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LAUER - Gerhard - Lesen Im Digital Zeitalten - 2020.pdfcom Marcações

Das Buch beschäftigt sich mit dem vermeintlichen Wandel des Lesens im digitalen Zeitalter. Es analysiert kritisch gängige Narrative vom nahenden Ende des Lesens und thematisiert das damit verbundene Unbehagen in der Kultur. Der Autor argumentiert, dass die digitale Revolution zwar Veränderungen mit sich bringt, das Lesen aber keineswegs verschwindet.

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Das Buch beschäftigt sich mit dem vermeintlichen Wandel des Lesens im digitalen Zeitalter. Es analysiert kritisch gängige Narrative vom nahenden Ende des Lesens und thematisiert das damit verbundene Unbehagen in der Kultur. Der Autor argumentiert, dass die digitale Revolution zwar Veränderungen mit sich bringt, das Lesen aber keineswegs verschwindet.

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Gerhard Lauer ❚ Lesen im digitalen Zeitalter

Band 1

Lesen ist die wichtigste Kulturtechnik, auch in der digita-


len Gesellschaft. Doch viele machen sich Sorgen, dass Gerhard Lauer
sich das Lesen verlieren wird und wir nur noch abgelenkt
auf Bildschirme starren. Dieses Buch ist eine Verteidigung
des Lesens im digitalen Zeitalter. Es zeigt, dass und wie Lesen im
digitalen Zeitalter
sich das Lesen wandelt, aber keineswegs verschwindet,
sondern wichtiger wird. Es erläutert, welche neuen For-
men der lesenden Erschließung der Welt entstehen und
welche Konzepte des Buchs an Bedeutung gewinnen.

Gerhard Lauer ist Professor für Digital Humanities an der


Universität Basel. Schwerpunkte seiner Forschung sind
die Literaturgeschichte und computergestützte Literatur-
wissenschaft.

wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-26854-2
Gerhard Lauer
Lesen im digitalen Zeitalter
Geisteswissenschaften
im digitalen Zeitalter

Band 1

Herausgegeben von
Constanze Baum,
Gudrun Gersmann
und Ulrich Johannes Schneider
Gerhard Lauer

Lesen im
digitalen Zeitalter
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische
Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg.


© 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die
Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.
Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg
Gedruckt auf säurefreiem und
alterungsbeständigem Papier
Printed in Germany
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-26854-2
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-27279-2
eBook (epub): 978-3-534-27280-8

Dieses Werk ist mit Ausnahme der Einbandabbildung als Open-Access-Publikation im


Sinne der Creative-Commons-Lizenz BY-NC International 4.0 („Attribution-Noncom-
mercial-No Derivatives International“) veröffentlicht. Um eine Kopie dieser Lizenz zu
sehen, besuchen Sie http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/. Jede Verwertung in an-
deren als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen
Einwilligung des Verlages.
Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1. Vom Unbehagen in der digitalen Welt . . . . . . . . 9

2. Der Hunger nach Geschichten . . . . . . . . . . . . . 14

3. Eine kurze Geschichte der Lesekritik . . . . . . . . . 23

4. Über die medialen „Aufpulverungen des Lebens“ . . 41

5. Der Computer ist dem Buch sein Tod und


andere Falschmeldungen . . . . . . . . . . . . . . . . 88

6. Das Ende des Literaturbetriebs wie wir ihn kannten 125

7. Mutmaßungen über die Zukunft von Buch und Lesen 159

8. Die digitale Verbürgerlichung des Lesens . . . . . . . 222

5
Vorwort

Es sind nicht wenige, die sich Gedanken machen, welche Zu-


kunft eine so nützliche und so wirkungsvolle menschliche Er-
findung wie das Lesen von Büchern noch hat, seit Computer
und Internet in alle Bereiche des Lebens vordringen, auch in
die der Bücher und des Lesens. Das Lesen von gedruckten Bü-
chern scheint altmodisch zu sein. Ein Unbehagen in der Lese-
kultur beschleicht uns daher nicht von ungefähr, als wäre alles
längst nur noch eine Frage der Zeit, wann das Lesen nicht mehr
als ein Nischendasein führen werde. Diese Entwicklung bekla-
gen viele. Doch dieses Buch ist kein Buch der Klage. Davon gibt
es mehr als genug, deren populärste Exemplare ich wiederholt
hier bespreche. Es ist vielmehr ein Sachstandsbericht mit einer
hohen Sympathie für das neue Lesen. Grund zur Klage besteht
gleichwohl in digitalen Zeiten, aber wie die Leserinnen und
Leser dieses Buchs schnell bemerken werden, besteht der
Grund weniger darin, über das Ende des Lesens zu lamentieren.
Denn dieses Ende ist nicht viel mehr als ein Gemeinplatz, der
eine lange Geschichte hat und wenig dazu beiträgt, genauer zu
verstehen, was sich in Sachen Lesen ändert. Dieses Buch zeigt
dagegen, warum wir auch im digitalen Zeitalter mehr denn je
lesen, warum wir unverändert auf eine spezifisch moderne Wei-
se lesen, warum und wie wir das Lesen fördern sollten und sich
doch vieles verändert hat und wohl auch noch weiter verändern
wird. Notwendigerweise ist die Halbwertszeit aller vorgetrage-
nen Erkenntnisse kurz. Die digitale Welt dreht sich schneller als
alle Zeitalter vor ihr. Und dennoch: Gerade die digitale Welt
braucht das Innehalten, Nachdenken und Abwägen der Argu-
mente. Dazu lädt dieses Buch ein.

7
Bücher brauchen nicht nur Leser, sondern auch Autoren.
Die brauchen Zeit, und Zeit ist in modernen Industrienationen
ein knappes Gut. Dass ich dennoch die Zeit gefunden habe,
vieles zum Stand des Lesens zusammenzutragen, verdanke ich
einer Einladung an das Institute for Advanced Study der Dur-
ham University in England, den Kollegen David Cowling, Bar-
bara Ravelhofer und Nicholas Saul. Matthias Richter danke ich
für den Anstoß über dieses Thema des Lesens im digitalen
Zeitalter zu schreiben. Er hatte mich eingeladen, für die Schu-
len über das Thema nachzudenken. Daraus wurde ein Aufsatz,
aus dem Aufsatz dieses Buch. Schließlich danke ich den He-
rausgebern Constanze Baum, Gudrun Gersmann und Ulrich
Johannes Schneider für die Aufnahme in ihre Reihe sowie Lena
Baumann und Jens Seeling für die sorgfältige Betreuung des
Manuskripts.
Einem solchen Thema hätte ich wohl nicht so viel Zeit zu-
gewendet, wenn ich nicht drei Kinder hätte, die mir täglich vor
Augen führen, warum Erziehung notwendig ist, auch wenn das
Ergebnis dann ein ganz anderes ist, als es sich Professoren aus-
denken mögen. Elisabeth, Nathan und Alban ist diese Abhand-
lung gewidmet.

Basel und Durham, Frühjahr 2020 Gerhard Lauer

8
1. Vom Unbehagen
in der digitalen Welt

Im digitalen Leben wird alles anders, auch das Lesen, so sagt


man, und meint damit zumeist ein unbestimmtes Unwohlsein
darüber, dass sich vertraute Kulturpraktiken wie die des Lesens
im digitalen Zeitalter zu verlieren scheinen. Es werde nicht
mehr so viel wie früher gelesen, und vor allem werde nicht
mehr gründlich gelesen, so der gefühlte Konsens über einen
Wandel, wenn nicht eine Revolution der medialen Verhältnis-
se, für die sich keine so recht passende Bezeichnung eingebür-
gert hat. Von einem ‚Ende des Lesens‘ will noch keiner reden,
und doch sei die Verkehrung der Verhältnisse geradezu mit
den Händen zu greifen. Weder Radios noch Fernsehapparate
haben vermocht, diese uns so vertraute Weise der Weltaneig-
nung durch Bücher überflüssig zu machen, sondern Computer
und Internet scheinen es zu tun, tun es immer schneller und
mit einer schier nicht aufzuhaltenden Macht. Das alles sind
Vorzeichen. Sie lösen Unbehagen aus, freilich ein Unbehagen,
das nicht genau angeben kann, ob der Verweis auf die rasante,
digitale Modernisierung immer weiterer Lebensbereiche Symp-
tom oder Ursache ist. Wer treibt hier was an? Verschwindet das
Lesen, weil gleich eine ganze Reihe bildungsbürgerlicher
Lebensmuster an Bedeutung eingebüßt haben oder ist der
Wandel vom Analogen zum Digitalen der Grund für den Ver-
lust auch des Lesens? Vielleicht, dass sich auch beides gegen-
seitig antreibt. Den einen ist der Computer, den anderen sind
die sozialen Netzwerke oder amerikanische Internetfirmen die
Verursacher einer Krisis, die weit über die Verstörung lange

9
eingeübter Praktiken der Welterschließung hinausreicht. Wie-
der andere machen die Auflösung bürgerlicher Institutionen
oder den Zerfall der Familie für das Eindringen der digitalen
Welt verantwortlich. Wo abends niemand mehr den Kindern
vorliest und jeder nur für sich in sein digitales Endgerät starrt,
geht die Kunstfertigkeit des gründlichen Lesens verloren und
die sozialen Folgen sind nicht zu übersehen.
Solche und ähnliche Diagnosen sind nicht unbedingt das
Ergebnis gründlicher Untersuchungen, sondern Symptom
einer Verunsicherung über die digitale Leserevolution. Es ist
die Stunde der Kulturkritik. Kulturkritik hat den Vorteil, weder
umständlich nach den Ursachen zu fragen, noch Analysen zum
Wandel des Lesens erstellen zu müssen, dafür umso wirkungs-
mächtiger das Unbehagen in der Kultur aussprechen zu kön-
nen. Zumeist kulturpsychologisch inspirierte Krisenmodelle
reichen hier schon aus, um rasch Antworten zu geben, die im
Ungefähren bleiben können und doch die Verunsicherung aus-
zudrücken vermögen. Gewissen in Zeiten des Internets und
Stachel wider die digitale Modernisierung zu sein, das ist die
Aufgabenstellung der Kulturkritik, wenn sie das Schwinden der
Lesekultur beklagt. Ihre erste und nicht geringe Aufgabe ist das
Formulieren dieses Unbehagens. Argumente, warum das so sei,
finden sich dann im Arsenal kulturkritischer Argumente fast
von selbst. Und so hören wir mal schärfer zugespitzt, mal re-
signativ verbreitet, viel vom nahenden Ende des Buchs und des
Lesens.
Nun sind die, die solche Kritik vorbringen, durchaus kluge
Köpfe, wie Nicholas Carr etwa, der als Wirtschaftsjournalist
ebenso in der gedruckten Welt der Encyclopaedia Britannica
wie in der digitalen des Cloud-Computing-Projekts des Welt-
wirtschaftsforums zu Hause ist. Er beobachtet ein Lesen-Ver-
lernen im weltweiten Maßstab. Glaubt man Carr, so verlieren
wir die Fähigkeit zum vertieften Lesen, dem „Deep Reading“ 1,
wie er das gründliche Lesen nennt, und das beträfe nicht nur
die Literatur, sondern auch die Auseinandersetzung mit ande-
ren Künsten und den Wissenschaften. Nachdenkliche Schrift-

10
steller wie Jonathan Franzen beklagen einen ähnlichen Verfall
der Lesekompetenz angesichts von iPad, Amazon Kindle und
Internet. 2 Die Folgen für die Gesellschaft seien nicht mehr zu
übersehen. Das Lob der lesenden Erschließung der Welt, das
jahrhundertelang unsere Kultur angeleitet hat, kehrt sich um
in eine Klage über deren Ende. Solchen und ähnlichen Stim-
men ist wohl zuzuhören, und doch wird man den Eindruck
einer gewissen Hilflosigkeit nicht los. Alles wird digital, aber
wir haben noch einmal kritisch den Kopf geschüttelt. In den
Stunden der Kulturkritik warnen wir noch einmal vor den di-
gitalen Eitelkeiten der Welt, wärmen uns noch einmal am
Rückblick auf eine Lesewelt, die es so wohl nie gegeben hat,
und gestehen uns zugleich ein, Dinosaurier zu sein, die schon
den Kometen anfliegen hören.
So klug, so eloquent und so verkaufsfördernd die Kultur-
kritik des Lesens formuliert ist, der kulturkritische Ton im Um-
gang mit dem Lesen ist bei näherer Betrachtung erstaunlich,
denn es ist einigermaßen schwierig, genauer zu sagen, wie sich
das Lesen in digitalen Zeiten tatsächlich entwickelt hat. Haben
vor dem Zeitalter des Internets und World Wide Webs, also
sagen wir um 1990, mehr Menschen hierzulande gelesen als
2010 oder 2020? Was meint man mit dem ‚mehr Lesen‘, etwa
dass mehr Bücher und diese intensiver studiert worden seien?
So genau wird das in den kulturkritischen Anmerkungen zum
Leseverfall nicht angegeben. Vielmehr steht der Sicherheit im
Urteil über den Stand des Lesens eine vergleichsweise schmale
Datenbasis gegenüber, die aufschlüsselt, was es mit dem Lesen
auf sich hat, seit es Computer und Internet gibt. Ob es tatsäch-
lich abnimmt, wird eher vorausgesetzt denn geprüft, wohl, weil
man sich in dem gefühlten Niedergang schon so sehr einge-
richtet hat, dass gar nicht nach belastbaren Untersuchungen
gefragt wird. Das entspricht dem Denken in kulturkritischen
Urteilsroutinen. Kulturkritik ist ja eine Abkürzung für das
Denken, das war sie früher schon und ist es hier einmal wieder.
In ihrer deutschen Variante kreuzt solche Kulturkritik
einen emphatischen Bildungsbegriff mit Technikskepsis, Kul-

11
turphilosophie mit pädagogischer Reform und normatives Pa-
thos der Persönlichkeit mit Zivilisationskritik, und das erst
recht dort, wo es um Buch und Lesen in der Gegenwart geht,
dem Herz der Kultur, vielleicht der deutschen Kultur gar. In
diesem so deutschen Argumentationsmuster gehört der Com-
puter zur Welt der Technik, der man mit einer prinzipiellen
Distanz gegenübersteht. Zum Muster dieser und ähnlicher
Überlegungen gehört denn auch das kulturphilosophische Ver-
sprechen auf eine irgendwie natürlichere Lebens- und Lern-
weise, die es zu bewahren, zu erreichen oder wiederherzu-
stellen gelte, etwa durch das gute Buch, das wenige, aber gut
geschulte Leser hat. Das Buch ist dann etwas geradezu Natür-
liches, der Computer dagegen etwas Künstliches. Dahinter
steht der schiefe Gegensatz von ‚deutscher Kultur‘ und ‚franzö-
sischer Zivilisation‘, von sogenannten natürlichen Lebensfor-
men und urbaner Entfremdung, wie ihn die Kulturkritik vor
mehr als hundert Jahren konstruiert hat, eine Konstruktion,
die bis heute die Debatten um Computer und Internet be-
stimmt. Der Computer und das Internet zählen in dieser Logik
kulturkritischer Gemeinplätze zu der sogenannten entfrem-
denden Zivilisation, die alles Ressentiment auf sich zieht, jenes
Gefühl, zwar im Recht und doch schon überholt worden zu
sein. Entsprechend schnell ist man mit der Kritik an den Fol-
gen der Digitalisierung unserer Lebenswelt zur Hand. Feuille-
tons und Radiosendungen sind voll davon und viele Bücher
werden verkauft, die alle sagen, dass es bald keine Bücher mehr
gäbe. Das ist längst ein Geschäft geworden.
Zu den kulturkritischen Routinen der allzu deutschen Ar-
gumentation gehört dann auch noch das Vertrauen in die
großen Deuter der Bücher, die den seltenen Sinn zu ermitteln
wissen und die Massen anzuleiten vermögen. Sie sind die
gründlichen Leser und der Maßstab, wie das gute Lesen gelingt
und nachzuahmen ist. Eben sie, die Autoren der Feuilletons,
die so kritischen Neurowissenschaftlerinnen und Germanistik-
professoren schütteln bedenklich ihre Häupter, sobald sie auf
Computer und Internet zu sprechen kommen und wissen viel

12
zu sagen, warum das alles nur ein weiterer Irrweg der Moder-
nisierung sei. So dreht sich die Argumentation schnell im
Kreis, und was herauskommt, sind die immer gleichen Klagen
über das Ende von diesem und jenem, des Lesens und des
Buchs. Aus dem Gegensatz von Kultur und Zivilisation lässt
sich immer noch ein suggestives und kritisches Potential für
die Debatten hierzulande gewinnen, obgleich ein Blick in die
Geschichte dieses Deutungsmusters 3 vor allem zeigt, wie über-
holt solche Urteilsroutinen und wie abgestanden alle diese
Varianten des alten Gegensatzes von Kultur und Zivilisation
doch sind.
Und dennoch: Wie langweilig und uninspiriert solche Kon-
ventionen der Kulturkritik sonst auch sein mögen, die Frage,
die sie aufwerfen, ist von erheblichem Gewicht. Denn moderne
Gesellschaften sind auf die möglichst gründliche und breite
Fähigkeit zum Lesen angewiesen. Kein Land kann gut regiert
werden, kein Patient geheilt und kein Flugzeug fliegen, ohne
dass Menschen in der Lage sind, Sachverhalte genau und über
einen langen Zeitraum hinweg zu studieren. Vor diesem Hin-
tergrund haben die Warnungen der Kulturkritik nicht nur ihre
Berechtigung. Sie sind eine notwendige Selbstbeobachtung der
Gesellschaft, so unscharf die Befunde auch formuliert sein
mögen. Weil sich durchaus auch ansonsten kluge Leute in die
Debatte einbringen, lohnt es sich, näher hinzusehen, was ge-
nauer gemeint sein könnte, wenn so viel vom Verfall des
Lesens und dem Ende des Buchs die Rede ist. Aufgabe dieses
Buchs ist es, die Selbstbeobachtung der Gesellschaft in einem
für sie so wesentlichen Bereich wie dem Lesen zu schärfen. Ob
das gelingt, wird man einmal mehr auch hier durch Lesen er-
fahren.

13
2. Der Hunger nach Geschichten

Eine Gruppe von Sozialpsychologen hat eine nicht ganz unauf-


wändige, experimentelle Selbstbeobachtung der Gesellschaft
angestellt. Die Wissenschaftler wollten genauer wissen, womit
wir unsere Zeit verbringen, wenn der Druck der alltäglichen
Geschäftigkeit nachlässt, und wir uns aussuchen können, was
wir als Nächstes tun. Was sind die Leidenschaften, so haben sie
gefragt, die großen wie die kleinen, denen wir nachgehen,
wenn wir aus uns selbst heraus agieren können? Um das ge-
nauer herauszufinden, verteilten die Wissenschaftler Black-
berry-Telefone an die mehr als zweihundert Teilnehmer ihrer
Studie. 1 Über 14 Stunden des Tages verteilt und über mehr als
eine Woche hinweg wurden die Teilnehmer mehrfach am Tag
befragt, welche Leidenschaften sie in den letzten Stunden erlebt
oder gepflegt hatten. Die Rückmeldungen wurden von den
Wissenschaftlern in Typen der Leidenschaften und Wünsche
klassifiziert, Nachfragen wurden gestellt, zum Beispiel danach,
ob die Leidenschaften mit anderen äußeren oder auch persön-
lichen Zielen konfligierten und vor allem ob die Probanden
den Leidenschaften widerstehen konnten oder nicht. So kamen
mehrere tausend Mikro-Episoden der Leidenschaften zusam-
men, und natürlich waren die häufigsten solche, die etwas mit
Essen und Trinken, Schlafen und Sex zu tun hatten. Das wird
niemanden erstaunen.
Erstaunlicher fanden die Psychologen hingegen, was als
nächste Leidenschaften folgte, und das waren Leidenschaften
um alles das, was mit Medien im weitesten Sinne zu tun hat.
Nichts fiel den Teilnehmern der Studie so schwer, wie der Ver-
suchung zu widerstehen, den Fernseher anzumachen, ein Buch

14
oder eine Zeitschrift zu lesen, das Internet zu nutzen oder
Computergames zu spielen. Die Wissenschaftler folgerten aus
ihren Befunden, dass wir Menschen vermutlich generell eine
schier nicht zu unterdrückende Neigung haben, uns in Ge-
schichten zu verlieren, seien es Herzblatt-Geschichten oder
Abenteuererzählungen, Realityshows oder mehrteilige Litera-
turverfilmungen, das Surfen im Internet oder das Durchblät-
tern von Klatsch-Zeitschriften, Computerspiele oder Sport-
ereignisse. Immer geben wir dem Wunsch nach, noch einer
weiteren Geschichte zu folgen, obwohl weder Hansi Hinterseer
noch Winnetou, Werther oder Harry Potter, Jane Eyre noch
Holly Golightly oder Anna Karenina, Jürgen Klopp oder Lady
Gaga unmittelbar zu unserem Leben gehören und es uns ei-
gentlich gleich sein könnte, ob es sie nun gibt oder nicht. Aber
wir sind anders. Uns macht es erheblich etwas aus, was alle
diese Figuren und Personen so machen, solange sie in Ge-
schichten vorkommen. Diesen Geschichten, sie mögen noch
so trivial sein, können wir kaum widerstehen, auch wenn wir
wissen, dass viele davon nur erfunden sind oder es eigentlich
gar nicht unser Leben beeinflussen sollte, ob nun dieser Hans
seine Grete kriegt oder jener Fußballer diese Torchance doch
genutzt haben müsste. Nichts hängt daran und doch alles.
Diese kleine anthropologische Vorbemerkung illustriert
eine Eigenschaft von uns Menschen, von der es höchst unwahr-
scheinlich ist, dass sie demnächst verschwindet. Wir haben
Hunger nach Geschichten und werden ihn wohl noch lange
haben, auch im digitalen Zeitalter. Es steht zu erwarten, dass
sich dieser Hunger auch immer neue Medien suchen wird, die
ihn zu stillen versprechen. Nicht weniger, sondern mehr Ge-
schichten und mehr Medien umgeben uns heute, gleich ob di-
gital oder analog. Und die neuen Medien scheinen zu verspre-
chen, diesen Hunger auf noch mehr Geschichten zu bedienen.
Die Geschichten sind dabei weitgehend die alten geblieben. Es
geht immer noch um Liebe und Vertrauen, heldenhaften Mut
und Furcht, Verrat und andere soziale Nachrichten. Die Neu-
zeit hat nicht nur den Hunger im wörtlichen Sinn in vielen

15
Regionen der Welt besiegt, ja die Möglichkeit zu essen und zu
trinken begleitet uns im Alltag in einer weltgeschichtlich ein-
maligen Weise. Die Neuzeit hat auch die alten Geschichten, die
uns umgeben, in einer Zahl erhöht, die sich frühere Zeiten
nicht vorstellen konnten. Ob Kino, Radio oder Fernseher, die
Freigabe der Privatsender, die Zahl der Journale und Magazine
– das alles kommt einer geradezu explosionsartigen Verviel-
fachung der Möglichkeiten, Geschichten zu teilen, gleich und
gerade auch dann, wenn es die immer selben Geschichten sind,
die um den Globus laufen. Wer kann da noch widerstehen,
wenn wir so engmaschig von Geschichten überzogen werden,
dass es kaum noch einen Winkel der Erde gibt, wo nicht um
das Ende von Walter White aus der Serie Breaking Bad speku-
liert würde 2 und Heidi wenigstens als eine Figur aus einer japa-
nische Anime-Serie bekannt ist. 3 Computer und Internet
scheinen diese Möglichkeiten noch um ein Vielfaches zu er-
weitern, weil sie erlauben, Geschichten zu kopieren, umzuar-
beiten und weiterzuerzählen und das in praktisch allen Genres,
Medien und Kanälen. In der digitalen Welt macht es zunächst
keinen Unterschied, ob eine Geschichte als Buch oder als
E-Book, als Audio-File oder als YouTube-Video vorliegt, weil
alles, auch die gedruckten Bücher, heute auf digitalen Daten
basiert, die zu neuen Geschichten weitergesponnen werden
können. Und das genau geschieht jeden Tag.
Längst übersteigt die Zahl der weltweit geteilten Geschich-
ten unsere Vorstellungskraft. YouTube behauptet in seiner Sta-
tistik, dass im März 2014 in jeder Minute 100 Stunden Video-
material hochgeladen und im Monat mehr als 6 Milliarden
Stunden Videomaterial angesehen worden seien. 4 Im Juli 2015
waren es schon 400 Stunden pro Minute, die auf dieser Platt-
form hochgeladen wurden. Das sind etwa vier Stunden pro Be-
wohner dieser Erde und vor allem Zahlen, die selbst dann
noch, wenn man hier Übertreibungen im Interesse der Google-
Tochterfirma YouTube unterstellt, jenseits unserer Vorstel-
lungskraft liegen. Die Zahlen sind in den letzten Jahren weiter
exponentiell angestiegen. Twitter meldet, dass weit mehr als

16
5 000 Tweets pro Sekunde versendet werden würden. 5 Auf
SoundCloud, dem YouTube für Musik, werden jede Minute
zwölf Stunden neue Musik hochgeladen. Solche und ähnliche
Zahlen lassen sich leicht ergänzen, jedes Jahr weiter nach oben
schieben und doch bleiben sie abstrakt und unanschaulich. Wer
einen Zähler von YouTube, SoundCloud und anderer Medien,
Suchanfragen und Mobilgeräte-Downloads wie etwa Gary’s So-
cial Media Count 6 befragt, wird kaum anders können, als eben
die gewaltigen Zahlen der im Netz geteilten Filme und Musik-
stücke, Mitteilungen und Daten hilflos anzustarren, die sich in
wenigen Sekunden vor einem auftürmen, während man nur
einen Satz wie diesen niederschreibt. Zähler wie Gary’s Social
Media Count zeigen an, wie viele große und kleine Geschichten
weltweit geteilt werden. Hundertausende von Tweets, Likes und
App-Downloads rasen innerhalb von Sekunden in diesem
Zähler an einem vorbei. Der sachkundige Betrachter weiß da-
bei, dass die tatsächlichen Zahlen vermutlich noch höher lie-
gen, da Twitter etwa für Analysen wie Gary’s Social Media
Count nur einen Teil seiner Daten zur Verfügung stellt. Man
rätselt angesichts solcher Zahlen, ob damit unsere Gegenwart
schier unendlich ausgedehnt oder im permanenten Umbau auf
Null zusammengepresst ist, weil die Zukunft schon jeden Mo-
ment der Gegenwart überholt.
So viele Geschichten, die niemand mehr zählen kann, müs-
sen fast notwendig wie Signale einer Revolutionierung unserer
Lebenswelt erscheinen. Die digitale Revolution lässt keinen Be-
reich unserer Gegenwart unberührt, auch nicht das Lesen, die
Bücher, die Bibliotheken und Verlage. Kulturkritiker und ihre
Zwillingsbrüder, die utopischen Nerds, reden nicht zufällig da-
von, dass die digitale Revolution nach der Agrarrevolution in
der Steinzeit und der industriellen Revolution der Moderne die
dritte Revolution von menschheitsgeschichtlichem Ausmaß sei.
Die Diagnose ist nicht ganz neu. Schon 1998 hieß es program-
matisch in Wired magazine’s Encyclopedia of the New Economy,
einem der Foren für technikutopisches Denken über die neue,
digital getriebene Ökonomie:

17
A world in which innovation is more important than mass produc-
tion. A world in which investment buys new concepts or the means
to create them, rather than new machines. A world in which rapid
change is constant. A world at least as different from what came
before it as the industrial age was from its agricultural predecessor.
A world so different its emergence can only be described as a revo-
lution. 7

Das war 1998 als Weckruf an eine Welt gemeint, die Ende des
20. Jahrhunderts vielfach noch nicht glauben wollte, dass die
Digitalisierung mehr ist als eine Mode einiger Computerbauer.
Zwanzig Jahre später erscheinen solche Weckrufe eher naiv,
denn niemand will in einer Welt leben, in der alles in einem
rasenden Wandel begriffen ist.
Irgendwie ist die digitale Welt anders als die Welt der Indus-
trialisierung und die agrarische Welt. Darin sind sich alle einig.
Obwohl wir wissen, dass weder die Landwirtschaft noch die
Industrie Geschichte sind, ist zwanzig Jahre später unstrittig,
dass da etwas Neues unsere Welt umbaut, ja vielleicht revolutio-
niert. Und das betrifft auch unseren Hunger nach Geschichten.
2013 etwa war Deutschland der größte europäische Absatz-
markt für Computerspiele. Mit etwas mehr als fünf Prozent am
Weltmarkt zählt er bereits unter die größeren Märkte für Spiele-
welten weltweit, rechnet der Bundesverband der Computer-
spielindustrie vor. 8 Andere Länder, zumal außerhalb Europas,
weisen noch viel größere Absatzzahlen auf. Jeden Tag kommen
weltweit etwa tausend neue Spiele auf den Markt. Der Hunger
nach Geschichten hat in den Computerspielen innerhalb weni-
ger Jahre schon so viele neue Formate gefunden und wird mit
den Virtual Reality-Brillen schon morgen neue finden, dass sich
die Frage aufdrängt, ob wir noch Geschichten so teilen und so
erleben, wie wir es im Buchzeitalter gewohnt waren. Im digita-
len Zeitalter, so scheint es, hat der Hunger schon neue Ge-
schichten gefunden, bevor die von gestern zu Ende erzählt wor-
den sind, kein Ende nirgends, so mutet es vielen an.
Freilich zeigt ein Blick auf die beliebtesten Computerspiele
wie World of Warcraft, Assassin’s Creed, Grand Theft Autor,

18
Call of Duty, aber auch Mario oder Pokémon, dass hier Sujets
fortgesponnen werden, die weit älter als das digitale Zeitalter
sind. Was ist also neu in der Welt der Geschichten, wenn alles
digital wird? Zunächst einmal war und ist das Medium Com-
puter neu, und neu ist auch die dahinter liegende Internetwelt
einer nicht direkt sichtbaren Vernetzung. Neue Medien ziehen
schon immer Aufmerksamkeit und dann auch Kritik auf sich.
Eine Gegenrechnung wird aufgemacht und die besagt, dass
dieser Hunger nach neuen Medien unsere menschlichen Grund-
züge entstellen würde. Der Computer ist ein solches neues Me-
dium, das den Hunger nach allerlei Geschichten stillt und da-
her der Kritik entsprechend ausgesetzt ist, vor allem der, das
Buch zu erdrücken. Seit Mitte der 90er-Jahre des 20. Jahrhun-
derts, seit der Computer immer rascher immer weitere Lebens-
bereiche der Gesellschaft durchdringt, ist sich die Kulturkritik
sicher, dass der Computer eben dieses Humanum abtöte. Das
neue Medium entfalte eine fatale Wirkung besonders auf die
Jugend. Die Beobachter solcher Veränderungen, zumeist Män-
ner in angesehenen Bildungsinstitutionen, verweisen auf eige-
ne Erfahrungen und auf Expertenstudien, die alle zeigen, dass
wir, ständig abgelenkt, süchtig nach dem neuen Medium wer-
den und darüber wesentliche Anforderungen des Lebens ver-
säumen. Nervenzellen sterben ab und wir verlieren ganz wört-
lich den Verstand. Dick und dumm verfehlen wir, was wir als
Menschen sein könnten. Kindheiten hören auf noch solche zu
sein. Das hat uns schon 1982 Neil Postman in seinen Büchern
auflagenstark vorhergesagt. 9 Hören wir einer solchen Medien-
kritik einmal zu:
Wir wollen einmal die neue Medienwelt an einem sonntäglichen
Vormittag belauschen. – Sehen Sie dort den Jungen auf dem Sofa?
Wie konzentriert! Den Kopf auf die Hand gestützt. Vor ihm ein
Buch. Die Augen verschlingen die Schrift. ‚Vielleicht ein Schulbuch
oder ein gutes Buch aus dem väterlichen Bücherregal?!‘ – Ein iPad.
Er spielt eine Stunde, er spielt noch eine. Endlich erhebt er sich, will
sich anziehen und raus zu seinen Freunden gehen. Doch die Szene
ist gar zu interessant. Er setzt sich wieder und spielt weiter. – Die

19
Sonne scheint draußen. Er sieht begierig der Auflösung des Knotens
entgegen und spielt weiter. – Die Sonne ist untergegangen.

Beim zweiten Lesen spätestens bemerkt man, dass dies gar kei-
ne aktuelle Kritik am Verhalten unserer Tage ist, sondern eine
Medienkritik, die zweihundert Jahre alt ist und damals einem
neuen Medium galt, dem Buch, genauer dem Buch für ein für
damalige Zeiten großes Publikum. Im Original heißt es mit
Blick auf den in diesen Tagen Goethes so populären Erfolgs-
roman, den Räuberroman Rinaldo Rinaldini von Goethes
Schwager Christian August Vulpius:
Wir wollen einmal die galante Welt an einem sonntäglichen Vor-
mittag belauschen. – Sehen Sie dort eine Dame auf dem Kanapee?
Wie andächtig! Das Köpfchen auf die Hand gestützt. Vor ihr ein
Buch. Die Augen verschlingen die Schrift. ‚Vielleicht ein Morgen-
gebet oder Materialien zur häuslichen Erbauung?!‘ – Rinaldo Rinal-
dini. Sie lieset eine Stunde, sie lieset noch eine. Endlich erhebt sie
sich, will ihre Toilette machen und in die Kirche gehen. Doch die
Scene ist gar zu interessant. Sie setzt sich wieder und liest weiter. –
Die Glocke ruft. Sie sieht begierig der Auflösung des Knotens ent-
gegen und lieset fort. – Die Kirche ist aus. 10

Heute wären viele froh, wir hätten nur über das exzessive Lesen
von Räuberromanen Grund zur Klage. Stattdessen sei die Si-
tuation viel schlimmer, so etwa der deutsche Philosophische
Fakultätentag, 11 weil im Zeitalter des Computers die Fähigkeit
selbst unter Studenten verloren gegangen sei, sich länger auf
einen komplexeren Gegenstand zu konzentrieren und ihn for-
mulieren zu können. Verfall der Lesekompetenz, wachsende
Schreibschwäche und der damit einhergehende Verlust natür-
licher Erfahrungswelten scheinen unaufhaltsam fortzuschrei-
ten. Wer spricht da noch vom Lesen, Verfall ist alles.
Verschwinden das Buch und die Fähigkeit, wenn nicht die
Kunst des Lesens im digitalen Zeitalter? Die Rede vom Ende ist
selbst natürlich vor allem eine Konvention. 12 Sie trifft auf den
gegenwärtigen Umgang mit dem Buch genauso zu wie auf die
Rede vom papierlosen Büro oder vom Verschwinden des Fern-
sehers oder des Kinos, will sagen: sachlich unzutreffend, aber

20
gefühlt irgendwie doch richtig. Die Welt ist relativer und selten
so eindeutig und entschieden, wie es die kulturkritischen Kla-
gen vom Ende, noch die Utopien vom Anfang nahelegen. Ihr
gedanklicher Absolutismus ist eher Teil des Problems denn
eine Antwort, weil der gedankliche Absolutismus konzeptio-
nell voraussetzt, dass die Welt nach eindeutigen Kategorien zu
beschreiben sei und ein einzelner Faktor wie etwa das neue
Medium Computer schon alles ändere. Das mag gut sein, um
hohe Absatzzahlen für medienkritische Bücher oder technik-
affine Proklamationen im Internet zu erhalten, aber sehr wahr-
scheinlich ist dieser Absolutismus schlicht falsch. 13 Moderne
Gesellschaften sind multifaktoriell bestimmt. Es gibt viel zu
viele Einflüsse, Veränderungen und Reaktionen, deren Zusam-
menhänge nicht zu überblicken und noch weniger zu model-
lieren sind, als dass sie auf einen einzelnen Faktor und seine
Folgen herunterzurechnen wären. So verführerisch es also sein
mag, mit der Betonung eines Faktors wie dem des Computers
die ganze Transformation der Gesellschaft erklären zu wollen,
so sehr vereinfacht dies gerade das, was es zu erklären vorgibt,
eben den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Medien.
Insofern ist Medienkritik nicht eben besonders hilfreich, wie
etwa die Debatten um Frank Schirrmachers Buch von 2009
Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind
zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über
unser Denken zurückgewinnen einmal mehr gezeigt haben.
Folgt man Schirrmacher, so nehmen uns die Algorithmen das
kritische Lesen und Denken ab und kapseln die Gesellschaft
ein, indem sie wenigen Besitzern von Massendaten alle Macht
zuspielen und alle anderen hilflos verstummen lassen.
Andere dagegen verweisen auf die ungeahnten Wege gesell-
schaftlicher Teilhabe durch die neuen Medien. Gruppen, die
sich bislang nicht zu Wort melden konnten, erhalten eine Stim-
me, sagen sie, und damit verändere sich Politik. Die Diskus-
sionslage ist auf diese Weise schön sortiert. Aber die Argu-
mente reden über verschiedene Dinge und antworten kaum
auf die Einwände der anderen Seite. Sie sind absichtsvoll ver-

21
einfachend und sprechen über die Gesellschaft als ganze mit
großer Leichtigkeit. Wenn man dieser Simplifizierung wenigs-
tens etwas entkommen will, dann schließt das auch ein, dass
deutlich mehr gefordert ist, als nur die Thesen vom Verfall des
Buchs und des Lesens zurückzuweisen.
Die Absicht meines Buchs ist es daher, nicht umgekehrt
inverse Trivialitäten zu behaupten, sondern die Befunde zu-
sammenzutragen, so verstreut diese auch sind. Statt Kultur-
kritik zu betreiben oder Geschichten von den neuen Absur-
ditäten des digitalen Zeitalters zu erzählen, möchte ich
vorschlagen, genauer hinzusehen, was es mit Buch und Lesen
im digitalen Zeitalter auf sich hat. Der erste Schritt ist ein his-
torischer. Schauen wir uns genauer an, was Medienkritik
meint, wenn sie vom Verfall des Lesens redet. Dann sehen wir
uns näher die Leserinnen und die Leser unserer Gegenwart an,
wie sie mit E-Book und Computer umgehen und versuchen
vorläufig abzuschätzen, ob das Buch noch eine Zukunft hat
und was die mediale Revolution für das Lesen heißt. Ich werde
dabei zu zeigen versuchen, wie viel an sogenannten metakogni-
tiven Fähigkeiten hängt, an Fähigkeiten, zwischen den Medien
sehr bewusst je nach Zweck wählen zu können. Nicht digital
oder analog machen den Unterschied, sondern unsere zu er-
lernende Fähigkeit, bewusst zwischen verschiedenen Möglich-
keiten des Lesens wechseln zu können. Am Ende sind schließ-
lich Mutmaßungen über die Zukunft von Buch und Lesen
anzustellen, über die Individualisierung, Heterogenität und
Leichtigkeit unserer digitalen Lebens- und Lesewelt, alles Mut-
maßungen, denn die Zukunft hat den Nachteil oder auch Vor-
teil, noch nicht bekannt zu sein. Aber davon später, jetzt zu-
nächst zur kurzen Geschichte des kritischen Nachdenkens über
Medien.

22
3. Eine kurze Geschichte
der Lesekritik

Medienkritik ist alt, und meist verweist man mindestens auf


Plato, um zu betonen, dass Klagen über den Verfall der Jugend
und Kritik der medialen Erneuerung eine lange Tradition ha-
ben. Das ist richtig, verstellt aber den Blick auf die Besonder-
heiten der Moderne und des Buchs. Um zu verstehen, was die
Besonderheiten der modernen Lesewelt sind, ist eine idealtypi-
sierende Unterscheidung in drei Stadien der Medienkritik hilf-
reich, eine Vereinfachung zugegeben, aber eine nützliche. 1
In dieser Idealtypik steht die Antike für die Kritik an der
Einführung des neuen Mediums der Schrift. Plato erzählt in
seinem Dialog Phaidros den Theuth-Mythos, die Geschichte
von der Einführung der Schrift im Alten Ägypten. Statt die Er-
findung der Schrift zu feiern, beklagt Sokrates in Platos Dialog
den mit der Schrift unvermeidlich einsetzenden Verfall. Sokra-
tes sagt in der schönen Übersetzung von Friedrich Schleier-
macher:
Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Ver-
gessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie
im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder
Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern
werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern nur für das Er-
innern hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst
du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst.
Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, werden
sie sich auch vielwissend zu sein dünken, obwohl sie größtenteils
unwissend sind, und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkel-
weise geworden statt weise. 2

23
Das antike Argument, nur den Schein, nicht aber die Sache
selbst zu verstehen, läuft durch die Jahrhunderte bis heute,
wenn wir darüber klagen, dass Google unser Gedächtnis er-
setze und Schüler zwar alles nachschlagen, aber nichts ver-
standen haben. Das mag ja auch nicht ganz falsch sein, sind
wir doch von den Gedächtnisleistungen homerischer Sänger,
der Märchenfrauen in Spinnstuben oder irischer Geschichten-
erzähler jedenfalls auch dann weit entfernt, wenn wir den
Brüdern Grimm nicht jede Märchenerzählerin als eine glück-
liche Märchenfrau abnehmen. Dennoch wird heute kaum noch
jemand gegen die Einführung der Schrift polemisieren und der
antiken Höherschätzung der Geheimlehren für die ganz
Wenigen das Wort reden. Das Argument jedoch, nur den
Schein und nicht die Sache zu verstehen, läuft freilich weiter.
Kaum eine Kulturkritik heute kommt ohne dieses antike Argu-
ment aus.
Mehr als anderthalbtausend Jahre nach Plato finden wir
eine ähnliche Diskussionslage in der Zeit des Humanismus.
Erasmus von Rotterdam wurde von der damals zeitgenössi-
schen Kritik gescholten, seine kommentierte Zitatensammlung
antiker Autoren, die 1500 zum ersten Mal erschienene Adagia,
würde Halbwissen befördern. Jeder könne nun mit Hilfe dieser
Sammlung so tun, als kenne er die großen Autoren der Antike
und könne sie nun ‚dünkelweise‘ zitieren. Verstanden habe
diese äußerlich gebliebene Gelehrsamkeit aber nichts, nur die
Prätentionen des gelehrten Standes würden durch derartige
Veröffentlichungen wie der des Erasmus bedient, so beklagten
es Erasmus’ humanistische Kollegen. Besser sei es, ein solches
Buch wie die Adagia wäre nie erschienen, folgerten gelehrte,
wie auch wohl neidische Zeitgenossen des Erasmus vor fünf-
hundert Jahren. Doch das Gegenteil geschah. Immer neue und
wesentlich erweiterte Auflagen brachte Erasmus heraus, in der
Überzeugung, mit seiner Sammlung die Kultur des guten
Schreibens und Redens zu befördern. Seine Leser haben es
ihm gedankt und fleißig sein Buch gekauft. Was den einen
Humanismus war, das war den anderen Verfall. Heute lautet

24
die Kritik, der Computer lenke uns von der wesentlichen
Durchdringung der Gegenstände ab. Die Schüler seien zwar
vielwissend, hätten aber deshalb noch lange kein Wissen. Die
Jugend schlage alles bei Google nach, aber verstanden habe sie
kaum etwas. Ihr Dünkel ist ihr Handy – das ist die moderne
Variante der antiken Hochschätzung esoterischer Arkana ge-
genüber den bloßen Meinungen der Vielen. Lebendig ist des-
halb diese antike Medienkritik in den Debatten um neue
Medien heute noch als wäre sie erst gestern erfunden worden.
Doch so gängig ein solches, gewiss altes Argument über die
Jahrhunderte geblieben ist, so wenig ist die antike Kritik an
der Einführung der Schrift schon mit der Medienkritik heute
gleichzusetzen. Im Lauf der Jahrhunderte kamen weitere Argu-
mente hinzu, die die Kritik des Lesens bis heute anleiten.
Ein zweites, für unsere Zwecke idealtypisch zusammen-
gefasstes Argument finden wir in der mittelalterlichen und
besonders frühneuzeitlichen Kritik der Bücher. Hier ist nicht
die Schrift strittig, denn das würde dem christlichen Offen-
barungsanspruch widerstreiten. Genau darin unterscheidet
sich ja die mittelalterliche und frühneuzeitliche Medienkritik
von der Platos. Strittig war im Mittelalter und in der Frühen
Neuzeit vielmehr die Frage, wer die Bücher lesen darf. Solange
nur sehr wenige schreiben konnten, die Materialien für die
Kodizes teuer und selten waren, beschränkten sich etwa die
mittelalterlichen Universitäten darauf, die Studenten beim Ver-
lassen der Universitätsstädte zu kontrollieren, damit sie keine
nur an diesem Ort vorhandenen Bücher mitnahmen und da-
mit Konkurrenzstandorte stärken konnten. Mit der Reforma-
tion und dem Buchdruck wurde etwa ab dem 16. Jahrhundert
das Lesen höher bewertet und leichter zugänglich. Weil Lesen
getrennt vom Schreiben unterrichtet wurde, übersprangen das
Lesen, manchmal auch das Schreiben und das einfache Rech-
nen die Mauern der Lateinschulen und Universitäten. Nun be-
gannen auch die Schlachtersknechte und Karrenführer, die
Handwerkersfrauen und ihre Töchter mal in Winkelschulen,
mal in landesherrlichen Anstalten wenigstens etwas lesen zu

25
lernen, mit freilich großen regionalen Unterschieden. Wäh-
rend in Florenz fast jedes zweite Kind lesen lernte und in einer
Stadt wie Lübeck im 16. Jahrhundert mehr als sechzig winzige
und manchmal auch größere Schulen gezählt wurden, gab es
viele Regionen Europas, wo selbst der Pfarrer nicht recht lesen
konnte. Doch mit Buchdruck, Humanismus und Reformation
änderte sich das. „Lesen können hatte sich noch nie also so
nützlich erwiesen wie jetzt“, schreibt der Grammatiker Valentin
Ickelsamer in seiner Schrift Die rechte weis auffs kürtzist lesen
zu lernen 1527, „da jeder deshalb lesen lerne, damit er
GOTTES Wort und Auslegung selber lesen und umso besser
darüber urtheilen könne“. 3
Aber genau das ist so eine Sache, wenn jeder selber liest
und selber urteilt, was Gottes Botschaft sei, zumal im Zeitalter
der Konfessionalisierung. Deshalb setzt die frühneuzeitliche
Medienkritik daran an, das Selbstlesen zu regulieren, und zwar
vor allem durch die Instanz des Hausvaters. Er, der über die
formal höchste Bildung verfügt, entscheidet darüber, wer wie
viel lesen lernen darf und wer welche Bücher in die Hand be-
kommt. Noch für den Aufklärer Christian Wolff, den Schüler
Leibniz’, war es selbstverständlich, dass der Hausvater die Lese-
wut und die daraus folgende Gefahr, auf falsche Gedanken zu
kommen, zu regulieren habe und also bestimme, was seine
Ehefrau, die Kinder und das Gesinde jeweils lesen dürfen. 4 Bei
Wolff und vielen seiner Zeitgenossen kehrt das Argument
wieder, dass die unkontrollierte Lektüre moralisch verheerend
wirke, weil insbesondere Frauen und die Jugend ohne männ-
liche Anleitung nicht verständen, was sie da lesen. Der Philo-
soph Johann Gottlieb Fichte, der sonst die Revolution auch in
Bildungsdingen forderte, sah im 19. Jahrhundert die Gefahr
eines Lesens „ohne Anhalt“, wie er es nennt. Von diesen Lese-
rinnen und Lesern sagt Fichte: „Nirgends können sie in diesem
rastlosen Fluge anhalten, um mit sich selber zu überlegen, was
sie denn eigentlich lesen“, 5 sodass es derjenigen bedarf, die vor
diesen Gefahren immun sind, eben der Hausväter und ihren
aufgeklärten und revolutionären Nachfolgern. Die Hausväter

26
verstehen in dieser Argumentationslogik alles und leiten daher
die anderen an. Auch diese frühneuzeitliche Medienkritik
reicht weit in unsere Tage hinein, etwa bis zur Warnung vor
der sittlich verheerenden Wirkung des Farbfernsehens auf die
Frau in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts oder hallt eben
wider in den Klagen vor den Folgen des Computerspielens
„ohne Anhalt“. An selbsternannten Hausvätern fehlt es denn
auch heute nicht, die uns anleiten wollen, welche Bücher wir
lesen und welche Computerspiele wir zu meiden haben. Mit
der Folge der Buchrevolution umzugehen, wenn jeder auf seine
Weise zu lesen beginnt, war daher schon vor Hunderten von
Jahren ein Problem der gesellschaftlichen Regulierung. Heute
scheint es mehr denn je geboten zu sein, wenn sich die Jugend
‚ohne Anhalt‘ in den digitalen Welten zu verlieren scheint und
die Gesellschaft in sozialen Netzwerken in immer kleinteiligere
gesellschaftliche Gruppen zerfällt. Der Schluss liegt dann nahe,
dass der wachsenden gesellschaftlichen Heterogenität nur mit
einer stärkeren Regulierung von Internet und Computer bei-
zukommen sei. Das sagen viele und sie tun es in den Spuren
der Medienkritik vor mehr als einem halben Jahrtausend.
Aber noch etwas muss hinzukommen, damit unsere spezi-
fisch moderne Lesekritik formuliert werden kann, die über die
Kritik am mangelnden Verstehen und den moralisch proble-
matischen Folgen des unkontrollierten Lesens hinausgeht.
Was noch fehlt, das ist die Bedeutung des Buchs als Freund. 6
Erst im 18. Jahrhundert und dann in der Masse im 19. Jahr-
hundert, als der Buchdruck durch Rotationsdruckmaschinen
und billiges Papier erschwinglich für jede und jeden wurde, ist
das Buch mehr als nur ein Instrument der Erbauung, der gele-
gentlichen Ablenkung oder ein Wissensspeicher. Es wird zum
Freund, demjenigen, der ausspricht, was man vage denkt und
noch undeutlicher fühlt, das einen versteht und dieses „je ne
sais quoi“, dieses „ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ aus-
zudrücken vermag, was sonst niemand um mich herum kann.
Und wenn die ganze Welt mich nicht versteht, ‚mein‘ Buch tut

27
es. Mit ihm rede ich, über mein Buch schreibe ich meine Briefe
und vergieße meine Tränen.
Es kam einem Erdbeben gleich, als der Erfolgsautor des
18. Jahrhunderts, Jean-Jacques Rousseau, seinen Briefroman
Julie, ou la Nouvelle Héloïse 1761 veröffentlicht hatte. Nicht
dass es Liebesgeschichten etwa als Ritterromanzen nicht früher
schon gegeben hätte, über deren Lektüre bekanntlich Don
Quichote seinen Verstand verlor. Aber mit Rousseau beginnt
weithin sichtbar jenes Lesen, das Jürgen Habermas die medita-
tive Privatlektüre genannt hat. 7 Enthusiastische Briefe an den
Freund Jean-Jacques, wie die Leser Rousseau damals genannt
haben, bezeugen, dass das Lesen dieses Romans Rousseaus Le-
sern alles war und ihr Herz geöffnet hat. Rousseau gegenüber
schüttet beispielsweise der Leser Charles-Joseph Panckoucke,
selbst Schriftsteller und wichtiger Verleger seiner Zeit, sein
ganzes Herz aus. Das klingt in seinem Brief dann so:
Ihre göttlichen Werke, Monsieur, sind ein alles verzehrendes Feuer.
Sie haben meine Seele durchdrungen, mein Herz befestigt, meinen
Verstand erleuchtet. Lange Zeit ging meine Vernunft, die den täu-
schenden Illusionen einer stürmischen Jugend anheimgefallen war,
auf der Suche nach der Wahrheit in die Irre. Ich strebte nach Glück
und es entzog sich mir. […] Das Studium einiger modernen Auto-
ren hatte mich in meinen Überlegungen bestärkt, und in meinem
Herzen war ich schon durch und durch ein Schuft, ohne aber noch
etwas getan zu haben, über das ich hätte erröten müssen. Ich
brauchte einen Gott, einen mächtigen Gott, der mich von jenem
Abgrund fortzog, und Sie, Monsieur, sind der Gott, der dieses Wun-
der vollbracht hat. Die Lektüre ihrer Héloïse hat vollendet, was Ihre
anderen Werke schon begonnen hatten. Wie viele Tränen habe ich
darüber vergossen! Wie viele Seufzer getan und Qualen erlitten!
Wie oft sah ich meine eigene Schuld. Seit ich Ihr gesegnetes Buch
gelesen habe, bin ich in Liebe zur Tugend entbrannt, und mein
Herz, das ich schon erloschen glaubte, schlägt wackerer denn je.
Das Gefühl hat mich wieder: Liebe, Mitleid, Tugend, holde Freund-
schaft haben auf immer meine Seele erobert. 8

Leser werden zu Fans, das ist das Moderne an diesem neuen


Lesen. Man pilgerte an Rousseaus Zufluchtsorte in Mont-
morency, Vevey und Montreux, ja man hoffte nicht weniger

28
als eben dort die doch eigentlich von Rousseau nur ausgedach-
ten Figuren Julie oder Saint-Preux treffen zu können. Hier sind
wir beim Kern der spezifisch modernen Mediennutzung ange-
kommen, bei der meditativen Privatlektüre. Erst in der Moder-
ne lesen wir ganz selbstversunken, wir lesen allein und noch
schlimmer – aus Sicht vorangegangener Jahrhunderte – wir
lesen auch leise. Lesen war bis dahin fast ausschließlich ein
öffentlicher Akt, in der Moderne wird es zu einem privaten,
in sich gekehrten und stillen. Jürgen Habermas hat daher ganz
zu Recht die meditative Privatlektüre als den Königsweg der
bürgerlichen Individuation bezeichnet. 9 Das stille, das indi-
viduelle und das identifikatorische Lesen, das ganz in den
Schuhen seiner Helden wie Rousseaus Julie, Goethes Werther
oder Puschkins Tatjana geht, diese moderne Form des Lesens
wird zur eigentlichen Lektüre erhoben. Goethe stellt seinem
Werther 1774 genau dieses Verständnis vom Buch als dem
wahren Freund voran, wenn er schreibt: „Und du gute Seele,
die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem
Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus
Geschick oder eigener Schuld keinen näheren finden kannst“. 10
Das Buch als Freund ist die wundersame Erfindung der
Moderne und ihrer Ästhetisierung der Lebenswelt.
Das erkennt man noch an einem anderen Umstand. Erst in
der Moderne nämlich wird auch das Musikhören unter me-
dienkritischen Verdacht gestellt. Galt Musik bis dahin vor
allem im Zusammenhang mit Spielsucht und Tanzleidenschaf-
ten als moralisch bedenklich, gerät im 19. Jahrhundert mit der
aufkommenden romantischen Musiksprache Mendelssohns,
Chopins und Schumanns auch die Musik in den Verdacht, dass
sich die Hörer, noch bedenklicher die Hörerinnen, in der
Musik verlieren, süchtig danach werden und nur noch ihre
Stars wie etwa den Virtuosen und ersten Popstar der klassi-
schen Musik Franz Liszt im Kopf haben könnten, sonst aber
alles vergessen würden. Die Kritik vermutet gar, dass die Leser
und Hörer nicht mehr wissen, ob sie es mit der Wirklichkeit
oder mit Fiktion zu tun haben. Noch bevor Goethes Werther

29
erscheint, kommt schon das Wort ‚Lesesucht‘ in der deutschen
Sprache auf. 1809 verzeichnet der Grammatiker Joachim Hein-
rich Campe den schon regen Gebrauch dieser Vokabel von der
Lesesucht in seinem Wörterbuch der deutschen Sprache als die
„Sucht, d. h. die unmäßige, ungeregelte auf Kosten anderer
nöthiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu lesen, sich
durch Bücherlesen zu vergnügen“ und fügt gleich noch als bei-
spielgebendes Zitat hinzu: „Die Lesesucht unserer Weiber“. 11
Das Modewort von der Lesesucht bezieht sich genau auf dieses
identifikatorische und individuelle Lesen, das den Menschen
abstumpfe und depressiv zurücklasse, wie es damals hieß. So
fehlt es denn auch nicht an Warnungen vor der körperlichen
Erschlaffung durch das Lesen, der Ratlosigkeit der Seele oder
gar der „Zerrüttung des Gehirns“, 12 die als Folgen des Lesens
gebrandmarkt werden. Dass Campe, der als guter Aufklärer die
Jugend vor dem Romanlesen und seinen verderblichen Folgen
bewahren wollte, selbst die Massenproduktion im deutschen
Buchhandel miterfunden und praktiziert hat, steht dem nicht
entgegen, weil es genau die Produzenten neuen Wissens sind,
die vor dem neuen, dem selbstversunkenen Lesen warnen. Nur
sind es heute Computerspezialisten wie Joseph Weizenbaum,
die vor den Folgen der von ihnen selbst mitentwickelten Com-
puterprogramme warnen. 13 Medienkritik ist so gerne Kopie
ihrer selbst, so auch hier und so schon vor zweihundert Jahren.
‚Standardsituationen der Technologiekritik‘ hat die Journa-
listin und Autorin Kathrin Passig diese eigenwillige Logik me-
dienkritischer Argumente genannt, weil sie sich mit so schön
standardisierter Regelmäßigkeit seit Jahrhunderten wieder-
holen und nicht auf neue Medien beschränkt sind, sondern
neue Technik generell betreffen. 14 Medienkritik ist Teil der Kri-
tik an neuen Techniken, gleich ob es sich um die Einführung
der Straßenbeleuchtung oder das Aufstellen von Weganzeigern
oder um die Verkabelung von Telefonen handelt. So etwas löst
Unbehagen aus und dieses Unbehagen folgt einem festen, dra-
maturgischen Schema. Zuerst wird gefragt, wozu man das
braucht, Straßenlaternen oder Internet, dann wird die Relevanz

30
in Frage gestellt, darauf das baldige Ende dieser Erfindung
vorausgesagt, schließlich deren Untergang prophezeit, so fasst
Kathrin Passig die Schrittfolge der Argumentationsroutinen
zusammen. Wozu Twitter gut sein solle, fragt der Journalist
Johannes B. Kerner 2009: „Wen interessiert denn das? Ich kann
mir nicht vorstellen, dass davon ein Wahlkampf beeinflusst
wird. Es ist ein völliger Unsinn. Völlig gehaltlos für journalis-
tisches Arbeiten“. Passig muss solche und verwandte Äußerun-
gen gar nicht kritisieren. Sie dekuvrieren sich selbst. Hat die
Kulturkritik das Phänomen als mindestens vorhanden akzep-
tiert und haben sich die Leute daran gewöhnt, dass Twitter eine
Rolle in Wahlkämpfen spielen kann, dann wird darüber speku-
liert, dass dies alles nur eine Laune sei und schnell wieder ver-
gehe. Passig verweist auf so prominente Äußerungen wie etwa
die von Charlie Chaplin über das Kino als Modetorheit 1916
und kann dann ohne Umwege zu Äußerungen hundert Jahre
später über das Internet springen, als etwa 1996 die schwe-
dische Ministerin für Verkehr und Kommunikation Ines Uus-
mann formuliert „Das Internet ist eine Mode, die vielleicht
wieder vorbeigeht“ – oder zur Annahme des Journalisten Han-
no Kühnert in der Zeitschrift Merkur 1997 „Wenn das Internet
sich nicht ändert, wird es zerfallen“. Ist das Phänomen dann
doch als unvermeidlich akzeptiert, wird es kleingeredet, so die
Logik der Standardargumente. „Das Internet wird die Politik
nicht verändern“, wusste die Tagezeitung taz im Jahr 2000.
Und dass Multimedia kein Geschäft werden könne, davon war
man in Vorstandsetagen von Großunternehmen vielfach über-
zeugt, wie Passig nicht ohne Freude an der Ironie der Selbst-
entlarvung zeigt. Die Einschätzung von Großunternehmen un-
terscheidet sich auch nicht von gelehrten Äußerungen oder
von denen des kritischen Journalismus. Das Neue der Technik
sei so defizitär, dass es nicht der Mühe lohne. Wer könne schon
im Internet etwas Sinnvolles finden, wurde damals 1998, also
noch vor Google, vielfach gefragt.
Solcher und ähnlicher Kritik fehlt es erheblich an Imagina-
tionskraft, sich auch nur ansatzweise vorstellen zu können,

31
dass es Leute wie Larry Page und Sergey Brin geben könnte, die
ganz neue Lösungen wie den Googles PageRank entwickeln,
um ein Problem, wie das der Suche in riesigen Datenmengen,
zu lösen. Gerade die eminente Phantasielosigkeit der Kultur-
kritik macht es Kathrin Passig leicht, beispielsweise die Kritik
an der Einführung der Muskete, die nicht so gut wie ein Bogen
zu handhaben sei, mit der Kritik am Internet vierhundert Jahre
später vergleichen zu können und dabei festzustellen, wie ver-
blüffend sich doch die Argumente gleichen. Je mehr sich neue
Techniken durchsetzen, desto lauter werden schließlich die
Klagen über die Folgen für Frauen, Kinder und Unterschich-
ten. Passig zitiert das Universallexikon der Erziehungs- und Un-
terrichtslehre von 1844: „Man liest, nicht um sich mit Kennt-
nissen zu bereichern, sondern nur um zu sehen, man liest das
Wahre und das Falsche prüfungslos durcheinander, und dieß
lediglich mit Neugier ohne eigentliche Wißbegier. Man liest
und gefällt sich in diesem behaglichen, geschäftigen Geistes-
müßiggang, wie in einem träumenden Zustande. Die Zeit-
verschwendung, die dadurch herbeigeführt wird, ist doch nicht
der einzige Nachtheil, welcher aus der Vielleserei entsteht. Es
wird dadurch das Müßiggehen zur Gewohnheit und bewirkt,
wie aller Müßiggang, eine Abspannung der eigenen Seelenkräf-
te.“ Das Lesen, die Erfindung der Postkarte oder das Schreiben
am PC sind Schwundstufen des irgendwie Eigentlichen. 1994
erklärt der Schriftsteller Peter Härtling im Marbacher Magazin
seinen gebildeten Lesern kurz und klar, dass Autoren nicht am
PC schreiben könnten: „Die Prosa eines mit dem PC arbeiten-
den Poeten zeichnet sich für Kenner wiederum dadurch aus,
dass sie unmerklich die Furcht vor dem Absturz prägt.“ Dass
1994 längst schon Autoren wie John Updike am PC geschrie-
ben haben, wird dabei geflissentlich übersehen. Kathrin Passig
kann solche und ähnliche Zitate genüsslich aufreihen, um zu
dem Schluss zu kommen: „Die hier versammelten Einwände
gegen neue Technologien sind nicht automatisch unberechtigt
– es ist lediglich nicht sehr wahrscheinlich, dass man damit
valide Kritikpunkte identifiziert. Wenn jeder dieser Schritte

32
einen realen Niedergang beschriebe, wäre die Welt eine von
M. C. Escher gezeichnete Treppe.“ Wir kennen einfach zu viele
Lösungen für nicht existierende Probleme und müssten die
Routinen der Kritik erst wieder verlernen, um genauer hin-
zusehen. Routinen der Kulturkritik zu verlernen und der Ima-
gination Raum zu lassen, dass sich die Welt noch zu unserer
eigenen Lebenszeit grundlegend ändern könnte, ist schwer,
auch für diejenigen, die sich selbst als kritisch überlegene Köp-
fe verstehen. Diesen Denkprozess aber wenigstens anzustoßen,
will Kathrin Passig und will auch dieses Buch hier.
Die Standardsituationen der Technologiekritik gleichen
den Standardsituationen der Lesekritik, wenn auch in etwas
anderen Kleidern. Auch hier ist es leicht, die Medienkritik in
ihrer ängstlichen Phantasielosigkeit vorzuführen, die sich ein-
fach nicht vorstellen kann, wie andere Praxen des Lesens aus-
sehen könnten, als müssten Bücher Buchdeckel haben, damit
das Niveau der Kultur gehalten wird. War etwa die Einführung
der Postkarte 1760 in Paris, 1784 in Wien, 1861 in den USA,
1865 in Preußen und 1869 in Österreich-Ungarn das Ende der
Briefkultur? Wohl kaum, obwohl es nicht an sittlichen Be-
denken gegen die offene Lesbarkeit von ‚Correspondenzkarten‘
gefehlt hat, die genau diesen Untergang prognostizierten. Als
der Telegraf erfunden war und sich durchzusetzen begann, be-
klagten sich Leser 1858 in der New York Times, dass diese Tech-
nik überflüssig sei, notorisch zu Trivialitäten neige und weil so
schnell, bliebe für die Prüfung der Wahrheit keine Zeit mehr.
Doch sind Kritik der Technik und Kritik des Lesens nicht ganz
deckungsgleich. Denn die Kritik am Verfall des Lesens ist ja,
wie die kurze Geschichte der Medienkritik gezeigt hat, mehr-
schichtig und stark von der langen Tradition der Kritik ge-
prägt. In dieser Kritik geht es nicht so sehr um das Lesen selbst,
noch um das Buch, sondern um die Regulierung von Gesell-
schaft. Wer darf überhaupt lesen und was darf gelesen werden,
das waren lange Zeit die Themen der Lesekritiker.
Eines der vielen Beispiele für die Kritik des Lesens ist die
Debatte um das Für und Wider der Einrichtung von Jugend-

33
bibliotheken in der Mitte des 19. Jahrhunderts, gab es doch
gleich eine Reihe von Bedenken gegen solche Einrichtungen
wie Jugendbibliotheken, deren Dasein uns heute unbezweifel-
bar sinnvoll erscheint. Man wandte damals gegen Jugend-
bibliotheken ein:
1. Die Jugendschriften befördern die Vielleserei, verwandeln die
Leselust in Lesesucht und verführen zur Romanleserei. 2. Sie beför-
dern das Verlangen nach angenehmer Lektüre auf Kosten der nütz-
lichen, da sie ‚das Nützliche stets überzuckert‘ reichen. 3. Sie gewöh-
nen die Kinder zum oberflächlichen Lesen, zur Gedankenlosigkeit.
4. Sie entwickeln die Phantasie auf Kosten der übrigen Seelenkräfte.
5. Sie erschlaffen den Geist. 6. Sie treten dem Schulzweck hindernd
in den Weg. 7. Sie halten die Kinder von der Bewegung in frischer
Luft ab. 8. Sie schwächen die Sehkraft. 15

Deutlicher kann man kaum die Argumente verdichten, die ge-


gen die Einrichtung von Jugendbibliotheken einmal gespro-
chen haben. Man muss nur wenige Worte in dieser Auflistung
ändern und hat so ziemlich alle Argumente zusammen, die
gegenwärtig gegen Computer und Internet angeführt werden.
Kaum etwas ist so phantasielos wie Kulturkritik.
Kritik dieser Art ist also lebendiger denn je, wenn gegen-
wärtig über Verdummung und Verrohung angesichts der
Oberflächlichkeit des Digitalen geklagt wird. Ohne Anleitung
verbringen besonders die Jungen schädlich viele Stunden vor
dem Computer, setzen sich virtuellen Gewaltorgien aus, die
kaum noch zu kontrollieren seien, und würden intellektuell
verarmen, so lauten die gegenwärtigen Klagen, die die alten
sind. Dick und dumm sei der große Bengel, das Volk, einmal
wieder. Es verliert im wörtlichen Sinn seinen Verstand, sagen
Kritiker wie Manfred Spitzer und das auflagenstark. 16 Solche
und ähnliche Klagen etwa auch im Spiegel, der Handy-Nutzung
mit Heroin-Missbrauch verglichen hat, wiederholen nur in
medizinisch-neurowissenschaftlicher Einkleidung, was vor
mehr als hundert Jahren gegen die Einrichtung von Jugend-
bibliotheken eingewandt oder in den 50er-Jahren von Medien-
psychiatern wie Frederic Wertham schon publiziert wurde und

34
das nicht mit geringerer Auflagenhöhe als heute. Wertham
hatte 1954 eine Warnschrift mit dem sprechenden Titel Ver-
führung des Unschuldigen veröffentlicht, die den wissenschaft-
lichen Nachweis erbringen wollte, dass das Lesen von Comics
gewalttätig mache. Schließlich ginge und geht es in den Super-
helden-Heftchen ja ganz erheblich um Gewalt und das färbe
ab. Wertham selbst hat dann in den 60er-Jahren statt der
Comics das Fernsehen als Hauptverantwortlichen für die mo-
ralische Verwahrlosung der Jugend ausgemacht. Auf diese
Weise wiederholen sich die Argumente über die Jahrhunderte.
Geht man noch einen Schritt zurück, so findet sich reiches
Anschauungsmaterial für die unfreiwillig komischen Konven-
tionen der Kulturkritik und ihren Klagen vom Ende des Le-
sens, so etwa in den Debatten um das aufkommende Kino.
Die Sache war doch klar: „die Schaulust, die durch den Kino
(sic) gesteigert wird, vermindert die Lesefreude“, 17 so fasst 1914
der österreichische Schriftsteller Joseph August Lux den Ein-
fluss des Kinos auf Literatur und Buchhandel bündig zusam-
men. Die ‚modernen‘ Schriftsteller wie Gerhart Hauptmann
oder Arthur Schnitzler würden dabei auch noch mitmachen
und so selbst zu Barbaren der neuen Kino-Unkultur werden:
Sieht denn niemand die große Gefahr, die in diesem durch die Dra-
matiker und ihren Verband bewirkten Umschwung der Verhältnisse
dem ernsten Theater droht? […] Und ist es nicht schimpflich, daß
Dramatiker, auf deren Fähigkeiten die Schaubühne bauen konnte,
und die nicht mehr auf jeden Pfennig angewiesen sind, sich skru-
pellos in den Dienst der schlechten Sache stellen, daß ein Haupt-
mann, ein Schnitzler üblen Filmdichtern ihr mörderisches Hand-
werk sanktionieren […] Es ist schade um ein Volk von Dichtern
und Denkern, das seine dramatischen Ideale in der Bildreportage
sieht. 18

Zitate dieser Art lassen sich erst recht im historischen Abstand


mühelos aneinanderreihen. Sie zeigen, wie sehr sich die kultur-
kritischen Argumente gleich geblieben sind: Heute gelten sie
dem Computer, wo sie einst der Postkarte, dem Kino oder
dem Comic galten. Die Argumente sind aus dem Reservoir

35
vormoderner Medienkritik gewonnen und trauen dem immer
mal anders benannten Volk nicht zu, selbstverantwortlich mit
Medien umzugehen, seien es die Schrift, das Buch oder der
Computer. Die Gesellschaft habe daher den Medienkonsum
zu regulieren. Mit ‚Gesellschaft‘ ist dann meist gemeint, dass
etwa beamtete Professoren der Gesellschaft erklären, was sie
zu tun habe, – keine besonders originelle Idee und daher wohl
auch so unverwüstlich.
Die gegenwärtige Kritik an der digitalen Revolution und
ihren Folgen für die wachsende Heterogenität der Gesellschaft
entspringt in der Summe einer vormodernen Gesellschaftsvor-
stellung, die den Standardsituationen der Technologiekritik bis
aufs Haar gleicht, auch dann noch, wenn sie sich mit guten
Gründen gegen exzessive Wissens-Oligopole wendet und ge-
sellschaftlich unkontrollierte Überwachungspraktiken anklagt.
Medienkritik geht mit der Kritik der Technik so gut zusam-
men, weil beide beschränkten Vorstellungen von den mögli-
chen Veränderungen der Gesellschaft entspringen. Nun
kommt aber in Sachen Lesen und Buch noch etwas hinzu, was
der Technologiekritik fehlt. Das ist die Kritik am immersiven
Lesen, dem selbstversunkenen Lesen, das mit seinen Helden
mitfiebert und eben erst im 18. Jahrhundert aufgekommen ist.
Dieses spezifisch moderne Lesen ist einerseits notwendig, so
sagen es schon die Aufklärer wie der Pädagoge Campe, ja
dieses intensive Lesen sei der Königsweg der bürgerlichen
Individuation und so auch notwendige Bedingung für die
Durchsetzung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, sagen Bil-
dungshistoriker oder Philosophen wie Jürgen Habermas. Das
ist natürlich eine Idealisierung, vielleicht sogar eine notwendi-
ge, weil wohl erst diese Idealisierung das Lesen und die Buch-
kultur gegen erhebliche Widerstände der altständischen Gesell-
schaft durchgesetzt hat. Für diese Buchkultur des intensiven
Lesens aller ist man im 19. Jahrhundert auch im ganz wört-
lichen Sinn auf die Barrikaden gegangen. Gerade in Deutsch-
land sind Buchkultur und bürgerliche Gesellschaft eine Sache,
die sich bis heute auf die reduzierte Mehrwertsteuer für Bücher

36
und deren Buchpreisbindung auswirkt. Insofern hat das im-
mersive Lesen eine gute Presse und die allerbesten historischen
Gründe für die steuerrechtliche Ausnahmestellung des Buchs.
Ohne diese Buchkultur gäbe es die bürgerliche Gesellschaft
nicht und umgekehrt. Buch und Bürgertum sind im besten
Sinne Verwandte, sehr enge Verwandte sogar.
Doch bei aller durchaus auch revolutionären Euphorie um
das Buch, die sich bis heute zum Glück nicht ganz verloren hat,
gibt es zur gleichen Zeit eine Kritik am Buch und am Lesen. Im
18. Jahrhundert, als das Buch zum Freund wurde, wächst die
Kritik an eben diesem intensiven Buchkonsum. Das selbstver-
sunkene Lesen hat eine Kehrseite, die da lautet, dass gerade
immersives Lesen damals die jungen Frauen, heute die jungen
Männer von der Wirklichkeit abziehe. Nicht Selbsterkenntnis,
sondern Selbstverlust sei die Folge des Lesens. Das verkompli-
ziert die medienkritische Diskussionslage, denn nun muss
einerseits das Lesen verteidigt werden, gerade auch das ‚tiefe‘
Lesen, andererseits aber gerade vor diesem Lesen gewarnt wer-
den. Mit dieser doppelten Frontstellung schleppt sich die Me-
dienkritik das Argument ein, dass die Leser nicht mehr unter-
scheiden könnten, ob sie in einer erfundenen oder wirklichen
Welt leben. Der Computerspieler von heute ist die Madame
Bovary von gestern. Die hatte noch zu viele Romanzen gelesen,
der Junge von heute spielt zu viele Computerspiele. Die im-
mersive Leserin Bovary verfehlte alles, was bürgerliche Subjek-
tivität ausgemacht hat, wie die Computerjugend eine vernach-
lässigte ist, keine echten Freundschaften mehr pflege und
lethargisch werde. Beide werden durch intensiven Medienkon-
sum ihrer gesellschaftlichen Rolle nicht gerecht. Die Ver-
bürgerlichung misslingt damals wie heute. Damals war es ein
Leben in Romanzen, heute ist es ein Leben in Facebook. Beides
sei gar nicht gut, sondern mache unweigerlich unglücklich und
suizidal oder dick und dumm.
Man sieht, dass erst die Neuzeit das Lesen so aufgeladen
und idealisiert hat, weil sich die moderne Gesellschaft nicht
anders verstehen kann, als dass ihre Bürger immer auch lesen-

37
de Bürger sind. Dem Lesen wird in der Moderne zugetraut,
Welt zu gewinnen, Subjektwerdung zu ermöglichen und kriti-
sche Öffentlichkeit zu schaffen. Erst diese historisch einmalige
Aufladung des Lesens zur Schlüsseltechnik der Moderne po-
tenziert auf ihrer Kehrseite die Klagen über das Leseverlernen
und den Tod der Bücher zu einem Drama moderner Lebens-
führung, eine Überlastung, die Lesen und Bücher nicht tragen
können und wohl auch nicht wirklich allein getragen haben.
Wir trauen den Computern nicht über den Weg, weil wir von
den Büchern so viel erwarten.
Die Überlastung des Themas Buch und Lesen hat zu den
aufgeregten Debatten um Bücher und deren mögliches Ende
geführt, zumal in deutschen Landen, wo sich Bildung, Buch
und Bürgerlichkeit so schön die Hände gereicht haben. Dafür
gibt es eine Reihe historischer Vorbilder. Die Urszene in der
deutschen Geschichte ist wohl der Streit um die Folgen der
Lektüre von Goethes Werther. Erzählt wird die Geschichte bis
heute, dass die Leipziger Stadtverwaltung nach dem Erschei-
nen von Goethes Roman 1774 ein Verbot erlassen habe, wel-
ches das Tragen der sogenannten Werther-Tracht, einer gelben
Weste mit blauem Frack, untersagt hatte. Das Verbot galt tat-
sächlich bis 1825 und sollte Nachahmungstäter davon ab-
halten, ihrem Werther nachzusterben. Die Geschichte klingt
bis heute wunderbar in den Ohren von Germanisten und
Oberstudienräten. Nur dass sich für diese These von der Mode
gewordenen Selbstmörderei nach der Lektüre von Goethes Ro-
man bis heute keine Belege finden lassen. 19 Man hat den Wer-
ther verschlungen, war wohl auch melancholisch und auch
putzmunter genug, um sich als Fan seines Helden einzuklei-
den. Nur umgebracht hat man sich nicht. Allein die Phantasie
der Pastoren glaubte an den Tod durch das Buch. Die pastora-
len Medienkritiker des 19. Jahrhunderts waren es, die warnend
den Mythos um die Selbstmord-Epidemie erfolgreich propa-
giert haben. Das wirkt lange nach. Der Werther-Mythos ist
eines der Exempel dafür, mit welcher Überlast das Lesen belegt
ist, seit es modern geworden ist. Seine gefühlte Schlüssel-

38
stellung für die moderne Befindlichkeit ist eindrucksvoll, nur
leider ziemlich ungenau. Und das wiederholt sich heute in der
Kritik der illiteraten Computerspieler. Tod durch Computer,
sagen die Pastoren von heute, die meist Beamte, Medien-
wissenschaftler oder Ärzte sind und ein gutes Gefühl für Ge-
sellschaft haben oder sagen wir für das, was man so Gesell-
schaft nennt.
Schwindet also das Lesen, genauer das immersive Lesen
und die individuelle und individualisierende Lektüre? Sind
Buchhandlungen und Verlage Auslaufmodelle im Zeitalter des
Plattformkapitalismus? Wie das Lesen heute gelebt wird, ist
einigermaßen gut erforscht, nur ist diese Forschung wenig be-
kannt und sehr verstreut publiziert. Das hat damit zu tun, dass
Lesen nur ein Nebenthema in verschiedenen Disziplinen von
der Soziologie über die Psychologie bis zur Literaturwissen-
schaft ist. Hinzu kommt noch unsere Neigung, negativen Mel-
dungen mehr als positiven zu trauen. Das erschwert es, dass
das Wissen um die Wirklichkeit des Medienwandels bekannt
wird. Es lohnt sich, die Befunde zu einem größeren Bild zu-
sammenzutragen, und genauer hinzusehen, was die sozial-
psychologische Forschung, die Soziologie der sozialen Netz-
werke, Jugendforscher und die Leseforschung an Einsichten
darüber zusammengetragen haben, ob moderne Menschen im
21. Jahrhundert denn noch lesen und Bücher kaufen. Die Be-
funde dieser Fächer einzusammeln, ist umständlicher als Kul-
turkritik zu betreiben. Dennoch sind die Forschungsergebnisse
spannend und nicht selten kontraintuitiv. Denn sie zeigen, dass
mehr denn je gelesen wird, freilich in immer mehr Formaten
und Medien. Vieles sieht nicht mehr aus wie ein herkömm-
liches Buch, so dass es selbst Verlagen so scheint, als würden
sich immer weniger Menschen für Bücher interessieren. Das ist
ein falscher Schluss, wie ein genauerer Blick in die gegenwärti-
gen Lesewelten enthüllt. Freilich ist das Buch, wie wir es kann-
ten, nicht mehr das alleinige Leitmedium und Lesen eine kom-
pliziertere Angelegenheit geworden, als es der gängigen
Medienkritik erscheint. Es wird sich zeigen, dass in digitalen

39
Zeiten mehr gelesen und geschrieben wird, unverändert zu-
meist die alten Geschichten in neuem Kleid. Neu dagegen ist
die Art und Weise, wie diese Geschichten geteilt werden. Und
das verlangt den Lesern im digitalen Zeitalter einiges an neuen,
metakognitiven Fähigkeiten ab, die erst zu erlernen sind. Diese
und viele ähnliche Befunde lockern das Denken auf, so hoffe
ich, und tun so auch dem Lesen am Ende gut. Daher sei der
Umweg über Daten, Experimente und Umfragen erlaubt, die
darlegen, was Lesen und Buch im 21. Jahrhundert sind.
Kürzere Wege gibt es immer. Aber zumeist sind es Umwege,
die klüger machen.

