Das Geheimnis Der Schnallenschuhe
Das Geheimnis Der Schnallenschuhe
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Agatha Christie
Scherz
Bern München Wien
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Überarbeitete Fassung der einzig berechtigten Übertragung
aus dem Englischen von Ursula von Wiese
Titel des Originals: »The Patriotic Murders«
Schutzumschlag von Heinz Looser
Foto: Thomas Cugini
S & C by Mik
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Mr. Morley schüttelte düster den Kopf.
»Woher soll ich wissen, daß die Tante wirklich einen
Schlaganfall gehabt hat? Woher soll ich wissen, daß die
ganze Sache nicht ein abgekartetes Spiel ist zwischen
dem Mädchen und diesem höchst unpassenden jungen
Mann, mit dem sie dauernd herumzieht? Der Bursche
ist ein Taugenichts, wie er im Buche steht! Wahr-
scheinlich haben sie für heute einen Ausflug zusammen
verabredet!«
»Aber nein, mein Lieber – ich kann mir nicht denken,
daß Gladys so etwas tun würde. Du hast sie doch selbst
immer sehr gewissenhaft gefunden.«
»Ja, ja –«
»Ein intelligentes Mädchen, tüchtig und fleißig, hast du
gesagt.«
»Ja, ja, Georgina – aber das war, ehe dieser unwillkom-
mene junge Mann aufgetaucht ist. In der letzten Zeit ist
sie anders geworden – ganz anders: geistesabwesend,
zerstreut, nervös.«
Der Grenadier tat einen tiefen Seufzer.
»Es ist nun einmal so, Henry, daß Mädchen sich verlie-
ben. Dagegen läßt sich nichts machen.«
»Das sollte aber ihre Arbeit als meine Sekretärin nicht
beeinträchtigen!« schnauzte Morley. »Und gerade
heute, da ich besonders viel zu tun habe! Verschiedene
sehr wichtige Patienten. Höchst unangenehm!«
»Ich bin überzeugt, daß es für dich äußerst lästig sein
muß, Henry. Wie macht sich übrigens der neue Boy?«
Mr. Morley sagte düster: »Es ist der ärgste, den ich je-
mals gehabt habe. Kann keinen einzigen Namen richtig
verstehen und hat die gröbsten Manieren. Wenn er sich
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nicht bessert, werfe ich ihn raus und versuche es mit
einem anderen. Ich weiß nicht, was heutzutage in
unseren Schulen los ist. Produzieren lauter Schwach-
köpfe, die nichts von dem verstehen, was man ihnen
sagt, geschweige denn, daß sie es behalten.«
Er sah auf die Uhr.
»Ich muß runtergehen. Ein vollbesetzter Vormittag, und
außerdem muß ich noch diese Sainsbury Seale zwi-
schendurch drannehmen, weil sie Schmerzen hat. Ich
hab ihr vorgeschlagen, sich von Reilly behandeln zu
lassen, aber sie hat nichts davon wissen wollen.«
»Natürlich nicht«, sagte Georgina. »Reilly ist sehr
tüchtig – wirklich sehr tüchtig. Erstklassige Diplome.
Ganz modern in seiner Arbeit.«
»Er hat keine ruhige Hand«, murrte Miss Morley.
»Meiner Meinung nach trinkt er.«
Ihr Bruder lachte – seine gute Laune war wiederherge-
stellt.
»Ich komme, wie gewöhnlich, um halb zwei zu einem
Sandwich rauf!« sagte er.
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me Überraschungen standen ihnen bevor... Der Zahn-
stocher rutschte aus, und Mr. Amberiotis zuckte zusam-
men. Die rosigen Zukunftsvisionen verblaßten und
machten den Sorgen der unmittelbaren Gegenwart
Platz. Er fühlte vorsichtig mit der Zunge und nahm sein
kleines Notizbuch aus der Tasche.
»Zwölf Uhr, Queen Charlotte Street 58.« Er versuchte,
sich wieder in die frühere triumphierende Stimmung zu
versetzen, aber vergeblich. Die Welt war zu sechs dürf-
tigen Worten zusammengeschrumpft: Zwölf Uhr,
Queen Charlotte Street 58.
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terfiel, und redete viel.
Jetzt sagte sie schüchtern: »Aber ich habe wirklich
überhaupt keine Schmerzen mehr.«
»Unsinn. Sie haben mir doch erzählt, daß Sie in der
Nacht kein Auge schließen konnten.«
»Ja, das stimmt – das stimmt wirklich – aber vielleicht
ist der Nerv jetzt tatsächlich tot.«
»Ein Grund mehr, um zum Zahnarzt zu gehen«, erklärte
Mrs. Bolitho energisch. »Wir schieben es alle gern hin-
aus, aber das ist bloß Feigheit. Besser, man gibt sich
einen Ruck und hat es dann hinter sich.«
Miss Sainsbury Seale setzte zu einer Antwort an. Viel-
leicht wollte sie rebellisch murmeln: »Ja, aber es ist
schließlich nicht Ihr Zahn!« Sie sagte jedoch nur:
»Wahrscheinlich haben Sie recht. Und Mr. Morley ist
ja auch so vorsichtig und tut einem überhaupt nicht
weh.«
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konnte es die Leber sein. Auch Mr. Rotherstein hatte
von Zeit zu Zeit Leberbeschwerden. Aber Alistair hatte
noch niemals über seine Leber geklagt. Seine Gesund-
heit war ebenso unerschütterlich wie seine Nerven und
sein finanzielles Geschick. Und doch – irgend etwas
war da: Ein- oder zweimal hatte sich der Präsident mit
der Hand ans Gesicht gegriffen. Er hatte im Sitzen das
Kinn aufgestützt, eine für ihn ungewöhnliche Haltung.
Und ein paarmal hatte er – ja, man mußte schon sagen:
zerstreut ausgesehen.
Die Herren verließen das Sitzungszimmer und gingen
die Treppe hinunter.
Rotherstein sagte: »Ich kann Sie wohl nicht im Wagen
mitnehmen?«
Alistair Blunt schüttelte lächelnd den Kopf.
»Ich habe meinen eigenen Wagen unten.« Er schaute
auf die Uhr. »Ich fahre nicht in die City zurück.« Nach
einer Pause fügte er hinzu: »Ich muß nämlich zum
Zahnarzt.«
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ruhigen Gefühllosigkeit eines unabänderlichen Ver-
hängnisses hinter ihm zu.
Der Boy fragte: »Ihren Namen, bitte?«
Poirot nannte seinen Namen; eine Tür auf der rechten
Seite der Halle flog auf, und er betrat das Warte-
zimmer. Der Raum war geschmackvoll möbliert und
wirkte auf Hercule Poirot unbeschreiblich nieder-
drückend. Auf dem polierten Sheraton-Tisch lagen,
sorgfältig geordnet, Zeitungen und Zeitschriften. Auf
der Hepplewhite-Anrichte standen zwei versilberte
Leuchter und ein Tafelaufsatz. Den Kaminsims krönten
zwei Bronzevasen und eine bronzene Uhr. An den
Fenstern hingen blaue Samtvorhänge. Die Sesselbezüge
waren mit roten Vögeln und Blumen gemustert.
In einem der Sessel saß ein militärisch aussehender
Herr mit grimmigem Schnurrbart und gelber Hautfarbe.
Er betrachtete Poirot, als hielte er ihn für irgendein
schädliches Insekt. Er schien nicht so sehr eine Schuß-
waffe zu vermissen als eine Flitspritze. Poirot sah ihn
verdrießlich an und dachte: Manche Engländer sind
wirklich dermaßen unerfreulich und lächerlich, daß
man sie schon bei der Geburt von ihrem Leiden erlösen
müßte.
Nach längerem Glotzen riß der militärische Herr die
Times an sich, rückte seinen Sessel so, daß ihm Poirots
Anblick erspart blieb, und begann zu lesen.
Poirot griff nach dem Punch. Er ging ihn sorgfältig
durch, konnte aber keinen der Witze komisch finden.
Der Boy kam herein, sagte: »Colonel Arrowbumby?«
und führte den militärisch aussehenden Herr hinaus.
Während Poirot noch darüber nachdachte, ob es einen
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so unwahrscheinlichen Namen tatsächlich geben
konnte, ging die Tür von neuem auf, und es erschien
ein junger Mann von etwa dreißig Jahren. Er trat an den
Tisch und blätterte unruhig in den Zeitschriften.
Poirot sah ihn von der Seite an und dachte: Ein unan-
genehmer, gefährlich aussehender junger Mann – mög-
licherweise ein Mörder. Jedenfalls sah er weit mehr wie
ein Mörder aus als viele von den Mördern, die Hercule
Poirot im Laufe seiner Karriere geschnappt hatte.
Der Boy öffnete die Tür und sagte in die leere Luft:
»Mr. Pierer?«
Poirot zog den richtigen Schluß, daß diese Auffor-
derung ihm galt, und erhob sich. Er folgte dem Boy
zum hinteren Ende der Halle und um die Ecke zu einem
kleinen Aufzug, der sie in den zweiten Stock brachte.
Dort führte ihn der Boy einen Gang entlang, öffnete die
Tür zu einem kleinen Vorzimmer, klopfte an die zweite
Tür, öffnete diese, ohne eine Antwort abzuwarten, und
trat zurück, um Poirot eintreten zu lassen.
Unter dem Rauschen von fließendem Wasser ging Poi-
rot hinein und entdeckte hinter der Tür Mr. Morley, der
sich mit berufsmäßiger Gründlichkeit in einem Becken
an der Wand die Hände wusch.
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morbider Schärfe bewußt. Gewöhnlich hatte er eine
sehr gute Meinung von sich selbst. Er, Hercule Poirot,
war anderen Männern in vielfacher Beziehung überle-
gen. In diesem Augenblick jedoch war er unfähig, sich
in irgendeiner Beziehung überlegen zu fühlen. Seine
Moral hatte den Nullpunkt erreicht. Er war jetzt nichts
anderes als jenes wohlbekannte feige Wesen: ein
Mensch, der sich vor dem Zahnarzt fürchtet.
Mr. Morley hatte seine professionellen Waschungen
beendet und sagte nun in seinem professionell ermun-
ternden Ton: »Längst nicht warm genug für diese Jah-
reszeit, nicht wahr?«
Sachte geleitete er den Patienten an den kritischen Ort –
zum Behandlungsstuhl! Er spielte gewandt mit der
Kopfstütze, die er auf und nieder gleiten ließ. Hercule
Poirot tat einen tiefen Atemzug, stieg hinauf, setzte sich
hin und überließ seinen Kopf ergeben den Händen Mr.
Morleys.
»Haben Sie irgendwelche besonderen Beschwerden?«
fragte er.
Etwas undeutlich, da die Bildung der Konsonanten mit
offenem Mund ihm Schwierigkeiten bereitete, gab
Hercule Poirot zu verstehen, daß keine besonderen
Beschwerden zu verzeichnen seien. In der Tat handelte
es sich nur um eine der beiden regelmäßigen jährlichen
Untersuchungen, die sein Sinn für Ordnung und Rein-
lichkeit verlangte. Es war natürlich möglich, daß es
überhaupt nichts zu tun gab... Vielleicht übersah Mr.
Morley den zweiten Zahn von hinten, der ihn unlängst
so gezwickt hatte... vielleicht – aber nicht wahrschein-
lich, denn Mr. Morley war ein sehr guter Zahnarzt.
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Mr. Morley ging langsam von Zahn zu Zahn, klopfte,
stocherte und murmelte dazu kleine Bemerkungen.
»Diese Füllung ist ein bißchen abgenützt – nichts Ern-
stes. Das Zahnfleisch ist erfreulicherweise in recht gu-
tem Zustand.« Aufenthalt an einer verdächtigen Stelle;
eine Drehung der Sonde – nein, weiter – falscher
Alarm. Jetzt nahm er den Unterkiefer vor. Nummer
eins, Nummer zwei – weiter auf Nummer drei? Nein –
»Der Hund«, dachte Poirot mit einem wirren Vergleich,
»hat den Hasen gewittert!«
»Hier ist eine kleine Stelle. Haben Sie da gar keine
Schmerzen gehabt? Hm, merkwürdig.«
Die Untersuchung ging weiter. Endlich richtete sich
Mr. Morley befriedigt auf.
»Alles in allem nichts Ernstes. Bloß zwei Füllungen
und eine Spur von Karies an dem einen oberen Backen-
zahn. Ich glaube, wir können die ganze Arbeit in der
heutigen Sitzung erledigen.«
Er knipste einen Schalter an, und ein Summen ertönte.
Mr. Morley nahm den Bohrer vom Haken und setzte
mit liebevoller Sorgfalt eine Nadel ein.
»Sagen Sie, wenn es weh tut«, befahl er kurz und
machte sich an sein furchtbares Werk.
Poirot brauchte von dieser Erlaubnis keinen Gebrauch
zu machen; er brauchte nicht die Hand zu heben, zu-
sammenzuzucken oder gar zu brüllen. Genau im rich-
tigen Augenblick hielt Mr. Morley den Bohrer an, er-
teilte kurz den Befehl »ausspülen«, tupfte etwas auf den
Zahn, wählte eine neue Nadel und bohrte weiter. Die
Folter der Bohrmaschine bestand mehr in der Furcht als
im Schmerz.
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Während Mr. Morley die Füllung vorbereitete, wurde
das Gespräch aufgenommen.
»Muß heute alles selbst machen«, erklärte er. »Miss
Nevill ist abberufen worden. Sie erinnern sich doch an
Miss Nevill?«
Poirot bejahte die Frage heuchlerisch.
»Mußte zu einer kranken Verwandten aufs Land fahren.
Solche Sachen passieren immer, wenn gerade viel zu
tun ist. Ich bin heute morgen schon im Rückstand. Der
Patient vor Ihnen hat sich verspätet. Sehr unangenehm,
wenn so etwas vorkommt. Wirft den ganzen Termin-
plan um. Dann muß ich noch eine Patientin einschie-
ben, weil sie Schmerzen hat. Für solche Fälle reserviere
ich am Vormittag immer eine Extra-Viertelstunde.
Immerhin, es verstärkt den Andrang.«
Mr. Morley guckte prüfend in seinen kleinen Mörser.
Dann nahm er das Gespräch wieder auf.
»Ich werde Ihnen sagen, was ich immer beobachtet
habe, Mr. Poirot. Die großen Leute, die bedeutenden
Leute, halten sich immer genau an die Zeit – lassen
einen niemals warten. Fürstlichkeiten zum Beispiel.
Äußerst pünktlich. Und mit den großen Geschäftsleuten
ist es ebenso. Gerade heute vormittag kommt ein sehr
wichtiger Mann zu mir – Alistair Blunt!« Mr. Morley
betonte den Namen mit triumphierendem Klang.
Poirot, der durch mehrere Watteröllchen und ein unter
seiner Zunge glucksendes Glasröhrchen am Sprechen
gehindert war, gab ein unbestimmtes Geräusch von
sich.
Alistair Blunt! Solche Namen waren es, die einen
heutzutage erschauern ließen! Nicht Herzöge, Grafen
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oder Ministerpräsidenten – nein, Alistair Blunt. Ein
Mann, dessen Gesicht dem großen Publikum fast un-
bekannt war – dessen Name nur in einer gelegentlichen
kleinen Zeitungsnotiz auftauchte. Keineswegs eine auf-
fallende Erscheinung. Bloß ein stiller, äußerlich durch
nichts bemerkenswerter Engländer, der an der Spitze
der größten englischen Bankfirma stand.
Ein Mann von ungeheurem Reichtum, ein Mann, des-
sen Wort Regierungen bildete und stürzte und der doch
nur ein ruhiges, bescheidenes Leben führte, der niemals
öffentlich auftrat oder Reden hielt. Und doch ein Mann,
in dessen Händen höchste Macht lag...
Mr. Morleys Stimme klang immer noch ehrfürchtig, als
er sich über Poirot beugte und die Füllung in den Zahn
preßte.
»Kommt zu seinen Sitzungen immer pünktlich auf die
Minute. Schickt seinen Wagen oft weg und geht zu Fuß
ins Büro zurück. Netter, stiller, anspruchsloser Mensch.
Spielt gern Golf und interessiert sich sehr für seinen
Garten. Man käme nie auf die Idee, daß der Mann halb
Europa aufkaufen könnte, ein ganz einfacher Mensch
wie Sie und ich.«
Bei dieser unüberlegten Personenverbindung stieg ein
plötzlicher Groll in Poirot auf. Zugegeben, Mr. Morley
war ein guter Zahnarzt; aber es gab noch andere gute
Zahnärzte in London. Es gab jedoch nur einen Hercule
Poirot.
»Bitte spülen«, gebot Mr. Morley. Kritisch schaute er
seinem Patienten in den Mund. »So, das scheint in
Ordnung zu sein. Schließen Sie bitte den Mund – lang-
sam. Geht es ganz bequem? Sie spüren die Füllung gar
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nicht? Bitte nochmals öffnen. Nein, das scheint ganz in
Ordnung.«
Das Tischchen schwang zurück, der Sessel drehte sich.
Hercule Poirot kletterte herab, ein freier Mann.
»Also, auf Wiedersehen, M. Poirot. Ich hoffe, Sie ha-
ben in meinem Haus keinen Verbrecher aufgespürt?«
Poirot sagte lächelnd: »Vorhin erschien mir jeder wie
ein Verbrecher! Jetzt wird sich das vielleicht geändert
haben.«
»Ah, ja – vor oder nach dem Zahnarzt: Das macht einen
gewaltigen Unterschied! Obwohl wir die Leute heutzu-
tage nicht mehr so quälen wie früher. Soll ich für Sie
nach dem Aufzug klingeln?«
»Nein, nein, ich gehe zu Fuß.«
»Wie Sie wollen, der Aufzug ist gleich neben der
Treppe.«
Poirot ging hinaus. Als er die Tür hinter sich schloß,
hörte er, wie das Wasser im Waschbecken zu rauschen
begann. Er ging die zwei Stockwerke hinunter. Vom
letzten Treppenabsatz aus sah er, wie der angloindische
Colonel zur Tür geführt wurde. Der Mann sieht gar
nicht so übel aus, dachte Poirot besänftigt. Vermutlich
ein ausgezeichneter Schütze, der manchen Tiger erlegt
hat. Ein brauchbarer Mann – eine regelrechte Stütze des
Empire.
Er betrat das Wartezimmer, um Hut und Stock zu ho-
len, die er dortgelassen hatte. Zu seinem Erstaunen war
der unruhige junge Mann immer noch da. Ein weiterer
Patient las den Field.
Poirots neuerwachte wohlwollende Stimmung veran-
laßte ihn, den jungen Mann näher zu betrachten. Er sah
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immer noch so wild aus, als wolle er einen Mord bege-
hen – aber nicht eigentlich wie ein Mörder, dachte
Poirot freundlich. In kurzer Zeit würde dieser junge
Mann nach überstandener Folter zweifellos mit ver-
gnügtem Lächeln die Treppe hinabspringen und nie-
mandem etwas Böses wünschen.
Der Boy kam herein und sagte klar und deutlich: »Mr.
Blunt.«
Der Mann, der am Tisch saß, legte den Field hin und
stand auf. Mittelgroß, in mittleren Jahren, weder dick
noch mager. Gut angezogen, ruhig. Er verließ hinter
dem Boy das Zimmer.
Einer der reichsten und mächtigsten Männer Englands
– und doch mußte er wie jeder gewöhnliche Mensch
zum Zahnarzt gehen und dort dieselben Seelenqualen
durchmachen wie jeder andere!
Dieser Gedanke schoß Poirot durch den Kopf, während
er Hut und Stock nahm und zur Tür ging. Auf der
Schwelle sah er sich noch einmal um und erschrak: Der
junge Mann mußte in der Tat sehr böse Zahnschmerzen
haben!
In der Halle blieb Poirot einen Augenblick vor dem
Spiegel stehen, um seinen Schnurrbart in Ordnung zu
bringen, der durch Mr. Morleys Bemühungen leicht
durcheinandergeraten war.
Eben hatte er das Werk zu seiner Zufriedenheit vollen-
det, als der Lift wieder herunterkam und der Boy unter
mißtönendem Pfeifen aus dem hinteren Teil der Halle
auftauchte. Beim Anblick Poirots brach er seine musi-
kalische Darbietung abrupt ab und kam nach vorn, um
ihm die Haustür zu öffnen.
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In diesem Augenblick fuhr ein Taxi vor, die Tür öffnete
sich, und ein weiblicher Fuß wurde sichtbar. Poirot
betrachtete den Fuß mit galantem Interesse. Eine
schmale Fessel, ein Strumpf von recht guter Qualität.
Gar kein schlechter Fuß. Aber der Schuh gefiel ihm
nicht. Ein nagelneuer Lackschuh mit einer großen,
blitzenden Schnalle. Er schüttelte den Kopf. Nicht
schick – geradezu provinziell!
Als die Dame aus dem Taxi stieg, blieb sie mit dem an-
dern Fuß an der Tür hängen und riß sich dabei die
Schnalle ab, die klirrend aufs Pflaster fiel. Ritterlich
sprang Poirot hinzu, hob die Schnalle auf und über-
reichte sie der Eigentümerin mit einer Verbeugung. O
weh! Eher fünfzig als vierzig. Zwicker auf der Nase.
Unordentliches, gelblichgraues Haar – ein Kleid, das
ihr nicht stand: ein scheußliches, niederdrückendes
Grün! Sie dankte ihm: Der Zwicker fiel zu Boden, die
Tasche folgte. Poirot, höflich wie immer, wenn auch
nicht mehr galant, hob beides auf.
Sie ging die Stufen zum Haus Queen Charlotte Street
58 hinauf, und Poirot wandte sich an den Chauffeur,
der mürrisch sein mageres Trinkgeld betrachtete.
»Sie sind frei, was?«
Der Chauffeur sagte düster: »Ja, ja, ich bin frei.«
»Ich auch«, sagte Hercule Poirot. »Frei von allen Sor-
gen!«
Er bemerkte, daß der Mann ihn mit tiefem Mißtrauen
ansah.
»Nein, lieber Freund, ich bin nicht betrunken. Ich bin
nur beim Zahnarzt gewesen und muß erst in sechs
Monaten wieder hin. Das ist ein wundervolles Gefühl.«
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»Was?«
Japp fragte scharf: »Das überrascht Sie?«
»Offen gestanden: ja.«
»Ich sehe in der Sache nicht ganz klar«, sagte Japp.
»Würde gern mit Ihnen darüber sprechen. Sie können
wohl nicht vorbeikommen, oder?«
»Wo sind Sie denn?«
»In der Queen Charlotte Street.«
»Ich komme sofort!« erwiderte Poirot.
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blieben allein.
Poirot setzte sich und sagte: »Erzählen Sie.«
Japps Gesicht war sehr nachdenklich.
»Es ist möglich, daß er sich erschossen hat. Es ist sogar
wahrscheinlich. Auf der Waffe sind nur seine eigenen
Fingerabdrücke. Aber ganz überzeugt bin ich nicht.«
»Was spricht Ihrer Auffassung nach dagegen?«
»Also, zunächst einmal sehe ich keinen Grund für einen
Selbstmord. Morley war gesund, er hat gut verdient,
und niemand weiß etwas von Sorgen, die er gehabt
haben könnte. Er war auch in keine Weibergeschichte
verwickelt.«
Japp verbesserte sich vorsichtig: »Wenigstens soweit
wir wissen. Er war nicht trübsinnig oder bedrückt oder
anders als sonst. Das ist einer der Gründe, weswegen
mir daran liegt, Ihre Meinung zu hören. Sie haben ihn
heute früh gesehen, und ich würde gern wissen, ob
Ihnen etwas Besonderes aufgefallen ist.«
Poirot schüttelte den Kopf.
»Gar nichts. Er war – wie soll ich sagen – die Norma-
lität in Person.«
»Das läßt die Sache in einem merkwürdigen Licht er-
scheinen, nicht wahr? Jedenfalls würde man nicht an-
nehmen, daß jemand sich sozusagen mitten in der
Geschäftszeit erschießt. Warum hat er nicht bis heute
abend gewartet? Das wäre das Natürliche gewesen.«
Poirot pflichtete ihm bei.
»Wann hat sich die Tragödie ereignet?«
»Schwer zu sagen. Anscheinend hat niemand den
Schuß gehört. Aber das war auch nicht gut möglich.
Zwischen diesem Zimmer und dem Korridor liegen
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zwei Türen, die beide mit Filz abgedichtet sind.«
»Wann ist er aufgefunden worden?«
»Ungefähr um halb zwei – durch den Boy Alfred
Biggs. Kein großes Kirchenlicht, in keiner Beziehung.
Anscheinend hat die Patientin, die für halb ein Uhr be-
stellt war, Krach geschlagen, weil sie so lange warten
mußte. Etwa um ein Uhr zehn ist der Boy heraufge-
kommen und hat geklopft. Er bekam keine Antwort und
wagte offenbar nicht, hineinzugehen. Morley hatte ihn
schon ein paarmal angeschnauzt, und er hatte Angst,
wieder etwas verkehrt zu machen. So ging er wieder
hinunter, und die Patientin hat um ein Uhr fünfzehn
wutschnaubend das Haus verlassen. Ich kann es ihr
nicht verübeln. Man hatte sie fast eine Stunde warten
lassen, und sie wollte zu Mittag essen.«
»Wer war die Patientin?«
Japp grinste.
»Der Aussage des Boys nach eine Miss Shirty – aber
aus dem Ordinationsbuch geht hervor, daß sie Kirby
hieß.«
»Wie hat sich das Hereinrufen der Patienten gewöhn-
lich abgespielt?«
»Wenn Morley bereit war, den nächsten Patienten zu
empfangen, hat er auf den Klingelknopf dort drüben
gedrückt, und dann hat der Boy den Patienten herauf-
gebracht.«
»Und wann hat Morley zum letzten Mal auf den Klin-
gelknopf gedrückt?«
»Fünf Minuten nach zwölf. Der Boy hat den wartenden
Patienten heraufgeführt. Laut Ordinationsbuch war es
Mr. Amberiotis, zur Zeit im Savoy wohnend.«
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Ein schwaches Lächeln umspielte Poirots Lippen. Er
murmelte: »Ich bin neugierig, was unser Boy aus dem
Namen gemacht hat!«
»Ein hübsches Durcheinander, möchte ich behaupten.
Wir können ihn ja fragen, wenn uns nach Lachen zu-
mute ist.«
Poirot sagte: »Und um welche Zeit ist dieser Mr. Am-
beriotis fortgegangen?«
»Das weiß der Boy nicht, weil er ihn nicht hinausgelas-
sen hat. Viele Patienten gehen einfach die Treppen hin-
unter, ohne nach dem Lift zu klingeln, und verlassen
ungesehen das Haus.«
Poirot nickte.
Japp fuhr fort: »Aber ich habe im Savoy angerufen. Mr.
Amberiotis hat mir ganz präzise Angaben gemacht. Er
sagt, er habe auf die Uhr gesehen, als er die Haustür
hinter sich schloß, und da sei es fünfundzwanzig Mi-
nuten nach zwölf gewesen.«
»Etwas von Bedeutung konnte er Ihnen nicht mittei-
len?«
»Nein. Er meinte nur, der Zahnarzt habe einen voll-
kommen normalen und ruhigen Eindruck gemacht.«
»Eh bien«, murmelte Poirot, »das ist also anscheinend
ganz klar. Zwischen zwölf Uhr fünfundzwanzig und ein
Uhr dreißig ist etwas vorgefallen – und zwar vermutlich
eher gegen den ersten Zeitpunkt hin.«
»Richtig, denn sonst...«
»Sonst hätte er nach dem nächsten Patienten geklin-
gelt.«
»Ganz meine Meinung. Dem entspricht auch der ärzt-
liche Befund, soweit man damit etwas anfangen kann.
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Der Polizeiarzt hat die Leiche untersucht – um zwei
Uhr zwanzig. Er wollte sich nicht festlegen – das tun
sie heutzutage nie, angeblich wegen der Verschieden-
heiten in der individuellen Reaktion. Immerhin sagt er,
daß Morley nicht später als ein Uhr erschossen worden
ist, wahrscheinlich aber sogar erheblich früher – eine
bestimmtere Angabe wollte er nicht machen.«
Poirot meinte nachdenklich: »Dann ist also unser
Zahnarzt um zwölf Uhr fünfundzwanzig ein normaler
Zahnarzt, liebenswürdig, gesittet und tüchtig. Und da-
nach? Verzweiflung, Entsetzen – was Sie wollen –, und
er erschießt sich.«
»Komisch ist es schon«, sagte Japp. »Sie müssen zuge-
ben, daß es komisch ist.«
»Komisch», meinte Poirot, »ist nicht das richtige
Wort.«
»Ja, ja, ich weiß – aber man sagt das eben so. Es ist
sonderbar – wenn Ihnen dieses Wort besser gefällt.«
»Hat die Pistole ihm gehört?«
»Nein, er hat überhaupt keine besessen. Hat nie eine
besessen. Seine Schwester behauptet, im ganzen Haus
sei keine Waffe. Natürlich könnte er sie gekauft haben,
falls er sich entschlossen hatte, Selbstmord zu begehen.
Wenn ja, werden wir bald Näheres darüber wissen.«
Poirot fragte: »Worüber machen Sie sich sonst noch
Gedanken?«
Japp rieb sich die Nase.
»Nun – zum Beispiel über die Art, wie er dalag. Ich
will nicht behaupten, daß es unmöglich ist, so hinzu-
fallen – aber irgend etwas daran hat nicht gestimmt!
Und dann waren auch auf dem Teppich ein paar Spuren
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– als ob etwas darübergeschleift worden wäre.«
»Das könnte entschieden eine Bedeutung haben.«
»Ja – falls nicht der Boy die Hand dabei im Spiel hat.
Ich habe das Gefühl, daß vielleicht er versucht hat, die
Leiche vom Platz zu bewegen, nachdem er sie entdeckt
hatte. Das leugnet er natürlich, aber vielleicht bloß aus
Angst. Er ist einer von diesen jungen Eseln, die immer
irgendeine Ungeschicklichkeit begehen, dann dafür
angeschrien werden und infolgedessen fast automatisch
dazu gelangen, in jeder Lebenslage zu lügen.«
Poirot sah sich nachdenklich im Zimmer um. Er
schaute auf das Waschbecken, das hinter der Tür an der
Wand befestigt war, und auf den hohen Akten-schrank
auf der anderen Seite der Tür. Auf den Behandlungs-
stuhl und die ihn umgebenden Apparaturen beim
Fenster, dann auf den Kamin und schließlich wieder auf
die Stelle, wo die Leiche gelegen hatte; neben dem
Kamin befand sich eine zweite Tür.
Japp deutete auf die Tür neben dem Kamin.
»Da drin ist noch ein kleines Büro.«
Er öffnete die Tür. Sie führte in einen kleinen Raum,
der einen Schreibtisch, einen Tisch mit Spirituskocher
und Teegeschirr sowie einige Stühle enthielt. Einen
zweiten Ausgang gab es nicht.
»Hier hat seine Sekretärin und Assistentin gearbeitet«,
erklärte Japp. »Miss Nevill. Sie ist heute anscheinend
nicht dagewesen.«
Poirots Blick begegnete dem seinen.
Poirot sagte: »Ich erinnere mich, daß er mir davon
erzählt hat. Könnte nicht auch das – ein Argument
gegen den Selbstmord sein?«
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»Sie meinen, man hätte sie absichtlich fortgelockt?« Er
zögerte einen Augenblick und fragte dann: »Aber wenn
Morley wirklich ermordet werden ist – wer hätte es tun
können?«
»Nahezu jeder hätte es tun können«, erklärte Poirot
ernst. »Seine Schwester konnte ihn erschießen, sein
Partner Reilly konnte es tun, der Boy Alfred – alle Pa-
tienten besaßen die Möglichkeit, Morley zu töten.« Er
überlegte einen Augenblick. »Am leichtesten von allen
konnte ihn Amberiotis erschießen.«
»Aber in dem Fall müssen wir herausfinden, warum.«
»Ganz richtig. Sie sind wieder bei dem ursprünglichen
Problem angelangt: Warum? Amberiotis wohnt im Sa-
voy. Warum sollte ein reicher Grieche den Wunsch ha-
ben, einen harmlosen Zahnarzt zu erschießen?«
»Das ist tatsächlich unsere Hauptschwierigkeit: das
Motiv!«
Poirot zuckte die Achseln.
»Es sieht so aus, als habe der Tod in ganz unkünstleri-
scher Weise den Falschen ausgesucht. Der geheimnis-
volle Grieche, der reiche Bankier, der berühmte Detek-
tiv – wie natürlich hätte es sich gemacht, wenn einer
von diesen erschossen worden wäre! Denn geheimnis-
volle Ausländer können in Spionagegeschichten ver-
wickelt sein, reiche Bankiers haben Verwandte, die von
deren Tod profitieren, und berühmte Detektive bilden
eine Gefahr für verbrecherische Elemente.«
»Wogegen der arme alte Morley niemandem etwas zu-
leide getan hat«, ergänzte Japp mißmutig.
»Vielleicht doch?«
Japp fuhr herum.
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»Woran denken Sie?«
»An nichts. Nur eine zufällige Bemerkung.«
Er berichtete Japp, daß Morley so nebenbei etwas über
sein Physiognomiengedächtnis und das Wiederauf-
tauchen eines bekannten Gesichts unter seinen Patien-
ten gesagt hatte.
Japp machte ein bedenkliches Gesicht. »Möglich ist es
schon, nehme ich an. Aber es scheint ein bißchen weit
hergeholt. Es muß jemand gewesen sein, der seine
Identität verschleiern wollte. Unter den Patienten heute
morgen ist Ihnen niemand aufgefallen?«
Poirot murmelte: »Im Wartezimmer habe ich einen
jungen Mann bemerkt, der aussah wie ein Mörder!«
Japp meinte überrascht: »Was meinen Sie damit?«
Poirot lächelte: »Mon cher – das war, als ich das Haus
betrat! Ich war nervös, voll dummer Gedanken – enfin,
ich war schlechter Laune. Alles erschien mir in einem
unheilvollen Licht. Das Wartezimmer, die Patienten,
sogar der Treppenläufer! In Wirklichkeit wird der junge
Mann wohl nur böse Zahnschmerzen gehabt haben –
das war alles!«
»Ich weiß, wie das ist«, sagte Japp. »Trotzdem werden
wir uns Ihren Mörder einmal näher ansehen. Wir wer-
den uns alle möglichen Verdächtigen vornehmen, ob es
nun Selbstmord ist oder nicht. Ich denke, das nächste
wird eine nochmalige Unterhaltung mit Miss Morley
sein. Ich habe sie nur ganz kurz gesprochen. Natürlich
war es ein schwerer Schlag für sie, aber sie gehört zu
den Leuten, die nicht zusammenklappen. Kommen Sie,
wir wollen mit ihr sprechen.«
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Hoch aufgerichtet und unbewegt hörte Georgina
Morley den beiden Männern zu und beantwortete ihre
Fragen.
Sie sagte mit Nachdruck: »Es scheint mir unglaublich –
ganz unglaublich –, daß mein Bruder Selbstmord
begangen haben soll!«
»Ist Ihnen klar, Mademoiselle, daß dann nur eine ein-
zige andere Möglichkeit übrigbleibt?« sagte Poirot.
»Sie meinen: Mord.« Einen Augenblick schwieg sie
nachdenklich. Dann sagte sie langsam: »Es stimmt –
diese Lösung erscheint ebenso unmöglich wie die an-
dere.«
»Aber nicht ganz so unmöglich?«
»Nein, weil – verstehen Sie, in meinem Fall spreche ich
von etwas, das ich genau kannte, nämlich vom Seelen-
zustand meines Bruders. Ich weiß, daß ihn nichts
bedrückte, daß er keinen Grund – nicht den geringsten
Grund hatte, sich das Leben zu nehmen!«
»Sie haben ihn heute früh gesprochen, bevor er in die
Praxis ging?«
»Ja, beim Frühstück.«
»Und er war ganz wie immer – in keiner Weise verän-
dert?«
»Verändert war er – aber nicht, wie Sie meinen. Er war
bloß ärgerlich.«
»Warum das?«
»Er hatte einen sehr arbeitsreichen Vormittag vor sich,
und seine Assistentin konnte nicht kommen.«
»Das ist Miss Nevill?«
»Ja.«
»Worin bestand ihre Tätigkeit?«
29
»Sie hat die ganze Korrespondenz meines Bruders er-
ledigt und das Ordinationsbuch und die Kartei geführt.
Ferner hat sie die Sterilisierung der Instrumente be-
sorgt, die Füllungen angerührt und hat ihm auch sonst
bei den Behandlungen assistiert.«
»Ist sie schon lange bei ihm?«
»Seit drei Jahren. Sie ist ein sehr zuverlässiges Mäd-
chen, und wir hatten sie beide gern.«
Poirot sagte: »Wie mir Ihr Bruder gesagt hat, ist sie zu
einer erkrankten Verwandten gerufen worden.«
»Ja.«
»Und darüber hat sich Ihr Bruder so sehr geärgert?«
»Ja.« Ein leichtes Zögern lag in Miss Morleys Antwort.
Sie sprach eilig weiter. »Sie – Sie müssen meinen Bru-
der nicht für gefühllos halten. Nur hat er im Augenblick
geglaubt...« »
Ja, Miss Morley?«
»Nun, er hat geglaubt, sie sei vielleicht absichtlich vom
Dienst ferngeblieben. Bitte, mißverstehen Sie mich
nicht – ich bin ganz überzeugt, daß Gladys so etwas nie
tun würde. Ich habe das Henry auch gesagt. Aber die
Sache ist so, daß sie sich mit einem sehr unerfreulichen
jungen Mann verlobt hat – Henry war wütend darüber –
und er hat sich eingebildet, dieser junge Mann hätte sie
überredet, ihre Arbeit im Stich zu lassen.«
»Wäre das wahrscheinlich gewesen?«
»Nach meiner Überzeugung nicht. Gladys ist ein sehr
gewissenhaftes Mädchen.«
»Aber es hätte dem jungen Mann entsprochen, einen
solchen Vorschlag zu machen?«
»Das möchte ich allerdings annehmen.«
30
»Was treibt dieser junge Mann – wie heißt er übri-
gens?«
»Carter, Frank Carter. Er ist – oder vielmehr, er war –
Versicherungsangestellter. Vor ein paar Wochen verlor
er seine Stellung, und seitdem arbeitet er nicht mehr.
Henry hat gesagt – und ich glaube, er hatte recht –,
Carter sei ein ausgemachter Taugenichts. Gladys hatte
ihm einen Teil ihrer Ersparnisse geliehen, und mein
Bruder war wütend darüber.«
Japp fragte interessiert: »Hat Ihr Bruder versucht, Miss
Nevill zu einer Auflösung des Verlöbnisses zu bewe-
gen?«
»Ja, ich weiß, daß er das getan hat.«
»Dann wäre es also durchaus möglich, daß dieser Frank
Carter einen Groll gegen Ihren Bruder hegte?«
Der Grenadier antwortete derb: »Unsinn! Das heißt,
wenn Sie meinen, daß Frank Carter Henry erschossen
hat. Gewiß hat mein Bruder versucht, das Mädchen von
dem jungen Mann abzubringen, aber sie hat seinen Rat
nicht befolgt – sie hängt wie närrisch an Frank.«
»Fällt Ihnen sonst noch jemand ein, der einen Groll ge-
gen Ihren Bruder hegte?«
Miss Morley schüttelte den Kopf.
»Mit seinem Partner Reilly ist er gut ausgekommen?«
Miss Morley antwortete säuerlich: »So gut, wie man
mit einem Iren eben auskommen kann.«
»Was meinen Sie damit, Miss Morley?«
»Nun, Iren sind jähzornig und haben die größte Freude
an jedem nur denkbaren Streit. Mr. Reilly liebt politi-
sche Debatten.«
»Sonst hat es nichts gegeben?«
31
»Sonst nichts. Mr. Reilly hat viele Fehler, ist aber sehr
tüchtig in seinem Beruf – wenigstens hat mein Bruder
das immer gesagt.«
Japp ließ nicht locker: »Worin bestehen seine Fehler?«
»Er trinkt – aber machen Sie bitte keinen Gebrauch von
dieser Information.«
»Hat es zwischen ihm und Ihrem Bruder über diesen
Punkt Differenzen gegeben?«
»Henry hat es ihm gegenüber ein paarmal angedeutet.
Als Zahnarzt«, fuhr Miss Morley belehrend fort,
»braucht man eine ruhige Hand, und ein Atem, der
nach Alkohol riecht, flößt dem Patienten kein Ver-
trauen ein.«
Japp nickte zustimmend. Dann sagte er: »Können Sie
uns etwas über die finanziellen Verhältnisse Ihres Bru-
ders sagen?«
»Henry verdiente gut und hatte auch gewisse Erspar-
nisse. Ferner besaßen wir beide ein kleines Zinsein-
kommen, das wir von unserem Vater geerbt haben.«
Japp räusperte sich und murmelte: »Sie wissen wohl
nicht, ob Ihr Bruder ein Testament hinterlassen hat?«
»Doch, das hat er, und ich kann Ihnen auch sagen, was
drinsteht. Hundert Pfund hat er Gladys Nevill ver-
macht, und alles übrige fällt an mich.«
»Aha. Nun ...«
Wildes Pochen an der Tür. Dann steckte Alfred den
Kopf herein. Seine Glotzaugen nahmen jede Einzelheit
der beiden Besucher in sich auf, während er hervor-
stieß:
»Miss Nevill ist zurück. Ganz durcheinander. Sie will
wissen, ob sie hereinkommen soll.«
32
Japp nickte, und Alfred verschwand.
Gladys Nevill war ein großes, blondes, etwas blutarmes
Mädchen von ungefähr achtundzwanzig Jahren. Ob-
wohl offensichtlich sehr aufgeregt, zeigte sie sofort,
daß sie tüchtig und intelligent war. Unter dem Vor-
wand, Mr. Morleys Papiere durchsehen zu wollen,
führte Japp sie hinunter in das kleine Büro neben dem
Ordinationszimmer.
»Sie sind heute abberufen worden, Miss Nevill –« be-
gann Japp das Gespräch. Sie unterbrach ihn.
»Ja, jemand hat sich einen dummen Scherz erlaubt. Ich
finde es unerhört, daß jemand sich so etwas ausdenkt.
Wirklich unerhört.«
»Wie soll ich das verstehen, Miss Nevill?«
»Meiner Tante hat überhaupt nichts gefehlt. Sie war
ganz erstaunt, als ich so plötzlich auftauchte. Natürlich
habe ich mich sehr gefreut, daß sie wohlauf war – aber
wütend war ich doch. Ein solches Telegramm zu schik-
ken und alles durcheinanderzubringen!«
»Besitzen Sie das Telegramm noch, Miss Nevill?«
»Nein, ich habe es weggeworfen – auf dem Bahnhof,
glaube ich. Es stand nur drin: ›Tante gestern abend
Schlaganfall, bitte sofort kommen.‹«
»Sind Sie ganz sicher – hm –« Japp hüstelte, »daß es
nicht Ihr Freund war, Mr. Carter, der Ihnen das Tele-
gramm geschickt hat?«
»Frank? Ja, aber wozu denn? Oh – ich verstehe! Sie
meinen – ein abgekartetes Spiel zwischen uns beiden?
