der Schuldige Buße tut.
Dies bedeutete u.a., daß Brautpaare nicht kirchlich heiraten konnten,
daß Verstorbene kein kirchliches Begräbnis erhielten usw. Das Inter-
dikt trifft Schuldige und Unschuldige gleichermaßen und war deshalb
schon im Mittelalter nicht unumstritten.
Der Bann, lateinisch excommunicatio, ist der Ausschluß aus
der Kirchengemeinschaft; der Betroffene darf nicht am Gottesdienst
teilnehmen und keine Sakramente empfangen. Bleibt er hartnäckig,
so kann die Exkommunikation verschärft werden; dann ist den Gläu-
bigen jeder Umgang mit ihm verboten, und nach einem Gesetz Kai-
ser Friedrichs II. verfällt er außerdem der Reichsacht.
Beim Bann ist zu unterscheiden zwischen der excommunica-
tio late sententie und der excommunicatio ferende sententie. Die ex-
communicatio late sententie, die Exkommunikation durch bereits ge-
fälltes Urteil, tritt automatisch ein, wenn jemand eine Tat begeht, die
mit dieser Form der Exkommunikation bedroht ist, z.B Verletzung ei-
nes Klerikers oder Fälschung einer Papsturkunde. Der Schuldige
rennt gewissermaßen in sein Unglück hinein, lateinisch incurrit ex-
communicationem. Bei der excommunicatio ferende sententie, der
Exkommunikation des zu fällenden Urteils, tritt die Maßnahme erst
durch dieses individuell zu fällende Urteil in Kraft. Die Exkommunika-
tion kann nur von der Stelle aufgehoben werden, die sie verhängt,
die päpstliche Exkommunikation also nur vom Papst selbst; für den
Betroffenen bedeutet dies unter Umständen die Reise nach Rom.
Trotzdem ist die Exkommunikation eigentlich keine Strafe,
sondern ein Heilmittel, denn sie soll den Schuldigen zu Reue und
Umkehr bewegen. Sie wird also sinnlos, wenn der Betroffene stirbt;
deshalb kann auf dem Totenbett der reuige Sünder von jedem Prie-
ster losgesprochen werden, auch wenn dies eigentlich dem Bischof
oder Papst vorbehalten wäre.
Spektakulär werden Bann und Interdikt dann, wenn sie hoch-
gestellte Personen treffen, etwa Fürsten und Könige, und hier ist die
Exkommunikation oft von der Amtskirche zu politischen Zwecken
mißbraucht worden; ich erinnere nur an die zweimalige Exkommuni-
kation Kaiser Friedrichs II. durch Papst Gregor IX.
Das weltliche Gericht ist zuständig für alle Fragen, die nicht
vor das geistliche Gericht gehören, d.h. für zivilrechtliche Streitigkei-
ten zwischen weltlichen Personen und für Strafsachen. Wenn ein
Geistlicher strafrechtlich verurteilt werden soll, muß er zuvor aus dem
geistlichen Stand ausgestoßen und der weltlichen Gewalt ausgelie-
fert werden, denn ecclesia non sitit sanguinem "die Kirche dürstet
nicht nach Blut", d.h. ein geistliches Gericht verhängt keine körperli-
chen Strafen. Das gilt auch für den Ketzerprozeß: der Ketzer wird
zwar vom geistlichen Gericht schuldig gesprochen, dann aber der
weltlichen Gewalt ausgeliefert, die die Hinrichtung vollzieht. Selbst-
verständlich ist diese Sophistik im Grunde unredlich.
Die örtliche Zuständigkeit der weltlichen Gerichte ist im Mittel-
alter ungeheuer kompliziert, völlig uneinheitlich und oft auch unein-
deutig und von vielerlei Ausnahmen durchbrochen. Die wichtigsten
Grundeinheiten sind die Zent, die es vor allem in Franken, nicht aber
in Altbayern gab, und die Grafschaft. Die Zent, vom lateinischen cen-
tena (Hundertschaft), war ursprünglich eine Unterteilung der Graf-
schaft. An der Spitze des Grafengerichts stand der Graf, an der Spit-
ze des Zentgerichts der Centenar oder Zentgraf; letztere Bezeich-
nung gibt es noch heute als Familienname. Ein wichtiger Unterschied
zum heutigen Verfahren muß noch erwähnt werden: der Richter, d.h.
der Graf oder Zentgraf, hat nur die formale Leitung der Verhandlung;
am inhaltlichen Finden des Urteils nimmt er nicht teil, das ist Sache
der Urteilsfinder oder Schöffen. Die mittelalterlichen Gerichte tagten
immer an einem genau festgelegten Ort und zu bestimmten Zeiten,
die gewöhnlich nach den Mondphasen festgelegt wurden.
Die wichtigste Ausnahme vom Grafen- bzw. Zentgrafengericht
waren die kirchlichen Immunitäten. In deren Bereich durfte der Graf
keine Amtshandlungen vornehmen, insbesondere sie nicht ohne Er-
laubnis betreten (Verbot des introitus), keine Steuern erheben (Ver-
bot der exactio) und überhaupt keine Befehle geben (Verbot der di-
strictio). Da die Bischöfe und Äbte wegen des Grundsatzes ecclesia
non sitit sanguinem den Vorsitz im Gericht nicht selbst führen konn-
ten, beauftragten sie damit einen benachbarten Adligen. Der Fach-
ausdruck für diese Funktion ist advocatus, deutsch Vogt. Vielfach
behielten sich die Stifter eines Klosters die Vogtei für sich und ihre
Familie vor. Im Laufe der Zeit entwickelte sich freilich der Vogt von
einem Beauftragten und Beschützer allzu oft zu einem Bedrücker der
Kirche. Die Kirchen versuchten daher im hohen Mittelalter, die freie
Vogtwahl oder sogar die völlige Entvogtung durchzusetzen; als Rich-
ter fungierte dann ein jeweils eingesetzter Beamter.
Ein weiteres Gericht, das die Grafschaftsgrenzen durchbrach,
war die Feme. Femegerichte tagten unter der Autorität des Kaisers
bzw. des Erzbischofs von Köln als Herzogs von Westfalen an be-
stimmten, allgemein bekannten Orten, die man als Freistühle be-
zeichnet; sie bestanden aus dem Freigrafen als Richter und den
Freischöffen. Die Feme war ein geachtetes Gericht, das besonders
im Spätmittelalter oft angerufen wurde. Es bot den Vorteil eines zu-
verlässigen Verfahrens und der überregionalen Wirksamkeit. Die üb-
lichen Vorstellungen von der Feme sind also falsch, die Verwendung
des Wortes für Racheakte einer Verbrecherorganisation ("Fememor-
de") ist unhistorisch.
Von Bedeutung ist schließlich noch die Unterscheidung von
Hochgericht und Niedergericht. Das Hochgericht besitzt den Blut-
bann, darf also Todes- und Verstümmelungsstrafen aussprechen,
während das Niedergericht nur Geld- und Ehrenstrafen verhängen
kann. Hochgerichte sind die schon erwähnten Grafen-, Zent-, Vogtei-
und Femegerichte, Niedergerichte sind mehr die Patrimonial- und
Dorfgerichte. An den Unterschied zwischen Hoch- und Niedergericht
erinnert noch heute das Nebeneinander von Land- und Amtsgericht,
die ja beide erstinstanzlich tätig werden.
