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Blausaeure

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1

Von Agatha Christie sind erschienen:

Das Agatha Christie Lesebuch Die Memoiren des Grafen


Agatha Christle's Miss Marple Mit offenen Karten
Ihr Leben und ihre Abenteuer Mörderblumen
Agatha Christie's Hercule Poirot Mördergarn
Sein Leben und seine Abenteuer Die Mörder-Maschen
Alibi Mord auf dem Golfplatz
Alter schützt vor Scharfsinn nicht Mord im Orientexpreß
Auch Pünktlichkeit kann töten Mord im Pfarrhaus
Auf doppelter Spur Mord im Spiegel
Der balispielende Hund oder Dummheit ist gefährlich
Bertrams Hotel Mord in Mesopotamien
Die besten Crime-Stories Mord nach Maß
Der blaue Expreß Ein Mord wird angekündigt
Blausäure Die Morde des Herrn ABC
Das Böse unter der Sonne Morphium
oder Rätsel um Arlena Nikotin
Die Büchse der Pandora Poirot rechnet ab
Der Dienstagabend-Club Rächende Geister
Ein diplomatischer Zwischenfall Rotkäppchen und der böse Woff
Dreizehn bei Tisch Ruhe unsanft
Elefanten vergessen nicht Die Schattenhand
Die ersten Arbeiten des Herkules Das Schicksal in Person
Das Eulenhaus Schneewittchen-Party
Das fahle Pferd Ein Schritt ins Leere
Fata Morgana 16 Uhr 50 ab Paddington
Das fehlende Glied in der Kette Der seltsame Mr. Quin
Ein gefährlicher Gegner Sie kamen nach Bagdad
Das Geheimnis der Goldmine Das Sterben in Wychwood
Das Geheimnis der Schnallenschuhe Der Tod auf dem Nil
Das Geheimnis von Sittaford Tod in den Wolken
Die groBen Vier Der Tod wartet
Das Haus an der Düne Der Todeswirbel
Hercule Poirots größte Trümpfe Todlicher Irrtum
Hercule Poirot schläft nie oder Feuerprobe der Unschuld
Hercule Poirots Weihnachten Die Tote in der Bibliothek
Karibische Affaire Der Unfall und andere Fälle
Die Katze im Taubenschlag Der unheimliche Weg
Die Kleptomanin Das unvollendete Bildnis
Das krumme Haus Die vergeßliche Mörderin
Kurz vor Mitternacht Vier Frauen und ein Mord
Lauter reizende alte Damen Vorhang
Der letzte Joker Der Wachsblumenstrauß
Die letzten Arbeiten des Herkules Wiedersehen mrt Mrs. Oliver
Der Mann im braunen Anzug Zehn kleine Negerlein
Die Mausefalle und andere Fallen Zeugin der Anklage

2
Agatha Christie

Blausäure

Scherz
Bern München Wien

3
Einmalige Jubiläums-Ausgabe 1991
Überarbeitete Fassung der einzig
berechtigten Übertragung aus dem Englischen
von E. Picard
Titel des Originals: »Sparkling Cyanide«
Copyright © 1949 by Agatha Christie Limited
Gesamtdeutsche Rechte beim Scherz Verlag
Bern und München

s&c by Mik

4
1

Sechs Menschen dachten an Rosemarie Barton, die vor


nahezu einem Jahr gestorben war...

Iris Marle dachte an ihre Schwester Rosemarie.


Fast ein Jahr lang hatte sie versucht, den Gedanken an
Rosemarie abzuschütteln. Sie war der Erinnerung
ausgewichen.
Die Erinnerung war zu schmerzlich – zu furchtbar. Das
bläulich angelaufene Gesicht, die verkrampften, ins
Leere greifenden Finger...
Der Gegensatz zwischen diesem Bild und der schönen,
fröhlichen Rosemarie vom Tag zuvor... Nun: Gerade
fröhlich war sie wohl nicht gewesen. Sie hatte eben
eine Grippe überstanden und war geschwächt und
deprimiert... All das war bei der Leichenschau
vorgebracht worden. Iris selbst hatte es mit Nachdruck
betont, denn es bot eine Erklärung für Rosemaries
Selbstmord, nicht wahr?
Nach der Leichenschau hatte Iris entschlossen versucht,
sich die ganze Geschichte aus dem Kopf zu schlagen.
Wozu sollte die Erinnerung gut sein? Alles vergessen –
die ganze Sache vergessen!
Aber jetzt – darüber war sie sich klar – mußte sie ihr
Gedächtnis anstrengen. Sie mußte über die
Vergangenheit nachdenken, mußte sich sorgfältig jeden
kleinsten Vorgang in die Erinnerung zurückrufen, auch
wenn er noch so unwichtig schien...
Die seltsame Unterredung, die sie gestern abend mit
George geführt hatte, verlangte das.

5
Es war so unerwartet, so beängstigend gewesen. Halt –
war es wirklich so unerwartet? Hatten nicht schon
vorher gewisse Anzeichen darauf hingedeutet? Georges
Zerstreutheit, seine Geistesabwesenheit, sein merk-
würdiges Verhalten, seine sonderbare Gemütsver-
fassung! All das hatte den Augenblick vorbereitet, und
gestern abend hatte er sie in sein Arbeitszimmer
gerufen und vor ihren Augen die Briefe aus der
Schublade genommen.
Jetzt half also alles nichts mehr. Sie mußte über
Rosemarie nachdenken – mußte ihr Gedächtnis
anstrengen.
Rosemarie – ihre Schwester...
Mit einem Schlag wurde Iris klar: Es war das erste Mal
in ihrem Leben, daß sie über Rosemarie nachdachte.
Sie hatte Rosemarie immer hingenommen, ohne viel zu
überlegen. Über Mutter, Vater, Schwester oder Tante
pflegte man nicht weiter nachzudenken. Das waren
Menschen, die es eben gab. Man betrachtete sie nicht
wie andere Menschen, legte sich nicht die Frage vor,
wie sie eigentlich seien.
Wie war Rosemarie gewesen?
Verschwommene Bilder tauchten vor ihrem inneren
Auge auf.
Damals im Sommer an der See, wo Iris Rosemarie, die
sechs Jahre Ältere, beneidet hatte, weil sie »schon
groß« war und schwimmen konnte!
Rosemarie, die ins Pensionat geschickt wurde –
Rosemarie, die in den Ferien heimkam. Dann: sie selbst
in der Schule und Rosemarie in Paris, um dort »den
letzten Schliff« zu erhalten. Die »junge Dame«

6
Rosemarie, zurück aus Paris, voll fremdartiger, neuer,
erschreckender Eleganz, graziös, mit einem weichen
Organ, einer vollendeten Figur, rotgolden schim-
merndem Kastanienhaar und großen, von langen
Wimpern umsäumten dunkelblauen Augen. Ein
beunruhigend schönes Geschöpf – erwachsen – einer
anderen Welt angehörend!
Von dieser Zeit an hatten sie wenig voneinander
gesehen: Die Kluft von sechs Jahren, die zwischen
ihnen bestand, hatte ihre größte Breite erreicht.
Iris war weiter in die Schule gegangen, und Rosemarie
hatte sich mit Elan in die »Saison« gestürzt. Auch wenn
Iris zu Hause war, blieb die Kluft zwischen ihnen
bestehen. Rosemarie stand spät auf, war mit anderen
jungen Damen der Gesellschaft zum Lunch verabredet
und ging fast jeden Abend aus. Iris hielt sich mit
Mademoiselle in ihrem Zimmer auf, ging im Park
spazieren, aß um neun Uhr zur Nacht und ging um zehn
Uhr schlafen. Der Verkehr zwischen beiden Schwestern
beschränkte sich auf kurze Bemerkungen wie:
»Hallo, Iris, sei ein Schatz – ruf an und laß mir ein Taxi
kommen, ich bin entsetzlich spät dran.« Oder:
»Rosemarie, dein neues Kleid gefällt mir nicht; die
Farbe ist scheußlich.«
Dann kam Rosemaries Verlobung mit George Barton.
Aufregung, Einkäufe, Berge von Paketen, Kleider für
die Brautjungfern.
Die Trauung. In der Kirche schritt Iris hinter Rosemarie
und hörte die Leute flüstern: »Wie schön sie als Braut
aussieht...«
Warum hatte Rosemarie George Barton geheiratet?

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Schon damals war Iris darüber sehr erstaunt gewesen.
Es gab so viele anziehende junge Männer, die
Rosemarie immer wieder anriefen und mit ihr
ausgingen. Aus welchem Grund wählte sie George
Barton, der fünfzehn Jahre älter und trotz seines lie-
benswürdigen, umgänglichen Wesens ausgesprochen
langweilig war?
George war wohlhabend, aber das konnte für
Rosemarie nicht ausschlaggebend gewesen sein, denn
sie war selbst sehr reich.
Sie besaß ja Onkel Pauls Geld...
Iris dachte sorgfältig nach und versuchte, zwischen
dem, was sie jetzt wußte und dem, was sie damals
gewußt hatte, zu unterscheiden. Wie war das zum
Beispiel mit Onkel Paul?
Er war kein richtiger Onkel, das hatte sie schon immer
gewußt. Paul Bennett hatte einmal ihre und Rosemaries
Mutter geliebt. Sie zog ihm aber einen anderen,
ärmeren Mann vor. Paul Bennett akzeptierte seine
Niederlage auf geradezu romantische Weise. Er blieb
ein Freund der Familie, hatte alle sehr gern und wurde
einfach »Onkel Paul«.
Als Rosemarie auf die Welt kam, war er ihr Pate. Als er
starb, stellte es sich heraus, daß er sein gesamtes
Vermögen seinem Patenkind vermacht hatte, das
damals dreizehn Jahre alt war.
Rosemarie war damit nicht nur eine Schönheit, sondern
auch eine reiche Erbin. Und trotzdem heiratete sie den
netten, langweiligen George Barton. Warum? Das
fragte Iris sich jetzt wieder. Sie glaubte nicht, daß
Rosemarie ihn jemals geliebt hatte. Aber sie schien sehr

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glücklich mit ihm und mochte ihn gern – ja, wirklich
gern. Iris hatte reichlich Gelegenheit, sich davon zu
überzeugen, denn ein Jahr nach der Hochzeit war ihre
Mutter, die schöne, zarte Viola Marle, gestorben, und
Iris – damals gerade siebzehn – kam zu Rosemarie
Barton und ihrem Mann ins Haus.
Iris versuchte sich ein Bild von ihrer eigenen Person zu
machen. Wie war sie gewesen damals? Was hatte sie
empfunden, gedacht, gesehen?
Sie kam zu dem Schluß, daß die junge Iris Marle noch
ziemlich unreif gewesen war – gedankenlos und bereit,
die Dinge hinzunehmen, wie sie nun einmal waren.
Viola Marle hatte, hauptsächlich um ihre eigene
Gesundheit besorgt, ihren Kindern stets irgendwie
ferngestanden, hatte sie Kinderfrauen, Erzieherinnen
und Schulen anvertraut, war aber immer sehr lieb mit
ihnen, sooft sie mit ihnen zusammen war. Hector Marle
starb, als Iris fünf Jahre zählte. Daß er mehr getrunken
hatte, als ihm guttat, war so unmerklich zu ihrer
Kenntnis gelangt, daß sie gar nicht wußte, wann und
wie sie es eigentlich erfahren hatte.
Die siebzehnjährige Iris Marle nahm das Leben, wie es
nun einmal war, betrauerte ihre Mutter in gehöriger
Weise, trug schwarze Kleider und paßte sich dem
Leben in Rosemaries Hause an. Manchmal war es recht
langweilig dort. In Gesellschaft durfte Iris erst nach
Ablauf des Trauerjahres gehen. Inzwischen nahm sie
dreimal wöchentlich französische und deutsche Sprach-
stunden und besuchte einen hauswirtschaftlichen Kurs.
Es gab Zeiten, in denen sie nichts zu tun hatte und
niemand da war, mit dem sie sprechen konnte. George

9
war gütig und ihr in gleichbleibender brüderlicher
Liebe zugetan – und war es auch jetzt noch.
Und Rosemarie? Iris sah Rosemarie wenig. Rosemarie
ging viel aus. Schneiderinnen, Cocktailpartys, Bridge...
Was wußte sie wirklich von Rosemarie, wenn sie
ernstlich über sie nachdachte? Über ihre Neigungen,
ihre Hoffnungen, ihre Befürchtungen? Es war
tatsächlich beängstigend, wie wenig man von einem
Menschen wußte, mit dem man so lange im gleichen
Hause gelebt hatte! Zwischen den beiden Schwestern
hatte kaum die geringste Vertrautheit bestanden.
Aber jetzt mußte sie nachdenken. Vielleicht war es von
großer Bedeutung. Rosemarie hatte einen glücklichen
Eindruck gemacht...
Bis zu jenem Tag – eine Woche vor ihrem Ende.
Iris würde diesen Tag nie vergessen. Er war mit
kristallener Klarheit in ihrem Gedächtnis eingeprägt –
jede Einzelheit, jedes Wort. Der schimmernde Maha-
gonitisch, der zurückgeschobene Stuhl, die eilige,
charakteristische Schrift...
Iris schloß die Augen und rief sich die Szene in die
Erinnerung zurück... Sie trat in Rosemaries Wohn-
zimmer, sie blieb plötzlich stehen.
Sie war so erschrocken über das, was sie sah.
Rosemarie saß am Schreibtisch, den Kopf auf die
ausgestreckten Arme gelegt, und weinte – ein wildes,
selbstvergessenes Schluchzen. Sie hatte eben eine
schwere Grippe hinter sich und war erst vor ein oder
zwei Tagen wieder aufgestanden. Und es war ja
bekannt, daß man sich nach einer Grippe gewöhnlich in
einem Zustand seelischer Depression befand. Aber

10
dennoch...
Erschreckt und mit kindlich schriller Stimme rief Iris
aus:
»Rosemarie, was hast du?«
Rosemarie setzte sich auf und strich sich das Haar aus
dem verquollenen Gesicht. Sie kämpfte um ihre Selbst-
beherrschung und sagte rasch:
»Nichts – nichts! Glotz mich nicht so an!«
Dann stand sie auf und ging an ihrer Schwester vorbei
aus dem Zimmer.
Bestürzt und verwirrt trat Iris ein paar Schritte vor. Ihr
erstaunter Blick schweifte zum Schreibtisch und blieb
dort auf einem blauen Briefbogen haften, auf dem sie
ihren eigenen Namen in der Handschrift ihrer
Schwester entdeckte. Also war Rosemarie dabei, ihr zu
schreiben?
Sie trat näher und schaute auf das Blatt, das mit
Rosemaries ausgeprägten Schriftzügen bedeckt war. Sie
waren noch größer und fahriger als sonst, wahr-
scheinlich, weil eine aufgeregte und eilige Hand die
Feder geführt hatte.
»Liebste Iris,
es hat keinen Sinn, daß ich ein Testament mache, denn
mein Geld bekommst ohnehin Du. Ich möchte aber
einzelne Dinge aus meinem Besitz bestimmten
Menschen hinterlassen.
Für George ist der Schmuck bestimmt, den er mir
geschenkt hat, und das kleine emaillierte Schmuck-
kästchen, das wir zusammen gekauft haben, als wir
verlobt waren.
Gloria King soll mein goldenes Zigarettenetui erhalten,

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Maisie mein chinesisches Porzellanpferd, das sie immer
so bewund...«
Hier brach der Brief mit einem wilden Gekritzel ab:
Rosemarie hatte die Feder hingeworfen und sich ihrem
hemmungslosen Schluchzen überlassen.
Iris stand wie versteinert da.
Was hatte das zu bedeuten? Rosemarie würde doch
nicht etwa sterben? Sie war sehr krank gewesen, aber
jetzt ging es ihr wieder besser. Und überhaupt: Man
starb nicht an einer Grippe – das heißt: Manche
Menschen sterben daran, aber Rosemarie war nicht
gestorben. Sie war nur noch etwas schwach und
erschöpft.
Von neuem überflog Iris den Brief, und diesmal blieb
ihr Blick erschreckt an einer Wendung haften:
»Mein Geld bekommst ohnehin Du...«
Das war die erste Andeutung, die sie über den Inhalt
von Paul Bennetts Testament erfuhr. Seit ihren
Kinderjahren wußte sie, daß Rosemarie Onkel Pauls
Geld geerbt hatte und reich war, während sie selbst
verhältnismäßig wenig hatte. Aber bis zu diesem
Augenblick hatte sie sich nie gefragt, was mit dem Geld
geschehen würde, wenn Rosemarie starb.
Hätte jemand sie gefragt, dann würde sie geantwortet
haben, das Geld fiele vermutlich an George – aber sie
hätte sicher hinzugefügt, es sei eine alberne Vor-
stellung, daß Rosemarie vor George sterben könnte.
Aber da stand es schwarz auf weiß, in Rosemaries
eigener Handschrift: Falls Rosemarie starb, fiel das
Geld an sie, Iris. Aber erlaubte das denn das Gesetz?
Ehemann oder Ehefrau erbten gegenseitig ihr Ver-

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mögen – aber doch nicht die Schwester! Ausgenommen
natürlich, daß Paul Bennett es in seinem Testament so
bestimmt hatte. Ja, so mußte es wohl sein. Onkel Paul
hatte bestimmt, daß sie das Geld erben sollte, falls
Rosemarie sterben würde. Das machte die Sache
weniger ungerecht...
Ungerecht? Sie fuhr zusammen, als ihr das Wort in den
Sinn kam. Hatte sie es als Ungerechtigkeit empfunden,
daß Rosemarie Onkel Pauls ganzes Vermögen bekam?
Tief in ihrem Unterbewußtsein mußte sie dieses Gefühl
wohl gehabt haben. Es war tatsächlich ungerecht. Sie
und Rosemarie waren Schwestern, waren beide Kinder
der gleichen Mutter. Warum hatte Onkel Paul
Rosemarie alles hinterlassen?
Rosemarie hatte immer alles gehabt!
Gesellschaften, Kleider, verliebte junge Männer und
einen zärtlichen Ehegatten.
Iris stand zögernd am Schreibtisch. Dieser Briefbogen –
war es Rosemaries Absicht, ihn, für neugierige Augen
sichtbar, herumliegen zu lassen?
Nach kurzer Überlegung nahm sie ihn, faltete ihn
zusammen und ließ ihn in eine Schublade gleiten.
Dort wurde er nach der schicksalsschweren Geburts-
tagsgesellschaft gefunden und bildete einen zusätz-
lichen Beweis – falls ein solcher überhaupt notwendig
gewesen wäre – für den bedrückten und verwirrten
Zustand, in dem sich Rosemarie nach ihrer Krankheit
befunden hatte, und für die Selbstmordgedanken, denen
sie schon damals ausgesetzt gewesen war.
Seelische Depression nach einer Grippe: Das war die
Todesursache, die bei der Leichenschau festgestellt

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wurde und zu deren Bekräftigung die von Iris gemachte
Aussage wesentlich beitrug. Der Grund war vielleicht
nicht sehr überzeugend, aber ein anderer war nicht
ersichtlich, und deshalb wurde er allgemein akzeptiert.
Weder Iris noch George Barton hätten eine andere
Ursache für Rosemaries Selbstmord angeben können –
damals.
Jetzt, während sie über den Vorfall in der Boden-
kammer nachdachte, fragte sich Iris, weshalb sie so
blind hatte sein können. Das Ganze mußte sich doch
direkt vor ihren Augen abgespielt haben! Und sie hatte
nichts gesehen, nichts bemerkt!
Ihr Gedächtnis setzte mit einem raschen Sprung über
die Tragödie an Rosemaries Geburtstag hinweg. Daran
brauchte sie nicht zu denken! Das war vorbei – erledigt.
Fort mit diesem Grauen, mit der Leichenschau, mit
Georges zuckendem Gesicht und seinen blutunter-
laufenen Augen! Und weiter zu dem Vorfall mit dem
Koffer in der Bodenkammer!
Es war etwa ein halbes Jahr nach Rosemaries Tod
gewesen.
Iris wohnte weiter in dem Haus am Elvaston Square.
Nach dem Begräbnis hatte der Anwalt der Familie
Marle, ein höflicher alter Herr mit blankem Kahlkopf
und unerwartet gescheiten Augen, eine Unterhaltung
mit Iris. Mit bewundernswerter Klarheit setzte er ihr
auseinander, daß laut Testament von Paul Bennett
Rosemarie dessen Vermögen geerbt hatte, um es treu-
händerisch zu verwalten und es ihren Kindern – falls
solche vorhanden – zu hinterlassen. Starb Rosemarie
kinderlos, dann sollte das Vermögen vorbehaltlos an

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Iris fallen. Es war, wie der Anwalt erklärte, ein sehr
großes Vermögen, das ihr bei Erreichung ihres
einundzwanzigsten Lebensjahres oder bei ihrer
Verheiratung zur Verfügung stehen würde.
Mittlerweile sei der erste Punkt, über den sie sich
schlüssig werden müsse, ihr künftiger Wohnsitz. Mr.
George Barton habe nachdrücklich den Wunsch
geäußert, sie möge weiter bei ihm im Hause bleiben,
und habe vorgeschlagen, daß die Schwester ihres
Vaters, Mrs. Drake – die sich infolge der Ansprüche
ihres Sohnes, des schwarzen Schafes der Familie
Marle, in schwierigen finanziellen Verhältnissen befand
–, zu ihnen ziehen und Iris als Anstandsdame dienen
solle. Ob Iris mit diesem Plan einverstanden sei?
Iris hatte gern zugestimmt, denn sie war dankbar, im
Moment keine Entscheidungen treffen zu müssen.
Tante Lucilla hatte sie als braves älteres Geschöpf in
Erinnerung, das kaum einen eigenen Willen besaß. So
wurde die Sache geregelt. George Barton hatte sich
rührend gefreut, daß Iris bei ihm blieb, und er
behandelte sie liebevoll wie eine eigene jüngere Schwe-
ster. Mrs. Drake war zwar keine sehr anregende
Gesellschafterin, fügte sich aber vollkommen Iris'
Wünschen. Im Hause Barton herrschte eine freundliche,
geordnete Atmosphäre.
Etwa ein halbes Jahr später machte Iris ihre Entdeckung
in der Bodenkammer. Die Bodenräume des Hauses am
Elvaston Square wurden als Aufbewahrungsort für
allerlei Möbel, Hausrat und eine Reihe von Koffern
benützt.
Iris ging eines Tags auf der Suche nach einem ganz

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bestimmten roten Pullover hinauf. George hatte sie
gebeten, keine Trauer zu tragen. Rosemarie sei immer
dagegen gewesen, meinte er. Iris wußte, daß das
stimmte; deshalb fügte sie sich und fuhr fort, ihre
normalen Kleider zu tragen, obwohl Lucilla Drake,
altmodisch und konventionell, wie sie war, ihre Miß-
billigung nicht zu verbergen suchte. Mrs. Drake war ge-
neigt, immer noch schwarzen Krepp wegen eines
Gatten zu tragen, der vor über zwanzig Jahren das
Zeitliche gesegnet hatte.
Sie begann, einen Koffer mit Sachen nach dem roten
Pullover zu durchsuchen, und stieß dabei auf
verschiedene vergessene Stücke aus ihrem Besitz: ein
graues Kostüm, einen Haufen Strümpfe, ihren Skianzug
und ein paar alte Badetrikots.
Plötzlich entdeckte sie einen alten Morgenrock, der
Rosemarie gehört hatte und auf irgendeine Weise dem
Schicksal entgangen war, zusammen mit Rosemaries
übrigen Sachen verschenkt zu werden. Es war ein
sportlich geschnittenes Kleidungsstück aus getupfter
Seide mit großen Seitentaschen.
Iris schüttelte den Morgenrock aus und stellte fest, daß
er in tadellosem Zustand war. Dann faltete sie ihn
sorgsam wieder zusammen und legte ihn in den Koffer
zurück. Dabei knisterte etwas in einer der Taschen. Iris
fuhr mit der Hand hinein und zog ein Stück Papier
heraus. Es war mit Rosemaries Schriftzügen bedeckt;
sie glättete es und las:

Leopard, Liebling – Du kannst es unmöglich ernst


meinen – unmöglich – unmöglich! Wir lieben

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einander! Wir gehören zusammen! Das weißt Du
genausogut wie ich! Wir können uns nicht einfach
Lebewohl sagen und unser Leben getrennt
weiterführen, als ob nichts geschehen wäre. Du
weißt, das ist unmöglich, du und ich – wir gehören
zusammen, für immer und ewig. Ich hänge nicht an
Konventionen – was die Leute sagen, ist mir gleich.
Nichts ist mir so wichtig wie Deine Liebe. Wir
wollen zusammen fortgehen und glücklich sein – ich
will Dich glücklich machen. Du hast mir einmal
gesagt, daß für Dich das Leben ohne mich nur Staub
und Asche sei – erinnerst Du Dich, geliebter
Leopard? Und jetzt schreibst Du mir ganz ruhig, daß
alles zwischen uns ein Ende haben muß. Aber ich
kann ohne Dich nicht leben! Es tut mir leid um
George – er ist immer so gut zu mir gewesen -, aber
er wird es verstehen. Er wird mich freigeben. Es ist
nicht recht, weiter miteinander zu leben, wenn man
sich nicht mehr liebt. Gott hat uns füreinander
bestimmt, Liebling – ich weiß es sicher. Wir werden
unbeschreiblich glücklich sein – aber wir müssen
Mut haben. Ich werde es George selbst sagen, will
offen und ehrlich zu ihm sein – aber erst nach
meinem Geburtstag.
Ich weiß, daß ich das Richtige tue, liebster Leopard
– und ich kann nicht ohne Dich leben – ich kann es
nicht, kann es nicht! Wie dumm von mir, das alles
zu schreiben! Eine Zeile hätte genügt. Bloß: Ich
liebe Dich und werde nie von Dir lassen. Ach
Darling...

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Der Brief brach ab.
Iris stand bewegungslos da und starrte auf das Blatt.
Wie wenig hatte sie von ihrer eigenen Schwester
gewußt! Rosemarie hatte einen Geliebten, sie schrieb
ihm leidenschaftliche Briefe – hatte mit ihm
davonlaufen wollen?
Was war geschehen? Der Brief wurde nie abgesandt.
Was für einen Brief hatte dieser Leopard wirklich
erhalten?
»Leopard!« Auf was für verrückte Namen die
Menschen bloß verfielen, wenn sie verliebt waren!
Leopard. Selten dämlich!
Wer war der Mann? Hatte er Rosemarie ebenso geliebt
wie sie ihn? Sicher. Rosemarie war so unglaublich
schön. Und doch: Nach Rosemaries Brief zu schließen,
hatte er geplant, Schluß zu machen. Was steckte
dahinter? Vorsicht? Wahrscheinlich schrieb er, der
Bruch müsse um ihretwillen sein. Aber konnte das
nicht trotzdem bedeuten, daß der Mann der ganzen
Sache überdrüssig war? Vielleicht war Rosemarie für
ihn nur eine flüchtige Zerstreuung gewesen! Vielleicht
hatte er sie niemals wirklich geliebt. Iris hatte
irgendwie den Eindruck, der Unbekannte sei fest
entschlossen gewesen, mit Rosemarie endgültig zu
brechen...
Aber Rosemarie war anderer Meinung. Rosemarie
scheute sich nicht, den höchsten Preis zu zahlen.
Rosemarie konnte sehr hartnäckig sein.
Iris fröstelte.
Und sie selbst hatte nichts von alledem gewußt – hatte
nicht einmal eine Ahnung gehabt! Sie hatte es als

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selbstverständlich betrachtet, daß Rosemarie glücklich
und zufrieden war mit
George. Blind! Sie mußte blind gewesen sein, um etwas
Derartiges nicht zu bemerken.
Aber wer war der Mann?
Sie versetzte sich in die Vergangenheit zurück,
überlegte, zermarterte ihr Gedächtnis. Um Rosemarie
waren so viele Männer herumgeschwirrt, die sie
bewunderten und mit ihr ausgingen. An einen einzelnen
Bevorzugten konnte sie sich nicht erinnern. Aber dieser
Bevorzugte mußte existiert haben – die anderen hatten
nur als Tarnung gedient für den einen, den einzigen, auf
den es ankam. Iris runzelt verwirrt die Stirn, während
sie angestrengt nachdachte.
Zwei Namen kamen ihr in den Sinn. Es mußte – ja,
tatsächlich: Es mußte einer von diesen beiden sein.
Stephen Farraday? Ja: Stephen Farraday mußte es
gewesen sein. Was konnte Rosemarie zu ihm hinge-
zogen haben? Ein steifer, wichtigtuerischer junger
Mann – übrigens nicht einmal so sehr jung. Freilich galt
er als brillanter Kopf. Ein aufstrebender Politiker, dem
für die nächste Zukunft der Posten eines Unterstaatsse-
kretärs vorausgesagt war und der das ganze Gewicht
der einflußreichen Kidderminster-Gruppe hinter sich
hatte. Vielleicht ein kommender Premierminister! War
es das, was ihm in Rosemaries Augen so viel Glanz
verlieh? Sicher hatte ihr an Farraday selbst nicht so
ungeheuer viel gelegen – ein kalter, zurückhaltender
Geselle. Aber es hieß, daß seine eigene Frau ihn
leidenschaftlich liebte und ihn gegen den ausdrück-
lichen Wunsch ihrer mächtigen Familie geheiratet hatte

19
– ihn, den Niemand mit politischem Ehrgeiz! Und
wenn er imstande war, bei der eigenen Frau ein so
starkes Gefühl auszulösen, dann war das ebensogut bei
einer anderen Frau möglich. Ja, es mußte Stephen
Farraday gewesen sein.
Denn: Wenn es nicht Stephen Farraday war, so kam nur
noch Anthony Browne in Frage.
Und Iris wollte nicht, daß es Anthony Browne war.
Gewiß, auch dieser war Rosemaries Sklave, hatte
ständig jedem ihrer kleinsten Winke gehorcht, mit
einem Ausdruck humorvoller Verzweiflung in seinem
gebräunten, anziehenden Gesicht. Aber hatte er seine
Bewunderung nicht zu offen zur Schau getragen, als
daß ein tieferes Gefühl dahinterstecken konnte?
Merkwürdig, daß er nach Rosemaries Tod spurlos ver-
schwunden war. Niemand hatte ihn seither gesehen.
Anthony Browne gehörte zu den Männern, die viel
reisten. Er hatte von Argentinien gesprochen, von
Kanada, Uganda und den Vereinigten Staaten. Ihrer
Meinung nach war er Amerikaner oder Kanadier,
obwohl er kaum mit Akzent sprach. Nein, es war
eigentlich nicht merkwürdig, daß niemand ihn seit
Rosemaries Tod gesehen hatte.
Seine Freundschaft hatte ausschließlich Rosemarie
gegolten. Es bestand für ihn keine Ursache, die
Beziehungen zu den übrigen Menschen ihres Kreises
weiter aufrechtzuerhalten. Er war Rosemaries Freund
gewesen – aber nicht Rosemaries Geliebter! Sie wollte
nicht, daß er Rosemaries Geliebter war. Das hätte weh
getan – schrecklich weh...
Sie sah auf den Brief in ihrer Hand und zerknüllte ihn.

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Sie würde ihn wegwerfen, verbrennen__
Es war ein bloßer Instinkt, der sie veranlaßte innezu-
halten.
Der Brief konnte ein wichtiges Beweisstück sein...
Sie strich den Bogen glatt, nahm ihn mit hinunter und
verschloß ihn in ihrer Schmuckkassette.
Vielleicht würde es eines Tages wichtig sein, zeigen zu
können, warum Rosemarie sich das Leben genommen
hatte.
»Und sonst noch etwas, bitte?«
Diese alberne Wendung fiel Iris ein und zwang sie zu
einem bitteren Lächeln. Die mechanische Verkäufer-
frage gab genau wieder, was in ihrem eigenen Gehirn
vorging. Sie hatte sich an ihren überraschenden Fund in
der Bodenkammer erinnert. Und nun ging es weiter...
was war sonst noch gewesen?
Vor allem das zunehmend sonderbare Benehmen
Georges. Kleine Dinge, die ihr unverständlich
geblieben waren, erschienen ihr jetzt, im Licht der
erstaunlichen Unterredung vom Abend zuvor, ganz
plausibel. Unzusammenhängende Bemerkungen und
Handlungen erhielten ihren Platz in der Entwicklung
der Ereignisse.
Ferner: das Wiederauftauchen Anthony Brownes. Ja,
vielleicht war das das nächste Glied in der Kette, denn
es fand gerade eine Woche nach der Entdeckung des
Briefes statt.
Iris konnte sich genau ihres Gefühls erinnern...
Rosemarie war im November gestorben. Im darauf-
folgenden Mai begann Iris unter den Fittichen von
Lucilla Drake in Gesellschaft zu gehen. Sie wurde zu

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verschiedenen Essen, Tees und Tanzfesten eingeladen,
hatte aber keine rechte Freude daran. Sie fühlte sich
lustlos und unzufrieden. Auf einer ziemlich lang-
weiligen Tanzerei Ende Juni war es, daß sie jemanden
hinter sich sagen hörte:
»Das ist doch Iris Marle, nicht wahr?«
Sie drehte sich um – und schaute gerade in Anthonys –
Tonys – braunes, kluges Gesicht. Er sagte:
»Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, aber...«
Sie unterbrach ihn:
»Natürlich erinnere ich mich an Sie!«
»Fein. Ich hatte schon befürchtet, Sie hätten mich
vergessen. Es ist so lange her, daß wir uns gesehen
haben.«
»Ich weiß. Seit Rosemaries Geburtstagsgesell...«
Sie brach ab. Die Worte waren ihr fröhlich und
gedankenlos von den Lippen gekommen. Jetzt wich die
Farbe aus ihren Wangen. Angst sprach aus ihren weit-
aufgerissenen Augen.
Anthony Browne sagte rasch: »Es tut mir furchtbar
leid. Es war eine Roheit von mir, Sie daran zu erinnen.«
Iris schluckte: »Es ist schon wieder gut.«
Seit dem Abend von Rosemaries Geburtstags-
gesellschaft. Seit dem Abend von Rosemaries Selbst-
mord. Sie wollte nicht daran denken, durfte nicht daran
denken.
Anthony Browne wiederholte: »Es tut mir furchtbar
leid. Bitte verzeihen Sie mir. Wollen wir tanzen?«
Iris nickte. Obwohl sie für den eben beginnenden Tanz
schon engagiert war, schwebte sie in seinen Armen
über das Parkett. Sie sah, wie sich ihr Partner, ein

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linkischer, unreifer junger Mann den Hals nach ihr
ausrenkte. Solche Partner mußten sich nur Debü-
tantinnen gefallen lassen, dachte sie zornig. Ihr Tänzer,
Rosemaries Freund, war etwas ganz anderes.
Sie spürte einen Stich, der ihr durch und durch ging.
Rosemaries Freund. Der Brief. War der Brief an den
Mann gerichtet, mit dem sie gerade tanzte?
Sie fragte plötzlich: »Wo waren Sie die ganze Zeit?«
Er hielt sie etwas von sich entfernt und sah ihr ins
Gesicht. Er lächelte nicht mehr, und seine Stimme
klang kühl. »Ich war auf Reisen – geschäftlich.«
»Aha.« Sie fuhr unbeherrscht fort: »Warum sind Sie
zurückgekommen?«
Jetzt lächelte er wieder. Er sagte in leichtem Ton:
»Vielleicht – um Sie zu sehen, Iris Marle.«
Plötzlich zog er sie enger an sich und glitt mit ihr in
einer langen, kühnen Figur mitten durch die übrigen
Paare – ein Wunder an Führung und Geschicklichkeit.
Iris war erstaunt, daß sie dabei neben Freude noch
anderes empfand: Angst.
Seither war Anthony entschieden ein Teil ihres Lebens
geworden. Sie war mindestens einmal in der Woche mit
ihm zusammen. Sie traf ihn im Park, bei Tanzfesten, als
Tischherrn auf Gesellschaften.
Der einzige Ort, wo er sich niemals blicken ließ, war
das Haus am Elvaston Square. Jeder Einladung dorthin
wich er mit solcher Geschicklichkeit aus, daß eine
ganze Weile verging, ehe Iris es bemerkte. Doch dann
begann sie sich nach dem Grund zu fragen. Vielleicht
weil er und Rosemarie...
Zu ihrer Überraschung sprach eines Tages George – der

23
nachsichtige George, der sich nie um etwas zu
kümmern pflegte – sie darauf an.
»Wer ist eigentlich dieser Anthony Browne, mit dem
du soviel ausgehst? Was weißt du über ihn?«
Sie sah ihn erstaunt an. »Was ich über ihn weiß? Nur,
daß er mit Rosemarie befreundet war.«
Georges Gesicht zuckte. Er blinzelte mit den Augen
und murmelte ausdruckslos: »Ja, natürlich – er war mit
Rosemarie befreundet.«
Iris rief reumütig. »Verzeih mir, George – ich hätte
dich nicht daran erinnern sollen.«
George fuhr fort: »Aber was nun diesen Anthony
Browne betrifft. Rosemarie mag mit ihm befreundet
gewesen sein, aber ich bezweifle, daß sie Näheres über
ihn gewußt hat. Weißt du, Iris, du mußt vorsichtig sein.
Du bist ein sehr reiches junges Mädchen.« Ein zorniges
Gefühl überkam sie. »Tony – Anthony – hat selbst eine
Menge Geld. Er wohnt sogar im Claridge, wenn er in
London ist.«
George Barton lächelte ein wenig und murmelte: »Ein
sehr solides Hotel – und nicht billig. Trotzdem, liebes
Kind: Niemand weiß was von diesem Mann.«
»Er ist Amerikaner.«
»Möglich. Dann verstehe ich aber nicht, warum ihn die
amerikanische Botschaft so wenig schätzt. Zu uns ins
Haus ist er noch nicht oft gekommen, wie?«
»Nein – und ich begreife sehr gut, warum, wenn du so
ekelhafte Sachen über ihn sagst!«
George schüttelte bekümmert den Kopf. »Da habe ich
mir aber schön den Mund verbrannt. Nun ja. Ich wollte
dich nur rechtzeitig warnen. Werde ein Wörtchen mit

24
Lucilla reden.«
»Lucilla!« schnaubte Iris geringschätzig.
George fragte besorgt: »Ist mit Lucilla alles in
Ordnung? Ich meine: Kümmert sie sich darum, daß du
dich richtig amüsierst? Einladungen und so weiter?«
»Ja, ja – sie gibt sich die größte Mühe...«
»Nämlich, wenn es mit ihr nicht geht, brauchst du es
mir nur zu sagen, Kind. Dann können wir uns jemand
anderen suchen – einen jüngeren und modernen
Menschen. Ich will vor allem, daß du dich gut
unterhältst.«
»Ich unterhalte mich sehr gut, George – sehr gut.«
»Aber sieh zu, daß du alles hast, was du gern möchtest.
Brauchst keine Kosten zu scheuen.«
Das war George, wie er leibte und lebte: gutherzig und
ungeschickt.
Getreu seinem Versprechen – oder seiner Drohung –
»redete er ein Wörtchen« mit Lucilla über das Problem
Anthony Browne. Aber das Schicksal hatte bestimmt,
daß dies in einem Augenblick geschah, wo Lucilla ihm
keine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken konnte.
Sie hatte gerade ein Telegramm von ihrem nichtsnut-
zigen Sohn erhalten, der ihr Augapfel war und es nur
allzugut verstand, ihre mütterlichen Gefühle zu seinem
finanziellen Vorteil auszunutzen.
»Kannst Du zweihundert Pfund schicken? Verzweifelt.
Geht um Leben und Tod. Victor.«
Lucilla weinte. »Victor ist ein so ehrenhafter Mensch.
Er weiß, in was für beschränkten Verhältnissen ich
lebe, und er würde sich nie an mich wenden, wenn ich
nicht seine letzte Zuflucht wäre. Er hat es noch nie

25
getan. Ich habe immer solche Angst, daß er sich
umbringen könnte.«
»Victor? Kaum«, meinte George gefühllos.
»Du kennst Victor nicht. Ich bin seine Mutter und weiß
natürlich, wie mein Sohn veranlagt ist. Ich könnte mir
nie verzeihen, wenn ich seine Bitte nicht erfüllen
würde. Ich glaube, es läßt sich machen, wenn ich meine
paar Aktien verkaufe.«
George seufzte. »Also gut, Lucilla, ich werde tele-
grafisch Auskunft in Buenos Aires einholen. Dann
werden wir wissen, welcher Art die Schwierigkeiten
sind, in denen der Junge steckt. Aber ich gebe dir schon
jetzt den Rat, ihn ruhig in seinem eigenen Saft
schmoren zu lassen. Sonst wird er sich niemals
bessern.«
»Du bist so hart, George. Der arme Junge hat immerzu
Pech gehabt...«
George verzichtete darauf, über diesen Punkt seine
Meinung zu äußern. Ganz zwecklos, mit Weibern über
solche Dinge zu streiten.
Er sagte bloß: »Ich werde Ruth sofort den Auftrag
geben. Bis morgen sollte die Antwort dasein.«
Lucilla war teilweise besänftigt. Die zweihundert Pfund
wurden dann auf fünfzig gesenkt, aber auf der
Absendung wenigstens dieses Betrages bestand Lucilla
unnachgiebig.
Iris wußte, daß George das Geld aus eigener Tasche
bezahlt hatte, obwohl er Lucilla gegenüber so tat, als
habe er ihre Aktien verkauft. Iris bewunderte Georges
Großmut sehr und sagte ihm das auch. Seine Antwort
war einfach.

26
»Ich betrachte die Sache so: In jeder Familie gibt es ein
schwarzes Schaf – einen, den die andern erhalten
müssen. Für Victor wird immer jemand blechen müssen
– bis zu seinem seligen Ende.«
»Aber dieser Jemand brauchst nicht gerade du zu sein.
Victor ist nicht blutsverwandt mit dir.«
»Wer zu Rosemaries Familie gehört, gehört auch zu
meiner Familie.«
»Du bist ein Schatz, George. Aber könnte nicht ich für
Victor zahlen? Du sagst doch immer, ich schwimme im
Geld.«
Er lachte. »Vor deinem einundzwanzigsten Lebensjahr
kannst du nichts Derartiges tun, mein liebes Kind. Und
wenn du gescheit bist, tust du es hinterher auch nicht.
Aber ich gebe dir einen guten Rat. Wenn einer dir
telegrafiert, daß er sich umbringt, falls du ihm nicht
postwendend ein paar hundert Pfund schickst, so wirst
du gewöhnlich feststellen, daß zwanzig Pfund reichlich
genügen. Ich möchte sogar behaupten, zehn Pfund tun's
auch! Du kannst eine Mutter nie daran hindern, sich
Geld abpressen zu lassen, aber den Betrag kannst du
verringern – denk daran. Natürlich würde es Victor
nicht im Traum einfallen, sich umzubringen – dem
nicht! Alle diese Leute, die mit Selbstmord drohen,
führen ihre Drohungen niemals aus.«
Niemals? Iris dachte an Rosemarie. Dann schob sie den
Gedanken beiseite. George hatte nicht an Rosemarie
gedacht, sondern an einen skrupellosen jungen Mann in
Buenos Aires.
Der Gewinn, den Iris aus diesem Vorfall gezogen hatte,
bestand darin, daß Lucilla durch ihre mütterlichen

27
Sorgen daran gehindert wurde, die Entwicklung der
Freundschaft zwischen Iris und Anthony Browne mit
voller Aufmerksamkeit zu verfolgen.
So, nun war sie wieder soweit: Und »sonst noch etwas,
bitte?« Georges verändertes Benehmen! Wann hatte es
begonnen? Und warum? Auch jetzt noch konnte Iris
selbst bei angestrengtestem Nachdenken den Zeitpunkt
nicht bestimmen. Seit Rosemaries Tod war George
zerstreut, häufig geistesabwesend und in Gedanken
versunken. Er war älter, schwerfälliger geworden. Das
war vielleicht nicht unbegreiflich. Aber auf einmal
hatte dieser Zustand ein unnatürliches Ausmaß
angenommen – wann war das gewesen?
Es kam ihr vor, als habe sie nach ihrer Auseinander-
setzung über Anthony Browne zum erstenmal bemerkt,
daß George sie verwirrt, gleichsam benebelt anstarrte.
Damals hatte er die Gewohnheit angenommen, früh-
zeitig aus dem Büro nach Hause zu kommen und sich
in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen. Dort saß er und
tat nichts. Einmal war sie hineingegangen und hatte ihn
am Schreibtisch gefunden, den Blick ins Leere
gerichtet. Mit stumpfen, glanzlosen Augen schaute er
sie an. Er machte den Eindruck, als habe er einen
schweren Schlag empfangen; aber als sie ihn fragte,
was geschehen sei, antwortete er nur kurz: »Nichts!«
Mit der Zeit begann er immer abgehärmter auszusehen,
als laste eine furchtbare Sorge auf ihm.
Niemand hatte seinem Zustand viel Beachtung
geschenkt – am allerwenigsten Iris selbst. Sorgen galten
im Hause immer als »geschäftlich«.
Dann fing er an, ihr in unregelmäßigen Abständen und

28
ohne sichtbaren Anlaß Fragen zu stellen. Eigentlich erst
von da an erschien ihr sein Verhalten wirklich sonder-
bar und auffallend.
»Sag mal, Iris, hat Rosemarie dir eigentlich viel
erzählt?«
Iris schaute ihn erstaunt an.
»Doch, natürlich, George. Das heißt – worüber?«
»Nun, über sich selbst – über ihre Freunde, ihr Leben.
Ob sie glücklich war oder nicht. Solche Dinge.«
Sie glaubte zu wissen, was ihn beschäftigte. Er mußte
von Rosemaries unglücklicher Liebesgeschichte gehört
haben.
Sie sagte langsam: «Darüber hat sie nie gesprochen. Ich
meine – sie hat immer so viel vorgehabt.«
»Und du warst natürlich noch ein Kind. Ja, ich weiß.
Trotzdem – ich dachte, daß sie dir vielleicht manches
erzählt haben könnte.«
Er sah sie erwartungsvoll an – wie ein Hund, der um
etwas bettelt.
Sie wollte nicht, daß George sich kränkte. Und
Rosemarie hatte auch tatsächlich nie etwas gesagt. Sie
schüttelte den Kopf.
George seufzte tief:
»Nun, es ist nicht so wichtig.«
Bei einer anderen Gelegenheit fragte er sie plötzlich,
wer Rosemaries beste Freundinnen gewesen seien.
Iris überlegte: »Gloria King. Mrs. Atwell – Maisie
Atwell. Jean Raymond.«
»War sie mit denen wirklich ganz eng befreundet?«
»Wie eng, weiß ich natürlich nicht.«
»Ich meine: Glaubst du, daß sie einer von ihnen

29
vielleicht ein Geheimnis anvertraut hätte?«
»Ich weiß nicht... Ich halte es eigentlich nicht für sehr
wahrscheinlich. An was für eine Art Geheimnis denkst
du?«
Diese Frage hätte ich nicht stellen sollen, dachte sie
gleich darauf .Aber zu ihrer Überraschung antwortete
George mit der Gegenfrage: »Hat dir Rosemarie jemals
gesagt, sie hätte vor einer bestimmten Person Angst?«
»Angst?« Iris machte große Augen.
»Worauf ich hinauswill, ist folgendes: Hat Rosemarie
Feinde gehabt?«
»Feinde unter ihren Freundinnen?«
»Nein, nein – nicht das. Wirkliche Feinde. Weißt du
von niemandem, der ihr – nun, nach dem Leben
getrachtet haben könnte?«
Der fassungslose Blick, mit dem ihn Iris ansah, schien
ihm Unbehagen zu bereiten. Er wurde rot und
murmelte: »Ich weiß, es klingt dumm. Dramatisch. Ich
frage mich bloß...«
Einige Tage später begann er sie über die Farradays
auszufragen.
»War Rosemarie viel mit den Farradays zusammen?«
»Ich weiß es wirklich nicht, George.«
»Hat sie viel von ihnen gesprochen?«
»Nein, ich kann mich nicht erinnern.«
»War sie eng mit ihnen befreundet?«
»Rosemarie hat sich sehr für Politik interessiert.«
»Ja. Nachdem sie die Farradays in der Schweiz
kennengelernt hatte. Vorher hat sie sich keinen Deut
um Politik gekümmert.«
»Das stimmt. Ich denke mir, Stephen Farraday hat

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dieses Interesse in ihr wachgerufen. Er hat ihr immer
Broschüren und solches Zeug geborgt.«
»Und was hat Sandra Farraday davon gehalten?«
»Wovon?«
»Daß ihr Mann Rosemarie Broschüren geborgt hat.«
Iris sagte verlegen: »Das weiß ich nicht.«
»Sandra ist eine sehr verschlossene Frau. Macht einen
eiskalten Eindruck, soll aber in Farraday leiden-
schaftlich verliebt sein. Eine Frau, die seine Freund-
schaft mit einer anderen gewaltig übelnehmen könnte.«
»Vielleicht.«
»Wie sind Rosemarie und Farradays Frau miteinander
ausgekommen?«
Iris meinte langsam: »Ich glaube, nicht sehr gut.
Rosemarie hat sich über Sandra lustig gemacht. Eine
Frau wie ein ausgestopftes Schaukelpferd hat sie sie
genannt. Sie hat wirklich etwas von einem Pferd an
sich, weißt du. Rosemarie hat gesagt: ›Wenn man ein
Loch in sie hineinsticht, rinnt das Sägemehl heraus. ‹«
Geoge lachte. Dann wechselte er das Thema.
»Triffst du diesen Anthony Browne noch häufig?«
»Ziemlich oft.« Iris sagte es abweisend, aber George
wiederholte seine frühere Warnung nicht. Statt dessen
zeigte er sich plötzlich interessiert.
»Tüchtig in der Welt herumgekommen, der Bursche,
was? Muß ein sehr anregendes Leben geführt haben.
Erzählt er dir manchmal davon?«
»Nicht viel. Ja, er hat natürlich große Reisen gemacht.«
»Vermutlich Geschäftsreisen?«
»Ja, ich glaube.«
»Was ist er eigentlich von Beruf?«

31
»Ich habe keine Ahnung.«
»Er hat wohl irgend etwas mit der Rüstungsindustrie zu
tun, nicht wahr?«
»Er hat nie darüber gesprochen...«
»Nun, du brauchst ihm auch nicht zu erzählen, daß ich
gefragt habe. Das war bloß so ein Gedanke von mir. Im
letzten Herbst hat man ihn oft mit Dewsbury zusammen
gesehen – das ist der Präsident der United Arms Ltd.
Übrigens: Rosemarie war viel mit Browne zusammen,
nicht wahr?«
»Doch – ja, ziemlich viel.«
»Aber er war für sie doch wohl nur ein eher ober-
flächlicher Bekannter?«
»Ja.«
»Weißt du, ich war ziemlich erstaunt, daß sie ihn zu
ihrer Geburtstagsgesellschaft eingeladen hatte. – Wußte
gar nicht, daß sie so gut miteinander bekannt waren.«
Iris sagte leise: »Er tanzt sehr gut...«
»Ja, ja, natürlich.«
Unwillkürlich tauchte in Iris' Erinnerung ein Bild von
jenem Abend auf. Der runde Tisch im Luxembourg, die
gedämpften Lichter, die Blumen. Die Tanzkapelle mit
ihren hartnäckigen Rhythmen. Die sieben Menschen
um den Tisch herum: Sie selbst, Anthony Browne,
Rosemarie, Stephen Farraday, Ruth Lessing, George –
und rechts von George Stephen Farradays Frau, Lady
Alexandra Farraday, mit ihrem gebleichten, glatten
Haar, ihren etwas geblähten Nasenflügeln und ihrer
hellen, arroganten Stimme. Eine vergnügte Gesellschaft
war es gewesen! Oder vielleicht doch nicht...?
Und mitten unter ihnen saß Rosemarie. Nein – daran

32
wollte sie besser nicht denken. Lieber dachte sie nur
daran, daß sie neben Tony gesessen hatte – eigentlich
hatte sie ihn bei dieser Gelegenheit erst kennengelernt.
Vorher war er für sie nur ein Name gewesen, ein
Schatten in der Halle.
Er war für Iris nur die Rückenansicht eines Herrn, der
Rosemarie die Stufen hinunter zum Taxi begleitete.
Tony...
Mit einem Ruck fand sie sich in die Wirklichkeit
zurück. George war dabei, eine Frage zu wiederholen.
»Sonderbar, daß er hinterher so schnell verschwunden
ist. Wo ist er damals eigentlich hingegangen, weißt du
das?«
Sie antwortete in unbestimmtem Ton: »Oh – nach
Ceylon, glaube ich, oder nach Indien.«
»Hat damals kein Wort davon gesagt.«
Etwas scharf gab Iris zurück: »Warum auch? Und, sag -
müssen wir noch weiter über – den damaligen Abend
sprechen?«
George errötete vor Verlegenheit.
»Nein, nein – natürlich nicht. Tut mir furchtbar leid,
Iris. Lade doch übrigens Browne mal zum Abendessen
ein. Ich würde ihn gern wiedersehen.«
Iris war hocherfreut. George lenkte also ein! Die
Einladung wurde pflichtgemäß weitergegeben und auch
angenommen, aber im letzten Augenblick mußte
Anthony geschäftlich nach Nordengland fahren und
konnte nicht kommen.
Eines Tages – es war Ende Juli – hatte George Lucilla
und Iris mit der Ankündigung überrascht, er habe ein
Haus auf dem Lande gekauft.

33
»Ein Haus gekauft?« fragte Iris ungläubig. »Aber du
wolltest doch das Haus in Goring für zwei Monate
mieten?«
»Aber ein eigener Besitz ist doch viel schöner, findest
du nicht? Dann kann man das ganze Jahr über zum
Wochenende hinausfahren.«
»Wo liegt das Haus? An der Themse?«
»Eigentlich nicht. Eher im Gegenteil. In Sussex,
Marlingham. Es heißt Little Priors. Fünf Hektar.
Kleines Haus – hübscher, alter Stil.«
»Und du hast es einfach so gekauft, ohne es uns vorher
zu zeigen?«
»Es war eine Occasion. Ich habe schnell zugreifen
müssen.«
Mrs. Drake meinte: »An dem Haus wird wahrscheinlich
viel zu renovieren sein.«
George antwortete kurz angebunden: »Ach, das ist in
Ordnung. Dafür hat Ruth schon gesorgt.«
Der Name Ruth Lessings, der tüchtigen Sekretärin von
George, wurde mit achtungsvollem Schweigen aufge-
nommen. Ruth war weit mehr als eine Sekretärin – sie
war eine Institution, praktisch ein Mitglied der Familie.
Immer streng schwarzweiß gekleidet, sah sie sehr
anziehend aus und war zugleich ein Muster an
Tüchtigkeit und Takt...
Rosemarie pflegte zu ihren Lebzeiten zu sagen: »Wir
wollen das Ruth überlassen. Ruth ist großartig. Ruth
wird es schon machen.«
Es gab keine Schwierigkeiten, die Miss Lessing nicht
beseitigen konnte. Lächelnd, liebenswürdig und
gelassen überwand sie alle Hindernisse. Wie am

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Schnürchen leitete sie Georges Büro und – so wurde
geraunt – George ebenfalls. Er hing sehr an ihr und
verließ sich in jeder Beziehung auf ihr Urteil. Eigene
Bedürfnisse und Wünsche schien sie nicht zu besitzen.
Trotzdem war Lucilla damals sehr ärgerlich gewesen.
»Mein lieber George, Ruth mag ja gewiß sehr tüchtig
sein, aber – nun, in jeder Familie bestimmen die Frauen
gern selbst, was für Tapeten und Vorhänge der Salon
bekommen soll! Wenigstens Iris hätte nach ihrer
Meinung gefragt werden müssen. Von mir rede ich ja
gar nicht. Ich zähle nicht. Aber für Iris ist es ärgerlich.«
George machte ein schuldbewußtes Gesicht.
»Ich wollte euch doch überraschen!«
Lucilla mußte wider Willen lächeln.
»Was bist du doch für ein großes Kind, George!«
Iris sagte: »Mir macht es nichts aus, wenn die Tapeten
und Vorhänge schon ausgesucht sind. Ich bin über-
zeugt, Ruth hat es großartig getroffen. Sie ist ja so
tüchtig! Was werden wir dort den ganzen Tag tun? Gibt
es einen Tennisplatz?«
»Ja, den gibt es, und einen Golfplatz in etwa zehn
Kilometer Entfernung. Außerdem liegt das Haus kaum
mehr als zwanzig Kilometer von der Küste entfernt.
Und noch etwas: Wir haben Nachbarn. Ich glaube, es
ist immer gut, sich in einer Gegend anzusiedeln, wo
man jemanden kennt.«
»Wer sind die Nachbarn?« fragte Iris schnell.
George wich ihrem Blick aus. »Die Farradays«, sagte
er. »Die wohnen gleich jenseits des Parks, ungefähr
zweieinhalb Kilometer entfernt.«
Iris starrte ihn an. Auf einmal war sie überzeugt, daß

35
dieser ganze, sorgfältig ausgearbeitete Plan, ein
Landhaus zu kaufen und einzurichten, nur einem
einzigen Zweck diente: George in Kontakt mit Stephen
und Sandra Farraday zu bringen. Als Nachbarn mit
aneinandergrenzenden Besitzungen mußten die beiden
Familien miteinander verkehren. Ja, entweder das oder
– sie mußten sich gegenseitig bewußt schneiden!
Aber wozu das alles? Wozu dieser kostspielige Weg,
um ein unbegreiflichs Ziel zu erreichen?
Hatte George den Verdacht geschöpft, daß Rosemarie
und Stephen Farraday mehr als nur Freunde gewesen
waren? Handelte es sich um eine ausgefallene Eifer-
suchtskundgebung über das Grab hinaus? Nein – das
war doch sicher zu weit hergeholt!
Was also wollte George wirklich von den Farradays?
Was steckte hinter all den sonderbaren Fragen, mit
denen er Iris bombardierte?
Den August hatten sie zum größten Teil in Little Priors
verbracht. Ein gräßliches Haus! Iris fröstelte. Sie haßte
das Haus. Ein anmutiges, wohlgebautes Haus, harmo-
nisch möbliert und ausgestattet – Ruth Lessing versagte
nie! – und dennoch auf eine seltsame, beängstigende
Weise leer. Sie wohnten nicht in dem Haus, sie hielten
es besetzt. Wie Soldaten, die im Krieg einen
Beobachtungsposten in Feindesland besetzt hielten.
Was den Aufenthalt so unerträglich machte, war das
Bemühen, äußerlich den Anschein des üblichen
normalen Ferienbetriebes zu erwecken. Besuche über
das Wochenende, Tennispartien, kleine Abendessen mit
den Farradays. Sandra Farraday war reizend zu ihnen
gewesen – genau wie man mit Nachbarn umgeht, mit

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denen man schon befreundet ist. Sie hatte Bekannt-
schaften mit den Leuten aus der Gegend vermittelt,
Ratschläge wegen der Reitpferde erteilt und Lucilla mit
jener Rücksicht behandelt, die ihren Jahren entsprach.
Aber niemand wußte, was sich hinter der Maske ihres
blassen, lächelnden Gesichts verbarg. Eine Frau wie
eine Sphinx.
Mit Stephen waren sie weniger zusammengekommen.
Er war sehr beschäftigt und häufig unterwegs. Iris hatte
den bestimmten Eindruck, daß er es absichtlich
vermied, die Bewohner von Little Priors öfter zu sehen
als unbedingt notwendig.
So war der August verstrichen, und dann der
September. Man hatte beschlossen, im Oktober wieder
nach London zurückzukehren. Iris hatte aufgeatmet. In
London wurde George vielleicht wieder der alte.
Und dann war sie in der vergangenen Nacht durch ein
leises Klopfen an ihrer Tür geweckt worden. Sie hatte
das Licht angeknipst und auf die Uhr geschaut. Erst
eins. Sie war um halb elf zu Bett gegangen und dachte,
es sei viel später.
Sie warf ihren Morgenrock über und ging zur Tür.
Irgendwie schien ihr das passender zu sein, als bloß
»herein« zu rufen.
Draußen stand George. Er war noch nicht zu Bett
gewesen, hatte noch den Smoking an. Er atmete
schwer, und sein Gesicht sah merkwürdig bläulich aus.
»Komm hinunter ins Arbeitszimmer, Iris. Ich muß mit
dir reden. Ich muß mit jemandem reden.«
Sie gehorchte, verwundert und noch vom Schlaf
befangen.