Nein, Inspektor – so etwas würde weder er noch ich
tun.«
Ihre Empörung schien echt, und Japp hatte alle Mühe,
33
sie zu beruhigen. Aber eine Frage nach den Patienten
des Vormittags brachte sie wieder völlig ins Gleichge-
wicht.
»Die Patienten stehen alle hier im Buch. Sie werden es
schon gesehen haben. Über die meisten weiß ich Be-
scheid. Zehn Uhr Mrs. Soames – wegen ihres neuen
Gebisses. Zehn Uhr dreißig Lady Grant – das ist eine
ältere Dame – wohnt am Lowndes Square. Dann um elf
Uhr, Mr. Hercule Poirot, als dritter Patient; der kommt
regelmäßig – oh, natürlich, da ist er ja! Entschuldigen
Sie, Mr. Poirot, aber ich bin ganz durcheinander! Elf
Uhr dreißig Mr. Alistair Blunt – das ist der Bankier,
wissen Sie –, nur eine kurze Sitzung, denn Mr. Morley
hatte die Füllung das letzte Mal vorbereitet. Dann Miss
Sainsbury Seale – die hat extra angerufen, weil sie
Schmerzen hatte; Mr. Morley wollte sie zwischendurch
drannehmen. Sie schwatzt furchtbar viel – kann kein
Ende finden –, eine sehr umständliche Dame. Dann um
zwölf Uhr Mr. Amberiotis – ein neuer Patient, der im
Savoy abgestiegen ist. Eine ganze Menge Ausländer
und Amerikaner kommen zu Mr. Morley. Schließlich
um zwölf Uhr dreißig Miss Kirby. Die kommt aus
Worthing.«
Poirot sagte: »Als ich hier war, saß im Wartezimmer
ein großer, militärisch aussehender Herr. Wer kann das
gewesen sein?«
»Einer von Mr. Reillys Patienten, nehme ich an. Ich
werde Ihnen schnell einmal seine Liste besorgen, ja?«
»Ja, danke, Miss Nevill.«
Nach wenigen Minuten kam sie mit einem Buch zu-
rück, das ähnlich aussah wie das von Mr. Morley.
34
Sie las vor: »Zehn Uhr Betty Heath – das ist ein kleines
Mädchen von neun Jahren. Elf Uhr Colonel Abercrom-
bie.«
»Abercrombie!« murmelte Poirot. »C'était ça!«
»Elf Uhr dreißig Mr. Howard Raikes. Zwölf Uhr Mr.
Barnes. Das sind alle Patienten von heute vormittag.
Mr. Reilly ist natürlich nicht so stark beansprucht wie
Mr. Morley.«
»Können Sie uns irgend etwas über diese Patienten von
Mr. Reilly mitteilen?«
»Colonel Abercrombie ist ein langjähriger Patient, und
Mrs. Heath schickt alle ihre Kinder zu Mr. Reilly. Über
Mr. Raikes und Mr. Barnes kann ich Ihnen nichts sa-
gen, obwohl ich glaube, die beiden Namen schon ge-
hört zu haben. Verstehen Sie, ich nehme alle Telefon-
gespräche entgegen...«
Japp sagte: »Wir können ja Mr. Reilly selbst fragen. Ich
möchte ihn so bald wie möglich sprechen.«
Miss Nevill ging hinaus.
Japp sagte zu Poirot: »Alles alte Patienten von Morley,
außer Amberiotis. Mit Mr. Amberiotis gedenke ich sehr
bald ein interessantes Gespräch zu führen. Wie die
Dinge nun mal liegen, war er der letzte, der Morley
lebend sah, und wir müssen genau feststellen, ob
Morley wirklich am Leben war, als Amberiotis kam –
oder ging.«
Poirot schüttelte den Kopf und sagte langsam: »Dann
müssen Sie ihm aber immer noch ein Motiv nachwei-
sen.«
»Das weiß ich. Aber vielleicht finden wir etwas über
Amberiotis in den Polizeiakten.« Gespannt fügte er
35
hinzu: «Sie sehen so nachdenklich aus, Poirot!«
»Ja, ich habe mir eben eine Frage vorgelegt.«
»Was für eine Frage?«
Poirot lächelte schwach und sagte: »Warum, Chefin-
spektor Japp?«
»Wie... Oh – dafür gibt es eine sehr einfache Erklärung:
Alistair Blunt. Sobald der Bezirksinspektor erfuhr, daß
Blunt heute vormittag hier war, meldete er das der
Zentrale. Für Leute wie Mr. Blunt wird hierzulande gut
gesorgt.«
»Sie meinen, daß es Menschen gibt, die ihn gern – aus
dem Weg schaffen würden?«
»Blunt mit seiner Hochfinanz ist eine Macht im Staate,
die manchem im Wege steht.«
Poirot nickte.
»Das habe ich mehr oder weniger vermutet. Und ich
habe das Gefühl, daß –« er machte eine ausdrucksvolle
Handbewegung – »vielleicht irgend etwas schiefgegan-
gen ist. Als eigentliches Opfer war Alistair Blunt auser-
sehen. Oder das hier ist nur ein Anfang – der Beginn
irgendeiner besonderen Kampagne? Ich rieche – ich
rieche« – er schnüffelte in der Luft herum –, »daß
hinter dieser Geschichte eine Menge Geld steckt!«
Japp brummte: »Sie gehen mit Ihren Annahmen ein
bißchen weit, wissen Sie.«
»Ich behaupte, daß ce pauvre Morley nur eine unterge-
ordnete Figur im Spiel war. Vielleicht hat er etwas ge-
wußt – vielleicht hat er Blunt etwas erzählt–, oder man
befürchtete, daß er Blunt etwas erzählen wollte.«
Er brach ab, als Gladys Nevill wieder ins Zimmer kam.
»Mr. Reilly ist gerade mit einer Extraktion beschäf-
36
tigt«, sagte sie. »Er steht Ihnen in ungefähr zehn Minu-
ten zur Verfügung, falls Ihnen das recht ist.«
Japp war damit einverstanden. In der Zwischenzeit
wollte er noch einmal »mit diesem Alfred« reden.
Alfred wurde hin und her gerissen zwischen freudiger
Erregung und panischer Angst, man werde ihm für alles
Vorgefallene die Schuld zuschieben. Er stand erst seit
vierzehn Tagen in Mr. Morleys Diensten, und während
dieser kurzen Zeit hatte er beständig und unweigerlich
alles falsch gemacht. Die dauernden Vorwürfe hatten
sein Selbstvertrauen untergraben.
»Er war vielleicht ein bißchen fahriger als sonst«, gab
Alfred auf eine Frage zur Antwort, »aber im übrigen
kann ich mich an nichts Besonderes erinnern. Ich hätte
nie gedacht, daß er sich abmurksen würde.«
Poirot fiel ihm ins Wort.
»Sie müssen uns«, sagte er, »alles über heute vormittag
erzählen, was Ihnen im Gedächtnis geblieben ist. Sie
sind ein wichtiger Zeuge, und Ihre Angaben können für
uns von ungeheurem Nutzen sein.«
Alfreds Gesicht lief knallrot an, und seine Brust war
stolzgeschwellt. Er hatte Japp bereits einen kurzen Be-
richt über die Ereignisse des Vormittags gegeben. Jetzt
nahm er sich vor, ausführlicher zu werden. Ein wohl-
tuendes Gefühl seiner eigenen Bedeutung durchzog ihn.
»Ich kann Ihnen schon Bescheid sagen«, sagte er. »Fra-
gen Sie nur immerzu.«
»Zunächst einmal: Ist heute vormittag irgend etwas
Ungewöhnliches vorgefallen?«
Alfred dachte einen Augenblick nach und antwortete
dann ziemlich betrübt: »Könnte ich nicht behaupten. Es
37
war alles wie sonst.«
»Sind Unbekannte ins Haus gekommen?«
»Nein.«
»Auch nicht als Patienten?«
»Ach. Sie meinen die Patienten? Es ist niemand ge-
kommen, der nicht angemeldet war.«
»Hätte jemand ungesehen das Haus betreten kön-
nen...?«
»Ausgeschlossen. Dazu muß man einen Schlüssel ha-
ben.«
»Aber hinaus kommt man ohne weiteres?«
»Ja, dazu braucht man nur die Klinke zu drücken, hin-
auszugehen und die Tür hinter sich zuzuziehen. Wie
gesagt, so machen es die meisten. Sie gehen zu Fuß die
Treppe hinunter, während ich den nächsten im Lift
hinauffahre.«
»Ich verstehe. Jetzt erzählen Sie uns einmal, wer heute
morgen zuerst gekommen ist und so weiter. Beschrei-
ben Sie die Personen, wenn Ihnen die Namen entfallen
sind.«
Alfred überlegte eine Weile. Dann sagte er: »Dame mit
einem kleinen Mädchen; die ist zu Mr. Reilly gekom-
men und eine Mrs. Soap oder so ähnlich zu Mr.
Morley.«
Poirot sagte: »Ganz recht. Fahren Sie fort...«
»Dann eine andere, ältere Dame – ziemlich elegant.
Nachher ein großer, militärisch aussehender Herr, und
nachher Sie...«
Er machte eine Kopfbewegung zu Poirot hin.
»Richtig.«
»Dann der Amerikaner...«
38
Japp sagte scharf: »Amerikaner?«
»Ja, Sir. Das war bestimmt ein Amerikaner – an der
Aussprache deutlich zu hören. Noch jung. Er kam zu
früh – war erst auf halb zwölf Uhr bestellt. Und nach-
her ging er gar nicht ins Sprechzimmer.«
»Wie meinen Sie das?« fragte Japp.
»Ich wollte ihn holen, als Mr. Reilly um halb zwölf Uhr
läutete – es war übrigens etwas später, vielleicht zwan-
zig vor zwölf –, und da war er nicht im Wartezimmer.
Hat wohl Angst bekommen und ist verduftet.« Mit
wissender Miene setzte er hinzu: »Kommt öfters vor.«
Poirot fragte: »Dann muß er kurz nach mir das Haus
verlassen haben?«
»Stimmt. Sie sind fortgegangen, nachdem ich einen
Herrn hinaufgefahren habe, der in einem Rolls-Royce
gekommen war. Oh – ein wunderbarer Wagen – gehört
Mr. Blunt. Dann ging ich hinunter, öffnete Ihnen die
Tür und ließ eine Dame herein. Miss Some Berry Seal
oder so ähnlich. Dann – dann ging ich schnell in die
Küche und aß einen Bissen, und während ich dort unten
war, läutete die Klingel – Mr. Reillys Klingel. Ich ging
ins Wartezimmer, und da war der Amerikaner nicht
mehr da. Das habe ich Mr. Reilly gemeldet, und er hat
ein bißchen geflucht, wie üblich.«
Poirot sagte: »Weiter.«
»Moment – was ist denn dann passiert? Ah, ja: Mr.
Morley hat geläutet, und ich habe Miss Sowieso im Lift
hinaufgefahren; währenddessen ist der Mister mit dem
Rolls-Royce die Treppe hinunter und aus dem Haus ge-
gangen. Dann bin ich wieder hinunter, und es sind zwei
Herren gekommen – der eine war ein kleiner Herr mit
39
einer komischen Piepsstimme – ich kann mich nicht an
den Namen erinnern. Der ist zu Mr. Reilly gekommen.
Und ein dicker Ausländer zu Mr. Morley.«
»Aha.«
»Miss Seal war nicht lange drin – nicht mehr als eine
Viertelstunde. Ich habe sie hinausgeführt und dann den
Ausländer hinaufgebracht.«
»Und Sie haben nicht gesehen, wie Mr. Amberiotis –
der Ausländer – das Haus verlassen hat?«
»Nein, Sir, das habe ich nicht gesehen. Er muß allein
hinausgegangen sein. Ich habe weder ihn noch den an-
deren Herrn mehr gesehen.«
»Wo waren Sie von zwölf Uhr an?«
»Ich setze mich immer in den Lift und warte darauf, ob
es läutet – Haustür oder eine der beiden Klingeln aus
den Sprechzimmern.«
Poirot vermutete: »Dabei haben Sie vielleicht gelesen?«
Alfred wurde rot.
»Da ist doch nichts dabei? Etwas anderes könnte ich
während der Zeit nicht machen.«
»Ganz recht. Was haben Sie gelesen?«
»›Mord Viertel vor zwölf‹ heißt das Buch. Ein amerika-
nischer Kriminalroman, wirklich großartig! Handelt
von lauter Gangstern.« Poirot unterdrückte ein Lächeln.
»Konnten Sie von Ihrem Platz aus hören, ob die Haus-
tür geschlossen wurde?«
»Sie meinen, wenn jemand hinausgegangen wäre? Ich
glaube nicht. Ich will damit sagen, daß ich es nicht be-
merkt hätte. Sehen Sie, der Lift liegt ganz hinten um die
Ecke. Das Läutwerk von der Türglocke und den Klein-
geln aus den beiden Sprechzimmern ist gerade daneben
40
– das könnte ich nicht überhören.«
Poirot nickte, und Japp fragte: »Was ist dann noch pas-
siert?«
Alfred dachte angestrengt nach.
»Dann ist nur noch die letzte Dame gekommen. Miss
Shirty. Ich habe dauernd auf Mr. Morleys Klingelzei-
chen gewartet – aber nichts –, und um ein Uhr ist die
Dame ziemlich böse geworden.«
»Ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen, ungerufen
hinaufzugehen und nachzusehen, ob Mr. Morley viel-
leicht frei war?«
Alfred schüttelte sehr energisch den Kopf. »Mach ich
nicht, Sir – würde mir nie im Traum einfallen. Für mich
war der letzte Patient immer noch dort oben im Sprech-
zimmer. Meine Sache war es, auf die Klingel zu
warten. Natürlich, wenn ich gewußte hätte, daß sich
Mr. Morley abgemurkst hat...«
»Ich verstehe –« Poirot machte eine Pause und fuhr
dann fort:
»Hat Mr. Morleys Selbstmord Sie überrascht, Alfred?«
»Ich war einfach platt. Soweit ich sehe, hat er nicht den
geringsten Grund gehabt, sich umzubringen – oh! Er ist
doch nicht etwa ermordet worden?«
Ehe Japp etwas sagen konnte, griff Poirot ein: »Ange-
nommen, das wäre der Fall – wären Sie dann weniger
überrascht?«
»Ich weiß wirklich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen,
daß jemand Mr. Morley umbringen wollte. Er war – na,
er war so ein alltäglicher Herr. Ist er tatsächlich ermor-
det worden?«
Poirot entgegnete mit Würde: »Wir müssen jede Mög-
41
lichkeit in Erwägung ziehen. Das ist auch der Grund,
weshalb ich Ihnen gesagt habe, Sie seien ein sehr wich-
tiger Zeuge und sollten sich alles ins Gedächtnis rufen,
was heute vormittag passiert ist.«
Er legte besonderen Nachdruck auf seine letzten Worte,
und Alfred furchte in einer verzweifelten inneren An-
strengung die Stirn.
»Ich kann mich an nichts sonst erinnern.«
Seine Stimme klang kläglich.
»Schon gut, Alfred. Und sind Sie ganz sicher, daß au-
ßer den Patienten keine fremden Personen heute vor-
mittag das Haus betreten haben?«
»Fremde Personen nicht. Nur der junge Mann von Miss
Nevill ist vorbeigekommen – hat sich sehr aufgeregt,
als sie nicht da war.«
Japp fragte interessiert: »Wann war das?«
»Etwas nach zwölf Uhr. Als ich ihm sagte, Miss Nevill
sei den ganzen Tag abwesend, machte er einen sehr
niedergeschlagenen Eindruck und wollte unbedingt mit
Mr. Morley sprechen. Ich erklärte, Mr. Morley sei bis
zum Mittagessen beschäftigt, aber er meinte, das mache
nichts, er würde warten.«
Poirot fragte: »Und hat er gewartet?«
Plötzliches Erstaunen malte sich in Alfreds Zügen.
»Oh – daran habe ich überhaupt nicht gedacht! Er ist
ins Wartezimmer gegangen, aber später war er nicht
mehr da! Wahrscheinlich ist es ihm langweilig gewor-
den, und er hat sich gedacht, er würde noch zurück-
kommen.«
Als Alfred das Zimmer verlassen hatte, sagte Japp
scharf: »Halten Sie es für klug, diesem Burschen ge-
42
genüber die Möglichkeit eines Mordes anzudeuten?«
Poirot zuckte die Achseln.
»Ich glaube ja. Es wird für ihn ein Ansporn sein, sich
jeder kleinen Einzelheit zu erinnern, die er vielleicht
gesehen oder gehört hat, und er wird scharf auf alle
Vorgänge im Haus achten.«
»Trotzdem, wir wollen unseren Verdacht nicht zu früh
bekanntwerden lassen.«
»Mon cher, diese Gefahr besteht nicht. Alfred liest Kri-
minalromane – Alfred ist begeistert von Verbrechen.
Was immer Alfred ausplaudern mag, wird man auf das
Konto seiner blühenden Phantasie schreiben.«
»Nun, vielleicht haben Sie recht, Poirot. Jetzt wollen
wir einmal hören, was Reilly zu sagen hat.«
43
andere. »Zunächst einmal Geldsorgen! Mir ist es noch
nie gelungen, meine Ausgaben mit meinen Einnahmen
in Einklang zu bringen. Aber Morley war ein sorgsamer
Mensch. Bei ihm werden Sie keine Schulden finden,
keine Geldschwierigkeiten – davon bin ich über-
zeugt...«
»Frauengeschichten?« erkundigte sich Japp.
»Sie meinen, ob Morley welche hatte? Dem armen
Teufel hat doch jede Daseinsfreude gefehlt! Stand völ-
lig unter dem Pantoffel seiner Schwester.«
Japp fragte Reilly nach Einzelheiten über die Patienten,
die er am Vormittag empfangen hatte.
»Oh, ich glaube, die sind alle über jeden Zweifel erha-
ben. Da war die kleine Betty Heath, ein nettes Kind –
ich habe die ganze Familie nach und nach behandelt.
Colonel Abercrombie ist ebenfalls ein alter Patient.«
»Wie steht es mit Mr. Howard Raikes?« fragte Japp.
»Der mir ausgerissen ist? Der war noch nie bei mir. Ich
weiß nichts von ihm. Er hat angerufen und wollte aus-
drücklich heute vormittag behandelt werden.«
»Von wo aus hat er angerufen?«
»Aus dem Holborn Palace Hotel. Er ist Amerikaner,
glaube ich.«
»Ja, das hat Alfred auch gesagt.«
»Alfred muß es wissen«, sagte Reilly. »Ein Filmnarr,
unser Alfred.«
»Und der andere Patient?«
»Barnes? Ein komischer, pedantischer kleiner Mann.
Pensionierter Beamter. Wohnt draußen in Ealing.«
Japp machte eine kleine Pause und fragte dann: »Was
können Sie uns über Miss Nevill sagen?«
44
Reilly machte ein erstauntes Gesicht.
»Die wunderschöne blonde Sekretärin? Nein – nichts
zu machen! Ihre Beziehungen zum alten Morley waren
vollständig unschuldig – davon bin ich überzeugt...«
»Ich habe keineswegs das Gegenteil behauptet«, mur-
melte Japp etwas betreten.
»Verzeihung«, sagte Reilly. »Ich habe eben eine
schmutzige Phantasie. Dachte, Sie wollten etwas an-
deuten in Richtung cherchez la femme. Entschuldigen
Sie, wenn ich mich Ihrer Sprache bediene«, bemerkte
er, Poirot zugewendet. »Habe ich nicht eine glänzende
Aussprache? Das kommt davon, wenn man von Non-
nen erzogen wird.«
Japp mißbilligte seinen leichten Ton. Er fragte: »Wis-
sen Sie Näheres über den jungen Mann, mit dem Miss
Nevill verlobt ist? Er heißt Carter, wie ich höre, Frank
Carter.«
»Morley hat nicht viel von ihm gehalten«, sagte Reilly.
»Er hat der Nevill zugeredet, ihm den Laufpaß zu ge-
ben.«
»Das könnte Carter gegen ihn aufgebracht haben?«
»Hat ihn wahrscheinlich furchtbar gewurmt«, pflichtete
Reilly ihm vergnügt bei. Er hielt einen Augenblick inne
und fragte dann: «Verzeihen Sie: Ist es eigentlich ein
Selbstmord, den Sie hier untersuchen – oder ein
Mord?«
»Falls es ein Mord wäre – würden Sie dann irgendwel-
che Vermutungen haben?« fragte Japp scharf.
»Nein. Ich möchte gern, daß Georgina ihn begangen
hätte! Eine von diesen humorlosen Frauen, die von der
Feindschaft gegen den Alkohol besessen sind. Aber ich
45
fürchte, Georgina ist viel zu moralisch für einen Mord.
Natürlich hätte auch ich mit Leichtigkeit in den oberen
Stock hinauflaufen und den alten Knaben umbringen
können – habe ich aber nicht. Ich kann mir überhaupt
niemanden vorstellen, der den Wunsch gehabt haben
sollte, Morley zu ermorden. Ebensowenig kann ich mir
allerdings vorstellen, daß er sich selbst umbrachte.«
In verändertem Ton fügte er hinzu: »In Wirklichkeit tut
mir die ganze Geschichte sehr leid. Sie müssen mich
nicht nach meinen Worten beurteilen. Das ist alles
Nervosität, wissen Sie. Ich habe den alten Morley recht
gern gehabt und werde ihn sehr vermissen.«
46
Verlassen Sie sich drauf: Um halb eins oder spätestens
fünf Minuten nach halb eins war Morley tot – sonst
hätte er entweder geklingelt oder Miss Kirby mitteilen
lassen, er könne sie nicht empfangen. Nein – entweder
ist er umgebracht worden, oder jemand hat ihn im
Sprechzimmer aufgesucht und ihm etwas gesagt, was
seine ganze Lebenssituation verändert und ihn zum
Selbstmord getrieben hat.«
Japp hielt inne.
»Ich werde jeden einzelnen der Patienten verhören, die
er heute vormittag empfangen hat. Es besteht immerhin
die vage Möglichkeit, daß er zu einem von ihnen etwas
gesagt hat, was uns auf die richtige Spur bringt.«
Er schaute auf die Uhr.
»Mr. Alistair Blunt hat sich bereit erklärt, mir um vier
Uhr fünfzehn ein paar Minuten zu opfern. Den werden
wir also zuerst aufsuchen. Er wohnt am Chelsea
Embankment. Dann können wir uns auf dem Weg zu
Amberiotis diese Miss Sainsbury Seale vornehmen. Ich
möchte gern möglichst viel Material sammeln, bevor
wir unseren griechischen Freund in die Zange nehmen.
Nachher möchte ich gern ein paar Worte mit dem
Amerikaner sprechen, der ›bach Mord aussah‹, wie Sie
sagen.«
Hercule Poirot schüttelte den Kopf.
»Nicht nach Mord – nach Zahnweh.«
»Egal – wir werden uns diesen Mr. Raikes anschauen.
Er hat sich – um es vorsichtig auszudrücken – sonder-
bar aufgeführt. Und dann werden wir dem Telegramm
an Miss Nevill nachgehen und ihrer Tante und ihrem
jungen Mann. Wir werden einfach allem und jedem
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nachgehen!«
48
Claridge geschickt, um mit ihr eine Reihe von Schrift-
stücken durchzusehen. Ein Jahr später empfing die
Welt wie einen elektrischen Schlag die Nachricht, daß
Rebecca Sanseverato Alistair Blunt heiraten würde,
einen Mann, der nahezu zwanzig Jahre jünger war als
sie.
Es gab das übliche Gespött. Rebecca – so sagten ihre
Freunde – sei wirklich eine unverbesserliche Närrin,
wenn ein Mann im Spiel war! Zuerst Sanseverato –
jetzt dieser Jüngling. Natürlich heiratete er sie nur des
Geldes wegen. Eine zweite Katastrophe stand ihr mit
Sicherheit bevor! Aber zur allgemeinen Überraschung
erwies sich die zweite Ehe als ein Erfolg. Die Leute, die
prophezeit hatten, Alistair Blunt werde Rebeccas Geld
für andere Frauen ausgeben, hatten sich geirrt. Er blieb
seiner Frau mit stiller Zuneigung treu. Sogar als er nach
ihrem Tod, zehn Jahre später, sich als Erbe ihres
riesigen Vermögens jeden Wunsch erfüllen konnte,
heiratete er nicht wieder. Er führte weiter sein altes ru-
higes und einfaches Leben. Seine finanzielle Begabung
war nicht geringer als die seiner Frau. Sein Urteil und
seine Geschäfte waren gesund – sein Ruf stand außer
Frage. Er beherrschte die gewaltigen Interessen der
Arnholts und der Rothersteins durch seine überlegenen
Fähigkeiten.
In Gesellschaft ging er sehr wenig. Erbesaß ein Haus in
Kent und eines in Norfolk, wo er das Wochenende zu
verbringen pflegte – nicht mit lärmenden Scharen, son-
dern mit ein paar ruhigen, gesetzten Freunden. Er
spielte gern und mäßig Golf und beschäftigte sich mit
seinem Garten.
49
Das war der Mann, zu dem sich Chefinspektor Japp und
Hercule Poirot in einem etwas altersschwachen, rüt-
telnden Taxi jetzt begaben. Das Gotische Haus war eine
bekannte Sehenswürdigkeit am Chelsea Embankment –
innen nicht sehr modern, aber äußerst behaglich und
mit dem Luxus kostspieliger Schlichtheit eingerichtet.
Alistair Blunt ließ seine beiden Besucher nicht warten.
»Chefinspektor Japp?«
Japp begrüßte ihn und stellte Hercule Poirot vor, den
Blunt mit Interesse betrachtete.
»Ich kenne natürlich Ihren Namen, M. Poirot. Und mir
ist, als hätte ich irgendwo ganz kürzlich...« Er dachte
stirnrunzelnd nach.
Poirot sagte: »Heute vormittag, Mr. Blunt – im Warte-
zimmer de ce pauvre M. Morley.«
Alistair Blunts Stirn glättete sich.
»Natürlich. Ich wußte, daß ich Ihnen irgendwo begeg-
net bin.« Er wandte sich an Japp. »Was kann ich für Sie
tun? Was ich über den armen Morley gehört habe, tut
mir außerordentlich leid.«
»Es hat Sie überrascht, Mr. Blunt?«
»Sehr. Natürlich habe ich sehr wenig über ihn gewußt,
aber er ist mir keineswegs wie ein Mensch vorgekom-
men, der Selbstmord begehen würde.«
»Er hat also heute vormittag einen gesunden und nor-
malen Eindruck gemacht?«
»Ich glaube wohl – ja.« Alistair Blunt hielt inne und
sagte dann mit einem fast knabenhaften Lächeln: »Ehr-
lich gesagt, ich bin ein großer Feigling, wenn es sich
um den Zahnarzt handelt. Und den Bohrer, dieses
scheußliche Ding, hasse ich einfach. Deshalb habe ich
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eigentlich nicht viel bemerkt. Jedenfalls nicht, bis alles
vorbei war und ich aufstehen durfte. Aber ich muß sa-
gen, daß mir Morley hinterher vollkommen normal er-
schien. Guter Laune und geschäftig.«
»Hatten Sie ihn schon öfters konsultiert?«
»Es war mein dritter oder vierter Besuch bei ihm.«
Hercule Poirot fragte: »Wer hat Ihnen Morley empfoh-
len?«
Blunts Augenbrauen zogen sich in konzentriertem
Nachdenken zusammen.
»Warten Sie einmal – ich hatte Zahnschmerzen – je-
mand hat mir gesagt, Morley in der Queen Charlotte
Street sei der richtige Mann – nein, ich kann mich beim
besten Willen nicht erinnern, wer das gewesen ist. Tut
mir leid.«
»Falls es Ihnen noch einfällt – würden Sie dann einem
von uns beiden Bescheid geben?« bat Poirot.
Alistair Blunt sah ihn neugierig an.
»Das will ich gern tun – natürlich. Warum? Ist es wich-
tig?«
»Ich habe so eine Ahnung«, sagte Poirot, »daß es sogar
sehr wichtig sein könnte.«
51
glückte.
Das Mädchen stand auf dem Trottoir und sah ihnen
nach. Dann rief sie plötzlich mit kräftiger Stimme:
»He!«
Keiner von beiden drehte sich um, denn weder Japp
noch Poirot ahnten, daß der Ruf ihnen galt. Das Mäd-
chen rief nochmals: »He! He! Sie dort!«
Sie blieben stehen und schauten fragend zurück. Das
Mädchen ging auf sie zu. Der Eindruck, sie bestehe
hauptsächlich aus Armen und Beinen, blieb unverän-
dert. Sie war groß und schlank, und ihr Gesicht strahlte
eine Intelligenz und Lebendigkeit aus, die für den
Mangel an eigentlicher Schönheit entschädigten. Sie
war dunkelhaarig und tiefgebräunt. »
Ich weiß, wer Sie sind – Sie sind dieser Detektiv,
Hercule Poirot!«
Ihre Stimme hatte einen tiefen, warmen Klang und den
Anflug eines amerikanischen Akzents.
Poirot sagte: »Zu Ihren Diensten, Mademoiselle.«
Ihre Augen streiften seinen Begleiter.
»Chefinspektor Japp«, stellte Poirot vor. Sie riß die
Augen auf – fast erschrocken, wie es schien. Atemlos
fragte sie: »Warum sind Sie bei uns gewesen? Es ist –
es ist doch Onkel Alistair nichts zugestoßen?«
Poirot fragte rasch: »Warum glauben Sie das, Made-
moiselle?«
»Es ist nichts passiert? Gut.«
Japp griff Poirots Frage auf.
»Warum glauben Sie, daß Mr. Blunt etwas zugestoßen
sein könnte, Miss...«
Fragend hielt er inne, und mechanisch antwortete sie:
52
»Olivera. Jane Olivera.« Dann ließ sie ein leichtes, we-
nig überzeugendes Lachen hören. »Wenn man Spür-
hunde auf der Schwelle findet, denkt man unwillkürlich
an ein Verbrechen im Haus, nicht wahr?«
»Mr. Blunt ist nichts zugestoßen. Zu meiner Freude
kann ich Ihnen dies versichern, Miss Olivera.«
Sie sah Poirot scharf an.
»Hat er Sie zu sich gebeten?«
Japp antwortete: »Nein, Miss Olivera, wir haben ihn
aufgesucht, um zu erfahren, ob er zur Aufklärung eines
Selbstmordes beitragen kann, der sich heute ereignet
hat.«
»Ein Selbstmord? Wer hat sich denn umgebracht?«
»Ein Zahnarzt namens Morley in der Queen Charlotte
Street 58.«
»Oh!« murmelte Jane Olivera ausdruckslos. »Oh –!«
Sie sah stirnrunzelnd vor sich hin. Dann sagte sie un-
vermittelt: »Aber das ist doch absurd!«
Plötzlich wandte sie sich um, ließ die beiden Männer
ohne Gruß stehen, lief die Stufen zum Gotischen Haus
hinauf, schloß die Tür auf und verschwand.
»Nun!« murrte Japp und starrte ihr nach. »Das war eine
sonderbare Bemerkung!«
»Interessant«, bemerkte Poirot milde.
Japp riß sich zusammen, schaute auf die Uhr und
winkte einem vorbeifahrenden Taxi.
»Wir haben noch Zeit, auf dem Weg ins Savoy einen
Sprung zu dieser Sainsbury Seale zu machen.«
53
mittagstee.
Das Auftauchen eines Kriminalbeamten in Zivil erregte
sie – aber es war, wie Japp beobachtete, eine angeneh-
me Erregung.
Poirot stellte zu seinem Kummer fest, daß sie ihre
Schuhschnalle noch nicht wieder angenäht hatte.
»Wirklich, Kommissar«, flötete Miss Sainsbury Seale,
»ich weiß wirklich nicht, wo wir hingehen könnten, um
für uns zu sein. So schwierig – gerade um die Teezeit –,
aber vielleicht würden Sie gern eine Tasse Tee nehmen
– Sie und – Ihr Freund?«
»Für mich nicht, Madame«, dankte Japp. »Dies ist M.
Hercule Poirot.«
»Wirklich?« flüsterte Miss Sainsbury Seale. »Dann
könnten wir vielleicht – möchten Sie wirklich beide
keinen Tee? Nein? Nun, dann könnten wir es vielleicht
mit dem Salon versuchen, obwohl der häufig besetzt ist.
Oh – dort drüben wird eine Ecke frei – in der Nische.
Die Leute stehen gerade auf. Wollen wir dorthin?«
Sie steuerte auf ein Sofa und zwei Stühle zu, die ver-
hältnismäßig abgelegen in einem Alkoven standen.
Poirot und Japp folgten ihr, wobei Poirot eine Schärpe
und ein Taschentuch aufhob, die Miss Sainsbury unter-
wegs verloren hatte. Er gab ihr beides zurück.
»Oh, danke vielmals – wie unachtsam von mir! Also
bitte, Inspektor – nein Chefinspektor, nicht wahr? –
stellen Sie alle Fragen, die Sie wünschen. Eine un-
glückselige Geschichte. Der arme Mann – er hat wohl
irgendwelchen Kummer gehabt? Wir leben in so
schweren Zeiten!«
»Schien es Ihnen, Miss Sainsbury Seale, als hätte er
54
einen besonderen Kummer?«
»Also –« Miss Sainsbury Seale überlegte eine Weile
und sagte schließlich fast widerwillig: »Wissen Sie, ei-
gentlich kann ich das nicht behaupten. Aber vielleicht
habe ich es auch einfach nicht bemerkt – unter den
herrschenden Umständen. Ich bin leider ziemlich feig,
müssen Sie wissen.«
Miss Sainsbury Seale kicherte ein bißchen und ordnete
ihre vogelnestartige Frisur.
»Können Sie uns sagen, wer noch im Wartezimmer
war, als Sie sich dort aufhielten?«
»Lassen Sie mich nachdenken – es war nur ein junger
Mann da. Er muß wohl Schmerzen gehabt haben, denn
er murmelte dauernd vor sich hin, sah ganz wild aus
und blätterte ziellos in einem Magazin. Und dann
sprang er plötzlich auf und ging hinaus. Wahrscheinlich
hatte er starke Zahnschmerzen.«
»Der junge Mann mit den Zahnschmerzen war also der
einzige Patient, der Ihnen bei Mr. Morley begegnete?«
»Ja, ich kann mich sonst an keinen mehr erinnern!« er-
klärte Miss Sainsbury Seale traurig.
Japp änderte die Taktik.
»Sie haben wohl nichts dagegen, der Leichenschau als
Zeugin beizuwohnen?« fragte er freundlich.
Nach einem ersten Schrei der Bestürzung schien sich
Miss Sainsbury Seale mit dem Gedanken anzufreunden.
Eine vorsichtig tastende Befragung durch Japp förderte
ihre ganze Lebensgeschichte zutage. Sie war, wie sich
herausstellte, vor einem halben Jahr aus Indien nach
England gekommen. Hier hatte sie in verschiedenen
Hotels und Pensionen gelebt, bis sie schließlich im
55
Glengowrie Court Hotel gelandet war, das ihr wegen
seiner anheimelnden Atmosphäre sehr zusagte. In
Indien hatte sie meist in Kalkutta gelebt, wo sie in der
Mission tätig war und Sprachunterricht erteilte.
»Eine gute, reine Aussprache – sehr wichtig – Chefin-
spektor. Sehen Sie –« Miss Sainsbury Seale lächelte
einfältig und warf sich in die Brust – »als junges Mäd-
chen war ich beim Theater. Oh – nur in kleinen Rol-
len –, Sie verstehen. In der Provinz! Aber ich hatte
großen Ehrgeiz. Ein Repertoire. Dann bin ich auf eine
Welttournee gegangen: Shakespeare, Bernard Shaw.«
Sie seufzte.
»Das Schlimmste bei uns armen Frauen ist unser Herz
– wir sind Sklavinnen unseres Herzens. Eine unüber-
legte, überstürzte Heirat. Ach – wir sind fast sofort
wieder auseinandergegangen. Ich war grausam ent-
täuscht. Später nahm ich meinen Mädchennamen
wieder an. Glücklicherweise stellte mir eine Freundin
etwas Kapital zur Verfügung, und so begann ich mit
meinem Sprachunterricht. Ich beteiligte mich an der
Gründung einer sehr guten Liebhaberbühne. Ich muß
Ihnen einmal die Zeitungsausschnitte zeigen.«
Chefinspektor Japp erkannte die Gefahr, die ihm jetzt
drohte. Er ergriff die Flucht.
Miss Sainsbury Seales letzte Worte waren: »Und wenn
etwa zufällig mein Name in die Zeitung kommen sollte
– ich meine, weil ich doch als Zeugin bei der Leichen-
schau erscheinen soll –, werden Sie dann auch be-
stimmt dafür sorgen, daß er richtig buchstabiert wird?
Mabelle Sainsbury Seale – Mabelle schreibt sich M-A-
B-E-L-L-E und Seale S-E-A-L-E. Und falls Wert
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darauf gelegt werden sollte... ich bin in Wie es euch
gefällt im Oxford Repertory Theatre aufgetreten.«
»Natürlich, natürlich –«
Chefinspektor Japp war schon auf und davon. Im Taxi
seufzte er und wischte sich die Stirn.
»Wenn es notwendig wird, können wir ja all das nach-
prüfen, außer sie hat von A bis Z gelogen – aber das
glaube ich nicht!«
Poirot schüttelte den Kopf.
»Schwindler«, sagte er, »pflegen weder so umständlich
noch so unzusammenhängend zu lügen.«
Japp fuhr fort: »Ich hatte befürchtet, sie würde vor der
Leichenschau bocken – das tun die meisten alten Jung-
fern. Aber da sie Schauspielerin gewesen ist, ist es für
sie die Gelegenheit, wieder einmal im Rampenlicht zu
stehen!«
Poirot sagte: »Wollen Sie sie wirklich zur Leichen-
schau vorladen?«
»Wahrscheinlich nicht. Es kommt darauf an.« Er
machte eine Pause und sagte: »Ich bin mehr denn je
überzeugt, Poirot – das war kein Selbstmord.«
Sie bezahlten das Taxi und betraten das Savoy. Japp
fragte nach Mr. Amberiotis.
Der Empfangschef sah die beiden Männer sonderbar
an: »Mr. Amberiotis? Tut mir leid, Sie können nicht
mit ihm sprechen.«
»Doch, doch, das kann ich«, erklärte Japp grimmig und
zog seinen Ausweis hervor.
Höflich antwortete der Empfangschef: »Sie haben mich
mißverstanden, Sir. Mr. Amberiotis ist vor einer halben
Stunde gestorben.«
57
3
58
zeugt. Es ist zwar richtig, daß Patienten in einzelnen
Fällen auf die Lokalanästhesie ungünstig reagiert ha-
ben. Überempfindlichkeit gegen Adrenalin ist eine
wohlbekannte Erscheinung. In Verbindung mit Procain
besitzen manchmal ganz kleine Dosen schon eine
starke toxische Wirkung. Aber der Arzt oder Zahnarzt,
dem so etwas passiert, geht doch nicht so weit, sich
umzubringen!«
»Ja, aber da sprechen Sie von Fällen, in denen die Mit-
tel in normaler Dosis angewendet worden sind. In sol-
chen Fällen kann dem Arzt kein besonderer Vorwurf
gemacht werden, denn der Tod wird dadurch herbei-
geführt, daß der Patient die Mittel nicht verträgt. In
unserm Fall handelt es sich aber eindeutig um eine zu
große Dosis. Die genaue Menge steht noch nicht fest –
diese Mengenanalysen dauern immer endlos –, aber
jedenfalls ist die normale Dosis bei weitem überschrit-
ten worden. Das bedeutet, daß Morley einen folgen-
schweren Irrtum begangen haben muß.«
»Aber selbst dann«, sagte Poirot, »war es nur ein Irrtum
und kein Verbrechen.«
»Nein, das nicht, aber es hätte ihm beruflich sehr ge-
schadet. Wahrscheinlich hätte es ihn sogar ruiniert.
Niemand würde mehr zu einem Zahnarzt gehen, der
fähig ist, einem Patienten eine tödliche Dosis Gift bei-
zubringen, nur weil er zufällig gerade ein bißchen zer-
streut ist.«
»Es ist schon merkwürdig, das gebe ich zu.«
»Solche Dinge kommen eben vor – sowohl bei Ärzten
wie bei Apothekern. Jahrelang sind sie gewissenhaft
und zuverlässig – dann auf einmal ein Augenblick der
59
Unachtsamkeit, und das Unglück ist geschehen, und der
arme Teufel hat die Folgen zu tragen. Morley war ein
sensibler Mensch. Bei den Ärzten ist meistens ein
Laborant oder ein Apotheker mitverantwortlich – oft
sogar allein verantwortlich. In unserem Fall trug Mor-
ley die ganze Verantwortung.«
Poirot war noch nicht überzeugt.
»Hätte er dann nicht irgendeine Mitteilung hinterlassen,
um zu erklären, was geschehen war? Und daß er die
Folgen nicht auf sich nehmen könne? Nur ein paar
Worte in diesem Sinne? Eine Nachricht an seine
Schwester?«
»Nein – wie ich die Sache sehe, wurde ihm ganz plötz-
lich klar, was er angerichtet hatte, und da verlor er die
Nerven und suchte den einfachsten Ausweg!«
Poirot antwortete nicht, und Japp sagte gütig: »Ich
kenne Sie, alter Freund. Wo Sie einmal einen Mord ah-
nen, können Sie sich nicht damit abfinden, daß es kei-
ner war. Diesmal bin ich daran schuld, daß Sie auf die
falsche Spur geraten sind. Ich habe mich eben geirrt,
das gebe ich offen zu.«
»Haben Sie irgend etwas über Amberiotis in Erfahrung
gebracht?« fragte Poirot abwesend.
»Ja, ziemlich viel. Er war ein Spion und außerdem ein
übler Erpresser. Es hätte einer schon Grund genug
haben können, ihn zu ermorden. Aber Morley beab-
sichtigte dies bestimmt nicht. Er tötete ihn durch Zufall
– und bezahlte dafür selber mit dem Leben. Morley
beging Selbstmord – glauben Sie mir, Poirot!«
»Wir werden sehen!« murmelte der kleine Mann.
60
Hercule Poirot saß an seinem schönen, modernen
Schreibtisch. Er liebte moderne Möbel. Ihre eckigen,
soliden Formen sagten ihm mehr zu als die weichen
Konturen älterer Stilrichtungen. Vor ihm lag ein
quadratisches Blatt Papier mit säuberlichen Überschrif-
ten und Bemerkungen. Manche davon waren mit Frage-
zeichen versehen. Zuoberst stand:
Amberiotis. Spionage. Zu diesem Zweck in England?
War letztes Jahr in Indien. Während dieser Zeit Un-
ruhen und Aufstände. Könnte kommunistischer Agent
sein. Es folgte ein leerer Zwischenraum. Dann kam die
nächste Überschrift:
Frank Carter? Morley hielt nichts von ihm. Ist kürzlich
von seiner Firma entlassen worden. Warum? Dann kam
ein Name, hinter dem nur ein Fragezeichen stand:
Howard Raikes?
Auf diesen folgte ein Satz in Anführungsstrichen:
»Aber das ist doch absurd!« ? ? ?
Hercule Poirots Kopf war fragend zur Seite geneigt.
Vor dem Fenster flog ein Vogel vorbei, einen Zweig im
Schnabel, mit dem er ein Nest bauen wollte. Hercule
Poirot sah ebenfalls wie ein Vogel aus, als er so dasaß
und den eiförmigen Kopf zur Seite neigte.
