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Leseprobe - Was Heisst Hier Deutsch

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Unverkäufliche Leseprobe

Wolfgang Krischke
Was heißt hier Deutsch?
Kleine Geschichte der deutschen Sprache

303 Seiten, Paperback


ISBN: 978-3-406-59288-1

© Verlag C.H.Beck oHG, München


1. Was heißt hier «Deutsch»?

Prolog im schweigenden Wald

Der Mund öffnet sich. Die Worte, die zwischen Zahnstümpfen her-
vorkommen, klingen vertraut und zugleich fremd, wie ein abgele-
gener Dialekt:
Uuanan quemet ir, bruoder?
Eine abgehärmte Gestalt ist es, die uns «Bruder» nennt und wis-
sen möchte, woher wir kommen. Der verschlissene Umhang aus
Wolle hat die Farbe des schlammigen Waldwegs, auf dem wir uns
gegenüberstehen.
Was antwortet man so jemandem? Dass man ihn nur mit Mühe
versteht, weil man aus einer Zeit kommt, die mehr als tausend Jahre
in der Zukunft liegt? In der die Wörter seiner Sprache nur noch als
ferne Echos existieren?
Unser Wanderer runzelt die Stirn, er macht einen Schritt zurück.
Wie soll er unser Schweigen deuten, mitten im schweigenden Wald?
Wollen wir ihn berauben? Sind wir ein böser Geist? Misstrauen,
Furcht und eine Spur von Zorn malen sich auf seinem Gesicht ab.
Gepresst fragt er noch einmal – und jetzt duzt er uns – nach dem
Wer und Woher:
Uuer pistu? Uuana kimmst du?
Wir gehen einen Schritt auf ihn zu, sagen Bruoder zu ihm, strecken
den Arm aus zu einem Handschlag, der die Kluft zwischen unseren
Zeiten überbrücken soll. Doch die Anbiederei stimmt ihn nicht
freundlicher. Er weicht zurück, greift unter den Mantel und zischt:
Hundes ars in dine naso.
Ein Hundearsch wird in unsere Nase gewünscht – da erlauben
wir uns, die Nase voll zu haben. Wir drücken die mentale Stopp-
Taste, lassen die Szene einfrieren auf dem Monitor unserer Imagina-

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tion. Unser altdeutscher Mitbürger mit dem schlechten Gebiss ver-
harrt, vom Zauberspruch gebannt, mit der Hand unter dem Um-
hang. Was immer er dort hervorziehen wollte – Messer oder Knüttel
vielleicht – bleibt verborgen. Unser erster Kontakt mit der altdeut-
schen Sprachwelt ist beendet.

Die altdeutsche Sprachwelt

Rauh ist die Zeit, in die wir uns hier versetzen, die Jahrhunderte
zwischen 500 und 1000, als sich aus dem Germanischen die Dialekte
herausschälten, die Sprachwissenschaftler erst später unter den
Sammelbegriff «deutsch» fassen werden. Urwälder, Sümpfe, feuchte
Flussniederungen überzogen Mitteleuropa. Die Dörfer und Felder
lagen als winzige Inseln in einem dichten Meer aus Grün. Mit
Spaten, Axt und Pflug rangen die Bauern der Wildnis urbares Land
ab. Plackerei bestimmte ihr Leben vom Aufgang bis zum Unter-
gang der Sonne. Man hauste in zugigen, verqualmten Hütten. Nach
Sonnenuntergang regierte die Dunkelheit, kaum jemand konnte
sich Talg- oder Wachslichter leisten. Schmutz, Gestank und Para-
siten gehörten zum Alltag. Immer drohten Missernten, Krankheiten
und früher Tod.
Der Lebenskreis war auf den Wohnort und die nähere Umgebung
beschränkt. Jenseits davon begann das Ausland – dort zu sein, hieß
elilenti zu sein. Unser Elend stammt von dem althochdeutschen
Wort ab. Auf Reisen ging nur, wer es unbedingt musste. Die weni-
gen Fernwege waren schlecht. Der Wald erschien als eine feindliche
grüne Welt. Man kommunizierte fast nur mündlich, von Angesicht
zu Angesicht. Briefe und Bücher waren die Medien einer winzigen
Minderheit, auch sie wurden laut vorgelesen, denn die Schrift galt
nur als vorübergehender Speicher des Klangs. Eine massenmediale
Sprach-Welt wie die unsere, die von frei flottierenden Wörtern über-
quillt, wäre jenen Zeitgenossen fremd und unheimlich erschienen.
Die Stimmen der einfachen, ungebildeten Menschen, der großen
Mehrheit also, dringen aus jener Zeit nur sehr gefiltert zu uns. In
den Pergamenten fanden sie nur selten Niederschlag. Die einzigen,
die lesen und schreiben konnten, waren Geistliche. Ihre Haupt-