40
4. Über die medialen
„Aufpulverungen des Lebens“

1932 erschien gleich auf der ersten Seite des Prager Tagblatts
eine Kolumne des damals viel diskutierten Kulturphilosophen
Theodor Lessing. Es sei ganz gewiss, so schreibt Lessing in der
Eröffnung:
In absehbarer Zeit wird das Buch altmodisch werden, ja etwa wie
heute das Pferdefuhrwerk und morgen die Eisenbahn altmodisch ist.
[…] Die technischen Neuerungen werden bald das stille Lesen in der
Einsamkeit nur für einen ganz kleinen Kreis von Büchern aufbewah-
ren (das reine Lehrbuch, die reine Lyrik). Zunächst wird der schaf-
fende Geist sich durch das Radio mitteilen. Da wir aber künftig nicht
nur durch das Radio zu jedermann sprechen, sondern auch in Per-
son an vielen Orten gleichzeitig erscheinen und sichtbar werden
können. So wird der Mensch einst sein ganzes Seelenelement zum
Ausdruck bringen, ohne den Buchdruck zu benötigen. Es ist klar,
daß solche technische[n] Möglichkeiten immer weiter dahin wir-
ken, daß alle Gaben der Menschen in den Bedarf des Augenblicks
oder, wie die Amerikaner sagen, in den Dienst der ‚Aufpulverung
des Lebens‘ (speeding up) künftig gestellt werden. Man wird reden-
de und tönende Bücher, Lesefilme erfinden. Dann wandeln sich im
Nu alle Bibliotheken und Lesesäle in Grabgewölbe der Vorzeit. 1

Lessings wunderbare Formulierung von der „Aufpulverung des


Lebens“, der das Buch zum Opfer falle, klingt beim ersten Le-
sen auch fast hundert Jahre später so einleuchtend, wohl weil
wir uns heute längst an redende Bücher gewöhnt haben und
wir immer mehr am Bildschirm lesen. Lesefilme sind keine
Zukunft, sondern Gegenwart für uns. Das alles scheint gerade-
zu mit prophetischer Gabe formuliert worden zu sein.

41
Und doch liegt Lessing genau neben der Wahrheit. Bücher
sind nicht überholt wie Pferdefuhrwerke, und das stille Lesen
in Einsamkeit ist nicht verschwunden. Es werden mehr Bücher
denn je verkauft und so intensiv und selbstversunken wie frü-
her verschlungen. Die Bibliotheken und Lesesäle heute sind
keine Grabgewölbe der Vorzeit, vielmehr haben sie mehr Be-
sucher als noch in sogenannten analogen Zeiten. In ihren Le-
sesälen studieren, schreiben und arbeiten immer mehr Men-
schen und die Bibliotheken kommen mit dem Ausbau der
Leseplätze gar nicht nach. Man sucht die Räume konzentrier-
ten Arbeitens auf und das in wachsender Zahl. Selbst regionale
Bibliotheken berichten über Zuwachsraten von 20 bis 30 Pro-
zent, manche gar von einer Verdopplung ihrer Nutzerzahlen in
den letzten fünf Jahren. 2 Mehr als 200 Millionen Bibliotheks-
besucher sollen es 2016 allein in Deutschland gewesen sein, wie
der Deutsche Bibliotheksverband mit sicherem Vertrauen in
seine Aufgabe zu berichten weiß, die meisten davon seien Be-
rufstätige. 3 Das schweizerische Bundesamt für Statistik meldet,
dass fast die Hälfte der Bevölkerung mehr als sieben Mal im
Jahr aus privaten Gründen und eine ähnlich hohe Zahl aus
beruflichen Gründen eine Bibliothek benutzt. Auch wenn die
Ausleihzahlen in öffentlichen Bibliotheken der Schweiz seit
2011 leicht nach unten gehen, die Zahl der Ausleihen in Uni-
versitätsbibliotheken kennt nur eine Richtung – nach oben. 4
Zugegeben, dass eindeutige Tendenzen im Ausleihverhalten
nicht einfach zu erheben sind, schon deshalb, weil viele Biblio-
theken ihre Lesebereiche wie ihre Öffnungszeiten ausgedehnt
haben, was die Ausleihen pro Stunde natürlich verändert, ja es
vielfach erschwert überhaupt zu protokollieren, wer welche
Bücher in die Hand genommen hat. Dennoch gibt es derzeit
keine Zahlen, die belegen könnten, dass Bibliotheken sterbende
Orte seien. Ihre Besucherzahlen lassen sich eher an denen von
Fußballstadien-Besuchern messen, auch wenn die Nachrichten
nicht von ihnen berichten, leider. Nie war so viel Lesestube wie
heute; Grabgewölbe findet man woanders.

42
Offensichtlich hat sich nicht nur Theodor Lessing gründ-
lich geirrt und das liegt nicht nur daran, dass Lessing wie viele
andere kulturkritische Gemeinplätze benutzt und nicht ge-
nauer zwischen Buch und Lesen unterscheidet. Es hat erheb-
lich damit zu tun, dass von Verfall nur der reden kann, der
weiß, was er vergleicht. Über welche Grundgesamtheit wird
gesprochen, wenn vom Ende des Buchs und des Lesens die
Rede ist? ‚Grundgesamtheit‘ ist ein Ausdruck der Statistik und
meint die Gesamtmenge, auf die bezogen eine tatsächliche
Gruppe näher untersucht wird. Das Problem ist einfach: Wir
wissen nicht hinreichend genau, wie viel und was vor hundert
oder vor fünfzig Jahren gelesen wurde. Es fehlen nicht nur be-
lastbare Zahlen, es fehlen auch klare Vergleichskategorien, um
so leichthin von Leseverfall reden zu können, zumal die weni-
gen, teilweise nur schwer miteinander vergleichbaren Zahlen
eher in die andere Richtung weisen. Daher können nur sehr
allgemeine Unterscheidungen gemacht werden: Als es noch
keinen Computer und keinen Fernseher gab, haben andere
Medien wie etwa Heftromane jene Genres abgebildet, die, wie
Studien in den Niederlanden gezeigt haben, seit den 60er-Jah-
ren in Medien wie dem Fernseher oder heute dem Computer
auftauchen. 5 Insofern wurde vermutlich früher mehr gelesen,
wenn damit gedruckte Sachen gemeint waren. Die früher ein-
mal gedruckten Geschichten werden heute eher gehört und
gesehen oder eben auch am Bildschirm gelesen. Ich sage ge-
druckte Sachen, weil damit mehr als nur Bücher gemeint sind.
Verändert hat sich also vermutlich die Buchkultur, aber damit
deshalb noch nicht deckungsgleich auch die Lesekultur.
Ist schon die Verfallsthese diffus, so bleibt auch Lessings
These von der Aufpulverung des Lebens eigentümlich unge-
nau. Gemeint ist so etwas wie der Verlust an intellektueller
Konzentration und historischer Tiefe. Alles ist nur Augenblick,
man liest ohne Anhalt und keiner könne mehr unterscheiden,
was Realität oder Einbildung sei. Manche reden von einer
‚postfaktischen Gesellschaft‘, in der Fakten und Wirklichkeiten
medial beliebig manipuliert würden und sich kaum noch je-

43
mand an den Realitäten stößt oder sich die Mühe des gründ-
lichen Lesens macht. Man kann durchaus darauf verweisen,
dass Fernsehzuschauer tatsächlich körbeweise Babywäsche an
Serienstars schicken, wenn diese in ihrer Rolle schwanger wer-
den, aber nicht in der Wirklichkeit. Schreiben nicht Zuschauer
an Professor Brinkmann über ihre Krankheiten und hoffen,
dass er ihnen so schön helfen kann wie in der Fernsehserie
Schwarzwaldklinik? Die Antwort ist: Ja, das tun Fans seit den
Tagen Jean-Jacques Rousseaus, aber – und das ist das Nein –,
sie wissen dabei zugleich, dass Professor Brinkmann nur eine
Serienfigur ist und Rousseaus Figur Saint-Preux nie gelebt hat.
Das ist Fankultur und hat so gar nichts mit der Verwechselung
von Wirklichkeit und Schein zu tun. Im Gegenteil setzt diese
Fankultur die genaue Unterscheidung von Wirklichkeit und
Schein voraus, um zu funktionieren. Selbst Kinder haben im
Vorschulalter schon ein klares Verständnis, was eine erfundene
Welt von der wirklichen unterscheidet. Sie mögen noch so viele
Superman-Heftchen gelesen haben und stürzen sich doch nicht
von Dächern. Mehr noch, selbst kleine Kinder wissen, dass
Robin in die erfundene Welt von Batman gehört und Spon-
geBob nicht zu dieser Welt zu zählen ist. 6 Sie bilden sehr sicher
eigene Ordnungen der ausgedachten Welten und sind dann
auch zumeist in der Lage, etwa die Regeln eines Ritterspiels
mit denen eines Science-Fiction-Genres zu kombinieren. Das
Verhalten von Fans ist nicht mit deren Einschätzung der Wirk-
lichkeit zu verwechseln, wie es die Medienkritik gerne tut,
sonst wären Fans längst ausgestorben. Das sind sie aber nicht,
sie werden mehr. Eben das ist die moderne Lesekultur, die
schon mit den Superhelden-Heften nicht mit der Buchkultur
in eins zu setzen ist.
Medienkritik macht es sich wie alle Kulturkritik einfach.
Das gehört zum Genre und dennoch ist ihre Konjunktur so
etwas wie ein Indikator dafür, dass sich etwas ändert mit Buch
und Lesen, wenn die Gesellschaft eine digitale wird. Es lohnt
sich, die medienkritischen Argumente im Folgenden abzu-
tragen und zugleich über ihre verengte Sicht hinaus zu blicken.

44
Ich beginne mit dem Gemeinplatz vom Verfall der Intelli-
genz im Zeitalter von Computer und Internet. So beliebt die
These ist, so wenig erhält sie empirische Unterstützung. Die
Entwicklung der Intelligenz in modernen Industrienationen
ist ein ziemlich gut untersuchtes Feld, prominent vertreten
durch den neuseeländischen Philosophen und Sozialwissen-
schaftler James Flynn. Wer genauer wissen will, ob wir wirklich
dümmer werden, der kommt um die Ergebnisse solcher und
ähnlicher Forschung kaum herum. Flynn und andere haben
in Langzeitstudien näher untersucht, wie sich der in Intelli-
genztests messbare IQ-Wert in vierzehn Industrienationen ent-
wickelt hat. Das Ergebnis weist in eine Richtung, dass nämlich
der Anregungsreichtum moderner Industrienationen und die
bessere Ernährung, verbesserte Schulbildung, die gegenseitige
Verstärkung von Intelligenz und eine Reihe weiterer Faktoren
den messbaren Intelligenzquotienten ansteigen lassen. 7 Inso-
fern werden wir eher intelligenter als dümmer. Um gleich
Missverständnissen vorzubeugen: Wir reden hier über mess-
bare IQ-Werte, nicht unbedingt davon, dass wir Menschen
klüger oder moralisch deshalb schon besser würden. Auch ist
dies keine lineare Progression. Die Menschen in Industrie-
nationen werden nicht ungebremst intelligenter. Doch ist der
Zuwachs eindrucksvoll. Um etwa drei IQ-Punkte nimmt die
Intelligenz seit dem frühen 20. Jahrhunderts mit jeder Dekade
zu. 8 Doch ist der Zuwachs nicht linear. Es gibt Hinweise, dass
sich diese Entwicklung seit den 90er-Jahren in einigen Ländern
mindestens abgeschwächt hat, in anderen steigt die Intelligenz
weiter. Wenn Medienkritiker die Abschwächung des Intelli-
genzzuwachses auf den Computer und das Internet zurückfüh-
ren, dann ist schlicht anzumerken, dass gerade das Internet erst
nach der Jahrtausendwende eine rasant wachsende Rolle in den
Industrienationen spielt und daher kein Kandidat für die Er-
klärung der steigenden oder fallenden Intelligenz sein kann,
einmal ganz abgesehen davon, dass ein neues Medium auch
gar nicht sofort eine solche Größe wie die Intelligenz be-
einflussen kann. In den asiatischen Ländern, die in ihrem

45
Internet-Konsum vor den meisten europäischen Ländern lie-
gen, ist der Intelligenzzuwachs besonders eindrucksvoll. Aber
damit sind wir schon bei Feinheiten der Argumentation. Der
Wahrheit gibt man eher die Ehre, wenn wir hier festhalten,
dass die mit der Industrialisierung einhergehende Durchdrin-
gung der Gesellschaft mit immer neuen Medien und Medien-
formaten nicht in eine gesamtgesellschaftliche Verdummung
gemündet hat, jedenfalls bislang nicht. Das Gegenteil ist der
Fall. Wir müssen heute eher mehr lesen, komplexere Abläufe
verstehen und mehr Sprachen sprechen, gerade im digitalen
Zeitalter. Und das alles macht ein bisschen gescheiter als düm-
mer. Intelligenz nimmt zu und das auch in digitalen Zeiten
und gerade in Gesellschaften, die sich besonders radikal digita-
lisieren. Die digitale Gesellschaft ist intelligent.
Ein anderer, nicht weniger häufig besprochener Gemein-
platz ist der von der Verrohung der Jugend. Der Topos besagt,
es seien Heftromane oder Comics und heute das Internet und
Gewaltvideos, die besonders junge Männer zu gewalttätigem
Verhalten verleiten würden. Gefühlt steigt die Kriminalitätsrate
von Jahr zu Jahr an, aber nur gefühlt. Die tatsächlichen Zahlen
zeigen in sehr verschiedene Richtungen, je nachdem welche
Delikte und Straftätergruppen in den Blick genommen werden.
Generell gilt auch für Länder wie Österreich, die Bundesrepu-
blik oder die Schweiz, dass die Gewaltdelikte abnehmen, wäh-
rend die Zahl der Straftaten seit Jahren vergleichsweise kon-
stant bleibt. Ein Zusammenhang von wachsender Internet-
und Computernutzung und steigender Kriminalität lässt sich
nicht beobachten. Nur eine neue Deliktgruppe ist hinzu-
gekommen: Cybercrime.
Die Entwicklung devianten Verhaltens hat nicht mit einem
Faktor als Ursache allein zu tun, sondern mit einer Reihe von
Faktoren, wie etwa dem demografischen Wandel und der sich
wandelnden Sensibilität, welche Straftaten der Polizei zur An-
zeige gebracht werden und einigen anderen Faktoren mehr.
Die Gründe, die junge Menschen zur Gewalt treiben, haben
sich dagegen kaum verändert. Nicht das Internet, sondern die

46
Erfahrung elterlicher Gewalt und ähnliche soziale Faktoren ge-
hört zu den traurigen Ursachen. Die Tatverdächtigenzahlen, wie
der kriminalitätsstatistisch korrekte Ausdruck lautet – das ist
die Zahl der ermittelten Täter pro 100 000 Einwohner –, die seit
1984 in der Bundesrepublik einheitlich erhoben werden, zeigen
für jugendliches Delinquenzverhalten einen Anstieg zu Beginn
der 90er-Jahre an und eine deutliche Abnahme zu Beginn des
21. Jahrhunderts. 9 Die Risikogruppe der 18- bis 21-Jährigen
liegt heute unter den Werten Ende der 80er-Jahre, Totschlag
und Mord nehmen ab, gefährliche Körperverletzung in einigen
Teilen dagegen zu. Die Schwankungen, zumal aufgeteilt nach
den Deliktgruppen, sind dabei im Detail erheblich und erlauben
auch wegen der vielen, das Ergebnis beeinflussenden Faktoren
nur sehr vorsichtige Aussagen. Seitdem das statistische Bundes-
amt die Zahlen der verurteilten Jugendlichen zwischen 14 und
18 Jahren erhebt – das ist seit 2007 –, ist die Zahl der für Mord
und Totschlag, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, Körper-
verletzung und Diebstahl verurteilten Jugendlichen um mehr
als 50 Prozent im Vergleich zum Jahr 2014 gesunken. 10 Zugleich
geht das Bundesamt davon aus, dass die Bereitschaft der Bevöl-
kerung gestiegen ist, Straftaten zur Anzeige zu bringen. Ähn-
liches berichten andere Länder wie die Schweiz. Hier wurde
2016 die niedrigste Quote jugendlicher Delinquenz seit 17 Jah-
ren festgestellt. 2018 wurden in der Bundesrepublik Deutsch-
land die niedrigste Kriminalitätsrate seit 30 Jahren gemeldet.
Was alle Befunde und Zahlen bislang nicht stützen, ist die
These vom Zusammenhang zwischen Internet und einem sig-
nifikanten Anstieg jugendlicher Gewaltdelinquenz. Jugendkri-
minalität geht seit Jahren deutlich zurück und das in vielen
Industrienationen. Das Internet kommt erst im neuen Jahr-
hundert auf und taugt schlechterdings nicht als Ursache für
den Anstieg der Gewaltdelinquenz unter Jugendlichen in den
90er-Jahren und wohl auch nicht dafür, das Abklingen der De-
linquenz in den vergangenen zehn Jahren verursacht zu haben.
Gefühlt steigt die Verrohung der Jugend unaufhaltsam. Tat-
sächlich ist die Sachlage eine ganz andere.

47
Andere Studien wie etwa die Shell-Jugendstudien verwei-
sen insgesamt auf eine hohe Lebenszufriedenheit der jungen
Menschen und verschweigen auch nicht, dass die Jugendlichen
aus den schwächsten sozialen Schichten konstant am Rand der
Gesellschaft verbleiben. 11 Beide Gruppen aber haben in etwa
denselben Zugang zu Computern und Internet. Es liegt offen-
sichtlich nicht am Internet, sondern am Umgang damit, also
an harten sozialen Rahmenbedingungen, die hier erst den Un-
terschied machen. Selbst in den USA ging ungeachtet der Wirt-
schaftskrise die Zahl der Faktoren zurück, die anzeigt, wie
stark Kinder tatsächlicher Gewalt ausgesetzt sind, eine der
Hauptursachen für späteres, gewalttätiges Verhalten. 12 Richti-
ger ist festzuhalten, dass in den meisten westlichen Ländern
Eltern und Kindern mehr Zeit miteinander verbringen als
noch etwa vor fünfzig Jahren. 13 Internet und Gewalt stehen
nicht in dem direkten Zusammenhang, von dem so viel die
Rede ist.
Ein ähnliches Bild zeigt sich auch im Umgang mit Porno-
grafie und der Darstellung sexueller Gewalt, um einen weiteren
Topos aufzurufen. Während nicht nur im Internet, sondern in
Medien allgemein die Zahl und Zugänglichkeit pornogra-
fischer Bilder zugenommen haben dürfte, kann deshalb noch
nicht auf ein irgendwie schmutzigeres oder gar gewalttätigeres
Sexualverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen
geschlossen werden. 14 Für die mehr als 4 000 jungen Menschen
zwischen 15 und 21 in den Niederlanden, die nach ihrem Me-
dien- und Sexualverhalten in einer umfangreichen Studie be-
fragt wurden, konnte die Wissenschaft keine aussagekräftige
Verknüpfung zwischen sexuellem Verhalten und dem medialen
Konsum sexuell expliziter Bilder feststellen. Auch hier sind an-
dere Faktoren wie das soziale Umfeld, die lebensgeschicht-
lichen Erfahrungen oder Peergroups mindestens ebenso daran
beteiligt, das sexuelle Verhalten zu formen, wie es Medien sind.
Die Zahl der Teenagerschwangerschaften geht in den USA zu-
rück. Die einfache Ableitung, wo das Internet ist, da verkomme
auch Sexualität zu bloßer Pornografie, ist zu kurz gedacht.

48
Mediennutzungsverhalten erklärt viel weniger, als gemeinhin
angenommen wird. Aber es ist so einfach, solche direkten Zu-
sammenhänge zu behaupten und massenwirksam zu verkaufen.
Wenn es eine Schlussfolgerung gibt, die man aus solchen
und ähnlichen Daten ziehen kann, dann eher die, dass die neu-
en Medien vorhandene gesellschaftliche Prozesse verstärken.
Sie machen die klüger und umsichtiger, die schon klug sind,
und lenken die ab und das auch zu gewalttätigem Verhalten,
die sowieso schon die Benachteiligten sind. Und das gilt selbst
in einem weltweiten Maßstab, wie ein ganz anderes Beispiel,
das der MOOCs, zeigt. Mit diesen Massive Open Online Cour-
ses (MOOC), so dachte nicht nur sein genialer Erfinder, der
Informatiker Sebastian Thrun, könnte das Bildungsgefälle zwi-
schen den reichen und den unterentwickelten Ländern abge-
schwächt werden, denn diese Kurse sind über das Internet
Hörern aus aller Welt zugänglich. Ähnliche Erfolge waren ja
schon durch das Bildungsfernsehen nachzuweisen, und dazu
gehört auch die Sesamstraße, 15 die bei ihrer Einführung in
Deutschland noch als Kulturverfall bekämpft wurde. Nach ei-
nigen Jahren zeigte sich freilich bei der Untersuchung von
mehr als 200 Ländern, dass selbst in den ärmeren Ländern
diese Kurse ganz überwiegend von denen besucht wurden, die
der Mittel- und Oberschicht angehörten oder bereits über eine
gute Ausbildung verfügten. 16 Wem die Kurse ebenfalls nutzten,
das waren die Lehrer. Sie scheinen durch die Lehrangebote im
Internet ihre eigene Lehre verbessern zu können. Es braucht
offensichtlich mehr als das Internet, um die Gräben zwischen
den Gewinnern und Verlierern auch der digitalen Moderne zu
überbrücken.
Wie man es dreht oder wendet, der Untergang des Abend-
landes kommt nicht aus dem Computer oder dem Internet. Die
soziale Welt hört nicht auf zu existieren und beeinflusst sehr
viel mehr, was die digitale Transformation für die verschie-
denen Gruppen der Gesellschaft bedeutet. Von den Medien
direkt auf das Verhalten von Jugendlichen zu schließen, ist er-
heblich zu einfach. Und doch ändert sich das Lesen, ändert sich

49
die Nutzung der Medien, sind Bücher heute nicht dasselbe wie
noch vor hundert Jahren und müssen Bibliotheken lernen, dass
Menschen nun zuerst im Internet nachschauen. Es ändert sich
vieles und durchaus im großen Maßstab. Bleiben wir zunächst
einmal bei der Mediennutzung ganz allgemein. Die nimmt zu,
– aber was heißt das? Es heißt zunächst, dass rein zahlenmäßig
mehr Medien existieren. Außer Büchern und Zeitungen, Radio
und Fernsehen, gibt es auch Computer und Handys, Lesegeräte
wie Kindle oder Tolino, Brillen für virtuelle Welten wie Oculus
Rift oder Computeruhren, Computerspiele und Videogames,
andere Speicherformate, ob nun noch wie bis vor kurzem auf
DVD oder Blu-ray oder jetzt in der Cloud oder aus dem Netz.
Je nachdem, wie man Medien definiert, kommt man zu ganz
unterschiedlichen Klassifikationen und entsprechenden Zah-
len. Was uns hier nur interessiert, ist der Umstand, dass die
Zahl der Medien, mit denen wir uns umgeben, erheblich zu-
nimmt, ohne dass ein Ende abzusehen ist. Ob es die Google-
Brille nun gibt oder doch nicht, ob Avatare und Hausroboter
uns vorlesen werden, 3D-Printer unsere Turnschuhe ausdru-
cken, seehundähnliche Streichelroboter, wie sie heute schon in
japanischen Altersheimen genutzt werden, auch uns einmal im
hohen Alter begleiten werden, das alles hängt an so vielen Ent-
scheidungen, dass alle Spekulation über möglichen Entwick-
lungen schon überholt ist, bevor sie ausgesprochen ist. Nur ist
der schlichte Umstand nicht zu übersehen, dass sich Menschen
noch nie mit so vielen Medien umgeben haben. Was im Um-
kehrschluss nicht heißt, dass traditionelle Formate – und seien
es Konzerte mit klassischer Musik – abnehmen würden. Die
Zahl der Klassik-Festivals nimmt in vielen Ländern zu. In
Deutschland ist ihre Zahl zwischen 1994 und 2014 von 136
auf über 500 gestiegen und die Zahl der Gäste von Orchester-
konzerten wuchs zwischen 2005 und 2013 von 3,9 auf knapp
5,2 Millionen an – die kulturelle Vergesellschaftung schreitet
fort, jener Grundvorgang seit dem 19. Jahrhundert, bei dem
gesellschaftliche und kulturelle Modernisierung auf das Engste
zusammengehören. 17

50
Der bloße Anstieg der verfügbaren Medien geht zusammen
mit dem zunehmenden Interesse an klassischer Musik oder
auch der steigenden Zahl von Museumsbesuchern. Mit Nach-
druck hebt das Institut für Museumsforschung in seinem
Bericht über das Besucheraufkommen für das Jahr 2015 her-
vor: „Die Besuchszahl für das Jahr 2015 ist mit 114,4 Mio. die
höchste ermittelte seit der Zählung durch das Institut für
Museumsforschung“. 18 Das kommt daher, dass der Wechsel
zwischen den Medien, Kunst- und Ausdrucksformen nieder-
schwelliger geworden ist. Die Unterschiede zwischen Hoch-
kultur und Populärkultur sind weit weniger rigide als noch
vor wenigen Jahrzehnten. Diese soziale Veränderung hat nicht
zuletzt mit der Zunahme und Zugänglichkeit gerade auch der
digitalen Medien zu tun. Es braucht keine große Anstrengung,
um auf der inspirierenden Website des Rijksmuseum die Wer-
ke Rembrandts zu studieren und sich dann auf den Weg zum
Museum nach Amsterdam zu machen. Und das tun sehr viele.
Den Wechsel zu meistern ist die Kulturtechnik, die es dabei zu
lernen gilt. Sie beinhaltet, dass ich weiß, wo ich nachschlagen
muss, welches verlässliche Informationen sind und woran ich
sie erkenne. Notwendig sind also reflexive und kritische Fähig-
keiten, Medien nicht nur zu nutzen, sondern auch befragen zu
können. Psychologen nennen diese Fähigkeit Metakognition.
Gemeint ist damit die Fähigkeit, über unser Denken, Reden
und Schreiben, Wahrnehmen und Lesen reflektieren und dann
überlegt Strategien entwickeln zu können, mit welchem Me-
dium und in welchem Format wir uns welches Wissen an-
eignen. Genau das wird im Zeitalter der vielen Medien not-
wendig. Ich muss wissen, wo Unboxing-Videos das Lesen von
Betriebsanleitungen ersetzen können und wo nicht, muss ab-
schätzen können, welche Online-Tutorien mich das Program-
mieren besser lehren können, als dies Bücher tun können.
Adressen schaut niemand mehr in Telefonbüchern nach, das
ist einfach. Schwieriger ist es zu lernen, wo ich etwas verlässlich
über die Geschichte Armeniens erfahren kann oder ob es sinn-
voller ist, sich über literarische Neuerscheinungen auf einer Me-

51
taseite wie Perlentaucher zu informieren oder über die Wer-
beangeboten bei Kindle oder Amazon oder ein bestimmtes
Feuilleton. Meist machen wir es uns bequem, meinen zu wissen,
wo wir was nachschlagen, lernen oder einfach nur zur eigenen
Freude lesen wollen. Internetnutzer wählen fast immer diesel-
ben Einstiegspunkte und vertrauen in Sachen gesamtgesell-
schaftliche Informationen etablierten Zeitungen mehr als ande-
ren Quellen. Anders gesagt ist nicht der Wechsel zwischen den
Medien und Formanten als solches neu, auch wenn schon der
Wechsel zwischen Zeitung und Radio früheren Zeitgenossen
unheimlich und Stoff für Debatten um das neue Medium Radio
war. Neu ist die Selbstverständlichkeit des Medien-Switching
und neu ist die wachsende Anforderung, zwischen immer mehr
Medien und Formaten gezielt wechseln zu können, neu ist zu
lernen, wie viel Zeit und Aufmerksamkeit ich für welche Me-
dien aufbringe. Medienmündigkeit zu lernen, braucht Zeit,
Übung und Erfahrung. Noch unterrichten es wenige Schulen.
Wenn neue Medien dramatisiert werden, dann typischer-
weise mit Verweis auf die Folgen für die Heranwachsenden. Ihr
Medienverhalten ist Grund zur Sorge, denn sie sind die sicht-
barsten Mehr-Medienbenutzer oder Multi-User, wie diejenigen
etwas abstrakt genannt werden, die beim Fernsehen gleich-
zeitig auf dem Handy Nachrichten an ihre Freunde senden.
Online zu sein ist in Deutschland wie in praktischen allen In-
dustrienationen in wenigen Jahren eine solche Selbstverständ-
lichkeit geworden, dass man sich eigentlich nur wundern kann,
warum die Regierungen zwar Straßen bauen lassen, aber die
Straßen des Internets nicht öffentlich sind. 96 Prozent der Ju-
gendlichen in der Bundesrepublik seien im Netz, besagt die
Shell-Studie, und das etwa 13 Stunden in der Woche. Das wa-
ren die Zahlen von 2010. Sie liegen heute bei knapp 100 Pro-
zent Internetanbindung, gerade wenn man die Smartphones
mit einrechnet. Etwa dreieinhalb Stunden seien Jugendliche
täglich im Netz. In der Pressemitteilung der Jugendstudie hieß
es 2010 knapp über die verschiedenen jugendlichen Verhal-
tensmuster im Umgang mit Internet und neuen Medien:

52
Bei der Art der Nutzung des Internets zeigt sich erneut eine soziale
Spaltung – insbesondere bei den männlichen Nutzern. Die Gamer
(24 Prozent der Jugendlichen mit Netzzugang) – vor allem jüngere
männliche Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien – ver-
bringen ihre Zeit im Netz hauptsächlich mit Computerspielen.
Digitale Netzwerker (25 Prozent) – vor allem jüngere weibliche Ju-
gendliche – nutzen vor allem die sozialen Netzwerke (Facebook,
StudiVZ). Für Funktions-User (17 Prozent) – eher ältere weibliche
Jugendliche – ist das Internet Mittel zum Zweck: Sie gebrauchen es
für Informationen, E-Mails und Einkäufe von zu Hause aus. Die
Multi-User (34 Prozent) – eher ältere männliche Jugendliche aus
den oberen Schichten – nutzen schließlich die gesamte Bandbreite
des Netzes mit all seinen Funktionalitäten. 19

Das sind schon heute veraltete Zahlen und vielleicht muss man
fast Archäologe sein, um sich an StudiVZ zu erinnern. Aber
auch wenn sich die Zahlen verschoben haben dürften, das
Muster, das die Studie umreißt, gilt immer noch. Da ist wieder
der soziale Unterschied. Verloren gehen in den Spielewelten
diejenigen, die sonst wenig Ansprache haben. Die Besser-
gestellten dagegen schöpfen die digitalen Möglichkeiten am
weitesten aus. Sie verfügen über die metakognitiven Fähig-
keiten, gezielt zwischen den Medien wechseln zu können. Sie
spielen Computerspiele, benutzen aber auch digitale Software
zum Schneiden eigener Filme, informieren sich durch intelli-
gente Videos wie In an Nutshell über neueste politische, öko-
nomische und wissenschaftliche Entwicklungen oder schreiben
für Wikipedia Artikel. Weibliche und männliche Jugendliche
unterscheiden sich immer noch darin, ob sie stärker die soziale
Seite der digitalen Möglichkeiten nutzen oder vor allem Com-
putergames spielen. Auch wenn inzwischen die Zahl der Spie-
lerinnen deutlich angestiegen ist, so nutzen doch Mädchen und
junge Frauen stärker die sozialen Netzwerke wie WhatsApp,
Instagram oder Facebook und spielen auch jeweils etwas
andere Spiele. Altersunterschiede sind hier freilich wichtiger
als Unterschiede des Geschlechts. 20 Aber die Unterschiede wer-
den an vielen Ecken der digitalen Welt geringer, schon weil sich
die Medien verändern. Einen Blog mit WordPress aufzusetzen,

53
ist keine technisch besonders aufwändige Angelegenheit mehr.
Facebook nutzen alle möglichen Schülergruppen, so dass der
Unterschied zwischen Mädchen und Jungen hier nicht so
wichtig ist. Und bei Erwachsenen hat sich der anfängliche
Unterschied in der Internetnutzung zwischen Frauen und
Männern schon vor einigen Jahren stark abgeschwächt, wie
der Branchenverband Bitcom bereits 2011 zum ersten Mal
gemeldet hat. 21 Die meisten Menschen wechseln erstaunlich
sicher und lebensklug zwischen den Medien und Formaten.
Sie nehmen sie als Bereicherung war. Die Klagen vom Ende
des Buchs und des Lesens sind ihnen fremd.
Mehr Medien immer leichter zur Verfügung zu haben und
zwischen ihnen so selbstverständlich wie Naseputzen zu wech-
seln, diese Aufpulverung des modernen Lebens hat dazu ver-
leitet, von den ‚Digital Natives‘ zu reden, jenen Eingeborenen
der digitalen Welt, die zumeist jung sind und vom Walkman
nur noch vom Hörensagen wissen. Die Redeweise von den ‚Di-
gital Natives‘ nimmt an, dass diese Generation der nach dem
Jahr 2000 sozialisierten Jugendlichen die Struktur des Internets
und die Logik der Computer kennen und über die quasi an-
geborene Fähigkeit zum Multitasking verfügen würden. Davon
kann aber so keine Rede sein. Die Kenntnis der digitalen Welt
ist fast vollständig auf die Nutzung der Geräte und ihrer popu-
lärsten Programme beschränkt. Digital Natives gibt es nicht,
wenn damit Sachkundige der digitalen Welt gemeint sind und
nicht bloß ihre Nutzer. Sowenig wie die Leser Karl Mays die
Unterhaltungsindustrie des späten 19. und frühen 20. Jahrhun-
derts verstanden haben, so wenig kennen sich in der Regel die
Digital Natives mit dem Computer und dem Internet aus. Man
tut gut daran, die Vokabel ‚Digital Natives‘ wieder zu strei-
chen. 22 Digital Natives bezeichnen bei näherem Hinsehen nicht
die Kenner der digitalen Welt, sondern im glücklichen Fall die
gescheiten Nutzer, diejenigen, die wissen, wann und wozu
welches Medium zu nutzen ist, das kann die gedruckte Tages-
zeitung sein oder auch das Erklärvideo.

54
Was sich ändert, ist nicht, dass es neue Subjekte der Me-
dienwelt gibt, die man höchst ungenau Digital Natives nennt.
Was sich ändert, das ist die Leichtigkeit, mit der zwischen den
vielen Medien gewechselt wird und damit auch die Anforde-
rung, mit dieser Leichtigkeit gegebenenfalls auch reflektiert
und letztlich zivilisiert umgehen zu können. Weil soziale Me-
dien uns fast wie eine zweite Haut umgeben und einfacher zu
nutzen sind als Fahrradfahren zu lernen, wandert der soziale
Austausch in die sozialen Medien. Erst seit kurzem geben Ju-
gendliche in repräsentativen Umfragen unter knapp 1 000 Ju-
gendlichen zwischen 6 und 18 Jahren an, dass ihnen Kurznach-
richten auf Facebook oder WhatsApp wichtiger seien als
direkte Gespräche mit Freunden oder der Familie. 23 Sieht man
freilich näher hin, dann ist damit nicht gesagt, dass wir uns in
Cyborgs aufzulösen beginnen, denen die elektronische Kom-
munikation immer mehr das direkte Wort unter Freunden er-
setzt. Denn der wirkliche Freund, und nicht bloß ein Strom aus
Kurznachrichten, gilt Kindern und Jugendlichen unverändert
als das Wichtigste in ihrem Leben. 24 Nur sind die echten
Freunde auch alle im Netz und so ist der Gegensatz zwischen
Mediennutzung und sozialer Nähe einfach falsch und verleitet
zu der irrigen Folgerung, soziale Verwahrlosung oder gar Auf-
lösung zwischenmenschlicher Bande seien das Ergebnis der
neuen Medien.
Die soziale Welt wird digital. Das ist schon eine Verände-
rung, die genauer zu betrachten einlädt. Der Sozialanthropo-
loge Daniel Miller hat bei seinen Studien über soziale Wirk-
lichkeit im digitalen Zeitalter wiederholt belegt, 25 warum
Facebook nicht das bisherige Verständnis von Freundschaft
auflöst, sondern dass soziale Medien wie Facebook ein weiteres
Konzept zu den bereits existierenden Freundschaftskonzepten
hinzufügen. Durch soziale Medien werden Gesellschaften we-
der einfach individualistischer noch homogener. Überhaupt
sind die Folgen der sozialen Medien weitaus widersprüchlicher
und ihre Effekte gegenläufiger zueinander als es die gängigen
Debatten über den Verfall von Öffentlichkeit und Privatheit

55
erkennen lassen. Mit Smartphones werden heute Freundschaf-
ten intensiv gelebt, 26 sie ersetzen sie nicht. Neue soziale Räume
zwischen dem Öffentlichen und Privaten sind entstanden. Das
Geheimnis wird dann doch lieber mündlich der Freundin oder
dem Freund direkt mitgeteilt, wie die Bielefelder Entwick-
lungspsychologen Michael Glüer und Arnold Lohaus aus ihrer
aufwändigen Studie über Online- versus Offline-Freundschaf-
ten unter Schülern der fünften bis zur zehnten Klasse zu be-
richten wissen. 27 Tatsächlich sind die sozialen Medien eher das
Dorf der modernen Gesellschaften. Hier wird auf kurzem We-
ge getratscht und geschimpft, es werden allerlei Bande ge-
knüpft und zumeist nicht wirklich Neuigkeiten ausgetauscht,
sondern soziale Beziehungen verbal gefestigt, die in der direk-
ten Begegnung geschlossen worden sind. Ca. ein Drittel der im
Netz gepflegten Freundschaften sind dann auch enge Freund-
schaften. Was sonst ist in der Kommunikation wichtig, wenn
nicht das Soziale. Und das hat sich auch im digitalen Zeitalter
nicht geändert. Dass das Soziale digital geworden ist und das
ohne großes Aufheben, das ist neu, aber nicht das Soziale
selbst.
In ihrer Studie It’s Complicated. The Social Life of Network
Teens hat die amerikanische Medienwissenschaftlerin Danah
Boyd Interviews zum Internetverhalten Jugendlicher geführt. 28
Boyd ist bei ihren Gesprächen immer wieder der Bewegungs-
mangel der Jugendlichen aufgefallen. Einfach rauszugehen und
eine Freundin zu besuchen, mit dem Fahrrad woanders hin-
zufahren, das sei seltener geworden, konstatiert sie. Auch wenn
Boyd selbst keine sozialwissenschaftliche Studie durchgeführt
hat und für Firmen wie Microsoft arbeitet, redet sie dennoch
nicht die Veränderungen in den Verhaltensmustern von Ju-
gendlichen klein. Die digitalen Gerätewelten umgeben Jugend-
liche so selbstverständlich wie eine zweite Haut, dass sie ihr
soziales Leben zu großen Teilen dorthin ausgelagert haben.
‚Netzwerköffentlichkeiten‘ nennt sie diese Öffentlichkeiten, die
ohne digitale Technik nicht auszukommen scheinen und vo-
raussetzen, dass die Jugendlichen ständig online sind. Anders

56
als es der Begriff der Öffentlichkeit nahelegt, sind die Netz-
werköffentlichkeiten stark personalisiert und man kann sich
fragen, ob der Begriff der Öffentlichkeit hier überhaupt klug
gewählt ist. Von personalisierten Öffentlichkeiten sprechen da-
her andere und zeigen damit genau die Spannung zwischen
privat-persönlichem und öffentlich-virtuellem Raum an, die
etwas mit der Individualisierung unserer modernen Lebensver-
hältnisse zu tun hat. 29 Diese Öffentlichkeiten neuen Typs, so
Boyd, lassen freilich nicht den Umkehrschluss zu, direkt von
der digitalen Kleingerätewelt auf Folgen wie Bewegungsmangel
zu schließen. Kompliziert sei die Sache deshalb, weil nicht nur
die Technik das Leben von Jugendlichen beeinflusst, sondern
etwa auch Änderungen im Erziehungsstil. Wo Kinder nicht
mehr eine Selbstverständlichkeit sind, gehört die Übersorge
zu den Mustern elterlicher Paranoia. In den Vereinigten Staa-
ten werden solche Eltern bekanntlich Helikopter-Eltern ge-
nannt, was diejenigen Eltern umschreibt, die ihre Kinder vor
ihrem sechzehnten Lebensjahr kaum noch selbständig aus dem
Haus lassen, sondern sie stattdessen überall mit dem Auto
hinfahren. Ähnliches berichtet ausgerechnet für Deutschland
der ADAC. Er warnt ausdrücklich die Eltern davor, die Kinder
nicht mehr selbständig zur Schule gehen zu lassen und sie
stattdessen mit dem Auto vor der Schule abzusetzen. Denn
eine der direkten Folgen dieses veränderten Erziehungsstils sei
es, dass bei diesen Fahrten zur Schule immer mehr Kinder
durch die Autos der vor die Schule fahrenden Eltern ver-
unglücken. Kein Wunder, dass Bewegungsmangel eine Folge
ist, eben weil Kinder nicht mehr aufgefordert werden, selbst
Schritte nach draußen zu unternehmen. Es ist einigermaßen
widersprüchlich, ja psychologische Kategorien der Verdrän-
gung liegen nahe, wenn Eltern die neuen Medien für Probleme
ihrer Kinder verantwortlich machen, die zu einem guten Teil
hausgemacht sind – im ganz wörtlichen Sinn. Boyd berichtet
von Jugendlichen, die sie bitten, ihren Eltern zu sagen, dass es
ihnen gut gehe, auch wenn sie viel, sehr viel Zeit mit ihren digi-
talen Spielzeugen verbringen. Für die meisten sind es in Wirk-

57
lichkeit soziale Spielzeuge. Und die Handreichungen für die
überforderten Eltern sind daher so schlicht wie richtig: Bring
Deinen Kindern bei, die Zeit vor dem Computer einzuteilen,
nicht alles mit jedem zu teilen und sich Gedanken darüber zu
machen, was man im Internet preisgibt. Nimm dir Zeit für dei-
ne Freunde, vermeide die Online-Dramen und das Bullying und
überlege dir, was die richtigen Inhalte für dich sind. 30 Inhalte
der Erziehung sind nicht schwierig, ihre Umsetzung ist es.
Die Entwicklung des Internets und den gesellschaftlichen
Wandel direkt miteinander zu verknüpfen ist verführerisch
einfach und doch bestenfalls nicht mehr als eine schlechte, hal-
be Wahrheit. Es klingt erst einmal einleuchtend, etwa das auf-
fällig engere Zusammenleben der Generationen miteinander,
das in den letzten Jahren das Verhältnis der Altersgruppen in
vielen Ländern charakterisiert, auf Smartphones und Internet
zurückzuführen. Daraus wird eine Generation Y konstruiert,
die ja tatsächlich länger als vorige Generationen bei und mit
ihren Eltern lebt, tolerant im Umgang miteinander ist, aber
auch naiver sei als frühere Generationen, etwas hilflos und
wenig erwachsen über viele Jahre ihres Lebens hinweg. Die
Jugendlichen fahren weniger selbst Auto als das frühere Gene-
rationen getan haben. Sobald als möglich den Führerschein zu
machen, ist kein Ziel für 18-Jährige mehr. Auch sei die jetzige
Generation sexuell zurückhaltender, was an der sinkenden
Zahl von Teenagerschwangerschaften abgelesen werden könne.
Mit Blick auf die Verhältnisse in den USA behaupten Sozial-
psychologen wie Jean Twenge, dass die Veränderungen im Ver-
halten und emotionalen Erleben amerikanischer Jugendlicher
genau mit dem Aufkommen des iPhones 2011 zusammen-
fallen. Daraus wird dann bei Twenge eine Generation „iGen“
oder „Generation Me“ diagnostiziert. 31 Diese Generation, so
die Sozialpsychologin, sei zwar durchsetzungsstark und nicht
ohne Selbstvertrauen, aber elendiger als vorangegangenen Ge-
nerationen, was gerade an der steigenden Selbstmordrate abge-
lesen werden könne. Und tatsächlich ist die Suizidrate in den
USA deutlich angestiegen.

58
Doch so auflagenstark hier Generationen konstruiert und
gesamtgesellschaftliche Diagnosen gestellt werden, sie bedie-
nen nicht nur den Topos von der narzisstischen Jugend. Schon
ihre Zahlen sind ungenau. Gerade die Zahl von Suizidsterbe-
fällen schwankt erheblich. Die Suizidrate in den USA steigt
nicht erst seit 2011, sondern schon seit 1999. Das erste iPhone
kam aber erst 2007 auf den Markt. Die höchsten Selbstmord-
raten weisen nicht die USA auf, sondern so unterschiedliche
Länder wie Nord-Korea, Nepal, Guyana oder Kasachstan, Län-
der, die nicht gerade über zu viele Smartphones verfügen. Die
traurigen Gründe für Selbstmord sind vielfältiger und komple-
xer als es solche Generationskonstruktionen wie die von Twen-
ge nahelegen. Die Unterschiede in Europa zwischen Ländern
wie Litauen mit einer hohen und Griechenland mit einer klei-
nen Zahl an Suizidsterbefällen wird man auch bei schlechter
Statistik nicht in einen direkten Zusammenhang mit der Digi-
talisierung der Jugendkultur bringen können, noch weniger die
Unterschiede zwischen Österreich, der Bundesrepublik und
der Schweiz, die in den letzten Jahren wiederholt unterschied-
liche Zahlen verzeichnen mussten. Bezieht man Faktoren wie
Alter, Geschlecht und Region ein, verkomplizieren sich die so-
zialen Sachverhalte noch einmal. Die Unterschiede zwischen
der höheren Rate in Sachsen und der geringeren in Nord-
rhein-Westfalen erklärt die digitale Lebenswelt von Jugend-
lichen nicht, auch nicht, warum in Südkorea die Suizidrate
mit zunehmendem Alter ansteigt, in Norwegen und Neusee-
land aber sinkt, während in anderen Ländern wie Portugal oder
Italien keine Altersabhängigkeit zu beobachten ist. In den
deutschsprachigen Ländern nehmen über die letzten Jahr-
zehnte trotz Schwankungen insgesamt die Todesfälle durch
Suizid ab, auch unter Jugendlichen. In den OECD-Ländern
sinkt die Suizidrate ebenfalls, auch hier mit teils erheblichen
Schwankungen, die in keinem direkten Zusammenhang mit
der steil anwachsenden Zahl jugendlicher Smartphone-Nut-
zung steht. Weltweit ist die Selbstmordrate von 1994 bis 2018
um 38 Prozent gefallen. Das sind mehr als 4 Millionen Leben

59
und eine Zahl viermal so hoch wie die Zahl der Menschen, die
durch Kriegshandlungen im gleichen Zeitraum umgekommen
sind. 32 Kurz, die so einleuchtende These von der liebenswert-
weltverlorenen iPhone-Generation hält kaum der Überprüfung
einzelner Zahlen stand. Und dennoch lesen wir solche War-
nungen gerne und Bücher dieser Art verkaufen sich so gut
wie früher die Predigten der Pastoren, die vor dem Lesen von
Romanen gewarnt haben. Das wäre nicht weiter schlimm,
wenn wir darüber nicht die Einsicht über die tatsächlichen Ver-
änderungen der Gesellschaft verlieren würden und uns dabei
auch noch mit viel zu einfachen Antworten auf die Frage be-
gnügten, warum nach Unfällen Selbstmord die zweithäufigste
Todesursache für Jugendliche ist. Nur deshalb sollten wir uns
nicht mit den einfachen Antworten solcher und ähnlicher Di-
agnosen zufriedengeben, sondern genauer hinsehen, was sich
in Sachen Digitalisierung ändert.
Eigentlich ist es einfach festzustellen, dass nicht die neuen
Medien einen sehr viel stärker individualisierten Lebensstil er-
funden haben, den die einen als Vereinsamung kritisieren, die
anderen als Befreiung feiern. Die Entstehung einer individuali-
sierten Lebensweise ist historisch jung. Erst die urbanen Ge-
sellschaften des Industriezeitalters haben die Einpersonenhaus-
halte befördert. Das ist historisch einmalig, denn alleine zu
leben war jahrtausendelang schlicht gefährlich. Auch wenn
‚Alleine leben‘ keine feste sozialwissenschaftliche Kategorie ist,
so zeigen Einpersonenhaushalte in etwa die Tendenz an, der
zufolge in der Schweiz oder in Deutschland die Zahl solcher
Haushalte ganz unabhängig von Computer und Internet seit
Jahrzehnten stetig zunimmt, Zahlen, die ganz im Trend prak-
tisch aller Industrienationen liegen. In Städten lebt heute un-
gefähr die Hälfte der Menschen allein. In den USA sind es nach
dem letzten Zensus schon fast 30 Prozent, in den größeren
Städten gibt es auch dort mehr als fünfzig Prozent Alleinleben-
de. Die Zahl der Singles übersteigt inzwischen die der verhei-
rateten Paare. In modernen Großstädten ist ein solches Leben
möglich, auch wenn das Folgen etwa für die Umwelt und eben

60
auch Folgen für das Kommunikationsverhalten hat. Soziologen
wie Eric Klinenberg, die eigentlich darauf trainiert sind, überall
den Verfall der Öffentlichkeit und die Schwächung sozialer
Bindungen zu konstatieren, müssen feststellen, dass nur eine
kleine Gruppe vereinsamt allein lebt, die Mehrheit der Allein-
lebenden dagegen ein dichtes soziales Leben führt. 33 Das ist in
den meisten europäischen Ländern ähnlich. Die Bindungs-
quote nimmt über alle Schichten hinweg ab, 34 wenn man unter
einer Bindung zwischen Menschen so etwas wie eine gewisse
Verbindlichkeit dieser Verbindung über eine längere Zeit ver-
steht. Die Zahl der Paarbindungen, konstatiert der Soziologie
Jan Eckhard, nimmt in Deutschland insgesamt ab, was nicht
heißt, dass es nur Singles gebe. Bindungsbereitschaft besteht
unverändert weiter, aber auf Kosten stabiler, langer und inso-
fern verbindlicher Beziehungen. Die eingegangenen Beziehun-
gen sind kürzer, zumindest gemessen an der wachsenden Le-
benszeit und scheinen auch unverbindlicher zu sein, und das
ist in Städten stärker ausgeprägt als auf dem Land. Man kann
dann die Heterogenität der Gesellschaft oder ihre Individuali-
sierung betonen und kommt damit entweder zu negativeren
oder positiveren Einschätzungen der gesellschaftlichen Ent-
wicklung. Mit der Digitalisierung hat das alles wenig zu tun.
Die Umbauten der Gesellschaft verdanken sich nicht allein
Computern oder dem Internet. Sie haben sehr viel länger zu-
rückreichende Ursachen wie etwa die Industrialisierung, die
Verbesserung der Hygiene oder die Verbesserung des Saatguts
und vieles mehr, was wir nur selten bewusst wahrnehmen, weil
uns so vieles selbstverständlich ist. Computer und Internet da-
gegen füllen die kommunikativen Lücken, die abnehmende
Bindungsquoten, Heterogenität der Lebensformen und indivi-
dualisierte Lebensweisen erzeugt haben. Für die veränderten
Kommunikationsgewohnheiten urbanen Lebens sind die sozia-
len Netzwerke, die von allen möglichen Endgeräten bespielt
werden, geeignet, Bindungen herzustellen und Lebensweisen
überschaubar zu halten. Sie sind daher Techniken der ‚Verländ-
lichung‘ in den Städten und das in einem doppelten Sinne.

61
Digitale Medien versetzen nicht nur den Dorfklatsch in die
Stadt und verknüpfen die alleinlebenden Menschen so dicht,
dass vom Alleinleben kaum die Rede sein kann. Die digitalen
Medien haben noch eine andere soziale Funktion in modernen
Industrienationen – sie stellen Privatheit her.
Das klingt zunächst nicht eben einleuchtend, ist es doch
ein medienkritischer Standard, dass im digitalen Zeitalter alles
öffentlich gepostet werde und Privatheit im Schwinden begrif-
fen sei. Dieser Topos ist deshalb ungenau, weil er die Lebens-
wirklichkeit vieler Teile der Welt falsch einschätzt. In Ländern
Asiens oder auch der arabischen Welt ist Privatheit auch in der
Großstadt ein rares Gut. Das fast immer öffentliche Leben in
den Großfamilien dominiert hier die Lebenswirklichkeit und
entspricht damit wenig europäischen Vorstellungen. Hier sind
es gerade die sozialen Medien, die persönliche Kommunikation
jenseits der Öffentlichkeit der Familie erlauben. Privatheit wird
digital hergestellt, die in der sozialen Wirklichkeit in diesen
Regionen der Erde vielfach eingeschränkt ist. Es ist daher eine
lohnende Untersuchung, inwieweit nicht ähnliche Prozesse
auch in Ländern Europas zu finden sind. Die bislang vorliegen-
den Studien dazu zeigen, dass auch hierzulande die Herstel-
lung von Intimität eine der wichtigsten Funktionen digitaler
Medien ist. Gerade für Jugendliche ist Privatheit Online-Pri-
vatheit. 35 In sozialen Medien teilen Jugendliche ihre gemein-
samen Erlebnisse, vertrauen den Freunden ihre Gefühle und
Gedanken an, die sie sonst mit niemand anderem teilen. Die
Redeweise vom Schwinden der Privatheit ist daher mehr als
ungenau. Digitale Medien stellen Privatheit her, so problema-
tisch auch immer sorgloser Umgang mit Daten und die Ver-
letzung von Privatsphären sein mögen. Es ist keine neue Ein-
sicht, dass die Frage nach Praktiken des Privaten und Intimen
auch an den kommunikativen Techniken hängt. Nicht nur von
Taiwan bis Singapur, sondern auch von Lissabon bis Helsinki
ist persönliche Kommunikation an digitale Medien gebunden.
Hier werde ich verstanden, wenn mich auch sonst niemand in
der Gesellschaft versteht. Nicht die Aufpulverung des Lebens,

62
sondern seine Privatisierung und Individualisierung ist eine
der wichtigsten Funktionen und Folgen digitaler Medien.
Man kann das als mediale Verländlichung urbanen Lebens
deuten. Was damit gemeint ist, dass digitale Medien die Bin-
dungsbereitschaft der scheinbar nur allein lebenden Groß-
stadtsubjekte zu regulieren helfen, das zeigt die Auswertung
von sozialen Netzwerken oder auch von Datingportalen wohl
am genausten an, geben diese Medien doch einigermaßen in
Echtzeit Auskunft über den Stand der Privatheit. Dabei belegen
sie einmal mehr, dass die alten sozialen Regeln fast unverändert
gelten, auch diejenigen Regeln, nach denen wir entscheiden,
wen wir attraktiv finden und wie das kommuniziert wird. Der
Gründer des amerikanischen Datingportals OKCupid hat in
seinem ernüchternden Buch Who We Are (When We think No
One’s Looking) 36 die wichtigsten Einsichten in das Verhalten
von urbanen Menschen in Dating-Portalen zusammengetra-
gen: Frauen finden Männer attraktiv, die ungefähr in ihrem
Alter sind, Männer hingegen vor allem junge Frauen, die An-
fang zwanzig sind. Weiße Menschen werden als Normalfall be-
trachtet und von nahezu allen ethnischen Gruppen als attrak-
tiver empfunden als dunkelhäutige oder auch asiatische.
Männer sind bei der Bewertung des Äußeren von Frauen nach-
sichtiger als Frauen. Asiaten definieren sich stark über ihr Hei-
matland, Latinos und Homosexuelle über ihre Musikvorlieben,
Weiße gerne über Hobbys. Das sind alles keine virtuellen Pro-
file, sondern spiegelt die soziale Welt auch im Digitalen. Sie
wird hier verstärkt und geteilt, nicht aber erfunden. Die sozia-
len Medien sind die Rückkehr ins Dorf, aus dem wir einst aus-
gezogen sind. Soziologen wie Klinenberg, Miller und Eckhard
beobachten denn auch, dass Menschen, die alleine leben, mehr
Zeit und Aufmerksamkeit auf ihr soziales Leben verwenden.
Regierungsamtliche Stellen melden jedes Jahr eine Zunahme
der Zahl der ehrenamtlich Tätigen und die Daten des sozio-
ökonomischen Panels bestätigen, dass Jugendliche genauso eh-
renamtlich aktiv sind wie Erwachsene. In der Bundesrepublik
und in der Schweiz üben 30 bis 40 Prozent je nach Zählung ein

63
Ehrenamt aus. 37 Eine soziale Verwahrlosung der Jugend auf-
grund digitaler Medien kann daher niemand glaubhaft be-
haupten. Besser begründet ist es, von einer digitalen Intensi-
vierung der sozialen Welt, die längst eine sehr individualisierte
Welt geworden ist, zu sprechen.
Die klassische Soziologie hätte wohl gesagt, dass Städter
zerstreuter sind als Landbewohner. Nun, das mag stimmen,
aber nur in einer sehr langen Perspektive der Menschheits-
geschichte. Man muss die moderne Welt schon sehr radikal
zurückdrehen, wollten wir die alten, glücklichen Urverhältnisse
wiederherstellen. Wie weit wir dabei zurückgehen müssten, um
die vermuteten, natürlichen Lebensweisen wiederherzustellen,
deutet eine Untersuchung der Psychologin Katrina Linnell an.
Sie hat die Aufmerksamkeitsfähigkeiten von urbanisierten
Himba mit denen der traditionell lebenden Himba, einem
halbnomadischen Stamm in der Wüste Namibias, verglichen.
Tatsächlich konnten sich die traditionell lebenden Himba deut-
lich länger auf nur eine Aktivität konzentrieren als ihre urba-
nisierten Stammesgenossen. 38 In der Stadt lebende Himba
haben gelernt, ihre Aufmerksamkeit schnell wechselnden Um-
ständen anzupassen. Anders gesagt, wer hohe Aufmerksam-
keitsspannen wünscht, wird gut daran tun, die Stadt zu verlas-
sen und ein guter Jäger und Hirte in schwieriger Umwelt zu
werden. Für alle anderen gehört Facebook zu dieser kompen-
satorischen Ruralisierung urbaner Lebensverhältnisse ebenso
dazu wie das auflagenstarke Magazin Landleben zu den Auf-
pulverungen des deutschen Stadtlebens. Sie ermöglichen die
modernen Lebensverhältnisse und sie verstärken sie, ihre Ur-
sache aber sind sie nicht.
In die zweite Haut der sozialen Medien kleiden wir uns so
ein, dass nicht nur Jugendliche kaum noch ohne diese Medien
leben können. Der Grund dafür ist aber weder ein Technik-
wahn, noch die Dummheit einer Generation, sondern ein an-
thropologisches Grundanliegen, das Teilen von Geschichten,
um soziale Bindungen herzustellen. Es müssen gar keine neuen
Geschichten sein, die auf YouTube angesehen werden oder als

64
Meme komisch kommentiert werden. Auch Katzen-Videos
sind geteilte Geschichten. Und die versetzen uns in einen er-
höhten Erregungszustand, den wir durch das Teilen von Ge-
schichten gezielt ansteuern. 39 Unser Blutdruck steigt und unser
autonomes Nervensystem zeigt eine erhöhte Spannung, und
das eben nicht nur bei Geschichten über Katastrophen, son-
dern auch bei solchen Geschichten über den Nachbarn oder
über sogenannte Prominente in Klatschmagazinen. Die Zahl
dieser People-Magazine ist in den letzten Jahren massiv ange-
stiegen. Es kann daher nicht wirklich verwundern, dass Jung
oder Alt viele Fotos von sich und anderen jede Minute milliar-
denfach in den sozialen Netzwerken hochladen und sich dafür
eigene Selfie-Genres entwickelt haben. Die neuen Medien er-
möglichen das so leicht. Man tratscht auf YouTube über die
richtige Kinderziehung und den letzten Urlaub. Offensichtlich
interessieren wir uns für nichts mehr als für die sozialen Wel-
ten, für Gesichter und für soziale Beziehungen, für starke Emo-
tionen in Beziehungen. Genau dafür sind soziale Medien ein
hervorragendes Mittel gerade unter den Bedingungen urban-
individualisierter Lebensweisen und digitaler Leichtigkeit. Man
kann das alles auch eine Aufpulverung nennen, aber man ge-
winnt damit wenig und verliert viel aus dem Blick.
Der Befund über die soziale Verdichtung im digitalen Zeit-
alter gilt besonders für Jugendliche. Sie senden am häufigsten
Textnachrichten aus, mehrere Tausend im Monat. Angeblich
finden ca. zehn Prozent der Jugendlichen auch nichts dabei,
selbst während des Sex noch zu texten, wie die klinische Psy-
chologin Sue Johnson berichtet. 40 Nicht Selfies, sondern ‚cell-
fishness‘ ist die Folge, wenn die soziale Welt fast ausschließlich
virtuell stattfindet. Das moderne Leben hat eine Kostenseite,
die jene betrifft, die auch anderswo von der Moderne überfor-
dert sind. Facebook mal eine Woche nicht zu nutzen, steigert
für diese Menschen ihre Lebenszufriedenheit gerade dort, wo
das eigene Leben nicht mehr ausgedrückt und reflektiert wird
und nur noch das Leben der anderen beschäftigt. 41 Von sucht-
artigem Verhalten ist dann nicht nur im Umgang mit Alkohol

65
und Drogen, sondern auch im Umgang mit sozialen Medien
die Rede. Und wieder sind es gerade die alleingelassenen jun-
gen Männer ohne Anstellung, die besonders gefährdet sind. 42
Aber ihre Lage ist nicht allein Folge der digitalen Medien, son-
dern hat gleich mehrere Ursachen. Erst die Kombination dieser
Ursachen führt zu den prekären Folgen. Als Paartherapeutin
zitiert Johnson zustimmend den Politologen Robert Putnam,
der sich in seinem Buch Bowling alone den Kostenseiten mo-
derner Individualisierung zugewendet hat: „Good socialization
is a prerequisite for life online, not an effect of it: without a real
world counterpart, internet contact gets ranty, dishonest, and
weird“. 43 Einmal mehr wird bei Johnson und Putnam fest-
gestellt, dass die soziale Welt nicht aufhört, bestimmend zu
sein, Erziehung in digitalen Zeiten nicht überflüssig wird und
es verstärkter Anstrengungen bedarf, mit den sozialen Medien
auch sozial umzugehen. Online-Welten funktionieren nur so
gut wie sie in Offline-Welten eingeübt wurden. Daher kann es
für Schulen sehr wohl sinnvoll sein, alle Handys abzuschalten.
Eine Verbürgerlichung der Medien ist wünschenswert, das
scheint mindestens mir keine Frage zu sein.
Zu den Anstrengungen, ein sozial vernünftiges Miteinan-
der auch im Medienzeitalter aufrechtzuerhalten, gehört die
schlichte Feststellung, dass wir nicht alles ins Netz auslagern
können. Im Gegenteil gehört das aufmerksame, oft aber auch
unbewusst ablaufende Lesen in Gesichtern anderer oder die
gemeinsame, einander nachahmende Bewegung und Gestik zu
den elementaren Bedingungen sozialer Beziehungen, auch
wenn wir diese Aufmerksamkeit immer nur für wenige Men-
schen aufbringen können. Alarmierend sind daher nicht Face-
book-Freunde, sondern wenn es auf einmal viele hundert oder
gar tausend werden. Die Zahl der Facebook-Freunde ist näm-
lich ein guter Indikator, um die jeweilige Persönlichkeit und
ihre Eigenheiten abzubilden. 44 Dabei zeigt sich, dass Menschen
auch in Industrienationen zwar viele kennen, aber deswegen
nicht mit sehr viel mehr Menschen befreundet sind als auf
dem Dorf. 45 „Ich und meine vierhundert Freunde“ ist ein

66
Hilferuf und kein Anzeigen eines erfolgreichen sozialen Status.
Wer ständig über seine Liebesverhältnisse postet, hat sehr
wahrscheinlich eine geringe Selbstachtung und wer mit seinen
Diäten angibt, ist eher narzisstisch veranlagt. 46 Dass diese Zah-
len bei Jugendlichen stärker als bei Erwachsenen schwanken,
hat viel mit der Pubertät zu tun. Aber tatsächlich kann kaum
jemand glaubhaft mehr als 100 bis 130 Menschen zu seinem
Geburtstag einladen, wenn das wirklich seine Freunde sein
sollen.
Das alles hat seine guten Gründe in der Konstitution des
Menschen. Soziale Interaktion ist aufwändig, braucht Zeit und
Aufmerksamkeit. Die nach dem Anthropologen Robin Dunbar
benannte Zahl besagt, dass der Homo sapiens über Jahrtausen-
de in Gruppen von ungefähr 150 Menschen gelebt hat. 47 Diese
Dunbar-Zahl zeigt die Freunde und funktionierende Familie
an, für die der Mensch in der Lage ist, den Aufwand an sozialer
Interaktion aufzubringen. Soziale Zeit ist begrenzt und so nei-
gen wir seit vielen zehntausend Jahren schon dazu, mit vielen
Menschen eher typisiert, wenn nicht stereotyp umzugehen.
Für die uns wichtigen Menschen nehmen wir uns Zeit, ver-
suchen zu verstehen, wie sie sich fühlen und welche Absichten
sie verfolgen. Etwa zwei Stunden nehmen wir uns für dieses
soziales Miteinander jeden Tag neben der Arbeit Zeit. Das
klingt nach nicht sehr viel, ist aber neben all den Verpflichtun-
gen, denen wir sonst noch nachkommen, alles andere als wenig
und keine Selbstverständlichkeit, wie eines der vielen Experi-
mente zu diesem Thema bestätigt hat. Man hat zwei Gruppen
von Schülern der 6. Klasse in einem Feldversuch miteinander
verglichen. Die eine Gruppe von mehr als fünfzig Schülern war
auf einem Ferienlager in der freien Natur, ohne Internet und
ohne irgendwelche elektronischen Geräte. Diese Gruppe wurde
mit einer etwa gleichgroßen und gleichalten Schülergruppe
verglichen, die ihrem gewohnten Medienkonsum nachgehen
konnte. Das sind in vielen Teilen der USA in etwa viereinhalb
Stunden am Tag Fernsehen, Videospiele und Nutzung sozialer
Netzwerke, was im Vergleich mit anderen Zahlen noch ver-

67
gleichsweise wenig ist. 48 Herausfinden wollten die Forscher, ob
sich schon nach fünf Tagen ein Unterschied zwischen denen
feststellen lässt, die viel Zeit für die direkte soziale Kommuni-
kation innerhalb einer kleinen Gruppe haben gegenüber den-
jenigen, die, wenn überhaupt, dann mittels sozialer Medien
miteinander kommunizieren. Für diesen Vergleich wurden
auch verschiedene Sozialdaten erhoben, um zu verhindern,
dass etwa der Bildungsstand der Eltern oder ähnliches die Er-
gebnisse beeinflussen. Das Ergebnis ist eindeutig. 49 Die Kinder,
die fünf Tage lang direkt miteinander in der kleinen Gruppe
gelebt haben, waren signifikant besser im Verstehen von non-
verbalem Verhalten anderer, dem Lesen von Gesichtern, auch
dem Verstehen von Szenen menschlichen Verhaltens, die ihnen
während der Tests auf einem Videogerät vorgespielt wurden.
In Wäldern und Savannen und nicht in Großstädten im
direkten Miteinander einer überschaubaren Gruppe zu leben,
wäre also bindungspsychologisch gesehen die bessere Lebens-
form. Nur leben wir nicht so. Aber wir nehmen uns auch als
Städter Zeit für das direkte Miteinander, kultivieren empa-
thischen Fähigkeiten und das nicht nur bei Kindern. Unter-
suchungen bestätigen immer wieder, wie sehr wir bei Men-
schen, die uns wichtig sind, die direkte Kommunikation der
indirekten vorziehen. Ob man mit seinen fünf besten Freunden
über das Telefon, Textnachrichten, Skype oder soziale Netz-
werke kommuniziert, macht für uns einen Unterschied, auch
und gerade wenn wir in der Stadt leben. Schon Skype ist mit
seiner Verbindung von lesbarem Gesicht und hörbarem Ton
den anderen Medien in dieser Hinsicht überlegen. 50 Die Ab-
nahme der Nicht-Bildschirmzeit um mehr als 20 Prozent in
den letzten 10 Jahren muss vor diesem Hintergrund als pro-
blematisch erscheinen, 51 weil es so aussieht, als würden wir in
unseren sozialen Fähigkeiten verkrüppeln. Mattscheibe und di-
rekte Kommunikation schließen sich ja aus, meint man.
Doch auch hier ist für Schlussfolgerungen etwas mehr zu
bedenken. Bildschirmzeit ist nicht mit einer bloß indirekten
Kommunikation gleichzusetzen. Viele, auch Erwachsene spie-

68
len am Computer zusammen und das im selben Wohnzimmer.
Tatort wird vielerorts und in ganz unterschiedlichen Gruppen
der Gesellschaft gemeinsam geguckt. Wer Fußball schaut, tut
nichts für seine eigene physische Gesundheit, aber mit Freun-
den tut er viel für seine psychische Gesundheit. Der direkte
verbale und emotionale Aufwand, der bei solchen gemein-
samen Bildschirmzeiten urban lebender Menschen betrieben
wird, kann sehr hoch sein. Männern, denen man sonst ein-
geschränkte kommunikative Fähigkeiten unterstellt, können
in solchen digitalen Zusammenhängen ohne Ende reden. Und
Mädchen kommen über Spiele wie Farmville miteinander ins
Gespräch, wie sie es mit einem Brett- oder Kartenspiel auch
tun würden. Problematisch ist nicht die Bildschirmzeit, son-
dern die Bildschirmzeit ohne soziale Einbettung. Und noch
ein zweiter Faktor ist zu bedenken. Wir nutzen in der Regel
soziale Onlinenetze nicht gleichmäßig, sondern widmen ein-
zelnen Freunden mehr Nachrichten und damit mehr Aufmerk-
samkeit als anderen. Genauer noch sind unsere besten Freunde
auch unsere besten Freunde im Netz, zumindest, wenn wir
sozialpsychologisch halbwegs stabil sind. An sie gehen die
meisten Botschaften. 52 Das soziale Graulen verschwindet nicht
einfach im Netz. 53 Wir unterscheiden auch hier, wem unsere
Zuwendung gilt, denn die ist eben nicht virtuell, sondern ver-
langt unsere unvermeidlich limitierte Aufmerksamkeit.
Anders gesagt können uns Bildschirmzeiten fraglos von
der Kultivierung unseres sozialen Miteinanders ablenken und
unsere empathischen Fähigkeiten verkümmern lassen, und das
genau dann, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auch in der di-
gitalen Welt nicht mehr sozial fokussieren können und die
meiste Zeit vor dem Bildschirm ganz alleine verbringen. Das
ist aber gerade nicht die Regel. Die Zahl der verkauften Brett-
spiele ist auch im Internetzeitalter deutlich gestiegen. Es wäre
interessant, statt über den Verfall des sozialen Lebens zu kla-
gen, einmal zu untersuchen, ob es nicht einen positiven Zu-
sammenhang zwischen sozialen Medien und Brettspielen gibt.
Das wäre jedenfalls für dieses Thema meine Arbeitshypothese.