37
Im Arbeitszimmer angelangt, schloß er die Tür und
setzte sich ihr gegenüber an den Schreibtisch. Er schob
ihr die Zigaretten zu und zündete sich gleichzeitig mit
zitternder Hand selbst eine an.
Iris fragte: »Ist etwas passiert, George?«
Sie war jetzt wirklich beunruhigt. Er sah aus wie ein
Gespenst.
George begann kurz und abgerissen zu sprechen.
»Ich komme allein nicht weiter. Ich kann nicht mehr
schweigen. Du mußt mir sagen, was du davon hältst –
ob es wahr ist – ob es möglich ist...«
»Wovon sprichst du eigentlich, George?«
»Du mußt etwas beobachtet, etwas bemerkt haben. Hat
sie nie etwas gesagt? Es muß doch irgendein Grund
dasein...«
Iris starrte ihn verständnislos an.
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Du begreifst nicht, wovon ich rede. Das sehe ich.
Mach kein so ängstliches Gesicht, Kleines. Du mußt
mir helfen. Du mußt versuchen, dich an jede kleinste
Einzelheit zu erinnern. Ja, es klingt alles ein bißchen
wirr, aber du wirst mich gleich verstehen – wenn ich dir
die Briefe zeige.«
George öffnete eine Schreibtischschublade und ent-
nahm ihr zwei Blätter. Es waren blaßblaue, harmlos
aussehende Briefbogen, auf denen in Druckbuchstaben
Worte standen.
»Lies das«, sagte George.
Iris schaute auf das Papier. Der Text war klar und ohne
Umschweife.
»Sie glauben, Ihre Frau habe Selbstmord begangen.

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Das stimmt nicht. Sie ist umgebracht worden.«
Auf dem zweiten Bogen stand: »Ihre Frau Rosemarie
hat sich nicht umgebracht. Sie ist ermordet worden.«
Während Iris wie gebannt auf die beiden Schriftstücke
starrte, fuhr George fort: »Das habe ich vor etwa drei
Monaten bekommen. Zuerst dachte ich, es wäre ein
Scherz – ein schlechter, grausamer Scherz. Dann fing
ich an zu überlegen. Aus welchem Grund hätte
Rosemarie Selbstmord begehen sollen?«
Iris antwortete mechanisch: »Seelische Depression
nach einem Grippeanfall.«
»Ja, aber bei näherer Überlegung ist das doch dummes
Zeug, findest du nicht? Ich meine, es gibt sehr viele
Leute, die Grippe haben und sich hinterher ein bißchen
deprimiert fühlen, aber nicht gleich...«
Iris sagte mühsam: »Vielleicht war sie unglücklich?«
»Ja, vielleicht.« George schien einen Augenblick über
diese Möglichkeit nachzudenken. »Trotzdem sehe ich
nicht ein, warum Rosemarie ihrem Leben ein gewalt-
sames Ende setzen mußte, weil sie unglücklich war.
Gedroht hätte sie vielleicht damit, aber ich glaube nicht,
daß sie Ernst gemacht hätte.«
»Aber sie muß es doch selbst getan haben, George! Es
gibt keine andere Erklärung! Das Zeug ist sogar in ihrer
Handtasche gefunden worden.«
»Ich weiß, es schien alles sehr glaubwürdig. Aber
seitdem das da gekommen ist« – er klopfte mit dem
Finger auf die anonymen Briefe –, »habe ich dauernd
hin und her überlegt. Und je mehr ich über die Dinge
nachdenke, desto sicherer scheint es mir, daß an diesen
Mitteilungen etwas Wahres ist. Das ist auch der Grund,

39
weshalb ich dich immer fragte, ob sie Feinde hatte, ob
sie jemals etwas sagte, das nach Angst klang. Wer sie
getötet hat, muß doch ein Motiv gehabt haben...«
»George, du bist verrückt...«
»Ja, das glaube ich manchmal selbst. Aber ein andermal
weiß ich dann wieder, daß ich auf der richtigen Spur
bin. Aber ich muß es genau wissen – muß alles
herausbringen. Und du mußt mir dabei helfen, Iris. Du
mußt nachdenken. Du mußt dein Gedächtnis anstrengen
– dich erinnern. Geh Rosemaries Geburtstagabend in
Gedanken immer wieder durch. Denn du begreifst
doch: Wenn sie ermordet worden ist, muß es jemand
getan haben, der an dem Abend mit uns am Tisch saß.
Das siehst du doch ein, nicht wahr?«
Ja, das sah Iris ein. Sie durfte die Erinnerung an jenen
Abend nicht mehr beiseite schieben. Alles mußte ihr
wieder einfallen. Die Musik, die Trommelwirbel, die
erlöschenden Lichter, das Kabarett, die Lichter, die
wieder angingen – und Rosemarie, wie sie mit
verkrampftem, bläulich angelaufenem Gesicht über den
Tisch hingestreckt dalag. Iris überlief es kalt. Sie hatte
Angst – furchtbare Angst...
Sie mußte sich zum Nachdenken zwingen – zur
Erinnerung. Es durfte kein Vergessen geben.

Während einer kurzen Ruhepause in ihrem vollge-


packten Arbeitstag dachte Ruth Lessing an die Frau
ihres Chefs, Rosemarie Barton.

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Sie hatte gegen Rosemarie eine ziemliche Abneigung
empfunden. Wie sehr, hatte sie erst an jenem
Novembermorgen gespürt, an dem sie Victor Drake
zum erstenmal begegnet war.
Das Gespräch mit Victor war der Anfang gewesen,
hatte alles andere ins Rollen gebracht. Vor diesem
Gespräch waren ihre Gefühle und Gedanken so tief in
ihrem Unterbewußtsein verborgen, daß ihr eigentlich
nichts von alledem klar war.
Sie war George Barton treu ergeben, war es immer
gewesen. Als kühle, tüchtige junge Person von dreiund-
zwanzig Jahren hatte sie die Stellung bei ihm ange-
treten und gleich gesehen, daß sich jemand seiner
annehmen mußte. Dieser »Jemand« wurde sie. Sie hatte
ihm Zeit, Geld und Mühe erspart. Sie suchte seine
Freunde aus und sorgte dafür, daß er Hobbys fand, die
zu ihm paßten. Sie bewahrte ihn vor zweifelhaften
geschäftlichen Abenteuern und regte ihn gelegentlich
zu klugen Spekulationen an. Kein einziges Mal in ihrer
langjährigen Verbindung hatte George den geringsten
Verdacht, Ruth sei etwas anderes als seine ergebene,
aufmerksame Angestellte, die genau nach seinen Direk-
tiven arbeitete. Ihre Erscheinung machte ihm ausge-
sprochen Freude: das dunkle, schimmernde, ordentlich
frisierte Haar, ihre gutgeschnittenen Kostüme und
adretten Hemdblusen, die kleinen Perlen in ihren wohl-
geformten Ohrläppchen, die diskrete Schattierung ihres
Lippenstifts.
Ruth – dieses Gefühl hatte er – war so, wie sie sein
sollte. Er mochte ihre unpersönliche, ruhige Art gern
leiden. Infolgedessen sprach er mit ihr ziemlich viel

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über seine Privatangelegenheiten, wobei sie voll Anteil-
nahme zuhörte und von Zeit zu Zeit einen nützlichen
Rat einstreute.
Mit seiner Heirat hatte sie jedoch nichts zu tun. Sie war
auch nicht damit einverstanden. Aber sie fand sich
damit ab und war bei den Hochzeitsvorbereitungen eine
unschätzbare Hilfe, die Mrs. Marle in vielem entlastete.
In der ersten Zeit nach der Hochzeit stand Ruth mit
dem Chef auf etwas weniger vertrautem Fuß. Sie
beschränkte sich auf die Arbeit im Büro, von der ihr
George einen großen Teil überließ.
Ihre Tüchtigkeit war aber so auffällig, daß Rosemarie
bald erkannte, »Georges Miss Lessing« sei eine unent-
behrliche Hilfe in allen Lebenslagen. Auch war Miss
Lessing stets liebenswürdig, heiter und höflich.
George, Rosemarie und Iris nannten sie alle beim
Vornamen, und sie kam oft zum Mittagessen an den
Elvaston Square. Sie war jetzt neunundzwanzig und sah
noch genauso aus wie mit dreiundzwanzig.
Über Victor Drake sprach George mit ihr an einem
Novembermorgen.
»Ruth, ich möchte, daß Sie etwas Unangenehmes für
mich erledigen.«
Sie sah ihn erwartungsvoll an.
»In jeder Familie gibt es ein schwarzes Schaf«, fuhr
George fort.
Ruth nickte teilnahmsvoll.
»In diesem Fall handelt es sich um einen Vetter meiner
Frau – einen unverbesserlichen Tunichtgut. Seine
Mutter hat er schon halb an den Bettelstab gebracht –
die gute dumme Seele hat die paar Aktien, die sie

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besaß, größtenteils verkauft, um ihm aus der Patsche zu
helfen. Angefangen hat es mit einer Scheckfälschung in
Oxford – die ist vertuscht worden, und seitdem wird er
dauernd in der Welt herumgeschickt. Nirgends bringt er
es zu etwas.«
Ruth hörte ohne großes Interesse zu. Sie kannte solche
Leute: Sie betrieben Orangenplantagen, züchteten
Hühner, gingen als Aufseher auf australische Vieh-
farmen, hatten Posten bei Gefrierfleischkonzernen in
Neuseeland. Sie brachten es nie zu etwas, blieben
nirgends lange, und das Kapital, das man in sie
investiert hatte, zerrann ihnen unweigerlich zwischen
den Fingern. Diese Leute hatten Ruth nie interessiert.
Sie hielt es lieber mit den Erfolgreichen.
»Er ist jetzt in London aufgetaucht«, erklärte George
weiter, »und belästigt meine Frau. Sie hat ihn seit ihrer
Schulzeit nicht gesehen, aber der Gauner besitzt eine
große Überredungsgabe und bittet sie um Geld; das
werde ich nicht dulden. Ich habe mich mit ihm für
heute mittag zwölf Uhr in seinem Hotel verabredet und
möchte gern, daß Sie für mich hingehen, weil ich mit
dem Mann gar nicht persönlich in Berührung kommen
will. Ich kenne ihn nicht und wünsche ihn nicht
kennenzulernen, und ich will auch nicht, daß
Rosemarie mit ihm zusammentrifft. Ich denke mir, die
ganze Geschichte läßt sich auf rein geschäftlicher Basis
erledigen, falls das durch eine dritte Person geschieht.«
»Ja, das ist immer eine gute Methode. Wie soll Ihre
Vereinbarung mit ihm aussehen?«
»Hundert Pfund in bar und eine Schiffskarte nach
Buenos Aires. Das Geld wird ihm erst an Bord

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ausgehändigt.«
Ruth lächelte. »Ganz richtig. Sie wollen sicher sein,
daß er auch wirklich abreist.«
»Ich sehe, Sie verstehen mich.«
»Es ist kein außergewöhnlicher Fall«, meinte Ruth.
»Nein, es gibt eine Menge solcher Leute.« George
zögerte.
»Macht es Ihnen wirklich nichts aus, mir die Sache
abzunehmen?«
»Natürlich nicht. – Wie heißt er übrigens?«
»Victor Drake. Hier ist das Billett. Ich habe die
Reederei gestern angerufen. Das Schiff ist die ›San
Cristobal‹, sie sticht morgen von Tilbury aus in See.«
Ruth nahm die Schiffskarte, sah nach, ob sie richtig
ausgestellt war, und steckte sie in ihre Handtasche.
»Ist gut, ich besorge das. Zwölf Uhr. Wo wohnt er?«
»Im Rupert beim Russell Square.«
Sie notierte das Hotel.
»Meine liebe Ruth, ich weiß gar nicht, was ich ohne Sie
anfangen würde.« George legte ihr liebevoll die Hand
auf die Schulter. Es war das erstemal, daß er etwas
Derartiges getan hatte. »Sie sind meine rechte Hand,
mein zweites Ich.«
Sie errötete vor Freude.
»Ich habe nie viel Worte machen können – habe alles,
was Sie für mich tun, einfach hingenommen -, aber in
Wirklichkeit ist es anders. Sie ahnen nicht, wie sehr ich
mich auf Sie verlasse – in allem«, wiederholte er. »Sie
sind der liebste, netteste, hilfsbereiteste Mensch auf der
Welt!«
Ruth lachte, um ihre Freude und Verlegenheit zu

44
verbergen.
»Sie verwöhnen mich, wenn Sie mir so reizende
Sachen sagen.«
»Nein, ich meine es ganz ernst. Sie sind ein Teil der
Firma, Ruth. Ein Leben ohne Sie wäre undenkbar.«
Sie ging hinaus, ein Gefühl der Wärme im Herzen. Sie
spürte es immer noch, als sie ins Rupert trat.
Die Aufgabe, die vor ihr lag, bereitete ihr kein Unbe-
hagen. Sie vertraute fest auf ihre Fähigkeit, mit jeder
Situation fertig zu werden. Sie war bereit, den Fall
Victor Drake als eine ihrer täglichen Büropflichten in
Angriff zu nehmen.
Victor war fast so, wie sie sich ihn vorgestellt hatte, nur
bedeutend anziehender. In ihrem Urteil über seinen
Charakter hatte sie sich nicht geirrt. An Victor Drake
war nicht viel Gutes, Kälte und Berechnung hinter einer
Maske liebenswürdiger Verwegenheit. Eines hatte sie
jedoch nicht vorausgesehen: seine Fähigkeit, die
Gedanken anderer Menschen zu erraten und intuitiv für
sich zu nutzen. Vielleicht hatte sie auch ihre eigene
Empfänglichkeit für seinen Charme unterschätzt. Denn
Charme besaß er wirklich. Er begrüßte sie mit freudig
erstaunter Miene.
»Sie kommen von George! Das ist ja großartig! Was
für eine reizende Überraschung.«
In trockenen, ruhigen Worten setzte sie ihm Georges
Bedingungen auseinander. Victor erklärte sich in
liebenswürdigster Weise damit einverstanden.
»Hundert Pfund? Gar nicht schlecht. Der arme alte
George! Ich hätte auch sechzig genommen – aber sagen
Sie es ihm nicht! Bedingungen: der schönen Cousine

45
Rosemarie keinen Kummer machen, der unschuldigen
Cousine Iris nicht nahe kommen, den werten Vetter
George nicht belästigen. Alles angenommen! Und wer
wird mich auf der ›San Cristobal‹ verabschieden? Sie,
meine liebe Miss Lessing? Das ist ja entzückend!« Er
zwinkerte amüsiert mit den Augen. Sein Gesicht war
schmal und gebräunt, und er hatte etwas von einem
Stierkämpfer an sich – romantische Vorstellung! Er
übte eine starke Wirkung auf Frauen aus und war sich
dessen auch bewußt. »Sie sind schon eine ganze Weile
bei Barton, nicht wahr, Miss Lessing?«
»Sechs Jahre.«
»Und er könnte ohne Sie gar nicht auskommen! O ja,
das weiß ich. Und ich weiß auch alles über Sie, Miss
Lessing.«
»Wieso?« fragte Ruth interessiert.
Victor grinste. »Rosemarie hat es mir erzählt.«
»Rosemarie? Aber...«
»Ja, ist schon gut. Ich habe nicht die Absicht,
Rosemarie weiter zu belästigen. Sie ist sehr nett zu mir
gewesen – sehr verständnisvoll. Um ehrlich zu sein, ich
habe sogar einen Hunderter aus ihr herausgeholt.«
»Sie haben...« Ruth brach ab, und Victor lachte. Sein
Lachen war ansteckend. Sie ertappte sich dabei, wie sie
selbst lachte. »Das ist aber schlimm von Ihnen, Mr.
Drake.«
»Ja, ich bin sehr geschickt. Meine gute Mutter wird
mich beispielsweise nie im Stich lassen, wenn ich tele-
grafisch mit sofortigem Selbstmord drohe.«
»Sie sollten sich eigentlich schämen.«
»Ich mißbillige mein Verhalten aufs äußerste. Ich bin

46
ein schlechter Kerl, Miss Lessing, ich wollte, Sie
wüßten, wie schlecht.«
»Warum?« fragte sie neugierig.
»Ich weiß nicht. Sie sind anders. Bei Ihnen würde ich
mit meiner gewöhnlichen Taktik nicht durchkommen.
Sie haben so einen klaren Blick – Sie würden nicht
darauf hereinfallen. ›Ein armer Teufel... Opfer der
Verhältnisse‹ – das verfängt bei Ihnen nicht. Sie haben
kein Mitleid.«
Ihr Gesicht wurde hart. »Ich hasse Mitleid. Und vor
allem habe ich keine Nachsicht für Schwäche.«
»Wer sagt, daß ich schwach bin? Nein, nein – da irren
Sie sich, meine Liebe. Böse – ja, das vielleicht. Aber
eines läßt sich zu meinen Gunsten sagen.«
»Nämlich?«
»Daß es mir gewaltig Spaß macht.« Er nickte. »Ja, es
macht mir ungeheuren Spaß. Ich habe sehr viel erlebt,
Ruth. Ich habe in meinem Leben fast alles getan, was
man tun kann. Ich bin Schauspieler gewesen – Laden-
besitzer – Kellner – Tagelöhner – Gepäckträger – sogar
Requisiteur in einem Zirkus! Ich war Präsident-
schaftskandidat in einer südamerikanischen Republik.
Ich habe im Gefängnis gesessen. Nur zwei Dinge habe
ich nie getan: ehrliche Arbeit geleistet und für mich
selbst bezahlt.«
Er sah sie lachend an. Sie hatte das Gefühl, sie müsse
empört sein. Aber die Kraft Victor Drakes war die
Kraft des Teufels. Er besaß die Fähigkeit, das Böse
unterhaltend erscheinen zu lassen. Sein unheimlich
durchdringender Blick hielt sie gefangen.
»Machen Sie doch kein so ablehnendes Gesicht, Ruth!

47
Sie sind auch nicht so moralisch, wie Sie glauben! Ihr
Fetisch heißt Erfolg. Sie sind eines von den Mädchen,
die schließlich ihren Chef heiraten. Und das hätten Sie
mit George tun sollen. George hätte diese dumme
kleine Rosemarie nicht heiraten dürfen. Sie hätte er
heiraten müssen! Das wäre ihm tausendmal besser
bekommen.«
»Sie werden allmählich unverschämt.«
»Rosemarie ist eine kleine Närrin, ist es immer
gewesen. Schön wie ein Engel und dumm wie ein
Kaninchen. Sie gehört zu der Sorte, in die sich die
Männer verlieben, aber bei der sie nicht bleiben. Sie
dagegen – Sie sind ganz anders. Mein Gott – wenn ein
Mann sich in Sie verliebt, läßt er nicht mehr locker.«
Er hatte ihre wundeste Stelle berührt. Sie sagte mit
plötzlicher, rücksichtsloser Aufrichtigkeit: »Ja, wenn!
Aber er hat sich nun einmal nicht in mich verliebt.«
»Sie meinen George? Täuschen Sie sich nicht, Ruth.
Wenn Rosemarie etwas zustieße, würde George Sie auf
der Stelle heiraten.«
George, der seine Hand auf die ihre legte, der mit
warmer, liebevoller Stimme zu ihr sprach – ja, das
stimmte sicher... Er verließ sich auf sie, baute auf sie...
Victor sagte sanft: »Es fehlt Ihnen an Selbstvertrauen,
meine Liebe. Sie könnten George um den kleinen
Finger wickeln.«
Er hat recht, dachte Ruth. Wenn Rosemarie nicht wäre,
würde George mich heiraten. Ich würde gut zu ihm
sein. Ich würde für ihn sorgen.
Auf einmal stieg ein blinder Zorn, eine leiden-
schaftliche Wut in ihr auf. Victor Drake beobachtete sie

48
mit geheimem Vergnügen. Es machte ihm Spaß,
anderen Menschen Gedanken in den Kopf zu setzen.
Oder auch – wie in diesem Fall –, ihnen zu zeigen, daß
sie diese Gedanken schon im Kopf hatten...
So hatte es begonnen – eine Zufallsbegegnung mit
einem Mann, der am nächsten Tag auf die entgegen-
gesetzte Seite der Erdkugel reisen sollte. Die Ruth, die
ins Büro zurückkam, war nicht die gleiche Ruth, die es
einige Stunden zuvor verlassen hatte; aber in ihrem
Auftreten und in ihrer Erscheinung hätte niemand einen
Unterschied wahrnehmen können.
Kurz nach ihrer Rückkehr ins Büro rief Rosemarie
Barton dort an.
»Mr. Barton ist gerade zum Essen gegangen. Kann ich
irgend etwas für Sie tun?«
»Ach, Ruth, wären Sie so gut? Dieser langweilige
Colonel Race hat telegrafiert, daß er nicht rechtzeitig zu
meiner Gesellschaft zurück sein kann. Fragen Sie
George, wen ich an seiner Stelle einladen soll. Wir
müssen noch einen vierten Herrn haben. Außer mir
kommen drei Frauen – Iris und Sandra Farraday und –
wer ist nur die dritte? Ich kann mich beim besten
Willen nicht erinnern.«
»Ich glaube, ich. Sie waren so freundlich, mich einzu-
laden.«
»Ja natürlich, Ruth. Ich hatte Sie total vergessen.«
Rosemarie ließ ein leichtes, klingendes Lachen hören.
Die plötzliche Röte, die in Ruths hartgewordenes
Gesicht stieg, konnte sie nicht sehen.
Aus Gnade – aus Rücksicht auf George hatte
Rosemarie sie zu ihrer Geburtstagsgesellschaft einge-

49
laden! »Nun, meinetwegen, lassen wir deine Ruth
Lessing kommen. Es wird ihr Freude machen, und sie
ist so riesig nützlich. Außerdem sieht sie ganz
annehmbar aus.«
In diesem Augenblick war sich Ruth Lessing bewußt,
daß sie Rosemarie Barton haßte. Sie haßte sie wegen
ihres Reichtums, ihrer Schönheit, ihrer Gleich-
gültigkeit, ihrer Hirnlosigkeit. Für Rosemarie gab es
keine harten täglichen Pflichten in einem Büro – ihr
wurde alles auf einem goldenen Tablett gereicht.
Liebesaffären – ein Gatte, der in sie vernarrt war – kein
Zwang zu Arbeit und Vorsorge...
Verhaßte, herablassende, hochmütige, oberflächliche
Schönheit...
»Ich wollte, du wärst tot«, flüsterte Ruth Lessing leise
in das schweigende Telefon.
Sie erschrak über ihre eigenen Worte. Sie paßten so gar
nicht zu ihr. Nie war sie leidenschaftlich, nie gewalt-
tätig gewesen – nie anders als kühl, beherrscht und
tüchtig.
Was ist nur los mit mir? fragte sie sich.
An jenem Nachmittag hatte sie Rosemarie Barton
gehaßt. Heute, ein Jahr später, haßte sie Rosemarie
Barton immer noch. Eines Tages würde es ihr vielleicht
gelingen, Rosemarie Barton zu vergessen. Aber jetzt
noch nicht.
Sie dachte bewußt an jene Novembertage zurück – wie
sie vor dem Telefon saß und den Haß in sich aufsteigen
spürte... Wie sie George mit liebenswürdiger und
ruhiger Stimme Rosemaries Botschaft ausrichtete. Wie
sie vorgeschlagen hatte, selbst auf den Abend zu

50
verzichten, damit die Gäste eine gerade Zahl bilden
sollten. Aber da war sie bei George schön ange-
kommen!
Am nächsten Morgen war sie zu ihm hineingegangen,
um über das Auslaufen der »San Cristobal« zu
berichten. Georges Erleichterung und Dankbarkeit. »Er
ist also wirklich abgereist?«
»Ja. Ich habe ihm das Geld gegeben, unmittelbar bevor
die Laufplanke eingezogen wurde.« Sie zögerte und
fuhr dann fort:
»Als das Schiff abdrehte, rief er noch: ›Umarmen Sie
George und sagen Sie ihm, daß ich heute abend auf sein
Wohl trinken werde!‹«
»Unverschämter Kerl...!« sagte George. Dann fragte er
neugierig: »Was halten Sie von ihm, Ruth?«
Ruth antwortete mit ausdrucksloser Stimme: »Oh – ein
schwacher Charakter.«
Und George sah nichts, merkte nichts! Sie hatte das
Gefühl, sie müsse hinausschreien: »Warum hast du
mich zu ihm geschickt? Wußtest du nicht, was er mir
antun würde? Begreifst du nicht, daß ich seit gestern
ein anderer Mensch bin? Daß ich gefährlich geworden
bin und zu allem fähig?«
Statt dessen sagte sie in geschäftsmäßigem Ton: »Was
den Brief nach São Paulo betrifft...« Sie war ganz die
beherrschte, zuverlässige Sekretärin.
Fünf Tage später. Rosemaries Geburtstag.
Ein stiller Tag im Büro – Besuch beim Friseur – ein
neues, schwarzes Kleid – diskret etwas Schminke
aufgelegt. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel
entgegensah, war nicht ganz ihr eigenes Gesicht. Ein

51
blasses, entschlossenes, verbittertes Gesicht.
Was Victor Drake gesagt hatte, stimmte. In ihr war kein
Mitleid.
Als sie später über den Tisch hinweg auf Rosemarie
Bartons bläuliches, verkrampftes Gesicht starrte,
empfand sie immer noch kein Mitleid.
Und jetzt, elf Monate später, dachte sie an Rosemarie
Barton und empfand plötzlich Angst...

Anthony Browne schaute stirnrunzelnd ins Leere, als er


an Rosemarie Barton dachte.
Ein verfluchter Narr war er gewesen, sich jemals mit
ihr einzulassen! Aber sie war ja so schön. An dem
Abend im Dorchester hatte er den Blick nicht von ihr
wenden können. Schön wie ein Bild – und vermutlich
ebenso leer.
Trotzdem hatte er sich in sie verliebt. Hatte alle Hebel
in Bewegung gesetzt, um jemanden aufzutreiben, der
ihn ihr vorstellen konnte. Das war unverzeihlich, denn
er hätte an nichts anderes denken dürfen als an seinen
Auftrag. Schließlich vertrödelte er seine Tage nicht
zum Vergnügen im Claridge.
Aber Rosemarie Barton war ohne Frage schön genug,
um eine vorübergehende Pflichtvergessenheit begreif-
lich erscheinen zu lassen. Hinterher konnte man sich
Vorwürfe machen, daß man so vernarrt gewesen war.
Glücklicherweise hatte er nichts zu bereuen. Fast vom
ersten Augenblick ihrer persönlichen Bekanntschaft an

52
hatte der Zauber etwas nachgelassen. Die Dinge
bekamen wieder ihr richtiges Maß. Es war keine Liebe
– ein amüsanter Zeitvertreib, nicht mehr und nicht
weniger.
Nun, er hatte die Zeit sehr genossen und Rosemarie
auch. Sie tanzte wie ein Engel, und wo er mit ihr
erschien, verdrehten die Männer die Hälse. Das machte
einem Mann Spaß. Allerdings nur so lange, wie man
kein intelligentes Gespräch mit ihr erwartete. Er dankte
seinem Schicksal, daß er nicht mit ihr verheiratet war.
Wenn man sich einmal an diese vollendete Schönheit
von Gesicht und Körper gewöhnt hatte – was gab es
dann noch? Sie konnte nicht einmal verständnisvoll
zuhören. Höchstens, wenn man ihr jeden Tag von
neuem versicherte, daß man sie leidenschaftlich liebe!
Ja, jetzt hatte er leicht reden. Aber damals war er auf
dem besten Wege, ihretwegen den Kopf zu verlieren –
bis zu jenem erschreckenden, unglaublichen Gespräch.
Er erinnerte sich noch genau, wie sie ausgesehen hatte:
die kastanienbraune Locke, die ihr in die Stirn fiel, die
gesenkten Lider, unter denen ihre dunkelblauen Augen
hervorblickten, der schmollende Ausdruck ihrer
weichen, roten Lippen.
»Anthony Browne. Das ist ein hübscher Name.«
Er sagte in leichtem Ton: »Ein sehr alter und ehr-
würdiger Name. Es hat einen Kammerherrn Heinrichs
VIII. gegeben, der auch so hieß.«
»War das ein Ahnherr von Ihnen?«
»Darauf möchte ich keinen Eid ablegen.«
»Das möchte ich Ihnen auch nicht raten.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich stamme vom

53
kolonialen Zweig der Familie ab.«
»Nicht vom italienischen?«
»Aha«, lachte er, »wegen meiner bräunlichen
Hautfarbe? Nein, ich hatte eine spanische Mutter.«
»Das erklärt alles.«
»Erklärt was?«
»Eine ganze Menge, Mr. Anthony Browne.«
»Mein Name scheint Ihnen gut zu gefallen.«
»Ja, das sage ich doch. Es ist ein hübscher Name.«
Und dann kam es wie ein Blitz aus heiterem Himmel:
»Viel hübscher als Tony Morelli.«
Im ersten Augenblick traute er seinen Ohren nicht. Es
war nicht zu glauben – unmöglich! Er packte sie am
Arm. Unter der Härte seines Griffs zuckte sie
zusammen.
»Au – Sie tun mir weh!«
»Wo haben Sie diesen Namen erfahren?« Seine Stimme
klang rauh und drohend.
Sie lachte, entzückt über die Wirkung ihrer Worte.
Unsagbar dumme kleine Person!
»Wer hat Ihnen den Namen verraten?«
»Jemand, der Sie erkannt hat.«
»Wer war das? Hören Sie – ich meine es ernst. Ich muß
das wissen.«
Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu.
»Ein schlechtbeleumdeter Vetter von mir, Victor
Drake.«
»Ich kenne niemanden, der so heißt.«
»Wahrscheinlich hat auch er sich einen anderen Namen
zugelegt. Aus Rücksicht auf die Familie.«
Anthony sagte langsam: »Ich verstehe. Er war – im

54
Gefängnis?«
»Ja. Ich habe Victor unlängst die Leviten gelesen – ihm
gesagt, daß er ein Schandfleck für uns alle sei.
Natürlich hat er sich nichts daraus gemacht. Er grinste
nur: ›Du nimmst es selbst auch nicht immer so genau,
Herzchen. Neulich abends habe ich dich mit einem
früheren Sträfling tanzen sehen – er ist sogar einer
deiner besten Freunde. Wie ich höre, nennt er sich jetzt
Anthony Browne, aber im Kittchen hieß er Tony Mo-
Anthony meinte leichthin: »Ich muß die Bekanntschaft
mit diesem Jugendfreund erneuern. Wir alten Galgen-
vögel müssen zusammenhalten.«
Rosemarie schüttelte den Kopf. »Zu spät. Man hat ihn
schon nach Südamerika expediert. Er ist gestern
abgefahren.«
»Aha.« Anthony tat einen tiefen Atemzug. »Dann sind
Sie also die einzige, die mein schuldbeladenes Geheim-
nis kennt?«
Sie nickte. »Ich werde es nicht verraten.«
»Das würde ich Ihnen auch nicht empfehlen.« Seine
Stimme klang ernst.
»Soll das eine Drohung sein?«
»Nein, eine Warnung.«
»Aber es macht mir nicht das geringste aus. Ich bin ein
großzügiger Mensch. Ich finde es geradezu aufregend,
einen Verbrecher zu kennen.«
Dumme, kleine Gans! Wie hatte er sich nur jemals
einbilden können, es liege ihm etwas an ihr? Dumme
Frauen ertrug er einfach nicht – auch nicht, wenn sie
schön waren.
Er mußte fort – das war die einzige Möglichkeit. Auf

55
Rosemaries Verschwiegenheit konnte er sich nicht
verlassen. Sobald ihr danach zumute war, würde sie
alles ausplaudern.
Sie lächelte ihn an. Es war ein bezauberndes Lächeln,
aber es ließ ihn unbewegt.
Vielleicht wäre er fest geblieben. Vielleicht wäre er
wirklich sofort abgereist. Aber da sah er durch die
offene Tür Iris die Treppe herunterkommen. Iris, hoch-
gewachsen und schlank, mit blassem Teint, schwarzem
Haar und grauen Augen. Iris, nicht so schön wie
Rosemarie, aber von jener ausgeprägten Persönlichkeit,
wie Rosemarie sie niemals besitzen würde.
In diesem Augenblick haßte er sich selbst, daß er –
wenn auch nur ein klein wenig – Rosemaries glattem
Reiz erlegen war.
Anthony Browne besann sich anders. Innerhalb einer
Sekunde hatte er sich zu einem völlig veränderten
Verfahren entschlossen.

Stephen Farraday dachte an Rosemarie – dachte an sie


mit der fassungslosen Bestürzung, die ihr Bild immer
wieder in ihm erweckte. Gewöhnlich verdrängte er
jeden Gedanken an sie schon beim Auftauchen – aber
es gab Zeiten, in denen Rosemarie, ebenso hartnäckig
im Tod wie zu Lebzeiten, sich nicht einfach beiseite
schieben ließ.
Sein erstes Gefühl war stets das gleiche: ein rasches,
unwillkürliches Frösteln, wenn er an die Szene im

56
Restaurant dachte. Die wenigstens wollte er vergessen!
Er zwang seine Erinnerung weiter zurück, zu der
lebenden Rosemarie, die gelächelt, geatmet, ihm in die
Augen gesehen hatte...
Was für ein Narr, was für ein unbeschreiblicher Narr er
doch gewesen war. Er konnte es einfach nicht
begreifen. Als sei sein Leben in zwei Teile zerfallen:
ein Teil, der größere, ein vernünftiges, wohlaus-
gewogenes, geordnetes Vorwärtsschreiten, der andere
ein kurzer, verwirrter Rausch. Die beiden Teile ließen
sich nicht zusammenfügen.
Denn trotz seiner Tüchtigkeit und seines scharfen
Verstandes besaß Stephen nicht genügend innere
Einsicht, um zu erkennen, daß die beiden Teile nur
allzugut zusammenpaßten.
Manchmal blickte er auf sein Leben zurück, prüfte es
kühl und ohne unangebrachte Gemütsbewegung, aber
mit einer gewissen eitlen Selbstzufriedenheit. Schon in
frühester Jugend war er entschlossen gewesen, im
Leben Erfolg zu haben, und trotz aller Schwierigkeiten
und anfänglichen Hemmungen hatte er das auch
erreicht. Sein Glaube und seine Anschauungen waren
sehr einfach. Er glaubte an die Macht des Willens. »Ich
will – also kann ich« lautete seine Devise.
Der kleine Stephen Farraday hatte seinen Willen syste-
matisch ausgebildet. Der zarte, blasse siebenjährige
Junge mit der ausgeprägten Stirn und dem ent-
schlossenen Kinn wollte hochkommen – sehr hoch. An
seinen Eltern, das wußte er, besaß er keine Stütze.
Seine Mutter hatte unter ihrem Stande geheiratet und
bereute es. Der Vater, ein kleiner Bauuntenehmer,

57
schlau, verschmitzt und geizig, war für seine Frau und
auch für seinen Sohn ein Gegenstand der Verachtung...
Seiner Mutter, diesem törichten Geschöpf, das selt-
samen Stimmungsänderungen unterworfen war, brachte
Stephen nur verlegene Ratlosigkeit entgegen, bis zu
dem Tag, an dem er sie am Tisch hingesunken fand,
neben sich eine leere Eau-de-Cologne-Flasche, die ihr
aus der Hand gefallen war. An Trinken als Erklärung
für die Launen seiner Mutter hatte er nie gedacht.
Schnaps oder Bier trank sie nie, und er hatte nie
begriffen, daß ihre Leidenschaft für Eau de Cologne
einen anderen Grund haben könnte als die Kopf-
schmerzen, über die sie immer klagte. Damals wurde
ihm klar, daß er für seine Eltern wenig Zuneigung
empfand. Mit sicherem Instinkt ahnte er, daß auch die
Eltern für ihn nicht viel übrig hatten. Er war klein für
sein Alter, ein stilles Kind, und neigte zum Stottern.
»Weichlich« nannte sein Vater ihn.
Still und mit wachsender Entschlossenheit legte
Stephen sich seinen Lebensplan zurecht. Er wollte
Erfolg haben. Als erste Willensprobe setzte er sich zum
Ziel, sein Stottern zu überwinden. Zur Übung sprach er
langsam, machte zwischen den Worten kleine Pausen.
Mit der Zeit waren seine Bemühungen von Erfolg
gekrönt. Er stotterte nicht mehr. Er wurde ein eifriger
Schüler, denn Bildung konnte ihn vorwärtsbringen.
Die Lehrer wurden auf ihn aufmerksam und begannen
ihn zu fördern. Er bekam ein Stipendium. Die Schul-
behörden traten an seine Eltern heran: Der Junge sei
vielversprechend. Mr. Farraday, der mit billig gebauten
Wohnhäusern eine Menge Geld verdient hatte, wurde

58
überredet, sich die Erziehung seines Sohnes etwas
kosten zu lassen.
Mit einundzwanzig Jahren kam Stephen aus Oxford
zurück. Er hatte gut promoviert, besaß den Ruf eines
überzeugenden, witzigen Redners und eine gewisse
Fertigkeit im Artikelschreiben. Auch manche nützliche
Freundschaft hatte er geknüpft. Es war die Politik, von
der er sich angezogen fühlte. Er hatte gelernt, seine
Schüchternheit zu überwinden und einen bewunderns-
werten gesellschaftlichen Schliff zu entwickeln –
bescheiden, liebenswürdig und mit jenem Anflug von
Brillanz, der die Menschen zu der Bemerkung veran-
laßte: »Der junge Mann wird es weit bringen.« Obwohl
seinen Anschauungen nach ein Liberaler, war sich
Stephen doch darüber klar, daß mit den Liberalen kein
Staat zu machen war, wenigstens für den Augenblick.
Er schloß sich der Labour Party an. Bald wurde sein
Name als der eines »kommenden« Mannes bekannt.
Aber Stephen fand die Labour Party weniger aufge-
schlossen für neue Gedanken und stärker traditions-
gebunden als ihre große, mächtige Rivalin.
Den Konservativen gefiel Stephen Farraday – er war
genau das, was sie brauchten. In einem Labour-Wahl-
kreis trat er als konservativer Gegenkandidat auf und
siegte mit knapper Mehrheit. Mit einem Gefühl des
Triumphs hielt er seinen Einzug als Abgeordneter ins
Unterhaus. Sein Aufstieg hatte begonnen, und er hatte
die richtige Karriere gewählt. Eine Karriere, bei der er
alles einsetzen konnte, was er an Fähigkeiten und
Ehrgeiz besaß. Er spürte, daß er die Kunst zu regieren
beherrschte, und zwar gut zu regieren. Er verstand, mit

59
Menschen umzugehen, und wußte, wo er schmeicheln
und wo er hart bleiben mußte. Eines Tages – das
schwor er sich – würde er im Kabinett sitzen.
Dennoch: Sobald sich bei ihm die erste stolze Erregung
über seine Zugehörigkeit zum Parlament gelegt hatte,
war er schnell enttäuscht. Der Wahlkampf hatte ihn ins
Rampenlicht gestellt, aber jetzt war er ein bloßer
Mitläufer, der Parteidisziplin unterworfen, ohne die
Möglichkeit, sich auszuzeichnen. Es war nicht leicht,
sich über die große Masse zu erheben. Jugend wurde
hier mit mißtrauischen Augen betrachtet. Man brauchte
etwas anderes als nur Tüchtigkeit. Man brauchte
Einfluß.
Es gab bestimmte Interessengruppen. Bestimmte
Familien. Man mußte sich protegieren lassen.
Er überlegte, ob er heiraten sollte. Bisher hatte er über
diese Frage kaum nachgedacht. In seiner Phantasie
lebte das undeutliche Bild eines schönen Geschöpfs,
das sein Leben und seine Laufbahn teilen, ihm Kinder
schenken und seine Probleme und Ängste verstehen
würde. Eine Frau, die so empfand wie er, die seinen
Erfolg wünschte und stolz auf ihn war, wenn er ihn
erreichte.
Dann ging er eines Tages zu einem der großen
Empfänge im Hause Kidderminster. Die Kidder-
minsters bildeten die mächtigste Gruppe in England.
Sie waren – und das seit jeher – eine einflußreiche
politische Familie. Jedermann kannte Lord Kidder-
minster mit seinem kleinen Kaiserbart und seiner
hochgewachsenen, vornehmen Gestalt. Lady Kidder-
minsters langes Schaukelpferdgesicht war ganz

60
England von Rednertribünen und Komitees her
vertraut. Sie hatte fünf Töchter, von denen drei
ausgesprochene Schönheiten waren, und einen Sohn,
der noch in Eton zur Schule ging.
Die Kidderminsters sahen sehr darauf, daß aussichts-
reiche junge Parteimitglieder gefördert wurden. So war
Stephen zu seiner Einladung gekommen.
Er kannte nicht viele Leute unter den Anwesenden und
stand, etwa zwanzig Minuten nach Betreten des
Hauses, allein an einem Fenster, als er eine große,
schwarzgekleidete junge Dame bemerkte, die etwas
verloren am Büfett stand.
Stephen Farraday besaß einen guten Blick für
Gesichter. Am gleichen Morgen hatte er in der
Untergrundbahn eine liegengebliebene Zeitung zur
Hand genommen. Dabei war er auf ein ziemlich
verwischtes Bild gestoßen, das Lady Alexandra Hayle
darstellte, die zweitjüngste Tochter des Earl of
Kidderminster. Darunter hatte eine geschwätzige kleine
Legende gestanden: »...stets bescheidenes und
zurückhaltendes Auftreten... sehr tierliebend... Lady
Alexandra hat einen hauswirtschaftliehen Kurs besucht,
da Lady Kidderminster Wert darauf legt, daß ihre
Töchter eine gründliche Ausbildung in allen häuslichen
Dingen erhalten.«
Die junge Dame, die dort allein am Tisch stand, war
Lady Alexandra Hayle, und mit dem unfehlbaren
Instinkt eines schüchternen Menschen erkannte
Stephen, daß sie gleichfalls schüchtern war. Als die am
wenigsten schöne von den fünf Töchtern hatte
Alexandra immer unter einem Minderwertigkeitsgefühl

61
gelitten. Obwohl ihr die gleiche Erziehung und
Ausbildung wie ihren Schwestern zuteil geworden war,
hatte sie nie deren savoir faire erreicht, was ihre Mutter
beträchtlich irritierte. Es war albern, so ungeschickt und
linkisch zu sein.
Stephen wußte das nicht, aber er spürte, daß das
Mädchen sich unbehaglich und unglücklich fühlte. Und
plötzlich wußte er, daß hier seine große Chance vor ihm
stand. »Los, du Esel – jetzt oder nie!«
Er durchquerte das Zimmer, stellte sich neben die junge
Dame ans Büfett und nahm sich ein belegtes Brötchen.
Dann wandte er sich um und sagte nervös und stockend
– keine Komödie, er war wirklich nervös –: »Erlauben
Sie, daß ich Sie anspreche? Ich kenne hier nicht viele
Leute und Sie auch nicht, wie ich sehe. Bitte, weisen
Sie mich nicht ab! Ich bin nämlich furchtbar sch-sch-
schüchtern« – sein Jahre zurückliegendes Stottern stell-
te sich gerade im richtigen Augenblick wieder ein –,
»und Sie sind doch auch sch-schüchtern, nicht wahr?«
Das Mädchen errötete und setzte zum Sprechen an.
Aber er hatte richtig geraten: Sie konnte es nicht sagen.
Der Satz »Ich bin eine Tochter des Hauses« fiel ihr zu
schwer. Statt dessen gab sie ruhig zu: »Ja, ich bin
wirklich schüchtern. Ich bin es immer gewesen.«
Stephen fuhr rasch fort: »Es ist ein scheußliches
Gefühl. Ob man wohl jemals darüber hinwegkommt?
Manchmal ist mir, als wäre mir die Zunge festge-
wachsen.«
»So geht es mir auch.«
Stephen sprach weiter, ziemlich schnell und von Zeit zu
Zeit stotternd, in einer knabenhaften, fast flehenden

62
Art. Vor ein paar Jahren hatte diese Art seiner Natur
entsprochen – jetzt war sie ein bewußtes, sorgfältig
durchgeführtes Spiel. Er wirkte dadurch jung, naiv,
entwaffnend. Er brachte das Gespräch aufs Theater und
erwähnte ein Stück, das gerade gegeben wurde und
einiges Aufsehen erregt hatte. Alexandra hatte das
Stück auch gesehen. Sie sprachen darüber. Es
beschäftigte sich mit sozialen Fragen, und sie waren
bald in eine sehr angeregte Diskussion über deren Für
und Wider vertieft. Stephen übereilte nichts. Er sah
Lady Kidderminster auf der Suche nach ihrer Tochter
ins Zimmer kommen. Es gehörte nicht zu seinem Plan,
jetzt vorgestellt zu werden. Er murmelte eine Verab-
schiedung.
»Ich habe unser Gespräch sehr genossen. Ich fand es
hier scheußlich, bevor ich Ihre Bekanntschaft machte.
Vielen Dank!« Er verließ das Haus Kidderminster mit
gehobenen Gefühlen. Er hatte das Glück beim Schopf
gepackt. Nun mußte er das Begonnene festigen.
Während mehrerer Tage nach dem Empfang trieb er
sich in der Nähe des Hauses herum. Einmal kam
Alexandra mit einer ihrer Schwestern heraus. Einmal
verließ sie das Haus allein, aber mit eiligen Schritten.
Er schüttelte den Kopf. Das ging nicht – offenbar war
sie auf dem Weg zu einem bestimmten Ziel.
Schließlich, etwa eine Woche nach dem Empfang,
wurde seine Geduld belohnt. Sie kam eines Morgens
mit einem kleinen schottischen Terrier heraus und
spazierte gemächlich in Richtung Park davon.
Fünf Minuten später blieb plötzlich ein junger Mann,
der raschen Schrittes in der entgegengesetzten Richtung

63
ging, vor Alexandra stehen und rief freudig aus:
»Was für ein glücklicher Zufall! Ich habe mich schon
gefragt, ob ich Sie jemals wiedersehen würde!«
Seine Stimme klang so entzückt, daß sie ein bißchen
errötete.
Er beugte sich zu dem Hund herab. »Was für ein
reizender kleiner Kerl. Wie heißt er?«
»MacTavish.«
»Oh – also echt schottisch.«
Sie sprachen ein paar Augenblicke über Hunde. Dann
sagte Stephen mit einem Anflug von Verlegenheit: »Ich
habe mich neulich gar nicht vorgestellt. Ich heiße
Farraday, Stephen Farraday. Ich bin ein kleiner
Abgeordneter.« Er sah sie erwartungsvoll an und
beobachtete, wie ihr das Blut in die Wangen stieg: »Ich
heiße Alexandra Hayle.«
Er reagierte ausgezeichnet. Die Studentenbühne der
Universität Oxford war eine gute Schule gewesen.
Überraschung, Erkennen, peinliche Verlegenheit!
»Oh – Sie sind – Sie sind Lady Alexandra Hayle!
Lieber Himmel – Sie müssen mich ja neulich für einen
schönen Idioten gehalten haben!«
Ihre Antwort war unvermeidlich. Sowohl ihre
Erziehung wie ihre natürliche Güte zwangen sie, ihm
über seinen Verstoß hinwegzuhelfen. »Ich hätte es
Ihnen gleich sagen müssen.«
»Ich hätte es wissen müssen. Sie halten mich sicher für
einen großen Dummkopf...«
»Woher sollten Sie es wissen? Und was macht es
überhaupt aus? Bitte, Mr. Farraday, machen Sie kein so
verstörtes Gesicht. Gehen wir weiter. Schauen Sie,

64
MacTavish ist gar nicht mehr zu halten.«
Nach dieser Begegnung traf er Alexandra öfters im
Park. Er erzählte ihr von seinen Plänen. Sie unterhielten
sich über politische Fragen. Er fand sie intelligent, gut
informiert und sympathisch. Sie besaß einen klaren
Verstand und eine seltene Unvoreingenommenheit. Sie
wurden wirkliche Freunde. Der nächste Fortschritt
bestand darin, daß er ins Haus Kidderminster zum
Abendessen eingeladen wurde. Ein Gast war in letzter
Minute ausgefallen. Als Lady Kidderminster sich über
einen Ersatz den Kopf zerbrach, sagte Sandra ruhig:
»Warum nicht Stephen Farraday?«
»Stephen Farraday?«
»Ja, er war neulich auf unserem Empfang, und seither
habe ich ihn ein paarmal getroffen.«
Lord Kidderminster wurde zugezogen und war sehr
dafür, aufstrebende junge Leute aus der Politik zu
fördern.
»Ausgezeichneter junger Mann – ganz ausgezeichnet.
Kenne seine Familie nicht, aber er wird sich eines
Tages noch einen Namen machen.«
Stephen kam zum Essen und machte einen ausge-
zeichneten Eindruck.
»Ein sehr nützlicher junger Mann«, urteilte Lady
Kidderminster mit unbewußter Arroganz.
Zwei Monate später stellte Stephen sein Glück auf die
Probe. Sie saßen im Park, und MacTavish hatte seinen
Kopf auf Stephens Fuß gelegt.
»Alexandra, Sie wissen – Sie müssen wissen, daß ich
Sie liebe. Ich möchte, daß Sie meine Frau werden. Ich
würde Sie nie darum bitten, wenn ich nicht glaubte, daß

65
ich mir eines Tages einen Namen machen werde. Sie
werden sich Ihrer Wahl nicht zu schämen brauchen, das
schwöre ich Ihnen.«
»Ich schäme mich meiner Wahl nicht«, sagte sie.
»Dann hast du also tatsächlich etwas für mich übrig?«
»Wußtest du das nicht?«
»Ich habe es gehofft – aber ich war meiner Sache nicht
sicher. Weißt du, daß ich dich von dem Augenblick an
geliebt habe, als ich dich neben dem Büfett stehen sah
und mein Herz in beide Hände nahm, um dich
anzusprechen? Ich habe in meinem ganzen Leben keine
solche Angst gehabt wie damals.«
»Da habe ich dich auch schon geliebt, glaube ich«,
sagte sie.
Es ging nicht alles glatt vonstatten. Alexandras ruhige
Ankündigung, daß sie Stephen Farraday heiraten wolle,
rief bei ihrer Familie lebhaften Widerspruch hervor.
Wer war Stephen Farraday? Was wußte man über ihn?
Lord Kidderminster gegenüber äußerte sich Stephen
offen über seine Herkunft. Dabei konnte er den flüch-
tigen Gedanken nicht unterdrücken, wie gut es für seine
Aussichten war, daß seine Eltern nicht mehr lebten.
Zu seiner Frau sagte Lord Kidderminster:
»Hm – es hätte viel schlimmer kommen können.«
Er kannte seine Tochter recht gut und wußte, daß sich
hinter ihrer stillen Art ein unbeugsamer Eigensinn
verbarg. Wenn sie den Burschen haben wollte, dann
bekam sie ihn auch. Sie würde nie nachgeben!
«Der Junge hat eine große Karriere vor sich. Mit ein
bißchen Unterstützung wird er es weit bringen. Und wir
könnten, weiß Gott, etwas frisches Blut brauchen.

66
Außerdem scheint er ein ordentlicher Kerl zu sein.«
Lady Kidderminster stimmte ihm widerwillig zu.
Stephen war ganz und gar nicht der Ehemann, den sie
sich für Alexandra vorgestellt hatte. Allerdings – sie
war die schwierigste von ihren Töchtern. Susan war
eine Schönheit, und Esther besaß eine überdurch-
schnittliche Intelligenz. Diana, das kluge Kind, hatte
den jungen Duke of Harwich geheiratet – die Partie der
Saison. Alexandra hatte natürlich weniger Charme, und
dann war sie so schüchtern – nun, wenn der junge
Mann wirklich eine Zukunft hatte, wie alle zu glauben
schienen... Sie streckte die Waffen und murmelte bloß
noch: »Aber unseren Einfluß werden wir geltend
machen müssen...«
So nahm denn Alexandra Catherine Hayle, in weißem
Seidenkleid und Brüsseler Spitzen, mit sechs Braut-
jungfern, zwei winzigen Pagen und allem übrigen
Zubehör einer eleganten Hochzeit, Stephen Leonard
Farraday zum ehelich angetrauten Gatten. Das junge
Paar machte seine Hochzeitsreise nach Italien und ließ
sich dann in einem reizenden kleinen Haus in
Westminster nieder. Kurz darauf starb Alexandras
Taufpatin und hinterließ ihrem Patenkind einen
entzückenden, im Stil von Queen Anne gebauten
Herrensitz auf dem Lande. Es ging den Jungver-
heirateten in jeder Beziehung gut. Stephen stürzte sich
mit neuerwachtem Eifer ins parlamentarische Leben,
Alexandra half ihm auf jede erdenkliche Weise und
widmete sich mit Herz und Seele seiner ehrgeizigen
Laufbahn. Manchmal erschien es Stephen kaum
glaublich, wie sehr ihn das Glück begünstigt hattte.

67
Seine Verbindung mit der mächtigen Kidderminster-
Gruppe sicherte ihm einen raschen Aufstieg. Seine
Tüchtigkeit und seine glänzenden Geistesgaben würden
die Stellung festigen, die der Zufall ihm beschert hatte.
Er glaubte ehrlich an seine eigene Kraft und war bereit,
sich rückhaltlos für das Wohl des Landes einzusetzen.
Oft, wenn er seine Frau ansah, empfand er mit einem
Glücksgefühl, was für eine vollendete Hilfe sie für ihn
bedeutete – genau das, was er sich immer vorgestellt
hatte. Er liebte die schönen, klaren Linien ihres Kopfes
und ihres Nackens, ihre offen blickenden braunen
Augen unter den waagrechten Brauen, ihre hohe weiße
Stirn und den leichten Hochmut ihrer Adlernase. Sie
sah, fand er, ein bißchen wie ein Rennpferd aus –
gepflegt, hochgezüchtet und stolz. Sie war für ihn eine
ideale Gefährtin. Ja, dachte er, der kleine Stephen
Farraday hat es richtig gemacht. Er war erst ein- oder
zweiunddreißig Jahre, und schon hielt er den Erfolg in
seiner Hand.
Erfüllt von dieser Stimmung befriedigten Triumphs,
fuhr Stephen Farraday mit seiner Frau für vierzehn
Tage nach St. Moritz und sah dort in der Hotelhalle
zum erstenmal Rosemarie Barton.
Er verliebte sich. Verliebte sich überwältigt, be-
sinnungslos, wahnsinnig. Es war eine verzweifelte, jähe
Gymnasiastenliebe, wie er sie viele Jahre vorher hätte
empfinden und überwinden müssen.
Stets hatte er angenommen, daß er als Mann kein
leidenschaftlicher Typ sei. Ein paar flüchtige
Verhältnisse, ein kleiner Flirt – das, glaubte er, war
alles, was das Wort »Liebe« für ihn bedeutete.