Beim mittelalterlichen Strafrecht besteht ein wesentlicher Un-
terschied zwischen demjenigen des frühen und hohen Mittelalters auf
der einen und demjenigen des späten Mittelalters und der frühen
Neuzeit auf der anderen Seite. Das frühmittelalterliche Strafrecht
geht zurück auf die heidnisch-germanische Zeit. Wenn damals ein
Verbrechen geschieht, so ist die Bestrafung des Täters nicht so sehr
Sache des Staates, als vielmehr des Betroffenen. Durch die Straftat,
z.B. die Tötung eines Menschen, ist ein Zustand des Unfriedens ent-
standen zwischen der Sippe des Täters und der Sippe des Verletz-
ten; letztere muß seinen Tod rächen, indem sie der gegnerischen
Sippe einen gleichen Schaden zufügt, wobei dies nicht unbedingt
den wirklichen Täter treffen muß. Die Sippe des Schuldigen kann die
Blutrache nur dadurch abwenden, daß sie sich vom Täter lossagt
und ihn ausliefert.
Statt der Blutrache können auch Sühneverhandlungen statt-
finden mit dem Ziel, der verletzten Sippe eine Entschädigung finan-
zieller Art anzubieten. Diese Entschädigung heißt Wergeld. Dahinter
verbirgt sich das Wort wer, aus gleicher Wurzel wie das lateinische
vir, also Mann oder Mensch; es kommt z.B. auch in Werwolf vor.
Allmählich werden diese Sühneverhandlungen zur Pflicht, und die
Buße darf nicht abgelehnt werden. Der geeignete Termin für die Ver-
handlungen ist die Volksversammlung, das Ding, das seit der Karo-
lingerzeit unter dem Vorsitz des Grafen tagt und somit zum Grafen-
gericht wird. Die Dingversammlung steht unter besonderem religiö-
sem Friedensgebot, so daß die verfeindeten Parteien dort gefahrlos
zusammentreffen können.
Für das Wergeld entwickeln sich im Laufe der Zeit feste Tarife,
die in den germanischen Volksrechten in langen Listen aufgezählt
sind. Die Lex Baiwariorum geht von einem Wergeld für einen freien
Mann von 160 solidi aus. Für Halbfreie wird nur die Hälfte gezahlt, 80
solidi, für Sklaven noch einmal ein Drittel weniger, also 53 1/3 solidi.
Umgekehrt erhöhen sich die Summen bei den Adligen: die Mitglieder
der fünf Uradelsfamilien, der Huosi, Drozza, Fagana, Hahiligga und
Anniona, erhalten ein doppeltes Wergeld, also 320 solidi für einen
Mann; die Mitglieder der Herzogsfamilie der Agilolfinger haben An-
spruch auf ein vierfaches Wergeld, also 640 solidi, und der regieren-
de Herzog selbst noch einmal die Hälfte mehr, also 960 solidi. Damit
ist die größte Summe aber noch nicht erreicht, denn für die Frauen
wird das Wergeld grundsätzlich verdoppelt; eine weibliche Angehöri-
ge des Herzogs ist also 1280 solidi wert und damit 24mal soviel wie
ein männlicher Sklave.
Das sind, salva reverentia, die Preise für eine ganze Leiche,
also die Entschädigung bei einem Totschlag. Nun ging es im alten
Bayern zwar recht wild zu, aber Tötungen waren doch nicht an der
Tagesordnung. Die Lex Baiwariorum enthält deshalb lange Listen
über geringere Schädigungen, für die proportional weniger zu zahlen
ist, ganz ähnlich wie bei den Quoten heutiger Unfallversicherungen.
Ich zitiere:
"Wenn jemand einen Freien aus Zorn schlägt, was man einen
pulislac nennt, dann soll er einen solidus zahlen." – Si quis liberum
per iram percusserit, quod pulislac vocant, unum solidum donet.
"Wenn er ihn blutig schlägt, was man plotruns nennt, soll er andert-
halb solidi zahlen." – Si in eum sanguinem fuderit, quod plotruns vo-
cant, solido uno et semi conponat. (Von plotruns leitet sich das heu-
tige Wort "blutrünstig" ab.) "Wenn er an ihn gesetzwidrig Hand an-
legt, was man infanc nennt, soll er drei solidi zahlen. Wenn er ihm ei-
ne Ader aufschlägt, so daß das Blut ohne Feuer nicht gestillt werden
kann, was man adargrati nennt, oder wenn am Kopf die Hirnschale
erscheint, was man kepol sceni nennt, oder wenn er den Knochen
bricht, die Haut aber unverletzt bleibt, was man palcprust nennt, oder
wenn es eine solche Wunde ist, daß sie anschwillt: wenn davon et-
was passiert, wird es mit 6 solidi gebüßt. Wenn das Gehirn am Kopf
erscheint oder wenn ein inneres Organ verletzt ist, was man hreva-
vunt nennt, wird es mit 12 solidi gebüßt. Und wenn jemand eine sol-
che Wunde oder einen solchen Bruch zufügt, daß daraus eine Miß-
bildung entsteht, wird es mit 20 solidi gebüßt.
Wer einem Freien ein Auge ausschlägt oder die Hand oder
den Fuß abhaut, muß 40 solidi zahlen. Wer jemandem den Daumen
abschneidet, zahlt 12 solidi. Und wer den Zeigefinger oder den klei-
nen Finger abschneidet, muß jeweils 9 solidi zahlen. Die beiden mitt-
leren Finger werden zusammen mit 10 solidi gebüßt, d.h. jeweils mit
5. Und wenn die Finger nicht abgeschlagen, sondern so verletzt wer-
den, daß sie steif bleiben, und so der Verletzte keine Waffen mehr
tragen kann, dann ist die Buße um die Hälfte höher als beim abge-
schlagenen Finger. Wer einem die Nase durchlöchert, zahlt 9 solidi.
Wer einem einen Schneidezahn, welchen man marchzand nennt,
ausschlägt, zahlt 12 solidi. Bei den anderen Zähnen ... wird jeder mit
6 solidi gebüßt.
Wer jemanden vom Ufer oder von einer Brücke ins Wasser
stößt, was die Bayern inunwan nennen, muß 12 solidi bezahlen. Wer
einen anderen von seinem Pferd stößt, was man marchfalli nennt,
muß 6 solidi zahlen."
Die Liste geht noch eine ganze Weile weiter. Später folgen Ta-
ten, deren Opfer speziell Frauen sind: "Wer mit der freien Ehefrau ei-
nes anderen schläft und entdeckt wird, muß dem Ehemann das
Wergeld der Frau zahlen. Und wenn er im Bett mit jener erschlagen
wird, so dient er selbst als das Wergeld, das er dem Mann schuldig
ist. Und wenn er bloß einen Fuß auf das Bett gesetzt und dann infol-
ge der Gegenwehr der Frau nichts weiter getan hat, muß er 12 solidi
Buße zahlen.
Wenn einer in unzüchtiger Absicht Hand an eine Frau legt, sei
sie Jungfrau oder Gattin eines anderen, was die Bayern horcrift nen-
nen, muß er 6 solidi zahlen. Wenn er ihre Kleidung bis über das Knie
hochhebt, was man himilzorunga nennt, muß er 12 solidi zahlen. Wer
einer Frau die Haube vom Kopf reißt, was man walcvurf nennt, oder
wer in unzüchtiger Absicht einer Jungfrau Haare abschneidet, muß
12 solidi zahlen. Wer mit einer freien Frau mit ihrer Einwilligung Ge-
schlechtsverkehr treibt und sich dann weigert, sie zu heiraten, zahlt
12 solidi."
