Leseprobe - Was Heisst Hier Deutsch
Leseprobe - Was Heisst Hier Deutsch
Wolfgang Krischke
Was heißt hier Deutsch?
Kleine Geschichte der deutschen Sprache
Der Mund öffnet sich. Die Worte, die zwischen Zahnstümpfen her-
vorkommen, klingen vertraut und zugleich fremd, wie ein abgele-
gener Dialekt:
Uuanan quemet ir, bruoder?
Eine abgehärmte Gestalt ist es, die uns «Bruder» nennt und wis-
sen möchte, woher wir kommen. Der verschlissene Umhang aus
Wolle hat die Farbe des schlammigen Waldwegs, auf dem wir uns
gegenüberstehen.
Was antwortet man so jemandem? Dass man ihn nur mit Mühe
versteht, weil man aus einer Zeit kommt, die mehr als tausend Jahre
in der Zukunft liegt? In der die Wörter seiner Sprache nur noch als
ferne Echos existieren?
Unser Wanderer runzelt die Stirn, er macht einen Schritt zurück.
Wie soll er unser Schweigen deuten, mitten im schweigenden Wald?
Wollen wir ihn berauben? Sind wir ein böser Geist? Misstrauen,
Furcht und eine Spur von Zorn malen sich auf seinem Gesicht ab.
Gepresst fragt er noch einmal – und jetzt duzt er uns – nach dem
Wer und Woher:
Uuer pistu? Uuana kimmst du?
Wir gehen einen Schritt auf ihn zu, sagen Bruoder zu ihm, strecken
den Arm aus zu einem Handschlag, der die Kluft zwischen unseren
Zeiten überbrücken soll. Doch die Anbiederei stimmt ihn nicht
freundlicher. Er weicht zurück, greift unter den Mantel und zischt:
Hundes ars in dine naso.
Ein Hundearsch wird in unsere Nase gewünscht – da erlauben
wir uns, die Nase voll zu haben. Wir drücken die mentale Stopp-
Taste, lassen die Szene einfrieren auf dem Monitor unserer Imagina-
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tion. Unser altdeutscher Mitbürger mit dem schlechten Gebiss ver-
harrt, vom Zauberspruch gebannt, mit der Hand unter dem Um-
hang. Was immer er dort hervorziehen wollte – Messer oder Knüttel
vielleicht – bleibt verborgen. Unser erster Kontakt mit der altdeut-
schen Sprachwelt ist beendet.
Rauh ist die Zeit, in die wir uns hier versetzen, die Jahrhunderte
zwischen 500 und 1000, als sich aus dem Germanischen die Dialekte
herausschälten, die Sprachwissenschaftler erst später unter den
Sammelbegriff «deutsch» fassen werden. Urwälder, Sümpfe, feuchte
Flussniederungen überzogen Mitteleuropa. Die Dörfer und Felder
lagen als winzige Inseln in einem dichten Meer aus Grün. Mit
Spaten, Axt und Pflug rangen die Bauern der Wildnis urbares Land
ab. Plackerei bestimmte ihr Leben vom Aufgang bis zum Unter-
gang der Sonne. Man hauste in zugigen, verqualmten Hütten. Nach
Sonnenuntergang regierte die Dunkelheit, kaum jemand konnte
sich Talg- oder Wachslichter leisten. Schmutz, Gestank und Para-
siten gehörten zum Alltag. Immer drohten Missernten, Krankheiten
und früher Tod.
Der Lebenskreis war auf den Wohnort und die nähere Umgebung
beschränkt. Jenseits davon begann das Ausland – dort zu sein, hieß
elilenti zu sein. Unser Elend stammt von dem althochdeutschen
Wort ab. Auf Reisen ging nur, wer es unbedingt musste. Die weni-
gen Fernwege waren schlecht. Der Wald erschien als eine feindliche
grüne Welt. Man kommunizierte fast nur mündlich, von Angesicht
zu Angesicht. Briefe und Bücher waren die Medien einer winzigen
Minderheit, auch sie wurden laut vorgelesen, denn die Schrift galt
nur als vorübergehender Speicher des Klangs. Eine massenmediale
Sprach-Welt wie die unsere, die von frei flottierenden Wörtern über-
quillt, wäre jenen Zeitgenossen fremd und unheimlich erschienen.