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sprache war Latein, in ihr sind die meisten Texte geschrieben, die
Volkssprache führte nur ein Schattendasein. Aus der Zeit zwischen
700 und 900 sind etwa 1200 Handschriften überliefert, die ganz
oder teilweise auf Althochdeutsch geschrieben sind, die Zahl der
lateinischen beträgt mehr als das Siebenfache.
Auch die deutsch geschriebenen Texte sind von der christlich-
lateinischen Gelehrsamkeit der Mönche durchtränkt. Gebete, Se-
genssprüche, biblisch inspirierte Gedichte und Erzählungen über-
wiegen. Daneben stehen Rechtstexte, Eidformeln, geographische
Beschreibungen. Immerhin – mancher mönchische Schreiber, der
am Stehpult seinem anstrengenden Handwerk nachging, erlaubte
sich dann und wann einen Ausflug in die profane Welt der Alltags-
sprache und notierte auf freigebliebene Seiten Redewendungen,
Sprichwörter, Zauberformeln oder anzügliche Verse. Sie erlauben
den Blick in eine Sprach- und Gedankenwelt, die konkret und
direkt, manchmal derb und spöttisch ist.

liubene ersazta sine gruz


unde kab sina tohter uz
to cham aber starzfidere
prahta imo sine tohter uuidere
Liubene setzte sein Hochzeitsbier an
und verheiratete seine Tochter.
Da kam aber der gefiederte Schweif
und brachte ihm seine Tochter wieder

Manche Geistlichen wagten es, Bruchstücke aus der heidnischen


Welt germanischer Götter- und Heldensagen zu konservieren. Dazu
gehören die Merseburger Zaubersprüche, benannt nach ihrem Fund-
ort, dem Dom von Merseburg. Jemand hatte die Zeilen trotz – oder
wegen? – ihres heidnischen Inhalts auf die leer gebliebenen Seiten
einer theologischen Handschrift geschrieben.

Phol unde uodan uoron zi holza


do uuart demo balderes uolon sin uuoz birenkit.
thu biguol en sinthgun sunna era suister
thu biguol en friia uolla era suister

13
thu biguol en uuodan so he uuola conda
sose benrenki sose bluotrenki
sose lidirenki
ben zi bena bluot zi bluoda
lid zi geliden sose gelimida sin

Phol und Wotan ritten in den Wald.


Da verrenkte sich Balders Fohlen einen Fuß.
Da besprach ihn Sindgund, der Sonne Schwester,
da besprach ihn Frija, der Volla Schwester,
da besprach ihn Wotan, so gut nur er [allein] es vermochte:
wie die Verrenkung des Knochens so [ist] die Verrenkung
des Blutes,
so die der Glieder,
Knochen zu Knochen, Blut zu Blut
Glied zum Gliede. So seien sie fest zusammengeleimt.

Germanische Wurzeln

Diese Verse führen uns zurück bis in die Welt der Germanen, die
den sprachlichen Wurzelboden für das Deutsche legte. Wie haben
sie gesprochen? Zum Beispiel so:

EK HLEWAGASTIZ : HOLTIJAZ : HORNA : TAWIDO

Ich, Hlewagast, Holtes Sohn (oder: Sohn des Holzschnitzers)


stellte das Horn her.

Diese Worte ritzte jemand zwischen 350 und 450 in ein Goldhorn,
das 1639 in der Nähe des dänischen Tondern gefunden wurde. Die
Sprache ist Nordwestgermanisch, die Keimzelle der späteren west-
germanischen Sprachen Deutsch, Niederländisch, Englisch, Frie-
sisch und Jiddisch sowie der nordgermanischen Sprachen Dänisch,
Norwegisch, Schwedisch und Isländisch. Ein anderer Zweig, der
sich schon im 4. Jahrhundert aus dem gemeinsamen Ur-Germanisch
ausgegliedert hatte, ist das heute ausgestorbene Ostgermanisch mit

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seinem wichtigsten Vertreter, dem Gotischen (zur Grammatik des
Germanischen und den indogermanischen Wurzeln s. S. 264 ff.) Der
Klang des Germanischen war dem heutigen Niederdeutsch und
Niederländisch ähnlicher als dem Hochdeutschen. Für eine «eng-
lische» Färbung sorgte der Lispellaut þ, der dem englischen th ent-
spricht und sich auch noch im Deutsch des frühen Mittelalters fin-
det. Verglichen mit den klassischen europäischen Literatursprachen
Griechisch und Latein sind die sprachlichen Überlieferungen des
Germanischen spärlich. Dazu gehören einige Dutzend kurze
Runeninschriften aus dem 2. bis 6. Jahrhundert sowie mehrere ger-
manische Wörter, die römische Autoren wie Caesar und Tacitus no-
tiert haben, beispielswiese urus ‹Auerochse›, sapo ‹Schminke, Seife›,
glesum ‹Bernstein, Glas›, flado ‹Fladen›, harpa ‹Harfe›, medus ‹Met›,
ganta ‹Gans›. Einen Blick in die germanische Vergangenheit ge-
währt auch das Finnische, das einige germanische Lehnwörter in
altertümlicher Form bewahrt hat: rengas ‹Ring›, kuningas ‹König›,
gernas ‹gern›, tiuris ‹teuer›, hansa ‹Schar,Volk›, pelto ‹Feld›. Da ger-
manische Stämme sich in der Völkerwanderungszeit über ganz
Europa verteilten, finden sich ihre sprachlichen Spuren auch dort,
wo man sie nicht unbedingt vermuten würde: In spanischen Na-
men wie Rodrigo (Hrôþrîks / Roderich ‹Ruhm + Herrscher›) oder
Fernando (Frîþunanþ ‹Friede + Ruhm›) hallt noch die Zeit der
Westgoten nach. Sie haben der Nachwelt freilich weit mehr als ihre
Namen hinterlassen, nämlich eine Übersetzung der Heiligen Schrift
aus dem Griechischen ins Gotische, die um 375 im heutigen
Bulgarien entstand (s. S. 210). Diese nach ihrem Verfasser benannte
«Wulfila-Bibel» ist der längste germanische Text, den wir kennen.
Der Missionsbischof Wulfila hatte für seine Übersetzung eine
eigene Schrift mit griechischen, lateinischen und runischen Buch-
staben entwickelt. Der Anfang des Vaterunser lautet auf Gotisch:
Atta unsar thu in himinam, weihnai namo thein. Qimai thiudinas-
sus þeins…