Auch diese Liste geht noch weiter. Ferner gibt es bestimmte
Sätze für Diebstahl, Brandstiftung usw., auch für das Verletzen oder
Töten von Tieren, z.B. das Abschneiden von Kuh- oder Pferde-
schwänzen. Bei den Hunden werden Unterschiede nach der Funkti-
on gemacht; ein leitihunt oder ein piparhunt oder ein spurihunt kostet
6 solidi, ein triphunt oder ein hapuhhunt nur 3 solidi. Der hovawart,
also der Hofhund, kostet bei Nacht 3 solidi, am Tage nur einen.
Durch die Zahlung dieser Bußen kann also in der Dingver-
sammlung der Rechtsfrieden wiederhergestellt werden. Vor dem
Ding muß auch Klage erhoben werden, wenn der Beschuldigte die
Tat leugnet; dann findet ein förmlicher Prozeß statt. Dessen Verlauf
wirkt auf uns heute freilich mehr als befremdend: der Wahrheitsbe-
weis wird nicht durch Zeugenverhör und Indizien erbracht, sondern
durch den Reinigungseid des Angeklagten. Gelingt der Eid, so ist der
Angeklagte unschuldig; mißlingt der Eid, etwa, indem der Schwören-
de sich bei der Eidesformel verspricht, so ist er schuldig. Man geht
davon aus, daß die überirdischen Mächte, die ja beim Eid angerufen
werden, hier unmittelbar eingreifen, so wie man ja noch im vorigen
Jahrhundert die Vorstellung hatte, daß bei einem Meineid die Kerzen
auslöschen. (Es sei auch daran erinnert, daß der mittelalterliche An-
geklagte, der an die Wirksamkeit dieses Mechanismus’ glaubte, da-
bei dem psychologischen Phänomen des Erfüllungszwanges unter-
lag: als Schuldiger war er überzeugt, daß ihm der Eid mißlingen
mußte, und das trat dann auch ein. Für den Unschuldigen gilt dies
umgekehrt allerdings nicht ohne weiteres.)
Der Eid muß in der Regel mit einer Reihe von Eideshelfern
geschworen werden; wer die erforderliche Zahl von Eideshelfern,
meist sieben, nicht zusammenbringt, was bei Landfremden regelmä-
ßig der Fall ist, oder wer sonst nicht eidesfähig ist, muß sich dem Or-
dal, dem Gottesurteil unterwerfen. Als solche waren in Gebrauch der
Kesselfang, bei dem ein Gegenstand aus einem Kessel mit kochen-
dem Wasser geholt werden mußte, und das Anfassen des glühenden
Eisens. Einen positiven Ausgang dieser Ordalien bedeutete nicht et-
wa ein Wunder, bei dem der Proband unverletzt blieb, sondern die
komplikationslose Heilung der Verletzungen. Insofern sind die Dar-
stellungen in der Literatur, etwa bei Tristan und Isolde, oder in der
Legende, etwa bei der hl. Kunigunde, der Untreue gegenüber ihrem
Mann Kaiser Heinrich II. vorgeworfen wurde, unrealistisch.
Ein weiteres Ordal war die Bissenprobe, bei der ein großes
Stück Fleisch oder Käse verschluckt werden mußte; dem Schuldigen
gelang dies nicht, und er erstickte. Ferner die Wasserprobe, bei der
der Proband gebunden in fließendes Wasser geworfen wurde; nahm
das reine Element ihn an und versank er, so war er unschuldig und
wurde schnell wieder herausgezogen, bevor er ertrank.
Den Gottesurteilen ähnlich ist auch die sog. Bahrprobe im
Falle von Mord und Totschlag, bei der gewissermaßen das Opfer
selbst den Täter überführt. Das berühmteste Beispiel findet sich in
der 17. âventiure des Nibelungenliedes, wo auch erläutert ist, wie sie
funktioniert: "Das ist ein großes Wunder, wie es noch oft geschieht:
wenn man den Mordbefleckten bei dem Toten sieht, so bluten ihm
die Wunden, wie es auch hier geschah" – als nämlich Hagen an die
Bahre Siegfrieds tritt.
Zu den Ordalien gehört ferner der gerichtliche Zweikampf, der
später zum ritterlichen Turnier sublimiert wurde.
Im hohen Mittelalter kamen die Gottesurteile außer Gebrauch: da es
sich um eine religiöse Zeremonie handelte, in der ja der Wille Gottes
erforscht werden sollte, war die Mitwirkung eines Priesters unerläß-
lich; die Kirche aber entzog sich dieser Mitwirkung und verbot sie
förmlich auf dem 4. Laterankonzil 1215, so daß die Gottesurteile von
selbst aufhörten und modernere Beweismittel an ihre Stelle traten
wie etwa das Zeugenverhör, das im kanonischen Prozeß schon im-
mer in Gebrauch war.
Der Angeklagte hatte also die Möglichkeit, durch den Reini-
gungseid oder das Gottesurteil seine Unschuld zu beweisen. Er-
schien er nicht vor Gericht, so wurde statt seiner der Kläger zum Ei-
de zugelassen. Wenn diesem der Eid gelang, war der Schuldbeweis
erbracht; der Schuldige verfiel der Acht, er war friedlos und konnte
von jedermann getötet werden. Normalerweise endete ein Gerichts-
verfahren im frühen Mittelalter aber auch für den Schuldigen nicht
tödlich: es war nämlich möglich, selbst die Todesstrafe durch die
Zahlung von Geldbußen abzulösen – vorausgesetzt, man konnte die
entsprechenden Summen aufbringen.
Eine besondere Rechtslage ergab sich beim Verfahren bei
handhafter Tat, d.h. wenn der Schuldige auf frischer Tat ertappt
wurde. Ursprünglich konnte er ohne weiteres erschlagen werden;
später fand zwar eine Verhandlung statt, aber der Angeklagte konnte
sich nicht verteidigen. Vielmehr wurde sofort der Kläger zum Eide
zugelassen. Beim Verfahren bei handhafter Tat war es auch nicht
möglich, die Leibes- oder Todesstrafe durch eine Geldbuße abzu-
wenden. Reste diese Verfahrens bei handhafter Tat gibt es übrigens
noch in der heutigen Zeit: wird ein Täter in flagranti (wie man latei-
nisch sagt) bei Begehung einer Straftat erwischt, darf ihn auch heute
noch jedermann vorläufig festnehmen, muß ihn allerdings umgehend
der Polizei übergeben.
Das bisher geschilderte Procedere bezeichnet man auch als
Akkusationsprozeß, weil das Gericht nur dann tätig wird, wenn ein
Ankläger auftritt, gemäß dem Grundsatz "Wo kein Kläger, da kein
Richter". Seit dem Interregnum, also seit dem 13. Jahrhundert, än-
dert sich dies: immer häufiger werden die Gerichte von sich aus tätig,
indem sie die Angeklagten "annehmen" und die Untersuchung (in-
quisitio) einleiten. Man spricht dann von Inquisitionsprozeß.