68
Sinnliche Freuden hatten für ihn einfach keinen Reiz.
Er redete sich ein, daß er für dergleichen Dinge zu an-
spruchsvoll sei. Wäre er gefragt worden, ob er seine
Frau liebe, so hätte er geantwortet: »Gewiß.« Und
dennoch wußte er recht gut, daß er nicht im Traum
daran gedacht hätte, sie zu heiraten, wenn sie beispiels-
weise die Tochter eines verarmten Landedelmannes
gewesen wäre. Er hing an ihr, bewunderte sie, empfand
eine tiefe Zuneigung zu ihr und eine aufrichtige
Dankbarkeit für das, was ihre gesellschaftliche Stellung
ihm gebracht hatte.
Daß er sich mit der Selbstvergessenheit und Qual eines
unreifen Knaben verlieben konnte, war für ihn eine
Offenbarung. Er war nicht imstande, an etwas anderes
zu denken als an Rosemarie. An die schöne, lachende
Rosemarie, an ihr volles, kastanienbraunes Haar, an
ihre geschmeidige, erregende Gestalt. Er konnte weder
essen noch schlafen. Sie gingen zusammen Skilaufen.
Sie tanzten zusammen. Und wenn er sie beim Tanzen in
den Armen hielt, wußte er, daß er sie mehr als alles
andere auf Erden begehrte. Das also – diese Qual, diese
schmerzhafte, sehnsüchtige Pein – das war die Liebe!
In diesem Zustand segnete er das Schicksal, das ihm die
Gabe verliehen hatte, äußerlich stets gelassen zu
erscheinen. Niemand durfte erraten, niemand durfte
wissen, was er fühlte – niemand außer Rosemarie.
Die Bartons reisten eine Woche früher ab als die
Farradays. Stephen sagte zu Alexandra, er fände St.
Moritz nicht sehr amüsant. Ob sie ihren Aufenthalt
nicht lieber abkürzen und nach London zurückkehren
sollten? Alexandra ging ohne weiteres auf seinen

69
Wunsch ein. Zwei Wochen später wurde Rosemarie
Stephens Geliebte. Eine seltsame, erregende, verzückte
Zeit – fieberhaft und unwirklich. Wie lange hatte sie
gedauert? Höchstens ein halbes Jahr. Ein halbes Jahr, in
dem Stephen wie gewöhnlich seine Arbeit tat, seinen
Wahlkreis besuchte, Fragen im Unterhaus stellte, auf
den verschiedensten Versammlungen sprach, mit
Alexandra politisierte – aber bei alledem nur einen
einzigen Gedanken hatte: Rosemarie.
Ihre geheimen Zusammenkünfte in der kleinen
Wohnung! Ihre Schönheit – die leidenschaftlichen
Zärtlichkeiten, mit denen er sie überschüttete – die
hingebungsvolle Glut, mit der sie ihn umarmte! Ein
Traum. Ein verblendeter Traum der Sinne.
Und nach dem Traum – das Erwachen. Es war ganz
plötzlich gekommen. Als trete man aus einem dunklen
Tunnel ans Tageslicht.
Tags zuvor war er noch vollkommen in seine Liebe
verstrickt gewesen. Nun war er auf einmal wieder
Stephen Farraday und überlegte, daß er Rosemarie
vielleicht nicht mehr so häufig sehen sollte. Verflixt
noch mal – was waren sie beide leichtsinnig gewesen!
Wenn Alexandra etwa Verdacht schöpfte... Er warf ihr
am Frühstückstisch einen verstohlenen Blick zu. Gott
sei Dank: Sie ahnte nichts. Aber die Ausreden, die er in
letzter Zeit für seine Abwesenheit gebraucht hatte,
waren ziemlich schwach gewesen. Es gab Frauen, die
den Braten gerochen hätten. Es war ein Glück, daß
Alexandra nicht zu Mißtrauen neigte.
Er tat einen tiefen Atemzug. Tatsächlich: Er hatte es
mit Rosemarie zu toll getrieben. Ein Wunder, daß ihr

70
Mann nicht Wind davon bekommen hatte. Einer von
diesen blöden, gutmütigen Kerlen – um Jahre älter als
Rosemarie.
Was war sie doch für ein wundervolles Geschöpf...
Er dachte plötzlich an Golf. Frische Luft, die über
Sanddünen blies – und Männer! Pfeiferauchende
Männer in Kniehosen. Und keine Weiber auf dem
Gelände!
Er sagte zu Alexandra: »Könnten wir nicht nach
Fairhaven fahren?«
Sie sah überrascht auf: »Möchtest du gern? Kannst du
dich freimachen?«
»Von Montag bis Freitag ginge es vielleicht. Ich
möchte ein bißchen Golf spielen. Ich fühle mich
schlapp.«
»Wir könnten morgen fahren, wenn du willst. Das
Essen mit den Astleys verschieben wir, und die
Versammlung am Dienstag müßte ich absagen. Aber
wie ist es mit den Lovats?«
»Ach, denen wollen wir auch absagen. Es wird uns
schon eine Ausrede einfallen. Ich möchte fort.«
Es war sehr friedlich in Fairhaven. Alexandra und die
Hunde auf der Terrasse und in dem ummauerten alten
Garten, Golf in Sandley Heath, die abendlichen
Spaziergänge zur Farm hinunter, MacTavish auf den
Fersen. Er hatte sich gefühlt wie ein Rekonvaleszent
nach einer schweren Krankheit.
Mit Unbehagen betrachtete er einen Brief mit
Rosemaries Schrift. Sie hatten ausgemacht, daß sie
nicht schreiben sollte. Zu gefährlich. Alexandra fragte
ihn zwar nie, von wem seine Briefe waren, aber es war

71
trotzdem nicht klug.
Er nahm den Brief mit in sein Arbeitszimmer und riß
ihn dort auf. Seiten um Seiten voll!
Beim Lesen überfiel ihn wieder der alte Zauber. Sie
betete ihn an, sie liebte ihn mehr denn je, sie konnte es
nicht ertragen, ihn volle fünf Tage lang nicht zu sehen.
Ob es ihm auch so ginge? Ob der Leopard seine
Äthiopierin vermißte?
Er lächelte seufzend. Dieser dumme Scherz! Er war
entstanden, als er ihr einen getupften Herrenmorgen-
rock schenkte, der ihr gefallen hatte. Von da an hatte
sie ihn »Leopard« genannt und er sie seine »schwarze
Schönheit«.
Eigentlich blöd. Ja, verdammt blöd. Süß von ihr, daß
sie so einen langen Brief geschrieben hatte. Aber sie
hätte es nicht tun dürfen. Verflixt noch einmal – sie
mußten vorsichtig sein; Alexandra war nicht die Frau,
die sich mit solchen Dingen abfand. Wenn sie auch nur
das Geringste merkte... Briefeschreiben war gefährlich.
Das hatte er Rosemarie ausdrücklich gesagt. Warum
konnte sie denn nicht warten, bis er wieder in London
war? Es waren doch nur noch zwei oder drei Tage...
Am andern Morgen lag wieder ein Brief auf dem
Frühstückstisch. Diesmal fluchte Stephen innerlich.
Nach dem Frühstück nahm er den Wagen und fuhr in
die zwölf Kilometer entfernte Kreisstadt. Das Telefon-
gespräch vom Dorf aus zu führen ging nicht. Er rief
Rosemarie an.
»Hallo – bist du's, Rosemarie? Bitte schreib mir nicht
mehr.«
»Stephen, Darling – es ist herrlich, deine Stimme zu

72
hören!«
»Sei vorsichtig – kann jemand dich hören?«
»Natürlich nicht... Ach, du fehlst mir so! Fehle ich dir
auch?«
»Selbstverständlich. Aber bitte schreib mir nicht. Es ist
zu gefährlich.«
»Hat dir mein Brief Freude gemacht? Hat er dir das
Gefühl gegeben, daß ich bei dir bin? Lieber, ich möchte
jede Minute bei dir sein. Hast du auch dieses Gefühl?«
»Ja – aber nicht am Telefon.«
»Du bist so lächerlich vorsichtig. Was macht es schon
aus?«
»Ich denke an dich, Rosemarie. Ich könnte es nicht
ertragen, wenn du durch mich Kummer hättest.«
»Mir ist egal, was mir passiert. Das weißt du doch.«
»Aber mir ist es nicht egal, Darling.«
»Wann kommst du zurück?«
»Dienstag.«
»Dann treffen wir uns am Mittwoch in der Wohnung,
ja?«
»Ja – hm, ja.«
»Darling, ich kann es kaum erwarten. Kannst du nicht
irgendeine Ausrede erfinden und heute in die Stadt
kommen? Ach, Stephen, doch – das ließe sich machen!
Eine politische Versammlung oder...?«
»Ich fürchte, das kommt nicht in Frage.«
»Ich glaube, ich fehle dir nicht halb soviel wie du mir!«
»Unsinn – natürlich fehlst du mir sehr.«
Als er eingehängt hatte, fühlte er sich müde. Warum
waren die Frauen nur so leichtsinnig? Rosemarie und er
mußten vorsichtiger sein. Sie durften sich nicht mehr so

73
oft treffen.
In der nächsten Zeit ergaben sich allerlei Schwierig-
keiten. Er hatte zu tun – viel zu tun. Es war ihm
unmöglich, Rosemarie soviel Zeit zu widmen wie
früher, und das Quälende war, daß sie das nicht zu
begreifen schien. Er versuchte es ihr zu erklären, aber
sie hörte einfach nicht zu.
»Ach, deine dumme alte Politik – als ob die so wichtig
wäre!«
»Aber sie ist wichtig, Rosemarie...«
Sie verstand nicht. Es war ihr gleichgültig. Sie nahm
keinen Anteil an seiner Arbeit, seinen Zielen, seiner
Karriere. Er sollte ihr immer nur aufs neue versichern,
daß er sie liebte – das war alles, was sie von ihm wollte.
»Genauso wie immer? Sag mir noch einmal, daß du
mich wirklich liebst!«
Das konnte sie doch schließlich mit der Zeit als
erwiesen annehmen, fand er. Sie war ein reizendes
Geschöpf, reizend – aber das Schlimmste war, daß man
mit ihr nicht reden konnte.
Und eines Tages sagte sie etwas, worüber er erschrak.
Sie lächelte ihn an; es war das gleiche Lächeln, das
einst sein Herz bezwungen und ihn mit schmerzhafter
Sehnsucht erfüllt hatte. Jetzt machte es ihn bloß
ungeduldig.
»Leopard, Darling – ich habe schon manchmal gedacht:
Wir sind doch eigentlich dumm, daß wir dauernd
Versteck spielen. Es ist irgendwie unwürdig. Laß uns
zusammen fortgehen. Wir wollen die Komödie
aufgeben. George wird in die Scheidung einwilligen,
und deine Frau auch – dann können wir heiraten.«

74
So hatte es kommen müssen! Katastrophe! Sein Ruin!
Und sie war nicht imstande, es zu begreifen!
»Ich würde nie zulassen, daß du so etwas tust.«
»Aber Darling – mir ist es ganz gleich. Ich bin nicht
konventionell.«
Aber ich – aber ich, dachte Stephen.
»Ich habe wirklich das Gefühl, die Liebe ist das
Wichtigste auf der Welt. Es kommt nicht darauf an,
was die Menschen von uns denken.«
»Mir kommt es sehr darauf an, Rosemarie. Ein öffent-
licher Skandal dieser Art würde das Ende meiner
Karriere bedeuten.«
»Aber ist das tatsächlich so wichtig? Es gibt doch
hundert andere Dinge, die du machen könntest.«
»Sei nicht dumm.«
»Wozu mußt du überhaupt einen Beruf haben? Ich habe
doch massenhaft Geld. Eigenes Geld, meine ich – nicht
von George. Wir könnten durch die ganze Welt reisen –
könnten die bezauberndsten abgelegenen Orte
besuchen, wo vielleicht überhaupt noch niemand
gewesen ist. Irgendeine Insel im Stillen Ozean – denk
nur einmal, die glühende Sonne, das blaue Meer und
die Korallenriffe.«
Er dachte daran. Eine Südseeinsel! Idiotische Idee. Für
was hielt sie ihn eigentlich – für einen Strandläufer?
Er betrachtete sie, als wären ihm die Schuppen von den
Augen gefallen. Ein engelschönes Geschöpf mit dem
Verstand einer Henne. Er war wahnsinnig gewesen –
vollkommen wahnsinnig. Aber jetzt war er geheilt. Und
er mußte sich aus dieser Klemme befreien. Wenn er
nicht aufpaßte, würde die Frau sein ganzes Leben

75
ruinieren.
Er sagte ihr alles, was Hunderte von Männern vor ihm
ihren Frauen gesagt hatten. Er schrieb ihr, sie müßten
Schluß machen. Es sei ihr gegenüber nur anständig. Er
könnte es nicht auf sich nehmen, ihr Unglück zu
bringen. Und so weiter – und so weiter.
Alles war vorbei – das mußte er ihr begreiflich machen.
Aber gerade das war es, was sie sich weigerte zu
begreifen. So einfach lag die Sache nicht. Sie betete ihn
an, sie liebte ihn mehr denn je, sie konnte nicht ohne
ihn leben! Das einzig Anständige war für sie, es ihrem
Mann zu sagen, und für Stephen, es Alexandra zu
sagen. Sie war imstande, George Barton die ganze
Geschichte zu erzählen; dann würde George die
Scheidung einreichen und ihn als Ehebrecher angeben.
Und Alexandra würde zwangsläufig ebenfalls die
Scheidung einreichen – daran zweifelte er nicht. Er
erinnerte sich an ein Gespräch mit ihr, in dem sie mit
leichtem Erstaunen über ein befreundetes Ehepaar
gesagt hatte: »Aber nachdem einmal feststand, daß er
ein Verhältnis mit einer anderen Frau hatte – was
konnte sie da schließlich anderes machen als die Schei-
dung einreichen?« Das wäre Alexandras Auffassung in
einem solchen Fall. Alexandra war stolz. Sie würde
ihren Mann nie mit einer anderen Frau teilen. Und dann
würde er erledigt sein, fertig – die Rückendeckung
durch die einflußreiche Kidderminster-Gruppe wäre
zum Teufel. Es mußte ein Skandal werden, den er nicht
durchhalten konnte, auch wenn heute die öffentliche
Meinung großzügiger war als früher. In einem so
eklatanten Fall wie diesem gab es keine Großzügigkeit!

76
Das hieß: Abschied von seinen Träumen, von seinen
ehrgeizigen Hoffnungen. Alles zertrümmert – nur
wegen seiner Gymnasiastenliebe, die ihn im reifen
Lebensalter gepackt hatte.
Auch Alexandra würde er verlieren...
Mit einem Schlag wurde ihm plötzlich kar, daß ihn
dieser Verlust am schwersten treffen würde. Sandra
verlieren! Sandra mit der hohen weißen Stirn und den
klaren braunen Augen, Sandra, die Freundin und
Gefährtin, seine hochmütige, stolze, treue Sandra. Nein,
er durfte Sandra nicht verlieren — das konnte er nicht
ertragen... Alles, nur nicht das.
Der kalte Schweiß brach ihm aus. Irgendwie mußte er
sich aus dieser scheußlichen Situation befreien.
Irgendwie mußte Rosemarie dazu gebracht werden,
Vernunft anzunehmen... Aber wie? Rosemarie und
Vernunft – das waren zwei unvereinbare Begriffe.
Wenn er ihr sagte, daß er seine Frau letzten Endes doch
liebte? Nein. Das würde sie einfach nicht glauben. Eine
blinde Wut stieg in ihm hoch. Um alles in der Welt:
Wie konnte er sie zum Schweigen veranlassen?
Rosemarie lag augenblicklich mit einer Grippe zu Bett.
Er hatte ihr die üblichen Krankengrüße geschickt und
einen großen Blumenstrauß. Das war ein Aufschub.
Nächste Woche sollten er und Sandra mit den Bartons
zu Abend essen – Rosemaries Geburtstagsfeier.
Rosemarie hatte gesagt: »Vor meinem Geburtstag
unternehme ich nichts – das wäre grausam gegenüber
George. Er freut sich so darauf. Er ist so ein lieber Kerl.
Wenn mein Geburtstag vorbei ist, müssen wir zu einer
Entscheidung kommen.«

77
Und wenn er ihr rundheraus sagen würde, daß alles
vorbei war, daß er nichtsmehr für sie empfand? Ihn
fröstelte. Nein, das konnte er nicht wagen. Sie würde
hysterisch zu George laufen, vielleicht sogar zu Sandra.
Er hörte fast ihre tränenvolle, bekümmerte Stimme.
»Er sagt, daß er mich nicht mehr liebt, aber ich weiß,
daß es nicht wahr ist. Er versucht zu dir zu stehen und
dich nicht preiszugeben – aber du bist sicher auch
meiner Meinung, daß Ehrlichkeit die einzige Lösung
ist, wenn zwei Menschen sich lieben. Deswegen bitte
ich dich, ihn freizugeben.«
Bestimmt würde sie derartiges gräßliches Zeug heraus-
plärren. Und Sandra würde mit stolzem und verächt-
lichem Gesicht sagen: »Er kann seine Freiheit haben!«
Sandra würde ihm nicht glauben – wie sollte sie auch?
Rosemarie konnte ja seine Briefe vorweisen – diese
idiotischen Briefe, die er ihr geschrieben hatte! Weiß
Gott, was in diesen Briefen alles stand. Genug und
übergenug, um Sandra zu überzeugen – ihr hatte er
solche Briefe nie geschrieben. Er mußte sich etwas
ausdenken – irgend etwas, womit Rosemarie zum
Schweigen gebracht wurde. Schade, dachte er grimmig,
daß wir nicht mehr im Zeitalter der Borgias leben.
Ein Glas vergifteter Champagner war ungefähr das
einzige, was Rosemarie den Mund stopfen würde.
Ja, diesen Gedanken hatte er tatsächlich gehabt.
Zyankali in ihrem Champagnerglas, Zyankali in ihrer
Handtasche. Seelische Depression nach einem Grippe-
anfall...
Und über dem Tisch hatten sich seine und Sandras
Blicke getroffen.

78
Fast ein Jahr war das her – und er konnte es nicht
vergessen.

Alexandra Farraday hatte Rosemarie Barton nicht


vergessen. Gerade in diesem Augenblick dachte sie an
sie. Sie sah sie vor sich – wie sie an jenem Abend über
den Tisch hingesunken dalag.
Sie erinnerte sich, wie sie erschrocken zusammen-
gefahren und dann beim Aufschauen Stephens Blick
begegnet war, der sie beobachtete...
Hatte er die Wahrheit in ihren Augen gelesen? Hatte er
dort den Haß und das Gemisch von Grauen und
Triumph erkannt? Fast ein Jahr war das her – und die
Erinnerung daran so frisch, als wäre es gestern
gewesen! Was nützte es, daß ein Mensch starb – wenn
er doch im Gedächtnis anderer Menschen fortlebte? So
stand es mit Rosemarie. In Sandras Gedächtnis – und
auch in dem von Stephen? Sandra wußte es nicht, aber
sie hielt es für wahrscheinlich.
Das Luxembourg – dieses verhaßte Lokal mit dem
ausgezeichneten Essen, der flinken Bedienung und der
luxuriösen Einrichtung. Ein Lokal, das man nicht
meiden konnte. Dauernd luden einen Leute dorthin zum
Essen ein.
Sie hätte gern vergessen, aber alles verschwor sich, um
die Erinnerung in ihr wachzuhalten. Sogar Fairhaven
war jetzt nicht mehr verschont, seitdem George Barton
nach Little Priors gezogen war.

79
Das war in der Tat ein ausgefallener Gedanke von ihm.
George Barton war überhaupt ein sonderbarer Mensch.
Ganz und gar nicht der Mann, den sie gern zum
Nachbarn gehabt hätte. Seine Anwesenheit in Little
Priors verdarb ihr den friedlichen Zauber von
Fairhaven. Bis zu diesem Sommer war Fairhaven für
sie ein Ort der Erholung und der Ruhe, ein Ort, an dem
sie und Stephen glücklich waren – wenn man bei ihnen
überhaupt von Glück sprechen konnte. Sie preßte die
Lippen zusammen. Ja, tausendmal ja! Sie hätten glück-
lich bleiben können, wenn Rosemarie nicht gewesen
wäre. Rosemarie war es, die das zerbrechliche Gebäude
gegenseitigen Vertrauens und gegenseitiger Zärtlichkeit
in Trümmer geschlagen hatte.
Irgend etwas, ein instinktives Gefühl, hatte sie
bewogen, ihre leidenschaftliche Liebe zu Stephen vor
ihm geheimzuhalten. Sie hatte ihn geliebt von jenem
ersten Augenblick an, da er im Haus ihrer Eltern auf sie
zugekommen war und so getan hatte, als sei er
schüchtern und wisse nicht, wer sie sei.
Denn er hatte genau gewußt, wer sie war. Sie konnte
nicht sagen, wann ihr diese Tatsache zum erstenmal
klar wurde. Einige Zeit nach ihrer Hochzeit war es
wohl gewesen; damals hatte er ihr ein geschicktes
politisches Manöver auseinandergesetzt, das notwendig
war, um ein Gesetz durchzubringen.
Dabei durchfuhr es sie blitzartig: Das erinnert mich an
etwas – an was? Später kam sie darauf, daß es im
wesentlichen die gleiche Taktik war, die er bei seinem
ersten Zusammentreffen mit ihr angewandt hatte. Sie
nahm diese Feststellung gleichmütig hin, als handle es

80
sich um etwas, das ihr schon lange bekannt, aber erst
jetzt an die Oberfläche ihres Bewußtseins gedrungen
war.
Vom Tag ihrer Trauung an hatte sie gespürt, daß er sie
nicht in gleicher Weise liebte wie sie ihn. Aber sie hielt
es für möglich, daß er zu einer solchen Liebe einfach
nicht fähig war. Sie wäre willig für ihn gestorben, sie
war bereit, für ihn zu lügen, Intrigen zu spinnen, zu
leiden. Statt dessen fand sie sich stolz und zurück-
haltend mit dem Platz ab, den er ihr anzuweisen
wünschte. Er brauchte ihre Mitarbeit, ihre Sympathie,
ihren tätigen geistigen Beistand. Nicht ihr Herz wollte
er, sondern ihren Verstand und die gesellschaftlichen
Privilegien, die ihr durch ihre Geburt zustanden.
Eines war sie entschlossen niemals zu tun, nämlich ihn
dadurch in Verlegenheit zu versetzen, daß sie eine
Liebe zur Schau stellte, die er nicht in gleicher Weise
erwidern konnte. Sie war ehrlich der Überzeugung, daß
er sie gern hatte, daß es ihm Freude machte, mit ihr
zusammen zu sein. Sie glaubte, daß die Bürde, die sie
trug, in Zukunft immer leichter würde – in einer
Zukunft zärtlicher gegenseitiger Achtung und Freund-
schaft.
Er liebt sie auf seine Weise – das war ihr Trost. Und
dann kam Rosemarie.
Sandra fragte sich manchmal mit bitter zuckenden
Lippen, wieso Stephen sich einbilden konnte, sie wüßte
von nichts. Sie wußte es vom ersten Augenblick an, da
oben in St. Moritz – als sie bemerkte, wie er die Frau
ansah.
Es war schwer, dachte sie jetzt leidenschaftslos, die

81
Qualen zu ermessen, die sie durchgemacht hatte. Wie
sie Tag für Tag die Foltern der Hölle erduldete – wie
sie alles nur dank ihres Mutes und angeborenen Stolzes
ertragen konnte. Nie hatte sie verraten, was sie
empfand. Sie wurde schmal und blaß. Sie zwang sich
zum Essen, aber zum Schlafen konnte sie sich nicht
zwingen . Nächtelang lag sie mit heißen, trockenen
Augen wach und starrte in die Dunkelheit. Schlafmittel
zu nehmen lehnte sie als Schwäche ab. Ihren Kummer
zu zeigen, zu flehen, sich zu wehren – all das wäre ihr
ein Greuel gewesen. Ein Trost blieb ihr, wenn er auch
schwach war: Stephen hatte nicht den Wunsch, sie zu
verlassen. Gewiß – das war vermutlich nicht ihr
zuliebe, sondern um seiner Karriere willen. Trotzdem
blieb die Tatsache bestehen: Er wollte sie nicht
verlassen.
Und eines Tages würde vielleicht seine Verblendung
schwinden. Was konnte er schließlich auf Dauer an der
Frau finden? Hübsch war sie – sogar schön, aber das
waren andere Frauen auch. Was hatte Rosemarie
Barton an sich, das ihn betörte? Sie war oberflächlich,
dumm und nicht einmal – auf diesen Punkt kam Sandra
immer wieder zurück – nicht einmal amüsant. Wenn sie
geistvoll, charmant und herausfordernd gewesen wäre –
das waren Eigenschaften, die einen Mann fesseln
konnten. Sandra klammerte sich an die Hoffnung, daß
die Geschichte eines Tages zu Ende sein würde.
Sie war überzeugt, daß die Arbeit den Hauptinhalt
seines Lebens bildete. Er war zu großen Dingen auser-
sehen und wußte das. Er besaß einen glänzenden
politischen Verstand, und es war für ihn notwendig, ihn

82
zu gebrauchen. Das war seine Lebensaufgabe. Mußte
ihm das nicht klarwerden, sobald die Verblendung von
ihm zu weichen begann?
Die ganze Zeit über erwog Sandra keinen Augenblick,
ihrerseits Stephen zu verlassen. Der Gedanke kam ihr
überhaupt nicht. Sie gehörte ihm mit Leib und Seele, ob
er sie nun haben wollte oder nicht. Er war ihr Leben,
ihr Dasein. Die Liebe brannte in ihr mit archaischer
Glut. Einmal hatte sie Hoffnung geschöpft. Sie waren
nach Fairhaven hinausgefahren. Stephen war wieder
der alte gewesen. Sie fühlte plötzlich, wie sie einander
wieder näherkamen. Ein Funke glühte in ihr auf. Er
brauchte sie immer noch, er war gern mit ihr
zusammen, er verließ sich auf ihr Urteil. Für den
Augenblick war er den Klauen der anderen Frau
entronnen.
Er sah glücklicher aus, war wieder wie früher. Nichts
war unwiederbringlich verloren. Er war dabei, die
Sache zu überwinden. Wenn er sich nur entschließen
könnte zu brechen...
Dann fuhren sie nach London zurück, und es begann
von neuem. Stephen sah verstört aus, kummervoll,
krank. Er war nicht mehr imstande, sich auf seine
Arbeit zu konzentrieren.
Sie glaubte die Ursache zu kennen. Rosemarie wollte,
daß er mit ihr fortging... Er war auf dem Weg, sich zu
diesem schweren Schritt zu entschließen – zum Bruch
mit alldem, woran er im Leben am meisten hing.
Torheit! Wahnsinn! Er war ein Mann, der stets die
Arbeit über alles andere stellen würde. Tief in seinem
Innern mußte er das selbst wissen. Ja, aber Rosemarie

83
war sehr schön. Stephen wäre nicht der erste Mann, der
um einer Frau willen seine Karriere aufgab und es
hinterher bereute!
Eines Tages bei einer Cocktailgesellschaft schnappte
Sandra ein paar Worte auf, die Rosemarie zu Stephen
sagte.
»... George sagen – wir müssen uns jetzt entschließen.«
Bald darauf mußte sich Rosemarie mit einer Grippe ins
Bett legen.
Wieder keimte in Sandra eine kleine Hoffnung auf.
Vielleicht würde sie eine Lungenentzündung
bekommen – das gab es bei Grippe –, eine Bekannte
von ihr war gerade im vergangenen Winter auf diese
Weise gestorben. Wenn Rosemarie sterben würde...
Sie versuchte nicht, den Gedanken zu verdrängen – sie
entsetzte sich nicht über sich selbst.
Sie haßte Rosemarie Barton. Wenn Gedanken töten
könnten, so hätten sie sie getötet.
Aber Gedanken töten nicht... Wie schön Rosemarie an
dem Abend im Luxembourg ausgesehen hatte, als ihr
der blasse Fuchspelz in der Damengarderobe von den
Schultern glitt. Schmal und etwas bleich nach ihrer
Krankheit – von einer Zartheit, die sie noch reizvoller
erscheinen ließ. Sie hatte vor dem Spiegel gestanden
und ihr Gesicht zurechtgemacht...
Sandra stand hinter ihr und betrachtete ihr gemein-
sames Bild im Spiegel. Ihr eigenes Gesicht kam ihr vor
wie aus Stein gehauen, kalt und leblos. Ohne jedes
Gefühl, hätte man sagen können – eine kalte, harte
Frau.
Und dann sagte Rosemarie: »Oh, Sandra – nehme ich

84
dir den ganzen Spiegel weg! Ich bin schon fertig. Diese
gräßliche Grippe hat mich elend heruntergebracht. Ich
sehe schrecklich aus, fühle mich schwach und habe
dauernd Kopfweh. Hast du zufällig ein Aspirin bei
dir?«
»Nein, aber so was Ähnliches.«
Sie öffnete ihre Handtasche und nahm die Tablette
heraus. Rosemarie dankte. »Ich will sie auf alle Fälle in
meine Handtasche stecken.«
Bartons Sekretärin, das tüchtige, dunkelhaarige
Mädchen, hatte die kleine Szene beobachtet. Sie war
nach den beiden anderen Frauen vor den Spiegel
getreten und hatte etwas Puder aufgelegt. Ein nett
aussehendes Mädchen, fast hübsch. Sandra hatte den
Eindruck, daß sie Rosemarie nicht mochte. Dann waren
sie alle aus der Garderobe hinausgegangen, zuerst
Sandra, dann Rosemarie, dann Miss Lessing – ach,
natürlich, diese Iris, Rosemaries Schwester, war auch
dabei. Sehr aufgeregt, mit großen grauen Augen und
angetan mit einem weißen, schulmädchenhaften Kleid.
Sie waren hinausgegangen und hatten sich in der Halle
den Herren angeschlossen.
Dann war der Oberkellner dienstfertig gekommen und
hatte sie an ihren Tisch geführt. Sie waren unter dem
hohen, gewölbten Bogen hindurchgeschritten, und
nichts, aber auch nicht das geringste, hatte darauf
hingedeutet, daß eine von ihnen diesen Raum nicht
mehr lebend verlassen würde...

85
6

Rosemarie... George ließ sein Glas sinken und starrte


unbeweglich ins Feuer.
Er hatte gerade genug getrunken, um von einem
sentimentalen Mitleid mit sich selbst erfüllt zu sein.
Was war sie für eine wundervolle Frau gewesen. Er war
immer in sie verliebt gewesen. Sie wußte es, aber er
hatte gedacht, sie würde ihn bloß auslachen.
Als er ihr zum erstenmal einen Heiratsantrag machte,
geschah das ohne rechte Überzeugung.
Er murmelte undeutlich vor sich hin: »Du verstehst
mich, Rosemarie: Jederzeit – brauchst es nur zu sagen.
Ich weiß, es hat keinen Zweck. Du würdest mich kaum
anschauen. Ich bin immer ein gräßlicher Esel gewesen.
Eine Schönheit bin ich auch nicht. Aber über meine
Gefühle bist du dir klar, nicht wahr? Ich meine – ich
bin immer für dich da. Weiß natürlich, daß ich keinerlei
Aussicht habe, aber ich wollte es wenigstens gesagt
haben.«
Und Rosemarie hatte gelacht und ihm einen Kuß auf
die Stirn gedrückt. »Süß von dir, George – ich werde
dein Angebot nicht vergessen, aber einstweilen heirate
ich noch niemanden.«
Und er hatte ganz ernsthaft geantwortet: »Recht hast
du. Nimm dir Zeit und sieh dich richtig um. Du kannst
es dir leisten, wählerisch zu sein.«
Hoffnungen hatte er nie gehabt – wirkliche Hoff-
nungen.
Deshalb war er auch so ungläubig und fassungslos, als
Rosemarie erklärte, sie würde ihn heiraten.

86
Natürlich liebte sie ihn nicht. Das wußte er sehr gut. Sie
gab es sogar offen zu.
»Du kannst mich doch verstehen, nicht wahr? Ich
möchte gern das Gefühl haben, versorgt und abge-
sichert zu sein. Bei dir habe ich dieses Gefühl. Ich habe
es so satt, mich zu verlieben. Es geht immer irgendwie
schief und endet mit einer heillosen Unordnung. Ich
habe dich gern, George. Du bist nett und komisch und
süß und glaubst, daß ich eine wunderbare Frau bin. Das
brauche ich.«
Er antwortete etwas unzusammenhängend: »Wer
ausharret, wird gekrönt. Wir werden sehr glücklich
sein.«
Nun, damit hatte er eigentlich nicht unrecht gehabt. Sie
waren glücklich. Er hatte insgeheim immer mit
»Zwischenfällen« gerechnet. Rosemarie konnte sich auf
Dauer nicht mit einem so langweiligen Kerl abfinden,
wie er einer war. Aber Rosemarie würde immer wieder
zu ihm zurückkommen. Wenn er die richtige Ein-
stellung zu den Dingen fand, war alles gut.
Denn sie hing an ihm. Ihre Zuneigung zu ihm war
beständig und unwandelbar. Sie hatte nichts mit
Rosemaries Flirts und Liebesaffären zu tun.
Ein Flirt mit diesem oder jenem jungen Mann war nicht
der Rede wert – aber als er damals zum erstenmal von
einer ernsthaften Beziehung Wind bekam...
Er hatte es ziemlich rasch gemerkt, denn er spürte die
Veränderung in ihr. Ihre Erregung, ihre gesteigerte
Schönheit, der ganze strahlende Glanz, der von ihr
ausging. Und was sein Ahnungsvermögen ihm verraten
hatte, wurde durch unbarmherzige Tatsachen bestätigt.

87
Eines Tages trat er in ihr Wohnzimmer, und sie deckte
instinktiv den Brief zu, den sie gerade schrieb. Da
wußte er: Sie schreibt an ihren Geliebten.
Nachher, als sie aus dem Zimmer war, prüfte er das
Löschblatt. Er hielt es vor den Spiegel und las in
Rosemaries energischer Handschrift die Worte: »Mein
angebeteter Leopard...« Das Blut brauste ihm in den
Ohren. In diesem Augenblick verstand er, was Othello
empfunden hatte. Er hätte sie erwürgen und den
Burschen kalten Bluts umbringen mögen. Wer war es?
Dieser Browne? Oder dieser stocksteife Stephen
Farraday? Beide waren ständig um sie herum.
Er schaute in den Spiegel. Seine Augen waren blut-
unterlaufen. Er sah aus, als würde ihn gleich der Schlag
treffen.
Als George Barton jetzt an diesen Augenblick zurück-
dachte, fiel ihm das Glas aus der Hand. Wieder hatte er
das würgende Gefühl, spürte das Sausen des Blutes in
den Ohren. Selbst jetzt noch...
Mit Gewalt schob er die Erinnerung weg. Es war vorbei
– erledigt. So würde er nie wieder leiden. Rosemarie
war tot. Tot und in Frieden. Und auch er hatte seinen
Frieden. Keine Qualen mehr. Sonderbar, daß ihr Tod
ihm gerade das brachte – Frieden... Selbst Ruth hatte er
das nie gesagt. Tüchtiges Mädchen, diese Ruth. Er
wußte tatsächlich nicht, was er ohne sie anfangen sollte.
Wie sie ihm half – wie sie mit ihm fühlte! Und nie eine
Spur von Sex. Nicht mannstoll wie Rosemarie.
Rosemarie... Rosemarie an dem runden Tisch im
Restaurant. Ein bißchen schmal im Gesicht nach ihrer
Grippe – ein bißchen matt – aber schön, so schön. Und

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eine Stunde später!
Nein, daran wollte er nicht denken. Jetzt nicht. Sein
Plan. Er wollte an seinen Plan denken. Zuerst mußte er
mit Race sprechen. Er mußte Race die Briefe zeigen.
Was würde Race von den Briefen halten? Iris war
sprachlos gewesen. Sie hatte offenbar von nichts
gewußt.
Nun, er hatte die Sache jetzt in der Hand. Alles war
vorbereitet.
Der Plan. Vollständig ausgearbeitet, Datum, Ort. 2.
November. Allerseelen. Das war eine gute Nuance.
Natürlich im Luxembourg. Er mußte versuchen, den
gleichen Tisch zu bekommen.
Und die gleichen Gäste. Anthony Browne, Stephen
Farraday, Sandra Farraday. Außerdem selbstver-
ständlich Ruth, Iris und er selbst. Und als den
ungeraden siebenten Gast würde er Race einladen –
Race, der ursprünglich auch bei dem Geburtstagsessen
dabeisein sollte.
Einen leeren Platz würde es geben. Großartig!
Dramatisch! Eine Wiederholung des Verbrechens.
Nun – vielleicht nicht eigentlich eine Wiederholung...
Er versank in Erinnerungen.
Rosemaries Geburtstag... Rosemarie, über den Tisch
hingestreckt...

Lucilla Drake »zwitscherte«. Das war der Ausdruck,


der in der Familie dafür gebraucht wurde, und es war

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wirklich eine sehr treffende Kennzeichnung der Laute,
die Lucillas gütigen Lippen entströmten.
An diesem besonderen Morgen war sie über viele
Dinge beunruhigt – so viele Dinge, daß es ihr schwer
fiel, jedem einzelnen die nötige Aufmerksamkeit zu
widmen. Die unmittelbar bevorstehende Übersiedlung
zurück nach London und die häuslichen Probleme, die
damit verbunden waren. Personal, Haushalt, tausend
Kleinigkeiten – und dazu noch die Sorge über Iris'
schlechtes Aussehen.
»Tatsächlich, Kind, ich mache mir Gedanken um dich –
du siehst so blaß und erschöpft aus als ob du kaum
geschlafen hättest – hast du geschlafen? Wenn nicht,
haben wir doch das gute Rezept von Dr. Wylie – oder
war es Dr. Gaskell? Dabei fällt mir ein – ich werde
wohl selbst einmal mit dem Kaufmann sprechen
müssen – entweder haben die Mädchen auf eigene
Faust bestellt, oder er beschwindelt uns mit Absicht.
Ungezählte Pakete Seifenflocken – und ich erlaube
doch nie mehr als drei Pakete pro Woche. Aber
vielleicht wäre irgendein Stärkungsmittel besser?
Eastons Sirup – den hat man mir als Kind immer
gegeben. Und natürlich Spinat. Ich werde der Köchin
sagen, daß sie heute Spinat zu Mittag machen soll.«
Iris sagte bloß: »Ich fühle mich ganz wohl, Tante
Lucilla.«
»Dunkle Schatten unter den Augen«, sagte Mrs. Drake.
»Du hast dich überanstrengt.«
»Ich habe seit Wochen nichts getan.«
»Das glaubst du nur, liebes Kind. Aber übertrieben viel
Tennis spielen ist ermüdend für ein junges Mädchen.

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Und ich glaube auch, daß die Luft hier draußen nervös
macht. Das Haus liegt in einer Bodensenke. Wenn
George nur mich um Rat gefragt hätte statt diese
Person.«
»Person?«
»Ja, diese Miss Lessing, von der er soviel hält. Im Büro
– schön und gut. Aber ein großer Fehler, sie auch noch
privat heranzuziehen. Das ermuntert sie nur, sich als
Familienmitglied zu betrachten. Obzwar ich behaupten
möchte, daß sie dazu nicht viel Ermunterung braucht.«
Einen Augenblick lang schien das Iris aus ihrer
Gleichgültigkeit aufzurütteln. »Ich habe nie daran
gedacht, daß George und Ruth heiraten könnten.«
»Dann siehst du einfach nicht, was sich direkt vor
deiner Nase abspielt, Kind. Natürlich fehlt dir auch
meine Lebenserfahrung.«
Iris mußte unwillkürlich lächeln. Tante Lucilla war
manchmal wirklich zu komisch.
»Diese junge Person legt es auf eine Heirat an.«
»Wäre das so schlimm?« fragte Iris.
»Schlimm? Natürlich wäre das schlimm.«
»Ich fände es sogar nett.« Die Tante sah sie mit großen
Augen an. »Ich meine, nett für George. Wahrscheinlich
hast du recht, Tante Lucilla. Ich glaube, Ruth hat
George gern. Sie wäre ihm eine sehr gute Gattin und
würde für ihn sorgen.«
Mrs. Drake stieß einen schnaufenden Laut aus. In ihr
gutmütiges Schafsgesicht trat ein fast empörter
Ausdruck.
»Für George wird augenblicklich sehr gut gesorgt. Ich
möchte wissen, was er sonst noch braucht? Er bekommt

91
ausgezeichnet zu essen, und seine Sachen werden
tadellos in Ordnung gehalten. Sehr angenehm für ihn,
eine hübsche junge Dame wie dich im Haus zu haben,
und wenn du einmal heiratest, dann bin ich hoffentlich
immer noch imstande, mich um seine Bequemlichkeit
und seine Gesundheit zu kümmern, ebensogut oder
sogar besser als eine junge Person aus einem Büro. Was
versteht die schon vom Haushalt? Zahlen, Konto-
bücher, Stenographie, Schreibmaschine – damit kann
man einem Mann kein gemütliches Heim bereiten.«
Iris schüttelte lächelnd den Kopf, widersprach aber
nicht mehr. Sie dachte an Ruths dunkel schimmerndes
Haar, an ihren reinen Teint und ihre hübsche Figur, die
in den strengen Schneiderkostümen immer so gut zur
Geltung kam. Arme Tante Lucilla – ihr ganzes Denken
drehte sich nur um Bequemlichkeit und Haushalt! Für
sie lag die Liebe so fern in der Vergangenheit, daß sie
schon vergessen hatte, was das Wort bedeutete.
Lucilla Drake war Hector Marles Stiefschwester
gewesen, ein Kind aus einer früheren Ehe. Bei ihrem
sehr viel jüngeren Stiefbruder hatte sie Mutterstelle
vertreten, als seine Mutter gestorben war. Als Haus-
hälterin ihres Vaters war sie zur ausgesprochenen alten
Jungfer geworden. Sie näherte sich schon dem vierzig-
sten Jahr, als sie Rev. Caleb Drake kennenlernte, selbst
ein Mann über fünfzig. Ihre Ehe hatte nur kurz gedau-
ert; nach zwei Jahren war sie als Witwe mit einem
kleinen Sohn zurückgeblieben. Ihre späte und uner-
wartete Mutterschaft war Lucilla Drakes größtes
Erlebnis gewesen.
Ihr Sohn hatte sich zu einem Gegenstand der Sorge

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entwickelt, zu einer Quelle des Kummers und ständiger
finanzieller Ansprüche – aber nie zu einer Enttäu-
schung für seine Mutter. Mrs. Drake gab höchstens zu,
daß Victor eine liebenswürdige Charakterschwäche
besaß. Victor war zu vertrauensselig, ließ sich leicht
von schlechten Freunden verführen, weil er sie für
zuverlässig hielt. Victor hatte Pech. Victor wurde
getäuscht. Victor wurde beschwindelt. Er war das
Werkzeug böser Menschen, die sich seine Unschuld
zunutze machten. Sie kannte ihren Sohn. Er war ein
lieber, edelmütiger Junge, und seine sogenannten
Freunde nutzten ihn aus. Niemand wußte besser als sie,
wie schwer es Victor fiel, sie um Geld bitten zu
müssen. Aber was sollte der arme Junge anderes tun,
wenn er in einer solch schrecklichen Lage war? Er hatte
doch sonst niemanden, an den er sich wenden konnte.
Trotzdem gab sie zu, daß Georges Vorschlag, sie solle
zu ihm ins Haus ziehen und Iris unter ihre Fittiche
nehmen, wie ein Geschenk des Himmels gekommen
war, gerade als ihre verschämte Armut sie verzweifelt
in die Enge zu treiben begann. Dieses Jahr hindurch in
Georges Haus hatte sie sich sehr glücklich und
behaglich gefühlt, und es war nur menschlich, wenn sie
keine große Sehnsucht empfand, sich eine hochmütige
junge Person vor die Nase setzen zu lassen – eine junge
Person, von der sie überzeugt war, daß sie George nur
um seines Geldes willen heiraten wollte. Natürlich war
sie darauf aus! Ein schönes Heim wollte sie haben und
einen reichen, nachsichtigen Ehemann.
Lucilla Drake nickte mehrmals mit dem Kopf, was ihr
Doppelkinn in bebende Bewegung versetzte, zog ihre

93
Augenbrauen mit dem Ausdruck höchster menschlicher
Weisheit hinauf und ließ das Thema fallen zugunsten
einer anderen, ebenso interessanten und vielleicht noch
vordringlicheren Frage. Nämlich, ob man die Woll-
decken einmotten sollte...
Iris zog fröstelnd die Schultern hoch, und Lucilla Drake
rief triumphierend aus: »Da hast du es! Ich habe ja
gesagt, du bist erkältet!«

»Ich wünschte, die Leute wären nie in unsere Gegend


gekommen.«
Sandra Farraday sagte es mit so ungewöhnlicher
Erbitterung, daß ihr Mann sich erstaunt nach ihr
umdrehte. Es war, als habe sie seine eigenen Gedanken
in Worte gefaßt – die Gedanken, die er vor ihr zu
verbergen versucht hatte. Also hatte Sandra das gleiche
Gefühl wie er? Auch sie empfand, daß die neuen
Nachbarn jenseits des Parks einem die Freude an
Fairhaven verdarben und seinen Frieden störten. Er
sagte mit impulsiver Überraschung in der Stimme: »Ich
habe nicht gewußt, daß du ebenfalls dieser Meinung
bist...«
Sofort zog sie sich wieder in sich selbst zurück –
wenigstens kam es ihm so vor. »Von Nachbarn hängt
auf dem Lande soviel ab. Entweder man steht schlecht
mit ihnen, oder man ist mit ihnen befreundet; lauwarme
Bekanntschaften wie in London gibt es da nicht.«
»So ist es«, sagte Stephen.

94
»Und jetzt sind wir beide gezwungen, zu dieser blöd-
sinnigen Einladung zu gehen.« Sie schwiegen beide
und beschäftigten sich in Gedanken mit der Szene, die
sich beim Mittagessen abgespielt hatte. George Barton
war liebenswürdig, ja sogar überströmend herzlich –
mit einer gewissen inneren Erregung, die sie beide
spürten. Er war wirklich ein sonderbarer Mensch
geworden. In der Zeit vor Rosemaries Tod hatte ihm
Stephen nie viel Beachtung geschenkt. George war ir-
gendwo im Hintergrund gewesen – der gutmütige,
langweilige Mann einer jungen, schönen Frau. Über
den Betrug an George empfand Stephen niemals
Gewissensbisse. George gehörte zu den Ehemännern,
die geboren sind, um betrogen zu werden. Soviel älter,
so bar aller Anziehungskraft, die notwendig ist, um eine
hübsche, kapriziöse Frau zu fesseln. Ob George selbst
sich einer Täuschung hingegeben hatte? Stephen
glaubte das nicht. George kannte Rosemarie sehr
genau. Er liebte sie und war sich wohl bewußt, daß er
nicht die Gaben besaß, das Leben einer solchen Frau
auszufüllen.
Trotzdem mußte George gelitten haben. Stephen fragte
sich, was George bei Rosemaries Tod wohl empfunden
haben mochte.
In den Monaten nach dem tragischen Ereignis hatten er
und Sandra George selten gesehen. Erst als er plötzlich
als ihr unmittelbarer Nachbar in Little Priors auf-
tauchte, trat er wieder in ihr Leben und wirkte vom
ersten Augenblick an verändert.
Lebendiger, bestimmter war er geworden. Ja – und ent-
schieden sonderbar.

95
Auch heute war er sonderbar gewesen. Wie er plötzlich
mit seiner Einladung herausplatzte!
Ein Essen zu Ehren von Iris' achtzehntem Geburtstag.
Er, George, würde sich so sehr freuen, wenn Stephen
und Sandra kommen könnten.
Sandra antwortete rasch, sie würden gern kommen.
Natürlich hätte Stephen viele Verpflichtungen und sie
eine Menge lästiger Verabredungen, aber sie hoffe sehr,
daß es sich einrichten ließe.
»Dann wollen wir gleich einen Tag festsetzen,
nicht...?«
Georges Gesicht – lächelnd, drängend.
»Ich habe gedacht, vielleicht in der übernächsten
Woche – Mittwoch oder Donnerstag. Donnerstag ist der
2. November – wäre euch das recht?«
George wollte sie festnageln – lag das an seiner
mangelnden gesellschaftlichen Gewandtheit? Stephen
bemerkte, daß Iris rot wurde und verlegen aussah.
Sandra benahm sich großartig. Sie fügte sich lächelnd
ins Unvermeidliche. Das war am Nachmittag gewesen,
und nun sagte Stephen: »Wir brauchen nicht hinzu-
gehen.«
Sandra wandte sich ihm mit nachdenklicher Miene zu.
»Glaubst du wirklich?«
»Wir könnten leicht irgendeine Ausrede finden.«
»Dann wird er darauf bestehen, daß wir ein andermal
kommen, oder er wird die ganze Sache verschieben. Er
scheint – sehr großen Wert darauf zu legen, daß wir
kommen.«
»Warum, kann ich mir nicht denken. Die Einladung
erfolgt Iris zu Ehren, und ich bezweifle sehr, daß ihr

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viel an unserer Gesellschaft liegt.«
»Gewiß –« Sandras Stimme klang nachdenklich.
Dann sagte sie: »Weißt du, wo das Essen stattfinden
soll?«
»Nein.«
»Im Luxembourg.«
Er war vor Überraschung fast sprachlos. Er wurde blaß.
Dann riß er sich zusammen und schaute ihr in die
Augen. Bildete er es sich nur ein, oder hatte ihr ruhiger
Blick wirklich etwas Bedeutungsvolles?
»Das ist ja unerhört«, rief er aus. Er übertrieb seine
Empörung ein bißchen, um seine innere Erregung zu
verbergen. »Im Luxembourg, wo alles daran erinnert...
Der Mann muß verrückt sein.«
»Daran habe ich auch gedacht«, sagte Sandra.
»Wir werden selbstverständlich absagen. Die – die
ganze Sache war ausgesprochen unangenehm. Das
öffentliche Aufsehen – die Bilder in den Zeitungen...«
»Ich erinnere mich an alles«, antwortete Sandra.
»Ist ihm denn nicht klar, wie unerfreulich es für uns
sein muß?«
»Weißt du, Stephen, er hat einen bestimmten Grund. Er
hat ihn mir genannt.«
»Und der wäre?«
Er war dankbar, daß sie ihn nicht mehr ansah.
»Er hat mich nach dem Mittagessen beiseite genommen
und mir erklärt, Iris hätte sich seit dem Tod ihrer
Schwester noch nicht richtig erholt.«
Sie hielt inne, und Stephen sagte widerwillig. »Ja, da
hat er vielleicht recht – sie sieht gar nicht gut aus. Noch
heute beim Mittagessen fiel mir auf, wie elend sie

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aussieht.«
»Ja, ich habe es auch bemerkt – obschon sie in letzter
Zeit im allgemeinen einen gesunden und vergnügten
Eindruck gemacht hatte. Aber ich will dir erzählen, was
George Barton gesagt hat. Er meinte, Iris hätte seither
das Luxembourg praktisch gemieden.«
»Das wundert mich nicht.«
»Aber nach Georges Auffassung ist das ein großer
Fehler. Er scheint einen Nervenspezialisten darüber
konsultiert zu haben, einen von diesen modernen
Analytikern, und der ist der Meinung, nach einem
Schock solcher Art dürfe man der Ursache des Schocks
nicht ausweichen, sondern müsse ihr entgegentreten.«
»Empfiehlt der Spezialist einen zweiten Selbstmord?«
Sandra erwiderte ruhig: »Der Spezialist empfiehlt, die
Gedankenverbindungen, die sich an das Restaurant
knüpfen, zu überwinden. Es ist schließlich nur ein
Restaurant. Er empfiehlt, eine nette, harmlose Gesell-
schaft dort zu veranstalten, an der soweit wie möglich
die gleichen Leute teilnehmen.«
»Entzückend für die Leute!«
»Macht es dir soviel aus, Stephen?«
Ein plötzlicher Schreck durchzuckte ihn. Er sagte rasch:
»Natürlich nicht. Ich finde nur, daß es ein etwas
gruseliger Gedanke ist. Persönlich ist es mir völlig
egal... Ich habe viel eher an dich gedacht. Wenn es dir
nichts ausmacht.«
Sie unterbrach ihn. »Es macht mir etwas aus. Sogar
sehr viel. Aber so, wie George Barton es dargestellt hat,
konnte ich schlecht nein sagen. Ich bin schließlich seit
damals schon häufig im Luxembourg gewesen – und du

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auch. Man wird ja dauernd dorthin eingeladen.«
»Aber nicht unter diesen besonderen Bedingungen.«
»Nein, das stimmt.«
Stephen sagte: »Du hast recht, man kann schlecht
absagen. Aber für dich, Sandra, besteht kein Anlaß, es
über dich ergehen lassen zu müssen. Ich werde hin-
gehen, und du kannst dich im letzten Augenblick
drücken – Kopfweh, Erkältung, irgend etwas.«
Sie hob das Kinn. »Das wäre feige. Nein, Stephen,
wenn du gehst, gehe ich auch. Schließlich«, sie legte
ihre Hand auf seinen Arm, »sowenig unsere Ehe auch
bedeutet, so bedeutet sie doch mindestens, daß wir
unsere Schwierigkeiten miteinander teilen.«
Er starrte sie an. Diese Wendung, die ihr so leicht von
den Lippen kam, als verliehe sie einer längst bekannten,
nicht sehr wichtigen Tatsache Ausdruck, ließ ihn
verstummen.
Er raffte sich auf und sagte: »Was sagst du da? So
wenig unsere Ehe auch bedeutet?«
Sie sah ihm offen ins Gesicht.
»Stimmt das nicht?«
»Nein, tausendmal nein! Unsere Ehe bedeutet mir
alles.«
Sie lächelte. »Das tut sie vielleicht – in gewissem
Sinne. Wir bilden ein gutes Gespann, Stephen. Wir
ziehen an einem Strang – und können schöne Erfolge
aufweisen.«
»Das habe ich nicht gemeint.« Sein Atem ging schnell.
Er nahm ihre Hand in seine beiden Hände und hielt sie
fest. »Sandra, weißt du denn nicht, daß du für mich
alles auf der Welt bedeutest?«

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Und auf einmal wußte sie es. Es war unglaublich –
völlig überraschend – aber wahr. Sie lag in seinen
Armen. Er hielt sie fest an sich gedrückt und küßte sie,
stammelte unzusammenhängende Worte.
»Sandra – Sandra – Liebste. Ich liebe dich... Ich hatte
so Angst – so Angst, dich zu verlieren.«
Sie hörte ihre eigene Stimme sprechen: »Wegen
Rosemarie?«
»Ja.« Er ließ sie los. Trat einen Schritt zurück, und sein
Gesicht drückte höchstes Erstaunen aus.
»Du hast gewußt – von Rosemarie?«
»Natürlich – die ganze Zeit.«
»Und du verstehst es?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich verstehe es nicht.
Ich glaube, daß ich es nie verstehen werde. Hast du sie
geliebt?«
»Nicht wirklich. Du warst es, die ich geliebt habe.«
Eine Welle der Bitterkeit ging über sie hinweg. Sie
fragte:
»Vom ersten Augenblick an, da du mich neben dem
Büfett hast stehen sehen? Sag diese Lüge nicht noch
einmal – denn es war eine Lüge!«
Der plötzliche Angriff schreckte ihn nicht.
»Ja, es war eine Lüge – und doch auch wieder nicht.
Ich fange sogar an zu glauben, daß es die Wahrheit war.
Ach, versuch doch, mich zu verstehen, Sandra! Du
warst die Frau, die ich nötig hatte. Wenigstens das ist
bestimmt wahr. Und wenn ich jetzt zurückschaue, dann
glaube ich ehrlich, daß es mir nie hätte glücken können,
wenn es nicht die Wahrheit gewesen wäre.«
Sie sagte bitter: »Du hast mich nicht geliebt.«

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»Nein. Ich hatte noch nie geliebt. Ich war ein ausge-
hungertes, geschlechtsloses Wesen, das auf die
wählerische Kälte seiner Natur stolz war! Und dann
habe ich mich verliebt – blödsinnig und kindisch
verliebt. Eine Liebe wie ein Gewitter im Sommer: kurz,
heftig, rasch vorbei.«
Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Hier in
Fairhaven war es, daß ich aufwachte und die Wahrheit
erkannte.«
»Die Wahrheit?«
»Daß du die einzige bist, auf die es mir im Leben
ankommt – du und deine Liebe.«
Sie murmelte: »Wenn ich das nur gewußt hätte...«
»Was hast du gedacht?«
»Ich dachte, du möchtest mit ihr davonlaufen.«
»Mit Rosemarie?« Er lachte bitter: »Das wäre tat-
sächlich so etwas wie lebenslängliche Zwangsarbeit
gewesen!«
»Hat sie nicht verlangt, daß du mit ihr fortgehen
solltest?»
»Doch, das hat sie.«
»Und was war dann?«
Stephen tat einen tiefen Atemzug. Nun standen sie
wieder vor dem drohenden Geheimnis. Er antwortete:
»Dann war der Abend im Luxembourg.«
Sie verstummten beide, das gleiche Bild vor Augen.
Die verkrampften, bläulich verfärben Züge der einst
schönen Frau. Wie sie auf die Tote gestarrt und dann –
beim Aufblicken einander in die Augen gesehen
hatten...
Stephen murmelte: »Denk nicht daran, Sandra – um