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Gud-Run raunt

Zu den faszinierendsten Hinterlassenschaften der Germanen gehö-


ren die Runen. Das Rätselhafte der spitzwinkligen Zeichen steckt
schon in ihrem Namen, der «Geheimnis» bedeutet. Rune findet
sich im Wort raunen ebenso wie in Gudrun (‹Kampfrune› im Sinne
von ‹die sich mit Kampfrunen auskennt›) oder Sigrun (‹Siegrune›).
Runen wurden in Stein, Knochen, Holz oder Metall geritzt. Das
germanische writan ‹Runen ritzen› steckt im englischen to write
ebenso wie in den deutschen Wörtern ritzen, reißen, Reißbrett und
Aufriss.
Glaubt man den germanischen Mythen, dann stammen die Ru-
nen von Göttervater Odin. Der rammte sich zum Zweck der Be-
wusstseinserweiterung einen Speer durch den Leib und hängte sich
daran zwischen den Ästen eines Baumes auf. Die Visionen, die er
während dieser Extrem-Meditation empfing, lehrten ihn, wie man
Runen ritzt und ihre magische Macht benutzt.
Wie die ältesten germanischen Schriftzeichen tatsächlich entstan-
den, liegt im Dunkeln: Die Wissenschaftler sind sich einig, dass die
Germanen die Zeichen nicht erfanden, sondern auf eine Vorlage
zurückgriffen, die sie abwandelten. Welche das war, darüber gehen
die Meinungen auseinander. In der Diskussion sind das griechische,
das etruskische oder das lateinische Alphabet, die alle auf die phö-
nizische Schrift zurückgehen. Die Mehrheit der Forscher bevorzugt
die Latein-Lösung. Neuerdings kursiert noch eine andere These:
Danach waren es die Phönizier selbst, genauer gesagt die Karthager,
die die Germanen bereits um 300 vor Christus zum Runenschrei-
ben inspirierten. Diese Theorie steht aber bislang auf wackligen
Beinen, denn die ältesten gesicherten Runenfunde stammen erst
aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert.
Das Runenalphabet wird nach seinen ersten sechs Lauten
«Fuþark» genannt, ähnlich wie unser Alphabet «ABC » heißt. Der
þ-Laut entspricht dem englischen th. Die 24 Runen, aus denen das
Fuþark bestand, waren jedoch mehr als nur Buchstaben, die Laute
wiedergaben. Jede Rune hatte außerdem einen Namen, der mit dem
betreffenden Laut begann. So steht die Rune für F auch für das

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Wort fehu ‹Vieh, Vermögen›. U steht für ûruz ‹Auerochse›, Þ für
þurisaz ‹Thurse, Riese›, A für ansuz ‹Ase›, R für raidô ‹Ritt, Fahrt,
Wagen› und K für kaunan ‹Geschwür, Krankheit›. Um solche Wör-
ter zu schreiben, reichte es, wenn man nur die jeweilige Rune ritzte.
Beschrieben wurden Steine und Felsplatten, Waffen, Schmuck,
Amulette, Kämme, Kästchen, Ringe, Goldhörner und kleine Sta-
tuen. Der Stab im Wort Buchstabe bezeichnete ursprünglich den
senkrechten Strich der Runen, an den die Haken und Querstriche
angefügt wurden.

Feierliche Formeln – Die Sprache hinter den Zeichen

Ein Volk von Schriftgelehrten waren die Germanen trotz der Runen
nicht. Nur eine kleine Elite beherrschte diese Schrift. Benutzt
wurde sie vor allem für kurze Mitteilungen, Sprüche oder magische
Formeln. Häufig beschränkte sich die Inschrift auf die Namen von
Besitzern, Schenkenden oder Beschenkten. Oft verewigten sich
stolze Ritzer auch nur selbst, so wie sie es noch heute auf Parkbänken
und Baumstämmen tun:

BidawarijaR talgidai/BidawarijaR schnitzte.

Für längere Texte oder gar Bücher wurden die Runen nicht genutzt.
Ihre Sagen und Gesänge, ihre Geschichten, Rechtsvorschriften, Sit-
ten und Gebräuche überlieferten die Germanen mündlich von Ge-
neration zu Generation. Deshalb konnten die Runen auch nie die
kulturgeschichtliche Bedeutung des lateinischen oder griechischen
Alphabets erlangen. Die längste bisher gefundene Inschrift steht auf
einem Steinblock, den ein Mann namens Varin seinem toten Sohn
weihte. Sie ist 750 Zeichen lang. Das entspricht einem Kurzbericht
in der Zeitung.