Etwas weiter unten auf dem Blatt machte er eine wei-
tere Eintragung:
Barnes?
Nach einer Pause schrieb er: Morleys Büro? Spur auf
dem Teppich. Möglichkeiten.
Die letzte Notiz betrachtete er längere Zeit. Dann stand
er auf, ließ sich Hut und Stock geben und ging aus.
61
Dreiviertel Stunden später verließ Hercule Poirot die
Untergrundstation Ealing Broadway, und fünf Minuten
später war er am Ziel. Castlegardens Road 88. Es war
ein kleines Zweifamilienhaus, dessen sorgfältig ange-
legter Vorgarten Poirot ein beifälliges Nicken ab-
nötigte.
»Wunderbar symmetrisch«, murmelte er vor sich hin.
Mr. Barnes war zu Hause. Poirot wurde in ein kleines,
steif eingerichtetes Eßzimmer geführt, in das ihm Mr.
Barnes alsbald folgte.
Er war ein kleiner Mann mit blinzelnden Augen und
nahezu kahlem Kopf.
»M. Poirot? Nun, das ist wirklich eine große Ehre!«
sagte er.
»Sie müssen verzeihen, daß ich Sie so unvorbereitet
überfalle«, sagte Poirot betont höflich.
»Das ist immer bei weitem das beste«, antwortete Mr.
Barnes. Er machte eine einladende Handbewegung.
»Setzen Sie sich, M. Poirot. Wir haben zweifellos über
eine Menge Dinge zu reden. Ich vermute, es handelt
sich um die Queen Charlotte Street 58?«
»Sie vermuten richtig – aber wie kommt es, daß Sie
überhaupt so etwas vermuten?« fragte Poirot verblüfft.
»Mein lieber M. Poirot«, sagte Mr. Barnes, »ich bin
zwar schon vor längerer Zeit aus dem Innenministerium
ausgeschieden – aber ganz eingerostet bin ich deswe-
gen doch noch nicht. In einer streng geheimen Angele-
genheit ist es besser, sich nicht der Polizei zu bedienen.
Erregt nur unnützes Aufsehen!«
»Lassen Sie mich noch eine weitere Frage stellen.
Warum vermuten Sie, daß diese Angelegenheit streng
62
geheim ist?«
»Ist sie das vielleicht nicht?« fragte der andere zurück.
»Nun, wenn sie es nicht ist, dann bin ich der Meinung,
daß sie es sein sollte.« Er beugte sich vor und klopfte
mit seinem Zwicker auf die Stuhllehne. »Beim Ge-
heimdienst will man nie das kleine Gesindel fangen,
sondern die großen Drahtzieher – aber um an sie her-
anzukommen, muß man sich davor hüten, das kleine
Gesindel kopfscheu zu machen.«
»Mir scheint, Sie wissen mehr als ich, Mr. Barnes«,
entgegnete Poirot immer erstaunter.
»Ich weiß überhaupt nichts«, erwiderte Mr. Barnes.
»Ich versuche nur, zwei Tatbestände zu kombinieren.«
»Und welches ist der eine Tatbestand?« fragte Poirot.
»Amberiotis«, sagte Barnes schnell. »Sie dürfen nicht
vergessen, daß ich ihm ein paar Minuten lang im War-
tezimmer gegenübergesessen habe. Mich hat er nicht
erkannt. Ich bin immer ein unauffälliger Mensch ge-
wesen. Das ist manchmal sehr nützlich. Aber ich habe
ihn sehr wohl erkannt. Und ich konnte mir denken, was
er hier bei uns in England vorhatte.«
»Und was war das?«
»Seine Politik richtet sich gegen die konservative
Hochfinanz, wie Alistair Blunt sie verkörpert.« Nach
einer Pause fuhr Mr. Barnes fort: »Blunt gehört zu den
Leuten, die im Privatleben jede Rechnung bezahlen und
nie mehr ausgeben, als sie einnehmen – gleichgültig, ob
er jährlich zwei Pence oder einige Millionen Pfund
verdient. Das ist so seine Art. Und er sieht einfach nicht
ein, warum ein Staat das nicht ebenso machen soll.
Keine kostspieligen Experimente. Keine wahnsinnigen
63
Ausgaben für utopische Experimente. Aus diesem
Grund« – er hielt einen Augenblick inne – »aus diesem
Grund haben sich gewisse Leute entschlossen, Blunt
aus dem Weg zu räumen.«
»Aha«, murmelte Poirot.
Mr. Barnes nickte.
»Ja«, bestätigte er. »Ich weiß, wovon ich rede. Es sind
ganz reizende Leute darunter. Mit langen Haaren,
ernsten Augen und voll von Idealen einer besseren
Welt. Auch andere, nicht so reizende – sogar recht
ekelhafte Leute. Und dann eine dritte Gruppe, die sich
als die ›starken Männer‹ aufspielt. Aber alle haben den
gleichen Gedanken: Blunt muß weg!«
Er beugte sich vor.
»Sie sind bestimmt hinter Blunt her, das weiß ich. Und
ich bin der Auffassung, daß sie ihn gestern vormittag
um ein Haar erwischt hätten. Vielleicht irre ich mich -
aber er wäre nicht der erste von der Liste.«
Er machte eine Pause und nannte dann ruhig und über-
legt drei Namen. Den eines ungewöhnlich befähigten
Schatzkanzlers, den eines fortschrittlichen und weit-
blickenden Fabrikanten und den eines hoffnungsvollen
jungen Politikers, der sich der Gunst der Wählerschaft
erfreut hatte. Der erste war auf dem Operationstisch
gestorben, der zweite war einer geheimnisvollen
Krankheit erlegen, die man zu spät erkannt hatte, der
dritte war von einem Auto überfahren und getötet
worden.
»Es war alles sehr einfach«, sagte Barnes. »Im ersten
Fall ist ein Versehen bei der Narkose passiert – kann
vorkommen. Im zweiten Fall hat es rätselhafte Symp-
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tome gegeben, die der Arzt – ein braver, ziemlich ah-
nungsloser Hausarzt – nicht deuten konnte. Im dritten
Fall hat eine verängstigte Mutter, die zu ihrem kranken
Kind wollte, ihren Wagen unvorsichtig gesteuert. Eine
rührende Geschichte – das Gericht hat sie freigespro-
chen!«
Nach einer Weile fuhr er fort: »Alles ganz mit rechten
Dingen zugegangen – und bald vergessen. Aber ich will
Ihnen einmal erzählen, was aus den drei Leuten gewor-
den ist. Der Mann, der die Narkose gemacht hat, besitzt
jetzt ein eigenes erstklassiges Forschungslaboratorium
mit der teuersten Einrichtung. Der Hausarzt hat seine
Praxis aufgegeben, hat einen hübschen kleinen Besitz
auf dem Land und eine Jacht. Die Mutter läßt alle ihre
Kinder auf die kostspieligste Weise erziehen, lebt in
einem entzückenden Landhaus, Riesengarten, Ponys
zum Reiten und so weiter.« Er nickte langsam. »In
jedem Beruf und in jedem Lebenskreis gibt es jeman-
den, der einer Versuchung erliegt. In unserm Fall hat
die Schwierigkeit darin bestanden, daß Morley ihr nicht
erlegen ist!«
»Glauben Sie, daß es sich so abgespielt hat?« fragte
nun Poirot.
»Ja«, sagte Barnes. »Wissen Sie, es ist nicht leicht, an
solch große Männer heranzukommen. Sie sind im all-
gemeinen gut geschützt. Der Trick mit dem Auto ist
riskant und funktioniert nicht immer. Aber beim
Zahnarzt ist man ziemlich wehrlos.« Er nahm seinen
Klemmer ab, putzte ihn blank und setzte ihn wieder
auf. Dann sagte er: »Das ist meine Theorie. Morley hat
sich geweigert, den Auftrag auszuführen! Aber da er
65
schon zuviel wußte, mußte man ihn beseitigen.«
»Man?« fragte Poirot.
»Wenn ich sage ›man‹, so meine ich die Organisation,
die hinter alledem steht. Den eigentlichen Mord hat
natürlich eine Einzelperson begangen.«
»Und zwar wer?«
»Nun, ich könnte eine Vermutung aussprechen«, sagte
Barnes. »Aber es ist wirklich nur eine Vermutung, und
vielleicht irre ich mich.«
Poirot fragte ruhig: »Reilly?«
»Natürlich. Das ist der gegebene Mann. Ich denke mir,
daß von Morley wahrscheinlich gar nicht verlangt
worden ist, die Tat selbst zu begehen. Seine Aufgabe
dürfte darin bestanden haben, Blunt im letzten Augen-
blick an seinen Partner abzutreten. Plötzliches Un-
wohlsein oder etwas Ähnliches. Den eigentlichen Mord
hatte Reilly zu begehen – ein bedauerlicher Unglücks-
fall – Tod eines bekannten Bankiers – der beklagens-
werte junge Zahnarzt in so kummervoller und zer-
knirschter Verfassung, daß ihn das Gericht nur leicht
bestraft hätte. Hinterher hätte er seine Praxis aufgege-
ben und sich irgendwo mit einem Jahreseinkommen
von mehreren tausend Pfund zur Ruhe gesetzt.«
Mr. Barnes schaute zu Poirot hinüber.
»Glauben Sie ja nicht, daß ich spinne«, sagte er. »Sol-
che Dinge kommen vor.«
»Ja, ja, ich weiß, sie kommen vor.«
Mr. Barnes klopfte auf ein Buch in marktschreieri-
schem Einband, das auf dem Tisch in der Nähe lag, und
fuhr fort: »Ich lese einen Haufen solcher Spionagege-
schichten. Manche klingen phantastisch. Aber merk-
66
würdigerweise sind sie nicht phantastischer als die
Wirklichkeit. Es gibt tatsächlich bildschöne Abenteu-
rerinnen, dunkle Ehrenmänner mit ausländischem Ak-
zent, internationale Banden und Meisterverbrecher! Ich
würde erröten, wenn ich manches von dem, was ich
weiß, gedruckt läse – kein Mensch würde es nur einen
Augenblick lang glauben!«
»Welche Rolle spielt Amberiotis in Ihrer Theorie?«
»Darüber bin ich mir nicht ganz klar. Ich glaube, daß er
hereingelegt werden sollte. Er hat mehr als einmal
doppeltes Spiel gespielt, und ich möchte behaupten,
man wollte ihn diesmal zum Sündenbock machen. Aber
das ist natürlich nur eine Annahme.«
Hercule Poirot sagte mit ruhiger Stimme: »Angenom-
men, Ihre Theorie stimmt – was folgt dann jetzt?«
Mr. Barnes rieb sich die Nase.
»Sie werden sich von neuem an Blunt heranmachen«,
erklärte er. »Doch, doch – sie versuchen es noch ein-
mal. Die Zeit ist knapp. Er hat Leute, die ihn beschüt-
zen, denke ich mir. Die werden jetzt besonders aufpas-
sen müssen. Nicht auf jemanden, der mit dem Revolver
hinterm Busch sitzt – so einfach ist das nicht. Sorgen
Sie dafür, daß auf die achtbaren Leute aufgepaßt wird –
auf die Verwandten, auf die Dienerschaft, die seit
Jahren im Hause ist, auf den Apothekergehilfen, der
eine Medizin zurechtmacht, auf den Händler, der Blunt
den Portwein liefert. Alistair Blunt aus dem Weg zu
räumen, ist viele Millionen wert, und es ist erstaunlich,
was jemand für – sagen wir – eine hübsche Jahresrente
von viertausend Pfund zu tun bereit ist!«
»So viel wird dafür bezahlt?« »
67
Möglicherweise auch mehr...«
Poirot schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Ich
habe von Anfang an Reilly verdächtigt.«
»Weil er Ire ist und der IRA angehören könnte?«
»Nicht so sehr deshalb, sondern weil der Teppich eine
Spur aufwies, als sei die Leiche darübergezerrt worden.
Wäre Morley dagegen von einem Patienten erschossen
worden, dann hätte das im Sprechzimmer stattgefun-
den, und es wäre unnötig gewesen, die Leiche an eine
andere Stelle zu schaffen. Das ist der Grund, weswegen
ich von Anfang an den Verdacht hatte, er sei nicht im
Sprechzimmer, sondern nebenan im Büro erschossen
worden. Und das würde bedeuten, daß ihn nicht ein
Patient umgebracht hat, sondern ein Bewohner des
Hauses.«
»Saubere Beweisführung«, nickte Mr. Barnes anerken-
nend.
Hercule Poirot stand auf und reichte ihm die Hand.
»Ich danke Ihnen«, sagte er. »Sie haben mir sehr gehol-
fen.
68
»Die schöne Mabelle – warum schreibt sie sich nicht
einfach ›Mabel‹? Diese Weiber machen mich ganz ver-
rückt! Nein, ich lade sie nicht vor. Es ist unnötig.«
»Sie haben nichts von ihr gehört?«
»Nein, warum auch?«
Hercule Poirot sagte: »Das wundert mich eigentlich.
Vielleicht interessiert es Sie zu erfahren, daß Miss
Sainsbury Seale vorgestern abend kurz vor dem Nacht-
essen das Glengowrie Court Hotel verlassen hat – und
noch nicht wieder zurückgekehrt ist.«
»Was? Die ist ausgerissen?«
»Das wäre eine denkbare Erklärung.«
»Aber warum? Sie müssen wissen: Sie ist vollkommen
in Ordnung. Was sie uns erzählt hat, stimmt durchwegs.
Ich habe ihretwegen nach Kalkutta gekabelt, und
gestern abend ist die Antwort gekommen. Alles in
Ordnung. Sie ist dort seit Jahren bekannt, und ihr gan-
zer Bericht entspricht der Wahrheit – nur mit ihrer Ehe
hat sie ein bißchen geschwindelt. Hat einen Hindu-
Studenten geheiratet und dann herausgefunden, daß er
außerdem noch verschiedene andere Beziehungen zu
holder Weiblichkeit unterhielt. Da hat sie ihren
Mädchennamen wieder angenommen und in Wohltä-
tigkeit gemacht. Sie steht auf bestem Fuß mit den Mis-
sionaren – gibt Sprachunterricht und betätigt sich bei
Liebhaberbühnen. In meinen Augen ist sie eine fürch-
terliche Person – aber jedenfalls weit erhaben über den
Verdacht, in eine Mordaffäre verwickelt zu sein. Und
jetzt erzählen Sie mir, sie sei uns davongelaufen! Ich
kann es nicht verstehen.«
Er hielt einen Augenblick inne und sagte dann unsicher:
69
»Vielleicht ist ihr bloß das Hotel verleidet? Mir hätte es
auch so gehen können.«
»Ihre Sachen sind noch dort. Sie hat nichts mitgenom-
men«, erklärte Poirot.
Japp stieß einen Fluch aus.
»Wann ist sie fortgegangen?«
»Ungefähr um Viertel vor sieben.«
»Und was sagen die Leute im Hotel?«
»Sie regen sich sehr auf. Die Leiterin des Hotels, Mrs.
Harrison, sieht ganz verzweifelt aus.«
»Warum hat sie keine Anzeige bei der Polizei ge-
macht?«
»Weil eine Dame, mon cher, wenn sie zufällig einmal
eine Nacht ausbleibt – ich gebe zu, daß im vorliegenden
Fall die äußere Erscheinung keine solche Vermutung
zuläßt –, mit Recht erbost wäre, bei ihrer Rückkehr
feststellen zu müssen, daß die Polizei benachrichtigt
worden ist. Mrs. Harrison hatte verschiedene Spitäler
angerufen, falls Miss Seale vielleicht ein Unfall
zugestoßen wäre. Sie hat sich gerade überlegt, ob sie
Anzeige bei der Polizei erstatten sollte, als ich erschien.
Mein Auftauchen bildete für sie gewissermaßen die
Antwort auf ihr Gebet. Ich habe alles übernommen und
mich verpflichtet, die Unterstützung eines besonders
diskreten Kriminalbeamten zu gewinnen.«
»Mit dem diskreten Kriminalbeamten meinen Sie ver-
mutlich mich?«
»Sie vermuten richtig.«
Japp stöhnte: »Also gut. Treffen wir uns nach der Lei-
chenschau im Glengowrie Court Hotel.«
70
Japp brummte, während sie auf Mrs. Harrison warteten:
»Möchte wissen, aus welchem Grund das Frauen-
zimmer verschwunden ist?«
»Geben Sie zu, daß es merkwürdig ist?«
Sie hatten keine Zeit, das Gespräch fortzusetzen. Mrs.
Harrison, die Besitzerin des Glengowrie Court Hotels,
kam auf sie zu. Mrs. Harrison war redselig und den
Tränen nahe. Sie sorgte sich so um Miss Sainsbury
Seale. Was konnte ihr nur zugestoßen sein? Rasch ließ
sie alle Möglichkeiten des Verhängnisses Revue pas-
sieren: Gedächtnisverlust, plötzliche Erkrankung, Blut-
sturz, Autounglück. Raubüberfall...
Endlich hielt sie, nach Atem ringend, inne und murmel-
te: »So eine nette, gebildete Dame – und sie hat sich bei
uns offensichtlich so wohl gefühlt...«
Auf Japps Bitte hin führte sie die beiden Männer in das
keusche Schlafzimmer hinauf, das die verschwundene
Dame bewohnt hatte. Dort herrschten Ordnung und
Sauberkeit. Kleider hingen an der Garderobe, ein
Nachtgewand lag zusammengefaltet auf dem Bett, und
in einer Ecke standen Miss Sainsbury Seales zwei be-
scheidene Handkoffer. Unter dem Toilettentisch befand
sich eine Reihe von Schuhen: ein Paar praktische
Sporthalbschuhe, zwei Paar ziemlich gewagte Kreatio-
nen aus Glaceleder, mit hohen Absätzen und Verzierun-
gen, ein Paar Abendschuhe aus glattem schwarzen
Satin, so gut wie neu, und ein Paar Pantoffeln.
Poirot bemerkte, daß die Abendschuhe eine Nummer
kleiner waren als die Straßenschuhe – das ließ entweder
auf Hühneraugen oder auf Eitelkeit schließen. Er über-
legte, ob Miss Sainsbury Seale wohl Zeit gefunden
71
hatte, vor dem Ausgehen ihre Schuhschnalle wieder
anzunähen. Er hoffte es. Nachlässigkeit in der Kleidung
störte ihn immer. Japp war damit beschäftigt, einige
Briefe durchzusehen, die er in einer Schublade des
Toilettentisches gefunden hatte. Hercule Poirot zog
vorsichtig eine Lade der Kommode auf. Sie enthielt
lauter Unterwäsche. Er schob die Lade sittsam wieder
zu und murmelte, daß Miss Sainsbury Seale anschei-
nend keine Abneigung dagegen habe, Wolle auf der
bloßen Haut zu tragen. Dann öffnete er eine andere
Schublade, die Strümpfe enthielt.
»Etwas Besonderes, Poirot?« erkundigte sich Japp.
Poirot hielt ein Paar Strümpfe in die Höhe und sagte
niedergeschlagen: »Nummer zehn, billige Glanzseide,
Preis vermutlich zwei Shilling elf Pence.«
»Sie brauchen noch nichts für die Testamentseröffnung
zu taxieren, alter Freund«, lachte Japp. »Hier sind zwei
Briefe aus Indien, ein paar Quittungen von Wohltätig-
keitsvereinen, keine Rechnungen. Eine höchst schät-
zenswerte Person, unsere Miss Sainsbury Seale.«
»Hat aber keinen guten Geschmack, was Kleider an-
geht«, murmelte Poirot bedauernd. »Wahrscheinlich
betrachtet sie Kleider als weltlichen Tand.«
Japp war dabei, von einem alten Brief, der zwei Monate
zurücklag, den Absender zu notieren.
»Vielleicht wissen die Leute etwas über sie«, sagte er.
»Wohnen draußen in Hampstead. Der Brief klingt, als
ob es ziemlich gute Bekannte wären.«
Es ließ sich im Glengowrie Court Hotel nichts weiter
ermitteln, ausgenommen die Feststellung, daß Miss
Sainsbury Seale beim Ausgehen in keiner Weise einen
72
erregten oder bekümmerten Eindruck gemacht hatte.
Eine baldige Rückkehr lag offensichtlich in ihrer Ab-
sicht, denn sie hatte auf dem Weg durch die Halle ihrer
neuen Freundin, Mrs. Bolitho, zugerufen: »Nach dem
Essen werde ich Ihnen die Patience zeigen, von der ich
Ihnen erzählt habe!«
Aber sie war nicht zurückgekehrt. Sie war die Crom-
well Road hinuntergegangen und verschwunden. Japp
und Poirot begaben sich zu den Leuten in West-
Hampstead, deren Adresse sie auf dem Brief gefunden
hatten. Es war ein freundliches Haus, und die Familie
Adams bestand aus zahlreichen freundlichen Leuten.
Jahrelang hatten sie in Indien gelebt, und mit Wärme
sprachen sie von Miss Sainsbury Seale. Aber helfen
konnten sie nicht.
Sie hatten sie in der letzten Zeit nicht mehr gesehen -
einen ganzen Monat nicht, seit sie aus den Osterferien
zurückgekommen waren. Damals hatte sie in einem
Hotel nahe dem Russell Square gewohnt. Mrs. Adams
gab Poirot die Adresse dieses Hotels und auch die
Adresse einer anderen mit Miss Seale befreundeten an-
gloindischen Familie, die in Streatham wohnte. Aber
auch diese beiden Adressen erwiesen sich als Fehl-
schläge. Miss Sainsbury Seale hatte zwar in dem fragli-
chen Hotel gewohnt, aber man erinnerte sich dort an
nichts, was irgendwie von Wert war. Eine nette, ruhige
Dame, die vorher im Ausland gelebt hatte. Auch die
Leute in Streatham konnten keine Auskunft geben. Sie
hatten Miss Seale seit Februar nicht mehr gesehen.
Blieb noch die Möglichkeit eines Unfalls, aber auch
diese löste sich in nichts auf. In keinem Krankenhaus
73
fand sich jemand, der der abgegebenen Beschreibung
entsprach.
Miss Seale war spurlos verschwunden.
74
»Ich kann mich nicht an jeden Menschen erinnern, mit
dem ich auf irgendeiner verdammten Gesellschaft zu-
sammenkomme.«
»Es war keine Gesellschaft«, sagte Poirot. »Es war im
Wartezimmer eines Zahnarztes.«
Eine plötzliche Erregung flammte in den Augen des
jungen Mannes auf, erstarb aber sofort wieder. Sein
Verhalten änderte sich. Er war nicht mehr ungeduldig
und gleichgültig. Er war plötzlich auf der Hut.
»Und –« fragte er lauernd.
Poirot beobachtete ihn prüfend, ehe er antwortete. Er
hatte das ganz bestimmte Gefühl, dies sei wirklich ein
gefährlicher junger Mann. Ein schmales, asketisches
Gesicht, ein aggressives Kinn, fanatische Augen. Aber
es war ein Gesicht, das Frauen vielleicht anziehend
fanden.
In Gedanken faßte Poirot seinen Eindruck zusammen:
Ein Wolf mit Ideen...
Grob fragte Raikes: »Was wollen Sie eigentlich von
mir, zum Teufel?«
»Mein Besuch ist Ihnen unangenehm?«
»Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind.«
»Ich bitte um Entschuldigung.«
Wie ein Taschenspieler förderte Poirot eine Visiten-
karte zutage und reichte sie über den Tisch. Von neuem
spiegelten Mr. Raikes' Züge jene Empfindungen wider,
die Poirot nicht deuten konnte. Es war nicht Furcht –
eher Angriffslust. Und dann, ganz deutlich: Zorn. Er
warf die Visitenkarte auf den Tisch.
»Der sind Sie also? Ich habe von Ihnen gehört.«
»Die meisten Menschen haben von mir gehört«, mur-
75
melte Poirot bescheiden.
»Ein Privatdetektiv, was? Einer von der kostspieligen
Sorte. Einer von denen, die engagiert werden, wo Geld
keine Rolle spielt – wo die Leute jeden Preis zahlen,
nur um ihre elende Haut zu retten!«
»Wenn Sie Ihren Kaffee nicht trinken«, meinte Hercule
Poirot, »wird er kalt.«
Er sprach freundlich und mit Autorität. Raikes starrte
ihn an.
»Sagen Sie: Was sind Sie eigentlich für ein Vogel?«
»Der Kaffee in diesem Lande ist ohnehin sehr
schlecht«, erklärte Poirot bedauernd.
»Das kann man wohl behaupten«, bestätigte Mr. Rai-
kes.
»Aber wenn Sie ihn kalt werden lassen, ist er praktisch
ungenießbar.«
Der junge Mann beugte sich vor.
»Worauf wollen Sie hinaus? Wozu sind Sie herge-
kommen?«
Poirot zuckte die Achseln.
»Ich wollte – Sie sprechen.«
Raikes' Augen wurden schmal.
»Wenn Sie etwa auf Geld aus sind, dann sind Sie an
den Falschen geraten! Leute wie ich können sich nicht
leisten zu kaufen, was sie haben wollen. Gehen Sie
lieber zu dem Mann, der Ihnen Ihr Honorar zahlt.«
Poirot meinte seufzend: »Bis jetzt hat mir noch keiner
etwas bezahlt!«
»Das können Sie mir lange erzählen«, fauchte Raikes.
»Es entspricht der Wahrheit«, sagte Hercule Poirot.
»Ich verschwende eine Menge wertvolle Zeit ohne jede
76
wie immer geartete Entschädigung. Bloß, um -sagen
wir – meine Neugier zu befriedigen.«
»Und ich nehme an«, entgegnete Mr. Raikes, »daß Sie
neulich bei dem verfluchten Zahnarzt ebenfalls bloß
Ihre Neugier befriedigt haben.«
Poirot schüttelte den Kopf.
»Sie übersehen die allereinfachste Ursache, weswegen
man sich im Wartezimmer eines Zahnarztes aufhält –
nämlich, um sich die Zähne behandeln zu lassen.«
»Deshalb waren Sie also dort?« Mr. Raikes' Ton
drückte ungläubige Verachtung aus. »Um sich die
Zähne behandeln zu lassen?«
»Gewiß.«
»Sie werden verzeihen, wenn ich Ihnen sage, daß ich
das nicht glaube.«
»Darf ich dann fragen, Mr. Raikes, was Sie beim Zahn-
arzt gemacht haben?«
Mr. Raikes lächelte plötzlich: »Jetzt haben Sie mich er-
wischt! Ich war ebenfalls zur Behandlung dort.«
»Sie haben vielleicht Zahnschmerzen gehabt?«
»Richtig, Sie Schlaumeier.«
»Und trotzdem sind Sie fortgegangen, ohne sich be-
handeln zu lassen?«
»Nun, und wenn schon? Das ist doch meine Angele-
genheit ...« Er hielt inne und sagte dann mit rasch auf-
flammendem Zorn: »Ach, zum Teufel, warum reden
wir immer um die Sache herum? Sie waren einfach
dort, um auf Ihren Prominenten aufzupassen. Und
Ihrem wertvollen Mr. Alistair Blunt ist ja auch nichts
zugestoßen. Mir können Sie nichts nachweisen.«
»Wohin gingen Sie, als Sie so plötzlich das Wartezim-
77
mer verließen?« fragte Poirot plötzlich scharf.
»Aus dem Hause, natürlich.«
»Aha!« Poirot blickte nach der Decke. »Aber niemand
sah Sie hinausgehen, Mr. Raikes.«
»Macht das etwas aus?«
»Möglicherweise. Bedenken Sie: Kurz darauf ist in
demselben Haus jemand eines gewaltsamen Todes ge-
storben.«
Raikes sagte: »Ach so, Sie meinen den Zahnklempner.«
Poirots Stimme klang hart, als er antwortete: »Ja, ich
meine den Zahnklempner.«
Raikes starrte ihn an.
»Wollen Sie das etwa mir in die Schuhe schieben?«
fragte er. »Ist das Ihre Absicht? Das wird Ihnen nicht
gelingen. Ich habe eben den Bericht über die gestrige
Leichenschau gelesen. Der arme Teufel hat sich ers-
chossen, weil er sich bei einer Lokalanästhesie irrte und
der betreffende Patient starb.«
Poirot fuhr unbewegt fort: »Könnten Sie beweisen, daß
Sie das Haus verlassen haben? Kann jemand mit
Bestimmtheit angeben, wo Sie sich zwischen zwölf und
eins aufgehalten haben?«
Raikes kniff die Augen zusammen.
»Sie versuchen also tatsächlich, die Geschichte mir in
die Schuhe zu schieben? Wahrscheilich hat Blunt Sie
dazu angestiftet?«
Poirot seufzte: »Verzeihen Sie – aber dieses fortwäh-
rende Herumreiten auf Mr. Alistair Blunt ist anschei-
nend eine Zwangsvorstellung von Ihnen. Ich stehe nicht
in seinen Diensten und habe nie in seinen Diensten
gestanden. Ich befasse mich nicht mit seinem Schutz,
78
sondern mit dem Tod eines Menschen, der in seinem
selbstgewählten Beruf nützliche Arbeit geleistet hat.«
Raikes schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid«, murrte er, »ich glaube Ihnen nicht. Sie
sind und bleiben für mich Blunts Privatschnüffler.«
Ein harter Zug trat in sein Gesicht, als er sich über den
Tisch lehnte.
»Aber Sie können ihn nicht schützen, verstehen Sie? Er
muß verschwinden – er und alles, was er verkörpert.
Eine neue Zeit muß anbrechen. Das alte, korrupte
Finanzsystem muß weg – dieses verfluchte Netz von
Bankiers, das die Welt wie ein Spinngewebe umgibt.
Alles das muß weggefegt werden. Ich habe nichts
gegen Blunt als Person – aber als Typus hasse ich ihn.
Er ist mittelmäßig – ein Philister. Er ist einer von
denen, die man nur mit Dynamit wegsprengen kann. Er
gehört zu den Leuten, die sagen: ›Die Grundlagen der
Zivilisation darf man nicht zerstören.‹ Darf man das
wirklich nicht? Er wird schon sehen! Blunt ist ein
Hindernis auf dem Weg zum Fortschritt und muß
deshalb beseitigt werden. Für Menschen wie Blunt ist
heutzutage auf der Welt kein Platz – Menschen, die
sich nach der Vergangenheit zurücksehnen und so
leben möchten, wie ihre Väter oder sogar Großväter
gelebt haben! Hier in England gibt es viele solche
Leute – verknöcherte alte Reaktionäre, unnütze, ver-
brauchte Überbleibsel einer morschen Epoche. Bei
Gott, die müssen verschwinden! Eine neue Welt muß
entstehen. Verstehen Sie: eine neue Welt!«
Poirot seufzte und stand auf.
»Ich sehe«, sagte er. »Sie sind ein Idealist.«
79
»Und was ist dagegen einzuwenden?«
»Sie sind zu sehr Idealist, um sich aus dem Tod eines
Zahnarztes etwas zu machen.«
Verächtlich sagte Raikes: »Wirklich, was geht mich der
Tod eines einzigen, armseligen Zahnarztes an?«
»Sie geht er nichts an«, antwortete Poirot. »Mich geht
er an. Das ist der Unterschied zwischen uns beiden.«
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Tasse Tee kann man immer vertragen, nicht wahr?«
Poirot, der eine Tasse Tee immer entbehren konnte,
stimmte ihr heuchlerisch zu. George erhielt entspre-
chende Anweisungen, und in erstaunlich kurzer Zeit
saßen Poirot und seine Besucherin einander an einem
Teetischchen gegenüber.
»Ich muß Sie um Entschuldigung bitten«, sagte Miss
Nevill, die unter dem Einfluß des Getränks ihr ge-
wohntes sicheres Auftreten allmählich wiedergewann,
»aber die Sache ist so, daß mich die gestrige Leichen-
schau ziemlich aufgeregt hat.«
»Davon bin ich überzeugt«, meinte Poirot freundlich.
»Nicht, daß ich als Zeugin hätte aussagen sollen oder
dergleichen – davon war gar nicht die Rede. Aber ich
hatte das Gefühl, Miss Morley müßte eine Begleitung
haben. Gewiß, Mr. Reilly war da – aber ich meine: ein
weibliches Wesen als Begleitung. Außerdem schätzt
Miss Morley Mr. Reilly nicht besonders. Deshalb hielt
ich es für meine Pflicht, mit ihr hinzugehen.«
»Da haben Sie bestimmt ein gutes Werk getan«, sagte
Poirot.
»Ach nein – ich mußte es einfach tun. Schauen Sie, ich
habe eine ganze Reihe von Jahren für Mr. Morley
gearbeitet – die ganze Sache war ein schwerer Schlag
für mich, und die Leichenschau hat natürlich alles noch
verschlimmert...«
»Ja, das kann ich mir denken.«
Miss Nevill beugte sich mit ernstem Gesicht vor.
»Aber es stimmt ja alles nicht, M. Poirot. Es stimmt
wirklich nicht.«
»Was stimmt nicht, Mademoiselle?«
81
»Nun, die Art und Weise, wie sich alles abgespielt ha-
ben soll – ich meine, daß er einem Patienten eine tödli-
che Dosis...«
»Sie glauben das nicht?«
»Ich bin überzeugt, daß es nicht so war. Gelegentlich
kommt es schon vor, daß die örtliche Betäubung eine
nachteilige Wirkung hat, aber nur bei Patienten, die
bestimmte körperliche Beschwerden haben – meist ist
das Herz nicht in Ordnung. Aber eine Überdosis ist et-
was äußerst Seltenes. Schauen Sie – Zahnärzte sind so
gewohnt, die vorgeschriebene Dosis zu geben, daß das
Spritzen zu einem ganz mechanischen Vorgang wird –
man gibt die richtige Dosis automatisch.«
Poirot nickte zustimmend: »Ja, diesen Gedanken habe
ich auch gehabt.«
»Schauen Sie, die Mittel sind vollkommen standardi-
siert. Es ist nicht wie bei einem Apotheker, der dauernd
verschiedene Rezepte zurechtmacht oder die Dosierung
verändern muß – da kann natürlich durch Unaufmerk-
samkeit leicht ein Irrtum entstehen. Oder bei einem
Arzt, der viele verschiedenartige Rezepte schreiben
muß. Aber bei einem Zahnarzt ist das ganz anders.«
»Haben Sie versucht, diese Auffassung bei der gericht-
lichen Leichenschau zu äußern?« erkundigte sich Poi-
rot.
Gladys Nevill schüttelte den Kopf.
»Nein!« stieß sie schließlich hervor, »ich habe mich
gescheut, die – die Dinge noch zu verschlimmern.
Natürlich weiß ich, daß Mr. Morley ein solcher Irrtum
nicht hätte passieren können – aber dann hätten die
Leute gedacht, er habe es absichtlich getan.«
82
Poirot nickte, und Gladys Nevill fuhr hastig fort: »Des-
halb bin ich zu Ihnen gekommen, M. Poirot. Weil Sie
keine – keine Behörde sind. Aber ich bin der Ansicht,
irgend jemand müsse erfahren, wie – wie wenig über-
zeugend die ganze Geschichte klingt.«
»Leider wünscht das niemand zu erfahren«, murmelte
Poirot.
Sie schaute ihn überrascht an, und nach einer Weile
sagte er: »Ich wüßte gern Näheres über das Telegramm,
durch das Sie neulich aus London fortgelockt worden
sind.«
»Ehrlich gesagt, M. Poirot, ich weiß nicht, was ich da-
von halten soll. Es erscheint mir so sonderbar. Schauen
Sie: Das Telegramm muß jemand abgeschickt haben,
der genau über mich Bescheid weiß – und auch über
meine Tante, wo sie wohnt und dergleichen.«
»Ja, man hat den Eindruck, daß es entweder aus Ihrem
engsten Bekanntenkreis stammt oder von jemandem,
der bei Morleys im Haus lebt und gut über Sie infor-
miert ist.«
»Von meinen Freunden würde niemand so etwas tun,
Monsieur Poirot.«
»Sie selbst haben gar keine Vermutungen?«
Das Mädchen zögerte und sagte dann langsam: »Ganz
zu Anfang, als ich hörte, Mr. Morley habe sich er-
schossen, dachte ich, er habe das Telegramm vielleicht
selber geschickt.«
»Sie meinen, aus Rücksicht auf Sie – um Sie aus dem
Weg zu haben?«
Sie nickte.
»Aber dann ist mir dieser Gedanke zu phantastisch
83
vorgekommen – selbst wenn er wirklich geplant hätte,
sich an diesem Vormittag umzubringen. Es ist tatsäch-
lich sehr sonderbar. Frank – mein Freund – hat sich da-
bei zuerst ganz albern benommen. Er hat mir vorgewor-
fen, ich hätte an diesem Tag mit einem anderen Mann
verreisen wollen – als ob ich jemals so etwas tun
würde!«
»Gibt es einen – anderen Mann?«
Miss Nevill errötete.
»Nein, natürlich nicht. Doch Frank ist in letzter Zeit so
anders gewesen – so bedrückt und mißtrauisch. Aber
wissen Sie, das war nur, weil er seine Stellung verloren
hat und keine neue finden konnte. Müßiggang ist so
schädlich für einen Mann. Ich habe mich um Frank sehr
gesorgt.«
»Er hat sich sehr aufgeregt, nicht wahr, als er feststellte,
daß Sie an dem betreffenden Tag verreist waren?«
»Ja – denn er war gekommen, um mir zu erzählen, daß
er eine neue Stellung gefunden habe – eine wunderbare
Stellung – zehn Pfund in der Woche. Und er war unge-
duldig: Ich sollte es sofort erfahren. Außerdem wünsch-
te er wohl, daß auch Mr. Morley es erfahren sollte,
denn es kränkte ihn sehr, daß Mr. Morley ihn nicht
schätzte.«
Leichthin sagte Poirot: »Ich würde Ihren Freund gern
kennenlernen.«
»Das wäre mir sehr recht, M. Poirot. Aber augenblick-
lich hat er nur den Sonntag frei. Während der Woche
arbeitet er auf dem Land.«
»Ah, die neue Stellung. Was ist das übrigens für eine
Arbeit?«
84
»Genau weiß ich das auch nicht. Ich glaube, so eine Art
Sekretärsposten. Oder bei einer Behörde. Ich muß
meine Briefe an Franks Londoner Adresse schicken,
und von dort werden sie ihm nachgesandt.«
»Finden Sie das nicht ein bißchen sonderbar?«
»Ja, anfangs fand ich es schon – aber Frank meint, das
werde heuzutage oft gemacht.«
Poirot sah sie ein paar Sekunden schweigend an. Dann
sagte er entschlossen: »Morgen ist Sonntag, nicht
wahr? Vielleicht machen Sie mir beide das Vergnügen,
mit mir zu Mittag zu essen – sagen wir, im Longans
Corner Restaurant? Ich möchte diesen traurigen Vorfall
mit Ihnen beiden besprechen.«
»Danke vielmals, M. Poirot. Ich – wir werden uns sehr
freuen!«
85
Frank Carter unterbrach ihn grob.
»Morleys Tod? Morleys Tod hängt mir schon zum Hals
heraus! Denk doch einfach nicht mehr an den Mann,
Gladys. Ich verstehe nicht, was an ihm so großartig ge-
wesen sein soll.«
»Oh, Frank – das darfst du nicht sagen. Schon allein,
daß er mir hundert Pfund vermacht hat – gestern abend
habe ich den Brief bekommen, in dem das stand.«
»Nun ja, das ist ja ganz gut und schön«, gab Frank grol-
lend zu. »Aber warum schließlich auch nicht? Wie eine
Sklavin hat er dich schuften lassen – und wer hat alle
die fetten Honorare eingesteckt? Er!«
»Aber das war doch vollkommen in Ordnung – er hat
mir ein sehr gutes Gehalt gezahlt.«
»Nicht, was ich unter einem guten Gehalt verstehe!
Mein liebes Kind, du bist viel zu gutmütig – du läßt
dich ausnützen. Ich habe Morley ganz richtig einge-
schätzt. Du weißt so gut wie ich, daß er alles versucht
hat, um uns beide auseinanderzubringen.«
»Er hat es nicht besser verstanden.«
»Er hat es sehr wohl verstanden. Der Mann ist jetzt tot,
sonst hätte ich ihm einmal meine Meinung gesagt –
kannst dich darauf verlassen.«
»Zu diesem Zweck sind Sie auch am Todestag von Mr.
Morley ins Haus gekommen, nicht wahr?« fragte
Hercule Poirot freundlich.
Frank Carter sagte zornig: »Wer hat das behauptet...?«
»Sie sind doch gekommen, nicht wahr?«
»Nun, und wenn schon? Ich wollte Miss Nevill spre-
chen.«
»Aber man hat Ihnen mitgeteilt, sie sei nicht da.«
86
»Ja, und das hat mich äußerst mißtrauisch gemacht,
kann ich Ihnen sagen. Ich habe diesem rothaarigen
Trottel gesagt, daß ich warten und selbst mit Morley
sprechen würde. Ich hatte es satt, daß er Gladys dau-
ernd gegen mich aufhetzte, und wollte ihm klarmachen,
daß ich kein armseliger Taugenichts bin, sondern ein
Mann in guter Stellung, der absolut in der Lage ist zu
heiraten.«
»Aber Sie haben doch nicht mit Morley gesprochen?«
»Nein, ich bekam das Warten in dieser verstaubten
Gruft satt und ging fort.«
»Um welche Zeit verließen Sie das Haus?«
»Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Haben Sie eine halbe Stunde gewartet – länger oder
kürzer als eine halbe Stunde?«
»Ich sage Ihnen doch, ich weiß es nicht. Ich gehöre
nicht zu den Leuten, die dauernd auf die Uhr schauen.«
»War noch jemand im Wartezimmer, während Sie dort
warteten?«
»Ein dicker, öliger Kerl war da, als ich eintrat, aber er
wurde bald zu Morley gerufen. Dann war ich allein.«
»Dann müssen Sie vor halb eins gegangen sein – denn
um diese Zeit ist eine Dame gekommen.«
»Schon möglich. Wie gesagt, die Bude ist mir auf die
Nerven gegangen.«
Poirot sah ihn nachdenklich an. Das forsche Auftreten
wirkte irgendwie unecht. Aber das ließ sich vielleicht
auch durch bloße Nervosität erklären.
Einfach und ungekünstelt sagte darum Poirot: »Miss
Nevill erzählte mir, daß Sie großes Glück gehabt und
eine sehr gute Stellung gefunden haben.«
87
»Das Gehalt ist gut.«
»Zehn Pfund pro Woche, habe ich gehört.«
»Stimmt. Nicht übel, was? Das beweist, daß ich etwas
erreichen kann, wenn ich es mir in den Kopf setze.«
Carter sah sehr stolz aus.
»Ja, in der Tat. Und die Arbeit ist nicht zu anstren-
gend?«
»Es geht.«
»Und interessant?«
»O ja, ganz interessant. Da wir gerade von Arbeit re-
den: Ich habe mich immer gefragt, wie ihr Privatdetek-
tive eigentlich arbeitet. Ich nehme an, die Zeiten des se-
ligen Sherlock Holmes sind vorbei, oder? Heutzutage
gibt es wohl nur noch Scheidungsaffären zu bearbei-
ten?«
»Ich befasse mich nicht mit Ehescheidungen.«
»So? Dann begreife ich nicht, wie Sie existieren kön-
nen.«
»Man richtet sich ein, lieber Freund, man richtet sich
ein.«
»Aber Sie sind doch eine Koryphäe auf Ihrem Gebiet,
nicht wahr, M. Poirot?« warf Gladys Nevill ein. »Mr.