Bei dieser Entwicklung sind vor allem die Gerichte in den
Reichsstädten führend, da die Kaufleute am meisten unter den anar-
chischen Zuständen zu leiden haben. Zugleich werden die gesetzlich
angedrohten Körperstrafen auch immer häufiger tatsächlich voll-
streckt; dies wird teils auf eine Ausweitung des Verfahrens bei hand-
hafter Tat, teils auf die Landfriedensgesetzgebung mit ihren scharfen
Strafdrohungen gegen die Landfriedensbrecher zurückgeführt. (Der
Gedanke des "Landfriedens" [treuga dei] entwickelt sich vom späten
11. Jahrhundert an zur Eindämmung der Fehde. Das ursprünglich re-
ligiöse Friedensgebot wird vom 12. Jahrhundert an staatlicherseits
übernommen.)
Ein drittes Element war die Rezeption des antiken römischen
Rechtes, das als kaiserliches Recht galt und vor allem von Barbaros-
sa und Friedrich II. gefördert wurde; das antike römische Strafrecht
zeichnet sich ja durch seine besondere Brutalität und Skrupellosig-
keit aus.
Ein wesentliches Hindernis bei einer wirksamen Verbrechens-
bekämpfung war die Rechtszersplitterung: jedes Gericht hatte seine
eigene begrenzte Zuständigkeit und seine eigene Prozeßordnung.
Reformversuche, so die Errichtung des Reichskammergerichtes, hat-
ten wenig Erfolg. Unbedingt zu erwähnen ist aber die Peinliche Ge-
richtsordnung Kaiser Karls V., die Constitutio Criminalis Carolina;
dieses berühmteste aller Strafgesetze war zwar zunächst nur subsi-
diär gültig, setzte sich aber aufgrund seiner Qualität im Laufe der Zeit
in fast allen Territorien des Reiches durch.
Wenn alle Rechtsmittel versagten und man den Gegner ein-
fach nicht zu fassen bekam, gab es als allerletzten Ausweg noch die
Möglichkeit, den Schuldigen öffentlich bloßzustellen, indem man ei-
nen Schandbrief ausstellte und verbreitete. Darin werden nicht nur
seine Verbrechen ausführlich geschildert, sondern er wird auch bild-
lich dargestellt, wie er hingerichtet am Galgen hängt:
Wer freilich einmal in die Mühlen der spätmittelalterlichen und
frühneuzeitlichen Justiz geraten war, hatte nichts mehr zu lachen.
Nicht das Gericht hatte die Schuld des Angeklagten zu beweisen,
wie das die heutige rechtsstaatliche Auffassung verlangt, sondern
der Angeklagte seine Unschuld.
Außerdem stand eine freie Beweiswürdigung, wie heute, dem
Gericht nicht zu. Ein Indizienprozeß war demnach nicht möglich.
Vielmehr galt, um zu verhindern, daß ein Unschuldiger verurteilt wer-
de, die gesetzliche Beweistheorie: ein Schuldspruch war nur zuläs-
sig, wenn der Angeklagte entweder gestanden hatte (Fachausdruck:
Urgicht) oder durch zwei Zeugen überführt wurde (Fachausdruck:
Beweisung). Dabei galt das Geständnis als die zuverlässigere Versi-
on, denn Zeugen konnten lügen, wie z. B. im Prozeß Jesu vor dem
Hohen Rat; der Angeklagte wußte dagegen genau, ob er die Tat be-
gangen hatte.
Und an dieser Stelle schlägt die Logik einen Haken: wenn
Zeugen fehlen und der Schuldige einfach nicht gestehen will, muß
man ihn eben dazu zwingen, notfalls – ich sage ausdrücklich: notfalls
– durch Anwendung der peinlichen Frage, der Folter. Moralischer
Hochmut ist nicht angebracht, denn die Vorstellung der Abschrek-
kung, die heute noch weit verbreitet ist, beruht auf einem ähnlichen
logischen Trugschluß: der Affekttäter wird durch die Strafe nicht ab-
geschreckt, er denkt gar nicht nach; der Überlegungstäter geht da-
von aus, daß er überhaupt nicht bestraft wird, wenn er nur geschickt
genug vorgeht. Kein vorsätzlicher Mörder wird dadurch von seiner
Tat abgeschreckt, daß er "nur" lebenslänglich bekommt und nicht
gehängt wird. Eine wirksame Verhinderung von Straftaten bietet also
nur eine hohe Aufklärungsquote und eine sorgfältige Pflege des all-
gemeinen Rechtsbewußtseins.
Die mittelalterliche Folter steht damit moralisch haushoch über
der Praxis der heutigen totalitären Regime; ihr Ziel ist die Ermittlung
der Wahrheit, während die heutigen Unrechtsstaaten ja gerade fal-
sche Selbstbeschuldigungen erzwingen wollen. Der gesetzmäßige
Gebrauch der Tortur dauerte bis in die Neuzeit; in Preußen wurde sie
1740, in Frankreich 1780, in Bayern erst zu Beginn des 19. Jahrhun-
derts abgeschafft.
Die Folter wird in drei Stufen angewandt; voraus geht die „Ter-
rition“, d.h. die Bedrohung mit der Folter, sowie die „Real-Territion“,
d.h. die Bedrohung mit der Folter durch leichte Anwendung dersel-
ben. Die drei Stufen der tatsächlichen Anwendung heißen, mit den
Ausdrücken der Carolina: gelinde oder menschlicher weys; eyni-
chermaßen; mit scherffe. Über jede Anwendung der Folter muß das
Gericht ausdrücklich beschließen; dem Verhör wird ein ausformulier-
ter Fragenkatalog zugrundegelegt. Die Folter darf nicht länger als ei-
ne Stunde dauern, was mit Hilfe einer Sanduhr gemessen wird. Die-
ser Zeitraum bezieht sich aber nur auf die tatsächliche Anwendung
der Folter; während der Verhörpausen, in denen z.B. die Aussage
protokolliert wurde, wurde die Sanduhr quergelegt, so daß die Ge-
samtdauer des Verhörs viel größer sein konnte.
Was die Methoden der peinlichen Frage angeht, so muß man
sich freimachen von der Vorstellung raffinierter Grausamkeit; die
Wirklichkeit war viel ordinärer und brutaler. Die übliche Foltermetho-
de war das „Wiegen“ oder „Recken“: dabei wurden dem Beschuldig-
ten die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, und dann wur-
de er an ihnen aufgehängt; an den Füßen konnte noch ein Gewicht
angebracht werden. Nur selten war es erforderlich, schärfere Metho-
den, wie etwa die Daumenschrauben, anzuwenden.
Wer freilich die Tortur ohne Geständnis aushielt, mußte frei-
gesprochen werden. Zuvor verlangte man allerdings von ihm, daß er
"Urfehde" leistete, d.h. daß er das eidliche Versprechen abgab, sich
für die erlittene Behandlung nicht zu rächen. Bei der Folter erlittene
Verletzungen mußte der Henker kurieren, was dazu führte, daß die
Henker hervorragende medizinische Kenntnisse erlangten.