101
Himmels willen, wir wollen nicht daran denken!«
»Es hat keinen Zweck, nicht daran zu denken. Wir
können es doch nicht vergesen.« Nach einer Pause
fragte Sandra: »Was sollen wir tun?«
»Das, was du vorhin gesagt hast. Der Sache ins Gesicht
sehen – gemeinsam. Hingehen zu dieser gräßlichen
Einladung, ganz gleich, aus welchem Grund sie statt-
findet.«
»Du glaubst nicht, was George über Iris gesagt hat?«
»Nein. Du etwa?«
»Es könnte stimmen. Aber selbst wenn es stimmte,
wäre das nicht der wahre Grund.«
»Was hältst du für den wahren Grund?«
»Ich weiß nicht, Stephen. Aber ich habe Angst.«
»Vor George Barton?«
»Ja. Ich glaube, er – weiß es.«
Sie wandte ihm langsam ihr Gesicht zu, bis ihre Blicke
sich kreuzten. Sie flüsterte: »Wir dürfen keine Angst
haben. Wir müssen Mut haben – allen Mut der Welt.
Du wirst einmal ein großer Mann, Stephen – ein Mann,
den die Welt braucht. Nichts darf sich dem in den Weg
stellen. Ich bin deine Frau, und ich liebe dich.«
»Für was hältst du diese Einladung, Sandra?«
»Für eine Falle.«
Er sagte langsam: »Und wir sollen in diese Falle
gehen?«
»Wir dürfen nicht wissen, daß es eine Falle ist.«
»Ja, das ist wahr.«
Plötzlich warf Sandra lachend den Kopf zurück und
sagte: »Du kannst dich anstrengen, soviel du willst,
Rosemarie – du wirst trotzdem nicht siegen.«

102
Stephen packte sie an der Schulter. »Sei still, Sandra.
Rosemarie ist tot.«
»Wirklich? Manchmal kommt es mir so vor, als sei sie
sehr lebendig.«

Mitten im Park sagte Iris: »Macht es dir etwas aus,


George, wenn ich nicht mit dir zurückgehe? Ich sehne
mich nach einem langen Spaziergang. Ich würde gern
über Friars Hill gehen und dann durch den Wald
heimkommen. Ich habe den ganzen Tag scheußliche
Kopfschmerzen gehabt.«
»Du armes Kind – natürlich, lauf noch ein bißchen. Ich
kann dich nicht begleiten, weil ich heute nachmittag
einen Gast erwarte und nicht genau weiß, um welche
Zeit er kommen wird.«
»Gut. Dann also auf Wiedersehen bis zum Tee.«
Sie bog im rechten Winkel vom Weg ab und entfernte
sich in Richtung eines Lärchenwäldchens, das einen
nahe liegenden Hügel krönte. Es war einer jener
drückenden, feuchten Tage, wie sie im Oktober häufig
sind. Eine dunstige Nässe lag auf den Blättern, und die
niedrig hängenden grauen Wolken kündigten noch
mehr Regen an. Die Luft hier oben war kaum frischer
als unten im Tal, aber Iris hatte trotzdem das Gefühl,
als könne sie freier atmen.
Sie setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm und
starrte hinunter ins Tal, wo Little Priors sich bescheiden
in seine bewaldete Bodensenke schmiegte. Weiter zur

103
Linken schimmerte es rosenrot und ziegelfarben: das
Herrenhaus von Fairhaven.
Iris stützte das Kinn in die Hand und ließ den Blick
über die Landschaft schweifen. Das Geräusch hinter ihr
war kaum lauter als das Tröpfeln von den Blättern, aber
sie wandte mit einem Ruck den Kopf: Die Zweige
teilten sich, und Anthony Browne trat heraus.
Halb ärgerlich rief sie: »Tony! Warum mußt du immer
auftauchen wie – wie der Teufel aus der Versenkung?«
Anthony ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder. Er
zog ein Etui aus der Tasche und bot ihr eine Zigarette
an. Als sie den Kopf schüttelte, nahm er sich selbst eine
und zündete sie an. Er tat einen tiefen Zug und
antwortete dann: »Weil ich eine geheimnisvolle
Erscheinung bin. Es macht mir Spaß, aus dem Nichts
aufzutauchen.«
»Wieso hast du gewußt, daß ich hier bin?«
»Ich besitze einen ausgezeichneten Feldstecher. Man
hatte mir gesagt, daß du bei den Farradays zu Mittag
essen würdest, und ich habe dir vom Hügel aus nach-
spioniert, als du fortgingst!«
»Warum kommst du nicht ins Haus wie ein normaler
Mensch...?«
»Weil ich kein normaler Mensch bin«, antwortete
Anthony beleidigt. »Ich weiche stark von der Norm
ab.«
»Ja, das glaube ich auch.«
Er warf ihr einen Blick zu und fragte: »Ist etwas los mit
dir?«
»Nein. Wenigstens...« Sie hielt inne.
Anthony wiederholte fragend: »Wenigstens?«

104
Sie seufzte. »Ich habe den Aufenthalt hier satt. Little
Priors ist mir verhaßt. Ich will nach London zurück.«
»Nun, ihr geht doch bald zurück, nicht wahr?«
»Nächste Woche.«
»Das war also heute eine Abschiedsgesellschaft bei
Farradays?«
»Es war keine Gesellschaft. Nur die beiden und eine
alte Cousine.«
»Magst du die Farradays, Iris?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, nicht sehr – obwohl ich das
nicht sagen sollte, denn sie sind sehr nett zu uns
gewesen.«
»Glaubst du, daß sie dich mögen?«
»Nein. Ich denke, sie können uns nicht leiden.«
»Interessant.«
»Findest du?«
»Ach – nicht das Nicht-leiden-können, falls das stimmt.
Interessant fand ich, daß du ›uns‹ gesagt hast. Meine
Frage hatte sich auf dich allein bezogen.«
»Ach so – ja, weißt du, ich glaube nicht, daß sie gegen
mich wirklich etwas haben. Ich denke mir, sie haben
etwas gegen uns als Familie, weil wir ihre unmittel-
baren Nachbarn sind. Wir haben sie ja nicht so gut
gekannt – sie waren hauptsächlich mit Rosemarie
befreundet.«
»Ja, sie waren mit Rosemarie befreundet. Allerdings –
daß Sandra Farraday und Rosemarie jemals auf
besonders gutem Fuß gestanden haben, kann ich mir
schwer vorstellen.«
»Nein«, sagte Iris. Sie machte ein etwas besorgtes
Gesicht, aber Anthony rauchte friedlich weiter. Nach

105
einer Weile sagte er:
»Weißt du, was mir an den Farradays am meisten
auffällt?«
»Nun?«
»Eben daß sie ›die Farradays‹ sind. Ich denke an sie
nicht als Stephen und Sandra, zwei Menschen, die
durch Staat und Kirche miteinander verbunden sind,
sondern als ein bestimmtes Doppelwesen – ›die
Farradays‹. So etwas kommt seltener vor, als man
denkt. Es sind zwei Menschen, die ein gemeinsames
Ziel, einen gemeinsamen Lebensweg und die ganz glei-
chen Wünsche, Abneigungen und Glaubenssätze haben.
Und das Merkwürdige daran ist, daß die beiden in
Wirklichkeit ganz verschiedene Charaktere sind.
Stephen Farraday, möchte ich behaupten, ist ein Mann
mit einem sehr weiten intellektuellen Horizont, äußerst
empfänglich für die Meinung anderer, furchtbar
unsicher und mit einem gewissen Mangel an morali-
schem Mut. Sandra dagegen besitzt einen fast archaisch
engen Geist, ist fanatischer Hingabe fähig und mutig
bis zur Verwegenheit.«
»Stephen«, sagte Iris, »kommt mir immer ein bißchen
wichtigtuerisch und dumm vor.«
»Dumm ist er ganz und gar nicht. Er ist bloß einer von
den üblichen unglücklichen Erfolgsmenschen.«
»Unglücklich?«
»Die meisten Erfolgsmenschen sind unglücklich. Das
ist der Grund, weshalb sie Erfolgsmenschen sind: Sie
müssen sich vor sich selbst rechtfertigen, indem sie
Dinge erreichen, die in der Welt Aufsehen erregen.«
»Was hast du nur für ungewöhnliche Ideen, Anthony!«

106
»Du wirst sehen, daß sie stimmen, wenn du über sie
nachdenkst. Glückliche Menschen haben keine äußeren
Erfolge, weil sie im Einklang mit sich selbst sind und
deshalb keinen Wert darauf legen. Ich zum Beispiel.
Glückliche Menschen sind auch meist sehr umgänglich
– ebenfalls wie ich.«
»Du hast eine sehr gute Meinung von dir.«
»Ich lenke bloß deine Aufmerksamkeit auf meine guten
Seiten, für den Fall, daß du sie noch nicht entdeckt
haben solltest.«
Iris lachte. Ihre Laune hatte sich gebessert. Das
bedrückende, angstvolle Gefühl war verschwunden. Sie
sah auf die Uhr.
»Komm mit mir heim und trink mit uns Tee, damit ein
paar andere Menschen Nutzen aus deinen guten Seiten
ziehen können.«
Anthony schüttelte den Kopf. »Heute nicht. Ich muß
zurück.«
Iris fragte heftig: »Warum willst du nie zu uns ins Haus
kommen? Das muß einen Grund haben.«
Anthony zuckte die Achseln. »Dein Schwager kann
mich nicht leiden – das hat er deutlich durchblicken
lassen.«
»Ach – was brauchst du dich um George zu kümmern.
Wenn Tante Lucilla und ich dich einladen – sie ist eine
liebe alte Dame, sie würde dir bestimmt gefallen.«
»Davon bin ich überzeugt – aber mein Einwand bleibt
trotzdem bestehen.«
»Zu Rosemaries Zeiten bist du oft gekommen.«
»Das«, sagte Anthony, »war etwas anderes.«
Eine kalte Hand griff Iris ans Herz. Sie sagte: »Was hat

107
dich heute veranlaßt herzukommen? Hast du geschäft-
lich in der Gegend zu tun gehabt?«
»Ein sehr wichtiges Geschäft – mit dir. Ich bin herge-
kommen, um dich etwas zu fragen, Iris.«
Die kalte Hand war nicht mehr da. Statt dessen
überkam Iris eine leichte Unruhe – jene pulsierende
Erregung, die den Frauen seit undenklichen Zeiten
wohlbekannt ist. Und zugleich nahm Iris' Gesicht jenen
ahnungslos fragenden Ausdruck an, den ihre Urgroß-
mutter gehabt haben mochte, einige Augenblicke, bevor
sie die Worte sprach: »Ach, Mr. X. – Ihr Antrag kommt
so überraschend...«
»Ja?« Sie wandte Anthony dieses unwahrscheinlich
naive Gesicht zu.
Er sah sie mit ernsten, fast strengen Augen an: »Gib
mir eine ehrliche Antwort, Iris. Meine Frage lautet:
Hast du Vertrauen zu mir?«
Sie war verblüfft, denn sie hatte eine andere Frage
erwartet. Er bemerkte es wohl.
»Du dachtest, ich würde dir eine andere Frage stellen?
Aber meine Frage ist sehr wichtig, Iris. Sie ist für mich
die wichtigste Frage der Welt. Noch einmal: Hast du
Vertrauen zu mir?«
Sie zögerte sekundenlang. Dann antwortete sie mit
niedergeschlagenen Augen: »Ja.«
»Dann gehe ich weiter und stelle dir eine zweite Frage:
Bist du bereit, mit mir nach London zu fahren und dich
dort mit mir trauen zu lassen, ohne jemandem etwas
davon zu verraten?«
Sie starrte ihn an. »Aber das geht doch nicht! Es geht
einfach nicht!«

108
»Du würdest mich nicht heiraten?«
»Nicht auf diese Art und Weise.«
»Und doch liebst du mich. Du liebst mich doch, nicht
wahr?«
Sie hörte ihre Stimme sagen: »Ja, ich liebe dich,
Anthony.«
»Aber du willst nicht mitkommen und mich in Saint
Elfrida in Bloomsbury heiraten? In dieser Gemeinde
bin ich nämlich seit einigen Wochen gemeldet und
kann infolgedessen jederzeit eine Heiratserlaubnis
bekommen.«
»Aber das kann ich doch nicht tun! George wäre
furchtbar verletzt, und Tante Lucilla würde mir nie
verzeihen. Außerdem bin ich noch nicht mündig. Ich
werde erst achtzehn.«
»Du müßtest ein höheres Alter angeben. Welcher
Bestrafung ich mich aussetze, wenn ich eine Minder-
jährige ohne Zustimmung ihres Vormundes heirate,
weiß ich nicht. Wer ist übrigens dein Vormund?«
»George. Er verwaltet auch mein Vermögen.«
»Ja – aber wie auch immer die Strafe aussieht, sie
würde die Trauung nicht ungültig machen, und das ist
eigentlich die Hauptsache, auf die es mir ankommt.«
Iris schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht tun. Ich
kann nicht so lieblos sein. Und überhaupt: Warum?
Was soll es für einen Zweck haben?«
Anthony sagte: »Deshalb habe ich dich zuerst gefragt,
ob du Vertrauen zu mir hast. Meine Gründe müßtest du
eben auf Treu und Glauben hinnehmen. Sagen wir, daß
die Trauung der einfachste Weg wäre. Aber lassen wir
das jetzt.«

109
Iris meinte zaghaft: »Wenn George dich nur ein
bißchen näher kennen würde. Komm doch jetzt mit mir
zurück. Es werden nur er und Tante Lucilla dasein.«
»Bist du sicher? Ich dachte...« Er hielt inne. »Als ich
den Hügel hinaufstieg, sah ich einen Mann, der bei
euch den Fahrweg entlangging, und das Sonderbare ist,
daß ich den Mann« – er zögerte –, »den Mann kenne.«
»Natürlich, das habe ich ganz vergessen – George hat
mir gesagt, er erwarte jemanden.«
»Der Mann, den ich erkannt zu haben glaubte, heißt
Race – Colonel Race.«
»Sehr gut möglich«, gab Iris zu. »George kennt einen
Colonel Race. Er sollte damals an dem Abend auch
zum Essen kommen, als Rosemarie...«
Sie brach mit bebender Stimme ab. Anthony ergriff ihre
Hand. »Denk nicht mehr daran, Liebes. Ich weiß, es
war schrecklich.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nichts dagegen tun,
Anthony ...«
»Ja?«
»Ist dir jemals der Gedanke gekommen – glaubst du...«
Es fiel ihr schwer, in Worte zu fassen, was sie sagen
wollte.
»Hast du jemals daran gedacht, daß Rosemarie –
vielleicht keinen Selbstmord begangen hat? Daß sie
möglicherweise ermordet worden ist!«
»Großer Gott, Iris – wer hat dir das in den Kopf
gesetzt?«
Sie antwortete nicht, sondern fragte zurück: »Dieser
Gedanke ist dir niemals gekommen?«
»Niemals. Natürlich hat Rosemarie Selbstmord

110
begangen.«
Iris schwieg.
»Wer hat dir so etwas eingeredet?«
Einen Augenblick lang war sie versucht, ihm Georges
unglaubliche Geschichte zu erzählen; aber sie
widerstand der Versuchung. Sie sagte langsam: »Es war
nur so ein Einfall von mir.«
»Denk nicht mehr daran.« Er half ihr beim Aufstehen
und küßte sie leicht auf die Wange. »Kleiner, dummer
Liebling. Vergiß Rosemarie. Denk nur an mich.«

10

Colonel Race zog an seiner Pfeife und sah George


Barton nachdenklich an. Er hatte Geroge Barton schon
als kleinen Jungen gekannt. Bartons Onkel war auf dem
Lande ein Nachbar der Familie Race gewesen.
Zwischen den beiden Männern bestand ein Alters-
unterschied von annähernd zwanzig Jahren. Race war
über sechzig, eine große, kerzengerade, soldatische
Erscheinung mit sonnverbranntem Gesicht, kurzge-
schnittenem eisengrauem Haar und scharfen dunklen
Augen.
Besonders vertraut waren die beiden nie miteinander
gewesen, aber für Race blieb Barton stets »der junge
George« – eine der vielen Gestalten, mit denen für ihn
Jugenderinnerungen verknüpft waren.
Augenblicklich beschäftigte ihn der Gedanke, daß er
vom »jungen George« eigentlich nicht viel wußte. Bei
ihren kurzen Begegnungen in späteren Jahren hatten sie

111
wenig Gemeinsames entdeckt. Race war ein Mann der
frischen Luft, ein Pioniertyp, und hatte den größten Teil
seines Lebens außerhalb Englands zugebracht. George
war durch und durch Stadtmensch. Ihre Interessen
waren verschieden. Wenn sie sich trafen, tauschten sie
zunächst lauwarme »Erinnerungen an die alte Zeit« aus,
worauf dann unweigerlich ein verlegenes Schweigen
entstand. Colonel Race hatte kein Talent für ober-
flächliches Geplauder und war überhaupt der Prototyp
des bei einer früheren Generation von Romanschrift-
stellern so beliebten wortkargen Tatmenschen.
Auch jetzt schwieg er, innerlich mit der Frage
beschäftigt, warum »der junge George« wohl so
hartnäckig auf diesem Zusammentreffen bestanden
hatte. Außerdem fiel ihm auf, daß sich George seit ihrer
letzten Begegnung vor einem Jahr in gewisser Weise
verändert hatte. George Barton war ihm stets als der
Inbegriff bürgerlicher Seelenruhe vorgekommen: vor-
sichtig, praktisch, phantasielos.
Mit dem Mann, fand er, war etwas nicht in Ordnung.
Fahrig. Schon dreimal hatte er seine Zigarre angezündet
– das sah ihm gar nicht ähnlich.
Er nahm die Pfeife aus dem Mund. »George, was haben
Sie für Sorgen?«
»Richtig, Race – es sind wirklich Sorgen. Ich brauche
dringend Ihren Rat – und Ihre Hilfe.«
Der Colonel nickte und wartete ab.
»Es ist fast ein Jahr her, da sollten Sie mit uns in
London zum Abendessen ausgehen – ins Luxembourg.
Im letzten Augenblick mußten Sie verreisen.«
Race nickte von neuem. »Nach Südafrika.«

112
»Bei diesem Essen starb meine Frau.«
Race bewegte sich unbehaglich in seinem Sessel. »Ja,
ich weiß. Habe es damals in der Zeitung gelesen.
Verzeihen Sie, wenn ich bisher weder davon gespro-
chen noch Ihnen meine Teilnahme ausgedrückt habe –
ich wollte keine traurigen Erinnerungen wachrufen.
Aber Sie wissen, daß ich mit Ihnen fühle, alter Freund.«
»Ja, ja – das ist es nicht. Man vermutete, meine Frau
habe Selbstmord begangen.«
Race griff das entscheidende Wort auf. »Vermutete?«
»Lesen Sie das.«
George reichte Race die zwei Briefe. Der Colonel
machte ein noch erstaunteres Gesicht.
»Anonyme Briefe?«
»Ja. Und ich glaube, was drinsteht, stimmt.«
Race schüttelt langsam den Kopf.
»Sehr gefährlich. Sie ahnen gar nicht, wie viele
verleumderische Briefe geschrieben werden nach jedem
Ereignis, das in der Presse breitgetreten worden ist.«
»Doch, das weiß ich. Aber die Briefe sind nicht damals
geschrieben worden, sondern erst ein halbes Jahr
später.«
Race nickte. »Das würde allerdings für Ihre Auffassung
sprechen. Wer hat Ihrer Meinung nach die Briefe
geschrieben?«
»Ich weiß nicht. Es ist mir auch gleichgültig. Auf jeden
Fall glaube ich, daß die Briefe die Wahrheit sagen.
Meine Frau ist umgebracht worden.«
Race legte seine Pfeife hin und setzte sich auf.
»Und warum glauben Sie das? Haben Sie schon damals
irgendeinen Verdacht gehabt? Oder die Polizei?«

113
»Ich war damals wie betäubt – vollständig vor den
Kopf geschlagen. Ich habe den Spruch bei der Leichen-
schau einfach hingenommen. Der Tatbestand schien
damals vollkommen einwandfrei.«
»Hat sie jemals mit Selbstmord gedroht?«
»Nein, nie. Rosemarie – liebte das Leben.«
Race nickte. Er war Georges Frau nur ein einziges Mal
begegnet. Er hatte sie außergewöhnlich schön und
dumm gefunden – aber bestimmt nicht lebensver-
neinend. »Wie war der ärztliche Befund über ihren
Geisteszustand und so weiter?«
»Der Arzt, den Rosemarie sonst immer konsultierte –
ein älterer Mann, der die Familie Marle von
Kindesbeinen an behandelt hat –, war auf einer
Seereise. Während ihrer Grippe ist Rosemarie von
seinem Vertreter behandelt worden. Der hat, soweit ich
mich erinnern kann, ausgesagt, daß es nach einer
Grippe dieser Art häufig zu schweren Depressions-
zuständen kommt.«
George machte eine Pause und fuhr dann fort: »Erst
nachdem ich die beiden anonymen Briefe erhalten
hatte, habe ich mich mit Rosemaries Hausarzt in
Verbindung gesetzt. Ich habe ihm natürlich nichts von
den Briefen gesagt – sondern einfach noch mal alles
mit ihm besprochen. Er erklärte, über Rosemaries
Selbstmord äußerst erstaunt gewesen zu sein. Er hätte
das nie erwartet. Rosemarie sei ganz und gar nicht der
Typ gewesen, der zum Selbstmord neigt. Der Vorfall
habe ihm gezeigt, daß auch ein Patient, den der Arzt gut
zu kennen glaubt, in einer völlig überraschenden Weise
reagieren könne.«

114
George hielt erneut inne. Nach einer Weile fuhr er fort;
»Nachdem ich mit dem Arzt gesprochen hatte, ist mir
klargeworden, wie wenig ich selbst von Rosemaries
Selbstmord überzeugt war. Schließlich habe ich sie sehr
genau gekannt. Sie war ein Mensch mit plötzlichen
heftigen Anfällen von Traurigkeit. Sie konnte sich über
gewisse Dinge sehr aufregen, konnte auch gelegentlich
unüberlegt handeln. Aber ich habe sie nie in einer
Stimmung erlebt, in der sie gewünscht hätte, ›Schluß zu
machen‹.«
Race murmelte etwas verlegen: »Könnte sie außer der
angeblichen Depression einen Grund zum Selbstmord
gehabt haben? Ich meine, war sie über irgend etwas
Bestimmtes wirklich unglücklich?«
»Ich – nein – nun, sie war ziemlich nervös.«
Ohne George anzusehen, fragte Race: »Hat Ihre Frau
zu dramatischen Auftritten geneigt? Sie wissen, daß ich
sie nur ein einziges Mal gesehen habe. Es gibt aber
einen Frauentyp, der – nun, sagen wir, aus Sensations-
lust einen Selbstmordversuch unternimmt – gewöhnlich
nach einem vorangegangenen Streit. Aus dem gewissen
kindischen Motiv heraus: Es geschieht den anderen
schon recht, daß ich ihnen solchen Kummer mache.«
»Wir hatten keinen Streit miteinander.«
»Aha. Ich muß allerdings auch sagen, daß die Verwen-
dung von Zyankali diese Theorie eigentlich ausschließt.
Zyankali ist kein Gift, mit dem man leichtsinnig herum-
spielen kann – das weiß jeder.«
»Ja, und das führt zu einem weiteren Punkt. Falls aus
irgendeinem Grund Rosemarie tatsächlich einen Selbst-
mord erwogen hätte – hätte sie dann nicht einen

115
anderen Weg gewählt? Eine Todesart, die weniger
schmerzhaft und – weniger häßlich ist? Zum Beispiel
eine große Dosis von irgendeinem Schlafmittel?«
»Ganz meine Meinung. Ist ein Nachweis erbracht
worden, daß sie sich Zyankali gekauft oder verschafft
hat...?«
»Nein. Aber sie war bei Freunden auf dem Lande, und
dort wurde eines Tages ein Wespennest vernichtet. Man
vermutete, daß sie bei dieser Gelegenheit das Zyankali
an sich genommen hat.«
»Ja – auf diese Weise läßt es sich ganz leicht beschaf-
fen. Gärtner haben meist einen Vorrat davon.«
Er machte eine Pause und sagte dann: »Wir wollen kurz
zusammenfassen. Ein positiver Beweis dafür, daß Ihre
Frau sich mit Selbstmordgedanken trug oder Vorbe-
reitungen in dieser Richtung getroffen hatte, war nicht
vorhanden. Andererseits kann aber auch kein Material
vorhanden gewesen sein, das auf Mord hindeutete,
denn sonst hätte die Polizei, die ja so dumm auch nicht
ist, sich der Sache angenommen.«
»Der Gedanke an Mord wäre einfach phantastisch
erschienen.«
»Aber ein halbes Jahr später erschien er Ihnen nicht
mehr phantastisch?«
George sagte langsam: »Ich glaube, ich war die ganze
Zeit über nicht so recht überzeugt. Ich muß mich wohl
unbewußt nach und nach auf die Mordtheorie
eingestellt haben, so daß ich sie mir schließlich wider-
spruchslos zu eigen gemacht habe, als ich sie schwarz
auf weiß vor mir sah.«
»Ja.« Race ruckte. »Nun, dann schießen Sie los. Wen

116
haben Sie im Verdacht?«
George beugte sich vor. Sein Gesicht zuckte. »Das ist
eben das Schreckliche. Falls Rosemarie wirklich umge-
bracht worden ist, dann muß es jemand von unserer
Tischrunde – jemand von unseren Freunden getan
haben. Sonst ist niemand in die Nähe unseres Tisches
gekommen.«
»Die Kellner? Wer hat den Wein eingeschenkt?«
»Charles, der Oberkellner. Sie kennen Charles?«
Race bejahte. Jedermann kannte Charles. Sich vorzu-
stellen, Charles hätte mit Vorbedacht einen Gast
vergiftet, war unmöglich.
»Und unser Kellner am Tisch war Giuseppe. Ich kenne
Giuseppe seit Jahren. Er bedient mich immer, wenn ich
im Luxembourg esse. Netter, lustiger kleiner Kerl.«
»Kommen wir also zu der Tischgesellschaft. Wer war
da?«
»Stephen Farraday, der Abgeordnete. Seine Frau, Lady
Alexandra Farraday. Meine Sekretärin, Ruth Lessing.
Ein Mann namens Anthony Browne. Rosemaries
Schwester Iris. Ich selbst. Im ganzen sieben Personen.
Wenn Sie nicht abgesagt hätten, wären wir acht
gewesen. Es war zu spät, einen Ersatzmann für Sie zu
finden.«
»Aha. Nun, Barton: Wer ist Ihrer Meinung nach der
Schuldige?«
George rief aus: »Ich weiß es nicht – ich sage Ihnen,
ich weiß es nicht! Wenn ich nur eine Ahnung hätte...«
»Gut, gut. Ich dachte nur, Sie hätten einen bestimmten
Verdacht. Es kann eigentlich nicht schwierig sein...
Wie saßen Sie? Fangen Sie bei sich selbst an.«

117
»Rechts neben mir saß Sandra Farraday. Dann Stephen
Farraday, dann Iris. Schließlich Ruth Lessing, die zu
meiner Linken saß.«
»Ich verstehe. Und Ihre Frau hatte im Laufe des
Abends schon Champagner getrunken?«
»Ja. Die Gläser waren mehrmals nachgefüllt worden.
Es geschah während des Cabaretprogramms. Es
herrschte ein Riesenlärm – laute Musik.Wir haben alle
zugeschaut. Plötzlich – kurz bevor die Lichter wieder
angingen – ist sie über dem Tisch zusammengesunken.
Vielleicht hat sie einen Schrei ausgestoßen – aber
niemand hat etwas gehört. Der Arzt meinte, der Tod sei
sofort eingetreten. Das war wenigstens ein Glück für
sie.«
»Ja, wahrhaftig. Nun, Barton – auf den ersten Bick
sieht die Sache ziemlich klar aus.«
»Was meinen Sie?«
»Natürlich Stephen Farraday. Er saß rechts von ihr. Ihr
Glas stand in unmittelbarer Nähe seiner linken Hand.
Kinderleicht für ihn, das Zeug hineinzuschütten, sobald
die Lichter aus waren und die allgemeine Aufmerk-
samkeit sich auf die Bühne konzentrierte. Eine so gute
Gelegenheit hatte sonst niemand. Ich kenne die Tische
im Luxembourg. Sie stehen ziemlich frei, und um sie
herum ist viel Platz. Ich möchte stark bezweifeln, daß
sich zum Beispiel jemand unbemerkt über den Tisch
hätte beugen können – sogar bei ausgeschalteten
Lichtern. Das gleiche gilt für den Mann zur Linken
Ihrer Frau. Um etwas in ihr Glas zu schütten, hätte er
über sie hinweggreifen müssen. Es besteht noch eine
weitere Möglichkeit, aber wir wollen die nächst-

118
liegende Person zuerst näher betrachten. Gab es irgend-
einen Grund, weswegen der Abgeordnete Stephen
Farraday die Absicht gehabt haben könnte, ihre Frau
umzubringen?«
George sagte mit erstickter Stimme: »Er und meine
Frau waren – ziemlich eng befreundet. Falls – falls
Rosemarie ihn beispielsweise abgewiesen hat, könnte
er es vielleicht aus Rache getan haben.«
»Klingt sehr dramatisch. Das ist der einzige Grund, der
Ihnen einfällt?«
»Ja«, sagte George. Er war rot im Gesicht. Race warf
ihm einen flüchtigen Blick zu und fuhr fort: »Dann
wollen wir die Möglichkeit Nummer zwei prüfen. Eine
von den Damen.«
»Warum die Damen?«
»Mein lieber George, es dürfte Ihrer Aufmerksamkeit
nicht entgangen sein, daß in einer Gesellschaft von
sieben Personen – vier Damen und drei Herren – im
Laufe eines Abends hin und wieder die Situation
eintritt, daß drei Paare tanzen und eine Dame allein am
Tisch sitzt. Sie haben alle getanzt?«
»Ja, gewiß.«
»Gut. Können Sie sich nun erinnern, welche von den
Damen irgendwann einmal allein am Tisch saß, bevor
das Cabaretprogramm begann?«
George dachte nur einen Augenblick nach. »Ich glaube
– ja, Iris hat als letzte ausgesetzt und vor ihr Ruth.«
»Können Sie sich erinnern, wann Ihre Frau zuletzt von
ihrem Champagner getrunken hat?«
»Lassen Sie mich überlegen – sie hatte mit Browne
getanzt. Ich erinnere mich, daß sie zurückkam und

119
sagte, es sei ziemlich anstrengend gewesen – er tanzt
gern komplizierte Schritte. Bei dieser Gelegenheit hat
sie ihr Glas ausgetrunken. Kurz darauf wurde ein
Walzer gespielt – den hat Rosemarie mit mir getanzt.
Sie weiß, daß Walzer der einzige Tanz ist, den ich gut
kann. Farraday tanzte mit Ruth und Lady Alexandra
mit Browne. Iris blieb sitzen. Unmittelbar nach dem
Walzer begann das Cabaret.«
»Dann wollen wir jetzt einmal die Schwester Ihrer Frau
ins Auge fassen. Ist ihr beim Tod Ihrer Frau irgendeine
Erbschaft zugefallen?«
George sprudelte heraus: »Mein lieber Race, seien Sie
nicht albern! Iris ist doch noch ein halbes Kind.«
»Ich kenne zwei Fälle, in denen Schulmädchen Morde
begangen haben.«
»Aber doch nicht Iris! Sie hatte Rosemarie sehr lieb.«
»Macht nichts, Barton. Die Gelegenheit zur Tat besaß
sie trotzdem. Ich will bloß wissen, ob möglicherweise
auch ein Motiv vorhanden war. Ich glaube, Ihre Frau
war vermögend. Wer hat ihr Vermögen geerbt – Sie,
Barton?«
»Nein, Iris – das heißt: Ich verwalte es für sie.«
George erklärte dem aufmerksam zuhörenden Race die
Bestimmungen des Testaments.
»Eine recht seltsame Lage«, sagte Race schließlich.
»Die reiche und die arme Schwester. Für manches
Mädchen hätte das ein Anlaß zu bitteren Gefühlen sein
können.«
»Aber sicher nicht für Iris.«
»Vielleicht nicht – aber das Motiv bleibt bestehen. Den
Kurs müssen wir weiter verfolgen. Wer hat sonst noch

120
ein Motiv gehabt?«
»Niemand – absolut niemand. Ich bin überzeugt, daß
Rosemarie keinen einzigen Feind auf der Welt besaß.
Ich habe das alles schon überprüft – Fragen gestellt –
überall herumgebohrt. Ich habe sogar diesen Besitz
neben den Farradays gekauft, um...«
Er brach ab. Race nahm seine Pfeife zur Hand und
begann sie auszukratzen.
»Wollen Sie mir nicht lieber alles sagen, Barton?«
»Was meinen Sie damit?«
»Sie verbergen mir etwas – das sieht ein Blinder. Sie
können sich natürlich darauf beschränken, das
Andenken Ihrer Frau zu verteidigen. Aber wenn Sie
wirklich daran interessiert sind herauszubekommen, ob
Ihre Frau ermordet worden ist – dann müssen Sie schon
mit der Sprache herausrücken.«
Eine Weile herrschte Stillschweigen.
Dann sagte George mühsam: »Also gut. Sie sollen
Ihren Willen haben.«
»Sie hatten Anlaß zu glauben, daß Ihre Frau Sie
hinterging – ist es das?«
»Ja.«
»Stephen Farraday?«
»Ich weiß es nicht. Ich schwöre Ihnen, ich weiß es
nicht! Es kann ebensogut der andere Mann gewesen
sein – dieser Browne. Ich war in einer ewigen
Ungewißheit. Es war eine Qual.«
»Erzählen Sie mir, was Sie von Anthony Browne
wissen. Komisch – der Name kommt mir irgendwie
bekannt vor.«
»Ich weiß gar nichts über ihn. Niemand weiß etwas

121
über ihn. Er ist ein gutaussehender, amüsanter Kerl –
aber kein Mensch hat eine Ahnung, woher er kommt
und was er treibt. Er soll Amerikaner sein, spricht aber
so gut wie ohne Akzent.«
»Vielleicht weiß die amerikanische Botschaft etwas
über ihn. Sie haben keine Vermutung – welcher von
beiden es war?«
»Nein – nein. Sie hat einmal einen Brief geschrieben –
ich -habe mir hinterher das Löschblatt angesehen. Es
war – ein richtiger Liebesbrief, aber ohne Namen.«
Race hielt den Blick sorgfältig abgewandt. »Nun, das
gibt uns immerhin einen kleinen Fingerzeig. Lady
Alexandra zum Beispiel wäre auch verdächtig, falls ihr
Mann mit Ihrer Frau ein – eine Beziehung unterhalten
hat. Lady Alexandra ist eine Frau mit starken Gefühlen.
Eines von den stillen, tiefen Wassern. Ein Typ, der in
einem kritischen Augenblick sicher nicht vor einem
Mord zurückschreckt. Wir kommen voran. Der
geheimnisvolle Browne, Farraday und seine Frau, die
kleine Iris Marle. Wie steht es mit der anderen Frau,
dieser Ruth Lessing?«
»Ruth kann unmöglich etwas mit der Sache zu tun
haben. Sie hätte nicht das geringste Motiv besessen.«
»Sie sagten, sie sei Ihre Sekretärin? Was für eine Frau
ist sie?«
»Die netteste Frau, die man sich denken kann«, erklärte
George voller Begeisterung. »Sie gehört sozusagen mit
zur Familie. Sie ist meine rechte Hand – ich kenne
keinen Menschen, den ich höher schätze und dem ich
so unbegrenztes Vertrauen schenke.«
»Sie haben eine Schwäche für sie«, sagte Race.

122
»Ich hänge sehr an ihr. Die Frau ist ein Haupttreffer,
Race. Ich kann mich in jeder Beziehung auf sie
verlassen. Sie ist das treueste, anständigste Geschöpf
auf der Welt.«
Race murmelte etwas, das wie »Hm – hm« klang, und
wechselte das Thema. Nichts in seinem Verhalten
deutete darauf hin, daß er innerlich der ihm unbe-
kannten Ruth Lessing ein ganz bestimmtes Motiv
angekreidet hatte. Er konnte sich vorstellen, daß dieses
»anständigste, treueste Geschöpf auf der Welt« einen
sehr greifbaren Grund gehabt haben mochte, die Gattin
von Mr. George Barton in ein besseres Jenseits zu
befördern. Es konnte bloße Gewinnsucht sein –
vielleicht hatte sie beabsichtigt, Mrs. Bartons Nach-
folgerin zu werden. Es konnte aber auch sein, daß sie
ihren Chef wirklich liebte. Ein Motiv war auf jeden Fall
vorhanden.
Laut sagte er: »Es ist Ihnen vermutlich nicht entgangen,
George, daß Sie selbst ebenfalls ein sehr starkes Motiv
hatten.«
»Ich?« George machte ein verblüfftes Gesicht.
»Natürlich – denken Sie doch an Othello und
Desdemona.«
»Ah – ich verstehe. Aber – so standen die Dinge
zwischen Rosemarie und mir nicht. Ich habe sie sehr
geliebt, aber ich war mir immer darüber klar, daß ich
gewisse Dinge – ertragen mußte. Dabei hat sie mich
sehr gern gehabt. Sie hing an mir und war immer
reizend zu mir. Aber ich bin natürlich ein langweiliger
Kerl, das läßt sich nicht leugnen. Nicht romantisch
genug, verstehen Sie? Als wir heirateten, wußte ich

123
natürlich von Anfang an, daß es kein dauernder
siebenter Himmel sein würde. Das hat sie mir auch
selbst gesagt. Manchmal tat es weh – aber daraus zu
schließen, daß ich ihr auch nur ein Haar gekrümmt
haben würde...«
Er brach ab und fuhr mit veränderter Stimme fort:
»Aber angenommen, ich hätte es getan: Wozu in aller
Welt sollte ich jetzt die ganze Geschichte wieder
aufrühren? Jetzt, nachdem der Spruch bei der Leichen-
schau auf Selbstmord gelautet hat und alles vorbei und
begraben ist. Das wäre doch Wahnsinn.«
»Sehr richtig. Und das ist auch der Grund, weshalb ich
Sie nicht ernsthaft verdächtige, mein Lieber. Wenn Sie
als erfolgreicher Gattenmörder ein paar Briefe wie
diese hier bekommen, dann werfen Sie sie still-
schweigend ins Feuer und verlieren weiter kein Wort
darüber. Und das bringt mich zu dem Punkt, den ich für
das einzig Interessante an der ganzen Angelegenheit
halte: Wer hat die Briefe geschrieben?«
»Was?« George sah erschrocken aus. »Ich habe keine
Ahnung.«
»Der Punkt scheint Sie gar nicht interessiert zu haben.
Mich interessiert er. Gleich die erste Frage, die ich
Ihnen gestellt habe, bezog sich darauf. Wir dürfen wohl
annehmen, daß die Briefe nicht vom Mörder selbst
stammen. Warum sollte er sich selbst das Leben
schwermachen, nachdem – wie Sie sehr richtig sagten –
alles vorbei und begraben und der auf Selbstmord
lautende Spruch allgemein akzeptiert worden ist? Wer
also hat die Briefe geschrieben? Wer hat ein Interesse
daran, die ganze Geschichte wieder aufzurühren?«

124
»Das Personal?« meinte George auf gut Glück.
»Möglich. Wenn ja: Wer vom Personal? Und: Was
weiß der oder die Betreffende? Hatte Ihre Frau eine
Kammerzofe?«
George schüttelte den Kopf. »Nein. Wir hatten damals
eine Köchin, Mrs. Pound, und zwei Stubenmädchen.
Die Köchin ist noch da, die Mädchen sind, glaube ich,
beide fort. Sie waren nur kurze Zeit bei uns.«
»Nun, Barton, wenn Sie – was ich annehme – meinen
Rat hören wollen, dann würde ich mir an Ihrer Stelle
die Sache sehr sorgfältig überlegen. Einerseits müssen
Sie bedenken, daß ihre Frau tot ist und daß nichts, was
Sie unternehmen, sie wieder lebendig machen kann.
Die Anhaltspunkte, die auf Selbstmord deuten, sind
ziemlich mager – aber ebenso auch diejenigen, die auf
Mord hinweisen. Nehmen wir einmal an, Ihre Frau sei
tatsächlich umgebracht worden. Wollen Sie nun die
ganze Angelegenheit wieder ausgraben? Das würde be-
deuten, daß unter Umständen großes Aufsehen entsteht,
daß mancherlei schmutzige Wäsche vor fremden
Leuten gewaschen wird, daß die Liebesaffären Ihrer
Frau vor der Öffentlichkeit breitgetreten werden...«
George Barton zuckte zusammen und sagte heftig: »Sie
geben mir also den Rat, den Mörder einfach laufen zu
lassen? Diesen widerlichen Farraday mit seinen aufge-
blasenen Reden und seiner kostbaren Karriere? Und
dabei nichts als ein feiger Mörder!«
»Ich will nur, daß Sie sich über die Stürme klar sind,
die Sie damit eventuell entfesseln.«
»Ich will die Wahrheit!«
»Also gut. In diesem Fall würde ich mit den beiden

125
Briefen zur Polizei gehen. Die Polizei ist leicht
imstande zu ermitteln, wer die Briefe geschrieben hat
und ob der Absender etwas weiß. Nur bedenken Sie
dabei eines: Wenn Sie die Polizei einmal auf diese Spur
gehetzt haben, dann können Sie sie nicht mehr zurück-
pfeifen.«
»Ich gehe nicht zur Polizei. Deshalb wollte ich ja mit
Ihnen reden. Ich will dem Mörder eine Falle stellen.«
»Um Himmels willen – was meinen Sie damit?«
»Hören Sie zu, Race. Ich will ein Essen im
Luxembourg geben. Ich möchte, daß Sie auch kommen.
Die gleichen Leute: Farradays, Anthony Browne, Ruth,
Iris, ich. Mein Plan ist fix und fertig.«
»Und was soll bei diesem Essen geschehen?«
George lachte leise. »Das ist mein Geheimnis. Ich
würde alles verderben, wenn ich es jemandem vorher
verraten würde – sogar Ihnen, Race. Ich möchte, daß
Sie unvoreingenommen zu dem Essen erscheinen und
sich anschauen, was – passiert.«
Race lehnte sich vor. Seine Stimme klang plötzlich
scharf.
»Die Sache mißfällt mir, George. Solche dramatischen
Sachen aus Büchern führen zu nichts. Gehen Sie zur
Polizei – das sind Fachleute, die wissen, wie sie so
etwas anzupacken haben. Dilettanten sollten sich nicht
mit der Aufklärung von Verbrechen beschäftigen.«
»Das ist der Grund, weswegen ich Sie dabeihaben
möchte. Sie sind kein Dilettant.«
»Mein lieber Mann – bloß weil ich früher einmal für
die Abteilung M.I.5 gearbeitet habe? Und außerdem
wollen Sie mir ja keinen reinen Wein einschenken.«

126
»Das muß sein, um den Ausgang nicht zu gefährden.«
Race schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Ich lehne die
Sache ab. Ihr Plan mißfällt mir, und ich will nicht daran
beteiligt sein. Geben Sie es auf, George – seien Sie
vernünftig.«
»Ich gebe meinen Plan nicht auf. Er ist fix und fertig
ausgearbeitet.«
»Seien Sie nicht so verdammt eigensinnig. Ich verstehe
von solchen Dingen ein bißchen mehr als Sie. Mir
gefällt das Ganze nicht. Es führt nicht zum Ziel. Es
kann sogar gefährlich werden – haben Sie daran
gedacht?«
»Für irgend jemanden wird es gefährlich werden –
gewiß.«
Race seufzte. »Sie wissen nicht, was Sie tun. Jedenfalls
können Sie nicht behaupten, ich hätte Sie nicht
gewarnt. Ich bitte Sie zum letzten Mal, Ihre verrückte
Idee aufzugeben.«
Aber George schüttelt nur den Kopf.

11

Der Morgen des 2. November dämmerte düster und


feucht. Im Eßzimer des Hauses am Elvaston Square
war es so dunkel, daß zum Frühstück die Lichter
angezündet werden mußten.
Iris saß blaß und nervös am Tisch und stocherte lustlos
in den Speisen auf ihrem Teller. George raschelte
nervös mit der Morgenzeitung. Am anderen Ende des
Tisches vergoß Lucilla Drake reichlich Tränen in ihr

127
Taschentuch.
»Ich bin überzeugt, der arme Junge wird sich etwas
antun. Er ist so sensibel – und er würde sicher nicht
davon sprechen, daß es um Leben und Tod geht, wenn
es nicht wirklich so wäre.«
George raschelte mit der Zeitung und sagte streng:
»Bitte mach dir keine Sorgen Lucilla. Ich hab schon
gesagt, daß ich mich um die Sache kümmern werde.«
»Ich weiß, George, du bist immer so gut. Aber ich habe
das Gefühl, daß jedes Zögen verhängnisvoll wäre. Alle
diese Nachforschungen, die du erst anstellen willst –
das nimmt doch sehr viel Zeit in Anspruch.«
»Nein, nein – wir werden das alles rasch erledigen.«
»Er telegrafiert: ›Unbedingt bis zum 3.November‹, und
morgen ist schon der 3. November. Ich könnte es mir
nie verzeihen, wenn dem armen Jungen etwas
zustieße.«
»Es wird ihm nichts zustoßen.«
»Mach dir keine Sorgen, Tante Lucilla«, mischte sich
Iris ein. »George wird schon alles arrangieren. Es ist
schließlich nicht das erste Mal.«
»Es ist das erste Mal seit langer Zeit«, sagte Lucilla.
»Hm – seit drei Monaten«, verbesserte George.
»Ja, seitdem der arme Junge von diesen gräßlichen
Leuten auf der Farm betrogen worden ist.«
George wischte sich mit der Serviette den Schnurrbart
ab, stand auf und klopfte beim Hinausgehen Lucilla
gutmütig auf den Rücken.
»Na, beruhige dich nur, Lucilla. Ich lasse Ruth gleich
telegrafieren.«
Iris folgte ihm hinaus in die Halle. »George, meinst du

128
nicht, wir sollten das Essen heute abend absagen? Tante
Lucilla ist so aufgeregt. Wir müßten eigentlich zu
Hause bleiben und ihr Gesellschaft leisten.«
»Auf gar keinen Fall!« Georges rosiges Gesicht lief
violett an. »Wir werden uns doch durch diesen
verdammten jungen Schwindler nicht alles verderben
lassen. Erpressung, glatte Erpressung! Wenn es nach
mir ginge, würde er keinen roten Heller bekommen.«
»Damit wäre Tante Lucilla aber bestimmt nicht einver-
standen.«
»Lucilla ist eine Närrin – und ist es immer gewesen.
Diese Frauen, die erst nach ihrem vierzigsten Jahr
Kinder bekommen, werden nie vernünftig. Verwöhnen
die Bälger von der Wiege an, indem sie ihnen jeden
Wunsch erfüllen. Wenn man diesen Victor nur ein
einziges Mal gezwungen hätte, sich selbst aus der
Patsche zu ziehen, wäre vielleicht etwas aus ihm
geworden. Bis heute abend werde ich die Sache schon
so weit in Ordnung bringen, daß Lucilla beruhigt
schlafen kann. Wenn es nicht anders geht, nehmen wir
sie mit ins Luxembourg.«
»Aber nein – sie haßt doch Restaurants, die Arme, und
wird abends immer so schläfrig! Sie kann den Lärm
und die Hitze nicht ertragen und bekommt Asthma von
der rauchigen Luft.«
»Ich weiß. Es war nicht ernst gemeint. Geh hinein und
rede ihr gut zu, Iris. Sag ihr, daß alles geregelt wird.«
Er wandte sich ab und verließ das Haus. Iris ging
langsam zum Eßzimmer zurück, als plötzlich das
Telefon läutete.
»Hallo – wer?« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich.

129
»Anthony!«
»Anthony persönlich. Ich habe dich gestern angerufen,
konnte dich aber nicht erreichen. Hast du George
irgendwie zu meinen Gunsten bearbeitet?«
»Wie meinst du das?«
»Nun, er hat mich so besonders dringend für heute
abend ins Luxembourg eingeladen. Ganz das Gegenteil
seiner gewöhnlichen Einstellung: ›Hände weg von
meinem schönen Mündel‹. Hat unbedingt darauf
bestanden, daß ich komme. Ich dachte, das sei
möglicherweise das Ergebnis eines sanften Drucks von
deiner Seite.«
»Nein, nein – es hat nichts mit mir zu tun.«
»Eine spontane Sinnesänderung?«
»Nicht ganz. Es ist...«
»Hallo, bist du noch da?«
»Ja.«
»Du wolltest etwas sagen. Was ist los, Liebes? Ich höre
dich durchs Telefon seufzen. Ist etwas geschehen?«
»Nein – nichts. Morgen bin ich wieder normal. Morgen
ist alles wieder normal.«
»Was für ein rührender Kinderglaube. Heißt es nicht:
›Das Morgen kommt nie‹?«
»Nicht doch, Anthony.«
»Iris – etwas ist nicht in Ordnung mit dir.«
»Nein, mir fehlt nichts. Ich kann es dir jetzt nicht
sagen. Verstehst du, ich habe es jemandem ver-
sprochen.«
»Sag es mir trotzdem, Liebes.«
»Nein das geht wirklich nicht. Anthony, willst statt
dessen du mir etwas sagen?«

130
»Wenn ich kann, ja.«
»Hast du Rosemarie jemals – geliebt?«
Kurze Pause – dann ein Lachen. »Das war es also! Ja,
Iris, ich war ein bißchen verliebt in Rosemarie. Sie war
sehr schön, verstehst du? Und dann, eines Tages – ich
sprach gerade mit ihr –, da bist du die Treppe herunter-
gekommen, und alles war vorbei, wie weggeblasen.
Nur du allein warst noch auf der Welt. Das ist die
nackte, nüchterne Wahrheit. Über so etwas darfst du
nicht nachgrübeln. Sogar Romeo hat seine Rosalinde
gehabt, bevor er sich über beide Ohren in Julia
verliebte.«
»Ich danke dir, Anthony. Ich bin froh.«
»Wir sehen uns also heute abend? Du hast heute
Geburtstag, nicht wahr?«
»Nein, erst in einer Woche. Wir feiern nur heute
schon.«
»Das sagst du nicht sehr begeistert.«
»Ich bin es auch nicht.«
»Ich nehme an, George weiß, was er tut – aber es
scheint mir doch ein verrückter Gedanke, deinen
Geburtstag in dem gleichen Restaurant zu feiern, wo...«
»Ach, ich bin seither schon mehrmals im Luxembourg
gewesen – ich meine, es läßt sich gar nicht
vermeiden...«
»Ja – lassen wir das. Ich habe ein Geburtstagsgeschenk
für dich, Iris. Hoffentlich gefällt es dir. Au revoir!«
Iris ging zu Lucilla Drake hinein und redete ihr gut zu,
überzeugte und beruhigte sie.
Als George im Büro war, ließ er sofort Ruth Lessing
kommen.