Morley hat das immer behauptet. Ich meine: Detektive
wie Sie arbeiten für königliche Hoheiten oder für das
Innenministerium oder für Herzoginnen.«
Poirot lächelte sie an.
»Sie schmeicheln mir«, sagte er dann.
88
aber haben Sie eigentlich etwas unternommen, um dem
bewußten Telegramm an Gladys Nevill auf die Spur zu
kommen?«
»Sind Sie immer noch an der Sache dran? Ja, wir haben
das Telegramm tatsächlich aufgespürt. Die Sache war
sehr schlau eingefädelt: Die Tante wohnt in Richbourne
in Somerset, und das Telegramm wurde in Richbarn,
einem Londoner Vorort, aufgegeben.«
Anerkennend meinte Poirot:
»Das war schlau – ja, das war schlau. Wenn die Emp-
fängerin zufällig nach dem Aufgabeort sah, besaß die-
ser Name genügend Ähnlichkeit mit Richbourne, um
keinen Verdacht zu erregen.« Er hielt inne. »Wissen
Sie, was ich denke, Japp?«
»Nun?«
»Hinter dieser Sache steckt Verstand.«
»Hercule Poirot wünscht, daß es Mord ist, also muß es
Mord sein.«
»Und wie erklären Sie sich das Telegramm?«
»Ein Zufall. Jemand hat einen Streich gespielt.«
»Aus welchem Grund?«
»Du lieber Himmel, Poirot – aus welchem Grund tut
man so etwas? Aus Spaß, aus Fopperei. Ein verdrehter
Sinn für Humor – das ist alles.«
»Und der Spaß mußte ausgerechnet an dem Tag statt-
finden, an dem Morley den Irrtum mit der Injektion
begeht?«
»Vielleicht hat dabei ein gewisser Zusammenhang von
Ursache und Wirkung bestanden: Eben weil die Assi-
stentin abwesend war, hat sich Morley infolge seiner
dadurch bedingten Überlastung in der Dosis geirrt.«
89
»Ich bin noch nicht überzeugt.«
»Das glaube ich Ihnen – aber sehen Sie nicht, wohin
Ihre Auffassung führt? Wenn jemand die Nevill aus
dem Weg haben wollte, dann war es vermutlich Morley
selbst. Und daraus würde sich ergeben, daß er
Amberiotis mit Vorbedacht und nicht aus Versehen
umgebracht hat.«
Poirot schwieg.
Japp sagte: »Sehen Sie das ein?«
»Amberiotis kann auch auf andere Weise umgebracht
worden sein«, erklärte Poirot.
»Ausgeschlossen. Niemand hat ihn im Savoy besucht,
und im ärztlichen Befund steht ausdrücklich, daß das
Zeug gespritzt und nicht geschluckt worden ist – im
Magen war nichts davon zu finden. Da ist nicht viel zu
machen – der Fall liegt klar.«
»Ja, das sollen wir eben glauben... Und was ist mit der
verschwundenen Dame?«
»An dem Fall arbeiten wir noch. Irgendwo muß das
Weibsbild doch sein! Man kann schließlich nicht ein-
fach auf die Straße laufen und sich in Luft auflösen.«
»Das hat sie aber anscheinend getan.«
»Im Augenblick sieht es so aus. Aber irgendwo muß sie
sein, tot oder lebendig – und ich glaube nicht, daß sie
tot ist.«
»Warum nicht?«
»Weil wir sonst inzwischen die Leiche gefunden hät-
ten.«
»Oh, lieber Freund – tauchen denn Leichen immer
schon so bald auf?«
»Wahrscheinlich wollen Sie mir jetzt einreden, die Frau
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sei gleichfalls umgebracht worden?«
»Man kann nie wissen«, sagte Poirot vorsichtig. »Aber
die Hauptsache ist, daß Sie sie erst einmal finden.«
»Ja, ja, natürlich. Wir werden jetzt ihren Steckbrief
durch die Presse veröffentlichen und auch den Rund-
funk mobilisieren.«
»Aha«, meinte Poirot, »das könnte was bringen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, alter Freund. Wir
werden Ihnen Ihre verschwundene Schönheit schon zur
Stelle schaffen – einschließlich wollener Unterwäsche
und allem anderen.«
Japp legte auf.
George betrat in seiner gewohnten geräuschlosen Art
das Zimmer. Er stellte eine Kanne dampfende Scho-
kolade und etwas Gebäck auf ein Tischchen.
»Haben Sie noch einen Wunsch, Monsieur?«
»Meine Gedanken befinden sich in großer Verwirrung,
George.«
»Wirklich, Monsieur? Das tut mir leid.«
Hercule Poirot goß sich eine Tasse Schokolade ein und
rührte gedankenvoll darin herum. George blieb in
ehrerbietiger Haltung wartend stehen, denn er verstand
das Zeichen zu deuten. Es gab Augenblicke, in denen
Hercule Poirot seine Fälle mit dem Diener besprach. Er
pflegte zu sagen, Georges Bemerkungen seien unge-
wöhnlich nützlich.
»Es ist Ihnen zweifellos bekannt, George, daß mein
Zahnarzt eines plötzlichen Todes gestorben ist?«
»Mr. Morley, Monsieur? Ja, Monsieur. Sehr unange-
nehm, Monsieur. Er hat sich erschossen, wie ich höre.«
»Das ist die allgemeine Annahme. Wenn er sich nicht
91
selbst erschossen hat, dann hat man ihn ermordet.«
»Jawohl, Monsieur.«
»Die Frage ist nun: Wenn er ermordet worden ist – wer
hat die Tat begangen?«
»Ganz richtig, Monsieur.«
»Es gibt nur eine beschränkte Zahl von Menschen,
George, die den Mord begangen haben können. Das
heißt: die Menschen, die zu der betreffenden Zeit im
Hause waren oder im Hause hätten sein können.«
»Sehr richtig, Monsieur.«
»Diese Menschen sind: eine Köchin und ein Haus-
mädchen – freundliche Angestellte, von denen kaum
anzunehmen ist, daß sie etwas Derartiges tun würden.
Ferner eine treue Schwester – ebenfalls sehr unwahr-
scheinlich –, die aber immerhin das ganze Geld ihres
Bruders erbt; man darf den finanziellen Aspekt nie
vollständig außer acht lassen. Ein fähiger und tüchtiger
Teilhaber – das eventuelle Motiv unbekannt. Ein etwas
einfältiger Boy, der gern billige Kriminalromane liest.
Und endlich ein Herr aus Griechenland mit etwas
zweifelhafter Vergangenheit.«
George hustete.
»Diese Ausländer, Monsieur...«
»Ganz richtig. Ich pflichte Ihnen vollkommen bei. Der
Herr aus Griechenland ist entschieden verdächtig. Aber
schauen Sie, George, der griechische Herr ist gleich-
falls gestorben, und es ist anscheinend Mr. Morley
gewesen, der ihn umgebracht hat, – ob mit Absicht oder
auf Grund eines bedauerlichen Irrtums, wissen wir
nicht.«
»Es könnte so sein, Monsieur, daß die Herren sich ge-
92
genseitig umgebracht haben. Ich meine folgendes,
Monsieur: Jeder der beiden Herren hatte den Plan ge-
faßt, den anderen Herrn umzubringen – natürlich ohne
Wissen des anderen Herrn.«
Hercule Poirot schnurrte beifällig.
»Äußerst scharfsinnig, George. Der Zahnarzt ermordet
den unglücklichen Herrn, der im Sessel sitzt, ohne zu
wissen, daß besagtes Opfer im gleichen Augenblick
genau überlegt, wann es die Pistole ziehen soll. So
könnte es sich natürlich abgespielt haben – aber,
George, das kommt mir doch höchst unwahrscheinlich
vor. Und unsere Personenliste ist noch nicht zu Ende.
Es gibt noch zwei weitere Leute, die im gegebenen
Moment möglicherweise im Hause waren. Alle Patien-
ten vor Mr. Amberiotis sind beim Verlassen des Hauses
gesehen worden – alle bis auf einen jungen Ameri-
kaner. Er hat das Wartezimmer ungefähr zwanzig
Minuten vor zwölf verlassen, aber niemand hat gese-
hen, daß er aus dem Haus gegangen ist. Deshalb müs-
sen wir ihn als einen möglichen Täter betrachten. Der
andere ist ein gewisser Frank Carter – kein Patient –,
der kurz nach zwölf ins Haus gekommen ist, mit der
Absicht, Mr. Morley zu sprechen. Den hat auch nie-
mand weggehen sehen. Das, mein guter George, sind
die Tatsachen: Was halten Sie davon?«
»Um welche Zeit wurde der Mord begangen, Mon-
sieur...?«
»Wenn der Mord von Mr. Amberiotis begangen wurde,
dann irgendwann zwischen zwölf Uhr und zwölf Uhr
fünfundzwanzig. Wenn ein anderer den Mord begangen
hat, dann muß das nach zwölf Uhr fünfundzwanzig
93
geschehen sein, denn sonst hätte Amberiotis die Leiche
sehen müssen.«
Er blickte George aufmunternd an.
»Nun, mein guter George, was halten Sie von der Ge-
schichte?«
George überlegte. Schließlich sagte er: »Was mir auf-
fällt, Monsieur...«
»Ja, George?«
»Monsieur werden sich einen anderen Zahnarzt suchen
müssen...«
»Sie übertreffen sich selbst, George. Dieser Aspekt der
Angelegenheit war mir noch gar nicht aufgegangen!«
Mit befriedigtem Gesicht verließ George das Zimmer.
Hercule Poirot blieb sitzen, schlürfte seine Schokolade
und ging in Gedanken nochmals die Ereignisse durch,
die er soeben geschildert hatte. Er war überzeugt, daß
die Tatsachen seiner Darstellung entsprachen. Unter
den aufgezählten Personen befand sich diejenige, die
den Mord begangen hatte – gleichgültig, wer hinter
dem Anschlag stand. Plötzlich schossen Poirots Augen-
brauen in die Höhe: Ihm war eingefallen, daß seine
Liste eine Lücke enthielt. Und niemand durfte
ausgelassen werden – auch nicht die unwahrschein-
lichste Person. Noch jemand war zur Zeit des Mordes
im Haus gewesen. Er notierte: Barnes.
94
»M. Hercule Poirot?«
»Am Apparat.«
»Hier ist Jane Olivera – die Nichte von Mr. Alistair
Blunt.«
»Ja, Miss Olivera?«
»Könnten Sie bitte ins Gotische Haus kommen? Ich
glaube nämlich, daß Sie etwas erfahren müßten.«
»Gewiß. Um welche Zeit würde es Ihnen passen?«
»Um halb sieben, bitte.«
»Ich werde kommen.«
»Ich – ich hoffe, ich störe Sie nicht in Ihrer Arbeit?«
»Ganz und gar nicht. Ich habe Ihren Anruf erwartet.«
Er legte rasch auf und wandte sich lächelnd vom Tele-
fon ab. Er war neugierig, welche Ausrede Jane Olivera
sich wohl ausgedacht haben mochte, um ihn kommen
zu lassen.
Bei seiner Ankunft im Gotischen Haus wurde er direkt
in die große Bibliothek geführt, durch deren Fenster
man auf die Themse hinaussah. Alistair Blunt saß am
Schreibtisch und spielte zerstreut mit einem Papier-
messer. Er machte das leicht gequälte Gesicht eines
Mannes, dem das Weibervolk um sich herum zuneh-
mend auf die Nerven geht.
Jane Olivera stand beim Kamin. Eine rundliche Dame
in mittleren Jahren zeterte bei Poirots Eintreten gerade:
»– und ich bin wirklich der Meinung, Alistair, daß in
dieser Angelegenheit auf meine Gefühle Rücksicht
genommen werden muß.«
»Ja, natürlich, Julia – natürlich, natürlich.«
Alistair sprach in beschwichtigendem Ton und stand
auf, um Poirot zu begrüßen.
95
»Und wenn ihr euch Schauergeschichten erzählt, ver-
lasse ich das Zimmer«, fügte die Dame hinzu.
»An deiner Stelle, Mutter, würde ich lieber gleich hin-
ausgehen«, meinte Jane höflich. Mrs. Olivera rauschte
aus dem Zimmer, ohne von Poirot Notiz zu nehmen.
»Sehr freundlich, daß Sie gekommen sind, M. Poirot«,
begrüßte Alistair Blunt ihn. »Ich glaube, Sie kennen
Miss Olivera bereits?«
Jane sagte rasch: »Es handelt sich um diese verschwun-
dene Frau, von der alle Zeitungen voll sind – Miss
Sowieso Seale.«
»Sainsbury Seale? Ja?«
»Es ist ein so pompöser Name – deshalb habe ich mich
daran erinnert. Wer soll erzählen – ich oder du, Onkel
Alistair?«
»Mein liebes Kind – die Geschichte gehört dir.«
Jane wandte sich wieder an Poirot.
»Vielleicht ist es ganz unwichtig – aber ich habe je-
denfalls gemeint, daß Sie es erfahren sollten.«
»Ja?«
»Es war beim letzten Mal, als Onkel Alistair zum
Zahnarzt ging – ich meine: nicht neulich, sondern vor
etwa drei Monaten. Ich habe ihn in die Queen Charlotte
Street begleitet; der Wagen sollte mich dann zu Freun-
den am Regents Park bringen und hinterher Onkel
Alistair wieder abholen. Wir hielten vor Nummer 58,
und Onkel stieg aus. In diesem Augenblick kam eine
Frau aus dem Haus – eine Frau in mittleren Jahren mit
wirrem Haar und geschmacklos angezogen. Sie schoß
auf Onkel zu und sagte« – hier ging Jane Oliveras
Stimme in ein affektiertes Quietschen über – »›Oh, Mr.
96
Blunt, Sie können sich gewiß nicht mehr an mich
erinnern !‹ Ihm war natürlich anzumerken, daß er sich
wirklich nicht im geringsten an sie erinnerte.«
Blunt seufzte.
»Das geht mir immer so. Die Leute sagen...«
»Er machte ein ganz bestimmtes Gesicht«, fuhr Jane
fort, »das ich genau kenne – ein Gesicht, das den
Leuten etwas vormachen soll, aber keinen Säugling
täuschen könnte – und sagte lahm: ›Oh – äh – doch,
gewiß.‹ Darauf sagte das schreckliche Weib: ›Ich war
sehr befreundet mit Ihrer Frau, wissen Sie!‹«
»Auch das sagen die Leute immer«, fügte Alistair Blunt
in düsterem Ton hinzu. Er lächelte verlegen. »Es läuft
immer auf dasselbe hinaus: ein Beitrag für irgendeinen
wohltätigen Zweck. Damals habe ich mich mit fünf
Pfund zugunsten einer Zenana-Mission loskaufen
können – billig!«
»Hatte sie wirklich Ihre Frau gekannt?«
»Nun, da sie sich für die Zenana-Mission interessierte,
hätte das nur in Indien gewesen sein können, wo wir
vor etwa zehn Jahren waren. Aber ›sehr befreundet‹ war
sie mit meiner Frau sicher nicht, denn davon hätte ich
gewußt. Wahrscheinlich hat sie sie einmal bei ir-
gendeinem Empfang getroffen.«
Jane meinte: »Ich glaube nicht, daß sie Tante Rebecca
überhaupt gekannt hat. Das war sicher nur ein Vor-
wand, um dich anzusprechen, Onkel.«
Alistair Blunt murmelte nachsichtig: »Nun, das ist sehr
gut möglich.«
»Hat sie noch weitere ›Annäherungsversuche‹ ge-
macht?« fragte Poirot.
97
Blunt schüttelte den Kopf.
»Ich habe nie wieder an sie gedacht. Sogar ihr Name
war mir entfallen, bis Jane ihn in der Zeitung entdeckt
hat.«
Unsicher sagte Jane: »Nun, ich fand, daß M. Poirot von
dieser Begegnung erfahren sollte!«
»Ich danke Ihnen, Mademoiselle«, erwiderte Poirot
höflich. Zu Blunt gewandt, fügte er hinzu: »Ich möchte
Sie nicht unnötig aufhalten, Mr. Blunt. Sie sind ein
vielbeschäftigter Mann.«
Jane sagte schnell: »Ich bringe Sie hinunter.«
Poirot lächelte hinter seinem Schnurrbart.
Im Erdgeschoß blieb Jane plötzlich stehen: »Kommen
Sie hier rein!« flüsterte sie und führte ihn in ein kleines
Zimmer, das neben der Halle lag.
Sie drehte sich um und stand ihm gegenüber. »Was
meinten Sie, als Sie am Telefon sagten, Sie hätten
meinen Anruf erwartet?«
Poirot lächelte: »Genau, was ich gesagt habe, Made-
moiselle. Ich habe Ihren Anruf erwartet – und der
Anruf ist gekommen.«
»Wollen Sie damit sagen, Sie hätten gewußt, daß ich
Sie wegen dieser Sainsbury Seale anrufen würde?«
Poirot schüttelte den Kopf.
»Das war nur ein Vorwand. Sie hätten nötigenfalls auch
einen anderen Vorwand gefunden.«
»Aus welchem anderen Grund hätte ich Sie anrufen
sollen?« fragte das Mädchen wütend.
»Aus welchem Grund sollten Sie die kleine Information
über Miss Sainsbury Seale mir zukommen lassen statt
der Polizei? Das wäre doch der normale Weg ge-
98
wesen.«
»Also gut – was wissen Sie eigentlich?«
»Ich weiß, daß Sie sich für mich interessieren, seit Sie
erfahren haben, daß ich neulich im Holborn Palace
Hotel war.«
Sie wurde so blaß, daß er erschrak. Er hätte nie ge-
dacht, daß diese tiefgebräunte Haut eine derart grün-
liche Schattierung annehmen könnte.
Mit ruhiger, fester Stimme fuhr er fort: »Sie haben
mich veranlaßt, heute hierherzukommen, weil Sie mich
ausholen wollen – das ist das richtige Wort, nicht wahr?
– ja, weil Sie mich ausholen wollen – über Mr. Howard
Raikes.«
»Wer ist das?« fragte Jane wenig überzeugend.
Poirot sagte: »Sie brauchen mich nicht auszuholen,
Mademoiselle. Ich werde Ihnen erzählen, was ich weiß
– oder vielmehr, was ich erraten habe. Damals, als ich
mit Chefinspektor Japp zum ersten Mal hier ins Haus
kam, waren Sie überrascht, uns zu sehen – erschrocken.
Sie dachten, Ihrem Onkel sei etwas zugestoßen.
Warum?«
»Nun, er gehört zu den Leuten, denen etwas zustoßen
könnte. Einmal hat er eine Bombe in einem Postpaket
bekommen, und jetzt erhält er fast täglich Drohbriefe.«
Poirot fuhr fort: »Chefinspektor Japp sagte Ihnen, daß
ein gewisser Morley, ein Zahnarzt, erschossen aufge-
funden worden sei. Sie erinnern sich vielleicht noch an
Ihre Antwort. Sie sagten: ›Aber das ist doch absurd!‹«
»Habe ich das gesagt? Das war absurd von mir, nicht
wahr?«
»Es war eine sehr sonderbare Bemerkung, Mademoi-
99
selle. Sie verriet, daß Sie von der Existenz des Mr.
Morley wußten und daß Sie erwartet hatten, etwas
würde passieren – nicht ihm, aber möglicherweise in
seinem Hause.«
»Sie denken sich gern zu Ihrem Vergnügen Geschich-
ten aus, wie?«
Poirot ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Sie hatten erwartet – oder vielmehr gefürchtet –, daß
etwas in Mr. Morleys Haus Ihrem Onkel passieren
würde. Aber wenn dem so war, dann mußten Sie etwas
wissen, was wir nicht wußten. Ich ließ die Menschen,
die an jenem Tag Mr. Morleys Haus betreten hatten,
vor meinem inneren Auge Revue passieren und kam so-
fort auf die einzige Person, die mit Ihnen in Verbindung
stehen könnte – es war dieser junge Amerikaner,
Howard Raikes.«
»Das klingt ja wie ein Schauerroman! Was bringt die
nächste spannende Fortsetzung?«
»Ich suchte Mr. Raikes auf. Er ist ein gefährlicher und
anziehender junger Mann.«
Poirot schaltete eine ausdrucksvolle Pause ein.
Jane sagte nachdenklich: »Das ist er wirklich, nicht
wahr?« Sie lächelte. »Also schön! Sie haben gewon-
nen! Ich bin fast gestorben vor Angst!«
Sie beugte sich vor.
»Ich werde Ihnen alles erzählen, M. Poirot. Sie kann
man nicht an der Nase herumführen. Lieber erzähle ich
es Ihnen, als daß Sie herumschnüffeln und alles selbst
herausbringen. Ich liebe diesen Howard Raikes. Meine
Mutter hat mich nur nach England gebracht, um mich
von ihm zu trennen. Teils deshalb, und teils weil sie
100
hofft, Onkel Alistair könnte mich genügend liebge-
winnen, um mir sein Vermögen zu vermachen. Mutter
ist eine angeheiratete Nichte. Ihre Mutter war die
Schwester von Rebecca Arnholt. Wir sind also nur sehr
entfernt verwandt – aber Blutsverwandte hat er nicht,
und deshalb bildet Mutter sich ein, wir könnten ihn
einmal beerben. Sie sehen, ich bin offen, M. Poirot.
Solche Leute sind wir. Wir haben selbst eine Masse
Geld – eine geradezu unanständige Masse, sagt Ho-
ward –, aber nicht in der Größenordnung von Onkel
Alistair.«
Sie hielt inne und schlug mit der Hand wütend auf die
Stuhllehne.
»Wie kann ich es Ihnen begreiflich machen? Alles,
woran ich auf Grund meiner ganzen Erziehung glaube,
verabscheut Howard und will es vernichten. Und wis-
sen Sie – manchmal empfinde ich genauso wie er. Ich
habe Onkel Alistair sehr gern, aber er geht mir auf die
Nerven. Er ist so schwerfällig – so englisch – so vor-
sichtig und konservativ. Manchmal habe ich das Ge-
fühl, er und seine Klasse müßten wirklich hinweggefegt
werden – sie stehen dem Fortschritt im Wege, nur ohne
sie wird man etwas erreichen können!«
»Sie bekennen sich zu den Ideen von Mr. Raikes?«
»Ja – und nein. Howard ist radikaler als die meisten
seiner Genossen. Wissen Sie, es gibt Leute, die bis zu
einem gewissen Punkt mit Howard übereinstimmen.
Sie wären bereit, etwas Neues zu wagen, wenn Onkel
Alistair und seine Leute es zulassen würden. Aber das
tun die niemals! Sie sitzen bloß da, wackeln mit den
Köpfen und sagen: ›Das dürfen wir nicht riskieren.‹
101
Und: ›Das wäre keine gesunde Wirtschaft.‹ Und: ›Wir
müssen verantwortungsbewußt sein.‹«
Jane hatte sich richtig in Rage geredet.
»Warum hat Mr. Raikes den Zahnarzt in der Queen
Charlotte Street aufgesucht?« fragte Poirot betont
sachlich.
»Weil ich wollte, daß er Onkel Alistair kennenlernt,
und nicht wußte, wie ich das anders zustande bringen
sollte. Howard ist so erbittert über Onkel Alistair, so
erfüllt von – ja, von Haß, und ich glaube, das würde
sich ändern, wenn er einmal sehen könnte, was für ein
netter, gütiger, bescheidener Mensch Onkel in Wirk-
lichkeit ist. Hier im Haus ließ sich ein Zusammentref-
fen nicht ermöglichen – Mutter hätte alles verdorben.«
»Und nachdem Sie alles vorbereitet hatten, wurden Sie
– ängstlich, nicht wahr?« fragte Poirot sachte.
Ihre Augen weiteten sich und wurden dunkel.
»Ja. Weil – weil Howard – weil Howard sich manchmal
hinreißen läßt. Er – er –«
»Er ist für ein abgekürztes Verfahren. Für die Vernich-
tung«, sagte Poirot.
»Nein, nein, so nicht!« rief Jane Olivera.
Die Zeit verging. Seit Mr. Morleys Tod war mehr als
ein Monat verstrichen, und noch immer wußte man
nichts von Miss Sainsbury Seale. Japp wurde jedesmal
grimmiger, wenn er auf die Sache zu sprechen kam.
»Zum Donnerwetter, Poirot – irgendwo muß das Weib
102
doch stecken!«
»Zweifellos, mon cher.«
»Entweder ist sie tot oder lebendig. Wenn sie tot ist -
wo ist dann die Leiche? Nehmen wir an, sie hat Selbst-
mord begangen...«
»Noch ein Selbstmord?«
»Lassen wir das. Sie behaupten immer noch, Morley sei
ermordet worden – ich behaupte, es war Selbstmord.«
»Wo die Pistole herkam, haben Sie nicht feststellen
können?«
»Nein, ein ausländisches Fabrikat.«
»Das läßt doch gewisse Schlüsse zu, nicht wahr...?«
»Nicht, wie Sie glauben. Morley war oft im Ausland.
Er kann die Pistole im Ausland gekauft haben. Eine
Menge Leute haben gern eine Waffe bei sich, wenn sie
im Ausland sind. Sie haben dann das Gefühl, das Leben
sei gefährlich.«
Er brach ab und knurrte: »Bringen Sie mich nicht vom
Thema ab. Ich wollte gerade sagen: Wenn – nur wenn,
verstehen Sie – die Dame Selbstmord begangen hat,
wenn sie zum Beispiel ins Wasser gegangen ist, dann
hätte die Leiche längst irgendwo auftauchen müssen.
Wenn sie ermordet worden ist, natürlich auch.«
»Nicht, wenn man die Leiche mit einem Gewicht be-
schwert und in die Themse geworfen hat.«
»Aus einem Keller im Chinesenviertel, was?«
»Ich weiß, ich weiß. Ich werde rot, wenn ich so was
sage.«
»Und umgebracht worden ist sie wahrscheinlich von
einer internationalen Verbrecherbande?«
Poirot meinte seufzend: »Man hat mir unlängst erzählt,
103
daß es so etwas wirklich gibt.«
»Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Mr. Reginald Barnes aus der Castlegardens Road in
Ealing.«
»Nun, der könnte vielleicht etwas wissen«, sagte Japp
nachdenklich. »Er hat sich im Innenministerium mit der
Überwachung der Ausländer befaßt.«
»Aber Sie sind anderer Meinung?«
»Es ist nicht mein Gebiet – gewiß, ja, es gibt solche Sa-
chen –, aber doch sehr selten.«
Es herrschte einen Augenblick Schweigen, dann be-
gann Japp von neuem: »Ein paar ergänzende kleine In-
formationen haben wir bekommen. Die Seale ist von
Indien nach England auf dem gleichen Schiff gereist
wie Amberiotis. Aber da sie in der zweiten und er in
der ersten Klasse gefahren ist, glaube ich nicht, daß viel
dahintersteckt. Allerdings bildet sich einer der Kellner
im Savoy ein, sie und Amberiotis ungefähr eine Woche
vor dessen Tod zusammen gesehen zu haben.«
»Es könnte also eine Verbindung zwischen den beiden
bestanden haben?«
»Möglicherweise – aber für wahrscheinlich halte ich es
nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine Mis-
sionsdame sich auf dunkle Machenschaften einläßt.«
»Hatte Amberiotis sich auf – wie Sie sich ausdrücken –
›dunkle Machenschaften‹ eingelassen?« fragte Poirot.
»Ja.«
»Das wissen Sie bestimmt?«
»Ja. Natürlich – die Schmutzarbeit hat er nicht selbst
gemacht. Wir hätten ihm nichts anhaben können. Orga-
nisieren und Berichte anfordern – das war seine Spezia-
104
lität.«
Japp machte eine Pause und fuhr dann fort: »Aber das
bringt uns mit der Sainsbury Seale nicht weiter. Die
konnte nicht zu diesen Leuten gehören.«
»Denken Sie daran, daß sie in Indien gelebt hat. Dort
hat es letztes Jahr eine Menge Unruhen gegeben.«
»Amberiotis und die tugendhafte Miss Sainsbury Seale
– ich bin einfach nicht imstande, mir die beiden als
Partner vorzustellen.«
»Wußten Sie, daß Miss Sainsbury Seale mit der ver-
storbenen Mrs. Alistair Blunt eng befreundet war?«
»Wer behauptet das? Kann ich nicht glauben. Ganz
verschiedene soziale Schichten.«
»Sie hat es selbst behauptet.«
»Und wem gegenüber?«
»Alistair Blunt.«
»Ah – so ist das gewesen! Nun, er ist ja wohl gewöhnt,
daß ihm solche Sachen erzählt werden. Meinen Sie,
Amberiotis habe die Seale irgendwie vorgeschoben?
Das hätte zu nichts geführt. Blunt hätte sie mit ein paar
Pfund für wohltätige Zwecke abgespeist. Hätte sie nie-
mals zu sich eingeladen oder so etwas Ähnliches. So
naiv ist er schließlich auch nicht.«
Das war von so stringenter Logik, daß Poirot ihm nur
beipflichten konnte.
»Und dennoch«, fuhr Japp fort, »ist die Seale ein
Mensch aus Fleisch und Blut – ich meine: Manchmal
stößt man sozusagen auf eine Attrappe, auf jemanden,
der sich beispielsweise für Miss Spinks ausgibt, ohne
daß diese Miss Spinks in Wirklichkeit existiert. Aber
diese Frau ist echt, hat eine Vergangenheit und einen
105
realen Hintergrund. Wir wissen alles über sie, von ihrer
Kindheit angefangen. Sie hat ein vollkommen norma-
les, nachvollziehbares Leben geführt – und auf einmal:
Hokuspokus verschwindibus!«
»Das muß einen Grund haben«, sagte Poirot.
»Den Morley hat sie nicht erschossen – falls Sie das
meinen sollten. Amberiotis hat ihn höchst lebendig ge-
sehen, nachdem sie schon fort war, und wir haben die
Wege überprüft, die sie nach dem Verlassen der Queen
Charlotte Street gegangen ist.«
Poirot unterbrach ungeduldig: »Ich behaupte keinen
Augenblick, daß sie Morley erschossen hat – natürlich
hat sie das nicht getan. Aber trotzdem...«
Japp sagte: »Wenn Ihre Theorie stimmt, daß Morley
ermordet worden ist, dann ist es viel wahrscheinlicher,
daß er etwas zu ihr gesagt hat, was – ohne daß sie es
wußte – auf die Spur seines Mörders führt. In diesem
Fall könnte es sein, daß sie absichtlich aus dem Weg
geräumt worden ist.«
Poirot sagte: »All das setzt eine Organisation voraus -
irgendeinen Apparat, der in keinem Verhältnis zum Tod
eines unauffälligen Zahnarztes in der Queen Charlotte
Street steht.«
»Sie müssen nicht alles glauben, was Reginald Barnes
Ihnen erzählt! Er ist ein komischer Vogel – sieht über-
all Spione und Verräter.«
Japp stand auf, und Poirot sagte: »Verständigen Sie
mich, wenn Sie etwas Neues hören.«
Als Japp gegangen war, blieb Poirot stirnrunzelnd am
Tisch sitzen. Er hatte das sichere Gefühl, auf etwas zu
warten. Aber auf was?
106
Er erinnerte sich, daß er schon früher einmal so dage-
sessen und einige Vorgänge und Namen aufgeschrieben
hatte.
Draußen vor dem Fenster war ein Vogel vorbeigeflo-
gen, einen Zweig im Schnabel.
Auch er hatte Zweige zusammengesucht. Nun lagen sie
vor ihm – eine ganze Reihe. Jeder einzelne Zweig hatte
seinen Platz in Poirots säuberlich registrierendem
Gehirn – aber er hatte noch nicht versucht, Ordnung in
die Zweige zu bringen. Das war der nächste Schritt: die
Zweige ordnen.
Was hielt ihn davon ab? Er wußte die Antwort: Er war-
tete auf etwas. Auf etwas Unvermeidliches, Vorbe-
stimmtes – auf das nächste Glied in der Kette. Wenn es
eintrat, dann – erst dann – konnte er weitermachen.
107
»Tot?«
»Man kann es wohl mausetot nennen.«
Poirot neigte den Kopf zur Seite und lauschte auf ein
wohlbekanntes Geräusch, das hinter einer Tür zu seiner
Rechten hervordrang.
»Das ist der Portier«, sagte Japp. »Übergibt sich
gerade. Ich mußte ihn zur Identifizierung heraufholen.«
Er führte Poirot den Korrdor entlang. Poirot rümpfte
die Nase.
»Nicht erfreulich«, sagte Japp. »Aber was soll man ma-
chen? Die Frau ist seit mehr als einem Monat tot.«
Der Raum, den sie betraten, war eine kleine Rumpel-
und Kofferkammer. In der Mitte stand eine große, me-
tallene Truhe, wie man sie zur Aufbewahrung von Pel-
zen hat. Der Deckel war geöffnet. Poirot trat vor und
schaute in die Truhe. Als erstes sah er den Fuß – mit
einem abgetragenen Schuh bekleidet, auf dem eine
Schnalle befestigt war. Das erste, was er von Miss
Sainsbury Seale erblickt hatte, war – fiel ihm ein – eine
Schuhschnalle.
Sein Blick wanderte über den Rock und die Jacke aus
grünem Wollstoff bis hinauf zum Kopf. Er gab ein un-
deutliches Geräusch von sich.
»Ich weiß«, sagte Japp. »Sieht schauderhaft aus.«
Das Gesicht war dermaßen zugerichtet, daß sein ur-
sprüngliches Aussehen nicht mehr zu erkennen war.
Berücksichtigte man noch den natürlichen Verwesungs-
prozeß, so war es kein Wunder, daß die beiden Männer
leicht erbsengrün aussahen, als sie sich schließlich
abwandten.
»Das«, brummte Japp, »gehört zum Beruf – zu unserem
108
Beruf. Keine Frage: Manchmal ist unsere Arbeit lausig.
Nebenan ist noch ein Tropfen Cognac. Sie sollten etwas
davon trinken.«
Das Wohnzimmer war modern und elegant eingerich-
tet: viel Chrom und ein paar mächtige, eckige Polster-
sessel, bezogen mit blaß rehbraunem, geometrisch ge-
mustertem Stoff.
Poirot fand die Karaffe und goß sich einen Cognac ein.
Er trank ihn aus und schüttelte dann den Kopf.
»Das war nicht schön, gar nicht schön! Jetzt erzählen
Sie, lieber Freund.«
»Die Wohnung gehört einer Mrs. Albert Chapman.
Mrs. Chapman ist, wie ich höre, eine hübsche Blondine
in den Vierzigern. Zahlt ihre Rechnungen pünktlich,
spielt gern mit den Nachbarn Bridge, lebt aber mehr
oder weniger zurückgezogen. Keine Kinder. Mr.
Chapman ist Geschäftsreisender. Die Seale ist am
Abend unserer Unterhaltung mit ihr hierhergekommen,
etwa um Viertel nach sieben – also vermutlich auf
direktem Weg vom Glengowrie Court Hotel. Wie der
Portier sagt, war sie schon vorher einmal da. Sie sehen:
Alles klar und einwandfrei – ein netter, freundschaft-
licher Besuch. Der Portier fuhr Miss Sainsbury Seale
im Lift hinauf. Er sah noch, wie sie vor der Woh-
nungstür stand und auf die Klingel drückte.«
Poirot bemerkte: »Da hat er sich aber reichlich Zeit ge-
lassen, bis ihm das eingefallen ist!«
»Er lag anscheinend mit einer Darmerkrankung im
Spital, und ein anderer Portier mußte ihn in dieser Zeit
vertreten. Erst vor ungefähr einer Woche will er in
einer alten Zeitung die Personenbeschreibung der ver-
109
schwundenen Seale entdeckt und zu seiner Frau gesagt
haben: ›Hört sich an wie die Dame, die damals zu Mrs.
Chapman im zweiten Stock auf Besuch gekommen ist.
Jedenfalls hat die ein grünes Wollkleid angehabt und
Schnallenschuhen Und nach einer weiteren Stunde hat
er gesagt: ›Und ihren Namen hat sie mir doch auch
gesagt, sie hieß tatsächlich Miss Sowieso Seale.‹«
»Hinterher«, fuhr Japp fort, »hat er vier Tage ge-
braucht, um seine natürliche Abneigung gegen eine
Fühlungnahme mit der Polizei zu überwinden und mit
seiner Aussage zu uns zu kommen. Wir haben erst nicht
recht geglaubt, daß es zu etwas führen würde. Sie
haben keine Ahnung, wie oft wir falschen Alarm be-
kommen haben. Immerhin habe ich Sergeant Beddas
hierhergeschickt – das ist ein aufgeweckter junger Kerl.
Hat ein bißchen zuviel von dieser neuen, hochgesto-
chenen Ausbildung genossen, aber da ist nichts zu
machen – das ist jetzt modern.
Nun, Beddas hatte gleich das Gefühl, wir seien diesmal
auf dem richtigen Dampfer. Erstens ist diese Mrs.
Chapman seit über einem Monat von niemandem im
Haus gesehen worden. Sie ist abgereist, ohne eine
Adresse zu hinterlassen. Das ist doch sonderbar. Über-
haupt ist alles sonderbar, was Beddas über Mr. und
Mrs. Chapman erfahren konnte. So entschloß er sich,
die Wohnung mal näher anzuschauen. Wir stellten
einen Haussuchungsbefehl aus und besorgten uns vom
Geschäftsführer einen Schlüssel. Fanden zuerst nichts
Interessantes, außer im Badezimmer. Dort war irgend-
eine eilige Säuberung vorgenommen worden. Auf dem
Linoleum war eine Blutspur – in einer Ecke, wo man
110
sie beim Aufwischen übersehen hatte. Danach ging es
nur noch darum, die Leiche zu finden. Mrs. Chapman
konnte kein Gepäck mitgenommen haben, denn dann
hätte der Portier davon gewußt. Deshalb mußte die
Leiche noch in der Wohnung sein. Die Pelztruhe hatten
wir rasch aufgespürt – luftdicht verschlossen, verstehen
Sie –, gerade das richtige Versteck. Die Schlüssel lagen
in einer Schublade des Toilettentisches. Die Truhe
wurde geöffnet – und da war sie, unsere verschwun-
dene Dame!«
»Und diese Mrs. Chapman?« fragte Poirot.
»Sehr richtig! Wer ist Sylvia – so heißt sie nämlich –,
und wo ist Sylvia? Eines steht fest: Sylvia oder ihre
Freunde haben die Seale umgebracht und in die Truhe
gesteckt.«
Poirot nickte und fragte: »Aber warum hat man ihr das
Gesicht so ruiniert? Das war nicht hübsch.«
»Das glaube ich, daß das nicht hübsch war! Und was
das ›Warum‹ angeht, kann man wohl nur Vermutungen
anstellen. Vielleicht aus bloßer Wut. Oder vielleicht in
der Absicht, die Identifizierung der Leiche unmöglich
zu machen.«
Poirot runzelte die Stirn.
»Aber es hat sie nicht unmöglich gemacht.«
»Nein, weil wir nicht nur eine sehr genaue Beschrei-
bung der Kleider hatten, die Mabelle Sainsbury Seale
bei ihrem Verschwinden trug, sondern weil auch ihre
Handtasche mit in die Pelztruhe gestopft worden ist, in
der sich ein alter Briefumschlag befand, der an sie
adressiert war.«
Poirot setzte sich auf und sagte: »Aber das ist doch wi-
111
dersinnig!«
»Gewiß ist es das. Ich nehme an, es war ein Versehen.«
»Ja – vielleicht ein Versehen. Aber...«
Er stand auf.
»Sie haben die Wohnung durchsucht?«
»Ziemlich gründlich. Wir haben keine aufschlußreichen
Hinweise gefunden.«
»Ich möchte Mrs. Chapmans Schlafzimmer sehen.«
»Dann kommen Sie mit.«
Das Schlafzimmer wies keinerlei Anzeichen einer ha-
stigen Flucht auf. Es war ordentlich und gut aufge-
räumt. Das Bett war unbenutzt, aber für die Nacht her-
gerichtet. Auf allem lag eine dicke Staubschicht.
»Keine Fingerabdrücke, soweit wir feststellen konnten.
In der Küche haben wir ein paar gefunden, aber ich
erwarte, daß sie von dem Mädchen stammen werden«,
erläuterte Japp.
»Das läßt also darauf schließen, daß die ganze Woh-
nung nach dem Mord sehr sorgfältig gesäubert worden
ist?«
»Ja.«
Poirot ließ den Blick langsam durchs Zimmer schwei-
fen. Es war, wie das Wohnzimmer, modern eingerich-
tet, und zwar – diesen Eindruck hatte er – von einem
Menschen mit mäßigem Einkommen. Die Gegenstände
darin waren nicht billig, aber auch nicht übertrieben
kostspielig. Sie sahen nach etwas aus, waren aber nicht
erstklassig. Die vorherrschende Farbe war Rosarot. Er
schaute in den eingebauten Garderobenschrank und
befühlte die Kleider – elegante Kleider, aber wiederum
nicht von erster Qualität. Sein Blick fiel auf die Schuhe;
112
sie gehörten überwiegend zur Kategorie der Sandalen,
die augenblicklich in Mode war, und manche besaßen
turmhohe Korksohlen. Er nahm einen Schuh in die
Hand, vermerkte die Tatsache, daß Mrs. Chapman
Größe fünf trug, und stellte ihn wieder hin. In einem
anderen Schrank fand er einen Haufen Pelze, die man
offenbar achtlos hineingeworfen hatte.
»Das stammt aus der Pelztruhe«, sagte Japp.
Poirot nickte. Er strich über einen grauen Eichhörn-
chenmantel und meinte anerkennend:
»Erstklassige Felle.«
Dann ging er ins Badezimmer. Dort gab es Schönheits-
mittel in verschwenderischer Fülle. Poirot betrachtete
sie interessiert. Puder, Rouge, Tagescreme, Nacht-
creme, Pflegemasken, zwei verschiedene Haarfärbe-
mittel.
Japp sagte: »Keine natürliche Blondine, wie Sie
sehen.«
Poirot murmelte: »Mit vierzig, mon ami, beginnt bei
manchen Frauen das Haar zu ergrauen – aber Mrs.
Chapman gehört nicht zu denen, die klein beigeben.«
»Wahrscheinlich trägt sie jetzt zur Abwechslung rotes
Haar.«
»Wer weiß?«
Japp sagte: »Etwas quält Sie, Poirot. Was ist es?«
»Ja, etwas quält mich, quält mich sehr ernsthaft. Es gibt
hier für mich, verstehen Sie, ein unlösbares Problem.«
Entschlossen ging er nochmals in die Kofferkammer.
Er packte den Schuh am Fuß der toten Frau. Der Schuh
leistete Widerstand und ließ sich nur mit Gewalt aus-
ziehen.
113
Er untersuchte die Schnalle. Sie war mit ungeschickter
Hand angenäht worden. Hercule Poirot seufzte.
»Wahrscheinlich träume ich!« murmelte er.
»Was treiben Sie da eigentlich – wollen Sie die Sache
noch komplizierter machen?« unterbrach ihn Japp.
»Genau das.«
»Ein Lackschuh«, sagte Japp, »komplett mit Schnalle.