Der gesamte Prozeßverlauf gliedert sich in zwei Phasen, die
Generalinquisition und die Spezialinquisition. In der Generalinquisiti-
on wurde festgestellt, ob überhaupt ein Verbrechen begangen wor-
den war und worin dies genau bestand. Z. B. mußte im Falle eines
Diebstahls exakt ermittelt werden, was im einzelnen konkret gestoh-
len worden war. Ergebnis der Generalinquisition war die Feststellung
des Tatbestandes, lateinisch des corpus delicti. (Die populäre Ver-
wendung des Ausdruckes corpus delicti im Sinne von "Tatwaffe" ist
Nonsens.) Erst dann schloß sich die Spezialinquisition an, die die
Frage zu klären hatte, ob der Angeklagte der Täter war.
Das Urteil lautete häufig auf die Todesstrafe, nur in leichteren
Fällen auf Verstümmelungs- oder Ehrenstrafen. Der Mörder wurde
gerädert; als Mord galt zunächst die heimliche, später die vorsätzli-
che Tötung. (Im heutigen deutschen Strafrecht ist der Mord die vor-
sätzliche Tötung aus niederem Beweggrund.) Beim Rädern werden
dem Delinquenten mit Hilfe eines großen Rades die Arm- und Bein-
knochen zerbrochen; anschließend wird er aufs Rad geflochten, d.h.
zwischen den Speichen hindurchgeschoben.
Der erste Stoß mit dem Rad kann auch auf den Hals gesetzt
werden, dann ist das Opfer sofort tot; andernfalls kann es noch
Stunden, sogar Tage dauern, bis der Tod eintritt, was durchaus be-
absichtigt ist.
Dem Dieb wird beim ersten Mal die Hand abgeschlagen, im Wieder-
holungsfall wird er am Galgen gehängt. Als Verschärfung kann der
Dieb mit dem Kopf nach unten gehängt werden, wobei es bis zu ei-
ner Woche dauern kann, bis der Tod eintritt; in dieser Weise wurden
vor allem Juden hingerichtet. Der Verräter wurde gevierteilt, der Kö-
nigsmörder von vier Pferden zerrissen. Der Brandstifter, der Ket-
zer, der Münzfälscher und teilweise auch der Sexualstraftäter wer-
den verbrannt.
Diese Strafen können durch Schleifen zur Richtstatt oder
durch Reißen mit glühenden Zangen verschärft werden. Räuber und
Totschläger werden mit dem Schwert geköpft; dies gilt als ehrliche
Hinrichtung, die auch ein christliches Begräbnis erlaubt, was sonst
nicht zulässig ist.
Die Wahl der Exekutionsmethode folgt häufig dem Prinzip der
"spiegelnden Strafe", d. h. sie trifft den Körperteil, der bei der Bege-
hung der Tat ausschlaggebend war; z. B. werden als Strafe für den
Meineid die Schwurfinger abgeschlagen. Die Praxis der "spiegelnden
Strafen" kann eine unerwünschte Nebenwirkung hervorrufen, daß
nämlich auch Unfälle in diesem Sinne gedeutet werden: wenn je-
mand bei einem Unfall die Hand verliert, kann dies als göttliche Stra-
fe für einen nicht entdeckten Diebstahl interpretiert werden.
Geringere Strafen, die auch gnadenhalber statt der Todesstra-
fe verhängt werden, sind Auspeitschen, Brandmarken, an den Pran-
ger stellen und Stadtverweisung; letztere ist gleichbedeutend mit der
Vernichtung der bürgerlichen Existenz. Zu diesen Ehrenstrafen ge-
hört auch die sog. Geige, die vornehmlich gegenüber keifenden und
verleumdenden Frauen abgewandt wurde. Es gab auch die doppelte
Geige, mit der zwei Kontrahentinnen gleichzeitig bestraft wurden:
Die Hinrichtung erfolgt stets öffentlich. Dies ist teils uraltes
Herkommen, teils geschieht es zum Zwecke der Abschreckung: wie
wirksam diese Abschreckung war, zeigen Berichte, daß unter der
Zuschauermenge, die beim Hängen eines Diebes zugegen war, die
Taschendiebe ihr Unwesen trieben. Zu Beginn der Hinrichtung wurde
das Urteil öffentlich verlesen und über den Delinquenten "der Stab
gebrochen", was ganz wörtlich zu nehmen ist. Ich zeige Ihnen hier
ein Beispiel aus dem 19. Jahrhundert, wo der zerbrochene Stab an-
schließend den Gerichtsakten beigefügt wurde:
Nun muß man allerdings bei aller Brutalität dieses Strafrech-
tes doch noch etwas differenzieren. Es kam nämlich keineswegs
immer zum Äußersten, d.h. die angeführten Strafen wurden keines-
wegs immer auch wirklich vollstreckt. Zum einen handelt es sich bei
dem angedrohten Strafmaß grundsätzlich um die Höchststrafe, von
der das Gericht durchaus nach unten abweichen konnte. Dieses
„Richten nach Gnade“ war allgemein üblich, gemäß dem Grundsatz
"Recht ohne Gnade ist keine Gerechtigkeit".
Aber selbst der verurteilte Verbrecher trat seinen letzten Gang
nicht in völliger Hoffnungslosigkeit an. Bis zuletzt konnte eine plötzli-
che Begnadigung sein Schicksal wenden, etwa, wenn der König fei-
erlich die Stadt besuchte, wie dies z.B. bei dem französischen Dich-
ter und Zuhälter François Villon geschehen ist – zum Schaden für die
Moral, aber zum Nutzen für die Literatur. Auch bestimmte Prälaten,
so z.B. die Äbtissin des Frauenklosters in Lindau, hatte das Recht,
einmal während ihrer Amtszeit einen Verbrecher vom Galgen "loszu-
schneiden". Jungfrauen konnten einen Todeskandidaten dadurch ret-
ten, daß sie sich erboten, ihn zu heiraten. Und selbst noch der Hen-
ker konnte unter bestimmten Bedingungen begnadigen, etwa derart,
daß neun hingerichtet wurden und der zehnte frei war.
Schließlich konnte die Hinrichtung durch eine Art Gottesurteil
verhindert werden, wenn sie nämlich mißlang, etwa weil der Strick riß
oder der Henker daneben schlug. Dies galt dann als Beweis für die
Unschuld des Täters, und der Volkszorn konnte sich in bedrohlicher
Weise gegen den Scharfrichter wenden. Eine mißlungene Hinrich-
tung zu wiederholen, ist Zeichen einer tyrannischen Justiz, die den
Richter selbst als Verbrecher entlarvt. Sie wird des öfteren in den
Heiligenlegenden geschildert, etwa wenn beim
Martyrium der heiligen Katharina das Rad zerbricht und sie anschlie-
ßend geköpft wird.
Das Verhältnis zum Scharfrichter ist überhaupt ambivalent.
Auf der einen Seite führt er nur die Anordnungen der Obrigkeit aus,
auf der anderen Seite macht man ihn aber irgendwie moralisch für
die scheußlichen Handlungen verantwortlich, die er durchführen
muß. Die psychologischen Mechanismen, die dabei wirksam sind,
hat man im Mittelalter natürlich nicht erkannt. Die Berührung durch
den Henker macht unehrlich, und zwar nicht nur den Verbrecher, den
er straft, sondern auch den ehrbaren Bürger, der freiwillig oder sogar
unfreiwillig mit ihm Kontakt aufnimmt. Wer also die medizinischen
Kenntnisse des Henkers in Anspruch nehmen wollte, tat dies
zweckmäßig heimlich, etwa indem er ihn bei Nacht aufsuchte.