131
Sein besorgtes Gesicht entspannte sich etwas, sobald
sie lächelnd und ruhig in ihrem adretten schwarzen
Kostüm eingetreten war.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen, Ruth. Schon wieder Unannehmlich-
keiten.«
Sie nahm das Telegramm, das er ihr hinhielt.
»Von Victor Drake!«
»Ja – der Teufel soll ihn holen.«
Sie schwieg ein paar Augenblicke, das Telegramm in
der Hand. Ein schmales, braungebranntes Gesicht, das
krause Falten um die Nase bekam, wenn es lachte. Eine
spöttische Stimme sagte: »Eines von den Mädchen, die
schließlich ihren Chef heiraten...« Wie lebhaft sie sich
an alles erinnerte! Es hätte gestern sein können, dachte
sie.
Georges Stimme rief sie in die Wirklichkeit zurück.
»Ist das nicht gerade ein Jahr her, daß wir ihn nach
Amerika expediert haben?«
Sie dachte nach. »Ich glaube, ja. Wenn ich mich nicht
irre, war es am 27. Oktober.«
»Sie sind tatsächlich bewundernswert, Ruth. Was für
ein Gedächtnis Sie haben!«
Ich weiß sehr wohl, warum ich mich so genau an das
Datum erinnere, dachte sie. Sie hatte ganz frisch unter
Victor Drakes Eindruck gestanden, als sie Rosemaries
sorglose Stimme am Telefon hörte und sich bewußt
wurde, daß sie die Frau ihres Chefs haßte.
»Vermutlich haben wir überhaupt Glück«, sagte
George, »daß er dort wenigstens dieses eine Jahr
durchgehalten hat. Auch wenn uns das vor drei

132
Monaten noch einmal fünfzig Pfund kostete.«
»Diesmal verlangt er dreihundert – ein bißchen viel.«
»Oh – soviel kriegt er auf keinen Fall. Wir werden die
üblichen Erkundigungen einziehen müssen.«
»Dann werde ich mich also mit Mr. Ogilvie in
Verbindung setzen.« Alexander Ogilvie war der Agent
der Firma in Buenos Aires, ein nüchterner, dick-
köpfiger Schotte. »Ja, telegrafieren Sie ihm sofort.
Victors Mutter hat wieder einmal Zustände. Geradezu
hysterisch. Schwierig wegen unserer Feier heute
abend.«
»Hätten Sie gern, daß ich ihr Gesellschaft leiste?«
»Nein, nein, auf gar keinen Fall. Sie sind der einzige
Mensch, der unbedingt dabeisein muß. Ich brauche Sie,
Ruth.« Er ergriff ihre Hand. »Sie sind so selbstlos...«
Sie lächelte: »Ich bin gar nicht selbstlos.« Dann fuhr sie
in verändertem Ton fort: »Soll ich versuchen, Ogilvie
telefonisch zu erreichen? Dann könnten wir die ganze
Sache vielleicht bis zum Abend erledigt haben.«
»Ein sehr guter Gedanke. Das wäre die Kosten durch-
aus wert.«
»Ich werde das Gespräch sofort anmelden.«
Sie entzog ihm sanft ihre Hand und ging hinaus.
George wandte sich verschiedenen Arbeiten zu. Um
halb zwölf Uhr verließ er das Büro und nahm ein Taxi
zum Luxembourg.
Charles, der allgemein bekannte und beliebte Ober-
kellner, kam auf ihn zu, neigte den würdigen Kopf und
hieß George mit einem Lächeln willkommen.
»Guten Tag, Mr. Barton.«
»Guten Tag, Charles. Haben Sie alles für heute abend

133
vorbereitet?«
»Ich denke, Sie werden zufrieden sein, Mr. Barton.«
»Der gleiche Tisch?«
»Der mittlere Tisch in der Nische, das war doch
richtig?«
»Ja – und haben Sie auch für das überzählige Gedeck
gesorgt?«
»Gewiß, Mr. Barton.«
»Und den Rosmarin haben Sie auch?«
»Ja, Mr. Barton. Ich fürchte, er wird nicht sehr
dekorativ aussehen. Möchten Sie nicht ein paar rote
Beeren dazwischen haben – oder, sagen wir, ein paar
Chrysanthemen?«
»Nein, nein – nur Rosmarin.«
»Wie Sie wünschen, Mr. Barton. Sie werden das Menü
sehen wollen. Giuseppe!«
Der kleine italienische Kellner eilte herbei und
verbeugte sich lächelnd vor George. »Das Menü für
Mr. Barton.«
Austern, Klare Suppe, Seezunge Luxembourg, Schnee-
huhn, Birne Helene, Hühnerleber in Speck gebraten.
George überflog gleichgültig die Speisenfolge. »Ja, ja,
ganz gut.«
Charles begleitete ihn zur Tür. Er murmelte mit
gesenkter Stimme: »Wenn ich mir die Bemerkung
erlauben darf, Mr. Barton: Wir wissen es außer-
ordentlich zu schätzen, daß Sie – äh – zu uns zurück-
gefunden haben.«
Ein Lächeln – ein fast geisterhaftes Lächeln – erschien
auf Georges Zügen. Er antwortete: »Wir müssen
trachten, die Vergangenheit zu vergessen. Das ist alles

134
vorbei und begraben.«
»Sehr wahr, Mr. Barton. Sie wissen, wie erschüttert und
bewegt wir damals waren. Ich hoffe, daß Mademoiselle
heute vergnügt ihren Geburtstag feiern kann und alles
so verläuft, wie Sie es wünschen.«
Mit einer eleganten Verbeugung zog Charles sich
zurück und schoß wie eine zornige Libelle auf einen
untergeordneten Kellner los, der an einem Tisch neben
dem Fenster etwas verkehrt machte.
George verließ mit einem bitteren Lächeln das Lokal.
Er aß in seinem Klub zu Mittag und ging dann zu einer
Verwaltungsratssitzung.
Auf dem Rückweg ins Büro führte er von einem
öffentlichen Fernsprecher aus ein Gespräch mit einer
Nummer in Maida Vale. Er verließ die Kabine mit
einem Seufzer der Erleichterung. Alles verlief plan-
mäßig.
Ruth kam in sein Zimmer, sobald er das Büro betreten
hatte.
»Also – wegen Victor Drake...«
»Ja?«
»Die Sache sieht leider ziemlich böse aus. Es besteht
die Möglichkeit einer Strafverfolgung. Er hat über
längere Zeit Geld seiner Firma unterschlagen.«
»Hat Ogilvie Ihnen das gesagt?«
»Ja. Ich habe die Verbindung noch am Vormittag
bekommen, und gerade vor zehn Minuten hat er uns
seinerseits angerufen. Er sagt, Victor habe die
Geschichte ganz frech zugegeben.«
»Das sieht ihm ähnlich!«
»Aber er behauptet steif und fest, daß die Firma ihn

135
nicht anzeigen wird, wenn sie das Geld zurück-
bekommt. Der Betrag, um den es geht, beläuft sich auf
hundertfünfundsechzig Pfund.«
»Das heißt also, daß unser kleiner Victor bare
hundertfünfunddreißig Pfund an dem Geschäft
verdienen wollte?«
»Anscheinend ja.«
»Nun, das haben wir auf jeden Fall verhindert«, sagte
George mit grimmiger Genugtuung.
»Ich habe Mr. Ogilvie gebeten, die Angelegenheit in
Ordnung zu bringen. War das recht?«
»Mir persönlich wäre es eine Wonne gewesen, diesen
kleinen Gauner ins Gefängnis gehen zu lassen – aber
wir müssen an seine Mutter denken. Eine Närrin – aber
eine brave Seele. Also hat Victor wieder einmal
Glück.«
»Wie gut Sie sind«, murmelte Ruth.
»Ich? Wieso?«
»Ich finde, Sie sind der beste Mensch auf der Welt.«
Er war gerührt. Er hatte ein frohes und zugleich
verlegenes Gefühl. Impulsiv küßte er ihr die Hand.
»Liebste Ruth. Sie sind meine liebste und beste
Freundin. Was würde ich ohne Sie anfangen?«
Sie standen ganz nahe beisammen.
Sie dachte: Ich hätte mit ihm glücklich werden können.
Wenn nur...
Er dachte: Soll ich auf Race hören? Die ganze Sache
aufgeben? Wäre das nicht das beste? – Die Unent-
schiedenheit, die einen Augenblick über ihm geschwebt
hatte, verging wieder. Er sagte: »Also um halb zehn im
Luxembourg.«

136
12

Alle waren gekommen. George stieß einen Seufzer der


Erleichterung aus. Bis zur letzten Minute hatte er
gefürchtet, es werde irgend etwas schiefgehen. Aber
nun waren sie alle da. Stephen Farraday, hochge-
wachsen und steif, mit seiner wichtigtuerischen Art.
Sandra Farraday in einem strengen schwarzen
Samtkleid mit einer Halskette aus Smaragden. Keine
Frage, die Frau hatte Klasse. Sie benahm sich
vollkommen ungezwungen, vielleicht sogar etwas
liebenswürdiger als sonst. Ruth, ebenfalls in Schwarz,
trug außer einer mit Brillanten besetzten Agraffe keinen
Schmuck. Ihr dunkles Haar lag glatt und gepflegt um
ihren Kopf, Nacken und Arme leuchteten weiß – heller
als bei den anderen Frauen. Ruth mußte sich ihren
Lebensunterhalt verdienen: Sie hatte nicht Zeit und
Muße, ihre Haut in der Sonne zu bräunen. Ruths und
Georges Blicke kreuzten sich. Sie lächelte ihm
aufmunternd zu, als bemerke sie die Spannung in
seinen Augen. Er spürte eine Wärme im Herzen. Die
treue Ruth! Iris neben ihm war ungewöhnlich schweig-
sam. Ihr allein merkte man an, daß sie das Gefühl hatte,
einer etwas sonderbaren Feier beizuwohnen. Sie war
blaß; aber die Blässe stand ihr gut und verlieh ihr eine
schwermütige Schönheit. Sie trug ein schlichtes Kleid
aus blattgrüner Seide. Als letzter erschien Anthony
Browne. George hatte den Eindruck, als komme ein
Geschöpf der Wildnis mit raschen, lautlosen Schritten
herein – ein Panther, vielleicht auch ein – Leopard. Der
Bursche war eigentlich ein ungezähmtes Tier. Sie

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waren alle da – saßen in Georges Falle. Jetzt konnte das
Spiel beginnen...
Man leerte die Cocktailgläser .Die ganze Gesellschaft
stand auf und begab sich ins eigentliche Restaurant.
Tanzende Paare, weiche Rhythmen, flinke, gewandte
Kellner. Charles kam ihnen entgegen und lotste sie mit
einem höflichen Lächeln zu ihrem Tisch. Am anderen
Ende des Raumes befand sich eine Nische, in der drei
Tische standen: ein größerer in der Mitte und zwei
kleinere für je zwei Personen zu beiden Seiten. An dem
einen kleinen Tisch saß ein Mann, dem man den
Ausländer ansah, mit einer blonden Schönheit, am
anderen ein schmächtiger Jüngling mit einem jungen
Mädchen. Der mittlere Tisch war für George Barton
und seine Gäste reserviert.
George wies allen in fröhlichem Ton ihre Plätze an.
»Sandra, bitte kommen Sie hierher, an meine rechte
Seite. Daneben Browne, Iris, meine Liebe, du bist mein
Ehrengast – dich muß ich neben mir haben. Farraday,
bitte links von Iris. Dann Sie, Ruth.«
Er hielt inne. Zwischen Ruth und Anthony befand sich
ein freier Stuhl; der Tisch war für sieben Personen
gedeckt. »Mein Freund Race kommt vielleicht etwas
später. Er hat gesagt, wir möchten nicht auf ihn warten.
Er wird schon noch kommen. Ich wollte gern, daß ihr
ihn kennenlernt – ein großartiger Kerl, hat sich in der
ganzen Welt herumgetrieben und erzählt glänzende
Geschichten.«
Iris war wütend. George hatte es absichtlich so einge-
richtet – sie von Anthony getrennt. Auf ihrem Platz,
neben dem Gastgeber, hätte eigentlich Ruth sitzen

138
müssen. Das bedeutete also, daß George Anthony
immer noch nicht leiden konnte und ihm mißtraute.
Sie warf einen verstohlenen Blick über den Tisch.
Anthony runzelte die Stirn, ohne sie anzusehen.
Während des Essens schaute er seitwärts auf den leeren
Stuhl neben sich und sagte: »Ich bin froh, daß Sie noch
einen männlichen Gast erwarten, Barton. Es ist nämlich
nicht ganz ausgeschlossen, daß ich früher gehen muß.
Eine dringende Sache. Ich habe hier im Restaurant
einen Bekannten getroffen.«
George sagte lächelnd: »Arbeiten Sie auch in Ihrer
Freizeit? Dazu sind Sie noch zu jung, Browne. Ich weiß
zwar nicht, womit Sie sich beschäftigen...«
Anthonys Antwort kam prompt.
»Wenn man mich danach fragt, Barton, pflege ich
immer zu sagen: mit der systematischen Ausführung
strafbarer Handlungen. Raubüberfälle auf Bestellung,
Diebstähle zu kulanten Preisen. Bei größeren Aufträgen
Rabatt.«
Sandra Farraday fragte lachend: »Haben Sie nicht
etwas mit der Rüstungsindustrie zu tun, Mr. Browne?
Heutzutage steckt doch hinter allem ein Rüstungs-
fabrikant.«
Iris sah, wie Anthony in plötzlichem Erstaunen die
Augen aufriß. Er sagte in leichtem Ton: »Sie dürfen
mich aber nicht verraten, Lady Alexandra. Es ist alles
streng geheim. Achtung, Feind hört mit! Wer nicht
schweigen kann...«
Er schüttelte mit gespieltem Ernst den Kopf.
Der Kellner räumte die Austernteller ab. Stephen
forderte Iris zum Tanzen auf. Bald tanzten alle. Die

139
Stimmung besserte sich. Als Iris mit Anthony tanzte,
sagte sie: »Gemein von George, daß er uns nicht
nebeneinander hat sitzen lassen.«
»Ich finde es im Gegenteil sehr nett von ihm. Auf diese
Weise kann ich dich die ganze Zeit über den Tisch weg
anschauen.«
»Mußt du wirklich früher fortgehen?«
»Es könnte sein. Hast du gewußt, daß Colonel Race
kommen soll?«
»Nein, ich hatte keine Ahnung.«
»Ich finde das ziemlich sonderbar.«
»Kennst du ihn? Ach ja, du hast es mir neulich gesagt.«
Sie fuhr fort: »Wer ist dieser Colonel Race eigentlich?«
»Das weiß niemand so genau.«
Sie kehrten an den Tisch zurück. Der Abend ging
weiter. Langsam schien die Spannung, die sich etwas
gelöst hatte, wieder zuzunehmen. Es herrschte eine
nervöse Atmosphäre am Tisch. Nur der Gastgeber
machte einen liebenswürdigen und unbekümmerten
Eindruck. Iris bemerkte, daß er auf die Uhr sah.
Auf einmal ertönte ein Trommelwirbel – die Lampen
erloschen. Eine Bühne stieg mitten im Saal aus einer
Versenkung auf. Stühle wurden gerückt. Drei Männer
und drei Mädchen erschienen und führten Tänze vor.
Auf sie folgte ein Geräuschimitator. Eisenbahnzüge,
Dampfwalzen, Flugzeuge, Nähmaschinen, brüllende
Kühe. Er hatte großen Erfolg. Lenny und Flo führten
einen akrobatischen Tanz vor, der eher einem
Trapezakt glich. Wieder großer Applaus. Dann eine
weitere Nummer der »Sechs Luxembourger«. Es wurde
hell.

140
Zugleich schien eine Woge der Erleichterung über die
Gesellschaft an Georges Tisch hinwegzugehen. Es war,
als hätten sie alle im stillen auf ein Ereignis gewartet,
das nicht eingetreten war. Jeder hatte daran gedacht,
daß bei einer früheren Gelegenheit eine Tote über den
Tisch hingestreckt dalag, als die Lichter wieder
angingen. Es schien, als sei die Vergangenheit erst jetzt
endgültig vergangen. Der Schatten des tragischen
Vorgangs war verschwunden.
Sandra begann lebhaft auf Anthony einzureden.
Stephen sagte etwas zu Iris, und Ruth beugte sich vor,
um eine Bemerkung dazu zu machen. Nur George saß
auf seinem Stuhl und starrte vor sich hin – starrte
schweigend auf den leeren Stuhl ihm gegenüber. Auf
dem Platz lag ein Gedeck. Das Glas war mit
Champagner gefüllt. Jeden Augenblick konnte jemand
kommen und sich dort niedersetzen...
Iris stieß ihn heimlich an. »Wach auf, George. Komm
tanzen. Du hast noch gar nicht mit mir getanzt.«
Er raffte sich auf. Er lächelte Iris zu und hob sein Glas.
»Aber erst wollen wir trinken – auf das Wohl der
jungen Dame, deren Geburtstag wir heute feiern. Iris
Marle soll leben!«
Man trank Iris lachend zu. Dann standen alle auf, um zu
tanzen, George mit Iris, Stephen mit Ruth und Anthony
mit Sandra.
Die Kapelle spielte eine fröhliche Jazzmelodie.
Lachend und schwatzend kamen sie alle zusammen
zurück und setzten sich.
Dann beugte sich George plötzlich vor und sagte: »Ich
möchte euch alle um etwas bitten. Vor einem Jahr

141
verbrachten wir hier an dieser Stelle einen Abend, dem
ein tragisches Ende beschieden war. Ich will an
vergangenes Leid nicht erinnern, aber ich möchte das
Gefühl haben, daß Rosemarie nicht gänzlich vergessen
ist. Deswegen bitte ich euch, auf das Gedächtnis
Rosemaries zu trinken.«
Er hob sein Glas. Die anderen folgten gehorsam seinem
Beispiel. Ihre Gesichter waren höfliche Masken.
»Zum Gedenken an Rosemarie«, sagte George.
Die Gläser berührten die Lippen. Man trank.
Es herrschte einen Augenblick Stillschweigen. Plötzlich
schwankte George und sank auf seinen Stuhl zurück. Er
griff sich wie wahnsinnig mit beiden Händen an den
Hals. Sein Gesicht lief violett an, während er nach
Atem rang.
Er brauchte anderthalb Minuten, um zu sterben.

13

Colonel Race betrat New Scotland Yard durch den


Haupteingang. Er füllte ein Formular aus, das man ihm
reichte, und konnte bereits wenige Minuten später
Chefinspektor Kemp die Hand schütteln.
Die beiden Männer kannten einander gut. Kemp
erinnerte etwas an den großen alten Polizeiveteranen
Battle. Da er lange Jahre unter Battle gearbeitet hatte,
ahmte er vielleicht unwillkürlich eine ganze Menge
Eigenheiten seines Vorgesetzten nach. Wie jener
machte er den Eindruck, als sei er aus einem einzigen
Stück geschnitzt. Aber während man bei Battle

142
beispielsweise an Eichenholz gedacht hatte, legte
Chefinspektor Kemp den Gedanken an eine feinere
Sorte nahe: etwa Mahagoni oder gutes, altmodisches
Rosenholz.
»Es war nett von Ihnen, uns anzurufen, Colonel«, sagte
Kemp. »Für diesen Fall brauchen wir alle Hilfe, derer
wir habhaft werden können...«
»An diesem Fall ist man anscheinend ziemlich weit
oben interessiert«, meinte Race.
Kemp täuschte keine falsche Bescheidenheit vor. Daß
er nur mit den allerheikelsten und wichtigsten Fällen
betraut wurde, war eine unbestrittene Tatsache. Er
antwortete ruhig: »Es betrifft die Kidderminster-
Gruppe. Da heißt es vorsichtig sein.«
Race nickte. Er war Lady Alexandra Farraday mehr-
mals begegnet. Eine von diesen stillen Frauen in
unangreifbarer Stellung, die man auch unter Aufbietung
aller Phantasie nicht mit einer öffentlichen Sensation in
Verbindung bringen kann. Er hatte sie auf Versamm-
lungen sprechen gehört – ohne große Rednergabe, aber
klar und sachverständig. Sie gehörte zu den Frauen,
über deren gesellschaftliches Leben alle Zeitungen
berichteten, deren Privatleben aber hinter dem konven-
tionellen Schleier ihrer Häuslichkeit gewissermaßen gar
nicht vorhanden zu sein schien.
Und trotzdem, dachte er, besitzen auch solche Frauen
ein Privatleben. Sie empfinden Verzweiflung, Liebe
und die Qualen der Eifersucht. Sie können die
Beherrschung verlieren und in einem Spiel der
Leidenschaft ihr Leben riskieren.
Er fragte: »Angenommen, Kemp, die Frau wäre es

143
gewesen?«
»Lady Alexandra? Glauben Sie das?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber nehmen wir es einmal
an. Oder ihr Mann – der ja schließlich auch zu dieser
Clique gehört.«
Chefinspektor Kemps meergrüne Augen blickten fest in
die dunklen seines Gegenübers.
»Falls einer von den beiden den Mord begangen hat,
werden wir alles tun, um ihn – oder sie – an den Galgen
zu bringen. Das wissen Sie so gut wie ich. Für Mörder
gibt es hierzulande kein Pardon und keine Protektion.
Aber dazu müssen wir unserer Sache absolut sicher sein
– darauf wird die Staatsanwaltschaft bestehen.«
Race nickte. »George Barton ist an einer Zyankali-
vergiftung gestorben – genau wie vor einem Jahr seine
Frau. Sie sagten am Telefon, Sie seien selbst in dem
Restaurant gewesen?«
»Ja. Barton hatte mich eingeladen, aber ich hatte
abgelehnt. Mir gefiel die ganze Geschichte nicht. Ich
riet ihm ab und redete ihm dringend zu, falls ihm
Zweifel am Selbstmord seiner Frau gekommen seien,
damit an die richtige Stelle zu gehen – nämlich zur
Polizei.«
Kemp nickte: »Ja, das wäre das Richtige gewesen.«
»Statt dessen hatte er die fixe Idee, den Mörder in eine
Falle zu locken. Worin die Falle bestand, wollte er mir
nicht verraten. Wie gesagt, hat mir die ganze
Geschichte mißfallen – so sehr, daß ich mich gestern
abend ins Luxembourg gesetzt habe, um die Dinge ein
bißchen im Auge zu behalten. Natürlich habe ich in
einiger Entfernung gesessen – wollte nicht bemerkt

144
werden. Unglücklicherweise kann ich Ihnen gar nichts
erzählen. Ich habe nichts gesehen, was auch nur im
geringsten verdächtig war. Niemand außer Bartons
Gästen und den Kellnern ist dem Tisch nahe
gekommen.«
»Ja«, sagte Kemp, »das schränkt den Kreis der
Verdächtigen erheblich ein, nicht wahr? Entweder war
es jemand von Bartons Gästen, oder es war der Kellner,
ein gewisser Giuseppe Bolsano. Ich habe ihn heute
morgen vorgeladen – dachte, Sie würden vielleicht gern
einmal mit ihm reden -, aber ich kann mir nicht denken,
daß er etwas damit zu tun gehabt hat. Er ist schon seit
zwölf Jahren im Luxembourg – einwandfreier
Leumund, verheiratet, drei Kinder. Kommt sehr gut mit
den Gästen aus.«
»Blieben also nur die Leute, die am Tisch saßen.«
»Ja. Die gleichen, die dabei waren, als Mrs. Barton – äh
– aus dem Leben schied.«
»Ja, und wie steht es damit – mit der damaligen
Sache?«
»Ich habe mich damit beschäftigt, seitdem ziemlich
sicher angenommen werden darf, daß die beiden Fälle
in einem Zusammenhang stehen. Adams hat damals die
Sache bearbeitet. Es war kein eindeutiger Selbstmord,
aber da jeder direkte Hinweis auf Mord fehlte, erschien
Selbstmord als die wahrscheinlichste Lösung.«
»Bis gestern abend.«
»Bis gestern abend. Irgend jemand hat Barton einen
Wink gegeben, daß seine Frau umgebracht worden ist.
Er fängt an, die Sache auf eigene Faust zu untersuchen
– verkündet laut und deutlich, daß er glaubt, auf der

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richtigen Spur zu sein. Ob das gestimmt hat, weiß ich
nicht – jedenfalls muß es der Mörder angenommen
haben, denn er bekommt es mit der Angst zu tun und
bringt Barton um. So ungefähr muß sich die Sache
abgespielt haben – sind Sie nicht auch der Meinung?«
»Doch, doch – das dürfte soweit schon richtig sein.
Weiß Gott, was mit dieser ›Falle‹ gemeint war! Einen
leeren Stuhl habe ich an Bartons Tisch bemerkt – ob da
auf einen überraschenden Zeugen gewartet worden ist?
Jedenfalls hat Barton mit seinem Plan mehr erreicht, als
er wollte. Er hat den Schuldigen so erschreckt, daß der
– oder die – Betreffende nicht mehr abwarten konnte,
bis die Falle zuschnappte.«
»Wir haben also«, sagte Kemp, »fünf verdächtige
Personen. Und außerdem haben wir als Material den
früheren Fall – den Tod von Mrs. Barton.«
»Sie sind demnach jetzt endgültig davon überzeugt, daß
das kein Selbstmord war?«
»Das dürfte durch den Mord von gestern abend
erwiesen sein. Allerdings glaube ich nicht, daß man uns
einen Vorwurf daraus machen kann, daß wir seinerzeit
die Selbstmordtheorie als die wahrscheinlichste
betrachtet haben. Es war sogar ein indirekter Beweis
dafür vorhanden.«
»Depressionen nach der Grippe?«
Ein Lächeln überflog Kemps bis dahin unbewegtes
Gesicht.
»Das war nur eine Formulierung für die Leichenschau.
Hat mit dem ärztlichen Befund übereingestimmt und
niemandem weh getan. So etwas geschieht alle Tage.
Außerdem besaßen wir einen halbfertigen Brief an die

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Schwester, in dem angegeben wurde, wer bestimmte
Sachen aus dem Nachlaß bekommen sollte – ein
Beweis, daß sie mit dem Gedanken gespielt hat, sich
das Leben zu nehmen. Ja – das mit der Depression war
schon richtig. Aber bei Frauen ist der Anlaß dazu in
neun von zehn Fällen eine Liebesgeschichte. Bei
Männern sind es meistens Geldsorgen.«
»Sie haben also gewußt, daß Mrs. Barton eine Affäre
gehabt hat?«
»Ja, das haben wir schnell herausgekriegt. Das Ganze
hat sich zwar sehr diskret abgespielt, war aber nicht
schwer zu ermitteln.«
»Stephen Farraday?«
»Ja. Die beiden trafen sich immer in einer kleinen
Wohnung draußen beim Earls Court. Die Sache ging
über ein halbes Jahr. Nehmen wir an, sie hätten sich
gestritten – oder er hatte vielleicht genug von der Frau.
Sie wäre nicht die erste Frau gewesen, die sich in einer
solchen Situation das Leben genommen hat.«
»Mit Zyankali – in einem öffentlichen Restaurant?«
»Doch – falls sie die Sache recht dramatisch gestalten
wollte. Vor seinen Augen und so weiter. Es gibt
Menschen, die das Auffallende lieben. Soweit ich
feststellen konnte, hat Mrs. Barton nicht viel Sinn für
Konventionen gehabt – er war der vorsichtige Teil.«
»Deutet irgend etwas darauf hin, daß Farradays Frau
gewußt hat, was los war?«
»Soweit wir unterrichtet sind, wußte sie nichts davon.«
»Trotzdem ist es nicht ausgeschlossen, Kemp. Sandra
Farraday ist nicht die Frau, die ihr Herz auf der Zunge
trägt.«

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»Ja, da haben Sie recht. Beide sind als mögliche Täter
zu betrachten. Sie aus Eifersucht, er seiner Karriere
zuliebe, die durch eine Scheidung verpfuscht worden
wäre. Eine Scheidung bedeutet zwar heutzutage nicht
mehr soviel wie früher, aber in diesem Fall hätte sie
ihm die Feindschaft der Familie Kidderminster einge-
tragen.«
»Und die Sekretärin?«
»Gleichfalls eine Möglichkeit. War vielleicht in George
Barton verliebt. Im Büro waren sie sehr viel zusammen,
und dort ist man der Meinung, sie hätte es auf ihn
abgesehen. Gestern nachmittag habe ich erfahren, daß
die Lessing eine der Telefonistinnen in Bartons Büro
Knall auf Fall entlassen hat, nur weil das Mädchen
herumerzählte, der Chef habe der Lessing die Hand
geküßt. Dann ist da außerdem noch die Schwester – hat
ein schönes Stück Geld geerbt –, auch daran muß man
denken. Macht einen netten und harmlosen Eindruck,
aber man kann nie wissen. Und schließlich darf man
Mrs. Bartons anderen Verehrer ebenfalls nicht
vergessen.«
»Was wissen Sie von Browne?« fragte Race.
»Auffallend wenig – aber was wir wissen, klingt nicht
sehr günstig. Sein Paß ist in Ordnung. Er ist amerika-
nischer Staatsbürger.«
»Vielleicht ein Betrüger?«
»Möglich. Lord Dewsbury scheint auf ihn herein-
gefallen zu sein. Hat ihn zu sich eingeladen. Gerade zu
einem sehr kritischen Zeitpunkt.«
»Rüstung«, sagte Race. «Gab es nicht damals
Schwierigkeiten mit den neuen Tankversuchen in den

148
Dewsbury-Werken?«
»Ja. Dieser Browne hatte behauptet, er interessiere sich
für Rüstung. Kurz nach seinem Besuch in der Fabrik
wurde die Sabotage entdeckt – im letzten Augenblick.
Dieser Browne kam aber auch noch in verschiedene
andere Betriebe und sah Dinge, die er meiner Meinung
nach niemals hätte sehen dürfen. – Nach seinen
Besuchen traten stets Störungen auf.«
»Ein interessanter Mann, dieser Anthony Browne.«
»Ja. Er besitzt anscheinend viel Charme und soll auch
reichlich Gebrauch davon machen.«
»Und was hatte nun Mrs. Barton mit alledem zu tun?
Barton selbst hat doch nichts mit der Rüstungsindustrie
zu tun?«
»Nein. Aber Browne und Mrs. Barton scheinen sehr
intim miteinander gewesen zu sein. Vielleicht hat er ihr
einmal sein Geheimnis verraten. Niemand weiß besser
als Sie, Colonel Race, was eine hübsche Frau einem
Mann abschmeicheln kann.«
Race nickte. Er nahm die Worte des Chefinspektors so
auf, wie sie gemeint waren: als Hinweis auf die
Abteilung Gegenspionage, die er einmal geleitet hatte,
und nicht etwa – wie ein Ahnungsloser hätte glauben
können – auf Erfahrungen, die er durch eigene Unbe-
sonnenheit machte. Nach einer Pause fragte er:
»Haben Sie die Briefe gesehen, die Barton bekommen
hat?«
»Ja. Ich habe sie gestern abend an mich genommen.
Miss Marle hat sie mir herausgesucht.«
»Wissen Sie, Kemp, die Briefe interessieren mich. Was
sagen Ihre Fachleute darüber?«

149
»Billiges Papier, gewöhnliche Tinte, und die Finger-
abdrücke zeigen, daß George Barton und Iris Marle sie
in der Hand gehabt haben. Außerdem natürlich eine
Masse Abdrücke auf dem Umschlag, die nicht zu
ermitteln sind. Geschrieben sind die Briefe in Druck-
buchstaben, und zwar – laut Aussage der Sachver-
ständigen – von einer gebildeten Person.«
»Gebildet – also niemand vom Personal?«
»Vermutlich nicht.«
»Das macht die Sache noch interessanter.«
»Zumindest bedeutet es, daß jemand einen Verdacht
hegte...«
»Jemand, der nicht zur Polizei gehen wollte. Jemand,
der wohl Bartons Verdacht erwecken, aber die
Angelegenheit nicht bis zum Ende verfolgen konnte.
Darin liegt etwas Merkwürdiges, Kemp. Kann Barton
die Briefe selbst geschrieben haben?«
»Das schon – aber wozu?«
»Um seinen Selbstmord vorzubereiten – einen Selbst-
mord, den er als Mord erscheinen lassen wollte.«
»Um dadurch Stephen Farraday an den Galgen zu
bringen? Eine Möglichkeit ist das wohl – aber hätte er
dann nicht dafür gesorgt, daß sämtliche Verdachts-
momente gegen Farraday sprechen würden? Wie die
Dinge jetzt liegen, haben wir gegen Farraday nicht
einen einzigen Beweis.«
»Wie steht es mit dem Zyankali? Ist irgendein Behälter
gefunden worden?«
»Ja, ein kleines weißes Papier unter dem Tisch, mit
Spuren von Zyankalikristallen auf der Innenseite, aber
ohne Fingerabdrücke. In einem Kriminalroman wäre es

150
natürlich eine besondere Sorte Papier gewesen oder ein
auf besondere Weise gefaltetes Papier.«
Race lächelte. »Hat gestern abend überhaupt niemand
das geringste bemerkt?«
»Damit will ich mich heute befassen. Gestern abend
habe ich von jedem eine kurze Aussage zu Protokoll
genommen und bin dann mit Miss Marle zum Elvaston
Square gefahren, um Bartons Schreibtisch und Papiere
durchzugehen. Heute sollen alle ihre Aussagen vervoll-
ständigen – außerdem brauche ich Protokolle von den
Leuten, die an den Nebentischen saßen.«
Er suchte in seinen Papieren. »Hier sind sie. Gerald
Tollington von den Grenadier Guards und Miss Patricia
Brice-Woodworth. Seit kurzem verlobt – ich möchte
wetten, daß die beiden für nichts anderes als sich selbst
Augen gehabt haben. Ferner Mr. Pedro Morales, ein
ziemlich übler Mexikaner – sogar das Weiße im Auge
ist bei ihm gelb, und Miss Christine Shannon, eine
geldgierige, blonde Schönheit. Ich bin überzeugt, daß
die nichts gesehen hat – dümmer als man für möglich
halten würde, außer wenn es sich um Geld dreht. Die
Wahrscheinlichkeit, daß jemand von diesen Leuten
etwas bemerkt hat, ist minimal; trotzdem habe ich mir
auf jeden Fall die Namen und Adressen notiert. Wir
wollen mit diesem Giuseppe anfangen, dem Kellner. Er
wartet draußen.«
Giuseppe Bolsano war ein Mann in mittleren Jahren,
klein gewachsen und mit einem intelligenten, affen-
ähnlichen Gesicht. Er war nervös, aber nicht über-
mäßig. Englisch sprach er fließend, denn er lebte, wie
er sagte, seit sechzehn Jahren im Lande und hatte eine

151
englische Frau.
Kemp behandelte ihn wie einen alten Bekannten. »Also
Giuseppe, lassen Sie einmal hören, ob Ihnen zu der
Geschichte noch etwas Neues eingefallen ist.«
»Es ist für mich sehr peinlich. Ich bediene an diesem
Tisch. Ich schenke den Wein ein. Die Gäste werden
sagen, daß ich verrückt bin und Gift in die Weingläser
tue. So ist es nicht, aber das werden die Leute tuscheln.
Mr. Goldstein hat schon gesagt, es sei besser, ich
nähme eine Woche Urlaub – damit mir niemand im
Restaurant Fragen stellt und mit dem Finger auf mich
zeigt.
Mr. Goldstein ist anständig und gerecht, und er weiß,
daß ich nichts dafür kann und daß ich schon viele Jahre
im Dienst bin; deshalb entläßt er mich auch nicht, wie
das viele Arbeitgeber tun würden. Mr. Charles ist
ebenfalls freundlich gewesen, aber es ist trotzdem ein
großes Unglück für mich, und ich habe Angst. Ich frage
mich: Habe ich Feinde?«
»Nun«, fragte Kemp in seiner unbewegten Art, »haben
Sie welche?«
Das traurige Affengesicht verzog sich zu einem
Lachen. Giuseppe streckte die Arme aus. »Ich? Ich
habe keinen einzigen Feind auf der Welt. Viele
Freunde, aber keinen Feind.«
Kemp stieß einen grunzenden Laut aus. »Also jetzt zum
gestrigen Abend. Erzählen Sie mir alles über den
Champagner.«
»Es war 1928er Cliquot – ein sehr guter, teurer Wein.
So war Mr. Barton – er hat gern gut gegessen und
getrunken, nur das Beste.«

152
»Hatte er den Wein vorher bestellt?«
»Ja. Er besprach alles mit Charles.«
»Und wie war das mit dem freien Platz am Tisch?«
»Auch das war mit Charles besprochen. Der Platz war
für eine junge Dame bestimmt.«
»Eine junge Dame?« Race und Kemp sahen einander
an. »Wissen Sie, wer das war?«
»Nein, darüber weiß ich nichts. Ich habe nur gehört,
daß sie später kommen sollte.«
»Weiter mit dem Wein. Wie viele Flaschen waren es?«
»Zwei Flaschen und eine dritte in Reserve. Die erste
Flasche war schnell getrunken. Die zweite öffnete ich
kurz vor dem Cabaret. Dann füllte ich die Gläser und
stellte die Flasche in den Eiskübel.«
»Wann sahen Sie Mr. Barton zuletzt aus seinem Glas
trinken?«
»Als das Cabaret vorbei war, tranken alle auf das Wohl
der jungen Dame. Dann gingen sie tanzen. Nachher, als
sie zurückkamen, trank Mr. Barton, und auf einmal« –
Giuseppe schnalzte mit zwei Fingern – »war er tot.«
»Hatten Sie während des letzten Tanzes die Gläser
nachgefüllt?«
»Nein, Monsieur. Die Gläser waren voll, als auf das
Wohl von Mademoiselle getrunken wurde, und jeder
nahm nur ein oder zwei Schlucke. Es war also auch
nachher noch genug in den Gläsern.«
»Ist jemand – irgend jemand – in die Nähe des Tisches
gekommen, während die Gesellschaft beim Tanzen
war?«
»Gar niemand – da bin ich ganz sicher.«
»Sind alle gleichzeitig zum Tanzen aufgestanden?«

153
»Ja.«
»Und auch gleichzeitig zurückgekommen?«
Giuseppe strengte sein Gedächtnis an.
»Mr. Barton kam als erster zurück – mit der jungen
Dame. Dann kam der blonde Gentleman, Mr. Farraday,
an den Tisch, mit der Dame in Schwarz. Lady
Alexandra und der dunkle Gentleman waren die
letzten.«
»Sie kennen Mr. Farraday und Lady Alexandra?«
»Ja, ich habe sie schon oft bei uns gesehen. Es sind sehr
gute Gäste.«
»Nun, Giuseppe, würden Sie bemerkt haben, wenn eine
von diesen Personen Mr. Barton etwas in sein Glas
geschüttet hätte?«
»Das kann ich nicht sagen. Mein Revier umfaßt auch
noch die beiden anderen Tische in der Nische und zwei
weitere im Hauptrestaurant. Es gab viel zu servieren.
Ich habe Mr. Bartons Tisch nicht dauernd im Auge
behalten.«
Kemp nickte.
»Ich glaube aber«, fuhr Giuseppe fort, »daß es sehr
schwierig gewesen wäre, unbeobachtet etwas in Mr.
Bartons Glas zu schütten. Mir scheint, daß nur Mr.
Barton selbst es getan haben kann.«
Er sah den Polizeibeamten gespannt an.
»Aha – so denken Sie sich also die Geschichte?«
»Natürlich weiß ich nichts – aber es könnte doch sein.
Genau vor einem Jahr hat sich Mrs. Barton, die schöne
Dame, das Leben genommen. Wäre es nicht möglich,
daß Mr. Barton sich so sehr grämt, daß er beschließt,
sich auf dieselbe Weise umzubringen? Das wäre

154
poetisch. Natürlich schadet es dem Ruf des Lokals –
aber daran würde ein Gast, der die Absicht hat, aus dem
Leben zu scheiden, nicht denken.«
Er schaute eifrig vom einen zum anderen.
Kemp schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, so einfach ist
es nicht«, sagte er. Er stellte noch einige Fragen; dann
wurde Giuseppe entlassen.
Als die Tür hinter ihm zufiel, meinte Race: »Ich frage
mich, ob das die Version ist, die man uns einreden
will?«
»Der schmerzgebeugte Gatte, der am Todestag seiner
Frau Selbstmord begeht? Übrigens war es nicht der
Todestag – aber fast.«
»Es war Allerseelen«, sagte Race.
»Richtig. Ja, das war möglicherweise die Absicht. Aber
dann kann der oder die Betreffende nichts davon
gewußt haben, daß die anonymen Briefe vorhanden
waren und daß Barton sie Ihnen und Iris Marle gezeigt
hatte.«
Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich muß um halb
eins im Haus Kidderminster sein. Wir haben vorher
noch Zeit, uns einmal die Leute von den beiden anderen
Tischen anzusehen – wenigstens teilweise. Wollen Sie
mich nicht begleiten, Colonel?«
Mr. Morales wohnte im Ritz. Zu dieser Morgenstunde
bot er keinen hübschen Anblick: unrasiert, mit blut-
unterlaufenen Augen und allen Anzeichen eines
schweren Katzenjammers.
Mr. Morales war amerikanischer Staatsbürger und
sprach eine Variante des amerikanischen Idioms.
Obwohl er seine Bereitwilligkeit beteuerte, sich an alles

155
zu erinnern, produzierte sein Gedächtnis nur sehr
unbestimmte Bilder vom gestrigen Abend.
»War mit Chrissie dort – ein tolles Mädchen, weiß
Gott! Sie hat gesagt, es sei ein prima Lokal. Honey,
sagte ich, wir gehen, wohin du willst. Ein erstklassiger
Laden, das gebe ich zu – und wie die verstehen, einen
auszunehmen! Hat mich fast dreißig Dollar gekostet.
Aber die Kapelle war Mist – die Kerle können ja nicht
einmal einen anständigen Swing spielen.«
Mit sanfter Gewalt wurde Mr. Morales von seinen
persönlichen Erlebnissen abgebracht und gebeten, sich
den Tisch in der Mitte der Nische ins Gedächtnis
zurückzurufen. Hier erwies er sich jedoch als nicht sehr
nützlich.
»Ja, gewiß, da war ein Tisch mit vielleicht einem
halben Dutzend Leuten. Habe aber keine Ahnung mehr,
wie sie ausgesehen haben. Achtete kaum auf die Leute,
bis der Dicke zusammengesackt ist. Dachte zuerst, der
verträgt keinen Alkohol. Warten Sie – eine von den
Damen ist mir aufgefallen. Dunkles Haar und
anscheinend nicht von schlechten Eltern.«
»Sie meinen die Dame im grünen Seidenkleid?«
»Nein, die nicht. Die war ja klapperdürr. Die ich meine,
war in Schwarz und hatte sehr appetitliche Rundun-
gen.«
Es war also Ruth Lessing gewesen, die das schweifende
Auge von Mr. Morales gefesselt hatte.
Er verzog anerkennend das Gesicht.
»Ich habe ihr beim Tanzen zugesehen – Donnerwetter,
hat die aber tanzen können! Ich hab ihr ein paarmal
zugezwinkert, aber sie war wie ein Eisblock. Hat in

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eurer britischen Art einfach durch mich durchgeguckt.«
Weiter konnte Mr. Morales nichts Brauchbares entlockt
werden. Er gab zu, daß seine Alkoholisierung bei
Beginn des Cabaretprogramms schon ziemlich fortge-
schritten war.
Kemp dankte ihm und traf Anstalten, sich zu
verabschieden.
»Ich muß morgen nach New York«, sagte Morales.
»Sie legen wohl keinen Wert darauf«, fügte er
erwartungsvoll hinzu, »daß ich meinen Aufenthalt noch
etwas verlängere?«
»Nein, danke – ich glaube nicht, daß Ihre Aussage für
die Leichenschau benötigt wird.«
»Verstehen Sie, es gefällt mir in London – und wenn
die Polizei mich braucht, dann könnte meine Firma
nichts dagegen einwenden. Vielleicht würde mir noch
etwas einfallen, wenn ich mich sehr anstrenge?«
Aber Kemp biß auf den sehnsüchtig ausgeworfenen
Köder nicht an. Er und Race fuhren in die Brooke
Street, wo sie von einem cholerischen Herrn begrüßt
wurden, dem Vater von Miss Patricia Brice-Wood-
worth.
General Lord Woodworth empfing sie mit einer Suada
offenherziger Meinungsäußerungen. Wie zum Teufel
konnte jemand annehmen, daß seine Tochter – seine
Tochter! – mit einer solchen Sache etwas zu tun hatte?
Wenn ein junges Mädchen nicht mehr mit ihrem
Verlobten in einem Restaurant essen konnte, ohne von
der Polizei belästigt zu werden – wie weit war es dann
mit England gekommen? Sie kannte diese Leute ja
nicht einmal, diese Hubbards – wie? – Bartons? Ein

157
Geschäftsmann! Da konnte man mal wieder sehen, wie
vorsichtig man bei der Wahl von Lokalen sein mußte!
Das Luxembourg galt immer als einwandfrei – aber nun
war dort schon zum zweitenmal ein derartiger Vorfall
passiert. Gerald mußte ein kompletter Narr sein, daß er
Pat dorthin geführt hatte – diese jungen Leute bildeten
sich immer ein, alles zu wissen. Aber jedenfalls würde
er es keinesfalls zulassen, daß seine Tochter gequält
und eingeschüchtert und ins Kreuzverhör genommen
würde – außer wenn ein Anwalt dabei wäre. Er würde
den alten Anderson in Lincoln's Inn anrufen und ihn
bitten...
Hier brach der Wortschwall des Generals plötzlich ab.
Er starrte Race an und sagte: »Habe Sie schon irgend-
wo gesehen. Wo kann das nur...«
Race unterbrach ihn lächelnd. »In Badderpore, 1923.«
»Bei Gott«, sagte der General. »Wenn das nicht
Johnnie Race ist! Wieso sind Sie in diese Sache hier
verwickelt?«
»Ich war gerade bei Chefinspektor Kemp, als
beschlossen wurde, Ihre Tochter zu verhören. Ich habe
gemeint, daß es für Sie viel angenehmer wäre, wenn
Inspektor Kemp hier vorbeikäme, als wenn Ihre
Tochter nach Scotland Yard kommen müßte – und da
bin ich eben mitgegangen.«
»Oh – äh – sehr kameradschaftlich von Ihnen, Race...«
»Wir wollten die junge Dame natürlich sowenig wie
möglich beunruhigen«, warf Kemp ein.
Aber in diesem Augenblick ging die Tür auf, Miss
Patricia Brice-Woodworth trat ein und machte sich mit
der ganzen Unverfrorenheit der Jugend zur Herrin der

158
Situation.
»Hallo«, sagte sie. »Sie kommen von Scotland Yard,
nicht wahr? Wegen gestern abend? Ich habe Sie
erwartet. Ist Vater wieder ärgerlich? Also nein, Daddy
– du weißt doch, was der Arzt über deinen Blutdruck
gesagt hat. Warum du dich über alles so aufregst,
verstehe ich nicht. Ich nehme die Herren in mein
Zimmer mit und schicke dir Walters mit einem
Whisky-Soda.«
Der General schien verschiedenes sagen zu wollen,
brachte aber nur heraus: »Colonel Race, ein alter
Freund von mir« – worauf Patricia jedes Interesse an
Race verlor und Chefinspektor Kemp glückverheißend
zulächelte. Mit der Sicherheit eines alten Heerführers
geleitete sie die beiden in ihr eigenes Zimmer und
schlug ihrem Vater die Tür vor der Nase zu.
»Armer Daddy«, meinte sie. »Er macht immer so ein
Getue. Aber eigentlich ist er ziemlich lenkbar.«
Das Gespräch verlief in höchst freundschaftlichen
Bahnen, aber ergebnislos.
»Es ist zum Verrücktwerden«, sagte Patricia. »Wahr-
scheinlich meine einzige Chance im Leben, Augen-
zeugin eines Mordes zu sein – denn es war doch ein
Mord, nicht wahr? Die Zeitungen haben sehr vorsichtig
und unbestimmt geschrieben, aber ich habe Gerry
schon am Telefon gesagt, daß es ein Mord gewesen
sein muß. Denken Sie nur: ein Mord direkt vor meiner
Nase, und ich habe nicht einmal hingeschaut!« Das
Bedauern in ihrer Stimme war unverkennbar.
Die düstere Prophezeiung des Chefinspektors traf in
vollem Umfang ein: Die beiden jungen Leute, die seit

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einer Woche verlobt waren, hatten für nichts Augen
gehabt außer füreinander. Patricia konnte beim besten
Willen nur noch ein paar persönliche Bemerkungen
beisteuern.
»Sandra Farraday hat sehr elegant ausgesehen – aber
das tut sie immer. Gestern hatte sie ein Schiaparelli-
Modell an.«
»Kennen Sie sie?« fragte Kemp.
Patricia schüttelte den Kopf. »Nur vom Sehen. Er, finde
ich, macht einen ziemlich langweiligen Eindruck. So
ein Wichtigtuer wie die meisten Politiker!«
»Kannten Sie jemanden von den anderen Gästen?«
»Nein, die anderen hatte ich alle noch nie gesehen –
wenigstens glaube ich das. Ich hätte vermutlich sogar
Sandra Farraday nicht bemerkt, wenn sie nicht das
Schiaparelli-Kleid getragen hätte.«
»Und Sie werden feststellen«, sagte Chefinspektor
Kemp beim Verlassen des Hauses grimmig zu Colonel
Race, »daß der junge Master Tollington genausowenig
gesehen hat. Bei dem gab es nicht einmal ein Skippa –
nun, Sie wissen schon, ein Abendkleid, das seine
Aufmerksamkeit hätte erregen können.«
»Ich nehme nicht an«, stimmte Race zu, »daß der
Schnitt von Stephen Farradays Frack ihm einen Stich
ins Herz versetzt hat.«
»Dann wollen wir es mal mit dieser Christine Shannon
versuchen«, meinte Kemp. »Dann sind wenigstens die
Außenstehenden erledigt.«
Miss Shannon war, wie Kemp angekündigt hatte, eine
blonde Schönheit. Ihr gebleichtes Haar umrahmte,
sorgfältig frisiert, ein weiches, leeres Kindergesicht.

160
Miss Shannon mochte wohl, wie Kemp behauptet hatte,
dumm sein – aber sie war außerordentlich hübsch
anzusehen, und ein bestimmter Ausdruck in ihren
großen blauen Augen deutete darauf hin, daß ihre
Dummheit sich nur auf intellektuelle Dinge erstreckte,
wogegen in allen Lebenslagen, die gesunden Men-
schenverstand und finanziellen Instinkt erforderten,
Christine Shannon durchaus auf der Höhe war. Sie
empfing die beiden Männer mit größter Liebens-
würdigkeit und bot ihnen Getränke und Zigaretten an.
Ihre kleine Wohnung war auf billige Weise modern
eingerichtet.
»Ich möchte Ihnen furchtbar gern behilflich sein, Chef-
inspektor. Bitte fragen Sie mich, was Sie wollen.«
Kemp begann mit ein paar konventionellen Fragen über
Stimmung und Verhalten der Gesellschaft am Mittel-
tisch, und sofort erwies sich Christine als ungewöhnlich
scharfe und gescheite Beobachterin.
»Die Stimmung am Tisch war nicht gut – das konnte
man sehen. Alles so steif, wie sich nur denken läßt. Mir
hat der Dicke direkt leid getan – der Gastgeber, meine
ich. Er hat alles versucht, um die Sache ein bißchen in
Gang zu bringen – war nervös wie eine Katze auf
Drähten –, aber es hat nichts genützt. Die Frau rechts
neben ihm saß da, als ob sie ein Lineal verschluckt
hätte, und das Mädchen an seiner linken Seite war
offensichtlich wütend, weil sie nicht neben dem
hübschen dunklen Jungen ihr gegenüber sitzen durfte.
Und der große Blonde neben ihr sah aus, als ob er
Magenweh hätte und an jedem einzelnen Bissen
ersticken würde. Die Frau in Schwarz tat ihr Bestes und

161
redete dauernd auf ihn ein, aber ich hatte den Eindruck,
als fühle sie sich selbst unbehaglich.«
»Sie haben anscheinend eine ganze Menge beobachtet,
Miss Shannon«, meinte Colonel Race.
»Ich werde Ihnen etwas verraten: Ich habe mich
gleichfalls nicht sehr gut unterhalten. Ich war drei
Abende hintereinander mit diesem Freund ausgegangen
und bekam ihn allmählich satt. Er wollte absolut
London sehen – besonders die ›Klasselokale‹, wie er
sich ausdrückte. Und ich muß zugeben, daß er nicht
geizig war. Jedesmal Champagner. Wir waren im
Compradour und im Mille Fleurs und schließlich im
Luxembourg – er hat sich großartig amüsiert. In
gewissem Sinne war es rührend. Aber seine Konver-
sation war nicht gerade interessant. Nichts als lange
Geschichten über irgendwelche geschäftlichen Trans-
aktionen, die er in Mexiko durchgeführt hatte – und die
meisten habe ich dreimal gehört. Da hört man dann
schließlich gar nicht mehr zu, und zum Ansehen ist an
Pedro ja auch nicht viel – das werden Sie schon
bemerkt haben. Deshalb habe ich mich mit meinem
Essen beschäftigt und im übrigen meine Augen ein
bißchen spazieren lassen.«
»Nun, das ist von unserem Standpunkt aus sehr günstig,
Miss Shannon«, meinte der Chefinspektor. »Ich hoffe
sehr, daß Sie etwas gesehen haben, das uns hilft, dieses
Problem zu lösen.«
Christine schüttelte den blonden Kopf. »Ich habe keine
Ahnung, wer den Dicken vergiftet hat – keine blasse
Ahnung. Er nahm einfach einen Schluck, wurde blau
im Gesicht und brach zusammen.«

162
»Können Sie sich erinnern, wann er das letzte Mal
vorher aus seinem Glas getrunken hatte?«
Christine überlegte. »Doch – ja, das war unmittelbar
nach dem Cabaret. Die Lichter gingen an, er nahm sein
Glas in die Hand, sagte etwas, und die andern griffen
ebenfalls zu den Gläsern.«
Der Chefinspektor nickte. »Und dann?«
»Dann begann die Musik zu spielen, alle rückten mit
den Stühlen, lachten, standen auf und gingen tanzen. Es
war, als wären sie erst jetzt in Stimmung gekommen.
Großartig, wie Champagner auch auf die langweiligste
Gesellschaft wirkt!«
»Gingen alle tanzen?«
»Ja.«
»Und niemand berührte Mr. Bartons Glas?«
»Kein Mensch.« Ihre Antwort kam ohne Zögern. »Da
bin ich ganz sicher.«
»Und niemand ist in die Nähe des Tisches gekommen,
während die Gesellschaft abwesend war?«
»Niemand – außer dem Kellner natürlich.«
»Dem Kellner? Was für ein Kellner?«
»Einer von den Piccolos – etwa sechzehn Jahre alt, mit
einer weißen Schürze. Nicht der richtige Kellner – das
war ein gefälliger kleiner Kerl mit einem Affengesicht,
ein Italiener, glaube ich.«
Chefinspektor Kemp bestätigte diese Beschreibung
Giuseppe Bolsanos mit einem Kopfnicken.
»Und was hat er gemacht, dieser Piccolo? Champagner
eingeschenkt?«
Christine schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Auf dem
Tisch hat er nichts angerührt. Er hob bloß eine

163
Abendtasche auf, die eine von den Frauen hatte fallen
lassen.«
»Wessen Abendtasche war das?«
»Es war die von der Kleinen – eine grün-goldene
Angelegenheit. Die beiden anderen Frauen hatten
schwarze Taschen.«
»Und was tat der Kellner mit der Tasche?«
Christine sah erstaunt aus. »Er legte sie auf den Tisch –
sonst nichts.«
»Sind Sie ganz sicher, daß er keins von den Gläsern
berührt hat?«
»Ganz sicher. Er legte nur sehr schnell die Tasche hin,
und rannte dann irgendwo anders hin, weil einer von
den älteren Kellnern ihm einen Befehl zugezischt
hatte.«
»Und das war das einzige Mal, daß jemand an den
Tisch kam?«
»Ja.«
»Aber natürlich kann jemand an den Tisch gekommen
sein, ohne daß Sie es bemerkt haben?«
Aber Christine schüttelte sehr entschieden den Kopf.
»Nein, das war bestimmt nicht der Fall. Sehen Sie:
Pedro war ans Telefon gerufen worden und noch nicht
zurückgekommen. Deshalb hatte ich keine andere
Beschäftigung, als mich umzuschauen. Ich beobachte
ziemlich gut, und von meinem Platz aus gab es nicht
viel anderes zu sehen als den Tisch nebenan.«
Race fragte: »Wer kam zuerst zum Tisch zurück?«
»Das junge Mädchen im grünen Kleid und der dicke
Mann. Dann der Blonde und die Frau in Schwarz, und
zum Schluß die Hochmütige mit dem gutaussehenden

164
dunklen Jungen – übrigens ein glänzender Tänzer. Als
alle wieder auf ihren Plätzen saßen und der Kellner
beschäftigt war, eine Schüssel auf dem Spiritusbrenner
zu wärmen, neigte sich der Dicke vor und hielt eine
kleine Rede; dann hoben alle die Gläser. Und dann ist
es passiert. – Gräßlich, was? Ich hab natürlich gedacht,
es ist ein Schlaganfall. Eine Tante von mir hat auch
einen Schlaganfall gehabt und ist genauso zusammen-
geklappt. Pedro ist im selben Augenblick zurückge-
kommen, und ich habe zu ihm gesagt: ›Schau, Pedro,
den Mann hat der Schlag getroffen!‹ Aber Pedro
antwortete nur: ›Der Mann ist betrunken – bloß
betrunken – sonst gar nichts.‹ Und das war genau das,
was Pedro selbst war – ich habe scharf auf ihn auf-
passen müssen. In einem Lokal wie dem Luxembourg
sind Betrunkene nicht sehr beliebt. Deswegen kann ich
auch diese Südamerikaner nicht ausstehen. Wenn sie
zuviel getrunken haben, verlieren sie jede Contenance –
eine Dame weiß dann überhaupt nicht mehr, was für
unangenehme Sachen sie erleben kann.« Sie versank
einen Augenblick in düstere Gedanken und fügte mit
einem Blick auf ihr funkelndes Armband hinzu:
»Obwohl ich sagen muß, daß sie sehr nobel sind.«
Kemp brachte Miss Shannon vorsichtig wieder auf das
eigentliche Thema zurück und ging die ganze
Geschichte noch mal mit ihr durch.
»Damit ist unsere letzte Chance auf Hilfe von außen
verflogen«, sagte er zu Race, als sie die kleine
Wohnung verlassen hatten. »Und es wäre eine gute
Chance gewesen, wenn es geklappt hätte. Das Mädel ist
eine glänzende Zeugin. Sieht alles und behält alles.