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Die Magie des Lauchs

In der Vorstellungswelt der Germanen waren Runen nicht bloß


Buchstaben – sie hatten auch Zauberkraft. Auf Schwertern oder
Pfeilschäften halfen sie im Kampf, Rettungsrunen gaben Beistand
bei Krankheit und Not. Es gab Runen für die Geburtshilfe und
Schutzrunen gegen «Frauentrug». Runen, die man den Verstorbenen
mitgab, sollten vor Grabräubern schützen – aber auch vor den Ver-
storbenen selbst, die man als Wiedergänger fürchtete. Deshalb rich-
teten die Hinterbliebenen die abwehrenden Worte mitunter ins
Innere des Grabes. An guten Ratschlägen für die Toten fehlte es
nicht: «Nutze Deinen Hügel wohl», mahnen Runensteine auf
Fünen und Seeland.
Mehr dem Leben zugewandt waren die Runen für den Liebes-
zauber. «Friedel, du fasse mich», lautet eine solche Liebesinschrift
auf einer Scheibenfibel, die bei Zürich in einem Frauengrab gefun-
den wurde. Am Ende sind zwei L-Runen eingraviert: Sie stehen für
Laukaz ‹Lauch›. Hinter der harmlosen Gemüse-Rune verbirgt sich
die Geheimbedeutung ‹Glied›. Lauchstangen hatten für die Germa-
nen eine besondere Bedeutung. Ihnen schrieben sie Heilkraft und
magische Wirkung zu, sie galten als Aphrodisiakum und Symbol
der Fruchtbarkeit. Sagen berichten von einer Bäuerin im Norden
Norwegens, die einen Pferdephallus zur Konservierung in Lauch
einwickelte, damit die Familie ihm allabendlich huldigen konnte.

Die ältesten Runen

Etwa 6500 Runeninschriften wurden bislang gefunden, die meisten


entstanden allerdings erst in nachgermanischer Zeit. Der Löwen-
anteil aller Runenfunde stammt aus Skandinavien, 80 Inschriften
kommen aus Deutschland, andere Fundorte liegen in England, in
den Niederlanden und in Irland. Durch die Wikinger gelangten
Runen selbst nach Russland und Griechenland. Die Zahl der be-
kannten Inschriften wächst dauernd, weil die Archäologen immer
neue Funde machen. Am häufigsten handelt es sich um Inschriften

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auf Stein oder Metall, denn diese Materialien haben die Jahrhunderte
am besten überdauert. Aber Moorgrabungen brachten auch Runen
auf Holz und Knochen ans Licht.
Der vielleicht älteste Runenfund stammt aus der ersten Hälfte
des 1. Jahrhunderts. Es ist eine Gewandspange, eine so genannte
Fibel, die im schleswig-hosteinischen Meldorf entdeckt wurde. In
das Metall ist die Lautfolge hiwi eingraviert – möglicherweise eine
Widmungsinschrift für eine Frau. Bislang weiß man allerdings
nicht, ob es sich hierbei wirklich um Runen handelt oder nur um
den ungelenken Versuch, lateinische Buchstaben zu ritzen. Keinen
Zweifel gibt es bei den nächstälteren Funden aus dem 2. Jahrhun-
dert: ein Kamm, entdeckt bei Vimose im dänischen Fünen mit dem
Männernamen harja und eine Lanzenspitze aus einem Grab im
norwegischen Oppland. Sie trägt das Wort raunijaR eingraviert mit
der Bedeutung ‹Erprober›. Die magische Bezeichnung für die Waffe
sollte beim Angriff Glück bringen.

Kulturexport von Nord nach Süd

Die Runen waren zunächst vor allem eine Sache der Nordgermanen.
Im späteren Deutschland verbreiteten sie sich erst mit Verzögerung.
Eine Ausnahme bildet Süd-Schleswig, das damals zum nordischen
Kulturkreis gehörte. Im 4. und 5. Jahrhundert gelangten einzelne
Inschriften in das heutige Niedersachsen. Zu einer echten Runen-
Mode kam es im 6. Jahrhundert: Vor allem im heutigen Baden-
Württemberg haben Archäologen eine Vielzahl von Schmuckstücken
mit Runeninschriften aus dieser Zeit gefunden. Die Runen wurden
hier populär, nachdem die Franken im Jahr 531 die Thüringer be-
siegt hatten. Deren Reich hatte zuvor wie ein Sperrriegel die Ver-
bindungen zwischen Norden und Süden blockiert. Jetzt war der
Weg frei für skandinavische Importe, die im Land der Alemannen
offenbar eine regelrechte Nordland-Welle auslösten.
Im 8. Jahrhundert veränderte sich das Runenalphabet in Skan-
dinavien. Die Zahl der Buchstaben schrumpfte von 24 auf 16. Der
Popularität der Runen tat das keinen Abbruch – im Gegenteil: Im
Hochmittelalter entwicketen sie sich in den nordischen Ländern

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immer stärker zu einer Alltagsschrift. In quadratische Hölzchen
geritzt diente sie für Kurzmitteilungen aller Art von Liebesgrüßen
bis zu «Lieferscheinen», die die Kaufleute ihren Waren anhefteten.
Ihren heidnischen Ursprung legten die Runen nach und nach völlig
ab. Sie finden sich mit christlichen Inhalten auf Kirchenmauern und
Glocken, Taufbecken und Gräbern. Bis zur Buchschrift brachten es
die Runen allerdings auch in Skandinavien nicht. Zu eng war die
Schreib-Kultur der gelehrten Bücherwelt mit dem Erbe der klas-
sischen Antike verbunden.