Die Stimmen der einfachen, ungebildeten Menschen, der großen
Mehrheit also, dringen aus jener Zeit nur sehr gefiltert zu uns. In
den Pergamenten fanden sie nur selten Niederschlag. Die einzigen,
die lesen und schreiben konnten, waren Geistliche. Ihre Haupt-
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sprache war Latein, in ihr sind die meisten Texte geschrieben, die
Volkssprache führte nur ein Schattendasein. Aus der Zeit zwischen
700 und 900 sind etwa 1200 Handschriften überliefert, die ganz
oder teilweise auf Althochdeutsch geschrieben sind, die Zahl der
lateinischen beträgt mehr als das Siebenfache.
Auch die deutsch geschriebenen Texte sind von der christlich-
lateinischen Gelehrsamkeit der Mönche durchtränkt. Gebete, Se-
genssprüche, biblisch inspirierte Gedichte und Erzählungen über-
wiegen. Daneben stehen Rechtstexte, Eidformeln, geographische
Beschreibungen. Immerhin – mancher mönchische Schreiber, der
am Stehpult seinem anstrengenden Handwerk nachging, erlaubte
sich dann und wann einen Ausflug in die profane Welt der Alltags-
sprache und notierte auf freigebliebene Seiten Redewendungen,
Sprichwörter, Zauberformeln oder anzügliche Verse. Sie erlauben
den Blick in eine Sprach- und Gedankenwelt, die konkret und
direkt, manchmal derb und spöttisch ist.
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thu biguol en uuodan so he uuola conda
sose benrenki sose bluotrenki
sose lidirenki
ben zi bena bluot zi bluoda
lid zi geliden sose gelimida sin
Germanische Wurzeln
Diese Verse führen uns zurück bis in die Welt der Germanen, die
den sprachlichen Wurzelboden für das Deutsche legte. Wie haben
sie gesprochen? Zum Beispiel so:
Diese Worte ritzte jemand zwischen 350 und 450 in ein Goldhorn,
das 1639 in der Nähe des dänischen Tondern gefunden wurde. Die
Sprache ist Nordwestgermanisch, die Keimzelle der späteren west-
germanischen Sprachen Deutsch, Niederländisch, Englisch, Frie-
sisch und Jiddisch sowie der nordgermanischen Sprachen Dänisch,
Norwegisch, Schwedisch und Isländisch. Ein anderer Zweig, der
sich schon im 4. Jahrhundert aus dem gemeinsamen Ur-Germanisch
ausgegliedert hatte, ist das heute ausgestorbene Ostgermanisch mit
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seinem wichtigsten Vertreter, dem Gotischen (zur Grammatik des
Germanischen und den indogermanischen Wurzeln s. S. 264 ff.) Der
Klang des Germanischen war dem heutigen Niederdeutsch und
Niederländisch ähnlicher als dem Hochdeutschen. Für eine «eng-
lische» Färbung sorgte der Lispellaut þ, der dem englischen th ent-
spricht und sich auch noch im Deutsch des frühen Mittelalters fin-
det. Verglichen mit den klassischen europäischen Literatursprachen
Griechisch und Latein sind die sprachlichen Überlieferungen des
Germanischen spärlich. Dazu gehören einige Dutzend kurze
Runeninschriften aus dem 2. bis 6. Jahrhundert sowie mehrere ger-
manische Wörter, die römische Autoren wie Caesar und Tacitus no-
tiert haben, beispielswiese urus ‹Auerochse›, sapo ‹Schminke, Seife›,
glesum ‹Bernstein, Glas›, flado ‹Fladen›, harpa ‹Harfe›, medus ‹Met›,
ganta ‹Gans›. Einen Blick in die germanische Vergangenheit ge-
währt auch das Finnische, das einige germanische Lehnwörter in
altertümlicher Form bewahrt hat: rengas ‹Ring›, kuningas ‹König›,
gernas ‹gern›, tiuris ‹teuer›, hansa ‹Schar,Volk›, pelto ‹Feld›. Da ger-
manische Stämme sich in der Völkerwanderungszeit über ganz
Europa verteilten, finden sich ihre sprachlichen Spuren auch dort,
wo man sie nicht unbedingt vermuten würde: In spanischen Na-
men wie Rodrigo (Hrôþrîks / Roderich ‹Ruhm + Herrscher›) oder
Fernando (Frîþunanþ ‹Friede + Ruhm›) hallt noch die Zeit der
Westgoten nach. Sie haben der Nachwelt freilich weit mehr als ihre
Namen hinterlassen, nämlich eine Übersetzung der Heiligen Schrift
aus dem Griechischen ins Gotische, die um 375 im heutigen
Bulgarien entstand (s. S. 210). Diese nach ihrem Verfasser benannte
«Wulfila-Bibel» ist der längste germanische Text, den wir kennen.