Was ist los mit dem Schuh?«
»Nichts – absolut nichts. Und trotzdem – ich verstehe
es nicht.«
Hercule Poirot sah sehr nachdenklich aus.
114
sein soll – aber man darf ja nicht die Hälfte von dem
glauben, was die Leute so schwatzen, finden Sie nicht
auch?«
Japp stellte eine weitere Frage.
»Nein, ich habe nichts von Mrs. Chapman gehört – seit
ihrer Abreise. Sie muß ganz plötzlich verreist sein,
denn wir hatten damals verabredet, daß wir uns in der
folgenden Woche den Film mit Grear Garson an-
schauen wollten, und da hat sie nichts von Verreisen
gesagt.«
Von einer Miss Sainsbury Seale hatte Frau Merton nie
etwas gehört. Bestimmt hatte Mrs. Chapman diesen
Namen niemals erwähnt.
»Und trotzdem, wissen Sie, kommt mir der Name be-
kannt vor – ganz entschieden. Ich muß ihn in allerletz-
ter Zeit irgendwo gehört haben.«
Trocken entgegnete Japp: »Der Name hat wochenlang
in allen Zeitungen gestanden.«
»Natürlich – eine Vermißtenmeldung, nicht wahr? Und
Sie meinen, daß Mrs. Chapman sie kannte? Nein, ich
bin ganz sicher, daß Sylvia den Namen nie erwähnt
hat.«
»Wissen Sie etwas über Mr. Chapman, Mrs. Merton?«
Ein sonderbarer Ausdruck erschien auf Mrs. Mertons
Gesicht.
»Er ist, glaube ich, Geschäftsreisender – wenigstens hat
mir Mrs. Chapman das erzählt. Vertritt seine Firma im
Ausland – eine Rüstungsfirma, glaube ich. Er bereist
ganz Europa.«
»Sind Sie jemals mit ihm zusammengekommen?«
»Nein, nie. Er war so selten zu Hause, und wenn er da
115
war, wollte Mrs. Chapman mit ihm allein sein. Sehr be-
greiflich.«
»Wissen Sie, ob Mrs. Chapman nahe Verwandte oder
Freunde besitzt?«
»Ob Freunde, weiß ich nicht. Nahe Verwandte hat sie
wohl keine. Jedenfalls hat sie nie von ihnen gespro-
chen.«
»War sie jemals in Indien?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
Mrs. Merton machte eine Pause. Dann stieß sie hervor:
»Aber bitte, sagen Sie mir doch: Warum stellen Sie
diese ganzen Fragen? Ich verstehe schon, daß Sie von
der Kriminalpolizei kommen, aber dann muß doch ein
besonderer Grund vorliegen.«
»Nun, Mrs. Merton, in Mrs. Chapmans Wohnung ist
tatsächlich eine Leiche gefunden worden.«
»Oh –!« Mrs. Merton sah einen Augenblick aus wie der
Hund im Märchen, dessen Augen so groß wie Un-
tertassen waren.
»Eine Leiche! Etwa Mr. Chapman? Oder ein Auslän-
der?«
»Überhaupt kein Mann – eine Frauenleiche.«
»Eine Frau?« Mrs. Mertons Erstaunen schien noch zu
wachsen.
Poirot fragte milde: »Warum dachten Sie, es sei ein
Mann?«
»Ach, ich weiß nicht. Es kam mir wahrscheinlicher
vor...«
»Aber warum? Pflegte Mrs. Chapman Männerbesuche
zu empfangen?«
»O nein – keineswegs.« Mrs. Merton war ganz empört.
116
»So etwas habe ich nicht gemeint. So eine Frau war
Sylvia Chapman nicht im geringsten! Es war nur, weil
Mr. Chapman – ich meine...« Sie brach ab.
»Ich glaube«, sagte Poirot, »Sie wissen ein bißchen
mehr, als Sie uns erzählt haben, Madame.«
Mrs. Merton erklärte zögernd: »Ich weiß wirklich nicht,
was ich tun soll. Ich möchte keinen Vertrauensbruch
begehen und habe natürlich niemandem verraten, was
Sylvia mir erzählt hat – außer zwei Freundinnen, von
denen ich bestimmt wußte, daß sie kein Wort weiter-
sagen würden.«
Mrs. Merton holte tief Atem.
»Was hat Ihnen Mrs. Chapman erzählt?« fragte Japp.
Mrs. Merton beugte sich vor und senkte die Stimme.
»Es ist ihr eines Tages gewissermaßen zufällig ent-
schlüpft. Wir sahen einen Film, der vom Geheimdienst
handelte, und Mrs. Chapman sagte, es sei deutlich zu
merken, daß die Filmleute nicht viel von diesem Metier
verstünden. Und dann ist es herausgekommen, nur hat
sie mich beschworen, darüber zu schweigen. Mr.
Chapman ist nämlich beim Geheimdienst tätig. Das ist
der wirkliche Grund, weshalb er dauernd ins Ausland
fahren muß. Die Geschäftsreisen sind nur ein Vor-
wand.«
117
scheinend ziemlich häufig gewechselt. Diese Nelly hat
die Stellung erst seit ein oder zwei Monaten gehabt. Sie
sagt, Mrs. Chapman sei eine nette Dame gewesen, habe
gern Radio gehört und mit ihr nie unfreundlich gespro-
chen. Manchmal hat sie Briefe aus dem Ausland
bekommen, ein paar aus Deutschland, zwei aus Ame-
rika, einen aus Italien und einen aus Rußland. Der
Freund des Mädchens sammelt Marken, und Mrs.
Chapman gab ihr diese stets, wenn ein Brief gekommen
war.«
»Unter Mrs. Chapmans Papieren haben Sie nichts ge-
funden?«
»Nicht das geringste, Chefinspektor. Es war auch nicht
viel an Papieren da. Ein paar Rechnungen und Quit-
tungen – alle von hiesigen Firmen. Einige alte Theater-
programme, ein paar Kochrezepte, die sie aus der Zei-
tung ausgeschnitten hatte, und eine Broschüre über die
Zenana-Mission.«
»Nun, und wer die ins Haus gebracht hat, ist leicht zu
erraten. Das klingt kaum nach einer Mörderin, was?
Und doch scheint sie das gewesen zu sein. Zumindest
muß sie eine Komplizin sein. Und fremde Männer sind
an dem Abend nicht im Haus gesehen worden?«
»Der Portier kann sich an keine erinnern, aber es ist ja
auch schon ziemlich lange her, und überhaupt ist das
Haus sehr groß – ein dauerndes Kommen und Gehen.
An das Datum erinnert er sich nur deshalb, weil er am
nächsten Tag ins Spital gebracht worden ist und sich an
dem betreffenden Abend schon sehr schlecht gefühlt
hat.«
Der Arzt kam aus dem Badezimmer, wo er sich die
118
Hände gewaschen hatte.
»Eine höchst unappetitliche Leiche«, sagte er heiter.
»Schicken Sie sie mir rüber, sobald Sie soweit sind.
Dann werde ich mich an die Arbeit machen.«
»Todesursache noch nicht festgestellt, Doktor?«
»Bevor ich die Autopsie gemacht habe, kann ich un-
möglich etwas Genaues sagen. Die Verletzungen im
Gesicht sind ihr bestimmt erst nach dem Tod beige-
bracht worden, möchte ich behaupten. Aber mit Si-
cherheit läßt es sich erst sagen, wenn ich sie auf dem
Seziertisch habe. Frau in mittleren Jahren, anscheinend
soweit gesund, Haare an der Wurzel grau, aber blond
gefärbt. Vielleicht hat sie am Körper besondere Merk-
male – wenn nicht, wird sie schwer zu identifizieren
sein –, ach, Sie wissen, wer es ist? Das ist großartig.
Was? Die vermißte Frau, über die soviel in der Zeitung
stand? Ich lese die Zeitung immer nur flüchtig. Löse
nur die Kreuzworträtsel.«
»Und das ist nun die öffentliche Meinung!« sagte Japp
bitter, als der Arzt hinausging.
Poirot stand über den Schreibtisch gebeugt. Er nahm
ein braunes Adreßbüchlein zur Hand und schlug es
beim Buchstaben Z auf. Da stand: Dr. Zacharias, Prince
Albert Road 17; Zaccoletti und Drake, Fischgeschäft.
Und darunter stand: Zahnarzt, Mr. Morley, Queen
Charlotte Street 58.
In Poirots Augen leuchtete ein grünes Licht. »Es wird«,
sagte er, »nicht schwierig sein, die Leiche einwandfrei
zu identifizieren.«
Japp sah ihn erstaunt sein.
»Sie glauben doch nicht etwa...«
119
»Ich will ganz sicher sein!« antwortete Poirot heftig.
120
sein.«
»Wo ist sie denn jetzt?«
»Ich glaube, sie arbeitet bei einem Zahnarzt in Rams-
gate.«
»Sie hat also diesen jungen Mr. Carter noch nicht ge-
heiratet?«
»Nein, und ich hoffe, daß auch in Zukunft nichts daraus
wird. Ich mag den jungen Mann nicht, Mr. Poirot, ich
mag ihn wirklich nicht. Mit dem stimmt etwas nicht.«
»Würden Sie es für möglich halten, daß er Ihren Bruder
erschossen hat?« erkundigte sich Poirot.
Miss Morley sagte langsam: »Ich habe das Gefühl, daß
er vielleicht dazu fähig gewesen wäre – denn er ist sehr
unbeherrscht. Aber ich sehe nicht ein, welchen Grund –
übrigens auch welche Gelegenheit – er dafür gehabt
haben könnte. Schließlich ist es Henry nicht gelungen,
Gladys von ihm abzubringen. Sie hat weiter treu zu ihm
gehalten.«
»Glauben Sie, daß man ihn bestochen haben könnte?«
»Bestochen? Meinen Bruder umzubringen? Das halte
ich für einen phantastischen Gedanken!«
In diesem Augenblick brachte ein nettes, dunkelhaari-
ges Mädchen den Tee.
Als es die Tür hinter sich schloß, erkundigte sich
Poirot: »Dieses Mädchen war schon in London bei
Ihnen, nicht wahr?«
»Agnes? Ja, sie war unser Stubenmädchen. Ich habe die
Köchin entlassen, und Agnes macht jetzt alles. Sie hat
sich zu einer sehr netten kleinen Köchin entwickelt.«
Poirot nickte. Er erinnerte sich der häuslichen Verhält-
nisse in der Queen Charlotte Street 58 noch sehr genau.
121
Sie waren zur Zeit der Tragödie gründlich untersucht
worden. Mr. Morley und seine Schwester hatten ihre
Wohnräume in den beiden oberen Stockwerken des
Hauses. Das Souterrain war gänzlich abgeschlossen,
mit Ausnahme eines schmalen Ganges, der zum Hinter-
hof führte; dort waren ein Sprachrohr und ein Aufzug
zum obersten Stock angebracht, der die Lebensmittel
und anderen Waren für den Haushalt hinaufbeförderte.
Den einzigen Zugang zum Haus bildete daher die
vordere Eingangstür, die von Alfred bedient wurde.
Dies hatte der Polizei einen sicheren Anhaltspunkt
dafür geboten, daß an dem betreffenden Vormittag kein
Außenseiter das Haus hatte betreten können.
Köchin und Stubenmädchen waren schon jahrelang bei
den Morleys und hatten einen guten Leumund. Obwohl
es also theoretisch möglich gewesen wäre, daß sich
eine von den beiden in den zweiten Stock hinunter-
geschlichen und dort den Hausherrn erschossen hatte,
war doch diese Annahme niemals ernstlich in Erwä-
gung gezogen worden. Beim Verhör hatten beide
keinen übermäßig ängstlichen oder aufgeregten Ein-
druck gemacht, und es bestand im ganzen keinerlei
Anlaß, sie mit dem Tod Morleys in Verbindung zu
bringen.
Aber als Poirot beim Fortgehen von Agnes Hut und
Stock überreicht bekam, wandte sie sich mit auffallen-
der Nervosität an ihn mit der Frage: »Ist – ist etwas
Neues herausgekommen über den Tod von Mr. Mor-
ley?«
Poirot sah sie aufmerksam an: »Nichts Neues ist be-
kannt geworden«, antwortete er.
122
»Glaubt man immer noch, daß er sich umgebracht hat,
weil ihm ein Versehen mit dem Mittel passiert ist?«
»Ja. Warum fragen Sie?«
Agnes strich sich verlegen über die Schürze. Sie
wandte das Gesicht zur Seite und stotterte undeutlich:
»Miss Morley glaubt nicht daran.«
»Und Sie?«
»Ich? Ach, ich weiß ja nichts. Ich wollte nur – ganz si-
cher sein.«
Hercule Poirot sagte mit seiner sanftesten Stimme: »Es
wäre für Sie eine Erleichterung, wenn Sie ohne jeden
Zweifel wüßten, daß es Selbstmord war?«
»O ja«, antwortete Agnes rasch, »das wäre wirklich
eine Erleichterung.«
»Aus irgendeinem bestimmten Grund?«
Ihr erschrockener Blick begegnete dem seinen. Sie
zuckte zurück.
»Ich – ich weiß keinen bestimmten Grund. Ich wollte
nur fragen.«
»Ja, aber warum hat sie gefragt?« murmelte Poirot vor
sich hin, als er den Weg zum Gartentor hinunterschritt.
Er war überzeugt, daß es eine Antwort auf diese Frage
gab. Aber einstweilen konnte er die Antwort nicht
erraten.
Trotzdem hatte er das Gefühl, einen Schritt weiterge-
kommen zu sein.
123
Barnes.
Er blinzelte, wie üblich, und entschuldigte sich trocken
für sein unangemeldetes Erscheinen. Er war gekommen
– so erklärte er – um M. Hercule Poirots Besuch zu
erwidern.
Poirot seinerseits erklärte, er sei entzückt, Mr. Barnes
zu sehen. George wurde beauftragt, Kaffee zu bringen –
es sei denn, der Besuch ziehe Tee oder Whisky-Soda
vor?
»Kaffee wäre ausgezeichnet«, sagte Mr. Barnes. »Ich
nehme an, daß Ihr Diener ihn gut macht, was das engli-
sche Personal meist nicht fertigbringt.«
Nach dem Austausch einiger höflicher Bemerkungen
räusperte sich Mr. Barnes schließlich und sagte: »Ich
will ganz offen mit Ihnen sein, M. Poirot. Es ist die
reine Neugierde, die mich zu Ihnen geführt hat. Sie,
dachte ich, würden über alle Einzelheiten dieses seltsa-
men Falles am besten informiert sein. Ich ersehe aus
der Zeitung, daß man die verschwundene Mabelle
Sainsbury Seale gefunden hat und daß eine Leichen-
schau abgehalten und bis zur Beibringung neuer
Beweismittel vertagt wurde. Als Todesursache wurde
eine Überdosis Medinal angegeben.«
»Genau so verhält es sich«, bestätigte Poirot, und nach
einer Pause fragte er: »Haben Sie jemals etwas von Al-
bert Chapman gehört, Mr. Barnes?«
»Ah, der Gatte der Dame, in deren Wohnung Miss
Seale umgekommen ist? Wie es scheint, eine schwer zu
fassende Persönlichkeit.«
»Aber doch wohl kaum eine Persönlichkeit, die es nicht
gibt?«
124
»Oh, keineswegs«, sagte Mr. Barnes. »Es gibt ihn. O ja,
es gibt ihn – oder hat ihn gegeben. Ich hörte, er sei tot.
Aber auf solche Gerüchte kann man sich nie
verlassen.«
»Wer war Chapman, Mr. Barnes?«
»Ich glaube nicht, daß da Näheres herauskommt –
wenn es sich irgendwie vermeiden läßt. Man wird an
der Lesart vom ›Vertreter einer Rüstungsfirma‹ festhal-
ten.«
»Er war also tatsächlich beim Geheimdienst?«
»Natürlich war er das. Aber er hatte nicht das Recht, es
seiner Frau zu verraten – keinesfalls. Er hätte sogar den
Dienst quittieren müssen, als er heiratete. Als verheira-
teter Mann bleibt man gewöhnlich nicht aktiv – das
heißt, wenn man zum Kreis der Geheimagenten ge-
hört.«
»Und Chapman hat zu diesen gehört?«
»Ja. QX 912: Das war seine Chiffre. Namen werden
dort nie gebraucht. Ich will nicht behaupten, QX 912
sei ein besonders wichtiger Mann gewesen. Aber er war
gut verwendbar, weil er so unauffällig aussah. Für
Botenreisen kreuz und quer durch Europa hat man ihn
viel eingesetzt.«
»Dann war er also im Besitz wertvoller Informatio-
nen?«
»Ach, vermutlich hat er überhaupt nichts gewußt«,
meinte Mr. Barnes fröhlich. »Seine Aufgabe bestand
einzig darin, in Eisenbahnzügen, Schiffen und Flug-
zeugen hin- und herzurasen und eine passende Be-
gründung für seine jeweilige Reise bereit zu haben.«
»Und Sie haben gehört, er sei tot?«
125
»Das habe ich gehört«, erwiderte Mr. Barnes. »Aber
man darf nicht alles glauben, was man hört. Ich tue das
nie.«
Poirot schaute Mr. Barnes forschend an: »Was ist,
glauben Sie, aus seiner Frau geworden?«
»Ich habe keine Ahnung«, erklärte Barnes. »Sie viel-
leicht?«
»Ich hatte eine Ahnung«, sagte Poirot zögernd, »aber es
ist alles sehr verworren.«
Mr. Barnes murmelte mitfühlend: »Macht Ihnen ir-
gendein bestimmter Punkt Schwierigkeiten?«
Hercule Poirot antwortete langsam: »Ja. Etwas, das ich
mit eigenen Augen gesehen habe...«
126
»Es wäre natürlich weit besser, wenn er selbst als
Zeuge hätte auftreten können.«
»Leatheran genügt auch, Morleys Nachfolger. Er ist ein
tüchtiger, fähiger Mann, der einen guten Eindruck
macht, und das Beweismaterial ist nicht anzuzweifeln.«
127
Gesicht kaputt. Und der einzige triftige Grund konnte
sein, daß man die Identität verschleiern wollte.« Er
fügte großmütig hinzu: »Aber ich wäre nicht so schnell
daraufgekommen, daß es gerade die andere Frau war.«
Poirot lächelte.
»Und doch, lieber Freund, waren die beiden Frauen
einander äußerlich gar nicht so unähnlich. Mrs.
Chapman war eine fesche, gutaussehende Person, stark
geschminkt und elegant angezogen. Miss Sainsbury
Seale war nachlässig gekleidet und hat Lippenstift und
Rouge nur vom Hörensagen gekannt. Aber in den we-
sentlichen Punkten bestand Übereinstimmung zwischen
den beiden Frauen. Beide waren in den Vierzigern,
beide hatten ungefähr die gleiche Größe und Figur.
Beide besaßen angegrautes Haar, das sie blond
färbten.«
»Ja, natürlich, da haben Sie recht. Eines müssen wir zu-
geben – nämlich, daß die schöne Mabelle uns beide
mordsmäßig reingelegt hat. Ich hätte schwören mögen,
daß sie das war, wofür sie sich ausgab.«
»Aber lieber Freund, sie war wirklich das, wofür sie
sich ausgegeben hat. Wir kennen doch ihre ganze Ver-
gangenheit.«
»Wir haben nicht gewußt, daß sie imstande war, einen
Mord zu begehen – und es sieht doch ganz danach aus.
Nicht Sylvia hat Mabelle umgebracht, sondern Mabelle
Sylvia.«
Hercule Poirot wiegte kummervoll den Kopf. Er konnte
sich noch immer nicht mit der Vorstellung abfinden,
daß Mabelle Sainsbury Seale eine Mörderin sein sollte.
Und doch klang ihm Mr. Barnes' leise, ironische
128
Stimme im Ohr: ›Sorgen Sie dafür, daß auf die
achtbaren Leute aufgepaßt wird...‹ Mabelle Sainsbury
Seale war äußerst achtbar gewesen.
Mit Nachdruck schloß Japp: »Ich werde diesen Fall bis
zum bitteren Ende verfolgen, Poirot. Dieses Frauen-
zimmer wird mich nicht mehr reinlegen.«
Am nächsten Tag rief Japp an. Seine Stimme klang
sonderbar: »Poirot, wollen Sie das Neueste hören? Es
ist aus, mein Lieber. Aus!«
»Pardon? Die Verbindung scheint nicht gut zu sein. Ich
habe nicht ganz verstanden.«
»Es ist aus, alter Freund. A-U-S. Wir können ein-
packen! Uns hinsetzen und die Daumen drehen!«
Seine Stimme klang jetzt unverkennbar erbittert.
»Was ist aus?«
»Unser ganzer lausiger, verdammter Fall! Die Suche
nach der vermißten Person! Das ganze Drum und
Dran!«
»Aber ich verstehe immer noch nicht...«
»Also hören Sie zu, und zwar genau, denn ich kann
keine Namen nennen. Sie wissen, daß wir überall nach
– nach dieser Miss... suchen, und jetzt ist die ganze
Aktion abgeblasen. Die Jagdhunde werden zurückge-
pfiffen – verstehen Sie jetzt?«
»Ja, ja. Aber warum?«
»Befehl vom lieben guten Auswärtigen Amt.«
»Das ist aber doch sehr ungewöhnlich?«
»Nun, dann und wann kommt so was schon vor.«
»Warum ist man so rücksichtsvoll gegen – gegen – den
Pelzmantel?«
»Um die dreht es sich nicht. Die ist ihnen ganz egal.
129
Aber man will es nicht zu einem Prozeß kommen las-
sen, weil man Angst hat, daß dann zu viel über Mrs. A.
C. bekannt wird – über die Leiche! Ich kann nur
annehmen, daß der Ehemann – A. C, verstehen Sie...?«
»Ja, ja, gewiß.«
»Daß der Ehemann irgendwo im Ausland zur Zeit an
einer kitzligen Sache arbeitet und nicht gestört werden
soll.«
»Tsch!«
»Was sagen Sie?«
»Es war, mon ami, ein Ausruf des Verdrusses.«
»Aha – ich dachte, Sie hätten sich einen Schnupfen
geholt! Verdruß ist gut! Ich möchte lieber ein stärkeres
Wort gebrauchen. Daß man die Dame einfach lau-
fenläßt, reizt mich bis zur Weißglut.«
Poirot sagte leise: »Man wird sie nicht laufenlassen.«
»Ich sage Ihnen doch, daß uns die Hände gebunden
sind ...!«
»Ihnen vielleicht – mir nicht.«
»Braver alter Poirot! Sie wollen die Sache weiterver-
folgen?«
»Mais oui – bis zum Tod!«
»Nun – sorgen Sie nur dafür, daß es nicht Ihr eigener
ist, alter Freund! Wenn die Geschichte so weitergeht,
wie sie angefangen hat, dann wird Ihnen wahrschein-
lich demnächst jemand ein Paket mit einer Giftschlange
schicken!«
Als Poirot den Hörer auflegte, fragte er sich: »Warum
habe ich nur diese dramatische Phrase gebraucht – ›bis
zum Tod‹? Vraiment – absurd!«
130
Der Brief kam mit der Abendpost. Er war mit der Ma-
schine geschrieben, bis auf die Unterschrift:
Lieber M. Poirot!
Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich morgen
aufsuchen könnten. Ich habe vielleicht einen Auftrag
für Sie. Ich schlage vor, daß Sie um halb eins in meine
Wohnung am Chelsea Embankment kommen. Sollte
Ihnen diese Zeit nicht passen, bitte ich Sie, telefonisch
einen anderen Termin mit meinem Sekretär zu verein-
baren. Verzeihen Sie, daß ich Sie so kurzfristig bemü-
hen muß.
Ihr ergebener Alistair Blunt
Poirot strich den Bogen glatt und las den Brief zum
zweiten Mal. In diesem Augenblick läutete das Telefon.
Eine unpersönliche Stimme fragte: »Welche Nummer
haben Sie?«
»Hier ist Whitehall 7272.«
Eine Pause. Ein Knacken. Dann eine Stimme. Eine
weibliche Stimme.
»M. Poirot?«
»Ja.«
»M. Poirot, Sie haben einen Brief erhalten – oder wer-
den ihn sehr bald erhalten.«
»Wer ist dort?«
»Es ist unnötig, daß Sie das wissen.«
»Gut. Ich habe, Madame, mit der Abendpost acht
Briefe und drei Rechnungen erhalten.«
»Dann wissen Sie, welchen Brief ich meine. Wenn Sie
klug sind, M. Poirot, werden Sie den Auftrag ablehnen,
131
den man Ihnen erteilen will.«
»Das, Madame, ist eine Frage, die ich selbst zu ent-
scheiden habe.«
Die Stimme sagte kühl: »Ich warne Sie, M. Poirot. Ihre
Einmischung wird nicht länger geduldet. Halten Sie
sich aus der Sache raus.«
»Und wenn ich mich nicht raushalte?«
»Dann werden wir Maßnahmen ergreifen, um zu errei-
chen, daß Ihre Einmischung nicht mehr zu befürchten
ist...«
»Das ist eine Drohung, Madame!«
»Wir verlangen nichts anderes, als daß Sie Vernunft
annehmen. Es ist zu Ihrem eigenen Besten.«
»Sie sind wirklich großmütig!«
»Sie können den vorgezeichneten Gang der Ereignisse
nicht ändern. Kümmern Sie sich also nicht um Dinge,
die Sie nichts angehen. Verstehen Sie mich?«
»Gewiß verstehe ich Sie. Ich bin nur der Meinung, daß
Mr. Morleys Tod mich angeht.«
»Morley war nur eine Nebenfigur. Er hat unsere Pläne
gestört.«
»Er war immerhin ein Mensch, Madame – und ist vor
seiner Zeit gestorben.«
»Er war bedeutungslos.«
Poirots Stimme klang gefährlich, als er ruhig sagte: »In
diesem Punkt irren Sie sich...«
»Es war seine eigene Schuld. Er weigerte sich, Ver-
nunft anzunehmen.«
»Ich weigere mich ebenfalls, Vernunft anzunehmen.«
»Dann sind Sie ein Narr.«
Es knackte im Apparat; am anderen Ende war der Hö-
132
rer aufgelegt worden.
Poirot rief »Allo?« und legte dann seinerseits auf. Er
machte sich nicht die Mühe, durch die Zentrale ermit-
teln zu lassen, woher der Anruf gekommen war. Er war
ziemlich sicher, daß er von einem öffentlichen Fern-
sprecher aus geführt worden war. Was ihn beschäftigte
und verwirrte, war, daß er sich einbildete, die Stimme
schon irgendwo gehört zu haben. Er zermarterte sich
das Gehirn in dem vergeblichen Versuch, sich ihrer
Besitzerin zu erinnern. Konnte es die Stimme von
Sainsbury Seale sein? Mabelle Sainsbury Seale hatte
eine hohe, affektierte Stimme mit übertrieben deutli-
cher Aussprache gehabt. Die Stimme am Telefon hatte
ganz anders geklungen – und doch war es vielleicht
Miss Sainsbury Seale gewesen, nur verstellt. Sie war ja
einmal Schauspielerin gewesen. Vermutlich machte es
ihr keine großen Schwierigkeiten, die Stimme zu
verstellen. Aber diese Erklärung befriedigte ihn nicht.
Nein, die Stimme erinnerte ihn an eine andere Frau. Es
war keine Stimme, die er gut kannte, aber er war immer
noch überzeugt, sie schon einmal – oder vielleicht
zweimal – gehört zu haben.
Warum – so überlegte er – hatte sie sich die Mühe ge-
macht, ihn anzurufen und ihm zu drohen? Glaubten
diese Leute wirklich, daß er sich einschüchtern lassen
würde? Schlechte Psychologen!
133
Er entschuldigte sich liebenswürdig.
»Es tut mir außerordentlich leid, M. Poirot – und Mr.
Blunt gleichfalls. Er ist ins Außenministerium gerufen
worden. Ich habe bei Ihnen zu Hause angerufen, aber
leider waren Sie schon fort.«
Der junge Mann sprach rasch weiter: »Mr. Blunt hat
mich beauftragt, Sie zu bitten, das Wochenende mit
ihm in seinem Landhaus in Kent zu verbringen. Sie
wissen: Exsham. Falls es Ihnen paßt, würde er Sie mor-
gen abend mit dem Wagen abholen.«
Poirot zögerte.
Der junge Mann sagte in überredendem Ton: »Es liegt
Mr. Blunt wirklich sehr viel daran, mit Ihnen zu spre-
chen.«
Hercule Poirot neigte den Kopf.
»Danke. Ich nehme die Einladung an.«
»Ah, das ist famos. Mr. Blunt wird entzückt sein. Wenn
er Sie morgen um etwa Viertel vor sechs abholen
würde, wäre das – oh, guten Morgen, Mrs. Olivera.«
Jane Oliveras Mutter war eingetreten. Sie war sehr ele-
gant angezogen; auf ihrer kunstvoll gebauten Frisur ba-
lancierte schräg ein Hut, der das eine Auge fast ver-
deckte.
»Mr. Selby, hat Ihnen Mr. Blunt wegen der Garten-
stühle Bescheid gesagt? Ich wollte gestern abend mit
ihm darüber sprechen, weil ich wußte, daß wir übers
Wochenende hinausfahren, und...«
Mrs. Olivera bemerkte Poirots Anwesenheit und ver-
stummte.
»Darf ich Sie Mrs. Olivera vorstellen, M. Poirot?«
»Ich hatte schon das Vergnügen, Madame kennenzu-
134
lernen.«
Poirot machte eine Verbeugung. Mrs. Olivera sagte
zerstreut: »Oh – guten Tag. Mr. Selby, ich weiß natür-
lich, daß Alistair ein vielbeschäftigter Mann ist, und
daß diese kleinen häuslichen Dinge ihm vielleicht
unwichtig vorkommen.«
»Es ist alles in Ordnung, Mrs. Olivera«, entgegnete
Selby. »Ich habe bei der Firma Deevers wegen der
Stühle angerufen.«
»So – da fällt mir aber ein Stein vom Herzen. Nun
etwas anderes, Mr. Selby: Können Sie mir sagen...«
Mrs. Olivera gackerte weiter. Sie kam Poirot vor wie
eine Henne. Eine große, fette Henne. Immer noch
gackernd, bewegte sie sich majestätisch auf die Tür zu.
»... und wenn Sie bestimmt wissen, daß wir dieses
Wochenende ganz unter uns sind...«
Mr. Selby hustete.
»Äh – M. Poirot kommt ebenfalls zum Wochenende
hinaus.«
Mrs. Olivera brach ab. Sie drehte sich um und betrach-
tete Poirot mit sichtlichem Mißfallen.
»So? Wirklich?«
»Mr. Blunt war so liebenswürdig, mich einzuladen«,
erklärte Poirot höflich.
»Also, das wundert mich – das ist doch sehr sonderbar
von Alistair. Sie werden verzeihen, M. Poirot, aber Mr.
Blunt hat mir ausdrücklich gesagt, daß er diesmal das
Wochenende nur im Familienkreis zu verbringen
wünschte.«
Selby sagte mit fester Stimme: »Mr. Blunt liegt beson-
ders viel daran, daß M. Poirot mit nach Exsham
135
kommt.«
»Tatsächlich? Mir gegenüber hat er nichts davon er-
wähnt.«
Die Tür ging auf. Jane erschien und sagte ungeduldig:
»Mutter, kommst du nicht? Wir sind auf Viertel nach
eins zum Mittagessen verabredet.«
»Ich komme schon, Jane. Sei nicht so ungeduldig.«
»Mach schnell, um Himmels willen – hallo, M. Poi-
rot!«
Sie war plötzlich ganz still. Ihr Gesicht erstarrte, und
ihre Augen verrieten, daß sie auf der Hut war.
Mrs. Olivera sagte mit eisiger Stimme: »M. Poirot
kommt zum Wochenende nach Exsham hinaus.«
»Aha.«
Jane Olivera trat zurück und ließ ihre Mutter durch die
Tür gehen. Sie schien ihr folgen zu wollen, drehte sich
dann aber rasch herum.
»M. Poirot!«
Es klang wie ein Befehl. Poirot ging quer durchs
Zimmer zu ihr hin. Sie sagte leise: »Sie kommen mit
nach Exsham? Warum?«
Poirot zuckte die Achseln.
»Es war ein liebenswürdiger Einfall Ihres Onkels.«
Jane sagte: »Aber er kann doch nicht wissen... er kann
nicht... – Wann hat er Sie denn eingeladen? Ach, es ist
doch nicht notwendig...«
»Jane!« Mrs. Olivera rief aus der Halle.
Jane sagte in leisem, beschwörendem Ton: »Bleiben
Sie weg. Bitte, kommen Sie nicht.«
Sie ging hinaus. Poirot hörte, wie sich draußen eine
Auseinandersetzung abspielte.
136
»Ich kann deine Frechheit wirklich nicht länger dulden,
Jane... ich werde Maßnahmen ergreifen, damit du dich
nicht mehr einmischst...«
Der Sekretär sagte: »Dann also morgen abend, kurz vor
sechs, M. Poirot?«
Poirot nickte mechanisch. Er stand da wie jemand, der
ein Gespenst gesehen hat. Aber es waren die Ohren,
nicht die Augen, durch die er den Schlag empfangen
hatte. Zwei von den Sätzen, die durch die offene Tür zu
ihm gedrungen waren, stimmten fast wörtlich mit dem
überein, was er am Abend zuvor am Telefon gehört
hatte – und er wußte jetzt, wieso ihm die Stimme be-
kannt vorgekommen war.
Als er in den Sonnenschein hinaustrat, schüttelte er
fassungslos den Kopf. Mrs. Olivera? Aber das war doch
unmöglich! Es konnte nicht Mrs. Olivera gewesen sein,
die am Telefon zu ihm gesprochen hatte! Diese
hohlköpfige Gesellschaftshyäne – egoistisch, dumm,
habgierig? Wie hatte er sie eben im stillen genannt?
»Diese große, fette Henne? C'est ridicule!« murmelte
er.
Seine Ohren, entschied er, mußten ihn getäuscht haben.
Und trotzdem...
137
interessantesten Kriminalfällen zu erzählen. Für den
Rest der Fahrt drehte sich die Unterhaltung um die
bedeutendsten Fälle in der Karriere Hercule Poirots.
Blunt verschlang gierig wie irgendein Schuljunge jede
Einzelheit, die er darüber erfahren konnte.
Die behagliche Stimmung schwand, sobald sie in
Exsham waren. Mrs. Olivera strahlte eisige Mißbilli-
gung aus. Sie übersah Poirot so weit wie möglich und
richtete das Wort ausschließlich an den Gastgeber und
den Sekretär.
Mr. Selby führte Poirot in das für ihn bestimmte Zim-
mer. Das Haus war reizend, nicht sehr groß, und mit
demselben unauffälligen guten Geschmack eingerich-
tet, den Poirot schon in London bewundert hatte. Alles
war kostbar, aber einfach. Die Bedienung war muster-
haft, die Küche englisch, und die Weine, die bei Tisch
getrunken wurden, bewogen Poirot zu geradezu lei-
denschaftlicher Anerkennung. Es gab eine ausgezeich-
nete klare Suppe, gebratene Seezunge, Hammelrücken
mit jungen Erbsen und Erdbeeren mit Schlagrahm.
Poirot genoß diese kreatürlichen Freuden mit solcher
Hingabe, daß er sich um die unverändert eisige Haltung
von Mrs. Olivera und die ungehörige Schroffheit ihrer
Tochter kaum kümmerte. Jane begegnete ihm aus
irgendeinem Grunde mit entschiedener Feindseligkeit.
Warum wohl? fragte sich Poirot verwirrt, als das
Abendessen seinem Ende zuging.
Blunt ließ den Blick mit sanftem Erstaunen über den
Tisch schweifen und fragte: »Speist Helen heute abend
nicht mit uns?«
Julia Olivera preßte die Lippen zu einem geraden Strich
138
zusammen und sagte: »Die gute Helen hat sich, glaube
ich, im Garten überanstrengt. Ich fand, es würde ihr
weit besser tun, sich ins Bett zu legen und auszuruhen,
als sich umzuziehen und zum Essen herüberzukommen.
Sie hat es vollkommen eingesehen.«
»Aha, ich verstehe.« Blunt machte ein unbestimmtes,
etwas überraschtes Gesicht. »Ich dachte, sie würde zum
Wochenende gern etwas Abwechslung haben.«
»Helen ist ein so einfacher Mensch. Sie geht gern früh
zu Bett.«
Als Poirot sich in den Salon zu den Damen begab, wäh-
rend Blunt zurückblieb, um ein paar Minuten mit sei-
nem Sekretär zu sprechen, hörte er, wie Jane Olivera zu
ihrer Mutter sagte: »Die Art, wie du Helen Montressor
abgeschoben hast, war Onkel Alistair gar nicht recht,
Mutter.«
»Unsinn«, antwortete Mrs. Olivera unbekümmert.
»Alistair ist nur zu gutmütig. Arme Verwandte sind ja
schön und gut – es ist sehr großzügig von ihm, daß er
ihr das Bauernhäuschen ohne Miete überläßt, aber zu
glauben, daß er sie nun jedes Wochenende zum Abend-
essen einladen muß, ist albern! Sie ist doch nur eine
Cousine zweiten Grades oder so etwas. Ich bin der Mei-
nung, daß Alistair nicht ausgenützt werden sollte!«
»In ihrer Art ist sie stolz«, sagte Jane. »Sie arbeitet viel
im Garten.«
»Das zeigt, daß sie die richtige Auffassung von ihrer
Stellung hat«, erklärte Mrs. Olivera zufrieden. »Die
Schotten sind sehr selbständig und werden deshalb
auch geachtet.« Sie machte es sich auf dem Sofa be-
quem und fuhr fort, ohne von Poirot Notiz zu nehmen:
139
»Bring mir doch einmal die Low Down Review,
Liebes. Es steht etwas drin über Lois von Schuyler und
ihren marokkanischen Führer – das möchte ich lesen.«
Alistair Blunt erschien in der Tür: »Wenn Sie jetzt bitte
in mein Zimmer kommen würden, M. Poirot!« sagte er.
Es war ein gemütliches Zimmer mit tiefen Sesseln und
Diwans; angenehme Unordnung herrschte, die es um so
wohnlicher erscheinen ließ. Selbstverständlich hätte
Hercule Poirot eine größere Symmetrie vorgezogen.
Blunt bot seinem Gast eine Zigarette an, entzündete
seine Pfeife und kam ohne Umschweife zum Thema.
»Da sind noch verschiedene Dinge, über die ich mir
den Kopf zerbreche. Ich meine natürlich den Fall
Sainsbury Seale. Aus Gründen, die ich nicht kenne, die
aber zweifellos gerechtfertigt sind, haben die Behörden
die Jagd abgeblasen. Ich weiß nicht genau, wer Albert
Chapman ist und was er treibt – aber jedenfalls scheint
seine Tätigkeit ziemlich wichtig zu sein und zu den
Dingen zu gehören, die den Betreffenden leicht in eine
schwierige Lage bringen können. Die näheren Umstän-
de sind mir unbekannt, aber der Premierminister hat
mir angedeutet, daß die Öffentlichkeit nichts über die
Sache erfahren darf und daß es um so besser ist, je
rascher der Fall aus dem Gedächtnis des Publikums
verschwindet. Das alles finde ich vollkommen in
Ordnung. Die Behörden nehmen nun einmal diesen
Standpunkt ein, und sie wissen, was notwendig ist. In-
folgedessen sind der Polizei die Hände gebunden.«
Er beugte sich vor.
»Aber ich möchte die Wahrheit wissen, M. Poirot. Und
Sie sind der Mann, der die Wahrheit für mich ergrün-
140
den kann. Sie sind durch keine offiziellen Rücksichten
behindert.«
»Was wünschen Sie, daß ich tun soll, Mr. Blunt?«
»Ich wünsche, daß Sie diese Frau finden – Sainsbury
Seale.«
»Lebend oder tot?«
Blunt erhob erstaunt die Augenbrauen.
»Sie halten es für möglich, daß sie tot ist?«
Hercule Poirot schwieg einige Augenblicke, dann sagte
er langsam und mit Nachdruck: »Wenn Sie meine
Meinung hören wollen: Ja, ich glaube, daß sie tot ist.«
»Warum nehmen Sie das an?«
Hercule Poirot lächelte leicht.
»Es wird Ihnen albern vorkommen: Weil ich ein Paar
ungetragene Strümpfe in einer Schublade gefunden
habe.«
Alistair Blunt starrte ihn verwundert an.
»Sie sind ein seltsamer Mensch, M. Poirot.«
»Ich bin sehr seltsam. Das heißt, ich bin ordentlich,
methodisch und logisch, und ich liebe es nicht, Tatsa-
chen zu verdrehen, um eine Theorie zu stützen – das ist,
wie ich leider feststellen muß, wirklich ungewöhn-
lich...«
Alistair Blunt sagte: »Ich habe mir die ganze Sache
durch den Kopf gehen lassen – brauche immer eine
Weile, bis ich etwas durchdacht habe. Und diese Ge-
schichte ist so verdammt sonderbar! Ich meine – erst
erschießt sich dieser Zahnarzt, dann wird diese Mrs.
Chapman mit zerschmettertem Gesicht in ihre eigene
Pelztruhe gesteckt... Widerlich! Verdammt widerlich!
Ich kann mir nicht helfen, aber es muß doch etwas
141
dahinterstecken.«
Poirot nickte.
Blunt fuhr fort: »Und wissen Sie: Je mehr ich darüber
nachdenke, desto klarer wird mir, daß die Seale meiner
Frau nie begegnet ist. Das war einfach ein Vorwand,
um mich anzusprechen. Aber wozu? Was hat sie davon
gehabt? Ich meine – was hatte sie davon, außer einem
kleinen Geldbetrag? Trotzdem habe ich das Gefühl, als
sei das Zusammentreffen mit mir bewußt herbeigeführt
worden. Es hat so verdächtig gut geklappt! Aber
warum? Das frage ich mich immerzu: warum?«
»Ja, das ist tatsächlich die Hauptfrage: warum? Ich
habe mich das auch gefragt – und ich kann es nicht
verstehen.«
»Sie machen sich gar keine bestimmten Ideen über die
Sache?«
Poirot schüttelte den Kopf.
»Meine Ideen sind im höchsten Maße kindisch. Ich
sage mir, es sei vielleicht eine List gewesen, um je-
manden auf Ihre Person aufmerksam zu machen – um
sozusagen mit dem Finger auf Sie zu weisen. Aber auch
das ist albern, denn Sie sind eine ziemlich bekannte
Erscheinung, und jedenfalls wäre es viel einfacher
gewesen zu sagen: ›Schau, das ist er – der Mann, der
jetzt zur Tür hineingeht.‹«
»Warum sollte jemand auf meine Person aufmerksam
gemacht werden?«
»Mr. Blunt, versetzen Sie sich noch einmal zurück an
den betreffenden Vormittag beim Zahnarzt. Hat Morley
gar nichts gesagt, was Ihnen ungewöhnlich vorge-
kommen ist? Können Sie sich an nichts erinnern, was
142
uns als Spur dienen könnte?«
Blunt dachte angestrengt nach. Dann schüttelte er den
Kopf.