In den deutschsprachigen Gebieten kamen die Runen bereits im


7. Jahrhundert aus dem Gebrauch. Das geschah offenbar ohne äu-
ßeren Druck. Die Kirche jedenfalls bekämpfte die germanischen
Zeichen hier ebensowenig wie in Skandinavien. Für sie zählte, was
jemand schrieb, nicht mit welchen Buchstaben. Etliche Grabbei-
gaben aus Deutschland tragen Runen-Inschriften mit dem Bekennt-
nis zum christlichen Glauben. Auch Klosterschreiber notierten in
ihren Pergamenten gelegentlich Namen oder kurze Sätze in Runen-
schrift. Geistliche Gelehrte zeichneten Runenalphabete auf, weil sie
glaubten, dass sich dahinter eine Ursprache verberge. Doch mehr
als solch antiquarisches Interesse vermochten die Runen bald nicht
mehr zu erwecken. Gegen die Ausstrahlung Roms und der latei-
nisch-christlichen Kultur konnten sie sich in den deutschsprachigen
Gebieten anders als in Nordeuropa nicht behaupten. Sie veralteten
und starben aus, ähnlich wie in unserer Zeit die Sütterlin-Schrift.

Forsaichistu diobolae? Gebete und Beschwörungen

Kehren wir aus der germanischen Zeit zurück in die etwas jüngere
des frühen Deutsch. Allzu groß ist der Sprung nicht. Mochten die
Runen auch verwittern, die germanische Welt, in der persönliche
Bindungen, Treue und Gefolgschaft, nicht staatliche Institutionen,
das Gerüst der Gesellschaft bildeten, ragte noch weit in das Mittel-
alter hinein. Den Horizont des Adels bestimmten archaische Werte,
seine Koordinaten waren Ehre und Rache, Jagd, Kampf und Beute-
gier. Gewalt gehörte zum täglichen Leben: Fehden, Kriege und Jagd-

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unfälle brachten viele der Herren schon in jungen Jahren ins Grab.
Auch die Adligen waren, wie die Bauern, in ihrer großen Mehrheit
Analphabeten. Das Schwert, nicht die Feder, machte den Mann zum
Mann. Die Tugenden des Nahkampfs verhießen auch dem König
ewigen Ruhm.

suman thuruhskluog her, suman thruhstach her


Her skancta ce hanton. Sinan fianton bitteres lides.
Den einen erschlug er, den anderen durchstach er,
seinen Feinden schenkte er sogleich bitteren Trank aus.

So heißt es im «Ludwigslied» zum «seligen Angedenken» an


Ludwig III., der 881 mit seinem Heer die Normannen besiegte.
Erst im 9. Jahrhundert wurden auch die letzten noch heidnisch
gebliebenen Gebiete des deutschen Sprachraums christianisiert.
Aber oft genug blieb die Bekehrung oberflächlich. Wichtiger als die
Erforschung der Seele waren Formeln und Rituale. Glauben be-
deutete, sie korrekt zu vollzuziehen. Bei den Niederdeutsch spre-
chenden Sachsen, denen Karl der Große mit dem Schwert den neuen
Glauben aufzwang, hörte sich das so an:

Forsaichistu diobolae? Ec forsachu diabolae.


End allum diobolgelde? End ec forsachu allum diobogeldae.
End allum dioboles uuercum? End ec forsachu allum dioboles
uuercum and uuordum, Thunnaer ende Uuoden ende Saxnote
ende allum them unholdum, the ira genotas sind.
Schwörst du dem Teufel ab? Ich schwöre dem Teufel ab.
Und jedem Teufelsopfer? Und ich schwöre jedem Teufels-
opfer ab.
Und allen Werken des Teufels? Und ich schwöre allen Werken
des Teufels ab, Donar, Wotan, Saxnot und allen Götzen, die ihre
Genossen sind.

Unter dem Firnis des Christentums lebte der Glaube an Zauberei


weiter. Himmel und Erde, Pflanzen, Tiere und Menschen, Gedanken
und Dinge waren durch ein verborgenes sympathetisches Wirkungs-
geflecht miteinander verbunden, das man durch die richtigen Worte

21
beeinflussen konnte. Vor den Unbilden des Schicksals suchte man
Zuflucht bei Beschwörungen, in denen sich magische Formeln mit
christlichen Gebeten vermengten.

Ih bimuniun dih. suaz pi gode iouh pi christe


daz tu niewedar ni gi-tuo. noh tolc noh tot houpit.
Ich beschwöre dich, Geschwür bei Gott und Christus
Dass du nie mehr eine Wunde machst oder den Tod bewirkst.