35. KAPITEL:
RELIQUIEN UND HEILIGE
MIT DEM TODE DES MENSCHEN endet die Verbindung von Leib
und Seele. Dieser Vorgang wird im Mittelalter manchmal so darge-
stellt, daß aus dem Leichnam ein verkleinertes Abbild seiner Gestalt
zum Himmel davonfliegt. Atheistische Historiker deuten diese Bilder
mitunter so, als habe man die Seele für etwas Materielles gehalten,
aber das ist natürlich Blödsinn. Die Trennung von Leib und Seele sah
man im Mittelalter durchaus als etwas Positives an, war doch der
Körper das ergastulum anime, der Kerker der Seele. Aber Sie haben
im Laufe der Vorlesung sicher bemerkt, daß man für das Mittelalter
eine Frage nie so eindeutig beantworten kann. Auch der Leib zog
das Interesse der damaligen Menschen auf sich, und zwar auch der
tote Leib, und das schon allein deshalb, weil er am jüngsten Tage
wieder auferstehen wird. Dazu kommen aber auch ganz atavistische,
noch aus heidnischer Zeit herüberreichende Vorstellungen.
Das Interesse am Leichnam konnte nun positiver oder negati-
ver Natur sein. Die negative Seite äußert sich sehr unschön in der
Art und Weise, wie man die Leichname hingerichteter Verbrecher
behandelte: man ließ sie am Galgen hängen, bis sie sich von selbst
auflösten, oder man verbrannte sie; auf jeden Fall wurden sie nicht
auf dem normalen Friedhof bestattet. Diese Bestrafung über den To-
de hinaus, die, wie gesagt, ganz atavistische und unchristliche Wur-
zeln hatte, konnte sogar dazu führen, eine bereits bestattete Leiche
aus dem Grab zu reißen, wenn sich der Tote nachträglich als Ver-
brecher oder auch als Ketzer herausstellte.
Der normale Begräbnisort war der Friedhof um die Kirche her-
um. In der Kirche selbst wurden nur Geistliche oder auch die Stifter
der Kirche bestattet. Die enge Beziehung zwischen Kirche und
Friedhof stammt noch aus frühchristlicher Zeit, denn die Gemeinde
feierte ihren Gottesdienst ursprünglich an den Gräbern der Märtyrer,
über die dann die Kirchen gebaut wurden. Bekanntestes Beispiel da-
für ist wohl St. Peter in Rom. Der Wunsch, diese Gemeinschaft mit
dem Heiligen auch über den Tod hinaus beizubehalten, führte dann
zu der Praxis, die Toten bei der Kirche zu bestatten, und das En-
semble Kirche mit Friedhof konnte zum Kern einer neuen Siedlung
werden, wie dies etwa in Augsburg bei St. Afra der Fall war. Das ist
übrigens ein wesentlicher Unterschied zur Antike, in der die Toten
grundsätzlich außerhalb der Stadt beerdigt wurden. Erst seit der
Pestzeit wurden die Friedhöfe aus der Mitte der Ortschaften an ihren
Rand verlegt.
Das Begräbnis gehörte außerdem zu den Rechten des Pfar-
rers; weil dabei Gebühren fällig wurden, wachte dieser eifersüchtig
darüber, daß der Tote nicht etwa woanders beerdigt wurde. (In diese
Tradition, an den Toten verdienen zu wollen, sind heute die Kommu-
nalverwaltungen getreten: sie erheben bekanntlich zusätzliche Ge-
bühren, wenn ein Toter nicht auf dem Friedhof seines letzten Wohn-
ortes bestattet werden soll.) Seit dem 13. Jahrhundert hatten auch
die neu entstandenen Bettelorden das Begräbnisrecht, was zu stän-
digen Streitigkeiten mit dem Pfarrklerus führte.
Der höhere Adel hatte bei der Wahl des Begräbnisortes freie
Hand, ggf. mit Hilfe eines päpstlichen Privilegs. Wenn dabei zwi-
schen dem Sterbeort und dem Begräbnisort ein größerer Abstand
lag, konnte es zu Problemen beim Transport des Toten kommen.
Königliche Leichen wurden more regio transportiert, d.h. auf offener
Bahre und mit den königlichen Insignien bekleidet. Da bei längeren
Strecken der Zerfall der Leiche dieses Verfahren unmöglich machte,
kam man im späten Mittelalter auf die ganz eigentümliche Idee, die
Leiche sofort in den verschlossenen Sarg zu legen, auf den Sarg
aber ein hölzernes Ebenbild des Königs mit einem realistisch gestal-
teten Kopf aus Wachs.
Bei noch längerem Transport oder bei Transport unter er-
schwerten Bedingungen (etwa bei Tod auf dem Kreuzzug) mußte
man sich auf die Bewahrung wesentlicher Teile des Leichnams be-
schränken, nämlich der Knochen. Sie wurden durch Kochen der Lei-
che vom Fleisch getrennt, dieses sofort beigesetzt und das Skelett
mitgenommen, wie etwa im Falle Friedrich Barbarossas. Eine Bestat-
tung an mehreren Orten war auch sonst möglich; bei Fürsten und Bi-
schöfen war es teilweise üblich, das Herz gesondert vom restlichen
Körper an einem anderen Platz beizusetzen.
Abgesehen von solchen Sonderfällen folgte das Begräbnis
sehr schnell auf den Tod, und es kam wiederholt vor, daß lediglich
Scheintote begraben wurden. Das Verbrennen der Leiche war nicht
zulässig; es war noch bis vor wenigen Jahrzehnten im katholischen
Kirchenrecht ausdrücklich verboten. Dahinter stand – was zuletzt nie-
mand mehr wußte – die Abwehr der häretischen Lehre, daß die
materielle Welt grundsätzlich schlecht und deshalb die schnelle und
vollständige Zerstörung des Körpers wünschenswert sei.
Wie man also vom toten Verbrecher immer noch Schaden be-
fürchtete, so erwartete man umgekehrt von einem gestorbenen guten
Menschen heilsame Wirkungen. Dies ist der Ursprung der Heiligen-
verehrung. Der Heilige ist dabei gewissermaßen an zwei Stellen tä-
tig, im Himmel und auf der Erde: als Fürsprecher im Himmel be-
schützt er die Lebenden – ich komme gleich noch darauf zurück.
Aber auch von seinem toten Körper erwartet man sich positive Ein-
flüsse. Dies führt zur Reliquienverehrung und damit zu einem Gebiet,
auf dem sich in bedenklicher Weise erlaubte Verehrung und uner-
laubte abergläubische und magische Praktiken mischen. In der Anti-
ke war es nach dem geltenden römischen Recht verboten, die Gra-
besruhe zu stören. Es gab daher nur sog. Kontaktreliquien, z.B. Öl
von den Lampen, die am Grabe des Heiligen brannten.
Vom frühen Mittelalter an wird der Heilige aber auch körperlich
ausgebeutet – man kann es nicht anders bezeichnen –, und wer kei-
nen ganzen Heiligen erwerben kann, möchte wenigstens ein Stück-
chen von ihm haben. Es gibt wenige mittelalterliche Erscheinungen,
die uns so fremd sind; und doch darf man fragen: unterscheidet sich
das Sammeln von Reliquien so sehr vom Sammeln von Souvenirs
oder vom Vertrauen auf Maskottchen?