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Wenn etwas zu sehen gewesen wäre, hätte sie es
gesehen. Die Schlußfolgerung lautet also, daß es nichts
zu sehen gab. Es ist unglaublich! Ein Zauberkunst-
stück! George Barton trinkt aus seinem Champagner-
glas und verläßt den Tisch, um zu tanzen. Er kommt
zurück, trinkt aus dem gleichen Glas, das von
niemandem berührt wurde – und fällt tot um: Zyankali-
vergiftung. Eine verrückte Geschichte: Kann nicht
passiert sein und ist doch passiert.«
Er blieb stehen. »Dieser Piccolo, Giuseppe hat kein
Wort von ihm gesagt. Darum könnte ich mich einmal
kümmern. Das muß der einzige Mensch gewesen sein,
der an den Tisch gekommen ist, während die
Gesellschaft beim Tanz war. Vielleicht steckt doch
etwas dahinter.«
Race schüttelte den Kopf. »Wenn er Barton etwas ins
Glas geschüttet hätte, müßte das Mädchen es bemerkt
haben. Die Shannon ist eine geborene Beobachterin von
Kleinigkeiten. Denkt an nichts Gescheites, versteht aber
ihre Augen zu gebrauchen. Nein, Kemp, es muß eine
ganz einfache Erklärung geben – wenn wir sie nur
finden könnten.«
»Ja, es gibt eine Erklärung: Er hat sich das Gift selbst
ins Glas geschüttet.«
»Ich fange an zu glauben, daß es sich wirklich so
abgespielt hat – gar nicht anders abgespielt haben kann.
Aber wenn das stimmt, Kemp, dann bin ich überzeugt,
er hat nicht gewußt, daß es Zyankali war.«
»Sie meinen«, fuhr Kemp fort, »jemand hat Barton das
Zeug gegeben? Hat ihm eingeredet, es sei ein Mittel für
die Verdauung oder für den Blutdruck – so etwas

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Ähnliches?«
»Könnte sein«, meinte Race.
»Wer war dann dieser Jemand? Doch nicht einer von
den Farradays?«
»Das wäre in der Tat unwahrscheinlich. Dann bleiben
zwei Menschen übrig: eine liebevolle Schwägerin...«
»Und eine aufopfernde Sekretärin.«
»Ja – die könnte ihm so etwas zugesteckt haben. Ich
muß jetzt zu den Kidderminsters – und was machen
Sie? Gehen Sie zu Miss Marle?«
»Ich glaube, ich werde erst mal die andere aufsuchen –
im Büro. Ein Kondolenzbesuch eines alten Freundes.
Vielleicht lade ich sie zum Mittagessen ein.«
»Sie meinen also wirklich, es war die Lessing?«
»Ich meine noch gar nichts – ich suche nach einer
Spur.«
»Trotzdem sollten Sie mit Iris Marle sprechen.«
»Ich will sie auch sprechen – aber ich ziehe es vor, dort
erst einmal hinzugehen, wenn sie nicht zu Hause ist.
Wissen Sie warum?«
»Keine Ahnung.«
»Weil in dem Haus jemand wohnt, der wie ein
Vögelchen zwitschert. ›Ein Vögelchen hat mir erzählt‹
– pflegte man in meiner Jugend zu sagen. Daran ist
etwas sehr Wahres, Kemp: Solche Zwitscherer können
einem viel erzählen!«

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16

Die beiden Männer trennten sich. Race hielt ein Taxi an


und ließ sich zu George Bartons Büro in der City
fahren. Chefinspektor Kemp, der an seine Spesenab-
rechnung dachte, nahm einen Autobus, der ihn in
nächster Nähe des Hauses Kidderminster absetzte.
Kemps Gesicht lag in grimmigen Falten, als er die
Stufen zur Haustür hinaufstieg und auf den Klingel-
knopf drückte. Er wußte, daß er sich jetzt auf
schwierigem Terrain bewegte. Die Kidderminster-
Gruppe besaß einen ungeheuren politischen Einfluß,
und ihre Verästelungen spannten sich wie ein großes
Netz über das ganze Land. Chefinspektor Kemp glaubte
fest an die Unparteilichkeit der britischen Justiz. Falls
Stephen oder Alexandra Farraday am Tod Rosemarie
Bartons oder George Bartons mitschuldig waren, gab es
keine »Verbindungen« und keine Protektion, mit deren
Hilfe sie sich den Folgen ihrer Tat entziehen konnten.
Aber wenn sie unschuldig waren, oder auch nur wenn
das Beweismaterial zu einer Verurteilung nicht
ausreichte – dann mußte der verantwortliche Polizei-
beamte äußerst vorsichtig auftreten, weil er sonst
Gefahr lief, von seinen Vorgesetzten hart getadelt zu
werden. Somit fand der Chefinspektor an der vor ihm
liegenden Aufgabe nicht viel Gefallen. Er hielt es für
sehr wahrscheinlich, daß die Kidderminsters, wie er
sich im stillen ausdrückte, »ganz aus dem Häuschen«
sein würden.
Kemp konnte jedoch bald feststellen, daß seine
Annahme etwas naiv gewesen war. Lord Kidderminster

168
war ein viel zu erfahrener Diplomat, als daß er sich zu
Grobheiten hätte hinreißen lassen.
Als Kemp sein Anliegen vorgebracht hatte, wurde er
von einem hohepriesterlich wirkenden Diener in ein
düsteres, rundum mit Bücherregalen bestücktes Zimmer
an der Rückseite des Hauses geführt, wo Lord
Kidderminster mit seiner Tochter und seinem
Schwiegersohn ihn empfing.
Lord Kidderminster kam auf ihn zu, schüttelte ihm die
Hand und sagte höflich: »Sie kommen pünktlich,
Chefinspektor. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie uns
aufsuchen, anstatt meine Tochter und ihren Mann nach
Scotland Yard kommen zu lassen – obwohl die beiden
selbstverständlich auch dazu bereit gewesen wären.
Jedenfalls rechnen wir Ihnen Ihre Freundlichkeit hoch
an.«
Sandra sagte ruhig: »Ja, wirklich, Inspektor.«
Sie trug ein Kleid aus weichem, rotem Stoff und
erinnerte Kemp, wie sie so in der Öffnung eines hohen,
schmalen Fensters dasaß, an eine Glasmalerei, die er
einmal in einer Kirche auf dem Kontinent gesehen
hatte. Das schmale Oval ihres Gesichtes und die etwas
eckigen Schultern verstärkten diesen Eindruck noch.
Irgendeine Heilige, deren Namen er vergessen hatte.
Aber Lady Alexandra war keine Heilige – nicht im
entferntesten. Allerdings waren auch manche von
diesen alten Heiligen nach seiner Auffassung sonder-
bare Leute gewesen: keine einfachen, gütigen Christen-
menschen, sondern unduldsame Fanatiker, voller
Grausamkeit gegen sich und andere.
Stephen Farraday stand dicht neben seiner Frau. Sein

169
Gesicht war völlig ausdruckslos. Korrekt und formell,
ein gewählter Vertreter des Volkes. Seine wahre Natur
war verborgen. Und doch war sie vorhanden – davon
war Kemp überzeugt.
Lord Kidderminster begann zu sprechen und lenkte ge-
schickt die Unterhaltung gleich in die gewünschte
Bahn.
»Ich will Ihnen nicht verhehlen, Chefinspektor, daß die
ganze Sache für uns alle höchst peinlich und
unangenehm ist. Es ist das zweite Mal, daß meine
Tochter und ihr Mann mit einem gewaltsamen Todes-
fall in der Öffentlichkeit zu tun haben – beide Male hat
es sich um dasselbe Restaurant und um Mitglieder
derselben Familie gehandelt. Eine derartige Publizität
ist für einen Mann, der in der Öffentlichkeit steht,
immer schädlich. Sie läßt sich aber natürlich nicht
vermeiden. Das ist uns allen klar, und sowohl meine
Tochter wie auch Mr. Farra-day werden sich bemühen,
Ihnen jede mögliche Unterstützung zu gewähren –
schon damit die Angelegenheit rasch aufgeklärt wird
und das Interesse des Publikums erlischt.«
»Vielen Dank, Lord Kidderminster – Ihre Haltung ist
sehr anerkennenswert. Sie erleichtern uns unsere
Aufgabe erheblich.«
Sandra Farraday sagte: »Bitte, stellen sie uns alle
Fragen, die Sie wollen, Chefinspektor.«
»Vielen Dank, Lady Alexandra.«
»Noch eines, Chefinspektor«, meinte Lord Kidder-
minster. »Sie haben natürlich Ihre eigenen Informa-
tionsquellen, und ich höre vom Polizeipräsidenten, mit
dem ich gut bekannt bin, daß Bartons Tod eher für

170
Mord als für Selbstmord gehalten wird – aber sieht die
Sache auf den ersten Blick nicht weit mehr wie
Selbstmord aus?« Er wandte sich an seine Tochter: »Du
glaubst doch auch an Selbstmord, Sandra?«
Die gotische Figur neigte den Kopf und murmelte nach-
denklich: »Es schien mir gestern abend so plausibel.
Wir saßen im selben Restaurant und sogar am selben
Tisch, wo die arme Rosemarie sich letztes Jahr vergiftet
hatte. Wir hatten Mr. Barton während des Sommers auf
dem Lande öfters gesehen, und er war ganz sonderbar,
völlig anders als früher – wir dachten alle, der Tod
seiner Frau berühre ihn so stark. Er hat sie sehr geliebt,
wissen Sie, und er ist, glaube ich, nie über ihren Tod
hinweggekommen. Deshalb fand ich den Gedanken an
Selbstmord – nun, vielleicht nicht natürlich, aber
immerhin möglich. Dagegen kann ich mir beim besten
Willen nicht vorstellen, aus welchem Grunde irgend
jemand George Barton hätte umbringen sollen.«
Stephen Farraday sagte rasch: »Ich kann es mir auch
nicht vorstellen. Barton war ein riesig netter Kerl. Ich
bin überzeugt, er hat keinen einzigen Feind gehabt.«
Chefinspektor Kemp betrachtete die drei Gesichter, die
ihn fragend ansahen, und überlegte einen Augenblick,
ehe er antwortete. Besser, ich sage es ihnen, dachte er
sich.
»Was Sie sagen, klingt durchaus überzeugend, Lady
Alexandra. Aber sehen Sie: Es sind noch einige
Momente vorhanden, von denen Sie wahrscheinlich
nichts wissen.«
Lord Kidderminster warf schnell ein. »Wir dürfen Mr.
Kemp nicht zwingen, uns Geheimnisse preiszugeben.

171
Es muß ihm vollständig überlassen bleiben, was er uns
anvertrauen will.«
»Vielen Dank, Lord Kidderminster, aber es besteht kein
Grund, die Sache nicht etwas näher zu erklären. Ich
will mich denn auf folgendes beschränken: Vor seinem
Tod hat George Barton zwei Personen gegenüber die
Überzeugung geäußert, seine Frau habe nicht, wie
allgemein angenommen, Selbstmord begangen, sondern
sei umgebracht worden. Er glaubte, dem Täter auf der
Spur zu sein, und die gestrige Feier, die angeblich zu
Ehren von Miss Marles Geburtstag veranstaltet wurde,
bildete in Wirklichkeit einen Teil seines Plans, den
Mörder seiner Frau in eine Falle zu locken.«
Es herrschte einen Augenblick lang Stille – und in
dieser Stille spürte Chefinspektor Kemp, der trotz
seines Aussehens ein empfindsamer Mensch war, das
Vorhandensein eines Gefühls, das er als Bestürzung
erkannte. Keines der drei Gesichter verriet dieses
Gefühl; aber er hätte schwören können, daß alle davon
ergriffen waren.
Lord Kidderminster war der erste, der sich wieder
faßte. Er sagte: »Aber deutet das nicht darauf hin, daß
der arme Barton nicht ganz – äh – bei Sinnen war? Das
dauernde Grübeln über den Tod seiner Frau hat ihn
geistig vielleicht etwas aus dem Gleichgewicht
gebracht.«
»Ganz richtig, Lord Kidderminster – aber es zeigt
jedenfalls, daß sein Zustand nichts von Lebensüberdruß
an sich hatte.«
»Ja, ja – ich kann Ihrem Gedankengang folgen.«
Von neuem entstand Stillschweigen. Dann fragte

172
Stephen Farraday gespannt: »Wieso ist Barton über-
haupt auf diese Idee gekommen? Schließlich hat Mrs.
Barton doch tatsächlich Selbstmord begangen.«
Chefinspektor Kemp richtete einen sanften Blick auf
ihn.
»Mr. Barton war anderer Meinung.«
Lord Kidderminster mischte sich ein:
»Aber es war doch wohl auch die Auffassung der
Polizei? Nichts hat seinerzeit darauf hingedeutet, es
könne sich um etwas anderes als Selbstmord handeln?«
Kemp erklärte ruhig: »Der Tatbestand ließ sich mit der
Selbstmordtheorie vereinbaren. Es war kein Beweis
vorhanden, daß der Tod von Mrs. Barton einer anderen
Ursache zugeschrieben werden mußte.«
Er wußte, daß ein Mann wie Lord Kidderminster die
genaue Bedeutung dieser Worte erfassen würde.
Fast unmerklich hatte Kemp eine etwas mehr amtliche
Miene aufgesetzt, als er sagte: »Ich möchte Ihnen jetzt
ein paar Fragen stellen, Lady Alexandra. Darf ich...?«
»Gewiß.« Sie wandte ihm ein wenig den Kopf zu.
»Zur Zeit des Todes von Mrs. Barton hatten Sie
keinerlei Verdacht, es könne sich um einen Mord
handeln und nicht um einen Selbstmord?«
»Ganz sicher nicht. Ich war völlig überzeugt, daß es
Selbstmord war. Ich bin es noch.«
»Haben Sie im Laufe des Jahres irgendwelche anony-
men Briefe bekommen, Lady Alexandra?«
»Anonyme Briefe?« gab sie erstaunt zurück. »Nein.«
»Sind Sie ganz sicher? Solche Briefe sind sehr
unerfreulich, und die meisten Menschen ziehen es vor,
sie zu ignorieren. Aber in diesem Fall könnten sie von

173
besonderer Wichtigkeit sein, und deshalb betone ich,
daß ich unbedingt darüber informiert werden sollte,
falls Sie welche bekommen haben.«
»Ich verstehe. Aber ich kann Ihnen versichern, daß
nichts Derartiges in meine Hände gelangt ist.«
»Waren Sie mit der verstorbenen Mrs. Barton enger be-
freundet, Lady Alexandra?«
»Nein, nicht sehr.« Sie ließ ein leichtes Lachen hören.
»Rosemarie war eigentlich mehr mit Stephen
befreundet. Sie interessierte sich für Politik, und er war
ihr behilflich, sich – nun, politisch zu bilden. Ich bin
überzeugt, es machte ihm großen Spaß. Rosemarie war
eine entzückende, hübsche Frau, müssen Sie wissen.«
Und du bist eine sehr geschickte Frau, dachte Chef-
inspektor Kemp anerkennend. Ich wüßte gern, was du
über die beiden weißt – sicher eine ganze Menge. Laut
fuhr er fort: »Ihnen gegenüber hat Mr. Barton nie die
Meinung geäußert, seine Frau habe sich nicht selbst
umgebracht?«
»Nein, nie. Deswegen war ich auch jetzt so erstaunt.«
»Und Miss Marle? Die hat ebenfalls nie über den Tod
ihrer Schwester gesprochen?«
»Nein.«
»Haben Sie eine Ahnung, was George Barton veranlaßt
hat, ein Landhaus zu kaufen? Haben Sie oder Ihr Mann
ihm den Gedanken nahegelegt?«
»Nein. Es war für uns eine totale Überraschung.«
»Und sein Verhalten Ihnen gegenüber war immer
freundschaftlich?«
»Sogar sehr.«
»Und was wissen Sie über Mr. Anthony Browne, Lady

174
Alexandra?«
»Eigentlich gar nichts. Ich bin gelegentlich mit ihm
zusammengetroffen – das ist alles.«
»Und Sie, Mr. Farraday?«
»Ich glaube, ich weiß noch weniger über Browne als
meine Frau. Sie hat wenigstens schon mit ihm getanzt.
Er scheint mir ein umgänglicher Bursche zu sein –
Amerikaner, glaube ich.«
»Würden Sie auf Grund Ihrer damaligen Beobach-
tungen sagen, daß er mit Mrs. Barton auf besonders
vertrautem Fuß gestanden hat?«
»Darüber weiß ich nicht das geringste, Chefinspektor.«
»Ich frage Sie lediglich nach Ihrem Eindruck, Mr.
Farraday.«
Stephen runzelte die Stirn. »Sie waren befreundet –
mehr kann ich nicht sagen.«
»Und Sie, Lady Alexandra?«
»Nur mein persönlicher Eindruck?«
»Nur Ihr persönlicher Eindruck.«
»Dann also: »Ich habe den Eindruck gehabt, daß die
beiden sich sehr gut gekannt und auf sehr vertrautem
Fuß miteinander gestanden haben. Nur nach der Art
und Weise, wie sie sich angesehen haben, verstehen Sie
– ich habe keinen greifbaren Beweis.«
»Damen haben in solchen Fällen oft ein sehr gesundes
Urteil«, sagte Kemp. Das etwas einfältige Lächeln, mit
dem er diese Bemerkung begleitete, hätte Colonel Race
amüsiert, falls er anwesend gewesen wäre. »Und nun zu
Miss Lessing, Lady Alexandra.«
«Miss Lessing war, soweit ich weiß, Mr. Bartons
Sekretärin. Ich habe sie am Abend von Mrs. Bartons

175
Tod kennengelernt und sie dann noch zweimal
getroffen: einmal draußen auf Mr. Bartons Besitz und
dann gestern abend.«
»Vielleicht darf ich Ihnen eine weitere nichtamtliche
Frage stellen: Hatten Sie den Eindruck, daß Miss
Lessing Mr. Barton liebte?«
»Darüber habe ich mir gar keine Meinung gebildet.«
»Dann kommen wir zu den Vorgängen von gestern
abend.«
Er fragte Stephen und Sandra genau aus, wie der
tragische Abend verlaufen war. Große Hoffnungen
hatte er nicht darauf gesetzt, und was er erreichte, war
tatsächlich nur eine Bestätigung dessen, was ihm von
anderer Seite schon erzählt worden war. Alle Berichte
stimmten in den wichtigen Punkten überein: Barton
hatte einen Trinkspruch auf Iris ausgebracht, hatte
getrunken und war unmittelbar darauf tanzen gegangen.
Alle Gäste hatten den Tisch gleichzeitig verlassen, und
George und Iris waren das erste Paar gewesen, das aus
dem Saal zurückkam. Niemand wußte für den leeren
Stuhl eine andere Erklärung, als daß George ausdrück-
lich gesagt hatte, er erwarte später noch einen Freund,
einen gewissen Colonel Race – eine Behauptung, von
der Kemp wußte, daß sie nicht stimmen konnte. Sandra
Farraday sagte – und ihr Mann bestätigte es –, daß beim
Hellwerden nach dem Cabaret George mit einem
sonderbaren Ausdruck auf den leeren Stuhl gestarrt
hatte und eine Zeitlang so geistesabwesend war, daß er
gar nicht hörte, was man zu ihm sagte. Dann riß er sich
zusammen und brachte den Trinkspruch auf Iris aus.
Der einzige Punkt, der für den Chefinspektor eine

176
Ergänzung seines Materials bedeutete, war Sandras
Bericht über ihre Unterhaltung mit George in Fairhaven
und dessen beschwörende Bitte, sie und Stephen sollten
Iris zuliebe an der Geburtstagsgesellschaft teilnehmen.
Es war ein ganz glaubwürdig klingender Vorwand,
dachte Kemp, aber nicht der wahre Grund. Er schloß
das Notizbuch, in das er ein paar hieroglyphische
Eintragungen gemacht hatte, und stand auf. »Ich bin
Ihnen allen für Ihre Hilfe und Unterstützung sehr
dankbar.«
»Wird meine Tochter bei der Leichenschau anwesend
sein müssen?«
»Es wird zunächst eine reine Formsache sein: Identi-
fizieren der Leiche, ärztlicher Befund und so weiter:
Dann wird für eine Woche vertagt. Bis dahin« – Kemps
Ton klang leicht verändert – »werden wir dann ein
Stück weiter sein.«
Er wandte sich zu Stephen: »Mr. Farraday, da sind
übrigens noch ein paar Details, bei denen Sie mir,
glaube ich, behilflich sein könnten. Lady Alexandra
brauchen wir dafür nicht zu bemühen. Vielleicht rufen
Sie mich im Präsidium an – dann können wir eine Zeit
vereinbaren, die Ihnen paßt.«
Er hatte in liebenswürdigem, beiläufigem Ton gespro-
chen, aber in drei Ohrenpaaren klangen seine Worte
wie Donnergrollen.
Stephen brachte es fertig, heiter und hilfsbereit zu
antworten: »Gern, Chefinspektor.« Dann sah er auf
seine Uhr und murmelte: »Ich muß sofort in die
Sitzung.«
Als Stephen fortgeeilt war und auch Kemp sich

177
verabschiedet hatte, wandte sich Lord Kidderminster an
seine Tochter und stellte ihr ohne Umschweife eine
Frage.
»Hatte Stephen mit der Frau ein Verhältnis?«
Der Bruchteil einer Sekunde verging, ehe Sandra ant-
wortete.
»Unsinn – davon hätte ich doch etwas geahnt. Und
überhaupt gehört Stephen nicht zu dieser Art von
Männern.«
»Also, schau her, liebes Kind, es hat keinen Sinn, daß
du die Ohren anlegst und bockst. Solche Dinge
kommen immer ans Licht. Wir müssen doch wissen,
wie wir in dieser Sache dastehen.«
»Rosemarie Barton war die Freundin des anderen
Mannes, Anthony Browne. Sie waren überall
zusammen.«
»Gut«, meinte Lord Kidderminster langsam. »Du mußt
es ja wissen.« Er glaubte seiner Tochter nicht. Als er
aus dem Zimmer ging, war sein Gesicht grau und
bestürzt. Er ging hinauf ins Zimmer seiner Frau.
»Nun...«, fragte Lady Kidderminster. »Wie ist es gelau-
fen?«
»Äußerlich betrachtet, ganz gut«, erklärte Lord
Kidderminster bedächtig. »Kemp ist ein anständiger
Kerl, besitzt sehr gute Manieren und hat die ganze
Sache taktvoll angepackt.«
»Es sieht trotzdem ernst aus?«
»Ja, sehr ernst. Wir hätten Sandra diesen Burschen nie
heiraten lassen dürfen.«
»Das habe ich damals ja gesagt.«
»Ja – ja...« Er seufzte. »Du hast recht gehabt – und ich

178
unrecht. Aber glaub mir: Sie hätte ihn auf jeden Fall
bekommen. Sandra läßt sich nicht abbringen, wenn sie
sich etwas in den Kopf gesetzt hat – einen Mann,
dessen Vorleben und Herkunft uns vollständig
unbekannt war. Woher soll man wissen, wie ein solcher
Mensch sich in einer Krise verhält?«
»Aha«, sagte Lady Kidderminster. »Du meinst, wir
haben einen Mörder in die Familie aufgenommen.«
»Ich weiß nicht. Ich möchte den Burschen nicht so
ohne weiteres verdammen – aber die Polizei scheint es
jedenfalls zu glauben, und die ist nicht auf den Kopf
gefallen. Er hat ein Verhältnis mit der Barton gehabt –
das ist klar. Entweder hat sie sich seinetwegen das
Leben genommen, oder – nun, wie dem auch sei:
Barton hat Wind davon bekommen und hat es auf
Bloßstellung und Skandal abgesehen gehabt. Ich nehme
an, Stephen hat das einfach nicht zulassen wollen – und
–«
»Und hat ihn vergiftet?«
»Ja.«
Lady Kidderminster schüttelte den Kopf.
»Ich bin nicht deiner Meinung.«
»Hoffentlich hast du recht. Aber jemand hat ihn
vergiftet.«
»Wenn du mich fragst«, sagte Lady Kidderminster, »so
hat Stephen einfach nicht genügend Entschlußkraft, um
das zu tun.«
»Er nimmt seine Karriere tödlich ernst. Er ist sehr
begabt, weißt du, und hat das Talent zu einem echten
Staatsmann. Man kann bei keinem Menschen sagen,
wessen er fähig ist, wenn er sich in die Enge getrieben

179
fühlt.«
Seine Frau schüttelte von neuem den Kopf. »Ich
behaupte immer noch, daß er nicht die Kraft dazu hat.
Für so etwas muß man eine Spielernatur sein und bis an
die Grenzen gehen können. Ich habe Angst, William –
schreckliche Angst.«
Er starrte sie an. »Willst du damit etwa sagen, daß
Sandra – Sandra...?«
»Es ist mir entsetzlich, auch nur daran zu denken – aber
es hat keinen Zweck, feige zu sein und den Möglich-
keiten nicht ins Auge zu schauen. Sandra ist
vollkommen vernarrt in den Mann – ist es schon immer
gewesen –, und sie hat ein paar sonderbare Züge. Ich
habe sie nie ganz begreifen können – aber mir war stets
bange um sie. Für Stephen würde sie alles aufs Spiel
setzen – alles. Ohne Rücksicht auf die Folgen. Und
wenn sie so verrückt und gottlos gewesen ist, diese Tat
zu begehen – dann muß sie geschützt werden!«
»Geschützt? Wie meinst du das – geschützt?«
»Durch dich geschützt. Wir müssen etwas für unsere
Tochter tun, verstehst du? Zum Glück hast du ja genug
Verbindungen.«
Lord Kidderminster starrte seine Frau mit großen
Augen an. Obwohl er geglaubt hatte, ihren Charakter
gut zu kennen, war er doch erschrocken über die Kraft
ihres Wirklichkeitssinnes und über ihre – Skrupellosig-
keit.
»Du meinst, also, wenn meine Tochter eine Mörderin
ist, soll ich meine Stellung in der Öffentlichkeit dazu
mißbrauchen, sie vor den Folgen der Tat zu schützen?«
»Natürlich«, sagte Lady Kidderminster.

180
»Meine liebe Vicky! Das verstehst du nicht! So etwas
kann man nicht machen. Das wäre ja – ehrlos.«
»Blödsinn!« sagte Lady Kidderminster.
Sie sahen einander an – zwei Menschen auf verschie-
denen Planeten.
»Du könntest bewirken, daß die Regierung Druck auf
die Polizei ausübt, damit sie die ganze Geschichte
fallenläßt und einen Spruch auf Selbstmord fällt. Es
wäre nicht das erstemal.«
»Derartige Dinge sind tatsächlich vorgekommen – aber
nur, wenn es sich um das Interesse und die Sicherheit
des Staates gehandelt hat. Das hier ist eine rein
persönliche und private Angelegenheit. – Ich bezweifle
sehr, daß es mir gelingen würde.«
»Es gelingt, wenn du es wirklich willst.«
Lord Kidderminster errötete zornig. »Es wäre ein
Mißbrauch meiner öffentlichen Stellung!«
»Wenn man Sandra verhaften und ihr den Prozeß
machen würde – würdest du dann den besten Vertei-
diger engagieren und alles tun, was in deiner Macht
steht, um sie freizubekommen – ganz gleich, ob sie
schuldig ist oder nicht?«
»Selbstverständlich. Das ist doch etwas vollkommen
anderes. Ihr Frauen könnt diese Dinge nie unter-
scheiden.«
Lady Kidderminster schwieg. Sie war entschlossen, mit
Klauen und Zähnen für Sandra zu kämpfen.
»Jedenfalls«, erklärte Lord Kidderminster, »wird
Sandra nicht unter Anklage gestellt, ohne daß absolut
überzeugende Beweise gegen sie vorliegen. Und ich für
meine Person weigere mich zu glauben, daß eine

181
meiner Töchter eine Mörderin ist. Ich bin erstaunt,
Vicky, daß du das auch nur einen Augenblick lang in
Erwägung ziehst.«
Seine Frau erwiderte nichts, und Lord Kidderminster
ging mit einem unbehaglichen Gefühl aus dem Zimmer.
War es zu glauben, daß Vicky – Vicky, die er seit so
vielen Jahren aufs genaueste kannte – derartige
unerwartete und tatsächlich äußerst beunruhigende
Tiefen in sich verbarg!

17

Race fand Ruth Lessing, eifrig mit Papieren


beschäftigt, an einem großen Schreibtisch. Sie trug ein
schwarzes Jackenkleid und eine weiße Bluse, und ihre
ruhige, überlegte Tüchtigkeit machte auf ihn Eindruck.
Er bemerkte die dunklen Schatten unter ihren Augen
und den kummervollen Zug um den Mund. Aber ihr
Schmerz – falls es sich wirklich um Schmerz handelte –
war ebenso beherrscht wie ihre anderen Gefühle.
Race erklärte den Zweck seines Besuches, und sie ging
sofort darauf ein.
»Es ist sehr freundlich, daß Sie gekommen sind.
Natürlich weiß ich, wer Sie sind. Mr. Barton hatte
erwartet, daß Sie sich uns gestern abend anschließen
würden, nicht wahr? Mir ist so, als hätte er es erwähnt.«
»War das vor dem eigentlichen Abend?«
Sie dachte einen Augenblick nach. »Nein. Er hat es
gesagt, als wir uns gerade zu Tisch setzten. Ich erinnere
mich, daß ich etwas überrascht war.« Sie unterbrach

182
sich und errötete leicht. »Natürlich nicht, weil er Sie
eingeladen hatte. Ich weiß, Sie sind ein alter Freund
von ihm. Und Sie sollten auch an der Gesellschaft vor
einem Jahr teilnehmen. Ich meine nur, ich war über-
rascht, daß Mr. Barton nicht noch eine weitere Dame
eingeladen hatte, nachdem er Sie erwartete. Aber Sie
sollten ja später kommen – vielleicht überhaupt nicht
kommen.« Sie brach ab. »Ich bin so dumm. Wozu
erwähne ich alle diese nebensächlichen Dinge? Ich bin
heute wirklich dumm.«
»Aber Sie sind wie gewöhnlich zur Arbeit gekom-
men?«
»Natürlich.« Sie machte ein erstauntes, fast entsetztes
Gesicht. »Das ist doch meine Pflicht. Es gibt soviel zu
ordnen und aufzuräumen.«
»George hat mir oft gesagt, wie sehr er auf Sie
angewiesen war«, sagte Race gütig.
Sie wandte sich ab. Er sah, wie sie schluckte und kurz
die Augen schloß. Daß sie ihr Gefühl in keiner Weise
zur Schau stellte, überzeugte ihn fast von ihrer völligen
Unschuld. Fast, aber nicht ganz. Er war in seinem
Leben schon oft guten Schauspielerinnen begegnet –
Frauen, deren gerötete Lider und dunkle Schatten unter
den Augen nicht der Natur zu verdanken waren.
Ohne ein endgültiges Urteil zu fällen, sagte er sich:
»Auf jeden Fall hat sich die Frau gut in der Hand.«
Sie wandte sich ihm wieder zu und gab auf seine letzte
Bemerkung ruhig zur Antwort: »Ich war lange bei ihm
– im April wären es acht Jahre gewesen. Ich habe seine
Eigenheiten gekannt, und er hat mir, glaube ich –
Vertrauen geschenkt.«

183
»Davon bin ich überzeugt.«
Er fuhr fort: »Es ist jetzt Mittag. Würden Sie mich wohl
begleiten und irgendwo an einem ruhigen Ort mit mir
essen? Ich möchte eine ganze Menge mit Ihnen
besprechen.«
»Vielen Dank. Ich komme gern mit.«
Er führte sie in ein kleines Restaurant, wo die Tische
weit auseinander standen und ein ungestörtes Gespräch
möglich war. Nachdem sie bestellt hatten, schaute er
seine Begleiterin an.
Sie war eine gutaussehende Frau, fand er, mit ihrem
glatten dunklen Haar und dem festen Zug um Mund
und Kinn. Bis das Essen kam, plauderte er von
allgemeinen Dingen, und sie ging gescheit und
vernünftig darauf ein.
Schließlich sagte sie, nachdem eine Pause entstanden
war: »Wollten Sie mit mir über gestern abend
sprechen? Bitte, tun Sie das ohne Scheu. Die ganze
Geschichte ist so unglaublich, daß ich sogar gern
darüber reden möchte. Wenn es nicht passiert wäre und
ich nicht alles mit angesehen hätte, würde ich es nicht
für möglich halten.«
»Sie haben natürlich schon mit Chefinspektor Kemp
gesprochen?«
»Ja, gestern abend. Er macht einen intelligenten und
erfahrenen Eindruck.« Sie hielt inne. »War es wirklich
Mord, Colonel Race?«
»Hat Kemp Ihnen das gesagt?«
»Er hat mir keine Auskünfte gegeben, aber aus seinen
Fragen war klar zu ersehen, woran er dachte.«
»Ihre Meinung, Miss Lessing, ist so gut wie jede

184
andere, wenn ermittelt werden soll, ob es Selbstmord
war oder nicht. Sie haben Barton gut gekannt und
waren, nehme ich an, den größten Teil des gestrigen
Tages mit ihm zusammen. Was für einen Eindruck hat
er auf Sie gemacht? War er wie immer? Oder war er
verändert – nervös – aufgeregt?«
Ihre Antwort kam zögernd. »Das ist schwer zu sagen.
Unruhig und aufgeregt war er schon – aber das hatte
seinen Grund.« Sie schilderte die Schwierigkeiten, die
bezüglich Victor Drakes entstanden waren, und gab
einen kurzen Überblick seiner Laufbahn.
»Hm«, machte Race. »Das unvermeidliche schwarze
Schaf. Und Barton war darüber beunruhigt?«
»Es läßt sich nicht leicht erklären. Verstehen Sie, ich
habe Mr. Barton so gut gekannt. Er hat sich über die
Sache geärgert und Sorgen gemacht. Mrs. Drake soll,
wie immer in derartigen Fällen, ganz aus dem
Häuschen gewesen sein. Deshalb hatte er natürlich den
Wunsch, alles möglichst rasch in Ordnung zu bringen.
Aber ich habe den Eindruck gehabt...«
»Ja, Miss Lessing? Ich bin überzeugt, daß Ihr Eindruck
der richtige war.«
»Also, ich habe mir eingebildet, daß er anders ärgerlich
war als sonst – wenn ich mich so ausdrücken darf.
Denn wir hatten ja die gleiche Situation in anderer
Form schon früher erlebt. Letztes Jahr war Victor
Drake hier in England in Schwierigkeiten geraten, und
wir mußten ihn nach Südamerika expedieren. Und im
Juni hat er um Geld nach Hause telegrafiert. Sie sehen
also, es war mir schon bekannt, wie Mr. Barton in
solchen Fällen zu reagieren pflegte. Diesmal schien es

185
mir, als ärgerte er sich hauptsächlich darüber, daß das
Telegramm gerade in dem Augenblick kam, als er ganz
durch die Vorbereitungen zu seiner geplanten Feier in
Anspruch genommen war.«
»Ist Ihnen aufgefallen, Miss Lessing, daß die beab-
sichtigte Feier etwas Sonderbares an sich hatte?«
»Ja – Mr. Barton hat sich sehr seltsam benommen. Er
war aufgeregt – wie ein Kind.«
»Haben Sie nie gedacht, daß die Feier einen
bestimmten Zweck haben könnte?«
»Sie meinen, weil sie das genaue Gegenstück zu der
Feier war, bei der sich Mrs. Barton das Leben
genommen hat?«
»Ja.«
»Offen gesagt, ich fand das Ganze höchst ausgefallen.«
»Aber George hat Ihnen keine Erklärung gegeben –
oder sich Ihnen irgendwie anvertraut?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sagen Sie mir, Miss Lessing – haben Sie jemals daran
gezweifelt, daß Mrs. Barton Selbstmord begangen
hat?«
Sie machte ein erstauntes Gesicht. »Nein, nie.«
»George Barton hat Ihnen nie gesagt, daß er der
Meinung war, seine Frau sei umgebracht worden?«
Sie starrte ihn an.
»Das hat George geglaubt?«
»Ich sehe, daß es neu ist für Sie. Ja, Miss Lessing.
George hatte ein paar anonyme Briefe bekommen, in
denen behauptet wurde, seine Frau habe sich nicht
selbst das Leben genommen, sondern sei ermordet
worden.«

186
»Das war also der Grund, weshalb er im vergangenen
Sommer so sonderbar geworden ist? Ich konnte mir gar
nicht vorstellen, was mit ihm los war.«
»Sie wußten nichts von den anonymen Briefen?«
»Nicht das geringste. Waren es viele?«
»Er hat mir zwei gezeigt.«
»Und ich habe nichts davon gewußt!«
Ihre Stimme klang bitter und verletzt.
Er beobachtete sie eine kleine Weile. Dann sagte er:
»Nun, Miss Lessing, was meinen Sie? Halten Sie es für
möglich, daß George Selbstmord begangen hat?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein – nein.«
»Aber Sie sagen, daß er aufgeregt war – nervös?«
»Ja, aber das war er schon seit einiger Zeit gewesen.
Jetzt verstehe ich auch, warum. Und ich verstehe,
warum er so nervös wegen des gestrigen Abends war.
Er muß irgendeine besondere Absicht gehabt – muß
gehofft haben, daß er durch die genaue Rekonstruktion
der Gesellschaft vom vorigen Jahr etwas Neues
erfahren würde. Der arme George – sicher war er ganz
verwirrt!«
»Und wie steht es mit Rosemarie Barton? Glauben Sie
immer noch, daß sie sich das Leben genommen hat?«
Ruth runzelte die Stirn.
»An etwas anderes habe ich nie auch nur im entfern-
testen gedacht. Es schien mir so natürlich.«
»Eine seelische Depression nach der Grippe?«
»Nun, vielleicht mehr als das. Rosemarie war bestimmt
unglücklich, jeder konnte das sehen.«
»Und die Ursache erraten?«

187
»Also, wenn Sie unbedingt wollen: ja. Ich wenigstens
habe sie erraten. Natürlich kann ich mich getäuscht
haben. Aber Frauen wie Mrs. Barton sind sehr leicht zu
durchschauen – sie geben sich gar keine Mühe, ihre
Gefühle zu verbergen. Zum Glück, glaube ich, hat Mr.
Barton nichts geahnt. – O ja, sie war sehr unglücklich.
Und außerdem war sie an dem betreffenden Abend
noch geschwächt von der Grippe und hatte starke
Kopfschmerzen.«
»Woher wissen Sie, daß sie Kopfschmerzen hatte?«
»Ich habe gehört, wie sie es Lady Alexandra gesagt hat
– in der Garderobe, während wir unsere Sachen
ablegten. Sie fragte nach einem Aspirin, und zufällig
hatte Lady Alexandra etwas Ähnliches bei sich und gab
es ihr.«
Colonel Race, der gerade sein Glas zum Mund führen
wollte, hielt mitten in der Bewegung inne.
»Und sie hat es genommen?«
»Ja.«
Er setzte sein Glas unberührt nieder und schaute sein
Gegenüber an. Ruth saß still da und schien sich nicht
bewußt zu sein, daß sie gerade etwas sehr Wichtiges
gesagt hatte. Und doch war es von größter Bedeutung.
Es hieß, daß Sandra – für die es von ihrem Platz am
Tisch aus am schwierigsten gewesen wäre, etwas
ungesehen in Rosemaries Glas zu schütten – eine
andere, weit bessere Gelegenheit gehabt hatte, ihr das
Gift beizubringen. Normalerweise löste sich eine solche
Tablette in wenigen Augenblicken auf – aber es konnte
ja eine besonders präparierte Tablette gewesen sein,
vielleicht mit einer Außenschicht aus Gelatine oder

188
einer ähnlichen Substanz. Oder Rosemarie hatte die
Tablette nicht gleich genommen, sondern erst später.
Er fragte:
»Geschluckt?«
»Wie bitte?«
Ihrem verständnislosen Gesicht war anzusehen, daß sie
inzwischen an etwas anderes gedacht hatte.
»Haben Sie gesehen, wie Rosemarie Barton diese
Tablette genommen hat?«
Ruth sah ein bißchen erschrocken aus.
»Ich – nein, gesehen habe ich es nicht. Ich habe nur
gehört, wie sie sich bei Lady Alexandra bedankt hat.«
Rosemarie konnte also die Tablette in ihre Handtasche
gesteckt und später, während des Cabarets, in ihr
Champagnerglas geworfen haben. Annahme – pure
Annahme – aber eine Möglichkeit.
Ruth fuhr fort:
»Warum fragen Sie mich danach?«
Ihre Augen waren auf einmal wach und standen voller
Fragen. Ihm war, als sehe er dabei zu, wie ihr Verstand
arbeitete.
Dann sagte sie:
»Ach, ich verstehe. Ich verstehe auch, warum George
das Haus draußen neben den Farradays gekauft hat.
Und ich verstehe, warum er mir nichts von den Briefen
gesagt hat. Gerade das war mir so merkwürdig
vorgekommen. Aber wenn er natürlich geglaubt hat,
daß die Briefe die Wahrheit enthielten, dann hieß das:
Eine von den fünf Personen am Tisch mußte seine Frau
ermordet haben. Vielleicht – vielleicht sogar ich!«
Race fragte leise und gütig:

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»Hatten Sie einen Grund, Rosemarie Barton aus dem
Wege zu schaffen?«
Zuerst dachte er, sie habe die Frage nicht gehört. Sie
saß ganz still da und hatte die Augen niedergeschlagen.
Aber plötzlich hob sie den Kopf und sah ihm in die
Augen.
»Es ist nichts, worüber man gern spricht«, sagte sie.
»Aber ich glaube, es ist besser, wenn Sie es wissen. Ich
habe George geliebt. Ich habe ihn geliebt, lange bevor
er Rosemarie kennengelernt hat. Ich glaube nicht, daß
er es jemals wußte – jedenfalls war es ihm gleichgültig.
Er hatte mich gern – sehr gern sogar –, aber nicht in
dieser Weise. Und doch habe ich immer gedacht, daß
ich ihm eine gute Gattin gewesen wäre und daß ich ihn
hätte glücklich machen können. Er hat Rosemarie ge-
liebt, aber glücklich war er mit ihr nicht.«
Race fragte: »Und Rosemarie mochten Sie nicht?«
»Nein, gar nicht. Oh – sie war sehr schön und anzie-
hend und konnte auf ihre Art reizend sein. Zu mir
reizend zu sein hat sie sich nie bemüht. Nein, ich habe
sie nicht gemocht. Ich war erschüttert über ihren
plötzlichen Tod – und über die Todesart. Aber leid hat
es mir nicht getan. Ich fürchte, ich war sogar froh.«
Sie schwieg.
»Bitte – können wir nicht von etwas anderem
sprechen?«
Race ging sofort darauf ein.
»Ich möchte, daß Sie mir genau und mit allen
Einzelheiten von gestern erzählen, woran Sie sich noch
erinnern – vom frühen Morgen an –, besonders alles,
was George getan oder gesagt hat.«

190
Ruth antwortete, ohne zu zögern, und ging zunächst die
Ereignisse des Vormittags durch: Georges Ärger über
die neue Belästigung durch Victor, ihre beiden Telefon-
gespräche mit Südamerika, die getroffenen Vereinba-
rungen, Georges Zufriedenheit, nachdem die Sache
erledigt war. Sie schilderte dann ihre Ankunft im
Luxembourg und Georges unruhiges, aufgeregtes
Verhalten als Gastgeber. Ihre Erzählung endete bei der
letzten Szene der Tragödie. Sie stimmte in allen
Punkten mit den Berichten überein, die Race bereits
gehört hatte.
»Haben Sie gar keine Ahnung – nicht einmal den
leisesten Verdacht –, wer das Zyankali in das Glas
geschüttet haben könnte? Denken Sie einmal ange-
strengt an gestern abend! Hat es nichts gegeben, nicht
den kleinsten Vorgang, der auch nur im geringsten
Ihren Verdacht erweckt?«
Er sah, wie ihr Gesicht sich veränderte, wie einen
Augenblick lang ein Ausdruck von Unsicherheit in ihre
Augen trat. Eine fast unmerkliche Pause entstand, ehe
sie erwiderte: »Nichts.«
Aber etwas hatte es gegeben. Dessen war er sicher.
Etwas, das sie gesehen oder gehört oder gemerkt hatte,
aber aus irgendeinem Grund nicht sagen wollte.
Er drängte sie nicht. Bei einer Frau wie Ruth, wußte er,
hatte das keinen Zweck. Wenn sie sich aus irgendeinem
Grund entschlossen hatte zu schweigen, dann würde sie
für den Augenblick diesen Entschluß bestimmt nicht
umstoßen.
Aber etwas war gewesen. Dieses Bewußtsein munterte
ihn auf und gab ihm neue Zuversicht. Es war das erste

191
Anzeichen eines Risses in der glatten Mauer, der er sich
gegenüber sah.
Nach dem Essen verabschiedete er sich von Ruth,
dachte aber auf seinem ganzen Weg zum Elvaston
Square über sie nach. Konnte Ruth Lessing die Täterin
sein? Im großen und ganzen war er eher zu ihren
Gunsten eingenommen. Sie hatte auf ihn einen voll-
kommen offenen und ehrlichen Eindruck gemacht.
War sie fähig zu einem Mord? Das waren die meisten
Menschen, wenn es darauf ankam. Nicht fähig zu
irgendeinem beliebigen Mord, sondern zu einem
bestimmten Mord. Das machte es ja gerade so
schwierig, die Unschuldigen auszuscheiden. In Ruths
Charakter lag eine gewisse Verwegenheit. Und sie hatte
auch ein Motiv gehabt — oder vielmehr verschiedene
Motive. Nach der Beseitigung Rosemaries hatte sie
gute Aussichten, die Frau von George Barton zu
werden. Ob es sich darum handelte, einen reichen
Mann oder den Mann ihres Herzens zu heiraten – die
erste Voraussetzung war jedenfalls, daß Rosemarie
verschwinden mußte.
Race neigte zu der Auffassung, daß die reiche Heirat
allein zur Erklärung nicht genügte. Ruth Lessing war zu
kaltblütig und vorsichtig, um ihren Kopf bloß einer
guten Partie zuliebe zu riskieren. Liebe? Vielleicht. Bei
all ihrer kühlen und zurückhaltenden Art hielt er sie im
stillen für eine von jenen Frauen, bei denen durch einen
bestimmten Mann eine unwahrscheinliche Leidenschaft
entfacht werden kann. Bei einem entsprechenden Grad
der Liebe zu George und des Hasses gegen Rosemarie
konnte sie durchaus einen Mord an Rosemarie geplant

192
und durchgeführt haben. Daß er ohne Zwischenfall ver-
laufen und die Selbstmordtheorie allgemein und ohne
Widerspruch akzeptiert worden war, sprach nur für ihre
Tüchtigkeit.
Und dann hatte George die anonymen Briefe
bekommen. (Von wem? Zu welchem Zweck? Das war
das quälende, beunruhigende Problem, das dauernd an
Race nagte.) George war mißtrauisch geworden. Er
hatte Ruth eine Falle stellen wollen. Und Ruth brachte
ihn zum Schweigen.
Nein, das stimmte nicht. Das klang nicht echt. Es
deutete auf plötzliche Angst hin – und Ruth war nicht
der Mensch, der plötzlich Angst bekam. Sie war klüger
als George und hätte jeder von ihm gestellten Falle mit
Leichtigkeit ausweichen können.
Es sah so aus, als sei er bei Ruth schließlich doch nicht
auf der richtigen Spur.

18

Lucilla Drake war entzückt, Colonel Race zu


empfangen.
Alle Jalousien waren heruntergelassen. Lucilla kam
herein, in Schwarz gehüllt und ein Taschentuch in der
Hand, mit dem sie sich dauernd die Augen tupfte.
Während sie ihm eine zitternde Hand reichte, erklärte
sie mit tränenerstickter
Stimme, daß sie natürlich niemanden empfange,
überhaupt niemanden – außer einen so guten alten
Freund des lieben, lieben George -, und ob es nicht

193
gräßlich sei, so gar keinen Mann im Hause zu haben!
Tatsächlich: Ohne einen Mann im Haus war man ganz
außerstande, mit irgendwelchen Dingen fertig zu
werden. Sie selbst, eine arme, einsame Witwe, und Iris,
ein hilfloses junges Mädchen – George hatte sich
immer um alles gekümmert. Es war so freundlich vom
lieben Colonel Race, und sie war ihm auch wirklich
riesig dankbar – sie wußte nicht mehr aus noch ein.
Hier versiegte Lucillas Redeschwall, und für Race
ergab sich eine Gelegenheit, seinerseits ein paar Worte
zu sprechen. Er äußerte sein tiefes Mitgefühl und bat
Lucilla, in jeder Beziehung auf ihn zu zählen.
Worauf Lucilla von neuem loslegte und versicherte, das
sei wirklich reizend von ihm, und es sei ein so schwerer
Schlag gewesen, heute rot, morgen tot, wie es schon in
der Bibel heiße, wächst wie Gras und ist am Abend
gemäht – nein, das stimmte nicht so ganz, aber Colonel
Race wisse schon, was sie meine, und – o wie schön,
man weiß jemanden, auf den man sich verlassen kann.
Natürlich meine es Miss Lessing gut, und sie sei auch
sehr tüchtig, aber ein bißchen merkwürdig in ihrer
kühlen Art und manchmal viel zu selbständig, und nach
Lucillas Auffassung hatte George sich viel zu sehr auf
sie verlassen, und eine Zeitlang habe sie richtig Angst
gehabt, George könnte vielleicht etwas Törichtes tun,
wo Miss Lessing ihn doch sicher unbarmherzig
tyrannisiert hätte, sobald sie mit ihm verheiratet
gewesen wäre. Natürlich hatte sie, Lucilla, gemerkt, aus
welcher Ecke der Wind wehte. Die liebe Iris hatte so
gar keine Lebenserfahrung, und es war auch hübsch,
wenn junge Mädchen unverdorben und einfach waren,

194
nicht wahr? Iris war für ihr Alter immer so kindlich
gewesen und so still.
Hier unterbrach Colonel Race sie und sagte, er habe
davon gehört, daß ihr Sohn im Ausland lebe.
Die nächste Viertelstunde lang wurde ihm ein ausführ-
licher Bericht über Victors zahlreiche Fähigkeiten
aufgetischt. So ein lebhafter Junge, der überall mit
Hand anlegte – hier folgte eine Liste der verschiedenen
Berufe, die Victor ausgeübt hatte.
»Aber er hat immer Pech gehabt, Colonel Race.«
Doch seiner Mutter war er immer ein guter Sohn
gewesen, und er hatte nie versäumt, ihr seine
Schwierigkeiten mitzuteilen – das zeigte doch, nicht
wahr, daß er ihr Vertrauen schenkte? Merkwürdig
schien es ihr nur, daß die Stellen, die er sich
verschaffte, so oft im Ausland waren. Sie hatte
unbedingt das Gefühl, daß er viel besser dran sein
würde, wenn man ihm irgendeine nette Stellung zu
Hause besorgen könnte, zum Beispiel bei der Bank von
England. Dann könnte er vielleicht ein Stück außerhalb
von London wohnen und einen kleinen Wagen haben,
um in die Stadt zu fahren.
Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis Colonel Race
Victors sämtliche Vortrefflichkeiten und Mißgeschicke
vernommen hatte und imstande war, Lucilla von ihrem
Sohn auf das Thema Hauspersonal zu bringen.
Ja, was er sagte, stimmte wirklich – das Personal vom
alten Schlage gab es nicht mehr. Was man heutzutage
für Sorgen mit den Leuten hatte! Erst vor kurzem hatte
das Stubenmädchen gekündigt – sie arbeitete jetzt bei
Mrs. Rees-Talbot –, so ein freches, unverschämtes

195
Ding. Es war so frech zu sagen, daß sie hoffentlich
nicht wieder in ein Haus kommen würde, in dem man
die Leute »um die Ecke bringe«. Diesen ordinären Aus-
druck hat sie wahrscheinlich im Kino aufgeschnappt,
und außerdem paßte er gar nicht, nachdem sich die
arme Rosemarie selbst das Leben genommen hatte –
obwohl sie damals für ihre Handlungen, wie bei der
Leichenschau sehr richtig betont wurde, nicht voll
verantwortlich war.
Colonel Race nützte die Pause, die Mrs. Drake zum
Atemholen brauchte, um schnell die Frage aufzu-
werfen, ob das Mädchen vielleicht bei jener Mrs.
Richard Rees-Talbot arbeite, die er aus Indien kenne.
»Das weiß ich wirklich nicht. Sie wohnt am Cadogan
Square.«
»Ja, dann sind das meine Bekannten.«
Wie klein doch die Welt sei – nicht wahr? –, meinte
Lucilla. Und es gehe eben nichts über alte Freunde.
Freundschaft sei etwas Wundervolles. Auch die
Freundschaft zwischen Viola und Paul habe sie immer
so romantisch gefunden. Die gute Viola – sie sei ein so
schönes Mädchen gewesen, und die vielen Männer, die
ihr den Hof gemacht hätten! – Du lieber Himmel –
Colonel Race konnte ja gar nicht verstehen, wovon sie
redete! Man lebe wirklich zu stark in der Vergangen-
heit.
Colonel Race bat sie fortzufahren und vernahm zum
Dank für seine Höflichkeit die Lebensgeschichte
Hector Marles: seine Erziehung durch die Schwester,
seine Eigenheiten und Schwächen und zum Schluß (als
Race den Ausgangspunkt schon fast vergessen hatte)

196
seine Heirat mit der schönen Viola. »Sie war eine
Waise und lebte in den dürftigsten Verhältnissen.«
Er hörte, wie Paul Bennett seine Enttäuschung über
Violas »Korb« bezwungen und sich aus ihrem Anbeter
in den Freund der Familie verwandelt hatte, er hörte
von Pauls väterlicher Liebe zu seinem Patenkind
Rosemarie, von seinem Tod und den Bestimmungen
seines Testaments. »Und das habe ich immer höchst
romantisch gefunden! So ein riesiges Vermögen!
Natürlich bedeutet Geld nicht alles – oh, bei weitem
nicht. Man braucht nur an Rosemaries tragisches Ende
zu denken. Und auch um Iris mache ich mir Sorgen.«
Race sah Mrs. Drake fragend an.
»Ich finde, man hat so eine furchtbar große Verant-
wortung. Natürlich wissen die Leute sehr gut, daß sie
jetzt eine reiche Erbin ist. Ich habe ein wachsames
Auge auf alle verdächtigen jungen Männer, die in ihre
Nähe kommen; aber nützt das etwas, lieber Colonel
Race? Heutzutage kann man auf die jungen Mädchen
nicht mehr aufpassen wie früher. Iris hat Freunde, über
die ich so gut wie nichts weiß. Auch der arme George
hat sich darüber Sorge gemacht. Es handelt sich um
einen jungen Mann namens Browne. Ich habe ihn selbst
nie gesehen, aber Iris scheint häufig mit ihm
zusammengewesen zu sein. Und man hat das Gefühl, es
gäbe einen besseren Umgang für sie. George hat ihn
nicht gemocht – davon bin ich überzeugt. Und ich finde
immer, Colonel Race, daß Männer andere Männer
soviel sicherer beurteilen können.«
Ein schwaches Geräusch ließ Race über Lucillas Kopf
hinweg zur offenen Tür blicken. Er hatte Iris früher

197
schon gesehen – in Little Priors. Dennoch hatte er das
Gefühl, sie jetzt zum erstenmal zu sehen. Ihm fiel die
starke Spannung auf, die sich hinter ihrer ruhigen
Miene verbarg. Ihre großen Augen begegneten seinem
Blick mit einem Ausdruck, der ihn an etwas erinnerte –
er wußte nur nicht woran.
Nun wandte auch Lucilla Drake den Kopf. »Iris, Kind –
ich habe dich gar nicht hereinkommen hören. Du
kennst doch Colonel Race? So freundlich von ihm, uns
zu besuchen!«
Iris kam näher und gab Race ernst die Hand. Das
schwarze Kleid ließ sie schmaler und blasser
erscheinen, als er sie in Erinnerung hatte.
»Ich bin gekommen, um Ihnen meine Hilfe
anzubieten«, sagte er.
»Vielen Dank. Das ist sehr lieb von Ihnen.«
Sie sah ihre Tante an, und Race stellte fest, daß ihr
Blick wachsam war. »Worüber habt ihr gesprochen, als
ich hereinkam?«
Lucilla errötete verwirrt. Race erriet, daß sie Anthony
Browne nicht erwähnen wollte. Sie rief aus:
»Laß mich nachdenken – o ja, über Allerheiligen, und
daß gestern Allerseelen war. Allerseelen – das kommt
mir so merkwürdig vor – einer von den Zufällen, die
man im Leben immer für unmöglich hält.«
»Willst du damit sagen«, fragte Iris, »daß Rosemarie
gestern zurückgekommen ist und George geholt hat?«
Lucilla stieß einen kleinen Schrei aus. »Um Gottes
willen, Iris – was für ein Gedanke! So unchristlich!«
»Wieso unchristlich? Allerseelen ist der Tag der Toten.
In Paris sind die Leute immer auf den Friedhof

198
gegangen und haben Blumen auf die Gräber gelegt.«
»Oh, das weiß ich, Liebes – aber dort sind sie auch
katholisch, nicht wahr?«
Ein schwaches Lächeln umspielte Iris' Lippen. Dann
sagte sie ohne Umschweife: »Ich dachte, ihr hättet
vielleicht von Anthony gesprochen – Anthony
Browne.«
»Also« – hier wurde Lucillas Zwitschern ganz hoch
und vogelartig – »erwähnt haben wir ihn tatsächlich.
Weißt du, ich habe gerade gesagt, daß wir so gar nichts
von ihm wissen...«
»Warum mußt du denn etwas von ihm wissen?«
»Nein, ich muß natürlich nicht, Kind. Aber ich finde, es
wäre doch netter, wenn wir Näheres über ihn wüßten,
nicht?«
»Dazu wirst du künftig genügend Gelegenheit haben«,
sagte Iris. »Ich bin nämlich drauf und dran, Anthony zu
heiraten.«
»Iris!« Es klang wie ein klagendes Blöken. »Du darfst
nichts überstürzen – im Augenblick können keine
Entscheidungen getroffen werden.«
»Es ist bereits entschieden, Tante Lucilla.«
»Nein, Kind – bevor das Begräbnis stattgefunden hat,
läßt sich über so etwas wie eine Hochzeit überhaupt
nicht reden. Das gehört sich nicht. Diese gräßliche
Leichenschau! Und ich glaube wirklich, Iris, George
wäre nicht damit einverstanden gewesen. Er hat diesen
Mr. Browne nicht gemocht.«
»Richtig«, antwortete Iris, »George hat Anthony nicht
gemocht und wäre nicht damit einverstanden gewesen,
aber das ist jetzt gleichgültig. Es geht um mein Leben,

199
nicht um Georges – und George ist auf jeden Fall tot...«
»Iris – Iris! Was ist nur über dich gekommen! Wie
kannst du nur so gefühllos sein!«
»Es tut mir leid, Tante Lucilla«, sagte Iris mit müder
Stimme. »Ich weiß, es muß gefühllos geklungen haben,
aber ich habe es nicht so gemeint. Ich habe bloß
gemeint, daß George jetzt seinen Frieden hat und sich
nicht mehr um mich und meine Zukunft zu sorgen
braucht. Ich muß meine Entscheidungen jetzt selbst
treffen.«
»Unsinn, Liebes – in einem Augenblick wie diesem
kann nichts entschieden werden; das wäre höchst
unpassend. Die Frage tritt vorläufig gar nicht an uns
heran.«
Iris lachte kurz. »Aber an mich ist sie schon heran-
getreten. Anthony hat mich bereits in Little Priors
gebeten, ihn zu heiraten. Erwollte, daß ich sofort mit
ihm nach London kommen und ihn am nächsten Tag
heiraten sollte. Ich wünschte jetzt, ich hätte es getan!«
»Das war aber ein recht merkwürdiger Wunsch«,
mischte sich Colonel Race ein.
Sie sah ihn herausfordernd an. »Nein, das war es nicht.
Es hätte eine Menge Hin und Her erspart. Warum habe
ich ihm nicht gleich zugesagt? Er hat mich gebeten,
Vertrauen zu ihm zu haben, aber ich wollte nicht. Aber
jetzt heirate ich ihn auf jeden Fall, sobald ich will.«
Lucilla brach in einen protestierenden, zusammenhang-
losen Redeschwall aus. Ihre Hängebacken zitterten, und
ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Colonel Race machte sich rasch zum Herrn der
Situation.