69
Natürlich klingt es wünschenswert, wir würden uns mehr
in nachdenklicher Aufmerksamkeit schulen und lernen, unsere
Nächsten auf das Genaueste zu studieren. Nun können einem
aber selbst bei einer solchen, scheinbar selbstverständlichen
Forderung Bedenken kommen. Denn es gibt historische Bei-
spiele für solche Orte der gesteigerten sozialen Aufmerksam-
keit, etwa das Schloss von Versailles unter Ludwig XIV. Damals
wurden dort alle Leute von Geld und Macht auf engstem Raum
zusammengepfercht und waren mit nichts anderem beschäf-
tigt, als sich gegenseitig auf das Aufmerksamste zu beobachten
(und die anderen für sich arbeiten zu lassen). Die Feinheiten,
zu denen wir Menschen dann in der Lage sind, wenn wir nur
unsere Aufmerksamkeitsfähigkeit auf eine solche Weise schu-
len, haben zu großen Romanen geführt, wie Die Prinzessin von
Kleve oder Gefährlichen Liebschaften bezeugen. Die Romane
belegen aber auch zugleich die Abgründe, in die eine so auf
sich selbst fokussierte Gesellschaft gerät. In diesen Romanen
werden Gefühle kunstvoll vorgespielt, die nur darauf abzielen,
den anderen zu täuschen und ins Unglück zu stürzen. Als halb-
verschlüsselte Romane berichten sie von den hässlichen Seiten
einer ganz mit sich beschäftigten Gesellschaft der reinen
Selbstgefälligkeiten und des kultivierten Narzissmus. Intrige
und Hinterhalt gehören zu diesem Dorf im Schloss von Ver-
sailles auf das Engste dazu. Anders gesagt, ein solches Leben
gesteigerter sozialer Aufmerksamkeit ist nicht wirklich ein
Lebensmodell. Ein Dorfleben – unter wie vielen Golddecken
auch immer – hat seinen Preis. Auch hier gilt die Regel des
gesunden Mittelmaßes. Weder die alleinige Fokussierung auf
die soziale Welt um uns herum, noch die zu große Ablenkung
durch unpersönliche Medienoberflächen machen glücklich,
sondern der Wechsel zwischen Ablenkung, sozialer Aufmerk-
samkeit, Selbstverlorenheit und hochfokussierter Tätigkeit ge-
hören zu uns als Mensch. Der Jargon der analogen Eigentlich-
keit, demzufolge nur die direkte Begegnung zähle, würde
weder den Romanleserinnen früherer Jahrhunderte oder den
Briefwechseln im Zeitalter des Humanismus gerecht werden

70
noch etwa jemanden wie Immanuel Kant. Die meisten seiner
Korrespondenzpartner, wie etwa den Mathematiker Johann
Heinrich Lambert, hat Kant nie getroffen. Dennoch hatten sie
sich viel zu sagen. Das gilt auch in den Zeiten sozialer Medien.
Die auflagenstarken Thesen, dass wir dick, dumm, aggres-
siv, einsam, krank und unglücklich im digitalen Zeitalter
würden, sind nicht einmal Zuspitzungen. Sie sind grob irre-
führend. Weder die Kinder noch wir werden dümmer oder
aggressiver. Weder sind die einsamer, die viel das Internet nut-
zen, noch sind diejenigen unglücklicher, die in sozialen Netz-
werken ihre Gedanken und Gefühle mit anderen teilen. Sie
sind es genauso viel oder wenig wie andere Gruppen der Ge-
sellschaft. Irreführend sind die langläufigen Zeitdiagnosen
nicht deshalb, weil es diese Probleme nicht gäbe. Bewegungs-
mangel unter Schülern ist in vielen Industrieländern, aber
nicht nur dort, festzustellen. Die Entwicklung bei Erwachsenen
ist auch nicht aufmunternd. Aber die Ursachen sind so viel-
fältig und gerade darum ist es auch so schwer dagegen anzu-
gehen. Falsche Ernährung gehört ebenso dazu wie die urbane
Lebensweise oder das viele Sitzen im Büro, vor dem Computer
genauso wie in nicht endend wollenden Besprechungen.
Ähnliches ist für andere, ernste Probleme wie die ‚Internet-
sucht‘ zu konstatieren. Auch hier sind die Ursachen multi-
faktoriell und das Versprechen, man müsse die Leute nur vom
Internet wegbringen, wird nicht helfen. Suchtverhalten findet
leicht eine andere Sucht, wenn die eine unzugänglich geworden
sein sollte. Dass wir seit kurzem mit solcher Leichtigkeit fast
überall ins Internet gehen können, schwächt nicht unser Ge-
dächtnis, als wäre digitale Demenz unser Schicksal. Begriffe
wie ‚digitale Demenz‘ oder der von Betsy Sparrow behauptete
„Google-Effekt“, 54 demzufolge wir uns nichts mehr merken
würden, sondern nur noch Google befragen, sind suggestiv,
aber mehr auch nicht. Google verändert nicht unser Gehirn
und unser Gedächtnis, vielmehr behalten wir andere Dinge
als Telefonnummer oder Straßennamen, weil uns das externe
Google-Gedächtnis vieles abnimmt. Die Behaltensleistungen

71
konzentrieren sich dann auf anderes. Wir werden symbiotisch
mit unserem Computer, weil wir uns schlicht merken, was wir
dort nachschlagen können und uns dann auf anderes konzen-
trieren. Das ist eine Arbeitsteilung, die uns frei macht, neue
Inhalte leichter lernen zu können. 55 Wir sind mental flexibel
genug, uns auf solche Änderungen durch unsere technische
Umwelt einzustellen, und das seit vielen tausend Jahren schon.
Verteilte Intelligenz wird das auch genannt, und auch die
nimmt zu. Plato hätte das nicht gefallen, den meisten von uns
gefällt es aber schon.
Warum es zu einfach ist, von den Medien unmittelbar auf
die Aufpulverungen des Lebens zu schließen, verdeutlicht auch
noch eine andere Unterscheidung, die nur zu oft ignoriert
wird, die Unterscheidung von Korrelation und Kausalität.
Man kann sehr wohl eine Korrelation zwischen übermäßigem
Medienkonsum und längerfristiger sozialer Benachteiligung
behaupten. Aber eine Korrelation ist keine Kausalität, vielmehr
ist es auch hier gleich ein ganzes Bündel von Ursachen, die
diese Korrelation begründen. Wer seine Anerkennung über-
wiegend durch soziale Medien gewinnt, ist eher gefährdet als
andere.56 Wer vernachlässigt wird, ist eher gefährdet. Das sind
die soziale Ursachen, auf die auch die ersten großen Langzeit-
studien in den USA verweisen. 57 Vor allem die Vernachläs-
sigung durch die Eltern, falschen Peergroups, emotionale
Probleme, ein prekäres Wohnumfeld und der geringe sozial-
ökonomische Status sind die Ursachen für soziale Benachtei-
ligung, die mit schädlichem Medienkonsum zusammengehen.
An den einsamen Stunden vor dem Fernseher oder Computer
gerade kleiner Kinder kann man bedrückend sicher voraus-
sagen, in welche Schwierigkeiten die Kinder in ihrem Leben
wahrscheinlich geraten werden, eben weil hinter dem exzessi-
ven Medienkonsum so viele andere, sich dann auch noch ge-
genseitig verstärkende Probleme stecken. Und für Kinder unter
zwei Jahren ist der Bildschirm schlicht schädlich. 58 Umgekehrt
sagt die Zahl der Bücher in einem Haushalt ziemlich gut vo-
raus, welche Bildungsabschluss Kinder einmal erreichen. 59 Vor

72
allem, wenn Kinder nicht alleine mit Medien gelassen werden,
kann man ganz gut abzuschätzen, dass deren Chancen im
Leben bessere sind als bei den alleingelassenen. 60 Der Bildungs-
stand der Mutter ist der stärkste Prädiktor unter allen Varia-
blen, die eine Bildungsbiographie beeinflussen. 61 Studien in an-
deren Ländern wie der Schweiz kommen zu ganz ähnlichen
Ergebnissen. Sind die Eltern ein schlechtes Vorbild auch im
Umgang mit Medien, dann ist es für die Kinder schwieriger
mit den verfügbaren Medien klarzukommen und suchthaftes
Verhalten zu vermeiden. Etwa 9 bis 12 Prozent der Jugend-
lichen zeigen ein risikobehaftetes Verhalten im Umgang mit
digitalen Medien, die ganz große Mehrheit aber der Jugend-
lichen nicht. 62 Von einer Prävalenz der Internetabhängigkeit
kann bei etwa ein bis zwei Prozent der Gesamtbevölkerung
gesprochen werden. Dabei sind Jugendliche gefährdeter als Er-
wachsene, werden Computerspiele häufiger von männlichen
Personen und soziale Netzwerke eher von weiblichen Personen
suchtartig genutzt, sind lange Arbeitslosigkeit, geringes Ein-
kommen, lediger Familienstatus, Alleinleben und Migrations-
hintergrund Risikofaktoren für Internet-bezogene Störungen.
Die Medien-Risikogruppe fällt mit der sozialen Risiko-Gruppe
weitgehend zusammen. Das ist der wesentliche Zusammen-
hang, auf den es ankommt. Übermäßige Mediennutzung führt
zu Entwicklungsstörungen besonders bei kleinen Kindern. Die
Ermahnung der Drogenbeauftragten der deutschen Bundes-
regierung, Marlene Mortler, aus Anlass der Veröffentlichung
des Jahresberichts 2017 – „Es ist dringend notwendig, Eltern
beim Thema Mediennutzung Orientierung zu geben. Klein-
kinder brauchen kein Smartphone“ 63 – belegt, auf welchem
Niveau die Debatte angekommen ist. Es geht um Selbstver-
ständlichkeiten der Erziehung und man kann sich nur wun-
dern, dass an solche Grundsätze der Erziehung überhaupt er-
innert werden muss. Eine der bisher umfangreichsten Studien
zum Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Lebens-
zufriedenheit in Großbritannien mit mehr als 100 000 Teil-
nehmern kommt zu dem schlichten Ergebnis, dass ein ver-

73
nünftiges Mittelmaß im Umgang mit Medien zum mentalen
Wohlgefühl beiträgt, zumal wenn die Mediennutzung unter
der Woche eine andere ist als am Wochenende. 64 Überlegte
und moderate Mediennutzung gehen mit Zufriedenheit und
sozialem Wohlgefühl einher. Wer dagegen mehr als fünf
Stunden einen Typus von Gerät nutzt, zeigt zumeist ein auf
Dauer problematisches Verhalten. Allerdings ist der Effekt nur
schwach ausgeprägt, denn Medienkonsum wird erst in Verbin-
dung mit anderen Lebensentwertungen kritisch. Einmal mehr
ist das Argument zu wiederholen, dass die soziale Welt nicht
aufhört zu bestehen und sich auch nicht medial auflöst. Nicht
den Medien, sondern der Verwahrlosung sollte die gesellschaft-
liche Aufmerksamkeit gelten. Medienkritik ist nur ein Ersatz-
spielplatz einer verunsicherten Bildungsgesellschaft.
Wir verbringen eine wachsende Zeit mit dem Internet, kei-
ne Frage. 8 bis 11 Stunden sind amerikanische Kinder und
Jugendliche im weitesten Sinne mit digitalen Medien am Tag
verbunden. Die 12- bis 19-Jährigen in Deutschland sind etwa
dreieinhalb Stunden täglich im Netz. Die Daten sind ungenau
und nach sehr verschiedenen Kriterien erhoben, denn schon
der Unterschied zwischen Mediennutzung in der Freizeit und
in der Arbeit hat sich deutlich abgeschwächt, eben weil wir in
fast allen Lebensbezügen vom Internet umgeben sind. 65 Aber
was kann man aus solchen Zahlen schließen? Dass jemand viel
Zeit vor dem Bildschirm sitzt, kann vieles bedeuten. Die Psy-
chologen Markus Appel und Constanze Schreiner haben den
sehr verstreuten Forschungsstand zum Zusammenhang von
Medien und seinen sozialpsychologischen Auswirkungen ge-
sichtet, metaanalytisch aggregiert und neun populäre Mythen
über den Zusammenhang von Gesellschaft und Internet iden-
tifiziert. 66 Das heißt, sie haben sehr viele, auch nicht publizierte
und einander durchaus widersprechende Untersuchungsergeb-
nisse für ihre Metaanalyse gesammelt, gewichtet und so aus-
gezeichnet, dass die Einzelergebnisse zu Gesamtwerten zusam-
mengeführt werden konnten, um einzelne Meinungen über die
Folgen des Medienkonsums zu prüfen. Mit diesem umsichti-

74
gen, in der psychologischen Forschung gängigen Vorgehen ver-
meidet man beispielweise, dass die Untersuchung zu Grund-
schülern mit der Studie zur Internetnutzung im höheren Alter
fälschlich vermengt wird. Metaanalysen geben, wenn sie statis-
tisch so sorgfältig wie hier aufbereitet sind, Auskunft über die
mittleren Unterschiede zwischen den verschiedenen For-
schungsergebnissen. Die Befunde der beiden Psychologen lie-
gen in der Linie der in diesem Buch versammelten Argumente.
Appel und Schreiner sprechen deshalb auch von Mythen der
Internetnutzung, weil den populären Thesen vom Verfall der
sozialen Welt in digitalen Zeiten wenige Befunde zugrunde lie-
gen, ja die Forschungsergebnisse tatsächlich überwiegend in
eine andere Richtung weisen. Kurz zu den Ergebnissen im
Einzelnen.
Neun Mythen machen die beiden Sozialpsychologen fest:
Der erste Mythos ist der vom Zusammenhang zwischen Inter-
netnutzung und sozialer Vereinsamung. Der Zusammenhang
ist nur sehr schwach ausgeprägt. Je nach Studientypus zeigen
Längsschnittstudien über einen längeren Zeitraum in die um-
gekehrte Richtung eines eher positiven Zusammenhangs. Wer
im Internet ist, nutzt dieses zur Vertiefung seiner sozialen Be-
ziehungen. Nicht Internetnutzung und Vereinsamung hängen
zusammen, sondern Internetnutzung und Persönlichkeits-
typus. Dieser Unterschied ist wichtig, weil er einmal mehr da-
rauf hindeutet, dass der Erfolg von Internet und Computer eng
mit unseren sozialen Bedürfnissen zusammenhängt. Wir sind
viel im Netz, weil uns so viel an sozialen Beziehungen liegt.
Zweitens, so Appel und Schreiner, nimmt politisches und ge-
sellschaftliches Engagement nicht ab, wenn jemand viel im In-
ternet ist. Mehr Internutzung geht eher mit mehr gesellschaft-
lichem Engagement zusammen. Wer engagiert ist, nutzt auch
das Internet dazu und gewinnt andere dafür. Einsamkeit, so
der dritte Mythos, ist keine Folge von Internutzung. Depres-
sionsneigungen und Selbstbewusstsein werden durch Internet
nicht signifikant beeinflusst. Um solche psychischen Probleme
hinreichend zu erklären, ist das Internet nicht ausreichend

75
erklärungskräftig. Von der Nutzung kann nicht direkt auf das
subjektive Wohlbefinden geschlossen werden. Mehr als
99,75 Prozent der Depressionswerte haben andere Ursachen
als das Internet, so ist viertens festzuhalten. Fünftens gibt es
einen schwachen Zusammenhang zwischen Fettleibigkeit und
Computer- bzw. Fernsehkonsum und dieser ist bei Kindern
unter zwölf Jahren auffällig. Wie gesagt, ist in diesen Studien
nur von Zusammenhängen, nicht von Ursachen die Rede. Für
Fernsehen ist diese Korrelation deutlicher nachzuweisen, nicht
aber für Computerspiele. Die Ursachen für Bewegungsmangel
liegen woanders und sind dort nicht zu übersehen. Für den
Schulunterricht zeigt sich, und das ist sechstens, dass ein aus-
schließlich auf neuen Medien basierender Unterricht keines-
wegs besser ist als ein klassischer Unterricht. Dagegen kann
die Verbindung von direktem Face-to-Face-Unterricht und
neuen Medien, also der Tutorenrolle digitaler Medien in einem
ansonsten zwischenmenschlich geführten Unterricht, zu leicht
besseren Ergebnissen führen, aber nur dann, wenn es koope-
rativ erfolgt, also letztlich mit großem Engagement der Lehrer
wie der Schüler. Alleine am Computer zu lernen, bringt da-
gegen für die meisten Schüler wenig. Zielsetzungen müssen
durch gescheite Lehrer erfolgen, das gilt immer noch. Weiter-
hin sind computerbasierte Lernspiele nicht wirkungslos – so
sind siebtens die Ergebnisse zusammenzufassen –, sondern
nützlich, wenn sie selbstwirksam und selbstexplorativ angelegt
sind. Denn dann können bessere Wissenszuwächse erreicht
werden. Ob mit oder ohne Computer gelernt wird, ist nicht so
entscheidend wie die Lernumgebung und damit die Lebendig-
keit der sozialen Rollen von Lehrern und Schülern. Schließlich
ist achtens festzuhalten, wenn auch nur sehr vorsichtig, dass
bislang keine Minderung im Umfang und in der Qualität von
Texten von Schülern im Zusammenhang mit Internetnutzung
festgestellt werden konnte. Wer das Internet viel(fältig) nutzt,
dem fehlen nicht die Worte und die Syntax. So viel von Bil-
dungsverfall durch neue Medien die Rede ist, nachgewiesen
werden konnte er noch nicht.

76
Und neuntens setzt sich die Studie von Appel und Schrei-
ner mit den vielen Quer- und Längsschnittstudien zur Frage
nach dem Zusammenhang von aggressivem Verhalten und ge-
walthaltigem Computerspielen auseinander. Steigern Ego-
shooter und ähnliche Computerspiele gewaltbereites Verhalten
oder wirken sie kathartisch im Sinne eines stellvertretenden
Durchlebens? Hier findet sich sehr wohl ein Zusammenhang
zwischen gewalthaltigen Videospielen und gleich einer ganzen
Reihe von abhängigen Variablen wie aggressivem Verhalten,
aggressiver Wahrnehmung und aggressiven Affekten. Hoch-
aggressive Spiele sind tatsächlich eine der Ursachen für gewalt-
tätiges Verhalten, allerdings werden sie durch eine Reihe wei-
terer Faktoren stark beeinflusst und dazu gehören Familie,
Freundeskreis und soziale Situation. Appel und Schreiner
verweisen hier auch auf das Konsenspapier der American
Academy of Pediatrics, das diesen ursächlichen Zusammen-
hang ebenfalls benennt, 67 und betonen, dass gewalthaltige Me-
dien eine, aber wohl nicht die erklärungskräftigste Ursache sein
dürften. Und das stimmt wiederum mit ökonomischen Zahlen
überein, die keinen Zusammenhang zwischen dem steil ange-
stiegenen Kauf von gewaltreichen Computerspielen und Ge-
waltkriminalität finden konnten. Denn die Gewaltkriminalität
nimmt seit Jahren eben ab, der Konsum von gewaltgeladenen
Computerspielen aber steigt steil an. 68 Die Spieler von Grand
Theft Auto, Starcraft und World of Warcraft sind keine Risiko-
gruppe der Gesellschaft. Langzeitstudien, bei denen Testper-
sonen über acht Wochen täglich mindestens eine halbe Stunde
so gewaltlastige Spiele wie Grand Theft Auto gespielt haben,
waren nach den acht Wochen nicht aggressiver und gewalt-
bereiter als Vergleichsgruppen, die keine solche Spiele gespielt
haben, auch gegenüber Gruppen, die gewaltfreie Spiele wie
Sims 3 gespielt haben. 69 Die Gewalt in der Gesellschaft hat an-
dere Ursachen als Computerspiele.
Spätestens hier ist es an der Zeit von den Verlierern der
digitalen Modernisierung zu sprechen, jenen ca. 15, vielleicht
sogar 20 Prozent, denen nicht vorgelesen wird, die nicht lernen

77
mit Medien umzugehen, sondern vernachlässigt vom vierten
Stock aus auf laute Straßen schauen und dann in Computer-
spielen oder abgründigen Diskussionszirkeln mehr Ansprache
finden als sonst. Man muss kein Sozialarbeiter sein, um zu
ahnen, wie sehr in einem solchen sozialen Umfeld Medien fa-
tale Auswirkungen haben können. Wer nicht gelernt hat, sich
auf den Weg zu machen, um Freunde zu sehen, findet in Com-
puterspielen und im Internet jene Verstärkung, die antisoziale
Verhaltenseigenschaften fördert. Computerspiele können sehr
wohl für diese meist männlichen Jugendlichen, die niemand im
Guten einbindet, dazu führen, sich selbst aus Schule und Ge-
sellschaft auszuschließen. Die Spiele treiben dann eine Brutali-
tät unter die Oberfläche, die nur einen kleinen Anlass braucht,
um zuzuschlagen. Sich ständig extremen Gewalt- und Sexdar-
stellungen auszusetzen, hat dann bittere Folgen. 70 Das gilt auch
für die Nutzung sozialer Netzwerke. Facebook scheint ganz
ähnlich verstärkend auf bestehende Verhaltensmuster zu wir-
ken. Für diejenigen, die nach Anerkennung suchen, die sie
sonst nicht bekommen, impulsiv sind, weil sie niemanden ha-
ben, der egal, was sie machen, zu ihnen hält, für alle die sind
Computerspiele und ist auch Facebook eine dauernde Ablen-
kung nach unten. Die neuen Medien sind dann sehr schnell
eine Abwärtsspirale. Pseudo-Freundschaften werden in Zahlen
von über vielen hundert ‚Freunden‘ demonstriert, denen keine
soziale Wirklichkeit entspricht. Das Abfilmen von Schlägerei-
en, die in Netzwerken wie Facebook verbreitet werden, dient
nur der Demütigung anderer. Aggressive Formen der Sexuali-
tät werden übernommen und überhaupt riskanteres Sexualver-
halten verstärkt. Suchtartiges Verhalten kommt auf, auch wenn
die Forschung noch darüber streitet, ob soziale Netzwerke tat-
sächlich die gleichen Effekte wie Tabak- oder Alkohol zeitigen
können. 71 Auch politische Radikalisierung bleibt dort nicht
aus, wo nur noch die einander bestätigenden Hass-Kommen-
tare ausgetauscht werden. Die Algorithmen etwa bei Facebook
scheinen die Radikalisierung dann auch noch zu verstärken. 72
Wem diese Meinung gefällt, dem gefällt auch eine ganz ähn-

78
liche andere, vielleicht auch radikalere. Dieses Zusammenwir-
ken von Algorithmen und sozialer Problematik setzt Abwärts-
spiralen in Gang. Es liegt in der Logik solcher automatisiert
hergestellter persönlicher Öffentlichkeiten, nur die miteinan-
der schon vorher gefundenen Meinungen zu teilen. Soziale
Exklusion oder politische Radikalisierung gehen so eng mit
digitalen Medien zusammen.
Suchtspezialisten wie Bert te Wildt verweisen denn auch
auf Faktoren, die entscheidend für Internetabhängigkeit und
deren Folgen sind. Unsicherheit in der adoleszenten Entwick-
lung besonders bei männlichen Jugendlichen, das Auseinan-
derfallen der Selbstwahrnehmung der eigenen soziale Rolle
nach innen und außen, Leistungsdruck in der Schul- oder Ar-
beitswelt, aber auch der Hunger nach sozialer Nähe und andere
individuelle und sozialen Faktoren sind die Bedingungen da-
für, dass in der Verbindung der leichten Zugänglichkeit digi-
taler Medien eine Sucht nach Internet entsteht. 73 Unter Ju-
gendlichen, besonders männlichen, betrifft die Sucht nach
Cybersex, Spielen und auch sozialen Medien je nach sozialer
Gruppe zwischen fünf bis acht Prozent. Das ist sehr viel. In
der Gesamtbevölkerung schätzt man, dass ca. ein bis zwei Pro-
zent von Internetsucht betroffen sind. Das sind gemessen an
Zahlen für Alkoholsucht kleine Zahlen, aber hohe Zahlen
gerade auch weil sie Jugendliche und hier besonders jene
betreffen, die sowieso eher am Rande der Gesellschaft stehen.
Sie vernachlässigen sich selbst, gehen nicht mehr in die Schule
oder zur Arbeit und verlieren schließlich auch den Bezug zu
den Menschen in ihrer nächsten Nähe. Die gesuchte Nähe, die
Zahlen von Facebook-Freundschaften suggerieren, obere Plätze
in Rankinglisten zu versprechen scheinen und Leistungen auf
den Apps anzeigen, führen zum Gegenteil einer sozialen Ein-
bindung. Depressionen, spontane Aggressivität in einem ge-
fährlichen Ausmaß und antisoziale Merkmale zeigen sich
schon bei kleinen Anlässen. Ambulante Gruppentherapien
und Suchtkliniken haben entsprechend viel zu tun, um diese
Abhängigen wieder in ein normales soziales Leben zurück-

79
zubringen. Oft ist es ein langer Weg, aus der Entwirklichung
durch Internetsucht wieder in die Wirklichkeit des Lebens zu-
rückzufinden.
Für die sozial Umsichtigen dagegen intensiviert Facebook
auch deren reale Kontakte. 74 Größere Netzwerke sind dann ge-
staffelt und zeigen für die Gewinner der digitalen Modernisie-
rung eine höhere Lebenszufriedenheit an. Sie ermöglichen und
verbessern etwa für die meisten Studenten deren dauerhafte
soziale Beziehungen in einer geographisch weiter auseinander-
liegenden Welt der Städte und urbanen Mobilität. Mit den ehe-
maligen Klassenkameraden auch im Studium noch in Verbin-
dung zu bleiben, gestatten soziale Netzwerke so leicht, dass
genau deshalb das so viele tun. Einander widerstreitende Mei-
nungen werden hier in Newsfeeds und Likes gegeneinander ins
Feld geführt. Und auch diese Offenheit verstärken die Algo-
rithmen der sozialen Netzwerke. Wer viel in sozialen Netz-
werken aktiv ist, hat eine höhere Chance, mit Meinungen an-
derer sozialer und politischer Gruppen in Berührung zu
kommen. 75 Wählerschaften populistischer Parteien sind da-
gegen unterdurchschnittlich in sozialen Medien präsent. Inso-
fern reflektieren Facebook-Profile so ziemlich die aktuellen
Persönlichkeitsmerkmale, die guten wie die schlechten. 76 Die
Verlierer der digitalen Modernisierung suchen und finden den
Hass, den Medien wie Facebook global zugänglich machen.
Dahinter stehen andere Verlierer oder auch Klein-Kriminelle
oder Mafia-Banden mit vierstelligen Hacker-Abteilungen oder
gut organisierte Fanatiker und nicht selten auch Regierungen. 77
Den Hass erfindet nicht Facebook, seine Multiplikation aber
erlauben solche und ähnliche soziale Netzwerke. Und das tun
sie selbst dann, wenn Facebook im Verdacht steht, gezielt eher
liberale Positionen im Netz zu stärken, weniger liberale Mei-
nungen dagegen zu schwächen.
Generell gesprochen bedeutet dies, dass die Versprechun-
gen der Internetgiganten wie Facebook, die eigenen sozialen
Kontakte steigern zu können, einer Überprüfung schlicht nicht
standhalten. Und zwar vor allem deshalb nicht, weil das gar

80
kein sinnvolles Ziel ist. Vielmehr haben wir in der Regel eben
diese zwischen 100 bis 200 engeren oder loseren Verbindungen
zu anderen Menschen, eine Zahl, die zu steigern nicht wirklich
sinnvoll ist. Untersuchungen zu mehr als einer Million Face-
book-Seiten zeigen denn auch, dass die Leute im Schnitt 100
bis 200 Namen als ihre Online- wie Offline-Freunde listen. Der
Unterschied zwischen intensiven Facebook-Nutzern und sol-
chen, die nur gelegentlich auf Facebook sind, ist vernachlässig-
bar. 78 Intensive Nutzer haben in der Regel keine größeren
Freundeskreise als Gelegenheitsnutzer. Und Studien zu E-Mail,
Instagram und Twitter-Nutzung zeichnen ein ähnliches Bild.
In etwa umfassen unsere sozialen Beziehungen die Dunbar-
Zahl von 150 Freunden. Schließlich sind wir immer noch der
vielleicht 200 000 Jahre alte Homo sapiens geblieben. Alle Ver-
sprechungen auf Steigerungen zum posthumanen Sapiens sind
nicht seriös.
Wir wissen aus einer Reihe von Studien, dass Medien nicht
neue Persönlichkeitsmerkmale erfinden. Aber vorhandene Per-
sönlichkeitsmerkmale können sehr wohl verlagert oder ver-
stärkt werden. Darin sind Medien gefährlich 79 oder auch nütz-
lich. Lässt man Leute Filme sehen oder Bücher wie Harry
Potter lesen, in denen Magie vorkommt, und testet sie danach,
für wie plausibel sie es halten, dass vielleicht doch ein bisschen
Magie auch im wirklichen Leben möglich wäre, dann steigt die
Vermutung, das könnte doch ein bisschen Wirklichkeit sein im
Vergleich zu Gruppen, die nicht Harry Potter gesehen oder
gelesen haben. Lässt man Leute dagegen Geschichten von
Hooligans lesen, die nur auf die nächste Schlägerei warten
und keine schwierigere Aufgabe zu lösen haben als das Öffnen
einer Bierdose, dann schneiden diese Leser im Intelligenztest
im Vergleich mit Kontrollgruppen signifikant schlechter ab. 80
Die Schlussfolgerung aus solchen und ähnlichen Studien liegt
auf der Hand: Man kann sich auch dumm lesen, ob mit
Büchern, Computerspielen oder Facebook. Aber das sind tem-
poräre Verlagerungen von Persönlichkeitsmerkmalen und sie
wirken dauerhaft nur dann, wenn sie mit anderen sozialen

81
Entwertungen regelmäßig über einen längeren Zeitraum zu-
sammengehen.
Computerspiele sind daher nicht der Untergang der zivili-
sierten Welt noch der Niedergang der Jugend. Die Spielelust,
die sich an Starcraft, oder Red Dead Redemption erfreut, gehört
vor allem zu Menschen, die solche Spiele als eine rekreative
Tätigkeit genießen und hierbei eine hohe Selbstwirksamkeit
erfahren. 81 In Deutschland spielen fast dreißig Millionen Men-
schen alle Arten von Computerspielen. Das sind mehr als vier-
zig Prozent der Gesellschaft, rechnet der Branchenverband Bit-
kom vor. Und das Bild vom pickligen Jungen im großkarierten
Hemd als dem typischen Gamer ist längst Geschichte, wenn es
je gestimmt haben sollte. Besonders schnell wächst in den letz-
ten Jahren die Zahl der weiblichen Spieler. Schon 2014 haben
sie mit den männlichen Spielern weitgehend gleichgezogen.
Das liegt vor allem an den Smartphones, die fast jeder mit sich
herumträgt und den Apps, die das Spielen zu einer Gelegenheit
für das Zwischendurch gemacht haben. Etwa ein Viertel der in
Deutschland genutzten Apps sind Spiele. Je mehr die digitale
Welt unsere zweite Haut wird, desto selbstverständlicher um-
geben uns auch Spiele. Über das Internet spielen Millionen
Menschen zusammen, viele in kleinen Kohorten, wo man sich
persönlich kennt. Und nicht nur Jugendliche spielen, sondern
auch Über-Vierzigjährige, gerade auch App-Spiele. Meist kom-
men die Spieler aus besser gestellten Haushalten, die über ein
monatliches Nettoeinkommen von mehr als 3 000 Euro ver-
fügen. Computerspiele-Messen wie Gamescom sind ein Ereig-
nis, dem Hunderttausende von Besuchern entgegenfiebern; die
teuren Eintrittskarten sind dementsprechend schon vor der Er-
öffnung ausverkauft. 82 Dass es bei solchen Messen regelmäßig
zu schweren Ausschreitungen wie bei Fußballspielen kommen
sollte, ist bislang noch nicht berichtet worden. In Ländern wie
Korea sind besonders kreative Spieler wie Lee Sedol, der mehr-
fache Weltmeister im Starcraft-Spiel, Nationalhelden. Sie einen
die Nation wie sonst Sportler oder Künstler auch. Historisch
geschulte Köpfe werden daran erinnern, dass schon vor mehr

82
als zweihundert Jahren Ästhetiker wie der Theologe Jean-Bap-
tiste Dubos in Schriften wie Réflexions critiques sur la poésie et
sur la peinture bemerkt haben, dass man gewaltsame Taten auf
Bühne sehen kann, ohne deshalb das Theater als Monster zu
verlassen. Shakespeares Richard III. auf der Bühne zu erleben,
hat noch kein Publikum in Tyrannen verwandelt. Auch die
Gamescom verwandelt niemanden in ein Monster.
Wenn zwischen Medien und Gewalt so leicht ein Zusam-
menhang herzustellen ist, dann liegt das auch an der Geschich-
te der Medien selbst. Medien haben eine Geschichte der Faszi-
nation für Gewalt und Schrecken und das gerade in der
Moderne. Das Aufkommen der Kriminalgeschichten und all
ihrer Subgenres wie dem Thriller sind die Folge einer Zäh-
mung der Gewalt im öffentlichen Raum. Wir schauen nicht
mehr gerne Kreuzigungen zu und besuchen auch nicht Hin-
richtungen, wie es frühere Generationen getan haben. Tierquä-
lerei ist ein Strafbestand und keine Unterhaltung mehr. Die
Faszination ist in die Bücher gewandert. Auch das frühe Kino
ist eine Erfolgsgeschichte geworden, weil es diese Faszination
für Gewalt auszudrücken verstanden hat. Die Bundesrepublik
gerät nicht regelmäßig sonntagabends in den Ausnahme-
zustand, weil wieder sehr viele Bundesbürger den neusten Tat-
ort gesehen haben. Und der Erfolg skandinavischer Serien-
killer-Romane steht in keinem Zusammenhang mit einer in
Gewalt versinkenden Gesellschaft Nordeuropas, der gegen-
teilige Zusammenhang ist vielmehr richtig. 83 Es sind gerade
die ausgeprägt modernen Gesellschaften wie die Schwedens,
die sich simulierte Gewalt erlauben.
Die skandinavischen Gesellschaften können so gut im
Genre der Schwedenkrimis mit sich selbst spielen, weil ihre
soziale Ordnung in einer historisch einmaligen Weise befriedet
ist. Ein Videospiel wie Red Dead Redemption II hat bei seiner
Veröffentlichung im Herbst 2018 weder in der Schweiz noch in
Österreich oder in der Bundesrepublik zu Gewaltausbrüchen
geführt, weil der Wilde Westen dieses Action-Adventure-Games
ohne jede Nähe zur Wirklichkeit der Spieler ist. Erst pazifizierte

83
Gesellschaften sind frei zu spielen und wir tun genau das in
einer geschichtlich singulären Weise.
Computerspiele haben also für die meisten von uns moder-
nen Menschen eine ziemliche genaue Funktion und Wirkung
in einer befriedeten Gesellschaft. Sie sind keine Schulbücher
und machen daher nicht einfach schlauer, auch wenn sie die
ein oder andere strategische Fähigkeit wie schnelleres Schluss-
folgern oder räumliche Orientierung einüben. Für die meisten
Schulzusammenhänge sind das aber nur begrenzt nützliche
Fähigkeiten. Computerspielen ist vor allem ein Freizeitverhal-
ten. Es ist Spiel. Wer schulische Leistungen steigern will, der
wird auf Lesen weiterhin setzen müssen, weil Lesen das Vo-
kabular trainiert. Selbst beim Freizeitlesen wird zumeist das
Weltwissen erweitert, Fähigkeiten, die auch in Schulen gern
gesehen sind. 84 Aber wir sind nicht nur lernende Wesen, wie
jeder von uns weiß, sondern schauen auch ziellos aus dem
Fenster oder spielen selbstverloren vor uns hin. Natürlich kön-
nen auch Computerspiele schlauer und kreativer machen. Das
tun sie aber nur dann, wenn im Spiel möglichst genau die
Fähigkeiten eingeübt werden, die gefördert werden sollen.
Spiele, die prosoziales Verhalten für den Spielerfolg verlangen,
erhöhen empathische Fähigkeiten und minimieren Gefühle
wie Schadenfreude. 85 Das funktioniert mit Spielen wie mit
dem Hören entsprechend positiv gestimmter Musik. Aggres-
sive Lieder erhöhen dagegen aggressive Gedanken und feind-
liche Gefühle. Lernen kann man darum sehr wohl auch mit
Computerspielen oder Musik, aber das nur in der Domäne,
die ein Spiel jeweils einübt. Chirurgen schnitten im wörtlichen
Sinne besser ab, wenn sie vor einer Operation die Augen-
Hand-Koordination virtuell durchgespielt hatten. Actionspiele
üben die rasante Adaption von Mustererkennung ein, die viel-
leicht nicht in der Schule, aber in anderen Lebensbereichen
nützlich ist. 86 Spiele wie Minecraft unterscheiden sich von den
sonst gängigen Spielen darin, dass sie nur minimale Instruktio-
nen am Anfang geben und erwarten, dass man sich durch sehr
viel Text und Instruktionsseiten liest, um hier erfolgreich eine

84
solche Spielwelt zu meistern. Entsprechend fördern Spiele wie
Minecraft Lesen und Schreiben mehr als es andere Spieltypen
leisten. Spiele zu bestimmten Themen wie etwa zur grie-
chischen Mythologie, zum Beispiel Playing the Past, verbessern
naheliegender Weise das Wissen über alte Kulturen. Und zu-
sammen zu spielen bzw. zu gamen, fördert kooperatives Ver-
halten, – wen wundert das. 87 Wie so oft hängt es an der Art der
Spiele und dem Maßhalten mit der Spielezeit, warum Compu-
terspielen auch lehrreich sein kann und warum Psychologen
wie Esther Köhler und David Williamson Shaffer ein großes
pädagogisches Potential in Computerspielen ausmachen. 88
Spiele wie Sim City ermöglichen es, verschiedene Perspektiven
auf die Welt zu erproben, zu lernen, was es heißt, die Infra-
struktur einer Stadt zu betreiben oder die Rechtsverhältnisse
auszubalancieren. Lerndefizite in Fragen der Gedächtnisleis-
tung, des räumlichen Denkens und der Entscheidungsfindung
bei sechsjährigen Kindern mit ungünstigem Hintergrund kön-
nen mit den richtigen Spielen wie Mate Marote ausgeglichen
werden. 89 Man muss deshalb nicht gleich erwarten, dass die
Zukunft des Lernens, ja des gelingenden Lebens im Spielen
liegt, wie es poppige Thesen etwa von Jane McGonigal in auf-
lagenstarken Büchern und im Spiegel behaupten. 90 Aber Com-
puterspiele scheinen gerade auch visuelle Kreativität zu be-
fördern, wie überhaupt unsere Kultur visuellen Informationen
mehr Raum und Macht einzuräumen scheint als frühere
Gesellschaften. 91
Längst gibt es Fokussierungs- und Konzentrationstraining
für unterschiedliche Berufe wie Piloten oder Chirurgen. Für
deren Training wird intensives Computerspielen erfolgreich
eingesetzt. 92 Spielen macht nicht dumm und kann viel eher
unter die nützlichen Aufpulverungen des Lebens gerechnet
werden. Und wie die Jungen, so die Alten. Eine australische
Studie mit mehr als 5 000 Teilnehmern zwischen 69 und
87 Jahren, die deren Computernutzungsverhalten über mehre-
re Jahre mit Nicht-Computernutzern dieser Altersgruppe ver-
glichen hat, legt nahe, dass die tägliche Nutzung von E-Mail,

85
Internet, Textverarbeitung, Spielen und Netzwerken Demenz-
erkrankungen abzuschwächen scheint. 93 Damit nicht genug
werden Computerspiele, die wie Rayman Raving Rabbids dazu
verwendet, Kinder mit Legasthenie zum besseren Lesen zu ver-
helfen. 94 Aufgrund solcher und ähnlicher Befunde haben die
beiden Neurowissenschaftler Daphne Bevalier und Richard
Davidson in der Zeitschrift Nature die These vertreten, dass es
nicht darauf ankäme, Computerspiele zurückzudrängen, son-
dern sie für die Verbesserung vieler kognitiver Fähigkeiten zu
nutzen, weil sie genau das zu leisten im Stande seien. 95 Man
muss den Enthusiasmus der Sozialoptimierung nicht teilen,
um zu begreifen, dass von unterschiedlichen Dingen die Rede
ist, wenn über Computerspiele und ihren Folgen geurteilt wird.
Dass ihnen die Zukunft gehören könnte, dafür sprechen schon
jetzt viele der Befunde. Denn Computerspiele sind die Fort-
setzung der immersiven Lesewelten Rousseaus mit gesteigerten
Mitteln. Sie ermöglichen das selbstversunkene Eintauchen in
mögliche Welten und leisten vielfältige Anschlusskommunika-
tionen. Die Chatrooms der Actionspiele sind nicht leerer als
die lernorientierter Spiele.
Anders gesagt: So leicht die neuen Medien Teil unserer täg-
lichen Umwelt werden, so wenig lösen sie die Grenzen unserer
sozialen Welt auf oder machen Eltern, Freunde und Lehrer
überflüssig. Sie heben auch nicht die Notwendigkeit des Maß-
haltens auf, noch machen sie Gedanken überflüssig, für wel-
chen Zweck ich welche Medien nutze. Weder die Versprechun-
gen der Internetgiganten noch die Klagen ihrer Kritiker treffen
die Veränderungen der digitalen Modernisierung, die uns
längst wie eine zweite Haut umgibt. Die Modernisierung be-
trifft uns alle und lässt sich nicht auf ein Problem der Jugend
reduzieren. Konstruktionen von solchen Phänomenen wie die
‚App-Generation‘ 96 sind Barfuß-Soziologie. Das Internet und
andere Aufpulverungen des Lebens sind nützlicher als gedacht.
Das ist die gute Nachricht, die festzuhalten sich lohnt, gerade
auch dann, wenn man die Folgen für die Verlierer der Gesell-
schaft nicht aus dem Blick verliert. Der gelingende Umgang

86
mit der digitalen Welt hängt an ihrer Verbürgerlichung. Sie zu
betreiben, ist uns als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gestellt,
das gilt gerade auch für das Lesen, Schreiben und Publizieren,
wie im Folgenden zu zeigen sein wird.

87
5. Der Computer ist
dem Buch sein Tod und
andere Falschmeldungen

‚Der Computer ist dem Buch sein Tod‘, so sagen es viele und sie
sagen es mit dem Verweis auf die Folgen schwindender Bil-
dung, Sprache und überhaupt alltäglicher Klugheit, die mit
dem Ende des Buchs einhergehen sollen. Das Buch werde ein
Nischendasein wie die Vinyl-Schallplatte führen, das stille,
selbstversunkene Lesen könne bald schon die Ausnahme wer-
den und der schaffende Geist würde sich anderer Medien und
nicht mehr des Buchs bedienen. An diesem Topos ist vieles
falsch, vor allem die Entgegensetzung von Buch und Com-
puter. Schon das Buch gehörte und gehört zu den „Auf-
pulverungen des Lebens“ wie heute der Computer, und das
nicht erst seit Rousseaus Zeiten. Umgekehrt werden ganze
Lyrik-Bände auf dem Computer geschrieben und in digitalen
Poesiealben millionenfach geteilt. Und dass die Zahl der Bü-
cher auch nur irgendwo abnehmen würde, ist noch nicht be-
richtet worden. Lesen und Buch gehören zu uns modernen
Menschen. Nur wie das Buch aussieht, wie es hergestellt wird,
wie es uns begleitet und unsere Gedanken formt, das wandelt
sich sehr wohl. Wie sich der Nutzen von Büchern genauer ver-
ändert, davon handelt dieses Kapitel.
Bücher sollen nützen und erfreuen oder gar beides zu-
gleich, so hat es der römische Autor Horaz den Dichtern seiner
Zeit auf den Weg gegeben. Horaz war klug genug zu wissen,
dass Bücher Unterschiedliches leisten und es keineswegs so ist,

88
als würden alle Bücher gleichermaßen nützlich oder alle nur
unterhaltend sein. Bücher haben viele Funktionen, deren Ge-
meinsamkeit darin besteht, uns Welten aufzuschließen, die an-
dere an anderen Orten und zu anderen Zeiten beschrieben
oder sich ausgedacht haben, sodass es nicht zu viel behauptet
ist, dass Bücher unsere Welt erweitern. Bücher ermöglichen es
uns, Erfahrungen über Räume und Zeiten zu teilen. Wer wis-
sen möchte, wie die Welt an einem mittelalterlichen Hof im
fernen Japan ausgesehen hat, wird in den Monogatari-Erzäh-
lungen und im Roman der Hofdame Murasaki Shikibu reich-
lich und viel wunderlich erscheinende Anschauung finden.
Wer mehr über die Welt der Neandertaler wissen möchte, ob
sie nun über Sprache verfügt haben oder in ihrer Lebensweise
der unsrigen doch ähnlicher waren als lange vermutet, wird
populäre Darstellungen, etwa die der Paläoanthropologen Tho-
mas Wynn und Frederick Coolidge, belehrt aus der Hand legen
können. Und wer nicht weiß, wie unsere Welt als Scheibenwelt
aussehen könnte, findet in den Romanen Terry Pratchetts dazu
mehr als eine Anleitung. Ist es wahrscheinlich, dass wir solche
Entdeckungen im digitalen Zeitalter aufgeben wollen, um nur
am Objekt direkt zu lernen? Selbst wenn wir das wollten, so ist
es längst unmöglich, weil die meisten Dinge viel zu kompliziert
und abstrakt sind, um unmittelbar erfahren und verstanden
werden zu können. Sprache hat sich nicht zufällig im Lauf der
Evolution entwickelt, denn sie ist ausgesprochen nützlich, um
von Dingen zu reden, die nicht da sind, gestern passiert waren
oder morgen geschehen werden, aus einer anderen Perspektive
und von einem anderen Ort handeln und dergleichen Prakti-
kabilitäten mehr. In der modernen Welt ist sehr vieles nicht der
Erfahrung direkt zugänglich, und das hat zunächst Folgen für
unsere Sprache.
Unsere Sprache wird reicher in der modernen Welt, so lau-
tet der kontraintuitive Befund gegen alle Klagen über den Ver-
fall von Rede und Ausdruck. Reicher wird die Zahl der Wörter
in einer Sprache wie dem Deutschen. Je mehr Dinge es in der
Welt gibt, desto mehr Wörter gibt es, um diese Dinge zu be-

89
nennen und zu benutzen. Die Zahl der neuen Dinge ist weit
größer als die Zahl der Worte, die verloren gehen oder zumin-
dest außer Gebrauch kommen. Natürlich suchen eine Sattlerei
nur noch wenige Menschen auf, an Bandsalat erinnern sich nur
diejenigen, die mal ein Tonbandgerät oder einen Kassetten-
rekorder besessen haben. ‚Kommod‘ finden nicht viele Men-
schen eine Situation oder schimpfen jemanden einen ‚Quack-
salber‘. Wörtersammler wie Bodo Mrozek listen in ihrer
Botanisiertrommel der verlorenen Worte vielerlei solcher und
ähnlicher, längst verlorener Kleinodien auf, die in dem schö-
nen Lexikon der bedrohten Wörter und im Internet unter www.
bedrohte-woerter.de versammelt sind. Es sind so etwa 600
Wörter, die da unter großer Anteilnahme der gebildeten Welt
zusammengekommen sind. Um solche Klageplätze versam-
meln wir uns gerne. Aber das vermittelt ein falsches Bild. Denn
wir übersehen dabei, wie viele neue Worte jeden Tag entstehen,
Worte für all die komplizierten Sachverhalte und Ereignisse
unserer modernen Welt. Unser Wortschatz wird so jeden Tag
reicher. Da nutzen dann Leute Worte wie ‚Flüsterasphalt‘ und
‚Vollpfosten‘, andere reden von ‚Eurobond‘, der ‚Mikrospende‘
und von der ‚Vorständin‘ und was der neuen Wörter mehr
sind. Die Dinge, Institutionen und Ideen in der modernen Welt
werden mehr und mit ihnen die Wörter, die sie vermitteln.
Und wenn sie als Wörter, genauer als abstrahierte Konzepte
vorliegen, können sie verändert werden. Neue Dinge und neue
Vokabeln gehören zusammen, und beides gibt es gerade in
modernen Wissensgesellschaften in unglaublich großer Zahl.
Die Lexikographen vom Mannheimer Institut für Deutsche
Sprache versuchen die neuen Wörter zu verzeichnen, die ein-
fach schon dadurch entstehen, dass es mehr Dinge auf der Welt
gibt. Nur sind es so viele neue Wörter, dass selbst die Sprach-
gelehrten in Mannheim nicht wissen, wie viele es in etwa sind.
Der erste Bericht zur Lage der deutschen Sprache von 2013 gab
sich alle Mühe, den Zuwachs der Vokabeln in unserer Sprache
abzumessen und zeigte eindrucksvoll, wie die Worte mit den
Dingen zunehmen. Dinge sind nicht durch ein einziges Wort

90
abgebildet, wie etwa das Phantasie-Englisch ‚Handy‘, vielmehr
gehört ein Wortumfeld von der ‚Handy-Schutzhülle‘ über ‚In-
ternet-Zugriffspunkt‘ bis ‚Android‘ und unzählige Wörter
mehr hinzu, je nach der Domäne, die man untersucht. Die
Software-Industrie hat ihrerseits viele Vokabeln für dieses
Ding, das wir ‚Handy‘ nennen. Die Fachworte, die die Experten
der Telekommunikationsbranche verwenden, sind andere als
etwa in der Domäne der Gadget-Designer oder in der Jugend-
sprache. So umgeben sehr viele Wörter neue Dinge wie das
Handy. Vorsichtig geschätzt rechnen die Mannheimer Lexiko-
graphen mit deutlich mehr als einer Million neuer Wörter im
deutschen Sprachschatz seit den letzten hundert Jahren. Kei-
neswegs sind es dabei die Anglizismen, die als neue Vokabeln
in größerer Zahl zu diesem Anstieg wesentlich beigetragen ha-
ben, auch wenn dies andere Klageplätze der Kulturkritik nahe-
legen. Ihre Rolle ist weit überschaubarer, als es die gängige
Sprachkritik suggeriert. Für das Deutsche sind es die so cha-
rakteristischen Komposita, die gerade auch mit der Entwick-
lung neuer Dinge oder Verhältnisse gebraucht werden und
daher zunehmen. ‚Parklücke‘ ist von der technischen Entwick-
lung nicht abzukoppeln, die ein solches Wort in den Umlauf
gebracht hat. Und ‚Teilzeit‘ besteht zwar aus zwei bekannten
Worten, seine Bedeutung ist aber eine gänzlich neue und wie-
derum von gesellschaftlichen Entwicklungen in den letzten
hundert Jahren nicht abzulösen. Zwischen 1905 und 2004 ist
der Wortschatz des Deutschen um mindestens dreißig Prozent
auf mehr als fünf Millionen Wörter angewachsen. Und das
sind sehr vorsichtige Schätzungen, weil sie Fachsprachen nur
eingeschränkt berücksichtigen. Dort sind der Wörter noch viel
mehr.
Die Sprache verändert sich auch im digitalen Zeitalter. Ihr
Wortschatz wächst, und die Grammatik wird eine andere. Dass
die Grammatik einfacher wird, der Konjunktiv I nicht mehr so
häufig gebraucht und der Genitiv zum Attribut wird, wenn wir
eher sagen ‚Unterstützung vom Lehrer‘ statt ‚Unterstützung
des Lehrers‘, mag manchen als Verfall erscheinen. Sprach-

91
wissenschaftler dagegen konstatieren schlicht, dass alle großen
Kultursprachen im Laufe ihres Gebrauchs in ihrer Grammatik
einfacher werden und das besonders dann, wenn die Zahl ihrer
Sprecher zunimmt. Das lässt sich am Englischen besonders
deutlich und schon länger beobachten. Sprachen, die dagegen
nur von sehr kleinen Gruppen etwa in Papua-Neuguinea ge-
sprochen werden, haben eine ungleich komplexere Grammatik
auch als das Deutsche vor hundert Jahren. Wo mehr Sprecher
einer Sprache zusammenkommen, da wird die Grammatik ein-
facher und die Worte werden kürzer, lautet die Faustregel. Wir
gehen flexibler mit der Sprache um, sind anpassungsfähiger je
nach kommunikativem und medialem Kontext und müssen
mehr Worte verknüpfen als jemals zuvor. Mehr Worte und eine
flexiblere Grammatik bestimmen also unsere sprachliche Um-
welt im digitalen Zeitalter. In den noch größeren Sprachen als
dem Deutschen wie dem Chinesischen oder eben Englischen
ist die Entwicklung keine andere. Man kann also viel über die
Sprache unserer Gegenwart sagen. Nur dass sie verarmen
würde, das trifft nicht zu.
Wo mehr Wörter sind, da sind auch mehr Leser und mehr
Bücher nicht weit. Bevor gleich viel von den Veränderungen in
Sachen Bücher und Lesen die Rede sein wird, erinnere ich zu-
nächst an die Eckdaten, an die in den deutschsprachigen Län-
dern vergleichsweise stabilen Muster des Lesens in den letzten
hundert Jahren, wohlwissend, dass die Zahlen zur Beschrei-
bung der Lesergruppen sparsam erhoben und wenig belastbar
sind, will man regionale, soziale und andere Unterschiede ge-
nauer erfassen. In einer ersten Näherung kann man dennoch
sagen, dass in den deutschsprachigen Ländern zu etwa achtzig
Prozent den Kindern abends vorgelesen wird, ein gar nicht zu
überschätzendes Ritual. 1 Denn Lesen ist nun mal eine Kultur-
technik, die wie das Zähneputzen eingeübt werden muss. Zu
den Mustern des Leseverhaltens gehört auch, dass es Nicht-
Leser eher in der Stadt denn auf dem Land gibt. 2 Ein stabiles
Muster des Leseverhaltens ist außerdem der ausgeprägte Un-
terschied zwischen den Geschlechtern. Mädchen und Jungen,

92
Frauen und Männer lesen immer noch etwas anders, die einen
mehr, die anderen weniger, emotionsbetont die einen, hand-
lungsbetont die anderen. Mädchen lesen als erwachsene Frauen
noch weiter Belletristik, Jungen dagegen wechseln mit dem Er-
wachsenenleben eher zur Lektüre von Sachtexten. 3 Das sind
sehr alte Lesemuster, vielleicht noch älter als die Neuzeit und
diese sind durchaus nicht auf den deutschsprachigen Raum
beschränkt.
Die Zahl funktionaler Analphabeten ist hoch, zu hoch, und
liegt bei vermuteten zehn bis fünfzehn Prozent der Erwachse-
nen. Mehr als sieben Millionen Erwachsene in Deutschland
tun sich schwer mit dem Lesen selbst einfacher Texte, zwei
Millionen scheitern schon an Sätzen, und etwa 300 000 können
nicht einzelne Wörter entziffern. Im engeren Sinne rechnet
man mit etwa vier Prozent Analphabeten in einer modernen
Industrienation wie Deutschland oder der Schweiz – kein
Nischenphänomen. Anders als es das Stereotyp vom sozial iso-
lierten und benachteiligten Analphabeten will, stehen die meis-
ten, die mit dem Lesen Schwierigkeiten haben, im Berufsleben
und auch sonst in festen sozialen Beziehungen. 4
Eine andere Gruppe bleibt über die letzten Jahrzehnte in
Deutschland auch stabil. Das sind die intensiven Leser, oft sind
es eher Leserinnen als Leser. Sie lesen den ganzen Roman Anna
Karenina, alle sieben Bände von Harry Potter und Uwe Tell-
kamps Turm-Roman bis zur letzten Seite, ja, sie verschlingen
diese Bücher. Kein Koffer kann tragen, was sie für den Urlaub
als Lesestoff brauchen, und so sind schon viele von ihnen zu
Amazons Kindle gewechselt, der genügend Bücher in weniger
als 250 Gramm digital verpacken kann. Diese begierigen Leser
sind nicht genau einer sozialen Schicht zuzuordnen, auch
wenn sie eher weiblich denn männlich sind, eher dem Mittel-
stand entstammen, eher älter denn jünger sind, mal aus etab-
lierten, mal aus zugewanderten Familien kommen, die ja auch
längst einen lesenden Mittelstand ausgebildet haben, der oft
und zu Unrecht übersehen wird. Unter allen diesen werden
die mehr, die es nicht kümmert, wer analog oder digital

93
spricht. 5 Das sind in einer ersten Näherung die kaum ver-
änderten Lesergruppen.
Muss man sich also gar keine Sorge um das Lesen machen?
Auf die Frage, ob denn in den letzten Jahrzehnten nun mehr
oder doch eher weniger gelesen worden ist, bekommt man jen-
seits der Kulturkritik keine einfache Antwort. Nehmen wir ein-
mal an und zwar mit einem der klassischen Beobachter der
USA, mit Alexis Tocqueville, die USA seien die modernste Na-
tion der Welt, und was dort geschieht, sei der Vorbote zu dem,
was auch hierzulande zu erwarten sei. Zudem wird in den USA
die Entwicklung des Lesens sehr viel genauer untersucht als in
Deutschland, Österreich oder der Schweiz, sodass wir zunächst
auf das Lesen in den USA schauen. Die nationale Studie zum
Lesen von Kindern und zum Lesen in der Familie, die das
größte Verlagshaus für Kinderbücher, Scholastic, alle zwei Jah-
re publiziert, stellt fest, dass knapp mehr als die Hälfte der 6-
bis 17-Jährigen zum Zeitpunkt der Befragung ein Buch in ihrer
Freizeit liest. Etwas mehr Jungen, nämlich etwa 26 Prozent statt
nur 20 Prozent wie noch 2010, sind Freizeitleser. Mädchen
lesen dagegen weniger als noch vor einigen Jahren Bücher, da-
für mehr soziale Nachrichten. Sie sind aber unter den Viel-
lesern deutlich die größere Gruppe im Vergleich zu den Jun-
gen. Etwa 36 Prozent der Mädchen sind Vielleserinnen und ca.
32 Prozent der Jungen. Wie ihre Eltern sind die meisten Kinder
und Jugendlichen der Meinung, dass Lesen wichtig sei und
man überhaupt mehr lesen sollte. Die Antwort spiegelt freilich
eher den sozialen Konsens als die Wirklichkeit des Lesens. Wie
fast alle solche und ähnliche Studien, die mehrere tausend Kin-
der und Jugendliche befragen, betont auch diese, wie wichtig
das elterliche Vorbild sei und dass die schiere Zahl der Bücher
in einem Haushalt ein guter Indikator für die Leseintensität der
Kinder sei. 6 Das sind erst einmal Zahlen, die nicht gleich ver-
zweifeln lassen. Aber es lohnt sich noch genauer hinzusehen,
ob nicht doch der Computer dem Buch den Rang streitig
macht.
Zwei jüngere Berichte der amerikanischen Bundesstiftung

94
National Endowment for the Arts sind überschrieben mit
Reading at Risk (2004) und Reading on the Rise (2009). Der
Berichtzeitraum beider Studien fällt ziemlich genau mit dem
Aufstieg des Internets und des Smartphones zusammen. Wie
die Überschriften beider Untersuchungen im direkten Ver-
gleich schon anzeigen, hat sich die Sache mit dem Lesen ge-
bessert. 2004 schienen vom Lesen nur noch Daten des unauf-
haltsamen Niedergangs zu vermelden zu sein, 2009 gab es die
ersten guten Nachrichten seit mehr als zwei Jahrzehnten. 2004
musste der Bericht feststellen, dass weniger als die Hälfte der
erwachsenen Bevölkerung Literatur im letzten Jahr gelesen hat,
gegenüber 1982 demnach ein Verlust von fast zehn Prozent an
Leserinnen und Leser zu verzeichnen ist. 7 Die damals beobach-
tete Abnahme des Lesens von Literatur geht mit dem Rück-
gang des Bücherlesens allgemein einher, auch wenn dieser
Rückgang nicht ganz so stark ausgeprägt ist. Noch bevor der
Computer und das Internet unsere Welt durchdrungen haben,
ist die Zahl der Nicht-Leser in den letzten zwanzig Jahren um
sieben Prozent gestiegen und die Geschwindigkeit, mit der die
Zahl der Leser abnimmt, hat sich in den neunziger Jahren be-
schleunigt. Noch lesen Frauen deutlich mehr Literatur, aber
auch unter ihnen, so der Bericht 2004, nimmt die Zahl der
Leserinnen ab. Unterschiede zwischen den Altersgruppen oder
Ethnien sind dabei nicht erheblich. Weniger Leser sind unter
den besser Ausgebildeten ebenso wie unter den weniger gut
Ausgebildeten zu finden. Die Zahlen gehen einfach überall
rückläufig. Besonders alarmiert hat 2004 der Rückgang der
Leser in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen und der 18-
bis 34-Jährigen in den letzten zwei Jahrzehnten. Hier ließen
sich noch stärkere Rückgänge verzeichnen als unter den Älte-
ren. Noch bevor Internet und Computer unsere Welt bestimmt
haben, sind in den USA demnach die Leserzahlen deutlich zu-
rückgegangen.
Alarmierend sind die Zahlen von 2004, weil mit der Ab-
nahme des Lesens das schwindende Interesse an der gesell-
schaftlichen und politischen Partizipation einhergeht. Die 2004

95
konstatierte Abnahme führt der Bericht auf die Zunahme der
elektronischen Medien zurück, zu dieser Zeit noch vor allem
auf den Fernseher. Damals, 2004, gab es im Durchschnitt der
amerikanischen Haushalte nur einen Computer, aber viele
Fernseher. Diese Zunahme des Mediums Fernseher schlägt sich
auch in den Ausgaben nieder, die für verschiedene Medien ge-
tätigt wurden. 1990 machten 5,7 Prozent der Ausgaben für
Freizeitaktivitäten Bücher aus, 6 Prozent waren es für elektro-
nische Medien. Zwanzig Jahre später ist die Summe, die für
Bücher ausgegeben wird, ganz leicht auf 5,6 Prozent gefallen,
die Ausgaben für elektronische Medien sind dagegen auf
24 Prozent der Freizeitausgaben geklettert. Nicht das Buch hat
verloren, vielmehr wird mehr Geld für die neuen Medien aus-
gegeben. Das meint hier aber noch nicht so sehr die digitalen
Medien, sondern Videokassetten und -geräte. Man hat also zu
Beginn des 21. Jahrhunderts in den USA in fast jedem Zimmer
einen Fernseher stehen und der kostet mehr als Bücher.
Medien konkurrieren um Zeit, Aufmerksamkeit und Geld mit-
einander, und das im ganz wörtlichen Sinne. Soweit stimmen
die Zahlen von 2004 nicht eben glücklich, ohne dass in diesem
Bericht von 2004 viel von Internet und Computer die Rede
wäre.
Der alarmierende Bericht von 2004 wird noch durch einen
weiteren Report von 2007 gestützt, 8 der ebenfalls feststellen
muss, dass zwischen 1984 und 2004 das Lesen immer seltener
zu den Freizeitbeschäftigungen von Jugendlichen zählt. Selbst
der College-Besuch sichert nicht mehr das Lesen als eine
selbstverständliche Tätigkeit ab. Die Konkurrenz des Buch-
lesens mit anderen Medien ist offensichtlich. Die Fähigkeit,
Bücher flüssig lesen zu können, nimmt unter den 17-Jährigen
ab. Berichte wie dieser von 2007 erinnern immer wieder daran,
wie eng Lesefähigkeit und beruflicher Erfolg zusammen-
hängen. Gute Leser bereichern auch das soziale und kulturelle
Leben. Sie sind mehr als andere in der Öffentlichkeit engagiert,
treiben Sport und sind politisch aktiv. Diese Leser fehlen zu-
nehmend der amerikanischen Gesellschaft.