Der Missionsbischof Wulfila hatte für seine Übersetzung eine
eigene Schrift mit griechischen, lateinischen und runischen Buch-
staben entwickelt. Der Anfang des Vaterunser lautet auf Gotisch:
Atta unsar thu in himinam, weihnai namo thein. Qimai thiudinas-
sus þeins…
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Gud-Run raunt
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Wort fehu ‹Vieh, Vermögen›. U steht für ûruz ‹Auerochse›, Þ für
þurisaz ‹Thurse, Riese›, A für ansuz ‹Ase›, R für raidô ‹Ritt, Fahrt,
Wagen› und K für kaunan ‹Geschwür, Krankheit›. Um solche Wör-
ter zu schreiben, reichte es, wenn man nur die jeweilige Rune ritzte.
Beschrieben wurden Steine und Felsplatten, Waffen, Schmuck,
Amulette, Kämme, Kästchen, Ringe, Goldhörner und kleine Sta-
tuen. Der Stab im Wort Buchstabe bezeichnete ursprünglich den
senkrechten Strich der Runen, an den die Haken und Querstriche
angefügt wurden.
Ein Volk von Schriftgelehrten waren die Germanen trotz der Runen
nicht. Nur eine kleine Elite beherrschte diese Schrift. Benutzt
wurde sie vor allem für kurze Mitteilungen, Sprüche oder magische
Formeln. Häufig beschränkte sich die Inschrift auf die Namen von
Besitzern, Schenkenden oder Beschenkten. Oft verewigten sich
stolze Ritzer auch nur selbst, so wie sie es noch heute auf Parkbänken
und Baumstämmen tun:
Für längere Texte oder gar Bücher wurden die Runen nicht genutzt.
Ihre Sagen und Gesänge, ihre Geschichten, Rechtsvorschriften, Sit-
ten und Gebräuche überlieferten die Germanen mündlich von Ge-
neration zu Generation. Deshalb konnten die Runen auch nie die
kulturgeschichtliche Bedeutung des lateinischen oder griechischen
Alphabets erlangen. Die längste bisher gefundene Inschrift steht auf
einem Steinblock, den ein Mann namens Varin seinem toten Sohn
weihte. Sie ist 750 Zeichen lang. Das entspricht einem Kurzbericht
in der Zeitung.
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Die Magie des Lauchs
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auf Stein oder Metall, denn diese Materialien haben die Jahrhunderte
am besten überdauert. Aber Moorgrabungen brachten auch Runen
auf Holz und Knochen ans Licht.
Der vielleicht älteste Runenfund stammt aus der ersten Hälfte
des 1. Jahrhunderts. Es ist eine Gewandspange, eine so genannte
Fibel, die im schleswig-hosteinischen Meldorf entdeckt wurde. In
das Metall ist die Lautfolge hiwi eingraviert – möglicherweise eine
Widmungsinschrift für eine Frau. Bislang weiß man allerdings
nicht, ob es sich hierbei wirklich um Runen handelt oder nur um
den ungelenken Versuch, lateinische Buchstaben zu ritzen. Keinen
Zweifel gibt es bei den nächstälteren Funden aus dem 2. Jahrhun-
dert: ein Kamm, entdeckt bei Vimose im dänischen Fünen mit dem
Männernamen harja und eine Lanzenspitze aus einem Grab im
norwegischen Oppland. Sie trägt das Wort raunijaR eingraviert mit
der Bedeutung ‹Erprober›. Die magische Bezeichnung für die Waffe
sollte beim Angriff Glück bringen.
Die Runen waren zunächst vor allem eine Sache der Nordgermanen.
Im späteren Deutschland verbreiteten sie sich erst mit Verzögerung.