200
Er fragte Iris: »Miss Marle, könnte ich noch mit Ihnen
sprechen, bevor ich gehe? Es handelt sich um eine rein
geschäftliche Angelegenheit.«
»Ja, gewiß«, murmelte Iris, etwas erstaunt, und war
schon auf dem Weg zur Tür. Während sie hinausging,
trat Race auf Lucilla zu.
»Regen Sie sich nicht auf, Mrs. Drake. Je weniger
gesagt wird, desto leichter läßt sich alles wieder in
Ordnung bringen. Wir werden sehen, was wir tun
können.«
Lucilla blieb etwas beruhigter zurück, Race folgte Iris
durch die Halle in ein kleineres, zum Garten hin
gelegenes Zimmer, vor dessen Fenster eine melancho-
lische Platane ihre letzten Blätter abwarf. »Ich wollte
Ihnen nur sagen, Miss Marle, daß Chefinspektor Kemp
ein persönlicher Freund von mir ist und daß Sie ihn
sicher sehr hilfsbereit und verständnisvoll finden
werden. Er hat eine unerfreuliche Pflicht zu erfüllen,
aber ich bin überzeugt, daß er das so rücksichtsvoll wie
möglich tun wird.«
Sie sah ihn ein paar Augenblicke schweigend an, dann
fragte sie plötzlich: »Warum sind Sie gestern abend
nicht ins Luxembourg gekommen, wie George erwartet
hatte?«
Er schüttelte den Kopf.
»George hat nicht erwartet, daß ich kommen würde.«
»Aber er hat es gesagt.«
»Gesagt hat er es vielleicht, aber gestimmt hat es nicht.
George hat sehr wohl gewußt, daß ich nicht kommen
würde.«
Iris fragte: »Aber der leere Platz – für wen war der be-

201
stimmt?«
»Jedenfalls nicht für mich.«
Sie schloß die Augen halb und wurde ganz blaß. Sie
flüsterte:
»Ich verstehe... für Rosemarie – der Platz war für
Rosemarie!«
Er dachte, sie würde umsinken, trat rasch auf sie zu und
ergriff ihren Arm. Dann zwang er sie sanft in einen
Sessel. »Regen Sie sich nicht auf...«
Sie sagte leise und atemlos: »Es ist schon wieder
vorbei... aber was soll ich tun? Ich weiß nicht, was ich
tun soll!«
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Sie hob die Augen und sah ihn an. Ihr Blick war
nachdenklich und traurig. Sie sagte: »Ich muß
anfangen, klar zu denken. Ich muß« – sie machte eine
suchende Handbewegung – »alles in der richtigen
Reihenfolge ordnen. Das erste ist: George war der
Meinung, daß Rosemarie sich nicht das Leben
genommen hat, sondern – umgebracht worden ist. Das
hat er aufgrund der Briefe angenommen. Colonel Race:
Wer hat diese Briefe geschrieben?«
»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Haben Sie selbst
denn keinen Verdacht?«
»Ich habe keine blasse Ahnung. Jedenfalls hat George
geglaubt, was in den Briefen stand, hat gestern abend
diese Gesellschaft gegeben und hat einen Platz frei
gelassen. Es war Allerseelen – der Tag der Toten –, der
Tag, an dem Rosemaries Geist erscheinen und ihm...
die Wahrheit sagen konnte.«
»Sie dürfen Ihrer Phantasie nicht allzusehr die Zügel

202
schießen lassen.«
»Aber ich habe es selbst gefühlt – habe Rosemarie
manchmal ganz in meiner Nähe gespürt. Ich bin doch
ihre Schwester, und da habe ich das Gefühl, sie will mir
etwas mitteilen.«
»Iris, Sie sind überreizt – beruhigen Sie sich.«
»Nein, ich muß darüber sprechen. George trank auf
Rosemarie und – starb. Vielleicht ist sie gekommen und
– hat ihn geholt?«
»Die Geister der Toten schütten kein Zyankali in
Champagnergläser, meine Liebe.«
Das schien sie wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Sie sagte mit ruhiger Stimme: »Das Ganze ist so
unverständlich. George ist ermordet worden – ja:
ermordet. Das glaubt die Polizei, und es ist sicher auch
richtig. Denn eine andere Lösung gibt es nicht. Aber es
widerspricht aller Logik.«
»Finden Sie wirklich? Wenn Rosemarie ermordet
worden ist und George Verdacht zu schöpfen begann,
wer der Mörder sein konnte...«
Sie unterbrach ihn. »Ja – aber Rosemarie ist nicht
ermordet worden. Deshalb ist es so unlogisch. George
hat diesen dummen anonymen Briefen hauptsächlich
deswegen Glauben geschenkt, weil eine Depression
nach einer Grippe kein sehr überzeugendes Motiv für
einen Selbstmord ist. Aber Rosemarie hat ein anderes,
viel stärkeres Motiv gehabt. Warten Sie, ich will Ihnen
etwas zeigen.« Sie lief aus dem Zimmer und kam ein
paar Minuten später zurück, einen zusammengefalteten
Brief in der Hand.
»Lesen Sie das!«

203
Er entfaltete das leicht zerknitterte Blatt.
»Leopard, Liebling...«
Race las den Brief zweimal, ehe er ihn ihr zurückgab.
Iris fragte gespannt:
»Verstehen Sie jetzt? Sie war unglücklich – todun-
glücklich. Sie wollte nicht mehr weiterleben.«
»Wissen Sie, an wen der Brief gerichtet war?«
Iris nickte. »An Stephen Farraday. Nicht an Anthony.
Sie liebte Stephen, und er hat sie grausam behandelt.
Deshalb hat sie das Gift mit ins Restaurant genommen
und es sich dort in ihr Glas geschüttet, damit er sie
sterben sehen sollte. Vielleicht hat sie gedacht, es
würde ihm dann leid tun.«
Race nickte nachdenklich, sagte aber nichts. Nach
kurzem fragte er: »Wann haben Sie den Brief
gefunden?«
»Etwa vor einem halben Jahr. Er steckte in einem alten
Morgenrock.«
»Sie haben ihn George nicht gezeigt?«
Iris rief aus: »Wie hätte ich das tun können? Rosemarie
war meine Schwester. Ich konnte sie doch nicht an
George verraten! Er war so überzeugt, daß sie ihn
liebte. Ich konnte ihm doch nach Rosemaries Tod nicht
den Brief zeigen! Aber was soll ich jetzt tun? Ich habe
Ihnen den Brief gezeigt, weil Sie mit George
befreundet waren. Muß ich ihn auch Inspektor Kemp
zeigen...?«
»Ja. Kemp muß den Brief bekommen. Er ist ein
wichtiges Beweisstück, verstehen Sie.«
»Aber – dann wird der Brief am Ende bei der Verhand-
lung vorgelesen?«

204
»Nicht unbedingt. Das ist nicht gesagt. Die Unter-
suchung betrifft Georges und nicht Rosemaries Tod.
Die Öffentlichkeit erfährt nichts, was nicht wesentlich
ist. Es wäre besser, ich nähme den Brief jetzt an mich.«
»Ja, tun Sie das.«
Sie begleitete ihn bis zur Haustür. Beim Öffnen sagte
sie plötzlich: »Nicht wahr, das ist doch ein Beweis
dafür, daß Rosemarie sich tatsächlich selbst das Leben
genommen hat?«
Race antwortete: »Es zeigt wenigstens, daß sie einen
Grund gehabt hätte, sich das Leben zu nehmen.«
Iris seufzte. Race ging die Stufen hinunter und
überquerte den Platz. Beim Zurückblicken sah er, wie
sie im offenen Türrahmen stand und ihm nachschaute.

19

Mary Rees-Talbot begrüßte den Colonel geradezu mit


einem Schrei der Überraschung.
»Mein Lieber, ich habe Sie nicht gesehen, seit Sie
damals auf so geheimnisvolle Weise aus Allahabad
verschwunden sind! Und was führt Sie jetzt hierher?
Bestimmt nicht das Verlangen, mich zu sehen – davon
bin ich überzeugt. Kommen Sie, legen Sie ein
Geständnis ab – keine diplomatischen Ausflüchte!«
»Diplomatie wäre bei Ihnen reine Zeitverschwendung,
meine liebe Mary. Ich habe immer die größte Hoch-
achtung für Ihren Röntgenverstand gehabt, das wissen
Sie.«
»Lassen Sie die höflichen Redensarten, und kommen

205
Sie zur Sache, mein Bester.«
Race lächelte. »Heißt das Stubenmädchen, das mir auf-
gemacht hat, Betty Archdale?« fragte er.
»Das ist es also! Jetzt erzählen Sie mir bloß nicht, daß
dieses Mädchen, ein Londoner Kind reinsten Wassers,
in Wirklichkeit eine Spionin!«
»Nein, nein, keineswegs.«
»Und erzählen Sie mir auch nicht, daß sie zu unserer
Gegenspionage gehört, denn das glaube ich Ihnen
ebensowenig.«
»Ganz richtig. Das Mädchen ist nichts anderes als ein
Stubenmädchen.«
»Und seit wann interessieren Sie sich für einfache
Stubenmädchen? Nicht etwa, daß Betty einfach wäre –
eine höchst raffinierte Person!«
»Ich glaube«, antwortete Colonel Race, »daß sie
vielleicht in der Lage ist, mir etwas zu erzählen.«
»Wenn Sie sie schön darum bitten – warum nicht? Sie
besitzt eine sehr hochentwickelte Technik, immer in der
Nähe zu sein, wenn etwas Interessantes vorgeht. Und
was hat nun M. zu tun?«
»M. bietet mir liebenswürdigerweise etwas zu trinken
an, klingelt nach Betty und gibt ihr einen entspre-
chenden Auftrag.«
»Und wenn Betty das Getränk bringt?«
»Dann ist M. netterweise aus dem Zimmer gegangen.«
»Um draußen ein bißchen an der Tür zu horchen?«
»Wenn ihr das Spaß macht.«
»Und werde ich hinterher voll von vertraulichen
Informationen über die jüngste europäische Krise
sein?«

206
»Ich fürchte, nein. Diese Sache hat nichts mit Politik zu
tun.«
»Wie schade! Gut – ich mache trotzdem mit.«
Mrs. Rees-Talbot, eine lebhafte Brünette von ungefähr
neunundvierzig Jahren, klingelte und beauftragte ihr
hübsches Stubenmädchen, Colonel Race einen Whisky-
Soda zu bringen.
Als Betty Archdale mit dem Gewünschten zurückkam,
stand Mrs. Rees-Talbot neben der anderen Tür, die in
ihren kleinen Privatsalon führte.
»Colonel Race möchte Ihnen ein paar Fragen stellen«,
sagte sie und ging hinaus.
Bettys freche Augen bekamen einen ängstlichen Aus-
druck, als sie sie jetzt auf den großen, grauhaarigen,
militärisch aussehenden Mann richtete. Race nahm das
Glas vom Tablett und fragte lächelnd: »Haben Sie
heute die Zeitung gelesen?«
»Ja, Sir.«
»Haben Sie gelesen, daß Mr. George Barton gestern
abend im Luxembourg plötzlich tot zusammenge-
brochen ist?«
»O ja, Sir.« Bettys Augen sprühten plötzlich vor
Erregung über das sensationelle Ereignis. »Schrecklich,
nicht wahr?«
»Sie waren früher bei Barton in Stellung, nicht wahr?«
»Ja, Sir. Letzten Winter bin ich fort, kurz nach dem
Tod von Mrs. Barton.«
»Mrs. Barton ist ebenfalls im Luxembourg ums Leben
gekommen.«
Betty nickte. »Eigentlich komisch, nicht wahr?«
Race fand es nicht komisch, wußte aber, was sie mit

207
dem Wort ausdrücken wollte. Er sagte ernst: »Ich sehe,
daß Sie nicht dumm sind. Daß Sie logische Schlüsse
ziehen können.«
Betty verschränkte die Hände und gab ihre Zurück-
haltung auf.
»Ist Mr. Barton auch umgebracht worden? In der
Zeitung stand nichts Genaues darüber.«
»Warum sagen Sie ›auch‹? Mrs. Bartons Tod war doch
auf Selbstmord zurückzuführen?«
Sie warf ihm rasch einen schrägen Blick zu. Nicht mehr
jung, dachte sie, sieht aber nett aus. Von der ruhigen
Sorte. Ein richtiger Gentleman – einer, der einem in
frühen Jahren ein Goldstück in die Hand gedrückt hätte.
Komisch – ich weiß nicht einmal, wie ein Goldstück
aussieht! Worauf will er eigentlich hinaus?
Sie sagte zögernd: »Jawohl, Sir.«
»Aber Sie haben vielleicht nicht geglaubt, daß es
Selbstmord war?«
»Eigentlich nicht, Sir. Nein.«
»Interessant – sehr interessant, Warum nicht?«
Sie zögerte; ihre Finger spielten mit der Schürze.
»Bitte, sagen Sie es mir. Es kann sehr wichtig sein.«
Nett hatte er das gesagt, so ernst. Man kam sich
geradezu wie jemand vor, dessen Hilfe er brauchte.
Und sie, Betty, hatte sich ja auch wirklich nie täuschen
lassen über Rosemarie Barton. Sie konnte man nicht
täuschen!
»Ist sie umgebracht worden, Sir?«
»Das wäre nicht ganz ausgeschlossen. Aber wie sind
Sie darauf gekommen?«
Betty sagte zögernd: »Ich habe einmal etwas gehört.«

208
»Ja?« Seine Stimme klang ruhig und ermunternd.
»Die Tür war nicht etwa geschlossen. Ich meine – ich
würde nie an einer Tür horchen«, sagte Betty tugend-
haft. »Aber ich war gerade dabei, das Silber ins Speise-
zimmer zu bringen, und es wurde ziemlich laut
gesprochen. Sie hat etwas gesagt – Mrs. Barton, meine
ich – darüber, daß er in Wirklichkeit nicht Anthony
Browne hieß. Und dann ist er sehr unangenehm gewor-
den – Mr. Browne nämlich. Ich hätte nie geglaubt, daß
er solche Sachen sagen könnte – so ein netter, ruhiger
Gentleman. Hat davon gesprochen, daß ihr hübsches
Gesicht entstellt werden würde und – oh, und daß er sie
umbringen würde, wenn sie ihm nicht gehorchte. Mehr
habe ich nicht gehört, weil Miss Iris die Treppe
heruntergekommen ist, und natürlich habe ich damals
nicht weiter darüber nachgedacht, aber später, wie
immerzu davon geredet worden ist, daß sie sich das
Leben genommen hat, und wie ich gehört habe, daß Mr.
Browne an dem Abend dabei war – also da ist es mir
kalt den Rücken hinuntergelaufen, weiß Gott!«
»Aber Sie haben niemandem etwas davon gesagt?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich wollte nichts
mit der Polizei zu tun bekommen – und ich wußte ja
eigentlich auch nichts, wenigstens nichts Bestimmtes.
Und wenn ich etwas gesagt hätte, wäre ich vielleicht
selbst auch umgebracht worden.«
»Ich verstehe.« Race machte eine kleine Pause und
sagte dann mit seiner sanftesten Stimme: »Deshalb
haben Sie also Mr. Barton einen anonymen Brief
geschrieben?«
Sie starrte ihn an. Er konnte in ihrem Blick kein

209
Schuldbewußtsein entdecken – nur ehrliches Erstaunen.
»Ich? An Mr. Barton geschrieben? Niemals.«
»Sie brauchen keine Angst zu haben, es mir zu
erzählen. Es war wirklich eine sehr gute Idee. Sie haben
ihm damit eine Warnung erteilt, ohne sich selbst
bloßzustellen. Tatsächlich ausgezeichnet.«
»Aber das habe ich nicht getan, Sir. Es ist mir nie
eingefallen. Sie meinen, ich hätte an Mr. Barton
geschrieben und ihm mitgeteilt, seine Frau sei umge-
bracht worden? Nicht einmal der Gedanke ist mir
gekommen!« Sie leugnete so standhaft, daß Race gegen
seinen Willen schwankend wurde. Aber es fügte sich so
gut zusammen – alles ließ sich auf ganz natürliche
Weise erklären, wenn nur das Mädchen die Briefe
geschrieben hätte! Trotzdem setzte sie ihre Beteue-
rungen fort – nicht in heftiger oder verlegener Weise,
sondern ruhig und fest. Schließlich schenkte er ihr
widerstrebend Glauben und änderte seine Taktik.
»Wem haben Sie von der Sache erzählt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Niemandem. Ich sage Ihnen
ehrlich, Sir, ich habe mich gefürchtet. Ich habe gedacht,
es ist besser, ich halte den Mund. Ich habe versucht, die
ganze Geschichte zu vergessen. Nur einmal habe ich
davon gesprochen – das war, wie ich gekündigt habe.
Mrs. Drake hatte immerzu etwas an mir auszusetzen, es
war nicht zu ertragen, und dann hat sie noch verlangt,
ich sollte den Sommer über mit aufs Land kommen, wo
sich die Füchse gute Nacht sagen – nicht einmal eine
gute Autobusverbindung hat es dort gegeben! Da ist sie
eklig geworden wegen meines Zeugnisses und hat
behauptet, ich hätte soviel zerbrochen, und ich habe ihr

210
spöttisch geantwortet, daß ich mir auf jeden Fall eine
Stelle suchen würde, wo die Leute nicht abgemurkst
werden. Ich habe furchtbare Angst bekommen, wie ich
es gesagt hatte, aber sie hat gar nicht richtig aufgepaßt.
Vielleicht hätte ich es damals melden sollen – aber ich
konnte nicht. Ich hatte plötzlich die Idee: Vielleicht war
alles nur ein Scherz. Man sagt manchmal alles
mögliche, und Mr. Browne war eigentlich immer so ein
netter Gentleman und hat gern Späße gemacht – also
hatte ich mich vielleicht geirrt, nicht wahr?«
Race gab zu, daß man es auch von dieser Seite
betrachten konnte. Dann sagte er: »Mrs. Barton hat
davon gesprochen, daß Browne nicht sein richtiger
Name sei. Hat sie seinen richtigen Namen genannt?«
»Ja, das hat sie. Denn er hat gesagt: ›Denk nicht mehr
an Tony‹ – ja, was war es nun? Tony Soundso... Ich
habe dabei an die Kirschkonfitüre denken müssen, die
die Köchin ein paar Tage zuvor gemacht hatte. Mit
einem ›M‹ hat es begonnen. Ausländisch klang es.«
»Zerbrechen Sie sich nicht weiter den Kopf darüber.
Der Name wird Ihnen schon wieder einfallen. Hier ist
meine Visitenkarte mit meiner Adresse. Wenn Ihnen
der Name einfällt, schreiben Sie mir dorthin.«
Er gab ihr die Karte und dazu eine Pfundnote.
»Das will ich gern tun – danke vielmals, Sir.«
Ein richtiger Gentleman, dachte sie, während sie die
Treppe hinunterlief. Eine Pfundnote – nicht etwa nur
zehn Shilling! Hübsch muß es damals gewesen sein, als
es noch Goldstücke gab...
Mary Rees-Talbot kam ins Zimmer zurück.
»Nun: Erfolg gehabt?«

211
»Ja, aber es muß noch ein Hindernis überwunden
werden. Können Sie mit ihrem Scharfsinn mir helfen?
Können Sie sich einen Namen vorstellen, der an
Kirschkonfitüre erinnert?«
»Das ist allerdings eine schwierige Aufgabe.«
»Denken Sie nach, Mary. Ich verstehe nichts von der
Hauswirtschaft. Konzentrieren Sie sich auf das
Einkochen von Konfitüre, speziell von Kirsch-
konfitüre.«
»Diese Konfitüre macht man gar nicht oft.«
»Warum nicht?«
»Nun, weil sie häufig so unangenehm süß wird, es sei
denn, man verwendet Kochkirschen – Morellen.«
»Das ist es«, rief Race aus. »Ich möchte wetten, daß es
das ist! Darf ich klingeln, damit das Mädchen kommt
und mir die Haustür aufmacht?«
Mrs. Rees-Talbot rief ihm nach, während er aus dem
Zimmer eilte: »Sie undankbarer Kerl! Wollen Sie mir
denn gar nicht erzählen, um was es geht?«
Er rief zurück: »Ich komme Sie wieder besuchen und
erzähle Ihnen haarklein die ganze Geschichte!«
»Ja, wer's glaubt«, murmelte Mrs. Rees-Talbot.
Unten wartete Betty mit Races Stock und Hut. Er nahm
seine Sachen und ging hinaus. Auf der Schwelle blieb
er stehen und fragte: »Übrigens – war der Name
vielleicht Morelli?«
Über Bettys Gesicht kam es wie eine Erleuchtung.
»Richtig, Sir – das war der Name, Tony Morelli, den
sollte Mrs. Barton vergessen. Und er hat auch gesagt, er
sei im Gefängnis gewesen.«
Race ging lächelnd die Stufen hinunter. Von der

212
nächsten Telefonzelle aus rief er Kemp an. Ihr
Gespräch war kurz, aber zufriedenstellend. Schließlich
sagte Kemp: »Ich werde sofort telegrafieren, dann
wissen wir bald Bescheid. Ich muß sagen, ich wäre sehr
erleichtert, wenn Sie recht hätten.«
»Ich glaube, ich habe recht. Was sich daraus ergibt, ist
ziemlich klar.«

20

Chefinspektor Kemp war nicht in bester Laune.


Während der letzten halben Stunde hatte er ein
verängstigtes weißes Kaninchen von sechzehn Jahren
verhört, das mit Hilfe seines Onkel Charles danach
strebte, ein Kellner von der Art zu werden, wie sie das
Luxembourg verlangt. Vorläufig war der junge Mann
aber nur einer der sechs untergeordneten Sklaven, die
weiße Schürzen um die Taille gebunden trugen, um sie
von den höheren Chargen zu unterscheiden, und deren
Pflichten darin bestanden, an allem schuld zu sein,
Brötchen und Butterkügelchen heranzuschaffen und
sich dauernd auf französisch, italienisch oder manch-
mal sogar auch englisch anzischen zu lassen. Wie es
einem großen Mann wohl ansteht, ließ Charles seinem
Neffen nicht nur keine bevorzugte Behandlung ange-
deihen, sondern zischte, schnauzte und fluchte ihn noch
mehr an, als er es bei den anderen tat. Dennoch ließ
Pierre im Herzen nicht ab von dem Traum, eines Tages
in ferner Zukunft selbst nichts Geringeres zu sein als
der Oberkellner eines piekfeinen Restaurants.

213
Im Augenblick hatte seine Karriere freilich einen
schweren Rückschlag erlitten: Soweit er begriff, stand
er regelrecht unter Mordverdacht.
Kemp drehte den Jungen um wie einen Handschuh,
mußte sich aber schließlich zu seinem Leidwesen
davon überzeugen, daß Pierre wirklich nur das getan
hatte, was er selbst zugab: nämlich eine Damenhand-
tasche vom Fußboden aufgehoben und neben den Teller
auf den Tisch gelegt zu haben.
»Es war, als ich mit der Sauce zu Monsieur Robert
gelaufen bin — er war schon ungeduldig –, da hat die
junge Dame ihre Handtasche vom Tisch gefegt, wie sie
zum Tanzen aufgestanden ist. Ich hebe also die
Handtasche auf und lege sie auf den Tisch, und dann
laufe ich mit der Sauce weiter, denn Monsieur Robert
ist schon wütend und macht mir Zeichen. Das ist alles.«
Und es war auch tatsächlich alles. Kemp entließ ihn
widerwillig und unterdrückte dabei den lebhaften
Wunsch, ihm die Mahnung: »Aber lassen Sie sich nicht
ein zweites Mal bei so etwas erwischen!« auf den Weg
mitzugeben.
Sergeant Pollock brachte eine neue Ablenkung, indem
er verkündete, eine junge Dame verlange den Inspektor
zu sprechen, der den Fall Luxembourg bearbeite.
»Wer ist die Dame?«
»Sie heißt Chloe West.«
»Führen Sie sie herauf«, sagte Kemp resigniert. »Ich
habe zehn Minuten Zeit für sie. Dann kommt Mr.
Farraday. Nun, der kann ruhig ein paar Minuten warten.
Man muß die Leute ein bißchen zappeln lassen.«
Als Miss Chloe West ins Zimmer trat, hatte Kemp

214
schlagartig den Eindruck, er kenne sie. Aber beim
näheren Hinsehen besann er sich eines Besseren. Nein,
die Frau hatte er nie gesehen, dessen war er sicher.
Trotzdem hörte das unbestimmte Gefühl, ein bekanntes
Gesicht vor sich zu haben, nicht auf, ihn zu quälen.
Miss West war etwa fünfundzwanzig Jahre alt, groß,
braunhaarig und sehr hübsch. Sie hatte eine gesucht
deutliche Aussprache und schien entschieden nervös.
Kemp sagte rasch und geschäftsmäßig: »Nun, Miss
West, was kann ich für Sie tun?«
»Ich habe in der Zeitung über das Luxembourg gelesen
– über den Todesfall, der sich gestern abend dort
ereignet hat.«
»Mr. George Barton, ja? Haben Sie ihn gekannt?«
»Nicht eigentlich gekannt – ich meine, nicht gut
gekannt.«
Kemp sah sie aufmerksam an und kam zu dem Schluß,
daß er sich geirrt hatte. Chloe West machte einen
äußerst seriösen und tugendhaften Eindruck – ganz
entschieden. Er sagte liebenswürdig: »Würden Sie mir
erst einmal Ihren vollen Namen und Ihre Adresse
angeben?«
»Chloe Elisabeth West, Merryvale Court 15, Maida
Vale. Ich bin Schauspielerin.«
Kemp sah sie noch mal von der Seite her an und stellte
fest, daß ihre Berufsangabe wahrscheinlich stimmte.
Trotz ihres Aussehens schien sie eine ernsthafte
Künstlerin zu sein.
»Ja, Miss West?«
»Als ich über Mr. Bartons plötzlichen Tod las, und daß
die Polizei eine Untersuchung eingeleitet hat, ist mir

215
der Gedanke gekommen, daß ich Ihnen vielleicht etwas
erzählen müßte. Ich habe mich mit meiner Freundin
darüber beraten, und sie war auch dieser Meinung. Ich
nehme nicht an, daß es irgend etwas mit der Sache zu
tun hat, aber –« Miss West hielt inne.
»Das können wir selbst am besten beurteilen«, sagte
Kemp freundlich. »Erzählen Sie mir nur ruhig alles.«
»Ich habe augenblicklich kein Engagement«, erklärte
Miss West, »aber mein Name ist bei den Agenten
bekannt, und ein Foto von mir ist unlängst in einer
Theaterzeitschrift erschienen – dort hat es Mr. Barton,
wenn ich nicht irre, gesehen. Er hat sich mit mir in
Verbindung gesetzt und wollte mir einen Auftrag
erteilen.«
»Ja?«
»Er hat mir gesagt, daß er ein Essen im Luxembourg
geben und dabei seinen Gästen eine Überraschung
bereiten wollte. Er hat mir eine Fotografie gezeigt, und
ich sollte mich möglichst ähnlich wie das Original
herrichten. Meine Farben seien ungefähr die gleichen,
sagte er.«
Eine Erleuchtung schoß Kemp durch den Kopf. Die
Fotografie von Rosemarie, die er auf Bartons Schreib-
tisch am Elvaston Square gesehen hatte! Daran hatte
die Frau ihn erinnert! Sie sah Rosemarie Barton
tatsächlich ähnlich – nicht gerade in verblüffender
Weise, aber immerhin.
»Er brachte mir auch ein Kleid, das ich anziehen sollte
– ich habe es hier bei mir. Grünlichgraue Seide. Ich
sollte mich genauso frisieren wie die Frau auf dem Bild
– es war ein Farbfoto – und die Ähnlichkeit durch

216
Schminktricks möglichst unterstreichen. Dann sollte ich
ins Luxembourg kommen, während der ersten Cabaret-
vorstellung ins Restaurant gehen und mich auf den
freien Platz an Mr. Bartons Tisch setzen. Er hat mich
zum Mittagessen dort eingeladen und mir gezeigt, wo
sein Tisch sein würde.«
»Und warum haben Sie die Verabredung nicht einge-
halten, Miss West?«
»Weil mich gestern abend um acht jemand – Mr.
Barton – angerufen und mir gesagt hat, die ganze Sache
sei verschoben, und er würde mich wissen lassen, an
welchem Tag das Essen stattfinden sollte.«
»Es war sehr vernünftig von Ihnen, Miss West, zu uns
zu kommen«, sagte Kemp liebenswürdig. »Ich danke
Ihnen jedenfalls sehr – Sie haben wenigstens eines von
den vielen Geheimnissen aufgeklärt, das Geheimnis des
leeren Stuhls. Übrigens haben Sie eben zuerst ›jemand‹
und dann ›Mr. Barton‹ gesagt – warum...?«
»Weil ich zuerst nicht erkannt hatte, daß mich Mr.
Barton anrief. Seine Stimme klang anders als sonst.«
»Es war aber eine Männerstimme?«
»O ja, ich glaube schon – das heißt – die Stimme klang
ziemlich heiser, als sei der Betreffende erkältet.«
»Und sonst hat er am Telefon nichts gesagt?«
»Sonst nichts.«
Kemp stellte ihr noch einige Fragen, kam aber nicht
viel weiter. Als Chloe West gegangen war, sagte er zu
dem Sergeant: »Das also war Bartons berühmter Plan.
Ich verstehe jetzt, warum alle sagen, er hätte nach dem
Cabaret auf den leeren Stuhl gestarrt und einen nach-
denklichen, verwunderten Eindruck gemacht. Sein

217
kostbarer Plan war geplatzt.«
»Sie glauben nicht, daß Barton selbst ihr abgesagt hat?«
»Keine Spur. Ich bin noch nicht einmal überzeugt, daß
ein Mann am Telefon war. Heiserkeit ist in solchen
Fällen ein gutes Mittel, um die Stimme zu verstellen –
wenigstens kommen wir ein bißchen vorwärts.
Schicken Sie Mr. Farraday herein, wenn er da ist.«

21

Äußerlich kühl und ruhig, hatte Stephen Farraday das


Polizeipräsidium unter großem inneren Druck betreten.
Eine unerträgliche Last lag auf ihm. Am Morgen hatte
es so ausgesehen, als liefe alles bestens. Warum hatte
Inspektor Kemp mit so bedeutungsvoller Betonung
seine Anwesenheit in Scotland Yard gewünscht? Was
wußte er, oder welchen Verdacht hatte er? Es konnte
nur ein ganz unbestimmter Verdacht sein. Man durfte
den Kopf nicht verlieren und nichts zugeben. Ohne
Sandra kam er sich sonderbar einsam und verlassen
vor. Es war, als verliere eine Gefahr die Hälfte ihrer
Schrecken, wenn sie ihr beide zusammen gegenüber-
standen. Allein war er nichts, weniger als nichts. Und
Sandra – hatte sie das gleiche Gefühl? Saß sie jetzt
schweigend im Haus Kidderminster, stolz, unnahbar
und doch innerlich mit dem Gefühl furchtbarer
Verwundbarkeit?
Inspektor Kemp empfing ihn freundlich, aber ernst. Es
war ein uniformierter Beamter da, der mit Bleistift und
Papier an einem Tischchen saß. Kemp begann in streng

218
sachlichem Ton zu sprechen.
»Ich habe die Absicht, Mr. Farraday, ein Protokoll Ihrer
Aussage aufzunehmen. Hinterher werde ich Sie bitten,
das Protokoll durchzulesen und zu unterschreiben, ehe
Sie fortgehen. Zugleich ist es meine Pflicht, Ihnen zu
eröffnen, daß Sie die Aussage verweigern können und
daß Sie das Recht haben, Ihren Anwalt beizuziehen,
falls Sie das wünschen.«
Stephen erschrak, zeigte es aber nicht. Er zwang sich zu
einem matten Lächeln.
»Das klingt ja furchtbar, Chefinspektor.«
»Ich möchte, daß es kein Mißverständnis gibt, Mr.
Farraday.«
»Alles, was ich sage, kann gegen mich verwendet
werden – das ist doch wohl die Formel, nicht wahr?«
»Das Wort ›gegen‹ gebrauchen wir nicht. Alles, was
Sie sagen, kann als Beweismittel verwendet werden.«
Stephen antwortete ruhig: »Ich verstehe, Inspektor, aber
ich kann mir nicht denken, wozu Sie eine nochmalige
Aussage von mir brauchen? Was ich zu sagen hatte,
haben Sie schon gehört.«
»Das war eine ganz formlose Zusammenkunft –
nützlich als vorläufige Information. Außerdem, Mr.
Farraday, gibt es verschiedene Dinge, von denen ich
mir vorstelle, daß Sie die lieber hier allein mit mir
besprechen. Ich nehme an, Sie verstehen, worauf ich
hinauswill.«
»Ich fürchte, nein.«
Chefinspektor Kemp seufzte. »Also: Sie haben mit der
verstorbenen Mrs. Barton auf sehr intimem Fuß
gestanden.«

219
Stephen unterbrach ihn. »Wer behauptet das?«
Kemp lehnte sich vor und nahm ein maschinenge-
schriebenes Dokument zur Hand. »Dies ist die
Abschrift eines Briefes, der unter den Sachen der
Verstorbenen gefunden worden ist. Das Original
befindet sich bei unseren Akten und ist uns von Miss
Iris Marle übergeben worden, die ausgesagt hat, daß es
sich um die Handschrift ihrer Schwester handelt.«
Stephen las: »Leopard, Liebling...«
Eine Welle der Übelkeit durchlief ihn. Er hörte
Rosemarie sprechen – bitten. Starb denn die
Vergangenheit nie? Ließ sie sich niemals begraben? Er
riß sich zusammen und schaute Kemp an. »Es mag ja
sein, daß Mrs. Barton diesen Brief geschrieben hat –
aber nichts deutet darauf hin, daß er an mich gerichtet
ist.«
»Bestreiten Sie, daß Sie die Miete für die Wohnung
Mallard Mansions 15 Earls Court bezahlt haben?«
Sie wußten es also! Er fragte sich im stillen, ob sie es
schon die ganze Zeit gewußt hatten. Er zuckte die
Achseln. »Sie scheinen sehr gut informiert zu sein. Darf
ich fragen, warum meine Privatangelegenheiten
dermaßen an die Öffentlichkeit gezerrt werden?«
»Ihre Privatangelegenheiten werden nicht an die
Öffentlichkeit gezerrt, falls sie sich als unerheblich für
den Tod von George Barton erweisen.«
»Ich verstehe. Sie behaupten, daß ich erst mit seiner
Frau ein Verhältnis gehabt und dann ihn umgebracht
habe.«
»Kommen Sie, Mr. Farraday, ich will offen zu Ihnen
sein. Sie und Mrs. Barton waren sehr eng befreundet,

220
und Sie haben sich auf ihren Wunsch, nicht auf den
Mrs. Bartons, getrennt. Wie dieser Brief zeigt, wollte
sie Ihnen Schwierigkeiten machen. Mrs. Bartons Tod
kam Ihnen sehr gelegen.«
»Sie hat sich das Leben genommen. Das mag teilweise
meine Schuld gewesen sein. Ich habe mir vielleicht
Vorwürfe zu machen, aber die Justiz geht die Sache
nichts an.«
»Möglicherweise war es Selbstmord – möglicherweise
aber auch nicht. Mr. Barton war der Meinung, daß es
kein Selbstmord war. Er begann Nachforschungen
anzustellen – und kam dabei selbst um. Daraus lassen
sich gewisse Schlüsse ziehen.«
»Ich sehe nicht ein, warum Sie es ausgerechnet auf
mich abgesehen haben.«
»Nun, Sie müssen doch zugeben, daß Mrs. Bartons Tod
in einem für Sie sehr günstigen Augenblick eingetreten
ist. Ein offener Skandal, Mr. Farraday, hätte Ihrer
Karriere außerordentlich geschadet.«
»Es hätte keinen Skandal gegeben. Mrs. Barton hätte
Vernunft angenommen.«
»Wer weiß? War Ihre Frau über die Sache informiert,
Mr. Farraday...?«
»Natürlich nicht.«
»Sind Sie dessen ganz sicher?«
»Ja, das bin ich. Meine Frau hat keine Ahnung, daß
zwischen Mrs. Barton und mir etwas anderes als
Freundschaft war. Ich hoffe auch, daß sie es nie
erfährt.«
»Neigt Ihre Frau zur Eifersucht?«
»Ganz und gar nicht. Was mich anbetrifft, hat sie nie

221
die geringste Eifersucht gezeigt. Dazu ist sie viel zu
vernünftig.«
Der Inspektor gab darauf keine Antwort. Statt dessen
sagte er: »Haben Sie zu irgendeiner Zeit im vergan-
genen Jahr Zyankali in Ihrem Besitz gehabt, Mr.
Farraday?«
»Nein.«
»Aber Sie haben einen Vorrat davon auf Ihrem
Landsitz?«
»Vielleicht der Gärtner. Ich weiß davon nichts.«
»Und Sie haben nie welches in der Apotheke oder für
fotografische Zwecke gekauft?«
»Ich verstehe nichts vom Fotografieren und wiederhole,
daß ich nie Zyankali in meinem Besitz gehabt habe.«
Kemp befragte Stephen noch eine Weile weiter, entließ
ihn dann aber schließlich.
Zu seinem Untergebenen sagte er nachdenklich: »Mit
der Versicherung, daß seine Frau nichts über sein
Verhältnis mit der Barton gewußt hat, war er sehr
schnell bei der Hand. Warum wohl?«
»Wahrscheinlich hat er Angst, sie könnte etwas davon
erfahren, Chefinspektor.«
Kemp schüttelte nachdenklich den Kopf. Stephen
Farraday war nicht dumm. Er besaß einen klaren,
scharfen Verstand. Und er hatte sich sichtlich die
größte Mühe gegeben, bei Kemp den Eindruck zu
erwecken, daß Sandra von nichts wußte – warum?
»Nun«, sagte Kemp, »Colonel Race scheint sehr
zufrieden zu sein mit dem, was er ausgetüftelt hat, und
wenn er recht hat, scheiden die Farradays aus – alle
beide. Mich würde das nur freuen. Ich mag den Mann

222
und halte ihn nicht für einen Mörder.«

Stephen öffnete die Tür zum Wohnzimmer.


»Sandra?«
Sie kam aus der Dunkelheit auf ihn zu und legte ihm
die Hände auf die Schultern.
»Stephen?«
»Warum sitzt du hier im Dunkeln?«
»Ich konnte das Licht nicht ertragen. Erzähle.«
»Die Polizei weiß Bescheid.«
»Über Rosemarie?«
»Ja.«
»Und was denkt die Polizei?«
»Sie denkt natürlich, daß ich ein Motiv gehabt habe.
Ach, Darling, schau, in was ich dich da hineingezogen
habe! Es ist alles meine Schuld. Wenn ich nur nach
Rosemaries Tod alle Brücken abgebrochen – dich
freigegeben hätte! Dann wärst du jetzt nicht in diese
scheußliche Geschichte verwickelt.«
»Du darfst mich nicht verlasssen – niemals!«
Sie klammerte sich an ihn, sie weinte – die Tränen
liefen ihr über die Wangen. Er fühlte, wie ein Zittern
sie erschauern ließ.
»Du bist mein Leben, Stephen, mein ganzes Leben –
verlaß mich nicht!«
»Liebst du mich so sehr, Sandra? Ich habe es nicht ge-
wußt ...«
»Ich wollte nicht, daß du es weißt. Aber jetzt...«
»Ja, jetzt – wir gehören zusammen, Sandra. Wir wollen
den Dingen gemeinsam ins Auge sehen – gemeinsam,
was auch kommen mag!«

223
Sie fühlten sich beide plötzlich stark, während sie eng
umschlungen in der Dunkelheit standen.
Sandra murmelte: »Wir lassen uns unser Leben nicht
zerstören! Niemals!«

22

Anthony Browne betrachtete die Visitenkarte, die ihm


der kleine Hotelpage entgegenhielt. Er runzelte die
Stirn und zuckte schließlich die Achseln. »Schön –
führen Sie den Herrn herauf.«
Als Colonel Race ins Zimmer trat, stand Anthony am
Fenster, und die helle Sonne schien ihm schräg über die
Schulter. Er sah sich einem großen, soldatisch
wirkenden Mann mit zerfurchtem bronzefarbenem
Gesicht und eisgrauem Haar gegenüber – einem Mann,
den er schon einmal, vor langen Jahren, gesehen hatte
und von dem er eine ganze Menge wußte.
Race sah eine dunkle, sehnige Gestalt und den Umriß
eines gutgeformten Kopfes vor sich. Eine liebens-
würdige, beiläufig klingende Stimme sagte: »Colonel
Race? Ich weiß, Sie waren ein Freund von George
Barton. Er hat noch am letzten Abend von Ihnen
gesprochen. Nehmen Sie eine Zigarette?«
»Danke, sehr gern.«
Anthony sagte, als er ihm Feuer gab: »Sie waren der
Gast, der noch erwartet wurde, aber nicht erschienen ist
– eigentlich haben Sie Glück gehabt.«
»Sie irren sich – der leere Platz war nicht für mich be-
stimmt.«

224
Anthony machte ein überraschtes Gesicht.
»Tatsächlich? Barton hat gesagt...«
Race fiel ihm ins Wort. »Barton mag das wohl gesagt
haben, aber er hatte ganz andere Pläne. Auf den leeren
Platz, Mr. Browne, sollte sich beim Ausgehen der
Lichter eine Schauspielerin namens Chloe West
setzen.«
Anthony sah ihn an. »Chloe West? Nie gehört. Wer ist
das?«
»Eine junge, ziemlich unbekannte Schauspielerin, die
eine gewisse Ähnlichkeit mit Rosemarie Barton
besitzt.«
Anthony stieß einen Pfiff aus. »Ich fange an zu
verstehen.«
»Man gab ihr eine Fotografie von Rosemarie, damit sie
sich entsprechend frisieren sollte, und sie bekam auch
das Kleid, das Rosemarie am Abend ihres Todes
getragen hatte.«
»Das war also Georges Plan! Die Lichter gehen wieder
an – Hokuspokus: übernatürliche Kräfte – alles
schnappt nach Luft – Rosemarie ist aus dem Grabe
auferstanden! Die schuldige Person stößt einen Schrei
aus und legt ein Geständnis ab!«
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Miserabel –
selbst für einen Esel wie den guten George.«
»Ich verstehe nicht ganz...«
Anthony grinste. »Aber mein lieber Colonel – ein
hartgesottener Verbrecher benimmt sich doch nicht wie
ein hysterisches Schulmädchen! Wenn jemand
Rosemarie Barton kaltblütig vergiftet hatte und gerade
damit beschäftigt war, George Barton ebenfalls eine

225
tödliche Dosis Zyankali beizubringen – dann muß das
ein Mensch mit verhältnismäßig guten Nerven sein. Um
einen solchen Menschen aus der Fassung zu bringen,
braucht man etwas mehr als eine Schauspielerin, die
sich als Rosemarie verkleidet hat.«
»Denken Sie daran, daß Macbeth – entschieden ein
hartgesottener Bursche – vollkommen den Kopf
verliert, als er Banquos Geist auf dem Fest sieht.«
»Ja – aber was Macbeth sieht, ist tatsächlich ein Geist!
Nicht ein Schmierenschauspieler in Banquos Kostüm!
Ich bin bereit zuzugeben, daß ein wirkliches Gespenst
seine eigene Atmosphäre aus der Geisterwelt mitbringt.
Ich bin sogar bereit zuzugeben, daß ich an Gespenster
glaube, und zwar seit einem halben Jahr – vor allem an
ein bestimmtes Gespenst.«
»So – und wessen Gespenst ist das?«
»Rosemarie Bartons Gespenst. Lachen Sie, wenn Sie
wollen. Ich habe Rosemaries Geist nicht gesehen – aber
ich habe seine Anwesenheit gespürt. Aus irgendeinem
unerfindlichen Grunde kann die arme Seele Rosemarie
nicht zur Ruhe kommen.«
»Dafür könnte ich Ihnen eine Erklärung geben.«
»Meinen Sie, weil sie ermordet worden ist?«
»Ja, oder mit anderen Worten: um die Ecke gebracht.
Was halten Sie davon, Mr. Tony Morelli?«
Einen Augenblick herrschte lautlose Stille. Anthony
setzte sich, warf seine Zigarette in den Kamin und
zündete sich eine neue an. Dann fragte er: »Wie haben
Sie das herausgebracht?«
»Sie geben also zu, daß Sie Tony Morelli sind?«
»Es würde mir nicht im Traum einfallen, mit Leugnen

226
Zeit zu verschwenden. Offenbar haben Sie nach
Amerika gekabelt und sich die nötigen Informationen
besorgt.«
»Und Sie geben auch folgendes zu: Als Rosemarie
Barton Ihren richtigen Namen entdeckte, drohten Sie
ihr, sie um die Ecke zu bringen, falls sie den Mund
nicht halten würde?«
»Ich habe alles versucht, um ihr Angst einzujagen und
sie dadurch zum Schweigen zu bringen«, bestätigte
Tony.
Ein sonderbares Gefühl überkam Race. Diese Unter-
redung verlief nicht so, wie sie verlaufen sollte. Er sah
den Mann an, der sich ihm gegenüber im Sessel räkelte
– und ihn beschlich ein eigenartiges Gefühl.
»Soll ich einmal erzählen, was ich über Sie weiß,
Morelli?«
»Das wäre vielleicht ganz lustig.«
»Sie sind in den Vereinigten Staaten wegen versuchter
Sabotage in den Ericsen-Flugzeugwerken zu einer
Gefängnisstrafe verurteilt worden. Nach Ablauf der
Strafzeit wurden Sie entlassen, und die Behörden haben
Sie aus den Augen verloren. Dann sind Sie in London
aufgetaucht und haben unter dem Namen Anthony
Browne im Claridge gewohnt. Dort haben Sie Bekannt-
schaft mit Lord Dewsbury geschlossen und durch ihn
eine Reihe weiterer prominenter Rüstungsindustrieller
kennengelernt. Sie haben bei dieser Gelegenheit
gewisse Dinge gesehen, die man Ihnen nie hätte zeigen
dürfen. Es ist ein merkwürdiger Zufall, Morelli, daß es
unmittelbar nach Ihren Besuchen in verschiedenen
wichtigen Werken und Fabriken dort zu unerklärlichen

227
Unfällen gekommen ist, von denen ein Teil zu
schweren Katastrophen hätte führen können.«
»Der Zufall«, sagte Anthony, »spielt manchmal höchst
eigenartig.«
»Schließlich sind Sie nach einiger Zeit wieder in
London erschienen und haben Ihre Bekanntschaft mit
Iris Marle erneuert. Dabei haben Sie es durch allerlei
Ausreden vermieden, Mr. Bartons Haus zu besuchen,
damit die Familie nicht erfuhr, wie eng Ihre Freund-
schaft mit Iris zu werden begann. Schließlich haben Sie
versucht, Iris zu einer geheimen Trauung zu über-
reden.«
»Wissen Sie«, sagte Anthony, »es ist wirklich
erstaunlich, wie Sie alle diese Sachen herausgekriegt
haben. Ich meine jetzt nicht das mit der Rüstungs-
industrie, sondern meine Drohung gegen Rosemarie
und die süßen Liebesworte, die ich Iris ins Ohr
geflüstert habe. Die fallen doch eigentlich nicht unter
die Kompetenz der Abteilung M.I.5?«
Race warf ihm einen scharfen Blick zu. »Sie haben eine
Menge Dinge aufzuklären, Morelli.«
»Ganz und gar nicht. Angenommen, es stimmt alles,
was Sie sagen: was dann? Ich habe eine Gefängnis-
strafe abgesessen. Ich habe ein paar interessante
Bekanntschaften gemacht. Ich habe mich in ein
entzückendes Mädchen verliebt und bin natürlich wild
darauf, sie zu heiraten.«
»So wild, daß es Ihnen lieber wäre, wenn die Trauung
stattfinden würde, bevor die Familie des Mädchens
Näheres über Ihre Vergangenheit erfährt. Iris Marle ist
ein sehr reiches junges Mädchen.«

228
Anthony nickte freundlich.
»Ich weiß. Wenn irgendwo Geld sitzt, neigen die
Familien dazu, furchtbar neugierig zu sein. Und Iris,
verstehen Sie, weiß nichts von meiner dunklen
Vergangenheit. Offen gesagt, möchte ich auch nicht,
daß sie davon erfährt.«
»Ich fürchte, sie wird alles darüber erfahren.«
»Jammerschade«, meinte Anthony.
»Anscheinend ist Ihnen nicht klar...«
Anthony fiel ihm lachend ins Wort.
»Doch, doch! Sie brauchen für mich nicht den Punkt
auf das I zu setzen! Rosemarie Barton hat von meiner
verbrecherischen Vergangenheit gewußt: Also habe ich
sie umgebracht. George Barton begann Verdacht gegen
mich zu schöpfen: Also habe ich ihn umgebracht. Und
jetzt bin ich hinter Iris' Moneten her! Es ist alles
wunderschön und logisch – aber Sie haben nicht den
Schatten eines Beweises gegen mich.«
Race sah ihn eine Weile aufmerksam an. Dann stand er
auf. »Alles, was ich gesagt habe, stimmt«, sagte er.
»Und doch ist alles verkehrt.«
Anthony beobachtete ihn scharf. »Was ist verkehrt?«
»Sie sind verkehrt.« Race ging langsam im Zimmer auf
und ab. »Alles hat sehr schön zusammengepaßt, bis zu
dem Augenblick, da ich Sie gesehen habe. Aber jetzt,
da ich Sie sehe, stimmt es nicht mehr. Sie sind kein
Schwindler. Und wenn Sie kein Schwindler sind, dann
sind Sie einer von uns. Habe ich recht?«
Anthony sah ihn schweigend an. Sein Gesicht verzog
sich zu einem breiten Lächeln.
»Ja – komisch, wie man sich untereinander erkennt.

229
Deshalb bin ich Ihnen auch immer ausgewichen. Ich
hatte Angst, Sie würden merken, wer ich bin. Und es
war wichtig, daß niemand das ahnte, sehr wichtig sogar
– bis gestern. Jetzt ist die Bombe zum Glück geplatzt.
Die ganze Bande von Saboteuren ist uns ins Netz
gegangen. Ich habe an diesem Auftrag seit drei Jahren
gearbeitet, Versammlungen besucht, unter Arbeitern
agitiert und mir das richtige Renommee aufgebaut.
Schließlich wurde vereinbart, daß ich einen schweren
Sabotageakt begehen und zu einer Gefängnisstrafe
verurteilt werden sollte. Die Sache mußte einen ganz
echten Anstrich haben, damit meine Glaubwürdigkeit
einwandfrei feststand. Als ich aus dem Gefängnis kam,
wurde es lebhaft für mich. Nach und nach kam ich dem
Zentrum der Dinge immer näher – ein großes inter-
nationales Sabotagenetz, das von Mitteleuropa aus
geleitet wurde. Als Agent dieser Leute kam ich nach
London und stieg im Claridge ab. Ich hatte Order, mich
mit Lord Dewsbury gut zu stellen — den eleganten
jungen Mann aus besseren Kreisen zu spielen. Und in
dieser Rolle lernte ich Rosemarie Barton kennen.
Plötzlich entdeckte ich zu meinem Schrecken: Sie hatte
erfahren, daß ich unter dem Namen Tony Morelli in
Amerika im Gefängnis gesessen hatte. Um Rosemarie
hatte ich Angst! Die Leute, mit denen ich scheinbar
zusammenarbeitete, hätten keine Sekunde gezögert,
Rosemarie umzubringen, wenn sie davon gewußt
hätten. Ich tat mein möglichstes, um ihr Angst
einzujagen und sie dadurch zum Schweigen zu
veranlassen – aber viel Hoffnung hatte ich nicht.
Rosemarie war die geborene Schwätzerin. Ich hielt es

230
für das beste, einfach abzuhauen – und dann sah ich Iris
die Treppe herunterkommen und schwor mir,
zurückzukehren und sie zu heiraten, sobald mein
Auftrag ausgeführt war.
Als der aktive Teil meiner Arbeit geleistet war, nahm
ich Fühlung mit Iris auf, hielt mich aber vom Haus
Bartons fern, da ich wußte, daß man sonst Erkundi-
gungen über mich einholen würde, während ich
vorläufig noch in Deckung bleiben mußte. Aber ich
begann mir Sorgen um sie zu machen. Sie sah krank
und ängstlich aus – und zugleich hörte ich von George
Bartons sonderbarem Betragen. Ich drängte sie, von zu
Hause fortzugehen und mich zu heiraten. Nun, sie
wollte nicht. Vielleicht hat sie recht gehabt. Und dann
hat man mich zu dieser Feier eingeladen. Als wir uns
zum Essen setzten, sagte George, daß Sie erscheinen
würden. Da habe ich ihm schnell geantwortet, ich hätte
einen Bekannten getroffen und müßte möglicherweise
früher gehen. Ich hatte tatsächlich einen Mann gesehen,
den ich aus Amerika kannte – er hat mich aber nicht
erkannt –, in Wirklichkeit allerdings wollte ich Ihnen
aus dem Wege gehen. Mein Auftrag war noch nicht
abgeschlossen.
Was dann passiert ist, wissen Sie: George brach tot
zusammen. Ich habe weder mit seinem noch mit
Rosemaries Tod etwas zu tun gehabt. Ich weiß auch
jetzt noch nicht, wer die beiden umgebracht hat.«
»Gar keine Ahnung?«
»Entweder muß es der Kellner gewesen sein oder eine
der fünf Personen am Tisch. Daß es der Kellner war,
glaube ich nicht. Iris oder ich waren es auch nicht.