96
2009 hellt sich das Bild auf. 9 Nach einem Vierteljahrhun-
dert des Niedergangs machen die Fachleute zum ersten Mal
wieder einen Anstieg des Lesens aus. Dieser Anstieg betrifft
das Lesen von erwachsenen Frauen und Männern, verschiede-
nen ethnischen Gruppen und Generationen. Die 18- bis 24-
Jährigen, deren Leseinteresse in den letzten Dekaden immer
weiter abgenommen hat, zeigen einen erstaunlichen Zuwachs
von über 20 Prozent mehr Lesezeit zwischen 2002 und 2008.
Die Daten basieren auf sehr großen Probandenzahlen und sind
sorgfältig ausbalanciert entlang der Zahlen des amerikanischen
Zensus-Büros und erstaunen selbst die Wissenschaftler. Denn
nachdem über Dekaden hinweg immer weniger in den letzten
zwölf Monaten gelesen haben, liegt diese Zahl 2008 erstmals
wieder über der symbolisch so wichtigen 50-Prozent-Marke
und betrifft fast alle Bevölkerungsgruppen. Wichtig ist es dabei
festzuhalten, dass die Bevölkerung keine feste Größe ist, son-
dern durch Zuwanderung in die USA angestiegen ist. Der pro-
zentuale Anstieg von 7 Prozent zwischen 2002 und 2008 ist
daher vielleicht nicht so wichtig wie der Anstieg der absoluten
Zahlen der Leser. Mit mehr als 16 Millionen neuen Lesern im
Jahr 2008 (bei einer Bevölkerung von mehr als 320 Millionen
Menschen) ist die absolute Zahl der Leser auf einem Höchst-
stand, seit das National Endowment for the Arts 1982 die erste
Erhebung durchgeführt hat. Junge Menschen, die zwischen 18
und 24 Jahren alt sind, sie sind die neuen Leser, so sagt es der
Bericht mit erkennbarer Freude an den eigenen Befunden. Ihre
Zahl ist um mehr als 20 Prozent gegenüber 2002 angestiegen
und liegt damit etwa drei Mal so hoch wie die der übrigen
Bevölkerung. War die Zahl derjenigen, die in den letzten zwölf
Monaten gelesen haben, über das letzte Vierteljahrhundert
kontinuierlich gefallen, so weist der Anteil der jungen Leser
wieder deutlich nach oben. Knapp dreieinhalb Millionen junge
Leser sind dazugekommen. Und Gruppen der amerikanischen
Bevölkerung, die wenig lesen – wie etwa die hispanoamerika-
nischen Gruppen – lesen zwar immer noch weniger als andere
Bevölkerungsgruppen, aber auch hier steigt die Zahl der Leser

97
sehr deutlich mit Zuwachsraten von mehr als 20 Prozent, unter
den afroamerikanischen Lesern um 15 Prozent nach oben ge-
genüber den Zahlen von 2002. Jene, die nicht unbedingt im
Zentrum der Gesellschaft stehen, lesen deutlich mehr als noch
vor wenigen Jahren. Männer und Frauen lesen mehr, und auch
hier ist interessant, dass die Zuwachsraten des notorisch le-
seschwachen Geschlechts mehr als doppelt so hoch liegen wie
die der Leserinnen. Mehr noch steigt auch die Zahl derjenigen,
die trotz Abbruchs der High-School in den letzten zwölf Mo-
naten zu einem Buch gegriffen haben, auch wenn hier die ab-
soluten Leserzahlen immer noch sehr bescheiden ausfallen und
der Bildungsgrad zugleich ein sicherer Indikator für Lesever-
halten bleibt. In der Summe ist der Bericht des National En-
dowment for the Arts ermutigend.
Das gilt auch für die Sache des Lesens schöner Literatur.
Fast die Hälfte der amerikanischen Erwachsenen liest Romane.
Diejenigen, die auch Poesie und Dramen lesen, lesen – fast ist
man geneigt zu sagen: natürlicherweise – auch Romane und
Erzählungen. Immer seltener werden dagegen Poesie und Dra-
men gelesen, ein länger schon zu beobachtender Trend. Auch
Frauen lesen immer weniger Poesie. Und wenn man nur da-
nach schaut, wer überhaupt ein Buch jenseits von Schule und
Arbeit zur Hand nimmt, ganz gleich, was sein Inhalt ist, so ist
die absolute Zahl dieser Leser auch leicht gestiegen, was vor
allem auf die wachsende Bevölkerung zurückgeführt werden
kann. Die erwachsene amerikanische Bevölkerung ist damit in
etwa in zwei gleichgroße Gruppen von Lesern und Nicht-
Lesern geteilt. Wer überhaupt ein Buch liest, ist eher gesell-
schaftlich und politisch engagiert, bringt sich in Sport, Frei-
willigendienste aller Art, Theater, Kunstausstellungen oder
Aktivitäten in der Natur mehr ein als Nicht-Leser. Lesen lohnt
sich, aber nicht deshalb, weil das Lesen Menschen engagierter
macht, sondern wohl eher, weil diejenigen, die sich in die Ge-
sellschaft einbringen, auch lesen. Der Zusammenhang zwi-
schen Lesen und Gesellschaft liegt nahe, denn auch dafür, so
etwas Abstraktes wie die Gesellschaft zu verstehen, ist Lesen

98
sehr nützlich. Lesen und Verbürgerlichung sind zwei Seiten
einer Medaille. Sie gehören unverändert im 21. Jahrhundert
zusammen.
Schon 2008 war zu beobachten, dass mehr digital bzw. on-
line gelesen wird, gerade unter den Jüngeren. Die Zahlen sind
heute schon vielfach überholt, aber bemerkenswert ist den-
noch, dass gerade diejenigen, die online lesen, ganz überwie-
gend auch Bücher lesen. Leser lassen sich nicht in online- und
offline-Leser aufteilen. Vielmehr gilt, wer liest, der tut dies in
vielen Medien. Blogs zu lesen und Online-Artikel zu studieren
geht mit intensivem Bücherlesen zusammen. Die dort gelesene
belletristische Literatur ist zu allererst Romanlektüre, solche
von Krimis und Thrillern, Fantasy und Romanzen. Die neuen
Leseformate sind wie so oft in der Geschichte des Lesens neben
die alten getreten. Und wer schon die alten Formate zu nutzen
verstand, nutzt ebenso die neuen, so auch hier. Dennoch wun-
dern sich die Experten erheblich über diesen Anstieg, für den
sie keine einfache Erklärung haben. Sie verweisen vorsichtig
darauf, dass in den USA im letzten Jahrzehnt vermehrt An-
strengungen in ganz unterschiedlichen Größenordnungen un-
ternommen wurden, um das Lesen wieder zu einer größeren
Selbstverständlichkeit werden zu lassen. Ob es diese vielfältigen
Initiativen allein waren, die Veränderung zu erklären, kann
man lange diskutieren. Panelstudien können solche Fragen
nicht direkt beantworten, weil sie dafür nicht ausgelegt sind.
Sie messen langfristige Veränderungen, nicht deren Ursachen.
Die Jahre zwischen 2002 und 2008 sind ziemlich exakt die
Jahre, in denen die Zahl der Computer in Privathaushalten
nach oben geschnellt ist, und das liegt vor allem am Internet.
Kaum noch kann man sich in Industrienationen ein Leben
ohne Internet vorstellen, und nicht nur dort. Entsprechend
steigt die Zahl der Geräte an, mit denen wir ins Internet gehen.
Digitale Medien sind für uns so selbstverständlich Internetme-
dien geworden, dass wir zwischen Computer und Internet
kaum unterscheiden. Die digitale Transformation durch Com-
puter und Internet zu Beginn des 21. Jahrhunderts geht eng

99
mit den steigenden Leserzahlen zusammen, ganz anders als es
selbst noch das National Endowment for the Arts in seinem
Bericht 2002 vermutet hatte, war man dort doch fest davon
überzeugt, dass es die neuen Medien seien, die für den Nieder-
gang des Lesens hauptsächlich verantwortlich zu machen
wären. Obwohl Zeit und Geld bekanntlich begrenzte Ressour-
cen sind, und wir die Zeit vor dem Bildschirm nicht zugleich
mit dem Buch verbringen können, deuten diese Zahlen darauf
hin, dass anders als vielleicht das Fernsehen, die digitalen Me-
dien nicht im Gegensatz zum Lesen stehen. Jedenfalls korre-
liert der Anstieg des Internets nicht mit dem Niedergang des
Lesens, trotz solcher Meldungen wie 2014 aus England, dass
dort fast die Hälfte der Kinder aus unteren Einkommens-
schichten nicht ausreichend lesen könne. 10 Die britischen Zei-
tungen waren der besorgten Meldungen voll, wieder ein Kla-
geplatz für Kulturpessimisten. Die vielfach zitierte britische
Studie wurde von Fußballvereinen und Verlagen wie Harper
Collins mitgetragen, sodass der Vorschlag nicht verwundert,
dass 11-Jährige doch in der Lage sein sollten, Harry Potter
lesen zu können – die Romanreihe erscheint bei Harper Col-
lins. Bei näherem Hinsehen auf die dahinterstehende Studie
der Universität Newcastle zeigt sich freilich, dass die Zahlen
viel kleiner sind, als sie in den Zeitungen gemeldet wurden,
und sozial schwache Jungen mit Englisch als Erstsprache be-
treffen. Dass Kinder gerade aus asiatischen Einwandererfami-
lien besser abschneiden, lenkt einmal mehr den Blick auf die
sozialkulturellen Voraussetzungen. In Klassengesellschaften
wie der britischen gilt Lesen anders als unter Mädchen unter
den Jungen der unteren Einkommensgruppen wenig. Andere
Bevölkerungsgruppen gerade aus asiatischen Zuwanderungs-
ländern bewerten das anders. Großbritannien schneidet denn
auch in so ziemlich allen Untersuchungen zum Lesen von Kin-
dern und Jugendlichen schlecht ab. Daher lohnt der Blick auf
die sozialen und kulturellen Umstände des Lesens und weniger
der auf die Aufregung über die Medien und den angeblichen
Verfall des Lesens. Dann sieht man, was für Anstrengungen an

100
so vielen Ecken der Gesellschaft notwendig sind, um die Kul-
turtechnik des Lesens weiterzugeben. Aber dass sich die An-
strengungen mittelfristig auszahlen, das belegen diese Studien
alle und sie tun es nachdrücklich.
Man sieht die positiven Veränderungen in Sachen Lesen
erst recht im internationalen Vergleich. Die größte, internatio-
nal angelegte Studie zum Lesen, die PIRLS-Studie von 2016, 11
konstatiert für so unterschiedliche Länder wie Singapur und
die Russische Förderation, Hong Kong und Polen Spitzenplätze
im internationalen Vergleich der Lesefähigkeit am Ende der
vierten Klasse und das obgleich gerade die asiatischen Länder
eine intensive Nutzung aller Arten digitaler Endgeräte aufwei-
sen. Insgesamt sei die Zahl der guten Leser in den letzten Jah-
ren erfreulich angestiegen. Mit sehr triftigen Befunden belegt
die PIRLS-Studie aber auch, dass die Voraussetzung für eine
erfolgreiche Lesekarriere an einer gelingenden Erziehung im
Elternhaus, durch Freude und durch die Schule liegen. Wo
mehr Bücher, aber auch mehr digitale Geräte zu Hause zu fin-
den sind, nimmt der Leseerfolg zu. Überhaupt wo Eltern,
Freunde gerne lesen, lesen auch die Kinder und Jugendlichen
mehr, sie lesen früher und sie lesen besser. ‚Scaffolding‘, also
etwa ‚Gerüstbauen‘ nennt man in der Leseforschung diese Art
der Unterstützung durch ein lesefreundliches Umfeld in Fami-
lie, Wohnort und Schule. Es gilt dann auch umgekehrt, dass
dort, wo das alles fehlt, Lesekarrieren verloren gehen. Allein
schon eine funktionierende Schuldisziplin sagt viel über zu-
künftige Lesechancen aus. Wo Schüler ausgeschlafen und aus-
reichend gefrühstückt haben, funktioniert der Leseunterricht
besser, und wo Schulen einen Schwerpunkt auf den Leseerwerb
kombiniert mit Wissenserwerb legen, werden Schüler zu bes-
seren Lesern. Und sie lesen dann ebenso selbstverständlich
auch gut Online-Texte und navigieren fokussierter im Netz.
Die Regel gilt, dass gelingendes Lesen nicht eine Frage von
digital oder analog ist. Es ist eine Frage der gelingenden Lese-
sozialisation, die dann auch noch selbstverständlich mit einübt,
wie man in der digitalen Welt erfolgreich lesen kann. Das ist

101
umso wichtiger, weil es immer mehr und durchaus lange Texte
zu lesen gibt, auch für Jugendliche wie etwa die Romanserie
A Song of Ice and Fire, die als Games of Thrones verfilmt ein
Milliardenpublikum erreicht. Jeder der Bände hat mehr als
500 Seiten. Gewiss ist dem Leser dabei nur der epische Le-
seumfang, nicht aber wer unter den Figuren dieser Romanwelt
überlebt – und das sind wenige. Viel steht hier noch zu lesen
aus, bis die Geschichte an ihr Ende gekommen sein wird. An-
dere lesen anderes, aber auch sehr viel. Schmonzetten wie Fifty
Shades of Grey verlangen von ihren Leserinnen, dass mehr als
500 Seiten gelesen sein müssen, um zu erfahren, wie es nun
zwischen Liebe und Handschellen ausgeht. Die erfolgreichen
Romane einer Donna Tartt und der neue Hilary Mantel kosten
ihre Leser ebenfalls viel Zeit, eben Zeit zum Lesen. Unter die-
sen Romanen sind reichlich komplexe Erzählwelten zu finden,
die man so aufmerksam lesen muss wie einen russischen Ro-
man des 19. Jahrhunderts. Tartt wird nicht zufällig wiederholt
mit Charles Dickens verglichen. Und die Moral von Geschich-
ten einer Hilary Mantel sind alles andere denn trivial. Im Ge-
genteil bringen hier selbst die Nebenfiguren alles mit, was die
psychologisch aufwändig motivierten Figuren älterer Romane
auch haben. Solche und ähnliche Romanwelten können durch
oberflächliches Lesen, dem sogenannten Skimming, durch blo-
ßes Abschöpfen von kleinen Handlungselementen, nicht an-
nähernd verstanden werden. Daher ist es ganz unwahrschein-
lich, dass diese Welterfolge anders gelesen werden als schon
Flauberts Madame Bovary gelesen wurde, eben vertieft und
selbstversunken, auch wenn Nicholas Carr und andere gerne
mit neurowissenschaftlicher Unterfütterung das Gegenteil be-
haupten und das natürlich vielfach elektronisch und auch auf
YouTube. 12 Aber vielleicht ist die Kulturkritik nur die Krank-
heit, für deren Therapie sie sich hält. Jedenfalls zeigen Sozio-
logen wie John Palfrey und Urs Gasser, dass die Aufmerksam-
keitsspanne in modernen Gesellschaften nicht generell sinkt,
sondern die Internet-Erfahrenen sehr schnell die Register zwi-
schen dem kursorischen und dem vertieften Lesen wechseln

102
können. 13 Aber das tun Zeitungsleser auch schon seit mehr als
einem Jahrhundert, wenn sie zum Roman wechseln. Martin,
Tartt und Mantel können daher mit sehr aufmerksamen und
selbstvergessenen Lesern rechnen, dies auch unter den jugend-
lichen Leserinnen und Lesern. Für sie schreiben diese Autoren
ja. Lesen nimmt also nicht nur quantitativ zu, es hat auch qua-
litativ gewonnen.
Im Vergleich mit den USA hat es das Lesen in Deutschland
besser. Das sieht man, wenn man die Studie der Stiftung Lesen
heranzieht, die fast parallel zu der amerikanischen Lesestudie
Reading on the Rise erstellt wurde. 14 Genau vergleichbar sind
ihre Ergebnisse zwar nicht, weil die deutsche Studie sehr viel
kleiner angelegt und etwas anders auf verschiedene gesell-
schaftliche Gruppen zugeschnitten ist, als dies bei den ame-
rikanischen Studien der Fall ist. Aber der Tendenz nach lohnt
der Vergleich zwischen den deutschen und amerikanischen
Studien dennoch. Zunächst ist die Zahl der Leser in Deutsch-
land deutlich größer als die Zahl der Lesenden in den USA.
Während die amerikanische Lesewelt in zwei fast gleichgroße
Gruppen von Lesern und Nicht-Lesern aufgeteilt ist, machen
die Nicht-Leser in Deutschland nur etwa ein Viertel der Gesell-
schaft aus. Die absolute Zahl der Leser wächst, weil neue Leser-
gruppen auch in Deutschland hinzukommen, Menschen aus
anderen Ländern, die fast ebenso häufig ein Buch lesen wie
der Bevölkerungsdurchschnitt. Das sind etwa 36 Prozent, die
wöchentlich, und 8 Prozent, die jeden Tag ein Buch zur Hand
nehmen. Die Lese-Mittelschicht ist also nicht kleiner gewor-
den, gewinnt neue Leserinnen und Leser hinzu, die auch Bi-
bliotheken in wachsender Zahl nutzen. Auch diese Zahl ist
nicht klein, insgesamt fast 60 Prozent der Bevölkerung in
Deutschland nutzen regelmäßig Bibliotheken. Zugleich, so
konstatiert der Bericht von 2008, schwindet im Vergleich zu
den letzten Zahlen von 2000 der Typus des Gelegenheitslesers,
der also im Monat ein bis vier Bücher liest (was nach amerika-
nischen Maßstäben schon ein Intensivleser wäre). Die Vielleser
dagegen, die mehr als 50 Bücher im Jahr lesen, bleiben eine

103
gleichgroße, wenn auch kleine Gruppe von Lesern, nicht mehr
als 3 Prozent. An dieser Zahl ändert sich wenig. Dagegen
wächst die Zahl derjenigen, die am Bildschirm lesen. Sie halten
zwar überwiegend Gedrucktes für glaubhafter als digitale In-
formationen, ohne deshalb das Lesen am Bildschirm als Ge-
gensatz zum Lesen von Büchern aufzufassen. Der Topos vom
Bildschirm-Lesen als Zerstörer der Lesekultur wird in diesem
Bericht von 2008 ausdrücklich zurückgewiesen.
Die Studie der Stiftung Lesen unterscheidet verschiedene
Lese-Typen. 15 Ein Viertel der Bevölkerung liest so gut wie
nicht, oder das Lesen ist für diese Menschen mühevoll. Das
sind die Nicht-Leser. Ungefähr ebenso groß ist die Gruppe der-
jenigen, die gerne liest und das mit hoher emotionaler Freude
am Lesen. Dieser Typus der Lesefreunde ist eher weiblich als
männlich, wie umgekehrt der Typus des informationsorientier-
ten Lesers eher männlich ist und 20 Prozent unter den Lesern
in Deutschland ausmacht. 12 Prozent der Leser nutzen digitale
Medien ebenso zum Lesen wie Bücher, ‚Vielmediennutzer‘
werden sie in der Wissenschaft genannt. Etwas kleiner ist mit
11 Prozent der Anteil der Leser, die als elektronikaffine
Mediennutzer firmieren, also eher und durchaus auch lieber
digital als gedruckt lesen. Und für den Rest, etwa 8 Prozent,
sind Bücher nur ein Ballast. Solche Typologisierungen haben
natürlich etwas Willkürliches, weil Menschen oft je nach Le-
benssituation mal eher dieser Typus, mal eher jener sind. Wer
im Beruf viel zu lesen hat, kann, muss aber nicht in seiner Frei-
zeit viel lesen und umgekehrt. Dennoch ist diese Typologie
nützlich, weil sie einmal mehr unterstreicht, dass nicht der
Computer und das Internet die bösen Buben in der schönen
deutschen Lesewelt sind. Was das Lesen auch hierzulande be-
einflusst, ist die kulturelle und soziale Hochschätzung des Le-
sens, die Frage, ob den Kindern vorgelesen wird oder nicht, ob
ihnen ein Buch geschenkt wird, ob Groß und Klein zusam-
menspielen, ob eine Zeitung im Haus ist und Bücher im Regal
stehen, aber auch ob der intelligente Umgang, die Metakogni-
tion, mit den neuen Medien eingeübt und darauf geachtet

104
wird, wie viel Zeit Kinder vor den Bildschirmen verbringen.
Auch das unterstreichen Einrichtungen wie die Stiftung Lesen
immer wieder und mit guten Gründen. Lesen meint einfach
sehr Unterschiedliches.
Das sind knapp zusammengefasst die kargen Zahlen, die
ein etwas differenzierteres Bild des Lesens in der digital gewor-
denen Bundesrepublik zeichnen. Aber sie sind von 2008 und
das ist schon viele Jahre her. 2016 erschien die letzte der alle
zwei Jahre erstellten KIM-Studie des Medienpädagogischen
Forschungsverbunds Südwest, 16 und 2017 die MIKE-Studie
der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. 17
Diese Studien untersuchen detaillierter, wie die 6- bis 13-Jäh-
rigen in Deutschland und in der Schweiz mit den neuen Me-
dien umgehen und das mit Blick auf das Lesen. Ein erster Be-
fund sagt: Auch die Jüngsten sind weiterhin Leser. Mehr als die
Hälfte der unter 13-Jährigen liest mindestens einmal pro Wo-
che ein gedrucktes Buch, Mädchen deutlich mehr als Jungen.
Der Anteil der Nicht-Leser ist hier kleiner als in der Gesamt-
bevölkerung und liegt bei etwa 11 Prozent bei den Mädchen
und 21 Prozent bei den Jungen. Das Lesen nimmt zwischen
dem 6. und 13. Lebensjahr zu und liegt, wenn man auch die
Leser einbezieht, die nur selten lesen, bei über 75 Prozent. Die
Gruppe der intensiven Leserinnen und Leser liegt bei 21 Pro-
zent bei den Mädchen und 12 Prozent bei den Jungen. Die
Zahlen decken sich auch in etwa mit den Antworten, ob die
Kinder sehr gerne oder gerne, nicht so gerne oder gar nicht
lesen. Auf die Frage, ob sie zurzeit gerne ein Buch außerhalb
der Schule lesen, antworten mehr als die Hälfte der Kinder mit
„sehr gerne“ oder „gerne“. Gelesen werden Harry Potter und
Gregs Tagebuch, die immer jungen Drei Fragezeichen, Fünf
Freunde oder Das Magische Baumhaus oder Hanni und Nanni,
Twilight und Die Tribute von Panem, ohne dass man dabei lan-
ge darüber nachdenken muss, was eher die Jungen und was
eher die Mädchen lesen. Und die Kinder gehen mindestens ab
und zu in die Bibliothek, leihen dort aber nicht nur Bücher aus,
sondern auch DVDs und Comics, seltener schon Konsolen-

105
spiele, Hörspiele und Musik-CDs. Dafür gibt es ja längst das
Internet. Und auch hier führen seit Jahren, wenn nicht Jahr-
zehnten, Die drei Fragezeichen die Liste der Lieblingshörspiele
an, gefolgt von Bibi Blocksberg bis hin zu Pippi Langstrumpf.
Die Generation der ganz jungen Leser nutzt das Internet,
genauer steigt die Zeit, die sie im Internet verbringen gegen-
über den Daten von 2012 und 2014. 2016 sind die jungen Leser
fast jeden Tag im Netz, und nur ein kleiner Teil zählt noch zu
den sporadischen Internetnutzern. Der Anteil der Internetnut-
zer dürfte gegenwärtig schon höher liegen, aber noch domi-
niert das Fernsehen das Medienverhalten von Kindern. Die In-
ternetnutzung nimmt erst mit dem Größerwerden zu. Soziale
Medien wie WhatsApp werden parallel zur steigenden Inter-
netnutzung mit zunehmendem Alter wichtiger. Mit Hilfe der
Eltern oder Freunde meldet man sich bei Facebook an. Auch
Handys und Tablets spielen für das Lesen dieser Altersgruppe
der unter 13-Jährigen eine wachsende Rolle. Sie nutzen aber
immer noch vor allem den heimischen PC oder Laptop. Doch
ist das alles nichts im Vergleich zum Fernsehen. Mehr als
60 Prozent der Kinder zwischen 6 und 13 Jahren zählen das
Fernsehen zu ihrem wichtigsten Medium, auch das eine Zahl,
die sich in den letzten zwei Jahren wiederum zugunsten des
Internets verschoben haben dürfte. Das Fernsehen ist auch
Spitzenreiter in der täglichen Nutzung. Fast 80 Prozent schau-
en so gut wie jeden Tag fern. Man spielt dagegen nur ein- bis
mehrmals pro Woche etwa eine halbe bis eine Stunde Compu-
terspiele. Im Jahr 2016 war also noch der Fernseher das Medi-
um Nummer eins und das hat eine lange Geschichte. Seit 1999
belegen die Zahlen der KIM-Studie, dass 70 bis 80 Prozent der
Kinder fast täglich fernsehen, vor allem die bekannten Sender
wie KiKA, Super RTL, RTL und Pro Sieben bzw. Disney Chan-
nel. Unter den Freizeitaktivitäten führt Fernsehen das Feld an,
erst danach folgen Aktivitäten wie Freunde treffen, drinnen
oder draußen spielen, Musik hören. Online-Spiele und Com-
puternutzung sind damit 2016 noch nicht vergleichbar häufig
gewählte Spiele, aber sie liegen noch vor dem Bücherlesen und

106
das nicht nur bei Jungen. Erst nach Fernsehen, Sport und
Freunden kommt der Computer. Das Buch hat daher für die
Kinder einen großen Konkurrenten – und das ist der Fernse-
her, unverändert seit mehr als fünfzehn Jahren, wenn nicht
länger. Das digitale Zeitalter hat die Kindheiten nicht völlig
gegenüber den Generationen davor verändert, auch wenn die
Kinder mit dem Größerwerden mehr am Computer spielen.
Und das durchaus mehr als eine Stunde täglich. Besonders Jun-
gen tun das jeden Tag länger als eine Stunde. Die Spiele, die sie
dabei spielen, sind FIFA, Super Mario, Mario Kart, Die Sims,
Minecraft, kurz Spiele, die bislang niemand auf die Liste ju-
gendgefährdender Spiele gesetzt hat. Ja, man ist geneigt zu sa-
gen, dass sie erheblich gescheiter sind als ein großer Teil der
Sendungen, die auf den bevorzugten Sendern laufen. Wenn die
Entscheidung ist, ob Kinder besser Fernsehen oder solche
Spiele spielen sollten, wäre wohl nicht nur meine Entscheidung
klar.
Und wie die Kinder so die Jugend, sagt die an die KIM-
Studie anschließende JIM-Studie bzw. die an die MIKE-Studie
anschließende JAMES-Studie zum Lesen von Jugendlichen. 18
In den fünfzehn Jahren, seit die Studien Daten über Lesen
und andere Mediennutzungen unter den 12- bis 19-Jährigen
erhoben haben, ist die Zahl derjenigen Jugendlichen, die täg-
lich oder einmal die Woche ein gedrucktes Buch lesen, in etwa
gleich geblieben und liegt bei ca. 40 Prozent. Immer liegen die
Mädchen vorne. Fast die Hälfte von ihnen liest regelmäßig, bei
den Jungen sind es nur etwa 30 Prozent. Obwohl die Jugend-
lichen Tagezeitungen nur wenig nutzen, halten sie Zeitungen
für vertrauenswürdiger als das Internet, das noch hinter Fern-
sehen und Radio rangiert. Das mag der bloßen sozialen Er-
wartung geschuldet sein und als Antwort nicht viel sagen. Den-
noch spricht die Studie von einem konservativen Urteil der
Jugendlichen, ungeachtet der Tatsache, dass dieselben Jugend-
lichen praktisch alle täglich im Internet sind und aus dem In-
ternet ihre Informationen gewinnen. Und sie lesen, mehr als
die Hälfte mindestens einmal pro Woche, viele so gut wie täg-

107
lich und wiederum die Mädchen mehr als die Jungen. Die
Nicht-Leser bilden etwa 20 Prozent unter den Jugendlichen in
der Schweiz und in Deutschland. Die Jugendlichen lösen sich
vom Fernsehen, das ist für diese Altersgruppe ein klar zu iden-
tifizierender Trend. Das Internet ist ihr Medium noch vor dem
Fernsehen geworden und dieser Trend dürfte sich in den letz-
ten zwei, drei Jahren noch verstärkt haben, seitdem Netflix
oder Amazon Prime das herkömmliche Fernsehen zu einer
Angelegenheit für Eltern und Großeltern gemacht hat. Hier
werden auch viele der beliebten Sitcoms vielfach vorab ge-
guckt. Lesen von Büchern kommt für die Jugendlichen lange
nach Internet, Fernsehen, Radio und Computerspielen und
liegt im Mittelfeld der Medien, die heute von den 12- bis 19-
Jährigen genutzt werden. E-Books werden von den Jugend-
lichen kaum gelesen. Gespielt werden FIFA und Minecraft,
Grand Theft Auto oder Candy Crush. Und es wird viel für die
Schule am Computer gelernt. Aktive Computernutzung, etwa
um Filme zu schneiden, gehört zu den nur von wenigen ge-
nutzten Möglichkeiten des Computers. Insgesamt dominiert
der Medienkonsum, bei dem es keinen großen Unterschied
macht, welcher Art das Medium ist. Wieder fallen die Jungen
damit auf, deutlich mehr Videogames als die Mädchen zu
spielen.
Fast jeder besitzt heute ein digitales Endgerät. Was Jugend-
liche damit vor allem und zuerst tun, das ist Kommunikation.
Nicht der Computer, sondern das Smartphone ist das zentrale
digitale Gerät. Fast die Hälfte der Mediennutzung ist dem so-
zialen Mit- und Gegeneinander gewidmet. Nichts ist wichtiger
als Verabredung und Tratsch, Chatten und Instagram. Twitter
und E-Mails sind schon etwas für Erwachsene. Erst nach den
Sozialen Medien kommt mit knapp einem Viertel bei der Me-
diennutzung die Unterhaltung, also Videoportale und Musik.
Erst das Soziale, dann die Unterhaltung und dann die vielen
anderen Möglichkeiten, das ist die Hierarchie der Nutzung.
Die schulischen Zwecke vom Austausch über Hausaufgaben
bis zum Nachlesen des Schulstoffs, Rechnen auf dem Com-

108
puter oder Nutzung von Lernprogrammen bestimmen erheb-
lich, was am Computer gemacht wird. Computernutzung unter
Jugendlichen ist so gesehen zu einem erheblichen Anteil eine
Verlängerung der Schule, sozial wie inhaltlich. Nur wenige
schreiben selbst, etwa für Wikipedia oder tragen in Foren etwas
bei. Man ist in seiner persönlichen Öffentlichkeit und die über-
lappt sich mit der Klasse, in die man gerade geht. Es wundert
daher auch nicht, dass sich die Nutzung von Online-Commu-
nities gegenüber 2008 nicht wesentlich erhöht hat, wie die JIM-
und JAMES-Studie wiederholt belegen. Durchschnittlich ha-
ben diese Jugendlichen etwa 250 ‚Freunde‘, von denen aber
ein deutlich kleinerer Teil zu denen gehört, mit denen man
Nachrichten austauscht, lernt oder chattet.
Computer und Internet gehören schon für die Jugend-
lichen zu den Selbstverständlichkeiten des Lebens und des
Lesens. Ihr Umgang damit unterscheidet sich von dem der
Jüngeren und Älteren vor allem darin, dass die Jugendlichen
dem sozialen Austausch die meiste Zeit widmen, dann auch
der Unterhaltung und schließlich dem Lernen. Für diese Zwe-
cke sind digitale Medien ideal und das Smartphone deshalb
auch ständig angeschaltet. Wer das Buch mit dem Computer
vergleicht, sieht spätestens hier, wie schief der Gegensatz von
reichem, sozialen Leben und dem verarmenden Computer ist
und wie irrig die Prognosen sind, die die Verdrängung des
Buchs vorausgesagt haben. Lesen und Internet gehen zusam-
men und das gerade auch für Jugendliche. Der Schulalltag und
das Gespräch unter Freunden, die neue Folge auf YouTube und
das Teilen eines Leseeindrucks gehen über die digitalen Medien
zwischen den Jugendlichen hin und her. Lesen wird Teil dieser
digitalen Öffentlichkeit, ohne dass das Lesen selbst digital wer-
den würde. Nicht das Lesen wird digital, sondern die digitalen
Medien nehmen das Buch in sich auf. Computer und Internet
sind auch Bücher und zugleich vieles mehr. Diesen Vorteil von
Computern und Internet nutzen Kinder wie Jugendliche. Sie
lesen in Deutschland in etwa immer noch so viel oder wenig
wie vor fünfzehn Jahren. Die digitale Welt hat diese Kultur-

109
technik nicht marginalisiert, aber das Lesen in die digitale Viel-
falt eingebettet. Das Buch ist Teil der digitalen Welt geworden,
auch als gedrucktes. Diese Integration des Buchs und des Le-
sens in die Welt der vielen Medien ist das Neue im digitalen
Zeitalter.
Genau betrachtet müsste man also nicht das Buch mit dem
Computer, sondern das Buch im Zusammenspiel mit der Brief-
kultur, der Zeitung und dem Kaffeehaus vergleichen, um die
richtigen Einheiten mit Computer und Internet zu vergleichen.
Erst dann versteht man, was Internet und Handy den Jugend-
lichen sind. Denn sie sind das alles – das Buch, der Brief, die
Zeitung und das Kaffeehaus – in einem und das heute im digi-
talen Zeitalter mit so niederschwelligen Übergängen, dass der
Weg vom Tratsch zur Mathe-Hausaufgabe, von der Nachfrage,
wie es dem anderen geht, zum Lesen eines Artikels über Mon-
taigne oder dem Engagement bei der Freiwilligen Feuerwehr
kaum noch ein Weg ist. Alles ist unter einer digitalen Ober-
fläche vereint, was früher auf viele Instanzen verteilt war.
Welche Anstrengungen musste noch Voltaire unternehmen,
um in seiner Kutsche lesen und schreiben zu können, Nach-
richten zu empfangen und an der nächsten Poststation Briefe
aufzugeben. Das alles können die digitalen Medien so viel
leichter, schneller und in so viel Formaten und Formen, die
sich kein Voltaire zu träumen gewagt hätte. Sie sind unsere
Umwelt, lenken unsere soziale Aufmerksamkeit, machen viele
schlauer, lassen junge und alte Menschen ohne große Um-
ständlichkeit lesen und diskutieren. Die digitalen Medien sind
Voltaires Kutsche, nur eine sehr viel bessere.
Dass diese Jugendlichen wie überhaupt viele Teile der Ge-
sellschaft dann wenig Ahnung haben, wie ein Computer funk-
tioniert, nur wenige eine Programmiersprache erlernt haben
oder wissen, wie das Internet reguliert wird, bleibt festzu-
halten. Die vielbeschworenen Digital Natives gibt es nicht,
und das hat mit dieser, so vielen von uns unerträglichen Leich-
tigkeit des Digitalen zu tun. Es genügen Wischgesten und ein
wenig Vertrautheit mit Menüpunkten, um digital zu navigie-

110
ren. Unterschiede in den Medienformaten spielen kaum eine
Rolle. Niemand muss umständlich einen Super-8-Film an ein
Tonbandgerät koppeln. Die Leichtigkeit des Digitalen ver-
knüpft Audio- und Video-Dateien, Gedrucktes und 3D-Objek-
te, als hätte nie ein Unterschied zwischen diesem allem bestan-
den. 3D-Drucker oder VR-Brillen lassen wohl in den nächsten
Jahren den Unterschied zwischen dem Digitalen und dem Rea-
len weiter schrumpfen. Wie diese digitale Leichtigkeit zustande
kommt, das wissen aber immer noch nur wenige, eher die-
jenigen, die einen höheren sozioökonomischen Status haben,
Freude an der Computernutzung zeigen und vielleicht noch
in der Schule etwas über Internet und Computer gelernt haben.
Sie verstehen am ehesten etwas von Computern und Internet.
Insgesamt schneiden die Jugendlichen in den meisten Ländern
nicht besonders gut in der Kenntnis der Computerwelt ab, wie
der Bericht der International Association for the Evaluation of
Educational Achievement Preparing for Life in a Digital Age.
The IEA International Computer and Information Literacy
Study von 2014 einmal mehr gezeigt hat. 19 Und das hat seinen
Grund eben in dieser Leichtigkeit, mit der uns das Digitale wie
eine zweite Haut umgibt.
Funktionsverschiebungen und Funktionsdifferenzierungen
zwischen Medien sind kein neues Phänomen. Seit etwa gut
hundert Jahren, seit Kindheiten auch Lesekindheiten geworden
sind, haben Buch und Lesen immer Konkurrenten im Kampf
um die Zeit und Aufmerksamkeit der Kinder – auch der Gro-
ßen – gehabt. Mit dem Aufkommen des Kinos haben sich
Unterhaltungsgenres aus dem Buch ins Kino verschoben. Mit
dem Fernseher sind dann viele Formate aus den Familienblät-
tern des 19. Jahrhunderts in das Fernsehen abgewandert. Die
Wahlmöglichkeiten der Kinder und der Jugendlichen haben
dabei insgesamt stark zugenommen. Man kann auch formulie-
ren, dass die gesellschaftliche Heterogenität unter Jugendlichen
zugenommen hat. Anders gesagt: Erst recht im digitalen Zeit-
alter ist ein nie dagewesener Reichtum der Medien mit einer
zugleich gewachsenen funktionalen Differenzierung der Ge-

111
sellschaft entstanden, die das Buch und das Lesen in eine digi-
tale Öffentlichkeit integriert, in der es nicht das eine Lesen,
sondern die vielen Weisen des Lesens gibt. Tatsächlich ist das
Buch nur Teil einer reicheren Umwelt geworden und mit ihr
anders verbunden als noch vor hundert Jahren. Die Konkur-
renz zwischen Buch und Kino ist heute kaum eine, denn die
Zahl der Filme, die wiederum auf Bücher zurückgehen, wächst,
wie umgekehrt gerade populäre Autoren wie Frank Schätzing
oder Joanne K. Rowling für die Verfilmung zugleich ihre Bü-
cher schreiben. Comics genauso wie Computerspiele werden
als Vorlagen für Filme genutzt und inspirieren wieder Bücher.
Dabei zeigt ein Blick in ältere Erhebungen über das Lesever-
halten, dass diese Änderungen in der Ökologie der Medien
weder das Lesen abwürgen noch die Bücher an den Rand drän-
gen. Studien vor mehr als einem Vierteljahrhundert zeigen
ganz ähnliche Muster der Verteilung zwischen den Nicht-Lesern
und den Viellesern, wie wir sie auch gegenwärtig vorfinden: 20
Nicht-Leser sind 15 bis 30 Prozent, je nachdem, wie man sie
misst und welchen Moment man dabei aufnimmt. Mädchen
lesen mehr und intensiver als Jungen. Informationsgewinnung
und Unterhaltungen wandern ins Fernsehen ab. Das Buch ist
tendenziell eher für schwierigere Inhalte da, wenn es nicht als
Romanze oder Thriller der bloßen Unterhaltung dient. Bil-
dungsnahe Familien vermitteln ihren Kindern eher einen Sinn
für das Lesen auch über die Pubertät hinaus. Die Zahlen sind
einmal höher, einmal niedriger und als einzelne Ziffern nur
eine Annäherung. Im längeren Rückblick über mehr als ein
Vierteljahrhundert zeigen die Zahlen aber keinen Niedergang
des Bücherlesens an. Lesen und Buch sind Teil der Digitalisie-
rung unserer Welt geworden, als wäre dies keiner großen Rede
wert. Kurz, die Aufregung über das angebliche Ende von Lesen
und Buch sind nicht viel mehr als kulturkritische Stereotype
und haben so gut wie keine sachliche Grundlage.
Die Konstanz im Lesen auch unter Kindern und Jugend-
lichen hat viel damit zu tun, dass sich die sozialen Strukturen
von Familie und Schule als den beiden wichtigsten Lesever-

112
mittlungsinstanzen in den letzten fünfzehn Jahren nicht so
fundamental geändert haben. Eher haben die Anstrengungen
zugenommen, Lesen besser zu vermitteln. Die große IGLU-
Studie zum Lesen in der Grundschule aus dem Jahr 2006 for-
muliert es mit großer Zuversichtlichkeit:
Im internationalen Vergleich hat Deutschland bei IGLU 2006 er-
freulich gut abgeschnitten und in allen Dimensionen der Lesekom-
petenz bessere Ergebnisse in den Leseleistungen erzielt als bei der
ersten Erhebung 2001. Auf der Gesamtskala Lesen erreichen die
Schülerinnen und Schüler in Deutschland bei IGLU 2006 einen sig-
nifikant höheren Mittelwert als bei IGLU 2001. Darüber hinaus liegt
Deutschland auch signifikant über den Teilnehmerstaaten der EU
und der OECD. Erfreulich sind auch die geringe Breite der Leis-
tungsverteilungen der die relativ geringen Unterschiede zwischen
Jungen und Mädchen in den Leseleistungen. Der Anteil derjenigen
Schülerinnen und Schüler, die mit ihren Lesewerten unter Kom-
petenzstufe III [d. i. relevante Einzelheiten und Informationen im
Text auffinden und miteinander in Beziehung setzen] liegen, fällt
in Deutschland vergleichsweise klein aus. 21

2011 fällt das Gesamturteil nicht viel anders aus. Die Kinder in
deutschen Schulen lesen im oberen Drittel der Rangreihe, über
dem EU-Durchschnitt und dem der OECD, ohne die Spitzen-
länder wie Singapur zu erreichen, die nicht nur sehr gute Leser
sind, sondern auch besonders intensive Internetnutzer. 2011
liegen die Leistungen insgesamt wieder bei denen von 2001.
Die Streuung in der Breite der Lesekompetenzen hat nicht zu-
genommen, auch wenn es anderen Ländern wie den Nieder-
landen gelungen ist, homogenere Leseleistungen zu erreichen.
Und wieder sind es ungefähr 15 Prozent der Schülerinnen und
Schüler, die erhebliche Probleme haben, das Kompetenz-
niveau III „Grundlegendes Leseverstehen“ zu erreichen, wie in
vielen anderen Ländern auch, mit positiven Ausnahmen wie
Finnland oder den Niederlanden.
Deutlich über dem internationalen wie europäischen
Durchschnitt sind die deutschen Schülerinnen und Schüler im
Lesen literarischer Texte. Der Grund dafür liegt darin, dass in
deutschen Schulen im Unterschied zu vielen anderen Ländern

113
eher das Lesen literarischer Texte gelehrt wird, während an-
dernorts die Informationsentnahme aus Sachtexten im Vorder-
grund steht. Das erklärt zum Teil auch, warum in internationa-
len Untersuchungen wie der PISA-Studie die Leseleistungen
deutscher Schüler schlechter ausgefallen sind als die anderer
Länder. Denn die PISA-Studie fragt vor allem die Fähigkeit
ab, Informationen aus Texten zu entnehmen. An deutschen
Schulen wird dagegen eher das literarisch-interpretierende Le-
sen unterrichtet. Veränderungen gerade im Lesen literarischer
Texte konnte die IGLU-Studie 2011 weder gegenüber den Er-
gebnissen von 2006 noch 2001 ausmachen. Und die Zahl der-
jenigen Schüler, die angeben, nie ein Buch außerhalb der Schu-
le zu ihrem Vergnügen zu lesen, liegt in Deutschland 2011 bei
11 Prozent, in anderen europäischen Ländern wie Litauen oder
Portugal niedriger, aber insgesamt im europäischen Durch-
schnitt. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Nicht-Leser
unter den Schülern gesunken, also in jenen Jahren, in denen
Computer und Internet die Kinderzimmer der Welt erobert
haben. 22 Die Leseleistungen von Schülern hängen daher nicht
unmittelbar mit der Digitalisierung zusammen.
Wie immer sind das Durchschnittswerte, die große Unter-
schiede im Detail aufweisen. Die einzelnen Bundesländer lie-
gen zum Teil fast ein Schuljahr auseinander, was die Lesekom-
petenzen der Schüler betrifft, und es wundert nicht, dass
Stadtstaaten hier am unteren Ende der Skala liegen und Länder
wie Thüringen die oberen Ränge belegen. Ebenso fällt es Fami-
lien leichter, ihre Kinder im Lesen zu unterstützen, wenn beide
Elternteile nicht im Ausland geboren sind. Die jüngste IGLU-
Studie des Jahres 2016 konstatiert noch einmal, dass sich an
den Leseleistungen der Grundschüler in der vierten Klasse we-
nig geändert hat. Jedoch ist der Anteil der Schüler, die als Risi-
kogruppe bezeichnet werden, weil sie die Grundschule ohne
ausreichende Kenntnisse des Lesens verlassen, angestiegen, ge-
nauer von 16,9 Prozent der Grundschüler im Jahr 2001 auf
18,9 Prozent der Grundschüler im Jahr 2016. Die Studie nennt
als Ursache für die schlechteren Werte die wachsende Zahl von

114
Inklusionsschülern und Kindern aus eingewanderten und bil-
dungsferneren Familien. Und noch ein Grund wird geltend
gemacht: die mehr als achtzig Programme zur Lese- und
Schreibförderung in deutschen Grundschulen. Denn zu viele
dieser Programme waren und sind nicht ausreichend auf ihre
Wirksamkeit hin getestet worden. Ideologische Vorannahmen
und politischer Aktionismus werden als Ursachen genannt,
warum die deutschen Grundschüler im internationalen Ver-
gleich nur im Mittelfeld liegen. Die Folge ist, dass die Hetero-
genität in den Leseleistungen zugenommen hat. 23 Die besten
und schwächsten Schülergruppen driften weiter auseinander
als noch 2001. Das alles hat viel mit Politik zu tun und fast
nichts mit Computer und Internet.
Diese und ähnliche Befunde geben Anlass für viele bil-
dungspolitische Debatten. Was aber diese Zahlen auch bei
großzügiger Deutung nicht anzeigen, das sind Schwanen-
gesänge auf das Lesen. In vielen Ländern wie auch in Deutsch-
land strengen sich Schulen wie Eltern an, Lesen zu vermitteln
und zu fördern. Sie wissen alle längst, dass Lesen sich lohnt
und ziemlich gut den Erfolg im späteren Leben gemessen am
erreichten sozioökonomischen Standard voraussagt. 24 Lesen ist
im digitalen Zeitalter angekommen. Es ist kein Zufall, dass die
IGLU-Studie viele Faktoren für die leichten Veränderungen in
den Lesekompetenzen von Grundschülern nennt, nur nicht
mehr die digitalen Medien als Ursache anführt. Computer
und Buch sind keine Gegensätze.
Ähnliches gilt auch für die Debatten um den Niedergang
des Schreibens, wird doch die steigende Fehlerquote im Recht-
schreiben als Beleg für den Verfall des Lesens angeführt.
Schreiben ist die andere Seite des Lesens, sodass es naheliegt,
von der mangelnden Beherrschung der Orthographie auf nicht
ausreichende Lesekompetenz zu schließen. Tatsächlich stören
sich nur wenige daran, wenn WhatsApp-Mitteilungen oder
Twitter-Nachrichten nachlässig, wenn nicht gar schlampig ge-
schrieben sind. Diktate sind wohl auch nicht mehr die gefürch-
tete Einrichtung der Schulen, die sie einmal waren. Offensicht-

115
lich hat sich der Status der Orthographie gewandelt. Das er-
kennt man auch an einem anderen Wandel unserer sozialen
Welt. Diktiert wird nur noch selten, und der Status, der sich
damit einmal verbunden hat, wer zum Diktat wen bestellt, hat
sich verloren. Man gilt nicht mehr als dumm, wenn man or-
thographisch fehlerhaft schreibt – fast. Denn bei Bewerbungen
oder bei Online-Partnerbörsen zählt Rechtschreibung. Wahr-
scheinlich haben daher Lehrer Recht, denen es im Rückblick
über die Jahrzehnte in ihrem Beruf nicht nur so scheint, dass
die Kinder heute nicht mehr mit demselben Respekt oder Ernst
mit der Rechtschreibung umgehen wie eben noch vor Jahr-
zehnten. Auch Rechtschreibung könnte eine der Institutionen
sein, deren Bedeutung abgenommen hat, nicht anders als ganz
andere Institutionen wie Militär oder Kirche. Das ist ein Mo-
dernisierungseffekt mit entsprechenden Folgen für die wach-
sende Heterogenität der Gesellschaft. Dieselben Lehrer, die
den Respektverlust gegenüber der Rechtschreibung konstatie-
ren, bemerken auch, wie viel und wie gut heute viele Kinder
Geschichten schreiben können. Kreativität hat an Ansehen
gewonnen, Rechtschreibung hat ihr Ansehen verloren. Ganz
genau weiß das niemand, weil Längsschnittstudien und Ver-
laufsanalysen dazu fehlen und es mehr oder weniger Erfah-
rungsberichte sind, auf die man sich verlassen muss. Das weni-
ge, was wir wissen, deutet auf einen Karawanen-Effekt beim
Rechtschreiblernen hin. Damit gemeint sind die Befunde, dass
Kinder von unterschiedlichen Ausgangspunkten Schreiben ler-
nen, ihr Zuwachs aber relativ zu ihrem Startpunkt bis zur 9.
und 10. Klasse erhebliche Fortschritte macht und schwache
Schüler genauso schnell, wenn auch auf einem anderen Niveau,
Rechtschreibung erlernen. Vergleichsdaten zwischen 1991 und
2001 deuten darauf hin, dass sich die durchschnittliche Recht-
schreibleistung in freien Texten Anfang der vierten Klasse 2001
nicht signifikant von den Leistungen 1991 unterscheidet, die
gemittelte Rechtschreibleistungen Anfang der 8. und 9. Klasse
eher 2001 besser sind und die Wortfehlerquote über alle Schul-
formen hinweg von der 5. bis zur 10. Klasse deutlich sinkt,

116
kurz, alles eher Hinweise darauf, die viel heiße Luft aus den
Bildungs- und Schuldebatten zu lassen wäre. 25 Lesen und
Schreiben gehören zur Moderne, auch zur digitalen Moderne,
unverändert dazu. Nur ihre Rückbindung an die bildungs-
bürgerlichen Institutionen der Rechtschreibung und des guten
Buchs haben sich abgeschwächt.
Lesen von Büchern hat sich in den letzten hundert Jahren
vielfach gewandelt. Die verschiedenen Buchformate, die schon
das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat, das Aufkommen von
Zeitschriften, aber auch das Aufkommen von Kino, Radio,
Fernseher und dann des Computers haben die Verhältnisse
zwischen den Medien verschoben und jedem einzelnen Medi-
um weniger Gewicht gegeben. Vieles hat sich verändert, aber
das Lesen ist darum nicht weniger und nicht weniger intensiv
geworden. Wir stehen wohl erst am Anfang eines anderen Le-
sens und seine Umrisse sind gegenwärtig nur schwer auszu-
machen. Neu ist in den letzten Jahren das Lesen am Bildschirm
geworden, das Lesen von E-Books anstelle der gedruckten Bü-
cher und wohl auch das Aufkommen von Enhanced Books,
also Büchern, die Spiel, Lesen, Hören und Schauen in einem
digitalen Medium zusammenführen. Das ist nicht gerade viel,
und dennoch sind schon jetzt Verschiebungen zu erkennen.
E-Books sind selbstverständlich geworden, was man in vielen
Ländern beobachten kann, gleich ob man in Singapur Metro
fährt oder in Estland Busreisenden zusieht. E-Books auf ver-
schiedenen Lesegeräten sind ein normales Buchformat ge-
worden. Zwischen 2010 und 2014 hat sich in den USA die Zahl
der E-Books, die 6- bis 17-Jährige lesen, verdoppelt, eine Ent-
wicklung, die die Eltern unterstützen. 26 Es ist vor allem die
Freizeitlektüre, für die E-Books das richtige Format sind.
E-Books scheinen aus Gelegenheitslesern eher häufige Leser
zu machen, besonders unter den Jungen. Diejenigen, die
E-Books lesen, lesen auch gedruckte Bücher. Und das trifft be-
sonders auf die älteren Leser zu, die bei digitalen Büchern nicht
nur die Handlichkeit schätzen, sondern auch die Möglichkeit,
die Schriftgröße und Schriftart augenfreundlich einzustellen.

117
In den USA sind es schon mehr als die Hälfte der Leser, die
Bücher auch auf digitalen Endgeräten lesen, in Deutschland
etwa ein Viertel. Und die E-Book-Leser lesen mehr, natürlich
besonders die populären Genres vom Krimi bis zur Romanze.
Der Weltbuchhändler Amazon, der längst alles Mögliche vom
Toaster bis zur Unterhose und nur noch nebenbei auch Bücher
verkauft, erklärt denn auch, dass sein E-Book-Reader das Lesen
fördere. 27 Das sollte man so nicht einfach glauben, aber auch
der Börsenverein des Deutschen Buchhandels sieht moderate
Steigerungsraten für den Buchabsatz über den E-Book-Ver-
kauf. 28 Gelesen werden die digitalen Bücher keineswegs nur
auf den eigentlichen dafür vorgesehenen Geräten, sondern auf
den größer gewordenen Smartphones, den Phablets, Tablets
und Laptops. 29 Die meisten von uns haben längst schon viele
solcher Geräte zugleich und ärgern sich höchstens über die
Vielfalt der Ladekabel-Stecker und die Verbote, Bücher mit-
einander tauschen zu dürfen.
Mit den Geräten verschiebt sich das Lesen etwas in Rich-
tung digitales Lesen. Ich sage ‚etwas‘, denn die Verschiebungen
sind klein und die Aufregungen über das digitale Lesen kaum
der Beachtung wert. In Deutschland sind die Zahlen des digi-
talen Lesens im engeren Sinne klein. Die Gesellschaft für Kon-
sumforschung rechnet vor, dass 2013 21 Millionen E-Books in
Deutschland verkauft wurden und dass dies 9 Millionen mehr
seien als im Jahr davor. Doch der Anteil der E-Books am Ge-
samtumsatz im deutschen Buchmarkt ist unverändert gering.
Die Verfünffachung der Käufer von E-Books zwischen 2010
und 2013 ist in absoluten Zahlen – 3,4 Millionen – nicht hoch,
die Zuwachsraten sind immer noch moderat. 30 Auch 2016 legt
der Umsatz mit E-Books nur bescheiden um 2,6 Prozent zu,
aber beschert zusammen mit dem Internethandel dem Buch-
handel ein weiteres Jahr des Wachstums. Das hat vor allem den
Grund, dass in Deutschland das Buch mit einer halbierten
Mehrwertsteuer und einer Buchpreisbindung anders auf dem
Markt aufgestellt ist, als in den meisten anderen Ländern. Noch
unterscheiden wir jedenfalls in unseren Worten zwischen den

118
beiden Bücherformaten. Und natürlich gibt es nicht wenige
Sorgen, dass E-Books dem Lesen nicht zuträglich seien, zumal
für die Jugend. Doch wandert das E-Book nicht nur über die
Jugend in unsere Lesekultur ein, sondern gehört längst zu den
alltäglichen Gegenständen älterer Menschen. So bescheiden die
Verkaufszahlen der E-Books in Deutschland noch immer sind,
so ist digitale Lesen ohne große Aufregung Teil der Lesekultur
in Deutschland geworden, nicht weil es als solches digital ge-
worden wäre, sondern weil es selbstverständlicher Teil der di-
gitalen Kultur geworden ist. Auf diese Leichtigkeit der Inte-
gration des Buchs in die digitale Kultur kommt es an. Sie ist
das Kennzeichen der digitalen Modernisierung. Daher wird
von ihr noch wiederholt die Rede sein müssen. Unwichtig ist
dagegen die Frage geworden, ob das Buch gedruckt wurde oder
digital angezeigt wird.
Doch viele fragen hier kritisch nach. Kann man digital an-
gezeigte wie gedruckte Texte gleichermaßen gut lesen? Die Fra-
ge lässt sich einmal mehr nicht mit einem einfachen Ja oder
Nein beantworten, weil gescheites Lesen nicht nur vom Lese-
Endgerät abhängt, wie es die Fragestellung einschränkend na-
helegt. Neulinge im Lesen von E-Books behalten weniger vom
gelesenen Inhalt im Vergleich zum Lesen eines gedruckten
Buchs. Das kann kaum überraschen, denn der Unterschied
liegt vor allem an unserer Gewohnheit, am Bildschirm eher
schnell und kursorisch zu lesen, um Informationen rasch ab-
zuschöpfen. Das ist ein erlernter Habitus, den zu ändern nicht
leicht ist. Fokussiert zu lesen, auch digital, muss man lernen.
Solange wir es gewohnt sind, das gedruckte Buch als Aufforde-
rung zum konzentrierten oder auch selbstvergessenen Lesen
aufzufassen, meist auch räumlich zurückgezogen, wird das Le-
sen am digitalen Gerät dagegen zurückfallen. 31 Noch bevor-
zugen die Leser ganz überwiegend ihr gedrucktes Buch. Aber
der Unterschied verliert sich, je alltäglicher das elektronische
Lesen wird und wir die etwas andere Leseweise eingeübt haben.
Bei jüngeren Lesern ist dieser unspektakuläre Wandel nicht zu
übersehen, 32 aber auch bei älteren Lesern, die verstärkt fremd-

119
sprachige Bücher lesen, weil E-Books mit Wörterbüchern ge-
koppelt sind und das Nachschlagen unbekannter Wörter so
sehr erleichtern. E-Ink-Reader minimieren den Unterschied
zu herkömmlich gedruckten Büchern und ermüden ihre Leser
nicht so wie es das Lesen am Computerbildschirm tut. 33 Der
Unterschied liegt hier weder am Digitalen noch am Hapti-
schen, sondern an einer flimmerfreien Darstellung des Druck-
bildes und dem Lichtspektrum, das viele Tablets aussenden.
Freilich haben die Hersteller solcher Geräte reagiert, sodass
man auch vor dem Einschlafen auf seinem Tablet in ange-
nehmen Gelbtönen lesen kann, anstelle der noch vor kurzem
dominierenden Blautöne. Menschen mit einer Leseschwäche
profitieren vom überschaubareren Schriftbild am Bildschirm.
Sie lesen zügiger und verstehen mehr, wenn der Text auf einem
übersichtlichen Bildschirm präsentiert wurde. Denn Menschen
mit Dyslexie haben zumeist Probleme mit der ausreichenden
Fixierung des jeweils zu entziffernden Wortes. Auf kleineren
Lesegerät-Bildschirmen werden sie dagegen nicht durch zu vie-
le Wörtern um das zu verstehende Wort abgelenkt. 34 Manche
Kinder motiviert ein E-Reader zum Lesen. 35 Die Beispiele las-
sen sich leicht vermehren, weil verständnisreiches Lesen eben
von vielen Faktoren abhängt. Es gibt nicht das eine Lesen.
Lesen hat viele Formen. Man braucht deshalb keine große
Phantasie, um abzuschätzen, dass das Lesen auf digitalen Ge-
räten alltäglicher werden wird und die konzentrierte Leserin
im Lehnstuhl ein Kindle in der Hand hält. Einen großen Effekt
auf Leseintensität und -umfang hat das Lesen auf digitalen
Endgeräten bislang jedenfalls nicht.
Kleinere Effekt des digitalen Lesens und Schreibens lassen
sich aber doch ausmachen. Wir behalten mehr von dem, was
wir mit der Hand mitschreiben im Vergleich zu dem, was wir
mittippen. Das liegt nicht am vielleicht irritierenden Geräusch
von Schreibmaschinen und Tastaturen, sondern daran, dass
viele so schnell tippen können, dass sie fast eins zu eins mit-
schreiben können, dabei aber über das Vorgetragene nicht
selbst nachdenken. Um mit der Hand zu schreiben, brauchen

120
wir mehr Zeit, denken erst über das Gehörte nach und notie-
ren es dann in unseren Worten. Deshalb wird es auch besser
erinnert. 36 Mit einer schreibfreundlichen App, von denen es
erst allmählich nützliche gibt, verliert sich dieser Unterschied.
Der Unterschied zwischen Digitalem und Papier schwindet.
Größere Effekte der Digitalisierung von Schreiben und Lesen
lassen sich nicht ausmachen. Die Aufregung um das digitale
Lesen und Schreiben lohnt nicht, jedenfalls nicht in der Art
und Weise, wie diese Aufregung in öffentlichen Debatten über-
wiegend diskutiert wird.
Eher ist sind es bildungspolitische Theorien, die ganz un-
abhängig von Computer und Internet glauben, eine gute
Handschrift zu erlernen sei keine zeitgemäße Aufgabe der
Schulen und das Erlernen von Druckbuchstaben statt Kurrent-
schriften würde ausreichen. Das Schreiben mit der Hand wird
als überholt dargestellt, Schreiben nach Gehör genüge. Das
aber ist Bildungspolitik und hat wenig bis keinen empirischen
Rückhalt. Im Gegenteil sind Schreiben und Lesen soziale und
spielnahe Tätigkeiten, die körperlich erfahren und gelernt wer-
den müssen. Ob es die Stimme der vorlesenden Eltern ist, die
einer Geschichte die begleitende Aufregung gibt, die Wieder-
holung der selben Geschichte oder nur der von Kindern und
Eltern geteilte Blick auf das selbe Buch, welches Format auch
immer – das ist es, was neue Wörter und neues Wissen über
die Welt in Kinderköpfe zaubert. 37 Das ist das Scaffolding, das
unterstützende, anleitende Lesen. Eltern benutzen beim Vor-
lesen und Erklären gegenüber Kindern kompliziertere Worte
als sonst, verweisen stärker als sonst auf unterschiedliche men-
tale Zustände und nutzen verschiedene Zeitformen, wenn sie
mit ihren Kindern über das gerade Gelesene sprechen und das
gilt schon im Umgang mit Bilderbüchern. 38 Es sind diese mi-
metischen Dialoge, die selbst die Handschrift zu einem Schlüs-
sel für das Verstehen von Welt machen. Deshalb sind alle Lese-
und Schreibgeräte weniger nützlich, die vom Inhalt ablenken
und stattdessen die Aufmerksamkeit auf deren Bedienung len-
ken. 39 Derzeit sind sicherlich noch viele digitale Endgeräte

121
genau eine solche Verführung zur Ablenkung. Ihre Nutzung
gerade was zum Beispiel das Notizenmachen betrifft, ist noch
deutlich entfernt von der Selbstverständlichkeit mit der man
sich mit einem Kugelschreiber etwas notiert oder mit dem Blei-
stift im Buch etwas anstreicht. Besser geraten sind inzwischen
die meisten Lesegeräte, die mit einem Minimalismus der Be-
dienung versuchen, das Lesen und nicht die Bedienung in den
Vordergrund zu rücken. Das ist die Richtung, in die die Ent-
wicklung in den nächsten Jahren gehen wird. Anders gesagt:
Wer die Leichtigkeit im Umgang mit dem gedruckten Buch
digital umsetzen und dann auf den Markt bringen wird, der
dürfte rasch zu einem der neuen Technikgiganten aufsteigen,
die auf anderen Feldern diese Leichtigkeit des Digitalen schon
umgesetzt haben. Die Finger-Bedienung des iPhone ist das be-
kannteste Beispiel für diese Leichtigkeit, die für die digitalen
Bücher erst noch zu gewinnen ist. Noch aber ist das E-Book
ein Randphänomen und alle Aufregung über das digitale Lesen
übertrieben, denn kognitiv und emotiv ist es immer ein Kopf,
der aus Buchstaben eine Geschichte macht.
Wie man es auch dreht und wendet, der Kulturkampf zwi-
schen Buch und Computer bleibt aus. Weder die Kulturpessi-
misten noch die Technikenthusiasten haben Recht mit ihren
Thesen vom Ende oder Anfang der Zeitalter. Vielmehr wan-
dern die digitalen Formate leichtfüßig ein, als wäre selbst die
bildungsschwere deutsche Umwelt ihr angestammtes Habitat.
Die Diskussion um das Lesen im digitalen Zeitalter geht darum
in die Irre, wenn sie auf die Frage fixiert ist, ob man nur ge-
druckte Bücher gut lesen kann, digitale aber nicht so gut. Lesen
hat viele Formen und hängt von vielen anderen Faktoren er-
heblich ab, vom digitalen Endgerät am wenigsten. Das ist hier
festzuhalten, denn vieles ändert sich sehr wohl. Aber die Men-
schen lesen nun mal immer noch mit Auge und Herz. Und das
lesende Hirn ist unverändert das gleiche, egal ob der Text in
Stein gemeißelt, auf Papyrus gemalt, mit Bleilettern gedruckt
worden ist oder auf dem Kindle angezeigt wird. Die Revolution
steckt nicht im Leseprozess selbst, nicht im digitalen Endgerät.

122
Fassen wir noch einmal zusammen: Seit Computer und
Internet unsere Umwelt bevölkern, sind es noch mehr Wörter
geworden und nicht nur mehr Bilder. Eine Verarmung der
Sprache im digitalen Zeitalter ist ein kulturkritischer Topos,
mehr aber nicht. Nicht mehr als ein Topos ist auch der angeb-
liche Zusammenhang zwischen Leseverfall und Digitalisierung.
Wie wir gesehen haben, hängt das gelingende Lesen an vielen
Faktoren, am wenigsten an dem der digitalen Präsentation von
Texten. Mehr noch scheint sich die Sache mit dem Lesen ge-
bessert zu haben, nachdem im vordigitalen Zeitalter vielfach
ein Niedergang des Lesens konstatiert wurde und vielleicht
das Fernsehen schuld war, wenn das nicht auch nur ein Ge-
meinplatz ist. Und es wird ohne Rücksicht auf das Format ge-
lesen. Kaum jemanden kümmert es, ob man digital oder analog
liest oder schreibt. Junge wie alte Leser probieren neue Wege
des Lesens aus. Das alles geschieht mit einer unerwarteten
Leichtigkeit, der die bedenkenschwere Diskussion um das digi-
tale Lesen so gar nicht gerecht wird. Für diese so verschiedenen
Leser sind Computer und Internet nicht die Schurken in der
bildungszufriedenen deutschen Lesewelt, aber auch keine Er-
löser. Ihr Hunger nach Geschichten ist der gleiche geblieben.
Auch deshalb ändern sich die Geschichten, die in so großer
Zahl gelesen werden, nur wenig.
Worauf es weiterhin ankommt, damit das Lesen gelingt, ist
die kulturelle Hochschätzung und die alltägliche Einübung in
das Lesen. Das fängt beim frühen Vorlesen an, will lange ge-
pflegt sein, um unterscheiden zu lernen, für welchen Zweck
welches Lesen angemessen ist. Metakognition, also die Fähig-
keit zu wissen, mit welche Lesestrategie ich welches Ziel er-
reichen kann, muss lange eingeübt werden, und das gelingt
nur, wenn in den überlegten Wechsel zwischen geschriebenen,
gedruckten und digitalen Texten eingeführt wird. Nicht alle
haben das Glück, diese Förderung zu erfahren, um gescheit
mit den vielen Medien unserer Gegenwart umzugehen. Wenn
etwas unsere Aufmerksamkeit verlangt, dann nicht die Rede-
weisen vom Ende der Kultur und dem Verfall der Jugend. Was

123
unsere Aufmerksamkeit verlangt, sind diejenigen, die keine
ausreichende Einübung ins Lesen erhalten und für die dann
tatsächlich die neuen Medien nur eine weitere Ablenkung sind.
Weil sich auf dem Wort ‚Lesen‘ gerne der Kitsch der Kultur-
kritik ablagert, ist wenigstens hier daran zu erinnern, dass der
Umgang mit dem Lesen von sozialen und sozialpolitischen
Entscheidungen bestimmt wird. Daran hat sich auch im digi-
talen Zeitalter kaum etwas geändert.
Bei aller Kontinuität des Lesenlernens, bei allem unver-
änderten Hunger nach den Variationen der immer gleichen
Geschichten, lohnt es sich noch einmal genauer hinzusehen,
was sich dann doch im 21. Jahrhundert ändert. Buch und Le-
sen werden nicht digital in dem simplen Sinn, dass bald schon
das Buch ein Bildschirm wird und das Lesen nicht ohne Strom
erfolgen könnte. Vielmehr werden Buch und Lesen Teil einer
umfassenderen digitalen Kultur, in der auch das Gespräch über
Bücher digital geworden ist. Das Buch hat sich neue Kaffee-
häuser und Zeitungen gesucht und hat sie in den Smartphones
der Jugendlichen und in den sozialen Medien längst gefunden.
Deshalb ist der Computer nicht der Tod des Buchs, eher sein
Kaffeehaus. Im digitalen Zeitalter wird unvermindert gelesen,
manchmal auch digital, vor allem aber eingebettet in eine rei-
chere, man kann auch sagen heterogenere Medienwelt. Die
Jungen und die Alten lesen, vielleicht ‚ohne Anhalt‘, aber sie
erschließen sich die Welt immer noch durch das Lesen. Nur
dass Bücher eben Teil größerer, digitaler Umwelten geworden
sind, so wie Verlage und Druckereien, Literaturkritik und
Feuilleton nur noch Teilöffentlichkeiten neben anderen Öffent-
lichkeiten des Lesens und Schreibens geworden sind. Von die-
ser Individualisierung oder auch Heterogenisierung des Lesens
und Schreibens im digitalen Zeitalter ist daher jetzt zu reden.