Eine Ausnahme bildet Süd-Schleswig, das damals zum nordischen
Kulturkreis gehörte. Im 4. und 5. Jahrhundert gelangten einzelne
Inschriften in das heutige Niedersachsen. Zu einer echten Runen-
Mode kam es im 6. Jahrhundert: Vor allem im heutigen Baden-
Württemberg haben Archäologen eine Vielzahl von Schmuckstücken
mit Runeninschriften aus dieser Zeit gefunden. Die Runen wurden
hier populär, nachdem die Franken im Jahr 531 die Thüringer be-
siegt hatten. Deren Reich hatte zuvor wie ein Sperrriegel die Ver-
bindungen zwischen Norden und Süden blockiert. Jetzt war der
Weg frei für skandinavische Importe, die im Land der Alemannen
offenbar eine regelrechte Nordland-Welle auslösten.
Im 8. Jahrhundert veränderte sich das Runenalphabet in Skan-
dinavien. Die Zahl der Buchstaben schrumpfte von 24 auf 16. Der
Popularität der Runen tat das keinen Abbruch – im Gegenteil: Im
Hochmittelalter entwicketen sie sich in den nordischen Ländern
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immer stärker zu einer Alltagsschrift. In quadratische Hölzchen
geritzt diente sie für Kurzmitteilungen aller Art von Liebesgrüßen
bis zu «Lieferscheinen», die die Kaufleute ihren Waren anhefteten.
Ihren heidnischen Ursprung legten die Runen nach und nach völlig
ab. Sie finden sich mit christlichen Inhalten auf Kirchenmauern und
Glocken, Taufbecken und Gräbern. Bis zur Buchschrift brachten es
die Runen allerdings auch in Skandinavien nicht. Zu eng war die
Schreib-Kultur der gelehrten Bücherwelt mit dem Erbe der klas-
sischen Antike verbunden.
Kehren wir aus der germanischen Zeit zurück in die etwas jüngere
des frühen Deutsch. Allzu groß ist der Sprung nicht. Mochten die
Runen auch verwittern, die germanische Welt, in der persönliche
Bindungen, Treue und Gefolgschaft, nicht staatliche Institutionen,
das Gerüst der Gesellschaft bildeten, ragte noch weit in das Mittel-
alter hinein. Den Horizont des Adels bestimmten archaische Werte,
seine Koordinaten waren Ehre und Rache, Jagd, Kampf und Beute-
gier. Gewalt gehörte zum täglichen Leben: Fehden, Kriege und Jagd-
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unfälle brachten viele der Herren schon in jungen Jahren ins Grab.
Auch die Adligen waren, wie die Bauern, in ihrer großen Mehrheit
Analphabeten. Das Schwert, nicht die Feder, machte den Mann zum
Mann. Die Tugenden des Nahkampfs verhießen auch dem König
ewigen Ruhm.
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beeinflussen konnte. Vor den Unbilden des Schicksals suchte man
Zuflucht bei Beschwörungen, in denen sich magische Formeln mit
christlichen Gebeten vermengten.
Die Sprache der Menschen in dieser Zeit nennen wir heute Deutsch,
doch suggeriert der Begriff eine Einheitlichkeit, die es nicht gab.
Was im Rückblick so heißt, war in dieser Zeit nicht mehr als ein
Netzwerk verwandter Dialekte. Die Möglichkeiten für Bewohner
verschiedener Regionen, sich zu verständigen, dürften so gut oder
schlecht wie zwischen heutigen Dialektsprechern gewesen sein. Für
eine gewisse Vereinheitlichung zumindest in der Schriftsprache
sorgten vor allem die Geistlichen in den Klöstern, die sich bemüh-
ten, Kontakt untereinander zu halten. Wie stark die Übereinstim-
mungen sein konnten, zeigen die Anfänge des «Vaterunser»:
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Schneisen ins Dickicht:
Die ersten deutschen Wörter werden geschrieben
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Welche Schwierigkeiten die Verschriftung bereitete, schildert der
Mönch Otfrid von Weißenburg (800 –875), der erste namentlich
bekannte Dichter, der deutsch schrieb. Otfrid beschreibt – auf
Latein – die «ungewöhnliche Lautung» seiner fränkischen Mutter-
sprache wie ein Ethnologe, der die Sprache eines bislang unbe-
kannten Volkes verschriften soll. «Denn bisweilen fordert sie, wie
mir scheint, drei u – die ersten zwei meines Erachtens konsonan-
tisch lautend, während das dritte u den Vokalklang beibehält – bis-
weilen konnte ich weder den Vokal a noch ein e, noch ein i und auch
nicht ein u vorsehen: in solchen Fällen erschien es mir richtig, y ein-
zusetzen. Aber auch gegen diesen Laut sträubt sich diese Sprache
manchmal: sie geht überhaupt bei gewissen Lauten nur mühsam
eine Verbindung mit einem bestimmten Schriftzeichen ein.»