Die Sprache der Menschen in dieser Zeit nennen wir heute Deutsch,
doch suggeriert der Begriff eine Einheitlichkeit, die es nicht gab.
Was im Rückblick so heißt, war in dieser Zeit nicht mehr als ein
Netzwerk verwandter Dialekte. Die Möglichkeiten für Bewohner
verschiedener Regionen, sich zu verständigen, dürften so gut oder
schlecht wie zwischen heutigen Dialektsprechern gewesen sein. Für
eine gewisse Vereinheitlichung zumindest in der Schriftsprache
sorgten vor allem die Geistlichen in den Klöstern, die sich bemüh-
ten, Kontakt untereinander zu halten. Wie stark die Übereinstim-
mungen sein konnten, zeigen die Anfänge des «Vaterunser»:

Fater unseer, thû pist in himile, uuîhi namun dînan, qhueme


rîhhi dîn … St. Gallen (8. Jahrhundert, alemannisch)
Fater unsêr, dû pist in himilum … Kauuîhit sî namo dîn, …
Piqhueme rîhhi dîn … Freising (9. Jahrhundert, bairisch)
Fater unsêr, thu in himilom bist, giuuhîhit sî namo thîn, quaeme
rîchi thîn … Weißenburg (9. Jahrhundert, rheinfränkisch)
Fater unser, thû thar bist in himile, sî giheilagôt thîn name,
queme thîn rîhhi … Fulda (9. Jahrhundert, ostfränkisch)

22
Schneisen ins Dickicht:
Die ersten deutschen Wörter werden geschrieben

Chumo kiscreip filo chumor kipeit


Mit viel Mühe fertig geschrieben, mit noch mehr Mühe dies
[das Ende] erwartet.

Dieser Stoßseufzer entrang sich der Brust eines mönchischen


Schreibers im Kloster St. Gallen des 9. Jahrhunderts. Er und seine
Klosterbrüder verbrachten ihre Tage im Skriptorium an Stehpul-
ten, wo sie tagein, tagaus Buchstabe an Buchstabe auf das Perga-
ment setzten. Der Schriftsetzer hat seine sprachlichen Wurzeln in
diesen Zeiten. Für diejenigen Mönche, die sich vom 8. Jahrhundert
an daran machten, deutsche Wörter und Sätze niederzuschreiben,
gesellte sich zur körperlichen Anstrengung noch die geistige Heraus-
forderung. Sie waren Pioniere im Dickicht einer Sprache, für die
weder Wörterbücher noch Orthographieregeln oder grammatische
Nachschlagewerke existierten. Es gab nicht einmal eigene Schrift-
zeichen, nachdem die Tradition der Runen in Deutschland unterge-
gangen war. Die Schreiber griffen deshalb auf das lateinische Alpha-
bet zurück, dessen Zeichen aber nicht immer zu den deutschen
Lauten passten. Um diese Lücken zu füllen, erfanden die Mönche
das w, das ursprünglich ein doppeltes u war («double u» heißt es
noch heute im Englischen), sie kombinierten Buchstaben wie s, c
und h zu sch und ch, oder sie verdoppelten Vokale und Konsonanten,
um lange und kurze Laute darzustellen (vgl. S. 192 ff.).
Weil es keine verbindlichen Rechtschreibregeln gab, entwickelte
jedes Kloster sein eigenes System. Dementsprechend viele Varian-
ten finden sich in den alten Pergamenten. ‹Ludwig› zum Beispiel
wird geschrieben als lodhuuig, Ludhuuuig, Hludwîg, Ludouuig.
Die ‹Freude› gab es als vröude, vröide, vreude, vröuwede, fröwede,
fröwde, vrouwede, vrowede, vroude, vrôde. Das -ch in «Reich»
erscheint mal als rîhhi, dann wieder als rîhi oder rîchi. Da das w –
damals «englisch» ausgesprochen (wie in wood) – oft durch ein
doppeltes u dargestellt wurde, entstanden Gebilde wie triuuue
(triuwe ‹Treue›) oder uuunna (wunna ‹Wonne›).

23
Welche Schwierigkeiten die Verschriftung bereitete, schildert der
Mönch Otfrid von Weißenburg (800 –875), der erste namentlich
bekannte Dichter, der deutsch schrieb. Otfrid beschreibt – auf
Latein – die «ungewöhnliche Lautung» seiner fränkischen Mutter-
sprache wie ein Ethnologe, der die Sprache eines bislang unbe-
kannten Volkes verschriften soll. «Denn bisweilen fordert sie, wie
mir scheint, drei u – die ersten zwei meines Erachtens konsonan-
tisch lautend, während das dritte u den Vokalklang beibehält – bis-
weilen konnte ich weder den Vokal a noch ein e, noch ein i und auch
nicht ein u vorsehen: in solchen Fällen erschien es mir richtig, y ein-
zusetzen. Aber auch gegen diesen Laut sträubt sich diese Sprache
manchmal: sie geht überhaupt bei gewissen Lauten nur mühsam
eine Verbindung mit einem bestimmten Schriftzeichen ein.»
Kein Wunder, dass sich manchem Mönch die Feder sträubte,
wenn er statt im vertrauten Kirchenlatein in seiner Muttersprache
schreiben sollte. So ging es auch Wisolf, einem alemannischen
Klosterbruder, der um das Jahr 1000 das Lied vom heiligen Georg,
dem Drachentöter, aufzeichnen wollte. Mit ungelenker Hand-
schrift, zahllosen Verschreibern, Verbesserungen und immer wieder
vertauschten Buchstaben quälte er sich durch die Verse, bis er ent-
nervt mittendrin aufgab. Ih ne kan ‹Ich kann nicht› will er unter die
letzte Zeile setzen. Aber nach Ih n…bricht er ab und schreibt das
Gemeinte lieber im vertrauten Latein: Nequeo – das immerhin ist
korrekt geschrieben.