124
6. Das Ende des Literaturbetriebs
wie wir ihn kannten

Im August des Jahres 2019 haben 80 Millionen Menschen je-


den Tag ungefähr 100 000 Geschichten in 50 verschiedenen
Sprachen auf der Publikationsplattform Wattpad miteinander
getauscht. Sie haben etwa 250 Millionen Stunden im Monat auf
dieser Plattform verbracht, um dort Geschichten zu lesen oder
auch selbst zu schreiben. Diese überwiegend jungen Menschen
nehmen sich offensichtlich Zeit für Geschichten, viel Zeit. Jen-
seits des etablierten Literaturbetriebs sind ganze Nationen von
Lesern unterwegs. Auf Plattformen wie Wattpad.com sind die
intensiven Leser und die fleißigen Jungautorinnen zu finden,
deren Fehlen Kulturkritiker so wortreich behaupten. Sie sind
so zahlreich, dass sie eigentlich schwer zu übersehen sind, vor-
ausgesetzt, man verbarrikadiert sich nicht hinter seiner Klage
über den Kulturverfall. Erst mit Neugierde auf das Lesen im
digitalen Zeitalter lassen sich die unbekannten Kontinente des
Literaturbetriebs entdecken. Hier – auf den vom etablierten
Literaturbetrieb so fernen Inseln und noch vor kurzem unbe-
kannten Ländern – wird geschrieben, Literatur kritisch bespro-
chen und gelesen ohne Unterlass. Hier ist Lesen und Schreiben
eine Leidenschaft, eine ‚Herzensergießung‘ in Zeiten des Com-
puters. Im Internetzeitalter ist es so leicht und niederschwellig
möglich, den Hunger nach Geschichten zu stillen. Und genau
das tun unter der Adresse wattpad.com täglich Millionen jun-
ger Autorinnen und Autoren, Leser und Leserinnen weltweit.
Das kanadische Unternehmen behauptet, jede dritte junge
Frau in Industrieländern habe einen Wattpad-Account. Bei

125
aller Übertreibung im Interesse der Firma unterstreicht diese
Zahl den Anspruch solcher Unternehmen auf einen Literatur-
betrieb jenseits der etablierten Verlagsordnungen. Von diesem
fast über Nacht grösser gewordenen Literaturbetrieb handelt
dieses Kapitel. Ich zeige, dass die Digitalisierung nicht einfach
eine Herausforderung für die Verlagswelt ist, wie sie in den
vorangegangenen Jahrzehnten immer wieder vorgekommen
ist. Vielmehr entsteht hier ein Literaturbetrieb, der die bisheri-
gen Verlage nicht mehr zu brauchen scheint. Genauer: Der
digitale Betrieb ist grösser und schließt die Verlags- und be-
kannten Publikationswelten in sich ein. Rollen, Institutionen
und Umwelten ändern sich und werden neu zusammengefügt.
Digitale Formate sind eine Selbstverständlichkeit geworden,
Selbstpublikation ist kein Nischenphänomen mehr und die
Konzentration in der Verlagsbranche und im Buchhandel wird
weiter zunehmen. Genauer als vom Buch müsste man eigent-
lich von Content sprechen. Denn das Buch ist nur eine Form
unter vielen. Der Literaturbetrieb ist fast über Nacht digital
geworden.
Begonnen hatte für Wattpad alles damit, dass der Kanadier
Allen Lau über 17 000 kanonische Bücher des Projekts Guten-
berg auf einer neuen Plattform leichter zugänglich gemacht
hat. Aber das war nur die Kopie des gedruckten Buchs im di-
gitalen Format. Was die Plattform von den vielen bloßen Ko-
pien des gedruckten Buchs im Internet unterscheidet und zu
der gegenwärtig erfolgreichsten Publikationsplattform für Lite-
ratur gemacht hat, ist der Ansatz Allen Laus, ein soziales Netz-
werk aus Autoren und Lesern zu knüpfen. Die Autoren fanden
sich ein, weil sie hier die Möglichkeit zur Veröffentlichung er-
hielten, Fanfiction-Gruppen kamen hinzu und vor allem Leser
von den Philippinen über die Arabischen Emirate und Europa
bis hin zu den USA und Kanada. Die Autoren und Leser, sie
alle teilen Geschichten in 50 verschiedenen Sprachen, sehr vie-
le schreiben und noch mehr reden über Bücher aller Arten und
Genres und das jeden Tag und jede Stunde. Viele der Autoren
sind jung, oft Teenager, und haben wenig mit dem herkömm-

126
lichen Literaturbetrieb und seinen Prätentionen zu tun. Sie tei-
len einfach die Freude am Buch, dem eigenen und dem der
anderen. ‚Buch‘ ist hier vielleicht nicht immer die richtige Be-
zeichnung, findet es sich doch zumeist auf mobilen End-
geräten, Handys von Jugendlichen, als Audiobook oder auf
Tablet-Computern. 2006 waren diese noch nicht so stark ver-
breitet. Aber mit der Medienentwicklung der letzten Jahre ex-
plodierte Wattpad förmlich. Vielleicht sind auch ‚Leser‘ und
‚Autor‘ ebenfalls nicht so recht passende Bezeichnungen, denn
die Leser sind vielfach auch die Autoren und die Autoren die
Leser, alle Literaturkritiker, Geschichten-hungrige Leser und
fleißige Autoren zugleich. Wir könnten sie ‚Autorenleser‘ oder
sollten wir sie ‚Autorenleserkritiker‘ nennen? Sie sind alles in
einem. 1
Autorenleser streiten leidenschaftlich über Literatur. Auf
Wattpad finden wir alle möglichen Debatten über das Schrei-
ben von Literatur, sachkundige und emotionale, über Klassiker
und mehr noch über Fantasy und Romanzen. Jedes Feuilleton
würde sich freuen, wenn es so engagierte Leser hätte wie dieses
Netzwerk, die über einen einzigen Satz von Jane Austen hun-
derte von Kommentaren schreiben. Die Aufregung dort über
das nächste Kapitel von Anna Todds Geschichte After ist so
groß, dass alle der knapp dreihundert Kapitel des Romans so-
fort nach Erscheinen 2013 Tausende von Kommentaren auf
sich gezogen haben, die mal die Figuren wie die beste Freundin
behandeln, mal die Kunstfertigkeit des Schreibens diskutieren,
mal vor allem der eigenen Aufregung Ausdruck verleihen oder
ein eigenes Kapitel selbst schreiben und beifügen, um ihre Be-
wunderung für eine Geschichte von Anna Todd auszudrücken.
Das ist das Verhalten von Fans. So nah sind sich Autoren und
Leser nie gekommen, wie durch die Bücher einer 25-jährigen
College-Studentin aus Austin, eben Anna Todd, von der kaum
ein Feuilleton Notiz nimmt. Bücher sind hier Freunde wie in
den Zeiten Rousseaus und Goethes, vereint im Internet zu
einer virtuellen Schreib- und Lesestube. 10 000 Kommentare
an einem Tag für ein neues Kapitel von Anna Todd, mehr als

127
eine Milliarde Downloads der mehr als 2 500 Seiten, das über-
steigt alles, was die Fanpost seit den Tagen Jean-Jacques Rous-
seaus je gesehen hat. „Welchen Sinn hat das Leben nach dem
Ende von After?“, klagen die einen und andere bekennen, dass
ihnen das Ende der Romanserie das Herz gebrochen habe. 2
Das sind leidenschaftliche Autorenleser, Fans der Literatur,
von denen die Verlage träumen. Und wer die Anspielungen
auf Harry Styles, den Sänger der britisch-irischen Boygroup
One Direction in den Romanen einer Anna Todd versteht, wird
noch mehr erahnen, warum Jugendliche ungeduldig auf ihr
Handy blicken, um das nächste Kapitel lesen zu dürfen. Muss
ich noch erwähnen, dass es die Bücher von Anna Todd inzwi-
schen auch gedruckt bei Simon & Schuster, Penguin Random
House bzw. im Heyne-Verlag zu kaufen gibt? 3 – Wohl kaum.
Das ist ein Seiteneffekt, der allerdings mit Geld, hier mit viel
Geld, verbunden ist. Denn die auf Wattpad schreiben, erhalten
keine Honorare und ihre Bücher kosten die Leser nur Lesezeit.
Wer will, kann einer Autorin wie Anna Todd als Sponsor über
Wattpad Geld zukommen lassen. Aber das ist freiwillig. All das
funktioniert längst und ist erfolgreich. Nur der etablierten Bil-
dungsöffentlichkeit ist auch diese Revolution kaum eine Notiz
wert, vielleicht, weil sie so leichtfüßig und selbstverständlich
daherkommt. 4
Geschichten in gefühlter Echtzeit zu teilen, zu kommentie-
ren oder selbst weiterzuschreiben, das alles ist längst Praxis.
Friedrich Schlegels romantischer Traum von der Aufhebung
der getrennten Rollen des Lesers, Autors und Kritikers ist mil-
lionenfacher Alltag für die Autoren auf Wattpad, die so gar
nichts von den auratischen Autorenfiguren der Moderne ha-
ben. Eher sind sie verwandt mit den Serienautoren für Sendern
wie HBO und schreiben entlang von seriellen Mustern in
Kapiteln für etwa zehn Minuten Lesezeit und das oft am Wo-
chenende. Sie kommentieren und verbessern sich gegenseitig,
integrieren alle möglichen Medienformate in ihre Texte, ob
YouTube-Videos oder SoundCloud-Musik, sodass es scheint,
als wäre der romantische Roman mit seiner Sprengung aller

128
Gattungsgrenzen und der Überwindung des kommerziellen Li-
teraturbetriebs Wirklichkeit geworden. Keine Grenzsetzungen
der Gattungen, keine Einengungen der Verlage stehen zwi-
schen Buch und uns, den Lesern. Wir sind das Buch, der Autor
und der Leser und alles auf einmal. Nie waren wir romanti-
scher als im digitalen Zeitalter.
Die romantischen Hoffnungen auf die Entgrenzung der
Künste und jeder Form sind vielleicht zunächst Teil einer Ju-
gendkultur, die sich wenig um das Kopfschütteln der Bildungs-
philister und Restintellektuellen kümmert. Auch das ist wohl
romantisch zu nennen. Aber die Gründer von Wattpad, Allen
Lau und sein Kollege Ivan Yuen, suchen keine blaue Blume,
sondern gehören zu diesen unglaublich jungen Technologie-
Unternehmern, die mehr Phantasie in ihren Köpfen haben als
die versammelten grauen Häupter der etablierten Verlagsland-
schaft. Gemeint ist damit eine Phantasie vor allem dafür, wie
junge Menschen miteinander Geschichten teilen, aber auch ein
Ideenreichtum und die technischen Fähigkeiten, solche Ein-
sichten ohne Kulturstaatssubventionen umsetzen zu können.
Während hierzulande die Bedenken gegen Änderungen im
Urheberrecht fast alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und
E-Books nicht viel mehr als nur eine digitale und rechte-
bewerte Variante eines gedruckten Buchs sind, tun Köpfe wie
Allen Lau und Ivan Yuen etwas für das Lesen und nehmen die
Wochenend-Kreativität der jungen Autorenleser ernst. Die
verwechseln sich nicht mit Flaubert und orientieren sich eher
an Romanzen oder an Autoren wie Salinger. Kaum steht zu
erwarten, dass hier endlich der vom Feuilleton erwartete Wen-
de-Roman auf den Handy-Bildschirmen auftaucht. Die noch
weitgehend im Druckzeitalter verharrenden deutschen Zeit-
schriften wie Merkur, Lettre oder Kursbuch sagen diesen jun-
gen Autorinnen und Lesern nichts, die digital gewordenen
Journale wie The Atlantic, die New Republic oder der New Yor-
ker dagegen schon mehr, Blogs und andere Formate sehr viel
mehr. Die Großkommentare in den Feuilletons lesen diese
Autoren selten. Herkömmliche Leitmedien gibt es für sie nicht

129
mehr. Was sie lesen, das sind ihre wechselseitigen Kritiken. Es
versetzt sie in Aufregung, was vielleicht nur als Zwischenzei-
len-Kommentar zu ihrem jeweils jüngsten Kapitel von einer
anderen Autorleserin geschrieben wurde. Das alles mag ro-
mantische Jugendkultur sein, aber es vermittelt mehr als eine
Ahnung davon, wie sich der Literaturbetrieb ändert, wenn alles
digital wird. Bücher und Verlage werden Teil digitaler Umwel-
ten, die zwischen Interpublikation, Buch und Film bzw. Fern-
sehserie ganz selbstverständlich hin und her wechseln. Watt-
pad wirbt gezielt auf seiner Startseite damit, wie einfach der
Schritt vom ersten Kapitel bis zur Netflix-Verfilmung sei.
Was für Romane gilt, das gilt auch für das Teilen von Ge-
dichten. 5 Allein auf Gedichte.com, der größten deutschsprachi-
gen Website dieser Art, sind über 23 000 Lyrik-Enthusiasten
angemeldet. Mehr als hunderttausend Gedichte finden sich
dort, traditionelle, aber auch experimentelle Formen werden
hier der Laien-Literaturkritik ausgesetzt. Die großen Zahlen
mögen auf den ersten Blick nicht mit der doch so stillen Gat-
tung Lyrik zusammengehen. So zu argumentieren, verrät je-
doch eine erhebliche Unkenntnis der Literaturgeschichte der
Lyrik. Gerade Gedichte wurden in empfindsamen Zeiten auf
Rosenbänder und Tassen gemalt und verschickt, in Briefen
kommentiert, beweint und weitergedichtet. Im 18. Jahrhundert
hat Lyrik so dazu beigetragen, bürgerliche Öffentlichkeit jen-
seits der ständischen Ordnungen herzustellen. Mehr noch hat
das bürgerliche Zeitalter des 19. Jahrhunderts dann Gedichte
in Vereinen zu organisieren verstanden, ja hat darüber vielfach
erst die bürgerliche Gesellschaft hergestellt, deren andere Seite
die Ästhetisierung der Lebenswelt ist, die noch heute die Ver-
lagswelt und den Literaturbetrieb antreibt. Gedichte und Ver-
bürgerlichung gehören zusammen, historisch, aber auch ge-
genwärtig. So selten wie auf Gedichte.com finden sich in den
Jahrbüchern der Vereine des 19. Jahrhunderts bislang unent-
deckte Gedichte von der Qualität eines Hölderlins oder Möri-
kes. Die Lyrik im Verein ist zuerst Gebrauchslyrik, Lyrik zum
Feilen und Verbessern, Lyrik zum Singen und Nachdenken,

130
Gutfühlen und traurigen Gedanken nachhängen. Mit etwas
historischem Sinn versteht man dann auch die Bedeutung von
Männergesangsvereinen und Salons, ohne die ein deutsches
Bürgertum kaum entstanden wäre. Lyrik im Verein, das gehört
zusammen, 6 auch heute, wo Vereine eben digitale Vereine mit
Tausenden oder gar Millionen Mitgliedern sind. Die Salons
und Männergesangsvereine von heute heißen gegenwärtig Ge-
dichte.com, Wortkrieger.de oder Readme.cc, das übrigens ein
typisches EU-Förderprojekt für ein Literatur-Portal in zehn
Sprachen ist. Dass hier so viele Gedichte so wild, oft trivial
und nicht selten ungestüm, jedenfalls nicht unbedingt gebildet
schreiben, lesen und kommentieren, das mag den Wächtern
der Kultur suspekt erscheinen, die hier auf die Einhaltung von
Redeordnungen insistieren. Wen aber kümmert das noch in
digitalen Zeiten? Lesen ist digital geworden, nicht weil die Ge-
dichte nicht mehr gedruckt werden würden, das werden sie
immer noch. Digital sind die Gedichte, weil ihre Autoren,
Leser und Kritiker in den digitalen Salons und Vereinen zu-
sammenkommen. Hier lebt die Literatur. Etablierte Verlage
sind von diesem Literaturbetrieb erst einmal weit weg.
Die derzeit vielleicht erfolgreichsten Dichter haben ihre
Leser nicht im Feuilleton und nicht in Fernseh-Literatur-
runden, sondern in den digitalen Salons und Vereinen wie etwa
auf Instagram. Im analogen Literaturbetrieb sind die Dichter
Kritiker-bewehrt und von einschüchternden Instanzen wie
Verlagen umgeben. Anders im digitalen Literaturbetrieb. Hier
ist die Welt flach.
Die britische Dichterin Rupi Kaur zum Beispiel zieht welt-
weit die Aufmerksamkeit auf ihre Gedichte, weil es Instagram
gibt. Als Kind indischer Einwanderer in Kanada hat sie mit
Gedichten Englisch gelernt. Im Internet hat sie einen Ort jen-
seits des herkömmlichen Literaturbetriebs gefunden, um ihre
Gedanken und Gefühle auszudrücken und Gleichgesinnte zu
finden. In der digitalen Welt von Instagram und Twitter ist
die Dichterin zu Hause und für ihre Leserinnen unmittelbar
zugänglich. Sie hat dann durch ihr Studium der Kommunika-

131
tionswissenschaften ihre Autorschaft professionalisiert und ge-
lernt, sich glamourös zu inszenieren. Im Netz kommen die Ge-
dichte von Kaur wie Gelegenheitslyrik daher, singen von Liebe
und reden von Beziehungskrisen, aber auch von den Erfahrun-
gen des alltäglichen Rassismus, und das alles so unmittelbar
zur Leserin, wie es einstmals Rosenbänder und Literaturver-
eine, heute das Internet auch Menschen am Rande der Gesell-
schaft erlaubt. #instapoesie nennt sich diese Lyrik selbst. Und
die klingt dann bei Rupi Kaur so: „if you are not enough for
yourself / you will never be enough / for someone else“. Wort-
spiele und freie Verse, Sinnsprüche und Naturlyrik stehen für
die Leichtigkeit der poetischen Rede, die nicht selten banal
werden kann. Jedes ihrer Gedichte zieht tausende Kommentare
auf sich, zumal wenn ihre Gedichte umstrittene Themen wie
Feminismus oder Rassismus aufgreifen. Dann mischen sich
auch Hassbotschaften unter die Kommentare, auch das eine
Erfahrung der Unmittelbarkeit. Viele ihrer Gedichte sind vor
allem eine Ermutigung und Vorlage für andere, noch jüngere
Autoren, selbst Gedichte zu schreiben.
Fast findet alles nur digital statt, fast. Denn ihr Gedicht-
band Milk and Honey, 2014 im Druck bei Andrews McMeel
Publishing erschienen, einem Verlag, der sonst nicht Teil des
großen Literaturbetriebs ist, sondern eher Geschenkbücher
verlegt, hat sich weltweit mehr als anderthalb Millionen Mal
verkauft, stand auf der Bestsellerliste der New York Times und
ist bereits in mehr als 30 Sprachen übersetzt, auch ins Deut-
sche. Ihr zweiter Gedichtband The Sun and the Flowers ist
dann auch schon bei Simon & Schuster erschienen. Gedichte
haben ein Massenpublikum, auch ein zahlendes, auch und ge-
rade in digitalen Zeiten. Die Lesungen von Rupi Kaur sind ein
Event. Die Zuhörer, genauer die Zuhörerinnen strömen wie zu
Popkonzerten. Das Netz erlaubt es einer jungen Autorin aus
schwierigen Verhältnissen mit ihren Gedichten die Welt zu be-
eindrucken und gibt ihr die Möglichkeit als Aktivistin die Welt
zu verändern. Gedichte verändern die Welt – das ist hier fest-
zuhalten. Und Kaur ist keine Ausnahme mehr. Gerade Einwan-

132
derer und Mitglieder benachteiligter gesellschaftlicher Grup-
pen melden sich mit ihren Gedichten und Romanen zu Wort,
Nayyirah Waheed zum Beispiel oder Warsan Shire oder Yrsa
Daley-Ward.
Anzumerken bleibt aber auch, dass Verlage, wie wir sie
kannten, für diese Literatur nur eine nachgeordnete Rolle spie-
len. Der digitale Literaturbetrieb integriert die etablierten
Verlage, nicht umgekehrt. Das stellt das kulturelle Selbstver-
ständnis der Verlage auf den Kopf. Auch das ist eine der Än-
derungen des Schreibens, Verlegens und Lesens im digitalen
Zeitalter, wenn Lesen und Bücher Teil digitaler Umwelten wer-
den. Die Bücher selbst werden nicht unbedingt digital, nein,
alles, was das Buch und das Lesen ausmacht, wird in eine digi-
tale Kette eingebunden, das ist die Änderung, auf die es an-
kommt. Man hat gute Gründe zu vermuten, dass in den nächs-
ten Jahren Buch und Lesen noch dichter in die digitale Umwelt
eingewoben werden. Eine meiner zentralen Thesen ist daher,
das die Transformation des hergebrachten Literaturbetriebs in
eine digitale Umwelt, die viel größer, reichhaltiger, flacher, aber
auch heterogener und widersprüchlicher ist, ohne Leitinstan-
zen auskommen muss, wie sie das 19. und 20. Jahrhundert be-
stimmt haben. Nicht der Literaturbetrieb wird aufhören, im
Gegenteil, aber ein Literaturbetrieb mit seinen Leitinstanzen
löst sich auf. Die Welt wird damit unübersichtlicher und das
wird nicht nur in Verlagen als Ordnungsverlust erlebt.
Auf den Kopf stellt die digitale Transformation des Litera-
turbetriebs auch die etablierte Rolle des Literaturkritikers.
Denn diese Autorenleser sind auch gleichzeitig ihre eigenen
Kritiker. Laien-Rezensionen in den Netzwerken oder gar bei
Amazon werden vom Establishment als Lieschen Müller-Lite-
raturkritik verspottet – bis vor kurzem. Denn inzwischen
haben sich die Verlage auf die veränderten Rollen eingestellt.
Mit Webanwendungen und Portalen wie LibraryThing oder
LovelyBooks haben die Verlage schon ihre neue Rolle im digi-
talen Literaturbetrieb neu positioniert und versuchen Ver-
fahren der sozialen Netzwerke mit konventionellen Vermark-

133
tungsstrategien zu verknüpfen. Etablierte Verlagshäuser ar-
beiten schon länger mit Internet-Werbebotschaftern, soge-
nannten Influencern, zusammen. Selbst wenn man den Alters-
unterschied zwischen den neuromantischen Autorenlesern
und ihren etablierten Kritikern beiseitelässt, fällt auf, dass die
etablierten Verlage Teil des digitalen Literaturbetriebs gewor-
den sind. Einmal mehr gilt, dass das neue digitale Medium die
alten Medien und Instanzen des Druckzeitalters in sich auf-
nimmt. Das ist der evolutionäre Vorteil des Digitalen und der
wird in den nächsten Jahren noch wichtiger werden, wenn
Bücher und Verlage ohne digitale Einbettung kaum noch
Bestand haben werden.
Die vielleicht schönste Folge dieser digitalen Transforma-
tion des Literaturbetriebs ist das Anwachsen der virtuellen Bü-
cherberge. Das digitale Zeitalter ist das Zeitalter der verkauften
Bücher wie kein Zeitalter zuvor. Knapp 90 000 neue Bücher
kommen Jahr für Jahr in Deutschland, der Schweiz und Öster-
reich auf den Markt. In Großbritannien erscheinen bezogen
auf die Einwohner mehr als doppelt so viele neue Titel jedes
Jahr und auch Spanien liegt noch vor Deutschland in Sachen
Buchproduktion. Und der Umsatz des deutschen Buchhandels
wird zu gut 30 Prozent mit belletristischen Titeln erwirtschaf-
tet, hinzu kommt noch der große Umsatzanteil der Kinder-
und Jugendliteratur mit mehr als 15 Prozent. Es wird gelesen
und geschrieben, als gäbe es noch nicht genug Bücher und zu
wenig Gedichte. Und das ist gut so. Die Bücherberge wachsen
und sie wachsen selbst dann, wenn die Produktion der Verlage
in den nächsten Jahren sehr wahrscheinlich zurückgehen wird.
An anderen Stellen des digitalen Literaturbetriebs wachsen
sehr viel mehr Bücher nach, die nicht mehr unbedingt ein Ver-
lagslogo haben werden.
Man sieht das Wachsen der Bücherberge im digitalen Zeit-
alter besser, wenn man für einen Moment zurückblickt, was es
noch vor wenigen Dekaden für ein Buch hieß, ein Bestseller zu
sein. 1975 wurde ein Bestseller wie E. L. Doctorows Ragtime in
den USA 230 000 Mal verkauft. Im Jahr 2000 verkaufte sich

134
John Grishams Bestseller The Brethren mehr als drei Millionen
Mal im Jahr der Erstauflage. In 25 Jahren hat sich offensichtlich
viel verändert. Buchhandels-Fachleute wie Gayle Feldman
rechnen vor, 7 dass sich im amerikanischen Buchmarkt vor
1985 nur von zwei Romanen mehr als eine Million Exemplare
im Erscheinungsjahr verkaufen ließen. Im Jahr 1985 schafften
es dann gleich drei Romane und noch zwei Sachbücher, mehr
als eine Million Mal verkauft zu werden. Heute wundert sich
niemand über solche Zahlen. So viele Bücher sind in immer
schwindelerregenderen Auflagenhöhen im Handel. Bestseller
sind zumeist Bestseller über mehrere Jahre hinweg und sie tra-
gen wesentlich das Geschäft der Verlage.
Eben das ist dann auch die Schwierigkeit für den Literatur-
betrieb, wie wir ihn kennen. Etablierte Geschäftsmodelle müs-
sen immer schneller umgebaut werden. Nicht, weil weniger
Titel auf den deutschsprachigen Buchmarkt kämen – auch ihre
Zahl steigt ja von Jahr zu Jahr –, sondern weil immer schwerer
zu kalkulieren ist, welcher Titel erfolgreich verkauft werden
kann, welcher so durch die Decke schießt, dass er die anderen
Titel mitträgt, die kein Erfolg werden. 2015 waren unter den
meistverkauften Büchern so unterschiedliche Titel wie Char-
lotte Links Die Betrogene, das kluge Sachbuch von Giulia Enders
Darm mit Charme bis hin zum zweiten Band von Fifty Shades of
Grey und dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Wer könnte solche Er-
folge prognostizieren, bis auf den letzten vielleicht? Der Markt
wird kleinteiliger, in dem Maß, in dem sich die Lesergruppen
weiter ausdifferenzieren und sich das Leseverhalten individua-
lisiert. Spitzentitel, die sich gut prognostizieren lassen, wie etwa
Michelle Obamas Autobiographie, gibt es selten. Die Hetero-
genität der individualisierten Lebensformen moderner Gesell-
schaften erschwert die Marktanalysen für die Verlage. Neue
Genres kommen hinzu, neue Medien noch obendrauf, die meist
ihre jeweiligen Leser- und Schreibergruppen haben. Es ist diese
Heterogenität der Lesergruppen, die das Lesen im digitalen
Zeitalter charakterisiert, und nicht die Tatsache, dass nicht
mehr gelesen und keine Bücher mehr verkauft würden.

135
Wenn so viel, aber so Unterschiedliches gelesen und ‚geliked‘
wird, dann ist schwer abzusehen, ob es besser ist, erst ein Hör-
buch, eingelesen von Rufus Beck, herauszubringen, das dann
das gedruckte Buch mit nach oben zieht, oder umgekehrt. Wel-
chen Effekt es auf Buchverkaufszahlen hatte, wenn in Fernseh-
talkshows ein Buch in die Höhe gehalten wurde, kann jeder
Buchhändler erläutern. Längst werden Stellflächen in Buch-
läden verkauft und im Regal gegen Geld ein Meter extra ver-
mietet, um einen Titel besser herauszustellen. Das ist für die
Verlage ein hartes Geschäft geworden, auch hier nicht, weil
weniger gelesen wird, sondern weil mehr, aber unterteilt in
immer heterogenere Lesergruppen mit ihren jeweiligen Aus-
stattungsformaten gelesen wird. Die Individualisierung der
Lebenswelten und die Heterogenisierung der Konsumenten-
märkte sind auch für den Buchmarkt sich gegenseitig ver-
stärkende Entwicklungen und der wichtigste Effekt der Digita-
lisierung des Literaturbetriebs.
Die Schwierigkeit, Titel richtig zu platzieren, setzt sich im
Internethandel fort. Nur dass man dort über neue Beobach-
tungswege verfügt, das Verhalten der Leser genauer zu ver-
stehen. Behavioral targeting nennt man in der Fachsprache
die Technik, mit der das Such- und Kauf- und neuerdings auch
das Leseverhalten von uns realen Lesern mitgeschnitten wird,
um aus diesem Verhalten zu errechnen, dass diejenigen, die
diesen Titel kaufen, auch jenen gekauft haben. Inzwischen ver-
folgen die ersten E-Books auch mit, wie lange wir als Leser bei
welchen Kapiteln verweilen, was wir überblättern, was wir un-
terstreichen und was ungelesen bleibt. Und gerade das ist viel
mehr, als man denkt. Ein Bestseller-Sachbuch wie Thomas
Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert haben nur wenige Le-
ser wesentlich über die Seite 26 hinaus gelesen, lernt man aus
diesen Daten über das Leseverhalten. Und das, obgleich es bei
Büchern wie dem Pikettys doch gerade darauf ankommt, die
Argumente auch von Seite 27 folgend wahrzunehmen. 8 Ama-
zon erwägt sogar, Selbstverlag-Autoren danach zu bezahlen,
wie viele Seiten ihrer Texte tatsächlich gelesen werden. Nicht

136
das verkaufte Buch, sondern die tatsächlich gelesenen Seiten
wären dann das Maß der Bezahlung. Über den Vorschlag, der
zunächst irritieren mag, lohnt es sich dann doch nachzuden-
ken, denn um was, wenn nicht das tatsächliche Lesen sollte es
doch in der Welt der Bücher gehen? Marktorientierung und
Kulturauftrag des Literaturbetriebs stehen sich damit in ver-
wirrend neuen Positionen gegenüber. Darüber wird nicht ger-
ne öffentlich gesprochen. Der Literaturbetrieb möchte als Kul-
turbetrieb fern von Marktmechanismen erscheinen, als hätte er
mit Amazon und Google wenig zu tun. Aber natürlich sind
Verlage wie andere Unternehmen auch daran interessiert,
Daten über ihre Käufer zu sammeln. 9 Nur werden von den
Verlagen gerne die Rolle von der marktfernen Kulturinstitution
gepflegt, die weder dem Druckzeitalter noch erst recht dem
Digitalzeitalter angemessen ist.
Ungeachtet der Rolleninszenierung sind Verlage auf fast
allen Ebenen Teil eines durchdigitalisierten Betriebs geworden,
das ist annähernd unvermeidlich und hat die unverändert
schöne Folge, dass mehr Bücher mehr Leser finden. Dennoch
kritisieren viele, dass die Digitalisierung des Literaturbetriebs
zu einer großen Trivialisierung unserer Lesekultur führe. Als
Beleg führen sie die Laienrezensionen an, die Amazon oder in
den sozialen Netzwerken zu finden sind. Was da an Plattitüden
geäußert wird, drängt einen aufmerksamen Beobachter fast
unvermeidlich dazu, ins Grübeln über die schöne, neue
Bücherwelt zu kommen. Es ist wohl nicht nur auf den ersten
Blick richtig, wenn in Laienrezensionen Gemeinplätze über
Bücher geäußert werden wie „fand ich gut“, „hat Spaß ge-
macht“, „war nicht sonderlich spannend“, „ein echter Knaller“.
Das sind nicht eben Äußerungen des Hochfeuilletons. Wenn
jemand im sozialen Lesenetzwerk LovelyBooks auflistet, was
sie oder er liest, dann klingt es so:
So nun mein Voting:
78sunny: Libellensommer (ich mag Kanada einfach ;))
Asu: Der Augensammler (definitiv!! ;) )

137
Caro88: Ascheherz (da hab ich auch schon ein paar Mal davor
gestanden)
Daniliesing: White Horse
ever_green: Ewiglich die Sehnsucht (hab ich schon viel Gutes
gehört, Plötzlich Fee hab ich mal ausgeklammert – da bin ich
wohl vorbelastet ;))
kanemabe: Eragon (ein sehr gutes Buch)
LaDragonia: Göttlich verloren (tolles Buch, kann ich nur emp-
fehlen)
liebling: The Night Circus (klingt vielversprechend)
RottenHeart: Plötzlich Fee (Die anderen kenne ich entweder nicht
oder aber ich fand sie nicht so gut :/)
scarlett59: Tödliche Spiele (war für mich der beste Band der Tribute
von Panem :) )
Si-Ne: Leider kenne ich keines der Bücher :( Aber Shades of Grey
soll angeblich ja recht gut sein.
Sommerleser: darüber muss ich noch nachdenken
Sunny Rose: Zeitenzauber (klingt interessant)
Lesewutz: Und morgen bist du tot (der Autor ist sehr gut)
Ich hoffe ich habe jetzt niemanden vergessen, sonst sagt mir
bescheid :) 10

Dennoch wäre es zu einfach, sich über solche Leser zu erheben.


Wenn jemand ein Buch als „klingt vielversprechend“ einstuft
und einen solchen Kommentar bei Amazon oder LovelyBooks
postet, dann geht es nicht um gedruckte Literaturkritik, wie
wir sie seit dem 19. Jahrhundert kennen, sondern um die Ein-
übung in die eigene Identität und die Suche nach Gleichge-
sinnten durch das Lesen. Das ist so ziemlich genau das, was
auch die Leser Rousseaus getan haben, wenn sie mit Leiden-
schaft ihre Tränen über den Roman vergossen und das gleich
noch in Briefen anderen Lesern mitgeteilt haben. Weint um
Eure Bücher, schreibt es auf und findet darüber Herzensfreun-
de, das ist modernes Lesen seit mehr als zweihundert Jahren.
Und genau das passiert in den digitalen Netzwerken in einem
Maßstab, von dem Rousseau nur hätte träumen können. So

138
schreibt jemand über das Buch der indisch-kanadischen Auto-
rin Shilpi Somaya Gowda:
Als das Buch Geheime Tochter zu mir gefunden hatte, hielt ich es in
den Händen und wusste noch nicht genau, was ich von dem Buch
halten sollte, das Cover war schlicht, die Geschichte klang interes-
sant und doch da war sie, die Angst vor zu vielen Klischees. Denn
diese Thematik leitet schnell dazu in Klischees zu verfallen und
nicht neu zu denken und nur an der Oberfläche zu kratzen, sowie
in Kitsch zu verfallen. Der Autorin ‚Shilpi Somaya Gowda‘ ist es
nicht immer gelungen genau diesen Dingen aus dem Weg zu gehen,
gegen Ende nahm in meinen Augen der Kitsch und die Rühr-
seligkeit immer mehr Überhand und doch sind es genau die Stellen,
an denen sie es schafft von diesen Klischees auszubrechen umso
schöner. 11

Die Buchkritik kommt nach weiteren Ausführungen zu dem


bezeichnenden Schluss: „Das Buch lädt dazu ein, mit einer Tas-
se Tee sich einen gemütlichen Abend zu machen und in dieses
Buch voller Differenzen einzutauchen.“ 12 Genau darum geht es
in den sozialen Netzwerken: Jemand hat mit Verve gelesen,
taucht in die Geschichte ganz ein und reflektiert dabei zugleich
das Leseerlebnis in nachvollziehbaren Bewertungsmustern. Ge-
schrieben ist eine solche Rezension für Gleichgesinnte. Es soll
niemanden zum Lesen dieses Buchs bekehren, nur die Lieb-
haber dieser Autorin oder dieses Genres zusammenführen.
Das ist viel und ist wichtig und eigentlich nicht viel anders als
es die meisten Rezensionen auch im Hochfeuilleton zumeist
tun. Denn nicht jedes Lob für die wichtigste Neuerscheinung
des Jahres will neue Leser für ein Buch gewinnen, sondern oft
nur die Leser in ihrem Urteil bestätigen und die eigene Position
im Feld der Literaturkritik festigen.
Lesen im digitalen Zeitalter ist modernes Lesen wie schon
seit den Zeiten Rousseaus, eher identifikatorisch, aber auch
kritisch, und adressiert zuallererst an die jeweilige gleich-
gesinnte Gruppe. Es ist immer noch die immersive Bürgerlich-
keit des Lesens, die heute ‚Social Reading‘ genannt wird und
einstmals empfindsame Lesekultur hieß. Das haben auch die
Verlage und die Literaturkritiker längst verstanden. Sie haben

139
nicht nur Blogs für Kundenrezensionen wie eben LovelyBooks
der Holtzbrinck-Gruppe oder Wasliestdu der Mayerschen
Buchhandlung etabliert – und damit einmal mehr Amazons
GoodReads nachgeahmt. Vielmehr versorgen die Verlage auch
die im Netz gut sichtbaren Lesekunden mit Rezensions-
exemplaren, stellen Literaturportale wie Vorablesen.de zur Ver-
fügung, auf denen Leser Punkte für ihre Besprechungen sam-
meln und darüber Zugang zu Freiexemplaren erhalten können.
Leser, Autoren und Kritiker rücken im digitalen Zeitalter auch
in der etablierten Verlagswelt enger zusammen als jemals zu-
vor. Die Digitalisierung ist keine disruptive Technologie, im
Gegenteil: Die Digitalisierung des Literaturbetriebs nimmt
den bisherigen Betrieb fast geräuschlos in sich auf. Sie macht
ihn nicht überflüssig, sondern transformiert ihn. Auf einmal ist
der Literaturbetrieb, wie wir ihn kannten, ein Teil eines sehr
viel größeren Literaturbetriebs mit vielen anderen Akteuren,
die im etablierten Betrieb noch keine Rolle spielen konnten.
Rupi Kaur hat mehr Leser als Günter Grass, die sozialen Netz-
werke mehr Autorenkritiker als die Feuilletonleser, kurz, der
Literaturbetrieb ist größer und er ist diverser geworden. Der
etablierte Literaturbetrieb ist damit keine Leitinstanz mehr.
Auch in Sachen Kultur ist die Welt flacher geworden und damit
irritierend schwer durchschaubar auch für diejenigen, die im
Literaturbetrieb tätig sind. 13
Unter den Bedingungen der Digitalisierung des Literatur-
betriebs geht alles noch größer. Die 2008 gegründete Plattform
NetGalley bündelt die Werbung für Neuerscheinungen durch
Rezensionen für mehr als 300 Verlage weltweit und bietet den
professionellen Lesern, wie sie hier genannt werden, E-Books
zur Rezension an, vorausgesetzt, die Bloggerin oder der Blog-
ger ist gut sichtbar im Netz positioniert. Rezensionsmanage-
ment ist ein rasch wachsendes Geschäftsfeld in der Verlagswelt
geworden. Der Unterschied zwischen klassischen Rezensenten
und professionellen Leserrezensenten wird durch die Möglich-
keiten im Digitalen geringer. Booktuber treten auf den Buch-
messen in Frankfurt und Leipzig auf, und YouTube-Stars wie

140
Zoella, PewDiePie oder JONAS, die teilweise mehr Fans haben
als Kanada Einwohner, werden von den Verlagen als Werber
gewonnen. Solche Influencer werden als sogenannte authen-
tische Markenbotschafter von Verlagen für die Platzierung der
Bücher bei den jeweiligen Kundengruppen genutzt, ob es dabei
nun um Kochbücher, Reiseführer oder Literatur geht. Verlags-
häuser wie Gruner+Jahr haben eigene Unterfirmen wie
InCircles, in denen die Unterschiede zwischen der Druckwelt
und der digitalen Welt längst aufgehoben sind, wenn reich-
weitenstarke, crossmediale Influencer-Kampagnen gestartet
werden und in Echtzeit mitgeschnitten wird, wie viele Likes,
Kommentare, Follower und wohl auch Absatzzahlen eine
Kampagne erreicht. Alle diese neuen (und alten) Autoren wer-
ben nicht unbedingt um neue Leser, aber um gleichgesinnte
schon.
Die digitale Transformation lässt die Verlagswelt anwach-
sen, auch die der gedruckten Bücher. Der Debütroman Girl
Online der YouTuberin Zoella, das ist Zoe Sugg, 2014 bei Pen-
guin Books erschienen, verkaufte sich mehr als 78 000 Mal in
der ersten Woche nach Verkaufsstart, ein historischer Rekord
für Bestseller, gemessen an der Zahl der in der ersten Woche
verkauften Exemplare eines gedruckten Buchs. Die digital-
romantische Entgrenzung von digitalen Autoren und Lesern
und Kritikern geht sehr gut mit neuen Geschäftsmodellen zu-
sammen. Das Beispiel belegt, wie sehr sich die digitale Welt
ohne viel Aufhebens zwischen alle Prozesse des Literatur-
betriebs schiebt und ihn von innen heraus verändert, verändert
für alle Beteiligten, die Verlage, die Kritiker wie die Autoren
und die Leser. Denn fast alle Buchmärkte der Welt sind in den
letzten fünfzehn Jahren gewachsen. 50 Millionen Buchtitel im
Angebot bei Amazon ist eine Größe verfügbarer Bücher, die
die Welt noch nicht gesehen hat. Viele davon sind im Selbst-
verlag erschienen. Nicht das E-Book, sondern der Online-Han-
del, die digitalen Selbstverlage und die Selbstverständlichkeit
des Ineinander von gedrucktem und digitalem Literaturbetrieb
haben die Verlagswelt transformiert.

141
Die Verlagswelt ist durch die Digitalisierung uneinheitli-
cher geworden, trotz der gewaltigen Konzentration in immer
größere Holdings. Hinter so traditionsreichen Namen wie
‚S. Fischer Verlag‘ steht ‚Holtzbrinck Publishing Group‘. Und
Penguin Random House ist alles, nur kein Haus, sondern der
größte Publikumsverlag, den die Welt je gesehen hat. Ein Vier-
tel der weltweiten Buchproduktion kommt aus diesem „Haus“.
Mehr als 45 Verlage sind unter seinem Dach vereint. Mit nicht
eben wenig Stolz hat der Vorstandsvorsitzende Markus Dohle
dann auch auf der Frankfurter Buchmesse 2017 festgestellt,
dass es dem Buchmarkt nie so gut gegangen ist wie heute: „Das
globale Buchgeschäft erlebt die beste Zeit seit seinem Bestehen,
also seit mehr als 500 Jahren.“ 14 Das Gerede von der Krise des
Buch- und Verlagshandels ist Lobbyismus, nicht mehr, zu-
mindest aus der Sicht der globalen Gewinner der Oligopolbil-
dung unter den Verlagen. Die Welt ist groß geworden, spricht
aber fast nur Englisch und etwas Deutsch, denn Deutschland,
Österreich und die Schweiz bilden den drittgrößten Buchmarkt
der Welt mit weltweit einmalig günstigen Buchpreisen und
einem typografischen und buchbinderisch singulären Niveau.
In dieser gar nicht so alten Buchwelt wird auch das Geld
vor allem mit wenigen Spitzentiteln verdient, die auf wenige
Verlage bzw. Holdings konzentriert sind. 2014 ging der Umsatz
der deutschen Buchhandlungen mit erzählender Literatur um
sieben Prozent zurück, meldet der Börsenverein des Deutschen
Buchhandels, 15 weil es an Bestsellern wie der Erotik-Schmon-
zette Shades of Grey fehlte, die, in den Jahren zuvor millionen-
fach verkauft, die Kassen gefüllt hat. Weltweit sollen zwischen
2011 und 2013 mehr als 100 Millionen Exemplare dieser Lie-
besgeschichte zwischen einer gerade erwachsen gewordenen
Literaturstudentin und einem jungen Unternehmer verkauft
worden sein, wie wir dieses Buch einmal kurz zusammenfassen
wollen. 2014 dann lag der Umsatz der zehn meistverkauften
Titel um 20 Prozent unter dem des Vorjahrs und der Gesamt-
markt ging damit gleich mit nach unten, wenn auch nur um
2,2 Prozent. Ohne Geschichte mit Bett und Handschellen war

142
kein Staat im Land der Bücher zu machen, würden böse Zun-
gen sagen. Der Preisrückgang bei den E-Books und der Rück-
gang der Verkaufsflächen kamen noch hinzu, sodass trotz stei-
gender Titelzahl der Buchhandelsumsatz in den letzten zehn
Jahren nur gering gestiegen ist. An E-Books wird trotz verbes-
serter Absatzzahlen und steigender Käuferzahlen weniger ver-
dient. Die Umsätze mit E-Books stagnieren bei knapp 5 Pro-
zent des Branchenumsatzes. 2016 wuchs der E-Book-Markt
um gerade einmal 2,6 Prozent des Umsatzes bzw. 4,1 Prozent
der verkauften Titel, informiert der Börsenverein. Die Insol-
venz großer Buchvertriebe wie der Weltbild-Gruppe und der
Ausstieg von Club Bertelsmann aus dem Markt hatten mehr
als hundert Standortschließungen nach sich gezogen. Dennoch
ist der stationäre Handel verglichen mit dem klassischen Ver-
sandhandel und seinen Buchclubs und Warenhäusern stabil.
Eine Konzentration auf immer weniger und immer größere
Unternehmen ist nicht zu übersehen, wie die Fusion der
Mayerschen Buchhandlung mit Thalia einmal mehr zeigt. Die
Strategie, stationären Handel und Internetangebot zu verknüp-
fen, geht vielfach auf. Von Omni-Channel-Buchhandelsunter-
nehmen ist in Branchenkreisen die Rede, wenn die zusammen-
gefasst werden soll, wie der stationären und der Online-Handel
zusammenwirken. Bücher gedruckt und als E-Book anzubie-
ten, wird von den Kunden angenommen. Sie bestellen Bücher
im Internet und holen sie dann in ihrer lokalen Buchhandlung
ab. 2015 und 2016 ist der Buchmarkt auch in Deutschland
wieder leicht gewachsen. Pro Kopf kaufen die Kunden mehr
Bücher und geben mehr Geld für sie aus als in den Jahren
davor. „Buchmarkt 2016. Verlage und Buchhandlungen stabile
Größen im Medienwandel“, meldet der Börsenverein. 16 Und er
hat Recht. Das digitale Zeitalter treibt auch den Literatur-
betrieb an, auch und gerade in seinen Konzentrationspro-
zessen. 2018 konnte der Börsenverein noch einmal einen
Zuwachs der Verkaufs- und Umsatzzahlen konstatieren.
Alle diese Befunde stehen im Kontrast zu den aufgeregten
Meldungen über den dramatischen Rückgang an Buchkäufen.

143
Solche Meldungen folgen einer Art von langweiliger Drama-
turgie stets fallender Zahlen, schwindender Leselust und man-
gelnder Lesefähigkeit. 2018 fand eine vom Börsenverein beauf-
tragte Studie der Gesellschaft für Konsumforschung heraus,
der Buchmarkt sei 2016 mit knapp etwas mehr als 30 Millionen
Käufern auf das niedrigste Niveau seit fünf Jahren gefallen. 17
Zwischen 2012 und 2016 seien dem Buchhandel mehr als sechs
Millionen Buchkäufer verloren gegangen, ein Trend, der sich
unvermindert fortsetze. Nur die Stückzahl der verkauften Bü-
cher ist nicht zurückgegangen, weil diejenigen, die Bücher kau-
fen, mehr Bücher kaufen. Immer weniger Menschen lesen,
stellt die Studie fest und präzisiert, dass vor allem Menschen
zwischen 20 und 50 immer seltener Bücher lesen würden, auch
wenn die Älteren mehr kaufen und so das Geschäft stabil hal-
ten. Der Börsenverein vermutet ganz in der Dramaturgie sol-
cher Meldungen, dass die Menschen ihre Zeit den neuen
Medien widmen und nicht mehr dem Buch. Im Bericht ist
dann die Rede von der Abhängigkeit von den digitalen Medien,
vom Verlust der Konzentrationsfähigkeit, der wachsenden Be-
deutung des Multitasking und was der Gemeinplätze mehr
sind. Nur setzt diese Dramaturgie voraus, dass wer Computer
und Internet nutzt, nicht liest und schreibt. Und eben das ist
falsch. Wer die digitalen Medien nutzt, wird vielleicht nicht
mehr ein neues Buch kaufen oder ein E-Book herunterladen.
Aber er oder sie lesen, lesen oft sehr viel und viele schreiben
und auch das viel und in so vielen Gattungen und Genres, die
der etablierte Literaturbetrieb nur ausschnittsweise abbildet. So
fehlen etwa die Zahlen über den Wiederverkauf von Büchern,
den das Internet revolutioniert hat. Wir wissen nicht einmal
ansatzweise, wie groß der moderne Antiquariatsmarkt ist, wo
Bücher sehr interessensgenau für wenig Geld zumeist zwischen
Privatleuten gehandelt werden. Die Zahlen dürften sehr groß
sein. 2 Millionen Privathändler sind allein bei Booklooker regis-
triert und ca. 5 000 Buchkäufe finden hier pro Tag statt. Die
Zahlen sind hier oder auch bei AbeBooks.de oder Momox so
groß, dass sie in der Statistik vom Schwinden der Leser berück-

144
sichtigt werden müssten. Aber das ist nicht der Fall. Es singt
sich zu schön vom Verfall. Nein, der Buchmarkt ist längst Teil
einer digitalen Umwelt geworden, redet aber immer noch in
der Rhetorik der Kulturkritik. In Wahrheit ist das nicht viel
mehr als simpler, wenn auch medienwirksamer Lobbyismus.
Die Integration der analogen Bücherwelt in die digitale Le-
sewelt geht nicht immer so geräuschlos vonstatten wie bei
Wattpad. Beim Verlag, der keiner ist, bei Amazon also, wird
zwischen Socken und Rasenmähern experimentiert, wie man
die etablierten Verlage umgehen und eine direkt von den Au-
toren betriebene Verlagswelt aufbauen kann. Man denkt hier
betont groß und will, wie in der Plattform-Wirtschaft üblich,
ohne allzu viele Zwischeninstanzen direkt von den Autoren-
lesern her den Markt aufrollen. Das ist nicht wirklich roman-
tisch, sondern harte Ökonomie, die auf die Verdrängung
etablierter Marktteilnehmer angelegt ist. Bestehende Ge-
schäftsmodelle werden nicht nur etwas anders oder besser kon-
zipiert, sondern sollen durch ganz andere ersetzt werden. Die
Autoren sollen ihre eigenen Verleger sein, Amazon ist nur die
Plattform, bei der allein durch ihre schiere Größe dann das
meiste Geld und das Gold des 21. Jahrhunderts, die Daten über
die Leser, hängen bleiben. Kindle Direct Publishing heißt das
Portal von Amazon, auf dem Autoren ihre Bücher selbst setzen
und mit einer Covergrafik auf den Markt bringen können. Den
Preis legen sie selbst fest und vom Verkaufspreis erhalten sie
siebzig Prozent. Bei einem Verlag bekämen sie gerade einmal
10 Prozent Tantieme, wenn es sehr gut läuft. Das sieht aus wie
ein Unterschied, doch kosten die Bücher bei Amazon gerade
mal eben 3,99 Euro pro Band. Solche Preise sind nicht zufällig
an denen für Popsongs orientiert. Wie in der Musikindustrie
ist auch die Buchindustrie so angelegt, dass eine große Masse
erfolgloser Autoren für fast nichts schreibt und nur wenige
schier unglaubliche Gewinne einfahren, wie etwa die deutsche
Fantasy-Autorin Marah Woolf, die ihre inzwischen fünf Mond-
Silber-Sage weit mehr als 400 000 Mal verkauft hat. 18 Oliver
Pötzschs historischer Roman Die Henkerstochter ist in 20 Spra-

145
chen übersetzt; die amerikanische Indie-Autorin Holly M. Ward
hat mit ihren Unterwäsche-Covern mindestens sechs Millionen
E-Books über Kindle Direct Publishing verkauft. 19 Der populäre
Netflix-Film The Kissing Booth basiert auf der gleichnamigen
Geschichte von Beth Reekles, die diese 2011 im Alter von 15 Jah-
ren auf Wattpad hochgeladen hat. Man kann mit Schreiben von
Literatur also Millionärin werden. Und von diesen und ähnlich
erfolgreichen Teenfiction-Autoren gibt es noch ein paar mehr,
wie etwa Poppy J. Anderson und morgen schon andere. Das ist
die irritierend-verheißungsvolle Seite der Digitalisierung des
Literaturbetriebs. Er tendiert dazu, ein Pop-Betrieb zu werden.
Ganz wenige Superstars teilen unter sich den Großteil der Ge-
winne auf. Diese Popindustrialisierung auch des Literatur-
betriebs ist eine der wesentlichen Veränderung, die es ernst zu
nehmen gilt und eben Effekt der neuen Kommunikationsmög-
lichkeiten, wie der Ökonom Sherwin Rosen als ein der ersten
bereits Anfang der 80er-Jahre beschrieben hat. 20
Die meisten der Autorinnen und Autoren schreiben auf
den digitalen Plattformen um des Schreibens willen. Sie sind
in anderen Berufen tätig und schreiben nebenher, selbst wenn
sie damit schon längst Millionäre geworden sind wie Jenny
Rosen mit ihren Romanen Cheater, Faker, Troublemaker über
Beziehungsdramen und Sex, die auf Wattpad und Goodreads
und jetzt bei Hachette zu lesen und zu hören sind. Ein Pro-
letariat bilden sie nicht, denn sie entstammen zumeist dem
besser gestellten Mittelstand und schreiben nicht, um die
Suppe für den Tag zu bezahlen. Lohnschreiber wie Karl May
es war, der zunächst nach der Zahl der geschriebenen Zeilen
bezahlt wurde, sind sie alle nicht. Eher sind sie professionelle
Autoren wie Michael Meisheit, der zunächst ein erfolgreicher
Drehbuchautor war, bevor er sich auch als Schriftsteller etab-
liert hat. Meisheit reflektiert klug auf seinem Blog die Welt der
selbst verlegenden Autoren:
Das goldene Zeitalter des Selfpublishings, in dem man fortlaufend
Autoren traf, die selbst nicht wussten, wieso ihre eBooks sich plötz-
lich zu Tausenden verkauften, liegt hinter uns. Längst hat sich

146
herumgesprochen, dass man mit selbst veröffentlichten Werken ins-
besondere über Amazon ungewöhnlich viel Geld als Autor ver-
dienen kann. Entsprechend steigt die Zahl der Publikationen. Zwar
steigt auch die Zahl der Leser, die zum eBook greifen, aber nicht im
selben Verhältnis. Vor allem aber verteilen die neuen Leser sich
nicht gleichmäßig auf die neu hinzukommenden Selfpublisher. 21

Die Empfehlung und die Algorithmen hinter den Charts trei-


ben einzelne Titel nach oben. Und wie im übrigen Verlags-
geschäft gilt auch hier in der Welt der Selbstverleger, dass der
Gewinner alles bekommt. Wie im übrigen Literaturbetrieb
müssen die Selbstverlagsautoren regelmäßig liefern, um sicht-
bar zu bleiben, und sie müssen den Gattungs- und Genre-
Erwartungen nachkommen, mit denen sie bekannt geworden
sind. Die Marktgesetze, dass etwa durch ein leicht variierendes
Cover-Muster der einmal erfolgreiche Autor wiedererkannt
wird, gelten auch hier. Wer sich wie Meisheit nicht daran hält,
und sein neues Buch Als ich eines Morgens mich selbst traf mit
einem ganz anderen, keinem Genre zuzuordnendem Cover he-
rausbringt, wird nicht gesehen. Michael Meisheit ist freilich ein
professioneller Autor, der ansonsten weiß, dass er Bücher unter
einem Frauennamen besser verkaufen kann, weshalb er sich als
Autor ‚Vanessa Mansini‘ nennt. Darin unterscheidet sich die
digitale Buchwelt nicht von der gedruckten. Auch dass sie sich
organisiert, auf Buchmessen präsentiert und keineswegs als
einsames, selbstverlorenes oder selbstverliebtes Subjekt agiert,
gehört dazu. Meisheit hat zusammen mit anderen Autorinnen
und Autoren die Marke ‚Lieblingsautoren‘ auf einer der letzten
Leipziger Buchmesse erfunden. Die Marke repräsentiert gleich
sechs Millionen verkaufte Bücher, kein Nischenphänomen. Die
Gründung eines Selfpublisher-Verbands ist dann der kon-
sequent nächste Schritt und auch er ist bereits erfolgt.
Wie Michael Meisheit selbst offenlegt, wäre seine Etablie-
rung als Autor ohne Amazon nicht möglich gewesen. Das auch
wegen der bis vor kurzem noch kaum vorstellbaren Möglich-
keiten zur Werbung. Meisheits erster Band von Im falschen
Film wurde durch das Programm Kindle-Deal der Woche nach

147
oben auf die Kindle-Charts katapultiert, zog die weiteren bei-
den Bände der Romanserie gleich mit nach oben, sodass Meis-
heit inzwischen 100 000 Exemplare seit Beginn seiner Karriere
als Schriftsteller im Selbstverlag 2012 verkaufen konnte. Der
Band kostet 0,89 Cent und dies multipliziert mit hundert-
tausend – das ist hier das Geschäftsmodell. Wie Meisheit fest-
stellt, ist Amazon nicht der alleinige, wenn auch derzeit der
größte Akteur im rasch wachsenden Feld der Selbstverlage.
Der E-Book-Selbstverlag Smashwords hat es zunächst der Au-
torin des Bestseller Fifty Shades of Grey ermöglicht, ihr Buch
hochzuladen. Meisheit testet andere Publikationswege wie den
über den Tolino-Shop aus, den die deutschen Großbuchhänd-
ler Club Bertelsmann, Hugendubel, Thalia und Weltbild zu-
sammen mit der Telekom Deutschland gegründet haben.
iBookstore bewirbt Meisheits Buch Nicht von dieser Welt. Es
sind die Großen der neuen, digitalen Buchwelt, die sich hier
die Hand reichen. Mit der alten Verlagswelt haben sie nur we-
nig gemeinsam. Abonnements wie für das Streamen von Musik
bei Kindle Unlimited oder die Etablierung eines deutschen
Kindle Storyteller Self Publishing Award sind die Formate,
mit denen erprobt wird, ob nicht ein radikal anderer Buch-
markt möglich ist, der nicht zufällig so viel Ähnlichkeit mit
der Popindustrie hat. Mehr als tausend Einsendungen hat der
mit 10 000 Euro ausgestattete Kindle-Preis auf sich gezogen.
Prämiert wurde der handwerklich gut gemachte Science-Ficti-
on-Roman Paradox. Am Abgrund der Ewigkeit über eine Reise
an die Grenzen unseres Sonnensystems von Phillip P. Peterson.
Bastei Lübbe hat ihn inzwischen auch gedruckt herausge-
bracht. Diese Mischung aus Romantik, neu-empfindsamer
Fankultur und radikal anderer, weil digitaler Publikationswirt-
schaft könnte alles ändern. Für Autoren wie Michael Meisheit
oder für Verleger wie Hannes Steiner, der bewusst von der
etablierten Verlagswelt in die der Eigenverlage gewechselt ist,
hat sie das schon längst. In den Vereinigten Staaten hat sich die
Zahl der in Eigenverlagen publizierten Titel zwischen 2008 und
2017 auf etwa eine Million Titel verzehnfacht, während sie sich

148
im deutschsprachigen Raum zwischen 2012 und 2015 etwa ver-
doppelt hat. Davon verkauft freilich ein Drittel weniger als drei
Exemplare. Kleinteiliger kann der Markt kaum noch werden,
denkt man angesichts solcher Schätzungen.
Und kein Ende ist in Sicht, eher ist das ein Anfang. Wer es
schrill formuliert hören möchte, muss etwa der New York
Times-Bestseller-Autorin Bella Andre zuhören, auch sie eine
Kindle-Millionärin:
Ich habe 300 000 Dollar mit meinem ersten E-Book verdient. Ich
habe mit meinem zweiten Buch diese Summe verdoppelt. Ich arbei-
te die ganze Zeit. Ich habe Lektoren angestellt. Ich habe Übersetzer.
Ich suche das Cover aus. Ich verfasse die Buchbeschreibungen. Ich
arbeite sehr eng mit dem Vertrieb zusammen. Ich spreche mit der
Presse. Ich spreche über Twitter und Facebook mit meinen Lesern.
Ich kann meine Bücher schnell raushauen. Ich muss nicht erst
Agenten von meinen Ideen überzeugen. Ich kann genau das Buch
schreiben, das meine Leser wollen. Ich bin meine Leserschaft. 22

– so leicht kommt die neuromantische Leserevolution daher.


‚Ich bin meine Leserschaft‘, sagen die Autoren im Pop-Zeitalter
der Bücher mit einigem Recht. Im digitalen Literaturbetrieb
scheint alles möglich zu sein.
Die Rücksichtslosigkeit, mit der die Großen im Geschäft
alles auf sich lenken, hat ihnen Kritik eingetragen, die sie ihrer
schieren Größe wegen ignorieren können. Selbst ein bei der
EU-Kommission anhängiges Wettbewerbsverfahren stört den
Gang der Geschäfte nicht. Auftritte von Russell Grandinetti,
dem für die Kindle-Sparte bei Amazon verantwortlichen Se-
nior Vice President, sind genau für diese Rücksichtslosigkeit
in der Verlagsbranche berüchtigt. Sein Vortrag 2013 in Frank-
furt ist dafür im Gedächtnis geblieben, nicht nur etablierte Ver-
marktungsmodelle beiseite zu wischen, sondern die Verlage
unter Druck zu setzen, ihre Preise in Konkurrenz mit Pop-
songs, Filmen und Computerspiel-Apps zu kalkulieren. Alles
wird bei Amazon investiert, weil Wachstum um jeden Preis
das Prinzip von Amazon ist. Schließlich hat Jeff Bezos sein
Unternehmen 1995 ohne Ahnung von Büchern und mit noch

149
weniger Kenntnissen über Computer gestartet. Als er dann
2003 auch noch beschloss, sich selbst mit der Entwicklung
eines elektronischen Lesegeräts Konkurrenz zu machen, und
das auch ohne Wissen um den Bau solcher Geräte, haben selbst
viele bei Amazon den Kopf geschüttelt. Und doch hat der Er-
folg hier Methode und verlangt von allen Mitarbeitern Inno-
vation. Kantinen wie bei Google gibt es hier nicht und keine
Flüge in der Business Class. Mit derselben Rüpelhaftigkeit hat
Bezos festgelegt, dass bei ihm ein digital verfügbarer Bestseller
nur 9,99 Dollar kostet, einfach um E-Books durchzusetzen.
Damit war digitales Lesen von Anfang an deutlich billiger.
Das war 2007. Doch Amazon wurde damit zugleich von
einem Partner für die Verlage, der sie gegen die großen Buch-
handelsketten wie Barnes & Noble oder Hugendubel zu ver-
teidigen schien, zum Feind. Und das geht so weiter, denn Ama-
zon attackiert Verlage, wenn sie sich den Preisvorstellungen
des Alles-sofort-Verkäufers Amazon nicht beugen. Die Ent-
wicklung von Flatrates, von Direct Publishing, der Aufbau
von lektorierten und gedruckten Büchern, die Durchsetzung
von Hörbüchern nach dem Flatrate-Modell oder jüngst die
Entwicklung eines eignen Labels für kürze Formate wie Essays
oder Kurzgeschichten, genannt Kindle Singles, sind nur der
Anfang und lassen es in den Ohren der alteuropäischen Ver-
lagslandschaft rauschen. Die Digitalisierung mischt den Litera-
turbetrieb auf.
Verwirrend dabei ist, dass diese Entwicklungen nicht auf-
einander abgestimmt sind, keinem Plan folgen und viel anar-
chischer sind, als es das Gerede vom neoliberalen Plattform-
Kapitalismus suggeriert. So gefährdet etwa die Einführung
von Lese-Flatrates das Konzept der Direktvermarktung. In der
traditionellen Verlagswelt, wäre das ein Einwand, bei Amazon
ist das nebensächlich. Wichtig ist nur, dass sich Amazon fast
jeden Tag neu erfindet und seinen Konkurrenten keine Zeit
zum Nachdenken lässt. Gewinne werden hier sofort in neue
Ideen gesteckt. Das wird man nicht von vielen seiner Konkur-
renten in dieser Radikalität sagen können. Kein Zufall, dass

150
Amazon eine Top Level Domain „.amazon“ anstrebt, weil es
sich auf Augenhöhen mit Staaten versteht. Und so treibt Ama-
zon mit seinen mehr als 50 Millionen Büchern im Angebot die
Verlage vor sich her und wird das noch mehr tun, wenn die
Buchpreisbindung einmal eine deutsche Sondergeschichte sein
wird. Amazon ist ein Land, das nicht fernab im Amazonas
liegt, sondern die alten Nationalstaaten überspannt – eine Super-
nation. Wen kümmert noch die alte Nationalstaaterei des bis-
herigen Literaturbetriebs, sagt man sich bei Amazon. In der
neuen Welt wird alles digital umfasst, auch der Literaturbetrieb
und das mit der aggressiven Marktpolitik des Unternehmens,
das die Welt sein will, über die hinaus nichts gedacht werden
kann, eine Pop-Supernation.
Auf Augenhöhe mit Amazon konkurrieren derzeit wohl
nur Firmen wie Facebook. Im Mai 2015 hat sein Gründer Mark
Zuckerberg die Verleger aufgefordert, direkt auf Facebook zu
veröffentlichen und dort die Bücher mit weiteren Inhalten zu
verlinken. Dass er dabei an Werbung denkt, weil er wie Ama-
zon weiß, dass der Weg von einem Buch zum nächsten in der
digitalen Welt kürzer und öfter begangen wird, kann nieman-
den verwundern. Auch nicht, dass er dabei die Nutzerdaten
ausliest. Daran haben wir uns schon viel zu sehr gewöhnt,
wenn selbst schon der Spiegel bei Facebook seine Instant-
Artikel veröffentlicht. Das sagt viel über den Stand der Kritik
an der digitalen Modernisierung aus. Für unsere Frage nach
dem Lesen im digitalen Zeitalter ist aufschlussreich, mit wel-
cher Konsequenz auch Facebook versucht, das ganze Internet
selbst zu werden, auch das für das Lesen. Darin steht es Ama-
zon und anderen digitalen Giganten nicht nach. Denn Face-
book will ja nicht eine Anwendung unter anderen sein, nicht
eine App neben anderen, sondern die ganze Welt in einem.
Wer liest und schreibt, publiziert und kritisiert, braucht Face-
book nicht zu verlassen, sondern findet für jede dieser Rollen
auf der Facebook-Plattform schon die richtige Systemstelle, so
die Idee einer radikalen Digitalisierung des Literaturbetriebs.

151
Facebook hat daher Firmen wie Tugboat Yards gekauft, die
darauf spezialisiert sind, Bezahlmodelle für Kreative im Inter-
net zu entwickeln, mit denen sich gerade auch kleine und mitt-
lere Verlage etablieren können sollen, indem sie Leser zu Bei-
trägen einladen, um im Gegenzug Zugang zu publizierten
Inhalten zu erhalten. So wie sich Amazon durch die Top-
Level-Domainendung „.amazon“ für das Internet selbst ausgibt
und sich Google unter dem Namen „Alphabet“ eine neue
Holding von universalem Anspruch geschaffen hat, so will
auch Facebook, dass wir als Leser nicht mehr den Möglich-
keitsraum Internet denken, sondern uns von A bis Z von einer
Firma umgeben, ja umsorgt wissen. Nicht das Internet, die Fir-
ma ist die zweite Haut, die uns umgibt. Facebook weiß schon,
was Leser wünschen. Apple kauft Firmen wie BookLamp, das
die Inhalte von E-Books für Kaufempfehlungen aufbereitet.
Google Books’ Sieg vor dem New Yorker Gericht über den Au-
torenverband bzw. die Verlage, dass ihre vor mehr als zehn
Jahren begonnene Digitalisierung ganzer Bibliotheken recht-
mäßig war, geht ebenfalls in diese Richtung, dass bald die Wor-
te Bibliothek und Google Books synonym gesetzt werden. Alle
Versuche der Deutschen Digitalen Bibliothek oder der Digital
Public Library of America, des HathiTrust oder des Internet
Archive davon unabhängige öffentliche Bibliotheken aufzu-
bauen, sind nicht mehr als Nebenschauplätze, leider.
In der Umklammerung durch die digitalen Oligopole ver-
ändert sich der Literaturbetrieb. Wer als kritisches Antidot die
2014 publizierten Regeln für die digitale Welt von Hans Magnus
Enzensberger dagegenhält, weiß, dass das 20. Jahrhundert auch
in Deutschland endgültig vorbei ist. Enzensbergers Regeln mö-
gen ein kritischer Einspruch gegen das gedankenlose Posten und
Handy-Starren sein. Aber sie haben selbst in den Feuilletons des
analogen Literaturbetriebs keine Diskussion mehr auslösen kön-
nen. Dafür waren die Regeln im besten Falle nur gut gemeint. Ja,
man kann Enzensbergers Rat folgen und Handys wegwerfen und
einige tun das auch. Für die Modernisierungsprobleme des Lite-
raturbetriebs reichen solche Vorschläge aber kaum aus.

152
Wenn dies aber alles gar kein Wandel ist, sondern ein
schieres Überranntwerden von jungen Leuten und ungeahnten
Ideen, wie die digitale Welt zukünftig aussehen könnte? Man
muss keine aufwändige Sozialstudie betreiben, um zu sehen,
dass die neuen Köpfe von Wattpad bis Facebook die etablierten
Verlage bestenfalls noch im Augenwinkel wahrnehmen, wenn
überhaupt. Daher ruft auch niemand bei Wattpad oder Face-
book eine Revolution aus, denn man hat hier gar nichts vom
Gegner je gehört. Das ‚Ancien Régime der Verlage‘ erreicht
kaum Wahrnehmungshöhe. Alle Verteidigung des bisherigen
Literaturbetriebs hat daher etwas Sentimentales, und das spü-
ren ihre klugen Verteidiger nur zu genau. 23 Ihre Argumente
haben den Rückzug schon eingeschrieben. Sie wissen, dass sie
gar nicht von denen gelesen werden, denen sie in kritischer
Absicht ins Stammbuch geschrieben sind. So erfindet sich die
digitale Welt fast jeden Tag selbst neu, während die analoge
Welt ihre Bedenken pflegt. Das eine findet selten mit dem an-
deren zusammen. Und wenn nicht gerade die Europäische
Kommission eine Vorladung ausspricht oder ein Wettbewerbs-
aufsichtsverfahren anstrengt, ist der Unterschied zwischen der
etablierten und der neuen Verlagswelt kaum ein Thema der
Öffentlichkeit, sondern löst nur vage Verlustängste aus, die
‚alten‘ Medien und ihre Institutionen wie die Verlage könnten
bald schon irrelevant werden. Das werden sie aber nicht, denn
sie sind zumeist schon selbst Teil des digitalen Literaturbetriebs
geworden.
Die Klagen über das Ende von Buch, Literaturkritik und
Verlag setzen voraus, Verlage und digitale Welt würden wie
Buch und Computer Gegensätze bilden. Das trifft weder in
dem einen noch in dem anderen Fall zu. Die Strukturierung
des Literaturbetriebs ist vielmehr schon längst so sehr von di-
gitalen Techniken und Prozessen durchzogen, dass auch Ver-
lage längst digitale Verlage sind und den popindustriellen Be-
trieb mehr antreiben, als sie zugeben können. Noch werden
Formulierungen wie „Auflage“ benutzt und das Buchdrucken
als geradezu handwerkliche Arbeit stilisiert. Von Buch- und

153
Druckkultur ist gerne und viel die Rede. Tatsächlich aber gibt
es kaum noch Auflagen im herkömmlichen Sinn, jene in einem
Druckvorgang produzierten Exemplare, die dann in Lager-
räumen der Verlage zum Verkauf bereitliegen. Gedruckt wird
auf Nachfrage ohne große Remittenden. Die Kalkulation einer
Auflage entsprechend der vermuteten Nachfrage mit dem Risi-
ko, zu viele Bücher zu produzieren, die dann keine Abnehmer
finden, oder zu wenige, sodass ein erneuter kostenträchtiger
Druck notwendig wäre – sie entfällt. Die heute übliche Auf-
lagenhöhe beträgt eins. Denn gedruckt wird auf digitalen Ma-
schinen je nach Nachfrage. Die Maschinen dafür sehen aus wie
etwas größere Kopierer und benötigen keine größeren Räume
mehr, um aufgestellt und betrieben zu werden. Verlag und
Druckerei passen in ein Wohnzimmer. Raum und Technik des
Druckens sind vollständig digitale Prozesse geworden. Kaum
etwas ist so digital wie der Weg vom Manuskript bis zum
Druck. Auch das gehört zur Digitalisierung des Literatur-
betriebs.
Die Digitalisierung des Drucks hat mehrere Folgen. Zum
einen kann so gut wie alles gedruckt werden. Da Auflagen-
höhen nicht mehr die Rolle für die Gesamtkalkulation eines
Buchs spielen wie noch vor wenigen Jahren und selbst farbige
Abbildungen keine Spezialmaschinen mehr benötigen, gibt es
so gut wie keine drucktechnischen Gründe mehr, dass etwas
nicht gedruckt werden könnte und wenn das Buch nur fünf
Leser gewinnen sollte. Zweitens kann das Buch in allen mög-
lichen Formaten ausgegeben werden, von denen das traditio-
nelle Buch nur ein Format unter anderen ist. Alle sind sie digi-
tale Formate, nur dass das traditionelle Buch nicht so aussieht.
Das hat mit einer dritten Folge zu tun. Die Verlage und Dru-
ckereien müssen, um Zeit für den Umbau ihrer Geschäfts-
modelle zu gewinnen, ihre bisherige Position im Markt be-
haupten. Das führt zu der antidigitalen Rhetorik in der
Öffentlichkeit, selbst wenn alle Beteiligten wissen, dass die
Interessensgegensätze gar nicht entlang der Grenze zwischen
digital und analog verlaufen. Und viertens wird es mehr Ver-

154
lage geben, viele kleine und einige ganz wenige, sehr große
Verlage, die ihrerseits in viele kleine Verlage zu zerfallen schei-
nen und doch eine Holding bilden. Die Heterogenität moder-
ner Lebensformen prägt auch die Vielfalt und Widersprüch-
lichkeit der Verlagswelt.
Das digitale Zeitalter entgrenzt Buchdruck, Verlag und
Buchhandel, wie wir sie kannten und öffnet Nischen selbst für
Kleinstmärkte. Die Penny-Buchhändler sind dafür das beste
Beispiel. Dutzende von Buchhandelsgründungen wie Thrift-
books, Silver Arch Books, Owls Books, Yellow Hammer Books
oder Sierra Nevada Books bedienen den Markt mit vergriffe-
nen Büchern für die Sammler des Seltenen, derjenigen Bücher,
die Bibliotheken kaum sammeln, Thriller und Spionageroma-
ne, Heftliteratur und Räuberromane zum Beispiel, die dann für
einen oder 3,99 Dollar wiederverkauft werden. 24 Dieser so-
genannte ‚Long Tail‘ des Buchverkaufs gehört zu der anderen
Seite der Digitalisierung, des Pop-Betriebs und der Oligopol-
Bildung und hat viel mit der Individualisierung der Leseerfah-
rung zu tun. Der digitale Markt für das moderne Antiquariat
kommt noch hinzu. Wo ganz wenige große Unternehmen den
Markt unter sich aufteilen, da entstehen Nischen für die ganz
kleinen Buchverkäufer, die noch den ausgesuchtesten Lese-
geschmack bedienen. Das sind vielfach Laien, die in keiner
Statistik auftauchen, aber in ihrer Summe den Literaturbetrieb
ebenfalls verändert haben. Die Individualisierung des Lesens
wird so leichthändig möglich, weil alles längst Teil der digitalen
Kette von Schreiben, Drucken und Verkaufen geworden ist.
Computer haben die Eigenschaft, andere Medien wie das Buch
in sich zu integrieren, wie das Buch seinerseits einst viele an-
dere Medienformate in sich aufgenommen hat. Wenn also
etwas zu Ende gegangen ist, dann das Druckzeitalter, mit sei-
nen getrennten Rollen und Funktionen. Das digitale Druck-
zeitalter hat gerade begonnen und es bestimmt die Rollen neu.
Die Zukunft des Literaturbetriebs hat wesentlich damit zu
tun, dass die Digitalisierung nicht die alten Medien verdrängt,
sondern in sich aufnimmt. Literaturkritik, Drucklegung, Ver-

155
trieb und Verlag bilden längst eine digitale Kette. Der bisherige
Literaturbetrieb ist nur eine Teilmenge eines größeren Betriebs
und keiner weiß so recht, wie groß diese Teilmenge noch ist
und ob der Begriff der Leitmedien ähnlich unscharf geworden
ist wie der Begriff der Leitkultur. Die vielen Leser, die zugleich
auch Kritiker und auch Autoren sind, haben mit den Füßen
abzustimmen begonnen, wo sie ihre Geschichten lesen, wo sie
über Literatur reden und wo sie ihre Bücher veröffentlichen: in
der digitalen Welt, die nicht mehr ein Verlag sein muss, aber es
sein könnte und oft ist. Rupi Kaurs Gedichte auf Instagram
und bei Simon & Schuster sind dafür ein anschauliches und
noch dazu für alle ein erfolgreiches Beispiel. Ein solcher Lite-
raturbetrieb war vor gar nicht so kurzer Zeit so gut wie nicht
möglich. Hektographierte Kopien hat es zwar gegeben und wa-
ren für die Entstehung der Fan-Fiction-Szene nicht unwichtig
und für die Samisdat-Literatur wesentlich, aber das ist Ge-
schichte. Die Digitalisierung des Literaturbetriebs nimmt die
uns vertraute Verlagswelt in sich auf und hat sie damit schon
weit mehr verändert, als es die Rhetorik vom Ende des Buchs
und der Verlage erkennen lässt.
Ich fasse noch einmal zusammen: Wir lesen wohl nicht viel
anders als Generationen vor uns, aber wir lesen mehr und wir
lesen individualisierter gerade in digitalen Zeiten. Der Litera-
turbetrieb wird unübersichtlicher und die Rollen in ihm wer-
den neu verteilt. Denn erst die Digitalisierung ermöglicht eine
Vielfalt der Verlagswelt in der ganzen Widersprüchlichkeit von
Selbst-Verlag und Holding, Lyrik für Millionen und Druck-
legung des seltenen Buchs. Weil jeder anders liest und dafür
ein fast schon personalisiertes Angebot erhält, ist es für die
Verlage schwieriger geworden, zu ermitteln, was ein erfolg-
reiches Buch werden könnte. Erfolg und Misserfolg liegen für
die Verlage und Buchhandlungen dichter beieinander als frü-
her. Die Lage wird noch dadurch verkompliziert, dass die
Selbstverständlichkeit der Digitalisierung des Literaturbetriebs
nicht weit weg von der aggressiven Modernisierung der Ver-
lagswelt ist, die Verlage und Buchhandlungen noch mehr dazu

156
zwingt, ihr Sortiment immer breiter aufstellen zu müssen und
damit die Unübersichtlichkeit der Lesewelt noch weiter zu er-
höhen.
Die Heterogenität des Lesens im digitalen Zeitalter zeigt
sich dann auch an dem Bedürfnis, ganz nahe an die Literatur
selbst heranrücken zu wollen. Literaturfestivals wie lit.
COLOGNE oder die Solothurner Literaturtage ziehen immer
mehr Menschen an. 25 Buchmessen feiern Besucherrekorde.
Die Menschen wollen Autoren zuhören und über Bücher
sprechen, und das in der persönlichen Begegnung mit der
Lieblingsautorin wie auf Instagram. Die Digitalisierung des
Literaturbetriebs ermöglicht das und treibt damit die Indivi-
dualisierung der Lesewelt noch weiter an. Digitalisierung und
Individualisierung der Bücherwelten sind zwei Seiten einer
Medaille der kulturellen Vergesellschaftung. Nie waren sich
Bücher, Leser und Autoren näher als heute im Zeitalter von
Instagram und Wattpad. Die alleinige Instanz, die Leser und
Autoren zusammenbringt, ist der herkömmliche Literatur-
betrieb nicht mehr, ja für nicht wenige Leser sind Verlage eine
unbekannte Einrichtung. Für andere Leser dagegen sind Ver-
lage unverändert die vertraute Institution der Literaturvermitt-
lung. Zusammengehalten wird diese so unterschiedliche Wahr-
nehmung derselben kulturellen Institution durch die digitale
Umwelt, in der Instagram und Druckverlage ineinander über-
gehen.
Der Literaturbetrieb, wie wir ihn kannten, muss aushalten,
dass ein großer, vielleicht schon der größte Teil der Literatur
gar nicht mehr im etablierten Literaturbetrieb geschrieben, ge-
teilt und gelesen wird und nur gelegentlich aus der größeren
Welt der sozialen Medien ein Roman oder Gedicht den Weg in
die Welt der Verlage und des Feuilletons findet. Die digitale
Welt ist größer als die des bislang bekannten Literaturbetriebs.
Die Tendenz zur popkulturellen Dehierarchisierung der Kultur
ist den einen die Demokratisierung der Kultur. Den anderen ist
es der Verlust einer sich selbst als qualitätsvoll verstehenden
Kultur, in der nur einige definieren (dürfen), was als Kultur

157
zählt. In jedem Fall ist aber nicht zu übersehen, dass die Digi-
talisierung des herkömmlichen Literaturbetriebs nicht die dis-
ruptive Technisierung ist, als die sie ihre Kritiker ausgeben.
Stattdessen nimmt die Digitalisierung den analogen Literatur-
betrieb in sich auf und transformiert ihn von innen heraus.
Den Literaturbetrieb der wenigen Instanzen und Institutionen
gibt es nicht mehr. Geradezu beiläufig ist der Literaturbetrieb
digital geworden, aller antidigitalen Rhetorik zum Trotz. Rupi
Kaur ist die Dichterin, geboren aus dem Schaum des digitalen
Meeres, deren Gedichte wir jetzt auch als gedruckte Bücher
lesen können, die wir auf Instagram schon auswendig gelernt
und selbst weiter gedichtet haben.
Gerade wegen der Digitalisierung wird es Verlage, Buch-
handlungen und Feuilletons weiterhin geben, das aufwändig
gedruckte Buch ebenso wie Gedichte für viele. Immer noch
liest ja der alte Adam und die immersive Verbürgerlichung
mit ihrer Individualisierung des Leseverhaltens verlangt unver-
ändert nach Lesestoff. Wer aber die Instanzen und Akteure
dieses Literaturbetriebs sein werden, ob Amazon und drei glo-
bal agierende Verlags- und Buchhandels-Holdings oder die
vielen und vielfältigen Instapoeten, mittelständischen Verlags-
betriebe und eine Mischung aus Hochfeuilleton und den vielen
Netzliteraturkritikern, ist eine politische Entscheidung. Die Di-
gitalisierung lässt uns die Wahl. Es ist an uns, die Entscheidun-
gen zu treffen, welchen Literaturbetrieb wir haben wollen.