»Es tut mir leid. Mir fällt nicht das geringste ein.«
»Sind Sie ganz sicher, daß er die Frau nicht erwähnt hat
– Miss Sainsbury Seale?«
»Ganz sicher.«
»Auch nicht die andere – Mrs. Chapman?«
»Nein, nein – wir haben überhaupt nicht von Menschen
gesprochen. Nur von Rosen, von Gärten, die Regen nö-
tig haben, und von Ferien – von nichts anderem.«
»Und niemand ist während Ihrer Anwesenheit ins Zim-
mer gekommen?«
»Warten Sie – nein, ich glaube nicht. Sonst war immer
eine junge Dame da, eine Blondine. Aber an dem Tag
habe ich sie nicht gesehen. Oh, jetzt erinnere ich mich:
Ein zweiter Zahnarzt ist für einen Augenblick hereinge-
kommen – dem Akzent nach anscheinend ein Ire.«
»Und was sagte oder tat er?«
»Er fragte Morley etwas und ging gleich wieder hinaus.
Er war nur ganz kurz im Sprechzimmer.«
»Und sonst können Sie sich auf nichts besinnen? Auf
gar nichts?«
»Nein, Morley hat sich ganz normal benommen.«
Hercule Poirot murmelte nachdenklich: »Ja, ich fand
ihn auch ganz normal.«
Es entstand eine längere Pause. Dann fragte Poirot:
»Können Sie sich an einen jungen Mann erinnern, der
mit Ihnen unten im Wartezimmer war?«
Alistair Blunt runzelte die Stirn.
»Warten Sie einmal – ja, ich entsinne mich – ein ziem-
143
lich unruhiger junger Mann. Aber etwas Besonderes ist
mir an ihm nicht aufgefallen. Warum fragen Sie?«
»Würden Sie ihn wiedererkennen, wenn Sie ihn sä-
hen?«
Blunt schüttelte den Kopf.
»Ich habe ihn kaum angeschaut.«
»Versuchte er nicht, mit Ihnen ins Gespräch zu kom-
men?«
»Nein.« Blunt sah Poirot mit unverhüllter Neugierde
an. »Worauf wollen Sie hinaus? Wer war der junge
Mann?«
»Er heißt Howard Raikes.«
Poirot paßte scharf auf, wie Blunt reagieren würde;
aber es erfolgte nichts.
»Kenne ich den Namen? Habe ich den Mann schon
irgendwo getroffen?«
»Ich glaube nicht, daß Sie ihm schon begegnet sind. Er
ist ein Freund Ihrer Nichte, Miss Olivera.«
»Aha, einer von Janes Freunden.«
»Ihre Mutter hält, soviel ich weiß, nicht sehr viel von
dieser Freundschaft.«
Blunt sagte geistesabwesend: »Ich kann mir nicht
denken, daß das auf Jane großen Eindruck macht.«
»Mrs. Olivera hat sogar so ernste Einwände gegen
diese Freundschaft, daß sie ihre Tochter aus Amerika
nach England gebracht hat, um sie von diesem jungen
Mann zu trennen.«
»Oh!« Nun hatte Blunt begriffen. »Der war das also!«
»Aha, jetzt fangen Sie an, Interesse zu bekommen!«
»Ich halte ihn für einen in jeder Beziehung höchst
unliebsamen Burschen. Ist in alle möglichen um-
144
stürzlerischen Aktionen verwickelt.«
»Von Miss Olivera habe ich gehört, daß er an dem
betreffenden Vormittag nur zu dem Zweck in die
Queen Charlotte Street gegangen ist, um Sie zu sehen.«
»Und um mich zu bewegen, Gefallen an ihm zu fin-
den?«
»Nun – nicht ganz – die Absicht war eher, daß er bewo-
gen werden sollte, an Ihnen Gefallen zu finden.«
Alistair Blunt sagte empört: »Das ist ja wohl der Gipfel
der Frechheit!«
Poirot unterdrückte ein Lächeln.
»Anscheinend verkörpern Sie so ungefähr alles, was er
ablehnt.«
»Ganz bestimmt gehört er zu der Sorte junger Leute,
die ich ablehne! Vertrödelt seine Zeit damit, große po-
litische Reden zu halten und das Blaue vom Himmel
herunterzuschwätzen, anstatt irgendeine ordentliche
Arbeit anzupacken!«
»Würden Sie mir erlauben, eine unverschämte und sehr
persönliche Frage an Sie zu richten?« bat Poirot nach
einer kleinen Pause.
»Schießen Sie los.«
»Wie sehen, für den Fall Ihres Todes, Ihre testamenta-
rischen Verfügungen aus?«
Blunt starrte ihn an.
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Weil – immerhin eine schwache Möglichkeit besteht«
– Poirot zuckte die Achseln – »daß dies für unseren Fall
wichtig ist.«
»Unsinn!«
»Vielleicht – vielleicht auch nicht.«
145
Alistair Blunt sagte kalt: »Ich denke, Sie sind unnötig
dramatisch, M. Poirot. Niemand hat versucht, mich zu
ermorden oder dergleichen.«
»Eine Bombe am Frühstückstisch – ein Schuß auf der
Straße...«
»Ach, diese Dinge! Ein Mann, der in der internationa-
len Hochfinanz mitmischt, wird immer derartigen klei-
nen Aufmerksamkeiten von verrückten Fanatikern aus-
gesetzt sein!«
»Es kann sich auch um jemanden handeln, der nicht fa-
natisch und nicht verrückt ist.«
Blunt machte große Augen.
»Worauf wollen Sie hinaus ...?«
»In nüchternen Worten möchte ich gern wissen, wer
aus Ihrem Tod Nutzen zieht.«
Blunt lachte.
»Hauptsächlich das St. Edward's Hospital, das Krebs-
krankenhaus und das Königliche Blindeninstitut.«
»Aha!«
»Außerdem habe ich einen bestimmten Geldbetrag
meiner angeheirateten Nichte, Mrs. Julia Olivera, ver-
macht; einen gleich hohen Betrag – der aber treuhän-
derisch zu verwalten ist – ihrer Tochter, Jane Olivera;
und schließlich ein namhaftes Legat meiner einzigen
noch lebenden Blutsverwandten, einer Cousine, Helen
Montressor, die in sehr schlechten Verhältnissen ist und
hier auf dem Besitz ein kleines Bauernhaus bewohnt.«
Er hielt inne und sagte: »Das alles, M. Poirot, ist streng
vertraulich.«
»Natürlich, Monsieur, natürlich.«
In spöttischem Ton fügte Blunt hinzu: »Ich hoffe, Sie
146
wollen nicht behaupten, M. Poirot, daß Julia oder Jane
Olivera oder meine Cousine Helen Montressor mich
um meines Geldes willen umzubringen beabsichtigen?«
»Ich behaupte nichts – gar nichts.«
Blunts leichte Gereiztheit verflog wieder. Er fragte:
»Und meinen Auftrag nehmen Sie an?«
»Die Suche nach Miss Sainsbury Seale? Jawohl.«
»Bravo!« sagte Alistair Blunt herzlich.
147
und voll von Gemeinplätzen! Er ist nichts als ein
stumpfsinniger John Bull – ohne ein Gramm Phantasie
oder Weitblick!«
Sie senkte ihre wohlklingende Stimme und zischte
haßerfüllt: »Ich kann Ihren Anblick nicht ertragen – Sie
verdammter kleiner Bourgeois-Detektiv!« Und sie
rannte fluchtartig davon.
Hercule Poirot blieb mit weit aufgerissenen Augen und
hochgezogenen Brauen stehen; seine Hand spielte
nachdenklich am Schnurrbart. Die Bezeichnung
»Bourgeois« paßte gut auf ihn – das mußte er zugeben.
Seine Lebensphilosophie war durchaus bürgerlich –
war es immer gewesen. Aber daß die elegante und
gepflegte Jane Olivera dieses Wort anwandte, um ihre
Verachtung für ihn auszudrücken, gab ihm zu denken.
Immer noch in Gedanken versunken, ging er in den
Salon. Mrs. Olivera war gerade dabei, eine Patience zu
legen. Sie schaute auf, als Poirot hereinkam, ließ flüch-
tig einen Blick über ihn gleiten, als betrachte sie einen
besonders unappetitlichen Käfer, und murmelte zer-
streut: »Roter Bube auf schwarze Dame.«
Wie ein begossener Pudel zog Poirot sich zurück. Er
überlegte traurig: »Ach, es scheint, daß mich hier nie-
mand mag!«
Er schlenderte durch die Glastür hinaus in den Garten.
Es war ein herrlicher Abend, erfüllt vom Duft der
nächtlich atmenden Büsche und Sträucher. Poirot
schnüffelte und schlug einen Weg ein, der zwischen
zwei hohen Hecken verlief.
Hercule Poirot bog um eine Ecke, und zwei Gestalten
fuhren auseinander. Offenbar hatte er ein Liebespaar
148
gestört. Hastig kehrte er um und ging den gleichen Weg
zurück. Sogar hier draußen war er anscheinend über-
flüssig. Er kam an Alistair Blunts Fenster vorbei; Blunt
diktierte Mr. Selby. Es schien letzten Endes nur einen
einzigen Aufenthaltsort für Hercule Poirot zu geben: Er
ging zu Bett. Aber noch eine ganze Weile dachte er
über die verschiedenen phantastischen Aspekte nach,
die die Lage bot.
Hatte er sich geirrt, als er in der Stimme am Telefon
Mrs. Olivera zu erkennen glaubte? Oder hatte er sich
nicht geirrt? Der Gedanke war absurd! Er rief sich die
dramatischen Enthüllungen des stillen, kleinen Mr.
Barnes ins Gedächtnis zurück und stellte Mutmaßungen
an über die geheimnisvollen Wege des Mr. QX 912,
alias Albert Chapman. Mit plötzlichem Unbehagen
erinnerte er sich an den ängstlichen Blick des Stuben-
mädchens Agnes. Es war immer dasselbe: Die Leute
wollten mit einzelnen Dingen nicht herausrücken!
Meist waren es ganz unwichtige Dinge; aber solange
sie nicht aus dem Weg geräumt waren, kam man nicht
vorwärts. Und was lag augenblicklich nicht alles auf
seinem Weg! Was ihn am meisten am klaren Denken
und methodischen Fortschreiten hinderte, war das
Widerspruchsvolle und unlösbare Problem Sainsbury
Seale. Denn wenn die Tatsachen stimmten, die Hercule
Poirot festgestellt hatte – dann ergab überhaupt nichts
mehr einen Sinn!
Poirot fragte sich, voll Erstaunen über seine eigene
Frage: »Könnte es sein, daß ich alt werde?«
149
6
150
stehenblieb, um ihn zu beobachten.
»Guten Morgen«, sagte Poirot freundlich.
Ein gemurmeltes »Morgen, Sir« war die Antwort, aber
der Mann hörte nicht auf zu arbeiten. Poirot war etwas
erstaunt. Nach seinen Erfahrungen war ein Gärtner, so
sehr er auch bestrebt sein mochte, den Eindruck
fleißiger Arbeit zu erwecken, gewöhnlich nur allzu
bereit, seine Tätigkeit zu unterbrechen und ein paar
Worte zu plaudern, wenn man ihn ansprach.
Nachdenklich setzte er seinen Weg fort, verließ den
ummauerten Küchengarten und blieb stehen, um einen
mit Büschen bewachsenen Hügel zu betrachten. Auf
einmal erhob sich, einem phantastischen Mond
vergleichbar, ein runder Gegenstand langsam über die
Gartenmauer. Es war Hercule Poirots eiförmiger Kopf,
und Hercule Poirots Augen betrachteten mit starkem
Interesse den jungen Gärtner, der jetzt zu graben auf-
gehört hatte und sich mit dem Hemdärmel den Schweiß
von der Stirn wischte.
»Sehr sonderbar und interessant«, murmelte Hercule
Poirot, indem er vorsichtig den Kopf wieder hinter der
Mauer verschwinden ließ. Er tauchte aus den Büschen
auf und klopfte sich ein paar Zweige und Blätter ab. Ja,
es war tatsächlich sehr sonderbar und interessant, daß
Frank Carter, der einen Sekretärsposten auf dem Lande
bekleidete, als Gärtner im Dienste Alistair Blunts tätig
war. Während er darüber nachdachte, hörte er in einiger
Entfernung Gongschläge und ging zum Haus zurück.
Auf dem Weg begegnete er seinem Gastgeber im
Gespräch mit Miss Montressor, die soeben durch die
andere Tür aus dem Küchengarten gekommen war. Ihre
151
Stimme mit der rollenden schottischen Aussprache war
klar und deutlich zu hören: »Es ist sehrr lieb von dirr,
Alistairr, aberr ich ziehe es vorr, diesmal keine
Einladung anzunehmen, währrend deine amerrikani-
schen Verrwandten auf Besuch sind.«
»Julia ist leider ziemlich taktlos, aber sie hat es be-
stimmt nicht so gemeint«, beschwichtigte Blunt.
Miss Montressor sagte ungerührt: »Meinerr Meinung
nach ist ihrr Benehmen mirr gegenüber sehrr unver-
schämt – und Unverschämtheiten lasse ich mirr nicht
gefallen, wederr von Amerikanerinnen noch von an-
derren Leuten!«
Miss Montressor entfernte sich. Hercule Poirot ging auf
Blunt zu, der ein Schafsgesicht machte, wie die meisten
Männer, wenn ihr Weibervolk ihnen Schwierigkeiten
bereitet.
Er sagte betreten: »Die Weiber soll wirklich der Teufel
holen! Guten Tag, M. Poirot. Prachtvolles Wetter!«
Sie schritten dem Hause zu, und Blunt murmelte seuf-
zend: »Wie mir meine Frau fehlt!«
Im Speisezimmer bemerkte er zu Mrs. Olivera: »Ich
fürchte, Julia, du hast Helen sehr gekränkt.«
Mrs. Olivera erwiderte grimmig: »Die Schotten sind
immer gleich so empfindlich.«
Alistair Blunt machte ein unglückliches Gesicht.
»Wie ich sehe, haben Sie einen jungen Gärtner, der erst
kürzlich eingestellt worden ist?« lenkte Poirot ab.
»Das stimmt«, sagte Blunt. »Jawohl – Burton, der dritte
Gärtner, ist vor drei Wochen gegangen, und da haben
wir diesen jungen Burschen engagiert.«
»Können Sie sich erinnern, wo er vorher war?«
152
»Nein, keine Ahnung. MacAlister hat ihn eingestellt.
Irgend jemand hat mich gebeten, es mit ihm zu versu-
chen. Hat ihn wärmstens empfohlen. Ich bin darüber
etwas erstaunt, denn MacAlister behauptet, daß er nicht
viel taugt. Er will ihn wieder entlassen.«
»Wie heißt er?«
»Dunning – Sunbury – so ähnlich.«
»Wäre es sehr zudringlich, Sie zu fragen, was Sie dem
Mann zahlen?«
Alistair Blunt machte ein amüsiertes Gesicht.
»Ganz und gar nicht. Zwei Pfund fünfzehn Shilling die
Woche, glaube ich.«
»Nicht mehr?«
»Bestimmt nicht mehr – eher etwas weniger.«
»Nun«, sagte Poirot, »das ist sehr sonderbar.«
Alistair Blunt sah ihn fragend an. Aber in diesem
Augenblick raschelte Jane Olivera mit der Zeitung und
lenkte das Gespräch in eine andere Richtung.
»Eine Menge Leute haben es anscheinend auf dich ab-
gesehen, Onkel Alistair!«
»Ach, du liest die Parlamentsdebatte. – Das ist nicht
weiter schlimm. Nur Archerton – der kämpft ja immer
gegen Windmühlenflügel. Und von finanziellen Dingen
hat er total verrückte Vorstellungen. Wenn man ihm
seinen Willen ließe, wäre England innerhalb einer
Woche bankrott.«
»Hast du denn nie den Wunsch, neue Methoden aus-
zuprobieren?« fragte Jane.
»Nein, meine Liebe – wenn sie nicht besser sind als die
alten.«
»Aber du würdest nie anerkennen, daß sie besser sind.
153
Du würdest immer sagen: ›Das kann zu nichts führen.‹«
Jane fuhr hitzig fort: »Was wir brauchen, ist eine neue
Welt! Und du sitzest hier und ißt gebratene Nieren!«
Sie stand auf und ging durch die Glastür in den
Gartenhinaus.
Blunts Gesicht drückte mildes Erstaunen und leichtes
Unbehagen aus.
»Jane hat sich in letzter Zeit sehr verändert...«,
brummte er. »Wo hat sie nur alle diese neuen Ideen
her?«
»Du brauchst nicht auf das zu achten, was Jane sagt«,
meinte Mrs. Olivera. »Jane ist ein ganz törichtes Mäd-
chen. Du weißt ja, wie Mädchen sind: Sie gehen zu
solchen merkwürdigen Gesellschaften in Ateliers, wo
junge Männer mit unmöglichen Krawatten hinkommen,
und dann reden sie zu Hause eine Menge Unsinn.«
»Ja, aber Jane ist doch früher nicht auf diese Dinge her-
eingefallen.«
»Es ist nur eine Mode, Alistair – diese Sachen liegen
einfach in der Luft!«
Mrs. Olivera erhob sich, und Poirot öffnete ihr die Tür.
Sie rauschte stirnrunzelnd hinaus.
Plötzlich sagte Blunt: »Wissen Sie, es gefällt mir nicht,
daß alle Leute solches Zeug reden! Und niemand denkt
sich etwas dabei! Es ist alles bloß leeres Geschwätz!
Immerzu stoße ich darauf: ›Eine neue Welt.‹ Was soll
das bedeuten? Sie wissen es selbst nicht! Sie berau-
schen sich einfach an Worten!« Er lächelte etwas
verlegen. »Ich bin nämlich einer der letzten von der al-
ten Garde.«
Poirot nickte. Und in einem ganz neuen Sinn begann
154
ihm klarzuwerden, was Alistair Blunt eigentlich ver-
körperte. Mr. Barnes hatte es ihm schon gesagt, aber
damals hatte er es kaum aufgenommen. Plötzlich emp-
fand er Angst...
»Ich bin mit meinen Briefen fertig«, sagte Blunt, als er
am späteren Vormittag wieder erschien. »Jetzt, M. Poi-
rot, werde ich Ihnen meinen Garten zeigen.«
Die beiden gingen zusammen hinaus, und Blunt er-
zählte von seiner Liebhaberei.
Seine größte Freude war der Felsengarten mit seinen
seltenen Alpenpflanzen; dort verbrachten sie längere
Zeit, während Blunt einzelne besonders wertvolle Arten
erläuterte.
Hercule Poirot, der seine besten Lackschuhe anhatte,
hörte geduldig zu und trat von Zeit zu Zeit vorsichtig
von einem Fuß auf den anderen; er stöhnte leise, denn
die Füße taten ihm wirklich weh. Sein Gastgeber
schlenderte weiter und wies auf verschiedene Pflanzen
hin. Bienen summten, und aus der Nähe klang das
Geräusch einer Gartenschere, mit der eine Lorbeer-
hecke gestutzt wurde. Es herrschte eine friedliche,
verschlafene Stimmung. Blunt blieb am Ende der
Einfassung stehen und schaute zurück. Das Klippklapp
der Gartenschere klang ganz nahe, aber wer sie
bediente, war nicht zu sehen.
»Genießen Sie den Blick von hier aus, Poirot. Die Bart-
nelken sind dieses Jahr besonders schön. Ich kann mich
nicht erinnern, sie schon einmal so prächtig gesehen zu
haben. Und die Lupinen dort. Herrliche Farben!«
Krach! Ein Schuß zerriß den morgendlichen Frieden.
Etwas pfiff durch die Luft. Alistair Blunt sah verwirrt
155
nach einem schwachen Rauchwölkchen, das mitten aus
den Lorbeerbüschen aufstieg. Plötzlich erhoben sich
zornige Stimmen. In den Büschen kämpften zwei
Männer miteinander und versetzten diese in schwan-
kende Bewegung.
Eine amerikanisch klingende Stimme rief entschlossen:
»Hab ich dich, du verdammter Gauner! Laß die Waffe
fallen!«
Die beiden Gestalten taumelten ins Freie. Der junge
Gärtner, der am frühen Morgen so fleißig gegraben
hatte, wand sich unter dem kräftigen Griff eines ande-
ren Mannes, der nahezu einen Kopf größer war. Auch
ihn erkannte Poirot sofort. Die Stimme hatte ihn schon
verraten.
Frank Carter zischte: »Lassen Sie mich los! Ich sage Ih-
nen, ich habe es nicht getan!«
»Ach nein? Wahrscheinlich bloß ein bißchen auf die
Vögel geschossen, wie?« schrie Howard Raikes em-
pört.
Er hielt inne und sah auf Blunt und Poirot, die näher
traten.
»Mr. Alistair Blunt? Dieser Kerl da hat gerade aus dem
Hinterhalt auf Sie geschossen. Ich habe ihn auf frischer
Tat ertappt.«
Frank Carter schrie: »Das ist gelogen! Ich war gerade
dabei, die Hecke zu schneiden, hörte einen Schuß, und
die Pistole fiel mir direkt vor die Füße. Ich habe sie auf-
gehoben – das ist doch ganz begreiflich –, und plötzlich
ist der da auf mich losgesprungen!«
Howard Raikes sagte grimmig: »Sie haben die Waffe in
der Hand gehabt, und sie war eben abgefeuert worden!«
156
»Wollen einmal sehen, was der Detektiv dazu meint!
Jedenfalls ein Glück, daß ich Sie rechtzeitig erwischt
habe. Ich denke, daß noch mehrere Schüsse im Maga-
zin sind.«
»Ganz richtig!« murmelte Poirot.
Blunt runzelte ärgerlich die Stirn. Er sagte in scharfem
Ton: »Also, Dunnon – Dunbury – oder wie Sie hei-
ßen...«
Hercule Poirot unterbrach hin: »Dieser Mann heißt
Frank Carter.«
Carter drehte sich wütend nach ihm um.
»Sie haben es schon die ganze Zeit auf mich abgese-
hen! Schon damals am Sonntag wollten Sie mich aus-
spionieren. Ich sage Ihnen, es ist nicht wahr – ich habe
nicht auf ihn geschossen.«
»Nun gut – wer hat dann geschossen?« fragte Poirot
ruhig. »Außer uns ist ja niemand in der Nähe.«
Jane Olivera kam den Garten entlanggelaufen. Ihre
Augen waren angstvoll geweitet. Sie keuchte: »Ho-
ward?«
Howard Raikes sagte in leichtem Ton: »Hallo, Jane. Ich
habe deinem Onkel eben das Leben gerettet.« »Du?«
Sie hielt inne.
»Sie sind tatsächlich im richtigen Moment erschienen,
Mr. – äh –« Blunt zögerte.
»Das ist Howard Raikes, Onkel Alistair. Ein Freund
von mir.«
Blunt sah Raikes an und lächelte.
»Oh!« sagte er. »Sie sind also Janes junger Freund! Ich
muß Ihnen danken.«
Mit dem schnaubenden Geräusch einer Dampfmaschine
157
tauchte Julia Olivera auf. Atemlos stieß sie hervor:
»Ich habe einen Schuß gehört. Ist Alistair – was ...« Sie
starrte Raikes verständnislos an. »Sie? Wie – wie
können Sie sich unterstehen ...?«
Jane sagte in eisigem Ton: »Howard hat Onkel Alistair
das Leben gerettet, Mutter.«
»Was? Ich – ich ...«
»Dieser Mann hier hat versucht, Onkel Alistair zu er-
schießen, und Howard hat ihn gepackt und ihm die Pi-
stole entrissen.«
Frank Carter schnaubte haßerfüllt: »Ihr seid alle ver-
dammte Lügner.«
Mrs. Olivera sperrte vor Überraschung den Mund auf
und flüsterte nur: »Oh!« Es dauerte einige Zeit, bis sie
sich gefaßt hatte. Dann wandte sich sich an Blunt.
»Mein lieber Alistair! Wie schrecklich! Ich danke Gott,
daß dir nichts passiert ist. Du mußt furchtbar
erschrocken sein. Ich – ich selbst fühle mich ganz
schwach. Meinst du, daß ich einen Cognac haben
könnte – nur ein kleines Schlückchen?«
Blunt sagte rasch: »Natürlich. Komm mit mir ins
Haus.«
Sie nahm seinen Arm und stützte sich schwer darauf.
Blunt sah über die Schulter auf Poirot und Raikes
zurück.
»Können Sie den Burschen mitbringen?« fragte er.
»Wir wollen ihn der Polizei übergeben.«
Frank Carter öffnete den Mund, brachte aber kein Wort
heraus. Er war totenblaß, und die Knie zitterten ihm.
Howard Raikes packte ihn hart. »Kommen Sie mit,
Sie...«
158
Frank Carter murmelte mit heiserer und unsicherer
Stimme: »Alles Lüge.«
Howard Raikes schaute Poirot an. »Für einen erst-
klassigen Spürhund haben Sie aber herzlich wenig
eigene Meinung! Warum äußern Sie sich eigentlich
nicht?«
»Ich denke nach, Mr. Raikes.«
»Das wird auch nötig sein, glaube ich! Ich möchte be-
haupten, daß diese Geschichte Sie Ihre Stelle kosten
kann! Jedenfalls ist es Ihnen nicht zu verdanken, wenn
Alistair Blunt noch am Leben ist.«
Hercule Poirot murmelte: »Ich frage mich...«
159
die Gespräche und Handlungen der anderen Gärtner zu
berichten! Die Unwahrheit dieser Behauptung ließ sich
leicht nachweisen. Carter konnte keinerlei glaubwür-
digen Anhaltspunkt liefern.
Ein außerordentlich schwach erfundenes Märchen –
gerade die Art Märchen, dachte Poirot, die sich ein
Mensch wie Carter ausdenken würde.
Zu Carters Gunsten ließ sich überhaupt nichts sagen. Er
selbst war nicht imstande, den Vorgang zu erklären,
sondern blieb dabei, daß ein anderer den Schuß abge-
feuert haben mußte. Immer wieder sprach er von einem
»abgekarteten Spiel«. Nein, zugunsten Carters war
nichts vorzubringen. Für Raikes hatten sich die Dinge
sehr glücklich entwickelt. Seine Anwesenheit in
Exsham konnte er dadurch erklären, daß er in Janes
Nähe sein wollte, und es war ja ein Glück, daß er da
war, denn sonst wäre Alistair Blunt wohl kaum mehr
am Leben. Und in Zukunft würde man dem jungen
Lebensretter kaum mehr das Haus verbieten können.
Janes unerwünschter junger Freund hatte im Hause
Blunt festen Fuß gefaßt und schien entschlossen, sich
nicht wieder vertreiben zu lassen.
Poirot beobachtete ihn nachdenklich während des gan-
zen Abends. Er spielte seine Rolle mit beträchtlicher
Geschicklichkeit. Er äußerte keine umstürzlerischen
Meinungen, sprach überhaupt nicht von Politik. Er er-
zählte lustige Geschichten von seinen Fahrten und
Abenteuern in der Wildnis.
Er ist nicht mehr der Wolf, dachte Poirot. Nein, er hat
den Schafspelz angezogen. Aber was ist darunter? Das
wüßte ich gern...
160
»Errette mich, Herr, von den bösen Menschen; behüte
mich vor den freveln Leuten«, sagte Mrs. Olivera mit
fester, wenn auch etwas falscher Stimme.
Sie tat es mit solcher Inbrunst, daß Hercule Poirot zu
der bestimmten Schlußfolgerung kam, der frevle
Mensch, der ihr im Geiste vorschwebte, sei Howard
Raikes. Hercule Poirot hatte seinen Gastgeber und die
ganze Familie zur Morgenandacht in die Dorfkirche
begleitet.
»Sie schärfen ihre Zunge wie eine Schlange«, sangen
die Chorknaben in schrillem Diskant, »Otterngift ist
unter ihren Lippen.« Die Tenöre und Bässe baten hin-
gebungsvoll: »Bewahre mich, Herr, vor der Hand der
Gottlosen; behüte mich vor den frevlen Leuten, die
meinen Gang gedenken umzustoßen.«
Hercule Poirot machte einen schüchternen baritonalen
Versuch: »Die Hoffärtigen legen mir Stricke und berei-
ten mir Seile aus zum Netze und stellen mir Fallen an
den Weg...«
Sein Mund blieb offenstehen. Er sah sie – er sah die
Falle deutlich, in die er um ein Haar gegangen war! Ein
schlau gelegter Strick – Seile zum Netz ausgebreitet –
eine offene Grube zu seinen Füßen – sorgfältig
angelegt, auf daß er hineinfallen sollte.
Wie ein Verzückter blieb Hercule Poirot mit offenem
Munde stehen und starrte ins Leere. Er stand immer
noch da, als die Gemeinde schon geräuschvoll ihre
Plätze eingenommen hatte.
Jane Olivera zerrte ihn am Ärmel und zischte: »Setzen
Sie sich doch!«
161
Hercule Poirot setzte sich. Ein bejahrter Geistlicher mit
Vollbart begann zu predigen. Aber Poirot hörte nichts
von der Züchtigung der Amalekiter. Er befand sich in
einer anderen Welt – einer herrlichen Welt, in der
unzusammenhängende Dinge wild kreisten und sich
dann säuberlich am richtigen Ort niederließen.
Es war wie ein Kaleidoskop: Schuhschnallen, Strümpfe
Nummer zehn, ein zerschmettertes Gesicht, der
schlechte literarische Geschmack Alfreds, des Boys, die
Umtriebe des Mr. Amberiotis, die Rolle des verstorbe-
nen Zahnarztes Morley – all das flatterte auf, wirbelte
im Kreis und gruppierte sich schließlich zu einem
zusammenhängenden, übersichtlichen Ganzen. Zum
ersten Mal betrachtete Hercule Poirot den Fall von der
richtigen Seite.
»Denn Ungehorsam ist eine Zaubereisünde, und Wi-
derstreben ist Abgötterei und Götzendienst. Weil du
nun des Herrn Wort verworfen hast, hat er dich auch
verworfen, daß du nicht König seist. Hier endet der er-
ste Abschnitt...«, schloß der bejahrte Geistliche.
Wie ein Träumender erhob sich Hercule Poirot, um den
Herrn im Te Deum zu preisen.
162
einen »sonderbaren kleinen Ausländer« und nahm ihn
nicht ganz ernst. Sie war aber gern zu weiteren Aus-
künften bereit. Nach den ersten sensationellen Veröf-
fentlichungen über die Identität des Opfers waren die
Ergebnisse der Totenschau vom Publikum ohne be-
sonderes Interesse aufgenommen worden. Es hatte sich
eben um eine Personenverwechslung gehandelt: die
Leiche von Mrs. Chapman war für die von Miss
Sainsbury Seale gehalten worden. Mehr wußte die Öf-
fentlichkeit nicht. Die Tatsache, daß Miss Sainsbury
Seale vermutlich die letzte Person war, die Mrs. Chap-
man lebend gesehen hatte, wurde nicht hervorgehoben.
Die Presse machte nicht die geringste Andeutung, daß
Miss Sainsbury Seale möglicherweise wegen eines
Kapitalverbrechens polizeilich gesucht wurde.
Mrs. Adams war ein Stein vom Herzen gefallen, als sie
erfahren hatte, daß die unter so dramatischen Umstän-
den entdeckte Leiche nicht die ihrer Freundin gewesen
war. Anscheinend entging ihr vollständig, daß Mabelle
Sainsbury Seale einen schweren Verdacht auf sich
geladen hatte.
»Aber es ist höchst eigenartig, daß sie so spurlos ver-
schwunden ist. Ich habe das ganz bestimmte Gefühl, M.
Poirot, daß sie das Gedächtnis verloren haben muß.
Amnesie, glaube ich, nennen die Ärzte das.«
Poirot sagte, er glaube auch, daß dies der medizinische
Ausdruck sei. Nach einer Pause fragte er Mrs. Adams,
ob sie Miss Sainsbury Seale jemals von Mrs. Albert
Chapman sprechen gehört habe. – Nein, Mrs. Adams
konnte sich nicht entsinnen, daß ihre Freundin diesen
Namen je erwähnt hätte. Aber natürlich war nicht zu
163
erwarten, daß Miss Sainsbury Seale im Gespräch über
ihre sämtlichen Bekannten berichten würde. Wer war
diese Mrs. Chapman? Hatte die Polizei irgendeinen
Anhaltspunkt, wer sie ermordet haben könnte?
»Es ist nach wie vor ein Rätsel, Madame.«
Poirot schüttelte den Kopf und fragte dann, ob es Mrs.
Adams gewesen sei, die Miss Sainsbury Seale den
Zahnarzt Morley empfohlen hatte. Mrs. Adams ver-
neinte. Ihr Zahnarzt war ein Mr. French in der Harley
Street, und wenn Mabelle sie nach einem Zahnarzt
gefragt hätte, so hätte sie ihr diesen empfohlen.
Poirot meinte, möglicherweise sei es diese Mrs.
Chapman gewesen, die Miss Sainsbury Seale zu
Morley geschickt habe.
Mrs. Adams pflichtete ihm bei – aber wußte man nicht
vielleicht in der Praxis des verstorbenen Mr. Morley
Näheres darüber?
Poirot hatte diese Frage schon Miss Nevill gestellt, und
zwar vergeblich. Sie erinnerte sich an Mrs. Chapman,
glaubte aber nicht, daß diese jemals eine Miss
Sainsbury Seale erwähnt hatte – das wäre ihr angesichts
des ungewöhnlichen Namens bestimmt nicht entgan-
gen.
Poirot fuhr fort mit seinen Fragen. Mrs. Adams hatte
Miss Sainsbury Seale in Indien kennengelernt, nicht
wahr? Mrs. Adams bejahte das.
Wußte Mrs. Adams etwas davon, ob Miss Sainsbury
Seale dort irgendwann die Bekanntschaft von Mr. oder
Mrs. Alistair Blunt gemacht hatte?
»Oh, das glaube ich nicht, M. Poirot. Sie meinen doch
den großen Finanzmann? Der war vor einigen Jahren
164
mit seiner Frau auf Besuch beim Vizekönig, aber ich
bin überzeugt, daß Mabelle mir erzählt hätte, wenn sie
den Blunts irgendwo begegnet wäre. Ich glaube«, fügte
Mrs. Adams lächelnd hinzu, »die prominenten Leute
erwähnt man doch immer. Wir sind im Grunde ge-
nommen alle große Snobs.«
»Und die Blunts – besonders Mrs. Blunt – hat sie nie
erwähnt?«
»Niemals.«
»Wenn sie eine gute Bekannte von Mrs. Blunt gewesen
wäre, hätten Sie wahrscheinlich davon gewußt?«
»Ja, ganz bestimmt. Ich glaube nicht, daß sie Leute die-
ses Ranges überhaupt gekannt hat. Mabelles Freunde
waren alles ganz gewöhnliche Menschen – wie Sie und
ich...«
»Das, Madame, kann ich nicht zugeben«, sagte Poirot
galant.
Mrs. Adams fuhr fort, über Mabelle Sainsbury Seale zu
sprechen, wie man über eine Freundin spricht, die
kürzlich gestorben ist. Sie zählte alle guten Werke Ma-
belles auf, ihre Freundschaftsdienste, ihre unermüdliche
Arbeit für die Mission, ihren Eifer, ihren Ernst. Hercule
Poirot hörte ihr zu. Es stimmte, was Japp gesagt hatte:
Mabelle Sainsbury Seale war ein Mensch aus Fleisch
und Blut. Sie hatte in Kalkutta gelebt, dort Sprach-
unterricht gegeben und unter der indischen Bevöl-
kerung gearbeitet. Sie war achtbar und wohlwollend
gewesen, vielleicht ein bißchen umständlich und nicht
sehr klug, aber das, was man einen Menschen mit
goldenem Herzen zu nennen pflegt.
Er verabschiedete sich von Mrs. Adams und ging fort,
165
tief in Gedanken versunken. Er versuchte, Mabelle
Sainsbury Seales Charakter zu ergründen.
Eine nette Frau – eine ernsthafte und gütige Frau –,
eine achtbare, anständige Person. Gerade unter solchen
Menschen konnte man, wie Mr. Barnes behauptet hatte,
mögliche Verbrechernaturen finden. Sie war auf dem
gleichen Schiff aus Indien heimgereist wie Mr.
Amberiotis. Es bestand Grund zu der Annahme, daß sie
mit ihm im Savoy zu Mittag gegessen hatte.
Sie hatte Alistair Blunt angesprochen und behauptet,
eine gute Bekannte seiner Frau gewesen zu sein. Sie
hatte zweimal die King Leopold Mansions aufgesucht,
wo später eine verstümmelte Leiche aufgefunden wor-
den war, die ihre Kleider trug und ihre Handtasche bei
sich hatte – zur bequemeren Identifizierung! Ein
bißchen allzu bequem, das! Nach einem Polizeiverhör
hatte sie ganz plötzlich ihr Hotel verlassen. Konnte die
Theorie, die Hercule Poirot für richtig hielt, sich mit
allen diesen Einzelheiten vertragen und sie erklären? Er
hielt es für möglich.
166
ihrer Betreuerinnen vollsten Nutzen zogen.
Hunde bellten und jagten umher. Kleine Buben ließen
Segelboote schwimmen. Und fast unter jedem Baum
saß ein Paar, das sich eng aneinanderschmiegte...
»Ah – jeunesse, jeunesse«, murmelte Hercule Poirot,
den dieses Bild angenehm berührte. Während sein
Blick wohlwollend auf einem jungen Paar ruhte, wurde
ihm plötzlich klar, daß ihm die zwei Menschen bekannt
vorkamen. Es waren Jane Olivera und ihr junger ame-
rikanischer Revolutionär.
Poirots Gesicht wurde plötzlich traurig und ernst. Nach
kurzem Zögern schritt er über das Gras auf die beiden
zu.
»Bonjour, Mademoiselle!« sagte er.
Es war ihm, als sei sein Auftauchen Jane nicht ganz
unlieb. Howard Raikes dagegen schien sich über die
Störung ziemlich zu ärgern. Er knurrte: »Ach – da sind
Sie ja schon wieder!«
»Guten Tag, M. Poirot«, sagte Jane. »Wie unerwartet
Sie immer erscheinen!«
»Eine Art Springteufel«, murrte Raikes, der Poirot mit
kühlem Blick musterte.
»Störe ich?« fragte Poirot besorgt.
»Keineswegs«, antwortete Jane liebenswürdig.
Howard Raikes aber stand auf. »Ich bin nicht zum
Plaudern aufgelegt, Jane«, sagte er. »Ich glaube, ich
werde gehen.«
Er nickte Poirot kurz zu und schlenderte davon. Jane
Olivera sah ihm nach, ihr Kinn in die Hand gestützt.
Plötzlich wandte sie sich zu Poirot.
»Ich möchte Sie um Verzeihung bitten. Neulich habe
167
ich mich sehr schlecht benommen. Ich dachte, Sie
hätten sich bei uns eingeschlichen und seien nur nach
Exsham gekommen, um Howard nachzuspionieren.
Aber später erzählte mir Onkel Alistair, daß er Sie
ausdrücklich eingeladen hatte, weil er die Geschichte
mit der verschwundenen Sainsbury Seale aufgeklärt
haben wollte. So ist es doch gewesen?«
»Genau so.«
»Es tut mir also leid, was ich Ihnen damals an dem
Abend gesagt habe. Aber es sah ganz so aus, verstehen
Sie. Ich meine: Es sah so aus, als ob Sie wirklich
Howard gefolgt wären und uns beiden nachspionier-
ten.«
»Selbst wenn das der Fall gewesen wäre, Mademoiselle
– so habe ich doch mit eigenen Augen gesehen, daß Mr.
Raikes Ihrem Onkel mutig das Leben rettete, indem er
auf den Attentäter zusprang und ihn hinderte, einen
zweiten Schuß abzufeuern.«
»Sie haben eine seltsame Art zu sprechen, M. Poirot.
Ich weiß nie, ob Sie es ernst meinen oder nicht.«
Poirot sagte feierlich: »Im Augenblick meine ich es
sehr ernst, Miss Olivera.«
Mit einem leichten Zittern in der Stimme fragte Jane:
»Warum schauen Sie mich so an? Als ob – als ob ich
Ihnen leid täte?«
»Vielleicht, Mademoiselle, weil mir die Dinge leid tun,
die ich sehr bald tun muß...«
»Nun, dann machen Sie sie doch nicht!«
»Leider, Mademoiselle, muß es sein...«
Sie sah ihn eine Weile an. Dann fragte sie: »Haben Sie
– die Frau gefunden?«
168
»Sagen wir: Ich weiß, wo sie ist.«
»Ist sie tot?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Dann lebt sie also?«
»Auch das habe ich nicht gesagt.«
Jane warf ihm einen gereizten Blick zu.
»Nun, eins von beiden muß sie doch sein, nicht wahr?«
»In Wirklichkeit liegen die Dinge nicht so einfach.«
»Ich glaube, Sie neigen einfach dazu, alles künstlich zu
komplizieren!«
»Das behauptet man von mir«, gab Poirot zu.
Ein Frösteln überlief Jane.
»Ist das nicht komisch? Ein herrlicher, warmer Tag –
und doch ist mir plötzlich kalt«, murmelte sie.
»Vielleicht sollten Sie lieber ein Stück gehen, Made-
moiselle.«
Jane erhob sich und stand einen Augenblick unent-
schlossen da. Dann stieß sie hervor: »Howard wünscht,
daß wir heiraten. Sofort. Ohne daß jemand es weiß. Er
meint – er meint – nur auf diese Weise würde ich es
jemals tun. Er findet, ich sei schwach.« Sie brach ab
und packte mit erstaunlicher Kraft Poirot am Arm.
»Was soll ich tun, M. Poirot?«
»Warum fragen Sie gerade mich um Rat? Es gibt doch
Menschen, die Ihnen näher stehen?«
»Mutter? Die würde bei dem bloßen Gedanken daran in
Schreikrämpfe ausbrechen! Und Onkel Alistair? Der
wäre vorsichtig und prosaisch. ›Laß dir noch Zeit,
meine Liebe. Erst wenn du deiner Sache ganz sicher
bist, verstehst du. Bißchen sonderbarer Vogel, dein
Verehrer. Hat keinen Zweck, die Dinge zu überstür-
169
zen.‹«
»Und Ihre Freunde?« schlug Poirot vor.
»Ich besitze keine Freunde. Nur viele blöde Bekannte,
mit denen ich trinke und tanze und mich in sinnlosem
Geschwätz ergehe! Howard ist der einzige Mensch aus
Fleisch und Blut, dem ich je begegnet bin.«
»Trotzdem – warum fragen Sie gerade mich, Miss
Olivera?«
»Weil Sie ein so sonderbares Gesicht machen – als ob
Ihnen etwas leid täte, als ob Sie wüßten, daß etwas Un-
vermeidliches herannaht...« Sie brach ab. »Nun?«
fragte sie: »Was meinen Sie?«
Hercule Poirot schüttelte langsam den Kopf.
170
H. P. behauptet, es sei Mord – er wünscht, daß es Mord
sein soll –, und tatsächlich: Es ist Mord!«
»Ah – Sie stimmen mir also endlich bei?«
»Nun, ich bin ja kein Dickkopf. Ich stemme mich nicht
gegen überzeugende Beweise. Die Schwierigkeit vorher
bestand ja eben darin, daß wir keine Beweise hatten.«
»Und jetzt haben wir Beweise?«
»Jawohl, und ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen
den Leckerbissen sozusagen auf einer silbernen
Schüssel zu präsentieren.«
»Mein lieber Japp: Ich bin sehr gespannt.«
»Gut, also los. Die Pistole, mit der am Samstag Frank
Carter Blunt erschießen wollte, ist das genaue Pendant
zu der Waffe, mit der Morley umgebracht wurde!«
Poirot starrte ihn an.