Das älteste deutsche Buch

Eines der ersten deutschen Wörter, die den Weg aufs Pergament
fanden, war dheomodi ‹demütig›. Das passt zu einer Schriftsprache,
die im Schatten des Lateinischen stand und zunächst nur hinter den
Mauern der Klöster gedieh. Das Wort steht am Anfang des ältesten
erhaltenen deutschen Buches, eines lateinisch-deutschen Wörter-
verzeichnisses, genannt «Abrogans». Das ist die lateinische Vokabel
für demütig und der erste Eintrag des Buches. Das bairische Ori-
ginal, das um 760 wahrscheinlich im Kloster Freising entstand,
existiert nicht mehr. Erhalten sind drei alemannische Abschriften

24
aus dem späten 8. und dem 9. Jahrhundert, die heute in St. Gallen,
Karlsruhe und Paris aufbewahrt werden. Wer sich den St. Galler
«Abrogans», 320 Seiten dick, im Internet anschaut, sieht keine
Prachthandschrift vor sich. Die Schreiber mussten sich mit einem
löchrigen Pergament begnügen, gebunden zwischen hölzerne
Buchdeckel. Nur wenige Buchstaben sind mit Ornamenten ausge-
schmückt. Die Einträge, ungelenk geschrieben, stehen sich nicht in
Spalten gegenüber, wie man es von einem Wörterbuch erwarten
würde, sondern reihen sich, nur durch Punkte getrennt, aneinander.
Die Vorlage war ein lateinisches Synonymenlexikon, das in Italien
entstanden war, um seltenere lateinische Wörter und Wendungen
der Bibel durch gängigere, ebenfalls lateinische Ausdrücke zu er-
läutern. Die deutschen Autoren notierten die deutschen Über-
setzungen, etwa helfa ‹Hilfe› für auxilium, firleitit ‹verleitet› für
seducit oder kotes mines heli ‹meines Gottes Heil› für dei mei
salus. Da sie sowohl für das lateinische Stichwort als auch für des-
sen lateinische Synonyme althochdeutsche Entsprechungen such-
ten, mussten sie es mit einem sehr nuancierten Wortschatz aufneh-
men. Für dessen Feinheiten existierten oft noch gar keine deutschen
Vokabeln, so dass notdürftige Umschreibungen herhalten muss-
ten. Das schmälert nicht die bewundernswerte Pionierleistung, die
der «Abrogans» mit seinen über 3000 althochdeutschen Wörtern
darstellt.
Die ersten Spuren deutscher Schriftsprache sind sogar noch ei-
nige Jahrzehnte älter als der «Abrogans» und finden sich in latei-
nischen Handschriften. Dort schrieben Mönche deutsche Wörter
als Übersetzungshilfen an den Rand oder zwischen die Zeilen. Etwa
zwei Drittel des althochdeutschen Wortschatzes sind durch solche
«Glossen» überliefert. Sie wurden häufig nicht mit der wertvollen
Tinte geschrieben, die nur im Skriptorium für Schreibaufträge zur
Verfügung stand. Stattdessen benutzten die Mönche Griffel, mit
denen sie auch Notizen in ihre Wachstafeln ritzten, und kerbten
damit die deutschen Wörter in das Pergament. Die frühesten dieser
«Griffelglossen» stammen vom Beginn des 8. Jahrhunderts und fin-
den sich in einer Handschrift aus dem luxemburgischen Echternach.
Es sind die ältesten überlieferten deutschen Worte, wenn man von
den wenigen Runeninschriften in althochdeutscher Sprache absieht.

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Lesbar sind die eingeprägten Buchstaben allerdings nur, wenn das
Licht von der Seite fällt, deshalb entgingen sie auch lange den ger-
manistischen Forschern. Ermunterung bei den ersten Versuchen,
die Volkssprache zu verschriften, bekamen die deutschen Mönche
von angelsächsischen Missionaren. In Britannien hatte man schon
einige Jahrzehnte zuvor begonnen, altenglisch zu schreiben.

Im Namen die Tochter

Eigentlich eine ganz normale Taufe: Der Dorfpfarrer benetzt das


Kind mit Weihwasser, macht das Zeichen des Kreuzes und spricht
die Formel in nomine patria et filia et spriritus sanctus. So hat er es
immer getan. Doch dieses Mal sitzt ein Abgesandter des Bischofs in
der Kirche und den stört gewaltig, was er da hört. Die Worte des
braven Priesters heißen auf Deutsch nämlich nicht ‹im Namen des
Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes›, sondern ‹im
Namen das Vaterland und die Tochter und der Heilige Geist›. Das
ist nicht nur Unsinn, sondern eine Verfälschung der heiligen Worte,
die den gesamten Taufakt infrage stellt. Formeln, Gebete, Bibel-
lesungen und Segensworte können Gott nur erreichen, wenn sie
korrekt wiedergegeben werden.
Der Dorfgeistliche hatte das Pech, ertappt zu werden, war aber
mit seinen mageren Sprachkenntnissen kein Einzelfall. Viele Kleri-
ker beherrschten das Lateinische nur ungenügend – dabei zeigte die
Sprache des untergegangenen römischen Reichs im frühen Mittel-
alter sowieso nur noch einen schwachen Abglanz einstiger Eleganz
und Formstrenge. Die Normen der klassischen Antike hatten sich
gelockert, weshalb wichtige kirchliche und juristische Texte in un-
terschiedlichen sprachlichen Varianten nebeneinander existierten.
Karl der Große und seine Berater sahen in dieser «Sprachverwilde-
rung» eine Gefahr für die Einheit des Reiches und der Rechtspre-
chung, vor allem aber für das Seelenheil. Sprachpflege war für Karl
ein entscheidendes Mittel, in seinem Vielvölkerreich, das sich von
Nordspanien bis an die Elbe erstreckte, den christlichen Glauben
zu stärken, die kirchliche Ordnung zu straffen und die Verwaltung
zu vereinheitlichen. Er setzte eine Bildungsreform in Gang, die vor