158
7. Mutmaßungen über die Zukunft
von Buch und Lesen

Bei den Präsidentschaftswahlen in den USA haben 2015 gleich


zwei Bewerber ihre Kandidatur angemeldet, die nicht in das
politische Schema Amerikas passen. Der eine ist Lawrence Les-
sig, 1 Jura-Professor an der Harvard University und weltweit
bekannt für seine bahnbrechenden Ideen und Lösungen für
ein Urheberrecht der digitalen Gesellschaft. Wie wir Eigen-
tumsrechte teilen, weitergeben und so alle mehr davon haben
könnten, hat er mit der Entwicklung der Creative Commons-
Lizenzen vorgemacht. Der andere Bewerber um das Präsiden-
tenamt ist der exzentrische Internet-Millionär John McAfee. 2
Das gleichnamige Virenschutzunternehmen, das heute zu Intel
gehört, hat ihn reich gemacht und zugleich sensibel für die
dramatischen Umbauten der Gesellschaft in eine digitale. Kei-
ner der Kandidaten war erfolgreich. Aber bei allen erheblichen
Unterschieden zwischen beiden Kandidaten, dort der seriöse
Jura-Professor, hier der unter Mordanklage stehende Waffen-
narr mit sehr viel Kenntnissen über die Zukunft des Privaten,
wird allein aus der breiten Unterstützung für beide Kandidaten
deutlich, wie sehr das Thema digitale Gesellschaft an der Spitze
gesellschaftlicher Debatten angekommen ist.
Die Möglichkeiten und Folgen der digitalen Modernisie-
rung gehen alle an. Völkerrechtsverträge für Privatheit nach
dem Modell der Genfer Konvention etwa, das Internet der
Dinge, Supercomputer für die Hosentasche und Roboter im
Alltag sind Stichworte für eine irritierend rasante Entwicklung,
die allenthalben vorzufinden ist und die Frage aufwirft, in wel-

159
cher Gesellschaft wir eigentlich leben und leben wollen. Ganz
unterschiedliche Denker wie der Soziologe Anthony Giddens
oder der Computer-Futurist Raymond Kurzweil behaupten
gar, die Entscheidungen über unsere digitale Zukunft seien
drängender denn je. Sie sprechen in diesem Zusammenhang
von der zur Entscheidung anstehenden technologischen Singu-
larität und meinen damit, dass wir uns entscheiden müssten,
ob wir sich selbst verbessernde Maschinen zulassen wollen.
Denn ist die künstliche Intelligenz einmal so weit entwickelt,
dass sie selbsttätig auch in Wissensdomänen lernen kann, auf
die sie noch nicht trainiert wurde, gibt es keinen Weg zurück.
Manche fürchten, dass einmal ins Leben gerufen, die Maschi-
nen uns als Menschen ablösen würden. Insofern wäre dies eine
singuläre, nicht revidierbare Entscheidung. Diesen Trans-
humanismus mag man für eine steile These halten. Tatsächlich
hat bisher noch niemand einen Algorithmus schreiben kön-
nen, der sich selbst substantiell verbessert, wie es der Optimis-
mus der 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts und die ihn begleiten-
den Science-Fiction Romane, etwa Isaac Asimovs The Last
Question von 1956, erdacht hatten. Wer aber einem Computer
wie IBMs Watson zugesehen hat, wie er in einem Mensch-ge-
gen-Maschine-Wissenswettbewerb die klügeren Antworten ge-
geben hat, und in der Lage war, Sprache in ihren Kontexten zu
verstehen und stimmige Antworten auf natürlichsprachliche
und durchaus komplexe Fragen zu geben, der wird die Annah-
me der Transhumanisten nicht gleich als Unsinn abtun. Robo-
ter lesen und sie beginnen gerade das Gelesene zu verstehen
und das nicht in einem Geheimlabor, sondern mit jeder ge-
sprochenen Frage, die wir an unser Handy und andere digitale
Assistenten richten. 3 Wer nur etwas genauer hinsieht, kann die
Veränderungen, ja Revolution der Gesellschaft kaum über-
sehen.
Das alles sind Gründe dafür, dass nun auch andere Bewer-
ber als bislang für das Amt des amerikanischen Präsidenten
kandidieren und Spekulationen über die digitale Zukunft fast
unvermeidlich sind. Denn für die Gegenwart sind solche Ver-

160
mutungen handlungsleitend. Als 1984 Nicholas Negroponte
über die Zukunft der Bildschirme und Bücher nachdachte,
glaubte er daran, dass sich bald schon Bildschirme in das Ge-
sicht desjenigen formen würden, mit dem man gerade über das
Internet spricht, und dass Kinder auf der ganzen Welt durch
den Computer lesen auf eine ganz neue Weise lernen würden. 4
Solche Mutmaßungen über die Zukunft schienen damals wohl
eher Spinnereien zu sein, auch wenn sie ideenreicher waren als
die zeitgleichen Klagen darüber, dass wir uns zu Tode amüsie-
ren würden. Zu einer Zeit, in der unklar war, ob sich so etwas
wie der PC überhaupt durchsetzen könnte und vom Internet
nicht die Rede war, dürften Negropontes Vorstellung, dass es
ein ganz anderes als das durch Lesefibeln vermittelte Lesen ge-
ben könnte, anregungsreicher als alle Kulturkritik der damali-
gen Zeit gewesen sein. Seine Überlegungen hätten der Ent-
wicklung der Computer und dem Lesen eine andere Richtung
geben können. Gerade deshalb sind solche und ähnliche Ver-
mutungen über die Zukunft notwendig. Von ihnen handelt
dieses Kapitel. Ich versuche zu zeigen, dass sich verschiedene
Szenarien unterscheiden lassen, wie sich das Lesen in den
nächsten Jahren verändern wird. Es ist klar, dass es nicht ver-
schwinden wird. Deutlich wird aber auch, dass sich der Zusam-
menhang von Lesen und Freiheit auflösen könnte und wir Ge-
fahr laufen, die kulturelle Vergesellschaftung, die doch so sehr
am Lesen hängt, verlieren könnten.
Weil Lesen die Gesellschaft formt, ist es eine gute, eine sehr
gute Nachricht für uns alle, dass immer mehr Menschen auf
der Welt lesen und schreiben können. Die Daten, die der Sta-
tistiker Max Roser über die Entwicklung des Lesens in den
letzten fünfhundert Jahren zusammengetragen und auf seinem
Blog Our World in Data veröffentlicht hat, 5 zeigen eindrucks-
voll den weltweiten Anstieg der Lesefähigkeit. Es genügt für
viele Regionen der Welt, nur zwanzig oder dreißig Jahre zu-
rückzugehen und die Zahlen mit den heutigen zu vergleichen,
um den Fortschritt im Lesen zu erkennen. Nach der UNESCO-
Definition der Lesefähigkeit – das ist die Fähigkeit einfache

161
und kurze Aussagen über sein eigenes Leben aufschreiben und
lesen zu können – liegt die Lesefähigkeit heute bei über 80 Pro-
zent der Weltbevölkerung. Das ist viel. Noch nie haben so viele
Menschen mindestens die wichtigsten Dinge über ihr Leben
niederschreiben und lesen können. Ob der Computer dabei
einer der Faktoren ist, sagen diese Daten nicht. Aber sie legen
nicht nahe, dass seit der Einführung des Computers und der
Ausbreitung des Internets die Lesefähigkeit gesunken wäre.
Das Gegenteil ist der Fall. Dies festzuhalten, ist von größter
Bedeutung, denn es unterstreicht, wie wichtig das Lesen für
die Zukunft ist und dass sich hier Fortschritte erzielen lassen.
Mit der globalen Modernisierung geht auch das Lesen einher.
Keine Moderne ohne Lesen, so könnte man den Zusammen-
hang auf eine Formel bringen.
Es ist daher keine wilde Spekulation, wenn ich vermute,
dass diese elementare Fähigkeit in den nächsten Jahren weiter
ansteigen wird. Freilich sind die Daten, die Max Roser aus-
gewertet hat, nur sehr basale Daten, aufgrund derer man ver-
muten darf, dass die Lesefähigkeit auch in den nächsten Jah-
ren noch steigen wird. So einfach, wie in solchen Statistiken
zur weltweiten Entwicklung gefasst, ist das Neue am Lesen
im digitalen Zeitalter jedoch kaum sichtbar. Das Neue sieht
man eher, wenn man den Autorinnen bei Wattpad oder
Goodreads folgt oder wenn man einem Schriftsteller wie
dem Jugendbuchautor John Green über die Schulter blickt.
Seine Jugendbücher wie Das Schicksal ist ein mieser Verräter
oder Margos Spuren und jüngst Schlaft gut, ihr fiesen Gedan-
ken sind im übertragenen wie im wörtlichen Sinne aus-
gezeichnete Jugendbücher, unter anderem 2013 mit dem
Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Dass seine Bü-
cher auch verfilmt wurden, muss ich kaum erwähnen, so
selbstverständlich ist das schon. Greens Stoffe und Themen
gelten der Literaturkritik als Auseinandersetzung mit existen-
tiellen Themen und ihr Autor wird nicht zufällig mit Philip
Roth und John Updike verglichen. Hochliterarische Anspie-
lungen auf Shakespeare oder Walt Whitman zeichnen seine

162
Bücher aus und sind schon Gegenstand von Seminararbeiten
über den Autor geworden.
Green ist aber nicht deshalb ein Beispiel für das Lesen in
digitalen Zeiten, weil seine Bücher multiadressierte Massen-
kunst sind, die hochkulturell ebenso gelesen und bewertet wer-
den wie in der Populärkultur. Vielmehr ist John Green zusam-
men mit seinem Bruder Hank auch ein Internetstar. Ihre
Videoblogs Brotherhood 2.0 und ihre Erklärvideos über Fra-
gen, ob Armut überwunden werden kann, worum es in der
Flüchtlingskrise geht, was in Syrien los ist und was man über
den Ersten Weltkrieg wissen muss, haben mehr als zweieinhalb
Million Abonnenten. Die direkte Auseinandersetzung mit den
Fans und der Versuch, komplizierte Themen allgemeinver-
ständlich zu erklären, gehören zu Greens Romanen dazu. Erst
das Ineinander von Buch, Film und Internet beschreibt den
Schriftsteller John Green und macht den umfassenden Bil-
dungsanspruchs dieses Autors aus. Green schreibt und spricht
und spielt für Millionen. Er schreibt über die existentiellen
Themen in den Familien und Freundeskreisen von Jugend-
lichen, erklärt die weite Welt in zwei Videos pro Woche und
ermutigt seine Leser und Zuschauer, sich in verschiedenen Pro-
jekten zu engagieren. Die Nerdfighteria, wie sich die Fans der
Green-Brüder nennen, 6 haben mit ihrer Crowdfounding-Ini-
tiative Project For Awesome schon mehr als eine Million Dollar
für verschiedene gute Zwecke eingesammelt. Auf Google+
Hangout ist dann John Green auch mit Barack Obama zu
sehen oder wie er selbst das Thema Bullying diskutiert. Stu-
dentenklubs verschiedener Universitäten und Schauspieler wie
Benedict Cumberbatch unterstützen die Fan-Subkultur und
zählen sich stolz zu den Nerdfighters. Ein Plattenlabel namens
D.F.T.B.A., gegründet von den beiden Green-Brüdern, unter-
stützt unabhängige Bands. Und morgen schon haben die bei-
den noch eine weitere Idee, wie man die Welt ein kleines biss-
chen besser machen kann. Hier bei Green thematisiert sich die
Gesellschaft selbst, eine Grundfunktion des Lesens und Schrei-
bens von Literatur.

163
Diese Funktion wird in einer digitalen Gesellschaft wichti-
ger werden und erklärt, warum John Greens umfassender An-
spruch, Menschen aufzuklären, ihnen Geschichten zum Nach-
denken zu geben und das Gute zu tun, so erfolgreich ist. Im
digitalen Zeitalter lesen nicht nur mehr Menschen, sie lesen
auch nicht mehr nur entlang der Formate des Buchzeitalters,
sondern wechseln vom Internet ins Buch zum Film und wieder
ins Netz. Das Buch ist bei John Green in der Nahrungskette der
neuen Leser dabei, aber zwingend ist es nicht, zwingend ist
aber die Selbstreflexion der Gesellschaft auf ihre eigenen Be-
dingungen hin. Und das tut sie verstärkt in den digitalen Me-
dien. Sprachwissenschaftler wie Henning Lobin betonen denn
auch mit guten Gründen, dass die Zukunft des Lesens multi-
modal sein werde. 7 Das Buch entfaltet seine Bedeutung in der
engen Verknüpfung mit anderen Medien. Computer und In-
ternet nehmen uns das Lesen und Schreiben nicht ab. Aber sie
verschieben beides in eine digitale Welt der vielen Medien.
Die Selbstbeobachtung der Gesellschaft kann viele Formen
annehmen. StoryCorps ist eine der Initiativen, das Netz für das
Schreiben und Teilen der vielen vergessenen und verdrängten
Geschichten von Kriegsheimkehrern, Alkoholkranken und ver-
nachlässigten Kindern zu nutzen. 8 In dieser und ähnlichen ele-
mentaren Form der gesellschaftlichen Selbstreflexion kommt
ihnen der Auftrag zu, Menschen mit ihren verschiedenen Hin-
tergründen und Überzeugungen die Möglichkeit zu geben, ihre
Lebensgeschichten aufzuzeichnen, zu teilen und aufzubewah-
ren. So hat es 2003 der Gründer Dave Isay formuliert und da-
mit viele hunderttausend Menschen angesprochen. Wie intelli-
gent, rücksichtsvoll und aufmerksam das Erzählen im Internet
geschehen kann, das zeigt StoryCorps eindringlich. Heute ist
StoryCorps die weltweit größte Sammlung mündlich auf-
gezeichneter Lebensgeschichten dieser Erde, eine Sammlung,
deren Ziel es ist, eine gerechtere und von Mitgefühl bestimmte
Welt zu schaffen. Das Internet bietet für diese Lebensgeschich-
ten das digitale Netzwerk. Bücher braucht es hier nicht, aber
Lesen, Aufschreiben und Zuhören sehr wohl, damit in der

164
Gesellschaft jeder eine Stimme bekommen kann, auch und ge-
rade diejenigen, die am Rande stehen.
Diese und viele ähnliche Beispiele wie etwa The Moth. True
Stories Told Live illustrieren den Zuwachs neuer Ausdrucks-
formen, anderer Gattungen und virtueller Räume, in denen
Geschichten zusammenkommen und wir uns so als Gesell-
schaft selbst begegnen. Initiativen wie Change Writers des So-
zialarbeiters Jörg Knüfken ermutigen Schüler aus hochschwie-
rigen Verhältnissen ein Tagebuch nur für sich selbst zu
schreiben. Seine Erfolge, genauer die Schulerfolge seiner Schü-
ler haben inzwischen viele Lehrer inspiriert, mit ähnlichen Me-
thoden zu arbeiten. Hinter dem pädagogischen Projekt steht
die Freedom Writers Foundation der kalifornischen Lehrerin
Erin Gruwell, die als eine der ersten mit dem Tagebuchschrei-
ben Schüler erreicht hat, die die Schule längst aufgegeben hat.
Heute sind diese Initiativen fast alle internetbasiert, nutzen
neue Medien genauso wie das Schreiben auf Papier. Lesen
und Schreiben im digitalen Zeitalter meint diese Fülle neuer
Ausdrucksformen, die vom handgeschriebenen Tagebuch bis
zur digital geteilten Lebensgeschichte reicht. Analoge Formate
sind Teil einer größeren, digitalen Welt. Die Annahme, wir
würden im digitalen Zeitalter nicht mehr gründlich lesen und
schreiben, ist schlicht falsch, so falsch auch wie die Annahme,
wir würden alle nur noch digital lesen und schreiben. Nein,
wir lesen und schreiben in einer digitalen Umwelt, in der die
mündlich erzählte Lebensgeschichte ebenso dazu gehört, wie
das nur für sich handschriftlich geschriebene Tagebuch, das
digital geteilte Interview über das eigene Leben oder das Ge-
dicht auf Instagram oder das gedruckte Buch. Für das alles
brauchen wir dieselbe Zeit. Lesen und Schreiben lässt sich
nicht wesentlich beschleunigen, gleich ob es digital und analog
ist. Für John Greens Bücher oder die Lebensgeschichten bei
StoryCorps brauchen wir viel Lesezeit. Aber diese Geschichten
in vielen anderen Formaten wieder zu erzählen, sie zu teilen,
zu kommentieren, als Hörbuch herauszubringen, in Video-
blogs darüber zu sprechen, mit dem Autor die Welt zu verbes-

165
sern, das alles treibt das Internet an. Das alles umreißt, was die
digitale Modernisierung des Lesens ausmacht.
Unter dem Begriff ‚Soziales Lesen‘ ist diese Steigerung der
gesellschaftlichen Selbstbeobachtung gefasst, die so eng mit der
Digitalisierung zusammengeht. Es scheint dann, als wäre die
ganze Welt ein „Freiluft-Klassenzimmer“, so hat der digitale
Kulturhistoriker Jeffrey Schnapp treffend die Veränderungen
des digitalen Zeitalters beschrieben und damit nur ein anderes
Bild für die wachsende Selbstbeobachtung von modernen Ge-
sellschaften gefunden. 9 Nichts ist einfach gegeben, alles kann
diskutiert, aufgeschrieben, kritisiert und anders perspektiviert
werden. Kultur muss nicht mehr so strikt auswählen wie noch
im Druckzeitalter, wo jede Publikation mit Kosten verbunden
und ein Autor zu werden eine aufwendige Sache war, wo ohne
das Buch oder die Zeitung kaum etwas zu erreichen war. Das
digitale Zeitalter macht alle zu Autoren der Gesellschaft und
potentiell kann jetzt alles zur Vorlage für eine Bearbeitung wer-
den. Jetzt hängt es zuerst und vor allem am Engagement der
Entdecker und ihrer Klugheit, um Archive zu öffnen, den Spa-
ziergängern die Bäume im Park mithilfe einer App zu erklären
oder mit einer Espresso Book Machine einen Miniverlag aus
der Packung zu eröffnen.
Noch ist das an vielen Stellen dann doch aufwendig und
teuer, weil die digitalen Werkzeuge und Arbeitsstraßen für sol-
che Projekte gerade erst im Entstehen sind, gesellschaftliche
Rollen und Institutionen nie diesen fast unbegrenzten Frei-
heitsgrad des voraussetzungslosen Selbstentwurfs haben. Wie
weit die Möglichkeiten gehen, das Wissen über uns selbst zu
verändern, hat das Laien-Projekt Wikipedia vorgemacht. Kul-
turkritiker mögen es für Frevel halten, wenn jeder in der Ge-
sellschaft mitschreiben kann und argumentieren, dass Kultur
doch im Auswählen bestehe. Was sie nicht nennen, ist der Um-
stand, wer da auswählt entlang welcher Adressen. Moderne
Gesellschaften kennen zumindest idealiter keinen privilegier-
ten Ort, von dem aus das Wissen bestimmt wird. Das andere
sind Diktaturen. Fast ist es eine Selbstverständlichkeit, wenn

166
ich vermute, dass in naher Zukunft sehr viel mehr Menschen
an der Kultur mitschreiben und ihre Geschichte und ihre Ge-
schichten einbringen werden als dies bisher der Fall war. Ge-
nau das ermöglicht das digitale Zeitalter.
Wir wissen, Wikipedia ist eher die Ausnahme, auch in der
Offenheit, in der die Debatten und Versionen der jeweiligen
Artikel für jeden offen einsehbar sind. Die Komplexität des
Gesprächs eines jeden mit jedem über alles führt gegenläufig
ja zur Entstehung der Oligopole, die ihr Wissen gerade nicht
teilen. Facebook und Alibaba, Google, Microsoft und Apple
kümmern sich nicht nur von der Heizung bis zur Raumfahrt
um so ziemlich alle Lebensbereiche. Sie schöpfen daraus auch
die Daten ab und haben darin längst einen so großen Vor-
sprung vor allen möglichen Konkurrenten, dass sie nur noch
mit sich selbst und den Geheimdiensten dieser Welt konkur-
rieren. Natürlich machen es ihnen viele andere nach, aber kon-
kurrenzfähig sind die anderen nicht. Diese Datenmengen tra-
gen nicht unbedingt dazu bei, dass die Gesellschaft eine
offenere wird, transparent für viele. 2014 gelangte eher zufällig
an die Öffentlichkeit, dass Facebook in einem einwöchigen Ex-
periment schon im Jahr 2012 Nachrichten zwischen Hundert-
tausenden von Nutzern manipuliert hatte, um zu erforschen,
wie sich Emotionen in Netzwerken ausbreiten. Wie sich zeigte,
gingen die Facebook-Nutzer eher auf die positiven Nachrich-
ten ein und haben diese auch eher weiterversandt. 10 2016 steht
Facebook in der Kritik, liberale Ideen in ihren Nachrichten-
strömen zu favorisieren. Sie versuchen mit dem Internet iden-
tisch zu werden, wie Facebook mit den Anwendungen Face-
book-Lite, die auf Regionen mit schlechter Datenanbindung
und schmaler Datenbreite zugeschnitten sind, damit Facebook
auch in Entwicklungsländern mit dem Internet identisch wird.
Das ist dann das Ghetto für arme Nutzer, wie Aktivisten der
Electronic Frontier Foundation mit guten Gründen kritisieren.
Wieder einmal ist dies weit davon entfernt, ein für alle gleiches
Internet zu sein. 11 Von den Freiheitsversprechungen des Inter-
nets bleibt wenig übrig.

167
Und das gilt auch für das Expertenwissen der Wissenschaf-
ten, denn es wird in den Serverfarmen von Reed Elsevier bzw.
der RELX Group, Springer Nature Group, Wiley und Taylor &
Francis verwaltet, aber nicht öffentlich geteilt. Die ganz über-
wiegend von den Steuerzahlern finanzierten Daten der For-
schung gehören damit drei oder fünf Weltfirmen, je nachdem,
wie man zählt. Im schönen Feld der Literatur, der Koch- und
Sachbücher gibt es zwar schon etwas mehr Vielfalt, jedoch be-
stimmen die Verlagshäuser wie Pearson, Penguin Random
House oder Wolters Kluwer und jetzt auch China South Publi-
shing den Markt mehr und mehr. Oligopole sind eine Folge der
Digitalisierung und finden sich in fast allen gesellschaftlichen
Bereichen. Daten zu teilen, kommt da nicht in den Sinn, dafür
ist das Geschäft längst zu hart und zu groß geworden. Wo Da-
ten nicht geteilt werden, da werden sie auch nicht zu Informa-
tionen verdichtet und können nur eingeschränkt zum Wissen
einer Gesellschaft werden. Sie nützen nur Wenigen. Das Wis-
sen gehört damit immer weniger der Gesellschaft, die es be-
zahlt und erbringt. Eine offene Gesellschaft sieht anders aus.
Das Ungleichgewicht zwischen der Möglichkeit, mehr lesen
und mehr teilen zu können, und der offensichtlichen Heraus-
bildung von Wissensoligopolen in der gegenwärtigen Welt-
gesellschaft hat mit der Dynamik des zweiten Maschinenzeit-
alters zu tun. Schon im ersten Maschinenzeitalter, als Elektro-
motoren die Welt dauerhaft umgebaut hatten, profitierten die
einen von den neuen technischen Entwicklungen, viele aber
verloren ihre Arbeit schneller als sie in der neuen, industriali-
sierten Welt einen Platz finden konnten. Es hat lange ge-
braucht, bis die Gesellschaft als ganze von den Maschinen pro-
fitiert hat und die neuen technischen Möglichkeiten nicht als
Entwertung angestammter Lebenswelten erfahren wurden. Aus
dieser historischen Erfahrung des ersten Maschinenzeitalters
haben viele Ökonomen auf die gegenwärtigen Asymmetrien
im zweiten Maschinenzeitalter geschlossen und warnen vor
einer digitalen Spaltung der Gesellschaft, in der wenige von
den neuen Maschinen profitieren, viele aber durch sie ihre

168
Arbeitsplätze verlieren würden. Erik Brynjolfsson und Andrew
McAfee haben in ihrem Buch von 2014 The Second Machine
Age. Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben ver-
ändern wird aufgezeigt, mit welchen Widersprüchen und
Schieflagen und damit auch mit welchen Entfremdungserfah-
rungen in der digitalen Modernisierung zu rechnen ist. Ganz
ähnlich hat 2016 die Rede des damaligen amerikanischen Vize-
präsidenten Joe Biden auf dem Weltwirtschaftsforum die
Chancen wie die Bedenken einer größeren Öffentlichkeit ge-
genüber der digitalen Modernisierung vor Augen gestellt. Wie
Brynjolfsson und McAfee ist auch Biden trotz aller Bedenken
der Überzeugung, dass die digitale Revolution mehr Gewinner
als Verlierer hervorbringe. 12 Brynjolfsson und McAfee gehören
zu den Wachstumstheoretikern wie Paul Romer, Brian Arthur
oder Martin Weitzman, die annehmen, dass die datengetrie-
bene Ökonomie breit genug angelegt ist, um ein exponentielles
Wachstum für alle erzeugen zu können. Neue Berufe entstün-
den schneller alte entwertet würden. Neu erfundene Unterneh-
men wie Uber lösen das Problem einer angemessenen Versor-
gung mit punktgenauen Taxidiensten besser und für mehr
Fahrer als traditionelle Taxi-Firmen. Routinetätigkeiten in An-
waltskanzleien und bei der Wirtschaftsprüfung können heute
schon automatisiert abgearbeitet werden. Computersysteme
können Gerichtsentscheidungen mit hoher Wahrscheinlichkeit
voraussagen, weil sie dafür auf Sammlungen von Gerichtsurtei-
len aus mehr als einem halben Jahrhundert zurückgreifen kön-
nen. IBMs Watson Health ist vielleicht das derzeit bekannteste
System, um Ärzte beim Abgleich von Patientendaten mit dem
kumulierten medizinischen Wissen zahlloser Datenbanken zu
unterstützen. Das digitale Maschinenzeitalter berührt also
auch diejenigen, die sich davor sicher glauben, Anwälte und
Richter, Wirtschaftsprüfer oder Ärzte. Wahrscheinlich, dass
uns trotzdem die Arbeit nicht ausgeht. Ökonomen rechnen
vor, wie trotz oder wegen der Digitalisierung der letzten zehn
Jahre die Wirtschaftsleistung um die doppelte Rate gegenüber
der allgemeinen Produktivität gewachsen ist, was bedeutet,

169
dass der technologische Wandel hin zu einer internet- und
computerbasierten Ökonomie die Wirtschaft angekurbelt und
mehr Stellen geschaffen als er Stellen abgeschafft hat. Ob man
aus solchen Beispielen generelle Rückschlüsse auf die Entwick-
lung der digitalen Gesellschaft ziehen darf, kann man in Frage
stellen und nicht wenige Ökonomen sehen eher eine Teilung
des Arbeitsmarkts und eine Stagnation auf uns zukommen und
nicht einen wachsenden Wohlstand für alle. Für beides gibt es
gewichtige Argumente. Man ist sich nur einig, dass die bis-
herigen Konzepte zur Messung des Bruttosozialprodukts für
die digitale Welt nicht mehr passen. 13
Um zu verstehen, was das für das Lesen bedeutet, ist es
wichtig, sich klar zu machen, dass Lesen sehr Unterschied-
liches meint. Das geduldige Lesen, das wiederholte Lesen des-
selben Textes ist die Ausnahme. Gerade bei Literatur versetzen
wir uns vielfach einfach nur in die Geschichte hinein. Das ist
schon ein anderes Lesen als das gründliche und wiederholte
Lesen, das Lesen mit dem Stift, das Exzerpieren beim Lesen.
Die Praktiken des Lesens sind aber noch vielfältiger und rei-
chen vom flüchtigen Überfliegen bis zur selbstversunkenen
Lektüre, nutzen alle möglichen technischen Hilfsmittel vom
Kugelschreiber bis zur Bibliographie. Geübte Leser wechseln
oft schnell von einem Text zu einem anderen und passen den
Lektüremodus den jeweiligen Leseanforderungen an. Es macht
einen Unterschied, ob man sich von einem Roman treiben las-
sen will oder konzentriert einer bestimmten Fragestellung in
vielen Veröffentlichungen nachgeht und dazu viele verschiede-
ne Texte zügig durchsehen muss. Das sind Lesepraktiken, die
schon Jahrhunderte alt sind. 14 Im digitalen Zeitalter werden sie
noch wichtiger werden. Lesen heißt vor allem den Wechsel der
Lesestrategien zu meistern. Gefragt sind metakognitive Fähig-
keiten: zu wissen, welcher Lektüremodus für welches Lesen an-
gemessen ist.
Das können viele sehr gut, gerade auch jene jungen Leser,
die von den Kritikern des digitalen Zeitalters als Beispiele be-
sonderer digitaler Demenz vorgeführt werden, etwa die mehr

170
als zwei Millionen Follower der YouTuberin Marie Lopez. Sie
ist der Lidstrich-Guru und die große Schwester für Millionen,
die ihr auf YouTube folgen. Auch sie hat ein Buch geschrieben
#EnjoyMarie, und das lesen ihre Fans. Sie wechseln von You-
Tube zum gedruckten Buch so behänd, dass sie sich wundern,
warum man überhaupt darüber diskutiert, dass das Lesen ver-
schwinden könnte. Sie tun es einfach, auch wenn nicht alle die
gründlichen Expertenleser sind, die Kritiker des digitalen Le-
sens wie Nicholas Cage für den Normalfall des Lesers halten.
Das dichte Lesen ist nur eine und wohl eher die Sonderform
des Lesens unter den vielen Lesepraktiken. Lesen ist eine sehr
variable Tätigkeit nicht nur zwischen verschiedenen Büchern,
sondern zwischen Texten, Bildern, Animationen, Visualisie-
rungen von Zusammenhängen, Graphiken und Statistiken
und virtuellen Welten. 15 Noch genauer ist Lesen mal eher in-
strumentell, mal eher ästhetisch-expressiv, mal zum Nach-
denken über sich und die Welt da, mal zum Verhandeln der
Normen in unserer Gesellschaft und oft nur zur intensiven
Selbsterfahrung durch das Verlieren in einer Geschichte. Das
flüssige Wechseln zwischen diesen Leseweisen ist eine, wenn
nicht die Anforderung an das Lesen im digitalen Zeitalter, ge-
rade wenn mehr zu lesen ist, und das in einer komplexeren
Leseumwelt. Lesen im digitalen Zeitalter hängt wesentlich an
der Fähigkeit, zwischen den Formaten behänd je nach Lesewei-
se wechseln zu können. Pädagogen wie Philippe Wampfler
weisen darum immer wieder darauf hin, wie wichtig es gerade
für Schulen ist, diese Registerwechsel des Lesens einzuüben. 16
Im zweiten Maschinenzeitalter der Digitalisierung wird das
Lesen von neuen Maschinen unterstützt und verstärkt, einfach
weil das Lesen so selbstverständlich digital umfangen ist. Das
beginnt bei den elektronischen Bibliothekskatalogen und Such-
maschinen, geht über auf die sozialen Medien aller Art, um-
fasst simple Internetseiten, PDFs oder Scans von Büchern,
enhanced E-Books oder Hörbücher, bald vielleicht auch begeh-
bare Bücher. Bücher lassen sich schon heute so automatisiert
vorlesen, dass dabei die Vorlesestimme der emotionalen Kon-

171
tur des vorgelesenen Texts automatisch angepasst wird. Oft
aber ist nicht Lesen, sondern Schauen wichtiger. Gebrauchs-
anweisungen sehen sich die meisten Leser lieber in einem Er-
klär-Video an, gelesen werden sie nur noch selten. Bibliothe-
ken wie etwa die im niederländischen Tilburg haben das
verstanden, wenn sie Bücher mit einer Vielzahl von Möglich-
keiten der Welterkundung architektonisch kombinieren, so-
dass der Weg zwischen Buch und 3D-Drucker, Kaffeetrinken
und selbstvergessenem Lesen ganz kurz ist. Viel spricht zudem
dafür, dass über die von uns wahrgenommene Realität eine
digital erzeugte, virtuelle Realität gelegt wird und das ver-
ändert, was wir bislang Lesen genannt haben. Was in der Me-
dizin, für technische oder auch militärische Aufgaben längst
genutzt wird, um Schmerzen zu bekämpfen, Produkte zu ent-
wickeln oder Soldaten zu trainieren, das wird nun auch im
Umgang mit dem kulturellen Erbe genutzt und geht immer
weiter über bloße virtuelle Touren hinaus. 17 Leser erkunden
als Spieler in einer virtuellen Realität die historische ‚Verbotene
Stadt‘ in Peking, und zwar so, wie es diese Stadt längst nicht
mehr gibt. Sie durchstreifen einen mesopotamischen Palast
oder legen eine virtuelle Ebene als Verstärkung über die reale
Ebene, wenn sie beispielsweise ein so abgelegenes kulturelles
Denkmal wie die Mawson-Hütten betrachten, einer der ersten
Basisstationen zur wissenschaftlichen Erkundung des Südpols.
Auch das ist dann Lesen, hier das Lesen der Geschichte mit
digital verstärkten Mitteln. Dieses virtuell verstärkte Lesen
nutzt verschiedene maschinengestützte Werkzeuge, um die
Welt zu verstehen und zwischen den Welten hin und her zu
wechseln. Ein natürliches Ende hat diese Entwicklung nicht.
Im virtuellen Klassenzimmer der ganzen Welt muss viel ge-
lesen werden. Dem virtuell verstärkten Lesen dürfte ein guter
Teil der Zukunft gehören.
Einen Unterschied lohnt es dabei in den Blick zu nehmen.
Die Werkzeuge, die das Lesen möglich machen und es unter-
stützen, waren und sind sichtbar und spürbar. Der Kugel-
schreiber in der Hand und die Tastatur unter den Fingern

172
werden direkt wahrgenommen. Auch die bis heute üblichen,
digitalen Endgeräte sind vergleichsweise massiv, müssen auf-
geklappt und angeschaltet werden. Verbindungen zum Netz
sind oft Glücksache. Das alles ist umständlich und zeitaufwen-
dig. Ich rede nicht über die Zukunft, wenn festzustellen ist,
dass es längst das Ziel verschiedener Firmen, Philosophen und
Techniker der digitalen Welt ist, diese digitale Welt ohne spür-
bare Grenzen in unsere Wirklichkeit einzuweben. ‚Einweben‘
ist hier mehr als nur eine Metapher. Als Wearables bezeichnet
man schon heute die als Armbänder getragenen Fitnesstracker
und in die Kleidung ganz wörtlich eingewebten Sensoren, die
sich mit dem Internet verbinden. Wem das nicht genug ist, der
kann sich einen Chip unter die Haut schieben lassen, mit dem
er seine Haustür öffnet und den Kopierer in seinem Büro nut-
zen kann. Technische API ersetzen Passwörter und fragen
dafür Gesichtsformen, die Iris der Augen oder auch den Fin-
gerabdruck ab, je nach Sicherheitsstufe dann auch in Kombina-
tion. Das alles gilt nicht nur für die digitalen Endgeräte, son-
dern für unsere gesamte Umwelt. Auch in sie werden digitalen
Sensoren und Daten eingewoben.
Was diese durchdigitalisierte Welt meint, illustriert ein
neues Gebäude, im Mai 2015 in Amsterdam bezogen, das zu
diesem Zeitpunkt nachhaltigste Bürogebäude der Welt, ge-
nannt The Edge. 18 Nachhaltig ist es nicht nur, weil Solarzellen
in seine Südfassade eingelassen sind, die alle Smartphones,
Laptops und elektrischen Autos in der Tiefgarage mit Strom
versorgen können, oder weil das Regenwasser für die Toiletten-
spülung und die Bewässerung des Gartens verwendet wird.
Nachhaltig ist der Bau, weil er so ziemlich alles mit allem ver-
netzt, die Leuchten, die Heizung und die Bewegungen aller
Mitarbeiter. Das Nummernschild des Wagens wird einge-
scannt, sodass das Haus schon weiß, welche Mitarbeiterin
gleich zur Arbeit kommt und wo sie dann bei welcher Tem-
peratur und welchem Licht mit wem arbeiten wird. Arbeits-
plätze werden flexibel nach Bedarf zugewiesen und selbst die
Entscheidung, ob ein Büro gereinigt werden muss, wird den

173
Sensoren überlassen. Wer was tut, das ist höchst gläsern zu
sehen. Und wer genug gearbeitet hat und sich entspannen soll-
te, dem wird das auf dem ihm nächsten Bildschirm angezeigt.
Das alles erzeugt Daten, Daten, die wieder in Informationen
umgewandelt werden und alles und jeden so ziemlich optimie-
ren, was in den Niederlanden keinen Protest hervorruft. Die
digitale Schicht unterstützt das Arbeitsleben, wird eingewoben
in unsere Geräte und Häuser, Fahrzeuge und Brillen. Wir wer-
den es immer weniger bemerken. Das Digitale ist da, bevor wir
auch nur einen Computer angeschaltet haben. Das virtuell ver-
stärkte Lesen wird daher Teil einer in den Alltag eingewobenen
digitalen Infrastruktur, die wir kaum noch direkt erfahren. Sie
ist da, unsere zweite Haut.
Viele nennen das eine Revolution, die Revolution der Da-
ten. Was wir als unsere Welt begreifen, wird zu einem erheb-
lichen Teil davon abhängen, welche Daten wir lesen, zu Infor-
mationen verdichten und als Wissen zur Steuerung unserer
Gesellschaft nutzen, also auch wem die Daten gehören. 2015
hat die Generalversammlung der UNO als Teil ihres Plans für
nachhaltige Entwicklung die datenbasierte Messung von Ar-
mut, Ungleichheit, Unrecht und Nachhaltigkeit beschlossen.
Unter dem sprechenden Titel A World That Counts schreibt
die „Data Revolution Group“ nicht ohne Emphase:
Data are the lifeblood of decision-making and the raw material for
accountability. Without high-quality data providing the right infor-
mation on the right things at the right time, designing, monitoring
and evaluating effective policies becomes almost impossible. New
technologies are leading to an exponential increase in the volume
and types of data available, creating unprecedented possibilities for
informing and transforming society and protecting the environ-
ment. Governments, companies, researchers and citizen groups are
in a ferment of experimentation, innovation and adaptation to the
new world of data, a world in which data are bigger, faster and more
detailed than ever before. This is the data revolution. 19

Die Daten treiben die Neudefinition dessen an, was Politik sein
kann und revolutionieren die Lebensverhältnisse in einem Um-

174
fang, den wir uns vor kurzem nicht vorstellen konnten. Daten
gehen in alle Richtungen, wir sind Sender und Empfänger, Pro-
duzenten und Konsumenten, Autoren und Leser zugleich und
das alles nur, weil Daten in einem Umfang vorhanden und in
einer Geschwindigkeit verteilt werden können, dass Wirklich-
keit und Daten zu verschmelzen scheinen.
Hier sind wir beim Kern des zweiten Maschinenzeitalters
angelangt und das ist auch die Richtung, die etwa Eric
Schmidt, der Executive Chairman von Google, auf dem Davo-
ser Weltwirtschaftsforum 2015 benannt hat, dass nämlich
Computer und Internet das Leben so durchdringen werden,
dass es aus unserem Gesichtskreis verschwindet. 20 Die Daten
sind dann unsere zweite Haut. Google oder vielleicht auch Ali-
baba sind nur die erfolgreichsten Holdings, die in ihren
Moonshots alles angehen, was an der Schwelle des Möglichen
ist, eine Weltgesundheitspolitik, eine Verringerung der Rück-
fallquoten von Kriminellen, ein verantwortungsbewussterer
Umgang mit den natürlichen Ressourcen der Welt, ein sicherer
Verkehr oder Städte, deren Häuser sich je nach Bewohnern
durch Roboter selbst umbauen, alles dank digitaler Daten-
ströme. Vielleicht ist es bald schon so, dass in zehn bis fünf-
zehn Jahren Nano-Roboter in unserem Körper mit einer Da-
tencloud kommunizieren, unsere Körper von innen reparieren
und unsere Wahrnehmung mit der digitalen Wahrnehmung
ganz verschmelzen. Das sagen Leute voraus, die zugleich genau
an diesem sogenannten Transhumanismus arbeiten, Wissen-
schaftler wie Raymond Kurzweil, der selbst das Problem der
Sterblichkeit für ein lösbares hält 21 und als Forschungsdirektor
bei Google eben an der Unsterblichkeit arbeitet. Wegen des
radikalen Futurismus hat Frank Schätzing in seinem Erfolgs-
roman Der Schwarm von 2004 Raymond Kurzweil als Entwick-
ler eines Neuronencomputers erwähnt.
Ein paar Probleme gibt es aber dann doch noch, bevor die
Unsterblichkeit und das glückliche Leben unser aller Schicksal
sein wird. Raymond Kurzweil soll ca. 200 Tabletten einneh-
men, um seinen Körper für die Unsterblichkeit vorzubereiten.

175
Firmen wie Alibaba oder Google sind am Gewinn und nicht
am Gemeinwohl interessiert. Cyberangriffe werden von Ge-
heimdiensten und kriminellen Organisationen tausendfach je-
den Augenblick ausgeführt und gehören schon zum Alltag von
Wirtschaft, Städten und Nationen. Angriffe auf die Stromnetze
und politische Institutionen führen gegenwärtig vor, was es be-
deuten würde, wenn selbst unser Herzschlag von Daten ab-
hängen würde. Cyberangriffe auf den Körper sind so gut mög-
lich wie das Hacken von Stromnetzen und autonom fahrenden
Autos. Je mehr Daten miteinander verknüpft werden, desto
höher ist die Verletzlichkeit dieser Daten, warnen daher Fach-
leute wie Marc Goodman. 22 Angriffe selbst auf die DNA des
Menschen, Bio-Hacks, sind in greifbarer Nähe. 23 Auch hier re-
den wir eher über die Gegenwart und verlängern nur hier und
dort die Linien ein wenig, um zu sehen, was morgen und über-
morgen unsere Wirklichkeit ausmachen wird.
Denkt man hier nur etwas über die Gegenwart hinaus, was
sich in Sachen Lesen ändern könnte, dann drängt sich die
Schlussfolgerung auf, dass sich auch das Lesen in unseren All-
tag anders einweben wird als es Buch und Computer derzeit
tun. An die Stelle gegenständlicher Bücher oder auch Com-
puter und selbst der vergleichsweise handlichen Tablets,
Smartphones und Phablets wird ein virtuell verstärktes Lesen
treten, das dieser Gegenständlichkeit kaum mehr bedarf und
sich der Techniken virtueller Assistenzsysteme und intelligen-
ter Brillen wie Microsoft HoloLens oder holographischer Sys-
teme wie Magic Leap bedient. Wir werden es immer weniger
bemerken, dass wir ins digitale Medium gewechselt haben und
gerade zwischen der betrachteten Wirklichkeit und dem Lesen
gewechselt haben. Hier ist dann kein Buch aufzuschlagen und
in keiner Zeitschrift etwas nachzusehen, kein Laptop auf-
zuklappen und kein Password einzugeben, sondern vielleicht
nur ein Blinzeln oder ein ‚Denken an‘, das zwischen verschie-
denen Erkenntnismodi hin und her schaltet. In einer Kontakt-
linse sind Nanospiegel eingebaut, die eine virtuelle Überblen-
dung der von uns gesehenen Wirklichkeit erlauben. Die

176
Nanospiegel spielen dann Texte für unser Auge ein. Das Lesen
schiebt sich zwischen uns und die Wirklichkeit als eine weitere
Schicht, assistiert und verstärkt unser Verstehen der Welt.
Ähnlich anderen digitalen Assistenzsystemen wird uns das Le-
sen begleiten, ja wie diese Assistenzsysteme mit unserer Wahr-
nehmung so sehr verwoben sein, dass uns der Wechsel keine
größere Mühe kostet. Ich trage die auf mich zugeschnittene
Bibliothek mit mir, aber so leicht, dass ich sie kaum spüre.
Im zweiten Maschinenzeitalter sind Bücher nur ein Teil
einer umfassenderen virtuellen Schicht, die uns umgeben wird.
Sind Bücher schon eine erhebliche, maschinengestützte Er-
weiterung des Gehirns, so wird es das digitale Lesen erst recht
sein. Lesen wird uns so fast nahtlos umgeben, wie es andere
digitale Datenströme schon jetzt tun, ja man ist geneigt zu ver-
muten, dass der Unterschied zwischen Buch und Leser ver-
schwindet und wir wie in den Romanen einer Cornelia Funke
aus den Büchern heraus- und wieder hineingelesen werden
könnten. Das ist natürlich ein schöner romantischer Traum.
Wahrscheinlicher ist, dass gerade die Verteilung, die Disper-
sion der Daten auf allerkleinste Einheiten, die näherungsweise
als Datenwolke oder nanoskalierte Teile benannt sind, das
eigentlich Neue sind, welches demnächst zu erwarten ist. Denn
erst so miniaturisiert, wird sich die digitale Verstärkung zwi-
schen alle Schichten unserer Wahrnehmung schieben. Eine
digital verstärkte Intelligenz, die ganz dicht in unser Leben
eingewoben ist und verteilt auf sehr viele Untereinheiten ist,
das könnte die nahe Zukunft bestimmen. Nicht zufällig hat
der Microsoft-Chef Satya Nadella dazu aufrufen, die artifizielle
Intelligenz als unsere kommende Umwelt, ja als Teil von uns
anzunehmen. 24
Wenn das Internet aus unserem Gesichtskreis als eine
sichtbare Struktur schwindet, wird das Lesen und Schreiben
nicht nur mehr werden, nicht nur Teil einer sehr viel diver-
seren digitalen Umwelt sein und mehr metakognitive Kom-
petenzen brauchen, um bewältigt zu werden. Es wird auch flui-
der zwischen Hören und Sehen, Audio- und Video-Files fast

177
ohne erkennbare Schwelle wechseln. Die dicken Brillen, die
man derzeit aufsetzen muss, um virtuelle Realitäten zu erleben,
werden morgen schon überholt sein, wenn auch noch niemand
so genau weiß wie. Dass sich Texte in virtuelle Wirklichkeiten
und Filme in Texte übersetzen lassen und wohl auch noch in
andere Formate, die wir jetzt noch nicht kennen, das alles ist
schon jetzt annähernd möglich. Die niederländische Firma
Apvis entwickelt virtuelle Realitäten, die Gedichte völlig neu
erleben lassen, und verfolgt damit das nicht bescheidene Ziel,
Lyrik einem großen Publikum zu vermitteln. Gedichte in die
Erfahrung virtueller Realität zu transformieren, braucht viel
Freude am Experiment, ob eine Stimme oder ob Bilder durch
das Gedicht leiten sollen, ob eher abstrakte oder konkrete Bil-
der zu nutzen sind oder wie das Mitsprechen von Gedichten zu
nutzen sein könnte. Weniger poetische Texte wie Quartals-
berichte von Unternehmen werden schon heute von den
Schreibrobotern von NarrativeScience oder Automated In-
sights in lesbare Texte verwandelt. Computer schreiben und
lesen mit uns und erstellen Finanz- oder Sportberichte. Die
größte Nachrichtenagentur der Welt Associated Press nutzt in-
telligente Computersysteme, um täglich ihre Presse-Meldun-
gen zu erstellen. Die Programme dahinter heißen nicht zufällig
Sensemaker, denn sie sind in der Lage Phänomene zu identifi-
zieren, zu beschreiben und aus Daten sinnvolle, für Menschen
verstehbare Sätze zu erzeugen. So lesen und schreiben die
Computer schon mit uns. Computerverstärktes Schreiben und
Lesen ist Gegenwart.
IBMs Supercomputer Watson hat 2016 das erste, allein
durch artifizielle Intelligenz hergestellte Fachmagazin heraus-
gebracht, ein sogenanntes Driverless Magazine. Wie selbst-
fahrende Autos, so ist dieses Magazin nicht von Menschen
geschrieben und bebildert worden, sondern von lernenden Sys-
temen. The Drum heißt das britische Marketing-Magazin, für
das Maschinen und nicht Menschen die Texte geschrieben und
die Bilder dazu ausgewählt haben. 25 Die Journalisten kommen
in der Ausgabe noch vor. Allerdings nur in der Rolle, dem

178
künstlichen Intelligenzsystem Watson ein Interview gegeben
zu haben, zu schlafen oder Computergames zu spielen, wäh-
rend IBM Watson die Arbeit für sie erledigt. Ein System wie
Watson kann nach einigem Training so geschult werden, dass
Leser des Magazins nicht unterscheiden können, ob die Zeit-
schrift von Menschen oder von einem Automaten erstellt wur-
de. Andere haben mit künstlicher Intelligenz George R. R.
Martins Romanepos A Song of Ice and Fire vom Computer
weiterschreiben lassen. Mit neuronalen Netzwerken hat der
Computer aus den mehr als fünftausend Seiten der fünf, bereits
erschienenen Bänden den Stil des Autors abgeschaut. Aus dem
Gelernten hat die Maschine dann einen sechsten Band ge-
schrieben. In ihm tauchen neue Figuren und neue Handlungs-
konstellationen auf, die die Maschine aus der bisherigen, so
verzweigten Handlung des Romanepos abgeleitet hat. Aber
noch ist der automatisiert hergestellte sechste Band kein gelun-
gener Roman, denn noch kann kein System eine komplexe
Handlung wie die dieses Epos sich so merken und weitererzäh-
len, dass daraus eine in sich stimmige Geschichte für mensch-
liche Leser wird. 26 Aber das Unterfangen eines künstlichen
Romanschreibers ist gerade mal ein Anfang des computer-
gestützten Lesens und Schreibens. Die Grenze zwischen dem
Lesen von Menschen und dem Lesen von Maschinen wird
durchlässig werden, weil die Maschinen unser Verhalten, unse-
re Interessen und Aufmerksamkeiten lernen können, meint der
Chefentwickler von IBM Watson, David Kenny. „Why can’t
computer feel completely natural?“, fragt programmatisch
eines der führenden Unternehmen für virtuell verstärkte Wirk-
lichkeiten Magic Leap. ‚Natürliche Computer‘ mag noch nach
einem Oxymoron klingen. Ob die Grenze zwischen den Ma-
schinen und uns einmal ganz verschwindet, hängt an vielen
Faktoren, auch der Beantwortung der Fragen, ob wir Maschi-
nen als gleichberechtigen Teil unserer sozialen Welt akzep-
tieren, ja es überhaupt können.
Lesen wird bei alledem nicht verschwinden, sondern wach-
sen, aber wohl so seltsam, zumindest auf den ersten Blick, wie

179
die digitale Welt wächst, wenn das weltweit erfolgreichste
Medium keinen eigenen Inhalt anbietet (Facebook), die am
schnellsten wachsende Bank kein Geld vorhält (SocietyOne),
das größte Kino der Welt kein einziges Lichtspielhaus betreibt
(Netflix), die größte Telefongesellschaft keine Telefoninfra-
struktur vorhält (Skype, WeChat), das weltgrößte Taxiunter-
nehmen kein einziges Taxis besitzt (Uber), der größte Woh-
nungsanbieter kein einziges Zimmer sein eigen nennt
(Airbnb), der größte Flohmarkt über keinen eigenen Waren-
bestand verfügt (Alibaba) und die größten Software-Verkäufer
keine App (Apple, Google) geschrieben haben. Das Lesen
wächst in dieser digitalen Welt je mehr es in die Datenströme
eingeflochten ist. Nun sehen die einen darin den Anfang vom
Untergang, denn Algorithmen werden uns vorgeben, was und
wie wir lesen. Roboter und Software übernehmen das Kom-
mando auch hier, während die anderen eher glauben, dass eine
ungeahnte Kreativität Lesen und Schreiben in neue Dimension
führt. In dieser Entgegensetzung kann zwischen den mög-
lichen Entwicklungen freilich kaum entschieden werden. Die
Apokalyptiker wie die Integrierten setzen einen Transhuma-
nismus voraus, der ungeachtet der gegensätzlichen Wertung
annimmt, dass der Mensch ein ganz anderer wird, wenn die
Digitalisierung der Welt fortschreitet. Vielleicht ist das aber
schon falsch und die Entwicklung ist schon in den letzten Jah-
ren eher davon angetrieben, wie gut sich Soft- und Hardware
den leiblichen und mentalen Bedürfnissen von uns Menschen
einzupassen wissen. Schließlich wollen wir immer noch die-
selbe Geschichte von Hans und Grete lesen. Der Finger, den
Steve Jobs zum zentralen Werkzeug zur digitalen Erkundung
erhoben hat, hat seine Firma reich gemacht wie schon vorher
die grafische Benutzeroberfläche anstelle der Textkommando-
zeilen. Facebooks Welterfolg ist ohne die sozialpsychologische
Neigung des Menschen zu Bindung, Tratsch und Selbstdar-
stellung nicht möglich. Warum sollten People-Magazine nicht
automatisiert erstellt werden? Der alte Adam ist auch in der

180
digitalen Welt noch nicht verschwunden, aber er ist auch nicht
mehr derselbe.
In der Perspektive einer langen kulturellen Evolution liegt
der eigentliche Vorteil des Computers darin, frühere Kultur-
techniken in sich aufzunehmen. In der digitalen Welt ist das
Papyrus-Manuskript ebenso aufgehoben wie das Klatschmaga-
zin und alles mit einer Leichtigkeit zugänglich, die noch vor
kurzem undenkbar schien. Das aufwendige Lesen von Details,
Exzerpieren, Vergleichen und Kommentieren von Aufsätzen
oder Büchern ist selbst im PDF-Zeitalter leichter als zu den
Zeiten Winckelmanns, als man mit aufwendigen Exzerpier-
techniken versucht hatte, der Fülle der antiken Überlieferung
Herr zu werden. Ebenso ist es das Durchblättern von Banalitä-
ten über irgendwelche Prominenten. Das Verknüpfen über
Sprach- und Kulturgrenzen hinweg ist dank verbesserter Über-
setzungssysteme und Metadaten in ungeahntem Umfang mög-
lich. Bibliotheken vergessener und kaum gelesener Literaturen
tauchen auf und werden von den Lesern personalisiert, zu-
geschnitten auf die jeweils eigenen Bedürfnisse und Erwartun-
gen. Der Computer nimmt alle diese älteren Techniken des
Lesens in sich auf, erweitert sie und integriert die etablierten
Formate in die digitalen Datenströme. Das verändert vieles,
auch den Menschen. Der aber bleibt an seinen Hunger nach
Geschichten und die Leiblichkeit seiner Welterfahrung zurück-
gebunden. Lesen wird also wachsen, komplexer werden und
den Lesern viel abverlangen, aber nicht so, dass wir es nicht
mehr als Lesen erkennen könnten, auch wenn die uns vertrau-
ten gedruckten Bücher nur eine Form der Bücher sein werden
und Diskussionen, ob Computerspiele denn Kunst seien uns
bald so historisch erscheinen werden wie die Debatten im
18. Jahrhundert, ob dem Roman ein ästhetischer Wert zu-
zusprechen sei.
Wenn zu viele Faktoren im Spiel sind, um plausible Vo-
raussagen machen zu können, dann ist es ratsam, unterschied-
liche Szenarien aufzuzeigen, was in den nächsten Jahren in
Sachen Lesen im digitalen Zeitalter geschehen dürfte. Es gibt

181
wohl nicht die eine Prognose und sie kann es auch nicht geben,
denn die Entwicklungen hängen an vielen Entscheidungen zu-
gleich, die jeden Tag in der Welt getroffen werden. Viele der
Faktoren, die die Entwicklung in den nächsten Jahren bestim-
men werden, kennen wir noch nicht oder hören gerade erst
von ihnen, so dass es spekulativ bleiben muss, welchen Stellen-
wert zum Beispiel autonome Drohnen haben werden. Verläss-
liche Folgerungen können kaum gezogen werden. Um daher
Übersicht zu gewinnen und die Mutmaßungen über die Zu-
kunft besser zu plausibilisieren, lassen sich meines Erachtens
in etwa drei Szenarien unterscheiden, ein eher dunkles, dys-
topisches, ein helles, optimistisches und ein sehr gemischtes,
graues Szenario.
Ein erstes, dunkles Szenario geht von einer dramatischen
digitalen Modernisierung im zweiten Maschinenzeitalter aus,
wie sie in verstörenden Technikthrillern wie Blackout von Marc
Elsberg, dem Bestseller The Circle von Dave Eggers, in der bri-
tischen Black Mirror-Serie von Charlie Brooker und schon viel
früher in Comics wie der X-Men-Reihe imaginiert werden.
Hier revolutioniert eine Gig-Economy-Elite das Leben radikal
und verliert den Kontakt zur sozialen Wirklichkeit der Men-
schen außerhalb der Internetfirmen. Undurchsichtige Regime
und Hacker bestimmen in solchen Zukunftsszenarien die kom-
mende Wirklichkeit. Die neuen Industrien entwickeln Roboter
und Avatare, die immer mehr Menschen und deren Arbeit
überflüssig machen, den Reichtum dabei immer ungleicher
verteilen. Die Daten werden nicht geteilt, sondern für sich be-
halten, um mit ihnen die jeweils nächste, unerhörte Entwick-
lung anzutreiben, an der aber nur wenige Menschen partizipie-
ren werden. Eine digitale Proletarisierung der Welt wäre die
Folge. Das ist keine dunkle Träumerei, sondern ein sehr wohl
mögliches Szenario nicht weit von der Wirklichkeit weg, wie
jüngst auch das Weltwirtschaftsforum argumentiert hat. 27 Die
digitale Revolution droht ihre Kinder zu fressen.
Schon 2004 hat der Kurzfilm Google EPIC einen Megakon-
zern imaginiert, der aus dem Zusammenschluss von Google,

182
Amazon und damals MSN entstehen könnte, eine undurch-
dringliche Matrix aus Mikroregimen, die als ein globaler Inter-
netgigant die Welt regiert und in jede Pore des Alltags ein-
dringt. Vieles ist anders gekommen, MSN ist kein globaler
Player mehr, andere große Player wie Alibaba oder Baido sind
dazu gekommen und dennoch nimmt das Ubiquitous Com-
puting, das allgegenwärtige Rechnen, immer schneller unsere
Wirklichkeit ein, wenn jedes Handy in einer Stadt zur Fein-
staubmessung verwendet wird oder wie im BinCam-Projekt
Menschen dadurch zu umweltbewusstem Verhalten erzogen
werden, dass der Müllereimer jedes Mal ein Bild sendet, wenn
wieder etwas in den Eimer geworfen wurde. Das klingt zu-
nächst nützlich und erklärt auch zum Teil, warum viele von
sich aus bei ähnlichen Massendatenerhebungen mitmachen.
Aber dahinter steht eine Sozialphysik, die sich von früheren
Taylorisierungen der Arbeit darin unterscheidet, dass Arbeit-
nehmer die Regulierung als gestiegene Arbeitszufriedenheit
wahrnehmen und nicht unbedingt als Ausbeutung und Aus-
forschen. Erst wenn der Roboter sie arbeitslos gemacht hat,
sieht die digitale Zukunft nicht mehr smart aus. In einem ne-
gativen Szenario ist die freundlich anmutende Taylorisierung
Teil einer Leistungs- und Sozialüberwachung. Das soziale Ran-
king in der Volksrepublik China gibt uns schon heute mehr als
nur einen Vorgeschmack dieser kompletten sozialen Kontrolle.
Jeder Kauf wird hier bewertet, wie er zum Ideal eines Unter-
tanen der kommunistischen Partei des Landes passt. Wer sich
mit wem trifft, wer seine Eltern vernachlässigt oder sich mit
Oppositionellen austauscht, wird digital kontrolliert und be-
wertet und gegebenenfalls abgewertet, wenn nicht schlimmer.
Schon sind in der Volksrepublik China Personalausweis und
Alipay-ID bzw. WeChat-ID direkt miteinander verknüpft und
erlauben dem Staat immer genauere Abfragen über das Verhal-
ten seiner Untertanen. Hinzugefügt wird derzeit die Autonum-
mer, sogar die Motorgestellnummer und andere immer feiner
granularisierte Daten. QR-Codes auf jedem Produkt enthalten
viel mehr Informationen als die Barcodes und werden für die

183
totale Überwachung genutzt. Drei Zahlen geben dann sichtbar
für jeden Bürger an, wie man sich in die ideale, kommunisti-
sche Gesellschaft einfügt, so hat sich der Architekt des sozialen
Bewertens, Lazarus Liu, das ausgedacht und der Partei damit
ein Herrschaftsinstrument an die Hand gegeben, das sich
George Orwell nicht hatte ausdenken können. 28 Kredit be-
kommt nur, wer eine ausreichend hohe Nummer hat und Flug-
zeuge darf auch nur der nutzen, der über einem bestimmten
Wert liegt. Meine Arbeitsstelle und der Platz für meine Kinder
in der Schule hängt an diesem digitalen Überwachungs-
ranking.
Die schöne Sonnenstadt der Zukunft, die alles Leben so
klug zu regeln weiß, macht ihre Bewohner überflüssig. Alles
ist bestens reguliert, nur der Mensch stört. In diesem Szenario
sind uns die Maschinen immer schon einen Schritt voraus.
Hinter den Maschinen aber stehen Interessen. Missbrauch ist
von vielen Seiten so leicht möglich. Die milliardenschweren
Anteile, die Vermögensverwaltungsfirmen wie BlackRock oder
Vanguard sowohl an Apple wie an Google oder Microsoft
schon heute besitzen, lässt längst fraglich erscheinen, ob die
Internetgiganten wirklich in einem solchen Konkurrenzver-
hältnis stehen, wie sie suggerieren, und nicht ein Megakonzern
längst Realität ist. Die intelligente Firma, Stadt oder Staat mag
subjektiv lebenswerter erscheinen, die sie lenkenden Interessen
sind jedoch nur schwer zu erkennen und dem Missbrauch sind
Tür und Tor geöffnet. Schon jetzt kann man aus nur einer ein-
stündigen Beobachtung des Surfverhaltens erste Rückschlüsse
auf die Persönlichkeitsmerkmale eines Computernutzers zie-
hen. 29 Interessen von Arbeitnehmern gelten in Unternehmen
der Gig-Wirtschaft wie Uber oder Homejoy weniger als in an-
deren Industriezweigen. 30 Schon vor mehr als fünfzehn Jahren
urteilte der amerikanische Politologe und Obama-Berater Cass
Sunstein kritisch über das personalisierte Internet, dass es je-
den in der Selbstgefälligkeit des eigenen Vorurteils festhalte
und eine weitsichtigere Politik kaum mehr möglich mache. 31
Es gehört nicht große sozialpolitische Phantasie dazu, um sich

184
auszumalen, intelligente Lösungen und krude Interessen könn-
ten Mikroregime hervorbringen, die ihre Macht gar nicht di-
rekt zeigen und doch jeden Teil unserer Wirklichkeit regieren,
eine höchst unerfreuliche Aussicht.
Diese Mikroregime gehören notwendigerweise großen Fir-
men oder Staaten, denn nur sie sind in der Lage, das aufwen-
dige Deep Learning anhand von sehr großen Datenmengen
weiterzuentwickeln, auf dem die zukünftigen selbstlernenden
Systeme aufsetzen werden. Das aber bedroht Fairness, Demo-
kratie und eine offene Marktwirtschaft, wie etwa die Wall-
street-Mathematikerin Cathy O’Neil fürchtet. 32 Sie sagt, dass
mit den großen Datenmengen nur wenige arbeiten können,
schon einfach deshalb, weil die Rechenkapazitäten so immens
sind, dass nur wenige Institutionen über die Datenmengen und
Rechenleistung verfügen, um aus Big Data Muster auslesen zu
können. Wenn mit jedem Tag Billionen von Daten gewonnen
werden, und seien es ‚nur‘ Bewegungsdaten aller Einwohner
aufgrund von Handy-Geodaten, dann sind jetzt schon nur we-
nige Einrichtungen in der Lage, solche Daten auszuwerten und
für sich zu nutzen. Die Datenmenge wird noch zunehmen,
wenn wir soziale Roboter in unserem Alltag aufnehmen, mit
ihnen wahrscheinlich auch emotional eng zusammenleben
werden. Die so gewonnenen Daten sagen dann mit jedem Tag
mehr über uns aus und ermöglichen eine immer dichtere
Durchregulierung von Gesellschaft und Wirtschaft. Firmen
wie Palantir Technologies durchkämmen schon jetzt immense
Datenbestände, um illegale Einwanderer in den USA aufzu-
spüren, andere wie Investigate Case Management erstellen Per-
sönlichkeitsprofile, die Daten aus Schulbildung, Karriere und
Familie mit Daten der Polizei abgleichen. 33 Sie nennen sich
nicht zufällig nach dem sehenden Stein Palantír aus Tolkiens
Herr der Ring, was ohne jede Distanz den Machtanspruch sei-
nes Mitgründers Peter Thiel, dem Technologie-Berater Donald
Trumps, herausstellt. Das sind nur die bekannten Fälle in offe-
nen Gesellschaften. Wie es in geschlossenen Gesellschaften
aussieht, kann man nur ahnen. Datenregime könnten unser

185
intimes Leben bestimmen und das mit einer Präzision, die sich
selbst Science-Fiction-Autoren kaum ausdenken konnten. So-
zialwissenschaftler wie Harald Welzer sprechen daher von
einer smarten Diktatur, zu der sich unsere Gesellschaft ent-
wickeln würde. 34 Erste Polizeiroboter werden derzeit in China
erprobt, die mit Elektroschockwaffen mögliche Subjekte der
polizeilichen Aufmerksamkeit gleich selbst zu Boden strecken
können. 35 Ihre Verwandten kontrollieren bereits die ersten
Parkplätze in Kalifornien. Wenn dann die Roboter unter sich
selbstständig Neues zu lernen anfangen, wird aus dem digitalen
Versprechen eine bedrängende Zukunft.
Wie verstörend die Überwachung der Gesellschaft ist, der
sie sich selbst aussetzt, zeigt der rasante Erfolg der App Find-
Face überdeutlich. In nur zwei Monaten nach seiner Einfüh-
rung hat die App in Russland mehr als eine halbe Million Nut-
zer gefunden. Diese App ermöglicht es, anhand nur eines Fotos
jemand anderen zu identifizieren. Dazu genügt es, mit dem
Handy ein Bild von jemand beliebigen in der Menge zu ma-
chen. Die Software gleich das Bild dann über einen sehr aus-
geklügelten Erkennungsalgorithmus mit Bildern in den sozia-
len Netzwerken ab, in Russland mit dem dort populären VK.
com-Netzwerk. In kurzer Zeit erhält man auf seiner App alle
Angaben, die jemand über sich in sozialen Netzwerken preis-
gegeben hat. Von aufdringlichen Flirtversuchen zwischen Un-
bekannten, Überwachung von Spielkasinos bis zur Polizei
haben in Russland mehrere Millionen Suchanfragen in weni-
gen Wochen den Unterschied zwischen Öffentlichkeit und Pri-
vatheit kollabieren lassen. Gesichter sind hier Big Data, wenn
Millionen Suchanfragen mit mehr als eine Milliarde Fotos in
Trillionen von Vergleichen in Sekunden abgeglichen werden. 36
In diesem negativen Szenario, das jede Kulturkritik ohne
Mühe in den dunkelsten Farben weiter auszumalen verstünde,
ist Lesen nicht mehr das Medium der offenen Gesellschaft,
sondern dient ihrer Versäulung. Jeder liest die Texte, die nur
die jeweils schon gefundene Weltsicht bestätigen. Algorithmen
schlagen vor „Wer das liest, liest auch das“, und dies besagt

186
dann nur, dass ein im Grunde ähnliches Buch genannt wird,
das noch einmal bestätigt, was man gerade gelesen hat. Die
Überblendung von Realitäten durch Verfahren der Virtualisie-
rung fügt keine Differenz und keine neuen Möglichkeiten der
Wirklichkeit bei, sondern intensiviert nur das Bestehende und
das schon Bekannte. Natürlich variieren die Leseschichten so
geschickt das Gleiche der Meinungen, dass die Varianz wie
eine andere Meinung aussieht. Aber es ist nur dieselbe Mei-
nung anders dargestellt. Persönlich werden sich die Leser frei
fühlen, doch gewählt haben sie nicht selbst. Sie mögen Neues
gelernt haben, anderen Erfahrungen gemacht haben, und doch
bemerken sie die Ähnlichkeit des immer Gleichen nicht.
In einer solchen Welt smarter Mikroregime sind Bücher
nicht verboten, wie es in älteren Schreckensbildern die be-
drängende Erfahrung nicht zuletzt der Diktaturen des 20. Jahr-
hunderts war, man denke an Ray Bradburys Roman Fahren-
heit 451 aus dem Jahr 1953. Im Gegenteil sind ungeahnt viele
Bücher erhältlich. Aber wie in den Diktaturen des 21. Jahrhun-
derts regulieren die Staaten oder Firmen das Internet nicht
spürbar. Jeder hat Zugang. Nur bei genauem Hinsehen be-
merkt man, dass das Lesen nicht frei ist. Chinas Baidu-Inter-
netwelt ist dafür ein bedrückendes Beispiel. Dort lässt die Zen-
sur nur die staatlich gewollten Bücher durch; Kontroversen
werden soweit wie möglich schon im Vorfeld smart aussortiert.
Fahrenheit 451 in der Volksrepublik China bedeutet, dass nur
ein kleiner Teil der Meinungen tatsächlich zensiert wird, näm-
lich alle die Meinungen, die zu einer kollektiven Mobilisierung
führen könnten, dem Trauma der kommunistischen Partei.
Der größte Teil der Zensur jedoch erfolgt durch eine gezielte
Beeinflussung der öffentlichen Meinung, indem abweichenden
Meinungen nicht widersprochen werden, sondern durch die
Verbreitung ablenkender Meinungen über die Erfolge der Re-
gierung, die heroische eigene (Partei-)Geschichte und die Sym-
bole des Regimes, jede andere Meinung ins Leere laufen lässt.
2017 ist das Projekt „Die große Mauer“ angelaufen, das Wiki-
pedia durch eine staatliche gelenkte Enzyklopädie ersetzen soll.