Wie dem auch sei, nur wenige Heilige ruhen vollständig an ei-
nem Ort; meist sind ihre Glieder über die Welt verstreut, oft in sehr
kleinen Partikeln. Für die Reliquien wurden künstlerisch wertvolle Re-
liquienbehälter angeschafft, sog. Reliquiare, die gern die Form ihres
Inhaltes erhalten, also als Kopfreliquiar oder Armreliquiar usw. ge-
staltet wurden; sie boten Anlaß zu hervorragenden Erzeugnissen der
Gold- und Silberschmiedekunst.
Mit der Verehrung der Reliquie ist gewöhnlich ein Ablaß ver-
bunden, d.h. die Tilgung zeitlicher Sündenstrafen, die der Gläubige
für sich selbst in Anspruch nehmen, aber auch den armen Seelen
zuwenden kann. Die Reliquien oder Heiltümer werden zu bestimm-
ten Terminen öffentlich zur Verehrung ausgestellt; die berühmtesten
dieser Heiltumsweisungen waren wohl die in Aachen, die nur alle
sieben Jahre stattfanden, und die alljährliche Weisung der Reichs-
kleinodien in Nürnberg. Hier sehen Sie, wie die Reliquien von mehre-
ren Bischöfen vor dem Volk vorbeigetragen werden:
Die Reliquien wechselten oft ihren Besitzer. Eine Reliquie galt
als besonders wertvolles Geschenk, aber auch Reliquienraub war
gängige Praxis. Der berühmteste und zugleich dreisteste Reliquien-
raub war wohl der des heiligen Markus, der aus Alexandria in Ägyp-
ten nach Venedig gebracht wurde. Um solche Vorgänge ranken sich
schnell Legenden mit dem Tenor: der Heilige selbst habe den Orts-
wechsel gewünscht und unter Umständen den neuen Ort, an dem er
hinkünftig zu ruhen wünschte, selbst bezeichnet, etwa indem die
Ochsen sich an dieser Stelle standhaft weigerten, den Karren weiter-
zuziehen und dgl. Ähnlich gibt es Legenden um die Wiederauffin-
dung verborgener Reliquien.
Das Verschenken von Reliquien wird auch heute noch gele-
gentlich praktiziert: so wurde vor einigen Jahren das Grab der seli-
gen Gisela im Kloster Niedernburg geöffnet und für die ungarischen
Gäste eine Reliquie entnommen. Daraufhin hat ein Atheist aus Re-
gensburg Anzeige gegen den Passauer Bischof wegen Störung der
Totenruhe erstattet. Die Königin Gisela hätte auf diese Aktion zu ih-
rem angeblichen Schutz zweifellos mit völligem Unverständnis rea-
giert: sie ist geradezu berühmt dafür, mit welchem Eifer sie die unga-
rischen Kirchen mit Reliquien ausgestattet hat.
Bei jeder Reliquie soll eine Authentik, d.h. eine amtliche Be-
stätigung ihrer Echtheit, liegen. Dies war wichtig, da es sehr viele fal-
sche Reliquien gab, die teils wirklich fingiert, teils aber auch gutgläu-
big erworben waren. Ausdrücke wie "der wahre Jakob" oder "das
wahre Kreuz" (spanisch: vera cruz) findet von daher ihre Erklärung.
Eine Möglichkeit, Reliquien auf ihre Echtheit zu testen, bestand dar-
in, mit ihnen Kranke zu berühren und zu schauen, ob die Heilung ein-
trat. Allerdings steht ein solches Verfahren unter dem Vorbehalt des
Bibelwortes "Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen!", mit
dem Christus selbst (laut Mt. 4,7 Luc. 4, 12) am Ende seiner
40tägigen Fastenzeit das vom Teufel verlangte Wunder ablehnt.
Die seltsamsten Auswüchse erlebte das Reliquienwesen dort,
wo man sich nicht mehr mit christlichen Heiligen zufriedengab, son-
dern bis zu biblischen Gestalten und Ereignissen vordrang: Holz aus
der Arche Noah, Saiten von der Harfe Davids, ein Stück Mannah aus
der Wüste usw., Windeln Christi, Steine von der Martersäule usw.,
Haarsträhnen Mariens und vieles andere mehr, was zum Teil auch
recht unappetitlich ist.
Es gab regelrechte Reliquiensammler. Sehr erfolgreich mit
über 5500 Stück war Friedrich der Weise, der Förderer Luthers. Et-
was ganz Kurioses sind Reliquienkalender, die für jeden Tag des
Jahres eine Reliquie des jeweiligen Tagesheiligen aufweisen. Diese
Praktiken wurden nicht nur von den Reformatoren des 16. Jahrhun-
derts abgelehnt, sondern auch schon im Mittelalter selber. Ein schö-
nes Beispiel ist Boccaccio; er berichtet im Decamerone in der 10.
Novelle des 6. Tages über den Bruder Cipolla, zu deutsch Zwiebel,
der ein so mitreißender Prediger war, daß selbst Cicero und Quintili-
an vor ihm verblaßten. Er pflegte bei seinen Predigten unter großem
Zeremoniell eine ganz besondere Reliquie vorweisen: eine schnee-
weiße Feder des Erzengels Gabriel, welche in der Kammer der Jung-
frau Maria zurückblieb, als er ihr in Nazareth die Verkündigung über-
brachte. Zwei junge Leute wollen ihm einen Streich spielen und tau-
schen die Feder heimlich gegen schwarze Kohlen aus. Der Prediger
ist aber nicht auf den Mund gefallen und erklärt einfach, er habe aus
Versehen die Reliquiare verwechselt und dies seien Kohlen von dem
Feuer, auf dem der hl. Laurentius gemartert wurde.
Über den Auswüchsen der Reliquienverehrung darf man aber
die normale Form des Heiligenkultes nicht vergessen. Die Heiligen
werden um Fürbitte bei Gott angerufen, und auf diese Fürbitte hin
bewahrt Gott selbst den Menschen vor Schaden und wirkt u.U. sogar
ein Wunder. Es wird streng unterschieden zwischen der Verehrung
der Heiligen und der Anbetung Gottes; es werden also nicht etwa die
Heiligen angebetet, wie die konfessionelle Polemik gegen die Katho-
liken dies selbst im 20. Jahrhundert noch regelmäßig behauptet hat.
Angebetet wird nur Gott; die Heiligen werden lediglich verehrt.
Ein anderer, feinerer Unterschied wird von den Theologen ebenfalls
gemacht, dringt aber nicht vollständig bis in die Auffassung des ge-
wöhnlichen Volkes durch: es ist nicht der Heilige, der hilft und heilt
und das Wunder wirkt, sondern Gott auf die Fürbitte des Heiligen hin.
Dieser Unterschied geht aber leicht verloren, und dann ist es tatsäch-
lich der Heilige selbst, der hilft und heilt. Die Heiligen, die gegen
Krankheiten oder Unglücksfälle angerufen werden, wandeln sich in
einem weiteren Schritt zu denjenigen, die diese Krankheiten schik-
ken und deshalb auch wieder wegnehmen können. Aus diesem Miß-
verständnis erklärt sich dann der berühmte Spruch: „O heiliger St.