»Aber das ist ja außergewöhnlich...!«
»Ja, es wirft ein böses Licht auf Mr. Frank Carter.«
»Ein Beweis ist es nicht.«
»Nein, aber es erschüttert entscheidend die Selbst-
mordtheorie. Die beiden Pistolen sind ausländisches
Fabrikat, und noch dazu ein ziemlich ausgefallenes!«
Hercule Poirot saß mit weit aufgerissenen Augen da.
Seine Brauen glichen zwei zunehmenden Monden.
Endlich sagte er: »Frank Carter? Nein, bestimmt
nicht!«
Japp stieß einen Seufzer der Verzweiflung aus.
»Was ist nur los mit Ihnen, Poirot? Erst bestehen Sie
darauf, daß Morley keinen Selbstmord begangen hat,
sondern von fremder Hand umgebracht worden ist. Und
jetzt, wo ich zu Ihnen komme und Ihnen sage, daß wir
geneigt sind, uns Ihrer Theorie anzuschließen – jetzt
171
drucksen Sie herum und sind unzufrieden!«
»Sie glauben wirklich, daß Morley von Frank Carter er-
mordet worden ist?«
»Es paßt jedenfalls vollkommen ins Bild. Carter war
Morley feindlich gesinnt – das haben wir immer schon
gewußt. Er ist damals am Vormittag in die Queen
Charlotte Street gegangen und hat hinterher so getan,
als sei er nur gekommen, um seinem Mädchen von der
neuen Stellung zu erzählen, die er gefunden habe. Wir
haben aber jetzt ermittelt, daß er um diese Zeit die neue
Stellung noch gar nicht hatte! Erst später am Tag
bekam er sie – das gibt er jetzt zu. Lüge Nummer eins.
Ferner ist nicht festzustellen, was er nach zwölf Uhr
fünfundzwanzig getrieben hat. Er behauptet, die Ma-
rylebone Road entlanggegangen zu sein, aber nachzu-
weisen ist nur, daß er sich um ein Uhr fünf in einer
Kneipe aufhielt. Und der Kellner sagt, er sei in einem
furchtbaren Zustand gewesen – mit zitternden Händen
und leichenblassem Gesicht!«
Hercule Poirot schüttelte seufzend den Kopf.
»Es läßt sich nicht mit meiner Theorie vereinbaren«,
murmelte er.
»Wie ist denn Ihre Theorie?«
»Was Sie mir erzählen, ist sehr verwirrend. Wirklich
äußerst verwirrend. Denn verstehen Sie: Wenn Sie
recht haben...«
Die Tür ging leise auf, und George flüsterte respekt-
voll: »Verzeihen Sie, Monsieur, aber ...«
Weiter kam er nicht. Miss Gladys Nevill schob ihn bei-
seite und betrat aufgeregt das Zimmer. Sie schluchzte:
»Oh, M. Poirot...«
172
»Ich muß jetzt leider gehen«, brummte Japp und
drückte sich hastig hinaus.
Gladys Nevill zollte seiner Rückseite den Tribut eines
haßerfüllten Blickes.
»Das ist ja dieser gräßliche Inspektor von Scotland
Yard, der alle die Lügen über den armen Frank aufge-
bracht hat!«
»Kommen Sie, Sie dürfen sich nicht so aufregen.«
»Aber es ist doch so! Erst wird behauptet, Frank hätte
auf diesen Mr. Blunt geschossen – und damit nicht ge-
nug: Jetzt wirft man ihm auch noch den Mord an dem
armen Mr. Morley vor!«
Hercule Poirot hustete: »Ich war selbst draußen in Exs-
ham«, sagte er, »als der Schuß auf Mr. Blunt abgefeuert
wurde... Wie will sich Mr. Carter denn vor Gericht
verteidigen?«
»Frank will beschwören, daß er überhaupt nichts getan
und daß er die Pistole vorher nie gesehen hat. Er be-
hauptet, es sei ein abgekartetes Spiel gewesen, um ihn
reinzulegen.«
»Ist es wahr«, fragte Poirot, »daß er noch keine neue
Stellung hatte, als er damals am Vormittag in die Queen
Charlotte Street kam?«
»Also, M. Poirot – ich kann tatsächlich nicht einsehen,
was das für einen Unterschied machen soll. Ob er die
Stellung am Morgen oder am Nachmittag erhalten hat –
darauf kommt es doch gar nicht an!«
»Aber ursprünglich sagte er doch aus, er sei gekom-
men, um Ihnen von seinem Glück zu berichten. Jetzt
stellt sich heraus, daß der Glücksfall noch gar nicht
eingetreten war. Warum also ist er in Morleys Haus
173
gegangen?«
»Weil der arme Junge völlig niedergeschlagen und
aufgelöst war – ehrlich gesagt, glaube ich, daß er sich
betrunken hatte. Der arme Frank verträgt so wenig –
das Trinken wird ihn aggressiv gemacht haben, und da
wollte er eben Krach schlagen. Deshalb ist er in die
Queen Charlotte Street gegangen, um sich mit Mr.
Morley auseinanderzusetzen, denn Frank ist sehr em-
pfindlich und war furchtbar zornig darüber, daß Mr.
Morley ihn nicht anerkannte und – wie er sich aus-
drückte – meine Seele vergiftete.«
»Er hatte also den Plan gefaßt, in der Sprechstunde eine
Szene zu machen?«
»Ja – das war wohl seine Absicht. Natürlich war es sehr
ungerecht von ihm, sich so etwas auszudenken.«
Poirot schaute die verweinte junge Blondine nachdenk-
lich an.
»Wußten Sie, daß Frank Carter eine Pistole besaß –
vielmehr zwei ganz gleiche Pistolen?«
»O nein, M. Poirot, das schwöre ich Ihnen. Und ich
kann auch nicht glauben, daß es wahr ist.«
Poirot schüttelte ratlos den Kopf.
»Ach, M. Poirot, helfen Sie uns doch. Wenn ich nur
wüßte, daß Sie auf unserer Seite sind ...«
»Ich bin auf keiner Seite. Ich bin nur auf der Seite der
Wahrheit.«
174
werden konnte, daß Frank Carter die Pistole vor dem
Attentat in Exsham besessen hatte. Poirot legte nach-
denklich den Hörer auf. Das war ein Punkt, der zu
Carters Gunsten sprach. Aber es war vorläufig auch der
einzige.
Beddas hatte ihm noch ein paar neue Einzelheiten der
Aussage mitgeteilt, die Carter über seine Beschäftigung
als Gärtner in Exsham gemacht hatte. An der Be-
hauptung, es habe sich um einen Auftrag für den
Geheimdienst gehandelt, hielt er fest. Er hatte eine Vor-
auszahlung und ein paar Zeugnisse über seine gärtne-
rische Befähigung erhalten und sich dann weisungsge-
mäß bei Blunts Obergärtner MacAlister um einen
Posten beworben. Seine Instruktionen befahlen ihm, die
Gespräche der übrigen Gärtner zu belauschen, sie nach
etwaigen »roten« Neigungen auszuhorchen und selbst
ein bißchen so zu tun, als sei er ein »Roter«. Den
Auftrag und die Instruktionen hatte ihm eine Frau er-
teilt, die sich als »Q. H. 56« ausgab und ihm sagte, er
sei ihr als überzeugter Antikommunist empfohlen
worden. Das Gespräch hatte bei sehr schwacher Be-
leuchtung stattgefunden, und er hielt es für unwahr-
scheinlich, daß er die Frau wiedererkennen würde. Es
war eine rothaarige, stark geschminkte Dame gewesen.
Poirot stöhnte. Er fühlte sich versucht, mit Mr. Barnes
über die Sache zu sprechen. Mr. Barnes hatte behaup-
tet, daß solche Dinge wirklich passierten.
Die Abendpost brachte ihm einen Brief, der ihn noch
mehr verwirrte. Ein billiger Umschlag, mit ungeübter
Hand beschrieben, in Hertfordshire abgestempelt.
Poirot öffnete den Brief und las:
175
Sehr geehrter Herr, bitte verzeihen Sie, daß ich an Sie
schreibe, aber ich bin sehr beunruhigt und weiß nicht,
was ich tun soll. Ich möchte auf keinen Fall etwas mit
der Polizei zu tun bekommen. Ich weiß, daß ich viel-
leicht etwas, das ich weiß, schon früher hätte sagen
sollen, aber als es hieß, der Herr hat sich erschossen,
dachte ich, es ist schon recht. Und ich wollte auch nicht
Miss Nevills Verehrer in Schwierigkeiten bringen, ob-
wohl ich nie geglaubt habe, daß er es getan hat. Aber
jetzt lese ich in der Zeitung, daß er verhaftet worden ist,
weil er auf einen andern Herrn geschossen hat, und da
muß ich es wohl sagen. Ich schreibe an Sie, weil Sie mit
meinem Fräulein bekannt sind und mich neulich
gefragt haben. Jetzt wünsche ich natürlich, ich hätte es
Ihnen schon neulich gesagt. Aber ich hoffe, das heißt
nicht, daß ich es mit der Polizei zu tun bekomme, denn
das wäre mir sehr unangenehm und meiner Mutter
auch. Meine Mutter ist immer sehr eigen gewesen.
Hochachtungsvoll
Agnes Fletcher.
176
Agnes hatte großen Wert darauf gelegt, ihre Geschichte
nicht unter dem kritischen Blick Miss Morleys erzählen
zu müssen...
»Miss Morley möchte ich nichts davon sagen, denn sie
würde vielleicht meinen, ich hätte es schon längst
erzählen müssen. Aber die Köchin und ich waren der
Meinung, es sei nicht unsere Sache, denn wir haben ja
schwarz auf weiß in der Zeitung gelesen, daß Mr.
Morley sich in dem Betäubungsmittel geirrt und dann
selber erschossen hat – nicht wahr?«
»Und wann haben Sie angefangen, Ihre Meinung zu
ändern?«
Poirot hoffte, durch eine aufmunternde, aber nicht zu
unmittelbare Frage die versprochene Enthüllung aus
Agnes herauszulocken.
Agnes erwiderte prompt: »Als ich in der Zeitung las,
daß Mr. Carter auf den Herrn geschossen hat, bei dem
er Gärtner war! Da dachte ich, er sei vielleicht ein biß-
chen verrückt, denn es gibt doch Leute, die glauben, sie
würden verfolgt und seien von Feinden umringt, und
zum Schluß kann man sie nicht mehr daheim behalten,
sondern muß sie in eine Heilanstalt stecken. Und ich
habe gedacht, Mr. Carter sei vielleicht auch so ein Irrer,
denn ich habe mich erinnert, daß er immer sagte, Mr.
Morley sei ein Feind und wolle ihn und Miss Nevill
auseinanderbringen – aber natürlich hat sie kein Wort
gegen Mr. Carter hören wollen, und das mit Recht,
haben wir immer gedacht, Emma und ich, denn Mr.
Carter schaut doch so gut aus und ist ein richtiger Herr,
das kann man nicht leugnen. Aber natürlich hat keine
von uns beiden geglaubt, daß er Mr. Morley wirklich
177
etwas zuleide getan hat. Wir haben nur gedacht, daß es
ein bißchen sonderbar war – wenn Sie verstehen, was
ich meine.«
Poirot fragte geduldig: »Was war sonderbar?«
»Damals am Vormittag – an dem Vormittag, an dem
sich Mr. Morley erschoß. Ich ging damals auf den Vor-
platz und schaute ins Treppenhaus hinunter, weil ich
wissen wollte, ob auf dem Tisch schon die Post lag.«
Agnes holte tief Atem und fuhr fort: »Und da sah ich
ihn – Frank Carter, meine ich. Er stand auf halber Höhe
der Treppe – unserer Treppe, meine ich – also oberhalb
des Sprechzimmers. Da wartete er und schaute hinunter
– und je mehr ich jetzt darüber nachdenke, desto merk-
würdiger kommt mir das vor. Es war, als ob er auf-
merksam gelauscht hätte – wenn Sie verstehen, was ich
meine ...«
»Um welche Zeit war das?«
»Es muß gegen halb zwölf gewesen sein. Und gerade
als ich dachte, nanu, das ist doch Frank Carter, und
Miss Nevill ist für den ganzen Tag fort, der wird nicht
schlecht enttäuscht sein, und wie ich so überlege, ob ich
nicht hinunterlaufen und ihm das sagen soll – da
entschließt er sich, geht die Treppe hinunter und ver-
schwindet in dem Gang, der zum Sprechzimmer von
Mr. Morley führt. Da habe ich mir im stillen gedacht,
das wird Mr. Morley aber gar nicht recht sein, und war
neugierig, ob es nicht Krach geben würde. Aber gerade
in dem Augenblick rief Emma nach mir, und ich ging
wieder hinein. Als ich etwas später hörte, Mr. Morley
habe sich erschossen, da war das natürlich ein solcher
Schreck, daß ich alles andere vergaß. Erst als der Poli-
178
zist wieder fort war, erzählte ich Emma, daß ich am
Vormittag Mr. Carter zu Mr. Morley habe gehen sehen.
Emma meinte, ich hätte es vielleicht bei der Polizei
angeben sollen, aber dann beschlossen wir, noch zu
warten, weil wir Mr. Carter nicht in Schwierigkeiten
bringen wollten. Und als dann bei der Leichenschau
herauskam, daß Mr. Morley sich bei einer Narkose ge-
irrt und dann den Kopf verloren und sich erschossen
habe, nun – da war kein Grund mehr, etwas davon zu
erzählen. Aber jetzt, nachdem ich das vom Schuß auf
Mr. Blunt gelesen habe, bin ich nicht schlecht er-
schrocken! Und im stillen habe ich mir gesagt, wenn
der wirklich verrückt ist und herumgeht und auf die
Leute schießt – ja, dann hat er vielleicht doch Mr. Mor-
ley erschossen!«
Ihr Blick war ängstlich, aber zugleich hoffnungsvoll auf
Poirot gerichtet. Poirot gab seiner Stimme einen mög-
lichst beruhigenden Klang.
»Sie dürfen überzeugt sein, Agnes, daß Sie vollkom-
men recht daran getan haben, mir das zu erzählen«,
sagte er.
»Also, dann fällt mir wirklich ein Stein vom Herzen.
Verstehen Sie, ich habe mir immer schon gesagt, daß
ich es vielleicht hätte erzählen müssen. Und dann, nicht
wahr, habe ich mich davor gefürchtet, etwas mit der
Polizei zu tun zu bekommen, und was meine Mutter
dazu sagen würde. Unsere Mutter ist ja immer so eigen
mit uns allen gewesen.«
»Gewiß, gewiß«, sagte Poirot hastig. Von der »eige-
nen« Mutter wünschte er nichts mehr zu hören.
179
Poirot fuhr nach Scotland Yard und ließ sich bei Japp
melden. Als er das Zimmer des Chefinspektors betrat,
sagte er: »Ich möchte Carter sprechen.«
Japp warf ihm einen schnellen Blick zu.
»Was haben Sie vor? Aus welchem Grund wollen Sie
mit Carter sprechen? Wollen Sie ihn fragen, ob er
Morley tatsächlich ermordet hat?«
Zu Japps Überraschung nickte Poirot nachdrücklich.
»Ja, mein Freund, aus genau diesem Grund.«
»Und Sie glauben, daß er es Ihnen sagen wird, falls er
der Täter war?«
Japp sagte es lachend. Aber Poirot blieb ernst, als er
antwortete: »Ja, vielleicht wird er es mir sagen.«
Japp sah ihn unsicher an.
»Wissen Sie, Poirot, ich kenne Sie nun schon so lange –
sind es zwanzig Jahre? Ja, ungefähr. Aber immer noch
ist mir manchmal nicht klar, worauf Sie hinauswollen.
Ich weiß, daß Sie sich über den jungen Frank Carter
Flausen in den Kopf gesetzt haben. Aus irgendeinem
Grund wünschen Sie nicht, daß er schuldig ist.«
Hercule Poirot schüttelte energisch den Kopf.
»Nein, nein – da irren Sie sich. Die Sache liegt umge-
kehrt.«
»Ich dachte, es wäre vielleicht wegen seinem Mädchen.
In mancher Beziehung sind Sie ein sentimentaler alter
Junge.«
Jetzt war Poirot ehrlich empört.
»Nicht ich bin es, der sentimental ist! Das ist eine eng-
lische Schwäche! Es ist in England, wo über liebende
junge Mädchen, über sterbende Mütter und aufopfe-
rungsvolle Kinder geweint wird. Ich – ich bin logisch.
180
Wenn Frank Carter ein Mörder ist, dann bin ich be-
stimmt nicht sentimental genug, um ihn mit einem
netten, aber alltäglichen Mädchen verheiraten zu wol-
len, das ihn, falls er gehängt wird, in längstens zwei
Jahren vergessen hat und einen anderen Mann findet
und mit ihm glücklich wird.«
»Warum wollen Sie dann nicht glauben, daß er schul-
dig ist?«
»Im Gegenteil: Ich möchte sehr gern glauben, er sei
schuldig.«
»Sie denken vermutlich, Sie seien auf etwas gestoßen,
das mehr oder weniger schlüssig seine Unschuld be-
weist? Warum verschweigen Sie das dann? Sie sollten
ehrliches Spiel mit uns spielen, Poirot!«
»Ich spiele ehrliches Spiel mit Ihnen. Bald, sehr bald,
werde ich Ihnen Namen und Adresse einer Zeugin
nennen, die für die Anklage von unschätzbarem Wert
ist. Ihre Aussage dürfte den Fall Carter abschließen.«
»Ja, aber dann – ach, Sie haben mich total verwirrt.
Warum wollen Sie ihn unbedingt sprechen?«
»Um selbst ganz sicher zu gehen«, sagte Hercule Poi-
rot.
Und mehr war nicht aus ihm herauszubringen. Frank
Carter, hohlwangig, blaß und immer noch leicht prahle-
risch, sah den unerwarteten Besucher mit unverhohle-
ner Abneigung an.
»Also Sie sind es, Sie verdammter kleiner Ausländer?
Was wollen Sie von mir?«
»Ich wollte Sie sehen und mit Ihnen sprechen.«
»Nun, sehen können Sie mich ja jetzt. Aber sprechen
werde ich nicht. Jedenfalls nicht ohne meinen Anwalt.
181
Das ist mein gutes Recht, nicht wahr? Dagegen können
Sie nichts machen. Ich habe das Recht, jede Aussage zu
verweigern, wenn mein Anwalt nicht dabei ist.«
»Gewiß haben Sie dieses Recht. Wenn Sie wollen, kön-
nen Sie ihn kommen lassen – aber es wäre mir lieber,
Sie täten es nicht.«
»Das kann ich mir denken. Sie wollen mich wohl in ir-
gendeine Falle locken, oder?«
»Vergessen Sie nicht, daß wir ganz allein sind.«
»Gerade das kommt mir ein bißchen ungewöhnlich vor.
Möchte wetten, daß Ihre Freunde von der Polizei mit-
hören.«
»Da sind Sie im Irrtum. Es handelt sich um ein ganz
privates Gespräch zwischen uns beiden.«
Frank Carter stieß ein unangenehmes, schlaues Lachen
aus.
»Hören Sie auf! Mit dem alten Trick können Sie mich
nicht reinlegen!«
»Erinnern Sie sich an ein Mädchen namens Agnes
Fletcher?«
»Nie gehört.«
»Ich glaube, Sie werden sich doch an sie erinnern, ob-
wohl Sie wahrscheinlich nicht viel Notiz von ihr ge-
nommen haben. Sie war Stubenmädchen in der Queen
Charlotte Street 58.«
»Und...?«
Hercule Poirot sagte langsam: »An dem Vormittag, da
Mr. Morley erschossen wurde, hat diese Agnes zufällig
vom obersten Stockwerk über das Treppengeländer
hinuntergeschaut. Sie hat Sie – Frank Carter – wartend
und lauschend auf der Treppe gesehen. Sie sah auch,
182
daß Sie schließlich in Mr. Morleys Sprechzimmer gin-
gen. Es zwar ziemlich genau sechsundzwanzig Minuten
nach zwölf.«
Frank Carter begann heftig zu zittern. Der Schweiß
brach ihm aus. Seine Blicke, tückischer denn je, irrten
angstvoll hin und her.
Zornig schrie er: »Das ist eine Lüge! Eine verdammte
Lüge! Sie haben sie bestochen – die Polizei hat sie
bestochen, damit sie gegen mich aussagt!«
»Um diese Zeit«, fuhr Hercule Poirot ruhig fort, »hatten
Sie nach Ihrer eigenen Angabe das Haus bereits verlas-
sen und gingen die Marylebone Road entlang.«
»Ja, das stimmt auch. Das Mädchen lügt. Sie kann mich
nicht gesehen haben. Wenn sie mich gesehen hätte –
warum hat sie es dann nicht schon längst gesagt?«
Hercule Poirot erwiderte ruhig: »Sie hat es damals so-
fort der Köchin gegenüber erwähnt. Beide haben sich
Sorgen darüber gemacht, waren bestürzt und wußten
nicht, was sie tun sollten. Als der amtliche Spruch auf
Selbstmord lautete, waren sie sehr erleichtert und hiel-
ten es für unnötig, auf die Beobachtung des Stuben-
mädchens zurückzukommen.«
»Ich glaube kein Wort von alledem! Die beiden haben
sich gegen mich verschworen, das ist alles. Ein paar
dreckige, verlogene kleine...«
Er verlor sich in wütenden Beschimpfungen. Hercule
Poirot wartete. Als Carters Redestrom versiegte,
begann Poirot von neuem zu sprechen, immer noch im
gleichen ruhigen, gemessenen Ton.
»Zorn und törichte Beschimpfungen werden Ihnen
nichts nützen. Die beiden Mädchen werden ihre Aus-
183
sage machen, und man wird ihnen Glauben schenken.
Denn, sehen Sie: Die Mädchen sprechen die Wahrheit.
Agnes Fletcher hat Sie wirklich gesehen, Carter. Sie ha-
ben zur angegebenen Zeit auf der Treppe gestanden.
Sie hatten das Haus nicht verlassen. Und Sie sind in
Morleys Sprechzimmer gegangen.«
Nach einer Pause fragte er: »Und was war dann?«
»Ich sage Ihnen doch: Es ist alles erlogen!«
Hercule Poirot fühlte sich sehr müde – sehr alt. Frank
Carter gefiel ihm nicht. Er mißfiel ihm sogar aufs äu-
ßerste. Nach seiner Meinung war Frank Carter ein bru-
taler Bursche, ein Lügner, ein Schwindler – ein Indivi-
duum, ohne das die Welt sehr gut auskommen konnte.
Er, Hercule Poirot, brauchte sich nur still zu verhalten
und diesen jungen Mann weiter seine Lügen erzählen
lassen – dann würde die Erde bald einen ihrer uner-
freulichsten Bewohner los sein.
Hercule Poirot sagte: »Ich schlage vor, daß Sie mir die
Wahrheit sagen.«
Worum es in diesem Kampf ging, war ihm durchaus
klar. Frank Carter war dumm, aber immerhin schlau
genug, zu erkennen, daß hartnäckiges Leugnen seine
beste und sicherste Taktik war. Hatte er einmal zuge-
geben, das Sprechzimmer sechsundzwanzig Minuten
nach zwölf betreten zu haben, dann befand er sich in
höchster Gefahr. Denn nach diesem Eingeständnis
mußte er befürchten, daß alles, was er noch erzählte,
mit großer Wahrscheinlichkeit als Lüge betrachtet
würde. Er sollte also ruhig beim Leugnen bleiben. In
diesem Fall war Hercule Poirots Aufgabe erledigt.
Frank Carter würde höchstwahrscheinlich als Mörder
184
Henry Morleys gehängt werden. Hercule brauchte nur
aufzustehen und hinauszugehen.
Frank Carter wiederholte: »Es ist alles gelogen!«
Eine Pause entstand. Hercule Poirot stand nicht auf und
ging nicht hinaus. Er hätte es gern getan, sehr gern.
Trotzdem blieb er. Er beugte sich vor.
In seiner Stimme lag die bezwingende Kraft seiner
starken Persönlichkeit, als er sagte: »Ich lüge nicht,
Carter. Ich bitte Sie, mir zu glauben. Wenn Sie Morley
nicht umgebracht haben, dann besteht Ihre einzige
Chance darin, mir die volle Wahrheit zu gestehen.«
Das unehrliche, charakterlose Gesicht ihm gegenüber
zuckte und verriet Unsicherheit. Frank Carter zupfte
sich an der Lippe. Seine Augen irrten hin und her: die
Augen eines geängstigten, in die Enge getriebenen
Tieres. Es ging jetzt auf Biegen oder Brechen. Und
plötzlich, überwältigt von der Stärke der Persönlichkeit
des Gegners, gab Frank Carter den Kampf auf.
Er sagte mit heiserer Stimme: »Also gut – ich will es
Ihnen erzählen. Aber Gott soll Sie strafen, wenn Sie
mich betrügen! Ich bin hineingegangen. Ich ging die
Treppe hinauf und habe gewartet, bis ich sicher war,
ihn allein zu treffen. Habe dort gestanden, oberhalb von
Morleys Etage. Dann ist einer herausgekommen und
die Treppe hinuntergegangen – so ein Dicker. Ich habe
noch eine Weile überlegt, ob ich jetzt hineingehen
sollte – da ist noch einer aus dem Sprechzimmer
herausgekommen und hinuntergegangen. Dann bin ich
los und ohne anzuklopfen reingegangen. Ich war fest
entschlossen, es mit ihm auszufechten. Mich mit Dreck
zu bewerfen, meine Braut gegen mich aufhetzen –
185
verdammt noch einmal...« Er brach ab.
»Ja?« sagte Hercule Poirot, und seine Stimme klang
drängend – zwingend. Carters Stimme wurde zu einem
Krächzen.
»Und da lag er vor mir – tot! Das ist die Wahrheit – ich
schwöre es! Hat dagelegen, genau wie es bei der Lei-
chenschau ausgesagt worden ist. Ich habe es zuerst
nicht glauben können – habe mich über ihn gebeugt.
Aber er war mausetot. Seine Hand war eiskalt, und ich
habe den Einschuß im Kopf gesehen, mit einer Blut-
kruste drum herum ...«
Bei der Erinnerung daran brach ihm von neuem der
Schweiß aus.
»Da habe ich gemerkt, daß ich in der Tinte saß. Daß
man sagen würde, ich hätte es getan. Ich hatte nichts
berührt außer seiner Hand und der Türklinke. Die Tür-
klinke habe ich auf beiden Seiten mit dem Taschentuch
abgerieben, und dann habe ich mich so schnell als
möglich die Treppe hinuntergeschlichen... In der Halle
war niemand, und so bin ich zur Haustür hinaus und
habe mich aus dem Staube gemacht. Kein Wunder, daß
ich elend ausgesehen habe.«
Er hielt inne. Seine Augen waren angstvoll auf Poirot
gerichtet.
»Das ist die Wahrheit. Ich schwöre, daß es die Wahr-
heit ist. Er war schon tot, als ich ins Zimmer kam. Sie
müssen mir glauben!«
Poirot erhob sich. Seine Stimme klang müde und unlu-
stig, als er sagte: »Ich glaube Ihnen.«
Er ging zur Tür.
Frank Carter rief: »Man wird mich hängen, wenn man
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erfährt, daß ich im Sprechzimmer war!«
»Sie haben sich vor dem Galgen gerettet, indem Sie die
Wahrheit gesagt haben«, antwortete Poirot.
»Nein, nein – man wird behaupten...«
Poirot unterbrach ihn.
»Ihr Bericht hat bestätigt, was ich bereits als Wahrheit
erkannt hatte. Sie können jetzt alles weitere mir über-
lassen.«
Er ging hinaus. Er fühlte sich keineswegs glücklich.
187
vater Mord war?«
»Offen gestanden: nein. Amberiotis – Alistair Blunt –
ich war überzeugt, daß es sich um eine Fehde zwischen
Spionage und Abwehr handelte.«
»Das ist die Auffassung, die Sie mir bei unserer ersten
Begegnung auseinandergesetzt haben.«
»Ich weiß. Ich habe damals mit aller Bestimmtheit an
diese Auffassung geglaubt.«
Poirot sagte langsam: »Aber Sie haben sich getäuscht.«
»Ja. Das Schlimme ist, daß man immer von seinen ei-
genen Erfahrungen ausgeht. Ich habe so viel mit diesen
Spionagedingen zu tun gehabt, daß ich sie überall
anzutreffen erwarte.«
»Sie haben«, sagte Poirot, »doch sicher schon einmal
gesehen, wie ein Taschenspieler jemanden aus dem
Publikum eine Karte ziehen läßt? Wie er der betref-
fenden Person die Karte aufzwingt?«
»Ja, natürlich.«
»Genau das ist hier geschehen. Jedesmal, wenn einem
ein persönlicher Grund für Morleys Ermordung einfällt,
wird einem – eins, zwei, drei – die Karte aufgezwun-
gen. Amberiotis, Alistair Blunt, die unsichere politische
Lage des Landes...« Er zuckte die Achseln. »Und was
Sie betrifft, Mr. Barnes, so haben Sie mich mehr als
alle anderen in die Irre geführt.«
»Das tut mir aufrichtig leid. Wahrscheinlich haben Sie
recht.«
»Bei Ihnen durfte man eine genaue Kenntnis der Situa-
tion voraussetzen, verstehen Sie? Deshalb hatte Ihre
Meinung Gewicht.«
»Nun – von dem, was ich gesagt habe, war ich ehrlich
188
überzeugt. Das ist das einzige, was ich zu meiner Ent-
schuldigung vorbringen kann.« Er machte seufzend
eine Pause. »Und in Wirklichkeit war das Mordmotiv
ein ganz persönliches?«
»Jawohl. Ich habe lange Zeit gebraucht, um es zu ent-
decken – obwohl ich in einem bestimmten Punkt ent-
schieden Glück gehabt habe.«
»Worin bestand dieses Glück?«
»In dem Bruchstück eines Gesprächs. Ein äußerst auf-
schlußreiches Bruchstück – wenn ich nur seine Bedeu-
tung gleich erkannt hätte!«
Mr. Barnes rieb sich mit dem Spatenstiel nachdenklich
die Nase. »Sie tun sehr geheimnisvoll«, sagte er
freundlich.
Hercule Poirot erwiderte achselzuckend: »Vielleicht
bin ich etwas gekränkt, daß Sie mir gegenüber nicht of-
fen waren.«
»Ich?«
»Jawohl.«
»Mein Lieber – ich hatte nicht die geringste Ahnung,
daß Carter der Täter ist. Soweit ich informiert war,
hatte er das Haus lange vor Morleys Tod verlassen.
Wahrscheinlich ist jetzt festgestellt worden, daß er sich
zur kritischen Zeit noch im Hause aufhielt?«
»Carter war um zwölf Uhr sechsundzwanzig noch im
Hause. Er hat den Mörder mit eigenen Augen gesehen«,
sagte Poirot.
»Dann ist also Carter nicht...«
»Ich sage Ihnen doch: Carter hat den Mörder gesehen.«
»Hat – hat er ihn – erkannt?«
Poirot schüttelte langsam den Kopf.
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stiert?« fragte Blunt zögernd.
»Nein, nein: Sie hat existiert. Sie hat in Kalkutta ge-
wohnt, gab Sprachunterricht, war wohltätig, und auf der
›Maharanah‹ kam sie nach England. Sie war auf
demselben Schiff, das auch Mr. Amberiotis benutzte.
Obschon sie nicht in der gleichen Klasse reisten, hat er
ihr einen kleinen Dienst erwiesen – es drehte sich um
ihr Gepäck. In Kleinigkeiten scheint er ein hilfsbereiter
Mensch gewesen zu sein. Und manchmal, Mr. Blunt,
macht sich Hilfsbereitschaft in unerwarteter Weise be-
zahlt. So erging es auch Mr. Amberiotis. Der Zufall
wollte, daß er die Dame in London auf der Straße wie-
dertraf. Er war in Geberlaune und lud sie zum Mittag-
essen ins Savoy ein. Das war ein unerwartetes Fest für
sie – und für Mr. Amberiotis ein unerwarteter Glücks-
fall! Denn seiner Gutmütigkeit lag keinerlei Berech-
nung zugrunde – er hatte keine Ahnung, daß diese ver-
welkte, ältliche Dame ihm ein Geschenk machen
würde, das für ihn einer Goldgrube gleichkam. Und
doch tat sie das – freilich ohne es zu wissen. Sie war
nicht besonders helle, verstehen Sie. Eine brave,
gutmütige Haut, aber mit der Intelligenz – sagen wir –
einer Henne.«
Blunt fragte: »Dann ist die Chapman also nicht von ihr
umgebracht worden?«
Poirot sagte langsam: »Ich weiß nicht recht, wie ich den
Fall darstellen soll. Ich werde, glaube ich, dort an-
fangen, wo er für mich begonnen hat. Mit einem
Schuh!«
Blunt fragte verständnislos: »Mit einem Schuh?«
Poirot nickte.
191
»Ja, mit einem Schnallenschuh. Ich kam von der
Behandlung beim Zahnarzt, und als ich auf den Stufen
des Hauses Queen Charlotte Street 58 stand, hielt ein
Taxi, und ich sah den Fuß der Frau, die im Begriff war
auszusteigen. Ich gehöre zu den Männern, die sich Fuß
und Knöchel bei einer Frau ansehen. Es war ein wohl-
geformter Fuß mit schlanker Fessel und einem teuren
Strumpf – aber der Schuh gefiel mir nicht. Es war ein
neuer, glänzender Lackschuh mit einer großen, ver-
zierten Schnalle. Nicht schick – gar nicht schick!
Und während ich diese Beobachtungen anstellte, kam
der restliche Teil der Frau zum Vorschein. Das war, of-
fen gesagt, eine Enttäuschung: eine angejahrte Dame
ohne Charme und schlecht angezogen.«
»Miss Sainsbury Seale?«
»Sehr richtig. Bei ihrem Aussteigen ereignete sich ein
kleiner Unglücksfall: Die Schnalle ihres einen Schuhs
verfing sich in der Tür des Taxis und wurde abgerissen.
Ich hob die Schnalle auf und gab sie ihr zurück. Das
war alles. Der Zwischenfall war abgeschlossen. Im
weiteren Verlauf des gleichen Tages suchte ich mit
Chefinspektor Japp die Dame auf, um ihr verschiedene
Fragen zu stellen – übrigens hatte sie da die Schnalle
noch nicht wieder angenäht. Am selben Abend verließ
Miss Sainsbury Seale ihr Hotel und verschwand spur-
los. Bis dahin, wollen wir sagen, reicht der erste Teil.
Der zweite Teil begann, als Chefinspektor Japp mich in
die King Leopold Mansions kommen ließ. In einer der
Wohnungen stand eine Pelztruhe, und in dieser Pelz-
truhe war eine Leiche gefunden worden. Das erste, was
ich sah, als ich an die Truhe trat, war – ein abgetragener
192
Schnallenschuh!«
»Nun?«
»Sie haben den springenden Punkt nicht ganz erfaßt: Es
war ein abgetragener Schuh, ein Schuh, der schon
längere Zeit in Gebrauch gewesen war. Nun bedenken
Sie aber: Miss Sainsbury Seale war am Abend des glei-
chen Tages in die King Leopold Mansions gekommen –
des Tages, an dem Morley ermordet worden war. Am
Morgen waren die Schuhe neu gewesen – am Abend
waren sie alt. Sie verstehen – man kann ein Paar
Schuhe nicht in einem einzigen Tage abtragen.«
Alistair Blunt bemerkte ziemlich gleichgültig: »Wahr-
scheinlich hat sie zwei Paar besessen.«
»Ah – aber gerade das war nicht der Fall. Japp und ich
hatten ihr Zimmer im Glengowrie Court Hotel durch-
sucht und keine Schnallenschuhe gefunden. Ja, sie hätte
ein Paar alte Schuhe besitzen und nach einem anstren-
genden Tag am Abend anziehen können – aber dann
hätten wir das neue Paar im Hotel vorfinden müssen,
nicht wahr? Sie werden zugeben, daß das Fehlen des
zweiten Paars ein auffallender Umstand war.«
Blunt sagte mit schwachem Lächeln: »Ich kann nicht
einsehen, daß es so wichtig gewesen sein soll.«
»Nein – wichtig nicht, aber es stört mich, wenn ich mir
etwas nicht erklären kann. Ich stand vor der Pelztruhe
und betrachtete den Schuh – die Schnalle war erst
kürzlich mit der Hand angenäht worden. Ich will zuge-
ben, daß in mir in diesem Augenblick Zweifel aufstie-
gen. Zweifel an mir selbst. Ja, sagte ich mir im stillen,
Hercule Poirot, vielleicht warst du an diesem Morgen
etwas leichtsinnig. Du hast die Welt durch eine rosa
193
Brille gesehen. Sogar die alten Schuhe sind dir neu
vorgekommen!«
»Vielleicht war das tatsächlich die richtige Erklärung?«
»Aber nein, keineswegs. Meine Augen täuschen mich
nicht! Weiter: Ich untersuchte die Leiche, und was ich
sah, gefiel mir gar nicht. Warum war das Gesicht mit
Absicht brutal verstümmelt und unkenntlich gemacht
worden...?«
Alistair Blunt rückte unruhig hin und her.
»Müssen wir das alles noch einmal durchgehen? Wir
wissen doch schon...«
Hercule Poirot entgegnete mit fester Stimme: »Es ist
notwendig. Ich muß mit Ihnen alle Phasen des Weges
durchgehen, der mich schließlich zur Lösung geführt
hat. Ich sagte mir: ›Hier stimmt etwas nicht. Da liegt
eine tote Frau in der Kleidung der Sainsbury Seale –
ausgenommen vielleicht die Schuhe? – und daneben die
Handtasche der Sainsbury Seale: Und warum hat man
ihr Gesicht so zugerichtet, daß es nicht zu erkennen ist?
Etwa, weil das Gesicht nicht das von Miss Sainsbury
Seale ist?‹ Und sofort beginne ich alles zusammenzu-
tragen, was ich über die Erscheinung der anderen Frau
– der Frau, der die Wohnung gehört – erfahren habe,
und ich frage mich: Ist es nicht möglicherweise die
andere Frau, die da tot vor mir liegt? Dann gehe ich und
schaue mir das Schlafzimmer der anderen Frau an. Ich
versuche mir auszumalen, um was für eine Art Frau es
sich handelt. Oberflächlich betrachtet, scheint sie sich
von der Seale sehr zu unterscheiden. Elegant, auffal-
lend angezogen, stark zurechtgemacht. Aber in den
wesentlichen Zügen ihr nicht unähnlich: Haar, Körper-
194
bau, Alter. Ein Unterschied ist jedoch vorhanden: Mrs.
Albert Chapman hatte Schuhgröße fünf, während Miss
Sainsbury Seale, wie ich wußte, Strümpfe Nummer
zehn trug, also wenigstens Schuhgröße sechs hatte.
Mrs. Chapman besaß also kleinere Füße als Mrs.
Sainsbury Seale. Ich ging zu der Leiche zurück. Wenn
meine halbgare Theorie stimmte und daß die Leiche
von Mrs. Chapman in Miss Sainsbury Seales Kleidern
war, dann mußten ihr die Schuhe zu groß sein. Ich
ergriff einen der Schuhe – aber er saß fest. Das sah also
aus, als sei es doch die Leiche von Miss Sainsbury
Seale! Aber warum war dann das Gesicht verstümmelt?
Ihre Identität war doch schon durch die Handtasche
bewiesen, die man leicht hätte entfernen können, aber
nicht entfernt hatte.
Es war ein Rätsel – ein höchst verwickeltes Rätsel. In
meiner Verzweiflung stürzte ich mich auf Mrs.
Chapmans Adreßbuch: Ein Zahnarzt war der einzige
Mensch, der mit Bestimmtheit feststellen konnte, wer
die tote Frau war – oder nicht war. Zufällig war Mrs.
Chapmans Zahnarzt Mr. Morley. Morley war tot, aber
die Identifizierung ließ sich trotzdem ermöglichen. Sie
kennen das Ergebnis. Die Leiche wurde bei der Toten-
schau durch Mr. Morleys Nachfolger als diejenige von
Mrs. Albert Chapman identifiziert.«
Blunt verriet Zeichen der Ungeduld, aber Poirot be-
achtete sie nicht. Er fuhr fort: »Nun stand ich vor einem
psychologischen Problem. Was für eine Art Frau war
Mabelle Sainsbury Seale? Auf diese Frage gab es zwei
Antworten. Die erste war die nächstliegende, die durch
Mabelles ganzes Leben in Indien und durch das Zeug-
195
nis ihrer persönlichen Bekannten gegeben wurde.
Danach war sie ein gewissenhaftes, ernstes, etwas
törichtes Wesen. Gab es noch eine andere Sainsbury
Seale? Anscheinend ja. Es gab die Frau, die mit einem
bekannten ausländischen Agenten zu Mittag aß; die
Frau, die Sie, Mr. Blunt, unter der offensichtlich fal-
schen Vorspiegelung, sie sei eine enge Freundin Ihrer
Frau gewesen, auf der Straße ansprach; die Frau, die
Morleys Haus verließ, unmittelbar bevor dort ein Mord
begangen wurde; die Frau, die eine andere just an dem
Abend besuchte, an dem diese höchstwahrscheinlich
ermordet wurde; die Frau, die seither verschwunden
war, obwohl die gesamte Polizeimacht Englands nach
ihr suchte. Ließen sich alle diese Handlungen mit dem
Leumund vereinbaren, den ihre Freunde ihr ausstellten?
Anscheinend doch nicht. Wenn also Miss Sainsbury
Seale nicht das gute, liebenswerte Geschöpf war, als
das sie erschien, dann war sie möglicherweise eine
kaltblütige Mörderin oder zumindest Helfershelferin.
Noch etwas stand mir zur Verfügung: mein eigener
persönlicher Eindruck. Ich hatte selbst mit Mabelle
Sainsbury Seale gesprochen. Wie hatte sie auf mich ge-
wirkt? Und auf diese Frage, Mr. Blunt, war die Antwort
am schwersten zu finden. Alles, was sie gesagt hatte,
ihre Sprechweise, ihr Auftreten, ihre Bewegungen –
alles entsprach völlig der Persönlichkeit, als die sie uns
geschildert worden war.
Aber gleichzeitig paßte all das ebensogut auf eine ge-
schickte Schauspielerin, die sich in eine bestimmte
Rolle hineingelebt hat. Und schließlich hatte ja Mabelle
Sainsbury Seale ihre Laufbahn als Schauspielerin
196
begonnen! Stark beeindruckt war ich von einem Ge-
spräch, das ich mit Mr. Barnes aus Ealing führte – auch
er war an dem betreffenden Tag in der Queen Charlotte
Street zur Behandlung gewesen. Seine Theorie, die er
sehr nachdrücklich vertrat, ging dahin, daß die Morde
an Morley und Amberiotis sozusagen nur Randerschei-
nungen waren, und daß Sie, Mr. Blunt, das beabsich-
tigte Opfer darstellten.«
»Ach, gehen Sie, das ist doch ein bißchen weit herge-
holt!« meinte Alistair Blunt wegwerfend.