187
Was die Menschen wissen dürfen, schreibt ihnen der Staat ganz
wörtlich durch Zehntausende seiner Angestellten vor. Das Er-
gebnis ist die größte Unterdrückungsmaschine andersdenken-
der Meinungen in der Geschichte der Menschheit, wie erstmals
2014 der Politikwissenschaftler Gary King aufgedeckt hat. 37 Sie
ist so klug optimiert, dass sie für die Menschen kaum wahr-
zunehmen ist. Von der Unabhängigkeit des Internets, die 1996
der Musiker und Bürgerrechtler John Perry Barlow auf dem
World Economic Forum ausgerufen hat, droht immer weniger
übrig zu bleiben. Die Fragmentierung des Internets betreiben
Unternehmen und Regierungen. Die globale Ungleichheit
könnte so bald schon größer werden als alle Ungerechtigkeiten,
die wir kannten, warnt Charles Songhurst, einer der strategi-
schen Köpfe bei Microsoft und Google. 38 Vom Versprechen der
Vervielfachung der Lesewelten bleibt hier wenig übrig, so bunt
und neu alles auch aussieht. Wir lesen am Ende nur das immer
selbe Buch. Das ist Fahrenheit 451 im Jahr 2019.
Man braucht nicht viel kulturpessimistische Phantasie, um
sich vorzustellen, wie sich im digitalen Zeitalter die lange um-
kämpfte Verknüpfung von Freiheit und Buch auflöst. Selbst bei
dem doch eigentlich privaten Akt des Lesens werde ich ge-
trackt. Apple hat 2016 Emotient gekauft, ein Unternehmen,
das sich auf die automatisierte Erkennung von Emotionen spe-
zialisiert hat, um ähnlich wie Google mit seiner „emotion sen-
sering platform“ Apps zu entwickeln, die unserem emotionalen
Auf und Ab beim Lesen wie bei so ziemlich allen anderen Tä-
tigkeiten folgen und daraus allerlei Schlussfolgerungen über
uns und unsere Vorlieben ziehen können. Welche genau das
sind, das wissen bestenfalls Fachleute. Anbieter erkennen dann
nicht nur, welches Buch ich heruntergeladen habe, sondern
auch wie sich während des Lesens mein Puls und meine Haut-
leitfähigkeit verändert haben, um daraus auf meine emotionale
Zufriedenheit zu schließen. Man kann schlicht messen, wie be-
lohnend der Kauf welches Buchs und die Lektüre welches Ro-
mans für diese Leserin und jenen Leser ist. Und Buch ist hier
nur eine Sammelbezeichnung für sehr viele unterschiedliche

188
Weisen des Lesens. ‚Affective Computing‘ ist das Stichwort, das
umschreibt, wie nach Alter, Geschlecht oder ethnischer Her-
kunft Zuschauer oder Leser durch Maschinen geradezu in
ihrem Seelenleben verstanden werden können. Aus dem Ge-
brauch von Like-Klicks auf Facebook kann man schon mit fast
95-prozentiger Sicherheit auf die Hautfarbe rückschließen, mit
80-prozentiger Sicherheit die sexuelle Orientierung (mindes-
tens bei Männern) einschätzen und noch zu 65 Prozent, ob
jemand Drogen nimmt. Nicht untersucht ist bislang, mit wel-
cher Wahrscheinlichkeit man durch Like-Klicks auf Bücher
dann auch auf das Sozialprofil des Lesers schließen kann. Die
Wahrscheinlichkeit dürfte sehr hoch liegen. Damit kann eben
immer auch entschieden werden, welche andere Geschichte
und Meinung zum Leser durchgelassen werden und welche
nicht. Wenn Maschinen uns verstehen lernen, dann auch da-
durch, dass sie beobachten, welche Geschichten für uns be-
deutsam sind. Lesen, das einmal mit Freiheit gleichzusetzen
war, wird in diesem Szenario in sein Gegenteil verkehrt. Es ist
der Schlüssel, mit dem die Maschinen uns verstehen und zu
beherrschen lernen könnten.
Wir können uns Briefe schreiben oder miteinander skypen.
In dem negativen Szenario bleibt die bange Frage, ob unsere
Herzensergießungen nicht doch von jemandem mitgelesen
werden, der nicht unbedingt unser Freund ist. In einem sol-
chen Szenario, in dem die immersive Nähe zum Buch durch
neue Techniken der maschinenverstärkten Wirklichkeitserfah-
rung eine nie gekannte Intensität erreicht, würden immer we-
niger Menschen dem Gelesenen trauen. Das Buch ist nicht
mehr mein Freund, weil da jemand anders hinter dem Buch
ist, den ich nicht greifen und nicht benennen kann, dessen
Ziele ich nur ahne. Es sind keine guten Menschen und keine
Freunde.
Wahrscheinlich, dass sich in einem solchen Szenario un-
sere Vorstellungen von Texten und Büchern ändern würden,
und so etwas wie das Vertrauen, ja die Kulturtechnik des
Schreibens und Lesen dadurch abgeschwächt werden könnte,

189
eine Folge der digitalen Wissensordnung, die schon vor einigen
Jahren der Buchhistoriker Adriaan van der Weel skizziert hat. 39
Van der Weel ist freilich zu sehr Buchhistoriker, um einfach zu
glauben, dass eine hochtechnisierte Gesellschaft ohne Texte
und die damit verbundenen Fähigkeiten des Schreibens und
Lesens auskommen könnte. Selbst dieses negative Szenario
stößt an seine Grenzen, so sehr uns Kulturkritik und Film-
industrie das dunkle Lied von der Abschaffung des freien Le-
sens singen und wir es gerne glauben. Aber das sollte uns nicht
blind dafür machen, dass noch die unfreiesten Regime auf
Offenheit angewiesen bleiben, ohne die gerade die digitalen
Innovationen nicht möglich sind. Ungeachtet dieser Grenzen
selbst für Diktaturen verdeutlicht das hier umrissene negative
Szenario die drohende Auflösung einer der Grundformeln of-
fener Gesellschaften: die Gleichsetzung von Buch und indivi-
dueller Freiheit. In Geschichten einzutauchen, ist ein Akt der
Freiheit. Ob dieser Zusammenhang zwischen Buch und Frei-
heit bestehen bleibt, wird, ja muss Gegenstand der vielleicht
wichtigsten Debatten unserer Gesellschaft sein.
Das negative Szenario hat eine hohe suggestive Kraft und
bestimmt die öffentlichen Debatten. Weniger suggestiv ist ein
umgekehrtes, positives Szenario. Aber auch ein solches Szena-
rio durchzudenken, lohnt, weil es unsere Vorstellungskraft
schärft, in welcher Lese- und Bücherwelt wir leben wollen. Ein
positives Szenario geht von der Ermöglichung der Freiheit
durch die digitale Welt aus. Das ist keine nur theoretische Idee,
sondern auch schon praktisch erprobt. Bitcoins kennt man als
neue, nur digitale Währung, ein auf Internetprotokollen be-
ruhendes Zahlungssystem, das wiederum auf dem Zusam-
menschluss dezentral verteilter Computer und einer dezentral
verwalteten Datenbank aller Transaktionen beruht. Diese
Währung hat keinen Staat und keine Zentralbank, kann auch
nicht ausgezahlt werden und unterliegt keinen anderen Be-
schränkungen als denen der kryptographischen Techniken,
die erst die Bitcoins ermöglichen. Ausgehend von dem Bit-
coin-Prinzip der Datenblockketten als Beglaubigungssystem

190
hat eine Graswurzelbewegung begonnen, eine Bitnation auf-
zubauen. Das ist nicht weniger als eine Weltnation jenseits der
Nationalstaaten, in denen alle Rechtsbeziehungen und wirt-
schaftlichen Tätigkeiten in einer Blockchain-Architektur von
allen Bürgern einsehbar abgespeichert sind. Wer einen Vertrag
abschließen oder einen Grundbucheintrag vornehmen will,
kann dies über eine App tun, ganz gleich, wo sie oder er auf
der Welt gerade lebt. „Bitnation interessiert nicht, wo du her-
kommst, wo du lebst oder welchen Pass du hast. Jeder hat das
Recht darauf, hochklassige, wettbewerbsfähige Staatsleistungen
in Anspruch zu nehmen“, heißt es programmatisch auf der
Website bitnation.co. Wer heiraten will oder Geburtsurkunden
ausgestellt braucht, kann dies hier tun. Erste Staaten wie Est-
land haben begonnen, die in Bitnation gemeldeten E-Residents
zu notarisieren. Die Gründerin Susanne Tarkowski Tempelhof
kommt nicht zufällig aus Schweden, wo schon heute viele
Rechts- und Verwaltungsakte digital für jedermann offen lie-
gen müssen.
Im Blick hat Tempelhof aber die Mehrheit der Weltbevöl-
kerung, die nicht auf einen Rechtsstaat wie in Schweden zählen
kann, der Korruption ausgeliefert oder auf der Flucht ist. Jeder
Rechtsakt ist für diese Menschen eine Demütigung, wenn er
überhaupt gelingt. Staatsleistungen sind daher für so viele
Menschen nur Einschüchterungen. Das alles will Bitnation än-
dern und damit die Freiheit des Einzelnen ermöglichen. Im
Digitalen sind die Menschen zu einem Weltbürgertum vereint,
das jeden als gleichberechtigten Teilnehmer an Prozessen des
Rechts und der Verwaltung auffasst. Das mag man für Träume-
rei halten und man muss auch kein versierter Jurist sein, um zu
sehen, dass die letztlich ausschlaggebende Jurisdiktion bisher
zumindest nur durch einen Staat erfolgen kann. Nur wenn ein
Staat wie Estland eine Bitnation-Eheurkunde anerkennt, ist sie
rechtsgültig. Eine dezentralisierte Weltregierung gibt es dann
doch nicht, zumindest vorerst nicht. Staaten sind weiterhin
notwendig, sagen die Juristen. 40 Das würde Susanne Tarkowski
Tempelhof wohl auch nicht bestreiten. Ihr Anliegen geht je-

191
doch entschieden weiter: Eine Gesellschaft ohne Rücksichten
auf Grenzen und die Zufälligkeiten des Geburtsorts ist im di-
gitalen Zeitalter möglich, die jedem Zugang zum Recht erlaubt,
schreibt sie in ihrem Buch von 2014 The Googlement. A Do-It-
Yourself Guide to Starting Your Own Nation (and Changing the
World). Die Legitimität liegt hier im Verfahren, nicht in
Wahlen oder in der Macht. Die verbindliche Anerkennung
von Entscheidungen soll in dezentralen Institutionen stattfin-
den, die von jedem einsehbare wären. Die Blockchain-Technik
ist das transparente Verfahren für das offene Weltbürgertum,
das jedem prinzipiell jede Rolle offenhält. Hier ist das Digitale
der Grund der Ermöglichung einer anderen staatlichen Ord-
nung, so steil ein solches Vorhaben auch angelegt sein mag.
Von einer neuen Gemeinschaftlichkeit, der Partizipation der
vielen und der geteilten Güter sprechen denn auch Theoretiker
der digitalen Kultur wie Felix Stalder oder Clay Shirky mit
Recht und nicht zuletzt gegen den kulturkritischen Main-
stream. 41 Bitnation ist ein Beispiel für ein helles, ein utopisches
Maschinenzeitalter der digitalen Allmende.
Ein Ansatz wie der von Bitnation mutet utopisch an und
soll es auch sein. Aber auch Akteure wie die Weltbank gehen
davon aus, dass in den nächsten Jahren zumindest Teile der
gesellschaftlichen Prozesse in transparenten Dokumenten-
ketten jedem zur Einsicht offenliegen werden, rechtsförmige
Verkettungen, die nur in einer digitalen Weltstruktur möglich
sind. Mit sogenannten ‚Smart Contracts‘ werden schon gegen-
wärtig auf Musik-Plattformen wie Ujo oder Aurovine alle Ak-
teure, die an der Produktion eines neuen Songs beteiligt sind,
gelistet und an den Verkäufen über das Internet beteiligt. Zu-
dem speichert die Blockchain auch die Rechte derjenigen, die
als Käufer Rechte an einer Musikdatei erworben haben. Jeder
der Beteiligten vom Songwriter, den Musikern über die Ton-
ingenieure bis zum Käufer erhält eine exakte Kopie aus der
verteilten Datenbank und kann so die rechtlichen und finan-
ziellen Transaktionen einsehen. Uns vertraute Institutionen
wie die Musikbranche, die Banken und Grundbuchämter

192
könnten dann anders aussehen, – wie anders, das diskutieren
Ökonomen, Politikwissenschaftler und Aktivisten gegenwärtig
und blicken dabei auf jene Effekte, die schon jetzt neue digitale
Formate und soziale Medien auf die Glaubwürdigkeit und
Macht von Institutionen haben. 42 Der traurige Misserfolg des
arabischen Frühlings hat jedoch viele zu dem Schluss verleitet,
dass die dort sich in sozialen Medien frei organisierenden Pro-
teste kaum eine Bedeutung haben, nicht anders als die Protest-
bewegungen vor der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien
oder die Aufstände in der Türkei. Alles nur ‚Clicktivism‘ oder
‚Slacktivism‘, ein Aufstand mit der Computermaus, sagt man
dann. Die Utopien sind nicht ernst zu nehmen. Sie haben keine
Chance.
Einmal mehr lohnt es sich genauer nachzusehen, ob das so
stimmt. Untersucht wurden in einer umfangreichen Studie 25
Millionen Bilder aus aller Welt und in mehr als 34 Sprachen,
die 2013 auf Flickr hochgeladen wurden und mit Wörtern wie
‚Protest‘ getaggt worden waren. Dabei zeigte sich ein Zusam-
menhang zwischen der Zahl der als Protestbilder deklarierten
Fotos und einer gesteigerten Aufmerksamkeit der internatio-
nalen Medien für die Proteste in der jeweiligen Region. 43 Schon
das bloße Hochladen von Bildern mit dem Label ‚Protest‘ ist als
kollektive Handlung dann doch ein politischer Akt in einer
Gesellschaft, die ihr Zusammenfinden nicht nur entlang etab-
lierter Institutionen aushandelt, sondern in den fluiden Me-
dien immer wieder neu organisiert. Protest wird gehört und
von der Weltgemeinschaft eher geteilt, wenn soziale Medien
dabei sind. Gerade in Gesellschaften, die alles andere als offen
sind, sind diese Akte daher das Gegenteil einer Uniformierung.
Beispiele für solche Proteste durch soziale Medien gibt es viele.
Jugendliche hatten im Iran ein kleines Video auf YouTube
hochgeladen, das sie tanzend und singend zu Pharrell Wil-
liams’ Happy-Song zeigt. Dafür wurden sie zu 91 Peitschenhie-
ben verurteilt. Dass sie durch die Peitsche nicht umgebracht
wurden, verdanken sie nicht zuletzt dem millionenfachen Inte-
resse an ihrem Video, ein schwacher Schutz, aber doch ein

193
Schutz, der auch den saudischen Blocker Raif Muhammad Ba-
dawi bislang vor dem Tod durch Peitschenhiebe rettet und die
Protestierende in Hongkong vor Massenerschiessungen. In sol-
che Aktionen sind das Schreiben, das Tanzen und die Freiheit
ganz unmittelbar verbunden und nicht ohne die digitale Welt-
öffentlichkeit möglich. Freiheit und digitale Welt gehören zu-
sammen, das ist das Versprechen der digitalen Utopie. Die of-
fene Gesellschaft ist zugleich eine digitale Gesellschaft.
2011 benannte das amerikanische Time Magazine den
Ägypter Wael Ghonim als einen der hundert einflussreichsten
Persönlichkeiten der Welt. 44 Das muss verwundern, denn ge-
nau genommen hat Ghonim 2010 nur eine Facebook-Seite un-
ter dem Titel „Wir alle sind Chalid Sa’id“ aufgesetzt, mit der er
an den von der ägyptischen Polizei auf offener Straße tot-
geschlagenen Blogger Chalid Muhammad Sa’id erinnern woll-
te. Nur hat Ghonims Seite die Jugend und dann nicht nur die
Jungen in den nordafrikanischen Ländern wachgerüttelt und
eine bis dahin unvorstellbare Bewegung losgetreten, die wir
bald ‚Arabischen Frühling‘ genannt haben. Ghonim ist für die-
se Facebook-Seite auf die Straße gegangen, zusammengeschla-
gen und gefoltert worden. Heute fühlt er sich von den alten
Mächten besiegt und doch treibt ihn keine andere Frage so
sehr um, als die, wie soziale Medien gesellschaftlichen Wandel
bewirken können. Was Ghonim interessiert, das ist die Suche
nach einem Weg, wie soziale Medien gegen die Hassreden und
staatlich organisierte Trolle in einen Ort vernünftiger Argu-
mente verwandelt werden können. Nur zu gut weiß er, dass in
den sozialen Medien einseitige und aggressive Stellungnahmen
mehr Aufmerksamkeit finden als abwägende, eine Erfahrung,
die auch Microsoft mit ihrem Versuch des mit künstlicher In-
telligenz ausgestatteten Chat-Bots Tay gemacht hat. In nur elf
Stunden hat das lernende System aus Twitter vor allem den
rassistischen Hass gelernt bzw. lernen müssen und wurde dann
abgeschaltet. Ganze Wahlkämpfe sind etwa in Mittel- und Süd-
amerika durch gekaufte Bots massiv verzerrt worden, und wohl
nicht nur dort. 45 Das Internet ist eben nicht die Wirklichkeit

194
und nur dann befreiend, wenn es selbst ein freier Ort des Mei-
nungsaustausches ist, sagt Ghonim aus bitterer Erfahrung. Und
so baut Wael Ghonim mit Freunden eine erste Plattform auf,
um vernünftigen Argumenten einen Ort zu geben. 46 Andere
wie der Soziologe Philip N. Howard plädieren angesichts von
Twitter-Kriegen der Roboter für den Bau von demokratischen
Twitter-Bots. 47 Die Erwartungen, die Ghonim und seine
Freunde hegen, sind bescheiden. Sie wissen, dass sie schon ein-
mal von den alten Mächten in aller Brutalität besiegt worden
sind. Aber vielleicht ist gerade jemand wie Wael Ghonim einer
der wichtigen Köpfe unserer Zeit, weil er verstanden hat, wie
Öffentlichkeit und Medien in digitalen Zeiten zusammen-
hängen und wie viel zu tun bleibt. Das Time Magazine lag mit
seiner Wahl richtig.
Diesen dramatischen wie bitteren Beispielen könnten viele
andere hinzugefügt werden. Sie alle unterstreichen nur, warum
Freiheit, Lesen, Schreiben und auch Tanzen der Sache nach
digital zusammengehören.
Beispiele dieser und ähnlicher Art lassen sich leicht ver-
mehren, die alle einen kaum abzuschätzenden Einfluss auf un-
ser Leben haben dürften. So erstellt Facebook gerade eine
hochauflösende, auf künstlicher Intelligenz beruhende Karte
der Bevölkerungsverteilung von mehr als 20 Ländern. Das Vor-
haben soll nicht nur Facebook nutzen, besser abzuschätzen,
wie bisher nicht erschlossene Weltteile besser an das Internet
und damit an Facebook angeschlossen werden können. Es soll
auch helfen, Städteplanung zu verbessern, Epidemien und ihre
Ausbreitung genauer vorhersagen zu können oder Krisenherde
früher zu lokalisieren – alles höchst vernünftige Ziele. Die Auf-
lösung der Karten erreicht bei Facebooks Connectivity Labs
nicht die sonst üblichen ein paar hundert Quadratkilometer
der Karten, sondern hat eine Seitenlänge von 50 Zentimetern,
an denen studiert werden kann, was sich in einer Stadt wie
Naivasha im Südosten Kenias verändert. 48 Andere Entwicklun-
gen wie in den Descartes Labs schließen an dieses Projekt von
Facebook an und entwickeln automatisierte Mechanismen, um

195
aus hochauflösenden Bildern und Petabytes an Daten Informa-
tionen über die Veränderungen der sozialen Welt oder der Um-
welt in Echtzeit zu gewinnen. Andere Projekte wie das Icarus-
Vorhaben von Martin Wikelski planen Millionen kleiner Sen-
soren an Zugvögel oder Fischschwärme zu heften, die deren
Verhalten in der Natur messen und Daten zum Wetter, zur
Landnutzung oder zu den Wasser- und Luftschadstoffen sam-
meln. Das International Cooperation for Animal Research
Using Space-Projekt ist so etwas wie die Vermessung des Welt-
organismus und nicht nur Wissenschaftler wie der Ornitholo-
ge Wikelski erhoffen sich von dieser Biotelemetrie einen bes-
seren Umgang mit unserer gefährdeten Umwelt. 49 Daten an
den richtigen Stellen zu erheben und sie systemisch miteinan-
der zu verknüpfen, wird unsere Vorstellungen von Natur, un-
serem Körper und wohl auch unserer Wirklichkeit verändern.
Auf diese und ähnliche Weise können Computer sehr wohl
eine Gesellschaft klüger machen und es ihr ermöglichen, viel
genauer als bisher zum Beispiel aus Suchbegriffen, die in
Google am Tag von Wahlen eingegeben werden, zu ermitteln,
welche Konsequenzen verschiedene Systeme der Wählerregis-
trierungen für den Wahlausgang haben. 50 Es steht zu erwarten,
dass computerbasierte Sozialwissenschaften in den nächsten
Jahren gesellschaftliche und politische Prozesse verbessern.
Fachleute wie der Sozialwissenschaftler und Informatiker Alex
Pentland sprechen bereits vom ‚Reality Mining‘ und haben ho-
he Erwartungen in die Sozialphysik der Zukunft. 51 Gesellschaft
kann, so Pentland, gescheiter gestaltet und organisiert werden.
Urbanisierung und lebenswerte Umwelt müssen sich nicht aus-
schließen. Das alles wird wohl auch uns als Person betreffen.
Vielleicht wird es bald schon üblich sein, sich so etwas wie ein
virtuelles Selbst zuzulegen, Avatare genannt. Damit gemeint ist
ein virtuelles Selbst, das uns als reale Personen vielfach gleicht,
aber an einigen Stellen ein besseres Selbst vor Augen stellt. Wie
erste Untersuchungen dazu andeuten, sind solche Avatare dazu
geeignet, unser persönliches Verhalten zu verbessern, etwa
mehr Sport zu treiben oder uns gesünder zu ernähren. 52 Das

196
ist natürlich keine neue Einsicht, sondern hat schon älteren
Morallehren viele Auflagen beschert, wenn auch deren Avatare
andere waren, etwa das vorbildliche Leben der Heiligen.
Anders als in einem negativen, erregt es in einem positiven
Szenario erst einmal Neugier, wenn Computer die Welt verbes-
sern helfen und dafür auch große Versuchsanordnungen um-
gesetzt werden. Von der westlichen Welt wenig beachtet, läuft
gegenwärtig in der Volksrepublik China der vielleicht größte
Test zur Interaktion zwischen Mensch und Maschine. Es geht
um die Frage, ob Computer und Menschen so etwas wie
Freunde sein können. Unter dem Namen Xiaoice 53 hat Micro-
soft einen Chatbot ins Netz gestellt, der jeden Tag auf Fragen
antwortet, selbst schreibt und seine Gedanken äußert, wenn
diese Metapher vom Selbst hier erlaubt sein mag. Schicke ich
Xiaoice ein Bild meines verstauchten Fußes, dann fragt der Bot
nach, ob die Verletzung schmerzhaft sei. Habe ich Fragen, wo
ein angesagtes Lokal bei mir in der Nähe zu finden sei, so hilft
mir meine kleine Freundin Xiaoice weiter. Ist meine Beziehung
gerade zerbrochen, fragt das Deep Learning-System, ob ich
schon darüber hinweggekommen sei. Xiaoice kann sich über
so ziemlich jedes Thema unterhalten, was für die Ingenieure
von Microsoft wie Yongdang Wang heißt, 54 dass sich der Chat-
bot über wechselnde Themen fast wie ein Mensch unterhalten
kann. Und die wissen natürlich auf viele Fragen keine Antwort
oder kennen sich schlicht nicht aus. Xiaoice macht das nach,
wenn sie – ja, sie ist wie alle Assistenzsysteme zumindest in der
ersten Auflage weiblich – ihre Unkenntnis zu verbergen sucht,
sich schämt oder auch wütend wird. Nehmen die Menschen
einen solchen Chatbot an? Die Antwort könnte kaum deutli-
cher ausfallen. Für Millionen Chinesen ist Xiaoice jeden Tag
eine enge Gesprächspartnerin und ein Viertel von ihnen soll
die kleine Chatbotin sogar lieben. Microsoft lernt daraus, wann
sich Kommunikation menschlich warm anfühlt und wie über-
haupt der Computer zu einer selbstverständlichen Umwelt für
Menschen werden kann. Das Ziel von Microsoft ist nicht be-
scheiden, sondern ist schlicht, die Menschen durch das Zusam-

197
menleben mit den intelligenten Systemen glücklicher zu ma-
chen und die eigene Firma reicher.
Der Bau einer menschenfreundlichen künstlichen Intelli-
genz ist bei Microsoft wie bei vielen großen und kleinen Fir-
men die Aufgabe der nächsten Jahre. Unverstellt wird die Lö-
sung der Aufgabe als Teil einer Verbesserung der Gesellschaft
gesehen. Künstliche Agenten lernen anhand von Geschichten
und mit Hilfe von Reinforcement Learning-Verfahren Grund-
linien des Verhaltens, die man auch Moral nennen könnte, et-
wa wie man die Medizin für einen kranken Menschen besorgt:
Durch Stehlen oder durch Kauf in der Apotheke? 55 Das Erken-
nen von Gesichtern, das Lesen und angemessene Reagieren auf
gezeigte oder geäußerte Emotionen und ähnliche Soft Intelli-
gence bestimmt die Entwicklung künstlicher Systeme gegen-
wärtig mehr als es die Diskussionen um künstliche Intelligenz
erkennen lassen. Es geht dabei um eine emotional reiche und
verstärkte Intelligenz, bei der Maschinen ganz selbstverständ-
licher Teil unserer Umwelt werden, mit denen wir ohne nach-
zudenken interagieren, ohne dafür Computer anzuschalten
oder Passwörter einzugeben. Dazu müssen Computer wie
Menschen mit uns sprechen. Menschen stellen sich normaler-
weise schon im Sprachrhythmus, Wortwahl, Satzbau, Körper-
haltung und Gesten auf ihr jeweiliges Gegenüber ein. ‚Align-
ment‘, also etwa ‚Ausrichtung‘, nennt man in der Fachsprache
der sozialen Robotik diese humane Interaktionsweise, ohne die
intelligente Systeme nicht Teil unserer zukünftigen Welt wür-
den. Google nutzt mit Bedacht auch knapp dreitausend Liebes-
romane, um die Konversationsfähigkeit seiner künstlichen In-
telligenzsysteme zu verbessern. Computergestützte intelligente
Systeme gewinnen damit, so hofft man, an Persönlichkeit und
antworten natürlicher, verstehen ein wichtiges Thema mensch-
licher Kommunikation besser und werden bald auch automati-
siert Mails beantworten können. 56 In Schulklassenräumen wer-
den sehr wahrscheinlich schon solche oder ähnliche Roboter
den Lernprozess verstärken helfen, ebenso in Werkstätten oder
Büros. Astronauten fliegen bereits mit smarten Assistenten wie

198
der künstlichen Intelligenz Cimon durchs All. Und der küm-
mert sich auch um das leibliche und seelische Wohl seines
menschlichen Gegenübers. Intelligente Maschinen werden Teil
der sozialen Umwelt von Menschen.
Virtuell bearbeiten wir schon in naher Zukunft einen belie-
bigen Gegenstand gemeinsam und sind dabei in Wirklichkeit
zugleich räumlich verteilt. Mit anderen, die in Wirklichkeit
weit weg sind, können wir in Echtzeit interagieren, eine Holo-
portation, 57 die auf den ersten Blick aussieht, als wäre das
‚Beamen‘ nun endlich Wirklichkeit geworden. Ist es aber nicht,
denn die Gesetze der Physik gelten unverändert. Aber sonst ist
bei der Holoportation vieles anders. Die Grenzen des Raums
spielen in der virtuellen 3D-Welt nur eine nachgeordnete Rol-
le. Mehr noch kann ich die virtuelle Szenerie, in der ich mit
anderen interagiert habe, aufzeichnen und meine Erinnerun-
gen dann wie in einem Museum sammeln. Meine Erinnerun-
gen sind auf diese Weise wie in einer Art Denkarium verwahrt,
das ich regelrecht begehen kann wie Harry Potter die Erinne-
rungen Dumbledores. Ich sehe vielleicht schon bald, wie ich
vor fünf Jahren mit meinen Freunden zusammen die Sixti-
nische Kapelle angesehen oder auch vor dem Fernseher eine
Tüte Chips gegessen habe, denn meine Erinnerung steht in
voller Lebensgröße vor mir. Mit einer Handbewegung kann
ich den 3D-Erinnerungsfilm verkleinern und vor mir auf dem
Tisch abspielen lassen. Das dürfte unser Gedächtnis verändern
und die Geschichten, die wir teilen, in einer nie gekannten
Lebhaftigkeit vor unsere Augen stellen. Mein Gedächtnis ist
dann ganz selbstverständlich auch computergestützt, wie es
früher durch Tagebuchaufzeichnungen oder Dia-Kästen ver-
stärkt worden ist. Die derzeit noch etwas befremdliche Anrede
von digitalen Umwelten wie „Hi, Alexa“ oder „Hi, Cortona“
wird bald schon so individualisiert sein, dass mein vertrauter
Freund eben ein Computer ist, und zwar in genau dem Sinne,
in dem für Goethes Werther das Buch sein Freund ist, der-
jenige, der einen auch in seinen geheimen Gedanken versteht.

199
In einem positiven Szenario ermöglicht all dies eine Explo-
sion der Geschichten, neuer Formen und Gattungen und an-
derer Institutionen, in denen wir das tun, was wir heute noch
Lesen und Schreiben nennen. Es wird Teil dieser digital ver-
stärkten Realität sein. Vielleicht haben das die skandinavischen
Bibliotheken schon verstanden, die am Konzept einer Art von
Bürgeruniversität orientiert sind, die sich nicht als Bildungs-
hort und Gedächtnistempel verstehen (darf), sondern 3D-Dru-
cker und Reparatur-Cafés zugleich sind, Tonstudios und aller-
lei sonstige Bürgerservices anbieten. Wo alles im Netz ist,
braucht es die Bibliothek in ihrer herkömmlichen Form nicht.
Ihre Reservoirfunktion, wie man bibliothekstechnisch sagt, be-
ginnt überflüssig zu werden, behaupten selbst Leute wie der
Leiter der Bibliothek der ETH Zürich, Rafael Ball. 58 Manche
Bibliotheken Dänemarks haben gar keine Bücher mehr und
doch werden hier Geschichten geteilt. Dokk1, die wohl größte
öffentliche Bibliothek Skandinaviens im dänischen Aarhus,
sortiert alle Bücher aus, die nicht innerhalb der letzten zwei
Jahre ausgeliehen wurden. Bibliotheken sind hier ganz selbst-
verständlich mit der digitalen Welt verschränkt und niemand
interessiert sich noch für den Gegensatz von Bildung und tech-
nischer Zivilisation. Sehr wohl aber interessiert es in diesem
positiven Szenario, dass die Bibliothek ein Ort der Freiheit ist
und auch diejenigen in Freiheit setzt, die der kommunalen und
staatlichen Unterstützung bedürfen. Die Engstellung von Buch
und Freiheit wird neu interpretiert. Wie das gelingen kann, das
machen solche Bibliotheken wie in Aarhus vor.
Im Gegensatz zu einem negativen Szenario, in dem die Di-
gitalisierung der Gesellschaft gerade den für die Neuzeit so
wichtigen Zusammenhang von Freiheit und Lesen untergräbt,
ist in einem positiven Szenario die Befreiung immer auch eine
Befreiung der Texte. Und das können auch oder gerade die
Texte der Wissenschaften sein. Unter Sci_Hub finden sich ca.
50 Millionen wissenschaftliche Veröffentlichungen, die illegal
von den Servern der ganz wenigen weltweit agierenden Wis-
senschaftsverlage heruntergenommen wurden und jeden Tag

200
kopiert werden. Von Akustik bis Zymologie fehlt hier kaum
eines der Themenfelder der Wissenschaft. Doch sind die Arti-
kel in dieser Schattenbibliothek nicht hinter einer Bezahl-
schrank von gut ausgedachten Preisen nur für reiche Länder
und reiche Universitäten zugänglich, sondern auch für alle die-
jenigen, die an ärmeren Universitäten arbeiten. Wo sonst 2 000
bis 35 000 Dollar im Jahr für ein Abonnement bezahlt werden
muss, ist dieses Wissen in der Schattenbibliothek frei. Nahelie-
gend, dass dies den großen Unternehmen Elsevier, Taylor &
Francis, Springer und Wiley nicht gefällt, die Gewinnraten
von über 30 Prozent gewohnt sind und in den letzten zwanzig
Jahren doppelt so hohe Preissteigerungen durchsetzen konnten
als sie selbst im Gesundheitssystem möglich waren. Ihnen ge-
genüber steht eine kasachische Studentin der Neurowissen-
schaften namens Alexandra Elbakyan. Die ist der computer-
schlaue Kopf hinter der Guerilla-Taktik von Sci_Hub, das
Wissen der Welt für die Welt zu befreien – um nicht weniger
geht es hier. Denn tatsächlich sind nur ganz wenige Bibliothe-
ken in der Lage, den Hauptanteil der wichtigsten Fachzeit-
schriften vorzuhalten. Schon in reichen Ländern wie der
Schweiz oder Deutschland kann das nur eine kleine Zahl der
Bibliotheken tun und in vielen Ländern der Erde können das
nur wenige. Der Graben, der reiche und arme Länder teilt, ist
auch ein Graben der wissenschaftlichen Information, der über
das Wohl der Nationen mitentscheidet. Elbakyan hat selbst als
Doktorandin in Almaty erlebt, den teuren Zugang zu wissen-
schaftlichen Artikeln nicht bekommen zu können, weil ihr
Land dafür zu arm ist. Während nun das Oligopol der Wissen-
schaftsverlage Alexandra Elbakyan wegen millionenfachen
Diebstahls verklagt hat, argumentiert sie in einem Brief aus
ihrem Versteck, dass die Verlage ihren Autoren und Gutach-
tern der Zeitschriften nichts bezahlen, aber ihnen dennoch
am Ende horrende Rechnungen stellen würden. 59 „On my web-
site, any person can read as many papers as they want for free,
and sending donations is their free will. Why Elsevier cannot
work like this, I wonder?“, rechtfertigt sie die Piratisierung des

201
Wissens. Und hunderttausend Downloads jeden Tag stimmen
dem implizit zu und verstärken damit zugleich das Anwachsen
der Schattenbibliothek. Die Zeitschrift Nature hat 2016 Elba-
kyan unter die zehn Menschen aus den Wissenschaften ge-
wählt, deren Arbeit von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung
ist. 60 Das war eine Entscheidung, die an Deutlichkeit nichts zu
wünschen übriglässt.
Dieser Akt, der den Besitzern des Wissens nur Piraterie ist,
ist den anderen hochsymbolisch mit der Freiheit im digitalen
Zeitalter verbunden. Das wird erst ganz deutlich, wenn man
weiß, dass Elbakyans Kampf um die Freiheit des Weltwissens
nicht der erste solcher Auseinandersetzungen ist. Der Compu-
terprogrammierer und Open Access-Aktivist Aaron Swartz
hatte sich 2013 erhängt, nachdem ihn die Anklage wegen ille-
galen Herunterladens von Millionen akademischen Zeitschrif-
tenartikeln über einen MIT-Server mit 35 Jahren Haft und
einer Million Dollar Strafe vor Gericht gestellt hatte. 61 Swartz,
der an Depressionen litt, beging am 11. Januar 2013 Selbst-
mord und wurde zur Ikone all derjenigen, für die Internet
und Freiheit zusammengehören. Seine Sätze „Information is
power. But like all power, there are those who want to keep it
for themselves“, stehen auf den T-Shirts und Stickern der Com-
puterwelt. Auf der Trauerfeier für Swartz am 15. Januar 2013
sprachen niemand anderes als der Erfinder des World Wide
Webs Tim Berners-Lee und Lawrence Lessing, der Begründer
der Creative Commons. Symbolischer können Freiheit und In-
ternet kaum verknüpft werden. Elbakyan geht in den Spuren
dieser digitalen Freiheit. Sie hat sich wie Snowden ausgerech-
net in Russland versteckt – wie bitter, dass es heute so er-
scheint, als würde ausgerechnet von dort die Freiheit verteidigt
werden. Die Geschichte mit noch offenem Ausgang, auch was
Alexandra Elbakyan selbst betrifft, stellt ins grelle Licht, warum
gerade in einem positiven Szenario Freiheit und Buch zusam-
mengehören, hier das wissenschaftliche Wissen und die Welt-
öffentlichkeit. Revolutionäres Pathos liegt auf den Servern der
Schattenbibliotheken.

202
Mutmaßungen über eine positive Zukunft der digitalen
Welt würden wohl noch auf eine andere Entwicklung verwei-
sen. Da sind die Entstehung immer neuer Gattungen und Gen-
res innerhalb der Literatur, auch sehr kleiner, so genannter Mi-
krogenres. Auch das gehört zur Freiheit, immer andere Formen
des Schreibens erfinden zu können. Von diesen Mikrogenres
gibt es unglaublich viele und Amazon klassifiziert Bücher
schon in Zehntausende von Subgenres, darunter auch solche
Nischen-Genres wie „Amish Quilting Mystery“, also Kriminal-
geschichte, die in der Amish-Community in den USA spielen.
Netflix und andere tun ähnliches. Sie indizieren damit das wil-
de Wachsen immer neuer, wenn auch nicht ganz anderer
Ideen, wie Geschichten ausgestaltet sein können. Hyperspezia-
lisierte Eigengattungen gehören natürlich zur populären Kultur
dazu und sind nicht an sich schon neu. Vielmehr unterscheidet
sich darin gerade die populäre Literatur von der in wenige
Großgattungen unterteilten Hochkultur. Tatsächlich sind die
Grenzen zwischen Hochkultur und populärer Kultur oft genug
fließend. Man denke nur an die Mode vor mehr als zweihun-
dert Jahren, gemalte und mit Gedichten versehene Bänder zu
tauschen und Schnupftabakdosen als empfindsames Symbol zu
verschenken, wie es 1768 durch Lawrence Sternes Erfolgsbuch
A Sentimental Journey unter empfindsamen Seelen der Zeit
üblich wurde. Ob das nun Hochkultur oder populäre Kultur
war, kann man lange diskutieren. Seit Sterne und Rousseau
jedenfalls, seit dem Beginn des modernen Lesens, gibt es keine
Grenze für die Erfindung eines neuen Genres, mag die Zahl der
Leser dieser unteren der Untergattungen dann auch noch so
klein sein. Die Formen der Selbstbeobachtung in der Moderne
sind vielfältig.
Jeden Tag andere Genres und Gattungen zu erfinden, die-
ses David Bowie-Prinzip der populären Kultur, bestimmt jetzt
schon das Schreiben und Lesen mehr als es in den Feuilletons
sichtbar ist. Die Genres wachsen nicht nur in den Kellern der
Fanfiction jeden Tag in alle möglichen Richtungen, sondern
haben in Kleinst-Verlagen und in spezialisierten Portalen ihren

203
Platz. Sie heißen minimore.de oder taberna kritika, rough-
books, lyrikkritik oder nicht ganz zufällig auch freiraum und
bieten eben Raum für experimentelle Ausdrucksformen, viel
Freude an allerlei Formen der Nonsense-Literatur, wenn Spam-
mails zerschnitten und zu neuen Gedichten zusammengefügt
werden. Avantgardismus darf Programm sein, Aleatorik gehört
zum Spaß am unerwarteten Ausdruck dazu. Das Wort „flarf“
umschreibt die neodadaistische Absetzung von jeder Form von
Qualität und Sinn in der Literatur. Andere Portale sind weniger
avantgardistisch, sondern nutzen das Internet, um sich gegen-
seitig Literatur zu erläutern, so auf Lit.genius.com. Literatur,
damit sind hier die großen Bücher des Kanons ebenso gemeint
wie aktuelle Neuerscheinungen. Sie alle sind auf solchen Foren
wie Lit.genius vereint. Andere wieder adaptieren bekannte Ro-
mane von Jane Austen oder den Welterfolg der kanadischen
Autorin Lucy Maud Montgomery. Deren Kinderbuchserie
Anne of Green Gables (1908–1920) wird auf Tumblr oder Twit-
ter noch einmal mit selbstgedrehten Videos und erfundenen
Twitter-Nachrichten erzählt. Die alten Geschichten um Eliza-
beth Bennet oder Anne Shirley werden in einem anderen Me-
dium als dem Buch erneut in Szene gesetzt. Dafür wird ge-
schrieben, gefilmt und alles im Internet zusammengeführt.
Das lesen und schauen dann Tausende, wenn so getan wird,
als würden sich in den selbstgedrehten Videoblogs auf You-
Tube und auf mehreren Twitter-Konten Lizzy und Mr. Darcy
gerade erst heute kennenlernen. 62 Es kümmert immer noch, ob
sie sich nun kriegen oder nicht, gerade dann, wenn wir den
Ausgang der Geschichte schon kennen. Das war bei den grie-
chischen Tragödien auch nicht anders. Darum werden die gu-
ten Geschichten immer neu erzählt und das nirgends so leicht-
händig wie im Internet. Lesen und Schreiben ist Teil der
modernen Mixed Reality.
Das alles hat schon der bloßen Zahl wegen eine Dimen-
sion, die verändert was Buch und Lesen heißt. Bücher können
die Form von Handys haben und YouTube kann der Ort für
aufwendige Klassiker-Kommentare sein. Twitter und YouTube

204
erzählen die alte Geschichte noch einmal und Tausenden von
Followern kommt die Romanze ganz neu vor. Das mag sich der
etablierte Literaturbetrieb so nicht erträumt haben, aber das
kümmert diejenigen nicht, die solche Vlogs schreiben, Flash
Poetry lesen, Indie Videogames schreiben oder was sonst ge-
rade heute jemandem eingefallen ist.
Neue Verlage entstehen, wie Visual Editions, die sich mit
dem Google Creative Lab zusammengetan haben, um Bücher
zu machen, die man nicht drucken kann. Hier geht es um
Editionen, die zum Beispiel Google Street View nutzen, um
eine Liebesgeschichte zu erzählen. Das Buch mit dem Titel
Entrances and Exits 63 von Reif Larsen, einem amerikanischen
Filmemacher und Autor, ist ein solches, nicht mehr druckbares
Buch. Es spielt zwischen realen Orten und kaum spürbaren
Übergängen in die fiktionale Geschichte. Gelesen werden kann
es nur auf Smartphones, denn es setzt Funktion von Google
Street View voraus. Larsen hatte schon mit der Karte meiner
Träume (The Selected Works of T. S. Spivet) 2009 einen unge-
wöhnlichen Roman geschrieben, dessen Handlung umfangrei-
che Illustrationen, Karten und Diagramme so nutzt, dass sie
ein tragender Teil der Geschichte sind. Dieses Werk konnte
noch aufwendig gedruckt werden. Sein jüngstes Buch setzt die-
ses Prinzip auf ungewöhnliche Weise fort und ist ein Beispiel
für anderes Erzählen, das sich nicht mehr an die Grenzen der
Buchdeckel hält. Freilich ist es immer noch eine Geschichte,
die seine Leser fesseln will und seine Geschichte folgt sehr wohl
alten Mustern des Erzählens. Denn Larsens Buch ist wie das
weitere Programm des Play for Visual Editions-Verlags aus-
drücklich darauf angelegt, den Leser am Handy für mehr als
eine Stunde am Tag zu bannen. Immersives Lesen ist hier bei
Larsen und seinem Verlag beabsichtigt. Das gilt noch mehr für
so komplizierte Geschichten, wie die von Iain Pears, dessen
Arcadia-Roman mit seinen zehn, weitgehend getrennten
Handlungsebenen eine besondere App erfordert, um über-
haupt verstanden werden zu können. 64 Neue Formen und For-
mate entstehen hier in der Freiheit des Digitalen, auch wenn

205
alle diese Geschichten am Ende nur eins wollen: Leser für sich
gewinnen. Und das tun sie, indem sie alte Geschichten neu
erzählen, wie die Literatur es wohl schon immer getan hat.
Es ist eine geradezu unerträgliche Leichtigkeit, mit der sich
in einem positiven Szenario eine romantische Revolution der
Leseverhältnisse einstellt. Autoren schreiben dicht an ihren Le-
sern, Leser werden selbst Autoren und wechseln ihre Rollen.
Mikro-Verlage unterstützen sie dabei, wenn nicht die Autoren
selbst ihre Verleger sind. Etablierte Verlage mischen sich ein.
Die Einheit von Autor, Verlag und Leser kann gar nicht höher
gedacht werden. Die Übergänge haben wenig von den Stufen
der Hierarchie des alten Literaturbetriebs. Nie war das Buch
ein engerer Freund, der mich versteht, dem ich mich an-
vertraue. Meine Freiheit ist die, jedes noch so verrückte Buch
umsetzen zu können – wie, das liegt an meiner Kreativität.
Freunde zum Teilen des Buchs sind dann auf Wasliestdu,
Whatchareadin, Büchertreff, Leserunden.de oder Büchereule
und vielen anderen Formaten schon da; sie sind wie ich, wie
meine Bücher. Meine Lebensgeschichte mag im Feuilleton viel-
leicht niemanden interessieren, auf Archive of Our Own oder
Livejournal jedoch finde ich vertraute Seelen. Wer das als
Laienliteratur verachtet, hat nicht verstanden, was Literatur so
vielen bedeutet. Ganze Organisation wie die wunderbare The
Reader Organisation in Liverpool bildet solche Lesegemein-
schaften real, wo man durch Gedichte und Romane ins Ge-
spräch über das eigene Leben kommt, was moralisch denn
richtig sei, was Freiheit bedeutet, wie man Reue zeigen oder
ein guter Ehemann sein kann. 65
Viele schreiben selbst über ihr Leben und geben ihm damit
oft eine Würde, die sonst keinen Raum erhalten hat. Zum
immersiven Lesen der Gegenwart gehört auch das selbstverges-
sene Schreiben, gerade das Schreiben über sich selbst. Die Zahl
der Creative Writing-Kurse steigt von Jahr zu Jahr und viele sa-
gen, dass sich dadurch die Literatur mehr verändert habe als
durch alle Literaturkritik. Das ist schwer zu messen. Aber es deu-
tet in dieselbe Richtung einer unerhört dichten Landschaft der

206
Schreiber und Selbstverleger, neuempfindsamen Leser und krea-
tiven Autoren. Unser Begriff von Kreativität hat sich damit wohl
schon länger verändert. Man kann Schreiben lernen, von guten
Büchern, mehr oder minder gescheiten Kursen, oft sehr uniform
im Ergebnis, wie man zugeben muss. Damit sind freilich nur die
traditionellen Schreibweisen in den Blick genommen. Wie viele
sich im Drehen von Spielfilmen üben und dafür keinen Aufwand
scheuen, wie viele das Computergame Assasin’s Creed als Modell
für ihren Abenteuerromans wählen, bleibt dabei noch ganz un-
berücksichtigt. Was die gerade erste entstehenden virtuellen
Welten für die Art und Weise bedeuten, wie wir Geschichten
erleben werden, weiß keiner zu sagen. Aber jeder versteht, was
es für eine Gesellschaft heißt, wenn der Schauspieler Benedict
Cumberbatch, als Darsteller des Sherlock Holmes ein Weltstar,
im Londoner National Theatre den Hamlet spielt, und das live in
mehr als 700 Kinos der Welt übertragen wird. Es ist dieses In-
einander von Renaissance-Theater, Detektivromanen des
19. Jahrhunderts, Serienkultur und Kino im 21. Jahrhundert,
was das Geschichten-Teilen im digitalen Zeitalter ausmacht.
Daneben gibt es viele kleine Formate, zumal Formate des
Digital Storytelling, wie sie im Kalifornien der 90er-Jahre des
20. Jahrhunderts erfunden worden sind. Hier hatte man schon
vor einem Vierteljahrhundert gelernt, kurze erzählende Texte
zu schreiben, mit Bildern zu versehen oder Stimmen dazu auf-
zunehmen und dann alles über das Internet zu teilen. Genau
diesen Weg hat übrigens auch der Roman Ich hasse dieses In-
ternet von Jarett Kobeks begangen und wurde durch das Inter-
net zum Welterfolg, der dann auch Anschluss an den etablier-
ten Literaturbetrieb gefunden hat. Persönliche Geschichten
und vollkommen stilisierte Formate sind hier gleichermaßen
zu finden und haben die Kultur demokratisiert. 66 Die kleinen
Formen sind oft neu genug, um Aufmerksamkeit zu wecken,
die großen sind es manchmal auch, alles eine Freisetzung von
Kreativität gerade dann auch, wenn im Kern alte Geschichten
neu erzählt, gelesen und betrachtet werden. Lesen bewegt die
Welt gerade in digitalen Zeiten mehr denn je.

207
Beispiele dieser und ähnlicher Art für ein positives Szena-
rio lassen sich ebenso leicht verlängern wie für ein negatives.
Sie illustrieren die Leichtigkeit, mit der computerassistierte
Systeme Teil unseres Lese-Alltags in aller Welt werden und es
vielfach längst schon sind. Wir lesen und lernen, teilen Ge-
schichten und schreiben neue und dazwischen ist mal größer,
mal kleiner ein Computer oder schon Netzwerke an Compu-
tern geschaltet. Wir bemerken sie mal und vergessen sie noch
viel öfter. Ihr Versprechen, die menschlichen Fähigkeiten zu
erweitern, Individualität zum Ausdruck zu bringen und über-
haupt Freiheit und Buch, in welchem Format auch immer, in-
tensiver als je zuvor zu verknüpfen, begeistert so viele.
Und doch leben wir wohl weder in einem negativen noch
in einem positiven Szenario, weder in der dystopischen Schlie-
ßung der Gesellschaft im Zeichen einer smarten Diktatur des
Digitalen noch in den Zeiten der Befreiung aus den Einsargun-
gen der geschlossenen, vordigitalen Gesellschaft. Wahrschein-
licher ist eher ein drittes Szenario, ein Neben- und Gegen-
einander von digitaler Modernisierung und Bewahrung der
analogen Welt, von intrinsischen Widersprüchen auch dieser
Modernisierung, die den einen die Datendiktatur, den anderen
die Demokratisierung, und doch wohl beides zugleich ist. Um
nur ein paar der vielleicht auffälligsten Widersprüche dieser
Modernisierung zu nennen: Das Silicon Valley ist nicht der
Garten Eden, wenn es auch schier unglaubliche Dinge erfindet,
die wir fast alle zu unserem Alltag machen und noch machen
werden. Vielmehr steht einer schier unfassbaren Kreativität
von Menschen aus allen Teilen der Erde eine geradezu tabui-
sierte Welt der Billiglöhner gegenüber, die kaum eine Chance
haben, sich die superkluge Welt zu eigen zu machen und daher
im besten Fall nicht mehr als Konsumenten bleiben.
Drastisch wird der Gegensatz zwischen der glänzenden
Welt der Techies und ihren schmutzigen Hinterhöfen sichtbar
an der Arbeit von Tausenden von Menschen auf den Philippi-
nen. In der Stadt Bacoor, südlich von Manila, sitzen jeden Tag
und viele Stunden Telearbeiterinnen und -arbeiter, die für

208
wenig Geld nichts anderes tun als grausame Hinrichtungs-
videos aus dem Internet zu tilgen, brutale Pornografie aus
dem Netz zu nehmen, rücksichtslose rassistische Kommentare
zu löschen oder bedrückende Aufnahmen von Unfällen in
Russland aus den sozialen Medien herunterzunehmen. ‚Con-
tent moderation‘ ist der offizielle Titel einer extrem belasten-
den Arbeit für geschätzt hunderttausend Menschen, die das
Internet für Facebook oder Twitter tagaus, tagein putzen, eine
Arbeit, die erst der vieldiskutierte Artikel von Adrian Chen im
Magazin Wired 2014 öffentlich gemacht hat. 67 Mit dieser Ar-
beit am Schmutz der Weltgesellschaft ist freilich nur einer der
Hinterhöfe der digitalen Modernisierung benannt, in den wohl
kaum jemand von uns gerne schaut.
Ein anderes Beispiel sind die Hackerangriffe in Permanenz
auf Krankenhäuser, Stromnetze oder politische Institutionen,
aber auch auf zufällig attackierte Einzelpersonen. Sie werden
nicht aufhören. Keine Verschlüsselung und erst recht kein
Passwort wird die Gesellschaft vor solchen Attacken bewahren
können. Sie zwingen damit alle Neuerungen auf kleinere
Maßstäbe.
Anders gesagt, passen lernende Systeme und Vertrauen, in-
telligente Algorithmik und Privatheit nicht zusammen. Auch
wenn Menschen sehr unterschiedlich mit diesem Gegensatz
umgehen, in manchen Ländern wie zum Beispiel den Nieder-
landen ein größeres Vertrauen in das offene Teilen von Daten
besteht als etwa in Deutschland, bleibt das Grundproblem un-
gelöst, wie sich Privatheit und Datensammeln zueinander ver-
halten. In diesem wahrscheinlichsten der drei Szenarien liegt
die digitale Modernisierung daher nicht genau in der Mitte
zwischen Diktatur und Demokratie, sondern irgendwo dazwi-
schen und das auch jeden Tag etwas anders. Viele reden von
der Filterblase und vermuten, jeder Nutzer bekomme etwa auf
Facebook etwas anderes zu sehen, vorsortiert von undurch-
sichtigen Algorithmen. Das verschärfe die Trennung der poli-
tischen Lager. Solche Algorithmen gibt es, aber wie sie sich
tatsächlich auf die Meinungsvielfalt auswirken, ist nicht so ein-

209
deutig zu entscheiden, wie es die gängigen Diskussionen um
die sogenannte Filterblase nahelegen. Die wenigen bisher vor-
liegenden Untersuchungen zeigen einen nur sehr mäßigen Ein-
fluss von Algorithmen auf die Vielfalt der Meinungen. 68 Die
meisten Nutzer gehen direkt zu den von ihnen bevorzugten
Nachrichtenseiten und nicht über Facebook oder andere sozia-
le Netzwerke. Sie verhalten sich wie Zeitungsleser, die zumeist
nur eine Zeitung abonniert haben. Nur wenige haben die taz
und Die Welt zugleich abonniert. Das gilt auch im digitalen
Zeitalter weiterhin, aber auch der Zusammenhang, dass die-
jenigen, die auf sozialen Netzwerken aktiv sind, eher mit Mei-
nungen von der anderen Seite des politischen Spektrums in
Berührung kommen als diejenigen, die soziale Netzwerke nicht
oder nur wenig nutzen. 69 Die sie nutzen, sind die politisch Ak-
tiven und Interessierten. Facebooks Algorithmen lassen zudem
die meisten der nicht zum eigenen politischen Weltbild passen-
den Inhalte passieren. Nur etwa acht Prozent der Artikel, die
nicht zur eigenen politischen Überzeugung passen, werden
eher linksliberal eingestellten Nutzern in den USA vorenthal-
ten, eher konservativen Nutzern sogar nur etwa fünf Prozent
anders ausgerichteter Artikel, sagen die wenigen, belastbaren
Studien zu dieser Debatte. 70 Die populären Vorstellungen von
den Folgen der digitalen Modernisierung treffen also keines-
wegs zu, aber sie sind auch nicht ganz falsch. Die Unsicherheit
ist verständlich. Edward Snowden hat mit guten Gründen be-
tont, dass das Weiterreichen von eigentlich vertraulichen Infor-
mationen zu einem Akt der Selbstbehauptung werden kann,
wenn Regierungen die Menschenwürde auf die Größe von
Zielobjekten reduzieren. 71 Was heißt in solchen und ähnlichen
Fällen öffentlich und was vertraulich, fragt nicht nur Edward
Snowden. Wo endet die Legalität? Kein Jurist und kein Rechts-
philosoph zeigt ihm bisher eine tragfähige Lösung auf. Die
Antworten darauf werden jede Woche anders verhandelt. Das
macht nicht eben gelassen, und kulturkritische Klagen wie uto-
pische Visionen versprechen Eindeutigkeiten, die nicht zu be-
kommen sind.

210
Viel ist schon jetzt davon die Rede, dass Computer, Soft-
ware und Algorithmen die Steuerung der Gesellschaft über-
nehmen würden und uns gar Roboter eines Tages regieren
könnten. Jüngst hat der Tesla-Tycoon Elon Musk eine Open
Artificial Intelligence gefordert, um der wachsenden Mono-
polisierung der künstlichen Intelligenz-Forschung durch
Google zu begegnen. Das zeigt an, wie ernst auch jemand wie
Elon Musk die digitale Revolution nimmt. Warum es eher un-
wahrscheinlich ist, dass eine Regierung aus Robotern die
Macht übernimmt, hat komplexe Gründe. Der Hauptgrund
liegt darin, dass alle künstliche Intelligenz eine interne Grenze
hat, von der noch niemand sagen konnte, ob und wenn ja, wie
sie denn zu überwinden wäre. Kein noch so intelligentes Sys-
tem weiß, was es nicht weiß. Alles Deep Learning vermag sich
nicht wie jeder Mensch selbst zu beobachten und die Grenzen
eigener Erkenntnis und Erkenntnisfähigkeit zu erfassen. Diese
Kenntnis ist aber entscheidend für fast jedes Verstehen und
Verhalten von uns Menschen. Meine Einschätzung, ob ich
einen Sachverhalt verstanden habe, enthält immer auch das
Wissen darüber, was ich nicht weiß oder wo ich unsicher bin,
ganz gleich ob ich es mit der Pflege von alten Menschen zu tun
habe oder ein Flugzeug konstruiere oder über einen zugefrore-
nen See laufe. Ohne Prinzipien, die Menschen vorgeben, wer-
den diese und viele andere Situationen durch die intelligenten
Systeme nicht verstanden werden können, eben weil Roboter
solche Probleme nicht von sich aus erkennen können, sondern
von Trainingsdaten abhängig bleiben. Sie wissen nicht, dass sie
nicht wissen, dass hier ein Problem vorliegen könnte und kön-
nen aus ihren Verteilungsstatistiken zwar in großen Datenber-
gen Muster finden, aber nicht Kontexte heranziehen, die ihnen
sagen, was sie nicht gefunden haben. 72 Moralische Maschinen
sind sie nur durch die Menschen, sonst eben nur Maschinen. 73
Intelligenz ist keine einfache Dimension, keine aufsteigender
Leiter von einfach bis superkomplex, wie sie in der Künstlichen
Intelligenz-Forschung gerne konzeptualisiert wird. Ob die in-
telligenten Maschinen je darüber hinauswachsen und eine ge-

211
nerelle, nicht mehr domänenspezifische Intelligenz entwickeln
können, aus rohen Daten für Krebsforschung oder Finanzsys-
teme lernen oder das menschliche Verhalten nachahmen kön-
nen, mit dem wir durch Körperhaltung und Satzmelodie auf
unser jeweiliges Gegenüber eingehen, das alles ist umstritten.
Trotz dieser grundsätzlichen Schwierigkeit investiert Google
in Projekte wie DeepMind 74 viel Geld und arbeitet in Zürich
und im Silicon Valley mit tausenden sehr klugen Leuten. Das
Versprechen solcher und ähnlicher Projekte um Artificial Ge-
neral Intelligence ist groß und besagt, es könne eine künstliche,
an fast jede Situation durch Lernen angepasste Maschinen-
intelligenz geben. Philosophen wie Nick Bostrom warnen des-
halb vor einer Wissensexplosion, die mit solchen Projekten
einhergehe und die bald schon niemand mehr steuern könne.
Wir sind vielleicht nur Kinder, die mit einer Bombe spielen,
sagt Bostrom. 75 Das alles und noch viel mehr, was wir uns so
wenig ausdenken können wie das Internet, wird uns in den
nächsten Jahren erheblich beschäftigen, denn die Zukunft
macht uns nicht den Gefallen, eindeutig dystopische oder uto-
pische Szenarien Wirklichkeit werden zu lassen. Wir sind es,
die über die Szenarien mitentscheiden und nicht nur davon
ziemlich überfordert sind. Schon unsere Rollen in der digitalen
Modernisierung gleichen einander nicht. Während die einen
bereits schier unglaublich neue Ideen, Konzepte und Techniken
für unsere nächste digitale Wirklichkeit entwerfen, sind viele
andere nicht viel mehr als Datenpunkte und haben schon
Schwierigkeiten, ihre Handys halbwegs datenschutzrechtlich
umsichtig zu nutzen. Wir entscheiden jeden Augenblick durch
unser Verhalten, wie die digitale Gesellschaft aussieht und aus-
sehen wird. Schon diese Verantwortung überfordert den Ein-
zelnen. Die Zivilisierung eines so hochadaptiven Mediums, das
sich an keine Staatsgrenzen hält, ist schwierig, aber unsere Auf-
gabe.
Zu der sehr gemischten Bilanz gehört auch die jüngste Ent-
wicklung in den Streaming-Diensten. Statt auf Algorithmen zu
setzen, die die Songs sortieren und den Nutzern anbieten, set-

212
zen viele Internet-Firmen wie Spotify wieder auf von Men-
schen kuratierte Listen der besten Songs. Von den bei Spotify
verfügbaren etwa 30 Millionen Songs sind 20 Prozent niemals
heruntergeladen worden. Spotify hat daher nicht nur massiv in
die Verbesserung der Kategorisierung der Musikstücke inves-
tiert, sondern auch in die Anwerbung von Musikexperten für
alle möglichen Musikstile, um ihren Kunden Orientierung zu
geben. Nicht anders entwickelt sich die Bücherwelt. Amazon
hat Goodreads gekauft, weil auf dieser Website persönlich er-
stellte Leseempfehlungen zu finden sind, genau das, was viele
Leser suchen. Websites wie Canopy.co nutzen die Daten von
Amazon und holen aus der schier unendlichen Masse der Din-
ge die lohnenden heraus. Auch hier sind es Designer, die das
Besondere in der Masse heraussuchen, kein Algorithmus. Die
digitale Modernisierung läuft also nicht einsinnig auf immer
mehr Algorithmen hinaus. Im Gegenteil ist es wohl die Ver-
knüpfung von menschlichen Handlungen und smarten Ma-
schinen die unsere Mixed Reality bestimmen und bestimmen
werden. Auch hier gilt, dass die digitale die analoge Welt nicht
auflöst, sondern mit einschließt und das in den verschiedenen
Bereichen der Kultur je unterschiedlich.
Die digitale Zukunft wird also kein einfacher Mittelwert
zwischen Utopie und Dystopie sein, sondern Ausschläge in
diese und jene Richtung aufweisen, die widersprüchlich und
nicht selten unvernünftig ausfallen. Das gilt auch für die Zu-
kunft des Lesens. Es spricht derzeit viel für die Vermutung,
dass weder das Buch noch das Lesen verschwinden werden.
Wie ich hier wiederholt zu belegen versucht hat, ist von einer
wachsenden Zahl der Bücher auszugehen, von mehr Genres,
mehr Medien, die auch mehr Leser brauchen, die in dieser
digitalen Welt des Lesens navigieren können. Die 250 bis 300
deutschsprachigen Neuerscheinungen pro Tag brauchen Leser.
Und die Romane werden nicht kürzer werden, sondern eher in
ihrem Umfang wachsen wie Georg R. R. Martins Fantasysaga
A Song of Ice and Fire beziehungsweise die HBO-Serie Game of
Thrones. Mit ihren derzeit fünf Bänden oder acht Staffeln ist

213
dies eine Geschichte, die ihren Lesern und Zuschauern epische
Lese- und Zuschauerzeiten abverlangt. Oder Eoin Colfers acht-
bändige Artemis Fowl-Serie wäre zu nennen, die als Jugend-
buch, als Graphic Novel und jetzt als Film vor allem eins ver-
langt: sehr viel Zeit für das Lesen. Buchhandelsketten wie
Waterstone vergrößern gerade wieder ihre Stellfläche für Buch-
regale als Verkaufsfläche. Ausmalbücher für Erwachsene stüt-
zen derzeit den Buchmarkt. Das wird noch öfter so hin und her
gehen. Diese Lesewelt eine Buchkultur zu nennen, ist vielleicht
ein Anachronismus, aber nicht weil die Bücher verschwinden,
sondern weil die Leser gar keine Mühe haben, ihre Geschichten
in allen Formaten zu finden und zu lesen, von denen das klas-
sische Buch nur noch eines unter vielen anderen ist. Das ge-
hört zum vermischten Stand des digitalen Zeitalters.
Anders als es die Rede von der schwindenden Aufmerk-
samkeit für längere Artikel und Bücher uns weismachen will,
werden auf den mobilen Endgeräten lange und komplexe Ar-
tikel gelesen. Auch das gehört zum vermischten Befund des
Lesens im digitalen Zeitalter. Die jüngste Studien des Pew Re-
search Center, der ersten Adresse für Leseforschung in den
USA, belegt gerade wieder, dass längere journalistische For-
mate, ‚The long read‘, ihren festen Platz in der mobilen Lese-
welt gefunden haben. 76 Ausgewertet wurden für diese Studie
mehr als hundert Millionen anonymisierten Interaktionen zwi-
schen Handys und Zehntausenden von verschiedenen journa-
listischen Artikeln im September 2015. Welche längeren Arti-
kel genauer studiert werden, das ist abhängig vom Thema des
Artikels, davon, ob jemand die Seite schon kennt und dort
öfter zu Gast ist und natürlich von der Tageszeit. Morgens
und abends wird länger gelesen, wie schon immer. Auch deutet
sich an, dass man auf digitalen Endgeräten eher auf konkrete
Details konzentriert, bei gedruckten Büchern dagegen eher in-
terpretierend vom einzelnen Inhalt abstrahierend liest, viel-
leicht nur eine Gewohnheit, die sich noch ändert. Aber es wird
gelesen und es wird konzentriert gelesen.