Kein Wunder, dass sich manchem Mönch die Feder sträubte,
wenn er statt im vertrauten Kirchenlatein in seiner Muttersprache
schreiben sollte. So ging es auch Wisolf, einem alemannischen
Klosterbruder, der um das Jahr 1000 das Lied vom heiligen Georg,
dem Drachentöter, aufzeichnen wollte. Mit ungelenker Hand-
schrift, zahllosen Verschreibern, Verbesserungen und immer wieder
vertauschten Buchstaben quälte er sich durch die Verse, bis er ent-
nervt mittendrin aufgab. Ih ne kan ‹Ich kann nicht› will er unter die
letzte Zeile setzen. Aber nach Ih n…bricht er ab und schreibt das
Gemeinte lieber im vertrauten Latein: Nequeo – das immerhin ist
korrekt geschrieben.
Eines der ersten deutschen Wörter, die den Weg aufs Pergament
fanden, war dheomodi ‹demütig›. Das passt zu einer Schriftsprache,
die im Schatten des Lateinischen stand und zunächst nur hinter den
Mauern der Klöster gedieh. Das Wort steht am Anfang des ältesten
erhaltenen deutschen Buches, eines lateinisch-deutschen Wörter-
verzeichnisses, genannt «Abrogans». Das ist die lateinische Vokabel
für demütig und der erste Eintrag des Buches. Das bairische Ori-
ginal, das um 760 wahrscheinlich im Kloster Freising entstand,
existiert nicht mehr. Erhalten sind drei alemannische Abschriften
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aus dem späten 8. und dem 9. Jahrhundert, die heute in St. Gallen,
Karlsruhe und Paris aufbewahrt werden. Wer sich den St. Galler
«Abrogans», 320 Seiten dick, im Internet anschaut, sieht keine
Prachthandschrift vor sich. Die Schreiber mussten sich mit einem
löchrigen Pergament begnügen, gebunden zwischen hölzerne
Buchdeckel. Nur wenige Buchstaben sind mit Ornamenten ausge-
schmückt. Die Einträge, ungelenk geschrieben, stehen sich nicht in
Spalten gegenüber, wie man es von einem Wörterbuch erwarten
würde, sondern reihen sich, nur durch Punkte getrennt, aneinander.
Die Vorlage war ein lateinisches Synonymenlexikon, das in Italien
entstanden war, um seltenere lateinische Wörter und Wendungen
der Bibel durch gängigere, ebenfalls lateinische Ausdrücke zu er-
läutern. Die deutschen Autoren notierten die deutschen Über-
setzungen, etwa helfa ‹Hilfe› für auxilium, firleitit ‹verleitet› für
seducit oder kotes mines heli ‹meines Gottes Heil› für dei mei
salus. Da sie sowohl für das lateinische Stichwort als auch für des-
sen lateinische Synonyme althochdeutsche Entsprechungen such-
ten, mussten sie es mit einem sehr nuancierten Wortschatz aufneh-
men. Für dessen Feinheiten existierten oft noch gar keine deutschen
Vokabeln, so dass notdürftige Umschreibungen herhalten muss-
ten. Das schmälert nicht die bewundernswerte Pionierleistung, die
der «Abrogans» mit seinen über 3000 althochdeutschen Wörtern
darstellt.
Die ersten Spuren deutscher Schriftsprache sind sogar noch ei-
nige Jahrzehnte älter als der «Abrogans» und finden sich in latei-
nischen Handschriften. Dort schrieben Mönche deutsche Wörter
als Übersetzungshilfen an den Rand oder zwischen die Zeilen. Etwa
zwei Drittel des althochdeutschen Wortschatzes sind durch solche
«Glossen» überliefert. Sie wurden häufig nicht mit der wertvollen
Tinte geschrieben, die nur im Skriptorium für Schreibaufträge zur
Verfügung stand. Stattdessen benutzten die Mönche Griffel, mit
denen sie auch Notizen in ihre Wachstafeln ritzten, und kerbten
damit die deutschen Wörter in das Pergament. Die frühesten dieser
«Griffelglossen» stammen vom Beginn des 8. Jahrhunderts und fin-
den sich in einer Handschrift aus dem luxemburgischen Echternach.