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allem von den Klöstern getragen wurde. Die Verbesserung der
Lateinkenntnisse im Klerus stand dabei obenan.
Genauso wichtig war dem fränkischen König aber auch die
Pflege der Volkssprachen. Deren Stellung in der Kirche wollte er
stärken, um die Seelsorge fester in den Gemeinden zu verankern.
Gott, davon war Karl überzeugt, konnte in jeder Sprache, nicht nur
in den «heiligen Drei» – Griechisch, Hebräisch und Latein – an-
gerufen werden. Deshalb verlangte er von den geistlichen Hirten,
ihrer Herde häufiger als bisher in ihrer Muttersprache zu predi-
gen. Im Westen des Reiches war das Romanisch, der Vorläufer des
Französischen, im östlichen Teil Deutsch. Jeder Bewohner sollte
wenigstens das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser in seiner
Muttersprache auswendig können. Waren deutsche Worte bis dahin
vor allem als Randnotizen zu lateinischen Texten aufs Pergament
gelangt, so entstand jetzt ein verstärkter Bedarf nach zusammen-
hängenden deutschen Übersetzungen, die den Inhalt ihrer latei-
nischen Vorlagen korrekt wiedergaben und als Grundlage für Pre-
digten, Gebete und Bibelauslegungen dienen konnten.
Das Deutsch dieser Texte klingt oft künstlich und gestelzt, denn
die Übersetzer versuchten, typisch lateinische Sprachmuster der
Originaltexte nachzubilden, die der deutschen Grammatik fremd
waren. Ein noch heute zu vernehmender Nachhall ist die altehr-
würdige Wortstellung Vater unser. Sie gibt das lateinische Pater
noster wortgetreu wieder, während es die Engländer zu Our Father
umgestellt haben.
Einen Eindruck vom Einfluss der Lateingrammatik – hier vor
allem des Ablativus absolutus – auf das frühe Schriftdeutsch gibt
eine Passage über den zwölfjährigen Jesus im Tempel:

Lateinisches Original:
Et cum factus fuisset annorum duodecim, ascendentibus illis in
Hierusolymam secundum consuetudinem diei festi, consumma-
tisque diebus cum redirent, remansit puer Ihesus in Hierusalem,
et non cognoverunt parentes eius.

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Althochdeutsche Übersetzung:
Inti mit thiu her uuard giuuortan zuelif iaro, in ufstiganten
ze Hierusalem after thero giuuonu thes itmalen tages, gifulten
tagun mit thiu sie heim vvurbun, uuoneta ther knecht Heilant
in Hierusalem, inti ni forstuonton thaz sine eldiron.

Wörtliche Übersetzung:
Und als er zwölf Jahre alt geworden war, ihnen hinaufstei-
gende nach Jerusalem ( = und nachdem sie nach Jerusalem hi-
naufgestiegen waren) nach dem Brauch des Feiertages, die Tage
verstrichene (= und nachdem die Tage verstrichen waren), als
sie heimkehrten, blieb der Knabe Heiland in Jerusalem und
nicht verstanden das seine Eltern.

Freie Übersetzung:
Und als er zwölf Jahre alt geworden war, stiegen sie hinauf
nach Jerusalem entsprechend dem Feiertagsbrauch. Doch als
die Tage verstrichen waren und sie wieder heimkehrten, blieb
der Heiland, das Kind, in Jerusalem zurück. Das verstanden
seine Elten nicht.

Es war nicht sprachliche Unfähigkeit, sondern Respekt vor der Un-


antastbarkeit der heiligen Schriften und der Autorität des Lateins,
die solche «unnatürlichen» Übersetzungen hervorbrachte. Die ers-
ten deutschen Texte waren kein Lesestoff für Laien, sie sollten nicht
für sich stehen, sondern Geistlichen, die das Lateinische nicht so
gut beherrschten, als Verständnishilfen dienen. Vielleicht war die
Künstlichkeit auch gar nicht unerwünscht, schließlich verlieh sie
den Texten eine Aura der Gelehrsamkeit. Zwar blieben solche
Wort-zu-Wort-Übersetzungen noch lange üblich, aber daneben ent-
standen schon zur Zeit der Karolinger auch Texte in einer flüssigen,
stilistisch geschmeidigeren Volkssprache. Das Schriftdeutsch eman-
zipierte sich nach und nach vom Geburtshelfer Latein und beschritt
den langen Weg zur Eigenständigkeit.

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