214
Zugleich sind schon heute in Google Books, in der Meta-
bibliothek Europeana und in zahllosen digitalen Ausgaben
ganze Kontinente bislang schwer erreichbarer Bücher und kul-
tureller Dokumente in einer Weise zugänglich, die noch vor
kurzem kaum vorstellbar war. Wer sich für die Gedichte der
Emily Dickinson interessiert, kann Liebhaberausgaben lesen
und Details ihrer Manuskripte im Emily Dickinson Archive
studieren. Das ist alles nur ein paar Klicks voneinander ent-
fernt und gilt ebenso wie für Dickinson wie für die original-
sprachliche Ausgabe des finnischen Nationalepos Kalevala
oder für das Teika-bon-Manuskript des mittelalterlichen Ro-
mans um den Prinzen Genji, von dem es dann noch eine schier
endlose Zahl von Adaptionen als Manga, Anime und Fernseh-
serie gibt. Der Abstand zwischen diesen Büchern und allen
anderen Formaten wird noch mehr schwinden. Alles kann
Buch werden und zurück. Auch das mag unsere digitale Lese-
kultur dann von der gedruckten unterscheiden, dieses Fließen
einer unglaublichen Zahl und Vielfalt der Bücher, auch und
gerade der einmal gedruckten, die nur einen Mausklick ent-
fernt sind und sich wie von selbst mit allen möglichen Forma-
ten verbinden. 77 Die Navigation ist da nicht einfach, muss lan-
ge erlernt werden, um behänd zwischen den Formaten
wechseln können. Das ist die Anforderung an die neuen Leser
des digitalen Zeitalters. Nennen wir sie provisorisch die ‚neuen
Alexandriner‘, nach der Bibliothek, die vor knapp zweitausend
Jahren alles Lesenswertes an einem Ort versammelt hat.
Vermutet werden kann, dass die unsere vertraute (Buch-)
Kultur sich dahingehend verändern wird, dass sie ganze Län-
dereien alter und ferner Bücher verknüpft. Wenn die automati-
sierte Übersetzung bald soweit ist, dass ein japanischer Roman
des Mittelalters in wenigen Sekunden ins Deutsche übersetzt
werden kann, dann kommt es zu ganz anderen Aushandlungen
über das, was unsere Kultur ausmachen soll. Die Landkarte
unserer Kultur wird schneller als bislang bekannt in Bewegung
kommen, die Kontinente werden sich schneller als zuvor ver-
schieben und zugleich wird der Bedarf wachsen, festes Ufer zu

215
haben. 2015 sind mehr als eine Million englische Neuerschei-
nungen publiziert worden. Von solchen Lesekontinenten wuss-
te keine Zeit vor der unseren. Lesen im digitalen Zeitalter ist
also in einer nie gekannten Breite und Tiefe möglich. Die
‚neuen Alexandriner‘ haben viel zu tun.
Das alles irritiert die etablierte Literaturkritik nicht eigent-
lich, vielmehr beklagt sie wie gewohnt und wortreich ihre ab-
nehmende Bedeutung, füllt damit nicht nur immer neue lite-
raturkritische Zeitschriften, sondern auch Fernsehformate in
wachsender Zahl. Die Literaturbeilagen der Zeitungen wachsen
und kein Rückgang der belletristischen Besprechungen ist zu
verzeichnen, so sehr er auch behauptet wird. Längere Rezen-
sionen sind unverändert beliebt, wie eine kleine Studie am Bei-
spiel der Süddeutschen Zeitung gezeigt hat. 78 Noch viel mehr
Rezensionswesen, ausgedehnte und unbekannte Lesekontinen-
te und ein schmaler Kanon der Klassiker, das alles gehört zu
den Gleichzeitigkeiten des vermeintlich Ungleichzeitigen. Ver-
lage werden sich Zeit kaufen, um ihre Geschäftsmodelle um-
zustellen und werden nicht nur in Deutschland gute Traditio-
nen wie die Buchpreisbindung noch lange verteidigen können.
Harte Kopierschutzverfahren für Bücher werden langsam auf-
geweicht werden. Noch länger wird es freilich dauern, bis man
ein elektronisches Buch ebenso leicht mit anderen teilen kann
wie ein gedrucktes. Dass noch in Einheiten fester Endgeräte
gedacht und das rechtlich den Rahmen setzt, ist ebenso über-
flüssig wie es beharrlich kultiviert wird. Wir werden noch lan-
ge bestimmte Filme nur dann sehen dürfen, wenn sich unser
Computer an dieser und nicht jener geographischen Stelle be-
findet, es sei denn, wir sind klug genug, unseren tatsächlichen
Standort zu verschleiern. Videofilmer müssen immer noch für
jedes Musikstück, das sie zur Unterlegung ihrer Filme nutzen,
die Rechte abfragen, obwohl selbst die größte Musikfirma der
Welt, Universal Music Group, nicht in der Lage wäre, die tat-
sächlichen Anfragen von Millionen Filmautoren abzuarbeiten.
Die Konzentration auf drei Firmen – das sind Universal Music
Group, Warner Music Group und Sony Music Entertainment –

216
die sich mehr als 70 Prozent des Weltmarkts für Musik auf-
teilen, sind bislang nur an den Kartellbehörden gescheitert,
um ihre Marktmacht weiter auszubauen. Das steht dem flie-
genden Wechsel zwischen den Medien, den Autoren und Le-
sern, den Autorenlesern ärgerlich im Wege. Viele Anwälte wer-
den daran noch ihr schlechtes Geld verdienen. Im alten
Alexandria hatte man alle Schriften eines neu eingelaufenen
Schiffes beschlagnahmt und abgeschrieben, wenn diese noch
nicht in der Bibliothek vorhanden waren. Das Schiff bekam
dann die Abschrift zurück, das Original blieb im Alexandria,
so geht die Fama. Vielleicht braucht es solche und ähnliche
Methoden, um die Weltbibliothek der Gegenwart zu errichten,
die dann in jedermanns Tasche passt. Aber noch ist selbst Goo-
gle an dieser Aufgabe der Schaffung einer Weltbibliothek bis-
lang gescheitert. 79
Wahrscheinlich werden sich schon bald wie im Musik-
markt so auch auf dem Buchmarkt streaming-ähnliche Model-
le durchsetzen, die es erlauben werden, den Lesestoff für die
nächsten Wochen so einfach auszuwählen und zu bezahlen
wie das mit Filmen und Musik schon möglich ist. Weil das
technisch und logistisch alles aufwendig ist, wird die Oligopol-
bildung auch im Verlagsmarkt die kleinen und mittleren Ver-
lage bedrohen und sich die Verdichtung auch im Buchhandel
fortsetzen. Nur die großen schaffen es, selbst Serverfarmen auf-
zustellen und die digitalen Ausgabeformate ansteuern zu kön-
nen. Es sei denn, es gelingt der Aufbau einer so flexiblen digi-
talen Infrastruktur, dass sich jeder Espresso Book Shop in das
Netz der Leser und Autoren einhängen könnte. Davon sind wir
derzeit noch ein gutes Stück entfernt.
Die Welt der schönen Literatur wird manche neuen For-
men ausprobieren, schon weil sich Stile und Figuren mit der
Gesellschaft wandeln. Neue Helden, besonders Heldinnen rü-
cken nach vorne, Frauenfiguren wie in Margaret Atwoods dys-
topischem Report der Magd nicht anders als die Schrottsamm-
lerin Rey in einem der jüngeren der Star Wars-Filme. Comic-
Helden werden oder sind schon länger nachdenklich und

217
durchlaufen eine Bildungsgeschichte wie einst Wilhelm Meis-
ter. Avantgardistische Romane, die sich nicht einmal mehr dru-
cken lassen, kommen hinzu. Aber an der Dominanz des Ro-
mans und der Fortentwicklung vieler längst etablierter
Erzählmuster wird das wenig ändern. Gedichte laden immer
noch zu Selbstreflexion ein und Dramen versuchen ihr Publi-
kum zurückzugewinnen, das sie irgendwo zwischen den Nach-
kriegsjahren und dem Ende des 20. Jahrhunderts verloren ha-
ben, nachdem sie so lange eine diskursbestimmende Macht
waren. Das Spiel mit neuen Formen wird nicht einer ganz an-
deren Literatur Bahn brechen. Die Geschichten ändern sich
nur langsam. Die ein oder andere neue Figur kommt dazu,
getrennte Gattungen werden zu neuen vermischt. Geändert
hat sich schon länger, dass Gewalt- und Sex-Darstellungen ex-
pliziter geworden sind. Das hat das Internet nicht erst erfun-
den, sondern ist ein schon viel längerer literaturhistorischer
Prozess, der an Skandalgeschichten um Henry Millers Wende-
kreis des Steinbocks von 1939 oder dem Aufstieg der Kriminal-
literatur und Thriller festgemacht werden kann. Freilich könn-
te das Internet diesen Prozess noch einmal antreiben, denn wir
wissen aus Untersuchungen über den sich wandelnden Musik-
stil, dass Songs schneller Aufmerksamkeit auf sich lenken müs-
sen und etwa langsame Einleitungen von Liedern signifikant
kürzer werden. 80 Die Ökonomie der Aufmerksamkeit zwingt
Musiker und Autoren dazu, das Interesse auf ihre Werke inner-
halb kurzer Zeit zu lenken. Sich die Stirn bei einer Lesung auf-
zuritzen, wie Rainald Goetz 1983 vor laufender Kamera wäh-
rend einer Lesung beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-
Preises getan hat, reicht da nicht. Die digitale Aufmerksam-
keitsökonomie hat weit mehr Konkurrenten um das eigene
Werk als noch 1983. Die Welt ist schon lange nicht mehr so
schön sortiert wie noch in den Zeiten des Ingeborg-Bach-
mann-Wettbewerbs oder gar der Sitzungen der Gruppe 47.
Auch die Buchwelt ist popindustriell organisiert. Entsprechend
versuchen die Texte die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Gewalt und Sex sind da probate Mittel. Derzeit stehen Unter-

218
suchungen zum Einfluss der Aufmerksamkeitsökonomie auf
die Literatur noch aus. Meine Hypothese dazu wäre jedenfalls,
dass die Verknappung der Zeit für ein hochkonzentriertes und
aufmerksames Tun auch vor der Lesewelt nicht Halt gemacht
hat und die Konkurrenz um diese Ressource zunimmt.
Dennoch kann man vermuten, dass die Literatur damit kei-
ne ganz andere geworden ist, die man ihren Lesern erst er-
klären müsste, auch wenn es die ein oder anderen avantgardis-
tischen Formen auch gibt. Eher muss man zu dem Schluss
kommen, dass die explosionsartig angewachsene Zahl der
Autoren und Bücher, Gattungen und Genres, der Reichtum,
mit dem Literatur geteilt wird und sich neue Leser finden, mit
einem Konservativismus der Formen einhergeht. Wo sich fast
alles ändert, bleibt gerade die belletristische Literatur gleich,
egal ob sie als gedruckter Jane Austen-Roman gelesen oder
auf Twitter neu erzählt wird. Die Erzählformen sind einander
verblüffend ähnlich und werden das auch noch lange bleiben,
es sei denn die 3D-Simulationen erreichen einen solchen Grad
der Handhabbarkeit, dass selbst das Geschichtenerzählen ein
anderes werden könnte. Aber hier müssen wir wohl noch auf
die Zukunft warten, die nächsten drei bis fünf Jahre also.
Wenn das alles so in etwa zutrifft, dann wundert es auch
nicht, dass die digitale Revolution so unmerklich in den Lite-
raturbetrieb einwandert und keine große Notiz von ihr ge-
nommen wird. Wer zählt schon den Anstieg der vielen neuen
Autorinnen und Autoren, wenn deren Bücher gar nicht die
Aufmerksamkeit des etablierten Betriebs finden und in keiner
Buchhandelsstatistik auftauchen. Und doch sind sie da, ihre
vielen Texte, ihre anderen Formate und ihre ähnlichen For-
men. Autorschaft ist nicht mehr der bildungsheroische Aus-
nahmefall; Statuen braucht man ihnen nicht mehr zu errichten
und wird es wohl auch nicht tun. Die kleine Gruppe, die sich
unter dem Titel Gruppe 47 den Literaturmarkt der Bundes-
republik nach dem Krieg aufgeteilt hat, ist schon länger Ge-
schichte und prägt doch noch in vielen ihrer Ausläufer den
Literaturbetrieb hierzulande. Ihr gelingt es immer noch die

219
öffentlichen Debatten zu bestimmen und ein Urheberrecht
hochzuhalten, dass solche Prinzipien wie das Leseplatz-Prinzip
durchsetzt, das uns vorschreibt, bestimmte Inhalte nur an
diesem Computer in dieser Bibliothek lesen zu dürfen. Im
Zeitalter des Internets ist das liebenswürdig altmodisch den
einen, den anderen ein Ärgernis. Aber notwendig – wie viel-
leicht einst – ist das alles nicht mehr. Literaturhäuser sind Orte
für die Hochliteratur, aber erst seit jüngerem auch Schreib-
werkstätten für die neuen Autorenleser-Kritiker-Verleger. Ver-
anstaltungen zu den partizipativen Lese- und Schreibformen
muss man immer noch suchen. Wir dürfen wohl noch viel
Kulturkritik von den etablierten Vertretern des Literatur-
betriebs zu lesen bekommen, die uns erklären, warum es gera-
de ihrer bedarf, damit Autoren, Bücher und Leser zusammen-
finden. Das ist nicht ganz falsch und eben Teil des Betriebs, der
gut läuft, aber immer mehr zu einem Sektor einer längst viel-
fältigen Welt der Literatur geworden ist. Kuratoren für Lese-
empfehlungen gibt es auf Goodreads ebenso wie in der FAZ,
bei Amazon wie bei der NZZ. Algorithmen werden die
menschlichen Kuratoren nicht ersetzen. Beides läuft schon jetzt
ineinander. 81 Viele wissen darum, aber es zu ignorieren, fördert
derzeit noch den eigenen Status. Tatsächlich ist Autorleser-
schaft schon der Normalfall geworden wie einst Italienreisen
von der Kavalierstour zum Urlaub für jedermann geworden
sind. Die Literatur braucht keinen Sockel mehr, um gelesen
und geschrieben zu werden. Einige werden diese Entwicklung
der Dekanonisierung eine Demokratisierung des Literatur-
betriebs nennen und haben damit nicht ganz Unrecht. Über
Literatur mag man vielleicht nicht abstimmen können, aber
an ihr besser teilhaben zu können, das ist wohl möglich. Das
ist der neue Alexandrinismus.
Die digitale Ökonomie, einst gescholten, nichts zur Kunst
beitragen zu können als vielleicht ein paar avantgardistische
Experimente, hat nicht zufällig in den letzten Jahren unzählige
kreative Karrieren entstehen lassen, weil es nicht viel kostet,
ein Tonstudio für seine eigene Musik digital zu betreiben, einen

220
Film zu machen und eben auch ein Buch zu schreiben. Das
amerikanische Arbeitsamt meldet denn auch, dass die Zahl
der Beschäftigten in der kreativen Industrie moderat gegen-
über den 90er-Jahren gestiegen sei, und dass die Lohnanstiege
hier höher seien als in vielen anderen Berufszweigen. Noch
stärker sei die Zahl der unabhängigen Künstler und Autoren
gewachsen, konstatiert der Ökonomische Zensus für die Ver-
einigten Staaten. 82 Noch nie standen Künstlern so viele Forma-
te, soviel Sendezeit, soviel Leserschaft zur Verfügung. Die Mu-
sik für Breaking Bad geschrieben zu haben, kann einen
Komponisten reich machen und die Fachfrau für Dialoge zur
Millionärin. Nie war es so einfach, sich mit einem kleinen Ge-
rät in diese Welt einzubringen. Um Künstler zu sein, muss man
nicht mehr in unbeheizten Dachwohnungen über eiskalte
Händchen Arien singen. Das Potential für die Künste ist ge-
wachsen und es wird noch mehr wachsen, wenn uns Roboter
das Schreiben langweiliger Geschäftsberichte und nervender E-
Mails abnehmen. Sehr viel mehr Autoren, noch mehr Bücher
in allen möglichen Formaten und so viele Leser, das charakte-
risiert das Lesen im alexandrinischen Zeitalter. Die kulturelle
Vergesellschaftung, die irgendwann im 19. Jahrhundert begon-
nen hat, sie ist längst noch nicht zu Ende. Im digitalen Alexan-
drien kommen jeden Tag neue Schiffe an.

221
8. Die digitale Verbürgerlichung
des Lesens

Die digitale Revolution ist so einfach wie das Naseputzen. Wir


haben einst gelernt, wie Revolutionen auszusehen haben und
suchen jetzt die Barrikaden, den Rauch der Kämpfe und die
ideologischen Formeln für die Legitimation neuer Verhältnisse.
Wenig davon ist zu sehen und kaum etwas davon ist zu hören.
Die Revolution in der Sache des Lesens kommt mit solcher
Leichtigkeit daher, weil das Digitale die eigentümliche Fähig-
keit hat, die ihm vorausgehenden Formen in sich aufzunehmen
und weiterzuführen. Die alten Geschichten werden in neuer
Fassung, aber doch kaum verändert noch einmal erzählt. Auch
die Bücher gibt es noch, die Autoren, Verlage, Buchhandlun-
gen und die Leser, als hätte sich nichts geändert. Aber Bücher,
ihre Leser und ihre Autoren sind nun in digitalen Formaten
zusammengeschaltet und darum andere geworden. Das sieht
man dem einzelnen Buch nicht an. Das Lesen erfolgt immer
noch mit Augen, Herz und Verstand. Die Geschichten, die wir
teilen, entsprechen daher unverändert vertrauten Mustern.
Auch die Zöpfe der Kulturkritik können immer noch weiter
geflochten werden. Nichts scheint sich geändert zu haben und
doch fast alles.
Die Veränderungen, die in der Internetwelt mit so un-
scheinbaren Codewörtern wie ‚Shift‘ bezeichnet werden, be-
treffen die leichtfüßige Revolutionierung der Verhältnisse, mit
denen wir uns als digitale Gesellschaft beobachten. Man kann
von dieser Revolution der Leseverhältnisse verschiedene Vari-
anten erzählen. Die gängigsten sind die vom Ende des Buchs

222
und des Lesens. In den vorausgehenden Kapiteln habe ich ge-
rade nicht dieses dunkle Lied vom Ende gesungen, sondern ein
helleres von der Zukunft des Lesens. Die zuversichtliche
Bewertung des Lesens in der digitalen Gesellschaft hat viele
Argumente für sich, die in der aufgeregten Diskussion nur zu
oft verloren gehen und die ich hier zusammengetragen habe,
letztlich in der Absicht, den Debatten eine andere Richtung zu
geben.
Aber noch aus einem anderen Grund lohnt es sich, nicht
nur vom Unbehagen in der digitalen Kultur zu reden, sondern
von den Chancen der Kultur im digitalen Zeitalter: Wer die
helle Seite der digitalen Transformation sieht, der glaubt eher
daran, die Zukunft von Buch und Lesen verändern zu können.
Es ist eine einfache psychologische Tatsache, dass die Neigung,
negativen Nachrichten mehr Glauben zu schenken als positi-
ven, uns vom Zutrauen in unsere eigene Handlungsmächtig-
keit abhält. Wer glaubt, der Hunger in der Welt werde wegen
einer ungebremst ansteigenden Weltbevölkerung immer wei-
terwachsen, wird kaum ermutigt sein, etwas dagegen zu tun.
Wer dagegen weiß, dass sich in den letzten zwei Jahrzehnten
die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen mehr als
halbiert hat und die Weltbevölkerung bereits auf dem Weg ist,
wieder zu schrumpfen, fühlt sich bestärkt, etwas gegen den
Hunger zu unternehmen. So ist es auch in Sachen Digitalisie-
rung. Während die Soziologie noch darüber nachsinnt, ob
denn der Einzelne noch in einer Weltgesellschaft Handlungs-
macht besitze, haben so unterschiedliche Leute wie der Ama-
zon-Gründer Jeff Bezos oder der Gründer von Wattpad Allen
Lau so etwas wie eine Weltgesellschaft der Leser hergestellt,
wenn auch nicht immer nach Regeln, die uns gefallen. Andere
wie etwa Evan Williams haben algorithmische Konzepte für
Blogs entwickelt, Podcast erfunden und eine Zeitlang Twitter
geleitet. 2012 hat Williams Medium gegründet, die Plattform
für intelligenten Sozial-Journalismus, die etwa der ehemalige
amerikanische Präsident Barack Obama nutzt, Black Lives
Matter-Aktivisten oder auch professionelle Autoren und Laien

223
verwenden. Auch wenn den scheuen Evan Williams nur weni-
ge kennen, die Welt hat er für Millionen verändert. Mit seinen
digitalen Erfindungen erschreiben Millionen Menschen eine
andere Gesellschaft. Sie sind zu Akteuren geworden. Kein Zu-
fall, dass diktatorische Staaten Medium where words matter ab-
zuschalten versuchen. Williams ist dabei nur einer der Köpfe,
die die digitale Gesellschaft voranbringen und das so selbstver-
ständlich, als könne es nicht anders sein. Andere wie der Com-
puterspezialist Moxie Marlinspike entwickeln die Verschlüsse-
lungs-Software Signal weiter, um dort alle Nachrichten für
Außenstehende so gut wie unlesbar zu machen. Williams und
Marlinspike sind getrieben von der Sorge um die Unabhängig-
keit des Netzes und sie wissen um die Verletzlichkeit einer of-
fen lesenden und schreibenden Weltgesellschaft. Ihren Daten-
modellen und Algorithmen ist diese Sorge ganz wörtlich
eingeschrieben. Ihre Arbeit an der digitalen Gesellschaft illus-
triert, wieviel möglich ist, wenn man die digitale Gesellschaft
als zu gestaltende Aufgabe begreift.
Beide sind sie mit ihren Konzepten und Ideen so erfolg-
reich, weil moderne Gesellschaften mehr auf die Selbstbeob-
achtung angewiesen sind als frühere Gesellschaften. Twitter,
Medium oder Signal passen sich so rasant als Selbstbeobach-
tungsmaschinen in unsere digitale Gesellschaft ein. Erst das
Ineinander von technischem Einfallsreichtum und gesellschaft-
lichem Modernisierungsbedarf macht die digitale Revolution
zu einer so selbstverständlichen Sache. Manche Theoretiker
sprechen daher auch von einer ‚post-digitalen‘ Gesellschaft,
weil es zu dieser digitalen Gesellschaft kein Außen gibt, keine
nicht-digitale Gesellschaft. 1 Alles wird digital und das mit
grösster Selbstverständlichkeit.
Man kann also die Geschichte vom Ende von Buch und
Lesen umgekehrt als Geschichte vom Anfang des neuen Lesens
neuer Bücher erzählen. Moderne Gesellschaften haben mehr
Leser und mehr Formen des Lesens als alle früheren Gesell-
schaften. Lesen stirbt weder aus noch verschwinden die Bü-
cher. Die digitale Transformation verwandelt vielmehr jedes

224
Buch in eine Datei und jeden Leserkommentar in Daten. Wer
schreibt, schreibt zunächst kein Buch, sondern eine Datei. Die
kann ungemein leicht geteilt werden, in andere Formate trans-
formiert oder mit anderen Medien verknüpft und in die ganze
Welt versendet werden. Die Datei ist nicht mehr an ihren Trä-
ger, das Buch, gebunden. Sie kann vervielfältigt in Foren für
Fanfiction geteilt, besprochen und umgeschrieben oder in
einem Selbstverlag für 99 Cent zum Download angeboten wer-
den. Die Datei kann auf einem Blog Leser in ganz anderen
Regionen der Welt finden als je gedacht. Manche Leser werden
ihren Autoren wie Musikfans folgen, andere kritische Ideen
entwickeln und weiterverbreiten, andere nutzen die Geschich-
ten zur Vorlage für das eigene Schreiben, wieder andere wer-
den die Geschichte in ein anderes Genre übersetzen – eine
Explosion an Kreativität. Viele aber werden nur lesen, immer-
siv lesen und sich von der Geschichte tragen lassen. Immersive
Verbürgerlichung kann man das nennen, jener Grundvorgang
seit dem 19. Jahrhundert, in dessen Verlauf sich die bürger-
liche, offene und nicht mehr ständisch verregelte Gesellschaft
ganz wesentlich durch das Lesen konstituiert hat. Moderne Ge-
sellschaften brauchen die Selbstbeobachtung des Lesens. Wir
wissen, wer wir als Gesellschaft wie als Individuum sind, ge-
rade auch durch das Lesen. Und das gilt unverändert für das
digitale Zeitalter. Verändert hat sich hingegen, dass nicht mehr
das Buch, sondern die vielen Erscheinungsformen dessen, was
man Buch genannt hat, die moderne Vergesellschaftung voran-
treibt. Für die gegenteilige These, wie sie etwa der Medien-
theoretiker Marshall McLuhan vertreten hat, dass die neuen
Medien die Individualisierung der Lebensverläufe auflösen
und eine Retribalisierung der Gesellschaft zur Folge haben
würde, 2 gibt es meines Erachtens keine sozialwissenschaft-
lichen Belege. Das Buch als digitale Datei hat die notwendige
Freiheit, fast alles werden zu können und treibt die immersive
Verbürgerlichung der Gesellschaft weiter voran. Die Bedingun-
gen dafür sind günstig, der Hunger nach Geschichten ist ge-
blieben, das moderne, selbstvergessene Lesen ist gewachsen

225
und die Formate, die Bücher annehmen können, sind mehr
geworden. Wir können mehr denn je Leser sein.
Dass damit die Chancen für eine Verbürgerlichung auch
der Digitalisierung selbst nicht so schlecht stehen, wie es vielen
erscheint, liegt an der Eigenart der Digitalisierung, ihrer
Leichtfüßigkeit, unsere Leseverhältnisse umbauen zu können,
indem sie die bisherigen Medien integriert. Das sehen wir
zumeist deshalb nicht, weil Debatten um Leseverfall und Fa-
ke-News mehr kulturkritischen Staub aufwirbeln und es so
scheint, als ginge es um einen Verdrängungswettbewerb zwi-
schen etablierten und neuen Medien. Aber Bücher sterben
nicht, nur weil nicht mehr alle auf Papier gedruckt sind, und
die etablierten Zeitungen und Rundfunkanstalten sind immer
noch die wichtigste Informationsquelle in fast allen Ländern,
wenn auch nicht für alle gesellschaftlichen Gruppen. Aber das
waren sie auch nie. Heute sind sie alle auch im Internet präsent
und dort vielfach erfolgreich, wenn auch nicht alle. Der Digital
News Report des in London ansässigen Reuters Institute ver-
weisen wiederholt darauf, dass herkömmliche Medien eine
stärkere Wirkung auf die Meinungsbildung der Menschen
haben als im Internet gestreute Fake-News, und gerade dann,
wenn sie auch als Podcasts und in anderen Formaten lesbar
und hörbar sind. 3 Wie überschätzt die Wirkung von Fake-
News sind, kann dabei gar nicht genug wiederholt werden,
wie das Beispiel der Midterm-Wahlen 2018 in den USA gezeigt
hat. Dort hatte nur ein sehr kleiner Teil von US-Wählern tat-
sächlich Kontakt zu Fake-News-Seiten, die von ganz wenigen
Supersharern lanciert werden, wie die dazu bislang umfas-
sendste Untersuchung gezeigt hat. 4 Wer also lange im Nach-
richten-Geschäft ist und über die Jahre nicht allzu viel falsch
gemacht hat, dem wird weiterhin vertraut, wenn auch mit teil-
weise erheblichen nationalen Unterschieden, die nichts mit der
Digitalisierung, aber viel mit der politischen Ordnung der Ge-
sellschaft zu tun haben. Eine der wichtigsten Quellen für
Falschmeldung in den USA ist schließlich derzeit das Weiße
Haus selbst.

226
Eine hellere Geschichte von Buch und Lesen zu erzählen,
hat auch ein historisches Argument auf seiner Seite. Die Ver-
vielfältigung der Medien und ihrer Formate und die Erleichte-
rung des Zugangs zu Informationen hängt eng mit der Entste-
hung offener Gesellschaften zusammen. Keine Amerikanische
und keine Französische Revolution ohne Vervielfältigung der
medialen Möglichkeiten, so kann man die buchgeschichtliche
Forschung Robert Darntons und anderer zusammenfassen. 5
Die moderne Gesellschaft ist über die Bücher und Zeitungen,
über die Kaffeehäuser und Briefnetzwerke, die Schulen und
Universitäten, die Erfindungen und Erkenntnisfortschritte er-
kämpft worden. Das hat immer mit dem Teilen von Informa-
tionen, Wissen und Ideen zu tun, auch wenn keine dieser Re-
volutionen über Nacht kam, auch nicht die industriellen
Revolutionen. Wenn es heute im großen Lesesaal Internet kei-
ne so festen Bücherregale und Zeitungskioske mehr gibt, die
man nur abzulaufen hätte, um das richtige Buch zu finden
und die qualitätsvolle Zeitung aufzuschlagen, und Bücher oder
Nachrichten dort alle möglichen Formen annehmen können,
dann ist das erst einmal eine sehr gute Nachricht, wenn sie
auch mit einem erhöhten Orientierungsbedarf einher geht.
Unübersichtlichkeit ist für moderne Gesellschaften unvermeid-
lich, ihre Vielfalt und Widersprüchlichkeit ist dabei aber
schwierig auszuhalten. Wenn sich jeder und das jederzeit zu
Wort melden kann, sieht die digitale Gesellschaft von jedem
ihrer Teile immer etwas anders aus. Gleichförmig wie vor-
moderne Gesellschaft, in denen oben und unten, richtig und
falsch von überall gesehen etwas sehr Ähnliches meint, sind
moderne Gesellschaften gerade nicht. Die Vervielfältigung des
Lesens trägt daher zur Komplexitätssteigerung von Gesell-
schaften bei. Erfahrungen des Orientierungsverlusts machen
daher viele und entwickeln kulturkritische Ordnungsphan-
tasien, die die Gesellschaft wieder überschaubar machen sollen.
Das gute Buch, zentrale Instanzen der Literaturkritik und kul-
tivierte Verlage sollen das Lesen ordnen und nur die richtigen
zu Wort kommen lassen, so dass die Gesellschaft für alle mög-

227
lichst gleich aussieht. Aber das sind Phantasien, denen nach-
zuhängen sich nicht lohnt, jedenfalls dann nicht, wenn man
die Modernität von Gesellschaft gestalten will.
Modernität auszuhalten, die vielen Bücher und weniger
zentrale geregelten Wege ihrer Entstehung, die verschiedenen
Weisen des Lesens vom selbstvergessene Lesen über das in-
formationsorientierte-instrumentelle Lesen, das ästhetisch-ex-
pressive Lesen bis hin zum religiös-philosophisch nachdenk-
lichen Lesen, das ist die Herausforderung an uns. Begrenzt ist
dabei nur unsere Zeit und damit unsere Aufmerksamkeit. Zu-
sammengenommen ist das alles irritierend vielstimmig und
verlangt uns die Fähigkeit ab, zwischen den verschiedenen
Weisen des Lesens hin und her wechseln zu können, dabei die
Übersicht nicht zu verlieren und zu wissen, was und wem wir
unsere immer begrenzte Aufmerksamkeit schenken.
Damit das gelingt, gibt es Regeln. Solche Regeln des ge-
lingenden Lesens sind nicht ganz neu. Es ist vor allem die
schlichte Regel des Maßhaltens. Das klingt zunächst sehr ein-
fach. Maßvoll mit den Stunden vor dem Bildschirm umzuge-
hen, gleich ob vor dem Computer oder dem Fernseher, erhöht
die Lebenszufriedenheit. Schon nur etwas Lebensklugheit sagt
einem, dass man sich nicht ständig sozial aufregen sollte, zu-
mal vor dem Schlafengehen. Smartphones dafür zu verwenden,
ist unklug wie es schon unklug war, den Abend mit einem
belastenden Telefonat zu beenden oder mit einem persönlich
nahegehenden Brief. Das alles hat wenig mit Smartphones zu
tun, viel mit simpler Lebensweisheit. Die bislang umfang-
reichste Studie über den Zusammenhang von Lebenszufrieden-
heit und Mediennutzung mit mehr als 120 000 jugendlichen
Teilnehmern zeigt, dass ein moderater Umgang mit den Zeiten
vor dem Bildschirm die Lebenszufriedenheit erhöht. 6 Bild-
schirmzeit ist nicht für alle gleich. Binge-Watching oder LAN-
Parties können auch einmal Freude machen, nur eben nicht
auf Dauer. Das alles galt auch schon für das Lesen von Bü-
chern. Auch damals konnte es wunderbar sein, wenn man
selbstvergessen die Tage mit Lesen verstreichen lassen konnte.

228
Auf Dauer ist das dann aber keine erstrebenswerte Lebens-
form. Moderat und dem jeweiligen Zwecke angemessen mit
Büchern und Bildschirmen umzugehen, ist also unverändert
anzuraten.
Ich habe versucht zu zeigen, wie irreführend die Gemein-
plätze vom Schwinden des Buchs und des Lesens sind und dass
die Jugend weder verkommt noch verdummt. Sie liest und
schreibt sehr wohl und das in einer Zahl und Vielfältigkeit,
für die sie frühere Jahrhunderte beneidet hätten. Die Verände-
rungen, die das Lesen in einer digitalen Gesellschaft mit sich
bringt, sind gleichwohl nicht zu übersehen und können etwas
zugespitzt so zusammengefasst werden: Green statt Grass,
Netzbetrieb statt Literaturbetrieb, statt Buchstabenlesen Ein-
treten in die Geschichten. Um es etwas ausführlicher zu er-
läutern: Die digitale Revolution entmachtet zum einen die
Großautoren, denn sie stellt Formate bereit, die es jedermann
erlauben, mehr oder minder gute Geschichten zu erzählen und
dafür Leser zu gewinnen. Schon die Zahl der digitalen Ge-
schichtenerzähler ist so groß, dass es die kleine Schar der
Großautoren noch im Feuilleton, nicht aber mehr unbedingt
in der Wahrnehmung der Leser gibt. Das ist kein ganz neuer
Prozess. Man kann ich ihn schon im 19. Jahrhundert beobach-
ten, als viele angefangen haben Novellen zu schreiben und Ge-
dichte zu verfassen. Sie waren auch damals schon den etablier-
ten Instanzen des Kulturbetriebs keiner Beachtung wert.
Umfang und Geschwindigkeit dieser Ästhetisierung unserer
Lebenswelt aber wird zunehmen, damit die Heterogenität und
Unübersichtlichkeit auch der Lesewelten. Diese Veränderung
schließt die Herausbildung eines Starkults mit ein. Die pop-
industrielle Verwertung einer Dichterin wie Rupi Kaur gehört
zu dieser Demokratisierung des Lesens dazu, denn unsere an-
geborene Neigung, die Mitmenschen nach ihren unterschied-
lichen Fähigkeiten zu taxieren und dem irgendwie Besonderen
erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken, wird nicht verschwin-
den. Aber unsere Aufmerksamkeit gilt nicht mehr allein den
Deutern des seltenen Sinns, nicht zuerst Günter Grass, sondern

229
John Green, weil er die vielen digitalen Sprachen spricht und
zwischen den Erzählweisen der digitalen Welt wechseln kann.
Sein Publikum besteht aus vielen Publika, von denen das des
Literaturbetriebs nur eines ist. Die besten Geschichten erzählen
nicht mehr zwingend die etablieren Schriftsteller, sondern
schon heute die John Greens und David Simons. Simon ist
der Autor der über sechs Jahre lang erzählten Serie The Wire.
Allein dieser Umstand verknüpft das Buch mit Freiheit. Mit
Buch meine ich das Buch im digitalen Ökosystem. Erst in die-
ser digitalen Ökologie finden sich Autoren, Bücher und Leser
vergleichsweise frei und irritierend unvorhersehbar zusammen.
Das führt zu einer zweiten Transformation im digitalen
Zeitalter zurück, dem Umstand, dass digitale Daten anders als
andere Güter getauscht werden können. Sie werden nicht we-
niger, wenn sie geteilt werden. Die Videoblogs von John Green
werden nicht durch Millionen seiner Zuschauer abgenutzt. Es
muss nichts nachgedruckt werden, wenn ein Kindle-Autor sie-
benstellige Leserzahlen erreicht. Keine Leserbriefe müssen aus-
sortiert werden, wenn die Kommentare über neue Kapitel in
Fanfiction-Foren sehr viele werden. Daten gehen, wenn man
einmal von dem enormen Strombedarf absieht, leichthändig
hin und her. Eine digitale Allmende ist möglich, und wird auf
so unterschiedlichen Foren wie Wattpad oder Instapoesie
schon praktiziert. Eine Netzwerkgesellschaft ist kein Ding der
Unmöglichkeit, auch in Sachen Lesen. Es spricht daher meines
Erachtens viel dafür, dass der Literaturbetrieb, wie wir ihn ken-
nen, nur ein Teil eines sehr viel größeren und flacheren Netz-
betriebs sein wird und wohl schon vielfach längst ist. Kein Zu-
fall, dass Wattpad-Gründer Allen Lau in seinem Masterplan
2016 angekündigt hat, einen Verlag Wattpad Books zu grün-
den, den ersten Verlag, den die Lesewelt nicht mehr nur auf
die Entscheidung von Lektoren, sondern auf die „Story DNA
Machine Learning Technology“ gründen wird. 7 Die daten-
getriebene Unterstützung der Verlagsentscheidungen sind die
logische Konsequenz der immer dichteren Verfugung von
Schreiben, Veröffentlichen und Lesen, die unübersichtlich

230
komplex zueinander finden müssen. Wenn zwischen den Me-
dien so leicht gewechselt wird, wie zu erwarten steht, dann gibt
es keinen Grund, warum nur das Buch die beste Geschichte
erzählen kann und nur im Feuilleton die sachkundigste Be-
sprechung stehen soll. Es gibt ganze Kontinente anderer Lese-
welten und auch dort leben Leser.
Vielleicht aber ist Lesen nicht ganz die richtige Bezeich-
nung für das, was wir da tun. Und damit bin ich bei meinem
dritten Punkt. Wir werden wohl schneller als bisher zwischen
den Medienformaten wechseln und uns mit unseren Büchern
unterhalten, sie mit unseren eigenen Geschichten verweben
und weitererzählen. Wie, dafür gibt es längst genug Formen
und Formate, neue kommen jeden Tag hinzu. Schon jetzt
braucht es keine außerordentliche technische Kunstfertigkeit,
um damit zu beginnen, eine Geschichte zu lesen und sie weiter
zu schreiben. Sehr viele tun das jeden Tag und bringen dabei
ihre eigene Geschichte mehr oder minder mit ein. Vielleicht
aber will ich nur mit meinen Hauptfiguren über deren oder
meine Sorgen und Hoffnungen reden. Dann kann ich auch
das tun. Vielleicht sind wir auch kurz davor, in Geschichten
geradezu wörtlich eintreten zu können, sozusagen eine Immer-
sion hoch zwei. Das hat man sich wie eine Holoportation in die
erfundenen Welten vorzustellen, etwa so wie Harry Potter beim
Gang durch das Denkarium. Die Grenze zwischen erfundenen
und realen Welten wird deshalb nicht eingerissen werden. Sie
ist für uns viel zu wichtig. Entgegen der Klagen im Jargon der
analogen Eigentlichkeit wird das immersive Lesen daher zu-
nehmen, schon weil es für jeden Geschichtenhungrigen so fas-
zinierende Möglichkeiten gibt, Geschichten in Szene zu setzen
und sich in ihnen zu verlieren. Geschichten können, müssen
aber nicht allein in Buchstaben gedruckt sein, um uns für sie
zu gewinnen. Wahrscheinlicher ist, dass die verschiedenen For-
mate der Buchstaben, der Bilder und der Filme ineinander so
leicht zu übersetzen sein werden, weil sie alle Teil einer digita-
len Kette sind. Die Revolution in Lesedingen geschieht in dem
selbstverständlichen Wechsel zwischen den vielen Formaten

231
und Lesestrategien in einer zur Weltgesellschaft angewachse-
nen digitalen Umwelt. Gute Leser zeichnen sich dadurch aus,
besonders behänd zwischen den Modi des Lesens wechseln zu
können und dabei noch mehr Geschichten aufzunehmen und
fortzuschreiben als Generationen zuvor.
Im neuen Alexandria hängt viel an der gesellschaftlichen
Verhandlung über die Regulierung von Computer und Inter-
net, genauer an der Regulierung, wie die digitale Lesewelt die
analoge integriert. Tritt man einen Moment von den verfahre-
nen Diskussionen der Gegenwart zurück und blickt auf die
Geschichte von Buch und Lesen im 19. und 20. Jahrhundert,
dann wird schnell deutlich, dass damals Buch und Freiheit nur
darum Verbündete geworden sind, weil die Akteure und Insti-
tutionen der Druckwelt deren Industrialisierung für die He-
rausbildung einer nicht mehr feudalen, eben bürgerlichen Ge-
sellschaft genutzt haben. Sie waren ihre Propagandisten. Heute
treten sie zu oft als Bedenkenträger auf, nicht als die Archi-
tekten des Lesens im digitalen Zeitalter. Damals haben die
Baedeker und Brockhaus, dann auch die Rowohlts und Fi-
schers gegen den Mainstream die anderen Bücher und neuen
Schreibweisen zu günstigen Preisen in neuen Druckformaten
herausgebracht und ihr Wirken sehr bewusst in den Dienst
der Verbürgerlichung der Gesellschaft gestellt und ihr Ge-
schäftsmodell darauf gegründet. Die feudalen Strukturen der
Lesewelt des 18. Jahrhunderts haben sie in ihre industrielle
Welt aufgehoben. Schon damals gab es nicht wenige Verlierer
aus der alten Welt. Der Staat hatte der industriellen Druck-
kultur einen Rechtsrahmen gegeben und damit zugleich ein
Widerlager gefunden, was man damals bürgerliche Gesellschaft
zu nennen begonnen hat. Der Vergleich drängt sich auf, dass
auch gegenwärtig die Digitalisierung nur dann mit der Freiheit
zusammengeht, wenn sie Teil der fortgesetzten Verbürger-
lichung wird, die im 18. Jahrhundert begonnen hat. Wenn mei-
ne These stimmt, dass das immersive Lesen heute die moderne
Selbstverständigung noch mehr anleitet als jemals zuvor und
sich dafür mehr Ausdrucksformen suchen wird als jemals zu-

232
vor, dann hängt viel an der Verbürgerlichung und Ästhetisie-
rung der Lebenswelt, an der Frage also, ob die digitalen Lese-
welten die bürgerliche Gesellschaft befördern oder zu ihrer
Fragmentierung beitragen werden.
Verbürgerlichung, das hieße die rechtliche Einhegung der
datenbesitzenden Oligopole voranzubringen, es hieße Routi-
nen, Konventionen und Habitus, was sich gehört, auch im In-
ternet zu etablieren, meint vor allem einander im Umgang mit
den Leseformaten und -strategien zu bilden. Verbürgerlichung
hieße dabei auch, dass durch die Regulierungen das Lesen in
einer immer urbaneren Gesellschaft zu einem Mittel der sozia-
len Integration würde. Was die Kaffeehäuser dem 18. Jahrhun-
dert waren, die Familienblätter dem 19. Jahrhundert und die
Radio- und Fernsehstationen dem 20. Jahrhundert, das muss
das Internet dem 21. Jahrhundert erst noch werden: der Ort
für die individuelle wie die gesellschaftliche Selbstverständi-
gung. In den Bibliotheken rund um den Hafen des neuen Ale-
xandrias werden jeden Tag so viele neue Geschichten ab- und
weitergeschrieben, dass die Regulierung durch den etablierten
Literaturbetrieb nicht ausreicht, um aus den immer neuen
Selbstbeobachtungen der Gesellschaft auch den Kit für eben
diese Gesellschaft zu machen. Denn das Internet ist kein selbst-
regulierender Organismus, sondern von unzähligen Interessen
in sehr verschiedenen Richtungen zugleich gelenkt. Noch ist
nicht immer ausreichend zu erkennen, dass die etablierten In-
stanzen der analogen Welt und die Player der digitalen Welt
zusammengefunden hätten, um der Vielfalt des Lesens gerecht
zu werden. Verbürgerlichung aber hieße, dass bei aller Hetero-
genität und Individualisierung des Lesens die Gemeinsamkeit
im Hunger nach Geschichten erkannt und erfahren wird. Erst
wenn wir bei aller Verschiedenheit unserer Leseerfahrungen
erkennen können, dass wir eine ähnliche Leidenschaft für Ge-
schichten teilen, trägt das Lesen zur Verbürgerlichung unserer
Gesellschaft bei.
Im gegenwärtigen, alexandrinischen Zeitalter werden mehr
Geschichten gelesen denn je, und sie werden intensiver gelesen

233
und dichter miteinander geteilt als jemals zuvor. Das ist als
Ergebnis vielleicht bescheiden und will auch nur so schlicht
festgehalten sein. Es entspricht ganz dem, was die Moderne
ausmacht. Erst seit Rousseau und Goethe glauben wir, ohne
Geschichten nicht auskommen zu können, um zu wissen, wer
wir sind. Geschichten haben die Menschen natürlich schon
länger miteinander geteilt. Aber das Erzählen am Lagerfeuer
dient der Gruppe mehr als dem einzelnen. Zum Freund, der
gerade nur mich versteht, ist das Buch erst spät in der Ge-
schichte des Menschen geworden. Der Hunger nach Geschich-
ten im Zeitalter Homers mag ähnlich sein wie unserer heute.
Aber die Individualisierung des Lesens und damit das Lernen,
dass es soviel mehr Perspektiven auf die Welt gibt als nur die
meinige, das hat erst die moderne Gesellschaft kultiviert. Die
digitale Gesellschaft sollte es fortsetzen.
Die Zukunft hat den Nachteil, notorisch ungewiss zu sein,
und so sind alle Vermutungen, was das digitale Zeitalter noch
für uns bereithält, mehr als vorläufig. Deutlich sollte geworden
sein, dass die digitale Gesellschaft notwendig eine lesende Ge-
sellschaft ist. Ob aus ihrer Dynamik einmal ein ganz anderes
Lesen erwachsen könnte, wissen wir nicht, weil wir uns schon
jetzt anstrengen müssen zu überlegen, wie die Welt eigentlich
vor zehn Jahren ausgesehen hat. Vielleicht geht gerade das
Zeitalter des Buchs, wie wir es kannten, zu Ende. Aber das des
Lesens beginnt erst.

234
Anmerkungen

1. Vom Unbehagen in der digitalen Welt

1 Nicholas Carr, Is Google Making Us Stupid? What the Internet Is


Doing to Our Brains. In: The Atlantic (1. 7. 2008), http://www.
theatlantic.com/magazine/archive/2008/07/is-google-making-us-
stupid/306868/ (letzter Zugriff 22. 5. 2019); vgl. auch Nicholas Carr,
Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn
solange? Wie das Internet unser Denken verändert. Aus dem amerika-
nischen Englisch von Henning Dedekind. München 2011.
2 Anita Singh, E-books Are Damaging Society. In: The Telegraph

(29. 1. 2012), http://www.telegraph.co.uk/culture/hay-festival/90479


81/Jonathan-Franzen-e-books-are-damaging-society.html (letzter
Zugriff 22. 5. 2019).
3 Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines

deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M. 1994.

2. Der Hunger nach Geschichten

1 Wilhelm Hofmann / Kathleen D. Vohs / Roy F. Baumeister, What


People Desire, Feel Conflicted About, and Try to Resist in Everyday
Life. In: Psychological Science 23,6 (2012), 582–588. DOI: https://doi.
org/10.1177%2F0956797612437426 (beschränkter Zugriff).
2 Vgl. Richard Falk, Overdosing on ‚Breaking Bad‘. In: Al Jazeera

(24. 1. 2013), http://www.aljazeera.com/indepth/opinion/2013/01/20


1312313215201302.html (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
3 Vgl. Ernst Halter (Hg.), Heidi – Karriere einer Figur. Zürich 2001.
4 YouTube, Statistiken, http://www.youtube.com/yt/press/de/statis

tics.html (letzter Zugriff 22. 5. 2019).


5 Tweets pro Sekunde, https://2011.twitter.com/de/tps.html (letzter

Zugriff 22. 5. 2019).

235
6 Gary Hayes, personalizemedia. A weblog, http://www.personalize
media.com/garys-social-media-count/ (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
7 John Browning / Spencer Reiss, Encyclopedia of the New Economy.

New York 1998, zitiert nach Peter J. van Baalen / Lars T. Moratis,
Management Education in the Network Economy. Boston 2001, 12.
8 So die Zahlen des Bundesverbandes der deutschen Games-Bran-

che (GAME), https://www.game.de/marktdaten/#Zahlen%20und%


20Fakten (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
9 Neil Postman, The Disappearance of Childhood. New York 1982

[deutsch 1983 und dann vielfach wieder aufgelegt].


10 Johann Wilhelm Bartholomäus Rußwurm, Prognostikon über das

Kirchengehen. In: Mecklenburgisches Journal (August 1805), 81–127,


hier 91, zitiert nach Holger Dainat, Abaellino, Rinaldini und Konsor-
ten. Zur Geschichte der Räuberromane in Deutschland. Tübingen
1996, 93.
11 Thomas Pany, Studierende mit alarmierenden Lese- und Schreib-

schwächen. In: Heise online (24. 7. 2012), http://www.heise.de/tp/


blogs/6/152450 (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
12 John Seely Brown / Paul Duguid, The Social Life of Information.

Cambridge/Mass. 2000.
13 Zur Übersicht liest man besser etwa Jim Macnamara, The 21st

Century Media (R)evolution: Emergent Communication Practices.


New York 2010.

3. Eine kurze Geschichte der Lesekritik

1 Vgl. Gerhard Lauer, Am Ende das Buch. Lesen im digitalen Zeit-


alter. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 25
(2012), 138–160.
2 Platon, Phaidros 275a. In: ders., Sämtliche Werke. Bd. 4. Hg. von

Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck. Übersetzung:


Friedrich Schleiermacher. Hamburg 1958, 55.
3 Valentin Ickelsamer, Die rechte Weis aufs kürtzist lesen zu lernen.

Ain Teütsche Grammatica. Erfurt 1527, Vorrede (A2r), Nachdruck


hg. von Karl Pohl. Stuttgart 1971 (Übersetzung ins Neuhochdeut-
sche G. L.).
4 Christian Wolff, Vernünftige Gedancken von dem gesellschaftlichen

Leben der Menschen insonderheit dem gemeinen Wesen. Frankfurt,


Leipzig 41736 (Neudruck 1975), §§ 192 ff..

236
5 Johann Gottlieb Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeit-
alters [1805]. In: ders., Sämtliche Werke. Bd. 7: Zur Politik, Moral
und Philosophie der Geschichte. Hg. von I. H. Fichte. Berlin 1845/46
(Nachdruck 1971), 89.
6 Katja Mellmann, Emotionalisierung – Von der Nebenstundenpoesie

zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Lite-


ratur der Aufklärungsepoche. Paderborn 2006.
7 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchun-

gen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Darmstadt


51971, 60–69.
8 Zitiert nach Robert Darnton, Das große Katzenmassaker. Streifzüge

durch die französische Kultur vor der Revolution. München 1989,


269.
9 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchun-

gen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Darmstadt


51971, 60–69.
10 Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers. In:

ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Ger-
hard Sauder. München 1987, 197.
11 Art. „Die Lesesucht“. In: Joachim Heinrich Campe, Wörterbuch

der deutschen Sprache. Dritter Theil L – R. Braunschweig 1809, 107.


12 Friedrich Burchard Beneken, Weltklugheit und Lebensgenuß; oder

praktische Beyträge zur Philosophie des Lebens. 3 Bde. Hannover


1788; vgl. auch Dominik König, Lesesucht und Lesewut. In: Her-
bert G. Göpfert (Hg.), Buch und Leser. Vorträge des ersten Jahrestref-
fens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens
(13. und 14. Mai 1976). Hamburg 1977, 89–112.
13 Z. B. Joseph Weizenbaum, Computer Power and Human Reason.

From Judgement to Calculation. San Francisco 1976.


14 Kathrin Passig, Standardsituationen der Technologiekritik. In:

Merkur 727 (2009), 114–150, dann erweitert als Buch unter dem-
selben Titel 2013 bei Suhrkamp erschienen. In ihrer Spur gehen
dann andere Bücher, so etwa Valentin Groebner, Wissenschafts-
sprache digital. Die Zukunft von gestern. Konstanz 2014.
15 Hermann L. Koester, Geschichte der deutschen Jugendliteratur in

Monographien. II. Teil. Hamburg 1908, 136 f.


16 Manfred Spitzer, Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder

um den Verstand bringen. München 2012. Das Buch liegt natürlich


auch digital als E-Book vor.

237
17 Joseph August Lux, Über den Einfluß des Kinos auf Literatur und
Buchhandel. In: Anton Kaes (Hg.), Kino-Debatte. Texte zum Verhält-
nis von Literatur und Film 1909–1929. München 1978, 93.
18 Erich Osterheld, Wie die deutschen Dramatiker Barbaren wur-

den. In: Anton Kaes (Hg.), Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von
Literatur und Film 1909–1929. München 1978, 99.
19 Katja Mellmann, Emotionalität und Verhalten. Eine literaturpsy-

chologische Kritik des Werther-Mythos. In: Mitteilungen des Deut-


schen Germanistenverbandes 54 (2007), 328–344.

4. Über die medialen Aufpulverungen des Lebens

1 Theodor Lessing, Untergang des Buches. In: Prager Tagblatt 37,


232 (1. 10. 1932), 1.
2 Alice Kohli, Die Renaissance der Lesestuben. In: Neue Züricher

Zeitung (1. 9. 2014), https://www.nzz.ch/schweiz/die-renaissance-


der-lesestuben-1.18374648 (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
3 Vgl. den jährlichen Bericht des Deutschen Bibliotheksverbands,

www.bibliotheksverband.de/dbv/publikationen/bericht-zur-lage-
der-bibliotheken.html (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
4 Bundesamt für Statistik, Kulturverhalten in der Schweiz. Eine ver-

tiefende Analyse – Erhebung 2008, Neuchâtel 2011, https://www.bfs.


admin.ch/bfsstatic/dam/assets/347672/master (letzter Zugriff 22. 5.
2019); Rudolf Mumenthaler, Bibliotheken und digitaler Wandel –
einige Fakten. In: ders., Homepage und Blog zu Bibliotheksthemen
(15. 2. 2016), https://ruedimumenthaler.ch/2016/02/15/bibliotheken
-und-digitaler-wandel-einige-fakten/ (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
5 Z. B. Frank Huysmans, De openbare bibliotheek in Nederland en

de veranderende leescultuur sinds 1975. In: Jaarboek voor Neder-


landse boekgeschiedenis 14 (2007), 179–192; Adriaan van der Weel,
Convergence and its discontents: From a book culture to a reading
culture. In: Logos 20,1–4 (2009), 148–154. DOI: https://doi.org/10.
1163/095796509X12777334632546 (beschränkter Zugang).
6 Deena Skolnick / Paul Bloom, What does Batman think about

SpongeBob? Children’s understanding of the fantasy/fantasy dis-


tinction. In: Cognition 101,1 (2006), B9–B18. DOI: https://doi.org/
10.1016/j.cognition.2005.10.001 (beschränkter Zugang).
7 James Flynn, Are we getting smarter? Rising IQ in the Twenty-First

Century. Cambridge 2012.

238
8 Jakob Pietschnig / Martin Voracek, One Century of Global IQ
Gains: A Formal Meta-Analysis of the Flynn Effect (1909–2013). In:
Perspectives on Psychological Science 10,3 (2015), 282–306. DOI:
https://doi.org/10.1177/1745691615577701 (beschränkter Zugang).
9 Helmut Remschmidt (Hg.), Tötungs- und Gewaltdelikte junger

Menschen. Ursachen, Begutachtung, Prognose. Heidelberg 2012, 14–


28.
10 Statistisches Bundesamt, Lange Reihen zur Strafverfolgungsstatis-

tik. II.2 Verurteilte nach ausgewählten Straftaten, Geschlecht und Al-


tersgruppen (Deutschland). Wiesbaden 2016, https://www.destatis.
de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Down
loads-Strafverfolgung-Strafvollzug/strafverfolgungsstatistik-deutsch
land-pdf-5243104.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (letzter Zugriff:
22. 5. 2019).
11 Vgl. die 16. und 17. Shell Jugendstudie 2010 und 2017, https://

www.shell.de/ueber-uns/die-shell-jugendstudie.html (letzter Zugriff


22. 5. 2019).
12 David Finkelhor / Anne Shattuck / Heather A. Turner / Sherry L.

Hamby, Trends in Children’s Exposure to Violence, 2003 to 2011. In:


JAMA Pediatrics 168,6 (2014), 540–546; Craig Anderson et al., Me-
dia Violence and Other Aggression Risk Factors in Seven Nations.
In: Personality and Social Psychology Bulletin 43,7 (2017), 986–998.
DOI: https://doi.org/10.1177/0146167217703064 (beschränkter Zu-
gang).
13 Giulia M. Dotti Sani / Judith Treas, Education Gradients in Pa-

rents’ Child-Care Time Across Countries, 1965–2012. In: Journal of


Marriage and Family 78,4 (2016), 1083–1096. DOI: https://doi.org/
10.1111/jomf.12305 (beschränkter Zugang).
14 Gert M. Hald et al., Does Viewing Explain Doing? Assessing the

Association Between Sexually Explicit Materials Use and Sexual


Behaviors in a Large Sample of Dutch Adolescents and Young
Adults. In: The Journal of Sexual Medicine 10,12 (2013), 2986–2995.
DOI: https://doi.org/10.1080/19317611.2013.823900 (letzter Zugriff:
22. 5. 2019).
15 Melissa S. Kearney / Phillip B. Levine, Early Childhood Education

by MOOC: Lessons from Sesame Street. NBER Working Paper 21229


(Juni 2015).
16 Ezekiel J. Emanuel, Online Education MOOCs taken by Educated

Few. In: Nature 503,342 (2013), 342–342. DOI: https://doi.org/10.


1038/503342a (letzter Zugriff 22. 5. 2019).

239
17 Vgl. Deutscher Bühnenverein (Hg.), Theaterstatistik 2013/14,
Köln 2015.
18 Institut für Museumsforschung (Hg.), Statistische Gesamterhe-

bung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr


2015, Heft 70 (2016), 7.
19 Pressemitteilung zur 16. Shell Jugendstudie, https://jugend.ekir.

de/Bilderintern/20100922_zusammenfassung_shellstudie2010.pdf
(letzter Zugriff 22. 5. 2019).
20 Nick Yee, Gender Differences in Gaming Motivations Align with

Stereotypes, but Small Compared to Age Differences. In: Quantic


Foundry (28. 8. 2015), http://quanticfoundry.com/2015/08/28/gen
der-differences-in-gaming/ (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
21 Das Internet ist keine Männerdomäne mehr, https://www.presse

box.de/pressemitteilung/bitkom-bundesverband-informationswirt
schaft-telekommunikation-und-neue-medien-ev/Das-Internet-ist-
keine-Maennerdomaene-mehr/boxid/418472 (letzter Zugriff 22. 5.
2019).
22 Paul A. Kirschner / Pedro De Bruyckere, The Myths of the Digital

Native and the Multitasker. In: Teaching and Teacher Education 67


(2017), 135–142. DOI: https://doi.org/10.1016/j.tate.2017.06.001
(beschränkter Zugang).
23 „Jung und vernetzt – Kinder und Jugendliche in der digitalen Ge-

sellschaft“, Umfrage im Auftrag der Bitkom 2014, https://www.


bitkom.org/Bitkom/Publikationen/Jung-und-vernetzt-Kinder-und-
Jugendliche-in-der-digitalen-Gesellschaft.html (letzter Zugriff 22. 5.
2019).
24 Michael Glüer / Arnold Lohaus, Online versus offline Freund-

schaften – Unterschiede in der Qualität und Funktion von Freund-


schaftsbeziehungen bei Kindern der fünften bis zehnten Schulklasse
in sozialen online Netzwerken. Vortrag auf dem 49. Kongress der
deutschen Gesellschaft für Psychologie. Bochum 2014; vgl. auch
Michael Glüer, Digitaler Medienkonsum. In: Arnold Lohaus (Hg.),
Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Berlin, Heidelberg 2018,
197–222.
25 Daniel Miller, Der Trost der Dinge. 15 Porträts aus dem London

von heute. Frankfurt/M. 2010; Elisabetta Costa et al., How the World
Changed Social Media. London 2016; vgl. auch Daniel Miller, Why
we post. Social Media through the eyes of the world, http://www.ucl.
ac.uk/why-we-post/discoveries (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
26 German Neubaum / Nicole C. Krämer, My Friends Right Next to

Me. A Laboratory Investigation on Predictors and Consequences

240
Experiencing Social Closeness on Social Networking Sites. In: Cyber-
psychology, Behaviour, and Social Networking 18, 8 (2015), 443–449.
DOI: https://doi.org/10.1089/cyber.2014.0613 (beschränkter Zu-
gang).
27 Vgl. Glüer / Lohaus (2014).
28 Danah Boyd, It’s Complicated. The Social Lives of Networked

Teens. New Haven 2014.


29 Jan-Hinrik Schmidt, Persönliche Öffentlichkeiten im Social Web.

In: Ästhetik und Kommunikation 42, 154/155 (2012), 79–83.


30 Z. B. Martine Oglethorpe, Parenting in a Digital World. Stop

fighting, start connecting. E-Book 2015.


31 Jean M. Twenge, iGen. The 10 Trends Shaping Today’s Young

People – and the Nation. New York 2017.


32 Anonymus, Defeating Despair. Suicide is declining almost

everywhere. In: The Economist (24. November 2018).


33 Eric Klinenberg, Going Solo. The Extraordinary Rise and Surprise

Appeal of Living Alone. New York 2012.


34 Jan Eckhard, Abnehmende Bindungsquoten in Deutschland. Aus-

maß und Bedeutung eines historischen Trends. In: Kölner Zeitschrift


für Soziologie und Sozialpsychologie 67,1 (2015), 27–55.
35 Jessica Einspänner-Pflock, Privatheit im Netz. Konstruktions- und

Gestaltungsstrategien von Online-Privatheit bei Jugendlichen. Wies-


baden 2017.
36 Christian Rudder, Dataclysm. Who We Are (When We think No

One’s Looking). New York 2014 [Deutsch Inside Big Data. Unsere
Daten zeigen, wer wir wirklich sind. Aus dem Englischen von Kath-
leen Mallet. München 2016].
37 Vgl. den Bericht des Deutschen Zentrums für Altersfragen 2014,

Simonson, Julia / Vogel, Claudia / Tesch-Römer, Clemens (Hg.),


Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligen-
survey 2014. Berlin 2017; Markus Freitag / Anita Manatschal / Ka-
thrin Ackermann / Maya Ackermann, Freiwilligen-Monitor Schweiz
2016. Zürich 2016.
38 Karina J. Linnell / Serge Caparos / Jan W. de Fockert / Jules Davi-

doff, Urbanization Decreases Attentional Engagement. In: Journal of


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(2013), 1232–1247. DOI: http://dx.doi.org/10.1037/a0031139 (be-
schränkter Zugriff).
39 Jonah Berger, Arousal Increases Social Transmission of Informa-

tion. In: Psychological Science 22,7 (2011), 891–893. DOI: https://doi.


org/10.1177/0956797611413294 (beschränkter Zugriff).

241
40 Sue Johnson, How Gadgets Ruin Relationships and Corrupt Our
Emotions. In: Wired (14. 2. 2014), http://www.wired.com/2014/02/
gadgets-ruin-relationships-connection-illusion-one/ (letzter Zugriff
22. 5. 2019).
41 Morten Tromholt / Marie Lundby / Kjartan Andsbjerg / Meik

Wiking, The Facebook-Experiment. Does Social Media Affects Our


Lives? Report of the Happiness Research Institute 2015. Kopenhagen
2015, https://docs.wixstatic.com/ugd/928487_680fc12644c8428eb7
28cde7d61b13e7.pdf (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
42 Vgl. z. B. die Berichte und Studien der Drogenbeauftragten der

Bundesregierung zu Computerspielen und Internetsucht, https://


www.drogenbeauftragte.de/studien-und-publikationen/studien.html
(letzter Zugriff 22. 5. 2019); Return. Fachstelle für Mediensucht,
http://www.return-mediensucht.de (letzter Zugriff 22. 5. 2019); im
europäischen Vergleich die Studie Artemis Tsitsika et al., Internet
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cents. A cross-sectional study in seven European countries. In:
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535. DOI: http://doi.org/10.1089/cyber.2013.0382 (letzter Zugriff
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43 Sue Johnson, How Gadgets Ruin Relationships and Corrupt Our

Emotions. In: Wired (14. 2. 2014), http://www.wired.com/2014/02/


gadgets-ruin-relationships-connection-illusion-one/ (letzter Zugriff
22. 5. 2019).
44 Adriana Manago / Tamara Taylor / Patricia Greenfield, Me and

my 400 friends. The Anatomy of College Students’ Facebook Net-


works, their Communication Patterns, and Well-being. In: Develop-
mental Psychology 48,2 (2012), 369–380. DOI: https://doi.org/10.103
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Not Self-Idealization. In: Psychological Science 21 (2010), 372–374.


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46 Tara C. Marshall / Katharina Lefringhausen / Nelli Ferenczi, The

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47 Clive Gamble / John Gowlett / Robin Dunbar, Thinking Big. How

the Evolution of Social Life Shaped the Human Mind. London 2014.

242
48 Bis zu siebeneinhalb Stunden konstatieren andere Berichte, vgl.
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83 Harold Schechter, Savage Pastimes. A Cultural History of Violent

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muss und von einer generellen Abnahme der Gewalt reden kann, ist
freilich diskussionswürdig.
84 Alain Lieury et al., Video Games vs. Reading and School/Cogni-

tive Performances. A Study on 2700 Middle School Teenagers. In:


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89 Andrea P. Goldin et al., Far Transfer to Language and Math of a
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1080/10400419.2014.901082 (beschränkter Zugang).
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Lower Risk of Dementia. In: PLoS ONE 7,8 (2012), e44239. DOI:
https://doi.org/10.1371/journal.pone.0044239 (letzter Zugriff 22. 5.
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DOI: https://doi.org/10.1016/j.cub.2013.01.044 (letzter Zugriff 22. 5.
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https://doi.org/10.1038/494425a (letzter Zugriff 22. 5. 2019); vgl.
auch Peter Vorderer, Jennings Bryant (Hg.), Playing video games.
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2018, https://www.stiftunglesen.de/download.php?type=document
pdf&id=753 und https://www.stiftunglesen.de/presseservice/presse
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2 Petra Stanat / Hans Anand Pant / Katrin Böhme / Dirk Richter

(Hg.), Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern am Ende der


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www.iqb.hu-berlin.de/fdz/bt/LV2011/LV_2011_Bericht.pdf (letzter
Zugriff 22. 5. 2019).
3 Die Leseförderung hat daher die Förderung von Jungen verstärkt

in den Blick genommen, vgl. die Rubrik „Leseförderung“ z. B. in


Eselsohr. Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendmedien, http://www.
eselsohr-leseabenteuer.de (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
4 Vgl. die Veröffentlichungen des Forschungsprojekts leo. Literalität

von Erwachsenen auf den unteren Kompetenzniveaus, http://blogs.


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5 So etwa die Einschätzung von PwC: Buchmarkt – German Enter-

tainment & Media Outlook 2018–2022. o. O. 2018, https://www.pwc.


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Zugriff 22. 5. 2019).
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https://www.scholastic.com/readingreport/home.html (letzter Zu-


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shington 2009, http://arts.gov/sites/default/files/ReadingonRise.pdf


(letzter Zugriff 22. 5. 2019).
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can help children escape poverty. London 2014, https://literacytrust.


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(Hg.): PIRLS 2016 International Results in Reading. Amsterdam
2017, https://eric.ed.gov/?id=ED580353 (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
12 Nicholas Carr, The Shallows. What the Internet is Doing to Our

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13 John Palfrey / Urs Gasser, Born Digital. Understanding the First

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14 Stiftung Lesen (Hg.), Lesen in Deutschland 2008. Eine Studie der

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15 Stiftung Lesen. Eine Studienreihe der Stiftung Lesen, https://www.

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www.zhaw.ch/storage/psychologie/upload/forschung/medienpsycho
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2019).
18 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.), JIM-

Studien 2014. Jugend, Information, (Multi-)Media. Stuttgart 2014,


https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2014/JIM_Studie
_2014.pdf (letzter Zugriff 22. 5. 2019) und 2016, https://www.mpfs.
de/studien/jim-studie/2016/ (letzter Zugriff 22. 5. 2019), bzw. Zür-
cher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (Hg.), JAMES
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https://www.zhaw.ch/storage/psychologie/upload/forschung/medien
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Eveline Gebhardt (Hg.), Preparing for Life in a Digital Age. The IEA
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nal Report. Heidelberg 2014.
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Lesekarrieren. Mit einer Synopse von Ulrich Saxer. Studien der Ber-
telsmann Stiftung. Gütersloh 1993, 10–213.

250
21 Wilfried Bos et al. (Hg.), IGLU-E 2006. Die Länder der Bundes-
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Zusammenfassung. Münster 2008, 24 f. bzw. Wilfried Bos et al. (Hg.),
IGLU-E 2006. Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im natio-
nalen und internationalen Vergleich. Münster 2008.
22 Wilfried Bos et al. (Hg.), IGLU 2011. Lesekompetenzen von Grund-

schulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster


2012, 14 f.
23 Anke Hußmann et al. (Hg.), IGLU 2016. Lesekompetenzen von

Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich.


Münster 2017.
24 Stuart J. Ritchie / Timothy C. Bates, Enduring Links from Child-

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nomic Status. In: Psychological Science 24,7 (2013), 1301–1308. DOI:
https://doi.org/10.1177/0956797612466268 (beschränkter Zugang).
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des National Early Literacy Panel seit 2002, http://lincs.ed.gov/
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https://www.scholastic.com/readingreport/home.html (letzter Zu-


griff 22. 5. 2019).
27 Amazon Presse, Deutsche Kindle-Besitzer lesen mehr, https://ama

zon-presse.de/dam/jcr:a7db1a69-6fec-4947–94de-ecc39823254a/
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28 Vgl. die E-Book-Studie des Börsenvereins des Deutschen Buch-

handels, http://www.boersenverein.de/de/portal/E_Book_Studie/65
4136 (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
29 Kathryn Zickuhr / Lee Rainie, A Snapshot of Reading in America

in 2013. Pew Research Center 2014, http://www.pewinternet.org/20


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30 http://de.statista.com/themen/596/e-books/ (letzter Zugriff 22. 5.

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31 Anne Mangen / Bente R. Walgermo / Kolbjørn Brønnick, Reading

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1 Vgl. die Daten zum Unternehmen auf den Blogposts, https://
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lion-monthly-user-milestone (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
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technology/web-fiction-serialized-and-social.html?_r=0 (letzter Zu-
griff 22. 5. 2019).
3 Vgl. bspw. Anna Todd, After. New York 2014, bzw. Anna Todd,

After passion. Aus dem amerikanischen Englisch von Corinna Vier-


kant-Enßlin und Nicole Hölsken. München 2015 und den Blogpost
https://company.wattpad.com/blog/2019/8/8/penguin-random-
house-uk-collaborates-with-wattpad-books-to-bring-global-wattpad
-hits-to-readers-in-the-uk (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
4 Vgl. Gerhard Lauer, Die Literatur, sie lebt! In: Neue Zürcher Zei-

tung am Sonntag (31. 8. 2019).


5 Gesine Boesken, Literarisches Handeln im Internet. Schreib- und

Leseräume auf Literaturplattformen. Konstanz 2010.


6 Gerhard Lauer, Lyrik im Verein. Zur Mediengeschichte der Lyrik

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Scherer / Claudia Stockinger (Hg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Gat-
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Trade Books, 1975–2002. New York 2003.


8 Vgl. Jordan Ellenberg, The Summer’s Most Unread Books Is … In:

The Wall Street Journal (3. Juli 2014), http://www.wsj.com/articles/


the-summers-most-unread-book-is-1404417569 (letzter Zugriff
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9 Ben Schwan, Der Spion im E-Book. In: Heise online (5. 9. 2012),

http://www.heise.de/tr/artikel/Der-Spion-im-E-Book-1674068.html
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10 https://bit.ly/2lJ5Kmw (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
11 http://www.lovelybooks.de/autor/Shilpi-Somaya-Gowda/Geheime

-Tochter-951212442-w/rezension-987804841/ (letzter Zugriff 22. 5.


2019).
12 Ebd.
13 Felix Stalder, Kultur der Digitalität. Berlin 2016.
14 Zitiert nach: Penguin Random House sieht das gedruckte Buch

nicht am Ende. Messe eröffnet mit Rekordausstellerzahl. In: Frank-


furter Allgemeine Zeitung (11. 10. 2017), 18.

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15 Vgl. die Wirtschaftszahlen des Börsenvereins des Deutschen
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markt verliert vor allem jüngere Käufer, 18. Januar 2018. In: Börsen-
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boersenvereins.1422566.html (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
18 www.marahwoolf.com bzw. https://marahwoolf.com/du-musst-

dir-schon-selbst-konfetti-in-dein-leben-pusten-hilfe-zur-selbstana
lyse-der-deutschen-buchlandschaft/ (letzter Zugriff 22. 5. 2019).
19 Vgl. die Website von Oliver Pötzsch, http://www.oliver-poetzsch.

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262
Gerhard Lauer ❚ Lesen im digitalen Zeitalter
Band 1

Lesen ist die wichtigste Kulturtechnik, auch in der digita-


len Gesellschaft. Doch viele machen sich Sorgen, dass Gerhard Lauer
sich das Lesen verlieren wird und wir nur noch abgelenkt
auf Bildschirme starren. Dieses Buch ist eine Verteidigung
des Lesens im digitalen Zeitalter. Es zeigt, dass und wie Lesen im
digitalen Zeitalter
sich das Lesen wandelt, aber keineswegs verschwindet,
sondern wichtiger wird. Es erläutert, welche neuen For-
men der lesenden Erschließung der Welt entstehen und
welche Konzepte des Buchs an Bedeutung gewinnen.

Gerhard Lauer ist Professor für Digital Humanities an der


Universität Basel. Schwerpunkte seiner Forschung sind
die Literaturgeschichte und computergestützte Literatur-
wissenschaft.

wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-26854-2

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