231
Vielleicht war es Sandra Farraday, vielleicht Stephen
Farraday – vielleicht beide zusammen. Aber am wahr-
scheinlichsten kommt mir Ruth Lessing vor.«
»Können Sie diese Theorie irgendwie belegen?«
»Nein. Die Lessing kommt mir, wie gesagt, am
wahrscheinlichsten vor, aber ich kann mir nicht im
geringsten ein Bild machen, wie sie es getan haben soll.
An beiden Abenden hat sie so am Tisch gesessen, daß
es für sie unmöglich gewesen sein muß, an die
betreffenden Champagnergläser heranzukommen. Je
mehr ich darüber nachdenke, desto fester bin ich davon
überzeugt, daß George bestimmt nicht vergiftet worden
ist – und doch ist er vergiftet worden!« Anthony
überlegte einen Augenblick. »Und noch etwas, das ich
nicht verstehen kann: Haben Sie herausgefunden, wer
die anonymen Briefe geschrieben hat, die George auf
die Spur gebracht haben?«
Race schüttelte den Kopf.
»Nein. Zuerst dachte ich es – aber ich habe mich
geirrt.«
»Das Interessante daran ist nämlich, daß es demnach
irgendwo jemanden gibt, der weiß, daß Rosemarie
ermordet worden ist. Und das heißt, daß der oder die
Betreffende – falls Sie nicht sehr aufpassen – als Opfer
für den nächsten Mord ausersehen ist!«

23

Nach dem, was man ihm am Telefon gesagt hatte,


wußte Anthony, daß Lucilla Drake um fünf Uhr das

232
Haus verlassen würde, um bei einer lieben alten
Freundin Tee zu trinken. Er ließ genügend Spielraum
für eventuelle Zwischenfälle (Umkehren, um das
vergessene Portemonnaie zu holen, Beschluß, auf alle
Fälle doch lieber einen Regenschirm mitzunehmen,
letzte Gespräche an der Haustür) und traf genau
fünfundzwanzig Minuten nach fünf am Elvaston Square
ein. Er wollte Iris sprechen, nicht ihre Tante. Und er
war sich wohl bewußt, daß er wenig Gelegenheit zu
einer solchen Unterhaltung gehabt hätte, wäre Lucilla
daheim gewesen.
Das Stubenmädchen sagte ihm, Iris sei gerade zurück-
gekommen und befinde sich in der Bibliothek.
»Sie brauchen mich nicht anzumelden«, meinte
Anthony. »Ich finde mich schon selbst zurecht.«
Iris fuhr bei seinem Eintreten nervös herum.
»Ach – du bist es!«
Er ging rasch auf sie zu. »Was fehlt dir, Liebes?«
»Nichts.« Nach einem kurzen Zögern wiederholte sie
schnell: »Nichts. Ich bin nur beinahe überfahren
worden. Ach, ich war selber schuld – bin ganz in
Gedanken über die Straße gegangen, ohne auf den Weg
zu achten, und das Auto ist um die Ecke gerast
gekommen und hat mich fast gestreift.«
Er nahm sie bei den Schultern und schüttelte sie sanft.
»Solche Sachen darfst du nicht machen, Iris. Ich mache
mir Sorgen um dich – nein, nicht um deine wunderbare
Errettung vor einem rasenden Auto, sondern weil du
mitten im Straßenverkehr in Gedanken versinkst. Was
ist los, Liebes? Du hast was auf dem Herzen, nicht
wahr?«

233
Sie nickte. Ihre traurig zu ihm erhobenen Augen waren
weit und dunkel vor Furcht. Er hatte es erkannt, ehe sie
schnell und leise sagte: »Ich habe Angst.«
Anthony fand seine lächelnde Ruhe zurück. Er setzte
sich neben Iris auf einen breiten Diwan.
»Komm«, sagte er, »erzähl einmal.«
»Ich möchte es dir lieber nicht erzählen, Anthony.«
»Also, du kleiner Dummkopf, stell dich nicht an wie
die Heldin eines drittklassigen Schundromans, die
schon im ersten Kapitel etwas nicht erzählen kann – nur
um dem Helden Schwierigkeiten zu machen und das
Buch um weitere fünfzigtausend Worte auszuwalzen.«
Iris lächelte schwach. »Ich möchte es dir ja gern
erzählen. Anthony – ich weiß nur nicht, was du darüber
denkst – ob du mir glauben wirst...«
Anthony hob eine Hand in die Höhe und begann an den
Fingern abzuzählen: »Erstens: ein uneheliches Kind.
Zweitens: ein ehemaliger Liebhaber, der dich erpreßt.
Drittens...«
Sie unterbrach empört. »Unsinn. Nichts von alledem.«
»Mir fällt ein Stein vom Herzen«, sagte Anthony.
»Also fang schon an, Närrchen.«
Iris' Gesicht umwölkte sich wieder. »Es ist nichts zum
Lachen. Es betrifft – neulich abend.«
»Ja?« Seine Stimme klang jetzt gespannt.
»Du warst heute bei der Leichenschau – du mußt gehört
haben...« Sie hielt inne.
»Ich habe sehr wenig gehört«, sagte Anthony. »Rein
technische Ausführungen des Polizeiarztes über Zyan-
verbindungen im allgemeinen und die Wirkung des
Zyankali bei George im besonderen; ferner die Beweis-

234
aufnahme durch den Inspektor, der als erster im
Luxembourg erschienen war – nicht Kemp, sondern der
mit dem flotten Schnurrbart; schließlich die Identifi-
zierung von Georges Leiche durch seinen Bürovor-
steher. Dann wurde die Verhandlung durch einen folg-
samen Vorsitzenden um eine Woche vertagt.«
»Ich denke an diesen Inspektor«, sagte Iris. »Er hat
ausgesagt, daß er unter dem Tisch ein kleines Stück
Papier gefunden hat, an dem Spuren von Zyankali
festgestellt wurden.«
Anthony machte ein interessiertes Gesicht. »Ja,
anscheinend ließ die Person, die das Zeug in Georges
Glas gescnüttet hatte, das Papier, in dem es enthalten
gewesen war, unter den Tisch fallen. Das Risiko, daß
das Papier in ihrem Besitz gefunden werden konnte,
war zu groß.«
Zu seiner Überraschung begann Iris heftig zu zittern.
»Nein, nein, Anthony – nein, so war es nicht.«
»Was willst du damit sagen, Liebling? Weißt du etwas
davon?«
»Ich habe das Papier unter den Tisch fallen lassen.«
Er sah sie mit fasssungslosem Erstaunen an.
»Hör zu, Anthony. Du erinnerst dich, wie George
seinen Champagner ausgetrunken hat und dann
zusammengebrochen ist?«
Er nickte.
»Es war gräßlich – wie ein böser Traum. Es kam gerade
in dem Augenblick, da man dachte, alles sei nun in
Ordnung. Ich meine – nach dem Cabaret, als die
Lichter wieder angingen, ohne daß etwas geschehen
war, habe ich mich so erleichtert gefühlt. Denn damals

235
– damals lag ja in diesem Augenblick Rosemarie tot da
– und irgendwie, ich weiß nicht warum, hatte ich das
Gefühl, als wiederhole sich alles... Ich hatte das Gefühl,
sie läge da tot über den Tisch hingestreckt...«
»Liebes...«
»Ja, ich weiß – es waren nur meine Nerven. Auf jeden
Fall saßen wir alle noch da, und nichts Schreckliches
war passiert, und plötzlich schien mir, nun wäre die
ganze Geschichte endlich vorbei und man könnte – wie
soll ich sagen – wieder neu beginnen. Da habe ich mit
George getanzt und das Gefühl gehabt, ich fange
endlich an, mich ein bißchen zu amüsieren. Und dann
hat George plötzlich von Rosemarie gesprochen, und
wir haben auf ihr Gedächtnis getrunken – und auf
einmal war der ganze Alpdruck wieder da.
Ich glaube, ich war wie gelähmt. Ich stand da und
zitterte. Du bist um den Tisch herumgekommen, um
nach George zu sehen; ich trat ein Stückchen zurück,
die Kellner kamen gelaufen, und jemand rief nach
einem Arzt. Die ganze Zeit stand ich da wie erstarrt.
Dann würgte es mich plötzlich im Hals, und die Tränen
liefen mir die Backen herunter, und ich machte meine
Handtasche auf, um ein Taschentuch herauszunehmen.
Ich wühlte bloß in der Handtasche, ohne etwas zu
sehen, und fand mein Taschentuch, aber in dem
Taschentuch hatte sich etwas verfangen – ein gefaltetes
steifes Papier, so eines, in dem man Pulver aus der
Apotheke bekommt. Nur, Anthony: Das Papier war
nicht in meiner Handtasche, als ich von zu Hause
fortging! Die Tasche war ganz leer gewesen, und ich
hatte selbst alles hineingetan: Puderdose, Lippenstift,

236
Taschentuch, den Abendkamm mit dem Futteral und
ein bißchen Kleingeld. Jemand hatte das Papier in
meine Handtasche gesteckt! Und mir fiel ein, daß man
auch in Rosemaries Handtasche nach ihrem Tod so ein
Papierchen gefunden hatte und daß Zyankali drin
gewesen war. Ich bekam Angst, Anthony – furchtbare
Angst. Meine Finger wurden ganz schlaff, und das
Papier flatterte unter den Tisch. Ich ließ es liegen und
habe niemandem etwas davon gesagt. Ich hatte zu
große Angst. Irgendwer wollte den Eindruck erwecken,
ich hätte George umgebracht – und ich hab's doch nicht
getan, Anthony!«
Anthony stieß einen Pfiff aus. »Und niemand hat dich
dabei beobachtet?« fragte er.
Iris schien zu zögern. »Ich weiß nicht genau«, sagte sie
langsam. »Ich glaube, Ruth hat es bemerkt. Aber sie hat
so betäubt ausgesehen, daß ich nicht weiß, ob sie es
wirklich bemerkte oder ob sie mich nur anstarrte.«
Anthony ließ einen weiteren Pfiff hören. »Das«, meinte
er, »ist eine schöne Geschichte!«
Iris sagte: »Ich hatte solche Angst, daß die Polizei es
herausbringen würde.«
»Ich frage mich, wieso deine Fingerabdrücke nicht auf
dem Papier gewesen sind? Denn die Polizei hat doch
das Papier sicher auf Fingerabdrücke untersucht.«
»Wahrscheinlich weil ich das Papier mit dem Taschen-
tuch gehalten habe.«
Anthony nickte. »Ja, da hast du Glück gehabt.«
»Aber wer kann es in meine Handtasche gesteckt
haben? Ich habe die Handtasche den ganzen Abend bei
mir gehabt.«

237
»Das ist nicht so schwer, wie du denkst. Wie du nach
dem Cabaret mit George tanzen gegangen bist, hast du
die Tasche auf dem Tisch liegenlassen. Da hätte sich
jemand wahrscheinlich ganz gut daran zu schaffen
machen können. Und dann die Frauen! Steh doch mal
auf und mach mir vor, wie sich eine Frau in der
Damengarderobe benimmt. Das würde ich gern wissen.
Steht ihr alle zusammen und schwätzt, oder geht jede
an einen anderen Spiegel?«
Iris überlegte. »Wir sind alle zum gleichen Tisch
gegangen – einem langen Tisch mit einer Glasplatte.
Dort haben wir unsere Handtaschen hingelegt und in
den Spiegel geschaut, verstehst du?«
»Nein, eigentlich nicht. Erzähl weiter.«
»Ruth hat sich gepudert, und Sandra hat ihr Haar in
Ordnung gebracht und eine Haarnadel festgesteckt. Ich
habe mein Fuchscape abgelegt und der Garderobenfrau
gegeben. Und dann habe ich bemerkt, daß ich einen
Schmutzfleck auf der Hand hatte, und bin hinüber zum
Waschtisch gegangen.«
»Und hast deine Handtasche auf dem Toilettentisch
liegen lassen.«
»Ja. Dann habe ich mir die Hände gewaschen. Ruth
war, glaube ich, noch mit dem Pudern beschäftigt, und
Sandra hat ihren Umhang abgegeben; dann ist sie
zurück zum Spiegel gegangen, und Ruth kam und hat
sich die Hände gewaschen. Währenddessen bin ich
wieder an den Spiegel gegangen und habe mein Haar
geordnet.«
»So daß also sowohl Ruth als auch Sandra ungesehen
etwas in deine Handtasche hätten stecken können?«

238
»Ja, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß eine von
den beiden so etwas tun würde.«
»Du denkst zu anständig von den Menschen. Sandra ist
eines von diesen gotischen Geschöpfen, die im Mittel-
alter ihre Feinde auf dem Scheiterhaufen verbrannt
haben, und Ruth würde die raffinierteste Giftmischerin
abgeben, die je auf Gottes Erdboden herumgelaufen
ist.«
»Aber wenn es Ruth war – warum hat sie dann nicht
gesagt, daß sie mich das Papier fallen lassen gesehen
hat?«
»Ja – an dem Punkt sitze ich auch fest. Wenn Ruth dir
absichtlich das Zyankali zugesteckt hätte, dann hätte sie
verdammt gut aufgepaßt, daß du es nicht unbeobachtet
losgeworden wärst. Demnach sieht es so aus, als ob es
Ruth nicht gewesen wäre. Tatsächlich ist und bleibt der
weitaus Verdächtigste der Kellner. Der Kellner, der
Kellner! Wenn wir nur einen fremden Kellner hätten,
einen eigenartigen Kellner, einen Kellner, der nur für
einen Abend engagiert war! Aber statt dessen haben wir
Giuseppe und Pierre – und diese beiden passen einfach
nicht ins Bild...«
Iris seufzte. »Ich bin froh, daß ich es dir erzählt habe.
Jetzt wird es nie jemand erfahren, nicht wahr? Nur du
und ich?«
Anthony sah sie mit einem etwas verlegenen Ausdruck
an. »So einfach ist es nicht, Iris. Du mußt sogar jetzt
gleich mit mir zu Kemp fahren. Wir dürfen das nicht
für uns behalten.«
»Nein, Anthony – nein! Die Polizei wird glauben, ich
hätte George umgebracht!«

239
»Das wird sie bestimmt erst recht glauben, wenn sie
später herauskriegt, daß du von der ganzen Sache kein
Sterbenswörtchen gesagt hast! Und dann wird deine
Geschichte sehr mager klingen. Wenn du sie dagegen
freiwillig erzählst, besteht die Wahrscheinlichkeit, daß
man dir glaubt.«
»Ach, bitte, Anthony!«
»Schau her, Iris – du bist in einer schlimmen Lage.
Aber abgesehen von allem anderen gibt es etwas, das
sich die Wahrheit nennt. Du kannst nicht einfach
stillsitzen und schweigen, wenn es um eine so wichtige
Sache geht.«
»Ach, Anthony, muß du wirklich so große Reden
führen...?«
»Das«, antwortete er, »war ein sehr geschickter
Schachzug. Aber zu Kemp fahren wir trotzdem. Und
zwar sofort!«
Widerwillig folgte sie ihm in die Halle. Ihr Mantel lag
hingeworfen über einem Stuhl. Er hielt ihn ihr zum
Anziehen hin. In ihrem Blick lag zugleich Meuterei und
Furcht, aber Anthony zeigte sich unnachgiebig. Er
sagte: »Wir nehmen ein Taxi irgendwo auf der Straße.«
Als sie auf die Eingangstür zugingen, hörten sie die
Hausglocke läuten.
»Ach, das habe ich ganz vergessen«, rief Iris aus. »Es
ist sicher Ruth. Sie sollte nach dem Büro herkommen
und wegen des Begräbnisses mit mir sprechen. Ich habe
gemeint, wir könnten alles besser ohne Tante Lucilla
regeln. Tante Lucilla macht immer so ein Durch-
einander.«
Anthony trat vor und öffnete die Tür, gerade als das

240
Stubenmädchen herbeigelaufen kam.
»Ist schon gut, Evans«, sagte Iris, und das Mädchen
ging wieder.
Ruth sah müde und ein bißchen zerzaust aus. Sie trug
eine große Aktentasche. »Es tut mir leid, daß ich so
spät komme, aber die Untergrundbahn war so furchtbar
voll, und dann mußte ich drei Autobusse abwarten –
und nirgends ein Taxi zu kriegen.«
Sich zu entschuldigen paßte gar nicht zu der tüchtigen
Ruth, fand Anthony. Ein neuer Beweis dafür, daß
Georges Tod diese fast übermenschliche Leistungs-
fähigkeit erschüttert hatte!
»Ich kann jetzt nicht mit dir kommen, Anthony. Ruth
und ich haben eine Menge zu besprechen.«
Anthony sagte mit fester Stimme: »Ich fürchte,
wichtiger ist jetzt das andere... Es tut mir riesig leid,
Miss Lessing, Ihnen Iris zu entführen, aber es handelt
sich um eine Sache von höchster Wichtigkeit.«
Ruth sagte schnell: »Aber selbstverständlich, Mr.
Browne. Ich kann alles mit Mrs. Drake erledigen,
sobald sie heimkommt.« Sie lächelte schwach. »Ich
werde wirklich ganz gut mit ihr fertig, wissen Sie.«
»Ich bin überzeugt, Sie werden mit allen Menschen
fertig, Miss Lessing«, sagte Anthony voll Bewun-
derung.
»Iris – wollen Sie mir Ihre Wünsche mitteilen...?«
»Ich habe keine. Ich hasse Begräbnisse – aber Tante
Lucilla liebt sie! Menschen müssen eben begraben
werden, wenn sie gestorben sind, aber das ganze Drum
und Dran ist gräßlich. Den Toten selbst macht es nichts
mehr aus – sie sind ja weit weg. Die Toten kehren nicht

241
wieder.«
Ruth antwortete nicht, und Iris wiederholte mit einem
sonderbaren, herausfordernden Trotz: »Die Toten
kehren nicht wieder!«
»Komm jetzt, Iris«, sagte Anthony und zog sie durch
die offene Haustür. Ein Taxi kam langsam die Straße
entlanggerollt. Anthony rief es an und half Iris hinein.
»Sag mir, teures Wesen«, meinte er, nachdem er
Scotland Yard als Ziel der Fahrt angegeben hatte,
»wessen Anwesenheit hast du eigentlich dort in der
Halle gespürt, daß du es für nötig befunden hast, mit
lauter Stimme zu versichern, die Toten kämen nicht
wieder? War es George, oder war es Rosemarie?«
»Niemand war es! Gar niemand! Ich hasse bloß
Begräbnisse, sage ich dir!«
Anthony seufzte. »Dann habe ich also entschieden
Halluzinationen!«

24

Drei Männer saßen an einem kleinen runden


Marmortisch. Colonel Race und Chefinspektor Kemp
tranken jeder eine Tasse dunkelbraunen, tanninreichen
Tee. Anthony trank eine Tasse jener Flüssigkeit, die
man sich in einem englischen Lokal als guten Kaffee
vorstellt. Sie entsprach zwar nicht Anthonys Vor-
stellung, aber er nahm das auf sich, gewissermaßen als
Preis dafür, daß die beiden anderen Männer ihn als
ihresgleichen zu der Besprechung zugezogen hatten.
Nach peinlich genauer Prüfung von Anthonys

242
Ausweispapieren hatte Chefinspektor Kemp sich
herbeigelassen, ihn als Kollegen anzuerkennen.
»Wenn Sie mich fragen«, sagte Kemp, warf mehrere
Stück Zucker in sein schwarzes Gebräu und rührte
darin herum, »wird dieser Fall nie vor ein Gericht
kommen. Wir bekommen das Beweismaterial einfach
nicht zusammen.«
»Glauben Sie?« fragte Race.
Kemp nickte düster und trank genießerisch einen
Schluck Tee.
Dann wandte er sich geradezu leutselig an Anthony:
»Übrigens, Mr. Browne – ich nenne Sie weiter so,
wenn es Ihnen nichts ausmacht –, ich bin Ihnen sehr
dankbar, daß Sie Miss Marle heute abend so prompt zu
mir gebracht haben.«
»Es prompt zu tun war der einzige Weg«, sagte
Anthony. »Hätte ich gewartet, dann wäre sie
wahrscheinlich überhaupt nicht mitgekommen.«
»Sie ist natürlich sehr ungern gekommen, nicht wahr?«
»Das arme Kind hatte es schwer mit der Angst
bekommen«, sagte Anthony. »Ist ja auch gut zu
verstehen.«
»Sehr gut«, bekräftigte der Inspektor und goß sich eine
zweite Tasse Tee ein. Anthony nahm vorsichtig ein
Schlückchen Kaffee.
»Nun«, sagte Kemp, »Ich denke, wir haben sie beruhigt
– sie ist sehr erleichtert heimgegangen.«
»Nach dem Begräbnis«, sagte Anthony, »wird sie
hoffentlich ein bißchen aufs Land fahren.
Vierundzwanzig Stunden Ruhe und Frieden in
unerreichbarer Entfernung von Tante Lucillas niemals

243
stillstehender Plapperzunge werden ihr guttun, glaube
ich.«
»Tante Lucillas Zunge hat auch ihr Gutes«, meinte
Race.
»Na, ich danke schön«, sagte Kemp. »Ein Glück, daß
ich keinen Stenographen dabei hatte, als ich sie verhört
habe. Der arme Teufel läge jetzt mit Schreibkrampf im
Spital.«
»Jedenfalls«, sagte Anthony, »dürften Sie recht haben,
Inspektor, wenn Sie vermuten, daß der Fall nie vor
Gericht kommen wird. Das ist ein sehr unbefrie-
digender Abschluß. Und etwas anderes wissen wir auch
noch nicht: Wer hat die Briefe an George Barton
geschrieben, in denen stand, daß seine Frau ermordet
worden ist? Wir haben keine Ahnung, wer das war!«
Race fragte: »Sie haben immer noch den gleichen
Verdacht, Browne?«
»Ruth Lessing? Ja, die ist und bleibt meine Kandidatin.
Sie haben mir selbst gesagt, sie hätte Ihnen gegenüber
zugegeben, daß sie George geliebt hat. Rosemarie hat
sie miserabel behandelt – darin stimmen alle Berichte
überein. Nehmen wir an, sie hat plötzlich eine günstige
Gelegenheit gesehen, Rosemarie aus dem Weg zu
räumen, und sie war überzeugt, George hinterher ohne
weiteres heiraten zu können.«
»Das gebe ich Ihnen alles zu«, sagte Race. »Es ist
richtig, daß Ruth Lessing genügend ruhige, kühle
Umsicht besitzt, um einen Mord zu planen und
durchzuführen, und daß ihr vielleicht jeder Sinn für
Mitleid fehlt. Ja – was den ersten Mord angeht, mögen
Sie recht haben. Aber daß sie auch den zweiten

244
begangen haben soll, kann ich einfach nicht einsehen.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie in sinnloser Angst
den Mann vergiftet haben soll, den sie liebte und
heiraten wollte! Und ein weiterer Punkt, der sie
entlastet: Warum hat sie geschwiegen, wie sie gesehen
hat, daß Iris das Papier mit dem Zyankali unter den
Tisch warf?«
»Vielleicht hat sie es gar nicht gesehen«, wandte
Anthony ein.
»Ich bin so gut wie überzeugt, daß sie es gesehen hat«,
sagte Race. »Als ich mich mit ihr unterhielt, hatte ich
den Eindruck, daß sie mir etwas verheimlichte. Und Iris
Marle glaubt selbst, daß Ruth Lessing es gesehen hat.«
»Nun, und Sie, Colonel Race?« sagte Kemp. »Heraus
mit der Sprache! Sie müssen doch auch einen Verdacht
haben?«
Race nickte.
»Ich halte Iris Marle für die Täterin.«
Mit einem Krach schob Anthony seinen Stuhl zurück.
Sein Gesicht war dunkelrot vor Wut. Dann gewann er
mühsam seine Beherrschung wieder. Als er zu sprechen
begann, vibrierte seine Stimme leicht, klang aber sonst
so spöttisch wie immer. »Diese Möglichkeit wollen wir
unbedingt erörtern«, sagte er. »Warum Iris Marle?
Warum hat sie mir dann freiwillig erzählt, daß sie das
Papier mit dem Zyankali unter den Tisch hat fallen
lassen?«
»Weil sie wußte«, antwortete Race, »daß Ruth Lessing
sie dabei beobachtet hatte.«
Anthony legte den Kopf schief und überlegte. Schließ-
lich nickte er. »Stimmt«, sagte er. »Weiter. Warum

245
betrachten Sie Iris als Hauptverdächtige?«
»Wegen des Motivs«, sagte Race. »Rosemarie hatte ein
großes Vermögen geerbt, an dem Iris keinen Anteil
haben sollte. Wir wissen ja nicht – vielleicht hat sie
jahrelang mit dem Gefühl gekämpft, daß ihr schweres
Unrecht zugefügt worden war. Sie wußte, daß sie erben
würde, wenn Rosemarie kinderlos starb. Und
Rosemarie war deprimiert, unglücklich, erschöpft nach
der überstandenen Krankheit – ganz in der Stimmung,
in der ein eventueller Selbstmord glaubwürdig erschei-
nen mußte.«
»Und mein Wort zählt nicht«, sagte Anthony langsam,
»weil ich Iris liebe. George hat ihr die Briefe gezeigt,
worauf sie es mit der Angst bekommen und ihn umge-
bracht hat – das ist Ihr Gedankengang, nicht wahr...?«
»Ja. Bei Iris würde die Angst die Oberhand gewinnen.«
»Und wie hat sie das Zeug in Georges Glas gehext?«
»Das, muß ich gestehen, weiß ich auch nicht.«
»Ich bin froh, daß es wenigstens etwas gibt, das Sie
nicht wissen.« Anthony kippte seinen Stuhl nach hinten
und wieder vor. Sein Blick war zornig und drohend.
»Ich finde es ziemlich unverschämt von Ihnen, mir das
alles zu sagen.«
Race erwiderte ruhig: »Das mag sein. Aber gesagt
mußte es werden.«
Kemp beobachtete die beiden aufmerksam, mischte
sich aber nicht ein. Er rührte mechanisch in seiner
Teetasse.
»Gut.« Anthony setzte sich wieder gerade hin. »Jetzt
sieht die Sache anders aus. Es geht nicht mehr an, daß
wir hier am Tisch sitzen, ungenießbare Flüssigkeiten zu

246
uns nehmen und akademisch Theorien ventilieren.
Dieser Fall muß gelöst werden. Wir müssen alle
Schwierigkeiten überwinden und die Wahrheit
ergründen. Diese Aufgabe stelle ich mir, und irgendwie
werde ich auch mit ihr fertig werden. Ich muß mich auf
die Dinge konzentrieren, die wir nicht wissen – denn
sobald wir sie einmal wissen, klärt sich alles auf.
Das Problem lautet folgendermaßen: Wer hat gewußt,
daß Rosemarie umgebracht worden war? Wer hat
George geschrieben? Warum wurde ihm das
geschrieben? Was die beiden Morde selbst anbelangt,
so wollen wir den ersten zunächst nicht berück-
sichtigen. Es ist schon zu lange her, und wir können
nicht mehr exakt rekonstruieren, was sich damals
abgespielt hat. Aber der zweite Mord hat vor meinen
Augen stattgefunden. Ich habe ihn gesehen! Deshalb
müßte ich eigentlich wissen, wie er geschehen ist. Der
ideale Zeitpunkt, um das Zyankali in Georges Glas zu
schütten, war während des Cabarets – aber um diese
Zeit kann es nicht geschehen sein, denn er hat
unmittelbar darauf aus seinem Glas getrunken, ohne
daß sich eine Wirkung zeigte. Ich habe ihn selbst
trinken gesehen. Nachdem er getrunken hatte, kann
niemand mehr etwas in sein Glas geschüttet haben.
Niemand hat sein Glas berührt, und trotzdem war das
Zyankali drin, als er das nächste Mal trank. Er kann
nicht vergiftet worden sein – und doch ist er vergiftet
worden! In seinem Glas befand sich Zyankali – aber
niemand kann es hineingeschüttet haben! Kommen wir
voran?«
»Nein«, sagte Chefinspektor Kemp.

247
»Ja«, sagte Anthony. »Die Geschichte ist jetzt auf dem
Gebiet der Zauberkunststücke angelangt. Oder der
Geistererscheinungen. Während wir getanzt haben,
trieb sich Rosemaries Geist in der Nähe von Georges
Glas herum und ließ geschickt etwas materialisiertes
Zyankali hineinfallen – bekanntlich ist jedes Gespenst
mit Leichtigkeit in der Lage, Zyankali aus Ektoplasma
zu fabrizieren. George kommt an den Tisch zurück,
trinkt auf Rosemarie und – heiliger Bimbam!«
Die zwei anderen starrten ihn neugierig an. Er hatte
sich mit beiden Händen an den Kopf gefaßt und
schaukelte in offensichtlicher Verzweiflung hin und
her. Er sagte:
»Das ist es... das ist es... die Handtasche... der Kell-
ner...«
»Der Kellner?« fragte Kemp gespannt.
Anthony schüttelte den Kopf.
»Nein, nein. Ich meine nicht dasselbe wie Sie. Bisher
habe ich geglaubt, wir brauchten einen Kellner, der
kein Kellner war, sondern ein Zauberkünstler – einen
Kellner, der eben erst engagiert war. Statt dessen hatten
wir einen Kellner, der immer schon Kellner gewesen ist
– und einen Piccolo, der aus einer blaublütigen Kellner-
familie stammt, ein Engelchen von einem Kellner, über
jeden Verdacht erhaben. Und der ist immer noch über
jeden Verdacht erhaben – und hat doch eine entschei-
dende Rolle gespielt! Herrgott – er hat sogar die Haupt-
rolle gespielt!«
Er starrte die beiden an.
»Verstehen Sie immer noch nicht? ›Ein‹ Kellner hätte
den Champagner vergiften können – aber ›der‹ Kellner

248
hat es nicht getan. ›Ein‹: unbestimmter Artikel. ›Der‹:
bestimmter Artikel. Georges Glas! George! Zwei
verschiedene Gegenstände. Und das Geld! Eine Menge
Geld! Und wer weiß – vielleicht auch Liebe? Schauen
Sie mich doch nicht so an, als ob ich verrückt geworden
wäre! Kommen Sie, ich will es Ihnen zeigen.«
Er schob den Stuhl zurück, sprang auf und packte
Kemp am Arm. »Kommen Sie mit.«
Kemp warf einen bedauernden Blick auf seine halb-
volle Tasse. »Müssen noch zahlen«, murmelte er.
»Nein, nein, wir sind gleich wieder da. Kommen Sie.
Ich muß es Ihnen draußen zeigen. Race, kommen Sie
mit.«
Er schob den Tisch zur Seite und schleppte die beiden
Männer in den Vorraum. »Sehen Sie die Telephon-
kabine dort?«
»Ja.«
Anthony griff in die Tasche. »Verflucht, ich habe kein
Kleingeld bei mir. Macht nichts. Vielleicht ist es
besser, wir versuchen es anders. Kommen Sie, wir
setzen uns wieder.« Sie gingen ins Cafe zurück, Kemp
an der Spitze, hinter ihm Race mit Anthony.
Stirnrunzelnd setzte Kemp sich und nahm seine Pfeife
vom Tisch.
Race betrachtete Anthony verwundert. Er lehnte sich
zurück, ergriff seine Tasse und trank den Rest in einem
Zug aus.
»Verflucht!« sagte er wütend. »Da ist ja Zucker drin!«
Er blickte über den Tisch hinweg und sah, wie ein
breites Lächeln über Anthonys Gesicht ging.
»Nanu?« sagte Kemp, der einen Schluck aus seiner

249
Tasse genommen hatte. »Was ist das, zum Teufel?«
»Kaffee«, antwortete Anthony. »Ich glaube, er wird
Ihnen nicht schmecken. Mir hat er jedenfalls nicht
geschmeckt.«

25

Anthony hatte das Vergnügen, in den Gesichtern seiner


beiden Gefährten sofort den Funken des Verständnisses
aufblitzen zu sehen. Seine Befriedigung war aber nur
von kurzer Dauer, denn ein zweiter Gedanke traf ihn
mit der Wucht eines körperlichen Schlages. Er rief aus:
»Mein Gott – das Auto!«
Er sprang auf. »Narr, der ich war – Idiot! Sie hat mir
erzählt, daß ein Auto sie um ein Haar überfahren hätte
– und ich habe kaum zugehört. Kommen Sie, rasch!«
Kemp sagte: »Sie wollte vom Präsidium direkt heim-
fahren.«
»Ja, warum habe ich sie nicht begleitet?«
»Wer ist im Haus?« fragte Race.
»Ruth Lessing war dort und hat auf Mrs. Drake
gewartet«, sagte Anthony. Scheinbar ohne Zusammen-
hang fragte Race:
»Hat Iris Marle noch andere Verwandte?«
»Nicht das ich wüßte.«
»Ich glaube die Richtung zu sehen, in die Ihre
Gedanken gehen. Aber ist das – technisch möglich?«
»Davon bin ich überzeugt. Überlegen Sie einmal, was
alles auf das Wort eines einzigen Menschen hin als
erwiesen angenommen worden ist.«

250
Kemp zahlte die Rechnung. Während die drei Männer
hinauseilten, fragte er: »Sie glauben, es besteht
unmittelbar Gefahr? Für Miss Marle?«
»Ja, das glaube ich.«
Anthony fluchte leise und rief ein Taxi. Die drei
Männer stiegen ein, und der Chauffeur bekam den
Auftrag, so schnell wie möglich zum Elvaston Square
zu fahren.
Unterwegs sagte Kemp langsam: »Bisher sehe ich bloß
die allgemeinen Umrisse. Demnach würden die
Farradays vollständig ausscheiden?«
»Ja.«
»Gott sei Dank. Aber halten Sie einen neuen Versuch
für wahrscheinlich – so bald schon?«
»Je eher, desto besser«, antwortete Race. »Ehe wir auf
die richtige Spur kommen.« Er sagte zu Anthony: »Iris
Marle hat mir im Beisein von Mrs. Drake gesagt, daß
sie Sie heiraten würde, sobald Sie es wünschen.«
Sie sprachen in kurzen, abgerissenen Sätzen, denn der
Taxichauffeur nahm seinen Auftrag wörtlich und raste
mit Begeisterung mitten durch den größten Verkehr.
Mit einem kühnen Schwung bog er schließlich in den
Elvaston Square ein und hielt vor dem Haus.
Nie hatte der Elvaston Square einen friedlicheren
Eindruck gemacht. Anthony, der mühsam seine
gewohnte ruhige Sicherheit zurückgewonnen hatte,
murmelte: »Ganz wie im Film. Man kommt sich
irgendwie blöd vor.«
Aber er stand schon auf der obersten Stufe und
klingelte, während Race das Taxi bezahlte.
Das Stubenmädchen öffnete die Haustür. Anthony

251
fragte scharf: »Ist Miss Iris zurückgekommen?«
Evans machte ein erstauntes Gesicht. »Natürlich, Mr.
Browne. Schon vor einer halben Stunde.«
Anthony stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Alles im Haus war so ruhig und normal, daß er sich
seiner dramatischen Befürchtungen fast zu schämen
begann. »Wo ist sie?«
»Ich nehme an, im Salon bei Mrs. Drake.«
Anthony nickte und eilte in großen Sprüngen die
Treppe hinauf; dicht hinter ihm folgten Race und
Kemp.
Im Salon, der friedlich im gedämpften Lampenlicht
dalag, war Lucilla Drake damit beschäftigt, mit der
Hingabe eines Foxterriers in den Schreibtischfächern zu
wühlen. Sie murmelte: »Himmel – wo habe ich nur den
Brief von Mrs. Marsham hingetan? Da war doch...«
»Wo ist Iris?« fragte Anthony plötzlich.
Lucilla drehte sich um und starrte ihn an. Sie richtete
sich auf.
»Darf ich fragen, wer Sie sind?«
Hinter Anthony tauchte Race auf, und Lucillas Gesicht
strahlte.
Sie sah Inspektor Kemp nicht, der als dritter das
Zimmer betreten hatte.
»Ach – Colonel Race! Wie nett, daß Sie da sind! Ach,
warum sind Sie nicht schon ein bißchen früher
gekommen – ich hätte Sie so gern wegen des Begräb-
nisses um Rat gefragt! Männliche Ratschläge sind
immer so wertvoll, und ich war so aufgeregt – ich habe
auch Miss Lessing gesagt, ich könnte eigentlich gar
nicht nachdenken – und ich muß gestehen, daß Miss

252
Lessing diesmal wirklich sehr lieb war und versprochen
hat, mir alle Unannehmlichkeiten abzunehmen. Nur hat
sie natürlich recht, wenn sie sagt, daß ich diejenige bin,
die am ehesten weiß, welche Georges Lieblingschoräle
waren – allerdings wußte ich sie nicht, denn der gute
George ist leider nur sehr selten in die Kirche gegangen
– aber als Pfarrersfrau – ich meine Pfarrerswitwe –
weiß ich natürlich, was am besten paßt.«
Race nutzte eine Atempause, um seine Frage anzu-
bringen:
»Wo ist Miss Marle?«
»Iris? Sie ist vor einiger Zeit heimgekommen. Sie
sagte, sie habe Kopfschmerzen, und ging gleich in ihr
Zimmer. Wissen Sie, diese jungen Mädchen haben
heutzutage gar keine Ausdauer mehr – essen nicht
genug Spinat –, und Iris schien gar keine Lust zu haben,
über das Begräbnis zu sprechen – aber jemand muß es
schließlich tun, und man möchte doch das Gefühl
haben, daß alles aufs beste geregelt ist und daß den
Toten die rechte Ehre erwiesen wird – allerdings habe
ich ein Leichenauto nie für das richtige gehalten. Sie
verstehen schon, was ich meine – Pferde mit den langen
schwarzen Schweifen sind doch viel schöner – aber ich
habe mich natürlich trotzdem gleich einverstanden
erklärt und ihr gesagt, Ruth und ich – ich nenne sie jetzt
Ruth und nicht mehr Miss Lessing – kämen glänzend
miteinander aus, und sie sollte ruhig alles uns über-
lassen.«
Kemp fragte: »Miss Lessing ist inzwischen fort-
gegangen?«
»Ja, wir haben alles erledigt, und sie ist vor ungefähr

253
zehn Minuten gegangen. Sie hat auch den Text für die
Todesanzeigen in den Zeitungen mitgenommen. Keine
Blumen, natürlich – und Rev. Westbury übernimmt...«
Während Lucillas Redestrom unaufhaltsam weiterfloß,
verließ Anthony leise das Zimmer. Er war schon
draußen, als Lucilla plötzlich innehielt und fragte:
»Wer war eigentlich der junge Mann, der mit Ihnen
gekommen ist? Mir war zuerst gar nicht klar, daß Sie
ihn mitgebracht hatten. Ich dachte, er sei einer von
diesen gräßlichen Reportern, die uns dauernd belä-
stigen.«
Anthony lief leichtfüßig die Treppe hinauf. Er hörte
hinter sich Schritte, sah sich um und grinste Chef-
inspektor Kemp an.
»Sind Sie auch ausgerissen? Der arme Race!«
Kemp murmelte: »Er macht das großartig.«
Sie waren jetzt im zweiten Stock und wollten gerade
die Treppe zum dritten hinaufgehen, als Anthony
leichte Schritte von oben herunterkommen hörte. Er
zerrte Kemp in ein benachbartes Badezimmer.
Die Schritte gingen weiter die Treppe hinunter.
Anthony huschte heraus und lief in den dritten Stock
hinauf. Er wußte, daß Iris das kleine Zimmer auf der
Rückseite des Hauses bewohnte. Er klopfte leise an die
Tür.
»Hallo – Iris.« Keine Antwort. Er klopfte und rief von
neuem. Dann versuchte er, die Klinke niederzudrücken.
Die Tür war verschlossen. Er trommelte mit den
Fäusten gegen die Tür.
»Iris – Iris!«
Er hielt inne und schaute vor sich auf den Fußboden. Er

254
stand auf einem jener altmodischen, wolligen
Vorlegeteppiche, die dazu dienen, die Zugluft
abzuhalten. Der Teppich war dicht unter die Tür
geschoben. Anthony gab ihm einen Tritt. Die Lücke
unter der Tür war verhältnismäßig groß. Er legte das
Auge ans Schlüsselloch, konnte aber nichts sehen.
Plötzlich hob er den Kopf und schnüffelte. Dan legte er
sich flach auf den Boden und steckte die Nase zwischen
Tür und Schwelle. Er sprang auf und rief: »Kemp!«
Keine Antwort. Anthony rief nochmals. Jemand kam
die Treppe heraufgelaufen. Es war nicht Kemp, sondern
Race. Bevor er etwas sagen konnte, rief ihm Anthony
zu: »Gas! Wir müssen die Tür aufbrechen!«
Race war ein kräftiger Mann. Zusammen mit Anthony
gelang es ihm schnell, das Hindernis zu beseitigen.
Splitternd und krachend gab das Schloß nach. Race
sagte: »Sie liegt dort beim Gasofen. Ich laufe ins
Zimmer und schlage die Fensterscheibe ein. Sie
nehmen Iris und tragen sie heraus.«
Iris Marle lag neben dem Gasofen – Mund und Nase
dicht an die zischende Düse gepreßt.
Ein paar Augenblicke später legten Anthony und Race
hustend und würgend das bewußtlose Mädchen draußen
auf den Gang neben das offene Fenster.
Race sagte: »Ich werde sie inzwischen bearbeiten.
Kümmern Sie sich rasch um einen Arzt.»
Anthony raste die Treppe hinunter. Race rief ihm nach:
»Keine Sorge – sie wird sich bald wieder erholen. Wir
haben sie noch zur rechten Zeit erwischt.«
In der Halle wählte Anthony eine Nummer und sprach
aufgeregt in die Muschel. Hinter ihm ertönte Lucillas

255
endloser Redeschwall.
Schließlich legte er den Hörer auf und sagte mit einem
Seufzer der Erleichterung: »Ein Glück, daß er zu Hause
war. Wohnt nur ein paar Schritte von hier. Er kommt
sofort.«
»... muß aber doch wissen, was geschehen ist! Ist Iris
etwas zugestoßen?«
Anthony sagte: »Sie war in ihrem Zimmer. Tür
verschlossen. Ihr Kopf hat beim Gasofen gelegen, und
das Gas war voll aufgedreht.«
»Iris?« Mrs. Drake stieß einen durchdringenden Schrei
aus. »Iris soll Selbstmord begangen haben? Ich kann es
nicht glauben! Ich glaube es einfach nicht!«
Auf Anthonys Gesicht erschien ein Anflug seines alten
spöttischen Grinsens. »Sie müssen es auch nicht
glauben«, sagte er. »Es ist nämlich nicht wahr.«

26

»Und jetzt, Tony – willst du mir bitte die ganze


Geschichte erzählen?«
Iris lag auf einem Sofa.
Anthony schaute zu Colonel Race hinüber, der auf dem
Fensterbrett saß und vergnügt grinste.
»Ich will gern gestehen, Iris, daß ich auf diesen
Moment gewartet habe. Wenn ich nicht bald jemandem
auseinandersetzen kann, wie gescheit ich gewesen bin –
dann platze ich. Rechne bei meinem Bericht nicht auf
Bescheidenheit. Er ist eine einzige, schamlose Selbstbe-
weihräucherung, nur unterbrochen von den Pausen, die

256
nötig sind, um dir Gelegenheit zu geben, ›Anthony –
wie klug von dir!‹ oder ›Anthony – was bist du für ein
großartiger Kerl!‹ oder etwas Ähnliches zu sagen. Hm!
Die Vorstellung beginnt. Es geht los.
Zunächst sah die Sache ziemlich einfach aus. Ich
meine, es sah aus wie ein klarer Fall von Ursache und
Wirkung. Rosemaries Tod, der seinerzeit als
Selbstmord betrachtet wurde, war in Wirklichkeit
keiner. George schöpfte Verdacht, begann die
Angelegenheit zu untersuchen und war der Wahrheit
schon recht nahe gekommen, als er seinerseits ermordet
wurde, noch bevor er den Täter entlarven konnte. Der
logische Zusammenhang, wenn ich mich so ausdrücken
darf, erschien vollkommen deutlich.
Aber gleich von Anfang an stießen wir auf einige
offenbare Widersprüche. Zum Beispiel: a) George
konnte nicht vergiftet worden sein; b) George war
vergiftet worden. Oder: a) niemand hatte Georges Glas
angerührt; b) an Georges Glas hatte sich jemand zu
schaffen gemacht. Nun habe ich dabei etwas sehr
Wichtiges übersehen: nämlich den verschiedenartigen
Gebrauch des besitzanzeigenden Genitivs. ›Georges
Ohr‹ ist ein unbestritten feststehendes Ohr, weil es an
seinem Kopf angewachsen ist und nur durch einen
chirurgischen Eingriff von diesem getrennt werden
könnte! Aber wenn ich ›Georges Uhr‹ sage, dann meine
ich damit nur die Uhr, die George trägt – es kann die
Frage auftauchen, ob es wirklich seine Uhr ist oder ob
sie ihm von jemandem geliehen wurde. Und wenn ich
auf ›Georges Glas‹ oder ›Georges Tasse‹ zu sprechen
komme, dann wird mir klar; daß ich etwas noch

257
Unbestimmteres meine, nämlich das Glas oder die
Tasse, aus dem oder aus der George soeben getrunken
hat – ein Gegenstand, der sich von anderen Gegen-
ständen gleicher Art überhaupt nicht unterscheidet.
Um das zu verdeutlichen, habe ich ein Experiment
gemacht. Race trank ungezuckerten Tee, Kemp Tee mit
Zucker und ich Kaffee. Äußerlich sahen die drei
Flüssigkeiten ziemlich gleich aus. Wir saßen an einem
runden Marmortischchen. Unter dem Vorwand eines
plötzlichen Einfalls veranlaßte ich die beiden, mir in
den Vorraum zu folgen; dabei gelang es mir, Kemps
Pfeife, die neben seiner Tasse lag, unbemerkt in genau
gleicher Stellung neben meine zu legen. Kaum waren
wir draußen, gebrauchte ich irgendeine Ausrede, und
wir kehrten an unseren Tisch zurück, Kemp an der
Spitze. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich an den
Platz, der durch seine Pfeife markiert war. Race und ich
nahmen, wie vorher, rechts und links von ihm Platz.
Aber wohlgemerkt: Inzwischen war ein ganz ähnlicher
Widerspruch entstanden, wie ich ihn vorhin erwähnt
habe – a) in Kemps Tasse befand sich Tee mit Zucker;
b) in Kemps Tasse befand sich Kaffee. Zwei einander
widerstreitende Aussagen, die unmöglich beide
stimmen können! Aber sie stimmen beide – das
irreführende Wort ist ›Kemps Tasse‹! Kemps Tasse
beim Verlassen des Tisches war nicht identisch mit
Kemps Tasse bei der Rückkehr an den Tisch.
Und genau das gleiche, Iris, ist damals im Luxembourg
passiert. Nach dem Cabaret, als wir alle tanzen gingen,
hast du deine Handtasche auf den Fußboden fallen
lassen. Ein Kellner – nicht ›der‹ Kellner, der an

258
unserem Tisch bediente und wußte, wie wir gesessen
hatten, sondern ein verängstigter kleiner Hilfskellner,
der von allen Seiten angeschnauzt wurde und gerade an
unserem Tisch vorbeihastete – hat die Tasche aufge-
hoben und in aller Eile neben ›einen‹ Teller gelegt –
nämlich neben den Teller links neben dem Platz, auf
dem du gesessen hattest. Du bist mit George als erstes
Paar zurückgekommen und hast dich ganz mechanisch
auf den Platz gesetzt, der durch deine Tasche markiert
war – genau derselbe Fall wie bei Kemp und der Pfeife.
George setzte sich auf ›seinen‹ vermeintlichen Platz,
rechts neben dir. Und als er den Trinkspruch auf
Rosemarie ausbrachte, trank er aus einem Glas, das er
irrtümlich für das seine hielt, das aber in Wirklichkeit
das deinige war! In dieses Glas hatte während des
Cabarets das Gift mit Leichtigkeit hineingeschüttet
werden können, denn die einzige Person am Tisch, die
nach dem Cabaret noch nicht getrunken hatte, war –
wie das bei uns in England so üblich ist – die Person,
auf deren Wohl getrunken worden war! Wenn du die
ganze Geschichte unter dieser Voraussetzung noch mal
durchgehst, sieht sie vollkommen anders aus. Du
solltest das Opfer sein, nicht George! Welchen
Eindruck hätte man nach außen von dem Vorgang
gehabt, wenn nichts schiefgegangen wäre? Eine
Wiederholung der Gesellschaft vom vorigen Jahr – und
eine Wiederholung des Selbstmordes!
Es liegt offenbar in der Familie, sich das Leben zu
nehmen – das hätten die Leute gesagt. Ein Stückchen
Papier mit Spuren von Zyankali in deiner Handtasche
gefunden? Aha: ein ganz klarer Fall! Das arme

259
Mädchen hat sich so sehr über den Tod ihrer Schwester
gegrämt! Sehr traurig – aber diese reichen jungen
Mädchen sind alle ein bißchen neurotisch!«
Iris unterbrach ihn mit dem Ausruf: »Aber warum sollte
jemand mich vergiften wollen? Warum nur, warum?«
»Aber Engelchen: Denk doch an das viele Geld! Geld,
Geld, Geld! Bei Rosemaries Tod hast du ihr Vermögen
geerbt. Jetzt nimm einmal an, du wärst gestorben –
unverheiratet. Was wäre dann mit dem Geld
geschehen? Deine nächste Blutsverwandte hätte es
geerbt – Lucilla Drake. Nun konnte ich mir allerdings
nach allen Berichten Lucilla Drake nicht als Mörderin
vorstellen. Aber würde vielleicht noch jemand anders
Nutzen daraus ziehen? Ja, gewiß: Victor Drake. Wenn
Lucilla Geld hat, ist das fast ebenso, wie wenn Victor
es hätte – dafür würde Victor schon sorgen! Er hat
seine Mutter seit jeher um den Finger wickeln können.
Und sich Victor Drake als Mörder vorzustellen ist nicht
schwer. Von Anfang an ist dauernd hier oder dort
Victors Name aufgetaucht – ständig hat er als schat-
tenhafte Gestalt irgendwo gelauert.«
»Aber Victor ist doch in Argentinien. Er ist seit über
einem Jahr in Südamerika!«
»Ist er das wirklich? Wir kommen jetzt zu dem Punkt,
auf dem die ganze Geschichte aufgebaut ist. Sie hat
nämlich begonnen, als Victor Ruth Lessing kennen-
gelernt hat. Er hat sie vollständig in seine Gewalt
bekommen. Ich glaube, sie muß schwer auf ihn abge-
fahren sein. Wenn so eine ruhige, verständige, ordent-
liche Frau mal auf einen richtig schlechten Kerl herein-
fällt, dann wird es schlimm.

260
Wenn du ein bißchen nachdenkst, wirst du feststellen,
daß alles, was wir über Victors Aufenthalt in
Südamerika wissen, nur auf Ruths Aussagen beruht.
Nichts davon ist jemals überprüft worden, weil es
einfach nebensächlich erschien. Ruth hat gesagt, daß
sie Victor vor Rosemaries Tod auf die ›Cristobal‹
gebracht habe. Ruth war es, die am Tag von Georges
Tod ein Telefongespräch mit Buenos Aires vorschlug –
und hinterher Knall auf Fall die Telefonistin entließ, die
vielleicht unwissentlich hätte verraten können, daß
überhaupt kein Telefonat stattfand.
Natürlich hat sich inzwischen alles mit Leichtigkeit
aufklären lassen. Victor ist voriges Jahr in Buenos
Aires mit einem Schiff angekommen, das England
einen Tag nach Rosemaries Tod verlassen hatte.
Ogilvie in Buenos Aires hat am Tag von Georges Tod
kein Telefongespräch mit Ruth geführt. Und Victor
Drake ist bereits vor mehreren Wochen aus Buenos
Aires abgereist. Es war eine Kleinigkeit, an einem
bestimmten Tag in Buenos Aires ein Telegramm mit
seiner Unterschrift abschicken zu lassen, eines von
diesen bekannten Betteltelegrammen, das einwandfrei
zu beweisen schien, daß er Tausende von Meilen
entfernt war. Statt dessen...«
»Ja, Anthony?«
»Statt dessen«, sagte Anthony, »saß er mit einer keines-
wegs dummen Blondine im Luxembourg am Neben-
tisch!«
»Was – dieser gräßlich aussehende Kerl?«
»Eine gelbliche Haut voller Pickel und blutunterlaufene
Augen sind Dinge, die man sich leicht zurechtmachen

261
kann und die den Menschen stark verändern. Übrigens
war ich der einzige von unserer ganzen Gesellschaft –
abgesehen natürlich von Ruth Lessing –, der Victor
Drake jemals mit eigenen Augen gesehen hatte – aber
damals hatte er einen anderen Namen geführt!
Außerdem saß ich mit dem Rücken zu ihm. Beim
Hereinkommen habe ich mir allerdings eingebildet,
draußen in der Bar einen Mann erkannt zu haben, den
ich im Gefängnis kennengelernt hatte – Monkey
Coleman. Aber da ich nun dabei war, ein höchst
ehrbares Leben zu beginnen, legte ich keinen großen
Wert darauf, von ihm gesehen zu werden. Ich habe
keinen Augenblick lang den Verdacht gehabt, Monkey
Coleman könnte etwas mit dem Mord an George zu tun
haben – geschweige denn mit Victor Drake identisch
sein.«
»Mir ist nicht klar, wie er die Tat begangen hat.«
Colonel Race nahm den Faden der Erzählung auf. »Auf
denkbar einfache Weise. Während des Cabarets ist er
hinaus ans Telefon gegangen und dabei an Ihrem Tisch
vorbeigekommen. Drake ist auch Schauspieler gewesen
– und sogar noch etwas Wichtigeres: Kellner. Sich als
Pedro Morales zurechtzumachen und sich wie er zu
benehmen war für einen Schauspieler kinderleicht, aber
um sich mit dem Gebaren eines Kellners unauffällig
rings um den Tisch zu bewegen und die Champa-
gnergläser nachzufüllen – dazu bedurfte es der
Kenntnis und Technik eines Menschen, der tatsächlich
Kellner gewesen war. Eine ungeschickte Handlung
oder Bewegung hätte Ihre Aufmerksamkeit auf ihn
gelenkt – so aber hat niemand an Ihrem Tisch etwas

262
bemerkt, zumal Sie alle den Darbietungen des Cabarets
folgten.«
Iris fragte zögernd: »Und Ruth?«
Anthony antwortete: »Es war natürlich Ruth, die das
Papier mit dem Zyankali in deine Handtasche gesteckt
hat – vermutlich gleich zu Anfang in der Garderobe.
Die gleiche Technik hatte sie ein Jahr vorher ange-
wendet – bei Rosemarie.«
»Ich habe es immer merkwürdig gefunden«, sagte Iris,
»daß George Ruth nichts von den anonymen Briefen
erzählt hatte. Er sagte ihr doch alles.«
Anthony lachte kurz. »Aber natürlich hat er ihr davon
erzählt – sofort sogar! Sie wußte, daß er das tun würde.
Deshalb hat sie ja die Briefe geschrieben! Dann hat sie
den ganzen ›Plan‹ für ihn arrangiert – nachdem sie ihn
erst tüchtig bearbeitet hatte. Die ganze Bühne war
wunderschön aufgebaut für den Selbstmord Nummer
zwei – und falls George daraus etwa den Schluß
gezogen hätte, du seist Rosemaries Mörderin gewesen
und habest dir nun aus Reue oder Angst das Leben
genommen – nun, dann hätte das Ruth durchaus in den
Kram gepaßt!«
»Und dabei habe ich sie so gern gehabt! Und habe
tatsächlich gewünscht, sie würde George heiraten!«
»Wahrscheinlich wäre sie George eine gute Gattin
gewesen, wenn sie Victor nicht kennengelernt hätte«,
sagte Anthony. »Moral: Jede Mörderin war früher
einmal eine gute Frau.«
Ein Zittern überlief Iris. »Und all das für Geld!«
»Du Unschuldslamm – solche Dinge geschehen immer
wegen Geld. Victor hat es bestimmt um des Geldes

263
willen getan. Ruth teilweise dem Geld zuliebe,
teilweise Victor zuliebe, teilweise auch, glaube ich,
weil sie Rosemarie haßte. Ja, sie hatte einen weiten
Weg hinter sich, als sie versuchte, dich mit einem Auto
zu überfahren, und einen noch weiteren, als sie sich von
Lucilla im Salon verabschiedete, die Haustür zuknallte
und dann in dein Schlafzimmer hinauflief. War sie
aufgeregt?«
Iris dachte nach. »Nein, eigentlich nicht. Sie hat einfach
angeklopft, ist hereingekommen und hat mir gesagt, es
sei alles erledigt und ich fühlte mich hoffentlich wohl.
Ich sagte, ja, ich sei nur ein bißchen müde. Dann hat sie
meine große, mit Kautschuk bezogene Taschenlampe
genommen und gesagt, die sei aber schön – und danach
kann ich mich an nichts mehr erinnern.«
»Nein, Liebes«, sagte Anthony, »denn dann hat sie dir
mit deiner schönen Taschenlampe einen hübschen,
kleinen, nicht zu kräftigen Schlag auf den Hinterkopf
gegeben, dich kunstvoll neben dem Gasofen aufgebaut,
die Fenster geschlossen und den Schlüssel unter der Tür
ins Zimmer zurückgeworfen, hat mit der Wollmatte die
Lücke abgedichtet und ist auf Zehenspitzen die Treppe
hinuntergeschlichen. Kemp und ich konnten gerade
noch zur rechten Zeit im Badezimmer verschwinden.
Ich bin zu dir hinaufgerast, und Kemp ist Miss Ruth
Lessing bis zu der Stelle gefolgt, wo sie den Wagen
geparkt hatte – weißt du, ich habe damals gleich so ein
komisches Gefühl gehabt, als Ruth uns unbedingt
einreden wollte, sie sei per Untergrundbahn und Auto-
bus gekommen!«
Iris schauderte von neuem. »Gräßlich – wenn man

264
denkt, daß jemand derart fest entschlossen ist, einen
umzubringen! Hat sie mich denn so sehr gehaßt?«
»Ach, das glaube ich nicht. Aber Miss Ruth Lessing ist
eine sehr umsichtige Dame. An zwei Morden war sie
schon mitschuldig und wollte natürlich ihren Hals nicht
umsonst riskiert haben. Ich bin überzeugt, daß Tante
Lucilla deine Absicht, mich zu heiraten, postwendend
weitererzählt hatte – und in diesem Fall war also keine
Zeit zu verlieren. Nach der Trauung wäre ich dein Erbe
gewesen, und nicht mehr Lucilla.«
»Die arme Lucilla – sie tut mir aufrichtig leid!«
»Ich glaube, das geht uns allen so. Sie ist eine
harmlose, kindliche Seele.«
»Ist er wirklich verhaftet worden?«
Anthony warf einen fragenden Blick auf Race, der
nickend sagte: »Heute früh, bei der Landung in New
York.«
»Hätte er Ruth geheiratet – hinterher?«
»Das war jedenfalls Ruths Absicht. Wahrscheinlich
wäre es ihr auch gelungen.«
»Anthony – ich glaube, ich mag mein Geld nicht.«
»Gut – wenn du willst, werden wir irgend etwas
Edelmütiges damit anfangen. Ich habe genug Geld, daß
wir beide davon leben können. Wenn du willst,
schenken wir dein Geld weg – einem Kinderheim oder
einer Stiftung für alte Männer – oder wie fändest du
eine Werbeaktion für den Ausschank von besserem
Kaffee in ganz England?«
»Ein bißchen möchte ich behalten«, sagte Iris, »damit
ich auf alle Fälle von dir fortgehen kann, falls ich
jemals den Wunsch haben sollte.«

265
»Ich fürchte, Iris, das ist nicht die richtige Gesinnung,
mit der man in eine Ehe tritt. Und übrigens hast du
nicht ein einziges Mal gesagt, ‹Tony, wie klug von dir!‹
oder ›Anthony – bist du ein großartiger Kerl‹.«
Colonel Race erhob sich lächelnd. »Ich gehe zum Tee
zu den Farradays hinüber«, verkündete er. Seine Augen
zwinkerten ein bißchen, als er Anthony fragte: »Ich
nehme nicht an, daß Sie mitkommen?«
Anthony schüttelte den Kopf, und Race schickte sich
an, hinauszugehen. Auf der Schwelle murmelte er über
die Schulter: »Ordentliche Leistung.«
»Und das«, sagte Anthony, als sich die Tür hinter Race
geschlossen hatte, »drückt den höchsten Grad britischer
Anerkennung aus.«
Iris fragte mit ruhiger Stimme: »Er hat gedacht, ich sei
es gewesen, nicht wahr?«
»Du darfst ihm das nicht übelnehmen«, sagte Anthony.
»Weißt du, er kennt so viele schöne Spioninnen, die
Geheimformeln stehlen und vertrauliche Informationen
aus Generälen herauslocken, daß sein ganzes Denken
davon getränkt und sein Urteil getrübt worden ist. Er
glaubt immer, jedes Verbrechen müsse von einem
schönen Mädchen begangen worden sein.«
»Woher hast du gewußt, daß ich es nicht war?«
»Liebe macht hellsichtig«, sagte Tony in leichtem Ton.
Dann wurde sein Gesicht plötzlich ernst. Er nahm eine
kleine Vase in die Hand, die ein einziges graugrünes
Zweiglein mit einer malvenfarbenen Blüte enthielt.
»Wieso blüht das um diese Jahreszeit...?«
»Das kommt manchmal vor – wir haben einen milden
Herbst.«

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Anthony nahm den Zweig, hielt ihn an seine Wange
und sah durch halbgeschlossene Augen volles
kastanienfarbenes Haar, lachende blaue Augen und
einen roten, leidenschaftlichen Mund...
Ruhig sagte er: »Sie ist nicht mehr da...«
»Wen meinst du?«
»Du weißt, wen ich meine. Rosemarie... Ich glaube,
Iris, sie hat gewußt, daß du in Gefahr warst.«
Er berührte den Zweig mit den Lippen und warf ihn aus
dem Fenster.
»Leb wohl, Rosemarie – und vielen Dank...«
Iris sagte leise: »Wir vergessen dich nicht,
Rosemarie...«

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Agatha Christie
Agatha Mary Clarissa Miller,
geboren am 15. September
1890 in Torquay, Devonshire,
sollte nach dem Wunsch der
Mutter Sängerin werden.
1914 heiratete sie Colonel
Archibald Christie und arbei-
tete während des Krieges als
Schwester in einem Lazarett.
Hier entstand ihr erster Kri-
minalroman Das fehlende
Glied in der Kette, Eine be-
trächtliche Menge Arsen war
aus dem Giftschrank ver-
schwunden – und die junge Agatha spann den Fall aus. Sie fand
das unverwechselbare Christie-Krimi-Ambiente.
Gleich in ihrem ersten Werk taucht auch der belgische Detektiv
mit den berühmten «kleinen grauen Zellen» auf: Hercule Poirot,
der ebenso unsterblich werden sollte wie sein weibliches Pen-
dant, die reizend altjüngferliche, jedoch scharf kombinierende
Miss Marple (Mord im Pfarrhaus).
Im Lauf ihres Lebens schrieb die «Queen of Crime» 67 Kriminal-
romane, unzählige Kurzgeschichten, 7 Theaterstücke (darunter
Die Mausefalle) und ihre Autobiographie.
1956 wurde Agatha Christie mit dem «Order of the British Em-
pire» ausgezeichnet und damit zur «Dame Agatha». Sie starb am
12. Januar 1976 in Wallingford bei Oxford.

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