Es sind die ältesten überlieferten deutschen Worte, wenn man von
den wenigen Runeninschriften in althochdeutscher Sprache absieht.
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Lesbar sind die eingeprägten Buchstaben allerdings nur, wenn das
Licht von der Seite fällt, deshalb entgingen sie auch lange den ger-
manistischen Forschern. Ermunterung bei den ersten Versuchen,
die Volkssprache zu verschriften, bekamen die deutschen Mönche
von angelsächsischen Missionaren. In Britannien hatte man schon
einige Jahrzehnte zuvor begonnen, altenglisch zu schreiben.
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allem von den Klöstern getragen wurde. Die Verbesserung der
Lateinkenntnisse im Klerus stand dabei obenan.
Genauso wichtig war dem fränkischen König aber auch die
Pflege der Volkssprachen. Deren Stellung in der Kirche wollte er
stärken, um die Seelsorge fester in den Gemeinden zu verankern.
Gott, davon war Karl überzeugt, konnte in jeder Sprache, nicht nur
in den «heiligen Drei» – Griechisch, Hebräisch und Latein – an-
gerufen werden. Deshalb verlangte er von den geistlichen Hirten,
ihrer Herde häufiger als bisher in ihrer Muttersprache zu predi-
gen. Im Westen des Reiches war das Romanisch, der Vorläufer des
Französischen, im östlichen Teil Deutsch. Jeder Bewohner sollte
wenigstens das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser in seiner
Muttersprache auswendig können. Waren deutsche Worte bis dahin
vor allem als Randnotizen zu lateinischen Texten aufs Pergament
gelangt, so entstand jetzt ein verstärkter Bedarf nach zusammen-
hängenden deutschen Übersetzungen, die den Inhalt ihrer latei-
nischen Vorlagen korrekt wiedergaben und als Grundlage für Pre-
digten, Gebete und Bibelauslegungen dienen konnten.
Das Deutsch dieser Texte klingt oft künstlich und gestelzt, denn
die Übersetzer versuchten, typisch lateinische Sprachmuster der
Originaltexte nachzubilden, die der deutschen Grammatik fremd
waren. Ein noch heute zu vernehmender Nachhall ist die altehr-
würdige Wortstellung Vater unser. Sie gibt das lateinische Pater
noster wortgetreu wieder, während es die Engländer zu Our Father
umgestellt haben.
Einen Eindruck vom Einfluss der Lateingrammatik – hier vor
allem des Ablativus absolutus – auf das frühe Schriftdeutsch gibt
eine Passage über den zwölfjährigen Jesus im Tempel:
Lateinisches Original:
Et cum factus fuisset annorum duodecim, ascendentibus illis in
Hierusolymam secundum consuetudinem diei festi, consumma-
tisque diebus cum redirent, remansit puer Ihesus in Hierusalem,
et non cognoverunt parentes eius.
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Althochdeutsche Übersetzung:
Inti mit thiu her uuard giuuortan zuelif iaro, in ufstiganten
ze Hierusalem after thero giuuonu thes itmalen tages, gifulten
tagun mit thiu sie heim vvurbun, uuoneta ther knecht Heilant
in Hierusalem, inti ni forstuonton thaz sine eldiron.
Wörtliche Übersetzung:
Und als er zwölf Jahre alt geworden war, ihnen hinaufstei-
gende nach Jerusalem ( = und nachdem sie nach Jerusalem hi-
naufgestiegen waren) nach dem Brauch des Feiertages, die Tage
verstrichene (= und nachdem die Tage verstrichen waren), als
sie heimkehrten, blieb der Knabe Heiland in Jerusalem und
nicht verstanden das seine Eltern.
Freie Übersetzung:
Und als er zwölf Jahre alt geworden war, stiegen sie hinauf
nach Jerusalem entsprechend dem Feiertagsbrauch. Doch als
die Tage verstrichen waren und sie wieder heimkehrten, blieb
der Heiland, das Kind, in Jerusalem zurück. Das verstanden
seine Elten nicht.
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