Florian, verschon mein Haus, zünd andre an!“
Wer als Heiliger verehrt werden dürfe, darüber wurde zu-
nächst dezentral in den einzelnen Diözesen entschieden, und die
Verehrung im Volk geht der kirchenamtlichen Feststellung oft voraus.
Im Hoch- und Spätmittelalter monopolisiert der apostolische Stuhl
das Recht der Heiligsprechung oder Kanonisierung. Natürlich
wird der Heilige nicht erst durch die Heiligsprechung heilig; es han-
delt sich dabei vielmehr um die bloße Feststellung einer bereits be-
stehenden Tatsache; und nicht von ungefähr gibt es das Fest Aller-
heiligen, das an die vorbildhaften Menschen erinnert, deren Name
nicht amtlich festgestellt worden ist.
Die Heiligsprechung wurde oft auch politisch mißbraucht; so
wurden z.B. Karl der Große und Papst Gregor VII. heiliggesprochen
– von den Entgleisungen in jüngster Zeit einmal ganz abgesehen.
Außerdem war jede bessere Adelsfamilie bemüht, unter ihren Vor-
fahren wenigstens einen Heiligen zu haben; so hatten die Habsbur-
ger ihren Leopold, die Kapetinger Ludwig IX. usw.
Es gibt auch gewisse Kategorien von Heiligen: an erster Stelle
stehen dabei die Märtyrer, die für ihren Glauben den Tod erlitten ha-
ben. Das Mittelalter hat ein merkwürdiges Vergnügen daran, diese
Martyrien auf Bildern, vor allem Altarbildern darzustellen. Besonders
das
Martyrium der 11000 Jungfrauen zu Köln oder auch der thebäischen
Legion bot Gelegenheit, die vielfältigsten Hinrichtungsmethoden vor-
zuführen. Aber vielleicht ist dies Vergnügen gar nicht so seltsam, und
diese Abbildungen sind nur die Horror-Videos des Mittelalters. Weite-
re Kategorien neben den Märtyrern sind die Bekenner (confessores)
und die Jungfrauen.
Die Kanonisation erfolgt in zwei Stufen: man wird zunächst se-
lig (beatus), dann heilig (sanctus). Dazu findet ein regelrechter Pro-
zeß statt, in dem der advocatus dei, der Anwalt Gottes, das vorbringt,
was für die Heiligkeit des Kandidaten spricht, während der advocatus
diaboli, der Anwalt des Teufels, alles Gegenteilige anführt. Diese
Prozesse können sich über Jahre und Jahrzehnte hinziehen, nicht
selten mit langen Unterbrechungen. Eine Heiligsprechung im
Schnellverfahren ist ganz selten; ein Beispiel wäre hier der heilige
Franziskus, der 1226 starb und bereits 1228 kanonisiert wurde.
Höchst bedenklich ist es allerdings in diesem Zusammenhang, wenn,
wie jüngst geschehen, die Prozeßregeln geändert werden, nur um
eine bestimmte Heiligsprechung schneller durchführen zu können.
Nach abgeschlossener Beweiserhebung berät schließlich das
Konsistorium und entscheidet der Papst. Wichtigstes Beweismittel
sind Wunder, möglichst am Grab des Kandidaten, und zwar für einen
Seligen mindestens zwei, für einen Heiligen vier. Wenigstens ein Fall
ist bekannt, daß der Papst vor seiner Entscheidung von Gott ein
Spezialwunder anforderte und auch erhielt. Beim Prozeß um die Hei-
ligsprechung des Thomas von Aquin bemängelte der advocatus dia-
boli, der Kandidat habe zu wenige Wunder aufzuweisen; daraufhin
griff der Papst selbst in die Debatte ein und erklärte, jedes wissen-
schaftliche Buch, das Thomas geschrieben habe, sei einem Wunder
gleich zu achten. Schließlich wird eine Urkunde ausgefertigt und der
neue Heilige feierlich verkündet. Und wie bei der Exkommunikation
Kerzen ausgelöscht werden, so werden bei der Heiligsprechung im-
mer mehr Kerzen angezündet, bis schließlich die Kirche wie im
Glanz des himmlischen Jerusalem erstrahlt.
Vom Augenblick der Kanonisation an ist es erlaubt, auf den
Namen des Heiligen Altäre zu errichten und Kirchen zu weihen. Hier-
in setzt sich der vorhin schon erwähnte antike Brauch fort, über den
Gräbern der Märtyrer die Messe zu feiern und Kirchen zu errichten.
Der nächste Schritt ist die translatio, die Erhebung der Gebeine und
die Öffnung des Sarges; mitunter erweist sich die Leiche als unver-
west, was als weiterer Beweis der Heiligkeit gilt.
Der Heilige erhält jetzt auch einen Platz im liturgischen Kalen-
der, wobei mehrere Termine möglich sind: der seines Todes, der der
Erhebung der Gebeine, auch der seiner Ankunft, wenn seine Gebei-
ne von einem Ort an den andern transportiert worden sind, schließ-
lich der seiner Wiederauffindung, wenn sein Aufenthaltsort unbe-
kannt war und durch ein Wunder wiederentdeckt wurde. Eine der fol-
genreichsten Wiederentdeckungen war beispielsweise diejenige des
heiligen Jakob in Santiago.
Der Körper des Heiligen ist jetzt zur Reliquie geworden und
unterliegt allen Bräuchen und Mißbräuchen mittelalterlichen Reli-
quienkultes, wie wir sie vorhin geschildert haben. Allerdings sei noch
einmal darauf hingewiesen, daß die Kanonisation eine Kulterlaubnis
ist, keine Kultverpflichtung. Das Dogma, wie es etwa im 16. Jahr-
hundert auf dem Konzil von Trient formuliert worden ist, verlangt le-
diglich die Anerkennung der Tatsache, daß es Heilige gebe, nicht die
Verehrung bestimmter Heiliger. Auch der strenggläubigste Katholik
unserer Tage ist also nicht verpflichtet, etwa den Gründer des Opus
Dei oder den letzten österreichischen Kaiser als Heiligen anzurufen.
Die Heiligenverehrung – und die Kanonisierung einzelner Hei-
liger – hat aber noch einen weiteren Aspekt, den man nicht überse-
hen sollte: die Verehrung der namentlich bekannten Heiligen ver-
weist auf diejenigen Heiligen, deren Namen man nicht kennt. Wer zu
dieser Gruppe gehört, das wird sich zeigen, wenn die ultima tuba er-
tönt, die Posaune des jüngsten Gerichtes. Die Apokalypse des Jo-
hannes sagt ausdrücklich, ihre Zahl sei unübersehbar groß.
Mit dieser Perspektive erweist sich die mittelalterliche Ge-
schichtsauffassung als im Grunde optimistisch. Keine stetige Ver-
schlechterung und kein ewiger Kreislauf wie in der Auffassung der
Antike, sondern eine aufsteigende Linie. Mittelalterliche Geschichte
ist stets Heilsgeschichte. Und wenn auch in ihrem Verlauf – nach
der Auffassung des Augustinus und nach der Darstellung Ottos von
Freising – zwei Staaten im Kampf liegen, der Staat Gottes (civitas
dei) und der Staat des Teufels (civitas diaboli), und wenn auch der
Staat des Teufels immer wieder bedeutende Erfolge erringt, so steht
doch mit unverrückbarer Gewißheit fest, daß am Ende der Staat
Gottes und seine Bewohner den Sieg davontragen werden.