»Wirklich, Mr. Blunt? Stimmt es nicht, daß es augen-
blicklich mehrere politische Gruppen gibt, für die es
eine Existenzfrage ist, daß Sie – sagen wir – beseitigt
werden?«
»Ja, das ist schon richtig. Aber was soll das mit der Er-
mordung Morleys zu tun haben?«
»Dieser Fall weist einen bestimmten – wie soll ich
mich ausdrücken – verschwenderischen Zug auf. Die
Kosten spielen keine Rolle – auch Menschenleben spie-
len keine Rolle. Ja, wir stehen hier vor einer Kühnheit
und Rücksichtslosigkeit, die auf ein wahrhaft großes
Verbrechen hindeuten!«
»Sie glauben also nicht, daß sich Morley wegen eines
Irrtums erschossen hat?«
»Ich habe das nie geglaubt – keine Sekunde lang. Nein:
Morley wurde ermordet, Amberiotis wurde ermordet,
die unkenntlich gemachte Frau wurde ermordet. Und
warum? Um eines bestimmten hohen Einsatzes willen.
Barnes neigte zu der Theorie, man habe versucht,
Morley oder seinen Partner zu bestechen, Sie aus dem
Weg zu räumen.«
197
»Unsinn!« sagte Alistair Blunt scharf.
»Ah – ist es wirklich Unsinn? Nehmen wir an, es soll
jemand aus dem Weg geräumt werden. Ja, aber der Be-
treffende ist gewarnt, gewappnet, und man kommt
schwer an ihn heran. Um einen solchen Menschen
umzubringen, muß man es so einrichten, daß man zu
ihm gelangt, ohne seinen Verdacht zu erregen. Wäre
das Sprechzimmer des Zahnarztes dafür nicht der ideale
Ort?«
»Ja, das dürfte stimmen. Von dieser Seite habe ich die
Sache noch nie betrachtet.«
»Sicher stimmt es. Und als mir das aufgegangen war –
da sah ich zum ersten Mal einen Schimmer der Lösung
vor mir.«
»Sie haben sich also die Theorie des Mr. Barnes zu ei-
gen gemacht? Wer ist übrigens dieser Barnes?«
»Barnes war Reillys Zwölf-Uhr-Patient. Er ist pensio-
nierter Beamter des Innenministeriums und wohnt in
Ealing. Ein unauffälliger kleiner Mann. Aber Sie irren
sich, wenn Sie sagen, ich hätte mir seine Theorie zu ei-
gen gemacht. Das habe ich nicht getan. Ich habe mir
nur ihr Prinzip zu eigen gemacht.«
»Was meinen Sie damit?«
»Von Anfang an bin ich immer wieder vom richtigen
Weg abgedrängt worden – manchmal unbeabsichtigt,
manchmal bewußt und zu einem bestimmten Zweck.
Dauernd wurde mir eingeredet, ja aufgezwungen, es
handle sich hier um ein sozusagen öffentliches Ver-
brechen. Das heißt: Sie, Mr. Blunt, standen als öffent-
liche Erscheinung im Brennpunkt der Geschehnisse –
Sie, der Bankier, der Finanzmagnat, der Verfechter der
198
konservativen Ideen! Aber jede Person des öffentlichen
Lebens hat auch ihr Privatleben. Und das war mein
Fehler: Ich vergaß das Privatleben. Es gab private
Gründe für die Ermordung Morleys – Frank Carter be-
saß zum Beispiel solche Gründe. Es konnte auch pri-
vate Gründe dafür geben, Sie zu ermorden, Mr. Blunt.
Sie hatten Angehörige, die bei Ihrem Tod erben wür-
den. Es gab Leute, die Ihnen Liebe oder Haß entgegen-
brachten – und zwar dem Menschen, nicht dem Politi-
ker.
Und so gelangte ich zu dem klassischen Fall dessen,
was ich die ›aufgezwungene Karte‹ nenne: zu dem an-
geblichen Attentat Frank Carters auf Sie. War dieses
Attentat echt, dann handelte es sich wirklich um ein
politisches Verbrechen. Oder gab es eine andere Erklä-
rung dafür? Es konnte sie geben. Im Gebüsch befand
sich noch jemand: der Mann, der herbeieilte und Carter
packte. Ein Mann, der mit Leichtigkeit den Schuß abge-
feuert und dann die Pistole Carter vor die Füße ge-
schleudert haben konnte, so daß dieser sie fast unver-
meidlich aufheben und damit ertappt werden mußte.
Ich dachte über das Problem Howard Raikes nach.
Raikes befand sich an dem kritischen Vormittag in der
Queen Charlotte Street. Raikes ist ein erbitterter Gegner
alles dessen, was Sie, Mr. Blunt, verkörpern und sind.
Ja, aber Raikes ist noch mehr: Er ist der Mann, den Ihre
Nichte wahrscheinlich heiraten wird, und Ihre Nichte
soll bei Ihrem Tod ein beträchtliches Vermögen erben,
wenn Sie auch vorsichtig dafür gesorgt haben, daß sie
das Kapital nicht angreifen kann.
War das Ganze schließlich doch ein privates Verbre-
199
chen – ein Verbrechen um privater Vorteile, um priva-
ter Ziele willen? Warum hatte ich es für ein öffentliches
Verbrechen gehalten? Weil mir dieser Gedanke – nicht
nur einmal, sondern wiederholt – suggeriert und wie
eine Spielkarte, die ich unbedingt ziehen sollte, aufge-
zwungen worden war!
Als mir dieser Einfall gekommen war, sah ich, wie ge-
sagt, zum ersten Mal einen Schimmer der richtigen Lö-
sung. Ich war damals in der Kirche und sang einen
Psalm: ›und stellen mir Fallen an den Weg‹, hieß es
darin.
Eine Falle? Für mich gestellt? Ja, das konnte sein. Aber
dann gab es nur einen einzigen Menschen, der sie ge-
stellt haben konnte. Und das wäre doch widersinnig
gewesen! Oder war es nicht widersinnig? Hatte ich den
Fall bisher aus der verkehrten Perspektive betrachtet?
Geld spielt keine Rolle? Natürlich! Rücksichtslose Op-
ferung von Menschenleben? Jawohl, richtig! Denn der
Einsatz, um den es für den Schuldigen ging, war rie-
sengroß ...
Aber wenn meine neue, sonderbare Theorie stimmte,
dann mußte sie sich nicht nur auf vereinzelte Punkte
anwenden lassen, sondern auf alles. Sie mußte bei-
spielsweise das Geheimnis der gespaltenen Persönlich-
keit von Miss Sainsbury Seale erklären. Sie mußte das
Rätsel des Schnallenschuhs lösen. Und sie mußte die
Frage beantworten: Wo befindet sich Miss Sainsbury
Seale jetzt?
Eh bien – meine Theorie erfüllt alle diese Wünsche,
und noch mehr. Sie zeigte mir, daß Miss Sainsbury
Seale Anfang, Mitte und Ende des ganzen Falles bildet.
200
Kein Wunder, daß ich geglaubt hatte, es gebe zwei
Mabelle Sainsbury Seales. Es gab tatsächlich zwei
solche Frauen. Die eine war die liebe, gute, dumme
Person, für die ihre Freunde so warm eintraten. Und die
andere war die Frau, die in zwei Mordfälle verwickelt
war, Lügen erzählte und auf geheimnisvolle Weise ver-
schwand. Denken Sie daran: Der Portier der King Leo-
pold Mansions hat ausgesagt, Miss Sainsbury Seale sei
vorher schon einmal dagewesen...
In meiner Rekonstruktion des Falles wurde dieses erste
Mal zum einzigen Mal. Sie hat die King Leopold
Mansions nicht wieder verlassen. Ihre Rolle wurde von
der andern Miss Sainsbury Seale weitergespielt. Diese
andere Mabelle Sainsbury Seale zog sich entsprechende
Kleider an, trug ein neues Paar Schnallenschuhe, weil
die anderen ihr zu groß waren, ging zu einer belebten
Tageszeit in das Hotel am Russell Square, packte die
Sachen der Toten, bezahlte die Rechnung und zog ins
Glengowrie Hotel. Denken Sie daran, daß niemand von
den Bekannten der echten Sainsbury Seale sie von da
an gesehen hat. Dort spielte sie die Rolle Mabelle
Sainsbury Seales über eine Woche lang. Sie trug
Mabelle Sainsbury Seales Kleider, sprach mit deren
Organ, aber sie mußte sich auch ein kleineres Paar
Schuhe kaufen. Und dann verschwand sie: Zum letzten-
mal wurde sie gesehen, als sie am Abend von Morleys
Todestag wiederum die King Leopold Mansions auf-
suchte.«
»Wollen Sie behaupten«, fragte Alistair Blunt, »daß die
Leiche in der Pelztruhe schließlich doch Mabelle
Sainsbury Seale war?«
201
»Natürlich war sie es! Es handelte sich um einen sehr
geschickten doppelten Bluff: Das verstümmelte Gesicht
sollte Zweifel an ihrer Identität wecken!«
»Aber das Gebiß?«
»Ah! Darauf kommen wir jetzt. Es war nicht ihr Zahn-
arzt persönlich, der über das Gebiß ausgesagt hat.
Morley war tot und konnte über seine Arbeit keine
Auskunft mehr geben. Er hätte bestimmt gewußt, wer
die Leiche war. Statt dessen wurden die Karteikarten
vorgelegt – und die Karten waren gefälscht. Bedenken
Sie: Beide Frauen waren Morleys Patientinnen. Es
brauchte nichts weiter zu geschehen, als daß ihre Na-
men auf den Karten ausgetauscht wurden.«
Hercule Poirot fügte hinzu: »Und jetzt verstehen Sie
auch, warum ich auf Ihre Frage, ob die Frau tot sei, ge-
antwortet habe: ›Das kommt darauf an, wie Sie die Sa-
che betrachten.‹ Denn wenn Sie von Miss Sainsbury
Seale sprechen – wen meinen Sie dann? Die Frau, die
aus dem Glengowrie Court Hotel verschwand oder die
richtige Mabelle Sainsbury Seale?«
»M. Poirot«, sagte Alistair Blunt, »ich weiß, daß Sie
großes Ansehen genießen. Deshalb finde ich mich da-
mit ab, daß Sie wahrscheinlich Ihre Gründe für diese
außergewöhnliche Annahme haben – denn es ist eine
Annahme, nicht mehr. Aber soweit ich sehe, ist die
ganze Geschichte von einer geradezu phantastischen
Unwahrscheinlichkeit. Sie behaupten, Mabelle Sains-
bury Seale sei mit Vorbedacht ermordet worden, und
auch Morley habe man getötet, um eine Identifizierung
der Leiche durch ihn zu verhindern. Aber was ich gern
wissen möchte, ist – warum? Warum soll ein derartig
202
verwickelter Plan in Szene gesetzt worden sein, um
eine vollkommen harmlose Frauensperson in mittleren
Jahren zu beseitigen, die eine Menge Bekannte und
anscheinend keinen einzigen Feind besaß?«
»Warum? Ja – das ist die Frage. Warum? Wie Sie sehr
richtig sagen: Mabelle Sainsbury Seale war ein voll-
kommen harmloses Geschöpf, das keiner Fliege etwas
zuleide getan hätte! Warum also hat man sie mit Vor-
bedacht brutal ermordet? Nun, ich will Ihnen sagen,
was ich glaube.«
»Ja?«
Hercule Poirot beugte sich vor.
»Ich glaube, daß Mabelle Sainsbury Seale ermordet
worden ist, weil sie ein zu gutes Gedächtnis für Phy-
siognomien hatte.«
»Wie meinen Sie das?«
Poirot war jetzt ganz ruhig und sachlich: »Wir haben
die beiden Persönlichkeiten voneinander geschieden:
die harmlose Dame aus Indien und die geschickte
Schauspielerin, die die Rolle der harmlosen Dame aus
Indien spielte. Aber einen Vorfall gab es, der zwischen
den beiden Erscheinungsformen lag. Welche Miss
Sainsbury Seale war es, die Sie, Mr. Blunt, vor Morleys
Haustür ansprach? Sie werden sich erinnern, daß sie
behauptete, ›sehr befreundet mit Ihrer Frau‹ gewesen zu
sein. Nach der Ansicht ihrer Bekannten und im Lichte
der allgemeinen Umstände kann diese Behauptung
nicht gestimmt haben. Deshalb durften wir den Schluß
ziehen: ›Das war eine Lüge – die echte Sainsbury Seale
lügt nicht, also handelte es sich um eine Betrügerin, die
einen bestimmten Zweck verfolgte.‹«
203
Alistair Blunt nickte.
»Ja, diese Überlegung ist durchaus klar. Obwohl ich nie
erfahren habe, welchen Zweck sie eigentlich verfolgt
hat.«
»Pardon«, fuhr Poirot fort, »erst wollen wir die Sache
von der anderen Seite betrachten. Es war die echte
Sainsbury Seale. Diese lügt nicht. Also muß ihre Be-
hauptung stimmen.«
»Natürlich läßt es sich auch so betrachten – aber es ist
doch höchst unwahrscheinlich...«
»Freilich ist es unwahrscheinlich! Aber wenn wir un-
sere zweite Hypothese als Tatsache unterstellen, dann
stimmt die Behauptung! Demnach hat Miss Sainsbury
Seale Ihre Frau wirklich gekannt. Sie war sogar be-
freundet mit ihr. Also muß Ihre Frau jemand gewesen
sein, den Miss Sainsbury Seale gut gekannt haben
konnte. Ein Mensch aus der gleichen Lebenssphäre wie
sie. Eine Engländerin in Indien, eine Missionarin oder –
um noch weiter zurückzugreifen – vielleicht... eine
Schauspielerin. Jedenfalls nicht Rebecca Arnholt!
Verstehen Sie jetzt, Mr. Blunt, woran ich dachte, als ich
von einem öffentlichen und einem privaten Leben
sprach? Sie sind ein bekannter Großbankier. Aber Sie
sind auch ein Mann, der eine reiche Frau geheiratet hat.
Und bevor Sie diese heirateten, waren Sie bloß jüngerer
Teilhaber in einer Firma, einige Zeit nach Beendigung
Ihrer Studien in Oxford.
Sie begreifen: Ich begann den Fall aus der richtigen
Perspektive zu betrachten. Kosten spielen keine Rolle?
Natürlich nicht – für Sie. Rücksichtslose Opferung von
Menschenleben? Auch das macht Ihnen nichts aus,
204
denn Sie sind praktisch seit langer Zeit ein Diktator –
und für einen Diktator wird sein eigenes Leben über-
trieben wichtig und das der anderen immer unwich-
tiger.«
»Was wollen Sie damit sagen, Monsieur Poirot...?«
fragte Blunt leise.
»Ich will damit sagen, Mr. Blunt, daß Sie, als Sie die
Ehe mit Rebecca Arnholt schlossen, bereits verheiratet
waren. Daß Sie – geblendet durch die Hoffnung weni-
ger auf Reichtum als auf Macht – Ihre erste Ehe ver-
schwiegen und mit Vorbedacht Bigamie getrieben ha-
ben. Und daß Ihre richtige Frau sich mit dieser Situa-
tion abgefunden hat.«
»Und wer soll diese richtige Frau gewesen sein?«
»Als Mrs. Albert Chapman war sie in den King Leo-
pold Mansions bekannt – ein bequemer Ort übrigens,
zu Fuß keine fünf Minuten von Ihrem Haus am Chelsea
Embankment entfernt. Sie entliehen für sie den Namen
eines wirklich existierenden Geheimagenten, weil Sie
wußten, daß das die Glaubwürdigkeit der Andeutungen
über den ständig abwesenden Gatten erhöhen würde.
Ihrer Komödie war ein voller Erfolg beschieden.
Niemand schöpfte den geringsten Verdacht. Trotzdem
blieb die Tatsache bestehen, daß Ihre Ehe mit Rebecca
Arnholt gesetzlich ungültig war und daß Sie sich des
Verbrechens der Bigamie schuldig gemacht hatten. An
eine Gefahr haben Sie nach so vielen Jahren nicht
gedacht. Sie kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel –
in Gestalt einer lästigen Frauensperson, die Sie nach
fast zwanzig Jahren als Gatten ihrer Freundin erkannte.
Der Zufall hatte sie nach England zurückgeführt, der
205
Zufall führte sie in der Queen Charlotte Street mit
Ihnen zusammen – und der Zufall wollte es, daß Ihre
Nichte dabei war und hörte, was sie zu Ihnen sprach.
Sonst hätte ich es wahrscheinlich nie erraten.«
»Ich habe Ihnen selbst davon erzählt, mein lieber
Poirot.«
»Nein, es war Ihre Nichte, die darauf bestand, daß ich
es erfahren sollte – und da konnten Sie, um keinen
Verdacht zu erregen, nicht gut protestieren. Und nach
diesem Zufallstreffen passierte noch ein weiteres Mal-
heur – von Ihrem Standpunkt aus betrachtet. Mabelle
Sainsbury Seale traf Amberiotis, ging mit ihm essen
und erzählte ihm von dieser Begegnung mit dem Mann
einer Freundin: ›Denken Sie nur, nach all den Jahren!
Hat natürlich älter ausgesehen, aber sonst kaum
verändert!‹ Ich gebe zu, daß das meinerseits bloßes
Rätselraten ist – aber so ungefähr muß es sich ab-
gespielt haben. Ich glaube nicht, daß Mabelle Sainsbury
auch nur eine blasse Ahnung gehabt hat, daß es sich bei
diesem Mr. Blunt, den ihre Freundin geheiratet hatte,
um den großen internationalen Finanzgewaltigen
handelte. Der Name ist schließlich nicht ungewöhnlich.
Aber Amberiotis, müssen Sie bedenken, war nicht nur
Geheimagent, sondern auch Erpresser – und Erpresser
besitzen einen unheimlichen Riecher für Geheimnisse.
Amberiotis überlegte. Er beschloß festzustellen, um
welchen Blunt es sich handelte. Und dann – ich zweifle
nicht daran – hat er Ihnen geschrieben – oder telefo-
niert. Ah – gewiß! Für Amberiotis war das eine Gold-
grube!«
Nach einer Pause fuhr Poirot fort: »Es gibt nur eine
206
einzige wirksame Methode, um mit einem tüchtigen
und erfahrenen Erpresser fertig zu werden: Man muß
ihn zum Schweigen bringen. Das Leitmotiv des Falles
lautete also nicht – wie ich zunächst irrtümlich ange-
nommen hatte –, ›Blunt muß verschwinden.‹ Es lautete
im Gegenteil: ›Amberiotis muß verschwinden.‹ Aber
die Antwort war die gleiche. Am leichtesten kommt
man an ein Opfer heran, wenn es nicht auf der Hut ist.
Und wo ist man weniger auf der Hut als im Behand-
lungsstuhl beim Zahnarzt.«
Wiederum machte Poirot eine Pause.
Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen, als er
sagte: »Die Wahrheit über den Fall wurde schon früh-
zeitig erwähnt. Alfred, der Boy, las einen Kriminal-
roman, der ›Mord Viertel vor zwölf‹ hieß. Wir hätten
den Titel als einen Wink des Himmels nehmen sollen.
Denn das war natürlich ungefähr der Zeitpunkt, an dem
Morley umgebracht wurde. Sie, Mr. Blunt, erschossen
ihn, als Sie fortgingen. Dann drückten Sie auf den
Klingelknopf, ließen Wasser ins Waschbecken laufen
und verließen das Sprechzimmer. Sie richteten es so
ein, daß Sie die Treppe gerade hinunterkamen, als
Alfred die falsche Mabelle Sainsbury Seale zum Auf-
zug brachte. Sie öffneten die Haustür, vielleicht traten
Sie sogar zum Schein einen Augenblick hinaus, aber als
sich die Aufzugstüren geschlossen hatten und der Lift
nach oben fuhr, schlüpften Sie wieder hinein und rann-
ten die Treppe hinauf. Von meinen eigenen Besuchen
her weiß ich, wie Alfred sich zu verhalten pflegte,
wenn er einen Patienten ins Sprechzimmer führte. Er
klopfte an die Tür, machte sie auf und trat zurück, um
207
den Patienten eintreten zu lassen. Aus dem Sprech-
zimmer hörte man Wasser rauschen – Schlußfolgerung:
Morley wusch sich, wie üblich, die Hände. Aber sehen
konnte Alfred ihn nicht.
Kaum war Alfred wieder im Lift hinuntergefahren,
schlüpften Sie ins Sprechzimmer. Zusammen mit Ihrer
Komplizin hoben Sie die Leiche auf und trugen sie ne-
benan ins Büro. Dann ein rasches Blättern in den Pa-
pieren: Die Karteikarten von Mrs. Chapman und Miss
Sainsbury Seale wurden vertauscht. Sie zogen einen
weißen Kittel an; vielleicht hat Ihre Frau Sie etwas
zurechtgeschminkt. Eine eigentliche Maske zu machen
war unnötig, denn es war ja Amberiotis' erster Besuch
bei Morley. Er hatte Sie nie gesehen. Und Ihr Bild er-
scheint nur selten in der Zeitung. Außerdem – warum
sollte er Verdacht schöpfen? Vor dem Zahnarzt hat ein
Erpresser keine Angst. Miss Sainsbury Seale geht hin-
unter und wird von Alfred hinausgelassen. Die Klingel
ertönt, und Amberiotis wird ins Sprechzimmer ge-
bracht. Er trifft den Zahnarzt an, der sich in gewohnter
Weise die Hände wäscht. Er wird zum Stuhl geführt
und bezeichnet Ihnen den schmerzenden Zahn. Sie re-
den das übliche Zeug, sagen ihm, es sei das beste, das
Zahnfleisch zu vereisen. Sie nehmen das Procain und
Adrenalin zur Hand, spritzen ihm eine tödliche Dosis
ein. Außerdem wird er dank der lokalen Betäubung
kaum merken, daß Sie kein geübter Zahnarzt sind!
Amberiotis verläßt Sie, ohne Verdacht geschöpft zu
haben. Sie schaffen Morleys Leiche aus dem Büro ins
Sprechzimmer und legen sie hier auf den Fußboden. Da
Sie diesmal allein arbeiten müssen, lassen Sie sie etwas
208
über den Teppich schleifen. Sie wischen die Pistole ab
und drücken sie Morley in die Hand. Sie wischen die
Türklinken ab, damit Ihre Fingerabdrücke nicht als die
obersten erscheinen. Die Instrumente, die Sie benützt
haben, liegen schon alle im Sterilisierapparat. Sie ver-
lassen das Sprechzimmer, gehen die Treppe hinunter
und schlüpfen im geeigneten Moment aus dem Haus.
Das ist für Sie der einzige gefährliche Augenblick.
Alles hätte so wunderbar laufen können! Zwei Men-
schen, die Ihre Sicherheit bedroht hatten, waren tot.
Noch ein dritter Mensch war tot – aber das war von
Ihrem Standpunkt aus unvermeidlich gewesen. Und
alles war so leicht zu erklären. Morleys Selbstmord er-
klärte sich durch den Irrtum, den er im Fall Amberiotis
begangen hatte. Sein Tod und der von Amberiotis he-
ben sich gegenseitig auf. Nur ein bedauerlicher Un-
glücksfall.
Aber zu Ihrem Pech ist Hercule Poirot auf der Szene.
Poirot hat Zweifel, Poirot erhebt Einwände. Es geht
nicht alles so glatt, wie Sie gehofft hatten. Sie müssen
also eine zweite Verteidigungslinie errichten. Es muß
für den Notfall ein Sündenbock vorhanden sein. Über
Morleys Haushalt haben Sie schon genaue Erkundi-
gungen eingezogen. Da ist dieser Frank Carter – der
wird genügen. Ihre Komplizin sorgt dafür, daß er auf
geheimnisvolle Weise als Gärtner angestellt wird.
Wenn er später etwa eine derartig lächerliche Geschich-
te erzählen sollte, wird ihm niemand Glauben schen-
ken. Irgendwann wird die Leiche in der Pelztruhe ans
Licht kommen. Zuerst wird man sie für die von Miss
Sainsbury Seale halten, dann aber wird die Identifi-
209
zierung des Gebisses erfolgen. Große Sensation! Auf
den ersten Blick erscheint das als unnötige Komplika-
tion, aber es war notwendig. Sie wünschen nicht, daß
die ganze englische Polizei nach einer verschwundenen
Mrs. Albert Chapman fahndet. Nein, Mrs. Chapman
soll ruhig tot bleiben, und Miss Sainsbury Seale soll
diejenige sein, nach der gefahndet wird – denn die kann
die Polizei nie finden. Außerdem werden Sie auf Grund
Ihres großen Einflusses nach und nach erreichen
können, daß man den Fall einschlafen läßt.
Es war für Sie dringend notwendig, ständig auf dem
laufenden zu sein über das, was ich unternahm. Deshalb
ließen Sie mich zu sich kommen und beauftragten mich
mit der Suche nach der Verschwundenen. Und Sie
fuhren fort, mir ständig wieder eine bestimmte ›Spiel-
karte aufzuzwingen.‹ Ihre Komplizin rief mich an, um
mich auf dramatische Weise vor der Übernahme des
Auftrags zu warnen. Mir sollte suggeriert werden, es
handle sich um Politik, Spionage, was weiß ich –
jedenfalls um nichts Persönliches oder Privates. Ihre
Gattin ist eine glänzende Schauspielerin, aber wenn
man die eigene Stimme verstellt, so neigt man unwill-
kürlich dazu, eine Fremde nachzuahmen. Ihre Gattin
ahmte die Stimme von Mrs. Olivera nach. Das hat mir –
ich gestehe es offen – viel Kopfzerbrechen verursacht.
Dann luden Sie mich nach Exsham ein – der Schlußakt
wurde aufgeführt. Wie einfach, in den Lorbeerbüschen
eine geladene Pistole derart zu befestigen, daß sie los-
geht, wenn die Büsche gestutzt werden! Die Pistole
fällt dem Mann vor die Füße. Verblüfft hebt er sie auf.
Was verlangen Sie mehr! Man hat ihn auf frischer Tat
210
ertappt – im Besitz einer Pistole, die der Mordwaffe im
Fall Morley gleicht wie ein Ei dem anderen, und zur
Begründung seiner Anwesenheit vermag er nur ein
lächerliches Märchen vorzubringen. Das war die Falle,
in die Hercule Poirot tappen sollte.«
Alistair Blunt bewegte sich in seinem Sessel. Sein Ge-
sicht war ernst und etwas traurig.
Er sagte: »Mißverstehen Sie mich nicht, Poirot. Wieviel
von alledem ist bloße Vermutung? Und wieviel wissen
Sie wirklich?«
Poirot erwiderte: »Ich besitze – ausgestellt von einem
Standesamt in der Nähe von Oxford – die Abschrift
eines Trauscheins von Martin Alistair Blunt und Gerda
Grant. Frank Carter hat gesehen, wie kurz nach zwölf
Uhr fünfundzwanzig zwei Männer Morleys Sprechzim-
mer verließen. Der erste war ein dicker Mann:
Amberiotis. Der zweite waren natürlich Sie. Frank
Carter hat Sie nicht erkannt. Er hat Sie nur von oben
gesehen.«
»Anständig von Ihnen, M. Poirot, daß Sie mir das sa-
gen!«
»Carter ging ins Sprechzimmer und fand Morleys Lei-
che. Sie war schon erkaltet, und das Blut an der Schuß-
wunde war schon trocken. Das bedeutete, daß Morley
bereits einige Zeit tot war. Deshalb konnte der Zahn-
arzt, der Amberiotis behandelt hatte, nicht Morley,
sondern nur dessen Mörder gewesen sein.«
»Noch etwas?«
»Ja. Helen Montressor ist heute nachmittag verhaftet
worden.«
Alistair Blunt zuckte zusammen. Dann saß er ganz still.
211
»Das – dürfte wohl entscheidend sein!« flüsterte er.
»Jawohl. Die echte Helen Montressor, Ihre entfernte
Cousine, starb vor sieben Jahren in Kanada. Das hatten
Sie verschwiegen und sich zunutze gemacht.«
Ein Lächeln trat auf Alistair Blunts Lippen. Er begann
zu erzählen, zwanglos und mit einem fast jungenhaften
Vergnügen.
»Das Ganze hat Gerda riesigen Spaß gemacht,
verstehen Sie. Ich möchte gern, daß Sie das begreifen.
Sie sind ein gescheiter Kerl. Ich hatte sie geheiratet,
ohne meiner Familie etwas zu sagen. Sie spielte damals
mit einer Theatergruppe in der Provinz. Meine Familie
war ziemlich spießig, und ich sollte in die Firma eintre-
ten. Gerda und ich beschlossen, unsere Ehe geheimzu-
halten. Sie fuhr fort, Theater zu spielen. Mabelle Sains-
bury Seale war ebenfalls bei der Gruppe. Sie wußte von
uns beiden. Dann ging sie auf eine Auslandstournee.
Gerda hörte ein paarmal aus Indien von ihr. Dann
kamen keine Briefe mehr. Mabelle hatte sich mit
irgendeinem Hindu eingelassen. Sie war immer eine
törichte, leichtgläubige Person gewesen.
Ich wünschte, ich könnte Ihnen begreiflich machen, wie
es war, als ich Rebecca kennenlernte und sie heiratete.
Gerda verstand es vollkommen. Ich kann es nur so aus-
drücken: Ich hatte das Glück, eine Königin zu heiraten,
und spielte die Rolle des Prinzgemahls oder sogar des
Königs. Meine Ehe mit Gerda betrachtete ich als
morganatisch. Ich liebte sie. Ich wollte sie nicht ver-
lieren. Und das Ganze funktionierte großartig. Ich
mochte Rebecca wirklich sehr gern. Sie besaß einen
hervorragenden Finanzverstand, und der meinige war
212
dem ihren ebenbürtig. Wir haben glänzend zusam-
mengearbeitet. Es war unerhört aufregend. Sie war eine
ausgezeichnete Gefährtin, und ich glaube, daß ich sie
glücklich gemacht habe. Als sie starb, empfand ich
aufrichtig Trauer. Das Sonderbare war, daß Gerda und
ich an unseren geheimen Begegnungen immer mehr
Gefallen fanden. Wir hatten alle möglichen schlauen
Kombinationen. Sie war die geborene Schauspielerin
und verfügte über ein Repertoire von sieben oder acht
Charaktergestalten – Mrs. Chapman war nur eine
davon. In Paris spielte sie eine amerikanische Witwe.
Dort traf ich sie, wenn ich geschäftlich nach Frankreich
fuhr. Dann wieder fuhr sie als Malerin nach Norwegen,
wo ich zu fischen pflegte. Und später ließ ich sie als
meine Cousine Helen Montressor auftreten. Die ganze
Geschichte hat uns einen Riesenspaß gemacht, und
wahrscheinlich haben wir damit auch unsere Liebe jung
erhalten. Nach Rebeccas Tod hätten wir ja offiziell
heiraten können – aber wir wollten nicht. Gerda wäre es
schwergefallen, mein bürgerliches Leben mitzuleben,
und natürlich hätte auch die Vergangenheit in irgend-
einer Weise ans Licht kommen können. Aber der wirk-
liche Grund dafür, daß wir unser bisheriges Leben mehr
oder weniger unverändert fortsetzten, war der, daß wir
unsere Komödie nicht mehr missen wollten. Ein nach
außen hin gemeinsames Leben hätten wir unerträglich
langweilig gefunden.«
Blunt schwieg. Seine Stimme klang bitter und hart, als
er fortfuhr.
»Und dann hat dieses närrische Frauenzimmer alles
verdorben. Mich wiederzuerkennen – nach all den lan-
213
gen Jahren! Und natürlich hat sie es Amberiotis erzählt.
Sie sehen ein – Sie müssen einsehen -, daß etwas
geschehen mußte! Es ging nicht nur um meine Person –
um mein egoistisches Interesse. Wenn ich ruiniert und
geächtet wurde, bedeutete das auch einen schweren
Schlag für das Land – für England. Denn ich habe
einiges für England getan, M. Poirot. Geld als solches
ist mir eigentlich gleichgültig. Dagegen liebe ich die
Macht: Ich liebe es zu herrschen – allerdings ohne zu
tyrannisieren. Wir sind demokratisch in England –
wirklich demokratisch. Wir dürfen murren, wir dürfen
unsere Meinungen äußern und über unsere Staatsmän-
ner lachen. Wir sind frei. An alledem hänge ich – es ist
mein Lebenswerk gewesen. Aber wenn ich gehen
müßte – nun, Sie können sich vorstellen, was dann
geschehen würde. Ich werde gebraucht, M. Poirot. Und
ein verdammter, betrügerischer, erpresserischer Gauner
von einem Griechen war im Begriff, mein Lebenswerk
zu zerstören! Etwas mußte geschehen – auch Gerda hat
das verstanden. Die Sainsbury Seale hat uns leid getan
– aber es nützte nichts: Wir mußten sie zum Schweigen
bringen. Wir konnten uns nicht darauf verlassen, daß
sie den Mund halten würde. Gerda suchte sie auf, lud
sie zum Tee ein, sagte ihr, sie wohne vorübergehend in
Mrs. Chapmans Apartment. Mabelle Sainsbury Seale
kam, ohne den geringsten Verdacht zu schöpfen. Sie
hat nichts gespürt: Im Tee war Medinal, das ist ganz
schmerzlos. Man schläft einfach ein und wacht nicht
wieder auf. Das Gesicht haben wir erst hinterher
verstümmelt – es war gräßlich, aber wir hielten es für
notwendig. Mrs. Chapman mußte endgültig vom
214
Schauplatz verschwinden. Ich hatte ›meiner Cousine
Helen‹ ein Häuschen auf meinem Besitz in Exsham
zum Wohnen überlassen. Wir hatten die Absicht, nach
einer gewissen Zeit nun doch offiziell zu heiraten. Aber
erst mußten wir Amberiotis aus dem Weg räumen. Es
ging glänzend. Er hat überhaupt nicht gemerkt, daß ich
kein richtiger Zahnarzt war. Die Spritze habe ich tadel-
los gehandhabt. Den Bohrer habe ich allerdings nicht
riskiert. Aber nach der Injektion konnte er natürlich
auch nicht mehr genau fühlen, was ich mit seinen
Zähnen anstellte.«
Poirot fragte: »Wie war das mit den Pistolen?«
»Die gehörten ursprünglich einem Sekretär von mir,
den ich einmal in Amerika beschäftigt habe. Sie waren
irgendwo im Ausland gekauft. Er hat sie bei mir ver-
gessen, als er fortging.«
Eine Pause entstand. Dann fragte Blunt: »Möchten Sie
sonst noch etwas wissen?«
»Und Morley?« sagte Poirot leise.
»Es hat mir leid getan um Morley«, erwiderte Blunt.
Hercule Poirot sagte: »Aha – ich verstehe...«
Nach langem Schweigen fragte Blunt: »Nun, M. Poirot,
was wird jetzt geschehen?«
Poirot antwortete: »Helen Montressor ist bereits verhaf-
tet.«
»Und nun bin ich dran?«
»Ja, das habe ich gemeint.«
Blunt fragte leise: »Sie haben nicht viel Freude daran –
oder?«
»Nein, ich bin gar nicht erfreut.«
Alistair Blunt sagte: »Ich habe drei Menschen getötet.
215
Ich müßte also vermutlich gehängt werden. Aber Sie
haben meine Verteidigung gehört.«
»Worin besteht Ihre Verteidigung?«
»Ich bin nach bestem Wissen und Gewissen der festen
Überzeugung, daß ich dringend gebraucht werde, um
unserem Land Frieden und Wohlstand zu erhalten.«
»Von Ihrem Standpunkt aus mögen Sie vielleicht recht
haben«, gab Poirot zu.
»Also, was geschieht?«
»Sie meinen, ich soll den Fall – aufgeben?«
»Jawohl.«
»Und Ihre Frau?«
»Ich habe ziemlichen Einfluß. Man könnte es auf eine
Personenverwechslung hinauslaufen lassen.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Dann«, erwiderte Blunt ruhig, »bin ich erledigt.« Has-
tig fuhr er fort: »Sie haben es in der Hand, Poirot. Aber
ich wiederhole – und ich sage das nicht nur, um mich
zu retten: Die Welt braucht mich. Und wissen Sie,
warum? Weil ich ein ehrlicher Mensch bin. Und weil
ich gesunden Menschenverstand habe – und keine
selbstsüchtigen Ziele verfolge.«
Poirot nickte. Seltsamerweise glaubte er Blunt aufs
Wort.
»Ja, das ist die eine Seite der Angelegenheit. Sie sind
der richtige Mann auf dem richtigen Platz. Aber es gibt
eben noch die andere Seite: drei Menschen, deren Tod
Sie verschuldet haben.«
»Ja, aber überlegen Sie sich einmal: was für Menschen!
Mabelle Sainsbury Seale – von der haben Sie selbst ge-
sagt: ›Eine Frau mit dem Verstand einer Henne!‹
216
Amberiotis – ein Schwindler und Erpresser!«
»Und Morley?«
»Ich habe Ihnen schon gesagt: Um Morley tut es mir
leid. Das war ein anständiger Kerl und ein guter Zahn-
arzt – aber schließlich gibt es noch andere Zahnärzte.«
»Ja«, nickte Poirot, »es gibt noch andere Zahnärzte.
Und Frank Carter? Den hätten Sie gleichfalls ohne Be-
denken sterben lassen?«
»Mit dem habe ich kein Mitleid. Der taugt nichts. Ein
ganz unnützer Geselle!« erwiderte Alistair Blunt.
»Aber auch ein Mensch...«
»Nun ja, Menschen sind wir schließlich alle...«
»Eben, wir alle sind Menschen – das scheinen Sie zu
vergessen. Sie sagen, Mabelle Sainsbury Seale sei ein
törichter Mensch gewesen, Amberiotis ein gemeiner
Mensch, Frank Carter ein unnützer Mensch und Morley
– nun, Morley nur ein Zahnarzt, und Zahnärzte gebe es
in Hülle und Fülle. Das ist der Punkt, an dem unsere
Auffassungen sich trennen. Für mich ist das Leben
dieser Menschen ebenso wichtig wie Ihr Leben.«
»Da irren Sie sich!«
»Nein, ich irre mich nicht. Einen einzigen Schritt irrten
Sie vom Weg ab – und äußerlich hat das an Ihnen
nichts verändert. Nach außen hin sind Sie der gleiche
geblieben: aufrecht, verläßlich, ehrenwert. Aber in
Ihrem Innern schwoll das Bedürfnis nach Macht zu
überwältigender Größe. So haben Sie vier Menschen-
leben geopfert und sich nichts dabei gedacht.«
»Ist Ihnen denn nicht klar, Poirot, daß die Sicherheit
und der Wohlstand der ganzen Nation von mir ab-
hängt?«
217
»Ich kümmere mich nicht um Nationen, Monsieur. Ich
kümmere mich um das Leben einzelner Menschen, die
ein Recht darauf haben, daß ihnen dieses Leben nicht
mit Gewalt genommen wird.«
Er stand auf.
»Das also ist Ihre Antwort«, flüsterte Alistair Blunt.
Hercule Poirot erwiderte mit müder Stimme: »Ja – das
ist meine Antwort...«
Er ging zur Tür und öffnete sie. Zwei Männer betraten
das Zimmer.
Poirot stieg die Treppe hinunter. Im Erdgeschoß warte-
te ein Mädchen. Jane Olivera lehnte blaß und abge-
spannt am Kamin, neben ihr stand Howard Raikes.
Sie fragte: »Nun?«
Behutsam sagte Poirot: »Es ist alles vorbei.«
Raikes knurrte: »Was meinen Sie damit?«
»Alistair Blunt ist unter Mordanklage verhaftet wor-
den.«
Raikes warf ein: »Ich dachte, er würde sich bei Ihnen
mit einem Scheck loskaufen.«
»Nein, das habe ich nie gedacht«, versicherte Jane.
Poirot sagte seufzend: »Die Welt gehört euch. Der neue
Himmel und die neue Erde. In eurer neuen Welt laßt
Freiheit sein und Mitleid. Das ist alles, was ich von
euch will.«
Hercule Poirot ging durch die verlassenen Straßen zu
Fuß nach Hause. Eine unauffällige Gestalt schloß sich
ihm an.
»Nun?« fragte Mr. Barnes.
Hercule Poirot zuckte die Achseln und machte eine
Gebärde des Bedauerns.
218
Barnes fragte: »Wie hat er sich verteidigt?«
»Er hat alles zugegeben und nur eingewandt, daß seine
Handlungsweise gerechtfertigt gewesen sei. Er sagt,
sein Land brauche ihn.«
»Das stimmt«, meinte Mr. Barnes. Nach ein paar
Augenblicken setzte er hinzu: »Glauben Sie nicht?«
»Doch, das glaube ich.«
»Also – dann...«
»Vielleicht irren wir uns«, sagte Hercule Poirot.
»Daran habe ich nie gedacht«, erwiderte Mr. Barnes.
»Ja, vielleicht irren wir uns.«
Sie gingen schweigend ein Stück weiter. Dann erkun-
digte sich Barnes neugierig: »Worüber denken Sie
nach?«
Hercule Poirot zitierte aus der Bibel: »Weil du nun des
Herrn Wort verworfen hast, hat er dich auch verworfen,
daß du nicht König seist.«
»Hm – ich verstehe«, murmelte Mr. Barnes. »Saul – die
Amalekiter. Ja, so könnte man es deuten.«
Sie gingen wieder weiter. Plötzlich sagte Mr. Barnes:
»Ich steige hier in die Untergrundbahn. Gute Nacht,
Poirot.«
Unschlüssig blieb er stehen. Dann sagte er verlegen:
»Wissen Sie, ich wollte Ihnen schon immer etwas sa-
gen.«
»Ja, mon ami?«
»Ich habe das Gefühl, daß es meine Pflicht ist. Habe
Sie unabsichtlich irregeführt. Handelt sich um Albert
Chapman. Q. X. 912.«
»Ja?«
»Ich bin Albert Chapman. Das ist einer der Gründe,
219
weshalb ich an dem Fall so interessiert war. Verstehen
Sie: Ich wußte, daß ich nie verheiratet war.«
Er eilte kichernd davon.
Poirot stand unbeweglich da. Dann seufzte er tief und
wandte sich heimwärts.
220
Agatha Christie
Agatha Mary Clarissa Miller,
geboren am 15. September
1890 in Torquay, Devonshire,
sollte nach dem Wunsch der
Mutter Sängerin werden.
1914 heiratete sie Colonel
Archibald Christie und arbei-
tete während des Krieges als
Schwester in einem Lazarett.
Hier entstand ihr erster Kri-
minalroman Das fehlende
Glied in der Kette, Eine be-
trächtliche Menge Arsen war
aus dem Giftschrank ver-
schwunden – und die junge Agatha spann den Fall aus. Sie fand
das unverwechselbare Christie-Krimi-Ambiente.
Gleich in ihrem ersten Werk taucht auch der belgische Detektiv
mit den berühmten »kleinen grauen Zellen« auf: Hercule Poirot,
der ebenso unsterblich werden sollte wie sein weibliches Pen-
dant, die reizend altjüngferliche, jedoch scharf kombinierende
Miss Marple (Mord im Pfarrhaus).
Im Lauf ihres Lebens schrieb die »Queen of Crime« 67 Kriminal-
romane, unzählige Kurzgeschichten, 7 Theaterstücke (darunter
Die Mausefalle) und ihre Autobiographie.
1956 wurde Agatha Christie mit dem »Order of the British Em-
pire« ausgezeichnet und damit zur »Dame Agatha«. Sie starb am
12. Januar 1976 in Wallingford bei Oxford.
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